Georg Auernheimer (Hrsg.) Schieflagen im Bildungssystem
Georg Auernheimer (Hrsg.)
Schieflagen im Bildungssystem Die Benachteiligung der Migrantenkinder 4. Auflage
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2003 2006 2009 2010
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Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Georg Auernheimer Einleitung...............................................................................................................7 1
Interkulturelle Kompetenz – Anfragen an das Konzept
Paul Mecheril „Kompetenzlosigkeitskompetenz”. Pädagogisches Handeln unter Einwanderungsbedingungen................................................................................ 15 Georg Auernheimer Interkulturelle Kommunikation, mehrdimensional betrachtet, mit Konsequenzen für das Verständnis von interkultureller Kompetenz............ 35 Doron Kiesel/Fritz Rüdiger Volz „Anerkennung und Intervention” Moral und Ethik als komplementäre Dimensionen interkultureller Kompetenz.................................................................................. 67 Annelie Knapp Interkulturelle Kompetenz: eine sprachwissenschaftliche Perspektive ........................................................... 81 2
Interkulturelle Kompetenz in der Sozialarbeit und in der Schule
Wolf Rainer Leenen/Andreas Groß/Harald Grosch Interkulturelle Kompetenz in der Sozialen Abeit .............................................. 101 Edwin Hoffman Das TOPOI-Modell – eine Heuristik zur Analyse interkultureller Gesprächssituationen und ihre Implikationen für die pädagogische Abeit ................................................................................ 125 Stefan Gaitanides Interkulturelle Teamentwicklung – Beobachtungen in der Praxis .................... 153
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Inhaltsverzeichnis
Bernd Fechler Interkulturelle Mediationskompetenz. Umrisse einer differenz-, dominanz- und kontextsensiblen Mediation ............ 173 Dorothea Bender-Szymanski Interkulturelle Kompetenz bei Lehrerinnen und Lehrern aus der Sicht der empirischen Bildungsforschung .................................................................. 201 3
Schlussfolgerungen für die Ausbildung
Andrea Lanfranchi Interkulturelle Kompetenz als Element pädagogischer Professionalität – Schlussfolgerungen für die Lehrerausbidung .................................................... 231
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ........................................................... 261
Einleitung Georg Auernheimer
Auf allen Kanälen stößt man auf den Begriff – oder soll man sagen: das Schlagwort? – „interkulturelle Kompetenz“. – Es werden Tagungen und Workshops dazu angeboten, Trainingsprogramme, Kurse, in denen die Vermittlung allgemeiner „Schlüsselkompetenzen“ und spezieller Kompetenzen, zum Beispiel für multikulturelle Teams, annonciert wird. Im Internet wird man hundertfach fündig. Neben öffentlichen Einrichtungen wie den RAA (Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien), neben Jugendhäusern und katholischen Bistumsstellen findet man im Internet verschiedene private Anbieter. Adressaten der Trainingsangebote sind vor allem Fachkräfte in Sozialberufen und in der Wirtschaft. Die internen Fortbildungsmaßnahmen, die es in zahlreichen Unternehmen geben soll – Stichwort „interkulturelles Management“ – und die Trainingsprogramme der Entwicklungshilfeorganisationen, die alle nicht auf dem Markt auftauchen, sind auf diesem Wege noch gar nicht erfasst. – Also Angst um Aktualität braucht niemand zu haben, der das Thema aufgreift. Aber damit gewinnt es für Akademiker/innen auch den Hautgout des Modisch-Allzu-Modischen. Und Skepsis scheint bei diesem inflationären Gebrauch des Begriffs, diesem Angebot einer bereichsunspezifischen Kompetenz tatsächlich angebracht. Der vorliegende Band dient einer kritischen Bilanz des bisherigen Diskurses – Diskurs nicht nur verstanden als Debatte über ein Thema, sondern auch als Praktiken umfassend und Wirklichkeit konstituierend – aber auch dem Versuch, das Konzept für die pädagogische und psychosoziale Praxis produktiv zu machen. Die Reihe der Beiträge wird eröffnet durch eine grundsätzliche Problematisierung dieses Diskurses. Paul Mecheril lässt schon mit der verstörenden Überschrift „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ einen Gegendiskurs erwarten. Er befürchtet mit interkultureller Kompetenz als einer „Sonderkompetenz für Professionelle“ eine fragwürdige Bestärkung des gerade im deutschsprachigen Raum dominanten Diskurses über Differenz. Seine Kritik setzt an drei Punkten an: Erstens werde, ungeachtet gegenteiliger Beteuerungen der Protagonisten, der Kulturalisierung Vorschub geleistet. In der Übungspraxis nämlich werde die Determination durch Kultur, und zwar durch eine nationalspezifische Kultur, suggeriert. Die Vielfalt von Differenzlinien bleibe unterbelichtet und Machtunterschiede würden ausgeblendet. Zweitens entdeckt er ein stark technologisches
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Professionalitätsverständnis, das die Eigenlogik des Falles vernachlässigt und das pädagogische Handlungsparadox einseitig zugunsten sozialer Kategorisierung auflöst. Da drittens interkulturelle Kompetenz fast nur als Anforderung an deutsche Fachkräfte thematisiert werde, werde die übliche Hierarchie reproduziert und der Fremdenstatus festgeschrieben. Mecheril setzt dagegen eine Haltung, die er „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ nennt, um anzuzeigen, dass professionelles pädagogisches Handeln für ihn ein grundlegend reflexives Verhältnis zum eigenen Handeln, zu dessen Bedingungen und Paradoxien impliziert. Das schließt die Reflexion von Machtstrukturen und des Gebrauchs kultureller Kategorien ein, ohne dass der Vf. den völligen Verzicht auf solche Kategorien fordern möchte. Georg Auernheimer verfolgt im zweiten Beitrag das Ziel, die verengte Sicht auf differente kulturelle Codes mit einer Systematisierung möglicher Störungsquellen von interkultureller Kommunikation zu überwinden. Ein Rückblick auf die angloamerikanische und die noch junge deutschsprachige Diskussion soll fragwürdige Traditionen, aber auch anschlussfähige Konzeptionen in Erinnerung rufen. Mit der Kommunikationstheorie davon ausgehend, dass der jeweilige„Rahmen“, von den Kommunikationsteilnehmern nur bedingt gestaltbar, deren Erwartungen und Erwartungserwartungen bestimmt, unterscheidet der Verfasser in seinem heuristischen Modell zur Interpretation interkultureller Kontaktsituationen vier Dimensionen, nämlich Machtasymmetrien, Kollektiverfahrungen, Fremdbilder und kulturelle Differenzen, durch die divergierende Erwartungen bedingt sein können. Zu möglichen Kommunikationsstörungen, die primär auf der Beziehungsebene vermutet werden, führe besonders die Verschränkung von struktureller Ungleichheit und Fremdheitserfahrung. Diese Annahme hat ein erweitertes Verständnis von interkultureller Kompetenz zur Konsequenz. Nach der Dekonstruktion des Konzepts und dem Vorstoß zu einem erweiterten Verständnis von interkultureller Kompetenz liefert der an der Diskursethik orientierte Beitrag von Doron Kiesel und Fritz Rüdiger Volz den Leser(inne)n eine normative Orientierung für interkulturelle Dialoge über strittige Normen und Werte. Die Vf. unterscheiden mit Habermas zwischen „Moral“ und „Ethik“ und damit zwischen „moralischer“ und „ethischer“ Anerkennung. Erstere betreffe die allgemeine Menschenwürde und die Einmaligkeit der Person, letztere die jeweils partikularen Symbole und Praktiken mit identitätsstiftender Bedeutung. Mit Habermas gehen die Verfasser davon aus, dass Individuation und Identitätsbildung auf kulturelle Netzwerke angewiesen sind, und mit Axel Honneth unterscheiden sie drei Formen der Verletzung persönlicher Integrität. Sie formulieren praktische Maximen und Haltungen für interkulturelle Dialoge oder Diskurse wie „anerkennendes Interesse“. Dem fremden „Ethos“ soll Anerkennung gezollt werden, wobei aber das Eintreten für die Rechte des Individuums ein Korrektiv
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bilden muss. Interkulturelles Verstehen begreifen die Verfasser – wie pädagogisches Verstehen überhaupt – als kooperativen Prozess. Die Asymmetrie zwischen dem Professionellen und dem Klienten ist für die Vf. nicht aufhebbar, darf aber nicht ausgenutzt werden. Der sozialtechnologischen Orientierung gegenüber insistieren sie auf einer rechenschaftsfähigen Praxis, die Selbstreflexion voraussetzt. Nach den drei Beiträgen, die auf unterschiedliche Art die pädagogische Handlungsstruktur reflektieren, erörtert Annelie Knapp das Thema ebenfalls kritisch unter sprachwissenschaftlicher Perspektive. Sie zieht zunächst die Unterscheidbarkeit von „normaler“ und interkultureller Kommunikation in Zweifel, was auch das Erfordernis einer besonderen Kompetenz in Frage stellt. Sowohl die klare Diskretheit von kulturellen Kontexten als auch die besondere Belastetheit von interkulturellen Kommunikationssituationen seien vorläufige, nicht verifizierte Annahmen. Die Verfasserin konzediert allerdings spezifische Beschränkungen, die sich nicht nur aus differenten Normalitätserwartungen ergäben, sondern unter anderem daraus, dass interkulturelle Kommunikation häufig eine lernersprachliche Kommunikation sei. Anstatt Kulturwissen empfiehlt sich nach Knapp besonders für Kommunikationssituationen in der multikulturellen Gesellschaft eine „Kommunikationsbewusstheit“, die auch ein Bewusstsein von Machtasymmetrien einschließt. Abschließend verweist sie auf die in linguistischen Kategorien nicht fassbare ethische Dimension, was einen Anschluss an den vorausgegangenen Beitrag herstellt. Die Beiträge des zweiten Teils beziehen sich spezifischer auf pädagogische Praxisfelder – und zwar zunächst auf Sozialarbeit. Rainer Leenen, Andreas Groß und Harald Grosch verweisen Kritiker am Konzept interkultureller Kompetenz auf ansonsten in der Pädagogik unstrittige Kompetenzkonzepte. Zwar werde nicht nur in interkulturellen Situationen, aber dort stärker als sonst in der Sozialarbeit „Handeln unter Unsicherheit“ erwartet. Der in der Kritik eingeforderten Berücksichtigung von Ungleichheit wollen sie mit einem zweidimensionalen Modell Rechnung tragen, das der Relevanz der „Verteilungsdimension“ für die soziale Arbeit ebenso Rechnung tragen soll wie der „Verständigungsdimension“. Die Verfasser betonen die Notwendigkeit, die Kompetenzprofile nach typischen Anforderungssituationen zu differenzieren, und arbeiten die Bedeutung einer Lernkultur innerhalb der Organisationen heraus. Im übrigen betonen sie, dass interkulturelle Kompetenz nicht allein als Komponente von Fachlichkeit fassbar sei, sondern auch persönliche ‚Qualitäten‘ einschließe, die Ergebnis eines Bildungsprozesses sind. Aufschlussreich ist der abschließende Benennung offener Forschungsfragen. Edwin Hoffman möchte pädagogischen Fachkräften mit seinem „TOPOIModell“ eine Heuristik bieten, die die Wachsamkeit für Kommunikations-
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schwierigkeiten erhöhen und diese leichter analysierbar machen soll. Er geht wie Leenen u.a. von einer erhöhten Unsicherheit pädagogischer Fachkräfte in interkulturellen Kontaktsituationen aus, was zu einer verkrampften Haltung und damit zu Fehlhandlungen, z.B. zu Stereotypisierung und falsch verstandener Toleranz, verleite. Er propagiert einen „inklusiven Ansatz“, gemäß dem die Prinzipien Gleichheit und Diversität in der Kommunikation einander korrigieren sollen, um eine Kulturalisierung zu vermeiden. Gestützt auf die Kommunikationstheorie von Watzlawick wird „gegenseitige Verantwortlichkeit“ als Leitidee formuliert. Im „TOPOI-Modell“, ein Akronym, zusammengesetzt aus den Anfangsbuchstaben der niederländischen Wörter für Sprache, Ordnung, Personen, Organisation und „Einsatz“, werden unter anderem thematisiert: die Differenz von verbaler und nonverbaler Sprache, die unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen, der Beziehungsaspekt der Kommunikation, der Einfluss des organisatorischen Rahmens auf die Kommunikation und der Doppelcharakter von Motiven. Im Allgemeinen wird interkulturelle Kompetenz dort, wo sie im Kontext der Professionalisierung (sozial-)pädagogischer Fachkräfte zum Thema gemacht wird, nur unter dem Aspekt des richtigen Umgangs mit den Klienten oder den Lernenden behandelt. Bestimmend ist dabei noch immer die Vorstellung, die Fachkräfte seien autochthon (s. die Kritik P. Mecherils). Der Beitrag von Stefan Gaitanides korrigiert diese enge Sichtweise, indem der den Blick auf die Kooperationsprobleme in multikulturellen Teams richtet, wobei angemerkt sei, dass er in diesen zugleich ein exzellentes Lernfeld für den Erwerb interkultureller Kompetenz sieht. Um diese Chance aber zu nutzen, müssen die Schwierigkeiten reflektiert werden. Bei deren Schilderung stützt sich der Vf. auf die im Rahmen von Begleitforschung protokollierten Aussagen von Qualitätszirkelteilnehmern und –teilnehmerinnen. Sie bestätigen die Priorität der Machtthematik und der Anerkennungsproblematik. Differente Kommunikationsstile beeinträchtigen die Kooperation weit weniger als gegenseitige Zuschreibungen, was der Vf. exemplarisch an der Balance zwischen Nähe und Distanz als professionellem Standard beleuchtet. Der Beitrag schließt mit Deutungsalternativen („vielleicht könnte…“) zur Reflexion der jeweiligen Situation, die die Komplexität der möglichen Wirklichkeitskonstruktionen exemplarisch aufzeigen. Auch der Beitrag von Bernd Fechler über Mediation in interkulturellen Kontexten richtet den Blick auf Machtasymmetrien und Kränkungen mangels Anerkennung, die für den Autor primär die Eskalation von Konflikten erklären. Er kann sich dabei auf seine Erfahrungen als Mediator und Organisationsberater stützen. Wie fast alle Autor/inn/en in diesem Band vor ihm relativiert er ganz stark den Stellenwert von Kulturdifferenzen. Nach einem Überblick über die Entwicklung der modernen Mediationslandschaft, wo er für interkulturelle Me-
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diation relevante Anknüpfungspunkte aufgreift, unterscheidet er zwei Paradigmen von Kultur. Er favorisiert dabei eine Betrachtungsweise, bei der der Rückgriff auf Kultur vor allem als Strategie in der Beziehungsdynamik zwischen Individuen oder Gruppen gesehen wird, was unübersehbare Konsequenzen für die Konzeption und Praxis ‚interkultureller’ Mediation hat, was der Vf. an Fallskizzen illustriert. In seinen „Eckpunkten“ für eine „interkulturelle Mediationskompetenz“ fordert er neben der Sensibilität für Differenzen vor allem eine für Dominanzverhältnisse und für den jeweiligen Kontext. Der sechste Beitrag zu diesem Kapitel kommt aus dem Schulbereich und zeigt, gestützt auf eine empirische Studie, auf, was interkulturelle Kompetenz bei Lehrer/inne/n bedeuten könnte oder müsste. Dorothea Bender-Szymanski formuliert thesenartig Komponenten einer solchen Kompetenz, wobei sie auf eine Untersuchung zurückgreift, die bei Referendar/inn/en zwei signifikant unterschiedliche Verarbeitungsmodi interkultureller Situationen ergab. Damit werden die kontrastierend einander gegenüber gestellten Haltungen und Fähigkeiten illustriert. Die Verfasserin betont, dass ihre Untersuchung nicht Persönlichkeitseigenschaften, sondern „Prozessmerkmale“ als Ergebnis der Auseinandersetzung mit interkulturellen Situationen zum Gegenstand hatte. Außerdem erörtert sie (als einzige in dem Band) das Kompetenz-Performanz-Problem. Die Beiträge der ersten beiden Kapitel weisen unverkennbare Gemeinsamkeiten auf. Das betrifft die Warnung vor Kulturalisierungstendenzen und das Bemühen, diese zu vermeiden, die Ablehnung eines von instrumenteller Rationalität getragenen Kompetenzbegriffs und den Versuch, institutionelle Strukturen und Machtasymmetrien zu berücksichtigen und teilweise mehr als das, nämlich diese in den Brennpunkt zu rücken. Die Diskussion wird mit einem Beitrag aus der Schweiz abgeschlossen, in dem Konsequenzen für die pädagogische Ausbildung gezogen werden. Um die Vermittlung der für die Schulen in der Einwanderungsgesellschaft notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten in der Lehrerausbildung besser zu verankern, hat Andrea Lanfranchi ein Curriculum, gegliedert nach sechs verschiedenen Bereichen, entwickelt, das neben Zielformulierungen und Fragestellungen jeweils auch Vorschläge für Vermittlungsmethoden enthält. Bei letzteren wird deutlich, dass nicht nur Wissensaneignung, sondern teilweise auch Selbstveränderung der Lernenden intendiert wird, soweit das in der akademischen Ausbildung möglich ist. Das Curriculum gibt auf jeden Fall, wenn auch für Schweizer Lehrerausbildung formuliert, Anstöße für die weitere Diskussion.
1 Interkulturelle Kompetenz – Anfragen an das Konzept
„Kompetenzlosigkeitskompetenz“. Pädagogisches Handeln unter Einwanderungsbedingungen Pädagogisches Handeln unter Einwanderungsbedingungen
Paul Mecheril
Einleitung In der Diskussion einer pädagogischer Fachöffentlichkeit, die sich dem Umstand kultureller und ethnischer Pluralität gegenübersieht und bestrebt ist, zu einer verbesserten Handlungsfähigkeit durch den Erwerb und die Bestärkung spezifischer Handlungsvermögen zu gelangen, ist „interkulturelle Kompetenz“ zu einem Schlüsselbegriff geworden. Gudrun Jakubeit und Karl Schattenhofer schreiben 1996 in einem mit „Fremdheitskompetenz“ überschriebenen Beitrag, dass Fortbildungen und Beratungen für Mitarbeiterinnen der sozialen Berufe seit Beginn der Arbeitsmigration in vielfältiger Weise angeboten werden. Das Angebot hat sich in den letzten fünf Jahren intensiviert. Und angesichts kulturell-ethnischer Differenzierungsprozesse auch und gerade in pädagogischen Handlungsfeldern bedarf es keiner ausgeprägten Weitsicht, die Ausweitung dieses zumeist außerhalb der Universitäten gedeihenden Marktes vorauszusagen. Das Spektrum der angebotenen Workshops, Trainings, Tagungen, Aus-, Fort- und Weiterbildungsprogramme ist kaum zu überschauen. „Interkulturelle Kompetenz“ firmiert als bereichsübergeordnete Bezeichnung, in der zweierlei zum Ausdruck kommt: einerseits eine pädagogisches Handeln und Professionalität betreffende Diagnose, die einen Mangel an Handlungsvermögen feststellt, andererseits die Erwartung und die Hoffnung, diesen Mangel zu beheben. Mit Bezug auf den deutschsprachigen pädagogischen Diskurs fand der Ausdruck interkulturelle Kompetenz zunächst in der Sozialen Arbeit Verwendung; als eine der ersten und meistzitierten Publikationen zum Thema interkulturelle Kompetenz im deutschsprachigen pädagogischen Diskurs kann hierbei das 1994 von Wolfgang Hinz-Rommel vorgelegte Buch „Interkulturelle Kompetenz. Neues Anforderungsprofil für die Soziale Arbeit“ gelten. Der Bedarf für interkulturelle Kompetenz wird hier in der „multikulturellen“ Verfasstheit der bundesrepublikanischen Gesellschaft gesehen, einer Konstitution, der soziale Dienstleistungseinrichtungen weder auf der Ebene der Mitarbeiterinnen, noch der Konzeptionen der Trägerverbände, noch auf der Ebene der Ausbildungs- und Fortbildungsangebote entsprächen. Qualität und Quantität „multikultureller“ Angebote
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seien defizitär. Folglich fordert Hinz-Rommel auf den drei thematisierten Ebenen – Mitarbeiter, Träger und Ausbildung – eine Veränderung hin zu „interkultureller Kompetenz“. In der Sozialen Arbeit wird die Auseinandersetzung mit Konzepten interkultureller Kompetenz, ebenso mit der Frage nach den Bedarfen, auf die Kompetenzkonzepte reagieren, sowie den Funktionen und Wirkungen dieser Konzepte, nach wie vor intensiv geführt. Aber auch in der Lehrerinnenaus-, und -fortbildung gibt es eine Vielzahl von Ansätzen, die explizit dem Bereich interkulturellen Lernens und interkultureller Bildung zugeschrieben werden. Der pädagogische Diskurs folgt hierbei durchaus der pragmatischen Leitlinie, die lautet: Wo die als fremd Betrachteten auftauchen, bedarf es interkultureller Kompetenz, weil durch die Präsenz der als fremd Bezeichneten pädagogische Handlungsfähigkeit allem Anschein nach problematisiert wird und als nicht (in ausreichendem und angemessenem Maße) zur Verfügung stehend erscheint. Interkulturelle Kompetenz wird nachgefragt als eine Art Sonderkompetenz für Professionelle, die in einer Weise mit Differenz und Fremdheit beschäftigt sind, die ihr übliches Bewältigungs- und Gestaltungsvermögen übersteigt. Dieser Zusammenhang zwischen einem vermeintlichen Bedarf und dem auf ihn reagierenden Kompetenzbegriff erzeugt und intensiviert nun aber einen Handlungsansatz, der für den pädagogischen Umgang mit kulturell-ethnischer Differenz im deutschsprachigen Raum in einer problematischen Weise kennzeichnend ist. Der Ansatz ist gekennzeichnet davon, dass die kulturell-ethnisch „Anderen“ in der Regel als Adressaten von „interkultureller Kompetenz“ nicht vorkommen, dass Angebote zu „interkultureller Kompetenz“ im Zuge eines verkürzten und einseitigen Kulturverständnisses zu „Kulturalisierungen“ neigen, und dass Angebote zur Vermittlung „interkultureller Kompetenz“ in Gefahr sind, Handlungsvermögen als professionelle Technologie zu betrachten. Die Probleme betreffen also: (a) die Adressatinnen, (b) den theoretischen Blickwinkel und (c) das Professionalitätsverständnis von Konzepten „interkultureller Kompetenz“.
Adressatinnen interkultureller Bildungsangebote Üblicherweise wird unter interkulturellem Handeln in pädagogischen Kontexten die Situation verstanden, dass eine professionelle Person, die Repräsentantin der kulturellen Mehrheit ist, es mit Klienten zu tun hat, die kulturellen Minderheiten angehören. Von interkulturellem Handeln wird gesprochen, wenn beispielsweise eine türkische Mutter eine psychosoziale Beratungsstelle aufsucht, in der deutsche Beraterinnen arbeiten, oder wenn ein deutscher Lehrer es mit türkischen Schülerinnen zu tun hat. Dieses gängige Bild interkulturellen Handelns in päda-
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gogischen Kontexten ist auf die Situation beschränkt, dass nationale oder ethnische Mehrheitsangehörige als Professionelle den nationalen oder ethnischen Minderheitsangehörigen pädagogische Angebote machen. Unter der Vorgabe dieses Verständnisses „interkulturellen Handelns“ ist es naheliegend, dass sich interkulturelle Bildungsangebote an Mehrheitsangehörige richten. Nahezu alle Konzepte interkultureller Kompetenz wenden sich nicht nur ausschließlich an Mehrheitsangehörige (vgl. kritisch Castro Varela u.a. 1998), sie scheinen auch keinen Anlaß zu sehen, diese der Egalitätshypothese, der sich Handlungsansätze kultureller Differenz in der Regel verpflichtet wissen, widersprechende Nicht-Berücksichtigung zu thematisieren. Minderheitenangehörige, Personen mit Migrationshintergrund, Migranten und Migrantinnen kommen als Adressaten der Angebote zu professioneller interkultureller Kompetenz nicht vor. Dies kann nun mit zweierlei zusammenhängen. Die Vorstellung, dass aus den Objekten ausländerpädagogischer Fürsorge nunmehr professionell handelnde Subjekte geworden sein sollen, mag, dies ist die erste Möglichkeit, noch immer befremdlich sein. Zur Illustration der Beschränkung von interkulturellen Angeboten auf „Nicht-Migranten“ sei auf Überlegungen von Sigrid Luchtenberg (1999: 223) verwiesen, die sich mit dem Erwerb interkultureller kommunikativer Kompetenz in der Lehrerausbildung beschäftigen. Luchtenberg stellt einige Arbeitsfelder zusammen, „für die Lehrkräfte Kompetenzen in interkultureller Kommunikation erwerben müssen“, nämlich: Unterrichtsgespräche in mehrsprachigen Klassen, außerunterrichtliche Gespräche mit Kindern nichtdeutscher Erstsprache, Kommunikation mit Kollegen nichtdeutscher Herkunft, Elternkommunikation mit Eltern nichtdeutscher Herkunft, Vermittlung in interkulturellen Gesprächen (in der Klasse, im Kollegium oder bei Elternsprechtagen), Umgang mit Mehrsprachigkeit, Bewertung von Medien (ebd.). Die in pädagogischen Zusammenhängen zumeist von Gedanken der Gleichheit und der Anerkennung von Differenz inspirierte Thematisierung von Differenz kann – dies illustriert das angeführte Beispiel – darauf hin betrachtet werden, wie durch die Auseinandersetzung mit Differenz gesellschaftliche Verhältnisse von Über- und Unterordnung reproduziert und bestätigt werden. Dies ist im vorliegenden Beispiel insofern der Fall, als durch die Angabe kompetenzrelevanter Arbeitsfelder ein Ausschluss von „nichtdeutschen“ Personen stattfindet. Sie kommen auf einer bestimmten Seite nicht vor. Die gesellschaftlich vorherrschende, institutionalisierte sowie kulturell und imaginativ verfügbare Figur jenes Verhältnisses von Mehrheit und Minderheiten, von Wir und Nicht-Wir, von Einander-Vertrauten und Fremden, von Nicht-Anderen und Anderen, in der die Nicht-Fremden Akteure sind, deren Handeln sich fürsorglich oder nicht fürsorglich auf die Fremden bezieht, wird hier wiederholt. Die NichtBerücksichtigung der naheliegenden Variable: (hier: professionelle) Handlungs-
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fähigkeit der kulturell-ethnisch Anderen, diese Leer-Stelle, reproduziert das Verhältnis von Nicht-Fremden und Fremden, in dem die machtvolle Position der Nicht-Fremden mit beispielsweise dem Effekt verschleiert wird, dass in essentialisierten Verständnissen von Fremdheit als sozialer Beziehung gesprochen werden kann: Sie sind fremd. Überlegungen zu Arbeitsfeldern, „für die Lehrkräfte Kompetenzen in interkultureller Kommunikation erwerben müssen“ (ebd.), welche den Subjektstatus der als „Fremde“, „Menschen nichtdeutscher Herkunft“ etc. Etikettierten ernstnähmen, hätten sich also auch in einer Weise mit Arbeitsfeldern zu beschäftigen, die die spezifischen Anforderungen professionellen Handelns für Menschen mit Migrationshintergrund in den Blick nehmen („Kommunikation mit Kollegen deutscher Herkunft“, „Elternkommunikation mit Eltern deutscher Herkunft“ sind hierbei, im Vokabular Luchtenbergs verbleibend, Felder, die die Diskussion der (professionellen) Handlungsfähigkeit kulturell-ethnischer Anderer ermöglichen). Wenn nach Gründen dafür gesucht wird, warum Menschen mit Migrationshintergrund in der Regel nicht als Adressatinnen interkultureller Bildungsangebote vorkommen, dann bietet sich neben der angeführten Erklärung (Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse in und durch Bildungsangebote(n), die Minderheitenangehörige nicht als Handlungssubjekte denken) eine weitere an. Dass Menschen mit Migrationshintergrund in Angeboten zu interkultureller Kompetenz nicht adressiert werden, kann als Konsequenz der Annahme verstanden werden, dass diese Personengruppe bereits über „interkulturelle Kompetenz“ verfüge. Menschen mit Migrationshintergrund seien per se der interkulturellen Situation gewachsen, verfügten also über angemessenes Wissen, seien in der Lage, mit den spezifischen affektiven, kognitiven, sozialen etc. Anforderungen kultureller Differenz umzugehen, verfügten über das Vermögen, sich selbst, ihre symbolische Position in konkreten Interaktionssituationen der Differenz, ihre biographischen Erfahrungen vor dem Hintergrund kultureller Differenz zu reflektieren etc. Diese Annahmen sind freilich wenig überzeugend. Zwar ist zu erwarten, dass Minderheitenangehörige in einer selbstverständlicheren Weise mit Themen kultureller Differenz und Dominanz lebensgeschichtlich befasst sind. Das Erfahrensein und die sich im Zuge dieser Erfahrungen ausbildenden Vermögen entlasten aber – sobald und solange es um professionelles Handeln geht – nicht von einer Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen und Vermögen, entbürden nicht von ihrer Differenzierung und Erweiterung. Interkulturelles Handeln in pädagogischen Kontexten ist also nicht allein auf die Klischeekonstellation „`deutsche´ Pädagogin arbeitet mit Migrantinnen“ beschränkt. Jede Konstellation von Beteiligten faktisch oder imaginiert unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit ist potentiell ein Fall interkultureller
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Kommunikation. Aber auch die professionelle Kommunikationssituation zwischen Akteuren gleicher oder ähnlicher kultureller Zugehörigkeit kann als interkulturelle Situation verstanden werden, etwa, wenn ein Einverständnis zwischen den Beteiligten vor dem Hintergrund eines geteilten kulturellen Überlegenheitsanspruchs gilt oder von dem Professionellen entsprechende Beziehungsangebote seitens der Klientin wahrgenommen werden, wenn in der pädagogischen Handlungssituation interkulturelle Themen als Aspekte des mittelbaren Lebensumfeldes („hoher Ausländeranteil im Stadtviertel“, „von Ausländern mitbedingte Arbeitslosigkeit“) oder Aspekte des unmittelbaren Lebensumfeldes (bikulturelle Partnerschaft, weiße Mutter schwarzer Kinder, „in der Schulklasse meiner Tochter sind viel zu viele ausländische Kinder“) in den Vordergrund rücken. Mithin können wir zwei Typen interkulturellen Handelns in pädagogischen Kontexten analytisch unterscheiden. Bei dem ersten Typ kreist das Handeln um interkulturelle Gegenstände und Themen, und bei dem zweiten kann die interaktive Weise des Handelns als interkulturell verstanden werden.
Theoretischer Zugang Soweit mir bekannt ist, gibt es keine systematische empirische Untersuchung von Konzepten interkultureller Kompetenz im deutschsprachigen Raum. Mit meiner Kritik an dem theoretischen Zugang von Ansätzen zu interkultureller Kompetenz gebe ich mithin punktuelle, eigene Untersuchungsergebnisse und Leseerfahrungen wieder. Mit der Kritik geht es mir darum, implizite, z.T. explizite Tendenzen und als Nebenfolgen verstehbare Risiken von Ansätzen interkultureller Kompetenz anzusprechen. Die Kritik schließt an die in und an der Interkulturellen Pädagogik formulierte Kulturalisierungskritik an und wird mithin von ihr getragen. Zwar ist es häufig so, dass im gleichsam begriffsexplikativen Prolog von Konzepten interkultureller Kompetenz und interkulturellen Lernens auf die Unklarheit und Schwierigkeit der wie es zumeist heißt „Definiton“ von Kultur hingewiesen wird (so etwa bei Grosch/Groß/Leenen 2000). Kultur sei heterogen, dürfe nicht als schlichte Determinierung der Individuen verstanden werden. Sobald aber die Auseinandersetzung sich entlang von Beispielen, Übungen und Aufgaben auf interkulturelles Handeln und deren Reflexion bezieht, ist aller Spielraum verschlossen. „Kultur“ wird zu einem sich reproduzierenden Einheitszusammenhang, eben nicht zu der Arena, in der – um das Bourdieusche Kulturverständnis anklingen zu lassen – interne Kämpfe um Kapitalvermögen ausgetragen werden, sondern zu einem, wie es in einer häufig zitierten Metapher von
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Claude Levi-Strauss heißt, Orchester (so etwa bei Grosch/Leenen 19981). In diesem strukturalistischen Bild kommt den kulturellen Akteuren, den Orchestermitgliedern die Aufgabe zu, die Musik der Kultur nach vorgegebener Partitur zum Erklingen zu bringen. Anders formuliert: Der kulturalistische Bezug auf kulturelle Differenz bewirkt eine Binnenhomogenisierung und das Herausstellen von Unterschieden auf der Ebene des Interkulturellen. Der Bezug auf Differenz kann mithin als Intensivierung des Schemas verstanden werden, das zwischen Identität, die als Phänomen des Innen gedacht wird, und Nicht-Identität, die Außen verortet wird, unterscheidet. Im Zuge dieses binären Schemas, das zwischen dem übereinstimmenden, dem zueinander wohlklingenden, dem konsonanten Eigenen und dem relativ zum Eigenen dissonanten Fremden unterscheidet, wird eine Wesenheit des Eigenen und eine Wesenheit des Nicht-Eigenen erfunden. Die Rede von „Kultur“, von „kulturellen Werten“, von „kultureller Identität“ kann in ihrer kulturalistischen Variante als eine Metaphysik der Kultur verstanden werden. Im Zuge dieses metaphysischen Ansatzes bleibt den Kulturmitgliedern – zumindest solange sie kein interkulturelles Training absolviert haben – erstens nichts anderes übrig, als ihre kulturelle Partitur zu spielen; wie etwa bei Luchtenberg (1999: 12): „Kommunikative Akte sind eingebettet in Situationen, für die jeweils von einer kulturellen Gruppe festgelegte Verhaltensmuster gelten“. Und zweitens ist den orchestralen Kulturmitgliedern aufgetragen, Situationen aus dem Weg zu gehen, in denen sie Mitgliedern eines anderen Orchesters begegnen könnten. Dann nämlich wird es zwangläufig, einem ehernen Gesetz des Kulturkontaktes folgend, schief, es ertönen Misstöne, akustisch induzierte Schmerzen, die zu vermeiden und die zu ertragen, ein interkulturelles Training besucht werden muss: Der Markt attraktiviert sich; das Angebot wird unentbehrlich. Was hier stattfindet ist eine Exotisierung und Skandalisierung der interkulturellen Situation. So gehen Grosch und Leenen (1998: 36) von einem generellen Kulturzentrismus aus, demzufolge, in ihren Worten, die Konfrontation mit fremden Lebenswelten positiven oder negativen Stress erzeugen muss, gleichwohl diese Universalität ihrer Ansicht nach empirisch nicht zu beweisen sei. Was hierbei eher nicht in das Blickfeld gerät, ist die partielle Alltäglichkeit und Normalität gelingender Interkulturalität. Joachim Matthes (1999) hat vorgeschlagen, die Fokussierung von Missverständnissen, Konflikten und Problemen als Signum des westlichen Diskurses um interkulturelle Kommunikation im Hinblick auf 1 „Nach einer inzwischen schon etwas überstrapazierten Metapher von Lévi-Strauss verhalten sich die Akteure einer kulturellen Gemeinschaft wie die Mitglieder eines Orchesters, das seine musikalische Darbietung durch eine Partitur organisiert. Was in der Begegnung bewältigt werden muss, ist also das Aufeinandertreffen einer Art `konzertierten Verhaltens´ nach Maßgabe unterschiedlicher ‚Partituren’ und die Verfangenheit der Beteiligten in dem Versuch, gleichzeitig verschiedene ‚kulturelle Stücke’ zur Aufführung zu bringen“ (Grosch/Leenen 1998, S.31).
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seine kulturellen Entstehungsbedingungen zu befragen. Ein wissenschaftstheoretisches Problem ist die Frage der Geltungsbegründung solcher implizit kulturdeterministischen Ansätze, insofern diese Ansätze im Sinne einer Selbstanwendung als kulturdeterminiert zu denken sind. Aber diese Selbstanwendung findet zumeist nicht statt. Die kulturelle oder soziale Praktik des Sprechens über Kultur kommt nicht in den Blick und erst dieses Nicht-in-den-Blick-Nehmen ermöglicht die Essentialisierung kultureller Gruppen. Diese werden nicht als Phänomene der Selbst- und Fremdkonstruktion, sondern als kollektive Wesen ersichtlich. Wenngleich in den einführenden Worten zu Konzepten interkultureller Kompetenz häufig davon die Rede ist, dass Kultur nicht umstandslos mit Nation und Ethnizität assoziiert werden darf, findet sich in den meisten Konzepten ausnahmslos eine Auseinandersetzung mit internationalen und interethnischen Situationen. Angezeigt wird dies in Übungen und Aufgaben über Namen oder über den Gebrauch einer direkten ethnifizierenden Attribuierung, wie „der türkische Vater“, „die marokkanische Arbeiterin“. Je handlungsrelevanter die Ausführungen werden, desto eher wird der Kulturbegriff in einer unmittelbaren Verknüpfung mit Nationalität und Ethnizität gebraucht. Kulturelle Zugehörigkeit wird über national-ethnische Zugehörigkeit definiert. Damit trägt der affirmative Bezug auf „kulturelle Differenz“ zur Stärkung der national-ethnischen Unterscheidung bei, im Zuge derer „Wir“ und „Nicht-Wir“, gelegentlich in einer fraglosen Art und Weise, als Funktion national-ethnischer Zugehörigkeit begriffen wird. Mit dem Gebrauch ethnischer und nationaler Bezeichnungen, mit dem Bezug auf Nationalität und Ethnizität wird zugleich die sogenannte Herkunftskultur von Menschen mit Migrationshintergrund zum Mittelpunkt ihrer „anderen“ Kultur. Hier kehrt letztlich in nunmehr landeskulturell informierterer Weise, dadurch maskiert, die Rede von Ausländern und Ausländerinnen zurück. Türken kommen aus der Türkei, und diese Herkunft, so suggeriert die Bezeichnung, bestimme ihre Identität. Dabei wirken die auf der Ebene rhetorischer Selbstbeschreibung abgegebenen Versicherungen, dass „Kultur“ ein dynamisches und heterogenes Konzept sei, wie eine kosmetische und immunisierende Linie gegenüber möglichen Einwänden. Dieseits dieser Linie, im Binnenraum des interkulturellen Tuns, aber findet zumeist das übliche Geschäft statt: Deutsche haben es mit Nicht-Deutschen zu tun. Die Affirmation der Wirklichkeit „kultureller Differenz“ geht weiterhin mit der Gefahr der Überbetonung dieses – allzu häufig unter der Hand ethnisierten und nationalisierten – Differenzaspektes einher. Die Komplexität der Beschaffenheit des gesellschaftlichen Raumes, in dem einzelne sich verorten und verortet werden, wird simplifiziert. Der Bezug auf „kulturelle Differenz“ schafft ein einseitiges Bild, das beispielsweise von den anderen Hauptperspektiven, die in den Sozialwissenschaften traditionellerweise zum Zuge gebracht werden, nämlich
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„Klasse“ und „Geschlecht“, absieht. Mit Blick auf etwas, was als mehrdimensionaler Raum gesellschaftlicher Ungleichheit und Ungerechtigkeit bezeichnet werden könnte, in dem sich in wechselnden Formationen Identität konstituiert, stellt beispielsweise die politische Philosophin und Sozialtheoretikerin Nancy Fraser (1995: 91) heraus, dass gender, race, class und sexuality als Axen der Ungerechtigkeit das Interesse und die Identität einer jeden Person berühren. Diese multiaxiale Konstitution des Raums gesellschaftlicher Gerechtigkeit bleibt in den Ansätzen zu interkultureller Kompetenz zumeist unterbelichtet. Dadurch wird dem Eindruck Vorschub geleistet, „Kultur“ könne alle Unterschiede aufklären. Festlegungen dieser Art sind insbesondere dann problematisch, wenn „Kultur“ auf bloße Inhaltlichkeit reduziert und der Unterschied zwischen Minderheiten und Mehrheit im Zuge dieser Fixierung lediglich darin erscheint, dass kulturell Andere andere kultuelle Praktiken pflegen als kulturell Nicht-Andere. Ansätze „kultureller Differenz“ suggerieren insofern und unter der Bedingung, dass sie vornehmlich die „horizontale Dimension“ von Unterschieden berücksichtigen, mittels des Differenzbegriffs eine Gleichheit, die faktisch nicht vorhanden ist. „Kulturelle Differenz“ kann somit als Begriff verstanden werden, der bestehende Machtunterschiede nicht nur nicht in den Blick nimmt, sondern auch verschleiert. Der Blick auf Kultur kann von den strukturellen Bedingungen der Ungleichheit ablenken. In der deutschsprachigen pädagogischen Diskussion hat insbesondere Frank-Olaf Radtke herausgestellt (etwa Diehm/Radtke 1999), dass nicht die Zugehörigkeit zu einer „anderen“ Kultur, sondern Aspekte sozialer Benachteiligung und Diskriminierung zur Positionierung von Migranten und Migrantinnen innerhalb und außerhalb der Funktionssysteme der Gesellschaft, etwa dem Erziehungssystem, führen. Mit Bezug auf das hier angesprochene Verhältnis von vertikaler und horizontaler Differenzierung muss zweierlei präzisiert werden. Zum einen ist es so, dass Ansätze „kultureller Differenz“ dazu neigen, die gleichsam außer“kulturellen“, zur Perspektive „Kultur“ in einer Beziehung wechselseitiger Beeinflussung stehenden, Verhältnisse der beispielsweise rechtlichen oder ökonomischen Ungleichheit zu übersehen und soziale Ungleichheit als kulturelle Differenz zu verkennen. Zum anderen können vertikale Differenzen durchaus, wie dies etwa Pierre Bourdieu tut, als „kulturelle Differenzen“ gedacht werden. Das heißt: Es macht Sinn, Kultur nicht allein als ein System von Symbolen zu verstehen, worauf sich viele Ansätze interkulturellen Lernens und interkultureller Kompetenz unter Berufung auf den Kulturbegriff des Kulturanthropologen Clifford Geertz beziehen. „Kultur“ verstehen etwa Grosch/Groß/Leenen (2000: 5) als „ein für eine größere Gruppe von Menschen gültiges Sinnsystem oder [...] eine Gesamtheit miteinander geteilter verhaltensbestimmender Bedeutungen [...] (Hervorh. dort).“ Der einseitige Bezug auf den Sinn- und Bedeutungsaspekt ten-
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diert aber dazu, den Zusammenhang zwischen Sinn und Praxis aus den Augen zu verlieren. Der Geertzsche Kulturbegriff vernachlässigt die Handlungsdimension von Kultur (auch Hörning 1997: 31). Vor diesem Hintergrund scheint es sinnvoll, Kultur als soziale Praxis zu begreifen und zu bedenken. Sobald Kultur als Praxis verstanden wird, rücken die sozialen Verhältnisse nicht allein als Differenzen auf der Ebene – ich verwende hier das Vokabular des Strukturierungsansatzes von Anthony Giddens (1997) – von Normen und semantischen Kodierungen, sondern auch auf der Ebene von Ressourcen in den Vordergrund. Vorstellungen über Ressourcenverteilungen und als kulturelle Praktiken beschreibbare Ressourcenverteilungen sind insofern ein wichtiger Punkt, als beispielsweise der Ort, an dem die interkulturelle Begegnung stattfindet als Ort verstanden werden kann, der auch auf der Ebene von Ressourcen der Akteure unterschieden ist. Dies aber bleibt in vielen Ansätzen zu interkultureller Kompetenz unter dem vorherrschenden Blick auf die instrumentelle Bewältigung interkultureller Kommunikationsprobleme unberücksichtigt. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Beobachtung von Annelie Knapp-Potthoff (1997: 190), die sie „interkulturelles Interaktionsparadox“ genannt hat. In Interaktionen mit Angehörigen anderer Kulturen kommunizieren Interaktionspartner tendenziell anders als mit Angehörigen ihrer eigenen Kultur. Das heißt: Die sogenannte interkulturelle Überschneidungssituation (Grosch/ Leenen 1998) ist kein Phänomen, das sozusagen an sich schon da ist, sondern wir müssen diese als Situation verstehen, die von den Interaktionsteilnehmerinnen aktiv als interkulturelle erzeugt wird. Der als interkulturell erfahrene und bezeichnete Ort ist also ein Ort, der im Schnittfeld gesellschaftlicher, institutioneller, interaktiver und kultureller Praktiken, etwa Attribuierungspraktiken, entsteht. Dies kann als Entstehungskontext der sogenannten interkulturellen Situation begriffen werden. Die gesellschaftliche, institutionelle, interaktive aber auch kulturelle Rahmung und Hervorbringung der interkulturellen Situation bleibt in interkulturellen Trainings weitestgehend unthematisiert. Dieser Mangel an Kontextualisierung korrespondiert dem implizit universalistischen, kontextunspezifischen Vorgehen vieler Ansätze: Es interessiert nicht so sehr, wie in einem bestimmten sozialen Raum vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen, institutionellen und kulturellen Vorgaben „kulturelle Differenz“ erzeugt wird, sondern vielmehr ist das, ich möchte sagen, Differenzprodukt von Interesse, das abgelöst von den kontextspezifischen Bedingungen seiner Produktion als je schon existierender Unterschied und nicht als Praxis der Unterscheidung betrachtet wird.
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Professionalitätsverständnis Die Ausblendung der Eigenschaften des Ortes, an dem das interkulturelle Handeln stattfindet, leistet einer versteckten Überhöhung und Aufblähung der Möglichkeiten interkulturellen Handelns und entsprechender Kompetenz Vorschub. Indem die für interkulturelles Handeln zum Teil restriktiven gesellschaftlichen, institutionellen und kulturellen Bedingungen im Rahmen von interkultureller Kompetenz nicht oder nur am Rande in den Blick kommen, entfaltet sich die technologische Suggestionskraft interkultureller Kompetenz: Lehrer, die ihr es mit Migrantenkindern zu tun habt, besucht Fortbildungen in interkulturellem Lernen, eignet euch jene kommunikativen und selbstbezogenen Fertigkeiten an, dann werdet ihr im Kontakt mit dieser fremden Klientel erfolgreich handlungsfähig werden! Für das Nachdenken über „interkulturelle Kompetenz“ ist es jedoch bedeutsam, dem Handlungsbedarf der Praxis nicht vorschnell zu erliegen und interkulturelle Kompetenz nicht unter den Primat einer technologisch-instrumentellen Verwertungsperspektive zu stellen, welche nicht allein im ökonomischen Milieu, sondern auch bei etlichen pädagogischen Angeboten zu interkulturellem Lernen, Kommunikation und interkultureller Kompetenz anzutreffen ist. Denn das instrumentelle Verständnis von interkultureller Kompetenz, das vornehmlich die sozialtechnische Verwertung von Wissen über Kulturen und ihre wie auch immer beschriebenen Kennzeichen in den Vordergrund rückt, löst das etwa von Fritz Schütze (1992) beschriebene (sozial-)pädagogische Handlungsparadox (professionelles Handeln geht mit dem Erfordernis einher, sich einerseits an wissensbegründeten Typisierungen und andererseits an der Eigenlogik des Falls orientieren zu müssen) eindeutig zugunsten der Typisierungen auf. Damit ist aber das Moment der Selbstbezüglichkeit des Gegenübers in interkulturellen Situationen in einer Weise aufgehoben, die der Situation nicht nur ihre Singularität, sondern auch ihren pädagogischen Gehalt nimmt. Die Differenz zwischen den an einer pädagogischen Situation Beteiligten ist nur um den Preis der Entpädagogisierung technologisch überbrückbar. Soll die Situation aber weiterhin als pädagogische verstanden und behandelt werden, kommt die durch typisiertes Wissen und Routinehandeln nicht überbrückbare Differenz als konstitutives Kennzeichen allen pädagogischen Handelns in den Blick. Für den Begriff der „interkulturellen Kompetenz“ – so an ihm trotz seiner technologischen Suggestionskraft und möglicherweise im Zuge eines trojanischsubversiven Tricks festgehalten werden soll2 – bedeutet dies, dass es sinnvoll ist, 2 Der Trick ist der folgende: Benutzung des attraktiven Ausdrucks interkulturelle Kompetenz in einer Weise, die dem Wunsch nach technologischer Behebung von Mängeln zwar nicht entspricht, gleichwohl nur möglich ist, da dem Etikett technologische Phantasien zugeordnet sind.
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ihn in einer Weise zu benutzen, die die technologische Verwertungstendenz kritisch anzeigt. Aus eben diesem Grund ist dieser Text spöttisch mit „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ überschrieben. „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ erinnert an den im Zuge des technologischen Ansatzes verdeckten Unterschied zwischen Performanz und Kompetenz, erinnert daran, dass es sich bei Handlungskompetenzen eher um Handlungsdispositionen, spezifische Handlungsweisen nahelegende allgemeine Handlungsbereitschaften, als um spezifische Fertigkeiten handelt (siehe die sozialpädagogische Diskussion um den Begriff der Handlungskompetenz Mitte der 1980er Jahre; Müller u.a. 1984). „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ verweist auf das doppelte Erfordernis, das dem Umstand erwächst, dass keine „einfachen“, rezeptologisch erfassbaren professionellen Handlungszusammenhänge vorhanden sind: Professionelles Handeln ist darauf angewiesen, in ein grundlegend reflexives Verhältnis zu dem eigenen professionellen Handeln, seinen Bedingungen und Konsequenzen treten zu können. Damit dies nicht schlicht zu einer Norm individuellen Handelns erklärt wird, heißt dies: Schaffung von Strukturen professionellen Handelns, in denen Reflexion nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll sowie attraktiv ist und systematisch unterstützt wird. Die Reflexion bezieht sich in einer besonderen Weise auf die Grenzen professionellen Handelns, seine Einflusslosigkeit und seine paradoxen und problematischen Neben- und Hauptfolgen. Eine so verstandene „interkulturelle Kompetenz“ erwiese sich beispielsweise darin, dass professionelles Handeln die Frage reflektiert, inwiefern es zur Reproduktion von „Wir“- und „Nicht-Wir“Unterscheidungen beiträgt, die in Traditionen der Über- und Unterordnung verhaftet bleiben. Der Ausdruck „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ resultiert aus der angesprochenen Kritik an Konzepten interkultureller Kompetenz, Kritik der Beschränkung auf Mehrheitsangehörige, der Kulturalisierungstendenz und des Technologieansatzes. Positiv gewendet finden sich im Ausdruck „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ Perspektiven zur Beurteilung von Ansätzen „interkultureller Kompetenz“. Anders formuliert: der Ausdruck „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ offeriert implizit Qualitätskriterien zur Einschätzung interkultureller Bildungsangebote:
Wie reflektieren interkulturelle Bildungsangebote Lebenslagen unterschiedlicher Personengruppen als Eingangsvoraussetzung des professionellen Handelns von Mitgliedern dieser Gruppen? Wie reflektieren Bildungsangebote die Problematiken des Kulturbegriffs? Wie gehen die Angebote mit der Unmöglichkeit der Technologisierung pädagogischen Handelns auch und gerade in interkulturellen Kontexten um?
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Im Folgenden will ich nun einige Hinweise darauf geben, was „interkulturelle Kompetenz“ im Sinne von Kompetenzlosigkeitskompetenz heißen kann. Diese Hinweise bezeichnen keine systematische Auseinandersetzung, sondern liefern zwei punktuelle Anregungen: (a) Beobachtung der Praktik „Kultur“ und (b) Verschränkung von Wissen und Nicht-Wissen.
Beobachtung des Gebrauchs von „Kultur“ An anderer Stelle habe ich ein Verständnis von „Kultur“ und „Interkulturalität“ vorgestellt, das auf die begriffliche Rahmung professionellen Handelns unter Bedingungen kultureller und ethnischer Differenz zielt (Mecheril 1998)3. Ungeachtet dieses Verständnisses oder anderer Gebrauchsweisen von „Kultur“, besteht eine der zentralen Aufgaben professionellen, interkulturellen Handelns in der Beobachtung von Kultur. Wenn wir, im Zuge eines gewissermaßen konstruktivistischen und essentialismuskritischen Verständnisses von „Kultur“, „Kultur“ als Ensemble von Deutungs- und Interpretationsmustern verstehen, die spezifische Handlungen nahe legen und soziale Wirkungen haben, dann betrachten wir „Kultur“ als eine soziale Praktik. Diese Praktik findet sich sowohl in Selbst- und Fremdbeschreibungen alltagsweltlicher Handlungssubjekte und Professioneller als auch in wissenschaftlichen Erklärungsangeboten. Unter einer Perspektive, die Kultur als wissenschaftliche, alltagsweltliche und professionelle Konstruktion versteht, wird es möglich, über die Angemessenheit dieser Perspektive, ihrer Wirkungen und Funktionen in gesellschaftlich und institutionell gerahmten Interaktionssituationen nachzudenken. „Kultur“ ist ein theoretisches Werkzeug, das den Blick auf soziale Zusammenhänge in spezifischer Weise präformiert. Wo dieser instrumentelle Charakter von Begrifflichkeiten unbeachtet bleibt, droht die Reifizierung sozialer Strukturen und Verhältnisse. (Selbst-)Beobachtungskom-petenz für Begriffsverwendung ist hier als professionelles Vermögen gefragt. Es geht darum, zum Thema zu machen, unter welchen Bedingungen die Praktik „Kultur“ zum Einsatz kommt. Die entscheidende Frage heißt also nicht: Gibt es kulturelle Unterschiede? Die bedeutsamere Frage lautet vielmehr: Unter welchen Bedingungen benutzt wer mit welchen Wirkungen „Kultur“?
3 Kultur verstehe ich als faktische und imaginative Praxis der Erzeugung, Bewahrung und Veränderung von symbolischen Differenzen und sozialen Macht- bzw. Ungleichheitsverhältnissen. Und "Interkulturalität" bezieht sich auf jene (auch imaginativen) Prozesse des Austauschs zwischen (Mitgliedern von) Lebensformen, in denen Differenz und Ungleichheit in einer vom Kontext der Begegnung präformierten Weise intersubjektiv relevant sind.
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Professionelles Handeln unter interkultureller Hinsicht, so es nicht ein naiv realistisches Verständnis von „Kultur“ zum Ausgangspunkt wählt, umfasst das Vermögen, sich reflexiv und beobachtend auf die anzutreffende Art und Weise zu beziehen, in der von Klientinnen, von Kollegen im professionellen Feld, von der Beratungsinstitution und nicht zuletzt von der professionell handelnden Person selbst die Kategorie „Kultur“ gebraucht wird. Hierbei geht es nicht um die Kontrolle des „richtigen“ Gebrauchs von Kultur, sondern um eine reflexive Haltung, die auch eine Abschätzung der Folgen des pädagogischen Handelns möglich macht4. Reflexive Vorgehensweisen können zwar nicht dominante Differenzschemata abschaffen, aber sie tragen über Inhalte, vor allem aber über Interaktionsformen zur Pluralisierung und Diversifizierung von Selbst- und Fremdverständnissen bei. Wichtig ist hierbei, dass die Frage nach den Bedingungen, unter denen wer mit welchen Wirkungen „Kultur“ benutzt, nicht als normatives Instrument eines kulturkritisch belehrten Professionalitätsbegriffs daherkommt. Es geht hier nicht um ein Beobachtungsvermögen, das dem Gebrauch von „Kultur“ eine falsche, naive oder schwärmerische Verwendungsweise nachweisen und ihn insofern kontrollieren will. Wenn beobachtet wird, wo wer die Kulturkategorie wie einsetzt, dann unterstellt die Beobachtung, dass es in dieser Verwendungssituation aus der Perspektive des Akteurs oder der Akteure sinnvoll ist, „Kultur“ zu verwenden. Die entscheidende Frage lautet mithin: Welchen Sinn macht es für wen, auf die Kulturkategorie zurückzugreifen? Wenn beispielsweise Teilnehmer und Teilnehmerinnen an Fortbildungs- oder Supervisionsangeboten „Information über die andere Kultur“ als notwendig für kompetentes Handeln erachten, schreibt Annita Kalpaka (1998 S. 37), „und diese als Lerninhalt von Fortbildungsmaßnahmen einklagen, kann man anhand der Analyse ihres konkreten Handelns an die Frage heran kommen, was die konkrete Person genau meint, aus welchem Bedürfnis und welcher Interpretation der Situation heraus dies als fehlende Kompetenz definiert wird. In einer allgemeinen Diskussion darüber ist es oft dagegen so, dass solche Forderungen z.B. nach Landeskunde und Kultur der Herkunftsländer als Kulturalisierung entlarvt und somit zwar soziologisch eingeordnet werden können, aber man weiß nicht viel über die Bedeutung für denjenigen, der sich davon eine Erweiterung seiner Kompetenz verspricht.“ Als Konsequenzen aus dieser Perspektive, die den Kulturgebrauch nicht deshalb untersagt, weil er sich sozialwissenschaftlich als „unhaltbar“ erwiesen habe, führt Kalpaka (ebd.) Fragen danach an, welche Antworten Professionelle suchen, wenn sie das Erklärungsmuster „Kultur“ heranziehen, welche Antworten Klienten und Klien4 Etwa: Unter welchen Bedingungen greifen Alltagssubjekte auf das pädagogisch und sozialwissenschaftlich zur Verfügung gestellte Deutungsangebot des „Kulturkonfliktes“ zur Beschreibung von intra- und interpersonellen Phänomenen in interkulturellen Zusammenhängen zurück?
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tinnen, die sich über Kultur definieren, darin suchen könnten und was andere Professionelle tun, wenn sie versuchen, beiden, Professionellen wie Klientinnen, ‚Kultur’ als geeigneten Zugang auszureden. Es geht hier also um ein Verständnis von interkultureller Kompetenz, in dem das Vermögen im Zentrum steht, den jeweiligen Sinn kontextspezifischer Gebrauchsweisen der „Kultur“-Praktik zu erkennen. Verschränkung von Wissen und Nicht-Wissen5 Eine der geläufigen Vorstellungen im Rahmen interkulturellen Handelns geht davon aus, dass dieses Handeln dann gelingen kann, wenn die handelnde Person spezifisches Wissen über das Gegenüber zum Einsatz bringt. Je mehr „wir“ über „die Anderen“ wissen, so eine der Selbstverständlichkeiten interkulturellen Lernens, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit des kooperativen und produktiven Umgangs mit Differenz. Das einschränkende, festlegende und auch gewaltförmige Charakeristikum von Wissen wird jedoch nirgends so deutlich wie im wissensbegründeten Umgang mit „den Anderen“. Die Andersheit der Anderen ist „uns“ in unseren Kategorien befremdlich bekannt. Die Andersheit, die „wir“ kennen, ist Resultat der Anwendung unserer interpretativen und sozialen Zugänge zu Wirklichkeit. Es gibt zwei Umgangsweisen, die als Reaktionen auf das Bekanntseins mit dem Anderen verstanden werden können6: Bewahrung der Andersheit der Anderen und Auflösung der Andersheit der Anderen. Das Wissen um den und die Andere, so könnte hier typisiert formuliert werden, ist eine Praktik der Nicht-Erkennung des Anderen durch das Erkennen. Das wohl prominenteste Verfahren zum „interkulturellen Erkennen“ der Anderen ist der Kulturalismus. Er kann als offenkundiges Indiz der Hilflosigkeit eines bloß wissensbegründeten Handelns verstanden werden, das die eindeutige Anwendbarkeit von Wissen voraussetzt und dem ein mögliches Nicht-Wissen zu einem bedrohenden und Unsicherheiten auslösendem Faktor werden muss. Durch die für die pädagogische Praxis kennzeichnende Undurchschaubarkeit und Widersprüchlichkeit von thematisch werdenden Situationen und durch die Mehrdeutigkeit und Facettiertheit von Anliegen und möglichen Wegen der Bearbeitung sind dem Handlungsmodell der technischen Übersetzbarkeit von Wissen jedoch recht enge Grenzen gesetzt. Da 5 Dieser Abschnitt findet sich in einer ähnlichen Fassung auch bei Mecheril/Miandashti/Plößer/Raithel (2001). 6 Nach Todorov (1985) kennt Europa seit der Entdeckung Amerikas und dem sich mit dieser Entdeckung stellenden Problem des Anderen zwei Modelle des Umgang mit dem Anderen. Das eine ist das Modell der Extinktion, das andere das der Assimilation.
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keine allgemeinen Regeln für die Übersetzung abstrakten Wissens auf lebensweltliche Situationen zur Verfügung stehen, bleibt stets ein Rest, der nicht Wissen ist und nicht Wissen werden kann und dessen Verhältnis zum Wissen unklar ist (Wimmer, 1996: 425). Dieser „Rest“ bezeichnet eine Unsicherheit professionellen Handelns, die nicht überwindbar ist. Sie stellt vielmehr ein Konstitut professionellen Handelns dar – auch und insbesondere in interkulturellen Situationen. Erst die Anerkennung des Restes, die Anerkennung von Nicht-Wissen ermöglicht eine Bezugnahme auf den Anderen, die ihn nicht von vornherein in den Kategorien des Bezugnehmenden darstellt. „Nicht der Anspruch, den Anderen zu verstehen“, schreibt Christoph Wulf (1999: 61), „sondern die Erkenntnis, dass der Andere different und nicht verstehbar ist, muß zum Ausgangspunkt interkultureller Bildung werden.“ Sobald die hermeneutische Unzugänglichkeit des Anderen zum Ausgangspunkt interkultureller Prozesse wird, verringert sich die Gefahr der Vereinnahmung durch das Verstehen; diese Reduktion setzt das professionelle Vermögen voraus, sich auf das eigene Nicht-Wissen zu beziehen. Nicht-Wissen wird damit zum Kontext, in dem verstehensskeptische Prozesse interkultureller Bildung stattfinden können. Allerdings arbeitet der bei Wulf angesprochenen Nicht-Verstehens-Ansatz einer Exotisierung der und des Anderen zu, da dieser Ansatz zweierlei voraussetzt und zirkulär produziert: die Erkennbarkeit des Anderen in seiner Unerkennbarkeit. Um aber diesen zweiwertigen Prozess der professionellen Auseinandersetzung zugänglich zu machen, bedarf es einer Verschränkung von Verstehen und Nicht-Verstehen, einer Verquickung von Wissen und Nicht-Wissen. Erst das Ineinandergreifen von Wissen und Nicht-Wissen ergibt einen geeigneten Ausgangs- und Endpunkt professionellen Handelns unter Bedingungen kultureller Differenz. Von diesem wissens-, und nicht-wissensbegründeten Ort des Handelns aus wird das Handeln als Prozess der (Re-)Produktion von Wirklichkeit durch Wissen problematisiert. Denn der Produktionsprozess bestimmt auch die Verhältnisse zwischen „Wissenden“ und denen, über die im Wissen Auskunft gegeben wird. Dass diese (Re-)Produktion sozialer Verhältnisse als (Re-)Produktion von Machtverhältnissen gedacht werden muss, ist bekannt: „Wissende“ definieren die soziale Wirklichkeit der Betroffenen und erklären diese mit dem „Kulturkonflikt“, der „untergeordneten Rolle der türkischen Frau“ oder „kulturellen Anpassungsschwierigkeiten“. Die Berücksichtigung von NichtWissen fordert zur Reflexion des je spezifischen Verhältnisses von Erkenntnis, Handlung und Macht auf. Welche sozialen Konsequenzen – so kann hier allgemein gefragt werden – gehen mit dem Einsatz von Wissens- und Erkenntnisweisen einher? Nicht-Wissen bedeutet nicht „kein“ Wissen zu haben; es reduziert soziale Praxis keineswegs auf Intuition, indem es epistemische Einsichten
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als Deutungshilfen für die interkulturelle Praxis prinzipiell verwirft. NichtWissen ermöglicht vielmehr jene Art von Wissen, die ein Wissen um die Grenzen des Wissens, seiner Anwendbarkeit und um seine Eingebundenheit in Verhältnisse der Macht und Ungleichheit ist. Wenn festgehalten werden kann, dass Nicht-Wissen offensichtlich das Wissen nicht abschafft, dann stellt sich die Frage, welches Wissen für pädagogisches Handeln unter Bedingungen von kultureller und ethnischer Differenz bedeutsam ist. Wissen, das für eine interkulturelle Praxis bedeutsam ist, kann als Annäherung an die Alltagswelten der Klientel verstanden werden. Der Ausdruck Alltagswelten bezieht sich hier auf die differenzierte und komplexe Einbettung der Betroffenen in unterschiedliche symbolische, soziale, politische und materielle Erfahrungs- und Zugehörigkeitskontexte. Ein Wissen um diese Zusammenhänge, und auch ein „in Erfahrung bringen“ dieser Kontexte, stellt sich als weitaus bedeutsamer für die Deutung von Lebens- und Problemlagen dar, als gleichsam technische Wissenskompetenzen, die sich an den Gebräuchen, der Sprache oder der „anderen Herkunft“ der Klientel orientieren. Unter der Perspektive der Alltagswelt rücken mithin biographische Selbstbeschreibungen, Bildungsgeschichten, Habitusensembles und zivil-rechtliche Status' in den Mittelpunkt. Menschen mit Migrationshintergrund, zum Beispiel, erscheinen unter dieser Perspektive in erster Linie nicht als „die Anderen“, die vor dem Hintergrund eines Wissens um „Andersheit“ zu behandeln sind, sondern vielmehr als Subjekte, deren Subjekt-Status in der professionellen Situation dialogisch zum Thema werden kann. Interkulturelle Professionalität stellt sich als Versuch dar, Wissen zu erarbeiten, das sich in der Annäherung an die Perspektive des Gegenübers konstituiert, ohne im Konstitutionsprozess den Rest, das Nicht-Wissen zu überspringen: Verstehen des Anderen ist ein (koloniales) Phantasma. Freilich kann pädagogische Professionalität nicht auf das beschränkt bleiben, was ich hier Annäherung an alltagsweltliche Perspektiven genannt habe. Professionalität ereignet sich in dem Zugleich von Annäherung an und Distanzierung von den Schemata und Inhalten der Deutungen und Handlungsweisen der Gegenüber. Neben der Annäherung an die Deutungsweisen der Klientel greift pädagogische Professionalität also auch auf sozialwissenschaftlich generierte Wissensbestände zurück. Wenn wir „Interkulturalität“ als Ausdruck verstehen, das Verhältnisse von Differenz und Dominanz zum Ausdruck bringt (vgl. Mecheril 1998), dann ist für interkulturelles Handeln ein Wissen relevant, das über Dominanz-, und Differenzphänomene Auskunft gibt. Dominanzstrukturen sind im Rahmen interkultureller Professionalität auf zwei analytisch unterscheidbaren Ebenen bedeutsam. Zunächst auf der Ebene der Erfahrungsrealität der Klientinnen und zweitens auf der Ebene der professionel-
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len Beziehung. Mit Birgit Rommelspacher (1995) können wir das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Verhältnis zwischen national-kultureller Mehrheit und Minderheiten als eines verstehen, welches von einer Kultur der Dominanz geprägt ist. Dominanzkultur „bedeutet, daß unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie die Bilder, die wir von anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefaßt sind“ (Rommelspacher 1995: 22). Konzepte und Praxen der Über- und Unterordnung sind Kennzeichen des Alltags der Klienten und zugleich Kennzeichen der professionellen Interaktionssituation selbst. Interkulturelle Professionalität gründet nun in einem Wissen um die eigenen – kontextabhängigen – Positionen im Feld der „Kategorien der Über- und Unterordnung“, welches das Vermögen fördert, diese und ihnen komplementäre Positionen in der professionellen Handlungssituation sowie deren Reflexion (in Supervision oder kollegialer Beratung) zu thematisieren. Es geht hier mithin um ein Wissen, das Erfahrung und Habitus der Klienten als in Strukturen der ungleichen Verteilung von Macht und Ressourcen entwickelte Phänomene versteht und zugleich auch die eigene Position und das eigene Handeln als in solchen Strukturen profiliertes und solche Strukturen aktualisierendes begreift. Neben dem Wissen um die von Strukturen der Dominanz geformte Alltagswelt der Klientel stellt ein differenztheoretisches Wissen den zweiten Wissensstrang interkultureller Professionalität dar. So wichtig es ist, Gefahren zu reflektieren, die mit der Verwendung der Kulturkategorie einhergehen, so problematisch ist der gänzliche Verzicht auf „(kulturelle) Differenz“ als begriffliche Bezugsgröße. Dies begründet sich insbesondere dadurch, dass „(kulturelle) Differenzen“ auf zentrale alltagsweltliche Konzepte verweisen, in denen sich Alltagssubjekte wechselseitig identifizieren und beschreiben. Wer beispielsweise „Kultur“ nicht gelten lässt, blendet eine wesentliche Dimension der Selbstthematisierung und des Handelns der Subjekte aus, um die es im Rahmen professioneller sozialer Tätigkeit zunächst gehen sollte und geht: Klientinnen und Klienten. „Kultur“ bezeichnet für Rat- und Informationssuchende, für in Bildungszusammenhänge Geratende vielfach jenes Muster subjektiver Praxis, über die sie sich identifizieren, verorten und zugehörig erleben. Individuen entwickeln ihre Identität in intersubjektiven Zusammenhängen. Vor diesem Hintergrund wird es erforderlich, Individuen im Rahmen je dieser intersubjektiven sozialen Zusammenhänge wahrzunehmen. Allerdings ist hierbei mit Blick auf interkulturelle Zusammenhänge Vorsicht geboten. Denn die bedeutsame Wahrnehmungs- und Achtungsleistung ist in Gefahr, generalisierend zu übersehen, dass Individuen prinzipiell in der Lage sind, sich in ein kritisches Verhältnis zu ihrer kollektiven Zugehörigkeit zu setzen und das Vermögen besitzen, sich von Zugehörigkeiten zu distanzieren (Mecheril, 2000). Die Anerkennung der sozialen Einbindung einzelner kann leicht einer „Kulturalisierung“
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zuarbeiten, die Individuen ganz auf ihre kulturelle oder nationale Herkunft festlegt und beispielsweise übersieht, dass die Eingebundenheit in kulturelle Praxen, die den faktischen oder imaginierten Kontext einer ehemals subjektiv bedeutsamen Zugehörigkeit bezeichnet haben mögen, aktuell nicht mehr die gleiche Gültigkeit besitzen. Weil Subjekte eine kritische Distanz hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zu sozialen Gemeinschaften geltend machen können, ist eine professionelle Perspektive, die sie auf ihre Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft festlegt, unangemessen. In der interkulturellen Arbeit ist somit eine – sich auf der Ebene des Handelns möglicherweise als Orientierungsproblem artikulierende – Spannung zwischen „Anerkennung sozialer Zugehörigkeit“ und „Anerkennung individueller Einzigartigkeit“ strukturell angelegt. Diese Spannung gilt es nun nicht mit einebnenden Konzepten und Wissensformen zu bereinigen. Vielmehr entfaltet sich „Interkulturelle Professionalität“ über die Anerkennung dieser Ambivalenz. Ihre Zurkenntnisnahme fördert die professionelle Auseinandersetzung mit jenem riskanten Erfordernis, kommunikative Strukturen vorzubereiten und zu entwickeln, in denen von Klienten nicht solche Verständnisse und Darstellungsweisen abverlangt werden, die ihre Handlungsfähigkeit als Resultat von Prozessen der Fremdzuschreibung beschränken. Eine zentrale Aufgabe interkultureller Professionalität besteht darin, Bedingungen der Möglichkeiten dessen zu schaffen, dass Klientinnen Selbstverständnis- und Erfahrungsweisen unter Verwendung ihrer je eigenen Kategorien und Zeichen artikulieren und wirksam einbringen, wie auch die Unklarheit und Ambivalenz ihrer Selbstverständnis- und Erfahrungsweisen vor dem Hintergrund des Fehlens entsprechender Zeichen markieren können. „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ ist eine Bezeichnung, in der insgesamt ein Plädoyer für einen Typ pädagogischen Handelns unter Bedingungen kulturell-ethnischer Differenz formuliert ist, der in der Lage ist, den Wunsch nach technologischer Bewältigung der Komplexität und Undurchschaubarkeit von Handlungssituationen einzuklammern. „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ meint ein professionelles Handeln, das auf Beobachtungskompetenz für die von sozialen Akteuren zum Einsatz gebrachten Differenzkategorien gründet und das von einem Ineinandergreifen von Wissen und Nicht-Wissen, von Verstehen und Nicht-Verstehen hervorgebracht wird, ein Ineinandergreifen, in dem die Sensibilität für Verhältnisse der Dominanz und Differenz in einer handlungsvorbereitenden Weise möglich ist. Damit kommt letztlich in der Bezeichnung Kompetenzlosigkeitskompetenz ein bestimmter professioneller Habitus in den Blick, der nicht spezifisch für Handeln unter Bedingungen kultureller und ethnischer Differenz ist, hier aber in seiner Relevanz besonders deutlich wird. Diesen Habitus kennzeichnet ein ausgeprägter Hang zu Reflexivität und Reflexion. Kompetenzlosigkeitskompetente
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Professionalität verfügt nicht nur über differenzierte Möglichkeiten der Analyse sozialer Prozesse, insbesondere solcher, an denen pädagogisch Handelnde beteiligt sind, sondern findet auch einen Gefallen an der Verwendung dieser Möglichkeiten. Ein solcher Habitus ist aber von den Handelnden nicht schlicht einforderbar. Der Begriff der interkulturellen Kompetenz reagiert auf letztlich nur gesamtgesellschaftlich verstehbare Versäumnisse und Weigerungen der letzten Jahrzehnte, sich auf das Thema kulturell-ethnischer Differenz und Pluralität einzulassen. Nun, da ein Mangel auf der Ebene insbesondere professioneller Handlungsfähigkeit festgestellt wird, setzt das Bemühen ein, auf die performativen Effekte des Handelns einzelner Einfluss zu nehmen. Genau dieses Bemühen kommt in der Nachfrage nach interkultureller Kompetenz zum Ausdruck. Man kann dies als eine disziplinierende Einforderung verstehen. Dass diese (schnelle) Disziplinierung aber nur auf der Ebene des Performativen möglich ist, wird an der Technologizität ersichtlich, die die Ansätze interkultureller Kompetenz im pädagogischen Bereich charakterisiert. „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ ist in diesem anwendungsbezogenen, instrumentellen Sinne nicht erwerbbar und damit auch nicht individuell einforderbar. Als eine Art habituelle Disposition stellt „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ vielmehr ein Phänomen dar, das in reflektierten, Zeit beanspruchenden Prozessen gebildet wird und sich bildet. Dem hier angesprochenen habituellen Vermögen korrespondieren also Bildungsprozesse. „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ ist nicht einforderbar, aber ausbildbar. Das Nachdenken über pädagogisches Handeln unter Bedingungen von Differenz sollte sich deshalb erstens weniger auf Performanzfragen und eher auf Fragen der pädagogischen Ausbildung mit Bezug auf Interkulturalität (Inhalte, Orte, Methoden) konzentrieren (vgl. auch Lanfranchi in diesem Band). Zweitens muss stärker die Frage der Beschaffenheit der institutionellen Orte, an denen pädagogisches Handeln stattfindet, zum Thema werden. Die Debatte um interkulturelle Kompetenz neigt dazu, diese Frage zu überspringen. Eine in Ausbildungen nahegelegte Kompetenzlosigkeitskompetenz stellt nur dann eine fruchtbare Grundlage non-technologischen und reflexiven pädagogischen Handelns dar, wenn dieses im und am Ort des Handelns einen Resonanzraum findet. Reflexives Handeln bedarf reflexiver Orte. Diese Ermöglichung von Orten, die in bezug auf Interkulturalität reflexiv und selbstreflexiv sind, scheint mir insofern eine weit wichtigere Aufgabe zu sein, als die Intensivierung „interkultureller Kompetenz“, welche immer gefährdet ist, Technologiemodelle zu favorisieren und vornehmlich individuelles Handeln zu fokussieren. Kompetenzlosigkeitskompetenz plädiert damit implizit für die Entwicklung reflexiver Orte in universitären und außeruniversitären Bildungskontexten, sowie in Kontexten pädagogischen Handelns. An diesem Punkt kommt der vorliegende Text an sein Ende.
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Interkulturelle Kommunikation, mehrdimensional betrachtet, mit Konsequenzen für das Verständnis von interkultureller Kompetenz Interkulturelle Kommunikation
Georg Auernheimer
Einleitung Versucht man sich einen Überblick über die Diskussion zum Thema interkulturelle Kompetenz zu verschaffen, was inzwischen nicht mehr leicht fällt, so ist eine Tendenz zur Kulturalisierung unverkennbar. Außerdem gewinnt man den Eindruck, dass eine technologische Denkweise vorherrscht, dass Kommunikationsprobleme nach dem Muster instrumenteller Rationalität bewältigt werden sollen. – Die Wahl des Begriffs „Training“ ließe sich in diesem Sinn interpretieren. – Damit ist ein kognitivistischer Zug verbunden, nämlich das Vertrauen in die Macht des Wissens, hier des Wissens über fremde Kulturen. Ein solches Verständnis von interkultureller Kompetenz ist mit pädagogischer Professionalität unverträglich (vgl. die Kritik Mecherils in diesem Band). Wenn interkulturelle Kommunikation zum Thema gemacht wird, liegt es nahe, die speziellen Anforderungen an diese Kommunikation in der Bewältigung kulturell bedingter Differenzen zu sehen. Die erhöhte Störanfälligkeit, die man allgemein annimmt, wird auf die Differenz kultureller Muster zurückgeführt. Weil uns diese stark habitualisierten Muster völlig selbstverständlich geworden sind, deshalb, so die weitere Annahme, kommt es bei interkulturellen Kontakten häufig zu divergenten Erwartungen, die dann die Kommunikation mehr oder weniger stark beeinträchtigen können. Dass Störungen der Kommunikation durch divergente Erwartungen der Kommunikationsteilnehmer bedingt sind, dass sich, mit Habermas (1995) gesprochen, deren Situationsdefinitionen „hinreichend überlappen“ müssen, kann als Prämisse Allgemeingültigkeit beanspruchen. Triandis (1975), ein prominenter Vertreter der Cross-Cultural-Psychology in den USA, spricht von „isomorphic attributions“ und macht zu Recht „different perceptions of enviroment“ für Störungen der Kommunikation verantwortlich. Die Beschränkung seines Ansatzes liegt in der Fokussierung auf kulturelle Aspekte wie Rollenkonzepte, Normen und Werte.
