Catherine Gavin
Petersburger Schlittenfahrt
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Catherine Gavin
Petersburger Schlittenfahrt
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Aus der Sicht der ältesten Zarentochter Olga schildert dieser Roman das Schicksal der Romanows in Krieg und Revolution bis zu ihrem letzten Tag. In der Gestalt Olgas und durch sie wird das Drama jener Jahre, die die Welt veränderten, mit seinem unmittelbaren menschlichen Hintergrund lebendig wie nie zuvor. Ein brillantes Zeitgemälde. Titel des Originals: «The Snow Mountain» Übertragung von Margitta de Herv ás Buchgemeinschaft Donauland Schutzumschlag: Georg Schmid
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Klappentext Über diese Jahre läßt Catherine Gavin die Zarentochter Olga so unmittelbar berichten, daß der Leser zum Augenzeugen wird. Die ebenso eigenwillige wie hübsche Olga wagt es als einzige, ihrer neurotischen Mutter, der Zarin, zu widersprechen, dem verhängnisvollen Ratgeber Rasputin die Stirn zu bieten und ihren schwachen Vater zu stützen. Doch sie steht allein, wird wie alle hineingerissen in den Strudel von Krieg und Revolution, kann weder ihre Eltern zu politischer Vernunft bringen noch sich durch ihre leidenschaftliche Liebe zu einem Gardeoffizier von deren Schicksal lösen. In ihrer Gestalt und durch sie wird das Drama jener Jahre, die die Welt veränderten, mit seinem allzumenschlichen Hintergrund deutlich wie nie zuvor. Kein historisches Tagebuch könnte privater und persönlicher erzählen als dieser Roman. Am Schicksal einer klugen, engagierten, mitfühlenden Frau zeigt sich, daß Geschichte die Summe von Torheit und Heldentum, menschlichen Schwächen, großen Ideen und kleinlichen Gefühlen ist. All diese Eigenschaften bewegen die Menschen, denen man in diesem differenzierten Zeitroman begegnet, denn sie haben wirklich gelebt. Dieses Buch, »brillant, lebendig, gründlich dokumentiert, voller Spannung und Atmosphäre jener Tage« (Books), läßt sie wiedererstehen. Daß dies gelang, ist der vielfältigen Begabung von Catherine Gavin zu verdanken. Die in England lebende Autorin promovierte in Geschichte, war als Korrespondentin auf vielen Kriegsschauplätzen und gilt als erfahrene Publizistin. Im Juni 1914 nehmen Zar Nikolaus II. und die kaiserliche Familie an Bord ihrer Jacht Kurs auf Kronstadt, um dort einen englischen Flottenverband zu besichtigen. Für die vier wohlbehüteten Töchter des Monarchen ist diese Fahrt ein Ausflug in die Freiheit und harmloses Abenteuer. Und Olga Nikolajewna, mit
achtzehn Jahren die älteste der Großfürstinnen, berichtet begeistert davon. Niemand in der festlichen Gesellschaft ahnt, daß dies der Anfang jener Ereignisse ist, die für die Romanows vier Jahre später blutig enden werden.
1 Tausende von Sonntagsausflüglern waren bei strahlendem Juniwetter von Petersburg herausgekommen, um diesen »historischen Augenblick«, wie ihn die russischen Zeitungen nannten, so gut es ging, mitzuerleben. Auf der ausgedehnten Wasserfläche, wo die Newa in den Finnischen Meerbusen mündet, wimmelte es an diesem Tag neben den sonst zwischen den Inseln verkehrenden Fährschiffen von kleineren Wasserfahrzeugen jeglicher Art. Jeder wollte dabeisein, wenn Zar Nikolaus II. und seine Familie sich auf das britische Flaggschiff HMS Lion begaben, um mit dem britischen Admiral Sir David Beatty und seinen Offizieren ein Gabelfrühstück einzunehmen. Das war der historische Augenblick, die Krönung einer von feierlichen Akten und Festlichkeiten angefüllten Woche, mit der man in St. Petersburg den Besuch des ersten britischen Schlachtkreuzer-Geschwaders gewürdigt hatte. In festlicher Stimmung erwartete die Besatzung den kaiserlichen Besuch, dem später an Bord der Kreuzer ein Ball der britischen Kriegsmarine folgen würde. Zu den Zeugen des großen Moments zählte eine Handvoll junger Leute, die einander für kurze Zeit sehr nah waren, ohne sich zu kennen und ohne zu ahnen, daß Schicksal und Geschichte bald enge Fäden zwischen ihnen knüpfen würden. Von ihnen war Joe Calvert derjenige, der am wenigsten sah und hörte. Der junge Vizekonsul der Vereinigten Staaten von Amerika, der sich erst seit fünf Tagen in der russischen Hauptstadt aufhielt, war spät und unvorbereitet, ohne Fernglas, nach Kronstadt aufgebrochen. In Begleitung seines nach Berlin versetzten Vorgängers Edward Murchison fuhr er auf einem der überfüllten Fährschiffe die Newa hinunter. Mit ihren untadeligen hellgrauen Anzügen und den steifen Strohhüten waren die beiden großen, schlanken jungen Männer typische Dandys des Jahres 1914. -4-
Joe Calverts Name, der in St. Petersburg noch sehr bekannt und manchmal verflucht werden sollte, war an jenem Tag nur zwei Personen in der Menge ein Begriff: Madame Hendrikowa, die Sprachlehrerin, hatte ihn, als sie den Auftrag erhielt, dem Neuankömmling Unterricht zu geben, vom amerikanischen Konsul gehört und ihrem Mann gegenüber erwähnt. Zufällig waren die Hendrikows gar nicht weit von Joe entfernt, als die Fähre auf die Anweisung einer Polizeipatrouille hin die Maschinen abstellte. Professor Hendrikow hatte für seine Frau, seine Tochter und deren Freundin Plätze auf einem der Ausflugsdampfer reservieren lassen, die von der Universität zu diesem Anlaß gechartert worden waren, und vom Deck dieses tief im Wasser liegenden Schiffes schauten die beiden Schulmädchen nun neugierig zu der geräuschvollen Menge an Bord der Fähre hinauf, wo die Wodkaflaschen herumgingen. Madame Hendrikowa bedeutete ihnen allerdings sogleich, sich von der Reling unter ein schützendes Sonnensegel zurückzuziehen. »Mutter, da hinten können wir doch überhaupt nichts sehen!« protestierte ihre Tochter. »Ich habe eurer Schulvorsteherin versprochen, daß ihr euch nicht auffällig benehmen würdet, als ci h sie um diesen freien Tag bat.« »Wir haben unsere Schuluniform doch gar nicht an!« argumentierte das andere Mädchen trotzig. Sie waren ein paar Jahre lang eng miteinander befreundet gewesen, Darja Hendrikowa und Mara Trenowa, Dolly und Molly für ihre Klassenkameradinnen, und obgleich ihre Freundschaft inzwischen einzuschlafen begonnen hatte, einte sie an diesem Tag das stumme, entschlossene Bestreben, Darjas Bruder, Leutnant Simon Hendrikow, in der Marineuniform der kaiserlichen Leibgarde an Bord der Jacht des Zaren zu sehen. Jenseits der Absperrungslinie der Flußpolizei, auf der Lion, erwartete Captain Richard Allen, der britische Militärattaché, -5-
das große Ereignis in weitaus komfortablerer Umgebung als Joe Calvert oder die Hendrikows. Es war typisch für ihn, hier vorgeblich zu Diensten des Botschafters, Sir George Buchanan im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen, während sich in der Botschaft auf dem Suworowplatz andere, nicht eingeladene jüngere Angehörige des Personals verbittert fragten, wie Captain Allen es nur bewerkstelligt haben mochte, auch diesmal wieder seinen Kopf durchzusetzen. »Wen haben wir denn heute bei der kaiserlichen Verlosung gezogen?« erkundigte Allen sich eben halblaut bei einem jungen Mann in Marineuniform, der mit unterdrücktem Lachen antwortete: »Die Schwester des Zaren und die Kyrills; es hätte schlimmer kommen können.« »Na, viel schlimmer nicht.« Captain Allen betrachtete kritisch die Mitglieder der kaiserlichen Familie, die eingeladen worden waren, unter der britischen Flagge mit ihren erlauchten Verwandten zusammenzutreffen. Die jüngere Zarenschwester, Olga Alexandrowna, würde sich wahrscheinlich als angenehmer Gast erweisen, zumal sie weder ihren Ehemann, den höchst unbeliebten Prinzen Peter von Oldenburg, mitgebracht hatte noch den gutaussehenden Obersten, der das dritte Mitglied ihrer unkonventionellen ménage war. Eine hagere, hochgewachsene Mittdreißigerin, deren Gesicht mit dem vorspringenden Unterkiefer nicht gerade als schön zu bezeichnen war, unterhielt sie sich in offenbar bester Laune mit einem von Beattys Flaggoffizieren. Hier waren keine Schwierigkeiten zu befürchten, dachte Richard Allen und wandte seine Aufmerksamkeit dem Großfürsten und der Großfürstin Kyrill zu. Das Paar stand schweigend ein bißchen abseits, sie mit jener Miene gekränkter Würde, die die kaiserlichen Damen so häufig zur Schau trugen. Ihre Heirat vor einigen Jahren hatte einen gewaltigen Skandal ausgelöst; nicht genug damit, daß sie als geschiedene Frau den Vetter des Zaren ehelichte - ihr Exgatte -6-
war obendrein der Bruder der Zarin. Der Zar hatte sie aus Rußland verbannt, und wenngleich er nach einer gewissen Zeit einlenkte und ihnen die Rückkehr gestattete, schwelte der Groll über das begangene Unrecht nach wie vor im unversöhnlichen Herzen seiner Gattin. Alle britischen Diplomaten an Bord der Lion kannten das Problem, das sie um so persönlicher berührte, als die Großfürstin Kyrill von Geburt eine englische Prinzessin war: entweder ignorierte die Zarin ihre frühere Schwägerin, oder sie bedachte sie mit einem frostigen Lächeln, das jede Konversation im Keim erstickte. »Mußten es unbedingt die Kyrills sein?« fragte Richard Allen leise seinen Nachbarn. »Es blieb gar nichts anderes übrig«, entgegnete der Marineattaché. »Er ist Kommandant der Leibgarde und vermutlich der nächste Chef der Admiralität. Und außerdem wer ist denn sonst noch da?« Allen zuckte die Achseln. Auch er wußte nur zu gut, daß sich die Zarin Alexandra Feodorowna in den zwanzig Jahren ihrer Ehe mit fast allen Mitgliedern der Familie ihres Mannes zerstritten hatte. In einigen Fällen hatten die Zwistigkeiten religiöse Ursachen, in anderen gingen sie auf den lockeren Lebenswandel zurück, für den die Romanows, vom Herrscher und seiner engsten Familie abgesehen, ein ausgesprochenes Talent bezeigten. Onkel und Vettern, sogar der einzige noch lebende Bruder hatten mit ihren morganatischen Ehen, ihren unehelichen Kindern, die legitimiert und geadelt werden mußten, und ihren bis zur unweigerlich ausgesprochenen Vergebung im Exil zugebrachten Jahren dem Seelenfrieden des Zaren wahre Folterqualen bereitet. Wer von einer solchen Clique konnte eingeladen werden oder legte Wert darauf, der religiösen, sittenstrengen Zarin gegenüberzutreten? »Da sind sie - auf den Glockenschlag pünktlich«, sagte der Marineattaché. -7-
Auch Allen erblickte nun die kleine kaiserliche Jacht Alexandria, die auf der glitzernden Wasserfläche der Peterhofbucht zu sehen war. Es war kurz vor elf, und in dem britischen Geschwader wurden allenthalben knappe Befehle laut. Die Kornettbläser der Marinekapelle an Bord des Flaggschiffes hoben ihre Instrumente an die Lippen. Die Gäste stellten sich halbkreisförmig hinter dem Admiral und seinen Flaggoffizieren auf. Es war ein großer Augenblick für Sir David Beatty, der überhaupt einen ungeheuren persönlichen Erfolg in diesem Land verbucht hatte, wo man sich seit dem Debakel des Krieges mit Japan unter einem Admiral einen fettleibigen ältlichen Mann mit weißem Bart und einer eklatanten Unfähigkeit für Seefahrt und Kriegskunst vorstellte. Admiral Beatty war erst dreiundvierzig und wirkte zudem noch wesentlich jünger mit seinem glattrasierten frischen Gesicht und dem berühmten »Beatty-Kniff« - der nochalanten Art, wie er seinen Admiralshut trug. Von den russischen Vergnügungsdampfern ertönten Hochrufe, als er nach vorne trat und die einundzwanzig Salutschüsse abfeuern ließ. Während Maatspfeifen schrillten und die kaiserliche Standarte gehißt wurde, schwang sich Nikolaus II. gewandt auf das blankgescheuerte Deck der Lion hinauf. Er trug die Uniform eines britischen Flottenadmirals und seine gesamten englischen Ehrenzeichen. Wie immer, wenn der Zar vor britischen Soldaten oder Matrosen erschien, war trotz aller Disziplin eine leichte Welle der Erregung bei den Truppen zu verspüren, weil er seinem Vetter, dem englischen König Georg V., so ähnlich sah, daß er als dessen Zwillingsbruder hätte durchgehen können. Der Zar und der Admiral salutierten und wechselten einen Händedruck. Es war der Höhepunkt des Ereignisses, ein Moment voll eindringlicher Symbolik, und doch hatte sich die allgemeine Aufmerksamkeit bereits Alexandra Feodorowna zugewandt, die darauf wartete, ihrem Gatten zu folgen. Man hörte indessen an Land und auf den Schiffen nur kritisches -8-
Gemurmel und keinerlei Applaus: die Zarin, mit ihrem Talent, stets das Falsche zu tun, hatte ihr Gesicht vor den Untertanen ihres Mannes hinter einem weißen Spitzensonnenschirm verborgen. Andere Kritiker, wie Professor Hendrikow, befaßten sich in belehrenden Worten mit dem Thema Brot und Spiele. St. Petersburg war einen Monat lang von Streiks und Aussperrungen erschüttert worden, immer wieder hatten Kosaken die von Tumult erfüllten Straßen gesäubert, und erst durch die Ankunft der britischen Matrosen war die bedrohlichunangenehme Stimmung in Festesfreude umgeschlagen. »Beattys Besuch ist für Nikolaus Gold wert«, sagte Professor Hendrikow, doch weder seine Tochter noch deren Freundin hörten zu. Die Mädchen hatten sehr zu Madame Hendrikowas Verdruß ihre Hüte abgenommen, und Dollys blonde Locken waren eng an Maras glatthaarigen, dunklen Kopf gedrückt, während sie die Hälse reckten, um zur Alexandria hinüberzuschauen. »O Mutter, ich kann Simon sehen, direkt neben Ihrer Majestät!« stieß Dolly, die das Fernglas hatte, fast atemlos hervor. »Möchten Sie nicht auch einmal schauen?« »Gib zuerst Mara das Fernglas, mein Kind.« »Ich brauche es nicht, vielen Dank, Vera Andrejewna, ich kann auch so sehen.« »Dann mußt du außergewöhnlich gute Augen haben«, meinte Dollys Mutter lächelnd, und Mara Trenowa errötete. Sie sah Leutnant Simon Hendrikow tatsächlich, obwohl die anderen Offiziere an Deck der Alexandria nicht viel mehr als verschwommene Umrisse waren. Das verdankte sie dem geschärften Blick der ersten Liebe... Für eine hochgewachsene zweiundvierzigjährige Frau, die seit langem an Ischias litt, war es nicht leicht, auf elegante Weise von einem Raddampfer auf einen Schlachtkreuzer -9-
überzuwechseln, und die Zarin schien auch einen Moment zu zögern; doch dann kam ihr, wie zu erwarten, von irgendwoher eine weißbehandschuhte Hand zu Hilfe, die ihr den jetzt eingerollten Sonnenschirm abnahm, und Alexandras riesiger Hut war nicht im mindesten derangiert, als sie auf dem Deck der Lion erschien und Admiral Beatty huldvoll die Hand zum Kuß reichte. Die Zuschauer warteten gespannt, wer als nächster über die durch ein Sonnensegel geschützte Gangway nach oben folgen würde. Die freudigen Zurufe für das kaiserliche Paar waren sehr spärlich gewesen, und nun strich ein langgezogener Laut der Enttäuschung über das Wasser, als man vergeblich nach einem kleinen Jungen im Matrosenanzug Ausschau hielt. »Und wo bleibt der Thronfolger? Wo ist der Thronfolger?« »Wo ist Alexis Nikolajewitsch?« »Was sagen sie?« erkundigte sich Joe Calvert bei seinem Begleiter. »Sie möchten den Zarewitsch sehen«, antwortete Murchison. »Vermutlich ist er wieder krank. Er kommt nicht oft dazu, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.« »Tatsächlich? Das wußte ich gar nicht«, sagte Joe. »Ich hatte wohl etwas von einer schweren Krankheit gehört - war das nicht vor ungefähr einem Jahr? Aber ich glaubte, dieser Mönch Rasputin - hätte ihn geheilt. Bekommen wir Rasputin heute auch zu sehen?« »Sprechen Sie um Himmels willen leise«, zischte Murchison. »In einer Menschenansammlung wie der hier dürfen Sie den Namen nie erwähnen!« Beinahe unhörbar flüsterte er dann: »Er ist in Sibirien.« Der Thronfolger würde also an diesem Tag nicht in Erscheinung treten. Nicht einmal auf den Armen seines diadka, des Matrosen, dessen Obhut er anvertraut war und der ihn im Vorjahr während der Feierlichkeiten anläßlich des dreihundertjährigen Bestehens der Romanow-Herrschaft vor den -10-
Augen eines entsetzten Volkes überall herumgetragen hatte. Die Tausende, die den neunjährigen Alexis anstarrten, hatten damals nur ein bleiches Gesicht unter blondem Haar gesehen, eine magere Hand, die sich an der Schulter des diadka festhielt, und die bemitleidenswert herabhängenden Beine. Doch eben kamen wenigstens die vier Großfürstinnen, um ihre Plätze hinter ihren Eltern einzunehmen. Durch den Dunst, den die Hitze vom Wasser aufsteigen ließ, war allerdings nicht viel mehr von ihnen zu sehen als blendendweiße Kleider und ebensolche riesige Hüte. Olgas und Tatjanas Hüte waren mit weißen Reiherfedern geschmückt, die der beiden jüngeren Mädchen, Marie und Anastasia, mit Kränzen aus weißen und rosafarbenen Rosen. Doch die steife, gekünstelte Mode der Zeit vermochte nichts gegen die natürliche Lebensfreude der vier vor Gesundheit strotzenden Schwestern, von denen die älteste achtzehn, die jüngste gerade dreizehn war. Heiter und fröhlich sahen sie den kommenden Stunden mit unverhüllter Erwartung entgegen. Die Mienen der feindlichen Verwandten wurden gelöster, man lächelte sich zu, die britischen Marineoffiziere und Diplomaten strahlten, und nur mit Mühe wahrte die Schiffsbesatzung den gebührenden Ernst, solange die beiden Nationalhymnen gespielt wurden. Weit entfernt von St. Petersburg war für ein Mitglied einer anderen kaiserlichen Familie ebenfalls ein Festessen vorbereitet. Der Erzherzog und seine Gemahlin, die seine Titel und seinen Rang nicht teilte, sollten die Ehrengäste eines Banketts im Gouverneurspalast einer kleinen balkanischen Provinzhauptstadt sein, die vierhundert Jahre unter türkischer Herrschaft gestanden hatte. Vierzig Jahre westlichen Einflusses hatten die Einwohnerzahl vergrößert und der kleinen, staubigen Stadt verschiedene neue Gebäude hinzugefügt, ihr Gesamtbild aber kaum verändert. Moscheen und Minaretts erhoben sich noch immer zwischen -11-
den Bergspitzen, und der türkische Basar war auch jetzt noch das Zentrum des lokalen Lebens. Aber es waren neue Einflüsse in der Stadt am Werk, Einflüsse, die aus dem freien Serbien über die Grenze eingesickert waren und zumindest dem Namen nach Freiheit und Unabhängigkeit vertraten. Der Prinz, zu dessen Ehren das Bankett ausgerichtet worden war, schien in den Augen einiger Leute, für die er die Reaktion repräsentierte, diesen Einflüssen im Wege zu stehen. Er war kein Narr und hatte gewußt, was für ein Risiko er auf sich nahm, wenn er die Stadt in den Bergen besuchte. Einem ersten Anschlag entging er bereits, als sich seine Wagenkolonne an diesem Sonntagvormittag in Bewegung setzte. Er konnte weiterfahren, doch die Route zum Gouverneurspalast, derentwegen es zuvor einige Meinungsverschiedenheiten gegeben hatte, führte ihn an einem bescheidenen Kolonialwarenladen vorbei, vor dem ein mit einer Pistole bewaffneter neunzehnjähriger Bursche stand. Dort wurden der Prinz und seine Gemahlin erschossen, und um die gleiche Zeit, als an Bord der HMS Lion der erste Toast ausgebracht wurde, lagen ihre Leichen auf zwei eisernen Bettstellen in der Gouverneursresidenz, mit Blumen bedeckt, die eigentlich für die Tischdekoration vorgesehen gewesen waren. Die Nachricht drang sehr langsam über die Berge nach draußen. In der Stadt von fünfzigtausend Einwohnern schoben sich erst einmal Bürgermeister, Polizeichef und Militärgouverneur gegenseitig die Verantwortung für die Sicherheitsmaßnahmen zu, die so eklatant versagt hatten, und außerdem gab es Zusammenrottungen und Plünderungen, die es den Autoritäten erschwerten, der Attentäter habhaft zu werden. Der junge Mann, der die beiden folgenschweren Schüsse abgegeben hatte, war ergriffen und von der Polizei zusammengeschlagen worden, weigerte sich aber, weitere Verschwörer zu nennen, obwohl zumindest einer festgenommen worden war, als er, nachdem er eine Zyankalikapsel geschluckt -12-
hatte, die ohne Wirkung blieb, in das trockene Bett des Miljacka-Flusses sprang. Die Nachricht von dem Doppelmord hatte Wien, die Heimatstadt des Ermordeten, noch nicht erreicht, als Leutnant Hendrikow und seine Offizierskameraden von der Leibgarde des Zaren an Land das Mittagessen einnahmen und der Musik lauschten, die von den britischen Schiffen über das Wasser zu ihnen getragen wurde. Die Alexandria hatte Order erhalten, um halb vier zur Lion zurückzukehren, aber es wurde fast halb fünf, ehe sie die kaiserliche Familie an Bord nehmen konnte. Die Zarin war erschöpft und wurde von einer Hofdame zu einem bequemen Korbsessel geleitet, doch der Zar wirkte ungewöhnlich heiter, und seine vier Töchter waren in ausgelassenster Stimmung. Lachend drängten sie sich an die Reling und schwenkten ihre Buketts, als sich ihre neuen englischen Freunde mit Hochrufen von ihnen verabschiedeten. Dann gab es ein emsiges Hin und Her, bis die Blumen mit Wasser versorgt waren, denn die stets im Hintergrund gehaltenen hübschen Mädchen bezeigten selbst für die kleinsten Geschenke eine rührende Dankbarkeit. Die ziemlich mitgenommenen Buketts wurden liebevoll in Vasen auf dem Tisch der Zarin arrangiert. Sie beklagte sich über den starken Duft. »Sie sehen müde aus, Mama«, sagte Großfürstin Tatjana, während sie besorgt ein paar Kissen im Rücken der Zarin zurechtrückte. »Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee?« »Ich warte lieber, bis wir zu Hause sind.« Alexandra verstummte und hörte stirnrunzelnd zu, wie ihr Gatte seine Töchter neckte. »Öl auf Maschkas Kleid«, konstatierte er mit gespielter Strenge. »Der Kobold hat eine Laufmasche im Strumpf, und selbst Tanja hat Kohlenstaub auf den Schuhen. Ihr seht aus, als wärt ihr im Kesselraum gewesen.« »Da waren wir ja auch, nur Olga nicht«, sagte Marie. -13-
»Olga blieb an Deck, weil sie mit Géorgie Battenberg flirten wollte«, erklärte Anastasia, und Mademoiselle Schneider, die zum Gefolge der Zarin gehörte, mahnte sofort: »Aber, meine jungen Damen, ich muß doch bitten!« Es war allerdings eine rein automatische Reaktion, die keinen Eindruck machte; Neckereien über Flirts wie auch Flirts als solche wurden von den Eltern der vier Großfürstinnen als normales und harmloses Ventil für die romantischen Ideen heranwachsender Mädchen wohlwollend gefördert. »Redet nur, mich stört das nicht«, sagte Olga. »Géorgie war wirklich nett heute, alle waren sie nett.« Sie nahm ihren matronenhaften Hut mit einem erleichterten Seufzer ab und steckte die beiden perlenbesetzten Hutnadeln hinein. »Gott sei Dank brauchen wir nun nicht mehr so aufgeputzt herumzusitzen. Aber es ist schade, daß wir schon auf der Heimfahrt sind. Es war so schön!« »Warum müssen wir eigentlich sofort nach Hause?« wollte Anastasia wissen. »Der Kobold« war die keckste der Schwestern und zeigte oft die meiste Initiative. Jetzt bettelte sie stürmisch darum, daß das Vergnügen durch eine Fahrt über den Meerbusen noch um eine Stunde verlängert würde. »Was hält Mama davon?« fragte der Zar, und seine Gattin, in den Korbsessel gelehnt, wandte ihm ihr sorgenvolles Gesicht zu. »Unser Baby wird uns vermissen«, meinte sie. »Er hat ein halbes Dutzend Menschen zu seiner Unterhaltung um sich«, sagte der Zar. Er wirkte ungewöhnlich frisch und munter, als hätten die britische Admiralsuniform und die Gesellschaft von König Georgs Offizieren sein zurückhaltendes Wesen neu belebt. Jetzt beugte er sich über Alexandras Sessel, und seine Finger umfaßten ihr Handgelenk. »Ich glaube, wir könnten schon nach Terijoki hinüberfahren, einfach, um noch ein bißchen frische Luft zu bekommen. Und die Mädchen hätten Freude daran.« -14-
In den Waagschalen, die Alexandra ununterbrochen im Geiste balancierte, zählten die Forderungen der Mädchen, verglichen mit den Ansprüchen des »Babys«, wie sie ihren heranwachsenden Sohn noch immer nannte, so gut wie nichts. Aber sie reagierte auf die zärtliche Geste ihres Mannes, das Ungewöhnliche einer solchen Berührung in der Öffentlichkeit, sofort mit jener tiefen erotischen Empfindsamkeit, die Nikolaus immer in ihr wecken konnte. Errötend und mit einem fügsamen Lächeln erwiderte sie: »Gut, geben wir also noch eine Stunde zu. Tatjana, sag, daß man uns Tee bringen soll.« Für Teetische und eine förmliche Bedienung bot die kleine Alexandria keinen Raum. Der Tee wurde also schnell und zwanglos in Gläsern eingenommen, und zwanzig Minuten nachdem die kaiserlichen Gäste HMS Lion verlassen hatten, passierte die Jacht bereits den Tolbukin- Leuchtturm, wo die Befestigungen Kronstadts das britische Geschwader halb verdeckten. Es war ein sehr heißer Tag gewesen, und die Zarin mußte bekennen, daß sie die frische Brise genoß, die das goldblonde Haar der Großfürstin Olga hob und die weißen Spitzen an ihrem Hals bewegte, während sie mit Leutnant Simon Hendrikow an der Reling stand. Für die jungen Offiziere der Garde stand es fest, daß die zweite Tochter des Zaren, Tatjana, die schönste der vier Schwestern war. Die fünfzehnjährige Marie, Maschka genannt, war vorerst durch ihre backfischhaftpummeligen Formen benachteiligt, und Anastasia, der Kobold, bot keine sichere Gewähr für ungewöhnliche spätere Reize. Doch Tatjana Nikolajewna übertraf mit ihren siebzehn Jahren nach Ansicht der älteren Hofleute sogar noch die Schönheit ihrer Mutter in jenen legendären Tagen, da die Zarin als Prinzessin Alice von Hessen-Darmstadt das bewunderte »Sönnchen« eines kleinen deutschen Hofes war. Tatjanas rotblondes Haar hatte eine leuchtendere Tönung, sie hatte warme bernsteinfarbene Augen statt der kühlen graublauen Alexandras, und ihr Lächeln war -15-
herzlich und liebevoll. Simon Hendrikow bewunderte sie aus der Ferne wie alle seine Offizierskameraden; sein wirkliches Idol war indessen ihre ältere Schwester, die nicht ganz so klassisch schön, dafür aber eigenwilliger und mit ihren lebhaft wechselnden Stimmungen weitaus anziehender und interessanter war. »Warum waren Sie nicht auf der Lion, Simon Karlowitsch?« fragte sie in ihrer impulsiven Art, die manchen Hofleuten etwas abrupt vorkam. »Sie haben die englischen Offiziere doch am letzten Mittwoch kennengelernt, oder nicht?« »Ich hatte den Befehl, an Land zurückzukehren, Eure - Olga Nikolajewna.« Leutnant Hendrikow tat erst drei Monate Dienst auf den kaiserlichen Jachten, zu denen neben der leichten Alexandria, die als einzige in den Hafen des Peterhofs einfahren konnte, auch die Standart und die Polarstern gehörten. Er hatte sich noch nicht ganz an die Weisung gewöhnt, niemals »Eure Kaiserliche Hoheit« zu sagen, wenn er mit den Mädchen sprach. »Aber den Ball heute abend werden Sie doch hoffentlich nicht auch noch versäumen?« »Ich habe glücklicherweise eine Einladung erhalten.« Simon faßte allen Mut zusammen. »Madame - Olga Nikolajewna dürfte ich Sie um die große Ehre und das Vergnügen eines Tanzes bitten?« Das Mädchen starrte ihn aufrichtig überrascht an. »Warum so förmlich? Natürlich würde ich sehr gern wieder einmal mit Ihnen tanzen, Simon Karlowitsch, nur, wissen Sie... wir gehen jetzt doch nicht hin, meine Schwester und ich.« »Aber ich dachte, Sie...« Eine lächelnde Maske schien das hübsche Gesicht der ältesten Zarentochter zu bedecken. »Für heute abend werden auf den britischen Schiffen zweitausend Gäste erwartet«, sagte sie. »Man hielt es nicht unbedingt für ratsam, daß wir kämen.« Der junge Mann begriff sofort. Wiewohl die »weißen Nächte« -16-
noch nicht vo rbei waren, würde der Finnische Meerbusen zwei Stunden in Finsternis gehüllt sein. Auf den beiden Schlachtkreuzern, die für das Fest miteinander vertäut werden sollten, würde es zu viele Stellen geben, wo ein mit der unübersehbaren Schar der Gäste an Bord gelangter Mörder auf die Gelegenheit lauern konnte, ein Mädchen zu erschießen oder zu erstechen, dessen einziges Vergehen darin bestand, daß es den Namen Romanow trug. Er spürte Zorn in sich aufsteigen. Aber Simon Hendrikow war in der neuen Umgebung bereits gut geschult worden; auch er konnte lächeln und Nonchalance heucheln angesichts der konstanten Bedrohung, die über den Häuptern derer hing, denen er zu dienen geschworen hatte. Er bemerkte nur: »Der Admiral und seine Offiziere werden sehr enttäuscht sein.« »Oh, wir alle sind enttäuscht, glauben Sie mir, aber Kopf hoch, machen Sie doch kein so trauriges Gesicht, Simon Karlowitsch! Ich hebe Ihnen den Tanz auf für die nächste Gelegenheit. Sie kann im Winter kommen, wenn wieder Hofbälle veranstaltet werden, und vielleicht sogar schon früher, wer weiß?« »Sind denn für den nächsten Winter Hofbälle vorgesehen?« »Wußten Sie das nicht? Der Zar und die Zarin« - die Mädchen gebrauchten immer die Titel ihrer Eltern, wenn sie von ihnen sprachen -»beschlossen irgendwann einmal, daß wir, sobald meine Schwester Tatjana siebzehn wäre, zusammen Bälle besuchen könnten. Auf zweien waren wir bereits im vergangenen Winter, aber es waren natürlich nicht unsere eigenen. In der kommenden Saison wird sich das ändern.« »Und diese Bälle sollen im Winterpalais stattfinden?« »Genau wie zu Zar Alexanders Zeiten.« Simon setzte sein Glas auf einem Tablett ab, das ein Matrose herumreichte, und blickte dann wieder in Olgas Augen. Sie war ein hochgewachsenes Mädchen, und er selbst eher kräftig als -17-
schlank und für einen Mann nicht viel mehr als mittelgroß: Auf dem Parkett eines Ballsaales war ihr Gesicht dem seinen sehr nahe, wie er sich nur allzu gut erinnerte. »Haben Sie Dank für Ihr Versprechen, Olga Nikolajewna«, sagte er. »Aber im Winterpalais, fürchte ich, sind Sie für mich bestimmt völlig unerreichbar. Das ist etwas anderes als unser letzter Walzer in Livadia vor fünfzehn Tagen.« »Ist das jetzt genau fünfzehn Tage her? Sind Sie sicher?« »Es war der Abend, bevor wir mit der Standart nach Konstanza ausliefen, ich weiß das.« »Oh, Konstanza!« Olga spürte sehr zu ihrem Ärger, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. »Sind wirklich erst zwei Wochen vergangen, seit wir nach Rumänien fuhren? Es kommt mir viel länger vor. Aber es ist ja auch soviel geschehen inzwischen.« »Hat das, was geschehen ist, etwas mit Ihnen zu tun, Olga Nikolajewna?« Sie nahm den veränderten, rauhen Ton in seiner Stimme wahr und konnte es kaum erwarten, Tatjana davon zu erzählen. Die Schwestern schwatzten in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer sehr gern über ihre kleinen Flirts, und dies war ein ziemlich heftiger, der erste, dem ein gewisser Ernst anhaftete. Olga schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Ich meine nur, daß wir seit unserer Rückkehr von unserem Schloß auf der Krim ständ ig in Bewegung waren. Zuerst der Besuch des Königs von Sachsen ich weiß schon, das war nicht sehr aufregend; dann diese wunderbaren Tage mit dem englischen Geschwader, und im nächsten Monat kommt der französische Präsident zu einem Staatsbesuch, und Tatjana und ich werden zusammen mit dem Zaren die große Parade abnehmen!« Sie klatschte in die Hände. »Es ist fast zuviel für einen einzigen Sommer!« »Dann sind Sie also glücklich, Olga Nikolajewna?« -18-
»Warum sollte ich nicht glücklich sein?« gab sie plötzlich wieder sehr unnahbar zurück. »Ich habe doch alles auf der Welt, was glücklich macht; jeder sagt mir das! Schauen Sie, Simon Karlowitsch, wir sind schon fast in Terijoki! Dort ist das Klubhaus und die Kirche.« Dann wandte sie sich zu ihren Schwestern um. »Kommt, ihr beiden; ihr wolltet doch Terijoki sehen, oder nicht?« Nicht nur die zwei jüngeren Mädchen, sondern auch der Zar selbst, der mit einem seiner Offiziere auf dem Deck auf und ab gegangen war, traten neben Olga an die Reling, und Simon zog sich respektvoll zurück. Die Großfürstin Tatjana blieb neben dem Sessel der Zarin stehen und fächelte ihrer Mutter mit einem kleinen seidenen Fächer Luft zu. »Ein hübscher Ort, Terijoki«, sagte der Zar. Vom Wasser aus sah die kleine finnische Stadt in der Tat bezaubernd aus mit dem hohen Turm der orthodoxen Kirche, der oberhalb des Hafens über hundert Meter in die Höhe ragte. Terijoki lag im zaristischen Großherzogtum Finnland, nur fünf Kilometer von der russischen Grenze entfernt; viele reiche Bewohner von Petersburg besaßen dort eine Sommer-Datscha. Gleich darauf drehte die Alexandria ab, um dem Sommerpalais der Zarenfamilie, dem Peterhof, zuzusteuern, und Anastasia fragte betrübt: »Müssen wir jetzt wirklich zurück, Papa?« »Was für ein Kobold du bist! Natürlich müssen wir zurück. Hier endet eure Kreuzfahrt in finnischen Gewässern, ihr Mädchen, aber ihr könnt euch ja damit trösten, daß wir in ein paar Wochen schon wieder mit der Standart unterwegs sind.« Mit einem Lächeln für Simon Hendrikow setzte der Zar seinen Spaziergang fort. Er war fanatisch darauf bedacht, sich ausreichend Bewegung zu verschaffen, und die Stunden auf der Lion, die er fast ausschließlich sitzend hatte zubringen müssen, waren eine harte Probe für ihn gewesen. Olga lachte über den -19-
Ausdruck auf Leutnant Hendrikows Gesicht. »Freut Sie das mit der Standart?« Er verneigte sich vor ihr. »Sehr.« »Aber Sie wußten doch schon, daß die Sommerkreuzfahrt auf dem Programm stand, nicht wahr?« »Gewiß, nur erwähnten Sie sie nicht, als Sie ihren wunderschönen Sommer beschrieben, Olga Nikolajewna. Außerdem hatte ich einmal gehört, die Kreuzfahrt sei abgesagt worden...« »Warum sollte sie denn nicht stattfinden?« »Weil vielleicht jemand aus Rumänien kommen würde.« Simon Hendrikow merkte, daß er vermessen gewesen war, als er sah, wie sich ihre dunklen Brauen, die so einen auffallenden Gegensatz zu dem blonden Haar bildeten, zu einer geraden Linie zusammenzogen. Doch sie ignorierte seine gestammelten Entschuldigungsworte und lächelte sofort wieder. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend etwas den Zaren von der Sommerkreuzfahrt abhalten könnte. Sie ist der Höhepunkt des ganzen Jahres, für ihn und für uns alle. Wir fahren zuerst nach Björkö, und anschließend durch den Meerbusen nach Hangö. Waren Sie schon einmal dort?« »Noch nie, Olga Nikolajewna. Aber Björkö kenne ich. Meine Eltern haben eine kleine Datscha bei Koivisto.« »Ach, könnten wir sie uns anschauen? Würden Ihre Eltern etwas dagegen haben? Wir haben noch nie eine richtige Datscha gesehen, nur diese gräßlichen Villen zwischen Zarskoje Selo und Pawlowsk, die als Datschas bezeichnet werden. Wo liegt sie? Ist es weit vom Hafen? Könnten wir zu Fuß hingehen?« Der Schwall von Fragen faszinierte Simon. Er war erst viel zu kurze Zeit in der kaiserlichen Umgebung, um zu wissen, was für eine grenzenlose Neugier die vier Großfürstinnen und selbst ihr kleiner Bruder für die Lebensweise normaler Sterblicher -20-
bekundeten. Mühsam brachte er heraus, daß es für seine Eltern eine gar nicht in Worte zu fassende Ehre sein würde... »Aber jetzt sind sie nicht da, oder? Ihr Vater ist doch Professor in St. Petersburg?« »Ja. Sie fuhren mit meiner Schwester Dolly zu Ostern hin, als ich auf See war... um die Wahrheit zu gestehen, Olga Nikolajewna, ich weiß nicht, in was für einem Zustand das Haus ist. Es ist ja seit dem Frühling nicht mehr benutzt worden... ich müßte dafür sorgen, daß es saubergemacht wird.« »O nein, das würde alles verderben! Wo immer wir hinkommen, richten die Leute alles besonders schön für uns her, hängen Fahnen hinaus, reichen uns die heiligen Ikonen und so weiter und so weiter. Könnten wir nicht einfach einen Spaziergang zu Ihrer Datscha machen und einen Picknickkorb von der Standart mitnehmen? Meine Schwestern wären hellauf begeistert, und Alexis auch.« Letzten Endes, so dachte er, war sie doch noch ein Schulmädchen, mit der Fähigkeit eines Schulmädchens, sich spontan zu begeistern, trotz der Reise nach Konstanza und den Gerüchten von ihrer Verlobung mit dem rumänischen Prinzen, die seine Eifersucht geweckt hatten. Er sagte: »Was das Hingehen anbetrifft, so ist das leicht zu machen; wir brauchen nicht einmal durch das Dorf. Es gibt einen Weg, der vom Strand hinaufführt, das Flußufer entlang, und es ist nicht weit. Aber vergessen Sie bitte nicht, es ist nur eine kleine alte Holzhütte, keine große Datscha wie die um Terijoki herum...« »Das spielt doch keine Rolle! Oh, ich freue mich schon so! Wenn wir zu Hause sind, werde ich es gleich den andern sagen. Es bleibt unser Geheimnis, nicht wahr, Simon Karlowitsch? Ein Geheimnis, von dem niemand etwas weiß, außer meinen Schwestern und mir und Ihnen und Alexis, ja?« »Wie Ihre Kaiserliche Hoheit wünschen.« Er konnte es nicht lassen, sie ab und zu so zu nennen - es war seine Prinzessin, die -21-
mit ihm sprach und ihm erlauben würde, mit ihr den Fluß entlangzugehen, mit dem sich so viele Ferienerinnerungen seiner Kindheit verbanden; er salutierte, als sie sich lächelnd abwandte. Die Alexandria näherte sich dem Peterhofkai, und die Zarin, von hilfreichen Händen gestützt, erhob sich von ihrem Korbsessel. Als Olga Nikolajewna zu ihren Schwestern trat, hörte Simon sie sagen: »Was habt ihr mit meinem schrecklichen Hut gemacht?« Die Schaulustigen, die von St. Petersburg herausgekommen waren, fuhren schon bald zurück, und langsam belebte sich die Stadt an diesem heißen Nachmittag wieder. Die österreichische Hauptstadt hingegen war menschenleer, als die Nachricht von dem Doppelmord eintraf. Als erstes mußte sie Kaiser Franz Joseph überbracht werden, denn der Tote war sein Thronfolger, und der vierundacht zigjährige greise Monarch weilte gerade zur Erholung in seinem Lieblingsort Bad Ischl. Gegen Abend hatte der Telegraf die tragische Botschaft in die Welt hinauszudrahten begonnen. Sie erreichte den Zaren und seine Minister, den britischen Admiral und seine Offiziere, als der große Ball an Bord der beiden Kreuzer gerade angefangen hatte. Sie erreichte die jungen Großfürstinnen in ihrem wohlbehüteten Heim in Peterhof, und sie erreichte in den Elendsvierteln von St. Petersburg ein paar Menschen, bei denen sie kein Entsetzen auslöste. Bald wußte die ganze Welt, daß ein junger Student, ein Terrorist, der, wenn nicht die Nationalität, so doch die Gesinnung gewisser hartnäckiger Feinde der russischen Kaiserfamilie Romanow teilte, den Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin, die Herzogin von Hohenberg, in einer unbedeutenden Stadt namens Sarajevo niedergeschossen und getötet hatte.
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2 Das seit fünfundsiebzig Jahren bestehende »Hotel Europa« galt 1914 nach wie vor als das vornehmste Haus St. Petersburgs. Genießer mochten das »Hotel de France« an der Morskaja preisen, das sich insgesamt durch den Reiz des Unvorhersagbaren und im speziellen durch eine exquisite Küche auszeichnete, neureiche Geschäftsleute mochten es vorziehen, mit ihrem Geld und ihren Frauen im »Astoria« zu protzen - doch eine ernsthafte Konkurrenz für das »Europa« stellte keines von beiden dar. Es war im Herzen der Hauptstadt erbaut worden und gehörte zu dem großen, von dem Architekten Rossi entworfenen Komplex, der außerdem den Park, verschiedene Plätze und einige architektonisch aufeinander abgestimmte Theater umschloß; an dem heißen Juliabend, an dem Joe Calvert vom Newski Prospekt her das Hotel betrat, schien hier und da der Straßenstaub im Licht der untergehenden Sonne den gleichen warmen Goldton wie die Fassaden der Theater zu haben. Blinzelnd blieb Joe auf der Schwelle zur Bar stehen, in die man von der Eingangshalle aus gelangte, und ließ seine Augen mit gut verhüllter Belustigung durch den Raum wandern. Auf den Glastüren stand zwar seit kurzem in Goldbuchstaben »American Bar«, aber das Innere hatte nichts mit einem amerikanischen »Saloon« gemein. Die Atmosphäre erinnerte eher an einen englischen Klub. Befrackte Kellner bewegten sich lautlos zwischen den Tischen und den großzügig angeordneten wuchtigen Sesseln, die im viktorianischen Geschmack bezogen waren. Russische Uniformen belebten mit ihren leuchtenden Farben den Raum, und die Luft war voll vom Aroma russischer Zigaretten. Man sah keine einzige Frau. Damen, manchmal sogar höchst respektable Damen, nahmen den Tee höchstens im Palmenhof des neuen »Astoria« ein; die Bar des »Europa« blieb ein strikt männliches Reservat. »Überlegen Sie, ob Sie sich einen Drink genehmigen sollen, -23-
Mr. Calvert?« fragte eine Stimme hinter den Seiten der Vechernaja Vretnia hervor, und Joe wandte sich lächelnd um. »Oh, guten Abend, Captain Allen. Verzeihen Sie, daß ich Sie nicht gleich gesehen habe. Wie geht es Ihnen?« »Ausgezeichnet, danke. Wollen Sie sich zu mir setzen, oder erwarten Sie vielleicht jemanden?« »Ich erwarte niemanden.« Joe Calvert brachte seinen langen Körper hinter dem Ecktisch unter, wo der Mann von der britischen Botschaft ihn mit amüsierten Augen betrachtete. Captain Allen war in seinem dunklen Anzug, dem glattgebürsteten blonden Haar und dem kurzgestutzten blonden Schnurrbart wie immer die verkörperte Unauffälligkeit. Sein Gesicht erinnerte Joe an die Gummispielzeuge seiner Kindheit, denen man mit geschickten Fingern jedwede Form geben konnte. »Die Party, die Ihr Geschäftsträger gestern für uns veranstaltete, war eine gelungene Sache. Ich habe mich ausgezeichnet unterhalten«, meinte Allen und stellte dabei fest, daß der junge Amerikaner angespannt und blaß aussah, als hätte die wachsende Unruhe endlich auch auf die einzige ausländische Kolonie übergegriffen, die die Tage seit dem Attentat in Sarajevo in selbstherrlicher Isolierung verbracht hatte. »Oh, vielen Dank. Wir taten, was in unseren Kräften stand, aber natürlich ist das nichts im Vergleich zu dem, was ihr Briten in St. Petersburg aufgezogen habt, als die Marine hier war. Übrigens - ich gratuliere: Wie ich hörte, konnte Ihr Admiral in Moskau einen gewaltigen Erfolg verzeichnen.« »Gewaltig ist ein sehr passendes Wort«, sagte Allen. »Er hat vor allen Dingen ein gewaltiges Stimmorgan, unser Admiral. Es heißt, daß man seine Rede im Sokolniki-Park bis in den Kreml hören konnte. Na, jedenfalls hat er Eindruck gemacht, und wir haben das Ganze alle überlebt - sogar Seine Majestät. Sie haben doch sicher gehört, was bei den taktischen Manövern in Björkö -24-
passiert ist?« »Ich weiß nur, daß die Polarstern irgendein Problem hatte«, erwiderte Joe. »Das ist sehr mild ausgedrückt. Die verdammte Jacht fuhr zu nahe an die Kreuzer heran, und als sie drehten, wäre sie im Kielwasser beinahe untergegangen. Der Zar und seine Begleiter standen knietief im Wasser und klammerten sich an die Reling. Ein Wunder, daß sie nicht ertrunken sind.« »Das dürfte wohl für irgend jemanden eine militärische Untersuchung bedeuten.« »Nicht unbedingt.« Captain Allen wartete, bis der Kellner den Sherry-Cobbler, den Joe bestellt hatte, auf dem Tisch abgesetzt hatte. »Die Russen haben in ihrem Charakter etwas Komödiantenhaftes, wie Sie bald herausfinden werden. Sie haben eine Vorliebe für großartige Auftritte und Zeremonien, und wenn dann etwas aus reiner Unfähigkeit schiefgeht, wie letzte Woche auf der Polarstern, benehmen sich alle wie Possenreißer in einem Varieté.« »Das kann ein ganz angenehmer Zug sein.« »Ich hoffe nur, daß sie sich diesen Hang zur Farce in den nächsten Wochen bewahren.« »Auch während des französischen Staatsbesuchs?« »Da wird es sicher ebenfalls den einen oder anderen Überraschungseffekt geben. Was sagt man übrigens in Frankreich zu Präsident Poincarés Rußlandreise? Sie waren doch zuletzt in Lyon, meine ich gestern gehört zu haben.« »Ja, es war mein erster Posten. In Lyon schien das Thema niemanden sonderlich zu interessieren. Dafür war es in Paris, wo ich einige Tage Urlaub machte, bevor ich hierherkam, in aller Munde. Es gab ein paar positive Stimmen, aber die sozialistischen Zeitungen kritisierten den Entschluß scharf.« »Ja, ich kenne das. Aber da wir schon davon reden - hier -25-
sehen viele Leute die Sache genau umgekehrt. Doch nicht einmal die Monarchisten können etwas dagegen unternehmen Frankreich ist nun einmal auf Grund früherer Verträge Rußlands Verbündeter. Die Sozialisten andererseits - und zwar sowohl die Sozialdemokraten als auch die Sozialrevolutionäre argumentieren genau wie ihre Kameraden in Frankreich. Sie glauben, die Allianz mit Frankreich führe unweigerlich zum Krieg.« »Aber ist nicht Ihr eigenes Land ebenfalls Partner dieser Allianz?« »Der Dreier-Entente, ja«, antwortete Richard Allen. »Das heißt, Sie sind lediglich gute Freunde, wie?« »So etwas.« »Und was sind wir?« »Die Amerikaner? Vorerst nichts. Aber es ist durchaus möglich, daß sie bald als Schiedsrichter für die Europäer fungieren.« »Höchst unwahrscheinlich.« »Wir werden ja sehen. Ich bin froh, daß Präsident Wilson endlich einen Botschafter für Rußland ernannt hat. Ihr Geschäftsträger verdient zwar vo lle Anerkennung, aber trotzdem - zwei Jahre ohne Botschafter, und nur, weil Ihr Kongreß ein achtzig Jahre altes Handelsabkommen widerrief, das man hier in Rußland schon längst vergessen hatte!« »Das Abstimmungsergebnis des Kongresses war sehr überzeugend dreihundert zu eins, soweit ich mich erinnere.« »Wann erwarten Sie den neuen Mann in St. Petersburg?« »Mr. Marye? Vorläufig noch nicht. Seine Ernennung muß erst noch vom Senat bestätigt werden. Er kommt vermutlich Ende September oder Anfang Oktober.« Richard Allen überdachte dies mit hochgezogenen Brauen, unter denen seine hellen Augen wie Glaskugeln wirkten. -26-
»Dann gibt es also für die nächsten acht Wochen noch immer keinen amerikanischen Botschafter in Rußland. Äußerst bedauerlich.« »Viel ist in der Ferienzeit bestimmt nicht los.« »Da bin ich nicht so sicher. Was sagt man bei Ihnen über den Mord von Sarajevo?« »Sarajevo? Sie hätten gestern abend unseren Geschäftsträger darüber befragen sollen.« »Das habe ich getan«, erklärte Captain Allen, »aber in einer Balkankrise zählt jeder Tag, und seit der Ermordung des Erzherzogs und seiner Frau ist schon eine Woche vergangen. Die merkwürdige Passivität der Österreicher gefällt mir nicht. Wenn sie der serbischen Regierung die Verantwortung für das Attentat anlasten wollen, dann sollte man doch meinen, daß sowohl am Ballhausplatz als auch in der Hofburg die Karten zu diesem Zeitpunkt längst aufgedeckt worden sein müßten. Schließlich war Franz Ferdinand ja der österreichischungarische Thronfolger.« »Die Art, wie sie ihn beigesetzt haben, brächte niemanden auf die Idee«, sagte Joe. »Der Erzherzog war in Wien nicht besonders populär. Seine morganatische Ehe war außer dem Kaiser auch noch anderen Leuten ein Dorn im Auge.« »Wenn er aber gar nicht so bedeutend war, weshalb sollten sie sich dann überhaupt mit den Serben anlegen? Drei von der bosnischen Bande sind verhaftet, und dieser Princip hat nachweislich die Schüsse abgegeben - warum hängt man ihn nicht einfach auf und damit Schluß?« »Weil wir es leider mit dem Nahen Osten und nicht mit dem Wilden Westen zu tun haben«, entgegnete der Engländer mit einem schiefen Lächeln. »Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick.« Er erhob sich, um einem hochgewachsenen russischen Offizier, der ihn im Hinausgehen gegrüßt hatte, die -27-
Hand zu schütteln. Sie unterhielten sich eine Weile, und Joe benutzte die Zeit, um die Wodkakaraffe auffüllen zu lassen. »Sehr aufmerksam von Ihnen«, sagte Allen, der gerade zurückkam, als der Kellner fertig war. »Ich hoffe, Sie verzeihen, daß ich Sie dem Grafen Bronski nicht vorgestellt habe. Er spricht kein Wort Englisch, und im Gegensatz zu den meisten anderen auch kein Französisch.« »Ich habe gerade Ihr Russisch bewundert«, erklärte Joe. »Ich sah Sie die Abendzeitung lesen, als ich hereinkam, aber wie Sie es sprechen -Gott! Wie lange sind Sie schon hier?« »Oh, dienstlich noch gar nicht so lange«, antwortete der Engländer leichthin, »aber die Sache ist so: ich bin hier geboren. Mein Vater kam aus Lancashire und richtete in Rußland einige der ersten Textilfabriken ein - zu Zar Alexanders Zeiten.« »Das hat Ihnen natürlich einen guten Start verschafft, und vielleicht können Sie mir einen Rat geben...« Joe sah auf seine Taschenuhr. »Oder halte ich Sie auf? Sind Sie verabredet?« »Ich erwarte tatsächlich Gäste, mit denen ich im ›Cubat‹ zu Abend essen will. Aber da es Russen sind, kommen sie mindestens eine Stunde zu spät, also habe ich keine Eile.« »Wissen Sie... die Sache ist die, ich bin heute abend bei meiner Sprachlehrerin eingeladen.« »Ah, Sie haben sich eine Sprachlehrerin genommen. Gut.« »Und da die Leute hier offenbar zu jedweder Tageszeit essen, weiß ich nicht, ob ich etwa mitten in ihr Abendessen platze. Soll ich warten, bis sie mit Sicherheit fertiggegessen haben, oder einfach hungrig hingehen?« »Das hängt ganz davon ab, wer die Dame ist, die Ihnen Russischunterricht gibt«, entgegnete Allen mit amüsierter Miene. »Es ist Madame Hendrikowa, sie wohnt auf der WassilijInsel.« -28-
Allen pfiff leise. »Da müssen Sie ja ein halber Linguist sein, Mr. Calvert. Vera Andrejewna kann sich ihre Schüler aussuchen, und sie akzeptiert prinzipiell nur sprachbegabte Leute.« »Oh. Jetzt ist mir zumute, als hätte ich ein Examen vor mir. Kennen Sie Madame Hendrikowa?« »Nur sehr flüchtig. Ich war zweimal auf Einladung ihres Mannes hin in ihrer Wohnung. Die Kinder habe ich nie gesehen. Ich glaube, sie haben zwei sehr hübsche Töchter und einen Sohn, der bei der Marinegarde ist, aber vermutlich gingen sie Papas politischen Abenden aus dem Wege.« »Ich dachte, der Mann sei Professor für Geschichte?« »Eigentlich kommt er aus der Politik, wo er auch eine ziemlich bekannte Persönlichkeit war. Er gehörte der Ersten Duma an, doch nachdem diese schwachen parlamentarischen Ansätze durch einen Erlaß des Zaren erst einmal im Keim erstickt worden waren, bedeutete man ihm, daß er seinen Lehrstuhl verlieren würde, wenn er sich weiter damit beschäftigte. Er ist vermutlich das, was wir einen Liberalen und Sie einen Demokraten nennen würden; jedenfalls schreibt er noch immer für die liberale Zeitung Rech, und bei meinem ersten Besuch war auch Wladimir Nabokow zugegen. Jetzt scheint er es mit Kerenski zu halten, dem Führer der Arbeiterpartei - diesem Rechtsanwalt, der in der LenaGoldfields-Sache soviel Aufsehen erregt hat. Aber heute begegnen Sie Monsieur Kerenski nicht. Sein politisches Feld ist augenblicklich Sibirien. Den Zeitungen nach war er an dem Tag, an dem Franz Ferdinand erschossen wurde, auf einem Lehrerkongreß in Jekaterinenburg.« »Ich werde ihn nicht vermissen«, sagte Joe. »Einer Unterhaltung mit russischen Politikern fühle ich mich nämlich noch nicht gewachsen, ganz gleich, von welcher Seite sie kommen.« -29-
»Sie werden einen sehr anregenden Abend verbringen. Wahrscheinlich werden Ihnen eine Unzahl Verwandte und Freunde vorgestellt, und der Samowar ist bis Mitternacht in Betrieb. Ich kann Ihnen nur empfehlen, vorher nichts zu essen. Aber gestatten Sie mir, daß ich noch so ein Gebräu für Sie bestelle. Ich dachte übrigens, ihr Amerikaner hättet eine Vorliebe für Gin-Cocktails?« »Oh, das stimmt auch«, versicherte Joe Calvert. »Ich wollte nur einen klaren Kopf für Madame Hendrikowa behalten. Nein, keinen mehr, danke. Vielen Dank auch für die Auskünfte. Ich glaube, ich gehe jetzt nach oben und mache mich ein bißchen frisch.« »Ach, natürlich - Sie wohnen ja hier im Hotel.« »Nur bis ich eine Wohnung habe. Und dazu muß ich erst so viel Russisch sprechen, daß ich mir ein Dienstmädchen nehmen kann.« »Das werden Sie bestimmt bald geschafft haben. Ich persönlich habe eine kleine Wohnung in der Italianskaja, etwa fünf Wegminuten von hier. Nummer 365, leicht zu merken, man braucht bloß an die Tage des Jahres zu denken. Vielleicht könnten wir einmal einen Bridgeabend dort veranstalten, wenn Präsident Poincaré nach Pans zurückgekehrt ist?« »Sehr gern«, antwortete Joe und schüttelte ihm die Hand. »Obwohl ich eigentlich mehr Pokerspieler bin.« »Das dachte ich mir fast.« Die Hendrikows wohnten in der Vierten Straße auf der Wassilij-Insel, einer breiten, rechtwinklig vom Universitätskai wegführenden Allee mit zwei hohen Häuserreihen, deren Bürgersteige zu beiden Seiten ein grasbewachsener Streifen mit Lindenbäumen einfaßte. Die Linden begannen gerade zu blühen, und ihr süßer Duft vermischte sich mit dem schwachen, aber deutlich wahrnehmbaren Geruch von Meer und geteertem -30-
Tauwerk. Joe atmete die Luft genüßlich ein, während er den Kutscher entlohnte. Die Wohnung der Hendrikows, so erklärte ihm ein unterwürfiger Portier mit tiefen Bücklingen, lag zwei Treppen hoch, wenn der bann sich bemühen wolle, hinaufzusteigen, da es - leider keinen Aufzug gab. Die Treppe war mit weichen Läufern bedeckt, und solide Mahagonitüren ließen erkennen, daß in jedem Stockwerk zwei Wohnungen lagen. Er klingelte bei den Hendrikows. Ein adrettes Mädchen mit breitem, von Zöpfen umrahmtem Gesicht und einer weißen Schürze öffnete die Tür und knickste. Er hängte seinen Strohhut an einen Ständer in der Diele und wurde in einen freundlichen Wohnraum geführt, wo sich zwei junge Mädchen erhoben, um ihn mit anmutigen Knicksen zu begrüßen. Joe verbeugte sich. »Guten Abend. Mein Name ist Calvert, vom amerikanischen Konsulat. Madame Hendrikowa hat mich...« »Guten Abend, Sir«, sagte das blonde Mädchen höflich. »Bitte nehmen Sie Platz.« »Danke.« Die beiden Mädchen hatten an einem mit einer roten Plüschdecke bedeckten Tisch vor aufgeschlagenen Büchern gesessen. Joe setzte sich ihnen gegenüber und bemerkte ein wenig hilflos : »Hm - wunderschöner Tag heute, nicht wahr?« »Wunderschön«, bestätigte das dunkelhaarige Mädchen. Er hätte schwören können, daß sie insgeheim über ihn lachten. Normalerweise benahm sich Joe in weiblicher Gesellschaft stets völlig ungezwungen, aber diese beiden Mädchen, die ihn anstarrten, als wäre er ein fremdartiges Wesen, das man in ihrem Wohnzimmer freigelassen hatte, brachten ihn in Verlegenheit. Dabei waren sie sehr attraktiv; die Blonde, deren Locken im Nacken von einer schwarzen Schleife zusammengefaßt wurden, war außerordentlich hübsch; und auf eine strengere Weise war es auch die Dunkelhaarige, die ihre schwarzen Zöpfe um den -31-
Kopf geschlungen trug. Sie hatten die gleichen haselnußfarbenen Augen, die man weder braun noch grün hätte nennen können, und diese Ähnlichkeit bewog Joe zu der Frage: »Sind Sie Madame Hendrikowas Töchter?« »Nicht beide, Sir«, antwortete das blonde Mädchen. »Meine ältere Schwester Betsy ist verheiratet und lebt in Dänemark. Ich bin Darja Hendrikowa, und das ist meine Freundin Mara.« »Mara Trenowa«, sagte das dunkelhaarige Mädchen. »Wir besuchen die Xenia-Schule.« »Ist das ein Pensionat?« erkundigte sich Joe. »Ja, aber jetzt haben wir Ferien«, sagte Darja und fuhr fort: »Bitte entschuldigen Sie meine Mutter. Sie hatte noch einen Schüler, aber ich glaube, jetzt kommt sie.« Man hörte, wie sich jemand verabschiedete, eine Tür schloß sich, und gleich darauf erschien eine energische, kleine, füllige Dame mit gerötetem Gesicht und ergrauendem blondem Haar, das sie auf dem Kopf zusammengedreht trug. »Mein lieber Mr. Calvert«, sagte sie überschwenglich, »es tut mir so leid, daß Sie warten mußten. Mein letzter Schüler kam über eine halbe Stunde zu spät. Ich hoffe, Dolly und Molly haben Sie unterhalten?« »Sie waren sehr nett«, versicherte Joe, und Dolly machte eine Bemerkung auf russisch, was ihre Mutter sogleich mit scharfer Stimme rügte. »Dolly, es ist sehr unhöflich, die eigene Sprache vor jemandem zu gebrauchen, der sie nicht versteht!« »Was sagte sie, Madame?« »Bitte verzeihen Sie einem albernen Mädchen, Mr. Calvert. Sie sind der erste Amerikaner, den meine Tochter kennengelernt hat, und sie erklärte nur, daß Sie ganz anders aussehen, als sie es sich vorgestellt hatte.« »Vielleicht hätte ich mit Kopfputz und Wampum kommen -32-
sollen«, meinte Joe gutmütig. »Aha! Sie können auch albern sein! Das ist fein«, sagte Madame Hendrikowa. »Kommen Sie jetzt, wir müssen über unsere Arbeit reden. Ich habe ein kleines Zimmer am anderen Ende der Wohnung, wo ich normalerweise meine Schüler empfange, aber heute setzen wir uns in das Arbeitszimmer meines Mannes. Er freut sich darauf, Sie kennenzulernen.« Mit der knappen Anweisung: »Dolly, bestell den Tee für uns!« führte die kleine Dame Joe durch eine Verbindungstür in ein mit Büchern in offenen Regalen förmlich tapeziertes Zimmer, wo sich Professor Hendrikow höflich hinter einem überladenen Schreibtisch erhob. Er war nicht groß, wenn auch wesentlich größer als seine Frau, und hatte eine hohe Gelehrtenstirn unter dem schon etwas kahlen Schädel; hinter den Ohren lugten dichte Haarbüschel hervor. Mit seinem Knebelbart und dem wallenden Kragen erinnerte er Joe an eine Shakespeare-Büste, die in der Bibliothek seine r Schule gestanden hatte. Professor Hendrikow erkundigte sich zuerst nach Joes Familie, erfuhr, daß er der einzige Sohn war, daß sich sein Vater »sozusagen zur Ruhe gesetzt« hatte, während seine Mutter sich noch aktiv in Frauenklubs betätigte, und verschaffte sich eine gewisse Vorstellung von Baltimore, wo Joe geboren war und seine Eltern noch lebten. »Und Sie haben die Universität besucht, wie ich höre?« fragte er. »Ja, Sir, ich war in Princeton und habe 1911 mein BachelorExamen in Französischer Kultur abgelegt.« »Tatsächlich? Da haben wir schon etwas miteinander gemein«, sagte Professor Hendrikow. »Mein eigenes Fach ist Französische Geschichte von der Revolution bis zur Gegenwart.« »Donc, attention, monsieur!« unterbrach sie Madame -33-
Hendrikowa, »parlons français!« »Bien, madame.« Sie stellte dem Amerikaner eine Reihe Fragen über sein Leben in Lyon und den kurzen Urlaub in Paris und rief dann aus: »Assez! Die Grammatik ist sehr gut, der Akzent nicht. Ich glaube, wir werden uns für den Unterricht doch lieber mit dem Englischen behelfen.« »Ich hatte es ohnehin so vor«, erwiderte Joe. »Dann sollten wir sobald wie möglich anfangen. Normalerweise haben meine Schüler zwei Stunden wöchentlich, Mr. Calvert, aber Sie möchte ich eigentlich für den Rest dieses Monats, bis wir nach Finnland in Ferien gehen, lieber dreimal pro Woche sehen.« Es wurde abgemacht, daß Joe montags, mittwochs und freitags kommen sollte, das erstemal am nächsten Tag um sechs Uhr. »Es ist wirklich ein Jammer«, klagte Madame Hendrikowa, »daß Sie ausgerechnet vor der Ferienzeit anfangen. Genau heute in einem Monat, am zweiten August, gehen wir auf unsere Datscha. Aber wie wäre es, wenn Sie eine Woche mit uns in Koivisto verbrächten und einmal nur Russisch sprächen, soweit Sie dazu in der Lage sind?« »Das ist sehr gütig von Ihnen, Madame«, antwortete Joe, »aber ich kann nicht von St. Petersburg weg. Ich habe meinen Posten ja gerade erst angetreten, und mehr als mein Paris-Urlaub steht mir dieses Jahr nicht zu.« »Dann werde ich Übungen für Sie vorbereiten, die Sie im August machen können«, verkündete seine Lehrerin. »Und jetzt trinken Sie erst einmal Tee mit uns.« Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrten, war inzwischen auf dem Tisch ein weißes Tuch ausgebreitet worden, und Dolly betreute den Samowar. Der Ra um hatte sich mit Leuten gefüllt, -34-
die nach Joes Dafürhalten alle gleichzeitig redeten. Es handelte sich, wie er sehr bald erfuhr, um Vetter Timofey, einen Geiger, der bei Glasunow am Konservatorium studierte, Vetter Arkadejew, einen Laboranten des großen Mendelejew, Vetter Boris, den zweiten Kurator des Museums für Russische Kunst, und um mindestens vier plumpe Kusinen, die sich für den Anlaß mit plissee- und spitzeneinsatzverzierten Abendblusen herausgeputzt hatten. Sie sprachen mit Joe französisch und waren alle sehr freundlich und herzlich, weitaus mehr als die spießigen Geschäftsleute von Lyon, von denen keiner auch nur im Traum daran gedacht hätte, einen jungen Amerikaner in sein bourgeoises Heim einzuladen. Das Dienstmädchen und eine zweite, nicht minder ländlichdralle Hilfe schleppten unentwegt Essen an, bis der ganze Tisch voll war. Dolly Hendrikowa verließ ihren Platz hinter dem Samowar, um Joe einen Teller mit Ingwerkeksen anzubieten, die, wie sie mit einem kleinen Knicks sagte, eigens für ihn in dem englischen Laden am Newski Prospekt gekauft worden waren. Lächelnd sah er zu ihr auf. Sie war wirklich sehr hübsch mit ihren klaren Augen, den weichen, noch nicht vom Leben gezeichneten Zügen und den schimmernden blonden Ringellocken, die der strengen schwarzen Schleife entschlüpft waren. »Gibt es diese Ingwerkekse denn auch bei Ihnen in Baltimore?« fragte Vetter Timofey, und Joe bejahte. Und um Dolly eine Freude zu machen, erklärte er, er sei geradezu versessen darauf, und nahm einen zweiten von dem Teller, den sie neben ihn gestellt hatte. »Rußland muß Ihnen sehr fremd vorkommen, Monsieur.« »Ein wenig schon, aber ich hoffe, daß ich lange hierbleibe und viel vom Land sehe.« »Woran werden Sie sich Ihrer Meinung nach am schwersten -35-
gewöhnen?« forschte Timofe y beharrlich weiter. »An das Essen? Den Wein? An unseren Tageslauf?« »An den Kalender«, antwortete Joe zur allseitigen Überraschung. »An den Kalender?« »Heute ist in Amerika der fünfte Juli, und gestern war unser Unabhängigkeitstag, aber hier schreiben wir erst den dreiundzwanzigsten Juni. Ich hatte schon Probleme im Konsulat, weil ich ständig irgendwelche Daten durcheinanderbringe.« Alles lachte, und Joe war es, als hörte er Professor Hendrikow murmeln: »Ich wollte, wir könnten den Kalender auf den ersten Juni zurückstellen - zu unser aller Bestem.« Aber er war nicht sicher, ob er sich nicht doch getäuscht hatte, denn Madame Hendrikowa - ins Englische zurückfallend - sagte plötzlich emphatisch: »Sehen Sie, Mr. Calvert, wir haben bereits Stoff für Ihre erste Russischstunde: nach dem Alphabet die Wochentage und die Monate. Aber heute abend sollen Sie schon einmal lernen, wie man Russen anspricht und von ihnen angesprochen wird. Sie werden jetzt nicht mehr Madame Hendrikowa zu mir sagen, sondern - unter Verwend ung des Patronymikons - Vera Andrejewna; zu meiner Tochter Darja Karlowna, und so weiter. Man benutzt immer den Vornamen und dazu den des Vaters. Das ist hier in Rußland die korrekteste Anrede.« »Wie aber, wenn man den Vornamen des Vaters nicht weiß?« wollte Joe wissen. »Dann paßt man auf, bis man ihn von jemand anderem hört. Nehmen wir einmal Ihren eigenen Fall. Sie heißen Joseph, nicht wahr?« »Ja.« »Und Ihr Vater?« »George. George Alexander Calvert.« -36-
»Dann lautet Ihr Name auf russisch Jusuw Jurijewitsch, und so werden wir Sie von jetzt an auch nennen.« »Auf Jusuw Jurijewitsch!« rief der Musiker und hob sein Teeglas. Doch der umgetaufte Jusuw sagte sehr entschieden: »Tut mir leid, Madame, aber ich fürchte, ich würde mich nicht betroffen fühlen, wenn mich jemand als Jusuw Soundso anspräche. Ich bleibe lieber ganz schlicht Joe Calvert, wenn Sie nichts dagegen haben.« Seine Worte lösten schallendes Gelächter aus, und wenn Madame Hendrikowa auch den Kopf schüttelte, so war der Amerikaner doch erfreut und befriedigt. Er hatte sich behauptet, und sie wußten das zu schätzen. Es waren entschieden die nettesten Menschen, die er bisher in St. Petersburg kennengelernt hatte, und sie schienen ihn voll und ganz zu akzeptieren. Die Unterhaltung wurde nun lebhaft fortgesetzt, und es wirkte fast wie ein Schock, als von der Tür her plötzlich eine neue, tiefe Stimme zu vernehmen war. »Was für ein Spektakel! Man kann euch schon vom anderen Ende der Straße hören!« Neugierig sah Joe den jungen Hendrikow an. Er hatte markante, offene Züge, krauses kastanienbraunes Haar, und seine Augen waren haselnußfarben wie die seiner Schwester. Simons Mutter sagte: »Du hast dich sehr verspätet.« »Ich weiß, Mutter, aber mir ist im letzten Moment etwas dazwischengekommen. Es tut mir leid.« Simon zupfte seine Schwester am Haar und sagte zu Mara irgend etwas auf russisch, was sie mit einem Lächeln quittierte; dann ging er um den Tisch herum, begrüßte den Rest der Familie auf französisch, küßte den Damen die Hand und hieß Joe Calvert in St. Petersbur g willkommen. Doch unter der gewandten, vollendeten Art, mit der er seinen gesellschaftlichen Pflichten genügte, verbarg sich deutlich eine gewisse Ungeduld -37-
und Nervosität. »Vater, könnte ich einen Augenblick allein mit Ihnen sprechen?« fragte er, als er alle begrüßt hatte. »Ich habe eine Droschke unten stehen, ich darf mich nicht lange aufhalten.« »Aber, Simon...« Doch eine Geste ihres Mannes ließ Madame Hendrikowa verstummen, und gleich darauf verschwanden Vater und Sohn im Arbeitszimmer des Professors. Eine oder zwei der Frauen murmelten, daß es eigentlich an der Zeit sei, nach Hause zu gehen. »Unsinn, es ist noch nicht einmal elf Uhr«, entgegnete die Gastgeberin. »Simon und sein Vater brauchen bestimmt nicht lange.« »Meinen Sie?« zweifelte Vetter Timofey. »Simon sah so aufgeregt aus, als wollte er die Nachricht einer allgemeinen Mobilmachung überbringen.« »Guter Gott!« sagte der Museumskurator. Zwei der älteren Frauen bekreuzigten sich, und Simons Mutter, sehr blaß, entrüstete sich über Timofeys schreckliche Äußerung. Doch gleich war alles wieder vorbei, denn Simon und sein Vater kamen lächelnd zurück; der junge Mann steckte irgend etwas in seine Tasche, während er die Tür des Arbeitszimmers schloß. »Du mußt dich setzen und ein Glas Tee mit uns trinken, Simon«, ordnete Madame Hendrikowa erleichtert an. »Also gut, aber ich darf wirklich nicht länger als ein paar Minuten bleiben. Ich bin zum Abendessen in den Jachtklub eingeladen und möchte nicht zu spät kommen.« »In welchen Jachtklub? In den auf der Krestowski-Insel?« erkundigte sich der Professor. »Nein, Vater, in den anderen, an der Morskaja.« »Und anschließend geht es natürlich zu den Zigeunerinnen«, bemerkte Mara Trenowa. Simon blickte sie gleichgültig an. »Möglich«, antwortete er. -38-
Joe Calvert war keine Nuance entgangen: weder die Freude des liberalen Professors über das entrée seines Sohnes in den exklusivsten Klub St. Petersburg noch die Enttäuschung in Maras Gesicht. Sie kam eigens hierher, um ihn zu sehen, und er ging fort, ohne sie zu beachten. Schlimm, dachte Joe. Dolly bemühte sich hastig, die Situation zu retten. »Nun, vorerst bist du noch hier, und ich hoffe, du erzählst uns wenigstens, was es am Hof Neues gibt«, sagt sie. »Wann wird Großfürstin Olgas Verlobung verkündet?« Simon steckte gerade eine schwarze russische Zigarette in ein Bernsteinmundstück. »Was für eine Verlobung soll das denn sein?« fragte er. »Oh, tu doch nicht so!« »Simon, sei nicht albern!« Die Stimmen hatten auf einmal eine erleichterte, überschwengliche Lebhaftigkeit, als ob eine Hofromanze die Möglichkeit eines Krieges in weite Ferne rückte. »Alle Welt weiß, daß ihr nur wegen Prinz Carol nach Konstanza gefahren seid und daß er der Großfürstin sehr gut gefallen hat...« »Sie ist in Konstanza tatsächlich mit Prinz Carol zusammengetroffen, aber das ist vorerst auch alles.« Der junge Offizier runzelte finster die Stirn. Ein gutaussehender Bursche mit einem ziemlich aufbrausenden Temperament, dachte Joe Calvert; und wenn es darauf ankam, brauchte er sich bei seinem Körperbau vor niemandem zu fürchten. »Ich habe gehört, daß Olga Nikolajewna den Prinzen von Wales heiraten wird«, sagte eine der Damen. »Aber Monsieur Sazonow bevorzugt die Verbindung mit dem Rumänen«, erklärte Professor Hendrikow. »Unser Außenminister denkt, daß sie den russischen Plänen am Schwarzen Meer förderlich ist. Auf nach Konstantinopel! Der alte byzantinische Traum ist wie eh und je lebendig.« -39-
»Werden Prinzessinnen noch immer aus politischen Gründen in irgendwelche Ehen hineingepreßt? Das klingt ja mittelalterlich«, sagte Joe. »Die Romanows leben im Mittelalter«, entgegnete Mara. »Die Zarenmutter hat weitaus mehr Einfluß in der Familie als Sazonow«, sagte Madame Hendrikowa, »und sie würde ihre älteste Enkelin sehr gern mit dem zukünftigen König von England vermählt sehen.« »Irgendwer hat mir erzählt«, ließ sich Vetter Timofey vernehmen, »daß die junge Dame ihrerseits den Großfürsten Dimitrij schätzt.« Simon schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Was für eine klatschsüchtige Gesellschaft ihr doch allesamt seid! Ich hoffe, daß ich euch das nächste Mal in einer spiritistischen Séance oder beim Kartenlegen antreffe.« »Am Hof sind eine ganze Menge okkulter Einflüsse am Werk, nicht war?« bemerkte Mara. »Sie haben doch überhaupt keine Ahnung, Mara Iwanowna«, gab Simon barsch zurück. »Mutter, ich muß fort. Ich habe keine Zeit mehr, mich mit wilden Gerüchten zu befassen. Gute Nacht!« »Simon, mein lieber Junge, wann sehen wir dich wieder?« Er war zu warmherzig, um dem flehenden Ton in der Stimme seiner Mutter widerstehen zu können. Er beugte sich zu ihr hinunter und küßte sie. »Ich hoffe, daß ich vor der Kreuzfahrt nach Finnland noch ein paar Stunden Stadturlaub bekomme, aber sicher ist das noch nicht. Sie halten uns diese Woche ziemlich dicht bei den Kasernen. Ja, dann also noch einmal gute Nacht.« »Gute Nacht, Simon Karlowitsch.« Es war fast ein Chor, und anschließend blieb alles still, bis die Wohnungstür einschnappte. Dann bemerkte Vetter Timofey mit einem sarkastischen Lachen: -40-
»Wer hätte gedacht, daß sich Ihr Sohn einmal als ein solcher Verteidiger des Hofes erweisen würde, Karl Leontowitsch? Seit seiner Versetzung auf die Standart ist Simon offenbar Monarchist.« »Das Wohlwollen des Zaren ist viel wert für einen jungen Mann, der als Offizier weiterkommen will«, erwiderte der Professor. »Hat Simon denn auch Rasputins Wohlwollen?« Doch Mara Trenowa verhinderte jede weitere Diskussion. Sie stand auf und wandte sich an Madame Hendrikowa. »Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft, Vera Andrejewna, ich muß jetzt wirklich gehen. Ich habe einen so weiten Weg, und meine Mutter macht sich bestimmt schon Sorgen um mich.« »Gestatten Sie mir, daß ich Sie nach Hause bringe, Mara Iwanowna?« fragte Joe. Er wußte nicht, was ihn zu seinem Angebot veranlaßt hatte; vielleicht lebte das Mädchen meilenweit entfernt irgendwo auf dem Land. Er ertrug es einfach nicht, eine Frau gedemütigt zu sehen, auch wenn sie es selbst verschuldet hatte, indem sie ihre Gefühle so offen zeigte. »Bitte machen Sie sich meinetwegen keine Umstände, Monsieur«, wehrte Mara jedoch ab. »Ich nehme an der Brücke eine Straßenbahn.« »Am besten gehen wir alle drei zusammen zu der neuen Brücke«, meinte der Professor. »Wir können von unserem ausländischen Gast kaum erwarten, daß er sich schon mit unseren Brücken auskennt.« Er erhob sich und gab damit das Zeichen für den allgemeinen Aufbruch. Die beiden Mädchen verschwanden, und als Mara wieder hereinkam, trug sie eine enganliegende blaue SergeJacke über ihrem Kleid aus dem gleichen Stoff und einen cremefarbenen Strohhut, der Joes eigenem nicht ganz unähnlich war. Der Professor setzte einen formlosen Homburg auf, und sie verließen als erste das Haus, während die anderen Gäste noch -41-
schwatzend auf dem Treppenabsatz verweilten. Auf der Straße war es im Vergleich zu der von den Lindenbäumen überschatteten Wohnung noch überraschend hell. »Dabei ist es schon nicht mehr so hell wie vor zwei Wochen«, sagte Professor Hendrikow auf eine Bemerkung Joes hin. »Wenn Sie um die Sommersonnenwende in St. Petersburg gewesen wären, hätten Sie von hier aus die Sonne im Finnischen Meerbusen versinken sehen können, und gleichzeitig wäre im Osten das Licht eines neuen Tages heraufgedämmert. Aber ich finde, die Farben sind zu Beginn und am Ende der sogenannten ›weißen Nächte‹ viel subtiler als in dem melodramatischen Moment der Sonnenwende.« In der Tat schienen von der Strelka-Landspitze her Fluß und Stadt die Farben einer Perle angenommen zu haben, die alle zarten Nuancen von Rosa bis Lila über dem Dunkelviolett der Granitdämme zeigte. Der Himmel war von blassem Grau, in das zu beiden Seiten der Newa die goldschimmernden Türme des Admiralitätsgebäudes und der Peter-Pauls-Kathedrale aufragten. »Hören Sie nur!« sagte Mara Trenowa. Der feine, klare Klang eines Glockenspiels kam von der Kathedrale über den Fluß. Joe blickte auf Mara hinunter. Sie hatte die Augen dem Fluß zugewandt, und er konnte Tränen auf ihren schwarzen Wimpern sehen. Instinktiv schob er seine Hand durch ihren Arm. Sie sah zu ihm auf, und ein weiches Lächeln überzog ihr Gesicht. »Sollen wir noch ein Stück weitergehen?« fragte Joe. »Auf der anderen Seite ist auch eine Haltestelle.« »Gern.« Mara redete nicht mehr davon, daß sich ihre Mutter Sorgen machte. Langsam schlenderten sie im zunehmenden Dämmerlicht dahin, das Mädchen zwischen den beiden Männern, bis sie jenseits der Brücke auf den Newski Prospekt kamen. »Jetzt weiß ich, wo ich bin«, verkündete Joe. »Hier ist die -42-
Morskaja mit dem ›Astoria‹ am anderen Ende, und wenn wir erst den Moikakanal überquert haben, dann ist das ›Europa‹ nur noch ein paar Häus erblocks entfernt. Die St. Petersburger scheinen im übrigen Nachtspaziergänge sehr zu schätzen!« Der Newski Prospekt war beinahe genauso belebt wie am frühen Abend. Die Schaufenster waren hell, und elektrische Straßenlaternen beleuchteten den noch immer regen Verkehr. »Bei Nacht spazierenzugehen ist für uns im Winter wie im Sommer ein beliebter Zeitvertreib«, bestätigte der Professor. »Sie werden sich in St. Petersburg bald auskennen, Mr. Calvert!« »Wissen Sie schon die Namen von allen Kanälen?« fragte Mara. Sie hatte ihre Hand aus Joes Arm gezogen, als sie den Newski Prospekt erreichten. »Nur von dreien. Wir haben den Moikakanal überquert und sind gleich beim Katharinakanal, und der Fontankakanal ist noch ein ziemliches Stück weit entfernt. Professor, wie heißt die Kirche dort am Kanalufer? Sie unterscheidet sich von allen anderen Bauwerken der Stadt, kommt mir aber irgendwie bekannt vor.« Der Professor lächelte. »Ich kann Ihnen sagen, warum. Sie haben Bilder von der Basilius-Kathedrale im Kreml gesehen, und die beiden Kirchen ähneln sich sehr. Diese hier heißt Auferstehungskirche.« »Ist sie sehr alt?« »Eine der neuesten der Stadt«, antwortete Mara. »Die Romanows ließen sie zum Gedächtnis Alexanders II. an der Stelle erbauen, wo er getötet wurde.« »Getötet?« sagte Joe. »Sie meinen ermordet.« Der Professor mischte sich ein. »Das ist eine alte Geschichte, Mr. Calvert, und keine, auf die wir stolz sein können. Eine terroristische Studentengruppe, von einem Fanatiker aus Odessa angeführt...« -43-
»Und von einem Mädchen aus aristokratischem Haus, Sophia Perowskaja«, ergänzte Mara. »Nachdem sie den Zar getötet hatten, wurde sie als Mittäterin gehenkt. Stellen Sie sich diese Grausamkeit vor! Eine Frau zu erhängen!« »Wenn man ein Bombenattentat gegen einen Kaiser plant, muß man auch bereit sein, den Preis dafür zu zahlen«, sagte Joe. »Mord ist keine Lösung, Miß Trenowa! Glauben Sie, die Schüsse, die Princip letzte Woche in Sarajevo abgefeuert hat, geben den Bosniern ihre Unabhängigkeit?« »Ich bewundere Sophia Perowskaja«, erklärte Mara heftig, »und Agrilo Princips Tat kann ihn nur ehren. Die Bosnier haben schon viel zu lange unter einer kaiserlichen Tyrannei gelebt genau wie wir in Rußland. Ach, es ist ja sinnlos, darüber zu reden. Ich werde den Professor nur verärgern! Vie len Dank für die Begleitung - und gute Nacht.« Bevor sie einer der Männer aufhalten konnte, war Mara schon weggelaufen, und gleich darauf sahen sie sie auf der anderen Seite des Newski Prospekts in eine Straßenbahn steigen. »Das war ein überstürzter Abschied«, bemerkte Joe trocken. »Hat sie es wirklich weit? Kann man sie so einfach allein fortlassen?« »Natürlich. Sie mag es sowieso nicht, wenn man sie bis zu ihrer Haustür bringt. Arme Mara! Sie wohnt in einer sehr dürftigen Umgebung, was sie abwechselnd mit Stolz erfüllt und beschämt.« »Sie schämte sich aber gar nicht, den Mörder von Sarajevo zu verteidigen.« »Das arme Mädchen«, wiederholte der Professor. »Ich glaube, ihr war gar nicht bewußt, was sie sagte. Sie ist sehr unglücklich über ihre Zukunft. Das Ende ihrer Schulzeit nähert sich, und sie hat keine Aussicht, eine Universität zu besuchen - doch Mara Trenowas persönliche Probleme interessieren Sie bestimmt nicht.« -44-
»Ich möchte verstehen, soweit ich kann, Sir. Aber jetzt kommen Sie bitte mit in mein Hotel und gestatten Sie mir, Sie zu einem Drink einzuladen, bevor Sie nach Hause gehen.« Er wollte einfach etwas trinken, an einer Verlängerung des Gesprächs war ihm gar nicht so sehr gelegen; selbst für einen jungen Mann von fünfundzwanzig Jahren war dieser Ta g lang und beschwerlich gewesen und hatte neben der Routinearbeit im Büro eine Menge neuer Eindrücke gebracht. Der Russe indessen ergriff begierig die Gelegenheit, die Unterhaltung fortzusetzen. Als sie gleich darauf in der noch immer vollen Bar des »Europa« saßen, die jetzt von der Orchestermusik aus dem Speisesaal belebt wurde, stellte Joe mit einer gewissen Besorgnis fest, daß Professor Hendrikow frisch genug wirkte, nun noch eine ganze Stunde lang weiterzusprechen. »Sie haben recht«, begann er ernst, während er genießerisch an dem Kognak nippte, den Joe bestellt hatte. »Sie möchten die Dinge verstehen, und Sie sollten dieses Land auch verstehen, wohin Sie im Dienst Ihres eigenen entsandt worden sind. Und ich glaube, Mara Trenowas Geschichte kann ein wenig dazu beitragen, Ihnen unsere Schwierigkeiten zu erläutern. Der Vater des Mädchens, Iwan Trenow, war Lehrer hier in St. Petersburg. Ich kannte ihn flüchtig: er war ein gescheiter Mann. Sehr aktiv im Lehrerverband, aber ansonsten politisch nicht weiter interessiert. Als nun nach der Revolution von 1905 mit dem Duma und den zemstva - Bauernräte könnte man sie nennen ein etwas liberalerer Kurs für Rußland anzubrechen schien, wurde der Lehrerverband durch ein kaiserliches Edikt aufgefordert, Vorschläge für eine Schulreform einzureichen. Trenow gehörte zu denjenigen, die diese Pläne ausarbeiteten. Die Minister des Zaren sichteten sie, und anschließend wurde jeder einzelne Reformvorschlag der Bittschrift - vergessen Sie nicht, daß man sich nur als Bittsteller an den Zaren wenden kann - als Waffe gegen die Männer benutzt, die sie entworfen hatten. Zahlreiche Lehrer wurden verhaftet, und noch mehr verloren -45-
ihre Stellungen. Wie mein begabter junger Freund Alexander Kerenski sagt, es war eine Falle für diejenigen, die das Wort des Zaren für bare Münze genommen hatten.« »War Trenow unter diesen Verhafteten?« »Ja. Sein Fall kam mit anderen zusammen vor das Appellationsgericht, und er wurde wie die meisten seiner Kollegen freigesprochen. Doch das Lehramt konnte er nicht mehr ausüben; in keiner russischen Schule fand sich für diese Männer ein Platz. Trenow blieb zuerst einigermaßen besonnen. Als er aber der Wahrheit auf die Spur kam, wandte er sich wieder an die Gerichtshöfe und verlangte Gerechtigkeit; er wurde erneut verhaftet, setzte sich zur Wehr und verletzte einen Polizeibeamten - und wurde schließlich nach einem weiteren Prozeß nach Sibirien verbannt.« »Ist er immer noch in Sibirien?« »Auf dem Marsch betrug er sich so aufsässig, daß er auf die Insel Sachalin geschickt wurde, in das Gefängnis, das unseren gefährlichsten Verbrechern vorbehalten ist. Dort starb er vor drei Jahren.« Joe holte tief Atem. »Wann geschah das alles? Wie alt war Miß Trenowa zu dieser Zeit?« »Warten Sie einmal. Soweit ich mich erinnere, kam der Fall der Lehrer 1907 vor das Appellationsgericht. Mara Trenowa ist jetzt neunzehn, also muß sie damals zwölf gewesen sein. Ich weiß nicht, wie sie und ihre Mutter durchgekommen wären, wenn nicht eine reiche alte Kusine Maras Erziehung in der Xenia-Schule ermöglicht hätte. Ich glaube, die Mutter hat eine winzige Rente; gerade genug, um in dieser armseligen Wohnung in der Nähe der Wladimirkirche leben zu können.« »Arme Frau. Das ist eine grausame Geschichte, Professor, und ich verstehe jetzt, warum Trenows Tochter so verbittert ist, aber selbst so etwas gibt niemandem das Recht, Gewalttaten zu entschuldigen.« -46-
»Das hat Sie unangenehm berührt, wie ich sehe. Unbesonnene, heftige Reden, Mr. Calvert! Ich bin von meinen Studenten daran gewöhnt. In neun von zehn Fällen besagt es gar nichts.« »Und wie, wenn der zehnte Agrilo Princip ist?« »Ah.« Professor Hendrikow blickte sich vorsichtig in der Bar um. »Princip, ja. Er hat letzte Woche in Sarajevo einen Brand entfacht. Wir wollen darum beten, daß er gelöscht wird, bevor die Flammen nicht mehr einzudämmen sind.« »Sie glauben doch nicht, daß das Attentat zu einem Krieg führt?« »In ein oder zwei Tagen wissen wir mehr.« Joe schüttelte zweifelnd den Kopf. »Auf jeden Fall«, so meinte er, »würde es sich nur um einen neuen kle inen Balkankrieg handeln wie im letzten und im vorletzten Jahr.« »Ich respektiere Ihre Ansicht«, erwiderte Hendrikow höflich. »Doch als einfacher St. Petersburger Bürger habe ich in unserer Stadt während des letzten ›kleinen Balkankrieges‹, wie Sie ihn nennen, ein paar alarmierende Dinge gesehen und gehört. Damals hatte die Stadt einen bulgarischen Hitzkopf zu Gast, der versuchte, russische Hilfe für die Bulgaren zu erlangen. Dabei verstieg er sich zu dem Versprechen, dem Zaren Konstantinopel zu Füßen zu legen... und Seine Majestät hat den byzantinischen Traum schon immer gern geträumt.« »Das ist sehr interessant, und ich wollte, uns lägen vollständigere Berichte über diese Dinge vor, aber jedenfalls sind die Russen nicht ausmarschiert, und der Krieg blieb auf seinen Herd beschränkt und endete ziemlich bald. Warum sollte es nicht wieder so kommen?« »Das wäre durchaus möglich«, entgegnete der Professor bedrückt, »wenn wir stärkere Männer am Ruder hätten. Sazonow ist sehr gescheit, aber das Kabinett untersteht dem Zaren, nicht der Duma: Sie hat nichts mehr zu sagen, wenn die -47-
Generäle den Zaren überreden können. Ich wünschte, Stolypin wäre noch am Leben. Er hatte viel Autorität.« »Ihr Premierminister... Gott, er ist ja auch umgebracht worden!« Joe Calverts Kopf schmerzte, und trotz des Kognak-Soda war seine Kehle wie ausgedörrt. Er nahm es für ein Zeichen bloßer Ermüdung, daß ihn plötzlich Furcht befiel. »Stolypin starb nach dem auf ihn verübten Mordanschlag in einem Krankenhaus in Kiew«, bestätigte Professor Hendrikow. »In Rußland werden die Männer, die etwas taugen, sehr häufig nicht alt.«
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3 Die schönen Sommertage verstrichen, ohne daß sich etwas ereignete, und die Diplomaten atmeten auf. Man begann zu hoffen, daß Serbien das Attentat von Sarajevo durch eine Art Reparationszahlung und vor allem durch die Hinrichtung der jungen Terroristen sühnen würde. Von dem geheimen Briefwechsel zwischen dem greisen österreichischen Kaiser Franz Joseph und seinem guten Freund und Bundesgenossen, dem deutschen Kaiser Wilhelm II., wußte man um diese Zeit noch nichts. Der alte Mann richtete ein paar Tage nach dem Doppelmord ein persönliches Schreiben an seinen Verbündeten, in dem er ihm mitteilte, daß Serbiens Isolation sein oberstes politisches Ziel in der Auseinandersetzung sein müsse. Worauf der Kaiser im Einverständnis mit seinem Kanzler, BethmannHollweg, antwortete, Österreich könne auf Deutschlands volle Unterstützung zählen, falls es durch die gegen Serbien gerichteten Vergeltungsmaßnahmen in Konflikt mit Rußland geriete. Einige Tage danach fügte er dem hinzu, daß diese Unterstützung selbst im Fall »einer europäischen Verwicklung« geleistet werde, denn der Preis für die Hilfe, die Deutschland Österreich-Ungarn auf dem Balkan gewähren wollte, war die österreichische Unterstützung Deutschlands gegen Frankreich. So wurde der berühmte Blankoscheck ausgestellt, ein Dokument, das buchstäblich die Entscheidung über Leben und Tod für Millionen von Menschen bedeutete - Menschen, die 1914 jung waren und jeder auf seine Weise die Annehmlichkeiten eines ungewöhnlich heißen Sommers genossen. In England interessierte man sich kaum für die weit entfernten, ewigen Balkanunruhen. Die englischen Probleme lagen geographisch näher: in Irland, wo Ulster bereits Vorbereitungen traf, um sich der Selbstverwaltung zu widersetzen, drohte der Bürgerkrieg. Doch selbst das verdarb dem Durchschnittsengländer nicht die Freude an einem mit -49-
sportlichen Ereignissen angefüllten Sommer, die mindestens ebensoviel Interesse weckten wie der Hader jenseits der Irischen See. Auf der anderen Seite des Kanals nahm ein Liebesdrama, das ans Tageslicht kam, als Madame Caillaux, die Gattin des Finanzministers, den Herausgeber des Figaro erschoß, die Aufmerksamkeit der Pariser Presse gefangen. Selbst in Rußland, wo der Zar und seine Minister täglich die Balkansituation besprachen, hatte eine neue Sensation die Ermordung des österreichischen Thronfolgers überschattet. Es war der Anschlag auf Rasputin, den starez oder »Mann Gottes«, dessen Einfluß am Hof selbst gebildetste Russen für ein Satanswerk hielten. Joe Calvert war davor gewarnt worden, in Menschenansammlungen seinen Namen auszusprechen, und einem Ausländer gegenüber war das zweifellos ein weiser Ratschlag; nichtsdestoweniger konnte man den Namen in allen seinen Varianten auf den Straßen jeder russischen Stadt hören, als bekannt wurde, daß Gngonj Jefimowitsch Nowik, Grischa, genannt Rasputin, in seinem Heimatdorf Pokrowskoje von einer jungen Frau attackiert worden war, die ihm mit dem Ruf »Ich habe den Antichrist getötet!« ein Messer in den Leib stieß. Rasputin rang im Krankenhaus von Tjumen mit dem Tode; was seine Angreiferin betraf, so kursierten die wildesten Gerüchte. Alle Berichte wurden von der zaristischen Polizei zensuriert, und die offiziellen Mitteilungen, die man in die Welt hinaustelegrafierte, bezeichneten den Anschlag als die Tat einer Irrsinnigen. Die Schiffsoffiziere und die Angehörigen der Leibgarde an Bord der kaiserlichen Jacht Standart waren an dem Tag, als die Nachricht freigegeben wurde, eine schweigsame Gesellschaft. Seitenblicke und ein oder zwei unflätige Anspielungen auf die Attentäterin waren das Äußerste, was irgend jemandem zu entlocken war. Simon Hendrikow hatte in den drei Monaten seines Dienstes an Bord noch nicht herausgefunden, welche Offiziere ihre Posten dem Einfluß der Zarin verdankten - was -50-
hieß, daß sie Rasputin als Heiligen verehrten oder wenigstens vorgaben, es zu tun - und welche auf Grund ihrer Verdienste oder ihrer Dienstjahre hier waren und die bequeme Doktrin des Mönches, daß absichtsvoll begangene Sünden des Fleisches der Weg zum Heil seien, verlachten. Es gehörte zu dem dunklen Intrigennetz, das das blinde Vertrauen der Zarin zu Rasputin am Hof gewoben hatte, daß nicht einmal auf der Standart, wo sich ihre Kinder wohler fühlten als in jedem Palast, Offenheit zwischen den Männern herrschen konnte. Es war der für den Start der Kreuzfahrt angesetzte Tag, und als der Morgen verstrich, ohne daß vom Peterhof Befehle eintrafen, kam das Gerücht auf, die Reise sei abgesagt worden. Wahrscheinlich war Rasputin in Tjumen gestorben, und die schmerzerfüllte Alexandra Feodorowna hatte für Ferien keinen Sinn. Es blieb nur noch die Frage so meinte ein Humorist -, wie lange die Hoftrauer dauern würde? Simon konnte hier und da von einem Gesicht ablesen, daß es unter der Besatzung der Standart Offiziere gab, die den Tod des »Heiligen« begrüßen würden. Kurz nach Mittag verlautete, daß die Jacht wie geplant zu der Sommerkreuzfahrt auslaufen würde, nur ein paar Stunden verspätet, weil der Zar zuvor noch das neue Trockendock in Kronstadt besichtigen wollte. Simons Stimmung hob sich unverzüglich. Seit er seine Eltern besucht hatte, um von seinem Vater den Schlüssel zu der Datscha in Koivisto zu erbitten, hatte er an nichts anderes gedacht als an das Picknick, das die Prinzessin so impulsiv vorgeschlagen hatte. Daß ein verrückter Mönch in Sibirien niedergestochen worden war, kümmerte ihn ebensowenig wie die Ermordung des österreichischen Erzherzogs; mit seinen dreiundzwanzig Jahren konzentrierte sich sein ganzes Interesse auf die Aussicht, einen Nachmittag in Olga Nikolajewnas Gesellschaft zuzubringen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Alexandria endlich längsseits kam, und er sah Olga Nikolajewna auf dem Deck, -51-
ziemlich im Hintergrund, den Kopf über ein Nelkenbukett gebeugt; die Blumen zeigten ihm, daß die älteste der vier Großfürstinnen den Zaren an Stelle ihrer Mutter zur Besichtigung des Trockendocks begleitet hatte. Die Zarin saß in einem Liegestuhl und hörte einer dicken jungen Person mit teigigem Gesicht zu, die Anja Wirubowa hieß und ihre beste Freundin war. An der Reling stand der Thronerbe zwischen seinem Vater und einem der beiden Matrosen, die ihn betreuten, und winkte lachend zu der Besatzung der Standart hinüber, und der Anblick seines glücklichen Gesicht milderte mit einemmal die angespannte Stimmung des Tages. Der knapp zehnjährige Alexis Nikolajewitsch war groß für sein Alter. Er hatte die graublauen Augen seiner Mutter geerbt und auch ihr rotblondes Haar, das bei dem Jungen allerdings noch nachdunkeln konnte, wenn er heranwuchs. Welches Leiden ihn auch immer daran gehindert haben mochte, an dem Lunch auf der Lion teilzunehmen, jetzt wirkte er trotz einer gewissen Blässe kerngesund. In sichtlicher Vorfreude begann er unmittelbar hinter dem Zaren die Schiffsleiter hinaufzusteigen. Eigentlich hätte niemand sagen können, wie es geschah. Der Betreuer des Thronfolgers, Derewenko, folgte dem Knaben dicht auf den Fersen, und ein Maat namens Gordienko hielt bereits beide Hände ausgestreckt, um Alexis an Bord zu helfen, als dieser plötzlich auszurutschen schien und heftig über eine Leitersprosse stolperte. Der Maat griff zwar gerade noch rechtzeitig zu, um seinen Sturz zu verhindern, doch das unwillkürliche »Oh!« des Jungen erreichte die Ohren seines Vaters, der gerade Kapitän Sablin die Hand gab. »Was ist geschehen, Alexis?« »Nichts, Papa. Ich bin mit dem Fuß gegen die Leiter gestoßen, das ist alles.« »Wie ungeschickt von dir.« -52-
»Es ist mir nichts passiert, Papa.« »Natürlich nicht.« Doch der Zar nahm die Hand seines Sohnes und hielt sie fest, bis die Damen an Bord gekommen waren. Als dann die formelle Begrüßung vorbei war, geleitete er sie alle nach unten, und zur großen Enttäuschung der Offiziere ließ sich die kaiserliche Familie an diesem Abend nicht mehr blicken. Es war im Grunde verständlich, denn eine steife Brise wehte über dem Finnischen Meerbusen, und selbst die solide Dampfjacht schlingerte ein bißchen. Die Torpedoboot-Eskorte, die einzige Sicherheitsmaßnahme, die der Zar auf diesen Kreuzfahrten gestattete, schwankte dicht am Horizont auf und ab. Also wurden die weißen Sonnensegel über den Decks aufgerollt, die Klappstühle und Tische fortgestellt. Das Balalaika-Orchester wurde in einen der erlesen eingerichteten Salons beordert, spielte aber nur eine halbe Stunde lang, weil die Zarin über Kopfschmerzen klagte, und die Stewards, die den Abendtee brachten, berichteten, daß sich alle sehr früh zurückgezogen hätten. Simon Hendrikow tat dasselbe. Er schlief tief und in dem glücklichen Bewußtsein, daß die Prinzessin so nahe war, und wachte während der Nacht nur einmal auf, als er einen kindlichen Schmerzensschrei zu hören glaubte. Doch außer den normalen Geräuschen eines Schiffes auf See war nichts zu vernehmen, und Simon vergaß den Traum und schlief weiter. Der Wind legte sich in den ersten Morgenstunden, und als der Zar an Deck kam, um seinen üblichen Morgenspaziergang zu machen, lag die Standart in einer hübschen finnischen Bucht, wo sich die Birkenwälder fast bis zum Wasser hinunter erstreckten. Er plauderte eine Weile mit den Offizieren der Leibgarde und stöhnte hörbar, als das Kurierboot aus St. Petersburg längsseits kam, um die Post zu bringen - Briefe, Berichte und Dokumente, die der Unterschrift des Mannes bedurften, der trotz der »Duma« und des Kronrates noch immer -53-
den obersten Entscheid in Staatsgeschäften hatte. Als sich der Zar in seine Kabinenflucht zurückzog, erschienen Marie und Anastasia an Deck. Sie hatten Freunde unter den Leutnants, und bald war ein geräuschvolles Wettrennen im Gange ein Spiel, das ihre Eltern an Bord der Jacht nicht nur tolerierten, sondern sogar gerne sahen. Simon war gerade aufgefordert worden, die Zeit für die Beteiligten zu stoppen, als er überraschend zu Großherzogin Tatjana zitiert wurde. Er übergab die Stoppuhr einem anderen Offizier und folgte dem Steward, der ihn benachrichtigt hatte, nach unten, die Mütze unter dem Arm. Durch luxuriöse Salons gelangten sie in eine als Schreibzimmer eingerichtete Kabine, wo Tatjana Nikolajewna hinter einem goldbronzefarbenen Schreibtisch saß. Ein junger Funkoffizier stand respektvoll neben ihr. »Guten Morgen, Simon Karlowitsch«, sagte sie mit einem Lächeln und dem einstudierten Charme, der die Siebzehnjährige so seltsam erwachsen erscheinen ließ und sie von ihrer eher ungestümen Schwester Olga deutlich unterschied. »Wollen Sie mich einen Augenblick entschuldigen? Ich habe verschiedene Telegramme für die Zarin geschrieben, und sie müssen sofort hinaus.« Sie zählte die Blätter, und Simon nahm bewundernd wahr, was für einen bezaubernden Anblick sie mit ihrem herrlichen Haar vor der smaragdgrünen Seidenbespannung der Wände bot. Daneben bemerkte er allerdings auch, daß eine ganze Reihe der Telegramme an das Krankenhaus in Tjumen gerichtet war, wo Rasputin - so hatten die Männer des Kurierboots erzählt - sich von seiner Verletzung zu erholen begann. »Zehn, in Ordnung. Diese können jetzt durchgegeben werden. Ich danke Ihnen, Iwan Iwanowitsch.« Als der Funkoffizier fort war, lehnte sich das Mädchen in dem samtbezogenen Armstuhl zurück und blickte Leutnant Hendrikow lächelnd an. »Ich habe eine Botschaft von meiner -54-
Schwester Olga für Sie«, sagte sie. »Sie leistet unserem kleinen Bruder Gesellschaft. Ich weiß nicht, ob Sie gehört haben, daß sich Alexis gestern den Fuß verstaucht hat, als er an Bord ging. Jedenfalls möchte Dr. Botkin, daß er den ganzen Tag im Bett bleibt.« Und ehe Simon eine verwunderte Bemerkung machen konnte, fuhr sie schon fort: »Ein höchst unglücklicher Zwischenfall. Zumal die Datscha Ihrer Eltern, der wir einen Besuch abstatten dürfen, wie meine Schwester sagt, nun so nahe ist.« »Es wäre eine große Ehre für meine Familie und für mich, Tatjana Nikolajewna.« »Sollen wir den kleinen Ausflug dann heute unternehmen, Simon Karlowitsch? Der Zar hat seine Erlaubnis gegeben, und vielleicht könnten Sie mit Kapitän Sablin besprechen, wo wir am besten an Land gehen...« Simon verneigte sich. Er hatte das Gefühl, daß das prompt genehmigte Picknick nur dem Zweck diente, die lebhaften jungen Mädchen fortzuschaffen, damit der offenbar ständig kränkelnde Junge Ruhe bekam. »Ich werde alles arrangieren, Eure Kaiserliche Hoheit«, antwortete er. »Um wieviel Uhr sollen wir starten?« Trotz gegensätzlicher Anweisungen konnte er nicht umhin, ihren Titel zu benutzen: Sie hatte etwas ungeheuer Hoheitsvolles, wie sie da mit solcher Selbstsicherheit den Tag für ihn und ihre Schwestern plante. Er hatte gehört, daß Tatjana von ihren Schwestern manchmal »die Gouvernante« genannt wurde, weil sie soviel Sinn für Organisation und Genauigkeit besaß - diese Genauigkeit, die sie jetzt sofort antworten ließ: »Das hängt davon ab, wie weit Ihre Datscha von unserem Ankerplatz entfernt ist, Simon Karlowitsch. In Anbetracht der Saumseligkeit meiner Schwestern würde ich halb drei vorschlagen.« Es war kaum halb drei, als drei strahlende Mädchen an Deck -55-
kamen: Marie und Anastasia in kindlichen Schürzenkleidern, breitrandige Strohhüte auf dem Kopf und mit Weidenkörbchen ausgerüstet, Olga Nikolajewna in einer weiten Matrosenbluse und weißem Rock. Alle drei trugen weiße Wildlederschuhe mit dicken Ledersohlen. »Simon Karlowitsch! Sind das die richtigen Schuhe?« »Wir könnten auch unsere Tennisschuhe anziehen!« »Ist es weit zur Datscha? Gehen wir durch das Dorf? Wohnen Leute in ihrer Nähe?« »Seid still, ihr zwei«, sagte Olga. »Simon Karlowitsch, meine Schwester Tatjana bedauert so sehr, daß sie uns nicht begleiten kann. Sie hält es für ihre Pflicht, der Zarin und meinem Bruder Gesellschaft zu leisten.« »Wie geht es Alexis Nikolajewitsch?« »Er wäre so gern mitgekommen«, antwortete Olga, »aber Dr. Botkin glaubt jedenfalls, daß sich sein Zustand bis morgen wesentlich gebessert haben wird.« Sie wandte sich an den Matrosen, der darauf wartete, ihr in das Boot zu helfen. »Sie sind der Maat Gordienko, nicht wahr? Ich hoffe, Sie machen sich keine Vorwürfe wegen dieses dummen Mißgeschicks gestern?« Der Mann salutierte und schwieg. »Denn mein Bruder war wirklich selbst schuld«, fuhr Olga fort. »Vor lauter Freude über die Kreuzfahrt achtete er nicht darauf, wohin er trat; wahrscheinlich hat er das vo n mir gelernt!« Gordienko verneigte sich. Er fragte Simon Hendrikow: »Um wieviel Uhr soll Sie das Boot wieder abholen, Herr Leutnant?« Simon blickte die Großfürstin fragend an. »Sollen wir sagen, um fünf? Wir brauchen knapp eine halbe Stunde, um zu der Datscha zu kommen, und wenn wir uns beeilen, sogar nur zwanzig Minuten.« -56-
»Aber wir wollen uns doch nicht beeilen, dies ist ein Ferientag! Fünf Uhr ist bestimmt früh genug.« »Um fünf Uhr also, Gordienko.« »Zu Befehl. Und wer von den Männern soll Sie begleiten, um den Korb zu tragen?« »Den nehme ich selbst.« Simon hatte bereits eine große, von einer bekannten St. Petersburger Konditorei verpackte Schachtel unter dem Arm, bei deren Anblick sich Marie Nikolajewnas große blaue Augen erwartungsfroh geweitet hatten. Sie wurden in einer der zahlreichen sandigen Buchten der zerklüfteten finnischen Küste an Land gesetzt, wo nichts auf menschliche Behausungen hindeutete. Man kam nur langsam vorwärts auf dem schmalen Pfad; zwischen dichtgewachsenen Kiefern und Birken schlä ngelte er sich nach oben, bis man zum Ufer eines Baches gelangte, der durch steinige Untiefen und Teiche mit klarem bernsteinfarbenem Wasser zur See hinunterströmte. Marie und Anastasia schwatzten bereits aufgeregt davon, wie sie ihre Körbe füllen würden, denn wohin man auch den Blick wandte, gab es Blumen, und über alledem lag die wohltuende Stille der finnischen Wälder. Olga schritt sehr schweigsam und fast geräuschlos über den Teppich aus Kiefernnadeln. Die Nachhut bildete Simon, der den gewichtigen Picknickkorb trug; er war froh, als sie die Lichtung erreichten, wo das Blockhaus seiner Eltern stand. Das kleine Sommerhaus hatte mit den eleganten Datschas von Terijoki wirklich nichts gemein. Es war aus grob gehauenen Kiefernstämmen gefügt und hatte an der einen Giebelwand einen steinernen Kamin; an der anderen war Feuerholz aufgeschichtet. Vier Stufen führten zu einer Veranda, deren Schindeldach zugleich den Eingang schützte. Die beiden kleinen Fenster mit den viereckigen Fensterscheiben rechts und links von der Tür gaben dem Blockhaus etwas von der unbekümmerten Einfachheit einer Kinderzeichnung. Niemand -57-
hatte den Versuch unternommen, einen Garten anzulegen, aber der sanfte grasbewachsene Hang, der sich zum Bach hinunterzog, war flüchtig gemäht worden und roch nach frischem Heu. »Ist es das?« »Was für ein bezauberndes Häuschen!« »Oh, Simon Karlowitsch, Sie sind zu beneiden!« Begeisterte Ausrufe wurden hinter Simon laut, als er seine Bürde absetzte und den Schlüssel hervorholte, den er sich von seinem Vater hatte geben lassen. »Einen Augenblick, bitte«, sagte er hastig und verbrachte einen bangen Moment, als er die Hütte betrat, weil er nicht wußte, in welchem Zustand er sie vorfinden würde. Madame Hendrikowa hatte in dem Bewußtsein, der intellektuellen Schicht anzugehören, schon vor vielen Jahren befunden, daß die Hausarbeit unter ihrer Würde sei, und das Zugehmädchen aus dem Dorf - in Finnland die einzige verfügbare Hilfe - schien ihre Ansichten zu teilen. Aber offenbar waren Dollys sorgsame Hände vor der Abreise der Familie hier am Werk gewesen, denn im Wohnzimmer war alles aufgeräumt, und ein Blick in das Schlafzimmer seiner Eltern auf der anderen Seite der kleinen Diele überzeugte ihn davon, daß auch dort Ordnung herrschte. Die Luft war warm und muffig, doch dem half er sogleich ab, indem er die Schiebefenster aufstieß, und dann kamen seine ungeduldigen Gäste auch schon hereingelaufen. »Es ist wirklich wunderhübsch, Simon Karlowitsch«, war Olgas schlichte, ruhige Bemerkung, während die beiden jüngeren Mädche n ihre Begeisterung lautstark kundtaten. Simon ließ seine Blicke durch den Raum wandern, dessen Holzwände mit bunten Teppichen behängt waren, und versuchte ihn mit den Augen eines Mädchens zu sehen, das an die steife Pracht kaiserlicher Paläste gewöhnt war. In der Mitte stand - von Hockern umgeben - ein langer Tisch mit einer schmalen Zierdecke aus finnischem Leinen, über dem eine von Ketten -58-
gehaltene Kupferlampe hing. Vor dem großen steinernen Kamin lag ein hellbraunes, an den ausgestreckten Tatzen fast weißes Bärenfell. Auf der einen Seite des Kamins gab es einen kleinen gemauerten Kochherd. »Und wo schläft man?« forschte Marie neugierig. »Maschka, ich bitte dich...« »Aber, Olga, es ist das erste Mal, daß wir in einem richtigen Haus sind!« »Meine Eltern haben ihr Zimmer auf der anderen Seite der Diele, Marie Nikolajewna. Außer Betten und Büchern gibt es darin nicht viel zu sehen.« Natürlich wollten sie es trotzdem besichtigen. »Was für eine Menge Bücher!« »Mein Vater bringt alles hierher, was in unserer St. Petersburger Wohnung keinen Platz findet.« »Er muß sehr klug sein, wenn er so viel gelesen hat.« »Schaut euch diese Betten an, sie sind bestimmt herrlich bequem mit ihren wunderbaren bauschigen Steppdecken«, sagte Anastasia. »Sie sollten einmal unsere sehen, Simon Karlowitsch!« »Anastasia!« »Was ist denn dabei, von Betten zu reden? Irgendwo muß doch schließlich jeder schlafen«, verteidigte sich das enfant terrible. »Wir haben ganz abscheuliche kleine Feldbetten zu Hause. Und nur, weil auch die Töchter von Alexander dem Ersten in solchen Dingern geschlafen haben!« »Nun hör endlich damit auf, und laß uns lieber an den Tee denken«, sagte Marie in dem Bemühen, ihrer älteren Schwester aus der Verlegenheit zu helfen. »Tee? Jetzt schon?« gab Olga erstaunt zurück. »Es ist noch nicht einmal halb vier!« »Wir sollten trotzdem anfangen«, beharrte Marie. »Wer weiß, vielleicht wird jemand ausgeschickt, um uns zurückzuholen...« -59-
»Das ist wahr. Dann wollen wir sehen, was in unserem Korb ist.« Der Picknickkorb, so stellte sic h heraus, enthielt zwei Sorten Sandwiches und einen großen Rosinenkuchen. Außerdem sorgfältig verpackte Gläser, Porzellanteller und Leinenservietten sowie zu Anastasias Entsetzen eine Thermosflasche mit Milch. »Aber es sollte doch Tee zum Picknick geben!« protestierte sie. »Wir können ja Tee machen«, sagte Simon kühn. »Meine Mutter verwahrt irgendwo einen Spirituskocher. Ich suche ihn gern, und Wasser wird schnell darauf heiß.« Er fand ihn in der Anrichte, und seine hocherfreuten Gäste stöberten herum, bis sie eine Teekanne und eine Teebüchse zutage gefördert hatten, die sie Olga übergaben, sowie finnische Steingutbecher. Der Tee wurde aufgebrüht, der lange Tisch gedeckt, und Simon stellte neben den aufgeschnittenen Kuchen die Pralinenschachtel, die er aus St. Petersburg mitgebracht hatte. »Nach dem Tee darf sich jede zwei davon nehmen, und den Rest bringen wir Tanja und Baby mit«, bestimmte Olga. »Ha!« sagte Anastasia. »Baby darf heute gar keine Süßigkeiten essen.« »Warum nicht?« fragte Simon. »Ich hätte eigentlich angenommen, daß Schokolade die beste Medizin für einen verstauchten Fuß ist.« »Es freut sich morgen genauso darüber«, erklärte Olga mit einem warnenden Blick auf ihre Schwester. »Nehmen Sie doch noch etwas von dem Kuchen, Simon Karlowitsch.« »Er ist wirklich gut«, sagte Marie, während sie sich ein zweites Stück auf den Teller legte. »Auf der Standart bekommen wir viel bessere Sachen zum Tee als zu Hause.« »Da gibt es immer irgendwelche schreckliche Kuchen, die Katharina die Große besonders gern gege ssen hat«, behauptete -60-
Anastasia. »Meine Schwester scheint uns heute unbedingt eine Vorlesung über russische Geschichte halten zu wollen«, bemerkte Olga leichthin. »Nun, und wer übernimmt jetzt das Abwaschen?« »Wie? Müssen wir denn abwaschen?« »Selbstverständlich. Wir können dieses hübsche Haus doch nicht in Unordnung hinterlassen.« »Aber wir wollen doch noch Sträuße für Mama und Anna pflücken!« »Zuerst das Geschirr.« Am Ende taten sie es gemeinsam, und es war ein simples Verfahren: Die Becher und Teller wurden im Fluß abgespült und mit einer Serviette abgetrocknet. Danach ergriffen die beiden jüngeren Mädchen voll Ungeduld ihre Weidenkörbe. »Wohin führt diese Straße, Simon Karlowitsch?« fragte Olga und deutete auf einen breiten Feldweg, der von der Lichtung abzweigte. »Zuerst zu einem Bauernhof, dann über eine Brücke und auf der anderen Seite des Baches schließlich nach Koivisto«, antwortete Simon. »Meine Eltern benutzen diesen Weg, wenn sie hierherfahren.« »Ich verstehe. Guf, ihr beiden, bleibt auf der Straße oder am Bachufer und haltet euch immer in Sichtweite, bitte.« »Oh, wir wollten doch im Wald Beeren suchen!« »Die Heidelbeeren sind noch nicht reif. Ich habe neben dem Pfad nur grüne gesehen.« Als die Mädchen fort waren, wandte sie sich an Simon. »Was für ein Segen, daß wir nicht in der Pilzzeit gekommen sind. Wir hätten meine Schwestern bestimmt verloren.« Es entzückte ihn, daß sie dieses »Wir« gebrauchte, was sie und ihn zum erstenmal miteinander verknüpfte - zwei -61-
Erwachsene, die für zwei unbändige Kinder verantwortlich waren. »Wo möchten Sie sitzen, Olga Nikolajewna? Sie tragen keinen Hut, und die Sonne ist sehr stark.« »Ich bin gern in der Sonne.« Aber sie stand auf und ging zur Veranda, wo sie mit einer lässigen Bewegung ihren weißen Rock zusammenraffte, bevor sie sich auf der obersten Stufe niederließ und dem jungen Mann bedeutete, sich auf eine der unteren zu setzen. »Ihr Paradies hat nur eine Schattenseite«, sagte sie. »Die Mücken. Möchten Sie nicht rauchen?« »Wenn ich darf.« »Natürlich. Und da hier niemand ist, der schockiert sein könnte, werde ich selbst auch rauchen.« Simon sprang sofort auf, um ihr seine Zigaretten anzubieten und ein Streichholz zu entzünden. Sie blickte lächelnd zu ihm hoch. Er sah sehr gut aus mit dem kurzen kastanienbraunen Haar über der breiten Stirn und den hellbraunen Augen, aber die Großfürstin wußte, daß es unter den Gardeoffizieren ihres Vaters noch besser aussehende Männer gab. Was ihr an Simon Karlowitsch gefiel, war, daß sie sich an seiner Seite gut aufgehoben fühlte, und es war nicht nur der Anblick der breiten Schultern und des kräftigen Körpers, der ihr dieses Gefühl gab, sondern auch die Tatsache, daß er so viel Verläßlichkeit ausstrahlte. Sie lehnte sich wohlig zurück und sagte: »Wie schön, den Botanikern einmal zu entschlüpfen!« »Was für Botanikern, Prinzessin?« »Kennen Sie den Ausdruck nicht? So nennt der Zar die Polizeibeamten in Zivil, die immer um ihn herumschleichen, wenn er lange Spaziergänge unternimmt. Er behauptet, daß er sie schon von weitem erkennt, wie sie dastehen und Blumen betrachten und Interesse für irgendwelche Sträucher heucheln. -62-
Auf der Krim haben Sie bestimmt welche gesehen. Livadia wimmelte geradezu von ihnen!« »Dann bin ich sicher schon einmal dem einen oder anderen begegnet.« Simon setzte sich wieder und ließ seine Augen zum jenseitigen Bachufer hinüberwandern. Beinahe schuldbewußt dachte er an die Stunde, die er in der Kapitänskajüte damit zugebracht hatte, ihren Hin- und Rückweg in eine Karte einzuzeichnen. Er hatte die Farm und Koivisto eingetragen und detaillierte Fragen über die finnische Bauernfamilie beantwortet. Olga, die Ärmste, mochte vielleicht glauben, die sommerlichen Wälder seien frei von »Botanikern«, doch die unsichtbaren Wächter waren zweifellos da, der goldene Käfig war auch hier intakt. Er nahm das Stichwort auf, das sie ihm mit Livadia gegeben hatte, und fragte so beiläufig wie möglich«: »Meinen Sie, daß Sie in diesem Jahr noch einmal auf die Krim fahren werden?« »Das ist höchst unwahrscheinlich.« »Aber - es wurde doch angekündigt, daß Prinz Carol von Rumänien und seine Mutter, die Kronprinzessin, Ihren Besuch in Konstanza erwidern würden?« »Wie Sie auf diesem Besuch in Konstanza herumreiten! Dabei dauerte er nur einen Tag!« »Für mich war dieser Tag die Hölle... es hieß überall, zum Abschluß würde Ihre Verlobung bekanntgegeben.« »So war es auch gedacht, glaube ich.« »Und was geschah dann? Sagen Sie es mir, Prinzessin, ich flehe Sie an!« »Warum nennen Sie mich Prinzessin, Simon Karlowitsch?« »Weil Sie eine Prinzessin sind, ein junges Mädchen. ›Großfürstin‹ klingt so alt und gesetzt; unter einer Großfürstin stelle ich mir eine stattliche, füllige Dame vor, sehr stolz und mit -63-
Schmuck behangen, die jedermann Befehle erteilt - genau das Gegenteil von Ihnen.« Olga kicherte unwillkürlich. »Sie entwerfen ein herrliches Bild von jemandem, den ich kenne.« »Bitte, spannen Sie mich nicht auf die Folter, Olga Nikolajewna. Ihre Antwort ist so wichtig für mich.« Sie ließ sich erweichen. »Gut, ich werde es Ihnen sagen, warum auch nicht? Es wissen schon ein paar Menschen, denen ich vertraue, und Sie gehören doch zu meinen Freunden, oder nicht? Sie haben keine Ahnung, wie gern ich nach jenem gräßlichen Tag in Konstanza auf die Standart zurückkehrte. Die Ärmsten - sie hatten sich solche Mühe gegeben, uns etwas zu bieten, und eigens diesen abscheulichen Pavillon am Meer errichtet; und die alte Königin, Carmen Sylva, hatte ihre Orden vergessen, und der König war wütend auf sie... und dann Prinz Carol und der schreckliche Heiratsantrag. Ich bat um Bedenk zeit. Daraufhin sagte Monsieur Sazonow sein Sprüchlein auf, wieviel ich als Königin von Rumänien für Rußland tun könnte - und Carols Gemahlin wird natürlich eines Tages Königin sein -, und die Zarin hatte einen Herzanfall, zumindest behauptete sie es, und nur Papa, das heißt, der Zar, kam mir zu Hilfe. Er sagte, er werde mich nie gegen meinen Willen zu einer Heirat zwingen, und er weiß, daß ich keinen ausländischen Prinzen heiraten will, daß ich meine Heimat nicht verlassen möchte. Wie sollte ich auch, Simon Karlowitsch? Ich bin Russin, und ich habe die Absicht, in Rußland zu leben und zu sterben.« Und in diesem Augenblick war sie tatsächlich eine echte Russin, trotz des vielen deutschen Blutes, das sich Generationen zurückverfolgen ließ und von dem gehässige Zungen behaupteten, es habe im Herrscherhaus längst selbst den letzten Tropfen slawischen Blutes fortgeschwemmt. Sie war Russin und zugleich unverkennbar eine Romanow: das Jungmädchengesicht spiegelte Züge wider, wie man sie auf zahllosen Ölgemälden in -64-
den Galerien des Winterpalais fand; und im Überschwang seiner Bewunderung und Erleichterung ergriff Simon Hendrikow ihre Hände und begann sie zu küssen. »Man schickte meine Antwort nach Bukarest, und Prinz Carol und seine Mutter kommen nun dieses Jahr nicht nach Livadia... Oh, Simon Karlowitsch, wieso ist das so wichtig für Sie?« Er hob den Kopf von ihren Händen, und seine Stimme klang rauh, als er sagte: »Weil ich möchte, daß Sie meine Prinzessin bleiben - ein glückliches Mädchen - weil ich es unerträglich finde, Sie mir als Ehefrau irgendeines Mannes vorzustellen.« Es vergingen ein paar Sekunden, bevor sie voll erfaßte, was seine Worte enthüllten. Ein physisches Moment - dasselbe, vor dem sie bei Prinz Carol zurückgeschreckt war - hatte diesen Gefühlssturm in dem jungen Mann ausgelöst, der jetzt beinahe zu ihren Füßen kniete. Olgas erster Impuls war, ihm ihre Hände zu entziehen, zum Bach zu laufen, ihren Schwestern zuzurufen, daß es Zeit für die Rückkehr sei. Doch dann war es auch schon zu spät, denn Simon Hendrikow stand auf und zog sie in seine Arme. Erst als sie in ihrem Bett lag und Tatjanas ruhige Atemzüge in der anderen Koje hörte - die »Großen« hatten zusammen eine Kabine, wie auch an Land ein gemeinsames Schlafzimmer -, konnte Olga die erregenden Sekunden dieser Umarmung noch einmal an sich vorbeiziehen lassen. Und sie hatte buchstäblich nur Sekunden gedauert, denn plötzlich hörten sie vom Bach her junge Stimmen. Olga lief den Mädchen entgegen, pries ihre Blumen in überschwenglichen Worten, und Simon kehrte in die Datscha zurück, um sich nach einem Stück Faden zum Zusammenbinden der Sträuße umzusehen. Als er mit den jungen Mädchen auf die Jacht zurückkehrte, empfing sie eine in tragischem Sinn alltägliche Situation. Die -65-
bedrückende Stille in den kaiserlichen Gemächern und die Hofdame, die beim Eintritt der Mädchen den Finger auf die Lippen legte, machten ihnen klar, daß es ihrem Bruder nicht besserging; und von Tatjana, die mit bleichem bekümmerten Gesicht hereinkam, erfuhren sie gleich darauf, daß sich sein Zustand verschlechtert hatte. »Steht es so schlimm um ihn wie damals in Spala?« fragte Olga, als die zwei älteren Schwestern in ihrer Kabine allein waren. Sie fürchteten beide eine Wiederholung der »inneren Blutungen« - wie man sie bezeichnete -, die 1912 in Polen aufgetreten waren und Alexis für ein ganzes Jahr zu einem Invaliden gemacht hatten. »Oh, wir müssen beten, daß es nicht so schlimm wird!« Olga zog die weite Matrosenbluse aus und löste den mit Grasflecken bedeckten weißen Rock. »Die zwei Kle inen möchten ihm Blumen und Süßigkeiten bringen, dürfen sie das?« »Mama will nicht, daß ihn heute irgend jemand außer ihr besucht.« »O Gott«, erwiderte Olga resigniert. »Warum läßt Papa die Standart nicht umkehren?« »Wir haben Babys Ärzte an Bord. Sie könnten im Peterhof auch nicht mehr tun als hier. Und denk nur, was es hieße, wenn diese Geschichte ausgerechnet vor dem französischen Staatsbesuch publik würde!« »Natürlich. Das können wir uns nicht leisten...« Die vier Schwestern waren von Anfang an dazu angehalten worden, ihren Bruder vor jedem Sturz, jeder Prellung zu bewahren. Der an sich harmlose Stoß gegen die Schiffsleiter hatte innerhalb weniger Stunden eine dunkelblaue Schwellung am Knöchel hervorgerufen, die schlimmer und sehr schmerzhaft geworden war, als das Blut in das Fußgelenk und schließlich in die Gewebe des Beins eindrang, das bereits völlig verkrampft gegen den Unterleib drückte. Die Mädchen hatten ihren Bruder, -66-
wann immer etwas Derartiges passierte, verhätschelt, für ihn gebetet, ihm Wiegenlieder vorgesungen und Märchen erzählt, sogar um ihn geweint, doch da ihre Mutter in physischen Dingen eine extreme Prüderie bezeigte, waren sie nie so recht über die wahre Natur seiner Krankheit aufgeklärt worden. »Wie trägt es Mama?« Olga griff nach ihrem weißen Batistmorgenrock und hörte, wie in der Nebenkabine das Badewasser eingelassen wurde. Ihre Hände rochen noch immer nach Moos und Blumen. »Mama? Sie umsorgt Baby rührend wie immer, aber sie ist todunglücklich und deprimiert. Vor allem, weil wir diesmal Vater Grigorij nicht bei uns haben und er noch nicht einmal für uns beten kann!« »Kann er denn nicht für uns beten?« »Er war bisher nur ab und zu für kurze Zeit bei Bewußtsein. Aber Anja hat vor ungefähr einer Stunde ein sehr zuversichtliches Telegramm vom Chef der chirurgischen Abteilung bekommen.« »Die Ärzte meinen also, er kommt durch?« »O ja, das bestimmt, Gott sei Dank.« »Nun, dann kann er ja in ein oder zwei Tagen selbst ein Telegramm aufgeben. Als Alexis in Spala so krank wurde, war er auch gerade in Sibirien. Wenn er ihn damals telegrafisch heilen konnte, dann soll er eben jetzt dasselbe tun.« »Was für eine gefühllose Bemerkung!« Olga dachte über dieses Urteil nach, als der bedrückende Abend endlich verstrichen war. Die Zarin harrte an der Seite ihres kranken Kindes aus, der Zar hatte sich zum Dinner in die Offiziersmesse geflüchtet, und die Mädchen plauderten in der Dämmerung noch ein wenig auf Deck. Nein, sie war nicht gefühllos - ihr war nur der Rasputin-Kult ihrer Mutter ein wenig zuwider, da sie die magnetischen Augen des Mönches und sein -67-
ungepflegtes, schmieriges Äußeres mit den Jahren immer mehr abgestoßen hatten. Sie konnte sogar sehr viel empfinden, und die tiefsten Gefühle ihres Lebens waren an diesem Tag in ihr wach geworden, während Simon Hendrikow sie in den Armen hielt. Seine Küsse waren nicht die ersten, die ihr Romanow-Blut erhitzten. Bereits auf ihrem ersten Ball, an ihrem sechzehnten Geburtstag, hatte Olga einem jungen Prinzen, der selbst kaum erwachsen war und von dem sie glaubte, daß ihre Eltern ihn ihr zum Gatten bestimmt hätten, vertrauensvoll und glücklich die Lippen geboten. Danach hatte es noch andere Episoden gegeben, das natürliche Resultat behutsam geförderter Flirts, aber keine von ihnen hatte sie so aufgewühlt und sexuell erregt wie diese kurze Umarmung unter dem blassen finnischen Himmel. Über dem Gedanken, wie Simon aussehen und was sie sagen würde, wenn sie sich am nächsten Tag begegneten, schlief sie ein. Doch der folgende Morgen war ganz und gar mit Pomp und Zeremonie n ausgefüllt, die den Großfürstinnen und den Marinegardeoffizieren unterschiedliche Rollen zuwiesen. An diesem Tag empfing der Zar an Bord der Standart den Bürgermeister und den Militärgouverneur von Reval. Die Zarin kam ebenfalls an Deck, um ihren Pflichten zu genügen, und als alles vorbei war, durften Olga und Tatjana ihrem kleinen Bruder Gesellschaft leisten, während ihre Mutter in einem Liegestuhl frische Luft schöpfte. Alexis hatte keine Schmerzen mehr, weil ihm die Ärzte um Mitternacht Morphium gegeben hatten, aber er war sehr schläfrig und matt. Tatjana holte ihre Balalaika und spielte leise, und beide Mädchen empfanden es als ein gutes Zeichen, als sich die schweren Lider des Jungen hoben und er mit fast normaler Stimme sagte: »Ich glaube, es würde mir Spaß machen, das auch zu lernen.« Immerhin konnte man ihm seinen Matrosenanzug anziehen, bevor die Jacht wieder in die Peterhofbucht einfuhr, obschon die -68-
Mütze mitleiderweckend schief auf seinem blonden Haar saß, als ihn Derewenko an Deck trug. Die mißlungene Kreuzfahrt hatte wegen des französischen Staatsbesuches nur sechs Tage gedauert, wenngleich allenthalben von einer Fortsetzung gesprochen wurde. Auch der Zar äußerte so etwas, während er sich gutgelaunt mit Kapitän Sablin unterhielt, und als die Damen die Reihe der Offiziere abschritten und sich verabschiedeten, sagte Simon, über Olgas Hand gebeugt: »Ich freue mich auf den nächsten Teil der Kreuzfahrt, Prinzessin.« »Ich hoffe, daß wir da beginnen können, wo wir aufgehört haben«, antwortete sie und unterdrückte ein Lächeln, als sie das glückliche Aufleuchten in seinen Augen sah. Die Zarin, die vor ihr ging, hörte nichts, denn sie erklärte gerade Anja Wirubowa, sie glaube nicht, daß sie je noch einmal alle zusammen auf der Standart sein würden. »Nun, was mich betrifft, so bin ich morgen schon wieder auf See, um Präsident Poincaré zu begrüßen«, sagte der Zar. Er gab sich sehr nonchalant, was den französischen Staatsbesuch betraf, obwohl ihm die Kurierboote zweimal täglich Berichte über die zunehmende Spannung in der Hauptstadt überbracht hatten. Zu einem Zeitpunkt, da man in Wien noch immer die Untersuchungsergebnisse des Attentats von Sarajevo prüfte, war der Präsident der französischen Republik in St. Petersburg kein gerngesehener Gast. Raymond Poincaré stammte aus Lothringen und hatte 1870 die Invasion seiner Heimatprovinz durch die Preußen erlebt und ihre Abtrennung von Frankreich. Für ihn war »die Lücke in den Vogesen« eine Redewendung von weitaus schmerzlicherer Bedeutung als für die meisten seiner französischen Zeitgenossen. Diese Lücke zu stopfen, ElsaßLothringen Frankreich wieder einzugliedern, war bekanntermaßen sein ganzes Bestreben und das all jener Franzosen, die sich der revanche verschrieben hatten: Wie, wenn dieser ehrenvoll empfangene Gast den Besuch bei Frankreichs Alliierten benutzte, um Rußland in einen Krieg mit -69-
Deutschland zu locken? Der Repräsentant der französischen Republik wohnte im Peterhofpalast, dem sogenannten Versailles Peters des Großen. Dort bewirtete der Zar am folgenden Abend, nachdem Monsieur Poincaré wohlbehalten an Bord des Schlachtschiffes France eingetroffen war, seinen Gast im Elisabeth-Salon mit einem Bankett. Die jungen Großfürstinnen genossen dabei vor allem den Anblick ihrer Mutter, die mit ihrem vollkommenen, kühlen Profil und ihrem herrlichen Haar in dem prächtigen traditionellen Gewand der russischen Kaiserinnen für ein paar Stunden ihre legendäre Schönheit wiedererlangte. Alexandra Feodorowna trug eine brillantenbesetzte Tiara über dem langen Spitzenschleier, der auf die von dem tiefdekolletierten Brokatkleid freigegebenen Schultern herabfiel, und ihren Lieblingsschmuck, ein breites Brillantkollier mit einer vielreihigen Kette aus Perlen, die beinahe bis zur Taille reichte. Es war ein heißer Abend, und ihre jüngs ten Töchter, die darum gebettelt hatten, ihr die perlenbesetzten goldenen Armbänder anlegen zu dürfen, fanden die Hände ihrer Mutter erschreckend kalt. Am nächsten Tag besuchte der französische Präsident St. Petersburg, und als Protestdemonstration fand ein Streik des Straßenbahn- und Eisenbahnpersonals statt. Monsieur Poincaré, der in einer vierspännigen Kutsche den Newski Prospekt entlangfuhr, brachte das keine Unannehmlichkeiten. Leutselig lächelnd lüftete er immer wieder seinen Zylinder, um die Gruppen bezahlter Enthusiasten zu grüßen, die von der Polizei an jeder Straßenecke aufgestellt worden waren. Die Unannehmlichkeiten betrafen andere, wie zum Beispiel Richard Allen, der keine Droschke finden konnte und von der Italianskaja bis zur britischen Botschaft zu Fuß gehen mußte, und Mara Trenowa, die einen noch weiteren Weg zurückzulegen hatte, um von ihrem armseligen Zuhause bei der Wladimirkirche zu dem genauso armseligen Unterrichtsraum zu gelangen, wo -70-
sie Kurzschrift und Schreibmaschinenschreiben lernte. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler waren ebenso unzufrieden wie sie selbst, junge Leute, denen die Universität aus vielerlei Gründen verschlossen war und die ihren Eintritt in die Welt der Erwachsenen mit einem Groll gegen die Gesellschaft vollzogen. In der schäbigen Teestube, die sie am Abend aufsuchten, ereiferten sie sich über die Hintergründe der - wie es hieß unmittelbar bevorstehenden Streiks in den größten Fabriken der Stadt und über die seit Tagen umgehenden Gerüchte von einer allgemeinen Mobilmachung. Gerüchte und Klagen begleiteten sie nach Haus, um sodann an den Abendbrottischen der Armen und Entrechteten wiederholt zu werden. Präsident Poincaré hingegen hielt im Winterpalais einen großen Diplomatenempfang ab, auf dem der einzige etwas befangen wirkende Gast der österreichisch-ungarische Gesandte war, und fuhr mit allem Pomp zum Peterhof zurück, als der Tag endete. Die für seine Sicherheit Verantwortlichen begannen aufzuatmen. Das Schlimmste war vorbei. Es hatte keinen »Zwischenfall« in St. Petersburg gegeben, und außer einer langen Reihe förmlicher Anlässe stand bis zur Abreise des Gastes nichts mehr bevor. Der Zar gab ein Herrenessen, das Gardekorps sang im Sommerlager von Krasnoje Selo die Abendhymne, und für den Morgen des letzten Tages war noch eine große Parade dieser Elitetruppe angesetzt. Die Großfürstinnen Olga und Tatjana warteten in einer der Holzdatschas, die zu den Quartieren Krasnoje Selos gehörten, auf den Augenblick ihres Auftritts. Von frühester Kindheit an waren sie bei den Sommermanövern zugegen gewesen, die ihr Vater sehr genoß, weil er sich hier als Soldat unter Soldaten fühlte, aber dies war das erste Mal, daß die beiden Zarentöchter, die ehrenhalber den Oberstenrang zweier feudaler Regimenter bekleideten, zu Pferd an der Seite ihres Vaters die Parade abnehmen würden. »Wie lange dauert es noch, Tanja?« fragte Olga und näherte -71-
sich dem Fenster. »Es ist schrecklich heiß hier drinnen.« Tatjana blickte auf ihre Armbanduhr. »Fünfzehn Minuten, wenn sie pünktlich sind... Olga, stütz dich doch nicht auf das Fensterbrett! Du machst dir nur die Ärmel schmutzig!« Sie selbst bot einen untadeligen Anblick und stand in der gleichen Haltung da, die sie eingenommen hatte, während eine Kammerfrau die schwere Uniform an ihrem schlanken Körper zurechtrückte. Olga rieb mit einem Taschentuch über ihre Ellenbogen. »Es ist nichts passiert«, sagte sie leichthin. »Meinst du, wir dürfen unsere Kragen aufmachen?« »Nein, wir bekämen die sperrigen Haken ja nie wieder zu. Aber es ist wirklich heiß!« Die Uniformjacken ihrer Regimenter und die dunklen Reitröcke waren aus weitaus festerem Tuch als die Kleider, die die Mädchen sonst zu dieser Jahreszeit trugen. Olgas Waffenrock hatte Schnurbesatz über der Brust und bestickte Stulpen, der von Tatjana schwere Epauletten. Auf einem Tisch lagen weiße Handschuhe und Reitpeitschen neben Tatjanas Ulanenhelm mit dem überhängenden Federbusch und Olgas Husarenhut mit seinem breiten Kinnband. »Ich wollte, Mama wäre bei uns«, sagte Tatjana. »Sie erzählte mir heute morgen, daß sie seit Jahren nicht mehr hier war.« »Sie mußte Monsieur Poincaré begleiten. Findest du es nicht eine seltsame Vorstellung, daß sie und Vater einmal hier gelebt haben, einen ganzen Sommer lang? Genau neunzehn Jahre ist es her, es war kurz vor meiner Geburt. Damals waren sie bestimmt sehr glücklich, glaubst du nicht auch?« »Sie verstehen sich heute noch sehr gut. Horch - bringt man etwa schon unsere Pferde?« »Nein, es muß irgend jemand gekommen sein.« Olga öffnete die Tür zu dem kleinen Vorzimmer, in dem sich der diensttuende Adjutant aufhielt. Er hatte der Großfürstin den Rücken zugewandt und schien gerade damit beschäftigt, einer plumpen Frau, die ihn gewinnend anlächelte, den Weg zu -72-
versperren. »Anja Alexandrowna, was tun Sie hier?« forschte Olga. »Oh, meine Lieben, ich kam nur, um Ihnen Glück zu wünschen...« »Sie können Madame Wirubowa passieren lassen«, sagte Tatjana ruhig. Als der Adjutant zur Seite trat, fügte sie hinzu: »Um diese Zeit hätte ich Sie auf der Tribüne vermutet, Anja.« »Mein Platz ist reserviert, meine liebe Tanja; ich kann noch im letzten Moment kommen. Aber ich rühre mich selbstverständlich nie mehr von hier weg, falls es irgend etwas noch so Unbedeutendes gibt, was ich für Sie tun kann.« »Was sollte es schon geben?« erwiderte Olga gleichgültig. Sie wandte sich wieder dem Fenster zu und sog die frische Luft ein. »Sind Sie denn nicht - Sie dürfen es unbesorgt bekennen - ein ganz winziges bißchen nervös?« fragte Madame Wirubowa. Sie hatte eine merkwürdige Art zu sprechen, als wäre ihre Zunge zu dick für den kleinen Mund in dem fettgepolsterten Babygesicht. Das gleiche Mißverhältnis zeigte Madame Wirubowas Figur. Mit ihren zweiunddreißig Jahren hatte sie mädchenhaft abfallende Schultern über einem kurzen Oberkörper und unförmigen Schenkeln, deren Umrisse von den verschwitzten, angeklatschten Chiffonröcken gnadenlos preisgegeben wurden. Sie hatte ihre Handschuhe abgestreift, und Olga wich zurück, als sich feuchte rosige Finger ihrer Brust näherten. »Berühren Sie mich nicht, Anja. Sie wissen, ich kann es nicht leiden, daß man mich anfaßt.« »Mein Engel, Sie fühlen sich doch sicher ein klein wenig unbehaglich; weil Ihr Ordensband schief sitzt...« »Lassen Sie es da, wo es ist!« Der Spiegel hatte Olga davon überzeugt, daß sich das scharlachrote Band des St.-KatharinaOrdens, den zu tragen , ein Vorrecht der Zarengemahlin und -73-
ihrer Töchter war, in perfekter Linie über ihren Waffenrock zog. »Sie sind furchtbar aufgeregt, mein Liebling, und das wundert mich gar nicht. Ich sagte Ihrer teuren Mama erst he ute morgen, daß man Ihnen allen beiden eine Gelegenheit hätte geben sollen, für so eine große Parade ein wenig zu üben.« »Das haben wir nicht nötig«, erklärte Olga. »Für so etwas haben wir einen angeborenen Instinkt.« »Gut, gut. Ich sehe, Sie haben keine Verwendung für Ihre arme, treue alte Anja. Aber Sie müssen wirklich Ihr Bestes geben, da draußen vor all diesen Männern, ja? Ihr Vater soll in Ruhe den schönen Erinnerungen nachhängen, die sich für ihn mit Krasnoje Selo verbinden.« »Wovon sprechen Sie?« fragte Tatjana. »Von der Zeit, die er vor langen Jahren einmal hier mit der Zarin verbrachte?« »Ich meine die glücklichen Tage mit Mala Kschessinskaja.« Anja Wirubowa warf den beiden Mädchen eine Kußhand zu und manövrierte ihre ausladenden Hüften durch die Tür, die Olga mit lautem Knall hinter ihr schloß. »Du warst furchtbar grob zu ihr, Olga.« »Es ist mir gleich, sie macht mich krank. Wie Mutter es ertragen kann, sie um sich zu haben, begreife ich einfach nicht.« »Oh, nun sei doch nicht so. Als wir klein waren, haben dir die Feste in ihrem Haus viel Spaß gemacht.« »Mein Geruchsinn muß damals noch nicht voll entwickelt gewesen sein. Wann sie sich wohl das letzte Mal unter den Armen gewaschen hat?« Ein lautes Klopfen an der Tür bewirkte, daß Tatjana statt eines schockierten »Olga!« ihre Schwester zur Eile antrieb: »Noch fünf Minuten! Wir müssen uns fertigmachen! Wir dürfen Papa nicht warten lassen!« »Er muß nicht warten.« Die Kinnbänder wurden befestigt, die weißen Handschuhe übergestreift. Ein prüfender Blick in den -74-
Wandspiegel beseitigte letzte Zweifel. Doch bevor sie den kleinen Raum verließen, fragte Olga ein wenig unsicher: »Wie mag sie das mit der Kschessinskaja nur gemeint haben?« »Ach, reg dich nur darüber nicht auf, Olga, du weißt doch, wie gern Anja kleine Andeutungen fallenläßt, die überhaupt nichts zu sagen haben. Und außerdem weiß jeder, daß diese Tänzerin...« »... Cousin Andrejs Geliebte ist«, ergänzte Olga. »Und das beinahe schon, seit ich auf die Welt kam.« Das riesige Paradegelände in Krasnoje Selo stieg an jedem Ende etwas an, und auf der Seite, wo die Baulichkeiten lagen das Hauptquartier, die Baracken, die Datschas, die Kirche und das Theater -, hatte man eine Gästetribüne errichtet. Sie war bereits vollbesetzt von Damen mit riesigen Hüten und ihren Begleitern, die meisten in prächtigen Uniformen, als ein von Grauschimmeln gezogener und von Kosaken eskortierter Landauer herangefahren kam und unter einem seidenen Baldachin hielt. In dem Wagen saßen die Zarin und der Präsident der französischen Republik und ihnen gegenüber die jungen Großfürstinnen Marie und Anastasia. In beinahe ehrfürchtiger Stille verharrten sechzigtausend Mann, Kavallerie und Fußtruppen, völlig regungslos, während der Zar und seine ältesten Töchter heranritten. Die Regimenter reichten bis zu den Bäumen, die die Erhebung auf der gegenüberliegenden Seite säumten. Als der Zar anhielt und salutierte und zwei weißbehandschuhte kleine Hände hinter ihm seinem Beispiel folgten, begann eine Militärkapelle die Marseillaise zu spielen, und der französische Präsident erhob sich in dem Landauer, seinen Zylinder in der Hand. Das Pferd des Zaren warf nervös den Kopf zurück, doch der Rappe und der Braune, auf denen die Großfürstinnen saßen, standen unbeweglich da, während die beiden Nationalhymnen -75-
erklangen. Dann ritten der Zar und seine Töchter, eskortiert von den Gardegenerälen, im Paßgang das erste Regiment ab, und die Kapelle spielte das traditionelle »Kol slaven«, die Hymne, die um Mitternacht und zu Mittag von der Peter-Pauls-Kathedrale erklang. Der Zar, von seinen Generälen umringt, trug Uniform und Rangabzeichen eines Obersten des Transfigurationsregiments. Es war der höchste Rang, den er unter der Regierung seines Vaters erreicht hatte. Auch als er Zar wurde, hatte er sich aus Sentimentalität keinen höheren Rang verliehen. Unmittelbar hinter dem Transfigurationsregiment waren Olgas Elisabethgrader Husaren und Tatjanas Vossnossensker Ulanen aufgezogen. Der Zar inspizierte alle drei Regimenter. Die Zuschauer, mit Feldstechern ausgerüstet, beobachteten, wie Tatjana vor Nervosität blaß wurde und ihre Züge etwas vom Hochmut ihrer Mutter annahmen; Olga lächelte, und ihr Gesicht war gerötet. Vor Beginn der Parade hatte sie der Gedanke, daß Simon Hendrikow sie in Uniform und mit dem Katharinenorden sehen würde, in unschuldsvolle Erregung versetzt, doch während sie nun hinter ihrem Vater die Reihen abritt, war sie von dem gewaltigen militärischen Aufgebot viel zu beeindruckt, als daß sie an einen bestimmten Mann darunter hätte denken können. Unter dem weiten, blassen russischen Himmel, in der riesigen Ebene, die nach , Staub und Pferden roch, war Olga Nikolajewna im Damensattel ihrer schwarzen Stute von einem physischen Glücksgefühl durchdrungen, das ihrer Hochstimmung nicht nachstand. Als sie wendeten und zu dem Landauer unter dem seidenen Baldachin, wo sich der Sonnenschirm ihrer Mutter anerkennend neigte, und den nun besser zu unterscheidenden lächelnden Gesichtern auf der rot- und golddrapierten kaiserlichen Tribüne zurückkehrten, schlug Olgas Herz schneller: dies war der erste öffentliche Triumph ihres Lebens. Der Vorbeimarsch begann, die Regimentsfahnen wurden vor dem Zar und seinen Töchtern gesenkt, und der französische -76-
Präsident, sichtlich bewegt, weil ihm zu Ehren als erstes der Lothringer Marsch gespielt worden war, sagte zur Zarin: »Sie haben prächtige Töchter, Madame.« Die jüngeren Mädchen kicherten, und die Zarin erwiderte mit dem gezwungenen, herablassenden Lächeln, von dem Poincaré bereits mehr als genug hatte: »Die beiden älteren sind begeisterte Reiterinnen, und Seine Majestät ist der beste Lehrer für sie.« »Und Sie, Hoheit«, fuhr der Präsident fort, »reiten Sie auch gern?« »O ja, Monsieur le Président.« »Meine Schwester ist sehr gelenkig und unheimlich stark!« platzte Anastasia heraus. »Sie kann einen Mann vom Boden hochheben - einen Mann von normaler Statur, meine ich«, erklärte sie mit einem zweifelnden Seitenblick auf den massigen Körper des Präsidenten. Poincarés Lippen zuckten. »Kaiserliche Hoheit haben offenbar die gewaltige Stärke des Zaren Alexander III. geerbt«, sagte er zu Marie. »Ich werde mich sehr davor hüten, Sie je zu beleidigen!« Alexandra Feodorowna schloß die Augen. Von Kopfschmerzen gepeinigt, die so heftig waren, daß sich Fahnen und Uniformen im Kreise drehten, konnte sie plötzlich den Anblick ihres Gatten und ihrer Töchter zu Pferd nicht länger ertragen. Nikolaus hatte gerade seine anfänglich sehr steife Haltung etwas gelockert und sich mit einem Lächeln und einer Bemerkung von der einen zur anderen gewandt, während die langen Reihen an ihm vorbeidefilierten. Daß Tatjana zurücklächelte, ging noch an, denn Tatjana war ihre Lieblingstochter, und es verschaffte der Zarin eine tiefe Befriedigung, in dem schlanken Mädchen ihre eigene Schönheit Wiederaufleben zu sehen. Der fröhliche Blick aber, den Olga ihrem Vater zuwarf, versetzte seiner Gemahlin einen Stich. Die -77-
wohlgeformten schmalen Schultern unter der Uniformjacke, die kräftigen langen Beine, deren Umrisse das Reitkleid nachzeichnete - in alledem sah die Mutter, deren Gedanken unablässig um dasselbe Thema kreisten, eine Beleidigung für Alexis. Er hatte nie zu Pferd gesessen und würde es nie tun können. Es war Olga, nicht Alexis, die an der Seite ihres Vaters diese Parade abnahm...
