H. Schneider (Hrsg.) P. Husslein (Hrsg.) K. T. M. Schneider (Hrsg.) Die Geburtshilfe 4. Auflage
H. Schneider (Hrsg.) P. Husslein (Hrsg.) K. T. M. Schneider (Hrsg.)
Die Geburtshilfe 4. Auflage Mit 456 Abbildungen und 193 Tabellen
123
Prof. Dr. med. Henning Schneider
Univ.-Prof. Dr. med. Karl-Theo M. Schneider
Ehem. Direktor und Chefarzt der Universitätsfrauenklinik am Inselspital Bern Ahornweg 4 3122 Kehrsatz Schweiz
Poliklinik der TU München Klinikum rechts der Isar Frauenklinik Leiter der Abt. für Perinatalmedizin Ismaninger Straße 22 81675 München
Univ.-Prof. Dr. med. Peter Husslein Vorstand der Universitätsfrauenklinik Wien Leiter der Abt. für Geburtshilfe, Gynäkologie und feto-maternale Medizin, AKH Währinger Gürtel 18-22 1090 Wien Österreich
Ihre Meinung interessiert uns: www.springer.com/978-3-642-12973-5
ISBN-13 978-3-642-12973-5 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Springer-Verlag GmbH ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Dr. sc. hum. Sabine Höschele, Heidelberg Projektmanagement: Dipl.-Biol. Ute Meyer-Krauß, Heidelberg Lektorat: Michaela Mallwitz Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin Titelbild: Hannes Eichinger/fotolia.com Satz und digitale Bearbeitung der Abbildungen: Fotosatz-Service Köhler GmbH – Reinhold Schöberl, Würzburg SPIN: 12533879 Gedruckt auf säurefreiem Papier
2111 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort zur 4. Auflage Die seit längerem zu beobachtende Erhöhung des Alters der Schwangeren sowie die Zunahme der Adipositas sind hervorstechende Veränderungen in unserer Gesellschaft, die wesentlich für den Anstieg von Risikofällen verantwortlich sind. Dabei handelt es sich aufseiten der Mutter vor allem um Schwangerschaftskomplikationen wie hypertensive Erkrankungen und Diabetes mellitus Typ II. Aufseiten des Fetus sind dies intrauterine Wachstumsstörungen und Frühgeburtlichkeit. Die erhöhte Inzidenz von Morbidität bei Mutter und Kind beschränkt sich nicht nur auf die Schwangerschaft selbst und deren Ausgang, sondern sie wirkt sich auch im Verlauf des weiteren Lebens negativ auf die Gesundheit von Mutter und Kind aus. Der besonderen Bedeutung des intrauterinen Milieus für die Programmierung des Fetus und die damit verbundene Anfälligkeit für Erkrankungen im Bereich des Herz-Kreislauf-Systems, des intermediären Stoffwechsels sowie verschiedener Organsysteme im postnatalen Leben wurde in der Neuauflage erstmals mit einem eigenen Kapitel Rechnung getragen. Durch das Konzept der »Fetalen Programmierung« erfährt die auf dem Gedanken der Prävention gründende Schwangerschaftsvorsorge eine bedeutende Ausweitung im Sinn der Primärprävention gegenüber Erkrankungen im späteren Leben des Neugeborenen. Eine Reihe weiterer Kapitel wurde unter Beteiligung neuer Autoren grundlegend überarbeitet. Andere Kapitel wurden dem neuesten Wissensstand angepasst mit dem Ziel, sämtliche Inhalte für die Weiterbildung zum Facharzt sowie auch für die fakultative Weiterbildung »Spezielle Geburtshilfe und Perinatologie« abzudecken. Für die Zukunft der Geburtshilfe zeichnet sich konkret folgendes zentrale Thema ab: Neue biochemische Parameter sowie Rechenalgorithmen, die verschiedene diagnostische Kenngrößen betrachten, erlauben bereits im ersten Trimenon Hinweise auf die erst später eintretenden Risiken einer intrauterinen Wachstumsrestriktion (IUWR), Frühgeburtlichkeit oder Präeklampasie. Auf der Basis dieser Vorhersage kann ein differenziertes Programm für die Schwangerschaftsvorsorge individuell festgelegt werden: Normale Schwangerschaft – Eine intensive Beratung durch geschultes Personal wird von einem Minimum an interventioneller Diagnostik und Überwachung begleitet. Schwangerschaft mit erhöhtem Risiko – Durch gezielte Diagnostik, Prophylaxe sowie Früherkennung von Krankheitssymptomen wird eine Optimierung des »Outcome« für die betreffende Pathologie angestrebt. Auch bei der Geburt kann klarer unterschieden werden zwischen: Normale Geburt – Beobachtende und unterstützende Begleitung mit Überwachung des Fetus durch möglichst nichtinvasive, gleichzeitig aber sensitive und vor allem auch spezifische Methoden zur Früherkennung einer Hypoxie. Potenziell pathologische Verläufe – Durch die Kombination von anamnestischen sowie klinischen Daten mit Ultraschall-/Doppleruntersuchungen nach den Mutterschaftsrichtlinien erfolgt eine prospektive Abschätzung des Geburtsverlaufs bereits vor Geburtsbeginn. Während der Geburt sollen protrahierte Verläufe frühzeitig erkannt, schwierige vaginaloperative Entbindungen, späte sekundäre Sectiones sowie vor allem auch notfallmäßige Interventiones soweit wie möglich vermieden werden. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit des Geburtsmediziners mit anderen Berufsgruppen, wie Hebammen, Anästhesisten, Neonatologen, Genetikern, Physiotherapeuten, Ernährungsberatern, Sozialarbeitern und Psychologen für die Sicherheit und das Wohlergehen von Mutter und Kind kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Als Herausgeber bedanken wir uns bei den Autoren für deren großen Einsatz bei der Erstellung der Beiträge. Auch den Mitarbeitern des Verlags, einschließlich Lektorat und Drucklegung, gilt für die professionelle Bearbeitung und die stets sehr angenehme Zusammenarbeit unser besonderer Dank. Im Oktober 2010 Prof. Dr. med. Henning Schneider Prof. Dr. med. Peter Husslein Prof. Dr. med. Karl Theo M. Schneider
VII
Vorwort zur 3. Auflage Liebe Leserinnen und Leser, obwohl seit dem Erscheinen der 2. Auflage der »Geburtshilfe« erst 4 Jahre vergangen sind, nötigte die rasche Entwicklung des Faches zu einer grundlegenden Überarbeitung. Einige Themen wurden neu aufgenommen; sie sind am Schluss dieses Vorwortes aufgelistet. Die zunehmende Überalterung der Bevölkerung ist nicht nur für Versicherungsexperten und Politiker besorgniserregend, sondern es ergeben sich daraus ebenso weitreichende Konsequenzen für das Fachgebiet der Geburtshilfe. Nicht umsonst war dies das Leitthema des 22. Deutschen Kongresses für Perinatale Medizin vom 1.–3. Dezember 2005 in Berlin. Jede fünfte werdende Mutter ist bei der Geburt ihres Kindes 35 Jahre oder sogar älter. Für Erstgebärende lag das Durchschnittsalter 2003 bei 29 Jahren. Der Zusammenhang zwischen dem mütterlichen Alter und ungünstigen Schwangerschaftsverläufen betrifft nicht nur die Inzidenz von Chromosomenanomalien wie insbesondere Trisomie 21, sondern auch Komplikationen wie Fehl- und Frühgeburten, hypertensive Schwangerschaftserkrankungen, Gestationsdiabetes, spontane Mehrlinge u. a. nehmen mit steigendem Alter der Mutter zu. Gleichzeitig nimmt die Fertilität ab, sodass die assistierte Reproduktionsmedizin vermehrt zum Einsatz kommt, was eine weitere Zunahme von Mehrlingsschwangerschaften mit all ihren Komplikationen zur Folge hat. Auch die scheinbar unaufhaltsam steigende Häufigkeit von Kaiserschnittentbindungen ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Darüber hinaus haben tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft zu einem bedrohlichen Rückgang der Geburtenzahl geführt. Gemäß einer neueren Erhebung des Bundesamtes für Statistik beträgt der Anteil der kinderlosen Frauen bei den zwischen 1960 und 1964 Geborenen mit mittlerem Bildungsniveau in der Schweiz 24% im Vergleich zu 17% bei den Jahrgängen 1935–1939. Bemerkenswert ist, dass von dem Rückgang der letzten Jahre speziell die traditionell kinderreichen ländlichen Bevölkerungsgruppen und Frauen mit geringerem Bildungsniveau wie auch bestimmte Gruppen von Migrantinnen betroffen sind. Neben den Anstrengungen der Politik, die Bedingungen für kinderreiche Familien zu verbessern, ist in besonderem Maße die weitere Optimierung der medizinischen und psychosozialen Betreuung von Schwangeren gefordert, um ungünstige Schwangerschaftsausgänge so weit wie möglich zu vermeiden. Dem Risikomanagement wurde in dieser Auflage ein besonderes Kapitel gewidmet. Es gilt als erwiesen, dass für seltene Komplikationen nur durch eine konsequente Aufarbeitung von Problemsituationen und der damit verbundenen Bewusstseinsbildung bei den Betreuenden eine wirksame Prophylaxe geschaffen werden kann. Diese Komplikationen sind wegen ihrer Seltenheit in unseren Breitengraden zwar epidemiologisch gesehen wenig relevant, aber für die betroffenen Frauen und die zugehörigen Familien sind die Auswirkungen i. d. R. katastrophal. Folgenden Themen wurde in dieser Auflage erstmals ein separates Kapitel gewidmet: 4 Medikamentöse und chirurgische Therapie des Fetus 4 Stammzellen aus Nabelschnurblut 4 Zusammenstellung der wichtigsten Leitlinien Darüber hinaus sei auf die Themen, die in einer vollständigen Neubearbeitung durch neue Autoren vorliegen, speziell hingewiesen: Schwangerschaftsvorsorge, thromboembolische Erkrankungen, Infektionen, Diabetes mellitus, Poleinstellungsanomalien, Risikomanagement und perinatale Mortalität. Zum Schluss sprechen die Herausgeber allen Kapitelautoren für ihren großen Einsatz bei der Bearbeitung der Beiträge ihren Dank aus. Auch den Mitarbeitern des Verlages einschließlich Lektorat und Drucklegung danken wir für die professionelle Erfüllung ihrer Aufgaben und die stets sehr angenehme Zusammenarbeit. Im September 2006
Prof. Dr. med. Henning Schneider, Prof. Dr. med. Peter Husslein, Prof. Dr. med. Karl Theo M. Schneider
Sektionsverzeichnis I
Frühschwangerschaft
II
Abklärung und Beratung während der Schwangerschaft
–1
– 109
III
Erkrankungen in der Schwangerschaft
IV
Pathologie der Schwangerschaft
V
Geburt
VI
Postpartum/Wochenbett/Stillzeit
VII
Qualitätsmanagement/Ethik/ Psychosomatik – 1137
– 469
– 681
Stichwortverzeichnis
– 1255
– 1059
– 273
XI
Inhaltsverzeichnis 13
I Frühschwangerschaft 1
Präimplantation, Implantation und Plazentation: Bedeutung für den Schwangerschaftsverlauf. . . . .
E. Krampl-Bettelheim
14
Frühschwangerschaft: klinische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . .
15
Extrauteringravidität. . . . . . . . . . . . .
19
Trophoblasterkrankungen . . . . . . . . .
III Erkrankungen in der Schwangerschaft
33
E. Kucera-Sliutz, S. Helmy, R. Lehner, P. Husslein
4
Ultraschall im 3. Trimenon . . . . . . . . . 245 E. Ostermayer, M. Schelling, K. Chalubinski
S. Pildner von Steinburg, K. Marzusch
3
Schwangerschaft und Ernährung . . . . . 223 C. Tempfer, P. Bung
3
H. Schneider, L. Raio, M. Knöfler
2
Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . 211
16 45
Erkrankungen und Risikofaktoren in der Schwangerschaft . . . . . . . . . . . 275 F. Kainer, P. Husslein
P. Speiser, H. Strohmer, E. Krampl-Bettelheim
5
Ungewollte Schwangerschaft . . . . . . .
59
17
C. Fiala, W. Eppel, H. Schneider
6
Embryologie und Teratologie . . . . . . .
L. Raio, M. Baumann, H. Schneider
81
W.E. Paulus
19
Anämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
Thromboembolische Komplikationen in Schwangerschaft und Wochenbett . . 361 T. Fischer
Grundlagen diagnostischer Tests und Screeningverfahren . . . . . . . . . . 111 R. Kürzl
8
18
C. Breymann
II Abklärung und Beratung während der Schwangerschaft 7
Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
20
I. Mylonas, K. Friese
21
Ersttrimesterscreening auf Fehlbildungen und Chromosomenstörungen . . . . . . . . . 125
Diabetes mellitus und Schwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 U.M. Schaefer-Graf, A. Kautzky-Willer
22
R. Zimmermann
Infektionen in der Geburtshilfe . . . . . . 379
Alloimmunerkrankungen . . . . . . . . . . 457 R. Zimmermann
9
Fehlbildungsdiagnostik im 2. Trimenon
143
K. D. Kalache, A. M. Dückelmann, W. Blaicher, D. Prayer
10
Pränatale Diagnostik: molekularbiologische Methoden . . . . . 165 O. Lapaire, S. Hahn
11
23
Schwangerenvorsorge. . . . . . . . . . . . 193 K. Vetter, M. Goeckenjan
Physiologie und Pathologie des Geburtsbeginns . . . . . . . . . . . . . 471 H. Schneider, H. Helmer, P. Husslein, C. Egarter, S. Pildner von Steinburg, E. Lengyel
Physiologie des mütterlichen Organismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 U. Lang, P. Husslein, R. Ahner, D. Bikas
12
IV Pathologie in der Schwangerschaft
24
Frühgeburt: Pränatale und intrapartale Aspekte . . . . . . . . . . 511 H. Schneider, H. Helmer
XII Inhaltsverzeichnis
25
Früher vorzeitiger Blasensprung . . . . . 557
41
C. Egarter, K. Reisenberger
26
Der Fetus als Patient – Chirurgische und medikamentöse Therapie. . . . . . . 569
Sectio caesarea . . . . . . . . . . . . . . . . 909 H. Schneider, P. Husslein
42
Mehrlinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 923 E. Krampl-Bettelheim
T. Kohl, U. Gembruch
43 27
Intrauterine Wachstumsrestriktion (IUWR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587
Regelwidrigkeiten des Geburtsmechanismus: Poleinstellungsanomalien . . . . 941 A. Feige, M. Krause
H. Schneider, K.T.M. Schneider
44 28
Schulterdystokie . . . . . . . . . . . . . . . 965 J. Gnirs, K.T.M. Schneider
Fetale Programmierung . . . . . . . . . . . 617 E. Schleußner
45 29
Pathologie der Plazentarperiode . . . . . 987 C. Brezinka, W. Henrich
Blutungen im 3. Trimenon . . . . . . . . . 633 F. Kainer
46 30
Antepartale Überwachung . . . . . . . . . 647
Gerinnungsstörungen in der Geburtshilfe . . . . . . . . . . . . . . 1003
K.T.M. Schneider, J. Gnirs
W. Rath, F. Bergmann
47
V Geburt
Geburtshilfliche Anästhesie und Analgesie . . . . . . . . . . . . . . . . . 1025 B. von Hundelshausen, M.G. Mörtl
31
Normale Geburt . . . . . . . . . . . . . . . . 683 K.M. Chalubinski, P. Husslein, R. Ahner, L. Kuntner, B. Bodner-Adler
32
VI Postpartum/Wochenbett/ Stillzeit
Wassergeburt . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 G. Eldering, V. Geissbühler
48
Versorgung des Neugeborenen . . . . . . 1061 A. Zimmermann
33
Geburtsüberwachung . . . . . . . . . . . . 723 J. Gnirs, K.T.M. Schneider
34
49
Intrapartale Asphyxie . . . . . . . . . . . . 771 H. Schneider, J. Gnirs
35
Geburtseinleitung . . . . . . . . . . . . . . 783 D. Surbek, P. Husslein, C. Egarter
36
Vorzeitiger Blasensprung am Termin . . 795 K. Reisenberger, P. Husslein
37
Terminüberschreitung . . . . . . . . . . . 803 H. Schneider, E. Weiss
38
Pathologische Geburt . . . . . . . . . . . . 819 G. Drack, H. Schneider
39
Vaginaloperative Entbindung . . . . . . . 867 H. Hopp, K. Kalache
40
Geburt und Beckenboden . . . . . . . . . 887 A. Kuhn, C. Anthuber, J. Wisser, C. Frank
Stammzellen aus Nabelschnurblut und Nabelschnur und deren Bedeutung in der Geburtshilfe . . . . . . 1089 D. Surbek, A. Wagner
50
Wochenbett . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1097 N. Ochsenbein-Kölble
51
Stillen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1105 M. Abou-Dakn
52
Nachuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . 1125 M. Franz, F. Kainer
XIII Inhaltsverzeichnis
VII Qualitätsmanagement/ Ethik/Psychosomatik 53
Psychosomatik in der Geburtshilfe . . . . 1139 Martin Langer
54
Komplementäre Medizin . . . . . . . . . . 1155 K. Stähler van Amerongen, Matthias Langer, O. Bonifer, O. Lindemann
55
Ethische Probleme in der Geburtshilfe
1167
Martin Langer
56
Klinisches Risiko- und Fehlermanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1183 N. Pateisky
57
Perinatale Mortalität . . . . . . . . . . . . . 1195 N. Lack
58
Müttersterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . 1207 H. Welsch, A. Wischnik, R. Lehner
59
Forensik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1225 K. Ulsenheimer, C. Brezinka
60
Empfehlungen und Leitlinien (Guidelines). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1247 K.T.M. Schneider
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . 1255
XV
Autorenverzeichnis Abou-Dakn, Michael, Dr. med.
Bonifer, Oliver, Dr. med.
Egarter, Christian, Prof. Dr. med.
St.-Joseph-Krankenhaus Abt. für Gynäkologie und Geburtshilfe Bäumerplan 24 12101 Berlin
Naistentautien Klinikka Savonlinnan Keskussairaala Keskussairaalantie 6 57120 Savonlinna Finnland
Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abt. für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, AKH Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Ahner, Regine, Univ.-Prof. Dr. med. Koenigsklostergasse 10/48-49 1060 Wien Österreich
Anthuber, Christoph, Prof. Dr. med. Klinikum Starnberg Oßwaldstraße 1 82319 Starnberg
Breymann, Christian, Prof. Dr. med. Universitätsspital Zürich Forschungsgruppe Feto-Maternale Hämatologie Frauenklinikstrasse 10 8091 Zürich Schweiz
Brezinka, Christoph, Univ.-Prof. Dr. med. Baumann, Marc, Dr. med. Universitätsfrauenklinik am Inselspital Bern Effingerstrasse 102 3010 Bern Schweiz
Medizinische Universität Innsbruck Klinik für Frauenheilkunde Anichstraße 35 6020 Innsbruck Österreich
MVZ Wagnerstibbe Georgstraße 50 30159 Hannover
Bikas, Diana, Dr. med. Kurt-Tichy-Gasse 7/1 1100 Wien Österreich
Blaicher, Wibke, Univ.-Prof. Dr. med. Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abt. für Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, AKH Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Bodner-Adler, Barbara, Univ.-Prof. Dr. med. Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abt. für Allgemeine Gynäkologie und Gynäkologische Onkologie, AKH Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Zytologisches Institut Bensberg Vinzenz-Pallotti-Straße 20–24 51429 Bensberg
Eppel, Wolfgang, Prof. Dr. med. Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abt. für Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, AKH Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Feige, Axel, Prof. Dr. med. Bung, Peter, Prof. Dr. med.
Bergmann, Frauke, Dr. med.
Eldering, Gerd, Dr. med.
Praxis für Gynäkologie und Geburtshilfe Friedensplatz 9 53111 Bonn
Universitätsklinik Nürnberg Abt. für Spezielle Geburtshilfe und Perinatale Medizin Bucherstraße 78 90408 Nürnberg
Chalubinski, Kinga Maria, Prof. Dr. med.
Fiala, Christian, Dr. med.
Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abt. für Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, AKH Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Gynmed. Ambulatorium für Schwangerschaftsabbruch und Familienplanung Mariahilfer Gürtel 37 1150 Wien Österreich
Drack, Gero, Dr. med.
Fischer, Thorsten, Prof. Dr. med.
Kantonsspital St. Gallen Frauenklinik Rorschacher Strasse 95 9007 St. Gallen Schweiz
Klinikum Landshut-Achdorf Frauenklinik Achdorfer Weg 3 4036 Landshut
Frank, Carola, Dr. med. Dückelmann, Anna Maria, Dr. med. Charité Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum Klinik für Geburtsmedizin Augustenburger Platz 1 13353 Berlin
Echinger Straße 13 85375 Neufahrn/Bayern
Franz, Maximilian, Dr. med. Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abt. für Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, AKH Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
XVI
Autorenverzeichnis
Friese, Klaus, Prof. Dr. med.
Henrich, Wolfgang, Prof. Dr. med.
Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Innenstadt I Frauenklinik Maistraße 11 80337 München
Charité Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum Klinik für Geburtsmedizin Augustenburger Platz 1 13353 Berlin
Geissbühler, Verena, Priv.-Doz. Dr. med.
Hopp, Hartmut, Prof. Dr. med.
Bethesda-Spital Gellertstrasse 144 4020 Basel Schweiz
Gembruch, Ulrich, Prof. Dr. med. Universitätsfrauenklinik Bonn Zentrum für Geburtshilfe und Frauenheilkunde Perinatalzentrum Sigmund-Freud-Straße 25 53105 Bonn
Charité Universitätsmedizin Berlin Campus Benjamin Franklin Klinik für Geburtsmedizin Hindenburgdamm 30 12200 Berlin
Hundelshausen von, Burkhard, Prof. Dr. med. Poliklinik der TU München Klinikum rechts der Isar Klinik für Anästhesiologie Ismaninger Straße 22 81675 München
Gnirs, Joachim L., Prof. Dr. med.
Husslein, Peter, Univ.-Prof. Dr. med.
Policlinica Miramar Camino da la Vileta, 30 07011 Palma de Mallorca/Balearen Spanien
Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abt. für Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, AKH Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Goeckenjan, Maren, Dr. med. Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Universitätsfrauenklinik Voßstraße 9 69115 Heidelberg
Hahn, Sinuhe, Priv.-Doz. Dr. med. Universitätsfrauenklinik Kantonspital Basel Labor Schanzenstrasse 46 4031 Basel Schweiz
Helmer, Hanns, Dr. med. Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abt. für Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, AKH Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Helmy, Samir, Dr. med. univ. Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abt. für Allgemeine Gynäkologie und Gynäkologische Onkologie, AKH Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Knöfler, Martin, Univ.-Prof. Mag. Dr. med. Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abt. für Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, AKH Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Kohl, Thomas, Prof. Dr. med Universitätsklinikum Bonn Deutsches Zentrum für Fetalchirurgie und minimalinvasive Therapie (DZFT) Sigmund-Freud-Straße 25 53105 Bonn
Krampl-Bettelheim, Elisabeth, Univ.-Doz. Dr. med. Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abt. für Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, AKH Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Krause, Michael, Dr. med. Klinikum Nürnberg Süd Frauenklinik Breslauer Straße 201 90471 Nürnberg
Kainer, Franz, Prof. Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Campus Innenstadt Perinatalzentrum der Klinik und Poliklinik für Gynäkologie und Geburtshilfe Maistraße 11 80337 München
Kalache, Karim D., Prof. Dr. med. Charité Universitätsmedizin Berlin Campus Benjamin Franklin Klinik für Geburts- und Pränatalmedizin Charitéplatz 1 10117 Berlin
Kautzky-Willer, Alexandra, Univ.-Prof. Dr. med. Universitätsklinik für Innere Medizin III Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Kucera-Sliutz, Elisabeth, Univ.-Prof. Dr. med. Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abt. für Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, AKH Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Kuhn, Annette, Priv.-Doz. Dr. med. Universitätsfrauenklinik am Inselspital Bern Effingerstrasse 102 3010 Bern Schweiz
Kuntner, Liselotte Kornweg 6 5024 Küttigen Schweiz
Kürzl, Rainer, Prof. Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Innenstadt I Frauenklinik Maistraße 11 80337 München
XVII Autorenverzeichnis
Lack, Nicholas, Dr. med.
Lindemann, Ortrud
Bayerische Arbeitsgemeinschaft für Qualitätssicherung BAQ-Geschäftsstelle Westenrieder Straße 19 80331 München
Marenostrum C/Fontanella 16, Pral. 08010 Barcelona Spanien
Marzusch, Klaus, Prof. Dr. med. Lang, Uwe, Univ.-Prof. Dr. med. Universitätsklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Landeskrankenhaus Graz Auenbruggerplatz 14 8036 Graz Österreich
Langer Martin, Prof. Dr. med. Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abt. für Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, AKH Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Praxis für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Uhlandstraße 14 72072 Tübingen
Mörtl, Manfred G., Dr. med. Kliniken Klagenfurt am Wörthersee Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Gesundheitszentrum für Kinder, Jugendliche und Frauen Perinatalzentrum St. Veiterstraße 47 9020 Klagenfurt Österreich
Pildner von Steinburg, Stephanie, Dr. med. Poliklinik der TU München Klinikum rechts der Isar Frauenklinik Ismaninger Straße 22 81675 München
Prayer, Daniela, Univ.-Prof. Dr. med. Universitätsklinik für Radiodiagnostik Abt. für Neuroradiologie und Muskuloskeletale Radiologie Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Raio, Luigi, Priv.-Doz. Dr. med. Universitätsfrauenklinik am Inselspital Bern Effingerstrasse 102 3010 Bern Schweiz
Mylonas, Ioannis, Priv.-Doz. Dr. med. Langer, Matthias, Dr. med.
Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Innenstadt I Frauenklinik Maistraße 11 80337 München
Rath, Werner, Univ.-Prof. Dr. med.
Kreiskrankenhaus Köthen Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin Friederikenstraße 30 06366 Köthen
Lapaire, Olav, Priv.-Doz. Dr. med.
Ochsenbein-Kölble, Nicole, Dr. med.
Universitätsspital Basel Frauenklinik Abt. für Geburtshilfe und Schwangerschaftsmedizin Spitalstrasse 21 4031 Basel Schweiz
Universitätsspital Zürich Klinik und Poliklinik für Geburtshilfe Departement Frauenheilkunde Frauenklinikstrasse 10 8091 Zürich Schweiz
Reisenberger, Klaus, Univ.-Doz. Dr. med.
Ostermayer, Eva, Dr. med. Lehner, Rainer, Univ.-Prof. Dr. med. Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abt. für Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, AKH Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Lengyel, Ernst, Prof. Dr. med. The University of Chicago Dept. of Obstetrics and Gynecology 5841 South Maryland Avenue MC 2050 Chicago IL 60637 USA
Poliklinik der TU München Klinikum rechts der Isar Frauenklinik Ismaninger Straße 22 81675 München
Medizinische Fakultät der RWTH Aachen MTI II Wendlingweg 2 52074 Aachen
Klinikum Wels GmbH Abt. für Gynäkologie und Geburtshilfe Grieskirchner Straße 42 4600 Wels Österreich
Schäfer-Graf, Ute M., Priv.-Doz. Dr. med. St.-Joseph-Krankenhaus Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe Berliner Diabeteszentrum für Schwangere Bäumerplan 24 12101 Berlin
Pateisky, Norbert, Prof. Dr. med Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abt. für Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, AKH Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Paulus, Wolfgang E., Dr. med. Krankenhaus St. Elisabeth Inst. für Reproduktionstoxikologie Elisabethenstraße 17 88212 Ravensburg
Schelling, Marcus, Prof. Dr. med. Praxis für Pränatale Diagnostik - München Tegernseer Platz 5 81541 München
Schleußner, Ekkehard, Prof. Dr. med. Friedrich-Schiller-Universität Jena Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Bachstraße 18 07743 Jena
XVIII
Autorenverzeichnis
Schneider, Henning, Prof. Dr. med.
Surbek, Daniel, Prof. Dr. med.
Welsch, Hermann, Prof. Dr. med.
Ehem. Direktor und Chefarzt der Universitätsfrauenklinik am Inselspital Bern Ahornweg 4 3122 Kehrsatz Schweiz
Universitätsfrauenklinik am Inselspital Bern Effingerstrasse 102 3010 Bern Schweiz
Candidstraße 20 81543 München
Tempfer, Clemens, Univ.-Prof. Dr. med. Schneider, Karl-Theo M., Univ.-Prof. Dr. med. Poliklinik der TU München Klinikum rechts der Isar Frauenklinik Abt. für Perinatalmedizin Ismaninger Straße 22 81675 München
Speiser, Paul, Dr. med. Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abt. für Allgemeine Gynäkologie und Gynäkologische Onkologie, AKH Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Stähler van Amerongen, Kirsten, Dr. med. Spitalzentrum Biel-Bienne Frauenklinik FMH Gynäkologie und Geburtshilfe Vogelsang 84 2501 Biel Schweiz
Strohmer, Heinz, Dr. med. Privatklinik Goldenes Kreuz Kinderwunschzentrum, Lazarettgasse 16-18 1090 Wien Österreich
Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abt. für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, AKH Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Österreich
Ulsenheimer, Klaus, Prof. Dr. jur. Dr. rer. pol. Sozietät Ulsenheimer & Friedrich Rechtsanwälte Maximiliansplatz 12 80333 München
Vetter, Klaus, Prof. Dr. med. Vivantes Klinikum Klinik für Geburtsmedizin Perinatalzentrum Neukölln Rudower Straße 48 12051 Berlin
Wagner, Anna M., Dr. med. Universitätsfrauenklinik am Inselspital Bern Effingerstrasse 102 3010 Bern Schweiz
Weiss, Erich, Priv.-Doz. Dr. med. Kliniken Böblingen Frauenklinik Bunsenstraße 120 71032 Böblingen
Wischnick, Arthur, Prof. Dr. med. Zentralklinikum Augsburg Frauenklinik Stenglinstraße 2 86156 Augsburg
Wisser, Joseph, Prof. Dr. med. Universitätsspital Zürich Klinik und Poliklinik für Geburtshilfe Department Frauenheilkunde Frauenklinikstrasse 10 8091 Zürich Schweiz
Zimmermann, Andrea, Dr. med. Klinikum rechts der Isar der TU München Kinder- und Poliklinik Ismaninger Straße 22 81675 München
Zimmermann, Roland, Prof. Dr. med. Universitätsspital Zürich Klinik und Poliklinik für Geburtshilfe Department Frauenheilkunde Frauenklinikstrasse 10 8091 Zürich Schweiz
XIX
Abkürzungsverzeichnis (95%-)CI 11β-HSD-2 AA AABR AAP AC ACCP ACOG ACTH AE aEEG AFI AFP AGA AGS Aids AIS AITP ALA ALARAPrinzip ALAT AML AMP ANW AOD APA
APC APD APS aPTT ARDS ARMS ART ASAT ASB ASS ATD ATP AU AVSD AWMF AZT β-HCG BCG
(95%-)Konfidenzintervall 11β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase Typ 2 Arachidonsäure Hirnstammaudiometrie American Academy of Pediatrics Amniozentese American College of Chest Physicians American College of Obstetricians and Gynecologists adrenokortikotropes Hormon Alkoholembryopathie amplitudenintegriertes Elektroenzephalogramm »amniotic fluid index« α-Fetoprotein »appropriate for gestational age« androgrenitales Syndrom »acquired immunodeficiency syndrome« Amnioninfektionssyndrom Alloimmunthrombopenie Alphalinolensäure »as low as reasonably achievable«
BE
Alanin/(Glutamat)-Aminostransferase (früher: GPT) »active management of labor« Adenosinmonophosphat allgemeine Nebenwirkungsrate äußerer Orbitaabstand American Psychological Association bzw. Antiphospholipidantikörper (je nach Zusammenhang) aktiviertes Protein C anterior-posteriorer Durchmesser des Abdomens Antiphospholipidantikörpersyndrom »activated partial thromboplastin time« (aktivierte Prothrombinzeit) »acute respiratory distress syndrome« »amplification refractory amplification system« antiretrovirale Therapie Aspartat/(Glutamat)-Aminotransferase (früher: GOT) asymptomatische Bakteriurie Azetylsalizylsäure Abdomentransversaldurchmesser Adenosintriphosphat Abdomenumfang atrioventrikulärer Septumdefekt Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. Azidothymidin β-HCG (humanes Choriongonadotropin) Bacillus Calmette Guérin
CGMS CHAOS CIRS CMV COX CP CPAP CRF CRH CRM CRP CRS CSF CST CVS
BEU BGA BKCaKanal BMI BMU BPD BPP BQS BSG BTK BV BZ cAMP CCAM CDC CGH cGMP
cw D&E DGE DGGG DHA DHEA DIC DIMDI DIP DR DRG DSM IV
Broteinheit (Kohlenhydrateinheit) bzw. »base excess« (je nach Zusammenhang) Umfang Beckeneingang Blutgasanalyse »large conductance calcium and voltage sensitive K+ channel« Body-Mass-Index Umfang Beckenmitte bronchopulmonale Dysplasie bzw. biparietaler Durchmesser (je nach Zusammenhang) biophysikalisches Profil Bundesstelle für Qualitätssicherung Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit Basaltemperaturkurve bakterielle Vaginose Blutzucker zyklisches Adenosinmonophosphat (»cyclic adenosine monophosphate«) zystisch adenomatoide Lungenmalformation Centers for Disease Control and Prevention komparitive genomische Hybridisierung »cyclic guanosine monophosphate« (zyklisches Guanosinmonophosphat) kontinuierliche Blutzuckermessung »congenital high-airway obstruction syndrome« Critical Incident Reporting System Zytomegalievirus Zyklooxygenase Zerebralparese »continuous positive airway pressure« »corticotropin-releasing factor« »corticotropin relaeasing hormone« Crew-Ressource-Managment C-reaktives Protein kongenitales Rubellasyndrom »colony stimulating factor« Contraction-stress-Test Chorionzottenbiopsie bzw. kongenitales Varizellensyndrom (je nach Zusammenhang) »continuous wave« Dilatation und Evakuation Deutsche Gesellschaft für Ernährung Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe Decosahexaensäure Dehydroepiandrosteron disseminierte intravasale Gerinnung Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information Dezeleration intra partu Dammriss diagnosis related groups Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Version 4
XX Abkürzungsverzeichnis
EBM
»evidence-based medicine« (evidenzbasierte Medizin) EBV Epstein-Barr-Virus ECMO »extracorporale membrane oxygenation« (extrakorporale Membranoxygenierung) EE Ethinylestradiol E-E-Zeit Zeit zwischen der fachärztlichen Entscheidung zur Sectio und der Entwicklung des Kindes EGF epidermaler Wachstumsfaktor EIA Enzymimmunoassay ELISA »enzyme-linked-immuno-sorbent-assay« EMG Elektromyographie EMO »esterase metabolized opioid« eNOS endotheliale NO-Synthase ENTIS European Network of Teratology Information Services EPA Eikosapentaensäure EPDS Edinburgh Postnatal Depression Scale EPF Early Pregnancy Factor EPPROM »extremely premature preterm rupture of membranes« ER Östrogenrezeptor ET Entbindungstermin EUG Extrauteringravidität EUROCAT European Registry of Congenital Anomalies and Twins EXITEx-Utero-Intrapartum-Prozedur Prozedur FAS »fetal alcohol syndrome« fβ-HCG freies β-HCG (humanes Choriongonadotropin) FETO »fetal endoskopic tracheal occlusion« FFP »fresh frozen plasma« (gefrorenes Frischplasma) FGM »female genital mutilation« (Genitalverstümmelung) FHF fetale Herzfrequenz FIGO International Federation of Gynecology and Obstetrics (früher Fédération Internationale de Gynécologie et d’Obstétrique; Internationale Vereinigung für Gynäkologie und Geburtshilfe) FISH Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung FOD frontookzipitaler Durchmesser FSBA fetale Skalpblutanalyse FSH follikelstimulierendes Hormon FSME Frühsommermeningoenzephalitis FTA-ABS- Fluoreszenz-Treponemen-AntikörperTest absorptionstest FVL Faktor-V-Leiden-Mutation FW Fruchtwasser FWE Fruchtwasserembolie FWI Fruchtwasserindex γ-GT γ-Glutamyl-Transferase GBS Streptokokken der Gruppe B GDM gestationsbedingter Diabetes mellitus GFR glomeruläre Filtrationsrate GOT Glutamat-Oxalacetat-Transaminase (frühere Bezeichnung für ASAT) GPT Glutamat-Pyruvat-Transaminase (frühere Bezeichnung für ALAT)
GTT HAART HAH HAV Hb Hb-F HBV HCG HCV HDV HELLPSyndrom HES HHE HHH HHNAchse HH-NNRAchse hi HHE HIE HiG hiHHH HIT HIV Hkt HL HLA HLHS HPA HPL HR HRV HSV HUAM HUS HWI HZV ICBDMS ICD ICH ICSI ICT IFT IGeL IGF IGT IL iLR iNO INR IOD IQWIG
Glukosetoleranztest »highly active antiretroviral therapy« Hämagglutinationshemmtest Hepatitis-A-Virus Hämoglobin fetaler Typ des Hämoglobins Hepatitis-B-Virus humanes Choriongonadotropin Hepatitis-C-Virus Hepatitis-D-Virus »haemolysis, elevated liver enzymes, low platelets« Hydroxyethylstärke Hinterhauptseinstellung Hinterhauptshaltung Hypophysen-Hypothalamus-NebennierenAchse Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Achse hintere Hinterhauptseinstellung hypoxisch-ischämische Enzephalopathie Hämolysis-in-Gel-Test hintere Hinterhauptshaltung heparininduzierte Thrombopenie »human immunodeficiency virus« Hämatokrit Humeruslänge »human leucocyte antigen« hypoplastisches Linksherzsyndrom »human platelet antigen« »human placenta lactogen« (humanes Plazenta-Laktogen-Hormon) »hazard ratio« Herzfrequenzvariabilität Herpes-simplex-Virus »home uterine activity monitoring« hämolytisch-urämisches Syndrom Harnwegsinfektion Herzzeitvolumen International Clearinghouse for Birth Defects Monitoring Systems International Classification of Diseases »intracranial hemorrhage« intrazytoplasmatische Spermieninjektion indirekter Coombs-Test (Rhesusprophlyaxe) Immunfluoreszenztest individuelle Gesundheitsleistung »insulinelike growth factor« (insulinähnlicher Wachstumsfaktor) »impaired glucose tolerance« Interleukin Intervall-Likelihood-ratio inhalative Stickoxidgabe »international normalized ratio« innerer Orbitaabstand Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
XXI Abkürzungsverzeichnis
ISUOG
International Society of Ultrasound in Obstetrics and Gynecology ITP idiopathische thrombozytopenische Purpura bzw. Immunthrombopenie (je nach Zusammenhang) IUD »intrauterine device« (Intrauterinpessar) IUFT intrauteriner Fruchttod IUGR »intrauterine growth restriction« (engl. Bezeichnung für IUWR) IUS »intrauterin system« mit gestagenhaltigem Hormondepot IUWR intrauterine Wachstumsrestriktion IVF In-vitro-Fertilisation IVH »intraventricular haemorrhage« (intraventrikuläre Blutung) KBV Kassenärztliche Bundesvereinigung K-CTG Kinetokardiotokographie KSE Kopfschwartenelektrode KU Kopfumfang LA Lokalanästhesie bzw. linker Vorhof (je nach Zusammenhang) LAC Lupusantikoagulans LAM »lactational amenorrhoea method« LBW (I) »low birth weight (infant)«; Geburtsgewicht Das Auftreten der Trophoblastschicht sowie einer ausgedehnten Blastozystenhöhle sind Kennzeichen des späten Blastozystenstadiums.
Die im Trophektoderm befindlichen Stammzellen sind Vorläufer der differenzierten Trophoblastzelltypen des Chorions und der Plazenta, und es wird vermutet, dass Fehler in der Bildung und frühen Funktion des Epithels mit einer beträchtlichen Zahl von Spontanaborten assoziiert sind. > Es wird geschätzt, dass etwa 50% aller Spontanborte auf chromosomale Alterationen des Fetus zurückzuführen sind, während die anderen 50% auf Defekten der Implantation und frühen Plazentation basieren (Carr u. Gedeon 1977).
Die Mechanismen der Trophektodermbildung beim Menschen sind jedoch ungeklärt, und es können daher nur Ana-
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1
Kapitel 1 · Präimplantation, Implantation und Plazentation: Bedeutung für den Schwangerschaftsverlauf
. Tab. 1.1. Präimplantationsstadien/Implantation
Stadium
Tage (post conceptionem)
Entwicklungsvorgänge
Ort
Ovulation
0
Follikelruptur
Ovar
Zygote
0–1
Befruchtung und erste Furchungsteilung
Ampulle und Labyrinth
1,5–2,5
Totipotenz bis zum 8-Zell-Stadium
Morula (8–16 Zellen)
2–3,5
Fortschreitende Zellteilungen, Kompaktierung, Differenzierung in innere und äußere Zellen
Tube
Freie Blastozyste (32–64 Zellen)
4–4,5
Differenzierung zum Embryoblast (innere Zellmasse) und umgebendem Trophektoderm, Auflösung der Zona pellucida (»hatching»)
Uterushöhle
Angeheftete Blastozyste
5,5–6
Adhäsion am Endometrium, Implantationsbeginn
Uterusepithel
7–8
Entstehung der Amnionhöhle, Invasion des trophoblastären Synzytiums, Bildung des primären Dottersacks, Proliferation des extraembryonalen Entoderms, Entwicklung des embryonalen Entoderms
Uterus
logien zur Entwicklung der Maus erstellt werden, bei der die molekularen Vorgänge der Prä-/Implantation mittels experimenteller Genetik studiert werden können. Eine Inaktivierung der regulatorischen Gene Eomes oder Cdx-2 bei Mäusen führt zu einem Defekt der frühen Trophoblastenentwicklung und damit zu einer fehlgeleiteten Implantation und Plazentation (Russ et al. 2000; Chawengsaksophak et al. 1997). Die Bildung des frühen Embryoblasten wird hingegen durch Oct-4 induziert: Ein Fehlen des Faktors bewirkt bei Mäusen die vollständige Umwandlung von totipotenten Blastomeren in trophektodermale Zellen (Nichols et al. 1998). Die Faktoren Cdx-2 und Oct-4 beeinflussen gegenseitig Expression und Aktivität des jeweils anderen Faktors. Die Entwicklung des Trophoblasten und in der Folge der Plazenta basiert im Wesentlichen auf der Repression von Oct-4 durch Cdx-2 im Trophektoderm (Yamanaka et al. 2006). Während der rezeptiven Phase im Uterus (»Implantationsfenster« vom 20.–24. Tag des Menstruationszyklus) kommt es zum strukturellen und funktionellen Umbau der epithelialen und stromalen Zellen des Endometriums, der essenziell für das Anheften und Einnisten der Blastozyste ist. Der Prozess der Dezidualisierung, der während der Präimplantationsperiode abläuft und durch Wachstum und Matrixproduktion stromaler Zellen gekennzeichnet ist, wird im Wesentlichen durch die Steriodhormone Östrogen, Progesteron sowie durch die von den Drüsen des Endometriums sezernierten Wachstumsfaktoren und Zytokine bewerkstelligt: 4 Epidermaler Wachstumsfaktor (EGF), transformierende (TGF-α und -β) und insulinähnliche Wachstumsfaktoren (IGF) stimulieren beispielsweise das Wachstum der uterinen stromalen Zellen. 4 Das Trophoblastepithel der Blastozyste produziert vor der Implantation Faktoren wie humanes Choriongonadotropin (HCG) oder Early Pregnancy Factor (EPF), die die Steroidsynthese des Ovars erhöhen.
4 Die Verdickung der Uteruswand sowie die Anreicherung NK-zellähnlicher Immunzellen sind ein Zeichen der Dezidualisierung. Die Adhäsion/Implantation der Blastozyste an der Uteruswand, die auf den Prozess des »hatching« (Schlüpfen des Embryos aus der umgebenden Zona pellucida) folgt, wird durch komplexe Wechselwirkungen zwischen Trophoblastepithel und Dezidua bewerkstelligt (Kaufmann u. Kingdom 1999; . Abb. 1.1). Hierbei spielen Interaktionen zwischen Matrixproteinen und deren Rezeptoren (Integrine) sowie Änderungen der Zelladhäsivität, die durch die Abnahme bestimmter Glykoproteine hervorgerufen wird, eine Rolle. Der eigentliche physische Prozess der Implantation besteht aus der Invasion des Trophoblasten sowie dem Einnisten und Verschließen der Blastozyste im rezeptiven Endometrium. Die Implantation wird durch eine Reihe von löslichen Proteinen gesteuert, die vom Trophoblastepithel und den dezidualen Stroma- und Immunzellen produziert werden. Insbesondere wurde in Tierexperimenten festgestellt, dass die Produktion von Interleukin-11 (IL-11) und mütterlichem Leukaemia Inhibitory Factor (LIF) für die Implantation essenziell ist (Robb et al. 1998; Stewart et al. 1992). Die durch den engen Kontakt von genotypisch unterschiedlichen Zellen, dem embryonalen Trophoblasten einerseits und der maternalen Dezidua andererseits ausgelöste Interaktion stellt biologisch ein einzigartiges Phänomen dar: Neben Faktoren, die das Trophoblastwachstum und die Adhäsion erhöhen, finden sich an der Implantationsstelle diverse von »T-helper cell 2« (Th2) produzierte immunsuppressorische Moleküle, die die immunologische Antwort der Mutter auf den genetisch fremden Embryo unterdrücken. Außerdem produziert der adhäsive/invadierende Trophoblast das ungewöhnliche Oberflächenmolekül HLA-G, das schützend vor einer Lyse durch deziduale NK-Zellen wirkt (McIntire u. Hunt 2005).
7 1.2 · Frühe Entwicklung der Plazenta
. Abb. 1.1. Implantation und frühe Entwicklung der Plazenta. Details 7 Text. (Nach Kaufmann u. Kingdom 1999)
Die Interaktion mit Bindung des HLA-G-Moleküls an spezifische Rezeptoren der Natural-killer- (NK-) Zellen in der Dezidua führt zu einer gegenseitigen funktionellen Beeinflussung dieser beiden semiallogenetischen Zellen. Die Trophoblastzellen unterdrücken die zytotoxische Wirkung der NKZellen, und diese normalerweise gegenüber Fremdproteinen lytisch wirkenden Zellen gehen mit den extravillösen Trophoblasten eine symbiotische Beziehung ein (Moffet-King 2002). Neben der Kontrolle der Trophoblasteninvasion spielen sie auch bei der uterinen Angiogenese bzw. der schwangerschaftsspezifischen Adaptierung der Spiralarteriolen eine Rolle (Hanna et al. 2006). Bei der Reprogrammierung der NK-Zellen kommt neben den Trophoblasten auch den dentritischen Zellen und den regulatorischen T-Zellen in der Dezidua eine besondere Bedeutung zu (Karimi et al. 2008). Das glykanbindende Protein Galektin-1, das in beträchtlichen Mengen von uterinen NK-Zellen produziert wird, ist für die Rekrutierung von dentritischen Zellen in der Dezidua von zentraler Bedeutung (Blois et al. 2007).
Entoderm. Etwa ab Tag 8–9 der Schwangerschaft werden die Amnionhöhle, der primitive Dottersack sowie das zwischen der embryonalen Keimscheibe und dem Trophoblastepithel liegende extraembryonale Mesoderm gebildet. Zusammenfassend kann die Implantation als Invasion der mütterlichen Dezidua durch semiallogenetische Zellen, in erster Linie in Form von extravillösen Trophoblasten, bezeichnet werden. Diverse von mütterlichen Zellen in der Dezidua ausgehende Regulationsmechanismen steuern das Proliferations- bzw. Migrationspotenzial des Trophoblasten, sodass die Invasion des mütterlichen Gewebes zu einem kontrollierten Vorgang wird. Die funktionelle Bedeutung der Implantation zeigt folgende Übersicht.
Physiologische Bedeutung der Implantation 4 Verankerung des Schwangerschaftsprodukts im mütterlichen Organismus 4 Induktion der mütterlichen Immuntoleranz 4 Ruhigstellung des Myometriums (»mechanische Toleranz«) 4 Umbau der uterinen Gefäße als Basis für den uteroplazentaren Kreislauf 4 Endokrine Adaptation des mütterlichen Organismus
Studienbox Beim habituellen Abort konnte im Gegensatz zur normalen Schwangerschaft die Umstellung der zellulär vermittelten (Th1) auf eine humorale (Th2) Immunantwort nicht festgestellt werden (Raghupathy 2001).
1.2 Die Bildung eines mehrkernigen Synzytiums an der Anheftungsstelle, das durch Zellfusion einkerniger Zellen des Trophoblastepithels entsteht, kann als initialer Prozess für die Plazentaentwicklung angesehen werden (. Abb. 1.1). Gleichzeitig mit der Bildung des primitiven Synzytiums erfolgt bereits die Entwicklung des Embryoblasten in das primitive
Frühe Entwicklung der Plazenta
Die Plazenta erfüllt eine Vielzahl von Funktionen, die in Abhängigkeit vom Gestationsalter variieren: 4 In der Frühschwangerschaft stellt der Trophoblast eine schützende Barriere gegen den Kontakt des Embryos mit Sauerstoff im arteriellen mütterlichen Blut dar. Erst mit
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8
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Kapitel 1 · Präimplantation, Implantation und Plazentation: Bedeutung für den Schwangerschaftsverlauf
10–12 Schwangerschaftswochen kommt es zur Öffnung dieser Schranke, und mütterliches Blut dringt aus den Spiralarterien in den intervillösen Raum vor. 4 Der Trophoblast produziert eine Vielzahl von Proteinen, die an den mütterlichen Kreislauf abgegeben werden und als endokrine Signale tiefgreifende Veränderungen und Anpassungen in den verschiedenen Organsystemen der Mutter bewirken. 4 In der zweiten Schwangerschaftshälfte rückt dann zunehmend die Versorgungsfunktion in den Vordergrund, und aus der schützenden Barriere entwickelt sich das hochgradig effiziente Transport- und Versorgungsorgan für den Fetus. Entsprechend dieser unterschiedlichen Aufgaben verändert sich die Morphologie der Plazenta im Verlauf der Schwangerschaft. Die Grundlagen für das Wachstum und die Differenzierung der Plazenta werden in der Frühschwangerschaft gelegt. Durch die Verknüpfung von morphologisch-anatomischen sowie molekularbiologischen In-vitro-Untersuchungen mit der In-vivo-Beurteilung der Entwicklung der Blutzirkulation in der Plazenta mithilfe moderner Dopplersonographie ergibt sich ein zunehmend vollständiges Bild der Physiologie und auch der Pathologie der frühen Plazentaentwicklung. Die Chronologie der morphologisch-anatomischen Entwicklung der Implantation und Plazentation ist in . Abb. 1.1 schematisch dargestellt: 4 Die Kontaktzone der Plazenta mit der Dezidua wird von einer kontinuierlichen Schicht von Trophoblasten, dem primitiven Synzytium, gebildet, das aufgrund seiner invasiven Eigenschaften für die Implantation der Blastozyste in die Dezidua sorgt (. Abb. 1.1 b). 4 In der Folge kommt es zu einer massiven Proliferation der Zytotrophoblasten und durch Zellfusion zu einer weiteren Ausdehnung des Synzytiums, in dem Hohlräume, sog. Lakunen, entstehen (. Abb. 1.1 c). 4 Zwischen den Lakunen bilden sich durch vermehrtes Wachstum und der Migration von Zytotrophoblasten in das Synzytium die Primärzotten, die ausschließlich aus Trophoblastenzellen bestehen (. Abb. 1.1 d). 4 Einzelne der Plazentazotten haften im Bereich der Kontaktzone und stellen die Verankerung in der Uteruswand sicher (. Abb. 1.1 d–f). 4 Die Primärzotten wandeln sich im Verlauf der Schwangerschaft (4.–5. SSW) durch Einwanderung von mesenchymalen Zellen des extraembryonalen Mesoderms in Sekundärzotten mit bindegewebigem Stroma um (. Abb. 1.1 e). 4 Die Vaskulogenese mit der Neubildung von Blutgefäßen ab der 5.–6. SSW ist das wesentliche Merkmal der Weiterentwicklung von Sekundär- in Tertiärzotten (. Abb. 1.1 f). 4 Die Lakunen verschmelzen zum intervillösen Raum, der allerdings erst ab der 10.–11. SSW aus den zuführenden uterinen Spiralarterien mit mütterlichem Blut, das die frei schwimmenden Zotten umspült, gefüllt wird. Die Versorgung des Trophoblasten und des Embryos mit Nahrungsstoffen erfolgt in der frühen Phase, also vor der Etablie-
. Tab. 1.2. Schwangerschaftspathologien als Folge einer gestörten Proliferation und Invasion des extravillösen Trophoblasten
Ursache
Folge
Unzureichende Trophoblasteninvasion und vorzeitige Durchblutung des plazentären intravillösen Raumes
Vorzeitige Plazentalösung (Abruptio), Spontanabort
Gestörter Umbau der Spiralarterien
Präeklampsie, intrauterine Wachstumsrestriktion (IUWR)
Störung der dezidualen Regulation der Invasion
Störung der Plazentalösung postpartal (Placenta accreta)
Tumoröse Entartung der Proliferation und Invasion des Trophoblasten
Blasenmole, Chorionkarzinom
rung des mütterlichen Blutstroms, im intervillösen Raum nach dem histiotrophen Prinzip, d. h. nahrungsstoffreiches Sekret von Drüsen der Dezidua diffundiert durch das Gewebe in den intervillösen Raum und wird durch aktive Mechanismen, wie Phagozytose, vom villösen Trophoblasten aufgenommen. > Der Embryo und der Trophoblast entwickeln sich in der Frühschwangerschaft in einem sauerstoffarmen Milieu und bleiben dadurch vom toxischen Einfluss der Sauerstoffradikale verschont.
Erst mit Abschluss der Organogenese und mit der Ausreifung von Enzymen, die einen raschen Abbau von schädigenden Sauerstoffradikalen ermöglichen, erfolgt der Übergang von der histiotrophen zu einer hämatotrophen Ernährung mit Eröffnung der Spiralarterien und Beginn der Zirkulation von mütterlichem Blut im intervillösen Raum (Jauniaux et al. 2003c). > Das Verständnis dieser Zusammenhänge ist von erheblicher klinischer Bedeutung, da in der Frühschwangerschaft die Weichen für den normalen Schwangerschaftsverlauf gestellt werden. Fehlentwicklungen in dieser Phase bilden die Grundlage für verschiedene Schwangerschaftspathologien (. Tab. 1.2).
Studienbox Screening-Untersuchungen im 1. Trimenon werden sich in Zukunft nicht allein auf die Morphologie des Embryos zur Entdeckung von Fehlbildungen oder Chromosomenanomalien beschränken. Mithilfe von biochemischen Tests in Verbindung mit Doppleruntersuchungen wird es möglich sein, die Merkmale einer normalen oder aber gestörten Plazentation frühzeitig zu erfassen und daraus Prognosen für den weiteren Schwangerschaftsverlauf sowie dessen Ausgang abzuleiten (Martin et al. 2001; Schluchter et al. 2001).
9 1.2 · Frühe Entwicklung der Plazenta
1.2.1
Physiologie der Differenzierung des Trophoblasten
In den Zotten der sich entwickelnden Plazenta befinden sich unreife, zytotrophoblastäre Stammzellen, die für die Ausbildung der beiden wichtigsten funktionellen Bestandteile der Plazenta verantwortlich sind, der villöse und der extravillöse Trophoblast (. Abb. 1.2 a). Der villöse Trophoblast bildet den zweischichtigen Zottenüberzug, bestehend aus Zytotrophoblastzellen und dem äußeren Synzytiotrophoblasten, der durch Verschmelzung
der darunterliegenden einkernigen Zellen mit dem Synzytium gebildet und ständig erneuert wird (Morrish et al. 1998; Pötgens et al. 2005). Das villöse Synzytium ist speziell für die Synthese von Hormonen, beispielsweise HCG (humanes Choriongonadotropin) oder HPL (humanes Plazentalaktogen), sowie auch für Transportvorgänge von Gasen und Nährstoffen aus dem mütterlichen Blut in die Kapillaren der Zotte mit Weitertransport über die Nabelschnur zum Kind ausgestattet. Während in den ersten Monaten der Schwangerschaft der Zottenüberzug kontinuierlich aus zweireihigem Trophoblastepithel besteht, wird die Außenschicht der reifen Endzotten
a
b
. Abb. 1.2a,b. Differenzierungswege des plazentaren Trophoblasten. a Differenzierung der Trophoblaststammzellen in verankerten Zotten. Zytotrophoblastäre Stammzellen (ZT) generieren in frei schwimmenden Villi (FV) durch Zellfusion das Synzytium (S), das Hormone in den intervillösen Raum (IR) sezerniert und Nährstoffe in die Kapillaren der Zotte transportiert. Durch den Kontakt des verankerten Villus (VV) mit der Dezidua wird eine massive Proliferation der Zytotrophoblasten und damit die Bildung einer Zellsäule (ZS) induziert. Am distalen Ende der Zellsäule lösen sich extravillöse Trophoblasten (EVT), die die Zellteilung beendigt haben, voneinander und invadieren das mütterliche Gewebe. Innerhalb der Invasionszone (IZ) finden sich endovaskuläre Trophoblasten in den Spiralarterien (SA), die bestehende Endothelzellen (EZ) verdrängen, interstitielle Trophoblas-
ten in der Matrix der Dezidua (D) sowie mehrkernige Gigantenzellen (GZ), die als Endstadium der invasiven Differenzierung angesehen werden. b Invasion des extravillösen Trophoblasten in uterine Gefäße. Die Modifikation der uterinen Spiralarterien (im Querschnitt dargestellt) erfolgt in progressiver Weise in der 10.–18. SSW. In der Dezidua sind die Spiralarterien zunächst partiell (pm) und später komplett modifiziert (km), und die umgebende Muskelwand (Tunica media, TM) ist vollständig aufgelöst. Mitte der Schwangerschaft kommt es auch im Bereich des deziduanahen Myometriums zu einem partiellen Umbau der myometrialen Segmente der Spiralarterien, während tieferliegende Gefäßabschnitte nicht modifiziert (nm) werden. (In Anlehnung an Damsky u. Fischer 2001)
1
10 Kapitel 1 · Präimplantation, Implantation und Plazentation: Bedeutung für den Schwangerschaftsverlauf
1
v. a. vom Synzytium mit nur noch vereinzelt nachweisbaren Zytotrophoblastzellen gebildet. Durch die hohe Verzweigung der Endzotten wird dem gesteigerten Nährstoffbedarf des Fetus Rechnung getragen. An der Haftstelle der Zotten, der uterinen Basalmembran, erfahren die Stammzellen des Trophoblasten einen starken proliferativen Reiz. Die sich rasch vermehrenden extravillösen Trophoblastzellen bilden Trophoblastzellsäulen, die tief in die Dezidua vordringen (. Abb. 1.2 a). Gleichzeitig wandern villöse Trophoblastzellen preferenziell in Arterien, aber auch Venen der Dezidua ein und breiten sich durch Verdrängung des Endothels intravasal entlang der Innenwand der Gefäße aus (. Abb. 1.2 b). Die Gefäße der Endstrecke der A. uterina erfahren dabei einen vollständigen Umbau ihrer Wandstruktur, bei dem die Endothelzellen durch Trophoblastzellen ersetzt und die muskulären Elemente sowie auch die Elastica interna aufgelöst werden (Pijnenborg et al. 1980, 1981, 1983; Brosens et al. 1967). Durch den Verlust dieser für die Vasoregulation entscheidenden Strukturelemente entwickeln sich aus den englumigen Spiralarterien des nichtschwangeren Uterus weite Schläuche, die sowohl die dezidualen als auch die deziduanahen myometrialen Gefäßabschnitte umfassen. > Der Abfall des Gefäßwiderstands in der Peripherie des uterinen Kreislaufs ist Voraussetzung für die dramatische Steigerung des Zustroms mütterlichen Blutes in die Plazenta, und der mütterliche Blutdruck wird zur regulierenden Größe für den Blutstrom im uteroplazentaren Kreislauf.
Bei der Invasion von Trophoblastzellen in die Gefäße sowie in die extrazelluläre Matrix der Dezidua spielt die Expression von Adhäsionsmolekülen (verschiedene Integrine) eine wichtige Rolle. Integrine sind heterodimere Glykoproteine, die mit Proteinen der extrazellulären Matrix spezifische Bindungen eingehen (Damsky et al. 1994). Auch die Aktivierung von Proteasen der Familie der Matrixmetalloproteinasen (MMP) oder Urokinasetyp-Plasminogenaktivatoren sind für den Vorgang der Migration von großer Bedeutung (Lala u. Chakroborty 2003). Die mit der intravaskulären Invasion verbundenen Veränderungen der Genexpression der ursprünglich epithelialen Zellen führen zur Entwicklung von Merkmalen, die eher für Zellen endothelialen Ursprungs typisch sind (Damsky u. Fisher 2001). Die komplexen Vorgänge der Trophoblastverankerung und Invasion werden durch verschiedene autokrine und parakrine Regulationsmechanismen gesteuert (Bischof et al. 2000), wenn auch die dafür verantwortlichen molekularen Mechanismen bislang noch nicht vollständig geklärt sind. Ferner wird postuliert, dass die Sauerstoffkonzentration im Plazentabett das Verhältnis von Wachstum und Invasion der extravillösen Trophoblastzellen reguliert. Niedrige Konzentrationen (3% O2) inhibieren die Invasion der Zellen und fördern die Proliferation, während sich die Situation bei 20% O2 umkehrt präsentiert (Genbacev et al. 1997; Cannagia et al. 2000). Wesentlich ist, dass die Trophoblasteninvasion zeitlich und räumlich exakt kontrolliert abläuft. Eine zu tiefe Invasion in das mütterliche Gewebe dürfte durch Produktion von Gewe-
beinhibitoren der Metalloproteinasen (TIMPs) in der Dezidua verhindert werden (Lala u. Graham 1990).
1.2.2
Pathologie der Trophoblasteninvasion
Auf die Bedeutung immunologischer Faktoren wurde bereits hingewiesen (7 Kap. 1.1.2). > Störungen der Trophoblasteninvasion der dezidualen Gefäße mit ungenügendem Umbau und mangelnder Dilatation der Gefäßwände in der Frühphase der Plazentation können schwerwiegende Folgen für den weiteren Schwangerschaftsverlauf haben (Jaffe u. Woods 1993; . Tab. 1.2).
Pathologisch-anatomische Untersuchungen von Plazentagewebe von Schwangerschaften mit intrauteriner Wachstumsrestriktion mit oder ohne Zeichen der Präeklampsie sowie von frühen Spontanaborten haben eine unzureichende Trophoblasteninvasion mit ungenügendem Umbau der Spiralarterien als wesentliches morphologisch-anatomisches Merkmal ergeben (. Tab. 1.2; Pijnenborg 1990; Hustin et al. 1988; Hamilton u. Boyd 1960).
Studienbox In einer prospektiven Studie wurde gezeigt, dass ein erhöhter Widerstand in den Spiralarterien in der Frühschwangerschaft mit einem frühzeitigen Beginn der Blutzirkulation im intervillösen Raum einhergeht. In diesen Fällen kam es gehäuft zu Spontanaborten oder zu einer späteren Restriktion des fetalen Wachstums (Jaffe u. Woods 1993). Die Bedeutung des Ultraschalls für die Diagnose von Störungen in der Frühschwangerschaft wurde kürzlich dargestellt (Jauniaux et al. 2003a, b, 2005).
Die Präeklampsie und bestimmte schwere Formen der intrauterinen Wachstumsrestriktion, die sich früh in der Schwangerschaft manifestieren, werden aber auch mit einer Minderperfusion und dem daraus resultierenden hypoxischen Plazentabett in Zusammenhang gebracht. Eine hypoxische Umgebung könnte eine erhöhte Konzentration an TGFβ3 im Plazentabett mit einer ungenügenden Ausbreitung des extravillösen Trophoblasten in der Dezidua bewirken. Die Erklärung der ungenügenden Invasion der Dezidua durch einen fehlenden Sauerstoffanstieg bleibt allerdings unbefriedigend, da der Umbau mit Dilatation der Spiralarterienwände einerseits die Voraussetzung für die Steigerung des Blutflusses und damit für den Anstieg der Sauerstoffkonzentration im Gewebe ist, gleichzeitig aber auch Folge der lokalen Einwirkung des extravillösen Trophoblasten sein soll. Jüngste Daten weisen außerdem darauf hin, dass im Plazentabett präeklamptischer Patientinnen um die 33. SSW keinerlei Unterschiede in der lokalen Konzentration an TGF-Proteinen festzustellen sind (Lyall et al. 2001).
11 1.2 · Frühe Entwicklung der Plazenta
> Es ist jedoch generell akzeptiert, dass bei Präeklampsie die Expression des Integrin α1β1 am endovaskulären Trophoblasten fehlt und die Invasion in die Dezidua nur oberflächlich stattfindet (Zhou et al. 1993).
Bestimmte Mutationen der MHC-Klasse-1-Oberflächenproteine des extravillösen Trophoblasten sowie auch der spezifischen Rezeptoren der dezidualen NK-Zellen können die symbiotische Toleranz der beiden Zellpopulationen stören. Die Beeinträchtigung des Umbaus der Deziduagefäße, die bei der Präeklampsie beobachtet wird, kann somit zumindest teilweise durch immunologische Störungen auf genetischer Basis erklärt werden (Moffet-King 2002). Als weitere Ursache für eine unzureichende Umwandlung der Spiralarterien seien vorbestehende Gefäßveränderungen im uterinen Kreislauf im Zusammenhang mit Diabetes mellitus, Hypertonie oder anderen chronischen Erkrankungen mit Vaskulopathie genannt.