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Die Divergenz der Erwartungen kann aber vielfältig bedingt sein und ist, so meine Annahme, auch bei interkulturellen Kontakten nicht nur, ja oft nur sekundär durch differente Kulturmuster bedingt. Zunächst ist schon auf Anhieb plausibel, dass falsche Erwartungen oft auch auf stereotype Vorstellungen von den „fremden“ Kommunikationsteilnehmern zurückzuführen sind, was auch von der Cross-Cultural-Psychology und der Austauschforschung, ihrer deutschen Variante, berücksichtigt wird. In der davon beeinflussten Praxis interkultureller Trainings gehört der Abbau von Vorurteilen zu den erklärten Zielen. Aber spielen bei der Kommunikation zwischen einem Deutschen und einem Ausländer oder zwischen einem Europäer und einem Afrikaner nicht noch andere Faktoren eine Rolle? Halten wir als Ausgangspunkt unserer Überlegungen fest: „Jeder Akt der Verständigung lässt sich als Teil eines kooperativen Deutungsvorgangs begreifen, der auf intersubjektiv anerkannte Situationsdefinitionen abzielt“ (Habermas 1995 I:107). Wodurch können „intersubjektiv anerkannte Situationsdefinitionen“ also verhindert oder behindert werden? Bei dieser Frage sind wir gut beraten, zunächst einmal unabhängig von interkulturellen Konstellationen verschiedene Theorieansätze und Wissenschaftsdisziplinen heranzuziehen, die allgemein kommunikationstheoretisch relevant sind. Die Soziolinguistik bietet uns seit John Gumperz die Kategorie des „Settings“ oder auch des „frames“. Denn der jeweilige Rahmen oder Kontext beeinflusst die Erwartungen der Kommunikationsteilnehmer, ihre Interpretation der Äußerungen des Gegenübers und die Wahl der kommunikativen Mittel (Sprachstil, Anredeformen etc.). Auch Erving Goffmans Konzept der „Interaktionsordnung“ ist aufschlussreich. Der Soziologe Pierre Bourdieu, klärt uns über Machtbeziehungen im „sozialen Raum“ auf, wo nach ihm die Verfügbarkeit „sozialen“ und „kulturellen Kapitals“, nicht nur „materiellen Kapitals“ über die jeweilige Positionierung entscheidet, nicht zu vergessen das „symbolische Kapital“ (Titel etc.), das sich den anderen Kapitalsorten verdankt. Die seit Gregory Bateson und Paul Watzlawick für die Kommunikationspsychologie leitende Unterscheidung zwischen der „Inhaltsebene“ bzw. dem „Inhaltsaspekt“ und der „Beziehungsebene“ bzw. dem „Beziehungsaspekt“ der Kommunikation ist von Interesse, wenn man sich die „critical incidents“ oder Fallbeispiele von interkulturellen Konflikten in der Fachliteratur ansieht. Schließlich sollte die Intergroup-Relations-Theory der Sozialpsychologen nicht vernachlässigt werden; denn bei interkulturellen Kontakten haben wir es nach allgemeiner Ansicht mit Phänomenen von Fremdheit zu tun. Ich werde im Folgenden zunächst einen kurzen Rückblick auf die Forschungsgeschichte werfen, weil dadurch deutlich wird, welche Erkennntisinteressen bei der Frage nach interkultureller Kompetenz lange Zeit leitend gewesen sind, was auch den blinden Fleck dabei verständlich macht. Dann werde ich
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einige kommunikationstheoretische Thesen unter Berücksichtigung interkultureller Kontaktsituationen formulieren, auf deren Basis sich drittens ein heuristisches Modell zur Interpretation solcher Situationen konstruieren lässt. Aus diesem mehrdimensionalen Modell ergeben sich schließlich Konsequenzen für ein nicht reduktionistisches Verständnis von interkultureller Kompetenz. Ein solches Verständnis ist vor allem für pädagogische oder psychosoziale Berufe maßgeblich.
Rückblick auf die Forschungsgeschichte In den USA hat man das Thema bereits in den 60er Jahren aufgegriffen. Der Bedarf ergab sich aus den „Oversea“-Aktivitäten der Weltmacht, bei der Wirtschaft, bei Peace-Corps-Einsätzen – und man darf vermuten auch beim Militär. Ruben leitet einen Aufsatz 1989 mit der Bemerkung ein: „Much of the impetus for the study of cross-cultural communication competence arose out of efforts to cope with practical problems encountered by individuals living and working overseas, and by their institutional sponsors“ (p.229). Die zentralen Motive beleuchtet folgende Passage: „The problems were apparent in the business community, where measurement came in form of ‚project failures‘, ‚botched negotiations‘, ‚early return of workers‘ and ‚lost time and money‘“ (ibid.). Er verweist dabei auf Publikationen aus den 60er Jahren. Heute wird unterschieden zwischen Erfordernissen einer „cross-cultural adaptation“ im Hinblick auf Auslandsaktivitäten und einer „intercultural effectiveness“ im Hinblick auf die innergesellschaftliche Multikulturalität. Schon in den 70er Jahren hatte sich zu dem Themenkomplex ein eigener Forschungszweig etabliert, an dem verschiedene Disziplinen, vor allem die Psychologie und die Sprachwissenschaft partizipierten. Es gibt eigene Zeitschriften, Jahrbücher, Handbücher und Lehrwerke über interkulturelle Kompetenz. Darunter gelten einige als Standardwerke (z.B. Brislin & Yoshida 1994, Cushner & Brislin 1996).7 Die Forschungsfragen richteten sich lange Zeit auf die individuellen Voraussetzungen, auf den Stellenwert von Erfahrungen, Kenntnissen, Einstellungen – in der Forschungsterminologie: auf die möglichen psychischen Prädiktoren für erfolgreiche interkulturelle Kommunikation. Also welche Eigenschaften erhöhen die Erfolgswahrscheinlichkeit? Fraglich war dabei auch die Gewichtung von allgemeinen Einstellungen, Fähigkeiten und Haltungen, welcher Stellenwert einerseits dem Wissen über spezielle Kulturen zukommt, andererseits zum Beispiel der Art des Umgangs mit Unsicherheit, einer unspezifischen Persönlichkeitseigenschaft. So fragt Ruben: „Is Cross-Cultural Competence a matter of 7 Über den Forschungsstand kann man sich zum Teil in Aufsätzen einen Überblick verschaffen (z.B. Dinges/Baldwin 1996; Gallois et al. 1995).
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attitudes, knowledge or behavior?“ (1989, p.204). Einige Autoren warfen die Frage nach der Beziehung zwischen allgemeinen „communication skills“ und interkultureller Kompetenz auf. Zum Beispiel sieht Hammer (1989) die Frage der Anwendbarkeit allgemeiner Fähigkeiten und Haltungen wie Dezentrierung, Empathie, Offenheit – er offeriert lange Listen solcher „skills“ (p.252) – auf interkulturelle Kontexte ungeklärt. In der Tat kann man fragen, ob allgemeine kommunikative Fähigkeiten, wenn sie genug entwickelt sind, nicht auch für interkulturelle Kontexte ausreichen. Schon vorher hatte sich die Forschung von der Frage nach Persönlichkeitsvariablen wegbewegt und stärker der Frage der Kontextbedingungen zugewandt, zum Beispiel der Frage der Abhängigkeit entsprechender Anforderungen vom jeweiligen Tätigkeitsbereich. Die Einsicht in die Relevanz des Kontexts, auch des weiteren gesellschaftlichen Kontexts, verhinderte dennoch nicht die Tendenz zum Kulturalismus. Aufschlussreich ist ein Text von Triandis (1975), dem Schöpfer eines weit verbreiteten Trainingsprogramms, des sog. Cultur Assimilator. Triandis erkennt dort eingangs an, dass unterschiedliche Interessen und Handlungsziele, auch die ungleiche Verteilung von Ressourcen oder gar Ausbeutung („a position to exploit the other economically“) interpersonelle Beziehungen beeinträchtigen können. Er ist sich auch darüber im Klaren, dass diese „external factors“, wie er sie nennt, die Wahrnehmung beeinflussen. Er erinnert in diesem Zusammenhang an die Kolonialgeschichte, meint aber, der Psychologe könne und müsse sich auf die „internal factors“ beschränken. Das Kommunikationsproblem definiert er daher restriktiv, indem er die „different perceptions of enviroment“ und die dadurch bedingten Erwartungsdivergenzen durch Kulturdifferenz erklärt. Mit der Vermittlung von Kulturwissen und der Erhöhung der „kognitiven Komplexität“ glaubt Triandis das Ziel der „isomorphic attributions“ erreichen zu können. Das dazu entwickelte Programm ist der Cultur Assimilator. Mit diesem Programm sollen nicht einfach Kenntnisse eingetrichtert werden. Der Lerner bekommt keinen Lehrbuchtext vorgelegt, sondern wird mit – schriftlich skizzierten – heiklen Situationen, sog. „critical incidents“, konfrontiert, die man bei erfahrenen Kulturwechslern gesammelt hat. Die Situationsschilderung schließt mit 4 bis 5 alternativen Deutungen oder Handlungsmöglichkeiten, unter denen der Lerner nach dem Multiple-Choice-Verfahren wählen muss. Die Gefahr der verstärkten Stereotypenbildung und einer kontraproduktiven Sicherheit des Verstehens liegt bei diesem Programm auf der Hand und ist verschiedentlich kritisiert worden. Die produktive Funktion von Irritationen im Kommunikationsprozess findet keine Berücksichtigung.8 8
Irritationen werden im Lernprogramm lediglich genutzt, um „falsche“ Vorstellungen (über mexikanische Kultur zum Beispiel) durch „richtige“ zu ersetzen.
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In Abgrenzung von einem „culture specific assimilator“, der jeweils auf den Kontakt mit einer bestimmten Kultur vorbereiten soll, hat Brislin Mitte der 80er Jahre mit seinen Mitarbeitern einen „culture general assimilator“ entwickelt. Der eine Ausgangspunkt zu dieser Entwicklung war die Überlegung, dass die Anforderungsstruktur in kulturellen Überschneidungssituationen viele Gemeinsamkeiten aufweist. Brislin (1986) betont the „similar personal experiences“ (vgl. Cushner 1994, p.116). Der andere Ausgangspunkt waren neue Bedarfslagen oder Adressatengruppen, die – anders als Expatriats – mit verschieden Kulturen konfrontiert werden. Brislin nennt als Zielgruppen Studienberater, Sozialarbeiter, Lehrer, darunter auch Hochschullehrer, Studierende verschiedener Fachrichtungen, Ehrenamtliche beim Peace Corps. Da man Gemeinsamkeiten für interkulturelle Situationen generell unterstellte, sah man sich in der Lage, Materialien zu entwickeln, die Erfahrungen, Gefühle, Gedanken ansprechen, die für „crosscultural interactions“ generell typisch sind. Hier ist auch hervorhebenswert, dass neben den „knowledge areas“ die „emotional experiences“ bedeutsam werden („anxiety, belonging, ambiguity, confrontation with one’s prejudices“). Es soll an der Stelle außerdem angemerkt werden, dass in der US-Debatte (inzwischen) im Sinne des Diversity-Ansatzes das Verständnis von Kultur und Kulturdifferenz sehr weit ist. Cushner, ein Kooperationspartner von Brislin nennt in einem Text „the difference of gender, age, class, and ability lines“ (Cushner 1994). Das Unterscheidungskriterium sind die Muster der Sozialisation (p.116). Als relevant für interkulturelle Kommunikation nennt Cushner im Übrigen folgende Aspekte: (Ich referiere ihn unvollständig.) Arbeitsstile, Lernstile, Wertorientierungen, Rollenmuster, die Art der Kategorisierung der Umwelt, Grenzziehungen zwischen In- und Out-Group (p.117). Es gibt auch Stimmen, die das Konzept „culture“ überhaupt problematisieren und unter Verweis auf die je individuelle Bedeutung von Kultur einen „Cultural Identity Approach“ befürworten (z. B. Collier 1989). Von besonderem Interesse ist das Konzept einer Forschungsgruppe um Cynthia Gallois (Gallois et al. 1995), weil es die Beschränkung auf kulturelle Aspekte überwindet und den Rahmen der interkulturellen Kommunikation mehrdimensional bestimmt, unter anderem die Machtdimension berücksichtigt (Genaueres weiter unten). Brislin, der den Vorhersagewert von Persönlichkeitseigenschaften gegenüber situativen Variablen gering veranschlagt, nennt 1981 in einer Liste von Faktoren, die für eine gelingende Kommunikation relevant seien, unter anderem den Status des Gegenübers und Machtverhältnisse. Diese erweiterte Sicht auf die Kontextbedingungen veranlasst aber die meisten Forscher nicht, wie wir schon bei Triandis gesehen haben, zur systematischen Berücksichtigung von Machtasymmetrien beispielsweise.
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Von hier noch ein Blick auf pädagogische Praxisfelder: Der schon genannte Cushner, der sich mit Lehrerfortbildung beschäftigt, verspricht sich vor allem von dem Cultur-General-Assimilator eine Erweiterung der interkulturellen Kompetenz von Lehrinnen und Lehrern, wobei die von ihm an critical incidents angefügten Multiple-Choice-Aufgaben häufig zur Selbstreflexion über eigenkulturelle Selbstverständlichkeiten oder institutionelle Ordnungsmuster anregen sollen. Er verweist auch auf die notwendige Schulinnovation und damit auf den institutionellen Rahmen. Auch soziale Ungleichheit wird in den herangezogenen „incidents“ angesprochen. Es ist wohl kein Zufall, dass die Machtdimension innerhalb der Sozialarbeit in den Fokus gerückt ist. Als Beispiel sei ein Beitrag von Elaine Pinderhughes (1998) vorgestellt. Schon der Titel (der deutschen Übersetzung) heißt „Die Bedeutung von ‚Rasse‘, Ethnizität und Macht für die klinische Arbeit“. Pinderhughes verlangt sehr wohl von Fachkräften, die „mit Menschen anderer kultureller und sozialer Herkunft“ klinisch arbeiten „Wissen über spezifische Werte, Überzeugungen und kulturelle Praktiken von Klienten“ sowie Respekt davor. Auch das Bewusstsein des eigenen kulturellen Hintergrunds hält sie für eine wichtige Voraussetzung. Der Machtdimension, auch der Beziehung zwischen Kultur und Macht, widmet sie aber den größten Teil der Ausführungen. Differenz und Macht sind die zwei analytischen Kategorien, die sie benutzt. Wichtig erscheint ihr, dass Sozialarbeiter/innen die „Reaktionen auf eigene Macht“, aber auch die „Reaktionen auf Machtlosigkeit“ bewusst gemacht werden. Da sie die helfende Beziehung immer durch die Machtdynamik gefährdet sieht, befürwortet sie gemeinwesenorientierte Empowerment-Strategien. Im deutschsprachigen Raum hat die Diskussion über interkulturelle Kompetenz erst mit großer Zeitverzögerung eingesetzt. In den meisten Texten zum Thema wurden denn auch zuerst einmal, oft auch ausschließlich amerikanische Konzepte referiert (vgl. z.B. Kinast 1998). Wenn man die Literatur durchforstet, stößt man auf mehrere Diskussionsstränge: die psychologische Austauschforschung (Thomas 1996), die Sprachwissenschaft und Fremdsprachendidaktik, die das Thema auch für sich entdeckt hat, Beiträge zum interkulturellen Management und die Erziehungswissenschaft, wobei die Sozialarbeit und Sozialpädagogik zweifellos eine Vorreiterrolle einnehmen.9 Den Anstoß für die pädagogische Diskussion hat meines Wissens das 1994 erschienene Buch von Hinz-Rommel „Interkulturelle Kompetenz“ mit dem programmatischen Untertitel „Ein neues Anforderungsprofil für die soziale Arbeit“ gegeben. Ich vermute, dass mit diesem Titel der Begriff interkulturelle Kompe9 Einen wichtigen Beitrag zur Rezeption der US-amerikanischen Diskussion verdanken wir Leenen/ Grosch (1998), die Trainingsprogramme (nicht in Form von Lernprogrammen) für verschiedene Adressatengruppen entworfen haben.
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tenz zum ersten Mal in der Pädagogik aufgetaucht ist. Hinz-Rommel, der in Ermangelung anderer Gewährsleute auf Konzepte aus den USA zurückgreift, wobei er sich auf ein, zwei kritische Anmerkungen beschränkt, stellt in Übereinstimmung mit seinen Gewährsleuten den Umgang mit kultureller Differenz in den Brennpunkt. Er leistet insofern der Kulturalisierung Vorschub, obwohl er die Forderung nach interkultureller Kompetenz mit der Forderung nach einem institutionellen Umbau und einer anderen Politik der Träger verbindet. Die in seinen Publikationen zur interkulturellen Öffnung sozialer Dienste enthaltenen Forderungen reflektieren zweifellos Machtverhältnisse, nämlich die Marginalisierung der Immigranten. Jedoch – so unverzichtbar die institutionelle Reform ist, die sich auch auf die Wahrnehmungsschemata und das Verhalten der Mitarbeiter/innen auswirken dürfte – so wird bei Hinz-Rommel doch die Relevanz der Machtasymmetrien innerhalb der Beziehung der Fachkräfte zu den Klienten nicht thematisiert.
Fünf Thesen Mit dem Blick auf die Theorien über Kommunikation und Interaktion generell, aber auch auf die Cross-Cultural-Psychology im Besonderen lassen sich einige grundlegende Thesen formulieren: 1. Kommunikationsstörungen entstehen, nicht nur bei interkultureller Kommunikation, durch divergente Erwartungen und die dadurch bedingte Enttäuschung von Erwartungen. Die Erwartungsdivergenz kann kulturell bedingt sein. Gumperz (1975) verweist auf die Relevanz des „Hintergrundwissens“ über Kultur und Sozialstruktur, weil sich damit erst die Bedeutung von Äußerungen und Handlungen erschließt. Schon bei Begrüßungsritualen kann es zu beträchtlichen Irritationen kommen. Zu einem öffentlichen Eklat kam es zum Beispiel, als der ehemalige Ministerpräsident Italiens bei einem Staatsbesuch die Frau des türkischen Premiers, eine Muslimin der strengen Observanz, mit einem Händedruck begrüßen wollte, sie ihm aber die Hand verweigerte. Ähnliche Situationen im Kontakt mit Muslimen werden nicht selten aus der pädagogischen, psychosozialen und ärztlichen Praxis berichtet.10 Falsche Erwartungen und damit Fehlverhalten können aber auch durch stereotype Vorstellungen von den anderen be-
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Ein anderes Beispiel: Der Arzt, dem der türkische Patient, auf die Frage nach seinen Beschwerden, sagt: „Meine Leber fällt“ – nach Wielant Machleit, Prof. für Sozialpsychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover bei Patienten türkischer Herkunft nicht ungewöhnlich (Freitag Nr. 46, Jg. 2007) – wird das nicht einordnen können, es sei denn, er hat sich über fremde Krankheitsvorstellungen informiert, und wird vielleicht mit seiner Reaktion die Erwartung des Patienten enttäuschen.
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dingt sein.11 Und schließlich können Abhängigkeitsverhältnisse befremdliche Verhaltensweisen, zum Beispiel Unterwürfigkeit, herausfordern. So beklagte sich ein Verwaltungsangestellter über die „schleimige“ Art eines ausländischen Klienten (Fallsammlung M. Heidari). 2. Die Erwartungen, Deutungen und die Wahl der kommunikativen Mittel (Sprachstil, Sprachvarietät, Anredeform etc.) sind durch den jeweiligen Rahmen maßgeblich bestimmt. Dieser Rahmen beschränkt sich nicht auf die unmittelbare institutionelle Rahmung (z. B. Kneipengespräch, small talk zwischen Nachbarn versus Vorsprechen bei einer Behörde, Arztbesuch). Die jeweilige Organisationskultur (z. B. kooperatives Klima, flache Hierarchien oder starke Weisungsgebundenheit von oben) hat in der Regel Einfluss auf die Kommunikation. Und sogar die gesamtgesellschaftliche Situation wird, zumindest wenn wir an die Kommunikation zwischen Inländern und Ausländern denken, die Kommunikation überschatten. Murray und Sondhi (1987) unterscheiden drei Ebenen des „context of intercultural encounters“: a) den „immediate social and political context“, b) „culture and biographies“ und c) broader structural issues“. Zu denken ist hier im Blick auf interkulturelle Kontakte an das jeweilige nationale Migrationsregime, zum Beispiel das Zuwanderungsrecht, an die jeweiligen „Zugehörigkeitsverhältnisse“ (Mecheril 2003), an die Beziehungen zwischen dem Westen und dem “Rest” (Hall 1994), auch an wirtschaftliche Krisensituationen oder an Diskursereignisse wie den 11. September 2001. Der Rahmen bildet eine Vorgabe, kann allerdings von den Kommunikationsteilnehmern in Grenzen mitgestaltet werden. Das „Setting“ in der Definition von Gumperz bringt Zwänge mit sich, aber auch Möglichkeiten der Modifikation (1975:49). So produziert die Wahl der Sprache eine soziale Situation (1975:62f.). Man stelle sich zum Beispiel vor, dass ein Behördenvertreter Migranten in gebrochenem Deutsch anspricht. Das diskursanalytische Modell von Deborah Schiffrin (1987) basiert auf der Annahme, dass der Rahmen nicht fest ist. Folgerichtig muss untersucht werden, wie Beziehungsstrukturen bestätigt, hergestellt oder ausgehandelt werden. Das heißt, Teilnehmer können die Rahmung, das „framing“ beeinflussen. Der Vergleich mit sozialen Rollen drängt sich hier auf, wo ja auch neben der bloßen Rollenübernahme die Rollengestaltung möglich ist, wobei zweifellos Machtbeziehungen zu beachten sind. Das gilt ebenso für die Mitwirkung bei der Rahmung eines Gesprächs durch „Kontextualisierungshinweise“ (Gumperz 1975) seitens der Kommunikationspartner. Für die jeweils schwächere Seite sind „kontextuelle Zwänge“ (ebd.) weniger leicht außer Kraft zu setzen. Der Klient, der ungeachtet seiner Sprachkompetenz in „GastarbeiterDeutsch“ angeredet oder gar geduzt wird, wird sich nicht ohne weiteres dagegen 11
Ein Beispiel wäre die Lehrerin, die meint, eine deutsche Sinti-Familie über die Schulpflicht aufklären zu müssen, ohne dass ein Anlass dazu gegeben worden ist.
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verwahren. Oder der Patient, dessen Namen der Arzt falsch ausgesprochen hat, wird sich schwer tun, den Arzt zu korrigieren. Die Wahl der Strategien unterliegt nach Gumperz bei jeder Kommunikation sozialen Beschränkungen. Aber für die jeweils Unterlegenen ist sie weitaus begrenzter. Sie können die „Beziehungsdefinition“ (Schulz von Thun 1992) durch den Überlegenen kaum korrigieren oder aushandeln. 3. Interkulturelle Kommunikationssituationen sind dadurch zu definieren, dass die Interaktanten sich gegenseitig als Mitglied einer Out-Group wahrnehmen. Damit kommen mehr oder weniger stereotype oder sogar mit Vorurteilen behaftete Fremdbilder mit ins Spiel. Die Fremdheitserwartungen schützen einerseits davor, die Äußerungen des anderen sogleich in das eigene Interpretationsschema einzufügen und damit eventuell zu missdeuten, bewahren also vor mancher Irritation. Andererseits wird den Interaktanten nahe gelegt, alle Aktionen und Reaktionen durch die andere Kultur zu erklären. Kultur wird zur „Differenzmarkierung“ benutzt (Mecheril 2004). Sofern die Gruppen, denen sich die Interaktanten gegenseitig zuordnen, einen ungleichen Status haben, wird dies die Erwartungen, Verhaltensweisen und Fremddeutungen beider Seiten besonders stark beeinflussen. Es erscheint wichtig, interkulturelle Kommunikationssituationen als einen Fall von Intergruppenbeziehungen zu definieren; denn nicht alle Kontakte oder Beziehungen zwischen Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund stellen eine Kommunikationssituation mit den Störungsquellen dar, wie sie für eine interkulturelle Kommunikation angenommen werden können. Im Zustand der Verliebtheit beispielsweise werden kulturelle Differenzen zumindest anfangs belanglos. Ebenso treten sie vermutlich bei der Arbeit an einer gemeinsamen Aufgabe zumindest zeitweise in den Hintergrund. Auch institutionelle Rollen wie die Schülerrolle dürften dazu führen, dass die gegenseitige Wahrnehmung als Fremdgruppenmitglied temporär zum Beispiel von der gemeinsamen Schülerrolle überblendet wird. Gallois u. a., eine US-amerikanische Forschergruppe, formulieren elf Thesen (propositions) über die Einflüsse verschiedener Variablen auf die Out-Group-Orientierung. Ob die Beziehung überhaupt als Intergruppenbeziehung oder aber als interpersonelle Beziehung wahrgenommen werde, hänge unter anderem von dem sozialstrukturellen Kontext, aber auch von der Geschichte der Gruppenbeziehungen ab (1995). 4. Störungen der interkulturellen Kommunikation betreffen primär und entscheidend die Beziehungsebene. Wir brauchen nur auf die Beispiele mit der Verfehlung von Begrüßungsformen zurückzugreifen, dann wird sofort deutlich, dass sich hier ein Kommunikationspartner düpiert oder nicht ernst genommen fühlt. Fast alle szenischen Schilderungen, die man vor allem in der umfangreichen englischsprachigen Literatur über cross cultural interactions findet, machen
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deutlich, dass jeweils die Beziehung zwischen den Interagierenden beeinträchtigt wird. Sie illustrieren, wie, dort meist durch mangelhafte Kenntnis der Fremdkultur bedingt, die Interaktanten „ins Fettnäpfchen treten“ oder „Porzellan zerschlagen“. Der andere „fühlt sich auf den Arm genommen“ oder „auf den Schlips getreten“. Differenzen auf der Inhaltsebene sind weniger folgenreich; denn Missverständnisse in der Sache lassen sich in der Regel klären, sofern nicht Sprachschwierigkeiten dabei behindern. Sachliche Differenzen tangieren auch nicht die Person. Divergente Erwartungen, die die Beziehung betreffen, sind schließlich deshalb problematischer, weil sie meist unbewusst bzw. vorbewusst und nicht thematisierbar sind, da für jeden seine Erwartung als „normal“ gilt. Oft noch gravierender, als wenn zum Beispiel Erwartungen bezüglich der Höflichkeitsrituale, bezüglich der Zeichen von Respekt oder dergleichen nicht erfüllt werden, sind Fremdbilder, die dem Selbstbild des anderen widersprechen. Dazu gehört die Infragestellung der Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft, die sehr verletzend sein kann, zumal Minderheitenangehörige und besonders Migranten ständig damit konfrontiert werden (Mecheril 2003). Als ärgerlich empfinden Menschen mit Migrationshintergrund zum Beispiel Fragen wie „Woher kommen Sie denn?“ oder „Wann kehren Sie zurück?“ Empört reagierte zum Beispiel der verstorbene Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignaz Bubis, als ein Abgeordneter in einer Podiumsdiskussion durch eine Frage zu erkennen gab, dass er in ihm nicht den deutschen, sondern den israelischen Staatsbürger sah. Die Bedeutsamkeit der Beziehungs- bzw. der Selbstdarstellungsseite (Schulz von Thun 1992) bei interkulturellen Begegnungen kann man daran ablesen, dass die wissenschaftliche Arbeit von Ting-Toomy, einer namhaften Vertreterin der Cross-Cultural-Psychology, um das „face-work“ in interkulturellen Konstellationen kreist (Ting-Toomy/ Oetzel 2001). Das heißt, im Fokus ihrer Forschung steht die Frage nach den von Kultur zu Kultur unterschiedlichen Strategien, sein Gesicht zu wahren und nach den Schwierigkeiten für Kulturfremde, sich ein angemessenes Image zu sichern.12 5. Irritationen und Kommunikationsstörungen ergeben sich vor allem in der Einwanderungsgesellschaft, aber auch generell im Zuge der Gobalisierung, weniger durch die Differenz zwischen „naturwüchsigen“, ethnologisch beschreibbaren Kulturen als vielmehr durch die Selbstdefinitionen oder Identitätskonstrukte der Beteiligten (vgl. Collier 1998). Beispiele wären die Migrantin türkischer oder marokkanischer Herkunft, die sofort als Muslimin angesprochen wird, obwohl sie ein sehr distanziertes Verhältnis zum Islam hat, oder der Vietnamese, der 12
Ting-Toomy verweist auf eigene Erfahrungen als Immigrantin asiatischer Herkunft (siehe http://commfaculty.fullerton.edu/stingtoomy/ und www.expressnews.ualberta.ca/article.cfm?id=5840 (12.01.08).
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überhaupt kein Verhältnis mehr zur vietnamesischen Kultur hat, und trotzdem stets damit identifiziert wird. Umgekehrt könnte ein längst assimilierter Immigrant, der zum Beispiel seine Italienitià pflegt oder sich nostalgisch daran klammert, verärgert sein, wenn die Gegenseite seine selbst gewählte Ethnizität nicht ernst genug nimmt. Dasselbe gilt für Konvertiten zum Islam, Judentum oder Buddhismus. Kultur kommt hier als „identitätsstiftende Ressource“ ins Spiel (Fechler 2003, 107). Mit Stuart Hall ist auch zu denken an „die globale Vermarktung von Stilen… global vernetzte Medienbilder und Kommunikationssysteme“, wodurch Identitäten „frei flottierend“ erscheinen (1994: 212) und hybrid werden. Hybride Identitäten, also Identitäten, für deren Entwurf zwei und mehr kulturelle Bezugssysteme bedeutsam sind, machen „interkulturelle“ Kommunikation noch komplexer. Allerdings mag hier die Gefahr, durch Unwissen Verhaltensmuster oder normative Orientierungen zu verfehlen, also umgangssprachlich formuliert, ins Fettnäpfchen zu treten, insofern gering sein, als das Gegenüber aufgrund seiner transkulturellen Wissensbasis meist selbst falsche Erwartungen korrigieren kann.
Ein heuristisches Modell Gestützt auf die vorausgegangenen Grundsatzüberlegungen habe ich ein heuristisches Modell zur Interpretation interkultureller Begegnungen entworfen. Dieses mehrdimensionale Modell oder Schema dient zur Identifikation möglicher Störfaktoren oder –variablen in einem konkreten Fall. Es sollte nicht missverstanden werden als die Abbildung eines ursächlichen Zusammenhangs, der jede als interkulturell definierte Kommunikation beeinträchtigt. Ich gehe davon aus, dass bei der Interpretation von interkulturellen Kontakten vier Dimensionen zu berücksichtigen sind:
Machtasymmetrien, Kollektiverfahrungen, Fremdbilder und differente Kulturmuster oder Scripts.
Selbstverständlich sind die individuellen Erfahrungen und Biographien der Kommunikationsteilnehmer/innen ebenfalls von Interesse, weil sie – wie bei jeder Kommunikation – auf die Erwartungen, die Wahrnehmung des Gegenübers, also auf die Definition der Situation, und dementsprechend auf die Deutungen Einfluss haben. Der Einfluss der Kollektiverfahrungen aber ist spezifisch für Kommunikationssituationen, die wir dadurch als interkulurelle definiert haben, dass
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die Gesprächspartner sich gegenseitig als Mitglied einer Out-Group wahrnehmen. Die kollektiven Erfahrungen können geschichtlich bedingt sein oder, wie bei Migranten mit ausländischem Pass, aus dem gegenwärtigen Gruppenschicksal herrühren.
Bei der Interpretation richtet sich der Blick zunächst auf diejenigen Machtasymmetrien, die sich unmittelbar aus der Situation ergeben, zum Beispiel durch die unterschiedliche Sprachmächtigkeit der Interaktanten. Aber auf die gegenseitige Wahrnehmung und das Verhalten wirken auch institutionelle Strukturen, allgemeine gesellschaftliche Verhältnisse und politische Situationen ein. Die jeweilige Institution gibt Rollen vor. Die gesellschaftlichen Machtasymmetrien bedingen vielfach kollektive Erfahrungen. Der Minderheitenstatus zum Beispiel ist nicht nur demographisch durch die zahlenmäßige Stärke einer Gruppe bestimmt, sondern durch geringere Partizipationsmöglichkeiten und geringere öffentliche Repräsentanz. Die kollektiven Erfahrungen einer Gruppe bilden den Stoff für ihre Fremdbilder, die zum jeweiligen kulturellen Bestand gehören. In der US-amerikanischen Forschungsliteratur zur Cross-CulturalPsychology ragt der schon erwähnte Beitrag der Forschergruppe um Cynthia Gallois hervor, weil sie in ihrer „Communication Accomodation Theory“ (CAT) nicht nur kulturelle Differenzen berücksichtigt. Die Wissenschaftler/innen unter-
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scheiden mehrere für interkulturelle Kontakte relevante Dimensionen, und zwar: (a) intergroup/interpersonal features: „Interactans from different cultures come together in the light of a history of relations between their cultural groups, which may include rivalry, conflict, and social inequalitiy and almost always involve some degree of prejudice“ (Gallois et al., p.125). Dabei merken sie an, dass die interpersonelle Komponente so bedeutsam sein kann, dass sie den Gruppenaspekt verdrängt. An späterer Stelle formulieren sie die These, dass diese Möglichkeit jeweils vom Gewicht der Kollektiverfahrungen abhängt. (b) Culture – „different and perhaps incompatible values, different relationship styles, and different communication styles and rules“ (ebd.). Denn die Interaktanten seien in größerem oder geringerem Maß geprägt durch verschiedene und vielleicht unvereinbare Werte, folgten verschiedenen Beziehungsstilen und Kommunikationsmustern. Hervorhebenswert ist dabei die Einsicht: „Culture is defined by changing, discursive patterns emergent in communication“ (p.125). Beachtung verdient drittens (c) „the socialstructural context“. – Zum unmittelbaren sozialen Kontext gehört zum Beispiel der Grad der Formalität – Informalität oder eine an gemeinsamen Zielen ausgerichtete Handlungsstruktur („cooperative structure“), was an meine Ausführungen über den „Rahmen“ von Kommunikationen erinnert. In der Dimension „sociostructural context“ tauchen schließlich dann auch die makrosozialen Bedingungen wie „status of a group, institutional support, demographic factors“ auf. Unschwer lassen sich hier die Machtasymmetrien herauslesen, wenn man vom demographischen Faktor absieht, womit die Verfasser/innen zum Beispiel die Diasporasituation einer Minderheit berücksichtigt sehen wollen.
Machtasymmetrien und Kollektiverfahrungen Interkulturelle Beziehungen sind fast durchweg durch Machtasymmetrie – Status-, Rechtsungleichheit, Wohlstandsgefälle - gekennzeichnet. Zu denken ist neben den Kontakten zwischen Mehrheits- und Minderheitenangehörigen, zwischen In- und Ausländern an Begegnungen zwischen Bürgern der Ersten und der sog. Dritten Welt. Macht, nicht zu verwechseln mit Herrschaft, bezeichnet generell die Überlegenheit hinsichtlich der Handlungsmöglichkeiten (s. Lexikon der Soziologie 1973), der Chance, die Regeln zu setzen. Sie stützt sich auf ungleiche Verfügbarkeit von Ressourcen unterschiedlicher Art, in der soziologischen Terminologie von Bourdieu ausgedrückt, auf größeres materielles, soziales oder kulturelles Kapital, nicht selten auf diese drei Kapitalsorten zusammen. Macht kann sich auf den institutionellen Status gründen, auf soziale Beziehungen oder auf Zugang zu Informationen. Macht hat, wer Einfluss nehmen, wer die Spielre-
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geln bestimmen kann. Eine nicht zu vernachlässigende Variante ist die diskursive Macht, aufgrund derer jemand bestimmen kann, was Thema sein darf und was Tabu ist. So gesehen, nimmt zum Beispiel ein Sozialarbeiter eine Machtposition gegenüber seinen Klienten ein. Machtasymmetrien ergeben sich unabhängig davon zum Beispiel aus mangelnder Kompetenz eines Kommunikationspartners in der Verkehrssprache. Bei jemandem, der dieser Sprache nicht mächtig ist, kommt es zu einer Art „Infantilisierung“ (Knapp in diesem Band). Man stelle sich zum Beispiel einen Flüchtling aus Afghanistan vor, der dort in einer gehobenen Position tätig war, aber in der Ausländerbehörde nur ein unbeholfenes Deutsch stammeln kann. Die asymmetrische Konstellation ist hier außerdem durch den rechtlichen Status des Klienten bedingt. – Der Extremfall wäre jemand ohne Aufenthaltsstatus, juristische gesehen sozusagen eine Unperson. Auch das Ansehen der Gruppe, der jemand angehört, wird den Rahmen der Kommunikation mit ausmachen. In diesem Zusammenhang wird das Problem des strukturellen Rassismus relevant, also die durch institutionelle Regelungen, durch Marktmechanismen oder durch Politik bedingte Benachteiligung aufgrund zugeschriebener Gruppenmerkmale. Für die Kommunikation bedeutsam ist dabei auch die je subjektive Wahrnehmung der Konstellation. Das Aushandeln von Beziehungsdefinitionen ist aber bei einer asymmetrischen Beziehung zumindest erschwert, wenn nicht verunmöglicht. Der Unterlegene muss in der Regel, ob er will oder nicht, die – meist implizite, nonverbal vermittelte – „Beziehungsdefinition“ des Überlegenen (z. B. als „Fall“, als „Ausländer“) akzeptieren. So genannte „Beziehungsmanöver“, mit denen versucht wird, spontan Symmetrie herzustellen (Schulz von Thun 1992: 182), dürften in solchen Konstellationen scheitern. In welchem Maße Ungleichheit die interkulturelle Kommunikation beeinträchtigt, wird in dem sehr offenen Bericht über ein deutsch-afrikanisches Kooperationsprojekt deutlich. Dauber rückblickend: „Die realen ökonomischen Disparitäten, von den Lehrergehältern bis zu den Lebenshaltungskosten in beiden Ländern, benachteiligten die Zimbabwer in doppelter Weise und schufen für beide Seiten unproduktive persönliche Abhängigkeiten“ (1998: 45). Das führte zum Beispiel dazu, dass afrikanische Kooperationspartner deutsche Kollegen um Geld anhielten. Eine produktive interkulturelle Begegnung ist daher für Dauber „nur in einem Kontext möglich, in dem alle... die gleichen Möglichkeiten und vor allem Rechte haben“ (S.55). Auch Alexander Thomas, Hauptvertreter der deutschen Austauschforschung, konzediert: „Asymmetrische Interaktionsbeziehungen sind häufig in interkulturellen Begegnungssituationen zu beobachten“ (2003: 148, vgl. Triandis 1975, Brislin 1981). Aber die starke Anlehnung an den Mainstream der USamerikanischen Forschungstradition hindert ihn anscheinend daran, diesen Ge-
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sichtspunkt systematisch zu berücksichtigen. Aufschlussreich ist, bei welchen Autoren man den Aspekt Machtasymmetrien hervorgehoben findet. Das sind zunächst einmal solche mit eigener Migrationsgeschichte. Ihr Augenmerk wurde vermutlich durch eigene Erfahrung darauf gerichtet. Alan Murray und Ranjit Sondhi schreiben in einem Aufsatz über „Socio-political influences on crosscultural encounters“: „…relations of power, rather than relations of culture, are the crucial factor“ (1987). Und Paul Mecheril konstatiert in einem Aufsatz von 1998: “Das Feld interkultureller Interaktion ist ein Feld der Ungleichheit und Imagination” (1998: 291).13 Die „Imagination“ verweist dabei vor allem auf die oft projektiven Fremdbilder, aber auch auf die kollektiven Selbstbilder. Mecheril hat schon sehr früh den Umgang mit Differenz(konstrukten) und mit Ungleichheit zu „Angelpunkten“ der psychosozialen oder pädagogischen Ausbildung erklärt. Die zweite Gruppe von Autor/inn/en bilden Fachkräfte aus dem sozialpädagogischen oder psychosozialen Bereich, wahrscheinlich, weil für sie der Machtaspekt in ihrem Arbeitsfeld unübersehbar ist. Elaine Pinderhughes von der Boston School of Social Work belehrt uns: „Menschen werden nicht nur dadurch verstanden, wie sie ihre Kultur symbolisieren, sondern auch durch den Status der Gruppe, zu der sie gehören“ (1998: 135). Und nach Bernd Fechler, einem Experten für interkulturelle Mediation, „ gibt (es) kaum einen ‚interkulturellen Konflikt’, bei dem nicht zugleich auch das Thema Macht eine Rolle spielen würde. Vielmehr deutet vieles darauf hin, dass die Brisanz ‚interkultureller Konflikte’ auf die strukturelle Machtasymmetrie… zurückzuführen ist“ (2003: 135f.). Birgit Rommelspacher, die in der Ausbildung psychosozialer Fachkräfte mit Minderheitenfragen konfrontiert wurde, hat den Terminus „Dominanzkultur“ geprägt, um damit auf den Begriff zu bringen, dass unsere Denkweisen und Beziehungen zu Minderheiten oder Fremden „in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst sind“ (1995: 22). Mit Machtasymmetrie und Ungleichheit zwischen sozialen Gruppen und Gesellschaften sind kollektive Erfahrungen verbunden, die bei Kontakten vor allem in den Köpfen derer, die der unterlegenen Gruppe angehören, und seien es historisch zurückliegende Geschichten, wachgerufen werden. So darf man annehmen, dass zum Beispiel in dem von Dauber berichteten deutsch-afrikanischen Projekt die Kooperation nicht nur durch aktuelle Disparitäten, sondern auch durch die noch immer präsente koloniale Vergangenheit beeinträchtigt wurde. Den Stellenwert von Kollektiverfahrungen kann man kaum prägnanter verdeutlichen als Pierre Bourdieu und Loic Wacquant: „Kurz, wenn ein Franzose mit einem Algerier oder ein schwarzer Amerikaner mit einem WASP (White Anglo13
Paul Mecheril, selbst deutsch-indischer Herkunft, sieht sich vermutlich als „anderen Deutschen“, so der Titel eines Buches von ihm.
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saxon Protestant, G. A.) spricht, dann sind das nicht einfach zwei Personen, die miteinander reden, sondern über sie vermittelt, die ganze Kolonialgeschichte oder die ganze Geschichte der ökonomischen, politischen und kulturellen Unterdrückung der Schwarzen… in den USA“ (1996). – Eine sehr klare Beschreibung solcher Konstellationen für jeden, der weiß, dass die Algerier sich in einem langjährigen blutigen Krieg von der französischen Kolonialmacht befreien mussten, und für jeden, der die WASP als die Vertreter der „Dominanzkultur“ in den USA identifiziert. Für uns Deutsche gibt es geschichtlich beeinträchtigte interkulturelle Beziehungen, die eine unbefangene Begegnung zumindest für den Anfang unmöglich machen, bis vielleicht die persönlichen Eindrücke voneinander die hässliche Vergangenheit verblassen lassen, sei es die Beziehung zu Juden, zu Sinti und Roma oder auch zu Polen. Wenn Migrant/inn/en oder andere Minderheitenangehörige mit Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft, speziell mit Behördenvertretern zu tun haben, kommen nicht nur die individuellen Erfahrungen ins Spiel. Auch Erzählungen von Verwandten und Bekannten über Fälle von Diskriminierung oder Diskurse innerhalb der Community sind dann präsent. So kann es vorkommen, dass ein Gesprächsverlauf schon von Anfang an unter einem Unstern steht. Dazu sollte man wissen, dass Angehörige unterlegener, unterdrückter oder diskriminierter Gruppen verständlicherweise zu einigen typischen Verhaltensweisen neigen. Dazu gehört ein generalisiertes Misstrauen, was in ihrer Lage nicht unvernünftig ist. In einem Aufsatz über Besonderheiten der Therapie und Beratung mit Afrodeutschen wird als Erfahrung festgehalten: „Misstrauen entsteht nicht erst im therapeutischen Verhältnis, es wird unweigerlich von den Schwarzen KlientInnen hineingetragen“ (Hügel-Marshall 1998: 113). Verständlich ist auch eine hohe Verletzlichkeit, weil Angehörige diskriminierter Gruppen hinter jeder Äußerung oder Handlung zum Beispiel Rassismus wittern. Nahe liegende Reaktionen sind entweder Rückzug oder Widerstand, Aggressivität, obstruktives Verhalten (vgl. Pinderhughes 1998: 136). Die Unterlegenen können sich dumm stellen und damit die Überlegenen mit ihrem Ansinnen „auflaufen lassen“. Es wird berichtet, dass Migranten, die einer Straftat beschuldigt werden, gegenüber der Polizei oder anderen Kontrollinstanzen nicht selten sprachliche Verständnisschwierigkeiten vortäuschen. Der Autor einer Studie über Jugendliche türkischer Herkunft aus einem subkulturellen Milieu erzählt, dass die jugendlichen Delinquenten zum Beispiel Sozialarbeitern ihre familiäre Situation in den dunkelsten Farben schilderten, um mit der Bestätigung des Klischees von den autoritären türkischen Vätern Nachsicht für ihr abweichendes Verhalten zu finden. Er bezeichnet diese Strategie als „Selbstethnisierung“ (Bommes 1990).
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Gesehen werden muss sicher auch die Korrespondenz der Rollen bei solchen Kontakten. Paternalistisches, d. h. stark kontrollierendes oder überfürsorgliches Verhalten von dominanter Seite wird nicht selten geradezu herausgefordert durch das Verhalten oder die versteckten Signale von Seiten des Schwächeren und umgekehrt. Je dominanter jemand auftritt, desto mehr wird er Hilflosigkeit bewirken oder aber zur Auflehnung reizen. Der Niederländer Banning spricht in einem „Lehr- und Trainingsbuch“ für die soziale Arbeit mit Migranten unter anderem von der „Sprache der Opfer“, die diese Klienten häufig verwendeten (Banning 1995). Die gegenseitige Entsprechung der Rollen wird von der Psychoanalyse, bezogen auf konfliktträchtige Interaktionen, im Modell von Übertragung und Gegenübertragung abgebildet. Die Ethnopsychoanalytiker/innen haben dieses Modell auf interkulturelle Situationen angewendet. Sie haben als kulturfremde Eindringlinge, deren Funktion für die Einheimischen unklar war, erlebt, dass sie mit unterschiedlichen Befürchtungen und Hoffnungen konfrontiert wurden. Besonders die kollektiven Erfahrungen von Unterprivilegierten führen häufig zu inadäquaten Erwartungen gegenüber dem privilegierten Gesprächspartner. So notiert die Ethnologin Maya Nadig, dass sie in einem mexikanischen Dorf einmal als Regierungsagentin, ein andermal als Missionarin, dann wieder als kommunistische Agitatorin verdächtigt wurde oder sich mit den Erwartungen an eine Entwicklungshelferin konfrontiert sah (Nadig 1986). Solche, normalerweise nicht unmittelbar entschlüsselbare, Übertragungsvorgänge können zu verhängnisvollen Gegenübertragungen verleiten, zum Beispiel eine paternalistische Haltung begünstigen. In der dominanten Position ist man erstens versucht, die Macht der Deutung für die Äußerungen der anderen zu beanspruchen, und zweitens versucht, Störungen der Kommunikation einseitig der anderen Seite anzulasten. Bei pädagogischen und psychosozialen Fachkräften besteht die Tendenz, immer schon zu wissen, wie andere zu verstehen sind. Zu dieser deformation professionell kommt, dass wir Europäer generell dazu neigen, das Denken und Verhalten in anderen Gesellschaften interpretieren zu wollen (vgl. Todorov 1983). In dieser Hinsicht ist Wachsamkeit ebenso angebracht wie gegenüber der Tendenz, Missverständnisse oder Konflikte mit Eigenheiten des Gegenübers zu erklären. So führten manche Referendare, die von Bender-Szymanski über ihren Umgang mit interkulturellen Situationen in der Schule befragt wurden, Schwierigkeiten mit ausländischen Schülern allein auf deren geringe Anpassungsbereitschaft zurück (siehe ihren Beitrag zu diesem Band). Wer als Vertreter/in einer pädagogischen oder sozialen Institution mit Menschen zu tun hat, die Ausländer- oder gar Asylbewerberstatus haben, sollte sich in der Kommunikation deren (mögliche) Diskriminierungserfahrungen bewusst machen, um ihre Annäherungs- und Reaktionsweisen zu verstehen. Sonst wirken
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manche Verhaltens- und Reaktionsweisen befremdlich oder irritierend (dazu Banning 1995, vgl. Pinderhughes 1998). Zu warnen ist besonders vor dem Teufelskreis der Ethnisierung. Nehmen wir als Beispiel einen Schulleiter, der einem aus Süditalien zugewanderten Vater mitteilen muss, dass für seinen Sohn eine Überweisung auf die so genannte Förderschule ins Auge gefasst wird. Hat der Schulleiter ein Stereotyp von „südländischer Mentalität“ im Kopf gehabt, so wird ihn die empörte Reaktion des Vaters, der seinerseits vielleicht aufgrund vorausgegangener Erfahrungen sehr empfindlich reagiert, in seinem Stereotyp bestätigen. Es kommt zur Ethnisierung des fremden Verhaltens. Birgit Rommelspacher (1995) registriert eine solche Tendenz auch in therapeutischen Settings. Kollektiverfahrungen nehmen in ihren Überlegungen einen wichtigen Platz ein. Sie fordert, dass wir „die Geschichte der Beziehung“ zu Juden, Afrikanern, Einwanderern zum Thema machen sollten, um in dieser Hinsicht sensibel zu werden.
Fremdbilder Zusammen mit und oft gestützt auf Kollektiverfahrungen bestimmen die Fremdbilder unsere Erwartungen in der interkulturellen Begegnung. So gewiss sich viele dieser Bilder aus kollektiven Erfahrungen speisen, so muss man sich doch klar machen, dass sie Konstrukte sind, die sich dem gesellschaftlichen Diskurs verdanken. Selbst Erfahrungen, die die Kommunikationsteilnehmer unmittelbar selbst gemacht haben, sind auch das Ergebnis diskursiv vermittelter „sozialer Repräsentationen“ (Moscovici 1995). Denn die soziale Welt sehen wir immer mit dem kulturell geprägten Blick. Die Geschichte des europäischen Diskurses über den „Orient“ hat Edward Said (1981) rekonstruiert. Eine ähnliche Analyse gibt es zum Beispiel über „Die Erfindung des Balkans“ (Todorova 1999). Zweifellos haben wir auch kollektive Bilder von unseren europäischen Nachbarn in den Köpfen, wie diese jeweils ihr Bild von „den Deutschen“ gespeichert haben. Die Bildangebote in den öffentlichen Diskursen können meines Erachtens nicht hoch genug veranschlagt werden, was bei den Assoziationen zum Begriff Muslime besonders deutlich wird, wie Medienanalysen belegen (Auernheimer 1993, Hafez/ Richter 2007). Die Forschungsgruppe um Heitmeyer hat in ihren Repräsentativuntersuchungen über „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ festgestellt, dass „islamophobe“ Einstellungen besonders in Mittelschichten verbreitet sind (Kühnel/ Schmidt 2002: 92). Da demnach vermutlich auch Fachkräfte aus dem pädagogischen und psychosozialen Bereich als Mittelschichtangehörige gerade für Vorurteile gegenüber Muslimen anfällig sind, verdient Islamfeindlichkeit besondere Aufmerksamkeit. Fragebogenitems, die Gefühle der Bedro-
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hung durch den Islam anzeigen, finden generell eine erschreckend hohe Zustimmung (Noelle/ Petersen 2006, Leibold/ Kühnel 2006). Beim Islam zeigt sich, dass Fremdbilder aus Anlass von Konflikten mit medialer Unterstützung sehr rasch zu Feindbildern gemacht werden können. Seit dem zweiten Golfkrieg und vor allem seit dem 11. September 2001 sehen sich Muslime in Europa verstärkt Anfeindungen ausgesetzt (Bielefeldt 2007). Nach dem Soziolinguisten Gumperz liefert die jeweilige Sprache „wichtige soziale Informationen“ über den Sprecher (1975: 18). Wenn jemand Dialekt spricht, gebrochenes Deutsch oder einen Slang, wird er anders eingeschätzt als der Sprecher mit einem elaborierten Code in so genanntem Hochdeutsch. Es muss freilich gefragt werden, in welchem Sinn man von „Informationen“ sprechen kann; denn diese sind abhängig vom sozialen Wertsystem und von den Fremdstereotypen des Hörers. Die Sprache des Gegenübers kann deshalb falsche Assoziationen wecken und zu völlig inadäquaten Reaktionen verleiten.14 Für die Entstehung von Vorurteilen bietet die Sozialpsychologie verschiedene Erklärungsansätze an (dazu Zick 1997). Von besonderem Interesse für unser Thema sind die Experimente auf der Basis des „Minimalen GruppenParadigmas“, und zwar deshalb, weil sie die Tendenz zur Kategorisierung selbst unter den Bedingungen minimaler, um nicht zu sagen banaler, Differenzierung zwischen Gruppen gezeigt haben. Die Mitglieder der jeweiligen In-Group unterstellen die Homogenität der Out-Group (Zick 1997: 123ff), entindividualisieren also die Mitglieder der Fremdgruppe. Die emotionale Besetzung und Hartnäckigkeit von Vorurteilen ist vermutlich ihrer psychischen Funktionalität, Reduktion von Komplexität, Entlastung von Selbstvorwürfen etc., geschuldet. Die Hartnäckigkeit dürfte zusätzlich darin begründet sein, dass alle Erfahrungen immer wieder im Licht der Stereotypen interpretiert werden. Fremdbilder lassen uns eine Fremdheit erwarten, die den realen Differenzen nicht entspricht, so dass der Kontakt von vornherein durch Unsicherheit und Misstrauen beeinträchtigt ist. Unsere Erwartung belastet damit die Beziehung und sie präfiguriert unsere Wahrnehmung. Da wir von einzelnen Merkmalen auf die erwarteten kulturellen Muster schließen und widersprüchliche Informationen eher ausblenden, bestätigen sich die Bilder immer von neuem.15 14
Gumperz selbst bestätigt dies mit folgenden Beispiel: „So kann zum Beispiel ein schwarzes Kind in der Schule einen geringfügigen Grammatikfehler wie beispielsweise die Verwechslung der Vokale in ‚pin’ und ‚pen’ machen. Dieser grammatische Fehler findet sich zwar häufig im kalifornischen Englisch, gilt aber als stereotypes Merkmal des ‚Black English’ und nimmt für die Lehrerin die Signifikanz eines soziolinguistischen Fehlers an… Das heißt, dass der gleiche grammatische Fehler… nur bei einer Gruppe als eindeutig falsch angeprangert wird“ (1975, S.87). 15 Amüsant sind Konstellationen, in denen wir die vermuteten Fremdbilder der Gegenseite in einer Erwartungserwartung antizipieren. Wir Deutschen bemühen uns dann oft, das Bild vom hässlichen oder langweiligen Deutschen durch unser Verhalten zu dementieren.
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In günstigen, d.h. nicht allzu asymmetrischen Konstellationen wird dagegen ein „Aushandeln kultureller Identität“ möglich. Von beiden Seiten werden in diesem Fall kulturelle Merkmale und Mitgliedschaften zu Disposition gestellt und die Fremdbilder können korrigiert werden, so dass die starren Stereotypen einem Prozess der wechselseitigen Spiegelung weichen (Vester 1998: 100).16 Vor dem Hintergrund ihrer beruflichen Erfahrungen in der Familienberatung karikiert Akgün (1998) die gegenseitigen Stereotypen von dem türkischen Vater und dem deutschen Sozialarbeiter: „Kennen Sie den türkischen Vater? Nein? Jeder deutsche Sozialarbeiter (natürlich auch jede deutsche Sozialarbeiterin) kennt den türkischen Vater. Er ist eine Mischung aus Rambo und Tarzan, spricht kein Deutsch (ich Vater; Du Sozialarbeiter), weiß nicht, dass er in Deutschland lebt, wo er die deutschen Gesetze respektieren muss; er ist gewalttätig, unzivilisiert und unberechenbar. Frauen respektiert er grundsätzlich nicht und droht allen mit dem Tod! Kennen Sie den deutschen Sozialarbeiter, die deutsche Sozialarbeiterin? Nein? Jede türkische Familie kennt den deutschen Sozialarbeiter/die deutsche Sozialarbeiterin. Er/sie ist der moderne Rattenfänger von Hameln, auf seiner Flöte spielt er die süße Melodie der Freiheit, um so die türkischen Kinder von ihren Familien fortzulocken, um sie in dubiosen Heimen unterzubringen – wo sie dann zwangsgermanisiert – im Sumpf von Drogen, Alkohol und Prostitution verkommen“ (S.250).
Differente Kulturmuster Ausdrücklich erst an vierter Stelle, weil oft überbewertet, möchte ich die kulturelle Dimension im engeren Sinn nennen – „kulturell im engeren Sinn“ erstens deshalb, weil auch Fremdbilder Bestandteil von Kulturen sind, und zweitens deshalb, weil hier primär ethnische Kulturen, nicht Subkulturen, soziale Milieus etc. in Betracht gezogen werden. Neben den Kollektiverfahrungen und Fremdbildern steuern Deutungsmuster, die selbstverständliches Element der jeweiligen Lebenswelt oder Kultur sind, die sozialen Erwartungen. Kommunikationstheoretiker subsumieren dies unter „Weltwissen“. Schütz hat in seinem Essay „Der Fremde“ die Erfahrung des Exils reflektiert, wo die mitgebrachten Schemata versagen und nichts mehr selbstverständlich oder alltäglich ist (Schütz 1972). Sprach- und Sozialwissenschaftler sprechen von kulturellen „Codes“ oder auch von „Scripts“, also Drehbüchern, nach denen unser Alltagsleben organisiert wird. Wir richten uns unmerklich nach diesen Drehbüchern, die für unterschiedliche Situationen die Regieanweisung enthalten. Gerade die Unreflektiertheit 16
Es irritiert allerdings, dass Vester an gleicher Stelle auf die Autorin Collier verweist, nach der sich interkulturelle Kommunikation als „mutual avowing/confirmation of the interactants‘ cultural identities“ kennzeichnen lässt.
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dieser Alltagsmuster kann bei interkulturellen Kontakten zu Irritationen, Missverständnissen oder gar Konflikten führen. Der Psychologe Alexander Thomas benutzt den Terminus „Kulturstandards“, um zum Beispiel Spezifika des verinnerlichten Distanzverhaltens zu kennzeichnen (Thomas 1996). US-Amerikaner grenzen sich, so seine Behauptung, in Kontakten anders ab als Europäer, definieren unbewusst ihre Intimsphäre anders. „Kulturstandards“ im Sinne von Thomas stellen besondere Stolperfallen in der Kommunikation dar, weil ihre Kulturspezifik den damit Vertrauten und den Fremden gleichermaßen verborgen bleibt. Dasselbe gilt für viele nonverbale Ausdrucksformen: Mimik, Gestik, die Körperhaltung, speziell die Art der körperlichen Zuwendung beim Sprechen, das räumliche Distanzverhalten.17 Häufig wird aus der pädagogischen Praxis von den Missverständnissen berichtet, die sich daraus ergeben, dass direkter Blickkontakt von deutschen Pädagogen als Zeichen für Aufmerksamkeit gedeutet und erwartet wird,18 wohingegen er in manchen Kulturen als respektlos gegenüber Autoritäten gilt. Heimtückisch für Kulturfremde sind auch kulturspezifische Tabus (dazu Luchtenberg 1997). Auch viele Kommunikationsregeln erschließen sich dem Kulturneuling oder Fremden nicht so schnell, weil sie nicht explizit gehandhabt werden. Bezeichnenderweise bleiben sie im Normalfall auch den Mitgliedern der jeweiligen Sprachgruppe selber verborgen. Kulturspezifisch sind Kommunikationsrituale und Formen der Gesprächsorganisation, zum Beispiel die Regeln des Sprecherwechsels. Zum Beispiel kann die Rederecht-Verteilung durch Intonation, Blickkontakt, nachgeschaltete „Sprechhandlungsaugmente“ wie „nicht wahr?“ im Deutschen gesteuert werden. „Viele kommunikative Apparate arbeiten mit nonverbalen Realisierungsformen“, so der Sprachwissenschaftler Rehbein (1985). Über kulturelle Differenzen solcher Art sind sich die Kommunikationsteilnehmer/innen oft nicht im Klaren, es sei denn, dass Kommunikationsstörungen offensichtlich werden (vgl. Knapp in diesem Band). Die kulturspezifischen und daher differenten Muster oder Normen der Kommunikation verweisen auf Rollenvorstellungen und damit Normen, die 17
Schneller (1989) ließ in einem Experiment israelische Studierende verschiedener kultureller Herkunft die nonverbalen Ausdrucksformen äthiopischer Immigranten dekodieren. Eine hohe Fehlerquote korrelierte mit hoher subjektiver Sicherheit der Deutung bei den Probanden. Ein Beispiel aus einem Zeitschriftenartikel über Benimmregeln zeigt erstens, dass Kulturmuster auch kodifiziert werden können, womit sie aus dem Bereich des Nicht-Thematischen, Selbstverständlichen herausgeholt werden. Es heißt dort unter anderem: „Kommen Sie Ihrem Gesprächspartner… nicht zu nahe! Die meisten Menschen schätzen einen Abstand von mindestens einem halben Meter.“ Das Beispiel zeigt außerdem, dass die Scripts nicht in allen sozialen Milieus befolgt werden und von manchen erst gelernt werden müssen. Nicht zuletzt belegt es die ethnozentrische Perspektive der „Anstandsdamen“. 18 Typische Ermahung: „Schau mich an!“
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wiederum von tiefer liegenden Wertorientierungen geleitet sind. Im Folgenden einige Beispiele für die Differenz von Scripts und deren Auswirkungen: Ein Auszubildender iranischer Herkunft begrüßte seinen Chef jeden Morgen mit „Guten Morgen! Wie geht’s?“ Die deutschen Kolleg/inn/en fanden das reichlich übertrieben. Er geriet als „Schleimer“ in eine Außenseiterposition. Dabei hatte er nur eine in seiner Herkunftssprache übliche Grußformel ins Deutsche übernommen, wovon seine Kolleg/inn/en aber nichts wussten (Sammlung von Fallbeispielen M. Heidari). Kulturell unterschiedlich sind die Vorstellungen von den Verpflichtungen eines Gastgebers und die Erwartungen an Gastfreundschaft. Während sich in vielen südosteuropäischen und orientalischen Kulturen der Gastgeber verpflichtet fühlt, seine Gäste permanent zu umsorgen, finden sich Mitteleuropäer dadurch bald bevormundet. Das mag auch mit tiefer reichenden Unterschieden zu tun haben, die eine Folge der Individualisierung in unserer Gesellschaft sind. Sehr verwirrend ist die Situation für uns Mitteleuropäer, was Schamgrenzen betrifft. Die meisten von uns sind in dieser Hinsicht recht unbekümmert. Küssen im öffentlichen Raum ist kein Tabu. Nacktheit löst selbst in geschlechtlich gemischten Gruppen kein Gefühl des Unbehagens aus. Eine Erklärung dafür wäre, dass der Jahrhunderte lange „Selbstzwang“ (Norbert Elias) dazu geführt hat, dass unser Über-Ich das Triebleben unter Kontrolle hat. Menschen aus anderen, zum Beispiel orientalischen, Kulturen erscheinen uns oft verklemmt. Irritierend ist dann das Erlebnis, dass man in denselben Kulturen innerhalb gleichgeschlechtlicher Gruppen viel unbefangener miteinander umgeht als wir, körperliche Nähe weniger scheut und auch Sexualthemen weniger tabuisiert. Die Schwierigkeiten deutscher Lehrer/innen im Umgang mit muslimischen Schülerinnen und Schülern hat Ursula Mihziyazgan (1994) im Lichte solcher ethnologischer Betrachtungen interpretiert. In diesen Zusammenhang gehört auch das Distanzverhalten im Umgang miteinander. Ein Sozialarbeiter beschwerte sich darüber, dass vor allem Klienten nordafrikanischer Herkunft sich weit über seinen Schreibtisch beugten und ihm für sein Gefühl zu nahe rückten. Wenn sie ihm ein Dokument zeigen wollten, würden sie um den Schreibtisch herumgehen, um ihm das Papier direkt vor die Nase zu halten (Sammlung von Fallbeispielen M. Heidari). Unterschiedlich ist der Umgang mit Konflikten. Der bei uns üblich gewordene konfrontative Umgangsstil kann Menschen aus anderen kulturellen Kontexten irritieren, wenn nicht gar verschrecken. Direkt die eigenen Bedürfnisse und Interessen geltend zu machen, direkt Kritik anzubringen oder etwas abzulehnen, wie es in unserer Gesellschaft eher möglich ist, jedenfalls nicht gegen normative Vorstellungen verstößt, ist in vielen Kulturen undenkbar.
Die Beispiele illustrieren mit Ausnahme des vorletzten sehr verdeckte, kaum erwartbare Differenzen. In vielen Fällen verhindert aber die Erwartung von Fremdheit ernsthafte Störungen. Dem Fremden sieht man manches nach. Dieser „Fremdheitsbonus“ (Knapp in diesem Band) gilt aber für (Im-)migranten meist nicht mehr, wie das vorletzte Beispiel zeigt. Kulturelle Differenzen können ebenso unter- wie überschätzt werden, wobei ersteres oft nicht einfach einer kogniti-
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ven Fehlleistung entspringt. Vielmehr lässt sich die Differenzblindheit in vielen Fällen als Verleugnung charakterisieren, die von Angst oder auch schlicht Bequemlichkeit motiviert sein kann. In der pädagogischen Arbeit bringt das eine Entlastung mit sich. Das Unvertraute, Unbekannte, beunruhigt, weckt Unbehagen, wenn es nicht sogar mehr oder weniger Angst macht, wobei zweitrangig ist, ob es bloß in Form von Fremdbildern antizipiert wird, vielleicht Ergebnis von Projektionen ist, oder tatsächlich fremde Verhaltensweisen verstörend wirken. Abschließend sei daran erinnert, dass – die vorangegangenen Beispiele demonstrieren dies – auch kulturelle Differenzen in der Regel zu Störungen auf der Beziehungsebene führen, vor allem aber unter einer Zusatzbedingungen, nämlich dann, wenn die Beziehung von vornherein asymmetrisch ist. Haben beide Kommunikationsteilnehmer den gleichen Status, so lassen sich Missverständnisse eher ausräumen, oft mit Humor bereinigen.
Konsequenzen für das Konzept von interkultureller Kompetenz Interkulturelle Kompetenz kann sich, wenn wir den vorausgegangenen Überlegungen folgen, nicht mehr auf den adäquaten Umgang mit kulturellen Differenzen beschränken, wie es noch für viele einschlägige Trainingsprogramme leitend ist. Legt man das übliche Verständnis von Kompetenz zugrunde (vgl. Wikipedia), so müssen Wissen, Haltungen und Fähigkeiten sich ebenso auf Machtasymmetrien, Kollektiverfahrungen und Fremdbilder beziehen wie auf kulturelle Differenzen. So könnte man sich an folgendem Tableau orientieren: Wissen
Haltungen
Fähigkeiten
Machtasymmetrien Kollektiverfahrungen Fremdbilder Kulturelle Differenzen Der adäquate Umgang mit Machtasymmetrien und kollektiven Erfahrungen, welche die Kommunikation beeinträchtigen, verlangt zum Beispiel ein Wissen über Zuwanderungs- und Asylrecht, überhaupt Einblick in die Lebenslage von (Im)migranten, Wissen über Rassismus und je nach Tätigkeitsbereich und Häufigkeit von Kontakten auch Wissen über die Kolonialgeschichte, über Gesellschaften der Dritten Welt und globale Abhängigkeiten. Die gebotene Haltung
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kann man kennzeichnen als Sensibilität für Asymmetrien und negative Erfahrungen, ohne der Tendenz zum Paternalismus zu erliegen. Nach Mecheril (1998) ist in der psychosozialen Beratung Sensibilität für Rassismuserfahrungen von Klient/inn/en gefordert (S.296). Das schließt Verständnis für befremdliche Reaktionen ein, aber auch die Fähigkeit, adäquat damit umzugehen.19 Vor allem ist die Fähigkeit zu einem förderlichen Framing, m. a. W. zur Herstellung eines Gesprächsklimas gefragt, das trotz objektiver Asymmetrien ein Gespräch auf gleicher Augenhöhe ermöglicht. In der einschlägigen Literatur empfohlen wird eine demonstrativ kooperative Haltung (Hinnenkamp 1994) oder – auch im Hinblick auf kulturell bedingte Differenzen – das „Co-membershiping“, das heißt das Aufgreifen von Gemeinsamkeiten (z. B. gleicher Sportinteressen, Streek 1985). Wenn das Framing aber nicht zur bloßen Taktik verkommen soll, muss es auch das Engagement für angemessene institutionelle Rahmenbedingungen einschließen, d. h. konkret für erweiterte Partizipationsmöglichkeiten (Mecheril 1998), für die interkulturelle Öffnung der eigenen Einrichtung (s. Auernheimer 2001, Gaitanides 1999), für Innovationen in Richtung Diversity. Im Hinblick auf Fremdbilder ist die Reflexion eigener stereotyper Vorstellungen und Vorurteile vordringlich. Hilfreich sind dabei Kenntnisse über die Psychologie des Vorurteils, insbesondere aber auch über problematische Mediendiskurse, um gegenüber medial vermittelten Fremdbildern wachsam zu werden. Das müsste sich mit der Fähigkeit verbinden, stereotype Vorstellungen über den oder die andere(n) interaktiv zu korrigieren. Pädagogische Fachkräfte müssen sich bewusst machen, „dass Individuen prinzipiell in der Lage sind, sich in ein kritisches Verhältnis zu ihren kollektiven Zugehörigkeiten zu setzen“ und einen individuellen Lebensstil zu entwickeln (Mecheril 1998: 298). Zu warnen ist vor der häufigen Zielformulierung „Abbau von Vorurteilen“, weil sie suggeriert, man könne und müsse von Vorurteilen frei sein, was vor allem pädagogische Fachkräfte oft daran hindert, sich ihr Befremden einzugestehen, weil ihnen ihr Über-Ich das verbietet. Um Irritationen durch differente Kulturmuster gewachsen zu sein, ist primär ein Bewusstsein der eigenen Kulturgebundenheit notwendig. Hilfreich dafür ist die Erforschung dessen, was als typisch uns Deutsche, Mittelschichtangehörige, Mitteleuropäer gelten kann, am besten gemeinsam in multikulturellen Gruppen. Nützlich sind auch exemplarische Kenntnisse über fremdkulturelle Scripts, Normen und Werte. Gefordert ist eine Haltung der Offenheit für mögliche (!) Differenzen und die Anerkennung anderer Wertsysteme, aber auch die Fähigkeit zum Dialog darüber, wenn zum Beispiel Individualrechte verletzt zu werden scheinen 19
Die Paradoxie der Anforderungen an den interkulturell Kompetenten besteht zugegebenermaßen darin, dass ihn das geforderte Verständnis, z. B. für den wegen seiner Diskriminierungserfahrungen misstrauischen oder aggressiven Klienten, doch wieder zum insgeheim Überlegenen macht.
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(z. B. bei familiären Widerständen gegen die selbständige Lebensplanung einer jungen Frau).20 Wichtig ist die Fähigkeit, fremde Kulturmuster kooperativ zu erschließen anstatt sich mit Kulturwissen zu selbstsicheren Deutungen verleiten zu lassen. Der Unterschied verunsichert (Albert Memmi). Auch der Umgang mit Befürchtungen oder Ängsten will gelernt sein, wie es überhaupt speziell für die pädagogische Praxis erstrebenswert ist, dass man sich die affektiven Anteile in interkulturellen Begegnungen bewusst macht; denn auch die Faszination durch das Fremde als Effekt einer positiven Projektion ist nicht unproblematisch wie man weiß. Jakubeit/ Schattenhofer (1996) sprechen daher von „Fremdheitskompetenz“. Zuallererst gehört ihrer Ansicht nach gerade für Pädagog(inn)en das Eingeständnis des Befremdens dazu (vgl. Auernheimer u. a. 2001). Dieses Eingeständnis ist die Voraussetzung für die Bearbeitung von hinderlichen, teilweise widersprüchlichen Reaktionen wie die Verleugnung, Abwehr, Verkleinerung von tatsächlichen Differenzen. Exotistische Faszination kann in produktive Neugier verwandelt werden. Da die Art und Weise, wie Fremdes erlebt wird, von der jeweiligen psychischen Struktur, nicht zuletzt von biographischen Erfahrungen, abhängig ist, halten viele Autoren zu Recht die Selbstreflexion für den ersten und wichtigsten Schritt im Prozess interkulturellen Lernens (z.B. Grosch/Groß/Leenen 2000, Holzbrecher 1997, Jakubeit/ Schattenhofer 1996, Leenen/Grosch/Groß 2002). So sehr vor der einseitigen Fokussierung der kulturellen Dimension zu warnen ist, so wenig darf man sie einfach ausblenden. Im Gegensatz zu einigen Sozialwissenschaftler/inne/n gehe ich nicht davon aus, dass kulturelle Differenz nur der Effekt von Machtstrukturen ist, so gewiss solche Differenzen auch zur ethnischen Grenzziehung konstruiert werden und oft Effekte von Grenzziehungsprozessen sind. Kulturelle Orientierungssysteme werden aber nicht nur in Reaktion auf politische und soziale Konstellationen, sondern in Auseinandersetzung mit den jeweiligen Lebenslagen unter Rückgriff auf Traditionen produziert, woraus sich unterschiedliche Kulturmuster erklären. Wer bei der Bezugnahme auf kulturelle Kontexte die Gefahr der Kulturalisierung sieht, sollte sich klar machen, dass man mit der Ausklammerung dieser Kontexte nicht gegen eine andere Gefahr gefeit ist, nämlich die der Psychologisierung. Dann werden zu Erklärung von befremdlichen Kommunikationsmustern eben nicht kulturelle, sondern individuelle Eigenheiten des anderen herangezogen.
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Die besonderen Anforderungen, die kulturbedingte Normen- und Wertkonflikte, an pädagogische Fachkräfte stellen, werden hier nicht erörtert (dazu Kiesel/ Volz in diesem Band, Auernheimer 2007, Kap.6.5). Die Berücksichtigung von Machtasymmetrien und das Bemühen um einen Dialog „auf gleicher Augenhöhe“ sind dabei besonders wichtig.
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Zu berücksichtigen ist immer, dass kulturelle Differenzen im Sinne ethnischer Unterschiede oft konstruiert sind, nur eine unter mehreren Arten von Differenz darstellen und dass sich verschiedene Differenzlinien überschneiden. Zu denken ist vor allem an die Geschlechterdifferenz. Eine vermittelnde Position zwischen Konstruktivismus und Realismus bezüglich Kulturdifferenz formuliert Hamburger (1999) unter dem Begriff der „reflexiven Interkulturalität“ in Analogie zur „reflexiven Koedukation“. Wichtig ist ihm die kritische Reflexion der Implikationen und ungewollten Nebeneffekte des interkulturellen Diskurses. Die Tendenz zur Kulturalisierung lässt sich nur dann vermeiden, wenn man gelernt hat, jede Kommunikation „systemisch“ zu betrachten (Schulz von Thun 1992) und damit die eigene Verantwortung für das Gelingen der Kommunikation zu sehen (vgl. Bender-Szymanski in diesem Band).21 Verlangt sind ein „synergieorientierter“ Verarbeitungsmodus (Bender-Szymanski) und eine multidimensionale Betrachtung der Problemlagen (Pavkovic 1999: 28). Dazu gehört die Bereitschaft, sich als Lernenden zu verstehen (s. Bender-Szymanski, auch Knapp in diesem Band). Der „professionellen Reflexivität“ kommt in der interkulturellen Arbeit ein erhöhter Stellenwert zu (Mecheril 1998: 309). Hilfreich sind in dieser Hinsicht Formen der selbst organisierten „kollegialen Fallberatung“ (Gudjons 2003) oder aber Supervision, sofern verfügbar. Gemeinsame Fallbesprechungen kann man in der interkulturellen Bildungs- und Sozialarbeit nicht hoch genug veranschlagen. Interkulturelle Kompetenz in der Einwanderungsgesellschaft, aber nicht nur hier, bedeutet, stets in Rechnung zu stellen, dass die Identitätskonstrukte sich nicht mehr auf einen kulturellen Kontext beschränken, sondern meist auf mehrere kulturelle Praxen und symbolische Formen Bezug nehmen. Kompliziert wird die Anforderung, die sich daraus ergibt, dadurch, dass oft die Selbstdefinitionen nicht mit dem Habitus (sensu Bourdieu) übereinstimmen. Jemand mag sich als Deutscher verstehen, schleppt aber viele, tief verinnerlichte Attitüden mit sich, die aus seiner frühen Sozialisation herstammen. Den umgekehrten Fall gibt es auch, dass nämlich Migranten verbal an traditionellen Werten und Normen festhalten, in ihrer Alltagspraxis aber unbemerkt bereits anderen Regeln folgen (siehe z. B. Pfluger-Schindlbeck 1989 über Erziehungspraktiken in Berliner Familien türkischer Herkunft). Es gilt die Maxime: Immer offen dafür sein, dass der oder die Andere anders anders sein könnte, als man dachte!
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Anja Weiß findet, adressiert an antirassistisch Engagierte, auch wichtig, sich zwar die Bedeutung oder Wirkung der eigenen Handlungen klar zu machen, aber ohne sich gleich schuldig zu fühlen (Weiß 1998, S.282).
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„Anerkennung und Intervention“. Moral und Ethik als komplementäre Dimensionen interkultureller Kompetenz Moral und Ethik als komplementäre Dimensionen interkultureller Kompetenz
Doron Kiesel/Fritz Rüdiger Volz
Der „stereoskopische Blick“ – zur professionellen Kompetenz Für moderne demokratisch verfasste Gesellschaften gilt generell, dass sie von all ihren Mitgliedern den Respekt vor der Würde aller Menschen und die Anerkennung der Menschenrechte erwarten und dass diese Erwartung folglich auch jede pädagogische Konzeption und alles pädagogische Handeln grundsätzlich normiert. Bei genauerem Hinsehen jedoch tritt deutlicher hervor, dass wir uns mit „Anerkennung“ auf zwei unterschiedliche Dimensionen der Person beziehen: wir beziehen uns zum einen – unter dem Vorzeichen der fundamentalen Gleichheit aller Menschen und in universalistischer Perspektive – auf die Person als Weltbürgerin und als Trägerin unveräußerlicher Menschenrechte; wir beziehen uns aber immer auch zugleich – differenz-sensibel und in kontextualistischer Perspektive – auf die Person als unvertretbares Subjekt seiner Lebensführung, das an einem Gelingen seines Lebens ein legitimes Interesse hat. In Anlehnung an eine begriffliche Unterscheidung von Jürgen Habermas könnte man von einer „moralischen“ und einer „ethischen“ Anerkennung sprechen (vgl. Habermas 1991b). Gerade Interkulturelle Pädagogik und Soziale Arbeit müssen diesem Doppelaspekt durchgängig entsprechen. Spätestens seit dem Erscheinen von John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ (vgl. Rawls 1975 und 2001) ist auch in der deutschsprachigen (psychologischen, philosophischen und pädagogischen) Moraltheorie sehr viel zur Begründung und Präzisierung der Menschenwürde und der Menschenrechte publiziert worden. Dies ist auch mit großer Regelmäßigkeit und Selbstverständlichkeit von den pädagogischen Disziplinen und Professionen übernommen worden. Wir werden hier im Anschluss an Jürgen Habermas einige Folgerungen für die Debatte um die moralische Anerkennung im interkulturellen Diskurs formulieren. In diesem Beitrag wird jedoch auch die „zweite“, die ethische Dimension herausgearbeitet werden, weil gerade Erfahrungen in der Praxis interkultureller Sozialer Arbeit immer wieder zeigen, dass eine ausschließliche Orientierung an der Moral (sensu Habermas) den Helfer hilflos macht, wenn der Klient etwa
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kategorischen Respekt vor seinen (partikularen) Selbstverständlichkeiten und kulturellen Praktiken verlangt. Die Orientierung an Menschenwürde und Menschenrechten kann dazu führen, dass die intervenierende Person bestimmte Verhaltensmuster und mit ihnen verbundene Gelingensbilder missbilligen muss. Zugleich muss sie diese doch achten und „vorbehaltlos akzeptieren“. Interkulturelle Kompetenz zeigte sich gerade darin, ob und wie die helfende Person mit solcher Art Dilemmata umzugehen fähig ist. Dazu wäre aber die Fähigkeit vonnöten, die ethische Dimension solcher Handlungssituationen wahrnehmen und reflektieren zu können. Nötig ist also insgesamt ein „stereoskopischer“ Blick mit den beiden Brennpunkten: der moralischen und der ethischen Anerkennung.