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4 Joe Calvert war froh, daß der Straßenbahnerstreik zu Ende war. An dem Morgen, nachdem die France mit Präsident Raymond Poincaré an Bord von Kronstadt ausgelaufen war, nahm der junge Vizekonsul um acht Uhr vor dem »Europa« eine Straßenbahn und fuhr zu Madame Hendrikowa. Er hatte mit Erlaubnis des Konsuls vereinbart, daß er dreimal wöchentlich um halb neun Unterricht nehmen würde. Das bedeutete zwar, daß er etwas zu spät ins Konsulat kam, aber nachmittags mußte man angesichts der russischen Unpünktlichkeit damit rechnen, daß eine auf sechs Uhr angesetzte Unterrichtsstunde wegen säumiger Schüler unter Umständen erst um sieben begann. Früh am Morgen ging man außerdem viel frischer an die Arbeit heran. In dem kleinen, am Ende eines Korridors gelegenen Zimmer waren nur die Schritte der lettischen Dienstmädchen zwischen Küche und Wohnraum zu hören. Dort, so nahm Joe an, frühstückten Dolly und ihr Vater wahrscheinlich um diese Zeit, aber er bekam sie nicht zu sehen; nachdem sie ihn zuerst so spontan in ihr Familienleben einbezogen hatten, war durch seinen selbstentworfenen Arbeitsplan nun wieder eine gewisse Distanz entstanden. Später, vor ihrer Abreise nach Finnland, würde er Dolly und ihre Eltern einmal einladen, mit ihm zu Abend zu essen und sich das französische Theaterstück im Alexandrowski- Theater anzusehen. Nach knapp drei Wochen fühlte er sich einer russischen Vorstellung noch nicht gewachsen, aber er wußte, daß er Fortschritte machte, wenngleich seine Lehrerin mit Lob sehr sparsam umging. Er beherrschte mittlerweile das kyrillische Alphabet und seine Aussprache und war dabei, sich die Grundlagen der komplizierten Grammatik und einen kleinen Wortschatz anzueignen. So fiel es ihm nicht schwer, das Wort zu entziffern, -79-
das auf den Anschlagtafeln aller Zeitungskioske zu sehen war, an denen die Straßenbahn auf dem Newski Prospekt vorbeifuhr. Voina! Voina! Es bedeutete »Krieg«. Auf der Wassilij-Insel kaufte er als erstes die Novoje Vremia, und er suchte gerade in seiner Tasche nach Kleingeld, als er eine weibliche Stimme atemlos seinen Namen aussprechen hörte und Dolly Hendrikowa neben sich sah. »Oh, Mr. Calvert, Sie kaufen eine russische Zeitung?« »Ja, obwohl ich noch nicht viel davon lesen kann, Darja Karlowna...« »Mein Vater hat mich hergeschickt, weil er das Extrablatt haben will...« »Ist das ein Extrablatt? Wegen dieses Wortes hier, voina, ›Krieg‹?« »Einer seiner Freunde bei der Zeitung rief an...« »Ist etwa Krieg ausgebrochen?« »Nein, Gott sei Dank, nein! Es ist nur von ›Kriegsgefahr‹ die Rede...« Ihr Gesicht war vom Laufen gerötet; sie trug weder Hut noch Handschuhe und sah sehr hübsch aus mit dem blauen Kattunkleid und den kleinen blonden Löckchen, die den Schildpattspangen entschlüpften. »Kommen Sie«, sagte er, »ich möchte aus diesem Gedränge heraus. Die Leute scheinen zur Arbeit zu gehen wie sonst auch. Vielleicht können Sie mir erzählen, was überhaupt los ist? Fast einen Monat lang ist nun schon von Kriegsgefahr die Rede...« »Ja«, sagte Dolly ernst, »aber in der vergangenen Nacht, mitten in der Nacht - sie warteten, bis der französische Präsident Kronstadt verlassen hatte - übersandten die Österreicher der serbischen Regierung ein Ultimatum. Mein Vater ist überzeugt, daß es zum Krieg kommt, wenn die Serben es nicht akzeptieren.« -80-
»Aber was stand denn in dem Ultimatum?« »Das erfahren wir aus der Zeitung. Oh, lassen Sie uns doch bitte ein bißchen schneller gehen!« Als sie in der Vierten Straße angelangt waren, öffnete Madame Hendrikowa ihnen selbst - untadelig frisiert, in einer weißen Bluse mit einer glatten silbernen Vorsteckuhr, einem weiten Rock und einem straffen Seidengürtel. »Wie schön, daß du Mr. Calvert getroffen hast«, sagte sie zu Dolly und wandte sich dann an Joe. »Sie müssen unbedingt eine Tasse Tee mit uns trinken. Mein Mann wird uns währenddessen über die Neuigkeiten aus Wien informieren.« Im Wohnzimmer holte sie eine frische Tasse und füllte sie aus dem Samowar. Die beiden jungen Leute setzten sich an den Frühstückstisch. Professor Hendrikow vertiefte sich sofort in seine Zeitung. Nach einiger Zeit blickte er seine Frau über die Brille hinweg an und sagte: »Es ist schon so, wie Kolja am Telefon erzählt hat. Nur ist das Ultimatum nicht in der Nacht, sondern bereits am Abend abgeschickt worden. Und nun kommt die Bombe: Österreich verlangt eine gerichtliche Untersuchung, die unter österreichischer Beteiligung in Serbien durchgeführt werden soll...« Seine Hand hob sich in einer verzweifelten Geste. »Sie wollen noch einmal Ermittlungen über die Hintergründe des Attentats anstellen?« fragte Joe. »Ja.« »Und Sie glauben, die Serben werden die österreichische Mitwirkung nicht akzeptieren?« »Davon bin ich überzeugt. Es wäre ein Schlag gegen ihren Nationalstolz und ihre Souveränität.« »Vielleicht opfern sie ihren Stolz doch noch, um keinen Krieg zu riskieren.« »Sie haben ihn 1908 hinuntergeschluckt, als die Österreicher -81-
Bosnien und die Herzegowina annektierten. Ein zweites Mal tun sie das nicht.« Professor Hendrikow schlug so heftig auf den Tisch, daß das Porzellan klirrte, und hob die Stimme. »Was für eine Farce! Was für ein Betrug! Kaiser Franz Joseph steht mit einem Bein im Grab, und der König von Serbien ist so weit geistesgestört, daß sein Sohn zum Regenten ernannt wurde. Warum sollen zwei senile Greise mit dem Leben einer ganzen Generation junger Männer spielen dürfen?« Joe Calvert blickte Dolly und ihre Mutter an. Beide waren blaß, und in den Augen des Mädchens standen Tränen. Es ist natürlich der Sohn, überlegte er, sie denken daran, was ihn erwartet, wenn die Serben dieses verdammte Ultimatum zurückweisen. Er fühlte sich fehl am Platz, der Neutrale, Bürger einer großen Republik, die hoch über dem Balkanzank stand. »Das sind sehr beunruhigende Nachrichten, Madame«, sagte er zu Madame Hendrikowa. »Und ich bin sicher, heute ist Ihnen nicht danach, mir Russischunterricht zu geben. Lassen wir die Stunde doch ausfallen, und versuchen wir es Montag wieder.« »Auf keinen Fall!« Die kleine Dame erhob sich energisch, und Joe sprang auf. »Arbeit ist in kritischen Situationen das allerbeste. Haben Sie sich ein wenig mit dem Gebrauch der Adjektive befassen können?« »Ja, Madame.« »Dann kommen Sie mit; wir haben schon zehn Minuten Verspätung.« Doch Joe wandte sich noch mit einer Frage an den Professor, ehe er seiner Lehrerin nach draußen folgte. »Wann läuft das Ultimatum ab?« »Nach achtundvierzig Stunden.« »Dann lassen Sie die Politiker erst einmal weiterdiskutieren. Solange geredet wird, fängt wenigstens niemand zu schießen an.« »Ja, aber Franz Joseph und seinem Freund, dem deutschen Kaiser, geht es doch ganz offenkundig gerade darum, Gespräche -82-
zwischen den Alliierten zu verhindern. Nicht umsonst wurde das Ultimatum genau in dem Augenblick gestellt, in dem Poincarés Staatsbesuch beendet war und er sich mit dem Zaren nicht mehr beraten konnte...« »Mein Gott, gibt es denn an Bord der France keine Funktelegrafie?« »Wollen Sie damit sagen, daß eine Nation Entscheidungen von solcher Tragweite auf telegrafischem Weg fassen soll?« »Warum nicht, wenn man damit einen Krieg verhindern kann?« Dolly blickte auf, und jetzt lächelte sie sogar. »Es ist zwecklos«, sagte sie. »Was Staatsgeschäfte anbelangt, so denkt Papa an Federn, Tinte und Papier. Und an Reden in der Duma alles ganz korrekt und wie es sich gehört.« »Oh! Aber ich lasse Madame Hendrikowa warten. Vielleicht könnten wir uns am Montag noch einmal darüber unterhalten?« Im Hinausgehen sah Joe, daß Dolly neben ihren Vater getreten war und ihr Gesicht an die gefurchte Wange des Historikers legte. An diesem Tag brachen in St. Petersburg wieder einmal Straßenkämpfe aus. Die Newabrücken wurden hochgezogen, um die Arbeiter auf der Viborg-Seite daran zu hindern, in den Hauptstraßen der Stadt zu demonstrieren, und dem unter dem Vorsitz des Zaren zusammentretenden Ministerrat wurden Berichte vorgelegt, die von schweren Verlusten seitens der Polizei sprachen. Doch Nikolaus II. und seine Berater verloren keine Zeit mit nationalen Details; sie beschäftigte, wie jedes andere europäische Kabinett, nur das österreichische Ultimatum. Seine Töchter, an die Sommerresidenz gefesselt, beklagten die Abwesenheit ihres Vaters ebensosehr wie seinen Entschluß, den zweiten Teil der Kreuzfahrt aufzuschieben. Er war der beste Spielgefährte für Mußestunden, und ohne ihn war Maries und Anastasias einzige Zuflucht der Tennisplatz, wo sie endlose -83-
Matches austrugen und über die Hitze stöhnten. Doch selbst wenn sie eine Pause machten, um sich die Gesichter abzutrocknen und Limonade zu trinken, berührten sie die Angelegenheit, die ihren Vater im Peterhof festhielt, mit keinem Wort. Die Zarin blieb bei Alexis, der noch immer das Bett hütete, und die ergebene Tatjana widmete ihre ganze Aufmerksamkeit ihrer Mutter. Außer Olga schien niemand den Ernst der Situation zu erkennen. Die jungen Großfürstinnen waren nie dazu angehalten worden, sich mit den ausliegenden Zeitungen zu beschäftigen, doch Olga las sie während der friedlichen, stillen Nachmittage jetzt regelmäßig. Sie empfand es als eine nicht geringe Wohltat, daß Rasputin sich in Sibirien aufhielt und Anja Wirubowna in ihr kleines Haus in Zarskoje Selo heimgekehrt war, denn diese beiden stachelten die Zarin nur allzu häufig dazu an, sich in die Politik einzumischen. So hatte sich Alexandra Feodorowna bis jetzt passiv verhalten, selbst beim Tee, den ihr Gatte nie versäumte, obwohl ihn seine Pflichten auch dabei in zunehmendem Maße in Anspruch nahmen. Die Mädchen ha tten sich an den Vorgang bereits ganz und gar gewöhnt: Der diensttuende Adjutant überreichte ihrem Vater in langen weißen Umschlägen die Presseinformationen, die für den nächsten Tag vorgesehen waren, und der Zar erbrach die Kuverts, indem er an den orangefarbenen Seidenfäden zog, die den Siegeln unterlegt waren. Er las die einzelnen Berichte so gelassen wie immer und faltete sie sorgfältig wieder zusammen, äußerte sich jedoch nie über ihren Inhalt. Alexandra Feodorowna beobachtete ihn unentwegt, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Und Nikolaus II. war dazu erzogen worden, in Gegenwart von Damen politische Probleme nie von sich aus zu berühren. Es war die impulsive Olga, die als erste eine Bemerkung über die unangenehme Situation machte. Am Samstag, als die achtundvierzig Stunden des österreichischen Ultimatums ihrem Ende zugingen, speiste die Zarin mit ihren Töchtern auf einem -84-
der hübschen Balkone des Landhauses. Da sie Vegetarierin und stolz auf die Tatsache war, daß ihr Tafelfreuden nichts bedeuteten, nahm sie nur ein paar Bissen zu sich und trank einen Schluck Mineralwasser, und auch der gesunde Appetit der Mädchen war schnell befriedigt. Dann streifte Alexandra Feodorowna die Maske der Gelassenheit für einen Augenblick ab und sagte zu Olga: »Ich denke he ute ständig an die arme liebe Elena! Schreib ihr ein paar mitfühlende Worte, Olga. Ein Kurier kann den Brief später nach Pawlowsk hinüberbringen.« »Was für eine Elena?« fragte Olga unschuldsvoll. »Vetter Johns Frau?« »Sei nicht albern, meine Liebe. Elena von Serbien natürlich. Die Ärmste, sie tut mir ja so leid, eine Fremde in einem fremden Land...« »Sie ist doch schon mindestens drei Jahre mit John Romanow verheiratet, Mama.« »Aber ich bin sicher, ihr Herz ist heute in Belgrad, wo ihr armer Vater dahinsiecht, und ihr Bruder, der Regent, sich mit einer so schweren Verantwortung belastet sieht! Schreib ihr, daß wir alle an sie und ihr tapferes kleines Land denken...« »Ich glaube nicht, daß ich das so wörtlich schreiben kann, Mama.« »Was willst du damit sagen?« »Ich finde, Serbien ist ein recht streitsüchtiges kleines Land, seit der alte König Peter auf den Thron kam. Und wir alle wissen, wie er auf den Thron kam - nachdem König Alexander und seine Königin vor nur zehn oder elf Jahren in ihrem eigenen Palast meuchlings ermordet worden waren.« »Olga! Wo hörst du denn solch schreckliche Dinge!« »Es sind geschichtliche Tatsachen, Mama.« »Aber ich dachte, du hättest deine Kusine Elena so gerne!« -85-
»Das ist auch wahr. Ich sehe nur nicht ein, warum ich Serbien ein tapfe res kleines Land nennen soll, nur weil eine seiner Prinzessinnen unseren Vetter John geheiratet hat.« Die Zarin schloß die Augen. »Widersprich bitte nicht, Olga«, sagte sie. »Schreib das, was ich dir sage, und setze alle Initialen darunter, wie ihr das immer so hübsch macht. Geh jetzt hinein und tu es gleich.« Die Großfürstin gehorchte. In ihrer festen, beinahe männlichen Handschrift mit den weiten Zwischenräumen, die für sie charakteristisch waren, richtete sie an die besorgte Prinzessin in Pawlowsk ein paar liebevolle Zeilen. Doch sie verzichtete auf das backfischhafte OTMA, das die vier Schwestern aus den Anfangsbuchstaben ihrer Namen gebildet hatten, und unterschrieb, was sie sonst in der familiären Korrespondenz fast nie tat, als »Olga« - mit dem weitausholenden Bogen eines Herrschers, der ein Staatsdokument unterzeichnet. Es war ein energischerer Namenszug als der, den ihr Vater einige Stunden später unter den Befehl setzte, in vier russischen Militärbezirken die Mobilisierungsvorbereitungen zu treffen. Denn die serbische Regierung hatte nach langen Beratungen die Klausel des Ultimatums zurückgewiesen, die auf der Teilnahme Österreichs an der neuen gerichtlichen Untersuchung bestand. Als die Ablehnung dem österreichischen Gesandten in Belgrad zugestellt wurde, verlangte er sofort die Pässe, und die diplomatischen Beziehungen mit Serbien waren abgebrochen. Es war eine alte Tradition, die Sommerzeremonien in Krasnoje Selo mit einer von den Absolventen der kaiserlichen Ballettschule bestrittenen Veranstaltung in dem kleinen Theater zu beschließen. An jenem heißen Juliabend, an dem der Frieden nur noch an einem Faden hing, wies das Programm zwei Bereicherungen auf: die große Arie aus Glinkas »Das Leben für -86-
den Zaren« und die Mazurka aus dem 2. Akt derselben Oper, von Mathilde Kschessinskaja getanzt. Als Großfürstin Olga vernahm, daß sie, wie es in diesem Sommer schon verschiedentlich der Fall gewesen war, ihre Mutter bei diesem Anlaß vertreten müsse, war sie hoch erfreut. Immerhin hatten Anja Wirubowas boshafte Worte bewirkt, daß das Mädchen neugierig geworden war. Viel wichtiger jedoch als der Wunsch, den Vater während des Auftritts der Kschessinskaja zu beobachten, war nach all der aufgestauten Sorge der vergangenen Tage ihr Bedürfnis, ein paar private Worte mit dem Zaren zu wechseln. Es ergab sich allerdings, daß sie zehn Minuten in dem Automobil sitzen mußte, bevor Nikolaus überhaupt erschien, und zudem folgte ihm der diensttuende Adjutant. Mit der kurzen Bemerkung: »Noch mehr von diesen gräßlichen Telegrammen!« knipste der Zar die Deckenbeleuchtung des Wagens an, die das sanfte sommerliche Dämmerlicht vertrieb, und war dann die ganze Fahrt hindurch mit der Lektüre der Telegramme beschäftigt. Er versah jedes einzelne mit einer kurzen Anmerkung und übergab sie seinem Adjutanten, der sie in eine Ledermappe einordnete. Es war unmöglich, ihn zu unterbrechen, und so sagte Olga kein Wort, bis sie das Theater von Krasnoje Selo erreichten, wo sie der Direktor erwartete, ein Rosenbukett für die junge Großfürstin in der Hand. Es war ein wunderliches kleines Gebäude, das wie eine übergroße Datscha aussah mit seinem geschnitzten Gitterwerk und den Vorhängen um die Veranda, die von Blumentöpfen gesäumt war. Protokollgemäß begrüßten einige Hofleute den Monarchen auf dieser Veranda, von wo aus sich der Zar und seine Tochter ins Theater begaben. Der Vorraum der kaiserlichen Loge war so strahlend hell erleuchtet, daß Olga zuerst wie geblendet dastand und nichts anderes wahrnahm als knicksende Damen. Und dann waren plötzlich alle anderen Eindrücke wie fortgewischt, denn Simon Hendrikow trat auf sie -87-
zu, um ihr den dünnen Umhang von den Schultern zu nehmen. Sie reichte ihm die Hand zum Kuß und sagte: »Was für eine Überraschung, Sie hier zu sehen.« »Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um heute zur Theaterwache eingeteilt zu werden.« »Ich hatte gar nicht mit der Möglichkeit gerechnet, daß Sie noch in Krasnoje Selo sein könnten.« »Wir werden morgen wieder nach St. Petersburg zurückverlegt.« »Oh, dann sehen Sie Ihre Familie. Oder ist sie schon in der Datscha?« Sie lächelten einander an und waren in dem überfüllten Vorraum genauso allein, als stünden sie wieder auf jener Wiese neben dem finnischen Fluß. »Meine Familie? Ich glaube nicht, daß sie schon jetzt nach Koivisto geht... Ich habe Sie bei der Parade gesehen, Olga Nikolajewna. Sie sahen bezaubernd aus.« Und seine Augen fügten hinzu: »Genau wie heute abend.« »Leider ist die Kreuzfahrt auf der Standart fürs erste einmal gestrichen«, sagte das Mädchen. »Das stand in den Tagesbefehlen. Aber wenn sich die Lage erst wieder beruhigt hat...« »Oh, Simon Karlowitsch!« Olgas Stimme war nur ein Hauch. »Beten Sie, beten Sie, daß sie sich beruhigt!« »Komm jetzt, meine Liebe«, sagte der Zar neben ihr. »Wir haben schon zehn Minuten Verspätung, und ich hatte heute sogar eigens um ein kurzes Programm gebeten.« Mit so vielen schwerwiegenden Problemen beschäftigt, hatte Nikolaus kaum wahrgenommen, wie das Mädchen gekleidet war. Erst als er sie in die kaiserliche Loge führte, machte ihn das beifällige Summen des verwöhnten Publikums auf den Liebreiz der jungen Gestalt in dem einfachen rosafarbenen Chiffonkleid aufmerksam, die sich nun lächelnd nach allen Seiten verneigte. -88-
Olgas einzige Zierde war eine Perlenschnur, die sich um das hochgeschlagene blonde Haar wand, und der Rosenstrauß, den sie in der linken Hand trug. Das unerwartete Zusammentreffen mit Simon hatte sie froh gestimmt und ihre Wangen gerötet. »Du siehst entzückend aus«, murmelte der Zar. »Den jungen Hendrikow scheint es ja auch schlimm erwischt zu haben. Wirst du dich etwa als Herzensbrecherin entpuppen, meine Liebe?« Neckereien dieses Stils waren in der Familie etwas völlig Alltägliches; trotzdem erleichterte es Olga, daß sich in diesem Augenblick der Raum verdunkelte und das Orchester eine Ouvertüre zu spielen anfing. Die Vorstellung begann, nicht besser und nicht schlechter als alle anderen, die sie gesehen hatte, und die neuen Absolventen der Ballettschule tanzten in der stets gehegten Hoffnung auf kaiserliche Förderung mit dem gleichen hingebungsvollen Eifer, als gäbe es keine serbische Batterien, die an der Gebirgsgrenze aufgestellt wurden. In der Pause kamen Vettern und Hofleute in die kaiserliche Loge und machten ihre Verbeugungen, und dem Mädchen blieb nur noch Zeit zu der Bemerkung: »Ich bin gespannt auf Madame Kschessinskajas Auftritt.« »Aber du hast sie doch letztes Jahr im Marjinski- Theater schon einmal die Mazurka tanzen sehen.« »Das meiste davon habe ich versäumt. Erinnern Sie sich nicht? Mama hatte einen Schwächeanfall, und Tanja und ich begleiteten sie in den Vorraum.« »Ach ja, richtig. Die arme Mama«, bestätigte der Zar zerstreut, und Olga überlegte, ob er wohl auch - wie sie selbst festgestellt hatte, daß Schwächegefühle und Herzklopfen bei ihrer Mutter immer dann auftraten, wenn sie nicht im Mittelpunkt des Interesses stand. Aber hatte Alexandra Feodorowna an dem Abend im Marjinski- Theater etwa einen besonderen Grund gehabt, über den Anblick der Tänzerin auf der Bühne verstimmt zu sein? Stockend fragte sie: -89-
»Bewundern Sie die Tanzkunst der Kschessinskaja?« »Sie ist Rußlands einzige prima ballerina assoluta.« »Ja, aber manche Leute finden, ihr Stil sei furchtbar altmodisch und zu förmlich und kalt für das moderne Publikum. Sind Sie der gleichen Meinung?« »Ich muß sagen, ich ziehe die alte Choreographie der neuen vor.« Es war eine jener unverbindlichen Antworten, die für den Zaren charakteristisch waren, und Olga war erstaunt, als er fortfuhr: »Hier in diesem Theater habe ich sie zum erstenmal öffentlich auftreten sehen.« »Madame Kschessinskaja? Wann war das - bevor Sie und Mama verheiratet waren?« »Oh, lange davor. Es ist Ewigkeiten her.« »Sie gehen nicht sehr schmeichelhaft mit der Dame um. Wie alt ist sie denn?« »Sie muß über vierzig sein.« Doch die Tänzerin, die in einem Lichtkegel auf der Bühne stand, als sich der Vorhang öffnete, wirkte kaum älter als ein Mädchen. Sie war klein und schmal, hatte ein ungewöhnlich reizvolles Gesicht mit glänzenden Augen, und die Mazurka, die sie so oft getanzt hatte war von ihrem gesamten Repertoire das Thema, das ihrem Naturell am meisten entsprach. Mala Kschessinskaja war polnischer Abstammung, und die Mazurka entlockte ihr eine Inbrunst, die selbst ihre technische Gewandtheit noch in den Schatten stellte. Das Publikum spendete ihr stürmischen Beifall, und sie bedankte sich knicksend, ohne den Blick zur kaiserlichen Loge zu heben, wo der Zar, nachdem er höflich applaudiert hatte, nun den bärtigen Mund mit der Hand bedeckte. Eine regelrechte Ovation gab es zehn Minuten später, als der berühmteste russische Bariton die großartige Arie beendete, in der Iwan Susanin, von den Feinden seines jungen Kaisers -90-
umgeben, seine Pflicht kundtut, sein Leben für Rußland zu opfern. Sie verlieh alldem Ausdruck, was die Anwesenden unter dem zunehmenden Druck der vergangenen Tage gefühlt hatten. Sie standen auf, um zuerst dem Sänger und dann spontan dem Zaren zuzujubeln. Plötzlich war der Abend sein persönlicher Triumph, als das Theater von der Nationalhymne widerhallte. Und als ihm seine Tochter durch den gedeckten Gang, der an den Garderoben vorbeiführte, nach draußen folgte, sah sie ihn über den Hof hinweg zu einem Fenster blicken und die Hand grüßend an die Mütze heben. Mala Kschessinskajas Silhouette hob sich gegen den beleuchteten Raum ab, ihre Fingerspitzen lagen auf den Lippen. Es war ein flüchtiger Eindruck, den nur Olgas wachsame Augen aufgefangen hatten, und er wurde von den nächsten Ereignissen sogleich völlig verwischt. Auf der Veranda erwartete sie der Adjutant, der sie herbegleitet hatte, mit eine m Bündel Telegramme, und außerdem Großfürst Kyrill mit seiner Frau sowie ein oder zwei weitere Familienmitglieder. Es war Kyrill, der den Zaren beiseite nahm und dringlich auf ihn einsprach. Olga konnte lediglich ein paar Namen hören - »der Kaiser... der deutsche Botschafter... Sazonow«, und dann blickte ihr Vater in ihre Richtung. »Kyrill bringt dich nach Hause, Olga. Sag Mama, daß ich zu einer dringenden Beratung in den Palast muß? Ich hoffe, sie dauert nicht lange.« Damit stieg er in den Wagen ein, der mit laufendem Motor vor der Tür wartete, und Großfürst Kyrill half Olga mit einer kühlen, förmlichen Verbeugung in seine eigene Limousine. Seine hochmütige Frau nahm neben dem Mädchen Platz. Während der kurzen Fahrt, die Olga ziemlich schweigsam verbrachte, sprachen sie lediglich über die Vorstellung, und dies in Worten, die auf das Verständnis eines zehnjährigen Kindes zugeschnitten waren. Olga rannte förmlich in die Halle der Villa Alexandria, als ihr Automobil fortfuhr. -91-
Die Zarin kam ihr aus einem der Emp fangsräume entgegen. Sie trug eine Robe aus heliotropfarbener Seide, die sie ungeheuer zerbrechlich und leidend erscheinen ließ. »Wo ist dein Vater?« »Er mußte zu einer dringenden Beratung in den Palast.« »Um diese späte Stunde?« Olga blickte auf die Uhr. Es war nach Mitternacht. »Sind neue Nachrichten aus Wien eingetroffen?« forschte die Zarin. »Ich weiß es nicht, Mama. Ich hörte nur etwas von einer Botschaft des Kaisers.« »Dieser Tollhäusler!« rief die Zarin aus. »Er steht hinter alldem, natürlich!« Dann wandte sie sich an die Hofdame, die ihr in die Halle gefolgt war. »Nastia, ich möchte sofort mit dem Palast telefonieren!« »Mama, halten Sie das für klug, wenn doch gerade eine Beratung stattfindet?« Die Zarin rang die Hände. »Wer weiß, was alles beschlossen werden kann, wenn man mich nicht konsultiert! Oh, wäre nur Vater Grigorij hier!« Olga sah sich um. Sie waren nicht allein - aber sie waren ja niemals allein; außer der erschrockenen Hofdame hielten sich noch zwei makellos livrierte Lakaien in der Halle auf, und auf dem oberen Treppenabsatz stand ein Adjutant. »Wo ist Tatjana? Schläft sie schon?« »Sie hat sich vor einer Stunde hingelegt, weil sie sich nicht wohl fühlte. Geh nun auch, Liebling, und wecke sie ja nicht, nur um noch zu schwatzen.« »Mir war noch nie im Leben weniger nach Unterhaltung zumute.« Doch die Zarin achtete schon nicht mehr auf die Tochter, die sie wie ein lästiges Kind fortgeschickt hatte. Als Olga die Treppe hinaufging, hörte sie ihre Mutter dringlich -92-
sagen: »Nastia! Telefonieren Sie mit Anna Alexandrowna! Besorgen Sie einen Wagen, der sie so schnell wie möglich hierherbringt!« Aber es bedurfte vieler Stunden und mehrerer Telefonanrufe, bis Anja Wirubowna eintraf. Der Zar selbst war inzwischen einmal dagewesen und wieder fortgegangen. Er war in der Morgendämmerung gekommen und hatte allein mit seiner Gemahlin gefrühstückt, bevor er in den Peterhof zurückkehrte, wo ihn ein langer, arbeitsreicher Vormittag erwartete. Wagen auf Wagen fuhr die Alleen entlang: Immer neue Berater uniformierte und nichtuniformierte - erschienen, um die Nachricht zu erörtern, die bereits um die ganze Welt lief: Österreich-Ungarn hatte Serbien den Krieg erklärt. Als Madame Wirubowa schließlich ankam, war die Zarin schon völlig aufgelöst, und ihre Töchter verharrten in bedrücktem Schweigen. Sie ließen die tränenreiche Begrüßung und die Küsse der dicklichen, ungepflegten Frau über sich ergehen und setzten sich dann, um irgendeine Beschäftigung bemüht, mit ihren Stickrahmen neben das Salonfenster, während ihre Mutter am anderen Ende des Raumes mit Anja flüsterte. Bald darauf fuhr der kaiserliche Wagen vor, und Nikolaus II. stieg aus. Er war allein. »Da ist Papa!« rief Anastasia und sprang so heftig auf, daß sie den Korb mit dem Stickgarn umstieß. »Warte!« sagte Olga. »Warte, bis er zum Tee kommt.« Die Uhr schlug fünf, und Alexandra, von Anja gefolgt, begab sich zum Tisch und entzündete die Spiritusflamme unter dem Silberkessel. Die Frauen warteten schweigend, bis der Deckel zu tanzen begann. »Soll ich den Tee zubereiten?« fragte Olga. »Wir wollen noch ein paar Minuten auf Papa warten.« Sie warteten. Die goldene Uhr, mit winzigen Cupido- und Psyche-Statuetten verziert, schlug Viertel nach fünf. Seufzend drehte die Zarin die Flamme kleiner. -93-
»Papa war doch nicht in Begleitung, oder?« »Er kam allein, Mama.« »Tatjana, Liebling, lauf und erinnere ihn an die Teestunde. Sag ihm, daß Anja da ist und ihn dringend sprechen möchte.« »Ich besorge das!« erklärte Olga, bevor ihre Schwester aufstehen konnte. Hier bot sich endlich die ersehnte Gelegenheit, mit ihrem Vater allein zu sprechen. Sie ging die Treppe hinauf, einen Korridor entlang und blieb vor der Tür seines Arbeitszimmers stehen, das trotz der Zwanglosigkeit in diesem Landhaus von zwei riesenhaften, malerisch gewandeten Äthiopiern bewacht wurde. Olga sah sich nach einem Adjutanten um, doch es war keiner zu entdecken. Die Äthiopier verneigten sich vor der ältesten Zarentochter, wichen aber nicht von ihrem Platz. Männer ihres Volkes bewachten schon seit den Tagen Katharinas der Großen die Privatgemächer der russischen Monarchen, und sie wußten ihr Privileg zu schätzen. Erst als Olga erklärte, sie habe eine Botschaft Ihrer Kaiserlichen Majestät, der Zarin, zu überbringen, verbeugten sie sich tief und öffneten zugleich beide Flügel der vergoldeten Tür. Das Arbeitszimmer des Zaren war ein freundlicher, luftiger Raum mit großen Fenstern, die einen herrlichen Ausblick auf den Finnischen Meerbusen boten. Als Olga eintrat, fand sie ihren Vater in halb sitzender, halb liegender Stellung auf einem Sofa. Sein Uniformrock war am Hals geöffnet, und sein Gesicht wirkte so hager und abgezehrt wie nie zuvor. Auf einem Tisch neben ihm stand ein Tablett mit Kognak und Selterswasser, und ein halbgeleertes Glas zeigte, daß der sonst so enthaltsame Zar das Bedürfnis nach einem Anregungsmittel verspürt hatte. »Papa, es tut mir sehr leid, daß ich Sie stören muß, aber Mama...« »Du störst mich nicht, meine Liebe; komm herein.« Als sie seinen starren, abgründigen Blick sah, hatte sie -94-
plötzlich das bedrückende Gefühl, daß das Schlimmste geschehen und der Krieg ausgebrochen sei. Dennoch überbrachte sie zunächst ihre Botschaft. »Mama trug mir auf, Ihnen zu sagen, daß Anja hier ist und Sie dringend sprechen möchte. Wir hofften, Sie würden zum Tee kommen...« Nikolaus zwang sich ein Lächeln ab. »Anja kann warten«, erklärte er. »Wie hübsch und frisch du aussiehst! Setz dich und erzähl mir, was meine kleinen Mädchen den ganzen heißen langen Tag über getrieben haben.« »Papa, bitte tun Sie doch nicht so, als wären wir allesamt kleine Kinder. Sagen Sie mir, was vorgeht. Ich muß es wissen, ich habe ein Recht darauf«, drängte Olga heftiger, als es ihre Absicht gewesen war. »Hat Österreich Rußland den Krieg erklärt? Haben Sie die Mobilmachung befohlen?« Der Zar setzte sic h auf und leerte sein Glas. »Wir stehen mit niemandem im Krieg«, antwortete er. »Zerbrich dir darüber nicht deinen hübschen Kopf.« »Ich habe Sie gebeten, mich nicht wie ein Kind zu behandeln, Papa. Schließlich werde ich im November neunzehn.« »Mir kommst du trotzdem noch immer wie ein kleines Mädchen vor.« »Aber vor ein paar Wochen fanden Sie mich alt genug, um meine Vermählung zu erwägen.« Der erschöpfte Mann vor ihr biß sich auf die Lippen. »Gut«, sagte er. »Du weißt natürlich, daß die Österreicher Serbie n den Krieg erklärt haben. Sie haben heute morgen die Mobilmachung angeordnet. Und sehr gegen den Willen meines Generalstabs, der die Ansicht vertritt, daß wir genauso hätten reagieren sollen, habe ich lediglich eine Teilmobilisierung befohlen.« »Was heißt das?« »Es heißt, daß dreizehn Divisionen in den Westen, an die -95-
galizische Grenze verlegt werden.« »Aber uns bedrohen die Österreicher doch gar nicht!« »Nicht direkt. Vorerst wenigstens.« »Wenn sie uns nun überhaupt nicht angreifen - könnten Sie dann verfü gen, daß diese dreizehn Divisionen wieder abgezogen werden und in die Städte und Provinzen zurückkehren, aus denen sie kommen?« »Theoretisch könnte ich das, nur in der Praxis wäre es sehr schwierig. Das Problem ist der Bahntransport, doch das kannst du einfach nicht verstehen.« »Ich finde, selbst wenn diese Männer den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen müßten, wäre es immer noch besser, sie heimzuschicken, als sie für Serbien sterben zu lassen.« »Jetzt redest du Unsinn, meine Liebe. Sollten wir nicht lieber zum Tee hinuntergehen?« »Bitte, warten Sie.« Olga trat zu dem riesigen Globus, der zwischen den beiden Fenstern auf einem Messinggestell stand. »Wissen Sie«, sagte sie und drehte den Globus im Kreise herum, »ich bin alt genug, um mich an 1905 zu erinnern.« »Und was ist meiner Olga aus dem Jahr 1905 im Gedächtnis haften geblieben?« »Ich weiß noch, wie die Truppen stockbetrunken in den Krieg gegen Japan zogen. Und ich weiß, wie sie zurückkamen - soweit sie überhaupt zurückkamen: verkrüppelt und blind. Ich weiß, daß Japan uns bei Mukden eine furchtbare Niederlage bereitet und unsere Marine in der Tsushima-Bucht vernichtet hat. Wie, wenn die Japaner uns wieder den Krieg erklären und uns im Osten angreifen, während unsere Armee nach Westen marschiert?« »Es geschieht stets nur das, was Gott will«, antwortete der Zar und erhob sich steif. »Ich habe schon vor langem gelernt, mich seinen Züchtigungen zu beugen.« -96-
»Aber das ist reiner Fatalismus, Vater! Meinen Sie nicht, Gott erwartet, daß wir etwas tun, um uns selbst zu he lfen?« »Irgend jemand muß dir protestantische Doktrinen beigebracht haben«, entgegnete Nikolaus trocken. »Und da wir schon dabei sind, mir machen die Briten weitaus größere Sorgen als die Japaner. Ich warte immer noch darauf, daß mein geliebter Vetter Géorgie seine Absicht verkündet, Frankreich und mir beizustehen...« »Aber der König von England muß solche Entscheidungen doch seinem Parlament überlassen, oder nicht? Zumindest haben wir das in unserem Geschichtsunterricht gelernt...« »Ja, das ist ihre unsinnige Vorstellung von Freiheit«, bestätigte der Zar. »... Sunny, meine Liebe, es tut mir so leid, daß ich dich habe warten lassen!« Er gebrauchte im privaten Bereich gern den Kosenamen, den man seiner Gattin in der Kindheit gegeben hatte. Flecken auf den Wangen, war die Zarin urplötzlich im Zimmer erschienen; ihr Hals zeigte Spuren des Ausschlags, der immer in Augenblicken äußerster Belastung bei ihr auftrat. Ihre Vertraute, schwitzend und demütig, versank in einen tiefen Knicks. »Wir konnten nicht mehr länger warten, Nicky«, sagte Alexandra Feodorowna. »Anja erhielt von unserem Freund, Vater Grigorij, ein Telegramm mit einer Botschaft für dich, die du unverzüglich lesen solltest...Olga, geh hinunter und beaufsichtige die Kinder beim Tee.« »Olga hat soeben ihre strategische Naturbegabung unter Beweis gestellt«, sagte der Zar. »Ich glaube nicht, daß mir Vater Grigorij irgend etwas mitteilen kann, was sie nicht hören dürfte. Wo ist dieses Telegramm?« Die Zarin hielt es bereits in der Hand. Nikolaus las es - es war sehr kurz -, und sein blasses Gesicht rötete sich. »Beantwortet dieses unverschämte Telegramm ein von dir -97-
abgesandtes?« fragte er seine Frau. Sein Ton trieb ihr das Blut ins Gesicht. »Anja hat in meinem Auftrag nach Tjumen telegrafiert«, antwortete sie. »Nach der österreichischen Kriegserklärung dachte ich, unser Freund müsse erfahren, daß uns der bloße Gedanke an Krieg aufrichtig entsetzt. Ich bat ihn, uns mit seinem Rat beizustehen - und hier hast du ihn.« Nikolaus wandte sich an Madame Wirubowa, die in Tränen ausgebrochen war. »Anja Alexandrowna«, sagte er eisig, »wollen Sie sich in Zukunft bitte stets vor Augen halten, daß ich fähig bin, mein Land ohne Ihre oder Vater Grigorijs Einmischung zu regieren? Ich werde dieses impertinente Papier vernichten und - um Ihnen beiden meine Großzügigkeit zu beweisen - vergessen, daß es je abgeschickt wurde.« »Was steht darin, Vater?« fragte Olga, und ohne auf die protestierende Geste seiner Gattin zu achten, las der Zar Rasputins Telegramm vor: »Laßt Papa keinen Krie g planen. Der Krieg ist das Ende für Rußland und Euch, und Ihr werdet bis zum letzten Mann geschlagen werden.«
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5 Österreich-Ungarn erklärte Serbien am 28. Juli des westlichen Kalenders den Krieg, genau einen Monat nach den fatalen Schüssen von Sarajevo. Doch während man bei der auslösenden Krise noch mit Tagen und Wochen hatte rechnen können, war die jetzige eine Sache von Stunden, und daß der Zar darauf beharrte, nur einen Teil seiner Armee zu mobilisieren, erwies sich als ebenso fruchtlos wie Olgas pathetischer Vorschlag, die russischen Truppen im Nichtangriffsfalle zu Fuß nach Hause gehen zu lassen, sofern es keine Transportmöglichkeit gab. Als die Österreicher Europa vor ein fait accompli stellten, indem sie am nächsten Tag Belgrad bombardierten, konnte sich Nikolaus II. dem Druck seiner Generäle nicht mehr entziehen. Am 31. Juli, einem Freitag, begann in Rußland mit dem Morgengrauen die allgemeine Mobilmachung sowohl an der ostpreußischen als auch an der galizischen Grenze. Sie zog augenblicklich die Mobilmachung in Deutschland nach sich und ein deutsches Ultimatum, worin Rußland zur Einstellung der Kriegsvorbereitungen aufgefordert wurde. Als das Ultimatum am Samstag abend um sieben Uhr ablief, erklärte Deutschland Rußland den Krieg. An diesem Abend hatte sich der Zar ausnahmsweise einmal nicht in sein Arbeitszimmer zurückgezogen. Er hatte eine halbe Stunde mit seinem Sohn verbracht und schien es nun zu genießen, im letzten bernsteinfarbenen Dämmerschein mit seiner Frau und seinen Töchtern beisammenzusitzen. Er wollte kein Licht, und seine Zigarette war ein kleiner glühender Punkt in dem halbdunklen Salon. Alexandra Feodorowna war ganz liebende Aufmerksamkeit und Patriotismus. Es hatte sie ungeheuer erschreckt, daß Nikolaus in dem jähen Zornesausbruch Rasputins Telegramm zerriß. Und da die Würfel mittlerweile unwiderruflich gefallen waren, ließ sie sich -99-
nun in harten Worten über ihren Vetter, den deutschen Kaiser, aus, der als eigentlicher Drahtzieher hinter dem senilen österreichischen Kaiser gestanden hatte, und beklagte die unglückliche Fügung, daß die Mutter des Zaren, Marie, ausgerechnet zu einem solchen Zeitpunkt auf der Heimreise durch Deutschland war. »Sie ist nicht allein, Sunny«, erinnerte sie der Zar. »Sie hat Xenia und ihr ganzes Gefolge bei sich. Es wird ihnen bestimmt nichts zustoßen, davon bin ich überzeugt. Ihr Sonderzug ist vielleicht jetzt schon in Wirballen.« »Wie aber, wenn sie in Berlin haltgemacht haben, um Felix und Irina zu besuchen? Übrigens finde ich wirklich, wenigstens diese beiden hätten sofort heimkommen sollen, als die Österreicher dieses fürchterliche Ultimatum stellten! Es ist rücksichtslos von Felix, nicht besser auf Irina zu achten, in ihrem Zustand!« Im Halbdunkel stießen sich Marie und Anastasia, die nebeneinander auf dem Sofa saßen, verstohlen an. Ihre Kusine Irina, die Tochter Xenias, der Schwester ihres Vaters, hatte unlängst den Fürsten Felix Jusupow geheiratet, und ihrer Erfahrung nach hieß es immer, daß ein Kind unterwegs war, wenn vom »Zustand« einer jungverheirateten Frau gesprochen wurde. Für die beiden Mädchen und insbesondere für Marie waren Hochzeiten und die nachfolgenden Geburten die wichtigsten Gesprächsthemen der Welt. »Mach dir keine allzu großen Sorgen um Mütterchen«, sagte der Zar. Er kannte die konstante Eifersucht seiner Gemahlin auf »Mütterchen« viel zu gut und hatte am Anfang seiner Ehe sehr darunter gelitten. »Und jetzt, meine Lieben, muß ich mich wieder ernsteren Dingen widmen...«, wandte er sich an seine Töchter. Die Mädchen sagten ihrem Vater zärtlich gute Nacht. Tränen hatte es früher am Abend gegeben, als ihnen der Zar eröffnete, -100-
daß der Krieg erklärt sei; jetzt waren sie alle viel zu müde, um noch große Gemütsbewegungen zu bekunden. Sie küßten ihrer Mutter die Hand und verließen den Salon. Am andern Morgen fand sich die Familie zu einem hastigen Frühstück zusammen. Der Zar war bereits gegangen, um sich auf die uralte Kriegszeremonie der Romanows vorzubereiten. »Haben Sie etwas von Großmama gehört? Ist sie schon an der Grenze?« fragte Olga ihre Mutter. »Deine Großmutter ist noch immer in Deutschland«, antwortete die Zarin mit unheilverkündender Ruhe. »Wir haben soeben durch die dänische Botschaft erfahren, daß sie auf Anordnung des Kaisers in Berlin verhaftet worden ist.« »Großmama im Gefängnis? Das kann ich nicht glauben!« »Sie wird im Bahnhof festgehalten«, erklärte Tatjana. »Mit Tante Xenia zusammen - in ihrem Salonwagen.« »Ich kann es Olga nicht verdenken, daß sie das nicht glauben kann«, sagte ihre Mutter. »Mir erscheint es absolut unfaßbar. Man muß sich das einmal vorstellen - ein Monarch, der eine Kaiserin verhaftet! Willy muß den Verstand verloren haben.« »Großmama festgenommen!« wiederholte Olga. »Aber was sagt Vater dazu? Wie können wir sie wieder heimholen?« »Die dänischen Verwandten tun alles, was in ihrer Macht steht.« »Laß dir nicht den Appetit verderben«, meinte Marie. »Gegen den deutschen Kaiser verteidige ich Großmama noch allemal.« »Und ich verteidige Großmama gegen die ganze deutsche Armee«, behauptete Anastasia, und selbst die Zarin lächelte. Sie erinnerte die Mädchen daran, daß sie in ungefähr einer Stunde für die Abfahrt nach St. Petersburg bereit sein müßten, um der Zeremonie beizuwohnen, in der der Zar seinen Eid vor der Garde leisten würde, und sie bat ihre Töchter, zuvor Alexis ein wenig aufzuheitern, der wieder einmal zurückbleiben mußte, -101-
weil er das Bett hütete. Die Mädchen waren bereits im Zimmer ihres Bruders, als ihr Vater sich zu ihnen gesellte. Nikolaus hatte mit seinen Sekretären das Programm dieses Vormittags durchgearbeitet und sich die ersten Pläne für die komplizierten Rituale und Zeremonien, die ihn in Moskau erwarteten, eingehend angesehen. Gegen den Willen seiner Gattin hatte er sich dazu bewegen lassen, die Mitglieder der Duma zu empfangen, diesen Debattierverein - denn viel mehr war es nicht -, mit dem er so häufig in Konflikt geriet, und für diese Neuerung lieferte das Protokoll keinerlei Anleitung. Aus seinem Arbeitszimmer hatte man ihn sodann in den Ankleideraum seiner Gemahlin gerufen, weil zu entscheiden galt, welche Juwelen Alexandra bei ihrem ersten öffentlichen Auftreten seit über einem Jahr tragen sollte. Die oberste Kammerfrau empfahl zumindest eine Perlenkette, doch Nikolaus schloß sich dem Wunsch der Zarin an, die im Hinblick auf die Tatsache, daß sie sich zu Wasser nach St. Petersburg begeben und dann durch eine möglicherweise feindselige Menschenmenge zu Fuß weitergehen würden, auf jeglichen Schmuck verzichten wollte. »Ihre Majestät wird in Moskau Juwelen tragen, aber nicht heute«; verfügte er und entließ ihre Damen. Als sie allein waren, nahm er seine bebende Frau in die Arme, küßte sie leidenschaftlich und flüsterte ihr zu, daß sie ruhig bleiben und ihm helfen müsse, den schweren Augenblick, der ihn im Palast erwartete, durchzustehen, daß er auf sie baue, in allen Dingen... Und ihre spontane physische Reaktion zeige ihm, daß er auf diesem Gebiet für das ganze Leben eine durch nichts zu brechende Macht über sie hatte. Er hatte sich seit der Affäre mit Rasputins Telegramm aller Zärtlichkeiten enthalten, nicht aus Berechnung, sondern einfach, weil er erschöpft war. Jetzt merkte Nikolaus, als er sie leise und stockend um Verzeihung bitten hörte, daß sie tagelang in der Furcht gelebt hatte, seinen Unwillen erregt zu haben. Als er sie losließ, blickte sie ihn mit -102-
bräutlicher Anbetung an. Sie war glücklich, für eine Stunde zumindest, und als der Zar vor der Tür seines Sohnes stehenblieb, wußte er, daß sie nicht die einzige war: von drinnen erklang fröhliches Gelächter, und Alexis war derjenige, der am lautesten lachte. Seine lieben albernen Mädchen schienen ihren Bruder ungeheuer zu amüsieren. Sie hatten offenbar irgendeinen Schabernack getrieben, denn sie standen alle drei an der Wand, während Alexis, von Kissen gestützt, kichernd in seinem Bett saß. Monsieur Gilliard, sein Schweizer Hauslehrer, saß lächelnd neben ihm, eine Art Bilderbuch in der Hand. Er stand auf und verneigte sich, als der Zar eintrat. »Nun, junger Mann«, sagte Nikolaus zärtlich, »was treibst du an diesem schönen Morgen - belustigst du dich an deinen Schwestern?« »Ich finde sie komisch, so herausgeputzt mit ihren Hüten und Handschuhen«, antwortete der Zarewitsch. »Aber sie sehen sehr hübsch aus, und ich bin stolz auf sie!« »Vielen Dank, mein Herr«, sagte Anastasia und machte einen Knicks. »Papa, warum kann ich nicht mitkommen?« »Du möchtest doch nach Moskau fahren, oder nicht? Die Ärzte meinen, noch ein paar Tage Bettruhe, und du bist reisefähig.« »Immer heißt es, noch ein paar Tage...« Der Zar wandte sich an Monsieur Gilliard. »Wie war die Gehübung heute morgen?« »Sehr ermutigend, Majestät. Alexis schaffte zwischen Nagorny und mir eine ganze Runde im Zimmer.« »Da siehst du es, Alexis! Im Handumdrehen wirst du wieder herumlaufen und spielen können«, sagte sein Vater. »Und während wir nun alle zur Arbeit müssen, hast du ein paar -103-
herrliche freie Stunden...« »Warum müssen sie heute mit dem Automobil fahren statt mit Mama und Ihnen auf der Jacht?« fragte der Junge, als seine Schwestern herankamen, um ihn zum Abschied zu küssen. »Weil wir möchten, daß sie schon im Palast sind, wenn wir eintreffen«, antwortete der Zar. Und als sie allein waren, ergriff er zärtlich Alexis schmale, langfingrige Hand, die der seiner Mutter so ähnlich war, und sagte: »Ich wollte, du wärst schon größer, Alexis.« »Und stärker - nicht wahr?« »Du wirst täglich stärker. Ich meine, wenn du älter wärst, wenn du sechzehn wärst und den Treueschwur auf mich geleistet hättest, dann hättest du heute mit mir zusammen die Eidesformel sprechen können.« »Ich kenne die Worte, Monsieur Gilliard hat sie mir gesagt.« »Willst du über sie nachdenken, Baby, während ich fort bin? Und für mich beten?« »Ich werde für Sie und für Rußland beten«, versicherte der Junge. »Alexis hat mehr Mut als wir«, stellte Marie fest, während das Automobil die Alleen des Peterhofs entlangfuhr. »Er fragte rundheraus genau das, worüber wir uns alle den Kopf zerbrochen haben - warum wir vorausfahren müssen.« »Du hast Vaters Antwort gehört«, sagte Olga. »Wir sollen eben vor ihnen im Palast sein.« »Ja, ich weiß, aber warum? Sonst gehen wir doch immer zwei und zwei hinter ihnen her . . .« »Ich habe es«, verkündete Anastasia mit schlauer Miene. »Wenn sie allein kommen, ohne uns, dann merkt man nicht so, daß Alexis nicht dabei ist, Ihr wißt doch, daß ist das einzige, was sie wirklich interessiert; wir zählen nicht.« »Wir sind auf dem Weg zu einem Gottesdienst, Kobold«, -104-
mahnte Tatjana. »Dies ist kaum der richtige Zeitpunkt für Spott. Und schon gar nicht, wenn man bedenkt, was unserer Großmama zugestoßen ist.« Die Kleinen fügten sich, wie immer, wenn »die Gouvernante« diesen Ton anschlug, und die beiden älteren Mädchen wechselten einen Blick. Sie wußten, daß es noch einen anderen möglichen Grund für die Neuerung gab. Vier weißgekleidete Mädchen, die in einer vor Unzufriedenheit brodelnden Stadt ein Stück Weg zu Fuß zurücklegen mußten, waren ganz einfach vier zusätzliche Zielscheiben für eine Bombe oder eine Kugel. Mit diesem Gang zum Winterpalais, wo der Kriegseintritt Rußlands feierlich verkündet werden würde, wagte es das kaiserliche Paar seit fast zehn Jahren praktisch zum erstenmal, seinem früheren Wohnsitz einen Besuch abzustatten. Die kleine Kolonne aus drei Automobilen brauchte länger als nötig, um ihr Ziel zu erreichen, denn die Chauffeure mieden die Hauptverkehrsadern der Stadt und hielten sich an eine Route, die erst im letzten Moment festgelegt worden war. Die bejahrte Kammerfrau und der Gouverneur der kaiserlichen Paläste, General Vojeikow, die in dem ersten Wagen gesessen hatten, standen schon bereit, um die Großfürstinnen zu empfangen, deren Rückendeckung sofort von den bewaffneten Polizeibeamten des dritten Automobils übernommen wurde, und den Mädchen blieb kaum Zeit für einen Blick auf die am Palastkai versammelte Menschenmenge, während sie die kurze Freitreppe hinaufstiegen. »Wie viele Gäste sind zu der Zeremonie eingeladen worden?« fragte Olga den Gouverneur, als sie durch die verlassene Halle schritten, die zur Botschaftertreppe führte. Ringsherum war kein Mensch zu sehen - nur die Kosaken der kaiserlichen Eskorte, die zwischen den Säulen und in regelmäßigen Abständen auf der breiten Treppe postiert waren und mit ihren langen roten Mänteln einen lebhaften Kontrast zu den weißen Stuckengeln bildeten, die über ihnen aus den Wänden ragten. -105-
»Fünftausend, Kaiserliche Hoheit, und die meisten von ihnen haben bereits ihre Plätze im St.-Georgs-Saal eingenommen. Vor dem Palais müssen nach allem, was man hört, hundertmal soviel Menschen zusammengekommen sein.« »Wie sonderbar, daß es dann hier so still ist.« »Die Mauern sind sehr dick, Altesse.« Durch die langen Korridore zwischen diesen dicken Wänden, die zweihundert Jahre lang so viele blutige Geheimnisse und versteckte Fleischeslust umschlossen hatten, wurden die vier Schwestern in die ehemaligen Privatgemächer ihres Urgroßvaters Alexander II. geführt, des »Zar-Befreiers«. In dem düsteren blauen Zimmer, wo seine vernachlässigte Gemahlin, die Kaiserin Marie, ihre letzten Tage zugebracht hatte, empfing man sie mit parfümiertem Wasser, Damasthandtüchern, Eau de Cologne, Haarnadeln, Brennscheren und sonstigen Toilettenartikeln, die nach der kurzen Autofahrt eventuell vonnöten sein konnten. »Sie hatte keine besonders schöne Aussicht von hier, unsere Urgroßmama Marie, nicht wahr?« bemerkte Anastasia und trat zum Fenster. Man blickte auf einen trübseligen gepflasterten Hof und einen anderen Flügel des weitläufigen Palastes, dessen anonyme Fenster mit dichten Tüllgardinen verhangen waren. Außer einem Fleck blauen Himmels gab es nichts zu betrachten. »Kaiserin Marie Feodorowna war eine traurige kranke Frau«, sagte Madam Nanschkina, die Kammerfrau. »Doch sie bewies eine mustergültige Haltung. Sie könnten sich ein Beispiel an ihr nehmen. Und jetzt möchte ich die jungen Damen bitten, mir in den goldenen Salon zu folgen.« In dem riesigen Raum hatte man auf einem Tisch kandierte Früchte, köstliches Gebäck und sonstige Leckereien aufgestellt, wie sie die Mädchen zu Hause niemals bekamen. Marie streifte begeistert ihre Handschuhe ab. »Mama und Papa sind hier getraut worden, nicht wahr?« sagte -106-
sie, nachdem sie genüßlich zwei glasierte Aprikosen und eine Makrone verspeist hatte. »Ich meine natürlich in der Kapelle.« »Ja, und da haben sie sich auch zum erstenmal gesehen, als Tante Ella den armen Onkel Sergej heiratete.« »Ach ja, ich erinnere mich, Tante Ella erzählte das einmal.« »Mama war erst zwölf.« »Aber wo ist die Kapelle, Olga? Weißt du es?« »Ich war als kleines Mädchen ein- oder zweimal dort, aber allein könnte ich den Weg nie wiederfinden.« Olga wandte sich ab und ging zum Fenster. Kandierte Aprikosen und Hofzeremoniell - daraus schien im wesentlichen die Zukunft zu bestehen, die vor ihr lag, seit sie vor kaum sechs Monaten das Klassenzimmer für immer hinter sich gelassen hatte. Und jetzt war Krieg, und man wußte nicht, wohin Rußland steuerte, und noch weniger, was den Mann erwartete, der sich, so befand seine Tochter mit einem neuerworbenen kritischen Sinn, einer ungeheuer gefährlichen Situation ausgesetzt hatte oder ihr ausgesetzt worden war. Großfürstin Olga hätte viel darum gegeben, wenn die erste Handlung des Zaren nach Deutschlands Kriegserklärung nicht darin bestanden hätte, sich in diesem alten Palast, der so viele Todessymbole für ihn und die Seinen enthielt, durch eine Eidesformel dem Kampf zu verschreiben. Sie war kein versponnenes oder abergläubisches Mädchen. Ganz im Gegenteil, sie hatte die starken Nerven und den gesunden Menschenverstand der unbezähmbaren kleinen alten Dame geerbt, die noch immer auf einem Berliner Bahnhof in ihrem Salonwagen ausharrte und die Beschimpfungen und Zoten ignorierte, die ihr der hinter der Polizeiabsperrung zusammengeballte Mob aus nur zwei Meter Entfernung entgegenschleuderte. Aber das Winterpalais war für die Romanows nie eine glücksbringende Residenz gewesen. Hier hatte der Terrorist Chalturin versucht, die Staatsbankettsäle in die Luft zu sprengen, als sich Alexander II. darin aufhielt, und -107-
statt seiner unschuldige Soldaten und Bedienstete getötet. Hierher hatte man Alexander II., der so vielen Attentaten entkommen war, gebracht, nachdem dort, wo heute die Kirche des Vergossenen Blutes stand, Bomben explodiert waren, und hier war er in den Armen seiner zweiten Frau, der Prinzessin Katharina Dolgoruki, verschieden. Und es gab noch schlimmere Assoziationen als die Morde, die an irgendwelchen Mitgliedern der kaiserlichen Familie begangen worden waren. Als Olga ihrem Vater sagte, sie erinnere sich gut an 1905, hatte sie sich nur auf den Krieg gegen Japan bezogen. Aber sie wußte auch noch, was sie als Kind voll Entsetzen über den »Blutsonntag« jenes Jahres gehört hatte, an dem eine friedliche Arbeiteransammlung, die dem Zaren eine Bittschrift überbringen wollte, vor dem Winterpalais von den Truppen unter Feuer genommen und von den Kosaken niedergeritten worden war. Am Hof hatte es zwar geheißen, den Zaren treffe keine Schuld, denn er befand sich zu der Zeit in seiner Residenz auf dem Lande. Es war sein Onkel gewesen, Großfürst Wladimir, der den folgenschweren Befehl gegeben hatte, auf die Menge zu schießen. Als Autokrat war der Zar aber letztlich doch verantwortlich, und obgleich jener Sonntag das OktoberManifest nach sich zog, das die Autokratie beendete und zur Einrichtung der Duma führte, verstrich mehr als ein Jahr, ehe Nikolaus II. wieder den Fuß in seine loyale Hauptstadt zu setzen wagte. Jetzt, neun Jahre später, war wieder ein Sonntag, der mehr als jeder andere im Zeichen des Blutes stand. Was für ein Empfang würde dem Zaren und seiner Gemahlin bereitet werden? Tatjana näherte sich ihrer Schwester von hinten und schlang ihr den Arm um die Taille. »Der General ist dafür, daß wir unsere Plätze im St.-GeorgsSaal einnehmen«, sagte sie. »Ich möchte Papa und Mama an Land gehen sehen.« »Ich auch.« -108-
»Es kann doch nicht mehr lange dauern, oder?... Was ist das für ein Lärm?« Es konnte durchaus der Tumult einer zornigen Volksmenge sein. Tatjana wandte sich gebieterisch an einen der wartenden Lakaien. »Öffnen Sie bitte das Fenster!« Eine sommerliche Brise wehte von der Newa herein, deren jenseitiges Ufer Schaulustige säumten, und der Lärm, der der Alexandria entgegenschwoll, die soeben unterhalb des Palastkais sichtbar wurde, war eindeutig zu identifizieren. »Sie jubeln ihnen zu! Oh, Gott sei Dank!« Olga ergriff die Hand ihrer Schwester. Zwischen der Polizeieskorte legte die Jacht jetzt an, und der Zar und die Zarin gingen von Bord. Alexandra hatte sich sehr bemüht, wohlwollend und leutselig zu erscheinen und ihre quälende Furcht nicht zu zeigen. Sie lächelte, während sie sich die Hand auf den Arm ihres Gatten gelegt wie bei ihrer Trauung und bei der Krönung - zu dem Palais führen ließ, das ursprünglich ihr ehelicher Wohnsitz hatte sein sollen. Sie trug ein weißes Kleid, um ihre Schultern schlang sich eine lange weiße Straußenfederboa, und der Tüllhut gab ihr rotblondes Haar frei. »Sieht sie heute nicht großartig aus?« sagte Tatjana. »Ja, wirklich.« »Beeilt euch!« rief Marie von der Tür. »Sonst bekommt der General noch einen Anfall!« General Vojeikow versuchte seine Ungeduld zu verbergen, während er die Mädchen schnell durch das Labyrinth der Korridore und Empfangsräume zu dem riesigen Prunksaal geleitete, wo man einen Altar für die aus dem Nationalheiligtum am Newskiprospekt herbeigeholte Ikone der Jungfrau von Kasan aufgebaut hatte. -109-
Die jungen Großfürstinnen wurden zu ihren Plätzen links des Altars geleitet, wo sich die ganze Familie versammelt hatte, angeführt von der ungeheuer würdevollen Großfürstin Marie Pawlowna, für die Mädchen Tante Miechen, die sich nach den beiden Kaiserinnen als dritte Dame des Landes betrachtete. Sie schenkte ihnen ein herablassendes Lächeln; und während Olga das Lächeln erwiderte, rief sie sich belustigt Simon Hendrikows Definition einer Großfürstin ins Gedächtnis zurück: »Eine stattliche, füllige Dame, sehr stolz und mit Schmuck behangen...« Eine überaus treffende Beschreibung Tante Miechens! Sie dachte auch daran, daß es Tante Miechens Gatte gewesen war, der am Blutsonntag den Befehl gegeben hatte, das Feuer zu eröffnen. Immerhin gab es in den Reihen der Familie auch jemanden, der noch spontan und herzlich zu lächeln verstand. Großfürst Dimitrij in der Uniform der Berittenen Garde, hochgewachsen, gutaussehend, charmant, nickte Olga wie ein älterer Bruder aufmunternd zu. Es hatte eine Zeit gegeben - auf jenem ersten Ball in Livadia und noch eine Weile danach -, in der Dimitrijs Küsse, seine Fröhlichkeit und seine reizende, galante Art bewirkten, daß das junge Mädchen mit der angenehmen Vorstellung spielte, eines Tages Dimitrijs Frau zu werden. Die Erkenntnis, daß der schneidige junge Kavallerieoffizier, prominentester Gast der St. Petersburger Nachtklubs und Theatergarderoben, nie mehr als eine brüderliche Zuneigung zu dem Mädchen verspüren würde, dessen Erziehung eher zu einem englischen Pfarrhaus als zu einem russischen Hof paßte, hatte ein wenig geschmerzt und ihr sogar ein paar heimliche Tränen entlockt. Sie hatte ihre Gefühle stillschweigend überwunden; sie empfand allerdings immer noch so viel für Dimitrij, um ihn als ersten dem Schutz des Himmels anzuempfehlen, als die orthodoxen Geistlichen ihren leiernden Gesang anstimmten und dabei die Weihrauchgefäße schwenkten. -110-
Der Zar und seine Gemahlin betraten den Saal, wo sich nun fünftausend Russen verbeugten und fromm bekreuzigten. Alexandras huldvolles Lächeln war verschwunden, aber sie bewies eine ungewöhnliche Fassung und hatte während des langen Tedeums stets einen ersten, ermutigenden Blick bereit, wann immer ihr Gatte eine solche Unterstützung zu suchen schien. Dann verlas der Hofgeistliche den Text, in dem der russische Zar seinem Volk verkündete, daß sich das Land im Krieg befand. Nikolaus trat vor die Ikone der Jungfrau von Kasan. Das Neue Testament wurde ihm hingehalten, und er legte feierlich seine rechte Hand darauf. »Offiziere meiner Garde, die ihr hier versammelt seid, ich grüße in euch meine ganze Armee und erteile euch meinen Segen. Ich schwöre feierlich, daß ich niemals Frieden schließen werde, so lange auch nur ein Feind auf dem Boden des Vaterlandes steht.« Den gleichen Schwur hatte sein Vorfahr Alexander I. geleistet, als Napoleon Bonaparte der Feind war, und ihn durch Rußlands Sieg eingelöst. Die abergläubischen, auf Zeichen und Wunder, mystische und okkulte Einflüsse bauenden Zuhörer sahen in den Worten ein gutes Omen, und Nikolaus schien über sich selbst hinauszuwachsen, während er sie aussprach. Dann schritt er mit der ihm eigenen gemessen-kühlen Würde durch den Saal, die französischen Fenster öffneten sich, und er trat allein auf den Balkon hinaus. Zwergenhaft klein gegenüber der gigantischen Säule mit der Statue seines siegreichen Vorfahren, stand er dort, den applaudierenden Hof in dem Saal hinter sich, vor sich das Volk, das seinem geliebten »Väterchen« zujubelte wie noch nie und sich heiser schrie, um seinen Haß auf Deutschland und sein Vertrauen in die Stärke der russischen Armee kundzutun, und dann, während von der Peter-Pauls-Kathedrale das »Gott erbarme dich unser« des Glockenspiels erklang, sangen die Menschen auf dem großen Platz, auf dem 1905 die Arbeiter von -111-
den Kugeln niedergemäht worden waren, die Nationalhymne. Gott schütze den Zaren! An diesem einen Tag zumindest war der Blutsonntag vergessen.
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6 Am nächsten Morgen, dem 4. August, marschierten die Deutschen in Belgien ein, und am selben Tag kam in Berlin das britische Ultimatum an. Es forderte Deutschland auf, die Neutralitätserklärung Belgiens zu respektieren, die im vergangenen Jahrhundert unter anderem auch von Preußen unterzeichnet worden war. Der deutsche Kanzler tat den Vertrag als einen »Fetzen Papier« ab, und das britische Ultimatum blieb unbeantwortet. Viel kürzer befristet als das Ultimatum, das Österreich-Ungarn Serbien gestellt hatte, lief es bereits um Mitternacht ab. England erklärte Deutschland den Krieg, der letzte Knoten der Allianzen und Ententen war geknüpft, und die Mitternachtsglocken läuteten über einem Kontinent, der unter Waffen stand. In der amerikanischen Botschaft mit dem angegliederten Konsulat in St. Petersburg herrschte, verglichen mit diesen Aufregungen, eine passive, abwartende Ruhe. Präsident Wilson hatte an dem Tag, an dem Deutschland Frankreich den Krieg erklärte, eine Pressekonferenz abgehalten, aber am 6. August starb seine Frau, und bis zur Beendigung der Beisetzungsfeierlichkeiten kamen keine weiteren Erklärungen aus dem Weißen Haus. Joe Calvert, mit den Verkaufsniederlassungen einer amerikanischen Nähmaschinenfirma beschäftigt, war ho ch erfreut, als er Mitte August eines Morgens Richard Allens Stimme am Telefon hörte. »Joe? Hast du für heute mittag schon etwas vor?« »Nein, gar nichts...« »Hättest du Lust, bei mir zu essen, so gegen ein Uhr?« »Abgemacht.« Ihre wenigen kurzen Gespräche seit dem Beginn ihrer -113-
freundschaftlichen Beziehung hatten, teils wegen der Tücken des St. Petersburger Telefonsystems, teils aus reinem Pflichtbewußtsein stets in diesem lakonischen Stil stattgefunden. Auf diese Weise hatten sie sich zum Golf auf dem von der britischen Kolonie angelegten Platz verabredet und zu Pokerabenden bei Richard Allen. Dies war das erste Mal, daß ihn Joe am Tage besuchte. Während er die Italianskaja entlangging, stellte er fest, daß die prachtvolle Straße mit ihren stilvoll aufeinander abgestimmten ockergelben Fassaden eigentlich nicht so recht zu der ziemlich schäbigen Behausung seines neuen Freundes paßte. Captain Allens Wohnung war ein richtiger Junggesellenhaushalt, den eine ältliche Zugehfrau sehr unzulänglich in Ordnung hielt. Der Salon, dessen zwei Fenster die Italianskaja überblickten, sagte nicht das geringste über Geschmack und Persönlichkeit seines Bewohners aus, wenn man von ein paar Büchern von William Le Queux und E. Phillips Oppenheim absah und einer Tabakdose aus Porzellan mit einem Regimentsemblem, die neben einem Pfeifenständer auf dem Schreibtisch zwischen den beiden Fenstern stand. Auf dem sonst zum Kartenspielen benutzten und jetzt mit einem groben Leinentuch bedeckten Tisch standen zakuski, die russischen Hors d'œuvres, die unvermeidliche Wodkakaraffe und ein großer Glaskrug, in den der Gastgeber, als Joe ankam, gerade ein paar Flaschen eisgekühltes dänisches Bier schüttete. »Genau das richtige für einen so heißen Tag«, sagte Joe, als sie sich die Hände gaben. »Mir fiel ein, daß du nicht besonders erpicht auf Wodka bist. Zieh dir einen Stuhl heran, Joe, und bedien dich. Hinterher gibt es nur noch gekochten Stör mit Kartoffeln. Das ist das einzige, was Varvara zubereiten kann.« »Na, das hier ist jedenfalls köstlich.« Joe nahm sich ein wenig Kaviar und trank einen Schluck Bier. »Weißt du, Dick, ich hatte schon seit einigen Tagen vor, mit dir zu telefonieren. Erinnerst -114-
du dich an unser Gespräch an dem Abend in meinem Hotel? Wie recht du doch hattest! Präsident Wilson hat vor der Presse erklärt, daß die Vereinigten Staaten bereit sind, der Welt in dieser großen internationalen Krise als Vermittler beizustehen war es nicht das, was du schon damals angekündigt hast?« »In etwa.« »Nun, du hast viel Scharfblick bewiesen. Du sahst ja auch den Krieg kommen, als ich einfach nicht daran glauben wollte, und jetzt steckt ihr selbst bis zum Hals in der Sache.« »Letzteres ist ein sehr wahres Wort...« »Immerhin seid ihr in St. Petersburg die Helden der Stunde.« »Dafür müssen wir uns bei Admiral Beatty und seinen famosen Teerjacken bedanken. Noch ein bißchen Bier?« »Bitte.« Das kühle goldgelbe Tuborg schäumte in das schmale Glas. »Sag mal, fährst du zum Zarenbesuch nach Moskau?« »Ich? Du lieber Gott, nein! Dieses spezielle Ritual ist nur etwas für die diplomatische Elite, nicht für solche Leute wie mich. Wenn man sich überlegt, was für eine unsinnige Zeitvergeudung das Ganze ist - da fährt der Zar nach Moskau, um Gottes Segen für den Krieg zu erbitten, und schleppt seine Familie durch jede Kapelle im Kreml, statt hier in St. Petersburg das Wohlwollen der Duma zu nutzen.« »Die Duma scheint im Augenblick ja wirklich ganz auf seiner Seite zu stehen. Aber das ist eine allgemeine Erscheinung.« »Ja, nur - wie lange wird diese Popularität anhalten! Nach der ersten Schlappe sehe ich für Nikolaus schwarz. Eine einzige solche Niederlage wie Lüttich...« Die schmuddelige Hausbesorgerin brachte die Fischplatte herein und eine Kanne Kaffee, und das Gespräch kreiste eine ganze Weile um die Einnahme der von den Belgiern für unbezwingbar gehaltenen großen Festung durch die Deutschen. Während sie sich unterhielten, musterte Dick Allen das offene, -115-
arglose Gesicht seines Gastes, seine ehrlichen braunen Augen: War es wirklich möglich, diesem jungen Mann mit einem unaufrichtigen Vorschlag zu kommen, auch wenn unter Umständen noch soviel davon abhing? Nachdenklich rührte er in seiner Kaffeetasse. »Joe, hast du schon eine Wohnung?« »Ich wollte, ich wäre soweit. Ich habe mir inzwischen noch mehr von den bei uns registrierten fragwürdigen Behausungen angesehen. Entweder liegen sie weit außerhalb, oder sie starren vor Schmutz, oder ich müßte in allzu enger Tuchfühlung mit der Familie leben... Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann nicht mehr sehr lange im ›Europa‹ bleiben, es steht nicht im Einklang mit meinem Gehalt. Meine Kollegen glauben allmählich, ich sei Millionär...« »Was hältst du davon, meine Bude zu übernehmen?« »Diese Wohnung? Und was ist mit dir?« »Ich gehe für eine Weile von St. Petersburg fort.« »Nach England?« »Nein, nicht nach England, ich bin zur Gesandtschaft nach Stockholm abberufen worden.« Joe nickte. Diese Versetzung von einem der Kontrollzentren des sich ausbreitenden Krieges in ein weitab liegendes neutrales Land wie Schweden kam ihm wie eine Degradierung vor. Er hielt es für das Taktvollste, zu schweigen. »Ich möchte die Wohnung nicht aufgeben«, fuhr Dick Allen in seiner gelassenen Art fort. »Sie ist nicht viel wert, ich weiß, aber ich habe alle meine Sachen hier - ich hoffe, es macht dir nichts aus -, und ich möchte die Möglichkeit haben, eines Tages zurückzukehren. Und sie ist wirklich sehr zentral und bequem gelegen.« »Was für eine Miete möchtest du haben?« »Nun, zuerst solltest du sie dir anschauen, das machen wir -116-
gleich. Du kennst das Bad, die Küche ist nicht viel besser, aber Varvara kommt darin zurecht, und ich glaube, sie möchte die Stellung gern behalten. Es gibt ein einigermaßen großes Schlafzimmer und ein kleines. Beide gehen auf den Hof hinaus. Und das ist alles. Ich würde einem achtsamen Mieter nicht viel abverlangen.« Er nannte eine wöchentliche Summe, die bewirkte, daß Joe seine Augenbrauen hob. »Das ist weniger, als ich für mein winziges Zimmer im ›Europa‹ zahle.« »Warte, bis du die Schlafzimmer gesehen hast. Das kleine ist genauso winzig.« Die altmodische Wohnung war schnell inspiziert. In jedem der Schlafzimmer stand ein Schrank, und in der Diele gab es eingebaute Schränke für Wäsche und Geschirr. »Und was für eine Tür ist das hier?« »Das? Sie führt zur Lieferantentreppe. Aber sie wird praktisch nie geöffnet; die Mieter klagen ständig darüber, daß alle Welt den Vordereingang benutzt.« »Und die Treppe mündet auf den Hof?« »Ja.« Sie kehrten ins Wohnzimmer zurück, und Dick Allen begann eine Bruyèrepfeife zu stopfen. Joe wartete, bis er ein Streichholz anzündete. »Hör mal, Dick«, sagte er. »Ich möchte deine Wohnung gern mieteni sie ist mehr oder weniger das, was ich zu finden gehofft hatte. Aber die Mietsumme, die du genannt hast, ist einfach unrealistisch. Wo hat die Sache ihren Pferdefuß?« »Sie hat keinen Pferdefuß«, antwortete Dick. »Nur einen Haken.« »Und der wäre?« »Es könnte sein, daß ich ab und zu von Stockholm hierherkomme. Und dann wäre es mir lieb - falls du dich dadurch nicht in deiner Bewegungsfreiheit gehemmt fühlst -, -117-
wenn ich das kleine Schlafzimmer benutzen könnte. Ich möchte gern einen Schlüssel behalten und ein und aus gehen können, ohne dich oder Varvara zu belästigen...« »Oder von den Nachbarn gesehen zu werden?« »Ja, so ungefähr.« »Weil du die Lieferantentreppe benutze n würdest.« »Genau.« Joe schob die Schultern vor. »Jetzt hör mir einmal zu«, sagte er. »Ich bin nicht von gestern. Ich mag noch ein Neuling hier sein, aber ich weiß sehr wohl, daß ein Ausländer, der in St. Petersburg eine Wohnung mietet, bei der Polizei registriert und unter Umständen auch einer polizeilichen Überwachung ausgesetzt ist. Was du möchtest, ist, daß ich dir für irgend etwas als Fassade diene. Nur bin ich zufällig ein Mitglied des amerikanischen Auswärtigen Amtes, ein - wenn auch unbedeutender - Angehöriger der Hierarchie einer neutralen Macht. Ich kann und werde nichts decken, worüber mir kein reiner Wein eingeschenkt wird. Du wirst mir wohl oder übel noch etwas mehr über deinen Posten in Stockholm erzählen müssen.« »Ich bin dort zweiter Militärattaché, genau wir hier.« »Ich glaube nicht«, bemerkte Joe Calvert mit plötzlich sehr breitem amerikanischen Akzent, »daß ihr Briten in einem neutralen Land wie Schweden eine so starke militärische Vertretung braucht. Ein Militärattaché sollte eigentlich ausreichen.« Dick zuckte die Achseln. »Joe«, sagte er dann in beschwörendem Ton, »was ich dir jetzt mitteilen werde, unterliegt unter Umständen der Geheimhaltungspflicht, aber ich muß das Risiko auf mich nehmen, und vermutlich ist das amerikanische Auswärtige Amt auch schon von selbst dahintergekommen: Fünf der Botschaften, die die Deutschen in Europa haben, sind Schlüsselpositionen ihres Propagandanetzes. -118-
Stockholm ist eine von ihnen. Der Botschafter in Schweden, Baron von Lucius, hat einen Stab hervorragender Leute um sich. Wir haben beschlossen, unsere Vertretung in Stockholm zu verstärken, um mit den Deutschen Schritt zu halten, und das ist der Grund für meine Versetzung. Ich werde vielleicht von Zeit zu Zeit als Kurier zwischen dort und hier fungieren müssen, und genausogut ist es möglich, daß sich die königlichen Kuriere als Verbindungsoffiziere betätigen: eine ganz harmlose Sache also.« »Äußerst harmlos«, bestätigte Joe, »es sei denn, man ersetzt das Wort ›Propaganda‹durch ›Spionage‹.« Er lachte. »Schön, Dick, du brauchst mir nichts weiter zu sagen. Wann reist du ab?« »Nächste Woche - am zweiundzwanzigsten.« »Dann sind wir uns einig. Ich übernehme die Wohnung am dreiundzwanzigsten, für ein Vierteljahr zunächst, und wir werden ja sehen, wie sich die Dinge entwickeln.« »Ausgezeichnet.« »Nach dem, was man hört, dauert der Krieg vielleicht nicht einmal drei Monate. Die Russen behaupten, daß sie in sechs Wochen in Berlin stehen.« »Und die Deutschen wollen Weihnachten in Paris feiern. Gott! Der einzige Realist ist Lord Kitchener. Als er das Kriegsministerium übernahm, erklärte er sofort, er gehe bei allen seinen Plänen von der Annahme aus, daß der Krieg drei Jahre dauert.« »Drei Jahre?« »Vielleicht auch vier.« Simon Hendrikow gehörte zu den wenigen jungen russischen Offizieren, die nicht an einen Blitzkrieg glaubten. Er war sogar ausgesprochen niedergeschlagen, als er am Abend vor seinem Abtransport an die Front zu der Wohnung seiner Eltern fuhr, -119-
obwohl er mit echt russischem Fatalismus das Schicksal akzeptierte, das ihn dem einzigen zum aktiven Dienst eingezogenen Bataillon der Marinegarde zugeteilt hatte. Die Standart hatte für die Dauer des Krieges einen festen Ankerplatz erhalten, und Großfürstin Olga war mit ihrer Familie in Moskau. Als er auf den Hauseingang zuging, kam ein Offizier aus dem Gebäude. Simon salutierte, und der andere blieb stehen und fügte einem freundlichen »Guten Abend!« die Frage hinzu: »Kennen wir uns nicht von irgendwoher?« »Wir sind uns einmal begegnet, Herr Fregattenkapitän. Im Treppenhaus, vor der Wohnungstür meiner Eltern.« »Oh, dann sind Sie Professor Hendrikows Sohn. Ich besuche hier manchmal Verwandte - Dr. Martow und seine Frau. Meine Kusine hat mir von Ihnen erzählt. Mein Name ist Jakowlew, Kapitän auf der Askelod.« »Das ist ein Kreuzer, nicht war? Gehörte die Askelod nicht zu den Wachtschiffen, die eingesetzt waren, als Seine Majestät das neue Trockendock seiner Bestimmung übergab?« »Ja, und ich erinnere mich jetzt, Sie waren einer der diensttuenden Gardeoffiziere.« Fregattenkapit än Jakowlew war viel offener und sympathischer als Dr. Martow oder seine Frau, soweit Simon die benachbarte Familie beurteilen konnte. Es war ungewöhnlich, daß ein hoher Marineoffizier sich einem rangniedrigeren Unbekannten gegenüber so liebenswürdig verhielt, und Simons Abschiedsworte »Alles Gute, Herr Fregattenkapitän« waren aufrichtig gemeint. Aber als er die Treppe hinaufstieg, verfolgte ihn der Gedanke, daß der Mann irgend jemandem ähnlich sah, und zwar irgend jemandem in der Marine. Ohne die Uniform wäre die Ähnlichkeit zweifellos weniger auffallend gewesen... Doch dann vergaß er die Angelegenheit, weil er inzwischen die Wohnung betreten hatte, wo ihm Dolly entgegenlief, sich auf die Zehenspitzen stellte, um ihn zu küssen, und ihre Hände um -120-
seinen Hals schlang. »He, du erstickst mich!« protestierte Simon. »Warum hast du dich so fein gemacht? Gehst du zu irgendeiner Gesellschaft?« »Mutter und ich essen mit Joe Calvert zu Abend.« »Mit wem?« »Du weißt doch, der nette Amerikaner, der bei Mutter Unterricht nimmt. Du hast ihn an dem Abend, an dem er zum erstenmal hierherkam, sogar kennengelernt.« »Groß, dunkelhaarig, spricht gut Französisch? Ich entsinne mich.« »Er hat uns zum Abendessen ins ›Europa‹ eingeladen, mit einem Freund zusammen, der bei der britische n Botschaft ist und jetzt nach Stockholm kommt.« »Simon! Mein lieber Junge, was für eine schöne Überraschung!« sagte seine Mutter, die beim Klang seiner Stimme aus ihrem Schlafzimmer herbeigeeilt war. »Wie schade, daß wir ausgerechnet heute ausgehen müssen! Natürlich könnten wir noch absagen, nicht wahr, Dolly?« »Absagen?« »Wir könnten mit Mr. Calvert telefonieren und Simons Besuch anführen...« »Aber, Mutter, er hat doch Theaterkarten besorgt! Außerdem wartet Mara vor dem Gostinnoi Svor, und wir können sie nicht benachrichtigen!« Dollys unverhüllte Enttäuschung veranlaßte Simon zu einem schnellen Entschluß. Es bestand keine Notwendigkeit, seiner Familie jetzt schon zu erzählen, daß er zum Abschiednehmen gekommen war. Das konnte bis zum Frühstück warten, und bevor die Aufregung noch richtig begann, würde er schon fort sein. »Du sollst meinetwegen keinen Theaterabend versäumen«, sagte er. »Ich habe Urlaub bis morgen früh. Geht ruhig aus und amüsiert euch ein bißchen. Ich esse mit Vater zu Abend. Wo ist -121-
er überhaupt?« »In der Volksbücherei. Oh, Simon, das kommt mir so unfair dir gegenüber vor! Sollen wir Vetter Timofey oder Vetter Boris holen, damit du Unterhaltung hast? Papa ist in diesen Tagen so deprimiert. Mr. Calvert hatte ihn natürlich auch eingeladen, aber er findet, es sei nicht der richtige Zeitpunkt, um auszugehen. Was meinst du dazu?« »Ich glaube, St. Petersburg war noch nie so festesfreudig wie jetzt. Vater ist offenbar nicht klar, daß ein Krieg ausgebrochen ist«, antwortete Simon leichthin. »Aber wir werden bestimmt auch einen schönen Abend verbringen, er und ich, und wenn ihr zurückkommt, steht der Samowar bereit. Soll ich eine Droschke holen?« »Lena ist schon unterwegs, um uns eine zu besorgen.« Als die hektischen Minuten ihrer Abfahrt vorbei waren, ging Simon in sein kleines Schlafzimmer, um seine Uniform mit einer alten Hose und einer weichen Bauernbluse zu vertauschen. Während er sich ankleidete, dachte er an seine Regimentskameraden, von denen bestimmt nur die wenigsten den letzten Abend ausschließlich ihrer Familie widmeten. Er war von verschiedenen Gruppen eingeladen worden, die entweder die Inseln und die Zigeunersängerinnen oder das Restaurant »Cubat« und die Damen der Stadt im Sinne hatten, und als Simon sich nun das Zusammensein mit seinem Vater ausmalte, dessen Konversation er immer nur mit Mühe folgen konnte, bedauerte er seine Ablehnung fast ein bißchen. Doch für ihn gab es nun einmal kein Mädchen außer dem einen, das unerreichbar über ihm stand und jetzt an diesem unsinnigen Ritual in Moskau teilnahm. Er setzte sich auf den Bettrand, das bestickte Hemd in den Händen, und ließ die letzte Begegnung noch einmal an sich vorüberziehen. Offiziere und Mannschaft der Standart hatten am Peterhofkai die Abschiedsworte und die guten Wünsche der kaiserlichen Familie entgegengenommen, bevor sie sich in ihre jeweiligen Kasernen begaben. Olga -122-
Nikolajewna war unmittelbar hinter ihren Eltern die Reihen der blauuniformierten Männer entlanggeschritten. Er hörte, wie sie dem Beispiel ihrer Eltern folgend - zu den ranghöchsten Offizieren sagte: »Wir werden an Sie denken... Alles Gute... Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.« Doch dann kam sie zum ihm, und der blonde Kopf senkte sich, und Simon sah die blauen Augen feucht werden. Sie streckte ihm ihre kleine Hand zum Kuß entgegen und murmelte: »Gott schütze Sie, Simon Karlowitsch!« Es war alles, was er an Freude, Glück und Liebe brauchte, bevor er an die Front kam. Er hatte so leichthin gesprochen und seine Mutter und Dolly so bereitwillig fortgehen lassen, daß keine von beiden auf den Gedanken gekommen wäre, es könne sich um seinen letzten Urlaub handeln. Dolly schwatzte munter auf ihre Mutter ein, während sie den Newski Prospekt entlangfuhren, bis sie bei dem großen Warenhaus gegenüber dem »Europa« anlangten. Mara Trenowa wartete dort, denn Madame Hendrikowa hatte darauf beharrt, daß die beiden Mädchen das Hotel zusammen und unter ihrer Obhut betreten müßten. Joe und Dick Allen empfingen sie in der Halle. Joe war ungewöhnlich nervös; er hatte Mara Trenowa auf Dicks ausdrückliche Bitte hin eingeladen und hegte jetzt gewisse Zweifel, wie sich diese unberechenbare junge Dame in Gesellschaft benehmen würde. »Kennst du nicht irgendein nettes englisches Mädchen, das du den Hendrikows gerne vorstellen würdest?« hatte er den Freund umzustimmen versucht, als sie den Abschiedsabend planten. »Ich möchte Iwan Trenows Tochter kennenlernen und sehen, ob sie aus demselben Holz geschnitzt ist wie er. Ihr Vater war ein ziemlicher Hitzkopf, wie ich gehört habe. Ist sie das auch?« »Sie ist anziehend und macht auch einen klugen Eindruck«, antwortete Joe. »Wenn allerdings einer von uns etwas sagt, was ihr nicht gefällt, ist sie durchaus imstande, aufzustehen, das Restaurant zu verlassen und nach Hause zu fahren.« -123-
»Das würde die anderen Gäste nicht im geringsten stören. Die Russen haben eine Vorliebe für Szenen. Komm, lad sie ein, Joe.« Und so geleitete er nun Madame Hendrikowa in das riesige Restaurant des »Europa«, und die Mädchen folgten ihnen so gesetzt und wohlerzogen, als wären sie wieder Dolly und Molly aus der Xenia-Schule. Keine der drei Damen trug einen Hut, und Dolly hatte ihre Locken zum erstenmal, seit Joe sie kannte, hochgebürstet und auf dem Kopf festgesteckt. Mara wirkte trotz ihres sehr schlichten Kleides ungewöhnlich gelöst und schien sich für die Rolle des charmanten Gastes entschieden zu haben. Als das Essen und der Wein serviert wurden, merkte Joe, daß noch eine zweite Person bemüht war, sich von der charmanten Seite zu zeigen - der sonst so gleichmütige, indifferente Captam Richard Allen. Es war seltsam, wie ein gutgeschnittener dunkler Anzug, gestärktes Leinen und ein wenig Pomade auf Haar und Schnurrbart ihn in einen Lebemann verwandelten. Dicks Französisch war nicht so gut wie sein Russisch, aber er sprach es immerhin so fließend, daß er sich an einer Reihe von Spaßen und Anekdoten beteiligen konnte, die dem Abend einen guten Start verliehen. Mara und Madame Hendrikowa hörten amüsiert zu, und Dolly saß mit seliger Miena da und war sichtlich beeindruckt von allem, was um sie herum vorging. Die eleganten Menschen in dem Raum waren offenkundig entschlossen, den Krieg zu vergessen, das Orchester spielte eine Auswahl Melodien aus der »Lustigen Witwe«, und auf jedem Tisch stand Champagner, auch auf dem ihren. Dollys Augen glänzten, als sie den ersten Schluck trank und Captain Allen eine gute Reise wünschte. Dann wurden die Koteletts serviert, und Joe wandte sich mit einer Frage über die Datscha in Koivisto an Madame Hendrikowa. »Meine Tochter Betsy und ihr Mann sind schon dort«, berichtete sie. »Wir wollen hierbleiben, bis wir wissen, wohin Simon beordet wird. Natürlich hoffen wir, daß er so lange -124-
wie möglich in St. Petersburg bleibt.« Es war das erste Mal, daß das Thema des Krieges gestreift wurde. Lediglich am Anfang hatte Madame Hendrikowa, als Joe ihr Dick Allen vorstellte, in sehr herzlichem Ton gesagt: »Ich bin stolz darauf, einen unserer Alliierten kennenzulernen, Monsieur. Ich habe Großbritannien immer schon bewundert, und jetzt bewundere ich es noch mehr.« Doch Dick hatte sich nur lächelnd verbeugt und keine Bemerkung über den Kriegseintritt Englands gemacht. In Gesellschaft dreier Russinnen, von denen zwei noch so jung waren, hatten der Engländer und der Amerikaner das Thema Politik bewußt gemieden, und es überraschte Joe, als Dick beim Kaffee plötzlich sagte: »Sie müssen mit Ihrem neuen Schüler sehr schnell vorangekommen sein, Madame, wenn er schon die Sitzungen der Duma besucht.« »Wie? Davon weiß ich ja gar nichts!« »Captain Allen übertreibt«, erklärte Joe. »Ich war nur ein einziges Mal dort - in der letzten Woche -, und da ich von je hundert Worten nur ungefähr zwei verstehe, habe ich es Ihnen nicht erzählt, weil ich fürchtete, Sie würden mich auslachen.« »Hat man als ausländischer Konsul so einfach Zugang zur Duma?« fragte Mara. »Ich bezweifle es, Mara Iwanowna. Wahrscheinlich habe ich mir ein Recht herausgenommen, das mir dem Rang nach gar nicht zusteht, aber ich schaffte es jedenfalls, eine Karte für die Diplomatenloge im Tauridenpalast zu ergattern, als die Debatte über die Kriegskredite stattfand. Viel verstand ich natürlich nicht, doch dafür konnte ich die Gesichter ein wenig studieren, und nun weiß ich, wie die Abgeordneten aussehen und sprechen, von denen in unseren Presseübersetzungen täglich die Rede ist.« »Ich finde, das war eine sehr gute Idee von Ihnen«, meinte Dolly. »Haben Sie denn wenigstens in großen Zügen erfahren, -125-
was da vorging?« »Ja. Ein Franzose neben mir erklärte mir, daß die Sozialisten sich weigerten, die Militärkredite zu bewilligen, und das beunruhigte mich ein wenig, denn in Deutschland haben die Sozialisten das Kriegsbudget sehr wohl bewilligt, genau wie die anderen Parteien. Doch es scheint wahr zu sein, denn am nächsten Tag stand es in unserer Presserundschau.« »Hat Ihre Presserundschau denn auch erwähnt, was unsere Sozialrevolutionäre Partei zu ihrer Handlungsweise veranlaßt?« fragte Mara. »Nicht im einzelnen. Die Auszüge sind notgedrungen kurz gehalten.« »Ich kann es Ihnen sagen.« Nun hatten ihre dunklen Augen einen kalten, fanatischen Ausdruck. »Die Sozialrevolutionäre weigerten sich, weil sie jede Verantwortung für irgendwelche politischen Schachzüge des zaristischen Regimes ablehnen. Und der Sprecher schloß mit den Worten: ›Wir rufen die Demokratie zur Verteidigung der invasionsbedrohten Heimaterde auf. Arbeiter und Bauern, verteidigt euer Land! Wir werden es anschließend befreien!‹« Während der Zar und sein Gefolge sich den Moskauer Zeremonien widmeten, denen noch sehr viel alter byzantinischer Glanz anhaftete, übernahm Großfürst Nikolaus Nikolajewitsch, ein erfahrener Soldat, das Oberkommando der Armee und richtete sein Hauptquartier, das Stavka, in Baronovichi an der Bahnstrecke Moskau-Warschau ein. Von der östlichen Front war nichts zu befürchten, denn allen düsteren Prophezeiungen entgegen hatte Japan Deutschland den Krieg erklärt. Im Westen entschied sich Italien, durch Verträge mit Deutschland und Österreich-Ungarn verbündet, für Neutralität und den strategischen Vorteil des Abwartens. Neben diesen guten Nachrichten nahm die kaiserliche Familie dankbar zur Kenntnis, daß die Kaiserinwitwe nach ihrem -126-
mißlichen Erlebnis in Berlin doch noch die Erlaubnis bekommen hatte, mit ihrer Tochter Xenia, ihrer Enkelin Irma und deren Ehemann, Prinz Felix Jusupow, über die skandinavischen Länder nach St. Petersburg weiterzureisen. Sie waren bereits wohlbehalten im Anischkowpalast eingetroffen, müde von ihrem Abenteuer und natürlich empört. Die Kaiserinwitwe war so zornig, daß sie die russische Siegesparade durch Berlin kaum erwarten konnte. Es mußte einfach noch vor Weihnachten dazu kommen, jedermann sagte das; die westlichen Alliierten setzten großes Vertrauen in »die russische Dampfwalze«, wie sich die Propaganda neuerdings ausdrückte. Und tatsächlich rückten die russischen Armeen träge, schwerfällig und unaufhaltsam wie eine richtige Dampfwalze nach Ostpreußen und Galizien vor, dem Feind entgegen. Als die Kämpfe begannen, stürzte sich die Zarin mit Leib und Seele in humanitäre Pläne. In der ersten Zeit ihrer Ehe hatte sie die Krankenfürsorge ihrer neuen Heimat zu verbessern versucht, und ihre Säuglingsheime, Hilfsvereine und orthopädischen Anstalten für Kinder waren von der St. Petersburger Gesellschaft viel belacht und verspottet worden. Jetzt, da ihre Töchter sie dringend um Erlaubnis baten, Ambulanzen zu fahren, als Krankenschwestern an die Front zu gehen oder sich wenigstens im Pistolenschießen zu üben, beriet sie sich unter vier Augen mit ihrer Schwester Elisabeth, der Leiterin einer erfolgreichen Schwesternorganisation in Moskau. Elisabeth oder auch Ella von Hessen war die kinderlose Witwe des Großfürsten Sergej, des Gouverneurs von Moskau, den während der revolutionären Unruhen von 1905 eine Terroristenbombe zerrissen hatte. Seitdem hatte man Großfürstin Elisabeth nie anders als in einer höchst kleidsamen Tracht und mit einem sanften Märtyrerlächeln gesehen, aber sie hatte viel von der bekannten deutschen Tüchtigkeit und erwies sich als große Hilfe in der Organisation der - wie stets gefühlsbetonten Pläne ihrer Schwester. Die Großfürstinnen -127-
erfuhren lediglich, daß ihnen sogleich nach ihrer Heimkehr erklärt werden würde, was für Aufgaben ihnen zugedacht waren. Sie wußten bereits, daß das Winterpalais, das einmal der Schauplatz für Olgas und Tatjanas brillantes Debüt hatte werden sollen, in ein gewaltiges Depot für die Lazarettversorgung umgewandelt werden würde und daß der prachtvolle Katharinenpalast in Zarskoje Selo, dem Zarendorf, fünfzehn Meilen vor St. Petersburg, Lazarett werden sollte. Doch im Alexanderpalast, der mit dem Katharinenpalast durch ausgedehnte Parkanlagen verbunden war, gab es noch keine Änderungen, und diese Residenz, die sie allen anderen vorzogen, war jetzt ihr Ziel. Die erste Stunde nach ihrer Ankunft aus Moskau verging damit, daß sie ausgelassen durch die altvertrauten Räume tollten, Hofdamen, Dienerschaft und Gardeoffiziere begrüßten und ihre heißgeliebten Katzen und Hunde streichelten, die vom Peterhof hierhergebracht worden waren. Eine Stunde lang waren sie alle wieder Kinder, vielleicht zum letztenmal in ihrem Leben. Ein für die Dienerschaft lästiger Aspekt der kaiserlichen Lebensgewohnheiten war die Tatsache, daß das Zarenpaar die Mahlzeiten beinahe in jedem anderen Raum lieber einnahm als in dem steifen Speisesaal ihrer Privatgemächer. An diesem Abend fiel die Wahl des Za ren auf die Bibliothek. Alexis, von der Reise erschöpft, aß im Bett und fütterte seinen Spaniel Joy mit Leckerbissen, und da sein unentwegtes Geplauder fehlte, wirkte die nüchterne Bibliothek beruhigend auf die Mädchen. Sie waren wieder aufnahmebereit, als der Zar, nachdem der Klapptisch von den Lakaien fortgebracht worden war, in ernstem Ton sagte: »Meine Lieben, euch ist wohl klar, daß ich in Zukunft häufig von zu Hause abwesend sein werde.« »O Papa, muß das sein?« »Natürlich. Ich werde mich sehr oft im Hauptquartier -128-
aufhalten und außerdem unsere tapferen Soldaten an der Front besuchen müssen. Ich halte es deshalb für angebracht, so schnell wie möglich noch einige Fragen zu klären.« Er räusperte sich. »Eure Bereitwilligkeit, uns beizustehen, soweit eure Möglichkeiten reichen, hat Mama und mich bewegt und getröstet. Eine solche Möglichkeit haben wir mit eurer Tante Elisabeth besprochen: es ist die Einrichtung von Lazarettzügen für die Verwundeten.« »Ein Lazarett in einem Zug!« staunte Anastasia. »Ihr wißt, daß es in Ostpreußen schwere Kämpfe gegeben hat...« »Aber wir gewinnen doch, Papa?« fragte Tatjana. »Es sind wirklich erbitterte Kämpfe«, fuhr der Zar in seiner ausweichenden Art fort. »Das heißt, wir müssen mit schweren Verlusten rechnen. Der Oberbefehlshaber bezeichnete die Entsendung von Eisenbahnzügen, die als Feldlazarette ausgestattet sind, als dringend notwendig. Mama und ich stiften je einen solchen Zug; dürfen wir noch vier weitere geben, auf eure Kosten und in eurem Namen?« »O Papa, ja!« - »Was für eine wundervolle Idee!« - »Und auch einen für Baby!« Das begeisterte Geschrei entlockte dem sorgenvollen Gesicht des Zaren ein Lächeln. Doch Olga fragte: »Wieviel würde das kosten?« »Du willst doch nicht etwa sagen, daß du die Ausgabe scheust!« empörte sich die Zarin. »O nein! Bitte!« Olga errötete vor Entsetzen. »Ich meinte lediglich können wir es uns wirklich leisten?« »Selbstverständlich könnt ihr das.« »Gut, Papa, aber woher sollen wir das wissen? Wir bekommen nur zwanzig Rubel pro Monat als Taschengeld. Ich erkundigte mich einmal bei Mr. Gibbs, und er sagte mir, der Betrag entspreche zwei Pfund in englischer oder zehn Dollar in -129-
amerikanischer Währung, was zweifellos nicht sehr viel ist.« »Wird nicht jedes eurer Bedürfnisse sofort befriedigt?« entrüstete sich die Zarin. »Ihr habt Kleider, Pelze, Juwelen...« »Ja, ich weiß, Mutter, aber manchmal meine ich, es müßte Spaß machen, in das Gostinnoi Dvor zu gehen und ein Paar selbst ausgewählte Handschuhe zu kaufen.« Der Zar hob seine Hand. »Das steht hier gar nicht zur Debatte«, sagte er. »Jede von euch hat aus den von Kaiserin Katharina II. festgesetzten Apanagen ein jährliches Einkommen. Es wird von einem speziellen Büro der kaiserlichen Hofhaltung für euch verwaltet, und sobald ihr großjährig seid, findet die Rechnungslegung statt. Genügt das, Olga?« »Also, ich muß ja wirklich sagen«, ließ sich die Zarin vernehmen, »in meiner Jugendzeit in Darmstadt waren meine Schwestern und ich nie zugegen, wenn Geldangelegenheiten erörtert wurden...« »Natürlich nicht, Mama«, versicherte Tatjana hastig und bedachte Olga mit einem indignierten Kopfschütteln. Sie wußte, als hätte sie die Worte selbst geformt, daß ihrer hitzigen Schwester der Satz auf der Zunge lag: »Am Hof von HessenDarmstadt dürfte es da auch kaum viel zu diskutieren gegeben haben!« Das taktvolle Mädchen fuhr fort: »Wir sind Ihnen sehr dankbar, Papa, daß Sie uns all das erklärt haben, und natürlich werden wir mit Freuden die Züge stiften. Nur möchten wir außerdem auch selbst etwas tun. Ich verstehe, daß es ein unsinniger Gedanke von uns war, an die Front zu gehen, aber könnten wir nicht wenigstens hier in Lazaretten arbeiten?« »Genau das hat Mama für euch vorgesehen, meine Liebe.« »Die beiden Großen und ich werden Verwundete pflegen«, erklärte die Zarin. »Morgen früh gehen wir in den anderen Palast hinüber und sprechen mit der Dame, die uns unterweisen wird - sie ist keine Krankenschwester, sondern eine befähigte -130-
Chirurgin aus St. Petersburg, die in ihrem Beruf einen ausgezeichneten Namen hat. Und wenn wir unsere Examen bestanden haben, können wir Schwesterndienste leisten.« »Aber, Mama, du bist doch schon eine großartige Pflegerin«, meinte Anastasia. »An Übung hat es mir bei euch Kindern bestimmt nicht gefehlt«, bestätigte ihre Mutter traurig. »Aber um unseren tapferen Verwundeten zu helfen, müssen wir Anatomie und Physiologie und die bei Operationen nötigen Handreichungen und vieles andere lernen. Und das war es doch, was ihr im Sinn hattet, oder?« »O ja«, sagte Olga aus vollem Herzen, und Tatjana küßte ihrer Mutter die Hand. Aber die Kleinen erhoben sofort laute Klage: »Und was ist mit uns?« »Ihr könnt Verbandszeug schneiden und für die Soldaten nähen. Für die Verwundetenpflege seid ihr zu jung; ja, Maschka, auch mit fünfzehn bist du noch nicht alt genug.« »Das ist schade«, meinte das offenherzige Mädchen. »Ich wäre so gern eine Heldin geworden...« »Wie denn? Doch nicht etwa als weiblicher Soldat?« neckte der Zar. »Nein, ich wollte eine historische Heldin werden, wie die, von denen in unseren Geschichtsbüchern die Rede ist. Da hat es Mädchen gegeben, die sich weigerten, Staatsgeheimnisse zu verraten, obwohl man ihnen mit Folterungen drohte - richtige Heldinnen.« »Du solltest besser bei deinem Nähkorb bleiben«, empfahl ihr Olga. »Denn erstens kennen wir gar keine Staatsgeheimnisse, und zweitens wird uns bestimmt niemand foltern.« »Es war nur ein Scherz«, versicherte Marie demütig. Doch den »zwei Kleinen« war am nächsten Morgen gar nicht nach -131-
Spaßen zumute, als sie mit der Aussicht auf eine Stunde Französisch bei Monsieur Gilliard im Unterrichtsraum zurückgelassen wurden, während ihre Schwestern eine neue Laufbahn begannen. Auch »die Großen« waren sehr ernst, als sie durch die prunkvollen Räume des Palastes geleitet wurden, der von Rastrelli für Elisabeth I. gebaut und unter Kaiserin Katharina, deren Namen er trug, erweitert und noch verschwenderischer ausgestattet worden war. Die Mädchen kannten die prächtigen Räume sehr gut, obwohl man sie in den letzten Jahren nur noch bei Taufen oder Hochzeiten benutzt hatte, und es berührte sie seltsam, nun hohe, harte Krankenbetten in diesen Sälen mit ihren goldschimmernden Wänden und den Freskodecken zu sehen. Im Operationssaal, der Tatjana erschauern ließ, trafen sie die adlige Dame, die nicht nur Chirurgin, sondern auch Professorin für Chirurgie war, und es gefiel ihnen, daß sie sie wie x-beliebige Studentinnen behandelte. Sie erhielten Lehrbücher und wurden angewiesen, sich durch deren Lektüre auf die praktischen Instruktionen vorzubereiten, die am Nachmittag beginnen sollten. Als bald darauf die ersten Ambulanzen vor dem Katharinenpalast hielten, waren selbst die Hände zweier unerfahrener Mädchen eine kleine Hilfe. Aus dem Kampf in Ostpreußen wurde eine Sechs-Tage-Schlacht in einer öden, wilden Landschaft bei einem Ort, den die Deutschen Tannenberg nannten. In Galizien errangen die Russen bei Lemberg einen Sieg, der in St. Petersburg - mittlerweile in das slawische Petrograd umgetauft - durch Glockengeläut verkündet wurde, und der Triumph machte es leicht, der Niederlage bei Tannenberg etwas von ihrem Gewicht zu nehmen. Das alliierte Oberkommando in Frankreich erfaßte allerdings die Bedeutung Tannenbergs, wo die so stolze Fassade des russischen Patriotismus zum Einsturz gekommen war, nicht sogleich. Das gleiche galt mehr oder minder auch für die Bewohner des Alexanderpalastes, die das Kriegsgeschehen nur aus ihrer Sicht -132-
heraus interpretierten. So gab es eben nicht mehr Verwundete, als das Katharinen-Lazarett jeweils aufnehmen konnte, nicht mehr Lazarette in Petrograd, als die Zarin und ihre Töchter besuchen konnten. Sie hatten keine Vorstellung von der entsetzlichen Konfusion an der Front, wo viele Männer starben, weil ärztliche Betreuung fehlte, und wo die Pferde vor veralteten Krankenwagen zwischen den Deichseln verendeten, während sie Verwundete zur Endstation der Bahnstrecke brachten. Trotzdem gab es in den Rokokosalons des Palastes genug zu sehen, um aus sorglosen jungen Mädchen wie Olga und Tatjana Frauen zu machen. Die Tage nach Tannenberg waren für die beiden Großfürstinnen, die ihre neuen Pflichten nach bestem Vermögen zu erfüllen suchten, eine arbeitsreiche Zeit. In freien Stunden gingen sie in ihren Salon (manchmal auch in ihr Schlafzimmer, weil ihr Salon sehr häufig von ihrer Mutter benutzt wurde, die dort auf der Chaiselongue endlose Briefe schrieb) und fragten sich an Hand ihrer Aufzeichnungen und Lehrbücher gegenseitig ab. Tatjanas praktischer Verstand ermöglichte es ihr, wissenschaftliche Kenntnisse schneller als ihre Schwester aufzunehmen, doch Olga bewies dafür mehr Standhaftigkeit, Ruhe und herzliches Mitgefühl gegenüber dem, was Augen und Ohren in den Krankensälen zugemutet wurde und sich auch vor kaiserlichen Hoheiten nicht verbergen ließ. Und wenn der lange Tag endete, waren sie immer bereit - obwohl die Zarin oft protestierte - nach dem Abendessen noch einmal in den Katharmenpalast zurückzukehren und ihren Turnus in der Reinigung der Operationsinstrumente zu übernehmen, die ununterbrochen gebraucht wurden. In ihrer einfachen Denkweise war ihnen noch nicht klargeworden, daß ihnen der Krieg eine neue Freiheit gebracht hatte, die in Europa jetzt Tausende von Mädchen aus wohlbehütetem Elternhaus entdeckten. Die Zarentöchter hatten niemals gleichaltrige Freundinnen haben dürfen -»bei vier -133-
Schwestern«, so erklärte die Zarin oft, »herrscht gewiß kein Mangel an Gesellschaft« -, und hier gab es nun andere junge Krankenschwestern, mit denen sie sich unterhalten oder Tee trinken konnten, wenn sie einmal zehn Minuten nichts zu tun hatten, und junge Armeeärzte, denen sie die gleiche spontane Freundlichkeit entgegenbrachten wie den Offizieren der Standart. Sie durften nach Belieben und zum erstenmal in ihrem Leben ohne Geleit zwischen den beiden Palästen hin- und hergehen, und nur die das Gewehr präsentierenden Schildwachen am Eingangstor und die Kosaken der kaiserlichen Eskorte, die Tag und Nacht auf den Alleen patrouillierten, erinnerten sie noch an ihren Rang. Selbst ihre Mutter, deren possessive Eifersucht sie so eng an sie gekettet hatte, war jetzt nicht mehr in der Lage, jeden Augenblick ihres Lebens zu kontrollieren. Der Gesundheitszustand der Zarin war so gut wie lange nicht mehr. Sie klagte zwar noch immer über Ischiasschmerzen, sprach aber nie über Herzklopfen und ähnliche Beschwerden. Sie hatte auf die Niederlage von Tannenberg rein gefühlsmäßig reagiert, und während ihr Gatte die Worte Hiobs wiederholte: »Denn was ich gefürchtet habe, ist über mich gekommen«, sagte die Zarin mutig zu ihren Kindern: »Wir haben alles getan, um diesen Krieg abzuwenden, und können also fest darauf bauen, daß Gott uns den Sieg schenkt!« Im September, als nach dem langen heißen Sommer von 1914 der erste herbstliche Hauch zu spüren war, wurde Großfürstin Olga bei ihrer Rückkehr aus dem Katharinenpalast von einem Lakaien erwartet. Er zog mit einer weitausholenden Geste den Hut mit den bunten Federn - ein Überbleibsel aus der Zeit Elisabeths I. - und verkündete, Großfürstin Marie wünsche sie »in einer wichtigen Angelegenheit« baldmöglichst zu sprechen. »Bitten Sie Ihre Kaiserliche Hoheit hierherzukommen.« Olga verbiß sich ein Lachen, während sie in ihren Salon ging. Die rundliche Marie und ihre wichtigen Angelegenheiten -134-
vermutlich sollte sie für Professor Petrow einen Aufsatz schreiben und war in der Mitte steckengeblieben! Olga nahm das Cape ab, das sie über dem einfachen weißen Kittel trug, und ließ sich in einen der chintzbezogenen Sessel fallen. Sie bemerkte, daß man die Kretonneschirme rund um den hohen Porzellanofen entfernt hatte und der Raum leicht geheizt war. »Kann ich wirklich hereinkommen?« Marie stand mit wichtigtuerischem Gesicht an der Tür. »Natürlich! Was gibt es denn?« »Wo ist Tatjana?« »Sie ist noch nicht fertig, und ich ging schon voraus, weil ich so schnell wie möglich ein Bad nehmen wollte.« »Du siehst müde aus.« Marie setzte sich auf die Armlehne des Sessels. »War es schlimm heute?« »Ziemlich schlimm. Sei ein Schatz, Maschka, und ziehe meine Haarnadeln heraus.« »Sofort. Ich soll dir und Tatjana etwas ausrichten.« »Von wem?« »Von Vater Grigorij.« Olga richtete sich im Sessel auf. »War er etwa hier?« »Ungefähr vor einer Stunde. Gegen halb zehn. Er hat sehr bedauert, daß er dich nicht antraf.« »Wen hat er denn angetroffen?« »Nun, Papa und Mama, und Baby natürlich, und uns. Und Olga, er hat Anastasia und mich auf die Stirn geküßt, wie er es mit Baby immer tut, und uns seinen Segen gegeben.« »Er hätte vor dir niederknien und deine Hände küssen sollen.« »Das macht er nicht einmal bei Mutter.« Olga seufzte. »Was für einen Anblick hat er denn diesmal geboten?« »Den gleichen wie immer, mit seinen hohen Stiefeln und der -135-
Bauernbluse, du weißt schon. Mama schien so glücklich, ihn wiederzusehen, und behauptete immerfort, es sei ein Wunder. Sie ließ uns rufen, nachdem er bei Alexis gewesen war - das heißt, wir gingen in den Salon hinunter, und da waren sie alle drei, Papa, Mama und Vater Grigorij.« »Und Papa? Wirkte er auch so erfreut?« »O ja, sehr. Warum?« »Weil ich weiß, daß ihm eine gewisse Botschaft, die er kurz vor der Kriegserklärung von Rasput... von Vater Grigorij erhielt, äußerst mißfiel.« »Papa erzählte uns, daß Alexis schlief, als sie in sein Zimmer gingen. Aber Vater Grigorij sagte, sie sollten ihn nicht wecken. Er machte das Kreuzzeichen über seinem Kopf und flüsterte: ›Jetzt wird der Kleine bald gesund sein.‹ Dann küßte Mama Vater Grigorij die Hand und weinte.« »Aber Alexis ist doch fast schon wieder gesund.« »Ich weiß. Er hat den ganzen Nachmittag mit Joy draußen gespielt.« Die dunkelblauen Augen hatten einen durchdringenden Blick, und Olga merkte mit einemmal, daß die pummelige Marie nicht mehr ganz das oberflächliche Schulmädchen war wie früher. Auch sie wird aufmerksamer und fängt an, sich Fragen zu stellen, dachte Olga. Sie sah auch, daß das runde Kindergesicht schmaler geworden war und die slawischen Backenknochen stärker hervortraten, weil Marie ihre Heldinnenlaufbahn damit begonnen hatte, ihre Vorliebe für Schokolade und Kuchen zu bezähmen. »Vater Grigorij hat ein seltenes Talent, immer dann zu erscheinen, wenn Alexis auf dem Wege der Besserung ist«, bemerkte sie. »Was hat er dir denn für uns aufgetragen?« »Er sagte, es freue ihn sehr, daß ihr euch als Schwestern ausbilden laßt.« -136-
»Wie liebenswürdig von ihm...« »Aber er möchte, daß ihr auch die Lazarette in anderen Städten besucht, nicht nur die in Sankt... in Petrograd; mit Mama zusammen natürlich, und er will, daß ihr immer eure Schwesterntracht mit dem roten Kreuz auf der Brust tragt.« »Was für ein Unfug«, entrüstete sich Olga. »Wir sollen uns also sozusagen verkleiden, um anderer Leute Lazarette zu besuchen! Es ist kaum zu glauben. Und überhaupt sind uns bis zur Abschlußprüfung nur weiße Kittel erlaubt.« Sie stand auf und strich das zerknitterte weiße Kleidungsstück mit energischen Bewegungen glatt, als beabsichtige sie, diesen Punkt auf der Stelle mit Rasputin zu erörtern. »Ist er noch da?« fragte sie. »Er ging mit Papa und Mama zu Anja.« »Oh...« Olga hätte beinahe gesagt: »O nein! Jetzt fängt das also schon wieder an!« Daß die Zarin so sehr mit ihren Kriegspflichten beschäftigt war, hatte unter anderem die segensreiche Folge ge habt, daß diese abendlichen Besuche in Madame Wirubowas verschwiegenem kleinen Haus, das unmittelbar neben dem Palastgebäude in der angrenzenden Srednaja-Allee lag, praktisch eingestellt worden waren Besuche, die den Hofleuten, wie Olga sehr wohl wußte, viel Anlaß zu Gerede gegeben hatten. Beabsichtigte sie etwa, den Zaren unter Rasputins Führung wieder in die Srednaja zu schleppen... »Entschuldige, Maschka«, sagte sie. »Das letzte habe ich nicht richtig verstanden. Du hast auch geflüstert.« Aber Marie hob die Stimme nicht: Das Flüstern schien seit Rasputins Rückkehr im Alexanderpalast Mode geworden zu sein. »Ich fragte nur, warum Mutter soviel Aufhebens von Anja macht, wo sie doch sonst so strikt bei Scheidungen ist.« »Oh, die Wirubowa sind nicht geschieden, ihre Ehe wurde annulliert.« »Ja, aber warum nennt Mama Anja ›unsere älteste Tochter‹? -137-
Sie hat doch selbst nette Eltern.« »Unsere Mutter fühlt sich für die ganze Sache verantwortlich. Anja hatte sich in General Orlow verliebt, aber Mutter fand ihn zu alt für sie und bedrängte sie, Leutnant Wirubow zu heiraten, und seither hat sie ein schlechtes Gewissen wegen der Konsequenzen.« »Anja verliebt sich ständig in irgend jemanden«, sagte Großfürstin Marie. Sie warf einen Blick auf die Flügeltür und senkte die Stimme noch mehr. »Olga, sei nicht böse - aber ich habe wirklich manchmal gedacht, sie sei in Vater verliebt.« Der Zar begab sich nach Baronovichi. Während seiner Abwesenheit erschien Rasputin nicht im Alexanderpalast, und die Zarin machte auch keine abendlichen Besuche bei »Unserer Lieben Frau von der Allee«, wie einige Hofleute Anja Wirubowa nannten. Sie saß mit ihren Töchtern zu Hause, wo sie nähten und Heiligenbilder signierten, die für die Truppen bestimmt waren. Aber Anja war täglich ein paar Stunden da und begleitete die Zarin auch meist, wenn sie die unter dem Katharinenpalast gelegene restaurierte Grabkapelle aufsuchte, wo sie sich dann, von religiöser Verzückung ergriffen, auf die kalten Steine legte, um zu beten. Bald hatte Rasputin auf hinterhältige Weise, indem er Anja als Sendbotin benutzte, seine Macht wieder gefestigt. Genauso wie er es vorgeschlagen hatte, machten Olga und Tatjana mit ihrer Mutter Lazarettbesuche hinter den Linien, kaum daß sie Ende Oktober ihr Pflegerinnenexamen bestanden hatten, was ihnen das Recht verlieh, weiße Schleier und weiße Schwesternschürzen mit einem roten Kreuz auf der Brust zu tragen. Sie fuhren nach Wilna, wo die Zarin so akute Ischiasbeschwerden bekam, daß sie die Treppe hinaufgetragen werden mußte - ein wenig hoheitsvolles Bild, das die verwundeten Soldaten verwirrte. Sie fuhren nach Pskow, wo Großfürst Dimitrijs Schwester Marie, in der Familie Marischa genannt, in einem riesigen Lazarett tätig -138-
war, das zwanzigtausend Betten hatte. Sie waren alle belegt. Hatte schon der Anblick der notdürftig auf Pritschen in den Gängen untergebrachten Verwundeten Olga zugesetzt, so brachte sie das Elend der heimatlos umherziehenden Flüchtlinge vollends zur Verzweiflung. »Tanja und ich möchten den alten Leuten helfen, Mutter. Und den Kindern! Niemand tut etwas für sie.« Doch dies hatte Rasputin nicht vorausgesehen, und Alexandra Feodorowna wies ihre ungestüme Tochter zurecht. »Du möchtest immer schon rennen, bevor du überhaupt laufen kannst, Olga. Versuch erst eine wirklich gute Krankenschwester zu werden; das genügt schon für ein kaum neunzehnjähriges Mädchen.« »Marischa verrichtet nicht nur Pflegedienste, sie arbeitet auch an der Organisation dieses riesigen Lazaretts mit. Sie haben sie selbst als sehr fähig bezeichnet. Und sie ist nur fünf Jahre älter als ich.« »Fünf sehr bedeutende Jahre im Leben einer jungen Frau. Du bist im Vergleich zu Marischa ein unerfahrenes Mädchen.« »Ja, natürlich, Marischa war verheiratet und ist geschieden und hat ein Kind. Sind das die Erfahrungen, die man für die Leitung eines Lazaretts braucht? Muß ich erst heiraten und geschieden sein, bevor ich eine wohltätige Einrichtung übernehmen kann?« »Ich werde mit deinem Vater über die eigensinnige, unangenehme Art sprechen, die du neuerdings an den Tag legst...« »Tun Sie das bitte, ich möchte auch mit ihm reden.« Wie gewöhnlich war es die diplomatische Tatjana, die die Angelegenheit beim ersten gemeinsamen Essen nach Nikolaus' Rückkehr aus dem Hauptquartier zur Sprache brachte. Ihr sanftes »Wir wollen lediglich mehr tun, um Ihnen zu helfen, -139-
Papa«, war viel wirkungsvoller als Olgas Nervosität, und der Zar blickte seine Gattin fragend an. »Was meinst du dazu, Alice? Ich finde schon, daß wir sie ein bißchen mehr in den Vordergrund treten lassen können.« »Aber was könnten sie tun? Olga ist viel zu jung, um den Vorsitz über einen Nähzirkel zu führen, wie es ›Mütterchen‹ im Japankrieg getan hat.« Die Mädchen brachen in Lachen aus, und selbst der Zar lächelte. »Offen gestanden, kann ich mir Olga ohnehin nicht als Vorsitzende eines Nähzirkels vorstellen, ganz gleich in welchem Alter«, sagte er. »Aber ich sehe nicht ein, warum die beiden nicht wenigstens nominell die Leitung zweier Hilfskomitees übernehmen können.« »Deine Schwestern wären dafür viel besser geeignet«, erklärte die Zarin. »Wenn Olga Alexandrowna in ihrem ehelichen Wohnzimmer geblieben wäre, statt in Kiew Verwundete zu pflegen...« »Meine Schwester Olga leistet in ihrem Lazarett in Kiew sehr nützliche Arbeit, davon habe ich mich vor drei Wochen selbst überzeugt. Und Xenia ist viel zu beschäftigt, um noch etwas Zusätzliches zu tun, mit diesem großen Haushalt und so vielen Jungen...« Es gab nichts, und das wußte auch ihr Gatte, was Alexandra Feodorowna so gut zum Schweigen bringen konnte wie eine Anspielung auf Großfürstin Xenias zahlreiche Söhne. Ihr erstes Kind war ein Mädchen gewesen, Irma, das im selben Jahr wie Olga geboren war. Und während die Zarin dann, verzweifelt auf einen Sohn und Erben wartend, Tochter um Tochter zur Welt brachte, bekam Xenia nicht weniger als sechs Söhne, starke, lärmende, gesunde Jungen. Jetzt saß die Zarin schmollend auf ihrem Platz und sagte schließlich hart und boshaft: »Nun, ich hoffe, du bist zufrieden, Olga. Ich habe den Verdacht, du willst dich lediglich wie deine Tante Miechen bei -140-
den Leuten einschmeicheln und für die Popularität des Hofes sorgen. Genügt es dir nicht, daß deine neuen Fotografien an jeder Straßenecke des Newski Prospekts verkauft werden?« »Wie die von den Filmmädchen!« sagte Anastasia, und der Sarkasmus der Zarin ging in fröhlichem Gekicher unter, während sich die Familie erhob. Bald darauf wurde festgelegt, daß Olga die Vorsitzende - »die nominell Vorsitzende«, wie ihre Mutter betonte - eines Hilfskomitees für Soldatenfamilien werden und Tatjana ein Flüchtlingskomitee übernehmen sollte. Das verschaffte den Mädchen die Möglichkeit, ab und zu fortzukommen, denn die Komitees traten mindestens einmal wöchentlich und meist sogar öfter im Winterpalais zusammen, wo auch die Spenden entgegengenommen wurden. Nur von einer jüngeren Hofdame begleitet, fuhren Olga und Tatjana in die Stadt und entwickelten alsdann im Winterpalais unter Verzicht auf steifes Protokoll eine rege Aktivität. Die Angehörigen der Petrograder Gesellschaft, die den Hilfskomitees beigetreten waren, weil es zum guten Ton gehörte, sich karitativ zu betätigen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen, staunten sehr bald über das Arbeitsprogramm, das ihnen zwei so junge und energische Mädchen vorlegten. »Echte Romanows, alle beide«, hieß es allgemein. »Wie sehr sie sich von ihrer Mutter unterscheiden...« Acht Stunden täglich im Lazarett, vier Stunden täglich Komiteearbeit - es genügte, um Olga Nikolajewna nachts einen traumlosen Schlaf zu bescheren, unbelastet von dem Gedanken an die galizische Front, wohin Simon Hendrikow und seine Offizierskameraden von der Garde vor Wochen entschwunden waren. Vielleicht schliefen in Zarskoje Selo nur die Mädchen und Alexis gut in diesen Novembernächten, nachdem die letzte Offensive an der russischen Westfront blutig gescheitert war und das russische Oberkommando sich sofort einer neuen Bedrohung im Süden und Osten gegenübergesehen hatte. Im Osmanischen Reich hatten Enver Pascha und seine -141-
jungtürkischen Anhänger den Sultan in den Krieg auf seiten Deutschlands getrieben, und während die winterlichen Schneefälle über der großen Ebene von Petrograd einsetzten, arbeiteten sich russische Truppen auf den Bergpässen Ostarmeniens durch Schneestürme hindurch. Zu Weihnachten, dem Fest, das jede der kriegführenden Mächte in der Hauptstadt des Feindes zu feiern geschworen hatte, war es klar, daß Lord Kitchener recht gehabt hatte, als er einen langen Krieg voraussagte. Man sprach jetzt vom »Großen Krieg«, denn er war zu einer weltweiten Auseinandersetzung geworden, in der zwei Männer bereits vergessen waren: Franz Ferdinand in seiner Gruft in Artstetten und Agrilo Princip, der in seiner österreichischen Festungshaft dahinsiechte.