1.2.3
Entwicklung des uteroplazentaren Kreislaufs
So wie die Einzelheiten der zellulären Mechanismen bei der Interaktion zwischen extravillösem Trophoblasten und Dezidua und deren Störung noch ungeklärt sind, waren auch die funktionellen Auswirkungen dieser Veränderungen, insbesondere die Entwicklung der Hämodynamik des uteroplazentaren Blutflusses in den ersten Schwangerschaftswochen, lange Gegenstand einer erheblichen Kontroverse. Lange galt es als unbestritten, dass es mit der Implantation frühzeitig zur lokalen Erosion von Gefäßwänden in der Dezidua kommt und das mütterliche Blut in dem durch das Zusammenfließen der Trophoblastlakunen entstehenden intervillösen Raum frühzeitig zu zirkulieren beginnt (Ramsey et al. 1963; Martin et al. 1966). Ende der 1980er Jahre wurden neue pathologisch-anatomische Befunde an Hysterektomiepräparaten aus dem 1. Schwangerschaftstrimenon zusammen mit Untersuchungen von Chorionzottenbiopsiematerial vorgelegt, die Zweifel an dem frühen Beginn eines mütterlichen Blutstroms im intervillösen Raum aufkommen ließen:
4 Durch hysteroskopische Untersuchungen wurde gezeigt, dass der Raum zwischen den Plazentazotten über mehrere Wochen lediglich von klarer Flüssigkeit ausgefüllt und die Zirkulation von mütterlichem Blut erst mit 11–12 Wochen voll etabliert ist (Hustin et al. 1988; Hustin u. Schaaps 1987). 4 Morphologische Befunde zeigen, dass der frühe intravasale Trophoblast primär durch Proliferation zu einem Verschluss der Gefäßöffnungen und damit zu einer Verhinderung des Austritts von mütterlichem Blut führt (Hamilton u. Boyd 1960; Ramsey u. Donner 1980). 4 Durch die rasante Entwicklung der Ultraschalltechnologie und speziell der transvaginalen Dopplersonographie wurde die uteroplazentare und fetoplazentare Zirkulation und im Speziellen der intervillöse Raum für nichtinvasive In-vivo-Untersuchungen zugänglich. Diese neuen Technologien haben es ermöglicht, den morphologisch-anatomischen Befunden ein funktionelles Korrelat gegenüberzustellen. So konnten Jauniaux et al. (2003c) nur in 9 von 25 Fällen vor der 9. Woche eine intervillöse Durchblutung nachweisen, während dies ab der 13. Woche bereits in 18 von 20 Fällen der Fall war. Anderen Gruppen gelang es hingegen mittels 3-D-Power-Dopplerangiographie, bereits ab der 6.–7. Woche Flussbewegungen im intervillösen Raum darzustellen. Dieser Fluss nimmt kontinuierlich zu, um ab 10–12 Wochen ein Plateau zu erreichen (Mercé et al. 2009; . Abb. 1.3). Diese kontinuierliche Flutung des intervillösen Raumes mit mütterlichem Blut bedarf einer Ordnung in Raum und Zeit. Eine zu frühe oder zentrale Eröffnung der Spiralarterien ist mit einer gestörten Frühschwangerschaft, intrauteriner Wachstumsrestriktion oder Präeklampsie assoziiert worden (Jaffe u. Woods 1993; Jauniaux et al. 2003a, b, 2005; Mercé et al. 2009; Burton et al. 2009). In longitudinalen Dopplerultraschallstudien in der Frühschwangerschaft wurde an ausgesuchten Schwangerenkollektiven die physiologische Entwicklung der Blutströmung in den uteroplazentaren sowie den fetoplazentaren Gefäßen zwischen 8 und 14 Wochen systematisch beschrieben (Coppens et al. 1996). Die erhebliche Lumenerweiterung des plazen-
. Abb. 1.3a, b. Intervillöser Blutfluss. a Transvaginalsonographie. Power-Doppler 7. Woche. Es lässt sich eine perichoriale (mütterliche) Vaskularisation darstellen (1). Im Chorion ist kaum Blutfluss nachweisbar (2). Auf der embryonalen (3) Seite frühe Durchblutung sichtbar. b Power-Dopplersonographie 13. Woche. Der intravillöse Raum (IVR) lässt sich nun deutlich darstellen (F fetale Seite; M maternale Seite)
a
b
1
12 Kapitel 1 · Präimplantation, Implantation und Plazentation: Bedeutung für den Schwangerschaftsverlauf
1
. Abb. 1.4a, b. Dopplerflussbild der a A. uterina in der Frühschwangerschaft (a, hier 10. Woche) und im 3. Trimenon (b, hier 24. Woche). Die spätsystolische Inzisur (Pfeil) lässt sich nicht mehr nachweisen
b
taren Gefäßbetts ist eine notwendige anatomische Adaptation an einen vermehrten Durchblutungsbedarf in der Schwangerschaft und führt zu einer kontinuierlichen Zunahme der diastolischen Strömungsgeschwindigkeiten in den uteroplazentaren Arterien mit einem progressiven Wegfall der spätsystolischen Inzisur (»Notch») mit konsekutivem Abfall des Strömungswiderstands. Dabei verläuft dieser Prozess gestaffelt: 4 Er beginnt mit ca. 10 Wochen in den Spiralarterien, was zeitlich mit dem Abschluss der ersten Welle der Trophoblasteninvasion zusammenfällt (Pijnenborg 1990; Coppens et al. 1996). 4 Ein bis zwei Wochen später verschwindet in der Regel auch in den Arteriae arcuatae dieser Notch als Folge der zweiten Welle der Trophoblasteninvasion, die über die Grenze zwischen Dezidua und Myometrium hinaus reicht (Pijnenborg 1990; Coppens et al. 1996; Loquet et al. 1988). 4 Nach der 24. SSW kann auch in den Arteriae uterinae nur noch in 9% der Fälle ein Notch nachgewiesen werden (Bower et al. 1992; . Abb. 1.4). Der Nachweis einer deutlichen Abnahme des Strömungswiderstands in den Spiralarterien bereits vor dem Beginn von Blutströmung im intervillösen Raum kann durch eine Dilatation der dezidualen Gefäße sowie durch die Neubildung bzw. Eröffnung von Shunts in dem dezidualen Gefäßnetz erklärt werden (Hamilton u. Boyd 1960; Hustin u. Schaaps 1987; Jauniaux et al. 1991a, b, 1992a; Kurjak et al. 1993). Bei der Beschreibung der schwangerschaftsbedingten Veränderungen im Widerstandsmuster der Uterusarterien der beiden Seiten war kein eindeutiger Bezug zur Lokalisation der Plazenta feststellbar (Den Ouden et al. 1990). Ferner ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass nicht nur der direkte Einfluss von Trophoblastzellen und die dadurch verursachte Strukturveränderung der Gefäßwände für die Widerstandsabnahme des Blutflusses in den Spiralarterien verantwortlich gemacht werden kann, sondern dass zusätzlich auch hormonelle Einflüsse eine wichtige Rolle spielen (Jauniaux et al. 1992b).
In Anbetracht der hohen Wachstumsrate des frühen Embryos muss die Frage nach der physiologischen Bedeutung der relativ späten Eröffnung des intervillösen Raumes für den mütterlichen Blutfluss gestellt werden. Direkte Messungen durch Einführung von Nadelelektroden unter Ultraschallsicht im Gebiet der Implantation haben vor der 10. SSW einen Sauerstoffgehalt von ca. 3% mit einem deutlichen Anstieg nach diesem Zeitpunkt ergeben (Rodesch et al. 1992). Die relativ hypoxische Umgebung des frühen Embryos und Trophoblasten bietet Schutz gegenüber dem toxischen Einfluss von den bei oxidativen Reaktionen freiwerdenden Sauerstoffradikalen (Jauniaux et al. 2003a, b). Diese Hypothese wird durch die Beobachtung gestützt, dass die Aktivität des antioxidativen Enzyms Superoxiddismutase im Plazentagewebe zwischen der 8. und 12. Woche steil ansteigt (Watson et al. 1997).
1.2.4
Entwicklung des umbilikoplazentaren Kreislaufs
Die Entwicklung des umbilikoplazentaren Gefäßsystems ist eng mit der Entwicklung der Zottenstruktur der Plazenta verknüpft. Bereits 6 Wochen nach der letzten Periode besteht eine Verbindung zwischen dem embryonalen Herzen und dem Zottengefäßnetz (Boyd u. Hamilton 1970). Durch systematische histologische Untersuchungen unter Anwendung von Licht-, Transmissions- und Rasterelektronenmikroskopie an Plazentagewebeproben verschiedenen Alters wurde das Prinzip der Zottenentwicklung und des Wachstums der Plazenta erarbeitet (Castellucci et al. 1990; Kaufmann u. Castellucci 1997): 4 In der Frühschwangerschaft herrscht der unreife intermediäre Zottentyp vor (. Abb. 1.5). Das Stroma dieser vergleichsweise dicken Zotten enthält v. a. Arteriolen und kleine Venen, in deren Wandstruktur keine Media nachweisbar ist sowie zahlreiche Makrophagen, sog. HofbauerZellen. 4 An der Oberfläche dieses Zottentyps bilden sich durch Proliferation Zytotrophoblastknospen, aus denen neue unreife Intermediärzotten entstehen. Die Verzweigung der unreifen Intermediärzotten ist die Basis für das
13 1.2 · Frühe Entwicklung der Plazenta
. Abb. 1.5. Peripherer Abschnitt des Zottenbaums einer reifen Plazenta mit Querschnitten der verschiedenen Zottentypen. (Nach Kaufmann u. Kingdom 1999)
Wachstum der Plazenta in der ersten Schwangerschaftshälfte. 4 In den Abschnitten, die der Chorionplatte am nächsten sind, verlangsamt sich das Wachstum, und aus den intermediären Zotten werden Stammzotten mit Arterien und Venen, die einen regulären muskulären Wandaufbau einschließlich Media aufweisen. 4 Parallel zu der Neubildung von Zotten erfolgt die Vaskularisierung durch Verzweigung vorhandener Gefäße im Sinne der Angiogenese. Mithilfe der Dopplersonographie, die sich für die systematische Untersuchung der Entwicklung des uteroplazentaren Kreislaufs als außerordentlich hilfreich erwiesen hat, gelang es auch, entsprechende Veränderungen in der Hämodynamik im fetoplazentaren Kreislauf bereits während der ersten Wochen der Schwangerschaft zu dokumentieren (Coppens et al. 1996): 4 In der Nabelschnurarterie ließ sich ein kontinuierlicher Abfall des Widerstands in den ersten Wochen nachweisen. Vor der 12. SSW ist der umbilikale Blutfluss durch ein Fehlen enddiastolischer Flussgeschwindigkeiten in den Nabelschnurarterien und durch ein pulsatiles Flussmuster in der Nabelschnurvene charakterisiert (. Abb. 1.6 a). 4 Zwischen der 12. und 14. Woche kann und ab der 14. Woche sollte in den Nabelschnurarterien ein pandiastolisches Flussmuster nachweisbar sein (. Abb. 1.6 b,c). 4 Während die frühe Widerstandsabnahme in den Spiralarterien Ausdruck der tiefgreifenden Veränderung der Gefäßwandstruktur ist, liegt den Veränderungen im fetoplazentaren Kreislauf, v. a. die durch Angiogenese bedingte
Ausweitung des Gefäßnetzes in den Zotten zugrunde (Jauniaux et al. 1991a, b). Diese, sich auf wenige Wochen (12.–14.Woche) konzentrierte Veränderung der fetoplazentaren Flussmuster (. Abb. 1.6 a, b, c) bzw. Hämodynamik unterscheidet sich von der im Vergleich eher langsamen Entwicklung des intervillösen Systems grundlegend. Der plötzliche Shift von einem Hochwiderstandsflussmuster der Nabelschnurgefäße zu einem Niederwiderstandsdopplerprofil markiert wohl besser das Ende der ersten Phase der Trophoblastinvasion mit Entwicklung des intervillösen Raumes, als dies mittels komplizierter Durchblutungsmessungen in der frühen Plazenta nachvollziehbar ist. > Bemerkenswert ist die Tatsache, dass diese Impedanzabnahme, die zwischen der 12. und 13. Woche besonders deutlich ist, zeitlich mit dem Beginn der intervillösen Durchblutung zusammenfällt.
Die veränderten Druckverhältnisse durch Erweiterung des intervillösen Raumes sowie auch die Veränderung der lokalen Sauerstoff- und CO2-Konzentration mit Freisetzung von Vasodilatatoren im intervillösen Raum haben einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Regulation des Strömungswiderstands im fetoplazentaren Kreislauf (Jauniaux et al. 1995). Im Gestationsalter von 24–26 Wochen erfährt die Zottenentwicklung und damit das Wachstum der Plazenta eine bemerkenswerte Veränderung. An die Stelle des Teilungswachstums und der damit verbundenen Angiogenese tritt ein verstärktes Längenwachstum mit Differenzierung der unreifen Intermediärzotten in schlanke reife Intermediärzotten (. Abb. 1.5). Das Stroma der dünnen reifen Intermediärzotten
1
14 Kapitel 1 · Präimplantation, Implantation und Plazentation: Bedeutung für den Schwangerschaftsverlauf
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a
b
c . Abb. 1.6a–c. Dopplersonographie der Nabelschnurarterie. a Fehlende diastolische Flusskomponente in der 7. SSW mit pulsatilem Flussmuster in der Nabelschnurvene. b 10. Woche, weiterhin fehlen-
de Diastole in der Arterie; Pulsationen in der Nabelschnurvene wenigerausgeprägt. c Vorhandene diastolische Flusskomponente in der 13. SSW und kontinuierliches Flussmuster in der Nabelschnurvene
ist arm an Bindegewebe und zeigt nur vereinzelt HofbauerZellen. Das treibende Element ist ein aktives Längenwachstum der Gefäße, das schneller als das Wachstum der Zotten ist. Diese Diskrepanz im Längenwachstum zwischen Zotten und Gefäßen ist die Grundlage für die Entwicklung von zahlreichen Terminal- oder Endzotten mit Vorwölbung von Kapillarschlaufen an der Oberfläche der reifen Intermediärzotten. An den Spitzen der Endzotten kommt es zu einer sinusoidalen Ausweitung der Kapillaren. Das deckende Bindegewebe und die darüber liegende Schicht des Synzytiotrophoblasten sind dünn ausgezogen mit Ausbildung von vaskulosynzytialen Membranen, die, bedingt durch eine minimale Diffusionsstrecke von 1–2μm zwischen mütterlichem und fetalem Blut, den bevorzugten Ort des Gasaustauschs bilden. In der Rasterelektronenmikroskopie sind die sinusoidal erweiterten Kapillarschlaufen als knospenartige Gebilde an den Zottenspitzen erkennbar. Die Entwicklung der Endzotten basiert somit auf Angiogenese im Sinn eines Längenwachstums der Gefäße. Hinzu kommt bei den Terminalzotten eine zusätzliche Neubildung von Kapillaren durch Teilung, die besonders an den Zottenspitzen stattfindet.
1.2.5
> Am Ende der Schwangerschaft fassen die Kapillaren der Endzotten ein Gesamtvolumen von 80 ml oder ca. 25% des fetoplazentaren Blutvolumens. Die Gesamtoberfläche der in den Endzotten für den Gasaustausch zur Verfügung stehenden Trophoblastmembran beträgt 13 m2 (Luckardt et al. 1996).
Regulation des Zottenwachstums der Plazenta
Das Zottenwachstum sowie die Entwicklung der darin verlaufenden Gefäße unterliegt der Regulation durch eine Reihe von angiogenetisch wirksamen Faktoren wie die vaskulären endothelialen Wachstumsfaktoren (VEGF), der Plazentawachstumsfaktor (PLGF), Angiopoietin und die zugehörigen Rezeptoren. VEGF wird sowohl in den Endothelien, im villösen Trophoblasten, den Hofbauer-Zellen im Stroma der Zotten als auch in den mütterlichen Makrophagen der Dezidua, v. a. im 1. Trimenon exprimiert. Im mütterlichen Plasma ist bereits mit 6 Wochen eine Zunahme der Plasmakonzentration nachweisbar (Clark et al. 1998; Evans et al. 1998; Jackson et al. 1994). Es wird vermutet, dass v. a. VEGF für das extensive Verzweigungswachstum der unreifen intermediären Zotten und der damit verbundenen Angiogenese während des 1. und 2. Trimenons verantwortlich ist. Die mit zunehmender Schwangerschaftsdauer steigende Sauerstoffkonzentration bewirkt eine Suppression von VEGF. Im Gegensatz zu VEGF wird die Expression des plazentaren Wachstumsfaktors durch Sauerstoff stimuliert (PLGF; Khaliq et al. 1999). PLGF fördert v. a. das Längenwachstum der Gefäße. Ein Wechsel im Gleichgewicht zwischen VEGF und PLGF scheint für die zunehmende Verlagerung im Verlauf der Schwangerschaft von einer auf Verzweigung basierenden zu einer durch Längenwachstum bedingten Angiogenese und der damit verbundenen Bildung von Endzotten verantwortlich zu sein. Nach
15 Literatur
neueren Erkenntnissen kommt auch dem angiogenesehemmenden Einfluss des löslichen Rezeptors sFLT-1, der sowohl VEGF als auch PLGF bindet, bei der Regulation der Vaskularisierung des Zottenapparats eine besondere Bedeutung zu (7 unten). Physikalische Faktoren wie der durch die Blutströmung bedingte »shear stress» und der transmurale Druckgradient zwischen dem intravaskulären Zottengefäßlumen und dem intervillösen Raum wirken zusätzlich stimulierend auf die Angiogenese. > Durch die mit dem Wachstum des Fetus gegebene Zunahme des Herzminutenvolumens und dem damit verbundenen Anstieg der umbilikoplazentaren Blutströmung besteht eine direkte Rückkoppelung zwischen dem fetalen Wachstum und der Entwicklung der Transport- und Versorgungskapazität der Plazenta (Clark et al. 1998).
1.2.6
Anpassung des Zottenwachstums an pathologische Veränderungen der Versorgung
Durch das Wachstum des Fetus kommt es gegen Ende des 2. und während des 3. Schwangerschaftstrimenons zu einem exponentialen Anstieg des Bedarfs an Sauerstoff und Nahrungsbestandteilen, der durch eine Anpassung des Zottenwachstums und der Vaskularisierung im Sinn eines Umbaus bzw. einer Reifung der Plazenta gedeckt wird. Bei den auf einer chronischen Störung der Sauerstoffzufuhr basierenden Formen von intrauteriner Wachstumsrestriktion ist die Adaptation pathologisch und als funktionelle Kompensation einer ungenügenden Versorgung zu verstehen. Eine chronisch erniedrigte Sauerstoffzufuhr zu der uteroplazentaren Einheit kann Folge des Lebens der Schwangeren in großer Höhe, einer chronischen mütterlichen Anämie oder eines gestörten Umbaus der dezidualen Gefaße mit unzureichender Perfusion des intervillösen Raums sein. Die durch Einschränkung der Zufuhr erniedrigte lokale Sauerstoffkonzentration bewirkt eine anhaltende Stimulation der auf Verzweigung basierenden Angiogenese. > Im dopplersonographischen Flussmuster der Nabelschnurarterie wird die Hyperkapillarisierung der Endzotten an einem erniedrigten Strömungswiderstand erkennbar (Hitschold 1998).
Davon abzugrenzen sind Fälle mit einer frühzeitig in der Schwangerschaft einsetzenden Restriktion des fetalen Wachstums, assoziiert mit einer schweren Form von Plazentainsuffizienz mit einer hohen Rate perinataler Todesfälle bzw. frühzeitigen Schwangerschaftsbeendigungen aus fetaler Indikation. > Die Dopplermuster der Nabelschnurarterie weisen bei diesen Fällen als Zeichen einer starken Widerstandserhöhung einen verminderten oder fehlenden diastolischen Fluss, im Extremfall sogar eine Umkehr der Flussrichtung auf (Karsdorp et al. 1994).
Stereologische Untersuchungen der Plazenta zeigen eine deutliche Verminderung der Anzahl von Endzotten in den peripheren Kapillarabschnitten (Karsdorp et al. 1994; Jackson et al. 1995). Möglicherweise handelt es sich bei diesen Fällen um eine frühzeitige Störung der Zottenentwicklung und der Angiogenese, wobei die eigentliche Ursache bislang ungeklärt bleibt. Gemäß einer Hypothese ist wegen der frühen Störung des Blutflusses in den Plazentazotten der Abtransport von Sauerstoff zum Fetus beeinträchtigt, sodass es zu einer Erhöhung der Sauerstoffkonzentration innerhalb der Plazenta kommt. Die plazentare Hyperoxie wirkt sich zusätzlich hemmend auf die durch Verzweigung bedingte Angiogenese aus (Macara et al. 1996; Kingdom u. Kaufmann 1997). Auch das molekulargenetische Expressionsmuster von angiogenetischen Wachstumsfaktoren spricht für eine lokale Hyperoxie in diesen Fällen (Khaliq et al. 1999). Es ist weitgehend gesichert, dass die lokale Sauerstoffkonzentration im Plazentagewebe direkten Einfluss auf das Gleichgewicht der für die Vaskulo- und Angiogenese des Zottenapparats entscheidenden Wachstumsfaktoren VEGF und PLGF hat. Auch die Konzentration des löslichen Rezeptors sFLT-1 im mütterlichen Blut, der sowohl VEGF als auch PLGF bindet, ist an der Regulation dieses Gleichgewichts beteiligt. Eine Zunahme von sFLT-1 im mütterlichen Plasma konnte bei Schwangeren, die eine Präeklampsie entwickelten, bereits 5 Wochen vor dem Auftreten von klinischen Hinweisen festgestellt werden (Levine et al. 2004). In-vitro-Untersuchungen an Kulturen von Plazentazottenexplants von Präeklampsiefällen ergaben eine vermehrte Freisetzung von sFLT-1 in das Medium. Der durch die Verschiebung des Gleichgewichts zwischen angiogenetischen Faktoren und dem löslichen Rezeptor bedingte hemmende Einfluss auf die Angiogenese konnte für das Medium mithilfe eines Angiogenesetests gezeigt werden (Ahmad u. Ahmed 2004). Die vermehrte Freisetzung von sFLT-1 konnte durch Hypoxie an Zottenexplants von Plazenten normaler Schwangerschaften provoziert werden. Die mit Hypervaskularisierung oder primär gestörter Gefäßentwicklung in den Zotten einhergehenden Formen von IUWR sind offensichtlich unterschiedliche Entitäten, sowohl was das klinische Bild als auch die Genese anbetrifft.
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1
2 2 Frühschwangerschaft: klinische Aspekte S. Pildner von Steinburg, K. Marzusch 2.1
Diagnose der Frühschwangerschaft – 20
2.1.1 Allgemeine Bemerkungen – 20 2.1.2 Laborchemische Diagnostik in der Frühschwangerschaft – 20 2.1.3 Nachweis der Frühschwangerschaft mittels Sonographie – 21
2.2
Abort – 22
2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4
Definition und Epidemiologie – 22 Klinische Stadien des Abortgeschehens – 22 Abortursachen – 24 Spezielle diagnostische und therapeutische Aspekte bei habituellen Aborten – 29
Literatur – 30
H. Schneider et al. (eds.), Die Geburtshilfe © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
20 Kapitel 2 · Frühschwangerschaft: klinische Aspekte
2
Entsprechende laborchemische und sonographische Methoden erlauben die frühe und zuverlässige Diagnose und Beurteilung einer Frühschwangerschaft. Laborchemisch eignet sich in erster Linie der Nachweis des humanen Choriongonadotropins (HCG). Die serielle Bestimmung des HCG – unter Berücksichtigung von entsprechenden Verdopplungszeiten – gestattet eine Unterscheidung zwischen intakter und gestörter Schwangerschaft. In der Frühschwangerschaft können mit der transvaginalen Sonographie in Verbindung mit einer systematischen Befunderhebung wertvolle Informationen über den Implantationsort, das Vorliegen einer Mehrlingsschwangerschaft und die Vitalität des Embryos gewonnen werden. Schließlich ermöglicht die sonographische Erhebung biometrischer Daten sowie die Beurteilung der embryonalen Morphologie eine weitgehend zuverlässige Bestätigung bzw. Korrektur des errechneten Geburtstermins. Neuerdings erlaubt die sonographische Messung der embryonalen Nackentransparenz unter Hinzuziehung bestimmter biochemischer Marker bereits im 1. Schwangerschaftstrimenon eine Risikopräzisierung für bestimmte Chromosomenstörungen. Unter dem Begriff »Abort« wird im deutschsprachigen Raum ein nichtartifizieller Verlust der Schwangerschaft vor Eintritt der Lebensfähigkeit des Kindes verstanden. Von Bedeutung ist hierbei die Unterscheidung zwischen sporadischen und habituellen Aborten, wobei ein habituelles Abortgeschehen bei 3 oder mehr aufeinanderfolgenden Fehlgeburten vorliegt. Auch auf die klinischen Stadien und die vielfältigen Ursachen von sporadischen und habituellen Aborten wird im Folgenden eingegangen und eine kritische Bestandsaufnahme von speziellen diagnostischen und therapeutischen Interventionen bei Paaren mit habituellem Abortgeschehen gegeben.
2.1
Diagnose der Frühschwangerschaft
2.1.1
Allgemeine Bemerkungen
Sowohl Testsysteme zum qualitativen und quantitativen Nachweis des humanen Choriongonadotropin (HCG) als auch die Sonographie erlauben heutzutage die frühe und zuverlässige Diagnose einer Schwangerschaft. Allerdings sollten diese Möglichkeiten nicht dazu verleiten, auf die Anamnese – insbesondere hinsichtlich des Zyklus – und den klinischen Befund bei der Erstvorstellung zu verzichten, da entsprechende Kenntnisse über die Ausgangssituation von erheblicher Relevanz für die Beurteilung des weiteren Schwangerschaftsverlaufs sein können. Zu den subjektiven Beschwerden in der Frühschwangerschaft gehören Erscheinungen wie die ungewohnte Ablehnung gewisser Genussmittel und Speisen, morgendliche Übelkeit mit Erbrechen, Brustspannen und seelische Unausgeglichenheit. Ebenfalls sehr früh zu Beginn der Schwangerschaft können Symptome wie verstärkter Fluor genitalis sowie Neigung zur Obstipation und Pollakisurie als Hinweise einer veränderten Darm- und Blasenfunktion auftreten. Diese unsicheren Schwangerschaftszeichen können in unterschiedlicher Ausprägung in Erscheinung treten und werden allgemein auf die schwangerschaftsbedingte Umstellung des maternalen Organismus zurückgeführt.
Bei der gynäkologischen Untersuchung finden sich als weitere unsichere Hinweise auf eine Schwangerschaft eine gewisse Auflockerung und livide Verfärbung von Vulva, Introitus, Vagina und Zervix. Die Auflockerung des Uterus und insbesondere des unteren Uterinsegments, wodurch sich bei der Palpation die Finger der inneren und äußeren Hand nahezu berühren können (Hegar-Schwangerschaftszeichen), wurde in der Vergangenheit als wertvoller Hinweis auf eine möglicherweise bestehende Frühgravidität gewertet. Häufig lässt sich bereits im Frühstadium der Schwangerschaft das vergrößerte Ovar mit dem Corpus luteum graviditatis tasten. Eine palpatorisch nachweisbare Vergrößerung des Uterus findet sich hingegen frühestens ab der 7.–8. SSW, wobei hier die interindividuelle Variabilität bekanntermaßen groß ist. Zusammenfassend ergeben sich aus der klinischen Befunderhebung nur eingeschränkt Informationen über die Präsenz, Intaktheit und das regelrechte Wachstum einer intrauterinen Frühschwangerschaft, weshalb zur Beantwortung dieser Fragestellungen die Hinzuziehung von laborchemischen und sonographischen Methoden sinnvoll erscheint.
2.1.2
Laborchemische Diagnostik in der Frühschwangerschaft
Humanes Choriongonadotropin (HCG) Das Glykoprotein humanes Choriongonadotropin (HCG) besteht aus zwei Untereinheiten, die als α- und β-Kette bezeichnet werden. α-HCG wird in erster Linie von Zytotrophoblastzellen, β-HCG wird hingegen vorwiegend im Synzytiotrophoblasten gebildet. HCG findet sich frühestens 8 Tage nach der Ovulation im maternalen Serum und weist hinsichtlich der Molekülstruktur und des luteotropen Effekts Ähnlichkeiten mit dem LH auf. Der unterschiedliche Aufbau der β-Ketten erlaubt – unter Zuhilfenahme spezifischer Antikörper – die Differenzierung zwischen (β-) HCG und LH in den gebräuchlichen Testsystemen. Bei eingetretener Schwangerschaft ersetzt HCG zunehmend das LH, wobei die Aufrechterhaltung der Steroidsynthese im Corpus luteum im Vordergrund steht. Hierbei ist ein ausreichend hoher Progesteronspiegel im Serum für den Erhalt der Frühschwangerschaft von Bedeutung. Der Nachweis von HCGRezeptoren auf Stromazellen im Endometrium und auf Trophoblastzellen lässt vermuten, dass HCG weitere schwangerschaftsrelevante para- und autokrine Effekte ausübt. In den ersten 10–12 Tagen einer intakten intrauterinen Einlingsgravidität beträgt die Verdopplungszeit des HCG im Serum etwa 1,3 Tage (Lenton 1990). Mit zunehmendem Gestationsalter und/oder bei höheren HCG-Werten verlängert sich die Verdopplungszeit – beispielweise wird sie bei Werten zwischen 1200 und 6000 mIE/ml mit 3 Tagen angegeben (Pittaway u. Wentz 1985). An dieser Stelle sei allerdings betont, dass niedrigere Ausgangswerte und/oder eine verlängerte Verdopplungszeit des HCG nicht als alleiniger Hinweis für eine Extrauteringravidität oder für eine gestörte intrauterine Frühgravidität gewertet werden dürfen. Umgekehrt müssen kurze Verdopplungszeiten und/oder hohe Werte des HCG nicht unbedingt für das Vorliegen einer Trophoblasterkrankung sprechen.
21 2.1 · Diagnose der Frühschwangerschaft
> Die höchsten HCG-Spiegel mit 50.000–100.000 mIE/ ml finden sich in der 10. SSW, danach kommt es bis zur 20. SSW zu einem kontinuierlichen Abfall auf Werte um 10.000–20.000 mIE/ml, die bis zur Geburt des Kindes in etwa konstant bleiben (Speroff et al. 1994).
Weitere Faktoren, Hormone und Screeningtests Im Rahmen der In-vitro-Fertilisation (IVF) konnte gezeigt werden, dass Embryonen binnen 48 h nach Fertilisation in äußerst variablen Konzentrationen einen »embryo-derived platelet activating factor« (EDPAF) sezernieren können. EDPAF soll autokrin/parakrin die Aktivität von Leukotrienen und Prostaglandinen beeinflussen und so einen vasodilatatorischen Effekt aufweisen, wodurch möglicherweise die Implantation erleichtert wird (O’Neill 2005). Allerdings wird die Bedeutung der EDPAF-Sekretion für die Beurteilung der Lebensfähigkeit des Embryos in Zweifel gezogen (Amiel et al. 1989). Die in der Frühschwangerschaft initial nachweisbare Erhöhung der Steroidhormone im mütterlichen Serum ist auf den Einfluss des trophoblastären HCG auf das Corpus luteum im Ovar zurückzuführen. Zu diesem Zeitpunkt erlaubt daher die Bestimmung der Steroidhormone – wenn überhaupt – nur indirekte Rückschlüsse auf eine sich regelrecht entwickelnde Frühschwangerschaft. Im 3. Schwangerschaftstrimenon wird die Bestimmung des in der Plazenta gebildeten unkonjugierten Estriols u. U. noch zur ergänzenden Überwachung des Fetus eingesetzt. Allerdings ist diese laborchemische Überwachungsmöglichkeit in den letzten Jahren aufgrund der Entwicklungen im Bereich der Dopplersonographie in den Hintergrund gedrängt worden. Das vom Synzytiotrophoblasten sezernierte Proteohormon humanes plazentares Laktogen (HPL) steigt im maternalen Serum erst ab der 5. SSW an. Unbestätigt blieben frühere differenzialdiagnostische Befunde, nach denen die Kombination eines hohen HCG-Spiegels mit einem niedrigen HPLWert auf eine Trophoblasterkrankung hinweist (Speroff et al. 1994). Die HPL-Bestimmung im Serum wird allenfalls noch als Hilfsmittel bei der Beurteilung der Plazentainsuffizienz gewertet, wobei der Aussagewert dieser diagnostischen Maßnahme umstritten ist. Neuere Arbeiten haben zeigen können, dass der mütterliche Serumspiegel des schwangerschaftsassoziierten Plasmaproteins A (engl.: »pregnancy-associated plasma proteinA«, PAPP-A) in Kombination mit der Bestimmung des freien β-HCG eine Risikopräzisierung für die Trisomie 21 und Trisomie 18 im 1. Schwangerschaftstrimenon erlaubt (Wald et al. 1996; Zimmermann et al. 1996; Tul et al. 1999). Zusammen mit der sonographischen Messung der Nackentransparenz (NT) kann die Treffsicherheit der Berechnung eines individualisierten Risikos für eine Trisomie 21 auf etwa 90% erhöht werden (Spencer et al. 1999; Avgidou et al. 2005, Wapner et al. 2003; Nähreres 7 Kap. 8 »Ersttrimesterscreening auf Fehlbildungen und Chromosomenstörungen«). Zur Ergänzung des Screenings im 1. Trimenon werden derzeit weitere sonographische Marker wie die Darstellung des Nasenbeins, eine Trikuspidalklappenregurgitation oder
die Dopplerflussmessung im Ductus venosus herangezogen (zusammengefasst in Nicolaides 2005). Allerdings konnte in neueren Studien auch gezeigt werden, dass bei karyotypisch unauffälligen Schwangerschaften mit reduzierten PAPP-ASpiegeln ein erhöhtes Risiko für einen ungünstigen Schwangerschaftsausgang durch Wachstumrestriktionen, Präeklampsie und intrauterine Fruchttode besteht (Spencer et al. 2005).
2.1.3
Nachweis der Frühschwangerschaft mittels Sonographie
Insbesondere bei der Frühschwangerschaft bietet die transvaginale Sonographie aus technischer Sicht entscheidende Vorteile im Vergleich zu der transabdominellen Technik: Durch die Nähe des Schallkopfes zu den zu untersuchenden intrauterinen Strukturen und der damit verbundenen geringeren Eindringtiefe der Schallwellen sind höhere Frequenzen mit besserer Bildauflösung möglich. Zudem können zuverlässige Befunde bei Schwangeren mit Adipositas, extrem retroflektiertem Uterus und intraabdominellen Verwachsungen erbracht werden. Zur Erhebung morphometrischer Befunde während der Embryonalperiode wird die transvaginale Sonographie im Real-time-B-Modus mittels mechanischer Sektorsonden oder elektronischer Sektorscanner durchgeführt. Die verwendeten Sonden sollten in der Frequenz von 5 auf 7,5 MHz umschaltbar sein und über einen Sektor von mindestens 120° verfügen. Die vaginalsonographische Beurteilung des inneren Genitales erfolgt hierbei zwecks besserer Orientierung zunächst im medianen Sagittalschnitt (Uterus im Längsschnitt mit ventral liegender Blase) sowie im Frontalschnitt (Uterus im Querschnitt, linke Adnexe rechts und rechte Adnexe links im Bild). Eine systematische Vorgehensweise bei der vaginalsonographischen Untersuchung vermeidet Versäumnisse bei der Erfassung von Befunden, die für den weiteren Schwangerschaftsverlauf von erheblicher Relevanz sein können. Beispielsweise ist im 1. Schwangerschaftstrimenon die sonographische Unterscheidung zwischen monochorialen Gemini – die zu einem späteren Zeitpunkt ein erhöhtes Risiko für fetofetale Transfusionen aufweisen – und dichorialen Zwillingen wesentlich einfacher als in der Spätschwangerschaft. Dies gilt ebenfalls für die antenatale Abgrenzung von monound diamniotischen Mehrlingen. Nach orientierender Darstellung des inneren Genitales im medianen Sagittalschnitt und im Frontalschnitt erfolgt zunächst die Festlegung des Implantationsortes. Hierbei ist die Chorionhöhle innerhalb des dezidualisierten Endometriums ab einem Durchmesser von etwa 2 mm mit entsprechender Gerätetechnik zuverlässig darstellbar. Bei diesem Größendurchmesser müssen jedoch zunächst differenzialdiagnostisch Vakuolen in der Dezidua sowie eine Pseudoeiblase in Erwägung gezogen werden. Der weitere systematische Untersuchungsablauf beinhaltet den Ausschluss bzw. Nachweis einer Mehrlingsschwangerschaft und – falls bereits möglich – der Beurteilung der embryonalen Morphologie mit anschließender Biometrie und der Erfassung von Vitalitätszeichen (Wisser 1995). Die
2
22 Kapitel 2 · Frühschwangerschaft: klinische Aspekte
2
erhobenen Befunde ermöglichen eine weitgehend exakte Festlegung des Gestationsalters unter Hinzuziehung der Stadien der Embryonalentwicklung aus der Carnegie-Sammlung und der biometrischen Daten von Eiblase und Embryo (Übersicht in Wisser 1995). Diese Daten erlauben demnach in der Frühschwangerschaft eine zuverlässige Bestätigung bzw. Korrektur des errechneten Geburtstermins. Der sichere embryonale Vitalitätsnachweis ist sonographisch ab der 7. SSW mit der Beobachtung bzw. Messung von Herzaktionen im Real-time-B-Modus bzw. Time-motion-Modus möglich. Schließlich sollte bereits im 1. Schwangerschaftstrimenon auf Hinweiszeichen für das Vorliegen embryonaler Erkrankungen geachtet werden (auffällige Körperkontur in Bezug auf Nacken und Bauchwand, abnorme Herzfrequenz, abnorme Organstrukturen, Auffälligkeiten der Nabelschnur und/oder Plazenta, auffällige Wachstumskurve u.a.). Insbesondere in diesem Zusammenhang wird auf 7 Kap. 15 »Ultraschall im III. Trimenon« verwiesen.
2.2
Abort
2.2.1
Definition und Epidemiologie
Von Bedeutung für die Klinik ist die Unterscheidung zwischen sporadischen Aborten und dem Vorliegen eines habituellen Abortgeschehens, das bei 3 oder mehr aufeinanderfolgenden Fehlgeburten vorliegt. Aus klinischer Sicht ist eine Einteilung in Frühaborte bis zur 12.–14. SSW und in Spätaborte ab der 14. SSW sinnvoll. Hinsichtlich der Ätiologie von Aborten scheinen jedoch, bis auf die endokrinen Abortursachen und die Zervixinsuffizienz, die Übergänge zwischen Früh- und Spätfehlgeburten fließend zu sein. Aus diesem Grund werden die ätiologischen Faktoren, die zu Aborten im 1. und 2. Schwangerschaftstrimenon führen können, in den entsprechenden Kapiteln gemeinsam abgehandelt. Bisher wenig beachtet ist die klinische Bedeutung, die die Anamnese von Aborten für den Ausgang einer bestehenden Schwangerschaft hat: Zusätzlich zur zunehmenden Wahrscheinlichkeit für einen weiteren Abort steigt das Risiko für eine (sehr frühe) Frühgeburt, verursacht durch vorzeitigen Blasensprung oder vorzeitige Wehen, bereits nach dem ersten Abort erheblich an (OR 1,5–4,0; Buchmayer et al. 2004).
2.2.2
Abort Im deutschsprachigen Raum wird unter dem Begriff »Abort« ein nichtartifizieller Verlust der Schwangerschaft vor Eintritt der Lebensfähigkeit des Kindes verstanden. Aufgrund der Fortschritte in der neonatologischen Intensivmedizin sind hierbei Feten ab einem Geburtsgewicht von ≥500 g als lebensfähig anzusehen.
Die Rate an klinischen Aborten nach Ausbleiben der Regelblutung, bezogen auf die Gesamtzahl aller festgestellten Schwangerschaften, liegt im Mittel zwischen 11 und 15% (Edmonds et al. 1982; Hertz-Picciotto u. Samuels 1988; Miller et al. 1980). Bis zu 4-mal mehr Embryonen dürften in der kurzen Zeitspanne zwischen Implantation und Periodenblutung unbemerkt abgehen (Edmonds et al. 1982) und weitere rund 15% noch vor der Implantation (Little 1988), wodurch die Rate an präklinischen (vor dem Ausbleiben der Regelblutung) und klinischen Aborten zusammen deutlich über 50% betragen dürfte (Edmonds et al. 1982).
Studienbox In einer neueren und umfangreichen Studie konnte gezeigt werden, dass offenbar ein Zusammenhang zwischen dem Zeitpunkt der Implantation und der Inzidenz von Frühaborten besteht: Die niedrigste Abortrate von 13% fand sich bei einer Implantation bis zum Tag 9 post ovulationem (p. o.), bei einer Implantation am Tag 10 p. o. und 11 p. o. kam es bereits zu einem signifikanten Anstieg der Frühabortrate auf 26 bzw. 52%. Die nach dem Tag 11 p. o. erfolgten Implantationen endeten schließlich zu 82% in einer Frühfehlgeburt (Wilcox et al. 1999).
Klinische Stadien des Abortgeschehens
Klinisch findet sich beim drohenden Abort (Abortus imminens) eine vaginale Blutung mit oder ohne uterine Kontraktionen, wobei sich palpatorisch in der Regel keine Eröffnung des äußeren Muttermundes feststellen lässt. Von wesentlicher Bedeutung für die Diagnose sind die sonographischen Befunde eines vitalen Embryos/Fetus, einer erhaltenen Cervix uteri und eines geschlossenen inneren Muttermundes. Die Sonographie erlaubt zudem den Nachweis eines möglicherweise vorliegenden perichorialen Hämatoms, wodurch die differenzialdiagnostische Abgrenzung von einer Portioektopie oder einer intrazervikalen Neoplasie erleichtert wird. Laborchemisch finden sich bis zur 10. SSW regelrechte Verdopplungszeiten des HCG. > Obwohl allgemein empfohlen, konnte der eindeutige Nutzen einer körperlichen Schonung bzw. Bettruhe im Hinblick auf den Schwangerschaftsausgang beim drohenden Abort im 1. Trimenon bislang nicht bewiesen werden. Auch zur medikamentösen Behandlung mit Gestagenen und/oder HCG liegen keine zufriedenstellenden kontrollierten Studien vor.
Lassen sich beim drohenden Abort im 1. Schwangerschaftstrimenon mittels Sonographie embryonale Vitalitätszeichen (Herzaktionen) nachweisen, ist in weit über 90% der Fälle mit einem günstigen Schwangerschaftsverlauf zu rechnen (Everett u. Preece 1996). Dieser Umstand ist im Rahmen der Beratung der betroffenen Patientin im Sinn einer Beruhigung von hoher praktischer Bedeutung. Beim beginnenden Abort (Abortus incipiens) kommt es unter wehenartigen uterinen Kontraktionen zu einer Erweichung und Verkürzung der Cervix uteri mit Dilatation des Zervikalkanals. In dieser Situation ermöglicht die Sonographie eine Bestätigung der klinischen Befunde an der Zervix – darüber hinaus werden des Öfteren eine deformierte Cho-
23 2.2 · Abort
rionhöhle mit einem nichtvitalen Embryo/Fetus sowie ein ausgeprägtes perichoriales Hämatom vorgefunden. Insbesondere ist beim Vorliegen einer dauerhaft überregelstarken vaginalen Blutung ein konservatives Vorgehen nicht mehr gerechtfertigt. Tipp Empfehlung Therapeutisch sollte bis zu einer Uterusgröße entsprechend der 14. SSW eine Vakuumkürettage unter gleichzeitiger Gabe von Uterotonika (Methylergometrin, Oxytozin) durchgeführt werden. Ab einer Uterusgröße von >14. SSW ist zunächst eine medikamentös unterstützte (Sulproston, Gemeprost, Oxytozin) Spontanausstoßung anzustreben, wobei eine anschließende Kürettage zwecks Entfernung von noch verbliebenen Plazentaresten möglicherweise notwendig ist.
Ist es bereits zu einer teilweisen bzw. vollständigen Spontanausstoßung des Embryos/Fetus und der Plazenta gekommen, liegt ein inkompletter bzw. kompletter Abort (Abortus incompletus bzw. completus) vor. Im Rahmen der klinischen Untersuchung tastet sich der Uterus häufig kleiner als dem Gestationsalter entsprechend, und es findet sich ein klaffender Zervikalkanal, wobei sich dieser bei einem kompletten Abort allerdings auch wieder formiert haben kann. Mit der Sonographie kann in der Regel eine intrauterine Chorionhöhle mit einem vitalen Embryo nicht mehr nachgewiesen werden. Schwierigkeiten bereitet häufig die sonographische Differenzierung zwischen in utero verbliebenen Plazentaresten und Blutkoageln, die jeweils als unregelmäßige echodichte Strukturen imponieren können. Tipp Da sowohl klinisch als auch sonographisch eine Unterscheidung zwischen einem kompletten und inkompletten Abort nicht sicher möglich ist, kann – insbesondere bei persistierenden Blutungen – eine Vakuumkürettage vorgenommen werden. Neuere Daten haben zeigen können, dass in Fällen von kompletten und inkompletten Aborten bis einschließlich der 12. SSW ein expektatives (nichtoperatives) Vorgehen ebenfalls in Erwägung gezogen werden kann (Nielsen u. Hahlin1995; Nielsen et al. 1996; Grant 1996).
Bei einem verhaltenen Abort (»missed abortion«) kommt es, trotz abgestorbener oder sich nicht mehr entwickelnder Schwangerschaft, zu keinen spontanen Abortbestrebungen. Klinisch ist der Uterus kleiner als der Zeitspanne der Amenorrhö entsprechend, die Zervix erscheint derb, und der Zervikalkanal ist geschlossen. Im Rahmen der HCG-Bestimmungen ist nicht ein möglicherweise erniedrigter Ausgangswert von Bedeutung, sondern die ausbleibende bzw. verzögerte Verdopplung der Werte innerhalb eines Zeitraums. Im Ultraschall findet sich ein nichtvitaler Embryo/Fetus, der im Rahmen einer Stoßpalpation des Uterus den Bewegungen des
Fruchtwassers passiv nachfolgt. Die Biometrie ergibt häufig einen zu kleinen Embryo im Bezug auf den Chorionhöhlendurchmesser und auf das rechnerische Gestationsalter. > Mit der Fortentwicklung der hochauflösenden transvaginalen Sonographie werden auch bei der sog. Abortivfrucht (»Windei«) – die definitionsgemäß keine embryonalen Strukturen enthalten sollte – zunehmend kleinere Anteile des Embryoblasten darstellbar, weshalb hier in vielen Fällen eine frühe Form des verhaltenen Frühaborts vorliegen dürfte (Wisser 1995).
Therapeutisch wird beim verhaltenen Abort wie beim Abortus incipiens/incompletus vorgegangen, wobei – insbesondere bei Frauen ohne Geburten und/oder einem habituellen Abortgeschehen in der Anamnese – aufgrund der unreifen Zervix eine lokale Vorbehandlung mit Prostaglandinen (z. B. Gemeprost) erfolgen sollte. Beim länger bestehenden verhaltenen Abort ist in Einzelfällen über schwere Gerinnungsstörungen mit der Ausbildung einer disseminierten intravasalen Koagulopathie (DIC) berichtet worden. Es handelt sich aber hierbei um eine sehr seltene Komplikation, die im klinischen Alltag kaum je Probleme bereitet.
Studienbox Bisher galt die Regel, dass eine Kürettage bei retiniertem Schwangerschaftsmaterial nach Abort notwendig ist, um Infektionen zu vermeiden. Doch in einer neueren dreiarmigen Studie, die expektatives mit medikamentösem (vaginales Misoprostol) und chirurgischem Vorgehen bei 1200 Frauen mit »missed abortion« oder Abortus incompletus vor 13 kompletten SSW verglich (Trinder et al. 2006), zeigten sich keine Unterschiede in den erfreulich niedrigen Infektionsraten ohne prophylaktische Antibiotikagabe oder Screeningtests. Die Raten an Nachkürettagen (indiziert wegen starker Blutungen oder sonographischen Verdachts auf Retention nach 14 Tagen) waren 44 vs. 13 vs. 5%. Für einen Abortus incompletus zeigte das expektative Management eine Erfolgsrate von 75%, allerdings bei einer Rate ungeplanter stationärer Aufnahmen von 29%. Bei vorliegender »missed abortion« war der Anteil der Frauen, die einen operativen Eingriff benötigten, im Arm der medikamentösen Behandlung am niedrigsten mit 38%, jedoch bei längeren Krankenhausaufenthalten. Die verursachten Kosten waren in der Gruppe des expektativen Vorgehens am niedrigsten, wie eine Nachfolgestudie belegte (Petrou et al. 2006). Die Autoren schließen, dass therapeutische Alternativen mit den Frauen diskutiert werden müssen, aber die Kürettage wegen der höchsten Erfolgsraten und kürzesten Blutungsdauer auf jeden Fall angeboten werden sollte.
Für das Vorliegen eines infizierten Aborts spricht eine Temperaturerhöhung >38°C, eine Leukozytose von ≥12.000 sowie eine signifikante Erhöhung der Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) und des C-reaktiven Proteins (CRP). Meist liegt das klinische
2
24 Kapitel 2 · Frühschwangerschaft: klinische Aspekte
2
Stadium eines Abortus incipiens oder incompletus vor, wobei in dieser Situation auch immer an einen vorausgegangenen versuchten Schwangerschaftsabbruch gedacht werden muss. Im Initialstadium betrifft die Infektion das Cavum uteri, diese kann sich jedoch im weiteren Verlauf auf die Parametrien mit Adnexen, auf das Peritoneum und hämatogen (septischer Abort) ausbreiten. Ein häufig unterbewertetes Frühsymptom eines beginnenden septischen Geschehens ist die persistierende Hypotension mit Tachykardie, die des Öfteren zunächst als vegetative Dystonie oder als Folge eines Volumenmangels fehlgedeutet wird. Im weiteren Verlauf kann sich ein septischer Schock mit den Kardinalsymptomen Kreislauf- und Nierenversagen sowie manifester DIC entwickeln. Hierbei findet sich bei einer Sepsis ohne Schocksymptomatik bereits eine Mortalität von 13%, die sich unter Hinzuentwicklung eines Schockgeschehens auf 28% erhöhen kann (Bone 1991). Tipp Die spezifische Therapie eines infizierten bzw. septischen Aborts sollte daher möglichst früh begonnen werden und besteht zunächst in einer hochdosierten intravenösen Antibiotikagabe (z. B. Amoxicillin + Clavulansäure; Cefotaxim in Kombination mit Metronidazol), einer adäquaten Volumensubstitution sowie in der Kontrolle der Gerinnungsparameter, um eine sich anbahnende DIC möglichst frühzeitig erkennen zu können. Bei einer Uterusgröße >14 SSW kann gleichzeitig eine medikamentös unterstützte Spontanausstoßung angestrebt werden. Vor der 14. SSW kann 4–6 h nach Beginn einer adäquaten intravenösen Antibiotikagabe die operative Entleerung bzw. Nachtastung des Uterus geplant werden. Nach diesem Intervall ist mit entsprechenden Antibiotikaspiegeln im Bereich des Infektionsgeschehens zu rechnen, wodurch die Gefahr einer weiteren Ausbreitung der Septikämie im Zusammenhang mit der operativen Intervention gering ist.
Aufgrund der heutzutage verfügbaren Antibiotika hat sich dieses Vorgehen gegenüber dem zu langen Zuwarten und der Gefahr der Entwicklung eines Endotoxinschocks deutlich bewährt.
2.2.3
Abortursachen
Chromosomale Anomalien im Abortgewebe Numerische Chromosomenanomalien werden in 50–70% aller sporadischen Aborte während des 1. und in rund 20% während des 2. Trimenons im Abortgewebe nachgewiesen (Boué et al. 1975; Johnson et al. 1990; Ohno et al. 1991; Poland et al. 1981). Die häufigsten dieser Aneuploidien sind autosomale Trisomien (am häufigsten Trisomie 16) sowie die Monosomie X (Kajii u. Ferrier 1978; Lauritsen 1976), gefolgt von Polyploidien und strukturellen Anomalien. Auch auf das Chorion bzw. die Plazenta begrenzte Mosaike finden sich vermehrt bei sporadischen Aborten (Kalousek et al. 1992). Dagegen zählen Anomalien im embryonalen/fetalen Karyotyp nicht zu den gän-
gigen Ursachen von habituellen Aborten. Im Gegenteil: Im Abortgewebe von Paaren mit habituellem Abortgeschehen findet sich häufig ein unauffälliger Chromosomensatz (Boué et al. 1975; Strobino et al. 1976; Sullivan et al. 2004).
Genetische Ursachen bei den Eltern Zu den genetischen Ursachen für habituelle Aborte zählen chromosomale Anomalien eines Elternteils, molekulare Defekte und multifaktorielle Syndrome. Durch Karyotypisierung beider Elternteile lässt sich bei 3–8% der Paare mit habituellem Abortgeschehen eine Chromosomenanomalie eines Partners nachweisen, was der 6- bis 9fachen Rate der Normalbevölkerung entspricht (de Braekeler u. Dao 1990; Brumstedt 1991; Smith u. Gaha 1990). Meist handelt es sich hierbei um Robertson- oder reziproke Translokationen, die zusammen 73% ausmachen (Cammarata et al. 1989), oder Inversionen, selten auch um Mosaike einer Trisomie X oder Monosomie des X-Chromosoms. Ist beispielsweise ein Partner Träger einer balancierten Robertson-Translokation 14/21, so sind folgende chromosomale Varianten der Zygoten denkbar: Trisomie 14, Monosomie 14, Trisomie 21, Monosomie 21, balancierte Translokation 14/21 und ein normaler Chromosomensatz. Die Hälfte der möglichen Zygoten (Trisomie 14, Monosomie 14, Monosomie 21) ist nicht mit einem lebensfähigen Kind vereinbar und wird abortiert. Das Abortrisiko in der Praxis wird aber weiter erhöht durch die Selektion gegen Feten mit einer Trisomie 13, 18 und 21, d. h., auch bei einem großen Teil dieser Schwangerschaften kommt es zu Früh- und Spätaborten. Mutationen und Gendefekte könnten für einen beträchtlichen Teil der euploiden Aborte verantwortlich sein. Die myotone Dystrophie ist ein Beispiel für eine Erkrankung eines einzelnen Gens, die mit einem erhöhten Risiko für Aborte und intrauterinen Fruchttod verknüpft ist (Broekhuizen et al. 1983). Jedoch sind die molekulargenetischen Untersuchungstechniken zur Aufdeckung weiterer solcher Assoziationen erst seit kurzem verfügbar, sodass gesicherte Erkenntnisse über die Rolle von Mutationen bei der Verursachung von habituellen Aborten noch fehlen.
Uterine Anomalien Zu den angeborenen oder erworbenen Anomalien des Uterus, die für Früh- und Spätaborte sowie auch für ein habituelles Abortgeschehen verantwortlich sein können, zählen die Hemmungsmissbildungen der Müller-Gänge, Myome, intrauterine Synechien sowie die Zervixinsuffizienz (7 Übersicht). Angeborene und erworbene uterine Anomalien mit erhöhtem Abortrisiko 4 4 4 4 4 4 4
Uterus subseptus und septus Uterus unicornis mit oder ohne rudimentäres Horn Uterus bicornis unicollis oder bicollis Uterus didelphys Intrauterine Synechien Myome Zervixinsuffizienz
25 2.2 · Abort
Angeborene uterine Anomalien. Über die allgemeine Inzi-
denz von angeborenen Uterusanomalien gibt es keine verlässlichen Angaben. Bei Frauen mit habituellen Aborten werden uterine Fehlbildungen mit 10–30% angegeben, wobei das Abortrisiko in erster Linie vom Typ der vorliegenden Anomalie abhängen dürfte. In der Literatur finden sich teilweise sehr unterschiedliche Angaben hinsichtlich der Rate an Fehlgeburten bei den diversen uterinen Fehlbildungen (Übersicht in Steck et al. 1997a). Die höchste Abortrate ohne chirurgische Therapie wird beim Uterus subseptus und septus durchschnittlich mit 67% beobachtet, wobei wiederum das Abortrisiko von der Ausprägung des Septums abhängt. Beim Vorliegen eines Uterus unicornis beträgt das Risiko einer Fehlgeburt im Mittel 48%. Bei dieser Fehlbildung besteht zudem die Möglichkeit einer Gravidität in einem evtl. vorhandenen rudimentären zweiten Horn, wobei hier das hohe Risiko einer Ruptur im Verlauf der Schwangerschaft berücksichtigt werden muss. Beim ungleich häufiger vorkommenden Uterus bicornis besteht ohne Therapie im Durchschnitt ein Abortrisiko von 35%, wobei die Rate an Aborten vom Ausmaß der Trennung beider Hörner (partieller Uterus bicornis unicollis oder kompletter Uterus bicornis bicollis) abhängen dürfte. Das Abortrisiko bei einem Uterus didelphys wird mit 13–42% sehr unterschiedlich angegeben. Diese relativ seltene Anomalie – bei der zwei durch Endometrium ausgekleidete Hörner jeweils mit einer Zervix im Bereich des unteren Uterinsegments miteinander verbunden und die beiden Portiones meist durch ein longitudinales Vaginalseptum getrennt sind – besitzt wahrscheinlich die beste Prognose bezüglich des Austragens einer Schwangerschaft. Allgemein sei auf das erhöhte Risiko des Auftretens geburtshilflicher Komplikationen bei allen Hemmungsmissbildungen der Müller-Gänge hingewiesen (7 Übersicht). Geburtshilfliche Komplikationen bei angeborenen uterinen Anomalien 4 4 4 4
Frühgeburtlichkeit Fetale Wachstumsrestriktion Anomalien der Lage und Poleinstellungen Uterusruptur nach operativer Korrektur
Erworbene uterine Anomalien. Intrauterine Synechien nach
Endometritis und intrauterinen Eingriffen kommen ebenfalls als Risikofaktor für Früh- und Spätaborte in Betracht. Die Häufigkeit intrauteriner Synechien und deren Ausmaß steigt offensichtlich mit der Zahl der vorangegangenen Aborte und intrauterinen Eingriffe: So beträgt die Inzidenz solcher Adhäsionen 14–16% nach zwei, aber 32% nach drei oder mehr Frühaborten (Friedler et al. 1993; Golan et al. 1992). Auch große Myome bleiben während der Schwangerschaft häufig asymptomatisch. Jedoch wird das Vorhandensein von Myomen mit einem erhöhten Risiko für Früh- und Spätaborte und andere Schwangerschaftskomplikationen (Frühgeburten, Lageanomalien, vorzeitige Plazentalösung) in
Verbindung gebracht (Buttram u. Reiter 1981; Exacoustos u. Rosati 1993). Degenerative Veränderungen eines Myoms in der Schwangerschaft können ebenfalls einen Abort auslösen (Buttram u. Reiter 1981; Katz et al. 1989). Insbesondere können multiple Myome gelegentlich als Ursache für habituelle Aborte in Betracht kommen, und in einigen kleinen retrospektiven Studien wurde ein positiver Effekt einer Myomektomie auf die nachfolgende Fertilität festgestellt. Jedoch wurde die tatsächliche Rolle von Myomen in der Genese von habituellen Aborten bislang noch nicht in größeren Studien ausgewertet. Die Bedeutung der Zervixinsuffizienz bei der Auslösung von Aborten – zumeist im 2. Schwangerschaftstrimenon – wurde in der Vergangenheit wohl überschätzt (Rai et al. 1996). Das klinische Bild der Zervixinsuffizienz kann in einer schleichenden, schmerzlosen Dilatation der Zervix, in einer prallen Vorwölbung des Amnions oder in einem weit vorzeitigen Blasensprung am wehenlosen Uterus bestehen. Allerdings kann jedes dieser Symptome auch im Verlauf eines Abortgeschehens anderer Ursache auftreten und beweist daher noch nicht die Kausalität der zervikalen Insuffizienz für den Verlust der Schwangerschaft.
Studienbox Die tatsächliche Inzidenz der Zervixinsuffizienz dürfte etwa 1% bei unselektionierten Schwangeren (Lidegaard 1994), aber rund 13% bei Schwangeren mit habituellen Aborten in der Vorgeschichte (Stray-Pedersen u. Stray-Pedersen 1984) betragen. Die Häufigkeit der Zervixinsuffizienz ist offenbar in der Altersgruppe >35 Jahre um ein Mehrfaches höher als bei Schwangeren Bei den APA handelt es sich um eine heterogene Gruppe von Antikörpern, die sich gegen die Epitope Cardiolipin, Phosphoserin, Phosphoglycerol, Phosphoethanolamin, Phosphoinositol oder Phosphatidsäure richten und den Hauptklassen IgG, IgM und IgA angehören können. Auch das Lupusantikoagulans (LAC) gehört in diese Gruppe, und die Gerinnungszeiten in den phospholipidabhängigen Tests – z. B. aPTT – sind oft verlängert. In mehr als der Hälfte der Fälle reagieren die APA nicht mit Cardiolipin, sondern mit einem der übrigen Phospholipide, am häufigsten mit Phosphoserin (Gilman-Sachs et al. 1991).
APA scheinen einen Einfluss auf die Blutgerinnung zu haben und eine Hyperkoagulabilität zu bewirken, wobei der exakte Pathomechanismus, der der vermehrten Neigung zu Thrombosen und Embolien zugrunde liegt, noch unklar ist. Es ist daher denkbar, dass die potenziell nachteilige Wirkung dieser Antikörper auf die Schwangerschaft sich im Bereich der mütterlichen, die Plazenta versorgenden Gefäße entfaltet und sich hier als Thrombosen im Plazentabett manifestiert. Für den Perinatologen von Relevanz ist die Assoziation des sog. Antiphospholipidsyndroms (APS). Sie ist definiert als der Nachweis von APA zusammen mit relevanten klinischen Ereignissen (thromboembolische Ereignisse, autoimmune Thrombozytopenie und -hämolytische Anämie, wiederholte Aborte und Fruchttode). Ein erhöhtes Risiko für fetale Wachstumsrestriktion, früh einsetzende Präeklampsie mit HELLP-Syndrom und erneut auftretende Aborte liegt vor. (Lockwood u. Rand 1994; 7 Übersicht). Geburtshilfliche Komplikationen beim Antiphospholipidsyndrom (APS) 4 Fetale Wachstumsrestriktion (IUWR) 4 Intrauteriner Fruchttod (IUFT) 4 (Früh einsetzende) Präeklampsie mit HELLP-Syndrom
Studienbox Umfangreichere Studien haben allerdings zeigen können, dass diese therapeutische Option zum einen mit einer hohen maternofetalen Morbidität (Präeklampsie, vorzeitiger Blasensprung, fetale Restriktion) in Verbindung zu stehen scheint, zum anderen der therapeutische Effekt mit Heparin vergleichbar ist (Lockshin et al. 1989; Cowchock et al. 1992). Der Einsatz von intravenös verabreichten Immunglobulinen erbrachte bislang ebenfalls vielversprechende Ergebnisse bei Frauen mit APA und habituellen Aborten, jedoch stehen hier umfangreichere plazebokontrollierte Studien weiterhin noch aus, um die Wirksamkeit dieser Behandlungsform zu beweisen (Marzusch et al. 1996).
Thrombophile Prädisposition In den letzten Jahren ist mit wachsenden Erkenntnissen auf dem Gebiet der genetischen Veränderungen, die einer »Thrombophilie« zugrunde liegen können, ein möglicher Zusammenhang von habituellen Aborten mit dem Vorliegen entsprechender Mutationen vermutet worden. Metaanalysen konnten allerdings bislang nur für die Faktor-V-Leiden-Mutation, die Resistenz gegen aktiviertes Protein C und die G20210A-Prothrombinmutation eine Verdoppelung des Risikos für wiederholte Frühaborte aufzeigen. Des Weiteren scheint ein erhöhtes Risiko für wiederholte Aborte im 1. und 2. Trimenon für Frauen mit Protein-S-Mangel zu bestehen. Ein Zusammenhang zum Antithrombin-III-Mangel, ProteinC-Mangel oder der C677T-MTHFR-Mutation konnte im Rahmen der beiden genannten Metaanalysen nicht nachgewiesen werden (Rey et al. 2003; Kovalevsky et al. 2003; Middeldorp et al. 2007; Sotiriadis et al. 2007).
Studienbox Bislang konnte in einer kleineren Studie an Patientinnen mit hereditären Thrombophilien und habituellen Aborten ein günstiger Schwangerschaftsverlauf unter niedermolekularen Heparinen beobachtet werden (Carp et al. 2003). Hingegen scheint eine Therapie mit Azetylsalizylsäure (ASS) keinen Einfluss auf den Schwangerschaftsverlauf von Patientinnen mit hereditären Thrombophilien zu haben (Gris et al. 2004).
Tipp Die therapeutischen Strategien bei APA-assoziierten habituellen Früh- und Spätaborten sowie intrauteriner Wachstumsrestriktion sind empirischer Natur, da bislang keine prospektiven randomisierten Vergleichsstudien mit genügend großer statistischer Aussagekraft vorliegen. Die am meisten verbreitete Abortprophylaxe beim Vorliegen von APA dürfte in einer Gabe von Azetylsalizylsäure (ASS) (80–100 mg täglich) kombiniert mit Heparin (20.000–30.000 IE täglich) bestehen. Zeitweise wurden Kortikosteroide (Prednison u. a.) empfohlen.
Psychosoziale Faktoren Das psychologische Trauma als Folge eines oder gar mehrerer Aborte wird weithin unterschätzt (Neugebauer et al. 1992). Das Bewusstsein, eine Schwangerschaft verloren zu haben, wird hierbei durch die Möglichkeiten der frühen sonographischen Diagnostik noch verstärkt. Nach dem Erlebnis mehrerer Verluste von Schwangerschaften ist die Befürchtung, dass weiterhin Aborte auftreten, nur allzu verständlich, weshalb sich bei Paaren mit habituellen Aborten eine hohe Inzidenz von reaktiven Depressionen und Angst findet (Friedman u. Gath 1989). Auch wenn psychologische Faktoren nicht die
29 2.2 · Abort
Ursache wiederholter Aborte darstellen dürften, so ist die Vernachlässigung dieser Aspekte potenziell von Nachteil. Mehrere Studien haben bei Patientinnen mit habituellen Aborten eine hohe Rate (75%) an ausgetragenen Schwangerschaften ausschließlich durch »tender loving care« im Zusammenhang mit kurzfristigen klinischen und sonographischen Kontrollen belegen können (Rai et al. 1996; Stray-Pedersen u. Stray-Pedersen 1984), wobei im Rahmen der Bewertung dieser Maßnahmen die hohe Spontanerfolgsrate (7 Kap. 2.2.4) berücksichtigt werden muss.
2.2.4
Spezielle diagnostische und therapeutische Aspekte bei habituellen Aborten
terer Fehlgeburten durch das sporadische Abortrisiko von 11–15% limitiert, dem jede Schwangerschaft unterliegt. ! Jede prophylaktische Maßnahme kann das Risiko eines erneuten Aborts um höchstens 20–25% effektiv senken.
Spezielle Anamnese und Diagnostik Die spezielle Abklärung von Abortursachen ist generell erst beim Vorliegen von drei oder mehr aufeinanderfolgenden Fehlgeburten zu empfehlen. Bei Frauen >35 Jahren oder bei psychisch belasteten Paaren können entsprechende Untersuchungen bereits nach 2 Aborten sinnvoll sein.
Anamnese und Diagnostik bei habituellem Abortgeschehen
Vorbemerkungen Ein habituelles Abortgeschehen, d. h. mindestens 3 aufeinanderfolgende Fehlgeburten, findet sich bei 0,8–1% aller Frauen im reproduktiven Alter (Stirrat 1990). Die hierfür kausal verantwortlichen Faktoren können grob in 3 Kategorien eingeteilt werden (. Tab. 2.1), wobei sich in den vorliegenden Studien eine sehr unterschiedliche Verteilung der Häufigkeiten findet. Nach heutigem Kenntnisstand lässt sich bei etwa der Hälfte der Fälle keine Ursache für die habituellen Aborte finden. Inwiefern hier immunologische Faktoren als eindeutige Auslöser eines wiederholten Abortgeschehens infrage kommen, kann derzeit noch nicht beantwortet werden. > Für Frauen mit einer Fehlgeburt wird das Wiederholungsrisiko zwischen 12 und 24% angegeben, nach 2 aufeinanderfolgenden Aborten liegt das erneute Risiko bei 19–35% (. Tab. 2.2). Nach 3 Aborten beträgt das Wiederholungsrisiko zwischen 25 und 46% – im Durchschnitt der vorliegenden Studien 35% (Katz u. Kuller 1994). Aus diesen Zahlen wird deutlich, dass selbst nach 3 aufeinanderfolgenden Fehlgeburten, die 4. Schwangerschaft in rund 65% der Fälle auch ohne spezifische Therapie ausgetragen werden kann.
An dieser Tatsache müssen sich alle diagnostischen und therapeutischen Interventionen, die bei Paaren mit einem habituellen Abortgeschehen vorgenommen werden, messen lassen. Zudem ist jede therapeutische Intervention zur Vermeidung wei-
4 Anamnese – Schwangerschaftsalter vorausgegangener Aborte? – Geburten, geburtshilfliche Komplikationen? – Bekannte Uterusanomalien? – Genetische Auffälligkeiten in den Familien? – Präkonzeptionelles Intervall, Androgenisierung? – Mütterliche Erkrankungen: Schilddrüse, Diabetes, Autoimmunphänomene, Gerinnungsstörungen? – Exposition gegenüber Genussmitteln, Schadstoffen? 4 Diagnostik – Karyotypisierung der Partner, ggf. von Abortmaterial – Vaginalsonographie, ggf. Hysteroskopie – Screening auf atypische zervikale Infektionen: Chlamydien, Mykoplasmen – Endokrinologische Analysen: FSH zu Zyklusbeginn, LH, Progesteron in der Lutealphase; TSH, TPO-Antikörper; oraler Glukosetoleranztest – Antikörper gegen Phospholipide (Anti-Cardiolipin, Anti-Phosphoserin), Lupus anticoagulans, aPTT – Thrombophiliediagnostik: Resistenz gegen aktiviertes Protein C, Faktor-V-Leiden-Mutation, Prothrombin-G20210A-Mutation, Protein-S-Mangel – Optional: Faktor VIII, Faktor XII, Polymorphismen von MTHFR-C677T, PAI-1, ACE
Ursache
Häufigkeit [%]
. Tab. 2.2. Risiko einer klinischen Fehlgeburt in Abhängigkeit der Anzahl vorangegangener Aborte (Zusammenfassung aller verfügbaren Studien)
Angeborene oder erworbene Uterusanomalien
15–30
Fehlgeburtsrisiko
Häufigkeit [%]
Weitere maternale Faktoren (z. B. Diabetes u. a.)