Die Moral, die Verfassung und die Geltung der Rechte Das Erscheinen des Buches von Axel Honneth „Kampf um Anerkennung“ (vgl. Honneth 1992) hat eine breite moraltheoretische Debatte ausgelöst, die auch innerhalb der interkulturellen Pädagogik rezipiert worden ist. Am pointiertesten hat Jürgen Habermas diese allgemeinen sozialphilosophischen Argumente auf die Probleme der Interkulturalität zugespitzt (vgl. Habermas 1993). Er erinnert an die Notwendigkeit einer ethisch neutralen Rechtsordnung und begründet dies mit der politischen Verfassung des demokratischen Rechtsstaates, die das subjektive Recht und die individuelle Rechtsperson als den Träger von Rechten voraussetzt. Schutz wird in der auf vernunftrechtlichen Ideen beruhenden modernen Verfassung ausschließlich der individuellen Rechtsperson zugesprochen. Habermas nimmt hierbei Bezug auf Überlegungen von Amy Gutman (vgl. Gutman 1993). Nach ihrer Auffassung umfasst öffentliche Anerkennung zwei Formen von Achtung. Zum einen die Achtung vor der unverwechselbaren Identität jedes Individuums, unabhängig von Geschlecht, Rasse oder ethnischer Zugehörigkeit. Zum anderen die Achtung vor jenen Handlungsformen, Praktiken, Spielarten von Weltauffassung, die bei Angehörigen sozial-kultureller Milieus hohes Ansehen genießen und für sie identitätsstiftende Bedeutung haben (Gutman 1993b, S 125). Die politischen Ziele von ethnischen und kulturellen Minderheiten werden – auch wenn ihre Deprivationserfahrungen vorrangig in der sozialen Ungleichheit begründet sind – kulturell gedeutet und rechtlich begründet. Das Zusammenwirken von Rechtsstaat und Demokratie erfordert vom Rechtssystem eine Differenzierungsfähigkeit und Aufmerksamkeit sowohl gegenüber den unterschiedlichen sozialen Lebensbedingungen der Individuen als auch gegenüber deren kulturellen Lebensformen, sofern den Trägern subjektiver
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Rechte eine intersubjektiv begriffene Identität zugeschrieben wird. Die Voraussetzung dafür, dass die Rechtssubjekte ihre berechtigten Interessen erkennen und vertreten, um ihre staatsbürgerliche Autonomie ausüben zu können, ist ihre Individuierung. Doch diese setzt wiederum deren Vergesellschaftung voraus, in deren Verlauf sie erfahren, dass sie als Adressaten des Rechts nur in dem Maße Autonomie erwerben können, wie sie sich als Verfasser der Gesetze begreifen und sich über ihre jeweiligen Belange und Maßstäbe verständigen können. So lässt sich mit Habermas behaupten, dass „eine richtig verstandene Theorie der Rechte genau die Politik der Anerkennung [verlangt], die die Integrität des einzelnen auch in seinen identitätsbildenden Lebenszusammenhängen schützt“ (Habermas 1993: 154). Er betont dabei, dass die Integrität einer jeden Rechtsperson erst durch den Schutz jener intersubjektiv geteilten Erfahrungs- und Lebenszusammenhänge, die zu ihrer Sozialisation und Identitätsbildung maßgeblich beigetragen haben, gewährleistet werden kann. „Die Identität des einzelnen ist mit kollektiven Identitäten verwoben und kann nur in einem kulturellen Netzwerk stabilisiert werden“ (ebd.: 172). In Habermas’ Ausführungen werden die Gemeinschaftsbeziehungen als Sozialisationsbedingungen hervorgehoben, die zur Voraussetzung für die individuelle Besonderung werden. Es ist hierbei jedoch nicht gemeint, dass der einzelne sich den Zwängen und Erwartungen der Gemeinschaft unterzuordnen habe. Da die formale Gleichstellung von Zuwanderern nicht notwendigerweise auch den Spielraum für deren autonome Lebensgestaltung erweitert, ihre faktische Benachteiligung sich aber besonders deutlich im Wettbewerb um Bildungschancen, Arbeitsplätze und den sozialen Status erkennen lässt, gilt es nach Habermas, einer Rechtsauffassung zum Durchbruch zu verhelfen, nach der „der demokratische Prozess gleichzeitig private und öffentliche Autonomie sichern muss“ (ebd.: 157). Dieser Erwägung liegt die Einsicht zugrunde, dass die autonome Lebensgestaltung der Migrant(inn)en sich erst dann entfalten kann, wenn sie am öffentlichen Diskurs über den Umgang mit Minderheiten partizipieren und ihre eigenen Erfahrungen einbringen und austauschen können. Habermas wendet sich gegen einen falsch verstandenen Universalismus der Grundrechte, der eine Nivellierung der sozialen wie auch der kulturellen Unterschiede anstrebt, und plädiert vielmehr dafür, dass das demokratisch verfasste Rechtssystem sensibel auf seine eigenen sozialen Voraussetzungen und Zielsetzungen reagieren sollte, deren Anerkennung von sozialen und politischen Bewegungen durchgesetzt worden ist. Die Universalisierung der Bürgerrechte ist demzufolge nur durchsetzbar, wenn das Rechtssystem die Integrität der Rechtssubjekte durch „eine strikte, von den Bürgern selbst gesteuerte Gleichbehandlung ihrer identitätssichernden Lebenskontexte sicherstellen kann“ (ebd.: 158).
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Eine multikulturelle Gesellschaft wird von Individuen gebildet, für die sich ihre jeweiligen kulturellen Lebensformen in der Herkunftsgesellschaft als identitätsstiftend erwiesen haben. Die Einheimischen und Zuwanderer stellen sich dar als „Knotenpunkte in einem askriptiven Netzwerk von Kulturen und Überlieferungen von intersubjektiv geteilten Erfahrungs- und Lebenszusam-menhängen“ (ebd.: 169). Dass die Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie sich als konstitutiv für den demokratischen Rechtsstaat erweist, wird folglich daran erkennbar, dass den Individuen die Realisierung der gleichen subjektiven Rechte und den unterschiedlichen ethnischen Gruppen die gleichberechtigte Koexistenz ihrer jeweiligen kulturellen Lebensformen zugesichert wird. Als notwendige Voraussetzung für die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Lebensformen und Identitäten gilt es demnach, eine Moral zu bestimmen, die sowohl die Autonomie des Individuums als auch den Austausch und das Zusammenwirken von Mitgliedern von Gemeinschaften, „die um jeweils andere Konzeptionen des Guten integriert sind“ (ebd.: 177), sichert. Honneth rekonstruierte „Grundmotive einer Moral der Anerkennung“ (vgl. Honneth 1992 und 1990), nach denen sich drei Formen der Verletzung menschlicher Integrität unterscheiden lassen: neben der Verletzung der körperlichen Integrität die moralische Kränkung und die kulturelle Missachtung. Wird nun die körperliche Integrität des Individuums beeinträchtigt oder seine Lebensform abgewertet, dann entspricht dies einer Missachtung der Selbstschätzung des Individuums, wodurch dessen subjektive Voraussetzungen für sein intersubjektives Handeln gefährdet werden. Die Ziele kompetenten interkulturellen Handelns, die sich auf eine Theorie der moralischen Urteilsbildung und eine Theorie der sozialen Perspektivenübernahme stützen und die sich die Grundmotive der genannten Moral der Anerkennung zu eigen machen, wären dann erreicht, wenn „die Individuen körperliche Integrität als hohes Gut achten, einander unverbrüchlich als moralische Personen unter allen Umständen ernst nehmen und ihren jeweiligen Lebensformen ein im Prinzip anerkennendes Interesse entgegenbringen“ (Brumlik 1992: 299). Für Interkulturelle Kompetenz bildet die moralische Anerkennung des anderen als Mitglied einer Gruppe, die eine andere kulturelle Lebensform vertritt, den zentralen Aspekt, da sie Interaktionen zwischen sprach- und handlungsfähigen Angehörigen ethisch-kultureller Gemeinschaften zu regeln vermag. Im Blick auf mögliche Fremdheitserfahrungen befähigt die Moral der Anerkennung das Individuum zu toleranten Einstellungen und Reaktionsmustern, da die Anerkennung konkreter Pluralität an die Stelle der Abwehr fremder Lebensformen tritt. So erweist sich die Kompetenz des einzelnen, sich unter den Bedingungen einer reflexiv gewordenen Kultur mit anderen kulturellen Lebensformen auseinander
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zu setzen, selbst noch einmal als identitätsbildend. Für den interkulturellen Verständigungsprozess ist es darüber hinaus notwendig, eine moralische Identität aufzubauen, die in der Lage ist, Verstehensgrenzen zu überschreiten. Das Problem der hier geforderten Moral ist die Ausbildung von pluralen Lebensformen und einer Vielfalt von Identitäten, die wiederum in Koexistenz mit anderen Identitäten treten. Es geht also um eine Moral, „die sich im Unverständnis für das Fremde beweist und auch dort schützt und hilft, wo sie nicht versteht“ (Schwemmer 1992: 20). Schwemmer nun stellt darüber hinaus gehend die Anerkennung der konkreten Pluralität in einen Zusammenhang mit einer allgemeinen Verbindlichkeit, „die auch den tätigen Eingriff, die Intervention, mit einschließt“(ebd.). Eine Intervention ist moralisch dann gefordert, wenn es darum geht, dem konkreten Individuum jene Orientierung und Hilfestellung, jene Befähigung zu vermitteln, sein Leben – in den moralisch gesicherten Räumen – in der selbstbestimmten Perspektive des Gelingens selbst zu führen. Interkulturelle Kompetenz hätte sich dann an der Aufgabe zu bewähren, einen Zusammenhang zu stiften zwischen der Ausbildung einer Moral der Anerkennung unter Gruppen und Subkulturen mit je eigener kollektiver Identität und einer Ethik der Anerkennung der Person als Träger eines je eigenen Lebensentwurfs.
Die Ethik, die Identität und das Gelingen des Lebens Ethische Fragen werden nie kontextlos gestellt, sondern immer in Lebens- und Handlungszusammenhängen. Dieser jeweilige Kontext oder die Situation können aber selbst durchaus undeutlich und mehrdeutig sein und bedürfen ihrerseits noch der Klärung und Deutung. Meist sind es die Deutungsbedürftigkeit und die Uneindeutigkeit eines Handlungskontextes, die genau die ethischen Fragen hervorrufen. Antworten darauf enthalten also immer auch Situationsdeutungen oder bestehen sogar hauptsächlich aus ihnen. Entgegen einer gängigen Vorstellung hat es die Ethik – im Unterschied zur Moral – nicht nur, nicht einmal vor allem, mit streng präskriptiven Sätzen von der Art von Geboten, Verboten oder Imperativen zu tun. In der Ethik geht es vielmehr um Orientierungsprobleme des menschlichen Handelns in der Perspektive der Handelnden selbst. Wer sich in seinem eigenen Handeln orientieren will, wer andere in ihrem Handeln beraten will, wer das Handeln anderer kommentieren oder kritisieren will, billigen oder missbilligen will, wird nun aber stets feststellen, dass menschliches Handeln immer schon „orientiert ist“. Gesellschaften, Milieus, Gruppen – auch Professionen – halten längst schon konkurrierende Antworten auf ethische Fragen bereit.
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Die kulturellen und subkulturellen „Vorräte“ all dieser Antworten werden hier Ethos genannt. Das Ethos mit seinen vorgefundenen, geltenden Orientierungsmustern gilt im Alltag, in der Lebenswelt. Dies macht sich die reflexiv verfahrende Ethik zum Gegenstand ihrer Geltungsprüfung. Folglich soll hier unter Ethik eine „kritische Theorie des Ethos“ verstanden werden. Sie selbst verfährt als Theorie, als Rekonstruktion und Reflexion des Ethos, induktiv und eher dialogisch und nicht von vornherein deduktiv, monologisch. Das Ethos ist die Sphäre der Geltung und des Geltens von Leitbildern, von Orientierungs- und Rechtfertigungsmustern, von Selbstverständlichkeiten und von Normalitätsverständnissen. Die Aufgabe der Ethik ist die Prüfung dieser Geltungsansprüche, dabei macht sie von den Begründungsleistungen und Kriterien der Moral Gebrauch, insofern ist sie „kritische“ Theorie des Ethos. Sie rekonstruiert aber auch zunächst einmal Geltungen, Geltungsansprüche und Geltungsfolgen: in diesem Sinne ist sie dann „Theorie“ des Ethos. Sie nimmt vor allen Dingen sich die impliziten Voraussetzungen von normativen Geltungen vor und fragt nach dahinterliegenden Verständnissen von Mensch, Welt, Handeln, Vernunft etc. Sie ist weniger an der einzelnen Handlung und deren Beurteilung als am Handelnden selbst, an seinen Einstellungen und Haltungen sowie an seinen Tugenden orientiert. Sie ergänzt die klassischen moralischen Fragen „was soll ich tun, was darf ich keinesfalls tun und was schulde ich allen anderen kategorisch?“ um die nicht weniger klassischen ethischen Fragen „was für ein Mensch will ich denn sein, was für ein Leben will ich führen, was bedeutet für mich gelingendes Leben?” Als moderne Ethik geht es ihr um Freiheit, um Selbständigkeit, um Selbstbestimmung. Dabei geht es nicht nur um die Bestimmung durch das Selbst – als Gegensatz zur Fremdbestimmung, sondern es geht auch um die Bestimmung des Selbst durch das Selbst – zur Unterstreichung der Tatsache, dass Ethik dort einsetzt, wo der Mensch sich selbst als Aufgabe versteht. Im Alltag Interkultureller Pädagogik wird in besonderem Maße deutlich und folgenreich, dass dort, wo sich Menschen handelnd begegnen, sich auch immer soziokulturelle Orientierungsmuster und Selbstverständnisse begegnen. Die Interkulturelle Kompetenz besteht ganz wesentlich darin, dass der Professionelle dies beim Klienten und bei sich selbst wahrnimmt und rekonstruiert und dabei zugleich mit dem ethischen Urteilen behutsam und kontrolliert verfährt. Ethisches Wahrnehmen und Werten ist unvermeidbar und gerade deshalb muss vom Professionellen erwartet werden, dass er dem durchgängig Rechnung trägt, indem er insbesondere die eigenen Voreingenommenheiten und Befangenheiten mitreflektiert. Dies ist deswegen so bedeutsam, weil jedes menschliche Handeln von ethisch-kulturellen Orientierungsmustern abhängig ist und ohne Berücksichtigung dieses fundamentalen Sachverhaltes weder angemessen erklärt noch ver-
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standen werden kann. Jede sozialpädagogische Intervention, die auf verändertes Handeln seitens des Klienten zielt, kann dies nur auf dem „Umweg“ erreichen, dass sie diesen befähigt, aus Einsicht Veränderungen in seinem Selbstbild und generell in seinem Vorrat orientierender Bilder vorzunehmen. Dies behaupten wir nicht nur aus normativen, sondern auch aus methodologischen Gründen. Ein interkulturell kompetentes Handeln bewährt sich insbesondere im Konfliktfall: dann nämlich, wenn gegensätzliche ethische Überzeugungen, möglicherweise durch religiöse und andere traditionelle Motive verstärkt, zunächst unversöhnlich aufeinander treffen. Hier gilt es den beiden Versuchungen zu widerstehen, die darin zum Ausdruck kommen, dass Professionelle unter Ausnutzung ihrer Macht ihre Normalitätsvorstellungen durchsetzen oder mit Verweis auf das „Recht des Klienten auf kulturelle Selbstbehauptung“ die eigenen professionellen Standards unberücksichtigt lassen. Erforderlich ist hier vielmehr die Mobilisierung professioneller und methodischer Phantasie, damit Beratung als gemeinsamer interkultureller Lernprozess unter Einschluss aller Betroffenen überhaupt erst ihren Anfang nehmen kann. Ethik fragt deshalb umfassend nach den Voraussetzungen gelingenden Lebens. Sie zielt, mit P. Ricœur, integrativ „auf das gute gelingende individuelle Leben, gemeinsam mit und für andere, in gerechten Institutionen” (vgl. Ricœur 1996). Sie fragt darüber hinaus nach den Bedingungen, nach den Ressourcen, aber auch nach den dafür erforderlichen individuellen Kompetenzen. Sie fragt nach den „Gelingensbildern”: nach denjenigen Entwürfen, die Kulturen, Gruppen, Professionen, Milieus und Einzelne vom Gelingen ihres jeweiligen Lebens, vom Gelingen ihrer Handlungen und auch vom Gelingen ihrer professionellen Handlungen haben. Diese Ethik zielt auf das, was W. Schweiker „radikale Interpretation” genannt hat (vgl. Schweiker 1994). Eine radikale Selbst-Interpretation, deren Subjekt letztlich nur der Einzelne selber sein kann. Eine Soziale Arbeit, eine interkulturelle zumal, die sich auf Probleme der Lebensführung und der Lebensführungskompetenz von Individuen „helfend” bezieht und die sich insofern auch als Lebensführungshermeneutik (vgl. Volz 1993) vollzieht, kann sich dann auch als „stellvertretende radikale Interpretation” verstehen. Sie kann Situationen stiften und Medien anbieten, in denen Individuen solche radikalen Interpretationen ihrer Lebensführung – im Lichte entwickelter, reicher Vorstellungen vom menschlichen Leben, seinen Potentialen und seinen Gelingensbedingungen – entwickeln können. Im Blick auf das, worum es auch in einer auf pädagogische Professionen bezogenen Ethik geht, hat Charles Taylor vom „best account” gesprochen (vgl. Taylor 1981 und 1977; vgl. dazu auch Kreuzer 1999, Kap. II.2). Man kann hierbei an die beste, angemessenste Rechenschaft denken, an das best verstandene Selbstbild oder an den am besten artiku-
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lierten Selbstentwurf – als Horizonte von Selbstreflexion und Selbstveränderung. Es geht also um die Frage der angemessensten Deutungen für gemeinsam geteilte – aber zugleich deutungs bedürftige und auslegungsfähige – Leitvorstellungen wie etwa die des gelingenden Lebens. Für Individuen – aber eben auch für Professionen – heißt das, dass es ganz wesentlich um Selbstbildrekonstruktionen und um Selbstbildrevisionen geht.
Die professionelle Intervention: die Vermittlung von wissenschaftlicher Erklärung und ethischer Reflexion Wenn Menschen human- und sozialwissenschaftliche Theorien zur Beschreibung und Erklärung menschlichen Verhaltens und Handelns in professionelle Kontexte übernehmen und sich daran bei ihren Interventionsprozessen orientieren, dann nutzen sie jenes theoretische Wissen als Verfügungswissen. Sie handeln dann möglicherweise “sozialtechnologisch”, unabhängig davon, mit welchen Vorstellungen und Selbstbildern sie ihr berufliches Handeln begleiten und gegebenenfalls darstellen. Sie überspringen die Dimension der Ethik zugunsten der Technik. In wirklich „praktischer” (und nicht bloß „technischer”) Absicht muss das sozialwissenschaftliche Erklärungswissen reflektiert, das heißt gebrochen und verfremdet werden im Medium der lebensweltlichen Frage von Personen, die um ihre Identität besorgt sind, danach, wie ihr Leben gelingen kann. In diesem Reflektionsprozess erst entsteht jenes Orientierungswissen, das legitimerweise sozialarbeiterisches Handeln zu orientieren und anzuleiten vermag. Charles Taylor (1981 und 1977) hat wohl am nachdrücklichsten auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht, zwei Fragen zunächst deutlich zu unterscheiden, und sodann die Orientierung der Praxis nicht nur aus der Beantwortung einer von ihnen, sondern erst aus einem wechselseitigen Ineinander-Reflektieren beider zu gewinnen:
Wie können wir menschliches Handeln und Verhalten beschreiben und erklären? – Das ist die sozialwissenschaftliche Frage. Was macht Handlungen zu guten Handlungen? „Gut” in dem Sinne, dass sich aus ihnen eine Lebensführungspraxis und eine Identität in Auseinandersetzung mit normativen Horizonten von Vorstellungen eines „gelingenden Lebens” aufbaut. – Das ist die ethische Frage.
Sowohl für Individuen im Blick auf ihre Lebenspraxis, wie auch für die Professionellen im Blick auf ihre berufliche Praxis gilt eine wechselseitige Abhängigkeit von Handlungskompetenz und Selbstreflexion. Denn beide Male geht
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es um die Ermöglichung von und um die Befähigung zu „radikalen Interpretationen”. Es geht um eine „kulturelle Hermeneutik” der Selbst- und Weltbilder sowie der darein verwobenen und darin aller erst sich bildenden Handlungsmuster. Solch eine Selbstreflexion hat freilich auch den Charakter von Anstrengung und Zumutung, denn kaum eine Person und kaum eine Institution legt es darauf an, ständig Revisionen in Selbstbildern, Lebensentwürfen und anderen „Selbstverständlichkeiten” vorzunehmen. Dennoch geht es genau darum. Es gehört wohl zur „Conditio Humana”, dass alle Handlungsorientierungen, Bilder, Regeln und Normen um so besser „funktionieren”, je weniger dies den Akteuren bewusst ist und je „selbstverständlicher“ sie ihnen erscheinen. Daraus gewinnt das Alltagsleben, daraus gewinnen auch die Handlungsvollzüge im Alltag der pädagogischen Professionen Sicherheit. Während des Handelns können die Akteure nicht gleichzeitig dessen Voraussetzungen tiefgreifend problematisieren. Insofern aber gerade diese Bilder, Entwürfe und Regeln menschliche Handlungen entscheidend bestimmen, ist dann, wenn im Handeln Probleme und Verunsicherungen, chronisch oder strukturell, auftauchen, nach diesen zugrundeliegenden Bildern kritisch zu fragen. Im Interesse einer aufgeklärten und rechenschaftsfähigen Praxis sind gegebenenfalls Revisionen und Umbauten im Vorrat der – gerade auch besonders liebgewordenen – Deutungsmuster vorzunehmen. In der Regel ist die interkulturelle – wie nahezu jede (sozial)pädagogische – Intervention erforderlich, wenn die Lebensführung eines Menschen erschwert ist und folglich Beratung, Begleitung und Hilfe erforderlich macht. Pädagogisches Handeln kann in einer so definierten Situation nicht darin bestehen, dass der Professionelle – genauso wenig wie irgend ein anderer – an der Stelle des Klienten dessen Probleme löst und stellvertretend dessen Leben führt. Gerade auch für interkulturelle Soziale Arbeit gewinnt das professionstheoretische Modell der „stellvertretenden Deutung“ (vgl. Dewe u.a. 2001) eine besonders zentrale Bedeutung. Dies impliziert zunächst, dass die interkulturellen Wahrnehmungs- und Verstehenskompetenzen der Professionellen gestärkt werden und folglich einen größeren Stellenwert in der Ausbildung erhalten müssen. Pädagog(inn)en müssen fähig sein, von der lebensgeschichtlichen Lage und vom Selbstverständnis des Klienten das leisten zu können, was C. Geertz eine „dichte Beschreibung“ genannt hat (vgl. Geertz 1983: 7-43, vgl. auch S. 134-138). Sie müssen Zugang finden zur Bilderwelt des Klienten, durch die hindurch die Welt aller erst „zur Welt für“ diesen wird und zu den Selbstbildern, die mit darüber entscheiden, wie der Klient handelnd Situationen deutet und bewältigt. Die Interkulturelle Kompetenz muss demzufolge ein Verständnis von dem einschließen, was es heißt, die Frage nach dem Gelingen des Lebens aus der Perspektive einer Person zu stellen, die ihr Leben „von innen“ führt und die
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lebensgeschichtlich eine Fülle von Deutungs- und Handlungsmustern erworben hat, deren Geltung und Tauglichkeit durch die Migrationserfahrung immer wieder erschüttert werden. Einen anderen Menschen in der Perspektive der „ethischen Anerkennung“ zu respektieren und ernst zu nehmen bedeutet, in Interaktionsprozessen mit ihm gemeinsam herauszufinden, wie er sich selbst und seine Lage sieht; wie er selbst meint hineingeraten zu sein; welches die inneren Ressourcen und Kompetenzen sind, auf die er zur Bewältigung der Situation zurückgreifen könnte; welches die kontextuellen Irritationen, institutionellen Barrieren und personellen Unzulänglichkeiten sind, die die als unerwünscht und als veränderungsbedürftig erlebte Situation ausmachen; schließlich – last but not least – was für ein Selbstkonzept er hat und was für ein Leben er führen möchte, was für einem Entwurf es folgen solle. Solche Interaktionen gehören nicht zu den Voraussetzungen der Interventionen, sondern sind vielmehr bereits ein integraler Teil derselben. Sie haben insofern schon selbst Beratungscharakter, als in ihrem Vollzug der Klient selbst in die Lage versetzt wird, lebensgeschichtlich bedeutsame Fragen und die bis vor Eintritt in die Migrationssituation vorwiegend selbstverständlich gegebenen und implizit geltenden Antworten zu explizieren. Dies ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass er diese Antworten im Lichte neuer Erfahrungen und veränderter Kontexte zu revidieren vermag.
Die „kulturalistische Falle“ – zur Gefahr des Miss-Verstehens Solche interkulturellen Interventionen können nur dann über die Phase der Rekonstruktion und der Artikulation hinausgeführt werden und gelingen, wenn von den Professionellen eine Bereitschaft und Fähigkeit erwartet werden kann, die in ihr professionelles Wissen eingehenden Hintergrundannahmen zu thematisieren. In der interkulturellen Praxis gehen viele Sozialpädagogen davon aus, dass ein Wissen „über“ fremde Kulturen ihnen den Zugang zu ihrem Klientel erleichtert. Sie unterschätzen dabei leicht die Möglichkeit, dass man „mit dem Verstehen auch zu schnell“ sein kann (vgl. Volz 1999). Dann nämlich, wenn das in die Situation mitgebrachte Wissen an die Stelle desjenigen Wissens tritt, von dem – wie oben ausgeführt – gerade gilt, dass es nur gemeinsam mit dem Klienten „erzeugt“ werden kann. Ein „Immer-schon-Bescheid-Wissen-über“ tritt dann an die Stelle des methodisch kontrollierten Einzelfallverstehens. Diese „kulturalistische Falle“ lässt sich besonders gut am vorausgesetzten Kulturverständnis selbst erläutern (vgl. Kiesel 1996: 133-186). Vielfach werden in den Vorannahmen interkulturell-pädagogischer Ansätze Kulturen als hermetische und unanfecht-
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bare Systeme gedeutet, deren Aufeinandertreffen nicht etwa gemeinsame Aspekte aufscheinen lässt, sondern vielmehr Differenzen hervorhebt. An dieser kulturellen Schnittstelle bietet nun manche Variante der Interkulturellen Pädagogik an, Wissen über die jeweils andere Kultur und deren „vermeintlich totale Andersartigkeit“ (Nieke 1986: 470) zu vermitteln und dementsprechende pädagogische Handlungskonzepte zu entwickeln. Erst diese grundlegende und das pädagogische Feld strukturierende Hinsicht auf die multiethnisch zusammengesetzte pädagogische Klientel legitimiert im Horizont dieses Ansatzes auch die Notwendigkeit interkultureller erzieherischer Intervention. Mit Hamburger (1990: 316f.) ist solcher Interkulturellen Pädagogik vorzuhalten, dass sie durch ihre typisierenden Wahrnehmungsmuster ethnozentrische Einstellungen fördert, da sie weder die Ursachen für eine traditionelle Lebensführung in einer historisch besonderen Phase der Migrationssituation, noch traditionelle Einstellungen in der deutschen Gesellschaft analytisch reflektiert. Besonders auffällig ist hierbei die Gegenüberstellung von normativen Setzungen, die dem Selbstverständnis der „aufgeklärten“ Mehrheitsgesellschaft entsprechen, und empirischem Wissen, das zur Interpretation der vermeintlich kollektiven Denk- und Verhaltensmuster der Migrant(inn)en herhalten muss, ohne dass deren Rekonstruktion im Einzelfall noch nochwendig erscheint. Dieser unreflektierte Wechsel zwischen den Ebenen der Betrachtung ist charakteristisch für die Perspektivenbildung innerhalb der hier kritisierten Interkulturellen Pädagogik; er unterstützt eine Betonung kultureller Unterschiede zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur. Es ist also die Problematisierung dieses Gegensatzes erforderlich, um die Tauglichkeit eines herkunftsbezogenen Kulturbegriffs zu überprüfen. In der Interkulturellen Pädagogik, zumindest in der Alltagspraxis, überwiegen bislang noch diejenigen Überlegungen, die sowohl von der Interdependenz von nationaler Zugehörigkeit und kultureller Identität als auch von der nicht revidierbaren Dominanz, der quasi „kausalen“ Determinationskraft der Herkunftskultur für den Sozialisationsprozess im Aufnahmeland ausgehen. Diese Zuordnung ignoriert nicht nur vergleichbare kulturelle Muster in Ländern, die sozial und ökonomisch ähnlich strukturiert sind, sondern sieht auch von ungleichen und nicht selten entgegengesetzten soziokulturellen Verlaufsprozessen in ein und derselben Gesellschaft ab und sieht schließlich völlig ab von der Möglichkeit interkulturellen Lernens. Der dabei beanspruchte Kulturbegriff geht von der unzutreffenden Vorstellung einer statischen und durch sozialen und ökonomischen Wandel nicht beeinflussbaren Kultur aus. Die unterschiedlichen Traditionen und lebensweltlichen Konzepte gelten danach als weder vergleichbar noch kompatibel. Dieser Versuch einer Zuordnung von ethnischen Gruppen zu ihren jeweils „gegebenen“ Kulturen muss indessen misslingen, da Kultur „kein fest umrissenes
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Ganzes sozialer Handlungen und Orientierungen, sondern ein Verhandlungsobjekt oder auch ein umkämpftes Feld zwischen EinwanderInnen und ‚Eingeborenen’ [ist]“ (Lutz 1992: 57). Junge Migrant(inn)en sind in dem von ihnen vorgefundenen soziokulturellen Feld durch tagtägliche kommunikative Handlungen – wie dem Austausch von Informationen, Beurteilungen und Einstellungen – darauf angewiesen, neue Erfahrungen zu verarbeiten. Zugleich werden für die Migranten zunehmend die Folgen ihrer Vergesellschaftung in einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft wirksam, die den Prinzipien zweckrationalen Handelns folgt, einer Gesellschaft, in der mitgebrachte kulturelle Eigenschaften tendenziell bedeutungslos werden. Im Zuge dieser Entwicklung lösen sich tradierte Orientierungsmuster auf und Prozesse der Entstrukturierung vertrauter Strukturen setzen sich durch. Der kulturalistische Blick auf die Migrant(inn)en ignoriert sowohl die systemische als auch die soziale Integration der Zuwanderer als Mitglieder einer Gesellschaft, in der sinnhafte, zweckrationale und soziale Orientierungsprinzipien anerkannt sind. Die Konstruktion der „Kultur als Schicksal“ reproduziert ein Bild der Migranten, wie es im Verlauf der Zuwanderung der ersten Generation entstand – als stünden sie außerhalb zeitlicher und räumlicher Entwicklungen, und als seien sie bloß „Objekte und Opfer“ übermächtiger gesellschaftlicher (hier: kultureller) Prozesse und nicht auch lernfähige, selbstveränderungsfähige, kreative Subjekte und Akteure ihres Lebens und seiner Geschichte. In einer multikulturellen Gesellschaft kommt das Individuum nicht umhin, sich mit divergierenden Weltdeutungen auseinander zu setzen. Als kompetent erweist sich professionelle interkulturelle Beratung dann, wenn es ihr gelingt, die Rat suchenden Gesprächspartner in ihrem häufig schmerzhaften Prozess der Einsicht in die Relativität ihrer oft kulturell begründeten ethischen Überzeugungen zu begleiten. Die Erkenntnis, dass Menschen, die in einer multikulturellen Gesellschaft leben, ihr Leben und ihren Alltag auch anders führen können und, dass eine Vielfalt von Lebensformen in ihrer Pluralität zugleich ihre Ausschließlichkeitsansprüche aufgeben müssen, unterfüttert die interkulturelle Perspektive. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen besteht das Ziel eines interkulturell kompetenten Handelns und Beratens darin, den Prozess der Ausbildung der Individualität und der Autonomie der am interkulturellen Verständigungsprozess Beteiligten zu unterstützen. Hierzu sollten mit den Betroffenen Lernund Bewältigungsmuster entwickelt werden, wie die in der Komplexität der multikulturellen Gesellschaft begründeten antizipierbaren und nicht antizipierbaren Konflikte ertragen und wenn möglich gelöst werden können. Wenn wir also Interkulturelle Kompetenz im Kern als „Lebensführungshermeneutik“ verstehen wollen, dann nötigt uns dies dazu, die entsprechenden
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Fähigkeiten, Kenntnisse und Wissensbestände zu erwerben, die dazu erforderlich sind, mit Angehörigen unterschiedlicher ethnischer, kultureller und religiöser Traditionen so umzugehen, dass wir ihre Sichtweisen und Erklärungsmuster zu rekonstruieren vermögen und behutsame Vorschläge entwickeln können, wie im Falle konkurrierender Deutungen zu verfahren sei. Zugleich sollte den Klienten nicht vorenthalten werden, dass für uns die normativen Ansprüche der modernen universalistischen Moral und des ihr entsprechenden Rechtsbewusstseins handlungsleitend sind. Dazu gehört dann freilich auch ein relativierendes, selbst-distanzierendes und selbstkritisches Verhältnis zur eigenen Lebensführungspraxis und zu manchen bewährten, gewohnten und liebgewonnener Sichtweisen und Basisannahmen der Profession.
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Interkulturelle Kompetenz: eine sprachwissenschaftliche Perspektive Interkulturelle Kompetenz: eine sprachwissenschaftliche Perspektive
Annelie Knapp
Einleitung Sprache ist Mittel zur Verständigung, aber auch Ursache von Missverständnissen. Diese ebenso triviale wie weitreichende Aussage erhält im Kontext dessen, was man „interkulturelle Kommunikation“ nennt, eine besondere Dimension. Verständigung setzt eine gemeinsame Sprache voraus, aber u.a. auch einen gewissen Grad an Gemeinsamkeit von Standards des Kommunizierens und von Standards des Wahrnehmens, Glaubens, Denkens, Handelns allgemein sowie eine gewisse Menge an geteiltem Wissen, also einen common ground. Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach Gelingen oder Misslingen interkultureller Kommunikation22 und nach den für ihr Gelingen erforderlichen Kompetenzen von Kommunikationspartner/innen23 seit einer Reihe von Jahren für die Sprachwissenschaft ein hoch interessantes Thema, das über im engeren Sinne sprachliche Phänomene hinaus allgemeinere Dimensionen von „Kultur“ involviert. Dieses Thema ist aber nicht nur hoch interessant, sondern auch hoch komplex und schwierig nicht nur deshalb, weil die Umrisse dessen, was man als „Kultur“ bezeichnen kann, äußerst unscharf sind und der Gedanke voneinander unterscheidbarer Kulturen zunehmend problematisiert wird, sondern auch deshalb, weil gar nicht einfach bestimmbar ist, wann denn interkulturelle Kommunikation (im Unterschied zu intrakultureller) vorliegt und ob diese beiden Sorten von Kommunikation überhaupt kategorial zu trennen sind. In einem trivialen Sinne liegt interkulturelle Kommunikation beispielsweise dann vor, wenn ein Türke mit einer Deutschen kommuniziert oder eine Dänin mit einer Japanerin. Implizite common-sense-Kriterien, die uns diese Fälle als Fälle von „interkultureller Kommunikation“ auffassen lassen, sind nationale 22
Interkulturelle Kommunikation wird hier und im Folgenden verstanden als Form interpersonaler Kommunikation. 23 Ich bemühe mich in diesem Beitrag um die Verwendung geschlechtsneutraler Formulierungen. Wenn dadurch allerdings die Formulierung so kompliziert würde, dass sie das Verstehen des primär zu kommunizierenden Inhalts gefährden würde, verwende ich die generische maskuline Form und meine mit „Kommunikationspartnern“ selbstverständlich weibliche und männliche Personen.
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Zugehörigkeit und vermutete Muttersprache des Interaktanten/ der Interaktantinnen. Dass hier aber eine differenziertere Sichtweise erforderlich ist, wird im Folgenden noch deutlich werden. Unbestreitbar ist jedoch, dass Kommunikationssituationen des skizzierten Typs problembelasteter sind bzw. als problembelasteter wahrgenommen werden als andere Sorten von Kommunikation und dass tatsächlich auftretende bzw. wahrgenommene Problemhaftigkeit vorzugsweise dem Faktor „Kultur“ zugeschrieben wird. Zumindest in diesem Sinn ist die Problemhaftigkeit interkultureller Kommunikation Realität und ist die Frage danach, was denn – aus sprachwissenschaftlicher Sicht – interkulturelle Kompetenz ausmacht, also die Frage nach Merkmalen interkultureller Kommunikationsfähigkeit, berechtigt. Ich beginne mit dem Versuch einer ersten Annäherung an eine Definition von interkultureller Kommunikationsfähigkeit, werde dann an Hand einiger Thesen mögliche Ursachen für die besondere Problemhaftigkeit interkultureller Kommunikation darstellen und schließlich versuchen zu präzisieren, was denn interkulturelle Kommunikationsfähigkeit im Einzelnen ausmacht.
Die Konzepte „Kultur“, „Verständigung“ und „Missverstehen“ Mit Bezug auf meine früheren Arbeiten24 und in Anlehnung an die kulturanthropologischen Arbeiten von Keesing (1974), Goodenough (1971) und Geertz (1973) lege ich meinen Überlegungen einen Kulturbegriff zugrunde, der „Kultur“ als ein abstraktes, ideationales System von zwischen Gesellschaftsmitgliedern geteilten Wissensbeständen, Standards des Wahrnehmens, Glaubens, Bewertens und Handelns fasst, das in Form kognitiver Schemata organisiert ist und das sich im öffentlichen Vollzug von symbolischem Handeln manifestiert. Dieses ideationale System produziert Normalitätserwartungen, die als Folie für die Interpretation von Situationen und Handlungen sowie für Entscheidungen über die Gestaltung eigenen Handelns dienen. Vor diesem Hintergrund könnte in einer ersten allgemeinen Bestimmung interkulturelle Kommunikationsfähigkeit verstanden werden als die Fähigkeit, mit Mitgliedern anderer Kulturen ebenso erfolgreich Verständigung zu erreichen wie mit denen der eigenen und dabei kulturbedingte Missverständnisse zu vermeiden. Aber schon diese allgemeine Bestimmung hat ihre Tücken, bedient sie sich doch alltagssprachlich zwar gebräuchlicher, im wissenschaftlichen Diskurs aber nicht unproblematischer Konzepte. Hier können nur die wichtigsten Aspekte angerissen werden. 24
Vgl. z.B. Knapp/Knapp-Potthoff 1990 und Knapp-Potthoff 1997.
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Die Idee diskreter, voneinander unterscheidbarer Kulturen ist in den letzten Jahren in mehreren wissenschaftlichen Kontexten zunehmend in Frage gestellt worden. In diesem Zusammenhang sind auch „Interkulturaliät“ und „interkulturelles Lernen“ zu umstrittenen Konzepten geworden25:
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Eines der Probleme betrifft die Vermischung alltagssprachlicher und wissenschaftlicher Konzepte von Kultur und deren Abgrenzung gegenüber verwandten Konzepten. Insbesondere ist problematisch, dass eine Tendenz besteht, alltagssprachlich und im Zuge des alltagssprachlichen Gebrauchs dann auch gelegentlich im wissenschaftlichen (fach)didaktischen Diskurs „Kultur“ mit „Nation“ gleichzusetzen. Angesichts von Migrationsbewegungen (und in ihrer Folge einer zunehmenden Zahl plurikulturell geprägter Nationen) ist dies natürlich keine adäquate Sichtweise. U.a. mag ein gewisser Ethnozentrismus eine Rolle dafür spielen, dass interne kulturelle Differenzen in entfernter liegenden Regionen oft nicht wahrgenommen werden und dass undifferenziert von „der türkischen“, „der indischen“ und auch „der amerikanischen“ Kultur gesprochen wird. Selbst dass Großbritannien nicht nur von „der englischen“ Kultur geprägt ist, wird noch immer gelegentlich übersehen. So wie Nationen mehr oder weniger von Kulturenpluralismus geprägt sein können, kann auch dieselbe Kultur regional versprengt existieren. Kulturen sind nicht homogen, sondern variieren intern: Innerhalb dessen, was man mit gewissem Recht noch „die deutsche“ oder „die englische“ Kultur – im Sinne von mainstream-Kultur bezeichnen kann, gibt es erhebliche soziale, regionale, altersspezifische Unterschiede. Dass auch Verständigung zwischen Alten und Jungen, zwischen Arbeiter/innen und Akademiker/innen nicht immer gelingt, ist zwar trivial, aber in diesem Kontext doch wieder zu betonen. Es gibt eine zunehmende Anzahl multikulturell geprägter Individuen, die sich nicht eindeutig der einen oder anderen Kultur zuordnen lassen. In interpersonaler Interaktion kommuniziert deshalb nicht Kultur A mit Kultur B, sondern es kommunizieren Menschen, die sehr individuelle kulturelle Mischungsprofile aufweisen können. Im Kontakt mehrerer in ähnlicher Weise multikulturell geprägter Individuen kann nun wiederum eine neue Kultur, eine Kulturvariante oder eine Zwischenkultur entstehen. Kulturen unterliegen also einem dynamischen Entwicklungs- und Mischungsprozess. Die Ursachen und Antriebe für Veränderung sind vielfältig. Dazu gehören u.a. Migration und die in jüngerer Zeit
Vgl. beispielsweise die Diskussion aus fremdsprachendidaktischer Sicht zwischen Edmondson/House (1998) und Hu (1999).
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rasant erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten, die Kontakte zwischen Menschen nicht auf die Bedingung einer gemeinsamen räumlichen Präsenz reduzieren. Die Existenz interkultureller Kommunikation ist also nicht nur eine Konsequenz zunehmender Kontaktmöglichkeiten zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen, sondern sie ist gleichzeitig Ursache für Veränderung dieser Kulturen. Eine weitere Konsequenz der durch technologische Entwicklungen (Verkehr, Medien) erleichterten Kommunikationsmöglichkeiten über territorial gebundene nationale Grenzen hinweg ist, dass sich zunehmend unabhängig von nationalen Grenzen themen-, interessen- und aufgabenbezogene Kommunikationsnetzwerke etablieren, z.B. in den Bereichen Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst, Sport usw. Man kann davon ausgehen, dass sich innerhalb dieser Kommunikationsnetzwerke ein common ground geteilten Wissens und eigene Standards des Kommunizierens etablieren, die „Kultur“Charakter haben. Dies hat zur Folge, dass u.U. eine türkische und eine deutsche Wissenschaftlerin besser Verständigung erreichen können als die deutsche Wissenschaftlerin und ihre deutsche Großmutter. Einschränkend sei angemerkt, dass die Qualität der Verständigung sich möglicherweise nur auf bestimmte Kommunikationsdomänen bezieht und nicht notwendig genereller Art ist. Ich habe deshalb an anderer Stelle (vgl. Knapp-Potthoff 1997) vorgeschlagen, für die Diskussion von Fragen interkultureller Kommunikation den Begriff „Kultur“ durch „Kommunikationsgemeinschaft“ zu ersetzen. Menschen sind nicht auf Zugehörigkeit zu einer einzigen Kommunikationsgemeinschaft angewiesen, sondern können, und dies ist wohl eher als Normalfall denn als Ausnahme anzusehen, auf verschiedene Kommunikationsdomänen bezogen unterschiedlichen Kommunikationsgemeinschaften angehören. Hier liegt ein besonderes Potenzial für interkulturelle Verständigung. Ich werde im Folgenden weiterhin den Ausdruck „Kultur“ benutzen, verwende ihn aber im Sinne einer Kommunikationsgemeinschaft.
Ein zweiter Problembereich betrifft die Konzepte „Verständigung“ und „Missverstehen“. Abgesehen davon, dass man generell über die Möglichkeit und Unmöglichkeit gegenseitigen Verstehens philosophieren kann, ist das Konzept des Missverständnisses, obwohl gerade in der Literatur zu interkultureller Kommunikation häufig bemüht, theoretisch selten expliziert und wird eher alltagssprachlich, als „common sense-Kategorie“ verstanden (vgl. Hinnenkamp 1998 und 2001). Man wird noch sehr viel genauer definieren müssen, wann denn ein Missverständnis vorliegt, und man wird sehr viel präziser zwischen verschiedenen Sorten von Missverständnissen differenzieren müssen.
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Weiterhin könnte die Redeweise über Missverständnisse in der obigen vorläufigen Definition von interkultureller Kommunikationsfähigkeit suggerieren, dass Missverstehen etwas Spezifisches für interkulturelle Kommunikation sei und dass intrakulturelle Kommunikation – sofern sie denn unterscheidbar ist von interkultureller – mehr oder weniger missverständnisresistent sei. Letzteres ist mit Sicherheit nicht der Fall: In jeder Kommunikation wimmelt es von Missverständnissen, entdeckten wie unentdeckten. Glatte, problemlose Verständigung ohne Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten ist eine Illusion. Missverständnisse sind auch nicht immer als Resultate nicht gelungener Kommunikation anzusehen, sondern Mehrdeutigkeit kann intendiert, Missverständisse können zum Erreichen mancher kommunikativer Ziele sogar bewusst herbeigeführt sein. Die Fragen müssen vielmehr lauten, ob es spezifische Sorten von Missverständnissen in interkultureller Kommunikation gibt und wie weit die Beteiligten in der Lage sind, die aufgetretenen Missverständnisse zu erkennen und – so denn gewollt zu reparieren. Dies sind durch empirische Forschung zu bearbeitende und zu klärende Fragen.
Problemdimensionen interkultureller Kommunikation Interkulturelle Kommunikation ist häufig lernersprachliche Kommunikation und unterliegt damit spezifischen Beschränkungen. In interkultureller Kommunikation spricht häufig wenigstens einer der Beteiligten nicht in seiner Muttersprache, sondern in einer mehr oder weniger entwickelten Lernersprache. Nicht selten kommunizieren auch alle Beteiligten nicht in ihrer Muttersprache, sondern mit Hilfe einer lingua franca. Für die Verständigung in interkultureller Kommunikation hat dieses Faktum eine Reihe von Auswirkungen: Je nach dem, ob nur eine(r) der an der Kommunikation Beteiligten in einer Lernersprache kommuniziert oder mehrere dies tun, existieren von vornherein ungleiche Chancen in der Interaktion. Mit der Sprachenwahl werden damit schon entscheidende Weichen für den Verlauf der Interaktion gestellt. Die Notwendigkeit, eine Lernersprache zu verwenden, bedeutet nun nicht nur, dass der jeweilige Interaktant/ die jeweilige Interaktantin sich mit größerer Anstrengung, weniger präzise und weniger differenziert über Sachverhalte in der Welt äußern kann, sondern auch, dass er/sie Aspekte der interaktionalen Bedeutung, d.h. der sozialen Beziehung zwischen den Gesprächspartnern, oft nicht in der intendierten Weise kommunizieren kann. Selbst bei Kenntnis kulturspezifisch unterschiedlicher Konventionen des Kommunizierens (s.u.) fehlen ihm/ihr
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häufig die lernersprachlichen Mittel, um intendierte Bedeutungen von Höflichkeit, Wertschätzung, Nähe, Distanz usw. adäquat verbal zu realisieren. Beim Kommunizieren gibt man aber nicht nur Aufschluss über seine Beziehung zum Kommunikationspartner, sondern man stellt sich auch selbst dar: als klug, sensibel, überlegen, witzig, charmant usw. Dass die jeweilige Entwicklung der Lernersprache diese Darstellung oft nicht angemessen erlaubt, ist für viele Sprecher/innen an Gefühle der Unzulänglichkeit, Hilflosigkeit und Infantilisierung geknüpft. Die Deutung von nicht explizit Gesagtem ist in der Kommunikation mit Angehörigen einer fremden Kultur schwieriger als in der Kommunikation mit Angehörigen der eigenen Kultur. Die Deutung von nicht explizit Gesagtem ist ein grundlegender Prozess in der Kommunikation. Ob eine Äußerung als ein Vorwurf zu verstehen ist, als eine Drohung oder eine Bitte, ob sie ungewöhnlich höflich oder unhöflich formuliert ist, ob es sich um einen Witz handelt, eine ironische oder eine ernsthafte Bemerkung usw., wird selten explizit gemacht. Auch in der Kommunikation mit Angehörigen fremder Kulturen ist eine Deutung von nicht explizit Gesagtem ein permanent notwendiger Prozess. Um die in der Begegnung mit Fremden immer vorhandene Unsicherheit über weitere Handlungsmöglichkeiten und die eröffnete soziale Beziehung zu reduzieren und um die weitere Interaktion berechenbar zu machen, ziehen Kommunikationspartner auf der Basis ihrer Normalitätserwartungen Rückschlüsse aus dem Handeln und Verhalten des/der Anderen. Da aber die sprachlichen Mittel zur Indizierung der vorausgesetzten Handlungs- und Beziehungsschemata wie auch diese Schemata selbst interkulturell verschieden sein können, kann es schnell zu Nichtverstehen oder Missverstehen kommen, kann die normalerweise unproblematische Kooperativität des kommunikativen Handelns problematisch werden. Dieses Problematisch-Werden erhöht nicht nur die Unsicherheit im Umgang mit Fremden. Gerade weil Interaktion immer auch interaktional gedeutet wird, werden Belastungen und Fehlschläge der Verständigung schnell der Person des Anderen zugeschrieben. Interaktanten in interkultureller Kommunikation verfügen nicht nur über unterschiedliche Voraussetzungen im Hinblick auf die für die Kommunikation zur Verfügung stehenden Sprachsysteme, sondern sie bringen auch kulturspezifisch unterschiedliche Konventionen des Kommunizierens in die Interaktion ein. Diese Konventionen behalten für die Interaktanten oftmals auch bei Verwendung eines anderen Sprachsystems ihre Geltung. Sie sind überdies den Interaktanten oftmals nicht bewusst und können deshalb ihr besonderes Missverständnispotenzial entfalten.
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Die sprachwissenschaftliche Forschung zu interkultureller Kommunikation hat im Rahmen kontrastiv angelegter Analysen eine Fülle von Unterschieden in den Formen des Kommunizierens herausgearbeitet. Hier sollen nur einige genannt werden:
Sprechakte können sich interkulturell hinsichtlich der Vorkommensbedingungen und der bevorzugten Realisierungsformen unterscheiden. So wird z.B. im japanischen Kontext als Reaktion auf eine Gefälligkeit statt des Sprechakts „Sich-Bedanken“ konventionellerweise der der Entschuldigung vollzogen. Aufforderungen werden im deutschen Kontext tendenziell direkter als im englischen realisiert. Komplimente werden in den USA üblicherweise dankend angenommen, während in Japan der zweite Teil der Handlungssequenz „Kompliment – Reaktion“ normalerweise in einer höflichen Zurückweisung des Kompliments besteht. Kulturspezifische Unterschiede bestehen dahingehend, ob ein Angebot (z.B. einer Mahlzeit oder eines Getränks) sofort angenommen werden darf oder ob mehrere rekursive Angebots-Ablehnungs-Sequenzen erforderlich sind, bevor das Angebot angenommen werden kann. Es existieren kulturspezifisch unterschiedliche Normalitätserwartungen hinsichtlich der Direktheit und des Grades der damit verbundenen Gesichtsbedrohung, mit der Kritik geäußert wird, usw. Auch generelle Diskurskonventionen variieren interkulturell. Wie lange man normalerweise small talk macht, bevor man zum eigentlichen Thema des Gesprächs kommt, überhaupt die Wahl der Themen, die bei verschiedenen Typen von Gesprächen (private Gespräche, Gespräche in Institutionen, erste Begegnungen, Gespräche mit Fremden oder mit Familienangehörigen) üblich oder tabuisiert sind, ist kulturspezifisch unterschiedlich geregelt. Auch im paraverbalen Bereich gibt es zahlreiche kulturelle Unterschiede. So zeigen z.B. die Arbeiten von Gumperz, wie Unterschiede in der Prosodie schon zwischen Sprechern von verschiedenen Varietäten des Englischen (indisch vs. britisch) zu Missverständnissen führen, weil etwa eine als höfliche Routine intendierte Frage von Sprechern des Indian English konventionellerweise mit fallender Intonation realisiert wird, was im britischen Englisch der Intonation einer Aussage oder Behauptung entspricht (vgl. Gumperz 1982). Auch welche Lautstärke für Unterhaltungen als normal gilt, variiert kulturell. Weiterhin bestehen kulturelle Unterschiede in der temporalen Gliederung der Kommunikation. Was als normal lange Pause zwischen Redebeiträgen gilt und wann eine Pause so lang ist, dass sie die Möglichkeit des Sprecherwechsels signalisiert, ist kulturell unterschiedlich geregelt. Derartige
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scheinbar unbedeutenden Unterschiede haben u.U. weitreichende Wirkungen. So kann mangelnde Übereinstimmung in der Einschätzung, ob eine Pause so lang ist, dass sie die Möglichkeit des Sprecherwechsels signalisiert, dazu führen, dass eine/r der an der Interaktion Beteiligten den Eindruck gewinnt, er/sie komme nicht zu Wort bzw. ihm/ihr werde das Wort abgeschnitten, während der/die andere den Eindruck gewinnen kann, der/die Kommunikationspartner/in sei desinteressiert, uninformiert, träge und dumm, weil er/sie die Gelegenheit, das Wort zu ergreifen, nicht nutzt. Als potenziell noch gravierender muss man die Konsequenzen einschätzen, wenn man bedenkt, dass mit dem Rederecht auch eine gewisse Dominanz in der Themenwahl verknüpft ist (vgl. Scollon/ Scollon 1981). Manch eine/r glaubt, die sprachlichen Beschränkungen und Probleme interkultureller Kommunikation umschiffen zu können, indem er/sie sich in hohem Maße auf non-verbale Formen der Kommunikation verlässt. Dies ist leider ein Irrtum, denn neben universellen Formen mimischen und auch gestischen Ausdrucks ist auch in diesem Bereich kulturelle Prägung wirksam. Dies betrifft beispielsweise kulturelle Konventionen der Maskierung von Emotionen in der Mimik, insbesondere aber kulturell konventionalisierte Formen der Gestik.
Das Missverständnispotenzial der genannten Typen von Unterschieden in den Konventionen des Kommunizierens ist deshalb besonders groß, weil – anders als bei sprachsystembezogenen Unterschieden in Syntax, Lexik oder Aussprache, den meisten Sprecher/innen gar nicht bewusst ist, dass sie bei ihrer Art zu kommunizieren zwar nicht festen Regeln, aber doch Konventionen folgen, die sie während ihrer Sozialisation in einem spezifischen kulturellen Kontext erlernt haben. Ein Abweichen von dem, was in einer bestimmten Situation als „normales“ „unauffälliges“, „unmarkiertes“ Kommunikationsverhalten gilt, wird deshalb häufig nicht auf kulturelle Differenz zurückgeführt, sondern durch Zuschreibungen von Charaktereigenschaften (aufdringlich, unhöflich, großspurig, unehrlich, unentschieden, uninteressiert, ablehnend usw.) erklärt (s.o.; vgl. auch Lalljee 1987). Divergenzen in den Konventionen des Kommunizierens können zu Kommunikationsproblemen im interkulturellen Kontakt führen – sie müssen es aber nicht. Entscheidend ist zum einen, ob die Interaktanten diese Unterschiede erkennen und im Bestreben, Fremdheit zu reduzieren, sie auszugleichen bzw. für ihre Interpretation der Kommunikationsereignisse einzubeziehen versuchen, oder ob sie sie zur bewussten Konstruktion von Differenz und Fremdheit einsetzen wollen.
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Es ist wichtig zu betonen, dass die genannten Unterschiede nicht unausweichlich und gar in mechanistischer Weise zu Missverständnissen und anderen Problemen führen, sondern dass der Unterschiedlichkeit lediglich ein gewisses Potenzial für die Entstehung von Kommunikationsproblemen innewohnt. Zum einen spielt hier eine Rolle, was man als „interkulturelles Interaktionsparadox“ bezeichnen kann: Es ist sicherlich falsch, generell davon auszugehen, dass Interaktanten in interkulturellen Interaktionen in genau derselben Weise kommunizieren wie mit Angehörigen der eigenen Kultur. Mehr oder weniger diffuse Erwartungen von Andersartigkeit und Problemhaftigkeit der Interaktion, die auch in intrakultureller Kommunikation wirksamen Prozesse der Anpassung an Kommunikationspartner/innen (z.B. in Sprechgeschwindigkeit und Lautstärke) sowie ggf. eine genereller „Fremdheitsbonus“ können – wohl in individuell unterschiedlichem Maße ins Spiel kommen. Vor allem ist aber wichtig, ob die Interaktion grundsätzlich von gemeinsamen Interessen und einem Willen nach Verständigung geprägt ist (wie z.B. bei einem gemeinsamen Interesse der Interaktant/innen an einem Geschäftsabschluss) oder ob die Interaktion unter dem Zeichen der Suche nach Bestätigung vorgefasster Urteile und dem Bestreben nach Betonung von Differenz und vielleicht sogar Unmöglichkeit der Verständigung geprägt ist. Helga Kotthoff hat in einer exotisch anmutenden, aber auch in ihren generellen Implikationen überzeugenden Analyse von Kommunikationssituationen bei einem georgischen Gastmahl herausgearbeitet, wie in der Interaktion ein relativ geringfügiger Unterschied in der Bekleidung zweier regional benachbarter Gruppen zum Anlass genommen wurde, Fremdheit regelrecht zu konstruieren, während der unbeholfene und eigentlich als nicht gelungen einzuschätzende Versuch eines Deutschen, einen georgischen Trinkspruch von sich zu geben, mit Zeichen von hoher Akzeptanz aufgenommen wurde (vgl. Kotthoff 1997). Kulturelle Ursachen für Kommunikationsprobleme können nicht immer klar von anderen Ursachen getrennt werden. Manches Kommunikationsproblem, für das schnelle interkulturelle Erklärungen beigebracht werden, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als ganz anders begründet: z.B. durch kulturunabhängig unterschiedliche Interessenlagen oder als ein Problem mangelnden oder unzutreffenden Institutionenwissens (vgl. Liedke 1997). In seiner Analyse von Problemen in der betrieblichen Kommunikation hat Karlfried Knapp (1998) herausgearbeitet, dass die von einigen der Beteiligten vorgenommene kulturelle Ursachenzuschreibung für ein Kommunikationsproblem inadäquat war und dass eigentlich firmeninterne Interessenkonflikte Ursachen für das Problem waren.
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Kommunikation innerhalb von Institutionen ist auch innerhalb dessen, was üblicherweise als intrakulturelle Kommunikation bezeichnet wird, nicht ohne Probleme. Bei der Kommunikation mit Behörden, vor Gericht, mit der Polizei, aber auch innerhalb der Institution Schule besteht, insbesondere dann, wenn es sich um Erstkontakte handelt, auch innerhalb der Heimatkultur häufig Unsicherheit über Konventionen des Kommunizierens und über die mit den jeweiligen Rollen in der Interaktion assoziierten Normalitätserwartungen. Solche Unsicherheiten reichen von Fragen der Gestaltung von Begrüßungs- und Verabschiedungsritualen über die Frage, inwieweit mit den jeweiligen Rollen Erwartungen an eher initiatives oder reaktives Verhalten verbunden sind, welche Sorte von Information in welcher Ausführlichkeit auf welche Fragen erwartet wird und was an gemeinsamem Wissen vorausgesetzt werden kann, bis zu Fragen der makrostrukturellen Einbettung entsprechender Interaktionen, d.h. ob die Interaktion spontan und an beliebigen Orten möglich ist oder nur zu bestimmten Zeiten und nach vorheriger Anmeldung bzw. an einer bestimmten Position innerhalb einer Interaktionssequenz. Erwartungen über angemessenes Verhalten in Institutionen prägen auch das kommunikative Geschehen im schulischen Kontext: Besteht die Erwartung, dass Lehrer/innen eher die Fragen stellen und Schüler/innen eher Fragen beantworten? Wird eher erwartet, dass Schüler/innen selbst initiativ werden und Fragen stellen sowie Themen für die Interaktion vorschlagen? In welchem Maße und in welcher Form wird (kommunikatives) Engagement von den Eltern erwartet? Dass auch in diesem Bereich nicht-kongruente Erwartungen zu Missverständnissen und unangemessenen Attributionen führen können, ist evident. Hier vermischen sich die insbesondere bei Erstkontakten vorhandenden allgemeinen Unsicherheiten beim kommunikativen Handeln in einer Institution mit kulturspezifsich divergierenden institutionenbezogenen Erwartungen. Es gibt spezifische Kommunikationsformen in interkultureller Kommunikation, die prinzipiell dazu geeignet sind, Verständigung zu verbessern, denen gleichwohl selbst wieder ein besonderes Potenzial für Missverständnisse innewohnt. Das Hinzuziehen eines Dolmetschers/ einer Dolmetscherin scheint als idealer Weg, um interkulturelle Kommunikation glatt und erfolgreich zu gestalten. In der Tat besteht bei Dolmetsch-Interaktionen die Möglichkeit, lernersprachlich bedingte Probleme zu reduzieren und Unterschiede in den Konventionen des Kommunizierens auszugleichen etwa indem der/die Dolmetscher/in auf die Notwendigkeit eines erneuten Ablehnens eines Angebots vor dessen Annahme hinweist oder indem er/sie in Anpassung an andere kulturelle Normalitätserwartungen eine Bitte höflicher übermittelt als sie vom Sprecher, dessen Redebeitrag er/sie übersetzt, formuliert war. Im Alltag werden aber nicht nur professionelle
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Dolmetscher/innen eingesetzt, die die hohen Ansprüche an Dolmetschtätigkeit einigermaßen einzulösen in der Lage sind, sondern vielfach werden Menschen, die mehr oder weniger zufällig anwesend sind und die über mehr weniger gute Kenntnisse in den Sprachen derjenigen verfügen, die sich ohne Hilfe nur schwer verständigen können, für diese Aufgabe herangezogen. Dabei wird oft übersehen, dass diese nicht-professionellen Dolmetscher/innen häufig eine der beteiligten Sprachen auch nur auf mehr oder weniger fortgeschrittenem lernersprachlichem Niveau beherrschen und damit denselben Beschränkungen unterliegen wie oben skizziert. Es wird auch übersehen, wie komplex die Dolmetsch-Aufgabe ist und dass Menschen, die dafür nicht speziell ausgebildet sind, in der Regel nicht in der Lage sind, die vielfältigen Anforderungen (mehr oder weniger lange Redebeiträge memorieren und „übersetzen“, den zu übermittelnden Text anders perspektivieren („er/sie sagt, er möchte“ statt „ich möchte“), kulturspezifisch modifizieren oder metakommunikativ erläutern, den Sprecherwechsel regeln usw.) gleichzeitig zu erfüllen. Meine eigenen Untersuchungen haben gezeigt, dass auch nicht-professionelle Dolmetscher/innen dazu tendieren, bei Überforderung die interaktionalen Aspekte der Bedeutung zu vernachlässigen, also z.B. eine sehr höflich formulierte Bitte um Rückgabe eines Buches auf „Er sagt, er braucht das Buch ganz dringend“ zu reduzieren (vgl. Knapp-Potthoff 1992).
Komponenten interkultureller Kommunikationsfähigkeit „Interkulturelle Kommunikationsfähigkeit“ kann als Fähigkeit zur Teilhabe an einer bestimmten Kultur verstanden werden (IKF 1), aber auch als Fähigkeit, mit Mitgliedern verschiedener Kulturen in befriedigender Weise Verständigung zu erreichen (IKF 2). IKF 1 wäre beispielsweise dann zu entwickeln, wenn ein dauerhafter Aufenthalt in einem von einer anderen Kultur geprägten Umfeld angestrebt wird, IKF 2 dann, wenn temporäre und unterschiedliche Kontakte mit Angehörigen mehrerer Kulturen zu erwarten sind. IKF 1 und IKF 2 schließen sich selbstverständlich nicht aus. Je nachdem welche Variante Priorität hat, sind aber unterschiedliche Sorten von kulturbezogenem Wissen (s.u.) zu akzentuieren. Sofern nicht anders vermerkt, sind die folgenden Komponenten interkultureller Kommunikationsfähigkeit für beide Sorten relevant: Interkulturelle Kommunikationsfähigkeit beinhaltet Bereitschaft zum Eintritt in die Kommunikation mit Angehörigen anderer Kulturen sowie die Bereitschaft, diese Kontakte fortzusetzen.
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Dies impliziert nicht kritiklose Akzeptanz fremdkultureller Standards, Normen und Werte, sondern stellt vielmehr die Voraussetzung dafür dar, dass man sich mit solchen Standards, Normen und Werte überhaupt kommunikativ auseinandersetzt und sie vielleicht probeweise in der Interaktion übernimmt. Die Bereitschaft zur Kommunikation mit Angehörigen anderer Kulturen bietet überhaupt auch die Voraussetzung dafür, einen common ground zu entwickeln und die Grundlagen neu entstehender Kommunikationsgemeinschaften bzw. Mischkulturen gemeinsam auszuhandeln. Interkulturelle Kommunikationsfähigkeit beinhaltet das Verfügen über kulturspezifisches Wissen. Auf den ersten Blick scheint diese Komponente den Kern interkultureller Kommunikationsfähigkeit auszumachen; sie ist auch sicherlich besonders relevant für eine interkulturelle Kommunikationsfähigkeit im Sinne von IKF 1. Dass Wissen über eine bestimmte andere Kultur – allerdings nicht nur landeskundliches und historisches Wissen, sondern auch Wissen über bevorzugte Formen des Kommunizierens Kommunikationsprobleme vermeiden helfen kann, scheint plausibel. Allerdings ist hier Vorsicht geboten. Kulturen sind nicht statisch, sondern zeitlichem Wandel unterworfen, in einigen Aspekten mehr, in anderen weniger. Insbesondere solche Aspekte, die als surface culture aufgefasst werden (z.B. Kleidungskonventionen, Begrüßungsrituale, Anredeformen) können sich in relativ kurzen Zeiträumen beträchtlich ändern. Dies erfährt man in besonders eindrucksvoller Weise, wenn man sich mit aus Fremdperspektive vorgenommenen Beschreibungen der eigenen Kultur auseinandersetzt26. Sofern Menschen nicht in permanentem Kontakt mit der betreffenden fremden Kultur stehen, sondern ihr kulturbezogenes Wissen über den unvermeidlichen time lag erwerben, der durch seine systematische Beschreibung und Veröffentlichung – evtl. dann noch die Integration in Lehrbücher entsteht, kann vermeintliches Wissen über eine andere Kultur tatsächlich veraltetes, nicht mehr aktuelles Wissen sein und sich damit als relativ unbrauchbar erweisen, wenn es denn in der Interaktion aktualisiert werden soll. Hinzu kommt die Tendenz, dynamische Entwicklungen in anderen Kulturen aus der räumlichen Distanz heraus im Vergleich zu denen der eigenen zu unterschätzen. Die schon oben erwähnten Prozesse der Veränderung von Kulturen unter dem Einfluss des Kontakts mit anderen Kulturen führen zudem dazu, dass dynamische kulturelle Entwicklungen in der territorial definierbaren Basisregion einer Kultur eher nicht synchron mit den Weiterentwicklungen von Teilgruppen 26
Vgl. z.B. die Beschreibung des deutschen „Wohnsimmers“ (sic!) in Condon/Yousef 1975.
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dieser Kultur verlaufen, die in anderskulturell geprägten Regionen oder Kontexten leben. Gerade im Zusammenhang mit der Reduktion der kommunikativen Kontakte entfernt sich z.B. „die Kultur“ von in Deutschland lebenden Türk/ inn/en zunehmend von der heimatlichen türkischen Kultur. Insgesamt wird es schwierig, einen festen Kern von auf eine bestimmte Kultur bezogenem Wissen zu definieren, wenn man die territoriale Versprengung von Kulturen und die vielfältigen kulturellen Prägungen einer immer größeren Zahl von Individuen berücksichtigt. Eine weitere Schwierigkeit betrifft die Frage, welches kulturspezifische Wissen in welcher Form organisiert sein müsste, wenn man es gewinnbringend in interkultureller Kommunikation einsetzen möchte. Zum einen ist schwierig zu bestimmen, welches Wissen denn genau erforderlich ist, wann man es als „ausreichend“ bezeichnen kann. Nicht nur die diachrone, sondern auch die synchrone Variation innerhalb „einer Kultur“, die Tatsache, dass Manches relativ grundsätzlich, Anderes nur unter bestimmten Bedingungen und für bestimmte Teilgruppen innerhalb der Kultur gilt, dass Tendenzen zu einer bestimmten Art von Wahrnehmung, Interpretation oder Handeln mehr oder weniger stark ausgeprägt sein können, macht deutlich, dass ein kulturbezogenes Wissen von ungeheurer Differenziertheit erworben sein muss, damit man wirklich angemessen innerhalb einer bestimmten Kultur interagieren kann. Die Realität ist – angesichts von Komplexität und Veränderung von Kulturen – eher Halb- bzw. Teilwissen. Zum anderen unterliegt ein Wissen, das in Form von Einzelinformationen organisiert ist, der Gefahr, kontraproduktiv zu sein. House (1994) diskutiert ein Beispiel für eine folgenreiche Übergeneralisierung einzelner kultureller Formen auf Grund des Herauslösens eines analytisch isolierbaren Phänomens aus seinem systematischen Zusammenhang: Eine japanische Studentin hatte gelernt, dass Amerikaner in Interaktionen direkt und explizit sind. Aufgrund dieses Wissens hatte sie die Äußerung eines amerikanischen Bekannten „Why don't you come and visit us sometime?“ als Einladung interpretiert und war daraufhin in eine sehr peinliche Lage geraten. Kulturelle Besonderheiten sind derart komplex und systematisch miteinander verbunden, dass sie, um funktional gehandhabt werden zu können, nicht in Form simpler Aussagen und Zuordnungen gelernt werden sollten, sondern eher als komplex organisierte kognitive Schemata. Aus den genannten Gründen ist auch die Ratgeber-Literatur, die eine schlichte Aufzählung der dos and dont's in Bezug auf fremde Kulturen bietet, unbefriedigend, weil sie unangemessene Generalisierungen begünstigt und eine trügerische Verhaltenssicherheit suggeriert. Kulturspezifisches Wissen sollte von den Beteiligten daher immer als prinzipiell unvollständig und beständig ergänzungs-, revisions- und differenzierungsbedürftig aufgefasst werden.
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Interkulturelle Kommunikationsfähigkeit beinhaltet das Verfügen über allgemeines Wissen über Kultur und Kommunikation („interkulturelle Kommunikationsbewusstheit“). Angesichts der dargestellten Probleme mit der Beschreibung, dem Erwerb und der Handhabung kommunikationsrelevanten kulturspezifischen Wissens stellt allgemeines Wissen über Kultur und Kommunikation eine wichtige Ergänzung dar, insbesondere im Fall einer angestrebten IKF 2. Zu allgemeinem Wissen über Kultur und Kommunikation gehört:
Wissen um die Abhängigkeit menschlichen Denkens, Deutens und Handelns – auch des kommunikativen Handelns – von kulturspezifischen kognitiven Schemata, Wissen um die Kulturabhängigkeit des eigenen Denkens, Deutens und Handelns, Kenntnis von Dimensionen, in denen sich Kulturen grundsätzlich unterscheiden können, speziell Kenntnis unterschiedlicher Konventionen des Kommunizierens, Wissen über die Grundprinzipien der interpersonalen Kommunikation: über die Rolle von Kommunikation zur Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen, über Prozesse der Unsicherheitsreduktion, der Attribution und der Stereotypenbildung, Wissen über Probleme von Lernersprach- und lingua-franca-Kommunikation, Wissen über die speziellen Bedingungen der Kommunikation mit (nichtprofessionellen) Dolmetschern.
Interkulturelle Kommunikationsfähigkeit beinhaltet auch strategische Fähigkeiten: Die Beherrschung von interaktionsbezogenen Strategien sowie von Lern- und rudimentären Forschungsstrategien sind grundlegende Komponenten einer dynamschen interkulturellen Kommunikationsfähigkeit. Bereitschaft zum Eintritt in die Kommunikation und zu ihrer Aufrechterhaltung sowie kulturspezifisches und generelles kommunikationsbezogenes Wissen stellen eine Basis dar für die Anwendung von Strategien in konkreten interkulturellen Kommunikationssituationen. Man kann hier unterscheiden in solche Strategien, die den erfolgreichen Verlauf der aktuellen Interaktion zum Ziel haben (interaktionsbezogene Strategien) und solche, die als Lern- bzw. rudimentäre Forschungsstrategien auf die Erweiterung, Aktualisierung und Differenzierung von fremdkulturbezogenem Wissen gerichtet sind.
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Es muss betont werden, dass die folgende Liste von Strategien einen Fundus darstellt, aus dem situations- und rollenspezifische Auswahlen getroffen werden müssen. Dies gilt insbesondere für die interaktionsbezogenen Strategien. Anders als bei den Wissenskomponenten interkultureller Kommunikationsfähigkeit realisieren sich interaktionsbezogene Strategien immer in Entscheidungen über konkrete Handlungen in interpersonaler Interaktion, und das heißt auch: in sozialen Situationen. Interkulturelle Kommunikation als Kommunikation in sozialen Kontexten ist geprägt durch die jeweiligen Rollen der Beteiligten und die damit verbundenen Dominanzverhältnisse. Nicht in jeder Rolle lässt sich jede der genannten Strategien realisieren, nicht in jeder Rolle macht jede der Strategien Sinn. So ist z.B. der Einsatz einer bestimmten Strategie in unterschiedlicher Weise sinnvoll und überhaupt möglich je nachdem ob der/die jeweilige Interaktant/in in einer Rolle als Lehrer/in, Schüler/in, Elternteil, Mitschüler/in, Asylbewerber/in, Mitarbeiter/in der Ausländerbehörde, Kunde/Kundin, Verkäufer/in, Tourist/in, Freund/in, Kollege/Kollegin, Vorgesetzte/r usw. handelt. Selbstverständlich ist hier auch relevant, ob es um die Realisierung von Strategien durch Mitglieder einer dominanten Kultur geht oder um Strategienanwendung aus der Sicht des/der „Fremden“. Entsprechend kann jeweils ein Teil der folgenden interaktionsbezogenen Strategien eingesetzt werden:
das Bemühen, die Kommunikationsbereitschaft des Partners/der Partnerin zu erhalten, indem Tabuverletzungen vermieden werden, Annäherungsbereitschaft an die andere Kultur signalisiert wird (z.B. durch den Versuch der zumindest partiellen Verwendung der Muttersprache des Interaktionspartners, durch partielle Anpassung an die vermuteten Konventionen des Kommunizierens in seiner Kultur, durch die Suche nach common ground), die Suche nach Gemeinsamkeiten für die Interaktion, z.B. die Suche nach der besten gemeinsamen Sprache, nach gemeinsamem Erfahrungshintergrund aufgrund ähnlicher sozialer Rollen, nach vermuteten Gemeinsamkeiten der beteiligten Kulturen, das Achten auf Indizien für Missverstehen in der Interaktion auf der Basis der Erwartung, dass eigene Äußerungen missverstanden worden sein könnten, die Nutzung des spezifischen Wissens über die fremde Kultur sowie von allgemeinem Wissen über kulturelle Unterschiedlichkeit für Hypothesen über die vom jeweiligen Kommunikationspartner intendierte Bedeutung, der Einsatz metakommunikativer Verfahren zur Prophylaxe und Reparatur von Missverständnissen, soweit sie das Gesicht des Kommunikationspartners nicht bedrohen,
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das Hinzuziehen eines nicht-professionellen Dolmetschers – falls auf andere Weise keine befriedigende Verständigung erreicht werden kann – und eine möglichst eindeutige Kommunikation der eigenen Intentionen an den Dolmetscher.
Lern- und rudimentäre Forschungsstrategien sind auf die notwendige permanente Erweiterung, Differenzierung und Revision von kulturellem Wissen gerichtet. Dazu gehören Strategien der systematischen Beobachtung und gezielten Befragung. Im Sinne eines „Hypothesentestens“ kann auch ein probeweises Verletzen angenommener Konventionen zu weiterem Wissenserwerb über fremde Kulturen sinnvoll sein, allerdings nur, sofern dies interaktional entsprechend eingebettet ist, d.h. die Interaktionspartner/innen über den Erprobungs- und Lerncharakter informiert werden. Interkulturelle Kommunikationsfähigkeit hat auch eine ethische Dimension. Wie jede Art von Wissen und Strategiebeherrschung kann auch das Wissen um Problembereiche interkultureller Kommunikation und strategische interkulturelle Kommunikationsfähigkeit für mehr oder weniger egoistische oder altruistische Zwecke, zur Erreichung ethisch akzeptierter oder verwerflicher Ziele eingesetzt werden. Wer über interkulturelle Kommunikationsfähigkeit im bisher definierten Sinn verfügt, kann z.B. auch sein Wissen gezielt einsetzen, um den Verhandlungspartner aufs Kreuz zu legen, er kann Miss- oder Nichtverstehen vorspielen, wenn er nicht reagieren oder Konsequenzen ziehen will; er kann durch seine Sprachenwahl gezielt Andere von der Kommunikation ausschließen und von Informationen abschneiden; er kann als Sprachmittler bewusst unvollständig oder bedeutungsverzerrend mitteln. Er kann auch – in weniger verwerflicher, aber doch bedenklicher Weise selektiv wahrgenommene kulturelle Unterschiedlichkeit akzentuieren und zur Grundlage für die Konstruktion von Distanz und Fremdheit machen. Andererseits – und dies wäre die eher idealistische Auffassung von interkultureller Kommunikationsfähigkeit kann er seine Kompetenz nutzen, um Verständigung zu erzielen, um Beziehungen aufzubauen und zu erhalten und neue Kommunikationsgemeinschaften zu entwickeln, die die in einem traditionellen Sinne verstandenen kulturellen Grenzen transzendieren.