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7 In den ersten Januartagen drang das schwache Tageslicht nicht vor neun Uhr durch den dicht fallenden Schnee. Viele Läden und Büros in Petrograd öffneten erst um zehn ihre Türen. Mara blieb Zeit genug, so fand Madame Trenowa, sie zu einem kurzen Gedenkgottesdienst in der Wladimirkirche zu begleiten, einer panikhidia für drei junge Männer aus der Nachbarschaft, die an der türkischen Front gefallen waren. »Kurz dürfte wohl keiner deiner Gottesdienste sein, Mutter. Und ich möchte nicht zu spät ins Büro kommen«, sagte Mara. Sie stand in der Küche, die ihnen zugleich als Wohnzimmer und ihr als Schlafraum diente, vor einem gesprungenen Wandspiegel, zog sich eine Wollmütze über die Ohren und stopfte die Bandenden in den schmalen Pelzkragen ihres schwarzen Tuchmantels. »Du brauchst nicht zur Messe zu bleiben, meine Liebe. Aber die armen Mütter der Gefallenen würde es sicher freuen, wenn ein paar junge Leute anwesend wären.« Die Stimme ihrer Mutter nahm ein weinerliches Tremolo an. »Wie furchtbar, keine richtige Beerdigung zu haben!« Madame Trenowa war eine winzige Person, und sie hatte etwas Mausartiges an sich, wie sie da behende in der kleinen Wohnung umherlief, die Teetassen in eine Schüssel stellte, wo sie blieben, bis vom Treppenabsatz Wasser geholt war, und in ihr handtuchschmales Schlafzimmer huschte, um sich einen dicken Schal zu holen, den sie sich um den Kopf schlang. Ohne Hut sah sie genauso aus wie jede andere der in Umschlagtücher gehüllten armseligen Frauen, denen sie auf der Steintreppe des Miethauses an der JamskajaStraße begegnete. »Also gut, komm, es ist ja zumindest nicht weit«, sagte Mara vor der Haustür, denn die Kirche »Unserer Lieben Frau von Wladimir« nahm einen wesentlichen Teil des großen Platzes ein, -143-
der ganz in der Nähe lag. »Kommst du zum Mittagessen heim, Mara?« fragte ihre Mutter, bevor sie das Kirchenschiff betraten. »Ich glaube nicht. Heute ist Drucktag, weißt du das nicht mehr? Wir werden vermutlich alle auf einen Happen in den ›Roten Sarafan‹ gehen.« »Sieh zu, daß du eine anständige Mahlzeit bekommst, du wirst viel zu dünn. Laß dir nicht zuviel Arbeit aufbürden...« Dabei sättigte jede Kleinigkeit im »Roten Sarafan« noch immer mehr als ein Mittagessen zu Hause, das normalerweise aus einer Suppe oder »Kascha« und einem kleinen Stück Räucherfisch bestand - eine kärgliche Ration für ein Mädchen, das jahrelang die gute, einfache Kost der Xenia-Schule genossen hatte. Mara sagte nichts und wartete darauf, daß das wohlbekannte Jammern wegen ihrer Überarbeitung von selbst aufhörte, während sie sich der Ikone des heiligen Dimitrij näherten. Einer der gefallenen Soldaten hatte Dimitrij geheißen, und so hatten sich die Leidtragenden dort versammelt. Die meisten von ihnen weinten, Madame Trenowas leichtfließende Tränen begannen ebenfalls zu strömen, und Mara zündete eine Kerze an und drückte sie ihre Mutter in die Hand. Das Erscheinen des Priesters war gena u der richtige Zeitpunkt, um sich fortzustehlen; der Gesang hielt sie alle so gefangen, daß niemand sie vermissen würde. Mara berührte den Arm ihrer Mutter, wies unauffällig mit dem Kopf zur Tür hin und ging auf Zehenspitzen hinaus. Der Verlag, bei dem ihr ein Bekannter eine Stellung besorgt hatte, war für Mara bequem zu Fuß erreichbar. Er hieß »Die Kinnerburg« und veröffentlichte Schul-, Kinder- und Jugendbücher, war jedoch vor allem wegen seiner Taschenbuchausgaben russischer Klassiker bekannt, die auf dünnem grauen Papier und so klein gedruckt, daß sie die Augen jedes Kindes überforderten - mit orangefarbenem Band -144-
umwickelt, in dem eine Tafel Schokolade stak, verkauft wurden. Fast genausogut wie die »Schokoladenklassiker«, wie sie im Handel hießen, kam die monatlich erscheinende Kinderzeitschrift an. Außerdem gab es noch eine Wochenzeitschrift für Erwachsene, die unter dem Namen BurgNotizen an eine ziemlich stattliche Abonnentenzahl verschickt wurde. Als Mara sich in ihrem neuen Beruf auszukennen begann, war sie überrascht gewesen, daß so ein großer Teil des Geschäfts auf dem Postweg abgewickelt wurde. Umfangreiche Sendungen der Klassiker- Taschenbuchausgaben gingen samt orangefarbenem Band und Schokolade regelmäßig an bestimmte Adressen auf dem Land, und die Leser der Burg-Notizen schrieben sehr häufig an den Verleger, Jakob Levin. Mara war nun fast drei Monate seine Sekretärin. Er war nicht in seinem Büro, als sie atemlos von der Wladimirkirche kam, aber das war normal am Drucktag, an dem er und sein schon etwas älterer Assistent um dieselbe Zeit anfingen wie die Drucker. Ihre Mäntel und Pelzmützen hingen an der Wand des großen düsteren Büros im zweiten Stock, und das Klappern und Stampfen der antiquierten WharfedalePressen war im ganzen Gebäude zu hören und zu spüren. Mara nahm einen Korb voll Morgenpost in Angriff. Erst als Sergiew ihr ein Glas Tee von dem Samowar brachte, der ständig am Ende des Korridors brodelte, merkte Mara Trenowa, daß die Morgenstunden verflogen waren. »Das ist nett von dir, Sergiew«, sagte sie dankbar. »Herr Levin bleibt heute lange unten, wie?« »Es gab Krach in der Druckerei«, berichtete Sergiew. »Eine der Pressen hat mitten im Lauf gestreikt.« »Das passiert aber doch jede Woche, oder nicht?« Sergiew lachte rauh. Er war ein unheimlicher Bursche mit einem zerfurchten, verzerrten Gesicht, kaum einen Meter zwanzig groß und bucklig. Er hätte ebensogut fünfzehn wie -145-
vierzig sein können und war bei der »Kinderburg« als Laufbursche und Mädchen für alles beschäftigt. »Jede Woche, und Herr Le vin bringt sie wieder in Ordnung«, bestätigte er. »Haben Sie gehört, was die Fuhrleute auf der Gasse sagen?« »Nein, was sagen sie denn?« »Sie sagen, daß die Deutsche erschossen worden ist.« »Was für eine Deutsche? Sergiew! Doch nicht die Zarin?« Der Bucklige nickte. »Draußen in Zarskoje Selo ist es passiert. Sechstausend Mann hatte sie zu ihrer Bewachung, heißt es. Polizei und Soldaten, Kosaken, Gardeoffiziere und so weiter. Trotzdem haben sie sie erwischt, sie haben sie erwischt... und auch ihn werden sie eines Tages erwischen.« i »Ist sie... tot?« »Tot oder im Sterben, ist das so wichtig?« Sergiew starrte hämisch in das blasse Gesicht dicht vor dem seinen. »Das sind gute Nachrichten, wie?« »Es sieht so aus. Aber wer hat es getan, Sergiew? Hat man den Mörder? War es im Lazarett oder irgendwo draußen?« »Ist das so wichtig?« sagte er noch einmal »Stellen Sie sich vor, Mara Iwanowa! Rasputins gekrönte Geliebte - fort, weg!« »Ich wollte, du gingst weg und würdest versuchen, mehr darüber zu erfahren. Es is t vermutlich nur ein dummes Gerücht«, rief sie ihm noch nach, als Sergiew seinen unförmigen Kopf herumwarf und den Raum verließ. Warum sie das hinzufügte, wußte sie nicht; die Nachricht hatte ihr einen Schock versetzt, und dafür gab es keinen Grund, denn der Tod strich ständig um die Romanows herum, und Alexandra Feodorowna verdiente dieses Ende. Dennoch dröhnte Maras Kopf, während sie frisches Papier in die hohe Schreibmaschine einspannte, und als sie das Datum unter den Briefkopf geschrieben hatte, zog sie ihre Hände von den Tasten und drückte sie gegen ihre Stirn, und -146-
die Zarin verwandelte sich in eine schöne, tragische Gestalt auf einer Bahre. Als sie Levins schwere Schritte im Korridor und das Knarren der sich öffnenden Tür hörte, hob sie den Kopf, stand aber nicht auf und drehte sich auch nicht um. Einen Moment danach fühlte sie eine Berührung, die sie erbeben ließ, die Liebkosung einer verstümmelten Hand in ihrem Nacken, und sie sagte: »Du hast mich erschreckt.« »Sei nicht albern, du hast mich doch erwartet, oder nicht?« »Ja.« Levin sog über ihrem Haar die Luft ein. »Du riechst nach Weihrauch, Mädchen, wo bist du gewesen?« fragte er leichthin, während er zu seinem wuchtigen Sessel hinter dem Schreibtisch ging. »Mutter schleppte mich heute früh in einen Gottesdienst in der Wladimirkirche.« »Aha! Das erklärt alles. Und jetzt an die Arbeit.« Mara reichte ihm eine Mappe mit Briefen und Notizen, die er schnell durchlas. Jakob Levin war ein kleiner, ungemein kräftig gebauter Mann mit sehr kurz geschnittenem ergrauendem Haar und breitem kühlbeherrschtem Gesicht. Am Mittelfinger seiner rechten Hand fehlten seit einem Unfall, den er als Druckergeselle in Odessa hatte, die zwei obersten Glieder. Mara hatte den Stummel zuerst abstoßend gefunden, mit der Zeit aber hatte es ihr sogar ein perverses Vergnügen bereitet, zu sehen, wie geschickt er die Feder hielt. »Gut; bitte nimm jetzt das Diktat auf.« Langsam formulierte er an Hand der Anmerkungen, die er auf dem Ordner gemacht hatte, seine Sätze und währenddessen beobachtete er Mara Trenowas über den Stenoblock geneigten dunklen Kopf und ihr herbes Profil. Er fand, daß sie sich wirklich gut anließ. Levin war ein Experte, was Schulung anbelangte. Er hatte -147-
dem Mädchen erst ein paar Wochen Zeit gelassen, sich mit der Büroarbeit vertraut zu machen. Dann hatte er sie in den »Roten Sarafan« mitgenommen und abgewartet, bis sie sich der Gruppe erfolgloser Autoren, unveröffentlichter Dichter und drittklassiger Schreiberlinge angeschlossen hatte, deren Treffpunkt das Restaurant war. Eines Abends, als sie sich nach zwei Gläsern Weißwein zungenfertig und erregt über die jüngsten Gerüchte ausließ, die von Korruption in hohen Ämtern sprachen, hatte er sie, ihre kalte Hand fürsorglich in der Tasche seines Überziehers geborgen, nach Hause begleitet und schlankweg gefragt: »Wollen Sie Ihre Zeit mit bloßem Gewäsch über Politik vertrödeln wie diese Clique da im ›Sarafan‹, oder haben Sie vor, selbst aktiv zu werden?« Mara berichtete stolz, sie trage sich mit der Absicht, in die Sozialrevolutionäre Partei einzutreten. Er lachte schallend. »In die SR! Warum in die SR?« »Es war die Partei meines Vaters. Und ich glaube, das Programm der Sozialrevolutionäre käme dem Volk wirklich zugute.« »Den Bauern höchstens. An das Proletariat in den Fabriken kommen sie nicht heran.« »Zumindest sitzen ihre Führer in Petrograd, nicht in Zürich oder Genf wie die der Bolschewiken.« Er war dann an einer Straßenecke stehengeblieben und hatte sie an den Schultern gepackt. »Ich wette, dieses Argument haben Sie von Professor Hendrikow«, sagte er. »Ich sehe Sie förmlich vor mir, wie Sie seinen Milch-und-WasserLiberalismus in sich aufsaugen.« »Professor Hendrikow ist doch gar kein SR. Er wurde als Konstitutioneller Demokrat, als ›Kadet‹, in die Erste Duma gewählt.« »Er hat aber viele Freunde in der SR: Genaugenommen hält er -148-
Alexander Kerenski für seine persönliche Erfindung. Hat er Sie etwa inspiriert, Mara? Kerenski? Er ist jung und sieht auf seine Art nicht schlecht aus, und er wirkt auf Frauen.« Sie schien die Kälte und den Schnee überhaupt nicht mehr zu spüren. Von ihrer eigenen Begeisterung mitgerissen, erzählte sie ihm, daß sie ihre Inspiration von den großen Frauengestalten der SR bezogen habe, die konspiriert, getötet, Foltern und Verbannung erduldet und sich sogar hinrichten lassen hatten, alles, damit Rußland einer besseren Zukunft entgegenginge. Die Namen sprudelten heraus, Perowskaja, die wegen ihrer Beteiligung an der Ermordung Alexanders II. exekutiert worden war, Dora Brilliant, die Kaliaew, dem Mörder des Großfürsten Sergej, geholfen hatte, Maria Spiridonowa, seit acht Jahren in sibirischer Verbannung... Und dann hatte Levin sie zum erstenmal geküßt, hart, rücksichtslos - es war keine zärtliche Annäherung der kalten Gesichter gewesen, eher ein Zusammenprall -, um der Szene ein Ende zu machen. Er erinnerte sich daran, während er sie über den Schreibtisch hinweg beobachtete, und als er mit dem Diktieren fertig war und seine Zigaretten herausholte, warf er wie beiläufig hin: »Die Leute auf der Straße reden davon, daß es in Zarskoje Selo irgendeinen Zwischenfall gegeben haben soll...« »Einen Zwischenfall! Sergiew behauptet, die Zarin sei ermordet worden.« »Die Zarin, wie? Wir werden Sergiew bald den Auftrag geben müssen, Romane für unsere Leser zu produzieren. So wie ich die Geschichte gehört habe, ist lediglich die Busenfreundin der Zarin, Madame Wirubowa, das Opfer irgendwelcher... Umstände geworden.« »Ich habe Sergiew fortgeschickt, weil ich Genaueres wissen wollte. Wahrscheinlich ist er eine Abendzeitung kaufen gegangen.« »Aus der Zeitung erfährt er bestimmt nichts, wenn die -149-
Zensurschraube angezogen worden ist. Eine Zigarette?« »Nein, danke.« »Mara - hast du etwa deshalb wie eine kranke Katze dagesessen, als ich hereinkam... Weil du glaubtest, die Deutsche sei tot?« »Warum sollte mich ihr Tod kümmern?« »Was war denn dann mit dir los?« »Ich versuchte mir lediglich auszumalen, wie es sein muß, wenn man die Person ist, die sich eine Waffe in die Tasche steckt und vorsätzlich hingeht, um einem Leben zu Ende zu machen...« »Spuken dir immer noch die großen SR-Heroinnen im Kopf herum?« »Vielleicht.« »Hast du je eine Schußwaffe in der Hand gehabt?« »Nie im Leben.« Levin zog einen Nagan-Revolver aus seiner Jackentasche und legte ihn auf den Schreibtisch. Mara starrte ihn ängstlich an. »Ist er geladen?« »Natürlich ist er geladen, sonst wäre er ja kaum zu etwas nutze. Nimm ihn einmal. So, siehst du? Du benutzt alle fünf Finger!« Sein eigener verstümmelter Finger schien ihn aber gar nicht zu behindern, als er den Revolver umspannte. Dann schob er ihn dem Mädchen hin. Mara Trenowa griff vorsichtig danach, ohne den Abzug zu berühren. Die Waffe fühlte sich noch warm an von Levins Körper. »Er ist sehr schwer.« »Für dich vielleicht schon. Also, jetzt hast du ihn schon ein wenig im Griff, und wenn es zu schneien aufhört, nehme ich dich einmal an einem Sonntag mit ins Ödland und bringe dir Schießen bei. Wo, zum Teufel, ist bloß dieser Sergiew -150-
hingekommen?« Levin steckte den Revolver wieder in seine Tasche und öffnete die Bürotür. »He! Ihr da draußen! Hat jemand Sergiew gesehen? Wie? Oh, da ist er ja.« Der Bucklige stolperte herein, eine Zeitung in der Hand. »Es ist nicht die Zarin, die sie erwischt haben, sondern die Wirubowa«, verkündete er mürrisch. »Das hätte ich dir gleich sagen können, du Tölpel, wenn du mit deiner blödsinnigen Geschichte zur mir gekommen wärst. Verschwinde jetzt und geh zum Abendessen, ich habe keine Zeit.« Mara rieb ihre rechte Hand, die von der Berührung der Waffe noch ein wenig prickelte. »Es steht also wirklich in der Zeitung?« fragte sie. »Ja, hier ist es. Seite vier, sie sind natürlich angewiesen worden, die Sache nicht aufzubauschen! Mara! Sie behaupten, es sei ein Zugunglück gewesen, nicht weit von Zarskoje Selo.« »Ein Zugunglück? Kein Mordversuch?« »Hör dir das an. Gestern nachmittag wurden zahlreiche Passagiere verletzt, usw., unter ihnen Anja Alexandrowna Wirubowa, Tochter des... usw., eine frühere Hofdame Ihrer Kaiserlichen Majestät (jetzt eine Dame zweifelhaften Rufs, hätte sie hinzufügen können), die unter den Trümmern begraben wurde... usw., erlitt schwerste Verletzungen, hat aber die Nacht überlebt. Na! Das dürfte den lauschigen Abenden Ihrer Majestät mit Rasputin ja für einige Zeit ein Ende machen!« »Und was ist mit den anderen Verletzten?« »Die sind nur eine Liste falsch geschriebener Namen; für das gemeine Volk reicht das, hast du etwa mehr erwartet?« »Aber was war denn die Ursache des Unglücks?« »Darüber schweigen sie sich aus. Ein Unglück also, auf der von der Polizei am besten überwachten Eisenbahnstrecke in ganz Rußland. Eine Bombe auf den Gleisen konnte es nicht sein. -151-
Vielleicht war es wirklich ein Unfall - der Lokomotivführer könnte ja betrunken gewesen sein.« Mara schüttelte den dunklen Kopf. »Es ist nie ein Unfall«, erklärte sie bestimmt, »wenn einer von ihnen davon betroffen ist.« Es kann kein simpler Unfall gewesen sein. Die Großfürstinnen Olga und Tatjana, die sich in dem kleinen Büro des Katharinen-Lazaretts entsetzt in die Augen starrten, hatten den gleichen Gedanken wie Mara Trenowa, wiewohl sie sich hüteten, ihn in Worte zu kleiden. Wenn eine von ihnen ihn ausgesprochen hätte, wäre sie vielleicht noch weiter gegangen und hätte hinzugefügt: »Meinst du, es galt uns?« Sie wußten, wie oft Terroristen Anschläge auf die Romanows ausgeführt hatten, wenn die kaiserliche Familie mit der Bahn reiste. Bomben auf dem Gleisoberbau, gesprengte Brücken und Dynamitladungen in Tunnels hatten zu den Risiken gehört, denen ihre Vorfahren ausgesetzt waren. Von dem Attentat in Borki, das im Jahre 1888 fast dreihundert Opfer gefordert hatte, kannten sie fast jedes Detail, weil der Zar es als Zwanzigjähriger miterlebt hatte. Er hatte ihnen oft erzählt, wie sein Vater, Alexander III., ein Mann von kolossaler Stärke, Frau und Kinder vor der Verstümmelung oder dem Tod durch Ersticken bewahrt hatte. Sie saßen im Speisewagen, als die Terroristen den Zug in die Luft sprengten. Der Zar hatte mit seinem wuchtigen Rücken und den Schultern das gesamte Gewicht des Eisendaches gehalten, bis seine Familie und das Gefolge ins Freie gelangt waren, sich dabei aber den Nierenschaden zugezogen, der seinen frühen Tod herbeiführte. In dem Zugwrack bei Zarskoje Selo hatte es keinen Mann von vergleichbarer Stärke gegeben, und jetzt lag Anja Wirubowa bewußtlos im Katharinen-Lazarett, das linke Bein gebrochen, den rechten Oberschenkel zerquetscht und zahlreiche -152-
Verletzungen an Kopf und Schultern. »Die Zarin möchte unbedingt, daß Vater Grigorij herkommt«, sagte Tatjana mit dieser leisen Stimme, die genauso hart wie die ihrer Mutter klingen konnte, wenn sie wollte. Der Militärarzt, der sie in das kleine Büro geführt hatte, wo eines der wenigen Telefone des Palast-Lazaretts installiert worden war, seufzte und schüttelte den Kopf. »Ihre Majestät war in einem Zustand akuter Hysterie«, sagte er. »Sie beruhigte sich sofort, als Seine Majestät der Zar erschien. Die Einmischung einer anderen Person - irgendeiner anderen Person - könnte ihren Kummer leicht wieder übermächtig werden lassen.« »Der Zar wünscht ebenfalls, daß Vater Grigorij geholt wird. Nicht wegen meiner Mutter, sondern wegen der Patientin.« »Man sollte der Patientin für ihre letzten Stunden Frieden gönnen. Sie haben die Meinung dreier Ärzte gehört, Schwester: Madame Wirubowa liegt im Sterben.« »Mein Bruder war schon mehr als einmal an der Schwelle des Todes, und Vater Grigorijs Gebete haben ihn gerettet.« »Nun, das Telefon steht Eurer Kaiserlichen Hoheit zur Verfügung.« »Ich danke Ihnen.« Tatjana ignorierte den sarkastischen Ton. Sie wählte die Vermittlung und nannte die Nummer von Rasputins Wohnung in Petrograd. Der Arzt horchte auf. Sie wußte die Nummer auswendig, sie hatte keine Sekunde gezögert! Er erinnerte sich an die Gerüchte, die über diese beiden hübschen Mädchen und Rasputin umgingen. Der Kerl hatte mit beiden geschlafen, und auch mit ihrer Mutter: bald würden die jüngeren Schwestern an der Reihe sein. Widerlich, falls es der Wahrheit entsprach, empörend, wenn es Lügen waren! Tatjana sagte gerade: »Ungefähr in einer Stunde? Nein, danke, ich werde das selbst -153-
erledigen.« Sie wandte sich an Olga. »Seine Haushälterin sagt, er sei zu einem Abendessen im ›Hotel Europa‹. Einer der Wagen muß in die Stadt fahren und ihn sofort herbringen.« »Doktor...«, bat Olga in flehendem Ton, und der Arzt erklärte mit einer unwilligen Verbeugung, er werde sich um die Angelegenheit kümmern. »Aber darf ich Sie daran erinnern, Schwester, daß dies ein Lazarett ist, wo die Disziplin nicht um einer zivilen Patientin willen mißachtet werden kann! Oder zweier, so erregt die zweite auch sein mag! Sie haben beide Ihre Posten verlassen, um Ihre Kaiserliche Majestät zu trösten. Jetzt kehren Sie bitte unverzüglich in Ihre Krankensäle zurück.« »Wie grob er zu uns war!« empörte sich Tatjana im Korridor und war nicht von der Stelle zu bewegen, bis sie eine Ordonnanz zu den Garagen gehen sah, so daß sich Olga fragte, inwieweit man dem Arzt einen Vorwurf machen konnte. Sie selbst rechnete mit ein paar bösen Blicken seitens ihrer Kolleginnen, denn während die Mädchen ihre hysterische Mutter zu beruhigen versucht hatte, war das Abendessen der Patienten serviert worden, und als sie ihren Saal betrat, murmelte eine junge Schwester auch: »Nur keine Eile, bitte«, weil Olga lediglich noch zurechtkam, um beim Abräumen des Geschirrs zu helfen. Doch dann senkte sich Frieden über den Raum; die Patienten, lauter chirurgische Fälle, wurden für die Nacht versorgt, die Lichter abgedunkelt, und die diensthabenden Schwestern setzten sich an ihre Tische, um zu nähen, bevor sie eine nach der anderen selbst zum Abendessen gingen. Olga war wegen ihrer langen Abwesenheit am Spätnachmittag die letzte, und in dem kleinen Speisesaal hielt sich außer den zwei Serviermädchen, die ihr das Essen und Tee brachten, niemand auf. Keine Spur von Tatjana, niemand, der ihr gesagt hätte, ob Anja Wirubowa lebte oder tot war; der Katharinenpalast war genauso still wie in den Jahren vor dem Krieg. Sie blickte auf die Uhr, die an ihrem Schürzenlatz befestigt war. Wenn Rasputin tatsächlich im »Hotel Europa« -154-
war und nicht irgendwo in der Stadt zechte, konnte er jetzt bald eintreffen. Olga überquerte den breiten Treppenabsatz und öffnete leise den kleinen Laden des dichtverhangenen Fensters. Es war eine sternklare Nacht, und man konnte die Parkanlagen mit ihren verschneiten Bäumen und den zum Schutz gegen den strengen Frost mit Holzverschalungen versehenen Pavillons, Statuen und Badehäusern der Romanows weithin überblicken. Einer der kaiserlichen Wagen näherte sich auf der Einfahrt, wo selbst die Räder der Ambulanzen die Schneekruste nicht durchbrochen hatten, und hielt genau unter Olgas Fenster, vor den Stufen, die zum Hauptportal des Palastes führten. Von peinlichen Ahnungen erfüllt, beobachtete sie, wie Rasputin ausstieg. Er war offenbar wirklich im »Europa« gewesen, denn er kam nicht in der derben bäuerlichen Kleidung, die seinen kaiserlichen Gönnern so gut gefiel, sondern in einer langen Tunika aus purpurfarbener Seide mit juwelenbesetztem Gürtel, Kniehosen aus feinem Tuch und hohen Stiefeln aus teurem Leder. Sein langes schwarzes Haar glänzte im Licht der Sterne vor Brillantine. Hochgewachsen und hager stand er auf der untersten Stufe, blickte zu dem prächtigen Palast hinauf, als gehöre er ihm, und breitete die Arme aus wie ein gigantischer leuchtender Vogel seine Flügel. Olga dachte zuerst, er wolle eine segnende Geste proben. Es schien aber eher ein Versuch zu sein, das Gleichgewicht zu halten, denn als nun ein Lakai vom Wagen sprang, um eine Pelz-Schuba um Rasputins Schultern zu legen, schwankte der Mönch und griff nach dem Arm des Bediensteten. Den wachsamen blauen Augen am Fenster konnte es nicht entgehen, daß der heilige Mann betrunken war. Eine ganze Weile später ließ Nikolaus II. seine ältesten Töchter in sein Arbeitszimmer rufen und beschrieb ihnen das Wunder, das »der Mann Gottes« an seinem Sterbebett gewirkt hatte. Die Zarin, der man ein starkes Mittel verabreicht hatte, lag -155-
bereits in tiefem Schlaf, und die beiden Mädchen waren von ihrem langen Tagewerk und vor allem von der Nervenkrise ihrer Mutter sehr erschöpft; nur der sonst so gelassene Zar zeigte eine ungewöhnliche Erregung, als er erzählte, wie Rasputin in Anja Wirubowas Zimmer trat und niemanden außer der bewußtlosen Frau auf dem Krankenhausbett beachtete. »Die arme Mama kniete vor ihm nieder und wollte seinen Ring küssen«, berichtete Nikolaus II. »Aber weder segnete er sie, noch nannte er sie ›Matuschka Zarin‹ (Mutter Kaiserin), wie er es sonst tat. Auch zu mir sagte er nicht ›Väterchen‹, und er verneigte sich nicht einmal; er heftete lediglich seine brennenden Augen auf Anja und streckte seine wunderschönen langen Hände aus. Dann rief er sie dreimal beim Namen: ›Anuschka?‹ Ihre Augen öffneten sich, und sie erkannte ihn. Sie flüsterte: ›Vater Grigorij‹ und er sagte ›Steh auf!‹« »Er sagte nicht zufällig ›Steh auf, nimm dein Bett und wandle‹?« fragte Olga, und Tatjana beeilte sich, die schnippische Äußerung ihrer Schwester zu bemänteln. »Aber die arme Anja konnte nicht aufstehen, oder, Papa?« sagte sie. »Diese idiotischen Ärzte behaupteten, sie würde sich nie wieder bewegen können. Doch beim Klang seiner Stimme hob sie ihren Kopf und ihre Schultern von dem Kissen, und sie lächelte sogar. Einer der Ärzte trat vor, um ihren Puls zu fühlen, und die arme Mama stand auf und versuchte zu sprechen. Dann sagte Vater Grigorij: ›Sie werden sie behalten. Rußland braucht sie noch!‹und lehnte sich mit schweißüberströmtem Gesicht an die Wand. Ich fürchtete schon, als nächster würde er das Bewußtsein verlieren...« »Ich hoffe, man hat ihm etwas zu trinken gegeben«, warf Olga ein. »Sie brachten ihm Wein in das Vorzimmer, und Mama und ich sprachen ein Dankgebet mit ihm. Oh, wie dankbar wir der -156-
göttlichen Fügung sein sollten, die ihn im letzten Sommer vor dem Tod bewahrt hat! Mir mögen in meinem Leben viele Leiden aufgebürdet worden sein, aber heute nacht wurde mir die Gnade zuteil, Zeuge eines Wunders zu werden.« Die Töchter küßten ihrem Vater die Hand und gingen beinahe wortlos zu Bett. Tatjana schlief sofort ein, doch Olga lag noch eine Stunde wach und versuchte sich auszudenken, welche Folgen dieser neue Sieg Rasputins für sie alle nach sich ziehen konnte und was wohl die Untersuchung des Zugunglücks zutage fördern würde. Sie wäre vielleicht weniger beunruhigt gewesen, wenn sie gehört hätte, was der Arzt, der sich so barsch über die Lazarettdisziplin geäußert hatte, zu einem Kollege n über Rasputins »Wunder« sagte: »Es war der eindeutigste Fall von Hypnose, den ich je gesehen habe.« Ob hypnotisiert oder nicht, Anja Wirubowa genas. Man brachte ihr behutsam bei, daß sie auch nach ihrer Entlassung noch Wochen in einem Rollstuhl verbringe n müsse; daß sie ihre ersten Gehversuche an Krücken machen müsse und vielleicht nie mehr ohne Stock auskommen werde. Anja nahm den Urteilsspruch mit frommer Resignation hin. Sie genoß nun die uneingeschränkte Aufmerksamkeit, ja sogar die zärtliche Fürsorge Alexandra Feodorownas, und trotz der Schmerzen, die ihr die schweren Verletzungen verursachten, strahlte ihr feistes Gesicht vor Freude, wenn sich die Zarin mit einer Schale und einem Löffel neben sie setzte und sie genauso zärtlich fütterte, wie sie ihre eigenen Kinder gefüttert hatte. Jedes Bett im Lazarett wurde für die Verwundeten gebraucht, und sobald es möglich war, wurde Anja mit einer Ambulanz in ihr kleines Haus gebracht, wo eine aus dem Krankenhaus abberufene Nonne, Schwester Akulina, ihre Pflege übernahm. »Unsere Liebe Frau von der Allee« war nun nur noch von Anhängern Rasputins umgeben, denn auch Schwester Akulina verehrte ihn, weil er sie einmal von nervösen Zuckungen geheilt -157-
hatte, als er ihr Kloster in Jekaterinburg besuchte. Dazu gesellte sich Peter Badmajew, ein von Rasputin herbeigeholter Kräuterspezialist, von dem es abwechselnd hieß, er stamme aus Sibirien, aus der Mongolei oder sogar aus Tibet; auf jeden Fall verabreichte er Anja verschiedene seiner Elixiere aus wildwachsenden Pflanzen und Kräutern. Anastasia, die erste der Großfürstinnen, die ihn kennenlernte, berichtete Olga, er sei ein komischer kleiner Mann mit einem hohen spitzen Hut, und er habe sie einen Tropfen von irgendeinem dunkelgrünen Saft Schwarzlotusessenz nannte er ihn - versuchen lassen, der sie in einen ganz sonderbaren Zustand versetzte. »Ich glaube nicht, daß Mama und Papa ohne Dr. Botkins Wissen und Billigung so ein undefinierbares Zeug trinken würden.« »Oh, Papa hat auch davon getrunken! Ein Weinglas voll, und es schmeckte ihm. Peter Alexandrowitsch sagt, daß er damit viel ruhiger schlafen wird, wenn er an der Front ist.« Olga sparte sich jede weitere Bemerkung. Sie hatte das Empfinden, daß sich da eine höchst wunderliche neue Gruppe in dem kleinen Haus an der Allee zusammengefunden haben müsse, dem der Zar und die Zarin allabendlich einen Besuch abstatteten. Olga war zu gutherzig, als daß ihr Anja, die mit ihren plumpen, jetzt so verzerrten Gliedern eine groteske Figur auf dem Sofa abgab, nicht leid getan hätte, aber sie meinte jedesmal, sie müsse ersticken, wenn sie länger als zwanzig Minuten in dem schlechtbeheizten Wohnzimmer zubrachte, wo der kalte Rauch unzähliger Zigaretten in der Luft hing und drei der vier Wände mit vergrößerten Momentaufnahmen des Zaren, die Anja selbst gemacht hatte, förmlich tapeziert waren. Was Alexis betraf, so durfte er Anja überhaupt nicht besuchen, obwohl sie flehentlich darum bat. Er war selbst so oft krank gewesen, daß er sich dem Leiden anderer gegenüber sehr empfindlich zeigte und zweifellos in bittere Tränen ausgebrochen wäre, wenn er sie in den ersten Wochen nach dem -158-
Unglück gesehen hätte. Der Junge wirkte nun gesund und kräftig, und er wuchs sehr schnell. Er erhielt inzwischen Englisch- und Balalaikaunterricht und vergnügte sich draußen im Schnee, wo er besonders gern mit einem erbeuteten deutschen Maschinengewehr spielte, das ihm der Oberkommandierende in den ersten Kriegstagen übersandt hatte. Die spürbare Besserung seines Gesundheitszustandes war das Erfreulichste, was Januar und Februar brachten, denn die militärische Lage verschlechterte sich an allen Fronten. Die Duma, empört über die Unzulänglichkeit derer, die russische Truppen unbewaffnet in den Tod schickten, rief nach der Schaffung eines Kriegsrates auf breiter Grundlage, dem Abgeordnete, Bankiers, Industrielle und Vertreter des Kriegsministeriums angehören sollten. Die Duma und der Zar waren schon seit langem unversöhnlich, um so mehr, als die Zarin ihrem Gatten immer wieder vorhielt, daß das Manifest, das die Duma ins Leben rief, auf Grund des Blutsonntags gewaltsam von ihm erpreßt worden sei. In den Augen Gottes sei er noch immer der Autokrat, als den man ihn gesalbt und gekrönt hatte. Sie sagte ihm noch vieles andere in den Wochen, die Rasputins »Wunder« folgten, und sie beschränkte sich jetzt nicht mehr auf die Stunden, in denen sie mit ihrem Gatten allein war, sondern äußerte ihre Kritik auch ganz unverhüllt in Gegenwart der peinlich berührten Mädchen. Zunächst bekrittelte sie wie üblich verschiedene Mitglieder der Familie. Zum Beispiel tadelte sie, daß Nikolaus II. bei Kriegsbeginn seinen Bruder Michael nach Rußland zurückgerufen hatte. Großfürst Michael hatte wegen einer morganatischen Ehe im Exil gelebt, was an sich bei den Romanows durchaus nichts Ungewöhnliches war. In seinem Fall kam aber noch hinzu, daß seine Frau, die Gräfin Brassowa, vor der Geburt des aus der Verbindung mit ihm hervorgegangenen unehelichen Kindes bereits zwei Scheidungen hinter sich gebracht hatte. Jetzt kommandierte Mischa eine Division im -159-
Kaukasus. So verfolgten die jungen Großfürstinnen Wintertag für Wintertag am Familientisch den Entwicklungsprozeß eines pathologischen Falls von Mißgunst. Der Zar ertrug dies alles einigermaßen gelassen, bis der Tag kam, an dem es die hysterische Frau auf Mala Kschessinskaja abgesehen hatte. Sowohl die Duma als auch die Boulevardpresse zogen in zunehmendem Maße gegen den Kriegsminister zu Felde, der für die erschreckend unzulängliche Versorgung der Truppen, denen es an Munition, Geschützen und sogar an Verpflegung und Bekleidung fehlte, verantwortlich gemacht wurde. Doch der Kriegsminister war ein großer Bewunderer Rasputins und deshalb in den Augen der Zarin über jeden Zweifel erhaben. Sie verlangte rundheraus, der Justizminister solle ein Verfahren gegen gewisse Personen einleiten lassen, die Bestechungsgeschenke dafür akzeptiert hätten, daß sie verschiedenen russischen und ausländischen Firmen Rüstungsaufträge vermittelten. Und zu diesen Personen, so behauptete sie, zähle auch Madame Mathilde Kschessinskaja. Der Zar legte seine Serviette nieder (sie waren noch nicht ganz mit dem Mittagessen fertig) und sagte: »Ich glaube wirklich nicht, daß das wahr ist, Alice. Die Kschessinskaja hat es nicht nötig, Bestechungsgeschenke anzunehmen, sie gehört zweifellos zu den bestbezahlten Tänzerinnen der Welt.« »Es erfordert einigen Mut, in ihrem Alter noch immer aufzutreten«, fuhr die Zarin fort. »Vielleicht bekommt sie eben von ihrem Gönner, deinem Vetter Andrej, doch nicht ganz soviel Geld, wie sie braucht.« »Sie hat im Juli in Krasnoje Selo wie ein Engel getanzt«, warf Olga ein, und ihr Vater schenkte ihr einen dankbaren Blick. »Ich glaube nicht, daß solche Details zwei sehr junge Mädchen interessieren können«, sagte er dann zu seiner Gattin, obwohl Marie, ihren großen Augen nach zu schließen, sehr darauf bedacht war, sich kein Wort entgehen zu lassen. »Hast du -160-
irgendwelches schriftliches Beweismaterial für den Empfang von Bestechungsgeschenken - Namen, Daten, Orte und so etwas?« »Man braucht keine Beweise, wenn eine Angelegenheit so allgemein bekannt ist wie diese!« »Ich fürchte«, erwiderte der Zar, »du wirst feststellen müssen, daß du dem Justizminister doch etwas vorlegen mußt, bevor du ihn dazu überreden kannst, gerichtlich gegen deine ›gewissen Personen‹ vorzugehen. Was Mala Kschessinskaja anbetrifft, so befaßt sie sich nicht mit Geschäften, und schon gar nicht mit fragwürdigen. Ich erinnere mich noch an den Abend, an dem ich sie zum erstenmal gesehen habe... lange vor unserer Heirat, Alice... Sie war damals ein bezauberndes achtzehnjähriges Mädchen, und mein Vater sagte zu ihr: ›Seien Sie die Zierde unseres russischen Balletts!‹Und genau das und nichts sonst ist sie immer gewesen, bis heute.« Er erhob sich mit einer Verbeugung vor semer Frau und ging in sein Arbeitszimmer, und die Mädchen verschwanden eilig, um sich wieder ihren jeweiligen Beschäftigungen zuzuwenden. Doch als der Zar am Abend zur Front abreiste, küßte er seine älteste Tochter besonders zärtlich, und sie wußte, daß ihre wenigen unbeholfenen Worte sein Herz berührt hatten. Seine Gedanken mußten wohl auch auf seiner Fahrt nach Polen vorwiegend ihr gegolten haben, denn sein erster Brief von der Front enthielt eigentlich nur eine Botschaft für Olga und ließ, obwohl er an sich an die Zarin gerichtet war, alle üblichen Zärtlichkeiten und versteckten Anspielungen erotischer Natur so vollständig vermissen, daß Alexandra Feodorowna ihn sofort Olga und Tatjana zeigte. Meine geliebte Sunny, (schrieb der Zar aus Warschau) ich wünschte, Du würdest das Rote Kreuz des Zemstvo anweisen, sich unverzüglich um die Situation unserer Verwundeten in dieser Region zu kümmern. Bei meiner Ankunft in Warschau mußte ich mit Entsetzen feststellen, daß fast zwanzigtausend -161-
Verwundete aus den letzten Schlachten schon tagelang ohne jede Betreuung auf dem Gelände des Wiener Bahnhofs umherlagen. Ich beorderte sofort alle verfügbaren Ambulanzzüge hierher, und in Olgas Zug, der zufällig als erster eintraf, ließ ich verschiedene mir bekannte verwundete Offiziere legen, so auch Olgas Verehrer von der Standart, Leutnant Simon Hendrikow. Er hat eine schwere Brustverletzung, und die Ärzte sehen wenig Hoffnung für ihn, aber der Zug fährt durch bis Zarskoje Selo, und vielleicht könnt Ihr ihn wieder zusammenflicken. Der Kurier muß jetzt fort. Ich schreibe morgen wieder. Dein Dich liebender alter Ehemann Nicky.
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8 Olga war dankbar, daß der Brief erst spät am Abend eintraf, so daß sie bald Gelegenheit hatte, allein zu sein. Während sich der Zar im Hauptquartier aufhielt, mußten die zwei älteren Töchter abwechselnd bei ihrer Mutter in deren großem Doppelbett schlafen. Das Schlafgemach im Erdgeschoß war für das russische Blut der Mädchen zu kalt, denn die Zarin hatte genau wie ihre Großmutter, Königin Victoria, eine Vorliebe für kühle und zugige Räume; außerdem wurden sie nachts sehr oft wach, wenn sich die nervöse Frau unruhig von einer Seite auf die andere drehte oder auf Zehenspitzen in der Privatkapelle ein und aus ging, zu der die Tür rechts neben dem Bett führte. In dieser Nacht war Tatjana an der Reihe, so daß Olga wenigstens der eine Trost blieb, allein in einem warmen Zimmer sein zu können. Die Tür des Porzellanofens stand offen und zeigte brennende Birkenklötze, und das Schnarchen der Bulldogge Ortipo war der einzige Laut in der stillen Februarnacht. Ein hartes Kissen im Rücken, saß sie in dem schmalen Bett, das ihr die Tradition vorschrieb, und dachte an den Lazarettzug, der von ihrem Geld gekauft worden war und ihren Namen trug und nun durch die schneebedeckte polnische Landschaft nach Rußland fuhr. Sie dachte an den jungen Offizier, der ihr sechs Monate zuvor zum Abschied die Hand geküßt hatte und von dem sie nichts gehört, nichts in Erfahrung gebracht hatte, bis er jetzt durch eine glückliche Fügung zu ihr zurückkam. Wenn er überhaupt noch zu ihr zurückkam wenn sich die Ärzte, wie in Anjas Fall, hinsichtlich seiner Überlebenschancen getäuscht hatten. Olga Nikolajewna hatte inzwischen schon viele Formen des Todes kennengelernt. Das erste Mal eine besonders grausige, als sie im Operationssaal zuschauen mußte, wie durch eine heftige Hämorrhagie, bei der das Blut über den Tisch und die sterilen -163-
Tücher schoß, das Leben eines Soldaten ausgelöscht wurde. Das war Ende November gewesen, und seitdem hatte sie andere langsamer und ruhiger sterben sehen und dabei oft das Gefühl von etwas absolut Unwirklichem gehabt, wenn der Tod in die sauberen, gutbetreuten Säle kam, die so weit vom Schlachtfeld entfernt waren. Und Simon war unter jenen Verwundeten gewesen, die wie verendete Tiere tagelang ohne ärztliche Fürsorge auf einem Bahnhofsgelände umherlagen. »Wenn ich nur älter wäre«, dachte sie verzweifelt. »Wenn ich erreichen könnte, daß mehr getan würde!« Simon Hendrikows Bataillon war während des mißlungenen Vorstoßes im November zur Weichsellinie hinaufverlegt worden, und dort überlebten die Männer bis zu dem Gefecht, das ihre Zahl auf die einer Kompanie reduzierte. Er erinnerte sich noch genau, wie man ihn nach Warschau transportiert und auf den Boden eines ehemaligen Bahnhofswartesaals gelegt hatte, und er nahm an, daß er anschließend in einem Zug von dort weggebracht worden sein mußte. Doch von dieser Fahrt war ihm außer Schmerzen und Gerüttel und einer kühlen Flüssigkeit, die ab und zu an seinen Mund gehalten wurde, nichts gegenwärtig. Er nahm seine Umgebung erst wieder wahr, als er in einem sauberen, von weißen Musselinwandschirmen umstellten Lazarettbett lag, über sich eine hohe Decke, auf der sich ein milchiger Schwarm nackter Liebesgötter und Grazien tummelte. Seine rechte Schulter und der Arm waren zersplittert, und seine Brust war fest bandagiert, aber er hatte einen ziemlich klaren Kopf. »Wo bin ich?« fragte er den Mann, der, ein Stethoskop um den Hals, in einem weißen Kittel vor ihm stand. »Im Katharinen-Lazarett in Zarskoje Selo.« »Von Warschau hat man mich hierher gebracht? Meine Familie...« »Ihre Angehörigen wissen, wo Sie sind, Leutnant. In ein oder -164-
zwei Tagen werden sie Sie besuchen können, wenn alles gutgeht.« »Warum... nicht schon heute?« »Sie müssen erst in einer besseren Verfassung sein. Machen Sie sich keine Sorgen, wir pflegen Sie gut. Sie stehen als PL auf meiner Liste, das bedeutet, Sie bekommen Vorzugsbehandlung, Leutnant Hendrikow.« »Was heißt PL?« »›Palast-Liebling‹. Auf Anordnung des Zaren in Großfürstin Olgas Lazarettzug hierhergebracht, dazu noch alle paar Stunden besorgte Anfragen seitens der höchststehenden Damen des Landes - wir kennen das! Ich werde Sie jetzt abhorchen, und dann können Sie weiterschlafen,« Er setzte das Stethoskop an verschiedene Stellen der bandagierten Brust an und nickte. »Sie haben Glück gehabt. Die Kugel hat wohl Ihr Schulterblatt zerschmettert, Ihre Lunge aber nicht getroffen. Eine Zeitlang werden Sie mit dem Arm vermutlich Ärger haben, doch das geht vorüber. So, und jetzt wird Ihnen Schwester Vera noch ein bißchen flüssige Nahrung einflößen. Auf Wiedersehen.« Eine kleine dunkelhaarige Schwester hielt eine Schnabeltasse mit etwas Weichem, Warmem darin an seine Lippen, und während er ihr noch zu sagen versuchte, daß sie genauso hieß wie seine Mutter, lösten sich mit einemmal alle Wahrnehmungen in Nebel auf, aus dem er erst durch ein kühles feuchtes Tuch auf seiner Stirn und das Gefühl, daß sich jemand an seinen Bandagen zu schaffen machte, wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte. Er öffnete die Augen und sah eine grauhaarige Oberschwester, die gerade dabei war, das sterile Verbandszeug abzunehmen. »Ich fürchte, das wird unangenehm, Leutnant«, sagte sie nicht unfreundlich. Die übliche Behandlung einer von Sepsis bedrohten Wunde bestand dann, sie mit einem Band -165-
auszustopfen, das mit einem Desinfektionsmittel getränkt war. Simon verbiß mühsam ein Stöhnen. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und durch diesen Schleier hindurch meinte er jetzt ein bekanntes Gesicht zu sehen. Es verknüpfte sich mit den Worten des Arztes »Großfürstin Olgas Zug«, und Simon fragte vorfühlend: »Prinzessin?« »Bitte sprechen Sie vorläufig nicht«, sagte die Oberschwester. »Das Verbandszeug, Schwester.« Doch als die Wunde zufriedenstellend versorgt war, verschwand sie sofort, und die junge Schwester beugte sich über Simon und flüsterte: »Ich bin Tatjana Nikolajewna. Meine Schwester und ich freuen uns sehr, daß Sie außer Gefahr sind!« »Ist sie hier? Die Prinzessin?« »Sie wird Sie morgen früh besuchen. Versuchen Sie jetzt ein bißchen zu ruhen.« Er ruhte, nahm ein bißchen feste Nahrung zu sich, döste eine Weile, bat darum, rasiert zu werden, was man ihm abschlug, schlief wieder. Und am Morgen war sie da, und er träumte nicht. Seine Prinzessin, weiß gekleidet, genauso, wie er sie in Erinnerung hatte, stand neben seinem Bett. »Wie geht es Ihnen, Simon Karlowitsch?« Es war eine überaus konventionelle Begrüßung, aber ihre Lippen bebten, und Simon brachte kein Wort heraus und bewegte lediglich in einer bittenden Geste seine linke Hand. Olga erriet, was er wollte, und legte ihre Hand in die seine, damit er sie an die Lippen führen konnte; er küßte die Handfläche und die Finger, die ein wenig rauher waren als früher. Sie streichelte seine unrasierte Wange, und Simon flüsterte: »Mein Liebling... duschenka moya,...« Dann sah er ihre Tränen und verstummte wieder. Doch das war der einzige schwache Augenblick. Als sie am nächsten Morgen kam, fühlte sich Simon besser, zumal man ihn rasiert hatte, wofür er dankbar war, denn Olga erschien in -166-
Begleitung der Zarin. Alexandra Feodorowna sah schlechter aus als manche Patienten und stützte sich schwer auf einen Stock. »Mein armer Junge«, sagte die Zarin in dem mütterlichen Ton, den ihre Kinder so liebten, wenn sie krank waren, »Sie tun uns allen so leid! Und wir freuen uns sehr, daß Sie heute nicht mehr auf der Liste der kritischen Fälle stehen!« »Dank Ihrer Kaiserlichen Majestäten«, antwortete Simon mit einer schwachen Kopfbewegung, die eine Verbeugung andeuten sollte. »Haben Sie große Schmerzen in der Schulter?« »Ich spüre eigentlich gar nicht viel, Madame.« »Und was macht Ihr Arm?« »Ich kann ihn noch nicht bewegen, aber die Ärzte meinen, das komme schon noch.« »Natürlich. Und jetzt eine freudige Überraschung. Ihre Mama wird bald hier sein. Ich habe vor einer halben Stunde einen Wagen nach Petrograd geschickt, der sie abholen wird.« »Ich weiß nicht, wie ich Eurer Majestät für soviel Güte danken soll.« »Es versteht sich, daß wir uns um unsere alten Freunde von der Standart in ganz besonderem Maße kümmern.« Er war ein »Palast-Liebling«, kein Zweifel. Simon las es seiner Mutter von den Augen ab, daß auch sie so dachte, als sie ihm von dem Telefonanruf einer Hofdame berichtete und von der Limousine mit dem Lakaien, der ihren Portier so beeindruckt hatte, und von dem liebenswürdigen Versprechen, daß sein Vater und Dolly am nächsten Tag zu ihm gebracht würden. Mit keinem Wort - und dafür war Simon ihr dankbar erwähnte Madame Hendrikowa den langen Winter voller Unruhe und Sorge und die schreckliche Angst, die sie nach den letzten Kämpfen an der Weichsel um ihn gehabt hatten; nein, Simon war auf dem Weg der Besserung, Gott sei Dank, sie -167-
konnten nun zuversichtlich in die Zukunft blicken. Doch nach diesem hoffnungsvollen Anfang erlitt Simon einen Rückfall, und ein paar Tage, in denen er von Schmerzen und Fieber geplagt wurde, verstrichen, bevor sein Vater und Dolly ihn besuchen konnten. Dolly war zu diesem Zweck vom Unterricht befreit worden und genoß die prächtige Umgebung des Palastlazaretts, so wie sie einst den Luxus des Restaurants »Europa« genossen hatte. Sie konnte es kaum erwarten, die Schule zu verlassen und Verwundete zu pflegen. »Das ist eine widerliche, schmutzige Beschäftigung, Dolly, du würdest es nicht lange aushalten.« »Andere Mädchen halten es aus, warum dann nicht auch ich?« »Das heißt wohl, daß sich Mara Trenowa inzwischen als Krankenschwester betätigt und du ihr nacheifern willst...« »Mara? Nein, sie hat eine Stellung angenommen. Ich habe sie zu Weihnachten gesehen, und sie sagte, daß sie furchtbar viel Arbeit hat. Und einmal begegnete sie mir auf dem Newski Prospekt mit einem älteren Mann, der ein hartes, schroffes Gesicht hatte - sie war so damit beschäftigt, auf ihn einzureden, daß sie mich gar nicht bemerkte.« »Mir tut die arme kleine Frau so leid, ihre Mutter«, sagte der Professor. Dann schwieg er wieder, während Dolly schwatzte, und hatte nur Augen für seinen Jungen. So erkannte er die junge Schwester, die leise hereinkam, zuerst auch gar nicht, bis er seine Tochter aufstehen und in einen tiefen Knicks versinken sah. Nun erhob er sich hastig und verbeugte sich, und Simon sagte: »Eure Kaiserliche Hoheit, darf ich Ihnen meine Schwester Darja und meinen Vater, Professor Hendrikow, vorstellen?« »Ich freue mich so sehr, Sie beide kennenzulernen«, versicherte Olga mit einem Lächeln. »Bitte verzeihen Sie die Störung. Unsere Chefchirur gin schickt mich, Professor. Sie -168-
möchte Sie gern sehen, bevor Sie abfahren.« »Oh, es ist also eine Dame, die diesen Posten bekleidet, Madame?« »Eine sehr gescheite und fähige Dame.« »Ich hoffe doch, sie hat keine schlechten Nachrichten für uns?« »Bestimmt nicht.« Olga lächelte. »Der Leutnant macht jetzt sehr gute Fortschritte. Aber, Darja Karlowna!« wandte sie sich nun an das errötende Mädchen. »Wir haben uns doch schon einmal gesehen! Waren Sie es nicht, die mir einmal eine Geldspende von den Mädchen der Xenia-Schule überreichte?« »Ja, das war ich, Eure Kaiserliche Hoheit«, stammelte Dolly ein wenig aufgeregt, und ihr Bruder kam ihr zu Hilfe. »Dolly beneidet die jungen Schwestern hier, Madame. Sie scheint selbst Ambitionen in dieser Richtung zu haben.« »Wirklich?« fragte Olga. »Aber Sie sind doch noch in der Schule?« »Ich werde im März achtzehn, Eure Kaiserliche Hoheit, und mein Vater ist damit einverstanden, daß ich zu Ostern von der Schule abgehe, wenn ich alle meine Prüfungen bestehe.« »Dann wollen wir sehen, was sich zu Ostern tun läßt«, sagte Olga. »Sie möchten doch sicher gern, daß Darja Karlowna in Ihrer Nähe bleibt, Professor? Mein Vetter Dimitrij Pawlowitsch hat seine Residenz am Palastkai dem Britischen Roten Kreuz zur Verfügung gestellt, und ich weiß, daß die englischen Damen, die das Haus leiten, russische Lernschwestern suchen. Gestatten Sie, daß ich sie dort empfehle - wenn sie ihr Examen besteht?« Es wurde mit jenem Lächeln gesagt, das Simon so liebte, einem frischen, unbekümmerten Lächeln, das die ebenmäßigen Züge in dem hübschen russischen Gesicht aufblitzen ließ, und Olga wehrte alle Dankesbezeugungen ab. »Der Wärter im Korridor wird Sie zur Chefchirurgin führen, wenn die -169-
Besuchsstunde vorbei ist«, schloß sie. »Guten Abend Ihnen allen!« »Ist sie nicht bezaubernd?« flüsterte Dolly, als die leichten Schritte im Saal verhallten. »In der Tat, in charmanterer Verpackung ist bestimmt noch kein Romanow aufgetreten«, sagte ihr Vater. »Pflegt sie dich selbst?« wollte Dolly von Simon wissen. »Gott behüte!« Simon schloß die Augen. Es war schon schlimm genug, daß Tatjana Nikolajewna zweimal täglich neben seinem Bett stand und bei dem schmerzhaften Ausstopfen der Wunde half. Doch Olga, in Peinlichkeiten wie Bettpfannen und feuchte Abreibungen verwickelt, war schlechthin unvorstellbar. Professor Hendrikow fand, sie ermüdeten den Jungen. Er forderte Dolly auf, ihren Bruder zu küssen, und ließ sie dann in einem Vorzimmer warten, während er die Chefchirurgin aufsuchte. In ihrem Arbeitszimmer, einem kleinen Empfangsraum Katharinas der Großen, dessen barocke Pracht einen sonderbaren Kontrast zu dem modernen Schreibtisch und den Aktenschränken bildete, eröffnete ihm die Ärztin, daß der rechte Arm seines Sohnes im Augenblick völlig paralysiert sei, diese Lähmung jedoch, sobald die Wunde hinlänglich ausgeheilt sei, durch »Elektrotherapie« beseitigt werden könne. »Es ist ein neues Verfahren, zumindest für Lazarette«, sagte sie. »Um der Form zu genügen, hätte ich gern Ihre Einwilligung zu seiner Anwendung bei Leutnant Hendrikow.« »Ich willige in alles ein, was ihm hilft. Ein elektrisches Verfahren, wie? War es nicht sehr schwierig, so einen Apparat in einem Palast aus dem achtzehnten Jahrhundert zu installieren?« »Es gab einige Probleme«, antwortete die Ärztin, »doch unsere technische Abteilung löste die meisten von ihnen innerhalb der ersten drei Monate.« -170-
»Ich wünschte eigentlich, ich hätte den Katharinenpalast einmal in seinem ursprünglichen Zustand sehen können.« Der Professor zögerte. »Ihn als Lazarett auszugestalten muß ein Vermögen verschlungen haben... Ist es auf Staatskosten geschehen?« »Ganz und gar auf Kosten Ihrer Kaiserlichen Majestäten.« Am nächsten Morgen wurde Simons Bett aus der abgeschirmten Nische hinausgerollt und war jetzt eines von zwölf Betten, die in zwei Reihen zu je sechs in einem langen Saal standen. Hier hatte er zwar Gesellschaft, dafür aber keine speziellen Privilegien mehr, was den Empfang von Besuchern sei es aus der kaiserlichen Familie oder seiner eigenen anbelangte. Die einzige Anspielung darauf, daß er noch immer als »Palast-Liebling« galt, kam von dem Arzt, der ihm diesen Spitznamen gegeben hatte. Er bemerkte bei seiner ersten Visite, als er sich schon zum Weitergehen anschickte: »Falls Sie hypnotische Behandlung wünschen, Leutnant - wir haben eine direkte Verbindung zu Rasputin.« Der Mann in dem Bett links von Simon kicherte, sein rechter Nachbar sagte »Pst!«, und der Arzt war schon außer Hörweite, bevor Simon eine passende scharfe Erwiderung einfiel. Er kannte die Gerüchte, die über Rasputin und die Zarin im Umlauf waren - wer hätte sie nicht gekannt? -, aber er hatte nie erwartet, hier, in einem kaiserlichen Palast, derartige Verhöhnungen zu hören, denen man in den Kasernen der Marinegarde mit gezogenem Säbel begegnet wäre. Er selbst war ein Muster an erstarrtem Respekt, als die Zarin, müde und hinkend, ihre nächste Runde in den Sälen machte. So liebevoll und mütterlich sie sich geben konnte, wenn sie sich einem vom Tod bedrohten Einzelfall gegenüberfand - hier in diesem großen Saal ließ ihre unüberwindlich steife, reservierte Art keinen echten Kontakt entstehen. Simon Hendrikow konnte nicht umhin, an die -171-
Schwerverwundeten im Warschauer Bahnhof zu denken, die sich hochgerafft hatten, um den Schatten des Zaren zu küssen. Alexandra Feodorowna war auch als Krankenschwester immer die Kaiserin, die er aus Livadia und von der Standart kannte. Sie hatte das gleiche verkrampfte Lächeln für jeden Mann, mit dem sie sprach, und die gleichen mechanischen Worte... »Fühlen Sie sich heute ein kleines bißchen wohler?« Simon sah, wie sich ein paar von den Männern hinter ihrem Rücken zublinzelten. An diesem Morgen verteilte sie auch Heiligenbilder, die von ihr und ihren Kindern signiert waren, und hatte sogar auf eine Übereinstimmung mit den Namen der Patienten geachtet. Simon war gerührt, als er ein Abbild des Apostels Simon in Empfang nahm, und lehnte es gegen eine kleine Blumenvase auf seinem Nachttisch. Die Großfürstinnen wurden offenbar ganz von anderen Pflichten in Anspruch genommen, denn Olga begleitete ihre Mutter nicht mehr, und Schwester Vera übernahm es, Simons Wunde auszustopfen. Je kräftiger er wurde, desto unglaublicher kam es ihm vor, daß Olga einmal seine hagere Wange gestreichelt und ihm gestattet hatte, sie »Liebling« zu nennen. Den ganzen Winter hindurch im Schnee und Schlamm der Front war sie die Verkörperung seines romantischen Idealismus gewesen; er hatte an sie geglaubt wie an einen guten Geist. Doch inzwischen hatte er sie wiedergesehen, und sie war weder ein überirdisches Wesen noch eine Prinzessin, sondern ganz einfach eine müde junge Krankenschwester mit einer fleckigen Schürze und einem nicht ganz blütenweißen Schleier, und in Simon Hendrikow regte sich wieder Sehnsucht, und die Tage ohne sie kamen ihm endlos vor. Bald war er so weit gediehen, daß er in einem Rollstuhl sitzen konnte, und nun verbrachte er die Vormittage in einem ovalen Raum, aus dessen hohen Fenstern man einen Blick auf die Allee hatte, die vom Haupteingang zum Palast führte. Hier konnten sich bis zu fünfzig Männer um runde Tische versammeln, auf -172-
denen Schachbretter, Dominosteine und Spielkarten auslagen. Die meisten unterhielten sich allerdings lieber, und natürlich wurde häufig vom Krieg gesprochen. Der Ton war dabei eher resigniert als defätistisch, denn obwohl alle die Niederlage von Tannenberg vor Augen hatten, obwohl die hochlodernde Flamme des Patriotismus schon 1914 verloschen war, lag ein gewisser Optimismus in der Luft. Zwei Millionen neuer russischer Rekruten waren zu den Fahnen gerufen worden, und Großfürst Nikolaus plante einen neuen Vorstoß. Die Engländer und die Franzosen, unterstützt von Truppen aus dem britischen Empire, schickten sich an, Rußland im Türkeifeldzug zu Hilfe zu kommen, indem sie zum Schwarzen Meer vorrückten, und die Einnahme von Konstantinopel, die Verwirklichung des byzantinischen Traumes, schien nur noch eine Frage von Wochen zu sein. Als Simons elektrotherapeutische Behandlung begann, hatten die Russen die große österreichischungarische Festung Przemysl erobert, und in Petrograd läuteten erstmalig wieder die Siegesglocken. Die neue Elektrotherapieabteilung war in der CameronGalerie untergebracht worden, die Katharinas schottischer Architekt dem großen Palast angefügt hatte, und Olgas Krankensaal lag unmittelbar neben dem runden Vorraum mit den Porträts aus dem neunzehnten Jahrhundert, in dem die Patienten warteten, bis sie zur Behandlung aufgerufen wurden. Nachdem einmal die Zeiten festgesetzt worden waren, konnte Schwester Olga leicht für ein paar Minuten hinausschlüpfen und mit Leutnant Hendrikow plaudern, dessen Genesung inzwischen so gute Fortschritte gemacht hatte, daß er nun bereits fähig war in Uniform, den Arm in einer Schlinge -, zu Fuß aus seinem Saal herüberzukommen. Bei diesen kurzen Zusammenkünften knüpften sie an die freundschaftliche Beziehung an, die in Livadia zwischen ihnen entstanden war, mit dem Unterschied, daß es nicht mehr die hübsche Prinzessin und der elegante Leutnant waren, die -173-
miteinander sprachen, sondern zwei junge Menschen. Alle Etikette war vergessen, denn Olga beharrte darauf, daß Simon als Patient sitzenblieb, während sie neben der angelehnten Tür stand, »für den Fall, daß die Oberschwester plötzlich auftaucht«, wie sie sagte. Und jedesmal, wenn er in seinen eigenen Saal zurückging, bedauerte Simon Hendrikow aus vollem Herzen, daß sie nicht einfach Olga Romanowa hieß und es sich bei ihrer Romanze nicht um die simple Liebesgeschichte eines verwundeten Soldaten und eines Mädchens, das er im Lazarett kennengelernt hatte, handelte. Denn sie war und blieb Olga Nikolajewna, die älteste Tochter des Zaren. Alles in diesem prächtigen Palast ihrer Vorfahren rief ihm das mahnend ins Gedächtnis zurück. Selbst die Porträts aus dem neunzehnten Jahrhundert, die im Vorraum hingen, machten ihm bewußt, daß die Romanow-Linie dreihundert Jahre weit zurückreichte und Rußlands Ära größter Expansion und Macht umspannte. Eines oder zwei davon erinnerten Simon an Jakowlew, den Fregattenkapitän, der sich jetzt wahrscheinlich an Bord der Askelod vor der Insel Lemnos befand, denn der Kreuzer war Rußlands Beitrag zu dem Versuch der Alliierten, die Dardanellen zu erobern. Ja... jetzt war es ihm endlich gelungen, die Ähnlichkeit zu erfassen: Kapitän Jakowlew hatte manches von Alexander II., dem Zar-Befreier, und noch mehr vielleicht von Alexander III., Olgas Großvater. Nun, die Großfürsten hatten ihren Samen verschwenderisch über Rußland verstreut; es gab keinen Grund, weshalb Jakowlew kein illegitimer Romanow-Sprößling sein sollte. Doch Olga hatte kaiserliches Blut und gehörte zum engsten Kreis um den Thron. Ihr kaiserliches Erbe schien sie indessen wenig zu kümmern, als sie ihn an einem sonnigen Tag Ende März nach seiner elektrotherapeutischen Sitzung mit ihrer Frage überraschte: »Hätten Sie Lust, eine Ausfahrt mit mir zu machen, Simon -174-
Karlowitsch?« »Eine Ausfahrt? Heute morgen?« »Unsere Oberschwester hat mir einen halben Tag freigegeben, und die Ärzte sind damit einverstanden, daß Sie einmal nach draußen kommen. Ich wollte, wir könnten einen Schlitten und eine Troika nehmen, aber die Kälte und das Gerüttel wären vielleicht doch noch zuviel für Sie. Wir nehmen eine Limousine und fahren langsam in den Parks umher. Wenn Sie Lust haben, natürlich.« »Und ob ich Lust habe!« »Dann treffen wir uns in zwanzig Minuten auf der Rampe. Iwan wird sich um Sie kümmern.« Es gab immer einen Iwan in der Nähe, und wenn die Lazarettwärter auch keine weißen Handschuhe trugen wie die Lakaien des Palasts, so hatten sie doch für eine kaiserliche Hoheit stets dienstbereite Hände. Der Wärter holte Simons Uniformmütze und seine Handschuhe, ein schweres Lazarettcape, einen Schal und ein Paar Fell-Valenki für seine Schuhe, und schließlich, obwohl Simon protestierte, einen Rollstuhl, in dem Leutnant Hendrikow zum erstenmal seit vielen Wochen an die frische Luft gebracht wurde. Der große Wagen mit dem kaiserlichen Wappen an der Tür wartete auf der Rampe, die sich Katharina II. aus Bequemlichkeitsgründen hatte bauen lassen, als sie im Alter schwerfällig wurde, und Olga stieg aus, um Simon, den sein zersplitterter Arm behinderte, behilflich zu sein. »Drehen Sie das Fenster nach oben, Iwan«, befahl sie. »Der Leutnant soll sich nicht erkälten.« Dann wandte sie sich an den Chauffeur: »Fahren Sie sehr langsam durch die Parks und bringen Sie uns dann zum Lazarett zurück.« Bevor der Wärter die Tür schloß, stopfte er noch schnell zwei Kissen hinter Simons Schulter und Arm und legte eine pelzgefütterte Reisedecke über seine und Olgas Knie. Der -175-
schwere Wagen glitt die Rampe hinunter und begann seine Rundfahrt über die vorsorglich mit Sand bestreuten Wege. Die Sonne entlockte dem glitzernden Schnee irisierende hellgelbe und blaue Lichter; auf dem Boden war er noch hart gefroren, aber die Eishülle der Birkenzweige fing bereits zu schmelzen an, und man hörte Vogelgezwitscher. »Das ist zauberhaft«, sagte Simon Hendrikow. »Ich dachte mir, daß es Ihnen gefallen müßte. Haben Sie es denn bequem?« »Sehr, vielen Dank, nur daß ich wie ein Eskimo vermummt bin, gefällt mir nicht.« Olga lachte, »Wir dürfen bei Ihnen keine Erkältung riskieren. Waren Sie schon einmal in diesem Park? Vor dem Krieg war er bei bestimmten Gelegenheiten der Öffentlichkeit zugänglich.« »Ich war nur ein einziges Mal mit meinem Vater hier, als ich noch klein war. In Erinnerung blieb mir das ›Mädchen mit dem Krug‹ - aus Puschkins Gedicht.« »Mögen Sie Puschkin auch so sehr?« »Ja, obwohl ich in der Schule ungeheuer viel von ihm auswendig lernen mußte.« Eine Glasscheibe trennte sie von dem Chauffeur in der kaiserlichen Livree. Olga ergriff ein Sprachrohr und gab dem Mann die Anweisung, an der »Milchmädchen«-Statue vorbeizufahren. »Da ist sie, Ihre Puschkin-Heroine!« Doch Simon hatte keine Augen für das »Mädchen mit dem Krug«. Olga saß neben ihm, warm und lebendig; sie trug einen Zobelmantel über der weißen Tracht und eine spitze Zobelmütze. Impulsiv sagte er: »Sie sehen entzückend aus. Pelze kannte ich an Ihnen noch gar nicht.« »Es war Sommer, als wir uns kennenlernten, Simon Karlowitsch.« -176-
»Ja... in Livadia. Die Mütze erinnert mich ein wenig an jenen Morgen, an dem Sie auf den Paradeplatz von Krasnoje Selo ritten und Ihr Regiment in Hochrufe ausbrach...« Olga sagte leise: »Wissen Sie, daß die Husaren von Elisabethgrad in Tannenberg vollständig ausgelöscht worden sind?« Simon streckte ihr seine Hand entgegen, und sie legte ihre behandschuhte hinein. Sie seufzte, und ihr blasses Gesicht mit den dunklen Ringen unter den Augen wirkte so müde, daß ihm die Bemerkung entschlüpfte: »Sie sehen ungeheuer erschöpft aus.« »Was für ein nettes Kompliment.« »Es ist eines; ich weiß, daß Sie müde sind, weil Sie viel zuviel arbeiten. Wie viele Stunden haben Sie gestern im Lazarett zugebracht?« »Ich bin tatsächlich müde, und das ist auch der Grund, weshalb ich den halben Vormittag frei habe, aber es hat nichts mit dem Lazarett zu tun. Ich mußte gestern abend noch nach Petrograd, um meiner Schwester Tatjana zu helfen, und wir kamen erst kurz vor zwei Uhr zurück.« »Ihr helfen? Wobei?« »Sie ist Vorsitzende des Flüchtlingskomitees; das ist ein schreckliches Amt. Gestern nachmittag trafen so viele Flüchtlingszüge ein, daß das Komitee mit den Problemen einfach nicht mehr fertig wurde: die Notunterkunft am NarwaTor war überfüllt. Daraufhin ließen wir die Behelfskasernen auf der Godolai-Insel öffnen, und irgendwie beschafften sie ihnen Essen und Bettzeug.« »Wer sind ›sie‹?« »Ein paar Mitglieder des Komitees und verschiedene Amerikaner, die sich neuerdings dafür einsetzen. Von der amerikanischen Botschaft kam eine ganze Wagenladung voll -177-
Konserven, und ein Mr. Calvert vom Konsulat half bei der Verteilung. Er ist ungefähr so alt wie Sie.« »Ich glaube, ich kenne ihn. Joseph Calvert, dunkelhaarig, blasses Gesicht? Er nimmt bei meiner Mutter Russischunterricht.« »Tatsächlich? Er spricht sehr gut Russisch. Und er machte sich in den Kasernen ungeheuer nützlich - er gefiel mir.« »Aber ohne Sie und Tatjana Nikolajewna wären die Kasernen nicht geöffnet worden. Waren Sie beide denn die einzigen, die die Lage überblickten?« »O nein, nur... wenn wir da sind, philosophieren die anderen nicht soviel und sind dafür aktiver. Manchmal meine ich, wir Russen haben eine allzu ausgeprägte Vorliebe für große Reden auf Kosten der Taten.« »Sie sollten einmal eine der Abendgesellschaften meiner Eltern miterleben. Da wird unaufhörlich geredet!« »Wie schön wäre es, wenn ich kommen könnte! Ich möchte Ihr Petrograder Heim so gerne kennenlernen! Ist es so hübsch wie die Datscha?« Simon lächelte und schüttelte den Kopf. Der Wagen war inzwischen in den benachbarten Alexanderpark eingefahren, in dem der Wohnsitz der kaiserlichen Familie lag - ein Meisterwerk aus honigfarbenem Stein mit einem prunkvollen Portal, das man über eine kurze Freitreppe erreichte. »Im Sommer, wenn das Rotwild im Park umherstreift und die Schwäne auf dem See sind, ist es viel schö ner hier«, sagte Olga. »Meinen jüngeren Geschwistern macht natürlich auch das Schlittschuhlaufen Spaß...« »Ihnen nicht?« »Ich habe dafür keine Zeit mehr.« Sie hatten den Palast umfahren und gelangten nun zur Gartenseite, wo die Blumenrabatten gegen den Frost mit -178-
Tannenzweigen abgedeckt waren. Neben dem See war eine etwa sechs Meter hohe Miniaturrodelbahn angelegt, zu der eine Leiter hinaufführte. »Schauen Sie, da ist Alexis Nikolajewitsch!« sagte Simon. »Auf dem Rodelberg.« »Ja. Rodelberge machen ihm ungeheuren Spaß, wie uns allen...« »Können wir einen Moment zuschauen?« »Wenn Sie sicher sind, daß Ihnen nicht kalt wird?« »Mit so vielen Hüllen und Fußwärmern?« Der Wagen hielt. Über die weiße Fläche hinweg beobachteten sie, wie sich ein Mann in Matrosenuniform am oberen Ende der etwa einen Meter breiten vereisten Bahn auf einen langen Schlitten setzte und Alexis auf den Schoß nahm. Der Junge kreischte vor Vergnügen, während sie nach unten schossen, wo ein zweiter Mann mit einer Pelzmütze und einem pelzbesetzten Überzieher Alexis in Empfang nahm. In die Hände klatschend, rannte der Zarewitsch wieder zu der Leiter zurück, gefolgt von dem Matrosen. »Das ist nicht Derewenko, oder?« erkundigte sich Simon. »Nein, das ist Nagorny, diese Woche tut er Dienst. Er kümmert sich wirklich vorbildlich um Alexis.« Simon dachte an die letzte Kreuzfahrt der Standart und den Unfall des Jungen. »Kann Alexis Nikolajewitsch denn bei diesem Spiel auch wirklich nichts zustoßen?« fragte er besorgt. »Kaum; allein darf er natürlich nie hinunterfahren. Sie sollten ihn mit Marie sehen, sie bremst nicht einmal mit den Absätzen, was Nagorny immer tut.« »Ich habe mich als Kind auch mit Begeisterung auf Rodelbergen getummelt. Wir hatten keinen eigenen, aber wir gingen in die öffentlichen Parks. Der beste Rodelberg von Peters... von Petrograd ist immer der auf dem Gelände des -179-
Tauridenpalasts. Er ist ungefähr dreimal so hoch wie Ihrer hier.« »Nun, dieses Jahr haben wir nicht so viele Leute, die unentwegt Eimer voll Wasser anschleppen könnten. Die Eisdecke scheint auch schon ziemlich abgefahren zu sein.« Jetzt hatte der Zarewitsch den Wagen erspäht und kam heraufgerannt. Nagorny lief neben ihm her, gefolgt von dem anderen Mann und dem kläffenden Spaniel. Die kleine Gruppe kam Simon plötzlich ungeheuer verloren vor, wie sie da, den riesigen Palast hinter sich, über die weite Schneefläche hastete. »Olga, komm mit auf den Rodelberg!« Als der Junge den Begleiter seiner Schwester sah, stockte er ein wenig verlegen, und Olga öffnete die Tür. »Alexis, das ist Leutnant Hendrikow. Du müßtest dich von Livadia her eigentlich noch an ihn erinnern.« Alexis verbeugte sich. »Ich erinnere mich an Sie, Leutnant, und meine Schwester Tanja hat mir auch die Geschichte von Ihrer Verwundung erzählt und gesagt, daß Sie sehr tapfer waren und sich nie beklagt haben.« »Hm, nein«, bestätigte Simon verlegen. »Kann ich ein Stück mitfahren?« »Wir müssen zum Lazarett zurück«, antwortete Olga. »Dann eben nur bis zum Lazarett und wieder hierher...«, sagte der Junge in dem sicheren Bewuß tsein, daß man ihn nicht abweisen würde, und stieg ein. »Sei vorsichtig! Stoß um Himmels willen nicht gegen Simon Hendrikows Arm!« »Zilchik und Nagorny müssen auch mit.« »Na schön«, sagte Olga resigniert. »Leutnant Hendrikow, das ist der Hauslehrer meines Bruders, Monsieur Gilliard. - Alexis, du sollst ihn nicht ›Zilchik‹ nennen! - Nagorny, setzen Sie sich nach vorn neben den Chauffeur... Oh, doch nicht auch noch der -180-
Hund!« versuchte sie zu protestieren, als Alexis Joy heranrief und in den Wagen zerrte. Der Spaniel, der sich im Schnee gewälzt hatte, sprang sofort auf die pelzgefütterte Reisedecke. »Wir mißbrauchen Ihre Güte, Olga Nikolajewna«, entschuldigte sich der Schweizer, während sich der Wagen in Bewegung setzte, »aber Sie wissen ja, wie sehr Alexis selbst die kürzeste Fahrt genießt...« »Natürlich weiß ich das. Fahren Sie denn bei so schönem Wetter nicht jeden Nachmittag ein bißchen mit ihm spazieren?« »Manchmal sogar dreißig Werst weit«, erklärte Alexis. »Wo sind Sie verwundet worden, Simon Karlowitsch? Tut Ihr Arm sehr weh?« »An der Weichsel, Alexis Nikolajewitsch, und es geht mir schon viel besser. Was machen Sie auf diesen langen Fahrten?« »Ich studiere das Eisenbahnnetz der Petrograder Vororte«, antwortete der Junge wichtigtuerisch. »In die Stadt läßt mich Zilchik nämlich nicht.« »Es gibt ja auch genug Eisenbahnlinien außerhalb«, meinte Simon. »O ja, und ich mache mir Notizen über Brücken und Tunnels und Bahnhöfe und Gleisreparaturen und all das.« »Wissen Sie, es ist im Grunde nur eine angenehmere Form von Unterricht«, sagte Monsieur Gilliard, »eine ausgezeichnete Übung für den Umgang mit Kartenmaterial. So lernt man es, Eintragungen zu machen und sich Details einzuprägen, und zudem macht es Spaß, mit den Leuten zu reden, auf die man dabei stößt, nicht wahr, Alexis?« »Haben Sie eine Modelleisenbahn, Alexis Nikolajewitsch?« fragte Simon den Jungen. »Ja, eine riesige, sie geht durch das ganze Kinderzimmer. Ich lasse meine Truppentransportzüge darauf fahren und auch meine Lazarettzüge.« -181-
»Sie werden bestimmt später einmal ein großer Feldherr.« Der Junge, plötzlich wieder ein schüchterner Zehnjähriger, senkte den Kopf. Doch er überwand den Moment sehr schnell und sagte, ein keckes Grinsen in dem rosigen Gesicht: »Übrigens nehmen wir uns jeden Tag eine andere Strecke vor, und die Polizisten verlieren uns ständig, es ist wunderbar!« Sie hatten eine kurze Rundfahrt durch den Park gemacht, und der Wagen hielt nun wieder vor dem Gartenportal des Palasts. Der Zarewitsch und seine Begleiter stiegen mit vielen Dankesbezeigungen aus, und der Junge drehte noch einige Male um und winkte, bevor er, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, über den Schnee fortstapfte. »Er ist sehr gewachsen in diesem Winter«, bemerkte Simon. Olga war damit beschäftigt, nasse braune und weiße Haare von der Reisedecke abzulesen. »Dieser elende Hund!« sagte sie. »Ich wundere mich wirklich, daß Alexis ihn nicht auch mitnimmt, wenn er den Rodelberg hinunterfährt.« »Ich fürchte, dieser Rodelberg hat ausgedient, es sei denn, es kommt noch einmal Frost«, sagte Simon. »Schauen Sie, er fängt schon zu schmelzen an.« Die Vorfrühlingssonne - so kalt der russische Vorfrühling auch war stand hoch am Himmel. Die Tannen um den See herum warfen ihre Schneelast ab, und ein dünnes Rinnsal lief über die vereiste Rodelbahn. »Das macht nichts«, sagte Olga, und ihre Finger schoben sich in Simons Hand. »Es bedeutet nur, daß der Winter vorbei ist.«
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9 An dem Abend, an dem Richard Allen in seine Wohnung in Petrograd zurückkehrte, hatte das Frühlingstauwetter sein Werk getan, und ein anhaltender Regen spülte den letzten Schneematsch von den Bürgersteigen der Italianskaja. Um zehn Uhr waren nur noch wenige Fußgänger unterwegs, und Joe Calvert, der wartend im Wohnzimmer saß, wo ein prasselndes Feuer im Ofen brannte, glaubte jedesmal, wenn durch die Doppelfenster das schwache Geräusch von Schritten hereindrang, sie meldeten ihm die Ankunft seines Freundes. Die Junggesellenwohnung war fast die gleiche geblieben; Joe hatte sie lediglich durch eine Reihe Bücher und ein paar Drucke des alten St. Petersburg bereichert. Die von Captain Allen zurückgelassenen Sachen, im wesentlichen Golfschläger, Angelzeug sowie eine zweifellos aus Dicks Schulzeit stammende Schmetterlingssammlung, hatte er in den Schrank des kleineren Schlafzimmers gepackt. Seit er hier wohnte - ihre Abmachung war nach den ersten drei Monaten auf ein weiteres halbes Jahr ausgedehnt worden -, hatte niemand diesen Raum benutzt. Abgesehen von dem Briefwechsel über die Mietdauer hatte er von dem eigentlichen Mieter der Wohnung nichts gehört, bis ihn Dick an diesem Nachmittag im Konsulat anrief. Das Klingeln an der Wohnungstür kam unerwartet, und eine Überraschung war auch die massige Gestalt auf dem Treppenabsatz. Ein wenig unsicher sagte Joe auf russisch guten Abend, und dann nahm der Mann lachend seine Pelzmütze ab, und es war Dick. »Du alter Gauner«, sagte Joe und versetzte seinem Besucher einen derben Knuff, während sie ins Wohnzimmer gingen, »wo sind denn die schönen Geheimdienstsitten hingekommen? Ich hatte damit gerechnet, daß du die Hintertreppe heraufschleichen und durch ein geschickt kaschiertes Spezialpaneel der -183-
Lieferantentür schlüpfen würdest.« »Ich wollte es einmal darauf ankommen lassen«, sagte Dick. »Meinst du, irgend jemand von den Nachbarn hätte mich erkennen können?« »Nein«, antwortete Joe jetzt etwas ernster, »das ist kaum zu befürchten. Du hast ein bißchen zugenommen, nicht wahr? Und was ist mit diesem Bart?« Im grellen Licht des elektrischen Kronleuchters stand vor Joe ein typischer russischer bourgeois in pelzkragenbesetztem Mantel; ein beleibter, erfolgreicher Großkaufmann, der einen sorgsam gestutzten Schnurrbart und Bart - wesentlich dunkler als der Schnurrbart, den Joe im Gedächtnis hatte - und einen goldgeränderten Kneifer trug. Dick lachte. »Den Bart kann ich ohne Rasiermesser entfernen. Und auch die zusätzlichen Pfunde werde ich leicht los.« Er entledigte sich des schweren Überziehers und der wattierten Jacke sowie der ebenso ausgepolsterten Weste und reckte wohlig die Glieder. »Das ist eine ganz schöne Bürde, wenn man sie ständig mit sich herumschleppen muß«, sagte er und warf die Kleidungsstücke auf einen Sessel. »Na, Joe, und wie geht es dir? Hast du etwas zu trinken da?« »Natürlich, der Wodka steht schon bereit, und ich habe sogar ein bißchen Eis geholt.« Joe wies auf ein Tablett, das auf dem Schreibtisch stand. »Wodka? So schamlos verstößt du gegen das Alkoholverbot?« »Ich fühle mich nicht im mindesten betroffen, das ist nämlich eine von deinen eigenen Flaschen«, gab Joe zurück. »Vielen Dank übrigens für die Überlassung deiner Barbestände.« »Was trinkst du denn?« »Importierten Bourbon mit Wasser. Selbst das Konsulatspersonal frönt dem Wohlleben, seit der neue -184-
Botschafter im Amt ist.« »Mr. Marye. Er scheint recht fähig zu sein, und auch von dir habe ich große Dinge gehört.« »Ihr müßt ja in Stockholm bestens informiert sein. Du kommst doch aus Stockholm, nehme ich an?« »Augenblicklich halte ich mich in Moskau auf. Ich bin mit dem Nachtzug gekommen, gerade zur rechten Zeit für das Frühstück im ›Astoria‹.« »Es war nett von dir, mich anzurufen, zumal du das gar nicht hättest zu tun brauchen. Es gehörte doch zu unserer Abmachung, daß du deinen Schlüssel behalten und nach Belieben aus und ein gehen könntest?« »Ja, aber ich wollte sicher sein, dich auch wirklich anzutreffen und keine privaten Pläne von dir zu durchkreuzen.« »Zum Beispiel?« »Nun, du hättest ja einen charmanten Gast zum Abendessen und zum Schlafen hier haben können.« »Das wäre bestimmt nicht der Fall gewesen. Ein paar Leute zum Pokerspielen, allerhöchstens.« »Du führst ein mönchisches Leben, wie?« Joe zuckte die Achseln. »Das stimmt auch wieder nicht ganz. Aber es hat bisher nichts - niemanden - von irgendwelcher Bedeutung gegeben.« Er grinste. »Vielleicht warte ich darauf, daß Dolly Hendrikowa erwachsen wird.« »Ah! Wie geht es denn diesem reizenden Kind?« »Sie arbeitet seit kurzem als Krankenschwester in Großfürst Dimitrijs Lazarett.« »Ist es tatsächlich sein Lazarett?« »Na ja... sein Palast. Das Projekt des Britischen Roten Kreuzes. Do llys Bruder ist übrigens auch in einem Lazarett, draußen in Zarskoje Selo. Er wurde an der Weichsel verwundet. -185-
Ende Januar oder Anfang Februar, ich habe es vergessen.« »Es kommt mir so vor, als seien seit dem Abend im ›Europa‹: Ewigkeiten vergangen. Siehst du das andere Mädchen noch oft Mara Trenowa?« »Ich habe sie nur einmal seither getroffen, bei der Weihnachtseinladung der Hendrikows. Sie widmet ihre Energien jetzt einem Verlag. ›Die Kinderburg‹ heißt er, glaube ich.« »Hm, die ›Schokoladenklassiker‹. Scheint mir eine ziemlich zuckrige Kost für die wilde Trenowa.« »Darf ich dir etwas zugießen, Dick?« »Ja, danke.« Joe war lange genug im auswärtigen Dienst, um zu wissen, daß sie Präliminarien nun hinter sich hatten. Als das freundschaftliche Schweigen für sein Empfinden lange genug gedauert und Captain Allen seine Pfeife gestopft und angezündet hatte, fragte er in ganz natürlichem Ton: »Und was führt dich nach Petrograd, Dick? Du willst mich doch hoffentlich nicht auf die Straße setzen?« »Das kann ich vor Ende Mai gar nicht, und ich will es auch nicht. Es gefällt dir hier, wie? Versorgt dich die alte Varvara gut?« »Ich kann mich nicht beklagen.« »Das freut mich. Was nun den Grund meines Hierseins anbetrifft, so ist das eine recht lange Geschichte. Bevor ich sie erzählen kann, muß ich allerdings erst wissen, ob du noch die gleiche Einstellung hast wie im letzten August.« »Hinsichtlich des Krieges?« »Hinsichtlich der amerikanischen Neutralität. Erinnerst du dich noch, daß du damals, als ich dir die Wohnung anbot, erklärt hast, deine Zugehörigkeit zum amerikanischen Auswärtigen Amt gestatte es dir nicht, jemandem als Fassade zu dienen - so -186-
ungefähr hast du dich ausgedrückt -, solange du nicht klar überblicken könntest, worauf du dich dabei einließest.« »Ja, weißt du...« antwortete Joe, »... damals hatten wir keinen Botschafter in St. Petersburg... Petrograd will ich sagen, verdammt! Seit Botschafter Maryes Ankunft ist vieles anders geworden. Er hat die ganze amerikanische Kolonie aufgeboten und Hilfsprogramme zu organisieren begonnen. Es gibt jetzt ein amerikanisches Lazarett für russische Verwundete und ein amerikanisches Säuglingsheim, das mit Großfürstin Tatjanas Flüchtlingskomitee in Verbindung steht; mir scheint, daß wir ziemlich stark zur russischen Seite hin tendieren.« »Ja, aber nur, was karitative Unterstützung angeht, Joe! Wie steht ihr zu Rußlands Krieg gegen Deutschland?« »Hör zu. Ungefähr um die Zeit deiner Abreise nach Stockholm sprach Präsident Wilson ganz deutlich aus, was für eine Haltung er von uns erwartet. Ich glaube, es war seine erste öffentliche Erklärung nach dem Tod seiner Frau. Er sagte: ›Wir Amerikaner sollten nicht nur dem Namen nach, sondern wirklich neutral sein, unparteiisch sowohl in Gedanken als auch in der Tat.‹Ich kenne die Worte so genau, weil ich sie auswendig gelernt habe.« »Ich erinnere mich«, sagte Richard Allan. »Und?« »Das rief sofort Mr. Page auf den Plan, unseren Botschafter bei der britischen Regierung, der eine andere Meinung vertrat. Er stellte fest: ›Eine Regierung kann neutral sein, ein Mensch nie.‹ Und er hatte zu Präsident Wilsons engstem Freundeskreis gezählt.« »Das hört sich nach dem jähen Ende einer schönen Freundschaft an«, bemerkte Dick. »Joe, ich glaube, ich weiß, worauf du hinauswillst. Du ergreifst Pages Partei, nicht die des Präsidenten?« »Als Mensch ja. So wie ich die Dinge sehe, sind die Deutschen eindeutig die Aggressoren gewesen. Sie möchten am -187-
liebsten die ganze Welt beherrschen, und früher oder später werden wir uns neben diejenigen stellen müssen, die sie aufzuhalten versuchen. Das ist meine persönliche Meinung, Dick; verwechsle sie nicht mit der offiziellen. Du kannst aber immer darauf bauen, daß ich helfe, soweit in kann.« »Danke, Joe«, erwiderte der Engländer. »Das macht die Dinge leichter.« Er beugte sich in dem knarrenden Korbstuhl vor. »Ich möchte dich erst noch etwas fragen, und dann werde ich dir meine Geschichte erzählen. Hast du je von der Organisation der ›Grünen Männer‹ gehört?« »Nein, nie.« »Dann hör zu. Ich wurde nach Stockholm geschickt, weil die Grünen Männer das Interesse unseres Geheimdienstes geweckt hatten; man hielt die Organisation für ein Propagandanetz - oder Spionagenetz, wenn du dieses Wort vorziehst -, das den Plan verfolgte, in Rußland eine Revolution auszulösen, indem es das Gerücht verbreitete, der Zar werde das Volk verraten und einen Separatfrieden mit Deutschland schließen.« »Wegen Tannenberg?« »Einmal das, und zum anderen, weil die Zarin eine geborene Deutsche ist und einen Bruder hat, der auf deutscher Seite kämpft.« »Glaubst du wirklich, die russischen Bauern, die letzten Endes die Masse der Bevölkerung ausmachen, messen der Tatsache Gewicht bei, daß ein unbedeutender kleiner Fürst wie Ernst von Hessen der Armee des Kaisers angehört? Sie kennen höchstwahrscheinlich nicht einmal seinen Namen«, sagte Joe. »Es ist eine der Aufgaben der Grünen Männer, dieser Tatsache Gewicht zu geben. Und das könnte über Rasputin geschehen.« »Er hat sich seiner Rückkehr nach Petrograd ziemlich ruhig -188-
verhalten.« »In Moskau verhielt er sich vor ein paar Tagen durchaus nicht ruhig«, sagte Dick. »Wußtest du nicht, daß er in Moskau war?« »Natürlich wußte ich das; es stand ja in allen Zeitungen. Er scheint im vorigen Sommer, als er sich von dem Attentat erholt hatte, ein Gelübde abgelegt zu haben, daß er zu irgendeinem Sanktuarium im Kreml pilgern würde.« »Seine Wallfahrt führte ihn in einen Nachtklub namens ›Yar‹. Und ich war auch dort.« »Bist du etwa nach Moskau gegangen, um Rasputin zu überwachen?« fragte Joe. »Ja, ich wurde nach Moskau geschickt, um seine Kontakte ausfindig zu machen. In seiner hiesigen Wohnung, wo ihn eine ganze Armee von Polizeibeamten in Zivil schützt, ist der widerliche Kerl ja so gut gegen die Umwelt abgeschirmt, daß man kaum an ihn herankommt. Vor allem seit dem Vorfall in Sibirien. Deshalb erhielt ich den Auftrag, in der Maske eines Moskauer Geschäftsmannes - das Milieu kenne ich recht gut nachzuforschen, ob und wie von Deutschland Geld via Stockholm in Rasputins Hände gelangt.« »Ich glaube gar nicht, daß er an Geld so sehr interessiert ist... Aber sprich nur weiter!« »Es war nicht besonders schwer, mit ihm zusammenzutreffen, und ich sah in seiner Gesellschaft ein paar interessante Gesichter. Doch durch die Affäre im Yar-Klub flog die Sache schon nach vierundzwanzig Stunden auf.« »Bist du denn mit ihm hingegangen?« »Ich war da, aber nicht mit ihm. Er kam später und ziemlich betrunken mit seinen Anhängern herein, unter denen auch ein paar Frauen waren, und nachdem er noch eine Flasche geleert hatte, begann er zu singen und zu tanzen und wie ein sibirischer Wolf zu heulen und Gläser und Geschirr zu zerschlagen und -189-
Tische umzustürzen, bis am Ende der Geschäftsführer und das Personal einschritten. Rasputin verbarrikadierte sich hinter den Möbeln und ließ unter ungeheurem Summaufwand eine wilde Rede vom Stapel: Sie sollten es ja nicht wagen, ihn anzurühren, er stehe unter Väterchens und Mütterchens Schutz, und Matuschka, wie er sie nannte, fresse ihm aus der Hand - nur sagte er nicht ›Hand‹. »Ich kann von dem alten Mädchen alles erreichen«, brüllte er. ›Ich habe das, was ihr am besten gefällt!‹ Und damit - um auch das geringste Mißverständnis auszuschalten - entblößte er sich.« Allen grinste mitleidlos, als er Joes angewidertes Gesicht sah. »Inzwischen hatte der Geschäftsführer die Polizei benachrichtigt«, fuhr er fort, »und sie verhafteten ihn. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig.« »Soll das heißen, daß Rasputin in Moskau im Gefängnis sitzt?« »Leider nein. Seine Verhaftung hatte General Djunowski, der Chef der Gendarmerie, mit Billigung des Polizeipräfekten, General Andrianow, angeordnet. Trotz alledem wurde er sofort auf freien Fuß gesetzt, und eine Untersuchung der Affäre auf allerhöchster Ebene ist bereits angekündigt worden.« »Fragen erübrigen sich«, bemerkte Joe. »Ganz recht. Und wenn die Zarin nun ungeachtet dieser öffentlichen Beschimpfungen Rasputin weiter protegiert - wenn hundert Zeugen übergangen oder gar nicht angehört werden, wenn die Pressezensur die Geschichte unterdrückt -, dann kann das den Untergang der Monarchie bedeuten.« »Und Rußland scheidet aus dem Krieg aus.« »Genau.« Joe Calvert stand auf und goß sich noch etwas Bourbon nach. Er wußte, daß sie jetzt zum Kern der Sache gekommen waren der ungeheuren Bedeutung, die es für die westlichen Alliierten -190-
hatte, daß Rußland den Kampf fortsetzte. Sie hatten im März zwei schwere Schläge einstecken müssen: das Massaker von Neuve Chapelle und das Scheitern des Versuchs, die Dardarnellen zu forcieren - den Zufahrtsweg nach Konstantinopel und zum Schwarzen Meer. Wenn Rußland jetzt einen Separatfrieden schloß, war der Sieg der Mittelmächte gesichert. »Ihr macht euch selbst etwas vor«, sagte er. »Inwiefern?« »Wenn ihr davon ausgeht, daß die russische Monarchie mit Rasputin steht und fällt. Gewiß, die Kaiserin schützt ihn... und die beiden Moskauer Polizeibeamten werden wahrscheinlich ihre Posten einbüßen... Sie schützt ihn, weil sie ihn für einen frommen Mann hält, der die Macht hat, ihren Sohn von allen Krankheiten zu heilen. Aber das ist nur ein Teil des Gesamtbilds, Dick! Du kannst daraus nicht den Schluß ziehen, daß die Zukunft des russischen Kaiserreiches von einem verrückten Mönch und einem Kind abhängt! Meiner Ansicht nach - und ich habe die Sache wirklich genau verfolgt - liegt die eigentliche Gefahr für die Monarchie und die Fortsetzung des Krieges in dem miserablen Verhältnis, das zwischen dem Zaren und der Duma besteht.« Er stand neben dem Tablett mit den Flaschen, und Dick blickte abschätzend zu ihm auf. Der Grünschnabel vom letzten Sommer hatte Autorität erlangt; er sprach selbstsicher und sachverständig. Das junge Amerika wird mündig, dachte Richard Allen und antwortete dann in ernstem Ton: »Ich glaube, du mißt der Duma zuviel Bedeutung bei.« »Und warum auch nicht? Ich weiß, sie ist nicht das Unterhaus, sie ist auch nicht der Kongreß. Aber sie ist doch die einzige gewählte Versammlung, die es hier gibt, ein Debattierforum, und jedesmal, wenn sie eine Resolution faßt, die dem Zaren mißfällt, dann schließt er ganz einfach die -191-
Sitzung, zieht sich schmollend nach Zarskoje Selo zurück und empfängt nicht einmal die Minister. Dort beginnt die Unfähigkeit, der man in diesem Land allenthalben begegnet, Dick, im Alexanderpalast von Zarskoje Selo! Dorthin mußt du gehen, wenn du wissen willst, weshalb der Nachschub nicht funktioniert, weshalb all das, was die Russen von ihren Verbündeten und von uns gekauft haben: Kohle, Waffen, Munition, an den Kais von Archangelsk verrostet und verkommt. Sie können nicht einmal ihre Bahntransportmöglichkeiten vernünftig koordinieren! Die Duma stimmt für einen Rüstungsrat, der Zar findet ihn überflüssig. Sie will die Ursachen des Waffenmangels feststellen und beschuldigt den Kriegsminister...« »Und er wird von der Zarin und Rasputin protegiert«, unterbrach ihn Dick. »Es nützt nichts, Joe; man kommt immer wieder auf diese beiden zurück...« »Ich behaupte trotzdem, daß man Rasputin nicht für alles, was hier schiefgeht, verantwortlich machen darf. Aber keine Sorge, Dick, ich werde mich bemühen, etwas über deine Grünen Männer in Erfahrung zu bringen, aber ich glaube, sie sind wesentlich unwichtiger als die Bolschewiken.« »Von denen die meisten jetzt in der Schweiz leben.« »Da irrst du dich gewaltig! Diese fünf Mitglieder der Duma, die - von einem ordentlichen Gericht, nicht von Rasputin - der Verschwörung angeklagt und für schuldig befunden und erst im letzten Monat nach Sibirien verbannt worden sind, waren Bolschewiken. Sie hatten eine ›illegale Versammlung‹ abgehalten, um Lenins ›defätistische Thesis‹, daß der Sieg Deutschlands den Sturz des Zaren bedeutet, zu erörtern. So formulierte es der Staatsanwalt. Lenin mag in Zürich leben, aber seine Instruktionen, die den russischen Sozialisten auseinandersetzen, wie sie auf die Niederlage Rußlands hinarbeiten können, sind seit mindestens sechs Wochen als Untergrundpamphlet in Umlauf.« -192-
»Hast du eines gesehen?« »Nein, aber ich... um Gottes willen, was ist das denn?« Eine ungeheure Explosion, die an den Holzläden rüttelte und den Backsteinsockel des Porzellanofens erschütterte, sandte ihre Schallwellen durch die Stadt. Joe und Dick waren aufgesprungen, doch keiner von ihnen sprach. Von der Decke blätterte Tünche ab, und man konnte hören, wie hinter den Wänden Staub herunterrieselte. Dann wurde das Haus lebendig, aufgeregte Stimmen erklangen von überall her, Türen wurden zugeschlagen, und Füße rannten die Treppe hinauf und hinunter. »Terroristen!« sagte Joe. »Das Winterpalais!« »Das ist doch jetzt ein Lazarettdepot...« »Aber die Mädchen sind oft da«, erklärte Joe. »Die jungen Großfürstinnen. Ich habe sie beide dort kennengelernt, an dem Abend, als sie eine Kaserne für die Flüchtlinge öffnen ließen... Bleib bitte hier«, fuhr er dringlich fort. »Ich will nur feststellen, ob man von oben etwas sehen kann.« »Das glaube ich nicht, dazu ist das Haus nicht hoch genug.« Doch Joe hatte bereits die Wohnung verlassen und rannte auf der Hintertreppe zum Dachgeschoß hinauf, wo es Abstellkammern gab und ein paar seit Kriegsausbruch kaum mehr benutzte Schlafzimmer für männliche Bedienstete. Dort traf er ein Dutzend Leute, die in der gle ichen Absicht wie er heraufgekommen waren, und einige standen bereits auf Stühlen oder Truhen und schauten durch die schrägen Dachfenster nach draußen. Der Himmel war taghell vom Widerschein lodernder Flammen, die zu den regenschweren Wolken aufzüngelten, und der Explosionsstaub legte sich wie ein purpurrotes Tuch über die ganze Stadt. Als die Reihe an Joe kam, warf auch er einen Blick hinaus, und nachdem er sich noch die Meinungen seiner Nachbarn angehört hatte, von denen einer darauf beharrte, es könne sich -193-
nur um die Zeppeline des Kaisers handeln, die es irgendwie geschafft hätten, bis Petrograd vorzudringen, kehrte er eilends zu Dick zurück. »Nun?« »Das Winterpalais ist es nicht, soviel steht fest. Der Brand ist ein ganzes Stück weiter im Osten.« »Du lieber Gott!« sagte Richard Allen. »Kann es etwa das Arsenal sein?« Joe erstarrte vor Entsetzen. Das Arsenal von Petrograd war in zwei riesigen Gebäudekomplexen untergebracht, die in der Nähe der Alexanderbrücke beide Seiten des Liteini Prospekts einnahmen. »Wenn es das Arsenal ist, muß der halbe Liteini Prospekt in die Luft geflogen sein«, meinte er. »Und das ist verflixt nahe bei unserer Botschaft. Ich glaube, ich sollte hingehen und mich umschauen.« »Ich begleite dich.« Während Joe seinen Mantel und seine Pelzmütze holte, zog Richard Allen schnell seine wattierten Kleidungsstücke über und setzte den goldumränderten Kneifer auf. Dann gingen sie hinaus, doch in der dunklen Diele blieb Dick noch einmal stehen und sagte zu dem Amerikaner: »Dich hat auch schon das russische Fieber gepackt, wie uns alle. Du hörst einen lauten Knall und denkst sofort an eine Bombe, du spürst die Wellen einer Explosion, und das erste Wort, das du herausbringst, ist ›Terroristen‹!« »Oh, laß das doch jetzt...« »Wenn es nämlich wirklich das Arsenal ist, dann ist das einzige zutreffende Wort ›Sabotage‹.« Sie begegneten auf der Treppe keinem Menschen; alle Hausbewohner waren im Dachgeschoß oder auf der Straße. Wo immer der Brandherd auch lag, das Feuer loderte so heftig, daß -194-
auf den gelben und weißen Fassaden der Italianskaja dunkelbraune Schatten herumwirbelten, während die beiden jungen Männer zur Sadowaja-Straße hasteten. Es erwies sich jedoch als unmöglich, zur amerikanischen Botschaft durchzukommen, weil starke Polizeipatrouillen gerade dabei waren, die Hauptverkehrsstraßen für die Feuerwehr und die Krankenwagen frei zu machen, die sehr wahrscheinlich einem Unglück so gewaltigen Ausmaßes doch nicht gewachsen sein würden. Mindestens drei Polizisten versicherten Joe, daß für die Botschaft, den Tauridenpalast und das Smolnykloster, die alle in derselben Gegend lagen, keine Gefahr bestehen. Die Explosion habe in der Okhta-Munitionsfabrik am östlichen Newaufer stattgefunden. »Ich fürchte, es stimmt tatsächlich«, sagte Dick, der seinerseits bei einigen etwas vertrauenswürdiger aussehenden Leuten in der aufgebrachten Menge Erkundigungen eingezogen hatte. Er sprach Französisch; Englisch hätte nicht zu der Rolle gepaßt, die er verkörpern wollte. Joe wechselte deshalb ebenfalls ins Französische über: »Es sind also die OkhtaWerke?« »Ja. Der bedeutendste Produzent von Explosivstoffen in Petrograd, vielleicht in ganz Rußland. Und das mitten im Vormarsch! Die Fabrik, die alles, von Gewehrkugeln bis zu Maschinengewehrteilen herstellte und deren Arbeiter fast nie streikten! Die Munitionskrise wird noch zwanzigmal schlimmer werden als bisher.« »Dann müssen sie eben doch sehen, wie sie die Vorräte aus Archangelsk herbeischaffen.« »Selbst die sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein, verglichen mit der Wochenproduktion der Okhta.« »Na, willst du Rasputin auch das in die Schuhe schieben?« Dick grinste. Sie zwängten sich in Richtung des Newski Prospekts mühsam durch das Menschengewühl. Hier und da -195-
knieten auf der Bordsteinkante alte Männer und Frauen, die sich bekreuzigten und laut beteten. »Sie flehen den heiligen Andreas und die heilige Katharina um Beistand an«, erklärte Dick. »Die Explosion ist in ihren Augen ein Zeichen für Gottes Zorn. Das heißt natürlich, daß ein kritischer Stimmungsumschwung eintreten wird und neue Auseinandersetzungen mit der unergründlichen russischen Volksseele fällig sind. Und das ausgerechnet jetzt nach dem Dardanellen-Fiasko...« »Wohin gehen wir eigentlich?« fragte Joe. »Wir könnten im ›Astoria‹ ein Glas zusammentrinken. Ich habe da ein Zimmer auf den Namen Schulkow, und ich erwarte im Laufe der nächsten Stunde einen Anruf aus Moskau. Falls durch das Okhta-Unglück nicht die ganzen Leitungen blockiert sind.« »Vielleicht sollte ich versuchen, unsere Botschaft telefonisch zu erreichen, um mich zu vergewissern...« Joe unterbrach sich und wies zur anderen Straßenseite hinüber. »Dick! Ist das nicht Mara Trenowa?« »Du hast bessere Augen als ich, alter Junge. Meinst du das Mädchen mit der roten Fuchsmütze, die da neben der Straßenbahnhaltestelle einen Mann am Arm festhält?« »Sie hält ihn nicht fest, sie wehrt sich gegen ihn! Gott, er wird doch nicht zuschlagen! Es ist Mara Trenowa, kein Zweifel!« »Ja, und es ist ihr gelungen, sich loszureißen«, sagte Dick und strengte seine kurzsichtigen Auge n an, um zu erkennen, was dort drüben an der beleuchteten Straßenecke des Newski Prospekts vor sich ging, wo jetzt eine Straßenbahn hielt, so daß die beiden Personen in der wogenden Menge kaum mehr auszumachen waren. »Hör mal zu, Joe«, sagte er und legte dem Amerikaner die Hand auf den Arm. »Selbst wenn es die kleine Trenowa ist - misch dich da nicht ein. Nimm einfach an, du hättest sie gar nicht gesehen. Die Atmosphäre ringsum ist schon -196-
unangenehm genug, du mußt dich nicht obendrein noch mit...« »... mit einem von Rußlands ewigen Opfern befassen«, hatte Dick Allen sagen wollen, aber der geschraubte Satz blieb unvollendet, denn Joe hatte sich mit den hastig hingeworfenen Worten: »Ruf mich morgen im Konsulat an«, bereits abgewandt und schlängelte sich nun geschickt durch die Menschen, die sich auf dem Bürgersteig drängten. Er hatte die Fuchsmütze stets im Auge behalten und holte Mara sehr bald ein, die mechanisch einen Fuß vor den anderen setzend, in Richtung des Winterpalais den Newski Prospekt entlangging. »Guten Abend, Mara Iwanowna«, sagte er. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Verschreckt blickte sie zu ihm auf, und er sah Tränenspuren und Schmutz in ihrem bleichen Gesicht. »Mr. Calvert! Oh... Vielen Dank, ich freue mich sehr, Sie zu sehen, aber ich brauche keine Hilfe. Ich... ich hörte gerade, daß ein Freund von mir tot ist. Das heißt, es war eigentlich gar kein Freund, sondern einfach jemand, den ich kannte... Trotzdem hat es mich erschüttert.« »Doch nicht etwa Simon Hendrikow?« Joe fand ihr jähes, lautes Gelächter ebenso beunruhigend wie das verschmierte Gesicht und die bloßen Hände, die, wie er inzwischen gesehen hatte, unterhalb des Handballens aufgeschlagen waren und bluteten. »O nein, um Simon Hendrikow handelt es sich nicht, Mr. Calvert. Er macht ausgezeichnete Fortschritte unter der Obhut der ganzen kaiserlichen Familie, die ihn hätschelt und ihm Champagner einflößt. Nein, es ist nur ein Bekannter. Jemand, mit dem Sie nie in Berührung gekommen wären.« »Lassen Sie das doch«, bat Joe. »Sie wissen nicht, was Sie sagen. Sie sind in dieses Menschengewühl geraten, nicht wahr? Und jeder drängte und schubste wie verrückt, und sie stolperten und fielen hin, war es nicht so?« -197-
»Mein Mantel...« Mara starrte auf die feuchten Flecke, die sich in Kniehöhe auf dem Stoff abzeichneten. »Ja, ich muß wohl hingefallen sein - wie ungeschickt von mir.« »Ungeschickt ist das durchaus nicht, unter solchen Umständen.« Joe blickte sich um. Sie waren bereits ganz in der Nähe des »Europa«, doch dorthin konnte er mit ihr, so wie sie aussah, nicht gehen, und die wenigen noch offenen Teestuben waren gestopft voll mit Soldaten und ihren Mädchen. »Bis zu mir sind es nur noch fünf Minuten«, sagte er. »Am besten kommen Sie mit und waschen sich erst einmal die Hände. Ich mache Ihnen inzwischen eine Tasse Tee.« »Oh, aber...‹‹ »Und erzählen Sie mir nicht, daß Sie dringend nach Hause müssen, denn Sie waren genau in entgegengesetzter Richtung unterwegs.« »Gut.« Mara wandte nichts mehr ein und wehrte sich auch nicht, als er ihren Arm nahm. Sie ging neben ihm her, als sei es für sie das Natürlichste von der Welt, einen Mann in seine Wohnung zu begleiten. Oben angelangt, half er ihr aus dem Mantel. »Geben Sie mir auch Ihre Mütze«, sagte er. »Rotfuchs. Die Farbe steht Ihnen.« »Ein abgelegtes Stück vo n Dolly Hendrikow. Für mich genau das richtige.« »Was für ein Unfug. Sie sollten sich nicht so gering einschätzen. Und jetzt kommen Sie mit und waschen sich die Hände.« Er zeigte ihr das Bad, gab ihr ein sauberes Handtuch und eine Flasche Jod und verschwand in der primitiven Küche. Der Samowar, den Varvara den ganzen Tag in Gebrauch hatte, war noch warm, und als Mara Trenowa sichtlich erfrischt aus dem Bad kam, stand ein Glas mit heißem, gezuckertem Tee für sie bereit. -198-
»Setzen Sie sich in den Korbstuhl und trinken Sie Ihren Tee«, sagte er. »Und beantworten Sie mir bitten ohne falsche Scham eine Frage: Haben Sie sich etwa auch an den Knien verletzt? Wenn es nämlich so ist, müssen die Wunden versorgt werden.« »Meine Knie bluten nicht, der Mantel hat sie geschützt.« »Irgend jemand muß ja wohl heftig mit Ihnen zusammengestoßen sein, wenn Sie so unglücklich stürzen konnten.« »Wahrscheinlich.« Er schaute zu, wie sie gierig den süßen Tee trank. Sie hatte die zweite Version mit dem Zusammenprall genauso widerspruchslos akzeptiert wie seine zuerst ausgesprochene Vermutung, daß sie gestolpert sein müsse. Und möglicherweise traf weder das eine noch das andere zu. Joe dachte an den untersetzten Mann, den sie an der Ecke der Sadowaja-Straße nur mit Mühe hatte abschütteln können. »Das ist die Wohnung von Captain Allen, nicht wahr? Sie erzählten uns damals im ›Europa‹, daß Sie sie mieten wollten.« »Ja. Ich zog kurz darauf um.« »Sie ist sehr schön. Und was macht Captain Allen, ist er noch in Stockholm?« »Ja, er ist noch in Stockholm.« Mara stellte ihr leeres Glas ab und sagte in ihrer spitzen, feindseligen Art: »Leider war es mir unmöglich, Ihre Gastfreundschaft zu erwidern. Unser Zuhause ist so ärmlich, daß ich dorthin wirklich niemanden einladen kann.« »Ich habe Ihnen doch eben erst gesagt, daß Sie sich nicht so unterschätzen sollen.« Joe zog seinen Sessel etwas näher heran und ergriff eine ihrer abgeschürften Hände, die jetzt braune Jodstreifen aufwiesen. Sie entzog sie ihm nicht, als er sie sanft zu streicheln begann, und schien sich überhaupt allmählich zu entspannen, obwohl er merkte, daß sie noch immer zitterte. -199-
»Sie haben einen Schock hinter sich«, stellte er fest. »Waren Sie etwa in der Nähe, als die Munitionsfabrik in die Luft flog?« Mara schauderte. »Nahe genug.« »Dann wundert es mich nicht, daß Sie so durcheinander sind, ich selbst bin auch ziemlich erschrocken.« »Meinen Sie, es ist Ihnen gelungen, das Feuer einzudämmen?« »Wenn nicht, dann müssen viele Wohnungen ausgebrannt sein. Gott! Ich hoffe nur, man hat die Leute noch rechtzeitig herausholen können.« Er schob seinen Arm um ihre mageren Schultern. »Dieser Freund, dessen Tod Sie so aufgeregt hat, ist er gefallen?« »Ich glaube... man könnte sagen... er hat sein Leben für seine Überzeugungen gegeben.« »Mehr kann kein Mann tun. Mara! Bitte weinen Sie nicht!« Aber sie weinte gar nicht richtig, sie sah ihm nur mit einem leeren, vagen Blick ins Gesicht, der ihn beunruhigte. Und während sie murmelte: »Sie sind so gut zu mir«, trat plötzlich ein unverkennbar auffordernder Ausdruck in ihre Augen. Joe beugte sich vor, hob sie aus ihrem Korbstuhl und nahm sie in die Arme. Er küßte ihre Wange und ihre Lippen, und er spürte die Wärme ihres Körpers an seiner Brust und auf seinen Schenkeln. Sie war sehr leicht, doch die Arme, die seinen Hals umschlangen, hatten etwas Zwingendes, eine Kraft, die Joe sagte, daß sich Mara Trenowa bedingungslos ergab der Himmel mochte wissen, warum. Aus Liebe geschah es nicht, soviel stand fest, und er selbst empfand nicht mehr für sie als für seine gelegentlichen Café-Bekanntschaften; aber sie hatte etwas an sich, etwas Korruptes, Bitteres, das ihn fasziniert hatte, seit er ihr das erstemal begegnet war. Jetzt lag sie in seinen Armen, und -200-
er spürte ihren erregenden seltsamen Duft, der sich aus einer Seife, einem billigen apfelblütenartigen Parfüm und einem chemischen Geruch zusammensetzte. Er hob den Kopf und sah, daß sie ihn aus halbgeschlossenen Augen beobachtete. Als er diesem berechnenden Blick begegnete, der keinerlei Zärtlichkeit, nicht einmal Begierde enthielt, erkannte er den Geruch. Es war Pikrinsäure. Pikrinsäure, die in großem Umfang bei der Herstellung von Sprengstoffen verwendet wurde, ganz gleich, ob offiziell in den Okhta-Werken oder heimlich in irgendeinem Kellerraum. Er wußte nicht, wollte nicht wissen, was sie getan hatte. Es ging ihn nichts an, wie immer Dick dazu stehen mochte. Aber er wußte auch, daß er nicht mit Mara Trenowa schlafen konnte, wie sie es sich erhoffte, um damit auszulöschen, was er wahrgenommen hatte... wovon? Er kam sich vor wie sein biblicher Namensvetter, der sich Potiphars Weib entzog ernüchtert, impotent, ein zu nichts gebrauchender Tölpel -, als er Mara flüchtig küßte und sagte: »Jetzt fühlen Sie sich ein bißchen besser, nicht wahr? Kommen Sie, wir gehen in den ›Bä ren‹ und essen noch eine Kleinigkeit...«
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10 Die frommen Russen, die in der Nacht des Explosionsunglücks auf den Straßen Petrograds beteten und am nächsten Tag die Kirchen füllten, sahen sich sehr bald in ihrem Glauben bestärkt, daß die Tragödie ein böses Omen für den Krieg war. Nur wenige Tage später erlitten die westlichen Alliierten und die Truppen des Britischen Empire bei ihrem ersten Versuch, die Türkei in Kleinasien und Gallipoli zu Lande anzugreifen, eine Niederlage. Oberst Mustafa Kemal schlug die westlichen Invasoren zurück und tat damit zugleich den ersten gigantischen Schritt in seine eigene dramatische Zukunft. Unmittelbar nach Kemals Sieg begann der deutsche Vormarsch. Für Italien kam er ein paar Tage zu spät, denn die italienische Regierung, überzeugt, daß die Russen Österreich geschlagen hatten, gaben ihren neutralen Beobachterstand auf und versetzten Österreich-Ungarn mit einer formellen Kriegserklärung einen Dolchstoß in den Rücken. Dann setzte sich die deutsche Kriegsmaschine im nördlichen Abschnitt der langen Front in Bewegung. Wieder einmal machte sich die ungeheure waffenmäßige Überlegenheit der Deutschen bemerkbar, und während in Flandern die zweite Ypernschlacht tobte, mußten die Russen die große Festung Przemysl übergeben, die sie nur zwei Monate hatten halten können. Als die Deutschen in Polen vorzurücken begannen, hatten die Russen bereits derart schwere Verluste hinnehmen müssen, daß sie die Einberufung der Zweiten Kategorie, der opolchenie - der unausgebildeten Männer zwischen achtzehn und dreiundvierzig Jahren -, in Erwägung zogen. Es war eine extreme Notmaßnahme, denn die Zweite Kategorie war nur zweimal in der russischen Geschichte eingezogen worden -1812 gegen Napoleon I. und 1854 während des Krimkrieges. In Rußland gab es inzwischen keine Stadt, kein Dorf mehr, die dem Krieg nicht -202-
seinen Tribut an jungen Männern entrichtet hätten. Wieder kam der Juni, der Krieg dauerte nun schon fast ein Jahr, und obwohl die dunklen Schatten über dem russischen Reich zusehends länger wurden, gab es noch immer Mädchen in Rußland, die ein heimliches Glück im Herzen bewahrten. Zu ihnen gehörte Großfürstin Olga, der das Schicksal die Gunst erwies, daß der Mann, den sie liebte, in ihrer Nähe weilte. Simon Hendrikow war aus dem Lazarett entlassen und für bedingt diensttauglich erklärt worden. Man hatte ihn der hauptsächlich aus Kriegsveteranen bestehenden Kerntruppe der Marinegarde zugeteilt, die in Zarskoje Selo stationiert und vornehmlich mit dem Schutz der kaiserlichen Familie betraut war. Die frühmorgendlichen Besuche, die Olga nun während der immer zeitiger heraufdämmernden Sommertage der nahen kleinen Znameniakirche abstattete, erfüllten ihre Mutter mit tiefer Genugtuung. Olga hatte stets weitaus weniger Interesse als ihre Schwestern für die langen Gottesdienste und die vielen Gebetsstunden gezeigt, und so fanden diese demütig zu Fuß unternommenen Gänge und die kurzen Andachtsübungen, die Olga - wie sie erklärte - Kraft für den ganzen Tag verliehen, die volle Unterstützung ihrer Mutter. Was stärkend und belebend auf sie wirkte, war natürlich vor allem die halbe Stunde, die sie mit Leutnant Hendrikow verbrachte, bevor sie beide ihren Dienst antraten. Ihren Zusammenkünften haftete durchaus nichts Heimliches an. Sie spazierten ganz offen durch den Park, fütterten das Wild, das für die Dauer des Sommers herausgebracht worden war, und brachen weiße und lilafarbene Fliederzweige für die Säle des Lazaretts. Ihr Idyll war der Geheimpolizei bis ins kleinste Detail bekannt, weil - wie üblich - allenthalben zwischen Sträuchern und Rosenbeeten »Botaniker« umherstrichen, und in begrenztem Ausmaße auch den Kosaken, die auf den Alleen von Zarskoje Selo ihre Runden ritten. Die drei Schwestern vermuteten vielleicht etwas, sagten aber nichts. Und die Zarin selbst befand -203-
sich in einem Zustand exaltierter Ignoranz, da ihr Leben um diese Zeit ausschließlich zwei Zielen gewidmet war: Sie wollte erreichen, daß Großfürst Nikolaus das Oberkommando entzogen würde, und sie wollte die schmutzigen Lügen, wie sie sie nannte, entkräften, die über das Benehmen des frommen Vaters Gngonj in einem widerlichen Moskauer Nachtklub zirkulierten, in den er selbstverständlich nie seinen geheiligten Fuß gesetzt hatte. Der Zar war im Hauptquartier in Baranovichi. Es kam ein schöner Junitag, an dem Olga zufrieden ein paar ruhige Stunden genoß, die sie sich durch den Nachtdienst im Lazarett verdient hatte. Sie hatte ungestört fast den ganzen Vormittag über geschlafen; ihre Mutter war zu einer Sitzung des Roten Kreuzes in die Stadt gefahren. Nachdem sie ein Stück gebratenes Hähnchen, einen Pfirsich und ein Glas Wein zu sich genommen hatte, spielte sie im Kinderzimmer zu Alexis' Balalaika Klavier und brachte den Jungen dann in den Park, wo er in Begleitung der wachsamen Maria eine kleine Ausfahrt mit seinem Eselskarren machte. Anastasia hatte von Monsieur Gilliard eine Strafarbeit bekommen und brütete kummervoll über französischen Verben. »Komm, du albernes Geschöpf, ich höre dich ab«, rief Olga schließlich. Tatjana war im Lazarett, und Olga hatte gerade mit Muße ein Bad in der von allen Schwestern benutzten silbernen Wanne genommen und ihr Haar mit einer nach Teerosen duftenden Essenz gewaschen, die sie besonders liebte. Den vier Mädchen standen keine eigenen Zofen zur Verfügung, wohl aber einige Gesellschafterinnen, junge Damen vornehmer Abkunft, die in Friedenszeiten vielleicht ihre Hofdamen geworden wären. Eine von ihnen bürstete nun Olgas glänzendes Haar, während sie in ihrem weißen Batist-Negligé am Fenster saß und den Konjunktivformen lauschte, die holprig aus Anastasias Mund kamen. Es war eine friedlichverträumte Szene, die ein Klopfen an der -204-
Tür jählings unterbrach. »Herein!« sagte Olga. Die Tür öffnete sich, und ein blonder junger Lakai trat ein, der erst seit kurzem in den Privatgemächern des Palasts Dienst tat. Er verneigte sich mit unterwürfiger, abbittender Miene. »Eure Kaiserliche Hoheit, Vater Grigorij bittet um die Ehre einer Audienz...« »Laß mich vorbei, Brüderchen!« Rasputin scheuchte den Diener in den Hintergrund. Gemessenen Schrittes stolzierte er in den hübschen femininen Raum, stolperte über einen Fußhocker und suchte an einer Sessellehne Halt. Er trug eine grobe, knielange Bauerntunika mit einem rissigen Ledergürtel und hohe Stiefel; sein Haar war verfilzt und fettig. Mechanisch hob er seine schmutzige Hand zu einer segnenden Geste. »Wo ist Matuschka?« stieß er lapidar heraus. Olga hatte als erstes ihr Negligé über den jungen Brüsten zugebunden und sich zugleich so abrupt erhoben, daß die französische Grammatik von ihrem Schoß auf den Boden fiel, und Anastasia, die ebenfalls aufgesprungen war, wich erschreckt einen Schritt zurück. Das Mädchen mit der Bürste stand wie versteinert hinter Olgas niedrigem Sessel. »Was sagen Sie?« fragte die Großfürstin ungläubig. »Ich habe gesagt: ›Wo ist Mama?‹ Und wo ist das alte Mädchen denn nun?« Olga blickte zur Tür, wo der Lakai ihrer Befehle harrte. »Gehen Sie sofort zum Palastkommandanten«, wies sie ihn an. »Bestellen Sie ihm, er möchte unverzüglich mit vier Kosaken von der Eskorte zu mir kommen. Und beeilen Sie sich!« Wütend wandte sie sich an Rasputin. »Ihre Kaiserliche Majestät ist im Winterpalais«, erklärte sie. »Ihre Spione könnten Sie besser -205-