25
Bei jeder Schwangerschaft
11–15
Nach 1 Abort
12–24
Genetische Anomalien eines Partners
3–8
Nach 2 aufeinanderfolgenden Aborten
19–35
Ohne fassbares Korrelat
40–60
Nach 3 aufeinanderfolgenden Aborten
25–46
. Tab. 2.1. Hauptursachen für habituelle Aborte
2
30 Kapitel 2 · Frühschwangerschaft: klinische Aspekte
2
Spezielle Therapie
Literatur
Therapeutisch können folgende spezielle Maßnahmen zur Behandlung habitueller Aborte in Erwägung gezogen werden: 4 Gametenspende bei balancierter Translokation eines Partners – hierbei müssen die gesetzlichen Bestimmungen im jeweiligen Land beachtet werden. 4 Operative Korrektur von angeborenen uterinen Anomlien. Eine Indikation hierzu besteht in erster Linie beim Uterus septus und subseptus. 4 Adhäsiolyse intrauteriner Synechien mit Einlage eines IUD über 6 Wochen zwecks Rezidivprophylaxe. Die operative Enukleation von Myomen wird als therapeutische Maßnahme äußerst kontrovers diskutiert. 4 Bei nachgewiesener zervikaler Infektion durch Chlamydien oder Mykoplasmen kann antibiotisch behandelt werden. Diese Therapie hat jedoch nur empirischen Charakter – kontrollierte Studien fehlen hierzu bislang. Bei fehlender Rötelnimmunität ist eine entsprechende Immunisierung obligat. 4 Beim Lutealdefekt wird eine Substitution mit Progesteron vorgeschlagen. Diese Maßnahme wird kontrovers beurteilt, und umfangreiche kontrollierte Studien mit entsprechendem Follow-up fehlen bislang. Dieser Umstand gilt auch für die endokrinologische Behandlung von Frauen mit habituellen Aborten und basaler LH-Hypersekretion. 4 Bei nachgewiesener Schadstoffbelastung am Arbeitsplatz oder im häuslichen Bereich sollte eine Reduktion hinsichtlich der Exposition versucht werden. 4 Optimale Einstellung eines bestehenden Diabetes mellitus oder einer Schilddrüsendysfunktion. 4 Beim Vorliegen von Antikörpern gegen Phospholipide (APA) wird die Therapie mit Azetylsalizylsäure (ASS) kombiniert mit Heparin empfohlen (Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Gebursthilfe 2008). 4 Beim Vorliegen einer Resistenz gegen aktiviertes Protein C, einer Faktor-V-Leiden-Mutation, einer Prothrombinmutation oder eines Protein-S-Mangels bzw. einer kombinierten thrombophilen Disposition kann eine Prophylaxe mit niedermolekularen Heparinen versucht werden. Ergebnisse aus kleineren Studien unterstützen dieses Konzept (Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe 2008). 4 Supportive Therapie mit kurzfristigen klinischen und sonographischen Kontrollen (»tender loving care«). 4 Es gibt Hinweise, dass auch beim fehlenden Nachweis einer Thrombophilie mit niedermolekularen Heparinen höhere Lebendgeburtenraten zu erreichen sind (Tzafettas et al. 2005; Bauersachs et al. 2007; Badawy et al. 2005; Fawzy et al. 2005). Allerdings werden keine besseren Schwangerschaftsraten erreicht als mit dem oben beschriebenen Konzept der »tender loving care«.
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2
32 Kapitel 2 · Frühschwangerschaft: klinische Aspekte
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3 3 Extrauteringravidität E. Kucera-Sliutz, S. Helmy, R. Lehner, P. Husslein 3.1
Allgemeine Grundlagen – 34
3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4
Definition, Terminologie und anatomische Lokalisation – 34 Inzidenz und Epidemiologie – 34 Ätiologie, Pathophysiologie und Pathogenese – 35 Mortalität – 35
3.2
Diagnostik – 36
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Anamnese – 36 Klinische Untersuchung – 36 Spezielle Diagnostik – 36 Differenzialdiagnose – 38
3.3
Klinisches Management – 39
3.3.1 Therapeutische Maßnahmen – 39
3.4
Kosten-Nutzen-Überlegungen – 42 Literatur – 43
H. Schneider et al. (eds.), Die Geburtshilfe © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
34 Kapitel 3 · Extrauteringravidität
3
Unter Extrauteringravidität versteht man jede außerhalb des Cavum uteri lokalisierte Schwangerschaft. In 90% der Fälle findet die Implantation im Bereich der Tube statt (Tubargravidität, Tubaria), nichttubare Extrauteringraviditäten wie z. B. die Zervikal-, Ovarial- oder Abdominalgravidität sind seltener. Die Inzidenz der Extrauteringravidität wird mit etwa 1–2% angegeben. Als häufigste Ursachen gelten vorangegangene Operationen an den Adnexen, rezidivierende Salpingitiden, Intrauterinpessare und die Methoden der assistierten Reproduktion. Das klinische Bild erstreckt sich von der völlig asymptomatischen Patientin über die Patientin mit akutem Abdomen bis hin zum hämorrhagischen Schock nach Tubarruptur. Der Unterbauchschmerz und die vaginale Schmierblutung nach einer Amenorrhödauer von etwa 5–6 Wochen stellen das häufigste klinische Symptom dar. Die Vaginosonographie bildet die Grundlage der Diagnostik mit einer Sensitivität >90% und einer Spezifität >99%. Zusätzlich sollte bei nicht gesichertem oder unklarem Befund ein quantitativer β-HCG-Verlauf im Serum zur Verifizierung hinzugezogen werden (Condous et al. 2005). Die Therapiestrategien sind abhängig von der hämodynamischen Situation der Patientin und der klinischen Symptomatik. Die laparoskopische Salpingotomie und Salpingektomie haben die Laparotomie fast vollständig abgelöst; diese sollte nur mehr in Ausnahmefällen – wenn z. B. der laparoskopische Zugang nicht möglich ist – durchgeführt werden. Bei Patientinnen mit Kinderwunsch ist die lineare Salpingotomie nach Möglichkeit die Methode der Wahl, obwohl das Wiederholungsrisiko für eine ektope Schwangerschaft etwas erhöht ist. Bei Patientinnen, die keinen Kinderwunsch mehr haben, ist die laparoskopische Salpingektomie die Methode der Wahl. Neben der operativen Therapie haben sich in den letzten 10 Jahren konservative Therapiealternativen, wie die systemische Gabe von Methotrexat, etabliert und bewährt. Alle anderen Therapiealternativen wie z. B. die laparoskopische Instillation von Prostaglandinen oder hyperosmolarer Glukose werden heute in vielen Zentren routinemäßig nicht mehr durchgeführt. Das rein abwartende Verhalten, bei dem auf eine eventuelle Spontanresorption gewartet wird, gewinnt durch immer besser werdende Ultraschallgeräte zunehmend an Bedeutung. Bisher publizierte Studien zeigen, dass 30% aller Tubargraviditäten abwartend konservativ behandelt werden können. Als Grenzwert gilt jedoch ein Serum β-HCG Wert von 1500 mIU/ml (Helmy et al. 2007).
3.1
Allgemeine Grundlagen
3.1.1
Definition, Terminologie und anatomische Lokalisation
Extrauteringravidität Eine extrauterine Gravidität liegt vor, wenn nach der Befruchtung die Nidation nicht im Cavum uteri erfolgt.
In >90% der Extrauteringraviditäten liegt eine Tubargravidität vor. Meist kommt es zur Implantation des Trophoblasten im Pars ampullaris (75%), seltener im Pars isthmica (20%) oder im Pars interstitialis (3–5%) der Tuba uterina (Senter-
man et al. 1988). Bei ampullären Tubargraviditäten kommt es nicht selten zu einem Tubarabort, wobei Trophoblastgewebe ins Abdomen gelangt und dort meist zu einer peritonealen Reizung führt. Von der Stelle des Aborts erfolgt eine Einblutung in die Tube; in der Folge kann ein Hämatom entstehen, wodurch die Blutung sekundär gestoppt werden kann. Gelegentlich verursacht der peritoneale Reiz auch Fieber. Kommt es zur Implantation im Pars interstitialis der Tuba uterina, so spricht man von interstitieller Gravidität, die eine Sonderform der Tubargravidität darstellt: Der Konzeptus ist dabei allseits von Myometrium umgeben und hat keine Verbindung zum Cavum uteri. Bleibt die interstitielle Gravidität unerkannt, so kommt es jenseits der 12. SSW in 20% der Fälle zur Tubarruptur (Lau u. Tulandi 1999). Zur Extrauteringravidität zählen ebenso: 4 Intramurale Gravidität: Kommt sehr selten vor und wird wahrscheinlich iatrogen durch myometrane Verletzungen, wie sie z. B. bei einer Kürettage entstehen, verursacht (Jurkovic u. Mavrelos 2007). 4 Zervikalgravidität: Der Konzeptus ist im Bereich der Cervix uteri lokalisiert. 4 »Caesarean scar pregnancy«: Spielt heute eine besondere Rolle. Die Gravidität ist in der Sectionarbe implantiert. Diese Form der atypisch lokalisierten intrauterinen Gravidität stellt aufgrund der weltweit zunehmenden Sectiorate ein immer größeres Problem dar. 4 Ovarialgravidität: In wenigen Fällen Entwicklung einer Extrauteringravidität. Abdominalgravidität: Implantation und Entwicklung einer Gravidität auf dem Peritoneum des Douglas-Raums. Eine Abdominalgravidität kann prinzipiell auch durch sekundäre Implantation nach dem Abtropfen von Trophoblastgewebe aus der Tuba uterina entstehen. Heterotope Graviditäten, d. h. gleichzeitig vorliegende Extra(meist Tubargravidität) und Intrauteringravidität, kommen in etwa 1:30.000 Fällen vor, können aber im Rahmen der Methoden der assistierten Reproduktion häufiger auftreten (30:2500; Marcus et al. 1995).
3.1.2
Inzidenz und Epidemiologie
Die Häufigkeit der Extrauteringravidität ist in den letzten 30 Jahren gestiegen: Wurden vor 30 Jahren nur etwa 0,5% beobachtet, so liegt die Inzidenz heute bei etwa 1–2% (Van den Eeden et al. 2005). Hierfür werden das vermehrte Auftreten von Salpingitiden und die gehäufte Anwendung der assistierten Reproduktion bei Frauen über 30 Jahren als wichtigste Faktoren verantwortlich gemacht: Bis zu einem Alter von 20 Jahren beträgt die Rate der Extrauteringraviditäten etwa 0,4%, von 20–30 Jahren etwa 0,7% und von 30–40 Jahren ungefähr 1,3–2%.
35 3.1 · Allgemeine Grundlagen
3.1.3
Ätiologie, Pathophysiologie und Pathogenese
Als stärkste Risikofaktoren für das Entstehen einer Tubargravidität zählen einerseits vorangegangene Operationen an den Tuben (Saktosalpinx, Sterilisation, bereits stattgehabte Tubargravidität), die Verwendung von Intrauterinpessaren sowie die bereits bei einer Voroperation dokumentierte Tubenpathologie (Pisarska et al. 1998; Butts et al. 2003). Als mittlere Risikofaktoren zählen Infertilität, Infektionen mit Chlamydien, Gonokokken und seltener Tuberkulose sowie der häufige Partnerwechsel. Als geringere Risikofaktoren zählen Zigarettenrauchen und jugendliches Alter beim ersten Geschlechtsverkehr ( Morphologische Anlagestörungen sind bei Extrauteringraviditäten nicht selten, chromosomale Störungen wie haploider, triploider oder multiploider Chromosomensatz wurden aber nur in einigen Publikationen dokumentiert. Generell wurden Missbildungen im weiteren Sinn bei extrauterinen Graviditäten nicht häufiger als bei intrauterinen Graviditäten nachgewiesen.
Der Trophoblast ist in besonders hohem Maß fähig, invasiv in mütterliches Gewebe vorzudringen. Da bei In-vitro-Fertilisation das Eintreten einer Schwangerschaft mit der morphologischen Qualität des Präembryos korreliert, liegt auch hier die Vermutung nahe, dass die enzymatische Aktivität der Blastozyste an einer gelungenen Implantation wesentlich stärker beteiligt ist als die Aktivität der Endometriumoberfläche. Intrauterinpessare können einerseits die Tubenmotilität mechanisch stören, bzw. sind auch subklinische Infektionen infolge des Einsetzens der Intrauterinpessare als Ursache für Extrauteringraviditäten denkbar. Selten wurden auch Tubargraviditäten nach Sterilisationen beschrieben. Vorstellbar ist hier die Bildung einer Fistel im proximalen Tubenabschnitt, wodurch Spermien in den distalen Tubenabschnitt übertreten können und das befruchtete Ovum durch Wanderung über den Douglas-Raum in die kontralaterale Tube oder zurück durch die Fistel in den proximalen Tubenabschnitt gelangen.
3.1.4
Mortalität
Die Mortalität ist im Gegensatz zur Inzidenz der Tubargravidität mehr als deutlich zurückgegangen (Anderson et al. 2004). Lag sie zu Beginn der 1970er-Jahre bei etwa 1,7%, so fiel sie Mitte der 1980er-Jahre auf 0,3%. Trotzdem bleibt die Extrauteringravidität mit 0,004‰ (bezogen auf alle Schwangerschaften) die häufigste Ursache der mütterlichen Mortalität im 1. Trimenon.
3
36 Kapitel 3 · Extrauteringravidität
3
3.2
Diagnostik
3.2.3
3.2.1
Anamnese
Vaginosonographie
Das Erheben einer allgemeinen gynäkologischen Anamnese, die frühere gynäkologische Erkrankungen, Operationen, Schwangerschaften und Geburten beinhaltet, ist obligat. Durchgemachte Adnexitiden und frühere Tubargraviditäten geben einen ersten Hinweis auf eine mögliche Tubenläsion. Bei der Anamnese jeder Schwangerschaft ist die sekundäre Amenorrhö wichtig, wobei das Datieren der exakten Amenorrhödauer mit dem 1. Tag der letzten Regelblutung beginnt. Zwischenzeitlich auftretende leichte Metrorrhagien, die gelegentlich mit der nächsten zu erwartenden Menstruationsblutung zusammenfallen, können die exakte Bestimmung der Amenorrhödauer manchmal verfälschen. Patientinnen mit Tubargravidität können ein klinisches Bild von völliger Unauffälligkeit bis hin zum massiven hämorrhagischen Schock nach einer Tubarruptur bieten. Diesbezüglich wichtig sind die Abklärung und Beobachtung von Schmerzen im Unterbauch: Diffuse Unterbauchschmerzen werden häufig auf die Seite der Tubargravidität lokalisiert. Es können aber auch wehenartige Schmerzen auftreten, die sich den tubaren Kontraktionen zuordnen lassen. Bereits bei der nichtrupturierten Tubargravidität können peritoneale Schmerzen auftreten, die durch die Auftreibung und Dehnung der Tubenwand entstehen. Wenn es zu einer Blutung in die freie Bauchhöhle gekommen ist, kann eine Peritonitis, v. a. aber auch die Symptomatik eines akuten Abdomens, entstehen.
3.2.2
Klinische Untersuchung
Zunächst wird die Schwangerschaft verifiziert, wobei die schnellste und einfachste Methode der Nachweis von β-HCG im Urin ist. Die derzeitig im Handel erhältlichen Schnelltests haben eine Nachweisgrenze von etwa 20–25 mIU/ml β-HCG und sind damit meist als verlässlich einzustufen. Für das weitere Vorgehen ist vielfach die Schmerzsymptomatik der Patientin entscheidend. Eine genaue Anamnese, die gynäkologische Routineuntersuchung sowie eine Vaginosonographie sind obligat. Evaluiert werden sollten Hinweise auf Blutungen aus dem Zervikalkanal, Veränderungen des Muttermunds in Bezug auf mögliche stattgehabte Aborte sowie Druckschmerzhaftigkeit im Adnexbereich. Eine Tubargravidität kann je nach Schwangerschaftsdauer als bis zu 7 cm große, meist derbe Resistenz imponieren, die sich, falls nicht bereits spontane Schmerzen bestehen, bei der Tastuntersuchung bzw. Vaginosonographie als schmerzhaft erweist. Der schmerzhafte Tastbefund kann allerdings auch auf der kontralateralen Seite der Tubargravidität liegen. > Als typisch für die Extrauteringravidität gilt auch der sog. Portioschiebeschmerz. Er wird durch das Anheben und Schieben der Portio hervorgerufen. Darüber hinaus ist er aber auch bei entzündlichen Erkrankungen mit beginnender Peritonitis zu diagnostizieren.
Spezielle Diagnostik
Bei Serum-β-HCG-Werten um 1500 mIU/ml sollte bei einer intakten intrauterinen Schwangerschaft zumindest ein u. U. noch wenige Millimeter im Durchmesser haltender Gestationssack darstellbar sein (The Practice Committee of the American Society for Reproductive Medicine 2004). Dieser ist durch eine Echoasymmetrie mit einseitiger Verstärkung gekennzeichnet, da Chorion und Chorion mit Dezidua eine unterschiedliche Dichte besitzen. Bereits für den Serum-β-HCGcut-off-Level von 1000–1500 mIU/ml wird für die Vaginosonographie eine Sensitivität von >90% und eine Spezifität von bis zu 99,9% angegeben (Condous et al. 2005). ! Sollte bei Serum-β-HCG-Werten ≥1000 mIU/ml vaginosonographisch der Sitz der Schwangerschaft nicht bestimmbar sein, fällt diese unter den Sammelbegriff PUL (»pregnancy of unknown location«). In diesem Fall müssen je nach klinischem Zustand der Patientin u. U. serielle Serum-β-HCG-Bestimmungen, eine Kürettage oder auch eine Laparoskopie in Betracht gezogen werden. Je nach Expertise von Untersucher und Qualität des Ultraschallgeräts variieren die Prozentsätze der PUL unter den Krankenhäusern weltweit.
Das Fehlen eines intrauterinen Gestationssacks bei Serum-βHCG-Werten ≥1000 mIU/ml kann also bereits einen ersten Hinweis auf das Vorliegen einer Extrauteringravidität geben. Bei völlig asymptomatischen Patientinnen und nicht eindeutigem vaginosonographischem Befund sollte aber aus Sicherheitsgründen eine Serum-β-HCG-Kontrolle nach etwa 48 h durchgeführt und dann die Vaginosonographie wiederholt werden (The Practice Commitee of the American Society for Reproductive Medicine 2004). Bei Mehrlingsschwangerschaften ist die Wahrscheinlichkeit, einen Gestationssack intrauterin zu entdecken, mit deutlich höheren Serum-β-HCG-Werten assoziiert als bei Einlingsschwangerschaften im selben Gestationsalter. Insofern muss v. a. bei Patientinnen, die sich einer assistierten Reproduktion unterzogen haben, primär eine genaue Anamnese bezüglich des Gestationsalters gemacht werden. Es muss daran gedacht werden, dass der Gestationssack u. U. erst später bei höheren Werten zu sehen ist. Streng zu unterscheiden vom Gestationssack bei intrauterinen Schwangerschaften ist der in etwa 8–20% vorliegende Pseudogestationssack bei Extrauteringraviditäten (. Tab. 3.1; . Abb. 3.1). Das typische Merkmal des echten Gestationssacks ist eine i. d. R. nicht zentral gelegenes Ringecho mit einem Durchmesser von etwa 4–5 mm im Fundus bzw. Kornualbereich. Die Echoasymmetrie mit einseitiger Verstärkung wird als das »double-sac sign« bezeichnet: Die Decidua capsularis bildet den inneren echoreichen Ring, die Decidua parietalis den äußeren echoreichen Ring. Der echte Gestationssack ist ab SSW 4+3 bis 5+0 mit einer Größe von 2–5 mm sichtbar. Ab SSW 5+1 bis 5+5 wird der Dottersack sichtbar. Dieser sollte auf jeden Fall bei einem durchschnittlichen Durchmesser des Gestationssacks von >12 mm gese-
37 3.2 · Diagnostik
. Tab. 3.1. Unterscheidung von Gestationssack bei intrauterinen Schwangerschaften und Pseudogestationssack bei Extrauteringraviditäten. (Nach Jurkovic et al. 1995)
Pseudogestationssack Gestationssack Lokalisation
Entlang der Mittellinie des Kavums, zwischen den beiden Endometriumschichten
Außerhalb der Mittellinie, eingenistet im Endometrium
Aussehen
Konstant, normalerKann sich während der Ultraschalluntersuchung weise rund verändern; meist ovoid
Begrenzung
Einschichtig
Zweischichtig (»double-sac sign«)
Farbdopplermuster
Keine Vaskularität
Hoher peripherer Flow
hen werden, da es sich sonst um ein »blighted ovum« handeln könnte. Ab SSW 5+6 bis 6+0 wird der embryonale Pol sichtbar mit einer Größe von 2–4 mm. Eine positive Herzaktion ist ebenso zu erkennen. Der Gestationssack hat zu diesem Zeitpunkt üblicherweise einen Durchmesser von >18 mm.
Beim Pseudogestationssack fehlt das »double-sac sign«, wobei das Endometrium selbst von schmal bis hoch aufgebaut imponieren kann. Der Pseudogestationssack kommt durch eine intrauterine Flüssigkeitsretention zustande und ist daher zentral im Cavum uteri gelegen; er kann mit oder ohne echoreichen Randsaum bestehen und entsteht offenbar durch den stimulierenden Einfluss von Progesteron auf das Endometrium. Die Diagnose der »Caesarean scar pregnancy« kann sich auch als sehr schwierig gestalten, da nicht selten Verwechslungen mit gestörten bzw. intrauterinen Graviditäten auftreten. Da es aufgrund der noch niedrigen Fallzahlpublikationen keine strikten Richtlinien für die Diagnose der »Cesarean scar pregnancy« gibt, werden meist die Diagnosekriterien von erfahrenen Schwerpunktzentren herangezogen. Das Kings College Hospital in London mit der höchsten Prävalenz an Extrauteringraviditäten in Großbritannien verwendet folgende Kriterien: 1. Vorhandensein eines Gestationssacks innerhalb eines sichtbaren myometranen Defekts an der Stelle der vorher vorhandenen Uterotomienarbe 2. Nachweis von Throphoblasten- bzw. Plazentaperfusion in der Farbdoppleruntersuchung 3. Negatives »sliding organs sign«; d. h., es ist nicht möglich, den Gestationssack durch sanften Druck auf die Transvaginalsonde zu mobilisieren
a
b
c
d
. Abb. 3.1a–d. Vaginalsonographisch diagnostizierte Formen der Extrauteringravidität. a »Caesarean scar pregnancy«, b Tubaria mit
Embryonalanlage, c Tubaria als solides inhomogenes Konglomerat, d Tubenisthmusschwangerschaft links
3
38 Kapitel 3 · Extrauteringravidität
3
Im Adnexbereich ist eines der pathognomonischen Zeichen für eine Extrauteringravidität der Embryo mit positiver Herzaktion (laut Literatur kommt dies allerdings nur in etwa 8– 26% der Fälle vor). Häufiger, d. h. in etwa 40–60% der Fälle, ist ein Ringecho i. d. R. mit echoreichem Randsaum im Bereich der Tube mit oder ohne Dottersack/Embryonalanlage darstellbar. Am häufigsten stellt sich jedoch eine unspezifische Raumforderung im Bereich der Tube/Adnexe in Form eines inhomogenen Konglomerats dar. Wichtig ist es, zu verifizieren, ob dieses Konglomerat bzw. Ringecho sich vom Ovar separieren lässt, um so eine Zyste (wie z. B. eine hämorrhagische Corpus-luteum-Zyste) auszuschließen. Dazu wird das »sliding organs sign« benutzt. Dabei wird durch leichten Druck auf die Vaginalsonde bei gleichzeitigem Palpieren des Abdomens eine freie Bewegung zwischen Ovar und dem Konglomerat dargestellt (Brown et al. 1994; Sickler et al. 1998). Dieser Test hat eine hohe Sensitivität (84,4%) und Spezifität (98,9%) für die Diagnose einer Tubargravidität, auch wenn kein Embryo vorhanden ist. Eine Corpus-luteum-Zyste findet sich in knapp 80% der Fälle ipsilateral und sollte immer bei der Diagnose einer Tubargravidität verifiziert werden (Jurkovic et al. 1992). Als Differenzialdiagnose für Raumforderungen in der Adnexe muss an Adhäsionen, gestielte subseröse Myome, Endometriosezysten, Hydrosalpinx oder auch an eine statische Darmschlinge gedacht werden. > Bei adäquatem Training und State-of-the-art-Ultraschallequipment kann eine die schlüssige Diagnose einer Tubargravidität mittels Vaginosonographie erfolgen (Jurkovic u. Mavrelos 2007). Tipp Mittels Vaginosonographie darstellbare freie Flüssigkeit im Cavum Douglasi ist ein unspezifisches Zeichen. Bei Extrauteringraviditäten ist freie echoreiche Flüssigkeit in etwa 70% nachweisbar, bei intrauterinen Graviditäten ist hingegen in etwa 30% der Fälle echoarme Flüssigkeit nachweisbar. Differenzialdiagnostisch muss auch daran gedacht werden, dass eine rupturierte oder stielgedrehte Zyste, eine Entzündung im Unterbauch, eine retrograde Blutung oder aber auch die stattgehabte Ovulation vorliegen können (Condous et al. 2005).
Das Serumprogesteron spiegelt die Produktion des Progesterons durch das Corpus luteum graviditatis wieder. In den ersten 8–10 Wochen der Gravidität verändern sich die Serumprogesteronkonzentrationen nur geringfügig. Bei der gestörten Gravidität sinkt der Progesteronlevel meistens. > Mit einer Sensitivität von 97,5% kann ein Progesteronwert von ≥ 25 ng/ml eine Extrauteringravidität ausschließen. Bei Progesteronwerten von Risikofaktoren, wie z. B. bereits stattgehabte Tubaria oder vorangegangene Chirurgie im Bereich der Tuben etc. sollten bei der initialen Anamnese unbedingt erhoben werden.
Sonstige diagnostische Parameter Die Punktion des Douglas-Raums zur Diagnose der Tubargravidität ist heutzutage weitgehend verlassen worden. In einigen wenigen Fällen kann eine Kürettage notwendig werden, um eine gestörte intrauterine Schwangerschaft auszuschließen (The Practice Commitee of the American Society for Reproductive Medicine 2004). Finden sich im histologischen Präparat keine Chorionzotten, so hat entweder bereits ein Abortus completus stattgefunden, und das β-HCG fällt drastisch ab (mindestens 15% in 12–24 h) bzw. es kann auch der Verdacht einer Extrauteringravidität geäußert werden, der sich dann in einem nach der Kürettage stattfindenden β-HCG-Anstieg oder β-HCG-Plateau bestätigt. Von rein wissenschaftlichem Interesse sind Serummarker wie CA 125, CA 19-9, Kreatininkinase und VEGF: Sie alle wurden auf ihrer diagnostische Potenz in Bezug auf die Extrauteringravidität im Rahmen von Studien getestet. Bis jetzt hat sich jedoch gezeigt, dass diese Marker in der klinischen Routine noch keine Entscheidungshilfe darstellen.
3.2.4
Verlaufsbeobachtung von HCG 4 Der Nachweis von β-HCG im mütterlichen Serum ist bereits etwa 10–14 Tage nach der Konzeption nachweisbar. 4 Bei intakten intrauterinen Graviditäten verdoppelt sich die Konzentration des β-HCG etwa alle 48 h. 4 Bei HCG-Werten, die weniger als 50% binnen 48 h ansteigen, sind gesunde intrauterine Schwangerschaften unwahrscheinlich, v. a. wenn das Gestationsalter weniger als 41 Tage beträgt (Mol et al. 1999). 4 Mit einem Gestationsalter von 41–56 Tagen wird allerdings nur mehr ein 48-h-β-HCG-Anstieg von 33% erwartet, der dann mit 57–65 Tagen Gestationsalter lediglich 5% beträgt.
Differenzialdiagnose
Die wichtigste Differenzialdiagnose ist die frühe intrauterine Gravidität, bei der u. U. noch kein intrauteriner Gestationssack bei eventuellem Vorhandensein einer zystischen Raumforderung im Adnexbereich, z. B. einem Corpus luteum graviditatis, nachgewiesen werden kann. Selten kann sogar ein Corpus rubrum das Bild eines akuten Abdomens bis hin zum Schockzustand hervorrufen. Abgegangene Aborte oder gestörte intrauterine Schwangerschaften weisen manchmal ebenfalls eine ähnliche Symptomatik wie eine Tubargravidität auf. Freie Flüssigkeit im Douglas-Raum tritt gelegentlich sowohl bei einem Abort als auch bei der Tubargravidität auf. Die Serum-β-HCG-Werte können bei einer gestörten Schwangerschaft ähnlich wie bei
39 3.3 · Klinisches Management
inaktiven oder sich resorbierenden Tubargraviditäten rückläufig sein. Das Auftreten einer akuten Appendizitis im Verlauf einer Frühschwangerschaft ist insgesamt selten. Die klinische Symptomatik beeindruckt meist durch die typischen Druckpunkte (McBurney) und normale β-HCG- und/oder Progesteronwerte, Leukozytose und Fieber. Freie Flüssigkeit im Abdomen kann aber auch hier durch eine verstärkte peritoneale Reizung entstehen.
Wichtigste Differenzialdiagnosen 4 Frühe intrauterine Gravidität (Corpus luteum, rubrum) 4 Abgelaufener intrauteriner Abort, gestörte intrauterine Gravidität 4 Appendizitis in der Frühschwangerschaft 4 Heterotope Gravidität
mentöse Therapieform ist die intramuskuläre systemische Verabreichung des Chemotherapeutikums Methotrexat (Lipscomb et al. 2005). Die Wirksamkeit der systemischen Methotrexattherapie wurde auch anhand einer prospektiv randomisierten Studie belegt, wobei im Vergleich zur laparoskopischen Salpingotomie ein gleichwertiger Behandlungserfolg für Methotrexat erreicht wurde (Hajenius et al. 1997). Auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz wird Methotrexat nun häufiger verwendet: An der Universitäts-Frauenklinik Wien z. B. werden seit fast 10 Jahren rund 1/3 aller Patientinnen mit der Diagnose Extrauteringravidität mittels Methotrexat therapiert (Kucera et al. 2000 b).
3.3.1
Therapeutische Maßnahmen
Chirurgisches Vorgehen
Klinisches Management
3.3
Das Management der Extrauteringravidität richtet sich grundsätzlich nach 4 Parametern: 4 hämodynamische Situation, 4 klinisches Bild, 4 β-HCG-Wert, 4 Wunsch der Patientin nach weiteren Schwangerschaften. In den letzten Jahren haben die laparoskopische Salpingotomie und Salpingektomie die Laparotomie fast vollständig abgelöst. Heute wird eine Laparotomie nur mehr in Ausnahmefällen durchgeführt: bei Schockgefahr und hämodynamischer Instabilität oder wenn der laparoskopische Zugangsweg nicht möglich ist. Bei Patientinnen mit Kinderwunsch ist die lineare antimesenteriale Salpingotomie mittels Elektrokoagulationsschere mittlerweile die Methode der Wahl. Für Patientinnen, die keinen Kinderwunsch mehr haben, wird die laparoskopische Salpingektomie bevorzugt, ebenso bei Patientinnen mit Tubarruptur. Die Trendwende in der Behandlung der Extrauteringravidität wurde mit den laparoskopischen Instillationsmethoden eingeleitet: Es wurden Prostaglandine (Egarter u. Husslein 1988; Kiss et al. 1992), 33%ige Glukose (Lang et al. 1989) und auch Methotrexat (Feichtinger u. Kemeter 1987) auf laparoskopischem Weg in die Extrauteringravidität eingebracht. Die Resorption der Tubargravidität wird vom Organismus selbst übernommen mit nachfolgender Restitutio ad integrum.
Studienbox Der neueste Stand der Wissenschaft besagt, dass die Extrauteringravidität immer mehr zu einer konservativ medikamentös zu therapierenden Erkrankung wird, womit sich die Morbidität stark reduzieren lässt. Die v. a. im angloamerikanischen Sprachraum gebräuchlichste medika-
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Inwieweit die Operationsmethode einen Einfluss auf die nachfolgende Fertilität hat, wird unterschiedlich diskutiert: In der derzeit verfügbaren Literatur berichtet die größte retrospektive Studie (Yao u. Tulandi 1997) über idente nachfolgende intrauterine Schwangerschaftsraten von 60%, unabhängig davon, ob eine Salpingotomie (Tubotomie) per laparoscopiam oder per laparotomiam durchgeführt wird. Auch die Rate des neuerlichen Wiederauftretens einer Tubargravidität liegt bei beiden operativen Zugängen nach Salpingotomie bei etwa 15%. Im Vergleich dazu beträgt die nach Salpingektomie beobachtete intrauterine Schwangerschaftsrate 40–64%, eine neuerliche Tubargravidität wurde in 10–15% der Fälle beschrieben. Anhand einer multivariaten Analyse berichtet eine andere Arbeitsgruppe darüber, dass Patientinnen, die jünger als 30 Jahre sind, keine Infertilitätsanamnese und eine makroskopisch unauffällige kontralaterale Tube haben, nach laparoskopischer Sanierung der Tubargravidität mittels Salpingotomie sogar 80% nachfolgende intrauterine Schwangerschaftsraten zeigen (Fernandez et al. 1998). Prinzipiell sollte die Entscheidung, ob salpingotomiert oder salpingektomiert wird, individuell mit jeder Patientin getroffen werden (. Abb. 3.2). Bei der linearen Salpingotomie wird entweder mit einer Mikroschere oder auch mit einem Laser auf der antimesenterialen Oberfläche über dem Schwangerschaftsprodukt in Längsrichtung eine Inzision von etwa 1–2 cm angebracht und danach, ähnlich wie bei einer Zystenausschälung, das trophoblastische Material entfernt. Vor der Inzision kann eine gefäßadstringierende Substanz (z. B. Por8) verdünnt in die Tubargravidität injiziert werden, wobei aufgrund des Nachlassens der Wirkung etwa 2–4 h postoperativ scheinbar gut gestillte Operationsflächen erneut zu bluten beginnen können. Wenn eine exakte Blutstillung erzielt ist, kann die Wunde je nach Größe der Inzision und des Situs offengelassen oder durch Nähte verschlossen werden. Die Heilung erfolgt i. d. R. binnen weniger Wochen und meist ohne Komplikationen wie Fisteln oder Adhäsionen.
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40 Kapitel 3 · Extrauteringravidität
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. Abb. 3.2. Laparoskopisches Bild einer Tubargravidität. Rechts aufgetriebene und deutlich hämatombedingte livide Färbung am isthmischen Tubenabschnitt
> In >90% der Fälle ist keine weitere Behandlung erforderlich, und die spätere Tubendurchgängigkeit ist – wie Hysterosalpingographieuntersuchungen zeigen – bei etwa 75% der Patientinnen gegeben.
Bei neuerlichem Auftreten einer Tubargravidität im selben Eileiter (15%!) kann dieser Eingriff theoretisch wiederholt werden, obwohl in diesem Fall die Salpingektomie als sinnvoller erachtet wird. Bei Tubargraviditäten, die am Infundibulum lokalisiert sind, kann eine Inzision, in diesem Fall durch die Fimbrien sowie das Infundibulum, durchgeführt und das Schwangerschaftsprodukt entfernt werden. Die Inzision kann nun wiederum der sekundären Heilung überlassen oder verschlossen werden. Bei ampullärer Gravidität besteht die Möglichkeit, quer keilförmig zu inzidieren, wodurch der betroffene Tubenabschnitt ein- oder zweischichtig anastomosiert werden kann und somit eine spätere Passage der Eizelle ermöglicht wird. Sitzt die ektope Gravidität im proximalen Isthmus (. Abb. 3.1d), wie das bei etwa 15% der Tubargraviditäten der Fall ist, so ist eine Salpingotomie nur erschwert möglich und auch wenig sinnvoll, da Blutungen meist schwerer kontrollierbar sind. Die Enge des Tubenlumens begünstigt bei späterer Narbenbildung und Verziehung auch Tubenverschlüsse. In diesem Sinn ist sehr oft die partielle Salpingektomie mit nachfolgender einschichtiger End-zu-End-Anastomose oder die totale Salpingektomie die Methode der Wahl. Tipp Lassen die Größe und Lage der Tubargravidität keine vollständige Sanierung unter Organerhalt zu, so ist eine Salpingektomie (Tubektomie) vorzunehmen. Bei der Salpingektomie wird die Tube zusammen mit der Tubargravidität von ihrem Abgang am Uterus und von der Mesosalpinx, z. B. über eine Schlinge oder mit der bipolaren Schere abgesetzt, anschließend werden die Stümpfe mit Sicherheitsligaturen oder Koagulation versorgt. Die Bergung des Operationspräparats erfolgt üblicherweise über den 10-mm-Trokar.
Falls die Patientin keinen weiteren Kinderwunsch hat, kann im Anschluss an die Salpingektomie die kontralaterale Tube sterilisiert werden. Das postoperative Management stützt sich im Wesentlichen auf allgemeine Maßnahmen wie Blutbild- und β-HCGWertkontrollen bis zum Absinken unter die Nachweisgrenze, da trotz makroskopisch vollständiger Entfernung sich selten noch trophoblastisches Gewebe in der Tube befinden kann. Im Fall des Auftretens einer Trophoblastpersistenz (laut Literatur 3–20% nach Salpingotomie) wird international meist intramuskuläres Methotrexat in einer Dosierung von 50 mg/ m2 Körperoberfläche als Einmalgabe verwendet. Die Nachsorge erfolgt entsprechend dem Schema der primären Behandlung der Tubargravidität mit Methotrexat (Hajenus et al. 1997).
Systemische Methotrexattherapie Methotrexat ist ein Folsäureantagonist, der die Zellproliferation über die Purin- und Pyrimidinsynthese und konsekutiv die DNA-Synthese hemmt. Aktives Trophoblastgewebe reagiert, wie primär in der Therapie der Chorionkarzinome bewiesen, sehr empfindlich auf Methotrexat. Hämodynamisch stabile Patientinnen mit asymptomatischer Tubargravidität können prinzipiell bei Werten bis etwa 10.000 mIU/ml β-HCG mittels systemischem Methotrexat behandelt werden (Hajenius et al. 1997; Lipscomb et al. 2005). Auch die positive Herzaktion eines extrauterin gelegenen Fetus stellt keine echte Kontraindikation für die medikamentöse Therapie dar, obwohl die Fehlerrate höher ist als bei negativer Herzaktion.
Studienbox Aufgrund der vorhandenen Datenlage werden international maximale Serum-β-HCG-Werte von 5000 mIU/ml für die systemische Methotrexatbehandlung empfohlen. Dem unterliegt ein exzellenter Behandlungserfolg von 92%. Bei Serum-β-HCG-Werten >12.000 mIU/ml liegt die dokumentierte Erfolgsrate für Methotrexat nur noch bei 68%.
Es liegt sicherlich im Ermessen, angepasst an die individuelle Situation jeder Patientin und an die Erfahrung im Umgang mit der Methotrexattherapie, auch bei höheren β-HCGWerten Methotrexat als Alternative zur Operation anzubieten und zu verwenden. Letztendlich ist die Aufklärung der Patientin, v. a. über Erfolgsraten, hierbei der zentrale Punkt. Außer in Akutsituationen bleibt meist genügend Zeit, um mit der Patientin gemeinsam zu entscheiden, ob eine operative Therapie oder die systemische Methotrexatgabe durchgeführt wird. Die Patientin muss über den Verlauf der Behandlung, mögliche Komplikationen und Nebenwirkungen Bescheid wissen, bevor sie sich für ein Therapieverfahren entscheidet.
41 3.3 · Klinisches Management
Studienbox Bereits 1982 publizierten Tanaka et al. die erste erfolgreich mittels Methotrexat behandelte Extrauteringravidität. Es handelte sich um eine interstitielle Gravidität, die mit einem Multiple-dose-Schema, d. h. mehreren Einzeldosen von systemischem Methotrexat, behandelt wurde. Gerade in der Therapie dieser seltenen Form der Extrauteringravidität wird heute in vielen Zentren Methotrexat der Vorzug gegeben, da die operative Sanierung nicht selten zur Teilresektion des betroffenen Uterussegmentes, u. U. auch zur Hysterektomie führen kann (Tulandi u. Al-Jaroudi 2004). Ob der systemischen oder lokalen Methotrexatapplikation der Vorzug gegeben wird, hängt vom Befinden und den Umständen der Patientin sowie der Erfahrung des behandelnden Arztes ab.
Tipp Für die interstitielle Gravidität besteht die systemische intramuskuläre Methotrexattherapie zumindest aus einem Zyklus einer 4-maligen Applikation (Tage 1, 3, 5, 7) von jeweils 50 mg/m2 Körperoberfläche Methotrexat, abwechselnd mit jeweils 6 mg Folsäure (Tage 2, 4, 6, 8). Im Abschluss an die Methotrexatapplikation werden die β-HCG-Spiegel engmaschig kontrolliert, um ein eventuelles Versagen der Therapie zu diagnostizieren. Bei der lokalen Instillation wird mit einer Fixdosis von 25 mg transvaginal unter Ultraschallsicht direkt in den Trophoblasten injiziert. Da auch bei der Zervikalgravidität und »Cesarean scar pregnancy« ein erhöhtes Risiko operativer Blutungskomplikationen besteht, ist auch hier die primäre lokale Methotrexatinstillation (25 mg) zu erwägen. Durch die lokale Applikation gelangt das Chemotherapeutikum direkt in den Trophoblasten, wodurch eine niedrigere Dosis verwendet und somit das Risiko für Nebenwirkungen gesenkt werden kann.
Therapieverlauf unter Methotrexattherapie. Die systemischen Nebenwirkungen von Methotrexat in hohen Dosierungen (Haarausfall, Lichtempfindlichkeit, Knochenmarkdepression, Stomatitis, pulmonale Fibrose, akute Hepatotoxizität) treten in dieser niedrigen Dosierung nur sehr selten auf. Da die Toxizität bei der Single-dose-Methotrexattherapie als äußerst gering zu erachten ist, wird heute auf die Leukovoringabe verzichtet. Bei 20% der Patientinnen tritt unter der Single-dose-Methotrexattherapie während der ersten 3–7 Tage ein rezidivierender Unterbauchschmerz auf, der jedoch in den meisten Fällen mit nichtsteroidalen Antiphlogistika (z. B. 800 mg Ibuprofen oral, 2-mal binnen 6 h) gut in den Griff zu bekommen ist (Lipscomb et al. 1999). Der Schmerz nach der Methotrexattherapie wird als Resultat eines stattgehabten Tubarabortes bzw. als Distension der Tube durch ein Hämatom gedeutet. Die einzige Indikation zur sekundären operativen Intervention ist im Prinzip das Vorhandensein von reichlich freier Flüs-
sigkeit außerhalb des kleinen Beckens sowie ein Hämatokritabfall. Geringe Mengen freier Flüssigkeit im Bereich des kleinen Beckens stellen keine Indikation zur sekundären operativen Intervention dar. Es ist aber durchaus möglich, dass aufgrund von nichtsistierenden bzw. immer wiederkehrenden Schmerzen die Patientin selbst den Wunsch äußert, sekundär operiert zu werden. Etwa 5% aller Patientinnen werden nach Methotrexattherapie sekundär operiert, obwohl nur in 3% der Fälle bei β-HCG-Werten von HCG gilt als klassischer »Tumormarker« der Trophoblasterkrankungen. Der Radioimmunoassay (RIA) gilt als Standardbestimmungsverfahren.
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Bei der Auswahl des RIA-Testkits ist zu gewährleisten, dass es zu keinen nennenswerten Kreuzreaktionen mit dem chemisch verwandten LH kommt und dass der Test den Nachweis noch von geringen Konzentrationen (5 mIE/ml) ermöglicht. Für die Therapiekontrolle ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass ein β-HCG-RIA sowohl das dimere Molekül als auch die freie β-Untereinheit samt seiner Varianten erfasst, die bei Trophoblasttumoren in höheren Konzentrationen gefunden werden und das Testergebnis daher entsprechend beeinflusst. Zu berücksichtigen ist, dass bei Anforderung einer Serum-HCGBestimmung dem Labor die Diagnose Trophoblasterkrankung mitgeteilt wird, um das entsprechende Testkit zu verwenden. Schließlich werden sowohl falsch positive als auch falsch negative Ergebnisse beobachtet, wobei falsch negative Ergebnisse z. B. durch extrem hohe HCG-Werte (>1 Mio. mIE/ml) zustande kommen können. Falsch positive Testergebnisse (in Bezug auf Trophoblasterkrankungen) können durch HCG verursacht werden, das in der Hypophyse (1,2–19 mIE/ml) produziert wird, mit dem Alter ansteigt und v. a. bei peri- und postmenopausalen Frauen Probleme bereiten kann. Aber auch bei jüngeren Frauen, die zur Behandlung von malignen Trophoblasterkrankungen eine Polychemotherapie erhalten und mit einem Gonadotropin-releasing-Hormon zum Schutz der Ovarialfunktion behandelt werden, können physiologisch erhöhte Werte beobachtet werden (Cole et al. 2008).
4.2.2
Therapie und klinischer Verlauf
Vor Durchführung der operativen Therapie erfolgt die klinische Untersuchung auf metastatische Absiedlungen, Anämie, Präeklampsie, Hyperthyreose und Elektrolytstörungen durch Hyperemesis. Für die operative Therapie der Mole stehen die Kürettage mit oder ohne vorangegangene Prostaglandineinleitung oder die Hysterektomie zur Auswahl. Die Saugkürettage sollte von einem erfahrenen Operateur durchgeführt werden. Dabei empfiehlt sich folgendes Vorgehen: 4 Die Möglichkeit einer Notfalllaparotomie sollte gegeben sein. 4 Entscheidung über Procedere in Abhängigkeit vom allgemeinklinischen Zustandsbild: sicherer großlumiger peripherer oder zentralvenöser Zugang, Bereitstellung von Blutkonserven, Blutgasanalytik. 4 Oxytozininfusion bereits unmittelbar vor Beginn der Anästhesie. 4 Vorsichtige Dilatation des Zervikalkanals, wobei sich reichlich Koagula und frisches Blut aus dem Kavum entleeren können. 4 Saugkürettage ohne vorangehende Sondierung des Kavums, wobei besonders auf die Gefahr der Uterusperforation zu achten ist.
4 Penible Nachkürettage mit einer entsprechend großen stumpfen Kürette. 4 Rhesusprophylaxe bei Rh-negativen Patientinnen.
Studienbox In einer Untersuchung an 74 Patientinnen mit Persistenz der Mole nach erfolgter Kürettage und Notwendigkeit einer Chemotherapie war bei 61,7% eine Prostaglandineinleitung vorangegangen, aber nur bei 35,2% von 219 Patientinnen, die keiner weiteren Therapie bedurften. Die Prostaglandineinleitung wurde jedoch häufiger bei einer Uterusgröße ≥15. SSW angewandt, sodass sich nach Berücksichtigung dieses Umstands kein erhöhtes Risiko der Trophoblastpersistenz nach Prostaglandineinleitung feststellen ließ (Flam et al. 1991).
Nach Initialbehandlung mit Hysterektomie war nur bei 3,5% der Patientinnen die Persistenz der Erkrankung zu verzeichnen; letztlich spielt jedoch für die Entscheidung der Wunsch der Patientin nach Erhaltung der Fertilität eine maßgebliche Rolle. Die Entfernung des Uterus bietet sich v. a. als Therapie bei Frauen über dem 40. bzw. 50. Lebensjahr an, da ein gesteigertes Risiko von 37% bzw. 56% einer persistierenden Trophoblasterkrankung in diesen Altersgruppen besteht. Die Ovarien können dabei auch bei Bestehen von Luteinzysten, die bei Bedarf aspiriert werden, erhalten bleiben. Die Hysterotomie kann als therapeutisches Vorgehen nicht mehr empfohlen werden. Neben dem fortgeschrittenen Lebensalter gibt es noch weitere Faktoren, die darüber hinaus ein erhöhtes Risiko für die Persistenz der kompletten hydatiformen Mole bedeuten (7 Übersicht). Zu einer Persistenz kommt es in 18–29% der Fälle.
Faktoren für ein erhöhtes Risiko der Persistenz einer kompletten hydatiformen Mole 4 Serumkonzentration des HCG >100.000 mIE/ml (»high risk«) 4 Uterus weitaus größer als dem aktuellen Gestationsalter bzw. größer als der 16. SSW entsprechend (»high risk«) 4 Luteinzysten >6 cm im Durchmesser (»high risk«) 4 Höheres Lebensalter der werdenden Mutter 4 Vorangegangene Molenschwangerschaften 4 Auftreten einer neuerlichen vaginalen Blutung oder eines Atemnotsyndroms nach bereits erfolgter Kürettage 4 Serum-HCG >20.000 mIE/ml >4 Wochen nach erfolgter Kürettage
51 4.2 · Hydatiforme Mole
Studienbox Bei Vorhandensein eines der in der Übersicht erstgenannten 3 High-risk-Faktoren fand sich bei 31% von 352 Patientinnen eine lokale Invasion des Uterus, bei Fehlen (»low risk«) waren es 3,4% von 506 Patientinnen. Bei 8,8% der High-risk-Patientinnen kam es zur Metastasierung vs. 0,6% in der Low-risk-Gruppe (Goldstein et al. 1981).
Die Angaben bezüglich Persistenz der partiellen Mole streuen in der Literatur von 0–11%. Für die Persistenz der partiellen Mole sind keine Risikofaktoren bekannt.
4.2.3
Nachkontrolle
Eine Schwangerschaft ist während des ersten Jahres nach erfolgter Primärbehandlung unbedingt zu vermeiden. Dabei wurde der mögliche Einfluss der oralen Kontrazeption hinsichtlich des gesteigerten Risikos einer Persistenz der Trophoblasterkrankung einerseits und eines verschleppten HCG-Abfalls andererseits lange Zeit kontrovers beurteilt. Bei einem prospektiv randomisierten Vergleich zwischen oralen Kontrazeptiva und Barrieremethoden konnten jedoch diese negativen Auswirkungen nicht bestätigt werden, sodass die Pille als Verhütungsmittel in der Nachsorge das Mittel der Wahl darstellt. Wesentliches Element der Nachsorge ist die wöchentliche HCG-Kontrolle, die fortgeführt wird, bis der Serumwert während 3 Wochen unter der Nachweisgrenze ( Obwohl die Behandlung durch Hysterektomie die Gefahr der lokalen Invasion beseitigt, besteht dennoch die Möglichkeit der Metastasierung, sodass auch diese Patientinnen der Routinenachsorge unterzogen werden müssen.
Eine regelmäßige gynäkologische Untersuchung sollte im Abstand von 2 Wochen bis zur Normalisierung der HCG-Werte erfolgen. Im Anschluss werden in 3-monatlichen Abständen über ein Jahr lang gynäkologische Kontrolluntersuchungen unter Beachtung der im Folgenden aufgelisteten klinischen Besonderheiten durchgeführt: 4 verzögerte Uterusrückbildung, 4 Luteinzysten, 4 neu aufgetretene starke oder unregelmäßige vaginale Blutungen, 4 Suche nach Metastasen im unteren Genitaltrakt. ! Bei verschleppter Diagnose kann es zur intraperitonealen Blutung nach Durchwanderung des Myometriums sowie zum Zustandsbild des »septischen Uterus« aufgrund von superinfizierten lokalen Gewebsnekrosen kommen.
4.2.4
Prophylaktische Chemotherapie
Die systemische Chemotherapie kommt bei der persistierenden bzw. invasiven Mole, beim Chorionkarzinom und bei Hochrisikofällen der kompletten Mole zur Anwendung. Bei der kompletten hydatiformen Mole wird jedoch der Wert der prophylaktischen Chemotherapie zum Zeitpunkt der Erstoperation kontrovers beurteilt. Ein präventiver Einsatz der Chemotherapie basiert auf folgenden Überlegungen: 4 Trophoblastzellen zeigen eine hohe Sensitivität auf bestimmte Chemotherapeutika. 4 Die nachfolgende Persistenz der Trophoblasterkrankung dürfte biologisch vorbestimmt sein. 4 Die Metastasierung erfolgt hämatogen. 4 Durch einen hohen Wirkstoffspiegel des Chemotherapeutikums zum Zeitpunkt des operativen Eingriffs könnte das Auftreten der lokalen Invasion und/oder der Metastasen verhindert werden. Dem steht gegenüber, dass die Mehrzahl der Patientinnen unnötigerweise potenten Chemotherapeutika ausgesetzt wird, dass auch durch die Chemotherapieprophylaxe kein sicherer Schutz gegen die Persistenz der Trophoblasterkrankung gegeben ist, dass das Gefühl der unbegründeten Sicherheit zu einer insuffizienten Nachkontrolle verleiten könnte und dass vereinzelt Todesfälle nach der Therapie beschrieben wurden.
4
52 Kapitel 4 · Trophoblasterkrankungen
4
Als Therapeutika kamen diesbezüglich Methotrexat (MTX + Leucovorin-Rescue) und Dactinomycin zur Anwendung. Eine allgemeingültige Empfehlung bezüglich Dosierung und Schema besteht jedoch nicht. Kürzlich wurde als mögliche intravenöse Dosierung 50 mg/m2 Körperoberfläche (KOF) MTX oder 1,25 mg/m2 KOF Dactinomycin vorgeschlagen. Diese Empfehlung basiert jedoch nicht auf Ergebnissen von kontrollierten Studien, sondern fußt auf der Tatsache, dass sich diese Dosierungen bei wöchentlicher Applikation in Fällen von Trophoblastpersistenz ohne Metastasierung als effektiv und nebenwirkungsarm erwiesen haben.
Studienbox In der einzigen Studie, die hinsichtlich Chemotherapieprophylaxe prospektiv randomisiert durchgeführt wurde (Kim et al. 1986), zeigte sich nach einmaliger MTX-Gabe eine Persistenz bei 4/39 (10,3%) vs. 10/32 (31,3%) in der unbehandelten Kontrollgruppe. Ein derartiger Vorteil durch die Behandlung war jedoch nur bei High-risk-Fällen feststellbar, bei denen einer der oben angeführten Risikofaktoren bestand.
Eine endgültige Empfehlung ist in Anbetracht des Mangels an randomisierten Studien nicht möglich. Aufgrund der vorliegenden Daten sollte daher eine derartige Chemotherapieprophylaxe nur bei Hochrisikopatientinnen und kompletter hydatiformer Mole erwogen werden oder wenn eine entsprechende Nachkontrolle nicht gewährleistet ist. Bedenken hinsichtlich negativer Auswirkungen auf die spätere Fertilität oder erhöhter Inzidenz von anderen Malignomen nach einer derartigen Prophylaxe sind, soweit heute beurteilbar, unbegründet. Persistiert die Trophoblasterkrankung trotz Chemotherapieprophylaxe, so wird für die Folgetherapie ein Wechsel des Chemotherapeutikums empfohlen.
4.3
Persistierende maligne Trophoblasterkrankungen Persistierende Trophoblasterkrankung Man spricht von einer persistierenden Trophoblasterkrankung, 4 wenn das Serum-HCG nach ursprünglichem Abfall ein Plateau bildet (Abfall 10% ansteigt, 4 wenn das Serum-HCG 6 Monate nach einer Kürettage persistiert.
Nach einer Molenschwangerschaft zeigt sich bei Persistenz in 70–90% der Fälle das histologische Bild der kompletten hydatiformen Mole bzw. der invasiven destruierenden hydatiformen Mole, die histologisch der kompletten Mole entspricht, bei der aber zusätzlich eine Invasion des Myometriums und in manchen Fällen bereits eine Metastasierung besteht. In den übrigen 10–30% der Fälle findet sich ein Chorionkarzinom.
Die klassischen Risikofaktoren für die Entwicklung einer Persistenz und damit einer malignen Trophoblasterkrankung sind Serum-HCG-Werte >100.000 mIE/ml, Gelbkörperzysten >6 cm Durchmesser und ein stark vergrößerter Uterus. Weitere Risikofaktoren sind ein Alter >35 Jahre, eine Molenschwangerschaft in der Anamnese und Hyperplasie oder Atypie in der Histologie der Kürettage. > Geht der malignen Trophoblasterkrankung keine Molenschwangerschaft, sondern eine Termingeburt, eine Eileiterschwangerschaft oder ein Spontanabort voraus, so handelt es sich immer um ein Chorionkarzinom.
Histologisch finden sich beim Chorionkarzinom anaplastischer Synzytiotrophoblast und Zytotrophoblast ohne regelrechte Zottenstruktur, und es bestehen Zeichen von myometrialer Invasion. Die Hälfte aller Chorionkarzinome entstehen aus kompletten Molen (1:40), 25% nach Spontanaborten oder ektopen Schwangerschaften (1:15.000) und weitere 25% nach einer normalen Schwangerschaft (1:16.000). Das führende Symptom der Persistenz sind irreguläre und abnorme vaginale Blutungen post partum, die auch noch bis zu >1 Jahr nach der Geburt auftreten und sehr stark sein können (Nugent et al. 2006). Die Metastasierung, die in 4% der persistierenden Fälle nach operativer Erstbehandlung der Mole auftritt, erfolgt zu 80% in die Lunge. Dabei imponieren Thoraxschmerzen, Husten und Atemnot als klinische Symptome, die entweder akut einsetzen oder über längere Zeit bereits bestehen. Radiologisch finden sich in der Thoraxaufnahme mitunter asymptomatische Läsionen, ein »schneegestöberähnliches« Muster, Pleuraergüsse oder Zeichen der Lungenembolie bzw. pulmonalen Hypertension. Mitunter stehen die pulmonalen Symptome derartig im Vordergrund, dass an eine gynäkologische Grunderkrankung nicht gedacht wird. In 30% der metastasierten Fälle finden sich Absiedelungen in der Vagina im Bereich der Fornices oder suburethral, wobei auf die außerordentlich starke Gefäßversorgung hinzuweisen ist, die zu einer starken Blutung nach Biopsieentnahme führen kann. Vaginale Blutungen und purulenter Fluor stehen als Symptome im Vordergrund. Die Leber und das Zerebrum sind in 10% der Fälle Sitz von Metastasen, die v. a. bei verspäteter Diagnose festgestellt werden. Die Lebermetastasen sind mitunter Ursache von intraperitonealen Blutungen; die Hirnmetastasen können in Abhängigkeit von der Lokalisation neurologische Symptome hervorrufen. Eine Sonderform der Trophoblasterkrankung ist der sehr seltene Plazentabetttumor (»placental site trophoblastic tumor«; PSTT), der vom intermediären Trophoblasten ausgeht (7 unten).
4.3.1
Staging und prognostische Faktoren
Durch die Féderation Internationale de Gynécologie et d’Obstétrique (FIGO) wurde ein Stagingsystem erarbeitet, das sich an die Einteilung der anderen gynäkologischen Maligno-
53 4.3 · Persistierende maligne Trophoblasterkrankungen
Aussage über die Prognose gemacht werden kann, sich die ausschließliche Verwendung dieses Systems aber nicht als Entscheidungshilfe für das therapeutische Management eignet. Das heute relevante Scoringsystem entwickelte sich aus einem System, das auf klinischen Faktoren basierend die 3 Kategorien nicht metastasierte Fälle, metastasierte Fälle mit geringem Risiko sowie metastasierte Hochrisikofälle unterschied (Soper et al. 1994). Der Gruppe mit hohem Risiko und damit schlechter Prognose wurden Patientinnen zugeordnet, bei denen mindestens einer der in der 7 Übersicht »Hochrisikopatientinnen« aufgelisteten Faktoren vorlag.
. Tab. 4.1. FIGO-Stagingsystem für persistierende maligne Trophoblasterkrankungen
Staging nach FIGO
Befundsituation
I
Erkrankung bleibt ausschließlich auf den Uterus beschränkt
II
Ausbreitung auf andere genitale Strukturen (Vagina, kleines Becken)
III
Pulmonale Absiedelungen mit oder ohne Beteiligung von Uterus, Vagina oder kleinem Becken
IV
Hochrisikopatientinnen mit schlechter Prognose 4 Seit der letzten Schwangerschaft sind mehr als 4 Monate vergangen. 4 Aktueller Serum-HCG-Wert übersteigt 40 000 mIE/ml. 4 Hirn- oder Lebermetastasen. 4 Die unmittelbar vorangegangene Schwangerschaft endete in einer Termingeburt. 4 Eine vorangegangene Chemotherapie hat bereits therapeutisch versagt.
Fortgeschrittene Metastasierung in Hirn, Leber, Niere oder Gastrointestinaltrakt
me anlehnt, wobei als Grundlage die anatomische Ausdehnung der Erkrankung herangezogen wird, und das noch immer seine Gültigkeit besitzt (. Tab. 4.1). Heute nicht mehr gebräuchlich ist die weitere Unterteilung des jeweiligen Stadiums in A, B, C in Abhängigkeit folgender Risikofaktoren: 4 HCG >100.000 mIE/ml, 4 Diagnose der Erkrankung >6 Monate nach Beendigung der Schwangerschaft.
Die Weltgesundheitsorganisation hat in Anlehnung an die Erfahrungen der Arbeitsgruppe des Charing Cross Hospital in London eine Klassifikation erstellt, in die weitere prognostische Faktoren eingebracht wurden (WHO Scientific Group 1983). Sie basiert auf dem Prinzip, dass einzelne voneinander unabhängige Faktoren entsprechend ihrer prognostischen Bedeutung zu einem Gesamtscore unterschiedlich beitragen (. Tab. 4.2). Entsprechend dem Gesamtscore
Begründet wird dies mit dem Bestreben, ein für den klinischen Gebrauch relevanteres Staging zu ermöglichen. Dazu ist zu sagen, dass mit Hilfe dieses Stagingsystems zwar eine tendenzielle
. Tab. 4.2. Prognoseindex der FIGO (vorgeschlagen im Jahr 2000)
Prognosefaktor
Score 0
1
2
4
Lebensalter [Jahre]
≤39
>39
–
–
Vorangegangene Schwangerschaft
Hydatiforme Mole
Abort
Termingeburt
–
Monate zwischen Schwangerschaft und Therapiebeginn
12
Serum-HCG [mIE/ml]
8
Vorangegangene Chemotherapie
–
Monotherapie
Polychemotherapie
Auswertung
0–4 Punkte
Niedriges Risiko
5–7 Punkte
Mittleres Risiko
≥8 Punkte
Hohes Risiko
4
54 Kapitel 4 · Trophoblasterkrankungen
4
(GS), der sich aus der Addition der Einzelscores ergibt, erfolgte die Zuordnung der jeweiligen Patientin zu den 3 Kategorien niedriges (GS 0–4), mittleres (5–7) und hohes Risiko (GS ≥8). Die Zuordnung in eine der in . Tab. 4.2 genannten Risikogruppen und damit die Anwendung der verschiedenen Klassifikationen setzt eine entsprechende diagnostische Abklärung voraus. Üblicherweise werden folgende Untersuchungen durchgeführt: 4 Anamnese und allgemeinklinische Untersuchung 4 Bestimmung des aktuellen Serum-HCG-Werts, 4 Erfassung von Schilddrüsen-, Leber- und Nierenparametern, Blutbild, 4 Thoraxröntgenaufnahme, 4 Ultraschall und/oder Computertomographie des Oberund Unterbauchs, 4 Computertomographie des Schädels. Bei Chorionkarzinom bzw. metastasierten Fällen wird bei unauffälligem Schädel-CT darüber hinaus eine Liquorpunktion empfohlen, da ein Liquor-Serum-Verhältnis des HCG 4 Monate (II). Heute gilt es als Standard, dass Patientinnen mit persistierenden Trophoblasterkrankungen am besten entsprechend einem Risikoscoringsystems behandelt werden (Kendall et al. 2002). Die FIGO hat verschiedene Staging- und Scoringsysteme vereinheitlicht und den heute als Goldstandard zu bezeichnenden Index etabliert, der in . Tab. 4.2 beschrieben ist. Dieser erlaubt eine Zuordnung von Patientinnen in 2 Gruppen: »low risk« mit einem Score von ≤6, »high risk« mit einem Score >6 (Kohorn et al. 2000).
Studienbox Eine retrospektive Studie hat die Ergebnisse von 201 Patientinnen untersucht, die nach dem Charing-Cross-Scoringsystem klassifiziert und entsprechend behandelt worden sind. Retrospektiv wurden alle Patientinnen nach dem FIGO- und dem WHO-Prognoseindex sowie nach dem neu vorgeschlagenen kombinierten FIGO-Prognoseindex klassifiziert. Bezüglich Chemotherapieresistenz und Outcome waren die Ergebnisse in den verschiedenen Gruppen sehr ähnlich. Die wesentliche Aussage dieser Arbeit ist, dass eine Einteilung in nur 2 Gruppen die Zahl der Patientinnen mit niedrigem Risiko und damit weniger aggressiver Behandlung erhöht, damit das Risiko für ein iatrogenes Zweitmalignom (myeloische Leukämie, Kolonkarzinom) gesenkt wird, ohne das Outcome zu verschlechtern. Es wird immer einen Graubereich zwischen der Lowrisk- und der High-risk-Gruppe geben, aber selbst bei Versagen der Monotherapie können diese Patientinnen mit einer späteren Polychemotherapie geheilt werden. Die Mortalität beschränkt sich auf die Hochrisikogruppe (Hancock et al. 2000).
> Es ist wichtig, Patientinnen nicht unnötig aggressiver Chemotherapie und damit dem Risiko späterer Komplikationen auszusetzen.
Um die Befundung von malignen Trophoblasterkrankungen zu vereinheitlichen, sollte eine Verbindung der Klassifikationen vorgenommen werden und dem Tumorstadium der Gesamtscore beigefügt werden (z. B. »II: 4«). Dies ist besonders für Stadium II und III sinnvoll. Patientinnen im Stadium I sind üblicherweise »low-risk« und mit einer Monotherapie in >90% ausreichend behandelt. Im Gegensatz dazu weisen Patientinnen des Stadiums IV oft ein Chorionkarzinom auf. Dieses wird üblicherweise nach einem langen Intervall zwischen der vorbestehenden Schwangerschaft, die oft keine Molenschwangerschaft ist, diagnostiziert. Diese Patientinnen sind überwiegend »high-risk« und benötigen eine Polychemotherapie.
4.3.2
Therapeutisches Vorgehen
Bei der malignen persistierenden Trophoblasterkrankung ohne Metastasierung ist eine Anwendung der genannten Risikofaktoren nicht notwendig, um das weitere therapeutische Vorgehen festzulegen, da durch eine Monotherapie mit Metothrexat (MTX) oder Dactinomycin in nahezu 100% der Fälle eine Remission erzielt werden kann. Darüber hinaus kommen diese Schemata mit >80%iger Remissionsrate auch bei Patientinnen mit bereits metastasierter Erkrankung zur Anwendung, bei denen keine weiteren klinischen Risikofaktoren vorliegen bzw. deren WHO-Gesamtscore ≤7 beträgt (Lowrisk-Stadium II und III). Bezüglich Dosierung und Schema bestehen zwischen den einzelnen Arbeitsgruppen z. T. große Unterschiede, sodass ein direkter Vergleich der einzelnen Schemata hinsichtlich Ansprechrate, Toxizität und Kosten nicht möglich ist. Darüber
55 4.3 · Persistierende maligne Trophoblasterkrankungen
hinaus stehen derzeit keine Ergebnisse aus prospektiv randomisierten Vergleichsstudien zu dieser Fragestellung zu Verfügung. Dennoch gelten die folgenden Schemata als Standard in der MTX-Monotherapie: 4 1 mg/kg Körpergewicht (KG) (oder 50 mg MTX Gesamtdosis) i. m., Tag 1, 3, 5, 7 + Folsäure 7,5–15 mg p.o., Tag 2, 4, 6, 8.