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2 Interkulturelle Kompetenz in der Sozialarbeit und in der Schule
Interkulturelle Kompetenz in der Sozialen Arbeit Wolf Rainer Leenen/Andreas Groß/Harald Grosch
Einleitung In der Sozialen Arbeit ist das Konzept der interkulturellen Kompetenz mit größerer Skepsis als beispielsweise in der Fremdsprachendidaktik oder Betriebswirtschaftslehre diskutiert worden. Seine Implikationen wurden zunächst kritisch mit bereits in den 70er und 80er Jahren entwickelten Theoremen der interkulturellen und antirassistischen Pädagogik abgeglichen. Der Versuch einer weiteren Ausformulierung und Präzisierung des Konzeptes in Auseinandersetzung mit den daher stammenden Einwänden scheint uns lohnender als die Suche nach Umschreibungen oder Ersatzbegriffen wie dem des „kompetenten Handelns in der Einwanderergesellschaft“ (Kalpaka 1998, S.78) oder dem der „Entwicklung von Kompetenzen für das Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft“ (Boos-Nünning 2000, S.82). Jenseits aller Kritik und aller Divergenzen zeichnet sich über die Grund- und Ausgangsproblematik ein Konsens ab, an den man anknüpfen kann. Danach besteht in noch näher zu bestimmenden Kontexten des Fremdkulturkontaktes ohne eine gewisse interkulturelle Professionalität durchgängig die Gefahr von Wahrnehmungsverzerrungen, von Fehlzuschrei-bungen, Fehldiagnosen und unsachgemäßen Interventionen sowie die einer Mißachtung der Identität des Gegenübers im Interaktionsprozeß. Da die Forschung inzwischen bestimmte Voraussetzungen seitens der Interaktionspartner/innen oder hinsichtlich des settings, in dem sie agieren, benennen kann, die ein Gelingen solcher Situationen positiv oder negativ beeinflussen, stellt sich die Frage nach einer systematischen Kompetenzentwicklung und Kompetenzförderung. Obwohl man sich unter den Fachvertreter(inne)n der Sozialen Arbeit über diese Leitidee durchaus einigen könnte, wird Unbehagen dann artikuliert, wenn man die hier erforderliche Fachlichkeit im Sinne eines Profils interkultureller Kompetenzen zu präzisieren versucht. Bezeichnend erscheint uns, dass die Notwendigkeit einer entsprechenden Handlungskompetenz in analogen intra-kulturellen Praxissituationen kaum strittig wäre. Die Ablehnung einer Formulierung interkultureller Kompetenzen bezieht sich also hauptsächlich auf implizite Annahmen im Modell von „Kulturbegegnung“ oder „interkulturellem Austausch“, die einem solchen Kompetenzkonzept zugrundeliegen können. Dahinter steht z.B. die Sorge, Verhaltensweisen und Problemlagen von Klient(inn)en der sozialen Arbeit in sol-
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chen „Kulturkontaktsituationen“ könnten in vereinseitigender oder schematischverkürzender Weise „kulturell“ gedeutet werden. Man kann drei Haupteinwände ausmachen, die gegen eine solche „Kulturperspektive“ vorgebracht werden. Der erste Einwand lautet, die Akzentuierung interkultureller Kompetenzen könne davon ablenken, „daß die wesentliche Ursache von Konflikten in der Einwanderungsgesellschaft keine kulturellen Differenzen und mangelndes Verstehen zwischen den Kulturen seien, sondern soziale Ungleichheiten, Ausgrenzungen und Praktiken der Ungleichbehandlung.“ (Simon-Hohm 2000, S.5)
Dieser Vorbehalt richtet sich also darauf, dass die politische und sozialstrukturelle Spezifik der Lebenslage von Migrant(inn)en in einem allgemeinen Konzept von Kulturbegegnung vernachlässigt werden könnte. Häufig wird zusätzlich unterstellt, dass die Einnahme der Kulturperspektive mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu Lasten sozialstruktureller Erklärungsvariablen gehen müsse: „Die Hypostasierung der kulturellen Dimension bedingt gleichzeitig eine Unterbewertung anderer Aspekte, insbesondere die Forderung nach politischer und sozialer Gleichheit.“ (Becker u.a. 1998, S.91)
Dieses Argument schließt nahtlos an die Diskussion an, die Hamburger schon in den 80er Jahren mit seiner Kritik am Begriff der interkulturellen Arbeit auslöste und die auch heute noch in der Aufwertung des Kulturbegriffs die Gefahr eines „Entpolitisierungsprozesses“ (Rommelspacher 2000, S.112) gegeben sieht. Ein zweiter Einwand richtet sich gegen die Möglichkeit einer deterministischen Interpretation des Verhältnisses von Kultur und Person („Prägung“) und einer daraus folgenden stereotypen Festlegung von Migrant(inn)en auf ihre Herkunftskultur: „Die kulturelle Frage zur zentralen sozialpädagogischen Kategorie in der Arbeit mit Migrant(inn)en zu erheben, bedeutet, daß das Individuum hinter einer kollektiven Identität von ethnischen oder kulturellen oder nationalen Zugehörigkeiten zu verschwinden droht.“ (Becker u.a. 1998, S.91)
Hier wird die Gefahr einer schematischen Zuschreibung kultureller Zugehörigkeiten und „Identitäten“ formuliert, die die realen Entwicklungen kultureller Überlagerungs- und Vermischungsprozesse in Migrantenkolonien übersieht und zudem mit Maximen einer emanzipativen (die Subjekthaftigkeit des Individuums betonenden) Sozialarbeit kollidiert.
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Ein dritter Einwand bezieht sich auf die mit bestimmten Kompetenzkonzepten einhergehende simplifizierte und verkürzte Auffassung von Interkulturalität. Matthes (1999, S.414) kritisiert die neuere, nicht zuletzt mit der Trainingsdiskussion entstandene Tendenz zum „instrumentalistischen Zugriff“ auf das Thema, welcher der Möglichkeit des Scheiterns von Kulturbegegnungen mit einer Technik interkultureller Konfliktvermeidung bzw. interkultureller Kompetenzvermitlung zu begegnen versuche. Diese Einwände wiegen schwer; sie zielen auf die konzeptionellen Grundlagen, die zu prüfen sind, bevor interkulturelle Kompetenzen im engeren Sinne diskutiert werden können. Unser Beitrag versucht zu zeigen, dass Vorbehalte gegen Kompetenzansätze, die sich auf ein zu einfaches und statisches Konzept von Kultur und Interkulturalität stützen, sehr wohl ernst zu nehmen sind (Abschnitt 1). Dass die Einnahme der Kulturperspektive in der sozialen Arbeit zwangsläufig zu einem Hintanstellen der Benachteiligungs- und Diskriminierungsproblematik führen muss, erscheint uns bei näherer Untersuchung allerdings nicht schlüssig (Abschnitt 2). Vielmehr überlagern sich hier zwei Differenzperspektiven, die beide ihr eigenes Recht beanspruchen. Das Konzept interkultureller Kompetenz bietet die Möglichkeit einer Ausdifferenzierung und Operationalisierung von Anforderungen an professionelles Handeln in kulturellen Überschneidungssituationen, wie sie uns typischerweise im Feld der Sozialen Arbeit begegnen (Abschnitt 3). Allerdings richten sich solche Kompetenzanforderungen nicht allein an die dort agierenden Personen, sondern auch an soziale Organisationen (Abschnitt 4).
Zwei Modelle von Kultur und kultureller Begegnung: Vom statischen zum dynamischen Kulturverständnis Es ist in der Tat nicht möglich, interkulturelle Kompetenzen in der Sozialen Arbeit näher zu bestimmen, ohne das zugrundeliegende Kulturverständnis zu klären. Die kulturtheoretische Modellierung der Kulturkontaktsituation hat weitreichende Auswirkungen auf die Formulierung entsprechender Kompetenzanforderungen. Für Kiechl (1997:14) ist beispielsweise eine Person bereits interkulturell kompetent, „die bei der Zusammenarbeit mit Menschen aus ihr fremden Kulturen deren spezifische Konzepte der Wahrnehmung, des Denkens und Handelns erfaßt und begreift.“
Knapp-Potthoff (1997, S.196) legt dagegen in ihrem Konzept der Interkulturellen Kommunikationsfähigkeit den Akzent auf
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„die Fähigkeit, mit Mitgliedern fremder Kommunikationsgemeinschaften (Kulturen) ebenso erfolgreich Verständigung zu erreichen, wie mit denen der eigenen, dabei die im einzelnen nicht genau vorhersehbaren, durch Fremdheit verursachten Probleme durch Kompensationsstrategien zu bewältigen und neue Kommunikationsgemeinschaften aufzubauen.“
Die Unterschiede zwischen diesen beiden Vorstellungen von interkultureller Kompetenz werden in ihren Weiterungen erst deutlich, wenn man das zugrundeliegende Kulturverständnis expliziert. Angesichts der Vielfalt konkurrierender Begrifflichkeiten und Konzepte von Interkulturalität versuchen wir im folgenden, mit zwei idealtypischen Modellen von Kultur und kultureller Begegnung zu argumentieren wie sie implizit in verschiedenen Erklärungsmodellen, aber auch in Modellen interkulturellen Lernens Verwendung finden. Das erste dieser Modelle, das wir als „statisches Modell des Kulturzusammenstoßes“ bezeichnen wollen, geht u.a. von folgenden Annahmen aus:
Kulturen sind voneinander deutlich abgegrenzte Bedeutungssysteme, die sich kurzfristig kaum verändern. (Alltags-) Kommunikation bedeutet, sich im Rahmen eines solchen Bedeutungssystems miteinander auszutauschen. Personen werden durch ihre Kulturzugehörigkeit unverwechselbar geprägt (und nur in diesem Sinne spricht man überhaupt nur sinnvoll von einer „Begegnung der Kulturen“).
Der interkulturelle Kommunikations- und Interaktionsprozeß ist aus dem Blickwinkel dieses Modells vor allem durch folgende Kennzeichen bestimmt:
Die Interaktionspartner/innen sind in ihren Bedeutungssystemen hermetisch verfangen. Mißverständnisse, falsche Zuschreibungen, Unverständnis und Regelunsicherheit sind zwangsläufig. Die Interaktionspartner/innen entwickeln dadurch wechselseitig problematische Vorannahmen und Stereotype. In Begegnungssituationen entstehen Vermeidungsreaktionen oder übertriebenes Durchsetzungs- und Behauptungsverhalten und schlußendlich interkulturelle Konflikte.
Dieses erste Modell eignet sich vor allem zur Beschreibung von kulturellen Systemen, die wenig Kontakt miteinander haben, zwischen denen Austauschprozesse selten und in denen das Tempo des sozialen Wandels gering ist. Unschwer ist das klassische noch auf Herder zurückgehende und bis in die moderne
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Kulturanthropologie transportierte Verständnis von Kultur als organischer Lebensgestalt zu erkennen, das das Leben von Individuen und Kollektiven im Ganzen durchdringt. Die Konsequenzen dieses Ansatzes sind ambivalent. Während daraus einerseits der (antiimperialistische) ethische Imperativ des Respektes vor der einzigartigen Andersheit fremder Völker erwächst, sind andererseits auch ethnisierende Abschließungsreaktionen ableitbar, die sich aus den dem Modell inhärenten Homogenitätsvorstellungen ergeben. Diese Vereinheitlichungsleistung des klassischen Kulturbegriffs kann in Verbindung mit nationalen Vorstellungen sogar kulturrassistisch gewendet werden (vgl. Welsch 1994, S.152ff.). Die einleitend genannten Bedenken und Einwände aus der Sozialen Arbeit gegen eine hermetisch-deterministische Interpretation von Herkunftskultur haben hier ihren systematisch richtigen Ort. Nach diesem Kulturverständnis wird ein schwaches „übersozialisiertes Individuum“ (Maurice Bloch) von einer übermächtigen alles durchdringenden Kultur bestimmt. Das zweite Modell, das wir diesem ersten gegenüberstellen wollen, könnte man als „dynamisches Modell interkultureller Interaktion“ bezeichnen. Dieses Modell eignet sich vor allem zur Beschreibung von Systemen, in denen kulturelle Austauschprozesse häufig und in großem Umfang stattfinden und in denen das Tempo des sozialen Wandels hoch ist. Das dynamische Modell geht von folgenden Annahmen aus:
Kulturen sind keine homogenen, widerspruchsfreien Bedeutungssysteme. Zwischen ihnen sind die Grenzlinien nicht eindeutig: Es gibt zwar deutliche Unterschiede, aber auch Überschneidungen und Familienähnlichkeiten. In der Kommunikation wird Kultur nicht nur interpretiert, sondern jeweils auch produziert und interaktiv immer wieder neu ausgehandelt. Personen werden durch ihre Gruppenzugehörigkeit und entsprechende Bedeutungsangebote stark beeinflußt, aber nicht festgelegt. Zudem partizipieren sie stets an verschiedenen Kulturen, die sich nicht zwangsläufig ethnisch definieren müssen. Die Individuen positionieren sich in mehreren Kommunikationsgemeinschaften und „switchen“.
Im interkulturellen Kommunikations- und Interaktionsprozeß treten durch dieses Modell die folgenden Besonderheiten in den Vordergrund:
Im Interaktionsprozeß beziehen sich Personen in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Maße auf verschiedene kulturelle Bedeutungssysteme. Interkulturelle Kommunikation ist durch experimentelles Verhalten und durch Improvisation bestimmt.
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In Kulturbegegnungen entstehen Effekte und Dynamiken, die aus den Regelsystemen der Ausgangskulturen nicht ableitbar sind („Interkultur“, vgl. Bolten 1999, S.22). Aufgrund von Andersartigkeitserwartungen und sogenannter Erwartungserwartungen entstehen Interaktionsparadoxien (vgl. Knapp-Potthoff 1997, S.190), die in monokulturellen Situationen unwahrscheinlicher sind.
Dieses zweite Modell von Kultur und Interkulturalität ist in mehrfacher Hinsicht dynamisch: Die Person wird zu keinem Zeitpunkt als kulturell abgeschlossen, als in einem kulturellen System endgültig „enkulturiert“ verstanden; das kulturelle Bedeutungssystem einer Kommunikationsgemeinschaft ist in ständigem Wandel begriffen; Interaktionssituationen zwischen Personen und Gruppen unterschiedlicher Kulturzugehörigkeit sind prinzipiell offen und in ihrem Ergebnis unbestimmt; interkulturelles Lernen kann schließlich nur als gemeinsame Suchstrategie verstanden werden, die kein „natürliches“ Ende hat, sondern sich lediglich in besserer Kommunikation und erfolgreicherer Interaktion niederschlägt. Vergleicht man die beiden Modelle hinsichtlich der aus ihnen abzuleitenden Kompetenzanforderungen, so zeigen sich gewisse Akzentunterschiede. Abbildung 1:
Kompetenzanforderungen im statischen und im dynamischen Modell von Kultur
Statisches Modell
Verständnis des Fremden
Dynamisches Modell Wahrnehmung von Multiperspektivität
Toleranz
Akzeptanz von Differenz
Anpassungsbereitschaft
Kontextangemessenes Verständigungshandeln
Konzepte, die ein dynamisches Kulturverständnis zugrundelegen, betrachten Interkulturalität aus dem Blickwinkel der handelnden Subjekte und nicht so sehr aus der Perspektive der sie verbindenden Gemeinsamkeiten. Kulturen werden nicht essentialistisch als überindividuelle Wesenheiten gesehen, die hinter dem Rücken der Individuen ihr Denken und Handeln bestimmen, sondern als durch Kommunikationsprozesse bestimmte kollektive Vorstellungen, die sich im Pro-
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zeß des sozialen Wandels laufend verändern. Kulturelle Systeme sind nach dieser Sicht in einer Gesellschaft nicht hierarchisch, sondern – wie Bühl es ausdrückt – „heterarchisch“ positioniert. „...sie bestehen aus mehreren voneinander mehr oder weniger unabhängigen Entscheidungs- und Kulturträgern, die zum Teil miteinander konkurrieren, zum Teil ohne Kenntnis voneinander oder Verständnis füreinander nebeneinander tätig sind.“ (Bühl 1987, S.69).
Kulturzugehörigkeit ist aus dieser Sicht nicht vorentschieden, sondern muß von den Individuen immer wieder kommunikativ bekräftigt werden. Zugehörigkeit zu mehreren Kommunikationsgemeinschaften und ihren Kulturen erzwingt laufend die Annahme oder ein Verwerfen von Bedeutungen. Kulturelle „Identitäten“ sind nicht vorgegeben, sondern müssen interaktiv ausbalanciert werden. In der interkulturellen Interaktion liegt insofern der Akzent weniger auf dem Verständnis des Fremden, das durch besondere hermeneutische Anstrengungen erreicht werden muß, und auf Toleranz und Anpassungsbereitschaft (vor allem, wenn man in das fremde kulturelle System überwechselt), als auf dem Erfordernis der durchgängigen Wahrnehmung von Multiperspektivität und einem interaktiv erfolgreichen Verständigungshandeln (Knapp-Potthoff 1997, S.196) auf der Grundlage von Fremdheitsakzeptanz.
Interkulturalität in der Sozialen Arbeit Soziale Arbeit ist die „Abteilung“ sozial- bzw. wohlfahrtsstaatlicher Anstrengungen, die sich im Rahmen einer Existenzsicherungs- und Ausgleichspolitik für sozial schwächere Gruppen vor allem personenbezogener Hilfen und Dienstleistungen bedient. Auch in der sozialen Arbeit mit Migranten(familien) ist der zentrale Betrachtungsfokus zunächst diese Unterversorgung oder soziale Benachteiligung. Soziale Arbeit bietet auch Menschen mit anderem Kulturhintergrund Hilfe und Unterstützung beim Zugang zu Handlungschancen, u.a. durch Beratung (Rechtsberatung etc.), durch Bildungs- und Lernhilfen (Sprachkurse, schulunterstützende Nachmittagsbetreuungen), durch Freizeit- und Kulturangebote, durch psychosoziale Betreuungsmaßnahmen und Vernetzungshilfen. Über diese Arbeit ist seit den 70er Jahren in variierender Begrifflichkeit als „Ausländerarbeit“, „Migrantenpädagogik“, „multikulturelle Sozialarbeit“ oder „interkulturelle Arbeit“ gesprochen worden. Der Wandel der Begrifflichkeiten deutet bereits darauf hin, dass in neueren Ansätzen neben dem sozialen Ausgleichsaspekt der Aspekt der Kulturbegegnung und der interkulturellen Verstän-
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Unterschiede der Identität (Recht auf Verschiedenheit)
Austausch über Lebensformen und Identitäten durch interkulturelle Kommunikation
Ausgleich durch Sozialpolitik/Sozialarbeit
vertikale Differenz ( Verteilungsdimension)
horizontale Differenz ( Verständigungsdimension)
Unterschiede in der Versorgung/Austattung mit gesellschaftlichen Gütern und Handlungschancen (Recht auf Gleichheit/ NichtBenachteiligung)
digung an Bedeutung gewonnen hat. In folgendem Schema (Leenen 2001, S.13) ist dieser Aspekt als horizontale Differenz festgehalten, die quer zur klassischen Verteilungsdifferenz steht, welche die unterschiedliche Ausstattung mit Lebenschancen zum Ausgangspunkt politischer Interventionen macht. Während in der vertikalen Differenz das Recht auf Gleichheit im Sinne von Nicht-Benachteiligung, also die klassische sozialpolitische Problematik verortet ist, geht es bei der Blickrichtung der horizontalen Differenz um die Anerkennung von ungleicher Besonderheit, um das Recht auf Verschiedenheit (siehe dazu ausführlicher Taylor 1997). Wir unterscheiden also die Verteilungsdimension in der Vertikalen, in der Ausgleichspolitik angesagt ist, von der Verständigungsdimension in der Horizontalen, in der sich der Austausch über Besonderheiten und die Anerkennung von Identitäten insbesondere über Kommunikations- und Lernprozesse vollziehen muß. Die beiden Perspektiven sind voneinander unabhängig und lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Eine Besonderheit der Sozialen Arbeit mit Migrantenfamilien ist, dass sich hier die beiden Problemperspektiven zwangsläufig überlagern. Aspekte vertika-
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ler Differenz spielen für das Verhältnis Migrantenfamilie – Einwanderungsgesellschaft und natürlich auch für das Verhältnis des Sozialarbeiters/der Sozialpädagogin zu seiner bzw. ihrer Klientel eine grundlegende Rolle. Insofern ist die Forderung nach Verteilungsgerechtigkeit als Voraussetzung für den Austausch über unterschiedliche Identitätsentwürfe berechtigt. Dies gilt aber auch vice versa. Die Ziele von Ausgleichsinterventionen lassen sich nur in einer symmetrischen Konstellation wechselseitiger Anerkennung abgleichen. Fragen horizontaler Differenz tauchen ja nicht nur im unmittelbaren Verständigungshandeln (also beim Einsatz bestimmter kommunikativer Mittel) zwischen Personen mit verschiedenem Kulturhintergrund auf, sondern auch auf der Ebene unterschiedlicher Lebensorientierungen und Lebensentscheidungen als Differenzen in Welt- und Menschenbildern, als Sinn- und Wertkonflikte. Für die Soziale Arbeit hat die Dimension der interkulturellen Verständigung eine besondere Bedeutung27. Schon die Theorie der Dienstleistungsproduktion betonte, dass Dienstleistungen generell nicht ohne Mitwirkung der Klient(inn)en zu erbringen sind. In neueren Diskussionen, insbesondere in der EmpowermentDiskussion (Bobzien 1993, Stark 1996), die den Klienten als „Experten in eigener Sache“ (Theunissen/Plaute 1995, S.11) sieht, wird der „klassische“ Expertenstatus, der mit „fremdem Blick“ (Stark 1993) über Hilfsangebote entscheidet, erst recht als anti-emanzipatorisch obsolet. Ein Einbezug der Sichtweisen der Betroffenen ist unumgänglich, wodurch zwangsläufig unterschiedliche kulturelle Sinnschichten einbezogen werden. Bei jeglicher Form des Beratens, Bildens und Betreuens muß ein Abgleich von Zielhorizonten und der in bestimmten Themen und Inhalten, Methoden und Medien mitschwingenden Bedeutungshintergründe erfolgen.
Interkulturelle Kompetenzen in der Sozialen Arbeit Kompetenz wird in der neueren Weiterbildungsdiskussion als Bestand an Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Individuums verstanden, auf den es zur Bewältigung bestimmter Anforderungssituationen zurückgreifen kann (vgl. Kaiser 1998, S.199). Von einem dynamischen Modell interkultureller Begegnung ausgehend sind solche Anforderungssituationen u.a. dadurch gekennzeichnet,
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Dies gilt um so mehr, je weniger der Kulturbegriff nur ethnisch gefaßt wird, insbesondere wenn er auch Berufsgruppenkulturen mit einbezieht. Für Fritz Schütze (1994, S.189) hat deshalb die ethnographische Perspektive eine grundlegende Bedeutung für die Soziale Arbeit. „In der Sozialen Arbeit stoßen stets unterschiedliche Kulturen aufeinander – die der KlientInnen und die Kultur der diesen in der Regel sehr fremden SozialarbeiterInnen/SozialpädagogInnen.“
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dass für die Interaktionspartner/innen unterschiedliche kulturelle Deutungsmuster, ein anderes Hintergrundwissen und inkongruente Relevanzsysteme maßgeblich sind, dass Interaktionen, insbesondere interkulturelle Konflikte eine irritierende Eigendynamik entwickeln können, dass stärker als gewohnt Handeln unter Unsicherheit verlangt wird und dabei Gefühle von Kontrollverlust entstehen, dass auch der Spielraum metakommunikativer Steuerung der Interaktion deutlich eingeschränkt ist,
um nur die häufigsten Beschreibungen solcher Situationen wiederzugeben (siehe beispielhaft hierzu Loenhoff 1992, S.190 ff. sowie Wolf 1998, S.139). Zur Dynamik derartiger kultureller Überschneidungssituationen (vgl. Winter 1994) gehört, dass das Verhalten aller Beteiligten nicht nur durch kollektive Erwartungsmuster, sondern auch durch persönlich-biographische und situative bzw. sozial-strukturelle Einflußfaktoren bestimmt wird, die untereinander wiederum in einem komplizierten Wechselspiel stehen. Interkulturelle Kompetenz beschränkt sich also nicht darauf, eine gewisse Bandbreite divergenter Erwartungsstrukturen deuten zu können. Es geht beispielsweise auch darum,
die persönliche Haltung von Individuen (vor allem ihre Distanz) zu solchen (kollektiven) Erwartungsstrukturen einschätzen zu können, eine generelle Sensibilität gegenüber kulturell Gelerntem, also eine Sensibilität nicht nur gegenüber dem Fremden, sondern auch und vor allem gegenüber eigenen kulturellen Vorannahmen und Selbstverständlichkeiten zu entwickeln in Situationen mit ungleich verteilten Handlungschancen und in Gruppenkonstellationen (und deren kultureller Interpretation) adäquat interagieren zu können.
Interkulturelle Kompetenz besteht also in einem Bündel von Fähigkeiten, die einen produktiven Umgang mit der Komplexität kultureller Überschneidungssituationen erlauben. Kompetenzen, die eine Bewältigung solcher Situationen ermöglichen, sind offensichtlich keine rein beruflich-fachlichen, sondern zwischen fachlicher Ausbildung und persönlichen Fähigkeiten liegende „Qualitäten“. Es handelt sich um ein Spektrum von mehr oder weniger eng an die Person gebundenen komplexen Fähigkeiten, die zum Teil auch nur bedingt durch Bildungsangebote beeinflussbar sind bzw. nur vom Subjekt selbst als Lernprozess initiiert werden können.
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Von der Struktur der kulturellen Überschneidungssituation ausgehend kann man zunächst vier Bereiche interkultureller Kompetenzen unterscheiden, die als Voraussetzung ihrer Bewältigung in Frage kommen. Die nachstehende Übersicht geht von zwei Profilen interkultureller Kompetenz aus, die für Auswahlverfahren der GTZ (also der größten Entsenderorganisation für Personal in der Entwicklungszusammenarbeit) entwickelt wurden (Beneke 1994; Krewer & Scheitza 1996). Tabelle 1: Vier Bereiche „Interkultureller Kompetenzen“ Interkulturell relevante allg. Persönlichkeitseigenschaften z.B. Belastbarkeit Unsicherheits- und Ambiguitätstoleranz Kognitive Flexibilität Emotionale Elastizität Personale Autonomie
Interkulturell relevante soziale Kompetenzen z.B. Selbstbezogen: Differenzierte Selbstwahrnehmung Realistische Selbsteinschätzung Fähigkeit zum Identitätsmanagement Partnerbezogen: Fähigkeit zur Rollen& Perspektivenübernahme Interaktionsbezogen: Fähigkeit, wechselseitig befriedigende Beziehungen aufzunehmen und zu erhalten
Spezifische kulturallgemeine Kulturkompetenzen Kompetenzen z.B. z.B.
Sprachkompetenz Interkulturelle Vorerfahrungen Spezielles Deutungswissen
Wissen bzw. Bewußtsein von der generellen Kulturabhängigkeit des Denkens, Deutens und Handelns Vertrautheit mit Mechanismen der interkulturellen Kommunikation Vertrautheit mit Akkulturationsvorgängen Wissen über allgemeine Kulturdifferenzen und ihre Bedeutung
Natürlich lassen sich diese Bereiche von Kompetenzen nur analytisch trennen, praktisch wirken sie stets eng zusammen und können sich – wie in einem neuronalen Netzwerk – wechselseitig ergänzen und kompensieren: Zum Beispiel lässt sich fehlende Sprachkompetenz zumindest teilweise durch Erfindungsreichtum im nonverbalem Ausdruck aufwiegen. Zu den interkulturell relevanten allgemeinen Persönlichkeitszügen gehört neben einer gewissen psychischen Belastbarkeit oder Fähigkeit zur Stressbewältigung eine grundsätzliche Offenheit der Person, die dazu befähigt, mit Unge-
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wohntem und Andersartigem unbefangen und nicht-wertend umgehen zu können. Wir sprechen hier bewusst von personennahen Kompetenzen, weil unklar ist, inwieweit solche Fähigkeiten (zu denen man z.B. auch Neugier oder Humor nennen könnte) durch formale Bildungsprozesse erlernbar sind. Krewer & Scheitza (1996, S.8) unterscheiden die interkulturell relevanten sozialen Kompetenzen nach selbst-, fremd- und interaktionsbezogenen Kompetenzen. Zu den selbstbezogenen Kompetenzen zählt zunächst einmal die Fähigkeit, sich selbst realistisch und differenziert wahrnehmen und seine Wirkung auf andere abschätzen zu können ; darüber hinaus: eigene Grenzen zu kennen, auch die eigene kulturelle Festgelegtheit akzeptieren und sich Gefühle von Befremdung eingestehen zu können. Eine wichtige selbstbezogene Kompetenz ist auch die Reflexivität, die eine Person bezogen auf implizite Orientierungen, Wertvorstellungen und Verhaltensmuster entwickeln kann. Zu den partnerbezogenen sozialen Kompetenzen wird üblicherweise die Fähigkeit zur Rollen- und Perspektivenübernahme gerechnet. Die Sozialpsychologie betont hier insbesondere die notwendige Fähigkeit, sich in Gefühlslagen des Interaktionspartners versetzen zu können. Als interaktionsbezogene Kompetenz gilt die Fähigkeit, eine Interaktion auch längerfristig erfolgreich zu gestalten. Hierzu wird häufig auch eine metakulturelle Prozesskompetenz gerechnet, die erforderlich ist, um über kulturelle Grenzen hinweg Interaktionssituationen definieren bzw. aushandeln zu können. Für diese ersten beiden Kompetenzbereiche ist charakteristisch, dass alle hier genannten Anforderungen zu den sozialpädagogischen Basiskompetenzen (vgl. Nieke 1981, S.15 ff.) gehören, die allerdings in Kulturbegegnungen eine besondere Bedeutung und ggfs. auch Brisanz erhalten. Zu den spezifischen Kulturkompetenzen i.e. Sinne zählen insbesondere Sprachkenntnisse oder Vertrautheit mit kulturspezifischen Bedeutungsmustern, bestimmten Emblemen, Ritualen oder Tabus anderer Kulturen, oder Teilhabe an historischen Erinnerungen anderer Kommunikationsgemeinschaften. Dazu sollte auch eine (bislang allerdings völlig vernachlässigte) reflektierte Durchdringung der eigenen Kultur in ihren nationalen, regionalen und schichtspezifischen Besonderheiten ebenso zählen wie die Kenntnis der eigenen Organisations- und Berufskultur. Zu den kulturallgemeinen Kompetenzen zählen neben eigenen Erfahrungen mit psychischen und sozialen Adaptionsprozessen und einer gewissen Vertrautheit mit Akkulturationsvorgängen und den dabei auftretenden Zugehörigkeitsfragen vor allem auch Kenntnisse über Selbst- und Fremdstereotypisierungen sowie über Prozesse der Ethnisierung und Selbstethnisierung. Für alle diese Kompetenzen gilt, dass sie abstrakt bleiben, wenn sie sich nicht mit den konkreten Anforderungen eines beruflichen Handlungsfeldes verbinden. Personale, soziale und kulturelle Kompetenzen müssen nicht nur mitein-
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ander, sondern auch mit den beruflichen Alltagsvollzügen verschränkt werden. Es gibt keine kontextfreie interkulturelle Kompetenz, die gleichsam berufs- und handlungsfeldübergeifend für alle möglichen Formen des interkulturellen Kontaktes wirksam wäre. Wir betrachten also interkulturelle Kompetenz wie Krewer & Scheitza (1996, S.11) „nicht als eine abstrakte, von den übrigen beruflichen Qualifikationen abtrennbare Zusatzkompetenz, sondern als eine besondere Qualifikation für die Erfüllung des allgemeinen beruflichen Anforderungsprofiles in interkulturellen Überschneidungssituationen.“
Die genannten vier Bereiche interkultureller Kompetenzen müssen also auf typische Interaktionen in einem bestimmten beruflichen Handlungsbereich und auf das dort benötigte Anforderungsprofil abgebildet und dadurch konkretisiert werden. Dieses Anforderungsprofil stellt sich zum Beispiel als recht unterschiedlich dar je nachdem, ob es sich beispielsweise
um die Sozialberatung in einem Asylbewerberwohnheim oder aber um eine Berufsberatung für Jugendliche der Dritten Generation mit einem entfernteren Migrationshintergrund handelt, um Sprachförderkurse für Aussiedlerjugendliche oder um Streetwork mit drogenabhängigen kurdischen Jugendlichen dreht, um Freizeit- und Kulturarbeit in einem Flüchtlingszentrum für Jugendliche aus Somalia, um die Durchführung eines internationalen Jugendcamps oder um die Arbeit in einem multikulturellen Team handelt, z.B. in einer Erziehungsberatungsstelle, wo Fachkräfte mit verschiedenem Herkunftskontext zusammenarbeiten.
Das Anforderungsprofil hängt also wesentlich vom konkreten institutionellen Kontext und den dort üblichen Handlungsansätzen und Interaktionsmustern, der Akkulturationsproblematik der Klientel, ihren sonstigen Problemlagen und Kommunikationsvoraussetzungen ab.
Zur interkulturellen Kompetenz sozialer Organisationen Interkulturelle Kompetenzanforderungen richten sich nicht allein an die im Feld der Sozialen Arbeit tätigen Personen, sondern auch an die sozialen Organisationen, in deren Rahmen diese handeln (s. hierzu auch Auernheimer 2001).
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Schon im Zusammenhang mit Angeboten der Förderung und Entwicklung interkultureller Kompetenz ergibt sich die Notwendigkeit einer organisatorischen Absicherung und Stützung, weil ohne solche begleitenden Organisationsveränderungen
Lernwiderstände entstehen, da interkulturelle Defizite in der Organisation allein individueller Inkompetenz zugeschrieben werden, und die Nachhaltigkeit des Gelernten gefährdet ist, wenn seine Anwendung im Berufsalltag der Sozialen Arbeit nur Widerstand und Mißerfolg auslöst.
Interkulturelle Organisationsentwicklung ist also schon aus Gründen einer nachhaltig angelegten Personalentwicklung notwendig. Eine interkulturelle Kompetenzentwicklung der gesamten Organisation erfordert aber eine systematische Begründung. Der in der kommunalpolitischen Diskussion häufig verwendete Begriff einer „interkulturellen Kompetenz von Organisationen“ (im Zusammenhang der kommunalen Öffnungsdebatte z.B. bei Lange & Pagels 2000 ) ist zwar eingängig, aber zunächst nur eine verführerische Metapher, die sich theoretisch und empirisch schwer fassen lässt. Zur Fundierung kann man auf sog. Theorien zum „Organisationalen Lernen“ zurückgreifen; Organisationales Lernen wird dabei als ein „Phänomen sozialer Wirklichkeitskonstruktion“ aufgefasst, also als „Vorgang kollektiver Informationsverarbeitung, durch den gemeinsame Realitätsentwürfe, gespeichert im organisationalen Wissen, weiterentwickelt werden“ (Klimecki u.a. 1999, S.5). Auslöser für Organisationales Lernen ist demnach der Veränderungsdruck, der aus sich wandelnden Umweltbedingungen resultiert. Entsprechend dem konstruktivistischen Paradigma werden neue Informationen nicht als von außen eindringende objektive Phänomene, sondern als Konstruktionen des Systems verstanden, die auf Kontrasterfahrungen zum bestehenden Wissen beruhen (vgl. Klimecki u.a. 1999, S.9). Diese Differenzwahrnehmung muß von der Organisation verarbeitet und gespeichert werden. Die Entwicklung interkultureller Kompetenz könnte in einer ersten Annäherung dann als systemerhaltender „System/Umwelt-Fit“ (Klimecki u.a. 1994, S.9), also als „AnPassung“ der Organisation an eine multikulturelle Umwelt verstanden werden. Analog zum Verständnis personaler Kompetenz gründet diese organisationale interkulturelle Kompetenz auf einem Problemlösungspotential, also dem entsprechenden Vorrat an Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Organisation zur Bewältigung bestimmter Anforderungen. Damit ist die Frage aufgeworfen, welche Fähigkeiten, welche Fertigkeiten und welches Wissen notwendig sind,
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um von einer interkulturellen Kompetenz sozialer Organisationen sprechen zu können. Die für eine organisationale interkulturelle Kompetenz notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten (z.B. zur Selbstreflexion, zum Infragestellen der eigenen Wirklichkeitssicht) basieren auf den Faktoren, die die grundsätzliche Lernfähigkeit des Systems ermöglichen. Grundlage für ein produktives Organisationales Lernen ist neben verschiedenen strukturellen Faktoren vor allem eine offene Lernkultur (ausführlicher dazu: McGill & Slocum 1994; Argyris & Schön 1999, S.43). Für die interkulturelle Kompetenz einer Organisation spielt diese Lernkultur eine eminent wichtige Rolle, weil in einem multikulturellen Umfeld Varianz und Differenz der Wirklichkeitskonstruktionen größer ist. Zur Entwicklung interkultureller Kompetenz ist eine Erweiterung und Umstrukturierung der vorhandenen Wissensbestände der Organisation notwendig. Dazu müssen Organisationen im sozialen Bereich die dafür relevanten Informationen identifizieren, interpretieren und organisational abspeichern. Im Hinblick auf die Identifikation interkultureller Fragestellungen ist es erforderlich, dass die Organisation als Ganzes, aber auch Organisationsabteilungen und einzelne Mitarbeiter/innen zunächst bestimmte Informationen als relevant erkennen: An welchen Stellen in der Organisation tauchen interkulturelle Probleme auf? An welchen Stellen wirken die Regeln der Organisation diskriminierend und exkludierend? Hier geht es also darum, inwieweit die Organisation sich interkultureller Fragestellungen überhaupt bewusst ist. Der nächste Schritt der Informationsverarbeitung, nämlich die Interpretation solcher Informationen, führt zu einer Erweiterung bzw. Modifikation des vorhandenen Wissens. Durch die Ermittlung und Thematisierung und Abgleichung der kollektiven Wissensvorräte in der Organisation werden neue Informationen sichtbar bzw. vorhandene anders interpretiert. Damit setzt der Prozeß der Differenzierung und Erweiterung der kollektiven interkulturellen Deutungsmuster ein. In der Folge führt dies zu veränderten individuellen und kollektiven Such- und Verarbeitungsstrategien im Umgang mit interkulturell relevantem Wissen. In diesem Zusammenhang werden folgende Fragestellungen aufgeworfen:
Wie werden interkulturell relevante Informationen (von Einzelnen, von Abteilungen) wahrgenommen? Wie werden sie gedeutet, bewertet, und wie wird damit umgegangen? Welche Sicht der Dinge bringen Mitarbeiter/innen mit Migrationshintergrund mit? Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem Abgleich dieser unterschiedlichen Sichtweisen und Deutungsmuster? Wie wird dieses Wissen in der Organisation kommuniziert?
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Schließlich geht es um die effektive Speicherung des erworbenen Wissens: Werden solche Informationen in der Organisation systematisch gesammelt und aufbereitet? Auf welche Weise geschieht dies? Wie ist die Zugänglichkeit der betreffenden Informationen geregelt? Der Prozess der Informationsgewinnung, -verarbeitung und -speicherung hat eine schleifenartige Struktur: Durch die Veränderung und Erweiterung von Wirklichkeitskonstruktionen werden vorhandene Wissensvorräte umstrukturiert bzw. neues interkulturelles Wissen erworben. Zur Optimierung solcher informationsverarbeitenden Prozesse wird die Implementierung eines Wissensmanagements diskutiert. Ein solches Wissensmanagement soll nicht nur die „Wissenslage“ der Organisation verbessern, sondern insgesamt zu einem veränderten Umgang mit Wissen und damit zu einer besseren Lernkultur beitragen (siehe dazu z.B. die Darstellung des Beschwerde- und Wissensmanagements in der Fremdenbehörde der Stadt Salzburg bei Haybäck & Schefbaumer 2000). In der operationalen Umsetzung eines solchen Wissensmanagements sind grundsätzlich zwei Ebenen zu unterscheiden: a) die Erweiterung des vorhandenen bzw. der Erwerb neuen Wissens. Dies ist z.B. möglich über: Kundenkommunikation (durch Kunden/innen- bzw. Klientelbefragungen, durch Auswertung von Rückmeldungen bzw. Beschwerden), Binnenkommunikation (Einstellung von Mitarbeiter/innen mit Migrationshintergrund bzw. optimierte Nutzung von solchen Personalressourcen als „Kulturspezialist(inn)en“ bzw. Migrationsexpert(inn)en), Kommunikation mit internen/externen Fachleuten (durch Qualifizierungsangebote für Mitarbeiter/innen, die Durchführung von Untersuchungen, z.B. zum Thema Zugangsbarrieren, durch den Anschluß an Netzwerkinitiativen oder durch Implementierung einer interkulturellen Organisationsentwicklung oder -beratung).
b) die Speicherung und Distribution des Wissens. Dies geschieht bspw. durch die Optimierung des Organisationswissens, das in den Regeln und Richtlinien der Organisation kondensiert ist (vgl. Kieser u.a. 1999), aber auch durch den Aufbau neuer bzw. die Nutzung vorhandener Kommunikationstrukturen, sei es im direkten Kontakt (über regelmäßige Dienstbesprechungen, die interkulturelle Fragen thematisieren, kollegiale Beratungstreffen, Mitarbeiter(innen)pools mit Migrationshintergrund etc.) oder virtuell (z.B. über E-Mail-Netze, die interkulturell relevantes Wissen akkumulieren und zugänglich machen).
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Solche Entwicklungen in der kognitiven Struktur einer Organisation implizieren Änderungen in anderen Bereichen der Organisation, z.B. im Hinblick auf Produkte und Ziele der Organisation (veränderte Dienstleistungsangebote, Interkulturalität als „Querschnittsziel“ eines Beratungsdienstes), der Organisationsstruktur (veränderter Zuschnitt von Abteilungen), die verwendeten Methoden (interkulturelle Beratungsansätze) und nicht zuletzt hinsichtlich der Beteiligten (Ausrichtung auf nichtdeutsche Zielgruppen, vermehrte Einstellung von Migrant(inn)en). Im Vergleich zur Diskussion um eine „Interkulturelle Öffnung“ sozialer Organisationen (siehe dazu insbesondere Hinz-Rommel 1994, Barwig/HinzRommel 1995, Gaitanides 1996 und 1999) akzentuiert die Perspektive des Organisationalen Lernens die Bedeutung der kognitiven Entwicklung der Organisation. Damit soll die Notwendigkeit politisch-struktureller Maßnahmen keineswegs bestritten werden; auch die neuere Literatur zum „Managing Diversity“ betont die Bedeutung einer politischen und strukturellen Abicherung solcher Öffnungsprozesse teilweise sehr dezidiert (vgl. Carnevale/Kogod 1996; Baytos 1995; Cox 1993; Gardenswartz/Rowe 1993). Die Theorie des Organisationalen Lernens lenkt den Blick aber auf den Gesichtspunkt, dass interkulturelle Kompetenz in sozialen Organisationen nur angeregt und gefördert, nicht aber im Detail gesteuert werden kann (vgl. Klimecki/Laßleben 1996). Wie die Forschung nämlich zeigt, verfügen Organisationen über vielfältige Strategien des Widerstands, sich auch offensichtlich notwendigem Lernen zu verschließen (von Argyris 1990:64 z.B. als „defensive routines“, „skilled incompetence“ oder „fancy footwork“ bezeichnet). Die Entwicklung organisationaler interkultureller Kompetenz ist unter den Gesichtspunkten des Organisationalen Lernens also als komplexer Prozess zu beschreiben, bei dem die kollektiven Wirklichkeitskonstruktionen über Interkulturalität verändert werden. Dies erfordert zunächst eine bewusste Wahrnehmung solcher Problemlagen (also eine Sensibilisierung der Organisation für interkulturelle Themenstellungen) und darauf aufbauend eine entsprechende Differenzierung des kollektiven Deutungswissens. Das Auftreten von Lernwiderständen, die als ein Festhalten an bestehenden Wirklichkeitskonstruktionen zu sehen sind, weist zahlreiche Parallelen zu interpersonalen Kommunikationsproblemen auf; so interpretieren Klimecki u.a. (1998, S.14) beispielsweise die Widerstände im Kontext bürokratischer Organisationskulturen als „Kulturschock“. Auf der personalen wie auf der organisationalen Ebene handelt es sich um mehr als bloßes „Dazulernen“. Für Organisationen ist dieses Lernen insofern fundamental, als die gesamte Organisationskultur davon betroffen ist. Dementsprechend fördert eine Auseinandersetzung mit interkulturellen Fragestellungen zugleich auch die grundsätzliche Lernfähigkeit der Organisation.
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Ausblick Die Vielzahl bereits vorliegender Beschreibungen möglicher und notwendiger interkultureller Kompetenzen in der Sozialen Arbeit erweckt den Eindruck, dass diese weitestgehend bereits abschließend bestimmt sind und lediglich in der Praxis noch entwickelt und angewendet werden müssen. Unser Beitrag versuchte dagegen zu zeigen, dass ein solches Konzept interkultureller Kompetenz nicht nur theoretisch weiter präzisiert werden, sondern auch durch weitere Praxisforschung gefüllt werden muß. Wir können zum Abschluß nur beispielhaft einige der sich hier eröffnenden Forschungsfelder in Frageform umreißen: Wie sehen konkrete Anforderungsprofile interkultureller Kompetenzen in einzelnen Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit aus? Welche typischen Adaptionsprozesse werden den Beteiligten im Feld abverlangt? Welche interkulturellen Vorerfahrungen bringen sie jeweils mit? In welchen sozio-strukturellen Kontexten wird interagiert? Welche handlungsleitenden Wertvorstellungen, welche Normalitätsvorstellungen stoßen aufeinander? Welche „institutionellen Strukturen des Helfens“ (Becker u.a. 1998, S.65) und welche impliziten Theorien werden dabei wirksam. (Um nur ein Beispiel für solche impliziten Theorien zu liefern: Im Feld der psychosozialen Betreuung müßte geklärt werden: Mit welchem Bild vom Menschen (Verhältnis von Körper und Psyche), mit welchem Verständnis von Gesundheit bzw. Krankheit, welcher typischen Attribuierung von „Störungen“, welchen Erwartungen an Diagnostik, an Behandlung und eine angemessene Betreuung agieren die Agenten und Klienten der Institutionen im Feld? Welche grundsätzlichen Möglichkeiten und Grenzen einer Förderung solcher interkulturellen Kompetenzen gibt es? Welche interkulturellen Kompetenzen lassen sich durch Personalentwicklungsmaßnahmen, insbesondere Aus- und Fortbildungsprogramme fördern? Welche interkulturell relevanten Kompetenzen müssen im Sozialen Bereich vorausgesetzt und bei der Personalauswahl entsprechend berücksichtigt werden? Welche Rolle spielen interkulturelle Vorerfahrungen und berufspraktische Lernerfahrungen in den unterschiedlichen Bereichen sozialer Arbeit? Wie lassen sich Lernprozesse im Feld und in arrangierten Lernsituationen sinnvoll kombinieren?
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Welche Lernformate und Methoden eignen sich zur Förderung solcher interkultureller Kompetenzen? Wie können passende Konzepte zur Entwicklung interkultureller Kompetenz auf die institutionellen und feldspezifischen Bereiche Sozialer Arbeit zugeschnitten werden? Wie müssen entsprechende Lernumgebungen gestaltet sein? Wie sehen hierzu geeignete Lernformate, insbesondere arbeitsplatznahe jobbegleitende Instruktionsformen oder kompakte Trainings (siehe Leenen Grosch 1998b) aus? Welche Vermittlungsmethoden sind dazu im Einzelnen zu entwickeln (siehe hierzu den Überblick in Grosch/Groß & Leenen 2000)? Geeignet erscheinen insbesondere Ansätze des situierten Lernens (vgl. Kammhuber 2000), die über Fallstudienarbeit die Transferfähigkeit des Erlernten fördern und das Problem des „trägen Wissens“ (vgl. Mandl/Gruber & Renkl 1993) reduzieren. Wie kann man Instrumente der Fremd- und Selbstbewertung interkultureller Kompetenz entwickeln? Byram (1997:87 ff.) formuliert z.B. Lernziele für verschiedene interkulturelle Kommunikationsfähigkeiten und beschreibt die Verhaltensweisen, die den Erwerb solcher Kompetenzen belegen könnten. Hier gilt es Instrumente zu entwickeln, die diese spezifischen im Feld benötigten interkulturellen Kompetenzen erfassen könnten. Die Frage ist allerdings, ob die Akzeptanz solcher Instrumente zu gewährleisten ist und die dahinterstehenden Evaluierungskonzepte auf den Sozialen Bereich übertragbar sind. Welchen Schwierigkeiten begegnet der Versuch einer Entwicklung organisationaler interkultureller Kompetenz im Sozialbereich? Wie kann man die interkulturelle Kompetenz einer Organisation überhaupt erfassen? Was ist dem Aufbau einer organisationalen interkulturellen Kompetenz in den sozialen Arbeitsfeldern förderlich oder hinderlich? Wie lassen sich solche Entwicklungsprozesse sinnvoll anlegen? In welchem Verhältnis stehen Prozesse individueller und organisationaler Kompetenzentwicklung zueinander? Dieser Fragenkatalog umreisst nicht nur einzelne Forschungsfragen, sondern ein breit angelegtes Forschungsprogramm, auf das sich Expert(inn)en im Feld der Sozialen Arbeit verständigen müßten. Die bisherige Diskussion über solche Fragen im Rahmen der Arbeitsgruppe Interkulturelle Soziale Arbeit des
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Fachbereichstages Soziale Arbeit28 lässt eine solche gemeinsame Forschungsstrategie nicht illusorisch erscheinen. Dies würde nicht nur die Verankerung von interkultureller Kompetenz im Feld beschleunigen, sondern könnte auch die grundsätzliche Diskussion über Qualitätsstandards und die Möglichkeiten von Qualitätssicherung und -entwicklung im Feld der Sozialen Arbeit positiv beeinflussen.
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Das TOPOI-Modell – eine Heuristik zur Analyse interkultureller Gesprächssituationen und ihre Implikationen für die pädagogische Arbeit Das TOPOI-Modell
Edwin Hoffman
*Übersetzung des niederländischen Textes: Elisabeth Jaksche-Hoffman. Einleitung Viele pädagogische Mitarbeiter/innen erleben die Kommunikation mit allochthonen Jugendlichen und ihren Erziehungsberechtigten als besonders schwierig. Sie verlieren ihre Unbefangenheit und handeln besonders vorsichtig aus Angst, Fehler zu machen und dadurch zu diskriminieren. Aus dem Bedürfnis nach Sicherheit suchen sie Kenntnisse über die Kultur der Allochthonen zu erwerben, um zu wissen, was sie tun dürfen und was nicht. Dies aber führt zu Verallgemeinerungen und zur Stereotypisierung bestimmter allochthoner Gruppen, z.B. Iraner verhalten sich in der Kommunikation so und so, mit Iranern darf man dies tun, jenes nicht. Bei den pädagogischen Mitarbeiter(inne)n selbst führt das zu einer verkrampften Haltung von passiver Toleranz. Sie getrauen sich nicht mehr, allochthone Jugendliche und ihre Erziehungsberechtigten auf bestimmte Verhaltensweisen oder auf bestimmte Auffassungen, mit denen sie eigentlich nicht einverstanden sind, anzusprechen. Viele pädagogische Mitarbeiter/innen vergessen die eigenen professionellen Werte und Auffassungen und meinen, sie seien aus Respekt vor der Kultur der Allochthonen zur Toleranz verpflichtet. Diese verkrampfte Vorsicht wird noch verstärkt durch die an sich für multiethnische Gesellschaften gültigen Normen: „Du sollst die Kultur eines anderen respektieren!“ und „Du sollst nicht diskriminieren!“ Ein auffallendes Beispiel für diese mehr oder weniger verkrampfte Vorsicht ist der Versuch mancher pädagogischen Mitarbeiter/innen, vor einer Intervention, z.B. wenn ein Vater seine Kinder schlägt, zu entscheiden, ob es die „Person“ ist, die handelt oder „ihre Kultur“, wobei man im zweiten Fall dazu neigt, vorsichtiger vorzugehen, als wenn man die Handlung einer Person, ihrem Charakter, ihrer Einstellung, zuschreibt. Ein Faktor, der diese Haltung von pädagogischen Mitarbeiter/innen hervorruft, ist das Angebot fachlicher Weiterbildung, bei der Informationen über kulturelle Eigenarten und Besonderheiten von Allochthonen im Mittelpunkt stehen. In den Niederlanden sind in diesem Zu-
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sammenhang vor allem die Ansätze interkultureller Kommunikation von Pinto (1990), Tompenaars (1993 a und b) und von Hofstede (1991), der international anerkannt ist, populär. Kenntnisse fremder ethnischer und nationaler Kulturen sind danach eine notwendige Voraussetzung, um effektiv interkulturell kommunizieren zu können. Hofstede (1991) zum Beispiel kommentiert einen Fall, in dem ein Indonesier gekränkt reagiert, nachdem ihn sein niederländischer Kollege Frans zum Spa als „Dieb“ bezeichnet hat, dass „In Indonesien, wo Status heilig ist, ein Spa immer wörtlich aufgefasst wird, was Frans hätte wissen müssen“ (Hofstede 1991, S.265).
Kulturalistischer und inklusiver Ansatz von interkultureller Kommunikation Die genannten Theorien sind sicher sinnvoll, soweit sie Einsicht geben in die unterschiedlichen Kulturen und kulturellen Dimensionen. Sie sind jedoch riskant, wenn man sie als Vorschrift für effektive Kommunikation betrachtet. Es besteht die Gefahr einer kulturalisierenden und reduktionistischen Wirkung: sie können zur Annahme führen, dass das kommunikative Verhalten einer Person eindimensional durch die Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder nationalen Kultur bestimmt wird. Die Aufmerksamkeit richtet sich also vor allem auf den traditionellen ethnisch oder national-kulturell bedingten Hintergrund des Allochthonen, der zugleich als naturgegebene kulturelle Essenz gesehen wird (Glastra 1994). Dies ist eine essentialistische Reduktion der Identität der Allochthonen allein auf ihre ethnische Identität als ein quasi natürliches Faktum. Dabei wird der dynamische, sozial konstruierte und vielfältige Charakter der Identität jeder Person geleugnet. Ein Beispiel für diesen vielfältigen Charakter von Identität finden wir in einem Zitat der niederländischen Autorin Connie Palmen, in dem sie erzählt, was ihren Blick auf das Leben bestimmt: „Ich schaue darauf mit einem Blick, der durch Philosophie und Literatur geprägt ist. So sieht man andere Dinge als jemand, der Mathematik oder Biologie studiert hat, und ich sehe auch andere Dinge, weil ich Frau, katholisch und Schwester von drei Brüdern bin und vom Land im Süden der Niederlande komme“ (1990, S.100).
Zuletzt ist zur kulturalistischen Auffassung anzumerken, dass sie an der kulturellen Diversität vorbeigeht, die genauso auch unter autochthonen Jugendlichen vorhanden ist. Der Fokus ist nur auf das Anderssein von allochthonen Jugendlichen aufgrund ihrer Ethnizität gerichtet. Das fördert ein exklusives Denken in Begriffen von Wir und Sie: Wir – die Autochthonen, versus Sie – die Allochthonen oder umgekehrt.
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Wegen des Risikos eines kulturalistischen Ansatzes wählen wir hier einen inklusiven Ansatz von interkultureller Kommunikation, der auf der System- und Kommunikationstheorie von Watzlawick u.a. (1974) basiert und durch die Interaktie Akademie in Antwerpen pragmatisch weiterentwickelt wurde. Dieser inklusive Ansatz ist hergeleitet von dem inklusiven Denken, das von Boerwinkel (1966) ausgearbeitet wurde. Inklusiv denken bedeutet: „...ein Denken, dass prinzipiell davon ausgeht, dass ich mein Heil (Glück, Leben, Wohlbefinden) nicht auf Kosten des anderen oder ohne den anderen bekomme, sondern es nur bekommen kann, wenn ich zugleich das Heil des anderen im Auge habe und fördere“ (Boerwinkel 1966, S.27). Der inklusive Ansatz ist ein Denken und Handeln, das den anderen einschliet: es ist ein Wir-Denken, in dem Raum ist für Unterschiede. Inklusives Denken und Handeln ist ein Gegensatz zu dem oben beschriebenen exklusiven Denken und Handeln, bei dem der andere ausgeschlossen wird und bei dem ein Gegensatz von „Wir“ versus „Sie“ geschaffen wird.
Die Prinzipien der anerkannten Gleichheit und der anerkannten Diversität Inklusiv Denken und Handeln verbindet die zwei Prinzipien der anerkannten Gleichheit und der anerkannten Diversität. Das Prinzip der anerkannten Gleichheit bedeutet, dass der allochthone Jugendliche, abhängig vom Kontext‚ in erster Linie Schüler, Klient oder Jugendlicher ist (nicht Allochthoner). Auerdem weist das Prinzip der anerkannten Gleichheit auf das hin, was Jugendliche (authochthone und allochthone) gemeinsam haben als Kind, Tochter, Schüler, Pubertierender, Musikfan, Sportler, Stadtbewohner etc.. Pädagogische Mitarbeiter haben manchmal die Neigung, allochthone Jugendliche in erster Linie und ausschlielich als Allochthone zu sehen und anzusprechen. Sie sind dann zu stark auf die Unterschiede aufgrund von Ethnizität gerichtet und haben kein Auge mehr für die gemeinsamen Lebenswelten und -aufgaben, die Jugendliche unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft miteinander teilen. In der Praxis der Jugendhilfe bedeutet das Prinzip der Gleichheit eine qualitativ gleiche Behandlung aller Jugendlichen mit im Prinzip denselben pädagogischen Ausgangspunkten, der gleichen Hilfeleistung, derselben Aufmerksamkeit und denselben Methoden. Anders gesagt: jeder Jugendliche hat Recht auf dieselbe qualitative Behandlung. Das Prinzip der anerkannten Gleichheit ist direkt und untrennbar mit dem Prinzip der anerkannten Diversität verbunden. Das Prinzip der anerkannten Diversität bedeutet die Anerkennung der Unterschiede, was den Hintergrund der Jugendlichen und ihrer Erziehungsberechtigten betrifft. Der pädagogische Mitarbeiter achtet gleichzeitig auf die
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Gleichheit eines Jugendlichen und auf die möglichen (kulturellen) Unterschiede unter anderem wegen des Alters, des Geschlechts, der Ethnizität, der Familie, der Lebensumstände, der Migrationsgeschichte, der Ausbildung und des geistigen und körperlichen Gesundheitszustandes. In Bezug auf diese Diversität im Hintergrund ist nicht jeder kulturelle Unterschied gleich wichtig. Im Rahmen der Jugendhilfe geht es um jene kulturellen Unterschiede, die soziale und gesellschaftliche Diskriminierung von Jugendlichen zur Folge haben. So kann man in der Praxis sehen, dass allochthone Jugendliche im Vergleich zu autochthonen Jugendlichen gesellschaftlich besonders verletzbar sind, unter anderem wegen ihrer Migrationsgeschichte, ihrer Migrantenposition, ihres Sprachhintergrundes, ihres kulturellen Kapitals (Haltung, Wissen, Fähigkeiten und soziale Netzwerke) und wegen sozialer und gesellschaftlicher Ausgrenzung auf Grund ihrer Hautfarbe, ihrer ethnischen Herkunft und ihrer Religion. Wenn der pädagogische Mitarbeiter die Frage des Jugendlichen verdeutlichen will, wird erkennbar, welche kulturellen Unterschiede für die Hilfeleistung relevant sind. So macht z.B. die unzureichende Beherrschung der Sprache des Gastlandes den Jugendlichen besonders verletzbar. Das Gleichheitsprinzip und das Diversitätsprinzip sind untrennbar miteinander verbunden. Die zwei Prinzipien bedingen und korrigieren einander und garantieren nur zusammen eine qualitativ hochwertige und gleichwertige Hilfe für Jugendliche und ihre Erziehungsberechtigten. Ein pädagogischer Mitarbeiter darf nicht nur eines der zwei Prinzipien berücksichtigen. Wird nur das Gleichheitsprinzip berücksichtigt im Stil von „ich mache keinen Unterschied. Es sind alles Jugendliche. Ich behandle alle Jugendlichen gleich“, ist eine Art Farbenblindheit gegeben. Es bedeutet ein Negieren von Unterschieden und dadurch die Ausgrenzung von Jugendlichen, die „anders“ sind. Wird nur das Prinzip der anerkannten Diversität berücksichtigt, führt dies zu Generalisierungen und Stigmatisierungen des Andersseins von Jugendlichen. Für allochthone Jugendliche hätte das eine eigene „Allochthonen-Methodik“ oder eine kulturalistische Behandlung zur Konsequenz: Der pädagogische Mitarbeiter sollte, wie schon gesagt, auch bei einem allochthonen Jugendlichen ein Auge haben für die über-ethnisch-kulturellen Lebensräume und damit im Zusammenhang für die vielfältige Identität des Jugendlichen. Dass z.B. ein türkischer Jugendlicher mit seiner Lehrerin Konflikte hat, muss nichts mit den Auffassungen vom Mann-Frau-Verhältnis innerhalb der türkischen Gemeinschaft zu tun haben, sondern kann in erster Linie mit seiner Position als Schüler und dem Unterrichtsstil der Lehrerin zusammenhängen. Daran wird deutlich, dass ein pädagogischer Mitarbeiter gegenüber einem jugendlichen Klienten lernen muss, beide Prinzipien gleichzeitig zu berücksichtigen, wobei die Selbstdarstellung des Jugendlichen im Vordergrund steht. Im Kontakt mit den Jugendlichen muss der
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pädagogische Mitarbeiter aufmerksam dafür sein, welche Seite von sich selbst, welchen Aspekt seiner Identität ein Jugendlicher in den Vordergrund stellt und welche er – vielleicht vorläufig – im Hintergrund lässt. Diese Dynamik von Identität, die Verschiebung von Vorder- und Hintergrund, schliet an die Metapher von Stuart Hall (1994) für Identität als ein „bewegliches Fest“ an. „Sie wird im Verhältnis zu den verschiedenen Arten, in denen wir in den kulturellen Systemen, die uns umgeben, repräsentiert oder angerufen werden, kontinuierlich gebildet und verändert. Dieses Subjekt ist historisch, nicht biologisch definiert“ (Hall 1994, S.182f). Die enge Verbundenheit der Prinzipien der anerkannten Gleichheit und der anerkannten Diversität kann man sich wie eine Pyramide vorstellen. An der Basis der Pyramide kommen die Prinzipien von Gleichheit und Diversität im „Inklusiven Denken und Handeln“ zusammen, das auf diese Weise die Gleichwertigkeit in der Jugendhilfe gewährleistet. Auerdem macht das Bild von der Pyramide deutlich, dass die gleichzeitige Berücksichtigung der zwei Prinzipien die Basis der Qualität der Jugendhilfe bildet.
Ein systemtheoretischer Ansatz von interkultureller Kommunikation In dem systemtheoretischen Ansatz von interkultureller Kommunikation, der hier zu Grunde gelegt wird, steht nicht die Kultur, sondern stehen die Kommunikation, das Situationsgebundene und das Einzigartige der Persönlichkeit im Zentrum. Kultur ist eine dynamische Gegebenheit, in der der Mensch nicht nur Produkt, sondern auch Produzent von Kultur ist. Auf der Basis dieses systemtheoretischen Ansatzes wird das TOPOI-Modell (Hoffman 1999) dargestellt, eine Heuristik und Systematik von Interventionsmöglichkeiten, die in jeder Kommunikation, in der (unabhängig von Ethnizität) kulturelle Unterschiede und Missverständnisse auftreten, verwendet werden kann. Zuerst aber gehen wir auf einige wichtige Ausgangspunkte ein, die für die Auffassung und die Haltung von pädagogischen Mitarbeitern im Umgang mit Kulturunterschieden wichtig sind: Kommunikation ist ein universaler Prozess. Es gibt auf elementarer Ebene keinen Unterschied in der Kommunikation von Allochthonen und Autochthonen. Kommunikation verläuft überall auf der Welt im Wesentlichen auf dieselbe Weise: Menschen schreiben den Erfahrungen in ihrer sozialen und physischen Umgebung Bedeutungen zu, teilen diese miteinander und verhandeln über die „Wahrheit“ darin. Die Kommunikation mit
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einer allochthonen, z.B. marokkanischen, Jugendlichen ist also im Wesen keine andere als die mit einer autochthonen niederländischen Jugendlichen. Identität: vielfältig, multikulturell und dynamisch Jeder Mensch, allochthon oder autochthon, ist Teil eines ganzen Netzwerks von sozialen Systemen wie z.B. von Mann/Frau, Altersgruppen, Religion, Stadt oder Viertel, Familie, Ausbildung, ethnischen Gruppen, sexueller Orientierung, usw. Jedes dieser sozialen Systeme ist gekennzeichnet durch seine eigene Kultur und aus jedem dieser sozialen Systeme kann ein Mitglied eine Teilidentität (Rolle) herleiten. Jede Person entwickelt in ständiger Interaktion mit seiner Umgebung eine vielfältige, multikulturelle und dynamische Identität. Daraus folgt, dass Identität ein soziales Konstrukt ist und nicht unveränderbar und natürlich gegeben: es ist ein farbenfrohes, bewegliches Mosaik, zusammengesetzt aus mehreren sozial-kulturellen Teilidentitäten. So kann die oben genannte marokkanische Jugendliche, Frau, Minderjährige, Schülerin, Moslem, Älteste in der Geschwisterreihe, Asylantin und Migrantin sein. Welche ihrer Identitäten bei dem Treffen mit ihr im Vordergrund stehen, hängt von ihrer Autobiographie ab und von der konkreten momentanen Situation. Ein Jugendhelfer, der diese Jugendliche verstehen will, muss alle ihre möglichen Teilidentitäten und Lebensräume berücksichtigen, und nicht nur ihre marokkanische Identität als erste und einzige Erklärung für ihr Verhalten, ihre Gefühle, ihre Gedanken und ihre Erfahrungen heranziehen. So bekommt sie die Möglichkeit, sich selbst so zu präsentieren, wie sie in dem Moment ist; z.B. vielleicht eine pubertierende Jugendliche, die um Unabhängigkeit von ihren Eltern kämpft. Eine metakulturelle und psychologische Perspektive auf Kultur Es ist für pädagogische Mitarbeiter wichtig, eine metakulturelle Perspektive (Meurs und Gailly 1998) auf Kultur zu entwickeln: eine Sicht auf die Funktionen, die Kultur universell erfüllt. Tennekes (1995) umschreibt Kultur als „eine zusammenhängende Ganzheit von Bedeutungen, die dem Menschen Orientierung bietet in der Wirklichkeit, in der er lebt...ein kollektives Lebensprogramm. Es umfat die Art zu denken, zu sprechen und zu handeln, wie sie in einem bestimmten sozialen Verband tonangebend ist“ (Tennekes 1995, S.19f). Kultur ist so zugleich ein Modell von der Wirklichkeit wie ein Modell für die Wirklichkeit. Kultur als Modell von der Wirklichkeit bedeutet, dass Kultur dem Menschen eine Ganzheit von Interpretationsrahmen bietet, nach denen er sich in der jeweiligen Situation orientieren kann. Als Modell für die Wirklichkeit
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verschafft Kultur dem Menschen eine Ganzheit von Instruktionen und Anweisungen für richtiges, adäquates und effektives Handeln. Kultur ist demnach ein Sinngebungssystem, ein bedeutungstragender Rahmen, der in einem bestimmten Kontext ein bestimmtes Ma an Unsicherheit aufhebt: man kennt zum groen Teil die Bedeutungen und man wei, wie man handeln muss. Dieses von „zuhause“ mitgebrachte kulturell tragfähige Fundament wird bei Migranten durch die Migration in Frage gestellt. Migranten verfügen nicht mehr über einen adäquaten bedeutungstragenden Rahmen. Die von „zuhause“ mitgebrachte Kultur hebt hier im Gastland nicht in demselben Ma die Unsicherheit auf. Sie fragen nach einem „neuen“, für ihre Situation passenden tragfähigen Fundament. Die Anerkennung dieses psychologischen Verlangens nach einem solchen neu aufzubauenden tragfähigen Fundament ist eine Basis, um mögliche Veränderungen der kulturellen Identität zuzulassen. Vliegen (1998) beschreibt das Beispiel der Marokkanerin Habiba und ihrer Eltern: „Habiba ist verlegen, gibt aber deutliche Antworten in korrektem Niederländisch, als der Jugendhelfer nach den Gründen ihres Weglaufens fragt. Sie gibt sofort an, dass sie nicht verheiratet werden will und dass sie in Belgien bleiben will. Sie fürchtet, dass sie und ihre Schwester während der Ferien in Marokko verheiratet werden sollen. Mit derselben Hartnäckigkeit sagt sie auch, dass sie kein Kopftuch tragen möchte. Ihre Eltern aber wollen das. Sie hat das Kopftuch immer in der Tasche bei sich. In den Gesprächen mit den Eltern und Habiba sieht es aus, als ob die Familie verschiedene aus Marokko mitgebrachte und in Belgien entwickelte Auffassungen über das Thema Jugendlicher- und Frausein hat. Als marokkanisches, zur Frau werdendes, pubertierendes Mädchen, das in einer Stadt in Belgien zur Schule geht, ist Habiba auf der Suche danach, was die verschiedenen Kulturen und sozialen Netzwerke (das Zuhause, das Viertel, die Schule, Bekannte und Freunde, die ethnische Gemeinschaft und Belgien als Land ihrer Zukunft) für sie bedeuten können. Aus diesen verschiedenen kulturellen Sinngebungsrahmen schöpfend, bemüht sich der Jugendhelfer, mit Habiba ein erneuertes kulturell tragfähiges Fundament zu entwickeln“ (vgl. Vliegen 1998, S.85-93). Dieses Beispiel zeigt, dass Habiba ihre Probleme in erster Linie als ethnisch-kulturelle Probleme zu formulieren scheint. Dies ist eine Falle für Jugendhelfer, Probleme nur als ethnisch-kulturelle Probleme zu sehen, als Konflikt zwischen der marokkanischen und der westlichen Kultur. Eine psychologische und metakulturelle Perspektive auf Kultur bietet die Möglichkeit, Habiba als eine Person mit mehreren Identitäten (Marokkanerin, Belgierin, Tochter, werdende Frau, Schülerin) zu sehen, die auf der Suche nach einem tragenden Sinngebungsrahmen ist.
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Aufruf zu gegenseitiger Verantwortlichkeit Der Aufruf zu gegenseitiger Verantwortung (Wildemeersch 1992) sollte an die Stelle der oben genannten passiven Toleranz treten. Gegenseitige Verantwortung heit, auf den Aufruf des „Fremden“ antworten. Das bedeutet, dass pädagogische Mitarbeiter bei sich selbst Rat holen und sich von dem oder der anderen ansprechen lassen, sich in diesem Sinne ihr oder ihm gegenüber verantworten. Daneben bedeutet gegenseitige Verantwortung auch, einen Jugendlichen und seine Erziehungspersonen aufzurufen, sich zu verantworten. Das heit, dass pädagogische Mitarbeiter sich getrauen, den Jugendlichen und seine Erziehungspersonen auf ihr Verhalten und ihre Überzeugungen anzusprechen. Wirklichen Respekt haben vor dem kulturellen Hintergrund des/der anderen heit, sich zu trauen, mit ihr oder ihm darüber zu sprechen. Dieser Aufruf zur Verantwortung geschieht anerkennend (s.u. die Dimension „Inzet“) und nicht beurteilend und schon gar nicht abweisend oder verurteilend. Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns (in Laan van der 1997; Burkart 1983; Koningsveld & Mertens 1992) bietet eine Anleitung für die Realisierung solch gegenseitiger Verantwortung. Kommunikatives Handeln richtet sich auf gegenseitige Verständigung, auf das Erreichen gegenseitiger Einigung. Dies unterstellt, dass die Gesprächsteilnehmer einander ernst nehmen und miteinander auf gleichem Fue verkehren wollen. Kommunikativ handeln beinhaltet, dass die Teilnehmer versuchen, sich über viererlei berechtigte Ansprüche zu einigen. Als erstes ist da der Anspruch der Verständlichkeit: die Teilnehmer sollen versuchen, sich verständlich auszudrücken, damit Sprecher und Hörer einander überhaupt verstehen können. Zweitens der Anspruch der Wahrheit: die „Wahrheit“ der objektiven Tatsachen der Situation. Drittens der Anspruch der Richtigkeit der Normen und Werte des interpersonellen Verhältnisses: die gegenseitigen Erwartungen und Verpflichtungen. Und viertens der Anspuch der Wahrhaftigkeit: die Teilnehmer sollen ihre Absichten wahrhaftig äuern, so dass sie einander vertrauen können. D.h. die Teilnehmer sollen wahrhaftig sein in ihrer Selbstdarstellung: die Darstellung des in bzw. mit ihren Sprechhandlungen verfolgten Interesses, der Gefühle und Bedürfnisse, soll wahrhaftig sein, damit der Hörer der Äuerung auch glauben, dem Sprecher/der Sprecherin vertrauen kann (vgl. Burkart 1983, S.212 ff.). Wenn zum Beispiel ein Vater wegen seiner religiösen Überzeugung den Direktor der Schule bittet, seine Tochter von der Teilnahme am gemischten Schwimmunterricht zu befreien, erhebt er den Anspruch der Verständlichkeit seiner sprachlichen Ausdrücke, um seine Bitte zu äuern und zu begründen; der „Wahrheit“ dass es seiner Tochter nach dem Glauben, dem er anhängt, mit Rücksicht auf ihr Alter nicht erlaubt ist, gemeinsam mit Jungen zu schwimmen;
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der Richtigkeit seiner Umgangsweise (u.a. die Äuerung seiner Bitte) mit dem Schuldirektor und der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit seiner Absichten, Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle, wie er diese als gläubiger Vater äuert. Der Schuldirektor bringt im Gespräch mit dem Vater ebenfalls seine Geltungsansprüche ein: der Verständlichkeit, dass er sich verständlich ausdrückt für den Vater; der Wahrheit „seiner“ Tatsachen u.a. des Interesses, dass das Mädchen schwimmen lernt und dass es in pädagogischer Hinsicht gut ist, gemeinsam mit Jungen schwimmen zu lernen; der Möglichkeiten der Schule, das Mädchen der Pflicht des Schwimmunterrichtes zu entheben, und der Möglichkeiten, getrennten Schwimmunterricht für Buben und Mädchen zu organisieren. Drittens der Richtigkeit seiner Umgangsweise mit dem Vater; wie er als Schuldirektor umgeht mit der Bitte des Vaters, und viertens der Wahrhaftigkeit der Äuerung seiner Absichten, Wünsche und Gefühle als Schuldirektor dem Vater gegenüber. Der Schuldirektor und der Vater handeln dann kommunikativ, wenn beide bereit sind, ihre Geltungsansprüche zur Diskussion zu stellen, und versuchen, sich miteinander zu verständigen. Es ist klar, dass der Schuldirektor wegen seiner Funktion, Verantwortung und Machtsposition mehr investieren muss, um kommunikativ zu handeln. Wesentlich für das kommunikative Handeln ist nicht, alles permanent zur Diskussion zu stellen, es geht um die Bereitschaft dazu (Laan van der 1999, S.253f.). Dies ist besonders wichtig in interkulturellen Gesprächssituationen, in denen die Teilnehmer für ihren Sprachgebrauch, ihre Interpretation der Wirklichkeit aus verschiedenen sprachlichen und soziokulturellen Hintergründen schöpfen, für den normativen Umgang miteinander und für die Äuerung ihrer Absichten, Wünsche, Gefühle, Bedürfnisse und Erwartungen. Dadurch können leicht Unterschiede und Missverständnisse in der Kommunikation auftreten. Es ist wichtig, sich bewusst zu sein, dass in der gegenseitigen Verantwortung von keiner der beiden Parteien verlangt wird, ihre eigenen Auffassungen aufzugeben, auch nicht vom pädagogischen Mitarbeiter. Dieser soll seine Auffassungen einbringen und wagen, darüber ein Gespräch zu beginnen. Das bedeutet zugleich, dass dieser pädagogische Mitarbeiter auch einigermaen klare Auffassungen (Visionen) hat, diese in Worte fassen kann, dafür einzustehen wagt und auch die kommunikative Kompetenz besitzt, sie zur Diskussion zu stellen und, wo nötig, ganz oder teilweise fallen zu lassen. Kommunikation verläuft zirkulär. Bei misslingender Kommunikation haben pädagogische Mitarbeiter die Neigung, dem anderen die Schuld zu geben oder sich selbst Vorwürfe zu machen. Das ist ein lineares Denken über Kommunikation, dem das Sender-Empfänger-Modell
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zugrunde liegt. In einem solchen linearen Denken wird über Ursache und Folge, über Schuld und Unschuld gesprochen. Von einer systemtheoretischen Auffassung her verläuft Kommunikation zirkulär. Das bedeutet, dass man nicht nicht kommunizieren kann (Watzlawick u.a. 1974) und dass man also immer gleichzeitig Einfluss hat und unter Einfluss steht. Im zirkulären Denken spricht man nicht von Schuld, sondern von Anteil. Wenn Dinge in der Kommunikation missglücken, dann hat jeder seinen Anteil daran. Man spricht nicht von der Schuld einer Partei alleine. Bei misslingender Kommunikation ist es wichtig, aus einer offenen reflektiven Haltung heraus vor allem sich selber zu fragen: Was mache ich...dass der andere so reagiert, wie er reagiert (vgl. den Beitrag von BenderSzymanski). Unterschiede und Missverständnisse sind in jeder Kommunikation eher die Regel als die Ausnahme Ist man sich dessen bewusst, kann man Irritationen, Vorwürfe gegen sich selbst und gegen andere vermeiden. Es kann gleichzeitig ein entspanntes Gefühl verleihen, wenn man sich in der Kommunikation mit einem allochthonen Jugendlichen nicht verkrampft vorsichtig verhält. Das Wichtigste ist, auf den eigenen Einsatz zu vertrauen, auf die eigene Integrität und Qualität. Ausschlaggebend ist eine Haltung von ehrlicher Anteilnahme und eigenem Einsatz. „Fehler“ dürfen dann (manchmal geht es nicht anders) gemacht werden, weil der/die andere die Anteilnahme und die wirklichen Motive sehen kann, die zum gröten Teil in der Körpersprache sichtbar sind: Stimme, Gesichtsausdruck und Körperhaltung. Aus einer offenen reflektiven Haltung heraus ist ein pädagogischer Mitarbeiter auf Unterschiede und dadurch auf Missverständnisse in der Kommunikation vorbereitet. Es ist dann wichtig, mit den Effekten der Kommunikation zu arbeiten: die Reaktion des anderen ist der Ausgangspunkt für den nächsten kommunikativen Akt. So behält der pädagogische Mitarbeiter gleichzeitig die Regie über die Kommunikation. Kommunizieren heit sich zu trauen, Risiken auf sich zu nehmen. Weil Unterschiede und Missverständnisse zu jeder Kommunikation gehören, bedeutet Kommunizieren immer, in gewissem Sinn das Risiko eingehen, dass Dinge anders verlaufen, als man erwartet. Dieses Risiko bedeutet aber auch eine Chance zu lernen, denn erst durch das Erfahren von Unterschieden bekommt man Einsicht in sich selbst, in die eigenen Selbstverständlichkeiten und Einsicht in die Lebenswelt des/der anderen.
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Eine pädagogische Mitarbeiterin in einem Zentrum für Asylsuchende wollte mit einer Gruppe von Müttern Puppen basteln. Sie ging davon aus, dass die Frauen es lustig finden würden, Puppen zu basteln. Eine Anzahl iranischer islamischer Frauen gab an, dass sie von ihrer Religion her keine Puppen basteln dürften. Die pädagogische Mitarbeiterin erschrak. Sie warf sich selbst vor, sich vorher nicht ausreichend über den Islam informiert und deshalb den islamischen Frauen gegenüber nicht respektvoll gehandelt zu haben. Die pädagogische Mitarbeiterin erzählte dieses Beispiel in einer Trainingsgruppe um zu erklären, wieso für sie kulturelle Hintergrundinformation so wichtig sei. Wenn sie diese kulturelle Information vorher gehabt hätte, sagte sie, dann hätte sie diesen „Konflikt“ mit den islamischen Frauen verhindern können. Auf die Frage der anderen Teilnehmer, was weiter während dieses Vormittags mit den islamischen Frauen passierte, erzählte sie, dass als Folge der Bemerkung der islamischen Frauen eine angeregte Diskussion entstanden sei über Religionen und religiöse Vorschriften allgemein und über Puppen und Bilder machen im Besonderen.