informiert halten. Im übrigen hat Ihnen Seine Majestät, mein Vater, bereits vor Jahren streng verboten, diese Räume zu betreten.« Rasputins Augen verengten sich. Er näherte sich ein wenig, und sein fauliger Atem, vermischt mit schalem Branntweingeruch, wehte Olga entgegen. »Aha!« bemerkte er. »Unserem Kätzchen wachsen lange Krallen, wie? Die kleine Olga möchte anscheinend die große Katharina spielen. Wie würde sich ein Zepter in dieser hübschen Hand ausnehmen? Nein, nein!« Er schlug einen schmeichelnden Ton an. »Ihr getreuer Grigorij machte nur Spaß. Olga Nikolajewna, meine Liebe, mein Schwesterchen, Grigorij ist auf Matuschkas guten Willen angewiesen, Väterchen Zar ist weit fort, nicht zu erreichen, und ich brauche heute Hilfe...« »Was für eine Hilfe?« »Mein Junge«, erklärte der Mönch mit schlauer Miene, »mein einziger Sohn. Sie sagen, er muß mit der Zweiten Kategorie einrücken. Ein Soldat, Grigorijs Sohn Mitja, die Stütze der Familie, dieser armen kleinen Familie in Povrowskoje! Das darf nicht sein. Matuschka muß ein paar Zeilen schreiben, eine Anweisung, damit sie den armen Jungen wieder freigeben...« »Anderer Leute Söhne sind in den Krieg gezogen und haben ihr Leben für das Vaterland geopfert«, sagte Großfürstin Olga. »Warum sollte Ihrer eine Ausnahme sein?« »Ah, jetzt diskutieren Sie, wollen handeln wie ein Bauernmädchen!« Rasputins magnetische Augen waren ha lb geschlossen, und sein sinnlicher Blick wanderte über ihren ganzen Körper - jener Blick, der den Widerstand unzähliger Frauen der sogenannten guten Gesellschaft von Petrograd gebrochen hatte. »Und was für ein reizendes Bauernmädchen Sie sein würden. Goldblondes Haar, weiße Brüste, starke, kräftige Beine, die den Liebsten fest umschlingen können, wenn der hübsche Leutnant einmal mit Ihnen im Gebüsch -206-
verschwindet...« »Sie vergeuden Ihre Zeit mit solchen Blicken und Grimassen«, unterbrach ihn Olga. »Ich bin für Hypnose nicht geeignet.« Der erste Schock war überwunden, und nun beherrschte sie die Situation völlig. Rasputin schien das instinktiv zu fühlen und sagte in etwas normalerem, ruhigerem Ton: »Ich will Matuschka bitten, mir meinen Sohn wiederzugeben, so wie ich ihr oft den ihren wiedergegeben habe. Und Ihnen, Schwesterchen, gebe ich etwas ganz Besonderes als Entschädigung dafür, daß ich Sie beleidigt habe: Ich werde Ihnen das Geheimnis der Grünen Männer enthüllen.« »Wer sind denn die Grünen Männer?« »Wie, Sie haben noch nie von den Grünen Männern gehört? Es sind Freunde von mir, gute Freunde. Die meisten von ihnen leben in Schweden bei den Trollen, die aus geheimen Minen edles Metall zutage fördern. Aber ihre Freunde, die auch meine Freunde sind, die leben in Rußland. Einige hier, einige da, einige in Sibirien. Ich nenne sie die Grünlichen. Interessiert es Sie nicht, wie Väterchen Zar sie nennen sollte?« »Es interessiert mich nicht im geringsten, ich will es nicht wissen«, sagte Olga. Sie hatte die schweren Schritte der Kosaken im Korridor gehört und seufzte erleichtert auf. Der blonde Lakai öffnete die Tür, und der Kommandant kam mit seiner Eskorte herein. »Womit kann ich Eurer Kaiserlichen Hoheit dienen?« fragte der Soldat. »Geben Sie Ihren Leuten Befehl, Grischa Rasputin hinauszuschaffen und zu dem Tor zu bringen, das auf die Srednaja-Allee führt, wo er Freunde hat. Er darf diesen Teil des Palastes nie mehr betreten. Schärfen Sie das den Schildwachen ein. Und Sie...«, wandte sie sich wütend an den Diener, »Sie da... wie heißen Sie noch... Iwan! Sie sind wegen eines schweren Vertrauensbruchs entlassen, und wenn ich je höre, daß -207-
Sie irgendwo in kaiserlichen Diensten sind, lasse ich Sie auspeitschen.« Es war das Romanow-Temperament, das eine Generation übersprungen hatte. Der Kommandant zumindest war alt genug, um sich an entsprechende Zornesausbrüche Alexanders III. zu erinnern. Er salutierte hastig und sagte: »Ich schätze mich glücklich, Eurer Kaiserlichen Hoheit zu dienen!« Dann wies er seine Leute an, Rasputin und den Lakaien aus dem Raum zu entfernen. Der junge Mann ging schweigend hinaus. Rasputin konnte man noch bis zur Treppe fluchen hören. »Ich möchte mich jetzt anziehen, bitte«, sagte Olga zu der jungen Gesellschafterin. Das Mädchen war froh, forteilen zu können, um in dem großen Schrankraum nebenan das erstbeste Baumwollkleid bereitzulegen, und Anastasia trat neben ihre Schwester. »Olga... wird Mama nicht furchtbar böse sein?« »Vermutlich.« »Denn du weißt schon, sie wird genau das gleiche sagen, was er gesagt hat - daß er soundsooft Baby gerettet hat...« »Alexis ist es sehr unangenehm, immer noch Baby genannt zu werden, oder hast du das nicht gemerkt? Warum läufst du nicht hinaus und schaust, was er und Marie treiben? Ich glaube, du kannst deine Verben jetzt einigermaßen.« »Oh, danke, Olga!« Anastasia war sichtlich erleichtert, entrinnen zu können. Als Olga angekleidet war, ging sie in die Bibliothek hinunter, wo niemand nach ihr suchen würde, und überredete den Bibliothekar, ihr eins der verbotenen Bücher zu überlassen. Sie tat es eigentlich nur, um sich in ihrer herausfordernden Haltung zu bestätigen. Nach einigem Hin und Her gab er ihr Tolstois »Auferstehung« - ein Buch, in das sie schon ein paarmal heimlich einen Blick geworfen hatte - und kehrte dann an seinen Platz zurück, um sich die vernachlässigte Briefmarkensammlung des Zaren vorzunehmen, während sich -208-
Olga an das offene Fenster setzte und das Buch aufschlug. Sie war unfähig, sich auf den Text zu konzentrieren, weil ihr Verstand unaufhörlich um die Szene mit Rasputin und deren unvermeidliche Folgen kreiste. Er ist natürlich zu Anja gegangen, die sofort Mutter im Winterpalais angerufen hat, dachte sie. Und bestimmt ist Mutter bereits in der Srednaja und läßt sich meine Missetaten schildern. Na wennschon! Ich bin froh, daß ich es getan habe; es war höchste Zeit. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis Olga ein Motorengeräusch hörte, das die Limousine ihrer Mutter ankündigte. Eine Viertelstunde war es so still, als hielte der Palast den Atem an. Dann öffnete sich plötzlich die Bibliothekstür, und Tatjana erschien. »Oh, da bist du!« sagte sie zu Olga. »Ich habe dich überall gesucht.« »Wieso bist du schon so früh zurück?« »Mama rief im Lazarett an. Sie erwartet dich im Salon.« Der Privatsalon der Zarin war um die Zeit ihrer Heirat in blassem Grün dekoriert und mit zierlichen, dünnbeinigen Chippendalemöbeln eingerichtet worden. Im Laufe der Jahre hatten zahlreiche Familienporträts zwischen den bereits vorhandenen Platz gefunden, unter denen vor allem ein riesiges Gemälde von Marie Antoinette, für die die Zarin eine besondere Verehrung hegte, die Aufmerksamkeit auf sich zog. Es gab eine Fülle von Blumen und auf den Tischen neben den üblichen Ziergegenständen eine Anzahl Erbauungsbücher und schmale Gedichtbände, alle in weiches mauvefarbenes Leder gebunden, dem das Lieblingsemblem der Zarin, das Hakenkreuz, aufgeprägt war. Alexandra Feodorowna stand neben einem Arrangement mauvefarbener Treibhauswicken. Sie hatte ihr Cape noch nicht abgelegt und drehte ein Paar lange beige Wildlederhandschuhe zwischen den Fingern. -209-
»Olga!« begann sie, und der Ton ihrer Stimme verriet ihren Töchtern sofort, daß sie in einem Zustand kaum unterdrückter Hysterie war. »Olga, ich habe dich rufen lassen... ich möchte die Wahrheit aus deinem eigenen Mund hören... Warst du wirklich fähig, hast du es gewagt, unseren Freund hier in diesem Haus zu beleidigen?« »Ich bin sicher, Sie haben die Wahrheit mit ein paar Ergänzungen bereits von ihm und Anja gehört«, sagte Olga. »Kümmere dich nicht um Anja; laß sie aus dem Spiel. Vater Grigorij, der beste Freund, den wir je hatten und haben werden, kam in großer Betrübnis hierher, um eine Gefälligkeit von mir zu erbitten. Du hast ihm Jahre des Gebets zu unseren Gunsten, Jahre der vor dem Thron des Allerhöchsten geleisteten Fürsprache für Babys Leben damit vergolten, daß du ihn von Soldaten aus dem Palast hast entfernen lassen wie einen Dieb...« »Oder einen Betrunkenen«, sagte Olga. »Er mag wieder nüchtern gewesen sein, als Sie zu Anja eilten, um ihn zu trösten, aber er war es nicht, als er in mein Schlafzimmer schwankte, wo ich halb bekleidet saß...« »Betrunken!« rief die Zarin. »Das ist eine Lüge! Auch du hast dich also dem Pack angeschlossen, den Feinden, die Vater Grigorij verfolgen! ›Grischa Rasputin‹ hast du ihn genannt - was für eine Insolenz, was für eine Respektlosigkeit...« »So nennt er sich doch selbst«, bemerkte Olga, »wenn er mit den Huren in den Badehäusern trinkt und singt.« »Olga!« »Und dieses ›Pack‹, wie Sie es bezeichnen«, fuhr Olga gnadenlos fort, »umfaßt die gesamte Duma, den halben Generalstab, fast die ganze Presse, meine Großmutter... und meinen Vater.« Die Zarin sank in einen Sessel und winkte Tatjana ab, die an ihre Seite eilen wollte. -210-
»Tanja, geh in dein Zimmer und ruhe dich aus, Liebling...« »Bleib, wo du bist, Tatjana«, sagte Olga. »Wir wollen diese Angelegenheit ein für allemal klären; sie betrifft dich genauso wie mich. Du erinnerst dich bestimmt noch an den Abend vor fünf Jahren, als Rasputin in unserem Zimmer erschien, uns kitzelte und zu irgendwelchen Kußspielen zu überreden versuchte, bis die Kindermädchen fortliefen und unsere Gouvernante holten, damit die Sache ein Ende fände. O ja, damals hatten wir eine Gouvernante! Madame Tutschewa, die einzige gebildete Frau, die sich um uns gekümmert hat, und sie beklagte sich bei Papa über Rasputin, und Papa untersagte ihm, sich unseren Schlafzimmern noch einmal zu nähern. Natürlich rächten Sie sich; Sie entließen unsere Gouvernante, und heute war Rasputin zu betrunken, um sich an das Verbot zu erinnern, oder dachte vielleicht, er könne Papas Abwesenheit ausnutzen. Er muß auch den neuen Lakaien bestochen haben, um über die Privattreppe nach oben zu gelangen...« »Worauf du die Dreistigkeit hattest, selbstherrlich einen meiner Bediensteten zu entlassen...« »Ich würde den Palastkommandanten entlassen, wenn er uns an Rasputin verriete. Mutter, wann werden Sie endlich begreifen, daß Sie durch Ihre Begünstigung dieses primitiven, herumvagabundierenden Mönches das Vertrauen zerstören, das das Volk in Sie und uns alle setzt? Stolypin erreichte einmal, daß mein Vater Rasputin heimschickte, nach Sibirien. Wäre es nicht möglich, nach dem, was er heute getan hat, ihn wieder dorthin zu schicken?« »Das Vertrauen des Volkes!« ereiferte sich die Zarin. »Was für eines Volkes? Diejenigen Russen, die etwas taugen - die Bauern -, vergöttern Vater Grigorij, so wie sie ihr Väterchen, den Zaren, vergöttern. Das Volk, das ihn haßt - das sind nur gewisse Leute in Sankt... in Petrograd: dieser verderbten Stadt, an der überhaupt nichts Russisches ist. Und ich weiß, wer sie -211-
sind! Tante Miechen und ihre schrecklichen Söhne, und Nikolaj Michailowitsch, der mich von jeher verabscheut hat, seit ich ein siebzehnjähriges Mädchen war und sich dein Vater in mich verliebte, und Pauls Frau, und neuerdings auch Dimitrij! Alle Leute hassen mich, weil sie wissen, daß ich einen starken Willen habe und nie wankelmütig bin, und sie das nicht ertragen können! Aber es ist Grigorijs Segen, der mich stark macht! Ich kann sogar die Wunden überstehen, die du mir zugefügt hast. Olga! Oh, mein Herz... mein Herz!« Eine Hand um ihre linke Seite verkrampft, fiel ihr Körper schwer über die Armlehne ihres Sessels. Tatjana rannte herbei und kniete neben ihrer Mutter nieder. »Herzklopfen«, erklärte Olga und betätigte den langen bestickten Klingelzug. »Ich werde veranlassen, daß man die Ärzte schickt. Das ist schnell wieder vorbei.« Sie beruhigte die besorgten Hofdamen im Vorzimmer und ging nach oben. Eine ganze Weile später klingelte sie ihren Gesellschafterinnen, erkundigte sich nach dem Befinden der Zarin und erfuhr, daß Ihre Majestät sich niedergelegt habe, um ein wenig zu ruhen. Olga sagte, sie habe vor, in ihrem Zimmer zu speisen, und man möge ihr um acht Uhr ein leichtes Abendessen heraufschicken. Sie hatte eine Woche Nachtdienst hinter sich und mußte erst am anderen Morgen wieder im Lazarett sein. Nachdem ihr ein Tablett mit Eiern, Obst und Kaffee gebracht worden war, holte Olga ihre Zigaretten aus der Tasche ihres Schwesterncapes. Es war das erste Mal, daß sie hier im Palast rauchte. Nicht ohne einen gewissen Triumph ließ sie die Ereignisse des Tages an sich vorbeiziehen und fragte sich, was die merkwürdigen Anspielungen Rasputins auf die Grünen und die Grünlichen wohl bedeuten mochten. Redete er nur Unsinn, weil er zuviel Branntwein getrunken hatte? Oder existierten die Grünen Männer wirklich und standen als Freunde Rasputins zwangsläufig auf der Seite des Bösen? Sie versuchte sich gerade -212-
deutsche Regimenter in grünen Jacken vorzustellen, als Tatjana hereinkam. »Olga, was war das heute für ein schrecklicher Tag!« »Das Schlimmste davon hast du versäumt.« »O ja, Schätzchen, ich weiß, Vater Grigorij hat sich sehr ungehörig betragen, und Mama weiß es im Grunde auch, aber trotzdem... daß du ihn einfach hast hinauswerfen lassen!« »Ich habe nur bedauert, daß ich es nicht mit eigenen Händen tun konnte.« »Olga, warum sagst du solche Dinge, wenn du doch weißt, wie sie Mama aufregen? Sie hat ein bitterböses Telegramm nach Baranovichi geschickt.« »Ich nehme an, daß Vater dort Wichtigeres zu tun hat, als über Rasputin und mich nachzudenken.« »Vielleicht. Olga, warum kommst du nicht mit nach unten und erklärst, daß es dir leid tut, und dann gebt ihr euch einen Kuß, und alles ist wieder gut?« »Weil es mir nicht le id tut und ich kein kleines Kind mehr bin, Tanja. Ich habe mein Bestes getan, um ihr heute abend die Wahrheit zu sagen, aber sie will sie nicht hören...« Tatjana verschwand mit einer hoffnungslosen Geste im Ankleidezimmer. Als sie herauskam, hatte sie ihr Nachthemd und ihren Morgenrock über dem Arm. »Gehst du schon zu Bett? Es ist doch erst neun Uhr.« »Ich weiß, aber Mama ist in einem so nervösen Zustand, und sie wollen ihr kein Veronal geben. Vielleicht schläft sie leichter ein, wenn ich mich auch hinlege... Entschuldige, Olga. Ich weiß, eigentlich bist du an der Reihe, doch Mama wollte, daß ich heute bei ihr bleibe.« »Ich habe nichts dagegen. Du könntest deine schnarchende Bulldogge mitnehmen, wenn du mir einen Gefallen tun willst.« »Du brauchst dich nicht auch noch mit mir zu streiten«, sagte -213-
Tatjana bekümmert. »Komm, Ortipo.« Großfürstin Olga hatte kurz vor halb zehn noch einen weiteren Besucher. Es war der Thronfolger, der in einem weißen Pyjama, seinen großen grauen Kater in den Armen, in ihr Zimmer schlüpfte, nachdem er schnell noch einen Blick zurückgeworfen hatte. »Alexis!« rief seine Schwester. »Du solltest schon längst im Bett sein!« »Ich kann nicht einschlafen, solange es hell ist«, erwiderte der Junge, »und als Zilchik zum Abendessen hinunterging, kam mir plötzlich die Idee, daß ich auf einen Sprung zu dir herüberkommen könnte.« »Samt dem Kater?« »Ja, ich habe ihn mitgebracht, für den Fall, daß du dich ein bißchen einsam fühlst. Er kann bis morgen bei dir bleiben.« »Das ist sehr lieb von dir, Alexis.« Olga fand den dicken verwöhnten Kater zwar auch nicht reizvoller als den schnarchenden Hund, dessen Schlafplatz auf dem Teppich er gerade argwöhnisch beschnupperte, aber sie wußte, daß die Gesellschaft des Tieres das Beste war, was Alexis zu bieten hatte, und sie drückte den Knaben zärtlich an sich. »Olga, stimmt es, daß du sehr ungezogen warst?« »Ich glaube nicht. Ich finde, daß ich sehr vernünftig war, aber Erwachsene sehen die Dinge oft anders.« »Das ist wahr.« Die schönen blaugrauen Augen, die er vo n seiner Mutter geerbt hatte, waren nachdenklich auf Olgas Gesicht gerichtet. »Ich wollte, Papa wäre hier.« »Oh, ich auch.« »Ich habe übrigens meine Zuckerration mitgebracht.« Alexis förderte aus der Tasche seiner Pyjamajacke ein kleines weißes Stoffpäckchen zutage und gab es Olga. »Das ist mein Taschentuch für morgen früh«, versicherte er. »Es ist ganz -214-
sauber.« Es war auch sauber, doch der Effekt wurde ein wenig beeinträchtigt durch ein Sortiment Nägel, die der Zarewitsch, der mit Hingabe alles mögliche ho rtete, mit den zwei Zuckerstückchen zusammen eingewickelt hatte, und Olga unterdrückte ein Kichern. »Sind die Nägel auch für mich?« »Nein, nur der Zucker. Möchtest du ihn nicht gleich essen?« »Iß du ein Stück, und das andere hebe ich mir für meine letzte Tasse Kaffee auf. Du bist ein Schatz, Alexis, aber im Ernst Monsieur Gilliard bekommt sicher Zustände, wenn er dich bei seiner Rückkehr nicht im Bett vorfindet.« »Na schön.« Alexis zerkaute befriedigt sein Zuckerstück. Dann schlang er einen Arm um Olgas Hals und gab ihr einen klebrigsüßen Gutenachtkuß. Seine Lippen nahe an ihrem Ohr, flüsterte er: »Ich mag Vater Grigorij auch nicht besonders!« Als er fort war, nahm sich Olga Tolstois Roman vor, den der aufmerksame Bibliothekar in ihr Zimmer hatte bringen lassen. Doch sie ließ das Buch schon bald sinken, denn jetzt kam ihr dieser schöne Raum, in den Rasputin mit seinem ekelerregenden Atem hereingeschwankt war, wie eine Gefängniszelle vor. Sie warf sich ihr Cape um die Schultern, trat in den breiten, vom warmen Widerschein der untergehenden Sonne erfüllten Korridor hinaus und wandte sich der Tür zu, durch die man in den Mitteltrakt der Residenz gelangte. Nach Quarenghis schönem palladianischen Entwurf waren die beiden Seitenflügel, von denen der eine die Gemächer der Zarenfamilie, der andere die für das Gefolge und gelegentliche Gäste vorgesehenen Räume enthielt, nach außen hin durch eine Kolonnade und einen riesigen gepflasterten Hof und innerhalb des Palastes durch die sehr selten benutzten Prunkräume verbund en. Nur ein paar Kronleuchter brannten im Treppenhaus, und die prächtigen Säle lagen im Dunkeln, doch kaum hatte die -215-
Großfürstin den Fuß auf die erste Stufe gesetzt, als über ihr Lichter aufflammten und Hände in weißen Baumwollhandschuhen Kandelaber von Raum zu Raum trugen, bis jeder strahlendhell erleuchtet war - all dies zu Ehren (und im Hinblick auf etwaige Kaprizen) eines Mädchens, das in einem einfachen Sommerkleid, ein Pflegerinnencape über den jungen Schultern, daran vorbeiging. In der großen, ganz in Karmesinrot gehaltenen Halle, in der beim Herannahen der Prinzessin sechzehn Kosaken und Lakaien an den Marmorwänden Aufstellung genommen hatten, schritt Olga langsam an den Porträts der einst regierenden Kaiserinnen vorbei, die allesamt mehr für Rußland getan hatten als die meisten der ihnen nachfolgenden Männer - Katharina I., Anna, Elisabeth, Katharina II. -, und verweilte anschließend einen Moment vor einem jungen Gesicht. Es war Königin Victoria, ihre englische Urgroßmutter. Die Türflügel des Hauptportals schwangen auf, als sich Olga näherte, und ein Hofbeamter verbeugte sich und fragte, ob er ihr eine Limousine schicken solle... »Danke, nein.« Sie überquerte den Hof und ging langsam auf das Palasttor zu. Es war eine herrliche weiße Nacht, noch rosig im Westen, der Himmel hoch oben purpurfarben wie der Flieder, den sie am Vortag mit Simon Hendrikow geschnitten hatte. Die Wachen hatten sie erblickt. Sie hörte die knappen Kommandoworte eines Sergeanten und sah einen jungen Offizier aus der Wachstube auf der anderen Straßenseite eilen. Einen Augenblick lang hoffte sie, ein unwahrscheinlicher Zufall hätte bewirkt, daß Simon Hendrikow die Wache befehligte. Dann schwangen die großen Torflügel langsam auf, und sie konnte sein Gesicht erkennen. Er salutierte und fragte sie, ob sie für den Weg zum Lazarett eine Eskorte wünsche. Die Stimme weckte sie endgültig aus ihren Träumen. »Nein, danke, Hauptmann Wlaschkow«, sagte sie lächelnd. »Ich will gar nicht ins Lazarett. Ich habe überhaupt kein bestimmtes -216-
Ziel.« Sie wandte sich um und hörte, wie sich das Tor hinter ihr klirrend schloß. Und als sie zum Palast zurückging, hatte sie plötzlich das bedrückende Gefühl, daß sie alle an einen Weg gefesselt waren, der ins Nichts führte, daß sie hilflos einem Nirgendwo zutrieben. »Um vier Uhr, sagen Sie, wird meine Enkelin abgelöst?« Die Kaiserinwitwe telefonierte mit der Chefchirurgin des Palastlazaretts in Zarskoje Selo. Jetzt sagte sie mit ihrer angenehmen, liebenswürdigsten Stimme: »Nein... nein, auf keinen Fall. Nichts liegt mir ferner, als irgendwelche Privilegien für sie zu erbitten. Sie soll nur vom Lazarett aus sofort zu mir kommen... Wie? Ja, ich werde Ihre Majestät selbst benachrichtigen. Sagen Sie der Großfürstin, daß ich sie abholen lasse... Ich danke Ihnen... Sie leisten Großes für unsere tapferen Männer.« Lächelnd lauschte die Kaiserinwitwe den formellen Höflichkeiten, mit denen sich die Chefchirurgin des Lazaretts verabschiedete, und legte dann den Hörer auf die Gabel. Wieder einmal hatte sie erreicht, was sie wollte, wie nun schon fast fünfzig Jahre lang - seit die kecke kleine Dagmar von Dänemark als frisch angetraute Gemahlin des zukünftigen Zaren in St. Petersburg eingetroffen war. Eine ausgezeichnete Tänzerin und Schlittschuhläuferin, hatte sie sich von jenem Tag an tanzend und schlittschuhlaufend über alle Schicksalsprüfungen und Schwierigkeiten hinwegbewegt, und wiewohl sie sich den Staatsgeschäften stets ferngehalten hatte, stak in ihrem kleinen Finger mehr Gespür für Politik als in dem ganzen verworrenen Gehirn ihrer Schwiegertochter, der Zarin. Es war erst halb drei, und es würden mindestens zwei Stunden verstreichen, bis Olga eintreffen konnte, doch die Kaiserinwitwe, trotz ihrer achtundsechzig Jahre von eiserner -217-
Selbstdisziplin, hatte niemals der Versuchung nachgegeben, einen Mittagsschlaf zu halten. Sie schrieb ein paar Briefe und las noch einmal aufmerksam die Abendzeitung durch, die sie zu ihrem Telefonanruf veranlaßt hatte. Dann ging sie mit einer Hofdame eine Weile in den Gärten des Anitschkowpalastes spazieren, der seit vielen Jahren ihre Stadtresidenz war - eine kleine Welt innerhalb der großen Welt, eine Insel, umgeben von dem pulsierenden Leben des Newski Prospekts auf der einen Seite und dem Fontankakanal, der an Quarenghis prächtigem Portikus vorbeifloß, auf der anderen. Marie Feodorowna war nie so schön gewesen wie ihre Schwester Alexandra, jetzt Königinwitwe von England, aber sie hatte ein lebhaftes kleines Gesicht mit großen dunklen Augen, eine noch immer mädchenhaft zarte Taille und sehr viel Anziehungskraft. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich im Alter gehenzulassen, und Boudoirs und Negligés schätzte sie nicht; kerzengerade, die verkörperte Akkuratesse in dem schlichten schwarzen Kleid und dem Perlenhalsband, schwebte sie förmlich über den Teppich des Roten Salons, um ihre Enkelin mit einem Kuß zu begrüßen. »Nun sag mir erst einmal, was du angestellt hast, du unartiges Mädchen, daß dein Name in den Zeitungen erscheint!« »Mein Name in den Zeitungen?« Olga war aufrichtig überrascht. »Großmama - hat es etwas mit meinem Soldatenkomitee zu tun?« »Es hat etwas mit diesem schrecklichen Rasputin zu tun. Wußtest du es nicht? Lies das.« Auf der Titelseite der Vechernaja Vremia fand Olga den »Weitblick und die Energie« gerühmt, mit der sie den von der Suvorin-Presse ständig gegebenen Rat angenommen und »den Scharlatan Rasputin aus den kaiserlichen Palästen verbannt« hatte. »Verbannt!« sagte Olga. »Paläste! Er kommt bestimmt -218-
wieder.« »Das fürchte ich auch - er oder ein anderer von der gleichen Sorte. Rasputin ist nicht der erste, weißt du. Erinnerst du dich noch an Philippe Vachod?« »Monsieur Philippe, den Franzosen? Der Mama die Glocke gab, die läutete, wenn schlechte Einflüsse auf sie zukamen? Sie besitzt sie noch.« »Natürlich«, sagte Marie Feodorowna verachtungsvoll. »Doch mir geht es um deine Person, Olga. Es ist höchst unangenehm für mich, den Namen meiner Enkelin auf der Titelseite eines so fragwürdigen Blattes zu sehen - und der Himmel weiß, wie Graschdanin und Rech die Sache noch ausbeuten werden. Am besten schilderst du mir selbst, was geschehen ist.« Olga erzählte, wie Rasputin in ihr Schlafzimmer eindrang, und bemerkte mit freudiger Genugtuung den zornigen Ausdruck in dem faltigen kleinen Gesicht ihrer Großmutter. Triumphierend schloß sie: »Überhaupt ist es mir gleich. Ich habe meinen Vater auf meiner Seite!« »Hast du von ihm gehört? Deine Mutter sagte mir, sie habe telegrafiert.« Olga zog ein zerknittertes Telegramm aus ihrer Schwesternschürze und reichte es ihrer Großmutter. Die Kaiserinwitwe las laut: »›Mein kleines Mädchen muß sich vor Augen halten, was unser Freund für uns getan hat, und ihm seinen Fehler verzeihen, der sich nicht wiederholen wird. Küsse Mama, deine Schwestern und Baby von deinem dich liebenden alten Papa und sei ein liebes Kind.‹ Hm! Das ist auf alle Fälle klar.« Sie besah sich das Telegramm noch einmal durch ihre goldgeränderte Lorgnette. »Er hat ganz offenbar die Absicht, Rasputin diesmal wegzuschicken.« »Meinen Sie? Ich hoffe, Sie haben recht, Großmama.« -219-
»Kennt deine Mut ter dieses Telegramm?« »Es kam vor dem Frühstück an, und sie las es als erste.« »Ich habe heute nachmittag auch mit Tatjana gesprochen. Sie erzählte mir, daß deine Mutter dich nicht einmal sehen wollte, bevor du ins Lazarett gingst.« »Es ist alles meine Schuld!« bekannte Olga großmütig. »Ich habe gestern zuviel gesagt, weil ich so wütend auf Rasputin war. Ich habe sie krank gemacht. Sie hat heute schreckliche Kopfschmerzen.« »Oder Rückenschmerzen oder Magenschmerzen oder Schmerzen in allen Gliedern. Deine arme Mutter ist die größte Dulderin aller Zeiten. Oh, ich wußte gleich, wie es kommen würde, als sie und Nicky sich verlobten. Sie mußte sofort zu einer Rheumakur nach Harrogate. Und ein paar Monate später, als sie uns in Livadia besuchte, wo dein lieber Großpapa im Sterben lag, klagte sie immerfort über Schmerzen in ihren Beinen. Schmerzen in den Beinen! Eine junge Prinzessin von zweiundzwanzig Jahren erlaubt sich einfach nicht, Schmerzen zu haben, ganz gleich wo, wenn der Herrscher ihres zukünftigen Heimatlandes stirbt.« »Sie sind so spartanisch, Großmama! Mutter sagt, ihre Gesundheit sei dadurch ruiniert worden, daß sie so kurz hintereinander fünf Babys bekam und alle stillte.« »Ich hatte auch eine große Familie, und es hat mir nicht geschadet... Natürlich habe ich rohen Schinken gegessen«, fügte die Kaiserinwitwe nachdenklich hinzu. »Rohen Schinken?« »Jeden Tag vor dem Aufstehen. Es ist das Beste gegen Übelkeit am Morgen. Denk daran, meine Liebe, wenn du in die Lage kommst.« »Ich glaube nicht, daß ich je in die Lage kommen werde.« »Nein? Nun, wir werden uns der Sache annehmen, und zwar -220-
so schnell wie möglich. Aber klingle jetzt, Olga, es ist Zeit für den Tee. Und nimm deinen Schleier ab, damit ich dein Haar sehen kann. Hm! Wann bist du zum letztenmal ordentlich frisiert worden?« Eine ganze Dienerschar erschien mit Teetischen und Tabletts, und solange sie sich in dem Raum aufhielten, führte die alte Kaiserin die Konversation auf französisch fort. »Wie mag diese Geschichte, die doch erst gestern passiert ist, überhaupt in die heutigen Zeitungen gelangt sein?« »Das habe ich mir auch schon überlegt.« »Welche von den Gesellschafterinnen hielt sich denn bei dir auf?« Olga sagte es ihr. »Aber sie hätte so etwas nie an die Presse weitergegeben...« »Das glaube ich durchaus. Der General - unmöglich. Einer der Kosaken?« »Ich nehme an, es war der blonde Lakai. Ich habe ihn ja entlassen.« Die Kaiserinwitwe lächelte. »Das wußte ich nicht. Kein Wunder, daß deine Mama verärgert war.« »Er hat einen Vertrauensbruch begangen«, sagte Olga trotzig. »Ja, schön, an alledem ist jetzt sowieso nichts mehr zu ändern. Was mich beschäftigt, ist deine Zukunft. Zunächst einmal möchte ich nicht, daß du Tag für Tag dem Seufzen und Schmollen deiner Mutter ausgesetzt bist.« »Man darf es ihr nicht verübeln, daß sie klagt und mürrisch ist. Es liegt einfach in ihrer Natur.« »Ich weiß.« Marie Feodorowna preßte die Lippen fest zusammen, um nicht hinzuzufügen: »Und ich ertrage ihre Launen nun schon fünfundzwanzig Jahre lang, seit sich der arme Nicky in sie verliebte. Und schlimm wurde es vor allem nach ihrer Heirat, als sie zu uns kam und es darauf anzulegen schien, -221-
Zwietracht in der Familie zu säen und die ganze St. Petersburger Gesellschaft vor den Kopf zu stoßen!« Doch da Olga nun einmal die Tochter dieser Frau war, und Alexandra sich innerhalb ihrer Grenzen immerhin als gute Mutter erwiesen hatte, bemerkte sie nur: »Sie hat ihren schwierigen Charakter von deiner anderen Großmutter geerbt, von Fürstin Alice. Dieser religiöse Eifer, dieser wilde Enthus iasmus für alle möglichen ›Männer Gottes‹, diese herrische Taktlosigkeit...« Sie beendete ihren Satz nicht. »Kannten Sie meine andere Großmutter?« »Ja, recht gut. Von England her, aus der Zeit, als meine Schwester Alice jungverheiratet war. Königin Victoria hatte immer sehr viel an Alice von Hessen auszusetzen. Ihr tragischer Tod verklärte sie natürlich dann wieder. Doch das alles hat nichts mit dir zu tun, meine Liebe. Und was dich betrifft, so möchte ich dich glücklich verheiratet sehen...« »Liebe Großmutter, das ist leichter gesagt als getan.« »Das klingt recht melancholisch. Es tut dir doch nicht leid, daß du den rumänischen Prinzen abgewiesen hast?« »O nein!« »Das freut mich, ich konnte dich mir nie in Bukarest vorstellen. Olga Nikolajewna als zukünftige Königin dieses halborientalischen verweichlichten kleinen Landes...« »Mit diesem halborientalischen verweichlichten jungen Mann verheiratet.« »Deine Mutter war wegen der orthodoxen Religion so sehr dafür, nicht wahr?« »Ich nehme es an.« »Hat der Glaube, in dem du getauft worden bist, für dich viel Bedeutung?« »Wenn Sie den christlichen Glauben meinen, ja. Wenn Sie den orthodoxen Ritus meinen, so hänge ich nicht mehr daran als Sie an dem lutheranischen, den sie aufgaben, um meinen -222-
Großvater zu heiraten.« »Ich hätte dem Himmel gedankt«, sagte die Kaiserinwitwe fromm, »wenn deine Mutter sich vor vielen Jahren ebenso anpassungsfähig gezeigt hätte. Wie oft habe ich sie damals davon zu überzeugen versucht, daß der Ritus keine Rolle spielt, daß es eben verschiedene Formen gibt, unseren Heiland anzubeten. Pflichtest du mir bei? So, und jetzt möchte ich dir einen kleinen Plan unterbreiten, den ich für uns gemacht habe. Du pflegst nun seit fast einem Jahr ununterbrochen Verwundete. Es ist Juni, die beste Zeit für eine Reise nach Dänemark. Wie, wenn du und ich einmal Ferien machen und Kopenhagen besuchen würden? Du hast deine dänischen Verwandten lange nicht mehr gesehen.« »Großmama, Sie sind sehr gütig, aber ich kann meine Arbeit im Lazarett nicht einfach aufgeben, nur weil Sie glauben, ich hätte Erholung nötig.« »Und anschließend könnten wir ein oder zwei Wochen in London verbringen. Dort könntest du sogar noch mehr Gutes tun als hier«, spann die alte Dame geschickt ihren Faden weiter. »Die Engländer wissen so wenig von Rußland. Oder vielmehr, sie kennen nur die böswillige Propaganda, die dieser niederträchtige Sozialist, Ramsay McDonald, verbreitet. Du siehst, ich weiß sehr wohl, was vorgeht. Wenn du, die älteste Zarentochter, da wärst und ein wenig Interesse für Königin Marys großartiges Hilfswerkprogramm bezeigtest und die Leute kennenlerntest, auf die es ankommt - Minister, Generäle -, dann würden sie Rußland einmal von einer anderen Seite sehen, nicht wahr?« »Möglicherweise. Zählen Sie übrigens auch den Prinzen von Wales zu den Leuten, auf die es ankommt?« »Er steht mit seinem Regiment an der Front, wie mir meine Schwester schreibt.« »Aber wenn Sie und Königin Alexandra nachdrücklich darum -223-
bäten, könnte er doch sicher im Handumdrehen zu Hause sein, oder nicht?« Olga lachte. Sie stand auf und küßte die diskret gepuderte Wange ihrer Großmutter. »Oh, Liebste, Sie geben nie auf. Mir scheint, Sie spielen immer noch mit dem Gedanken, aus mir und dem armen David von Wales ein Paar zu machen.« Marie Feodorowna ergriff Olgas Hand und flüsterte: »Ich träume seit deiner Geburt davon, dich als Königin von England zu sehen!« Olga rückte ihren Sessel näher. »Hören Sie mich bitte an, liebste Großmama. Ich sagte meinem Vater einmal, daß ich nie ins Ausland heiraten möchte. Inzwischen ist mir klargeworden, daß ich auch eine Ehe ohne Liebe nicht akzeptieren kann. David war fünfzehn und ich vierzehn, als wir das letztemal in England waren; was für Gefühle, ernst zu nehmende Gefühle, hätten zwischen uns entstehen sollen? Jetzt ist er einundzwanzig, und ich bin fast zwanzig; und wenn unsere Familien auf unserer Vermählung bestünden, zwängen sie uns damit eine Ehe ohne Liebe auf. Haben Sie noch nicht genug solcher Fälle gesehen, Großmama? Oh, ich weiß, Sie waren eine Ausnahme. Sie akzeptierten den Mann, den Ihre Eltern Ihnen aussuchten, und Sie haben mir oft erzählt, daß Sie und Großpapa glücklich zusammen waren. Aber die Dinge entwickeln sich nicht immer so, und außerdem schreiben wir heute das Jahr 1915, nicht 1866. Der Prinz von Wales hat im Augenblick nichts anderes im Sinn, als aktiv an den Kämpfen teilzunehmen, und im übrigen bin ich überzeugt davon, daß der König und die Königin ihn nie in eine Ehe drängen werden.« »Wenn sie es nicht tun, könnten sie das eines Tages bereuen«, meinte Marie Feodorowna. »Prinzen und Prinzessinnen sollten jung heiraten, das ist ihre oberste Pflicht, und wenn Géorgie und Mary nicht bald eine passende Braut für diesen Jungen suchen, dann könnte es sein, daß er ihnen mit den Jahren noch unliebsamste Überraschungen bereitet.« -224-
»Ich bin sicher, daß ich nicht die passende Braut bin, liebe Großmama.« Die Kaiserinwitwe seufzte. »Ich möchte trotzdem, daß du dir die Sache in Ruhe überlegst. Und inzwischen schlage ich dir folgendes vor...« Sie trug Olga an, einen Monat bei ihr im Anitschkowpalast zuzubringen. Es sei viel zu anstrengend für ein Mädchen, ständig zwischen dem Lazarett und diesen endlosen Komiteesitzungen hin- und herzufahren und daneben Flüchtlingsunterkünfte und Wohltätigkeitsveranstaltungen zu besuchen; dazu kam in den nächsten beiden Wochen noch der Stapellauf zweier Schlachtschiffe. Warum sollte sie unbedingt zu Hause bleiben und sich ständig kritisieren und wie ein Kind behandeln lassen? Es war weitaus vorteilhafter, für eine Weile in Petrograd zu leben. »Und ich hätte Gesellschaft«, schloß die alte Dame sehnsüchtig. Das Mädchen merkte, daß sie sich mit ihrem durchwegs ältlichen Hofstaat in dem riesigen Palast einsam fühlte. »Großmama, es ist sehr lieb, mir das anzubieten, aber ich kann meinen Posten nicht verlassen, selbst wenn ich Ihnen damit einen Gefallen täte. Es wäre eine Desertion...« »Du mißt diesem höchst umpassenden ›Posten‹, wie du ihn nennst, viel zuviel Gewicht bei.« »Vielleicht. Tanja ist eine bessere Pflegerin als ich, und Marie wird uns wahrscheinlich beide übertreffen, wenn sie im nächsten September beginnt. Trotzdem muß ich mich weiter bemühen...« »Sei nicht lächerlich, Kind. Es gibt zehn Lazarette in Petrograd, in denen du dich für ein paar Wochen betätigen kannst, wenn es unbedingt sein muß, und ich kenne ein Dutzend junge Damen, die mit Freuden deinen Platz im Katharinenpalast einnehmen würden. Du könntest zum Beispiel deine Vormittage dem Lazarett des Britischen Roten Kreuzes widmen; unseren Alliierten gegenüber wäre das eine schöne Geste, und die Idee -225-
würde auch Dimitrij gefallen, davon bin ich überzeugt.« Ein Lächeln überzog Olgas Gesicht. »Dimitrijs Lazarett!« sagte sie. »Daran hatte ich nicht gedacht. Ja, das könnte gehen.« Die Kaiserinwitwe spielte mit der goldenen Uhrkette, die um ihren schwarzen Seidengürtel geschlungen war. »Olga«, sagte sie, »gibt es einen bestimmten Grund, weshalb du Rußland nicht verlassen willst? Du machst in letzter Zeit einen sehr glücklichen Eindruck. Du müßtest erschöpft aussehen, und ich finde dein Äußeres sträflich vernachlässigt. Nichtsdestoweniger bist du hübscher als je zuvor. Man möchte meinen, du seist verliebt. Olga - ist es Dimitrij?« »Dimitrij und ich sind sehr gute Freunde. Das ist alles.« »Deine Eltern glaubten früher einmal, daß aus eurer Beziehung eine glückliche Ehe werden könnte.« »Es kam eben anders«, gab Olga leichthin zurück. »Dimitrij verliebte sich in meine Kusine Irina...« »Aber sie zog Felix Jusupow vor, obschon ich nicht weiß, warum.« »Felix und Irina scheinen sehr glücklich zu sein, und jetzt haben sie ein süßes kleines Mädchen. Wie fühlt man sich als Urgroßmutter?« »So als gehörte man schon der Geschichte an, meine Liebe. Und versuch nicht, das Thema zu wechseln, wir sprachen über dich.« »Ich darf doch ganz offen zu Ihnen sein, nicht wahr? Bitte, machen Sie keine Heiratspläne mehr für mich. Ich möchte weder Dimitrij noch den Prinzen von Wales oder Carol...« »Was möchtest du denn dann?« »Geliebt werden, sonst nichts.«
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11 Über Petrograd lag noch das Licht der weißen Nächte, aber im »Roten Sarafan« hätte man meinen können, es sei tiefster Winter. In der kleinen Gaststätte herrschte immer ein von Petroleumlampen und Kerzen spärlich erhelltes Halbdunkel, und sie war stets überfüllt. An einem Sommerabend saß dort ein breitschultriger Mann, der besser genährt aussah, als die übrigen Anwesenden und seit dem Winter sogar Gewicht angesetzt hatte: der Herausgeber der Burg-Notizen, Jakob Levin. Er hatte soeben das Glas seiner Sekretärin neu gefüllt, die wenige Minuten zuvor erhitzt und durstig angekommen war. »Na, fühlst du dich besser?« erkundigte er sich wohlwollend. »Wesentlich besser.« »Du hast ausgesehen, als hättest du das nötig.« Sie hatten Drucktag gehabt und sich ihr Glas Wein verdient. »Jakob, ich muß dir etwas sagen.« Er hatte ihr auch etwas zu sagen, aber Mara Trenowa kam einem immer zuvor. Sie mußte immer als erste reden, mit allem herausplatzen, was ihr gerade im Kopf herumging; das war einer der Gründe, weshalb ihr Jakob Levin in seinem letzten Bericht so viele Minuspunkte gegeben hatte. »Was denn?« »Meine Mutter geht für den Rest des Sommers aufs Land.« »Wohin?« »Oh, nicht weit weg. Nach Koivisto in Finnland, die Hendrikows haben dort eine Datscha. Meine Mutter tut ihnen anscheinend leid, immer so einsam, die Tochter von ihrer Arbeit beansprucht und den ganzen Tag über fort...« »Und die halbe Nacht, wie?« -227-
»... Jedenfalls haben sie ihr angetragen, als eine Art Haushälterin für den Professor und seine Frau zu fungieren. Dolly geht diesen Sommer nicht mit, weil sie sich mit Leib und Seele dem Pflegedienst verschrieben hat.« »Während ihr Bruder Karriere macht.« »Karriere? Inwiefern?« Levin hatte die Abendzeitung vor sich liegen, die sich mit dem bevorstehenden Stapellauf des Schlachtkreuzers Poltawa befaßte. »Zum Gefolge seiner Kaiserlichen Majestät des Zaren...«, las er vor, »gehören unter anderem Seine Hoheit Großfürst Dimitrij Pawlowitsch, Adjutant des Zaren, Admiral Nilow, Fregattenkapitän Sablin; zum Gefolge Ihrer Kaiserlichen Hoheit der Großfürstin Olga: Madame Soundso, Gräfin Soundso, Leutnant Simon Hendrikow.« »Sein Vater, der alte Snob, wird überglücklich sein«, bemerkte Mara. »Du gehst mit dem Wohltäter deiner Mutter nicht sehr höflich um. Was hast du überhaupt vor? Bleibst du allein in der Jamskaja wohnen?« »Selbstverständlich, ich wüßte nicht, wo ich sonst hingehen sollte.« »Das könnte seine Vorteile haben.« Levin gähnte, streckte die Beine aus und rief der abgehetzten Kellnerin zu, daß sie noch eine Flasche Wein bringen solle. »Mara, jetzt müssen wir etwas sehr Wichtiges bespreche n. Ich gehe Ende nächster Woche nach Moskau - nein, es ist keine Geschäftsreise, für immer.« »Und weshalb, Jakob?« Im Kerzenschein sah er, wie sich ihre Augen weiteten, doch das war auch alles. »Einmal kann es mir, nachdem die Sache mit der Zweiten Kategorie nun amtlich ist und im September die Stellungsbefehle ergehen werden, sehr leicht blühen, daß man -228-
mich trotz meiner verstümmelten Hand in die Sümpfe am Naroch-See schickt. Und zum zweiten hat ein Freund von der anderen Seite des Flusses, du weißt schon, was ich meine, unserem Verleger und Chef den deutlichen Wink gegeben, daß die Burg-Notizen ihr Erscheinen für eine Weile einstellen sollten.« »Aber warum nach Moskau?« »Man findet offenbar, ich sei dort nützlicher als hier.« »Nimmst du mich mit, Jakob?« »Ich glaube, daß die Partei andere Pläne mit dir hat.« »Ich bin kein Mitglied der Partei. Ich bin unabhängig und kann mir jederzeit irgendwo eine neue Stellung suchen.« »O nein, das kannst du keineswegs.« Seine verkrüppelte Hand umfaßte die ihre mit jenem Griff, den sie auf eine fast perverse Art so erregend fand. »Du hast schnell gelernt, und früher oder später wirst du in die Partei aufgenommen. In anderer Hinsicht warst du allerdings eine Enttäuschung. Als Kamerad für die gezielte Aktion bist du völlig unbrauchbar.« »Laß mir Zeit«, sagte Mara gekränkt. »Du hattest sechs Monate Zeit. Und daß du in der Handhabung von Pistolen ein hoffnungsloser Fall bist, war mir klar, seit wir zum erstenmal draußen im Ödland Schießübungen machten. Du triffst kein Scheunentor auf zehn Schritt! Und damals bei der Explosion in den Okhta-Werken - da verlorst du völlig den Kopf und gingst so weit, in aller Öffentlichkeit eine Szene zu machen, nur weil du gesehen hattest, wie der junge Stepan, weil er die Sprengladungen falsch pla ziert hatte, in Stücke gerissen wurde - ein Junge, den du kaum kanntest! Was hast du da für ein Theater aufgeführt. Nur weil Stepan den Mut hatte, sein Leben zu opfern, damit andere, noch ungeborene Kinder ein besseres Leben hätten als wir...« -229-
Mara unterdrückte den Gedanken an die Kinder, die als Folge des Okhta-Attentats ums Leben gekommen waren, als das Feuer auf die Arbeiterwohnungen übergriff. Gequält bemerkte sie: »Das alles hast du mir doch schon vorgehalten, Jakob. Du willst mich nur noch weiter strafen, weil ich damals mit Joseph Calvert nach Hause gegangen bin.« »Und wie oft seither?« »Nicht sehr oft. Joe Calvert ist genau das, was du zu sein versuchst ein Mann, der ganz in seiner Arbeit aufgeht. Sem Beruf kommt zuerst, und ich habe überhaupt keinen Platz in seinem Leben, es besteht also kein Anlaß, eifersüchtig zu sein.« »Eifersüchtig!« Levins hartes, grobes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Trenowa, meinetwegen könntest du mit der halben Baltischen Flotte ins Bett gehen. Wenn es dir Spaß macht, mit mir ins Bett zu gehen - schön -, aber das gibt uns kein Recht aufeinander. Wir sind Kampfgefährten und sonst nichts.« »In diesem Fall«, sagte Mara, bemüht, ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen, »gehe ich wohl jetzt besser nach Hause. Ich komme morgen früh ins Büro und hole mir mein Gehalt ab.« »Setz dich«, entgegnete Levin und zog sie unsanft wieder auf ihren Platz, als sie aufstand. »Wir können es dir leider nicht gestatten, daß du uns hochnäsig den Rücken kehrst wie eine kleine Stenotypistin, deren Schwager ihr eine Stellung in einem Ministerium besorgt hat. Du kannst nicht mehr abspringen. Du weißt zuviel.« »Du kannst dich auf meine Verschwiegenheit hundertprozentig verlassen.« »Ich traue prinzipiell niemandem. Ich habe dich beobachtet, während du deine Entdeckungen machtest - oh, du hast viel Scharfsinn dabei bewiesen! Du sahst aus wie eine Katze vor -230-
einer Schüssel Rahm, als du dahinterkamst, daß zusammen mit den Schokoladenklassikern auch Botschaften Lenins, die zwischen den Seiten von Pikovaya Dama und Voina i Mir staken, an die Zellen in den Provinzen versandt wurden. Und dann der Code in den Notizen, in den Briefen an den Herausgeber. Wie hast du das übrigens herausgefunden?« »Ich habe mir diese Seiten- und Absatzverweise ein bißchen genauer angeschaut.« »Siehst du? Du bist sehr fähig, solange du dich von Schußwaffen fernhältst. Und jetzt wirst du folgendes tun: Du kommst morgen und holst dein Geld ab, wie du gesagt hast. Den Abend verbringen wir noch einmal in meinem Zimmer im ›Hotel du Nord‹, bis der Zug nach Moskau abfährt. Du hast dann ein paar Tage, um deine Mutter nach Finnland zu begleiten, und am Montag trittst du deine neue Stellung bei der Prawda an.« »Aber ich will nicht für die Prawda arbeiten! Dort muß man doch ständig damit rechnen, daß die Polizei erscheint!« »Nein, für eine Weile werden sie Ruhe haben, nachdem jetzt der Herausgeber zusammen mit den fünf Bolschewiken nach Sibirien verbannt worden ist. Der Redaktionsstab ist praktisch neu, und sie brauchen Hilfe. Ich habe dich als Redaktionsassistentin empfohlen, vor allem wegen dieser Füller, die du für die Notizen geschrieben hast. Du hast einen guten Instinkt für so etwas - und auch für Titel und Vorspanne. Du wirst bestimmt deinen Weg machen.« Levin tastete seine Taschen nach Zigaretten ab. »Wie, wenn ich mich rundweg weigere, für die Prawda zu arbeiten? Es ist eine Bolschewikenzeitung. Und ich bin kein Parteimitglied.« »Du wirst es bald sein«, sagte er. »Und ein bekanntes Gesicht findest du bei der Prawda schon vor. Ich habe nämlich auch für Sergiew einen Posten besorgt, einen recht guten sogar. Er will nicht sein Leben lang den Laufburschen spielen.« -231-
»Und ich hatte gehofft, ihn morgen zum letztenmal zu sehen! Ehrlich, Jakob, er verursacht mir Gänsehaut...« »Das ist ein Jammer, denn er hat unter anderem die Aufgabe, dich im Auge zu behalten. Sergiew erstattet über dich Bericht, du erstattest über Sergiew Bericht, und die Parteimitglieder im Redaktionsstab erstatten über euch beide Bericht. So wird es gemacht, meine Liebe; ein äußerst wirksames Verfahren. Und jetzt wollen wir etwas essen und noch ein Glas zusammen trinken.« Es war vermutlich auf diesen Abend zurückzuführen, daß sich Mara Trenowa am nächsten Tag, das Gehalt für zwei Wochen in der Tasche, auf der Wassilij-Insel einfand, wo der Zar und sein Gefolge nach dem Stapellauf des Schlachtkreuzers Poltawa vorbeikommen würden. Ihr Kopf schien fast zu zerspringen von den Nachwirkungen des Krimweins, der Angst vor der Zukunft und dem unangenehmen Gedanken an die kommende Nacht (immerhin würde es die letzte in Levins schäbigem Zimmer im alten »Hotel du Nord« gegenüber dem Nikolaus-Bahnhof sein, wo so viele Revolutionäre unter falschem Namen gewohnt hatten). Mara hatte mit Karossen und Kosaken gerechnet, und die Automobile rollten so leise heran, daß sie den Zaren fast nicht mehr gesehen hätte, als er - mechanisch die Hand an die Mütze hebend - vorbeifuhr. Großfürstin Olga saß mit glücklich geröteten Wangen in einem nachfolgenden offenen Wagen, neben sich ihren Vetter, den Großfürsten Dimitrij Pawlowitsch. Ein Blumenbukett lag in ihrem Schoß, und unermüdlich winkte ihre weißbehandschuhte Hand der Menge zu, die ihren Namen - nicht den des Zaren rief. Auf Wunsch ihrer Großmutter trug sie einen sehr kleinen Hut, der nichts verhüllte, und sie beherzigte auch den Rat, von Zeit zu Zeit zu den Fenstern der hohen Gebäude am Kai -232-
hinaufzublicken, wo Studenten und Büroangestellte - nicht alle freundlich gesinnt - die Vorbeifahrt des Zaren erwartet hatten. Olga war ein neues Gesicht für sie, ein junges, hübsches Gesicht, eine angenehme Abwechslung nach all den mürrischen, starren Gesichtern, die sie so gut kannten, und einige von ihnen applaudierten sogar, ohne es zu wollen. Großfürst Dimitrij war mit Abstand der hübscheste junge Mann in der Familie, groß, mit regelmäßigen Zügen und vollem blonden Haar, und er hatte auch die meiste Ähnlichkeit mit Alexander II., dem Befreier der Leibeigenen. Als jetzt der Wagen nach rechts zur Nikolausbrücke abbog, grinste er seiner Kusine kameradschaftlich zu und bemerkte, daß sie bezaubernd aussehe, daß sie sich der unerwarteten Situation auf brillanteste Weise gewachsen gezeigt habe, und Gott, daß es ihn ungeheuer nach etwas Trinkbarem gelüste. Die beobachtenden Gesichter verschwanden von den Fenstern, die Menge zerstreute sich, das Schauspiel war vorüber. Als die Fahrbahn frei war, ging Mara Trenowa von der Bordkante bis zur Straßenmitte und stellte fest, daß die Distanz für einen Schützen, der, im Gegensatz zu ihr, ein Scheunentor auf zehn Schritt traf, ganz genau zehn Schritte betragen hätte. Der Zar, der sich die Eifersuchtsszene vorstellen konnte, die ihm seine Frau gemacht hätte, wenn es ihm in den Sinn gekommen wäre, in der Stadt zu bleiben und bei seiner Mutter zu speisen, fuhr unverzüglich nach Zarskoje Selo, um dort Consommé und Hammelkoteletts zu essen. Die Kaiserinwitwe hatte Olga zu Ehren im Anitschkowpalast ein Gabelfrühstück für dreißig Gäste arrangiert. Der Stapellauf der Poltawa war als Vorwand für eine Gesellschaft gar nicht nötig, denn die vergnügungssüchtige alte Dame hatte bereits mehrere solcher Einladungen gegeben, seit ihre Enkelin Olga in Petrograd Ferien machte. Marie Feodorowna beharrte darauf, von einem Ferienaufenthalt zu sprechen, denn wenngleich Olga täglich vier -233-
Stunden in den Sälen des Lazaretts am Palastkai zubrachte und drei in den Komitee-Räumen des Winterpalais', so blieb doch auch Zeit für Coiffeure und Maniküren und vor allem für Schneiderinnen, die in Scharen herbeizitiert wurden. Olga akzeptierte alles, was man für sie tat, mit Freuden; sie wußte natürlich, daß dies die Art ihrer Großmutter war, der Zarin einen Stich zu versetzen, die, wie die alte Kaiserin naserümpfend erklärte, »die armen Mädchen ständig wie englische Pfarrerstöchter anzog«. Olga genoß die Lunchparty, wie sie in diesen Tagen alles genoß. Ihre Großmutter lud Mädchen ihres Alters ein und deren junge Ehemänner oder Brüder, die zufällig Feldurlaub hatten, und in solcher Gesellschaft fühlte sie sich wohl. Die jüngere Generation ging nach Hause und erzählte ihren Eltern, Olga Nikolajewna ähnele ihrer Mutter in keiner Weise, und es sei höchste Zeit, daß dieser leichtlebige Charmeur, Dimitrij Pawlowitsch, vernünftig werde und dieses bezaubernde Mädchen heimführe. Kurz vor dem Ende des Gabelfrühstücks erschien auf vielen Gesichtern ein wissendes Lächeln, als Dimitrij Olga zu einer Fensternische führte, vorgeblich, um mit ihr die ihnen beiden so wohlbekannte Aussicht auf den Fontankakanal zu bewundern. Den Worten des Großfürsten hätte allerdings niemand eine romantische Deutung geben können. »Um wieviel Uhr ist morgen dein Dienst zu Ende, Olga?« »Um zwölf, wie immer, warum?« »Könntest du anschließend zu mir herunterkommen? Ich halte dich nicht lange auf, Olga, aber ich muß irgendwo mit dir sprechen, wo wir allein sind. Nicht in so einem Gedränge wie hier.« »Mein Vater fährt doch morgen früh wieder nach Baranovichi... Begleitest du ihn denn nicht?« »Da liegt das Problem. Vielleicht gibt es morgen gar kein -234-
Baranovichi mehr.« »O Gott«, sagte sie. »Der deutsche Vorstoß. Stehen die Dinge so schlecht?« »So schlecht, daß der Oberbefehlshaber daran denkt, das Stavka an den Dnjepr zu verlegen.« »Ich bin kurz nach zwölf bei dir.« »Danke, Liebes.« Olga verabschiedete sich von den Gästen und ging hinauf, um sich umzukleiden. Ihre Großmutter hatte darauf bestanden, daß sie ihre Schwesterntracht nur noch im Lazarett trug, wo sie aufbewahrt wurde, und außerdem angeordnet, daß die Großfürstin, wann immer sie öffentlich in Erscheinung trat, von zwei Hofdamen (»und jungen Damen«, erklärte sie, »keine von diesen alten Vogelscheuchen deiner Mutter«) und von einem Adjutanten begleitet sein müsse. Es war leicht gewesen, den Zaren davon zu überzeugen, daß sich ein ergebenes ehemaliges Mitglied seiner eigenen Leibgarde, Leutnant Simon Hendrikow, für den Posten eines Adjutanten seiner Tochter am besten eigne. Einmal im Winterpalais, war es sehr einfach, die Hofdamen abzuschütteln. Sie betätigten sich ebenfalls in verschiedenen Hilfskomitees und verbrachten wie die meisten Komiteemitglieder ihre Zeit vorwiegend damit, irgendwelchen Sitzungen hinterherzujagen, die praktisch in jedem der tausend Räume stattfinden konnten. Im Malachitensaal trafen sie sich am Ende wieder, und Olga brauchte nur dafür zu sorgen, daß man sie dort vorfand - und keine der Damen hätte zu fragen gewagt, wo sie die Zwischenzeit zugebracht hatte. Eine Stunde nachdem sie, von dem Gabelfrühstück der Kaisennwitwe kommend, im Winterpalais angelangt war, verließ sie es über eine unbewachte Treppe, die zum Eingang der Neuen Eremitage fü hrte. Simon Hendrikow erwartete sie im Schatten der zehn Granitfiguren, und während er sie kommen sah, fiel ihm auf, wie schmal und zart sie in dieser Umgebung wirkte. Es war klug von -235-
ihr gewesen, dieses unauffällige graugrüne Kleid und einen Hut mit einem gleichfarbigen Schleier zu wählen. Er hoffte, daß er in der Interimsuniform der Garde mit flacher Mütze und ohne die Adjutanten-Achselschnur ebensowenig Aufsehen erregte. Und wie immer war es nur die Sorge um Olga, die ihn bewog, förmlich vor ihr zu salutieren und darauf zu verzichten, das lachende Gesicht zu küssen. »Ich habe es geschafft! Ich habe es geschafft! Ich muß erst um fünf Uhr wieder da sein! Jetzt können wir endlich einmal einen ausgedehnten Spaziergang machen!« »Sind Sie sicher, daß Sie es riskieren können?« »Natürlich. Wer soll mich so gekleidet schon erkennen? Wir müssen nur schnell von hier fort.« Um nicht an den Schildwachen vorbeizukommen, die das dem Fluß zugewandte Portal flankierten, schlugen sie die entgegengesetzte Richtung ein. Simon fühlte sich wesentlich wohler, als sie die Millionaja hinter sich hatten und den weilen Platz überquerten, wo Olgas Vorfahr, Alexander I., auf einer hohen Säule stand. Vor dem Generalstabsgebäude herrschte reges Kommen und Gehen, doch niemand schien beim Anblick des jungen Offiziers und des Mädchens an seiner Seite zu stutzen. Olga schaute über ihre Schulter hinweg noch einmal zum Winterpalais hinüber. »Von hier sieht es ganz anders aus«, meinte sie. »Ich wünschte, es wäre nicht in diesem scheußlichen ochsenblutroten Ton gestrichen.« »Mein Vater sagte, daß Rastrelli es porzellanblau haben wollte.« »Rastrelli war offenbar auf Porzellanblau versessen, denken Sie nur an das Katharinen-Lazarett. Sind sie froh, daß Sie ihm entronnen sind?« »Solange ich mit Ihnen in Petrograd sein kann.« -236-
»Petrograd!« sagte sie. »Endlich einmal zu Fuß über den Newski Prospekt gehen zu können, und dazu noch, während die Geschäfte offen sind!« Sie waren soeben in die breite Straße eingebogen, und Olga schaute sehnsüchtig zu einem Kino auf der anderen Straßenseite hinüber. »Ist das das einzige Kino in Petrograd?« fragte sie. »Nein, es gibt noch eines. ›Parisiana‹ und ›Piccadilly‹ heißen sie. Ich weiß nicht, warum beide einen ausländischen Namen haben.« »Zumindest stammen die Namen aus dem befreundeten Ausland. Und wo ist das ›Astoria-Hotel‹?« »Am anderen Ende der Morskaja.« »Könnten wir vielleicht dort Tee trinken?« »Du lieber Himmel, nein!« Olga lachte. »Schon gut«, sagte sie. »Sie fürchten, daß man mich an einem solchen Ort doch erkennen würde. Ich will eigentlich auch gar keinen Tee, ich hätte nur zu gern einen Blick in das ›Astoria‹ geworfen. Als es vor drei Jahren eröffnet wurde, hat es mir fast das Herz gebrochen, daß ich nicht mit dem britischen Botschafter und Lady Georgina Bucha nan zu dem Galadiner gehen durfte. Na schön, das hier macht mehr Spaß, nicht wahr?« Simon war gerührt und fand sie so anbetungswürdig wie noch nie. Ob es wohl in Petrograd noch ein zweites Mädchen gab, für das ein simpler Spaziergang über den Newski Prospekt ein solches Vergnügen und die gewöhnlichsten Dinge neu und fremd waren? Er war inzwischen schon fast überzeugt davon, daß niemand Olga erkennen würde, und so beunruhigte es ihn auch nicht, als sie vor einem Kiosk stehenblieb und schelmisch auf ein paar Postkartenfotos deutete, die sie in ihrer Schwesterntracht zeigten. Außer dem weißen Schleier sah man -237-
allerdings nur eine Stupsnase und ein entschlossenes Kinn. »Jaguelski ist wirklich ein miserabler Fotograf«, bemerkte sie kichernd. Gleich darauf erspähte sie voll Entzücken das englische Geschäft, das die Zarenkinder mit so vielem beliefert hatte, von Puzzlespielen und Tennisbällen bis zu Seife und goldgelbem Sirup für ihren Tee. Und als sie das »Hotel Europa« passiert hatten, wollte Olga natürlich die Straße überqueren, um im Gostinnoi Dvor etwas zu kaufen - irgendeine Kleinigkeit. Doch das alte, weitläufige, zweistöckige Gebäude, dessen winzige, aus dem achtzehnten Jahrhundert stammende Läden ein wahres Labyrinth darstellten, flößte Simon wenig Vertrauen ein, was Olgas Sicherheit betraf; er hatte den Gedanken, daß ihnen jemand gefolgt sein könnte, noch immer nicht ganz abgestreift. Deshalb redete er ihr den Basar aus und führte sie statt dessen in eine nur wenige Minuten entfernte, wesentlich elegantere Passage, wo es eine Parfumerie gab, einen Juwelier und ein Lederwarengeschäft, außerdem ein Theater und ganz am Ende das zweite Kino Petrograds, das eine Matinée-Vorstellung mit William Farnum in »Der junge Lochinvar« ankündigte. »Ein Film! Ein amerikanischer Film! Oh, Simon, ich möchte ihn so gern sehen.« Er hatte keine Ahnung, was der Titel besagte. Die grellbunten Plakate vor der Tür zeigten Cowboys, einer von ihnen hatte ein Mädchen hinter sich im Sattel, und von den Hufen der Pferde wirbelte der Staub auf. »Sie werden sich doch nicht so etwas anschauen wollen«, sagte er. »O ja. Wir bekommen nie einen netten Film zu sehen, nur langweilige Kurzfilme ›zur Belehrung und Unterhaltung‹, die Mama auswählt. Bitte, Simon! Er fängt in fünf Minuten an.« »Schön, gehe n wir hinein...« Die Vorhalle war leer. An der Kasse sagte man ihnen, daß fast alles schon besetzt sei, doch -238-
Simon bekam noch zwei Plätze in der letzten Reihe, die außerdem den Vorteil boten, daß er selbst sich neben den Mittelgang setzen konnte. Zu seiner Erleichterung war es im Saal bereits dunkel, als sie eintraten. Es war erstaunlich, wie viele junge Leute es vorzogen, sich William Farnum anzuschauen, statt an diesem schönen Nachmittag im Sommerpark spazierenzugehen. Sie applaudierten stürmisch, als die letzten Lichter erloschen und ein paar Zeilen auf der Leinwand erscheinen: William Farnum in »Der junge Lochinvar«, nach dem berühmten Gedicht von Sir Walter Scott. Der Verleiher hatte die Ausgabe gescheut, diese Informationen ins Russische übertragen zu lassen, und so verharrte das geduldige Publikum in absoluter Unwissenheit, bis der Film begann. Und dann störte es niemanden mehr, daß auch die Übersetzung der Untertitel fehlte, denn eine so simple Geschichte verstand man genausogut in Kalkutta wie in Petrograd oder in New York. Ort der Handlung war eine kleine staubige Stadt im Wilden Westen, wo gerade ein Viehzüchter seiner einzigen Tochter den Umgang mit einem seiner Cowboys verbot und verkündete, daß sie den Besitzer einer Ranch heiraten müsse. Simon hatte nur Augen für die Prinzessin an seiner Seite. Sie hatte ihren Schleier zurückgeschlagen, und das hocherhobene bezaubernde Profil mit der Stupsnase und den halbgeöffneten Lippen ließ keinen Zweifel daran, daß sie das Geschehen auf der Leinwand völlig gefangennahm. Olga merkte nicht, daß das Kino klein und eng war, harte Holzsitze hatte, nach Schweiß, Parfüm, Haaröl und Fisch roch und man die Luft mit einem Messer schneiden konnte. Die flimmernden Bilder verbreiteten noch genug Licht, um ein vorwiegend jugendliches Publikum zu zeigen - meist blutjunge Burschen in Uniform (möglicherweise die ersten Ausgehobenen der Zweiten Kategorie), die den Arm um ihre Mädchen gelegt hatten. Kühn schob Simon den seinen hinter -239-
Olga, wie um die Härte der Lehne zu mildern, und zu seiner Freude rückte sie ein wenig näher heran, so daß er ihre Wärme spürte. Auf der Ranch wurde ein gewaltiges Hochzeitsfest ausgerüstet, dessen Auftakt ein Tanz in der Scheune war. Die Braut wider Willen und ihr Bräutigam hatten sich gerade von ihren Plätzen erhoben, als William Farnum in der Tür erschien und zu dem finster dreinblickenden Viehzüchter sagte, daß er einen Tanz fordere. »Komm, Schatz, jetzt zeigen wir ihnen, wie man es macht!« ließ der Untertitel den verwegenen Helden sagen. Er tanzte mit dem Mädchen aus der offenen Tür, draußen hob er sie in seinen Sattel, saß selbst auf und ritt triumphierend fort, von seinen Freunden umringt, die die wildesten Kapriolen auf ihren Pferden vollführten. »Der junge Lochinvar erringt seine Braut!« beric htete der Untertitel. Die Vorstellung war zu Ende. Das Publikum klatschte und jubelte, und Simon Hendrikow gelang es gerade noch, Olga wieder in die Passage hinauszubringen, bevor die Soldaten ihres Vaters ins Freie drängten. »Oh, Simon! Oh! War es nicht wunderbar! Wie gerne würde ich das alles meinen Schwestern erzählen! Und können wir nicht jetzt zum Abschluß schnell durch den Gostinnoi Dvor gehen, nur hindurchgehen?« Sie zeigte sich ungeheuer beharrlich - es war die Hartnäckigkeit der Romanows -, aber Simon weigerte sich nach wie vor, sie auf die morsche Holztreppe und in diese überfüllten Gänge mitzunehmen, aus denen es im Notfall kaum ein Entrinnen gab. Glücklicherweise war Olgas Interesse inzwischen von den Kiosken abgelenkt worden, die zwischen der Mauer des Basars und den Bäumen am Rand des Newski Prospekts standen, und sie inspizierten die Eisbude, die Limonadenbude und einen Karren, an dem eine dicke Frau in -240-
einer weißen Schürze Fleischpastetchen - piroschki - verkaufte. »Simon, schauen Sie, die Schokoladenbücher!« Gefällig angeordnet, lagen sie in einem Süßigkeitenstand, die bekannten Schokoladentafeln, die mit orangefarbenen Bändern an kleinen, in graues Papier gebundenen Büchern befestigt waren, und Simon bemerkte: »Das ist das erste Mal, daß ich sie hier im Basar sehe. Meine Schwestern und ich kauften sie früher von unserem Taschengeld in einer ziemlich eleganten Konditorei auf der Insel.« »Ich weiß schon, bei Konradi. Tante Olga ließ sie sich von da paketeweise schicken, und wir bekamen sie, wenn wir samstags bei ihr zu Mittag aßen.« »Möchten Sie eines haben?« »O ja, bitte! Aber Sie müssen es aussuchen, das haben wir früher auch immer gemacht, weil es viel lustiger ist, wenn man sich vom Inhalt überraschen läßt.« Simon kaufte das zuoberst liegende und gab es dem lächelnden Mädchen. »Möchten Sie es jetzt aufmachen oder warten, bis wir zurück sind?« Er konnte nicht laut aussprechen, »bis wir wieder im Winterpalais sind«, aber das war es, was er meinte. Die gemeinsam verbrachten Nachmittagsstunden gingen ihrem Ende zu. »Jetzt natürlich, ich könnte unmöglich warten.« Behutsam zug sie das Band auf und nahm das kleine Buch heraus. »Die Gedichte von Lermontow, wie herrlich, ich habe eine Vorliebe dafür! Oh, Simon, schauen Sie!« Sie hatte ihm im Schatten der Bäume etwas hingehalten, was wie ein Zettel aussah, und mit einemmal erschien ein bestürzter Ausdruck auf ihrem vorher so glücklichen Gesicht. Er nahm ihr das Papier ab - es war eine Karikatur, die gefaltet zwischen den -241-
Buchseiten gesteckt hatte. Es war eine auf niederträchtige Weise gelungene Zeichnung eines riesenhaften Rasputins, der zwei winzige Figuren auf seinen Knien hielt. Die eine, in Uniform, über dem Bart den leeren Umriß eines Gesichts, war Zar Nikolaus II. Die andere, eine Krone auf dem Kopf, in einem so tief dekolletierten Kleid, daß die fast unverhüllten Brüste gegen Rasputins Tunika streiften, war die Zarin. Rasputin hielt beide mit seinen riesigen klauenförmigen Händen gepackt. Darunter standen vier Worte: »Der wahre Herrscher Rußlands. « »Was für ein wunderbares Gefühl«, sagte Großfürstin Olga, »in der Wohnung eines Junggesellen Champagner zu trinken, und das am Vormittag!« »Es wäre noch wunderbarer«, suggerierte Großfürst Dimitrij, »wenn du nicht gleich wieder fortwolltest, um mit deiner Großmutter zu Mittag zu essen.« »Heißt das, daß ich weiter Champagner trinken und anschließend den Nachmittag mit dir verbringen sollte?« »So ungefähr.« Der junge Mann betrachtete seinen Gast belustigt. Sie war ziemlich spät gekommen; die Glocken der Kathedrale hatten nach dem Kol daven um zwölf noch zwei Viertelstunden eingeläutet, bevor Olga im Lazarett fertig geworden war, sich umgezogen hatte und über die Privattreppe ins Erdgeschoß eilen konnte, das Dimitrij bewohnte. Sie tat sehr überlegen, was er allerdings ganz reizvoll fand, und hatte ihn sogar zu dem großen Wohnraum beglückwünscht - er lehnte es ab, ihm eine formellere Bezeichnung zu geben -, den er in Zusammenarbeit mit den genialen Bühnenausstattern des Kaiserlichen Balletts entworfen hatte. Dimitrij war in den Palast zurückgekehrt - aus dem sein verwitweter Vater vor seiner zweiten, morganatischen Ehe ausgezogen war -, nachdem ihm die Zarin klar zu verstehen -242-
gegeben hatte, daß sie seine Anwesenheit im Alexanderpalast von Zarskoje Selo nicht mehr schätze. Die Schwierigkeiten waren durch Dimitrijs vertrauten Umgang mit Prinz Felix Jusupow entstanden, damals noch Junggeselle. »Dekadent und degeneriert« waren noch zwei der mildesten Adjektive, die die »deutsche Hausfrau«, wie Dimitrij sie in Gedanken nannte, in jenen Sturm- und Drangtagen der beiden jungen Männer auf Jusupow anwandte. Also hatte Dimitrij Pawlowitsch seinen »Onkel Nicky« und »Tante Alice«, wie er sie ansprach, obwohl er eigentlich ihr Vetter war, verlassen, und, siehe da! Jusupow hatte sich in einen mustergültigen Gatten und Vater verwandelt, und er selbst war hier nun gerade dabei, dem ältesten der langbeinigen Mädchen, die gestern noch Sandburgen am Strand von Livadia gebaut hatten, ernste Probleme anzuvertrauen und sich ihrer Unterstützung zu versichern. Respektvoll bot er Olga eine Zigarette an. Sie saß in einem mit Zebrafell überzogenen Lehnstuhl, der einen kontrastreichen Hintergrund für ihr blondes Haar abgab. Er berührte die helle Seide ihres Sommerkleids. »Hübsches Kleid«, sagte er. »Du siehst überhaupt immer bezaubernd aus, seit du in Petrograd bist. Olga, meinst du nicht, es ist an der Zeit, daß du im Lazarett aufhörst?« »Warum in aller Welt sollte ich das denn tun?« »Den Verwundeten gefällt es nicht, dich dort zu sehen. Es ist einfach keine angemessene Tätigkeit für dich.« »Und für deine Schwester Marischa und meine Tante Olga in Kiew ist es eine angemessene Tätigkeit?« »Sie fingen damit an, um von Petrograd fortzukommen; Marischa wegen ihrer Scheidung und Olga Alexandrowna, weil sie ihrer unglücklichen Ehe entrinnen wollte. Aber du und Tatjana, ihr seid junge Mädchen, die Töchter des Zaren, und verzeih, Olga, es klingt häßlich, aber manche von den Soldaten finden, daß es euch herabsetzt, niedrigste Dienste an ihnen zu -243-
verrichten, ihre Füße zu waschen und...« »Dann haben sie die Bibel nicht gelesen.« »Sie lesen die Bibel nicht, sie knien vor ihren Ikonen. Und sie sind der Ansicht, die Zarin sollte dem Bild auf einer Ikone gleichen. Sie verbinden sie mit Perlen und Gold, und es ist ihnen unfaßbar, daß sie sich in einer Schürze und mit einem Schwesternschleier vor ihnen zeigt.« »Das stimmt«, bestätigte Olga nachdenklich. »Bei einem unserer ersten Lazarettbesuche in Wilna rief mich einer der Verwundeten zu sich, als wir gerade dabei waren, den Saal zu verlassen. ›Schwesterchen‹, sagte er, ›wer ist die alte Dame, die die Jungens vorhin hereingetragen haben?‹ Ich erklärte ihm, es sei die Zarin gewesen, die augenblicklich starke Gehbeschwerden habe. Er wurde richtig zornig. ›Sie lügen, Schwesterchen‹, sagte er, ›es weiß doch jeder, daß Alexandra Feodorowna goldene Kleider trägt und in einem Palast wohnt, wo sie von goldenen Tellern ißt und für unsere Seelen betet. Sie würde nie in einer Schürze laufen wie meine Alte zu Hause und Leute wie unsereinen besuchen.‹« »Siehst du?« »Ja. Es ist bitter. Wenn wir in unseren Palästen blieben und es uns einfiele, statt des englischen Porzellans unsere goldenen Teller zu benutzen, dann weißt du genau, was die linke Presse daraus machen würde. Und wenn Tatjana und ich auf den Knien Böden schrubben, heißt es, wir setzen uns herab. Es ist so ungerecht und traurig, daß alles, was wir tun, falsch ist!« Ein wenig verstimmt fragte sie: »War es das, worüber du mit mir sprechen wolltest?« »Nein. Dein Vater hat dich doch heute morgen angerufen... Was sagte er?« »Nur, daß er nicht nach Baranovichi zurückfährt.« »Schön. Und wie lange willst du im Anitschkowpalast bleiben?« -244-
»Zunächst auf unbestimmte Zeit - warum?« Er wich ihrer Frage aus. »Du hattest einen Zusammenstoß mit deiner Mutter - wegen Rasputin - nicht wahr?« »Den schlimmsten meines Lebens. Aber Vater glättete die Wogen wieder.« »Natürlich. Und was du getan hast, war großartig, Olga; an dem Abend, an dem die Zeitungen im Hauptquartier ankamen, in denen die Geschichte stand, baten wir Seine Majestät um Erlaubnis, auf dein Wohl trinken zu dürfen.« »Und er gab sie euch?« »Ja.« »Manchmal glaube ich, daß ich ihn nie verstehen werde«, sagte Olga. »Olga, würdest du mich für verrückt halten, wenn ich dich bäte, bald - nicht morgen, aber nächste Woche - nach Zarskoje Selo zurückzugehen?« »Aus welchem Grund möchtest du das denn?« »Die Kinder brauchen dich, und einige von uns machen sich große Sorgen um die Gesundheit deines Vaters.« »Vater ist doch nicht etwa krank, Dimitrij?« »Krank im eigentlichen Sinn des Wortes ist er nicht, aber er nimmt Medikamente, die ihn krank machen.« »Badmajew!« Sie war so ungeheur bestürzt, daß Dimitrij zu ihr herüberkam, um das halbgeleerte Champagnerglas aus ihrer erschlafften Hand zu nehmen. »Olga«, sagte er besorgt. »Was ist? Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich hatte keine Ahnung, daß du es wußtest.« »Rasputins Freund«, murmelte sie mit bebenden Lippen. »Anja Wirubowas Freund! O ja, ich weiß. Anastasia kam einmal aus der Srednaja und erzählte, er habe Vater überredet, eine Flasche mit einem Spezialelixier mit an die Front zu nehmen Dimitrij, geben sie ihm etwa Drogen ein?« -245-
»Ich fürchte, ja. Das mit dem Elixier war mir unbekannt, aber Badmajew schickte ihm ständig irgend so ein Zeug, das angeblich gewisse Magenbeschwerden behebt, die wir alle gehabt haben, und Onkel Nicky wird davon abwechselnd ungeheuer erregt und furchtbar deprimiert, und - nun, die Ärzte sind beunruhigt, das ist alles; und ich dachte, du könntest helfen.« »Und wie sollte ich das bewerkstelligen? Selbst wenn ich meine Eltern immer zu Anja begleite und mich vergewissere, daß Vater keine Flasche in seine Tasche steckt, bevor wir nach Hause gehen - wie kann ich verhindern, daß irgendwer von dieser Bande, zum Beispiel Schwester Akulina, das Zeug heimlich zu Mutter ins Lazarett bringt? Wie kann ich die vielen Kuriere kontrollieren, die zwischen Zarskoje Selo und dem Hauptquartier hin- und herreisen? Meine Mutter würde alles schicken, jede Medizin, jedes Getränk, solange es nur von Vater Grigorij gesegnet wäre! Dimitrij, es tut mir leid, in dieser Angelegenheit kann ich gar nichts tun! Wenn wir nur Rasputin loswerden könnten...« Der schlanke junge Mann in dem grauen Anzug, der sich so distinguiert in der bizarren, leuchtendfarbenen Dekoration ausnahm, die Bakst für ihn geschaffen hatte, saß regungslos auf der Lehne von Olgas Sessel. »Hast du eine Idee, wie das zu erreichen wäre?« fragte er. »Man müßte meinen Vater dazu überreden, ihn nach Pokrowskoje zurückzuschicken.« Dimitrijs Starre löste sich. »Das haben schon einige Leute versucht«, sagte er. »Vielleicht könnte das hier helfen, ihn zu überzeugen.« Olga öffnete ihre große Seidentasche und reichte ihrem Vetter das Päckchen, das Simon vor dem Gostinnoi Dvor gekauft hatte. Der junge Mann untersuchte es schweigend. »Woher hast du das, Olga?« -246-
»Ein Freund hat es für mich gekauft.« »Schöne Freunde hast du, muß ich sagen.« »Es geschah ohne böse Absicht! Mein Freund erstand es in einer Bude am Newski Prospekt, als eines von hundert anderen. So etwas wird also auf einer öffentlichen Straße verkauft, Dimitrij, ohne daß die Polizei einschreitet!« »Sie wird jetzt etwas unternehmen, keine Sorge, ich kümmere mich darum.« Er steckte das kleine Buch und die Karikatur in seine Tasche. »Es tut mir leid, daß du so einen Schund sehen oder auch nur erfahren mußtest, daß er existiert. Auf den Straßen verkauft, das ist neu...« »Neu? Soll das heißen, daß du diesen - diesen Plunder schon kanntest? Sind noch mehr Zeichnungen wie diese im Umlauf?« Dimitrij hätte ihr antworten können, daß es viel schlimmere gab, daß die Polizei alle Hände voll zu tun hatte, um die zahllosen pornographischen Zeichnungen zu beschlagnahmen, die die Zarin, die Wirubowa und Rasputin zum Gegenstand hatten. Er respektierte Olgas Integrität zu sehr, um sie mit einer Lüge oder einer Schmeichelei abzuspeisen. So antwortete er ihr mit einem einzigen Wort: »Ja.« Zwei unruhige Tage folgten für Olga. Marie, die sie telefonisch befragte, sagte ihr, daß ihr Vater eine von Badmajew aus der Äußeren Mongolei importierte neue Teeart trank, die angeblich bewirkte, daß sich die göttliche Gnade auf ihn herabsenkte. Auch Alexis hatte etwas von diesem Tee bekommen, ihn aber aus dem Fenster seines Unterrichtsraumes gespuckt und sich geweigert, noch einmal davon zu trinken. »Und trinkst du denn davon, oder Tanja oder der Kobold...?« »Für uns ist er viel zu kostbar. Olga, wann kommst du nach Hause?« »Bald, aber ich habe noch verschiedenes in Petrograd zu tun, -247-
und du weißt, wie Großmama ist. Sie sagt immerfort, daß sie mich schrecklich vermissen würde...« »Wir vermissen dich auch«, erwiderte Marie, und als Olga den Hörer auflegte, erkannte sie, daß Dimitrij recht hatte: Ihre erste Aufgabe war, sich um ihre Schwestern und Alexis zu kümmern. Doch sie hatte noch einen WohltätigkeitsBallettabend im Marjinski- Theater und ähnliche Verpflichtungen vor sich, die sie in Begleitung ihrer beiden Damen und ihres Adjutanten, Leutnant Hendrikow, gewissenhaft erfüllte. Während dieser beiden Tage setzte der gewaltige deutsche Vorstoß ein, der zur Wiedereroberung ganz Galiziens, der Bukowina und eines Teils von Kurland führen sollte. Die Ausbildung der Zweiten Kategorie und ihr Transport an die Front mußte ein Kriegsministerium, das bisher nichts als Fehler begangen hatte, zwangsläufig vor große Probleme stellen, und eine umfangreiche Musterung der gesamten Garnisonstruppen begann. Sogar Simon Hendrikow, der erst so kurze Zeit aus dem Lazarett entlassen war, erhielt den Befehl, sich zu einer ärztlichen Untersuchung emzufinden. Trotz der trüben Stimmung, die diese Untersuchung in ihm ausgelöst hatte, lächelte er, als seine Prinzessin, die wieder einmal eine Gelegenheit gefunden hatte, dem Winterpalais zu entkommen, im Schatten der Neuen Eremitage mit ihm zusammentraf. »Auf der Millionaja erwartet uns eine Droschke.« »Oh, das ist herrlich, ich bin noch nie in einer Droschke gefahren. Aber wollten Sie mir nicht heute Ihr Zuhause zeigen?« »Gern. Ich dachte nur, daß Sie vielleicht lieber fahren würden, denn zu Fuß ist es ziemlich weit. Wenn Sie wirklich Lust haben...« »Natürlich! Ich freue mich schon so darauf!« Als sie gleich danach auf der Millionaja standen und dem isvostschik entgegensahen, der seinen müden alten Gaul -248-
peitschenknallend durch das flimmernde Sonnenlicht trieb, äußerte Simon noch einmal Bedenken: »Sie wissen doch, daß meine Eltern nicht da sind, nicht wahr? Sie sind gestern nach Finnland gefahren. Ich hatte mit keinem Wort die Möglichkeit angedeutet, daß Sie unsere Wohnung mit einem Besuch beehren würden...« »Oh, hören Sie auf, Simon! Sie sprechen wie jemand, der einer Kricgshilfsorganisation ein Geldgeschenk überreicht! Darja Karlowna ist ja da, sie sagte es mir heute morgen. Kommen Sie, steigen wir ein!« Die Droschke setzte sie unter den Lindenbäumen der Vierten Straße ab, und der Portier empfing sie mit tiefen Verbeugungen und neugierigen Blicken auf die verschleierte Dame, die Professor Hendrikows einzigen Sohn begleitete. Simon schloß die Wohnungstür auf und runzelte die Stirn, als er die mit Riemen verschnürten wuchtigen Reisekoffer und Blechkisten sah, die die ziemlich enge Diele blockierten. »Was für ein Durcheinander«, sagte er. »Daß Sie die Wohnung ausgerechnet in so einem Zustand sehen müssen... Und Dolly ist auch nicht da, um Sie willkommen zu heißen.« »Mit der Ikone und Brot und Salz?« Sie lachte. »Mir macht es so viel mehr Spaß. Soll ich dahinein gehen?« Simon hielt die Tür zum Wohnzimmer auf. Die Erkerfenster standen weit offen, und es roch nach Lindenblüten, Teer und Salzwasser. Olga fühlte sich sofort vie l wohler als in dem prächtigen Wohnraum des Großfürsten Dimitrij, wo duftende Räucherkerzchen abgebrannt wurden und dichte Vorhänge Licht und Luft aussperrten. »Ich sagte Ihnen, daß es hier nicht so hübsch ist wie in der Datscha«, bemerkte Simon, während sie um den großen Tisch herumging, um die Bücherschränke zu besichtigen. »Die Datscha ist etwas Besonderes. Aber ich finde diesen Raum ungeheuer anheimelnd, Simon.« -249-
»Ich habe meinen Vater gebeten, das Gedicht von Scott für mich herauszusuchen, aber ich sehe es nirgendwo. Vielleicht ist es nebenan.« Olga folgte ihm in das Arbeitszimmer des Professors, wo ungewöhnliche Ordnung herrschte; auf dem Schreibtisch lag lediglich ein dicker, in Kalbsleder gebundener Band von Scott, aus dem ein Blatt Papier herausragte. »Lady Hérons Lied aus Marmion«, las Simon. »Wie klug muß Ihr Vater sein, wenn er in jedem Fall weiß, wo man nachschlagen muß!« »Lesen Sie es, Olga. Es interessiert mich, was der Film damit zu tun hat.« Olga vertiefte sich für eine Weile in das lange englische Gedicht und sagte dann: »Sie haben eine Ritterballade genommen und einen Wildwestfilm daraus gemacht, und warum eigentlich auch nicht?« »War Lochinvar ein Prinz oder ein Adliger?« fragte Simon. »Ich glaube nicht. Es steht nichts davon hier. Aber er hielt dem Mädchen, das er liebte, die Treue, und er war sehr tapfer... genau wie Sie, Simon.« »Oh, Liebste!« Endlich hatten sie es beide ausgesprochen und bekannt; und dann war Olga in seinen Armen, fest umschlungen, und seine drängenden Lippen lösten sich nur von ihrem Mund, um wieder und wieder »ich liebe dich« zu sagen. Sie nahm ihren Hut ab und legte mit einem glücklichen Seufzer ihre Wange an sein Gesicht. Und jetzt konnte er ihr Haar berühren, ihren Hals, ihre Brust, bis ihre Körper Verlangen zu zeigen begannen und sich Olga mit einem keuchenden Laut losriß... »Dolly...« »Dolly kommt nicht vor vier Uhr...« Simons Stimme klang rauh. »Hab keine Angst, die Dienstmädchen sind hier. Ich wollte nur mit dir allein sein. Ich mußte dir sagen, daß ich dich liebe...« »Sag es mir noch einmal.« Sanft zog er Olga zu dem abgenutzten Ledersofa, auf dem sich ausnahmsweise keine -250-
Examensarbeiten stapelten, und dort hörte die Prinzessin, deren einziger Wunsch es war, geliebt zu werden, daß sie angebetet, vergöttert, verehrt wurde und Simon Hendrikows ganzes Herz besaß. Sie hielt seinen Kopf zwischen ihren Händen und spürte, wie das Blut in den Schläfen pochte, sie berührte sein kastanienbraunes krauses Haar, sah seine haselnußfarbenen Augen dunkel werden, zeichnete mit der Fingerspitze die klaren Linien dieses Gesichtes nach, das ihr besser gefiel als jedes andere, bis Simon seine lange aufgestauten Worte der Leidenschaft unterbrach und zu ihr sagte: »Ich war so ein Narr vor einem Jahr, Olga! Damals am Fluß, als ich bekannte, daß mich jede für dich geplante Heirat eifersüchtig machte. Ich frage mich heute, wie ich es wagen konnte - ich, der ich dir nichts zu bieten habe, nicht einmal einen baltischen Titel und schon gar nicht einen Namen, der sich bis zu Rurik zurückverfolgen läßt...« »Die Romanows stammen nicht von Rurik ab. Mit ihm verglichen sind wir jämmerliche Parvenüs.« »Versuch das einem Hofmann zu erzählen. Ich habe weder einen Titel noch Besitz, noch Geld...« »Du hast dein Schwert, wie der junge Lochinvar.« Olga lächelte, und auch Simon lachte zuerst, bis er plötzlich erfaßte, was sie mit ihren Worten hatte ausdrücken wollen. Beinahe ein wenig erschrocken, fragte er: »Du meinst, es macht dir nichts aus, daß ich kein Baron oder Prinz bin? Daß du mich, wenn es menschenmöglich wäre und ich weiß natürlich, daß das nicht zutrifft -, heiraten würdest?« »Ja, Liebster.« Er küßte sie, bis ihr fast der Atem ausging, und dann sagte er: »Aber warum mich? Warum, duschenka? Es gibt doch bestimmt tausend Männer wie mich, die sich nur allzu bereitwillig in dich verlieben würden. Warum bin ich der Glückliche?« »Weil wir genau die richtigen Partner füreinander sind.« -251-
Simon wußte, daß es sich so verhielt, auch wenn es keine Hoffnung für sie gab. Die Zarentochter und der Professorensohn waren in ihrer unkomplizierten Einstellung zum Leben und in ihrer physischen Harmonie ein ideales Paar. Andererseits hatte er bei allem triumphierenden Hochgefühl das Empfinden, zu viel gesagt, Olga zu ihrem Bekenntnis gezwungen zu haben, und so versicherte er ihr zwischen neuen Küssen, daß er gewartet und sich genauso verhalten hätte wie bisher, wenn sie nicht so bald schon voneinander getrennt würden. »Was sagst du da?« Olga hob ihren Kopf von Simons Brust. »Bald getrennt? Du gehst doch nächste Woche mit mir nach Zarskoje Selo zurück...« »Nein, Liebes. Ich mußte mich heute morgen einem Ärzteausschuß stellen. Man hat mich für tauglich erklärt, zu meinem Bataillon beziehungsweise dem, was davon übrig ist, zurückzukehren. Es ist jetzt in Odessa stationiert.« »Aber das ist ja lächerlich! Du bist doch noch nicht einsatzfähig.« »Nein, aber Odessa ist ja auch nur ein Sammelpunkt für Ersatzeinheiten.« »Und ein Ausgangspunkt für die türkische Front. Im nächsten Monat wirst du vielleicht nach Armenien oder in den Kaukasus oder sonstwohin geschickt.« Er gab zu, daß das sehr gut möglich sei. »Dann spreche ich jetzt gleich mit dem Zaren«, sagte Olga. »Liebste, tu es nicht. Es ist meine Pflicht, dorthin zu gehen, wohin ich beordert werde. Und ich verdanke Seiner Majestät mein Leben. Ohne ihn wäre ich in Warschau gestorben. Und schau, was ich zusammen mit meinem Leben bekommen habe! Vier wunderbare Monate, in denen ich dich fast täglich sehen konnte. Diese Morgenspaziergänge im Park, und dann Petrograd und jetzt dieses - dieses Glück.« -252-
»Ein so kurzes Glück!« sagte Olga, und an ihren dunklen Wimpern hingen Tränen. »Aber, Simon, wir bleiben nicht für immer getrennt. Du wirst Urlaub haben, nach Hause kommen; vielleicht gehen wir im Frühling nach Livadia und fahren über Odessa... und der Krieg muß eines Tages enden. Dann ändert sich bestimmt manches für uns alle. Es sind schon so viele alte Regeln und Traditionen über Bord geworfen worden. Wer weiß, was die Zukunft noch für dich und mich bereithält...«. Ihre Lippen hatten sich gerade von neuem gefunden, als es klingelte. »Das ist Dolly, zehn Minuten zu früh, verflixt!« sagte er. »Liebes, bleib, wo du bist.« In der Diele hörte man Stimmen, die eines Mannes, eines Mädchens - es war nicht Dolly - und ein paar gutturale Worte des lettischen Dienstmädchens. Simon eilte hinaus. »Was ist los?« fragte er. »Wem gehört - guter Gott, Mara, was machst du denn hier?« Der Portier und das Dienstmädchen schoben gerade einen ledernen Koffer neben das bereits vorhandene Gepäck, und Mara Trenowa, ein wenig außer Atem, bewegte die offenbar steifgewordenen Finger ihrer rechten Hand. »Etwas zu schwer für die junge Dame, barin«, erklärte der Portier. »Ich habe ihn für sie heraufgetragen.« Er hielt seine Mütze in der Hand, und seine Augen huschten in alle Richtungen. Simon gab ihm eine Münze. »Gut, Stepan«, sagte er. »Darja Karlowna muß jeden Moment kommen, in einer Droschke. Sorge dafür, daß der Kutscher wartet... Entschuldige, Mara«, wandte er sich an das Mädchen, nachdem der Mann gegangen war, »ich weiß, das war keine besonders herzliche Begrüßung. Aber ich hatte keine Ahnung, daß du zu uns ziehen würdest.« »Sei nicht lächerlich, Simon. Ich habe nur Mutters Koffer gebracht, damit ihn der Spediteur mit Madame Hendrikowas Gepäck abholt. Du weißt doch, daß Mutter in Koivisto ist, oder -253-
nicht?« Falls er es je gehört hatte, dachte Simon, dann mußte das in einem anderen Leben geschehen sein, vor dieser letzten halben Stunde. Er stammelte, daß es ihm natürlich bekannt sei, daß er die Idee ausgezeichnet finde, und schließlich sagte er: »Möchtest du nicht hereinkommen?« Das lettische Dienstmädchen fragte, ob sie den Samowar bringen sollte. »Ja- nein - ja, wie du willst«, antwortete Simon. Er führte Mara in das Wohnzimmer. Großfürstin Olga war nicht im Arbeitszimmer geblieben, wie er erleichtert feststellte. Sie betrachtete die Bücher in dem verglasten Bücherschrank, hatte ihren Hut wieder aufgesetzt und sah aus wie irgendeine junge Dame, die Madame Hendrikowa einen Besuch abstatten wollte. Mara starrte sie verblüfft an. Dann tat die Erziehung der XeniaSchule ihre Wirkung; sie versank in einen Knicks, und Simon sagte: »Kaiserliche Hoheit, darf ich Ihnen die Freundin meiner Schwester, Fräulein Mara Trenowa, vorstellen?« »Oh, Dollys kluge Schulfreundin - sie spricht oft von Ihnen...« Olgas Ton war sehr herzlich. »Ich fühle mich geschmeichelt, Madame.« »Sie sind nicht in der Verwundetenpflege tätig, oder?« »Ich bin gezwungen, mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen, Madame.« Simon wollte schon die »Kinderburg« erwähnen, überle gte es sich jedoch gerade noch rechtzeitig. Er wußte sehr gut, wer die Schokoladenklassiker herausgab und demzufolge für die Karikatur Rasputins verantwortlich war. Außerdem kam ihm plötzlich zu Bewußtsein, daß der hohe Kragen seines Uniformrocks offenstand. Er erklärte, Mara Iwanowna habe eine interessante Stellung bei einer literarischen Zeitschrift. »Aber ich habe sie letzte Woche aufgegeben«, sagte Mara. »Am Montag trete ich eine neue an.« -254-
»Ich finde es herrlich, so unabhängig zu sein«, meinte Olga. »Ich hätte nichts dagegen, mit Eurer Kaiserlichen Hoheit die Stellung zu tauschen.« Mara zeigte sich wieder einmal von ihrer schlechtesten Seite, feindselig und taktlos, und es überraschte Simon nicht, daß Olgas »Tatsächlich?« ziemlich frostig klang und sie sich dafür entschied, Maras Bemerkung auf ihre Arbeit im Lazarett zu beziehen. Er dankte dem Himmel, daß in diesem Augenblick Dolly eintrat, die erfreut beide Gäste begrüßte, und hinter ihr das Dienstmädchen mit dem Samowar erschien und ein ungeheures Geklapper mit den Teeutensilien veranstaltete. Dolly wandte sich an ihren Bruder: »Stepan sagt, du wolltest, daß die Droschke wartet?« »Ja, damit Ihre Kaiserliche Hoheit sofort mit mir in das Winterpalais zurückkehren kann«, antwortete Simon. Sie hatten fast noch eine Stunde Zeit, aber Maras dunkle Augen, die unablässig von einem zum anderen wanderten, machten die Situation für seinen Geschmack allzu kompliziert. Olga wirkte völlig unbefangen. Sie hatte auf Dollys schüchterne Aufforderung hin Platz genommen, um ein Glas Tee zu trinken, und hob nun, als der Palast erwähnt wurde, lächelnd den Kopf. »Leutnant Hendrikow hat mir vieles in Petrograd gezeigt, was ich noch gar nicht kannte«, sagte sie, »und von dieser Straße bin ich besonders angetan.« »Ich könnte Ihnen andere zeigen, die weitaus weniger reizvoll sind«, warf Mara Trenowa ein. »Zum Beispiel die, in der ich wohne. Sie würde Ihnen nicht gefallen.« Die Großfürstin hob die Brauen bei dem Ton, den Mara anschlug, und Dolly versuchte zu beschwichtigen: »Aber, Mara Iwanowna, deine Wohnung ist doch sehr hübsch...« »Ich glaube, Ihre Kaiserliche Hoheit hat kaum eine Vorstellung davon, wie die Armen leben«, fuhr Mara fort. »Im Gegenteil«, erwiderte Olga. »Ich sehe täglich arme Leute - sei es, daß sie Verwundete im Laza rett besuchen oder zu den -255-
Soldatenfamilien gehören, die unser Hilfswerk betreut. Außerdem gehen meine Schwester und ich jede Woche einmal in die Flüchtlingsunterkunft am Narwator.« »Wir alle kennen diese... Unterkunft, wie Sie sie nennen. Die Flüchtlinge, die Sie dort sehen, werden zuvor gebadet, bekleidet und verpflegt und bekommen Dankesworte beigebracht, die sie den gütigen Besucherinnen sagen sollen. Sie vermitteln kein verläßliches Bild.« »Möglich«, sagte Olga. »Aber wenn wir uns in Frontnähe aufhalten, arbeiten wir in Scheunen und Ställen ohne Wasser, in denen es statt Betten nur ein wenig Stroh gibt, und die Flüchtlinge, die wir dort in Empfang nehmen, sind alle voller Schwären und Läuse und halb verhungert. Haben Sie je an einem solchen Ort gearbeitet?« »Nein.« »Sie sollten es einmal ausprobieren.« »Madame, ich brauche nicht an die Front zu gehen, um Leute zu sehen, die mit Schwären bedeckt, verlaust und halb verhungert sind. So etwas finde ich auch hier - keine zwei Meilen vom Anitschkowpalast entfernt.« »Wo?« »Wenn wir die Droschke nehmen würden, die da draußen wartet, und über die Newa führen, an der Xenia-Schule und dem Marjinski-Theater vorbei - das Sie natürlich sehr gut kennen -, dann kämen wir zum Judenmarkt, wo die Menschen, die Ihr Großvater entrechtet hat, in einem übelriechenden Ghetto leben. Anschließend könnte ich Ihnen in der Zabalkanski die sogenannten Bürgerkasernen mit den winzigen Räumen, den kamorki, zeigen, wo drei oder vier Familien zusammen hausen und auf zehn Personen ein Stuhl und ein Tisch kommen und die Fetzen an den Wäscheleinen, die sich von Wand zu Wand ziehen, der einzige Tribut an die Schicklichkeit sind. So leben die Arbeiter, Eure Kaiserliche Hoheit, in solche Höhlen gehen -256-
sie, wenn sie aus den Rüstungsfabriken kommen...« »Und du warst nie im Leben dort«, warf Simon ein. »Du hast das alles nur aus irgendeinem subversiven Buch.« »Aber gibt es so etwas?« fragte die Großfürstin. »Ja, leider«, antwortete Simon. »Nur, daß es sich bei den Bewohnern der kamorki um völlig heruntergekommenes Gesindel handelt, wie man es in jeder großen Stadt findet.« »Mich interessiert Petrograd«, beharrte Olga. »Mara Iwanowna, würden Sie mir gleich einmal die Zabalkanski zeigen?« »Sie wird Ihnen überhaupt nichts zeigen«, erklärte Simon zornig. Er war jetzt richtig wütend auf Mara. Nicht genug, daß sie zu einem so unpassenden Zeitpunkt erschien, mußte sie auch noch taktlos auf einem Thema umherreiten, das er bis zum Überdruß kannte. Sie hatte Olga förmlich dazu aufgestachelt, ihre Herausforderung anzunehmen! »Man hat weder auf dem Judenmarkt noch in der Zabalkanski irgend etwas zu befürchten«, versicherte Mara, als läse sie seine Gedanken. »Mara Iwanowna«, sagte er, »wir alle wissen, daß du eine Rebellin bist. Aber es ist meine Pflicht, die Großfürstin zu schützen, und ich lasse nicht zu, daß sie auf dem Markt herumgestoßen oder den Beleidigungen ausgesetzt wird, die jede Dame gewärtigen müßte, wenn sie sich in die kamorki wagte, wohin nicht einmal die Polizei geht. Es ist zwecklos, Eure Kaiserliche Hoheit«, wandte er sich dann an Olga, als er sah, daß sie ungeduldig ihre Tasche ergriff. »Wenn Sie auf Ihrem Vorhaben bestehen, werde ich im Winterpalais anrufen und eine Kosakeneskorte anfordern. Sie müssen entscheiden, ob Sie unter dieser Bedingung weiterfahren oder mit mir zum Palast zurückkehren wollen.« Er trat ans Fenster, um sich zu vergewissern, daß die Droschke noch da war. Der Kutscher saß geduldig auf seinem -257-
Kutschbock und kaute Sonnenblumenkerne. Als Simon sich umdrehte, hatten sich die drei Mädchen erhoben, und Olga zog ihre Handschuhe an. Sie musterte Mara Iwanowna mit einem prüfenden Blick und schien deren sarkastisches Lächeln zu ignorieren. »Simon Karlowitsch nannte Sie eine Rebellin«, sagte sie. »Sind Sie mehr als das? Sind Sie eine Revolutionärin?« »Sie wären auch eine Revolutionärin, Madame, wenn Sie in der Zabalkanski leben müßten.« »Vielleicht sollte ich es einmal ausprobieren«, meinte Olga Nikolajewna. Doch dann brach ihre Fröhlichkeit wieder durch, und sie fügte hinzu: »Aber glauben Sie nicht, daß mein Name gegen mich spricht?«
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12 Leutnant Hendrikow erhielt drei Tage später seinen Marschbefehl; am Vortag hatte er in Großfürstin Olgas Gefolge am Stapellauf eines neuen Schlachtschiffes teilgenommen, und so war ihnen nur ein formeller Abschied in aller Öffentlichkeit vergönnt gewesen. Voll Zorn über die Hast, mit der man Simon von der Szene entfernt hatte, kehrte Olga in den Alexanderpalast zurück. Sie dachte an Rasputins höhnische Worte über »das Bauernmädchen« und »den hübschen Leutnant« und fragte sich, ob der starez durch seine Spione oder durch Anja Wirubowa über ihre morgendlichen Parkspaziergänge mit Simon, die sie nie geheimzuhalten versucht hatten, informiert worden war. Hatte er dann einmal ihre Mutter unterrichtet, so war es für Alexandra Feodorowna eine Kleinigkeit, dem Kriegsministerium, dessen Minister ihr so viel verdankte, einen Wink zu geben, um den unbequemen Leutnant nach Odessa abzuschieben. Es war genau die Art weiblicher Rache, wie ihre Mutter sie genoß, und Olgas Kopf war hocherhoben, ihre Begrüßung kühl, als sie das mauvefarbene Boudoir betrat. Ihre Schwestern indessen brachen in Freudengeschrei aus, als sie in einem der eleganten Kleider, die ihr der Couturier ihrer Großmutter angefertigt hatte, vor ihnen stand, und sie ihrerseits war erstaunt, Marie in der Kittelschürze einer Lernschwester zu sehen. »Wie, du hast schon im Lazarett angefangen, Maschka?« »Letzte Woche. Ich sagte es dir nicht am Telefon, weil es eine Überraschung sein sollte.« »Und wie geht es? Bist du auch so erschöpft, wie wir es anfangs waren?« »O ja. Gestern abend begleitete ich Papa und Mama zu Anja, und ich war so müde, daß ich auf dem Sofa einschlief und -259-
überhaupt nichts mitbekam!« Marie bedachte Olga mit einem vielsagenden Blick. »Du Ärmste«, erwiderte Olga obenhin. »Ich dachte, du wärst erst im September an der Reihe.« Wenn es ihre junge Delegierte nicht verhindern konnte, auf Anja Wirubowas Sofa einzuschlafen, dann war es höchste Zeit, daß sie selbst aufpaßte. Sie bot sich also jedesmal zur Begleitung an, wenn ihre Eltern einen Besuch in der Srednaja machten, und saß gelangweilt, aber wachsam auf ihrem Platz, während Schwester Akulina fade Erfrischungen umherreichte, die der Zar manchmal durch eine Flasche Kirschlikör aufbesserte. Von Rasputin oder Badmajew war nie etwas zu sehen; ein- oder zweimal war ein junger Offizier anwesend, der seinen Äußerungen nach auf vertrautem Fuß mit ihnen stehen mußte, aber es wurden keine mysteriösen tibetanischen Mittel angeboten, und Madame Wirubowas Konversation war so langweilig und banal wie immer. Man konnte sich kaum vorstellen, daß von dieser gelähmten Frau, die jetzt aus Mangel an Bewegung noch korpulenter war, eine Bedrohung ausgehen sollte, und doch wußte Olga intuitiv, wo die Gefahr lag. Sie lag einmal in dem Telefon, das Anja Wirubowa mit Rasputins Wohnung und dem Palast verband, und sie lag dort, wo der lange Faden des Intrigenknäuels endete - in jenem Doppelbett, wo eine Leidenschaft, die Zeit und Kummer unvermindert überdauert hatte, ihre Erfüllung fand und wo der Zar noch auf der dunklen Schwelle des Schlafes das Flüstern seiner Frau hörte, das ihn bedrängte, wie Peter der Große, wie Iwan der Schreckliche zu handeln - Rußlands Retter zu sein. Ein paar vage Anspielungen Anjas und gewisse Gespräche, die jählings ins Stocken gerieten, wenn Olga das Boudoir ihrer Mutter betrat, hatten ihr enthüllt, daß im Mittelpunkt der neuen Intrigen der eifersüchtige Haß ihrer Mutter auf den Oberbefehlshaber stand. Alexandra Feodorowna wandte alle ihre Überredungskünste auf, um zu erreichen, daß ihn der Zar, -260-
mit irgendeinem belanglosen Titel - zum Beispiel dem eines Vizekönigs - versehen, in den Kaukasus schickte und das Oberkommando selbst übernahm. Doch der Zar schien es nicht eilig zu haben, zu handeln oder die kleine Provinzhauptstadt Mohilew zu besuchen, wohin das Stavka verlegt worden war. Während die Gouverneursresidenz, die in den Wäldern über dem Dnjepr stand, vorgeblich für Großfürst Nikolaus Nikolajewitsch und seinen Stab hergerichtet wurde, besprach der Zar mit seinen Ministern die Staatsgeschäfte, spielte mit seinem Sohn, unternahm Spaziergänge mit seinem Adjutanten und las abends seiner Gattin vor, die ihrer Gesundheit wegen ihre Pflegetätigkeit aufgegeben hatte. An dem Tag, an dem Nikolaus II. seine Familie völlig ruhig und gelassen davon in Kenntnis setzte, daß er beabsichtige, das Oberkommando zu übernehmen, frohlockte die Zarin so unverhüllt, daß sich Olga in den heißen Nachmittagsstunden in den Park flüchtete, um ihre Gedanken sammeln zu können. Ihr Ziel war eine Rosenlaube in der Nähe des Palasteingangs, wo sie hoffen konnte, von niemandem gestört zu werden. Sie war überrascht, als ihr männliche Stimmen und gleich darauf auch die ihres Bruders Alexis aus der Laube entgegenklangen. »Olga!« rief er, als sie in sein Blickfeld kam. »Schau, wer hier ist! Monsieur Rodzianko!« Sie hatten sich bereits erhoben - Alexis, sein russischer Hauslehrer und der Präsident der Duma, Michael Rodzianko, der sich Alexis gegenüber einmal jovial »als der größte, fetteste Mann von ganz Rußland« bezeichnet hatte. Jetzt sah er nicht jovial aus; das höfliche Lächeln, das seine Verbeugung begleitete, wirkte gezwungen, und Olga bemühte sich absichtsvoll um einen munteren Ton, als sie ihm die Hand zum Kuß reichte. »Schwänzen Sie die Duma, Monsieur le président?« »Er wollte mit Papa sprechen, aber Papa hat keine Zeit für ihn«, erklärte Alexis. »Und daraufhin hat er mit mir -261-
vorliebgenommen.« »Ganz so schlimm, wie Alexis Nikolajewitsch es darstellt, ist es nicht«, vermerkte Rodzianko mit einem krampfhaften Lachen. »Meine Audienz bei Seiner Majestät mußte nur um eine halbe Stunde verschoben werden. Und ich habe einen vollendeten Gastgeber gefunden...« Olga betrachtete das Silbertablett mit eisgekühltem Wein, Obst und Kuchen, das auf dem rustikalen Tisch stand, und lächelte. »Der Zar hatte heute nachmittag eine ganze Reihe Audienzen auf dem Programm, ich weiß«, sagte sie. »Darf ich mich zu ihnen setzen?« »Es ist uns eine Ehre, Madame.« »Alexis«, bat der russische Tutor, »unser Unterricht sollte schon vor einer halben Stunde angefangen haben...« »Na gut, jetzt komme ich mit, wenn Olga Michael Wladimirowitsch Gesellschaft leistet.« Alexis gab ihm die Hand. »Es war mir ein Vergnügen, Sie wiederzusehen.« »Ein reizender Junge«, stellte der Präsident der Duma fest, als der Zarewitsch und sein Hauslehrer sich entfernten. »Im Grunde freue ich mich, daß ich ihm eine halbe Stunde russische Grammatik erspart habe. Er hat mir erzählt, daß sie ihn nicht besonders lockt.« »Einen Gelehrten werden wir nie aus ihm machen«, erwiderte Olga. Der große, beleibte Mann betrachtete sie neidvoll; ihm war unangenehm warm in dem Gehrock, den die Etikette für Audienzen beim Zaren vorschrieb, sie hingegen sah in ihrem dünnen grünlichgrauen Kleid frisch wie der Frühling aus. »Ich hatte das letztemal beim Stapellauf der Poltawa das Vergnügen, mit Eurer Kaiserlichen Hoheit zusammenzutreffen«, bemerkte er und begann den großen persönlichen Erfolg zu rühmen, den ihr dieser Tag eingetragen hatte. Doch Olga -262-
unterbrach ihn auf ihre charakteristische, spontane Art. »Monsieur Rodzianko«, sagte sie, »Sie sind so gut unterrichtet: Können Sie mir etwas von den Grünen Männern erzählen? Wissen Sie, wer sie sind und was sie tun?« Rodzianko brauchte erst eine Weile, ehe er sich von seiner Verblüffung erholt hatte, und wählte seine Worte dann sehr bedachtsam. »Zufällig weiß ich viel über diese - Organisation. Es überrascht mich allerdings - wenn Sie mir die Bemerkung gestatten -, daß Eure Kaiserliche Hoheit auch nur ihren Namen kennen.« »Rasputin erwähnte ihn einmal.« Er erinnerte sich an ihren Zusammenstoß mit Rasputin und fand, sie verdiene es, die Wahrheit zu hören. »Bei den Grünen Männern handelt es sich um eine von deutschen Agenten in Stockholm gesteuerte Gesellschaft, die hier in unserem Land operiert. Sie verfolgt das Ziel, ihren Mitgliedern durch die Manipulation Rasputins einflußreiche Posten zu beschaffen und sich zudem an den finanziellen Transaktionen zu bereichern, über die seine Leute Informationen aus erster Hand erlangen. Drücke ich mich klar aus, Madame?« Olga nickte. »Ihr Anführer ist der Bankier Manus, einer der wenigen Juden, die in der Hauptstadt eine Aufenthaltserlaubnis und das Recht zur Geschäftsausübung haben. Sein engster Mitarbeiter ist ein Journalist, namens Manuilow, ein mutmaßlicher Fälscher, der bereits einmal durch den Verkauf gestohlener Staatspapiere zu Geld kam. Die Reihe fragwürdiger Namen ließe sich noch lange fortsetzen. Auf jeden Fall stellen diese Leute für die Regierung eine ernste Bedrohung dar. Sie treffen sich einmal in der Woche in Rasputins Wohnung auf der Gorochovaja zu einem üppigen Abendessen, dessen Kosten Manus bestreitet.« »Hat die Polizei das alles herausgefunden?« -263-
»Die Einzelheiten weiß ich von einem Engländer, der ihre Stockholmer Kontakte überprüft hat. Wir haben durch unsere hiesigen Quellen erfahren, daß die Fakten stimmen.« »Beabsichtigen Sie, Verhaftungen vornehmen zu lassen?« »Wie sollten wir Freunde Rasputins verhaften?« Olgas Augen senkten sich. Sie hätte ebensogut sagen können, verhaften Sie Rasputin. Der Politiker beugte sich über den Tisch, und seine Stimme wurde dringlich. »Madame - Olga Nikolajewna -, Sie haben Ihre Stärke und Ihren Mut schon einige Male bewiesen. Bitte, unterstützen Sie mich in der Angelegenheit, die mich heute hierhergeführt hat. Ich bat telefonisch um eine Audienz, von der ich wußte, daß Seine Majestät sie mir höchst ungern gewährte und er würde es noch jetzt am liebsten vermeiden, mich zu empfangen. Er sieht einen Emporkömmling in mir, eine Bedrohung seiner Autorität, einen ewigen Unheilverkünder: Ich habe ihn jahrelang vor Rasputin gewarnt, und Seine Majestät hat alle meine Warnungen in den Wind geschlagen. Wenn ich ihm das gleiche erzählen würde, was ich soeben Ihnen erzählt habe, würde er mich auslachen. Aber ich bin heute auch gar nicht gekommen, um mich über Rasputin zu beklagen. Ich wollte ihn darauf hinweisen, daß er sich in eine bedenkliche Situation bringt, wenn er auf seinem Vorhaben beharrt, das Oberkommando zu übernehmen. Man wird ihm jede Niederlage, jeden Mißerfolg zur Last legen. Wenn er die Duma auflöst - was er fast mit Sicherheit tun wird, sobald wir uns seinen Wünschen widersetzen -, werden die Arbeiter von Petrograd streiken. Nicht auf unsere Aufforderung hin, sondern weil hinter ihnen Männer stehe n, die aus jeder Schwierigkeit Nutzen zu ziehen wissen. Streiks in den Rüstungsfabriken bedeuten weitere Niederlagen, neue Vorwürfe für den Oberbefehlshaber. Am Ende kann ihn das nicht nur das Kommando kosten, sondern vielleicht sogar den Thron.« -264-
Er sah, daß seine Worte sie im Innersten berührt hatten, denn Olgas Gesicht war sehr blaß, und ihre Stimme bebte, als sie fragte: »Glauben Sie tatsächlich, die Dynastie könnte gefährdet sein?« »Ja, Madame.« »Dann müssen Sie es ihm sagen, und nicht Sie allein: bewegen Sie die Generäle, die führenden Persönlichkeiten der Duma, ihm ihre Ansichten darzulegen. Er ist nicht unvernünftig, aber...« Sie brach ab, doch sie wußten beide, wie ihre nächsten Worte gelautet hätten... »aber er hört nur auf meine Mutter.« »Wollen Sie es nicht einmal versuchen, ihn zu überzeugen, ihn zu beschwören, wie es nur eine Tochter kann?« »Er behandelt mich wie ein Kind!« erwiderte sie. »Wenn ich von Politik anfange, lacht er mich aus. Aber eines werde ich ihm vor Augen halten, darauf gebe ich Ihnen mein Wort: daß er sich nicht mit der Duma überwerfen sollte, weil die Duma das Volk repräsentiert, das er so sehr liebt.« Rodzianko betrachtete mit unverhüllter Bewunderung das hübsche, gerötete Gesicht. »Madame«, sagte er, »ich wünschte, Sie wären die Thronfolgerin!« »Der dicke Einfaltspinsel war heute ungeheuer eloquent«, bemerkte der Zar, an seine Gattin gewandt, als die Familie zusammen zu Abend speiste. »Er drohte mir mit schrecklichen Konsequenzen, wenn ich die Duma auflöse.« »Was du selbstverständlich tun wirst, Liebster.« »Zweifellos, wenn er noch lange so aufrührerische Reden über mich hält.« Drei seiner Töchter nahmen seine Worte als Evangelium hin, und auch Olga fand es besser, sich in diesem Moment nicht einzumischen. Was das Oberkommando betraf, so war sie selbst noch zu keinem klaren Urteil gelangt. Gewiß mußte man es als -265-
ein ernstes Zeichen betrachten, daß in dem allgemeinen Rückzug vor den Deutschen sogar das Hauptquartier verlegt worden war, doch Rußland - so lautete eines der Grundprinzipien, die sie aus ihrem dürftigen Geschichtsunterricht wußte - hatte seine Feinde immer weit in das Land hineingelockt und dann zerstört. Man brauchte nur an Poltawa zu denken! An Napoleon, als er zur Beresina zurückgetrieben wurde! Das waren die klassischen Beispiele, die die Zarin in ihrer Begeisterung unermüdlich zitierte. Doch Olga sah sich außerstande, ihren Vater als eine Reinkarnation Peters des Großen oder General Kutosows zu betrachten. Es kam alles wie von Rodzianko prophezeit. Die Warnungen des Präsidenten verhallten ungehört, die Duma wurde suspendiert, die Streiks begannen. Die Familienmitglieder telegrafierten, baten um Audienzen, protestierten brieflich dagegen, daß die gesamten Staatsgeschäfte wem? überlassen bleiben würden, wenn der Zar die Pflichten des Oberbefehlshabers übernahm, die seine Zeit und Energie fast gänzlich beanspruchen würden. Der Zar schwieg und rüstete sich für die Abreise nach Mohilew. Einmal, obwohl sie wußte, daß es nutzlos war, versuchte Olga ihn umzustimmen. Sie wurde mit einem Hinweis auf den duldsamen Hiob abgespeist, dem die feierlichen Worte folgten: »Vielleicht ist ein Sündenbock nötig, um Rußland zu retten, und wenn es so ist, will ich das Opfer sein. Komm, laß uns in der Znameniakirche miteinander beten, meine Liebe.« Den letzten Vorstoß unternahm Großfürst Dimitrij, der kühn mit einem Sonderzug von Mohilew angereist kam, um »Onkel Nicky« zu bitten, das Kommando in Händen »Nikolaschas« zu belassen. Erst zwei Stunden nach seiner Ankunft gelang es ihm, Olga telefonisch zu erreichen. »Dimitrij! Wo bist du?« -266-
»In Pawlowsk. Hör zu, Olga, ich muß mit Onkel Nicky sprechen. Ich habe schon ein halbes dutzendmal angerufen, und er kommt nicht einmal an den Apparat...« »Und was erwartest du von mir?« »Verwende dich für mich. Bitte Tante Alice...« »Sie wird nicht auf mich hören, und er auch nicht, wenn es sich um Mohilew handelt.« »Natürlich handelt es sich um Mohilew! Es gibt eine Katastrophe, wenn er Nikolascha hinauswirft. Die Truppen beten Nikolascha an, sie folgen ihm durch dick und dünn...« »Ein paar Millionen sind auf diese Weise in den letzten zwölf Monaten in ihren Tod gegangen.« »Ja, wir haben Niederlagen erlitten, furchtbare Niederlagen, aber Nikolascha ist nicht der Kaiser! Wenn wir noch einmal so einen Sommer wie diesen erleben, dann werden die Truppen deinen Vater fortjagen, und wohin würde das uns alle führen? Er muß im Hintergrund bleiben, wo er keinen Schaden Anrichten kann...« Olga wurde zornig. »Nun reicht es mir. Du stellst meinen Vater ja als einen absoluten Trottel hin! Wer bist du, um in deinem Alter, als simpler Adjutant, ein Urteil zu fällen? Mein Vater hat eine gründliche militärische Ausbildung erhalten...« »Die ihn befähigt, bei den Sommermanövern in Krasnoje Selo eine gute Figur abzugeben. Er war einfach als blutjunger Mann ein paar Jahre in der Armee, wie ich auch, und er versteht im Ernstfall nicht mehr von der Truppenführung als ich.« »Aber er hätte doch General Alexejew als Stabchef, oder nicht?« »Oh, zum Teufel mit Alexejew! Olga, wenn du irgend etwas für mich übrig hast, dann mußt du mir noch vor Einbruch der Nacht eine Audienz vermitteln - sie warten in Mohilew auf...« »Mir gelingt das bestimmt nicht. Vielleicht hat Tatjana mehr -267-
Glück.« Und Tatjana erreichte es, wie gewöhnlich. Dimitrij wurde eingeladen, mit der Familie zu Abend zu speisen und anschließend mit dem Zaren eine Partie Billard zu spielen. Sie zogen sich allein ins Billardzimmer zurück. Aus dem klirrenden Zusammenstoßen der Bälle wurde Stimmengemurmel, und nach einer Weile erschien Dimitrij mit strahlendem Gesicht im grünen Salon, wo Olga und Tatjana warteten; übermütig faßte er die Mädchen um die Taille und schwenkte sie ein paarmal herum. »Ich habe es geschafft!« verkündete er triumphierend. »Dank eurer Hilfe. Was für Prachtmädchen ihr seid! Onkel Nicky hat mir fest versprochen, seinen Entschluß zu widerrufen und Nikolascha auf seinem Posten zu belassen. Hurra!« Zwei Tage darauf aber brach der Zar rücksichtslos sein Wort und stellte sich an die Spitze seiner Armee. Zum erstenmal sah es so aus, als sollte der Zar von Hiobs Unheil verschont bleiben. Er übernahm das Oberkommando in dem Augenblick, als der deutsche Vorstoß nach fünf verheerenden Monaten erlahmte. Der Winter stand vor der Tür, und hinter den vereisten Linien hatten die russischen Generäle Zeit, die Offensive des Jahres 1916 zu planen; nur im Süden hatte Bulgariens Beitritt zu den Mittelmächten ein neues Problem geschaffen. In Mohilew war es so ruhig, daß der Zar bereits nach sechs Wochen beschloß, Alexis zu sich zu holen, damit er das Leben im Hauptquartier kennenlernen und an den Truppenbesuchen seines Vaters teilnehmen konnte. Der Knabe war natürlich begeistert. Gesundheitlich ging es ihm seit Monaten ausgezeichnet, und er fühlte sich von seinen immer geschäftigen Schwestern ein wenig vernachlässigt; Soldaten, richtige Frontsoldaten, waren bestimmt bessere Spielgefährten als die wenigen Jungen, mit denen er zusammenkommen durfte. Seine -268-
Mutter bangte verständlicherweise sehr um seine Sicherheit, aber er reiste mit einem so umfangreichen Gefolge von Ärzten, Hauslehrern, Betreuern und Ordonnanzen ab, daß »die Frauen«, wie er sie herablassend nannte, kaum noch Befürchtungen hegen konnten. Er ging ganz in seiner Zarewitsch-Rolle auf, als er seiner Mutter am Bahnsteig die Hand küßte und seine sichtlich beeindruckten Schwestern mit einem ernsten militärischen Gruß verabschiedete - ungeheuer stolz in der Soldatenuniform, die er nun anstelle »kindischer Matrosenanzüge« trug. Die Briefe von Vater und Sohn waren für die in Zarskoje Selo zurückgelassenen Damen eine beglückende Lektüre. Offenbar jubelten die Truppen Alexis überall, wo er sich zeigte, zu, und die Propagandazeichnungen (»heutzutage offenbar ein unentbehrliches Requisit«, so der Zar) waren sehr schmeichelhaft. Die alliierten Verbindungsoffiziere fanden sein unbefangenes Geplauder und seine Fröhlichkeit erfrischend, und unter der Besatzung der britischen Unterseeboote, die den deutschen Sperrgürtel in der Ostsee durchbrochen hatten, fühlte er sich so wohl wie nie zuvor in seinem Leben. In Odessa hatte man ihn vor den stürmischen Sympathiebeweisen der Bevölkerung sogar schützen müssen. Alles war ein gewaltiger Erfolg, bis es in den Briefen hieß, »Alexis hat eine leichte Erkältung... wir verzichten auf unseren Besuch in Galizien... wir fahren nach Mohilew zurück«... Und anschließend kamen die Telegramme: »Heftiges Nasenbluten, Spezialisten benachrichtigen, sind auf der Heimfahrt. Blutung nicht aufzuhalten, Alexis bereits sehr geschwächt, betet für ihn.« Und dann die letzte, erschütternde Botschaft aus Witebsk: »Bitte sorgt dafür, daß niemand auf dem Bahnhof ist.« Und im offiziellen Sinn des Wortes war auch »niemand« da, kein Höfling, kein Stationsvorsteher, als der blaue kaiserliche Zug langsam in den Privatbahnhof von Zarskoje Selo einfuhr. Nur die leidgeprüfte Mutter und die bekümmerten Mädchen -269-