Studienbox In einer Studie des Charing Cross Hospital wurden 485 Patientinnen mit »low-risk« persistierender Trophoblasterkrankung nach einem vereinfachten Schema behandelt. Sie erhielten eine MTX-Monotherapie, und im Fall von MTX-Resistenz oder -Toxizität wurden sie entweder auf Dactinomycin (HCG 100 mIE/ml) umgestellt. Nach abgeschlossener Primärtherapie erlitten 16 Patientinnen (3.3%) ein Rezidiv, konnten aber durch weitere Therapie erfolgreich behandelt werden, und das Gesamtüberleben betrug schließlich 100%. In 66,8% konnte mit MTX allein eine Komplettremission erzielt werden. Eine Umstellung der Therapie erfolgte bei 150 Patientinnen (30,9%) wegen MTX-Resistenz und bei 11 Patientinnen (2,2%) wegen MTX-Toxizität (Mukositis). Patientinnen, die auf Dactinomycin umgestellt wurden, hatten zu diesem Zeitpunkt ein mittleres HCG von 40 mIE/ml. 11 (3,4%) der Patientinnen mit Komplettremission nach MTX-Therapie entwickelten im Schnitt nach 6,3 Monaten ein Rezidiv. 4 (6,0%) der Patientinnen mit Komplettremission nach MTX- und Dactinomycintherapie entwickelten im Schnitt nach 11,2 Monaten ein Rezidiv (McNeish et al. 2002).
4 0,4 mg/kg KG MTX i.m., Tag 1–5; Wiederholung alle 12–14 Tage.
Studienbox In einer Studie an 52 Patientinnen mit metastasierter Erkrankung und WHO-Score ≤6 konnte bei 31 (60%) eine primäre Remission erzielt werden. In 10 Fällen wurde die Therapie wegen Resistenz, in 11 (21%) aufgrund von toxischen Nebenwirkungen (Neutropenie, Mukositis) umgestellt. Die Therapiezyklen werden regelmäßig bis zum Fallen der HCG-Werte unter die Nachweisgrenze fortgesetzt. Danach erfolgen 1–3 Sicherheitszyklen (Soper et al. 1994).
werden. Bei 13 kam es zu Leukopenie, bei 3 zu Thrombozytopenie (Homesley et al. 1988). Der Vergleich der Studienergebnisse wird zusätzlich durch die Tatsache erschwert, dass in unterschiedlichem Ausmaß nicht metastasierte und metastasierte Patientinnen im Studienkollektiv vertreten waren.
4 Die MTX-Chemotherapie in den üblichen Dosierungen weist ein günstiges Morbiditätsprofil auf. An 250 Patientinnen mit MXT-Therapie (50 mg MTX i.m., Tag 1, 3, 5, 7, + Folsäure 7,5–15 mg p.o., Tag 2, 4, 6, 8) konnte gezeigt werden, dass mit Grad-III/IV-Toxizitäten im Rahmen des 1. Therapiezyklusses nur in 4% und in den folgenden Therapiezyklen in 5,2% zu rechnen ist. Grad-III/IV-Toxizitäten waren mit folgender Häufigkeit zu beobachten: Vaginale Blutung (6 Patientinnen), Myelosuppression (5 Patientinnen), Abdominalschmerzen (3 Patientinnen), Mukositis/Stomatitis (3 Patientinnen), pleuritischer Thoraxschmerz (3 Patientinnen), Hautausschläge (2 Patientinnen), Pleuraerguss (1 Patientin). 11 Patientinnen (4%) wurden zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Therapie schließlich doch hysterektomiert (Khan et al. 2003). Folgende Schemata mit Dactinomycin gelten als Standard für die initiale Therapie bzw. sind bei MTX-Versagen angezeigt (Homesley 1994): 4 12 μg/kg KG (oder 0,5 mg Gesamtdosis) Dactinomycin i. v., Tag 1–5; Wiederholung alle 12 Tage. 4 1,25 mg/m2 KOF Dactinomycin i. v., Tag 1; Wiederholung 2-wöchentlich. Retrospektive Untersuchungen konnten bezüglich der Effektivität die Gleichwertigkeit von MTX und Dactinomycin zeigen. Dactinomycin ist jedoch wesentlich emetogener, und es muss daher eine entsprechende Prophylaxe bei jeder Dactinomycingabe durchgeführt werden. Wenn Dactinomycin zur Behandlung von MTX-Resistenz eingesetzt wird, ist der 5tägigen Therapie der Vorzug zu geben, da die 2-wöchentliche Gabe in diesem Setting deutlich weniger effektiv ist (Chen et al. 2004). Außer bei akut therapiebedürftiger vaginaler Blutung wird eine neuerliche Kürettage nicht empfohlen, da sich keine nennenswerte Verbesserung des Behandlungsverlaufs gezeigt hat. Bei abgeschlossener Familienplanung kann jedoch die Hysterektomie bei Beginn der Initialtherapie sowie später im Rahmen der Second-line-Therapie erwogen werden, da sich als Folge eine geringere Dosis und Verkürzung der Chemotherapie und somit der Hospitalisierungsdauer gezeigt hat.
4 50 mg/m2 MTX i.m., Tag 1; Wiederholung wöchentlich. 4.3.3
Therapie von Hochrisikofällen
Studienbox Eine komplette Remission konnte bei 51 von 63 (81%) Patientinnen mit nicht metastasierter Erkrankung erzielt
6
Ein Versagen der MTX-Monotherapie und der nachfolgenden bzw. initialen Dactinomycinbehandlung liegt vor, 4 wenn Metastasen auftreten bzw. wenn bei bereits metastasierten Fällen neue hinzukommen;
4
56 Kapitel 4 · Trophoblasterkrankungen
4 wenn sich ein HCG-Plateau (±10%) einstellt, das länger als 3 Wochen anhält; 4 wenn die HCG-Werte erneut steigen; 4 wenn ein ungenügender Abfall des HCG-Werts festgestellt wird, d. h. definitionsgemäß um eine Zehnerpotenz, wobei die Angaben in Abhängigkeit vom verwendeten Schema von 18 Tagen bis zu 6 Wochen reichen.
4
In diesem Fall und bei Patientinnen, die bereits ursprünglich als Hochrisikofälle eingestuft wurden, kommen Polychemotherapieschemata zur Anwendung. Als Standard gilt mittlerweile das EMA-CO-Schema: 4 Tag 1 5 100 mg/m2 KOF Etoposid i. v., in 200 ml NaCl-Lösung über 30 min. 5 100 mg/m2 KOF MTX i. v., Bolus, nachfolgend 200 mg/ m2 KOF MTX i. v., Infusion über 12 h. 5 350 μg/m2 KOF oder 500 μg Dactinomycin i. v., Bolus. 4 Tag 2 5 100 mg/m2 KOF Etoposid i. v., in 200 ml NaCl-Lösung über 30 min. 5 350 μg/m2 KOF oder 500 μg Dactinomycin i. v., Bolus. 5 15 mg Leucovorin i.m. oder p.o., beginnend 24 h nach dem MTX-Bolus, 4-malig im Abstand von 12 h. 4 Tag 8 5 600 mg/m2 KOF Cyclophosphamid i.v., Infusion. 5 1 mg/m2 KOF Vincristin i.v., Bolus. 4 Tag 15 5 Beginn des nächsten Zyklus mit Tag 1. Die Behandlung wird fortgesetzt, bis 3 aufeinander folgende HCG-Werte in wöchentlichem Abstand unter der Nachweisgrenze liegen. Danach sollten noch mindestens 2 Sicherheitszyklen verabfolgt werden.
Studienbox Das doch sehr therapieintensive und effektive EMA-COSchema hat bei den im Schnitt sehr jungen Frauen ein relativ günstiges Nebenwirkungsprofil. In einer Studie an 272 Patientinnen mit high-risk-maligner Trophoblasterkrankung konnte eine Komplettremission in 78% erzielt werden. Zusätzliche nachfolgende cisplatinhaltige Chemotherapie konnte schließlich eine 5-Jahres-Überlebensrate von 86% erzielen. Folgende Morbiditäten sind zu erwarten: universelle Alopezie, hämatologische Toxizität Grad III/IV (in 50%. Bezüglich der Langzeitmorbidität wurde eine geringfügige Erhöhung des Risikos für Zweitmalignome berichtet, v. a. akute myeloische Leukämie (Brower et al. 1997). Eine weitere Studie, die eine Zusammenfassung der Ergebnisse von 4 Studien darstellte, ergab, dass bei 76 von 104 Patientinnen (73%) eine komplette Remission zu erzielen war (Berkowitz u. Goldstein 1995).
Bei Resistenz wird am häufigsten eine Variation des AMACO-Schemas angewendet, bei dem Cisplatin hinzugefügt wird und Etoposid und Dactinomycin nur an einem Tag verabreicht werden (EMA-EP-Schema). Als mögliche weitere Regimes bei EMA-CO-Resistenz können folgende Kombinationen erwogen werden: 4 Cisplatin, Vinblastin, Bleomycin (PVB- oder PEB-Schema), 4 Dactinomycin, Cisplatin, Etoposid, 4 Etoposid, Ifosfamid, MESNA, Cisplatin. Diese Schemata wurden jedoch bisher erst an einer kleinen Fallzahl angewandt. Vor allem bei vorbehandelten Patientinnen ist mit hoher Toxizität zu rechnen. Generell sollte der Einsatz von rekombinanten hämatopoietischen Wachstumsfaktoren wie z. B. G-CSF schon frühzeitig ins Auge gefasst werden, um die Dosisintensität einhalten zu können, die für Erreichen einer kompletten Remission wichtig sein dürfte. Sowohl Dosisreduktionen als auch Verschiebungen der Therapie sollten unbedingt vermieden werden. Bei Vorliegen von Gehirnmetastasen bestehen 2 therapeutische Ansätze, für die noch keine Daten aus einem prospektiv randomisierten Vergleich vorliegen: 4 Bestrahlung, 4 Erhöhung der intravenösen MTX-Dosis und zusätzliche intrathekale MTX-Applikation im Rahmen des EMA-COSchemas sowie Resektion, soweit operativ zugänglich. Weitere therapeutische Begleitmaßnahmen umfassen: 4 die Bestrahlung von Lebermetastasen (was in der Literatur jedoch kontrovers diskutiert wird); 4 die sekundäre Hysterektomie, die zu einer Reduktion der Tumormasse beitragen kann (ihr Wert wird bei disseminierten Erkrankungen jedoch bezweifelt); 4 die Thorakotomie und Resektion von Lungenmetastasen; 4 Maßnahmen bei lokalen Blutungen (z. B. Exzision von Metastasen der Vagina oder des Gastrointestinaltrakts, selektive Arterienembolisationen). Nach Beendigung der Chemotherapie werden die bis zu diesem Zeitpunkt wöchentlichen HCG-Kontrollen konsequent monatlich über 2 Jahre fortgesetzt, um ein Rezidiv frühzeitig zu erkennen. > Die Patientinnen können sowohl nach einer kompletten Mole als auch nach einer Chemotherapie wegen persistierender maligner Erkrankung mit einem unauffälligen Schwangerschaftsverlauf bei folgenden Schwangerschaften rechnen.
Um dem erhöhten Risiko einer neuerlichen Molenschwangerschaft gerecht zu werden, sollten bei eingetretener Schwangerschaft folgende Untersuchungen durchgeführt werden: 4 Ultraschalluntersuchung im 1. Trimenon, 4 postpartale histologische Untersuchung der Plazenta, 4 HCG-Kontrolle etwa 6 Wochen post partum, um den regelrechten Abfall zu verifizieren (Loret de Mola u. Goldfarb 1995).
57 Literatur
Plazentabetttumor Plazentabetttumor Dabei handelt es sich um einen lokal invasiven Tumor, der ins Myometrium infiltriert und seinen Ursprung im Intermediärtrophoblasten hat, dessen Aufgabe die Verankerung der Plazenta im mütterlichen Gewebe ist.
Der PSTT tritt üblicherweise mit deutlicher Verzögerung (bis zu viele Jahre) nach einer normalen Geburt auf und geht charakteristischerweise mit einem stark vergrößerten Uterus, irregulären Blutungen, selten jedoch auch mit Amenorrhö einher. Der Großteil der PSTT verhält sich eher benigne, und nur ca. 10–15% sind als maligne einzustufen. Im Gegensatz zum Chorionkarzinom geht dem PSTT nur in ca. 10% eine Blasenmole voraus, es findet sich zum Zeitpunkt der Diagnose bei 10% der Patientinnen eine metastasierte Erkrankung, und weitere 10% der PSTT metastasieren im weiteren Lauf der Erkrankung. Bevorzugt metastasiert der PSTT in die Lunge und Vagina. In ca. 10% findet sich ein reversibles nephrotisches Syndrom, und auch Virilisierungen können beobachtet werden. Die HCG-Serumspiegel sind weit niedriger (80% Heute ist deutlich und allgemein anerkannt, dass die Häufigkeit von Abbrüchen im Wesentlichen mit der Prävention ungewollter Schwangerschaften korreliert. Länder mit einer häufigen Anwendung wirksamer Verhütungsmittel haben weniger Abbrüche und umgekehrt.
Ausschlaggebend für gute Prävention sind u. a. 4 gute Sexualerziehung, 4 Verhütungsmittel auf Krankenschein, zumindest für Jugendliche und sozial Schwache,
. Abb. 5.2. Legalisierung des Abbruchs und Müttersterblichkeit in England und Wales
5
62 Kapitel 5 · Ungewollte Schwangerschaft
4 leichter Zugang zu Verhütungsmitteln, 4 öffentliche Kampagnen, um das Bewusstsein für den Schutz in der Sexualität zu fördern.
5
Nach einem Jahrhundert emotionaler gesellschaftlicher Diskussion steht außer Frage, dass alles getan werden muss, um ungewollten Schwangerschaften vorzubeugen. Gleichzeitig ist anzuerkennen, dass es schwierige Situationen gibt, in denen ein Abbruch einer Schwangerschaft notwendig und die einzige Lösung ist. Die historische Erfahrung hat eindrücklich gezeigt, dass es keine vernünftige Alternative zu einem legalen und sicheren Abbruch gibt.
5.1.2
Gesetzliche Regelungen (Deutschland, Österreich, Schweiz)
Das Verbot von Verhütung und Abbruch basierte historisch hauptsächlich auf dem Wunsch imperialer oder kriegsführender Staaten auf Nachwuchs, entweder für ein erträumtes Großreich oder für Soldaten, um Kriege zu führen (. Abb. 5.3). Die restriktive Regelung von Verhütung und Abbruch erfüllte die Intentionen nach mehr Geburten jedoch wenig bis gar nicht, weil Frauen trotz des Verbots meist Wege und Mittel fanden, um eine ungewollte Schwangerschaft abzubrechen. Allerdings hatten die illegalen Bedingungen dramatische Auswirkungen auf die Gesundheit und das Überleben der Frauen. Diese negativen Auswirkungen waren die Frauen und die Gesellschaften immer weniger bereit zu tragen, was im Lauf der Zeit zu einer Legalisierung führte. Im Rahmen der Legalisierung wurde jedoch nicht das Konzept der Strafbarkeit grundsätzlich geändert, sondern es wurden vielmehr die Ausnahmeregelungen für eine Straflosigkeit erweitert, sofern der Abbruch ausdrücklich von der Frau gewünscht wird und gewisse Bedingungen erfüllt sind. Somit ist der Abbruch in fast allen Ländern nach wie vor grundsätzlich strafbar, jedoch in gewissen Situationen (Indikationenlösung) oder innerhalb einer bestimmten Frist (Fristenlösung, z. B. Deutschland, Österreich, Schweiz) straffrei. Lediglich in Kanada wurde das Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch 1988 vom Obersten Gerichtshof ersatzlos gestrichen, da es im Widerspruch zur Verfassung stand. Nach wie vor gibt es keinen Hinweis darauf, dass ein Verbot des Abbruchs zu einer geringeren Häufigkeit führt oder einen anderen Vorteil für die betroffene Frau oder die Gesellschaft hätte. . Abb. 5.3. Brief des österreichischen kaiserlich-königlichen Kriegsministeriums an das Innenministerium von 1916 (Österreichisches Staatsarchiv)
Das Gesetz in Deutschland, Österreich und der Schweiz unterscheidet sich geringfügig. Grundsätzlich gilt eine Fristenlösung, d. h. ein Abbruch ist innerhalb einer gewissen Frist legal, auch ohne eine Indikation: 4 Deutschland 14 Wochen Amenorrhö, 4 Österreich 16 Wochen, 4 Schweiz: 12 Wochen. Allerdings gelten unterschiedliche Bedingungen im Zugang zu einem Abbruch: 4 Deutschland: Pflichtberatung in einer anerkannten Beratungsstelle mit Bescheinigung und 3–tägige Wartezeit. Die Beratung darf nicht von dem behandelnden Arzt und auch nicht in der gleichen Institution durchgeführt werden. Das Ziel der Pflichtberatung ist vorgegeben [Gesetze im Detail: www.bmfsfj.de/bmfsfj/generator/BMFSFJ/ gleichstellung,did=98262.html]. 4 Österreich: Beratung durch einen Arzt [Gesetze im Detail: www.gynmed.at/index.php/deutsch/gesetz]. 4 Schweiz: Die Frau muss ihre Notlage schriftlich bescheinigen [Gesetze im Detail: www.admin.ch/ch/d/sr/311_0/ a119.html]. Abbrüche nach dem 1. Trimenon sind nur mit einer der folgenden Indikationen legal: 4 Medizinische Indikation: Gefährdung der Gesundheit oder des Lebens der Frau 4 Embryopathische Indikation: Schwerwiegende Fehlbildungen des Fetus In Österreich ist ein Spätabbruch auch ohne Indikation legal, wenn die junge Frau zum Zeitpunkt der Befruchtung jünger als 14 Jahre war. In Deutschland wurde die embryopathische Indikation im Jahr 1995 gestrichen. Seither werden Abbrüche, denen eine schwere Fehlbildung zugrunde liegt, offiziell aufgrund einer drohenden Gefahr für die psychische Gesundheit der Frau durchgeführt. Bei einem Abbruch im 1. Trimenon ohne Indikation werden in der Schweiz die Kosten von den Krankenkassen übernommen. In Deutschland erstatten die Sozialämter die Kosten, sofern das eigene Nettogehalt der Frau etwa unter 1.000 Euro pro Monat liegt. Österreich ist das einzige Land in Westeuropa, in dem der Abbruch zwar legal ist, jedoch die Frauen die Kosten selbst übernehmen müssen (Ausnahme sind einige wenige Städte, die die Kosten tragen).
63 5.1 · Schwangerschaftsabbruch
Die Kosten eines Abbruchs bei medizinischer Indikation werden in allen 3 Ländern von den Krankenkassen übernommen.
5.1.3
Häufigkeit von Abbrüchen
Es sind meist ungewollte Schwangerschaften, die zu einem Abbruch führen. Diese entstehen aufgrund einer ungenügenden Verhütung oder eines Versagens der angewendeten Methode. Deshalb beeinflusst die Anwendung wirksamer Verhütungsmethoden die Häufigkeit von Abbrüchen. So haben die Schweiz und Holland im internationalen Vergleich die niedrigste Rate an Abbrüchen (bezogen auf 1.000 Frauen im gebärfähigen Alter). Allerdings gibt es auch in diesen Ländern ein großes Gefälle zwischen den im Land geborenen Frauen mit einer häufigen Anwendung einer sicheren Verhütung und deshalb einer geringen Rate an Abbrüchen und Migrantinnen, die häufig noch der unsicheren Anwendung von Verhütung ihres Ursprungslandes verhaftet sind und deshalb eine deutlich höhere Rate an Abbrüchen aufweisen (Sedgh 2007; . Abb. 5.4). Ferner führen auch medizinische Indikationen (schwere gesundheitliche Problem der Frau, schwere Fehlbildungen des Fetus) zu einer geringen Zahl an Spätabbrüchen.
5.1.4
Psychische Aspekte des Schwangerschaftsabbruchs
Die meisten Frauen treffen rasch nach dem Feststellen einer ungewollten Schwangerschaft eine Entscheidung und benötigen daher umfassende Informationen. Diese Suche nach Informationen wird durch einige Besonderheiten deutlich er-
. Abb. 5.4. Abbrüche pro 1.000 Frauen im Alter von 15–45 Jahren
schwert: Gefragt ist innerhalb sehr kurzer Zeit sowohl Grundsätzliches über den Schwangerschaftsabbruch als auch Konkretes, wie Methoden des Schwangerschaftsabbruchs und Adressen. Die anstehende Entscheidung hat große Auswirkungen auf das eigene soziale Umfeld und zentrale zukünftige Lebensbereiche und ist nicht rückgängig zu machen. Mit dem Partner ist eine zweite Person unmittelbar und direkt betroffen und in die Entscheidung mehr oder weniger mit einbezogen. Wenn eine ungewollte Schwangerschaft eingetreten ist, werden Frauen oft mit widersprüchlichen Gefühlen konfrontiert. Ein Abbruch kann möglicherweise zu Gefühlen von Bereuen, Schuld oder Verlust führen. Aber auch die Alternativen, wie erzwungene Heirat, Adoptionsfreigabe des Kindes oder die zusätzliche Belastung eines ungewollten Kindes in einer bereits angespannten Beziehung können zu psychischen Problemen für die Frau, das Kind und die Gesellschaft führen. Andererseits kann ein Abbruch auch als große Erleichterung erlebt werden. > Trotz der oftmals schwierigen Situation ist es essenziell, dass die betroffene Frau die Entscheidung selbst trifft.
In manchen Situationen wissen Frauen recht schnell, wie sie sich entscheiden. Manchmal ist die Entscheidung alles andere als leicht und benötigt Zeit sowie Gespräche mit vertrauten Menschen. Auch ein Gespräch in einer professionellen Beratungsstelle kann hilfreich sein und aufzeigen, was eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung bedeutet. Schwere psychische Reaktionen auf einen Abbruch sind selten. Diesbezüglich wurden Einzelfallberichte und anekdotische Erzählungen publiziert. Ihnen gemeinsam ist jedoch, dass es dabei keinen klaren Hinweis auf eine ursächliche Ver-
5
64 Kapitel 5 · Ungewollte Schwangerschaft
bindung zu dem Abbruch gibt. Obwohl einzelne Frauen und ihre Familie durchaus mit einer überwältigenden emotionalen Antwort auf dieses Ereignis reagieren, kommt dies sehr selten vor.
Frauen sollten dann eine besondere Betreuung erhalten, wenn ein oder mehrere der folgenden Faktoren gegeben sind, welche die psychische Verarbeitung eines Schwangerschaftsabbruchs erschweren können
5
4 Psychische und psychiatrische Vorerkrankungen 4 Abbruch einer gewollten Schwangerschaft (z. B. aus medizinischen Gründen) 4 Starke Ambivalenzen in der Entscheidungsfindung 4 Druck von außen bei der Entscheidungsfindung 4 Fehlende Unterstützung vom Partner/sozialen Umfeld 4 Starke religiöse Bedenken gegenüber einem Abbruch 4 Soziale Isolation
Die große Mehrheit der Frauen wird sowohl kurz nach einem Abbruch als auch für einige Zeit danach eine Mischung verschiedenster Gefühle haben, wobei jedoch eine positive Grundtendenz, im Sinn einer Erleichterung, vorherrscht. Die Zeit der größten Belastung ist meist die Zeit, bevor die Entscheidung getroffen wurde. Zusammengenommen ergibt sich aus der Literatur, dass ein legaler Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft im 1. Trimenon für die meisten Frauen nicht zu einer psychischen Notsituation führt. Sie scheinen dieses Ereignis vielmehr gut zu bewältigen und ihr Leben normal weiterzuführen. Es gibt derzeit keine glaubwürdigen Hinweise auf die Existenz eines sog. »post abortion syndrome« (APA 2008; Charles et al. 2008; Knopf et al. 1995).
5.1.5
Rhesusfaktor Bei rhesusnegativen Frauen ist eine Sensibilisierung durch fetale Blutzellen möglich, falls der Fetus rhesuspositiv ist. Die Rhesusprophylaxe wird mit Anti-D-Immunglobulin, z. B. Rhophylac, bei jeder Blutung während sowie am Ende der Schwangerschaft verabreicht. Das gilt auch bei jedem Schwangerschaftsabbruch, egal ob medikamentös oder chirurgisch vorgenommen. Es fehlen jedoch evidenzbasierte Daten über die Notwendigkeit dieses Vorgehens beim spontanen Abortus sowie beim induzierten Abbruch in der Frühschwangerschaft (Fiala et al. 2003). Die Gabe von Anti-D-Immunglobulin muss innerhalb von 72 h erfolgen, bei Versäumnis soll nachgeimpft werden. Ausnahmen sind nur rhesusnegative Frauen, bei denen Rhesusantikörper vorhanden sind. Bei fetalem negativem Rhesusfaktor, der auch aus dem maternalen Plasma bestimmt werden kann, muss keine Prophylaxe durchgeführt werden (Müller et al. 2008). Tipp Die Verabreichung von 300 μg=1500 IE reicht aus, um etwa 30 ml fetomaternale Transfusion abzufangen. Das ist in den meisten Fällen mehr als das gesamte fetale Blutvolumen (8. Woche = 0,3 ml, 12. Woche = 4,2 ml).
Die Patientin ist mündlich und schriftlich über die Rhesusprophlaxe zu informieren. Seit Abbrüche sehr früh und teilweise sogar zu einem Zeitpunkt durchgeführt werden, an dem noch keine fetale Herzaktivität nachweisbar ist, stellt sich die Frage, ob die Gabe von Rh-Immunglobulinen bei rhesusnegativen Frauen notwendig ist, zumal es sich um Proteine humanen Ursprungs handelt und
Therapeutische Aspekte
HCG-Verlauf Der Normalwert des Serumspiegels von β-HCG ist sehr großen Schwankungen unterworfen: von 0 bei der nicht schwangeren Frau bis zu 200.000 mIU/ml im 1. Trimenon. Sehr ausgeprägt sind auch die individuellen Schwankungen, was eine Bestimmung des Gestationsalters sehr ungenau macht. Am Beginn einer normalen Schwangerschaft verdoppelt sich der Serumspiegel etwa alle 2 Tage und fällt nach Beendigung einer Schwangerschaft beinahe ebenso rasch wieder ab (Steier et al. 1984; . Abb. 5.5). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die vollständige Ausscheidung des β-HCG von einem sehr hohen Wert bis zu einem Monat dauern kann, d. h. die handelsüblichen Harntests geben vor dieser Zeit oft noch ein positives Ergebnis (Fiala 2003). Die Unterscheidung, ob es sich dabei um ein Rest β-HCG handelt oder um eine neuerliche Schwangerschaft, ist nur durch eine Verlaufskontrolle zu klären.
. Abb. 5.5. Verlauf des β-HCG nach einem Abbruch: Abbruch mittels Vakuumaspiration (durchgezogen), Vakuumaspiration nach Spontanabort (gestrichelt), chirurgische Entfernung einer Extrauteringravidität (gepunktet)
65 5.1 · Schwangerschaftsabbruch
mit der Gewinnung erhebliche Kosten verbunden sind. Zu dieser Frage gibt es nur wenige Untersuchungen, und es existiert keine sichere Erkenntnis über die Notwendigkeit der Gabe von Rh-Immunglobulinen in der Frühschwangerschaft. In jedem Fall ist die häufig applizierte Dosis von 250–300 μg bis zur 9. Woche p.m. mindestens um den Faktor 30 zu hoch, und dies sogar dann, wenn die ganze Menge an fetalen Erythrozyten in den maternellen Kreislauf übergetreten wäre und neutralisiert werden müsste.
Einige Daten 4 Die Blutgruppe rhesusnegativ ist ein kaukasisches Merkmal. Die Häufigkeit liegt in Europa bei etwa 15%, in Afrika und Asien praktisch bei 0. 4 Die Gesamtmenge an fetalem Blut in der 12. Woche p.m. wurde in einer Studie mit 4,2 ml angegeben. Aufgrund dieser Studie wird die Menge in der 8. Woche auf 0,3 ml geschätzt. 4 Etwa 70% aller rhesusnegativen Frauen entwickeln Antikörper gegen Rhesus nach einer einmaligen Exposition von etwa 0,5 ml. Die übrigen Frauen sind durch eine AB0-Diskordanz geschützt bzw. sind sog. »Nonresponder«. 4 Die fetalen Erythrozyten waren in der einzigen diesbezüglichen Studie bereits am 52. Tag p.m. antigen wirksam (Bergström et al. 1967). 4 Zuverlässige Untersuchungen darüber, wie oft und wie viel fetales Blut nach einem medikamentösen Abbruch in den mütterlichen Blutkreislauf übertritt, gibt es nicht. Auch gibt es keine Studien, welche das Risiko einer Rhesussensibilisierung generell nach einem Abbruch in der Frühschwangerschaft oder nach einem medikamentösen Abbruch untersucht hätten. 4 Fast alle Gesundheitsbehörden und -organisationen empfehlen undifferenziert und ohne unteres Gestationslimit die Gabe von Rh-Immunglobulinen. 4 Es werden meist 250–300 μg injiziert; damit können 30 ml fetales Blut im Kreislauf der Frau neutralisiert werden.
gender Grund, mit dem Beginn der Behandlung zu warten. Der große Vorteil des medikamentösen Abbruchs liegt ja gerade in der Möglichkeit einer sehr frühen Behandlung mit geringen Nebenwirkungen. Anstatt die Patientin nach einer Woche wieder einzubestellen und in der Zwischenzeit nichts zu tun, kann Mifegyne verabreicht werden, wenn vorher ein vaginaler Ultraschall und eine Blutabnahme zur Bestimmung von βHCG erfolgte. Nach einer Woche kommt die Patientin zur Kontrolle des β-HCG-Wertes. Wenn dieser deutlich abgefallen ist (auf Im Jahr 2005 wurde die Kombinationstherapie Mifepriston und Misoprostol von der WHO in die List of Essential Drugs aufgenommen.
5
70 Kapitel 5 · Ungewollte Schwangerschaft
5
. Abb. 5.12. Historischer Abriss Mifepriston (RU 486)
Wirkungsweise Mifepriston ist ein Norethisteronderivat und blockiert kompetitiv reversibel die Progesteronrezeptoren (. Abb. 5.12). Es besitzt dabei eine 5- bis 8fach höhere Affinität als Progesteron. Durch die Blockade der Progesteronwirkung wird ein Abbruch ausgelöst. Klinisch ähnelt der medikamentöse Abbruch mit Mifegyne einem Spontanabort aufgrund einer Corpusluteum-Insuffizienz und ist von diesem nicht zu unterscheiden. Von der Wirkungsweise und der klinischen Symptomatik handelt es sich um einen Antiglukokortikoideffekt (3fach höhere Affinität zum Glukokortikoidrezeptor als Dexametason). Dieser ist jedoch im Normalfall ohne klinische Bedeutung. Mifepriston führt ferner zu einer Sensibilisierung des Myometriums für Prostaglandine. Dieser Effekt ist nach 36–48 h maximal ausgeprägt. Dadurch können Prostaglandine wesentlich niedriger dosiert und die Rate an Nebenwirkungen deutlich gesenkt werden.
Das früher gelegentlich angewendete Gemeprost (Cergem) weist deutlich mehr Nebenwirkungen auf und ist wesentlich teurer als Misoprostol. Deshalb wird es heute kaum noch bei dieser Indikation eingesetzt und findet sich nicht mehr in evidenzbasierten Leitlinien.
Ablauf der Behandlung Mifepriston öffnet sehr wirksam den Muttermund, führt aber selbst zu keinen wirksamen Kontraktionen. Es wird deshalb für den medikamentösen Abbruch immer mit einem Prostaglandin kombiniert. Hier hat sich Misoprostol (Cytotec/ Cyprostol), ein sehr gut verträgliches E1-Prostaglandin, als das Präparat der Wahl etabliert. In der Frühschwangerschaft genügt meist eine einzige Applikation von Misoprostol. Beim Spätabbruch wird dieses wiederholt gegeben bis zur Ausstoßung. In . Tab. 5.1 ist die Pharmakokinetik von Mifepriston und Misoprostol dargestellt, . Abb. 5.14 und 5.15 zeigen den Ablauf des medikamentösen Abbruchs. Es besteht eine gewisse zeitliche Variabilität bei der Ausstoßung des Fruchtsacks (. Abb. 5.16; Originaldaten in New Engl J Med 1998: 338, 18: 1241).
. Abb. 5.13. Wirkungsweise von Mifegyne
71 5.3 · Spätabbruch im 2. und 3. Trimenon
. Tab. 5.1. Evidenzbasierte Therapieempfehlungen für den medikamentösen Abbruch im 1. Trimenon
Gest. Limit
MifegyneDosis [mg]
Prostaglandin
Dosis/ Applikation
Bis 49 Tage
600
Misoprostol
400μg/ 2 Tabl. oralª
Bis 63 Tage
600 oder 200
Misoprostol
800μg/ 2 Tabl. vaginalª
ª Falls es 3 h nach der Gabe des Prostaglandins nicht zu einer Blutung, vergleichbar mit dem ersten Tag der Menstruation gekommen ist, sollte eine zweite Dosis von 400μg/2 Tabl. Misoprostol oral genommen werden.
5.3
Spätabbruch im 2. und 3. Trimenon
5.3.1
Gesetzliche Grundlage
In fast allen Ländern gilt eine Indikationslösung für Spätabbrüche. Wenn die Gesundheit der Frau oder ihr Leben gefährdet sind oder eine schwere Fehlbildung des Fetus vorliegt, ist ein Abbruch auch im späteren Verlauf der Schwangerschaft legal. (Lediglich in Deutschland wurde die fetale Indikation 1995 abgeschafft. Seither werden alle Spätabbrüche, bei denen eine schwere Fehlbildung oder fetale Pathologie vorliegt, offiziell aufgrund einer unzumutbaren psychischen Belastung der Frau durchgeführt.) Bei der medizinischen Indikation gibt es kein oberes Gestationslimit. Wenn das Leben der schwangeren Frau gefährdet ist, verbietet sich jede Diskussion über eine Frist zum Abbruch. Aber auch bei schwersten Fehlbildungen eines Fetus, die mit dem Leben nicht vereinbar sind, ist eine gesetzlich definierte Frist nicht denkbar, da man eine Frau nicht zwingen kann, eine Schwangerschaft gegen ihren Willen auszutragen, wenn das Kind auf jeden Fall nach der Geburt stirbt.
a
b
. Abb. 5.15a–c. Ultraschall im Verlauf des medikamentösen Abbruchs in der 6. SSW. a Tag 1: β-HCG 32.000, Fruchtsack 21 mm, Dottersack darstellbar. b Tag 3: Fruchtsack ausgestoßen. c Tag 8: Endo-
. Abb. 5.14. Ablauf des medikamentösen Schwangerschaftsabbruchs
Ferner ist in Österreich ein Spätabbruch auch legal, wenn die schwangere Frau zum Zeitpunkt der Befruchtung jünger als 14 Jahre alt war. In der Praxis stellt die mögliche Lebensfähigkeit des Fetus, derzeit etwa um die 23./25. SSW, jedoch einen signifikanten Einschnitt dar (Tews u. Tews 2000). Neben der extrauterinen Lebensfähigkeit des Fetus muss aber auch das Risiko für schwere bleibende Behinderungen berücksichtigt werden. Deshalb variiert diese wichtige zeitliche Grenze in verschiedenen Ländern, nicht zuletzt wegen religiöser oder kultureller Unterschiede (Cuttini et al. 2000). Nach dem Zeitpunkt der Lebensfähigkeit besteht die Möglichkeit einer Entbindung eines lebensfähigen Kindes durch Weheneinleitung oder Sectio, falls eine rasche Beendigung der Schwangerschaft notwendig ist. Ein Abbruch nach diesem Zeitpunkt wird nur noch in speziellen Situationen vorgenommen, wie etwa bei Vorliegen einer schweren Entwicklungsstörung, die mit einem Überleben nach der Geburt nicht vereinbar ist.
c metrium 12 mm, β-HCG 837. (Mit frdl. Genehmigung von Gynmed Ambulatorium, Wien)
5
72 Kapitel 5 · Ungewollte Schwangerschaft
5
. Abb. 5.16. Zeitliche Variabilität der Ausstoßung des Fruchtsacks beim medikamentösen Abbruch. Dargestellt ist die Zeit bis zur Ausstoßung des Fruchtsacks bei 1720 Frauen mit vollständigem Schwangerschaftsabbruch. Die Frauen erhielten bei ihrem 1. Besuch Mifepriston und 2 Tage später Misopristol (unsicher = Ausstoßung innerhalb der ersten 24 h nach Gabe von Misoprostol, genauer Zeitpunkt nicht bekannt; unbekannt = Ausstoßung nach >24 h nach Gabe von Misoprostol, genauer Zeitpunkt nicht bekannt). (Nach Spitz et al. 1998)
> Ab dem Zeitpunkt der potenziellen extrauterinen Lebensfähigkeit wird dem Fetus der moralische Status eines Patienten (McCullogh u. Chervenak 1994) zugebilligt, und er hat den gleichen Schutzanspruch mit den entsprechenden Rechten wie das Geborene.
Die Güterabwägung zwischen Frau und Fetus verschiebt sich im Vergleich zur Frühschwangerschaft deutlich zugunsten des Fetus [Entscheidung des deutschen Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 2002 (BGHZ 151/133)].
5.3.2
Wer entscheidet?
Die Einschätzung der gesundheitlichen Gefährdung der Frau bzw. einer schweren Fehlbildung des Fetus wird primär von den behandelnden Ärzten vorgenommen. Um die ärztliche Entscheidung nicht allein treffen zu müssen, wurden in dafür zuständigen Institutionen gelegentlich spezielle Gremien geschaffen, die fallbezogen nach Anhörung aller Beteiligten eine Vorgehensweise festlegen.
Kommt die betroffene Frau (bzw. das Paar) aufgrund der Informationen zu der Entscheidung, die Schwangerschaft abzubrechen, so bleibt sie doch in vollem Ausmaß auf die Kooperation der behandelnden Ärzte angewiesen. Immer wieder kommt es in diesen Situationen dazu, dass die Frau (bzw. das Paar) sich zwar für einen Abbruch entscheidet, dies aber von den Ärzten im konkreten Fall abgelehnt wird, z. B. weil die Fehlbildung nach Ansicht der Ärzte nicht als »ausreichend« schwer angesehen wird. Besonders ausgeprägt ist dieser Konflikt, sobald das Überleben des Fetus möglich ist. Hier ist die Abwägung einer Geburtseinleitung oder eines Spätabbruchs oft schwer lösbar und stellt für alle Beteiligten eine starke Belastung dar (Beller 1996). In diesen Fällen fahren Frauen häufig in ein anderes Land, z. B. nach Holland, wobei etwa jede 5. Frau aus Deutschland einen Spätabbruch durchführen lässt (ca. 600 Frauen pro Jahr). Aus Österreich nehmen jedes Jahr etwa 100–200 Frauen aus unterschiedlichen Gründen die lange Reise nach Holland auf sich, weil sie in ihrem eigenen Land keine Möglichkeit für einen Abbruch gefunden haben.
5
73 5.3 · Spätabbruch im 2. und 3. Trimenon
5.3.3
Psychische Aspekte
Für die betroffene Frau bzw. das Paar ist die Diagnose einer schweren gesundheitlichen Gefährdung der Frau oder einer schweren Fehlbildung des Fetus eine außerordentliche Krisensituation. Ein psychischer Schockzustand ist besonders gekennzeichnet durch psychische Einengung und verminderte Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit. Deswegen sollte unmittelbar nach der Befundmitteilung eine professionelle Krisenintervention durch Psychologen erfolgen und eine psychologische Betreuung angeboten werden. Da es sich um eine gewollte Schwangerschaft handelt, ist die Situation nicht vergleichbar mit dem Abbruch einer ungewollten frühen Schwangerschaft. Der Frau bzw. dem Paar sollte nach der Diagnosemitteilung einige Tage Zeit gegeben werden, bevor über einen fälligen Spätabbruch entschieden wird. Insbesondere, wenn ein sehr später Abbruch, u. U. mit einem vorhergehenden Fetozid, durchgeführt wird, ist auf eine ausreichende Beratung und auf jeden Fall psychologische Betreuung zu achten. Auch die Möglichkeit des Austragens der Schwangerschaft sollte mit der Frau besprochen werden. Rückmeldungen von Frauen zeigen deutlich, dass die psychische Verarbeitung eines Abbruchs durch ein Abschiednehmen vom Kind (sehen, Kontakt haben, Segnung etc.) erleichtert wird. Selbstverständlich ist dies immer in Absprache mit der Frau zu entscheiden. Für Nichtbetroffene vielleicht schwer zu verstehen, erleben Frauen/Paare die Zeit, die sie mit ihrem Kind verbringen können, als sehr wertvoll. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass alle Frauen sowie ihre Partner Phantasien über eine mögliche Fehlbildung ihres Kindes oder die Auswirkungen dieser Fehlbildungen haben. Erfahrungsgemäß sind die Phantasien und Befürchtungen weit schlimmer als die Realität. Das Sehen bzw. In-den-Arm-Nehmen führt deshalb oft zu einer gewissen Erleichterung, weil damit Phantasien korrigiert werden und auch gesunde, »normale« Anteile des Kindes wahrgenommen werden können. (Sloan et al. 2008; Lothrop 2008). Deshalb sollte dies immer in einem respektvollen Rahmen angeboten werden, ggf. mit psychologischer Betreuung. Einige Wochen nach der Entlassung sollte der Patientin die Möglichkeit einer Nachbesprechung mit dem behandelnden Fachpersonal (Psychologe, Arzt, Hebamme, Krankenschwester) angeboten werden (Österreichische Gesellschaft für Prä-und Perinatalmedizin 2002; Rohde u. Woppen 2007).
5.3.4
Häufigkeit
Die Häufigkeit von Abbrüchen nach der 12. SSW ist in den meisten Ländern relativ gering und liegt bei 3–4% (. Tab. 5.2). Aus Deutschland ist der »Abtreibungstourismus« nach Holland relativ gut dokumentiert. Die offizielle Statistik für Holland für das Jahr 2004 gibt an, dass 1.156 Frauen aus Deutschland einen Abbruch in Holland durchführen ließen. Dabei waren mehr als die Hälfte >14. Woche. In der deutschen Statistik gab es für das gleiche Jahr 2.205 Abbrüche nach der
. Tab. 5.2. Anteil der Spätabbrüche an der Gesamtzahl an Abbrüchen in europäischen Ländern
Land
Anteil [%]
Bemerkungen
Dänemark
4
>12. Woche
Deutschland
2,5
>13. Woche (inkl. etwa 0,6% in Holland durchgeführt)
Finnland
6,1
>12. Woche
Holland
3,9
>13. Woche (nur in Holland wohnende Frauen)
Italien
2,3
>12. Woche
Norwegen
4,5
>12. Woche
Schweden
5,2
>12. Woche
Schweiz
4,1
>12. Woche
Die Originaldaten entstammen den nationalen Statistiken [Finland: National Research and Development Centre for Welfare and Health (STAKES) 2005, Deutschland: Bundesamt für Statistik (2007), Niederlande: Rutgers Nisso Groep (2004), Italien: Istituto Nazionale di Statistica (2003)].
13. Woche, welche alle aufgrund einer medizinischen Indikation durchgeführt wurden. Somit hatten im Jahr 2004 etwa 2.800 Frauen aus Deutschland einen Spätabbruch, wobei jedoch jede 5. Frau dafür nach Holland reisen musste (. Tab. 5.3). Dies ist ein deutliches Indiz dafür, dass die medizinische Versorgung von Frauen mit einem Spätabbruch in Deutschland mangelhaft ist.
. Tab. 5.3. Spätabbrüche Frauen aus Deutschland, durchgeführt in Holland und Deutschland
2004
2007
Abbrüche >13. Woche in Deutschland
2.205
2.302
Abbrüche bei Frauen aus Deutschland >13. Woche in Holland
ca. 600
ca. 600
Gesamt Anzahl Spätabbrüche
2.800
2.900
Die Originaldaten entstammen den nationalen Statistiken [Deutschland:Statistisches Bundesamt (2004) bzw. (2007), Niederlande: Rutgers Nisso Groep (2004), Inspectie voor de Gezondheidszorg (2007)].
74 Kapitel 5 · Ungewollte Schwangerschaft
5.3.5
Fetozid
Aufgrund der verbesserten Diagnosemöglichkeiten und des frühen Schwangerenscreenings werden fetale Fehlbildungen heutzutage meistens sehr früh in der Schwangerschaft diagnostiziert, meist zwischen der 12. und 20. SSW. Gelegentlich wird jedoch eine schwere Fehlbildung oder fetale Pathologie erst im späten 2. Trimenon oder noch später festgestellt. Entscheidet sich die Frau in dieser Situation für einen Abbruch, so ist zu berücksichtigen, dass für den Fetus eine zumindest kurze Überlebensfähigkeit gegeben ist.
5
Tipp Ab der Geburt besteht jedoch eine Verpflichtung zur Reanimation bis hin zur intensivmedizinischen Intervention. Um eine solche Situation zu vermeiden, wird etwa ab der 21. SSW empfohlen, vor einem Abbruch einen Fetozid durchzuführen (RCOG 2004; Österreichische Gesellschaft für Prä- und Perinatalmedizin 2002).
mehr so fest an der Uteruswand. Dann werden Uteruskontraktionen mittels Prostaglandin ausgelöst. Idealerweise wird dafür Misoprostol (Cytotec/Cyprostol) angewendet (Gemzell Danielsson et al. 2008). In Ländern, in denen Mifegyne nicht auf dem Markt ist, wird der Spätabbruch nur mit Misoprostol durchgeführt. Dies ist jedoch mit deutlich mehr Nebenwirkungen und einer geringeren Wirksamkeit verbunden. Tipp Zu beachten ist beim Spätabbruch: 4 Bei Muttermundsbefund (Zervix offen für 2–3 Finger) ist die Gabe von Mifegyne nicht notwendig. Es kann gleich Misoprostol gegeben werden. 4 Bei Uterusnarbe sowie mit zunehmender Graviditätsdauer im späten 2. bzw. im 3. Trimenon muss das Prostaglandin bei den ersten Gaben wegen des Rupturrisikos reduziert werden.
Therapieschema Durchführung Der Fetozid und der anschließende Schwan-
gerschaftsabbruch werden stationär durchgeführt. Dabei wird unter transabdominaler Ultraschallsicht Kaliumchlorid entweder durch Punktion in das fetale Herz oder in die Nabelschnurvene in den fetalen Kreislauf eingebracht, was Erfahrung in ultraschallgeführter Punktion erfordert. Dies führt nach wenigen Augenblicken zum Sistieren der fetalen Herztätigkeit. Anschließend wird der Abbruch durchgeführt bzw. die Geburt eingeleitet. Der Fetozid als Eingriff ist für die Patientin mit wenig körperlichen Schmerzen oder Nebenwirkungen verbunden. > Allerdings stellt der Fetozid ein extrem belastendes und angstbesetztes Ereignis dar. Eine entsprechende psychologische Betreuung ist deshalb unverzichtbar.
5.3.6
Medikamentöser Abbruch
Früher wurde der medikamentöse Abbruch lediglich mit Prostaglandin oder Oxytozin durchgeführt. Dabei wurden Kontraktionen bei geschlossener Zervix induziert. Deshalb war dieses Vorgehen für die betroffenen Frauen häufig sehr schmerzhaft und langwierig. Die initiale Gabe von Mifegyne hat die Behandlung maßgeblich verbessert, weil Uterus und Zervix vorbereitet werden, bevor es zu Kontraktionen kommt. Durchführung Das therapeutische Prinzip des heute übli-
chen medikamentösen Abbruchs ist über den gesamten Verlauf der Schwangerschaft identisch: Mittels Mifegyne werden die Progesteronrezeptoren blockiert. Nach 1–2 Tagen ist die klinische Wirkung ausgeprägt: Der Muttermund ist weich und durch Kontraktionen leicht zu öffnen, das Myometrium ist für Prostaglandin sensibilisiert, und die Plazenta haftet nicht
4 Mifegyne: 600 mg als Einmaldosis p.o. (=3 Tbl.). Nach 24 h Beginn mit Cytotec/Cyprostol:
5 2. Trimenon (SSW 14–24): Cytotec/Cyprostol 400 μg p.o. (=2 Tbl.) alle 3–4 h bis zur Ausstoßung, nach der 3. Dosis eine Nacht Pause. 5 3. Trimenon (ab SSW 24): Cyprostol p.o., Beginn mit 50 μg (=1/4 Tbl.), alle 3–4 h Verdopplung der Dosis (maximale Dosis 400 μg), nach der 3. Dosis eine Nacht Pause. Bei fehlender Ausstoßung am nächsten Morgen Fortsetzung mit 400 μg und alle 3–4 h wiederholen.
Die meisten Frauen (etwa 60%) entbinden innerhalb eines Tages. Schmerzen sind in den meisten Fällen mit nichtsteroidalen Antiphlogistika oder Opioiden (Codein, Nalbuphin/Nubain) gut beherrschbar. Eine Epiduralanästhesie ist oft eine sinnvolle Ergänzung, gelegentlich wird auch ein Parazervikalblock angewandt (Fiala et al. 2005). Eine Nachkürettage ist selten und nur bei konkretem Verdacht auf Plazentareste notwendig (Überprüfung der Plazenta, Ultraschall). Eine routinemäßige Kürettage ist nicht indiziert (Bartley u. Baird 2002; Hamoda et al. 2005; Green et al. 2007)
5.3.7
Chirurgischer Abbruch (D & E)
Die Häufigkeit des chirurgischen Spätabbruchs ist in Europa seit der Einführung von Mifegyne stark zurückgegangen (Bygdeman u. Gemzell-Danielsson 2008). Eine Dilatation der Zervix mit nachfolgender instrumenteller Evakuation (D & E) wird in Europa dann durchgeführt, wenn eine Frau im Rahmen des »Abtreibungstourismus« weit gereist ist und unter Zeitdruck steht. Ferner ist die D & E in den USA weiterhin die Standardmethode.
75 5.4 · Anonyme Geburt
Dabei wird die Zervix medikamentös mittels Mifegyne oder einem Prostaglandin zunächst erweicht, sodass sie ohne große Mühe auf etwa 14–20 mm aufgedehnt werden kann. Alternativ dazu oder in Kombination werden in den USA auch osmotische Dilatatoren (Laminaria bzw. Dilapan) in die Zervix eingesetzt. Diese dehnen sich langsam innerhalb von einem Tag durch Ansaugen von Flüssigkeit auf. Danach wird der Fetus mittels einer langen Zange in Teilen aus der Gebärmutter entfernt. Die sichere Durchführung des chirurgischen Spätabbruchs setzt einen erfahrenen Operateur voraus. Durch die intraoperative Überwachung mit Ultraschall, die sich insbesondere für Ausbildungszwecke bewährt hat, konnte das Perforationsrisiko deutlich gesenkt werden (Darney u. Sweet 1989; Hammond u. Chasen 2009). Zu bedenken ist, dass die Frau sich bei dieser Methode nicht von ihrem Kind verabschieden kann, was die Verarbeitung möglicherweise schwerer macht.
5.3.8
Sectio
Bei fortgeschrittener Schwangerschaft äußern Patientinnen in seltenen Fällen den Wunsch nach einer Geburt durch Sectio. Dabei sollte zunächst abgeklärt werden, welche Überlegungen oder Ängste diesem Wunsch zugrunde liegen. Wenn die Patientin darauf besteht und für sich gute Gründe hat, sollte dem nach ausführlicher medizinischer und psychologischer Beratung entsprochen werden. Aus psychologischer Sicht kann die Operationsnarbe des Kaiserschnitts etwas Verbindendes sein, wenn die Frau bei der Geburt und beim Abschied sowie danach gut begleitet wurde. Andererseits kann die Narbe aber auch eine ständige Erinnerung an ein Trauma bedeuten.
5.3.10
Besondere Situationen
Voroperierter Uterus Eine zunehmende Rate an Sectioentbindungen und anderen Operationen am Uterus machen Abbrüche bei Frauen mit Voroperationen häufiger. In der Literatur gibt es widersprüchliche Angaben bezüglich des Risikos einer Uterusruptur bei Frauen mit vorherigen Operationen. Generell ist jedoch die Gabe von Mifegyne gerade bei diesen Frauen indiziert, um der Ausstoßung möglichst wenig Widerstand durch die Zervix entgegenzusetzen. Parallel dazu sollte die Gabe von Prostaglandin mit einer reduzierten Initialdosis erfolgen (RCOG 2004). Auch nach chirurgischen Eingriffen an der Portio wie Konisationen ist ein Spätabbruch sicher durchführbar (Borgatta et al. 2009).
Placenta praevia Mehrere Studien bestätigen, dass sowohl ein medikamentöser als auch ein chirurgischer Abbruch bei Placenta praevia sicher durchgeführt werden kann. Eine Studie zeigte einen etwas erhöhten intraoperativen Blutverlust (Thomas et al. 1994; Nakayama et al.2007).
Intrauteriner Fruchttod Wird die Diagnose eines intrauterinen Fruchttodes (IUFT) gestellt, stellt dies für die Patientin eine außerordentliche Krisensituation dar. Deshalb ist eine gewisse Zeit für die Verarbeitung der Situation unbedingt notwendig. Eine professionelle psychologische Betreuung sollte angeboten werden. Erst dann sollte über das weitere Vorgehen entschieden werden. Dabei ist ein geringes, mit der Zeit zunehmendes Risiko von Gerinnungskomplikationen zu berücksichtigen (Tempfer et al. 2009).
Hysterotomie und Hysterektomie 5.3.9
Nach einem Spätabbruch
Abstillen. Bei Schwangerschaften nach der 13. SSW sollte die Patientin mit Cabergoline (Dostinex; 2×1/2 Tbl. für 2 Tage) abgestillt werden. Zusätzlich wird die Einschränkung der aufgenommenen Flüssigkeitsmenge zur Reduktion der Milchproduktion empfohlen. Blutungen. Bei stärkeren Blutungen werden Uterotonika wie
Oxytozinkurzinfusionen oder Methylergometrinhydrogenmaleat (Methergin) zur besseren Uterusinvolution für die nächsten Tage verordnet.
Nach der Liberalisierung des Abbruchs wurde wegen mangelnder Erfahrung zunächst relativ häufig eine Hysterotomie, auch als Sectio parva bezeichnet, durchgeführt. Für die Hysterotomie als primäre Abbruchmethode gibt es heute keine Indikation. Eine Hysterektomie wird nur bei sehr seltenen und speziellen Uteruspathologien wie großen Myomen oder bei Zervixkarzinom durchgeführt. Für diese Eingriffe ist die Morbidität und Mortalität verglichen mit anderen Methoden deutlich erhöht (Stubblefield et al. 2004).
5.4
Anonyme Geburt
Antibiotikaprophylaxe. Antibiotika sollten beim chirur-
gischen Abbruch routinemäßig gegeben werden, beim medikamentösen Abbruch nur bei Diagnose oder Verdacht auf vorbestehende Infektionen.
Die anonyme Geburt wurde in Österreich 2001, nach sorgfältiger Analyse der bestehenden Regelungen und Realität in anderen Ländern, eingeführt (Erlass vom 27. Juli 2001 über Babynest und anonyme Geburt; www.justiz.gv.at/aktuelles/ download/erlass_babynest.pdf). Dabei wurde davon ausgegangen, dass das Verlangen einer Schwangeren nach einer anonymen Geburt als Notfall zu werten sei. Deshalb sollte diese generell angeboten werden, um Schlimmeres zu vermeiden, wie Suizid, Weglegung des Kindes, Infantizid etc.
5
76 Kapitel 5 · Ungewollte Schwangerschaft
5
Auf gesetzgeberischer Seite wurde zunächst die Strafbarkeit der Kindesaussetzung geändert. Diese ist nur noch dann strafbar, wenn damit eine Gefährdung des Kindes verbunden ist. Eine Aussetzung beispielsweise in einem Krankenhaus, u. a. im Rahmen einer anonymen Geburt, hat für die Mutter keinerlei strafrechtliche Konsequenzen mehr. Juristisch wird das Kind in diesem Fall wie ein Findelkind behandelt. In der Folge wurden auch das Krankenanstalten- sowie das Hebammengesetz dahingehend geändert, dass bei einer Geburt keine Meldepflicht der Identität der Mutter mehr besteht. Bei der Einführung waren die Erfahrungen in Frankreich hilfreich. Dort ist die anonyme Geburt unter verschiedenen Gesetzgebungen und mit Unterbrechungen seit etwa 200 Jahren möglich bzw. es haben Frauen sogar einen Anspruch darauf (Bonnet 1992, 1996, 1999). Das Ergebnis ist insofern positiv, als Bestimmungen, die sich in anderen Ländern bewährt haben, übernommen wurden und Fehlentwicklungen vermieden werden konnten. Das Ergebnis stellt einen bestmöglichen Interessensausgleich zwischen den Bedürfnissen der Frau in einer Krisensituation und dem Kind dar. Besonders wichtig ist die sofortige Übernahme der Vormundschaft des Kindes durch das Jugendamt und die rasche Unterbringung bei Pflegeeltern, die auch die Adoptionseltern sein werden, sofern es dazu kommt und keine unvorhergesehene Entwicklung eintritt. Als wichtigste positive Auswirkung ging die Häufigkeit von Infantiziden seit der Einführung der anonymen Geburt um die Hälfte zurück (Klier et al. 2009). Mit der gegenwärtigen Regelung konnten Missstände vermieden werden, wie die häufige Unterbringung des Kindes in einem Heim in Frankreich. Demgegenüber ist die Situation in Deutschland und der Schweiz immer noch unklar. Einerseits ist die anonyme Geburt nicht erlaubt, andererseits gibt es einige Initiativen, die diese anbieten oder zumindest eine Babyklappe bereitgestellt haben. In Deutschland wurde im Koalitionsvertrag von 2005 eine Regelung in Aussicht gestellt: »Die Erfahrungen mit der Anonymen Geburt sollen ausgewertet und – soweit notwendig – gesetzliche Regelungen geschaffen werden« (Koalitionsvertrag vom 11.11.2005). Zu einer gesetzlichen Regelungen war es jedoch bis zur Neuwahl 2009 nicht gekommen. Demgegenüber hat der Nationalrat für die Schweiz im Mai 2009 eine gesetzliche Regelung explizit abgelehnt (Nationalratskommission 2009).
Parallelen zur Babyklappe In Österreich wurde die erste Babyklappe im Herbst 2000 in Wien eröffnet. Auf den ersten Blick haben beide Initiativen die gleiche Zielgruppe. Der bedeutende Unterschied liegt jedoch darin, dass Frauen ihr Kind erst dann in eine Babyklappe legen können, wenn sie die Schwangerschaft isoliert und unbetreut ausgetragen und die Geburt allein und ohne medizinische Überwachung überstanden haben. (Es ist unnötig zu sagen, dass eine Schwangerschaft und Geburt auch mit ernsthaften
Gefahren für Frau und Kind verbunden sein können.) Erst dann haben sie die Möglichkeit, das bisher nicht registrierte Kind in eine Babyklappe zu legen. Angesichts dieser Hürden ist nachvollziehbar, dass bisher nur sehr wenige Kinder in Babyklappen abgegeben wurden. Demgegenüber ist die anonyme Geburt, nach Möglichkeit in allen Krankenhäusern, ein Angebot, welches Frauen in dieser verzweifelten Situation respektiert, ihnen frühzeitig hilft und die Geburt in einem sicheren Rahmen ermöglicht. Auch für das Kind hat die anonyme Geburt wichtige Vorteile gegenüber einer Babyklappe, da es bereits vor und während der Geburt medizinisch betreut wird und nicht erst, wenn es diese überlebt hat. Warum entbinden Frauen anonym?
Studienbox Ergebnisse einer Studie von Dr. Catherine Bonnet, Frankreich: Ihre ersten Untersuchungen von 1986–1989 (Bonnet 1990) zeigten, dass die Gründe, die zum Verlassen des Kindes führen, im Wesentlichen psychologischer Natur sind. Die Frauen stellen ihre Schwangerschaft meist sehr spät fest – im 5. oder 6. Monat –, weil sie die Schwangerschaft an sich verdrängen, manchmal sogar bis zur Geburt. Diesem Verdrängen der Schwangerschaft liegt häufig eine erst kurz zurückliegende Gewalterfahrung zugrunde (Vergewaltigung, sexueller Missbrauch, Inzest) oder eine Misshandlung in der Kindheit (körperlich, sexuell oder psychisch). Wenn die Frauen keine psychologische Betreuung erhalten, kann das Wahrnehmen der Schwangerschaft diese traumatischen Erfahrungen erneut in Erinnerung rufen. Die Folgen einer nicht verarbeiteten sexuellen Gewalterfahrung werden mit dem vermischt, was das ungeborene Kind darstellt, was das Entstehen einer Mutterbeziehung unmöglich macht. Einige dieser Frauen sind sich der Unmöglichkeit, das Kind zu lieben, bewusst. Sie können dem Kind lediglich das Leben geben und es Adoptiveltern anvertrauen, in der Hoffnung, es werde dort glücklich sein.
Gefahr einer tragischen Geburt Für den Fall, dass diese Frauen in der Schwangerschaft nicht betreut werden, ist die Gefahr einer tragischen Geburt groß. Meist sind sie während der Geburt allein außerhalb eines Krankenhauses, weil sie die Schwangerschaft verdrängt und in der Folge versteckt haben. Von Panik erfasst, lassen einige Frauen ihr Kind einfach an einem öffentlich zugänglichen Platz liegen. Andere werfen es in eine Mülltonne oder töten es gar. Diesen verzweifelten Frauen kann man am besten mit einer Betreuung während der Schwangerschaft helfen und somit auch die beste Lösung für das Kind suchen. Eine Lösung kann bedeuten, dass die Frau das Kind annimmt oder aber sie gibt es zur Adoption frei. Einige Frauen möchten es unter ihrem Namen anerkennen, andere möchten lieber anonym bleiben.
77 Literatur
Die Rechtslage in Frankreich Frankreich hat weltweit eines
Evidence based guidelines
der besten Modelle der Schwangerschaftsbetreuung. Darin ist die anonyme Geburt als eine Maßnahme zum Schutz der Kinder enthalten. Frankreich und Luxemburg sind derzeit die einzigen Länder, in welchen Frauen einen gesetzlichen Anspruch haben, zwischen der anonymen Geburt und der Anerkennung des Kindes frei zu wählen (das Recht auf eine anonyme Geburt wurde 1993 in das Zivilrecht aufgenommen). In anderen Ländern gibt es zumindest die Möglichkeit der anonymen Geburt, beispielsweise in Spanien, Italien und Kolumbien. Am 13. Februar 2003 hat auch der Europäische Gerichtshof die Notwendigkeit der anonymen Geburt vollinhaltlich bestätigt und in Übereinstimmung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention befunden (Grand Chamber Judgment in the Case of Odièvre v. France):
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The European Court of Human Rights has delivered at a public hearing today a judgment [fn] in the case of Odièvre v. France (application no. 42326/98). The European Court of Human Rights held: www.echr.coe.int/Eng/Press/2003/feb/ OdiËvreGCjudment13022003eng.htm.
Die bisher einzigen Studien über Anonyme Geburt stammen von Dr. Catherine Bonnet, einer Kinderpsychiaterin aus Frankreich. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen sind in zwei Büchern zusammengefasst. Diese sind bisher leider nur auf Französisch erhältlich.
Literatur Ultraschall beim Schwangerschaftsabbruch Eine Trainings-CD zu Ultraschall beim Schwangerschaftsabbruch (. Abb. 5.17) ist zu bestellen bei: [
[email protected]]
Leitlinie zum Spätabbruch des AKH Wien www.abtreibung.at/fur-fachkrafte/guidelines/akh-wien-zum-spatabbruch
Weiterführende Literatur zur anonymen Geburt
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Eine Zusammenfassung wurde auf Englisch veröffentlicht: Bonnet C (1993) Adoption at birth: prevention against abandonment or neonaticide. Child Abuse and Neglect Int J 17, 4: 501–513
Siehe auch: [www.anonyme-geburt.at]
Sonstige Literatur
. Abb. 5.17. Trainings-CD zu Ultraschall beim Schwangerschaftsabbruch
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78 Kapitel 5 · Ungewollte Schwangerschaft
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5
6 6
Embryologie und Teratologie W.E. Paulus
6.1
Stadien der pränatalen Entwicklung – 82
6.1.1 6.1.2 6.1.3
Blastogenese – 82 Embryogenese – 82 Fetalperiode – 84
6.2
Teratogenität – 84
6.3
Grundregeln der Pränataltoxikologie – 84
6.4
Ursachen angeborener Entwicklungsstörungen des Menschen – 85
6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5 6.4.6
Genetische Faktoren – 86 Hyperthermie – 87 Drogen – 87 Strahlung – 88 Umweltschadstoffe – 88 Mütterliche Erkrankungen – 89
6.5
Medikamentenanwendung in der Schwangerschaft – 89
6.5.1 6.5.2 6.5.3 6.5.4 6.5.5 6.5.6 6.5.7 6.5.8 6.5.9 6.5.10 6.5.11 6.5.12 6.5.13 6.5.14 6.5.15 6.5.16 6.5.17 6.5.18 6.5.19 6.5.20 6.5.21
Arzneimittelstoffwechsel in der Schwangerschaft – 89 Beurteilung des teratogenen Risikos – 90 Grundlagen der Arzneimittelberatung in der Schwangerschaft – 90 Schädigung durch Arzneimittelanwendung – 92 Antibiotika – 92 Virustatika – 94 Anthelminthika – 95 Antimykotika – 95 Antihypertensiva – 95 Antikonvulsiva – 96 Psychopharmaka – 98 Schilddrüsenpräparate – 100 Antikoagulanzien – 101 Magen-Darm-Therapeutika – 101 Antiemetika – 102 Analgetika und Antiphlogistika – 102 Antiallergika – 103 Atemwegstherapeutika und Antiasthmatika – 104 Vitaminpräparate – 104 Impfungen – 105 Malariaprophylaxe und -therapie – 106
6.6
Fehlbildungsregister/Beratungsstellen – 107 Literatur – 107
H. Schneider et al. (eds.), Die Geburtshilfe © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
82 Kapitel 6 · Embryologie und Teratologie
6
Inwieweit sich aus einer Zygote ein unauffälliges Neugeborenes entwickelt, hängt von vielen endogenen und exogenen Faktoren ab: Zu den endogenen Faktoren zählen insbesondere die genetische Ausstattung und der mütterliche Gesundheitszustand, zu den exogenen Faktoren Infektionen, Strahlung, Umweltschadstoffe, Medikamente und Drogen. Im Verlauf der intrauterinen Entwicklung durchläuft die Frucht Stadien unterschiedlicher Empfindlichkeit gegenüber äußeren Einflüssen. Während sich die Reaktion auf schädigende Agenzien in den ersten beiden Wochen nach Konzeption weitgehend auf die Alternativen vollständige Heilung des Defekts oder Absterben beschränkt, können Einflüsse von Woche 3–8 nach Konzeption zu Störungen der Organdifferenzierung und damit zu Fehlbildungen führen. In der Fetalperiode stehen Wachstums- und Funktionsstörungen durch exogene Noxen im Vordergrund. Nach statistischen Erhebungen nehmen 15–50% aller Schwangeren Medikamente im 1. Schwangerschaftsdrittel ein, oft noch in Unkenntnis der Schwangerschaft, was angesichts der sensiblen Phase der Organogenese in den ersten 3 Schwangerschaftsmonaten besonders fatale Auswirkungen haben kann. Zwischen 1958 und 1961 wurden rund 10.000 Kinder mit schweren Gliedmaßendefekten geboren, deren Mütter das Schlafmittel Thalidomid eingenommen hatten. Seit dieser Katastrophe herrscht bei pharmazeutischer Industrie, Ärzten und Patientinnen berechtigte Vorsicht – häufig jedoch auch irrationale Sorge – im Hinblick auf den Einsatz von Arzneimitteln in der Schwangerschaft. Seit der Contergan-Affäre ist das Bewusstsein der Öffentlichkeit für derartige Komplikationen besonders geschärft. Nach Thalidomid wurden weitere teratogene Arzneimittel wie Kumarinderivate (z. B. Warfarin), Vitamin A und seine Derivate, Folsäureantagonisten oder Antikonvulsiva wie Valproinsäure entdeckt. Eine Vielzahl anderer Wirkstoffe gilt als potenziell embryo-/fetotoxisch, wobei der Effekt dieser Pharmaka v. a. von Dosis und Expositionszeit abhängt. Bei zahlreichen Präparaten liegen Kasuistiken über Fehlbildungen vor, jedoch fehlen Studien mit statistischer Aussagekraft. Zur Ermittlung des Risikos sind insbesondere zuverlässige Angaben über die Expositionszeit erforderlich. Die pharmazeutische Industrie zieht sich auf eine juristisch sichere Position zurück, indem sie bei den meisten Präparaten in der Fachinformation unter der Rubrik Schwangerschaft »kontraindiziert« oder zumindest »strenge Indikationsstellung« vermerkt. Ein therapeutischer Nihilismus bei chronisch kranken Schwangeren kann jedoch z. B. im Fall von Epilepsie, Hypertonie oder Asthma bronchiale zu einer dramatischen Verschlechterung der Grunderkrankung und damit zu einer erheblichen Gefährdung der fetalen Entwicklung führen. Andererseits werden durch unzureichende Aufklärung von Patientinnen und medizinischem Fachpersonal über die realen Risiken einer bereits erfolgten medikamentösen Therapie in der Frühgravidität zahlreiche unnötige Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt. Grundsätzlich sollten altbewährte Präparate neuen Wirkstoffen vorgezogen werden.