Durch diesen Austausch von Einsichten in die Lebenswelten der verschiedenen Menschen kam die pädagogische Mitarbeiterin zu der Schlussfolgerung, dass dieser „Konflikt“ eigentlich für alle Beteiligten eine Bereicherung war. Wegen des „Gewöhnlichen“ und „Alltäglichen“ von Missverständnissen in der Kommunikation kann es hilfreich sein, den kulturellen Unterschieden und den Missverständnissen, die im Kontakt mit Allochthonen entstehen, nicht unnötig groes Gewicht zu geben. Sonst wird jede Spontanität und persönliche Wärme zurückgedrängt. Eine Sozialarbeiterin besuchte nach langer Zeit wieder einmal eine marokkanische Familie, mit der sie einen sehr guten Kontakt hatte. Froh einander wiederzusehen, umarmte die Sozialarbeiterin die Frau und wollte danach dem Mann ganz herzlich die Hand schütteln. Der Mann aber wich ein Stück zurück, worauf die Sozialarbeiterin ihn spontan anfasste, auf seine Schulter klopfte und sagte: „Oh ja, Sie dürfen Frauen nicht die Hand geben, hè“. Da erkannte sie plötzlich, was sie tat, worauf alle drei in Lachen ausbrachen.
Die vorausgegangenen Empfehlungen bedeuten nicht, dass es für pädagogische Mitarbeiter unwichtig ist, etwas über die kulturellen Hintergründe zu wissen. Im Gegenteil, es ist absolut ratsam, in groen Zügen über Glauben, Kultur, sozialökonomische Position und über die Migrationsgeschichte des Jugendlichen und seiner Erziehungsberechtigten, mit denen man arbeitet, informiert zu sein. Wissen über den kulturellen Hintergrund des Jugendlichen hilft ebenfalls, den eigenen Referenzrahmen zu „dezentrieren“ (Meurs und Gailly 1998): Indem er sich mit anderen kulturellen Bedeutungssystemen vertraut macht, kann der pädagogische Mitarbeiter die eigene kulturelle Situiertheit relativieren. Wenn man über
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die eigenen kulturellen Selbstverständlichkeiten befragt wird, kann dies den Ethnozentrismus verhindern. Kulturelle Hintergrundinformation ist aber keine Bedingung, um effektiv kommunizieren zu können. Es geht vor allem darum, die Geschichte des Jugendlichen und seiner Erziehungsberechtigten in Erfahrung zu bringen, ihre einzigartige Geschichte, ihre einzigartige Bedeutungszuschreibung, ihre Werte und Normen, ihre Gewohnheiten und Traditionen.
Das TOPOI-Modell Oben ist bereits gesagt worden, dass es ein wichtiger Aspekt der kommunikativen Einstellung ist, auf Unterschiede und Missverständnisse vorbereitet zu sein. Mit einer solchen Einstellung kann ein pädagogischer Mitarbeiter gelassen bleiben, wenn sich die Kommunikation fest läuft, und sich auf die Suche nach möglichen Unterschieden und möglichen Missverständnissen machen. Das TOPOI-Modell als Heuristik basiert auf einem systemtheoretischen Ansatz von (interkultureller) Kommunikation und ist dafür ein praktisches Hilfsmittel (Hoffman 1999). Im TOPOI-Modell werden fünf Dimensionen oder Bereiche unterschieden, in denen in der Kommunikation kulturelle Unterschiede und Missverständnisse gesucht werden können. Die fünf Bereiche sind: Taal (ndl., Sprache), Ordening (Ordnung), Personen (Personen), Organisatie (Organisation) und Inzet (wörtl. Einsatz): Das Modell bietet auerdem verschiedene allgemeine kommunikative Interventionsstrategien an. Die Axiome von Watzlawick u.a. (1974) bilden den Ausgangspunkt für vier Bereiche des TOPOI-Modells. 1. 2. 3. 4.
Taal: Menschen kommunizieren sowohl verbal als non-verbal. Ordening: Jede Person hat eine eigene Sicht auf die Wirklichkeit. Was für die eine wahr ist, muss nicht für die andere wahr sein. Personen: Jede Kommunikation hat auer dem Inhaltsaspekt auch einen Beziehungsaspekt. Inzet: Menschen können nicht nicht kommunizieren; jeder Mensch setzt sich ständig für etwas ein.
Weil Kommunikation immer in einem bestimmten organisatorischen Kontext stattfindet und dieser die Kommunikation beeinflusst, wurde der Bereich Organisation (Organisatie) als eine eigene Dimension hinzugefügt. Die fünf Bereiche stehen in der Reihenfolge Taal, Ordening, Personen, Organisatie und Inzet, weil das Akronym TOPOI auf Griechisch „Orte“ heit, die
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Mehrzahl von „Ort“ (man denke auch an Topographie). Analog zu dieser Bedeutung sind Taal, Ordening, Personen, Organisatie und Inzet die Orte oder Bereiche der Kommunikation, wo kulturelle Unterschiede und Miverständnisse aufgedeckt werden können. Die fünf Bereiche von TOPOI sind eigentlich eine Konkretisierung der kulturellen Unterschiede, wie sie dem pädagogischen Mitarbeiter in der Kommunikation mit einem Klienten begegnen können. Durch diese Konkretisierung werden kulturelle Unterschiede operationell und handhabbar gemacht. Die fünf Bereiche kommen in der Praxis der Kommunikation gleichzeitig vor. Gesprächspartner bekommen in ihrer Kommunikation mit all diesen Dimensionen gleichzeitig zu tun. Sie sind sehr eng miteinander verwoben und können sich vermischen. Die Bereiche sind nur künstlich abzugrenzen, um sie deutlich sichtbar zu machen und um mehr Hypothesen aufstellen zu können, was die möglichen Kommunikationsstörungen sind. Soziale Repräsentationen In jedem der fünf Bereiche von TOPOI sind die sozialen Repräsentationen von Einfluss, also das, was „man“ denkt, die Auffassungen, Bilder und Normen bestimmter Gruppen von Menschen über gesellschaftliche und persönliche Themen. Gegenüber Allochthonen sind viele gängige soziale Repräsentationen nicht positiv, z.B. bestehende Kategorisierungen, Generalisierungen, Vorurteile und Stereotypen. Dies führt dazu, dass Unterschiede in der Kommunikation mit Allochthonen oft negativ gedeutet und bestehende Vorurteile und Stereotypen verstärkt werden. Ein Jugendlicher von den Antillen hat ein Nichtgenügend für sein Praktikum bekommen. Er soll zu wenig Initiative gezeigt und bei seiner Arbeit in der Praktikumsstelle eine nachlässige und nonchalante Haltung an den Tag gelegt haben. Diese nonchalante Haltung leitete der Praktikumsbegleiter unter anderem aus der Art ab, wie der Jugendliche im Betrieb umherlief. „Er läuft so, als ob er in der Disco wäre“ war die Meinung des Praktikumbegleiters.
In diesem Beispiel wird klar, wie unter dem Einfluss der herrschenden sozialen Repräsentationen über Menschen von den Antillen (leichtlebig, abwartend und wenig initiativ) allein schon ein Unterschied der Gangart den Praktikumsbegleiter zu einer negativen Beurteilung des Schülers veranlasst, und wie diese Beurteilung schlielich wieder zu einer Verstärkung der genannten sozialen Repräsentationen führt. In der Kommunikation – nicht nur, aber gerade auch mit Allochthonen – ist es für pädagogische Mitarbeiter wichtig, sich des Einflusses der sozialen Umge-
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bung auf die Kommunikation, auf das Denken und auf die Einstellung der Gesprächspartner zueinander bewusst zu sein. Der Einfluss der sozialen Repräsentationen wird im TOPOI-Modell in jeder Dimension berücksichtigt. Die fünf Dimensionen des TOPOI-Modells werden im Folgenden kurz beschrieben, danach wird nochmals das ganze Modell in einem Schema dargestellt. Die Dimension Taal (Sprache) Der Bereich Sprache umfasst die Bedeutungen der verbalen Sprache und der non-verbalen Sprache. Die Sprachbarriere wird oft als das Problem in der Kommunikation mit Allochthonen genannt. Von Sprachbarriere wird gesprochen, wenn es keine gemeinsame Sprache gibt. Im Zusammenhang damit ist es gut, als pädagogischer Mitarbeiter zu begreifen, dass allochthone Jugendliche und ihre Erziehungsberechtigten oft nicht die Chance haben, in ihrer Muttersprache zu sprechen. Pädagogische Mitarbeiter sollten darauf aufmerksam sein, dass sie in einer besseren Position sind als die Jugendlichen und ihre Erziehungsberechtigten, die mit einer anderen Muttersprache aufgewachsen sind, von der sie keinen Gebrauch machen können, um zu sagen, was sie bewegt. „Was genau in mir vorgeht, kann ich eigentlich nur in meiner Muttersprache erklären“ sagt ein Klient. Anhand dieser Aussage erklärt Roemer (1996, S.269), dass es vor allem auch um das Entbehren der Muttersprache als Trägerin von innerlicher, unübersetzbarer Information geht. Beim Übersetzen geht gerade diese Information verloren. Was weiter die verbale Sprache betrifft, sorgen unter anderem der Grad der Sprachbeherrschung und die Unterschiede im Sprachhintergrund für Missverständnisse. So kann innerhalb des niederländischen Kontextes der niederländische Sprachgebrauch von Allochthonen infolge ungenügender Sprachbeherrschung ungewollt anmaßend wirken. An Stelle des Satzes „Können Sie mir vielleicht helfen“ kann z.B. jemand sagen: „Sie müssen mir helfen“. Abgesehen davon, dass der Sprecher vielleicht wirklich eine dominante Person ist, kann es auch sein, dass er/sie die Höflichkeitsregeln und die Abschwächungen (vielleicht...) in der niederländischen Sprache zu wenig kennt. Ausserdem ist es möglich, dass es sich um einen Einfluss der Muttersprache des Sprechers auf den niederländischen Sprachgebrauch handelt. So wie Niederländer sagen „I want coffee“ statt „I would like a cup of coffee“. Übrigens erzählen Allochthone, dass „müssen“ das erste Wort sei, das sie sich merken, weil sie es im Kontakt mit Niederländern so oft zu hören bekommen: Sie müssen zum Sprachunterricht, Sie müssen sich anpassen, Sie müssen dorthin gehen, Sie müssen sich dort melden... Wörter können für Jugendliche und ihre Erziehungsberechtigten je nach ihren unterschiedlichen Spracherfahrungen unterschiedliche Bedeutungen haben.
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„Freiheit“ kann z.B. statt individuelle persönliche Freiheit die Bedeutung von sich in der Gruppe gut fühlen haben. Ein anderes Beispiel ist der Name einer von Molukkern organisierten Konferenz „Sombar dalam hidup“, der zu Missverständnissen führte: „Sombar dalam hidup“ bedeutet im Malaiischen wörtlich „die Schattenseiten des Lebens“. Für die autochtonen Niederländer haben Schattenseiten wie für Deutsche die Bedeutung von dunklen, traurigen Seiten des Lebens. Für Molukker sind „Schattenseiten“, von einem tropischen sonnigen Kontext her gesehen, die angenehmen, glücklichen Momente im Leben. Was den eigenen Sprachgebrauch von pädagogischen Mitarbeitern gegenüber den Jugendlichen und ihren Erziehungsberechtigten, die die Sprache des Gastlandes nicht so gut beherrschen, betrifft, so sollten sie möglichst vermeiden, Fachjargon und Sprichwörter zu verwenden. Dieser Sprachgebrauch kann leicht zu Missverständnissen führen. Einfaches, deutliches Sprechen in kurzen vollständigen Sätzen bietet da einen Ausweg. Roemer (1999) weist noch darauf hin, dass das Aufkleben von „pathologischen Etikettierungen“ (Roemer 1999, S.269) verhindert werden muss; vor allem solcher Etikettierungen, die der Klient überhaupt nicht verstehen kann. „Was kann eine senegalesische Mutter mit der Etikettierung „depressiv“ anfangen, wenn sie eigentlich Sehnsucht nach ihrem elterlichen Haus, nach ihrem Land und nach ihrer Familie hat. Wer wird einen antillianischen Vater „paranoid“ nennen, wenn er darüber klagt, dass alles und jeder es auf ihn abgesehen zu haben scheint“? Die non-verbale Sprache ist die analoge, nicht vereinbarte Sprache. Dadurch ist sie mehrdeutig und führt leicht zu Missverständnissen in der Kommunikation. Einige Formen von nicht vereinbarter Sprache sind: der persönliche Abstand anderen gegenüber, die Körpersprache, das Zeigen von Aufmerksamkeit während eines Gesprächs, die Art zu grüßen, der Erzählstil, das Lachen, die Kleidung, der Stimmgebrauch, die Art zu gehen und sich zu bewegen und die Einrichtung des Raums. Weiter können interaktionale Regeln unterschiedlich sein, unter anderem: das Abwechseln im Sprechen zwischen den Gesprächspartnern; wie ein Gespräch begonnen und abgeschlossen wird; der Umgang mit Pausen im Gespräch; die Art zu reagieren: den anderen verbessern, zu unterbrechen, ihm ins Wort zu fallen oder ihn ausreden zu lassen. Um zu illustrieren, wie pädagogische Mitarbeiter mit Unterschieden und Missverständnissen in Bezug auf die non-verbale Sprache umgehen können, folgen ein paar Beispiele: Das Handgeben zur Begrüßung ist ein wiederkehrendes Thema. Der wichtige Punkt ist, dass es unterschiedliche Arten zu grüen gibt. Für den pädagogischen Mitarbeiter ist es ratsam, mit diesen Unterschieden zu rechnen und nicht
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auf eine Art des Handelns fokussiert zu sein. Was die Begrüung betrifft, ist man oft so auf das Handgeben ausgerichtet, dass man nicht sieht, dass der andere auf eine andere Art grüt: z.B. durch Nicken, Lächeln, ein Wort, eine kleine Verbeugung oder die Hand auf dem Herzen. Das oben Gesagte bedeutet, dass der pädagogische Mitarbeiter zwar unbefangen, z.B. mit einer ausgestreckten Hand, den Jugendlichen und seinen Erziehungsberechtigten entgegentreten und sie so begrüen kann, dass er dabei aber damit rechnen muss, dass die anderen Personen auf andere Weise grüen. Das nächste Mal wei der pädagogische Mitarbeiter das und kann sich darauf einstellen. Dasselbe gilt übrigens auch für den Klienten, der seine Art zu grüen erweitern kann und vielleicht das nächste Mal schon die Hand gibt. Was das betrifft, kann es innerhalb der Hilfeleistung relevant sein, den Klienten auf mögliche Wirkungen seiner Art des Grüens aufmerksam zu machen. Vor allem in Bildungsinstitutionen und bei der Arbeitssuche kann es zu ärgerlichen Situationen führen, wenn Menschen eine Hand erwarten und sie nicht bekommen. Dann liegt es an dem Klienten, damit bewusst umzugehen. Ein anderes Beispiel: Ein Klient kann einen mehr erzählenden Redestil haben mit viel Bildsprache. Sein Erzählstil ist dann mehr darauf gerichtet, das Erzählte wieder erleben zu lassen, ist also weniger sachlich. Auch kann es sein, dass ein Klient sich zuerst mit Nebensächlichkeiten aufhält und das Wichtigste, die Hauptsache, erst später erzählt. Geduld und dem anderen weiterhin zuhören, ist in dem Fall wichtig. Ein weiteres Beispiel ist, dass der Jugendliche einen nicht ansieht, sondern auf andere Art z.B. durch Wegschauen seinen Respekt zeigt. Wenn pädagogische Mitarbeiter dadurch unsicher werden, sollten sie deutlich feedback geben, indem sie das Verhalten, das ihnen auffällt, beschreiben und erklären, wie sie das interpretieren und wie es auf sie wirkt. Sie können nachfragen, ob das, was sie interpretieren, stimmt, und eventuell sagen, wie sie es gerne anders hätten. Das Risiko besteht darin, dass die pädagogischen Mitarbeiter die Vermeidung des Blickkontaktes sofort und nur negativ oder aber sofort und nur positiv interpretieren als Kulturmerkmal. Die Dimension Ordening (Ordnung) Jeder ordnet „die Wirklichkeit“ aufgrund der Unterschiede in Biographie, Sozialisation und Position auf seine eigene Art und Weise. Ordening hat mit Wahrnehmung zu tun: die Brille, durch die Menschen auf „die Wirklichkeit“ schauen. Darum fragt ein pädagogischer Mitarbeiter immer nach der Bedeutungszuschreibung, der Logik oder der Sichtweise des Klienten. Ein Risiko besteht nämlich darin, dass der pädagogische Mitarbeiter, ausgehend von dem, was für ihn
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selbstverständlich ist, einfach und vorschnell annimmt, dass der Klient wohl dasselbe meint und dieselbe Sichtweise hat. Als pädagogischer Mitarbeiter muss man immer die eigenen Vorannahmen und Interpretationen untersuchen und prüfen, welche Bedeutungen der andere den Begriffen, die beide gebrauchen, zuschreibt. Auch Verhaltensweisen kann man auf Grund der eigenen Werte, Normen und Selbstverständlichkeiten vorschnell interpretieren und bewerten. Ein pädagogischer Mitarbeiter fand, dass in einer indonesischen Familie zu wenig Wärme und Zuwendung herrschte, weil er gehört hatte, dass bei ihnen zuhause während des Essens nicht geredet werden darf. Als er nachfragte, stellte sich heraus, dass das nur beim Abendessen der Fall war und die Familie groen Wert darauf legte, das Essen zu genießen. Miteinander reden war in dieser Zeit nicht am Platz. Von der Systemtheorie wird jede Sicht auf „die Wirklichkeit“ als eine mögliche neben anderen möglichen Sichtweisen relativiert. „Das führt dazu, dass man Unterschiede nicht als einen Streit um die Wahrheit auffassen muss, sondern als Unterschiede in Sichtweisen, Wissen und Kontext; Unterschiede die wir unabhängig von Unwillen und Sachverstand sehen können“ (De Preter 1995, S.79). Eine solche Auffassung verhindert also einen Kampf um die Wahrheit. Ein Beispiel zur Illustration: Der Satz „Niederländer sagen die Ausländer verhindern die Integration“ kann auf zwei Arten gelesen werden, abhängig davon, wo man die Satzzeichen setzt. 1. 2.
Niederländer sagen: „Die Ausländer verhindern die Integration“ Niederländer, sagen die Ausländer, verhindern die Integration.
Beide entgegengesetzten Interpretationen der Wirklichkeit sind, so unterschiedlich sie auch sind, wahr. Die Wahrheit hängt vom Standpunkt ab, den man einnimmt. Es geht darum, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, was die Niederländer und Ausländer miteinander gemeinsam haben. Niederländer und Ausländer haben anscheinend die gemeinsame Sorge, ob die Integration gut verläuft. Die Frage ist nur, wie beide einen Beitrag dazu leisten können. Das eben genannte gilt ebenso für Hilfeleistung. Als pädagogischer Mitarbeiter beginnt man mit dem Klienten keinen Kampf um die Wahrheit. Wenn Unterschiede in Sichtweisen auftauchen, lässt man die Unterschiede Unterschiede sein und sucht nach den Gemeinsamkeiten. Die Dimension Personen Diese Dimension verweist auf den Beziehungsaspekt in der Kommunikation, wer man für den anderen ist und wie die Beziehung von den Beteiligten erfahren
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wird. In der Kommunikation halten die Gesprächspartner einander ständig Spiegel vor, wie sie sich selbst, den anderen und ihre Beziehung sehen. Als pädagogischer Mitarbeiter sollte man in der Kommunikation mit dem Jugendlichen und seinen Erziehungspersonen innehalten bei der Frage, wer man füreinander ist und wie man einander sieht. So verhindert der pädagogische Mitarbeiter, dass der andere auf seine ethnische oder religiöse Herkunft reduziert wird. Ein Vater, der sich weigerte, seine Tochter am gemischten Schwimmunterricht teilnehmen zu lassen, wurde nur als Moslem und als Marokkaner angesprochen. So probierte die Schuldirektion zuerst mit Hilfe eines Imams und danach mit einem Video über sporttreibende Jugendliche in Marokko, den Mann zu überzeugen, dass er nicht recht hatte. Die Schuldirektion erkannte erst später, dass hier vor allem ein besorgter Vater sprach, der das Beste für seine Tochter wollte. Auf dieser Ebene konnte die Schuldirektion ihn verstehen und den Vater mit seiner Sorge anerkennen, hatten sie doch auch selber Kinder, für die sie das Beste wollten. Die Direktion lie die Unterschiede in Sichtweisen (das Gebiet Ordening) stehen und machte sich mit dem Vater auf die Suche nach den Gemeinsamkeiten: der besten Zukunft für das Kind.
Die Erwartungen an den anderen können, weil oft als Rollenerwartungen fixiert, differieren. Ein Jugendlicher und seine Erziehungsberechtigten können sich abhängig, untertänig, fügsam oder abwartend verhalten. Das kann zu tun haben mit anderen kulturellen Werten, anderen Rollenerwartungen oder mit Unsicherheit darüber, was sie zu erwarten haben. Auch wenig Selbstvertrauen, Angst oder ein Gefühl von Unsicherheit können Gründe für ein solches abwartendes oder fügsames Verhalten sein. Ein pädagogischer Mitarbeiter tut gut daran, ein solches Verhalten zu besprechen. Eventuell kann man noch einmal die gegenseitigen Erwartungen und Rollen deutlich machen und darauf, wenn es notwendig ist, auch regelmäig zurückkommen. Auerdem kann es die Vertrauensbasis verbessern, wenn der pädagogische Mitarbeiter bei den ersten Kontakten gezielt in den Aufbau einer guten Beziehung investiert. Das kann bedeuten, dass der pädagogische Mitarbeiter erst selbst ein paar Dinge für den Jugendlichen und seine Erziehungspersonen regelt. Im Laufe der Zeit führen diese dann immer selbstständiger eigene Aufgaben aus. Es ist eine Fehleinschätzung zu glauben, dass jeder selbstverständlich selbstständig und eigenverantwortlich ist. Als pädagogischer Mitarbeiter sollte man darauf vorbereitet sein, dass der Jugendliche und seine Erziehungspersonen Zeit nötig haben, um sich die Rolle des Handelnden zu eigen zu machen. Zugleich gibt der pädagogische Mitarbeiter Acht, dass er nicht zu lange zu viele Aufgaben auf sich nimmt.
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Die Dimension Organisation Der organisatorische Kontext, innerhalb dessen die Kommunikation stattfindet, umfasst das Mikroniveau (die konkrete Gesprächssituation: z.B. wie die Stühle aufgestellt werden, die Tagesordnung des Gesprächs, die Funktion, den Zeitrahmen, die Prozedur), das Mesoniveau (z.B. die Regeln und Prozeduren der Institution) und das Makroniveau (z.B. die Organisation der Hilfeleistung und die gesetzlichen Regelungen). Die differenzierte Organisation stellt viele Migranten vor Probleme. Sie stellen sich regelmäig Fragen wie „Zu wem muss ich mit welcher Frage gehen und wie sind dort die Prozeduren?“. Wenn die Kommunikation darüber schwierig wird, sollte der pädagogische Mitarbeiter dies also nicht als Unwillen, sondern als mögliche Unwissenheit oder falsche Sichtweise über bestimmte organisatorische Aspekte auffassen. Zusätzlich sollten pädagogische Mitarbeiter sich der eigenen Unklarheiten in der eigenen Organisation und der Grenzen bewusst sein. Oft kommen die Kommunikationsprobleme mit allochthonen Klienten nicht von kulturellen Unterschieden, sondern sind eine direkte Folge von zu wenig Zeit, einer zu groen Klientenzahl, unklarer Prozeduren oder Regeln und inadäquater Gesprächsinstrumente wie z.B. Protokolle und Fragebögen. Ein oft geäuertes Problem in Bezug auf die Organisation ist das Zuspätkommen oder Nichterscheinen zu vereinbarten Terminen. Es kann sein, dass der Jugendliche und seine Erziehungspersonen von ihrem Herkunftsland eine andere Organisationskultur gewöhnt sind, als die, mit Terminvereinbarungen zu arbeiten. Auerdem kann ein Unterschied bestehen in der Bedeutung von Zeit und im Umgang mit ihr. Bekannt ist der Satz „In Europa habt ihr Uhren, in Afrika haben wir Zeit“. Als erstes sollte der pädagogische Mitarbeiter immer nach den Gründen des Zuspätkommens fragen. Wenn es dafür einen Anlass gibt, sollte der pädagogische Mitarbeiter deutlich machen, dass er oder andere mit Terminvereinbarungen arbeiten, dass man allgemein erwartet, dass die Betroffenen pünktlich kommen, weil das Wegbleiben oder Zuspätkommen die Arbeit der Organisation stört. Der pädagogische Mitarbeiter sollte auf die Konsequenzen eines solchen Verhaltens verweisen und diese Konsequenzen deutlich machen. Eine Gefahr besteht darin, das Zuspätkommen sofort als Desinteresse, Unmotiviertheit, Mangel an Disziplin und an Respekt zu sehen. Ein Fehler ist es aber auch, wenn pädagogische Mitarbeiter nicht konsequent sind und dem Jugendlichen und seinen Erziehungspersonen nicht helfen, wenn sie zu spät kommen, indem sie diese mit den Regeln vertraut machen.
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Die Dimension Inzet29 Das Axiom, man kann nicht nicht kommunizieren, bildet den Ausgangspunkt für diese heuristische Dimension. „Inzet“ meint die täglichen zahllosen Anstrengungen und Absichten von Menschen in ihrem Engagement für andere Menschen, die zugrundeliegenden Motive und Beweggründe von Menschen. Übertragen auf die Jugendlichen geht es hier um die tragenden Fundamente ihrer Haltung, Neigung und ihres Verhaltens. Es sind die Quellen der Motivation der Jugendlichen und die persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Aufgaben, für die sie sich in ihrem täglichen Leben einsetzen. Für pädagogische Mitarbeiter ist es wichtig, die fundamentalen Quellen der Motivation zu kennen und sich ihrer bewusst zu sein, wenn man das Handeln der Jugendlichen und ihrer Umgebung betrachtet. Das Bewusstsein dieser Quellen der Motivation hilft, die zugrundeliegenden positiven Intentionen des auf den ersten Blick oft negativen und abweichenden Verhaltens der Jugendlichen und ihrer direkter Umgebung zu sehen. Eine Anerkennung dieser positiven Intentionen schafft Raum, um zu einer effektiven Hilfeleistung kommen zu können. Die Quellen der Motivation liegen in den drei fundamentalen Emotionen, mit denen ein Mensch zur Welt kommt. Cornelis (1995) behauptet, dass diese drei fundamentalen Emotionen in ihrem Ausgangspunkt negativ seien: der Mensch kenne diese Gefühle als Angst, Wut und Trauer. Natürlich gebe es viel mehr Emotionen. Aber die seien abgeleitet von den drei Basisemotionen. Die Basisbedürfnisse sind zu allererst das Verlangen nach physischer, sozialer Geborgenheit, nach einer Basissicherheit; zum zweiten das Verlangen nach Anerkennung der eigenen Kompetenzen oder Fähigkeiten und drittens das Verlangen nach kommunikativer Selbststeuerung. Unter „kommunikativer Selbststeuerung“ versteht man das Verlangen des Menschen, in Kommunikation mit der Umgebung selbst seinem Leben Form zu geben. Es ist das Verlangen nach Selbstdarstellung und nach Selbstverwirklichung. Nach Cornelis kommt der Mensch nicht mit positiven Emotionen auf die Welt; diese muss er sich erst in einem kulturellen Lernprozess aneignen. Dafür muss er eine Umgebung finden oder sich schaffen, in der die negativen Emotionen positiven Emotionen Platz machen – die Angst dem Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Liebe, Wut einem Gefühl der Anerkennung der eigenen Fähigkeiten. Und Trauer weicht einem Gefühl, sich selbst in der Welt wieder zu erkennen. Dies ist das Resultat dessen, dass man selbst in Kommunikation mit anderen sein Leben bestimmen kann.
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(ndl., wörtlich „Einsatz“, kaum ins Deutsche übersetzbar)
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Die Probleme gesellschaftlich schwacher Jugendlicher haben ihren Ursprung in einer Gesellschaft, die den Basisemotionen und Basisbedürfnissen der Jugendlichen zu wenig entgegenkommt. Angst, Wut und Trauer sozial schwacher Jugendlicher sind Rückmeldungen. So eine Rückmeldung ist auch die zunehmende gesellschaftliche Gewalt (die sogenannte „sinnlose Gewalt“) in den Niederlanden. Der niederländische Psychiater W. van Tilburg sagt dazu: „...sinnlose Gewalt (ist) einer der schlechtesten Begriffe, die in den letzten Jahren eingeführt wurden. Diese Gewalt ist nicht sinnlos. Sie ist aus einer enormen Rache gegen die Gesellschaft entstanden. Sie kommt von Menschen, die chronisch erniedrigt worden sind, von Jugendlichen, die sich benachteiligt fühlen und dann unter Einflu von Alkohol entgleisen“ (Köhler 2001). Das macht deutlich – berücksichtigt man, was diesem Verhalten zugrunde liegt –, dass jeder Mensch wohl für irgend etwas sein Bestes gibt, auch wenn man es auf den ersten Blick nicht sehen kann. Hinter jedem Verhalten, wie irrational und abweichend es auch sein mag, gibt es für die fragliche Person eine logische und positive Intention. Die Eltern, die ihre Tochter verheiraten lassen wollen, wollen vielleicht das Beste für ihre Tochter innerhalb der Tradition ihrer Familie. Der Vater, der schlägt, will vielleicht den Respekt als Vater von seinen Kindern wiederbekommen. Ein pädagogischer Mitarbeiter sucht immer nach diesem Zugrundeliegenden der positiven Intentionen, Bedürfnisse und Motive, um dieses dann anzuerkennen. Anerkennen ist nicht dasselbe wie gut heien oder dem anderen recht geben. Anerkennung heit, den anderen verstehen, wissen, was der andere meint, es sich vorstellen können und sich in den anderen hineinversetzen. Ein pädagogischer Mitarbeiter anerkennt aus der Position eines „neutralen Zeugen“ heraus ohne Werturteil: Der andere darf hier sein mit seiner Geschichte. In dem oben genannten Beispiel vom Vater, der seine Kinder schlägt, kann der pädagogische Mitarbeiter statt abwertend zu reagieren („Bei uns in den Niederlanden wird nicht geschlagen“), empathisch fragen, wie es den Kindern geht, was der Vater im Umgang mit seinen Kindern schön findet, was für den Vater schwierig ist und wie er damit umgeht, ob er mit der Art, wie er vorgeht (schlagen), erreicht, was er erreichen will, ob er den Effekt seines Handelns auf die Kinder sieht, ob das der gewünschte Effekt ist, ob es vielleicht andere Möglichkeiten gibt usw. Wenn der andere sich genügend anerkannt fühlt, kann Raum entstehen für Veränderungen, eine andere Sichtweise auf die Dinge und eine andere Art des Handelns.
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Anwendung des TOPOI-Modells Im TOPOI-Modell als heuristischem Instrument werden für jeden Bereich eine Anzahl Fragen formuliert, mit denen ein pädagogischer Mitarbeiter herausfinden kann, wo die Kommunikation misslingt oder misslungen ist. Je mehr Fragen der pädagogische Mitarbeiter stellen kann, desto mehr Möglichkeiten hat er, eine offene und effiziente Kommunikation herzustellen. Daneben bietet das TOPOIModell für jede Dimension allgemein übliche Interventionsmöglichkeiten an. Diese richten sich vor allem auf Selbstreflexion, Aufklärung und Untersuchung. Das TOPOI-Modell kann man während der Kommunikation als Referenzrahmen gebrauchen, wenn Missverständnisse entstehen. Das Modell kann vor allem auch im nachhinein – z.B. in der interkollegialen Beratung – als Reflexionsrahmen oder Heuristik verwendet werden, um eine Gesprächssituation zu analysieren und herauszufinden, auf welchem Gebiet die Kommunikation misslungen ist und was man das nächste Mal anders machen könnte. Das TOPOI-Modell Analyse Was man sich selber fragen kann.
Intervention Was kann man tun?
TAAL (SPRACHE) Bedeutung der verbalen und nonverbalen Sprache: In wessen Sprache spricht man? (Machtposition der eigenen Sprache!) Was ist die Bedeutung dessen, was jede Person sagt? Was bedeuten die Körpersprache und die andere non-verbale Sprache? Was sind die Interpretationen der Wörter und des Verhaltens? Was ist der Einfluss der Umgebung auf das, was die Person sagt, tut und auf das, was sie von der anderen Person versteht.
TAAL (SPRACHE) Bedeutung der verbalen und nonverbalen Sprache: Die Wörter und die non-verbale Sprache (u.a. die Körpersprache) mit allen Sinnen wahrnehmen. Bedeutungen untersuchen oder nachfragen. Bedeutungen erklären. Feedback geben, um Feedback bitten. Untersuchen, welchen Einfluss die Umgebung der Klienten auf ihre Interpretationen hat.
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Das TOPOI-Modell
ORDENING (ORDNUNG) Sichtweise und Logik: Was ist die Sichtweise und Logik des anderen? Was ist die Perspektive, das Interesse, die Loyalität der Beteiligten? Was ist der Referenzrahmen der Beteiligten: Werte und Normen? Wo ist das Gemeinsame? Wo sind die Unterschiede? Welchen Einfluss hat die Umgebung auf die Sichtweisen und die Logik der Beteiligten?
ORDENING (ORDNUNG) Sichtweise und Logik: Nach der Sichtweise/Logik der/des anderen fragen. Aktiv zuhören (= anerkennen) »Präsent“ sein: einleben und einfühlen. Bedeutungen untersuchen/nachfragen. Die eigene Sichtweise/Logik erklären. Das Gemeinsame voran stellen. Unterschiede deutlich machen und zulassen. –
PERSONEN Identität und Beziehung Wer (in welcher Rolle) ist man selbst? Welche Rolle nimmt jeder gegenüber den anderen ein? Wie sind in der Beziehung die gegenseitigen Erwartungen? Wie sieht jeder die Beziehung zueinander? Welchen Einfluss hat die Umgebung darauf, wie jeder den anderen und die gemeinsame Beziehung sieht?
Untersuchen, welchen Einfluss die Umgebung auf die Sichtweisen und die Logik der Beteiligten hat.
PERSONEN Identität und Beziehung Prüfen, in welcher Rolle (als wer) und mit welchen Erwartungen der andere spricht. Aktiv zuhören (= anerkennen) Präsent sein: einleben und einfühlen. Sich selbst fragen und/oder erklären, in welcher Rolle und mit welchen Erwartungen man spricht. Prüfen, wie jede Person die gemeinsame Beziehung sieht. Hinterfragen, welchen Einfluss die Umgebung darauf hat, wie die Beteiligten sich selbst und die anderen sehen.
148 ORGANISATIE (ORGANISATION) Regeln und Machtverhältnisse: Was ist der Einfluss „der eigenen Organisation“: Machtposition, Ort des Gespräches, Funktion, Verantwortlichkeiten, verfügbare Zeit, die Tagesordnung und das Ziel, Regeln, Vereinbarungen, Prozeduren...? Wie beeinflusst die Organisation das Verhalten des anderen: Machtverhältnisse, Zeitorientierung, Bekanntheit mit der Organisation, Prozeduren, Regeln...? Wie beeinflusst die Makrostruktur (Umgebung) die Kommunikation: Machtverhältnisse, Umgangsformen (Organisationskultur), Gesetze und Regeln. INZET (EINSATZ) Motive und Beweggründe: Was sind die Motive der Personen: Beweggründe, Bedürfnisse, Ängste und Wünsche? Wofür gibt jede Person ihr Bestes? Was sieht jede Person von den verborgenen Motiven? Was sieht jede Person von der anderen, wofür sie ihr Bestes gibt? Was bedeutet in der Umgebung jeder Person „sein Bestes geben“ und welchen Einfluss hat das auf die Kommunikation? Wie lässt jede Person erkennen, dass sie sieht, dass die andere ihr Bestes gibt? Fühlt jede Person sich anerkannt mit ihren Motiven und Beweggründen? Fühlt jede Person sich anerkannt in der Art, wie sie ihr Bestes gibt?
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ORGANISATIE (ORGANISATION) Regeln und Machtverhältnisse: Auf die Machtverhältnisse achten. Die eigene „Organisation“ erklären. Die eigene „Organisation“ anders regeln. Die „Organisation“ des anderen (seine Deutungen) untersuchen (= anerkennen). Den Einfluss der Regeln und der Machtverhältnisse in der weiteren Umgebung (Rechtsposition, Prozeduren, verfügbare Einrichtungen und Mittel) auf die Kommunikation hinterfragen.
INZET (EINSATZ) Motive und Beweggründe: Anerkennend fragen, was die verborgenen Motive des anderen sind. Prüfen, wofür der andere sein Bestes gibt. Einleben und einfühlen in das, wofür der andere sein Bestes gibt. Merken lassen, „sagen“, dass man das Bemühen des anderen sieht. Prüfen, was der andere als Anerkennung fühlt. Fragen, wo und von wem der andere Anerkennung bekommt. Prüfen, was der Einfluss der Umgebung ist auf das, was „sein Bestes geben“ bedeutet. Erklären, wofür man selbst sein Bestes gibt. Schauen (lassen), welche Effekte das Bemühen der Personen auf andere hat.
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Präsenz, sich einlassen Das TOPOI-Modell sollte sich in der Kommunikation mit dem Klienten nicht störend als Barriere oder Ablenkung bemerkbar machen. Van der Veer, Psychotherapeut, gibt ein schönes Beispiel, wie Präsenz in der Praxis aussehen kann. Er schreibt über seine Gespräche mit Joe, einem jungen afrikanischen Asylsuchenden: „Ich probiere mein eigenes Programm zur Seite zu legen. Ich will gut schauen und zuhören. Ich will probieren zu fühlen, was er in dem Augenblick, wo er in meinem Zimmer sitzt, nötig hat, und mich nicht zu viel durch psychologische Theorien leiten lassen. Kein Ziehen und Stoen, keine schlauen therapeutischen Tricks, sondern ihm Raum geben zu sagen, was er los werden will. Ich habe kein Protokoll, keine therapeutische Prozedur, in dem Sinn habe ich keine Methodik. Neugier und Hausverstand, das muss ich haben. Geduld, auch das hat seinen Nutzen: die Entwicklung der Menschen verläuft nun einmal in ganz kleinen, kaum sichtbaren Schrittchen. Aber das Wichtigste, ich wage es kaum zu sagen, ist Liebe“ (Veer van der 1997, S.10).
Interventionen mit Hilfe von methodischen Analyse- und Handlungsrahmen, Selektionskriterien, Prozeduren, aber auch Gesprächstechniken müssen der Präsenz des pädagogischen Mitarbeiters im Gespräch untergeordnet werden: Er sollte als Mensch da sein für den anderen, verletzbar, ohne den Schutz all der hier genannten Interventionen (Laan van der, 2001). Dasein für den anderen, sich intensiv auf den anderen einlassen, ist eine eigene Kunst, die in unserer Gesellschaft unentbehrlich ist, aber nichtsdestoweniger verdrängt worden ist. Der Kern des Präsenz-Ansatzes von Baart (2000b) ist Aufmerksamkeit: mit der Aufmerksamkeit dort sein, wo der andere ist, und nicht mit einer Methode, Theorie oder einem Plan im Kopf. Präsenz ist auerdem gekennzeichnet durch die Richtung der Bewegung: ich gehe zum anderen hin und begebe mich in die Lebenswelt des anderen. Auerdem folgt, wer „Präsenz ausübt“, dem Rhythmus und dem Tempo desjenigen, um den es geht.
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Interkulturelle Teamentwicklung – Beobachtungen in der Praxis Stefan Gaitanides
Einleitung Multikulturelle Teams sind Laboratorien für die Entwicklung interkultureller Kompetenz. Gelingt es, gleichberechtigt miteinander zu kooperieren und die Synergie-Potenziale der Vielfalt der Perspektiven und Problembewältigungsstrategien freizusetzen, wird nicht nur die Arbeit mit der Klientel effektiver, gut eingespielte interkulturelle Teams haben auch Vorbildcharakter – als gelungene Beispiele gleichberechtigter und produktiver interkultureller Zusammenarbeit – für die Klientel, die externen Kooperationspartner und den Sozialraum (vgl. Fischer 2004, Schröer 2007). Allerdings kann der Weg dorthin dornenreich und langwierig sein. Der Verfasser hat als wissenschaftlicher Begleiter eines Qualitätszirkels „Interkulturelle Teamentwicklung“ im Rahmen der Implementation eines QualitätsmanagementVerfahrens in drei Einrichtungen der Migrationsarbeit in München und als Leiter einschlägiger Fortbildungen reichlich Erfahrungen sammeln können, die belegen, dass interkulturelle Teamentwicklung sich nicht naturwüchsig ergibt, durch „lerning by doing together“ sondern einen intensiven und systematischen Lernprozess erfordert (Gaitanides 2003). In diesem Beitrag werden zunächst die wichtigsten Ergebnisse der Qualitätszirkelstudie zusammengefasst. Dem schließt sich eine exemplarische Beschäftigung mit einem Schlüsselthema interkultureller Teamkonflikte an – dem „richtigen“ Umgang mit Distanz und Nähe in der Interaktion mit der Klientel, aber auch innerhalb des Teams. Der Artikel befasst sich nicht mit einem anderen wichtigen Themenkomplex, der im Zusammenhang mit interkultureller Teamentwicklung von großer Bedeutung ist, den Einstellungsbarrieren, die es oft überhaupt nicht zur multikulturellen Zusammensetzung von Teams kommen lassen. Hierbei ginge es nicht nur um die strukturellen Barrieren (geringe Ausbildungsquote, Nichtanerkennung von heimatlichen Berufsabschlüssen, christliche Tendenzbetriebe, keine frei werdenden Stellen mangels Fluktuation bzw. durch den Stellenabbau) sondern auch um die abwehrenden Einstellungen der Mitarbeiter (Konkurrenzängs-
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Stefan Gaitanides
te, Anzweiflung beruflicher Kompetenz, Reduktion auf Herkunftskompetenz, Unterstellung traditioneller Einstellungen und Verhaltensmuster, dazu Anderson 2000, Czock 2003, Gaitanides 2006,) – um Einstellungen, die wiederum durch interkulturelle Selbstreflexion in Fortbildungen monokultureller Teams hinterfragt werden müssen.
Ergebnisse der Begleitforschung zu einem Qualitätszirkel „interkulturelle Teamentwicklung“ Die Arbeit mit dem Qualitätszirkel zum Thema „interkulturelle Teamentwicklung“ erfolgte in den bekannten Schritten: Ermittlung der Ist-Situation, Herausarbeitung von Schlüsselprozessen, Entwicklung von Zielen und deren Operationalisierung durch Formulierung konkreter Qualitätsstandards. Um unterschiedliche Sichtweisen auf die Probleme zu ermitteln, wurden zunächst die Mitarbeiter/innen mit und ohne Migrationshintergrund auf getrennte Arbeitsgruppen aufgeteilt. Beim Austausch der Ergebnisse kristallisierten sich schnell vier Problemdimensionen heraus – Macht, Sprache, Arbeitsteilung, Stereotype – die als miteinander verschränkt gesehen wurden. Dabei maßen die migrantischen Mitarbeiter/innen dem Thema Macht ein größeres Gewicht bei. Sie nahmen die deutsche „Dominanzkultur“ – worunter der nicht hinterfragte Vorrang der deutschen Sprache und der in der Mehrheitsgesellschaft entwickelten normativen Vorstellungen und Standards von Professionalität verstanden wurde – viel stärker wahr als die deutschen Kolleg/inn/en und Kollegen. Diese wiederum problematisierten häufiger die Ethnisierung von Konflikten im Team. In ihrer Fremdwahrnehmung registrieren sie bei einigen nicht-deutschen Mitarbeiter/inne/n eine Tendenz zur Anmeldung eines Deutungsmonopols, zu apodiktischen Aussagen wie – “Das könnt ihr als Deutsche oder Nicht-Migrant/inn/en nicht verstehen.” “Das ist eine typisch deutsche Sichtweise”. Solche “Killerphrasen” erschwerten dann die sachlich-professionelle Auseinandersetzung um strittige Problemdefinitionen und Lösungsstrategien und förderten die Polarisierung im Team auf kontraproduktive Weise. Diese Fremdbildkonstrukte verweisen auf einen unterschwelligen Kampf um Einfluss und Anerkennung, der ohne entsprechende Metakommunikation unter fairen Rahmenbedingungen destruktive Folgen für die Teamarbeit haben muss. Die deutschen Sprachkenntnisse werden als die zentrale Kompetenz zur Zuweisung von Positionen in der Hierarchie wahrgenommen – da waren beide Seiten sich einig. Leitungspositionen werden nur an Personen vergeben, die die deutsche Sprache in Wort und Schrift perfekt beherrschen – dies obwohl die Klientel sich überwiegend aus Migrant/inn/en zusammensetzt. Die Mutterspra-
Interkulturelle Teamentwicklung – Beobachtungen in der Praxis
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chenkenntnisse der migrantischen Mitarbeiter/innen werden als selbstverständlich vorausgesetzt, während die Fremdsprachenkenntnisse der deutschen Mitarbeiter/innen besonders hervorgehoben werden und der Karriere im Feld der Migrationsarbeit sehr dienlich sind. Anlass für Spannungen im Team kann auch das Wechseln in die Muttersprache in Teamsitzungen sein. Die deutschen Kolleg/inn/en können sich ausgeschlossen bzw. missachtet fühlen, während die Migrant/inn/en – vor allem diejenigen, die sich bei manchen Themen besser in ihrer Muttersprache ausdrücken können – solche Intermezzi manchmal benötigen, um sich untereinander zu verständigen. Aus den obigen Punkten leitet sich auch eine von beiden Seiten kritisierte Arbeitsteilung ab. Die Migrant/inn/en werden überwiegend für die Beziehungsarbeit vor Ort eingesetzt, während die Autochtonen viel stärker in die Verwaltungsarbeit und die Kommunikation mit Auftraggebern und Kooperationspartnern involviert sind. Diese Arbeitsteilung wurde nie abgesprochen sondern hat sich durch die unterschiedliche Verteilung der Sprachkenntnisse ergeben. Aus ihr resultieren einerseits geringere institutionelle Einflusschancen für die Migrant/inn/en, andererseits aber auch eine Entfernung der deutschen Mitarbeiter/innen von den lebensweltlichen Bezügen der Klientel und die Übernahme der Hauptverantwortung für die unbeliebte bürokratische Arbeit. Beim vierten Komplex handelt es sich um die Vorurteilsproblematik. Dabei machten die deutschen Mitarbeiter/innen ihren Kolleg/inn/en teilweise die ethnisierende Deutung von Konflikten zum Vorwurf, die ihre eigentliche Ursache in persönlichen Differenzen oder in sachlichen Konflikten hätten. Die Mitarbeiter/innen mit Migrationsgeschichte zeigten sich umgekehrt, abgesehen von der Einschätzung ihres Umgangs mit der deutschen Sprache, über das Stereotyp mangelhafter professioneller Kompetenz und speziell die Zuschreibung mangelhafter professioneller Distanz verärgert. Resümierend wurde nach einem anschließenden Workshop und einem Zyklus von weiteren Fortbildungseinheiten festgestellt, dass es an einer interkulturell fokussierten Dialog- und Konfliktkultur fehlt. Die Probleme auf der Beziehungsebene würden aus falscher Rücksichtnahme tabuisiert. Die Konflikthemmung, die ohnehin in den Teams sozialer Berufe sehr verbreitet ist, wird auf deutscher Seite noch durch die paternalistische Schonung der „Benachteiligten“ mit Kritik und die Antizipation von Ethnozentrismus- und Diskriminierungsvorwürfen verstärkt. Und bei den Migrant/inn/en wirkt noch die traditionelle Scheu vor direkten Konfliktaustragungsmodi nach, aber auch die Vorwegnahme der besonderen – historisch bedingten – Empfindlichkeit der deutschen Kolleg/inn/en gegenüber Rassismusvorwürfen.
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Zum Abschluss dieses Kapitels seien hier noch als Orientierungshilfe und zum Anstoß für ähnliche Entwicklungsprozesse in gemischten Teams die Standards zum „Interkulturellen Dialog“ und zur „interkulturellen Konfliktkultur“ angeführt, die vom Qualitätszirkel verabschiedet wurden (Gaitanides 2003, S. 94f). „Interkultureller Dialog“
„Interkulturelle Konfliktkultur“ Keine Angst vor dem Fremden Offenheit und Sensibilität Sich verschiedenartige - eventuell Hinterfragen, Nachfragen Geduldig zuhören ohne zu unterbrechen kulturbedingte - Verhaltensweisen bei Konflikten bewusst machen, um sie Gefühle im Auge behalten berücksichtigen zu können Informationen über kulturelle Hintergründe/Verhaltensweisen/ Orientierun- Die Kolleg/inn/en sollten sich ein realistisches wechselseitiges Feedgen der Beteiligten erfragen/einholen back ihrer Arbeit geben und sich nicht Empathie für bi(multi)kulturelle Präzurückhalten, um Konflikte zu vergungen/Identitäten der im Aufnahmeland aufgewachsenen Einwanderergene- meiden Kritik so vorbringen, dass es die kritirationen sierte Person weiterbringt und die Keine Bewertung von verschiedenFronten sich nicht verhärten kulturellen Äußerungen Nicht nur kritisieren, auch konstruktiAkzeptanz des kulturellen Unterschieve Vorschläge machen des Respekt der anderen Person gegenüber, Die Moderatoren-Aufgabe sollte um die Berücksichtigung interkultureller einander ernst nehmen Das Individuum steht im Mittelpunkt – Kommunikations-Aspekte erweitert keine Reduktion auf kulturelle Herkunft werden Keine Bevormundung, keine Helferhal- Bei Konflikten kann jede Person eine Person als SchlichterIn oder zur Vertung stärkung hinzuziehen Sich nicht nur als Lehrende sondern Einsatz von SupervisorInnen mit inauch als Lernende verstehen Eigene Normen hinterfragen und even- terkulturellem Fachwissen und Erfahrung tuell ändern Organisation von bzw. Teilnahme an Jede/r im Team ist verantwortlich für Fortbildungen zu Konflikten bzw. die Qualität der interkulturellen KomLösungsansätzen im interkulturellen munikation Team, – alle Mitarbeiter/innen sollen teilnehmen
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Umgang mit dem Distanz-Nähe-Problem in multikulturellen Teams, aus Fremd- und Selbstwahrnehmung resultierende Konflikte Exemplarisch soll nun auf ein Thema vertiefend eingegangen werden, mit dem der Verfasser bei zahlreichen von ihm durchgeführten Fortbildungen für interkulturell besetzte Teams konfrontiert worden ist und deren Ergebnisse er festgehalten und summarisch ausgewertet hat. Dieses Thema wurde auch schon im vorhergehenden Abschnitt erwähnt. Exemplarisch können an diesem Schlüsselthema der Sozialarbeit die Fallstricke wechselseitiger ethnisierender Zuschreibungen wie interkulturell unaufgeklärter Fremd- und Selbstwahrnehmung gezeigt und die Notwendigkeit einer selbstreflexiven multiperspektivischen Betrachtungsweise deutlich gemacht werden30. Die Konflikte zwischen autochtonen Mitarbeiter/inne/n und denen mit Minderheitenstatus über das professionell „richtige“ Verhältnis von Distanz und Nähe in der Interaktion mit Klienten wie auch miteinander treten mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf. „Deutsche“ Mitarbeiter/innen werfen ihren Kolleg/inn/en nicht deutscher Herkunft häufig Mangel an professioneller Distanz gegenüber der Klientel ihrer Landsleute vor. Dabei werden mehrere Ebenen angesprochen:
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Der Kommunikationsstil im Umgang mit der Klientel sei zu familiär. Die nicht–deutschen Mitarbeiter/innen hätten Schwierigkeiten, sich von Klienten abzugrenzen, die sich nicht an Öffnungszeiten und Absprachen hielten. Auch würden sie ihre Privatsphäre nicht genügend von ihren beruflichen Aufgaben trennen bzw. entsprechende Zumutungen von Seiten der Klientel nicht konsequent genug zurückweisen. Sie ließen sich auch zur Übernahme von Gefälligkeiten überreden, die nicht zu den professionellen Aufgaben gehören. Wie sie sich überhaupt durch “ihre Gruppe” für partikulare Gruppeninteressen instrumentalisieren ließen (privat, politisch, religiös). Sie könnten dem Gruppendruck nicht widerstehen.
Die nachfolgenden strukturierten Beobachtungen und Deutungen des komplexen Interaktionsgeschehens folgen einem vom Verfasser entwickelten Analyseschema zur kritischen Reflexion (scheinbarer) interkultureller Konflikte (Gaitanides 2006, S.277f), das eine hohen Affinität zu den kommunikationstheoretisch inspirierten Analyseschemata von Auernheimer aufweist mit der mehrdimensionalen Betrachtungsweise von interkulturellen Kommunikationsproblemen: Machtasymmetrien, Kollektiverfahrungen, Fremdbilder (Stereotypen, Vorurteile), Differenz der Codes (Skripts, Kulturstandards) (Auernheimer in diesem Band)
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Sie, insbesondere die männlichen Kollegen, hätten sich zu wenig mit traditionellen Rollenmustern, patriarchalen Alters- und Geschlechtsrollen, auseinandergesetzt bzw. sich zu wenig von diesen distanziert. Dies sei problematisch für emanzipatorische Lösungsansätze besonders bei Familienkonflikten. Sie mieden notwendige Auseinandersetzungen mit Autoritäten der Community, um nicht von diesen diffamiert und isoliert zu werden.
In einer Befragung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Münchner Sozialbehörden wurden ähnliche Vorbehalte bezüglich der Eignung nicht-deutscher Mitarbeiter/innen geäußert. Sie wären zu ‚loyal‘ zu ihren Landsleuten bzw. ließen sich zu sehr von ihnen beeinflussen? „Im Laufe der Erhebung wurde auch deutlich, wie manche stereotype Vorstellung in den Köpfen der deutschen Fachkräfte (auch unter den ‚sozialen‘!) das Bild der Zusammenarbeit mit Migrant/inn/en als Mitgliedern des Kollegiums prägt. Einige immer wieder anzutreffende Beispiele für eine stereotype Charakterisierung (nicht nur von Klienten ausländischer Herkunft, sondern auch von gleichwertig qualifizierten Fachkräften) im Sozialreferat waren zum Beispiel: Türkische Mitarbeiter/innen werden Kopftücher tragen müssen und sich nur schwer von der Familie emanzipieren können. Mit arabischen Männern muss man/frau sich immer über das patriarchalische Rollenverhalten auseinandersetzen. Mit Islamgläubigen gibt es ein großes Konfliktpotential (neben religiösen Themen) bezüglich Erziehungsfragen und Rollenverhalten” (Anderson 2000, S. 57).
Fachkräfte mit Migrationshintergrund machen ihrerseits den deutschen Kolleg/inn/en eher ein Zuviel an Distanz in der Beziehung zur Klientel zum Vorwurf.
Die viel gepriesene „professionelle Distanz” erschwere den Zugang zu „ihrer” Klientel, die einen persönlicheren Kommunikationsstil benötige, um Vertrauen aufzubauen. Der professionell-sachliche Kommunikationsstil werde als Mangel an Einfühlung und Engagement, als „deutsche Kälte” wahrgenommen. Die häufig zu beobachtende unsensible Konfrontation traditioneller Familien mit „modernen” Wertvorstellungen und Verhaltensmustern provoziere eine kontraproduktive Abwehrhaltung. Deutsche Kolleg/inn/en würden stur auf der Einhaltung allgemeiner Regeln bestehen, auch wenn es in Einzelfällen gerechtfertigt erscheint, eine Ausnahme von der abstrakten Regel zu machen. Eine flexible – die Gegebenheiten des Einzelfalles berücksichtigende – Handhabung allgemeiner
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Grundregeln werde den nichtdeutschen Mitarbeiter/inne/n leicht als professionelles Defizit ausgelegt – als einen Mangel an Abgrenzungsfähigkeit gegenüber den Überredungskünsten der Klientel31. Wechselseitige Zuschreibungen: Zuviel Nähe zu den „eigenen” Leuten und zuviel Distanz zu den Anderen Konflikte ergeben sich auch wegen der wechselseitig unterstellten partikularistischen Loyalitäten. Viele soziale Fachkräfte mit Migrationsgeschichte unterstellen den „deutschen“ Mitarbeiter/inne/n die Identifikation mit den ethnozentrischen Werten und den partikularistischen Interessen der Mehrheitsgesellschaft und eine distanzierte Einstellung gegenüber der Minderheitenperspektive. Die autochtonen Mitarbeiter/innen unterstellen in ähnlicher Weise einseitige Parteilichkeit, – also: zuviel Nähe zu den “eigenen” Leuten und zuviel Distanz zur Mehrheitsgesellschaft. Während viele Kolleg/inn/en mit Migrationsgeschichte – vielleicht auf Grund leidvoller eigener Erfahrung – zu einer Überempfindlichkeit bezüglich rassistischer Einstellungen und Verhaltensweisen neigen, tendieren die „deutschen“ Kolleg/inn/en auf Grund des Mangels an entsprechenden Erfahrungen eher zur Leugnung dieser Phänomene . – Also: Überidentifikation mit vermeintlichen Opfern von Diskriminierung auf Grund eigener Opfererfahrung und Übergeneralisierung (= Metavorurteil) auf der einen Seite und Bagatellisierung mangels eigener Betroffenheit auf der anderen Seite. Überspitzt ausgedrückt: Die einen sehen überall Rassismus, die anderen neigen dazu, über ihn hinwegzusehen. Bei der Interaktion mit Amtspersonen führt die stereotype Unterstellung von Diskriminierung leicht zu einer Eskalation des Konfliktes zwischen „parteilichen“ Migrationsberater/inne/n und behördlichen Sachbearbeiter/inne/n. Wobei erstere bei diesem Machtkampf – auf Grund der geringeren Macht – meist den Kürzeren ziehen32.
31
Diese bei Fortbildungen aus der Gruppenarbeit gesammelten Statements werden größtenteils von den Klienten mit Migrationshintergrund bekräftigt, die der Verfasser im Rahmen des Münchner Qualitätsmanagement-Projektes befragt hat. Die Befragten wünschen sich einen persönlichen, interkulturell taktvollen Kommunikationsstil und mehr Flexibilität der Regelauslegung (vgl. Gaitanides 2003). 32 Vgl. auch den Hinweis Auernheimers auf mögliche Reaktionsbildungen derjenigen, die in der Interaktion mit weniger Macht ausgestattet sind – u.a. generalisiertes Misstrauen, Reizbarkeit und Aggressivität, durch die der Opferstatus eher verfestigt wird – ein Teufelskreis (Auernheimer 2003, S.110f).
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Bei Klienten und Mitarbeiter/inne/n mit Migrationshintergrund hinterlässt der Mangel an Einfühlung und die Vernachlässigung von tatsächlichen oder geglaubten Diskriminierungserfahrungen das Gefühl, dass sie nicht ernst genommen werden oder dass ihre Realitätsdefinitionen durch psychologisierende Interpretationen („komplexierte” Wahrnehmung) in Frage gestellt werden.33 In manchen Kontexten plädieren die nicht–deutschen Mitarbeiter/innen für mehr Distanz. Es gibt aber auch Anlässe, bei denen die Fachkräfte mit Migrationshintergrund den deutschen Kolleg/inn/en kontraproduktive Distanzlosigkeit vorwerfen. Wenn sich zum Beispiel männliche Jugendarbeiter zu sehr an die jugendlichen Sprechweisen, Kommunikationsstile und Kleidermoden anpassen und bei Regelverstößen zuviel durchgehen lassen’. Sie verspielten sich dadurch den Respekt bei den Jugendlichen. Diese begännen ihnen auf der Nase herumzutanzen mit der Folge, dass die Konflikte eskalierten. Am Ende stünde dann oft – als ein pädagogisches Armutszeugnis – der Hinauswurf.34 Vielen Migrant/inn/en – vor allem der ersten Generation – missfällt die oft „gnadenlose“ Offenheit und Direktheit, mit der Konflikte im Team geäußert werden. Ihnen widerstrebt der Kult der ständigen und meist fachlich unangeleiteten Metakommunikation über Beziehungsprobleme im Team, der wegen der dabei stattfindenden persönlichen Grenzüberschreitungen eher zusätzlichen Konfliktstoff liefere, als dass er an die Lösung der Sachprobleme heranführe. Kritisiert wird auch die indiskrete Preisgabe von heiklen Details des Privatlebens bzw. die insistierende Nachfrage danach bei informellen Teamgesprächen (vgl. R. Sennet: „Terror der Intimität”). Wenn an diesen – in Fortbildungen gesammelten subjektiven Einschätzungen – ein Körnchen Wahrheit sein sollte, dann hieße dies, dass nähe- bzw. distanzsuchende Einstellungen und Verhaltensweisen weder Migrant/inn/en noch Deutschen als typische Eigenschaften zugeordnet werden können, sondern dass beide diese Verhaltensregister je nach situativem Kontext in unterschiedlicher Weise aktivieren35.
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Vgl. die Befragung von Melter (2006), nach der Mitarbeiter/innen in der Jugendhilfe zur Bagatellisierung oder Anzweifelung berichteter Diskriminierungserfahrung neigten. 34 Diese Sicht wird ebenfalls von den vom Verfasser befragten Klienten mit Migrationshintergrund bestätigt, die sich z.B. im Sprachunterricht mehr Konsequenz bei der Einhaltung von Regeln und Lehrer wünschen, die Respekt einfordern (Gaitanides 2003). 35 Immer mehr Autoren plädieren daher für eine Modifizierung interkultureller Kompetenzen – je nach Berufsfeld und situativem Anlass. Zur interkulturellen Kompetenz gehört die Situationserken-
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Identitätsverlust und Distanzierung von den „eigenen Leuten“ Eine weitere Differenzierung ergibt sich – und damit wird es noch komplizierter – , wenn wir berücksichtigen, dass auch einige Migrant/inn/en ebenso wie viele Deutsche versuchen, der negativen kollektiven Etikettierung durch die Distanzierung von der eigenen Gruppe zu entgehen. Letztlich läuft dieser Verarbeitungsmechanismus von Stigmatisierung auf eine Verinnerlichung negativer Fremdbilder hinaus, die eine/n dann daran hindern, mit den „eigenen Leuten“ vorurteilsfrei umzugehen (Abwehrmechanismus: Identifikation mit dem Aggressor oder dem Opfer.36 So ist zu erklären, dass sich zum Beispiel während der Asyldebatte Anfang der 1990er Jahre viele alteingesessene Arbeitsmigrant/inn/en mit den im öffentlichen Diskurs lancierten negativen Bildern der Flüchtlinge identifizierten („parasitäre Wirtschaftflüchtlinge”, „kriminelle Elemente”) und sich als „die anständigen” – arbeitswilligen und gesetzestreuen Einwanderer – zu betrachten begannen, deren Bleiberecht nicht einmal die „Nationalzeitung“ anzweifelte. Ebenso kontraproduktiv ist die distanzlose Anbiederung der „Ausländerfreunde” an die vermeintlich exotische bzw. „noch intakte” Welt der Fremden (romantische Identifikation). Man/frau spricht in diesem Fall von „positiver Diskriminierung” oder – wie im angelsächsischen Raum – von „Othering”. Die romantische Projektion auf die „Anderen” („natürlicher”, „spontaner”, „sozialer”) führt zur Verdrängung von Wahrnehmungen, die von diesen Bildern abweichen. Die Verdrängung kehrt wieder in Form von zunehmenden Enttäuschungen, die dann allzu leicht die positiven Stereotype in negative umschlagen lassen (vgl. Hall 2000, S. S.13f). Letztlich handelt es sich bei einer ungeprüften Distanzierung von den kollektiven Herkunftsbestandteilen der eigenen Identität um den Versuch, die Nähe zu diesem Geschichtserbe durch die Art der Selbstdarstellung vor den ‚bedeutsamen Anderen‘ (Mead) zu dementieren, ohne dass eine gründliche Auseinandersetzung mit diesem Erbe auch auf der emotional-unbewussten Ebene stattgefunden hätte. Entsprechend ist bei vielen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, vor allem der zweiten Einwanderergeneration, die oft einen zähen Emanzipationskampf mit ihren „traditionell” eingestellten Elternhäusern und vor allem einen Kampf um Anerkennung durch die sich durch und durch „modern” dünkende deutsche Umgebung geführt haben bzw. noch führen, ein Maß an affektiver nung und die Verfügung über ein situationsangemessenes Verhaltensrepertoire (Auernheimer 2005, Leenen u.a. 2002). 36 Historische Beispiele sind „jüdischer Selbsthass“ und „Philosemitismus“; vgl. auch Franz Fanons Buch: „Schwarze Haut – Weiße Masken”.
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Distanzierung vom kulturellen Erbe zu beobachten, das zur Blockade von Empathie bei Landleuten führen kann, die noch stärker der Tradition verhaftet sind. Ähnlich kann die krasse Distanzierung von den nationalen partikularen Gruppeninteressen, Identitäten und eingespielten ethnozentrischen Normalitätsstandards bei einigen Deutschen dazu führen, dass sie „normale” ethno- und soziozentrische Borniertheiten und Vorurteile als „rassistisch” überinterpretieren, wodurch sie sich den empathischen Zugang zu politisch „inkorrekten” Personen verbauen. Die auf dieser Sicht aufbauende moralisierende Kommunikationsstrategie verfestigt nur deren Abwehrhaltung. Oft gehen die Opfer der Vorurteile gelassener mit dem sogenannten „Alltagsrassismus” um, weil ihre kollektiven Identitäten nicht so schrecklich wie die der deutschen Mehrheitsgesellschaft vorbelastet sind. Prekäre interethnische „Kollektiverfahrungen“ (Auernheimer in diesem Band) können eben nicht nur durch idealisierende Selbstbildkonstrukte kompensiert werden, sondern auch durch eine voluntaristische Verabschiedung aus der Gruppenzugehörigkeit (Slogan: „Ausländer, lasst uns mit den Deutschen nicht allein!“). Beide Abwehrformen unsicherer Identität ‚verschlimmbessern’ die Qualität interkultureller Kommunikation.
Deutungsaltenativen zur Vermeidung der Ethnisierung des unterschiedlichen Distanz–Näheverhaltens Die Analyse der Konflikte bezüglich des „richtigen“ Verhältnisses von Distanz und Nähe verführt zu ethnisierenden Deutungen. Um dies zu vermeiden, sollten folgende kritische Reflexionen durchgeführt werden (vgl. Analyseschema Gaitanides 2006, S. 277f). Vielleicht handelt es sich bei diesem Konflikt um ein interkulturelles Missverständnis? Gegebenenfalls missdeuten die deutschen Kolleg/inn/en – weil Ihnen der kulturelle Code nicht vertraut ist – den scheinbar familiären Kommunikationsstil von Kolleg/inn/en mit Migrationshintergrund als Herstellen privater Nähe und Intimität und berücksichtigen nicht die Konventionalität eines persönlichen Kommunikationsstils und gastfreundlicher Gesten im öffentlichen Raum bei traditionell orientierten Klienten. Das Eingehen auf Familiengeschichten und andere Abschweifungen, die in keinem Sachzusammenhang mit dem Beratungsgegenstand stehen, kann dementsprechend auch als professionelles Setting bei Klienten betrachtet werden, die „das direkte zur Sache kommen” als taktlos und unhöflich
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empfinden (vgl. Hofstede 1997, S. 176). Auch vergibt sich die Fachkraft nichts, wenn sie sich – in der lokalen Honoratiorenrolle – zu einer Hochzeit einladen lässt, sofern dies nicht als Korruptionsversuch gedeutet werden muss, sondern als ein „Ausdruck des Ehre Erweisens” zu einem festlichen Anlass. Möglicherweise missdeuten aus umgekehrter ethnozentrischer Perspektive manche Migrant/inn/en – ob nun Klienten oder Kolleg/inn/en – den nüchternsachlichen Kommunikationsstil von deutschen Sozialarbeiter/inne/n als Ausdruck eines Mangels an emotionaler Einfühlung und Anteilnahme. In ausdifferenzierten, komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaften werden in den beruflichen Subsystemen nur Teilaspekte von Problemen bearbeitet – eben diejenigen, für die die jeweilige Institution zuständig ist (vgl. Systemtheorie Luhmanns). Der „ganze Mensch” wird dabei zwangsläufig ausgeblendet. Dies schließt aber nicht aus, dass die in den beruflichen Subsystemen agierenden Personen auch über emotional empathische Fähigkeiten verfügen. Diese werden aber eher im privaten Kontext expressiv geäußert. Wenn Migrant/inn/en aber keinen privaten Umgang mit Deutschen haben, unterschätzen sie diese Qualitäten und entwickeln das Stereotyp vom „kalten Deutschen”. Irritationen rufen auf beiden Seiten auch die – kulturell vermittelten – unterschiedlichen Konfliktbearbeitungsstrategien hervor – so lange sie nicht durch Vergleiche bewusst gemacht werden. Nicht-Westliche Gesellschaften sind durch einen hohen Grad an „Unsicherheitsvermeidung” gekennzeichnet, d.h. Konflikte werden – vor allem im öffentlichen Raum – selten direkt und offen angegangen. Häufig werden Vermittler eingeschaltet, die vorsichtig diplomatisch agieren(ebd.). Diese Art von Konfliktregelung hat eine wichtige Überlebensfunktion in Gesellschaften, in denen konfrontative Verfahren zu einer – die Gemeinschaft spaltenden – Konflikteskalation führen würden, zu nicht enden wollenden Ehrenhändeln von Familienclans. Dies gilt ganz besonders für Regionen, in denen das staatliche Gewaltmonopol als Garant rechtsstaatlicher Konfliktregelung praktisch keine Bedeutung hat. Wo sich eine rechtstaatliche Streitkultur herausgebildet hat, ist der soziale Friede weniger durch spontane und offene Kritik gefährdet. Die offene Auseinandersetzung gilt als Voraussetzung für die produktive Problembearbeitung. Durch die Vorurteilsbrille erscheint den Deutschen das Konfliktverhalten der Migrant/inn/en unehrlich, „verdruckst” und intrigant, und das der Deutschen erscheint den Migrant/inn/en als distanzlos – als unsensibel, taktlos, verletzend und destruktiv. 37
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Zur Dekonstruktion derlei ethnozentrischer Bewertungen ist die Rückbesinnung auf gesellschaftstheoretische Erklärungsansätze der Variabilität und gesellschaftshistorischen Relativität von Kulturstandards hilfreich (Auernheimer 1988:120).
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Vielleicht spielt bei der Fremdwahrnehmung auch psychische Projektion eine Rolle? Häufig dürfte es sich um einen Projektionsvorgang handeln, wenn soziale Helfer die allochtone Klientel als maßlos anspruchsvoll wahrnehmen – und das sowohl in der passiven Rolle (Versorgungshaltung) wie in der aktiven Rolle („unverschämt” fordernd). Kulturbedingt und auf Grund der meist asymmetrischen Machtbeziehung neigen einige Migrant/inn/en zu einer Rhetorik des Bittens, Bettelns und Drängens, die an kindliche Formen der Wunschdurchsetzung erinnern. Die unerfüllbaren Erwartungen der Klienten reaktivieren unter Umständen die eigene verdrängte Problematik frühkindlicher Zurückweisung von Ansprüchen und provozieren als Abwehrmechanismus ein Übermaß an distanzierender elterlicher Strenge (vgl. Banning 1995). „Eine Studentin in einem Therapiekurs fragt mich während einer Vorlesung: ‚Wie kommt es, dass ich selbst in meiner Arbeit mit Asylanten plötzlich rassistische Gedanken hege? Vorgestern sprach ich mit einer Gruppe jugendlicher Albaner. Einige sagten: ‚Ich will eine Lehrlingsstelle‘. Daraufhin hatte ich das Gefühl, dass sie überhebliche Ausländer sind. Jetzt, durch Ihren Vortrag, erkannte ich plötzlich etwas Altes, Vergessenes: Ich durfte nie ich will sagen, sondern nur ich möchte. So hasste ich diese jungen Albaner für das, was ich an mir selbst hassen gelernt hatte‘” (Gruen 2001, S.16).
Wissenschaftlichen Beobachtern der Kommunikation zwischen Behördensachbearbeitern und Migrant/inn/en fällt der besonders stark abgrenzende Kommunikationsstil der Sachbearbeiter auf (vgl. Seifert 1996). Qualitative Interviews verweisen darauf, dass es sich dabei weniger um eine nationalistische Abwehr von Ansprüchen handelt, als um eine präventive Kommunikationsstrategie. Weil die nicht-deutsche Klientel stereotyp als besonders fordernd oder moralisch bedrängend wahrgenommen wird, möchte man/frau von Anfang an deutlich machen, wo die Grenzen sind. Hierdurch wird ein Interaktionssystem etabliert, dass die Klientel in der infantilen Rolle gefangen hält und die Sachbearbeiter in ihrer distanziert abweisenden Rolle. Als ein anderes unbewusstes Motiv könnte sich hinter dem Nähevorwurf an die Adresse der Kolleg/inn/en mit Migrationshintergrund Eifersucht verbergen – auf die soziale Einbettung von Migrant/inn/en allgemein und auf ihren privilegierten Zugang zu ihren Landsleuten im besonderen Fall der sozialen Arbeit. Die Unterstellung von verlockenden unprofessionellen Näheangeboten diente dann der Kaschierung der eigenen unprofessionellen, weil nicht-reflektierten Neidreaktion.
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Bei Migrant/inn/en wiederum könnte sich hinter dem Vorwurf der Rigidität und Härte gegenüber den deutschen Kolleg/inn/en ebenfalls ein regressiver Projektionsmechanismus verstecken. Auf die Abgrenzung fordernden deutschen Kolleg/inn/en werden unter Umständen die abgespaltenen Introjekte der „bösen” Eltern übertragen, die das Selbstständigwerden und die Auseinandersetzung mit der „harten” Realität unerbittlich einfordern. Vielleicht handelt es sich bei der Fremdwahrnehmung um eine Konstruktion, die der Festigung bzw. dem Ausbau der eigenen Privilegien und kollektiven Identität dient? Durch die Unterstellung bzw. Hervorhebung eines Defizites an professioneller Distanz wird die berufliche Kompetenz nicht-deutscher Mitarbeiter/innen in Frage gestellt. Dies kann auch als eine reaktive Abwehr und Abwertung der Konkurrent/inn/en gedeutet werden, die hinsichtlich interkultureller Kompetenz “die Nase vorn haben” und die eigene berufliche Identität verunsichern. Umgekehrt könnte die Hervorhebung der eigenen menschlichen Wärme und der Kompetenz in Sachen Betroffenheit und Herkunft seitens der Mitarbeiter/innen mit Migrationsgeschichte auch der Sicherung eigener Besitzstände dienen – zum Beispiel der Aufrechterhaltung der spezialisierten Migrationssozialarbeit – oder aber auch der Verbesserung der Wettbewerbschancen im Kampf um knappe Berufspositionen gegenüber deutschen Mitbewerbern. In einigen Fällen mag die Hervorhebung der eigenen emotionalen Qualitäten („emotionale Intelligenz”) auch der Kaschierung tatsächlich vorhandener professioneller Defizite dienen. Vielleicht handelt es sich auch um ein institutionell vorprogrammiertes Dilemma, das ethnisierend gedeutet wird? Gelegentlich ist zu hören, dass die Berater/inn/en der Sonderdienste für Migranten ihre Klientel nicht „loslassen” könnten und sich „all zuständig” fühlten – obwohl fachliche Gründe in vielen Fällen eher für eine Delegation an besser geeignete Fachdienste sprächen. Inwieweit das zutrifft, müsste überprüft werden. Nachweisbar ist aber, dass die an deutsche Regeldienste weitergeleiteten Klienten häufig wieder auf die muttersprachlichen Dienste zurückkommen, weil sie sich bei den interkulturell nicht geöffneten Diensten nicht gut aufgehoben fühlen. Dies gilt vor allem für den kommunikationssensiblen psychosozialen Beratungsbereich. Und es trifft auch zu, dass die Migrationsdienste immer wieder als Auffangbecken für die ungelösten interkulturellen Kommunikationsprobleme der Regeldienste dienen müssen und nicht-deutsche Klienten aus dem Zuständig-
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keitsbereich der Regeldienste an die Sonderdienste „abgeschoben” werden (Gaitanides 2006). Das hieße aber, dass die Abschiebepraxis der Regeldienste und die Anklammerung an die Sonderdienste einander bedingen. Als professionelle Beziehungsarbeit bzw. personenbezogene Dienstleistung sind Sozialarbeit und psychosoziale Beratung in einem Zwischenraum angesiedelt zwischen privatem solidarischem Gemeinschaftshandeln, das auf persönlichen Beziehungen beruht, und sozialstaatlich institutionalisierten Leistungen, die rechtlich garantiert sind und durch sachlich-nüchterne bürokratische Verwaltungsakte gewährt werden (vgl. Effinger 1996, S.191). Bekannt ist auch die Rede vom „doppelten Mandat”, d.h. von dem „Spagat” der Sozialarbeit zwischen sozial- und ordnungspolitischen Erwartungen der staatlichen Geldgeber und den Erwartungen und Bedürfnissen der Klienten. Die „strukturelle Ambivalenz“ professioneller Beziehungsarbeit (Kleve 1999) ist schwer auszubalancieren und die Verführung ist groß, diese Ambivalenz durch Spaltungsprozesse im Team aufzulösen. Die einen pochen dann auf professionelle Rationalität, die anderen auf „Menschlichkeit”. So ist es zum Beispiel auch typisch, dass Neulingen im Beruf eine zu große Nähe zur Klientel vorgeworfen wird. Was immer daran stimmen mag, zu vermuten ist, dass mit dem Nähevorwurf auch die Klientenperspektive abgewehrt wird. Unverbrauchtere und idealistischer eingestellte Berufsanfänger bringen unter Umständen noch mehr Empathie für die Klienten auf als langjährige Routiniers, denen es mehr um das Überleben der Institution geht, wofür die Antizipation der Erwartungen der Trägerhierarchie und der Geldgeber relevanter ist. Das macht für sie das professionelle Image aus. Das doppelte Mandat macht sich auch institutionell in dem Spannungsverhältnis zwischen behördlich–kontrollierender Sozialarbeit, zum Beispiel der Jugendämter und des Allgemeinen Sozialen Dienstes, auf der einen Seite und der klientenzentrierten und “parteilichen” Sozialarbeit der freien Träger auf der anderen Seite bemerkbar. Auch hier werden häufig die vom unterschiedlichen Arbeitsauftrag her vorprogrammierten Konflikte in der Fremdwahrnehmung von beiden Seiten ethnisierend gedeutet, wenn diese Arbeitsteilung mit der unterschiedlichen Verteilung von Deutschen und Migrant/inn/en (z.B. im Falle der bisherigen Migrationsdienste) auf die beiden Bereiche zusammenfällt – als „deutsche Kälte” und „Pedanterie” bzw. als Mangel an professioneller Distanz gegenüber den Gruppenerwartungen (vgl. Anderson 2000, S. 57).