sahen zu, wie der treue Nagorny mit dem in Decken gehüllten, halb bewußtlosen Jungen behutsam ausstieg. Nagorny hatte den Zarewitsch die ganze schreckliche Nacht lang in seinen Armen gehalten, weil man es kaum mehr riskieren konnte, den Jungen auf ein Kissen zu legen. Unablässig sickerte das Blut durch die Pfropfen, die in Alexis' Nase staken, während sie ihn in den Palast brachten, wo sein Krankenbett gerichtet war. Professor Feodorow, der ihn auch bei früheren Anfällen behandelt hatte, versicherte den Eltern, daß sie die Hoffnung keineswegs aufzugeben brauchten. Der Katarrh und das viele Niesen hatten unglücklicherweise ein kleines Blutgefäß in der Nase zum Platzen gebracht, doch die Stelle würde nun sofort verätzt werden. Die Blutung hatte aufgehört, der Knabe sprach auch schon wieder und hatte sogar ein wenig Kraftbrühe zu sich genommen, als Rasputin in seinem Bauerngewand eintraf. Er wurde als hochgeschätzter Gast in den verbotenen Flügel des Palastes geleitet. Von der Schlafzimmertür aus lächelte er Alexis zu und machte das Zeichen des Kreuzes. »Gott segne dich, kleiner Aljescha«, sagte er mit seiner lauten, nachhallenden Stimme. »Bald wirst du wieder gesund und kräftig sein.« Dann wandte er sich an den unrasierten Zaren, die weinende Zarin: »Machen Sie sich keine Sorgen, meine Lieben. Dem Kleinen wird nichts zustoßen.« Und anschließend verharrte er in einer Pose übertriebener Demut, während das kaiserliche Paar niederkniete, um seine Hände zu küssen. »Rasputin hat also doch wieder gesiegt«, bemerkte Olga, als sie endlich in demselben Zimmer, aus dem sie Rasputin im Sommer hatte entfernen lassen, mit Tatjana allein war. »Da erscheint er, wenn der arme Junge ohnehin auf dem Weg der Besserung is t, und heimst die ganze Anerkennung ein.« »Woher wissen wir, wann der Genesungsprozeß eingesetzt hat? Immerhin betet Vater Grigorij doch ständig für Baby. Heute hat er Alexis gesegnet und ihm versichert, daß er gesund -270-
werden würde. Und er ist schon fast gesund.« »Unsinn!« erklärte Großfürstin Olga entschieden. »Mit solchen Ammenmärchen hat man uns jahrelang abgespeist. Heute haben wir einmal gesehen, was vorging. Die Ärzte verätzten die Nase, die Blutung stockte. Nicht Gesundbeten, sondern die medizinische Wissenschaft hat das vermocht!« »Ach, die Hauptsache ist, daß es Baby bald wieder gutgeht. Offen gestanden bin ich gar nicht mehr fähig, logisch zu denken.« »Ich schon«, sagte Olga. »Und ich glaube, das ist das Schlimmste, was Alexis je passiert ist. Bishe r rührten solche inneren Blutungen immer von einem Sturz oder einem Stoß her. Doch diesmal genügte eine simple Erkältung, Tanja! Er nieste lediglich oder putzte sich die Nase wie jeder normale Mensch, und schon verlor er soviel Blut, daß er gestern nacht beinahe gestorben wäre!« »Die Erkältung allein war es nicht, das weißt du. In seiner Nase ist ein Blutgefäß geplatzt.« »Ja, aber warum diese anhaltende Blutung? Ich will jetzt die Wahrheit herausfinden, Tanja; wir müssen sie erfahren.« »Du weißt, daß wir keine Fragen stellen sollen. Ganz einfach, weil Alexis ein Junge ist und wir Mädchen sind; das hat Mama oft genug betont.« »Ja, natürlich mußte ihre übertriebene sexuelle Prüderie auch hier im Spiel sein. Erinnerst du dich, wie sie errötend ein paar wirre Worte vom ›Fluch der Frau‹ stammelte? Und wie sie uns noch in diesem Jahr erzählte, daß der Storch Irina ein süßes kleines Baby gebracht habe? Ich werde morgen früh einmal Feodorow aushorchen.« Doch Professor Feodorow war viel zu geübt darin, allen Fragen nach dem Befinden des Zarewitsch auszuweichen, als daß er sich etwas hätte entlocken lassen. Es war Dr. Botkin - an sich der Leibarzt ihrer Mutter, häufig aber auch mit der -271-
Behandlung der Kinder betraut -, der ihr endlich die Wahrheit sagte. Sei es, daß ihn die Nervenanspannung dieser so kritischen Blutung erschöpft hatte, sei es, daß er der ewigen Heuchelei überdrüssig war oder daß er Mitleid mit dem zwanzigjährigen Mädchen empfand, das von seinem fatalen Erbteil nicht das mindeste ahnte - auf jeden Fall eröffnete er Olga in seinem Arbeitszimmer, daß die Krankheit ihres Bruders nach dem gegenwärtigen Stand der Medizin unheilbar sei. Hämophilie. Von den Frauen vererbt, brach sie nur bei Männern aus. Eine Krankheit, bei der ein Stoß genügte, um innere Blutungen zu verursachen, die Muskeln und Glieder bis zur Gehunfähigkeit verkrampften. »Sie sagen, der Überträger ist immer die Frau... dann war es also Mutter, die Alexis dieses - dieses furchtbare Erbe mitgab?« »Ja, das ist die Tragödie der Zarin, Olga Nikolajewna.« »Und wie hat sie es bekommen?« »Von ihrer Mutter; einer ihrer Brüder starb als Kind auch daran. Diese wiederum hatte es von Königin Victoria, die ebenfalls einen Sohn durch die Bluterkrankheit verlor.« »Und Tante Irene, hat sie die Erbanlage auch? Ist das der Grund, weshalb ihr kleiner Junge starb und Waldemar so... schwächlich ist?« »Leider ja.« »Und wie ist es mit Tante Victoria? Die Battenbergjungen sind doch beide kräftig und gesund!« »Ja, weil Prinzessin Victoria keine Konduktorin ist. Nicht alle Frauen vererben die Krankheit. Manchmal überspringt sie eine Generation und taucht in der nächsten wieder auf...« »Ich verstehe«, sagte Olga, und Dr. Botkin staunte über ihre Ruhe. »Es ist wie beim ›russischen Roulette‹. Man hält die Pistole an die Schläfe, drückt ab, und mit etwas Glück ist die Kammer leer! Als Frau weiß man nicht, ob die Erbanlage in -272-
einem schlummert. Man muß heiraten, um es herauszufinden!« »Liebe Olga Nikolajewna, ich weiß, es ist hart für Sie... Ich bitte Sie nur, Ihrer Majestät nicht zu sagen, daß ich Ihnen diese vertrauliche Eröffnung gemacht habe...« »Nein, nein, natürlich nicht«, antwortete Olga geistesabwesend. Sie schob den Gedanken an ihre Mutter einstweilen beiseite: Das Schuldgefühl, die Qualen, die sie erduldet haben mußte, erklärten vieles. Doch zuallererst ging es um Alexis. »Ich sorge mich natürlich um meinen Bruder. Sie sagten, bis jetzt könne man die Hämophilie noch nicht heilen. Diese Jungen, die daran starben, waren aber alle viel jünger als Alexis. Er ist jetzt in einem Alter, wo er schon vernünftig sein kann. Meinen Sie nicht, man könnte ihn dazu erziehen, daß er auf sich achtet?« »Genau darauf hatten wir unsere Hoffnungen gesetzt. Doch diese neue Blutung, die von einer gewöhnlichen Erkältung ausging, zeigte uns allen, daß das Leben des Zarewitsch an einem seidenen Faden hängt.« Dann ließ er sie sich ausweinen, über seinen Schreibtisch gebeugt, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt; und das einzige, was er sie immer wieder unter dem wirren blonden Haar sagen hörte, waren die Worte: »Mein Vater! Oh, mein armer Vater.« Es war noch ein so neuer Gedanke für sie, daß ihr Bruder vielleicht jung sterben und niemals regieren würde. Dr. Botkin hatte mit diesem Gedanken schon zwölf Jahre gelebt, genau wie der Zar und die Zarin. Als Olga schließlich den Kopf hob und nach einem Taschentuch tastete und sich das Haar aus den nassen Augen strich, wußte er, daß sie auch die andere Konsequenz, die unausgesprochen geblieben war, voll erfaßt hatte. Das Lächeln, das ihre Worte begleitete, schnitt ihm ins Herz. »Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, daß Sie mir die Wahrheit -273-
enthüllt haben, Dr. Botkin«, sagte sie. »Meine Schwestern und ich haben uns schon oft Sorgen gemacht und wildeste Vermutungen angestellt. Wer von den Menschen um uns herum weiß es?« »Monsieur Gilliard, aber er ist die Diskretion selbst, wie Sie sicher gemerkt haben. Von der Familie niemand, glaube ich.« »Und ich werde auch meine Schwestern vorerst noch nicht einweihen. Irgendwann müssen sie es allerdings erfahren, und wahrscheinlich sogar bald. Denn mir ist durchaus klar, was Sie mir zu verstehen geben wollten - daß keine von uns für einen Mann eine geeignete Gefährtin ist.«
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13 Wenige Wochen nachdem sie über ihr bitteres Erbe informiert worden war, sah sich Olga mit einem neuen, völlig unerwarteten Heiratsantrag konfrontiert. Dr. Botkins Enthüllungen behielt sie zunächst für sich, obschon es sie einige Selbstbeherrschung kostete. »Ich konnte nicht das geringste aus ihm herausholen!« sagte sie zu Tatjana, und ihre Schwester begnügte sich damit; sie war ohnehin ganz in ihren gewohnten Selbstbetrug verstrickt, wonach die plötzliche Heimkehr des Zarewitsch lediglich »auf eine sehr schwere Erkältung« zurückzuführen war. »Und der arme Junge wollte eben zu Hause in seinem eigenen Bett sein!« Olga begann sich zu fragen, wie viele der Höflinge dieser Version wohl Glauben schenkten. Sie hatte das Gefühl, daß sich hier und da hinter ihrem Rücken eine Braue hob und so manche Lippen ein vielsagendes Lächeln umspielte. Die neue Fiktion über die Krankheit des Jungen war insofern tragikomisch, als das eigene Bett für Alexis keineswegs einen erstrebenswerten Aufenthaltsort darstellte. Er wollte nach Mohilew zurück, in eine Männerwelt, und zog die Gesellschaft »Zilchiks« der seiner Schwestern jederzeit vor, weil er mit seinem Hauslehrer, der ihn begleitet hatte, endlose Gespräche führen konnte über die verschiedenen Garnisonen, die sie besucht, und die Soldaten, die sie kennengelernt hatten. War Zilchik einmal nicht da, so begnügte sich Alexis mit Olga. Obwohl man ihn seiner häufigen Erkrankungen wegen ständig verwöhnt und verzärtelt hatte, war ein zäher, unsentimentaler Zug an ihm, der ihn mit seiner ältesten Schwester verband; ihr konnte er schildern, was für ein Gefühl es war, an Bord der britischen Unterseeboote zu gehen, die im vereisten Hafen von Reval lagen. Ihr konnte er alles erzählen. Im November hatte er in Odessa Leutnant Hendrikow -275-
gesehen, der dort mit einigen anderen Angehörigen der ehemaligen Leibgarde für kurze Zeit seine alten Pflichten übernommen hatte. »Und ich bin heilfroh, daß Simon Karlowitsch da war«, erklärte Alexis wichtigtuerisch, »denn die Leute in Odessa waren kaum zu bändigen. Sie schrien immerfort: ›Der Thronfolger! Er sieht aus wie ein Engel! Was für ein hübscher Junge!‹ Papa war sehr glücklich.« »Davon bin ich überzeugt.« »Ich fragte Simon Karlowitsch, ob ich dir etwas von ihm ausrichten sollte - Grüße zum Beispiel -, aber er sagte, du wüßtest schon alles, was wichtig ist. Wie hat er das denn gemeint?« »Sei nicht so naseweis, Alexis. Komm, laß uns irgend etwas spielen...« Sehr beruhigt über die Fortschritte, die die Genesung seines Thronfolgers machte, kehrte der Zar nach Mohilew zurück und schrieb in seinem ersten Brief, daß man Alexis allenthalben vermisse. Da das einzige männliche Mitglied der Familie spätestens um sieben Uhr zu Bett ging, hatten die Abende in den Privatgemächern eine ausgesprochen feminine Note und schienen auch länger zu sein als sonst. Madame Wirubowa, die während des Tages zweimal in ihrem Rollstuhl herüberkam, verbrachte allabendlich vier Stunden bei der Zarin. Sie schwatzte von ihren imaginären Liebesaffären und lauschte den Geschichten aus Alexandra Feodorownas glücklicher Kindheit in Darmstadt, die bei ihren Töchtern schon seit langem nur noch unterdrücktes Gähnen hervorriefen. Es wurde auch vorgelesen, doch die Mädchen vermißten die attraktive Stimme ihres Vaters, und Olga fand die Auswahl der Bücher, die ihre Mutter traf, unerträglich. Alexandra Feodorowna hatte einen englischen Roman entdeckt, »Durch das Hintertor«, der ihr sentimentale Tränen entlockte. Olga nahm das Buch nach der ersten -276-
gefühlvollen Lesung mit nach oben. Es war nicht sehr lang, und sie beendete die Lektüre noch am selben Abend. »Wie gefällt es dir, Kindchen?« fragte ihre Mutter am nächsten Tag. »Ich finde es fürchterlich. Mir wäre fast übel davon geworden.« »Wie? Von dieser schönen, zarten Geschichte?« »Sehr zart, wie halbrohes Rindfleisch. Diese gräßliche Heldin mit ihrer ›würdevollen Erscheinung‹ und der arme Guy, schmal und jungenhaft, mit dem sie am Strand gespielt und den sie ›kleiner Waisenknabe‹ genannt hatte. Wie konnte er sich nur in eine Frau verlieben, die ständig bedauerte, nicht seine Mutter zu sein? Man sollte meinen, so etwas müßte jeden Mann auf Lebenszeit verscheuchen. Cristobel hätte ihre Muttergefühle doch wenigstens ablegen können, als er erwachsen war. Aber nein, sie muß es immer wieder sagen, ›Ich weiß, mein kleiner Waisenknabe hatte keine Mutter‹, Gott!« »Du verstehst einfach noch nichts von diesen Dingen«, erklärte die Zarin, in diesem Augenblick selbst eine sehr würdevolle Erscheinung. »Wenn du dem richtigen Mann begegnest, Olga, wirst du merken, daß jede Frau mütterliche Empfindungen für den Mann hegt, den sie liebt. Er ist ihr erstes Kind, es ist eine so schöne Beziehung...« Nach dieser exaltierten Aufklärung über die Liebe war es beruhigend, daß sich die Zarin in einer sehr unsentimentalen Stimmung befand, als der Heiratsantrag für Olga eintraf. Er kam an einem Tag mit heftigem Schneetreiben wie ein Blitz aus heiterem Himmel, der sich lediglich vierundzwanzig Stunden zuvor auf eine ebenfalls überraschende Weise angekündigt hatte. »Olga«, sagte die Zarin, als sie unangemeldet den Wohnraum ihrer Tochter betrat, »ich habe einen höchst merkwürdigen Brief von Tante Miechen erhalten.« »Du meine Güte, was will sie denn?« -277-
»Sie möchte morgen zum Tee kommen, um mit mir ein vertrauliches Gespräch zu führen, und sie will vor allem mit dir eine ernste Angelegenheit erörtern.« »Mit mir? Was habe ich denn angestellt?« »Das wirst du selbst am besten wissen«, erwiderte die Zarin. Olga begann zu überlegen, ob sie vielleicht auf irgendeinem Empfang eine Freundin Tante Miechens übersehen haben konnte... »Mir fällt wirklich nichts ein«, versicherte sie dann. »Nun, warten wir es ab.« »Bist du auch sicher zu Hause?« »Was ist morgen? Donnerstag. Ja, da bin ich zu Hause.« »Und sieh zu, daß du dich ein bißchen hübsch machst. Du entwickelst eine bedenkliche Vorliebe dafür, deine Tracht auch zu Hause zu tragen.« Olga verzog das Gesicht, doch am nächsten Nachmittag bürstete sie sehr sorgfällig ihr Haar, wählte ein dunkelrotes Kleid, das für wichtige offizielle Anlässe angefertigt worden war, und ergänzte es durch eine einreihige Perlenkette. Tante Miechen oder Großfürstin Marie Pawlowna, die Witwe des Zarenonkels Wladimir, hielt es für selbstverständlich, daß die Kleider eleganter und der Tee festlicher sein mußten, wenn sie den Alexanderpalast mit ihrer Anwesenheit beehrte. Dies geschah allerdings nur selten, denn Miechen und die Zarin standen einander sehr feindselig gegenüber, seit die siebzehnjährige Alice von Hessen, unerträglich schüchtern und steif, bei ihrem ersten Auftreten in der St. Petersburger Gesellschaft von der hübschen, jungverheirateten Frau gnadenlos bloßgestellt worden war. Aus der linkischen Prinzessin war die angebetete Gattin des Zaren geworden, doch Marie Pawlowna, selbstsicher und weltgewandt, behandelte sie noch immer wie ein Mädchen aus der Provinz und ihre Töchter wie Aschenbrödel. Tante Miechen hatte selbst auch eine Tochter, die in -278-
Griechenland verheiratet war, und drei Söhne, für die sie früher sehr viel Ehrgeiz entwickelt hatte. Es waren inzwischen keine jungen Männer mehr, und Kyrill, der älteste, hatte seiner Karriere ein Ende gesetzt, indem er die geschiedene Frau von Alexandra Feodorownas Bruder ehelichte. Der knapp vierzigjährige Boris schätzte offenbar das keinerlei Beschränkungen unterworfene Leben eines russischen Junggesellen, und der dritte, Andrej - nicht unbesonnen genug, um eine morganatische Ehe zu riskieren -, war nun schon seit vielen Jahren mit der Tänzerin Mala Kschessinskaja und dem Sohn, den sie ihm geboren hatte, auf eine durchaus seßhafte Weise glücklich. Daß einer dieser großfürstlichen Vettern der Gegenstand eines vertraulichen Gesprächs mit der Zarin sein könnte, überstieg Olgas Vorstellungskraft. Vielleicht, so dachte sie, handelte es sich ganz einfach um einen neuerlichen Versuch, Mama dazu zu überreden, daß sie einen Ball veranstaltete. Tante Miechen galt als die brillanteste Gastgeberin Petrograds, und während die Souveräne bei Anja Wirubowa saßen und ihren eigenen Cherry Brandy tranken, waren ihre Salons ein fester Treffpunkt für die interessantesten Persönlichkeiten aus der Diplomatie, Wissenschaft und Kunst. Olga wußte, daß die erlauchte Dame mit dem Zug aus der Stadt kam und eine halbe Kompanie Kavallerie ausgesandt worden war, um sie zum Palast zu geleiten. Sie wartete, bis sie das Hufeklappern hörte, ließ dann noch ein paar zusätzliche Minuten verstreichen und begab sich schließlich in den grünen Salon hinunter, um dort zu warten, bis ihre Mutter sie rufen ließ. Es war noch keine Viertelstunde verstrichen, als schon das Klingelzeichen ertönte und eine knicksende Hofdame erschien; nun durfte Großfürstin Olga das mauvefarbene Boudoir ihrer Mutter betreten und in genau zweieinhalb Zentimeter Abstand von Tante Miechens Wangen Küsse in die Luft hauchen. »Wie geht es dir, meine Liebe? Du bist hoffentlich nicht -279-
gerade ungeheuer beschäftigt oder müde?« »Danke, Tante, es geht mir sehr gut. Und Ihnen?« »Tante Miechen ist in ausgezeichneter Verfassung«, ließ sich die Zarin vernehmen. »Sie unterbreitete mir soeben den bemerkenswertesten Vorschlag, den ich je gehört habe.« »Vielleicht möchtest du dem lieben Kind die Angelegenheit auseinandersetze n?« erkundigte Tante Miechen zuckersüß, doch die Zarin lehnte frostig ab: »Sag du es ihr selbst, Marie. Ich will nichts damit zu tun haben.« Olga blickte die Tante ihres Vaters fragend an. Marie Pawlowna trug ein dunkelblaues Kleid aus feinem Tuch mit einer Saphirbrosche und ebensolchen Ohrringen, die unter der kleinen Zobelmütze hervorlugten. Sie war eine kräftige, hübsche Frau, die noch mitten im Leben stand und mit ihrer Vitalität die ehedem blendende Schönheit der Zarin angekränkelt und verblüht wirken ließ. Sie lächelte. »Komm und setz dich neben mich, meine liebe Olga, und steh nicht vor mir wie eine junge Riesin.« Sie ergriff Olgas Hand. »Ich spreche hier für meinen Sohn, deinen Vetter Boris. Er bat mich, in seinem Namen den ersten Schritt in dieser... in dieser Angelegenheit zu tun, die ihm so sehr am Herzen liegt. Vor wenigen Tagen eröffnete er mir und natürlich seinen Brüdern, was niemand von uns vermutet hätte: daß dir, seit du dem Schulzimmer entwachsen bist, sein Herz gehört.« »Auch ich hätte das nie vermutet«, versicherte Olga. »Ich kann mich nicht einmal erinnern, wann ich meinen Vetter Boris das letztemal gesehen habe.« »Er respektierte deine Jugend, meine Liebe, und den hingebungsvollen Eifer, mit dem du dich unseren verwundeten Helden gewidme t hast. Er wollte warten, bis du zumindest zwanzig wärst, bevor er sich erklärte.« »Aber er hat sich noch nicht erklärt«, stellte Olga fest. »Was erwarten Sie von mir? Soll ich sagen:›Oh, Tante Miechen, das -280-
kommt so unerwartet!‹Ist Boris nicht mutig genug, um seine Werbung selbst vorzubringen?« »Du gestattest ihm also, daß er sich um dich bemüht, soweit es ihm seine militärischen Pflichten erlauben?« fragte Tante Miechen sogleich. »O gewiß, bemühen darf er sich gerne«, antwortete Olga und übersah die wütende Geste ihrer Mutter. »Dann kann ich ihm auch ein oder zwei Fragen stellen.« »Zum Beispiel?« »Nun, Boris ist doppelt so alt wir ich; man sollte eigentlich meinen, daß ein solcher Unterschied ihm selbst etwas zu groß vorkommen müßte!« »Nicht, wo eine echte Zuneigung gegeben ist...« »Sofern Boris mich davon überzeugen kann, daß sie tatsächlich gegeben ist! Abgesehen davon möchte ich auch gern von ihm erfahren, ob diese Zina, diese Dame, die schon so lange bei ihm wohnt, ihre Koffer packen und verschwinden wird, bevor Boris eine Ehe eingeht, oder ob sie bleibt, um eine ménage à trois daraus zu machen.« »Olga, ich muß dir eines sagen, in meiner Jugend schnitt ein guterzogenes Mädchen derartige Themen niemals an...« »In Ihrer Jugend, das mag schon sein - am Hof von Mecklenburg-Schwerin, nicht wahr?« Olga wußte, daß Tante Miechen es haßte, an ihre provinzielle deutsche Herkunft erinnert zu werden. »Aber der Krieg hat vieles geändert, Tante, oder haben Sie das noch nicht gemerkt? Ich weiß, all diese Zinas und Zizis sind nur ein Zeitvertreib, ein junger Mann muß sich eben die Hörner abstoßen - und der arme alte Bons hatte Zeit genug dazu -, doch das heißt nicht, daß ein modernes Mädchen bereit ist, über so etwas hinwegzusehen.« »Boris wird dir dein Interesse zu danken wissen«, sagte seine Mutter mit bebenden Nasenflügeln. »Darf ich ihm bestellen, daß -281-
Großfürstin Olga seine Werbung nicht gänzlich zurückweist?« »Bestellen Sie ihm er möge meinen Vater fragen, wenn er so pedantisch auf Etikette hält. Ich glaube zu wissen, was mein Vater antworten wird.« »Ich werde Nicky heute abend schreiben«, verkündete die Zarin, die endlich ihren Moment gekommen sah. »Ich werde ihm mitteilen, daß ein verbrauchter, verlebter, blasierter Mann, fast schon ein Wrack, es gewagt hat, einem unberührten Mädchen, das halb so alt ist wie er, durch eine Mittelsperson die Ehe anzutragen...« »Meine liebe Alice, wie du es genießt, dich selbst zu dramatisieren«, sagte Marie Pawlowna, während sie sich mit erstaunlicher Gelenkigkeit vom Sofa erhob. »Ich bin sicher, der arme Nicky begreift viel besser als du, wie wichtig es ist, daß die liebe Olga ein eigenes Heim gründet, mit jemandem aus der Familie, der ihre kleinen Launen und Schrullen versteht...« »Bei Ihren Worten komme ich mir wie eine alte Jungfer vor, Tante Miechen.« Marie Pawlowna lachte kurz auf. »Eine alte Jungfer bist du mit zwanzig wohl kaum«, entgegnete sie. »aber die Jahre vergehen schneller, als du denkst. Du bist jetzt schon zu mager, und ihr ätherischen Blondinen erhaltet euch euer gutes Aussehen nicht allzulang. Hast du das nicht auch festgestellt, Alice? Ich werde dem armen Boris empfehlen, die Hoffnung nicht aufzugeben. Wenn Nicky so gütig ist, ihm einen Urlaub zu bewilligen, kann er Olgas hartes Herz vielleicht selbst bestürmen und ihr versichern, daß alle kleinen Probleme, an denen sie Anstoß nimmt, selbstverständlich vor der Hochzeit aus dem Wege geräumt werden.« »Tante Miechen hat die Situation viel besser beherrscht als wir«, sagte Olga, als ihre Mutter von der Verabschiedung, die das Protokoll vorschrieb, zurückkam. »Wir waren unhöflich und erregt, sie hingegen blieb völlig kühl. Sie verstand es, den -282-
Dingen einen ganz anderen Anstrich zu geben - so als hätte sie gesiegt.« »Sie ist eine Meisterin der Doppelzüngigkeit.« »Was wohl Madame Zina Raschewskaja dazu sagen würde, wenn sie wüßte, daß man sie ein kleines Problem nennt?« Olga lachte bei ihren Worten, doch es war ein bitteres Lachen, und die Zarin sagte reumütig: »Ich hätte Miechen nicht gestatten dürfen, dich aufzuregen. Ich hätte dich gar nicht rufen lassen sollen. Aber ich wollte, daß sie aus deinem eigenen Mund erführe, wie du darüber denkst, weil sie sonst bestimmt überall verbreitet hätte, du wärst überhaupt nicht informiert worden.« »Sie hat mich nicht aufgeregt, Mama.« »Du hast dich ihr gegenüber sehr gut behauptet, Liebling, weitaus besser als ich in deinem Alter. So, und jetzt muß ich einen Brief für deinen Papa schreiben - um sechs fährt ein Kurier nach Mohilew ab.« Die Zarin setzte sich an ihren Schreibtisch und öffnete ihre abgenutzte Schreibmappe. Olga fragte: »Sie werden ihm doch nicht alles erzählen, oder?« »Warum nicht?« »Oh, ich weiß es nicht.« Alexandra setzte die Feder für einen Augenblick ab. »Mach dir keine Sorgen, meine Liebe«, bemerkte sie. »Ich werde Papa nicht schreiben, welche anderen Gedanken deinen Kopf und dein Herz bewegen. Selbst der beste Mann der Welt kann nicht verstehen, daß ein junges Mädchen sublime Geheimnisse hat, die es niemandem anvertraut...« Der exaltierte Ton erinnerte Olga an den »kleinen Waisenknaben«, und sie begehrte sofort dagegen auf. »Sublime Geheimnisse? Wovon sprechen Sie, Mama?« »Denkst du denn nicht allzuoft an Dimitrij? Ich hatte so sehr gehofft, du kämst allmählich darüber hinweg! Er ist nicht -283-
zuverlässig, meine Liebe. Felix hat ihn mit fragwürdigen Leuten zusammengebracht, und man erzählt sich, daß er seine Gesundheit mit Trinkgelagen und durchfeierten Nächten ruiniert...« »Dimitrij ist mir ein lieber Freund, und ich lasse nichts auf ihn kommen. Aber Boris! Mama, Sie wissen nicht, wie es mich demütigt, daß Tante Miechen im Auftrag von Boris Wladimirowitsch um meine Hand angehalten hat!« »Natürlich war das Ganze einzig und allein Tante Miechens Idee. Sie denkt eben, Boris käme dem Thron näher, wenn er dich heiratet.« »Wieso? Ich ne hme keinen Platz in der Thronfolge ein - wir Frauen sind in Rußland doch grundsätzlich davon ausgeschlossen!« Einen Moment herrschte Schweigen in dem mauvefarbenen Boudoir, wo die Zarin in einem weichfallenden Nachmittagskleid saß, von flachen Kristallscha len mit duftenden Parmaveilchen umgeben. Dann antwortete sie zögernd: »Boris möchte der Schwiegersohn des Zaren sein, das ist alles.« Olga hatte noch kaum Zeit gefunden, die Hintergründe dieses wenig schmeichelhaften Heiratsantrages zu erwägen, als einen Tag später Großfürst Dimitrij anrief. »Dimitrij! Wo steckst du denn dieses Mal?« »Ich bin in Pawlowsk. Sonderurlaub, um Marischa zu sehen, die sich eine Woche lang von ihrem Lazarett erholt.« »O wie schön!« In jedem anderen Haus hätte es möglich sein müssen, zwei liebe nahe Verwandte zum Abendessen einzuladen, doch Olga hütete sich, einen solchen Schritt zu tun, und beschränkte sich auf die Frage: »Wann sehen wir sie - und dich, natürlich?« »Mein letzter Besuch war kein überwältigender Erfolg, nicht -284-
wahr? Wir hatten uns überlegt, ob du vielleicht heute nachmittag zum Tee nach Pawlowsk kommen könntest... Ausgezeichnet! Versuch so gegen vier da zu sein, damit wir uns vorher noch eine Weile in Ruhe unterhalten können.« Es blieb ihr ausnahmsweise erspart, ihr Vo rhaben anzukündigen, denn die Zarin hatte erklärt, daß sie den ganzen Nachmittag mit dem Ministerpräsidenten, Monsieur Goremykin, beschäftigt sein werden. Seit der Zar das Oberkommando übernommen hatte, neigte sie mehr und mehr dazu, sich als Regentin zu betrachten. Sie zitierte Minister aus Petrograd zu geheimen Versammlungen und entsandte Eilkuriere mit langen, von keinerlei Interpunktion unterbrochenen Briefen nach Mohilew. Olga bestellte für drei Uhr eine Troika und einen Schlitten. Der schöne frostglitzernde Winternachmittag verlockte dazu, die knapp zwei Meilen zu dem Palast von Pawlowsk mit dem Pferdeschlitten zurückzulegen. Weißbehandschuhte Hände hüllten Olga bis zur Taille in eine Decke aus Bärenfell, als sie in den Schlitten einstieg. Sie trug den Zobelmantel und die Zobelmütze, die Simon so gut gefallen hatten, und zusätzlich noch einen Zobelmuff, den sie in der klassischen Geste einer russischen Dame vor ihr Gesicht hielt als Schutz gegen die Kälte und hochspringende kleine Eisstückchen. Der Kutscher, eine unförmige, in Pelze vermummte Gestalt, ließ seine Peitsche knallen, als sie in die Allee hinausschossen. Die Schlittenschellen begannen zu klingeln. An der breiten Straße nach Pawlowsk, die von Tannen gesäumt wurde, deren Zweige sich unter der schweren Schneelast bogen, lagen die schönen Wohnsitze jener Familienmitglieder, deren Vorfahren den russischen Kaiserinnen nach Zarskoje Selo gefolgt waren. Olga überlegte, ob von diesen Häusern, wo man ihre Eltern früher als Freunde aufgenommen hatte, auch nur eines geblieben war, in dem sich die Torheit der Zarin nicht ein halbes Dutzend Feinde geschaffen hatte. Sie -285-
freute sich auf Pawlowsk, dessen Bewohner eine von aller Politik distanzierte, sympathische Gruppe bildeten: Dimitrijs Mutter - die verwitwete Königin von Griechenland -, die junge serbische Prinzessin, die mit Prinz Iwan Romanow verheiratet war, und jetzt Marischa, die, wie Olga, nur geliebt werden wollte. In dem stilvollen gelben Palast, den der Sohn Katharinas der Großen hatte erbauen lassen, gab es keinen Pomp, keine Kosaken, keine Geheimpolizei. Zwei Schildwachen präsentierten das Gewehr, als der Schlitten zwischen den eisernen Torflügeln hindurchschoß, und zwei weitere nahmen neben dem Palasteingang Haltung an. Die Lakaien hatten Olga kaum von der Bärenfelldecke befreit, als auch schon Großfürst Dimitrij herbeieilte - im Laufen noch einen grauen Mantel überziehend -, um seine Kusine zu empfangen. Seine Fingerspitzen legten sich zum Gruß an seine Pelzmütze, dann küßte er die kleine Hand, die in einem weißen Handschuh stak. »Ein bezauberndes Bild!« stellte er bewundernd fest. »Die Frostprinzessin. Du solltest immer von Pelzen und Schnee umgeben sein. Hast du Lust, zuerst einen Spaziergang zu machen? Marischa schläft noch, Helen wollte sie ge rade wecken. Oder ist es dir zu kalt?« »Einen Spaziergang? Schau meine Schuhe an!« »Die Pfade sind hart gefroren, du bekommst keine nassen Füße, und ich möchte dir im Park etwas zeigen.« »Also gut - einverstanden«, sagte sie und schob ihre Hand durch seinen Arm. Es war noch hell, obwohl bereits ein schemenhafter Vollmond am blauen Februarhimmel stand. In den Fenstern des Palastes wurden soeben ein paar Wachskerzen angesteckt, die die Damen von Pawlowsk elektrischem Licht vorzogen. »Es ist fast alles noch wie zu seiner Zeit, nicht war?« meinte Dimitrij und betrachtete die Statue ihres Vorfahren, Pauls I., die einsam im Hof aufragte. -286-
»Wußtest du, daß man mich nach ihm genannt hätte, wenn ich ein Junge gewesen wäre? Großmama war dagegen, wahrscheinlich, um Mama zu verärgern; wenn man allerdings bedenkt, daß Paul I. von seinem eigenen Sohn ermordet wurde, wäre der Name auch nicht unbedingt ein gutes Omen für Paul II. gewesen.« »Manchmal bedaure ich, daß du nicht als Junge zur Welt gekommen bist«, sagte Dimitrij. Olga lachte. »Was für ein häßlicher kleiner Gnom er war«, sagte sie, die Augen auf die Statue geheftet. »Ist das nicht eine groteske Nase! Und ausgerechnet die habe ich von ihm geerbt.« »Ich finde deine Nase sehr hübsch.« Dimitrij betrachtete das reizende stupsnäsige Profil unter der kleidsamen Zobelmütze. ›Meine armselige Stupsnase‹ hast du sie früher immer genannt. Weißt du es noch?« »Natürlich wollte ich nur ein Kompliment hören. Im übrigen ist es ein Zeichen dafür, daß man alt wird, wenn man anfängt, ›weißt du noch‹ zu sagen.« »Warte, bis du siehst, was ich dir im Park zeigen will.« »Wie geht es Marischa, Dimitrij?« »Sie hat viel zu tun in ihrem Lazarett, sieht allerdings trotzdem recht gut aus. Übrigens trägt sie jetzt eine Bubikopffrisur.« »Eine Bubikopffrisur?« »Kurzgeschnittenes Haar. Die neueste Mode im Ausland, und ich muß sagen, Marischa steht es.« »Wir bekämen nie die Erlaubnis, unser Haar abzuschneiden.« »Es wäre auch ein Jammer - dein wunderschönes Haar!« Olga blieb auf dem Weg stehen, der zur Slavianka hinunterführte. »Ist es das, was du mir zeigen wolltest?« fragte sie ungläubig, und Dimitrij lachte. Auf der weiten Fläche zwischen dem vereisten Fluß und dem kleinen Freundschaftstempel, den Cameron -287-
gebaut hatte, stand ein imposanter Rodelberg, viel höher als alle, die es je in Zarskoje Selo gegeben hatte; man sah die in das Eis gekerbten Stufen am hinteren Ende und unter einer schützenden Segeltuchplane auf einer Seite einige Schlitten. »Und ich habe ihn ganz allein gebaut!« erklärte Dimitrij. »Das heißt, fast allein: meine einzigen Helfer waren Marischa und vier klapprige Stallknechte, bei denen es sich um Veteranen der Schlacht von Plewna handeln dürfte...« Olga kicherte. »O komm, so alt können sie unmöglich sein. Aber er ist wirklich ein Meisterwerk!« »Die armen Kinder hatten nur so eine Miniaturrodelbahn, ich konnte es einfach nicht mehr mit ansehen. Also schleppten wir in Eimern Flußwasser herbei, und das ist das Ergebnis. Du hättest das Gekreische der Kindermädchen hören sollen, als ich die Kleinen mit hinauf nahm!« »Ich kann es mir vorstellen! Alexis würde vor Neid platzen.« »Möchtest du es nicht auch einmal versuchen?« »So in Pelze vermummt? Überhaupt bin ich seit meiner Schulzeit nicht mehr auf einem Toboggan gefahren.« »So lange ist das noch nicht her. Komm, ich helfe dir hinauf!« Irgend etwas in der frostigen Luft - vielleicht auch die einsame Szenerie oder das ungewohnte Gefühl der Freiheit bewog Olga dazu, die unausgesprochene Herausforderung anzunehmen. Sie brauchte die Stütze ihres Vetters kaum, der mit seiner freien Hand die Toboggans hinter sich her zog, während sie die Eisstufen nach oben stiegen; dann standen sie nebeneinander auf der kleinen Plattform. »Es ist wirklich hoch, Dimitrij! Fahr du zuerst hinunter, wie du es früher auc h getan hast!« »Gut.« Er drückte die Pelzmütze fest auf seinen blonden Kopf und glitt bereits abwärts, und die Kufen des Toboggans schlugen -288-
Funken an der hartgefrorenen Rinne, während er nach unten schoß, wo er bremste und vor einer Hecke aus jungen Fichten stehenblieb. »Komm!« rief er zu dem Mädchen hinauf, und Olga stieß sich ab. Es war ein berauschendes Gefühl, durch grüne und blaue Schatten hindurch wie im Flug nach unten zu sausen, während die Wangen von hochspritzenden Eisstückchen prickelten, bis der Schlitten zum Stehen kam. Sie streckte Dimitrij ihre Hände entgegen. Er hob sie hoch und zog sie in seine Arme. Er küßte sie, wie er sie nie zuvor geküßt hatte, und Olga, liebeshungrig, voll unerfüllter Sehnsucht, die sich in den langen Monaten seit Simons Abreise aufgestaut hatte, erwiderte Dimitrijs Küsse. Sie schlang die Arme um seinen Hals wie ein Kind, das sie im Grunde noch war, und erschauerte, als er sich herunterbeugte, um sie noch enger an sich zu drücken, als sei es den so vereinten Körpern gegeben, dem heraufziehenden Dunkel der russischen Nacht Einhalt zu gebieten. Wenn Dimitrij Pawlowitsch in diesem Augenblick die richtigen Worte ausgesprochen, sich umgedreht und Olga unter seinem schützenden Arm zum Palast zurückgeführt hätte, wäre das Leben zweier Menschen anders verlaufen und eines davon gerettet worden. Doch er sagte lediglich, als er sie nach einer Weile freigab: »Olga, Liebling, das war wunderbar! Nein, laß uns noch nicht hineingehen. Ich möchte dir etwas sagen, ohne daß irgend jemand zuhört. Es hängt mit deinem Vater zusammen. Komm mit in den Tempel, dort ist es warm.« Er stieß die Tür des Saales auf, der vor dem Krieg für Konzerte benutzt worden war; jetzt wirkte er bedrückend leer, denn seine Stühle waren rings um eine Statue aufeinandergestapelt, die Katharina die Große als Ceres darstellte. Doch kalt war es nicht. »Ich hoffe, es gibt auch Kerzen, wenn du mich lange -289-
hierbehalten willst.« Olga war durchgefroren und gereizt; irgendwie und wider Willen fühlte sie sich betrogen. »Eine Zigarette?« »Danke.« Das aufflammende Streichholz beleuchtete Dimitrijs hübsches Gesicht. »Olga, es ist keine leichte Aufgabe, dir all das zu sagen, was du gleich hören wirst, und das beste ist wohl, ich rede nicht lange um die Dinge herum: Man hat mir erzählt, daß du es abgelehnt hast, Boris Wladimorowitsch zu heiraten.« In jäh aufwallendem Zorn bemerkte sie sarkastisch: »Wie schnell doch Klatsch in der Familie verbreitet wird!« »Klatsch! Ist es denn nicht wahr?« »Natürlich ist es wahr. Oh, ich gab Tante Mieche n keine eigentliche Absage, weil ich es allein schon impertinent von ihr fand, dieses Ansinnen überhaupt auszusprechen, aber sie wußte ganz genau, was ich meinte. Ich würde ihren teuren Boris nicht mit einer drei Meter langen Stange anfassen.« »Olga, weißt du denn nicht, warum dir dieser Antrag gemacht worden ist - ausgerechnet jetzt?« »Aus Liebe bestimmt nicht.« Er wischte dies beiseite. »Weil Boris trotz all seiner Fehler nicht dumm ist. Er kommt viel umher, er trifft mehr Leute als ich. Und er sieht, daß die Dinge für deinen Vater sehr schlecht stehen - sowohl im Stavka als auch in Petrograd.« Olga schwieg. Sie hatte ein Kinderspielzeug in der Hand, eine Windmühle, die auf einem der Stühle zurückgelassen worden war. »Wir, die wir im Hauptquartier um ihn herum sind - Olga, glaub mir, es ist mir nicht angenehm, dir das zu sagen, -, wir wissen, daß er der Aufgabe eines Oberbefehlshabers nicht gewachsen ist. Er versucht nicht einmal, einen straffen Arbeitsrhythmus einzuhalten. Morgens empfängt er zwar -290-
Alexejew und ein paar andere Stabsoffiziere, und er nimmt auch das Mittagessen immer mit den Angehörigen der verschiedenen alliierten Missionen ein. Aber am Nachmittag treibt er Gymnastik oder unternimmt lange Spaziergänge, wenn es nicht schneit. Am Abend klebt er Fotos in sein Album oder verbringt ein paar Stunden über irgendeinem Puzzle. Als Alexis sich in Mohilew aufhielt, bestand seine letzte große Tätigkeit darin, daß er zuhörte, wie Alexis seine Nachtgebete sprach.« »Es ist nicht nötig, daß du mit der Religion so grausam und sarkastisch umgehst.« »Ich bin in bester Absicht grausam. Die Religion ist die Wurzel allen Übels - nicht unser orthodoxer Glaube, sondern die greulichen abergläubischen Verirrungen, die Onkel Nicky von Rasputin übernommen hat. Weißt du, daß er nie ohne Rasputins Spazierstock fortgeht und nie eine Audienz gibt, ohne ein Heiligenbild in der Hand zu halten, das Rasputin ihm geschickt hat? Deine Mutter hat ihm ans Herz gelegt, sich vor allen wichtigen Entscheidungen mit Rasputins Kamm zu kämmen, und er tut es, Olga, er benutzt das schmierige Ding, ich habe es selbst gesehen! Letzten Monat schickte ihm deine Mutter eine kleine Flasche Wein vom Namenstagsfest Rasputins, und Onkel Nicky war so aufgeregt, daß er das Zeug aus der Flasche trank...« »Er hat diesen Wein getrunken! Oh, mein armer Vater! Was für eine Wirkung hatte er?« »Zunächst merkte man nichts. Doch später trank er ein Glas Wodka, was er, wie du weißt, äußerst selten tut, und nahm keinen Bissen zu sich. Und während des ganzen Mittagessens lallte er irgendwelchen kindischen Unsinn vor sich hin über jemanden, der ›kleiner Waisenknabe‹ genannt wurde - eine Person aus irgendeinem Buch... es war peinlich. Die Alliierten Generäle konnten nicht umhin, verwunderte Blicke zu wechseln - sie dachten vermutlich, der arme Onkel Nicky sei betrunken.« -291-
»Ich wünschte, er wäre es gewesen«, sagte Olga kummervoll. »Aber -Dimitrij - daß er auch im Stavka lange Nachmittagsspaziergänge macht, finde ich nicht so ungeheuerlich. Es ist wohl kaum etwas Schlimmeres, als einen ganzen Vormittag mit dem Bau eines Rodelbergs zuzubringen. Sobald es zu tauen anfängt, kann Vater wieder öfter von Mohilew fort und bei den Truppen sein, und dann ändert sich alles.« »Ganz gleich, ob er in Mohilew ist oder an der Front - er ist nicht zu Hause oder in Petrograd, und da liegt die eigentliche Gefahr.« »Du denkst an meine Mutter, nicht wahr?« »Natürlich. Sie ist nicht einmal Regentin, aber sie benimmt sich, als wäre sie die Landesherrin. Glaub mir, Olga, ich habe gelernt, zusammenzuzucken - und deinem Vater ergeht es ähnlich -, wenn die Kuriere mit ihren Briefen aus Zarskoje Selo eintreffen. Entlasse diesen Minister, ernenne jenen, ordne an, daß das Verfahren gegen den Kriegsminister und seine Frau, die man der Begünstigung bezichtigt, eingestellt wird, es ist nichts zu groß oder zu klein für sie, um sich einzumischen. Und erst vor zwei Tagen bat sie ihn, Goremykins Rücktritt anzunehmen und Boris Stürmer das Amt des Ministerpräsidenten zu übertragen...« »Goremykin hatte sich für heute nachmittag bei ihr angemeldet.« »Vermutlich, um sein Rücktrittsgesuch zu unterzeichnen. Um den Platz frei zu machen für Stürmer - mit seinem deutschen Namen und seinen Sympathien für Deutschland. Sieht Tante Alice denn nicht, daß es fatal ist, wenn sie diesen Mann begünstigt?« Olga warf die kleine Windmühle auf den Boden. Inzwischen war es dämmrig geworden, doch der Vollmond schien hell, und sein fahles Licht verwandelte die russischen Farben der -292-
Windmühlenflügel - weiß, rot und blau - in ein uniformes Silbergrau. »Warum erzählst du mir das? Was erwartest du von mir?« fragte sie in gereiztem, übellaunigem Ton. Der junge Mann befeuchtete seine Lippen. »Daß du der Realität ins Auge siehst, Olga. Wenn es nämlich so weitergeht und das Land von Tante Alice und Stürmer und Rasputin regiert wird, dann steuern wir unweigerlich auf eine Revolution zu eine weitaus schlimmere Revolution als die Unruhen von 1905.« »Hast du das einmal meinem Vater zu sagen versucht?« »Ich? Alle haben es versucht, immer wieder - mein eigener Vater und die älteren Vettern wie Nikolaj Michailowitsch und der arme alte Nikolascha, bevor er in den Kaukasus abgeschoben wurde, und Rodzianko, der im Namen der Duma sprach. Keiner von uns hat etwas ausgerichtet. Und es ist auch gar nichts mehr zu machen... es sei denn, man könnte den Zaren dazu überreden, daß er abdankt.« »Abdankt!« »Ja, Olga. Daß er auf den Thron verzichtet und sich mit Tante Alice nach Livadia zurückzieht und dort ein ruhiges Leben führt, weitab von Krieg und Politik... bevor ihnen etwas Schlimmeres zustößt.« »Erinnerst du dich an den Großfürsteneid, den du mit sechzehn geleistet hast? Erinnerst du dich an die RomanowTradition, wonach die Mädchen zu ihrem sechzehnten Geburtstag ein Brillanthalsband bekommen und die Jungen dem Zaren als dem Oberhaupt der Familie und des Staates Treue schwören? Ist das deine Auffassung von Treue, daß du deinem Herrscher den Thronverzicht nahelegst?« »Unsere überholten Traditionen sind mir völlig egal. Was mich interessiert, ist die Zukunft unseres Hauses - und Rußlands.« -293-
»Ah, das Haus Romanow kommt für dich an erster Stelle. Ich verstehe.« Olga lachte spöttisch, doch ihr Gesicht war ernst, und als ihr Vetter schwieg, sah sie sich gezwungen, den Faden fortzuspinnen. »Angenommen, Vater dankt wirklich ab... ist Alexis denn überhaupt alt genug, um zum Zaren gekrönt zu werden?« »Alexis ist der Thronerbe, und manche Leute glauben, daß er mit einem Regentschaftsrat die Zeit bis zu seiner Volljährigkeit überbrücken könnte.« »Aber du glaubst das nicht?« »Ich weiß, was mit Alexis los ist. Und du?« »Dr. Botkin sagte es mir, als sie ihn vor Weihnachten heimbringen mußten. Wie hast du es denn erfahren?« »Auf indirektem Weg, durch eine Bemerkung, die einer der britischen Offiziere über das spanische Königshaus machte. Er war vor dem Krieg Attaché in Madrid gewesen und hörte damals, daß zwei von König Alfonsos Söhnen Bluter sind. Anscheinend macht die Familie kein Geheimnis daraus.« »Im Gegensatz zu uns. Und die Krankheit kommt von Königin Ena?« »Ja, sie ist eine sogenannte Konduktorin, von ihrer Großmutter her - Königin Victoria.« »Wie meine arme Mutter.« Und das Mitleid in Dimitrijs Gesicht ließ sie mit einer gewissen Herausforderung hinzufügen: »Nun, zumindest hat es nichts mit eurer Seite zu tun!« »Nein, aber du wirst verstehen, daß es ein Risiko wäre, wenn die Armee die Sache des armen kleinen Alexis vertreten wollte, denn letztlich...« Dimitrij ließ den Satz unvollendet, doch Olga konnte ihn mit den Worten Botkins ergänzen: »... hängt das Leben des Zarewitsch an einem seidenen Faden.« »Nach Alexis«, fuhr der Großfürst fort, »haben wir in der -294-
Thronfolge zunächst deinen Onkel Michael. Ich erinnere mich noch, wie während der Jahre vor Alexis' Geburt in den Kirchen für ihn gebetet wurde.« »Der arme alte Onkel Mischa mit seiner berühmten morganatischen Frau!« sagte Olga. »Meinst du, er hätte als Zar großen Erfolg?« »Nein. Und hier kommen wir nun zu dem ehrgeizigen Boris und seinen Brüdern, den Enkeln des Zar-Befreiers.« »Du bist auch ein Enkel des Zar-Befreiers, Dimitrij.« »Aber ich bin nicht ehrgeizig, meine Liebe.« »Du wirst doch wohl nicht im Ernst sagen wollen, daß Boris mit dem Gedanken liebäugelt, Zar zu werden?« »Nein, aber er sähe sich wohl gern als Prinzgemahl der regierenden Zarin.« Es vergingen ein paar Sekunden, bevor Olga den Sinn seiner Worte erfaßte. Dann griff sie nach seinen Mantelaufschlägen und ihre Augen versuchten angestrengt, im Halbdunkel des Raumes sein Gesicht zu sehen. »Du denkst, ich könnte den Thron besteigen und das Land regieren?« rief sie. »Du mußt den Verstand verloren haben.« »Nein, ich habe durchaus nicht den Verstand verloren, meine Liebe. Auf dich fällt logischerweise die Wahl. Einmal als Onkel Nickys älteste Tochter, und zum anderen, weil du seit Kriegsbeginn eine ungeheure Popularität erlangt hast. Jedermann bewundert dich dafür, daß du Rasputin die Stirn geboten hast. Du hast dir im Anitschkowpalast in einem Monat mehr Freunde erworben als deine Mutter in über zwanzig Jahren in ganz Rußland. Schüttle nicht den Kopf. Ich kenne das Thronfolgegesetz sehr gut. Paul I. bestimmte durch einen kaiserlichen Ukas, daß nach ihm niemals mehr eine Frau regieren dürfe, weil er seine Mutter haßte, die große Katharina. Dein Vater braucht diesen Erlaß nur durch eine neue Verfügung aufzuheben, und die gesetzliche Grundlage ist eine andere.« -295-
»Glaubst du, er würde je einen Ukas unterzeichnen, der mir den Thron zuspräche? Das würde meine Mutter nicht zulassen.« »Man kann sie davon abhalten, sich einzumischen nötigenfalls mit Gewalt«, erklärte Dimitrij. »Was wir planen, könnte für Rußland das Heraufdämmern eines neuen Tages bedeuten.« »Planen!« wiederholte sie. »Bist du dir eigentlich der Tatsache bewußt, daß alles, was du sagst, Hochverrat ist?« »Es ist kein Hochverrat, wenn der Plan gelingt. Sobald du durch das Gesetz abgesichert bist, werden wir deinen Vater dazu bringen, zugleich mit der Abdankungsurkunde den Ukas zu unterzeichnen, der dich zu seiner Nachfolgerin bestimmt. Falls er sich weigern sollte, wirst du von der Armee nach Petrograd und in das Winterpalais geleitet, genauso wie einst Katharina die Große von ihren Soldaten.« »Zuerst verdrängte sie ihren Mann vom Thron, und später ließ sie ihn auch noch ermorden«, sagte Olga. »Sind wir nicht eine reizende Familie? Jetzt willst du, daß ich meinen Bruder um den Thron bringe, in der Erwartung, daß er jung sterben wird. Übrigens, das hast du doch nicht allein ausgeheckt - wer sind deine Freunde?« »Ich bin nicht berechtigt, ihre Namen preiszugeben.« »Ausgenommen Boris Wladimirowitsch, der seine Karten offenbar zu früh aufgedeckt hat.« Der Großfürst entschloß sich zu einem letzten Vorstoß. Sie hatte Einwände gemacht, natürlich, und sich geziert; dich zumindest hatte sie nicht rundweg abgelehnt. Nachdrücklich sagte er: »Ich weiß, daß das alles ein Schock war. Aber überlege es dir, Olga; versuch es von einem neutralen Standpunkt zu betrachten. Onkel Nicky wird mit Tante Alice in Livadia sehr glücklich sein, und der arme kleine Alexis ist vielleicht sogar dankbar, wenn ihm die Bürde der Krone erspart bleibt. Du hingegen, Olga - stark und hochherzig...« -296-
»Ich will fürs erste überhaupt nicht mehr daran denken. Laß uns zurückgehen und eine Weile mit der Königin und Helen und Marischa plaudern... Huh, mir ist kalt, und ich sehe kaum noch etwas. Wo ist die Tür?« »Hier drüben; nimm meine Hand.« »Wenn du ein geübter Verschwörer wärst, hättest du für den Heimweg eine abgedunkelte Laterne mitgebracht.« »Der Mond ist hell genug.« Dimitrij öffnete die Tür. Zwischen dem von Stuckgirlanden bekränzten Freundschaftstempel und dem Fluß ragte der Rodelberg zum Mondlicht auf, und Olga erschauerte. »Jetzt sieht er aus wie ein Schafott... Dimitrij!« »Ja?« »Ich weiß nicht genau, wie die Armee Katharina die Große auf den Thron gebracht hat. Professor Petrow mußte den Unterricht an vielen Stellen kürzen, weil Mutter sagte, Katharina sei eine verrufene Person... Lach nicht! Ich weiß aber, daß es Prinz Orlow war, Katharinas Liebhaber, der den coup d'état verwirklichte.« »Und?« »Angenommen, ich billigte deinen Plan, der ja völlig vom Thronverzicht meines Vaters abhängt - hast du vor, dann meinen Orlow zu spielen?« »Wenn du das möchtest.« »Und wenn ich dir sage, daß ich mit der ganzen Sache nichts zu tun haben will?« Dimitrij seufzte. »Dann müßte ich mir vermutlich etwas anderes einfallen lassen.«
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14 »Eigentlich sollten wir ein Dankgebet sprechen, so wie wir es als Kinder nach Tisch getan haben, wie, Dolly?« sagte Simon Hendrikow. »Es war ein köstliches Abendessen, Joe« versicherte auch Dolly, und Joe Calvert strahlte. Sie saßen um den runden Tisch in Joes Wohnung in der Italianskaja; durch die geöffneten Fenster strich die warme Luft der Sommernacht herein. »Ich freue mich, daß es euch geschmeckt hat«, sagte er. »Mit den Ergebnissen von Varvaras Kochkünsten möchte ich wirklich niemanden traktieren, schon gar nicht, wenn es darum geht, Simon Karlowitschs Rückkehr nach Petrograd zu feiern.« »Ich fühle mich sehr geschmeichelt«, erklärte Simon. »Es ist ganz neu, daß das ›Europa‹ Privathäuser mit Speisen beliefert, nicht wahr?« »Ich weiß es nicht. Ich habe diese Regelung vor etwa sechs Monaten getroffen, und seither bekomme ich geschickt, was ich will.« »Ich schrieb dir ja von dem phantastischen Essen, das Joe an unserem Neujahrstag für Vater, Mutter und mich gab«, sagte Dolly eine Spur selbstgefällig, und Simon bestätigte es lächelnd. Dieser Hauch von Besitzerstolz, den Dolly Joe Calvert gegenüber zeigte, und die hingebungsvolle Aufmerksamkeit, mit der Joe Calvert jedes ihrer Worte aufnahm, hatten ihn schon den ganzen Abend lang im stillen belustigt. Nie zuvor war ihm der Gedanke an einen amerikanischen Schwager gekommen, doch gewisse Andeutungen seiner Eltern und Dollys glänzende Augen rückten diese Möglichkeit durchaus in greifbare Nähe. Dolly war nun auch schon neunzehn und hübscher denn je. Als Varvara mit einem Tablett voll Geschirr hinausgeschlurft war, kam Joe auf ein Thema zurück, das sie schon einmal -298-
flüchtig gestreift hatten. »Dolly, Sie sagten vorhin, daß Sie Mara Trenowa seit dem Begräbnis ihrer Mutter nicht mehr gesehen hätten...« Dolly verzo g den Mund. »Kein besonders erfreulicher Gesprächsstoff für einen solchen Abend, der Tod der armen Madame Trenowa«, meinte sie. »Er kam völlig unerwartet, vor drei Wochen erst. In Koivisto. Der finnische Arzt meinte, daß sie wahrscheinlich schon jahrelang herzleidend war.« »Und natürlich nie untersucht worden ist...« »Vermutlich. Mara fuhr mit Papa und mir zur Datscha. Wir haben sie in Koivisto beigesetzt, es erschien uns das beste. Ein Segen, daß wenigstens Mama bei ihr war, als sie die letzte Attacke hatte.« Joe wandte sich an Simon. »Meinen Sie, Sie kommen noch dazu, ein paar Tage auf der Datscha auszuspannen, bevor Sie neue Befehle erhalten?« »Mit viel Glück. Sie waren dort, nicht wahr?« »Ihre Mutter lud mich liebenswürdigerweise übers Osterwochenende ein. Ich habe die Tage sehr genossen.« »Bestimmt mehr, als ich mein Osterfest«, brummte Simon. »Und ich hatte so sehr gehofft, Ende März wieder in Zarskoje Selo zu sein!« »Simon verlockte der Osterempfang und die Aussicht, mit den Großfürstinnen den Auferstehungskuß zu tauschen«, erklärte Dolly schelmisch. »... Na, morgen bist du ja schon dort, und sie kommen sicher bald von Mohilew zurück.« Man konnte von der unfähigen Varvara kaum erwarten, daß sie auch noch das Tischtuch abnahm, und so stellte Joe das Tablett mit den Flaschen und Gläsern auf den weißen Damast. Er hatte vor kurzem Dick Allens bescheidene Wäschevorräte ergänzt und gleichzeitig als Ersatz für die Bierbecher, die Varvara regelmäßig zerschlug, eine Anzahl hübscher Gläser -299-
gekauft. Dolly zu Ehren stand sogar eine Schale mit etwas zerzaust wirkenden Blumen auf dem Tisch und auf dem Schreibtisch eine zweite; Joe versuchte mit allen Mitteln, der kahlen kleinen Wohnung einen gemütlichen Anstrich zu geben. Das Telefon klingelte schrill. »Wer kann das sein, um elf Uhr nachts? Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment«, sagte Joe. Er hob den Hörer ab. »Wie?... Oh, gerade haben wir von Ihnen gesprochen. Wie geht es Ihnen?« Er bedeckte die Muschel mit der Hand und flüsterte: »Es ist Mara Trenowa!« Simon beobachtete interessiert, wie sich Joes Nacken allmählich rot färbte. »Er ist was?... Ich wußte nicht einmal, daß er sich in Petrograd aufhält. Wo sind sie ihm... haben Sie denn einen Arzt gerufen?... Aber natürlich, wenn es so schlimm ist, wie sie sagen... Gut, ich komme, so schnell ich kann. Welche Hausnummer haben Sie in der Jamskaja?... In Ordnung, ich bin gleich da.« Ohne ein verabschiedendes Wort hängt er ein und wandte sich den Hendrikows zu. »Das war Mara«, wiederholte er überflüssigerweise. »Sie hat einen Freund von mir bei sich zu Hause - Sie haben ihn einmal kennengelernt, Dolly, Richard Allen. Er hat offenbar einen Unfall gehabt und sich in den Arm geschnitten oder so etwas, und sie möchte, daß ich ihn abhole. Eigenartiges Mädchen.« »Das ist der Engländer, den Vater kennt, nicht wahr?« fragte Simon. »Ja. Ich möchte nur wissen, warum sie keinen Arzt geholt hat. Hören Sie, es tut mir wirklich leid, daß ich ausgerechnet jetzt weg muß, aber ich habe irgendwie das Gefühl, daß da etwas Sonderbares geschehen ist. Sie stellte es so dar, als hätte Dick viel getrunken, und das glaube ich einfach nicht.« -300-
»Ich begleite Sie«, erklärte Dolly und sprang auf. »Wenn er verletzt ist, kann ich helfen.« »Ich komme auch mit«, sagte Simon. »Ich besorge eine Droschke von dem Stand vor dem ›Europa‹.« Sie sprachen nicht mehr viel, bis sie eine Droschke fanden. An der Ecke des Newski Prospekts war eine Verkehrsstauung, weil drei Soldaten in schäbigen Uniformen dagegen protestierten, daß man sie nicht in die Straßenbahn einsteigen ließ. »Das ist das Stupideste, was sie sich bis jetzt geleistet haben«, bemerkte Joe. »Dem Militär die Straßenbahnbenutzung zu verwehren!« Simon erwiderte nichts. Es gab noch viel mehr, woran er sich in dieser Stadt nach fast einjähriger Abwesenheit erst gewöhnen mußte, vor allem das Schlangestehen nach Lebensmitteln und Brennstoff. Fleisch bekam man nur noch selten, obwohl das »Europa« für Joes Abendessen selbstverständlich eine gebratene Lammkeule geschickt hatte. Lena, das Dienstmädchen, das seiner Mut ter verblieben war, hatte ihm erzählt, daß das Hauptthema der Schlangestehenden der Skandal im städtischen Kühlhaus war, wo die Eisschränke überquollen von toten Schlachttieren, die ursprünglich für die Armee bestimmt waren und jetzt aus Mangel an Transportmöglichkeiten nur noch in Leimfabriken Verwendung finden konnten. Der Platz vor der Wladimirkirche roch, als hätte man auch hier ein paar Tiere verwesen lassen, denn die Straßenfeger streikten gerade, und das Kopfsteinpflaster war nicht nur unter den leeren Marktbuden, sondern praktisch überall mit Stroh und Gemüseabfällen übersät. Ein paar Bettler stöberten mit dem Fuß darin herum, in der Hoffnung, etwas Eßbares zu finden. »Schlimm, daß Mara in einer so deprimierenden Umgebung wohnen muß«, sagte Joe. »Ich dachte, sie hätte einen gutbezahlten Posten bei einer Zeitung.« -301-
»Sie ist jetzt gar nicht mehr bei einer Zeitung«, erzählte Dolly. »Sie ist als Stenotypistin in einem kaufmännischen Büro angestellt - Häute und Talg, meine ich mich zu erinnern.« »Häute und Talg können im Augenblick kein sehr einträgliches Geschäft sein.« Vor dem Mietshaus, in dem Mara Trenowa wohnte, lungerten ein paar Müßiggänger herum. Sie murrten und wichen nur sehr unwillig zur Seite, als die Droschke mit einem Offizier in der Uniform der kaiserlichen Garde vorfuhr, aber einem Mädchen in Krankenschwesterntracht standen gewisse Privilegien zu, und Dolly, von Joe gefolgt, stieg unbelästigt die steile Steintreppe hinauf. Simon blieb neben der Droschke stehen, um zu verhindern - so erklärte er -, daß der Kutscher einen anderen Fahrgast mitnahm. In Wirklichkeit wollte er sich den Ärger eines Zusammentreffens mit Mara Trenowa ersparen. Der Klingelzug vor der Wohnungstür war gerissen; sie klopften, doch es vergingen ein paar Minuten, bevor sich die Tür langsam öffnete. Joe hatte zuerst den Eindruck, es stünde niemand vor ihnen. Dann blickte er nach unten und sah den riesigen Kopf eines Buckligen und zwei argwöhnische Augen unter einem Gewirr schwarzer Haare. »Mara Trenowa hat mich hergebeten«, sagte Joe, doch dann war sie auch schon da und führte sie mit einem »Danke, Joe!« und »Wie, Dolly, du auch?« in einen Raum, der einen Herd, einen wachstuchbedeckten Küchentisch und ein langes Sofa enthielt, auf dem Richard Allen schwer atmend lag. Einer seiner Arme war mit einem Handtuchstreifen verbunden, und ein Tiegel mit blutigem Wasser stand auf dem Küchentisch. Dolly Hendrikowa begann sofort den Verband zu untersuchen, und Joe wandte sich an Mara, um zu hören, was vorgefallen war. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie in sehr unecht klingendem patzigem Ton. »Ich war mit meinem Freund, Herrn Sergiew« (sie wies auf den Buckligen, der wie eine Schildwache neben -302-
der Küchentür stand), »im ›Roten Sarafan‹, als wir Mr. Allen mit ein paar Männern im Eingang streiten sahen. Wir dachten, er hätte getrunken, und kümmerten uns nicht weiter um ihn, aber als wir gleich darauf fortgingen, lehnte er draußen an der Hausmauer, und von seinem Ärmel tropfte Blut. Ich brachte ihn hierher, um seine Wunde zu verbinden, doch dann verlor er das Bewußtsein, und ich hielt es für das beste, Sie zu benachrichtigen...« Dolly blickte hoch. »Wie umsichtig von dir, ein Tourniquet anzulegen, Mara. Die Blutung scheint aufgehört zu haben. Hast du noch ein paar solcher Streifen?« »So viele du willst. Was für ein Glück, daß du mitkommen konntest, Dolly! Hast du den Abend in Mr. Calverts Wohnung verbracht?« Dolly riß ein Stück von dem Handtuch ab, und ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr Mara fort: »Es ist nur ein oberflächlicher Schnitt an der Arminnenseite.« Joe betrachtete den Buckligen und anschließend Mara. Dieses zweite Jahr ihrer Unabhängigkeit - und der Himmel mochte wissen, was sonst noch - hatte sie ungeheuer verändert. Sie trug das Haar jetzt kurz geschnitten. Unter der dichten schwarzen Ponyfrisur wirkten ihre sowieso schon herben Züge noch härter, und ein breiter Ledergürtel verlieh ihrem dunklen Kostüm eine fast maskuline Note. »Schauen Sie, Ihr Freund kommt zu sich«, wandte sich Mara jetzt an ihn. Dolly hatte ein nasses Tuch auf Dicks Stirn gelegt, und als die Tropfen über seine Wangen liefen, stöhnte er und bewegte sich. »Ich finde, er sieht jünger aus als damals«, flüsterte Dolly. »Er hat sich den Schnurrbart abrasiert, das ist es.« In diesem Moment öffnete der Engländer die Augen. »Guter Gott!« murmelte er. »Gleich drei bekannte Gesichter! Wo bin ich?« »Sie sollten nicht sprechen, Mr. Allen«, sagte Dolly. -303-
Dick stützte sich auf seinen gesunden Ellenbogen, ächzte und biß die Zähne zusammen. »Dolly, meinen Sie nicht, er braucht einen Arzt?« fragte Joe, doch sofort mischte sich Mara ein. »Es würde viel zu lange dauern, bis einer käme. Kein Arzt hat es eilig, wenn man ihn in die Jamskaja bestellt...« »Wir haben neun amerikanische Ärzte ganz in der Nähe«, sagte Joe, »und unten eine Droschke. Dick!« Hauptmann Allen war es nun doch gelungen, sich aufzusetzen. »Meinst du, du schaffst es bis auf die Straße?« »Ich kann es versuchen.« »Das ist bestimmt die beste Lösung«, bemerkte Mara sichtlich erleichtert. Dolly war gerade dabei, eine provisorische Schlinge anzufertigen. »Ich hoffe zu Gott, daß die Wunde auf dem holprigen Pflaster nicht noch einmal aufbricht«, murmelte Joe. Dick ruhte mit seinem ganzen Gewicht auf seinen Schultern, und er war froh, daß unten Simon wartete. Dolly legte ihren Arm um den Verletzten. »Bedanke dich... bitte... bei ihr«, keuchte Dick, doch Mara Trenowa wehrte ab. »Schon gut«, sagte sie - jetzt auf englisch, was den Buckligen zu einem Stirnrunzeln veranlaßte. »Sie waren sehr hilfsbereit und nett zu mir, als ich in Not war, Joe. Ich freue mich, daß ich etwas für Ihren Freund tun konnte.« Erst am folgenden Abend erfuhr Joe, was sich im »Roten Sarafan« abgespielt hatte. Dick war bereits in wesentlich besserer Verfassung; die Ärzte und Krankenschwestern einer Freiwilligengruppe des amerikanischen Roten Kreuzes, die sich der Kriegsgefangenenpflege widmeten, hatten ihn hervorragend betreut. Auch Varvara, erstaunt und bestürzt, ihren ehemaligen Herrn im Fremdenbett vorzufinden, war den ganzen Tag mit -304-
Teegläsern und Tellern voll Buchweizenschleim herein- und hinausgeschlurft, und am Spätnachmittag hatte Dick sich so weit erholt, daß er sogar kurz mit der britischen Botschaft telefonieren konnte. »Sie schicken mir morgen früh einen Wagen«, sagte er zu Joe und schwenkte in einem der neuen Gläser die winzige Ration Bourbon, die Joe ihm zugestanden hatte. »Ich soll mich bei ihnen einige Tage ausruhen.« »Das will ich auch hoffen. Könntest du nicht für eine Weile auf eine eurer Datschas gehen?« »Unmöglich. In ein paar Wochen muß ich schon in Archangelsk sein.« »Was führt dich denn nach Archangelsk?« »Dort werde ich mich als Dolmetscher betätigen.« »Hängt das mit deinem unterhaltsamen Abend im ›Roten Sarafan‹zusammen?« »Nein, der gehörte noch zu meinem letzten Auftrag. Ich hatte einen Hinweis bekommen, dem offenbar nicht zu trauen war.« »Das würde ich auch sagen. So, und jetzt heraus mit der Sprache, Dick, du erzählst deine Geschichte immer von hinten; vielleicht könntest du ausnahmsweise einmal von vorn anfangen.« Richard Allen schaute zu Boden. »Ich habe praktisch zwei Jahre sinnlos vergeudet, weil ich von der Annahme ausging, deutsche Gelder würden via Stockholm dem Personenkreis um Rasputin zugeleitet. Inzwischen weiß ich, daß die wirklich bedeutenden Summen via Stockholm nach Bern und Zürich fließen.« »Zu den Sozialdemokraten im Exil? Dem militanten Kern der Marxisten?« »Genau, zu den Bolschewiken, und de facto werden sie von zwei Männern verwaltet, die seit Jahren in der Schweiz leben. -305-
Natürlich wußte Whitehall Bescheid. Mir sagte man sogar, daß die deutsche Botschaft in Bern unter Baron von Romberg einen komplizierten Spionagering deckt. Aber Bern lag in einem Whitehall- Dossier und Stockholm in einem anderen, und erst durch einen Informanten in Reval kam ich auf die richtige Spur.« »Wobei der Informant Alexander Keskuela, gebürtiger Este und seit September 1914 in der Schweiz, war«, bemerkte Joe ruhig. »Wie?« »In unseren Botschaftsakten ist eine ganze Menge Material über ihn gespeichert. Wir sind nicht so dumm, wie manche von euch glauben... Keskuela gehört zu den Schlüsselpersonen, die mit dem Mann Kontakt haben, der sich Lenin nennt. Wladimir Iljitsch Uljanow, der Autor der ›defätistischen Thesis‹, daß Rußland von Deutschland besiegt werden müsse, damit der Weg für den Klassenkampf frei wird. Keskuela zeigte sich sofort sehr interessiert, kaum daß das Ding gedruckt war. Er holte aus der deutschen Regierung 20.000 Pfund in bar heraus, womit Lenins Publikationen und die anderer Bolschewiken finanziert werden sollten, solange sie die gleiche Linie verfolgten.« »Was liegt euch über Parvus vor?« »Nichts.« »Also dann zu Parvus. Bei ihm sind ganz andere Voraussetzungen gegeben. Parvus ist ein alter Kampfgefährte von Trotzki. Sie saßen 1905 im ersten St. Petersburger Sowjet zusammen, aber Parvus lernte inzwischen gewisse kleine Bequemlichkeiten schätzen, und im Frühling letzten Jahres hatte er bereits eine komfortable Zimmerflucht im ›Baur au Lac‹ bezogen, einem der teuersten Hotels von Zürich. Offiziell betreibt er in der Schweiz ein Übersetzungsbüro, das den Namen Wissenschaftliches Institut trägt. Die Einkünfte daraus würden nicht einmal für ein Chauffeurzimmer im ›Baur au Lac‹ reichen, -306-
wenn hinter dieser Fassade nicht die deutschbolschewistische Finanzierungsmaschine stünde. Parvus ist der Mann, der das Geld verteilt, um Streiks in den russischen Rüstungsfabriken zu finanzieren. Die Eisenbahnarbeiter, die Belegschaft der Baltiski, der Putilow-, der Obukhow-Werke, sie alle hat Parvus von seinem bequemen Sessel im ›Baur au Lac‹ aus dirigiert. Er wird die Rechnung für Lenins Rückkehr nach Rußland bezahlen, wenn der opportune Zeitpunkt kommt.« »Und wann wird das sein?« »Vielleicht nie, wenn diese Sommeroffensive Erfolg hat. Es gibt allerdings keinen Grund für die Annahme, daß sie mehr Erfolg haben sollte als die großen Attacken von 1914 und 1915. Eher weniger.« »Mit anderen Worten, hinter den Sozialdemokraten und ihrer bolschewistischen Führung in Rußland selbst und auch draußen steht deutsches Geld. Und der opportune Zeitpunkt, um einen coup d'état zu inszenieren, ist für Lenin dann gegeben, wenn das zaristische Regime an seiner eigenen Unbeweglichkeit zerbricht.« »So kann man es ausdrücken«, sagte Dick Allen und legte sich auf sein Kissen zurück. »Ermüdet dich unser Gespräch?« »Nein, mach nur weiter.« »Wenn Parvus und Keskuela im Ausland sind, was hat dich dann gestern in den ›Roten Sarafan‹ geführt?« »Gewisse Nachrichten, die mir über einen von Parvus' jungen Männern im Institut vorlagen. Er und seine Mutter verließen Rußland vor ein paar Jahren und gingen in die Schweiz angeblich, weil der Sohn an der Züricher Universität studieren wollte. Inzwischen hat dieser Bons die Schweizer Staatsangehörigkeit angenommen, was heißt, daß er die deutsche Grenze in jeder Richtung überschreiten kann, wann immer er will. Unserer Meinung nach fungiert er als Kurier -307-
zwischen Lenin und seinen Zahlmeistern in Berlin, und da wir seine Spur kürzlich nach Petrograd weiterverfolgen konnten, wollte ich feststellen, mit wem er hier zusammenkäme.« »Er ist noch jung, sagst du?« »Achtundzwanzig, und er sieht jünger aus, so wie man ihn uns beschrieben hat. Mittelgroß, blond, schlank: Alle Berichte heben seine auffallende Ähnlichkeit mit Alexander Kerenski hervor.« »Ein seltsamer Zufall.« »Meiner Information nach war es möglich, daß dieser Boris gestern abend versuchen würde, im ›Roten Sarafan‹ Kontakt mit einem von Lenins Agenten aufzunehmen. Das Lokal ist ein berüchtigter Treffpunkt der Genossen, und es wundert mich nur, daß die Ochrana noch nie eine Razzia dort veranstaltet hat. Ich ging also hin, bestellte mir etwas zu essen und eine halbe Flasche Wein - sie war versiegelt und wurde am Tisch entkorkt und hörte eine Weile der Musik zu. Anschließend trank ich einen Kognak, den man mir im Glas servierte, und dann wußte ich, daß ich schleunigst zusehen müßte, wie ich nach draußen käme. An der Tür gab es eine Schlägerei, aber ich erinnere mich kaum mehr an etwas, bis du in Maras Küche vor mir standest, den Rest kennst du.« »Bestimmt hat dir jemand etwas in den Kognak geschüttet.« »Es hat mich auch jemand mit einem Messer attackiert, und nicht nur, um mir eine simple Schnittwunde am Arm beizubringen. Joe, habe ich deliriert oder war da wirklich so eine Art Zwerg, der an mir zog und mich schob, als mich Mara die Treppe hinaufbrachte?« »Sie hatte so einen armen mißgestalten Burschen bei sich, der Sergiew hieß, wie sie sagte.« »Könnte Sergiew der Messerstecher gewesen sein?« »In dem Fall hätte Mara doch sicher nicht die gute -308-
Samariterin gespielt.« »Da bin ich nicht so sicher. Es heißt, daß es eine Menge Frauen wie Mara in der Schweiz gibt - Exilrussinnen, die sich für die Bolschewiken abrackern, Tee kochen und Manifeste kopieren. Frauen, die dir in der einen Minute ein Messer in den Rücken stechen und in der nächsten deine Füße mit ihrem Haar trocknen würden. Ich glaube, Mara Trenowa ist sich noch nicht schlüssig, ob sie eine Revolutionärin oder eine Heilige sein will.« Die Mitglieder der kaiserlichen Familie schienen jedes auf seine Weise viel zu beschäftigt, um die Anwesenheit von Simon Hendrikow wahrzunehmen, als sie an einem Sommerabend um zehn Uhr aus Mohilew eintrafen. Gewiß, es war spät, und es hatten überhaupt nur ein paar privilegierte Höflinge die Einladung erhalten, zum Bahnhof zu kommen, doch Simon konnte sich anderer derartiger Gelegenheiten entsinnen, bei denen die Großfürstinnen darauf bestanden hatten, jeden Angehörigen der Leibgarde namentlich zu begrüßen. Diesmal zeigte sich Tatjana noch mehr als sonst um die Bequemlichkeit ihrer Mutter besorgt, die beiden jüngeren Mädchen und Alexis hatten lediglich Augen für ihre Hunde und Katzen, und Großfürstin Olga, die dem Zug als letzte entstieg, wich den um das Gepäck versammelten Bediensteten aus, ohne nach rechts oder links zu schauen. Außer einem Seitenblick und einem flüchtigen Lächeln gab es nichts, wodurch Simon in seiner Hoffnung bestärkt worden wäre, daß sie ihn in der trüben Bahnhofsbeleuchtung überhaupt gesehen hatte. Am nächsten Morgen, lange bevor die Hörner zum Appell bliesen, ging er zur Znameniakirche. Er wagte kaum zu hoffen, daß Olga kommen würde. Ihre zweite Trennung hatte viel länger gedauert als die erste, und diesmal kehrte er nicht als verwundeter Held, sondern als gewöhnlicher subalterner Offizier zurück, der ein Jahr lang in einem Durchgangslager -309-
außerhalb Odessas mit öder Schreibstubenarbeit beschäftigt gewesen war. Er hatte kein Recht, zu hoffen, daß die leidenschaftlichen Worte, die an einem anderen, längst vergangenen Sommertag im Arbeitszimmer seines Vaters gesprochen worden waren, für die Zarentochter noch immer Gültigkeit besaßen. Obschon sich Olga inzwischen ihrem einundzwanzigsten Geburtstag näherte, wurde ihre Korrespondenz noch genauso streng überwacht wie früher, und so hatte er ihr nur über Dolly Botschaften zukommen lassen können. Er fragte sich, ob die Beziehung zwischen ihnen für Olga überhaupt Wirklichkeitscharakter hatte oder illusorischen Sphären angehörte. Körperlich war er seinem hoffnungslosen Ideal nicht nur einmal, sondern viele Male untreu gewesen, und er überlegte, ob nicht vielleicht auch Olga eines Tages an der Belastung zerbrechen würde, die eine romantische Liebe ohne Hoffnung auf sexuelle Erfüllung mit sich brachte. Immer häufiger hörte man, daß sie am Ende doch ihren Vetter Dimitrij heiraten würde. Hier endeten seine Gedankengänge, denn er erspähte zwischen den Birken ihre Gestalt, der in der Morgensonne ein langer Schatten auf dem feuchten Gras voraneilte. Sie war schmaler geworden, und ihre Kleidung - für ihn noch ganz ungewohnt, ein kurzer Rock mit einer einfachen weißen Seidenbluse und ein leichter Mantel, den sie über den Schultern trug - ließ sie größer erscheinen. Sie lächelte, aber ihr Gesicht wirkte ernster als früher, die spontane Herzlichkeit war daraus verschwunden. »Simon!« sagte sie und reichte ihm die Hand zum Kuß. »Ich wußte, daß du heute hier sein würdest! Wie lange du fort gewesen bist!« Er war zu diplomatisch, um zu erwidern : »Jedes Urlaubsgesuch wurde unweigerlich abgelehnt.« Also sagte er nur: »Unendlich lange...« »Ich hatte gehofft, du kämst zu Ostern!« -310-
»Das war auch vorgesehen, doch dann mußten die Truppen aus Erzurum verlegt werden, und alle Urlaubsbewilligungen wurden widerrufen.« »Ich hatte ein wunderschönes Osterei für dich - mit dem Emblem der Marinegarde bemalt.« »Darf ich es jetzt haben?« »Ich gab es Alexis, er sammelt Regimentseier.« »Ich hatte auch ein sehr schönes Ei für dich.« »Heb es auf bis zum nächsten Jahr.« »Und was ist mit dem Osterkuß?« Simon nahm Olga in seine Arme. Sie hatte ihn im vergangenen Sommer schon einmal im Schutz der Znameniakirche geküßt, doch jetzt stemmte sie schelmisch ihre Hand gegen seine Brust: »Zu spät, es ist ja bald Hochsommer! Hast du deinen Puschkin vergessen?« »Der Auferstehungskuß - Vergangenheit, Und doch auch Ziel, du schworst es mir! Schwörst du es mir, Olga, Liebste, schwörst du es mir wirklich?« »Ja.« Zwanzig Minuten später schlenderte Großfürstin Olga zum Alexanderpalast zurück. Sie fühlte sich beschwingt, von allem entlastet, was sie die ganze Woche hindurch bedrückt hatte. Es war nicht ihr erster Besuch in Mohilew ge wesen, und während ihre Schwestern in der Freiheit der Wälder und des Flusses schwelgten, hatte Olga alles um sich herum aufmerksam beobachtet, von bangen Gedanken um die Zukunft erfüllt. Sie sah, daß Dimitrij recht gehabt hatte. Der Zar war den Pflichten eines Oberbefehlshabers weder als Soldat noch als Mann gewachsen. Ihm galten Sonnenbäder und Ruderfahrten auf dem Dnjepr genausoviel wie die Strategie der Sommeroffensive, und -311-
als ihnen ein auf dem Schlachtfeld von Verdun entstandener französischer Film vorgeführt wurde, zeigte Nikolaus II. nur laues Interesse. Olga merkte kaum, was für einen fatalen Einfluß die verschleierten Anregungen ihres Vetters auf sie ausgeübt hatten. Sie hatte so lange über eine mögliche Zukunft nachgegrübelt, die sowohl die Abdank ung ihres Vaters als auch den Tod ihres Bruders einschloß, bis sie sich völlig den Gedanken zu eigen gemacht hatte, daß es vielleicht sogar ihre Pflicht sein konnte, sich zur Kaiserin ausrufen zu lassen, um das Land vor einer Revolution zu bewahren. Doch sooft ihr Ehrgeiz - ein Romanow-Erbteil - angefacht wurde, er erstickte immer wieder, wenn sie an den Makel dachte, den ihr Blut aufwies, an das russische Roulettespiel, das sie erwartete, falls sie es je wagen sollte, eine Ehe einzugehen. Sie konnte sich niemandem anvertrauen, nicht einmal ihrer verständnisvollen Großmutter, denn die Kaiserinwitwe, des Rasputinkults ihrer Kinder müde, hatte sich nach Kiew begeben, wo ihre Tochter Olga lebte. Der Krieg hatte Olga Alexandrowna die Freiheit gebracht: Trotz des zornigen Widerstands der Zarin und der unverhüllten Mißbilligung Rasputins hatte ihr der Zar gestattet, ihre unglückliche Ehe durch eine Scheidung zu beenden. Doch nun war Simon Karlowitsch zurückgekommen, und vielleicht würde sie ihm eines Tages ihre Probleme schildern. Dieses kurze Zusammentreffen hatte genügt, um alles zu bestätigen, was sie damals in Petrograd gefühlt hatte: daß sie zueinander paßten, daß er der Mann war, auf den sie sich verlassen konnte, was immer auch auf sie zukommen mochte. Als sie sich dem Gartenportal des Palastes näherte, sah sie, daß der Frühstückstisch auf dem breiten Balkon gedeckt wurde, auf dem die Zarin so gern in der ersten Morgensonne saß. Alexis stand in der Nähe des Sees, seinen Spaniel hinter sich und einen mit Brot gefüllten Korb in der Hand, aus dem er das frei umherstreifende Wild fütterte. Ein paar kleine Rehkitze reckten -312-
zutraulich die Hälse und ließen sich von ihm streicheln. Der Junge war in letzter Zeit sehr gewachsen und trug jetzt, während seine neuen Uniformen in Arbeit waren, zum erstenmal gutgeschnittene dunkelblaue Anzüge, in denen er fast wie ein Sechzehnjähriger aussah, obwohl er noch nicht einmal zwölf war. Olga kam der Gedanke, daß Alexis Nikolajewitsch, falls sich die Ärzte irrten und seine Gesundheit weiterhin Fortschritte machte, sehr bald ein Mann sein würde. Es war möglich, daß er in zehn Jahren schon die Zarenkrone trug. Wie hatte sie es wagen können, auch nur mit der Idee zu spielen, ihm sein Erbe streitig zu machen? Doch dann überlegte Olga, wie es wohl in zehn Jahren um sie selbst bestellt sein würde. Vielleicht war sie dann eine unverheiratete Frau von dreißig Jahren, ein bloßes Anhängsel für den jungen kaiserlichen Hof. Wen würde Alexis als seine Braut heimführen, und inwieweit würde ihn das Wohl seiner ledigen Schwester interessieren? Ich bin nicht meines Bruders Hüterin, dachte sie unwillig. Sollte mein Vater abdanken, so werde ich tun, was mir für Rußland das Beste erscheint...
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15 Großfürstin Anastasia erwartete voller Ungeduld ihren fünfzehnten Geburtstag, der in den Juni fiel. Nur ein Jahr trennte sie noch von dem traditionellen Brillantenhalsband und dem Hofball, der sie in die Gesellschaft einführen würde. Die gutmütige Marie hatte ein Jahr zuvor nichts dagegen einzuwenden gehabt, vorerst auf ihr Debüt zu verzichten; das enfant terrible der Familie hingegen wollte unbedingt schon in diesem Sommer »einen richtigen Ball für Erwachsene.« Ein Ball kam nicht in Frage, aber die Zarin bewilligte eine kleine Tanzparty, und Olga hatte Simon Hendrikow gleich bei ihrer ersten Zusammenkunft dazu eingeladen und freute sich beinahe ebensosehr darauf wie das Geburtstagskind selbst. Und dann - in den Treibhäusern waren schon die Rosen geschnitten, und die Köche hatten mit den letzten Vorbereitungen begonnen traf im Hauptquartier eine Nachricht ein, die zur Folge hatte, daß das Fest abgesagt wurde. Es war nicht die Nachricht von der Tragödie vor dem Skagerrak. Sie hatte zwar den Großfürstinnen zornige Tränen entlockt, weil sie sich noch gut an einen glücklichen Tag auf der Lion und an die attraktiven jungen Offiziere erinnerten, von denen so viele in den kalten Gewässern der Nordsee den Tod gefunden hatten, doch im übrigen war die unentschiedene Schlacht zwischen der englischen und der deutschen Flotte etwas, was sich außerhalb der unmittelbaren Interessensphäre Rußlands abgespielt hatte, dessen eigene Kriegsflotte in Kronstadt festlag, wo deutsche Unterseeboote den Hafen abriegelten. Es war die Nachricht von Lord Kitcheners Tod, der die Welt erschütterte. Kitchener, Großbritanniens Kriegsminister und ein Mann von ungeheurem Ansehen, hatte eine persönliche Einladung des Zaren erhalten, die russischen Kampfgebiete zu besuchen, um -314-
seiner Regierung hernach über die schwächsten Punkte der militärischen Zusammena rbeit und des Nachschubs zu berichten. Er starb auf seiner sorgsam geheimgehaltenen Reise nach Archangelsk, als der Kreuzer HMS Hampshire bei den Orkney-Inseln auf eine Mine lief und unterging; mit ihm versank die einzige Initiative, die Nikolaus II. als Oberbefehlshaber je entwickelt hatte. Er machte seine üblichen fatalistischen Anspielungen auf den duldsamen Hiob und ersuchte seine Gattin, die Einladung seiner Tochter abzusagen. Anastasia weinte und beklagte sich und wurde erst wieder etwas vernünftiger, als Tatjana ihr vor Augen hielt, was für einen schlechten Eindruck es auf alle Gesellschaftsschichten machen mußte, wenn man zu einem solchen Zeitpunkt Hoffestlichkeiten veranstaltete. Die Zarin wiederum vertrat eine andere Meinung. »Es ist schon ein Jammer, daß alle Vorbereitungen umsonst gewesen sein sollen. Und diese Enttäuschung für die arme Anastasia!« Sie erwog, ein Telegramm nach Mohilew zu schicken. »Ich würde das nicht tun, Mama«, sagte Olga. »Ich glaube, diesmal läßt sich Papa nicht umstimmen. Lord Kitchener war eine bedeutende Persönlichkeit.« »Vielleicht«, entgegnete die Zarin achselzuckend. »Obwohl Vater Grigorij Anja gegenüber geäußert hat, sein Tod könne sich unter Umständen als Segen erweisen. Du weißt, unser treuer Freund hat seine Bedenken, was Englands Friedensverhandlungen angeht. Es ist gut möglich, daß Lord Kitchener uns eines Tages noch sehr geschadet hätte.« »Für die Deutschen müßte es ein Hochgenuß sein, Sie so sprechen zu hören, meinen Sie nicht?« Dieser Stich, der die Zarin an ihrer empfindlichsten Stelle traf, beschwor ein neues Zerwürfnis zwischen Mutter und Tochter herauf, und die Zarin richtete überhaupt nur noch in Gegenwart Dritter das Wort an Olga, was natürlich der gesamte Hof -315-
bemerkte, dem keine noch so geringe Verstimmung innerhalb der kaiserlichen Familie verborgen blieb. Olga erzählte Simon Hendrikow alles, was sie bedrückte, wenn sie sich frühmorgens und am Abend in einem der beiden Parks trafen. Es sprudelte förmlich aus ihr heraus: die Geschichte des ertrunkenen Lord Kitchener, ihre Trauer um die britischen Seeleute, ihr Entsetzen über die immer schwereren Verluste, die der Krieg forderte. Simon tröstete und küßte sie, und er verliebte sich von neuem in sie, so als wäre ihre Liebe nicht hoffnungslos, als könnte sie vielleicht eines Tages in einer veränderten Welt offen bekannt werden. Er erfuhr nie, wieviel Olga Nikolajewna ungesagt ließ und daß sie den Zwist mit ihrer Mutter als Rechtfertigung für gewisse Zukunftsvisionen benutzte, in denen sie sich als regierende Kaiserin sah. Doch Simon war einen Monat später schon wieder fort, und er kam nicht an den nördlichen Frontabschnitt, sondern an den Stohod, wo die stark dezimierte Kaiserliche Garde ihren unheilbringenden Vormarsch auf Kovel begann, einem der Operationsziele der gerade einsetzenden Offensive Brussilows. In den beiden vorangegangenen Wintern hatte der einsetzende Schnee Rußland vor der Außenwelt geschützt. Er verlangsamte das Tempo des Krieges. Nicht so im Jahre 1916. In jenem Winter wußte jedermann, daß irgend etwas unter der Oberfläche schwelte, was demnächst durch die Schneedecke hindurch entflammen würde. Joe Calvert wußte es, so wie er auch, kaum daß die Nachricht von Kitcheners Tod verbreitet worden war, instinktiv gewußt hatte, was für eine »Dolmetschertätigkeit« es war, die Richard Allen, kaum reisefähig, nach Archangelsk geführt hatte. Auch ein Fregattenkapitän namens Jakowlew, dessen Schiff, die Askelod, von Devonport zu dem neuen russischen Hafen Murmansk unterwegs war, wußte es, und natürlich wußte es -316-
Mara Trenowa, während sie zwischen dem Büro des Häute- und Talggroßhändlers, wo sie ein bescheidenes Gehalt bezog, und dem Keller hin und her eilte, wo die Prawda gedruckt wurde und ihre Tätigkeit ihr nur den befriedigenden Glauben einbrachte, daß sie mithalf, die Revolution in die Wege zu leiten. Und ein Mann in der Schweiz - unter dem Namen Lenin bekannt -, der schon fast daran gezweifelt hatte, die Revolution noch zu erleben, sah seine Stunde herannahen. Die Zarin tat alles, um die Entwicklung zu beschleunigen. In einem Walkürenritt der Macht, den Rasputin unterstützte, überspannte sie den Bogen immer mehr. Nachdem sie erreicht hatte, daß Stürmer Außenminister wurde, brachte sie den Zaren dazu, einem Mann namens Protopopow das Innenministerium und damit die Kontrolle der Ochrana und der Polizei zu übertragen. Von Protopopow hieß es, daß er Syphilitiker und als solcher von Badmajew behandelt worden sei, der Rasputin auf ihn aufmerksam gemacht habe. Zudem war bekannt, daß er unmittelbar vor seiner Ernennung Kontakt mit führenden deutschen Agenten in Stockholm gehabt hatte. Die Duma drängte auf seine und Stürmers Entlassung. »Der Zar regiert, nicht die Duma«, schrieb die Zarin ihrem Gatten immer wieder nach Mohilew, und mit jeder Warnung Rodziankos, jedem Brief irgendwelcher Verwandten, jeder Aufforderung, Rasputin fortzuschicken und sich nicht mehr in die Politik einzumischen, wuchs ihre Selbstherrlichkeit. Olga sah in Rasputin gar nicht mehr die Schlüsselfigur der Situation. Er hatte zwar Alexandra Feodorownas mystischen Glaubenseifer genährt, doch was den Charakter der Zarin prägte, war weniger ihr Mystizismus als ihre Herrschsucht. Ihrem willensschwachen Gatten an Stärke weitaus überlegen, zeigte sie, während sie Minister ein- und absetzte, daß sie von demgleichen manischen Machthunger besessen war wie der Mann, den sie haßte - ihr leiblicher Vetter Kaiser Wilhelm II. Eine Frau kam sogar aus Moskau angereist, um an die Zarin -317-
zu appellieren. Es war ihre Schwester Ella, die Witwe des Großfürsten Sergej, jetzt Oberin des Martha- und MariaKlosters, einer Pflegeschwesternschaft, die in der Stadt, in der der Großfürst ermordet worden war, viel Gutes getan hatte. Sie traf ziemlich spät am Abend ein, müde, aber noch immer schön in ihrer von einem berühmten Maler entworfenen Ordenstracht einem perlgrauen Gewand aus feiner Wolle und einem weißen Schleier. Man hatte eine Zimmerflucht im Gästeflügel des Alexanderpalastes für sie hergerichtet, wie um Ella ein wenig von ihrer Schwester fernzuhalten, und ihre Nichten leisteten ihr dort Gesellschaft, während sie eine Kleinigkeit aß. Anschließend begab sie sich zur Zarin, die ihr mit zwei Hofdamen und einem Zeremonienmeister einen frostigpompösen Empfang im Salon zuteil werden ließ, bevor Ella in das mauvefarbene Boudoir geführt wurde, wo ihr Gespräch stattfand. Es dauerte nicht lange. Alle diejenigen, die im Salon höfliche Konversation machten, hörten die schrecklichen Worte, die Alexandra Feodorowna ihrer Schwester nachrief, als diese mit aschfahlem Gesicht aus dem Raum stürzte. »Ich hoffe, daß ich dich nie mehr sehe! Nie mehr! Nie mehr!« Es blieb Olga überlassen, ihre vor Tränen blinde Tante bei der Hand zu nehmen und in ihre Gemächer zurückzuführen. »Wie einen Hund! Sie hat mich fortgejagt wie einen Hund!« wiederholte Ella ständig, während sie durch die Marmorkorridore zu der weißgoldenen Tür gingen, wo der Großfürstin zu Ehren zwei Äthiopier Wache hielten. Doch es war nicht Ihre Kaiserliche Hoheit Elisabeth Feodorowna und auch nicht die Oberin einer Pflegeschwesternschaft, die drinnen schluchzend auf eine Samtcouch sank. Es war ganz einfach eine Frau, die sich von ihrer Schwester, ihrer nächsten Verwandten in Rußland, grausam zurückgewiesen fand, weil sie gegen Rasputin und seinen unheilvollen Einfluß zu protestieren gewagt und Alexandra Feodorowna beschworen hatte, sich »um ihrer Gesundheit willen« zumindest bis zum Frühling nach Livadia zu -318-
begeben. »Tante Ella, liebe Tante Ella, bitte weinen Sie nicht. Morgen früh renkt sich alles wieder ein, Sie werden es sehen!« »Morgen früh bin ich nicht mehr da. Ich fahre heute noch nach Petrograd zurück. Es gibt dort zwanzig Häuser, in denen mir eine herzliche Aufnahme gewiß ist...» »Ja, ja, natürlich, aber heute nacht fährt kein Zug mehr... Ja, vielleicht könnten wir einen Extrazug bekommen, aber es ist wirklich schon sehr spät, und Sie sind müde nach dieser langen Reise von Moskau. Bleiben Sie bis morgen früh. Versuchen Sie ein bißchen zu schlafen.« Schließlich brachte sie ihre Tante so weit, daß sie sich auskleidete, und half ihr in einen Morgenrock. Aus feinstem bestickten Batist, wollte er eigentlich gar nicht so recht in ein klösterliches Leben passen, und Ella gewann in ihm einen fast jugendlichen Liebreiz, als Olga das goldblonde Haar löste, das ihrem eigenen so sehr glich. Auch als sie ihre Tränen getrocknet hatte, war sie noch viel zu erregt, um sich entspannen zu können. Sie sprach von den Zügen - einem Fahrplan - dem Anschluß nach Moskau - ihrem Bedauern über die Abwesenheit Dimitrijs, der als Kind in ihrem Haus gelebt hatte, ihrer Sorge um Marischa, die sich in einen jüngeren Mann verliebt hatte und so fort, ziellos, zusammenhanglos, bis sie schließlich nach einem langen Seufzer bemerkte: »Vermutlich bin ich selbst an allem schuld.« »Wieso? Sie haben Rasputin doch von Anfang an richtig eingeschätzt!« »Ich dachte nicht an Rasputin. Ich dachte, daß Alice nie nach Rußland gekommen und Nicky gar nicht begegnet wäre, wenn ich deinen Onkel Sergej nicht geheiratet hätte.« »Oh, hören Sie, das ist doch unsinnig«, widersprach Olga liebevoll. »Dann hätte sich Mama ja auch anderswo verheiraten können, wo sie gerade einen Besuch machte. Wie oft war sie -319-
zum Beispiel in England! Natürlich wissen wir, daß Mama und Papa sich auf Ihrer Hochzeit kennenlernten, aber sie hätten sich überall ineinander verliebt...« »Ja, aber ich habe ihr den orthodoxen Glauben nahegebracht, weil ich ihn selbst so schön und tröstlich gefunden hatte, als ich nach Rußland kam. Doch sie versenkte sich viel tiefer in den Mystizismus, so weit, daß sie sich nur noch von Rasputin bestätigt sah. Und dann dieser Haß, Olga! Wie sie jeden haßte, der sich nicht mit der gebührenden Demut vor der jungen Kaiserin verneigte - das hat sie gewiß nicht von mir gelernt, und dabei hatte ich nie ein so glückliches Familienleben wie sie.« Olga verharrte in unbehaglichem Schweigen, und ihre Tante fuhr fort: »Könntest du sie nicht überreden, nach Livadia zu gehen, Olga? Es wäre bestimmt die beste Lösung; wer weiß, was ihr ansonsten bevorsteht, wenn dein Vater abdankt.« Olgas Finger umklammerten die Hand ihrer Tante. »Meinen Sie wirklich, daß mein Vater abdanken muß?« »Wenn er nicht mehr fähig ist, zu regieren... wenn sie weiterhin in seinem Namen regiert... Und einige unserer Vettern hassen sie sogar noch mehr, als sie sie haßt. Sie möchten sie in ein Kloster stecken, wenn nicht sogar ins Gefängnis - es sei denn, Rasputin geht.« »Dann muß er eben gehen.« »Das sagt auch Dimitrij.« »Haben Sie das alles mit Dimitrij erörtert?« »Ich habe Dimitrij seit Monaten... seit Wochen nicht gesehen«, antwortete seine Tante ein wenig verwirrt. »... Du mußt mir verzeihen, meine Liebe, ich habe viel zu offen mit dir gesprochen, aber es ist besser, du erfährst die Wahrheit. Der Himmel weiß, daß mich nur die Sorge um dein und deiner Geschwister Geschick leitet!« -320-
»Es wird schon alles gut werden. Und jetzt müssen Sie erst einmal ein wenig schlafen, es ist fast Mitternacht. Ich komme zu Ihnen, sobald Sie morgen früh nach mir schicken.« Sie beugte sich hinunter, um ihre Tante zu küssen. Doch Ella hielt ihre Hand fest. Ihre grauen Augen sahen mit einem unergründlichen Blick zu ihrer Nichte auf, als sie sagte: »Dimitrij findet Alexis zu jung für den Thron.« Auf den Palast schien sich eine bedrückende Stimmung herabzusenken, nachdem Tante Ella seinen versammelten Bewohnern kühl und gefaßt ihren Segen gegeben hatte und mit einer berittenen Eskorte zum Bahnhof gefahren war. Olga wußte, daß sie diesen Besuch von Tante Ella nicht so leicht vergessen würde. In der ersten Dezemberhälfte erhielt sie endlich eine kurze Nachricht von Simon Hendrikow. Sie hatte zu ihrer Erleichterung von seiner Schwester gehört, daß er die Kämpfe bei Kovel heil überstanden hatte und mit einem Reservebataillon in Minsk lag. Diesmal nun wagte es Dolly sogar, ihr an einem Komiteetag einen Brief in das Winterpalais zu bringen. Da man inzwischen auch dort einige Säle für Verwundete eingerichtet hatte, war es für eine junge Krankenschwester einfach, die Wachen zu passieren. In dem kleinen Büroraum des Hilfskomitees hielten sich gerade zwei jüngere Hofdamen der Zarin auf, so daß es unmöglich war, ein persönliches Wort zu wechseln, so bemerkte Dolly nur: »Wir hatten gestern so sehr gehofft, daß Sie unser kleines Lazarett besuchen würden, Madame. Großfürst Dimitrij war da und verbrachte zwei Stunden mit den Verwundeten, und...« »Ich dachte, seine Hoheit sei in Mohilew.« »Er sagte uns, er habe achtundvierzig Stunden Urlaub...« -321-
»Nun, wenn Sie den Großfürsten hatten, dann brauchten Sie mich ja nicht«, meinte Olga. »Aber ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Darja Karlowna.« Dolly lächelte und verabschiedete sich hocherfreut. Olga überlegte, daß Dimitrij eine Reise von mindestens sechsundfünfzig Stunden auf sich genommen hatte, um achtundvierzig in Petrograd zuzubringen. Sie frage sich, was für eine dringende Angelegenheit ihn wohl in die Stadt geführt haben mochte. Als sie gleich darauf in dem Schlafzimmer, wo sie ihre Pelze abgelegt hatte, einen Moment allein war, öffnete sie Simons Brief. Er war kurz und unumwunden. Meine Prinzessin, wir werden nach Petrograd zurückverlegt und bleiben bis Mitte Februar in den Gardekasernen. Das heißt, daß ich nach dem Dienstplan erwarten kann, von da an bis Ende März in Zarskoje Selo zu sein. Ich hoffe, daß ich Dich oft sehen darf. Aber die heimlichen Zusammenkünfte müssen aufhören. Sie sind eine Zumutung für Dich. Gib mir das Recht, Seiner Majestät zu sagen, daß ich Dich liebe. Du selbst hast einmal davon gesprochen, daß wir in einer Welt leben, die im Wandel begriffen ist. Im übrigen hat es auch in der Welt, die wir kennen, schon Prinzessinnen gegeben, die Bürgerliche heiraten. Und mein Herz gehört Dir - für immer. Simon Olga prägte sich die Worte ein, bevor sie das Blatt vernichtete. Sie waren ihr gegenwärtig, als sie gleich danach durch den Thronsaal Peters des Großen kam und stehenblieb, um den rotsamtenen Thron unter dem Baldachin zu betrachten. Er wirkte immer viel zu klein für einen so gewaltigen Mann. Jetzt hatte sie also zwei gleichermaßen vage Möglichkeiten: Sie konnte ungeachtet ihres verhängnisvollen Erbes Simon Hendrikow heiraten oder, vom Militär gestützt, durch einen coup d'état die Macht an sich reißen und diesen kleinen Thron -322-
besteigen... Sie wartete den ganzen Abend auf einen Telefonanruf von Dimitrij, der dann doch nicht kam. Und am nächsten Tag, als sie Tatjana, die durch eine Dienstplanänderung im Lazarett festgehalten worden war, bei einem Empfang des Flüchtlingskomitees vertrat, fügte es ein Zufall, daß sich ihr ein Kapitel aus der Vergangenheit ihres Vaters erschloß. »Ich bewundere Ihre Hingabe, Olga Nikolajewna«, sagte die Hofdame, nachdem sie in der Limousine Platz genommen hatte. »Heute werden doch Spenden überreicht, nicht wahr? Sehr ermüdend für Sie, vor allem nach dem gestrigen Tag.« »Wenn schon Tatjana nicht kommen kann, muß wenigstens ich gehen«, meinte Olga. »Hoffentlich können wir bald Anastasia ein Komitee anvertrauen!« Sie mochte die junge Gräfin Gendrikowa und plauderte während der ganzen Fahrt angeregt und heiter mit ihr. Selbst für russische Maßstäbe trafen sie so verspätet ein, daß Olga keine Zeit mehr fand, die Namensliste zu überfliegen. Die Empfangsroutine begann, die Namen (es handelte sich fast ausnahmslos um Frauen) wurden verkündet, die großzügigen Spenderinnen kamen heran, knicksten und küßten Olga die Hand. Sie verteilte eine Ehrenurkunde, eine Medaille, manchmal beides. Im Malachitensaal, wo die Zeremonie stattfand, begann es unerträglich heiß zu werden. »Madame Mathilde Kschessinskaja.« Die Tänzerin versank in einen tiefen Knicks und hob lächelnd ihr lebhaftes Gesicht. »Haben Sie Dank, Madame...« Die vorgeschriebenen Worte kamen mechanisch, und Olga legte die Urkunde und die Medaille in die kleinen -323-
behandschuhten Hände. Dann hörte sie der Verlesung von Madame Kschessinskajas Verdiensten zu. Rußlands prima ballerina assoluta, die in ihrem Wohnsitz in Petrograd einen Lazarettsaal eingerichtet und ihre Datscha in Strelna in ein Genesungsheim für Verwundete umgewandelt hatte, war soeben von einer Tournee zurückgekehrt, die sie von Reval bis zum Kaspischen Meer geführt hatte, und stellte ihre gesamte persönliche Gage dem Komitee zur Verfügung... An diesem Punkt wurde die Lobrede von Applaus unterbrochen. »Ich gehöre zu Ihren Bewunderern, Madame«, sagte Olga, und spontan fügte sie hinzu: »Und ich würde sehr gern nach der Zeremonie ein paar Worte mit Ihnen wechseln...« Die Ballerina machte einen Hofknicks und kehrte zu ihrem kleinen vergoldeten Stuhl zurück. Als sie zu Olga in den kleinen Salon geführt wurde, wo man ihnen sogleich Tee servierte, wußte die junge Großfürstin nicht, welche Worte sie wählen sollte. Es war unmöglich, Mala Kschessinskaja, einer gefeierten Tänzerin, seit langen Jahren glücklich mit Großfürst Andrej liiert, einfach die Frage zu stellen: »Waren oder sind Sie noch immer die Geliebte meines Vaters?« Sie begann von der Tournee zu sprechen. »Woher nahmen Sie nur die Kraft, Abend für Abend nach stundenlanger Fahrt in überfüllten Zügen auf der Bühne zu stehen? War das nicht sehr ermüdend?« »Manchmal«, gab Mala Kschessinskaja lächelnd zu. »Aber ich hatte das Glück, einen hervorragenden neuen Partner zu haben, der mir eine große Stütze war. Haben Ihre Kaiserliche Hoheit Wladimirow in Petrograd tanzen sehen?« »Ist er bei der Vorstellung zur Dreihundertjahrfeier im Marjinski-Theater aufgetreten?« »Nur im Korps. Er sprang allerdings damals schon in Notfällen für Fjodor Surow ein. Wladimirow ist noch sehr jung, müssen Sie wissen: Er hat erst 1911 seine Ausbildung beendet -324-
im selben Sommer, in dem ich mein zwanzigjähriges Jubiläum feierte.« Sie berührte eine Brosche, die sie auf ihrem grauen Samtkleid trug einen Brillantadler mit einem rosafarbenen Saphir in Tropfenform - das kaiserliche Geschenk anläßlich des Jahrestags. Es erschien Olga fast unglaublich, daß diese vitale Frau schon vierundvierzig war, genauso alt wie die hagere, verhärmte Kaiserin. Wenn man sie so vor sich sah, ohne vorteilhafte Bühnenbeleuchtung und Schminke, war sie eigentlich gar keine Schönheit; was ihr Charme verlieh, waren die Pikanterie und die Lebhaftigkeit ihres Ausdrucks. Ihr Gesicht verbarg keine Geheimnisse, und Olga war mit einemmal fest davon überzeugt, daß an den der eifersüchtigen Zarin so gelegen kommenden Gerüchten, wonach diese Frau Bestechungssummen für die Vermittlung von Aufträgen an Heereslieferanten entgegengenommen haben sollte, nichts Wahres sein konnte. Sie sagte: »Als Sie kurz vor der Kriegserklärung in Krasnoje Selo auftraten, hatten Sie keinen Partner.« »In der Mazurka? Das ist meine bevorzugte Solonummer. Und Das Leben für den Zaren hatte immer eine ganz besondere Bedeutung für mich.« Da war sie - die Gelegenheit, die Olga in ihrer Unerfahrenheit nicht zu nutzen verstand. Und die Tänzerin, als spürte sie es, fuhr fort: »An jenem Abend sah ich Sie eigentlich zum erstenmal, Madame. Natürlich kannte ich Sie aus der Zeit, als die Kaiserinwitwe Sie und Ihre Schwestern zu Matinéevorstellungen mitnahm, aber die kaiserliche Loge im Marjinski-Theater ist weit von der Bühne entfernt. In dem kleinen Theater von Krasnoje Selo fühlte ich mich Ihnen sehr nahe, als ich hinter den Kulissen stand. Sie sahen bezaubernd aus in Ihrem rosafarbenen Kleid. Man merkte, daß Seine -325-
Majestät sehr stolz auf Sie war.« »Aber seine Augen suchten während des ganzen Abends nur Sie, Madame. Und später salutierte er, als wir an Ihrem Garderobenfenster vorbeikamen.« Mit einem kurze n Auflachen, in dem nicht der geringste bittere Ton mitschwang, wie ihn Olga an ihrer Mutter kannte, antwortete die Tänzerin: »Mit diesem Fenster verbinden sich ganz besondere Erinnerungen. Dort pflegte während meiner ersten Sommersaison in Krasnoje Selo Ihr Vater zu stehen, wenn er vor Beginn der Aufführung mit mir plaudern wollte. Er war damals natürlich noch der Zarewitsch, ein junger Kavallerieleutnant...« »Und nach den Vorstellungen?« »Wir wurden später sehr gute Freunde. Ich glaube, er wußte, daß er mir vertrauen konnte, denn er erzählte mir alles über die schöne Prinzessin, die er trotz aller Schwierigkeiten zu heiraten hoffte... Ein paar Jahre lang waren diese Sommertage von Krasnoje Selo eine sehr glückliche Zeit.« Ihre Hand hob sich zu einer ausdrucksvollen Tänzerinnengeste. »Seit seiner Vermählung habe ich ihn nie mehr allein gesehen.« Es war eine künstlerisch perfekte Darbietung, und dennoch wußte Olga instinktiv, daß Mala Kschessinskaja die Wahrheit sprach. Und sie erkannte auch, daß unter dieser Glätte, dieser sanften Anteilnahme, ein eiserner Wille lag, daß sich hinter der zahmen Hauskatze eine leidenschaftliche Tigerin verbarg. Ich wette, sie hat nie Muttergefühle für ihn empfunden und ihn nie »kleiner Waisenknabe« genannt, dachte Olga. »Es gibt auf der Straße nach Moskau eine Stelle«, fuhr die Kschessinskaja fort, »die ich nie passieren kann, ohne an unseren Abschied zu denken. Wissen Sie, wo kurz vor Zarskoje Selo die Straße von Volchonski einmündet? Dort haben wir uns vor dreiundzwanzig Jahren Lebewohl gesagt... Es ist praktisch die einzige traurige Erinnerung, die sich mit unserer Beziehung -326-
verknüpft.« »Sie hatten Glück, eine so ungetrübte Jugend verbringen zu dürfen, Madame.« »Ja, wir waren in schöneren Zeiten jung, als es diese sind.« Die Ballerina lächelte, und sie hatte jetzt alles Bühnenhafte abgelegt. »Sagen Sie Seiner Majestät, daß ich nie vergessen werde, wie er mich immer nannte. Raduschka, Freudenbringerin.«
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16 Was wie ein Feuerstoß durch die Schneedecke brach, war die Ermordung Rasputins. Im Alexanderpalast traf zunächst nur ein vager Hinweis ein, der allenfalls vermuten ließ, daß das irdische Wandeln des Scharlatans geendet haben könnte. Es war ein herrlicher Dezembermorgen mit tiefem Schnee, über dem sich ein hellblauer Himmel wölbte. Alexis, der von Mohilew nach Hause gebracht worden war, weil Monsieur Gilliard fand, daß seine schulische Ausbildung im Hauptquartier völlig vernachlässigt werde, trug mit Anastasia in der Pause nach dem Vormittagsunterricht eine Schneeballschlacht neben dem zugefrorenen See aus, und anschließend diskutierten sie die Anlage eines gewaltigen Rodelbergs -»... noch viel höher als der, den Vetter Dimitrij im letzten Winter in Pawlowsk gebaut hat!« Dann rief Mr. Gibbs, der Englischlehrer des Zarewitsch, Alexis wieder zum Unterricht, und Anastasia begleitete ihn und setzte sich zu ihrer Mutter ins Morgenzimmer, wo sie einen Stapel Weihnachtskarten zu unterzeichnen begann. Alles war wie sonst, die Stimmung sorglos und heiter. Und als Anja Wirubowa über das Parkett des Nebenraumes hinkte, deutete nichts an dem tappenden Geräusch ihrer Stöcke darauf hin, daß sie etwas anderes herführte als ihr üblicher Morgenbesuch. Doch der Anblick ihres bleichen verquollenen Gesichts und der hervortretenden Augen ließ keinen Zweifel daran, daß sie etwas Unheilvolles zu verkünden hatte. »Anja, was ist geschehen?« In dem Versuch, sich zu erheben, verstreute die Zarin die losen Blätter ihres Schreibblocks über den ganzen Boden. »Es handelt sich um Vater Grigorij... Teuerste, geliebte Majestät, man hat mich soeben telefonisch benachrichtigt. Vater Grigorijs Bett ist unberührt. Er ist gestern nacht überhaupt nicht -328-
nach Hause gekommen.« »Nicht nach Hause gekommen? Aber Sie erzählten mir doch, er habe zugesagt, mit Felix Jusupow zu Abend zu speisen...« »Und mit Prinzessin Irina - in dem Palast an der Moika...« »Irina ist auf dem Land, Anja!« rief die Zarin im ersten Vorgefühl der schrecklichen Wahrheit. »Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt? Wenn man ihm versprach, daß Irina anwesend sein würde, dann haben ihm vielleicht seine Feinde mit dieser Einladung eine Falle gestellt...« »Ich hielt es nicht für wichtig«, wimmerte ihre Freundin, die förmlich in sich zusammensank. »Ich dachte, es sei alles in schönster Ordnung, weil es hieß, daß auch Dimitrij Pawlowitsch da sein würde. Ich ermahnte unseren lieben Vater Grigorij lediglich, nicht zuviel Wein zu trinken...« »Zuviel Wein!« Die Zarin war mühsam auf die Beine gekommen und umklammerte die Lehne ihres Armstuhls. »Vielleicht haben sie ihm vergifteten Wein gegeben! O Gott, was soll ich nur tun, was soll ich tun?« »Teuerste Majestät...« »Seien Sie still, Anja«, sagte Anastasia, »sehen Sie denn nicht, daß Sie meine Mutter erschreckt haben?« Sie schlang ihren Arm um die zitternde Zarin. »Mama, bitte legen Sie sich hin. Man wird Vater Grigorij bestimmt bald finden, er kann nicht weit sein.« Doch die Zarin, taub gegen jeden Trost, flüsterte gerade noch: »Oh, mein Herz!«, bevor sie zu Boden sank. Es war das erste Mal, daß sich die jüngste der Großfürstinnen mit einem derartigen Notfall konfrontiert sah. Sie blieb völlig ruhig, betätigte den Klingelzug, beauftragte zwei Lakaien, Dr. Botkin zu holen und Madeleine, die Ankleidefrau der Zarin, und während ihre Mutter dann bewußtlos in ihr Schlafgemach getragen wurde, entledigte sie sich der Besucherin, indem sie einen Schlitten für sie bestellte. »Sie können in der Srednaja viel -329-
mehr tun, Anna Alexandrowna«, erklärte sie, und ihre Stimme hatte plötzlich etwas von Olgas Entschlossenheit. »Fahren Sie nach Hause und rufen Sie alle Leute an, von denen Sie glauben, daß sie eventuell wissen könnten, wo Vater Grigonj steckt. Und kommen Sie bitte auf keinen Fall wieder, bevor meine Mutter Sie holen läßt.« »Möchten Sie, daß ich im Lazarett anrufe, meine Liebe?« fragte die diensttuende Hofdame mitfühlend. »Meinen Sie nicht, es wäre besser, wenn eine Ihrer Schwestern hier wäre?« »Ich will eine halbe Stunde abwarten, Isa. Wissen Sie, vielleicht ist das Ganze nur ein falscher Alarm. Er könnte zum Frühstück geblieben sein und dann mit Felix eine Schlittenfahrt gemacht haben. Es ist so ein herrlicher Tag.« »Wie Sie wünschen, Anastasia.« Doch noch ehe die halbe Stunde zu Ende war, verbeugte sich einer der Kammerherren vor Anastasia Nikolajewna und meldete, der Innenminister sei am Apparat und wolle mit Ihrer Kaiserlichen Majestät sprechen. »Ich werde den Anruf selbst entgegennehmen.« Gefolgt von der Hofdame ging Anastasia in das Boudoir ihrer Mutter, wo sich der Hauptanschluß des Palastes befand, und hob den Hörer ab. Baronesse Isa war verblüfft über ihren kühlen, gelassenen Ton. »Hier ist Großfürstin Anastasia, Monsieur Protopopow. Ihre Kaiserliche Majestät ist unpäßlich und kann im Augenblick nicht mit Ihnen sprechen... Nein, das weiß ich nicht, ihr Arzt ist gerade bei ihr. Worum handelt es sich? Wie? Wann ist das denn festgestellt worden... Nachdem Monsieur Purischkewitsch mit der Polizei gesprochen hatte?« Die Baronesse sah, wie sich Anastasias freie Hand verkrampfte, und schüttelte abwehrend den Kopf, als Dr. Botkin erschien, um der Großfürstin zu sagen, daß die Zarin zu sich gekommen sei. Sie warteten, bis Anastasia einhängte, hatten -330-
aber noch nicht den Mund aufgetan, als Anastasia den Hörer bereits wieder abhob und sich mit Großfürstin Tatjana verbinden ließ. »Ich halte es für das beste, daß wir heimgehen«, sagte Tatjana fünfzehn Minuten später zu ihren Schwestern. »Wie?« entrüstete sich Olga. »Alle drei sollen wir unsere Arbeit im Stich lassen und nach Hause rennen, nur weil Rasputin sinnlos betrunken in irgendeinem Badehaus liegt oder in einem drittklassigen Kabarett unanständige Lieder grölt?« »Felix würde weder ein öffentliches Badehaus noch ein drittklassiges Kabarett betreten.« »Glaub nur das nicht! So sehr hat er sich auch wieder nicht gebessert. Felix hat gar nichts gegen ein bißchen Amüsement einzuwenden, wenn Irina nicht zu Hause ist.« »Aber Vater Grigorij dachte doch, sie sei zu Hause!« »Tanja hat recht, Olga«, meinte Marie. »Wir wissen von seinen Bediensteten, daß Grigorij Jefimowitsch von Felix abgeholt wurde und festlich gekleidet war. Und du hast ja gehört, was der Minister zu Anastasia gesagt hat.« »Insgesamt ergeben sich nur ein paar dürftige Anhaltspunkte«, erklärte Olga streitsüchtig. »Ein Polizist hörte Schüsse im Hof von Felix' Palast an der Moika und ging der Sache nach. Er sah diesen Purischkewitsch, der so etwas wie ›Wir haben Rasputin erschossen! ‹ oder ›Wir haben Rasputin getötet!‹ oder sonstwelchen Unsinn schrie. Warum hat die Polizei denn nicht sofort nach der Leiche zu suchen begonnen, wenn sie glaubte, daß Purischkewitsch die Wahrheit sprach?« »Weil Dimitrij bei Felix war«, antwortete Tatjana geduldig. »Du weißt doch, daß die Polizei kein Haus betreten darf, in dem sich ein Großfürst aufhält. Zumindest nicht, ohne speziell dazu ermächtigt zu sein, und vielleicht nicht einmal dann... Papa -331-
könnte uns das sagen.« »Wir haben nur das Wort des Ministers dafür, daß Dimitrij dort war«, beharrte Olga. »Geht ihr beide nach Hause, wenn ihr wollt. Ich bleibe hier, bis ich um zwei Uhr abgelöst werde.« Die frühe winterliche Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als sie in ihren pelzgefütterten Stiefeln, den Kopf gegen den plötzlich aufgekommenen Wind gesenkt, durch den Schnee zum Alexanderpalast hinüberstapfte. Normalerweise benutzte sie die Seitentür oder den Garteneingang, doch als sie die lange Reihe der Automobile in dem großen Vorhof erblickte, wandte sie sich dem Hauptportal zu. Auf der Schwelle blieb sie stehen und betrachtete die Menschenansammlung, die die sonst so verlassene Halle füllte: vorwiegend Männer in Uniform, hier und da eine Frau - Höflinge, denen der zurückgezogene Lebensstil der kaiserlichen Familie nur selten Gelegenheit bot, sich zu zeigen, und die nun diesen außergewöhnlichen Anlaß sofort benutzt hatten und von ihren gutbezahlten Posten herbeigeeilt waren. Mitten unter ihnen stand der Innenminister, von einigen Männern in Gehröcken umgeben, die erregt auf ihn einredeten und auch untereinander zu diskutieren schienen. Bei Olgas Eintritt breitete sich Stille aus, und man begrüßte sie mit tiefen Verbeugungen und Knicksen. Die Hofdame trat an ihre Seite. »Wie geht es meiner Mutter, Isa?« fragte Olga leise, »Sie ist... sehr müde, Eure kaiserliche Hoheit. Soll ich ihr melden...« »Nein«, wehrte Olga ab und wandte sich nun mit etwas gehobener Stimme an den Minister: »Halten Sie hier eine öffentliche Versammlung ab, Monsieur Protopopow?« »N-nein, Madame.« »Dann begleiten Sie mich bitte.« Die Offiziere gaben ihnen salutierend den Weg frei, und Olga führte den schwitzenden Minister in einen Vorraum, in dem normalerweise die Besucher des Zaren warteten; an seinen -332-
hohen Wänden hingen Jagdtrophäen, und alle Tische waren mit Zeitschriften bedeckt. »Wie soll ich diese merkwürdige Szene verstehen?« Die juwelenbehangenen Kaiserinnen in den tiefdekolletierten Atlasgewändern, die von den Porträts des Roten Saales herabblickten, wirkten nicht gebieterischer als dieses Mädchen, dessen Pelz-Schuba eine Schwesterntracht enthüllte, und Protopopow befeuchtete seine Lippen. »Madame, der Mord an Grigorij Jefimowitsch hat hier wie in der Stadt ungeheures Aufsehen erregt...« »Mord? Die Polizei hat also die Leiche gefunden?« »Nein, aber es dürfte nur noch eine Frage von Stunden sein...« »Woher wissen Sie denn dann so genau, daß es sich um einen Mord handelt?« »Einer der Übeltäter hat ein Geständnis abgelegt, Madame.« »Der Abgeordnete Purischkewitsch?« »Ja, dieser Purischkewitsch, der sich gleich beim Eintreffen der Polizei so mitteilsam gezeigt hatte, weil er zweifellos betrunken war. Er hat aber nun in nüchternem Zustand seine Geschichte noch einmal wiederholt, wonach er und ein Arzt, der ein unsicherer Zeuge ist, weil er schon bei den ersten der zahlreichen Mordversuche ohnmächtig wurde...« »Der zahlreichen Mordversuche?« »Ja, leider. Diese beiden Männer hatten ursprünglich mit Prinz Felix Jusupow und dem Großfürsten Dimitrij zusammen ein Komplott geschmiedet, das darauf abzielte, Grigorij Jefimowitsch durch Gift zu beseitigen. Sie luden ihn zu einem der - hm - intimen kleinen Soupers ein, die er bekanntermaßen so schätzte. Es fand in einem - hm - luxuriös ausgestatteten Kellerraum des Jusupowpalastes statt, bei Balalaika- und Grammophonmusik...« »Details können Sie sich sparen.« »Er trank Gift im Wein, er aß Gift in den Kuchen, und es -333-