6.1
Stadien der pränatalen Entwicklung
6.1.1
Blastogenese
4 Zeitraum: Tag 1–14 p. c. 4 Schädigungen: Blastopathien In der Periode der Blastogenese besitzt das embryonale Gewebe eine ausgeprägte Fähigkeit zur Reparatur von Defekten. Bei Einwirkung exogener Noxen (Umweltchemikalien, ionisierende Strahlung, Medikamente, Drogen, Infektionen) kommt es in diesen ersten beiden Wochen post conceptionem mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder zur kompletten Heilung oder zum Absterben der Fruchtanlage. Embryonalwoche 1. Etwa 30 h nach der Befruchtung findet die erste Zellteilung statt. Am 3. Tag p. c. tritt die Morula, ein
solider Zellhaufen von 16 Zellen, aus dem Eileiter in den Uterus über. Durch Eindringen von Flüssigkeit in die Morula am 4. Tag entsteht die Blastozyste. Während sich die äußere, einschichtige Wand zum Trophoblasten entwickelt, befinden sich an einer Stelle im Inneren angelagert die wenigen Zellen des Embryoblasten. Am 6. Tag p. c. nistet sich der Keim in das Endometrium ein. Embryonalwoche 2. Der Trophoblast dringt unter Bildung von Zotten schnell in das Endometrium ein, sodass die Implantation am Ende der 2. Woche p. c. abgeschlossen ist. Gleichzeitig beginnt die Bildung von Amnion und Dottersack. Der Embryoblast besteht aus 2 Schichten, die Anlage der Neuralplatte ist erkennbar.
6.1.2
Embryogenese
4 Zeitraum: Tag 15–56 p. c. 4 Schädigungen: Embryopathien In diesem Stadium läuft die Differenzierung der Organsysteme ab. Daher stellt es den kritischen Zeitraum für die Entstehung von Fehlbildungen bei der Einwirkung exogener Noxen dar. Die Phase höchster Empfindlichkeit variiert zwischen den verschiedenen Organsystemen (. Abb. 6.1; Knörr et al. 1989). Eine Exposition mit folgenden Substanzen bzw. Infekten kann in diesem Gestationsalter zu den bekannten Embryopathien führen: 4 Alkohol, 4 Antikonvulsiva (z. B. Valproat), 4 Kumarinderivate (z. B. Warfarin), 4 Vitamin-A-Säure-Derivate (z. B. Isotretinoin), 4 Folsäureantagonisten (z. B. Methotrexat), 4 virale Infektionen (z. B. Röteln). In . Tab. 6.1 sind die für die jeweiligen Organsysteme kritischsten Phasen der Schädigung durch exogene Noxen im Überblick zusammengestellt.
83 6.1 · Stadien der pränatalen Entwicklung
. Abb. 6.1. Zeitplan der Organogenese
. Tab. 6.1. Kritische Phase für spezifische Organfehlbildungen. (Nach Degenhardt 1971)
Organsystem
Schwangerschaftswoche p. c.
Neuralrohr
4
Extremitäten
4–6
Gaumen/Gesicht
9–12
Herz
3–6
Gefäß
3–8
Geschlechtsorgane
6–12
Augen/Ohren
3–7 (Funktionsstörungen auch später)
Schilddrüse
ab 10
Embryonalwoche 3. Die aus dem Trophoblasten entstandenen Zotten vermehren und verzweigen sich, sodass sich eine große Kontaktoberfläche zum mütterlichen Organismus entwickelt (Plazenta). In den Zotten bilden sich Blutgefäße, der Stoffaustausch zwischen Mutter und Embryo kann nun über die Plazenta ablaufen. Vom Dottersack wachsen Blutgefäße zum Embryo, erste kernhaltige Erythrozyten stammen aus dem Dottersack. Die Neuralplatte beginnt sich zum Neuralrohr zu formen, an dessen Vorderende bläschenartige Erweiterungen eine erste Grobeinteilung des Gehirns erkennen lassen. Als Vorläufer der Wirbelsäule bilden sich die ersten Somiten. Das primitive Herz imponiert als Schlauch. Die Organanlagen von Lunge, Darm, Leber, Ohr, Auge, Nieren, Schilddrüse und Muskulatur werden erkennbar. Embryonalwoche 4. In der 4. Embryonalwoche schließt sich das Neuralrohr. Es entsteht ein einfacher Blutkreislauf, der Herzschlauch unterteilt sich und kontrahiert sich rhythmisch. Die Extremitätenanlagen zeigen sich als Knospen; Kieferwülste, Augen- und Ohrgruben bilden sich aus. Die Nierenanlage differenziert sich.
6
84 Kapitel 6 · Embryologie und Teratologie
Embryonalwoche 5. Während sich der kaudale Anteil des
6.2
Neuralrohrs zum Rückenmark differenziert, entstehen im kranialen Bereich Gehirn und Auge. In den paddelförmigen Gliedmaßen bilden sich Gewebeverdichtungen als Vorläufer der Knochen, in der vorderen Wirbelsäule beginnt die Knorpelbildung. Blutgefäße wandern aus dem Rumpf in Kopf und Gliedmaßen ein, in denen sich Muskeln entwickeln. Der Darm weist bereits mehrere Abschnitte auf, die Lunge verzweigt sich.
6
Teratogenität Nach WHO umfasst der Begriff alle exogenen Einflüsse auf die intrauterine Entwicklung, die zu morphologischen oder biochemischen Anomalien sowie zu Verhaltensstörungen führen, die unmittelbar nach der Geburt oder später diagnostiziert werden.
Embryonalwoche 6. Während der in dieser Phase dominierenden Kopfentwicklung wächst v. a. das Vorderhirn. Das Herz weist nun 4 Kammern auf. Die Blutbildung hat sich in die Leber verlagert. Knorpel tritt jetzt auch in den Gliedmaßen auf, Finger und Zehen werden erkennbar. Urkeimzellen wandern vom Dottersack in die Genitalleisten ein, ableitende Genitalgänge erscheinen.
Formen einer pränatal induzierten Schädigung 4 Im 1. Trimenon – Abort – Fehlbildung
4 Im 2. und 3. Trimenon – – – – – –
Embryonalwoche 7. In der 7. Embryonalwoche beginnt die Verknöcherung in den Gliedmaßen, das Schädelskelett entwickelt sich. Das Darmlumen füllt sich vorübergehend mit Epithelzellen. Embryonalwoche 8. Die großen Blutgefäße befinden sich in ihrer endgültigen Position. Muskeln sind ausgebildet und innerviert. Man kann Hoden und Eierstöcke unterscheiden. Die Schilddrüse beginnt mit der Bildung von Follikeln. Es findet sich ein physiologischer Nabelbruch.
6.1.3
Teratogenität
Intrauteriner Fruchttod Wachstumsrestriktion Postnatale Funktionsstörung Frühgeburt Perinatale Letalität Transplazentare Karzinogenese
Einflussmechanismen auf die embryonale und fetale Entwicklung 4 Direkte Mechanismen der Schädigung – Chemische Noxen oder Infektionserreger können die Frucht über die Plazenta erreichen, sofern es die Partikelgröße zulässt (transplazentarer Transport) – Ionisierende Strahlen können unmittelbar ihre Wirkung an den embryonalen/fetalen Zellen entfalten 4 Indirekte Mechanismen – Beeinflussung des mütterlichen Stoffwechsels, z. B. durch Medikamente wie Sympathomimetika – Veränderungen des mütterlichen Gerinnungssystems (z. B. Heparin) – Verminderung der uteroplazentaren Perfusion (z. B. durch Sympathomimetika, Kokain) – Tonisierung der Uterusmuskulatur (z. B. durch Mutterkornalkaloide)
Fetalperiode
4 Zeitraum: Tag 57–266 p. c. 4 Schädigungen: Fetopathien Mit Ausnahme von Nervensystem, Genitalien und Zähnen sind die Organsysteme nach dem 1. Trimenon weitgehend ausdifferenziert. Allerdings können in der Fetalperiode auch schwerwiegende funktionelle Störungen und Entwicklungsrestriktionen induziert werden. Embryonalwoche 9. Das Rückenmark ist so weit ausgereift, dass erste Reflexe ausgelöst werden können. Anlagen von Nägeln, Haaren, Zähnen und Vagina treten auf. Die Niere nimmt ihre Funktion auf.
6.3
Grundregeln der Pränataltoxikologie
Embryonalwoche 10. Am äußeren Genitale lassen sich Ge-
schlechtsunterschiede erkennen. Die Wirbelsäule ist verknöchert. Durch die Entwicklung von glatter Muskulatur ist auch der Darm funktionstüchtig; der physiologische Nabelbruch bildet sich zurück. Embryonalwoche 12. Im Knochenmark beginnt die Blutbil-
dung. Der Nasenrücken zeichnet sich ab.
Auf der Grundlage tierexperimenteller Untersuchungen stellte Wilson (1977) 6 Grundregeln der Pränataltoxikologie auf: Regel 1. Die Empfindlichkeit der Frucht gegenüber toxischen Einflüssen hängt von ihrem Genotyp ab. Die unterschiedliche genetische Ausstattung verschiedener Spezies erklärt Abweichungen bei der Reaktion auf toxische Einflüsse zwischen Mensch und Tier. Aber auch menschliche Individuen weisen aufgrund ihrer genetisch determinierten Enzymausstattung Variationen bei der Metabolisierung exogener Noxen auf: Der genetisch bedingte Mangel
85 6.4 · Ursachen angeborener Entwicklungsstörungen des Menschen
. Abb. 6.2. Empfindlichkeit von Embryo/Fetus gegenüber exogenen Noxen
. Abb. 6.3. Dosis-Wirkung-Beziehung in der Pränataltoxikologie
des Enzyms Epoxidhydrolase spielt z. B. eine wichtige Rolle bei den durch Phenytoin ausgelösten Fehlbildungen.
Als bekanntes Beispiel für eine Tumorentwicklung nach intrauteriner Exposition lässt sich das synthetische Sexualsteroid Diethylstilbestrol anführen, das bei den Töchtern behandelter Schwangerer Vaginaltumoren verursachte.
Regel 2. Die Empfindlichkeit des Embryos gegenüber toxischen Einflüssen hängt von seinem Entwicklungsstadium ab (. Abb. 6.2). In den ersten beiden Wochen p. c. werden eventuelle Schäden aufgrund der Pluripotenz der Zellen repariert, oder die Frucht stirbt bei einer ausgeprägten Noxe völlig ab. Das Fehlbildungsrisiko wird in dieser Phase für gering gehalten (»Alles-oder-nichts-Gesetz«). > Während der Organogenese (Tag 15–56 p. c.) besteht die größte Sensibilität gegenüber exogenen Noxen. In dieser Phase werden die meisten Fehlbildungen ausgelöst.
In der Fetalperiode nimmt die Empfindlichkeit der Frucht gegenüber exogenen Noxen zwar ab, doch können auch in dieser Zeit schwerwiegende Funktionsstörungen der kindlichen Organe entstehen. Als Beispiele sind Intelligenzdefekte unter Alkohol, Blei und Methylquecksilber, Niereninsuffizienzen nach ACE-Hemmer-Einnahme oder Zahnverfärbungen unter Tetrazyklinen zu erwähnen. Regel 3. Unterschiedliche embryotoxische Einflüsse wirken über relativ wenige spezifische Mechanismen auf die morphologische Entwicklung des Embryos ein. Zum Beispiel werden Neuralrohrdefekte durch unterschiedliche Substanzen wie Valproinsäure, Carbamazepin oder Methotrexat über die Einwirkung auf den Folsäurehaushalt verursacht. Regel 4. Nach einer Schädigung der Frucht sind folgende Verlaufsformen möglich: 4 normale Entwicklung nach kompletter Heilung des Defekts, 4 Absterben, 4 Fehlbildung, 4 Wachstumsrestriktion, 4 Störung der Organfunktion, 4 transplazentare Karzinogenese.
Regel 5. Inwieweit exogene Noxen den Embryo erreichen, hängt von ihren chemischen und physikalischen Eigenschaften ab. In Abhängigkeit von der Molekülgröße passiert z. B. unter den Antikoagulanzien Phenprocoumon sehr gut die Plazentaschranke, während Heparin (auch in der niedermolekularen Variante) nicht diaplazentar übergeht. > Je lipophiler eine Substanz ist, umso eher geht sie vom mütterlichen in das kindliche Kompartiment über (z. B. gute Plazentagängigkeit von organischen Quecksilberverbindungen im Gegensatz zu anorganischem Quecksilber). Regel 6. Die Störung der embryonalen Differenzierung nimmt proportional zur Dosis des embryotoxischen Faktors zu. Nach einer Dosis-Wirkung-Abhängigkeit wird bei Überschreiten einer Schwellendosis zunächst der teratogene Bereich erreicht, danach folgt der embryoletale bzw. maternal toxische Bereich (. Abb. 6.3).
6.4
Ursachen angeborener Entwicklungsstörungen des Menschen
Bei etwa 3% der Neugeborenen sind Fehlbildungen bei Geburt erkennbar, im Alter von 5 Jahren zeigen sich bei etwa 4,5% der Kinder Anomalien. Eine Ursache für den jeweiligen Defekt lässt sich bei weniger als 50% ermitteln (ACOG 1997). Die angeborenen Entwicklungsstörungen lassen sich auf die in . Tab. 6.2 dargestellten Ursachen zurückführen (nach Kalter u. Warkany 1983; Rösch u. Steinbicker 2003).
6
86 Kapitel 6 · Embryologie und Teratologie
Geschlechtsgebundene rezessive Erbleiden . Tab. 6.2. Ursachen angeborener Entwicklungsstörungen
6
Entwicklungsstörungen
Häufigkeit [%]
Monogenetische Erbkrankheiten
8–9
Chromosomale Störungen
6–8
Teratogene Umweltfaktoren
2–5
Infektionen (Rubella, Varizellen, Zytomegalie, Toxoplasmose)
1–2
Mütterliche Erkrankungen (z. B. Diabetes mellitus, Epilepsie, Phenylketonurie)
0,7–1,7
Arzneimittel
0,2–1,3
Polygenetische bzw. multifaktorielle Störungen
20–49
Unbekannte Ursachen
34–62
Die geschlechtsgebundenen rezessiven Erbleiden sind an ein X-Chromosom gekoppelt. Da es bei männlichen Individuen hemizygot vorkommt, genügt ein abnormes Gen auf dem einzelnen X-Chromosom zur Manifestation der Erkrankung. Zu diesen Erbleiden zählen die Hämophilie A und B, die progressive Muskeldystrophie vom Typ Duchenne, Ichthyosis, testikuläre Feminisierung oder die Agammaglobulinämie. Frauen mit einem betroffenen X-Chromosom fungieren als Konduktorinnen und geben die Erkrankung an 50% ihrer Söhne weiter.
Polygen bedingte Erbleiden Die größte Gruppe der angeborenen Erbleiden manifestiert sich beim Zusammenwirken mehrerer Gene und zusätzlicher Umgebungsfaktoren. Das Wiederholungsrisiko bewegt sich meist zwischen 2 und 5%. Zu diesen Fehlbildungen bzw. Störungen zählen orale Spaltbildungen, Spina bifida, Anenzephalie, kongenitale Herzvitien, Pylorusstenose, angeborene Hüftluxation, Klumpfuß, Hypospadie, Epilepsie, Schizophrenie und Diabetes mellitus.
Numerische Chromosomenanomalien 6.4.1
Genetische Faktoren
Autosomal dominante Erbleiden Da morphologische oder biochemische Fehlbildungen die Reproduktionschancen des betroffenen Individuums einschränken, treten dominant vererbte Fehlbildungen meist mit der Häufigkeit der Spontanmutationsrate auf oder besitzen eine relativ geringe Penetranz. Eine Ausnahme stellen dominante Erbleiden mit einer Expression nach Abschluss der Reproduktionsperiode dar (z. B. Chorea Huntington). > Autosomal dominante Erbgänge liegen z. B. für Osteogenesis imperfecta (Typ Lobstein), Achondroplasie, Marfan-Syndrom, Myotonia congenita, Neurofibromatose und Sphärozytose vor.
Autosomal rezessive Erbleiden Bei rezessiven Erbgängen ist die Inzidenz in geschlossenen kleinen Populationen stark erhöht, während sie sich in genetisch stark durchmischten Populationen der Spontanmutationsrate nähert. Als Beispiele für solche Erkrankungen kann man die zystische Fibrose, die Phenylketonurie oder das adrenogenitale Syndrom anführen. Die meisten konnatalen Stoffwechselerkrankungen gehorchen einem autosomal rezessiven Erbgang. Störungen des Lipidstoffwechsels, des Kohlenhydratstoffwechsels, des Aminosäurestoffwechsels, Mukopolysaccharidosen und weitere metabolische Erkrankungen machen etwa 0,2% der angeborenen Defekte aus. Sie gehen meist mit geistiger und körperlicher Retardierung in unterschiedlicher Ausprägung einher und manifestieren sich im Säuglingsalter und in der frühen Kindheit.
Durch »Non-disjunction« in der Meiose der Keimzellen können numerische Aberrationen im Chromosomensatz der Nachkommen auftreten. Monosomien und Trisomien entstehen auf diese Weise bei allen Chromosomen etwa gleich häufig, doch sind nur wenige mit dem Leben vereinbar. Die meisten Fälle enden als Frühaborte.
Autosomale Aberrationen Die Trisomie 21 (Down-Syndrom) findet sich bei etwa 1 von 600 Neugeborenen als häufigste autosomale Aberration. Sie ist durch schräge Lidspalten, flachen Nasenrücken, Makroglossie, Herzfehler (etwa 30%), Vierfingerfurche, Abspreizung der Großzehe, psychomotorische Retardierung, mangelnde Infektabwehr und erhöhtes Leukämierisiko gekennzeichnet. Die Trisomie 13 (Pätau-Syndrom) ist assoziiert mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, Fehlbildungen von Groß- und Kleinhirn, Herz- und Nierenanomalien, Hexadaktylie, Muskelhypotonie und psychomotorischer Retardierung. Bei Trisomie 18 (Edwards-Syndrom) finden sich das typische Vogelgesicht mit Mikrognathie, langem schmalem Schädel und ausladendem Hinterhaupt, außerdem schwere mentale Retardierung und Wachstumsrückstand.
Gonosomale Aberrationen Bei den gonosomalen Aberrationen steht die auffällige Geschlechtsentwicklung im Vordergrund. Die übrigen Organsysteme sind weitaus weniger schwerwiegend betroffen als bei den autosomalen Chromosomopathien. Turner-Syndrom (X0). Bei etwa 1 von 5.000 weiblichen Neugeborenen tritt eine gonosomale Monosomie auf. Bei Geburt fallen meist ein Pterygium colli sowie Hand- und Fußrückenödeme auf. Später zeigen sich Minderwuchs und Fehlen der sekundären Geschlechtsmerkmale. Aufgrund einer Gonaden-
87 6.4 · Ursachen angeborener Entwicklungsstörungen des Menschen
dysgenesie findet sich eine primäre Amenorrhö. Die Intelligenz kann sich ganz normal entwickeln. Klinefelter-Syndrom. Das Klinefelter-Syndrom betrifft 2 von 1.000 Neugeborenen und stellt die häufigste Chromosomenaberration bei Geburt dar. Während die Neugeborenen kaum Anomalien ausweisen, fallen die betroffenen Jungen später durch starkes Längenwachstum, testikuläre Dysgenesie mit Azoospermie und Zeugungsunfähigkeit auf. Bei etwa 25% der Klinefelter-Patienten ist die Intelligenz in unterschiedlichem Ausmaß herabgesetzt. Triplo-X-Syndrom. Bei 1 von 1.000 weiblichen Neugebore-
nen tritt eine Triplo-X-Konstellation auf. Sie fallen in der Pubertät durch ovarielle Dysgenesie, hypoplastisches Genitale und primäre Oligo- bzw. Amenorrhö auf. Etwa ein Drittel der betroffenen Frauen weist eine mentale Retardierung bzw. Verhaltensstörungen auf, die bei höhergradiger Polysomie X noch ausgeprägter sind.
Strukturelle Autosomenaberrationen Es gibt zahlreiche Fehlbildungssyndrome mit autosomalen Strukturanomalien, die jedoch relativ selten vorkommen. Bekannt ist v. a. das Cri-du-chat-Syndrom mit einer Deletion des kurzen Arms von Chromosom 5. Die Neugeborenen fallen durch kraniofaziale Dysmorphien und katzenschreiartige Laute (Laryngomalazie) auf. Es liegt eine schwere psychomotorische Retardierung vor.
Fragiles-X-Syndrom Das Fragile-X-Syndrom ist die häufigste Ursache für eine genetisch bedingte geistige Behinderung. Auf dem langen Arm des X-Chromosoms befindet sich eine instabile Stelle, an der die betroffenen Chromosomen leicht zerbrechen. Die Häufigkeit für hemizygote Männer wird auf etwa 1:1.000–1500 Neugeborene, für heterozygote Frauen auf das Doppelte geschätzt. > Fragile-X-positive Männer machen etwa 3–5% der geistig schwer behinderten Jugendlichen und Erwachsenen aus (Adler et al. 1996).
6.4.2
Hyperthermie
Ein erhöhtes Risiko für Aborte und Fehlbildungen (z. B. Neuralrohrdefekte, Herz- und Bauchwandanomalien) bei Anstieg der Körpertemperatur über 38,5°C in den ersten 6 SSW wurde immer wieder diskutiert. Ein Zusammenhang mit Neuralrohrdefekten konnte inzwischen nachgewiesen werden (Moretti et al. 2005).
6.4.3
Drogen
Alkohol Ethanol ist als weit verbreitetes Teratogen häufig für Fehlbildungen verantwortlich.
Die Einschätzung des Risikos unter Alkoholexposition wird erschwert durch unzuverlässige Angaben der Betroffenen, aber auch durch häufige Kombination mit Rauchen, einseitiger Ernährung und Medikamentenabusus. Nach chronischem Alkoholkonsum wurden folgende Auffälligkeiten zum fetalen Alkoholsyndrom zusammengefasst (Clarren 1981): 4 pränatale und postnatale Wachstumsrestriktion, 4 Defekte des ZNS mit Intelligenzminderung und Verhaltensstörungen, 4 kraniofaziale Dysmorphien (Mikrozephalie, schmale Lidspalten, kurzer und breiter Nasenrücken, flaches Mittelgesicht mit Maxillahypoplasie), 4 Extremitätenanomalien (Kamptodaktylie, Klinodaktylie, Endphalangenhypoplasie). 4 Eine Häufung von Lippen-Kiefer-Gaumen-Spaltbildung wurde bei chronischem Alkoholabusus ebenfalls beobachtet. Das fetale Alkoholsyndrom tritt bei 30–45% der Schwangeren auf, die täglich mindestens 140 g reines Ethanol trinken, was etwa 1,5 l Wein entspricht (Jones 1974). Langzeituntersuchungen über mehr als 10 Jahre ergaben zwar eine Abschwächung der meisten morphologischen Stigmata, jedoch eine Persistenz von Mikrozephalie und intellektueller bzw. psychosozialer Retardierung (Steinhausen et al. 1995). Bei 2 Drinks pro Tag wurde bereits eine Abnahme des IQ um 7 Punkte festgestellt (Streissguth et al. 1991). Bei kurzfristigen Alkoholexzessen (mindestens 5 Drinks) zeigte sich ein Rückstand von 1–3 Monaten beim Lesen und Rechnen nach dem 1. Schuljahr (Streissguth et al. 1990). > Bereits nach regelmäßigem Konsum von täglich etwa 15 g Ethanol zeigen sich die ersten statistisch fassbaren Entwicklungsstörungen (diskrete Beeinträchtigung von intrauterinem Wachstum und mentaler Entwicklung).
Tabakrauch Der Tabakrauch enthält neben Nikotin auch Kohlenmonoxid, Teer und Schwermetalle. Rauchen gilt als embryo- und fetotoxisch. Eine schwache Assoziation mit Gesichtsspalten und Klumpfüßen bei den Nachkommen konnte nachgewiesen werden (Shepard et al. 2002). Bei Raucherinnen fielen eine Reduktion des Geburtsgewichts, eine Steigerung der perinatalen Mortalität sowie eine Häufung von Fehl- und Frühgeburten auf (Werler 1997). > Der Verzicht auf das Rauchen ist daher für alle Phasen der Schwangerschaft dringend anzuraten.
Opiate Bei Heroinabhängigen treten gehäuft intrauterine Wachstumsrestriktion, vorzeitiger Blasensprung und Frühgeburten auf. Eine Substitution mit Methadon oder Buprenorphin erscheint sinnvoll, wobei unter engmaschiger Kontrolle eine kontinuierliche Dosisreduktion angestrebt werden sollte.
6
88 Kapitel 6 · Embryologie und Teratologie
! Ein akuter Opiatentzug ist in der Schwangerschaft auf alle Fälle zu vermeiden, weil damit geburtshilfliche Komplikationen (IUFT, vorzeitige Wehen) verbunden sind.
Nach einer anfänglichen Atemdepression des Neugeborenen muss man meist 24–72 h post partum mit Entzugssymptomen rechnen (Atemnotsyndrom, Hyperirritabilität, Tremor, Diarrhö, Erbrechen, zerebrale Krampfanfälle). Diese Symptome können auch erst 10–36 Tage post partum auftreten. Wenn keine medikamentöse Therapie (Phenobarbital) unter klinischer Überwachung erfolgt, sind lebensbedrohliche Komplikationen zu befürchten.
6
setzten Anwendung in der Schwangerschaft dringend abzuraten.
Lösungsmittel Organische Lösungsmittel wie Toluol, Benzin und halogenierte Kohlenwasserstoffe werden als Schnüffelstoffe missbraucht. Zu einem derartigen Abusus existieren Berichte über kindliche Schäden, die dem fetalen Alkoholsyndrom ähneln. Dies wurde jedoch nicht nach beruflicher Exposition beobachtet. Dennoch sollte auch der berufliche Kontakt mit solchen Lösungsmitteln durch entsprechende Belüftung oder Wechsel des Arbeitsplatzes möglichst reduziert werden.
Kokain Bei sporadischem Gebrauch von Kokain in der Frühgravidität konnte keine erhöhte Fehlbildungsrate nachgewiesen werden. Bei fortgesetztem Abusus treten jedoch aufgrund der Vasokonstriktion mit konsekutiver Minderdurchblutung gehäuft Komplikationen auf: Aborte, Totgeburten, Frühgeburten, vorzeitige Plazentalösung, Wachstumsrestriktionen, Mikrozephalie, nekrotisierende Enterokolitis. Außerdem wurde über diverse Fehlbildungen berichtet: zerebrale Infarkte, Fehlbildungen von Urogenital- und Skelettsystem, intestinale Atresien. Wird bei einer Patientin mit Kokainabusus eine Schwangerschaft diagnostiziert, dann sollte sie den Drogenkonsum umgehend einstellen. Eine sporadische Exposition in Unkenntnis der Gravidität sollte zu einer intensiven sonographischen Untersuchung, nicht jedoch zum Schwangerschaftsabbruch veranlassen (Koren 1994).
Marihuana Die Missbildungsrate ist nach Genuss von Marihuana in der Schwangerschaft nicht erhöht, jedoch ist bei fortgesetztem Abusus mit einem Anstieg der perinatalen Mortalität zu rechnen. Eine Langzeitstudie nach regelmäßiger intrauteriner Exposition ergab eine signifikant beeinträchtigte Sprach- und Gedächtnisleistung im Alter von 4 Jahren (Fried u. Watkinson 1990).
LSD Zwar wurde über Fehlbildungen an Skelett und ZNS nach LSD-Abusus berichtet, jedoch ließ sich ein Zusammenhang epidemiologisch nicht eindeutig herstellen. Nach Feststellung einer Schwangerschaft unter LSD-Abusus sollte ein sonographischer Fehlbildungsausschluss erfolgen; vor einer Fortsetzung des Drogenkonsums ist ausdrücklich zu warnen.
Amphetamine Amphetamine erfreuen sich unter Jugendlichen derzeit als Ecstasy oder Speed großer Beliebtheit. Im Tierversuch wurden bei diversen Amphetaminen Fehlbildungen an ZNS und Lippen-Kiefer-Gaumen-Region beobachtet. Beim Menschen zeichnet sich eine Häufung von Herzfehlern und Klumpfüßen unter Amphetaminabusus ab (McElhatton et al. 1999). Da Amphetamine ähnlich wie Kokain zu einer Vasokonstriktion mit Minderperfusion führen, ist jedoch von einer fortge-
6.4.4
Strahlung
Elektromagnetische Felder Elektromagnetische Felder im Niederfrequenzbereich stellen nach dem bisherigen Kenntnisstand kein erhöhtes Risiko für die pränatale Entwicklung dar. Bildschirmarbeitsplätze oder MRT sind demnach auch in der Schwangerschaft zulässig.
Ionisierende Strahlung Nach den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki wiesen 25% der intrauterin exponierten Kinder Fehlbildungen des ZNS auf. Die natürliche Strahlenexposition in Mitteleuropa beträgt ca. 2 mGy. Bei der konventionellen Röntgendiagnostik fallen intrauterine Strahlendosen bis zu 10 mGy an (z. B. Abdomenübersicht: 1–5 mGy). Bei Computertomographien können in Abhängigkeit von der Schichtdicke höhere Strahlendosen auftreten, die aber immer noch deutlich unter 50 mGy liegen. Eine Strahlenexposition Solange eindeutige Informationen fehlen, sollte eine Schwangere eine Exposition mit suspekten Substanzen am Arbeitsplatz oder in der Umwelt meiden.
6.4.6
Mütterliche Erkrankungen
Epilepsie Die Fehlbildungsrate bei Kindern von epileptischen Müttern ist gegenüber der Allgemeinbevölkerung auf das 2- bis 3Fache erhöht (Fried et al. 2004). Aber auch bei epileptischen Vätern besteht ein leicht erhöhtes Fehlbildungsrisiko. Die unter dem Antiepileptikasyndrom zusammengefassten Anomalien (wie orafaziale Spaltbildungen, Gesichtsdysmorphien, Extremitätendefekte) lassen sich nicht ausschließlich auf die jeweilige Medikation zurückführen.
Diabetes mellitus Die perinatale Mortalität ist bei insulinpflichtigem Diabetes mellitus der Mutter in den letzten Jahrzehnten zwar deutlich zurückgegangen, doch ist die Inzidenz von Fehlbildungen mit 6–12% deutlich erhöht. Das Risiko für Fehlbildungen oder Spontanaborte korreliert mit den Episoden mütterlicher Hyperglykämie zwischen SSW 5 und 8 (ACOG 2005). Als charakteristische Anomalie ist das kaudale Regressionssyndrom beschrieben (200- bis 400faches Risiko). Fehlbildungen des Zentralnervensystems einschließlich Neuralrohrdefekten und Holoprosenzephalie sind 10-mal häufiger. Auch Herzvitien wie Ventrikelseptumdefekt oder Transposition der großen Gefäße treten 5-mal häufiger auf.
Schilddrüsenerkrankungen Bei mütterlicher Hypothyreose beobachtet man eine erhöhte Rate von Spontanaborten, Frühgeburten und fetalen Anomalien. Unter Iodmangel besteht das Risiko einer Neugeborenenstruma bzw. eines Kretinismus. Bei unbehandelter Hyperthyreose ist ebenfalls mit einer erhöhten Abortrate zu rechnen.
6.5
Medikamentenanwendung in der Schwangerschaft
6.5.1
Arzneimittelstoffwechsel in der Schwangerschaft
Mütterlicher Metabolismus Folgende Veränderungen des Arzneimittelstoffwechsels sind in der Schwangerschaft zu beachten: 4 Durch Zunahme des interstitiellen Flüssigkeitsvolumens (v. a. bei Präeklampsie) muss man von einem deutlich vergrößerten Verteilungsraum für exogen zugeführte Substanzen ausgehen. Bei einer erforderlichen Dauertherapie sollte der Plasmaspiegel des Wirkstoffs während der Schwangerschaft wiederholt kontrolliert werden. 4 Durch Veränderung des Serumeiweißmusters kann bei Substanzen mit Proteinbindung der frei verfügbare wirksame Anteil variieren. Durch einen Anstieg des Gehalts an thyroxinbindendem Globulin (TBG) reduziert sich z. B. der Anteil des freien Schilddrüsenhormons. 4 Die Aktivierung mütterlicher Leberenzyme durch die ansteigenden Sexualsteroide kann zu einer beschleunigten Inaktivierung von Arzneimitteln führen. 4 Besondere Vorsicht ist bei Schwangeren mit Grunderkrankungen (z. B. Niereninsuffizienz) angebracht, die den Abbau und die Ausscheidung von Arzneimitteln beeinträchtigen (Keller et al. 2001).
Diaplazentarer Transfer Die meisten Arzneimittel erreichen den Fetus über die Plazenta, wobei meist eine Konzentrationsabnahme von Mutter zu Kind festzustellen ist. Der diaplazentare Transfer hängt im Wesentlichen von folgenden Faktoren ab: 4 Lipophile Substanzen, die bei oraler Gabe gut über den mütterlichen Gastrointestinaltrakt resorbiert werden, passieren im Gegensatz zu hydrophilen Substanzen auch relativ leicht die Plazenta. 4 Bei einer Molekularmasse >800 ist mit einer relativ geringen Plazentagängigkeit zu rechnen. Substanzen wie Insulin und Heparin sind daher praktisch nicht plazentagängig. 4 Sind Wirkstoffe stark an mütterliches Plasmaeiweiß gebunden, so ist ebenfalls nur mit einem geringen diaplazentaren Transfer zu rechnen.
Embryonaler und fetaler Metabolismus Bereits im 3. Schwangerschaftsmonat beginnt die kindliche Leber, Fremdstoffe zu metabolisieren, was ebenfalls zu einer Konzentrationsabnahme eines Arzneimittels im fetalen Organismus beitragen kann. Andererseits sind manche Enzymsysteme, v. a. bei Frühgeborenen, noch so wenig ausgereift, dass sich gewisse peripartal verabreichte Medikamente anreichern können. Die geringe Glukuronidierungsleistung der kindlichen Leber kann z. B. bei Chloramphenicol zu dem bekannten Grey-Syndrom führen.
6
90 Kapitel 6 · Embryologie und Teratologie
6.5.2
Beurteilung des teratogenen Risikos
Tierversuche
6
Vor der Zulassung eines Präparats werden von der pharmazeutischen Industrie reproduktionstoxikologische Untersuchungen an Tieren durchgeführt. Leider sind deren Ergebnisse nur bedingt auf den Menschen übertragbar. Aufgrund einer unterschiedlichen genetischen Ausstattung führen exogene Noxen nicht zwangsläufig zu gleichen Resultaten beim Menschen. Dies kann in doppelter Hinsicht Probleme implizieren: 4 Im Tierversuch (meist mit Ratten, Mäusen und Kaninchen) treten unter Medikamentenexposition in der Gravidität Fehlbildungen auf, die sich beim Menschen nicht nachvollziehen lassen, z. B. Gaumenspaltbildungen bei Mäusen unter Diazepam. 4 Andererseits können sich Substanzen im Tierversuch unproblematisch verhalten, die beim Menschen schwere Fehlbildungen auslösen, z. B. Phokomelie unter Thalidomid. Darüber hinaus werden in den Tierversuchen meist extrem hohe Dosierungen verabreicht, welche die humantherapeutischen Größenordnungen um Potenzen übersteigen. Dadurch werden Darmflora und Stoffwechselprozesse bei den Muttertieren so massiv beeinträchtigt, dass sie bereits toxische Effekte aufweisen.
Kontrollierte Studien am Menschen Kontrollierte Studien an schwangeren Patientinnen verbieten sich meist aus ethischen Gründen, sodass – im Gegensatz zu den sonst überwiegend gut dokumentierten Wirkungen und Nebenwirkungen von Arzneimitteln – relativ wenig fundiertes Datenmaterial aus Fallkontrollstudien in der Schwangerschaft vorliegt.
Epidemiologische Erhebungen Erkenntnisse über die Teratogenität von Arzneimitteln beim Menschen lassen sich am ehesten durch Sammlung von Fällen nach Exposition in Unkenntnis der Gravidität gewinnen. Einen idealen Zugang zu diesem Kollektiv besitzen teratologische Beratungsstellen, die auch eine Kontrollgruppe aus der gleichen Grundgesamtheit generieren können. Ein wesentlicher Nachteil dieses Vorgehens besteht jedoch in dem meist sehr langwierigen Prozess der Datengewinnung über viele Jahre.
Risikoklassifizierung von Arzneimitteln Verschiedene Institutionen haben versucht, die pränatale Toxizität von Arzneimitteln in Risikogruppen einzustufen. Da es sich insbesondere in Anbetracht des häufig begrenzten Kenntnisstandes nur um eine grobe Kategorisierung handelt, sind diese Schemata für die individuelle Risikobeurteilung oft nur von begrenztem Nutzen. Am bekanntesten ist die Einteilung der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA): Kategorie A. Kontrollierte Studien an schwangeren Frauen haben kein erhöhtes Risiko für den Fetus während des 1. Trimenons ergeben. Hinweise auf ein Risiko zu einem späteren
Zeitpunkt liegen ebenfalls nicht vor. Die Wahrscheinlichkeit einer Schädigung ist sehr gering (Beispiel: Folsäure). Kategorie B. Zwar existieren keine kontrollierten Studien an
schwangeren Frauen, doch ergaben Tierversuche keinen Anhalt für Teratogenität, oder im Tierversuch beobachtete Schäden konnten in kontrollierten Studien am Menschen nicht reproduziert werden (Beispiel: Penicillin). Kategorie C. Tierversuche haben Hinweise auf fetale Schä-
den ergeben, wobei kontrollierte Studien beim Menschen fehlen, oder Untersuchungen an schwangeren Frauen und Tierversuche liegen nicht vor (Beispiel: Chloroquin). Kategorie D. Es gibt Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für den
menschlichen Fetus. Der Nutzen des Medikaments kann jedoch bei zwingender Indikation eine Anwendung auch in der Schwangerschaft rechtfertigen (Beispiel: Chinin). Kategorie X. Untersuchungen bei Tieren und Menschen haben eindeutig einen Zusammenhang mit fetalen Fehlbildungen gezeigt. Das Risiko einer fetalen Schädigung überwiegt jeden möglichen Nutzen, sodass das Medikament bei Kinderwunsch oder in der Schwangerschaft absolut kontraindiziert ist (Beispiel: Isotretinoin) > Die in Deutschland gebräuchliche Klassifizierung in 11 Kategorien (Rote Liste) lässt ebenfalls keine klare Unterscheidung zwischen Therapieempfehlung einerseits und zurückliegender Exposition andererseits zu.
6.5.3
Grundlagen der Arzneimittelberatung in der Schwangerschaft
Empfehlungen bei Kinderwunsch bzw. bei eingetretener Gravidität Bei chronisch kranken Patientinnen sollte bei Kinderwunsch eine frühzeitige Einstellung auf eine in der Schwangerschaft erprobte Medikation erfolgen. Für die meisten Erkrankungen existieren Therapieregimes, die kein teratogenes Risiko mit sich bringen. ! Auf keinen Fall sollte bei Patientinnen mit chronischen Erkrankungen wie Asthma bronchiale, Epilepsie oder arterieller Hypertonie aus Angst vor Fehlbildungen auf jegliche Medikation verzichtet werden. Ein abruptes Absetzen kann zu einer Exazerbation der Grunderkrankung mit schweren Folgen für Mutter und Kind führen.
Risikoeinschätzung nach Exposition Oft werden von Patientinnen in Unkenntnis der Gravidität Medikamente eingenommen. Die aus juristischen Gründen sehr vorsichtig formulierten Angaben der Beipackzettel verursachen bei Schwangeren und betreuenden Ärzten häufig große Besorgnis. Der Vermerk in der Produktinformation über eine Kontraindikation bei Gravidität beruht meist auf
91 6.5 · Medikamentenanwendung in der Schwangerschaft
mangelnden Daten beim Menschen, auch wenn die Tierversuche keinen Anhalt für Teratogenität im humantherapeutischen Dosisbereich ergaben.
und Jejunalatresie berichtet. Im fortgeschrittenen Gestationsalter beobachtet man auch Perfusionsstörungen mit intrauterinem Fruchttod.
> Eine Indikation zum Schwangerschaftsabbruch lässt sich nur bei wenigen Präparaten ableiten:
Glukokortikoide. Bei hoch dosierter systemischer Gabe von
4 Vitamin-A-Säure-Derivate (Retinoide), 4 Thalidomid, 4 Zytostatika.
Abklärung durch Pränataldiagnostik Sonographischer Ausschluss von Fehlbildungen Mit den Möglichkeiten der modernen Pränataldiagnostik lässt sich bei vielen Medikamentenexpositionen mit einem teratogenen Risiko ein zuverlässiger Fehlbildungsausschluss durchführen. Klärt man eine Patientin über eine potenzielle Fehlbildungsgefahr nach einer bereits erfolgten Arzneimittelanwendung in der Frühgravidität auf, so sollte man ihr ein gezieltes Screening in einem entsprechenden Zentrum anbieten. Neuralrohrdefekte, Herzfehler oder Extremitätendefekte sind typische Beispiele für Anomalien, die einer Diagnostik mit hochauflösenden Ultraschallgeräten gut zugänglich sind. Informiert man z. B. eine Patientin über das Risiko einer Spina bifida von 1–2% unter Carbamazepin, dann muss man ihr gleichzeitig erläutern, dass sich dieses Risiko durch eine sonographische Untersuchung im konkreten Fall abklären lässt. Eine solche Medikation kann also per se keine Indikation zum Schwangerschaftsabbruch darstellen. Folgende Arzneimittelanwendungen stellen eine zwingende Indikation zur sonographischen Fehlbildungsdiagnostik dar: ACE-Hemmer/AT-II-Rezeptor-Antagonisten. Bei fortgesetz-
ter Einnahme im 2./3. Trimenon können infolge tubulärer Dysgenesie Oligohydramnion, Gelenkkontrakturen, Lungenhypoplasie und Verknöcherungsstörungen der Schädelkalotte auftreten. Androgene. Aufgrund einer möglichen Maskulinisierung
weiblicher Feten sollte das äußere Genitale beurteilt werden. Antikonvulsiva. Bei Epileptikerinnen sind unter verschiedensten Medikationen kraniofaziale Dysmorphien, Extremitätenveränderungen und Retardierungen beschrieben.
Glukokortikoiden ist eine sonographische Kontrolle auf faziale Spaltbildungen angezeigt. Kumarinderivate (Phenprocoumon, Warfarin, Acenocoumarol). Ein Teil der beim Warfarinsyndrom beschriebenen Fehl-
bildungen lässt sich sonographisch erkennen, sodass sich das unter Warfarin beschriebene Fehlbildungsrisiko von etwa 14% weiter einschränken lässt: Bei etwa 50% der geschädigten Kinder treten Extremitätenhypoplasien unterschiedlicher Schweregrade auf, ein weiteres Kriterium ergibt sich aus der häufigen Hypoplasie der Nase. Leflunomid. Angesichts der Häufung von Extremitätendefekten und Hydrozephalus im Tierversuch sollte bei mangelnden Erfahrungen in der menschlichen Schwangerschaft eine sonographische Kontrolle der genannten Strukturen erfolgen. Lithium. Aufgrund älterer Publikationen wurde dem Lithium eine erhöhte Rate an Herzfehlern angelastet, was anhand neuerer, prospektiv erhobener Daten angezweifelt wird. Zumindest sollte jedoch einer exponierten Patientin ein fetales Echokardiogramm angeboten werden, da insbesondere etliche Fälle der sonst seltenen Ebstein-Anomalie beschrieben sind. Misoprostol. Das Prostaglandinderivat Misoprostol soll die Auslösung von Gastritiden durch Antiphlogistika verhindern, wird jedoch auch in höherer Dosis missbräuchlich zur Abortinduktion eingesetzt. Nach Tagesdosen von 400–16.000 μg (mittlerer Wert: 800 μg) im 1. Schwangerschaftsdrittel wurden gehäuft diverse Anomalien, v. a. Extremitätendefekte und Hirnnervenausfälle, registriert (Gonzalez et al. 1998). Mycophenolatmofetil. Auf der Grundlage von bislang 12 publizierten Fehlbildungsfällen wird neuerdings eine für das Immunsuppressivum Mycophenolatmofetil typische Embryopathie mit orofazialer Spaltbildung, Mikrotie, Atresie des äußeren Gehörgangs, Mikrognathie und Hypertelorismus postuliert (Merlob et al 2009).
Carbamazepin. Über die zuvor bei den Antikonvulsiva genannten Anomalien hinaus ist hier speziell auf das erhöhte Risiko von Neuralrohrdefekten (1–2%) zu achten.
Retinoide. Die überwiegend zur Aknetherapie eingesetzten Vitamin-A-Säure-Derivate stellen nach Thalidomid das gravierendste Teratogen unter den Medikamenten dar. Die schwerwiegendsten Defekte entstehen im Bereich des Zentralnervensystems, was sich sonographisch nicht ausreichend erfassen lässt. Störungen von Gesichts- und Gaumenbildung sowie kardiovaskuläre Defekte, die der sonographischen Diagnostik besser zugänglich sind, spielen demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle.
Ergotamin. Die gefäßverengende, uteruskontrahierende Wirkung von Ergotamin kann zu fetaler Hypoxie führen. Nach Exposition im 1. und 2. Trimenon wird von Paraplegie, Gelenkversteifung, Gehirnatrophie, Arthrogryposis multiplex
Valproinsäure. Ähnlich wie bei Carbamazepin ist hier zusätzlich zu den bei den Antikonvulsiva beschriebenen Defekten mit einer erhöhten Rate an Neuralrohrdefekten (2%) zu rechnen.
Antiphlogistika. Lässt sich eine hoch dosierte Dauertherapie
mit nichtsteroidalen Antiphlogistika im letzten Trimenon nicht vermeiden, so sollte eine sonographische Kontrolle auf vorzeitigen Verschluss des Ductus arteriosus Botalli erfolgen.
6
92 Kapitel 6 · Embryologie und Teratologie
Bei vielen neueren Präparaten, zu denen lediglich Daten aus Tierversuchen vorliegen, sollte der Patientin aus psychischer Indikation eine eingehende sonographische Diagnostik angeboten werden, um die Ängste zu reduzieren, die häufig aufgrund der Angaben auf den Beipackzetteln entstehen.
6
. Tab. 6.3. Schäden durch Arzneimittelanwendung in der Embryonalperiode
Medikament
Schädigung
Aminoglykoside
Oto-/Nephrotoxizität
Serummarker
Androgene
Maskulinisierung (ab etwa 8. SSW)
Bei Medikation mit Substanzen, die für ein erhöhtes Neuralrohrdefektrisiko verantwortlich gemacht werden (z. B. Valproinsäure, Carbamazepin), sollte um die 16. SSW das α-Fetoprotein aus dem mütterlichen Serum bestimmt werden.
Antikonvulsiva Carbamazepin Valproinsäure
Multiple Fehlbildungen v. a. Neuralrohrdefekte v. a. Neuralrohrdefekte
Ergotamin
Disruptionsanomalien
Kumarinderivate (Acenocoumarol, Phenprocoumon, Warfarin)
Multiple Fehlbildungen (bei Exposition über 8. SSW)
Leflunomid
Anophthalmie/Mikrophthalmie, Hydrozephalus, Skelettanomalien im Tierversuch bei moderaten Dosen (beim Menschen bislang keine Beurteilung möglich)
Lithium
Herz-/Gefäßfehlbildungen (nach neuen Publikationen nur gering erhöhtes Risiko!)
Mycophenolatmofetil
orofaziale Spaltbildung, Mikrotie, Atresie des äußeren Gehörgangs, Mikrognathie, Hypertelorismus
Misoprostol
Möbius-Sequenz, Extremitätendefekte
Penicillamin
Cutis laxa
Radiopharmaka
Multiple Defekte
Retinoide/ Vitamin A (> 25.000 IE/Tag)
Multiple Fehlbildungen
Thalidomid
Extremitätenfehlbildungen
Zytostatika
Multiple Fehlbildungen
Amniozentese Häufig werden Patientinnen nach Medikamentenexposition zur Zeit der Konzeption bzw. im Embryonalstadium Fruchtwasserpunktionen zur Abklärung einer eventuellen Schädigung angeboten. Da jedoch nur in wenigen Fällen mit einem Einfluss eines Medikaments auf den Karyotyp zu rechnen ist, kann man eine invasive Diagnostik aus diesem Grund nicht rechtfertigen. Eine Karyotypisierung sollte lediglich bei Anwendung von Zytostatika oder Radionukliden innerhalb von 6 Monaten vor Konzeption bei einem der Partner erwogen werden. Da der Chromosomensatz bei der Konzeption feststeht, sind Veränderungen nach Medikamentenanwendung in der Frühgravidität ohnehin nicht zu erwarten. Marker für Neuralrohrdefekte aus dem Fruchtwasser (α-Fetoprotein, Azetylcholinesterase) lassen sich durch sonographische Spezialdiagnostik in Kombination mit mütterlichem Serum-α-Fetoprotein ersetzen.
6.5.4
Schädigung durch Arzneimittelanwendung
Sofern bei der Besprechung der einzelnen Substanzen keine detaillierten Literaturangaben vermerkt sind, stützen sich die Aussagen auf die Übersichten bei Briggs et al. (2008) sowie Paulus u. Lauritzen (2009).
Embryonalperiode Bei wenigen Medikamenten ist eine fruchtschädigende Wirkung in der menschlichen Schwangerschaft nachgewiesen. Bei vielen Präparaten liegen beunruhigende Daten aus extrem hoch dosierten Tierversuchen vor; im humantherapeutischen Bereich reichen die bisherigen Erfahrungen oft nicht für eine klare Risikoabschätzung aus. Die in . Tab. 6.3 genannten Arzneimittel müssen als embryotoxisch eingestuft werden. Unter diesen Substanzen ist jedoch in Abhängigkeit von Dosis und Expositionszeit nur bei Radiopharmaka, Thalidomid, Retinoiden und Zytostatika ein Abbruch der Schwangerschaft ernsthaft zu erwägen. Bei den anderen Präparaten sollte lediglich die Pränataldiagnostik intensiviert werden.
der Fetalperiode zu rechnen ist. In . Tab. 6.5 wird auf Schäden hingewiesen, die bei einer Arzneimittelanwendung bis unmittelbar zur Geburt beim Neugeborenen auftreten können.
6.5.5
Antibiotika
β-Laktamantibiotika Penizilline und Cephalosporine sind als Antibiotika der 1. Wahl in der Schwangerschaft zu betrachten. Hierbei sollten die älteren Wirkstoffe bevorzugt werden, auch wenn die Präparate der neueren Generation sich im Tierversuch ähnlich unauffällig verhalten wie die erprobten Substanzen.
Fetal- und Peripartalperiode
Makrolidantibiotika
In . Tab. 6.4 werden schwerwiegende Komplikationen aufgeführt, mit denen bei Anwendung bestimmter Substanzen in
Neben Penicillinen und Cephalosporinen zählt Erythromycin – jenseits des 1. Trimenons – zu den Antibiotika der 1. Wahl.
93 6.5 · Medikamentenanwendung in der Schwangerschaft
. Tab. 6.4. Schäden durch Arzneimittelanwendung in der Fetalperiode
Medikament
Schädigung
ACE-Hemmer/ AT-II-RezeptorAntagonisten
Nierenschäden
Aminoglykoside
Oto-/Nephrotoxizität
Antiphlogistika (nichtsteroidal)
Verschluss des Ductus arteriosus
Androgene
Maskulinisierung
Ergotamin
Perfusionsstörung, IUFT
Glukokortikoide
Wachstumsrestriktion
Iodüberdosierung
Hypothyreose
Kumarinderivate
Intrazerebrale Blutungen
Radiopharmaka
Multiple Defekte
Tetrazykline
Gelbfärbung der Zähne
Zytostatika
Immunsuppression, Wachstumsrestriktion
Clindamycin kann zwar bei mehrwöchiger Behandlung eine pseudomembranöse Kolitis bei der Mutter auslösen, umfangreiche Erfahrungen in der menschlichen Schwangerschaft ergaben jedoch keinerlei Hinweise auf ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko. Spiramycin wird zur Behandlung der Toxoplasmose vor der 16. SSW empfohlen (3 g/Tag über 4 Wochen). Die neueren Makrolidantibiotika Roxithromycin, Clarithromycin und Azithromycin bereiteten bisher keine Probleme und können zumindest nach dem 1. Trimenon durchaus eingesetzt werden.
Tetrazykline Chlortetracyclin, Doxycyclin, Minocyclin, Oxytetracyclin und Tetracyclin gelten erst als problematisch, wenn die Mine-
ralisierung von Knochen und Zähnen beginnt. Ab der 16. SSW lagern sie sich an Kalziumionen von Zahnanlagen und Knochen an, was zu einer Gelbfärbung führen kann. Eine Wachstumshemmung der langen Röhrenknochen wurde nur bei Langzeitbehandlung Frühgeborener beobachtet. > Ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko nach Applikation im 1. Trimenon kann man nach jahrzehntelanger Erfahrung ausschließen.
Aminoglykoside
. Tab. 6.5. Schäden durch Arzneimittelanwendung in der Peripartalperiode
Medikament
Schädigung
ACE-Hemmer/ AT-II-RezeptorAntagonisten
Nierenschäden
Aminoglykoside
Oto-/Nephrotoxizität
Antidepressiva (tri-/tetrazyklisch)
Anpassungsstörungen
Barbiturate
Atemdepression, Entzugssymptome
Benzodiazepine
Anpassungsstörungen, Entzugssymptome
Ergotamin
Perfusionsstörung, Fruchttod
Neuroleptika
Extrapyramidalmotorische Störung
Kumarinderivate
Blutungsrisiko
Chloramphenicol
Grey-Syndrom
Lithium
Zyanose, Hypotonie, Hypothermie, Lethargie
Nitrofurantoin
Hämolytische Anämie, Ikterus
Opiate
Entzugssymptome
Sulfonamide
Hyperbilirubinämie
Tetrazykline
Gelbfärbung der Zähne
Aminoglykoside entfalten eine relevante systemische Wirkung nur nach parenteraler Applikation. Nach Streptomycinund Kanamycininjektionen wurden Gehörschäden bei den exponierten Kindern beobachtet. Bei Amikacin, Gentamicin, Netilmicin, Spectinomycin und Tobramycin sind derartige Fälle bisher nicht beschrieben. Sie sollten jedoch nur bei vital bedrohlichen Infektionen mit gramnegativen Problemkeimen unter strenger Kontrolle der Plasmaspiegel eingesetzt werden. Eine lokale Applikation (z. B. Augentropfen) ist angesichts der geringen Resorption zulässig.
Chloramphenicol Chloramphenicol verursacht keine Fehlbildungen. Es kann jedoch bei peripartaler Applikation zu einer lebensbedrohlichen Funktionsstörung des Neugeborenen mit Nahrungsverweigerung, Erbrechen, aschgrauer Hautfarbe, Atemstörung und Kreislaufversagen führen (Grey-Syndrom).
Sulfonamide und Trimethoprim Aufgrund des Folsäureantagonismus bestanden Bedenken gegen den Einsatz von Sulfonamiden und Trimethoprim in der Schwangerschaft. In hohen Dosen ließen sich im Tierversuch zwar Defekte auslösen, doch waren entsprechende Anomalien im humantherapeutischen Einsatz über viele Jahrzehnte nicht zu beobachten. > Sulfonamide und Trimethoprim sollten daher im 1. Trimenon nicht gezielt verwendet werden; eine bereits erfolgte Anwendung bringt jedoch kein relevantes Fehlbildungsrisiko mit sich.
6
94 Kapitel 6 · Embryologie und Teratologie
Im 2. Trimenon sind Sulfonamide als Antibiotika der 2. Wahl akzeptabel. Wegen der Verdrängung von Bilirubin aus der Plasmaeiweißbindung sollten sie aber in den letzten Tagen vor der Geburt nicht eingesetzt werden, um einen verstärkten Neugeborenenikterus zu vermeiden. > Zur Behandlung der Toxoplasmose ab der 16. SSW gilt Sulfadiazin (2 g/Tag) in Kombination mit Pyrimethamin (25 mg/Tag) als Mittel der Wahl (Enders 1991).
Gyrasehemmer
6
Wegen Knorpelschäden bei Hunden in der Wachstumsphase wurden Chinolone als potenzielle Teratogene betrachtet. Entsprechende Veränderungen ließen sich jedoch bisher weder bei Tieren noch beim Menschen in der Schwangerschaft nachvollziehen. Auswertungen von über 1.000 exponierten Schwangeren ergaben kein erhöhtes Fehlbildungsrisiko. > Zwar gelten die Gyrasehemmer (Cinoxacin, Ciprofloxacin, Enoxacin, Fleroxacin, Norfloxacin, Ofloxacin, Pefloxacin, Rosoxacin) nach wie vor als kontraindiziert in der Schwangerschaft, doch stellt ihre versehentliche Anwendung im 1. Trimenon keinen Grund zum Schwangerschaftsabbruch dar.
Nitrofurantoin Nitrofurantoin erreicht nur in den ableitenden Harnwegen therapeutisch wirksame Konzentrationen, weshalb es sich als Harnwegsantiseptikum bewährt hat. Im Fall eines angeborenen Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangels kann nach präpartaler Exposition eine hämolytische Anämie mit verstärktem Neugeborenenikterus auftreten. Deshalb ist Nitrofurantoin im letzten Trimenon mit Vorsicht einzusetzen.
Nitroimidazole Zwar wurde bei hoch dosierten Tierversuchen mit Metronidazol ein mutagenes und kanzerogenes Potenzial festgestellt, doch konnte man beim Menschen nach langjähriger Erfahrung kein teratogenes Potenzial erkennen (Burtin et al. 1995). Eine orale oder vaginale Applikation von Metronidazol in der Schwangerschaft erscheint daher bei Infektion mit Anaerobiern oder Trichomonaden zulässig. Bei vitaler Indikation ist auch eine parenterale Behandlung von Anaerobierinfektionen vertretbar.
Antituberkulotika Da eine aktive Tuberkulose auch in der Schwangerschaft behandelt werden sollte, ist der Einsatz von Isoniazid, Rifampicin, Ethambutol sowie Pyrazinamid als Reservemittel durchaus zulässig (Ad Hoc Committee 1995). Da Isoniazid (empfohlene Dosis: 5–8 mg/kg KG/Tag) den Pyridoxinstoffwechsel in Säugetierzellen beeinflusst, sollte es immer mit Pyridoxin (50 mg/Tag) kombiniert werden, um einem neurologischen Defekt vorzubeugen. Ethambutol ist als Bestandteil einer Kombinationstherapie in einer Dosis von 15–25 mg/kg KG/Tag akzeptabel.
Während Rifampicin in 5- bis 10facher humantherapeutischer Dosierung im Tierversuch teratogene Effekte zeigte, wurde beim Menschen unter 8–12 mg/kg KG/Tag kein erhöhtes Fehlbildungsrisiko registriert. Da bei einer Langzeittherapie die Vitamin-K-Synthese der Mutter gehemmt wird, sollten Neugeborene zur Verhütung hämorrhagischer Komplikationen 2- bis 3-mal pro Woche 1 mg Vitamin K oral erhalten. Unter Pyrazinamid hat sich bisher weder im Tierversuch noch beim Menschen ein Anhalt für ein teratogenes Risiko ergeben, sodass es als Reservemittel gegen Tuberkulose verabreicht werden darf (empfohlene Dosis: 30 mg/kg KG/Tag). ! Auf Streptomycin sollte wegen des ototoxischen Risikos auf jeden Fall verzichtet werden.
6.5.6
Virustatika
Antiherpesmittel Aciclovir hemmt zwar die DNA-Synthese bei Varicella-zosterViren bzw. Herpesviren, doch ergaben sich bei über 650 Expositionen im 1. Trimenon keine Hinweise auf ein teratogenes Potenzial beim Menschen. Nach dermaler Applikation werden nur geringe Substanzmengen resorbiert, sodass keine Einwände gegen eine Anwendung in der Schwangerschaft bestehen. Die systemische Therapie sollte nur unter strenger Indikationsstellung erfolgen. Bei einer floriden Infektion mit Herpes genitalis sollte präpartal unbedingt eine Sanierung mit Aciclovir erfolgen, um eine generalisierte Herpesinfektion des Neugeborenen zu vermeiden. Die neuen Derivate Famciclovir, Ganciclovir und Valaciclovir verhalten sich nach der vorläufigen Datenlage ähnlich wie Aciclovir, jedoch sollten sie wegen der begrenzten Erfahrungen in der menschlichen Gravidität derzeit noch zurückhaltend eingesetzt werden.
Amantadin Das gegen Influenza A wirksame Virustatikum Amantadin verhielt sich lediglich im Tierversuch in hohen Dosen teratogen, nach dem bisherigen Erkenntnisstand aber nicht im humantherapeutischen Einsatz. Von einer geplanten Anwendung in der Schwangerschaft sollte jedoch abgesehen werden.
Antiretrovirale Substanzen Der Wirkstoff Zidovudin, auch als Azidothymidin (AZT) bekannt, hemmt die Vermehrung von HIV. Das Medikament wird auch erfolgreich zur Vermeidung einer präpartalen HIVTransmission von der Mutter auf das Kind eingesetzt. In einer Multizenterstudie konnte nachgewiesen werden, dass der Einsatz von Zidovudin (500 mg/Tag) während der Schwangerschaft sowie die Fortführung der Behandlung beim Neugeborenen über 6 Wochen post partum die vertikale Transmission um annähernd zwei Drittel senkt (Conner et al. 1994). Bei über 2.000 dokumentieren Lebendgeburten nach Exposition mit Lamivudin im 1. Trimenon ergab sich bisher ebenfalls kein Anhalt für ein teratogenes Risiko (Antiretrovir Pregnancy Registry 2007).
95 6.5 · Medikamentenanwendung in der Schwangerschaft
6.5.7
Anthelminthika
nachgewiesen werden. Von einer geplanten systemischen Therapie im 1. Trimenon ist jedoch abzuraten.
Die meisten Anthelminthika werden in nur geringem Umfang aus dem Intestinaltrakt resorbiert, sodass nur eine niedrige Belastung von Embryo bzw. Fetus mit diesen Substanzen zu erwarten ist. Bei folgenden Wirkstoffen liegen Erfahrungen in der Schwangerschaft vor, ohne dass sich bisher ein Zusammenhang mit einer Fruchtschädigung ergeben hätte: 4 Mebendazol: bei Befall mit Oxyuren und Askariden, 4 Pyrviniumembonat: bei Befall mit Oxyuren, 4 Niclosamid: bei Bandwurmbefall.
> Eine Anwendung von Itraconazol, Fluconazol oder Ketoconazol in Unkenntnis der Gravidität stellt keinesfalls eine Indikation zum Schwangerschaftsabbruch dar. Vielmehr sollte zur Beruhigung der Patientin eine ausführliche sonographische Diagnostik unter besonderer Berücksichtigung von Schädel, Skelett und Herz angeboten werden.
Pyrantel und Praziquantel sind in der Schwangerschaft weni-
Während die lokale Therapie als unbedenklich gilt, sollte ein systemischer Einsatz von Amphotericin B in der Schwangerschaft nur unter strengster Indikationsstellung erfolgen. Kasuistiken über Aborte und Wachstumsrestriktionen unter Infusionstherapie stehen Berichte über unauffällige Schwangerschaftsverläufe gegenüber. In Anbetracht der erheblichen Nebenwirkungen (Nierenschäden, Fieber) und der geringen Erfahrungen in der Gravidität sollte von einer Anwendung in der Schwangerschaft abgesehen werden.
ger erprobt, stehen aber bisher nicht im Verdacht, Fehlbildungen zu verursachen. Albendazol löste im Tierversuch Schäden am neuroektodermalen Gewebe aus, sodass bei geringen Erfahrungen von einem Einsatz in der menschlichen Gravidität abgeraten werden muss. > Da es sich bei einem Wurmbefall meist nicht um eine akute Behandlungsindikation handelt, kann ein Abwarten bis zum 2. Trimenon erwogen werden.
Amphotericin B
Griseofulvin 6.5.8
Antimykotika
Nystatin Da Nystatin praktisch nicht resorbiert wird, bestehen keinerlei Bedenken gegen einen Einsatz in allen Phasen der Schwangerschaft. Es gilt als Mittel der Wahl bei Candidainfektionen von Haut und Schleimhaut.
Imidazole Die Imidazolderivate hemmen die Ergosterolbiosynthese und zerstören auf diesem Weg die Integrität der Zellwand von Pilzen. Einige Vertreter dieser Substanzklasse werden kaum resorbiert, sodass sie nur lokal angewendet werden. Der erprobteste Wirkstoff aus dieser Gruppe ist Clotrimazol, das häufig zur Behandlung vaginaler Mykosen eingesetzt wird. Ein Beweis für eine durch Clotrimazol induzierte Zunahme der Spontanaborte liegt nicht vor. Neuere Imidazolderivate, die zur lokalen antimykotischen Therapie angeboten werden, haben zwar bisher kein embryotoxisches Potenzial gezeigt, sind jedoch beim Menschen wesentlich weniger erprobt. Bifonazol, Croconazol, Econazol, Fenticonazol, Isoconazol, Miconazol, Omoconazol, Oxiconazol, Sertaconazol und Tioconazol kommen daher zur loka-
len Behandlung in der Schwangerschaft nur infrage, wenn Nystatin und Clotrimazol keinen Erfolg bringen. Die Imidazolderivate Itraconaozol, Fluconazol und Ketoconazol werden systemisch angewandt. Tierversuche mit sehr hohen Dosen zeigten Schäden, v. a. am Skelettsystem. Nach Langzeittherapie mit Fluconazol (400–800 mg/Tag) liegen 3 Berichte über Fehlbildungen an Schädel, Skelett und Herz vor (Pursley et al. 1996). Bei kurzfristigem systemischem Einsatz der Imidazolderivate in mehreren hundert Schwangerschaften konnte bisher kein erhöhtes Fehlbildungsrisiko
Griseofulvin wird zur oralen Langzeittherapie von Nagelmykosen benutzt. Im Tierversuch zeigte es mutagene und kanzerogene Effekte. Beim Menschen wird zwar eine Häufung von siamesischen Zwillingen diskutiert, weitere Fruchtschäden konnten dem Griseofulvin jedoch bisher nicht angelastet werden. > Der Eintritt einer Schwangerschaft unter Griseofulvin sollte lediglich zu einer ausführlichen sonographischen Diagnostik veranlassen; ein Schwangerschaftsabbruch ist aus diesem Grund nicht gerechtfertigt.