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Kulturdifferenz und zirkuläre Interaktion Vielleicht handelt es sich bei der unterschiedlichen Gewichtung von Distanz und Nähe aber auch um einen tatsächlichen interkulturellen Konflikt. So ist zu fragen, inwiefern traditionelle Muster der Herstellung von Distanz und Nähe in der Sozialen Arbeit im Einwanderungskontext dysfunktional sind und es für die Handlungsfähigkeit – der Klienten wie der Professionellen mit Migrationshintergrund – wichtig ist, um- und dazu zu lernen. Verwiesen sei hier nur auf die kontraproduktiven Folgen eines Mangels an professioneller Distanz: erlernte Hilflosigkeit auf Seiten der Nutzer, und auf Seiten der sozialen Dienstleister Burn-Out-Syndrom, kontraproduktive Konfliktvermeidung, Instrumentalisierung durch partikulare Gruppeninteressen, die mit dem Arbeitsauftrag wenig zu tun haben (Klientel- statt Klientenorientierung), und starke Hemmungen bei der Durchführung rechts- und sozialstaatlicher Eingriffe in die Lebenswelt (wenn es beispielsweise um den Widerspruch von Elternwille und Kindeswohl geht). Dabei bleibt es wichtig im Umgang mit der Klientel kultursensibel anzusetzen – der goldenen pädagogischen Regel folgend: „Die Menschen da abholen, wo sie sind!”. Das erfordert, ein anderes Tempo anzugehen bei der Entwicklung einer sachbezogenen, verlässlichen Arbeitsbeziehung und Umwege zu gehen, die es erlauben an Vertrautes anzuknüpfen. Die „Affirmation“ der kulturellen Bedürfnisse und Selbstbeschreibungen der Klientel durch eine akzeptierende Grundeinstellung der Professionellen und die Annahme „zwangloser Akkulturationsofferten und Dekonstruktionseinladungen“ bedingen sich gegenseitig (Mecheril 2003, S. 398ff). Dazu sagte die türkische Psychologin G. Atik Yildizgördü in einem Interview mit dem Verfasser: „G. Was sind denn ihrer Meinung nach die Gründe, warum Migrant/inn/en mit psychischen Problemen so selten deutsche Beratungsstellen aufsuchen ? A. Das ist erst einmal die Unkenntnis der Psychotherapie, ihrer Arbeitsweise und ihrer Zielsetzungen. Die meisten, die überhaupt einen Psychotherapeuten aufsuchen, sind von Ärzten geschickt. Sie kommen ganz verklemmt rein und begreifen überhaupt nicht, was vor sich geht. Sie lassen es über sich ergehen und bleiben dann weg. Man muß sie erst vorbereiten. Ich bin dazu übergegangen ein Modell auszuprobieren, das mir vielleicht als ein Verstoß gegen das Gebot professioneller Distanz ausgelegt werden könnte, das aber sehr wirksam ist. Ich biete ihnen erstmal etwas zu Trinken an und schaffe eine entspannte Atmosphäre. G. Ein quasi-familiäres Setting . ... sozusagen: wie auf Besuch ?! A. Ja, aber auf Besuch ist man/frau mit sehr viel mehr Gefühlen dabei. Es ist schon Distanz da. Aber es ist trotzdem eine Nähe da. Es ist etwas da, was sie kennen - in einer Situation, die ihnen völlig unbekannt ist. Sie kennen die Psychotherapie nicht, sie kennen aber auch nicht die Situation, an sich zu arbeiten - durch fremde Hilfe. In dieser Situation biete ich ihnen etwas an, ein Verhaltensmuster, was sie
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kennen, indem ich sie begrüße und sage, was trinken sie, Kaffee oder Tee? Da können sie sich ein Stück festhalten. Weil dieser persönliche Umgang bei der deutschen ‚professionellen’ Beratung fehlt, geht ihnen etwas ab. Sie äußern sich durchaus anerkennend über vorherige Beratungen, aber das Menschliche, das hätte gefehlt” (vgl. Gaitanides 1993, 29f.).
Ein distanziert-professioneller Kommunikationsstil hat auch unbedachte kontraproduktive Nebenfolgen. In den Niederlanden, die in der Weiterentwicklung der sozialen Dienstleistungen häufig Vorreiter sind, spricht man/frau von Ende der Spezialisierung im Bereich sozialer Dienstleistungen und der Notwendigkeit der Entwicklung integrativer ganzheitlicher Ansätze, die stärker auf die Erwartungen und die Kompetenzen der „Kunden” eingehen – und dazu gehört eben auch die Erwartung “persönlich” angesprochen zu werden und nicht als „Leistungs-Fall”. Vielleicht gemahnt das Näheverhalten der Migrant/inn/en-Kolleg/inn/en auch an die christlichen und humanitären Ursprünge der sozialen Arbeit, bei der vor allem Empathie den Ausgangspunkt bildete, der wir uns vielleicht durch einseitige sozialtechnologische Professionalisierung allzu sehr entfremdet haben. So betrachtet könnte man/frau das spontane Näheverhalten der Newcomer oder der Mitarbeiter/innen mit Migrationshintergrund nicht als ein berufliches Defizit sondern auch als fruchtbares Korrektiv auffassen. Die Aufspaltung der Verhaltenstendenzen deutscher und nicht-deutscher Mitarbeiter/innen in ein Zuviel und Zuwenig an Distanz und Nähe kann aber auch als ein eingespieltes, sich selbst verstärkendes Kommunikationssystem interpretiert werden. Wie bei allen kommunikationstheoretisch gedeuteten Systemen, für die spiegelbildliche Komplementarität charakteristisch ist, ist es müßig nach Kausalitäten zu forschen, den Vorgang zu „interpunktieren” (‚Weil die deutschen Dienste so abweisend sind, müssen wir unsere Landsleute besonders fürsorglich behandeln/uns solidarisieren – oft mehr als uns lieb ist‘ –‚ Weil Migrant/inn/en so infantile Versorgungsansprüche haben, müssen wir uns bei ihnen besonders deutlich abgrenzen‘ oder ‚Weil die nicht-deutschen Kolleg/inn/en sich nicht von ihren Leuten abgrenzen können, müssen wir die Rolle der ‚kalten, rigiden Deutschen‘ spielen‘ – vgl. Watzlawik u.a. 1969; Schulz von Thun 1981; Auernheimer 2003, S. 111). Wichtig ist, dass beide Interaktionspartner den zirkulären Systemcharakter der ungleichen Ausbalancierung von Distanz und Nähe erkennen und durch „paradoxe Intervention” bearbeiten – d.h. z.B. als Auftakt „wider Erwarten” einmal im Team die Rollen zu tauschen. Vermutlich werden sich die nicht-deutschen Kolleg/inn/en von „ihrer” Klientel besser abgrenzen können, wenn sie das Gefühl haben, die deutschen Kolleg/inn/en „nähern” sich ihr auf eine interkulturell kompetente Weise (empathisch/akzeptierend) und ergreifen für sie Partei. Und die deutschen Kol-
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leg/inn/en werden mehr Nähe zur Klientel zulassen können, wenn sie das Gefühl haben, die nicht-deutschen Kolleg/inn/en fallen ihnen nicht durch professionell fragwürdige Näheangebote in den Rücken. Außerdem werden sie feststellen, dass ein freundlich bestimmter Kommunikationsstil bei Migrant/inn/en genauso wenig zur infantilen Anspruchsinflation führen muss wie bei der deutschen Klientel. Die Transaktionsanalyse empfiehlt, den Regelkreis von kindlichen Versorgungsappellen und zurückweisender elterlicher Strenge am besten durch den Appell an das Erwachsenen–Ich zu durchbrechen (Berne 1970). Das Aushalten, Ausbalancieren und Fruchtbarmachen von Differenzen, Mehrdeutigkeiten und Widersprüchen (Ambiguitätstoleranz) ist nicht nur ein herausragendes Lernziel beim interkulturellen Kompetenzerwerb sondern auch eine grundlegende sozialpädagogische Handlungskompetenz. Der Doyen des lebensweltlichen Ansatzes der Sozialen Arbeit, Hans Thiersch, benennt den kompetenten Umgang mit Ambivalenzen als ein zentrales Kriterium „gelingender“ sozialer Arbeit. „Die Berufsidentität der Sozialpädagog/innen ist ein heikler Balanceakt, in dem Distanz und Nähe, Reflexivität und Pragmatik, entschiedene Setzung und Offenheit, Vorgabe und Aushandeln, berufliche Verlässlichkeit und gewachsene Erfahrungen aufeinander bezogen werden müssen. Die unterschiedlichen Komponenten im Handeln müssen in einem Konzept zusammen gesehen werden, das nicht alle Widersprüche, Fremdheiten und Vereinbarkeiten auflösen kann, aber sie in dieser Widersprüchlichkeit aufeinander bezieht: Sozialpädagogische Berufsidentität als Spagat.“(Thiersch 2002 , S. 198)
Auch professionelles Handeln in diesem Sinn wird aber keinen nachhaltigen Erfolg haben, wenn es nicht institutionell gestützt und gefördert wird. Flankierend müssen die Institutionen der sozialen Dienste ihre strukturellen Zugangsbarrieren abbauen und ihre Organisationskultur dahingehend verändern, dass Migrant/inn/en das Gefühl haben können, dass auf sie zugegangen wird. Desgleichen müssen die Migrationsdienste ihren Kuscheleckencharakter aufgeben und ihre Klientel konsequent an die zuständigen Regeldienste weiterleiten bzw. sich verabschieden, wenn die Dienstleistung erfolgreich abgeschlossen ist.
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Interkulturelle Mediationskompetenz. Umrisse einer differenz-, dominanz- und kontextsensiblen Mediation Interkulturelle Mediationskompetenz
Bernd Fechler
Einleitung Mediation und andere vermittlungsorientierte Verfahren der Konfliktbearbeitung haben in den letzten Jahren einen bemerkenswerten Popularitätsschub erfahren.38 Das gilt nicht zuletzt für die Übertragung von Mediationsansätzen auf „interkulturell“ codierte Praxisfelder. In einer durch Migration und Globalisierungsgsprozesse geprägten Gesellschaft wie Deutschland lässt allein schon die unterschiedliche Herkunft der Konfliktparteien scheinbar auf einen „interkulturellen“ Hintergrund schließen. Und die Vermutung liegt nahe, dass es bestimmter „interkultureller Kompetenzen“ bedarf, um in solchen Konflikten professionell zu vermitteln. Die Frage stellt sich: Was genau sind solche „interkulturelle Kompetenzen“39? Es gibt unterschiedliche Auffassungen und Theorien darüber, was „interkulturelle Konflikte“ sind und wie praktisch mit ihnen umzugehen wäre. Entscheidend ist die Frage, worin genau die Konfliktträchtigkeit gesehen wird. Die Perspektiven, aus denen intervenierende Drittparteien Konflikte wahrnehmen, über sie reden und analysieren, bestimmen das, was sie tun, welche Interventionen sie wählen – und wie sie damit die Sicht der Beteiligten auf den Konflikt und letztlich auf sich selbst beeinflussen. Auf den folgenden Seiten möchte ich dafür argumentieren, dass sich Mediator/inn/en in interkulturellen Kontexten nicht vorrangig mit kulturellen Differen38
Zu den wichtigsten Anwendungsfeldern in Deutschland gehören: Familien-/Scheidungsmediation, Schulmediation, Gemeinwesenmediation, Mediation in und zwischen Organisationen (Wirtschaftsmediation), Mediation im öffentlichen Bereich (Umweltmediaiton). Da der lange Zeit gebräuchliche Begriff „interkulturelle Mediation“ unzutreffende Assoziationen weckt (kulturalisierende Engführung; Suggestion eines Spezialgebiets) wird zunehmend von „Mediation in interkulturellen Kontexten“ gesprochen (vgl. Bundesverband Mediation e.V. 2006). 39 Wichtige Orientierungshilfen für meine Haltung zum Begriff „Interkulturelle Kompetenz“ verdanke ich u.a. den kritischen Beiträge von Auernheimer (2002 und 2006), Breidenbach/Nyírí (2001), Castro Varela/Mecheril (2005). Vergleiche auch die Beiträge von Mecheril und Auernheimer in diesem Band.
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zen beschäftigen sollten, sondern mit den in diesen Kontexten vorhandenen Machtasymmetrien und den damit verbundenen Kränkungen. „Interkulturelle Beziehungen“ sind in der Regel keine Beziehungen auf Augenhöhe. So geht es in den daraus erwachsenden Konflikten nicht einfach um das Verhältnis zwischen „kulturell Verschiedenen“, sondern zwischen Dominanten und Dominierten, Mehrheiten und Minderheiten, Etablierten und Außenseitern (vgl. Elias/Scotson 1993). Diese Sicht erschließt sich nicht immer von selbst. Sehr oft bieten die Beteiligten der intervenierenden Drittpartei ihren Konflikt und ihr Handeln – ihr „Präsentierproblem“ (Pühl 2004) – unisono als „kulturell bedingt“ an. Dennoch stellt gerade die Frage, wie und von wo – d.h. von welchen gesellschaftlichen Positionen aus – die Betroffenen über ihren Konflikt reden, den zentralen Zugang für eine „interkulturell kompetente“ Mediation dar. Diese These möchte ich mit praktischen Schlussfolgerungen für die mediatorische Praxis verknüpfen. Ich halte es erstens für fruchtbarer, den Fokus von der Frage ‚Was sind Kulturen oder Ethnien – und wie funktionieren sie?’ zu verschieben auf die Frage ‚Wo (in welchem Kontext) und wann (in welcher Situation) wird wie und mit welchem Ziel kulturalisiert oder ethnisiert?’ Zweitens sollten Mediatoren ihren eigenen gesellschaftlichen Ort – ihre Sprecherposition – von der aus sie Konflikte zu beeinflussen und (wissenschaftlich) zu beschreiben versuchen, angeben und in ihre Überlegungen einbeziehen können. Die daraus resultierenden Dilemmata und Paradoxien sind – zumindest was die mir bekannten Fachdiskurse in der „interkulturell“ orientierten Mediation betrifft – bislang kaum reflektiert worden. Auch dieser Aufsatz löst die Ansprüche einer auf Dauer gestellten „Kritik der Repräsentationsverhältnisse“ (Broden/Mecheril 2007, S.23) nur sehr bruchstückhaft ein.40 Bei meinen Überlegungen beziehe ich mich auf Erfahrungen, die ich als Mediator, interkultureller Trainer und Organisationsberater41 sammeln konnte. 40
Zu der in diesem Zusammenhang auch für die Mediationspraxis erst noch einzulösenden „Kritik der Repräsentationsverhältnisse als Daueraufgabe“ führen Anne Broden und Paul Mecheril aus: „Die Daueraufgabe einer Kritik der Repräsentationsverhältnisse umfasst hier neben dem Ansinnen, die Repräsentationsfrage (Wer spricht über wen?) überhaupt als bedeutsame Frage in Debatten einzubringen und die Thematisierung von konkreten Repräsentationsverhältnissen (Wer spricht wann und wo mit welcher Legitimation und mit welchem Effekt über wen?) auch ein Kritik an der Idee einer ‚legitimen Vertretung’ und der Idee einer ‚richtigen Darstellung’.“ (Broden/Mecheril 2007, S.23) 41 Seit 1997 arbeite ich bei „inmedio“ (www.inmedio.de), einem Fortbildungs- und Beratungsinstitut für Mediation und Organisationsentwicklung in Berlin und Frankfurt am Main. Als Mediatoren, Ausbilder und Berater arbeiten wir für Institutionen im Profit- und Nonprofitbereich. Zu unseren Kunden, für die das „Interkulturelle“ eine Rolle spielt, zählen neben pädagogischen Einrichtungen Hochschulen, Behörden, Kommunen und Verbände, Projekte zur Nachbarschafts- und Gemeinwesenmediation, Wirtschaftsunternehmen sowie Träger der Entwicklungszusammenarbeit (vgl. hierzu Fechler 2007, Kerntke 2004, Wüstehube 2002, Splinter/Wüstehube 2005). Zu meinem Praxishintergrund zählt zweitens meine Arbeit in der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main,
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Im ersten Teil werde ich einen Überblick über die Entwicklung der modernen Mediationslandschaft geben, um spezifische Fragestellungen für die Entwicklung von Mediationsansätzen in interkulturellen Kontexten aufzuzeigen. Davon ausgehend möchte ich zwei unterschiedliche Paradigmen zum Verständnis „interkultureller“ Konflikte gegenüberstellen, deren praktische Implikationen für eine mediatorische Konfliktbearbeitung ich anhand einiger Fallskizzen zu illustrieren versuche. Im dritten Teil möchte ich Aspekte einer Interkulturellen Mediationskompetenz benennen, die einer am Anerkennungsbegriff orientierten, differenz-, dominanz- und kontextsensiblen Mediationspraxis zu Grunde zu legen wären.
Mediation – Grundlagen, Entwicklungsstränge, offene Fragen Mediation ist ein Verfahren der Konfliktvermittlung durch eine neutrale und unabhängige – im deutschen Fachdiskurs „allparteiliche“42 – Drittpartei, bei dem die Streitparteien weitgehende Selbstverantwortung für die Lösung ihrer Probleme behalten. Das Konzept kann sich auf diverse historische Vorläufer und kulturelle Traditionen berufen. In seiner heutigen Form ist Mediation als ein Verfahren der „Alternative Dispute Resolution“ (ADR) im Zuge der USamerikanischen Bürgerrechtsbewegung entstanden. Trotz seiner zunehmenden Professionalisierung und Kommerzialisierung in diversen Anwendungsfeldern ist der Grundgedanke aus den „grassroots“-Zeiten immer noch lebendig: Es geht darum, Alternativen zu herkömmlichen Verfahren innergesellschaftlicher Konfliktbearbeitung zu bieten, die durch ein Übergewicht an Macht- und Rechtspositionen gekennzeichnet sind. Angesichts dessen versucht Mediation, nicht nur einen breiteren „access to justice“ zu eröffnen, sondern auch einer zunehmenden Unfähigkeit zu eigenständigen, zivilen Konfliktregelungen entgegenzuwirken. Statt sie an höhere Instanzen zu delegieren, sollen die Menschen befähigt werden, ihre Konflikte selbständig und auf konstruktive Weise zu bearbeiten. Neben den jeweiligen sachlichen Konfliktlösungen verfolgt Mediation deshalb auch eine reformerische Absicht: Sie zielt auf eine grundlegende Veränderung der zivilen Konfliktkultur in der Gesellschaft.
für die ich zwischen 1997 und 2006 als Bildungsreferent und pädagogischer Leiter tätig war. Hier war Schule über Jahre hinweg mein wichtigstes Erfahrungs- und Tätigkeitsfeld als „interkulturell“ orientierter Mediator (vgl. Fechler 2003). 42 Im Unterschied zu dem im angelsächsischen Diskurs gebräuchlichen, das Moment der Distanznahme hervorhebenden „neutrality“ betont „Allparteilichkeit“ eine wesentlich proaktivere, auf Unterstützung (Empowerment) aller Konfliktparteien ausgerichtete Haltung.
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Dieser Idee entspricht eine grundsätzliche Rollenaufteilung zwischen Streitparteien und Mediator(en), was dieses Verfahren von anderen Formen der Vermittlung durch Dritte (Schlichter; Ombudsleute etc.) unterscheidet: Die Lösungen sollen von den Streitparteien selbst kommen, Mediatoren sind ausschließlich für den Prozess verantwortlich. Mediation vertraut also auf die Kompetenz der Konfliktparteien, „Experten“ für ihre Interessen und damit auch für optimale Konfliktlösungen zu sein. Dieses Vertrauen verbindet sich mit der Erfahrung, dass Lösungen eher akzeptiert werden, wenn sie nicht von außen diktiert, sondern von den Betroffenen selbst ausgehandelt wurden. Den Mediatoren kommt dabei die Aufgabe zu, die Verhandlungen zu strukturieren und für die Einhaltung fairer Regeln zu sorgen. Sie achten darauf, dass die subjektiven Sichtweisen und Anliegen jeder Partei ausreichend zu Wort kommen. Durch eine klare Moderations- und Fragetechnik verhelfen sie den Streitparteien dazu, diejenigen Punkte herauszuarbeiten, die einem Klärungs- und Lösungsprozess dienlich sind. Von der Win-Win-Formel der Harvard-Schule zum Anerkennungsprinzip der Transformativen Mediation Nun gibt es unter Mediatoren unterschiedliche Auffassungen darüber, was genau dieses „Dienliche“ für einen Klärungs-, Lösungs- oder gar Versöhnungsprozess ist. Als vielleicht prominenteste Exponenten der ADR-Bewegung haben Vertreter der Harvard-Schule43 mit dem populären Slogan „Mediation als Win-WinProblemlösung“ ein Markenzeichen für Mediation gesetzt. Ihm zufolge liegt das Ziel einer Mediation in einem einvernehmlichen Ergebnis, das keine Verlierer mehr kennt. Der Weg dorthin führt vor allem über eine differenzierte Behandlung der sachlichen Aspekte des Konflikts. Dabei geht es darum, die Interessen aller Beteiligten möglichst gleichwertig und vollständig zu berücksichtigen. Dadurch komme man, so die Behauptung, oft zu intelligenteren Lösungen, als wenn, wie bei herkömmlichen Kompromissbildungen üblich, lediglich über die ursprünglichen Maximalforderungen der Parteien (sog. Positionen) gefeilscht wird.44 Ein erfolgreicher Mediationsprozess führe so zu einem „konstruktiven Miteinander“, in dem sich die Gegner immer weniger als Feinde denn als „Partner in einem gemeinschaftlichen Problemlösungsprozess“ verstehen.45 43
Damit ist insbesondere das an der Harvard Law School angesiedelte Project on Negotiation (www.pon.harvard.edu) gemeint. 44 vgl. Fisher/Ury/Patton (1984, S.21-35) 45 Dass damit jedoch nur eine ganz spezifische Lesart von Mediation treffend charakterisiert wird, ist weniger bekannt, obgleich sich in der Mediationsszene – parallel zu den unterschiedlichen Anwendungsfeldern – eine bunte Landschaft unterschiedlichster Schulen und Ansätze herausgebildet hat. Ein hilfreiches Ordnungsschema bietet Nadja Alexanders (2004) Meta-Modell. Als Produkt einer auch in Deutschland weitgehend von sozialen Aktivisten und anwendungsorientierten Berufen (Pä-
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In Bezug auf das hier interessierende Thema möchte ich drei Punkte erwähnen, an denen sich der Fachdiskurs über eine Mediation in interkulturellen Kontexten in Auseinandersetzung mit Annahmen des populären Win-Win-Modells zu konturieren versucht hat (vgl. zum Folgenden Besemer 1996, Ropers 1995). 1. Der am häufigsten problematisierte Aspekt betrifft die kulturellen Implikationen des ADR-Modells. Uneingestandener Ethnozentrismus lautet das Verdikt. Entgegen seiner behaupteten universellen Anwendbarkeit basiere das Modell auf Prinzipien und Verfahrensschritten, die vor allem auf westlichen bzw. nordamerikanischen Normalitäts- und Wertvorstellungen über die Art der Konfliktaustragung sowie die Möglichkeiten ihrer Beilegung beruhen. Auf solche kulturellen Implikationen des ADR-Modells haben Autoren wie Lederach (1985), LeBaron (1992) und Augsburger (1992) hingewiesen. Dabei berufen sie sich in ihren Arbeiten vor allem auf Beobachtungen in sogenannten „traditionalen“, stärker kollektivistisch orientierten Gesellschaften. In diesen verlaufe Konfliktvermittlung eher indirekt und stärker kontextorientiert, d.h. mit Fokus auf eine oft rituell vollzogene „Heilung“ der Beziehungen nicht nur der direkt involvierten Akteure, sondern des gesamten sozialen Umfelds. Das bekannte HarvardAxiom, Personen und Probleme getrennt voneinander zu behandeln, und dabei – aufgaben- und ergebnisorientiert sowie zeitlich linear-strukturiert vorgehend – auf eine möglichst direkte Offenlegung von Interessen und anderen Beweggründen zu zielen, wirke sich in solchen Kontexten deutlich kontraproduktiv aus. Wegweisend für die Überwindung der hier angedeuteten Schwierigkeiten mangelnder Passung und Anschlussfähigkeit war insbesondere Lederachs Konzept einer „elicitive mediation“ (Lederach 1985): Zu dieser gehört, neben einem genauen Studium der jeweiligen Konfliktbearbeitungsmuster, ein der Hauptphase vorgeschalteter Abstimmungsprozess, in dem die jeweiligen Erwartungen an das Setting, die Rollenmuster sowie die Verfahrensweisen der Mediation zwischen den Parteien ausgehandelt werden. 2. Eine weitere, unter Praktikern allerdings weniger intensiv rezipierte und diskutierte Kritik betrifft die mit dem ihr eigenen Lösungsoptimismus einhergehende (macht)politische Blindheit46 des ADR-Konzepts bzw. von Mediation überhaupt. Zum einen sei unter den realen Bedingungen einer Konfliktvermittlung (zur Verfügung stehendes Zeit- und Finanzbudget; Durchhaltevermögen der Konfliktparteien; Störeinflüsse durch die Umwelt; strukturelle Konfliktebenen) dagogen, Psychologen, Anwälte, Unternehmensberater) getragenen, relativ jungen Profession hinkt die wissenschaftstheoretische Systematisierung, Reflexion und Kritik ihrer Praxis noch weit hinterher. Dieser Mangel wird auch angesichts einer kaum mehr zu überblickenden Publikationsflut zum Thema nur langsam behoben. Was Mediatoren über ihre Praxis schreiben und öffentlich reflektieren, ist – aus nachvollziehbaren, berufspolitischen Gründen – überwiegend Selbstmarketing. 46 Bush/Folger (1994); kritisch zu dieser Argumentation: Jordi (2004)
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für die Konfliktparteien in der Sache oft nicht mehr zu erreichen als ein „lesslose“. Zum anderen berge das Partnerschaftsmodell die Gefahr, bestehende Machtasymmetrien zwischen den Konfliktparteien zu übersehen bzw. ihren Einfluss auf die Formulierung und spätere Umsetzung von Ergebnissen zu unterschätzen. Unter dem Vorwurf der „Oppression Story“ (Bush/Folger 1994, S.23) weisen Kritiker der Mediation darauf hin, dass strukturell induzierte Konflikte – auf die Arena der interpersonellen Vermittlung reduziert – durch Mediation nur symbolisch bearbeitet werden und dieses Verfahren letztlich zur Perpetuierung sozialer, rechtlicher oder machtpolitischer Unrechtssysteme beitrage.47 3. Auch der dritte Kritikpunkt beschäftigt – wie bereits das zweite Argument – nicht nur in interkulturellen Kontexten tätige Mediatoren, erscheint aber für sie sehr relevant. Er ist von den bereits zitierten Autoren Robert A. Baruch Bush und Joseph P. Folger formuliert worden, die mit ihrem vielbeachteten Werk „The Promise of Mediation“ (1994) eine Alternative zu dem auf Win-WinLösungen ausgerichteten ADR-Konzept formuliert haben – auch hierzulande bekannt geworden unter dem Begriff „Transformative Mediation“48. Statt des auf das sachliche Ergebnis fokussierenden Konzepts von Konfliktvermittlung als Problembearbeitung, das seinen Anspruch auf Zufriedenheit der Beteiligten („satisfaction story“) in vielen Konflikten gar nicht einzulösen vermag, stellen sie die Arbeit an den Beziehungen zwischen den Konfliktparteien in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Vor allem der Prozess einer auf Ermächtigung (empowerment) der Einzelnen und ihre gegenseitige Anerkennung (recognition) zielenden Vermittlung habe – ganz gleich, wie die Ergebnisse schließlich aussehen – einen die Konfliktparteien und ihre gestörten Beziehungen transformierenden Charakter. Transformation der Beziehungen überhaupt sei die Grundlage, um haltbare Ergebnisse auf der Sachebene herzustellen. Diese entlang der Frage „was genau wirkt in einer erfolgreichen Konfliktbearbeitung?“ geführte Diskussion bestreitet mithin – um es in der Terminologie der im ersten Punkt zitierten Autoren zu formulieren – die „kulturelle Passung“ des ADR-Modells nicht nur für „traditionale“, sondern auch für die eigenen, „westlichen“ Gesellschaften – und seien diese (unter gedanklicher Ausblendung aller inneren sozialen, subkulturellen, migrationsbedingten etc. Pluralität) noch so „monokulturell“ konstruiert. 47
Mit Blick auf Entwicklungsprogramme zum Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen in den mittel- und osteuropäischen Transformationsgesellschaften warnte Richard E. Rubinstein (1992) schon früh vor einem missionarischen Übereifer der Vertreter mediationsbasierter Programme. 48 Das Konzept der Transformative Mediation hat vor allem in Schule und Jugendarbeit die Entwicklung der Mediation in Deutschland nachhaltig geprägt (vgl. Faller 1998). Noch stärker beziehungsorientiert als der transformative Ansatz zeigen sich die auf Versöhnung ausgerichtete Dialogarbeit (vgl. Bar-On 2001) sowie der Ansatz der Narrativen Mediation (Winslade/Monk 2001).
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Von den drei Argumenten gegen das ADR-Modell – monokultureller Bias, Kontext- und Machtblindheit, konflikttheoretischer Reduktionismus – prägt vor allem der erste Hinweis bis heute den Mainstream der theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit Konfliktvermittlung in interkulturellen Kontexten. Auf der Suche nach dem Spezifischen und Besonderen der „interkulturellen“ Mediation kaprizieren sich viele Mediatoren allerdings nur auf den einen Aspekt: den der Erforschung beziehungsweise Rezeption von – in der Regel von Ethnologen und Kommunikationspsychologen publizierten – Forschungsarbeiten über „fremdkulturelle“ Verhaltens- und Konfliktbearbeitungsmuster. Lederachs und LeBarons Appellen, den gemeinsamen Aushandlungsprozess des Bearbeitungsdesigns in den Mittelpunkt zu stellen, wird demgegenüber nur ungenügend Beachtung geschenkt. Im Bemühen, sich selbst oder die „eigenen Leute“ fit zu machen für die „interkulturelle Überschneidungssituation“ (Thomas 2003, S.46), reduziert sich „interkulturelle Sensibilisierung“ allzu oft auf ein vermeintliches „Wissen über“ die „Anderen“. Und selbst wenn die Reflexion über „das Eigene“ als ebenso wichtig angesehen und in die interkulturelle Sensibilisierung mit einbezogen wird, fördert die besondere Betonung und vermeintlich so klare Unterscheidung zwischen sogenannten „traditionalen“ (wahlweise „südlichen“, „östlichen“, „afrikanischen“, „asiatischen“) und „modernen“ beziehungsweise „westlichen“ Gesellschaften nicht selten ein eklatantes Selbstmissverständnis über die impliziten Regeln der eigenen, vermeintlich so rationalen, sachorientierten (Sub-) Kultur.49 Insgesamt bleibt zu konstatieren, dass eine systematische Beschäftigung mit den Implikationen der beiden anderen Kritikpunkte am ADR-Modell für interkulturelle Handlungsfelder unter Mediatoren – mit Ausnahme vielleicht des Fachdiskurses über die Bearbeitung hoch eskalierter, ethnopolitischer Konflikte – bislang noch aussteht. Wie aber könnte eine nicht kulturalisierende Bezugnahme auf den Kulturbegriff für Mediatoren aussehen? Dazu soll im nächsten Schritt das hier bereits angesprochene Mainstreamkonzept von Kultur noch einmal systematischer mit einer Alternative verglichen werden.
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Als Beispiel für die in diesem Zusammenhang gern verdrängten „kollektivistischen Untiefen“ der westlichen Zivilisation sei hier nur auf den Korporatismus der wirtschaftlichen und politischen Eliten hingewiesen, für die als sozialmoralische Kernkategorie der Aspekt der – angeblich nur für „östliche“ Kulturen so charakteristischen – Beschämung (Gesichtsverlust) eine weitaus größere Rolle zu spielen scheint als die – angeblich für das „westliche Subjekt“ so konstitutive – Dimension individueller Schuldgefühle. Vgl. dazu Buruma (1996, S.146f).
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Was passiert eigentlich in „interkulturellen“ Konflikten? Nach weit verbreiteter Vorstellung ergeben sich Kommunikationsstörungen oder sogar Konflikte auf Grund von kulturell bedingten, dem reflexiven Bewusstsein weitgehend entzogenen Normalitätserwartungen und Handlungsroutinen, sog. „cultural patterns“ oder „mindsets“, oder durch konkurrierende, nicht selten einander ausschließende Wertauffassungen. Vor allem die Kenntnis der Besonderheiten einer Kultur A im Unterschied zu einer Kultur B, so die damit verbundene praktische Schlussfolgerung, könnten Konfliktvermittler demzufolge in die Lage versetzen, die richtigen Interventionen zu planen und das komplizierte Geflecht interkultureller Missverständnisse zu entwirren. Auf Grund ihrer Griffigkeit und Alltagsplausibilität ist diese These unter interkulturell operierenden Mediatoren und Managementtrainern50 äußerst beliebt. Geert Hofstede, dessen Kulturdimensionen-Modell vermutlich als die Standardreferenz in „interkulturellen“ Sensibilisierungstrainings gelten darf, definiert Kultur als „kulturelle Programmierung des Geistes, das die Mitglieder einer Gruppe von Menschen einer anderen unterscheidet“ (Hofstede 1997, S.19). Wir haben es hier mit einer Sicht auf „Kultur“ zu tun, einem Paradigma, das genau so evident und plausibel wie vereinfachend und in vielen Fällen unzutreffend ist. In Anlehnung an Hofstedes Definition bezeichne ich dieses Paradigma das Programmierungsmodell von Kultur. Diesem Programmierungs-Modell möchte ich das Paradigma Kultur als Strategie gegenüberstellen. Analog zu der aus der Genderforschung geläufigen Unterscheidung being gender und doing gender hat sich in der sozialwissenschaftlichen Debatte die Unterscheidung zwischen being culture und doing culture etabliert (vgl. Hörning/Reuter 2004). Doing culture meint: Der Bezug auf „Kultur“ – sei es zur Beschreibung und Erklärung von bestimmten Verhaltensweisen, sei es als Ressource zur Definition der eigenen oder fremden Identität, gleich ob als individuelle oder kollektive definiert, – ist immer ein kommunikativer Akt, eine gesellschaftliche Praxis, die einen sozialen Sinn hat. Von und über „Kultur“ etc. zu sprechen hat eine – nach Situation und Kontext jeweils unterschiedliche – soziale Funktion. Und wie Mediatoren gewohnt sind, die Interessen und Bedürfnisse hinter den Positionen zu erfragen, so macht es auch 50
Die Kulturkonflikt-These bildet den theoretischen Hintergrund für die meisten „Interkulturellen Trainings“, die für Mitarbeiter international operierender Unternehmen entwickelt wurden. Neben einer generellen Sensibilisierung für die Untiefen und Irritationen, die der Kontakt zwischen einander Kulturfremden in sich birgt, vermitteln solche Trainings praktische Tipps im Umgang mit einer fremden Kultur (vgl. Herbrand 2000). Im deutschen Sprachraum hat sich vor allem das Modell der „Kulturstandards“ von Alexander Thomas etabliert (vgl. Thomas/Kinast/Schroll-Machl 2003). Neben länderspezifischen Trainings sind kulturvergleichende „Kulturdimensionen“-Modelle im Umlauf (u.a. Hall 1976; Hofstede 1997).
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Sinn, die spezifische subjektive Funktionalität von culture-talk, also dem Reden über Kultur, kulturelle Identität(en), Ethnizität, Mentalitäten usw. zu ergründen. Und meistens stoßen wir dabei auf ganz andere Issues, um die es den Betroffenen geht und die das Konflikthafte an dem Konflikt besser erklären als „Kultur“. Identitätspolitik: Kampf um Anerkennung in asymmetrischen Beziehungen Was folgt daraus für die Vermittlungspraxis? Eine dem zweiten Paradigma korrespondierende Konflikttheorie bietet das Konzept vom „Kampf um Anerkennung“ (vgl. Honneth 1992, Taylor 1993, Fraser/Honneth 2003), das die sozialen, rechtlichen und politischen Aspekte betont, die mit den Prozessen von Globalisierung und Migration verbunden sind. Konflikte ergeben sich danach vor allem aus Konkurrenzen um sozialen Status, insbesondere die mit der Frage der Zugehörigkeit verbundenen Formen gesellschaftlicher Machtverteilung und sozialer, rechtlicher und politischer Teilhabe: Wer gehört dazu? Wer hat das Sagen? Wie ist das Zusammenleben zwischen Mehrheit und Minderheiten formell geregelt – und wie ist die informelle Praxis? Welche Menschen und Gruppen werden in dem, was ihnen wichtig ist, überhaupt angehört, geschweige denn respektiert und anerkannt?51 Solche Fragen werden in den unterschiedlichsten Status- und Anerkennungskämpfen ausgetragen. In ihnen wird „Kultur“ von den Beteiligten vor allem aus strategischen Gründen ins Spiel gebracht. Mit der Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern wird Politik – Identitätspolitik – gemacht. Aus der Zugehörigkeit zu einer nationalen bzw. ethnisch-kulturell definierten Gruppe werden spezielle Ansprüche, Rechte und Pflichten abgeleitet. Viele ganz „normale“ Interessen- oder Verteilungskonflikte bekommen so einen kulturellen Überbau. Sie werden kulturalisiert bzw. ethnisiert. Dabei sind die Ausgangspositionen äußerst ungleich, d.h. asymmetrisch – sowohl was die Verfügung über die eher handfesten ökonomischen, rechtlichen, sozialen Kapitalien als auch was die Ressourcen zur Definition und öffentlichen Repräsentation der eigenen kollektiven Identitäten betrifft. Vom Thema der kulturellen Fremdheit verschiebt sich der Fokus der Aufmerksamkeit auf die Situation der unterschiedlichen Statusgruppen, in die eine Gesellschaft ihre Mitglieder durch abgestufte Formen der Zugehörigkeit und der rechtlichen Teilhabe einordnet. Mit Blick auf diese Fragen sollten Mediatoren nicht primär die (Herkunfts-)Kulturen der Konfliktparteien studieren, sondern vor allem die rechtlichen, politischen und sozialen Aspekte zur Kenntnis nehmen, die mit den Prozessen von Migration und Globalisierung verbunden sind. 51
Dies betrifft nicht zuletzt die für die Machtdynamik in Migrationsgesellschaften entscheidende Frage der Re-Präsentation: „’Wer gehört dazu?’ transportiert auch die Frage ‚Wem wird zugehört?’.“ (Castro Varela/Dhawan 2007, S.31)
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Ansatzpunkt für eine mediative Konfliktvermittlung ist mithin das Verständnis der subjektiven Funktionalität kulturalisierender beziehungsweise ethnisierender Diskurse: Wozu werden sie geführt? Was bringt es den Beteiligten in einer aktuellen Situation und einem spezifischen Kontext, kulturelle Deutungsmuster ins Feld zu führen? Ich möchte die Relevanz dieser Fragen an einigen Fällen aus unserer mediatorischen und beraterischen Praxis illustrieren. Dabei konzentriere ich mich auf Situationen, in denen beide Seiten anfangs noch guten Willens sind und sich nicht von vornherein feindlich gegenüber stehen. „Die sind einfach unkooperativ“: Frustrierte Verhaltenserwartungen in der mediatorischen Praxis Ein Klassiker auch für die Diskussion unter „kulturellen Programmierern“52 sind unterschiedliche Varianten „unkooperativen Verhaltens” bzw. neutraler ausgedrückt – spiegelt diese Formulierung doch bereits eine konfliktimmanente Perspektive wider – „frustrierter Verhaltenserwartungen“53. Dieses Thema wird vor allem in Kontexten relevant, in denen zwischen den Beteiligten das Interesse an oder der Zwang zu einer Zusammenarbeit oder zumindest einem erträglichen Miteinanderauskommen besteht, in denen dieses Ziel jedoch als zunehmend mühevoll bis unmöglich beschrieben wird. Anfängliche Krisensymptome solcher noch nicht allzu hoch eskalierter Konflikte im beruflichen Kontext: Termine werden nicht eingehalten, Treffen kommen nicht zustande, die Projekte versanden. Im sozialen Nahbereich: Das Verhalten des Anderen irritiert, man geht sich gegenseitig – einmal salopp formuliert – gehörig auf den Wecker. Wie stellen es die Konfliktparteien dar? Aufgrund des Überweisungskontextes hören wir – als ein in der deutschen Mehrheitsgesellschaft etabliertes Mediationsinstitut – in der Regel zunächst die Geschichten der deutschen bzw. (west)europäischen Beschwerdeführer54, die uns als Mediations-, Beratungsoder Trainingskunden von diesen Fällen berichten:
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In der Entwicklungszusammenarbeit fragen sich die interkulturell sensibilisierten europäischen Berater, in welches kulturelle Fettnäpfchen ihrer lokalen Projektpartner sie nun jetzt wohl wieder getreten sind: „War ich zu di-
Z.B. Schroll-Machl (2000), Abraham/Abraham (2000) Vgl. Auernheimer in diesem Band. 54 Als klassisches Strukturmerkmal asymmetrischer „interkultureller“ Konflikte sind auch unsere Auftraggeber in der Regel Vertreter einer in einem spezifischen Kontext dominanten Gruppe (Schulleitungen, Führungskräfte, städtische Behörden, Agenturen der Entwicklungszusammenarbeit), die sich als intermediäre Instanzen zwar theoretisch als Anlaufstellen für „alle Seiten“ ansehen, in der Realität jedoch vor allem von Angehörigen der ebenfalls dominanten Gruppen, die dann als Beschwerdeführer auftreten, kontaktiert werden. 53
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rekt und sachorientiert und zu wenig beziehungsorientiert? Bin ich zu eng in meiner linear-monochromen Zeitplanung?“ In Wirtschaftskontakten zwischen deutschen Unternehmen und ihren mittelund osteuropäischen Geschäftspartnern fragen uns unsere deutschen Beratungs- und Coachingkunden, „warum das bei denen immer so lange dauert“. Nach Gründen gefragt, wird über die „slawische Kultur“ gemutmaßt, in der man es nicht so genau nehme, die eben emotionaler sei, impulsiver, trinkfreudiger und dergleichen. Je größer die Frustration, um so defizitärer die Rede über „den Osten“, aus der neben dem immer noch verbreiteten, mit Superioritätsgefühlen einhergehenden Bild eines „zivilisatorischen WestOst-Gefälles“ (Kadritzke 1992, S.182) das Propagandaecho aus Zeiten des Kalten Kriegs herauszuhören ist. In Trainings- und Beratungsprojekten zur Interkulturellen Öffnung für Mitarbeiter aus Sozialämtern und Asylbehörden hören wir Standarderzählungen über „hinterlistige Antragsteller“, die einem „nicht richtig in die Augen schauen“ und einem sowieso nicht alles erzählen, oder über eine „typisch orientalische Basarmentalität“, die sich in extrem weitschweifigen Erzählungen und Bestechungsversuchen manifestiere. Auch hier werden schnell kulturelle Klischees bemüht, um das Verhalten der Klienten zu erklären. In einem von einer städtischen Integrationsbehörde initiierten Dialogprojekt zur regionalen Konfliktprävention zwischen Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft (Lokalpolitiker, Vereinsvorstände, Vertreter christlicher Gemeinden etc.) und Vertretern religiöser Zuwanderergemeinden (neben orthodoxen Gemeinden und protestantischen Freikirchen vor allem muslimische Moscheevereine) beschweren sich mehrheitsdeutsche Teilnehmer unter anderem über eine auch im Projekt andauernde „Undurchsichtigkeit“, „Unnahbarkeit“ sowie „mangelnde Dialog- und Integrationsbereitschaft“ vor allem von muslimischer Seite.
Die Grundaussagen ähneln einander auf charakteristische Weise. Im Vordergrund stehen Mutmaßungen über die „fremdkulturelle Prägung“ der Gegenseite, mal vorsichtig abgewogen (Entwicklungszusammenarbeit), mal in hemdsärmeliger Erwartung, dass wir unseren Gesprächspartnern entweder praktische Tipps aus der „interkulturellen Trickkiste“ verraten – „wie ‚ticken’ die anderen?“ und „wie kriegen wir sie auf unsere Seite?“ (internationale Geschäftsbeziehungen, Behörden). Hinzu kommen mal mehr, mal weniger direkt formulierte Aufforderung zur Unterstützung eines als „interkulturelle Übersetzungsarbeit“ getarnten Anpassungsdiskurses: Wir Mediatoren sollten „denen da doch mal erklären, wie bei uns hier die Spielregeln sind“ (Dialogprojekt). Allerdings ist es nicht nur die kulturelle Programmierungs-Brille („ticken“), durch die die Beschwerdeführer
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auf ihr Gegenüber schauen. In den Äußerungen schwingt ebenso moralische Empörung mit – genährt aus dem Verdacht, dass es sich hier nicht nur um kommunikative Missverständnisse oder unvermeidbare Wertekonflikte handeln könnte. Geklagt wird über sublime Formen der Verweigerung: „Die machen ihr eigenes Ding und ich kriege nicht richtig raus, was die wirklich wollen.“ Auch wird die Vermutung geäußert, „dass die was im Schilde führen“. Insgesamt nicht greifbare atmosphärische Störungen, die die Betroffenen ratlos machen und oft auch als sehr kränkend erleben. Klärungsbemühungen, anfangs durchaus in bester Absicht initiiert, verlaufen entweder ergebnislos – „die sagen nicht offen, was sie wollen“ – oder eskalieren, denn „die sind so schnell beleidigt“. Solche Kränkungen können sich verdichten zu Formen einer expliziten Opferidentität. Dabei führen die moralischen Überlegungen immer wieder zurück auf eine (völker-) psychologisierende Ebene des „mir völlig fremd und unzugänglich“. Wenn wir als Berater oder Mediatoren Klärungsprozesse initiieren – dies in der Regel zunächst in getrennten Einzelgesprächen – äußert sich die Gegenseite zunächst fast immer empört über die „typische Arroganz“ der Deutschen. Auch hier wird bei der Beschreibung der Gegner kräftig kulturalisiert. Allerdings fällt auf, dass aus der subalternen Position viel eher auch auf – institutionell, ökonomisch, politisch bedingte – Machtasymmetrien hingewiesen wird.
Was die Entwicklungszusammenarbeit betrifft, kommen die lokalen Projektpartner schnell auf das asymmetrische Verhältnis zu sprechen, das sich aus unterschiedlichen Rollen im Projekt (Berater/Beratungs-Klient), vor allem aber aus dem ökonomischen und institutionellen Machtgefälle zwischen den Vertretern aus Geberländern und Empfängerländern ergibt. Trotz aller Bereitschaft auf Seiten der idealistischen europäischen Fachkräfte zur gleichberechtigt partnerschaftlichen und kultursensiblen Zusammenarbeit werden diese von ihren lokalen Partnern als „weiß“, d.h. als Vertreter des reichen Nordens und Nutznießer der kolonialen Vergangenheit (und der neokolonialen Gegenwart) wahrgenommen und adressiert. Auf Seiten der Business-Partner etwa aus Polen oder Tschechien kommen nicht selten Bilder von den Deutschen aus der Asservatenkammer des Zweiten Weltkriegs zum Vorschein – Piefke, Nazi – oder das Klischee vom reichen, arroganten Westler, der unangenehm laut und direkt im Auftreten sämtliches Gespür für sein Gegenüber vermissen lässt. Neben der Erwähnung historischer Vermächtnisse, die in den kollektiven Gedächtnissen der Länder, die von Nazideutschland überfallen wurden, noch sehr lebendig sind, münden auch diese Gespräche früher oder später in der Erwähnung ökonomischer Schieflagen zwischen ungleichen Partnern. Als besonders
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kränkend kann in Geschäftsbeziehungen nicht zuletzt der ungleiche Status der Verhandlungspartner wahrgenommen werden.55 Bezüglich der in Behörden auftretenden Konflikte werden wir nicht als Mediatoren berufen, sondern allenfalls damit beauftragt, Mitarbeiter und Führungskräfte interkulturell zu sensibilisieren und in Prozessen Interkultureller Öffnung beraterisch zu begleiten. Hier stehen wir vor der Herausforderung, die in Asylbehörden und anderen Ämtern der öffentlichen Verwaltung tätigen Mitarbeiter für die institutionellen und rechtlich-politischen Asymmetrien zu sensibilisieren, deren Auswirkungen von „natio-ethnokulturellen Migrationsanderen“ (Mecheril 2003) immer wieder eindrücklich beschrieben worden sind.56 Auch die Vertreter der religiösen Zuwanderergemeinden machen eine Rechnung auf, die weniger die – auf Grundlage teilweise langjähriger, intimer Kenntnisse oft humorvoll beschriebenen – „heimatdeutschen“ Gepflogenheiten zum Thema hat, als vielmehr unterschiedliche Ebenen von Diskriminierung: vom Alltagsrassismus bis hin zu den sublimen und offenen Formen von Ignoranz und Anerkennungsverweigerung ihrer „religiösen und national-kulturellen Identität“, die ihnen als Vertreter ihrer Communities auf institutioneller, rechtlicher und medialer Ebene entgegen schlägt.
Fazit: Angehörige der „anderen Seite“ sehen sich auch als Opfer von Blockaden, Zurückweisungen und Verweigerungshaltungen. Abgesehen von Mutmaßungen über den Einfluss kulturell bedingter Unterschiede spielt in Konflikten zwischen Vertretern unterschiedlicher Herkunftsgruppen fast immer ein Meta-Thema hinein, das von Angehörigen der im jeweiligen Kontext dominanten Gruppe in der Regel oft gar nicht bemerkt wird beziehungsweise als „weniger wichtig“ angesehen wird, das für die subalterne Seite hingegen von zentraler Bedeutung ist: Die mit dem Machtgefälle einhergehende fundamentale Kränkung, zur niedrigeren Statusgruppe zu gehören.57 Immer wieder beobachten wir in Konfliktgesprächen, 55
Während seitens der (mittel-)osteuropäischen Unternehmen oft die oberste Führungsebene auftritt, begnügt man sich nicht nur im operativen, sondern auch im strategischen Geschäft auf deutscher Seite nicht selten mit der Entsendung der durch die betreffende Produktsparte oder Länderregion definierten Vertreter des mittleren Managements (vgl. Schroll-Machl/Lyskov-Streve 2000). 56 Vgl. hierzu die von Seifert (1996) geleitete Studie über „Probleme interkultureller Kommunikation in rheinland-pfälzischen Behörden“, in der alle Beteiligten – Behördenmitarbeiter wie „ausländische“ Besucher – ausführlich zu Wort kommen. 57 Diese fundamentale Kränkung ist tief in das Weltbild und die Selbstwahrnehmung Subalterner eingeschrieben. Neben Franz Fanons (1981) berühmter Analyse der Folgen von Nicht-Anerkennung und Missachtung für das kolonialisierte Subjekt weisen diverse Studien zum Gewaltphänomen unter Jugendlichen auf diesen Zusammenhang hin (Didier/Lapeyronnie 1994; Tertilt 1996; Sutterlüty 2002). Je mehr – familiäre, soziale, gesellschaftliche – Missachtungserlebnisse ein Mensch erfahren hat und je fragiler sein Selbstwertgefühl ist, desto höher ist seine Kränkbarkeit. Auch harmlose
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dass es weniger die Empörung über die „materiellen“ Benachteiligungen ist, sondern dass gerade die offensichtliche Ignoranz der dominanten Seite, ihre arglose Ausblendung oder bewusste Dethematisierung des Machtgefälles, der springende Punkt ist, der Vertretern der strukturell unterlegenen Position besonders zu schaffen macht.58 Als eine besonders schmerzliche Konsequenz wird erlebt, dass man in dem Kontext, auf den es gerade ankommt (sozialer Nahraum, Arbeitsbeziehung, öffentliche Debatte), niemals so gesehen wird, wie man selbst sich sieht und nicht über die Ressourcen verfügt, das eigene Selbstbild wie auch die eigene prekäre Situation – zum Beispiel die Erfahrung des eigenen im spezifischen Kontext „deplaziert Andersseins“ (Mecheril 2003) – der anderen Seite verständlich zu machen. Stattdessen wird man auch in Situationen, in der sich die Beteiligten um Kooperation und Klärung bemühen, mit Fremdzuschreibungen, oft auch mit gutgemeinten Kommunikationsangeboten aktiv verkannt – und kann diesen nur wenig entgegen setzen. Konflikteskalation als Anerkennungsverlust Diese auf den ersten Blick als paradox und „irrational“ erscheinende fokale Verengung und Schwerpunktverschiebung – von den materiellen und strukturellen Aspekten des Konflikts auf die Beziehungsqualität zwischen den Kontrahenten kann als generelle Aussage für Konfliktdynamiken verallgemeinert werden. Denn unabhängig von ihrem Entstehungskontext – umgangssprachlich als Konfliktursachen bezeichnet – gewinnen Konflikte ihre destruktive Energie vor allem aus einer gestörten Beziehungsdynamik. Ganz gleich, was einmal der Anlass gewesen sein sollte, so ist die Heftigkeit einer offenen wie verdeckten Konflikteskalation vor allem das Ergebnis der gegenseitigen Kränkungen, die die Konfliktparteien einander im Lauf der Konfliktaustragung zugefügt haben. Ihre Energie gewinnt sie aus der expliziten oder auch nur befürchteten Infragestellung der persönlichen Integrität, ihr Ergebnis ist eine tatsächliche oder auch nur vermeintliche Beschädigung der öffentlichen Person – des Status, des Ansehens, der Würde, der Ehre – des Gegners. Irvin Goffman (1967) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Störung der expressiven Ordnung“59 zwischen den Kontrahenten: Zumindest aus der Sicht einer der Beteiligten ist eine bis dahin Formen der Kontaktaufnahme werden von „benachteiligten“ Jugendlichen oft als Provokation, als eine subjektiv empfundene Herabsetzung und Infragestellung der eigenen Personwürde, interpretiert, auf die mit Gewalt zu reagieren ist. Insgesamt korrespondieren diese Studien in der Einschätzung, dass weniger ethnisch-kulturelle Dispositionen, als viel mehr soziale Deprivation (soziale Ausgrenzung, verweigerte Anerkennung) das gewaltaffine Auftreten nicht zuletzt ethnisch definierter Jugendgruppen erklärt. 58 Vgl. dazu auch Anja Weiß (2001a, S.14f) 59 Goffman (1967), nach Simon (2001, S.194-200).
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bestehende Stimmigkeit im Verhältnis gegenseitiger Achtung und Anerkennung einem Ungleichgewicht einseitiger oder gegenseitiger Missachtung gewichen. Spielvarianten in asymmetrischen Beziehungen Was könnte das bedeuten in Bezug auf die erwähnten Konfliktfälle? In der Phase getrennter Einzelgespräche tappt die eine (dominante) Seite in der Regel noch weitgehend im Dunkeln, während die andere (subalterne) Seite schon ein sehr genaues Bild davon hat, was an der gesamten Situation unstimmig und „schräg“ ist. Und sie kann relativ präzise benennen, warum sie den Kooperationswünschen ihres Gegenübers so nicht (mehr) entsprechen kann bzw. will. Sowohl in einem durch Mediatoren vermittelten Klärungsprozess als auch in der „naturwüchsigen“ Variante einer ohne Interventionsversuche Dritter sich entfaltenden Konfliktentwicklung haben die Parteien Wahlmöglichkeiten. Sie können zwischen unterschiedlichen Spielvarianten, d.h. Formen direkter oder indirekter Konfliktaustragung wählen, mit oder ohne Thematisierung des ethnischkulturellen Arguments. Dabei macht es einen signifikanten Unterschied, aus welcher Status- bzw. Sprecherposition heraus sie in einem asymmetrisch strukturierten Konfliktfeld agieren. Das zeigt sich bereits in den Frühformen der Konfliktentwicklung, wie sie oben skizziert wurden. Was Vertreter des „Programmierungs-Modells“ üblicherweise als Ausfluss unterschiedlicher, kulturell bedingter Kommunikationsstile deuten, lässt sich mindestens ebenso plausibel als strategisch sinnvolle Verhaltensoption Subalterner im Kontext ungleicher Machtverteilung erklären. Weil sie in einer offenen Auseinandersetzung zu unterliegen droht, neigt die strukturell unterlegene Partei dazu, konfligierende Interessen oder Kränkungen zunächst nicht offen anzusprechen. Auch die dominante Seite kann sich ahnungslos stellen und die Tatsache ihrer Vormachtstellung gänzlich ignorieren. Ohne offene Thematisierung durch ihr Gegenüber oder Dritte sieht sie oft gar keinen Anlass zum Perspektivwechsel und damit zur Erkenntnis, dass das, was sie als „normal“ erlebt, für die andere Seite gar nicht so selbstverständlich ist – und es sich hier nicht um das Aushandeln und „Tolerieren“ von Verschiedenheit, sondern um die Anerkennung eines strukturellen Machtgefälles geht. Insofern kann die Thematisierung ethnischkultureller Unterschiede von beiden Seiten auch als eine Strategie zur Konfliktvermeidung gewählt werden. Mit Verweis auf kulturelle Eigenarten – „das ist bei uns so“ – steigen beiden Seiten in einen folkloristisch angehauchten Toleranzdiskurs ein: Die eigentliche Interessenkollision wird nicht angesprochen, man einigt sich auf die diplomatische Formel „Missverständnisse durch kulturelle Unterschiede“.
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Viel häufiger jedoch dienen kulturalisierende Deutungen in Konflikten der Untermauerung der eigenen Positionen und wirken dadurch eskalierend [s. Kasten: Ethnisierung: „Kultur“ als Strategie]. Dabei ist es entscheidend, aus welcher Statusposition heraus kulturalisiert bzw. ethnisiert wird. Die dominante Partei wird versuchen, ihren „Normalitätsdiskurs“ auch in eine offene Thematisierung der eigenen nationalen, ethnischen oder kulturellen Identität hinein zu verlängern: Wenn sie nicht offen rassistisch argumentiert (in den beschriebenen Situationen eher selten), verweist sie zumindest auf ihr „Hausrecht“ und versucht, einen Integrations- als Anpassungsdiskurs zu diktieren: „Wenn du bei uns mitmachen möchtest, muss du dich an unsere Spielregeln (Leitkultur) halten.“ Was die als verletzend wahrgenommene Asymmetrie betrifft, so bleibt der subalternen Partei – neben einer mit der Betonung der eigenen kulturellen Besonderheit einhergehenden Forderung nach Sonderrechten – nicht zuletzt die Möglichkeit der öffentlichen Skandalisierung. Hier kann sie die moralische Integrität ihres Gegenübers angreifen (Rassismus-Vorwurf) oder die ökonomischen, politischen oder institutionellen Aspekte von struktureller Diskriminierung problematisieren. Abbildung 2:
Ethnisierung: „Kultur“ als Strategie
strategischer Nutzen in Relation zur Statusposition
Hoch-Status (Dominante Position, Mehrheitsangehörige, Etablierte)
Tief-Status (Subalterne Position, Minderheiten, Außenseiter)
Selbst-Ethnisierung
Fremd-Ethnisierung
indirekt: Dominanzverleugnung „Ich verhalte mich völlig normal!“
abwertende Psychologisierung
direkt: Verteidigung von Privilegien „So sind bei uns die Regeln“ Einklagen von Sonderrechten bzw. Rechtfertigung des eigenen Rückzugs: „Wir müssen unsere kulturelle Identität in unseren Räumen schützen.“
„Die sind integrationsunfähig und hintertrieben.“
moralisierende Skandalisierung bzw. Politisierung „Die sind arrogant und moralisch verkommen.“ „Das ist Rassismus!!“
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Mit Rekurs auf die Machttheorie Bourdieus (1979) beschreibt Anja Weiß (2001a und 2001b) diese Strategie als letzte Option Subalterner innerhalb durch Formen „symbolischer Macht“ geprägter Verhältnisse. Symbolische strukturelle Macht liegt dann vor, wenn Mehrheitsvertreter bestimmte Werte und Verhaltensweisen als so „normal“ und „selbstverständlich“ ansehen, dass sie sich gar nicht vorstellen können, dass sie von Angehörigen einer Minderheit anders gesehen oder gar in Frage gestellt werden könnten. Geschieht dies dennoch, sieht die dominante Partei das abweichende Verhalten der Minderheit einfach als „problematisch“ oder anmaßend an, während sich diese diskriminiert und auf einer grundsätzlichen Ebene nicht anerkannt fühlt. In ihrer Not nutzt „die dominierte Partei (...) ihren einzigen Vorteil – die Moral – zur Mobilisierung“ (Weiß 2001b, S.104) und geht mit dem Rassismusvorwurf in die offene Auseinandersetzung. Allparteilichkeit und Verstrickung Ohne Zweifel können unterschiedliche „kulturelle Programmierungen“ zu Missverständnissen führen. Aus Unkenntnis kultureller Gepflogenheiten der Gegenseite werden Grenzen der Schicklichkeit übertreten, Irritationen ausgelöst, gute Absichten fehl interpretiert. Und dennoch entwickeln sich Zorn und das Bedürfnis nach Revanche in der Regel nicht einfach als Reaktion auf das reine Anderssein des Anderen, sondern aus Erfahrungen von Missachtung und Entwürdigung, die asymmetrischen Verhältnissen geschuldet sind. Wie gehen wir als Mediatoren mit solchen Situationen um? Das prekäre Anerkennungsverhältnis – die gestörte expressive Ordnung – muss durch Ausgleichshandlungen wieder „in Ordnung“ gebracht werden. Mediation kann diesen Prozess beziehungsweise Dialog der Anerkennung60 in Gang bringen, in dem sie zwischen den Beteiligten einen „Kontenausgleich“ (Boszormenyi-Nagy 1981) belastender und entlastender Konfliktanteile ermöglicht. Dabei bedarf die strukturell unterlegene Partei zwischenzeitlich einer Form der Unterstützung – des Empowerment – die die andere, strukturell überlegene Partei nicht zum Abbruch des Verfahrens nötigen darf. Der wichtigste Punkt scheint mir, dass Mediatoren es nicht dem Zufall überlassen dürfen, ob wahrgenommene strukturelle Machtasymmetrien angesprochen werden oder nicht, sondern diese Aufgabe selbst übernehmen. Entsprechend ihrer Allparteilichkeit tun sie das frei von jeglicher moralischer Bewertung. In der Regel quittiert die strukturell unterlegene Partei eine solche Intervention mit großer Erleichterung, während die dominante Seite oft zunächst große Schwierigkeiten hat, die „nackten“ Tatsachen als notwendigen Bestandteil einer „Wahr60
Ausführlich hierzu Fechler (2003, S.121-127)
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heit der Situation“ zu akzeptieren. Um diese aufdeckende, aufklärende Intervention nicht dem Missverständnis auszusetzen, es handle sich um einen persönlichen Vorwurf, müssen Mediatoren auf eine strikte Trennung zwischen beschreibenden und moralischen Kategorien, d.h. „objektiv“ beschreibbaren Strukturen und dem jeweiligen Maß individueller Verantwortung („Schuld“, Fahrlässigkeit, Verstrickung etc.) achten. Das heißt, sie müssen zwischen zwei Ebenen unterscheiden können: zwischen generell gültigen, den gesellschaftlichen Makrobereich bestimmenden strukturellen Asymmetrien (z.B. dem Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheiten) und den im jeweiligen Kontext vorliegenden Kräfteverhältnissen (z.B. der Statushierarchie innerhalb einer Schulklasse)61 auf der einen Seite und dem wesentlich dynamischeren Auf und Ab der taktischen Machtwippe innerhalb der aktuellen Konfliktdynamik beziehungsweise Mediation, wo vor allem mit moralischen „Gewichten“ operiert wird.62 Der Sinn der angesprochenen Ethnisierungsstrategien besteht ja nicht zuletzt darin, dem Gegner die Verantwortung für den Konflikt, seine „Schuld“ nachzuweisen. Eine besondere Bewährungsprobe für eine solcherart dominanzsensible und dennoch strikt allparteiliche Mediation stellen Rassismus- und andere Diskriminierungsvorwürfe dar. Analog der schon in Bezug auf die strukturellen Machtaspekte angedeuteten „übersetzenden“, d.h. aufklärenden Interventionen von Mediatoren besteht auch hier wieder die Herausforderung darin, Differenzierungen einzuführen – zum Beispiel zwischen beabsichtigten und nichtbeabsichtigten, vor allem aber zwischen interpersonellen und strukturellen Formen von Rassismus bzw. Diskriminierung. Der Nutzen solcher Interventionen liegt – neben der unbedingten Anerkennung der Opfererfahrung der diskriminierten Partei – vor allem darin, der beschuldigten Partei Wege zu einer differenzierten Übernahme von Verantwortung aufzuzeigen. Dazu gehört insbesondere die Akzeptanz der eigenen Verstrickung in strukturell diskriminierende Verhältnisse, die letztere zwar nicht unbedingt verursacht haben müssen, jedoch zumindest in unterschiedlichem Grade durch ihr Handeln mittragen oder auch verstärken. 61
Die Rangordnung in der Klasse ist nicht zwangsläufig eine genaue Spiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse. Jede Schulklasse formt ihr eigenes, kleines Gemeinwesen. Ob es in ihm eine ethnisch – national definierte „Dominanzkultur“ gibt oder ob Ethnizität nur sekundäres Attribut von Jugendlichen ist, die aufgrund ganz anderer Qualitäten zu den Tonangebern in einer Klasse zählen, muss in jedem Fall erst ergründet werden. 62 Als ein in vielen Kontexten von beiden Seiten anerkanntes „Schwergewicht“ bildet der Kampf um den Opferstatus (Wer hat mehr gelitten? Wer reagiert nur auf die ursprünglichen Aggressionen des Gegners?) oft den Dreh- und Angelpunkt moralischer Metakommunikation in Konflikten. In makropolitischen Kontexten artikuliert sich der Kampf um Anerkennung der eigenen Opfererfahrung – sei es die Beachtung individueller Diskriminierungserlebnisse, sei es die öffentliche Bestätigung der Erinnerung an die Leiden des eigenen Kollektivs.
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Spätestens an diesem Punkt muss die Sprecherposition der Mediatoren in den Blick kommen. Auch Mediatoren sind „verstrickt“63. Sie stehen nicht außerhalb der Machtverhältnisse, sondern besetzen je nach Herkunft, Zugehörigkeit und anderen relevanten Differenzkriterien (etwa Alter, Geschlecht oder der mit Herkunftsberuf und Branchenkenntnis verbundene „Stallgeruch“) spezifische Statuspositionen. Diese eröffnen oder versperren ihnen nicht zuletzt den Zugang und die Einwirkungsmöglichkeiten auf bestimmte Konfliktfelder. Dabei wird die Frage der Mandatsvergabe – Wer ist für welche Konfliktkonstellation geeignet? Und wen wünschen sich die Konfliktparteien? Auf Grund welcher Kriterien also erhalten Mediatoren von den Parteien eine Interventionsberechtigung? – in „interkulturell“ aufgeladenen Kontexten bislang fast ausschließlich mit Blick auf spezielle Sprachenkenntnisse oder ein vermeintliches Expertentum für kulturspezifische Codes diskutiert. Bislang noch zu wenig reflektiert und in ihren Paradoxien beschrieben ist die Tatsache, dass nicht nur der Fachdiskurs über „interkulturell“ codierte Mediation in der deutschen Migrationsgesellschaft vor allem aus der Perspektive Mehrheitsangehöriger geführt wird, sondern dass auch das Praxisfeld selbst – die Anlaufstellen für Mediationsaufträge, die Anbieter von Mediation etc. – die hegemonialen Verhältnisse auf problematische Weise abbildet. Mehrheitsdeutsche Mediatoren sind in der Überzahl. Nicht nur die „Beschreibungspraxen“ (Broden/Mecheril 2007, S.10), sondern auch die Tätigkeit spiegeln und perpetuieren die Paradoxien ungleicher gesellschaftlicher Repräsentationsverhältnisse. Das zeigt sich nicht zuletzt in der allenthalben zu hörenden Forderung, dass sich die Teams bei „interkulturellen“ Mediationen möglichst paritätisch, und das heißt entsprechend der natio-ethno-kulturellen Zusammensetzung der Konfliktparteien zusammensetzen sollten. Mit Verweis auf die hier besonders oft notwendigen sprachlichen (und kulturspezifischen) Übersetzungsleistungen werden Angehörige von Minderheitengruppen auf diese Weise jedoch auf die prekäre Rolle von pseudo-authentischen Experten und Repräsentanten „ihrer“ Herkunftsgruppe reduziert – und dabei in der Wertschätzung der Mehrheitsangehörigen nicht selten zu zweitklassigen „Bindestrich-Mediatoren“ degradiert. Diese reduzierende Praxis wird von allen Beteiligten gefördert. Mögen sie das mediatorische Credo der Allparteilichkeit auch noch so abnicken – insgeheim erhoffen sich Konfliktbeteiligte von „ihren“ Repräsentanten größeres Verständnis und 63
In ihrer Analyse pädagogischer Paradoxien in der Bildungsarbeit zum Antisemitismus kennzeichnet die Erziehungswissenschaftlerin Astrid Messerschmidt das Phänomen der Verstrickung als „den Versuch (…), sich in Widersprüchen zu bewegen und dabei nicht außen stehen oder neutral sein zu können. Verstrickung meint, Objektivität anzustreben und nicht erreichen zu können. Objektivität wäre der Versuch, dem Objekt zu entsprechen, ihm angemessen zu reden und zu handeln. Verstrickung markiert die Unmöglichkeit, sich dem Objekt gegenüber objektiv zu verhalten.“ (Messerschmidt 2006, S.150)
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damit Unterstützung für die eigene Sache. Aus diesen Verstrickungen gibt es keinen leichten Ausweg. Direkte „Erziehungsversuche“ etwa dadurch, den Wünschen nach Parität und Repräsentanz in den Mediationsteams bewusst zu widersprechen, können unter Umständen mit der Aufkündigung des Mandats enden. Eine erfolgversprechendere Möglichkeit sehen wird darin, dass wir uns in natioethno-kulturell „gemischten“ Teams sehr bewusst darauf verständigen, diese scheinbar so klaren Zuordnungen innerhalb der Mediationsarbeit vorsichtig zu irritieren und durch andere „Zuständigkeiten“ zu ersetzen: Wer übernimmt wann welche Moderationsrolle, spricht welches Thema an, drückt durch welche Intervention welcher Konfliktpartei besonderes Verständnis aus etc.?
Eckpunkte einer Mediationskompetenz in interkulturellen Kontexten Abschließend einige praktische Hinweise. Sie müssen notwendig skizzenhaft bleiben und können nur das prinzipiell Strategische – die Grundhaltungen – beschreiben, nur punktuell das konkret Handwerkliche. Dabei möchte ich drei Merkpunkte64 anführen, die als Eckpunkte einer „interkulturell kompetenten“ Mediationspraxis dienen könnten. 1. Differenzsensibel „Identity and recognition must be addressed in transforming conflicts. When the distinctiveness or self-determination of one people is denied by another, identity and recognition become central to the conflictual relationship.“ (Michelle LeBaron 2001, S.12). „Möchte man solcherart Konflikte verstehen, muss die Fähigkeit vorhanden sein, zwischen einer Alltagssemantik von ‚Kultur’ und einem analytischen Gebrauch von ‚Kultur’ zu unterscheiden.“ (Janine Dahinden 2005, S.110)
Konfliktbeteiligte klagen immer wieder darüber, dass „der andere mich nicht so sieht, wie ich eigentlich bin bzw. gesehen werden möchte.“ Als Mediator meine ich nicht vorher schon zu „wissen“, wie jemand aufgrund seiner ethnischnationalen Herkunft ist (denkt, fühlt, handelt), sondern ich bin offen für das, wie der andere sich selbst beschreibt, wie er sich sieht und von anderen gesehen 64
Obgleich einem eigenen Praxis- und Begründungskontext entwachsen, weisen die hier formulierten Kriterien eine hohe Übereinstimmung mit Georg Auernheimers „vieldimensionalen Modell Interkultureller Kompetenz“ auf (Auernheimer 2002 sowie Auernheimers Beitrag in diesem Band). Ebenso inspirierend zur Begriffsbildung war Paul Mecherils Unterscheidung zwischen Differenzsensibilität und Dominanzsensibilität (Mecheril 2004).
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werden möchte. Menschen schwanken in ihren Selbstbeschreibungen. Sie sind nicht eindeutig. Je nach Situation und Kontext geht es ihnen einmal um die Anerkennung ihrer individuellen Einzigartigkeit, ein andermal um die Anerkennung ihrer Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kollektiv (vgl. Dahinden 2005, S.112). Woher soll ich wissen, welche Differenz65 für die betroffene Person gerade im Zentrum steht? – Indem ich sie frage: „Von welcher Perspektive beschreiben Sie das gerade?“ „Als wer oder was sehen Sie sich in dieser Sache?“ „Wie möchten Sie bezeichnet werden?“ – Die Antwort darauf kann unterschiedlich ausfallen: „Als Mann.“ „Als Vorgesetzter.“ „Als Deutsch-Iraner.“ „Als Experte für meine Kultur.“ „Als Diskriminierungsopfer.“ „Als Mensch.“ – Ich akzeptiere diese Antwort, egal wie sie ausfällt. Und ich zeige Interesse daran, was die Person damit meint: „Und was bedeutet das für Sie in diesem Kontext?“ „Was genau ist Ihnen daran wichtig?“ – Durch mein Interesse und meine Fragen gebe ich der betroffenen Person oder Gruppe die Gelegenheit, sich so darzustellen und zu erklären, wie sie gesehen werden möchte. In einer globalisierten und von Migration geprägten Welt löst sich „Kultur“ von ihrem Territorium. Es bilden sich eigenständige (transnationale, hybride, nicht-eindeutige) Identitäten und wechselnde Loyalitäten jenseits der gewohnten ethnisch-nationalen Sortiermuster. Mehrfachzugehörigkeiten werden normal („Deutscher und Türke“). In manchen Situationen wiederum neigen die Betroffenen zu künstlichen Eindeutigkeiten. In einer verunsichernden Welt wird Kultur/Herkunft/Ethnizität für viele Menschen zu einem wichtigen Bezugspunkt. Auch wenn ich einen kritisch-analytischen Blick auf Ethnisierungsstrategien habe, stelle ich als Mediator kulturalisierende oder ethnisierende Selbstbeschreibungen nicht in Frage. Aber ich versuche die betroffenen Personen dazu zu animieren, das für sie Bedeutsame an dieser Beschreibung näher zu erläutern. Dadurch zeige ich ihr, dass ich sie ernst nehme. Und wir kommen auf Themen (Emotionen, Interessen, Bedürfnisse, Werte, strukturelle Rahmenbedingungen etc.) zu sprechen, die für die Klärung des Konflikts sehr wahrscheinlich von hoher Relevanz sind. 2. Dominanzsensibel „Es geht also darum, Verhandlungsstrategien im Hinblick auf Hierarchien symbolischer Macht auszudifferenzieren. Sowohl die dominante als auch die dominierte Par65
Für die Analyse relevanter Unterschiede in Schulklassen führen Leiprecht/Lutz (2005) eine Liste 15 mit einander verschränkter, bipolarer hierarchischer Differenzlinien an. Auch sie plädieren für eine zwar theoriegeleitete, aber für Überraschungen offene, untersuchende Haltung. Gesellschaftliche Machtverhältnisse müssen sich in einer bestimmten Gruppe/Institution, aber auch im Selbsterleben eines Individuums nicht unbedingt in gleicher Weise widerspiegeln.
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tei muss dazu ermutigt werden, sich auf die Konfliktebene einzulassen, welche sie normalerweise zu vermeiden sucht.“ (Anja Weiß, 2001a, 26f)
Mediation kann strukturell angelegte Machtasymmetrien nicht abschaffen. Sie kann aber einen Betrag dazu leisten, die destruktiven Auswirkungen auf interpersonaler Ebene zu begrenzen. Denn Machtasymmetrien haben offensichtliche und weniger leicht erkennbare Ausprägungen. Oft sehen Mehrheitsvertreter bestimmte Werte und Verhaltensweisen als so „normal“ und „selbstverständlich“ an, dass sie sich gar nicht vorstellen können, dass sie von Angehören einer Minderheit anders gesehen oder gar in Frage gestellt werden könnten. Geschieht dies dennoch, sieht die dominante Partei das abweichende Verhalten der Minderheit einfach als „problematisch“ oder anmaßend an, während sich diese diskriminiert und auf einer grundsätzlichen Ebene nicht anerkannt fühlt. Als Mediatoren müssen wir beide Seiten unterstützen. Dazu gehört, dass wir Machtasymmetrien benennen und anerkennen und auch die Beteiligten dazu ermutigen, genauer hinzuschauen und Aspekte des Konfliktes wahrzunehmen, die sie bislang ignoriert haben. Perspektivwechsel kann beide Parteien entlasten:
Der überlegenen Partei ist es oft gar nicht bewusst, mit welchen Kränkungen ihre „Normalität“ für die statusniedrigere Partei einhergeht. Indem sie die strukturellen Aspekte dieses Ungleichgewichts erkennt, kann sie aus ihrer Abwehrhaltung gegenüber moralischen Vorwürfen heraustreten und ihren Anteil von Verantwortung übernehmen. Gleichzeitig wird sie von den Mediatoren darin unterstützt, weiter ihre Interessen zu verfolgen. Die dominierte Partei erfährt Genugtuung durch die Anerkennung ihrer Erfahrung struktureller und individueller Diskriminierung. Mediatoren räumen diesem Aspekt ausreichend Raum ein. Gleichzeitig ermutigen sie die unterlegene Partei, ihre individuellen Handlungsspielräume zu erkennen und zu nutzen. Denn solange sich die dominierte Partei „ausschließlich auf strukturelle Unterdrückung konzentriert, bleibt sie auch dann in der Opferrolle gefangen, wenn sie im Kleinen durchaus konkrete Verhandlungserfolge erzielen könnte“ (Weiß 2001a, 26).
Mediatoren können durch ihr Handeln mehr bewirken, als manche Skeptiker annehmen. In einem erweiterten Verständnis von „Mediation als Organisationsentwicklung“ (Kerntke 2004) können innerhalb von Organisationen durch ein gemeinsames Feedback der Konfliktparteien an die Führungsebene institutionelle Formen von Diskriminierung aufgezeigt und dadurch Veränderungsprozesse in Gang gebracht werden. Hier wäre die Schnittstelle zu Projekten Interkultureller Öffnung, Diversity Management und Antidiskriminierung zu markieren (vgl. Jakubeit 2005).
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3. Kontextsensibel „Interkulturelle Aspekte in der Mediation fordern eine erhöhte Aufmerksamkeit und eine besonders qualifizierte „Fairness-Kontrolle“ (…) Die verschiedenen Perspektiven auf ‚Gerechtigkeit’ zu erkennen und miteinander zu verbinden, ist Aufgabe der MediatorIn.“ (Wüstehube 2002, S. 22f)
Grundlegende Weichenstellungen für den Erfolg oder den Misserfolg einer Mediation fallen bereits im Vorfeld. Hier erweist sich, ob und unter welchen Voraussetzungen die Konfliktparteien dazu bereit sind, sich „an einen Tisch“ zu setzen. Für niemanden ist es selbstverständlich, von den bisher verfolgten Strategien, den Kampf zu gewinnen, abzulassen und sich einem offenen Gespräch unter der Vermittlung eines neutralen Dritten zu stellen. Das Angebot der Mediatoren muss deshalb in irgend einer Weise nicht nur anschlussfähig sein an die individuellen Hoffnungen, die sich die Beteiligten bezüglich eines für sie günstigen Ergebnisses machen, sondern es muss auch auf mögliche unterschiedliche Vorstellungen darüber eingehen, wie solche Ergebnisse erzielt werden können. Mediatoren müssen deshalb bereits im Vorfeld eine Interventionsberechtigung bei den Konfliktparteien erwerben. Bei allen Beteiligten muss eine grundsätzliche Akzeptanz bezüglich des Verfahrens und gegenüber den Mediatoren als Personen hergestellt werden. Gerade Konfliktbeteiligte, denen das Verfahren noch fremd ist, fragen sich: 5. 6. 7.