bekam ihm glänzend!« platzte Protopopow heraus. »Prinz Felix wollte ihn mit dem Browning des Großfürsten erschießen, und er erhob sich mit den Kugeln im Leibe wie ein von den Toten Auferstandener! Er schwankte in den Hof hinaus. Dort schlugen sie mit einem Stock auf ihn ein, und selbst danach gelangte er noch fast bis zum Tor! Es war Purischkewitsch, der seinem eigenen Geständnis zufolge - die tödlichen Schüsse auf den heiligen Mann abgab.« »Sie haben also ein lückenloses Geständnis, aber keine Leiche?« »Genau, Madame.« »Und nichts, was das Geständnis eines betrunkenen Aufschneiders unterstützen könnte? Keine Spuren, die beweisen, daß tatsächlich ein Mord begangen worden ist?« »Im Hof war eine Blutlache. Prinz Felix sagte, er habe einen Hund erschossen.« Olgas Lippen zuckten. »Wer weiß? Vielleicht entspricht das der Wahrheit?« »Madame, es läßt sich doch wohl kaum entschuldigen...« »Einen Moment«, unterbrach sie ihn kalt. »Ich verstehe, warum Sie hier sind: Ihre Majestät wollte natürlich von Ihnen persönlich über alles unterrichtet werden. Aber wer sind diese Beamten, die Sie offenbar mitgebracht haben? Beabsichtigen Sie etwa, Prinz Jusupow und den Großfürsten hier abzuurteilen, in ihrer Abwesenheit - und in Abwesenheit des Zaren?« »Madame, ich versuche sie vor den Folgen ihrer Torheit zu schützen!« rief der Minister aus. »Diese Herren dort draußen sind Rechtsberater meines Ministeriums und Beamte der Staatsanwaltschaft. Ich bat sie, mich nach Zarskoje Selo zu begleiten, um Ihrer Kaiserlichen Majestät zu erklären, daß das, was sie verlangt, legal unmöglich ist, absolut gegen die Gesetze des russischen Reiches...« -334-
»Was verlangte sie denn?« »Daß Prinz Felix und der Großfürst sofort einem Erschießungskommando überantwortet würden.« Hier war es um die Fassung des Mädchens geschehen. »Eine Hinrichtung im Schnellverfahren!« rief sie entsetzt. »Gott, sind wir denn alle wahnsinnig geworden?« Und der dämmrige Rest des Tages schien tatsächlich von Wahnsinn geprägt, von Wahnsinn und Theatralik. Das theatralische Element steuerte Anja Wirubowa bei, die auf das Drängen der Zarin hin von ihrem kleinen Haus in die Räume umquartiert wurde, die kürzlich Großfürstin Elisabeth bewohnt hatte. »Sie werden auch Anja umbringen!« behauptete die Zarin, und so kam die verkrüppelte Frau in ihrem Rollstuhl herüber, begleitet von ihren verwirrten Eltern und natürlich der unentbehrlichen Schwester Akulina. Kaum sah sie sich des kaiserlichen Schutzes versichert, mußte man ihr die Telefonbenutzung untersagen, weil sie, in der Hoffnung, irgendwo auf eine Spur Rasputins zu stoßen, unaufhörlich Gespräche mit Petrograd führte und die kleine Zentrale des Palastes mit ihrer hektischen Aktivität völlig blockierte. Tatjana erklärte ihr einige Male, daß die Leitungen für einen Anruf aus Mohilew frei bleiben müßten. Doch der Zar begnügte sich mit einem Telegramm, in dem es hieß, daß er sobald wie möglich zurückkehren werde. Olga bemühte sich immer wieder, aus der kurzen Nachricht mehr herauszulesen: War das Ende des »Freundes«, der so lange einen verhängnisvollen Einfluß auf ihn ausgeübt hatte, für ihren Vater ein ebenso schmerzlicher Schock wie für seine Gattin, oder empfand er lediglich Erleichterung? Würde er rechtzeitig kommen, um seinen jungen Vetter und den Ehemann seiner Nichte vor dem Schicksal zu bewahren, das Alexandra Feodorowna ihnen zugedacht hatte? Die einzige Möglichkeit, dem Wahnsinn der Zarin Einhalt zu -335-
gebieten, war, den Prinzen und Großfürst Dimitrij unter Hausarrest zu stellen. Ihren rasenden Zorn dämpfte diese Maßnahme allerdings nicht. »Ich könnte sie umbringen! Ich könnte sie mit meinen eigenen Händen umbringen!« wiederholte Alexandra Feodorowna noch tief in der Nacht immer wieder, bis endlich das Veronal seine Wirkung tat und sie einschlief. Es war fast Mitternacht, als Olga leise das Boudoir ihrer Mutter betrat. Den ganzen Abend hindurch hatte sie der Gedanke verfolgt, daß Dimitrij - während Felix Jusupow in einem von Umfassungsmauern und Toren geschützten Palast festgehalten wurde, wo bewaffnete Bedienstete bereitstanden, um ihren Herrn zu verteidigen - in seiner leicht zugänglichen Wohnung am Newaufer praktisch allein war, denn er hatte nur einen ältlichen Kammerdiener bei sich und bestenfalls noch einen Burschen, der eventuell als Leibwächter fungieren konnte. Es war jederzeit möglich, ihn herauszuholen und zu töten - man brauchte nur jemanden, der gegen Bezahlung bereit war, Rasputin zu rächen. »Dann müßte ich mir vermutlich etwas anderes einfallen lassen.« Bedeutungsschwer hallten die Worte Dimitrijs in Olgas Gedächtnis wider. Schlimmer noch, sie entsann sich dessen, was sie einmal in demselben Raum, der jetzt sein Gefängnis war, zu ihm gesagt hatte: »Wenn wir nur Rasputin loswerden könnten!« Bestimmt hatten sich viele Leute ähnlich spontan geäußert, aber Dimitrij und sein Freund hatten sich etwas dabei gedacht und Rußland von dieser verdorbenen Kreatur befreit. Und vielleicht würden sie mit ihrem Leben dafür bezahlen müssen. Sie hob den Hörer ab und ließ sich mit der Residenz des Großfürsten Paul verbinden. Dimitrijs Vater hatte als einziger überlebender Onkel des Zaren immer noch einen gewissen Einfluß in der Familie, obwohl er kaum an die Öffentlichkeit trat, seit er aus der Verbannung, die einer morganatischen Ehe folgte, zurückgekehrt war. Er lebte mit seiner zweiten Frau und seiner Familie in Zarskoje Selo. Das Telefon läutete unentwegt, -336-
aber nicht einmal ein Lakai meldete sich. Schließlich erfuhr Olga von der Zentrale, eine Nachfrage beim Amt habe ergeben, daß die Leitung gestört sei. »Dann versuchen Sie einmal, ob Sie Großfürst Dimitrij in der Stadt erreichen können.« Doch es ertönte kein Klingelzeichen. Eine vibrierende Stille herrschte in der Leitung, und nach einer Weile berichtete die verschlafene Stimme: »Der Anschluß Seiner Hoheit ist gesperrt, Madame.« »Ich danke Ihnen.« So standen die Dinge also - Dimitrij war völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Am nächsten Morgen wartete Olga, bis sie gehört hatte, daß Rasputins Leiche noch immer nicht gefunden worden war; dann ließ sie sich zum Lazarett hinüberfahren und übernahm zur Freude einer jungen Schwester die letzten beiden Stunden ihres Nachtdienstes. Zur Zeit der Wintersonnenwende war es um neun Uhr morgens noch völlig dunkel, und überall im Katharinenpalast brannte Licht, als ein Wärter bei Olga erschien und verkündete, sie werde von Hauptmann Hendrikow am Telefon verlangt. »Hauptmann Hendrikow!« Diesen Namen zu hören hatte sich Olga insgeheim gewünscht und kaum zu hoffen gewagt. Sie lief durch die langen Korridore und nahm drei Stufen auf einmal, als sie die Treppe hinaufrannte. »Simon!« »Bist du es, Prinzessin?« »O Simon, Liebster, was für eine Freude! Bist du in Petrograd?« »Ja, ich rufe von der Kaserne aus an. Wir sind gestern nachmittag angekommen. Ich weiß, was geschehen ist, Olga. Kann ich irgendwie helfen?« »Es muß unendlich lange her sein, daß mir jemand diese -337-
Frage gestellt hat! O Simon, es ist wunderbar, dich wiederzuhaben! Sag mir, ist mein Vetter Kyrill Wladimirowitsch in Petrograd?« »Der Großfürst? Nein, er ist noch in Mohilew.« »Oh. Ich dachte - aber es ist nicht so wichtig, jetzt, da du hier bist. Ich mache mir schreckliche Sorgen um meinen anderen Vetter - Dimitrij.« Sie fühlte mehr sein kaum wahrnehmbares Zögern, als daß sie es sich bewußt machte. »Seine Hoheit steht unter Hausarrest, nicht wahr?« »Ja, und mir wäre erheblich wohler, wenn ich wüßte, daß er auch unter Bewachung steht.« Olga erläuterte die Situation und sagte, sie habe Angst, daß »irgendwelche Anhänger Rasputins« von den Lazarettsälen in den oberen Stockwerken des Palastes aus gewaltsam in Dimitrijs Wohnung eindringen könnten. Ihre eigentlichen Befürchtungen wagte sie nicht auszusprechen. »Könntest du dich mit Dolly in Verbindung setzen?« bat sie. »Sie arbeitet doch in dem britischen Lazarett und müßte im Grunde wissen, wie es um die Sicherheitsmaßnahmen bestellt ist. Und falls keine Soldaten zu sehen sind - könntest du dann nicht selbst eine Leibwache abordnen?« »Ich gehe sofort zum Palastkai und stelle fest, wie die Lage dort ist.« Nach dem Durcheinander des Vortages klang Simons Stimme ungemein fest und tröstlich. Olga lächelte. »Herrscht viel Unruhe in der Stadt?« fragte sie ihn. »Eher allgemeines Frohlocken. Man hat mir erzählt, daß die Kazanskikirche gestern überfüllt war und alle Leute vor der Ikone St. Dimitrijs Kerzen anzündeten. In der Wladimirkirche spielte sich das gleiche ab. Ich bin bisher noch nicht aus den Kasernen herausgekommen, aber meine Mutter telefonierte heute morgen mit mir und sagte, die meisten Häuser auf der Vierten Straße seien gestern abend erleuchtet gewesen. Erinnerst du dich an die Vierte Straße?« -338-
»Ich habe nichts vergessen. O Simon, bitte komm bald!« Simon Hendrikow hatte keinen Dienst; er konnte also die Kaserne ohne weiteres verlassen. Vor dem schmiedeeisernen Tor hielt er nach einer Droschke Ausschau, doch es war keine einzige zu sehen. So ging er durch die geschäftigen Straßen zum Newakai und hielt sich auf der Flußseite, bis er die Residenz des Großfürsten erreichte, vor der zwei Polizisten postiert waren. Er passierte die schwere Tür und gelangte durch eine unbewachte Nebenpforte auf einen Hof, wo eine Ambulanz des Britischen Roten Kreuzes stand. Der weißhaarige Portier am Lazaretteingang verbeugte sich, als der junge Offizier mit autoritärer Stimme nach Darja Hendrikowa fragte, und wies ihm den Weg. »Dieser Hausarrest des Großfürsten gefällt mir nicht«, sagte Simon, nachdem er seine Schwester begrüßt hatte, und er erklärte ihr, warum. »Nur zwei Polizisten?« wiederholte sie verblüfft. »Als ich um acht Uhr zum Dienst kam, waren es noch sechs, und vier standen an der Nebenpforte.« »Dann sind sie abgezogen worden. Genau das, was die Großfürstin befürchtete!« Er schilderte ihr Olgas Besorgnis, und Dolly schüttelte den Kopf. »Wenn wirklich jemand eindringen will, dann gibt es niemanden hier, der ihn daran hindern könnte. Simon, was sollen wir tun?« »Sie fragte mich, ob Großfürst Kyrill in der Stadt sei. Er ist nicht da, aber ich bezweifle ohnehin, daß er auch nur einen Finger rühren würde. Ich fahre nach Zarskoje Selo hinaus und spreche mit Großfürst Paul!« »Simon, das kannst du nicht tun, nicht in dieser Uniform!« -339-
»Dann eben in Zivilkleidung.« »Das ändert nichts. Du bist Offizier und kämst womöglich noch vor ein Kriegsgericht - unter der Anklage, den Lauf der Gerechtigkeit zu behindern...« »Gerechtigkeit!« schnaubte Simon. »Aber es stimmt schon, was du sagst, Dolly. Es ist besser, wenn jemand anders die Botschaft überbringt, nur - wer?« »Jemand, der völlig unparteiisch ist, mit der ganzen Sache nichts zu schaffen hat und Russisch sprechen kann...« »Dir schwebt doch wohl nicht dein Bewunderer vor - Joe Calvert?« »Joe täte es bestimmt gern, nur würde er sofort mindestens drei Vorschriften des amerikanischen Auswärtigen Amtes zitieren, die es ihm verbieten. Nein. Aber ich kenne den Mann, der Großfürst Paul aufsuchen und ihn dazu bringen könnte, daß er etwas unternimmt! Captain Allen von der britischen Botschaft.« »Und du meinst, er wäre dazu bereit?« »Ich glaube schon - mir zuliebe...« Am Morgen des dritten Tages fand man Rasputins Leiche. Die Amateur-Verschwörer hatten ein Loch in den zugefrorenen Fluß geschlagen und sie hineingeworfen, so unzulänglich beschwert, daß sie sehr bald in die Strömung trieb, die sie unter der Eisdecke in einen der Kanäle schwemmte. Die Ärzte, die die Autopsie vornahmen, stellten fest, daß Rasputin Gift, Kugeln und Schläge überlebt hatte, und erklärten, der Tod sei durch Ertrinken eingetreten. Inzwischen war der Zar vom Hauptquartier zurückgekehrt, und Großfürst Paul hatte sich zusammen mit dem distinguierten Offizier, der Dimitrijs Erzieher gewesen war, und anderen Freunden zu seinem Sohn nach Petrograd begeben. Patrouillen -340-
vom Regiment Seiner Kaiserlichen Majestät, dem besondere Sicherheitsaufgaben oblagen, bewachten sämtliche Eingänge des Palastes. Der Zar mischte sich in nichts ein. Er ließ auch seine Gattin gewähren, die darauf bestand, die Vorbereitungen für das Begräbnis des starez, einst »Unser Freund«, jetzt »Unser teurer Märtyrer«, persönlich zu überwachen. Schwester Akulina präparierte den Toten für das Grab, und am frühen Morgen des fünften Tages nach dem Mord wurde er in einer Ecke des Palastparks beigesetzt. Die religiöse Zeremonie war kurz, die Schar der Trauernden klein, aber alle vier Töchter begleiteten das kaiserliche Paar. Dann gab der Zar die Strafen für die zwei Hauptverschwörer bekannt. Purischkewitsch konnte als Mitglied der Duma nicht belangt werden, und Dr. Lazavert spielte in dem Komplott nur eine untergeordnete Rolle. Prinz Jusupow jedoch wurde auf seine Besitzungen in der Provinz Kursk verbannt, und auch Großfürst Dimitrij Pawlowitsch würde Petrograd unter Bewachung den Rücken kehren müssen, um anschließend in Kaswin an der persischen Front Dienst zu tun. »Ich lasse sie nicht erschießen, Alice, finde dich damit ab«, sagte er zu seiner Gemahlin, und älteren Höflingen, die diskret andeuteten, die Urteile erschienen ihnen zu hart, gab er zur Antwort: »Ich habe ihr Leben geschont. Das ist mehr, als mein Vater getan hätte, und muß ihnen genügen!« Erst einige Tage nach der Rückkehr ihres Vaters bot sich Olga eine Gelegenheit, allein mit ihm zu sprechen. Kurz bevor sie Zutritt zu seinem Arbeitszimmer erhielt, war Alexis herausgestürzt und ungestüm an ihr vorbeigerannt, und der Zar lächelte, als sie hereinkam. »Ich hoffe, du bist etwas friedfertiger gestimmt als der Kleine«, meinte er launig. »Er ist wütend auf mich, weil ich seine neue Katze nicht aus Mohilew mitgebracht habe.« -341-
»Ist das Veruschka? Wir haben schon viel von ihr gehört.« »Ich kann die Namen gar nicht mehr auseinanderhalten. Und jetzt sag mir, was kann ich für dich tun, meine Liebe?« »Papa, ich weiß nicht recht, wie ic h beginnen soll.« Der Gesichtsausdruck des Zaren verdüsterte sich. »Ich verstehe. Du bist gekommen, um dich den anderen Familienmitgliedern anzuschließen, die mich darum gebeten haben, Felix und Dimitrij Pawlowitsch zu begnadigen.« »Es ist nicht genau das.« »Was dann?« Olga stand vor ihm, die Hände im Rücken verschränkt, wie sie es früher getan hatte, wenn sie ihrem Vater Gedichte vortrug. »Ich möchte Sie bitten, das Urteil über Dimitrij umzuwandeln«, sagte sie. »Lassen Sie ihn für zwei oder drei Monate in Kaswin, aber nicht länger, seine Gesundheit hält es nicht aus. Das macht seine Strafe um so viel härter als die Felix Jusupows. Er hat einen angenehmen Frühling in Kursk vor sich, in seinem eigenen Haus, mit Irina und dem kleinen Mädchen. Der arme Dimitrij ist nicht kräftig genug für die kaukasische Front.« Nikolaus II. drehte einen Stapel Briefe auf seinem Schreibtisch um. »Damit argumentiert auch seine Großmutter«, entgegnete er leichthin. »Dimitrijs schwache Lungen. Ich kann mich nur wundern, daß der Königin von Griechenland, deren eigener Gatte ermordet worden ist, nichts Besseres einfällt, als sich für einen Mörder zu verwenden.« »Ich dachte, die ganze Familie hätte ein Bittgesuch an Sie gerichtet...« »Das stimmt, hier ist der Brief - mit nicht weniger als sechzehn Unterschriften, einschließlich der deiner Tante Miechen. Möchtest du meine Anmerkung sehen?« Er drehte das -342-
Blatt um, und Olga las die Worte: Niemand ist berechtigt, einen Mord zu begehen. »Aber Dimitrij hat seinem Vater doch geschworen, daß er keinen einzigen Schuß abgegeben hat!« »Und Dimitrijs Vater würde mir gegenüber noch viel mehr beschwören.« Der Zar trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. »Meine Geheimpolizei hat mir übrigens einen merkwürdigen Bericht über meinen Onkel Paul geliefert. Ein Mann von der britischen Botschaft scheint ihn vor der Entdeckung von Vater Grigorijs Leiche in aller Eile und Heimlichkeit aufgesucht zu haben. Unmittelbar danach wandte sich Paul an General Vojeikow und überredete ihn, die Anzahl der Militärposten vor Dimitrijs Palast zu verdreifachen...« »Am ersten Morgen nach Verhängung des Hausarrests gab es gar keine Militärposten. Lediglich zwei Stadtpolizisten. Leicht zu überwältigen, wenn man Dimitrij entführen wollte.« »Ihn entführen? Olga, woher hast du das alles?« »Ich befürchtete so etwas. Und ich bat jemanden, dem ich vertraue, sich am Palastkai umzuschauen.« »Ich glaube, ich kann den Namen erraten. War es Hauptmann Hendrikow?« »Ja.« »Ein Offizier meiner Leibgarde, von meiner Tochter dazu bewoge n, sich in eine Angelegenheit einzumischen, die der zivilen Gerichtsbarkeit untersteht! Hast du ihm deine Bitte schriftlich unterbreitet?« »Nein, wir telefonierten miteinander.« »Gut. Dann werde ich den Vorgesetzten des jungen Mannes mit einer Untersuchung beauftragen; es ist durchaus möglich, daß er ihn vor ein Kriegsgericht stellt.« »Ich würde Ihnen raten, das nicht zu tun.« -343-
»Du rätst mir?« »Wenn jemand etwas gegen Hauptmann Hendrikow unternimmt, werde ich publik machen, daß die polizeiliche Bewachung meines Vetters nach den ersten paar Stunden bereits völlig unzulänglich war. Ich habe Zeugen im britischen Lazarett, die gesehen haben, wie die Posten zurückgezogen wurden.« »Auf Befehl des Polizeichefs, zweifellos.« »Der seine Anweisungen vom Innenminister erhält. Und er empfängt die seinen von meiner Mutter.« »Bist du dir darüber im klaren, was du sagst, Olga?« »Vollkommen. Wenn Sie in der ersten Nacht hiergewesen wären, wüßten Sie, daß sie in ihrem Rachedurst vor nichts zurückgeschreckt wäre. Es ist nur Simon und seinem englischen Freund zu verdanken, daß Dimitrij am nächsten Tag noch am Leben war. Und ein bißchen vielleicht auch mir.« Der Zar lehnte sich in seinen Sessel zurück; sein Gesicht war sehr blaß. »Gib mir bitte ein Glas Wasser.« Sie brachte es ihm, und er trank durstig. Die Haut seines Gesichts war verzerrt und faltig, als hätte sie ein innerer Brand ausgedörrt. »Bist du in Simon Hendrikow verliebt, Olga?« »Ich bin schon seit langem in Simon verliebt.« »Du weißt, daß nie etwas daraus werden kann?« »Aber er liebt mich.« Sie lächelte. »Ich bitte nicht um die Erlaubnis, ihn heiraten zu dürfen.« »Du würdest sie nie erhalten. Du, eine Zarentochter...« »Sie haben meiner Tante Olga vor zwei Monaten nach ihrer Scheidung von Onkel Peter gestattet, Oberst Kulikowski zu heiraten. Und sie war auch eine Zarentochter.« »Bei ihr war eine langjährige Zuneigung und eine unglückliche erste Ehe gegeben. Du kannst nicht behaupten, daß du gegen deinen Willen vermählt worden bist.« -344-
»Wie Tante Olga... Nennen Sie es eine la ngjährige Zuneigung‹ oder wie Sie wollen, Papa. Fest steht, daß Tante Olga am Ende ihren Willen durchgesetzt und mit dem Mann, den sie liebt, ein neues Leben begonnen hat. Warum soll mir nicht auch ein bißchen Glück mit dem Mann, der mich liebt, vergönnt sein?« »Das ist es ja gerade, was deine Mama so oft betont hat: sollen sich die anderen schlecht benehmen, wenn sie es nicht lassen können! Wir sind es, an denen man sich ein Beispiel nimmt. Und in der Tat haben wir den Leuten eine untadelige Ehe vorgelebt, wofür wir selbst gar nicht dankbar genug sein können. Immerhin haben wir 1919 schon unsere Silberhochzeit, Olga - in nicht allzu ferner Zukunft also.« »Aber in Ihrer Jugend haben Sie sich doch auch von Ihren Wünschen leiten lassen, oder nicht... als Sie in Madame Kschessinskaja verliebt waren?« Der Zar stutzte. »Ich habe in meinem ganzen Leben nur eine einzige Frau geliebt«, erklärte er. »Und das ist deine Mutter.« »Ich verstehe nicht ganz, inwiefern das die Sache besser machen soll«, sagte Olga. »Oh, glauben Sie bitte nicht, daß ich Sie tadeln will! Wie könnte ein Mann der Kschessinskaja widerstehen? Ich finde sie bezaubernd. Sie überbrachte dem Flüchtlingskomitee eine Spende, als ich gerade einmal Tatjana vertrat, und hinterher sprachen wir miteinander.« »Worüber? Über... alte Zeiten?« »Über glückliche Zeiten - über das Garderobenfenster in Krasnoje Selo und über einen Kosenamen...« »Raduschka?« »Freudenbringerin.« Olga trat zu ihrem Vater und schlang ihm die Arme um den Hals. »Oh, mein armer Papa, ich finde es so schön, daß Sie einmal ein bißchen froh sein konnten!« Seine Frage verriet, daß er gerührt war. »Was möchtest du -345-
denn haben, mein Liebling?« »Ich möchte auch ein wenig Freude.« »Diesen jungen Mann?« »Wenn Sie ihm nur erlauben würden, eine Weile in unserer Nähe zu bleiben. Er ist treu und aufrichtig, Papa, Sie wissen gar nicht, wie treu! Alles, was er zu Dimitrijs Schutz unternahm, tat er nur, um mir gefällig zu sein.« »Da glaubte ich, du wolltest dich für Dimitrij verwenden, und nun stellt sich heraus, daß es dir in Wirklichkeit um Simon Hendrikow geht.« »Ich bitte Sie auch jetzt noch, Dimitrij zu vergeben! Oh, nicht sofort, denn das würde meine Mutter wütend machen, und ich weiß, daß er nicht nach Petrograd zurückkehren kann. Lassen Sie ihn nur nicht allzulange in diesem schrecklichen Kaswin! Verbannen Sie ihn auf die Krim, wenn es sein muß...« »Damit er das prachtvolle Wetter genießt«, sagte der Zar. »Ich wundere mich nur, daß du mich nicht bittest, ihm gleich Livadia zu überlassen. Nein, Olga, ich kann Dimitrij nicht begnadigen. Du ahnst nicht, was für ein Verhängnis er und Felix vielleicht auf uns herabbeschworen haben.« Er löste Olgas Arme sanft von seinem Hals und nahm einen Brief vom Schreibtisch. »Heute brachte mir ein Kurier die gesamte Post, die nach meiner Abreise in Mohilew eingetroffen ist. Darunter war auch dieser Brief, der letzte von Vater Grigorij. Er schrieb ihn ganz offensichtlich, kurz bevor er sich in die fatale Falle begab. Lies ihn, und du weißt, was Dimitrij und Felix mir und den Meinen angetan haben.« »Ein Brief von Rasputin!« Olga erkannte die ungelenke bäurische Handschrift sofort: »Ich schreibe diesen Brief in St. Petersburg...«, las sie. »Ein Gefühl sagt mir, daß ich diese Welt noch vor dem ersten Januar verlassen werde. Zar von Rußland! Wenn du den Klang der -346-
Glocke hörst, die dir verkündet, daß Grigorij getötet wurde, dann wisse eins: Sollten deine Verwandten meinen Tod geplant haben, so wird kein einziges Mitglied deiner eigenen Familie mehr als zwei Jahre am Leben bleiben. Das russische Volk wird sie töten.«
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17 Die vier Schwestern in ihrem Palast in Zarskoje Selo erfuhren weder von den Gerüchten jeglicher Art, die sich in Petrograd verbreiteten, noch von den böswillig verleumdenden Karikaturen der Zarenfamilie, die Mara Trenowa in der Prawda veröffentlichte, oder der Serie, die der ehemalige Laufbursche Sergiew unter dem Titel »Die Liebhaber der Großfürstinnen« für eine Untergrundzeitung verfaßte. Der Bucklige selbst war zwar impotent, doch die Fülle der Einzelheiten ließ auf eine ausgedehnte Erfahrung schließen; sein Publikum verstand diese Details auf jeden Fall wesentlich besser als die jüngeren Zarentöchter, für die »ein Liebhaber« der Verlobte war. Marie zumindest gebrauchte das Wort für den Mann, der als erster um ihre Hand anhielt. Der Antrag war eine der Konsequenzen der unheilvollen Entwicklung auf dem Balkan, wo der Krieg auf Rumänien übergegriffen hatte und zwei deutsche Armeen über die Karpatenpässe und durch das Donautal in das Land eingedrungen waren und den Blitzkrieg mit der Einnahme von Bukarest beendeten. Der rumänische Hof und die Regierung flohen nach Jassy, und Prinz Carol, jetzt der Kronprinz, reiste mit Premierminister Bratianu nach Petrograd, um von Rußland Hilfe zu erbitten. »Aber ich hätte mir nie träumen lassen, daß er die Absicht haben könnte, mich zu heiraten!« staunte Marie nach einem offiziellen Bankett, auf dem sie Carols Erzählungen von den Gebirgskämpfen in seinem Land mit ihrer üblichen Gutmütigkeit und Wißbegier gelauscht hatte. »Stellt euch vor, einen Liebhaber zu haben, in meinem Alter!« »Das ist es eben, Maschka, du bist einfach noch zu jung«, wandte die vernünftige Tatjana ein. »Viele Mädchen heiraten mit siebzehn«, erklärte Marie unbeeindruckt. -348-
»Das soll doch nicht etwa heißen, daß du auch nur mit dem Gedanken spielst, Carol zu heiraten?« fragte Olga, fügte allerdings sofort taktvoll hinzu: »Obwohl er jetzt wesentlich netter ist als früher.« »Nun, wen kriegen wir denn noch, wenn wir nicht bald anfangen? Ich finde Carol sehr nett. Ich würde gern - wie seine Mutter - mit ihnen in die Berge reiten und unter Beschuß Verwundete retten helfen und Mahlzeiten über Holzkohlenfeuern kochen...« »Kurzum - eine Heldin sein«, ergänzte Anastasia boshaft und wunderte sich sehr, als Marie, die so oft geduldig das Ziel familiärer Neckereien gewesen war, plötzlich in Tränen ausbrach und aus dem Raum rannte. »Geh ihr nach, Kobold, und entschuldige dich«, sagte Olga. »Du hast sie wirklich gekränkt.« »Um ihre Nerven muß es schon sehr schlecht bestellt sein«, bemerkte Anastasia und wiederholte damit, was irgend jemand einmal von der Zarin gesagt hatte. Doch sie gehorchte, denn sie mochte ihre Schwester Marie sehr gern. Als Olga allein war, dachte sie, daß es Marie im Grunde gar nicht um den prahlerischen Balkanprinzen ging und auch nicht um das abenteuerliche Leben mit den Truppen. Was Marie bewog, war das gleiche, was so viele Mädchen in eine verfrühte Ehe trieb der Wunsch, von zu Hause wegzukommen. Wenn der ehrgeizige Carol am Ende tatsächlich eine Romanow-Prinzessin heimführte, dann deshalb, weil Marie Nikolajewna im Gegensatz zu Olga vor nahezu drei Jahren nicht darauf beharrte, »in Rußland zu leben und zu sterben«, sondern selbst den rauhen Balkan diesem lastenden, angespannten Schweigen von Zarskoje Selo vorzo g. Während der ersten Wochen nach Rasputins Ermordung hatten sie alle unter der Wirkung des Schocks gestanden. Die Zarin, wenn sie sich überhaupt sehen ließ, saß stundenlang -349-
stumm in ihrem Sessel und starrte vor sich hin; die meiste Zeit verbrachte sie in ihrem Boudoir - allein oder mit Alexis, in dessen Gesellschaft sie ihre gesamten Mahlzeiten einnahm, soweit man sie als solche bezeichnen konnte. Sie raffte sich lediglich zu ein paar heftigen Zornesäußerungen über ihre Schwester Ella auf, die dem Großfürsten Dimitrij telegrafisch zu seiner »patriotischen Tat« gratuliert hatte, doch genaugenommen war ihr Geist ebenso weit von ihrer Schwester entfernt wie von ihren eigenen Töchtern. Der einzige, der sie aus ihrer schmerzlichen Erstarrung wecken konnte, war der von ihr geschaffene Innenminister, Monsieur Protopopow, der sich neuerdings mit Spiritismus beschäftigte und der Zarin verkündet hatte, daß er durch die geistige Welt mit dem gemarterten Rasputin in Verbindung stehe. Die Apathie des Zaren war von anderer Art. Den alliierten Delegierten, die ihn im Januar des Jahres 1917 sahen, fiel auf, daß sein Erinnerungsvermögen fast ganz geschwunden war und die dunklen Augen beim Sprechen ziellos umherrirrten; sein Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und zerfurcht. Es war beinahe seine einzige positive Handlung in dieser Zeit, daß er die Stationierung Hauptmann Hendrikows nach Zarskoje Selo veranlaßte und dem Palastminister mitteilte, daß dem Gardeoffizier der Zutritt zur Residenz zu gewähren sei. Auch Olga hatte also jetzt einen »Liebhaber«, einen jungen Mann, der in einem der kleineren Salons des Gästeflügels sogar Tee mit ihr trinken durfte. Dort saßen sie behaglich und dennoch ein wenig undankbar neben den lodernden Kiefernklötzen, während draußen heulend der Schneesturm durch den Park fegte. »Ich wollte, es wäre Sommer! Ich wollte, wir könnten Spazierengehen!« seufzte Olga an einem dämmrigen Februarnachmittag. »Ich wollte, ich könnte dich Hunderte von Meilen von hier fortbringen«, sagte Simon. »Wohin würdest du mich bringen? Auf die Datscha?« -350-
»Wir könnten in der Datscha den Anfang machen. Es wäre allerdings nicht Winter...« »Natürlich nicht, es wäre Sommer. Und jedes Möbelstück stünde am selben Platz, und es würde sich noch einmal genau das gleiche zutragen wie vor drei Jahren - nur, daß Maschka und Anastasia nicht dabei wären.« »Und wir nicht zur Standart zurückmüßten«, ergänzte Simon, von ihrer Stimmung angesteckt. »Gott, ich erinnere mich noch so gut an jenen Abend. Alle fühlten sich so geehrt, weil Seine Majestät in der Messe speiste, und ich brachte kaum ein Wort heraus, geschweige denn einen Bissen hinunter, weil ich dachte, du wärst auf Deck und ich versäumte eine Gelegenheit, bei dir zu sein.« Olga lächelte. »Ich weiß noch, daß ich in einem Liegestuhl lag und die Sterne aufblitzen sah und mir wünschte...« »Was hast du dir gewünscht, Prinzessin?« »Daß die Welt anders wäre, vermutlich. Wir konnten nicht wissen, wie sehr sie sich ändern würde. Komm, laß uns weiterfabulieren. Wohin gehen wir, wenn wir die Datscha verlassen?« Sie hatten noch nicht viel von der Welt gesehen und mußten sich für Kopenhagen entscheiden, das sie beide kannten, wenngleich Olga nie, wie Simon, über einen sommerlichen Strand oder durch die gewundenen Altstadtstraßen gewandert war, sondern lediglich im Palast von Amalienborg gewohnt hatte. »Meine Großmutter wollte vor zwei Jahren noch einmal mit mir nach Dänemark fahren«, erzählte Olga. »Ich konnte nur zu der Zeit unmöglich weg...« »Ich war auch nicht mehr in Kopenhagen, seit meine Schwester 1910 heiratete.« »Großmama macht überhaupt gern Reisepläne. Ihre neueste -351-
Idee ist, daß wir alle mit ihr auf die Krim gehen sollen.« »Gehört das noch zu den Phantasien, Prinzessin?« »Nein, das ist wahr. Sie hat sich über die Sache mit Dimitrij furchtbar aufgeregt und sorgt sich um meine Geschwister und mich. Sie sagt, wenn uns Mama nicht nach Livadia bringen wolle, werde sie ihren eigenen Palast in Ai Todor für uns öffnen.« »Olga!« Simon ergriff ihre Hand. »Etwas Besseres konnte ihr gar nicht einfallen!« »Aber du sagtest doch, du seist so glücklich, weil wir uns jetzt täglich sehen...« »Ich wäre noch glücklicher, wenn ich dich in Sicherheit wüßte«, erwiderte Simon grimmig. »Dusckenka, bitte glaub mir, es ist das Klügste, was ihr tun könnt. Und wenn Seine Majestät erst wieder in Mohilew ist, müßte es dir doch eigentlich gelingen, die Zarin dazu zu bringen, daß sie mit euch für eine Weile in den Süden geht - vielleicht nur ein paar Wochen, bis sich die Lage in Petrograd wieder beruhigt hat.« »Du hältst es für wichtig, daß uns meine Mutter begleitet?« »Für sehr wichtig.« »Aber sie glaubt doch, ihre Popularität sei nie größer gewesen!« antwortete Olga. »Sie bekommt jeden Tag Hunderte von Briefen und Telegrammen, die Trauer um Rasputin zum Ausdruck bringen oder Dankbarkeit dafür, daß sie so viel Gutes tut, und so weiter!« »Fünfundneunzig Prozent dieser Schreiben stammen aus dem Innenministerium.« »Du meinst, Protopopow...« Olga Nikolajewitsch brauste nicht auf, sie nahm es gelassen hin, weil sie - so stellte Simon voller Mitleid fest die Wahrheit genausogut kannte wie er. »Ich hätte nichts gegen eine Reise auf die Krim«, sagte sie schließlich ausweichend. »Im Februar ist es dort wunderbar. -352-
Denk an die rosaroten und violetten Bougainvilleas auf den weißen Mauern, an die Fresien und Alpenveilchen, die überall auf den Terrassen wuchern, bis zum Strand hinunter! Und an die warme Mittagssonne statt dieser Schneestürme und der eisigen Kälte... Aber wir können jetzt einfach nicht fort, Simon. Erst muß die Konferenz der alliierten Delegationen vorbei sein, und vorläufig sind sie noch nicht einmal nach Murmansk unterwegs.« »Es wird immer wieder neue Gründe geben, um zu bleiben«, sagte Simon Hendrikow, »und irgendwann einen zuviel. Olga, um Himmels willen - wenn es nun dieser wäre?« »Wie kann man nur so pessimistisch sein!« beklagte sie sich in gezwungen munterem Ton. »Selbst wenn in Petrograd schwere Unruhen ausbrechen sollten - hier draußen sind wir bestimmt in Sicherheit. Wir haben die Kosakeneskorte, die Marinegarde, das Eisenbahnregiment und das Leibregiment Seiner Majestät zur Verfügung: Meinst du nicht, das reicht für fünf Frauen und einen Jungen?« »Wenn die Regimenter loyal sind, ja.« »Wie kannst du daran auch nur einen Augenblick zweifeln!« »Wie kannst du es riskie ren, nicht daran zu zweifeln!« Sehr wahrscheinlich waren sich die britischen Delegierten unter Lord Milner und die französischen unter dem Vorsitz des Kolonialministers, Gaston Doumergue, durchaus bewußt, daß man sie in einer absolut sinnlosen Mission auf die arktische Reise geschickt hatte, die sie um das Nordkap und durch die Kola-Bucht zu der Stadt mit dem anspruchsvollen Namen Port Romanow führte - dem Ausgangspunkt der neuen MurmanskBahn. Hier zeigte sich ihnen Rußland gleich von seiner negativsten Seite; zwischen armseligen Holzhütten lagen Berge stinkender Abfälle und unordentlich gestapeltes Feuerholz umher, und was noch weitaus schlimmer war, auf den -353-
behelfsmäßigen Kais verrosteten riesige Munitionsbestände. Der Zug, den sie bestiegen, war der erste, der die neue MurmanskStrecke von einem Ende bis zum anderen durchmessen sollte. Er brauchte auf schiefliegenden, unzulänglich beschotterten Gleisen drei Tage für die Neunhundert-Meilen-Fahrt durch die Tundra und vereiste Wälder, und als die Delegierten in Petrograd ankamen, stellten sie fest, daß sich die Streiks mittlerweile häuften und Volksaufwiegler sich sogar im Stadtzentrum wie auf dem Liteini Prospekt ganz offen an die nach Lebensmitteln anstehenden Leute heranmachten. Die offiziellen Gespräche mit ihren russischen Kollegen verwandelten sich in eine Farce: Wer, so dachten sie, konnte einem Land, das derart unfähig war, sich selbst zu helfen, umfangreiche Hilfeleistungen zusagen? Vorerst fanden natürlich die üblichen Festlichkeiten statt. Die Delegierten wohnten im Hotel »Europa« und wurden von der Petrograder Gesellschaft mit Einladungen überhäuft. Großfürstin Marie Pawlowna, für ihre Verwandten »Tante Miechen«, gab ihnen ein so großartiges Abendessen, daß die Zarenmutter eigens aus Kiew telegrafierte, um darauf zu drängen, daß der Rahmen im Alexanderpalast, wo die Briten, Franzosen, Italiener und Rumänen am letzten Abend ihres Aufenthalts zu Gast sein würden, mindestens ebenso glanzvoll sein müsse. Sie erteilte sogar verschiedene Anweisungen für Olgas Kleidung, und weckte damit die lange schlummernde Eifersucht der Zarin. »Was für ein Aufhebens«, sagte sie, während sich drei ihrer sechs Ankleidefrauen im Nebenraum um die junge Großfürstin kümmerten. »Eigens das Diadem Kaiserin Katharinas aus der Schatzkammer holen zu lassen! Es wundert mich nur, daß Großmama nicht gleich auf der Reichskrone bestand.« »Wir wären alle froh, wenn Sie sich wohl genug gefühlt hätten, um die Delegierten selbst zu empfangen, Mama«, versicherte die loyale Tatjana. -354-
»Olga wird aber bestimmt entzückend aussehen«, sagte Marie. »Und sie hat den ganzen Nachmittag damit verbracht, Angaben über die Gäste zu lesen und sich sowohl ihre Namen einzuprägen als auch ihr Äußeres nach Fotografien.« »Das dürfte sie Tante Miechen abgeschaut haben«, bemerkte die Zarin spitz. »Es erübrigt sich wirklich, die Namen dieser Leute zu wissen; ein Lächeln und ein Kopfnicken sind alles, was sie erwarten können... Olga, komm herein und laß dich anschauen. Ja, du siehst sehr hübsch aus.« Den jüngeren Mädchen verschlug der Anblick ihrer Schwester die Sprache. Sie trug eine schulterfreie Robe aus weißer Seide, das Brillantkollier, das sie zu ihrem sechzehnten Geburtstag bekommen hatte, und das rote Band des St.-Katharinen-Ordens. Das Krönchen, mit dem sich Kaiserin Katharina geschmückt hatte, als sie noch die Gattin des Zarewitsch war und sich der Weg zur Macht noch nicht vor ihr aufgetan hatte, bestand aus zwei Reifen, die mit diamantgefaßten Rubinen von unschätzbarem Wert besetzt waren. Es saß auf Olga Nikolajewnas blondem Haar, als wäre es für sie angefertigt worden. »Du hast doch nicht etwa Rouge aufgelegt?« »Natürlich nicht, Mama!« »Sie ist nur aufgeregt«, erklärte Anastasia. »Eigentlich bist du ganz falsch angezogen, bemerkte die Zarin mürrisch. »Halb is t das Hofkleidung, halb nicht. Zu dem Krönchen gehört ein kojoschnik und ein Schleier, und außerdem müßte von den Schultern eine Schleppe fallen.« »Schleppen trägt in diesen Zeiten niemand mehr«, erwiderte Olga. Die eifersüchtigen Sticheleien der kränklichen Frau konnten einem Mädchen nichts anhaben, das in triumphierender Hochstimmung seinem ersten großen Auftritt entgegensah und sich seiner Reize, die ihm nur eine halbe Stunde später viele bewundernde Augen bestätigten, vollauf bewußt war. Um acht -355-
Uhr schritt Olga an der Seite des Zaren durch die großen blumengeschmückten Empfangsräume, in deren Porzellanöfen wohlriechendes Holz brannte. Sie fand für jeden der alliierten Staatsmänner ein freundliches und persönliches Wort, während der Zar sich auf Banalitäten beschränkte wie »Sind Sie zum erstenmal in Rußland?« und »Hatten Sie eine angenehme Fahrt von Port Romanow?« Seine schwermütigen Augen leuchteten erst ein wenig auf, als er seine Tochter später, während ihnen ein den Kriegszeiten angepaßtes einfaches Mahl serviert wurde, am anderen Ende des Tisches angeregt mit den lachenden Gästen plaudern sah. Und er mußte insgeheim bekennen, daß ihre Mutter als Gastgeberin nie jemandem ein Lächeln entlockt hatte. Innerhalb weniger Stunden war alles vorbei. Das Staatsbankett hatte lediglich repräsentativen Charakter und war nicht als Gelegenheit für vertrauliche Gespräche gedacht, und so fuhren kurz nach zehn die Kutschen vor, um die Gäste zum Bahnhof zurückzubringen. Der Zar und seine Tochter verabschiedeten sie, wie es das Protokoll gebot, und fanden ihre Förmlichkeiten ebenso protokollgemäß erwidert. Nur ein Franzose, der dem Champagner etwas zu eifrig zugesprochen hatte, tanzte aus der Reihe und drückte einen protokollwidrigen Kuß auf Großfürstin Olgas Hand. »Mes hommages, Altesse!« sagte er. »Wie gut Ihrem bezaubernden Kopf eine Krone steht!« »Je vous remercie, monsieur.« Nachdenklich stieg sie wenig später die weite Treppe hinauf. Tatjana war noch bei der Zarin, und nur die drei Ankleidefrauen erwarteten sie in dem warmen Schlafgemach. Olga bat um ein Glas Wasser und äußerte dann den Wunsch, für eine Viertelstunde allein gelassen zu werden, »Ihre Kaiserliche Hoheit haben Kopfschmerzen!« sagte die erste Ankleidefrau voller Besorgnis. »Nein, ich möchte nur eine Zigarette.« Sie zündete sich sogar -356-
eine an, noch bevor die Frauen hinausgegangen waren, warf sie aber sofort in den offenen Ofen. Zigaretten gehörten nicht zu dieser flüchtigen Pracht; sie paßten zu Schwesterntrachten und Jerseymänteln, nicht zu Kaiserin Katharinas Krone. Olga setzte sich an ihren Toilettentisch und sah im Schein des Lichts von ihrem Halsband und dem Diadem tausend Funken sprühen. Sie hob die Hände und stellte fest, daß sich die kleine Krone ohne Hilfe nicht abnehmen ließ. Ein paar Minuten blieb es ihr noch, dieses Symbol, das, wenn sie auf Dimitnj gehört hätte, vielleicht für ein ganzes Leben ihr Attribut geworden wäre. Der Zarewitsch war gelangweilt und gereizt. Er wollte unbedingt nach Mohilew zurück, doch sein Vater zögerte die Abreise von Zarskoje Selo immer wieder hinaus - und zeigte sich gegenüber Rodzianko und allen anderen abwartend und unschlüssig, einschließlich seines Bruders, des Großfürsten Michael, der ihm die Gefahr von Hungersnot und Generalstreiks vor Augen führte. Zu Alexis sagte er, es könne noch einige Zeit vergehen, bevor an eine Rückkehr nach Mohilew zu denken sei. »Der Schnee hat die Bahnstrecke blockiert«, erklärte er. »Weißt du nicht, daß über tausend Lokomotiven außer Betrieb sind?« »Um Petrograd herum gibt es nirgends blockierte Bahnstrecken, Zilchik und ich haben gestern viele Züge fahren sehen.« »Nun, das war ja dann ein interessanter Ausflug. Er hat dir doch sicher Spaß gemacht?« »Nicht soviel wie früher«, antwortete der Junge. »Ich weiß wirklich nicht, was los ist. Auf den Bahnhöfen will kaum mehr jemand mit mir sprechen! Ich verbeuge mich, und die Leute starren mich oft nur an oder schauen weg.« »Du bist sehr groß geworden, wahrscheinlich erkennen sie dich nicht«, bemerkte der Zar zerstreut; Monsieur Gilhard erläuterte ihm später unter vier Augen, daß es den Knaben im -357-
Grund nur nach Gesellschaft verlange. Der Hauslehrer ging sogar noch weiter und sagte, Alexis sei zuviel mit seiner Mutter zusammen, deren gegenwärtiger Gesundheitszustand ihm nicht guttäte. Gottlob sei der Zarewitsch inzwischen in bester Verfassung und brauche ganz einfach gleichaltrige oder ältere Spielgefährten. Der Zar gab ihm recht, und es wurde beschlossen, eine Gruppe Kadetten aus der Militärschule von Petrograd zu einem Spielnachmittag im Schnee nach Zarskoje Selo einzuladen. Seit langem war es nicht mehr so fröhlich und laut auf dem Palastgelände zugegangen. Alexis war glücklich, wieder mit Soldaten zusammen zu sein, und wenn es sich bei diesen Soldaten auch nur um siebzehn- oder achtzehnjährige Jungen handelte, so war es doch gut möglich, daß sie sehr bald schon in vorderster Linie kämpfen würden. An der Seite der Kadetten lief er Schlittschuh auf dem zugefrorenen See (die Hände mit Nagorny gekreuzt), und dann trugen sie ein wildes Kriegsspiel aus, bei dem Schneebälle als Munition dienten. Doch der größte Erfolg des Nachmittags war der hohe Rodelberg; einer nach dem anderen rodelten sie in schneller Folge hinunter, brachten ihre Toboggans mit knirschendem Geräusch zum Stehen und liefen nach hinten, um von neuem zu starten. »Schau dir Nagorny an, wie er dort auf Alexis wartet - eine Entenmutter, um ihr Junges besorgt!« scherzte Olga, die mit Simon unter den Zuschauern war. In der Tat wandte der Matrose kein Auge von seinem Schützling, der die Schlittenbahn auch nicht allein hinunterfahren durfte; und kaum war Alexis unten angelangt, hatte ihm Nagorny schon von dem Toboggan hochgeholfen, den er mit einem der Kadetten teilte. »Schau dir den Fahrer an, er ist so weiß wie ein Schneemann«, sagte Simon und wies auf den hoch aufgeschossenen Jungen, der Alexis' Schlitten gesteuert hatte. »Er muß bei dem Kriegsspiel förmlich mit Schneebällen zugedeckt worden sein«, meinte Olga. Das lachende Gesicht des -358-
Kadetten war stark gerötet, und nun wischte er sich mit eine m Taschentuch über die Stirn, bevor er Nagorny den Toboggan abnahm und wieder nach hinten rannte. »Alexis Nikolajewitsch amüsiert sich großartig.« »Und es ist noch nicht zu Ende; sobald es dunkel wird, wird ihnen drinnen Tee serviert.« »Olga«, murmelte Simon plötzlich mit veränderter Stimme: »Ihre Majestät!« Es war das erste Mal seit Monaten, daß er Alexandra Feodorowna zu Gesicht bekam. Er fand sie sehr hager und blaß und sah auch, daß ihr Haar, das unter der Pelzmütze zum Vorschein kam, mit Grau untermischt war, aber sie war keineswegs bewegungsunfähig, wie es die Gerüchte verbreitet hatten. Sie benutzte lediglich einen Stock, was viele Damen bei Glatteisgefahr taten. Jetzt hatte sie ungezwungen mit Monsieur Gilliard zu plaudern begonnen und lächelte den Jungen zu. »Ich freue mich, daß sie herausgekommen ist«, sagte Olga. »Ihre Majestät sieht gut aus«, stellte Simon fest. »Hast du mit ihr über eine Reise zur Krim gesprochen?« »Oh, Simon, wie du darauf herumreitest! Man möchte meinen, du wolltest mich loswerden.« »Dich - duschenka...« Er packte ihren pelzvermummten Arm so heftig, daß Olga ein wenig von ihm abrückte. »Nicht!« flüsterte sie. »Die Leute könnten es sehen! Und jetzt muß ich überhaupt hinein, Simon. Tatjana und mir ist nämlich der Tee anvertraut. Sie bekommen blinis und Rosinenkuchen, ist das nicht eine wundervolle Zusammenstellung?« »Blinis zum Tee?« »Alexis bestellt sich bei besonderen Anlässen unweigerlich Pfannkuchen. Und ich möchte wetten, diese Jungen sind inzwischen so hungrig, daß jeder ein Dutzend davon essen könnte.« -359-
Nur einer der Kadetten schien keinen Appetit zu haben - der hoch aufgeschossene Junge, der Alexis' Schlitten gesteuert hatte. Er hatte auch jetzt noch ein auffallend gerötetes Gesicht, und seine Augen schienen ihn zu schmerzen, denn er blinzelte selbst in diesem weichen Kerzenlicht. Alexis saß neben ihm und drängte ihn, etwas zu essen. »Olga«, wandte er sich an seine Schwester, als sie ihnen Tee eingoß, »das ist mein Freund Peter Arkadejwitsch, und er sagt, daß er überhaupt keinen Hunger hat!« »Vielleicht mag er keine Blinis«, meinte Olga, während der hochgewachsene Kadett aufsprang. »Möchten Sie lieber eine Fleischpastete, Peter Arkadejwitsch? Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie nach diesem Nachmittag keinen Appetit haben!« »Ich bitte Eure Kaiserliche Hoheit, sich nicht zu bemühen«, sagte der Junge mit heiserer Stimme. »Ich esse Blinis sehr gern, und diese sind ausgezeichnet. Ich habe ganz einfach großen Durst...« »Dann trinken Sie erst einmal eine Tasse Tee, und wenn ich den anderen eingegossen habe, bringe ich Ihnen frischen.« Sie ging weiter, behielt die beiden aber im Auge, denn Alexis war offenkundig begeistert von seinem neuen Freund und schwatzte unaufhörlich auf ihn ein. Er sollte mehr so nette Jungen kennen wie diese, dachte sie, und als sie zu ihnen zurückkam, setzte sie sich zwischen Peter Arkadejwitsch und den Kadetten auf seiner anderen Seite und stellte ihnen ein paar freundliche Fragen über ihr Zuhause und ihre Familien. Peter Arkadejwitsch hatte vortreffliche Manieren. Er antwortete der Tochter seines Herrschers in klaren, knappen Sätzen, wie man es ihn auf der Militärschule lehrte, mußte sich allerdings mehr als einmal wegen seines Hustens entschuldigen, und schließlich sagte Olga mitfühlend: »Sie haben sich etwas erkältet, nicht wahr, Peter -360-
Arkadejwitsch?« »Es ist nicht schlimm, Eure Kaiserliche Hoheit.« »Ich werde ein Honiggetränk für Sie zubereiten lassen, das lindert den Hustenreiz sofort.« Alexis erzählte Olga später, Peter Arkadejwitsch (Sieger der Kadetten-Sportwettkämpfe des letzten Sommers) sei von ihr begeistert gewesen. Dann versicherte er ihr, er wünschte, alle Tage verliefen wie dieser, und ging glücklich zu Bett. Doch die folgenden Tage, so stellte seine Schwester Olga fest, glichen anderen, nur allzu bekannten. Der Zar befehdete die Duma noch immer und drohte damit, die Sitzungsperiode, die nach kurzen Winterferien wieder begonnen hatte, vorzeitig zu schließen, während Präsident Rodzianko seinerseits mehr als einmal warnend darauf hinwies, daß jeder Bericht, den er in Zarskoje Selo erstattete, der letzte sein könnte. Der ungewöhnlich strenge Winter behinderte den Bahntransport nach wie vor sehr stark, und es hingen bereits sechzigtausend Nachschubwaggons auf irgendwelchen Stationen fest; aber die Pläne für die nächste Offensive machten Fortschritte, und zwischen Petrograd und Mohilew war die Strecke frei. Der Zar bereitete seine Rückkehr ins Hauptquartier vor. Es war für seine ausweichende Handlungsweise bezeichnend, daß er - genauso, wie er im Sommer 1915 Dimitrij versicherte, seine Oberbefehlshaberpläne aufgegeben zu haben - jetzt Rodzianko versprach, an einem bestimmten Tag persönlich vor der Duma zu erscheinen, und damit die Hoffnung weckte, er werde in letzter Minute vielleicht doch noch einer konstitutionellen Regierung zustimmen... nur um dann am Vorabend seine Residenz zu verlassen und nach Mohilew zu fahren. Sein Abschied von der Familie ging kurz und hastig vonstatten. Die Zarin, die sich vor den Folgen dieser Trennung fürchtete, weinte, der zurückgelassene Alexis war kaum weniger bedrückt. -361-
»Aber nächstes Mal bringen Sie Veruschka mit, nicht wahr, Papa?« »Wer ist Veruschka - o ja, die Katze. Gut, ich werde es tun, wenn ich daran denke.« »Sie dürfen es einfach nicht vergessen.« Alexis küßte seinen Vater. Er fühlte sich noch nicht zu erwachsen für Küsse, obwohl er schon fast genauso groß war wie der Zar. »Bei mir verzichten Sie besser auf den Kuß, Papa, ich habe eine schreckliche Erkältung«, sagte Olga. »Das stimmt, mein armes Herz, und Tanja auch«, bestätigte ihr Vater zärtlich. »Ihr solltet heißes Zitronenwasser trinken und morgen gar nicht aufstehen.« »Das haben wir vor.« Sie hüteten noch immer das Bett und hatten hohes Fieber, als Simon Hendrikow zwei Abende danach in den Palast kam und wie gewohnt um die Ehre bat, von Großfürstin Olga empfangen zu werden. Er wartete in dem kleinen Salon und begann bereits etwas unruhig zu werden, als Marie erschien und ihn in ihrer offenen Art sogleich mit der Neuigkeit überfiel. »Es tut mir schrecklich leid, Simon Karlowitsch«, sagte sie und achtete kaum auf seine Verbeugung, »meine beiden Schwestern sind krank. Ich kann Olga nicht einmal ausrichten, daß Sie hier sind, denn Dr. Botkin und Mama sind gerade bei ihr.« »Krank? Guter Gott, Marie Nikolajewna, was ist los?« »Ich fürchte, Sie werden lachen, Simon - sie haben die Masern.« »Lachen? Ich lache keineswegs! Masern können für Erwachsene höchst unangenehm sein. Fühlt sie... fühlen sie sich sehr elend?« »Leider ja, und das schlimmste ist, daß Alexis sich auch -362-
angesteckt zu haben scheint.« »Das ist ja wirklich furchtbar.« Er betrachtete Maries blasses, erschöpftes Gesicht. »Hatten Sie denn nicht alle schon einmal die Masern?« fragte er ein wenig erbittert. »O nein, dafür waren wir viel zu gut behütet. Aber die Ärzte rechnen damit, daß es meinen Schwestern morgen bereits wesentlich besser geht; wenn Sie mir bei Ihrem nächsten Besuch ein paar Zeilen für Olga mitgeben möchten, werde ich dafür sorgen, daß sie sie bekommt.« »Sie sind sehr liebenswürdig, Maria Nikolajewna, doch das ist es gerade, was ich Ihrer Schwester sagen wollte: Ab morgen bin ich nicht mehr hier. Man hat mich nach Petrograd zurückbeordert.« »Von wem stammt dieser Befehl?« fragte sie sofort. »Von Großfürst Kyrill, dem Kommandeur der Leibgarde. Er verlangte, daß zwei Kompanien aus Zarskoje Selo abgestellt würden.« »Wegen der Tumulte in der Stadt?« »Ich fürchte, ja. Aber verschweigen Sie das Ihrer Schwester lieber wenigstens vorerst.« »Das werde ich tun, die Ärzte sagen sowieso, daß sich die beiden nicht aufregen sollen. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Simon Karlowitsch, und kommen Sie bald zurück!« Er küßte die Hand des Mädchens und hielt sie einen Augenblick fest. »Grüßen Sie sie von mir«, bat er. »Die arme Olga! Masern! Wie sie wohl daran gekommen sind?« »Das wissen wir ganz genau«, antwortete Marie Nikolajewna. »Einer der Kadetten, die mit Alexis spielten, ein Junge namens Peter Arkadejwitsch, hatte die Krankheit bereits, ohne es zu ahnen.«
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18 Es war März in der westlichen Welt - Februar nach dem russischen Kalender - als in Petrograd die langerwartete Revolution ausbrach. Die Unruhen, die am Tag vor Simon Hendrikows unfreiwilliger Rückkehr nach Petrograd begannen, hatten einen für Petrograder Verhältnisse normalen Lauf genommen. Aus den Streiks in den Rüstungsfabriken wurde ein Generalstreik, es verkehrten keine Straßenbahnen mehr, die Brücken wurden hochgezogen, und das Militär säuberte die Hauptverkehrsstraßen von Demonstranten. Joe Calvert, der aus der Botschaft kam, mied die Hauptstraßen, als er nach Hause ging, und gelangte durch die Grünanlagen zu seiner Wohnung, ohne einen einzigen Zwischenfall zu sehen. In der Italianskaja war alles normal, und Joe stutzte ein wenig, als die sonst gar nicht so diensteifrige Varvara die Wohnungstür öffnete, kaum daß er seinen Schlüssel in das Schloß gesteckt hatte. »Der Herr ist hier, barin«, verkündete sie mit einem zahnlosen Lächeln, und Joe grinste. Für Varvara war und blieb Captain Allen der Herr des Hauses. Bei seinem Eintritt erhob sich Dick etwas steif aus dem Korbsessel neben dem Ofen, und sein Freund schlug ihm auf den Rücken. »Na, woher kommst du denn diesmal, du alter Pferdedieb?« »Aus Murmansk, und dort habe ich meine Sünden abgebüßt. Ich begleitete nämlich unsere Delegierten, und es dauerte eine Ewigkeit, bis sie endlich an Bord des Minenräumbootes verfrachtet waren, das sie nach Aberdeen zurückbringt.« »Es sieht so aus«, sagt Joe. »Denn es ist ja schon eine ganze Weile her, daß sie von hier abgereist sind.« »Ihr Zug blieb in Kern wegen eines Maschinenschadens -364-
stecken dreihundert Meilen von seinem Ziel entfernt«, erklärte Dick. »Das ist so eine Situation, in der ein Dolmetscher Bedeutung erlangt. Ich selbst hing übrigens auf der Rückfahrt wieder in Kern fest. Was für eine Pleite! Für die alliierten Delegierten war das der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Man hatte ihnen weismachen wollen, es sei möglich, pro Tag mehr als dreitausend Tonnen Nachschubgut über die Tundra zu transportieren; jetzt haben sie selbst gesehen, daß es schon ein Problem ist, eine einzige hinüberzuschaffen.« »Trink erst einmal etwas«, schlug Joe vor. »Ich brauche Varvara gar nicht zu fragen, ob genug Essen für zwei Personen im Hause ist, für dich fördert sie immer noch irgendwelche eisernen Vorräte zutage. Dein Zimmer steht dir selbstverständlich zur Verfügung.« »Danke, Joe. Ich hole später meine Sachen aus der Botschaft ab... es ist nur für ein bis zwei Tage.« Eine ganze Weile starrte er stumm in sein Glas. Joe hatte ihn noch nie so erschöpft und deprimiert gesehen. »Was hört ihr aus Washington?« fragte Dick schließlich. »Nichts Besonderes.« »Hm.« Seine Gedanken schienen wieder zu seiner letzten Reise zurückzuwandern. »Sie haben viel zu viele deutsche Kriegsgefangene dabei eingesetzt«, sagte er, und Joe wußte sofort, daß er von der Murmansk-Bahn sprach. Kein Wunder, daß es auf der ganzen Strecke nicht eine einzige Brücke gibt, der man trauen kann. Wenn Nikolaus wüßte, was gut für ihn ist, dann würde er schleunigst dafür sorgen, daß sich Trepows Reparaturtrupps der Sache annehmen.« »Um Kriegsmaterial zu transportieren, braucht man Waggons!« »Ich dachte nicht an das Kriegsmaterial. Ich dachte an die persönliche Sicherheit der Romanows. Murmansk ist der einzige offene Hafen in ganz Nordrußland, und es könnte leicht sein, -365-
daß sie einmal auf diese Bahnstrecke angewiesen sind, wenn sie Hals über Kopf fort müssen.« »Meinst du, die Dinge stehen so schlecht?« »Natürlich, und du weißt es auch. Es gibt keinen Zweifel, Joe, die Revolution kommt.« »Und dann?« »Dann ist es, auch wenn Präsident Wilson morgen den Krieg erklärt, zu spät für ein paar sympathische Kinder draußen in Zarskoje Selo. Selbst wenn sie noch heute abend ihre Koffer packen und inkognito in die britische Botschaft kämen - durch Finnland könnten wir sie nicht mehr hinausschleusen. Es müßte über die Murmansk-Route geschehen, und ich sage dir, da bedarf es nur eines unfreiwilligen Aufenthalts, einer Stockung, und du kannst die Romanow-Familie auf die Verlustliste setzen.« »Wir wollen hoffen, daß die Dinge morgen nicht mehr ganz so finster aussehen.« Aber im Laufe des nächsten und übernächsten Tages bewahrheiteten sich schon die Hälfte von Captain Allens Prophezeiungen. Die Duma, die jetzt ununterbrochen beriet, wies einen kaiserlichen Ukas aus Mohilew zurück, der ihr befahl, ihre Sitzungen einzustellen, und forderte ihrerseits Nikolaus II. in einem Schreiben zum letzten Mal auf, eine Verfassung zu bewilligen. Die Feder Rodziankos fügte den Satz hinzu: »Morgen ist es vielleicht schon zu spät!« Und als der lethargische Kaiser endlich seine Zustimmung gab, war es zu spät. Die Truppen weigerten sich, weiterhin auf die Menschenansammlungen zu schießen. Sie warfen ihre Gewehre weg und umarmten die Arbeiter, die über die Barrikaden kletterten, die aus erbeuteten Fahrzeugen und entwurzelten Bäumen aufgerichtet worden waren. In einem feudalen Regiment erschoß ein Soldat einen Offizier und stachelte seine Kameraden zur Meuterei auf. Eines nach dem anderen lösten -366-
sich die vornehmsten Regimenter von Petrograd auf - das Transfigurationsregiment, in dem der Zar selbst Oberst war, das Wolinski- Régiment und all die anderen, die nur noch aus blutjungen Burschen und unzufriedenen Elementen aus den Ersatzdepots bestanden hatten, und gingen mit fliegenden Fahnen zur Duma über. Sie benutzten teils den großen Platz des Transfigurationsregiments als Sammelpunkt, doch viele strömten auch gleich in die Tauridengärten, die den ursprünglich für Prinz Potemkin, den Liebhaber Katharinas II., erbauten Palast umgaben. Die Amerikaner sahen die ungeordneten Haufen von den Fenstern der Botschaft aus die Furschtatskaja entlangziehen. Der Militärattaché identifizierte die Regimenter an ihren Emblemen, denn sie marschierten alle unter dem gleichen neuen Banner der roten Fahne. »Ich werde versuchen, in die Duma hineinzukommen«, sagte Joe Calvert und griff nach seiner Pelzmütze. »Wollen Sie den letzten Akt sehen?« »Oder das Vorspiel...« Während sich diese Ereignisse vorbereiteten, war in Zarskoje Selo noch alles friedlich. Die Krankheit der beiden älteren Mädchen und ihres Bruders hatte die Zarin aus ihrer schmerzlichen Erstarrung geweckt. Ihr stark ausgeprägter mütterlicher Instinkt lebte auf, als sie sah, daß sie von ihren Kindern gebraucht wurde, und obwohl sofort Krankenschwestern aus dem Lazarett herübergeschickt wurden, war es die Mutter, die die Mädchen behutsam wusch und die geringen Mengen kühlender Getränke zubereitete, die man Alexis gestattete. Sie legte die weiße Schwesterntracht an, die sie zu Beginn des Krieges getragen hatte, und hinkte vom großen Schlafraum ihrer Töchter in das kleine Zimmer ihres Sohnes, stützte Alexis, wenn ihn Brechreiz würgte, und horchte -367-
ängstlich auf jedes Husten - immer in der Furcht, irgendein kleines inneres Blutgefäß könnte platzen und die Katastrophe heraufbeschwören. Der Zar schrieb mitfühlende, aber ziemlich geistesabwesende Zeilen, in denen zu lesen stand, das beste sei, die »Kleinen« bekämen die Masern alle zusammen und hätten sie damit hinter sich. »Er würde anders denken, wenn er wüßte, wie krank unsere armen Schwestern sind«, sagte Anastasia zu Marie. »Dr. Botkin hat mir erklärt, daß es viel schlimmer ist, wenn man die Masern als Erwachsener bekommt.« »Wir sind auch schon fast erwachsen, du und ich... Laß uns beten, daß wir uns nicht anstecken!« In Maries Stimme schwang die ganze Angst mit, die sie erfüllte. »Außer uns ist ja niemand da!« Anastasia nickte; sie wußte genau, was ihre Schwester meinte. Es gab keinen Menschen, auf den sie sich in diesen Tagen hätten stützen können; ein Höfling nach dem anderen fand zwingende Gründe für eine Fahrt nach Petrograd, um sodann telefonisch zu bedauern, daß der Eisenbahnerstreik eine Rückkehr vorerst verhindere. Wohl verrichteten die zwei Hofdamen, die von den Mädchen »Nastinka« und »Isa« genannt wurden, ihren Dienst genauso zuverlässig wie immer, und das galt für die Vorleserin der Zarin, Mademoiselle Schneider, doch bei den verbliebenen Männern handelte es sich ausnahmslos um Greise, die völlig den Traditionen einer vergangenen Zeit verhaftet waren. Die Zarin schien von den Treuebrüchen nichts zu bemerken. Eine ihrer besten Freundinnen, Madame Dehn, ein einfältiges, gutmütiges Geschöpf, das Rasputin einmal auf einer Pilgerfahrt begleitet hatte, war aus Petrograd gekommen, uni sie zu besuchen, und mit Lili Dehn als Vertrauter schien sie niemanden sonst zu brauchen, nicht einmal Anja Wirubowa. »Man konnte es sich eigentlich von vornherein denken, daß die gräßliche Anja nicht ruhen würde, bis sie auch die Masern hätte!« erklärte Anastasia verachtungsvoll. -368-
»Vermutlich hält sie das für die überzeugendste Form der Schmeichelei. Du darfst ihr Schlafzimmer nie betreten, Stastia, vergiß das nicht!« »Das hat mir Mama schon ans Herz gelegt.« Die jüngste Großfürstin trug unzählige Botschaften von den Privatgemächern der Zarin zu Anja Wirubowas Krankenzimmer im Gästeflügel, wo Schwester Akulina als Pflegerin waltete. »Ich danke dir, Liebling«, wiederholte die Zarin täglich ein dutzendmal. »Was täte ich nur ohne dich?« »Aber wenn ich Mama über die Unruhen in der Stadt befrage, schickt sie mich fort und sagt, daß ich mich mit einem Geduldspiel beschäftigen soll«, klagte Anastasia. »Und dabei sitzt sie selber weinend herum und flüstert immerzu mit Lili und verbrennt Papas Briefe und ihre Tagebücher im Ofen des Boudoirs!« »Ich werde General Vojeikow holen lassen.« Und das tat Marie, sehr zum Erstaunen des Palastkommandanten, der an der derben, linkischen Großfürstin plötzlich die gleiche Würde entdeckte, die er von ihrem Großvater Alexander III. in Erinnerung hatte. Ja, er mußte Ihrer Kaiserlichen Hoheit zugestehe n, daß es ernste Ausschreitungen in Petrograd gegeben hatte, und gerade in diesem Augenblick wurden das Winterpalais und die Admiralität von treulosen Truppen angegriffen; aber zwei führende Duma-Mitglieder waren nach Mohilew gefahren, um sich mit Seiner Majestät zu beraten, und bald würde von General Alexejews Truppen Verstärkung nach der Hauptstadt unterwegs sein. »Ist es wahr, daß auch in der Marine Meutereien vorgekommen sind?« Nun ja, in Kronstadt hatte es Unruhen gegeben, doch auch dort war die Situation mittlerweile wieder völlig unter Kontrolle. »Und in Helsingfors?« forschte Marie beharrlich weiter. »Aus Finnland liegen keine neueren Berichte vor.« -369-
»Warum nicht?« »Madame, im Großfürstentum funktioniert das Telefonnetz nicht.« »Dann muß man es eben reparieren.« »Das wird zweifellos morgen geschehen, Hoheit.« Die Mädchen begaben sich nach oben, wo sie Monsieur Gilliard, der im Korridor auf und ab ging, mit der Nachricht empfing, die Ärzte hätten bei Alexis eine leichte Besserung festgestellt. Zu dritt blickten sie aus einem der großen Fenster über den verschneiten Park und sahen die Kosaken der Eskorte in regelmäßigen Abständen die nächstgelegene Allee entlangreiten. »Zehn Uhr, und alles in Ordnung!« sagte Monsieur Gilliard. »Gebe Gott, daß morgen früh gute Nachrichten aus Mohilew eintreffen.« »Und gebe Gott, daß es den Kranken bis dahin bessergeht«, fügte Anastasia in so ernstem Ton hinzu, daß Marie ihre Hand ergriff, als sie in ihrem Zimmer allein waren. »Fühlst du dich nicht wohl, Anastasia? Möchtest du, daß ich deine Temperatur messe?« »Sei nicht albern, du bist doch hier nicht im Lazarett! Ich habe gar nichts.« »Gut, aber ich finde, wir sollten mit Permanganat gurgeln und ein bißchen Chinin mit Wasser nehmen, bevor wir zu Bett gehen.« »Schützt uns das vor den Masern?« »Es ist das einzige, was mir einfällt. Und wir dürfen einfach jetzt nicht krank werden!« »Könnten wir nicht ebensogut ein wenig Tee trinken?« Ein verängstigtes Mädchen aus dem ehemaligen Kindertrakt brachte ihnen Tee und sagte, sie wisse nicht, was aus den Lakaien geworden sei. Die jungen Großfürstinnen tranken ihn -370-
im Bett, völlig mit der Sorge um ihre Gesundheit beschäftigt, die sie selbst im Schlaf noch gefangenhielt, denn beim Erwachen fragten sie fast gleichzeitig: »Wie fühlst du dich?« und lachten erleichtert, als sie feststellten, daß es ihnen ausgezeichnet ging. Doch als sie sich in ihren Morgenröcken vor dem Zimmer ihrer Schwestern einfanden, um ihnen von der Tür aus etwas zuzuflüstern, schüttelte die diensthabende Pflegerin den Kopf. Es waren Komplikationen hinzugekommen, die bei Erwachsenen oft auftraten. Die Krankheit hatte Olgas Augen und Tatjanas Ohren angegriffen. Es konnte gar kein Gedanke daran sein, auch nur einen Blick auf sie zu werfen. An diesem Montag hätte es bei etwas geschickterer Führung vielleicht noch ein wenig Hoffnung geben können. Aber als die erwartete Botschaft des Zaren aus Mohilew eintraf, stand lediglich darin, daß dem Aufruhr in der Hauptstadt unverzüglich ein Ende zu setzen sei, und diesen Befehl konnte niemand ausführen. General Chabalow hielt das Winterpalais zwar noch, doch da sich niemand um die Versorgung der loyalen Truppen gekümmert hatte, war es fraglich, ob ihre Loyalität sehr lange währen würde. Die erprobten Regimenter, die Alexejew zur Verstärkung der Garnison von Zarskoje Selo abkommandiert hatte, waren zweihundert Meilen von ihrem Ziel entfernt, denn die Revolutionäre hatten die Eisenbahnlinie unterbrochen und die Straßen verbarrikadiert. Was die Stammgarnison betraf, so schmolz sie zusehends zusammen. Man sah keine Kosaken mehr auf den Alleen: Die Eskorte, das Eisenbahnregiment, das Leibregiment, die Leibpolizei - sie alle waren zur siegreichen Duma nach Petrograd unterwegs. Rodzianko selbst rief die Zarin in einer letzten Geste an und sagte mit schroffem Bedauern zu ihr: »Wenn ein Haus brennt, ist es das beste, es zu verlassen. Packen Sie Ihre Koffer, Madame, und gehen Sie!« Im Arbeitszimmer des Präsidenten hielten sich so viele Leute auf, und draußen in den Gängen, wo sich viele hundert weitere drängten, herrschte ein derartiger Lärm, daß Rodzianko kaum -371-
verstehen konnte, was die Frau, deren Opponent er so lange gewesen war, erwiderte. Und doch nahm er die leisen, erregten Worte auf, und später fielen sie ihm wieder ein. »Meine Kinder sind schwer krank und nicht transportfähig. Ich werde meine Kinder nie verlassen!« Zu diesem Zeitpunkt tat die Marinegarde noch Dienst in Zarskoje Selo, denn Großfürst Kyrill hatte sich noch nicht für die Revolution entschieden. Als die Nachricht eintraf, daß eine riesige Meute Soldaten und Arbeiter aus Petrograd »die Deutsche« gefangennehmen wollten, wurden die Wachtposten vor den verschiedenen Eingängen verstärkt und ein paar leichte Geschütze in dem großen Hof aufgestellt. Sie kamen in Zügen, Lastwagen und gestohlenen Automobilen, viele betrunken, alle singend und schreiend, und wurden von der örtlichen Miliz willkommen geheißen und bewirtet. Am späten Abend beleuchteten lodernde Fackeln die prächtigen Gebäude des Zarendorfes, als der ununterbrochen weiterzechende Mob durch die Alleen torkelte. Das Kraftwerk wurde besetzt, die Stromzufuhr gesperrt. Im Palast fuhr kein Aufzug mehr, und es war nur den kräftigen Armen Madame Dehns und den aufmunternden Worten der kleinen Anastasia zu verdanken, daß die stark hinkende Zarin, die zudem vor Sorge um ihren Gatten einem Zusammenbruch nahe war, die Treppe zu den Räumen hinaufsteigen konnte, wo ihre kranken Kinder lagen. Doch die Leibgarde stand wie eine Mauer hinter den geschlossenen Toren, und die achtzehn Grad Kälte, die mit der Dunkelheit aufkamen, veranlaßten den Mob am Ende, den Rückzug anzutreten. Bald verhallten die Schreie und wurden in der Ferne von Gesängen abgelöst, während die Horden den Milizkasernen zustrebten. »Ich muß unbedingt hinausgehen und unseren tapferen Beschützern persönlich danken«, sagte Alexandra Feodorowna. »Ich begleite Sie, Mama«, erbot sich Marie. »Nein, du nicht, -372-
Stasia, du kommst mir irgendwie erkältet vor. Fühlst du dich gut?« »Sehr gut«, behauptete Anastasia und steckte hastig ihr Taschentuch weg. »Schön, bleib aber trotzdem hier drinnen bei Lili, wir brauchen nicht lange. Mama, könnten wir die Gardesoldaten nicht gruppenweise in die Halle kommen lassen und mit Tee versorgen?« »Ich weiß nicht, Maschka, wir haben das noch nie getan.« »Wir haben auch noch nie so eine Nacht wie diese erlebt«, entgegnete Marie, während sie sich ein Pelzcape um die Schultern warf. Draußen half sie ihrer Mutter die vereisten Stufen hinunter, und dann gingen sie zu den Männern, die auf ihren Posten fast zu Eis erstarrt waren und das Angebot sichtlich erstaunt, aber dankbar akzeptierten. In der Halle war Anastasia ganz in ihrem Element, während sie die Samoware überwachte und den spärlichen Bediensteten, die den hereinkommenden Männern Tee und Butterbrote reichten, Anweisungen erteilte. Auch Marie half, nachdem sie die erschöpfte Zarin zu ihren Hofdamen und Lili zurückgebracht hatte. Unermüdlich lief sie hin und her und übernahm es sogar, bei Bedarf selbst nach draußen zu eilen und die nächste Gruppe Soldaten hereinzubitten, obgleich ihr Rücken zu schmerzen begann und ihr Gesicht und ihre Hände trotz der Kälte glühten. Sie hatte das Gefühl, ihre Pelzmütze drückte auf die Stirn, doch jedesmal, wenn sie sie etwas höher schieben wollte, merkte sie, daß sie gar keine trug. Dennoch fand sie für der Männer, die verlegen in den Zarenpalast eintraten, ein freundliches Wort. Erst um Mitternacht breitete sich Ruhe aus, als die Hälfte der Gardesoldaten abgezogen und der Wachdienst der restlichen so geregelt wurde, daß alle zwei Stund en eine Ablösung stattfand. Die Dienerschaft hatte sich, ohne um Erlaubnis zu bitten, -373-
schlafen gelegt, so daß die beiden Mädchen allein zurückblieben. Sie betrachteten einander prüfend: Beide hatten sie ein hochrotes Gesicht, und immer wieder überliefen sie Frostschauer, obwohl es sehr warm in der Halle war. Nach einer Weile fragte Marie zögernd: »Wie fühlst du dich denn jetzt?« »Einfach miserabel.« »Ich auch.« Die Bewachung des Alexanderpalastes in jener Winternacht war einer der letzten Versuche, die russische Monarchie zu verteidigen. Als Marie und Anastasia am nächsten Morgen mit Masern erwachten, hatte ihr Vetter, Großfürst Kyrill, bereits die Reste der kaiserlichen Garde in die Kasernen am Moikakanal zurückbeordert, von wo aus er sie dann zur Duma führte. Andere waren ihnen dorthin vorausgeeilt: Fast das gesamte Kabinett und eine ganze Anzahl weiterer führender Persönlichkeiten des zaristischen Regimes hatten während der bewegten Nacht von Montag auf Dienstag im Taundenpalast Schutz vor den Revolutionären gesucht. Als letzter fand sich Protopopow ein, in Verkleidung, winselnd, kriecherisch. Man erklärte ihm und seinen Kollegen, daß die Reichsduma kein Blut vergießen werde, sie dies aber nicht vor der Verhaftung bewahre. Sie wurden in der Peter-Pauls-Festung gefangengesetzt. Am nächsten Morgen fand Joe Calvert die Zuhörertribünen der Duma, auf denen er vordem immer einen Platz gefunden hatte, voll besetzt. Allein unter dem Publikum schienen zwanzig verschiedene Versammlungen stattzufinden und ebenso viele in jedem Korridor. Jedermann hatte das Bedürfnis, lang aufgestaute Argumente auszusprechen: sowohl die Abgeordneten als auch die Offiziere der übergetretenen Regimenter und ganz besonders die Männer, die, eine rote -374-
Fahne schwenkend, in das Gebäude stürmten und die Marseillaise sangen. Während Joe im Katharinensaal dem Gedränge preisgegeben war, vollzog sich der Untergang der bisherigen Duma-Elite, jener Männer vom Schlage Rodziankos, die jahrelang gegen die verstockte Apathie des Zaren angekämpft hatten. Ungeachtet ihrer nominellen Funktionen wurden sie von Alexander Kerenski, dem brillanten Anführer der Sozialrevolutionäre, völlig beiseite geschoben. Kerenski hielt die Rostra an jenem Tag stundenlang besetzt. Schlank, blond und erst sechsunddreißig Jahre alt, überschüttete er die Menge förmlich mit seiner Eloquenz. Die wohlklingende Stimme, die er als Verteidiger in den großen ArbeiterparteiProzessen so wirkungsvoll zu nutzen verstanden hatte, wurde heiser, aber die Worte fehlten ihm nie. Ganz allein stemmte er sich der Welle des Hasses entgegen, die in den Saal flutete, als bewaffnete Soldaten, Arbeiter und Studenten hereinströmten, denen es mehr um die Anarchie als um eine neue Regierungsform ging. Die einzige Konzession, die er ihnen sehr schnell und bereitwillig machte, war, daß er den Sitzungsraum des Finanzausschusses für ihre Anführer öffnen ließ, die sich nach Trotzkis Vorbild von 1905 zu einem Sowjet der Soldatenund Arbeiterräte konstituiert hatten. In der wild durcheinanderquirlenden Menge, die auf diese Ankündigung hin in Bewegung geriet, hatte Joe plötzlich Mara Trenowa neben sich, die mit ihrer Pelzmütze, dem Kostüm mit dem abgenutzten Ledergürtel und den hohen Stiefeln einem Soldatenrat nicht unähnlich war. »Hallo, Mara Trenowa!« brachte er ein wenig atemlos hervor. »Wollen sie zusehen, wie der rote Tag heraufdämmert?« »Endlich ist er angebrochen... dank - dank einer Handvoll tapferer Männer«, sagte sie. »Jetzt beginnt die eigentliche Arbeit. Guschkow und Schulgin sind ins Hauptquartier gefahren, um Nikolaus Romanow zur Abdankung zu überreden; das ist unser Ausgangspunkt. Alle Macht dem Volk!« -375-
»Klingt großartig«, meinte Joe. Er zog sie in eine Ecke des Saales, wo zusammengestellte Gewehre und übereinandergehäufte Uniformmäntel einen gewissen Schutz gegen die wogende Masse boten. »Nur scheint man etwas ganz anderes zu schreien: ›Alle Macht dem Sowjet‹« »Das ist das gleiche«, versicherte sie ihm. »Kerenski hat den Sowjet von Petrograd selbst mitbegründet.« »Und was halten Sie von ihm?« Joe war groß genug, um Kerenskis blonden Kopf über der Rednertribüne zu sehen. Die schmächtige Gestalt war verdeckt. Doch Mara hatte die ruckartige Bewegung seines Kinns richtig gedeutet. »Kerenski? Ich bin ihm während meiner Schulzeit oft bei den Hendrikows begegnet.« »Ja, ich weiß, ich selbst habe ihn auch dort kennengelernt. Aber was halten Sie jetzt von ihm?« »Er redet zuviel vom Krieg. Er darf nicht vergessen, daß die Arbeiter nach Brot, Frieden und Freiheit verlangen! Sie wollen eine Regierung, die mit Deutschland Frieden schließt, und das muß Kerenski klargemacht werden!« »Nach dem, was ich ihn heute sagen hörte, darf man erwarten, daß die neue Regierung den Kampf an der Seite der Alliierten weiterführt.« »Unsere Alliierten haben selbst große Opfer gebracht«, entgegnete Mara. »Sie werden unseren Standpunkt besser begreifen als die Neutralen.« Joe biß sich auf die Unterlippe. Es war die altbekannte Abfuhr, mit der die Russen jedes Streitgespräch über den Krieg zu ihren Gunsten entschieden: Amerika war neutral, ein Amerikaner konnte die Dinge einfach nicht verstehen. Ehe ihm eine passende Antwort einfiel, schob ein junger Mann mit einem schwarzen Bart und einer Brille den Stapel Mäntel und die Gewehre beiseite und packte Maras Arm. Ohne Joe noch einen Blick oder ein Wort zu gönnen, drängte sie Arm in Arm mit dem -376-
Bärtigen und einem zweiten Mann, der ebenfalls Georgier zu sein schien, aus dem Tauridenpalast hinaus. Eine Stunde später tat Joe es ihnen nach. Hinter dem Palast, in den Gärten, die einst für ihre Rodelbahnen berühmt waren, hatten Hunderte von Männern, die keine Hoffnung sahen, in das Gebäude hineinzugelangen, eine Art Biwak im Schnee aufgeschlagen und sogar einige Feldküchen aufgestellt, die etwas Eßbares ausgaben. Das letzte Gerücht, das Joe dort hörte - von einem Soldaten, der darauf bestand, ihn zu küssen und einen kleinen Bärentanz im Schnee zu vollführen -, war, daß Nikolaus II. abgedankt habe. Doch es traf nicht zu; die Monarchie hielt sich noch einen Tag länger, währenddem der Sowjet und die Duma einen Kompromiß für die Schaffung einer provisorischen Regierung ausarbeiteten. Dann unterzeichnete der Zar die Abdankungsurkunde - genau elf Tage nach seiner Rückkehr ins Hauptquartier - und wurde unter strenger Bewachung in den Palast von Zarskoje Selo gebracht, der seiner Gemahlin bereits als Gefängnis diente. Zehn Tage nach der Abdankung des Zaren schien der russische Winter vorüber zu sein - wiewohl manchmal gegen Ende März noch ein schwerer Schneesturm kam. Eine launenhafte Sonne bot einen ersten Vorgeschmack des Frühlings, als Joe Calvert die Vierte Straße entlangging, um den Hendrikows einen Besuch zu machen. Die Lindenbäume waren noch in Eis gehüllt, aber der Schnee begann bereits von den Dächern zu rutschen, und in den kleinen Vorgärten zeigten sich hin und wieder Flecken schwarzer Erde. Madame Hendrikowa öffnete ihm selbst die Tür. »Willkommen, lieber Freund!« sagte sie. »Wie lange Sie nicht mehr hiergewesen sind! Was für unglaubliche Veränderungen wir erlebt haben!« -377-
»Ja, es scheint eine Ewigkeit vergangen zu sein«, bestätigte Joe, während er seinen Mantel und seine Mütze aufhängte. Er hatte seinen Russischunterricht vor fast sechs Monaten abgeschlossen und Madame Hendrikowa seither nicht mehr gesehen. Ihr Haar war inzwischen völlig ergraut, aber sie stand so gerade wie eh und je vor ihm. An die Brusttasche ihrer buntkarierten, adretten Seidenbluse war ein Füllfederhalter geklemmt, und sie trug jetzt eine Armbanduhr statt des silbernen alten Erbstücks, das sie früher säumigen Schülern vorzuweisen pflegte. »Ich rief im Lazarett an«, sagte er, »und als ich hörte, daß Dolly heute frei hatte, dachte ich...« »Sie sind uns immer ein willkommener Gast, und Dolly wird sich freuen, Sie zu sehen. Sie hat noch einen anderen Besucher jemand, den Sie kennen...» Es war Captain Richard Allen. Er saß an einem bereits für den Tee gedeckten Tisch zwischen Dolly und ihrem Vater und schien in dem altvertrauten Wohnzimmer ganz zu Hause zu sein. Seine Anwesenheit und Dollys Erröten verwirrten Joe derartig, daß ihm, nachdem er den Professor und seine Tochter begrüßt hatte, für Dick nichts Besseres einfiel als: »Ich hatte keine Ahnung, daß du wieder in Petrograd bist.« »Ich war viel unterwegs. Alles in Ordnung in der Italianskaja?« »Bis jetzt hat es keine Schäden gegeben.« Dann brachte das Dienstmädchen den Samowar herein, dessen Bedienung Dolly übernahm, und Joe nutzte die Gelegenheit, um ihrer Mutter zuzumurmeln: »Ich mache mir Gedanken um Ihren Sohn, Madame. Dolly sagte, daß er Sie vor einer Woche angerufen hat?« »Seither haben wir nichts mehr von ihm gehört, aber Sie wissen ja, was mit dem Telefonnetz los war.« »Ist er noch in den Kasernen an der Moika?« »Soweit uns bekannt ist...« Ein Seitenblick auf Professor -378-
Hendrikow begleitete ihre Worte, und Joe, der den Wink verstand, wandte sich an Simons Vater. »Dolly hat mir erzählt, daß Sie eine sehr bedeutende Rolle bei Großfürst Michaels Abdankung gespielt haben.« »Oh, so würde ich es nicht ausdrücken, mein lieber Junge«, antwortete der Professor, dessen Gesicht sich sofort aufhellte. »Ich habe lediglich ein paar Dinge dazu beschafft, die sich - laut Dolly - meiner besonderen Wertschätzung erfreuen, nämlich Federn, Tinte und Papier.« »Ich bin mir nicht ganz klar, wie sich die Sache eigentlich zugetragen hat.« »Ich glaube, der Groß... hm... Michael Alexandrowitsch ist sich darüber selbst nicht ganz klar. Es kam natürlich sehr überraschend für ihn.« »Weil er sicher angenommen hatte, daß im Fall einer Abdankung seines Bruders der Zarewitsch auf den Thron kommen würde.« »Das nahm jedermann an. Doch da war dieses Problem mit der Gesundheit des Knaben, und der Vater konnte den Gedanken einer eventuellen Trennung von Alexis nicht ertragen, und so bestimmte er den Bruder zum Nachfolger.« Der Professor hustete. »Aber es dachte doch wohl niemand im Ernst daran, daß Michael die Krone tragen könnte?« »Er am allerwenigsten! Glücklicherweise hielt er sich gerade in Petrograd auf und war sofort bereit, die Abdankungsurkunde zu unterzeichnen. Als Michael dann unterschrieben hatte, kam es uns plötzlich zu Bewußtsein, daß dies das Ende der Romanow-Dynastie war und es in unserer neuen Welt keinen Platz mehr gab für irgendwelche Anwärter auf einen umgestürzten Thron. In fünf Minuten hatten wir die ganze Sache -379-
hinter uns, und Kerenski war außerordentlich bewegt. Er schüttelte dem armen Michael teilnehmend die Hand und sagte: ›Monseigneur, Sie sind einer der nobelsten Männer, die es gibt!‹, und wir applaudierten alle. Noch ein Triumph für Alexander Kerenski.« »Und für Sie, mein ehrenwerter Vater«, ergänzte eine neue Stimme. »Simon!« rief Madame Hendrikowa. Vielleicht war er sehr leise eingetreten, vielleicht hatte sie auch Professor Hendrikows Bericht völlig gefesselt - auf jeden Fall war Simon Hendrikow unbemerkt gekommen und stand nun in der offenen Tür, die Schulter gegen den Türpfosten gelehnt. Er trug seine Uniform, aber die Uniform sah aus, als hätte er tagelang darin geschlafen, und die Pelzmütze in seiner Hand schien in der Gosse gelegen zu haben. Vier der Anwesenden nahmen an, daß er getrunken hatte. Richard Allen hingegen sah in Simon Hendrikow einen Verwundeten, der an der inneren Blutung einer verlorenen Sache litt. »Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe«, sagte Simon sarkastisch. »Ich wollte Vaters Schadenfreude über den Sturz der Romanows keineswegs unterbrechen... oder ist es der Triumph seines kleinen Genies Alexander Kerenski, was ihn so glücklich macht? Wirklich, ich bedauere, daß ich mitten in diese Unterhaltung hineingeplatzt bin und Sie durch meinen Anblick daran erinnere, daß es Männer gibt, die ihren Treueeid auf Seine Majestät noch nicht vergessen haben...» »Mein lieber Junge, übertreib nicht«, bat seine Mutter, die sich inzwischen von ihrer Überraschung erholt hatte. »Wir freuen uns, dich zu sehen. Wir alle haben uns Sorgen um dich gemacht...« »Das konnten Sie sich sparen«, unterbrach sie ihr Sohn. »Ich sagte Ihnen doch, als man mich das Telefon benutzen ließ - pro Mann ein Anruf -, daß ich ganz in der Nähe sei. Als politisch -380-
Verdächtige, wie man uns jetzt nennt, durften wir die Kaserne bisher nicht verlassen - ich und zwanzig andere, die genug Verstand besaßen, um zu sehen, was unser Kommandeur, Kyrill Wladimirowitsch, vorhatte. O ja, mir kamen sofort dunkle Vermutungen, als er einen Teil der Garde aus Zarskoje Selo abzog! Er wollte uns in den Kasernen an der Moika hinter Schloß und Riegel haben, falls wir uns weigern sollten, ihn auf seinem großen Marsch zum Tauridenpalast zu begleiten. Unter der roten Fahne! Nun, diese Schmach ist mir erspart geblieben...« »Simon, hör doch auf«, flehte Dolly. »Du bist total erschöpft, du bist gar nicht du selbst. Trink eine Tasse Tee...« »Du irrst dich gewaltig, meine liebe Schwester«, entgegnete er. »Ich war nie mehr ich selbst als in diesem Moment. Und ich will keinen Tee. Tee, immer wieder Tee! Das russische Allheilmittel! Danke, ich habe unterwegs genug Wodka getrunken, um die Standart flottzumachen.« »Während du vom Moikakanal hierhergingst?« »Wer sagte denn etwas vom Moikakanal? Ich war in der Glinka-Straße. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, ob es stimmte, was man sich erzählte - daß über Kyrill Wladimirowitschs Haus die rote Fahne flattert. Es stimmte. Dieser elende Schweinehund! Er hat seinen Eid gebrochen und Schande über die ganze Leibgarde gebracht, als er sie zur Duma führte, um...« »Beruhigen Sie sich, Simon«, sagte Joe. »Oh, Sie sind auch da?« Simon schien Joes Anwesenheit erst in diesem Moment zu bemerken. »Und Captain Allen ebenfalls; das trifft sich gut. Ich habe ihnen damals, als Dolly und Joe sie in der Jamskaja abholten, eine Gefälligkeit erwiesen. Jetzt ist es an Ihnen, etwas für mich zu tun.« »Wenn ich es kann, gern«, erklärte Dick. Er machte den -381-
Eindruck, als sei er als einziger fähig, Simon ohne Bestürzung oder Verlegenheit zuzuhören: Seine blassen Augen zeigten nur ein abschätzend es Interesse. »Sagen Sie mir nur eines: Haben Sie sich ohne Genehmigung aus den Kasernen entfernt?« »Ich verfüge über vierundzwanzig Stunden Urlaub.« »Wovon Sie bereits einige in der Glinka-Straße und im Tauridenpalast vergeudet haben. Was möchten Sie nun von mir?« »Es ist eigentlich etwas, was nur mein Vater tun kann, nicht Sie«, antwortete Simon mürrisch. »Vater, ich will, daß Sie zu Kerenski gehen und dafür sorgen, daß ich in ein Linienregiment versetzt werde... in irgendein Regiment, das an der Front steht. An der Weichsel, am Stohod, ganz gleich, wo. Kerenski möchte den Krieg gegen die Deutschen weiterführen. Ich auch. Ich werde den Eid nicht brechen, den ich auf den Zaren geleistet habe.« Dick warf dem fassungslosen alten Professor einen warnenden Blick zu und erwiderte: »Das läßt sich bestimmt regeln, vielleicht morgen früh... Erst sollten Sie einmal ein Bad nehmen und etwas essen und sich richtig ausschlafen.« »Ah!« sagte Simon mit jenem überfeinen Gespür, das Angetrunkene manchmal entwickeln. »Ich weiß, was Sie erreichen wollen. Sie möchten mich ins Bett scheuchen, bevor ich Schande über meinen lieben Papa bringen kann, den bedeutenden liberalen Historiker, den Paten der russischen Revolution. Aber da spiele ich nicht mit, Sie können den Gedanken gleich aufgeben. Ich brauche meine vierundzwanzig Stunden für mich... nein, es bleiben keine vierundzwanzig mehr, zwölf also... denn vorher will ich nach Zarskoje Selo und mein Mädchen sehen.« »Was für ein Mädchen?« fragte seine Mutter. Jetzt wurde Captain Allens Stimme plötzlich scharf. »Das wäre der helle Irrsinn!« fuhr er ihn an. »Wenn Sie sich in Ihrer -382-
augenblicklichen Verfassung dort zeigen, haben Sie sofort eine Kugel im Kopf.« »Woher wissen Sie das?« »Ich war heute morgen selbst draußen«, antwortete Dick. »Mit einem Geleitbrief ausgerüstet - als Sonderkurier der britischen Botschaft.« »Haben Sie jemanden gesehen?« fragte Simon stockend. »Nein. Ich hatte eine Unterredung mit dem neuen Kommandanten, Korowitschenko, das war alles. Ihre Majestäten werden vorerst als politische Häftlinge betrachtet, und die jungen Leute erholen sich in ihren Schlafräumen von ihrer Krankheit.« »Aber sie gelten nicht als Gefangene?« »Offiziell nicht. Die beiden älteren Mädchen sind schon fast wiederhergestellt, wie ich hörte. Alexis geht es besser, und Anastasia war von Anfang an ein leichter Fall; nur Großfürstin Marie schwebt leider noch immer zwischen Leben und Tod.« Dick machte eine Pause. »Wenn das nicht gewesen wäre, hätten sie höchstwahrscheinlich doch in letzter Minute einen Fluchtversuch gemacht.« »Mich interessiert nur eines«, sagte Simon Hendrikow, »besteht eine Aussicht, daß man sie mit vertrauenswürdiger Begleitung in den Süden reisen und ungestört in Livadia leben läßt?« »Diese Lösung wäre allzu bequem«, antwortete Dick mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. »Selbst Kerenski könnte das nicht erreichen. Was unser Botschafter zu arrangieren versucht, ist, daß man ihnen freies Geleit nach England zusichert, sobald die Kinder reisefähig sind. König Georg nimmt sie gerne bei sich auf, und die Deutschen werden ihnen eine Art laissezpasser geben.« »England!« sagte Simon mit einem Laut, der einem -383-
Schluchzen erschreckend ähnelte. Dolly legte ihre Hand auf seinen gesenkten Kopf. »Lieber«, flüsterte sie, »wenn es für sie das beste wäre, mußt du versuchen, dich damit abzufinden.«
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19 Olgas Genesungsprozeß war ein Auftauchen aus einer Phantasiewelt. Sie hatte während der schlimmsten Tage ihrer Krankheit Alpträume gehabt, in denen man ihr sagte, daß ihr Vater nicht mehr Zar sei, ihre Mutter unter Arrest stehe und sich der kaiserliche Palast auch für sie selbst und ihre Geschwister in ein Gefängnis verwandelt habe, und manchmal raunte ihr wiedererwachendes Bewußtsein ihr zu, die bösen Träume seien wahr. Als sie bei klarem Verstand von ihrer Mutter noch einmal erfuhr, was sie im Dämmer ihres Alptraums nur halb aufgenommen hatte - daß ihr Vater abgedankt habe und nach Zarskoje Selo unterwegs sei, wartete Olga, bis sie Gelegenheit fand, einen der Ärzte um ein Stück Papier zu bitten, und schr ieb dann die drei gewichtigen Worte Vater hat abgedankt für Tanja nieder, deren Gesicht, als sie diese Botschaft las, zu einer bestürzenden Miene erstarrte. Nachdem die Wahrheit einmal ausgesprochen war, hatten die Alpträume ein Ende. Olgas letzter Widerstand gegen die Wirklichkeit war, daß sie hinter dem schlechten Zustand ihrer Augen Schutz suchte. Zuerst durfte sie nicht lesen, und ihre entzündeten Augenlider wurden mit Bandagen umwickelt, die mit einer schmerzlindernden Flüssigkeit getränkt waren. Als die Bandagen schließlich abgenommen wurden, bat sie um einen grünen Schutzschirm. Sie trug ihn stets, wenn ihr Vater kam, um sich für eine Weile zu ihnen zu setzen: Es war zu schmerzlich, sein verstörtes Gesicht zu betrachten. Doch dann kam ein Frühlingstag, an dem Olgas Sinn für Humor wiederkehrte; sie scherzte mit Tatjana und freute sich, ihre Schwester lachen zu hören. Zehn Minuten später war der grüne Schirm weggeworfen, und Olga musterte sich kritisch im Spiegel. Ihr Haar hatte seinen Glanz eingebüßt und ihr Gesicht -385-
alle Farbe verloren, aber sie spürte, daß sie mit jedem Atemzug kräftiger wurde, und als Tatjana einschlummerte, wagte sie sich zum erstenmal aus ihrem Zimmer, um die Welt in Augenschein zu nehmen. Zunächst nahm sie nur eine Veränderung wahr - daß keine Kosaken im Korridor standen. Alexis hatte es sich mit seinem Spaniel auf einer gepolsterten Fensterbank bequem gemacht, und beide bereiteten ihr einen stürmischen Empfang. »Du hast keine Ahnung, wie froh ich bin, dich zu sehen, Olga«, versicherte Alexis. »Du bist der einzige Mensch hier, der mir vernünftige Antworten gibt.« »Das ist eine sehr ernste Behauptung.« »Es ist wahr! Sogar Zilchik, von dem ich früher alles erfahren konnte, sagt jetzt jedesmal, wenn ich etwas Wichtiges von ihm wissen will, ich solle nicht so neugierig sein und auf keinen Fall Mama und Papa belästigen. Ich will sie ja gar nicht belästigen. Aber wenn ich mit Mama reden möchte, weint sie nur, und Papa vergleicht sich immer mit Hiob. Dabei interessiert mich lediglich, wer der nächste Zar von Rußland sein wird.« »Der nächste Zar?« Das Gesicht des Jungen rötete sich. »Nun, es muß doch einen Zaren geben, nicht wahr? Papa hat mir erklärt, er sei zu müde, um weiterzuregieren, und Onkel Mischa sei auch müde, und an mich scheint niemand gedacht zu haben!« »Vielleicht fanden sie dich zu jung, Alexis.« »Trotzdem hätten sie mich wenigstens fragen können.« Er trat gegen das Holz der Fensterbank. »Aber jetzt sagte Monsieur Kerenski, daß bald eine Wahl stattfinden wird, also habe ich vielleicht doch noch eine Chance, oder?« »Sie haben bestimmt nicht vor, einen Zaren zu wählen. Ich glaube, wir müssen uns damit abfinden, daß das Volk der Romanows überdrüssig ist...« -386-
»Aber warum? Was haben wir denn getan, was so falsch gewesen wäre? Du und unsere Schwestern und ich?« Eigentlich hätte Olga sagen müssen: »Wir sind als Kinder der falschen Eltern zur falschen Zeit auf die Welt gekommen.« Doch sie gebrauchte Ausflüchte, wie jedermann, und erwiderte: »Das russische Volk ist vor allem kriegsmüde. Vielleicht besinnt es sich wieder anders, wenn der Frieden kommt.« »Bis dahin leben wir in England...« »Ich bin überzeugt, daß wir nicht unser ganzes Leben in England zubringen werden. Wir machen vorerst lediglich einen ausgedehnten Besuch.« »Das ist gut. Nur fahren wir leider nicht mit der Standart.« »Die Standart gehört uns nicht mehr.« »Das sagte mir Mama. Es klingt unglaublich - ganz unglaublich«, fand der Junge. »Ich kann es nicht fassen, daß ich meine Freunde an Bord nie mehr Wiedersehen soll, und auch meine Regimenter nicht...« Seine Lippen zuckten vor Erregung. »Komm, Alexis«, ermunterte ihn seine Schwester. »Wir wollen nicht hier herumsitzen und ein Gesicht ziehen und uns selber leid tun. Weißt du, daß ich seit Wochen nicht an der frischen Luft war? Wir werden jetzt einen Spaziergang im Park machen...« »Wenn sie uns lassen«, bemerkte Alexis zweifelnd. »Warum sollten sie uns nicht lassen?« In der Halle unten war alles still, als Bruder und Schwester bei der großen Treppe anlangten. Der Spaniel, der einen Spaziergang witterte, lief bellend die mit rotem Teppich bedeckten Stufen hinunter. »Zurück, ihr Romanow-Gesinde!! Schert euch in euer Quartier zurück!« Ein Soldat in einer schmutzigen Uniform und zerrissenen Filzstiefeln war aus einem der Nebenräume gekommen, in -387-
denen früher die Kosaken der Eskorte ihren Dienst abgewartet hatten. Sein Gewehr baumelte am Schulterriemen in seiner Hand. Der Spaniel rannte schwanzwedelnd auf ihn zu. »Joy! Joy!« Der ängstliche Ruf seines Herrn veranlaßte das Tier stehenzubleiben. Der Soldat hob sein Gewehr. »Nein!« schrie Olga, und »Nein, Genosse, nein!« rief Monsieur Gilliard, der gerade noch rechtzeitig erschienen war, um ungeachtet der Waffe die Treppe hinunterzulaufen und in so schlechtem Russisch alle möglichen Vorhaltungen herauszusprudeln, daß selbst der Soldat grinste, bevor er in gespieltem Zorn mit dem Fuß aufstampfte und sie mit dem Gewehr nach oben scheuchte. Keiner von ihnen sprach, bis die Tür des Unterrichtsraums hinter ihnen geschlossen war. Dann konnte der Hauslehrer seinem Schüler trotz der ungeheuren Erleichterung Vorwürfe nicht ersparen. »Ich habe Ihnen doch schon so oft gesagt, Alexis, daß Sie Joy oder Jimmy niemals ohne ihre Leinen hinauslassen sollen!« »Ich hatte es vergessen.« »Dieser Rohling hätte den Hund töten können«, sagte Olga zitternd. »Und wir taten überhaupt nichts Unrechtes! Wir wollten nur einen kleinen Spaziergang machen.« »Ich kenne diesen Burschen. Er gehört zu den Sowjetsoldaten, die uns nicht die geringste Vergünstigung gönnen«, erklärte Monsieur Gilhard. »Und - meine liebe Olga Nikolajewna - wir gehen nur spazieren, wenn sie es erlauben, und unter Bewachung. Bis man Ihren Majestäten und Ihnen allen die Ausreise nach England gestattet, dürfen wir nie vergessen, daß wir Gefangene sind.« Sie hätten ihre Lage weniger sonderbar gefunden, so sagten die Mädchen in ihrer Unschuld manchmal - als Marie völlig genesen war und Tatjana ihr Gehör weitgehend wiedererlangt hatte -, wenn man sie in die Stadt gebracht und in der Peter-388-
Pauls-Festung bei Brot und Wasser eingekerkert hätte, statt ihnen eine Welt zu präsentieren, die halb Familienleben, halb Haft war. Sie waren keine Gefangenen; dies versicherte ihnen Monsieur Kerenski mehrmals bei einem der kurzen Besuche, die er dem ehemaligen Kaiser und seiner Familie abstattete. Die jungen Damen befanden sich lediglich in Schutzhaft und würden keinerlei Verhöre über sich ergehen lassen müssen, sagte er ritterlich, wenn er auch gleichzeitig verfügte, daß der Zar von der Zarin getrennt leben müsse, bis überprüft war, ob sie verräterische Beziehungen zum Feind unterhalten hatte. Das Ehepaar erhielt die Erlaubnis, die Mahlzeiten im Beisein der Wachen gemeinsam einzunehmen, vorausgesetzt, daß sie nur russisch sprachen, was trotz allen Unterrichts niemals Alexandra Feodorownas starke Seite gewesen war. Die Zarin zeigte sich unerwartet fügsam. Sie war durch die Festnahme von Madame Dehn und Madame Wirubowa alarmiert worden, wenngleich man die erstere nach kurzer Haft wieder freigelassen hatte. Anja wurde in der Peter-Pauls-Festung gefangengehalten - eine Warnung für andere, daß die provisorische Regierung die Freunde Rasputins im Auge behielt. Nach und nach paßten sie sich der neuen Lebensweise an. Sie hatten immer noch Bedienstete zu ihrer Verfügung, und ihr Essen war nicht schlechter als Alexandras eigene Menüs, aber es fehlte ihnen an Freunden, denn der glänzende Hof, den die Zarin so beflissen ignoriert hatte, war beim ersten Hauch der Revolution verschwunden. Zwei sehr alte Männer, zwei ausländische Hauslehrer und vier treue Hofdamen vervollständigten den kleinen Kreis, der im Park spazierenging, Holz sägte, und, als die Tage länger wurden, Küchenkräuter säte, vor den Augen der sowjetischen Soldaten und irgendwelcher Neugierigen, die sich die Zugreise von Petrograd leisten konnten und die Romanows durch die Parkumzäunung hindurch betrachteten wie wilde Tiere in einem Zoo. »Ich verstehe nicht, wie Papa so etwas tun kann«, bekannte -389-
Olga. »Zuerst den Schnee wegscharren und dann einen Küchengarten anlegen, während alles starrt und spottet und diese Rohlinge in Uniform versuchen, ihn mit den Gartengeräten zu Fall zu bringen oder ihn anbrüllen, wenn er sich nur zehn Schritt weit von der Brücke entfernt! Warum kann er nicht in der Bibliothek bleiben und sich mit seiner Briefmarkensammlung beschäftigen!« »Du weißt doch, er braucht viel Bewegung«, sagte Tatjana. »Dieses Gefühl des Eingesperrtseins ist für ihn schrecklich.« »Und für uns nicht?« Olga sehnte sich nach der Freiheit des Parks und dem Flieder an der Mauer der Znameniakirche, der schon Knospen trieb; trotzdem verbrachte sie den größten Teil der Zeit, die man ihnen für den Aufenthalt im Freien zubilligte, im Palast, um den höhnischen Blicken zu entgehen. Einmal, an einem Sonntag, begleitete sie ihre Eltern zu der alten Kirche, wo sie für Maries Genesung Dank sagten und für den Erfolg der russischen Armee beteten, die Kerenski in eine neue Offensive gegen die Deutschen geschickt hatte. Als Olga sah, wie sich ihr Vater, als die provisorische Regierung erwähnt wurde, fromm bekreuzigte, wandte sie den Kopf ab. Die Düsternis des Karfreitags kam, gefolgt von der Freude des Ostersonntags. Alexis wünschte sich sehnsüchtig, daß das Osterfest genauso feierlich wie immer begangen würde, mit all den eindrucksvollen orthodoxen Riten, der Mitternachtsmesse und den Geistlichen, die, dünne Wachskerzen in den Händen, auf der Suche nach dem entschwundenen Christus in der Kirche umhergingen. Er wollte die freudige Osterbegrüßung hören, bei der der Priester zur Gemeinde sagte: »Christus ist auferstanden!« und die Leute antworteten: »Er ist wahrhaftig auferstanden!« Alexis träumte von der Überreichung der Ostereier und davon, daß die Freunde und Anhänger durch den Palast strömten, um mit Väterchen Zar und seiner Familie den Auferstehungskuß zu tauschen. »Dieses Jahr gibt es keine Ostereier, Schatz«, verkündete -390-
seine bleiche Mutter kummervoll. »Warum denn nicht?« »Oberst Korowitschenko erlaubt uns nicht, welche zu bestellen.« »Können wir nicht ein paar von den alten aufpolieren?« »Wenn du magst. Du darfst gern ein paar von den FabergéEiern aus meinem Boudoir holen.« »Alexis denkt doch tatsächlich an das Abendessen«, sagte Anastasia. Sie war so lustig und unbekümmert wie eh und je, zumal sie längst nicht so schwer krank gewesen war wie ihre Schwestern, und sie beklagte lediglich, daß die Masern, die Marie schlank wie eine Weidenrute hatten werden lassen, nicht ein Gramm ihres Backfischspecks verzehrt hatten. »Warum sollte ich nicht an das Abendessen denken?« wehrte sich der Junge. »Paschka, mit eingemachtem Obst gefüllt, und köstlicher geschmolzener Zucker, der von dem kulich herunterläuft - das haben wir doch, nicht wahr, Mama?« »Wenn Oberst Korowitschenko es uns gestattet.« Die Romanows erhielten nur die Erlaubnis, ihren Bediensteten ein Glas Wein als Ostergeschenk zu geben, und selbst das rief schon den Soldatensowjet auf den Plan, der sogleich für die Soldaten das gleiche forderte. Olga blieb in ihrem Zimmer. Sie wußte, daß ihr Verhalten kritisiert werden würde, doch es war ihr gleichgültig. Wenn sich ihre Angehörigen am Ostertag wie Heilige und Märtyrer betragen und ihren Feinden die andere Wange hinhalten wollten, so bewunderte sie das, gleichtun konnte sie es ihnen nicht. Man hatte Olga Nikolajewna zwar den Großfürstinnentitel entzogen, aber sie vergaß ihre kaiserliche Vergangenheit nicht so leicht und auch nicht die Tatsache, daß sich hier in diesem Palast noch vor einem Jahr und so lange ihr Erinnerungsvermögen zurückreichte, tausend Höflinge, Soldaten und Wachen in denselben Korridoren gedrängt hatten, wo nun ein paar Männer -391-
in abgerissenen Uniformen ihr Recht auf ein Glas Wein proklamierten. Sie entsann sich anderer Osterfeste, bei denen im Roten Saal die Uniformen des ganzen Reiches ein Kaleidoskop aus Straußenfedern, karmesinroten Mänteln, arabischen Turbanen und zinnoberroten Waffenröcken bildeten und weißbehandschuhte Lakaien auf silbernen Platten Delikatessen umherreichten. Sie dachte an die Ostereier - Hunderte von Eiern aus Amethyst, Gold, Opal mit winzigen Spielereien darin, die Fabergé zum Entzücken der kleinen Prinzessinnen anfertigte. An ihrem ersten Osterfest als Gefangene hatten sie nur ein Ei erhalten - ein Geschenk, das die mutige alte Königin von Griechenland aus Pawlowsk herüberbrachte und einem wohlwollenden Wachsoldaten durch das Gitter des verschlossenen Tores hindurch aushändigte. Erst nach Einbruch der Dunkelheit kam noch ein weiteres Ei an, diesmal in einem kleinen Päckchen ohne Aufschrift. Eine Ankleidefrau der Zarin erschien damit bei Olga. »Madame, ein Mann und ein Mädchen haben dieses Geschenk vor einer halben Stunde am Tor abgegeben. Sie betonten, daß es für Sie persönlich sei: Die Wachen nahmen es an und schickten es herein.« »Tatsächlich? Das können dann keine Sowjets gewesen sein!« »Nein, Madame, um acht Uhr haben Angehö rige der Scharfschützenreserve die sovjetski abgelöst. Und sie sind loyal.« »Zumindest sind sie freundlich... Ein Mann und ein Mädchen... wissen Sie, wie sie aussahen?« »Ein hübsches Mädchen, sagte der Soldat. Der Mann war älter, ein robuster, ländlicher Typ.« »Ich danke Ihnen.« Einen Augenblick lang hatte sie an Dolly Hendrikowa und Simon gedacht, doch ein ältere Mann mit bäurischem Aspekt - das paßte nicht zu dem Offizier der Marinegarde, den sie kannte. Doch Olgas Intuition hatte sie -392-
nicht ganz getrogen, denn als sie das Päckchen öffnete, nachdem die Frau gegangen war, erwies sich die erste Hülle in der Schachtel als eine Nachricht von Dolly. »Eure Kaiserliche Hoheit«, begann das schulmädchenhafte Gekritzel. »Mein Bruder ist in ein Linienregiment übergewechselt und zur Westfront abgereist. Er sendet Ihnen ergebene Grüße und bittet Sie, seine besten Osterwünsche entgegenzunehmen. Ich küsse respektvoll Ihre Hand - DKH.« Unter einigen weiteren Hüllen verbarg sich ein Osterei. Aus grellkirschroter Seide mit einem riesigen, glitzernden XB für »Christus ist auferstanden« war es das billigst aussehende Ei, das Olga je in Händen gehalten hatte. Doch es barg etwas, das ihr kostbarer erschien als alle juwelenbesetzten Spielereien Fabergés - ein Papier mit zwei Zeilen in Simons Handschrift: Der Auferstehungskuß - Vergangenheit, Und doch auch Ziel, du schworst es mir! »Er hat sich daran erinnert; wie schön!« sagte sie weich. Vor nicht ganz einem Jahr hatte sie ihm diesen Kuß versprochen für einen Ostermorgen, an dem sie nun ihrer Freiheit beraubt und Simon wieder zur Front unterwegs war. Und die mutige kleine Dolly hatte es riskiert, zu dem Palast-Gefängnis zu kommen, um dem Mädchen, das er liebte, seine Botschaft zu bringen! Olga ging in einer Stimmung zwischen Glückseligkeit und Traurigkeit zu Bett, das Papier unter ihrem Kopfkissen. Doch mitten in der Nacht, als außer Tatjanas gleichmäßigen Atemzügen kein Laut mehr zu hören war, erwachte sie plötzlich wie von einer Stimme geweckt, und lähmendes Entsetzen ergriff sie, während ihr Gedächtnis den Vers des großen russischen Dichters ergänzte:
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Entschwunden ist jetzt all dein Leid In tiefer Gruft, und deiner Schönheit Zier; Der Auferstehungskuß - Vergangenheit, Und doch auch Ziel, du schworst es mir! Am Osterfest schien der ehemalige Zar seine fatalistische Haltung wiedererlangt zu haben. Er war davon überzeugt, daß seine Abdankung, die auf Drängen fast sämtlicher Generäle seiner Armee vollzogen worden war, ihren Zweck erfüllt hatte, nämlich, die Schrecken eines Bürgerkrieges zu vermeiden. Die provisorische Regierung setzte den Kampf gegen Deutschland fort, an den er sich durch seinen Eid im Winterpalais gebunden hatte, und er wartete vertrauensvoll darauf, daß sie die nötigen Schritte für seine Übersiedlung nach England unternähme. »Und wenigstens«, so sagte er gutgelaunt zu seiner Familie, »muß ich jetzt keine ekelhaften Papiere mehr unterzeichnen.« Selbst seine Gattin hatte sich mit einer Zukunft in dem Land, wo sie einen großen Teil ihrer Kindheit verbrachte hatte, abgefunden. In England war sie als Enkelin Königin Victorias eine bedeutende Persönlichkeit; der gutgemeinte Vorschlag des Großfürsten Paul hingegen, der der kaiserlichen Familie seine Villa am Stadtrand von Paris als Zufluchtsstätte anbot, hatte sie in helle Empörung versetzt. »In einem Vorort wie BoulognesurSeine sollen wir leben!« entrüstete sie sich. »Erwartet Onkel Paul etwa von uns, daß wir unsere Hausarbeit und die Einkäufe selbst besorgen?« »Ich fände das eigentlich recht lustig«, meinte Marie. »Man scheint fürs erste keine Eile zu haben, uns wegzuschicken«, sagte Olga. Sie merkte, daß die Wachmannschaft aggressiver war, das Publikum, das sie bei ihren Ausgängen anstarrte, beleidigender und der Justizminister vager, was seine Pläne für ihre Zukunft anlangte. »Ich habe Vertrauen zu Alexander Feodorowitsch Kerenski«, -394-
erklärte nichtsdestoweniger der ehemalige Zar. »Er ist wirklich ein sehr brauchbarer, fähiger Mann, der Rußland aufrichtig liebt. Ich wollte nur, ich hätte ihn schon früher kennengelernt.« »Und warum haben Sie sich nicht darum bemüht?« Die Worte lagen Olga auf der Zunge. »Warum gingen Sie nicht zur Duma, als man Sie so sehr bat? Dort hätten Sie ihn kennengelernt! Warum bewilligten Sie keine vernünftige Verfassung? Warum brachten Sie uns in diese furchtbare Lage?« »Es ist seine Selbstgefälligkeit, die mich krank macht«, bemerkte sie später zu Tatjana; »das und diese Herablassung. Ich glaube, Papa hält sich noch immer für den von Gott eingesetzten gesalbten Monarchen, der sich nach Belieben bereit erklären kann, mit einem gewählten Justizminister zu sprechen...« »Du scheinst nicht die Absicht zu haben, Papas Geschichtsunterricht zu besuchen...«, bemerkte Tatjana trocken. »Ich habe für seine Interpretation der Geschichte nicht viel übrig.« Und als die Eltern den Kindern erklärten, was für einen interessanten Stundenplan sie vorbereitet hätten, damit ihre Ausbildung nicht vernachlässigt würde, sagte Olga kurz und bündig, sie betrachte mit ihren einundzwanzig Jahren ihre Erziehung als abgeschlossen und bitte darum, ihr die Vorlesungen ihrer Mutter über religiöse Systeme und Monsieur Gilhards französische Fortbildungskurse zu erlassen. »Aber den Geschichtsunterricht solltest du besuchen«, sagte Anastasia nach ein paar Tagen. »Ehrlich, Alexis ist zum Totlachen!« »Was macht er denn?« »Er stellt viele Fragen, die Papa nicht beantworten will. Über Peter den Großen und seinen Sohn Alexis, und wie ihn Peter zu Tode foltern ließ, damit er nie auf den Thron käme. Und über Alexander, der das Komplott zur Ermordung Pauls I. unterstützte, um anstelle seines Vaters Zar zu werden, und über -395-
all die anderen Romanows, die irgend jemanden aus dem Weg räumten, der zwischen ihnen und dem Thron stand...» »Von Professor Petrow hat er das bestimmt nicht. Seine Versionen waren weitaus gefälliger...« »Vielleicht ist Alexis einfach klüger als wir«, meinte Anastasia. Olga sagte, das sei sehr wahrscheinlich. Sie wollte nicht ausgerechnet unter Anastasias scharfem Blick das Gefühl in Worte fassen, das sich ihr aufdrängte: daß Alexis offenbar ein Ventil gefunden hatte für seine Empörung darüber, in der Thronfolge übergangen worden zu sein. Später wurde ihre Vermutung bestätigt, als sie ein paar seiner Geschichtsbücher aufschlug, um zu sehen, ob der Text tatsächlich Passagen enthielt, die so kritisch mit den Romanows umsprangen, und entdeckte, daß der Vorsatz auf eine - den Resten nach zu schließen heftige, zornige Art herausgerissen worden war. »Zu Gott beten und dem Zaren dienen ist nie vergebens«, lautete das Motto, das Alexis früher einmal in all seine Bücher geschrieben hatte. Hieß die Tatsache, daß er zumindest das »Dem-Zaren-Dienen« nicht mehr anerkannte, daß er von der Abdankung seines Vaters sehr enttäuscht worden war? Das einzige vorwurfsvolle Wort, das Olga ihn je aussprechen hörte, war eine Klage darüber, daß sein Vater seine neue Katze nicht mitgebracht hatte, als er Mohilew unter Bewachung verließ als hätte sich die Katze in ein Ersatzsymbol für die Krone verwandelt. Hier handelte es sich um einen Rückfall in die Kindheit; das absichtsvoll demonstrierte Interesse für Romanows, die nie regierten oder von den Menschen, die ihnen am nächsten standen, verraten worden waren, war Rache auf Erwachsenenebene. Sie empfand fast eine - wenn auch schmerzliche - Erleichterung, als der Junge, der ihr mit einemmal so erwachsen schien, am nächsten Morgen in Tränen aufgelöst in ihr Zimmer kam, sich wie ein kleines Kind in ihre Arme warf und schluchzend erzählte, daß die Sowjetsoldaten sämtliche Collies getötet hatten... und die Rehkitze... und den -396-
Esel! »Warum, Olga? Die Tiere hatten ihnen doch nichts getan!« »Sie gehörten uns, das war genug. Hier ist mein Taschentuch...« »Wie, wenn sie Pussy und Zubrowska auch etwas antun?« Neuerliches Schluchzen begleitete diese Frage. »Katzen können sehr gut auf sich selber achten, Alexis. Aber vielleicht wäre es eine gute Idee, wenn sie jetzt in den Küchen bleiben könnten, wo sie außerdem mehr zu fressen bekämen. Schließlich hast du ja noch zwei Hunde...« »Und ich lasse Joy nie, nie mehr frei laufen...« Olga war für den Rest dieses Tages sehr duldsam und liebevoll zu ihrem Bruder, und ihre Sanftmut hielt auch noch an, nachdem er bereits zu Bett gegangen war. Sie ertrug eine weitere Lesung aus Durch das Hintenor, und als die Geschichte des kleinen Waisenknaben und seiner mütterlichen Geliebten bei ihren Eltern Erinnerungen an die glücklichen Tage in WaltononThames weckte, suchte sie sogar die aus jener Zeit stammenden Liederalben heraus und spielte die Begleitung, während ihre Mutter sang. Alexandra Feodorownas früher einigermaßen hübsche Stimme war jetzt in den oberen Lagen mitleiderregend brüchig, aber Nikolaus stützte sich auf den Flügel und blickte seine Gattin an, als wäre sie wieder die bezaubernde Alice von Hessen und er der russische Thronfolger. Olga fragte sich, ob ihre Eltern je aus ihrer wirklichkeitsfremden Haltung aufwachen würden?