Neuere Lokalantimykotika Die neueren lokal wirksamen Antimykotika wie Amorolfin, Ciclopiroxolamin, Naftifin, Terbinafin und Tolnaftat werden nach topischer Anwendung kaum systemisch aufgenommen. Es liegen bislang keine Hinweise auf eine Embryotoxizität vor.
6.5.9
Antihypertensiva
> Bei Planung einer Schwangerschaft sollte eine arterielle Hypertonie bevorzugt mit älteren β-Blockern, Methyldopa oder Dihydralazin eingestellt werden. Methyldopa und Dihydralazin sind wegen ihres Nebenwirkungsspektrums (z. B. Lupus-erythematodes-ähnliches Syndrom) außerhalb der Schwangerschaft weniger gebräuchlich. Nach dem 1. Trimenon kommen als Mittel der 2. Wahl Nifedipin, Clonidin, Prazosin oder Urapidil infrage. Bei einer ausgeprägten schwangerschaftsinduzierten Hypertonie steht das antikonvulsiv wirksame Magnesium zur Verfügung.
6
96 Kapitel 6 · Embryologie und Teratologie
Die nicht für eine Dauertherapie in der Schwangerschaft geeigneten Antihypertensiva rechtfertigen jedoch keinen Schwangerschaftsabbruch, wenn die Medikation nach Feststellung der Schwangerschaft im 1. Trimenon auf die bewährten Präparate umgestellt wird.
wäre eine Störung durch Kalziumantagonisten denkbar. Die neueren Präparate Amlodipin, Diltiazem, Felodipin, Gallopamil, Isradipin, Nilvadipin, Nimodipin, Nisoldipin und Nitrendipin sollten im 1. Trimenon möglichst zurückhaltend eingesetzt werden.
Methyldopa
Magnesiumsulfat (MgSO4)
Methyldopa kann in einer Dosierung bis 2.000 mg/Tag (verteilt auf 3–4 Einzeldosen) in allen Phasen der Schwangerschaft verabreicht werden.
In der Spätschwangerschaft hat sich der Einsatz von Magnesium unter verschiedenen Indikationen bewährt. Neben der Wehenhemmung dient es als Infusionslösung auch zur Behandlung der Präeklampsie bzw. Eklampsie. Es senkt nicht nur den Blutdruck, sondern auch die Krampfneigung der Mutter.
β-Blocker
6
Unter den β-Blockern sollten vorrangig die älteren β1-spezifischen Präparate wie Metoprolol (Tagesdosis: bis 200 mg), verordnet werden. Berichte über intrauterine Wachstumsrestriktion unter Therapie mit β-Blockern sind kritisch zu betrachten, da dies auch durch die Grunderkrankung bedingt sein kann. Da β-Blocker plazentagängig sind, können sie beim Neugeborenen Bradykardie, Hypotonie und Hypoglykämie auslösen. Die meist nur milden Symptome, die innerhalb der ersten 48 h post partum verschwinden, erfordern lediglich eine aufmerksame Überwachung des Neugeborenen. Ein Absetzen der Medikation 24–48 h vor Entbindung ist nicht erforderlich. Ist eine Schwangerschaft unter einem weniger erprobten β-Blocker eingetreten, so ist nicht mit einem erhöhten Fehlbildungsrisiko zu rechnen; jedoch sollte eine Umstellung auf ein älteres Präparat erwogen werden. Zur Lokalbehandlung bei Glaukom hat sich der β-Blocker Timolol auch in der Schwangerschaft bewährt.
Dihydralazin Dihydralazin gehört zu den bei Schwangerschaftshypertonie am längsten benutzten Medikamenten (orale Tagesdosis: bis 100 mg), ohne dass sich bisher ein Anhalt für Teratogenität ergeben hätte. Bei Hochdruckkrisen im Rahmen einer Präeklampsie kann es auch intravenös verabreicht werden.
Clonidin Das überwiegend zentral wirksame Antihypertensivum Clonidin zeigte keine Häufung morphologischer Anomalien bei Neugeborenen behandelter Mütter. In einem kleineren Kollektiv fielen bei einer Nachuntersuchung der Kinder im Alter von 6 Jahren hyperaktives Verhalten und Schlafstörungen auf, was sich mit ähnlichen Beobachtungen in Tierversuchen deckt. Clonidin sollte daher als Antihypertensivum der 2. Wahl in der Schwangerschaft betrachtet werden.
ACE-Hemmer/AT-II-Rezeptor-Antagonisten Unter den Antihypertensiva, die das angiotensinkonvertierende Enzymsystem hemmen, sind Captopril und Enalapril am besten untersucht. Probleme traten bei Fortsetzung der Medikation im 2. und 3. Trimenon auf. Dabei wurden Fälle von Oligohydramnion, Hypoplasie der Schädelknochen, Niereninsuffizienz bis hin zur dialysepflichtigen Anurie sowie intrauterine Fruchttode beobachtet. Ähnliche Auffälligkeiten lassen sich auch im Tierversuch erkennen. Bei den neueren ACE-Hemmern Benazepril, Cilazapril, Fosinopril, Lisinopril, Perindopril, Quinapril, Ramipril und Trandolapril fehlen ausreichende Daten. Entsprechendes gilt für die neuere Substanzklasse der Angiotension-II-Rezeptor-Antagonisten (Candesartan, Losartan, Irbesartan, Valsartan, Telmisartan, Eprosartan). Nach Behandlung der Mutter mit den Wirkstoffen Candesartan, Losartan oder Valsartan in der Spätschwangerschaft wurden Oligohydramnion, Anhydramnion, dialysepflichtige Anurie des Neugeborenen, Verknöcherungsstörungen der Schädelkalotte, Lungenhypoplasie und Extremitätenkontrakturen beobachtet. > Tritt eine Schwangerschaft unter Dauermedikation mit ACE-Hemmern oder Angiotension-II-RezeptorAntagonisten ein, sollte umgehend auf eines der bewährten Antihypertensiva umgestellt werden. Eine ausführliche sonographische Diagnostik ist anzuraten.
6.5.10
Antikonvulsiva
Kalziumantagonisten
> Kinder epileptischer Mütter weisen insbesondere unter Medikation mit Valproat und Polytherapie häufiger kongenitale Anomalien, Wachstumsrestriktionen und kognitive Entwicklungsstörungen auf (Harden et al. 2009a).
Unter den Kalziumantagonisten sind Nifedipin und Verapamil beim Menschen in der Schwangerschaft noch am besten untersucht. Allerdings konzentrieren sich die Erfahrungen auf die Anwendung im 2. und 3. Trimenon. Da sich bei Tierversuchen teilweise Extremitätendefekte ergaben, ist man mit einem Einsatz in der Frühgravidität vorsichtig. Weil viele embryonale Differenzierungsprozesse kalziumabhängig sind,
Dennoch muss eine Epileptikerin mit Kinderwunsch ermutigt werden, da sie unter einer geeigneten Monotherapie eine Chance von über 90% besitzt, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. Es ist nicht geklärt, in welchem Ausmaß Fehlbildungen auf die Grunderkrankung bzw. auf die Therapie zurückzuführen sind.
97 6.5 · Medikamentenanwendung in der Schwangerschaft
Richtlinien für eine antikonvulsive Therapie 4 Eine antikonvulsive Therapie mit Valproat sollte in der Schwangerschaft möglichst vermieden werden (erhöhtes Risiko für Fehlbildungen und kognitive Defizite!). Erprobte Antikonvulsiva wie Carbamazepin oder Lamotrigin sind vorzuziehen. 4 Bei Kinderwunsch sollte ein möglicher Auslassversuch bzw. eine Umstellung auf eine risikoärmere Medikation bereits vor Konzeption, nicht erst in der Frühgravidität erwogen werden. 4 In erster Linie sollte die Anfallsfreiheit der Patientin gewährleistet sein. Anfälle in der Schwangerschaft stellen eine Gefährdung von Mutter und Kind dar. 4 Aufgrund pharmakokinetischer Veränderungen fallen die Serumspiegel der meisten Antikonvulsiva in der Schwangerschaft ab. Ohne Dosisanpassung kann dies zu einer Steigerung der Anfallsfrequenz führen. Dies ist v. a. unter Medikation mit Lamotrigin zu beachten. 4 Die antikonvulsive Therapie muss sich nach dem Anfallstyp richten. Antikonvulsiva sind nicht beliebig gegeneinander austauschbar. Die Medikation muss in enger Absprache mit dem betreuenden Neurologen ausgewählt werden. 4 Eine Monotherapie ist hinsichtlich des Fehlbildungsrisikos eindeutig einer Kombinationstherapie vorzuziehen. 4 Insbesondere während der Organogenese sollte die niedrigste effektive Dosis unter Serumspiegelkontrolle einge-
Barbiturate Unter den Barbituraten werden zur antikonvulsiven Behandlung v. a. Phenobarbital und Primidon benutzt. Verschiedene Statistiken beziffern die Rate organischer Auffälligkeiten nach intrauteriner Exposition auf das 2- bis 3Fache der Basisinzidenz. Auch mentale Entwicklungsverzögerungen werden gehäuft beschrieben. Da Barbiturate in den Vitamin-K-Metabolismus eingreifen, wird zur Vermeidung von Gerinnungsstörungen die orale Gabe von Vitamin K1 (1 mg alle 2 Tage) in den ersten Wochen empfohlen.
Benzodiazepine Als Antikonvulsiva finden v. a. Diazepam und Clonazepam Verwendung. Über die allgemeinen Ausführungen zu den Antikonvulsiva hinaus ist auf postpartale Komplikationen nach Dauertherapie mit Benzodiazepinen hinzuweisen: zunächst Atemdepression, dann Entzugssymptome (Unruhe, Tremor, Muskelhypertonus, Erbrechen, Durchfall, Krampfanfälle) bzw. »Floppy-infant-Syndrom« (Lethargie, Muskelhypotonie, Trinkschwäche, Hypothermie).
Phenytoin Die ursprünglich unter Phenytoin beschriebenen Anomalien wurden mit dem Begriff »fetales Hydantoinsyndrom« zusammengefasst: kraniofaziale Dysmorphien (breiter Nasenrücken, niedriger Haaransatz, Hypertelorismus, tiefsitzende Ohren, Epikanthus, Ptosis, Lippen- und Gaumenspalten,
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4
4
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nommen werden. Eine dosisabhängige Häufung von Neuralrohrdefekten ist v. a. für Valproinsäure anzunehmen. Um hohe Spitzen im Serumspiegel zu vermeiden, sollte die Tagesdosis auf mehrere Einzelgaben verteilt werden. Jeder Epileptikerin muss eine sorgfältige Pränataldiagnostik angeboten werden. Insbesondere unter Valproinsäure sollten AFP-Bestimmungen (16. SSW) aus dem mütterlichen Serum sowie eine intensive Ultraschalldiagnostik zum Ausschluss von Neuralrohrdefekten durchgeführt werden. Eine tägliche Folsäuregabe (5 mg/Tag) bereits vor Konzeption und während des 1. Trimenons kann das Risiko von Neuralrohrdefekten senken. Die antikonvulsive Therapie muss auch unter Wehen im Kreißsaal beibehalten werden, da gerade bei Schlafentzug das Risiko von Krampfanfällen steigt. Treten dennoch während der Entbindung Krampfanfälle auf, dann sollten intravenös Benzodiazepine verabreicht werden. Es gibt keine ausreichende Evidenz für ein erhöhtes mütterliches oder kindliches Blutungsrisiko unter mütterlicher Anwendung von Antikonvulsiva. Die mitunter empfohlene präpartale Gabe von Vitamin K an die Mutter lässt sich nicht mit wissenschaftlichem Datenmaterial untermauern. Prinzipiell wäre die orale Vitamin-K-Prophylaxe für Neugeborene ausreichend (Harden et al. 2009b).
Mikrozephalie, kurzer Hals), Nagelhypoplasie, Verkürzungen der Endglieder von Fingern und Zehen, prä- und postnatale Wachstumsrestriktion, Herzfehler, Einschränkungen der kognitiven Entwicklung. Meist zeigte sich nur ein Teil dieser Stigmata. Die genetisch determinierte Aktivität der Epoxidhydrolase wird für die Konzentration teratogen wirksamer Epoxide im embryonalen Organismus verantwortlich gemacht. Damit ließe sich auch erklären, warum sich Fehlbildungen unter antikonvulsiver Therapie in manchen Familien häufen, während andere Epileptikerinnen mehrere Schwangerschaften unter hoch dosierter antikonvulsiver Therapie problemlos austragen. Ähnlich wie die Barbiturate greift Phenytoin in den Vitamin-K-Metabolismus ein, sodass postpartal eine orale Substitution beim Neugeborenen anzuraten ist.
Carbamazepin Carbamazepin wird nicht nur zur antikonvulsiven Therapie, sondern auch bei Trigeminusneuralgie und zur Prophylaxe manisch-depressiver Episoden eingesetzt. Verschiedene Publikationen beschreiben ähnliche Fehlbildungen, wie sie unter Phenytoin beobachtet wurden: kraniofaziale Dysmorphien, Mikrozephalie, Wachstumsrestriktion, Nagelhypoplasie. Das Risiko einer Spina bifida wird auf das etwa 10Fache (1%) des Basisrisikos beziffert. Auch hier wird ein Zusammenhang der Fruchtschäden mit der Aktivität der fetalen Epoxidhydrolase diskutiert.
6
98 Kapitel 6 · Embryologie und Teratologie
6
Ist eine Epilepsie unter einer Monotherapie mit Carbamazepin stabil (600–1200 mg/Tag in 3–4 Einzeldosen), so kann diese Medikation unter Nutzung der entsprechenden Möglichkeiten der Pränataldiagnostik (AFP, Sonographie) fortgesetzt werden.
Da Lamotrigin die Dihydrofolatreduktase hemmt, sollte auf einen korrekten Verschluss des Neuralrohrs geachtet werden. Eine ausführliche Fehlbildungsdiagnostik ist anzuraten.
Valproinsäure
Für die neueren Antikonvulsiva wie Felbamat, Gabapentin, Levetiracetam, Pregabalin, Sultiam, Tiagabin, Topiramat, Vigabatrin und Zonisamid reichen die bisher dokumentierten
Aufgrund seiner Lipophilie ist Valproinsäure gut plazentagängig. Auch unter dieser Medikation sind Gesichtsdysmorphien (kleine Nase, tiefsitzende Ohren, kleiner Mund, vorspringende Stirn), somatische und psychomotorische Retardierungen, Extremitäten- und Herzanomalien gehäuft beobachtet worden. Darüber hinaus besteht unter Valproinsäure ein etwa 20faches Risiko für Neuralrohrdefekte (etwa 2%). Aber auch eine Zunahme neurologischer Entwicklungsstörungen registrierte man insbesondere bei Tagesdosen ab 1.000 mg. > Neuere Untersuchungen deuten auf ein signifikant höheres Fehlbildungsrisiko (ca. 15%) unter Valproinsäure gegenüber anderen Antikonvulsiva hin, v. a. unter Kombinationstherapien (Ornoy 2009). Tritt eine Schwangerschaft unter Valproinsäure ein, so sollte umgehend Folsäure verordnet und eine adäquate Pränataldiagnostik (AFP, Sonographie) angeboten werden. Vorteilhaft ist die Aufteilung einer möglichst moderaten Tagesdosis in mehrere Einzeldosen, wenn eine Umstellung auf ein anderes Antikonvulsivum nicht bereits vor Eintritt der Schwangerschaft gelang.
Bei Kinderwunsch sollte interdisziplinär mit dem betreuenden Neurologen die Möglichkeit einer Umstellung auf andere Antikonvulsiva (z. B. Lamotrigin) diskutiert werden.
Succinimide Ethosuximid wirkt nur bei Petit-mal-Anfällen. Im Tierver-
such zeigten sich teratogene Effekte (Anomalien von Skelett, ZNS, Augen, Extremitäten). Da beim Menschen relativ wenig Erfahrungen vorliegen, ist auch hier entsprechende Vorsicht wie bei den anderen Antikonvulsiva geboten. Zur Blutungsprophylaxe sollte dem Neugeborenen auch nach intrauteriner Ethosuximidexposition Vitamin K oral verabreicht werden.
Lamotrigin Bei Lamotrigin liegen außer unauffälligen Daten aus Tierversuchen auch größere Erfahrungen über Anwendungen im 1. Trimenon beim Menschen vor (Lamotrigine Pregnancy Registry 2008): Nach Monotherapie mit Lamotrigin traten 31 Anomalien unter 1.155 Geburten auf (2,7%; 95%-Konfidenzintervall: 1,9–3,8%). Ein spezifisches Fehlbildungsmuster ließ sich in diesem Herstellerregister nicht erkennen. Das UK Epilepsy and Pregnancy Register erfasste 647 Schwangerschaften unter Monotherapie mit Lamotrigin: Darunter befanden sich 21 Kinder mit größeren Anomalien (3,2%). Die Fehlbildungsrate unterschied sich nicht signifikant von der Kontrollgruppe mit Carbamazepin. Es zeigte sich ein Zusammenhang zwischen der Dosis im 1. Trimenon und der Fehlbildungsrate (Morrow et al. 2006).
Zusatzantiepileptika
Expositionen in der menschlichen Schwangerschaft noch nicht für eine klare Risikobewertung aus. Eine außergewöhnliche Steigerung des Fehlbildungsrisikos gegenüber anderen Antikonvulsiva lässt sich bisher nicht erkennen. Eine Anwendung in Unkenntnis der Gravidität stellt daher keine Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch dar.
6.5.11
Psychopharmaka
Psychopharmaka sind meist gut plazentagängig und greifen auch in den Neurotransmitterhaushalt des Ungeborenen ein. Inwieweit daraus Verhaltensänderungen beim Kind resultieren können, ist nicht eindeutig geklärt. Tierversuche ergaben jedenfalls z. T. Verhaltensstörungen bei den Nachkommen. Daher sollten Psychopharmaka nur unter strenger Indikationsstellung in der Schwangerschaft verabreicht werden.
Neuroleptika Neuroleptika sind Substanzen, die eine antipsychotische Wirkung besitzen, ohne das Bewusstsein und die intellektuellen Fähigkeiten wesentlich zu beeinflussen. Treten bei Schwangeren psychomotorische Erregungszustände, Angst und Trugwahrnehmungen auf, dann lässt es sich oft nicht vermeiden, die Medikation mit Neuroleptika auch in der Gravidität fortzusetzen. Eine niedrigdosierte Monotherapie sollte bevorzugt werden. > Je potenter ein Neuroleptikum ist, desto ausgeprägter zeigen sich aufgrund der Beeinflussung des Dopaminstoffwechsels extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen. Diese können nicht nur die Mutter, sondern auch das Neugeborene beeinträchtigen, sodass beim Kind post partum auf derartige Veränderungen geachtet werden muss. Phenothiazine/Thioxanthene. Als Prototyp der Phenothia-
zine gilt Chlorpromazin, von dem inzwischen zahlreiche neuere Wirkstoffe abgeleitet wurden. Zwar existieren Berichte über Mikrozephalie, Syndaktylie und Herzfehler unter Phenothiazinmedikation, ein kausaler Zusammenhang ließ sich jedoch bei größeren Untersuchungen bisher nicht nachweisen. In erster Linie sollten jedoch die älteren Präparate aus dieser Substanzklasse verordnet werden, zu denen Erfahrungen in der menschlichen Schwangerschaft vorliegen, z. B. Chlorpromazin, Promazin, Triflupromazin, Thioridazin, Levomepromazin, Fluphenazin, Perphenazin, Trifluperazin. Postpartal können nach intrauteriner Langzeitexposition beim Neugeborenen z. T. über Wochen anhaltende extrapyra-
99 6.5 · Medikamentenanwendung in der Schwangerschaft
midale Symptome auftreten. Außerdem wird über Anpassungsstörungen mit geringer Sedierung oder motorischer Unruhe berichtet. Butyrophenone. Als klassischer Vertreter der Butyropheno-
ne gilt Haloperidol. Zwar wurde in der Literatur gelegentlich über Fehlbildungen berichtet (Herz, Extremitäten), doch konnte kein statistischer Nachweis für eine Häufung solcher Defekte erbracht werden. Daten zur Anwendung in der Schwangerschaft liegen auch für Fluspirilen vor. Erfahrungen mit neueren Vertretern dieser Klasse (Benperidol, Bromperidol, Droperidol, Melperon, Pipamperon, Trifluperidol, Pimozid) sind eher gering, sodass bei Therapieplanung auf die erprobteren Substanzen zurückgegriffen werden sollte. Nach Langzeittherapie mit höheren Dosen ist beim Neugeborenen mit extrapyramidalen Symptomen sowie Anpassungsstörungen (Unruhe, Sedierung, Trinkschwäche) zu rechnen. Atypische Neuroleptika. Aripiprazol, Clozapin, Olanzapin, Risperidon, Sulpirid, Quetiapin und Ziprasidon zeichnen sich durch eine starke antipsychotische Wirkung bei geringen extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen aus. Weder die Tierversuche noch die bisher begrenzten Erfahrungen beim Menschen ergaben bislang Hinweise auf ein teratogenes Potenzial. Die meisten Daten liegen für Clozapin, Olanzapin und Risperidon vor, die unter strenger Indikationsstellung bei Versagen therapeutischer Alternativen angewendet werden können. Da Olanzapin Glukosetoleranzstörungen auslösen kann, ist besonders in der 2. Schwangerschaftshälfte auf die Entwicklung eines Gestationsdiabetes zu achten. > Ein Schwangerschaftsabbruch bei Konzeption unter atypischen Neuroleptika lässt sich mit den vorliegenden Daten nicht rechtfertigen. Bei schweren Psychosen muss die Medikation mit diesen Substanzen u. U. beibehalten werden, um eine in der Schwangerschaft unerwünschte Exazerbation der Grunderkrankung zu vermeiden.
Antidepressiva Tri-/tetrazyklische Antidepressiva. Trizyklische Antidepressiva gelten als geeignet zur Behandlung von Depressionen in der Schwangerschaft. Sie blockieren die Wiederaufnahme von Transmittern wie Noradrenalin und Serotonin in adrenerge Nervenendigungen. Aufgrund ihrer hohen Lipidlöslichkeit treten sie rasch diaplazentar über. Zwar liegen Berichte über Extremitätenfehlbildungen, Herzfehler, Polydaktylie und Hypospadie vor, doch ließ sich der Verdacht auf teratogene Effekte auch bei den länger gebräuchlichen Präparaten bisher nicht bestätigen (McElhatton et al. 1996). Nachuntersuchungen im Vorschulalter nach pränataler Exposition mit trizyklischen Antidepressiva zeigten gegenüber einer Kontrollgruppe keine Abweichungen hinsichtlich Intelligenzentwicklung, Verhalten und Sprachvermögen (Nulman et al. 1997).
Eine Monotherapie mit lange eingeführten Präparaten wie Amitriptylin, Desipramin, Imipramin oder Nortriptylin ist
bei entsprechender Indikation anzustreben. > Bei hoch dosierter Therapie ante partum können beim Neugeborenen folgende Symptome auftreten: Tachyarrhythmie, Tachypnoe, Zyanose, Tremor, Trinkschwäche, Konvulsionen, Harnverhalt.
Das Swedish Medical Birth Registry dokumentierte 6.555 Kinder nach intrauteriner Exposition mit Serotonin-ReuptakeHemmern (SSRI) in der Frühschwangerschaft. Die kumulierte Fehlbildungsrate lag bei 4,1%, was dem erwarteten Hintergrundrisiko entspricht. Dabei wurde kein typisches Fehlbildungsmuster beobachtet (Kallen u. Otterblad Olausson 2007). Nach mütterlicher Behandlung mit dem Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI) Venlafaxin in der sensiblen Phase der Organdifferenzierung (1. Trimenon) fand sich im schwedischen Schwangerschaftsregister unter 505 Neugeborenen ebenfalls keine Zunahme angeborener Anomalien (Lennestål u. Källén 2007). Unter Berücksichtigung aktueller Metaanalysen lässt sich unter Medikation mit Paroxetin im 1. Trimenon allenfalls ein Anstieg des Risikos für kongenitale Herzvitien von 0,7% in der Allgemeinbevölkerung auf 1% erkennen (Alwan u. Friedman 2009). Auf der Grundlage von Fallkontrollstudien wird außerdem ein Zusammenhang zwischen der Anwendung von SSRI in der 2. Schwangerschaftshälfte und der Entwicklung einer neonatalen pulmonalen Hypertonie diskutiert. Kohortenstudien konnten diesen Verdacht bislang nicht erhärten (Andrade et al. 2009). Nach präpartaler SSRI-Medikation wurden vorübergehende Anpassungsstörungen wie Zittrigkeit, Übererregbarkeit, erhöhter Muskeltonus, Atem- und Ernährungsstörungen, Krampfanfälle, Unruhe und anhaltendes Schreien festgestellt. Daher sollte in den ersten Lebenstagen auf entsprechende Symptome geachtet werden. > Die bisherigen Erfahrungen mit den Serotonin-Reuptake-Hemmern Citalopram und Sertralin lassen einen Einsatz in der Schwangerschaft unter strenger Indikationsstellung zulässig erscheinen. Fluoxetin und Paroxetin sind eher zurückhaltend zu verwenden. Postpartale Adaptationsprobleme müssen bei der geburtshilflichen Planung berücksichtigt werden. Monoaminooxidasehemmer. Durch Hemmung der Monoaminooxidase nehmen die Konzentrationen der Neurotransmitter Adrenalin und Noradrenalin in den Synapsen zu. Für die antriebssteigernden Wirkstoffe Tranylcypromin und Moclobemid liegen jedoch beim Menschen zu wenig Erfahrungen vor, um ihre Anwendung ohne Bedenken empfehlen zu können. Ein unbeabsichtigter Einsatz in der Frühgravidität sollte jedoch lediglich zu einer sorgfältigen Ultraschalldiagnostik veranlassen. Lithium. Bei manisch-depressiven Psychosen dienen Lithiumsalze der Prophylaxe manischer Episoden. Lithium ist gut
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Kapitel 6 · Embryologie und Teratologie
plazentagängig, sodass sich die Konzentrationen in mütterlichem Serum und Nabelschnurblut ähneln.
Studienbox
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Studien an Säugetieren ergaben sehr unterschiedliche Resultate hinsichtlich der Auslösung von Fehlbildungen. Bei einigen Versuchsreihen mit Mäusen zeigte sich in Konzentrationen, die dem humantherapeutischen Bereich entsprechen, eine Häufung von Gaumenspaltbildungen, Skelettdefekten und Neuralrohrdefekten. Ein 1968 von Dänemark ausgehendes Lithium-Babyregister legte einen Zusammenhang mit kongenitalen Herzfehlern nahe. 18 von 225 exponierten Kindern wiesen einen Herzfehler auf (8%), wovon 6 Kinder unter einer EbsteinAnomalie litten, einem rechtsventrikulären Vitium, das sonst nur mit einer Inzidenz von 1:20.000 auftritt. Eine prospektive kanadische Studie zeigte unter 138 exponierten Schwangeren im 1. Trimenon einen Fall von Ebstein-Anomalie bei einer insgesamt nicht erhöhten Fehlbildungsrate (Jacobson et al. 1992).
Da bei einem Register retrospektiv vermehrt Auffälligkeiten gemeldet werden, während die gesunden Kinder nach Exposition unterrepräsentiert sind, muss man das reale Risiko eines Herzfehlers unter Lithiumexposition im 1. Trimenon sicher niedriger als 8% (Hintergrundinzidenz von Herzvitien: etwa 0,9%) einstufen (Yacobi u. Ornoy 2008). > Nach einer Lithiummedikation im 1. Trimenon sollte man eine ausführliche fetale Echokardiographie veranlassen. Grundsätzlich stellt eine Lithiumexposition keine Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch dar.
Bei Kinderwunsch sollte zumindest auf eine möglichst niedrige Dosis (Einzeldosis max. 300 mg) eingestellt werden. Bei präpartaler Anwendung wurden als Anzeichen von Lithiumintoxikation beim Neugeborenen beschrieben: Zyanose, Hypotonie, Herzrhythmusstörungen, Diabetes insipidus, Krampfanfälle und Hypothyreose. Carbamazepin. Als Alternative zu Lithium wird Carbamaze-
pin zur Prophylaxe manisch-depressiver Schübe eingesetzt. Da es allerdings das Risiko für Neuralrohrdefekte auf 1–2% erhöht, ist eine entsprechende sonographische Feindiagnostik zu empfehlen. Lamotrigin. Das Antikonvulsivum Lamotrigin hat sich eben-
falls zur Prophylaxe bipolarer Störungen bewährt. Angesichts der bisherigen Erfahrungen in der menschlichen Schwangerschaft würde sich Lamotrigin als Alternative zu Lithium anbieten.
Anxiolytika Benzodiazepine werden als Tranquilizer, Schlafmittel und Antikonvulsiva eingesetzt. Im Lauf der letzten 20 Jahre wurden von der Muttersubstanz Diazepam zahlreiche Derivate ent-
wickelt, die sich in ihren pharmakokinetischen Eigenschaften unterscheiden. Als kurz wirksame Präparate sind Brotizolam, Flurazepam, Midazolam und Triazolam überwiegend zur Narkoseeinleitung und als Schlafmittel in Gebrauch. Mittellang wirksame Präparate wie Alprazolam, Bromazepam, Flunitrazepam, Lorazepam, Loprazolam, Lormetazepam, Nitrazepam, Oxazepam und Temazepam werden als
Sedativa und Hypnotika verwendet. Als Anxiolytika benutzt man überwiegend die lang wirksamen Benzodiazepine Chlordiazepoxid, Clobazam, Diazepam, Dikaliumclorazepat, Medazepam, Nordazepam und Prazepam. Anfängliche Berichte über eine Häufung von Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten unter Diazepam ließen sich bei therapeutischer Dosierung nicht bestätigen. In neuerer Zeit wurden jedoch Gesichtsdysmorphien, mentale Retardierung und Hyperkinesien bei Kindern beobachtet, deren Mütter während der gesamten Schwangerschaft einen Abusus mit Benzodiazepinen betrieben hatten. Liegt ein Benzodiazepinabusus vor, so ist eine ausführliche sonographische Diagnostik anzuraten. ! Der Einsatz der Benzodiazepine in der Schwangerschaft sollte mit Zurückhaltung erfolgen, zumal auch langfristige Auswirkungen auf die Verhaltensentwicklung nicht eindeutig geklärt sind.
Bei präpartaler Einnahme in höheren Dosen über längere Zeiträume (z. B. Diazepam 15–20 mg/Tag) muss man beim Neugeborenen mit einer Atemdepression rechnen. Im Rahmen einer Entzugssymptomatik werden Unruhe, Tremor, Muskelhypertonie, Erbrechen, Diarrhö und zerebrale Krampfanfälle beim Neugeborenen beschrieben. Ein weiteres Problem stellt die als »Floppy-infant-Syndrom« bekannte Symptomatik dar, die mit Muskelhypotonie, Lethargie, Temperaturregulationsstörungen und Trinkschwäche über Wochen bis Monate anhalten kann.
6.5.12
Schilddrüsenpräparate
Iodid Der Iodidbedarf steigt in der Schwangerschaft auf etwa 260 μg/ Tag an. Da dieser Bedarf in den Iodmangelgebieten Deutschland, Österreich und Schweiz meistens nicht über die Nahrung gedeckt werden kann, ist die zusätzliche Einnahme von Iodid (150 μg/Tag) in der Schwangerschaft zu empfehlen. Die embryonale Schilddrüse nimmt ihre Aktivität zwischen der 10. und 12. SSW auf. Da Schilddrüsenhormone für die Reifung des Zentralnervensystems dringend erforderlich sind, sollte eine ausreichende Iodidzufuhr für die Produktion der fetalen Schilddrüsenhormone gewährleistet sein.
Thyreostatika Im Gegensatz zu den Schilddrüsenhormonen sind die Thyreostatika Propylthiouracil, Carbimazol und Thiamazol gut plazentagängig. Andererseits kann auch eine unbehandelte Hyperthyreose der Mutter zu Komplikationen in der Schwangerschaft führen (vorzeitige Wehen, Frühgeburten).
101 6.5 · Medikamentenanwendung in der Schwangerschaft
Angesichts widersprüchlicher Angaben zu einem leicht erhöhten Fehlbildungsrisiko unter thyreostatischer Therapie mit Carbimazol und Thiamazol (Aplasia cutis) wäre der Einsatz von Propylthiouracil vorzuziehen (Diav-Citrin 2002). Bei einer moderaten Dosierung ist auch eine fetale Hypothyreose mit intellektueller Entwicklungsstörung nicht zu befürchten. Als Begleitmedikation sind β-Blocker wie Metoprolol oder Propranolol zulässig. Thyroxin ist hingegen überflüssig, da es kaum die Plazenta passiert, aber den Bedarf an Thyreostatika erhöht. > Das freie Schilddrüsenhormon der Mutter sollte unter thyreostatischer Therapie im obersten Normbereich liegen. Postpartal muss der kindliche Schilddrüsenstatus kontrolliert werden.
Eine operative Sanierung sollte auch in der Schwangerschaft erwogen werden, wenn eine tolerable Einstellung nicht mit Propylthiouracil in der Dosierung initial 3-mal 50 mg, Erhaltungsdosis max. 100 mg/Tag gelingt.
Thyroxin Die Schilddrüsenhormone Triiodthyronin und Thyroxin passieren die Plazenta nur in geringem Umfang. Eine Dauermedikation mit Thyroxin bei Struma bzw. Hypothyreose sollte in der Schwangerschaft unbedingt fortgeführt werden. Da das thyroxinbindende Globulin in der Schwangerschaft ansteigt, muss die Dosis oft ab dem 2. Trimenon um etwa 25% erhöht werden.
6.5.13
Antikoagulanzien
Da die Konzentration der meisten Gerinnungsfaktoren in der Schwangerschaft ansteigt, während die Aktivität der Gerinnungsinhibitoren abnimmt, muss in der Schwangerschaft vermehrt mit thrombembolischen Komplikationen gerechnet werden.
Heparin Das Mukopolysaccharid Heparin ist bei einer Molekularmasse von etwa 15.000 nicht plazentagängig, sodass eine unmittelbare Beeinträchtigung der embryonalen bzw. fetalen Entwicklung nicht denkbar ist. Bei hoher Dosis sind Blutungskomplikationen im mütterlichen Kompartiment möglich, die z. B. mit einem retroplazentaren Hämatom oder einer vorzeitigen Plazentalösung einhergehen können. Nur auf diesem indirekten Wege können Aborte oder ein intrauteriner Fruchttod unter Heparintherapie ausgelöst werden. Bei einer Molekularmasse von etwa 5.000 passieren auch die niedermolekularen Heparine nicht die Plazenta. Da diese neueren Präparate eine längere Halbwertszeit aufweisen, genügt eine Injektion einmal täglich. Eine Langzeittherapie mit Heparinen kann durch eine Aktivierung der Osteoklasten zu Osteoporose führen. Bei einer entsprechenden Risikoanamnese ist jedoch die Heparintherapie u. U. ab dem 1. Trimenon indiziert bei: 4 thrombembolischen Vorerkrankungen, 4 trombophiler Diathese (z. B. AT-III-Mangel, Protein C-/S-Mangel),
4 Begleiterkrankungen oder Operationen mit hohem Thromboserisiko (z. B. Herzklappenersatz, Antiphospholipidsyndrom bei Lupus erythematodes), 4 längerer Immobilisation (z. B. Bettruhe bei vorzeitigen Wehen).
Kumarinderivate Die Kumarinderivate Phenprocoumon, Acenocoumarol und Warfarin hemmen als Vitamin-K-Antagonisten die Synthese der Gerinnungsfaktoren II, VII, IX und X. Da sie gut plazentagängig sind, erreichen sie im Gegensatz zu Heparin den Fetus. Unter Warfarintherapie wurde ein Fehlbildungssyndrom beschrieben, das durch folgende Stigmata gekennzeichnet ist: 4 Hypoplasie der Nase, 4 Extremitätenhypoplasie bei vorzeitiger Kalzifizierung in den Epiphysen der langen Röhrenknochen, 4 Störungen der Augenentwicklung bis zur Blindheit, 4 intrauterine Restriktion, 4 intellektuelle Entwicklungsverzögerung, 4 Hörstörungen bis zur Taubheit, 4 kongenitale Herzfehler. Die kritische Phase für eine Warfarinembryopathie wird in der 6.–12. Woche nach Konzeption angenommen. Da über die Hälfte der in den ersten Wochen exponierten Schwangerschaften mit einem Spontanabort enden, beträgt die Fehlbildungsrate der Lebendgeborenen nach älteren Studien ca. 14%. Nach einer neueren Metaanalyse ist bei Exposition mit Kumarinen in der kritischen Phase nur von einer Embryopathierate von 6% auszugehen (van Driel et al. 2002). Der größte Anteil der Daten zu Kumarinderivaten bezieht sich auf das in den USA gebräuchliche Warfarin. Die in Europa verbreiteten Derivate Phenprocoumon und Acenocoumarol sind in der Schwangerschaft weitaus weniger untersucht. Über typische Schäden nach Anwendung bis zur 6. Woche p. c. wurde bisher nicht berichtet: 4 Tritt eine Schwangerschaft unter Kumarinderivaten ein, dann sollte unbedingt innerhalb der ersten 6 Wochen p. c. umgehend auf Heparin umgestellt werden. Wenn dies frühzeitig gelingt, kann eine Schwangerschaft nach intensiver sonographischer Kontrolle durchaus ausgetragen werden. 4 Auch nach dem 1. Trimenon ist von einem Einsatz der Kumarinderivate abzuraten, da sie in höherem Gestationsalter z. B. intrazerebrale Blutungen mit Hydrozephalus und intellektuellen Entwicklungsstörungen auslösen können. Heparin ist daher auch im 2. und 3. Trimenon zur Antikoagulation vorzuziehen.
6.5.14
Magen-Darm-Therapeutika
Ulkustherapeutika Schwangere klagen mitunter über ausgeprägtes Sodbrennen bei Refluxösophagitis oder gastritische Beschwerden. Wenn die Probleme nicht durch Änderung des Lebensstils behoben werden können (z. B. viele kleine Mahlzeiten, Hochlagerung
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Kapitel 6 · Embryologie und Teratologie
des Oberkörpers beim Liegen), werden oft Antazida wie Magaldrat oder Hydrotalcit und Sucralfat benutzt. Bei langfristiger Anwendung in der Schwangerschaft würde sich z. B. Kaliumhydrogencarbonat anbieten, um eine Aluminiumbelastung zu vermeiden. Reichen diese Präparate nicht aus, so kann man auf H2Rezeptor-Antagonisten zurückgreifen. Dabei sollte Ranitidin gegenüber Cimetidin bevorzugt werden, weil Letzteres antiandrogene Nebenwirkungen besitzt. Bei Refluxösophagitis kann Omeprazol nach Versagen der Antazida benutzt werden. Zu den neueren Vertretern der Protonenpumpenhemmer (Pantoprazol, Lansoprazol) existieren nur begrenzte Erfahrungen in der menschlichen Schwangerschaft, die jedoch bisher keinen Anhalt für ein teratogenes Potenzial ergaben. Das Prostaglandinderivat Misoprostol kann bei hoher Dosis Uteruskontraktionen auslösen. Außerdem wurde bei missbräuchlicher Anwendung von Misoprostol zur Abortinduktion über mehrere Fälle von Moebius-Sequenz (Aplasie verschiedener Hirnnervenkerne) berichtet.
Antidiarrhoika Bei akuter Diarrhö darf außer medizinischer Kohle auch Loperamid in der Schwangerschaft eingenommen werden.
Laxanzien Schwangere klagen oft über Obstipation. Ehe man Laxanzien einsetzt, sollte man die Patientin über ballaststoffreiche Kost, ausreichende Flüssigkeitszufuhr und körperliche Bewegung aufklären. Genügen diese Maßnahmen nicht, gelten Füll- und Quellstoffe (z. B. Leinsamen, Kleie, Agar-Agar, Methylcellulose) als Mittel der 1. Wahl. Osmotische Abführmittel wie Lactulose, Mannit oder Sorbit dürfen ebenso wie das salinische Abführmittel Magnesiumsulfat eingesetzt werden. Bisacodyl kann gelegentlich benutzt werden. ! Von Anthrachinonderivaten (in vielen pflanzlichen Abführmitteln) sowie Rizinusöl ist wegen Stimulation der Uterusmuskulatur abzuraten.
Als Zusatzmedikation bei einem Erkrankungsschub stehen bewährte Glukokortikoide wie Prednisolon oder Budesonid zur Verfügung.
6.5.15
Antiemetika
Morgendliche Übelkeit und Erbrechen treten häufig als Schwangerschaftskomplikation auf. Die älteren Antiemetika Meclozin, Dimenhydrinat, Metoclopramid und Diphenhydramin ergaben keine Hinweise auf Teratogenität, weshalb ihr Einsatz in der Frühgravidität akzeptabel erscheint. Bei schweren Formen von Hyperemesis dürfen auch Phenothiazine wie Chlorpromazin, Promethazin oder Triflupromazin verabreicht werden. Bei Serotoninantagonisten wie Ondansetron liegen für die menschliche Schwangerschaft ermutigende Daten in allerdings noch begrenztem Umfang vor.
6.5.16
Analgetika und Antiphlogistika
Nichtopioidanalgetika > Paracetamol gilt als Analgetikum und Antipyretikum der 1. Wahl in allen Phasen der Schwangerschaft (3- bis 4-mal 500 mg/Tag). Azetylsalizylsäure wird in niedriger Dosierung (50–150 mg/ Tag) als Dauermedikation zur Thromboseprophylaxe und Prävention der Präeklampsie verwendet. Da eine erhöhte Blutungsneigung besteht, sollte es präpartal abgesetzt werden. In höherer Dosis (500 mg) ist Azetylsalizylsäure als Analgetikum und Antipyretikum der 2. Wahl zu betrachten. Bei Dauertherapie mit höheren Dosen von Prostaglandinsynthesehemmern muss im letzten Trimenon auf einen vorzeitigen Verschluss des Ductus arteriosus geachtet werden. Pyrazolonverbindungen wie Metamizol und Propyphenazon wirken zwar nicht embryotoxisch, werden aber wegen unerwünschter Effekte auf die Hämatopoese nur als Mittel der 2. Wahl benutzt.
Salizylate
Opoide
Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (M. Crohn, Colitis ulcerosa) erfordern oft auch in der Schwangerschaft eine Fortsetzung der Medikation. Das ursprünglich gebräuchliche Salazosulfapyridin stellt ein Kombinationsmolekül aus einem Sulfonamidanteil und 5-Amino-Salizylsäure dar. Da Sulfonamide aus verschiedenen Gründen in der Schwangerschaft weniger erwünscht sind, konzentriert sich die Therapie inzwischen auf die Substanz Mesalazin, die nur den antiphlogistisch wirksamen Salizylatanteil enthält. Als Doppelmolekül aus 2 Mesalazinanteilen wird Olsalazin angeboten. Wegen der Prostaglandinsynthesehemmnung durch Salicylate sollten diese Präparate im letzten Trimenon nur in moderater Dosis verwendet werden. Eine Dosierung bis 2 g Mesalazin erscheint jedoch vertretbar.
In der Geburtshilfe hat sich unter den Opioiden v. a. das Spasmoanalgetikum Pethidin bewährt, das jedoch meist präpartal benutzt wird. Bei Applikation innerhalb von 5 h vor Geburt wurden bei den Neugeborenen häufiger Anpassungsstörungen beobachtet. Anfängliche Berichte über eine Häufung von Fehlbildungen der Atemwege, des Herzens und der Lippen-KieferGaumen-Region unter dem antitussiven Opioid Codein ließen sich nach neueren Untersuchungen nicht bestätigen. Bei Dauertherapie sind Atemdepression und Entzugssymptome beim Neugeborenen zu befürchten. Fentanyl und Alfentanyl dürfen in allen Phasen der Schwangerschaft intravenös und peridural zur Analgesie eingesetzt werden. Auch hier ist eine eventuelle Atemdepression beim Neugeborenen zu beachten.
103 6.5 · Medikamentenanwendung in der Schwangerschaft
Reichen Paracetamol oder nichtsteroidale Antiphlogistika nicht zur Schmerztherapie aus, dann dürfen ältere orale Opiode wie Tramadol oder Tilidin verordnet werden.
Nichtsteroidale Antiphlogistika Die Substanzklasse der nichtsteroidalen Antiphlogistika enthält zahlreiche Vertreter, die hier nicht im einzelnen aufgeführt werden sollen. Die älteren Substanzen Ibuprofen, Diclofenac und Indometacin dürfen in den ersten 2 Schwangerschaftsdritteln eingesetzt werden. Die neueren Wirkstoffe aus dieser Substanzklasse ergaben bisher ebenfalls keine Hinweise auf teratogene Effekte, sodass bei versehentlicher Anwendung nicht mit Fehlbildungen zu rechnen ist. Im letzten Trimenon ist jedoch wegen eines möglichen vorzeitigen Verschlusses des Ductus arteriosus bei Dauertherapie mit all diesen Prostaglandinsynthesehemmern Vorsicht geboten.
Antirheumatika Chloroquin wurde in Dosierungen, wie sie zur Behandlung chronisch entzündlicher Erkrankungen nötig sind, für Schäden an Innenohr und Retina verantwortlich gemacht. Bei moderater Dosierung konnte bislang ein signifikanter Anstieg der Fehlbildungsrate in der menschlichen Schwangerschaft nicht nachgewiesen werden (Costedoat-Chalumeau et al. 2003). Goldverbindungen werden zur Langzeittherapie chronischer Entzündungsprozesse (rheumatoide Arthritis) verwendet. Bei hohen Dosen zeigten sich im Tierversuch verschiedene Anomalien (Hydronephrose, Hydrozephalus, Fehlbildungen an Augen, Herz, Bauchwand und Gaumen). Beim Menschen ergab sich bei begrenzter Erfahrung bisher kein Anhalt für eine Häufung von Fehlbildungen; ein geplanter Einsatz sollte jedoch in der Schwangerschaft unterbleiben.
Glukokortikoide Werden Glukokortikoide zur Substitution einer eingeschränkten Produktion der mütterlichen Nebennierenrinde in der Schwangerschaft eingesetzt, so bestehen keine Risiken für Mutter und Kind. Zur antiallergischen bzw. antiphlogistischen Therapie werden deutlich höhere Dosen benötigt. Da Glukokortikoide überwiegend gut plazentagängig sind, kann durch Suppression eine kindliche NNR-Insuffizienz post partum auftreten. Entsprechende Kontrollen des Elektrolythaushalts beim Neugeborenen sollten durchgeführt werden. Dexamethason und Betamethason (8–12 mg 2-mal innerhalb von 24 h) haben sich bei drohender Frühgeburt zur Förderung der Lungenreifung und Vermeidung eines Respiratory-distress-Syndroms bewährt. Untersuchungen an Nagetieren zeigten unter Behandlung mit Glukokortikoiden eine Häufung von Lippen-Kiefer-Gaumen-Spaltbildungen. Die Angaben zu Auswirkungen in der menschlichen Schwangerschaft sind widersprüchlich. Da orale Spaltbildungen im unbelasteten Kollektiv nur bei 1 von 1.000 Neugeborenen auftreten, schlägt sich ein nach neueren Metaanalysen postulierter 3facher Anstieg unter systemischer Glukokortikoidtherapie nur sehr moderat auf die gesamte
Fehlbildungsrate von 3–5% nieder. Bei längerfristiger systemischer Glukokortikoidmedikation der Mutter im 1. Trimenon wäre eine sonographische Feindiagnostik um die 20. SSW zum Ausschluss einer oralen Spaltbildung anzuraten (Oren et al. 2004). Eine Tendenz zu leichten Wachstumsrestriktionen unter systemischer Dauertherapie mit Glukokortikoiden scheint sich zu bestätigen. > Bei zahlreichen Erkrankungen wie Kollagenosen, chronisch-entzündlichen Darmkrankheiten, Asthma bronchiale, Autoimmunprozessen ist eine Fortsetzung der Therapie mit Glukokortikoiden auch in der Schwangerschaft erforderlich. Wegen eines geringeren diaplazentaren Transfers sind dabei Prednisolon und Prednison den halogenierten Glukokortikoiden vorzuziehen (Anfangsdosis: 0,5–2 mg/kg KG; Erhaltungsdosis: 0,3–0,5 mg/kg KG).
Bei einer kürzeren Behandlung über mehrere Tage dürfen auch höhere Dosen verwendet werden, z. B. beim Schub einer Encephalitis disseminata (500–1.000 mg Prednisolon pro Tag über 5 Tage).
6.5.17
Antiallergika
Antihistaminika Unter den Antihistaminika finden sich keine nachweislich teratogenen Substanzen. Allerdings liegen bei vielen neueren Präparaten lediglich größere Erfahrungen aus Tierversuchen vor. Nach langjähriger Anwendung ergaben sich keine Anhaltspunkte für Teratogenität bei Chlorphenamin, Chlorphenoxamin, Clemastin, Dexchlorpheniramin, Dimetinden, Diphenhydramin und Hydroxyzin. Da die älteren Wirkstoffe
häufig sedierende Effekte besitzen, ist bei Langzeitbehandlung bis zur Geburt auf Schlaffheit und Entzugssymptome (Diarrhö, Zittrigkeit) zu achten. Für das neuere Antihistaminikum Terfenadin, das kaum sedierende Eigenschaften besitzt, liegen inzwischen über 1.000 dokumentierte Expositionen in der Frühgravidität ohne auffällige Häufung von Anomalien vor. Da es sich bei Fexofenadin um den aktiven Metaboliten von Terfenadin handelt, muss man hier ähnliche Effekte wie bei Terfenadin annehmen. Nach den aktuellen Daten scheint auch der Einsatz von Cetirizin bzw. Levocetirizin sowie Loratadin bzw. Desloratadin unter strenger Indikationsstellung vertretbar. Präparate wie Azelastin, Bamipin, Carbinoxamin, Cyproheptadin, Mequitazin und Triprolidin sollten wegen geringerer Erfahrungen im 1. Trimenon möglichst vermieden werden. Ein akzidenteller Einsatz gibt jedoch keinesfalls zu großer Besorgnis Anlass. Auch das lokal wirksame Antihistaminikum Levocabastin ist in der Schwangerschaft bislang nicht in größerem Maßstab untersucht.
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Kapitel 6 · Embryologie und Teratologie
Mastzellinhibitoren
Glukokortikoide
Cromoglicinsäure vermindert die Freisetzung von Histamin
Zur Behandlung des Asthma bronchiale sollten bevorzugt inhalative Glukokortikoide benutzt werden. Erfahrungen in der Schwangerschaft liegen dabei insbesondere für Budesonid, Beclometason, Fluticason und Mometason vor, die als Dosieraerosole in allen Phasen der Schwangerschaft zulässig sind. Bei schweren Asthmaanfällen kann eine systemische Therapie erforderlich werden, wobei Prednisolon (bis 1.000 mg i.v.) den Fetus am wenigsten belastet (im Fetalblut etwa 10% der mütterlichen Konzentration).
aus den Mastzellen, sodass es sich nicht nur zur Prävention allergischer Beschwerden der Bronchien, sondern auch der Nase, der Augen und des Darms eignet. Nach langjähriger Erfahrung wurden keine embryotoxischen Effekte beobachtet. Zur systemischen antiallergischen Behandlung wird der Mastzellinhibitor Ketotifen verwendet, für den jedoch in der Schwangerschaft nicht genügend Erfahrungen vorliegen.
Glukokortikoide
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Reichen die erprobten Antihistaminika nicht für eine erträgliche Reduktion der Allergiesymptomatik aus, so kann die lokale, inhalative, orale oder auch intravenöse Therapie mit bewährten Glukokortikoiden (z. B. Prednisolon) erwogen werden.
6.5.18
Atemwegstherapeutika und Antiasthmatika
Theophyllin Das Methylxanthin Theophyllin wirkt bronchodilatatorisch. Als Nebeneffekt stimuliert es auch Herz und Zentralnervensystem. Dies kann sich nach hoch dosierter peripartaler Gabe als Übererregbarkeit des Neugeborenen äußern. Beim Menschen verhielt sich Theophyllin im Gegensatz zu hoch dosierten Tierversuchen nicht teratogen. Bei Asthma bronchiale kann Theophyllin als Mittel der 2. Wahl in der Schwangerschaft eingesetzt werden.
β-Sympathomimetika
Expektoranzien
Wirkstoffe, die speziell die β2-Rezeptoren stimulieren, führen zu einer Bronchodilatation, aber auch zu einer Erschlaffung der Uterusmuskulatur (Tokolyse). Am besten verträglich sind Substanzen mit einer nur geringen Restwirkung auf die β1Rezeptoren, die sich in einer Steigerung der Herzaktivität manifestiert. Zur Asthmatherapie empfiehlt sich v. a. die inhalative Applikation, da sich auf diesem Weg die systemische Belastung deutlich reduzieren lässt. Aus der Klasse der β-Sympathomimetika haben sich in der Schwangerschaft die Substanzen Fenoterol, Salbutamol, Reproterol und Terbutalin bewährt. Während ihre Wirkung auf 4–6 h begrenzt ist, zeichnen sich die neueren Vertreter Formoterol und Salmeterol durch eine deutlich längere Wirkdauer (>12 h) aus.
Genügen Inhalationsbehandlung und reichliche Flüssigkeitsaufnahme bei Bronchitis nicht zur Schleimlösung, dürfen auch in der Schwangerschaft die Mukolytika Azetylzystein, Bromhexin und Ambroxol verabreicht werden.
> Die erprobten β-Sympathomimetika Fenoterol, Salbutamol, Reproterol und Terbutalin gelten als Asthmatherapeutika der 1. Wahl in der Schwangerschaft.
Anticholinergika Eine Bronchodilatation lässt sich auch über anticholinerge Substanzen wie Ipratropiumbromid erreichen. Hinweise auf eine teratogene Potenz ergaben sich bisher nicht. Ein Einsatz zur inhalativen Asthmatherapie als Monopräparat oder in Kombination mit β-Sympathomimetika ist daher in der Schwangerschaft zulässig.
Mastzellinhibitoren Bei einer allergischen Komponente des Asthma bronchiale zählt Cromoglicinsäure neben den β-Symphatomimetika zu den Mitteln der 1. Wahl in der Schwangerschaft. Beim Menschen nicht ausreichend erprobt ist hingegen der neuere Wirkstoff Nedocromil.
> Iodsalze in hoher Dosierung zur Sekretolyse sind in der Schwangerschaft kontraindiziert, da sie die fetale Schilddrüse beeinträchtigen können.
Antitussiva Das Morphinderivat Codein hemmt das Hustenzentrum am stärksten. Bei hoch dosierter längerer Gabe vor der Geburt kann es zu Atemdepression und Entzugssymptomen kommen. Das Derivat Dextromethorphan besitzt bei geringem Suchtpotenzial eine ähnlich antitussive Wirkung. Beide Substanzen dürfen bei Husten in allen Phasen der Schwangerschaft eingesetzt werden. Weniger erprobte Medikamente wie Benproperin, Clobutinol, Dropropizin, Noscapin oder Pentoxyverin sind zwar bisher nicht für Fehlbildungen verantwortlich gemacht worden, aber beim Menschen embryonaltoxikologisch nicht ausreichend abgeklärt.
6.5.19
Vitaminpräparate
Vitaminpräparate werden mitunter von Patientinnen in unkontrollierten Mengen eingenommen, da sie von Laien oft unkritisch als ausschließlich gesundheitsfördernd betrachtet werden. ! Ein Risiko für die Schwangerschaft stellt insbesondere Vitamin A dar, das häufig auch in Multivitaminpräparaten enthalten ist. Als noch wesentlich gefährlicher einzuschätzen sind die Derivate der Vitamin-A-Säure, die als orale Medikation in der Aknebehandlung Anwendung finden.
105 6.5 · Medikamentenanwendung in der Schwangerschaft
Neben Vitamin A und seinen Derivaten können für die Schwangerschaft auch extrem hohe Dosen von Vitamin D Komplikationen bereiten. Die übrigen Vitamine müssen bei ausgewogener Ernährung in der Schwangerschaft nicht zusätzlich zugeführt werden; allerdings sind bei übermäßiger Zufuhr auch keine kindlichen Schäden beschrieben.
Vitamin A/Retinoide Nach Einnahme von über 25.000 IE Vitamin A wurden Anomalien beobachtet, die dem Retinoidsyndrom ähneln. Vor einer bedenkenlosen Einnahme solcher Vitaminpräparate ist dringend zu warnen. Mehr als 6.000 IE Vitamin A pro Tag sollten in der Schwangerschaft nicht eingenommen werden. Das Provitamin β-Carotin wird nur in physiologischen Mengen zu Vitamin A umgebaut, sodass man keine teratogenen Effekte befürchten muss. Tretinoin und Isotretinoin werden als synthetische Derivate des Vitamin A seit über 10 Jahren erfolgreich zur lokalen und systemischen Therapie der Akne eingesetzt. Acitretin und sein Metabolit Etretinat führen aufgrund ihrer langen Halbwertszeiten (Etretinat: 80–100 Tage) zu anhaltend hohen Retinoidkonzentrationen bei der Psoriasistherapie. Unter dieser Therapie muss für eine sichere Kontrazeption gesorgt werden, da die Retinoide nach Thalidomid die am stärksten teratogenen Wirkstoffe darstellen. Bereits im Tierversuch zeichnete sich der embryotoxische Effekt ab.
Stigmata des Retinoidsyndroms 4 4 4 4
Störungen der Gesichts- und Gaumenbildung Fehlanlage der Ohren Kardiovaskuläre Defekte ZNS-Defekte mit neurologischen Ausfällen, Hydrozephalus 4 Schäden an Augen und Ohren
Da nach topischer Applikation von Retinoiden Fehlbildungen nicht sicher auszuschließen sind, wird auch von einer dermalen Applikation von Tretinoin und Isotretinoin in der Schwangerschaft abgeraten. > Nach Absetzen von Acitretin und Etretinat sollte über 2 Jahre eine Konzeption vermieden werden, nach oraler Therapie mit Isotretinoin ist ein Monat Karenz ausreichend. Tritt eine Schwangerschaft unter systemischer Therapie mit Retinoiden oder kurz danach ein, so ist ein Schwangerschaftsabbruch zu erwägen.
Vitamin D Der Vitamin-D-Bedarf ist mit 500 IE pro Tag in der Schwangerschaft nicht erhöht. Überschreitet man diese Mengen deutlich, dann können bei Mutter und Fetus Hyperkalzämie und in der Folge Hyperkalzifikationen auftreten.
6.5.20
Impfungen
Für keinen Impfstoff sind embryotoxische Effekte nachgewiesen. Bedenken gegen den Einsatz von Lebendimpfstoffen beruhen lediglich auf theoretischen Erwägungen. Dennoch sollten Schutz- und Auffrischimpfungen möglichst vor der Schwangerschaft durchgeführt werden, da eventuelle Impfreaktionen wie Fieber oder Anaphylaxie in der Schwangerschaft auch eine Belastung für das Ungeborene darstellen.
Poliomyelitisimpfung In Deutschland, Österreich und der Schweiz befindet sich zwischenzeitlich nur noch parenteral zu verabreichender Impfstoff im Handel. Bei der intramuskulären Polioimpfung handelt es sich um eine Exposition mit inaktivierten Impfviren, mit einer erhöhten Fehlbildungsrate ist nicht zu rechnen.
Rötelnimpfung Die Rötelnimpfung wird zwar mit abgeschwächten Lebenderregern durchgeführt, doch konnte bisher unter mehreren tausend dokumentierten Fällen einer Rötelnimpfung in der Schwangerschaft kein Fall einer Embryopathie registriert werden. Da die Impfviren plazentagängig sind, wird jedoch aufgrund theoretischer Bedenken vor einer Rötelnimpfung kurz vor oder während der Schwangerschaft gewarnt. > Kommt es jedoch in den ersten 3 Monaten nach Rötelnimpfung zur Konzeption oder wird die Impfung in Unkenntnis der Schwangerschaft in der Frühgravidität verabreicht, besteht kein Anlass zum Schwangerschaftsabbruch.
Gelbfieberimpfung Da der Gelbfieberimpfstoff abgeschwächte Lebenderreger enthält, sollte er in der Schwangerschaft nicht appliziert werden. Bei Reisen in Endemiegebiete sollte jedoch nach Risikoabwägung auch im 1. Trimenon geimpft werden (ACOG 2003). Die bisher dokumentierten Schwangerschaftsverläufe nach Gelbfieberimpfung ergaben keinen Anhalt für ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko.
Hepatitisimpfung Der Hepatitis-A-Impfstoff enthält inaktivierte Hepatitis-AViren, der biotechnologisch hergestellte Hepatitis-B-Impfstoff lediglich ein Oberflächenantigen zur Immunisierung. Nach Verabreichung dieser Totimpfstoffe in der Schwangerschaft wurden bisher keine negativen Auswirkungen beobachtet. Auf alle Fälle wäre eine Impfung bei gefährdeten Personen einer akuten Hepatitisinfektion in der Schwangerschaft vorzuziehen (ACOG 2003).
Tetanus- und Diphtherieimpfung Bei beiden Impfstoffen handelt es sich um Toxoide. Die seit vielen Jahren angewandten Totimpfstoffe ergaben keine Hinweise auf embryotoxische Effekte. Bei einer dringenden Indikation darf auch im 1. Trimenon geimpft werden.
6
106
Kapitel 6 · Embryologie und Teratologie
Typhusimpfung Auf dem Markt befinden sich ein oraler Lebendimpfstoff mit Salmonella typhi (Stamm 21a) sowie ein auch gegen Paratyphus wirksamer, parenteral zu applizierender Totimpfstoff. Letzterer enthält ein Kapselpolysaccharid, weist jedoch eine höhere Nebenwirkungsrate auf. Da eine typhöse Septikämie das Abortrisiko erhöht, darf eine Typhusimpfung in der Schwangerschaft durchgeführt werden.
Choleraimpfung
6
Der Choleraimpfstoff enthält inaktivierte Vibrionen. Da bei einer Erkrankung das Risiko eines intrauterinen Fruchttodes erhöht ist, sollte bei Reisen in Endemiegebiete eine Impfung erwogen werden. Hinweise auf teratogene Effekte des Impfstoffs liegen nicht vor.
Masern- und Mumpsimpfung Bei Masern- und Mumpsimpfstoff handelt es sich um attenuierte Lebendviren. Wegen theoretischer Bedenken sollte – ähnlich wie beim Rötelnimpfstoff – eine Applikation in der Schwangerschaft vermieden werden. Da sowohl eine Masern- als auch eine Mumpsinfektion in der Frühgravidität mit einer erhöhten Abortrate in Zusammenhang gebracht werden, sollte eine Immunität bereits vor Konzeption angestrebt werden.
Tollwutimpfung Aufgrund der vitalen Bedrohung durch den Biss eines tollwütigen Tieres ist auch in der Schwangerschaft eine umgehende Simultanimpfung erforderlich. Zur aktiven Immunisierung steht ein attenuierter Lebendimpfstoff zur Verfügung, der bisher keinen Anhalt für ein teratogenes Potenzial ergab.
Influenzaimpfung Da es sich um einen inaktivierten Impfstoff handelt und keine Hinweise auf ein embryotoxisches Risiko vorliegen, darf eine Grippeschutzimpfung auch in der Schwangerschaft durchgeführt werden. Da bei Schwangeren eine noch höhere Morbidität und Mortalität durch Infektionen mit der neuen H1N1Influenza angenommen werden, sollte eine gezielte Impfung von Schwangeren ernsthaft erwogen werden (Jamieson 2009). Dabei sollten Impfstoffe bevorzugt werden, die auf der bei saisonaler Influenza bewährten Variante ohne Adjuvanzien basieren.
Passivimpfung Gegen eine Applikation von Immunglobulinen in der Schwangerschaft bestehen keine Einwände. Bei Infektion mit Hepatitis-B-, Tollwut- und Tetanuserregern sollte das Hyperimmunglobulin gleichzeitig mit dem jeweiligen Aktivimpfstoff verabreicht werden. Nach Rötelnkontakt sollten seronegative Schwangere bis zur 18. SSW umgehend Rötelnhyperimmunglobulin erhalten. Die Gabe ist bis zum 8. Tag nach Kontaktbeginn sinnvoll. Bei Varizellenkontakt kann der Ausbruch der Infektion durch Gabe von Hyperimmunglobulin innerhalb von 96 h
unterbunden werden. Der Einsatz zur Vermeidung des sehr seltenen kongenitalen Varizellensyndroms ist umstritten, zumal dieses praktisch nur vor der 22. SSW beobachtet wurde. Hingegen sollte das Zosterhyperimmunglobulin unbedingt Neugeborenen verabreicht werden, deren Mütter innerhalb von 4 Tagen vor Geburt bis zu 2 Tagen nach Geburt eine Windpockeninfektion entwickeln. Nach Hepatitis-A-Exposition sollte Standardimmunglobulin gegeben werden.
6.5.21
Malariaprophylaxe und -therapie
Bei Reisen in Malariaendemiegebiete ist auch für Schwangere eine Prophylaxe zu empfehlen. Eine Malariaerkrankung gefährdet nicht nur die Mutter, sondern auch den Fetus. Als Mittel der Wahl zur Malariaprophylaxe gilt Chloroquin, bei Resistenz der Erreger in Kombination mit Proguanil.
Chloroquin Die für die Malariaprophylaxe übliche Dosierung von 500 mg Chloroquinphosphat/Woche über einen Zeitraum von 1 Woche vor Beginn der Einreise bis 4 Wochen nach Verlassen des Endemiegebiets zeigte nach langjährigen Erfahrungen keine embryotoxischen Effekte. Auch die zur Behandlung des akuten Malariaanfalls erforderliche höher dosierte Dreitagestherapie scheint keine ungünstigen Einflüsse auf den Schwangerschaftsausgang zu haben. Die Warnhinweise bei Chloroquin beziehen sich auf die Dauertherapie chronisch-entzündlicher Erkrankungen, bei der 250–500 mg Chloroquinphosphat täglich eingenommen werden. Unter dieser Medikation sind beim Menschen vereinzelt Aborte sowie Schäden an Innenohr und Retina beobachtet worden.
Proguanil Der Folsäureantagonist Proguanil gilt in Regionen mit Chloroquinresistenz in Kombination mit Chloroquin als Mittel der Wahl zur Malariaprophylaxe (oral 100 mg/Tag von 1 Woche vor Einreise bis 4 Wochen nach Verlassen des Endemiegebiets). Der relativ alte Wirkstoff ergab keine Hinweise auf Embryotoxizität. Angesichts seines Wirkungsmechanismus kann man eine additive Gabe von Folsäure erwägen.
Pyrimethamin Pyrimethamin hemmt die Folsäuresynthese und wird daher im 1. Trimenon allenfalls in Kombination mit Folsäure zur Malariaprophylaxe bzw. -therapie verordnet. Ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko konnte beim Menschen nicht festgestellt werden. In Kombination mit Sulfadiazin wird Pyrimethamin erfolgreich zur Behandlung der Toxoplasmose im 2. und 3. Trimenon eingesetzt.
Chinin Chinin ist zwar das älteste Malariamittel, wird jedoch heute aufgrund zunehmender Chloroquinresistenz der Erreger wie-
107 Literatur
der vermehrt verordnet. Da nach Behandlung mit hohen Dosen Defekte an Augen und Innenohr bei Tier und Mensch dokumentiert sind, sollte Chinin nur zur Therapie der chloroquinresistenten Malaria tropica eingesetzt werden: Hier wird das Risiko für den Fetus durch die Behandlung weitaus geringer eingeschätzt als das Risiko durch die schwere mütterliche Erkrankung.