Wer sind die Mediatoren? Woher kommen sie? Sind sie überhaupt geeignet? Welche Regeln sollen gelten? Kann ich über Rahmenbedingungen und Verfahrensweisen mitbestimmen? Welche Idee von Gerechtigkeit steht hinter dem Verfahren?
Diese Fragen sind Verhandlungssache vor der Mediation und können auch während einer Vermittlung immer wieder zum Thema werden. Sie sind nicht zuletzt eine Frage der für die Parteien jeweils gültigen „Konfliktkultur“: Welche Kompetenzen und welchen Status müssen die Vermittler mitbringen? Welche Personen müssen auf welche Weise in das Verfahren einbezogen werden? Welche Prozeduren führen zu „fairen“ Ergebnissen? Hier spielen nicht nur ethnischkulturelle, sondern auch berufsfeldspezifische, altersbedingte, geschlechtsspezifische oder subkulturelle Unterschiede eine Rolle. Vor allem aber geschieht Mediation nicht im luftleeren Raum. Es gibt immer ein „gastgebendes System“, dessen informelle Regeln, Gesetze und Machtkonstellationen die Rahmenbedingungen für eine Mediation abstecken. In der Regel sind Mediatoren Vertreter des dominanten Systems. Ihre Nationalität bzw.
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Ethnizität spielt deshalb vor allem dann eine Rolle, wenn eine der beteiligten Gruppen mit ihrer Ethnizität gleichzeitig das Gefühl prinzipieller Benachteiligung verbindet. Umso wichtiger wird es ihr sein, dass im Mediatorenteam auch „einer der Ihren“ mitarbeitet. Hier geht es vor allem um Repräsentation in einem durch Machtungleichgewichte vorstrukturierten Rahmen, nicht um „kultursensitive Methoden“. „Für alle Mediationsverfahren im interkulturellen Kontext ist es [daher] wichtig, stets die Wirkung des gastgebenden Systems auf das Macht- und Ohnmachtgefühl und die reale Macht der Parteien zu reflektieren.“ (Wüstehube 2002, S.34f) Dabei sind auch die „gastgebenden Systeme“ in einer globalisierten und durch Migration geprägten Welt ständigen Veränderungen ausgesetzt. In einer zunehmend multipolaren Welt verlieren die geografischen Dominanten West/Ost und Nord/Süd, die über einen langen Zeitraum für vermeintlich „klare Verhältnisse“ gesorgt haben, ihre symbolische Eindeutigkeit. Als Vertreter eines „erkenntnisoffenen“ Verfahrens sollten Mediatoren diese Kontextverschiebungen genau beobachten und versuchen, sie bewusst mitzugestalten.
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Interkulturelle Kompetenz bei Lehrerinnen und Lehrern aus der Sicht der empirischen Bildungsforschung Interkulturelle Kompetenz bei Lehrerinnen und Lehrern
Dorothea Bender-Szymanski
„Interkulturelle“ Kompetenz als „Schlüsselqualifikation“ im Bildungswesen? Die Kultusministerkonferenz (1996) fordert in ihrer Empfehlung zum Thema „Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule“ einen grundlegenden bildungspolitischen Perspektivenwechsel: Es müsse im Schulwesen künftig zunehmend um die „Wahrnehmung und Akzeptanz von Differenz“ gehen. „Interkulturelle Kompetenz“ sei „eine Schlüsselqualifikation für alle Kinder und Jugendlichen“ und ziele „auf ein konstruktives Miteinander“ (a. a. O.). Die Realisierung dieser Empfehlung setzt einen Lehrer voraus, der selbst über die Schlüsselqualifikation „Interkulturelle Kompetenz“ verfügt. Bislang existieren zum einen jedoch keine empirisch überprüften Modelle, die angeben, welche Merkmale „interkulturell kompetentes“ Lehrerhandeln auszeichnen, und welche Bedingungen den Erwerb dieser „Schlüsselqualifikation“ fördern bzw. behindern. Zum anderen wird die Empfehlung selbst prinzipiell in Frage gestellt: Sie basiert auf der expliziten Verwendung des Begriffes „Kultur“ und setzt sich damit der Kritik aus, sich eines Konzeptes zu bedienen, das als Grenzmarkierung gesellschaftlicher Inklusions- und Exklusionsverfahren gekennzeichnet wird, das den Menschen auf eine Zugehörigkeit zu ethnischen Herkunfts- und Abstammungsgemeinschaften festlege, als kollektiver „Kerker“ das Individuum seines Anspruchs auf Autonomie beraube und rassistische und ethno-nationalistische Ausgrenzungsstrategien im neuen Gewand fortschreibe (vgl. Römhild 1998; Radtke 1992, 79 f; Bielefeld 1992; Taguieff 1992). Durch die Bereitstellung interkultureller Erziehungskonzepte für Lehrerinnen und Lehrer werde zudem der Mensch zu Unrecht „als Urgrund des Rassismus, der Gewalt, der Fremdenfeindlichkeit und der Diskriminierung von Minderheiten“ (Radtke 1995, 854) ins Zentrum pädagogischer Maßnahmen gerückt, anstatt institutionelle, politische, rechtliche und ökonomische Bedingungen als deren eigentliche Urheber zu identifizieren. Und: Vermeintliche „kulturelle“
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Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen seien in Wirklichkeit struktureller Natur, die mit der Kulturalisierung und Pädagogisierung verschleiert würden. Dazu ist folgendes kritisch anzumerken:
„Kultur“ auf einen fremde Nationen/Ethnien inkludierenden bzw. exkludierenden Begriff zu reduzieren, diskreditiert Kultur insgesamt als ein Konzept, das bereits auf Kategorien kollektiver ethnonationaler Ein- und Ausgrenzung basiert und so als Voraussetzung, nicht aber als Gegenstand von Ethnisierung aufgefasst wird (Römhild 1998). Die reichhaltigen Diskussionen vor allem in der psychologischen Literatur verdeutlichen zwar die Schwierigkeit, das Konstrukt „Kultur“ theoretisch und empirisch zu fassen, belegen aber, dass man dieses Konstrukt nicht mit derart vereinfachenden Argumenten schlicht ad acta legen kann. Die Annahmen, die einer eigenen empirischen psychologischen Untersuchung zugrundegelegt wurden, sind an anderer Stelle ausführlich nachzulesen (u. a. Bender-Szymanski 1999, 2000). Davon ausgehend, dass jeder psychologischen Theorie ein spezifisches Menschenbild zugrundeliegt, wird postuliert, dass dieses Menschenbild im Fall der Handlungstheorien (Eckensberger 1979) das potentiell selbstreflexive Subjekt, der „homo interpretans“ ist, der Mensch als das deutende und Bedeutung gebende Wesen, das über seine gesamte Lebensspanne versucht, sich die Welt und seine Erfahrungen in ihr plausibel zu machen. Solche Bedeutungsschemata erleichtern die Orientierung; sie ermöglichen es, Erwartungen aufzubauen, Ereignisse zu erklären, Schlussfolgerungen zu ziehen, Vorhersagen zu machen, (normative) Handlungsentscheidungen zu reflektieren, sie auszuführen, zu begründen oder zu rechtfertigen. Die Entwicklung von Deutungs- und Bedeutungsschemata geschieht allerdings immer gemeinsam mit anderen Menschen in einem kulturellen Kontext, der bereits (mehr oder weniger) geteilte Bedeutungs- und Regelsysteme für den einzelnen zur gegenseitigen Verständigung und Handlungskoordination bereithält. Diese können deshalb einerseits gleichsam als Folie für individuelle und kollektive Erfahrungen gelten, andererseits aber selbst über die historische Zeit vom Menschen verändert werden (Kultur als Voraussetzung und Folge von Handlungen, Eckensberger 1996; der Mensch als Reproduzent und aktiver Gestalter von Kultur, vgl. Krewer 1994, 1996). Zum Konzept der Kultur gehört demnach grundlegend der Aspekt menschlicher Kulturfähigkeit als einer conditio humana, die es überhaupt erst ermöglicht, neue Erfahrungen – hier im Hinblick auf andere kulturelle Deutungs- und Bedeutungssysteme – auch über ethno-nationale Grenzen hinweg kreativ und produktiv zu verarbeiten. Kultur ist also nicht als festgefügtes Denk- und Handlungssystem zu verstehen, sondern als ent-
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wicklungsfähige kollektive Ressource für Kommunikation und Handeln in der Auseinandersetzung mit einer zunehmend mehrkulturellen Umwelt (vgl. Römhild 1998). Bereits in einem sehr frühen Entwicklungsstadium lässt sich eine individuelle und universell auffindbare Bildung natürlicher und – zunächst – auch sozialer Kategorien (wie Geschlechts- oder ethnische Zugehörigkeit) mit Generalisierbarkeits-, Wesens- und Konstanzunterstellung und die Widerständigkeit dieser Denkstruktur bei widersprechenden Erfahrungen belegen. Sie ist nicht nur ein „normales“ (Nunner-Winkler 1994, 74) und effizientes Mittel, Komplexität zu reduzieren und Handeln zu ermöglichen: auch die Eigengruppenpräferenz und die Abgrenzung gegenüber Fremdgruppen werden als fundamentale identitätsstrukturierende Universalien und als Teil der normalen „spontanen“ Reaktionsbereitschaft des Menschen angesehen (Nunner-Winkler 1994, 81; vgl. Krewer 1996), auch wenn sie sich nicht auf allen Entwicklungsstufen auf die gleichen identitätsstiftenden Inhalte beziehen.
Bevor gegen die Verwendung des Konzepts „Kultur“ mit dem Argument votiert wird, es schreibe rassistische, diskriminierende und fremdenfeindliche Ausgrenzungsstrategien fort, bedarf es allerdings eines erheblichen Aufwandes nachzuweisen, dass bereits die Neigung zu kategorialem Denken und eine Eigengruppenpräferenz hinreichend für die Erklärung von Diskriminierung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind. Eigengruppenpräferenz und Fremdgruppendiskriminierung z. B. werden nicht als Endpunkte einer Dimension, sondern vielmehr als Ausprägungen zweier voneinander unabhängiger Dimensionen vorgestellt (Nunner-Winkler 1994). Problematisch wird es dann, wenn soziale Kategorien nach dem Muster natürlicher Kategorien gedeutet werden, die das jewielige Gegenüber zu einem kulturabhängigen Gruppenprototyp erstarren lassen und seiner Individualität und damit auch kommunikativen Kompetenz berauben (Krewer 1994), und wenn andere (hier Fremdgruppenangehörige) physisch und/oder psychisch direkt – durch Übertretung negativer – oder indirekt – durch Nicht-Erfüllung positiver Pflichten – geschädigt werden. Und gerade darin sind sich Gegner interkultureller Erziehungsbemühungen, die Gerechtigkeit als Kriterium für interethnisches Handeln auf der Ebene der Institution Schule fordern, und Befürworter, die verständigungsorientiertes Handeln auf der Basis der Achtung der Interessen und Rechte von Schülern mit anderen kulturellen Orientierungen auf der individuellen (Lehrer)Ebene anstreben, einig. Auch die Studienreferendare, die wir untersucht haben, orientieren sich maßgeblich, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg, an moralischen Kriterien der Achtung unvertrauter kultureller Orientierungen.
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Es bedarf also bewusster Reflexion, um zu erkennen, wann Kategorienbildung im sozialen Bereich die Grenzen legitimer Orientierungshilfen übersteigt, wann Verpflichtungsgefühle für die Eigengruppe nicht mehr moralisch rechtfertigbar sind. In einem je konkret kontextuierten moralischen Urteilsprozess muss dann bestimmt werden, was jeweils das Rechte ist, um einen schonenden Interessenausgleich zwischen allen Beteiligten – auf individueller wie auf institutioneller Ebene – herbeizuführen. Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Befreiung muslimischer Schülerinnen vom koedukativen Sportunterricht (Urteil vom 25. August 1993, Akt.Z.: 6 C 8/91). Individuelle und institutionelle Diskriminierung schließen einander nicht aus, sondern stehen in einer komplexen Wechselbeziehung zueinander. Auch einer der schärfsten Kritiker interkultureller Erziehung formuliert daher entsprechend: „Wenn es um ein Zusammenleben unterschiedlicher (ethnischer, d. Vf.) Gruppen in der Gesellschaft geht, braucht die Erziehungswissenschaft sich nicht auf den Menschen zu beschränken. ... Nicht nur die Menschen und ihre schädlichen Neigungen, sondern auch die Gesellschaft und ihre Teilsysteme können als ‚Täter‘ begriffen und daraufhin beobachtet werden, wie sie mit den Menschen umgehen, was sie ihnen antun, wie sie ... z.B. in Schulen, inkludieren oder nicht inkludieren oder sogar wieder exkludieren.“ (Radtke 1995, 858). Da Organisationen an sich keine moralischen Urteile fällen, sondern strukturelle Bedingungen bereitstellen, die moralisch begründetes Handeln in ihnen ermöglichen oder verhindern können, haben interkulturell Kompetente – hier Lehrer, individuell oder als Kollegium – die moralische Pflicht, Barrieren zu beseitigen, die einen schonenden Ausgleich der Interessen aller verhindern. Bevor die Gefahr einer Kulturalisierung und Pädagogisierung eigentlich struktureller Ursachen für Differenzen zwischen Bevölkerungsgruppen heraufbeschworen wird, gilt es, die komplexen Wechselbeziehungen zwischen kulturellen und strukturellen Bedingungen sorgfältig zu analysieren. Solange nicht der Nachweis erbracht worden ist, dass kulturelle Differenzen bedeutungslos sind, solange besteht auch die wissenschaftliche Verpflichtung, zu ihrer Aufklärung beizutragen, und die bildungspolitische Forderung der Kultusministerkonferenz mit ihren pädagogischen Konsequenzen zu Recht. Zum Konzept „Interkulturelle Kompetenz“ Interkulturelle Kompetenz definiere ich als das infinite Bemühen des kulturgebundenen Menschen um die Nutzung des Potentials seiner Kulturfähigkeit, auf Unvertrautes (Fremdes) nicht nur mit Inklusion und Exklusion zu reagieren, sondern neue Erfahrungen auch über ethnisch-nationale Grenzen hinweg kreativ
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so zu verarbeiten, dass die Interessen der Beteiligten durch Abwägung aller Gesichtspunkte zu einem schonenden Ausgleich gebracht werden können, und dies auf der individuellen wie auf der institutionellen Ebene. Die Definition enthält wenigstens drei Implikationen: 1.
2.
3.
Interkulturelle Kompetenz als dynamisches Konzept impliziert nicht Einheitlichkeit und Linearität: Ein Blick in die Literatur (u. a. Berry 1980) einschließlich der eigenen Untersuchung belegt, dass man von einer Vielzahl von Akkulturationsformen und -verläufen ausgehen muss, und dass sich interkulturelle Kompetenz in der Auseinandersetzung mit immer neuen spezifischen Herausforderungen entwickelt, die auch Regressionen bzw. U-kurvenförmige Verläufe mit sich bringen kann. Eine Entwicklung vom (defizitären) Novizen zum (kompetenten) Experten anzunehmen ist deshalb obsolet. Die Kulturgebundenheit legt nahe, dass die Zielvorstellungen von interkultureller Kompetenz und die Wege zu ihrer Realisierung ebenfalls kulturgebunden sind. Es gälte also empirisch zu prüfen, was interkulturelle Kompetenz in anderen kulturellen Kontexten bedeutet. Erst dann wird man die Frage nach einer möglichen Universalität beantworten können. Die Behandlung der Frage nach einer interkulturellen Kompetenz erfordert unter Verweis auf die reichhaltige Literatur zum Kompetenz-PerformanzProblem (z. B. schon Flavell und Wohlwill 1969) eine begriffliche Präzisierung. Was wir beobachten können, sind Performanzen als geäußertes bzw. gezeigtes Verhalten. Sie dienen als Indikatoren, aus denen auf zugrundeliegende (kognitive, soziale, moralische etc.) Kompetenzen geschlossen wird. Nun gibt es eine Fülle von Beispielen, insbesondere aus der kulturvergleichenden Kognitionspsychologie, die Fehlschlüsse aus nicht gezeigten Performanzen auf nicht vorhandene Kompetenzen belegen.
Gladwin (1970) etwa beschreibt die navigatorischen Fähigkeiten mikronesischer Inselbewohner, die nach Ablauf einer nicht-institutionalisierten formellen Unterweisung in der Lage sind, mit Hilfe eines abstrakten mentalen Sternenkompasses auf offener See zu navigieren, wobei sie gleichzeitig enorme Gedächtnisleistungen und flexible, reversible Kognitionsleistungen vollbringen. Trotzdem versagen sie bei der Bearbeitung von Piaget-Aufgaben, die abstraktes Denken fordern. Cole und Scribner (1974) berichten, dass sich liberianische Erwachsene, die keine Schule besucht hatten, bei experimentellen Kommunikationsaufgaben „egozentrisch“ verhielten. Sie reagierten bei Aufgaben, die die Fähigkeit widerspiegeln sollten, sich in die Informationsbedürfnisse anderer Personen zu versetzen, wie europäische und nordamerikanische Kinder. Dieselben Liberianer wurden bei differenzierten Debatten auf dem dörflichen Gerichtsplatz beobachtet, die keineswegs auf das Fehlen kommunikativer Fähigkeiten oder auf
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eine mangelnde Sensibilität gegenüber den Informationsbedürfnissen der Zuhörer schließen ließen. Es ist also eine schwierig zu beantwortende Forschungsfrage, ob ein „defizitäres“ Verhalten einer Person in interkulturellen Interaktionssituationen auf mangelnde (z. B. kognitive) Kompetenzen oder auf nicht bewältigte Barrieren zurückzuführen ist, die verhindern, dass sich eine vorhandene Kompetenz auch im gezeigten Verhalten manifestiert. Allerdings kann man aus Beobachtungen bzw. Berichten jener Personen, denen es gelingt, in interkulturellen Konfliktsituationen einen schonenden Ausgleich der Interessen aller Beteiligten herbeizuführen – dies trifft auf eine Gruppe von Referendaren der eigenen Untersuchung zu –, schließen, dass ihre – möglicherweise noch steigerbaren – Kompetenzen mindestens nicht geringer ausgeprägt sind, als es sich in ihren Handlungen manifestiert. Wie interkulturelle Forschungen zeigen, hatten gezielt eingesetzte pädagogische Maßnahmen bei Personen mit plausiblerweise angenommenen gleichen Kompetenzen wie die einer Vergleichsgruppe, deren Performanzen jedoch vor dem Training erheblich unter dem Niveau der letzteren lagen, einen deutlicheren Zuwachs in den Performanzen als bei der Vergleichsgruppe zur Folge, was auf die Beseitigung performanzmindernder Bedingungen durch die Trainingsmaßnahmen schließen lässt. Solche können im kognitiven (Problemverkennung, unangemessene Situationsinterpretation und Attribution, geringe Selbstwirksamkeitserwartungen, Mangel an für alle angemessenen Konfliktlösungsvorstellungen u. dgl.), im affektdynamischen (Ich-Bedrohung, Suche nach Sicherheit mit der Folge einer starken Regelorientierung zur möglichen Verantwortungsentlastung), im sozialen oder im motivationalen Bereich angenommen werden. Resumierend lässt sich also festhalten: Wenn im folgenden von „interkultureller Kompetenz“ die Rede ist, handelt es sich um die – wie auch immer – gezeigte und damit beobachtbare Fähigkeit des konstruktiven Umgangs mit kultureller Differenz und damit eigentlich um eine „Performanzkompetenz“, aus der auf die zugrundeliegende, dann stringenterweise als „Kompetenzkompetenz“ zu benennende, geschlossen wird. „Interkulturelle Kompetenz“ bei Lehrerinnen und Lehrern – Schlussfolgerungen aus einer empirischen Längsschnittuntersuchung Um Kriterien für die oben definierte „Interkulturelle Kompetenz“ benennen zu können, wird im folgenden auf Prozessmerkmale und Ergebnisse der Auseinandersetzung mit unvertrauten kulturellen Orientierungen (und nicht Persönlichkeitseigenschaften) zurückgegriffen, welche auf einer eigenen empirischen Analyse von Akkulturationsprozessen bei Studienreferendaren in multikulturellen Schulen basieren, die während ihres Referendariats erstmalig einem längeran-
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dauernden und kontinuierlichen Kulturkontakt ausgesetzt waren (Bender-Szymanski 2000). Dieses Vorgehen erfordert einige Anmerkungen: Das Ziel der empirischen Untersuchung war es, aus längerfristig angelegten Prozessanalysen differenzierte Aufschlüsse über den Akkulturationsprozess fördernde bzw. ihn behindernde Entwicklungsbedingungen in einem bestimmten Kontext – der Schule – zu gewinnen, um Modelle unterschiedlicher Akkulturationsverläufe zu generieren und sich damit der Herausforderung zu stellen, die bislang eher statisch orientierten Versuchsanordnungen und Methoden um stärker dynamisch orientierte – die Analyse zeitlicher Verlaufsmuster – zu ergänzen, um dem Anspruch an das Individuum als einem aktiv handelnden und seinerseits die Kultur verändernden Menschen gerecht zu werden (vgl. u. a. Helfrich 1993: 99). Der Untersuchung kommt mithin der Status einer explorativen zu mit der Notwendigkeit, die dort gefundenen Modelle unterschiedlicher Verarbeitungen kulturbezogener Erfahrungen in wieteren Untersuchungen zu validieren. Während sich die Referendare vor Beginn ihres Referendariats in ihren eigenen Ansprüchen an ein verständigungsorientiertes, veränderungsbereites und moralisch begründetes Handeln im Kontakt bzw. Konflikt mit Schülern anderer kultureller Orientierungen empirisch nicht voneinander unterscheiden ließen, konnten nach Beendigung ihres Referendariats zwei Modi der Verarbeitung der kulturbezogenen Erfahrungen bei den Studienreferendaren rekonstruiert werden (Bender-Szymanski 2000). Die Referendare der einen Gruppe verarbeiten ihre Erfahrungen so, dass ihren Reflexionen und den von ihnen berichteten tatsächlich eingesetzten Konfliktlösungsmaßnahmen mit folgenden Gründen eine größere interkulturelle (Performanz)Kompetenz im Umgang mit unterschiedlichen kulturellen Orientierungssystemen zugeschrieben werden kann als der zweiten Gruppe:
sie bemühen sich erfolgreich um die Überwindung erlebter Barrieren im kognitiven, im affektdynamischen und im sozialen Bereich, sie reflektieren die eigenkulturell üblichen handlungsleitenden schulischen Normen und Regeln im Hinblick auf ihre Angemessenheit für interkulturelle Kommunikation und Kooperation, sie begründen ihre Konfliktlösungsbemühungen mit der Achtung der Standpunkte der an den Kulturkonflikten beteiligten Schüler mit anderen kulturellen Orientierungen (moral point of view), integrieren diese in ihr kognitives und Handlungsrepertoire und werden damit ihren vor Beginn des Referendariats geäußerten normativen Ansprüchen an eigenes Handeln gerecht, sie bewerten ihre Akkulturationserfahrungen als Bereicherung und die Ergebnisse ihrer Konfliktlösungsmaßnahmen so, dass die Erzielung eines „schonenden Interessenausgleichs“ aller als gewährleistet interpretiert werden kann.
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Die Prozessmerkmale, die den Umgang mit unterschiedlichen kulturbezogenen Orientierungen bei dieser Gruppe der Referendare markieren, werden im folgenden schrittweise aufgeschlüsselt; ausgewählte Zitate der Referendare werden als Belege angeführt. An geeigneten Stellen werden empirische Befunde der Gruppe von Referendaren berichtet, denen es nicht gelang, ihre eigenen normativen Ansprüche auch in realen Kulturkonfliktsituationen umzusetzen. Sie zeichnen sich mehrheitlich durch das mit Resignation berichtete Bemühen aus, den Schülern die Notwendigkeit der Anpassung an das dominante außerschulische und schulische Normen- und Regelsystem einsichtig zu machen. Solange nicht belegt werden kann, dass es sich hier um kognitive, affektive oder sozial-motivationale (Kompetenz)Kompetenzdefizite handelt, sollte von der Annahme ausgegangen werden, dass performanzmindernde Bedingungen für ein ihren eigenen Ansprüchen nicht entsprechendes Handeln verantwortlich zu machen sind: Die Barrieren, die den Aussagen dieser Referendare nach die eigene Änderungsresistenz begründen, bestehen vorwiegend in unterschiedlichen Ängsten, und die Maßnahmen, die sie zu ihrer Überwindung entwickeln, lassen bei ihnen eine – auch von ihnen selbst angenommene – performanzsteigernde Wirkung von Trainingsmaßnahmen erwarten.
Für interkulturelle Kompetenz förderliche Merkmale des Umgangs mit unterschiedlichen kulturbezogenen Deutungs- und Handlungssystemen André Laurant, einer der renommiertesten Forscher im Bereich des interkulturellen Managements, hat darauf hingewiesen, dass nicht die kulturellen Unterschiede an sich das Problem internationaler Zusammenarbeit darstellen, sondern die weit verbreitete Auffassung, dass diese gar nicht existieren (Krewer 1994, 139). Dass Menschen aus verschiedenen kulturellen Kontexten über unterschiedliche Deutungs- und Handlungsmodelle verfügen, ist wissenschaftlich unumstritten (z. B. Schroll-Machl 1996). Modernisierungstheoretiker vertreten allerdings die Auffassung, dass unter längerandauernden Aufenthalten in einem zunächst fremden kulturellen Kontext ein akkulturativer Konformismus-„shift“ von den Werten der Herkunfts- zu denen der Aufnahmegesellschaft stattfindet (zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser theoretischen Perspektive aus der Durkheim-Parsons-Tradition siehe z. B. Nauck und Özel 1986). Mögliche Konfliktquellen wären unter dieser Annahme lediglich bei jenen Personen(gruppen) zu lokalisieren, die ihren kulturellen Kontext wechseln. „Interkulturelle Kompetenz“ bestünde dann in der Optimierung kompensatorischer Maßnahmen zur möglichst reibungslosen Anpassung von Kulturwechslern an die Normen und Regeln der Residenzkultur. Nun belegen sorgfältige Untersuchungen die These
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der Modernisierungstheoretiker gerade nicht (u. a. Nauck und Özel 1986; vgl. Kagitcibasi 1996), sondern weisen bereichsspezifische Unterschiede in Deutungs- und Bedeutungsmustern auch nach langjährigen Aufenthalten in einem zunächst fremden kulturellen Kontext (z. B. Peng und Nisbett 1999; Hesse 1995) und einen spezifischen, auf den ursprünglichen Mustern aufbauenden Wandel nach. Daraus folgt: Der interkulturell kompetente Lehrer rechnet auch bei Schülern der zweiten bzw. dritten Generation von Kulturwechslern mit Deutungs- und Handlungsmustern, die sich von den eigenkulturellen unterscheiden. Empirische Untersuchungen belegen die Handlungswirksamkeit subjektiver Theorien und die Verbesserung z.B. aggressionsbezogenen Unterrichtshandelns von Lehrern durch die Veränderung ihrer aggressionsbezogenen subjektiven Theorien (Mandl und Huber 1983). Im Bemühen um interkulturell angemessenes Handeln ist es daher wichtig, dass sich die Lehrer als Personen verstehen lernen, die kulturbezogene Hypothesen entwickeln, welche ihr Handeln maßgeblich mitsteuern können, die jedoch einem selbst erwünschten kompetenten Handeln entgegenstehen können, wie die eigene Untersuchung belegt: Eine Gruppe von Lehrern entwickelt subjektive Theorien
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von einem deterministischen Prägungsmodell der Persönlichkeit durch die je spezifische Umwelt, 66 von der Homogenität von Mitgliedern einer Kultur, die eine einmal übernommene kulturelle Rolle nicht mehr „abwerfen“ könnten,67 von der Annahme der völligen Verschiedenheit von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen im Sinne gegensätzlicher Strukturen.68
„Sozialisation ist die Internalisierung kollektiver Normen. Die kulturellen Instanzen prägen das Weltbild. Wenn man nichts anderes kennt, kommt es zur automatischen Übernahme der Regeln, gleichzeitig mit dem anerzogenen Urteil, die Regeln positiv zu bewerten. Damit ist das Wertmuster vorgeprägt, man fügt sich als Mosaiksteinchen in diesen Rahmen ein, was ein Ausbrechen behindert. Die Mentalität prägt die Wertmuster, das Denken, den Erwartungshorizont des Einzelnen.“ 67 „Man kann aus den Traditionen, aus der Erziehung nicht ausbrechen, ist gefangen in ihr. .. Ich (kann) mir sehr schwer vorstellen, dass (eine Person mit einem anderen kulturellen Hintergrund, d. Vf.), die in festen Familienstrukturen und Rollenverhalten gefangen ist, aus (ihrer) Vorstellung ausbrechen kann. – „Die Voraussetzungen sind durch Erziehung, Sozialisation schon sehr geprägt und nicht mehr umzukehren.“ 68 „Offene“ und „geschlossene“ Gesellschaften unterschieden sich grundsätzlich in ihren Erziehungszielen und Sozialisationspraktiken. – „Ich frage mich, wie Anpassung aussehen soll, wenn zwei Gegensätze aufeinander prasseln.“ – „... ein ganz anderes Umgehen, eine ganz andere Erwartungshaltung...“ – „.. völlig andere Werte... .“ – „Man müsste ein ganz anderer Mensch sein...“
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Bei Geltung dieser Sichtweisen stellt sich Akkulturation als ein immer die ganze Person betreffender konflikthafter Verlauf der psychischen Verarbeitung zweier Kulturen mit der Zwangsläufigkeit der „Zerstörung der bisher gebildeten Strukturen“ dar (Schrader et al. 1979), als ein qualitativer Sprung von einem in ein völlig anderes System, der nicht gelingen kann69. Solche subjektiven Überzeugungen, die im übrigen auch von Akkulturationsforschern vertreten werden (zur Kritik siehe u. a. Bender-Szymanski und Hesse 1987), lassen sich empirisch kaum belegen: Man denke an die an Piaget orientierte Konzeption eines Kindes, das sich aktiv mit seiner Umwelt auseinandersetzt, oder an die lerntheoretische Konzeption eines kontextspezifischen Erwerbs von Handlungsmustern, die den Menschen keinesfalls als passiven Spielball von Außeneinflüssen mit schicksalhaften Ereigniskonsequenzen sieht. Die Annahme eines „Nationalcharakters“ für alle Mitglieder einer Gesellschaft mit für alle angeblich gleichermaßen wirksamen Bedingungen für ihre Persönlichkeitsentwicklung und angeblich gleichen Persönlichkeitsmerkmalen, die die Mitglieder kennzeichnen sollen, wurde als überwiegend wertlos und als Ansammlung von Stereotypien kritisiert, da sie viel zu unspezifisch und spekulativ sind. Gerade die Dekonstruktion von statisch und transsituational vermeintlich gültig gedachten Standards als angeblich zentralen Orientierungsmustern für eine Kultur ist für einen interkulturell kompetenten Lehrer geboten. Die Überzeugung von der völligen Verschiedenheit von Kulturen ist von besonderer Tragweite für interaktive Prozesse im Kulturbezug. Hier bleibt die Tatsache unberücksichtigt, dass Überlappungen kultureller Bereiche angenommen werden können, von denen kulturspezifische Merkmale erst abzuheben sind, und viele dieser Merkmale eher als unterschiedlich gewichtet und nicht als vorhanden bzw. völlig fehlend charakterisiert werden können. Greift man aus der psychologischen Literatur einige Autoren heraus, für die der Begriff des Konflikts eine zentrale Bedeutung hat (Berlyne 1960; Piaget 1970), so erweist sich die Einseitigkeit des Verständnisses von Konflikt als Rivalität, die nur zugunsten des einen und zu Lasten des anderen Kontrahenten lösbar sei, und die Unbegründetheit der ausschließlichen Konnotation des Zerstörerischen, Belastenden und Pathologischen. Ja, im kognitiven Konflikt wird geradezu eine Voraussetzung für den Fortgang der Entwicklung und in der Bereitstellung dosierter Diskrepanzen zwischen Vertrautem und Unvertrautem eine effektive didaktische Möglichkeit zur Förderung der kognitiven Entwicklung gesehen. 69
„Man kann sich nicht einfach umpolen.“ – „Man kann sich nicht selbst vergewaltigen, plötzlich ein ganz anderes Leben leben als vorher, seine Kultur über Bord werfen und sich der anderen Kultur anpassen.“ – „Man kann sich nicht unter etwas unterordnen, was man selber gar nicht ist.“ – „Veränderungen sind nur über Generationen möglich.“
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Die subjektiven Alltagstheorien der Gruppe der Referendare, die ihre eigenen Akkulturationserfahrungen positiv bewerten, stellen hingegen angemessenere Bedingungen für interkulturell kompetentes Handeln bereit. Sie erleben sich nicht als in ihrer Persönlichkeit durch den kulturellen Kontext gleichsam deterministisch geprägt: „Für mich ist es wichtig, mich nicht nur als Spielball, als Objekt meiner Sozialisation, meines Kulturkreises zu begreifen, sondern Alternativen zu sehen, Handlungsfreiheit zu bekommen, die mir wichtig ist, Dinge anders zu entscheiden. Es ist wichtig für mich, über meinen Schatten springen zu können; aus diesem Sog, dem Verhaltenszwang herauskommen.“
Die psychische Verarbeitung verschiedener kultureller Einflüsse stellen sie sich sowohl für sich selbst als auch für Personen, die ihren kulturellen Kontext wechseln, prinzipiell als einen dosierten und bereichsspezifischen Entscheidungs- und Veränderungsprozess vor: „Man lernt doch überall durch kleine Schritte. Ich mache das doch auch so. Man lernt, Gegebenheiten anders aufzufassen. Am Anfang bringen Veränderungen vielleicht schon einige Einschränkungen mit sich, aber man kann das ja auch irgendwann einmal als Gewinn auffassen. Man muß nur handeln!“ – „Jeder von uns schließt täglich Kompromisse, die auch tragfähig sind.“ „Ich glaube nicht, dass man sein ganzes früheres Leben, seine Wurzeln, seine Einstellungen und Überzeugungen über Bord schmeißt. Das wäre nicht erstrebenswert, und man sollte es auch nicht versuchen. Das sollte niemand tun. Ich denke, dass man seine Wurzeln immer haben wird. Man kann aber auf diesen Wurzeln aufbauen. Ich kann mir vorstellen, dass Menschen, die in zwei verschiedenen Kulturen leben, viel vergleichen und das annehmen – integrieren, was ihnen gefällt.“ – „Auch bei kulturellen Irritationen entwickeln die Kinder eine stabile und entscheidungsfähige Persönlichkeit. Durch die Konfrontation mit vielen Handlungsalternativen werden permanente Konflikte erzeugt, die permanente Entscheidungen über die persönlichen Wünsche erforderlich machen. Daraus entstehen häufige und nicht zu große Irritationen, die verarbeitet werden können. Die Kinder lernen, mit den Konflikten umzugehen.“
„Kulturkonflikt“ wird von diesen Referendaren gerade nicht einseitig als Rivalität, sondern als eine prinzipielle Chance für Entwicklung begriffen. Als ein wieteres Merkmal für eine konstruktive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen kulturellen Normen- und Regelsystemen gilt deshalb: Der interkulturell kompetente Lehrer prüft seine subjektiven Alltagstheorien über Enkulturation und Akkulturation, vergleicht sie mit entwicklungs-, lern- und kultur-
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psychologischen Erkenntnissen und verändert Elemente, die der Realisierung eigener – verständigungsorientierter – Zielvorstellungen entgegenstehen können. Von entscheidender Bedeutung ist, dass die Studienreferendare, die zu einer negativen Bilanzierung eigener Akkulturationserfahrungen kommen, im Fall von Konflikten mit Schülern anderer kultureller Herkunft nicht ihre eigenen Realitätsmodelle in Frage stellen, sondern die der Schüler mit anderen kulturellen Orientierungen. Entsprechend eröffnen sie einen anderen Problemraum als jene Referendare, die ihre kulturbezogenen Erfahrungen positiv bewerten: Sie blenden die Prüfung der Handlungsgründe der Schüler aus ihren Verarbeitungsprozessen aus und suchen nach Gründen für die ihnen unverständliche mangelnde Einsicht in ihre eigene Position. Da hier der misslungene Anpassungsprozeß an das eigenkulturelle Normen- und Regelsystem in den Mittelpunkt der Reflexionen rückt, ergibt die Konfliktanalyse defizitäre Erklärungen:
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Defizite in den intellektuellen Fähigkeiten,70 Defizite in der psychischen Verfassung,71 eine mangelnde Fähigkeit zur Sozialisation in die deutsche (Schul)Kultur,72 eine unangemessene Planung der eigenen Migration.73
„Die Ablehnung dessen, was man nicht kennt und was einem nicht sofort eingängig und begreiflich ist, ist (bei den Schülern anderer kultureller Herkunft, d. Vf.) sehr sehr groß, weil die Möglichkeiten, etwas intellektuell zu erfassen, so eng sind.“ 71 „Die Schüler haben einen Sack von Problemen. Viele Schüler wollen viele Dinge aus Selbstschutz nicht an sich herankommen lassen.“ – „Da wird nicht über den Tellerrand hinausgeguckt, weil das eine Bedrohung von dem ist, an was man sich hält und womit man umgehen kann.“ – „Die Kinder leben mit Widersprüchen“, im „Konflikt, da sie hier leben, aber eingebunden sind in die Vergangenheit ihrer Eltern und deren Kultur. Ich denke und erlebe, dass sie insofern immer in Konflikte kommen... Manche von denen haben immer das Gefühl des Makels, so empfinde ich das.“ – „Die Eltern der ausländischen Kinder reagieren aus Bedrängung und Verunsicherung heraus aggressiver, offensiver. Die Schüler leiden unter diesen Konflikten, sie leiden deshalb darunter, weil sie von den Eltern zwischen zwei Stühle gesetzt werden und keine Entscheidungsfreiheit haben.“ 72 „Die Schüler haben das Problem, dass sie sich mit dem Ablauf in der Schule arrangieren müssen, mit ihrem Verhältnis zur Schule, die nun mal so ist.“ – „Gerade die türkischen und kurdischen Kinder haben große Probleme, weil die Eltern noch so in ihren Denkschemata verhaftet sind. Insbesondere bei den Eltern ist mit rationalen Argumenten nichts erreichbar. Sie können sich einfach aus der eigenen Kultur und den eigenen Vorstellungen nicht lösen.“ – „Frauen werden von türkischen Jungen nicht akzeptiert. Die Sozialisation dieser Jungen ist extrem darauf ausgerichtet, Macho zu sein und sich alles leisten zu können.“ – „Ich bezweifle, dass die Frauen die Wahlfreiheit haben. Diese Möglichkeit ist ihnen durch die Erziehung genommen.“ – „Die Eltern pochen auf kulturelle Eigenständigkeit.“ – „Die Ghettobildung vermindert den Anpassungsdruck.“ 73 „Man muss sich vorher bewusst machen, was es heißt, in ein anderes Land zu gehen, in dem es andere Normen und Regeln gibt.“
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Die Defiziterklärungen sind oft situationsunspezifisch; sie tragen Merkmale der Generalisierung auf dem Hintergrund eigenkultureller unhinterfragter und positiver bewerteter Orientierungen74 (vgl. auch Schepker und Eberding 1996). Selbst dann, wenn sie mit Schülerargumenten konfrontiert werden, die ihren eigenen Überzeugungen entgegenstehen, gelingt es ihnen nur sehr schwer, die Argumente der Schüler aus deren kulturellem Kontext heraus zu rezipieren, und sie weisen sie häufig auf dem Hintergrund des eigenen Kontextes als unglaubwürdig zurück. Die Interpretation von Differenzen als Defiziten lebt, obwohl gut begründet kritisiert, heute noch in der deutschsprachigen Migrantenforschung weiter (vgl. Hamburger 1997). Kriterium für die Analyse der Akkulturation von Migranten ist auch hier die Erwartung der Assimilation an vermeintliche „Standards“ der aufnehmenden Kultur. Dass diese Vorgehensweise nicht geeignet ist, sich andere Orientierungssysteme zu erschließen, liegt auf der Hand (zur Angemessenheit bzw. Genauigkeit einer Situations- und Konfliktanalyse vgl. Villenave-Cremer und Eckensberger 1986). Für den Fall von Konflikten mit Schülern anderer kultureller Herkunft folgt daraus: Der interkulturell kompetente Lehrer nimmt eine „unverzerrte“ Situations- und Konfliktanalyse vor, um sich mögliche fremdkulturelle Normen- und Regelsysteme zu erschließen. Negativ getönte Affekte, die in unserer Untersuchung häufig durch Handlungsweisen von Schülern anderer kultureller Orientierungen bei den Studienreferendaren ausgelöst wurden („Diese muslimischen Schüler, die mich als Lehrerin nicht akzeptieren!“), sind von hoher Emotionalität getragen, ein Zeichen für eine starke Ich-Betroffenheit und damit für einen hohen Identitätsbezug. Dies ist eine ganz wesentliche Bedingung für die Aktivierung von Lernprozessen, denn IchBetroffenheit ist ein Indikator für die Irritation der bestehenden kognitiven Struktur. Wichtig ist aber, dass man die Lernprozesse nicht durch Abschottung blockiert wie die – resignierende – Gruppe der Lehrer in der eigenen Untersuchung, sondern die Affekte/Emotionen als Motor für weitere Prüfprozesse nutzt: „Man muss die nutzlose Wut aufbrechen und gucken, wo jeder seinen Standpunkt hat.“ Für den kompetenten Lehrer gilt also: Er nutzt seine Ich-Betroffenheit als Chance zur Auseinandersetzung mit eigenen und potentiell fremdkulturellen Normen- und Regelsystemen. 74
„Aus der Eltern-Kind-Beziehung ausgebrochen – das hat man in dem Alter auch getan. Hoffentlich! Man sollte zu der Erkenntnis kommen, dass man über seinen Eltern steht!“
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In der Regel ist die Kulturgebundenheit eigener Deutungen der Reflexion nur schwer zugänglich (der Alltagsmensch ist ein „cognitive miser“, Moscovici 1995; culture as „the invisible obvious“, Smedslund 1984). Verborgenes offenzulegen und kritisch zu reflektieren, gehört wesentlich zu einem kompetenten Lehrer. Nun gibt es prinzipiell immer mehrere Interpretationsmöglichkeiten einer Situation. Unter der Prämisse, dass auch bei hier geborenen Schülern der zweiten bzw. dritten Generation von Kulturwechslern Deutungsmuster aufgefunden werden können, die in ihrem kulturellen familiären Herkunftskontext verankert sind, gilt es für den kompetenten Lehrer, nicht nur nach im eigenkulturellen Kontext üblichen, sondern für diesen Kontext ungewohnten Interpretationsalternativen zu suchen, die einen möglichen fremdkulturellen Bezug einschließen. Dabei muss insbesondere die Gefahr „kulturalistischer“ Zuschreibungen im Auge behalten werden: Aggressives Verhalten z. B. muss nicht mit einer besonderen ‚Mentalität‘, sondern kann mit der Erfahrung ständiger Benachteiligung in ursächlichem Zusammenhang stehen (Auernheimer 1998). Allerdings ist auch hier eine mögliche Verknüpfung mit der „Mentalität“ mitzubedenken, wie unsere Untersuchung nahelegt: Das kulturübliche Verhalten einer Lehrerin kann für den muslimischen Schüler mit einer anderen (kulturgebundenen) Situationsdeutung (z. B. Ehrverletzung) zur Erfahrung von „Benachteiligung“ führen und „aggressive“ Reaktionen auslösen. Ein Studienreferendar in unserer Untersuchung bringt die Notwendigkeit der Suche nach (möglicherweise) kulturgebundenen Handlungsgründen auf den Punkt: „Gerade wenn man gewisse Erwartungen hat und erfährt dann eine Ablehnung, dann fragt man sich: Ist es persönlich oder anders gemeint? Im eigenen Kulturkreis wird man es persönlich auffassen, bei Menschen aus anderen Kulturen eher nach anderen Gründen suchen. Die Aufgabe, die sich einem interkulturell kompetenten Lehrer stellt, lautet also: Er reflektiert die eigenen Situationsdeutungen und entwickelt Deutungsalternativen, die einen möglichen fremdkulturellen Bezug einschließen. Die Prüfung, ob die eigenen Realitätsmodelle die realen Verhältnisse richtig abbilden, oder ob alternative Situationsdeutungen angemessener sind, erfolgt bei jenen Referendaren der Untersuchungsgruppe, die eine angemessene Situationsund Konfliktanalyse vornehmen, über die Suche nach möglichen kulturspezifischen Handlungsgründen der Schüler in den fraglichen Konfliktsituationen: Sie begeben sich „in die Position von Lernenden und (machen) die Schüler zu Experten“, „um zu verstehen, wie sie ihr Verhalten in ihren Kontext einbeziehen, ansonsten kommt es permanent zu Missverständnissen.“ Sie holen Informationen z. B. darüber ein, „ob die Koreanerinnen in der Beziehung (in der fraglichen Situation, d. Vf.) überhaupt das gleiche Empfinden haben, ... ob sie das, was für
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sie üblich ist, selber immer als gut und gerecht empfinden.“ – „... welches Geschlechterrollenverständnis sie haben.“ – „... wie sie denken, was bei ihnen üblich ist, wie es zu Hause ist, um Vergleiche herauszuarbeiten.“ Für den kompetenten Lehrer gilt also: Er prüft die Handlungsgründe der Schüler auf ihre mögliche Kulturabhängigkeit. Die Referendare, die ihre Akkulturationserfahrungen als Bereicherung werten, erschließen sich mehrheitlich in einem Konstruktionsprozess zwischen ihnen und den Schülern Deutungs- und Bedeutungsmuster, die bei ihnen Erstaunen und Befremden auslösen. Einige wenige (stark gekürzte) Beispiele: „Die Koreanerin, (die im Unterricht plötzlich nichts mehr sagen konnte, d. Vf.), ist normalerweise gewöhnt, nicht offen über Gefühle mit jemandem zu sprechen, den sie nicht näher kennt. Alle Dinge, die ins Persönliche, die Lebensführung, Vorstellungen, Träume, Wünsche, Hoffnungen hineingehen, rufen Zurückhaltung (gegenüber Personen, die nicht der „in-group“ angehören, d. Vf.) hervor. Nein zu sagen, abzulehnen oder zuzugeben, dass man etwas nicht weiß, bedeutet für sie eine ungeheuere Schwierigkeit, die neins in Deutschland sind für sie eine ganz grobe Unhöflichkeit. Negative Äußerungen meidet man. Dort hält man die Eltern für sehr emanzipiert und aufgeschlossen und ist stolz auf sie.“ – „Diese muslimischen Mädchen, (die nicht zur Schulparty kommen wollten, d. Vf.) dürfen nach 18 Uhr nicht mehr allein das Haus verlassen, weil die Väter Angst um sie haben!“ – „Für sie war es sehr wichtig, die brave Tochter zu bleiben! Sie halten selbst in dem Alter immer noch ganz stark zu ihren Eltern!“ – „Diese muslimischen Jungen sind der Stolz der Familie, sie haben Respekt vor der Mutter, nicht vor einer Lehrerin, die wie ich sagt, wo es langgeht.“
Das Verhalten der Schüler wird damit als kulturgebunden und nicht gegen die eigene Person gerichtet begriffen: „Das Entscheidende ist, dass man das Handeln des anderen nicht als persönlichen Angriff begreift, sondern als für ihn in seinem Zusammenhang stimmig versteht.“ Diese Referendare hüten sich aber vor Stereotypisierungen: „Ich kann weder sagen, dass ich die marokkanische oder türkische Kultur noch dass ich die Denkweise des marokkanischen Volkes kenne, ich kann nur sagen, dass ich die Denkweise der marokkanischen Mädchen und Jungen aus meiner Klasse zu dem im Unterricht behandelten Thema kenne. Man kann das Denken und Empfinden von bestimmten Menschen aus einer anderen Kultur nur in einer ganz bestimmten Situation kennen lernen.“ – „Ich habe nicht generell das Bild, dass Koreanerinnen in allen Bereichen so sind. Über andere Themen kann man sich natürlich immer offen unterhalten. ... Sie unterscheiden sich auch in der Ausprägung ihrer Zurückhaltung voneinander.“
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Ferner wird in den Prüfprozessen erkannt, dass nicht die isolierte Betrachtung einzelner Phänomene, sondern erst die Erschließung ihrer Einbettung in kulturelle Deutungs- und Bedeutungssysteme eine Nachvollziehbarkeit gewährleisten kann: „Es ist nicht hinreichend für ein Zusammenleben, nur um die singuläre Bedeutung einer Verhaltensweise einer anderen Kultur zu wissen. Es müssen ganze Reaktionsketten erschlossen und nachvollziehbar gemacht werden, damit man sich der Verschiedenartigkeit von Verhaltensmustern bewusst wird und seine eigene Beschränktheit erlebt.“ Diese hier eingenommene Prozessperspektive spiegelt die folgende Analyse der Bedingungen für kulturbezogenes „Verstehen“ wider: „Im Blick aufs Einzelne muss man immer die ganze Konstellation im Auge haben. ...Das einzelne ist nicht in sich, sondern durch seinen Bezug auf anderes bestimmt. ... (Das) Ganze ... ergibt sich aus der Wechselbedingtheit der Teile. ...Etwas verstehen heißt demnach, seine Stellung in der Gefügeordnung von Differenzen zu bestimmen, durch welche das Ganze eines Bedeutungssystems erzeugt wird. ... Es geht darum, das Verweisungsganze zu erfassen, aus dem das einzelne kulturelle Phänomen seinen Sinn zieht. ... Das Ganze zeigt sich nicht mit einem Schlag, sondern es muss nach und nach erschlossen werden.“ (Bude, 1991, 106 f).
Eine wichtige Voraussetzung für interkulturell kompetentes Lehrerhandeln lautet demnach: Der interkulturell kompetente Lehrer erschließt sich (mögliche) bereichsspezifische kulturbezogene Deutungs- und Bedeutungssysteme, die eine Erklärung für das Handeln der Schüler mit anderen kulturellen Orientierungen bieten können, ohne individuelle Abweichungen aus dem Auge zu verlieren. Die Referendare mit positiven Bilanzierungen eigener Akkulturationserfahrungen vergleichen nun ihre eigenen Situationsdeutungen mit denen der Schüler und kommen zu folgenden Ergebnissen:
Sie erkennen sich selbst als kulturabhängige Deuter von Wirklichkeit und relativieren ihre eigenen Sichtweisen: „Man muss sehen, dass die eigenen Interpretationen sehr subjektiv sind und auch sehr westlich. Mein Weltbild wurde durch diese Erfahrungen erschüttert. Das hat mich schon umgehauen und ist mir noch sehr nachgegangen.“ – „Der Schüler erlebt sich als frei und kann gleichzeitig ohne Eltern nicht leben?? Ich kann mir nicht vorstellen, dass beides in einem drin ist! Ich denke, der Arme muss raus aus diesem Verhältnis zu seinen Eltern! Beim Schüler steckt aber offenbar eine ganz starke Bindung dahinter! ... Ich merke, dass ich sehr stark von meinem Kontext ausgehe, für
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dieses Kind muss es völlig hart sein, die Eltern einfach abzulehnen!... Aus seinem Bewusstsein heraus ist es logisch, aus meinem Verständnis glaube ich ihm nicht. .. Ich glaube, die haben ein anderes Bewusstsein! Wir haben einen unterschiedlichen Freiheitsbegriff! Das ist wirklich interessant: Hier tut sich ein ganz unterschiedliches Welt- und Menschenbild auf!“ – „Diese Sichtweise, dass Schweigen kein Ausdruck von Hilflosigkeit ist, sondern dass eine Strategie zur Vermeidung von Eskalationen und persönlichen Verletzungen dahintersteckt, ist mir völlig neu! Wir schweigen genau in solchen Situationen nicht, weil wir denken, dass wir durch ein alles offenlegendes Reden zu einem Zustand der Harmonie kommen könnten! Allein diese Interpretation gehört zu haben, reicht aus dafür, dass ich das Schweigen positiv bewerten kann. Ich muss mir in Zukunft viel mehr Gedanken über die Funktion des Schweigens in Konfliktsituationen machen.“
Sie erkennen sich selbst als individuelle Deuter von Wirklichkeit: „Das interpretiere ich hinein! Das lässt mich sagen: sie nervt, stört. Ich mache daraus, dass sie etwas fordert! Das ist mein Problem!“
Sie erkennen kontext- und überzeugungsabhängige Gemeinsamkeiten zwischen kulturellen Systemen: „Es gibt auch deutsche Mädchen, die sehr katholisch erzogen wurden. Man liest es ja immer wieder in der Zeitung, dass katholische Eltern ihren Töchtern verbieten, am Sportunterricht teilzunehmen. Es sind nicht nur Türken. Auch bei deutschen Schülern müsste man sich diese Gedanken machen.“
Sie „dekonstruieren“ vermeintlich für die eigene Kultur typische und transsituational gültige „Kulturstandards“: „Wir sind gar nicht immer so offen, wie wir meinen! Wir verstellen uns in vielen Situationen aus Angst vor negativer Selbstdarstellung! Der andere erhält nur sehr manipulierte und gefilterte Informationen.“ – „Das sind unsere Klischees!“
Sie erkennen sich selbst als kognitive Konstrukteure vermeintlich über die Zeit invariant Handelnder: „Offen über meine Gefühle zu sprechen habe ich mir selbst schwer erarbeiten müssen. In der Beziehung habe ich mich verändert!“
Als Aufgabe für einen kompetenten Lehrer lässt sich also formulieren: Er reflektiert die Kulturgebundenheit eigenen Denkens, Wertens und Handelns, erkennt sich selbst auch als individuellen Deuter von Wirklichkeit, dekonstruiert
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seine Schemata über „typische“, transsituational gültige und über die Zeit stabile kulturelle „Standards“ und entdeckt Gemeinsamkeiten zwischen kulturellen Systemen. Als eine wichtige Voraussetzung für die Eröffnung alternativer Handlungsräume wird die Erkenntnis der Mitverursachung am Zustandekommen der kulturbezogenen Konflikte angesehen, wie es sich bei den Referendaren belegen lässt, die ihre Akkulturationserfahrungen positiv bewerten: Sie stellen einen Zusammenhang her zwischen den kulturellen Bedingungen (z. B. den Erziehungszielen und -praktiken der Eltern) und der persönlichen Orientierung und der Selbstwahrnehmung der Schüler, leiten daraus den kulturspezifischen Bedeutungsgehalt ab, den die betreffenden schulischen Interaktionssituationen für sie haben, und reflektieren ihr eigenes Verhalten vor den Konfliktsituationen als diese mitkonstituierend. Drei Beispiele: „Diese muslimischen Jungen können die deutsche Schulsituation dann überhaupt nicht ertragen, wenn sie mit Lehrerinnen konfrontiert werden, die so wie ich ganz klar sagen, was sie zu tun haben und was nicht. Es war für mich ziemlich markant zu beobachten, wie weit ich mich da auch als Lehrerin auf eine bestimmte Art und Weise verhalte, um Handlungsweisen zu fördern oder zu bremsen.“
Der persönliche Handlungsentwurf für die Kulturkontaktsituation widerspreche dem eigenkulturellen Grundwert der „Authentizität und des Respekts“ und bedeute „Verachtung, Missachtung, Demütigung und Verletzung“ einer Person mit anderen kulturellen Orientierungen. Die Manifestation des Handlungsentwurfs im persönlichen Verhalten – über den Fremdkulturellen zu bestimmen, ihm auf dem Hintergrund der eigenen kulturellen Orientierung zu unterstellen, was für ihn richtig und angenehm ist – sei inkonsistent mit dem eigenkulturellen Grundwert der „Autonomie“ und führe zu seiner „Entmündigung.“ Diese Erkenntnis löst „massivste Betroffenheit“ aus: „Wir verlangen vom Fremdkulturellen Verhaltensweisen, die wir für uns selbst ablehnen!“ „Man muss auch sehen, was man durch sein eigenes unreflektiertes Verhalten bewirkt, welche Probleme man dadurch schafft!“
Daraus folgt für den kompetenten Lehrer: Er prüft eine eigene Mitverursachung kulturbezogener Konflikte durch unreflektiertes, eigenkulturell übliches Handeln und dessen Konsequenzen für Schüler mit anderen kulturellen Orientierungen.
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Individuelles Lehrerhandeln findet immer in einem institutionellen Rahmen statt, in dem Normen des Schulrechts gelten, und der durch Verwaltungsvorschriften geregelt wird. Keinesfalls aber trifft zu, was von den Studienreferendaren, die ihre Akkulturationserfahrungen resignierend beurteilten, zur Begründung des eigenen einseitig anpassungsfordernden Handelns geäußert wurde: „Die Schule ist ein Raum für sich mit sehr starren, festen Regeln. Es kommt keiner auf die Idee – ich auch nicht – an den Regeln dieser Institution zu rütteln! Wenn es zu einem Problem kommt, dann ist es das zwischen dem Schüler (mit anderen kulturellen Orientierungen, d. Vf.) und der Institution Schule.“ – „Die Regeln sind nun mal da und stehen auch überhaupt nicht zur Diskussion. Regeln bestimmen den Schulalltag.“ – „In der Schule muss man auf das hören, was der Lehrer sagt!“
Die Berufungen auf die Notwendigkeit des Gehorsams gegenüber den Anweisungen und Befehlen der Lehrerautorität entgegen den ebenfalls geäußerten Ansprüchen an sich selbst („Ich sehe mich beileibe nicht als der Pauker, der da vorne steht und sagt: So ist es nun mal.“) und solche auf ein invariantes Regelsystem lassen sich – wie andere75 – als Rechtfertigungen zur Beibehaltung der eigenen moralischen Glaubwürdigkeit interpretieren (Bender-Szymanski 2000)76. Hier wird zum einen übersehen, dass der Lehrer einen – rechtlich geschützten! – pädagogischen Freiraum hat. Zum anderen hat er bei der Anwendung von Rechtsvorschriften häufig unbestimmte Rechtsbegriffe (z.B. „aus wichtigem Grund“) auszulegen, und überdies hat ihm der Gesetzgeber bei der Bestimmung der Rechtsfolgen einen Ermessensspielraum (Kann-Bestim-mung) gegeben. Der Lehrer ist geradezu von Rechts wegen verpflichtet, von seinem Ermessen 75
– Diese Referendare berufen sich u. a. auf die „Zumutbarkeit“ schulischer Regelbefolgungen durch Schüler mit anderen kulturellen Orientierungen, ohne sie jedoch im Einzelnen zu spezifizieren. Explizit wird dabei auf die eigenkulturelle Deutung von Zumutbarkeit verwiesen: „Es werden heutzutage keine Dinge an unseren Schulen verlangt, die unzumutbar sind, von uns aus gesehen, ... ich verlange das eben.“ Sie berufen sich auf die beiderseitige moralische Verpflichtung zur Toleranz. Das Verhalten der Schüler wird nicht, wie bei der anderen Gruppe der Referendare, als Folge ihrer kulturbezogenen Situationsdeutungen, sondern als Intoleranz („Toleranz ist da nicht gegeben.“) und damit als Beleg dafür interpretiert, dass diese die Verpflichtung nicht als für sich verbindlich anerkennen. Die angebliche Missachtung interkultureller Spielregeln des Zusammenlebens entbindet wiederum von der eigenen Verpflichtung zu deren Einhaltung, weil ihr die Grundlage entzogen worden ist. Die Verantwortung wird dem fremdkulturellen Verweigerer zugeschrieben. 76 vgl. auch Benhabib (1995, S.58 f): „Als Verteidiger einer kommunikativen Ethik weiß ich, dass Menschen, die in den Bahnen einer konventionellen Moralität denken, irgendwann aufhören zu argumentieren und statt dessen eine bestimmte Art von Gründen anführen, die die Beteiligten des Moralgesprächs in Freunde und Feinde spaltet, in jene, die ihre Grundannahmen teilen, und jene, die das nicht tun. Da Vertreter einer solchen Moralität bereit sind, das Gespräch abzubrechen, den Prozess reflexiver Rechtfertigung (hier im Sinne von Argumentationen gebraucht, d. Vf.) zu unterbrechen, um ihr Weltbild zu retten, ist ihre Position nicht umfassend und reflexiv genug. Sie können sich nicht von ihrer eigenen Position distanzieren.“
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Gebrauch zu machen, also seinen Spielraum zu erkennen und die im konkreten Fall angemessene Entscheidung selbst zu treffen. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (1993) zur Befreiung von Schülerinnen muslimischen Glaubens vom koedukativen Sportunterricht stellt fest: Der Konflikt zwischen den Grundrechten der Schülerinnen auf Glaubensfreiheit und dem staatlichen Bildungsund Erziehungsauftrag müsse durch Abwägung aller Gesichtspunkte zu einem schonenden Ausgleich gebracht werden (moral point of view). Kann ein solcher Ausgleich nicht hergestellt werden, können die Interessen der Schülerinnen Vorrang vor den Interessen der Schule haben. Für einen kompetenten Lehrer, der Konfliktlösungsvorstellungen entwickelt, gilt also: Der interkulturell kompetente Lehrer kennt seine Rechte und Pflichten und prüft, ob er einseitig anpassungsforderndes Verhalten von Schülern mit anderen kulturellen Orientierungen rechtfertigt, um die eigene Verantwortung abzuwehren und so seine moralische Glaubwürdigkeit beibehalten zu können. Es gibt verschiedene Wege, Lösungen von Kulturkonflikten anzustreben. Die Wahl des Weges ist sicherlich auch maßgeblich vom Kontext abhängig, in dem sich die am Konflikt Beteiligten begegnen. Im Kontext Schule ist zweifellos ein Machtgefälle zwischen Lehrern und Schülern vorhanden, und nicht in jeder Konfliktsituation ist ein Diskurs unter allen Beteiligten möglich, wie die Befunde der eigenen Untersuchung gezeigt haben: „Mit Reden war einfach nichts zu erreichen.“ – „Es gab auf ihrer Seite nur Abwehr. Ich konnte das auch nicht überbrücken.“ Die Referendare, die ihre kulturbezogenen Erfahrungen negativ bewerten, setzen dennoch auch zukünftig mehrheitlich auf die Wirksamkeit direkter Gespräche mit den Schülern: „Das Gespräch ist das einzige Mittel zur Konfliktlösung, es gibt keine Alternative!“ – „Es ist die einzige Chance. Außer Reden fällt mir nichts mehr ein. Das muss ich ganz ehrlich sagen.“ Andererseits wird aber auch „einfach Druck ausgeübt, indem man klar sagt, dass es so etwas nicht gibt, dass ihr Verhalten (türkischer Schüler gegenüber einer Lehrerin, d. Vf.) kontrolliert wird, dass auch Kollegen auf ihr Verhalten achten. Wenn so etwas längere Zeit durchgehalten wird, gewöhnen sich die Schüler auch daran, ich weiß nicht, ob sie es akzeptiert haben.” Diese Maßnahme wird präferiert, auch wenn das „aggressive Verhalten“ der betreffenden Lehrerin als konflikteskalierend kritisiert wird. Aber auch die Exklusion Anpassungsunwilliger oder -fähiger aus der eigenen (Schul)Kultur wird erwogen: „Gerade auch als Lehrerin komme ich zu dem Standpunkt, dass ich sage, wenn es nicht geht, dann muss man die Konsequenzen ziehen: Verweis von der Schule. Wenn diese
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Leute nicht fähig sind, sich unserer Kultur ... anzupassen, an die Regeln, die hier herrschen, dann haben sie hier nichts verloren, ... dann sollen sie gehen!“ Das Ziel der Referendare, deren Konfliktlösungsbemühungen nach ihren Aussagen erfolgreich für alle Beteiligten waren, ist es hingegen, einen schonenden Ausgleich der Interessen aller herbeizuführen: „Der Umgang mit der Mitwelt ist besser so!“ – „Nur so kann es zu einer tatsächlichen Verständigung kommen!“ Sie suchen nach Alternativen zu den gewohnten Handlungsmöglichkeiten und übernehmen die Verantwortung für den „ersten Schritt“ zur Lösung der kulturbezogenen Konflikte mit den Schülern, indem sie die üblicherweise praktizierten Strategien und Unterrichtskonzeptionen auch gegen die Überzeugungen und die Kritik von eigenen Kollegen als unangemessen verwerfen: „Es gab auch schon Stimmen, die sagten, dass solche Jungen eine männliche Bezugsperson brauchen (die für die Referendarin bei Konflikten mit muslimischen Schülern ebenfalls „eingesprungen“ ist, weil sie der Situation hilflos ausgeliefert war, d. Vf.), aber das ist prinzipiell keine akzeptable Lösung. Ich muss das anders angehen.“ – „Was die Schule betrifft, habe ich da für mich schon sehr viel gelernt. Ich habe im normalen Umgang gemerkt, dass ich von meiner Seite aus einen anderen Weg finden muss.“ – Nicht nur kulturelle, sondern diese teilweise überlagernde soziale Unterschiede erschwerten einen Unterricht, der beidem Rechnung trägt. Deshalb „muss man sich genau überlegen, was man machen kann und was nicht.“
Ihre Konfliktlösungsbemühungen begründen sie mit der Achtung vor (Personen mit) anderen kulturellen Orientierungen: „Es gibt andere Weltsichten, die in sich schlüssig und lebensfähig sind. Die Chance zur Konfliktlösung liegt darin, dass man sich auf die Argumentationsebene des anderen einlassen kann. Sie enthält die Möglichkeit, eigene Positionen zu ändern.“ – „Wenn wir darauf (auf kulturgebundene Unterschiede, d. Vf.) keine Rücksicht nehmen, ist auch kein Unterricht möglich.“ Sie nutzen ihren pädagogischen Freiraum und entwickeln Konfliktlösungen, die die fremdkulturellen Orientierungen der Schüler einbeziehen. Diese manifestieren sich in der
Änderung eigener Lernziele und -methoden: „Man darf keine Ghettoisierung betreiben. Die meisten Kollegen meinten, dass Faust 1 in einer zehnten Hauptschulklasse mit Schülern aus zehn Nationen im Deutschunterricht nicht funktionieren würde, weil das intellektuelle Niveau so begrenzt ist. ... Aber im Faust gibt es Gefühle, bei denen man (bei allen Schülern) ansetzen kann, es gibt den Kampf zwischen zwei Prinzipien – gut und böse, der schon rüberzubringen ist. Ich bin da vielleicht für einen Lehrer etwas ungewöhnlich.“
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„Es ist ja kein Umgang, diese muslimischen Jungen immer nur zu stutzen, zu bremsen.“ Die neugewählte Strategie knüpft an die in der Familie praktizierte Belohnungsmuster („Stolz der Familie“) an und nutzt dieses als positiven Verstärker: „Ich habe ihnen die Verantwortung für Gruppen zugeteilt. Da sind sie sehr stolz. Sie legen sich schwer ins Zeug, das ist schon fast komisch. Sie wollen nicht dafür verantwortlich sein, dass es nicht läuft.“ „Offen über meine Gefühle zu sprechen, habe ich mir schwer erarbeiten müssen.... Ich will das auch nicht aufgeben.“ Wenn aber diese Offenheit für Schüler mit anderen kulturellen Orientierungen unzumutbar ist, wird „vieles nicht mehr gemacht, das ich so spontan mache, und das ich eigentlich für richtig erachten würde.“
Erweiterung der eigenen Rollendefinition:
Es wird für wichtig erachtet, eine Beziehung zu den (marokkanischen) Schülerinnen herzustellen, in der „ich einerseits eine Freundin und Vertraute sein kann, andererseits auch eine gewisse Autorität bin, zu der Distanz gewahrt werden muss.“
Selbstsensibilisierung und Selbstkontrolle: „Nicht nur in der Unterrichtsvorbereitung wirkt sich das aus, ich muss mich auch im Unterricht kontrollieren, außersprachliche Signale beachten. Ich versuche zu berücksichtigen, welchen Schock manche Dinge auslösen können, die ich einfach so erzähle, ohne mir dabei etwas zu denken.“
Konfliktprophylaxe zur Vermeidung von Missverständnissen: „Ich kann mein Problem schildern. Selbst wenn man ein Problem schildert, kann man einen sensiblen Umgang mit verschiedenen kulturellen Sichtweisen haben, weil man merkt, wie das Gegenüber auf das Problem reagiert. Ich muss ja nicht verletzend sein. Das ist etwas ganz anderes als eine Ablehnung, eine Forderung oder ein Ultimatum. Wenn ich sage, dass ich Schwierigkeiten habe, kann der Schüler darüber nachdenken. Wenn man nicht anders vorgeht, verletzt man die Integrität der anderen Persönlichkeit.“ Dies sei die Grundvoraussetzung dafür, um gemeinsam weiter über „dritte Verhaltensformen“ nachzudenken.
Integration unüblicher Strategien in das eigene Handlungsrepertoire:
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„Ich habe erfahren, dass diese muslimischen Mädchen unter dem Schutz älterer Brüder und Cousins noch nach 18 Uhr außer Haus sein dürfen. Da habe ich die Brüder und Cousins mit zur Schulparty eingeladen.“77
Die Akkulturationserfahrungen werden von diesen Referendaren bilanzierend als bereichernd bewertet. Sie berichten über Erfolgserlebnisse als Effekte der Veränderung eigenen Denkens und Handelns: „Ich finde es sehr positiv, wenn man lernt, sich in bestimmten Situationen anders zu verhalten, einfach zwischen Verhaltensweisen auswählen zu können.“ – „Ich habe bestimmte Dinge in mein Leben eingefügt – integriert, nicht aufgesetzt. So sollte es (das Lernen durch Kulturkontakt, d. Vf.) meiner Meinung nach auch laufen.“
Sie berichten über die Erfahrung wechselseitigen Bemühens um Verständigung und Annäherung als Folge eigener veränderter, für den üblichen Unterrichtsalltag ungewöhnlicher Gestaltungen kulturbezogener Unterrichtssituationen: „Es (die Anknüpfung an das kulturgebundene Belohnungsmuster moslemischer Schüler, d. Vf.) hat sehr gut funktioniert. Ich habe mich dann auch ermutigt gefühlt, es auch mit anderen auszuprobieren. Meinem schlimmsten Rabauken aus meinem Englischkurs habe ich (vor einer späteren Unterrichtsstunde, d. Vf.) gesagt, dass er sich zusammenreißen soll, weil die nächste Stunde meine Prüfungsstunde ist, und das hat gewirkt. Das fand ich sehr aufschlussreich. Alle haben voneinander gelernt! “ – „Der Versuch, Teile aus Faust I mit den Schülern zu erarbeiten, hat sich als erfolgreich erwiesen. Die Schüler fragten mich, ob sie mich anstelle ihres Klassenlehrers bekommen könnten.“
Sie berichten über die als Herausforderung erlebte Notwendigkeit einer ständigen Weiterentwicklung von Kommunikations- und Kooperationsmustern und werden damit der „Infinitheit“ in der den Ausführungen vorangestellten Definition von interkultureller Kompetenz gerecht: „Bei einem kontinuierlichen und intensiven Kulturkontakt ist es wichtig, sich auf einen Umstellungsprozess einzustellen, der nie abgeschlossen wird.“ – „Ich mache mir immer noch Gedanken, probiere auch immer noch verschiedene Sachen aus.“ 77
Das von Lehrern häufig genannte Problem, das bei muslimischen Schülerinnen auftritt, wenn es um ihre Teilnahme an einer Klassenfahrt geht – hier ist immer zu bedenken, dass viele Schülerinnen einerseits gern mitfahren wollen, andererseits aber auch die Position ihrer Eltern verstehen und achten – könnte z. B. dadurch gelöst werden, dass eine mit ihren kulturellen und religiösen Werten vertraute und akzeptierte Person (z. B. die eigene Mutter oder eine Studienreferendarin) die Funktion einer nicht dem Lehrerkollegium angehörenden Begleitperson, wie auf Klassenfahrten durchaus üblich, zur Betreuung aller Schülerinnen erhält. Diese in einigen Fällen bereits erfolgreich praktizierte Maßnahme eröffnet neue Erfahrungsräume und Diskursmöglichkeiten für alle Beteiligten.
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Und nicht zuletzt: Was die durch den Bezug auf den Gerechtigkeitsbegriff moralisch begründete Forderung nach Prüfung und Beseitigung möglicher struktureller Ursachen für die Diskriminierung ethnischer Gruppen im schulischen Kontext anbetrifft, könnte sich „die Schule als Organisation ... einmal im Jahr fragen, ob das Ergebnis, das sie mit der Zuteilung von Schulerfolg und -misserfolg erzielt hat, den selbstgesetzten Maßstäben von Gerechtigkeit entspricht, warum sich nichts zum Besseren gewendet hat und welche Maßnahmen ergriffen werden können.“ (Radtke 1995, 863). Für einen Lehrer, der sich an diesen Prinzipien orientiert, gälte also: Der interkulturell kompetente Lehrer nutzt seinen rechtlich geschützten pädagogischen Freiraum, die Auslegungsmöglichkeit von Rechtsbegriffen sowie die vom Gesetzgeber oft eingeräumten Ermessensspielräume zur verständigungsorientierten Lösung von Konflikten unter expliziter Berücksichtigung der erschlossenen kulturbezogenen Deutungs- und Bedeutungsmuster so, dass nach Abwägen aller Gesichtspunkte ein schonender Ausgleich der Interessen aller Beteiligten gewährleistet wird. Darüber hinaus hat er moralisch die Pflicht zur Kritik an Routinen und formalisierten Regeln, wenn diese einem schonenden Interessenausgleich entgegenstehen, und ist zu einer ständigen Weiterentwicklung von Kommunikations- und Kooperationsformen bereit. Schafft die Thematisierung kultureller Unterschiede nicht erst die Bedingung zur Markierung von Inklusion und Exklusion, von Fremdheit und Ausgrenzung von Migranten und Minderheiten? Wie so oft ist auch hier keine allgemeingültige, sondern immer von der je spezifischen Situation abhängige Antwort möglich. Ich vertrete die Position, dass ein prinzipielles Ignorieren und/oder Nichtthematisieren kultureller Differenzen gravierende negative Konsequenzen in sich birgt:
einen Zusammenbruch der Kommunikation und einen Abbruch der pädagogischen und Arbeits-Beziehungen mit der Verfestigung der jeweiligen negativen Stereotype, die nun durch eigene Erfahrungen vermeintlich empirisch „abgesichert“ sind. Ohne einen interkulturell kompetenten Lehrer, der die Ursachen für den Zusammenbruch erkennt und transparent macht, wird so dem inkludierenden bzw. exkludierenden Gebrauch des Konzeptes Kultur geradezu Vorschub geleistet und verhindert, dass Konfliktlösungen mit den Schülern entwickelt werden können, die die Interessen aller berücksichtigen.
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die Gefahr, die eigenkulturell gewohnten Normen und Regeln für alle zum Maßstab zu nehmen und damit die Assimilation von anderskulturell Orientierten zu fordern,78 eigene Rechtfertigungen für eine Nichtthematisierung unhinterfragt beibehalten zu können, wie das folgende Beispiel zeigt: Ein Lehrer klammert bei der Behandlung der Thematik „Fremdenfeindlichkeit“ aktuelle Ereignisse wie die in Solingen, Mölln und Magdeburg aus, „weil die Diskussion sonst so schnell emotionalisiert wird und vernünftige Argumente außen vor bleiben, und weil ein Teil der Schüler überhaupt nicht informiert ist.“ Ist die hohe Emotionalität nicht gerade ein Zeichen hoher Ich-Betroffenheit und damit besonders zugänglich für Lernprozesse? Ist die Uninformiertheit der Schüler nicht hinreichender Grund für einen Lehrer zu thematisieren? Also gilt für einen kompetenten Lehrer:
Der interkulturell kompetente Lehrer ist sich der möglichen negativen Konsequenzen eines Ignorierens bzw. Nichtthematisierens von kulturbezogenen Differenzen wie von Gruppenerfahrungen bewusst und führt gute Gründe an, wenn er kulturelle Differenzen ignoriert oder nicht thematisiert. Da die monologische Selbstprüfung 78 vgl. Radtke (1992, S.92): „Die Bedingung für das Funktionieren der öffentlichen Sphäre ist die Gleichgültigkeit gegenüber dem ‚neutralen Fremden‘, der Passant ist wie man selber. Hier meint Gleichgültigkeit ‚unbeteiligt sein‘. Der Passant ist irgendein Anderer, dem beliebig andere folgen. In der öffentlichen Sphäre der Straße und des Marktplatzes macht man Geschäfte, nimmt Dienstleistungen in Anspruch und genügt den Anforderungen der Verwaltung; hier begegnen einem die Anderen in spezifischen Funktionsrollen. ... Nur die Funktionsrolle z.B. als Müllfahrer, als Kellner, als Arzt oder als Wohnungsmieter, der bezahlen kann, ist von Bedeutung. Gleichgültigkeit meint hier, dass die Handlungen der lizensierten Funktionsrollenträger die gleiche Gültigkeit haben. ... Merkmale eines anderen Geschlechts, einer anderen Religion .. oder einer anderen ethnischen Gruppe ... (können) im Regelfall übersehen werden. Die Gefahr einer möglicherweise nicht funktionierenden Reziprozität, die der Anlass für Unsicherheit und Bedrohung sein könnte, besteht ... nicht, weil die Ausfüllung von Funktionsrollen von diesen Merkmalen gerade nicht abhängt. Anders in der Privatsphäre. Hier lassen unspezifische Beziehungen die Wahrnehmung aller Merkmale der Person zu. Sie werden geradezu thematisch, wo es nicht um Funktionsleistungen, sondern um die Interaktion mit der ganzen Person geht. Gleichgültigkeit hat in der Privatsphäre keinen Platz. Sie würde zwangsläufig der Person zugerechnet, als Kälte und Gefühllosigkeit wahrgenommen.“ Dazu ist folgendes anzumerken: – Der Maßstab, nach dem sich dann „ethnische Minoritäten“ im öffentlichen Bereich zu verhalten haben, ist der in der „modernen Gesellschaft“ (a. a. O.) übliche. Dies ist nichts anderes als die Forderung nach Assimilation an (vermeintliche) „Standards“ der aufnehmenden Gesellschaft. – Eine Trennung in die beiden Bereiche ist bei differenzierter Betrachtung problematisch: Ist Schule z. B. ein öffentlicher oder privater Raum oder beides? Wenn der Schüler mit seiner ganzen Lebenswelt in die Institution Schule Eingang finden soll, gehört dazu die Privatsphäre, in der nach Aussagen des Autors „Gleichgültigkeit keinen Platz“ hat. Folglich müssten Differenzen gerade berücksichtigt werden, um einer Interaktion mit der ganzen Person gerecht werden zu können. Die Lehrer, die thematisieren, werden von Schülern sehr positiv geschildert (Fritzsche und Hartung 1997, S.19f).
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dabei wahrscheinlich nicht ausreicht und tendenziell überfordert, wird sich der problembewusste Lehrer um Kooperation mit Kollegen bemühen und kritische Situationen mit ihrer Hilfe, nämlich mit Hilfe der Außenperspektive dritter, reflexiv aufarbeiten.