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20 Die Wirklichkeit existierte weit entfernt von Zarskoje Selo, in der Außenwelt, wo Präsident Woodrow Wilson endlich den entscheidenden Schritt tat und Deutschland den Krieg erklärte. Sofort verwandelte sich Botschafter Francis in einen der begehrtesten Männer von Petrograd. Bis dahin hatte er etwas isoliert in seiner Botschaft gelebt und Poker mit den Diplomaten gespielt oder am Newaufer lange Spaziergänge mit Madame de Gram gemacht, einer charmanten Dame, die er auf der Überfahrt kennengelernt hatte; ein paar Tage nachdem Amerika in den Krieg eingetreten war, hatte Mr. Francis so viel zu tun, daß er im Konsulat erschien und bat, man möge Vizekonsul Calvert der Botschaft für eine Zeitlang zur Verfügung stellen. Der Botschafter stand mit Joe und dem Konsul vor der riesigen Landkarte des russischen Reiches, die fast eine ganze Wand im Arbeitsraum des Konsuls bedeckte. Nur die dünne Linie der transsibirischen Bahn durchzog das ungeheure Gebiet zwischen dem Finnischen Meerbusen und der Beringsee; sie durchquerte ein Stück mandschurischen Territoriums, bevor sie ihre Endstation am Stillen Ozean, Wladiwostok, erreichte. »Ich glaube, unsere Kriegserklärung wird die Russen veranlassen, ihre Landkarten einer Revision zu unterziehen«, warf Joe ein. »Generationenlang war alles auf die Hauptstadt eingestellt. Jetzt wird Wladiwostok in das Licht der Öffentlichkeit rücken, wenn unser Kriegsmaterial dort eintrifft.« »Ich frage mich, was die Japaner wohl dazu sagen werden«, meinte der Botschafter und kaute auf seiner Zigarre herum. Denn genau im Osten von Wladiwostok lag das kleine Inselreich, das Land des stummen Alliierten, der Deutschland im August 1914 den Krieg erklärt und niemals auc h nur einen Schuß abgegeben hatte. »Nun, darüber soll sich der Präsident den Kopf zerbrechen«, -398-
fuhr Mr. Francis fort, als keiner der beiden Männer das Schweigen unterbrach. »Ob wohl die Root-Delegation auf ihrer Reise nach Petrograd einen kleinen Aufenthalt in Tokio einlegt? Jedenfalls müssen wir sie in Wladiwostok mit dem roten Teppich empfangen, das steht fest. Nun, Konsul Caldwell soll ja recht geschickt sein.« »Er ist ein hervorragender Mann,« bestätigte der Konsul. »Leider ist der auswärtige Dienst nur sehr spärlich auf russischem Gebiet vertreten. Caldwell in Wladiwostok, Generalkonsul Maddin Summers in Moskau, ein paar kleinere Vertretungen in Städten wie Irkutsk, und das ist alles.« »Womit Sie offenbar ausdrücken wollen, daß Sie Calvert nur sehr unge rn abgeben. Was sagen Sie selbst dazu, Joe? Gefällt Ihnen der Gedanke, eine Zeitlang in der Botschaft zu arbeiten?« »Ich stehe Ihnen zur Verfügung, Sir. Nur eines hätte ich einzuwenden...« »Sprechen Sie ganz offen, mein Junge,« ermutigte ihn Mr. Francis. »Nachdem wir jetzt endlich in den Krieg eingetreten sind, würde ich gern aus dem auswärtigen Dienst ausscheiden und mich freiwillig melden.« Worauf die beiden älteren Männer sehr beredsam wurden. Die sinnlos aufgewendete Zeit, die umsonst durchlaufene Ausbildung, das verschleuderte russische Sprachtalent - all dies wurde einem Schritt gegenübergestellt, der Joe Calvert womöglich nur in irgendeine Schreibstube in den Staaten führen würde statt in heroische Kämpfe. »Warten Sie wenigstens, bis wir die Root-Delegation hinter uns haben, und dann reden wir noch einmal darüber«, schlug der Botschafter vor. »Ich brauche alle jungen Leute wie Sie, um mit dem alten Elihu und den anderen Mitgliedern seiner Delegation fertig zu werden. Die Staaten haben der provisorische n Regierung einen Kredit von 100 Millionen Dollar bewilligt, und Elihu Root wird sich sehr -399-
genau davon überzeugen, daß wir auch den Gegenwert bekommen.« »Aber die Root-Delegation ist doch nicht vor Juni hier, Herr Botschafter«, wandte Joe ein. »Ich werde Sie in der Zwischenzeit schon beschäftigt halten, mein Sohn. Sie kennen Kerenski persönlich, nicht wahr?« »Nicht sehr gut. Aber ich habe ihn während der letzten paar Jahre mehrmals im Haus von Freunden getroffen.« »Haben Sie Zugang zu seinem Amtszimmer im Tauridenpalast?« »Das ja, Sir.« »Ausgezeichnet«, sagte Mr. Francis. Joes Gewissen war etwas beruhigt nach dieser Unterredung und einem längeren (und, wie er vermutete, vom Botschafter selbst veranlaßten) Telegramm seines Onkels, worin er ihm vor Augen führte, daß er auf seinem Posten in Petrograd in der vordersten Schlachtreihe stand. Er fühlte sich jetzt in der Lage, ein wenig freier in Petrograd umherzustreifen, um die Auswirkungen des ersten Revolutionsmonats zu studieren und auch, um einige der Stätten aufzusuchen, wo jetzt Lyrik und Rhetorik blühten wie nie zuvor. Mara Trenowa sah, wie er mit Dolly Hendrikowa und zwei anderen Paaren, die Männer offenkundig junge Amerikaner, das Café »Wien« betrat; sie setzte sich an einen der kerzenbeleuchteten Tische unweit des Klaviers. Dolly schien vergnügt und glücklich! Ich war dumm, überhaupt in das »Wien« zu gehen, dachte Mara wütend. Es ist ein elendes, bourgeoises Schwarzmarktlokal. Ich habe mich verirrt Dies ist die falsche Stadt und die falsche Nacht Sie hatte einen außerordentlich attraktiven jungen Mann namens Boris Pasternak zwei Abende zuvor im »Roten Sarafan« -400-
eigene Gedichte vortragen hören, und seltsamerweise waren ausgerechnet diese Zeilen in ihrem Gedächtnis haften geblieben. Doch es war nicht der gegebene Zeitpunkt, um sich Depressionen hinzugeben: Die erste Schlacht für die Demokratie war geschlagen, die zweite, größere, stand unmittelbar bevor. Die Prawda, nun keine subversive Zeitung mehr, war aus ihrem Keller ans Tageslicht getreten. Mit einem neuen Redaktionsbüro an der Moika und einem Mann namens Molotow als Herausgeber, hatte die Prawda ihre erste Ausgabe nach der Revolution gratis verteilt und anschließend hunderttausend Exemplare von der zweiten verkauft. Es war demütigend, daß die Anwesenheit Do lly Hendrikowas, Joe Calverts und ihrer Freunde im »Wien« sie beirren konnte. Derart beirren, daß auch auch sie aufstand, als sie ihre Gläser leerten und mit einem Blick auf die Uhr hinausgingen. Sie folgte ihnen dann zum Newski Prospekt. Es war kurz vor zehn, und da sie auf ihre Uhren geblickt hatten, nahm Mara an, daß sie verabredet seien, ohne Zweifel in irgendeinem Bollwerk des Zarismus, einem Herrensitz, wo hinter dichten Fensterläden ein delikates Souper serviert wurde und die Champagner trinkenden Gäste anschließend einen Befreiungsplan für die Romanows besprachen. Die wilden Phantasien, in denen die eifersüchtige Mara eine zaristische Verschwörung aufdeckte und Joe und Dolly der Sowjetmiliz übergab, fanden ein jähes Ende, als sie im Lichtschein des großen Kinos an der Ecke der Morskaja anlangte. Die Leuchtbuchstaben über dem Eingang enthüllten den amerikanischen Traum in seiner ganzen weltweiten Überlegenheit: Douglas Fairbanks in THE AMERICANO Nach dieser Bloßstellung von Dollys Frivolität (und der vieler anderer Leute, denn es schob sich eine lange Reihe Menschen hinein, um den amerikanischen Film zu sehen) entschloß sich Mara, ihre eigene Ernsthaftigkeit durch den Besuch einer Veranstaltung zu demonstrieren, die im Marjinski- Theater -401-
zugunsten der Opfer der Revolution stattfand. Es war schwierig, jemanden zu finden, der sie begleitete, denn der Hauptredner sollte Kerenski sein, und ihre Freunde nahmen Kerenski nicht ernst, aber schließlich erklärte sich eine Bekannte bereit, die Mühe auf sich zu nehme n. Als sie das Theater betraten, war selbst die Sonnenblumenkerne kauende Sofie beeindruckt vom Anblick der früher zu Ehren der zaristischen Familie mit Blau und Gold drapierten kaiserlichen Loge, in der jetzt dreißig Revolutionsveteranen saßen, die noch drei Wochen zuvor im Gefängnis von Schlüsselburg eingekerkert oder in sibirischer Verbannung gewesen waren. Für Mara Trenowa wurde ein Traum Wirklichkeit, als sie Vera Figner sah, die zumindest bei einem der Eisenbahnattentate auf Alexander II. den Sprengstoff befördert hatte, und Katharina Brechskowska, jetzt eine dicke alte Dame, die mit übertriebener Herzlichkeit Kerenskis Arm umklammert hielt. Maras Herz schwoll, als auch noch die Spiridonowa ins Rampenlicht trat und mit ausgebreiteten Armen die Ovation des Publikums entgegennahm: Vor zehn Jahren hatte sie den brutalen Lutschnowski, eine treibende Kraft der vielen Repressalien, die dem Blutsonntag folgten, erschossen. Mit ihren lodernden Augen und dem großen trotzigen Mund repräsentierte sie eine perverse Feminität, die bei Mara Trenowa auf ein unerwartetes Echo stieß. »Du hast eine Schwäche für sie, nicht wahr?« fragte Sofie scharfsichtig, und lachte, als Mara in ihrer pedantischen Art alles aufzählte, was die hagere Frau mit dem breiten häßlichen Gesicht und dem in der Mitte gescheitelten dunklen Haar für das geheiligte Ziel der Revolution geleistet hatte. »Ich sage trotzdem, daß du eine Schwäche für sie hast, und du kannst das ja auch halten, wie du willst!« erklärte Sofie verächtlich. »Diese ganzen Revo lutionärinnen sind wandelnde Leichen, und sie wissen es nicht einmal.« Kerenski sollte der Star sein, doch er war an diesem Nachmittag nicht in allerbester Form. Er war nicht der -402-
bedeutende Anführer, den sich die Revolutionäre erhofft hatten, aber sie brauchten nicht mehr lange zu warten: der große Mann war bereits unterwegs. Anfang April waren die langen, sorgfältigen Vorbereitungen abgeschlossen, die Parvus, Keskuela und andere zwischen der deutschen Regierung und den Bolschewiken in der Schweiz operierende Agenten durchgeführt hatten, und Lenin und seine Anhänger rüsteten sich für ihre Rückkehr nach Rußland. Auf Kosten der Deutschen sollten sie in einem versiegelten Zug durch deutsches Territorium transportiert werden und dann mit der Fähre vom Hafen Saßnitz nach Malmö. Die Schweden, die jahrelang die Anwesenheit deutscher Agenten in ihrem Land geduldet hatten, waren damit einverstanden, daß die Gruppe nach Haparanda im Norden weiterreiste, wo sie die Grenze des Großfürstentums Finnland und damit russisches Hoheitsgebiet betrat. Lenin, der sich dem Krieg seit 1914 beharrlich widersetzt hatte, war die beste Investition, die die Deutschen je gemacht hatten und mehr für sie wert war als einige bewaffnete Divisionen. So ruhig die neutralen Schweden die Transitreisenden empfingen, so geräuschvoll beförderte sie die neutrale Schweiz vom Züricher Hauptbahnhof außer Land. Die üppigen Zuckerund Schokoladenvorräte, mit denen sich die Bolschewiken eingedeckt hatten, wurden von Zöllnern konfisziert, ehe der versiegelte Zug abfuhr, und als er die Station verließ, brüllte eine Ansammlung indignierter Schweizer: »Fort mit euch, ihr Spione! Deutsche Spione! Laßt euch nur nie wieder hier blicken!« Die Bolschewiken antworteten hinter verschalten Fenstern mit der Internationa le, die sie der Marseillaise vorzogen. Es waren nur zweiunddreißig Personen, unter ihnen Lenins Frau Krupskaja und seine Geliebte Inessa Armand, und ihr Gesang wurde sehr bald von dem Rollen der Räder und dem Pfeifen der Lokomotive übertönt. Aber sieben Tage später -403-
hielten sie unter unvorstellbarem Lärm, animalischem Triumphgeschrei im Bahnhof von Petrograd ihren Einzug; eine tausendköpfige Menschenmenge wogte heran, um ihren heimgekehrten Helden Wladimir Iljitsch Lenin zu begrüßen. Die meisten von ihnen, wie auch Mara Trenowa, sahen ihn zum ersten Mal. Jahre waren verstrichen, seit er Rußland verlassen hatte, wo er eingekerkert und nach Sibierien verbannt gewesen war, doch als er ihm Schein unzähliger Fackeln vor dem Bahnhof auf das Dach eines Panzerwagens stieg, schien es, als wäre sein Gesicht allen Leuten bekannt, als hätte es sich längst jedermann für immer eingeprägt. Er war siebenundvierzig Jahre alt, elf Jahre älter als Kerenski, aber körperliches Training hatte seine untersetzte Gestalt agil erhalten, und wie er da lächelnd, die Hände in den Manteltaschen, auf dem Wagendach stand, war er die Verkörperung einer beherrschten sexuellen Kraft, die sich von der romantischen Attraktivität Kerenskis sehr unterschied. Seine Pelzmütze war weit nach hinten geschoben und gab eine hohe gewölbte Stirn frei, eine schroffe Nase und ein Kinn, das ein rötlichbrauner Bart zierte; sein Gesichtsschnitt hatte etwas Mongolisches. Seine Anhänger schrien und umdrängten ihn. Am Morgen dieses Frühlingstages war noch einmal Schnee gefallen; zwischen den weißen Dächern und der schwarzen Menschenmasse wogte ein Meer roter Fahnen, ein unruhigbewegtes Fackeldickicht, und im Zentrum stand, die Szene beherrschend, die dunkle Gestalt auf dem Panzerwagen. Mara Trenowa, durch die brodelnde Masse nach vorn gedrängt, sah, rund um den Wagen eine doppelte Reihe sowjetisscher Soldaten die Finger am Abzug der Gewehre hielt. Es weckte schmerzliche Vorahnungen in ihr, daß der Anführer des Volkes genauso gut bewacht war wie zuvor die Zaren. Als Lenin die Versammelten lange genug hatte warten lassen, um eine atemlose Spannung zu erzielen, hob er in einer weichen, simplen Geste die rechte Hand in Schulterhöhe. Breit, -404-
kurzfingrig und sehr männlich, verharrte diese Hand regungslos, während der mit volltönender, leidenschaftsloser Stimme, undramatisch und absolut selbstsicher seine Eröffnungsworte sprach... »Liebe Genossen, Soldaten, Matrosen, Arbeiter«, sagte Lenin (und jeder in der Masse wußte, daß sich die Worte an ihn allein richteten), »die russische Revolution, euer Werk, hat begonnen. Sie hat eine neue Epoche eröffnet.« Nun bewegte sich die dirigierende Hand einmal, und spontan wurden die roten Fahnen erhoben. »Alle Macht den Sowjets! Von hier aus werden sich unsere prophetischen Worte über das ganze Land verbreiten: Es lebe die sozialistische Weltrevolution!«
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21 Mit Lenins Ankunft verwandelte sich das Schicksal der Romanows in eine beunruhigende Angelegenheit für die provisorische Regierung. Einige Familienmitglieder waren den Revolutionären bereit s entschlüpft, unter ihnen die Kaiserinwitwe und ihre Töchter, die ihre Paläste auf der Krim erreicht hatten; andere zogen sich unauffällig auf ihre finnischen Datschas zurück. Großfürst Dimitrij erwies sich nun als der vom Glück am meisten begünstigte, der ihn seine Strafe an die persische Grenze geführt hatte, wo er in Sicherheit war. Doch die Gefangenen von Zarskoje Selo waren ein echtes Problem, zumal der ursprüngliche Ausreiseplan am Widerstand des britischen Kabinetts scheiterte. »Wir gehen nun doch nicht nach England, meine Lieben«, sagte Nikolaus in absichtsvoll unbekümmertem Ton zu seinen Töchtern, als ihm Kerenski die Nachricht überbrachte. »Und warum, Papa? »Wir wären ihnen offenbar als Gäste höchst unwillkommen. Mr. Lloyd George glaubt, mein bloßer Anblick könne schon einen Generalstreik auslösen und Fabriken und Häfen lahmlegen. Und Ramsay McDonald, der Freund von diesem Lenin, hat den Briten erklärt, ich sei nichts Besseres als ein gemeiner Mörder.« »Was hat denn das Volk mit alldem zu tun?« fragte Tatjana entrüstet. »Der König ist Ihr Vetter, Sie wollten als sein Gast nach London reisen...« Das sind die Segnungen einer konstitutionellen Monarchie«, erwiderte ihr Vater. »Der arme Géorgie muß sich dem Willen seines idiotischen Kabinetts unterwerfe n... Laßt uns jetzt nicht mehr darüber sprechen, und fangt vor allem bei eurer armen Mama nicht davon an.« -406-
Die Mädchen sahen, wie die Zurückweisung ihre Eltern schmerzte, die ihre englischen Vettern sehr gerne gemocht hatten. Zum erstenmal begann ein eisiges Gefühl der Hoffnungslosigkeit die allgemeine Zuversicht zu verdrängen. Eines Nachmittags Anfang Juni saßen die vier Schwestern am See, bemüht, die dreisten Blicke und den Spott der auf der Brücke hinter ihnen patroullierenden Soldaten zu ignorieren. Sie waren noch immer blaß und geschwächt, und wenn sie auch von Kindheit an unter den Blicken der Öffentlichkeit gelebt hatten, so waren sie doch jetzt ungeheuer empfindlich, was ihr Aussehen betraf. Das gepflegte lange blonde Haar der Mädchen fiel nach den Masern büschelweise aus. Auf ärztliche Empfehlung hin war es ganz kurz geschnitten worden, und obwohl sie im Palast wie auch im Freien stets seidene Kopftücher trugen, kamen sie sich alle entstellt vor. Als der alte Graf Benckendorff, der sich noch immer Oberhofmarschall titulierte, auf Olga zuging, zog sie nervös ihr Tuch weiter in die Stirn. »Kaiserliche Hoheit«, sagte er mit einer Verbeugung, »ich bitte inständig um Vergebung, wenn ich Sie störe. Ein Bote von Monsieur Kerenski ist hier und bittet Sie um ein Gespräch unter vier Augen.« »Ein Bote von Alexander Kerenski? Sind Sie sicher, daß er zu mir will?« »Er fragte nach Ihnen, Madame, und es kann kein Zweifel bestehen, daß er zu dieser Unterredung ermächtigt ist...« Auf einem kleinen Silbertablett präsent ierte der Graf ein von Kerenski unterzeichnetes Schreiben mit dem Briefkopf des Justizministeriums. »Wo haben Sie den Mann hingeführt, Graf Benckendorff?« Er wartete in demselben Vorzimmer, in dem Olga nach der Ermordung Rasputins mit Protopopow gesprochen hatte. Der Raum war unverändert: Noch immer starrten die Jagdtrophäen -407-
mit glasigen Augen von den Wänden, und unaufgeschnittene Zeitschriften vom Februar waren ausgelegt. Der Sendbote aus Petrograd betrachtete gerade den Wandteppich, der über dem leeren Kamin hing. Er schwenkte herum, als Graf Benckendorff zeremoniell verkündete: »Ihre Kaiserliche Hoheit, Großfürstin Olga Nikolajewna«, und reagierte auf ihre Titel mit einem schwachen Lächeln und einer gerade nur angedeuteten Verbeugung. Auf den ersten Blick dachte Olga, es sei Kerenski selbst. Der Mann vor ihr hatte das gleiche blonde, kurzgeschnittene Haar, die gleiche aggressive Nase, den gleichen schmalen, geschmeidigen Körper. Doch seine Züge wirkten slawischer, und seine Redeweise war abgehackter als die Kerenskis. »Guten Tag, Bürgerin Romanowa«, sagte er. »Sie wollten mich sprechen?« fragte Olga kurz angebunden. »Unter vier Augen, bitte, Bürgerin.« »Lassen Sie uns allein, Graf Benckendorff.« »Wie Eure Kaiserliche Hoheit befehlen.« Der Hofmarschall setzte mit einem bösen Blick auf Kerenskis Boten den Präsentierteller auf einem Tisch neben der Tür ab und zog sich unter tiefen Bücklingen zurück. »Wollen Sie so freundlich sein, Ihr Anliegen zu schildern?« begann Olga. »Sie haben mir eine Botschaft des Justizministers zu überbringen?« »Indirekt, ja. Das heißt, Alexander Kerenski kennt meine Mission und unterzeichnete einen Passierschein, der mir Zutritt zu diesem Gebäude das man wohl immer noch einen Palast nennen muß - verschaffte. Ich gehöre dem Petrograder Soldatenund Arbeitersowjet an, Bürgerin.« Die Worte wurden schnell gesprochen, boten Olga jedoch Zeit genug, um sich vage einer Ähnlichkeit bewußt zu werden, die mit etwas Halbvergessenem zusammenhing. -408-
»Habe ich Sie nicht schon irgendwo gesehen?« fragte sie. Die slawischen Züge verzogen sich zu einem breiten Lächeln. »Ah, Sie fangen an, sich zu erinnern... Denken Sie doch ein bißchen intensiver nach. Hier in diesem Palast... in einer anderen Art Uniform...« Er strich seinen schlechtsitzenden Khakirock glatt und straffte sich stolz. »Jetzt erkenne ich Sie,« sagte Olga. »Sie sind der Lakai, der Rasputin zu mir führte.« »Und mein Name?« »Wie sollte ich mich Ihres Namens entsinnen?« »Sie nannten mich damals recht zungenfertig Iwan. Natürlich waren wir alle Iwans für Sie und für den Rest der Romanows, nicht wahr? Nichts weiter als ein Paar Hände, die in weißen Handschuhen staken, damit kein Tropfen Schweiß auf Sie oder Ihr Eigentum fiele... Sechzehntausend von uns gab es insgesamt in Ihren Palästen - lauter unterwürfige Sklaven.« Böse schleuderte er ihr die Worte ins Gesicht, doch Olga erwiderte gleichgültig: »Ich habe sie nie gezählt. Ich frage mich nur, ob unter der Dienerschaft, die wir in unserer Einfalt für treu hielten, viele solche Leute waren wie Sie? Sie, der Sie sich von Rasputin bestechen ließen und höchstwahrscheinlich dazu noch den Herausgebern der Petrograder Schmutzpresse die ganze Geschichte verkauften...« »Ich, den Sie aus dem Palast hinausbefördern ließen und dem Sie androhten, daß ich das nächste Mal ausgepeitscht werden würde...« »Wenn ich meine fünf Sinne beisammen gehabt hätte, dann hätte ich Sie erschießen lassen.« Der Mann in der Khakiuniform und den hohen Stiefeln brach in Gelächter aus. »Bravo, Bürgerin«, sagte er. »Sie bleiben wenigstens Ihren Prinzipien treu. Ich sagte meinen Genossen -409-
immer, daß Sie zwanzigmal soviel Mumm haben wie Ihr Vater. Wenn Sie auf dem Thron gesessen hätten, wären bis zu unserem Sieg vielleicht noch Jahre vergangen.« »Womit Sie praktisch zugeben, daß Sie bereits als Lakai Iwan zu den Bolschewiken gehörten - daß Sie als Agent Ihrer Partei bei uns waren?« »Genau«, er verbeugte sich. »Nur dürfen Sie jetzt nicht mehr von den ›Bolschewiken‹ sprechen, sondern müssen uns kommunistische Partei« nennen. So lautet die jüngste Direktive aus unserem Hauptquartier eine Anordnung des Genossen Lenin.« »Und hinterher? Sind Sie in den Untergrund gegangen - so sagt man doch, glaube ich -, als Sie zwangsweise aus unserem Dienst ausschieden?« »Ich kehrte zu meiner Mutter in die Schweiz zurück und diente der Partei von dort aus.« »Warum sind Sie heute hierhergekommen? Um sich an unserer Einkerkerung zu ergötzen? Oder haben Sie mir etwas Konstruktives mitzuteilen?« »Was für ein großartiges Mädchen Sie sind!« sagte der junge Mann bewundernd. »Immer geradeaus... Mir hat noch niemand vorwerfen können, daß ich ein Frauenheld bin, aber ich muß bekennen, wenn ich es wäre, dann wären Sie die Richtige für mich.« »Sie schmeicheln mir, Iwan. Oder sollte ich sagen, Oberst? Sind Sie jetzt ein Sowjetoffizier?« »Nichts weiter als ein bescheidener Apparatschik, vorerst. Aber hätten Sie es nicht bequemer, wenn Sie sich setzten?« »Danke, ich ziehe es vor zu stehen.« »Gut, und jetzt zu den ernsthaften Dingen. Es muß ein schwerer Schlag für Ihren Stolz gewesen sein, nicht wahr, als Ihre liebevollen Vettern in England das Vergnügen Ihrer -410-
Gesellschaft von sich wiesen? Hm? Darauf möchten Sie nicht antworten, ich verstehe. Wußten Sie, daß Genosse Trotzki sofort nach seiner Ankunft aus Kanada auf einen großen HochverratsSchauprozeß gegen Ihren Vater und Ihre Mutter drängte?« »Ich glaube nicht daran, daß ein solcher Prozeß stattfinden wird, solange Kerenski Justizminister ist.« »Er ist vielleicht nicht für lange Zeit Justizminister. Aber eines ist klar, und er hat es Ihnen selbst gesagt: Sie und Ihre Schwester sind keine politischen Gefangenen. Drei von Ihnen haben Verwundete gepflegt. Wir werden uns darauf stützen und den Namen Romanow übersehen.« »Erwarten Sie, daß ich Sie meiner Dankbarkeit versichere?« »Das ist nicht notwendig. So, und jetzt hören Sie zu!« Seine Stimme klang scharf. »Ich bin hierhergekommen, um Ihnen etwas zu sagen, was für Sie alle sehr wichtig ist. Der britische Botschafter hat eine Nachricht von Ihrer Tante erhalten. Sie bietet Ihnen und Ihren Schwestern ein Zuhause, für immer. Vorausgesetzt, daß Sie innerhalb einer Woche gerüstet sind, steht Ihrer Abreise nichts im Wege.« »Innerhalb einer Woche? A-aber ich verstehe nicht«, stammelte Olga. »Ich meine, wie können wir... wie würden wir reisen? Wie könnten wir, so wie die Dinge stehen, überhaupt das Land verlassen?« »Es wäre möglich«, antwortete der Mann gleichmütig. »Sie könnten über Finnland hinausgeschleust werden und per Schiff durch den Bottnischen Meerbusen nach Schweden gelangen. Eine nach der andern, natürlich, denn zu viert würde man Sie vielleicht erkennen, aber Sie würden sich in Stockholm treffen und von da aus zusammen Weiterreisen. Sie könnten in einem Monat frei und in London sein.« Olga schwieg. Der Vorschlag kam so unerwartet, der Plan war so verdächtig einfach, daß sie nicht wußte, was sie sagen sollte. Außer... -411-
»Würde mein Bruder auch mit uns kommen dürfen?« »Nein.« »Warum nicht? Er ist doch noch ein Kind, und ein kränkliches Kind obendrein; was für einen Schaden könnte er Ihnen in einem fremden Land zufügen?« »Er ist als Thronerbe geboren worden, und in ein paar Jahren könnte er irgendwo die Monarchisten um sich herum versammeln. Er ist der Repräsentant des Legitimitätsprinzips...« »Wohingegen Sie und Ihre Freunde das Illegitimitätsprinzip vertreten?« Das blasse, jungenhafte Gesicht rötete sich vor Zorn. »Bürgerin, Sie machen mir meine Geburt zum Vorwurf...« »Ich weiß nichts von Ihrer Geburt, und ich interessiere mich auch nicht dafür. Ich kenne nicht einmal Ihren Namen.« »Mein Name steht auf dem Passierschein, Sie hätten ihn lesen sollen. Aber Sie gehen überhaupt sehr achtlos mit Namen um, Bürgerin.« »Wie meinen Sie das?« Die abgehackte Stimme wurde schrill. »Wir konnten Sie nur alle Ihre Namen auf die liebevolle Botschaft setzen, die wir in Rasputins Sarg fanden?« »Ich habe meinen Namen auf eine liebevolle Botschaft gesetzt? Sie müssen von Sinnen sein!« »Sie sind zu seinem Begräbnis gegangen.« »Meine Mutter war außer sich vor Schmerz. Wir wagten es nicht, uns zu weigern.« »Sie wissen, daß seine Leiche ausgegraben und verbrannt worden ist.« »Ich hörte es später. Es geschah während meiner Krankheit.« »Man fand ein Heiligenbild mit Ihren Namen darauf - neben seinem Kopf.« -412-
Olga stieß einen langgezogenen, bebenden Seufzer aus. »Ein Heiligenbild«, sagte sie. »Jetzt begreife ich. Es muß Tausende solcher Bilder geben, wir haben sie stapelweise für die Truppen unterschrieben. Und irgend jemand nahm eines davon und legte es in Rasputins Sarg. Schwester Akulina!« rief sie aus, als sie sich erinnerte. »Sie kümmerte sich um alles. Sie tat es, um uns bloßzustellen... War auch sie ein Mitglied Ihrer Partei?« »Eine sehr nützliche und erfahrene Agentin, Bürgerin.« Olga hob ihre verschränkten Hände zu einer hilflosen Geste. »So viele Verräter«, flüsterte sie. »Überall! Und Sie waren einer von ihnen! Warum sind Sie gekommen, um mir zu helfen, vorausgesetzt, Sie wollen mir überhaupt helfen? Oder ist das eine neue Falle?« »Nein, es ist keine Falle, Olga Nikolajewna. Es ist ein ehrliches Angebot, das Ihnen die Gelegenheit verschaffen soll, sich zu retten. Denn Kerenski scheint Ihre Eltern recht treffend einzuschätzen. Er nimmt an, daß Sie niemals etwas von der Botschaft aus England erfahren werden, es sei denn, wir selbst setzen Sie davon in Kenntnis.« »Das kann möglich sein,« gab sie seufzend zu. »Sie glauben, wir müßten zusammenbleiben. Wissen sie es bereits?« »Sie werden es erfahren, wenn Kerenski morgen kommt.« »Dann werde ich noch den Tag danach abwarten, bevor ich meinen Schwestern etwas davon sage.« Der Mann zuckte die Achseln. »Das ist Ihre Sache,« meinte er. »Aber schieben Sie es nicht zu lange hinaus.« Er wandte sich um, nahm seine Mütze von dem steinernen Kaminsims und betrachtete den Gobelin. »Ich erinnere mich an dieses Ding,« sagte er, »aus den Tage n, als ich die Besucher Ihres Vaters hierherein führte. Marie Antoinette und ihre Kinder, nicht wahr?« »Ja. Die französische Regierung schenkte ihn der Zarin.« -413-
»Soweit mir bekannt ist, bewundert die frühere Zarin Marie Antoinette sehr....« »Nur als sehr unglückliche Königin und Frau.« »Ich brauche Sie nicht zu fragen, ob Sie die Werke von Marx oder Hegel gelesen haben, Bürgerin?« »Keine Seite davon.« »Marx revidierte eine von Hegels Behauptungen in sehr aufschlußreicher Form. Er stellte fest, daß große Ereignisse und Persönlichkeiten sich in der Geschichte wiederholen können, das zweite Mal aber den Aspekt einer Farce haben, nicht den einer Tragödie. Mit anderen Worten, wenn Alexandra Feodorowna den Ehrgeiz hat, die Königin von Frankreich zu spielen und würdevoll durch die Guillotine zu sterben, dann passen Sie auf, daß sie nicht Sie alle in diese Farce mit hineinzieht.« Er ging auf die Tür zu, und Olga sagte zögernd: »Haben Sie Dank für Ihr Kommen.« »Sie können sich durch Oberst Korowitschenko mit mir in Verbindung setzen,« bemerkte er. »Er weiß, wo er mich finden kann, solange ich in Petrograd bin.« »Kehren Sie in die Schweiz zurück?« »Nein, aber man wird mich demnächst nach Finnland entsenden.« Seine haselnußbraunen Augen schimmerten. »Vielleicht diene ich Ihnen noch als Eskorte von Helsingfors nach Abo. Entschließen Sie sich, Bürgerin Romanowa! Und vergessen Sie das alte Sprichwort nicht:›Es ist später, als man denkt.‹« Er berührte mit zwei Fingern flüchtig seine Mütze und verließ stumm den Raum. Olga wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Dann nahm sie Kerenskis laissezpasser von dem Präsentierteller und las den Namen seines Boten: Boris Heiden. -414-
Karl Marx' Gedanken über Farce und Tragödie in der Geschichte gingen Olga in den folgenden Woche n noch oft im Kopf umher; und nie waren sie ihr so gegenwärtig wie in der Nacht, als die Romanows aus Zarskoje Selo fortgebracht wurden. Die Familie würde zusammenbleiben. Dies war nie in Frage gestellt worden: Der ehemalige Zar und die Zarin betrachteten es als eine Selbstverständlichkeit, daß ihre Kinder sie überallhin begleiten würden, und Alexandra Feodorowna hatte auf eine beiläufige Frage Olgas hinsichtlich einer Einladung von Tante Victoria vage geantwortet, daß vielleicht tatsächlich eine wohlwollende Absicht dieser Art bestanden habe, Papa und Mama ihre Kinder aber natürlich nie allein nach England gehen lassen würden. Die Mädchen waren sich allerdings schon vorher einig geworden. Die jüngeren drei verschwendeten kaum eine Minute darauf, über Heidens Angebot nachzudenken. »Ich kann Mama niemals verlassen«, erklärte Tatjana ruhig, und Marie und Anastasia hatten wesentlich heftiger gegen die Zumutung protestiert, sich von ihren Eltern und Alexis zu trennen. »Es sei denn, irgendeine von uns möchte allein gehen«, sagte Anastasia hinterhältig. »Du vielleicht, Olga?« »Nein, ich bleibe.« »Dann ist die Sache erledigt. Hurra! OTMA für immer!« »Und auch wenn Papa jetzt nicht nach London reisen kann«, bemerkte Tatjana, »so hat sich doch vieles gebessert, seit Oberst Kobilinski Palastkommandant geworden ist.« Aber als sie allein waren, sagte Tatjana: »Ich möchte nicht, daß du glaubst, ich stecke den Kopf in den Sand, Olga. Es können uns schlimme Zeiten bevorstehen, schlimmere, als wir sie bisher kennengelernt haben. Ich bin nur der Meinung, wir sollten zusammenhalten. Inwieweit wir das schaffen, das hängt größtenteils von dir ab.« »Warum von mir?« -415-
»Weil du die Stärkste und die Klügste von uns bist. Ich weiß nicht, ob du erkennst, daß du und ich von jetzt an Mama und Papa als Kinder und uns als die Eltern betrachten müssen. Wir müssen ihnen all die törichten Dinge, die sie sagen und tun, nachsehen. Und manchmal bist du furchtbar ungeduldig und sarkastisch mit den beiden.« »Ich sehe nicht ein, warum sie nicht ab und zu die Wahrheit hören sollten.« »Könntest du nicht versuchen, aus dem ›ab und zu‹ ein ›sehr selten‹ zu machen, meine Liebe?« »Ich werde mich bemühen, Tatjana.« Und sie hatte sich bemüht - nicht immer erfolgreich - während dieser heißen Sommerwochen, in dene n sich die Situation in Rußland erneut verschlechterte. Der von Kerenski, jetzt Ministerpräsident und Kriegsminister, angeordnete militärische Vorstoß mißlang kläglich; was völlig unvermeidlich war, da einunddreißig russische Divisionen, die ein Regierungsdekret von jeglicher Disziplin befreit hatte, einhundertsechsundvierzig deutschen Divisionen gegenüberstanden, denen das Ziel gesetzt worden war, Rußland ein für allemal zu zermalmen. Genau diesen Moment wählte Lenin, um einen coup d'état zu unternehmen, und in den Straßen von Petrograd floß wieder Blut, bevor die Regierung siegte und der kommunistische Führer nach Finnland floh. Für ein temperamentvolles Mädchen war es schwer gewesen, die selbstgefälligen Bemerkungen des Exzaren über die Schwierigkeiten der »liberalen Republik« schweigend anzuhören. Nikolaus schien nicht ganz zu begreifen, daß die »Julitage,« wie der kommunistische Putschversuch genannt wurde, der Anlaß waren, weshalb er und seine Familie in den ersten Stunden eines schwülen Augusttages in der Roten Halle ihres Palastgefängnisses inmitten ihrer Freunde, Diener, Hunde und Gepäckstücke saßen und darauf warteten, zu einen Zug gebracht -416-
zu werden, der sie einem unbekannten Bestimmungsort entgegenführen sollte. Kerenski hatte in den Julitagen eine n bösen Schrecken erlebt. Er wußte, daß Lenin um ein Haar triumphiert hätte, daß er nur vertrieben worden war, weil publik wurde, daß er im deutschen Sold gestanden hatte - etwas, was der Durchschnittsrusse nicht verkraften konnte; aber wenn Lenin zurückkam und das nächste Mal gewann? Was würde dann aus der exkaiserlichen Familie? Kerenski und die wenigen Vertrauten, die er in das Geheimnis einweihte, entwarfen Pläne, um die Romanows an einen sicheren Ort zu bringen. »Nur bis die Wahlen vorbei sind«, sagte Nikolaus zu seiner Familie. »Sobald die neue verfassunggebende Versammlung zusammengetreten ist, können wir nach Zarskoje zurückkehren, meint Kerenski, wahrscheinlich im November.« »Wohin können sie uns denn für drei Monate bringen?« überlegte seine Gattin. »Vielleicht in eine schöne alte Stadt wie Kiew oder Nowgorod. Alexis, dann werden du und ich Gelegenheit haben, die russische Geschichte an Ort und Stelle zu studieren.« »Ich würde lieber nach Livadia gehen«, bekannte der ehrliche Junge. »Sie bringen uns sicher an einen viel weiter östlich gelegenen Ort als Nowowgorod, und es kann durchaus sein, daß wir länger als drei Monate dort bleiben,« sagte Tatjana. »Man hat uns bedeutet, wir sollten uns reichlich mit warmer Kleidung versehen.« »Kerenski weiß schon, was er tun«, erklärte Nikolaus vertrauensvoll. »Je weiter wir nach Osten fahren, um so näher kommen wir an Wladiwostok heran. Na, Kinder? Würde es euch nicht gefallen, einmal Japan zu sehen?« Doch das war vor Beginn der Farce gewesen, der peinlichen Farce, die jetzt in dem Roten Saal inszeniert wurde. Sie waren um elf Uhr nachts heruntergekommen, der Zug sollte um ein -417-
Uhr abfahren, und jetzt war es vier Uhr morgens, und jedermann diskutierte und lief hin und her, und der Soldatensowjet erging sich in pompösen Reden und stimmte über die nächsten Schritte ab. Sein Problem war der Transport des Gepäcks, der Vorräte und des sonstigen Eigentums der Familie zu den Lastwagen, die alles zum Alexandrowski- Bahnhof bringen sollten; am Bahnhof stellte sich das Problem, wie man die Eisenbahner dazu bewegen könne, den Zug überhaupt fahrbereit auf ein Gleis zu rangieren. Kerenski rannte aus dem Saal zum Telefon und wieder zurück. Er schickte Boten in Militärautos zum Bahnhof, er beriet sich mit dem Palastkommandanten, bis der arme Oberst Kobilinski, der früher im Krieg schwer verwundet worden war, in einem Sessel zusammensackte und mit offenem Mund einschlief. Alexis schlief ebenfalls, den Kopf an die Schulter seiner Mutter gelehnt. Er war zuvor ungeheuer lebhaft gewesen und sehr beeindruckt, als die Priester der Znameniakirche singend hereinkamen, die Ikone der Jungfrau von Znamenia hoch erhoben, um die Abreisenden zu segnen. Doch nachdem er ein paar Stunden lang unruhig umhergezappelt und immer wieder über die Füße seiner Schwestern gestolpert war, Joys Leine stets fest um sein Handgelenk geschlungen, sagte der Junge: »Ich weiß, es ist ein schöner russischer Brauch, daß man sich vor einer Reise mit seinen Freunden zusammensetzt und sich alles Gute wünscht, aber das ist lächerlich!« »Alexis hat ganz recht,« murmelte Olga, während sie zusah wie ihn der Schlaf übermannte. »Was für einen albernen, dummen Eindruck wir machen, wie wir hier stundenlang sinnlos herumsitzen!« »Mir gefällt es, die Soldaten zu betrachten,« erklärte Anastasia. »Manche von ihnen sind komischer als die Clowns im Zirkus.« »Der Gedanke an einen Zirkus wäre mir nicht gekommen. Ich werde eher an die Flüchtlingsunterkunft am Narwator erinnert. Wir sehen jetzt ganz ähnlich aus wie die Leute dort, mit den -418-
vielen Koffern und Bündeln und unseren Kopftüchern...« »Du findest es schrecklich, wegzugehen, nicht wahr, Olga?« fragte die mitfühlende Marie. Sie hatte Jimmy, den Pekinesen, auf ihrem Schoß und eine Schmuckschatulle, wie sie alle. »Ja, es stimmt mich traurig, fort zu müssen«, bestätigte Olga schlicht. Es gab keine Worte, um die Trostlosigkeit auszudrücken, die sie erfüllte, weil sie diesen Palast, in dem sie sich am meisten zu Hause fühlten, verlassen mußten, das Lazarett, wo sie sich nützlich zu machen versucht hatte und in das sie seit Beginn ihrer Gefangenschaft keinen Fuß mehr hatte setzen dürfen, die baumbestandenen Alleen und die Flußufer, wo sie mit Simon Hendrikow spazierengegangen war. Der Rote Saal schien anzuklagen mit seinen Zarinnen, die von der Wand herunterblickten, jenen Zarinnen, deren Beispiel sie nicht zu folgen gewagt hatte - und der jungen Königin Victoria, die hochmütig auf ihre entthronten Nachkommen herunterschaute. Die Vorhänge waren nicht zugezogen worden, und es fiel bereits das erste Ta geslicht auf schlafende und vor Erschöpfung graue Gesichter, auf leere Teegläser und den mit ausgespuckten Schalen von Sonnenblumenkernen bedeckten Boden. Wieder stürmte Kerenski von einem telefonischen Disput herein, und dann entstand plötzlich Bewegung. Die großen Eingangstüren wurden geöffnet, und eine Stimme sagte: »Jetzt, Oberst Romanow!« Der Aufbruch kam. Tatjana mußte im letzten Moment noch einmal zurücklaufen, um das Kissen aus dem Sessel ihrer Mutter zu holen. Es war ein Geschenk, das Alexandra besonders schätzte; Tatarenfrauen hatten es für ihre Kaiserin mit Rosenblättern gefüllt, und sein noch immer betörender Duft erfüllte den Wagen, der sie mit ihrem Gatten, Alexis und Olga zum Bahnhof brachte. Die anderen Mädchen setzten sich in ein zweites Automobil, und Kerenski fuhr voraus. Es war fast sechs Uhr, und die Sonne war aufgegangen. Noch einmal streiften sehnsuchtsvolle Blicke den vertrauten Park, wo der Tau auf den Rasenflächen lag, und dann -419-
hatten sie die offenen Tore erreicht, wo sie eine Kavalleriekompanie erwartete, die hinter ihnen herritt. Auf der ganzen Strecke bis zum Bahnhof hörten die Mädchen das wohlbekannte und jetzt so unwirkliche Geklapper einer Eskorte. Nur ein einziger Freund stand auf dem Bahnsteig. Es war General Tatischew, ein ehemaliger Kavallerieoffizier, den Nikolaus gebeten hatte, ihn als Adjutanten zu begleiten. Tatischew, jetzt ein ältlicher Mann mit vielen zivilen Verantwortlichkeiten, war sofort bereit gewesen. Seinen Koffer neben sich, hatte er stoisch die ganze Nacht lang auf dem Bahnhof ausgeharrt. Er überwachte das Abladen der Gepäckstücke, während der Zar seine Töchter fröhlich darauf hinwies, daß der Zug mit dem Emblem des japanischen Roten Kreuzes versehen war. »Ich sagte es euch ja!« lauteten seine geheimnisvollen Worte. »Ich sagte es euch, daß Kerenski weiß, was er tut! Kommt, meine kleinen Mädchen, es ist Zeit einzusteigen!« Man hatte natürlich die Trittleiter vergessen, und die Wagen waren außerordentlich hoch. Alexandra Feodorownas steife Glieder ließen sie im Stich, und sie fiel in der Tür auf ihre Hände. Man trug sie im Dunkeln in ein Coupé und legte sie flach auf den langen Sitz. Die Mädchen kletterten irgendwie hinein, Nagorny hob Alexis aus den Armen seines Vaters nach oben, und dann wurde das ganze Gefolge einer nach dem andern in den Zug gezerrt. »Oh, arme Mama! Haben sie sich verletzt?« »Meine Hände...« »Befühl ihre Hände, Tatjana.« »Sie scheinen verkratzt zu sein, aber ich kann ja nichts sehen! Mach das Fenster auf, Kobold!« »Es ist mit Brettern zugenagelt.« »Warum sitzen wir in dieser Finsternis? Wo ist das Licht?« Das war die Stimme ihres Vaters, und dann vernahm man -420-
Tatischew: »Ich habe Streichhölzer.« Der Zug fuhr mit einem Ruck an, ein Streichholz flammte auf. »Schauen Sie, Mama, es ist gar nicht so schlimm«, tröstete Tatjana. »Ihr Kissen hat Sie vor einer bösen Schramme bewahrt. Marie, in meiner Handtasche ist ein kleines Erste-Hilfe-Etui.« »Geben Sie mir bitte die Streichhölzer, General«, sagte Olga Nikolajewna. Sie kniete sich neben Tatjana und hielt die kleine Flamme in das Dunkel, in das sie so jählings aus der Tageshelligkeit versetzt worden waren. Der Zug beschleunigte seine Fahrt. Ihre Reise im Schutz der japanischen Flagge hatte begonnen. Ob sie in Japan enden würde oder nicht, mußte die Zukunft zeigen. Olga wußte nur, daß jeder Kilometer in östlicher Richtung zugleich das furchterweckende Gebiet näher rückte, das zwischen ihnen und dem Stillen Ozean lag. Die Romanows waren auf dem Weg nach Sibirien - wie all jene aus politischen Gründen Verbannt en, die ihnen irgendwann in Ketten und Handschellen vorausgegangen waren.
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22 Die Julitage, die das Schicksal der Romanows so radikal ändern sollten, begannen für Joe Calvert sehr ruhig. Joes Probleme hatten früher angefangen und würden noch länger anhalten, da im Juni die Buffalo in Wladiwostok eingetroffen war. Sie brachte Senator Elihu Root, den außerordentlichen Botschafter, nach Rußland, dazu den amerikanischen Stabschef, General Scott, und andere hervorragende Persönlichkeiten, die alle, wie von Botschafter Francis prophezeit, einen großen Empfang erwarteten und auch bekamen. In materieller Hinsicht war es leicht, sie zufriedenzustellen. Der Sonderzug des Exkaisers wurde der Root-Delegation für die lange Reise nach Petrograd zur Verfügung gestellt, und mit ihren Beratern, ihren Sachverständigen und ihrer Eskorte füllte sie die acht blaulackierten Wagen völlig; selbst Alexandra Feodorownas graulilafarbenes Boudoir fand Verwendung. In der Hauptstadt wurden sie von ihrem Gastgeber Kerenski im Winterpalais untergebracht, wo prächtige Zimmerfluchten eigens für sie renoviert worden waren. Es gab nicht viele große Häuser, in die sie eingeladen werden konnten, weil sich die Eigentümer während der Frühjahrsrevolution aus Petrograd abgesetzt hatten, aber im »Astoria«, im »Europa« und im »Hotel de France« wurden die roten Teppiche ausgerollt, und Botschafter Francis hielt in der Furschtatskaja ein gastfreies, offenes Haus. Was diesen Aspekt betraf - so stellte Joe fest - , war alles in Ordnung. Was ihm jedoch Sorgen machte, waren die internen Machtkämpfe, die spürbar wurden, kaum daß der kaiserliche Zug in den Nikolaus-Bahnhof eingefahren war. Er wußte natürlich, daß es lokale Probleme gegeben hatte: Die Berufsdiplomaten waren Botschafter Francis nicht sehr wohlgesinnt, und einige gingen so weit, zu behaupten, seine -422-
Freundin Madame de Gram sei eine deutsche Agentin; aber keiner von ihnen hatte erwartet, daß die »alten RußlandExperten«, die Senator Root begleiteten, so gänzlich die Führung übernehmen würden. General Judson, der 1905 den Russisch-Japanischen Krieg als offizieller Beobachter verfolgt hatte, und der Sekretär der »Amerikanischen Freunde der russischen Freiheit«, Arthur Bullard, der Zeuge der politischen Unruhen desselben Jahres geworden war, schienen Joe erfahrene Roulettespieler, vor denen man sich hüten mußte, und er wartete mit bangen Gefühlen darauf, daß sich die russischen Eisenbahnfachleute der Transsibirischen Bahn und die Eisenbahn-Sachverständigen-Kommission unter John F. Stevens in die Wolle bekämen. Eines Abends gab die Delegation den Alliierten ein Abschiedsdinner, dessen Einladungsliste so umfassend war, daß sogar Vizekonsul Calvert und Captain Richard Allen zu den im Malachitensaal versammelten Gästen gehörten. »Sehr handfeste Burschen, eure Delegierten; in keiner Weise durch Erinnerungen an die Vergangenheit belastet«, bemerkte Dick. »Sie haben keine Erinnerungen an die Vergangenheit«, sagte Joe. »Der Krieg begann für sie am sechsten April, ist dir das nicht klar?« »Doch, alter Junge, nur fand ich, es sei nicht meine Sache, das auszusprechen. Ein gelungenes Essen, gelungene Reden; in einer Hinsicht ist es gut, wenn man sich um sechs zu Tisch setzt - bis neun Uhr hat man das Ganze hinter sich.« »Wenn alles glattgeht, sind die übermorgen fort.« »Nachdem sie versichert haben, daß sie voll Vertrauen in die Zukunft Rußlands blicken...« »Und hundert Millionen Dollar hier zurückgelassen haben«, ergänzte Joe. Er blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. »Dies und die Erinnerung an Senator Roots -423-
Meinung, daß die Russen in der Kunst, frei zu sein, noch Anfänger sind, die Kindergartenmaterial brauchen, um zu lernen, wie sie sich als Demokraten benehmen müssen.« »Hat er solche Dinge von sich gegeben?« fragte Dick. »Kein Wunder, daß du ein bißchen angegriffen aussiehst.« »Schau dir diese streitbaren Jungfrauen an!« Joe wies grinsend auf eine Kompanie Amazonen des seit kurzem existierenden »Todesbataillons«, die soeben von einem Paradeplatz auf der anderen Seite der Newa zurückkehrten. Es waren große, stämmige Mädchen, die in ihren schweren Uniformen mit dem schwarzen und dem roten Streifen auf dem Ärmel schwitzten. »›Rot für die Revolution, die nicht sterben wird, schwarz für: lieber tot als ehrlos‹«, zitierte Joe. »Du hättest sie sehen sollen, als sie vor dem ›Astoria‹ an Mrs. Pankhurst vorbeiparadierten«, sagte Dick. »Das fehlte uns hier gerade noch, ein Besuch der guten alten englischen Suffragetten. Joe, ich kämpfe lieber noch einmal im Burenkrieg, als daß ich dem Todesbataillon gegenübertrete. Was hältst du übrigens davon, wenn wir den Hendrikows einen Besuch abstatten?« »So spät?« »Es ist erst kurz nach halb zehn; sie werden sich noch stundenlang unterhalten. Außerdem ist Dolly für vierundzwanzig Stunden zu Hause.« »Du scheinst über Dollys Dienstplan ja gut Bescheid zu wissen?« »Hast du etwas dagegen?« Der Ton, der sich merklich von Dicks sonst so friedfertiger, gelassener Art unterschied, ließ Joe erstaunt aufblicken. Er zuckte die Achseln und ging nicht darauf ein. Dick und er kannten sich seit drei Jahren, aber durch die häufige Abwesenheit des Engländers war ihre Freundschaft nie über einen gewissen Punkt hinausgediehen. Und die Tatsache, daß Joe bis vor kurzem als Angehöriger eines neutralen Staates seine Zunge sorgfältig im Zaum hatte halten müssen, hatte eine -424-
gewisse Barriere zwischen ihnen aufgerichtet. Schweigend überquerten sie die Brücke. »Alles hell beleuchtet!« sagte Joe erfreut, als er in der Vierten Straße zu den Fenstern der Hendrikows hinaufsah. »Vetter Timofey weint sich wohl über die schlechten Zeiten aus!« Doch es war Dolly, die Tränen vergoß. Sie hörten ihr Schluchzen und die erregten Stimmen aus dem zweiten Stock bereits beim Betreten des Hauses, dessen Tür überraschenderweise offenstand. Erschrocken wechselten sie einen Blick und stürzten nach oben. Auf dem Treppenabsatz fanden sie Dolly vor, die eine ebenfalls weinende junge Frau umklammerte, und zwei unbekannte Männer, einer von ihnen in Marineuniform, die sich bemühten, beide zu beruhigen. »Um Himmels willen, was ist denn los?« keuchte Dick. »Dolly... Ihr Vater... ist irgend jemand krank?« »Nein, ich glaube nicht... ich weiß es nicht!« wimmerte Dolly. »Wir haben einen solchen Schreck bekommen! Drei rote Matrosen sind in unsere Wohnung eingedrungen... wenn Kapitän Jakowlew nicht gewesen wäre, hätte alles mögliche passieren können...« »Hörst du das, Michail?« jammerte die unbekannte junge Frau. »Das nächste Mal sind wir die Opfer! Wenn die brutalen Kerle aus Kronstadt in dieses Haus eindringen können, dann werden du und ich und Mitja womöglich heute nacht in unseren Betten ermordet! Ich gehe morgen früh von hier fort, egal, was du tust.« »Warum hat uns der dvornik nicht gewarnt? Dafür wird er doch bezahlt!« entrüstete sich Michail, allem Anschein nach der Ehemann der Dame, und Joe wußte aus langjähriger Erfahrung, daß ein typisch russisches Streitgespräch beginnen würde. Er berührte Dollys Arm und schlüpfte um die Gruppe herum in die Wohnung hinein. Das erste, was er sah, war der Hutständer und der Dielentisch, -425-
die beide umgekippt auf dem Boden lagen. Im Wohnzimmer waren die Glastüren des Bücherschranks zertrümmert und die Bücher herausgeworfen und mit Petroleum aus der Hängelampe übergossen worden, die Bilder waren zerschnitten und ein paar Polsterstühle aufgeschlitzt. Die Fensterscheib en hatten Sprünge, waren aber noch ganz. Professor Hendrikow lag bleich und schwer atmend auf dem Sofa seines gleichermaßen verwüsteten Arbeitszimmers, und Madame Hendrikowa, zum ersten Mal aufgelöst und zerzaust, hielt ihm Riechsalz unter die Nase. »Was ist denn passiert, um Gottes willen?« fragte Joe, und Madame Hendrikowa versuchte zu lächeln. »Wir hatten ein paar unwillkommene Gäste«, sagte sie. »Rote Matrosen, stockbetrunken... Ich bin so froh, daß Sie hier sind, lieber Joe!« »Dick ist auch da. Soll ic h ein wenig Kognak für den Professor holen?« ' »Ich glaube kaum, daß etwas übrig ist.« Und Joe fand auch tatsächlich nur noch die Scherben der Kristallkaraffen. »Wo ist das Mädchen?« rief er hinüber, und Madame Hendrikowa antwortete: »Lena schloß sich in der Küche ein, als die Kerle kamen.« »Sehr vernünftig.« Joe lief den Gang entlang und benachrichtigte die erschrockene Lettin. »Helfen Sie Ihrer Herrin«, sagte er, »der Professor fühlt sich nicht wohl.« Doch es bedurfte auch Joes starker Arme, um den zitternden alten Mann in sein Zimmer zu bringen. Inzwischen hatten sich Dolly, Dick und der Marineoffizier im Wohnzimmer eingefunden, und die Wohnungstür war geschlossen. »Das ist Fregattenkapitän Jakowlew - Joe Calvert«, stellte Dick kurz vor. »Ich bin ihm schon in Murmansk einmal begegnet, er befehligt die Askelod.« Der Kapitän verbeugte sich. »Ich freue mich, daß ich helfen konnte«, sagte er. »Ich habe Urlaub und wollte gerade meinen Vetter, Dr. Martow, und seine Frau besuchen, als Fräulein -426-
Hendrikowa vor diesen gewalttätigen Burschen flüchtete und mich anrief...« »Er war bewaffnet!« erklärte Dolly. »Sie wollten - sie behaupteten, sie würden das Haus in Brand stecken, und hatten schon Petroleum über die Bücher gegossen...« Joe fand Kapitän Jakowlew sehr sympathisch. Er hatte ein wetterhartes Gesicht und dunkles Haar, das auf der Stirn zu einer Spitze zusammenlief. Seine Uniform war abgetragen, aber sehr gepflegt. »Kronstadt!« sagte der Marineoffizier gewichtig. »Wir finden die Zustände schon in Murmansk schlimm genug, doch das hier...« »Nur - warum ausgerechnet dieses Haus?« fragte Richard Allen. »Normale, zurückgezogen lebende Leute, die nichts besitzen, was zu Plünderungen reizen könnte - warum ausgerechnet Sie?« »Weil unser Sohn Offizier ist, vermutlich«, antwortete Madame Hendrikowa, die leise wieder in das Wohnzimmer eingetreten war. »In Kronstadt herrscht sehr viel Feindseligkeit gegenüber dem Offiziersstand.« »Wie - Sie meinen, daß man Ihre Wohnung und wahrscheinlich das ganze Haus in Brand gesteckt hätte, nur weil Ihr Sohn Offizier in der Garde war?« wunderte sich Joe. »Dolly, ich bin sehr besorgt um deinen Vater«, sagte Madame Hendrikowa zu ihrer Tochter und wich damit der Frage aus. »Ich glaube, wir sollten einen Arzt rufen.« »Ich telefoniere sofort, Madame...« Joe erhob sich. »Sie haben das Telefon aus der Wand gerissen, als sie eindrangen. Lena kann den Arzt holen, er wohnt in der nächsten Straße. Und jetzt muß ich zu meinem Mann zurück. Kapitän Jakowlew, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen für Ihren Beistand danken soll.« -427-
Der Marineoffizier beugte sich über ihre Hand. »Wenn es etwas gibt, was Ihnen jemand abnehmen kann, so bin ich sicher, daß Madame Martow Ihnen gerne helfen wird«, versicherte er ihr. »Ich hoffe, daß ich durch sie bald Gutes über Professor Hendrikows Befinden höre.« »Ich danke Ihnen.« Dolly begleitete ihn zur Tür, und Joe und Dick, allein zurückgeblieben, starrten einander an. »Was für eine gottverdammte Schweinerei«, empörte sich Dick und stieß mit dem Fuß gegen die Scherben und das durchweichte Papier. »Regen Sie sich darüber nicht auf, Dick«, sagte Dolly, die schon wieder hereinkam. »Das räumen Lena und ich weg, sobald sie den Arzt benachrichtigt hat.« Sie wirkte sehr viel ruhiger, obwohl in dem blassen Gesicht ein paar unnatürlich rote Flecken zu sehen waren. »Ach, setzen wir uns!« Ihr Seufzen zeigte, wie schwach sie sich jetzt fühlte, nachdem der Druck von ihr genommen war. »Wie geht es Ihnen, Dolly?« fragte Joe. »Um Sie hat sich bisher überhaupt niemand gekümmert.« »Vater war ja der einzige, den sie tätlich angegriffen haben.« Joe hatte ganz hinten in der Anrichte eine Flasche gefunden, die übersehen worden war. »Ich weiß nicht, was das ist«, erklärte er schnüffelnd. »Eine Art Zwetschgenschnaps vermutlich. Sie sollten ein bißchen davon trinken, Dolly, Sie sehen völlig erledigt aus.« »Und jetzt erzählt uns Dolly vielleicht die Wahrheit über diesen Zwischenfall«, sagte Richard Allen ernst, nachdem sie einen Schluck genommen hatte. Dollys Augen weiteten sich. »Sie meinen, warum diese Kerle kamen?« »Daß Ihr Bruder als Offizier Dienst tut, war nicht der Grund.« »Das hat auch nur Mama behauptet, die Ärmste«, erklärte -428-
Dolly zögernd. »Sie wissen doch, daß ihre Generation immer bemüht ist, den Schein zu wahren! Sie hat genau gehört, was die Soldaten sagten, wir alle hörten es, selbst Kapitän Jakowlew hörte es - sie schrien es ja förmlich heraus -, aber es war einfach zuviel für meine Mutter, sie konnte es nicht ertragen...« »War es etwas über Simon und Großfürstin Olga?« erkundigte sich Joe freundlich. »Wußten Sie das auch?« »Ich habe ihn doch kurz nach Ausbruch der Revolution hier gesehen; es war nicht schwer zu erraten.« »Diese Barbaren brüllten, wir seien Feinde des Volkes und Freunde von Mördern - der Romanows«, stammelte Dolly. »Sie behaupteten, Großfürstin Olga habe hier ihren...« »Liebhaber getroffen«, beendete Dick den Satz für sie. »Richard, wie können Sie nur! Ich habe Ihnen schon zu Ostern gesagt, als wir sein Geschenk nach Zarskoje Selo brachten, daß er sie lediglich verehrt...« »Aber sie kam hierher?« fragte Joe. »Nur einmal. Und einen Teil der Zeit war auch ich da.« »Wie konnten diese Kerle das überhaupt erfahren?« »Weil noch jemand hier war«, sagte Dolly, und ihr hübsches Gesicht wurde hart. »Mara Trenowa. Sie hat es verraten. Und ich könnte sie dafür umbringen!« Mara Trenowa hatte einen ebenso anstrengenden Sommer hinter sich wie Joe Calvert. In der Prawda-Redaktion waren große Änderungen eingetreten, als ein früherer Bankräuber namens Joseph Stalin unmittelbar nach der Revolution aus dem sibirischen Exil zurückkehrte, Molotow von seinem Platz verdrängte und die Zeitung übernahm. Wie in solchen Fällen üblich, wurden verschiedene unbedeutendere Mitglieder des Redaktionsstabes entlassen, und unter denen, die ihre Stellung -429-
einbüßten, war auch der Bucklige, Sergiew, der damit völlig von der Bildfläche verschwand. Mara behielt die ihre nur mit knapper Not, wie ihr Stalin versicherte, weil die Karikaturen, die sie anfertigte, einen gewissen Ruhm erlangt hatten. Stalin erwähnte ihre Arbeiten sogar Lenin gegenüber, als der große Mann die neueingerichtete Prawda-Redaktion besuchte, die nun unweit des riesigen leeren Palastes lag, wo Felix Jusupow und Großfürst Dimitrij Rasputin in den Tod gelockt hatten. »Gut! Sehr gut!« lobte Lenin mit eine m harten Lachen und rieb sich die Hände. »Wir könnten vielleicht einiges davon für unsere Filmpropaganda verwenden. Der Film ist das Massenmedium der Zukunft, meinen Sie nicht auch, Genossin wie heißen Sie noch - Trenowa?« »Ja, Genosse.« Kinos hatten Mara bisher nur insofern interessiert, als es sie erbitterte, daß sich so viele Leute, die klüger sein sollten, mit Genuß amerikanische Filme anschauten; aber sie war gewillt, sich von Wladimir Iljitsch Lenin hypnotisieren zu lassen. Er beeindruckte sie sehr, wesentlich mehr als Stalin mit seinen fuchsschlauen Zügen und dem dichten Schnurrbart, der einen brutalen Mund verdeckte. Wenn Lenin seine Meinung über eine Karikatur oder einen Leitartikel äußern wollte, pflegte er ein Auge zu schließen; die Geste gab seinem Gesicht einen gutmütigen, komischen Ausdruck: Er benutzte seine Mimik wie seinen untersetzten, stämmigen Körper, um Macht und Verläßlichkeit zu demonstrieren. Bei seinem Besuch in der Prawda zeigte sich sein ausdrucksvolles Gesicht lächelnd und konziliant; er schlug Stalin auf den Rücken und pries ihn als einen Mann der Tat. Die dämonische Ausstrahlung des auf dem Panzerwagen stehenden Anführers war einer derben Kameradschaftlichkeit gewichen, die ihn beinahe völlig mit dem Idol identisch werden ließ, auf das sie immer gewartet hatte. Lenin hatte ihre Zeichnungen gelobt, und dies inspirierte Mara so weit, daß sie die beste Serie produzierte, die ihr seit -430-
»Olga in den Armen Rasputins« gelungen war. Doch unmittelbar nach diesem Erfolg kam der mißglückte coup d'état, die Maschinengewehre ratterten auf dem Newski Prospekt, und Lenin wurde gezwungen, »wieder in der Versenkung unterzutauchen«, wie seine Feinde es ausdrückten. Für Mara war der schlimmste Aspekt des Zusammenstoßes zwischen Regierung und Kommunisten eine Razzia in der PrawdaRedaktion und die Zerstörung der Schnellpressen durch Regierungstruppen. Sie verlor ihre Arbeit und war nach ein paar verzweifelten Wochen, dankbar, als Stalin ihr eine Stellung in der hastig als Ersatz für die Prawda aus dem Boden gestampften Zeitung Rabochi Put, »Der Weg des Arbeiters«, anbot. Joe Calvert versuchte während des ganzen Monats Juli vergeblich, mit seinen Freunden in der Vierten Straße in Kontakt zu bleiben. Er erkannte sehr bald, daß die drei Matrosen, die Dollys Heim hatten vernichten wollen, nur eine Vorhut waren. Kurz darauf hörte er von zwei Zerstörern, die zu Lenins Unterstützung die Newa herauffuhren und deren kommunistische Mannschaft die Stadt terrorisierte. Die wilde Horde wurde zwar schließlich überwältigt und in der PeterPauls-Festung eingekerkert, doch Kerenski, seinem Glauben treu, daß die Revolution ohne Blutvergießen vonstatten gehen müsse, ließ keine Exekution wegen Meuterei vornehmen. Nach kurzer Zeit waren die Männer wieder auf freiem Fuß. Wie alle anderen amerikanischen Diplomaten sah sich auch Joe in diesen Tagen weitgehend an die Botschaft gefesselt, und als die Krise endete, folgte ihr sogleich eine neue mit der Ankunft von vierzig Repräsentanten des amerikanischen Roten Kreuzes. Nachdem für diese verdienstvollen Persönlichkeiten Hotelzimmer und Büroräume gefunden waren, konnte Joe endlich Dolly Hendrikowa in ihrem kleinen Lazarett anrufen. »Wie geht es Ihren Eltern, Dolly?« »Viel besser. Letzte Woche ängstigte sich Mama allerdings -431-
sehr um Papa. Er hörte die Schüsse und das Geschrei von der Newa und regte sich fürchterlich auf. Aber die Ärzte halten ihn jetzt für reisefähig, und in ein paar Tagen fahren sie auf unsere Datscha.« »Hervorragende Idee. Und Sie gehen hoffentlich mit?« »Noch nicht.« »O Dolly, Sie können doch nicht allein in Petrograd bleiben!« »Ich kann nicht länger sprechen«, sagte sie plötzlich ganz leise. »Wie wäre es, wenn wir uns um zwölf Uhr bei dem Kiosk im Sommergarten träfen?« »Abgemacht.« Es war ein günstiger Treffpunkt, auf halbem Weg zwischen dem Lazarett und der Botschaft gelegen, und er gelangte auf beinahe leeren Straßen dorthin. Das Tempo des Lebens in Petrograd war seit der Revolution immer mehr erlahmt, und nun waren die Risse in der prächtigen Fassade offenkundig. Aus dem St. Petersburg des Jahres 1914 war eine vernachlässigte Stadt geworden; verödete Paläste standen neben einem stinkenden Fluß, der die Überreste dreier Straßenkampftage aufgenommen hatte und ölig schimmerte von den Miasmen eines erstickend heißen Sommers. Die Festungsglocken spielten gerade das Kol slaven, als Joe den Kiosk erreichte, der außer Äpfeln und ein bißchen Kinderspielzeug nichts zu verkaufen hatte. Gleich darauf sah er Dolly kommen und ging ihr auf dem unkrautüberwucherten Weg entgegen. Sie fanden eine Steinbank, die ziemlich weit vom Kinderspielplatz entfernt war und wo ihnen ein Fliederbusch die Illusion des Ungestörtseins verschaffte. Und dort erklärte ihm Dolly entschlossen, daß sie das Lazarett keinesfalls aufgeben könne, weil es sowieso schon an Personal fehle, und außerdem seien ihre Eltern ja auch im vergangenen Sommer ohne sie din in Ferien gefahren... »Dieser Sommer ist nicht der vergangene Sommer«, erwiderte -432-
Joe. »Sie können nicht allein in dieser Wohnung bleiben...« »Die Wohnung soll ja auch abgeschlossen werden. Und Sie wissen, ich habe ein Dutzend Vettern und Kusinen, bei denen ich wohnen kann, falls ich je noch einmal vierundzwanzig Stunden frei haben sollte.« »Das weiß ich, aber mich beunruhigt schon, daß Sie allein durch die Stadt laufen. Guter Gott, denken Sie doch an all das, was letzte Woche passiert ist!« »In den Tagen waren wir mit den Verletzten unter der Zivilbevölkerung so beschäftigt, daß wir die Schüsse gar nicht hörten. Bitte regen Sie sich nicht auf, Joe! Mama und Papa sind völlig damit einverstanden, daß ich hierbleibe, sie möchten unbedingt, daß irgend jemand Simon erwartet, wenn er von der Front zurückkommt.« Sofern er jemals von der Front zurückkommt... Joe und Dick Allen glaubten beide, daß Hauptmann Hendrikows dritter Fronteinsatz sein letzter sein würde, aber Joe erwähnte das natürlich nicht, sondern fragte nur freundlich: »Haben Sie Nachricht von ihm?« Dolly schüttelte den Kopf. »Können Sie nicht wenigstens für ein paar Urlaubswochen nach Finnland fahren? Im letzten Jahr hatten Sie doch auch vierzehn Tage frei!« »Ich werde versuchen, bis Ende November durchzuarbeiten. Danach müssen wir weitersehen.« »Was hat der November denn so Besonderes?« »Wenn Vater jemanden finden kann, der seine Vorlesungen übernimmt, dann verbringen wir den Winter vielleicht bei meiner Schwester in Kopenhagen.« Joe war fassungslos. Er wollte sie in Sicherheit wissen, aber Kopenhagen lag für ihn nach drei Jahren Rußland in einer anderen Welt. Er hörte kaum zu, als Dolly weitersprach und bekam lediglich irgend etwas von »Richard« mit, der Professor -433-
Hendrikow geraten habe, sein Konto von der Russischen Reichsbank auf die Privatbank in Helsingfors zu transferieren und auch seine Wertpapiere dort zu hinterlegen. Er hatte ihr nicht sagen wollen, was ihn schon seit Monaten beschäftigte, denn Vizekonsul Calvert verfügte über ein bescheidenes Gehalt, hatte einem Mädchen also nur wenig zu bieten; aber nun saß sie hier neben ihm, so hübsch und bezaubernd, und vielleicht war sie bald schon weit fort... Er platzte heraus: »Ich mache mir Sorgen um Sie, Dolly, ich kann es nicht ändern, Sie sind so klein und süß, und Sie werden ganz allein sein, wenn - falls Simon nicht zurückkommt. Bitte geben Sie mir das Recht, für Sie zu sorgen... ein Leben lang. Ich liebe Sie sehr, und ich werde mir alle Mühe geben, Sie glücklich zu machen. Bitte, sagen Sie, daß Sie mich heiraten werden. Bitte!« Ihre haselnußbraunen Augen blickten ihn vertrauensvoll an, und ihre Lippen öffneten sich, wie um »ja« zu flüstern. Joe hatte bereits seinen Arm um sie gelegt, und als Dolly ihre Hand in die seine schob, war er überzeugt, daß alles in bester Ordnung sei. Ihre Worte wirkten deshalb wie eine kalte Dusche. »Joe!« sagte sie. »Lieber Joe! Ich hatte so ein Gefühl, daß Sie mir eines Tages diese Frage stellen würden, und hoffte nur, Sie täten es nicht, denn es ist mir schrecklich, Ihnen weh zu tun. Ich glaube nämlich nicht, daß ich je Ihre Frau werden könnte.« »Warum nicht?« »Weil ich tief innerlich nicht davon überzeugt bin, daß Sie mich genug lieben.« »Dolly!« »Finden Sie das eine abscheuliche Bemerkung? Ich wollte nicht unfreundlich sein. Ich weiß, daß Sie mich sehr gerne mögen, genauso wie ich Sie. Und Sie sind ungeheuer lieb und hilfsbereit, Joe! Wenn ich je ein Problem hätte, würde ich schnurstracks zu Ihnen laufen, und ich glaube sogar, daß wir -434-
wenn ich ›ja‹ sagte und Sie heiratete, glücklich miteinander würden... jetzt. Es ist nicht die Gegenwart, vor der ich Angst habe, sondern die Zukunft.« »Wir würden die Zukunft miteinander teilen, Dolly, Süße...« »O nein, das würden wir nicht, denn ich bin einfach nicht die Richtige für Sie. Das bilden Sie sich nur ein, weil ich hier bin und wir uns drei Jahre lang kennen und Sie die ganze Zeit ein bißchen in Rußland verliebt waren. Ich merkte das gleich, und meine Mutter ebenfalls. Sie waren vom ersten Augenblick fasziniert von St. Petersburg, und zu St. Petersburg gehöre wahrscheinlich auch ich, und so war es nicht schwer für Sie, sich in den Gedanken hineinzusteigern, Sie seien in mich verliebt. Aber ich bin nicht klug genug für Sie, Joe. Vor Ihnen liegt eine brillante Karriere, das sagen alle...« »Alle?» »Alle Menschen, denen Sie bei uns zu Hause begegnet sind, auch Nabokow und Kerenski, und auf das Urteil dieser beiden kann man doch etwas geben, oder pflichten Sie mir nicht bei? Und Richard glaubt, daß Sie eines Tages der amerikanische Botschafter in Rußland sein werden - vielleicht in zwanzig Jahren...« »Ich überlege mir, wie Rußland dann aussehen mag...« »Ich weiß es nicht, aber wenn Sie zurückkommen und in diesem großen Palast an der Furschtatskaja wohnen, dann sollten Sie eine Amerikanerin als Gattin neben sich haben, nicht die dumme kleine Dolly Hendrikowa aus der Vierten Straße, die überhaupt nicht wüßte, worüber man mit Diplomaten spricht...« »Sie würden jeden Mann im diplomatischen Korps bezaubern.« Dolly schüttelte den Kopf. »Es ist zwecklos«, sagte sie. »Ich bin nicht einmal klug genug, es Ihnen begreiflich zu machen.« »Ich verstehe tatsächlich nicht, warum Sie eine vage Chance, -435-
die sich allenfalls in zwanzig Jahren einmal bieten kann und ebensogut nie, zum Anlaß nehmen...« Joe zögerte. Es gab etwas, was er nicht berühren wollte, aber nun kam es doch heraus. »Weisen Sie mich ab, weil es jemand anders gibt?« Dolly wurde rot und preßte die Lippen zusammen. »In der letzten Zeit dachte ich manchmal, ob es etwa Dick Allen sein könnte.« »Bitte, Joe! Ich habe ihn wirklich sehr gern...« »Sie sind zwanzig und er fast vierzig...« »Ich finde nicht, daß das Alter eine Rolle spielt.« »Wann hat das denn angefangen, Dolly?« »Ich glaube... als wir ihn verletzt in Maras Wohnung fanden. Er wirkte damals so jung - irgendwie verändert...« »Er kann sich in alles verwandeln, was er sein will«, sagte Joe. »Und er ist ein Einzelgänger, ist es sein ganzes Leben lang gewesen. Ich bezweifle, daß er jemals seßhaft werden und eine Familie gründen möchte.« »Was für ein langweiliges Bild Sie von der Ehe entwerfen!« begehrte Dolly temperamentvoll auf, und Joe fragte schnell: »Sind Sie mit ihm verlobt?« »Nicht offiziell.« »Dann kann ich Sie auch weiterhin sehen?« »Natürlich können Sie das! Wir können uns bei Vetter Timofey genauso häufig treffen wie früher bei uns. Und vielleicht bin ich sogar bald schon wieder zu Hause, wenn meine Eltern zurückkommen, um die Sache mit der Universität zu regeln. Die Datscha ist ja nur knapp fünfzig Meilen von Petrograd entfernt. Es ist nicht, wie wenn sie nach Sibirien führen!«
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23 Eine Familie, die nach Sibirien gefahren war, machte sich in einer schwülen Augustnacht auf den Kais einer Flußhafenstadt Bewegung. Es war ein trostloses, zersprengtes Häuflein Menschen, das dreihundert Männer der Scharfschützenreserve bewachten. Nicht nur die Geschichte, sondern auch Zufälligkeiten formten das Schicksal der Romanows: Alexander Kerenski war als Kind einmal beeindruckt gewesen von einem Foto der Gouverneursresidenz in Tobolsk, einer alten Stadt im UralGebiet, und entschied nun als Oberhaupt der provisorischen Regierung, daß die Romanows dort den Winter verbringen sollten, bevor man den Versuch unternahm, sie nach Japan zu schaffen. Es lagen ihm keine Berichte über den aktuellen Zustand der Villa vor, und er schien sich auch nicht klarzumachen, daß eine zweihundert Meilen von der Bahnlinie entfernte Stadt, die man den Sommer über gerade noch mit einem Flußdampfer und im Winter nur über eine vereiste Lehmstraße erreichen konnte, kaum die geeignete Basis für eine Befreiungsaktion war. Einige Mitglieder der Gruppe, die den früheren Zaren begleitete, machten sich das sehr schnell klar, als sie in Tjumen angewiesen wurden, den Zug zu verlassen. Bis dahin hatte allenthalben eine immer zuversichtlichere Stimmung geherrscht. Als die Umgebung Petrograds hinter ihnen lag und die Fensterverschalung abgenommen wurde, konnten sie die Landschaft betrachten, und sie genossen es beinahe, wie in alten Zeiten im Speisewagen zu sitzen, schmackhaft zubereitete Mahlzeiten zu verzehren und die Dörfer an sich vorbeiziehen zu sehen. Zwar wurden die Fenster jedesmal, wenn der Zug hielt, erneut mit Brettern verschlagen, aber das kam in den vier Tagen ihrer Reise nur selten vor. In Jekaterinburg blieben sie so lange -437-
stehen, daß sie bereits dachten, ihre Reise endete hier. Doch der Zug fuhr weiter über die Berge, und bald konnte Nikolaus seinem Sohn den großen Pfeiler zeigen, auf dessen einer Seite »Europa« stand und auf der anderen »Asien«. »Jetzt bist du erst wirklich in Sibirien!« sagte er. »Sie waren einer der ersten, die mit der Transsibirischen Eisenbahn fuhren, nicht wahr, Papa?« »Ich glaube, ja, von Westen nach Osten. Ich legte 1891 in Wladiwostok den Grundstein zu dieser Linie. Lange bevor ich deine liebe Mama überreden konnte, mich zu heiraten!« Tatjana fragte Alexis, ob er sich an das »transsibirische« Osterei erinnere, das Fabergé 1900 für den Zaren angefertigt hatte und das seither mit anderen kostbaren Dingen in einem verschlossenen Glaskasten aufbewahrt worden war. Alexis hatte es manchmal herausnehmen und das winzige Modell des kaiserlichen Sonderzuges betrachten dürfen, das es enthielt goldene Wagen, eine Platinlokomotive und Rubinscheinwerfer. Dies führte natürlich zu einer allgemeinen Diskussion darüber, ob das »transsibirische Osterei« eingepackt worden sei. Sie ereiferten sich zu diesem Zeitpunkt noch sehr oft über zurückgelassene Schätze. Inzwischen zog die sibirische Landschaft in ihrer ganzen Weite an den Fenstern vorbei, und ab und zu war die alte sibirische Straße zu sehen, die etwas nördlicher als die Zugstrecke verlief. Es war der Kettenweg, den so viele politische Gefangene mit gefesselten Händen entlanggestolpert waren. In den alten Tagen hatte der kaiserliche Konvoi stets aus zwei Zügen bestanden, von denen einer vorausfuhr, damit die Souveräne vor Minen oder Bomben sicher waren. Jetzt fuhren die Romanows im ersten Zug, und in dem zweiten folgten die Soldaten mit dem Gepäck. Als sie Tjumen erreichten, wies Oberst Kobilinski in seiner Angst um die Sicherheit seiner Häftlinge (er fürchtete eine Demonstration der Dockarbeiter) die Soldaten an, die Kais und den Dampfer Rus, auf dem sie sich -438-
einschiffen würden, zu besetzen. Es war drei Uhr morgens, als endlich das letzte Gepäckstück verladen war. Alexis und seine Mutter begaben sich sofort in ihre Kojen; die anderen blieben auf Deck und schauten zum Ufer hinüber. Eugen Koblinski, ein dunkelhaariger stämmiger kle iner Mann, lief nervös herum und trieb alle Welt zur Eile an; die Soldaten, denen es seit der Revolution durch eine Verfügung des Petrograder Sowjets gestattet war, jede nicht akzeptable Form militärischer Disziplin zu mißachten, schlurften in nachlässiger Haltung umher, rauchten und ließen sich soviel Zeit für ihre Aufgabe, wie sie wollten. Doch zumindest fand keine Demonstration statt, vielleicht, weil um diese Morgenstunde die Dockarbeiter zu müde waren, um dergleichen zu veranstalten; die Rus wurde von ihren Vertäuungen gelöst, ließ ihre Dampfpfeife ertönen und fuhr ab. Nichtsdestoweniger war es eine hektische Nacht, und die Gesellschaft fand sich am nächsten Morgen erst spät auf dem Erste-Klasse-Deck ein. In Friedenszeiten war es für Staatsbeamte reserviert gewesen und für wohlhabende sibirische Kaufleute, die mit Fischen, Häuten und Fellen handelten, während sich auf dem Zwischendeck Bauern und Angehörige der Kirgisen- und Buriat-Stämme drängten und »Politische«, die ihrer Haft im Beresow-Distrikt hinter Tobolsk entgegenfuhren. Letztere bewacht von bewaffneten Kosaken, die dazu noch die schreckliche Peitsche, die nagaika, mit sich führten; die Scharfschützen, die jetzt mit aufgeknöpftem Waffenrock auf dem Zwischendeck herumlungerten, schienen ihre Pflichten vergleichsweise sehr leicht zu nehmen. Alexis berichtete allerdings, nachdem er mit Nagorny einen Erkundungsgang unternommen hatte, daß ihre Gewehre griffbereit neben ihnen lagen. »Weiß irgend jemand, wann wir in Tobolsk ankommen?« fragte Olga, und ihr Vater antwortete: »Nicht vor morgen nachmittag. Ungefähr um halb vier, wie Oberst Kobilinski mir -439-
sagte.« »Es ist weit von Tjumen nach Tobolsk«, meinte Marie. »Nach Tobolsk ist es von überall her weit.« Stundenlang war nichts zu sehen - nichts als Steppe auf jedem Ufer und der ungeheure sibirische Himmel darüber; den Horizont markierten nur die immer weiter zurückweichenden Berge des Ural, hinter denen Europa lag. Es war etwas Hypnotisches an dem Stampfen der Maschinen und dem Plätschern des Tobol-Flusses, etwas Unheilverkündendes an den vereinzelten Gestalten, die von Zeit zu Zeit in der Nähe eines Dorfes zu erkennen waren. Niemand sprach von Rasputin, als die Rus sein Heimatdorf Pokrowskoje passierte. Die ehemalige Zarin saß über eine Stickerei gebeugt da, und die Mädchen respektierten ihr Schweigen. Aber alle erinnerten sich an die Prophezeiung des Toten: »Sie werden meine Heimat besuchen, ob Sie es wollen oder nicht«, und jene andere, noch erschreckendere: »Wenn ich sterbe oder Sie mich im Stich lassen, werden Sie Ihre Krone und Ihren Sohn innerhalb von sechs Monaten verlieren.« Der Junge war gesund und tollte mit Nagorny auf dem ganzen Schiff umher, aber die Krone war nach drei Monaten bereits verlorengegangen, und von dem glanzvollen Hof und der Garde des Zaren waren nur zwei Männer verblieben, sein Spielgefährte aus Kindertagen, Prinz Dolgoruki, und der treue Tatischew. Alexandra Feodorowna hatte ihre Vorlesedame bei sich, Jekaterina Schneider, die einst in Harrogate ihre Russischlehrerin gewesen war, als sie dort um die Zeit ihrer Verlobung eine Rheumakur machte, und die junge Gräfin Gendrikowa. Dies waren die einzigen Höflinge, die Nikolaus und Alexandra auf dem Weg in den Kerker begleiteten. »Ob es uns wohl hier gefallen wird?« meinte Alexis zweifelnd, als der Dampfer Tobolsk anlief. Der Landschaft, die sie umgab, war durch Jahrhunderte der Stempel der Gefangenschaft aufgedrückt worden. Auch die Tatsache, daß man ihnen gestattete, den Damm zu verlassen und einen kleinen -440-
Spaziergang zu machen, der nach fast sieben Reisetagen sehr willkommen war, konnte diesen Eindruck nicht mildern. Unter den historischen Gebäuden, die die Felsen über dem Irtysch beherrschten, war der Schwedische Turm, von den Schweden erbaut, die Peter der Große in der Schlacht von Poltawa gefangengenommen hatte. Die Romanows hatten während der zwei Jahrhunderte, die seit Poltawa vergangen waren, ihre Feinde stets nach Tobolsk geschickt. Unter der Regierung Nikolaus I. waren die Dekabristen hierhergebracht worden. Die Polen, die den Warschauer Aufstand des Jahres 1863 inszenierten, hatten ihre Tage hier beschlossen. Jetzt kam der Mann, der als Nikolaus II. gekrönt worden war, nach Tobolsk. Bevor sie an Land gehen durften, hatte Oberst Kobilinski voller Entsetzen die Gouverneursresidenz inspiziert, die dreißig Jahre zuvor auf einem Foto so wohnlich ausgesehen hatte. Sie war unvorstellbar schmutzig. Er ordnete ihre Säuberung und Renovierung an, was mindestens eine Woche in Anspruch nehmen würde. Während dieser Woche, in der die Rus noch ihr Zuhause war, bewahrten die Romanows ihre künstliche Munterkeit, die sie in ihrer Verzweiflung seit Zarskoje Selo kultiviert hatten. Jeder Spaziergang war ein Genuß; die Sonne schien, und die vom langen Eingesperrtsein blassen Gesichter nahmen eine gesunde braune Tönung an; Vater und Sohn fanden das Flußleben hier am Irtysch genauso faszinierend wie einst am Dnjepr - in jenen Tagen, in denen Nikolaus noch Zar und zugleich Oberbefehlshaber war. Marie unterhielt sich unermüdlich mit den Wachsoldaten und war bald eine Fundgrube für Informationen über ihre Herkunft und ihre Familien. Alexandra Feodorowna blieb stets mit irgend jemandem, der ihr Gesellschaft leistete, an Bord der Rus. Sie klagte jetzt nie mehr über Herzbeschwerden, aber ihr Ischias verschlimmerte sich, und sie litt oft starke Schmerzen. Um so rührender wirkte ihr dankbares Lächeln, wenn ihre Kinder ihr kleine Sträuße -441-
mitbrachten; in anderen Zeiten hatten sie Krimheckenrosen für sie geholt - jetzt waren es sibirische Blumen, die spärlich am Rand der Steppe wuchsen. Sie konnten in dieser Umgebung stundenlang vergessen, daß sie Gefangene waren. Doch ein barscher Befehl, eine finstere Miene machten es ihnen immer wieder von neuem bewußt. So erging es auch Olga, als sie einmal unabsichtlich vom Weg abwich. Sie hatte Alexis neben dem Fluß einen Tennisball zugeworfen, und der Junge schleuderte ihn so heftig zurück, daß sie ihn verfehlte und den Uferhang hinunterklettern mußte, um ihn zu suchen. Sie hatten bereits gelernt, selbst einen alten Tennisball als kostbaren Besitz zu betrachten, und Olga freute sich, als sie ihn in dem feuchten Kies entdeckte; doch im gleichen Augenblick hörte sie jemanden die Böschung hinter ihr herunterrennen, und dann packte sie einer der Wachsoldaten grob am Arm. Es war das erste Mal, daß einer von ihnen sie angefaßt hatte, und es kostete sie Mühe, ihre Empörung hinter einem gewinnenden Lächeln und den demütigen Worten zu verbergen: »Ich wollte nur den Ball meines Bruders holen...« »In Zukunft bleiben Sie immer in Sichtweite, wenn Sie keinen Arger haben wollen.« Er schüttelte ihren Arm. »Verstanden?« »Ja... Lassen Sie mich jetzt bitte los?« Doch der Mann hielt sie fest, bis sie wieder oben angelangt waren, und dann nahm er ihr den Tennisball ab und steckte ihn ein. »Eine viel zu gute Ausrede, hinter so einem Ding herzujagen«, knurrte er. »Versuchen Sie nicht noch einmal wegzulaufen.« »Ich frage mich nur, wohin wir seiner Ansicht nach laufen könnten«, sagte Olga leichthin zu Alexis, der die Szene ziemlich verängstigt beobachtet hatte. Sie rief ihre Schwestern heran, und sie setzten sich hin und beschäftigten sich mit Ratespielen, während die Soldaten mißtrauisch auf und ab schritten. Aber -442-
Olga spürte noch stundenlang die derbe Hand um ihren Arm. Endlich war die Gouverneursvilla, die ihnen als Gefängnis dienen sollte, hergerichtet. Sie war nicht sehr groß, und außer dem treuen Gilliard mußten alle ihre Begleiter in einem gegenüberliegenden zweiten Haus untergebracht werden. Alexis hatte ein kleines Schlafzimmer für sich allein, und ein angrenzender winziger Raum wurde Nagorny zugewiesen, aber für die vier Schwestern gab es nur ein großes Eckzimmer, das vier schlichte Bettstellen enthielt. Anastasia probierte sofort die Matratzen aus. »Sie sind weicher als die daheim«, verkündete sie. Tatjana nahm gerade ihr seidenes Tuch ab und seufzte erleichtert. »Ich bin so froh, daß wir diese Dinger im Haus nicht mehr zu tragen brauchen...« »Wir sind schon fast präsentabel.« Die vier Köpfe, der blonde, der rotblonde, die beiden brünetten drängten sich nebeneinander vor dem Spiegel des Toilettentischs, und Olga bemerkte, an Marie gewandt: »Dein Haar scheint sich neuerdings zu locken, Maschka.« »Ja, es sieht so aus«, bestätigte ihre Schwester befriedigt. »Erinnert ihr euch noch, wie schockiert Mama war, als sie hörte, daß Marischa sich die Haare hatte schneiden lassen? Jetzt werden wir bald alle eine Bubikopffrisur haben.« »Ein schwacher Trost für die Masern, finde ich...« »Kommt, wir schauen uns einmal unten um.« Es war eine recht geräumige und einigermaßen gut möblierte Villa, und Kommissar Makarow, der den Sowjet repräsentierte, schien nichts gegen die kleinen Annehmlichkeiten einzuwenden haben, mit denen Oberst Kobilinski ihr Los zu verbessern getrachtet hatte. Im Haus waren keine Wachen aufgestellt, doch um den vernachlässigten staubigen Garten wurde gleich nach ihrer Ankunft ein Zaun gezogen: Von den Schlafzimmern aus -443-
konnten die Romanows zwar darüber hinwegschauen, aber den Stadtbewohnern verwehrte er jeden Einblick. Nikolaus' Hoffnungen, man würde ihm vielleicht gestatten, gelegentlich einen Tag lang in der Steppe zu jagen, erfüllten sich natürlich nicht. Er fing an, Holz zu sägen, um sich Bewegung zu verschaffen. Als der September kam und die Luft kühler und dünner wurde, hatten sie sich an eine gewisse Routine gewöhnt. Der Unterricht wurde wiederaufgenommen, und Alexis enthüllte erneut eine bemerkenswerte Vorliebe für Fragen, die in irgendeiner Form mit ihrem eigenen Schicksal in Zusammenhang zu bringen waren. Jetzt war es die englische Geschichte, die ihm das Material dazu lieferte: König John, König Charles... »Ich bin froh, wenn Mr. Gibbs kommt und dem armen Papa den Unterricht abnimmt«, sagte Olga. Denn der englische Lehrer, der Familie ebenso ergeben wie sein Schweizer Kollege, war bereits nach Sibirien unterwegs und hoffte, bei ihnen einzutreffen, bevor die Flüsse zufroren. Auch Baronesse Isa Buxhoeveden, die eine Blinddarmoperation in Petrograd festgehalten hatte, wartete nur noch auf eine Reisegenehmigung, um nach Tobolsk zu fahren. Mr. Gibbs brachte beunruhigende Nachrichten mit. General Duchonins Offensive war fehlgeschlagen, und unter den Attacken der Deutschen desertierten die russischen Truppen kompanienweise. Ein General namens Konilow hatte in Petrograd eine Militärdiktatur zu errichten versucht, und um seiner Herr zu werden, hatte Kerenski den Sowjet zu Hilfe rufen müssen. Trotzki, der in der Hauptstadt verblieben war, als Lenin nach Finnland floh, hatte eine Spezialtruppe aufgestellt, die »Rote Garde«, die gegen Kornilow eingesetzt wurde und auch nach dem Sieg unter den Waffen geblieben war. Zum erstenmal zeichnete sich in Rußland offen die Gefahr eines Bürgerkrieges ab. -444-
Der ehemalige Zar hörte sich all dies mit seiner gewohnten Gelassenheit an. Doch als er mit den Männern, die er als seine Adjutanten betrachtete, allein war, erklärte er, daß er anfange, seine Abdankung zu bedauern. Skrupellose Männer hatten ihm eingeredet, sie sei nötig, um Rußland die Schrecken eines Bürgerkrieges zu ersparen. Jetzt hatten seit den Julitagen Russen gegen Russen gekämpft, und wer mochte wissen, was die Zukunft nochbringen würde? Er beklagte es, so sehr von der Welt abgeschnitten zu sein. Diese spärlichen verläßlichen Informationen blieben auch im Oktober eine der schwersten Belastungen für die Bewohner der Gouverneursvilla. Die einzige Unterbrechung der Monotonie war der allsonntägliche Kirchenbesuch, zu dem Alexandra Feodorowna im Rollstuhl geschoben wurde. Bewaffnete Soldaten sperrten den gesamten Weg ab, und hinter ihren Rücken reckten die Bürger von Tobolsk die Hälse, um zu sehen, wie die ehemaligen Herrscher des Landes durch den Herbstschmutz stapften. Auf telegrafischem Weg gelangten nur sporadisch irgendwelche Nachrichten aus der Hauptstadt nach Tobolsk, und Zeitungen für die Gefangenen trafen noch seltener ein. Nikolaus erhielt ein paar längst nicht mehr aktuelle Ausgaben der Times, die sie alle lasen, bis sich die Blätter in Fetzen auflösten. Doch bald beschloß der Soldatensowjet, die Times nicht mehr zuzulassen, es sei denn, jedes Wort würde zuvor ins Russische übersetzt und zur Genehmigung vorgelegt. Danach blieb den Gefangenen nur noch die Lokalzeitung, soweit sie diesen Namen verdiente, und die örtliche Leihbücherei, die sie mit schmierigen Exemplaren klassischer russischer Romane versorgte. Der Zar nahm seine Gepflogenheit wieder auf, der versammelten Familie vorzulesen, und anschließend sprachen sie oft über die in den Romanen dargestellten Personen. Dies half ihnen, die Zeit ein wenig zu verkürzen, während sie sehnsüchtig auf Post von realen Personen warteten, die vormals -445-
ihre Freunde gewesen waren. Alexandra schrieb regelmäßig an Anja Wirubowa, obwohl sie sich keine Hoffnungen machte, daß die Briefe sie je erreichten. Auf Anordnung der provisorischen Regierung war Madame Wirubowa inzwischen in das große Festungsgefängnis Sveaborg außerhalb von Helsingfors gebracht worden, wohin Kerenski auch Badmajew, den tibetanischen Wunderheiler der Rasputin- Tage, hatte schaffen lassen. Aber es gab andere, die den einst von ihnen umschmeichelten Souveränen hätten schreiben können und es nicht taten, und auch allernächste Angehörige blieben stumm. Erst Ende Oktober traf ein Brief von der fernen Krim ein, der sie über das Ergehen einiger Familienmitglieder unterrichtete. Die Kaiserinwitwe hatte ihn in ihrem Palast in Ai Todor geschrieben, und nach vielen liebevollen Wendungen und mitfühlenden Worten fuhr die alte Dame in ihrer üblichen unbekümmerten Art fort: »›Wie gerne ich die Mädchen hier bei uns auf der Krim hätte! Die jungen Leute amüsieren sich immer noch, den schlechten Zeiten zum Trotz, und der Herbst ist so schön, daß sich die Strandfeste bei Feuerschein und Mondlicht bis spät in die Nacht hinziehen.‹ Recht verlockend, wie?« meinte Nikolaus, der seiner Familie den Brief vorlas. »Es klingt nicht gerade so, als vermißten sie uns«, bemerkte Tatjana trocken. »Bitte lesen Sie weiter, Papa.« »›Michael und seine unmögliche Frau sind noch immer in Gachina, und ich hoffe, sie ist jetzt stolz auf all das, was ihre liberalen Freunde zur Zerstörung der Monarchie beigetragen haben. Manchmal scheint der arme Mischa ebensofern von mir zu sein wie du, liebster Nicky, aber zumindest haben sie ihm ein bißchen Bewegungsfreiheit gelassen. Ich bin froh, wenigstens meine beiden Töchter so nahe zu wissen. Xenia ist dankbar, daß sie Felix und Irina - und die kleine Irina - sehen kann, und ihre Jungen sind so gesund und laut wie immer. Olga, das versteht sich, ist selig über ihren kleinen Sohn.‹« -446-
Nikolaus machte eine Pause. »Wie alt ist meine Schwester Olga?« fragte er. »Fünfunddreiß ig«, antwortete Marie. »Stellt euch Tante Olga mit einem Baby vor!« »Ich weiß nicht, ob ihr die großartigen Nachrichten über Kyrill und seine Frau gehört habt. Sie waren so vernünftig, Petrograd zu verlassen und nach Finnland zu gehen, und gleich nach der Ankunft auf ihrem Gut brachte die liebe Ducky einen Sohn und Erben zur Welt.‹« Der Zar hielt wieder inne. »Ducky ist aber doch schon über vierzig«, bemerkte er.»Einundvierzig«, sagte seine Gattin. »Sie und Kyrill sind bestimmt überglücklich, daß sie nun endlich einen Sohn haben.« »Alle Leute bekommen Kinder«, stellte Anastasia fest. »Nur wir nicht«, sagte Marie. »Schreibt Großmama etwas über Marischa?« fragte Tatjana. »Marischa hat Prinz Putjatin geheiratet - kurz nachdem wir von zu Hause abreisten«, erklärte Nikolaus. »Und Dimitrij... was heißt das hier? Manchmal kann ich ihre Schrift kaum entziffern. ›Der liebe Dimitrij hat sich sehr loyal benommen. Die provisorische Regierung teilte ihm mit, daß er nach Petrograd zurückkehren könne. Er antwortete, daß er auf Befehl des Zaren an der persischen Front stehe und diesen Befehl zu respektieren gedenke.‹« »Sehr korrekt von Dimitrij«, bemerkte Nikolaus. »Sagt die liebe Mama etwas über seinen Gesundheitszustand?« fragte Alexandra. »Nein, sie wechselt gleich wieder das Thema.« Nikolaus zwinkerte mit den Augen. »Hört euch das an, Mädchen.« »›Der neueste Klatsch aus Odessa, vorerst noch unbestätigt, lautet, daß Carol von Rumänien mit einer jungen Person, die den -447-
schönen Namen Zizi Lambrino trägt, eine morganatische Ehe geschlossen hat. Die Eltern dieses ungebärdigen jungen Mannes können einem nur leid tun, die arme Missy von Rumänien wird außer sich sein.‹« »Meine einzige Hoffnung auf eine Ehe - dahin«, verkündete Marie mit Grabesstimme. »Wir hatten keine Chance, Maschka; die Zizis und Zinas gewinnen immer«, sagte Olga im gleichen Ton. Und dann brachen sie mit einemmal alle in Gelächter aus, selbst ihre Mutter; es war eine fast hysterische Reaktion auf diesen flüchtigen Einblick in eine Welt, die sich ohne sie weiterdrehte. Olga lachte, bis ihr die Tränen in die Augen traten, und zugleich war sie tief beeindruckt von der Haltung, mit der ihre Mutter die guten Nachrichten über ihre alten Feinde entgegennahm. Kyrill, der sie verraten und seine Männer unter der roten Fahne zur Duma geführt hatte, Felix und Dimitrij, die Mörder Rasputins, Ducky, die ungeliebte ehemalige Schwägerin - all dies waren Namen, die früher bei ihr unweigerlich auf heftige Anklagen und Verachtung gestoßen wären. Wie gut sie zu sein versucht! dachte ihre Tochter, und sie berührte Alexandras weißes Haar spontan mit den Lippen, bevor sie ihr die Hand küßte und ihr gute Nacht sagte. Wenige Tage später wurde die ruhige Zuversicht aller jählings durch eine Nachricht zunichte gemacht, die ihnen der verstörte Kobilinski überbrachte. Er kam herein, als sich gerade einmal sämtliche Hausbewohner zum Abendtee zusammengefunden hatten; die jüngsten Zarenkinder hatten ein Theaterstück aufgeführt, wie sie es so gerne taten, und jedermann war erschienen, um das Publikum zu verstärken. Der Salon war warm und gemütlich, der Samowar dampfte, es war eine anheimelnde Szene russischer Häuslichkeit. Eugen Kobilinski wandte sich an Nikolaus und sagte, es seien verschiedene Depeschen aus Petrograd eingetroffen. »Ich halte es für angebracht, Sie über ihren Inhalt zu informieren. Er ist... -448-
höchst beunruhigend.« »Nun, dann heraus damit!« »Wenn man den Depeschen Glauben schenken darf, dann hat es in der Hauptstadt eine Revolte gegeben. Lenin soll angeblich zurückgekehrt sein, und die Rote Garde hält die Schlüsselpositionen der Stadt besetzt. Kerenski ist geflohen. Und das Winterpalais... das Winterpalais wurde gerade, als die Verbindung abbrach, von einem Schlachtkreuzer aus Kronstadt, der Aurora, beschossen.« »Guter Gott!« Es dauerte eine Stunde, bis diese Nachrichten mit allen ihren Konsequenzen gründlich erörtert waren. Kobilinski, ungeheuer besorgt, wie seine Leute auf Lenins Triumph reagieren würden, begab sich in das Wachzimmer, versprach aber, erreichbar zu bleiben. Nikolaus war so überzeugt, daß vor Mitternacht neue Telegramme mit gegensätzlichen Nachrichten eintreffen würden, daß er erst nachdem Tatischew und Prinz Dolgoruki sich erboten hatten, ein paar Stunden aufzubleiben und ihm jedwede Nachricht sofort zu überbringen, bereit war, sich mit seiner Gemahlin zurückzuziehen. Die beiden Männer setzten sich ins Eßzimmer und spielten Karten. Es war fast ein Uhr, als Olga leise die Treppe herunterkam. Auch sie war von der allgemeinen Nervosität angesteckt worden und hatte sich nicht überwinden können, zu Bett zu gehen. Als ihre Schwestern schliefen, war sie hinausgeschlüpft. Der Ofen im Salon würde noch warm sein, und eine Stunde über einem Buch brachte vielleicht ein wenig Entspannung, milderte das lastende, furchtbare Gefühl, an diesem gottverlassenen Ort inmitten der sibirischen Steppe allem, was auf sie zukam, hilflos preisgegeben zu sein. Kaltes Mondlicht durchflutete die Halle. Sie hatte den Salon fast erreicht, als sich die Eßzimmertür einen Spalt öffnete und sie General Tatischew entschlossen und resigniert sagen hörte: -449-
»Gut, wenn Kerenski tatsächlich aufgegeben hat, dann ist das Spiel verloren. Ich persönlich wußte, als ich Petrograd verließ, daß ich bei dieser Sache nicht lebend davonkommen würde. Ich erbitte nur zweierlei: nicht vom Zaren getrennt zu werden... und mit ihm sterben zu dürfen.«
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24 An dem unfreundlichen Spätherbstmorgen, der dem Tag folgte, an dem der Kreuzer Aurora dem Winterpalais gegenüber vor Anker gegangen war, fand Joe Calvert die schäbige Wohnung in der Italianskaja beim Erwachen unangenehm kalt vor. Die Heizung im Gebäude war schon mehrere Tage ausgefallen, und Varvara hatte offenbar versäumt, im Wohnzimmerofen ein Feuer anzuzünden. Als er fröstelnd in die Küche kam, fand er sie leer. Er verwünschte die Verspätungen der öffentlichen Verkehrsmittel und die Menschenschlangen vor den Lebensmittelgeschäften, die der alten Frau so viel Zeit raubten, und ging daran, sich das Frühstück zu richten. In der Küche lief kein Wasser. Auch im Badezimmer gab es kein Wasser, und er konnte sich nur rasieren, indem er das Trinkwasser benutzte, das in einem Glaskrug bereitstand. Wütend trank er den Rest des Wassers, aß zwei trockene Kekse dazu und trat auf die menschenleere Straße hinaus. Er hoffte, daß Varvara bis zu seiner Heimkehr eine anständige Mahlzeit gekocht und sein Bett gemacht haben würde. Es verging ein Tag und eine Nacht, bevor Joe Calvert in die Italianskaja zurückkam, und Varvara sah er nie mehr wieder. Ein Lastwagen voller Rotgardisten, der um eine Ecke raste, um nach dem von Lenin und seinen Leuten entworfenen Plan ein Fernsprechamt zu besetzen, hatte die über die Straße schlurfende alte Frau erfaßt, und durch den Sturz war ihr Schädel an der Bordkante zertrümmert worden. Als er in der Botschaft ankam, drängten sich in der prächtigen Eingangshalle ernst dreinblickende Männer. Eine angenehme Überraschung für Vizekonsul Calvert war, daß Kaffee bereitstand. Während er trank, erzählte ihm einer der Attachés, daß die Rotgardisten die Wasserwerke und andere städtische Versorgungszentren kontrollierten und außerdem sämtliche -451-
Bahnhöfe. »Sieht so aus, als hätte Lenin im vergangenen Juli seine Lektion gelernt«, meinte der Mann. »Diesmal versichert er sich erst der Schlüsselpositionen, bevor er einen Putschversuch unternimmt.« Joe wollte gerade etwas erwidern, als der Presseattaché auf ihn zukam und sagte: »Der Gouverneur will Sie sprechen.« Botschafter Francis, der sich noch immer gern mit dem Titel anreden ließ, den er in Missouri innegehabt hatte, bemühte sich heldenhaft, würdig und staatsmännisch auszusehen, als Joe sein Arbeitszimmer betrat. Zum erstenmal rauchte er keine Zigarre. Er trug einen Gehrock, und eine schöne goldene Uhrenkette umspannte seinen beachtlichen Leibesumfang. Doch hinter der Fassade erblickte Joe einen müden alten Mann, der sich von seinem Amt überfordert fühlte. Außer ihm waren der Botschaftsrat und der Erste Sekretär anwesend. »Mr. Calvert«, begann der Botschafter, »Sie erzählten mir einmal, Sie hätten Zugang zu Kerenskis Amtszimmer im Tauridenpala st. Kennen Sie sich zufällig auch im Winterpalais aus?« »Eigentlich nicht, Sir. Ich war nur einmal dort, bei dem Abschiedsessen für die Root-Delegation im letzten Sommer.« »Im Malachitensaal, ja, natürlich. Das genügt schon. Ich werde nämlich jetzt eine kleine Rettungsmannschaft ins Winterpalais schicken, und ich möchte, daß Sie sie begleiten, für den Fall, daß ein Dolmetscher vonnöten ist.« »Wollen Sie die Minister herausholen, Sir?« »Kerenski«, erklärte der Botschaftsrat ungeduldig. »Nur Kerenski natürlich. Die Minister müssen selbst sehen, wie sie zurechtkommen.« »Wissen Sie«, fuhr Mr. Francis in freundlichem Ton fort, »ich habe heute morgen verschiedentlich mit Mr. Kerenski Verbindung gehabt. Er will es nicht zugeben, aber es sieht so aus, als würde diese Stadt noch vor Mitternacht den -452-
Bolschewiken in die Hände fallen, und wenn sie ans Ruder kommen, dann werden sie als erstes die Deutschen um einen Waffenstillstand angehen.« Joe nickte. Es war das alte Schreckgespenst, das immer in den Köpfen der Alliierten herumsspukte. »Wohingegen Kerenski, wenn er sich absetzt und in Pskow die Überreste der Armee um sich versammelt, eine faire Chance hat, die Situation zu retten. Der Sowjet hat außerhalb von Petrograd nicht die geringste Macht.« »Ganz recht Sir; aber glauben Sie, er kommt - ohne daß man ihn festnimmt oder womöglich gleich erschießt - an all den bolschewistischen Kontrollposten vorbei durch die Stadt?« »Er ist bereit, das Risiko auf sich zu nehmen. Für den schlimmsten Fall baut er auf das Überraschungsmoment, weil bestimmt niemand damit rechnet, ihn zu sehen. Und bevor Sie gehen, noch etwas: Haben Sie irgendein Argument parat, womit Sie ihn überzeugen könnten, falls er es sich im letzten Augenblick anders überlegen sollte? Sie sind früher doch gesellschaftlich mit ihm zusammengekommen, sagten Sie.« »Ich kenne ihn im Grund nur oberflächlich. Ich weiß allerdings, daß er ein sehr stolzer Mann ist - oder eitel, wenn Sie wollen -, und ich bin ziemlich sicher, daß er niemals den Schutz der amerikanischen Flagge akzeptieren wird.« »Er ist doch hoffentlich nicht zu stolz, um in einen amerikanischen Wagen einzusteigen?« »Im allgemeinen können die Russen keine Automarke von der anderen unterscheiden. Aber er wird nicht in die Geschichte eingehen wollen als der Mann, der die bolschewistischen Kontrollpunkte unter dem Sternenbanner passierte.« »Ihre Ansicht hat etwas für sich«, gab der Botschafter zu. »Trotzdem sehe ich nicht ganz ein, warum er die Flagge so von sich weisen sollte, wenn ich bedenke, was er die Vereinigten Staaten kostet.« Er wandte sich an den Botschaftsrat. »Haben -453-
Sie Caldwells letzten Bericht aus Wladiwostok gelesen? Über eine halbe Million Tonnen amerikanisches Kriegsmaterial liegt dort auf den Kais herum, und nicht eine einzige Einheit der Asiatischen Schwadron ist zur Bewachung abgestellt! Ich werde nach Washington telegrafieren, damit sofort die Brooklyn nach Wladiwostok geschickt wird, falls Lenin an die Macht kommt... Schön, Calvert, gehen Sie jetzt, Captain Riggs kann Sie in seinem Wagen mitnehmen. Handeln Sie nach Ihrem Gutdünken, was die Flagge betrifft.« In der Halle erfuhr Joe gerade noch, daß Lenin im SmolnyInstitut sei. Dann lief er die Stufen hinunter und stieg in den Wagen des Militärattachés ein. Der Kampf um die Alexanderbrücke schien damit geendet zu haben, daß die Rotgardisten die Zufahrt kontrollierten, und Joe blickte besorgt zu dem Palast des Großfürsten Dimitrij hinüber, als sie vorbeikamen. Er sah eine Rote-Kreuz-Fahne auf dem Dach flattern, aber die britische Flagge war verschwunden, und mit einemmal erfüllte ihn eine lähmende Furcht um Dolly Hendrikowas Sicherheit. Sie fuhren weisungsgemäß zum Eremitageneingang und wurden gebeten, den Ministerpräsidenten in einem Vorsaal zu erwarten. Im angrenzenden Raum waren uniformierte Frauen und ein paar blutjunge Kadetten zu sehen. Keine überzeugende Streitmacht zur Abwehr einer etwaigen Attacke... Wenige Minuten später kam Kerenski die Treppe herunter und trat mit hagerem, hohläugigem Gesicht zu ihnen, um ihnen die Hand zu schütteln. Er war abfahrbereit, und es wartete auch schon ein Wagen auf ihn. Er erzählte Joe, daß er beabsichtige, sich zuerst nach Pskow zu begeben und anschließend, wenn nötig, auch nach Mohilew; gleichzeitig werde er eine Operation in die Wege leiten, um den Bolschewiken die Funkstation von Zarskoje Selo - die wichtigste in ganz Rußland - zu entreißen. In der halbmilitärischen Uniform, die er, seit er Kriegsminister war, mit Vorliebe trug, sah er aus, als wäre er fähig, alle drei -454-
Dinge gleichzeitig zu tun, doch es war evident, daß er von seiner letzten Nervenkraft zehrte. Er verabschiedete sich kurz von seinen Mitarbeitern und stieg mit Oberst Kuzmin, dem Kommandeur des Distrikts Petrograd, und einem Adjutanten in den bereitgestellten Wagen. Der Rest seiner Begleiter zwängte sich in das Automobil, das Captain Riggs gehörte, und der Besitzer des Fahrzeuges entfernte schnell noch die amerikanische Flagge. »Mein Auto werde ich wohl nie mehr wiedersehen«, sagte der Offizier mit betrübter Miene, nachdem die Wagen abgefahren waren. »Meinen Sie, er schafft es?« »Könnte sein«, antwortete Joe. Kerenskis kühner Plan gelang. Ungehindert passierte er die bolschewistischen Kontrollpunkte, und er war bereits auf der Straße nach Pskow, bevor es überhaupt jemandem auffiel, daß er das Winterpalais verlassen hatte. Am frühen Abend wimmelte der weite Platz vor dem Palast von Menschen; im Vorgefühl des Triumphes erwarteten sie das Revolutionssignal, den Kanonenschuß, den der Kreuzer Aurora um neun Uhr auf das Winterpalais abfeuerte. Dann nahmen die Batterien der PeterPauls-Festung den Palast unter Beschüß. Sie richteten keinen großen materiellen Schaden an, beeinträchtigten aber den Kampfgeist ungeheuer. In den ersten Morgenstunden fanden sich die Minister der provisorischen Regierung mit ihrer Niederlage ab. Als Gefangene, die Gesichter kalkweiß im Schein der Fackeln, traten sie heraus, und nun waren die jubelnden Massen nicht mehr zurückzuhalten. Singend strömten sie in den Palast der Romanows: Erhebt euch, Gefangene des Hungers! Erhebt euch, Sklaven der Not und Angst! Das Volk hatte den Hof für immer verdrängt. Die Amerikaner, die die Nacht in der Botschaft verbrachten, -455-
fanden nur wenig Schlaf. Am Spätnachmittag kehrten die meisten Vormittagsbesucher in ihre Hotels zurück, in der Hoffnung, daß die Demonstrationen zunächst keine weiteren Folgen hätten. Andere - unter ihnen Joe Calvert - beschlossen, als das Regenwolkengrau in eine frühe Dämmerung überging, mit den diensttuenden Beamten und dem Hauspersonal im Gebäude zu bleiben. Als die Schießerei begann, wollten sie sich gerade zu einer späten Abendmahlzeit niedersetzen. Danach versuchten sie unentwegt, über das Telefon, das manchmal eine ganze Stunde lang nicht funktionierte, Neues zu erfahren. Die Kadetten der Militärschule hielten ihr Gebäude auf der WassilijInsel, des weiteren das Hauptpostamt, das »Astoria« und den Ingenieurspalast. Um vier Uhr morgens schien Ruhe in der Stadt zu herrschen. Die erschöpften Männer machten es sich in Sesseln und auf Couches bequem, und bald darauf waren in der ganzen Botschaft nur noch die Marinesoldaten wach, die vor dem Code- und dem Aktenraum Posten standen. Es war noch dunkel, als jemand Joe Calvert an der Schulter rüttelte und flüsterte: »Ein Anruf für Sie, die britische Botschaft.« Im Halbschlaf stolperte er zu dem Apparat im Zimmer des Presseattachés. »Joe? Hier ist Dick. Gott sei Dank, daß ich dich gefunden habe. Ich versuche dich schon seit einer halben Stunde zu Hause zu erreichen.« »Seit einer halben... wieviel Uhr ist es denn?« »Gerade acht. Joe, ich habe Dolly hier, sie hat die Nacht in der Botschaft zugebracht.« »Dolly? Was ist denn mit dem Lazarett?« Er war vor Müdigkeit noch ganz benommen. »Die Bolschewiken besetzten es, als sie die Brücke verteidigten. Ein symbolischer Akt, vermutlich... Dimitrijs Palast. Lady Betty nahm Dolly mit, weil sie gar nicht wußte, wohin sie gehen sollte...« -456-
»Was ist mit den Verwundeten?« »Die Rotgardisten schickten ihre eigenen Sanitäter hin. Und jetzt wach auf, Joe, ich möchte, daß du einen Wagen besorgst und Dolly in die Italianskaja bringst.« »Wie? In eurer Botschaft ist sie doch bestimmt besser aufgehoben!« »Das bezweifle ich«, widersprach Dick grimmig. »Die Roten stellen gerade Feldgeschütze auf dem Suworowplatz auf. Sie wollen die Kadetten aus dem Ingenieurspalast herausholen, und es würde mich nicht wundern, wenn sie dabei auch die Botschaft träfen.« »Guter Gott«, sagte Joe, mit einemmal hellwach. »Ich organisiere sofort einen Wagen und bin in zehn Minuten bei dir. Fährst du mit uns nach Hause?« »Kaum«, antwortete Dick. »Ich muß noch etwas im SmolnyInstitut erledigen.« Während erschöpfte Männer in den alliierten Botschaften ein paar Stunden Schlaf nachholten, hielten die siegreichen Revolutionäre im Smolny-Institut, wo sie ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten, eine Marathonsitzung ab. Im schönen weißgoldenen Ballsaal der aristokratischen Mädchenschule drängten sich bärtige, schwitzende, zum Teil schwerbewaffnete Männer, um die Führer des militärischen Revolutionskomitees zu sehen und zu hören und die magische Parole zu brüllen: »Alle Macht den Sowjets!« Die größte Ovation blieb Lenin vorbehalten, der jetzt zum Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare ernannt worden war. Sofort wurden in schneller Folge alle möglichen Gesetze und Dekrete erlassen, die unter anderem die Beendigung des Krieges durch Verhandlungen mit dem Feind, die Aufhebung des Grundbesitzes, die Abschaffung aller Titel und die Übernahme des westlichen Kalenders zum Inhalt hatten; das zustimmende -457-
befriedigte Gebrüll des Auditoriums genügte zu ihrer Bewilligung. Mit den Gesetzen kamen die Strafaktionen : Gegen Kerenski wurde ein Haftbefehl erlassen, und Volksgerichtshöfe sollten Konterrevolutionäre und sonstige Feinde des kommunistischen Regimes aburteilen. Als Joe Calvert am frühen Abend zur Italianskaja zurückfuhr, schien in der Stadt eine gewisse Ordnung zu herrschen. Die Straßenbahnen hatten in beschränktem Umfang ihren Betrieb wiederaufgenommen, einige Läden waren geöffnet gewesen, und die Theater kündigten Vorstellungen an wie sonst auch. Erleichtert über die eingetretene Ruhepause, steuerte Joe den Botschaftswagen in den Hof hinter dem Haus Nr. 365. Er zog den Zündschlüssel heraus, ging nach vorn zur Eingangstür und rannte die Treppe hinauf. Dolly war am Morgen sehr verängstigt gewesen, und er hatte kaum Zeit für sie gehabt und konnte ihr lediglich frische Wäsche für sein Bett geben und sie bitten, sich für ein paar Stunden hinzulegen, bevor er auf seinen Posten zurückkehrte. Als er nun die Wohnungstür öffnete, wehten ihm verlockende Essensdüfte entgegen, und Dolly, die sich eine von Varvaras groben blauen Schürzen umgebunden hatte, kam lächelnd und mit gerötetem Gesicht aus der Küche. Noch nie war er so empfangen worden, und er nahm sie in die Arme und gab ihr einen herzhaften freundschaftlichen Kuß, hielt sie aber nicht zurück, als sie gleich wieder in die Küche eilte und mit einem langen Löffel in einem Tiegel herumzurühren begann. »Was ist das?« fragte er. »Es riecht vorzüglich.« »Ich fand ein paar Fleisch- und Gemüsekonserven in Ihrem Schrank, genug für ein gutes Eintopfgericht.« »Gibt es noch kein Gas?« »Nein. Glücklicherweise entdeckte ich den kleinen Spirituskocher im Dielenschrank.« »Was ist mit Varvara?« -458-
»Sie ist nicht gekommen, aber das Mädchen von nebenan war so nett und half mir das Wasser herauftragen.« »Das Wasser herauf tragen?« Dolly berichtete heiter, daß am Nachmittag für eine Stunde eine Pumpe im Hof angeschlossen worden war, wo sich die Hausbewohner mit Wasser versorgten. Es gab zwei volle Eimer im Bad und einen in der Küche, und das Wasser war trinkbar; sie würde nachher Tee kochen. Sie hatte auch den Ofen im Wohnzimmer angezündet. »Sie sind ein großartiges Mädchen«, sagte Joe. »Ich hoffe nur, daß Sie sich nicht zuviel zugemutet haben. Stellen Sie den kleinen Kocher für eine Weile ab und trinken Sie etwas mit mir... hat Dick angerufen?« endete er beiläufig. »Das Telefon funktioniert noch nicht, Joe.« Er wusch sich im Badezimmer schnell ein wenig und ging dann ins Wohnzimmer, wo, wie er sofort sah, der Tisch für drei Personen gedeckt war. Als er ihr und sich selbst ein Glas Cherry Brandy eingegossen hatte das einzige, was es gab, - ließ er sich in den knarrenden Korbsessel fallen. »Armer Joe, Sie sind müde, nicht wahr?« »Es war ein anstrengender Tag.« »Meinen Sie, jetzt ist endlich alles ausgestanden?« »Vielleicht ist das auch erst der Anfang.« Er fragte sich, ob sie wohl die ganze Tragweite dieser neuen Revolution erfaßte. Sie sah so jung und zuversichtlich aus, wie sie dasaß und in den offenen Ofen schaute, wo die Birkenscheite prasselten, und sie hatte sein ödes Heim in wenigen Stunden so wohnlich gestaltet, daß Joe Calvert schon halb damit rechnete, sich von neuem in sie zu verlieben. Nach ihrem Gespräch im Park waren sie nur noch selten zusammengetroffen. Sie hatte ihn so unmißverständlich abgewiesen, so klar zum Ausdruck gebracht, -459-
wem sie den Vorzug gab, daß es ihm sein Stolz verbot, sich ihr aufzudrängen, als ihre Eltern nach Finnland gingen. Bei ihren wenigen Begegnungen war sie herzlich und nett zu ihm gewesen, aber irgendwie nicht mehr ganz so offen und unbefangen wie früher... »Wie ist das denn nun«, begann er nach einer Weile. »Sie haben mir noch gar nicht gesagt, wohin ich Sie später fahren soll. Zu Ihrem Vetter Timofey?« Dolly errötete. »Richard möchte mich nach Finnland bringen wenn er kann, schon morgen. Er findet, ich sollte nicht in Petrograd bleiben.« »Das gleiche habe ich Ihnen schon vor Monaten gesagt. Jetzt ist so eine Reise viel schwieriger zu bewerkstelligen. Außerdem haben die Bolschewiken die großen Bahnhöfe für ein paar Tage gesperrt...« In diesem Moment wurde ein Schlüssel in der Haustür umgedreht. »Das muß Richard sein!« rief Dolly erfreut und war bereits hinausgelaufen. Joe hörte ihr scheues Lachen, dann Richards Stimme, die ihren Namen aussprach... Entschlossen stieß er die Wohnzimmertür mit dem Fuß zu und begutachtete Vizekonsul Calvert in dem fleckigen Spiegel, der neben dem Schreibtisch hing, mit einem langen kritischen Blick. Was er sah, befriedigte ihn wenig: hagere Züge, bläßliche Haut, übernächtigte, gerötete Augen... wirklich nichts, was ein Mädchen attraktiv finden konnte. Doch dann dachte er an Dicks Chamäleongesicht, an die wäßrigblauen Augen, und er fragte sich, warum ausgerechnet Joe Calvert derjenige hatte sein müssen, der aus dem Spiel ausschied. Eine Stunde später ließ er die beiden in ihrer behaglichen Oase zurück und fuhr mit dem Botschaftswagen in die Vierte Straße. Es gab noch einen kleinen Dienst, den er Dolly erweisen -460-
konnte... Dick hatte bei Tisch kurz erläutert, wie er mit Dolly nach Koivisto zu gelangen hoffte. Joe kam der Plan höchst riskant vor, aber wahrscheinlich war es ebenso riskant, in einer Nacht, in der die triumphal gestimmten Rotgardisten fähig waren, jedwedes Fahrzeug zu requirieren, einen amerikanischen Wagen durch Petrograd zu steuern. Am Newaufer stoppte ihn eine Patrouille. Joe zeigte seinen Diplomatenpaß, den nur einer der sechs Männer zu lesen imstande war; glücklicherweise schien das mehrmals wiederholte Wort amerikanski alle zu beeindrucken, und sie ließen ihn passieren. Auf der Wassilij- Insel war keine Patrouille und überhaupt kein lebendes Wesen zu sehen. Nur die Leiche eines Polizisten, die, vom eisigen Wind hin und her bewegt, an einem Laternenpfahl baumelte, zeigte, daß die Revolution auch hier vorbeigekommen war. Die Vierte Straße lag offenbar in einem der Teile der Stadt, die von der Stromversorgung abgeschnitten worden waren, denn es brannte nirgends Licht. Zu Joes Überraschung stand die Haustür offen; nachtschwarz gähnte ihm das Treppenhaus entgegen. Er hatte eine Taschenlampe mitgebracht, und ihr bleistiftdünner Strahl ermöglichte es ihm, Dollys Schlüssel in das Schloß der Wohnungstür zu stecken. Sie war von innen verriegelt. Joe steckte den Schlüssel in seine Tasche und tastete nach der Pistole, die seit kurzer Zeit jeder amerikanische Konsul bei sich tragen durfte. Eine Hand um die Waffe geschlossen, schlug er laut gegen die Türfüllung. Aus der Wohnung drang ein leises schleifendes Geräusch. Diebe? Plünderer? Simon Hendrikow? »Simon!« flüsterte er durch das Schlüsselloch. »Simon! Sind Sie es?« Die antwortende Stimme klang sehr rauh, aber er erkannte sie dennoch wieder. »Wer ist da?« -461-
»Joe Calvert.« »Sind Sie allein?« »Ja.« Die Riegel wurden zurückgezogen, die Kette klirrte, und der Lichtstrahl der Taschenlampe fiel auf ein ausgezehrtes, verstörtes Gesicht. »Schnell, kommen Sie herein«, war alles, was Simon sagte. Er führte ihn in die Küche, wo eine kleine Petroleumlampe brannte. Ein Paket finnisches Knäckebrot lag von Krumen umgeben auf dem Holztisch, und auf dem Boden sah Joe die zerfetzten Reste einer Uniform. Erst jetzt wurde er gewahr, daß Dollys Bruder einen offenkundig noch aus Vorkriegszeiten stammenden dicken Tweedanzug trug, der an seinem Körper schlotterte, und darunter einen dunklen Rollkragenpullover. »Was ist mit Dolly?« war Simons erste Frage. »Keine Sorge. Sie ist im Augenblick in der Italianskaja. Ich wollte gerade ein paar Sachen abholen, die sie nach Finnland mitnehmen möchte. Guter Gott, Simon, wo haben Sie bloß gesteckt! Dolly ist schon halb krank vor Sorge. Seit Ende Juli wußte niemand mehr etwas von Ihnen...« »Ich bin bei Malodechno verwundet worden«, erklärte der Russe in teilnahmslosem Ton, »und auch mein Arm machte mir wieder zu schaffen. Ich konnte einfach nicht schreiben, Joe, und außerdem verlegte man uns nach dem Rückzug ständig von einem Ort in den anderen.« »Aber drei Monate, Mann? Woher kommen Sie denn jetzt?« »Ich wurde am Wochenende aus dem Lazarett in Pskow entlassen. Ein Stück konnte ich mit der Bahn fahren, und nachdem der Streik angefangen hatte, nahm mich ein Lastwagen bis zum Narwator mit. Von da aus bin ich gelaufen.« »Dann können Sie sich bestimmt kaum mehr auf den Füßen halten. Kommen Sie mit ins Wohnzimmer und setzen Sie sich.« -462-
Es gab noch Petroleum in der großen Deckenlampe, die Professor Hendrikow so anheimelnd gefunden hatte, und in ihrem sanften Licht sah Joe, daß Simons Augen einen glasigen, leeren Blick hatten und seine breiten Schultern zusammensackten, als er sich in den nächstbesten Sessel fallen ließ. Er hatte das Brotpaket aus der Küche mitgenommen. »Das stammt aus Koivisto«, sagte er völlig zusammenhangslos. »Wie kommt er hierher?« »Vermutlich haben es Ihre Eltern zurückgelassen, als sie sich Ende September hier aufhielten. Simon! Sie wußten doch, daß Ihre Eltern nach Finnland gefahren waren, oder nicht?« »O ja«, antwortete er in dem gleichen indifferenten Ton wie zuvor. »Dolly schrieb mir damals einen langen Brief, aus dem ich nicht recht klug wurde. Irgend etwas über betrunkene Eindringlinge und Kapitän Jakowlew, der sich sehr hilfsbereit zeigte, und Vater - wie geht es ihm jetzt?« »Viel besser, seit sie in Koivisto sind. Dolly will morgen auch nach Finnland...« »Morgen verkehren keine Züge.« »Dick Allen hat eine andere Möglichkeit gefunden; er bringt sie übrigens selbst hin. Wenn Sie meinen Rat annehmen möchten, dann gehen Sie mit und fahren nach Kopenhagen weiter.« »Nur weil Lenin und seine Bande eine neue Revolution angezettelt haben?« »Ja.« »Tut mir leid, Joe, ich habe andere Pläne.« »Und die wären?« Simon hatte unaufhörlich das Brotpaket zwischen den Händen herumgedreht. Jetzt legte er es ungeheuer behutsam, fast ehrerbietig, auf den Tisch und antwortete in apathischem Ton: »Ursprünglich wollte ich mich nach Dolly umschauen, aber -463-
das ist ja nun nicht mehr nötig. Also kann ich sofort in die Jamskaja gehen... Ich möchte mit Mara Trenowa ein Wörtchen reden.« »Mit Mara?« »Dolly schrieb, sie sei schuld daran, daß die Matrosen unsere Wohnung verwüsteten.« »Das ist nie so recht bewiesen worden.« »Sie haben sie immer verteidigt.« »Das stimmt nicht. Im übrigen wäre es ein ungeheures Risiko für Sie, sich in diese Gegend zu wagen, wo man Sie womöglich als Konterrevolutionär verhaftet. Außerdem«, fügte er, einer plötzlichen Eingebung folgend, hinzu, »ist Mara sicher im Smolny-Institut. Lassen Sie sie in Ruhe, seien Sie vernünftig. Kommen Sie mit in meine Wohnung, zu Dolly. Sie sollten erst einmal etwas Anständiges essen und sich ausschlafen. Dick wird bestimmt alles tun, was in seinen Kräften steht, um Sie beide aus dem Land zu schleusen.« Er erhob sich. »Ich will mich nicht allzulange aufhalten, es ist zu gefährlich.« Joe dachte sowohl an die offene Haustür als auch an die möglichen Kontrollen unterwegs. »Würden Sie mir Dollys Zimmer zeigen? Sie möchte zwei Wollkleider und ihr en Pelzmantel.« Simon stand fügsam auf. Doch er war mit seinen Gedanken bereits anderswo. »Ist es wahr, daß der Zar und seine Familie in Tobolsk sind?« »Sie sind schon seit drei Monaten in Tobolsk.« »Und es hat niemals jemand versucht, sie zu befreien?« »Wie stellen Sie sich das denn vor, Simon? Wir alle hatten trotz vieler Widrigkeiten bis zuletzt gehofft, daß man sie in England aufnehmen würde. Als Ramsay MacDonald das dann im Verein mit Lloyd George unterband, schaffte man sie blitzschnell nach Tobolsk. Ich habe wohl hier und da gehört, irgendwelche Monarchistengruppen befaßten sich mit -464-
Rettungsplänen, aber soviel ich weiß, sind sie nie in die Tat umgesetzt worden.« »Ich verstehe.« »Sie tragen sich doch nicht etwa mit derartigen Gedanken?« »Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo Dollys Zimmer ist.« Im Schein der Taschenlampe packten sie hastig einen Koffer. Anschließend suchte Simon noch ein paar persönliche Habseligkeiten zusammen und versah sich mit einem schweren Zivilmantel. Als sie wieder im Wohnzimmer standen und er das Licht löschte, bemerkte er: »Für Plünderer ist hier wohl kaum mehr etwas zu holen...« Joe nickte. »Ich bin nur froh, daß Ihre Eltern Dick Allens Rat befolgten und ihr gesamtes Vermögen nach Finnland transferierten, ehe sie Petrograd verließen. So stehen sie in Kopenhagen wenigstens nicht mittellos da.« »Sollte ich nicht schnell noch den Schreibtisch durchsuchen, für den Fall, daß mein Vater irgendwelche Papiere vergessen hat?« »Nehmen Sie die Taschenlampe mit.« Simon schloß die Tür zwischen den beiden Räumen und zog so geräuschvoll wie möglich die Schubladen auf. Natürlich waren sie leer; er hatte von seiner umsichtigen Mutter gar nichts anderes erwartet. Er wollte lediglich noch einmal im Arbeitszimmer seines Vaters allein sein. Als er ausgehungert, verschmutzt und erschöpft in der elterlichen Wohnung anlangte, hatte er nur animalische Bedürfnisse gehabt: Er aß etwas, verteilte die letzten Tropfen Wasser, die aus der Leitung kamen, über Gesicht und Hände, zog die zerlumpte Uniform aus. Der Kontakt mit Joe hatte ihn aus diesem primitiven Stadium herausgeholt, und jetzt konnte er sich wieder anderen Zielen zuwenden. Seine Gedanken kreisten um Olga. In diesem Zimmer hatte er sie in den Armen gehalten, -465-
sie geküßt, selig ihrem Liebesgeständnis gelauscht. Er sah sie vor sich, ihr blondes Haar, die sanfte Höhlung der Wangen unter den slawischen Backenknochen, die dunkelblauen Augen... Er hörte ihre Stimme, hörte sie sagen: »Er war sehr treu in der Liebe und furchtlos im Kampf genau wie du, Simon.« Seine kräftige linke Hand packte die jetzt fast unbrauchbare Rechte, und er leistete lautlos einen Schwur: »Duschenka moya. Ich werde dich retten... wenn ich es kann.«
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25 Nachdem Olga zufällig mitgehört hatte, wie gelassen General Tatischew selbst die Möglichkeit hinnahm, daß ihre sibirische Gefangenschaft mit dem Tod enden könnte, fiel sie in eine tiefe Depression. Sie stand kurz vor ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag, und der Lebenstrieb in ihr war so stark, daß sie sich mit dem Sterben nicht abzufinden vermochte. Was sie aber als erste Folge der kommunistischen Revolution fürchtete, war die Inszenierung eines Hochverratsprozesses gegen ihre Eltern. Sie wußte, daß Trotzki dies seit seiner Rückkehr nach Rußland angestrebt hatte. Doch sie enthüllte ihre Ängste niemandem, und die Hauptsorge ihrer Schwestern schien das Problem zu sein, wie man sich in dem zugigen Haus in Tobolsk in der furchtbaren Kälte eines sibirischen Winters warm halten könnte. Unter Geldknappheit litten sie zunächst noch nicht, obwohl die provisorische Regierung, die für ihre Ausgaben aufkam, fortgefegt worden war; auch die politischen Veränderungen hatten keine unmittelbaren Auswirkungen. In ganz Rußland wurden Sowjets aufgestellt, und im Ural- Gebiet gab es zwei sehr mächtige in Jekaterinburg und Omsk. In Tobolsk mit seinen siebenundzwanzig Kirchen bei zwanzigtausend Einwohnern lebte man nach wie vor gottesfürchtig und abgeschieden. Der Winteranfang, der mit der Revolution zusammentraf, schnitt die Stadt von aller Propaganda ab, die nicht auf telegrafischem Weg übermittelt werden konnte. Die zwei Vertreter des Petrograder Sowjets, die Ende September Makarow abgelöst hatten, waren keine Bolschewiken, sondern alte Sozialrevolutionäre, und zumindest einer von ihnen war den Romanows ziemlich wohlgesinnt. Nichtsdestoweniger hielten sie es für ihre Pflicht, politische Diskussionen unter den mit der Bewachung der kaiserlichen Gefangenen betrauten Soldaten zu fördern, und Oberst -467-
Kobilinski fand es immer schwerer, gegenüber den Scharfschützen seine Autorität zu behaupten. Die vom Ersten und Zweiten Regiment abgezogenen Einheiten wurden überzeugte Revolutionäre; die Männer des Vierten Regiments waren gutmütig und beteiligten sich manchmal an den Spielen der jüngeren Mädchen und ihres Bruders. Nikolaus und seine Herren erörterten täglich stundenlang jede noch so kurze Nachricht, die zu ihnen gelangte. Es gab fruchtlose Debatten über die Niederlage Kerenskis, der es versäumt hatte, die Reste der Armee für die Wiedereroberung Petrograds einzusetzen, und sich nun verborgen hielt. Noch längere Debatten gab es über Lenin, vom Zaren rundweg als deutscher Spion bezeichnet, und den Waffenstillstand, den er als Vorbereitung für einen Friedensvertrag mit Deutschland und Österreich geschlossen hatte. Nikolaus hatte nicht einmal unmittelbar nach seiner Abdankung einen so gebrochenen Eindruck gemacht wie an dem Tag, als die Nachricht vom Waffenstillstand eintraf: Der Eid, den er damals im Winterpalais geleistet hatte, niemals und mit niemandem Frieden zu schließen, solange auch nur ein Feind auf russischem Boden verblieb, war für ihn ein ebenso ernstes Versprechen gewesen wie sein Ehegelübde. Dies waren Männergespräche, die im Eßzimmer stattfanden; im Salon streifte Alexandra Feodorowna jetzt nur noch selten politische Themen. Sie strickte dicke Wollstrümpfe für Alexis, der sich bei jeder Gelegenheit draußen im Schnee tummelte, und ihre einzige Klage waren, daß sie nur einmal wöchentlich eine Messe hören durften. Doch die Abendgebete im Kreis der Familie waren ein Trost, und Olga genoß diese Zusammenkünfte ganz besonders. Manchmal kam ein junger Diakon der Kirche, die sie sonntags besuchten, um die Abendliturgie zu intonieren, und nach einiger Zeit merkte Olga, daß Diakon Wasiljew sich oft mit ihrem Vater und den anderen Herren ins Eßzimmer setzte, wenn die Damen - Alexis war um -468-
diese Stunde gewöhnlich schon im Bett -, in Schals gehüllt, nach oben in ihre eisigen Schlafzimmer eilten. Olga beobachtete den Diakon; sie beobachtete die zunehmende Munterkeit ihres Vaters und sah eine gewisse exaltierte Erregung, die sie an vergangene Tage erinnerte, im Gesicht ihrer Mutter. Sie beschloß, sich mit Monsieur Gilliard zu beraten. Sie kannte ihn viel besser als die beiden Russen, die für den Mann, den sie noch immer den Zaren nannten, als Adjutanten fungierten; sie kannte auch seine langerprobte absolute Zuverlässigkeit. In der Enge ihres Quartiers war es nicht leicht, ein privates Gespräch zu führen, aber eines Morgens, als sie sich draußen Bewegung machten, ergab sich eine Gelegenheit. Olga pries zuerst Alexis' Skikünste. »Er hat nicht viel Platz zum Üben, der arme Bursche«, meinte Gilliard. »Nein, und trotzdem beklagt er sich fast nie. Meist ist er genauso duldsam wie diese beiden.« Sie wies auf Marie und Anastasia, die sich abwechselnd auf einer Schaukel anstießen. »Eigentlich haben sie das Schaukelalter schon hinter sich«, sagte sie. »Achtzehn und sechzehn - sie sollten etwas anderes haben als so ein altes, morsches Ding! Pferde, ein Auto, Freunde...« Sie seufzte. »Um ihretwegen tun mir die Entbehrungen leid.« »Mir tun sie um Ihrer aller willen leid.« Er streifte Olga Nikolajewna mit einem flüchtigen Seitenblick. Sie wirkte wesentlich älter als zweiundzwanzig. Ihr Haar hatte mittlerweile eine Bubikopflänge erreicht, die ihr nicht schlecht stand, aber es war nun aschblond und hatte seinen warmen Glanz verloren, und sie sah in ihrem dicken Cape blaß und abgemagert aus. »Lieber Monsieur Gilliard«, sagte sie, »ich kenne Sie schon so lange, nicht wahr? Länger als alle anderen Freunde, die tapfer genug waren, unser Los zu teilen... Darf ich Ihnen nach diesen zwölf Jahren eine sehr wichtige Frage stellen?« »Natürlich.« -469-
»Sie und Mr. Gibbs können sich ungehindert in der Stadt bewegen...« »Unter militärischer Bewachung«, warf Gilliard ein. »Gewiß. Doch Sie gehen in Läden, in die Leihbücherei, Sie treffen Menschen. Sagen Sie mir, haben Sie je auch nur irgend etwas von einem Plan zu unserer Befreiung gehört oder gesehen?« »Ich wollte, ich könnte Ihnen mit einem Ja antworten.« »Also ist von der Einwohnerschaft der Stadt nichts zu erwarten. Sofern überhaupt Hilfe kommt, dann höchstens von außerhalb. Aber von wo?« »Ich habe mich das tausendmal gefragt«, erwiderte der Schweizer. »Jetzt wäre der gegebene Zeitpunkt, bevor die Flüsse zufrieren und die Bolsche wiken Tobolsk übernehmen, so wie sie Jekaterinburg übernommen haben. Kobilinski ist auf unserer Seite, das weiß ich, und wenn die Soldaten des Vierten Regiments Wache hätten, wäre es zu machen. Wenn wir nur ein paar mutige Männer draußen hätten, die uns he lfen wollten...« »Haben Sie meinen Vater einmal irgendwen erwähnen hören?« Monsieur Gilliard sagte mit der ihm eigenen Zurückhaltung: »Seine Majestät bespricht solche Angelegenheiten vielleicht mit seinen Adjutanten, Olga Nikolajewna. Mit mir nicht.« »Aber Sie haben etwas gehört? Sie sitzen doch am Abend mit den Adjutanten zusammen, und Sie nehmen die Mahlzeiten gemeinsam ein. Sie müssen wissen, ob etwas in der Luft liegt. Oder haben Sie die Hoffnung aufgegeben wie General Tatischew? Glauben Sie etwa auch, daß wir nie mehr lebend von hier fortkommen?« »Hat sich der General in diesem Sinn geäußert?« »Ich habe eine Bemerkung von ihm mit angehört... Monsieur Gilliard, Sie müssen mir die Wahrheit sagen! Wenn ich daran -470-
denke, daß unser Leben möglicherweise von dem abhängt, was jetzt geplant wird...« »Viel weiß ich wirklich nicht«, erklärte er zögernd. »Ich habe lediglich eines erfahren, vor ein paar Tagen erst und von Seiner Majestät selbst: Es gibt in Tjumen dreihundert russische Offiziere, die eine Befreiungsaktion vorbereiten.« »Ich danke Ihnen«, seufzte Olga erleichtert. »Erst vor ein paar Tagen? Dann bleibt mir vielleicht noch Zeit, mit meinen Eltern zu sprechen. Ich möchte herausfinden, was sie vorhaben.« »Sie geben mich doch hoffentlich nicht preis?« »Natürlich nicht.« Wenig später sprach Olga ihre Befürchtungen Tatjana gegenüber aus. »Wenn sie irgendeinen verrückten Plan schmieden, der die Wachen gegen uns einnimmt, werden wir getrennt und in ein richtiges Gefängnis gesperrt«, sagte Olga hart, und dies eine Mal teilte Tatjana ihre Meinung. »Dreihundert von unseren Offizieren in einer so kleinen Stadt wie Tjumen - eine überaus wahrscheinliche Geschichte!« spottete sie. »Wir müssen noch heute mit Papa reden.« Es ergab sich, daß der junge Diakon an diesem Abend besonders lange blieb, und so konnte Olga, als sie und ihre Schwester ihre Eltern in deren Schlafzimmer begleiteten, mit den Worten anfangen: »Vater Wasiljew kommt jetzt fast täglich, um Abendgebete für uns zu sprechen, nicht wahr?« »Ich will schnell zu Baby hineinschauen und sehen, ob er gut zugedeckt ist«, sagte Alexandra. Wie die beiden Mädchen war auch sie in einen langen Schal gehüllt, doch auf dem abgedeckten Bett lag ein eleganter flauschiger Morgenrock bereit, und der Raum, in dem viele Ikonen und Familienporträts -471-
hingen, war nicht unbehaglich. »Bitte, Mama, warten Sie eine Minute, wir möchten etwas sehr Wichtiges mit Papa und Ihnen besprechen«, flehte Tatjana, und der Zar erkundigte sich belustigt, ob es für einen Familienrat nicht etwas zu spät sei. »Uns hat sich der Gedanke aufgedrängt, daß Vater Wasiljew womöglich Botschaften überbringt - falls er mit irgendwelchen Freunden von uns in Verbindung steht«, sagte Olga. »Wenn das zutrifft, sollten wir es auch erfahren - unserer Ansicht nach.« »Sie sind hinter unser Geheimnis gekommen, Alice; wir müssen sie wohl tatsächlich einweihen«, meinte Nikolaus. »Wir wollten keine verfrühten Hoffnungen bei euch wecken«, sagte er dann, an die Mädchen gewandt. »Aber die Zeit ist ohnehin bald reif. Dreihundert tapfere Offiziere meiner Armee sind in Tjumen und bereiten sich darauf vor, uns zu befreien. Eure Mama hat ihnen einen wundervollen Namen verliehen: ›Die Bruderschaft des heiligen Johannes von Tobolsk‹, und auf ihren Wunsch hin haben sie das Hakenkreuz zu ihrem Emblem gewählt.« »Hier allein gibt es schon dreihundert Rote zu unserer Bewachung, und in der Stadt liegen noch verschiedene andere Regimenter«, bemerkte Olga. »Ich glaube kaum, daß sie untätig zuschauen werden, wie uns die Bruderschaft fortbringt.« »Viele von den Stadtbewohnern haben ihre Loyalität bekundet, und der gesamte Klerus steht auf unserer Seite.« »Einschließlich Vater Wasiljews, natürlich?« »Er ist der Verbindungsmann der Bruderschaft in Tobolsk.« »Und wer ist der Verbindungsmann in Tjumen?« »Nicky, Liebster, ich finde, du hast ihnen nun genug erzählt«, mischte sich Alexandra Feodorowna ein. »Man hat uns doch eigens darauf hingewiesen, daß wir erst nach Weihnachten mit Hilfe rechnen dürfen...« »Dann müssen die Retter aber auf dem Landweg kommen«, -472-
meinte Tatjana, »und das hieße, daß jede Poststation, die sie passieren, telegrafisch Warnungen durchgeben würde.« »Wer finanziert die Bruderschaft?« erkundigte sich Olga. Es war eine jener unverblümten praktischen Fragen, die ihrer Mutter schon immer bei ihr mißfallen hatten. »Sie können wohl kaum ihre Geldquellen preisgeben«, erwiderte Alexandra Feodorowna. »Ich weiß nur, daß Jaroschinski, der meinen Lazarettzug verwaltete, eine große Summe nach Tjumen geschickt hat.« »Ich dachte, er sei im Gefängnis«, sagte Olga. »Er stand doch mit Manuilow im Bund, den Rodzianko verhaften ließ. Oh, Mama, in was für eine Sache haben Sie sich denn da wieder verwickeln lassen!« »Ich halte Leutnant Solowjew für einen höchst vertrauenswürdigen Mann«, bemerkte Nikolaus freund lich. Der Name ließ Olga beunruhigt aufhorchen. »Ist er das Haupt der Organisation in Tjumen? Leutnant Solowjew? Was für ein Solowjew ist das? Doch nicht etwa Boris Solowjew?« »Ein treuer Freund, den wir oft getroffen haben«, erklärte ihre Mutter. »In Anja Wirubowas Haus, meinen Sie«, sagte Olga verächtlich. »Ich bin ihm dort einmal begegnet. Erinnerst du dich an ihn, Tanja?« fragte sie mit erhobener Stimme. »Er heiratete später Grischa Rasputins Tochter. Rasputins Schwiegersohn soll uns befreien wollen? O Papa!« Ihre Stimme klang jetzt heftig, beschwörend. »Wie können Sie nur auf diese Geschichte hereinfallen! Wie können Sie einem Angehörigen des Mannes trauen, der uns einmal so viel Schaden zugefügt hat? Ich würde keinen Schritt mit Boris Solowjew gehen und auch jeden anderen davon abhalten! Er hat bestimmt nur vor, uns an die Bolschewiken zu verraten...« Alexandra weinte bereits und protestierte dagegen, daß das -473-
Andenken »Unseres Lieben Märtyrers« derart geschmäht werde. Aber Olga blieb fest und entlockte ihrem Vater das Versprechen - soweit es einen Wert hatte -, in Zukunft keine heimlichen Abmachungen mehr mit Tjumen zu treffen. »Nur wenn wir alle unterrichtet sind«, verlangte sie entschlossen. Sei es, daß der Bruderschaft das Hakenkreuz kein Glück brachte oder daß sie nur in Solowjews Einbildung existierte von einer bewaffneten Streitmacht war auf der vereisten Straße nichts zu sehen, als die bitteren Wintertage kürzer wurden und die Rus letztmalig vor dem Frühling zu ihrem Ankerplatz kam. Das einzige, was sich zutrug und weitreichende Folgen hatte, war, daß der junge Diakon am russischen Weihnachtstag öffentlich die Gebete für die kaiserliche Familie intonierte, die seit der Abdankung nicht mehr in den Kirchen hatten gesungen werden dürfen. Es war das Signal für die Wachsoldaten, ihre Gefangenen regelrecht zu schikanieren. Nur die Männer des Vierten Scharfschützenregiments blieben weiterhin freundlich, aber auf jeden Fall hielten sich jetzt auch im Haus selbst ständig Wachen auf. Der Zar mußte die Epauletten von den Schultern seiner immer schäbigeren Uniform entfernen lassen, Briefe wurden weder eingesammelt noch befördert, und das Gefühl der Isolierung wurde akut. Die mutige Hofdame, die von ihrem Krankenhausbett aufgestanden war, um zu ihrer kaiserliche n Herrin nach Tobolsk zu fahren, durfte die Gouverneursvilla nicht betreten. Und schließlich wurden die beiden Sozialrevolutionären Kommissare nach Petrograd zurückberufen und durch zwei Bolschewiken ganz anderer Prägung ersetzt. Der einzige Lichtblick in dieser düsteren Situation war die Tatsache, daß Alexis bei bester Gesundheit und immer gut gelaunt war. Er stak voller Spaße wegen der im Januar vorgenommenen Umstellung des russischen Kalenders auf die westliche Zeit und verkündete, daß 1918 jedermann seinen Geburtstag zweimal feiern müßte. Sein eigener war im August. »Da muß ich noch lange warten«, meinte er. -474-
Als genug Schnee lag, wollte er, daß ein Rodelberg gebaut würde, der höher sein sollte als alle früheren, und an einem Montagmorgen gingen sie gemeinschaftlich an die Arbeit. Es dauerte Tage, bis der Rodelberg die gewünschte Höhe erreicht hatte, denn es war so kalt, daß das Wasser in den Eimern gefror, ehe es ausgegossen werden konnte, aber jeder half - die Hauslehrer, Nagorny und die vier Mädchen. Selbst die gutmütigen Soldaten des Vierten Regiments ließen sich von dem Fieber anstecken und schleppten in Erwartung künftiger Toboggan-Fahrten Wasser herbei. Olga sah den Rodelberg mit einem Gefühl wachsen, als lägen ihre Jugendjahre endgültig hinter ihr, und als er fertig war, hätte sie sich am liebsten zu den älteren Zuschauern gesellt. Nur um Alexis eine Freude zu machen, erklomm sie die Leiter, die nach oben führte. Doch als sie auf der Plattform stand, die ihr den Ausblick auf eine unbekannte Straße öffnete, spürte sie mit einemmal wieder etwas von ihrer früheren Lebenslust, und mit einem aufgeregten: »Ich komme!« glitt sie in einer prickelnden Illusion der Freiheit die vereiste Bahn hinunter.