Mefloquin Der Wirkstoff Mefloquin ergab nach über 1.800 dokumentierten Expositionen in der Frügravidität keinerlei Anhaltspunkte für ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko. Nachdem jedoch erprobtere Alternativen vorliegen, sollte Mefloquin in der Schwangerschaft nicht gezielt eingesetzt werden. Da die Substanz eine lange Halbwertszeit von 3 Wochen besitzt, empfiehlt der Hersteller eine Kontrazeption über 3 Monate nach der letzten Einnahme. > Eine Mefloquinanwendung in Unkenntnis der Gravidität sollte keinesfalls zu einem Schwangerschaftsabbruch veranlassen.
Neben der Malariaprophylaxe mit 250 mg Mefloquin/Woche ist auch eine Therapie des akuten Anfalls (zunächst 750 mg, nach 6–8 h weitere 500 mg) verbreitet.
6.6
Fehlbildungsregister/Beratungsstellen
In den regionalen und nationalen Fehlbildungsregistern wird der Status Neugeborener, die eine spezielle Fehlbildung aufweisen, mit der retrospektiv erhobenen Anamnese dokumentiert. Bei freiwilligen Spontanmeldungen ist eine Vollständigkeit der Erfassung nicht gewährleistet. Eine internationale Beurteilung dieser retrospektiven Datenerfassung wird unter dem Dach der European Registry of Congenital Anomalies and Twins (EUROCAT) bzw. des International Clearinghouse for Birth Defects Monitoring Systems (ICBDMS) angestrebt. Zur Abschätzung reproduktionstoxikologischer Risiken wurden in vielen Ländern teratologische Informationszentren gegründet. Um Daten über embryonaltoxikologische Substanzen zu sammeln, auszuwerten und für die Prävention kindlicher Schädigungen einzusetzen, schlossen sich diese Institutionen zur Organisation European Network of Teratology Information Services (ENTIS) zusammen. Durch prospektive Studien werden der Verlauf der Schwangerschaft und das Befinden des Neugeborenen nach Exposition mit einem potenziellen Teratogen verfolgt. Die in der 7 Übersicht genannten Beratungsstellen geben Auskunft über das teratogene Potenzial von Medikamenten, Strahlenexpositionen, Infektionserkrankungen, Umwelt- und Industriechemikalien.
Beratungsstellen bezüglich teratogenes Potenzial von Medikamenten, Strahlenexpositionen, Infektionserkrankungen, Umwelt- und Industriechemikalien 4 Institut für Reproduktionstoxikologie Krankenhaus St. Elisabeth (Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Ulm) Elisabethenstraße 17 D-88212 Ravensburg Tel.: +49/751/87 27-99 Fax: +49/751/87 27-98 e-Mail:
[email protected] www.reprotox.de 4 Beratungsstelle für Embryonaltoxikologie Spandauer Damm 130 D-14050 Berlin Tel.: +49/30/303 08-111 Fax: +49/30/303 08-122
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108
6
Kapitel 6 · Embryologie und Teratologie
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II
II Abklärung und Beratung während der Schwangerschaft 7
Grundlagen diagnostischer Tests und Screeningverfahren R. Kürzl
8
Ersttrimesterscreening auf Fehlbildungen und Chromosomenstörungen – 125 R. Zimmermann
9
Fehlbildungsdiagnostik im 2. Trimenon K. D. Kalache, A. M. Dückelmann
– 143
10
Pränatale Diagnostik: Molekularbiologische Methoden O. Lapaire, S. Hahn
11
Physiologie des mütterlichen Organismus U. Lang, P. Husslein, R. Ahner, D. Bikas
12
Schwangerenvorsorge K. Vetter, M. Goeckenjan
13
Lebensführung – 211 E. Krampl-Bettelheim
14
Schwangerschaft und Ernährung C. Tempfer, P. Bung
15
Ultraschall im 3. Trimenon – 245 E. Ostermayer, M. Schelling, K. Chalubinski
– 193
– 223
– 111
– 175
– 165
7 7 Grundlagen diagnostischer Tests und Screeningverfahren R. Kürzl 7.1
Warum werden Tests in der Schwangerschaft und unter der Geburt angewendet? – 112
7.2
Was sind Testqualitäten? Definitionen und Zusammenhänge zur Interpretation von Tests – 112
7.3
Was bedeuten diese Definitionen und Zusammenhänge für den diagnostizierenden Kliniker? – 114
7.4
Wie lässt sich die Prävalenz abschätzen? – 117
7.5
Was versteht man unter Likelihood-Ratio? – 117
7.6
Wie können Testkombinationen weiterhelfen? – 119
7.7
Wie ist über die Indikation eines Tests zu entscheiden? – 120
7.8
Was heißt Screening? – 122 Literatur – 123
H. Schneider et al. (eds.), Die Geburtshilfe © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
112
7
Kapitel 7 · Grundlagen diagnostischer Tests und Screeningverfahren
Um diagnostische Verfahren sinnvoll einsetzen zu können, müssen zunächst die Testqualitäten Sensitivität und Spezifität bekannt sein. Bei der Interpretation von Testergebnissen sollte die Prätestwahrscheinlichkeit oder Prävalenz der vermuteten Erkrankung berücksichtigt werden, um den prädiktiven Wert möglichst realistisch abschätzen zu können. Die Schätzung der Prätestwahrscheinlichkeit kann auf persönlichen klinischen Erfahrungen oder auf publizierten Daten beruhen. Hierbei sind aber typische Schätzfehler zu berücksichtigen. Die Anwendung von Likelihood-Ratios und von Nomogrammen kann die formale Interpretation von Testergebnissen nach dem Bayes-Theorem wesentlich erleichtern. Die Interpretation der Ergebnisse von Testkombinationen unterliegt auch diesen formalen Zusammenhängen, wobei die Definition des Positivkriteriums (verbindend oder trennend) von wesentlicher Bedeutung ist. Die Indikationsbreite eines Testverfahrens kann mit entscheidungsanalytischen Methoden bestimmt werden. Voraussetzung ist dabei die explizite Rechenschaft über eine sog. Behandlungsschwelle. Für Screeningtestverfahren gelten die gleichen Regeln wie für sonstige diagnostische Testverfahren. Die Screeningsituation bedeutet immer geringe Prätestwahrscheinlichkeit und damit resultieren immer auch geringe positive prädiktive Werte. Die Beurteilung der Sinnhaftigkeit von Screeninguntersuchungen erschöpft sich aber nicht in diesem unvermeidlichen Zusammenhang, sondern muss unter diesem Gesichtspunkt Vorteile, Nachteile und Kosten einbeziehen. Die geburtshilfliche Schwangerenbetreuung stellt ein gewaltiges Screeningunternehmen dar. Der Geburtshelfer schuldet somit die Rechtfertigung für all die Tests, denen Mutter und Kind während Schwangerschaft und Geburt unterzogen werden. Die grundsätzlich geltenden Definitionen und Zusammenhänge, die bei der Anwendung und Beurteilung von Tests zu berücksichtigen sind, sollen helfen, im Sinn einer »evidence-based medicine« Einsatz oder Verzicht auf Tests zu begründen und Testergebnisse rational nachvollziehbar zu interpretieren.
7.1
Warum werden Tests in der Schwangerschaft und unter der Geburt angewendet?
Eine Vielzahl von Fragen soll während der Schwangerschaft und unter der Geburt durch die Anwendung von Tests beantwortet werden, z. B.: 4 Ist die Schwangerschaft intakt (Hormonbestimmungen, Ultraschall)? 4 Hat das Kind Fehlbildungen (Hormonbestimmungen, Ultraschall)? 4 Hat oder entwickelt die Schwangere eine Gestose (Blutdruckmessung, Urinuntersuchung)? 4 Geht es dem Kind unter der Geburt gut (Kardiotokographie, Mikroblutuntersuchung, Pulsoxymetrie)? All diesen Fragen ist eines gemeinsam: Es besteht Unsicherheit, ob eine mögliche Störung vorliegt oder nicht, und es wird eine Klärung dieser Unsicherheit durch das Testergebnis erwartet.
Woher nehmen wir das Vertrauen in die Testergebnisse? Wir vertrauen auf die Apparate und das Untersuchungspersonal im klinisch-chemischen Labor, in der Ultraschallabteilung oder im Kreißsaal. Falsch positive oder falsch negative Ergebnisse sind, so eine weit verbreitete Ansicht unter Ärzten, mit modernsten Geräten und erfahrenen Untersuchern nur selten zu erwarten und beeinträchtigen nicht allzusehr die diagnostische Zuverlässigkeit. Die Unsicherheit, die mit jedem Test notwendigerweise verbunden ist, wird zumeist ignoriert; und deshalb finden die Maßzahlen dieser Unsicherheit, die Testqualitäten nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienen sollten (Sadler 1997). Unterschwellig besteht immer noch die Hoffnung, dieser Unsicherheit mit künftigen Testverfahren zu entkommen. Die im Folgenden dargestellten Zusammenhänge werden aber auch für neue, hoch komplexe Verfahren gelten, die derzeit entwickelt und erforscht werden, um über genetische Unterschiede hinaus (Genomics) auch solche im Muster von Proteinen und Metaboliten (Proteomics, Metabolomics) herauszufinden, mit denen zwischen krank und nicht krank unterschieden werden kann oder mit denen Krankheitsentwicklungen (z. B. Frühgeburt, vorzeitiger Blasensprung oder Gestose) zuverlässig vorausgesagt werden können (Choolani et al. 2009).
7.2
Was sind Testqualitäten? Definitionen und Zusammenhänge zur Interpretation von Tests
Sensitivität und Spezifität Testqualitäten werden mit 2 definierten Begriffen beschrieben: mit Sensitivität und Spezifität (Galen u. Gambino 1979). Dabei handelt es sich um sog. bedingte Wahrscheinlichkeiten (Weinstein u. Fineberg 1980). Definition Die Sensitivität beschreibt die Wahrscheinlichkeit p für ein positives Testergebnis (T+) unter der Bedingung, tatsächlich erkrankt (K+) zu sein: p [T+|K+] = Sensitivität Die Spezifität beschreibt die Wahrscheinlichkeit p für ein negatives Testergebnis (T–) unter der Bedingung, tatsächlich nicht erkrankt (K–) zu sein. p [T–|K–] = Spezifität
Diese Größen sind aus der Vierfeldertafel abzuleiten (. Tab. 7.1). Die Sensitivität errechnet sich danach aus a/(a+b), d. h. die Anzahl der positiven Testergebnisse (a) unter den tatsächlich Erkrankten geteilt durch die Gesamtzahl der Erkrankten (a+b). Die Spezifität errechnet sich aus d/(c+d), d. h. die Anzahl der negativen Testergebnisse (d) unter den tatsächlich nicht Erkrankten geteilt durch die Gesamtzahl der Nichterkrankten (c+d). Diese Testqualitäten müssen in entsprechenden Studien ermittelt werden. Die Anforderungen an aussagefähige diag-
113 7.2 · Was sind Testqualitäten? – Definitionen und Zusammenhänge zur Interpretation von Tests
. Tab. 7.1. Allgemeines Schema einer Vierfeldertafel zur Evaluierung eines Tests (T+ Test positiv, T– Test negativ, K+ erkrankt, K– nicht erkrankt)
Goldstandard
T+
T–
∑
K+
a
b
a+b
K–
c
d
c+d
∑
a+c
b+d
a+b+c+d
nostische Studien sind hoch (Sackett et al. 1991). Insbesondere muss darauf geachtet werden, ob in der Studie die Testergebnisse mit der unabhängigen Goldstandarddiagnose blind verglichen wurden. An den Probanden mit der Zielkrankheit, bestimmt anhand des Goldstandards (Biopsie, Langzeitverlauf, Obduktion oder geburtshilfliche Beispiele wie Karyogramm, Plazentahistologie oder kindliche Entwicklung post partum) und an den Probanden ohne die Zielkrankheit, bestimmt anhand des jeweils selben Goldstandards, soll der neue Test von Untersuchern angewendet werden, die nicht wissen, ob der Proband die Zielkrankheit hat oder nicht, d. h. die Untersucher müssen in dieser Hinsicht »blind« sein. An dieser Forderung gehen sehr viele diagnostische Studien vorbei, und damit sind deren Ergebnisse hinsichtlich der Testqualitäten Sensitivität und Spezifität nur mit großer Vorsicht zu genießen. Darüber hinaus werden aber die Testqualitäten immer leiden, wenn ein Test, der unter korrekten Studienbedingungen evaluiert wurde, allgemein eingesetzt wird. Insbesondere bei Testverfahren, deren Mess- oder Beurteilungskriterien stark vom Können und Einsatz der Untersucher abhängen (z. B. Ultraschall, CTG, Anamneseerhebung), kann dieser Qualitätsverlust nicht vermieden werden. Für diese unterschiedliche Effektivität gibt es im Englischen 2 Begriffe: 4 Efficacy beschreibt die Wirksamkeit, die unter idealen Bedingungen zu erreichen ist, evaluiert z. B. in einer randomisiert gesteuerten Studie. 4 Effectiveness dagegen beschreibt die Wirksamkeit, wie sie im realen medizinischen Alltag zu erreichen ist (Last 1988). > Damit dieser unvermeidbare Unterschied nicht zu groß wird, ist eine möglichst kontinuierliche Qualitätskontrolle erforderlich, denn nur durch Fortbildung und Engagement kann dieser Unterschied klein gehalten werden.
Cut-off Inwieweit sind diese Größen vom Cut-off abhängig? Cut-off-Wert Unter Cut-off oder Schwellenwert versteht man die Definition des Positivkriteriums.
. Abb. 7.1. Hypothetische Verteilung von Nichterkrankten (K–) und Erkrankten (K+) mit negativen (T–) und positiven Testergebnissen (T+) und deren Überlappung. Die Senkrechte in v markiert den Cut-off, der in Richtung u oder w verschoben werden kann
Die Darstellung von Testergebnissen in einer Vierfeldertafel bedeutet eine Dichotomisierung in positive und negative Resultate, und damit sind die Zahlen in den 4 Feldern wesentlich abhängig von der Definition des Positivkriteriums. Ein idealer Test hätte nur einen Cut-off, denn die Ergebnisse für Erkrankte und Nichterkrankte wiesen 2 getrennte, d. h. nicht überlappende Verteilungskurven auf. Der Cut-off zur Unterscheidung zwischen krank und nicht krank läge zwischen den beiden Verteilungskurven; und dieser ideale Test hätte eine Sensitivität und Spezifität von je 100%: Alle Erkrankten zeigen positive, alle Nichterkrankten negative Testergebnisse. Die Widrigkeiten und Schwierigkeiten, die sich bei jedem Test ergeben, haben ihren Grund in der mehr oder minder großen Überlappung der beiden Verteilungskurven der Nichterkrankten und der Erkrankten (. Abb. 7.1). Die Überlappung bringt das Problem, an welcher Stelle nun der Cut-off zu setzen sei. Die senkrechte Linie in Punkt v des Überlappungsbereichs teilt jede Kurve in 2 Abschnitte. Die resultierenden 4 Bereiche entsprechen den 4 Feldern in . Tab. 7.1. Das Ändern des Cut-offs durch Verschieben im Bereich der Überlappung verändert unmittelbar und gleichzeitig alle Größen a, b, c und d, d. h. es ändern sich Sensitivität und Spezifität. Verschiebt man den Cut-off von v nach u, so nimmt der Bereich b auf den Wert Null ab zugunsten einer vollständigen Erfassung der Erkrankten (K+) durch positive Testergebnisse, d. h. die Sensitivität beträgt bei diesem Cut-off 100%. Gleichzeitig vergrößert sich aber der Bereich c auf Kosten von d, d. h. weniger Nichterkrankte haben bei diesem Cut-off negative Testergebnisse, die Spezifität nimmt ab. Verschiebt man den Cut-off von v nach w, so nimmt der Bereich c auf den Wert Null ab zugunsten einer vollständigen Erfassung der Nichterkrankten (K–) durch negative Testergebnisse, d. h., die Spezifität beträgt bei diesem Cut-off 100%. Gleichzeitig vergrößert sich aber der Bereich b auf Kosten von a, d. h. weniger Erkrankte haben bei diesem Cut-off positive Testergebnisse, die Sensitivität nimmt ab. Dieser Zusammenhang hat zentrale Bedeutung, denn es gilt:
7
114
Kapitel 7 · Grundlagen diagnostischer Tests und Screeningverfahren
> Eine globale Verbesserung eines Testverfahrens durch Änderung des Cut-offs ist grundsätzlich nicht möglich. Eine Änderung des Cut-offs kann immer nur zur Erhöhung von Sensitivität oder Spezifität führen: Steigt die Sensitivität, so sinkt die Spezifität. Steigt die Spezifität, so sinkt die Sensitivität. Eine gleichzeitige Erhöhung oder Erniedrigung von Sensitivität und Spezifität durch Spielen am Cut-off ist nicht möglich.
Receiver-operating-characteristic-(ROC-) Analyse
7
Dieser Zusammenhang wird zunehmend häufiger in Form sog. Receiver-operating-characteristic-(ROC-) Kurven dargestellt (. Abb. 7.2). Dabei werden in ein Koordinatensystem die für jeden Cut-off errechneten Wertepaare von Sensitivität und 1-Spezifität eingetragen (Sox et al. 1988; Sackett et al. 1991). Neben der optischen Darstellung der vom Cut-off abhängigen Verhältnisse zwischen Sensitivität und Spezifität lässt sich aus ROC-Kurven auch etwas über die Güte eines Tests ablesen, und sie erlauben einen Vergleich unterschiedlicher Tests. > Ein Test ist umso besser, d. h. er kann umso besser zwischen krank und nicht krank unterscheiden, je weiter die zugehörige ROC-Kurve von der Winkelhalbierenden entfernt zur oberen linken Ecke hin liegt.
In . Abb. 7.2 sind 2 ROC-Kurven eingezeichnet: eine für die Leukozytenbestimmung und eine für die Bestimmung des Creaktiven Proteins (CRP) zur Diagnostik einer Chorioamnionitis. Die Kurvenverläufe lassen damit die Interpretation zu: Die CRP-Bestimmung ist der Leukozytenzählung überlegen,
wenngleich auch die CRP-Bestimmung hinsichtlich ihrer diagostischen Kenngrößen Sensitivität und Spezifität noch zu wünschen übriglässt.
7.3
Was bedeuten diese Definitionen und Zusammenhänge für den diagnostizierenden Kliniker?
Die bisherigen Ausführungen setzen voraus, dass der tatsächliche Status krank oder nicht krank anhand eines Goldstandards bereits bekannt ist, um daran messen zu können, wie zuverlässig der Test diesen Status erfassen kann. Dem Kliniker stellt sich aber ein ganz anderes Problem: Er will den unbekannten Status krank oder nicht krank diagnostizieren, ordiniert deshalb zu dieser Unterscheidung einen Test und erhält ein positives Ergebnis. Ist der Patient nun krank oder nicht krank? Diese Frage wird vielfach als spitzfindige und damit irrelevante Zumutung empfunden. Und doch ergibt sie sich zwanglos aus der Vierfeldertafel (. Tab. 7.1). Die Zahl der positiven Testergebnisse setzt sich zusammen aus denen, die bei Erkrankten (a), und denen, die bei Nichterkrankten (c) erhoben wurden. Der Kliniker muss somit entscheiden, ob das jetzt einzeln für eine bestimmte Patientin vorliegende positive Testergebnis zur Menge a oder zur Menge c gehört. Der Kliniker muss also nach dem prädiktiven Wert eines positiven Testergebnisses fragen (Galen u. Gambino 1979). Nur die wenigsten Kliniker sind sich dessen bewusst. Das Verständnis für diese Zusammenhänge sollte jedoch manche scheinbar unerkärliche »Diagnostikversager« transparent machen und tatsächlich vorkommende diagnostische Fehler vermeiden helfen.
Prädiktiver Wert Die prädiktiven Werte positiver oder negativer Testergebnisse sind bedingte Wahrscheinlichkeiten (Weinstein u. Fineberg 1980). Prädiktiver Wert Der positive prädiktive Wert beschreibt die Wahrscheinlichkeit p, tatsächlich erkrankt (K+) zu sein, unter der Bedingung, dass ein positives Testergebnis (T+) vorliegt. p [K+|T+] = positiver prädiktiver Wert Der negative prädiktive Wert beschreibt die Wahrscheinlichkeit p, tatsächlich nicht erkrankt (K–) zu sein, unter der Bedingung, dass ein negatives Testergebnis (T–) vorliegt. p [K–|T–] = negativer prädiktiver Wert
. Abb. 7.2. Receiver-operating-characteristic-(ROC-)Kurven für C-reaktives Protein (CRP) und Leukozytenbestimmung (Leu)
Diese Größen sind wiederum aus der Vierfeldertafel abzuleiten (. Tab. 7.1). Der positive prädiktive Wert errechnet sich aus a/(a+c), d. h. die Anzahl der positiven Testergebnisse unter den tatsächlich Erkrankten (a) geteilt durch die Gesamtzahl der positiven Testergebnisse (a+c). Der negative prädik-
115 7.3 · Was bedeuten diese Definitionen und Zusammenhänge für den diagnostizierenden Kliniker?
. Tab. 7.2. Vierfeldertafeln mit unterschiedlicher Prävalenz A und B (T+ Test positiv, T– Test negativ, ChA+ Chorioamnionitis, ChA– keine Chorioamnionitis)
A Goldstandard Plazentahistologie
T+ RP ≥ 20 mg/l
ChA+
63
37
100
ChA–
20
80
100
∑
83
117
200
Sensitivität
63% (63/100)
Spezifität
80% (80/100)
Prävalenz
50% (100/200)
T– CRP Das Ausmaß an Informationszugewinn ist prävalenzabhängig: Bei sehr niedrigen und sehr hohen Prävalenzwerten kann der Informationsgewinn nur gering sein. Er ist am höchsten bei mittleren Werten, nämlich dort, wo sich die Kurven am weitesten von der Winkelhalbierenden entfernen. Je weiter die Kurven von der Winkelhalbierenden zur linken oberen oder zur rechten unteren Ecke hin liegen, desto besser, d. h. desto höher die prädiktiven Werte.
Die Steilheit und damit die Lage der Kurven ist abhängig von den Testqualitäten Sensitivität und Spezifität. Die Kurven kommen zwischen 2 Extremen zu liegen. Angenommen, ein Test ergäbe als Kurve den Verlauf der Winkelhalbierenden, so handelte es sich um einen »Non-sense-Test«: die Wahrschein-
117 7.5 · Was versteht man unter Likelihood-Ratio?
lichkeit für den Status krank wäre nach einem Test unverändert zur Einschätzung vor dem Test, der Informationsgewinn wäre gleich Null. Das andere Extrem wäre der ideale Test, der prävalenzunabhängig über den Status krank oder nicht krank entscheiden lassen könnte: Ein positives Ergebnis bedeutete einen prädiktiven Wert von 100% für krank und ein negatives Ergebnis einen prädiktiven Wert von 0% für krank. Ganz explizit wird die prävalenzabhängige Interpretation von Testergebnissen in der genetischen Beratung und Pränatadiagnostik angewendet, wenn es um Riskoberechnungen geht. Hier wird immer von einem altersspezifischen oder anamnestischen genetischen Basisrisko ausgegangen, das je nach Testergebnis entweder verminderte oder erhöhte Risiko errechnet (Ogino u. Wilson 2004). Dieses gegenüber dem Basisrisiko revidierte Risiko kann dann Ausgangspunkt für die Entscheidung sein, weitere, u. U. invasive Untersuchungen vorzunehmen oder darauf zu verzichten.
7.4
Wie lässt sich die Prävalenz abschätzen?
Mit der Einsicht in diese Zusammenhänge ergibt sich wie von selbst die Frage nach der Abschätzung der Prävalenz. Woher soll man diese Wahrscheinlichkeiten nehmen? Gibt man sich Rechenschaft, wie man die Erkrankungswahrscheinlichkeit eines Patienten einschätzt, so wird man zugeben müssen, dass dies i.Allg. mehr oder minder intuitiv geschieht. Beeinflusst wird dieser Prozess durch eigene klinische Erfahrung und durch publizierte Daten (Sox 1986, 1987).
Eigene Erfahrung des Klinikers Klinische Erfahrung Eigene klinische Erfahrung bedeutet, dass ein neuer Patient mit seiner Anamnese und seinen Krankheitszeichen verglichen wird mit ähnlichen oder gleichen Patienten, die man schon diagnostiziert oder therapiert hat und deren Krankheitsverlauf hinsichtlich Erfolg oder auch Misserfolg noch erinnerlich ist.
Dabei bedient sich der Kliniker sog. heuristischer Methoden (Tversky u. Kahnemann 1974), deren Anwendung jedoch nicht unbedingt zu einer zuverlässigen Prävalenzeinschätzung führen muss: 4 Mit der Repräsentativitätsregel (»representativeness heuristic«) schätzt der Kliniker die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung in Abhängigkeit vom Ausmaß der Übereinstimmung der erhobenen klinischen Zeichen mit den wesentlichen Kennzeichen der vermuteten Krankheit. Diese Regel kann versagen, wenn die Krankheit selten ist, wenn die klinischen Zeichen unzuverlässig oder redundant sind oder wenn die Vorstellung des Arztes von der Krankheit auf einer beschränkten und atypischen Erfahrung gründet. 4 Mit der Verfügbarkeitsregel (»availability heuristic«) schätzt der Kliniker die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses in Abhängigkeit von der Leichtigkeit, mit der er ähnliche Ereignisse erinnert. Diese Regel versagt oft. Ein
Geburtshelfer, der z. B. eine Appendicitis in graviditate bei einer Schwangeren mit Bauchschmerzen zutreffend diagnostiziert, mag die Wahrscheinlichkeit einer Appendicitis in graviditate bei der nächsten Schwangeren, die sich mit Bauchschmerzen vorstellt, überschätzen. 4 Mit der Anker-und-Angleichungsregel (»anchoring and adjustment heuristic«) versucht der Kliniker, seine erste Wahrscheinlichkeitsschätzung (den »Anker«) ungewöhnlichen Symptomen oder Befunden anzugleichen. Diese Regel ist zwar wichtig, wird aber zumeist nicht richtig angewendet. In experimentellen Studien zeigte sich, dass die Angleichung einer ersten Wahrscheinlichkeitsschätzung im Licht neuer zusätzlicher Informationen ungenügend erfolgt: Es wird zu früh oder zu fest »vor Anker gegangen« (Tversky u. Kahnemann 1974). Insgesamt neigen auch Kliniker dazu, zu viel Vertrauen in ihr klinisches Urteil zu setzen oder eine Erkrankungswahrscheinlichkeit zu überschätzen (Piattelli-Palmarini 1994).
Publizierte Daten Es wäre wünschenswert, bei der Einschätzung der Erkrankungswahrscheinlichkeit von publizierten Prävalenzen auszugehen. Die Übertragung derartiger Daten in die diagnostische Abklärung einer individuellen Patientin kann aber leicht zu einer falschen Einschätzung führen. Die publizierten Angaben stützen sich meist auf Studien, die in Zentren stattfinden, wohin Patientinnen speziell überwiesen wurden. Diese Selektion (»selection bias«) führt zu publizierten Prävalenzen, die höher sein dürften als bei Patientinnen, die ihren Frauenarzt in der Praxis aufsuchen (Fletcher et al. 1988; Sox et al. 1988; Chalmers 1989; Sackett et al. 1991). Manche Studien geben die Häufigkeit eines klinischen Befunds nur für die Erkrankten an. Mit solchen Zahlen (einer bedingten Wahrscheinlichkeit) ist aber die Prävalenz (die einfache Wahrscheinlichkeit für Erkranktsein) nicht einzuschätzen. Zudem besteht ein Unterschied zwischen der Häufigkeit eines klinischen Befunds bei Erkranktsein und der Häufigkeit von Erkranktsein bei Personen mit einem bestimmten klinischen Befund. > Gute Studien sollten neben der Häufigkeit eines klinischen Befunds bei Erkranktsein auch die Häufigkeit bei Nichterkranktsein angeben. Aus diesen Sensitivitäts- und Spezifitätsangaben kann der Kliniker dann die Likelihood-Ratio errechnen.
7.5
Was versteht man unter LikelihoodRatio?
Sind die Zusammenhänge durchschaut, die Testqualitäten bekannt und die Schwierigkeiten und Fehlermöglichkeiten der Prävalenzeinschätzung bekannt und berücksichtigt, so bleibt nur die Abschätzung der Posttestwahrscheinlichkeit nach dem Bayes-Theorem als zutreffende Interpretation des Testergebnisses. Ist dies im klinischen Alltag möglich? Die Antwort lautet ja, denn es gibt dafür Hilfsmittel wie das in . Abb. 7.4 dargestellte Nomogramm nach Fagan (1975).
7
118
Kapitel 7 · Grundlagen diagnostischer Tests und Screeningverfahren
Die Likelihood-Ratio eines negativen Testergebnisses (LR–) beschreibt das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit, dass der Test bei Erkrankten negativ ist (1-Sensitivität), zu der Wahrscheinlichkeit, dass der Test bei Nichterkrankten negativ ist (Spezifität). 4 LR– = (1-Sensitivität)/Spezifität
7
. Abb. 7.4. Nomogramm nach Fagan (1975) zur Interpretation von Testergebnissen. (Interaktives Formular unter www.cebm.net/index. aspx?o=1161)
Das Nomogramm erlaubt, mit einem Lineal für jede Prävalenz die zugehörige Posttestwahrscheinlichkeit ohne Rechnen abzulesen. (Unter der Webadresse www.cebm.net/index. aspx?o=1161 wird dieses Nomogramm in interaktiver Form angeboten.) Es muss allerdings die Likelihood-Ratio (RH) eines positiven oder negativen Ergebnisses bekannt sein. Die Likelihood-Ratios fassen in einer einzigen Zahl die unterschiedliche Beziehung von Sensitivität und Spezifität für positive oder negative Ergebnisse zusammen.
Diese Werte müssen entweder aus den Angaben in der Literatur oder aus Ergebnissen eigener Untersuchungen errechnet werden. Es finden sich aber zunehmend auch Übersichten derartiger Werte in der Literatur, z. B. für Tests der Inneren Medizin (Sox et al. 1988; Sackett et al. 1991), der bildgebenden Verfahren (Kuhns et al. 1989) und der Geburtshilfe und Gynäkologie (Wildschut et al. 1996). Die LR für einen positiven CRP-Test errechnet sich mit 3,14, für einen negativen CRP-Test mit 0,47. Geht man z. B. wie in . Abb. 7.3 von einer Prävalenz von 50% aus und verbindet die entsprechenden Werte 50% Prätestwahrscheinlichkeit und LR-Wert 3 mit dem Lineal, so kann man im Schnittpunkt dieser Geraden mit der Skala der Posttestwahrscheinlichkeit einen Wert von ungefähr 75% ablesen. Verbunden mit dem Wert 0,5 lässt sich ein Wert von über 30% als Posttestwahrscheinlichkeit ablesen. Die Genauigkeit, die mit diesem Nomogramm (. Abb. 7.4) zu erzielen ist, wäre im klinischen Alltag sicher völlig ausreichend, denn es geht um die Größenordnung und nicht um eine oder gar zwei Stellen hinter dem Komma. Dieses Nomogramm basiert auf einem an sich einfachen mathematischen Zusammenhang zwischen Prätest- und Posttestwahrscheinlichkeit, wobei allerdings die Wahrscheinlichkeit in dieser Formel als Verhältniszahl (odds) eingehen muss. 4 Prätestverhältniszahl × Likelihood-Ratio = Posttestverhältniszahl Um mit dieser Formel, der Odds-Ratio-Form des Bayes-Theorems (Sox et al. 1988), arbeiten zu können, muss noch die Umwandlung von Wahrscheinlichkeitszahlen p in Verhältniszahlen o und von Verhältniszahlen o in Wahrscheinlichkeitszahlen p bekannt sein. 4 o = p/(1–p) Für die Prätestwahrscheinlichkeit 50% lautet die Wahrscheinlichkeitszahl 0,5. So errechnet sich die Verhältniszahl aus 0,5/1–0,5=0,5/0,5 = 1:1=1. Für 20% oder 0,2 ergibt sich: 0,2/1–0,2=0,2/0,8=1:4=0,25. 4 p = o/(o+1)
Likelihood-Ratio Die Likelihood-Ratio eines positiven Testergebnisses (LR+) beschreibt das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit, dass der Test bei Erkrankten positiv ist (Sensitivität), zu der Wahrscheinlichkeit, dass der Test bei Nichterkrankten positiv ist (1-Spezifität). 4 LR+ = Sensitivität/(1-Spezifität)
6
Lautet wie in unserem Beispiel die Prätestverhältniszahl 1 und wird mit der LR von 3,12 multipliziert, so muss die Posttestverhältniszahl 3 in eine Wahrscheinlichkeit umgerechnet werden. Entsprechend der Formel ergibt sich 3/3+1=3/4=0,75 oder 75%. Unter der Webadresse www.cebm.net/index.aspx?o=1160 wird eine interaktive Vierfeldertafel angeboten, die, entsprechend ausgefüllt, sofort die bisher besprochenen Größen wie
119 7.6 · Wie können Testkombinationen weiterhelfen?
Prävalenz, Sensitivität, Spezifität, prädiktive Werte und Likelihood-Ratios errechnet und anzeigt. Die Anwendung von Likelihood-Ratios hat große Vorteile und ist nur scheinbar kompliziert, denn mit der dichotomen Aufteilung von kontinuierlichen Testergebnissen in positiv und negativ bei einem bestimmten Cut-off geht Information verloren, die mit der sog. Intervall-Likelihood-Ratio (iLR) wiedergewonnen werden kann, vorausgesetzt, dass entsprechende Daten publiziert oder erarbeitet werden (Sackett et al. 1991). Derartige Intervall-Likelihood-Ratios können auch für kategoriale Testergebnisse, z. B. der bildgebenden Verfahren oder der CTG-Interpretation bestimmt werden. Ist nämlich die Wahrscheinlichkeit p eines bestimmten Testergebnisses x unter Erkrankten und Nichterkrankten bekannt, so kann die iLR nach folgender Formel bestimmt werden: 4 iLR = p (Ergebnis x)|krank/p (Ergebnis x)|nicht krank Damit ist es möglich, die Posttestverhältniszahl und die daraus abgeleitete Posttestwahrscheinlichkeit noch genauer und zutreffender abzuschätzen. Liegt z. B. die Prätestwahrscheinlichkeit für Amnioninfekt bei einer Schwangeren in der 30. Woche bei 50%, und die CRP-Bestimmung ergibt ein Ergebnis von 25 mg/l, so lässt sich, wie oben beschrieben, bei einer LR+ von 3,14 eine Posttestwahrscheinlichkeit von ungefähr 75% aus dem Nomogramm ablesen. Ist aber die iLR für den Bereich 21–30 mg/l mit 1,97 bekannt, lässt sich die Posttestwahrscheinlichkeit nur noch mit ungefähr 67% ablesen. (Nehmen Sie Papier und Bleistift und errechnen Sie übungshalber mit den oben angegeben Formeln den genauen Wert.) Fiele für die gleiche Schwangere die CRP-Bestimmung mit einem Ergebnis von 48 mg/l höher aus, so ließe sich mit einer iLR von 4,86 im Bereich 41–50 mg/ l auch eine höhere Posttestwahrscheinlichkeit von ungefähr 83% ablesen. Ist es in der diagnostischen Situation sinnvoll, genau und noch genauer zu wissen, ob die Posttestwahrscheinlichkeit nun 67, 75 oder 83% beträgt? Ist es nicht einfacher und klüger, noch andere Tests einzusetzen, um so mit ausreichender Sicherheit zu einer Diagnose zu kommen?
Wie können Testkombinationen weiterhelfen?
7.6
Üblicherweise fühlt sich der Kliniker sicherer, wenn er mehrere Tests einsetzen kann. Weisen alle Ergebnisse in die gleiche
Richtung der diagnostischen Hypothese, so ist die Diagnose gestellt. Etwas schwierig und unübersichtlich wird die Situation, wenn die Ergebnisse widersprüchlich ausfallen, d. h. teils positiv, teils negativ. Mit Einführung der CRP-Bestimmung in die Entzündungsdiagnostik wurde nicht etwa die Leukozytenzählung abgeschafft, nein, beide Untersuchungen werden jetzt ordiniert. Wenn nun bei klinischem Verdacht auf Amnioninfekt widersprüchliche Ergebnisse auftreten, was bleibt dann zu tun? Der Kliniker denkt, den Amnioninfekt zu übersehen ist gefährlich; so mag der positive Ausfall auch nur eines Tests der eingesetzten Testkombination für die Diagnose ausreichen. Wenn es darauf ankommen soll, eine Erkrankung möglichst nicht zu übersehen, ist diese Taktik, ein positives Ergebnis innerhalb einer Testkombination als positives Gesamtergebnis der Kombination zu interpretieren, durchaus richtig. Mit einem derartigen trennenden Positivkriterium steigt nämlich die Sensitivität der Testkombination immer über den höchsten Sensitivitätswert der Einzeltests. Die CRP-Bestimmung hat eine Sensitivität von 63%, die Leukozytenzählung eine von 31%. Die trennende Kombination beider Tests (CL, einer oder beide positiv) erhöht die Sensitivität auf 67% und liegt so um 4 Prozentpunkte über der höchsten Sensitivität von CRP als Einzeltest (. Tab. 7.3). > Diese häufige Art der Interpretation von Testkombinationen hat allerdings einen wesentlichen Haken: Mit der Steigerung der Sensitivität ist immer und unausweichlich ein Abfall der Spezifität verbunden. Der resultierende Wert liegt immer niedriger als der niedrigste Spezifitätswert der Einzeltests beim gewählten Cut-off. . Tab. 7.3 zeigt die entsprechenden Zahlen: Die CRP-Bestimmung hat mit 80% um 4 Prozentpunkte weniger Spezifität als die Leukozytenzählung, aber in der trennenden Kombination sinkt die Spezifität auf 69% ab. Dieser Abfall in der Spezifität hat Folgen für den positiven prädiktiven Wert der Testkombination, der ebenfalls sinkt (. Abb. 7.5).
> Für den klinischen Alltag bedeutet somit eine derartige Interpretation von Ergebnissen aus Testkombinationen zwar immer ein Erkennen von mehr Erkrankten, aber auf Kosten eines u. U. gewaltigen Anstiegs von Personen, die falsch positiv als erkrankt bezeichnet und dann auch behandelt werden.
. Tab. 7.3. Sensitivität, Spezifität und Likelihood-Ratio eines positiven (LR+) oder negativen Ergebnisses (LR–) für C-reaktives Protein (CRP), Leukozytenzählung und für die Kombination dieser Tests (CRP-Cut-off ≥20 mg/l; Leukozyten-Cut-off ≥16 x 103/mm3)
Test
Sensitivität [%]
Spezifität [%]
LR+
LR–
CRP
63
80
3,14
0,47
Leukozyten
31
84
1,97
0,82
CL (einer oder beide positiv)
67
69
2,19
0,48
CL (beide positiv)
26
97
8,95
0,76
7
120
Kapitel 7 · Grundlagen diagnostischer Tests und Screeningverfahren
Diese Annahme muss aber bei Weitem nicht immer zutreffen, und nur selten wird dieser Zusammenhang überhaupt geprüft. Sind die Testergebnisse aber tatsächlich doch voneinander abhängig, so wird bei Festhalten an der Annahme der Unabhängigkeit die Aussagekraft der Testkombination systematisch überschätzt. Diese Gefahr steigt mit der Zahl der eingesetzten Testverfahren. Von entscheidender Wichtigkeit in entsprechenden Studien wäre dazu auch die Unabhängigkeit der Untersucher, d. h., die Untersucher in den einzelnen Testverfahren dürfen unter keinen Umständen das Ergebnis der anderen Tests wissen: Sie müssen »blind« sein, eine Voraussetzung, gegen die nur zu gern verstoßen wird. > Ungeachtet dieser Einschränkung bleibt festzuhalten: Mit einer Kombinationsdiagnostik ist eine gleichzeitige Steigerung der Sensitivität und Spezifität nicht zu erreichen. Man muss entscheiden, ob in der gegebenen Situation mehr Sensitivität oder mehr Spezifität erforderlich ist.
7 . Abb. 7.5. Kurvendiagramm zur Abhängigkeit des positiven prädiktiven Wertes von der Prävalenz. Dargestellt sind die Kurven von Einzeltests (CRP C-reaktives Protein, Leu Leukozyten) und von Testkombinationen (CL CRP und Leu) mit unterschiedlichem Positivkriterium: +– trennend und ++ verbindend
Die CRP-Bestimmung als Einzeltest ist der trennenden Interpretation von CRP und Leukozyten in Kombination überlegen. Die Kurve der positiven prädiktiven Werte von CRP und Leukozyten in Kombination zeigt nur dann einen besseren Verlauf als die der Einzeltests, wenn positive Ergebnisse in allen Tests gefordert werden (. Abb. 7.5). Für dieses verbindende Positivkriterium gilt folgende Regel: Die Sensitivität sinkt unter den niedrigsten Wert der Einzeltests, dafür steigt aber die Spezifität der Kombination über den höchsten Wert der Einzeltests: 26% Sensitivität und 97% Spezifität bei verbindendem Positivkriterium der Kombination von CRP- und Leukozytenbestimmung. Der damit verbundene Anstieg im positiven prädiktiven Wert muss aber mit dem Nachteil erkauft werden, viele Erkrankte zu übersehen (geringe Sensitivität). Die aufgezeigten Zusammenhänge der Kombinationsdiagnostik gelten nicht nur für ein mehr oder minder gleichzeitiges paralleles Testen: Die Ergebnisse können, wie gezeigt, trennend oder verbindend interpretiert werden. Die Zusammenhänge gelten auch für zeitlich gestaffelte serielle Testkombinationen. Da beim seriellen Testen nur Testpositive weiteruntersucht werden und nur die schließlich als erkrankt gelten, die im nächsten Test erneut ein positives Ergebnis aufweisen, wird hier mit einem verbindenden Positivkriterium gearbeitet, d. h. Steigerung der Spezifität auf Kosten eines Verlusts an Sensitivität. In der Kombinationsdiagnostik wird sowohl im klinischen Alltag als auch in diesen formalen Betrachtungen angenommen, dass die Testverfahren voneinander unabhängig sind (Weinstein u. Fineberg 1980; Sox et al. 1988; Sackett et al. 1991).
7.7
Wie ist über die Indikation eines Tests zu entscheiden?
Jeder Kliniker wird zugeben, dass er fast täglich über Behandlung oder Nichtbehandlung von Patientinnen entscheidet. Wie macht er das? Er benützt offensichtlich eine Behandlungsschwelle, unterhalb derer er nicht und oberhalb derer er behandelt. Allerdings gibt sich der Kliniker über diese Behandlungsschwelle in der Regel keine explizite Rechenschaft. Diese Rechenschaft erfordert etwas aufwändigere Verfahren der medizinischen Entscheidungsfindung und Entscheidungsanalyse (Weinstein u. Fineberg 1980; Sox et al. 1988) und soll hier nur soweit erörtert werden, als es das Verständnis für die Indikation von diagnostischen Tests erfordert.
Behandlungsschwelle Behandlungsschwelle Für die formale Bestimmung einer Behandlungsschwelle gilt folgender Zusammenhang (Pauker u. Kassirer 1975; Sox et al. 1988): 4 p*=C/C+B Die Behandlungsschwelle p* bezeichnet den Wahrscheinlichkeitswert, bei dem der Kliniker hinsichtlich Behandlung oder Nichtbehandlung unentschieden bleiben kann, da sich Vor- und Nachteile der beiden Optionen die Waage halten. C bezeichnet die Nettokosten der Behandlung von Nichterkrankten, B den Nettobenefit der Behandlung von Erkrankten. Oberhalb der Behandlungsschwelle überwiegt der Nutzen (B) einer Behandlung von Erkrankten die Nachteile (C) der unvermeidbaren Mitbehandlung von Nichterkrankten. Unterhalb der Behandlungsschwelle überwiegen die Nachteile der Behandlung von Nichterkrankten den Nutzen einer Behandlung von Erkrankten.
121 7.7 · Wie ist über die Indikation eines Tests zu entscheiden?
. Abb. 7.6a, b. Kurvendiagramme zur Abhängigkeit des positiven prädiktiven Wertes von der Prävalenz mit Darstellung der Indikations-bereiche. A: kein Testen und keine Behandlung, B: Testen und C:
Behandeln ohne Testen für 2 verschiedene Behandlungsschwellen a und b
Für eine hocheffektive und nebenwirkungsarme Behandlung wird sich daher eine niedrige Schwelle ergeben, d. h., es kann die an sich unnötige, aber unvermeidbare Mitbehandlung von vielen Nichterkrankten hingenommen werden. Die Schwelle wird höher liegen für eine effektive, aber nebenwirkungsreiche Behandlung. Eine wenig effektive, aber sehr beeinträchtigende Behandlung wird eine hohe Schwelle aufweisen. Damit werden zum einen nicht alle Erkrankten behandelt, zum anderen wird die unnötige Mitbehandlung von Nichterkrankten möglichst gering gehalten. Ist die Behandlungsschwelle bekannt, dann lässt sich auch der Indikationsbereich für ein Testverfahren oder für Testkombinationen bestimmen (Pauker u. Kassirer 1980; Sox et al. 1988). Dazu gibt es ein graphisches Verfahren, die Testindikationskurven (. Abb. 7.6; Bernstein 1997). In das schon bekannte Diagramm der Abhängigkeit von Prävalenz und positivem prädiktivem Wert wird zunächst die Gerade 1 mit dem Wahrscheinlichkeitswert der Behandlungsschwelle eingezeichnet. Diese Gerade 1 schneidet die Kurven der prädiktiven Werte der positiven und negativen Ergebnisse. Durch diese Schnittpunkte können die beiden weiteren Geraden 2 und 3 senkrecht zur Koordinate mit den Prävalenzen eingezeichnet werden, und es resultieren 3 Bereiche: 4 A bezeichnet den Bereich der Prävalenz, in dem kein Test und keine Behandlung angezeigt sind, denn selbst ein positives Ergebnis würde mit seinem prädiktiven Wert unterhalb der Behandlungsschwelle liegen. 4 B bezeichnet den Bereich der Prävalenz, in dem ein Test angezeigt ist, denn vom positiven oder negativen Ergebnis wird es abhängen, ob der positive oder negative prädiktive Wert die Behandlungsschwelle über- oder unterschreitet; d. h., nur in diesem Bereich hat ein Testergebnis
Einfluss auf die Entscheidung über Behandeln oder Nichtbehandeln. 4 C bezeichnet den Bereich der Prävalenz, in dem ohne Testen sofort die Behandlung angezeigt ist, denn selbst nach einem negativen Testergebnis bleibt die Erkrankungswahrscheinlichkeit oberhalb der Behandlungsschwelle und kann somit die Entscheidung für Behandeln nicht beeinflussen. Die Breite des Indikationsbereichs für Tests ist zum einen abhängig von der Behandlungsschwelle (. Abb. 7.6), zum anderen von den Kurven des prädiktiven Wertes, deren Verläufe wiederum von Sensitivität und Spezifität der Tests abhängen. Schließlich kann auch das testimmanente Risiko die Indikationsbreite beeinflussen: Je risikoreicher und unangenehmer der Test, desto schmaler wird der Indikationsbereich für den Test ausfallen (Pauker u. Kassirer 1980; Sox et al. 1988).
Aktionsschwelle Das Konzept der Behandlungsschwelle kann erweitert werden, indem der Begriff Behandlungsschwelle durch den allgemeineren Begriff Aktionsschwelle ersetzt wird. Behandlung ist somit nur eine besondere Art von Aktion, denn die therapeutische Behandlung stellt ja bei Weitem nicht die einzige mögliche Art einer Aktion im medizinischen Bereich dar. Tatsächlich arbeiten und argumentieren wir ständig mit solchen impliziten Aktionsschwellen, wenn es z. B. darum geht, bestimmte Untersuchungsverfahren bei allen Schwangeren oder nur bei Risikoschwangeren anzuwenden: Soll weiter nur das Alter der Schwangeren die Indikation zur Amniozentese bestimmen, oder soll unabhängig vom Alter allen Schwangeren der Triple-Test angeboten werden? Oder ist mit Einführung
7
122
Kapitel 7 · Grundlagen diagnostischer Tests und Screeningverfahren
der sonographischen Messung der Nackentransparenz der alles entscheidende Risikomarker bereits gefunden? Implizit sind in diesen Fragen und Entscheidungen unterschiedliche Prävalenzen als Aktionschwellen enthalten, die aber nicht immer explizit in eine entsprechende Analyse eingebracht werden.
7.8
Was heißt Screening? Screening Screening heißt Sieben: Erkrankte oder Personen mit Risikofaktoren sollen aus der Menge der Gesunden herausgesiebt werden. Das dazu nötige Sieb ist das Testverfahren, der Screeningtest.
7
Die Screeningtests sind, wie sonst in der Diagnostik, klinische oder laborchemische Untersuchungen, invasive oder bildgebende Verfahren. Das Besondere eines Screeningtests liegt also nicht im Verfahren, sondern in der Situation, in der er angewendet wird: Es werden Personen untersucht, die keine Beschwerden oder Zeichen einer Erkrankung aufweisen. Diese Besonderheit hat erhebliche Auswirkung auf die Interpretation der Ergebnisse eines Screeningtests. Asymptomatische Schwangere können für sich und für ihre Feten nur sehr niedrige Erkrankungswahrscheinlichkeiten oder Prävalenzen aufweisen. Damit gilt, was oben über den Zusammenhang von Testqualitäten und prädiktivem Wert ausgeführt ist: Sehr niedrige Prävalenzen ergeben auch bei sehr guten Screeningtestqualitäten nur geringe positive prädiktive Werte. Es müssen in der Screeningsituation viele falsch positive Ergebnisse hingenommen (z. B. HIV-Screening; Meyer u. Pauker 1987) oder durch weitere diagnostische Verfahren – meistens aufwändigere, u. U. invasive und damit risikoreichere Verfahren – in ihrer Zahl vermindert werden. Damit erhebt sich aber die Frage nach der Verhältnismäßigkeit, und es sollte klar sein, dass die Empfehlung zu einer Screeninguntersuchung wohl überlegt werden muss. Viel zu kurz greifen die oft gehörten Begründungen: »Der Test kann die Erkrankung aufdecken, also sollte ein Screening empfohlen werden.« Oder: »Dies ist eine gefährliche Krankheit; wir haben sonst kaum etwas zu bieten, also sollte ein Screening empfohlen werden.« Eddy (1991) warnt vor Screeningempfehlungen, die auf derartigen subjektiven, simplifizierenden Modellvorstellungen beruhen, auch wenn sie von klinischen Experten formuliert werden. Ein Screeningtest bewirkt nicht unmittelbar, wie zunächst oft unterstellt, erwünschte »Outcomes«, sondern sein Effekt läuft über mehrere Stationen: 4 Anwendung des Screeningtests 4 Eine Erkrankung wird wahrscheinlicher gemacht 4 Die Erkrankung wird bestätigt 4 Der zeitliche Ablauf und die Art der Behandlung ändern sich 4 Die Gesundheitszustände (»health outcomes«) werden dadurch verändert
Den direkten Nachweis einer Effektivität kann eine randomisiert gesteuerte Studie erbringen. Meist muss aber mangels derartiger Studien mühsam der indirekte Nachweis erbracht werden. Es wird auf Daten und Schätzungen zu den verschiedenen Stationen eines Screeningprogramms zurückgegriffen, und dabei reicht es nicht aus, nur mit Testqualitäten oder Prävalenzen zu argumentieren (Mohide u. Grant 1989). Diese Nachweise der Effektivität wurden schon und werden noch für prä- und intrapartale Screeninguntersuchungen gesammelt und zusammengestellt. Größte Verdienste hat sich hier die Gruppe um Ian Chalmers in Oxford mit der Herausgabe des zweibändigen Werkes Effective Care in Pregnancy and Childbirth erworben (Chalmers et al. 1989). Diese Sammlung von systematischen Übersichten ist jetzt aktualisiert fortgeschrieben und ständig erweitert in der Cochrane Library einzusehen und abrufbar (www. thecochranelibrary.com/view/0/index.html). Ein wesentlicher Aspekt dieser Analysen ist eine Feststellung, die sehr nachdenklich stimmen sollte: Screeningtests werden auch ohne Nachweis der Effektivität eingeführt oder weitergeführt, so z. B. ein Teil der klinischen Untersuchungen im Rahmen der Schwangerenvorsorge (Kürzl 1996) oder das intrapartale CTG (Schneider 1996; Thacker 1997). Die Diskussion von Ergebnissen fundierter wissenschaftlicher Untersuchungen, die eingeführte Methoden in Frage stellen, ist zwar notwendig, zugleich oft aber unerquicklich. Zu dieser Erfahrung hat Chalmers (1993) einen höchst lesenswerten Artikel über das Verhältnis von wissenschaftlicher Untersuchung und autoritärem Gehabe in der Perinatalmedizin geschrieben. > Eine nachvollziehbar begründete Screeningempfehlung zu formulieren ist eine höchst komplexe Aufgabe. Es ist zu fordern, dass diejenigen, die den Screeningtest propagieren, durchschaubar Vorteile, Nachteile (»benefits, harms«) und Kosten eines Screeningprogramms und deren Verhältnis darlegen; eine Aufgabe, die weit über die notwendige, aber nicht allein ausreichende Angabe von Testqualitäten hinausgeht (Stewart-Brown u. Farmer 1997).
Nachdrücklich sei nochmals auf die Realität unerwünschter Nebeneffekte von Screeningverfahren hingewiesen: 4 Routinemäßige intrapartale CTG-Überwachung führt zu einer Erhöhung der Sectiorate (Grant 1989). 4 Bei ca. 680.000 Schwangerschaften im Jahr (Minimalschätzung nach der Geburtenzahl in Deutschland für 2008) müssten bei durchgehender Anwendung des Tripletests mit einer Spezifität von 95%, d. h. einer Falsch-positivRate von 5%, rund 34.000 Schwangere pro Jahr ein falsch positives Ergebnis verarbeiten (Marteau et al. 1992). In einer formalen Entscheidungsanalyse müssen derartige unerwünschte, aber unvermeidbare Effekte ebenso explizit bewertet werden wie die erwünschten, um insgesamt über die Sinnhaftigkeit eines Screeningverfahrens entscheiden zu können. In einem Artikel über die Notwendigkeit von »evidencebased medicine« in der Schwangerenvorsorge und Geburts-
123 Literatur
hilfe wird auf die immense Verantwortung der Frauenärzte hingewiesen, weil diese bei den schwangeren Frauen die Erwartung geweckt haben, dass die geburtshilfliche Betreuung vor und unter der Geburt den (ohnehin sehr häufig guten) Ausgang noch verbessern könne (Enkin 1996). Die geburtshilfliche Schwangerenbetreuung vor und unter der Geburt stellt ein gewaltiges Screeningunternehmen dar, in dem unter ungeheurer Anstrengung mögliche krankhafte Veränderungen bei anscheinend gesunden Frauen und Kindern mit verschiedenen Maßnahmen ausfindig gemacht werden sollen. Der Geburtshelfer schuldet aber somit insbesondere die Rechtfertigung für all die Tests, mit denen Mutter und Kind während Schwangerschaft und Geburt überzogen werden. Die dargestellten, grundsätzlich geltenden Definitionen und Zusammenhänge, die bei der Anwendung von Tests (nicht nur in der Geburtshilfe) zu berücksichtigen sind, sollen helfen, Einsatz oder Verzicht auf Tests zu begründen und Testergebnisse rational nachvollziehbar zu interpretieren. Damit wäre zumindest einer der vielen notwendigen Schritte in Richtung »evidence-based diagnosis« getan (Richardson 1997; Sackett et al. 2000).
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7
8 8 Ersttrimesterscreening auf Fehlbildungen und Chromosomenstörungen R. Zimmermann 8.1
Allgemeine Grundlagen – 126
8.1.1 Terminologie/Definition – 126 8.1.2 Voraussetzungen für ein Screening – 126 8.1.3 Bedeutung für die betroffenen Eltern und Kinder – 126
8.2
Klinisch erprobte Screeningprogramme – 127
8.2.1 Genetische Erkrankungen – 127 8.2.2 Screening auf Aneuploidien – 128 8.2.3 Screening auf schwerwiegende Fehlbildungen – 136
Literatur – 140
H. Schneider et al. (eds.), Die Geburtshilfe © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
126
8
Kapitel 8 · Ersttrimesterscreening auf Fehlbildungen und Chromosomenstörungen
Unter pränatalem Screening werden Untersuchungen während der Schwangerschaft verstanden, mittels derer Hinweise auf das Vorliegen einer bestimmten schweren Krankheit oder Behinderung des Kindes gegeben werden können. In den vergangenen 20 Jahren haben sich in den meisten industrialisierten Ländern Screeningprogramme für verschiedene Anomalien etabliert. Das Screening auf genetische Erkrankungen beschränkt sich zurzeit vorwiegend auf anamnestische Daten von betroffenen Familienangehörigen. Jüdische Gemeinden testen seit längerer Zeit ihre Angehörigen auf autosomal-rezessive Erkrankungen. Die Verfügbarkeit von Gen-Chips, die in einem Durchgang eine Vielzahl von genetischen Störungen gleichzeitig erkennen, dürfte in Zukunft solche Probleme bereits erfassen, bevor ein erstes betroffenes Kind geboren ist. Beim Screening auf Trisomie 21 und andere numerische Chromosomenstörungen wurde die Altersmethode in den meisten Ländern durch ein kombiniertes sonographisch-biochemisches Screening im 1. Trimenon abgelöst. Die Entdeckungsrate liegt damit nahe bei 90% bei einer Rate an invasiven Abklärungen von rund 5%. Das Alter der Mutter sollte heutzutage nicht mehr als Hauptindikation für invasive Abklärungen verwendet werden. Die meisten westlichen Länder kennen auch ein Ultraschallscreening auf schwerwiegende fetale Fehlbildungen. Damit wird ein Großteil der letalen und sehr schweren Anomalien im Bereich des Hirns, der Bauchwand und der Bauchorgane am Ende der 1. Schwangerschaftshälfte erkannt. Häufig übersehen werden Störungen im Bereich des Gesichts, des Herzens und der peripheren Extremitäten. Der Trend verlagert die Diagnostik zunehmend ans Ende des 1. Trimenons, die Erkennungsraten sind aber noch deutlich geringer. Die meisten Screeningprogramme werden von den nationalen Fachorganisationen empfohlen unter der Voraussetzung einer adäquaten vorgängigen Beratung und einer epidemiologischen Überwachung. Vorbehalte existieren gegenüber dem Ultraschallscreening auf Fehlbildungen seitens der nordamerikanischen Organisationen. Diese sind jedoch eher gesundheitssystembedingt als grundsätzlicher Natur.
8.1
Allgemeine Grundlagen
8.1.1
Terminologie/Definition
Unter Screening versteht man das Testen auf Erkrankungen oder ihre Prädisposition in einer definierten Population zu einem Zeitpunkt, zu dem sich das Individuum klinisch noch gesund fühlt, mit dem Zweck, Morbidität und Mortalität durch frühzeitiges Erkennen und Behandeln zu verringern. Unter pränatalem Screening werden Untersuchungen während der Schwangerschaft verstanden, mittels derer Hinweise auf das Vorliegen einer bestimmten schweren Krankheit oder Behinderung des Kindes gewonnen werden können. Im Gegensatz zur pränatalen Diagnostik liefert das Resultat meist keinen Nachweis bzw. Ausschluss einer Erkrankung, sondern lediglich ein individuelles Risiko für das Vorliegen einer solchen.
8.1.2
Voraussetzungen für ein Screening
Damit ein Screening sinnvoll ist, sollten einige Voraussetzungen erfüllt sein: Die unbehandelte Erkrankung sollte mit hoher Morbidität oder Mortalität verbunden sein, und die Früherkennung sollte erhebliche Vorteile bringen, d. h. die Morbidität bzw. Mortalität sollte durch wirksame Therapien vermindert bzw. verhindert werden können. Sodann wird ein Test benötigt, der möglichst alle betroffenen Individuen erkennt, ohne gleichzeitig viele Gesunde durch ein falsch-positives Resultat zu verunsichern (7 Kap. 8.2.3). Mehr und mehr wird für ein Screening auch Kosteneffektivität gefordert. Dies hat zwar sekundären Charakter und kann im Einzelfall – speziell, wenn es um verhindertes Behindertenleben geht – nur schwierig abgeschätzt werden. Durch die Verknappung von Ressourcen in der Medizin in den letzten Jahren sind solche Fragen jedoch zunehmend ins Zentrum gerückt. Eine weitere Forderung betrifft die Prävalenz einer Erkrankung. Diese sollte idealerweise hoch sein, damit sich ein Screening lohnt. Andererseits hängt der Entschluss zu einem Screening auch von den Ressourcen und insbesondere vom Vorliegen einer geeigneten Erfassungsmethode ab. Das Werkzeug eines Screenings ist ein Test, der die Form einer Befragung, einer klinischen Untersuchung, eines bildgebenden Verfahrens oder einer Laborbestimmung haben kann. Besonders der Screeningtest in Form einer Befragung wird häufig nicht als solcher erkannt, auch wenn er alle wichtigen Kriterien eines Tests erfüllt. Ein Screeningtest muss nicht zwingend einen diagnostischen Stellenwert haben. Vielmehr dient er dazu, unter allen Individuen der Screeningpopulation diejenigen zu erfassen, die ein besonders großes Risiko für die Erkrankung haben. Diagnostische Untersuchungen, die oftmals invasiv, d. h. mit Risiken behaftet und teuer sind, können dann auf dieses Risikokollektiv beschränkt werden. Eine Transparenzverminderung im Schirmbild z. B. heißt noch lange nicht, dass tatsächlich eine Lungentuberkulose vorliegt. Das Risiko ist jedoch bedeutend erhöht. Der Grund, weshalb in den letzten Jahrzehnten für verschiedene fetale Erkrankungen Screeningtests mit Risikoevaluationscharakter eingeführt wurden, liegt in der Tatsache, dass diagnostische Verfahren häufig mit invasiven Techniken verbunden sind, somit ein erhöhtes Abortrisiko beinhalten und auch höhere Kosten verursachen. > Das Hauptziel einer screeningmäßig durchgeführten Risikoevaluation ist es, Schwangere mit einem »erhöhten« Risiko zu identifizieren, um ihnen nach eingehender Information ein diagnostisches (und damit meist invasives) Verfahren anbieten zu können.
8.1.3
Bedeutung für die betroffenen Eltern und Kinder
Eine beträchtliche Zahl der kongenitalen Anomalien ist mit dem Leben nicht vereinbar, und es kommt schon während der Schwangerschaft, sub partu oder kurze Zeit nach der Geburt
127 8.2 · Klinisch erprobte Screeningprogramme
zum Absterben des Kindes. Dies gilt insbesondere für Krankheitsbilder wie Anenzephalie, Nierenagenesie, Trisomie 13, Trisomie 18 und Triploidie. Diese Gruppe mit Letalfaktoren bildet mit 19% eine der wichtigsten Ursachengruppen bei der perinatalen Mortalität (Wigglesworth 1991). Werden solche Schwangerschaften vorzeitig abgebrochen, »verbessert« sich augenscheinlich die perinatale Mortalität. Dies ist allerdings nur eine Scheinverbesserung. Einige der Kinder mit kongenitalen Anomalien überleben jedoch und können, je nach Familiensituation und Art der Störung, eine schwere Belastung für die Eltern darstellen. Typische Beispiele sind Kinder mit Trisomie 21, Spina bifida, Hydrozephalus oder zystischer Fibrose. Betroffene Eltern wünschen in der Mehrzahl einen Schwangerschaftsabbruch, wenn die Diagnose einer schweren Fehlbildung oder Chromosomenstörung frühzeitig gestellt wird. Der rechtzeitigen Erfassung (vor 24 SSW) von Anomalien kommt damit für sie eine große und zunehmende Bedeutung zu.
Schwangere haben dabei verschiedene Optionen, die in einem Entscheidungsbaum mit folgenden 3 Möglichkeiten dargestellt werden können: 4 weder pränatales Screening noch Diagnostik, 4 pränatale Risikoevaluation mittels Screeningtests vor der Entscheidung für eine Diagnostik, 4 direkte pränatale Diagnostik ohne vorangehende Risikoabwägung. Die Entscheidung, welche der 3 Möglichkeiten gewählt wird, hängt ausschließlich von der Schwangeren ab, wird in der Praxis jedoch häufig beeinflusst durch das lokale Gesundheitssystem, die Haltung des Arztes und insbesondere die Frage nach der Kostenübernahme der pränatalen Diagnostik. Ziel der Schwangerenberatung muss es sein, eine individuelle Entscheidung möglichst unbeeinflusst durch äußere Faktoren zu ermöglichen. Man ist sich aber einig, dass jede Schwangere über die Möglichkeit, durch geeignete Tests das Risiko für das Vorliegen einer schwerwiegenden fetalen Störung näher eingrenzen zu können, aufgeklärt werden sollte (Chervenak 2005).
Vorteile des pränatalen Nachweises einer fetalen Fehlbildung oder Chromosomenstörung 4 Rechtzeitige Vorbereitung der Eltern auf die Geburt eines behinderten Kindes 4 Planung der Geburt an einem Zentrum mit besseren Betreuungsmöglichkeiten 4 Bei Diagnosestellung vor 24 SSW Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs 4 Verkürzung des Intervalls bis zu einer nächsten erfolgreichen Schwangerschaft 4 In ausgewählten Fällen eine wirksame pränatale Therapie 4 Bei letalen Störungen Vermeiden eines Kaiserschnitts aus fetaler Indikation
Klinisch erprobte Screeningprogramme
8.2
Folgende Screeningprogramme haben in den letzten 25 Jahren eine große Bedeutung in den industrialisierten Ländern gewonnen für: 4 genetische Erkrankungen, 4 Aneuploidien, 4 schwere Fehlbildung (engl. »major anomalies«).
8.2.1
Genetische Erkrankungen
Genetische Erkrankungen
Kritiker eines Screenings bemängeln, dass nur begrenzt Studien vorliegen, die diesen Nutzen quantifizieren. Auch fehlen Daten über gesellschaftliche Auswirkungen von solchen Screeningprogrammen. Es ist denkbar, dass die Diskriminierung von Familien mit behinderten Kindern zunimmt, z. B. beim Abschluss einer Krankenversicherung. > Die Möglichkeit, Risiken auf das Vorliegen schwerer fetaler Krankheiten bereits während der ersten Schwangerschaftshälfte zu berechnen, stellt heutzutage Schwangere vor die Aufgabe, sich für oder gegen eine Risikoevaluation zu entscheiden. Dies kann in Einzelfällen zu schwerwiegenden Entscheidungsnotständen führen. Eine adäquate Beratung und Hilfeleistung ist deshalb unabdingbar. In der Schweiz ist eine Beratung bereits vor Durchführung eines Screeningtests auf Aneuploidien gesetzlich zwingend (Gesetz über genetische Untersuchungen am Menschen 2007). In Deutschland wurde Mitte Mai 2009 ein sehr ähnliches Gesetz im Parlament verabschiedet (Gendiagnostikgesetz).
Bei den genetischen Erkrankungen handelt es sich um Mutationen im Erbgut, die nicht im Lichtmikroskop anhand von Bänderungsmustern der Chromosomen, sondern durch moderne molekulargenetische Untersuchungsmethoden erkannt werden.