Ausblick Die empirischen Befunde machen deutlich, dass sich das Bemühen um einen konstruktiven Umgang mit kulturbezogenen Inhalten („interkulturelle Kompetenz“) nicht gleichsam von selbst einstellt. In den Worten der synergieorientierten Referendare ist es ein anstrengender und niemals endender Entwicklungsprozess. Dieser Prozess benötigt, so die ethnoorientierten Referendare, unterstützende Maßnahmen, damit die eigenen moralischen Ansprüche auch in die Tat umgesetzt werden können. Eine vor zehn Jahren publizierte Studie zum Thema „Schulbildung für Minderheiten“ stellt bilanzierend fest: Auf der Ebene des Rhetorischen seien inzwischen Veränderungen der traditionellen Parameter, nämlich der Orientierung am Bild des nichtgewanderten, einsprachig aufgewachsenen Kindes, dessen Sozialisation in einer als sprachlich und kulturell homogen gedachten Gesellschaft stattfindet, in Gang gekommen. Ob aber die monolingual-monokulturelle Grundüberzeugung des deutschen Bildungswesens tatsächlich an Kraft verliert, werde erst die Zukunft zeigen (Gogolin, Neumann und Reuter 1998). Ein Grund für diese ernüchternde Bilanz liegt meines Erachtens in der Vernachlässigung der Vorbereitung und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern im Hinblick auf ihre Funktion, die sie in einer „multikulturellen“ Schule erfüllen sollen – und wollen: „Interkulturelle Pädagogik sollte als Bestandteil der Lehreraus- und Weiterbildung aufgenommen werden bzw. einen deutlich höheren Stellenwert erhalten.“ (Die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2000).
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Schlussfolgerungen für die Ausbildung
Interkulturelle Kompetenz als Element pädagogischer Professionalität – Schlussfolgerungen für die Lehrerausbildung Interkulturelle Kompetenz als Element pädagogischer Professionalität
Andrea Lanfranchi
Welche Qualifikationen für ein multikulturelles Schulumfeld? Dieser Beitrag geht von der Prämisse aus, dass innerschulische Bedingungen und insbesondere die Kompetenz von Lehrpersonen im Umgang mit verschiedenen Formen von Diversität eine zentrale Rolle bei der Verminderung (oder beim Zuwachs!) von Leistungsunterschieden zwischen Schulkindern spielen. Präsentiert und kritisch diskutiert werden im folgenden interkulturelle Qualifizierungsmaßnahmen, die folgende Kompetenzbereiche gleichermaßen berücksichtigen müssen: Auf der einen Seite Fähigkeiten und Fertigkeiten auf der Ebene der Differenz zwischen Kulturen, Sprachen, sozialer und geschlechtspezifischer Zugehörigkeit; auf der anderen Seite „persönlichkeitsbildende“ Fähigkeiten auf der Ebene der Haltungen und Einstellungen rund um die Anerkennung der Pluralität von Denkmodellen und Lebensformen. Es geht dabei nicht zuletzt um die Entwicklung eines individuellen, aber auch institutionellen und politischen Bewusstseins im Bereich der eigenen Verstrickung in gesellschaftliche Machtverhältnisse (dazu Mecheril 1996). Damit es nicht bei der Feststellung von Disparitäten bleibt, braucht es schließlich Kompetenzen auf der Ebene des kommunikativen Handelns, des interkulturellen Dialogs und der interkulturellen Verständigung (vgl. Nieke 2000). Diese grundlegenden Kompetenzbereiche sollten die Studiengänge durchziehen und in einen anhaltenden Prozess pädagogischer Aus- und Weiterbildung eingebunden werden. Wenn es Lehrerinnen und Lehrern als Fachleuten für Lernen gelingt, zusätzlich Fachleute für die Gestaltung von Begegnungen und Beziehungen zu werden, wird es unter anderem durch gute Kommunikation möglich sein, aus Ohnmacht Kompetenz zu entwickeln, in Problemlagen Ressourcen zu erkennen, und aus überforderten Schulen mit monolingualem und monokulturellem Habitus (Gogolin 2000) wirksame multikulturelle Schulen (Mächler & Autorenteam 2000) zu machen. Die Institutionen der Lehrerausbildung stehen somit vor der Herausforderung, praxisrelevante Antworten auf folgende Problemstellungen zu finden:
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Andrea Lanfranchi
Was braucht es, damit Lehrpersonen in eine für das Lernen förderliche Interaktion mit Kindern und Eltern aus verschiedenen kulturellen, sozialen, sprachlichen Milieus treten können? Wie sehen die Handlungsebenen einer interkulturellen Kompetenz und damit das Anforderungsprofil für Lehrpersonen in multikulturellen Schulen konkret aus? Wo und wie kann ein solches Anforderungsprofil – das heute gewöhnlich unter dem Oberbegriff einer „interkulturellen Pädagogik“ subsumiert wird – entwickelt werden?
Angesichts der zunehmenden soziokulturellen und sprachlichen Heterogenität in unseren Schulen sollten solche Fragen innerhalb der laufenden Strukturreformen der Lehrerausbildung dringende Priorität haben. Nach neusten Evaluationsergebnissen müssen wir annehmen, dass das Konzept einer interkulturellen Pädagogik trotz des Bemühens um Praxisrelevanz (z.B. Auernheimer 1996, Perregaux 1998) von den Ausbildenden und Auszubildenden zwar wahrgenommen und zum Teil realisiert, jedoch noch nicht im gewünschten Masse umgesetzt wurde (vgl. Allemann-Ghionda/de Goumoëns/Perregaux 1999; Lanfranchi 1999). Dies wird in neusten Studien bestätigt, wie in derjenigen von Edelmann (2006): Nach wie vor stellt der Umgang mit der kulturellen Heterogenität keine Selbstverständlichkeit einer pädagogischen Professionalität aller Lehrpersonen dar – was zusätzliche Anstrengungen in der Grund- und Weiterbildung bei pädagogischen Hochschulen verlangt. Gestützt auf das Dossier Nr. 60 der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK (Lanfranchi/Perregaux/Thommen 2000) werden in diesem Beitrag die zu erwerbenden Kompetenzen und dafür relevanten Lernbereiche in Form eines operationalisierbaren, integrativen Rahmenlehrplans genauer beschrieben. Das impliziert die Modularisierung übersichtlicher und leicht zu handhabender Curriculumelemente, inklusive einer Definition der zu erreichenden Standards. Darüber hinaus würde es (was bisher noch nicht geleistet wurde und in diesem Beitrag nicht behandelt werden kann) die Bereitstellung eines Steuerungsinstruments zur periodischen Qualitätssicherung erfordern. Zunächst möchten wir jedoch auf die wichtigsten Gründe eingehen, warum überhaupt eine interkulturell ausgerichtete Pädagogik im Hier und Jetzt schulischer Realität relevant sein soll, und warum „interkulturelle Kompetenz“ als unverzichtbarer Bestandteil pädagogischer Professionalität gelten muss (zur Problematisierung siehe weiter unten).
Interkulturelle Kompetenz als Element pädagogischer Professionalität
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Warum ist eine Qualifizierungsoffensive im Bereich interkultureller Kompetenz notwendig? Es ist allgemein bekannt und statistisch belegt, dass in westeuropäischen Ländern zunehmend mehr Kinder mit unterschiedlichen Erstsprachen und verschiedenartigem soziokulturellem Hintergrund die öffentlichen Schulen besuchen. Nun steht es nicht im freien Ermessen der Schule, sich die Klientel nach eigenem Gutdünken auszuwählen, zumal ethnisch-demographische Veränderungsprozesse zwangsläufig die Schule als eines der ersten Subsysteme der Gesellschaft betreffen. In der Folge muss die Schule und das in ihr tätige Personal auf die zunehmende sprachliche und kulturelle Vielfalt unter den Schülerinnen und Schülern fachlich qualifizierte Antworten für die pädagogische Arbeit entwickeln. Bildungspolitik und Bildungstheorie, die am Ideal homogener Lerngruppen ausgerichtet sind, tun sich jedoch schwer mit Vielfalt und Diversität. Abweichungen von einer virtuellen Norm werden primär als Defizite oder Störungen interpretiert. Das Schulsystem reagiert auf Pluralität durch kompensatorische Maßnahmen (Stütz- und Ergänzungsangebote), Differenzierung des Schulungsangebots und teilweise durch Ausgrenzung.79 So kommt es, dass sowohl in den Klassen mit speziellem Lehrplan wie auch in den „niederen“ Schulzweigen der Sekundarstufe I Migrationskinder80 mit zunehmender Tendenz überproportional vertreten sind (für Deutschland vgl. Kornmann 2003; für die Schweiz vgl. Kronig/Haeberlin/Eckhart 2000). Der Zustand ist alarmierend und pädagogisch nicht gerechtfertigt (Bless 1995). Dieser bedenklichen Entwicklung muss deshalb in einer Gesamtstrategie auf verschiedenen Ebenen begegnet werden. An privilegierte Stelle für eine nachhaltige Wirkung gehört eine interkulturell ausgerichtete pädagogische Aus- und Weiterbildung des Lehrpersonals. Ein weiterer Grund, warum Qualifizierungsmaßnahmen im Bereich interkultureller Kompetenz notwendig sind, liegt in den pädagogischen Erkenntnissen über Wissenserwerb. Schülerinnen und Schüler entwickeln neues Wissen und 79
Sowohl dem Weg kompensatorischer Bemühungen und einer entsprechenden Anpassung an die Mehrheit wie auch dem Weg der Differenzierung und Ausgrenzung ist gemeinsam, dass Diversität und Vielfalt nicht angenommen, ausgehalten und schon gar nicht für einen fruchtbaren Austausch und Dialog nutzbar gemacht werden. Indem dem Merkmal der Ethnizität ein verabsolutierender Stellenwert bei der Erklärung und Lösung von Schulproblemen zugeschrieben wird, müssen die Reaktionen sowohl des schweizerischen als auch des deutschen Bildungssystems als ethnozentrisch und diskriminierend kritisiert werden (Lanfranchi 2007; Gomolla/Radtke 2001). 80 Ich bevorzuge den Terminus „Migrationskinder“ statt „Migrantenkinder“, weil sie mehrheitlich nicht selber aus- bzw. eingewandert, sondern im Aufnahmeland geboren sind, und weil sie heute in zunehmender Anzahl auch keine Eltern haben, die selber aus- bzw. eingewandert sind, sondern Eltern, die bereits im Aufnahmeland geboren sind und schlicht einen andersfarbigen Pass haben oder eingebürgert sind. Migrationskinder sind also ‚Kinder der Migration‘, mit einem direkten oder indirekten lebensgeschichtlichen Hintergrund der Aus- bzw. Einwanderung.
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neue Fähigkeiten auf der Basis ihrer bisherigen Sozialisationserfahrungen. Wenn jedes Kind sein Lernen auf der Grundlage seiner vorhandenen Ressourcen und deren Anerkennung aufbaut und ihm dies nur in dem Maße gelingt, wie es das Gelernte als sinnvoll empfindet, hat dies konkrete Folgen für das Lehren bzw. für die Modalitäten des Unterrichts: Dieser muss auf die Lebenswelt des jeweiligen Kindes bezogen sein, und dafür muss die Lehrperson die (familiale, herkunfts- und milieuspezifische) Realität kennen, in der das Kind aufgewachsen ist und während seiner Schulzeit lebt. Schließlich geht es in der Schule um den Aufbau einer sozialen und verantwortlichen Lerngemeinschaft, also um die Konstruktion eines gemeinsamen sozialen Raums. Neben der Anerkennung der Eigenheiten jedes einzelnen Kindes erfordert dies einen dialogischen Prozess und damit eine Argumentationskultur, in der sowohl Begegnung als auch Auseinandersetzung in der Erarbeitung gemeinsamer Regeln und Umgangsformen stattfindet, die für alle nachvollziehbar und verbindlich sind. Die genannten drei Relevanzbereiche einer interkulturell ausgerichteten Pädagogik (Schulerfolg unter Einwanderungsbedingungen bzw. erhöhte Selektion „fremdsprachiger“ Kinder, Lebensweltbezogenheit im Unterricht und soziale Erziehung) sind nicht neu und beschäftigen die Schule schon seit vielen Jahren. Man kann sich fragen, warum interkulturelle Kompetenzen in diesen Bereichen nicht schon längst integraler Bestandteil der Lehrerausbildung sind. Ein Grund für die mangelnde Berücksichtigung liegt vielleicht in jener Auffassung, die verkennt, dass alle an der Schule Beteiligten – und überhaupt jedes Mitglied der Gesellschaft, also auch „wir selber“ – Teil der sprachlichen und kulturellen Vielfalt sind. Es ist nämlich eine auch bei Professionellen oft vernachlässigte Tatsache, dass es nicht „die anderen“ sind, welche die Pluralität und Heterogenität unserer Gesellschaft ausmachen. Wir alle sind gleichzeitig Ursache und Betroffene sprachlicher und kultureller Vielfalt: Ausbilder/innen, Auszubildende, Schüler/innen, Eltern. Diese neuartige, integrative Sichtweise der Beziehung „zum anderen“ erlaubt keine „Arbeit mit“, keine ausschließlichen Maßnahmen „für die fremdkulturellen Kinder“, keine Isolation, um „die anderen effizienter zu behandeln“. Außer in der Resilienzforschung (Speck-Hamdan 1999) ist das Phänomen der „wider Erwarten“ erfolgreichen Migrationskinder weitgehend unberücksichtigt geblieben, derjenigen Kinder also, die ungeachtet ungünstiger Milieueinflüsse keine schulischen Probleme zeigen. Bei Tiefeninterviews oder in Beratungssituationen mit schulisch erfolgreichen Migrationskindern wird immer wieder in eindrücklicher Weise von ihnen erwähnt, dass Schlüsselfiguren – oft personifiziert durch engagierte, verständnisvolle aber durchaus auch fordernde Lehrerinnen oder Lehrer – entscheidend für ihren Schulerfolg waren (Lanfranchi 2006).
Interkulturelle Kompetenz als Element pädagogischer Professionalität
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Die Schule als System, aber auch ihre Akteure spielen also beim Entstehen oder bei der Verminderung von Lern- und Leistungsunterschieden eine so wichtige Rolle, dass diese bei der Erklärung und Behebung ungleicher Bildungschancen nicht ausgeblendet werden dürfen. Die „positive Aufnahme“ im Sinne des französischen Begriffs „faire bon accueil à“ wirkt sich dann auf das Kind und seine Lernleistungen positiv aus, wenn sich Lehrpersonen mehr mit der „Annahme“ und weniger mit der „Abstammung“ der Kinder befassen (Lanfranchi 1998). Für die pädagogischen Rollenträger/innen heißt dies, über „interkulturelle Kompetenz“ zu verfügen, um gestützt auf Verfahren „interkultureller Kommunikation“, förderliche Interaktionen mit den Kindern sowie eine regelmäßige Zusammenarbeit mit den Eltern zu pflegen (Lanfranchi, 2001).
Zum Umgang mit vorbelasteten Begriffen Die Rede von „Interkultureller Kompetenz“ und „interkultureller Kommunikation“ ist en vogue – in den Weiterbildungsprogrammen von internationalen Hilfsorganisationen und Universitäten, in den Nachdiplomstudien aller möglichen Fachhochschulen, in Tagungen und Kongressen, ja sogar als Primärbotschaft in den farbigen flyers transnationaler Unternehmen.81 Öffentliche, halböffentliche oder privatrechtliche Institute für interkulturelle Kommunikation, Mediation oder Vernetzung unter schillernden Firmennamen wie „interviva“, „intermigra“, „intermedio“, „interdialogos“, „internetz“, „connex“ oder „globaleducation“ schießen wie Pilze aus dem Boden – am Beispiel der Schweiz nicht zuletzt aufgrund der neuerdings beträchtlichen Staatssubventionen im Rahmen von Integrationsprojekten.82 Man kann also wohl sagen, dass das Interesse an Strategien der Umsetzung eines „interkulturellen Gedankenguts“ bzw. an Konzepten zur Verbesserung der Situation im Bildungs-, Berufs-, Beratungs- und Behandlungsbereich in der Arbeit von und mit Migrant(inn)en aus dem Windschatten der früheren fürsorgerischen und manchmal kolonialisierenden Aufmerksamkeit der Pioniere der „Ausländerarbeit“ herausgetreten ist und ein immer breiteres Spektrum
81 Um ein Beispiel zu nennen: IBM bietet in einem Werbeprospekt mit dem Titel „mobiles e-business und multikulturelle kommunikation: die welt in ihrer tasche“ Übersetzungs- und Spracherkennungsdienste „zwischen den meist verbreiteten europäischen sowie einer Reihe asiatischer Sprachen in Echtzeit.“ Ziel ist, „die gegenseitige Verständigung von Angehörigen unterschiedlicher Sprachgemeinden und Ethnien, ungeachtet sprachlicher Barrieren und kultureller Schranken“ zu ermöglichen. 82 Die Schweiz zahlt unter der Koordination verschiedener eidgenössischer Kommissionen seit 2001 jährlich rund 14 Millionen Franken für Integrationsprojekte im Bereich Sprachbildung, Mediation und Partizipation, rund 5 Millionen für Maßnahmen zur Gesundheitsförderung bei Migrant(inn)en und rund 3 Millionen für antirassistische Projekte.
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von Professionellen einbindet.83 In erster Linie gehört dazu das für die Schule zuständige Personal – also Lehrerinnen und Lehrer. Die Schule ist nämlich in mancher Hinsicht der einzige Ort, wo interkulturelle Kontakte in breitem Umfang und in „natürlichem“ Umfeld stattfinden, bevor Selektionen die Menschen trennen. Versucht man jedoch zu definieren, was interkulturelle Kompetenz – speziell in Schulen – genau bedeutet, stößt man auf große Schwierigkeiten (siehe Auernheimer in diesem Band). Im Grunde genommen handelt es sich um die gleichen Probleme, die jemand hat, wenn er oder sie sich an eine Definition von „Kultur“ oder von „Ethnie“ wagt (dazu Kalpaka 2004; Wimmer 1996). Neuerdings versuchen verschiedene Autor/innen im ethnologischen (Wicker 1997), soziologischen (Romano 2001) oder pädagogischen Diskurs (Prengel 1995) das Begriffsystem rund um „Kultur“ zu überwinden und eine neue terminologische Orientierung einzuleiten. Nach Wicker (1993) geht es in der Arbeit mit Migrant(inn)en nicht darum, ethnische Fixierungen und Grenzziehungen zu konstatieren, sondern Entfaltungspotenziale zu erkennen und Transformationen im zeitlichen Verlauf zu begünstigen. Romano (2001) schlägt in einer radikal dekonstruktivistischen Argumentation sogar vor, auf den Kulturbegriff gänzlich zu verzichten und Kultursysteme schlicht als Kommunikationssysteme zu betrachten.84 Einerseits spricht also einiges dafür, die Begriffe „interkulturelle Kompetenz“ und „interkulturelle Kommunikation“ ad acta zu legen oder zumindest zu problematisieren, weil sie eben den nicht näher definierten Terminus „Kultur“ ins Zentrum rücken und damit gerade diejenigen Grenzmarkierungen und Polarisierungen bei Individuen und Gruppen fixieren, die sie zu überwinden vorgeben. 83
Neben Bemühungen im Sinne interkultureller Analyse und interkultureller Praktiken ist aber auch eine einseitige, kulturalisierende Optik komplexer Phänomene stark im Aufwind begriffen – auch bei Intellektuellen. Vor allem nach den entsetzlichen Terrorattacken vom 11. September 2001 gegen die USA haben einige kulturalistisch eingestellte Kommentatoren den Gewaltakt als einen vom übrigen Weltgeschehen losgelösten Teil des Jihad als des „heiligen Kriegs“ gedeutet - obwohl Jihad eigentlich „Anstrengung“ bedeutet. 84 Im Anschluss an Romano kritisiert D'Amato (2001) den Kulturbegriff, weil er aus einer Tradition stamme, die verheerende Folgen nach sich zog. Hier wird auf die Betrachtung von Kultur seit Talcott Parsons Bezug genommen, wonach Kultur im Sinne eines Wertekonsenses eine zentrale Rolle bei der Integration von Gesellschaft spielt. Danach trete u.a. über die Einwanderung ein Wertedissens ein, der auf die Gesellschaft desintegrierend wirke. Da jedoch moderne Gesellschaften nach Luhmann aus einer Vielzahl von autonomen Lebensbereichen (‚Funktionssysteme‘) bestehen, die schon lange nicht mehr in zentral gesteuerte, etwa religiös-moralische Instanzen eingebunden sind, bekommt „Kommunikation“ und nicht „Kultur“ eine zentrale Bedeutung. Dies habe nachhaltige Konsequenzen für den professionellen Umgang mit Fragen der Migration: Die Integration von Migrant(inn)en werde nach diesem Ansatz zum Problem der Inklusion in die kommunikativen Strukturen der funktional differenzierten Gesellschaft und nicht mehr der Assimilation an eine vermeintlich national homogene Gesellschaft.
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Andererseits spricht auch vieles dafür, diese Begriffe in einem dynamischen Verständnis beizubehalten, weil Individuen und Gruppen in einem fortdauernden Aushandeln von Selbstverständlichkeiten im Clarke’schen Sinne „Landkarten von Bedeutungen“ entwickeln, die sie als Schema ihrem Handeln zugrundelegen und die mit Kultur beschrieben werden können.85 Im Zusammenhang mit „Kompetenz“ macht „Kultur“ nur dann Sinn, wenn wir den Kontext klar markieren, in welchem die zwei Begriffe in ihrer Kombination benützt werden. Insofern muss „interkulturelle Kompetenz“ auf das jeweilige Professionalisierungsfeld abgestimmt werden, in welchem sie zum Tragen kommen soll: Für den Bereich der Beratung und Therapie siehe Hegemann (2004), für die Sozialarbeit und Jugendhilfe siehe Leenen/Gross/Grosch sowie Zitzmann in diesem Band,). Nachfolgend gehe ich auf den schulpädagogischen Bereich ein, nämlich auf die Frage, was Lehrerinnen und Lehrer heute wissen und können müssen, um in multikulturellen Verhältnissen wirksam (im Sinne gleicher Bildungschancen für alle, vgl. Rüesch, 1998) unterrichten zu können. Dabei soll zunächst allgemein gefragt werden, was die pädagogische Kompetenz von Lehrpersonen ausmacht.
Was kennzeichnet „erfolgreiche“ Lehrpersonen in multikulturellen Schulen? In den letzten Jahren wurde die Forschung über innerschulische Determinanten zur Erklärung von Schulleistungen intensiviert. Aufgrund des sehr komplexen Bedingungsgefüges ist es problematisch, von „Schlüsselmerkmalen“ oder notwendigen Bedingungen eines erfolgreichen Unterrichts zu sprechen. Dennoch gibt es empirisch plausible Versuche, „effektive Lehrpersonen“ zu beschreiben. Nach Fraser u.a. (1987, S. 209) sind sie gut ausgebildet, haben hohe Leistungserwartungen, halten einen organisierten Unterricht, bekräftigen das aufgabenbezogene Verhalten der Schüler/innen, betonen das zielerreichende Lernen, geben tutorielle Hilfen und bieten diagnostisches Feedback. Nach Helmke/Schrader (1990) gelang es 5 von 39 in einer Studie evaluierten Lehrpersonen, in den drei Bereichen Mathematikleistung, Lernfreude und Selbstvertrauen eine gleichermaßen überdurchschnittliche Entwicklung zu erzielen. Schaut man sich die Unter85
Kultur als Bedingung und Folge menschlichen Handelns und Denkens befähigt demgemäss Menschen, „zu interagieren, sich Meinungen zu bilden, Entscheide zu fassen, zornig zu werden, traurig zu sein, zu betrügen, Gutes zu tun, sich abzugrenzen uns sich zu identifizieren. So gesehen ist Kultur kein homogenes Ganzes, welches sich erfassen und beschreiben ließe, sondern Teil des menschlichen Seins, das Frau und Mann prädestiniert, sowohl subjektive, damit einzigartige Welten zu konstruieren, als auch sich als Teil von Kollektiven zu fühlen, beziehungsweise sich von einem Kollektiv zu lösen und sich einem anderen zu nähern.“ (Wicker 1996).
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richtsprofile der einzelnen fünf „Positivklassen“ an, waren folgende Unterrichtsfaktoren entscheidend: Klassenführung, Aufgabenorientierung, Klarheit, Adaptivität, Langsamkeitstoleranz und affektives Klima.86 Die Validität dieser Befunde wurde allerdings von einem der zwei Autoren aufgrund späterer Untersuchungen relativiert (Helmke/Weinert 1997): Bei der Profilauswertung einzelner Klassen hat es sich zum Beispiel bei Mathematik als schwierig erwiesen, klare generelle Indikatoren eines erfolgreichen Unterrichts zu isolieren, weil offenbar eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Wege zum gleichen Ziel führt. Insofern hat sich bestätigt, was die gleichen Autoren vermutet und in einem späteren review beschrieben haben, dass es nämlich aufgrund des multiplen und kompensatorischen Charakters der Schulleistungsdeterminanten unmöglich ist, in präskriptiver Absicht von notwendigen Bedingungen eines erfolgreichen Unterrichts zu sprechen: „Eine Liste von Einzelmerkmalen erfolgreicher Lehrer erscheint teils plausibel, teils völlig unplausibel, in jedem Fall aber wirkt sie atheoretisch und ist praktisch kaum brauchbar, denn (...): gleich erscheinende Verhaltensweisen des Lehrers können unter verschiedenen Bedingungskonstellationen (und für verschiedene Schülertypen) völlig unterschiedliche Wirkungen haben“ (Helmke/Weinert 1998, S. 130). Immerhin gelangt man – gestützt auf die ATI (Aptitude-TreatementInteraction)-Forschung – auf empirisch validierte Aussagen, die für bestimmte „Schülertypen“ zutreffen dürften: Nach Snow/Swanson (1992) profitieren Schüler/innen mit niedrigem Intelligenzniveau und Vorkenntnisstand, mit hohem Angstniveau und aus benachteiligten sozialen Schichten eher von einem hochstrukturierten Unterricht mit fester Vorgabe des Was, Wann und Wie. Daraus könnte man, fokussiert auf die Situation von Kindern aus Einwandererfamilien, mit einer etwas gewagten Hypothese schlussfolgern, dass diejenigen Migrationskinder mit ungünstigen Leistungsvoraussetzungen in Bezug auf ihre Lernfortschritte mehr aus einem lehrerzentrierten, lehrerzentrierten Unterricht als von offenen Unterrichtsformen Nutzen ziehen. Unabhängig vom kontrovers behandelten Thema der „wirksamsten“ Unterrichtsmethode (für eine kritische Übersicht siehe Rüesch 1999), ist die Frage nach den besonderen Kompetenzen von Lehrpersonen in multikulturellen Klassen brisant. Moser/Rhyn (2000) haben in einer Evaluation aller 6. Regelklassen im Kanton Zürich herausgefunden, dass es einerseits Lehrpersonen gibt, die trotz 86 Schon früher hat Helmke (1988) nachgewiesen, dass in heterogen zusammengesetzten Klassen überdurchschnittliche Leistungssteigerung und Ausgleich von Leistungsunterschieden keine paradoxen Ziele für die Unterrichtspraxis darstellen. Sie hängen auch nicht von besonders günstigen Rahmenbedingungen in den Schulen ab, sondern im Wesentlichen vom Unterrichtsverhalten der Lehrperson. Konkret geht es nach den Ergebnissen dieser Untersuchung unter anderem um die affektive Tönung der Lehrer-Schüler-Beziehungen, bzw. die Sensibilität von Lehrpersonen für Leistungsängste der Schulkinder, und um die Orientierung an den leistungsschwachen Schulkindern in Bezug auf Lerntempo und Schwierigkeitsgrad der Aufgabenstellungen.
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„ungünstiger“ Zusammensetzung ihrer Klasse (operationalisiert durch hohe Fremdsprachigenanteile und hohe Anteile von Kindern aus der Unterschicht) bezüglich durchschnittlicher Klassenleistungen in Deutsch und Mathematik sehr erfolgreich sind. Andererseits gibt es andere Lehrpersonen in weniger „belasteten“ Situationen, die in ihrem Unterricht von den positiven Strukturmerkmalen der Klasse nicht zu profitieren scheinen und signifikant schlechte Lernleistungen erzielen. Auch hier stellt sich die zentrale Frage: Was macht es aus, dass Lehrpersonen in multikulturellen Schulen trotz vielfältiger Belastungen gute Resultate in Form überdurchschnittlicher Klassenleistungen ihrer Schulkinder erreichen? Nach den Kriterien externer Validität sollte man analysieren, was diese Lehrpersonen tun, wie sie unterrichten, wie sie mit den Schüler(inne)n interagieren, wie sie mit den Eltern ihrer Kinder kommunizieren und kooperieren. Macht man das, das heißt schaut man auf die Praxis multikultureller Schulen, sieht man ein Kontinuum zwischen kompetentem Umgang mit sozialen, sprachlichen, kulturellen, geschlechtsspezifischen, leistungsmäßigen Differenzen und ignorierender Toleranz bis hin zu Indifferenz für Vielfalt. Ein gutes Schulklima allein gewährleistet noch nicht einen höheren Schulerfolg von Schülern aus Migrationsfamilien. Hinweise dafür liefern die Fallstudien von Auernheimer u.a. (1996). – Obwohl das soziale Klima in allen sechs von diesen Autoren untersuchten Grund- und Gesamtschulen positiv war, wurden Mechanismen der „institutionellen Diskriminierung“ (Gomolla/Radtke 2001) im Sinne der Benachteiligung durch institutionelle Normen bzw. konkret in Form einer Unterrepräsentation von Migrationskindern in weiterführenden Bildungsgängen festgestellt. Der in den Interviews beteuerte Egalitarismus erschien als stereotyp, ambivalent und problematisch, denn dadurch wurde eine fallbezogene Lebensweltbezogenheit verunmöglicht. Interkulturelle Bezüge waren im Wahrnehmungs- und Denkhorizont der Lehrpersonen kaum auszumachen, sodass die Schulen in ihrer curricularen Konzeption und in ihrer Leitidee hauptsächlich einen monokulturellen und monolingualen Habitus hatten. Das „Andersartige“ wurde vor allem als Problem und nicht als Herausforderung für Aushandlungsprozesse im Sinne eines interkulturellen Dialogs wahrgenommen – etwa dort, wo aufgrund eines anderen Verständnisses der Geschlechtsrollen einzelne Eltern ihren Töchtern nicht erlaubten, am Sportunterricht oder an Klassenfahrten teilzunehmen. Wie bereits erwähnt, sollte man solche Resultate aus einer ethnographisch ausgerichteten Schulfeldforschung mit einem personenzentrierten Ansatz verbinden, der die Situation einzelner Klassen und das Unterrichtsverhalten einzelner Lehrer/innen ins Zentrum rückt. Dabei kritisiert Walter (2001, S.74 ff.) verschiedene empirische Untersuchungen über Lehrerverhalten und -einstellungen zur interkulturellen Pädagogik, weil sie nicht selten desavouierend und pauschalisie-
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rend Lehrpersonen schlicht unterstellen, sie seien ethnozentrisch und/oder weil sie methodologisch unzureichend sind. In seiner eigenen sorgfältig angelegten Befragung von Lehrpersonen über Fördermaßnahmen für Migrationskinder kommt Walter zum Schluss, dass Lehrpersonen durchaus differenzierte Kognitionen zur interkulturellen Erziehung in der Schule entwickeln. Sie entsprechen zwar nicht unmittelbar praxiswirksamen Handlungsintentionen in dem Sinne, dass sie den Unterricht und das Verhalten zu den Schüler(inne)n direkt steuern, können jedoch Praxisinnovationen begünstigen.
Lehrpersonen im Umgang mit Differenz: Annäherung an eine Typenbildung Im Rahmen einer eigenen Studie für den schweizerischen Nationalfonds87 hat der Autor anhand ausgewählter Fälle in der italienischen, deutschen und französischen Schweiz unter anderem die Strategien von Kindergärtnerinnen und Lehrpersonen der ersten Regelklasse im Umgang mit Differenzen und insbesondere bei der Aufnahme von Migrationskindern in ihre Klassen überprüft. Die Fallrekonstruktionen wurden in den Kontext der regionalspezifischen Schul- und Gesellschaftssituation eingebettet (vgl. Allemann-Ghionda 1999, Rosenmund/Nef 1998) und in methodologischer Anlehnung an Nagel (1997) mit der Intention miteinander kontrastiert, Handlungsmuster auf der Grundlage der Vielfalt alltagsweltlicher Handlungsfiguren zu identifizieren.88 Die sequenzanalytische 87
Es handelt sich um ein Teilprojekt des Nationalen Forschungsprogramms „Migration und interkulturelle Beziehungen“ (NFP 39) mit dem Titel: „Schulerfolg von Migrationskindern – Bedeutung von Übergangsräumen im Vorschulalter-“ Die Untersuchung analysiert die Bildungssituation von Migrationskindern unter dem Aspekt der Prävention von Schulproblemen. Sie geht von der Grundannahme aus, dass der Lernerfolg von Migrationskindern nicht lediglich im Zusammenhang mit den soziokulturellen Rahmenbedingungen der Familie und/oder mit den unterrichtsbezogenen Rahmenbedingungen der Schule steht, sondern im wesentlichen von der Situation dieser Kinder im Vorschulalter bzw. von der Qualität ihrer Betreuung beeinflusst wird. Zentrales Thema ist die Gestaltung des Überganges, den ein Kind von der Familie zur Schule bewältigen muss. Unter Berücksichtigung der jeweiligen Familienstruktur und -kultur, der realisierten Betreuungsform und der Modalitäten des Empfangs in Kindergarten und Schule werden verschiedene Typen der Bewältigung solcher Übergänge identifiziert (siehe Lanfranchi 2002). 88 Die Interviews wurden mit Tonband aufgezeichnet und transkribiert. Als einheitlicher Stimulus für alle Interviews legten wir fest, dass die Interviewten von ihrer Schule, bzw. ihrer Klasse oder ihrem Kindergarten erzählen. Die hier wiedergegebenen, ausgewählten Passagen beziehen sich auf diesen Eingangsstimulus. Im natürlichen Diskurs fragten wir in einem zweiten Schritt nach der Situation der Kinder aus Migrantenfamilien in der jeweiligen Schule resp. Klasse. Drittens wollten wir wissen, was sie mit dem Begriff Interkulturelle Pädagogik anfangen können und ob sie in der Aus- oder Weiterbildung Angebote im Bereich der Interkulturellen Pädagogik hatten und Kurse oder Seminare besucht haben. Viertens fragten wir nach der Praxis der Aufnahme oder des „Empfangs“ der Kinder in
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Interpretation der Interviewtexte kann hier nicht wiedergegeben werden (ausführlich in Lanfranchi 2002). Die Synthese der Hauptergebnisse erlaubt jedoch eine Annäherung an eine Typologie von Lehrpersonen im Umgang mit Verschiedenheit (siehe Abbildung 1). a) Im ersten Fall bemüht sich die Lehrerin Frau Brenner zwar um einen politisch korrekten „Multikulti-Blick“ im Sinne gegenseitiger Verständigung, interessiert sich ansonsten aber für die Diversität nicht, weil sie als primäres Ziel die Anpassung an die Schulnorm verfolgt. Sie scheint geradezu an der Idee der Starthilfe in einer segregierten Einrichtung vom Typ „kleine Vorbereitungsgruppe“ zum Ausgleich von primär schichtbedingten Defiziten zu kleben. Ihre durchgängige Maxime lautet: Integration durch ein vorgängiges Lernen des für die Schule notwendigen Regelsystems sowie des Spracherwerbs. Sie macht also das Beherrschen kulturell neu-codierter Verhaltensweisen und der fremden Sprache zur Voraussetzung der Integration in die Regelklasse, statt umgekehrt von einem akkulturierenden Spracherwerb durch Integration auszugehen. Dies kann kaum anders verstanden werden, als dass ihr handlungsleitender Gedanke der der Heranführung an das gegebene, monokulturelle System bleibt. Die Wahrnehmung dieser Lehrerin scheint nicht von der zunehmenden Pluralisierung geleitet zu sein, für welche die Migration sowohl eine Quelle als auch ein Aspekt ist. Nach ihrer Auffassung müssen sich einzig und alleine die Kinder bzw. ihre Eltern verändern oder entwickeln, und zwar im Sinne der Angleichung an die bestehenden Strukturen. Für die Kinder bedeutet dies das Einhalten der tradierten Regeln der Disziplin und „des guten Benehmens“, für die Eltern die Wiedereinführung traditionaler Familienformen mit eindeutiger Rollenzuteilung. Im übrigen gilt die Zusammenarbeit mit den Eltern als Quelle von Konflikten und wird daher kaum praktiziert. Wir charakterisieren deshalb diesen Typus als „mit geringer Lebensweltbezogenheit anpassungsfordernd und ausgrenzungswillig“. b) Beim zweiten Fall schwankt die Lehrerin (Frau Rosi) zwischen einem etwas gequält wirkenden Nicht-Wahrnehmen-Wollen von Differenzen und einer negativen Stigmatisierung „ausländischer Kinder“ als defizitär. Im Sinne der widersprüchlichen Einheit von Gleichmacherei und Stereotypie („die Kinder sind alle gleich, aber die Immigranten kommen aus sehr erfahrungsarmen Verhältnissen“) leugnet sie die Bedeutung kultureller Unterschiede nicht, während Frau Brenner den Blick auf die Kinder in ihren unter anderem kulturell spezifischen Lebenswelten gar nicht hat. Die Betrachtung der kulturellen Herkunft ist den ersten Stunden, Tagen und Wochen zu Beginn des Kindergartens oder bei der Einschulung. Schließlich wollten wir die Meinung der Lehrpersonen zu unserer Untersuchungshypothese kennen, wonach Kinder aus (Migranten)familien, die im Vorschulalter familienergänzend betreut wurden, den Übergang zur Schule besser bewältigen als Kinder, die sich ohne diesen vermittelnden Bezug in einer für sie zunächst fremden Lebenswelt behaupten müssen.
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bei Frau Rosi dennoch problematisch, weil sie sich auf die „vorhandenen Mängel“ richtet und die Migrationskinder sich schließlich als diejenigen erweisen, die die Schulsprache nicht beherrschen, daher das Unterrichtstempo verlangsamen und deshalb einem paraschulischen System der besonderen Unterstützung zugewiesen werden müssen. Demgemäss scheitern diese Schüler/innen nicht an einem ihren Lernbedürfnissen unangemessenen Unterricht, sondern „weil da einfach Erfahrungslücken sind“. Die schwierige Gratwanderung zwischen Egalisierung im Sinne der Verleugnung von Unterschieden und Überbetonung und Fixierung dieser Unterschiede blockiert diese Lehrerin in der Anwendung eigenaktiver, multikulturell ausgerichteter Handlungsstrategien. Aufgrund der spezifischen Haltung und pädagogischen Praxis im Spannungsbereich von Homogenisierungs- und Abwehrtendenz charakterisieren wir deshalb diesen Typus als „zwischen Gleichmacherei und Stereotypisierung schwankend“. c) Beim dritten Fall sind wir mit einer Kindergärtnerin (Frau Glasson) konfrontiert, die ebenfalls mit einigem Verdruss die „Lücken“ der aus verschiedenen Ländern eingewanderten Kinder – nach eigenartiger Rangordnung aufgelistet – anspricht. Ihre biologistisch und kulturalistisch anmutende Argumentation wird allerdings begleitet von einem konkreten pädagogischen und integrierenden Handlungskonzept. Vor allen Dingen erweist sie sich als kompetent und sicher, auf die Kinder bedürfnisbezogen einzugehen, verfügt über Instrumente und Verfahren der Problemlösung und wendet sie auch effizient an. Schließlich ist sie bereit, stereotypisierende Denkmuster aufgrund neuer Informationen von außen oder aus dem Fallerleben zu modifizieren. Eine ihrer bewährten Strategien, um in der Aufnahmephase in den Kindergarten verunsicherten Kindern eine gute Empfangs-Situation zu ermöglichen, ist die affektive Rahmung durch den Einbezug ihrer Eltern und insbesondere der Mütter in das Kindergartengeschehen. Außerdem fördert sie Kontakte zwischen autochthonen und allochthonen Kindern und deren Familien außerhalb des Kindergartens. Alles in allem bedeutet das nicht weniger, als dass in diesem Fall die Institution konkret Bezug nimmt auf die Lebenswelt der Kinder und eine Öffnung zu den Familien und insbesondere zu den bildungsmäßig oder „kulturell“ entfernteren programmatisch vorsieht und auch gewährleistet. Dieser dritte Typus kann deshalb charakterisiert werden als „weltgewandt offen, trotz Biologismen und Kulturmythen fallbezogen vermittelnd“. d) Beim vierten Fall (Frau Pitsch: einer weiteren Kindergärtnerin) sind „fremdsprachige“ Kinder Teil der Grundgesamtheit aller Kinder. Sie weisen Stärken auf – die ressourcenorientiert genutzt werden können – und brauchen zum Zwecke der Leistungssteigerung im Hinblick auf das Erreichen der Schulfähigkeit vor allem eine Gruppe, die sie trägt und in der sie sich geborgen fühlen. Dementsprechend gehört ihre soziale Integration zu den Hauptaufgaben einer
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Fachperson im Bildungsbereich. Wie im Fall Glasson verfügt Frau Pitsch über effektive und effiziente Strategien des Fallverstehens. Anhand professionell reflektierter und mit persönlichem Engagement begleiteter Vorgehensweisen verfolgt sie unter anderem das Ziel der Systemkoppelung zwischen den nicht selten diskrepanten Lebenswelten des Kindergartens und der Familie. Diesen vierten Typus bezeichnen wir als „von der Grundgesamtheit aller Kinder ausgehend ressourcenorientiert wirkend“. e) Beim fünften Fall (Frau Benelli: einer Lehrerin) kommen im Vergleich zu Frau Pitsch noch einige Merkmale des positiven Umgangs mit einer heterogenen Schülerschaft und der guten Gestaltung von Übergängen in der Phase der Einschulung hinzu. Vor allen Dingen geht diese Lehrerin davon aus, dass jedes Kind grundsätzlich wie alle andere Kinder ist und somit auch das Recht hat, im Falle einer ungünstigen Ausgangssituation chancengerecht „aufzuholen“ und nicht wegen schlechter Startbedingungen ein Leben lang benachteiligt zu sein. Gleichzeitig weist das gleiche Kind gruppenspezifische Charakteristika verschiedenster Art auf, ist also wie andere Kinder und hat in manchen Fällen besondere Lernbedürfnisse. Darüber hinaus stellt jedes Kind „einen eigenständigen Fall“ dar und ist in seiner Individualität wie kein anderes Kind. Umgang mit Heterogenität bedeutet für Frau Benelli nicht lediglich die Berücksichtigung kultureller oder sprachlicher, sondern ebenso sehr geschlechtsspezifischer, sozialer und leistungsmäßiger Differenzen. Frau Benelli findet auf emotional sicherer Basis eine gute Balance zwischen Fördern und Fordern, verfügt über gruppendynamisch und didaktisch geeignete Methoden der Problemlösung bei interkulturellen und sonstigen Konfliktlagen und ist besonders begabt und einfühlsam bei Modalitäten des Empfangs von in sich gekehrten, ängstlichen Kindern. Wir charakterisieren diesen Typus als „mit Kindern und Eltern bei vorhandener Diversität nach professionellen Standards kompetent handelnd“. Eine grundlegende Schwierigkeit für Pädagog(inn)en besteht im Ausbalancieren der Prinzipien Gleichbehandlung und Lebensweltbezug, was oft einem Drahtseilakt gleicht. Auernheimer u.a. (1996) führen dazu aus: „Es hat einen hohen Grad an Vernünftigkeit, die Schüler/innen in erster Linie in ihrer universellen Schülerrolle und nicht in ihrer partikularen Herkunft wahrzunehmen. Es ist aber schwierig, diese institutionelle Regel, die pädagogischer Rationalität entspricht, mit dem anderen pädagogischen Prinzip der Individualisierung auszubalancieren, das die Bezugnahme auf kulturspezifische Lebenswelten impliziert“ (S. 94). Die Interkulturalitätsstrategien in den ersten zwei Fällen (die Lehrerinnen Brenner und Rosi) kreisen im wesentlichen um die Alternative Assimilation oder Segregation. Als logische Konsequenz dieser Sicht wird die Bearbeitung der „Lücken“ an vor- oder nebengeordnete Einrichtungen delegiert, in denen die
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„Unterrichtsfähigkeit“ der Migrationskinder hergestellt werden soll. Hingegen halten die Kindergärtnerinnen Glasson und Pitsch eine pluralistische Integration und Frau Benelli sogar eine gegenseitige Akkulturation trotz oder wegen vielfältiger Diversitätsfaktoren für möglich und wünschenswert. Wenn man vom „bestpractice-case“ von Frau Benelli absieht, ist aufschlussreich, dass die ersten beiden Typen der Problembewältigung an zwei Lehrerinnen, die zwei weiteren an zwei Kindergärtnerinnen beobachtet wurden. Das könnte mit dem Vorhandensein eines verbindlichen Curriculums mit einengenden Lehr- und Lernzielen bei den Lehrerinnen bzw. dem Fehlen eines verbindlichen Curriculums bei den Kindergärtnerinnen/Erzieherinnen zusammen hängen. Damit verbunden ist bei diesen eine Entlastung vom Handlungsdruck und eine größere Gestaltungsfreiheit sowie vermehrte Möglichkeit des Eingehens auf Fallspezifitäten. Wie auch immer liegt die Vermutung nahe, dass Kindergärtnerinnen nicht oder weniger mit den Strukturproblemen konfrontiert werden, die in Schulklassen entstehen. Der Fall der Lehrerin Benelli zeigt uns aber, dass das Aufweichen einer solchen Realität möglich ist. Ihr ist es gelungen, vom separierenden Blick nach einer „Logik des Verdachts“ (Bühler-Niederberger 1991) Abstand zu nehmen und ihn durch den Blick auf das Mögliche zu ersetzen und somit den Erfolg aller Kinder zu begünstigen. Schließlich entspricht Frau Benelli mit ihrem Denken, ihrer Haltung und ihrer Berufspraxis derjenigen Gruppe von Lehrpersonen in der Untersuchung von Bender-Szymanski (2000; siehe auch ihren Beitrag in diesem Band), die mit Phänomenen soziokultureller Diversität souverän umgehen können, weil sie unter anderem
ihre üblichen handlungsleitenden schulischen Normen bezüglich ihrer Angemessenheit für interkulturelle Kommunikation kontinuierlich reflektieren, und weil sie im Konfliktfall ihre Problemlösungsbemühungen fallbezogen auf die unterschiedlichen Orientierungen der Schüler/innen gründen und sie schließlich in ihr pädagogisches Handlungsrepertoire integrieren.
Auch Edelmann (2006) beschreibt in ihrer qualitativen Studie über das Orientierungswissen von Lehrpersonen in kulturell heterogenen Klassensituationen den Typus einer synergieorientierten Haltung, die im Gegensatz zum Typus der abgrenzend distanzierten oder der stillschweigend anerkennenden Typus dafür gekennzeichnet ist, dass die Heterogenität der Klasse als Potenzial eingeschätzt und im gesamten unterrichtlichen Handeln reflexiv berücksichtigt wird. Dabei wird evident, dass die Qualität der Zusammenarbeit im Kollegium den Umgang mit der kulturellen Heterogenität wesentlich beeinflusst.
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Daraus lassen sich einige grundlegende Konsequenzen für die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen ziehen. Es geht darum, die zentralen Kompetenzen und Lernbereiche zu definieren, die dem Anforderungsprofil für Lehrpersonen in multikulturellen Schulverhältnissen entsprechen. Einem solchen Erfordernis können wir uns mit der Beschreibung systematisch aufgebauter curricularer Elemente annähern, denen klar umschriebene Standards im Sinne Osers (1997)89 zugrunde liegen.
Ein Standard-Curriculum für interkulturelle Kompetenzen in pädagogischen Praxisfeldern Gestützt auf das Dossier Nr. 60 der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK (Lanfranchi et al. 2000) und auf den Qualifikationenkatalog des „European Network for Intercultural Teacher Training“ (EUNIT 1998) werden nachfolgend die zu erwerbenden interkulturellen Kompetenzen in Form eines breitgefächerten Standard-Curriculums90 ausgeführt. Darin werden die wichtigsten Postulate und Kriterien integriert, die von der heutigen Lehrerinnen- und Lehrerbildung erfüllt werden müssen, will sie adäquat auf die Dimension der sprachlichen und kulturellen Vielfalt vorbereiten.91 89
Unter dem Aspekt der Wirksamkeit und der Verwendungserwartungen von interkultureller Kompetenz müssen wir Standards, und nicht lediglich Themen zum primären Gegensand machen. Dazu Oser (1997): „Standards sind Wissensbestände, die in absolut notwendiger Weise angeeignet werden müssen und die hierin auch einem handlungsorientierten Gütemaßstab standhalten (...). Standards sollen in komplexen und unterschiedlichen Situationen zur Anwendung kommen. Nur Experten verfügen über Standards (...). Standards für den Piloten geben dem Fluggast die absolute Sicherheit, heil an einen Ort geflogen zu werden. Standards für den Mediziner bestehen in Diagnose- und Heilungsverfahren, vor allem dann, wenn diese mit einer feststehenden Ausbildung verbunden sind.“ (S. 28) 90 Das IKP-Standardcurriculum ist vor einigen Jahren aus der intensiven Zusammenarbeit einer Zürcher Arbeitsgruppe entstanden, bestehend aus Markus Truniger (Bildungsdirektion), Therese Halfhide und später Petra Hild (Pestalozzianum), Eva Greminger (Hochschule für Heilpädagogik), Rolf Gollob und Andrea Lanfranchi (damals Lehrerbildung des Kantons Zürich). Weitere wichtige Impulse lieferten Heinrich Wirth, Basil Schader, Arthur Jetzer und Katharina Washington – sowie Ingrid Ohlsen, der für den fachlichen Austausch im Zusammenhang mit der Revision dieses Aufsatzes besonderer Dank gebührt. 91 Die Frage, wie dieser Prozess zu organisieren sei, kann hier nicht beantwortet werden, weil das Vorgehen von den Zielen, Möglichkeiten und Rahmenbedingungen der einzelnen Hochschulen (bzw. Lehrerausbildungseinrichtungen) abhängig ist. Auch die Frage, wo die verschiedenen Bestandteile des Curriculums – in der Regel in Form von Modulen erarbeitet – innerhalb des Studiums untergebracht und wie sie in der Weiterbildung implementiert werden, muss durch die einzelnen Institute entschieden werden. Es wird jedoch empfohlen, einen vorgängig zu bestimmenden Verbindlichkeitsgrad der Angebote zu definieren und einzuhalten. Die Schweizerische Konferenz der Rektorinnen und Rektoren der Pädagogischen Hochschulen (COHED) hat 2007 den Ist-Zustand der Interkulturellen Pädagogik an den Pädagogischen Hochschulen sowie universitären Lehrerinnen- und Lehrerbil-
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Trotz zahlreicher Vorschläge, Initiativen und Empfehlungen verschiedener Sachverständigenkommissionen (nicht zuletzt des Europarates) im Zusammenhang mit der Zunahme der sprachlichen und soziokulturellen Heterogenität in westeuropäischen Einwanderungsländern scheint es, dass sich in diesem Punkt die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen nur zögerlich verändert und zur zum Teil an die neuen Verhältnisse angepasst hat. Man kann sich durchaus fragen, ob es nicht ausreicht, Fragen im Umgang mit soziokultureller und sprachlicher Heterogenität in die traditionellen Disziplinen der Ausbildung zu integrieren. Aufgrund bisheriger Evaluationsbefunde (Allemann-Ghionda et al. 1999; Lanfranchi 1999) sind wir heute dezidiert der Meinung, dass eine Doppelstrategie notwendig ist: Einerseits sollen einige spezifische Module mit verpflichtendem Charakter im Basis- und Diplomstudium angeboten werden; andererseits wird erwartet, dass Bezüge zur interkulturellen Pädagogik bzw. zur Förderung einer interkulturellen Kompetenz transversal, das heißt integriert in allen anderen Ausbildungselementen geschaffen werden. Eine neue Bestätigung der Validität des hier präsentierten StandartCurriculums liefert uns die Delphi-Studie von Müller & Rösselet (2008). Aufgrund der Konsensberechnung der Expertenbefragung zeigt sich ein weiteres Mal, wie bedeutsam das interkulturelle Wissen und Können von Lehrpersonen in multikulturellen Schulklassen ist, ganz besonders auf der Ebene integrativdidaktischer Kompetenzen der Lernförderung und der inneren Differenzierung des Unterrichts. Curriculumbereich A: Differenz Leitidee: Sich als Person und Lehrperson in Schule und Gesellschaft situieren Lernbereich: Grundsätzliche Fragen soziokultureller Differenzen Kompetenzen: dungsinstitutionen untersuchen lassen. Nach diesem Bericht hat die Verbindlichkeit der Ausbildungsteile zur IKP in den Studiencurricula deutlich zugenommen. Die Akzeptanz von Vorgaben im Sinne des hier präsentierten Standard-Curriculums ist hoch: An zwei Dritteln der Pädagogischen Hochschulen findet die IKP in den geltenden Ausbildungsstandards ihren Niederschlag (Bericht abrufbar unter http://www.cohep.ch/deutsch/pdfs/Berichte/Dossier/080213_AG_IKP_Untersuchungs_Bericht_COH EP.pdf, Stand 1.4.08). Auf der Basis dieser Untersuchung hat eine Arbeitsgruppe im gleichen Jahr (2007) einen Grundlagenbericht zur interkulturellen Pädagogik in der Lehrerinnen und Lehrerbildung in der Schweiz sowie entsprechende Empfehlungen verfasst. Beide Dokumente können auf der Homepage der COHEP heruntergeladen werden: www.cohep.ch (Stand 1.4.08).
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Entwicklung eines Sensoriums für soziokulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb und zwischen sozialen Systemen Relativierung solcher Differenzen und Erkennen der Dynamik von Globalisierungsprozessen sowie der Pluralisierung von Werten und Normen
Fragestellungen: 1. 2.
3.
4.
5.
6.
Wie zeigt sich die soziokulturelle Vielfalt regional und im sozialen Nahraum? Welches sind die aktuellen Migrationsbewegungen (sowohl von Arbeitsmigrant(inn)en als auch von Flüchtlingen, weltweit und in ausgewählten europäischen Ländern), und welches sind die Ursachen der Migration (historisch, sozial, ökonomisch, politisch)? Was heißt Integration und Assimilation, was ist Kultur, Ethnizität, Identität, Partikularismus, Universalismus, und was heißt Pluralisierung, Europäisierung, Globalisierung? Welche Gesetze regeln die Migration (geschichtliche Betrachtung und Perspektiven), und welches sind die Möglichkeiten der Teilnahme und Mitbestimmung verschiedener sozialer Gruppen an gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen? Welches sind meine Einstellungen und Haltungen gegenüber der früheren und heutigen Mobilität, und was bedeutet das für mein professionelles Handeln in heterogenen Schulklassen? Welches sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Individualitätsoder Kollektivitätskonzepten, in den Geschlechtsrollenvorgaben, in den Erziehungsmodalitäten?
Standard: Die Lehrerinnen und Lehrer kennen die Migrationssituation in Deutschland bzw. in der Schweiz in ihren historischen, sozialen, politischen und ökonomischen Aspekten und haben ein Sensorium für soziokulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb und zwischen Systemen entwickelt. Sie können auf dieser Grundlage Ressourcen und Probleme multikultureller Schulen analysieren und im Schulalltag reflektiert agieren – auch im Falle erschwerter Bedingungen wie hohe soziale, sprachliche oder leistungsmäßige Heterogenität der Schülerschaft. Sie werden vom Spannungsfeld widersprüchlicher gesellschaftlicher und normativer Ansprüche nicht überwältigt, sondern finden in ihren Tätigkeiten ein Gleichgewicht zwischen den zwei Extremen der Überbetonung soziokultureller Differenzen und deren Verleugnung.
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Begründung: Lehrpersonen müssen in der Rolle des citoyen und des Professionellen in bildungspolitischen Belangen Stellung nehmen können und sich in einer pluralen Welt an der öffentlichen Debatte rund um die Entwicklung der Gesellschaft beteiligen. Nur wenn sie die in der heutigen Schule real existierenden soziokulturellen Differenzen wahrnehmen und sie gleichzeitig in ihrer Bedeutung relativieren, finden sie einen Weg auf der schmalen Gratwanderung zwischen Stereotypisierung und Gleichmacherei. Methoden92:
Die „Migrationsgeschichte“ der eigenen Familie (mitgemeint sind auch Wohnortwechsel im gleichen Land) über mindestens drei Generationen aufarbeiten. Mittels Interviews den Kontaktpunkten und Konflikten zwischen migrierter und einheimischer Bevölkerung nachspüren. Sein eigenes Verhalten bei interkulturellen Begegnungen mit Hilfe eines Beobachters beschreiben / protokollieren. Die grundlegende Frage diskutieren, inwiefern die bestehende Heterogenität die Schule und die Rolle der Lehrperson verändert hat.
Curriculumbereich B: Kommunikation und Antirassismus Leitidee: Über sich selbst reflektieren, um mit „Fremden“ adäquat interagieren zu können Lernbereich: Psychosoziale Aspekte der Interkulturalität, antirassistische Erziehung und interkulturelle Kommunikation Kompetenzen:
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Fähigkeit, mit Menschen unterschiedlicher soziokultureller Herkunft zu kommunizieren und sich gegenseitig zu verständigen Prävention von Diskriminierung und Rassismus, konstruktive Bearbeitung von Konflikten
Es werden hier lediglich einige ausgewählte Vorschläge für die Ausbildung gemacht. Ausführlicher (mit Angabe von Literaturhinweisen) in Lanfranchi et al. (2000) sowie, ausgehend von den verschiedenen Fachbereichen oder Disziplinen, in Allemann-Ghionda/Perregaux/de Goumoëns (1999).
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Fragestellungen: 1.
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3. 4.
5.
6.
Welche Vorstellungen habe ich über Migrantinnen und Migranten, Asylsuchende, Migration und Flucht? Wie reagiere ich auf Mitmenschen, deren Verhaltensweisen mir nicht vertraut sind und denen meine Verhaltensweisen nur schwer nachvollziehbar sind? Wieweit behindern Stereotypen, Vorurteile, Ethnozentrismus die Begegnung mit „Fremden“? Wie begegne ich Mitmenschen, deren Denken, Fühlen, Handeln auf anderen sozio-kulturellen Grundlagen beruht, als ich es aufgrund meiner Sozialisation gewohnt bin? Wie entsteht die Angst vor „Fremden“, wann kann sie sich in Fremdenfeindlichkeit umwandeln? Wie kann ich monokulturelle, rigide Vorstellungen über Kultur und kulturelle Identität zu pluralistischen, multikulturellen Vorstellungen erweitern? Wie kann ich die Verständigung zwischen Menschen verschiedener kultureller Herkunft intensivieren und verbessern? Wie kann ich die Chance, „Fremde“ besser zu verstehen, für ein besseres Verständnis meiner selbst nutzen? Wie gehe ich mit dem Widerspruch zwischen individuellen (partikularistischen) und kollektiven (universalistischen) Interessen in der Gesellschaft um? Welche Positionen kann ich aus den Menschenrechten als sozialem Regelwerk für das Zusammenleben von Menschen verschiedener kultureller Herkunft ableiten? Welches sind die psychologischen Aspekte z.B. von Kriegstraumatisierung und welche pädagogischen Konsequenzen ergeben sich für die Schule?
Standard: Die Lehrerinnen und Lehrer kennen die Entstehungsmechanismen von Stereotypen, Vorurteilen, Diskriminierung und Rassismus. Sie können auf der Basis der eigenen wert- und normgeleiteten Orientierungen mit Menschen unterschiedlicher soziokultureller Herkunft und/oder mit unterschiedlichen Werten und Normen kommunizieren und dabei Konflikten vorbeugen resp. diese konstruktiv bearbeiten. Begründung: Um „Fremden“ begegnen zu können und sich mit ihnen in einem sicheren emotionalen Rahmen zu verständigen, ist es notwendig, dass die künftigen Lehrer/innen sich selber begegnen und ihre eigenen (kulturellen) Denkmuster und Wertvorstellungen gut kennen. Das ist die Grundlage, um ein „Fallverstehen“ im schulischen Umfeld zu ermöglichen und somit institutionelle sowie eigene Formen der Diskriminierung und des Rassismus zu verhindern.
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Methoden:
Die „verborgenen“ Vorstellungen und stillschweigenden Annahmen über Menschen anderer soziokultureller Herkunft mittels Rollen- oder Planspielen sichtbar machen. Missverständnisse und Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Angehörigen derselben Kultur anhand von auf Video aufgezeichneten Gesprächen analysieren Im Rollenspiel Konfliktsituationen inszenieren und Spielregeln bzw. konstruktive Lösungsvorschläge erarbeiten, die der gegenseitigen Verständigung dienen.
Curriculumbereich C: Didaktik, Integration und Schulerfolg Leitidee: Schülerinnen und Schüler im Unterricht integrieren und in ihrem Lernen mittels Fördern und Fordern unterstützen Lernbereich: Methodisch-didaktische Fähigkeiten im Umgang mit Heterogenität, zugunsten von Leistungssteigerung und Schulerfolg Kompetenzen: Erfassen, Interpretieren, Bewerten und Beurteilen von Leistungen und individuellen Lernprozessen Unterricht an die Voraussetzungen der besonderen Schülerpopulation anpassen Berücksichtigung von Vielfalt und Verschiedenheit in didaktischen Konzeptionen Den Unterricht unter dem Gesichtpunkt der sozialen Integration aller Kinder gestalten Förderung der Zusammenarbeit im Team und Beteiligung an Schulentwicklungsprojekten Fragestellungen: 1. 2.
Welche neuen oder neu zu gewichtenden Zielsetzungen ergeben sich aus der bestehenden soziokulturellen Vielfalt für die heutige Schule? Über welche didaktisch-methodischen Kenntnisse und Fähigkeiten müssen Lehrpersonen verfügen, um der sozialen, sprachlichen und kulturellen Vielfalt ihrer Schüler/innen gerecht zu werden?
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Wie können unterschiedliche Lernvoraussetzungen und Lernmöglichkeiten, Deutungs- und Handlungsmuster, Lernmotivationen, Normen und Wertvorstellungen im Unterricht berücksichtigt werden? Welches ist der aktuelle Forschungsstand über die Phänomene und Ursachen des Schulmisserfolgs, insbesondere im Zusammenhang mit Situationen der Einwanderung und der Flucht? Wie begegne ich dem häufig vorkommenden Effekt der Unterschätzung von Migrationskindern und wie vermeide ich subjektive Beurteilungsverzerrungen? Wie kann ich auf der Ebene des Lehrerinnen- und Lehrerteams und der ganzen Schule dazu beitragen, dass Standortbestimmungen und Förderprojekte bezüglich Schulqualität und Schulerfolg aller Kinder vorgenommen werden?
Standard: Die Lehrerinnen und Lehrer kennen die zentralen Dimensionen des Schulerfolgs unter multikulturellen Kontextbedingungen. Sie können auf diesem Hintergrund eine hohe Unterrichtsqualität trotz heterogener Klassenzusammensetzung (hohe Anteile fremdsprachiger und/oder sozial unterprivilegierter Kinder) sichern. Begründung: Ein an die besondere Schülerschaft angepasster Unterricht verlangt die Fähigkeit, Leistungen zu erfassen, zu interpretieren und unter Kontrolle eigener Erwartungshaltungen zu beurteilen. Das bedingt ein Verstehen individueller Lernprozesse und eine pädagogische Flexibilität in der Umsetzung verschiedener didaktischer Konzeptionen. Methoden:
Im Rahmen der schulpraktischen Ausbildung die Lernvoraussetzungen, den Lernstand und die Lernmöglichkeit ausgewählter Kinder mittels geeigneter Instrumente erfassen. Verschiedene Beurteilungskriterien und Erklärungen für schulischen Erfolg und Misserfolg von Migrationskindern kritisch reflektieren. Unterrichtsformen und -konzepte kennen lernen, in denen Themen aus verschiedenen Perspektiven behandelt werden können und damit den verschiedenartigen Ressourcen der Kinder Raum geben. Studien zu den Determinanten des Schulerfolgs und zu den Ursachen des Schulmisserfolgs anhand der Fachliteratur lesen, zusammenfassen und im Seminar präsentieren. Die unterschiedlichen Erwartungen praktizierender Lehrpersonen an die Schüler/innen und den Einfluss der Erwartungen auf die schulische Leistung mittels Interview erfassen.
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Unterrichtseinheiten für eine multikulturelle, mehrsprachige Klasse gemäss Vorgaben im Lehrplan und gestützt auf die Merkmale „wirksamer Lehrpersonen“ im Team erarbeiten.
Curriculumbereich D: Mehrsprachigkeit Leitidee: Die Mehrsprachigkeit aller Schülerinnen und Schüler unterstützen Lernbereich: Umgang mit Mehrsprachigkeit Kompetenzen:
Die Fähigkeit, die multilinguale Identität zu stärken und den Unterricht für die vorhandenen Sprachen in der Klasse zu öffnen Fähigkeiten, den Unterricht gemäß den Prinzipien der Erst- und Zweitsprachdidaktik zu gestalten Sprachfördernde Unterrichtsgestaltung
Fragestellungen: 1.
2.
3.
Wie kann die sprachliche und kulturelle Pluralität im Unterricht für den Austausch und den Dialog über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg genutzt werden? Wie können Erst- oder Familien- oder CommunitySprachen, der die Lehrperson nicht mächtig ist, trotzdem im Unterricht herangezogen werden? Wie können Unterrichts- und Lernstrategien gefunden und angewandt werden, die dem Sprachprofil der Klasse angemessen sind (für den Unterricht in der ganzen Klasse, in Gruppen oder für Einzelarbeit)? Wie finden Schüler/innen, die neu mit dem Erwerb der Zweitsprache begonnen haben, Zugang zum Unterrichtsgeschehen und Unterrichtsstoff (entweder durch zweisprachige Erziehung oder – wo dies nicht möglich ist – durch Fördermaßnahmen in der Zweitsprache)?
Standard: Die Lehrerinnen und Lehrer kennen die Phasen des Erwerbs des Deutschen als Zweitsprache sowie die Bedeutung der Förderung der Erstsprache für den Erwerb der Zweitsprache. Sie können auf dieser Basis den Unterricht gemäß den Prinzipien der Erst- und Zweitsprachdidaktik gestalten.
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Begründung: Durch die Berücksichtigung und Öffnung des Unterrichts im Bereich der vorhandenen Sprachen in der Klasse wird die mehrsprachige Identität aller Kinder gestärkt. Eine sprachfördernde Unterrichtsgestaltung erhöht ihre Kompetenzen sowohl in der Erst- als auch in der Zweitsprache und trägt zur Leistungssteigerung in anderen Fächern bei. Methoden:
Die eigene Sprachbiographie und den persönlichen Fremdsprachenerwerb in und außerhalb der Schule analysieren und ein Portfolio erstellen. Im Rahmen der schulpraktischen Ausbildung herausfinden, welche Familien-, Schul- und Freizeitsprachen in welchem Kontext gesprochen werden. Begegnungen mit den Lehrpersonen des Muttersprachunterrichts (MSU; in der Schweiz: der Kurse in heimatlicher Sprache und Kultur HSK) ermöglichen und deren Anliegen kennen lernen.
Curriculumbereich E: Elternkooperation Leitidee: Die Eltern in das schulische Geschehen einbeziehen Lernbereich: Zusammenarbeit mit den Eltern Kompetenzen:
Fähigkeit, mit den Eltern verschiedener Herkunft zusammenzuarbeiten Kenntnis der Beratungsmöglichkeiten für Eltern Handlungsmöglichkeiten und Mitbestimmungsrechte strukturell Benachteiligter fördern
Fragestellungen: 1.
2.
Wie lerne ich mit den Eltern von Schüler(inne)n aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen (Schicht, Religion, Herkunft) zu kommunizieren und zusammen zu arbeiten? Wie kann ich Brücken zur Verbindung von Familie und Schule fallbezogen entwickeln und umsetzen (wie Lehrer-Eltern-Konferenzen, Einzelgespräche mit Eltern, Hausbesuche, etc.)?
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Wie erreiche ich die Kooperation möglichst aller Eltern bei schulischen Fragen bzw. bei der Unterstützung ihrer Kinder (lernanregende Freizeit, Umgang mit Medien, Arbeit mit Übersetzer(inne)n etc.)?
Standard: Die Lehrerinnen und Lehrer kennen die Möglichkeiten und Grenzen des Einbezugs aller Eltern und weiterer am Bildungs- und Erziehungsprozess Beteiligter. Sie können vor diesem Hintergrund die jeweils gewählte Form der Kooperation begründen und eine „Passung“ zwischen Schule und Elternhaus fördern. Begründung: Schulkinder in multikulturellen Verhältnissen sind häufig auf sich gestellt, wenn es darum geht, diskrepante Botschaften, Erwartungen und Ansprüche in ihren Lebenswelten zu integrieren. Ihr „seelisches Grenzgängertum“ wird in jenen Fällen von der Belastung zur Chance, wo Formen der Verbindung zwischen diesen Lebenswelten geschaffen werden. Lehrpersonen können hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten, wenn sie aktiv Kontakte zu den Eltern pflegen und dabei nötigenfalls weitere Beteiligte wie zum Beispiel sozial kompetente Übersetzer/innen bzw. kulturelle Mediatoren einbeziehen. Methoden:
Durch mehrtägige Aufenthalte in Familien in einem der Herkunftsländer von Migrant(inn)en und/oder im Aufnahmeland intensive und authentische Begegnungssituationen mit dem Zweck ermöglichen, spätere Kontakte zu Migrationseltern im Rahmen einer kooperativen Schulpraxis zu erleichtern. Strategien entwerfen, wie mit „bildungsfernen“ Eltern in verschiedenen Kooperationsformen über Erziehungsmodalitäten, beiderseitige Ansprüche und Erwartungen kommuniziert werden kann.
Curriculumbereich F: Übergang ins Berufsleben Leitidee: Schülerinnen und Schüler auf dem Weg zur Berufswahl begleiten Lernbereich: Unterstützung von Eltern und Schüler(inne)n und Zusammenarbeit mit Vertretern der Berufswelt Kompetenzen:
Die Bedeutung der Arbeit und des Berufs in den Gesellschaften der Herkunftsländer und in Deutschland bzw. der Schweiz kennen
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Mit dem Berufsbildungssystem in den Herkunftsländern und Deutschland bzw. der Schweiz vertraut sein. Über Strategien verfügen, die den Schüler(inne)n berufliche Perspektiven eröffnen.
Fragestellungen: 1.
2.
3.
Welchen soziokulturellen Stellenwert haben der Beruf und die Erwerbsarbeit in verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen? Gibt es geschlechtspezifische Unterschiede? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es im Bereich der Berufsbildung sowie in der Berufs- und Arbeitswelt zwischen den Herkunftsländern und Deutschland oder der Schweiz? Welche Schritte gilt es auf dem Weg in die Berufswelt zu unternehmen? Wie können Schüler/innen unter Berücksichtigung der elterlichen Denkmodelle in ihrer Eigenaktivität unterstützt werden? Welche Organisationen und Institutionen sind in diesem Prozess hilfreich?
Standard: Die Lehrerinnen und Lehrer der Sekundarstufe I und II kennen die Berufs- und Arbeitswelt sowie die Modelle, Ressourcen und Probleme der Berufsbildung in den Herkunftsländern von Migrationsjugendlichen und in Deutschland bzw. der Schweiz. Sie können auf dieser Grundlage Schüler(inne)n helfen, Strategien der Berufswahl und -findung zu entwickeln. Begründung: Der Zugang zu Ausbildungsplätzen ist für Schulabgänger aus „bildungsfernen“ Migrationsfamilien im Vergleich zu Schweizer Jugendlichen mit gleichem Schulabschluss aus verschiedenen Gründen zum Teil massiv erschwert. Deshalb gehört es zu den Aufgaben der Lehrpersonen in Abschlussklassen, mittels Unterstützung der Kinder, ihrer Eltern und der Zusammenarbeit mit Vertreter(inne)n der Berufswelt individuelle Perspektiven des Berufsanschlusses zu öffnen. Methoden:
Die Verfahren der Berufswahlkunde durch Kontakte mit Eltern und Vertreter(inne)n der Berufswelt auf die spezifische Situation von Jugendlichen aus Migrationsfamilien adaptieren. Durch Exkursionen in ausgewählten Berufsbildungseinrichtungen sowie Kontakte zu Jugendlichen, die den Übergang zum Beruf erfolgreich absolviert haben, Strategien der Unterstützung für schulisch weniger erfolgreiche (Migrations)-Jugendliche entwickeln.
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Schlussbetrachtung und Perspektiven Bekanntlich hat sich das Berufsfeld Schule in letzter Zeit eindrücklich verändert. Stand bis vor einigen Jahren das „durchschnittliche“, „einheimische“ Kind im Zentrum der Aufmerksamkeit, ist an seine Stelle eine plurale Schülerschaft, eine Vielfalt auf verschiedensten Ebenen getreten. Um ein Beispiel zu nennen: die Kluft zwischen Kindern, die immer mehr können und leisten und Kindern, die immer weniger können und leisten hat massiv zugenommen. Die Förderung interkultureller Kompetenz in der Aus- und Weiterbildung für die pädagogische Berufspraxis will eine sinnvolle Antwort auf diese veränderte schulische und gesellschaftliche Wirklichkeit sein. Der Anspruch ist hoch: Verlangt wird ein ganzheitlicher Ansatz, der die Beziehungen zum „Anderen“ auf die Grundlage gegenseitiger Anerkennung, des Dialogs und der Konfliktbewältigung durch das Aushandeln von tragfähigen Lösungen stellt. Diese Konzeption unterscheidet sich deutlich von früheren Auffassungen einer „Arbeit für Ausländerkinder“ via Sondermaßnahmen, wie sie von der Ausländerpädagogik der 70er Jahre vertreten wurde. Das Bild von Schule und Gesellschaft als einsprachigen und monokulturellen Räumen hat einer Vorstellung von Pluralität und Mehrperspektivität zu weichen. Es ist möglich, dass ein solcher Perspektivenwechsel manche Lehrpersonen verunsichert. Es muss jedoch gelingen, diesen Perspektivenwechsel einzuleiten. Eine Ausbildung, welche ihrem Anspruch gerecht werden will und die Verantwortung gegenüber dem beschleunigten gesellschaftlichen Wandel wahrnehmen soll, muss vieles erreichen: die angehenden Lehrpersonen in die Grundlagen der Humanwissenschaften einführen, das Faktum der Heterogenität in didaktische Konzepte integrieren und ihnen das methodologische Rüstzeug zum Unterrichten vermitteln, aber auch die Fähigkeit, sich am jeweiligen konkreten „Fall“ in seiner Einzigartigkeit zu orientieren (zur Fallinterpretation als Methode in der Lehrerbildung vgl. Beck u.a. 2000; sowie Radtke 1996). Auf dieser Basis ist eine Professionalität zu entwickeln, welche die Pluralität der Kompetenzen und des Wissens der Schüler/innen verschiedener soziokultureller Milieus nutzt und gemeinsame Entwicklungsschritte fördert. Eine solche Ausbildung verlangt ein grundlegendes Umdenken: kritisches Hinterfragen der hinter den schulischen Inhalten stehenden Wert- und Normvorstellungen und der schulischen Verhaltensregeln; Akzeptieren der Vielfalt der Lernzugänge und Lernstrategien; Akzeptanz verschiedener Formen der Sozialisation im gleichzeitigen Wissen um die Notwendigkeit geteilter Regeln und Normen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort. Es dürfte im Hinblick auf die heutige und künftige Lehrerinnen- und Lehrerbildung empfehlenswert sein, dass die Verbindlichkeit von Angeboten zur
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Vermittlung interkultureller Kompetenzen deutlich erhöht wird, und zwar durch verpflichtende Module, Praktika in heterogenen Klassen, Supervision und Verfahren der Qualitätssicherung.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Auernheimer, Georg, Prof. em., Humanwissenschaftliche Fakultät der Universität Köln, Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt), Arbeitsschwerpunkte: Bildungspolitik in der Einwanderungsgesellschaft, interkulturelle Kommunikation und Kompetenz,
[email protected] Bender-Szymanski, Dorothea, PD Dr. habil., Dipl.-Psych., Assoziierte Wissenschaftlerin am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Arbeitsschwerpunkte: Qualität mehrsprachiger, multikultureller Schulen, Entwicklung u. Evaluation von Lehr-/ Lernsequenzen zur inter-kulturellen u. politischen Bildung,
[email protected] Fechler, Bernd, Dipl.Päd., Mediator und Ausbilder für Mediation BM, Institut „inmedio“ Berlin und Frankfurt/Main; Arbeitsschwerpunkte: Mediation in interkulturellen Kontexten, Systemische Organisationsberatung,
[email protected] Gaitanides, Stefan, Dr. Professor an der Fachhochschule Frankfurt am Main, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit Schwerpunkte: Soziale Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft, Migrationssoziologie, Ethnische Vorurteile und Rassismus,
[email protected] Grosch, Harald, Dipl.-Päd., Wiss. Mitarbeiter im Institut für Interkulturelle Bildung, Fakultät für Sozialwissenschaften der Fachhochschule Köln; Aktuelle Forschungsschwerpunkte: interkulturelle Personal- und Organisationsentwicklung, Methoden und Medien zur Vermittlung interkultureller Kompetenzen,
[email protected] Groß, Andreas, Dipl.-Päd., Wiss. Mitarbeiter im Institut für Interkulturelle Bildung, Fakultät für Sozialwissenschaften der Fachhochschule Köln; aktuelle Forschungsschwerpunkte: Praxis-forschung, interkulturelle Personal- und Organisationsentwicklung, Diversity Management, Trainingsforschung und -evaluation,
[email protected] 262
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Hoffman, Edwin, Dr., Consultant/ Trainer, Fachhochschule Fontys Hogeschool Sociale Studies Eindhoven NL, Spezialgebiet: Transkulturelle Kommunikation,
[email protected] Kiesel, Doron, Dr., Professor an der Fachhochschule Erfurt, Fachbereich Sozialwesen, Lehrgebiet: Interkulturelle/Internationale Sozialarbeit, Migrationsforschung,
[email protected] Knapp, Annelie, Dr., Professorin am Fachbereich Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften der Universität Siegen, Lehr- und Forschungsgebiet: Didaktik der englischen Sprache, Sprachlehr- und -lernforschung, knapp@anglistik. uni-siegen.de Lanfranchi, Andrea, Dr., Professor für Sonderpädagogik an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich, Fachpsychologe für Kinder- u. Jugendpsychologie FSP, Lehrtherapeut und Supervisor am Ausbildungsinstitut für systemische Therapie und Beratung in Meilen, Mitglied der eidgenössische Kommission für Familien,
[email protected] Leenen, Wolf Rainer, Dr. rer. pol., Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule Köln, Leiter des Forschungsschwerpunkts „Interkulturelle Kompetenz“, Arbeitsgebiete: Ursachen und Folgen von Migration, Rassismus/Ausländerfeindlichkeit, Interkulturelles Lernen,
[email protected] Mecheril, Paul, Dr. phil. Professor an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Innsbruck, Lehr- und Forschungsschwerpunkte u.a.: Interkulturelle Bildung und Erziehung, Migrationsforschung, Rassismustheorie, Cultural Studies,
[email protected] Volz, Fritz Rüdiger, Dr. phil., Professor für Soziologie und Sozialphilosophie/ Ethik an der Ev. Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum; Lehrund Forschungsgebiete: u. a. Ethik sozialer Berufe, fr.volz@efh-bochum. de