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26 Joe Calvert stieß auf keine besonderen Schwierigkeiten, als er seine Vorbereitungen traf, Rußland zu verlassen. Er war kurzfristig abberufen worden und mußte zunächst nach Washington, wo man ihm eröffnen würde, wohin er versetzt werden sollte. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden erhielt er die Ausreisebewilligung, und drei Stunden Schlangestehen im Finnland-Bahnhof brachten ihm eine Fahrkarte ein und die Aussicht, eventuell sogar einen Platz in einem »gepolsterten« Wagen des Zuges nach Helsingfors zu finden. Er verpackte seine Habseligkeiten in zwei Koffer, verabschiedete sich von den wenigen Amerikanern, die noch in Petrograd geblieben waren, und war somit gerüstet, Rußland in wenigen Stunden den Rücken zu kehren. Er ging gerne fort. Die letzten Monate, in denen die »Außerordentliche Kommission«, die Tscheka, einen weitaus durchgreifenderen und brutaleren Polizeiapparat einrichtete, als ihn die zaristische Ochrana repräsentiert hatte, und Hunger und Seuchen die Zivilbevölkerung dezimierten, waren eine furchtbare Belastung gewesen. Der bewölkte Februarnachmittag ging bereits in Dämmerung über, als er das vertraute Pochen an der Hintertür hörte. Er wartete auf das Geräusch von Dicks Schlüssel, doch statt dessen klopfte es nur noch einmal, und nun erschrack er. Plünderer konnten es nicht sein, denn wenn irgendwelche Matrosen aus Kronstadt, dem neuen Grundsatz gemäß, daß alles Eigentum der Gemeinschaft gehörte, nach Möbeln und Bettzeug Ausschau hielten, kamen sie dreist die Haupttreppe herauf und drohten einem damit, die Wohnungstür einzuschlagen. Trotz seines diploma tischen Status hatte Joe schon eine solche Invasion erlebt. Aber hier konnte es sich um eine Falle handeln. Er begann zu schwitzen. Ein Zusammenstoß mit den Bolschewiken -476-
war das allerletzte, was er sich so kurz vor der Ausreise wünschte. Er ging zur Hintertür und fragte: »Wer ist da?« »Ein Bote von Dick. Sein Freund Iwan.« Joe schob die Riegel zögernd zurück. Draußen stand eine dunkle, pelzvermummte Gestalt; der Mann schlüpfte schnell an ihm vorbei in die Wohnung. Im schwachen Licht des Wohnzimmers sah Joe ein durch eine alte Narbe und frische Schrammmen etwas entstelltes, aber unverkennbar russisches Gesicht, das Gesicht eines jungen Mannes, der ihn hilfesuchend und zugleich abbittend anlächelte. »Mr. Calvert? Entschuldigen Sie, daß ich so unangemeldet hier hereinplatze. Captain Allen sagte mir, daß ich Ihnen Bescheid geben sollte, falls einmal etwas schiefginge. Und - es tut mir leid, daß ich Ihnen schlechte Nachrichten überbringen muß - die Tscheka hat ihn verhaftet.« Joe spürte, wie seine Knie weich wurden, und er bot seinem Besucher einen Stuhl an. »Wann ist das passiert?« war alles, was er herausbrachte. »Gestern kurz vor Tagesanbruch, an der finnischen Grenze.« »Gestern morgen?« »Ich brauchte sechsunddreißig Stunden, um nach Petrograd zurückzukommen.« »Einen Moment...« Er holte einen Rest Wodka aus der Küche. Es war das einzige, was er dem offensichtlich erschöpften Mann anzubieten hate. »Wo ist er jetzt?« fragte er, während er Iwan ein Glas reichte. »Danke, das tut gut... Er ist im Gefängnis in der SchpalernajaStraße. War es Ihnen bekannt, daß er politisch Verfolgte über die Grenze schaffte?« »Ich vermutete so etwas. Soweit ich mich erinnere, erwähnte er Sie einmal...« -477-
»Ich gehörte zu der russischen Gruppe, die mit ihm zusammenarbeitete. Ich war früher Offizier bei der Kaiserlichen Garde.« »Haben Sie eine Theorie, was schiefgelaufen sein könnte?«, erkundigte sich Joe stirnrunzelnd. »Ich meine, was ist passiert? Wie kam es dazu, daß Dick der Tscheka in die Hände fiel?« Iwan zuckte die Achseln. »Es sieht so aus, als wäre einer von uns zur anderen Seite übergewechselt. Vermutlich alarmierte er die Tschekapatrouille. Mich wundert nur, was die TschekaLeute so weit von der Gorochovia-Straße trieben.« »Woher wissen Sie übrigens, daß sie Dick in die Schpalernaja gebracht haben?« »Zwei unserer Leute haben es gesehen. Die TschekaPolizisten scheinen ihn fürchterlich zusammengeschlagen zu haben.« Joe stand auf. »Dann müssen wir schauen, daß wir ihn so schnell wie möglich dort herausholen.« »Falls er überhaupt noch lebt.« »Sie werden ihn bestimmt am Leben erhalten.« Um ihm ein Geständnis abzuringen, natürlich, um ihn zu zwingen, die Namen seiner Helfer und ihrer Auftraggeber zu verraten. »Vier Uhr«, sagte er nach einem Blick auf seine Uhr. »Ich gehe ins Smolny-Institut. Am besten informieren Sie die britische Botschaft.« »Dick hat immer betont, daß ihn niemand an der Botschaft schützen könne, wenn er einmal in Schwierigkeiten gerate. Sind nicht überhaupt alle Diplomaten nach England zurückgekehrt?« »Fragen Sie nach dem Marineattaché«, empfahl Joe. »Er ist noch da, und wenn jemand helfen kann, dann er. Und jetzt wollen wir die Details noch einmal durchgehen.« Als er sich alle Daten gut eingeprägt hatte, versorgte Joe den Mann namens Iwan noch mit einem kleinen Wodka und goß den -478-
Rest in seine Reiseflasche. Dick würde ihn brauchen, falls er überhaupt noch dazu kam, ihn zu trinken. Während er seinen pelzgefütterten Mantel anzog, sagte er zu seinem erschöpften Besucher: »Kannten Sie in der Garde einen Mann namens Simon Hendrikow? Ja? Wissen Sie zufällig, wo er augenblicklich steckt?« »Er ist noch in Petrograd. Ich glaube, er hält sich meist in der Umgebung der Lawra auf.« »Ich wollte, er hätte seine Familie nach Kopenhagen begleitet.« »Leben seine Angehörigen jetzt da?« »Dank Richard Allens Hilfe.« In der grauen Dämmerung wirkte Petrograd wie eine Geisterstadt, doch das Smolny-Institut war strahlendhell erleuchtet. Joe kannte sich von verschiedenen Besuchen bei der Handelsabteilung schon ein wenig aus. In einem überfüllten Wachzimmer sagte er zu dem diensthabenden Offizier, er wolle Genossin Mara Trenowa von der Theatersektion des »Volkskommissariats für Erziehung« sprechen. Daß sie für die TEO tätig war, hatte er einmal gehört. Nach einer langwierigen Überprüfung seiner Papiere gestattete man ihm, endlose Formulare in dreifacher Ausführung auszufüllen. Er versah jedes mit der kühnen Behauptung, ein kulturelles Anliegen habe ihn hergeführt. Dann wartete er eine halbe Stunde. Wie jedesmal, fand er die Atmosphäre ungeheuer bedrückend. Das Smolny-Institut war unausgesetzt von Lärm und Getrampel erfüllt. Schreiner hämmerten an neuen Trennwänden, und pausenlos kamen Abordnungen irgendwelcher Sowjets von außerhalb an und Delegierte der verschiedenen Arbeitergewerkschaften, die den Kommissaren brüderliche Grußadressen überbringen wollten. Allmählich gewöhnten sich seine Lungen an die Gerüche, die -479-
von einer Suppe aus Pferdefleisch und verschwitzten Kleidern herrührten und von jenem anderen Gestank, der bewies, daß es hier um die sanitären Anlagen nicht besser bestellt war als anderswo. Er war froh, als ihn endlich ein Mädchen, das hohe Stiefel und irgendeine militärische Uniform trug, zur Theatersektion des Narkompros begleitete, die in einem durch Brettertrennwände in kleine Räume unterteilten ehemaligen Klassenzimmer untergebracht war. Mara Trenowas »Büro« war etwas größer als die anderen. Über einen Stapel Papiere hinweg reichte sie ihm ihre kalte Hand. »Daß ich Sie hier begrüßen würde, hätte ich wirklich nicht erwartet«, sagte sie in einem Ton, der genauso trocken war wie ihre Haut und ihr Haar. Hinter ihrem Ohr stak ein Bleistift. »Ich habe erst vor kurzem erfahren, daß Sie jetzt im Narkompros sind«, bemerkte Joe leichthin. »Als ich das letztemal von Ihnen hörte, arbeiteten Sie noch bei einer Zeitung.« »Rabochi Put; ja, wir haben Kerenskis Vernichtungsversuch überlebt«, erwiderte sie mit ihrem bitteren Lächeln. »Nach der Revolution brachte mich der Herausgeber hier im Filmressort unter. Ich schreibe Drehbücher, technische Anweisungen usw., und ich leite die Forschungsarbeiten der gesamten Theaterabteilung.« »Da haben Sie ja sicher eine Menge zu tun«, meinte Joe. »Ich las neulich im Kino Ihren Namen im Vorspann der Wochenschau.« »Oh, Sie sehen sich unsere Filme an?« Vor Freude errötete sie sogar. »Ich war für die verbindenden Aufnahmen verantwortlich - zwischen jeder Szene ein zaristisches Emblem. Eine Hand, die Handschellen festhält oder eine Knute schwingt, nur ein simples Symbol, aber recht effektvoll.« »Ich fand es sehr eindringlich«, sagte Joe. Er fragte sich, wieviel Zeit er wohl noch damit vergeuden müßte, ihr zu -480-
schmeicheln, während Dicks Leben vielleicht von Minuten abhing, aber er wagte es nicht, sie zu drängen, und er wußte, daß sie eine unausgeglichene Frau war, die auf Lob positiv reagierte. Doch dann warf sie selbst einen Blick auf ihre Uhr und fragte: »Was kann ich für Sie tun, Joe? Ich irre mich wohl nicht, wenn ich annehme, daß Ihr Besuch offiziellen Charakter hat?« »Ja und nein«, erwiderte Joe. »Es handelt sich um einen Notfall.« So kurz wie möglich bat er sie, ihm ein Gespräch mit Wladimir Iljitsch Lenin zu vermitteln, damit er sich für Richard Allen verwenden könne. Er hatte noch nicht geendet, als sie mit bebendem Körper neben ihn trat und ihm die Hand auf den Mund legte. »Sind Sie verrückt, hier die Tscheka zu erwähnen? Bilden Sie sich ein, ich würde Ihnen Ihre schmutzige Arbeit abnehmen?« Joe Calvert entzog sich ihrer Hand. »Ich glaubte, Dick Allen sei Ihnen sympathisch«, sagte er. »Sie haben ihm einmal geholfen...« »Das war etwas ganz anderes. Damals kannte ich ihn nur als Ihren Freund.« »Er ist noch immmer mein Freund, und er ist der Mann, den Dolly Hendrikowa demnächst heiraten will...« »Ist das ein Grund, weshalb ich dazu beitragen sollte, daß er seiner Bestrafung entge ht?« »Wenn man bedenkt, was Sie den Hendrikows angetan haben, ja.« »Was ich den Hendrikows angetan habe?« »Als Sie sie an die Matrosen aus Kronstadt verrieten - aus Rachedurst gegen Simon und... Olga Romanowa.« Diesmal legte sie sich selbst den Finger auf die Lippen. »Diesen Namen darf hier wirklich niemand aussprechen«, flüsterte sie. »Was soll das mit den Kronstadt-Matrosen heißen?« -481-
Er schilderte kurz den Überfall und fügte hinzu, Dolly sei überzeugt davon, daß Mara die Terroristen über den Besuch der Großfürstin informiert habe. »Wie dumm Dolly ist«, bemerkte sie verächtlich. »Ich habe niemandem etwas von diesem Zusammentreffen erzählt. Jemand anders hat sie... dieses Mädchen gesehen und mit seinen Freunden darüber geredet. Der Portier!« »Stephan? Ich hatte ihn auch schon in Erwägung gezogen. Aber er verschwand nach den Julitagen, und so konnten wir ihn nicht befragen. Und Dolly war so sicher...« »Stephan war einer der Unseren«, sagte Mara. »Er lieferte regelmäßig Informationen über die Hausbewohner und jeden, der sie besuchte. Ich weiß auch, daß er auf Drängen eines gewissen Jakowlew entlassen worden ist.« »Ein vulgärer Spion - und Sie sagen ›einer der Unseren‹«, entrüstete sich Joe. »Oh, Mara, schämen Sie sich eigentlich nie?« »Nicht, wenn ich an die bessere Welt denke, die ich hier aufbauen helfe.« »Die Welt der Tscheka und des Schpalernaja-Gefängnisses?« »Halten Sie etwa von der Ihren mehr - einer Welt, in der man mich verdächtigt, Leute zu verraten, die einmal meine Freunde und die Freunde meiner Mutter waren?« Maras Stimme wurde weicher. »Joe, Sie begreifen nicht. Ich habe keinen Einfluß, nicht die geringste Möglichkeit, zu Genosse Lenin zu gehen und mich für einen englischen Spion zu verwenden - ja, einen vulgären Spion, und einen der Ihren. Ich würde nur in den Verdacht geraten, mit den Konterrevolutionären zu sympathisieren.« »Ich bitte Sie ja gar nicht darum, sich für Dick zu verwenden. Ich möchte lediglich, daß sie mir eine Unterredung vermitteln, das ist alles: Den Rest erledige ich schon selbst.« -482-
Mara Trenowa gab nach. »Also gut«, sagte sie. »Ich schicke jemanden nach oben und lasse Ihren Namen vormerken. Aber wenn Sie ihn sprechen wollen, kommen Sie nicht mit dem kulturellen Anliegen durch.« »Schreiben Sie folgendes...« Sie tauchte den Federhalter in das Tintenfaß. »Schreiben Sie, ›es handelt sich um den Fall des widerrechtlich im Schpalernaja-Gefängnis festgehaltenen britischen Staatsbürgers Captain Richard Allen‹. So sind die Karten aufgedeckt!« »Machen Sie mir keinen Vorwurf, wenn Sie auch in der Schpalernaja landen.« Sie versiegelte das Blatt Papier und setzte eine Tischglocke in Bewegung. »Ist Ihnen klar, daß es vielleicht Stunden dauert, bevor sie eine Antwort erhalten? Ich kann Ihnen leider nicht anbieten, hier zu warten, aber ich bringe Sie in die Kantine und sorge dafür, daß Sie ein Glas Tee bekommen, und ich gebe auch dem Boten oben Bescheid, wo Sie zu finden sind. Genügt das?« Joe küßte ihr die Hand. »Ich weiß«, sagte er, als er ihr Widerstreben spürte, »Sie haben nichts für derlei Bräuche übrig, aber erlauben Sie mir, daß ich Ihnen in meinem und zugleich in Dick Allens Namen danke. Er meinte einmal, Sie hätten sich noch nicht entschieden, ob Sie eine Heilige oder eine Revolutionärin sein wollten. Ich werde ihm erzählen, daß Sie eine Heilige geworden sind.« »Vielleicht bin ich sogar zur Märtyrerin bestimmt.« Joe verbrachte zwei Stunden in der überfüllten Kantine. Er merkte, daß er überwacht wurde, und bemühte sich um eine unbekümmerte Miene, wiewohl in seinem Kopf ein verzweifelter Gedanke den anderen jagte. Dick im Gefängnis, den Verhören der Tscheka preisgegeben, das war das Hauptthema; aber er dachte auch an Dolly, die ihn immer als einen verläßlichen Helfer für Notzeiten betrachtet hatte, und an ihren Bruder Simon, der sich so leidenschaftlich für eine Befreiung der kaiserlichen Familie einsetzte und sich nun aus -483-
irgendeinem Grund dem menschlichen Abschaum der Lawra zugesellt hatte. Zudem beschäftigte ihn die Sorge um seine Abreise, denn der Zug nach Helsingfors fuhr offiziell um zehn Uhr ab, und als die Zeiger der Kantinenuhr über acht hinausrutschten, begann er sich zu fragen, ob man ihn etwa bis nach zehn warten lassen und dann unverrichteter Dinge fortschicken würde. Es war Viertel nach acht, als er abgeholt und ohne weitere Erklärung im Wachraum sorgfältig durchsucht wurde. Er war froh, daß die Pistole, die er während der Revolution bei sich getragen hatte, in einem seiner Koffer lag. Der Umschlag mit seiner Fahrkarte und anderen Dokumenten wurde genau überprüft, bevor er ihn zusammen mit seinem Paß zurückerhielt. Als sich der Wachoffizier davon überzeugt hatte, daß Joe weder Schußwaffen noch Vitriol oder eine Handgranate bei sich hatte, eröffnete er ihm, Genosse Lenin werde ihn jetzt empfangen. Im oberen Stock des Smolny, der offenbar für die führenden Sowjetmitglieder reserviert war, herrschte noch mehr Betrieb als in den unteren Sälen, und als Joe einem mit Akten schwerbeladenen Mädchen auswich, erhielt er von einer Tür, die ein sehr energischer Beamter mit einem Fußtritt aufstieß, einen Schlag ins Gesicht. Einer der Soldaten, die ihn heraufgebracht hatten, fragte ihn mit wieherndem Lachen, ob er verletzt sei. Joe, der spürte, wie aus einer Platzwunde über seinem Auge Blut sickerte, erwiderte nichts. Vor Lenins Amtszimmer wachten zwei Posten mit aufgepflanztem Bajonett. Seine Begleiter wechselten ein paar Worte mit ihnen, und dann durfte er passieren. Er betrat einen karg möblierten engen Raum, der lediglich ein hohes Regal enthielt, einen kleinen Schreibtisch für den im Augenblick abwesenden Sekretär und einen großen Arbeitstisch, auf den der Lichtkegel einer tiefhängenden grünen Deckenlampe fiel. Sie beleuchtete den kahlen Kopf, die breite gewölbte Stirn und die kalten Augen des Mannes, der nun Rußlands Herrscher war: -484-
Wladimir Iljitsch Lenin. »Mr. Calvert...«, sprach ihn Lenin auf englisch an. »Du lieber Gott, haben Sie sich mit jemandem geprügelt?« »Ich hatte einen unerfreulichen Zusammenstoß mit einer Tür«, antwortete Joe. »Irgendwer von Ihrem Stab hatte es furchtbar eilig...« Lenin lächelte. »Wir sind dabei, eine neue Nation zu schaffen«, sagte er, »und natürlich wollen wir keine Zeit verlieren. Aber ich will zuerst einmal sehen, ob ich etwas für diese böse Wunde finde. Nehmen Sie doch inzwischen Platz!« Er verschwand hinter einer Trennwand, und Joe hörte eine weibliche Stimme etwas murmeln. Er wußte, daß der Raum Lenin und seiner Frau Krupskaja zugleich als spartanische Behausung diente. Sein Stuhl stand zu weit vom Arbeitstisch entfernt, als daß er die Papiere in dem aufgeschlagenen Dossier hätte lesen können, aber er erkannte sein Identitätsfoto und das von Dick, die jedes an ein engzeilig maschinbeschriebenes Blatt geheftet waren. Mit einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit drückte er sein Taschentuch auf die blutende Wunde. Lenin kam mit einem kleinen Stück Heftpflaster zurück, das aussah, als sei es schon einmal benutzt worden, und einem Glas Wasser. »Das scheint unsere ganze Erste-Hilfe-Ausrüstung zu sein«, verkündete er heiter. »Sie ziehen Ihr Taschentuch vor? Schön. Ich bin sicher, unten gibt es irgendwo Jod.« Er setzte sich und griff nach den Papieren. »In unseren Unterlagen heißt es, daß Sie hervorragende Russischkenntnisse haben, Mr. Calvert. Mein Englisch ist zwar schon etwas eingerostet, aber ich möchte es trotzdem für dieses Gespräch benutzen.« »Ich darf Ihnen als erstes versichern«, begann Joe förmlich, »daß ich Ihnen für die Gewährung dieser Unterredung - und zudem noch innerhalb so kurzer Zeit - sehr verbunden bin.« »Ziemlich ungewöhnlich, nicht wahr?« meinte Lenin. »Glauben Sie, der Präsident der Vereinigten Staaten würde -485-
beispielsweise - einen jungen Vizekonsul der Französischen Republik so bereitwillig empfangen?« »Neue Methoden für neue Nationen«, gab Joe zurück. »Für meinen Rang im auswärtigen Dienst brauche ich mich wohl nicht zu entschuldigen, Mr. Lenin, obschon der gegebene Gesprächspartner in dieser Angelegenheit zweifellos Seine Exzellenz, der britische Botschafter, wäre.« »Der vor einem Monat fluchtartig das Land velassen hat. Ich glaube, irgend jemand von der Botschaft bombardiert Trotzki gerade mit immer neuen Bitten um eine Unterredung. Sie haben klüger gehandelt, sich sofort an mich zu wenden. Ich habe noch nicht oft mit Amerikanern zu tun gehabt. Der letzte oder vielleicht der erste, der mit einem ähnlichen Gesuch in dieses Zimmer kam, war Ihr Botschafter vor seiner Abreise nach Wologda. Ein reizender alter Herr, aber natürlich ein hoffnungsloser Amateur.« »Nichtsdestoweniger war seine Intervention für seinen rumänischen Kollegen erfolgreich...« »Weil der Fall des rumänischen Kollegen durch eine Ausweisung zu bereinigen war. Sie hingegen wollen sich für jemanden verwenden, der nach unseren neuen Gesetzen ein Verbrecher ist - für den Konterrevolutionär Richard Allen, der Feinde des Volkes über die finnische Grenze schmuggelte.« »Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß Captain Allen auf seine Immunität als Diplomat pochen kann...« »Nicht mehr, Mr. Calvert. Allen ist bereits jahrelang Mitglied des britischen Geheimdienstes und seit der Revolution sogar dessen dritter Mann in Rußland.« »Der SIS existiert nur als Gegenspieler der deutschen Abwehr. Wir stehen noch immer mit Deutschland im Krieg, Mr. Lenin! Und Sie hier auch.« Lenin lächelte. »Der Friedensvertrag wird in den nächsten Tagen unterzeichnet«, verkündete er. -486-
»Was bedeutet, daß die Deutschen bei ihrer nächsten Attacke gegen die Alliierten vierzig Divisionen mehr einsetzen können.« »So wie ich es sehe, bedeutet es, daß die imperialistischen Länder durch ein ungeheures Gemetzel geschwächt werden und die Weltrevolution näherrückt.« Joes Kopf drohte zu zerspringen. Verzweifelt sagte er: »Wenn Sie Richard Allen als einen Verbrecher betrachten...« »Als einen politischen Verbrecher, Mr. Calvert; deshalb ist er auch von der Tscheka verhaftet worden.« »Gut. Wenn Sie ihn nicht begnadigen und ihm auch keinen gerechten Prozeß zusichern wollen, würden Sie mir dann wenigstens erlauben, ihn heute abend zu besuchen?« Lenin warf einen Blick in seine Unterlagen. »Heute abend? Ich dachte, Sie führen um zehn Uhr nach Helsingfors. Sie scheinen wirklich sehr eng mit diesem Allen befreundet zu sein! Sie hatten mehrere Jahre lang eine gemeinsame Wohnung?« »Er kam nach seiner Versetzung immer wieder einmal hierher. Ja, man könnte vielleicht sagen, wir hatten eine gemeinsame Wohnung - aber nicht die gleichen Aktivitäten. Ich bin sein Freund.« »Ich wüßte einen Weg, um Ihre Freundschaft auf die Probe zu stellen... Ich kann einen Konterrevolutionär nicht begnadigen, aber ich bin auch nicht interessiert, ihn vor Gericht zu stellen. Deshalb schlage ci h Ihnen folgendes vor: Wir entledigen uns eines unbequemen, störrischen Häftlings, und Sie erweisen Ihrem hochgeschätzten Freund einen Dienst. Die Bedingung lautet, daß er heute abend Ihren Platz im Zug einnimmt, unter Ihrem Namen reist und Ihre Identität beibehält, bis er die schwedische Grenze überschritten hat.« »Und ich?« erkundigte sich Joe rauh. »Wann kann ich eine neue Ausreisebewilligung beantragen?« Die mächtige Stirn hob sich ein wenig, der Lichtkegel -487-
enthüllte ein belustigtes Glitzern in den kle inen, unbarmherzigen Augen. »Sie, Mr. Calvert? Es kann sein, daß wir Sie noch sehr lange hierbehalten möchten.« Kaum sechs Wochen nach dieser Unterredung in Lenins kaltem, von dunklen Schatten erfüllten Arbeitszimmer dinierte Joe Calvert mit seinem Onkel in einer strahlendbeleuchteten überheizten Zimmerflucht des Biltmore-Hotels in New York. »Gott«, sagte er, »was für ein Luxus! Ich wache bestimmt gleich auf und stelle fest, daß ich nur geträumt habe.« »Du hast ein paar harte Monate hinter dir.« »Andere ha tten noch viel mehr auszustehen.« »Nun, auf jeden Fall ist diese Zeit eine großartige Basis für die Zukunft. Und weil ich mit dir über deine Zukunft sprechen will, bin ich nach New York gekommen. Ich möchte nämlich nicht, daß dir oder mir ein falsches Wort entschlüpft, wenn du berichtest, wie du aus Rußland herausgekommen bist. Ich sehe morgen Minister Lansing, und unsere Versionen sollten übereinstimmen.« »Es gibt nur eine Version, Onkel. Schildere alles so, wie es sich zugetragen hat.« »Gut. Du hast also deinen Platz diesem Engländer überlassen, und die Roten brachten ihn in einer Ambulanz zum Zug. Zwei Herren vom Roten Kreuz hatten sich am Bahnhof von dir verabschieden wollen, und als du nicht erschienst, forschten sie nach und erfuhren, daß du in deiner Wohnung in Schutzhaft gehalten wurdest. Dann veranstalteten sie einen ungeheuren Wirbel in der Stadt, setzten sich mit dem alten Dave Francis in Wologda in Verbindung, und nach einer Woche gestatteten dir die Roten, den Zug in die Freiheit zu besteigen. So war es doch, oder?« -488-
»In etwa. Sie redeten alle so lange von dem internationalen Skandal, der entstehen würde - ein amerikanischer Vizekonsul in Schutzhaft, usw. -, bis sie es im Smolny-Institut leid wurden und mich gehen ließen. Wahrscheinlich waren sie zu sehr damit beschäftigt, ihren kostbaren Vertrag mit den Deutschen zu feiern, um sich mit meiner Wenigkeit abzugeben.« »Brest-Litowsk, und eine Unmenge Probleme für den Rest von uns.« Mr. Joseph Calvert der Ältere schüttelte den Kopf. »Aber zurück zu dir. Wenn du jetzt einige erfolgreiche Gespräche mit den richtigen Leuten führst, Joe, ist dir ein Bombenjob beim Außenministerium sicher.« »Ich weiß noch gar nicht, ob ich einen Bombenjob beim Außenministerium haben will. Woran hattest du denn gedacht?« »An die neue Rußlandabteilung, die im Mai entstehen soll.« »Wenn ich nicht nach Europa zurückversetzt werde, gehe ich zur Armee.« »Nun sei doch nicht so drastisch! Vielleicht kann ich etwas für dich aushandeln. Vielleicht - oh, ihr jungen Leute seid alle gleich. Ist es denn nicht in deinen dummen Kopf hineinzubringen, daß du es, wenn du am Leben bleibst und dich... ja, aus allem heraushältst... bis zum Botschafter bringen könntest?« Mr. Calverts Optimismus hinsichtlich der Zukunft seines Neffen schien nicht von jedermann in Washington geteilt zu werden. Joe erstattete seinem unmittelbaren Vorgesetzten im Auswärtigen Amt Bericht, wurde zu fünf Jahren erfolgreicher Arbeit beglückwünscht und erhielt zunächst drei Wochen Urlaub. Das war alles. Auch seine Unterredungen mit dem Außenminister und dem Kriegsminister dauerten nicht lang. Beide bezeigten nur für zehn Minuten von Joes vierjährigem Rußlandaufenthalt Interesse - für das Gespräch mit Lenin, das er Wort für Wort in Anwesenheit von Stenotypistinnen -489-
wiederholen mußte. Lediglich der Kriegsminister, Mr. Baker, ging etwas näher auf den Inhalt des Gesprächs ein und erkundigte sich, was aus dem Engländer, Captain Allen, geworden sei. »Er ist in der Schpalernaja schwer zusammengeschlagen worden, Sir; inzwischen hat er sich aber in Kopenhagen erholt.« »Weiß er, daß er Ihnen seine Freiheit verdankt?« »Der britische Marineattaché unterstützte in jener Nacht am Finnland-Bahnhof die Interventionen der Leute vom Roten Kreuz. Er hatte später Kontakt mit Captain Allen und informierte ihn über alles. Ich bekam einen sehr herzlichen Brief von Captain Allen, als ich in London war, und auch einen von seiner Verlobten.« »Das war das mindeste, was Sie verdient hatten! Noch eins, Mr. Calvert: Sie sind nicht aus Rußland ausgewiesen worden, oder?« »Nein. Es war eine ganz normale Ausreise.« »Dann wurden Sie also nicht zur persona non grata erklärt?« »Nein, Sir.« Es war ein seltsamer Abschluß seiner Unterhaltung mit dem Kriegsminister, aber Joe hatte ihn schon wieder vergessen, als der Zug in Baltimore hielt und er seine Eltern auf dem Bahnsteig erblickte. Es war ein sehr glückliches Wiedersehen, und obgleich seine Mutter natürlich Tränen vergoß und sein Vater ihm die Hand schüttelte, bis ihn der Arm schmerzte, waren die fünf Jahre im Nu überbrückt. Den ganzen warmen Aprilabend lang erschienen Freunde und Nachbarn, um ihn zu begrüßen. Jeder freute sich über seine Heimkehr. Niemand interessierte sich für Rußland. Wenn Joe nach Washington fuhr - und sein Onkel sandte beinahe täglich Telegramme und vereinbarte Zusammentreffen mit diesem und jenem einflußreichen Beamten -, staunte er -490-
immer wieder über die von Menschen wimmelnden Straßen, den Verkehr, das Tempo der Hauptstadt. Nach Petrograd mußte man sich erst daran gewöhnen. Er schätzte die Annehmlichkeiten seines Vaterlandes wie nie zuvor. Dennoch dachte er während dieser schönen Frühlingstage oft an die Stadt an der Newa... Die Männer, denen er in Washington begegnete, bekundeten ungeheures Interesse für Rußland, aber nicht für das Rußland, das Joe Calvert gekannt hatte. Der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit hatte sich jetzt nach Sibirien verlagert. Das hing nicht mit der Einkerkerung der Romanows zusammen denn jedes Kongreßmitglied wußte, daß der geringste Sympathiebeweis für Nikolaus gleichbedeut end mit der Einbuße jüdischer Wählerstimmen war -, sondern mit der militärischen Intervention Japans in Sibirien. Sie hatte ganz unauffällig angefangen. Mit dem ungeheuer wertvollen alliierten Kriegsmaterial, das sich in Wladiwostok anhäufte. Mit ein paar alliierten Kriegsschiffen im Hafen, die es im Auge behielten. Mit ein paar »Zusammenstößen« zwischen Kommunisten und asiatischen Ladeninhabern und ein paar Schlägereien unter Seeleuten - an sich in einer Hafenstadt durchaus gewöhnliche Vorkommnisse. Dann wurden an einem Apriltag ein paar hundert japanische Marinesoldaten an Land gesetzt, die den Auftrag hatten, »japanisches Eigentum zu schützen«. Es war eine sehr kleine, symbolische Streitmacht, und es fanden keine Kämpfe statt, nichts, was an internationale Konsequenzen denken ließ. Die gleiche Situation wie in Sarajevo. Nachdem zwei seiner Urlaubswochen verstrichen waren, erhielt Joe eines Tages ein Telegramm von seinem Onkel, das ihn nach Washington zitierte. »Sofort kommen«, lautete es, »wichtige Nachrichten.« Und gleich nach seinem Eintreffen hörte er, Minister Baker habe ihm ein Gespräch mit Präsident Wilson im Weißen Haus vermittelt. »Tu mir jetzt nur den Gefallen und erwähne die Romanows nicht«, sagte Mr. Calvert, -491-
als sie die Pennsylvania Avenue entla nggingen. »Beantworte einfach seine Fragen, und... hör gut zu, es gibt ein untrügliches Zeichen dafür, daß du sein Interesse geweckt hast: wenn er die Blumen wegräumt. Die Rosen, oder was immer es ist, die die neue Mrs. Wilson allmorgendlich eigenhändig in einer Vase arrangiert. Natürlich möchte er sie nicht verletzen, aber er liebt nun einmal einen leeren Schreibtisch. Und wenn er sich wirklich für das, was man sagt, interessiert, stellt er die Vase auf den Boden.« Außer dem Strauß Rosen gab es auf der ganzen Schreibtischplatte auch tatsächlich nur noch das unvermeidliche Dossier. Es war das einzige, was der große luftige Raum des Präsidenten und Oberbefehlshabers der Streitkräfte mit dem kleinen Zimmer im Smolny gemein hatte, und der Mann mit dem hageren schottischen Gesicht, der Joe höflich begrüßte, war Lenins genaues Gegenteil. Nach ein paar einleitenden Worten über die Universität Princeton, deren Rektor Woodrow Wilson einmal gewesen war, begann die Frage-und-Antwort-Unterredung, die Joes Onkel angekünd igt hatte. »Was meinen Sie«, forschte der Präsident, »besteht Hoffnung, daß Kerenski den Kampf wiederaufnehmen könnte?« »Ich glaube es nicht«, sagte Joe. »Er ist im Januar nach Finnland geflüchtet, und es hieß zwar, er sei in irgendeiner Verkleidung nach Petrograd zurückgekehrt, aber darüber gibt es keine verläßlichen Informationen.« »Schade. Wir haben eine Menge Geld in Mr. Kerenski investiert... Sie waren doch auf Ihrer Rückreise auch in Finnland. Was halten Sie von General Mannerheim?« Es war Joe vollkommen klar, worauf die Fragen des Präsidenten hinzielten. Der amerikanische Oberbefehlshaber, der verständlicherweise den amerikanischen Kriegsbeitrag an der Westfront nicht gerne vermindern wollte, sah sich jetzt -492-
gezwungen, eine militärische Intervention in Rußland zu erwägen. Mannerheim hatte sich als einziger weißer General der roten Gefahr in seinem Lande wirkungsvoll entgegengestellt, und Joe Calvert brachte das zum Ausdruck. »Er lud mich in seinem Salonwagen zum Lunch ein und gab mir ein Schutzgeleit durch seine Linien. Ich merkte, daß der Bürgerkrieg für ihn schon zu diesem Zeitpunkt so gut wie gewonnen war, noch ehe von der Goltz die Deutschen auf seine Seite brachte.« »Die Briten haben im letzten Monat in Murmansk Marinesoldaten gelandet - für den Fall, daß die Deutschen vorrücken sollten.« »Ich glaube, daß wir von einem deutschen Vormarsch durch Finnland nichts zu befürchten haben, solange Mannerheim das Kommando hat. Was allerdings geschieht, wenn er siegt, ist eine zweite Frage. Das Oberhaupt der Re gierung ist schließlich Mr. Svinhufvud, und er war es, der nach Berlin fuhr und sich mit den Deutschen einigte.« »Jaa«, bestätigte der Präsident gedehnt. »Diesen Aspekt der Angelegenheit hatte ich noch gar nicht richtig erwogen.« Er nahm die Blumenvase, stellte sie auf den Boden und fragte: »Welche Chancen geben Sie persönlich einer alliierten Intervention in Rußland?« »Herr Präsident, ich bin kein militärischer Experte, und ich war nicht halb so lange in Rußland wie einige andere Angehörige des auswärtigen Dienstes...« »Mr. Calvert, im Weißen Haus wird die Zeit nicht nach Monaten oder Jahren bemessen, sondern nach der erworbenen Erfahrung. Sprechen Sie Ihre Gedanken bitte ganz offen aus.« »Also gut... Offen gestanden glaube ich nicht, daß eine militärische Intervention gegen die Kommunisten Erfolg hat. Die Alliierten... die assoziierte Macht würde keine Unterstützung von den russischen Generälen erhalten, weil sie -493-
bereits untereinander uneinig sind, und wenn man an so vielen verschiedenen Punkten kleinere Einheiten landen müßte, wäre keine Koordination möglich. Zudem würden die Kommunisten zweifellos einen flammenden Appell an den Patriotismus richten. Ja, Sir, ich weiß, Lenin kam an die Macht, weil er auf dem Friedensprinzip aufbaute; aber er wird es - wenn schwerwiegende Gründe gegeben sind - bestimmt beiseite fegen, und Trotzki könnte sich sehr wohl als militärisches Genie entpuppen. Wenn man bedenkt, was er in so kurzer Zeit aus der Roten Garde gemacht hat, dann ist es durchaus denkbar, daß ihm mit der Roten Armee das gleiche gelingt.« »Jaja«, kam es abermals sehr gedehnt aus dem Munde des Präsidenten. »Das ist eine sehr klare Schilderung der Sachlage. Ich danke Ihnen.« Dann fügte er plötzlich hinzu: »Ich habe die Ausdauer bewundert, mit der Sie die Duma-Sitzungen verfolgten, Mr. Calvert. Ich las ab und zu Auszüge aus Ihren Briefen an Ihren Onkel. Was zog Sie eigentlich Woche für Woche auf die Galerie des Tauridenpalastes?« »Mich interessierte die Entwicklung der Dinge, Sir.« »Ja«. Er machte eine Pause. »Mr. Calvert, ich möchte, daß Sie in ein paar Wochen nach Rußland zurückkehren.« »Nach Wologda, Sir?« Es war eine erschreckende Vorstellung, doch Präsident Wilsons Lächeln beruhigte ihn sofort. »Sie könnten sich in Wladiwostok sehr nützlich erweisen - in Zusammenarbeit mit Mr. Caldwell, und ab ersten April hätten Sie den Rang eines Konsuls.« »Ich danke Ihnen, Sir.« Der Präsident erhob sich, und Joe stand ebenfalls auf. Die Unterredung war beendet. Nun wurde er gegen seine Erwartungen doch nach Rußland zurückversetzt.
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27 Zur gleichen Zeit, als das amerikanische Kabinett eine bewaffnete Intervention in Sibirien erwog, erreichte Simon Hendrikow sein Ziel: die weite Provinz jenseits des Urals. Fast sechs Monate hatte er gebraucht, ehe er nach den ausgestandenen Entbehrungen wieder so weit gekräftigt war, daß er die ihm zugewiesene Rolle in dem gutorganisierten Befreiungsplan übernehmen konnte. Fast sechs Monate, um bis Tjumen zu gelangen, wo ihn nur noch zweihundert Meilen von seiner Prinzessin trennten. Simon reiste mit der Transsibirischen Bahn, im relativen Luxus eines ehedem für sechs Personen gedachten »Polsterabteils«, das jetzt von sechzehn Personen besetzt war. Er trat als einer der vielen Schieber auf, die in den Provinzen Nahrungsmittel für den schwarzen Markt von Petrograd beschafften. In seinem Gepäck führte er die Uniform eines Offiziers der Roten Garde mit sich, die er von Tjumen ab tragen würde. Die Leiche desjenigen, dem sie gehört hatte, verunreinigte inzwischen wahrscheinlich die Newa. In den ersten wilden Tagen von Lenins Revolution, als Offiziere wie Simon Hendrikow Gefahr liefen, wo immer sie sich sehen ließen, verhaftet zu werden, hatte er sich in die Lawra zurückgezogen, jenes Viertel, das seit vielen Jahren allen lichtscheuen Elementen als Unterschlupf gedient hatte. Dort hatte er, bis die Schneefälle einsetzten, auf dem TikhvinFriedhof genächtigt. Später fand er ein Nachtlager im Dachgeschoß eines von seinen Besitzern verlassenen Hauses an der Millionaja, das jetzt Exoffizieren, Anarchisten, die selbst in einer kommunistischen Gesellschaft keinen Platz fanden, sowie professionellen Dieben als Herberge diente. Die letzteren verhalfen ihm zu gefälschten Papieren und einem gefälschten Arbeitsbuch, ohne das er weder eine Beschäftigung suchen noch -495-
die Stadt verlassen konnte. Simon hatte sehr bald erkannt, daß er allein nichts zur Rettung seiner Prinzessin unternehmen konnte. Kurz nach Weihnachten hörte er, daß der frühere Oberhofmarschall Graf Benckendorff eine Versorgungskette zur kaiserlichen Familie organisiert hatte, deren Mittel nach dem Sturz der provisorischen Regierung versiegt waren. Sie hatten viele ihrer Bediensteten entlassen und waren bei den Händlern von Tobolsk bereits verschuldet. Er suchte den alten Herrn auf, dem Mut und Kraft gefehlt hatten, um die Gefangenen nach Sibirien zu begleiten, und erfuhr, daß sein Stiefsohn, Prinz Dolgoruki, der dem Zaren als Adjutant diente, einen der wichtigsten Kontakte zwischen ihm und der Außenwelt repräsentierte. Simon hörte auch erstmalig von der Bruderschaft des heiligen Johannes von Tobolsk und erkundigte sich sofort, wie er ihr bei treten könne. Der Oberhofmarschall schüttelte den Kopf. »Gedulden Sie sich ein paar Wochen, mein lieber Hendrikow«, sagte er. »Bis jetzt ist keiner meiner Abgesandten mit genauen Informationen über einen ernst zu nehmenden Rettungsplan zurückgekehrt.« Er seufzte. »Ich bin nicht ganz zufrieden mit Solowjew, unserem Verbindungsmann in Tjumen - Rasputins Schwiegersohn. Er scheint zwar soweit vertrauenswürdig, aber - ich schicke nächste Woche doch noch einmal einen Offizier nach Tjumen, damit er sich ein Bild von der Lage macht. Möchten Sie vor seiner Abreise mit ihm sprechen? Er heißt Wassilij Jakowlew...« »Fregattenkapitän Jakowlew?« fragte Simon interessiert. »Ich bin ihm ein paarmal begegnet, und er hat meiner Familie im letzten Sommer einen wertvollen Dienst erwiesen. Kann ich hier mit ihm zusammenkommen?« »Besser nicht«, meinte Benckendorff. »Die Freunde, die meiner Frau und mir Zuflucht gewährt haben, werden Einwände machen, wenn zu viele junge Männer bei uns ein und aus gehen; wir wollen nicht die Aufmerksamkeit der Tscheka auf uns lenken.« -496-
So trafen sie sich beim Warschauer Bahnhof. Jakowlew sah gesund aus, und seine Kleidung ließ darauf schließen, daß er in durchaus annehmbaren Verhältnissen lebte. Er empfahl Simon dringend, aus der »Diebeshöhle« in der Millionaja auszuziehen, erbot sich, ihm einen Arbeitsplatz zu beschaffen, der ihm zu vernünftigen Lebensmittelrationen verhelfen würde, und vereinbarte für vier Wochen später, nach seiner Rückkehr, eine zweite Zusammenkunft. Simon begann in einem großen Krankenhaus in der Nähe des Baltiski- Bahnhofs, das hundert Jahre alt und sehr baufällig war, als Wärter zu arbeiten. Die Tätigkeit gefiel ihm keineswegs, aber er sah ein, daß sie ein ausgezeichneter Deckmantel war, denn niemand hielt in einer Zeit, in der eine Typhusepidemie die Stadt heimsuchte, einen Krankenwärter auf der Straße an. Das zweite Mal trafen sie sich am Ufer des Fontankakanals. »Sie sind wieder besser in Form, wie ich sehe«, sagte Jakowlew. »Und das war nötig, denn geschwächte Leute können wir bei unserer Operation nicht gebrauchen.« »Dann besteht also ein Plan?« fragte Simon interessiert. »Waren Sie in Tobolsk?« »In Tobolsk selbst nicht, weil ich nicht wollte, daß sich jemand an mein Gesicht erinnert, wenn wir dort als Gruppe eintreffen.« Merkwürdig dachte Simon. Es ist ein RomanowGesicht. Obgleich Jakowlew dunkle Haare hatte, wohingegen die meisten der Romanows blond waren; aber die Ähnlichkeit war da und erinnerte ihn an Olga. »Ich war in Tjumen«, fuhr Jakowlew fort.»Ich lernte ein paar von den unheilbaren Romantikern kennen, die sich die Bruderschaft des heiligen Johannes nennen und nicht einmal einen Hund aus einer brennenden Hütte befreien könnten, geschweige denn den Zar von Rußland.« »Haben Sie erfahren, wie es ihm - wie es ihnen geht?« »Soweit ganz gut, nur sind sie jetzt vielen Beschränkungen -497-
unterworfen und werden von einem besonders niederträchtigen Kommissar tyrannisiert - Hokrianow, einem ehemaligen Schiffsheizer.« »Und Solowjew, Rasputins Schwiegersohn?« »Ein Schwindler und Scharlatan wie schon Rasputin. Fast alles Geld, das der arme alte Benckendorff für die kaiserliche Familie gesammelt hat, ist an seinen schmierigen Fingern hängengeblieben. Ich bin deshalb entschlossen, Solowjew zu umgehen und selbst eine Befreiungsorganisation zu starten - mit ausgewählten Leuten. Möchten Sie einer von ihnen sein?« »Ja. Ich schließe mich Ihnen an, Jakowlew. Ich habe nicht vergessen, was Sie für meine Angehörigen getan haben.« Jakowlew lächelte. »Können Sie reiten, mit diesem Arm?« »Selbstverständlich.« »Wir müssen sie nämlich auf dem Landwege herausholen, bevor der Flußverkehr wieder in Gang kommt. Im übrigen werden wir von Moskau aus operieren, sobald die Regierung dorthin verlegt ist.« »Was hat denn die Regierung damit zu tun?« »Ich bin Regierungsangestellter. Und ein hochgeschätzter, glaube ich.« Simons überraschte Miene entlockte ihm ein grimmiges Lächeln. »Wissen Sie, ich packte das Problem anders an als Sie. Als ich im vergangenen Sommer aus Murmansk auf Urlaub kam, verbreitete ich überall, daß ich mich zu dem neuen Evangelium bekehrt hätte, und als der Sownarkom an die Macht gelangte, sang niemand die Internationale lauter als Wassilij Jakowlew. Ich habe eine n guten Posten bei der Admiralität, Abteilung Intendantur, und versorge diese Schweine in Kronstadt mit doppelten Rationen und ExtraWodkazuteilungen.« »Ich könnte das nicht«, erklärte Simon rundweg. »Was könnten Sie nicht?« -498-
»Jeden Tag eine solche Maske tragen.« »Wahrscheinlich nicht, Hendrikow; jeder ist anders beschaffen. Übrigens, mein unmitttelbarer Vorgesetzter ist Kapitän Gordienko. Vielleicht erinnern Sie sich an ihn - er war 1914 Maat auf der Standart.« »Und ob ich mich erinnere!« Simon sah Gordienko förmlich vor sich, wie er von der Reling aus Alexis an Bord half. War auch dieser »Unglücksfall« vorgeplant gewesen wie so vieles andere? »Mir wird übel«, sagte er, »wenn ich daran denke, wie viele Verräter sie um sich herum hatten.« Jakowlew nickte. »Deshalb arbeite ich jetzt für den Sownarkom und lasse Genosse Lenin hochleben«, erklärte er. »Sie haben uns wertvolle Hinweise für die Infiltrationspraxis geliefert.« Und so kam es, daß sich in einer Aprilnacht ein Schwarzhändler, der eine Rotgardistenuniform mit sich führte, in Tjumen aus einem überfüllten Zug zwängte. Jakowlew konnte nicht wissen, daß das, was den Romanows verschärfte Haftbedingungen mit neuen Schikanen und Entbehrungen eingetragen hatte, ihre letzte große Freude gewesen war - der Rodelberg. Die jungen Leute hatten sich genau einen Monat lang damit vergnügt, als an einem sonnigen Märzmorgen erstmalig ihre Eltern die Leiter zur Plattform hinaufstiegen. Es war kein Wunder, daß die Wächter starrten und einander Bemerkungen zumurmelten, denn seit kurz nach Weihnachten die Kirchgänge aufgehört hatten, war Alexandra Feodorowna nie mehr draußen gewesen. In Petrograd hatte man beschlossen, die Soldaten des Vierten Scharfschützenregiments, die die Romanows von Zarskoje Selo hierherbegleitet hatten, abzuziehen und durch politisch zuverlässigere Leute zu ersetzen. An diesem Morgen hatten sie -499-
sich im Hof freundlich von ihren Gefangenen verabschiedet, und Alexandra, die ehedem so viele Aristokraten vor den Kopf gestoßen hatte, war auf die unglückliche Idee gekommen, den fortmarschierenden Männern vom Schneeberg aus nachzuwinken. Auf den Arm ihres Mannes gestützt, blieb sie nur so lange oben, bis der Trupp außer Sicht war, doch das genügte, um den Soldatensowjet zur Erörterung dieser unerhörten Handlungsweise der Bürgerin Romanowa zusammentreten zu lassen. Ein Teil der Genossen war der Ansicht, Alexandra habe die Rodelbahn nur erklommen, um irgendwelchen mysteriösen Konterrevolutionären ein Zeichen zu geben. Andere fanden, sie habe sich dem Risiko ausgesetzt, ermordet zu werden, wofür natürlich ihre Wächter verantwortlich gemacht würden. Nach einem langen, genußreichen Abend voller Diskussionen und Protestreden einigten sich die beiden Parteien und beschlossen, daß der Rodelberg zerstört werden müsse - ein Werk, das einen ganzen Tag in Anspruch nahm. Einige der Soldaten schien der Anblick Alexis' und der beiden jüngeren Mädchen, die untröstlich im Schnee standen, etwas verlegen zu machen, aber andere ergötzten sich an den kummervollen Mienen. Die Zeit wurde der Familie nun sehr lang, und sie versuchten die Monotonie mit Scharaden und kleinen Theaterstücken zu unterbrechen, aber Alexis war mit der Zerstörung des Schneebergs alle Freude genommen worden, und Joy wurde nach und nach alt und hatte nicht mehr soviel Lust, in dem eiskalten Hof umherzutollen. Olga erfand ein Spiel, das den Namen »Glückliche Zeiten« erhielt und Alexis manchmal ein wenig unterhielt. Jeder mußte sich auf etwas besonders Schönes aus der Vergangenheit besinnen - ein Ereignis, einen Ort, eine Gelegenheit, die man genossen hatte. Doch es war nicht leicht, »Glückliche Zeiten« zu spielen, wenn die Tage so trüb und eintönig waren und überdies auch die spärlichen Nachrichten, die zu ihnen durchsickerten, immer beunruhigender lauteten. -500-
Von der alten Kaiserin auf der Krim kam kein Wort, aber es hieß Großfürstin Ella sei in ihrem Moskauer Kloster verhaftet und Großfürst Michael aus seinem Palast in Gachina nach Perm überführt und dort unter Hausarrest gestellt worden. Nur von Dimitrij hörten sie etwas Erfreuliches. Er hatte sich, als die Bolschewiken die Macht übernahmen, von der persischen Front nach Teheran abgesetzt und in der britischen Gesandtschaft um Asyl gebeten und betrieb im Augenblick seine Aufnahme in die britische Armee. »Oh, wie schön für Dimitrij! Wie schön!« rief Olga spontan, als sie erfuhr, daß zumindest Dimitrij in Sicherheit war. Erstaunlicherweise gaben sich ihre Eltern noch immer irgendwelchen Freiheitsträumen hin. Die Bruderschaft des heiligen Johannes würde zweifellos handeln, solange die Flüsse noch vereist waren, damit man sie mit Fahrzeugen überqueren konnte; der Schwiegersohn Rasputins würde sein Wort bestimmt halten. Die sowjetische Regierung war inzwischen in den Kreml umgezogen, und die Deutschen hatten einen Botschafter nach Moskau geschickt, den Grafen von Mirbach: Man erzählte sich, daß auch Mirbach auf ihre Freilassung hinarbeite. »Also wirklich!« erklärte Alexandra Feodorowna. »Von den mildtätigen Arrangements des Kaisers möchte ich keinen Gebrauch machen. Nach alldem, was die Deutschen eurem Vater angetan haben, will ich lieber in Rußland sterben, als mich von ihnen befreien lassen!« »Sie fordern das Schicksal heraus, Mama«, sagte Olga. »Wir wollen ja schließlich nicht in Deutschland leben«, redete Tatjana ihrer Mutter zu. »Und wir brauchen unbedingt jemanden, der uns hilft.« »Wo würden wir denn leben? Wir haben nie darüber gesprochen«, sagte Marie. »Mama, Sie möchten nicht nach Paris, und London scheidet jetzt aus. Warum einigen wir uns nicht auf Kopenhagen? Unsere dänis chen Verwandten sind so nett!« -501-
»Sie haben genausowenig einen Finger gerührt, um uns beizustehen, wie alle anderen«, erwiderte Alexandra bitter. »Ein Land, wohin ich unter keinen Umständen zu gehen bereit bin, ist die Schweiz. Stellt euch vor, wie schrecklich es wäre, wenn wir als Exhoheiten in Schweizer Hotels lebten wie die Serben und die Griechen, immerfort von Touristen fotografiert und von amerikanischen Reportern belästigt, die ein Interview haben möchten.« »Das mit der Schweiz klingt doch eigentlich ganz lustig«, sagte Anastasia später zu Olga. »Es klingt wie eine Beschreibung des Himmels.« Olga wurde allmählich von Furcht gepackt, obgleich sie es niemals zeigte. Bei der neuen, verstärkten Wachmannschaft handelte es sich um Rotgardisten aus dem überwie gend bolschewistischen Omsk, die Zoten brüllten und den Zaun mit obszönen Zeichnungen beschmierten, sooft die Mädchen in den Garten kamen. Und der Kommissar ermunterte sie noch zu alldem. Olga spürte, daß sich ein immer enger werdender Ring des Hasses um sie legte, aus dem es für die Romanows kein Entrinnen mehr gab. Die arme Marie bereute bis an das Ende ihres Lebens, daß sie es war, die Alexis auf der Suche nach »Glücklichen Zeiten« erzählte, wie sie einmal während einer Sommerreise, als man den vier kleinen Mädchen erlaubt hatte, den kaiserlichen Zug zu verlassen, um ein Picknick zu veranstalten und ein bißchen zu spielen, auf den silbernen Tabletts aus dem Speisewagen den Bahndamm hinuntergerutscht waren... Niemand ahnte, daß Alexis in die Küche gehen und sich ein Zinntablett holen würde, um die Treppe als Rodelbergersatz zu erproben. Niemand dachte sich etwas dabei, als er den Raum verließ. Bis sie das Getöse am Fuß der Treppe hörten. Er wurde in sein Zimmer getragen, und Nagorny zog ihn aus, während Dr. Botkin schon bereitstand, um ihn zu untersuchen. Er hatte eine Schramme auf der Stirn, die ein wenig blutete, und -502-
eine Beule von der Größe eines Hühnereis auf einem Knie nichts Ernsthaftes für einen Jungen, wie ihm seine Schwestern munter versicherten... Doch bald war die gekünstelte Zuversicht zu Ende. Die dunkelblauen Schwellungen traten auf, das gequetschte Blut sickerte vom Knie in den Schenkel, das Bein verkrampfte sich gegen den mageren Körper, und Alexandra Feodorowna, außer sich vor Kummer und Sorge, betete zur Seele Rasputins um Fürsprache beim Allerhöchsten. Es war die schwerste Attacke seit sechs Jahren. Dr. Botkin versucht jedes Mittel, das irgendwann einmal geholfen hatte, und die Kommissare gestatteten ihm sogar, sich jederzeit an das örtliche Krankenhaus zu wenden. Aber er konnte nicht viel tun; es blieb nur die Hoffnung, daß die Blutung von selbst aufhören würde. Und da Dr. Botkin so ungern Morphium verordnete, fand der arme Junge nur in der Bewußtlosigkeit Erlösung von seinen Schmerzen. Während der ersten beiden Tage war er sehr tapfer, doch dann begann er zu weinen und schließlich zu schreien, gellend und krampfhaft zu schreien, und seine gepeinigten Schwestern hörten ihn mehr als einmal schluchzen: »Ich will sterben, Mama! Ich kann diese schrecklichen Schmerzen nicht mehr ertragen! Mama, bitte, ich will sterben!« Es war die Stimme eines Erwachsenen, der Folterqualen litt. Und die tränenheisere Stimme seiner Mutter versuchte ihn mit Worten aus seiner Kindheit zu beruhigen: »Baby, sei ein lieber Junge. Schsch... mein Sonnenstrahl, Mama hält dich fest. Schlaf jetzt und sei ein gutes Kind.« Bis zum zweiundzwanzigsten April war das Schlimmste überstanden. Alexis konnte sich zwar noch nicht aufrichten, geschweige denn gehen, aber er litt wenigstens keine Schmerzen mehr. Es war der Tag, an dem eine Reiterschar vor der Gouverneursvilla eintraf und Alexandra Feodorowna in das -503-
Zimmer der Mädchen hinkte, um ihnen strahlend zu verkünden, die Befreier seien da. »Sie tragen die Uniform von Rotgardisten, aber ich weiß, es sind Mitglieder der Bruderschaft!« frohlockte sie. »Ich habe lange keine so sympathischen Gesichter mehr gesehen. Nun müssen wir nur noch abwarten, bis sie sich mit uns in Verbindung setzen...« »Wenn Sie so sicher sind«, sagte Tatjana, um ihre Mutter bei guter Laune zu halten, »sollten wir dann nicht, wie wir es besprochen haben, schnell noch ein paar Juwelen in unsere Kleider einnähen?« Die Auswahl der Kleidungsstücke und Juwelen hielt sie beschäftigt, bis eine Zofe erschien und »Ihre Kaiserliche Majestät« bat, sich nach unten zu begeben. Kobilinski stellte den beiden Majestäten Kommissar Wassilij Jakowlew vor - einen Abgesandten des Moskauer Sowjets. Es war kaum anzunehmen, daß man es mit einem Befreier zu tun hatte, aber die Gefangenen empfanden ein gewisses Zutrauen zu dem gutgebauten, höflichen Mann, der offenkundig der Welt angehörte, die sie hinter sich gelassen hatten. Beim Tee machte er gewandt Konversation, und den Mädchen gegenüber betrug er sich sehr ritterlich. Nur einmal schien er etwas bestürzt: als man ihm erzählte, daß Alexis Nikolajewitsch schwer krank gewesen sei und vielleicht noch wochenlang das Bett hüten müsse. »Ich bringe morgen früh meinen eigenen Arzt mit«, erklärte er. Ja, er hatte einen Arzt bei sich und hundertfünfzig mit Maschinengewehren bewaffnete Männer sowie einen Telegrafisten, der den Kontakt mit dem Kreml aufrechterhielt. »Ein sehr liebenswürdiger Mensch, aber leider nicht unser Retter«, sagte Nikolaus, nachdem der unerwartete Gast gegangen war. »Zumindest ist er Sonderkommissar«, warf Olga mit betonter -504-
Munterkeit ein. »Und ich hoffe, daß er einen höheren Rang als Hokriakow hat und diese gräßliche Bande aus Omsk fortschickt.« »Weshalb er wohl gekommen sein mag?« Der Zar furchte die Stirn. »Er erinnert mich an jemanden, ich weiß nur nicht, an wen.« Am nächsten Morgen erschien der Sonderkommissar in Begleitung eines Militärarztes, der Alexis untersuchte, mit Dr. Botkin sprach und fortging. Und einen Tag später setzte Jakowlew nach langem telegrafischen Hin und Her mit dem Kreml Oberst Kobilinski seine Mission auseinander. Doch zuvor hatte er erst noch ein paar Worte mit Simon Hendrikow gewechselt. Sie trafen sich in dem verwahrlosten Raum, wo das Sattelzeug aufbewahrt wurde. »Es ist sinnlos, Simon, der arme Junge ist nicht transportfähig. Also müssen seine Schwestern bei ihm bleiben.« Im Schein der Stallaterne wirkte Simons Gesicht sehr blaß. Sein Kopf schmerzte, und das Herz verkrampfte sich bei dem Gedanken, daß er seiner Prinzessin so nahe war und sie dennoch nicht befreien konnte. »Was werden Sie nun tun?« fragte er. »Ich nehme den Zaren mit und vielleicht auch die Zarin. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, ich habe meine Anweisungen von Swerdlow, und die Rotgardisten, die man uns in letzter Minute mitgegeben hat, kennen diese Anweisungen. Wir können nicht ohne ihn fort, oder wir werden füsiliert.« Die Erwähnung der Zarin hatte Simon belebt. »Wenn Ihre Majestät mitkommt«, sagte er, »muß eine der Großfürstinnen sie begleiten. Eine kranke Frau braucht für eine solche Reise eine ihrer Töchter, das sieht jeder ein. Ich flehe Sie an, Wassilij Waslewitsch, sorgen Sie dafür, daß Großfürstin Olga mitgeht.« »Simon, ich verspreche Ihnen, ich werde alles tun, was ich kann. Aber Sie wissen, daß Sie mir Ihr Wort gegeben haben, meine Entscheidungen zu respektieren, und meine erste Aufgabe -505-
ist es, den Zaren herauszuholen, damit ihm der öffentliche Prozeß, den Swerdlow und Lenin in Moskau vorbereiten, erspart bleibt. Ich muß diese Roten, die man uns mitgegeben hat, davon überzeugen, daß ich Befehl habe, mich in Richtung Omsk, nach Osten, in Marsch zu setzen - nicht nach Westen längs der Bahnlinie nach Moskau -, und selbst wenn wir Omsk erreichen, müssen wir immer noch das halbe Reich durchqueren, bis wir zum Pazifik gelangen. Wir sind darauf gerüstet, uns unterwegs mit Waffengewalt zu behaupten, aber ich möchte, daß wir Tobolsk ohne Blutvergießen verlassen. Einverstanden?« »Einverstanden, wenn Olga Nikolajewna mitkommen darf.« Am nächsten Tag sah es so aus, als würde sich Simons Wunsch erfüllen. Jakowlew legte seine imponierenden Vollmachten aus Moskau vor: das von Jakob Swerdlow, dem rangmäßig kaum unter Lenin stehenden Präsidenten des Gesamtrussischen Sowjetkongresses gezeichnete Schreiben, worin Oberst Kobilinski und seine Le ute unter Todesdrohungen angewiesen wurden, den Sonderkommissar in seiner Mission zu unterstützen. Seine Befehle lauteten, die gesamte RomanowFamilie nach Moskau zu überführen, und sie waren das Ergebnis monatelanger Verstellung, Intrigen und Bluffs seitens des Mannes, der kühn genug gewesen war, die bereits von Kerenski vage ins Auge gefaßte Rettung der Gefangenen via Wladiwostok und Japan zu planen und zu realisieren. Die Nachricht, daß der Zar nach Moskau gebracht werden sollte, machte aller christlichen Resignation, die seine Gattin während der mehr als ein Jahr dauernden Gefangenschaft bewiesen hatte mit einem Schlag ein Ende. Sie tobte wie in den Zeiten Rasputins - als wären Kobilinski, Jakowlew und sogar Nikolaus die Minister, die sie damals mit eine m Federstrich ernannte und absetzte. Er dürfe nicht gehen, schrie sie; und als Tatjana ihr schonend beibrachte, daß er keine Möglichkeit habe, sich zu weigern, bestand sie energisch darauf, an seiner Seite zu bleiben, damit er zumindest ihren Rat einholen könne, bevor er -506-
in Moskau irgendwelche Erklärungen abgab oder Unterschriften leistete. Man sagte ihr, daß sie ihren Gatten begleiten und Großfürstin Olga zu ihrer Betreuung mitnehmen könne: Der Zar hatte die Wahl zwischen Prinz Dolgoruki und General Tatischew. Sie wies Olga an, sich mit allem nötigen für die Reise zu versehen, und ging nach oben, wo sie sich über das Bett ihres Sohnes warf und den weinenden, verängstigten Alexis an ihre Brust drückte. Ein paar Stunden lang, während die Vorbereitungen im Gang waren, dachte Simon Hendrikow, das Wunder sei geschehen und er würde Olga wieder in seinen Armen halten. Die bloße Vorstellung bewirkte, daß sich in seinem Kopf alles drehte; sein Gesicht und seine Hände glühten, und seine Zunge wollte ihm kaum gehorchen, als er beim Abendessen mit seinen Mitverschworenen ein paar vorsichtige Worte wechselte. Seine wenigen Habseligkeiten hatte er bereits gepackt. Alles war für den Aufbruch gerüstet. Doch um zwei Uhr war von der kaiserlichen Familie noch immer nichts zu sehen. Das Sausen des Windes, der durch den Hof fegte, klang nach Frühling. Von den Dachtraufen hörte man das Wasser tropfen. »Die Straßen werden völlig aufgeweicht sein«, sagte Jakowlew leise zu Simon. »Ich glaubte, wir könnten noch vor Mitternacht fort. Weiß der Himmel, warum sie solange brauchen...« Die Verzögerung kam dadurch zustande, daß Alexandra in letzter Minute umdisponierte und erklärte, es sei besser, wenn Olga bliebe. »Sie ist die älteste - mit Tatjana zusammen kann sie sowohl dem Haushalt vorstehen als auch Baby pflegen. Olga, wie denkst du darüber? Sollte uns nicht lieber Marie begleiten?« »Wie Sie wünschen, Mutter; der Kommissar sagte allerdings ausdrücklich, ich sollte mit Ihnen kommen...« »Ach, was heißt das schon!« erwiderte ihre Mutter ungeduldig. »Er meinte ganz einfach, eine von euch; irgendeine. -507-
Marie, lauf und mach dich fertig...« Es war nach drei, als Prinz Dolgoruki herauskam und verkündete, »Ihre Kaiserlichen Majestäten« seien reisefertig. Die tarantas, grob zusammengezimmerte, ungefederte Wagen, die gerade zwei Passagieren und einem Kutscher Platz boten, hatten stundenlang im Hof bereitgestanden. Nun wurden die Pferde eingespannt und die Eskorte versammelte sich. Es waren jetzt fast zweihundert Mann, denn ein Trupp von Oberst Kobilinskis Leuten, die den Fremden aus Moskau ganz unverhohlen mißtrauten, hatten darauf beharrt mitzureiten. Simon saß auf und umschlang die Zügel mit der linken Hand; sein rechter Arm schien genauso betäubt wie sein Kopf. Er sah, wie die Bediensteten eine Matratze und Decken in einen der Wagen legten. Für die Zarin zweifellos. Und Olga würde neben ihr sitzen... Der Zar erschien, ein vages Lächeln um den Mund. Für ihn und Jakowlew war der erste tarantas bestimmt. Jetzt trat Alexandra Feodorowna aus dem Haus, ihr Gatte und Prinz Dolgoruki halfen ihr in den Wagen, und eine hochgewachsene Gestalt in einem langen Pelzmantel, den Kopf zum Schutz gegen den Schneeregen fast völlig verhüllt, stieg hinter ihr ein. Simon träumte von Olgas Gesicht, von dem Moment, in dem er es wiedersehen würde. Wenn der Morgen über der Steppe dämmerte... Wie lange er wohl warten mußte, bevor er sich ihr nähern konnte? Jakowlew nahm seinen Platz neben dem Mann ein, den er aus seinem Gefängnis herausgeholt hatte; ein Sergeant rief die Kommandoworte. Simon riß sein Pferd herum und warf noch einen letzten Blick zurück. Unter der beleuchteten Tür, die Hand zum Abschiedsgruß erhoben, vom Arm ihrer Schwester umschlungen, stand... seine Prinzessin! Olga, dort... durch einen schmutzigen Hof von ihm getrennt... Eine jähe Bewegung ihrer Hand, ihre Finger, die den -508-
Mund bedeckten, zeigten ihm, daß auch sie ihn gesehen hatte. Sein Impuls, der stärkste Impuls seines ganzen Lebens, war, abzusitzen und zu ihr zu eilen, sie an sich zu reißen und allen Gegnern zum Trotz nie mehr loszulassen. Doch die Kolonne passierte bereits die offenen Torflügel, und irgendwer griff ihm in die Zügel und dirigierte sein Pferd in Reih und Glied zurück. Nur einen Blick hatte er auf das Gesicht seines Idols werfen können, und dann war sie für ihn wieder in unerreichbare Ferne gerückt. Es war Tatjanas Sinn für das Praktische, der Olga vor dem totalen Zusammenbruch bewahrte. Wie betäubt von dieser unerwarteten flüchtigen Begegnung, überglücklich, daß er buchstäblich bis zur Tür ihres Kerkers vorgedrungen war, konnte sie den Gedanken nicht ertragen, daß ihr nur durch die chronische Sucht ihrer Mutter, sich in alles einzumischen, verwehrt worden war, jetzt mit Simon auf einer dunklen Straße unterwegs zu sein. Aber Tatjana hatte Simon Hendrikow nicht erkannt und zog ihre beiden Schwestern ins Haus hinein. »Wir können jetzt nichts mehr für sie tun«, sagte sie. »Wir müssen wenigstens ein paar Stunden schlafen, heute gibt es viel Arbeit.« Sie hatten sich vorgenommen, die im Dachgeschoß untergebrachten Koffer zu durchsuchen, weil sie während der Reisevorbereitungen gemerkt hatten, daß von ihren Kleidungsstücken sehr viel fehlte. Es stellte sich heraus, daß ihnen außer ihren schweren Wintersachen kaum noch etwas blieb, und der Frühling war nicht mehr fern. Dazu kam, daß sie eine ganze Weile in banger Ungewißheit auf Nachricht warten mußten, und dies in einer Zeit, in der allenthalben Flüsse über die Ufer traten und Straßen fortgeschwemmt wurden. Es war eine große Erleichterung, als endlich ein Telegramm von Marie eintraf, worin stand, daß sie die Bahnstation Tjumen erreicht hatten. Dann hörten sie nichts mehr, bis Oberst Kobilinskis -509-
Leute zurückkehrten. Der Kommandant bat Olga um ein Gespräch unter vier Augen und sagte ihr, was er zu seinem Erstaunen erfahren hatte. Als erstes hatte Kommissar Jakowlew verkündet, er beabsichtige über Omsk nach Moskau zu fahren - nicht die direkte, aber immerhin eine mögliche Route. Dann war der Zug sechzig Meilen westlich der Stadt plötzlich von Mitgliedern des Oms ker Sowjets angehalten worden, denen Jakowlew jedoch erklärte, er nehme nur Befehle aus Moskau entgegen. Er bestand darauf, in Omsk zu telefonieren... »Mit Moskau?« »Mit Präsident Swerdlow. Oh, seine Beglaubigungsschreiben waren zweifellos echt! Er fuhr also nach Omsk und brachte gleichzeitig einen Offizier der Roten Garde, der unterwegs erkrankt war, in ein Krankenhaus. Aber diesmal gelang es ihm offenbar nicht, bei Swerdlow seinen Willen durchzusetzen. Als er zurückkam, sagte er, Genosse Swerdlow habe ihn angewiesen, die Gefangenen dem Sowjet von Jekaterinburg auszuliefern.« »Was für eine sonderbare Geschichte«, sagte Olga. »Eugen Stepanowitsch, ich bin jetzt beinahe überzeugt, daß Jakowlew einen Befreiungsversuch geplant hatte...« Kobilinski nickte. »Es sieht so aus. Und vermutlich haben ihn Swerdlow und Lenin überlistet. Wir wissen ja, daß der deutsche Botschafter einen starken Druck auf die Volkskommissare ausübte, um Ihre Majestäten aus Tobolsk herauszuholen. Was war also einfacher, als sie von Jakowlew fortbringen zu lassen und dafür zu sorgen, daß ihn irgendein Ural-Sowjet unterwegs abfing?« »Oh, wenn man sie nur nicht ausgerechnet nach Jekaterinburg gebracht hätte!« sagte Olga, denn die Ural-Sowjets waren wegen ihrer Grausamkeit berüchtigt. Oberst Kobilinski versuchte sie zu beruhigen und meinte, es -510-
sei noch immer möglich, daß in ein paar Tagen bessere Nachrichten einträfen. Doch die Mädchen hörten lediglich, daß der neue Kerker der Familie Ipatjew Dom hieß und Prinz Dolgoruki verhaftet worden war... In der Gouverneursvilla schien eine Jahreszeit der anderen zu gleichen; die einzigen merklichen Veränderungen, die das Winterende mit sich brachte, waren, daß es Alexis etwas besser ging und daß Oberst Kobilinski - tief bekümmert - Abschied von ihnen nehme n mußte, weil er nach Petrograd zurückbeordert wurde. Nun gab es niemanden mehr, der den Kommissaren entgegengetreten wäre, und Hokriakow war besonders einfallsreich, was Schikanen betraf. Zu seinen neuen Anordnungen gehörte, daß die Schlafzimmertüren nicht mehr geschlossen werden durften, und oft wachten die Mädchen nachts davon auf, daß irgendein Soldat mitten in ihrem Zimmer stand. Eines Sonntags im Mai - die Ärzte hatten gerade erklärt, Alexis sei nun allmählich reisefähig - kam es zu einer letzten Machtdemonstration. Den Priestern und Nonnen, die wie sonst zum Hausgottesdienst erschienen, wurden unter dem Vorwand, sie beförderten Botschaften oder Waffen, die Kleider vom Leibe gerissen. Die Schreie der Opfer und das rohe Gelächter der Soldaten gellten den jungen Leuten noch stundenlang in den Ohren. Am Abend lag Olga voll angekleidet auf ihrem Bett und betrachtete im Schein eines Kerzenstummels die Gesichter ihrer bereits schlafenden Schwestern. Sie dachte an Marie in Jekaterinburg und machte sich nicht zum ersten Mal - Vorwürfe, daß sie sich nicht über den Egoismus ihrer Eltern hinweggesetzt und Boris Heidens Angebot angenommen hatte. Nach einer Weile hörte sie vor der geöffneten Tür die leise Stimme Nagornys. -511-
»Eure Kaiserliche Hoheit! Alexis verlangt nach Ihnen.« Sie nahm die Kerze und schlüpfte geräuschlos hinaus. Im Zimmer ihres Bruders kniete sie neben seinem Bett nieder und schob ihren Arm unter seine mageren Schultern. »»Was ist, Liebling?« »Ich wollte dich etwas fragen«, begann er zögernd. »Meinst du, daß Gott mir zürnt?« »Warum sollte er dir denn zürnen?« »Als ich solche Schmerzen hatte, habe ich oft gesagt, daß ich sterben wollte, und es ist nicht wahr! Ich will leben, Olga! Ich will nicht sterben! Ich will leben!« Olga legte ihren Kopf neben den seinen. Über ihre Wangen rannen Tränen, während er zaghaft fortfuhr: »Sie werden uns umbringen, nicht wahr?« »Oh, Alexis!« »Wird es sehr weh tun? Olga, wie ist es, wenn man stirbt?« »Ich glaube«, sagte Olga, »wenn der Tod zu uns kommt wenn wir alt, sehr alt sind -, dann ist das, wie wenn man von sehr starken Armen umfaßt und durch die Finsternis zum Licht geführt wird.« Sie hörte ihn ruhiger atmen, und seine Stimme klang schon schläfrig, als er murmelte: »Sehr starke Arme, das gefällt mir. Dann macht es mir... nicht so viel aus...« Sanft berührte ihre Stirn seine schmalen Hände. Bin ich meines Bruders Hüter? Ja.
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28 Als der deutsche Botschafter, dessen Hilfe Alexandra Feodorowna verschmäht hatte, in Moskau erschossen wurde, war dies - zumindest in Rußland - der meistdiskutierte Mord seit dem jetzt schon fast vergessenen Attentat von Sarajevo. Er hatte zur Folge, daß Lenin erstmalig seit der Verlegung des Regierungssitzes nach Petrograd zurückkehrte. Er sollte im Maly- Theater sprechen, und Mara Trenowa sah rings um den Michaelplatz rote Fahnen hochgehen, als sie an einem heißen Sommermorgen ihrer Dienststelle zustrebte. Die TEO war für kurze Zeit in einer Büroetage auf dem Newski Prospekt untergebracht worden, weil es vor dem Umzug nach Moskau noch verschiedene Projekte abzuschließen gab. Sie hatten so viel zu tun, daß niemand den anderen beachtete, und Mara fiel nichts Ungewöhnliches am Benehmen ihrer Kollegen auf, als sie ihre Jacke aufhängte und sich an ihren Tisch setzte. Trennwände hatte man in den kleinen Räumen nicht ziehen können, und Mara begegnete an diesem Morgen einige Male dem nachdenklichen Blick des Abteilungsleiters, Ilja Korw. Gegen Mittag kam er zu ihr herüber. »Sie schauen sich doch um sechs Uhr den Anti- Romanow-Streifen an?« »Ja, Kronen und liebende Herzen. Er ist für die Untertitel fertig.« Sie sah lächelnd zu ihm auf, aber Korws Augen blieben kalt. »Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen«, sagte er nun. »Kommen Sie mit in die Volksküche, dort könnnen wir uns unterhalten...« »Bevor ich es vergesse«, begann er, als sie ihre Rübensuppe und ein Stück Schwarzbrot verzehrten, »ein alter Freund von Ihnen, den ich in Moskau getroffen habe, hat mir Grüße für Sie -513-
bestellt. Genosse Sergiew... Er ist jetzt Kriegsberichterstatter für die Prawda.« »Ich weiß, ich habe seinen Namen gelesen. Ist es nicht sonderbar, von Kriegsberichterstattern zu sprechen, wenn man noch vor sechs Monaten auf ewigen Frieden eingestellt war?« »Das verdanken wir nur den zaristischen Konterrevolutionären und ihren ausländischen Verbündeten«, entgegnete Korw leise. »Die Japaner landen Truppen zu Tausenden, und die Tschechen kämpfen die ganze transsibirische Bahnstrecke entlang. Genosse Lenin hat erklärt, daß unsere erste Aufgabe die Schaffung einer starken sozialistischen Armee sein müsse...« »Und Wörter wie ›Vaterland‹ und ›Patriotismus‹ werden wieder respektabel.« Ilja Korw seufzte. »Genossin Mara, Sie haben das Thema selbst angeschnitten. Gestern abend, als Sie gegangen waren, hielten wir im Büro eine Versammlung ab; Gegenstand unserer Diskussion waren Ihre sarkastischen Bemerkungen über den gerechten Widerstand, den wir den fremden Aggressoren entgegensetzen. Ihre Kollegen haben das Gefühl, daß Sie ein subversives Element in unsere Gruppe hineinbringen. Sie wählten mich zu ihrem Sprecher, um Sie zu warnen...« Als er die Zornestränen in ihren Augen sah, fuhr er fort: »Bitte, Genossin Mara! Glauben Sie mir, ich bin Ihr Freund. Sie können den Nachmittag dazu benutzen, um in Ruhe nachzudenken. Wir brauchen Sie erst um sechs. Reinigen Sie Ihre Ansichten von subversiven Tendenzen, und helfen Sie heute abend mit, Lenin einen triumphalen Empfang zu bereiten.« Ilja Korw lächelte wohlwollend und tätschelte ihre Hände. Mara Trenowa schlenderte langsam in Richtung der Newa. Von dort ging sie zur Wassilij-Insel hinüber und passierte die -514-
Stelle, an der sie vor drei Jahren gestanden hatte, um Großfürstin Olga vorbeifahren zu sehen. Genau zehn Schritte waren es von der Bordkante zum Wagen... Du triffst kein Scheunentor auf zehn Schritt, hatte Jakob Levin gesagt. Du könntest gar nicht abdrücken... Mechanisch hatte sie den Weg zur Vierten Straße eingeschlagen. Alle Wohnungen dort waren aufgeteilt und Arbeiterfamilien zugewiesen worden, und Wäscheleinen zierten die Balkone. Ein schmutziges Spruchband hoch über der Straße verkündete: »Die Herrschaft des Proletariats ist der Tod des Bürgerpacks!« Das eine Ende war an dem Lindenbaum befestigt, der vor dem ehemaligen Wohnzimmerfenster der Hendrikows stand. Sie dachte an Joe Calvert, an seinen kurzen Besuch im Smolny. Die Begegnung hatte den frischen Hauch einer anderen Lebensart zu ihr getragen, Erinnerungen an alte Zeiten geweckt - und Maras kritische Haltung dem Regime und Lenin gegenüber begründet. Für die Vorprojektion ihrer Propagandastreifen bediente sich die TEO des Konzertsaals im Erdgeschoß. Kronen und liebende Herzen begann pünktlich. Den Vorspann begleiteten die von Mara selbst ausgesuchten Symbole: die Knute, Handschellen, aneinandergekettete Häftlinge, die durch den sibirischen Schnee stapften. Dann kamen einleitende Aufnahmen der vier Großfürstinnen - Überblendungen, die von Vorkriegsfotografien ausgingen, auf denen Anastasia noch ein ziemlich kleines Mädchen war. Ein Hintergrund aus Sofas mit seidenen Kissen, Tierfellen und Vasen voll exotischer Blumen verstärkte das von Eleganz und Luxus geprägte Bild. Die zwei jüngeren Mädchen trugen weiße Bänder im Haar, Olga und Tatjana hatten Krönchen auf dem Kopf. Die ersten Filmmeter machten bereits völlig klar, daß es sich um einen rein pornographischen Streifen handelte, der die Promiskuität der früheren Großfürstinnen zum Inhalt hatte. Der Regisseur hatte vier Schauspielerinnen gewählt, -515-
die jeweils eine schwache Ähnlichkeit mit einer der Großfürstinnen aufwiesen. Eine geschickte Schminktechnik half dem noch nach. Ihre Liebespartner waren Stallknechte, Matrosen, Gardesoldaten, der unvermeidliche Rasputin und am Ende sogar Tiere... Nach zwanzig Minuten flammten die Lichter auf, und Ilja Korw wandte sich an Mara, die hastig ihr fast unbeschriebenes Notizbuch zuklappte. »Starker Tobak, wie Trenowa?« sagte er und drückte ihren Arm. Ein schlaffer, sinnlicher Zug lag um seinen Mund. Nun kam auch der Regisseur heran. »Ihre Untertitel brauche ich morgen früh, Trenowa«, sagte er. »Ich möchte sofort eine Kopie nach Jekaterinburg schicken.« »Wie wär's mit einer Vorführung im ›Haus für gewisse Zwecke‹?« meinte Korw lachend. »Im ›Haus für gewisse Zwecke‹?« Mara staunte ihn verständnislos an. »Dort sind Nikolaus der Blutige und seine Brut eingesperrt.« »Und warum heißt es so?« »Benutzen Sie Ihre Phantasie, Trenowa!« Korw wandte sich ab, und Mara hastete angewidert in den ungeheuer schmutzigen Waschraum und erbrach sich. Ein unerträglicher Ekel, mit Schuldgefühlen vermischt, zog ihren leeren Magen krampfartig zusammen. Was sie auf der Leinwand gesehen hatte, war nur noch ein wenig schlimmer als ihre Karikaturenserie von der Vergewaltigung Olgas durch Rasputin. Und Lenin hatte das Kino als »das Massenmedium der Zukunft« bezeichnet - Lenin, der diese Mädchen in ein Haus geschickt hatte, dessen finsterer Verwendungszweck völlig klar war. Er will sie allesamt kaltblütig ermorden lassen, dachte sie. Es graute ihr vor der Rückkehr in ihre armselige Wohnung, und sie beschloß, in den »Roten Sarafan« zu gehen, wo bei -516-
ihrem Eintritt gerade ein junger Mann Gedichte rezitierte. Sie setzte sich und bestellte einen Wodka, der ihr sofort in den Kopf stieg, weil sie nicht daran gewöhnt war. Dann fielen ihr die Untertitel wieder ein, und sie öffnete ihre Umhängetasche, um ihr Schreibzeug herauszuholen. Ihre Finger stießen gegen etwas Kaltes, Hartes. Es war die geladene Mauser-Pistole, die sie während der zwei Revolutionen bei sich getragen hatte. Mara Trenowa schrieb eifrig, als die Kellnerin den zweiten Wodka brachte. Niemand achtete darauf, daß sie das bekritzelte Papier zusammenknüllte und unter den Tisch warf. Später entdeckte es jemand, und es wurde als Beweis für die geistige Zerrüttung der Trenowa zu den Akten gelegt; statt der Untertitel für einen »kulturell wertvollen Film« enthielt es in vielfacher Wiederholung die Worte: »Brot, Frieden, Freiheit = Hunger, Krieg, Unterdrückung«, ebensooft gefolgt von »Blut und Haß = Leninleninlenin.« Mara fand sich pünktlich zu der Versammlung ein. Im Foyer zeigte sie ihren Presseausweis und erklärte, sie sei von der TEO beauftragt, über die Ankunft Genosse Lenins zu berichten. Ilja Korw und ihre sämtlichen Kollegen hatten bereits ihre Plätze eingenommen, so daß niemand Mara Trenowas Recht in Frage stellte, sich draußen aufzuhalten. Ein schmächtiges Mädche n, von dessen Schulter eine offene Umhängetasche herabhing, fiel keinem Menschen auf. Lenin, der die unproduktive Saumseligkeit der Russen haßte, traf genau zum angegebenen Zeitpunkt ein. Im Eingang des Maly begrüßte er den Vorsitzenden des Petrograder Sowjets hinter sich den von der Spätnachmittagssonne beschienenen Michaelsplatz, auf dem sich jubelndes Volk drängte, vor sich das hellerleuchtete Foyer. Er stand ungefähr zehn Schritt von dem halbgebildeten, frustrierten Mädchen entfernt, dessen Heldenverehrung in Groll und bittere Enttäuschung umgeschlagen war. Er war das perfekte Opfer, zu dessen Tötung sie von ihrem ersten Besitzer, Jakob Levin, angeleitet und -517-
herausgefordert worden war, nur daß Levin dabei an den früheren Zaren gedacht hatte, nicht an den neuen. »Du könntest gar nicht abdrücken, oder?« Sie zog die Pistole aus ihrer offenen Tasche und entsicherte sie. Die Waffe war schwer, viel zu schwer, doch das spielte jetzt keine Rolle. Mara drückte ab und sah noch das Blut auf Lenins kahlem Kopf. Dann schmetterte sie ein Hagel von Schlägen zu Boden. Als Mara Trenowa zu sich kam, wußte sie, daß sie in der Peter-Pauls-Festung war. Schon in den Stunden zuvor hatte das »Herr, erbarme dich unser« ihr Koma durchdrungen, und sie erinnerte sich auch, daß die Gefängniswärter, die sie von dem summarischen Prozeß in ihre Zelle zurückschleppten, eine Bemerkung gemacht hatten, aus der hervorging, daß dies die Trubetzkoi-Bastion sein mußte, die den gefährlichsten Feinden des Staates vorbehalten war. Hier waren schon die Dekabristen gewesen und die Mörder Alexanders II.; Anja Wirubowa hatte monatelang das Wasser der Newa gegen die Mauern klatschen hören. In der Trubetzkoi-Bastion eingekerkert zu sein war ein letzter Triumph für Mara Trenowa. Was das Attentat auf Lenin anbetraf, so wußte sie aus der Anklageschrift, die ihr »versuchten Mord « vorwarf, daß sie hier, wie so oft, versagt hatte. Von Kopf bis Fuß grün und blau geschlagen, von zwei Wärtern gestützt, war ihr zu ihrer Verteidigung nur ein einziger Satz über die Lippen gekommen: »Ich bin Iwan Trenows Tochter.« Um Mitternacht entstand plötzlich Bewegung in den Gängen, und Mara ahnte, daß sie das Glockenspiel nie mehr hören würde. Als die vier bewaffneten Männer mit Ketten und Laternen eintraten, empfand sie nur Dankbarkeit, daß man sich ihrer so schnell entledigte. Niemand würde sie mehr einem dieser schrecklichen Verhöre unterziehen, um die Namen ihrer »Mitverschwörer« aus ihr herauszuholen. -518-
Ich habe mich verirrt Das ist die falsche Stadt und die falsche Nacht... Es waren die einzigen Worte, auf die sie sich besinnen konnte, während man sie mit einer Reihe anderer Verurteilter, unter ihnen zwei Männer in den zerfetzten Uniformen der Berittenen Garde und eine ältere Frau, die zu beten schien, in einen kleinen Hof führte. Als sie das Erschießungskomando erblickte, begann sie, genau wie die andere Frau, zu schreien und sich in ihren Ketten zu winden. Irgend jemand band ihr ein Tuch über die Augen, und in dieser Finsternis fielen ihr die Worte des Kontakion ein, die sie so oft gehört und laut verspottet hatte, und zerstörten die Illusion des Märtyrertodes: Zu Staub zerfallen wir alle, Und am Grabe weinend, stimmen wir an unser Lied: Die Gewehre spien ihre Kugeln aus... Halleluja! Halleluja! Halleluja!
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29 Um die Zeit, als Lenin im Maly-Theater der Schuß streifte, den die Konterrevolutionärin Trenowa abgab, war die kaiserliche Familie bereits sechs Wochen vereint, und die ursprünglich in Tobolsk Zurückgebliebenen hatten ihre alptraumhafte Reise fast vergessen. Die Flußfahrt nach Tjumen war wesentlich anders verlaufen als das erste Mal. Sie hatten ihre Kabinen kaum verlassen dürfen, und ihre einzige Freude war die Gesellschaft Baronesse »Isa« Buxhoevedens gewesen, der man nun endlich erlaubt hatte, sich ihnen anzuschließen. Nach so langer Zeit hatten sie sich viel zu erzählen, und Isa brachte auch aus Tobolsk interessante Neuigkeiten mit. Unter anderem hatte sie gehört, daß Kommissar Jakowlew inzwischen in der von Admiral Koltschak aufgestellten Weißen Armee kämpfte - eine Nachricht, die Olga mit Hoffnung erfüllte. Wenn es Jakowlew gelungen war, sich zu den Weißen durchzuschlagen, dann hatte Simon vielleicht das gleiche erreicht; sie konnte es kaum erwarten, mit ihrer Schwester Marie zu sprechen. Inzwischen war Isas Anwesenheit eine große Hilfe, und manchmal flackerte in der kleinen Gruppe sogar wieder ein bißchen Zuversicht auf. Sie wurde in Tjumen vernichtet. Gleich als erstes fanden sich die drei Mädchen und Alexis der Raserei einer zornigen Menschenmenge preisgegeben, während sie - jeder mit soviel Gepäck beladen, wie er tragen konnte - unter dem Schutz aufgepflanzter Bajonette zum Bahnhof gebracht wurden. Dort scheuchte man alle in zwei schmutzige Vierte-Klasse-Wagen: die Mädchen, Alexis und Nagorny in den einen, die ehemaligen Hofdamen, General Tatischew und die beiden Hauslehrer in den anderen. Schon als sich der Zug in Bewegung setzte, klagte Alexis über Durst; doch es gab nicht einmal in der Toilette Wasser, und sie mußten Hitze, Hunger und Unbequemlichkeiten -520-
noch lange ertragen. »Jekaterinburg... endlich«, seufzte Olga, als die Außenviertel der Stadt in Sicht kamen. »Wir halten schon! Aber hier ist ja gar kein Bahnsteig! Oh, auch das noch - sie bringen uns in den Güterbahnhof!« Sie redeten alle zugleich, während der Zug eine ganze Weile heftig vor- und zurückstieß, bis er schließlich stand. Ein Trupp Rotgardisten wies die Passagiere barsch an, sich nie den Fenstern zu nähern und die Blenden herunterzuziehen, wenn sie »keinen Ärger« haben wollten. »Wann dürfen wir heraus?« fragte Olga. »Das werden Sie schon erfahren, Bürgerin. Wir müssen warten, bis die Luft rein ist. Es gibt Leute in der Stadt, die euch Mörder mit Wonne in Stücke reißen würden.« Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, denn als nach einem langen hellen Abend die Nacht hereinbrach, saßen sie immer noch in ihren verschlossenen Wagen. Niemand machte sich die Mühe, ihnen zu berichten, daß die Einwohner von Jekaterinburg nicht nur durch den fanatisch bolschewistischen Sowjet gegen sie aufgehetzt worden waren, sondern auch durch fünfhundert Matrosen aus Kronstadt, die tagelang die Stadt terrorisiert hatten. Niemand erzählte ihnen, daß die Rote Armee in Sibirien gegen eine disziplinierte Streitmacht tschechischer Kriegsgefangener kämpfte, die ursprünglich ge gen die Deutschen hatten eingesetzt werden wollen, sich inzwischen aber mit den Roten begnügten. Und das Volk machte »Väterchen Zar« ebenso für diese Bürgerkriegsphase verantwortlich wie für alle übrigen Bedrängnisse. Sein Sohn und seine Töchter durften den Zug erst am nächsten Morgen verlassen. Sie schöpften Hoffnung, als sie ein paar von armseligen Mähren gezogene Kutschen in den Güterbahnhof einfahren sahen, und Olga wagte es, einen Moment ihren Kopf aus dem Fenster zu stecken. -521-
»Ein Soldat steigt in den Wagen ein, in dem Isa und Nastja sind«, berichtete sie. »Oh, es wäre so tröstlich, wenn sie bald wieder bei uns sein könnten!« Doch der Offizier, den ein mißtrauischer örtlicher Sowjetkommissar begleitete, hatte anderes mit den früheren Hofdamen im Sinn. Als erstes verglich er ein paar Fotografien mit den ängstlichen bangen Gesichtern, die er vor sich sah. »Sophie Buxhoeveden, Pierre Gilliard, Sydney Gibbs. Sie und Sie und Sie. Nehmen Sie Ihren Kram und steigen Sie aus, Sie sind frei. Verstehen Sie mich nicht, Bürgerin? Verschwinden Sie, wohin Sie wollen; Sie interessieren uns nicht mehr. Jetzt die Frau mit dem deutschen Namen -Sie, Schneider - und Anastasia Gendrikowa, und Tatischew, vormals General - Sie mit dem Bart -, Sie sind verhaftet. Lassen Sie Ihr Gepäck da, Sie werden es nicht mehr brauchen.« »Leutnant«, bat der alte General unbeirrt, als die entsetzten Frauen zu weinen begannen, »ich stehe völlig zu Ihrer Verfügung. Aber diese beiden Damen haben genausowenig wie ich irgend etwas getan, was eine Festnahme rechtfertigte. Nehmen Sie mich mit, wenn es sein muß, aber lassen Sie sie frei.« Der Kommissar griff mit harten Fingern nach Nastjas bebendem Kinn. »Die da sieht gar nicht übel aus«, bemerkte er. »Womit würdest du denn deine Zeit zubringen, wenn ich dich fortgehen ließe, Schätzchen?« Die junge Gräfin richtete sich stolz empor und sagte mit klarer Stimme: »Ich würde meiner Kaiserin dienen - bis ich sterbe.« »Abführen.« Als man die drei Gefangenen fortgeschafft hatte, wurden die Romanows in aller Eile aus ihren Wagen herausgetrieben, und die drei so unerklärlich Freigelassenen beobachteten kummervoll, wie Tatjana strauchelte und fiel, weil sie den -522-
Pekinesen Jimmy im Arm hielt und gleichzeitig einen schweren Koffer schleppte, während Anastasia, nicht minder bepackt, krampfhaft die Leine des Spaniels umklammerte. Sie hörten die Verwünschungen, die der im Güterbahnhof herumlungernde Mob den abfahrenden Droschken nachschrie. Sie sahen, wie die Koffer und Truhen aus dem Gepäckwagen gezerrt und fortgeschleppt wurden, wie sie aufsprangen, wie der Pöbel wahllos nach Kleidern, Stiefeln und Büchern griff und die Pelzmäntel buchstäblich entzweiriß. Eine Kiste enthielt Briefe, die zuerst das Interesse des Sowjets erweckte, doch als sich herausstellte, daß sie in englischer Sprache geschrieben waren, kümmerte sich niemand mehr darum, und sie wurden wie Konfetti im ganzen Gelände verstreut. Ein dünner Regen, der herunterzustreichen begann, dämpfte schließlich die Volksbegeisterung. Die Briefe in Alexandra Feodorownas klarer, eleganter Handschrift wurden tief in den Schmutz getreten. Es waren Briefe, die sie ihrem Gatten ins Hauptquartier geschrieben hatte, und einer von ihnen, der etwas länger als die anderen im sibirischen Wind flatterte, lautete: »... Der Zar regiert, und nicht die Duma! Bitte, mein Nicky, Rußlands Retter, sei ein Lieber und behalte Stürmer und Protopopow, Unser Freund empfiehlt es... und denk daran, daß ich Dich liebe - Little Boy Blue.« »Oh, meine Olga, mein erstgeborenes Kind, mein liebes, tapferes Mädchen! Ich wußte, daß du die anderen wohlbehalten zu mir bringen würdest!« Dies eine Mal berührte Alexandras überschwengliche Art Olga nicht unangenehm, während sie die weinende weißhaarige Frau umschlungen hielt. Dies eine Mal war ihr, als legte sie nach der langen strapaziösen Fahrt von Tobolsk ihre Bürde in die Hände zurück, die als erste ihr Leben gelenkt hatten. In dieser Begrüßung waren Mutter und Tochter einander näher als je zuvor. Allen standen Tränen der Rührung in den Augen, als die -523-
Mädchen in das Haus liefen und Nagorny Alexis hineintrug. »Aber wo ist Zilchik?« rief der Junge. »Ja, was habt ihr denn mit ihnen allen gemacht?« erkundigte sich Nikolaus munter. »Sind sie denn nicht schon hier?« fragte Olga verblüfft. »Sie kommen bestimmt gleich«, meinte Marie. »Vielleicht hat man ihnen ein anderes Haus zugewiesen«, sagte Tatjana. »In Tobolsk durften sie ja auch nicht bei uns wohnen. Nun, morgen hören wir sicher, wo sie sind... « Tatjana wollte nicht, daß dieser schöne Moment, der sie wiedervereinte, durch Sorgen zerstört wurde. Aber sie sahen ihre Freunde niemals wieder. General Tatischew, die Gräfin und Mademoiselle Schneider teilten Prinz Dolgorukis Los im Gefängnis und endeten vor einem Erschießungskommando. Monsieur Gilliard, der englische Tutor und Baronesse »Isa« brachten zehn Tage, bis man sie aus der Stadt wies, auf dem Güterbahnhof zu. Sie schliefen einmal in diesem, einmal in jenem Zug und versuchten über den britischen Konsul Hilfe für die Romanows herbeizuholen. Es war hoffnungslos; in Jekaterinburg lagen zehntausend Sowjetsoldaten. Im Ipatjew-Haus war das Erdgeschoß größtenteils von der Wachmannschaft besetzt. Der Keller darunter wurde nicht benutzt. Oben gab es insgesamt fünf Räume für die Familie, Dr. Botkin und die wenigen verbliebenen Bediensteten. Die Fensterscheiben waren weiß angestrichen und ein hoher Zaun um das Haus gezogen worden. »Das ist ein richtiges Gefängnis, nicht wahr?« sagte Olga am ersten Abend zu Marie, als sie ein paar Minuten allein waren. Marie schüttelte den Lockenkopf. »Es ist ziemlich schlimm«, gab sie zu. »Der Kommissar ist ein abscheulicher Mensch. Awdjew heißt er. Er ist fast immer betrunken, aber nüchtern demütigt er uns genauso. Er holt sich mit seinen schmutzigen Händen Essen von unseren Tellern. -524-
»O wie gräßlich!« »Die Wachen sind auch sehr gemein. Sie brüllen die schmutzigsten Ausdrücke, sobald sie uns draußen sehen... Ja, wir dürfen jeden Nachmittag eine Stunde ins Freie, aber es ist kein Genuß.« »Das kann ich mir vorstellen... Marie, Liebling, ich bin so froh, daß ich endlich einmal ungestört mit dir reden kann. Sag, wußtest du, daß zu Jakowlews Leuten Simon Karlowitsch gehörte?« Marie warf einen ängstlichen Blick auf die angelehnte Tür. »Ich fragte mich, ob du es wußtest«, antwortete sie leise. »Ich habe ihn erst bei eurer Abfahrt gesehen. Marie - hat er mit dir sprechen können?« »Ja. Als wir das letztemal vor Tjumen in einer isba Rast machten. Es war frühmorgens und noch ziemlich dunkel, und Papa und Mama tranken drinnen Kaffee. Ich wollte etwas für Mama holen, und plötzlich stand er neben mir. Ich erkannte ihn sofort; leider waren so viele von den anderen in der Nähe, daß er mir nur zuflüstern konnte: ›Sagen Sie ihr, daß ich sie anbete und es wieder versuchen werde.‹ Das war alles.« »Oh, Marie, wie wunderbar, eine Botschaft von ihm zu bekommen! Wo er nur jetzt sein mag?« Marie blickte sie bekümmert an. »Olga... Simon mußte in Omsk zurückbleiben. Jakowlew brachte ihn in ein Krankenhaus... sie meinten, er habe Typhus.« »Typhus! Marie, dann ist er vielleicht jetzt schon tot! Oh, Simon...« Sie brach in Tränen aus, und Marie, die ihre älteste Schwester in mehr als einem Jahr der Gefangenschaft niemals hatte weinen sehen, betrachtete sie verstört. »Olga, bitte, wer soll uns noch aufrichten, wenn du die Nerven verlierst? Olga, du bist immer so tapfer gewesen kannst du dich nicht einfach über seine Worte freuen und -525-
glücklich sein, daß er bis nach Sibirien gefahren ist, nur um dich zu sehen, und daß er noch einmal etwas unternehmen will?« Olga nahm das dargebotene Taschentuch. »Es tut mir leid, Marie«, sagte sie. »... Ich glaubte, ich könnte gar nichts mehr empfinden. Aber ich hatte mich geirrt.« »Zumindest hast du die Liebe eines Mannes kennengelernt. Wir hatten dieses Glück nie.« »O Marie!« Olgas Augen standen noch voller Tränen. Aber sie nahm ihre ganze Kraft zusammen; ihre Schwester hatte recht, sie durfte es den anderen nicht noch schwerer machen. Sie trocknete ihre Augen und kämmte ihr kurzes Haar. »Wie kommt das Haus eigentlich zu seinem Namen?« fragte sie dann, um das Thema zu wechseln. »Ipatjew hieß der Mann, der es gebaut hat.« »Ah, der Kommissar am Bahnhof nannte es übrigens anders, als er mit dem Droschkenkutscher sprach: das Haus für gewisse Zwecke. Hast du die Bezeichnung schon einmal gehört, Marie?« »Ja...« »Was glaubst du, was damit gemeint ist?« »Ich habe Angst, danach zu fragen.« Es bedurfte eines langwierigen, leidvollen Gewöhnungsprozesses, bis sie sich dem Leben im »Haus für gewisse Zwecke« angepaßt hatten. Punkt acht Uhr mußten sie allmorgendlich vo r Awdjew erscheinen, der darauf bestand, die kleine Schar jeden Tag zu zählen. Mit etwas Glück erhielten sie dann ein wenig schwarzen Kaffee und altbackenes Brot, und anschließend beschäftigten sie sich so gut sie konnten bis zur Hauptmahlzeit, die manchma l erst um vier oder fünf aus einer Sowjet-Gemeinschaftsküche eintraf; es kam vor, daß die Wachen das Essen probierten, und es kam auch vor, daß sie hineinspuckten. Am Nachmittag ging Nikolaus mit den -526-
Mädchen im Hof auf und ab, wo ihr Blickfeld die rote Fahne auf dem Dach und ein von Maschinengewehren umgebenes Kreuz auf der Kuppel der nahen Himmelfahrtskirche einschloß und die Geräusche der betriebsamen Stadt zu ihnen drangen. Jekaterinburg war vollkommen in den Händen der Kommunisten. Das ehedem beste Hotel, das »AmerikanskiDom«, diente der Tscheka als Hauptquartier, und es war ein Mann von der Tscheka, Jakob Jurowski, der Awdjew sehr bald ablöste. Die Wachen benahmen sich unter beiden Kommissaren gleichermaßen unerträglich. Es waren Arbeiter aus den örtlichen Fabriken, blutdürstige und bösartige Gesellen, die ihre Gefangenen und besonders die Mädchen mit allen Mitteln schikanierten. Hatten sich Olga und ihre Schwestern schon in Tobolsk daran gewöhnen müssen, daß die Soldaten nachts in ihren Zimmern umherschlichen, so machte in Jekaterinburg der diensttuende Offizier gleich zweimal nächtlich die Runde, und die übrigen zwölf im Haus stationierten Männer konnten nach Belieben in den Räumen der Familie aus und ein gehen. Dazu kam noch eine neue Demütigung: Die Gefangenen durften die Toiletten nur in Begleitung eines grinsenden und interessierten Bewachers aufsuchen. Das erstemal kehrte Anastasia in Tränen aufgelöst zurück. »Kobold, Liebling«, tröstete Olga ihre Schwester. »Ich weiß, es ist furchtbar, aber tu einfach so, als wären sie nicht da. Schau durch sie hindurch, wie ich es mache. Sie strafen uns dafür, daß wir als Romanows zur Welt gekommen sind... gut, dann laß uns Romanows sein! Kopf hoch, Anastasia! Jede von uns ist ab heute Katharina die Große!« Es half ein wenig. Sie bildeten eine geschlossene Front, wenn sie Arm in Arm im Hof umherspazierten und die Obszönitäten der Wachen überhörten. Der treue Nagorny war der erste, der aus der traurigen kleinen Gemeinschaft ausschied, weil er einen der Bewacher schlug, den -527-
er bei einem Diebstahl ertappte, und darauf stand die Todesstrafe. Sie versuchten es vor Alexis geheimzuhalten, aber er erriet es doch, und seine Mutter tröstete ihn damit, daß sein lieber Nagorny jetzt auf ewig wohlgeborgen und nur ein wenig vor ihnen abberufen worden sei. Alexandra Feodorowna hatte sich mit dem Tode abgefunden. Sie war dankbar, wenn man gelegentlich einem orthodoxen Priester erlaubte, die Familie zu besuchen, und beachtete die religiösen Vorschriften streng, aber ihren einstigen Fanatismus, ihre mystischen Sehnsüchte, die Rasputin so gut auszubeuten verstanden hatte, schien sie völlig abgestreift zu haben. Mit beispielhafter Gelassenheit harrte sie der kommenden Dinge. Die Bande, die ihren Gatten an die Erde fesselten, waren stärker. Er glaubte noch immer an die Möglichkeit einer Rettung. Selbst Olga, so gerne sie sich in Befreiungsträumen wiegte, war realistischer als er. »Es ist ausgeschlossen, Maschka«, sagte sie einmal zu ihrer Schwester. »Niemand kann uns hier herausholen, es sei denn, die tschechische Legion stieße rechtzeitig bis hierher vor. Und sie steht noch östlich von Tjumen, über dreihundert Meilen von uns entfernt. Im günstigsten Fall würde es Wochen dauern, ehe sie sich nach Jekaterinburg vorgekämpft hätte. Und ob wir dann überhaupt noch hier sind und Wäsche in einem Eimer mit schmutzigem Wasser waschen oder Kleider flicken?« »Ich finde Hausarbeit sehr lustig«, versicherte Marie wacker. Sie war gerade neunzehn geworden und hatte sich zu einem ungemein charaktervollen Mädchen entwickelt. Mit ihren braunen Locken und den großen blauen Augen war sie außerdem sehr hübsch. Ihr brüllten die Soldaten niemals unflätige Beschimpfungen zu; aber sie schauten ihr nach, wenn sie vorbeiging, und manchmal flüsterten sie untereinander und leckten sich die Lippen. -528-
Was Olga zu fürchten begonnen hatte, geschah. Eines Nachts erschienen zwei Soldaten im Zimmer der Mädchen; sie hatten eine abgedunkelte Laterne bei sich und waren offenkundig etwas angetrunken, fanden sich aber sogar zu ein paar Erklärungen bereit. Die Wachen hätten untereinander ausgelost, so berichteten sie, wer die Chance haben sollte, und sie hätten gewonnen; jetzt wollten sie die »zwei süßen Kleinen« mit in den Keller nehmen. »Einen Augenblick«, sagte Olga und warf sich ihren Morgenrock über, während Tatjana den Arm um ihre verängstigten Schwestern schlang. Dann schob sie die Männer in den Korridor hinaus. Aus der Tatsache, daß sie flüsterten und nicht schrien, schloß sie, daß sie Angst vor ihrem Kommandanten hatten, genauso wie Olga befürchtete, ihr Vater könnte etwas hören und herauskommen. Dennoch ließen sie keinen Zweifel daran, daß es ihnen mit ihrer finsteren Absicht ernst war; einer von ihnen hatte sogar seine Pistole in der Hand, während er ihr unmißverständlich auseinandersetzte, daß er entschlossen sei, sich eine Frau zu beschaffen. »Ja, aber nicht eine meiner Schwestern, sie sind noch so jung. Sie würden sie zu Tode erschrecken.« Je jünger, desto besser, sagte der zweite. Er wolle die mit den Locken. Olga stellte sic h vor die Tür. »Sie werden sich an keiner meiner Schwestern vergreifen und damit basta«, erklärte sie. »Vielleicht möchtest du selber mitgehen, du hochnäsiges altes Weibsstück?« »Wenn Sie mich zwingen, tue ich es.« Das jähe heisere Auflachen traf sie wie ein Schlag. »Hast du das gehört, Stepan? Sie bietet sich an! Schwesterchen, da müssen schon ganz lausige Zeiten kommen, bevor wir so eine wie dich nehmen! Schau dich doch nur im Spiegel an, du alte Vogelscheuche!« -529-
Er riß Olgas Nachthemd auf und spuckte ihr zwischen die Brüste. In diesem Moment war von unten die Stimme des diensttuenden Offiziers zu hören. »Wir sind hier oben, Genosse! Haben gerade eine Runde gemacht!« Die zwei Männer polterten die Treppe hinunter, und Olga schwankte in den Waschraum am Ende des Korridors. Sie riß den Saum ihres Nachthemdes ab, goß Wasser aus dem Krug darauf und rieb ihre geschändete Brust, bis die weiße Haut brennendrot war. Dann blickte sie in den gesprungenen Spiegel. Altes Weibsstück, altes Weibsstück - das verletzende Adjektiv hatte gewirkt. In diesem Moment tiefster Erniedrigung sah Olga, daß es tatsächlich schon beinahe das Gesicht einer alten Frau war, das ihr da aus dem Spiegel entgegenstarrte. Sie ging zu ihren Schwestern zurück und beruhigte sie. Die Männer hätten Vernunft angenommen, behauptete sie, und sie glaubte nicht, daß sie noch einmal wiederkämen. Sie hatten auch keine Gelegenheit mehr dazu, denn wenige Tage später wurden sie zusammen mit Awdjew abgelöst, und Jakob Jurowski, der neue Kommandant, sah auf strenge Disziplin. Die Wachen, die er im Haus einsetzte, gehörten ausnahmslos der Tscheka an und verrichteten ihren Dienst auf eine kalte professionelle Weise. Nur draußen postierte auch Jurowski Fabrikarbeiter. Er selbst hatte in Jekaterinburg ein Fotografenatelier betrieben, bevor er in die Tscheka eintrat. Der bärtige, bebrillte Exfotograf verfolgte die Monarchie mit dem abgrundtiefen, fanatischen Haß eines Juden, in dessen Augen die Romanows alle Schuld an den Pogromen trugen, die regelmäßig durch die Dörfer und Ghettos des kaiserlichen Rußlands gefegt waren. Er übernahm sein neues Amt um die gleiche Zeit, als Mara Trenowa ihren Attentatsversuch machte ein Akt, der ein regelrechtes rotes Schreckensregiment nach sich zog; und die Terrorwelle kam Jurowski und den Ural-Sowjets sehr gelegen, denn sie hatten von Anfang an nie die Absicht gehabt, den vormaligen Zaren noch einmal freizugeben. -530-
Die Romanows, die längst keine Zeitungen mehr lesen durften, wußten nichts von der brutalen Kampagne, die die russischen Gefängnisse und Hinrichtungsstätten mit Opfern überschwemmte. Aber sie entnahmen den Geräuschen, die von draußen zu ihnen drangen, daß eine gewisse Unruhe in der Stadt herrschte, und eines Nachmittags hörten sie einen Mann rufen: »Die Tschechen stehen westlich von Tjumen!« Die Nachricht erfüllte sie gleichzeitig mit Angst und Hoffnung. Sie fürchteten Jurowskis Reaktion, falls die Weißen bis nach Jekaterinburg vordringen sollten, und wann immer er in ihre Nähe kam, beobachteten sie seine Miene, als ließe sich daraus der Stand der Dinge ablesen. Der sechzehnte Juli begann schlecht. Sie sangen oft russische Kirchenlieder nach den Morgengebeten, doch an diesem Tag stimmten sie eine englische Hymne an, weil Marie darum gebeten hatte. Und sie hatten den ersten Vers noch nicht beendet, als Jurowski bereits im Wohnzimmer stand und ihnen eisig verbot, je wieder eine fremde Sprache zu benutzen. Verzagt zogen sich die Mädchen zum Nähen in ihr Schlafzimmer zurück; sie hatten nur noch sehr wenige Kleidungsstücke, und diese bedurften ständiger Ausbesserung. Als sie am Nachmittag mit ihrem Vater in den Hof hinausgingen, vernahmen sie ungewöhnliche Geräusche von draußen, und Nikolaus sagte, es höre sich an, als würden Maschinengewehre hinter der Umzäunung aufgestellt. Man befahl ihnen, sich vom Zaun fernzuhalten, und schickte sie sehr bald ins Haus. Das Abendessen wurde aufgetragen, und anschließend ging Dr. Botkin zu Alexis hinauf, um ihn ein wenig zu unterhalten, während sich Nikolaus und Alexandra zu einem Kartenspiel niedersetzten. Anastasia schlug ihren Schwestern vor, in ihrem Zimmer »Glückliche Zeiten« zu spielen. »Das haben wir schon ewig nicht mehr getan...« -531-
Sie waren einverstanden, und wenig später saßen sie auf ihren Betten. Seit es so heiß war, durften sie ihr Fenster nachts öffnen, aber die inzwischen davor angebrachten Eisenstäbe machten die Aussicht noch bedrückender, als sie es schon zuvor gewesen war. Sie spielten »Leibspeisen« als Teil von »Glückliche Zeiten«; Olga wählte den Kaviar, den die Ural-Kosaken jeden Frühling Väterchen Zar als Geschenk überbracht hatten, und Marie sagte, sie habe sich immer gewünscht, mit den Männern zakuski zu essen und Wodka zu trinken. Sie spielten »Liebe Menschen«, was die Stimmung nicht gerade hob, da ihre liebsten Menschen überall in der Welt verstreut oder tot waren. Und nachdem ihre Eltern herausgekommen und ihnen von der Tür aus einen Gutenachtgruß zugeflüstert hatten, begannen sie ebenfalls flüsternd, um Alexis nicht zu wecken »Allerglücklichste Monemte« aufzuzählen. »Ich glaube«, erklärte die siebzehnjährige Anastasia, »ich war am allerglücklichsten, wenn wir Theaterstücke aufführten.« »Du bist auch bei weitem die beste Schauspielerin von uns allen«, meinte Marie. »Mir gefällt es, so zu tun, als sei ich jemand anders... Jetzt du, Tanja.« »Mein glücklichster Moment? Als die englischen Seeleute kurz vor Kriegsausbruch nach Kronstadt kamen. Wir haben uns so herrlich amüsiert!« »Olga?« »Oh, ich weiß nicht. Mein erster Ball, in Livadia, nehme ich an. Erinnert ihr euch?« Sie hatte das Nächstbeste, was ihr in den Sinn kam, ausgesprochen, und der erste Ball war für ein Mädchen eine durchaus konventionelle Wahl. »Du sahst wunderhübsch aus; wir glaubten, Dimitnj würde sich in dich verlieben«, bemerkte Anastasia spitzbübisch. »Das glaubte ich auch«, sagte ihre Schwester. Sie dachte an ein zartrosafarbenes Kleid und ein Brillanthalsband und an Dimitrijs -532-
Arm, der sie so leicht umfaßte, während sie in dem marmornen Ballsaal einen Walzer tanzten. »Ich bin nie zu einem Ball gegangen«, stellte Marie ein bißchen traurig fest. »Ich finde, unsere glücklichsten Momente waren die Kreuzfahrten auf der Standart, da fühlten wir uns immer so... frei. Und mir gefiel es so sehr, wenn wir irgendwo an Land gingen, um zu picknicken, wie an dem himmlischen Tag in Finnland, Olga, als uns Simon Karlowitsch auf seine Datscha mitnahm.« Olga warf ihrer Schwester einen dankbaren Blick zu. Das hat sie nur erwähnt, um mir eine Freude zu bereiten. Wie lieb von ihr... Oh, wenn ich nur noch einen Tag, einen einzigen Tag, mit Simon dort in den Wäldern verbringen dürfte! Es war noch hell, als sie schlafen gingen, und im »Haus für gewisse Zwecke« herrschte eine unheilverkündende Stille. Olga lag wach, bis sie zwischen den Eisenstäben vor dem Fenster ein paar Sterne im dunkler werdenden sommerlichen Blau aufblitzen sah. Dann schlief sie, in Erinnerungen versunken, lächelnd ein. Eine Stunde später wurden sie von ihrem Vater geweckt. »Wir müssen alle nach unten kommen«, erklärte er ihnen. »Alle - auch die Bediensteten und Dr. Botkin. Marie hilf Alexis ein bißchen. Packt nur ein paar Sachen in eure Koffer, sie sagen, daß wir nicht viel brauchen.« »Was ist geschehen, Papa? Wohin gehen wir?« »Jurowski möchte uns für ein paar Tage von hier fortschaffen. Die Tschechen haben die Stadt eingekreist und rücken näher. Ich glaube, er fürchtet einen Vorstoß zu unserer Befreiung.« Er war sichtbar aufgeregt und erwartungsvoll. Die Mädchen zogen hastig die Kleider an, in die sie ihre Juwelen eingenäht hatten, obwohl es eigentlich für Jacken zu warm war. Anastasia nahm den Pekinesen, und Alexis, den Spaniel an der Leine, wurde von seinem Vater aus seinem Zimmer getragen. Dr. -533-
Botkin half Alexandra Feodorowna, die sich krampfhaft auf das Treppengeländer stützte. »Folgen Sie mir«, sagte Jurowski, der in der Halle stand. »Sie werden ein paar Minuten warten müssen, die Automobile sind noch nicht da. Im Erdgeschoß können Sie sich nicht aufhalten, da sind meine Leute, aber im Keller finden Sie einige Stühle.« Der fast völlig leere Raum, den man ihnen zuwies, war knapp sechs Meter lang und ebenso breit und wurde lediglich von Stallaternen beleuchtet. Es war erst kurz nach Mitternacht, und der schmale Streifen Himmel, den das kleine Fenster freigab, zeigte noch einen letzten hellen Schimmer. »Was für eine sonderbare Atmosphäre...« »Der Raum scheint für nichts benutzt zu werden.« »Ich dachte eigentlich, hier unten wäre einiges von unseren fehlenden Gepäckstücken versteckt... Sitzen Sie denn auch gut auf diesem harten Stuhl, Mama?« »Joy! Joy!« Der so oft gehörte Aufschrei des Jungen drang zu spät in Olgas Bewußtsein und das der anderen vor, als daß der Spaniel noch aufzuhalten gewesen wäre. Er hatte sich dem nachlässigen Griff seines Herrn mit einem jähen Ruck entzogen und rannte, von Panik getrieben, wie der Blitz hinaus und nach oben. »Du hast doch immmer wieder gesagt bekommen, daß du die Leine festhalten sollst!« »O Anastasia, bitte lauf ihm nach und bring ihn wieder hierher«, flehte Alexis, den Tränen nahe. »Danke, das lasse ich lieber bleiben. Im Gang stehen zwei Wachen mit aufgepflanzten Bajonetten. Es passiert ihm schon nichts, Alexis. Er kann nicht aus dem Hof hinaus.« »Du wirst sehen, er wartet draußen auf uns, wenn wir zu den Wagen gehen«, sagte Marie. »Ich höre keine Automobile. O Olga, meinst du, sie tun ihm -534-
etwas an?« »Natürlich nicht, ich kann ihn sogar bellen hören. Lehn dich ein bißchen auf mich, Alexis, du bist wirklich zu schwer für Papa.« Olga setzte sich auf eine Stuhlkante und versuchte mit der Schulter einen Teil seines Gewichts abzufangen. Sekunden später flog die Tür auf, und die Männer von der Tscheka, an ihrer Spitze Jurowski, standen im Raum. Sie wußte, von unendlichem Grauen gepackt, daß die gefürchtete Stunde geschlagen hatte. Sie nahm auch noch wahr, daß ihre Mutter ihr Kruzifix umklammerte, daß ihr Vater, einen Arm um Alexis gelegt, sich zu erheben versuchte, und sie hörte ein gestammeltes »Was tun Sie...« oder »Was wollen Sie...«, das sich mit Jurowskis keuchend hervorgestoßenen Worten überschnitt: »Ihre Freunde sind... Sie sind schuldig...« Dann vermischten sich gellende, schrille Schreie mit den Pistolenschüssen. Olga warf sich über ihren Bruder. Die erste Kugel traf sie in die Schulter und schleuderte sie herum. Die zweite, die sich in ihre Brust bohrte, streckte sie zu Boden. Um sie herum brachen die anderen zusammen, wanden sich vor Schmerzen, stöhnten, wimmerten, und die Männer aus dem Korridor hieben mit ihren Gewehrkolben auf die sterbenden Mädchen ein. Im Kellerraum roch es beklemmend nach Angst und Tod. Dann durchschlug eine letzte Kugel ihren Hals, Blut quoll aus ihrem Mund, und Olgas Herz fand Frieden.
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30 Simon Hendrikow kam an einem Herbsttag, an dem der Wind über die staubigen Straßen fegte und ein bleierner Himmel einen frühen Winter verhieß, nach Jekaterinburg. Joe Calvert holte ihn von der Station ab. Im Güterbahnhof, wo die Romanows im Mai eine Nacht hatten ausharren müssen, standen jetzt alliierte Panzerwagen, und es wimmelte von russischen Uniformen mit dem rotweißen böhmischen Löwen. »Simon, ich freue mich, daß Sie da sind. Sie sehen gut aus.« »Sie auch. Muß ich Sie jetzt Leutnant Calvert nennen?« »Spotten Sie nicht, Hauptmann. Es ist mir richtig peinlich, daß meine Uniform so neu ist. Man gab mich aus dem Konsularischen Korps erst frei, als unser Präsident beschloß, eine amerikanische Militärdelegation zu den Tschechen zu schicken.« »Das schrieben Sie...« Joe versuchte die Befangenheit dieses ersten Augenblicks nach besten Kräften zu überbrücken. »Ich wollte, ich hätte früher gewußt, daß Sie in Tjumen sind. Es war eine große Überraschung, als ich Ihren Namen auf der Liste russischer Offiziere las, die in der tschechischen Legion dienen.« »Ich bin erst seit kurzem in Tjumen. Ich blieb noch über zwei Monate in Omsk, nachdem mich die Tschechen aus dem Gefängnis befreit hatten. Übrigens hat mir bei den Roten mein Typhus das Leben gerettet. Soweit mir noch etwas blieb, wofür es sich zu leben lohnte.« »Ich habe einen Wagen bestellt«, sagte Joe ruhig. »Wir müssen ihn im Hauptquartier abholen.« Als die tschechischen Truppen am fünfundzwanzigsten Juli in Jekaterinburg einmarschierten, hatten sie ihr Hauptquartier wie zuvor die Tscheka im »Amerikanski-Dom« eingerichtet. Der -536-
einzige Weg dorthin führte an dem Haus vorbei, das durch seine hohe Umzäunung, die weiß grüne Flagge der Unabhä ngigen Sibirischen Regierung auf dem Dach und die Wachtposten vor dem Tor noch immer auffiel, und es überraschte Joe nicht, daß Simon es sofort identifizierte. Er blieb stehen und fragte: »Ist es das?« »Ja.« »Wozu die Wachtposten?« »Drinnen ist alles abgesperrt und versiegelt worden, bis die Ermittlungen aufgenommen werden können.« »Waren Sie drinnen?« »O nein. Als ich hierherkam, war es bereits abgeschlossen. Aber Mr. Gibbs und Monsieur Gilliard gingen gleich zu Anfang hin - sie hatten wirklich Mut, diese beiden -, und Gibbs berichtete mir alles.« Mitfühlend fügte er hinzu: »Es ist gut, daß Sie den Keller nie zu sehen bekommen.« »Ich würde es auch nicht wollen. Ich möchte nur wissen, wo sie begraben sind.« »Übrigens haben die Tschechen bei ihrer Ankunft den kleinen Hund des Zarewitsch im Hof gefunden, halb verhungert.« »Den Spaniel?« »Ja. Einer von General Knox' Adjutanten nimmt ihn mit nach England.« Simon dachte an Joy, wie er vor dem Rodelberg umhertollte und schließlich mit nassen Pfoten in den Wagen sprang, wo Olga an seiner Seite saß. Schweigend gingen sie weiter. »So, hier sind wir«, sagte Joe, als sie vor dem »AmerikanskiDom« anlangten. Simon blieb in der Halle, und Joe erledigte ein paar Formalitäten. Als er fertig war, zündete er sich in einem der Korridore eine Zigarette an und überdachte die Situation. Daß Simon gut aussah, war eine reine Redensart. Sowohl sein Gesicht als auch sein Verhalten zeigten deutlich, was er hinter -537-
sich hatte, und so sehr Joe das Zusammentreffen freute - Simons Frage nach der Stelle, wo die Romanows begraben seien, erfüllte ihn jetzt mit größter Besorgnis. Der Wald, in den sie fahren wollten, war nicht der einzige Ort, an dem die Bolschewiken versucht hatten, die Romanows auszulöschen. Nach den Morden im »Haus für gewisse Zwecke« war Großfürst Michael in Perm erschossen worden; in Alapaewsk hatte man die Schwester der Zarin, Großfürstin Elisabeth, zusammen mit fünf Romanow-Prinzen umgebracht, indem man sie lebend in einen Bergwerksschacht warf; andere warteten in der Peter-Pauls-Festung auf ihre Hinrichtung. Zehntausend Russen hatten durch den bolschewistischen Terror den Tod gefunden: Die britische Botschaft in Petrograd war gestürmt und der Marineattaché getötet worden; in Moskau hatten die ausländischen Diplomaten im amerikanischen Konsulat vor dem Mob Schutz suchen müssen. Das alles war Simon Hendrikow zweifellos bekannt. Beim Tod Olgas und ihrer Familie aber gab es noch einen entsetzlichen besonderen Umstand, von dem Simon - wie seine Worte verrieten - nichts wußte. Joe beschloß, den Stier bei den Hörnern zu packen. Er ging zu Simon in die Halle und zog ihn in einen kleinen Vorraum, wo sie allein waren. »Simon, begann er, »sind Sie sicher, daß Sie diese Fahrt auf sich nehmen wollen?« »Deswegen bin ich doch gekommen...« »Natürlich. Nur sollte ich vielleicht vorher noch etwas erklären. Dort draußen bei den ›Vier Brüdern‹... der Zar und seine Angehörigen sind eigentlich gar nicht da begraben...« »Wie? Hat man sie denn nicht dorthin gebracht, nachdem...« »Doch, aber die Leiche n wurden... beseitigt, nicht beigesetzt.« »Beseitigt?« -538-
Joe eröffnete ihm die brutale Wahrheit. »Man hat sie zerstückelt und ihre Reste mit Schwefelsäure und anschließend mit Benzin übergossen und verbrannt.« Simons Gesicht wurde weiß. Er schluckte und brachte nur mit Mühe den Satz heraus: »Irgend etwas muß doch von ihnen übriggeblieben sein!« »Die Gebeine liegen auf dem Grund des Minenschachts, und der Frost hat schon begonnen. Vor dem Frühjahr kann man da nichts mehr unternehmen.« »Aber wenn es keine Leichen gibt, dann wäre es doch auch möglich, daß sie gar nicht tot sind!« Die haselnußbraunen Augen leuchteten hoffnungsvoll auf. »Simon«, sagte Joe traurig, »Sie müssen versuchen, sich damit abzufinden, daß ihre Leiden auf Erden nun vorüber sind.« »Für Olga und ihre Geschwister fing das Leben erst an!« Joe ergriff seinen Arm und zog ihn auf die Straße hinaus. Ein Armeewagen wartete auf sie. Daneben standen der tschechische Fahrer und ein Sergeant mit geschultertem Gewehr. Die Männer nahmen Haltung an und salutierten, als die beiden Offiziere herankamen. »Die Koptiaki-Straße entlang, Jan«, sagte Joe. »Sie wissen Bescheid.« »Brauchen wir denn eine bewaffnete Eskorte?« fragte Simon unterwegs. Sie sprachen jetzt französisch miteinander, und Joe erklärte ihm, daß hier und da rote Heckenschützen in den Wäldern lauerten. Die Auseinandersetzung zwischen Rußland und dem Westen stand erst am Anfang, und Joe hatte das Gefühl, daß sie sich über Jahrzehnte erstrecken könnte. Aber... »Der Krieg in Europa ist praktisch gewonne n«, sagte er. »Meinen Sie nicht, Simon, Sie sollten allmählich Zukunftspläne machen?« »Ich habe keine Zukunft mehr.« -539-
»Du lieber Gott, Sie sind doch erst - wie alt siebenundzwanzig? Vor Ihnen liegt doch noch das ganze Leben. Sie werden mit der Zeit alles überwinden. Ich an Ihrer Stelle würde in die Staaten gehen oder nach England, wo Dolly und ihr Mann Ihnen zu einem Start verhelfen könnten...« »Joe, ich weiß Ihr Interesse zu schätzen, aber mein einziges Ziel ist der Kampf gegen die Roten. Und wir wären eher mit ihnen fertig, wenn Ihr anderen uns tatkräftiger unterstützen würdet...« Es war der altbekannte Schrei: Mehr Soldaten! Mehr Waffen! Und Leutnant Calvert war wie zuvor der Zivilist Calvert davon überzeugt, daß alliierte Interventionen in Rußland nur eine ohnehin verzweifelte Situation verschlimmern konnten. Aber die militärischen Berater des Präsidenten waren anderer Auffassung gewesen, und als die Japaner siebzigtausend Mann nach Sibirien verschifft hatten, bewogen sie Mr. Wilson dazu, die Landung einiger völlig unzulänglicher Truppeneinheiten in Murmansk, Archangelsk und Wladiwostok anzuordnen. Trotzki reagierte auf die Herausforderung so, wie es Joe prophezeit hatte. Er begann die Rote Armee zu einer großen, disziplinierten Streitmacht aufzubauen. Der Wagen fuhr nun langsamer, weil die Straße in einen Waldweg überging. »Halten Sie besser hier, Jan«, sagte Joe. »Sie können beide im Auto sitzen bleiben, bis wir zurück sind.« Er führte Simon zu einer feuergeschwärzten Lichtung, wo vier Kiefern mit rissigen, verschrammten nackten Stämmen über einer stillgelegten Erzgrube wachten. »Ist es hier?« Simon senkte unwillkürlich die Stimme. »Das ist die Vier-Brüder-Grube, Simon.« »Vier-Schwestern-Grube sollte sie jetzt eigentlich heißen.« Sein Gesicht zuckte. »Aber man wird sie vergessen - alle! Warum sind sie überhaupt geboren worden, wenn sie nur gelebt haben, um so zu enden?« -540-
»Vergessen werden sie bestimmt nicht, solange es anständige Russen gibt.« »Ah!« sagte Simon Hendrikow, »und Sie wollten mir zureden, daß ich Rußland verlassen sollte! Nein, Olga ist geblieben, und ich bleibe auch. Und ich werde bis zu meinem Tod gegen ihre Mörder kämpfen.« Joe ging ein paar Schritte in die Lichtung hinein. Man sah Reifenabdrücke und die Spuren der Spaten, die der Erde hier und da einen pathetischen Überrest der Romanows entrissen hatten. Simon schien außerstande, auch nur einen Fuß auf das verbrannte Stück Waldboden zu setzen. Für ihn war es ein Grab. Jetzt sagte er mit gequälter Stimme hinter Joe: »Ich konnte nichts tun, um ihr zu helfen... Uns war nur so wenig Zeit vergönnt... aber ich habe sie über alles geliebt.« Joe ließ ein paar Minuten verstreichen, bevor er sich umschaute. Simons Lippen bewegten sich, und er nahm an, er betete. Doch Simon betete nicht. Er wiederholte das Versprechen, das er und Olga einander gegeben hatten: Der Auferstehungskuß - Vergangenheit, Und doch auch Ziel, du schworst es mir! Ich werde mein Wort einlösen, Olga, gelobte er in seinem Herzen. Und laut sagte er: »Kommen Sie, Joe, wir müssen zurück.« Sie gingen stumm zu dem wartenden Wagen. Bleiern hing der Himmel über den »Vier Brüdern«, und bald würde der Schnee kommen und alles bedecken.
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