Typische Störungen umfassen 4 autosomal-dominante Erkrankungen (z. B. Achondroplasie), 4 autosomal-rezessive Erkrankungen (z. B. Tay-Sachs) und 4 X-chromosomal vererbte Störungen (z. B. Hämophilie A). In den meisten Fällen beruht das Screening auf genetische Erkrankungen im Erheben der Anamnese und Fahnden nach betroffenen Familienangehörigen über mehrere Generationen hinweg. Bei Thalassämien kommen auch einfache Hämatogramme bei den Eltern infrage. In Populationen mit hoher Prävalenz von autosomal-rezessiven Störungen (z. B. Mittelmeerländer mit Thalassämien oder Ashkenazi-Juden mit TaySachs) werden schon längere Zeit Screeningprogramme ange-
8
128
8
Kapitel 8 · Ersttrimesterscreening auf Fehlbildungen und Chromosomenstörungen
boten. In den jüdischen Gemeinden werden diese genetischen Risikofaktoren herangezogen für die Frage, ob eine Eheschließung überhaupt infrage kommt. Damit konnte z. B. die Zahl an Tay-Sachs erkrankter Kinder um den Faktor 10 verringert werden, ohne dass ein ethisch heikler Schwangerschaftsabbruch durchgeführt werden musste. Das Vorliegen einer genetischen Prädisposition bei den Eltern als Ausschlussfaktor für eine Ehe wird aber nur in wenigen Bevölkerungsgruppen akzeptiert. Viel häufiger wird die Tatsache, dass beide Eltern gesunde Träger einer genetischen Krankheit sind sowieso erst festgestellt, wenn ein erstes Kind in einer Familie betroffen ist. Die genaue genetische Abklärung dieses Indexfalls sowie der Eltern kann dann aber in einer weiteren Schwangerschaft dazu verwendet werden, mit DNA-Diagnostik homozygot betroffene Feten noch rechtzeitig zu erkennen. Das fortschreitende Wissen im Zusammenhang mit dem Human Genome Project, aber auch die Verfügbarkeit von Gen-Chips, die in naher Zukunft eine große Anzahl gut definierter rezessiver Erkrankungen zu einem vertretbaren Preis in einem einzigen Verfahren nachweisen bzw. ausschließen, werden es erlauben, genetische Störungen bereits zu erkennen, bevor ein erstes betroffenes Kind geboren ist. Solche Möglichkeiten werden den genetischen Beratungsaufwand nochmals ansteigen lassen. Es wäre deshalb sinnvoll, möglichst früh mit Studien zu dieser Thematik zu beginnen.
8.2.2
Screening auf Aneuploidien
Aneuploidie Eine Aneuploidie ist definiert durch das zusätzliche Vorhandensein oder Fehlen von Chromosomen im Vergleich zum normalen Chromosomensatz. Die bekannteste und häufigste Aneuploidie ist die Trisomie 21 oder Down-Syndrom. Andere, deutlich seltenere Aneuploidien sind das Turner-Syndrom (45,X), die Trisomie 13, die Trisomie 18 und die Triploidie. In den meisten Fällen von Aneuploidien ist das zusätzliche Chromosom mütterlichen, seltener auch väterlichen Ursprungs. Während Trisomien mit dem mütterlichen Alter zunehmen, sind die anderen Chromosomenaberrationen nicht altersabhängig.
80% der Trisomie-18- und -13-Feten natürlicherweise intrauterin absterben (Snijders et al. 1995). > Mit einer invasiven Diagnostik am Ende des 1. Trimenons wird man deshalb eine große Zahl von Chromosomenanomalien entdecken, die natürlicherweise nicht in einer Lebendgeburt enden würden. Eine hohe Entdeckungsrate von Aneuploidien durch Screeningtests im 1. Trimenon ist deshalb nicht gleichbedeutend mit einer geringen Zahl an Lebendgeburten.
In den 1970er Jahren, als nur ca. 5% der Gebärenden ≥35 Jahre alt waren, betrug die Geburtsinzidenz von Trisomie 21 etwa 1 Fall auf 800. In den letzten 30 Jahren hat als Folge des höheren Gebäralters in den westlichen Ländern die Häufigkeit von Trisomien deutlich zugenommen. So betrug der Anteil von Schwangeren >35 Jahren in der Schweiz 2004 rund 25%. Die erwartete Häufigkeit von Trisomie 21 dürfte damit auf etwa 1/500 gestiegen sein. Die Geburtsinzidenz von Kindern mit Trisomie 21 war in den gleichen 3 Jahrzehnten insgesamt geringgradig rückläufig, dies als Folge eines breit angelegten Screenings mit angeschlossenem Schwangerschaftsabbruch (Stat Santé 2007). Die Zahlen für Deutschland und Österreich dürften wahrscheinlich ähnlich ausfallen.
Bedeutung der Aneuploidien für betroffene Familien Die Trisomie 21 ist deshalb von Wichtigkeit, weil sie rund 50% aller Aneuploidien ausmacht. Die Hauptbedeutung der Trisomie 21 liegt in der geistigen Behinderung betroffener Individuen. Zwischen 8 und 33% aller Fälle mit schwerer mentaler Retardierung (IQ 3
>4
>5
Herz
AV-Kanal, echogener Fokus
Diverse Herzfehler
Diverse Herzfehler
Thorax, Zwerchfell
Leichte Hydronephrose
Darm
Duodenalatresie
Rücken
Wachstum
Diverse Herzfehler Pleuraerguss
Omphalozele
Nieren
Extremitäten
>7, großes Hygrom
Zwerchfellhernie
Bauchwand
45,X
Polyzystische Nieren Ösophagusatresie; echogener Darm
Aszites
Meningomyelozele Leicht kürzerer Femur, Sandalenlücke, Klinodaktylie, Hypoplasie Digitus 5
Hufeisenniere
Meningomyelozele
Verkürzte Röhrenknochen, Radiusaplasie, überkreuzte Finger, Klumpfüße, Wiegenkufenfüße
Postaxiale Polydaktylie
Syndaktylie
Frühe Restriktion
Frühe schwere Restriktion
Frühe schwere Restriktion
8
130
Kapitel 8 · Ersttrimesterscreening auf Fehlbildungen und Chromosomenstörungen
ebenfalls Hinweise auf das Vorliegen einer Aneuploidie ergeben. Die eingeschränkte Sensitivität des Alterstests und die zumindest versicherungsrechtlich starre Handhabung der Altersgrenze haben dazu beigetragen, nach Alternativen zu suchen.
Ultraschall
8
Morphologische Veränderungen. Feten mit einer Chromosomenanomalie zeigen häufig morphologische Veränderungen, die mit Ultraschall entdeckt werden können (Nicolaides et al. 1992). Eine Übersicht über die häufigsten Aneuploidien und ihre sonographischen Auffälligkeiten sind in . Tab. 8.1 zusammengefasst. Der sonographische Nachweis einer fetalen Fehlbildung ist somit fast immer eine Indikation für eine Karyotypisierung. Umgekehrt schließt das Fehlen von morphologischen Auffälligkeiten eine Chromosomenanomalie nicht aus. Nur eine Minderzahl der Feten mit Trisomie 21 weist echte Fehlbildungen wie z. B. einen AV-Kanal oder eine Duodenalatresie auf. Ein Screeningprogramm, das nur auf solche Fehlbildungen abstützt, dürfte daher eine relativ geringe Entdeckungsrate haben. Zudem werden in der Sonographie erfahrene Untersucher mit guten Geräten benötigt. Andere sonographische Marker. Neben den echten Fehl-
bildungen weisen Feten mit Chromosomenstörungen eine Vielzahl von »Softmarkern« auf, sonographische Veränderungen, die für sich genommen keinen Krankheitswert haben. Marker im 1. Trimenon umfassen eine verbreiterte Nackentransparenz, ein fehlendes Nasenbein, eine erhöhte Herzfrequenz, eine Trikuspidalinsuffizienz, einen Rückfluss im Ductus venosus während der Vorhofkontraktion (A-Welle) sowie einen verbreiterten Stirn-Gaumen-Winkel. Im 2. Trimenon haben ein verkürzter Femur, eine veränderte Femur-Fuß-Ratio, ein verkürzter 5. Finger, eine verkürzte Mittelphalanx des 5. Fingers, ein verkürzter Humerus, hyperechogene Darmschlingen, Plexus-chorioideus-Zysten oder geringgradig erweiterte Nierenbecken (>4 mm im a.-p. Durchmesser bei 20 Wochen) ebenfalls bescheidene diskriminierende Eigenschaften.
Nackentransparenzmessung Mit Abstand am besten dokumentiert ist bei den Softmarkern der Nutzen der Messung der Nackentransparenz (NT; . Abb. 8.1). Gemessen wird die breiteste Stelle des echofreien Raumes zwischen der Nacken-/Rückenhaut des Embryos und den Rückenweichteilen. Die Scheitel-Steiß-Länge sollte minimal 45 mm und maximal 84 mm betragen. Eine verbreiterte NT ist nicht nur limitiert auf Feten mit Trisomie 21, sondern tritt auch bei Trisomie 18, 13, TurnerSyndrom, 47,XXY und anderen Geschlechtschromosomenanomalien auf. Zudem weist eine verbreiterte NT auf eine Reihe anderer Fehlbildungen hin, allen voran Herzfehler, Skelettdysplasien sowie eine große Zahl von Syndromen.
. Abb. 8.1. Korrekte Nackentransparenzmessung
Studienbox Die gepoolten Daten aus zahlreichen prospektiven Studien mit mehr als 200.000 prospektiv untersuchten Schwangeren mit über 800 Down-Syndrom-Schwangerschaften zeigten eine Entdeckungsrate von 76,8% für Trisomie 21 bei einer Falsch-positiv-Rate von 4,2% (Nicolaides 2004). Eine prospektiv randomisierte Studie aus Schweden (Saltvedt et al. 2005), die je 20,000 Schwangerschaften mit NTMessung mit einem Screening verglichen, das vorwiegend auf dem mütterlichen Alter beruhte, relativierte allerdings diese Ergebnisse beträchlich. Die Studie zeigte, dass die Zahl von Lebendgeburten mit Trisomie 21 in beiden Gruppen gar nicht so stark differierte: In der NT-Gruppe wurden schließlich 10 Kinder lebend geboren, in der Kontrollgruppe 16 (nicht signifikant). In der Kontrollgruppe wurden zwar etwas mehr Trisomie-21-Feten entdeckt als primär erwartet, weil ein kleiner Teil der Schwangeren, obwohl nicht vorgesehen, einen biochemischen Tripletest durchführen ließ. Ein weiterer Teil wurde aufgrund von sonographisch entdeckten Fehlbildungen identifiziert. Diese Ergebnisse legen aber trotzdem nahe, dass mit der NT-Messung stark selektiv solche Feten erfasst werden, die ein höheres Risiko haben, im Lauf der Schwangerschaft noch abzusterben, was logischerweise die Gesamtperformance des NT-Screenings schmälert. Trotz diesem Ergebniss gibt es aber keine Zweifel, dass die Messung der NT der alleinigen Verwendung des mütterlichen Alters klar überlegen ist. In der NT-Gruppe wurden nämlich lediglich 1593 Karyotypisierungen vorgenommen, in der Kontrollgruppe mussten hingegen 2118 invasive Eingriffe durchgeführt werden. Das bedeutet zusammengefasst: Mit einem Screening, das die NT und das mütterliche Alter umfasst, werden im Vergleich mit einem Altersscreening zwar nur geringgradig weniger Kinder mit Trisomie 21 geboren, die Diagnose kann jedoch wesentlich früher gestellt werden, und es sind dazu rund 25% weniger invasive Eingriffe notwendig.
131 8.2 · Klinisch erprobte Screeningprogramme
> Insgesamt scheint die Messung der NT der alleinigen Verwendung des mütterlichen Alters deutlich überlegen zu sein. Wichtig für eine gute Qualität der Messung liegt aber in der individuellen Ausbildung und der fortlaufenden Qualitätsüberprüfung der sonographierenden Ärzte.
Weitere sonographische Marker im 1. Trimenon Neben der NT hat der Nachweis eines fehlenden Nasenbeins Hoffnung geweckt, bei unverändert hoher Entdeckungsrate von Feten mit Trisomie 21 die Zahl falsch-positiver Fälle weiter zu reduzieren (Cicero et al. 2001). Andere Arbeiten berichten über kontroverse Ergebnisse (Malone et al. 2004). Der Grund dafür liegt wahrscheinlich in der eingeschränkten Reproduzierbarkeit der Nasenbeindarstellung (Senat et al. 2003). Ein Review von Sonek et al. (2006) beschreibt in 17,000 normalen und 400 Trisomie-21-Schwangerschaften nach eingehendem Training der sonographierenden Ärzte eine Prävalenz eines fehlenden Nasenbeins von 1,2 bzw. 68,5%. In 1,5% aller Schwangerschaften konnte das Nasenbein nicht zuverlässig als vorhanden oder fehlend angegeben werden. Für ein breit angelegtes Populationsscreening durch viele wenig geübte Ärzte ist dieser Marker definitiv ungeeignet, da er auch dann ein erhöhtes Risiko anzeigt, wenn aus technischen Gründen der Schaller das Nasenbein nicht darstellen kann. Ein denkbar einfacher Marker hingegen ist die Messung der Herzfrequenz. Eine Erhöhung im 1. Trimenon über der 99. Perzentile ist ein Hinweis auf das Vorliegen einer Trisomie 13 (Kagan et al. 2009). Feten mit Trisomie 21 und 18 weisen zwar auch leichte Abweichungen von der Norm auf, die Überschneidung mit der Normalpopulation ist jedoch beträchtlich. Eine rückwärts gerichtete A-Welle im Ductus venosus wurde im 1. Trimenon nur bei 3,2% aller gesunden Kinder beobachtet, wohingegen bei Trisomie 21, 18, 13 und TurnerSyndrom die Frequenzen bei 66,4, 58,3, 55,0 bzw. 75% lagen (Maiz 2009). Auch dieser Marker erfordert eine gute Ausbildung sowie ein hochwertiges Gerät mit Farbdoppler und gepulstem Doppler. Die gleiche Aussage trifft für den Nachweis einer Trikuspidalinsuffizienz zu. Diese kann bei 0,9% gesunder Kinder gefunden werden, bei Trisomie 21 liegt die Rate bei 56%, bei Trisomie 18 und Trisomie 13 bei jeweils rund 30% (Kagan 2009). Ein weiterer Marker ist die Messung des Gesichtswinkel (Stirn-Gaumen-Winkel; Borenstein et al. 2008). Hier fehlen aber noch Daten an größeren Kollektiven.
Biochemische Parameter 1984 wurde im Zusammenhang mit dem NRD-Screening erstmals beschrieben, dass sich Schwangerschaften mit Trisomie 21 im 2. Trimenon durch erniedrigte AFP-Werte im mütterlichen Serum auszeichnen. Im selben Jahr wurden HCG und ein Jahr später unkonjugiertes Östriol als zusätzliche Marker für Trisomie 21 entdeckt, was direkt zur Entwicklung des Tripletests geführt hat, der alle 3 biochemischen Parameter in einem Risikomodell einsetzt (Wald et al. 1988). Mit diesem Verfahren wurden seit 1988 in mindestens 15 prospekti-
ven Studien mit Fallzahlen >5.000 über 190.000 Schwangere abgeklärt. Insgesamt waren 6% screenpositiv; die Entdeckungsrate betrug 69%, die Falsch-positiv-Rate 5,9%. Neben den Feten mit Trisomie 21 wurden zusätzlich halb so viele andere Chromosomenanomalien miterfasst. Damit entdeckt der Tripletest bei einer konstanten Amniozenteserate rund doppelt so viele Schwangerschaften mit Trisomie 21 wie der Alterstest allein. Später wurde dann auch noch Inhibin-A als Zweittrimesterserummarker in die klinische Praxis aufgenommen, was unter dem Begriff Quadruplescreening Eingang in die Literatur gefunden hat. In den 1990er Jahren wurden weitere Parameter beschrieben, die bereits im 1. Trimenon eingesetzt werden können und auch Hinweise auf das Vorliegen anderer Aneuploidien geben, so das freie β-HCG (fbHCG) sowie das schwangerschaftsassoziierte Plasmaprotein A (PAPP-A). Freies β-HCG entsteht durch Zerfall von intaktem HCG. Deshalb steigt bei Raumtemperatur nach 24 h das fbHCG an, was beim Postversand von Seren zu berücksichtigen ist. Die Bestimmung von fbHCG erfolgt über den Nachweis eines Epitops, das beim intakten HCG durch die α-Kette verdeckt ist. Die Überlappung zwischen Feten mit normalem Karyogramm und Trisomie 21 ist bei 10 Wochen am größten und nimmt dann bis ins 2. Trimenon laufend etwas ab. Das PAPP-A ist ein zu 20% verzuckertes α2-Metalloglykoprotein von 720 kD mit einer tetrameren Struktur. Pro Molekül enthält PAPP-A 4 Zinkatome. PAPP-A bildet mit der Proform des Major-basic-Proteins über Disulfidbrücken einen Komplex. Die Überlappung zwischen Feten mit normalem Karyogramm und Trisomie 21 ist (im Gegensatz zum HCG) bei 10 Wochen am geringsten und nimmt dann bis ins 2. Trimenon stark zu, sodass nach 14 Wochen PAPP-A nicht mehr als Marker verwendet werden sollte. Da alle biochemischen Marker eine Abhängigkeit vom Gestationsalter zeigen, hat es sich eingebürgert, konkrete Messwerte als gestationsaltersabhängige Vielfache des Medianwertes auszudrücken (»multiples of the median«; MOM). Dadurch entsteht eine »Währung«, die nicht mehr vom Schwangerschaftsalter abhängig ist. . Tab. 8.2 zeigt den durchschnittlichen MOM-Wert für die gebräuchlichsten Serummarker und die häufigsten Aneuploidien. Eine ganze Reihe von anderen Faktoren außer dem Gestationsalter beeinflusst die Serumkonzentrationen der verschiedenen Parameter ebenfalls, so das mütterliche Gewicht, ein ausgeprägter Nikotinabusus, die ethnische Herkunft, die Parität, eine In-vitro-Fertilisation, ein Diabetes mellitus Typ 1 sowie die Anzahl der Feten. In der Praxis werden meist Korrekturfaktoren verwendet für das Gewicht, die ethnische Herkunft bzw. das Vorliegen eines Diabetes. Bei Mehrlingen sind praktisch alle Serumkonzentrationen rund doppelt so hoch. Die Risikoberechnung bei Mehrlingen ist jedoch aus verschiedenen Gründen problematisch: Einerseits gibt es kaum zuverlässige Daten über die Häufigkeit von Lebendgeburten mit Trisomie 21 in Abhängigkeit des mütterlichen Alters, sodass eine zuverlässige Vortestwahrscheinlichkeit gar nicht angegeben werden kann. Die wenigen vorliegenden Daten lassen vermuten, dass Trisomie 21 bei Zwillingen nicht, wie zu erwarten wäre, annähernd doppelt so
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132
Kapitel 8 · Ersttrimesterscreening auf Fehlbildungen und Chromosomenstörungen
. Tab. 8.2. MOM-Wert für die gebräuchlichsten Serummarker und die häufigsten Aneuploidien
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Aneuploidie
Freies β-HCG (MOM 1. Trimenon)
PAPP-A (MOM 1. Trimenon)
AFP MOM (2. Trimenon)
uE3 MOM
Inhibin A
Trisomie 21
2,0
0,5
0,74
0,75
1,79
Trisomie 18
0,2
0,2
0,64
0,43
↑
Trisomie 13
0,3
0,4
↓
?
↑
Triploide maternal
0,2
0,1
↑
↓
↓
Triploidie paternal
9,0
0,7
↑
↓
↓
45,X
1,2
0,5
↓
↓
=
häufig vorkommt, da es sich um 2 Kinder handelt. Auswertungen von Registern, die noch nicht durch Trisomie-21Screening und Schwangerschaftsabbruch beeinflusst sind, zeigen im Gegenteil, dass die Häufigkeit von Lebendgeburten sogar niedriger ist als bei Einlingen (Doyle 1991). Doyle spekuliert, dass Trisomie-21-Zwillinge häufiger in einer Fehlgeburt enden, wenn noch ein zweites gesundes Kind sozusagen Konkurrenz macht. Zum anderen können bei Mehrlingen konkordant alle oder diskordant nur einzelne betroffen sein. Die Angabe eines individualisierten Risikos ist somit bei Mehrlingen nur auf die Messung der NT limitiert. Trotzdem bieten viele Risikoberechnungsprogramme auch Algorithmen für Zwillinge.
und damit eine altersabhängige Trisomie-21-Wahrscheinlichkeit p1 berechnet: 4 P1=p (Population)×LR (Alter)
Grundlagen kombinierter Risikoevaluationsverfahren
Mit dieser Methode lassen sich somit beliebig viele Marker miteinander kombinieren. Problematisch bei dieser seriellen Risikoevaluation ist, dass gegenseitige Abhängigkeiten der Risikomodifikatoren nicht berücksichtigt werden. Entsprechend muss mit zunehmender Zahl von Parametern die Schätzgenauigkeit abnehmen. Trotz diesem Nachteil hat das Bayes-Theorem gerade bei der Berechnung von Trisomie-21-Risiken große Bedeutung erlangt.
Die Tatsache, dass eine ganze Reihe von sonographischen und biochemischen Markern diskriminatorische Eigenschaften in Bezug auf Trisomie 21 und andere Chromosomenanomalien haben, hat zur Entwicklung von kombinierten Risikoevaluationsverfahren geführt mit der Absicht, durch geschickte Anwendung der einzelnen Faktoren eine bessere Aussage zu erhalten, ohne gleichzeitig zu viele falsch-positive Fälle zu haben. Die heute gebräuchlichen Verfahren zur Risikoberechnung basieren im Wesentlichen auf dem Bayes-Theorem. Dieses beruht auf der Tatsache, dass sich eine Nachtestwahrscheinlichkeit p (Nach) abschätzen lässt, wenn die Vortestwahrscheinlichkeit p (Vor) und mindestens ein Risikomodifikator (RM) bekannt ist. Die allgemeine Formel lautet: 4 p (Trisomie 21 Nach)=RM×p (Trisomie 21 Vor) Die Größe eines Risikomodifikators RM kann bei normal verteilten Parametern aus dem Verhältnis der Gauss-Höhen (=»likelihood ratio«, kurz LR) direkt berechnet werden. Zur Berechnung dieser LR sind große Zahlen von MOM-Werten von normalen und Trisomie-21-Schwangerschaften notwendig. Die LR sind heute nicht nur für biochemische Parameter, sondern auch für eine Reihe von sonographischen Markern wie die NT bekannt. Als erste Vortestwahrscheinlichkeit wird in der Praxis die Häufigkeit von Trisomie 21 in einer Population verwendet
Aus dieser Formel wird klar, dass die Betrachtung des Alters ebenfalls ein Risikoevaluationsverfahren darstellt. Beim Einsatz von mehreren Parametern wird aus der Nachtestwahrscheinlichkeit p (Nach1) nach Einsatz des ersten Risikomodifikators die Vortestwahrscheinlichkeit p (Vor2), und das Verfahren beginnt von Neuem: 4 P2=p (Pop&Alter)×LR (NT) 4 P3=p (Pop&Alter&NT)×LR (PAPP-A) 4 P4=p (Pop&Alter&nt&PAPP-A)×LR (fβ-HCG) usw.
Screeningstrategien Aus der Perspektive der Gesundheitspolitik Bei dieser Perspektive geht es darum, das effizienteste Screeningprogramm zu definieren, welches das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis hat, um festzulegen, welches Screeningprogramm einer Schwangeren angeboten wird und bei welchem Risiko die Kosten für eine weiterführende Abklärung von der Krankenkasse übernommen werden. Es gibt auch Rahmenbedingungen vor für die Qualitätssicherung. Da fast alle biochemischen und sonographischen Marker zusammen mit dem mütterlichen Alter in irgendeiner Kombination verwendet werden können, ist es nicht einfach, noch die Übersicht über die verschiedenen Hauptverfahren zu behalten. Eine Zusammenstellung der heute gängigen Verfahren ist in . Tab. 8.3 zusammengefasst. Eine Reihe von Ärzten (und v. a. Schwangere) reduzieren das Screening immer noch allein auf das Alter. Dies muss angesichts der geringen Entdeckungsrate als obsolet betrachtet werden.
133 8.2 · Klinisch erprobte Screeningprogramme
. Tab. 8.3. Gängige Screeningverfahren
Zeitpunkt
Screeningverfahren
Unabhängig
4 Mütterliches Alter
2. Trimenon
4 Tripletest (Alter, AFP, HCG, uE3) 4 Quadrupletest (Alter, AFP, HCG, uE3, Inhibin)
1. Trimenon
4 Alter und NT 4 Ersttrimestertest (Alter, NT, PAPP-A, fbHCG)
1. und 2. Trimenon
4 Integriert (Alter, NT, PAPP-A/HCG, uE3, Inhibin) 4 Sequenziell (Ersttrimestertest; Zweittrimestertest bei den testnegativen Schwangeren) 4 Contingent sequentiell (Ersttrimestertest; Zweittrimestertest bei intermediärem Risiko) 4 Contingent sonongraphisch (Ersttrimestertest; sonographisch Zusatzmarker bei intermediärem Risiko)
Auch eine alleinige Kombination des mütterlichen Alters mit Messung der NT wird nicht mehr empfohlen, da die Entdeckungsrate gegenüber anderen Verfahren schlechter ist. Das seit mehreren Jahren in Europa etablierte kombinierte Ersttrimesterscreening, welches das Alter, die NT und die beiden biochemischen Marker PAPP-A und fbHCG umfasst, erreicht unter Auswertung von gepoolten Daten aus zahlreichen prospektiven Studien mit >200.000 untersuchten Schwangeren und >800 Down-Syndrom-Schwangerschaften eine Entdeckungsrate von 88% für Trisomie 21 bei einer Falsch-positiv-Rate von 5% (Spencer 2007). Vom OSCAR-System (»one-stop clinic for early assessment of fetal risk«; Avgidou et al. 2005), bei dem innerhalb eines halben Tages alle oben erwähnten Parameter getestet, anschließend die Schwangere bzw. das Paar genetisch beraten und bei erhöhtem Risiko eine Chorionzottenbiopsie (CVS) durchgeführt wird, scheint man eher wieder abzukommen, weil die Aussagekraft der biochemischen Marker mit 10 Wochen besser, die Sonographie aus verschiedenen anderen Überlegungen aber mit 12 Wochen überlegen ist, was nicht an einem einzigen Tag zu vereinen ist. Das »integrierte Screening« (Wald et al. 2005), bei welchem zunächst über viele Wochen im 1. und 2. Trimester Parameter bestimmt werden, die dann in einer einzigen Risikoevaluation zusammengefasst werden, wird v. a. von Exponenten des biochemischen Screenings als bestes Verfahren mit der höchsten Entdeckungsrate angepriesen (Entdeckungsrate 94% bei einer Falsch-positiv-Rate von 5%). Vorteilhaft ist, dass eine Reihe von Schwangerschaften mit Aneuploidien nicht abgeklärt werden müssen, weil sie bis zum Zeitpunkt des Gesamtergebnisses spontan in einer Fehlgeburt geendet haben. Nachteilig ist, dass Frauen mit offensichtlich sehr hohem
Risiko (z. B. NT>4 mm) einen zusätzlichen Monat warten müssen, bis eine Karyotypisierung erfolgt. Das sequenzielle Screening, bei dem alle Schwangeren mit einem geringen Risiko im Ersttrimestertest mit einem Zweittrimestertest nochmals evaluiert werden, hat den Nachteil, dass Fälle mit »erhöhtem Risiko« im 1. Trimenon bereits einer Chorionzottenbiopsie zugeführt wurden, obwohl möglicherweise das Risiko durch günstige Serumwerte im 2. Trimenon tiefer als angenommen ausgefallen wäre (Platt et al. 2004). Beim »kontingenten Screening« wird ein kombiniertes Ersttrimesterscreening durchgeführt mit Einbezug des Alters, der NT sowie der biochemischen Marker PAPP-A und fbHCG und die Risiken in eine sehr hohe, eine intermediäre und in eine sehr tiefe Risikozone eingeteilt. Bei sehr hohem Risiko wird direkt eine Karyotypisierung angeboten, bei sehr niedrigem Risiko nichts weiter unternommen. Bei intermediärem Risiko wird dann weiter getestet, klassischerweise mit einem biochemischen Test im 2. Trimenon unter Berücksichtigung der Resultate aus dem 1. Trimenon. Die Fetal Medicine Foundation um Nicolaides propagieren alternativ eine Abklärung der intermediären Gruppe mit zusätzlichen sonographischen Markern wie dem Nasenbein, dem Gesichtswinkel, der fetalen Herzfrequenz oder dem Nachweis einer Trikuspidalinsuffizienz bzw. einem Rückwärtsfluss im Ductus venosus. Ist das Risiko unter Berücksichtigung aller Marker erhöht, wird ebenfalls eine Karyotypisierung angeboten. Bei allen anderen Fällen wird der Chromosomensatz nur dann bestimmt, wenn im 20- bis 23-Wochen-Ultraschall eine relevante Fehlbildung entdeckt wird. Im Gegensatz zum integrierten Screening können Frauen mit sehr hohem Risiko sofort abgeklärt werden. Die Hauptfrage bei dieser Screeningstrategie ist, wo die Cut-off-Werte festgelegt werden, um die 3 Risikokategorien einzuteilen. Bezüglich Effizienz muss dieses Verfahren geringfügig schlechter sein als das integrierte Screening. Bei der Frage nach dem Screeningprogramm mit dem besten Kosten-Nutzen-Verhältnis kommen Wald et al. (2006) und Gekas et al. (2009), basierend auf Zahlen der Suruss Studie (Wald et al. 1999, 2005), zu dem Schluss, dass das kontingente Screening (mit biochemischen Tests in der Intermediärgruppe) das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis (. Abb. 8.2), das integrierte Screening aber eine bessere Screeningperformance (Anzahl entdeckter Fälle, Anzahl notwendiger invasiver Abklärungen, Anzahl unerwünschter Fehlgeburten) aufweist. Während Wald et al. darauf hinweisen, dass ein kontingentes Screening einer Schwangeren schwieriger zu vermitteln ist als ein integriertes Screening, streichen Gekas et al. (2009) hervor, dass mit dem kontingenten Screening selbst bei einem Ersttrimester-Cut-off von 1:6 zwischen der Gruppe mit hohem und intermediärem Risiko fast 50% der betroffenen Feten bereits im 1. Trimenon erkannt werden. Ähnliche Modellrechnungen zum kontingenten Screening mittels sonographischer Zusatzuntersuchungen (Trikuspidalinsuffizienz, Herzfrequenz, fehlendes Nasenbein etc.) existieren derzeit noch nicht. Die meisten Experten sind sich immerhin einig, dass andere sonographische Softmarker wie ein echogener Fokus im
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Kapitel 8 · Ersttrimesterscreening auf Fehlbildungen und Chromosomenstörungen
. Abb. 8.2. Kosten-Nutzen-Effizienz von Trisomie-21-Screeningprogrammen: sequenzielles Screening (gestrichelte Linie), integriertes Screening (durchgezogene Linie), kontingentes Screening (gepunktete Linie). Dargestellt sind die Kosten in Britischen Pfund pro entdeckter Trisomie-21Schwangerschaft. (Nach Wald et al. 2006)
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Herzen, Plexus-chorioideus-Zysten, ein echodichter Darm oder eine geringgradige Hydronephrose nach erfolgter Erstoder Zweittrimesterrisikoberechnung mit niedrigem Risiko zu wenig zusätzliche Aussagekraft haben, um einen invasiven Eingriff zu einem späteren Zeitpunkt zu rechtfertigen.
Aus der Perspektive der Schwangeren Hier geht es darum, das für eine einzelne Schwangere individuell beste Risikoevaluationsverfahren auszuwählen. Streng genommen sind Ausdrücke wie »screeningpositiv«, »screeningnegativ«, »erhöhtes« Risiko, »nicht erhöhtes Risiko« nicht mit einer nichtdirektiven Beratung vereinbar. Aus diesem Grund können gesundheitspolitisch festgelegte Cut-off-Werte (bei welchen die Krankkasse die Kosten für eine Chromosomenanalyse übernehmen müssen) nicht einfach einer einzelnen Schwangeren übergestülpt werden. Ohne Zweifel spielen die Kosten bei der Entscheidung zu einer invasiven Abklärung auch eine Rolle. Die Angst, ein behindertes Kind zu bekommen einerseits, andererseits die gleichzeitig vorhandene Angst, ein wahrscheinlich gesundes Kind durch die Punktion zu verlieren, ist aber sehr häufig von einer viel größeren Bedeutung. Sehr großes Gewicht bei einem Aneuploidiescreening ist deshalb auf die individuelle Beratung zu legen. Wichtig bei dieser Beratung ist zunächst einmal, dass man als Risikowert konsequent das Risiko für eine Lebendgeburt mit dieser Aneuploidie angibt, weil dies ja letztendlich den am meisten gefürchteten Endpunkt darstellt. Sodann ist die Risikowahrnehmung von verschiedenen Frauen unterschiedlich. Eine 42-jährige Primipara z. B., mit einem Altersrisiko von 1:65, kann durch ein Screeningresultat von 1:250 stark beruhigt werden und sich entscheiden, bei diesem in ihren Augen »niedrigen« Risiko die Schwangerschaft nicht durch eine Amniozentese zu gefährden, obwohl ihr individuelles Risiko immer noch aus einer gesundheitspolitischen Optik »erhöht« sein mag, d. h. über dem Grenzwert von z. B. 1:340 liegt. Umgekehrt kann eine 22-Jährige mit instabiler Partnerschaft trotz niedrigem Altersrisiko direkt eine Karyotypisierung wollen, da ein behindertes Kind in dieser Lebenssituation eine Katastrophe sein könnte.
Gerade bei Frauen am Ende ihrer Reproduktionsfähigkeit, die neben der Angst, ein behindertes Kind zu bekommen auch fürchten, nie mehr schwanger zu werden, ist ein integriertes Screening oder ein kontingentes Screening keine schlechte Wahl, da mit einer Vielzahl von Markern das Risiko besser eingegrenzt werden kann. Gleichzeitig ist durch das Abwarten gewährleistet, dass die Natur eine Schwangerschaft mit einer Aneuploidie von selbst in einer Fehlgeburt enden lässt, ohne dass durch eine sehr früh erfolgende Punktion gleichzeitig auch gesunde Kinder mitgefährdet werden.
Empfehlungen für ein Screeningprogramm in einer Population Eine Reihe von Fachgesellschaften hat nationale Empfehlungen für die korrekte Durchführung eines Trisomie-21Screeningprogramms ausgearbeitet (FMF Deutschland 2003, SGUMGG 2005, ACOG 2007). Ihnen gemeinsam sind folgende Aussagen: 4 Alle Schwangeren sollten über die Möglichkeit, mit geeigneten Tests mehr über das individuelle Risiko für das Vorliegen einer Trisomie 21 zu erfahren, informiert werden. 4 Ein kombiniertes Screening im 1. Trimenon unter Einschluss des Alters, der NT und der biochemischen Marker PAPP-A und fbHCG ist sowohl dem reinen Altersscreening, der alleinigen NT-Messung als auch dem Triplescreening im 2. Trimenon überlegen. 4 Das Screeningprogramm hat nur dann eine gute Performance, wenn sowohl die Laborqualität als auch insbesondere die Ausbildung der sonographierenden Ärzte strukturiert und kontinuierlich überwacht wird. Es sollten Risikoprogramme verwendet werden, die auf einer möglichst großen Zahl prospektiv untersuchter Schwangerschaften beruhen und die diversen bekannten Korrekturfaktoren berücksichtigen. 4 Sowohl Labor wie auch Sonographie benötigen eine Qualitätskontrolle. In Europa haben sich die meisten Labors den Ringversuchen der UK-NEQAS angeschlossen. Die FMF Deutschland hat sich betreffend der Ausbildung der sonographierenden Ärzte dem Vorbild der britischen FMF angeschlossen. In der Schweiz tun sich viele Ärzte
135 8.2 · Klinisch erprobte Screeningprogramme
aktuell noch schwer, sich nach einer guten Grundausbildung und einer kontinuierlichen statistischen Performanceüberprüfung auch jährlich einer Rezertifizierung mit Einschicken von Ultraschallbildern unterziehen zu müssen. Sie weisen darauf hin, dass weder im eigenen Fach noch in anderen Fachdisziplinen in sehr kurzen Abständen die erworbenen Fertigkeiten wieder überprüft werden. Ein Bauchchirurg muss auch nicht jährlich beweisen, dass er noch immer in der Lage ist, eine Appendektomie lege artis durchzuführen. 4 Nur das schweizerische Programm weist auch auf die (in der Schweiz gesetzlich vorgeschriebene) Informationspflicht vor Durchführung einer Risikoberechnung hin. Dazu hat eine Arbeitsgruppe einen Leitfaden entwickelt und wissenschaftlich evaluiert (Hürlimann u. BaumannHölzle 2004). Einer adäquaten Beratung kommt große Bedeutung zu (Khoshnood 2006).
Akzeptanz in der Bevölkerung Die Akzeptanz des Trisomie-21-Screenings ist in der Bevölkerung generell hoch, variiert jedoch von Land zu Land und insbesondere je nach Screeningstrategie. Das mittlerweile in vielen Ländern eingeführte Ersttrimesterscreening hat das frühere Altersscreening zu einem beträchtlichen Teil abgelöst, auch wenn viele Frauen >35 Jahre nach wie vor ohne vorangehende zusätzliche Risikoabklärung direkt eine Karyotypisierung verlangen. In den deutschsprachigen Ländern sind neuere Screeningstrategien wie das integrierte Screening oder das kontingente Screening noch kaum verbreitet.
Screeningerfolg Wie bereits weiter oben erwähnt, ist in vielen Ländern trotz breit angelegtem Screening die Anzahl an Lebendgeburten mit Trisomie 21 kaum oder nur zaghaft zurückgegangen. In Großbritannien z. B. war ein leichter Rückgang bis ca. 1994 zu verzeichnen, seither bleibt die Rate nahezu konstant (. Abb. 8.3; Crane u. Morris 2006). Ähnliche Resultate werden . Abb. 8.3. Lebendgeburten mit Down-Syndrom in England und Wales 1989–2003
in den USA und in der Schweiz beobachtet. Die Gründe für diese unerwartete Tatsache sind mehrschichtig. Sicher entstehen durch höheres mütterliches Alter mehr Schwangerschaften mit Aneuploidien. Weiterhin wünschen nicht alle Schwangeren eine pränatale Diagnostik. Schließlich dürfte aber auch eine Rolle spielen, dass mit den beschriebenen Screeningverfahren selektiver solche Schwangerschaften identifiziert werden, die nicht in einer Lebendgeburt enden würden.
Zukunftsperspektiven Die seit bald 4 Jahrzehnten praktizierte Vorselektion von Schwangeren mit einem erhöhten Risiko für eine Aneuploidie leidet trotz Verbesserung der Verfahren mit höheren Entdeckungsraten an einer immer noch zu hohen Falsch-positivRate. Auch mit den besten Testkombinationen haben >90% der Frauen mit einem erhöhten Risiko ein chromosomal gesundes Kind, setzen also ihr Kind unnötigerweise einem Punktionsrisiko aus. Es ist deshalb verständlich, dass parallel zur Entwicklung von besseren Screeningmethoden nach Verfahren gesucht wurde, die nichtinvasiv direkt eine Diagnose liefern. Lo (2009) fasst in einem Review die Erfolge zusammen. 1997 konnte erstmals nachgewiesen werden, dass 3–6% der DNA im mütterlichen Plasma fetalen Ursprungs sind. In wenigen Jahren gelang es, zuverlässig Genfragmente nachzuweisen, die sicher fetalen Ursprungs sein müssen, wie etwa Gene auf dem Y-Chromosom bei männlichen Feten oder das Rhesus-D-Gen bei Rh-D-negativen Müttern. Die Methoden wurden nach und nach ergänzt durch Techniken für den Nachweis von überzähligen Chromosomen. Lo (2009) schätzt, dass die plazentare RNA-Single-Nukleotid-Polymorphismus-Allel-Ratio-Methode die vielversprechendste Art sei. Über einen Chromsomom-21-spezifischen Einzelnukleotidpolymorphismus gelingt es, tatsächlich Feten mit Trisomie 21 direkt aus dem mütterlichen Plasma nachzuweisen. Dies glückt allerdings nur bei Feten, die heterogen für diesen Polymorphismus sind. Eine andere Methode haben Fan et al. (2008) beschrieben. Sie weisen relativ zuverlässig eine fetale Trisomie 21 im müt-
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Kapitel 8 · Ersttrimesterscreening auf Fehlbildungen und Chromosomenstörungen
terlichen Plasma nach mit einer Shotgun-Sequenzierung der fetalen DNA. Die Assay-Kosten werden von den Autoren mit rund 700 US-$ veranschlagt, was aktuell weit über den Kosten der bisherigen Screeningverfahren liegt. Andererseits wären, falls die Methode sich als wirklich zuverlässig herausstellte, keine Karyotypisierungen mehr notwendig, zumindest nicht mehr bei den Schwangeren mit normalem Resultat. Die Autoren schätzen, dass durch Automatisierung der Methodik mit einer deutlichen Kostenreduktion zu rechnen ist. Diese Entwicklungen lassen vermuten, dass in naher Zukunft die Diskussion um das beste Trisomie-21-Screeningverfahren Geschichte geworden ist.
8.2.3
Screening auf schwerwiegende Fehlbildungen
Schwerwiegende Fehlbildungen
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Schwerwiegende angeborene Fehlbildungen (englisch: »major anomalies«) sind solche, die nach der Geburt ohne Behandlung eine ausgeprägte Behinderung nach sich ziehen oder mit dem Leben nicht vereinbar sind. Beispiele dafür sind komplexe Herzfehler, Hirnfehlbildungen, Neuralrohrdefekte oder etwa Bauchwanddefekte. Davon abgegrenzt werden geringfügige Fehlbildung (»minor anomalies«) wie etwa Synechien, Ohranhängsel oder Hypospadien.
Serum liegen die AFP-Spiegel um einen Faktor 1000 tiefer als im fetalen Serum und Fruchtwasser und steigen bis nach der 32. SSW an. Da unterschiedliche ethnische Gruppen verschiedene Durchschnittswerte aufweisen und in der Diagnostik verschiedene Bestimmungskits in Gebrauch sind, sollte jedes Labor an der zu untersuchenden Population eigene gestationsaltersabhängige Normwerte erarbeiten. Die Werte werden dabei in MOM ausgedrückt, damit Werte unabhängig vom Gestationsalter verglichen werden können. Das AFP im mütterlichen Serum wird im Zeitfenster zwischen 15 und 18 (20) SSW bestimmt. Vorher und nachher ist die Aussagekraft deutlich geringer. Erhöhte Werte. Zahlenmäßig bilden Neuralrohrdefekte (NRD) die größte Gruppe der Ursachen erhöhter mütterlicher Serum-AFP-Werte. Doch auch bei anderen Körperoberflächendefekten (Gastroschisis, Omphalozele etc.) kommt es zu einem vermehrten Übertritt von AFP ins mütterliche Serum. Ebenfalls im Zusammenhang mit Aborten gelangt aus nekrotischem Material relativ viel AFP in den mütterlichen Kreislauf und kann dort nachgewiesen werden. Daneben gibt es unzählige andere Ursachen für erhöhte AFP-Werte. Die häufigsten Ursachen eines erhöhten AFP sind in der 7 Übersicht zusammengestellt.
Ursachen von erhöhtem mütterlichem Serum-AFP Fetales Kompartiment
7 Kap. 9 gibt einen guten Überblick über die Epidemiologie
von Fehlbildungen, die Terminologie, die Ursachen und die Behandelbarkeit.
Screeningwerkzeug Wie bei den Chromosomenstörungen wurden zur Entdeckung von Fehlbildungen sowohl biochemische wie auch v. a. bildgebende Verfahren beschrieben.
α-Fetoprotein (AFP) AFP war noch vor der breiten Einführung und Anwendung von Ultraschall der erste Marker für Fehlbildungen. AFP ist ein einkettiges Molekül, bestehend aus 590 Aminosäuren mit einer fast 40%igen Sequenzanalogie zu Albumin. Die Gene für AFP und Albumin liegen beide auf dem langen Arm des Chromosoms 4. Im Gegensatz zu Albumin ist AFP zu 4% verzuckert. AFP kann im Serum von Nichtschwangeren normalerweise höchstens in Spuren nachgewiesen werden, ist aber beim hepatozellulären Karzinom in der Regel deutlich erhöht. In der Schwangerschaft wird AFP vom Dottersack, der fetalen Leber und dem Gastrointestinaltrakt synthetisiert. Im fetalen Serum sowie im Fruchtwasser steigt die Konzentration bis zur 12./14. SSW stark an und fällt anschließend ähnlich stark wieder ab (Brock 1992). Die Herkunft von AFP im Fruchtwasser ist komplex. Wegen der engen Korrelation zwischen Serum- und Fruchtwasserkonzentration ist eine relativ rasche Konzentrationsangleichung u. a. durch direkte Ausscheidung ins Fruchtwasser wahrscheinlich. Im mütterlichen
4 Erhöhte AFP-Produktion – Zwillingsschwangerschaft – Fetaler Tumor (Teratom) – Zystisch adenomatoide Malformation der Lunge 4 Verminderte Ausscheidung – Nierenagenesie – Harnwegsobstruktion – Oligohydramnion 4 Bevorstehender oder eingetretener Fruchttod 4 Erhöhte Ausscheidung ins Fruchtwasser – Offener Neuralrohrdefekt – Gastroschisis – Omphalozele – Kongenitaler Hautdefekt – Zystisches Hygrom – Amnion-Strang-Syndrom – Teratom – Verminderte intestinale Rückresorption – Duodenalatresie – Ösophagusatresie – Zwerchfellhernie – Zystisch adenomatoide Malformation der Lunge 4 Vermehrte renale Ausscheidung – Kongenitale Nephrose 4 Plazentalokalisation – Abdominalschwangerschaft
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137 8.2 · Klinisch erprobte Screeningprogramme
Ultraschall 4 Gestörte Plazentation – Fetomaternale Hämorrhagie – Präeklampsie – Hämangiom – Andere – Rhesusimmunisierung – Unterschätzung des Gestationsalters – Iatrogen – Chorionbiopsie – Amniozentese – Chordozentese
Maternales Kompartiment 4 Endogen/biologisch – Niedriges Gewicht – Rasse (schwarzafrikanisch) 4 Mütterliche Erkrankung (ohne Tumoren) – Hepatitis – Ataxia teleangiectatica – Hereditäre Tyrosinämie – Hereditäre Persistenz von AFP – Zystische Fibrose 4 Tumoren – Leberkarzinom – Keimzelltumor – Primäres gastrointestinales Karzinom
> Ein erhöhter AFP-Wert ist immer eine Indikation für eine detaillierte Sonographie durch einen Ultraschallspezialisten.
Mit Bezug auf Neuralrohrdefekte konnte in Großbritannien die Inzidenz von Lebendgeburten mit kongenitalen Neuralrohrdefekten durch konsequentes Durchführen des AFPScreenings und anschließenden Schwangerschaftsabbruch seit 1975 um >90% gesenkt werden. Im Zusammenhang mit der breiten Verfügbarkeit von Ultraschall heutzutage stellt sich die Frage, ob damit nicht auf eine AFP-Bestimmung verzichtet werden kann. Eine populationsbasierte Studie aus England und Wales, bei der bei allen geborenen Kindern mit Neuralrohrdefekt die Ursache für das fehlende rechtzeitige Entdecken untersucht wurde, zeigte, dass in der Praxis ein AFP-basiertes Screening eine höhere Entdeckungsrate aufweist als ein ultraschallbasiertes Screening (Williamson et al. 1997). Eine retrospektive Studie aus Kalifornien andererseits konnte für Ultraschall eine höhere Sensitivität in der Erfassung von Neuralrohrdefekten im Vergleich zum alleineigen AFP-Screening zeigen (Norem et al. 2005). Allerdings wurde diese Studie vorwiegend an Ultraschallzentren durchgeführt Da die Kosten für eine AFP-Bestimmung gering sind und dieser Marker komplett unabhängig ist von der Expertise des sonographierenden Arztes, scheint es ratsam, das AFP-Screening zwischen 15 und 18 SSW weiterhin anzubieten und Schwangere bei erhöhtem AFP-Wert einem Ultraschallexperten zuzuweisen (im Dreistufensystem zu Stufe 2 oder 3).
Da es sich bei kongenitalen Fehlbildungen um morphologische Veränderungen handelt, eignet sich für ein Screening besonders der Ultraschall. Das Problem des Ultraschalls liegt darin, dass eine Vielzahl verschiedener Faktoren die Qualität des Ergebnisses beeinflusst. Diese Faktoren können folgendermaßen gegliedert werden: 4 Erfahrung und Aufmerksamkeitsgrad des Untersuchers, 4 Lage und Aktivitätszustand des Fetus, 4 Fruchtwassermenge, insbesondere ein ausgeprägtes Oligohydramnion, 4 Bauchdeckenbeschaffenheit der Schwangeren (Adipositas, Zustand nach Laparotomie), 4 Ultraschallgerät. Im Gegensatz zu anderen bildgebenden Verfahren beginnt beim Ultraschall die Erfahrung nicht erst bei der Bildbeurteilung, sondern bereits bei der Bildgenerierung. Zudem handelt es sich um eine dynamische Untersuchung an einem bewegten Objekt. Dies schränkt die Reproduzierbarkeit der Untersuchung zusätzlich ein. Schließlich handelt es sich bei Fehlbildungen um eine dynamische Entwicklung, d. h. morphologische Veränderungen müssen sich erst entwickeln, damit sie darstellbar werden.
Direkte Visualisierung des Defekts Bei entsprechender Erfahrung und optimalen Bedingungen können die meisten morphologischen Abweichungen direkt visualisiert werden. In der Praxis ist die Situation aber häufig abweichend von diesem Idealfall. Selbst bei optimalen Bedingungen werden immer wieder Anomalien übersehen, die einem anderen Untersucher direkt ins Auge springen. Dies liegt daran, dass Ultraschallbilder vergleichbar sind mit Vexierbildern. Wenn man weiß, was man sucht, ist es wesentlich einfacher, das Betreffende auch zu finden. Diese Situation lässt sich durch gezieltes Vorgehen verbessern: 4 konsequentes »Abarbeiten« einer morphologischen Checkliste, 4 Untersuchung von Kopf, Rumpf und Extremitäten in standardisierten Schnittebenen, 4 Studium von Abbildungen typischer Fehlbildungen. Für den niedergelassenen Arzt genügt vorerst einmal die Klassifizierung »unauffälliger Befund« und »auffälliger Befund im Bereich einer bestimmten Struktur«. Eine detaillierte Diagnostik mit Differenzialdiagnose bzw. definitiver Diagnosestellung kann dann dem Experten überlassen werden.
Indirekte Hinweise auf fetale Störungen Neben der direkten Visualisierung von Fehlbildungen gibt es eine Reihe von Befunden, die konstanter, reproduzierbarer und damit einfacher dargestellt werden können und die auf eine mögliche Fehlbildung hinweisen. Geachtet werden soll insbesondere auf 4 die Fruchtwassermenge (Oligo-, Polyhydramnion), 4 die fetale Herzfrequenz,
8
138
Kapitel 8 · Ersttrimesterscreening auf Fehlbildungen und Chromosomenstörungen
4 ein auffälliges Bewegungsmuster (z. B. fehlende Bewegung über längere Zeit), 4 ungewöhnliche Lage (z. B. intrauterine Zwangshaltung), 4 fetale Größe (Abweichen von einzelnen Körpermaßen aus dem Normbereich), 4 Auffälligkeiten der äußeren Form (z. B. Zitronenform des Schädels), 4 ungewöhnliche echogene oder echoarme Zonen im Bereich von Kopf und Rumpf, 4 Tumoren, 4 abnorme Lagen von inneren Organen (Herz, Magen), Situs-inversus-Lage, 4 Auffälligkeiten der Plazenta.
8
Mit einer solchen Checkliste lässt sich zwar keine exakte Diagnose einer Störung stellen, ein beträchtlicher Teil von Anomalien kann jedoch auf diese Weise entdeckt werden. Bei ungewöhnlichen Körperproportionen kann die differenzialdiagnostischen Überlegungen vereinfachen (. Tab. 8.4). ! Alle fetalen Fehlbildungen zeigen eine dynamische Entwicklung. Bei einigen Fällen ist mit einer Manifestation erst nach 24 Wochen zu rechnen. Diese entgehen so der morphologischen Untersuchung mit 20–22 Wochen (z. B. Darmatresien, Hydrozephalus, Zwerchfellhernien etc.).
Organisation, Screeningstrategien Selbstverständlich sind verschiedene Fehlbildungen bereits am Ende des 1. Trimenons, d. h. nach Abschluss der Organogenese feststellbar. Gewisse Störungen können jedoch erst im Lauf des 2. Trimenons sicher von einem Normalbefund abgegrenzt werden. Tipp Wenn versucht wird, das Kind sowohl am Ende des 1. Trimenons als auch zwischen 20 und 23 SSW detailliert zu untersuchen, resultiert ein doppelter Gewinn. Zum einen profitieren Schwangere von einer frühen Diagnose. Zum anderen kann die Erfassungsrate gesteigert werden, wenn die morphologischen Strukturen zweimal bewusst dargestellt werden.
Wird eine nicht letale Fehlbildung erst nach 24 Wochen entdeckt, so ist die Option eines Schwangerschaftsabbruchs auch in Ländern, die keine fixe Grenze für einen Abbruch kennen, häufig wegen der sehr großen ethischen Fragen nicht mehr gegeben. Im Prinzip sind 2 praktizierte Organisationsstrukturen in verschiedenen Ländern anzutreffen: 4 Das Screening erfolgt praktisch ausschließlich durch Zentren, und die Erfahrung ist auf einen kleinen Personenkreis beschränkt (z. B. Großbritannien). Der Vorteil dieses Systems besteht in der sehr großen Erfahrung des einzelnen sonographierenden Arztes. Von Nachteil sind die z. T. langen Transportwege und Übermittlungsfehler bei der Fragestellung bzw. Befundung. In dringenden Fällen kommt es zu einer unnötigen zeitlichen Verzögerung und wahrscheinlich insgesamt zu höheren volkswirtschaftlichen Kosten. 4 Das Screening erfolgt durch basisgeschulte Ärzte mit Überweisung an Zentren, falls auffällige oder unklare Befunde vorhanden sind (z. B. 3-Stufen-Konzept in Deutschland). In der Schweiz hat die Ultraschallgesellschaft detaillierte Empfehlungen ausgearbeitet, die der Gesetzgeber für die Kostenübernahme durch die Kassen als zwingend voraussetzt (SGUMGG 2002). Der Vorteil dieses Systems besteht darin, dass die Schwangerschaftsbetreuung in einer Hand bleibt, was Übermittlungsfehler verhindert und die Transportwege auf ein Minimum reduziert. Die Kosten pro Untersuchung sind geringer, und die Sonographie kann jederzeit durchgeführt werden. Der Nachteil besteht v. a. in der geringeren Erfahrung der einzelnen Ärzte sowie in der schlechteren apparativen Ausrüstung. Der Aufwand zur (permanenten) Schulung ist dementsprechend größer. Studien, die sowohl die Screeningeffizienz als auch die volkswirtschaftlichen Kosten zwischen diesen beiden Systemen vergleichen, existieren nicht. Immerhin bestehen Hinweise, dass die Entdeckungsrate von Fehlbildungen an den Zentren größer ist als in der Peripherie.
Screeningeffizienz, Kosten-Nutzen-Analyse In mehreren randomisierten Studien konnte klar gezeigt werden, dass mit einem Routineultraschall im 2. Trimenon signi-
. Tab. 8.4. Ungewöhnliche fetale Körperproportionen als indirekte differenzialdiagnostische Hinweise auf fetale Störungen
Kopfumfang
Bauchumfang
Femur
Gehäuft bei
Zu groß
Normal
Normal
Hydrozephalus
Zu klein
Normal
Normal
Zytomegalie, Toxoplasmose, Chromosomenanomalie, Spina bifida mit Arnold-Chiari-Syndrom, Mikrozephalie
Normal
Zu groß
Normal
Makrosomie, Diabetes mellitus, Infekt (Hepatosplenomegalie)
Normal bis klein
Zu klein
Normal bis klein
Wachstumsrestriktion, Plazentainsuffizienz, Chromosomenanomalie
Normal
Normal
Massiv zu klein
Skelettdysplasie, Aneuploidie
139 8.2 · Klinisch erprobte Screeningprogramme
fikant mehr Fehlbildungen entdeckt werden können, als wenn Ultraschalluntersuchungen nur auf Indikation erfolgen (Neilson 1998).
Faktorenabhängige Entdeckungsrate 4 Untersucher Erfahrene Sonographen an großen Zentren entdecken wesentlich mehr Fehlbildungen als Kollegen in der Peripherie oder in der Niederlassung. Dies war besonders ausgeprägt in der RADIUS-Studie (Ewigman et al. 1993). Die Situation in den USA ist dabei speziell, da sehr viele Radiologen und Röntgentechniker neben internistischen und chirurgischen Patienten auch noch Schwangere untersuchen, was sich wahrscheinlich auf die Erfahrung bezüglich Fehlbildungen auswirkt. Andererseits fehlen systematische Daten aus Ländern wie Deutschland oder der Schweiz, deren Screening durch eine Vielzahl niedergelassener Frauenärzte durchgeführt wird, die belegen, dass ein Stufensystem durch Fachärzte tatsächlich bessere Resultate liefert. 4 Zeitpunkt Eine Zusammenstellung von knapp 500 Fehlbildungen, die an den 10 größten Kliniken der Schweiz im Jahr 1995 erfasst wurden, hat gezeigt, dass fast 50% aller Fehlbildungen erst nach 24 SSW entdeckt wurden. Dies hängt nicht nur von der mangelnden Erfahrung des Untersuchers oder der ungenügenden apparativen Ausstattung ab, sondern viel häufiger von der Dynamik der sich entwickelnden Fehlbildung. Typische spät entdeckte Befunde sind Erweiterungen der Hirnseitenventrikel, Darmstenosen und Erweiterungen des Nierenbecken-Kelch-Systems. 4 Art der Fehlbildung Die Entdeckungsraten für die verschiedenen Fehlbildungen haben sich seit der Studie von Chitty (1995) z. T. deutlich verbessert, weisen aber in Abhängigkeit von der Schwere der Fehlbildung eine hohe Streuung auf (. Tab. 8.5; Grandjean et al. 1999; Richmond u. Atkins 2005; Wayne et al. 2002).
> Somit werden die häufigsten Fehlbildungen wie Extremitätendefekte, Herzfehler und Skelettanomalien signifikant seltener entdeckt als die weniger häufigen Anomalien. Die sonographische Fortbildung muss entsprechend diesen Bereichen vermehrte Aufmerksamkeit schenken.
Der Hauptnutzen einer Früherfassung von fetalen Fehlbildungen ist abhängig von der Art der Anomalie. Bei therapierbaren Fehlbildungen (z. B. Gastroschisis) kann sich ein Paar auf die Geburt eines behinderten Kindes vorbereiten und Angehörige rechtzeitig informieren. Ein evtl. Trennung unmittelbar nach der Geburt fällt dann wesentlich weniger schwer. In Einzelfällen hat der Nachweis einer Fehlbildung auch direkten Einfluss auf das geburtshilfliche Management. So kann z. B. der neurologische Langzeitschaden bei einer Spina
. Tab. 8.5. Sonographische Entdeckungsraten verschiedener Fehlbildungen
Art der Fehlbildung
Entdeckungsrate [%]
Extermitätendefekte
25–75
Herzfehler
38–88
ZNS-Fehlbildungen
50–96
Chromosomenanomalien
45–83
Urogenitale Fehlbildungen
69–93
Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten (Wayne et al. 2002)
75
Darmtraktanomalien/intrathorakale Defekte
63
bifida durch einen primären Kaiserschnitt signifikant vermindert werden. In ausgewählten Fällen ist eine lebensrettende oder zumindest funktionserhaltende intrauterine Therapie möglich. Bei letalen Fehlbildungen kann ein Teil der Trauerarbeit vorgezogen werden. Bei nicht therapierbaren, vor Erreichen der Lebensfähigkeit erfassten Fehlbildungen besteht auch die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs. Wird durch einen solchen eine schwere Langzeitbehinderung verhindert, können volkswirtschaftlich Einsparungen erfolgen, die weit über den Kosten eines Screenings liegen. Eine solche Argumentation ist jedoch ethisch sehr fragwürdig. Auf keinen Fall darf aus einem solchen Faktum ein Zwang zu pränataler Diagnostik und Schwangerschaftsabbruch abgeleitet werden, wie dies etwa in China der Fall ist. Andererseits kann diese Tatsache als Argument dienen, den Schwangerschaftsabbruch zu legalisieren, falls eine Schwangere im Einzelfall dies nach ausführlicher Beratung wünscht, da der Staat dadurch nicht zu Schaden kommt. Der Hauptschaden eines fetalen Fehlbildungsscreenings besteht in der Induktion von Angst durch Befunde, die sich im Nachhinein als falsch erweisen. Im schlimmsten Fall kommt es zum Schwangerschaftsabbruch eines gesunden Kindes. Diese Gefahr einer Fehldiagnose wird jedoch gemeinhin überschätzt. In der oben genannten Zusammenstellung von Fehlbildungen aus der Schweiz haben wir an rund 150 Fehlbildungsfällen mit Schwangerschaftsabbruch keine einzige Fehldiagnose registriert. Trotzdem können Einzelfälle auftreten, wo dies zutrifft. In einer britischen Studie war unter rund 300 Aborten wegen Fehlbildungen in 2 Fällen der Befund deutlich weniger schlimm als angenommen (Brand et al. 1994). Die Gefahr einer Fehldiagnose kann minimiert werden, wenn z. B. mit einem Stufenkonzept vor schwerwiegenden Entscheidungen sehr erfahrene Ärzte den Sonographiebefund bestätigen. Schwierig werden Entscheidungen immer dann, wenn keine exakte Diagnose gestellt werden kann, etwa bei unklaren Hirnbefunden. In solchen Situationen muss auf
8
140
Kapitel 8 · Ersttrimesterscreening auf Fehlbildungen und Chromosomenstörungen
Wahrscheinlichkeiten abgestützt werden, ähnlich etwa wie beim Nachweis einer strukturellen Chromosomenanomalie, deren Auswirkung auch häufig nicht sicher eingeschätzt werden kann. Verständlich verärgert und enttäuscht sind Schwangere, wenn eine Fehlbildung trotz Ultraschall nicht oder nicht rechtzeitig erkannt wurde. Als besonders schwerwiegend werden von Eltern Fehlbildungen des Hirns und Fehlen von Teilen der Extremitäten angesehen. Vorwürfe wegen übersehenen Malformationen kann man verhindern, indem man rechtzeitig über die Limits des Ultraschalls informiert. So kann übertriebenen Erwartungen vorgebeugt werden.
Akzeptanz in der Bevölkerung
8
Die Akzeptanz von Ultraschall ist generell bei fast allen Frauen sehr hoch (Götzmann et al. 2002). Dies liegt möglicherweise daran, dass man das eigene Kind sehen kann, und zwar noch lange, bevor man es spürt. Die Praxis zeigt, dass selbst Frauen, die gegenüber der pränatalen Diagnostik sehr kritisch eingestellt sind und nie eine Amniozentese durchführen lassen würden, geschweige einen Schwangerschaftsabbruch, auf Ultraschall kaum verzichten möchten. Kritiker des Ultraschalls deuten dies als Technikgläubigkeit. Psychologische Abläufe wie das Glücksgefühl beim Betrachten des eigenen Kindes oder die Erleichterung, wenn der Ultraschall bestätigt, dass alles in Ordnung ist, dürften der Wahrheit jedoch näher kommen. Tatsächlich haben Untersuchungen gezeigt, dass für Frauen fast 50% des Nutzens eines Schwangerschaftsultraschalls außerhalb eines medizinischen Entscheidungsnutzens liegen.
Empfehlungen verschiedener Organisationen Verschiedene Organisationen auf dem nordamerikanischen Kontinent wie das ACOG, NIH oder die Canadian Task Force sind merkwürdigerweise gegenüber einem Fehlbildungsscreening mit Ultraschall sehr kritisch eingestellt (DiGuiseppi 1996). Durch eine unterschiedliche ethische Grundeinstellung kann diese Haltung kaum erklärt werden, befürworten diese Gremien doch das ethisch eher heiklere Screening auf Trisomie 21. Im Unterschied zu Letzterem wird beim sonographischen Fehlbildungsscreening in rund 60% der Fälle mit Nachweis einer Anomalie kein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt. Ein Teil dieser Kinder mit Malformationen kann durch die frühzeitige Entdeckung zudem zweifelsfrei profitieren, was man beim Down-Syndrom nicht behaupten kann. Ein Grund für diese kritische Haltung mag sein, dass im Vergleich zum Tripletest die Screeningeffizienz deutlich schlechter ausfällt. Dies muss aber vor dem Hintergrund des amerikanischen Gesundheitssystems gesehen werden: Das Screening ist nicht zentralisiert, sondern auf eine Vielzahl von niedergelassenen Ärzten verteilt. Diese sind zudem in den meisten Fällen nicht die behandelnden Frauenärzte, sondern Radiologen und Röntgentechniker. Dies vermindert nicht nur die Screeningeffizienz, sondern erhöht auch massiv die Kosten. 1993 rechneten Ewigman et al. mit 200 US-$ pro Ultraschall. Die Kosten für eine mindestens gleichwertige Untersuchung in der Schweiz betragen selbst 2009 nur etwa ein Drittel
dieses Preises. Unter diesen Gesichtspunkten ist eine ablehnende Haltung der nordamerikanischen Staaten nachvollziehbar. Unter anderen gesundheitspolitischen Voraussetzungen befürworten jedoch europäische Fachgesellschaften ein Ultraschallscreening mit großer Mehrheit.
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8
9 9
Fehlbildungsdiagnostik im 2. Trimenon
9.1
Ultraschall im 2. Trimenon – 144 K. D. Kalache, A. M. Dückelmann
9.1.1 9.1.2 9.1.3 9.1.4 9.1.5 9.1.6 9.1.7 9.1.8 9.1.9 9.1.10
Diagnostischer Wert des Ultraschallscreenings – 144 Fetale Biometrie – 144 Zentrales Nervensystem – 145 Gesicht – 147 Herz – 149 Wirbelsäule – 150 Thorax und Lungen – 151 Abdomen – 152 Extremitäten – 154 Fruchtwasser, Nabelschnur und Plazenta – 157
9.2
Fetale Magnetresonanztomographie (MRT) – 159 W. Blaicher, D. Prayer
9.2.1 9.2.2 9.2.3
Methode – 159 Einsatzgebiete – 159 Typische Indikationen – 160
Literatur – 162
H. Schneider et al. (eds.), Die Geburtshilfe © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
144
Kapitel 9 · Fehlbildungsdiagnostik im 2. Trimenon
9.1
Ultraschall im 2. Trimenon K. D. Kalache, A. M. Dückelmann
9
Mit der Ultraschalltechnik kann heute die Mehrzahl der schweren kongenitalen Fehlbildungen pränatal diagnostiziert werden. Eine wachsende Anzahl von Fehlbildungen kann bereits in der 10.–14. SSW erkannt werden, z. B. die Exenzephalie, die Omphalozele, die Megazystis, ein Akranius/Akardius und siamesische Zwillinge. Die meisten Fehlbildungen werden jedoch im 2. Trimenon diagnostiziert. Andererseits gibt es Fehlbildungen, die sich erst im späten 2. oder im 3. Trimenon manifestieren, z. B. gewisse Formen des Hydrozephalus, die Mikrozephalie, Darmatresien und Dilatationen der Harnwege. Der Einsatz der Ultraschalldiagnostik in der Schwangerschaft erfolgt in Deutschland und Österreich, teilweise auch in der Schweiz, nach einem Mehrstufenkonzept. Auf der Stufe I wird ein Ultraschallscreening durchgeführt, das die Erkennung der wichtigsten Fehlbildungen oder zumindest der Hinweiszeichen darauf zum Ziel hat. Die Stufe II befasst sich mit der Evaluation von pathologischen Befunden der Stufe I und mit dem Ausschluss oder der Diagnose von Fehlbildungen bei Schwangeren, die aufgrund des sonographischen oder biochemischen Screenings oder einer belasteten Anamnese ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko aufweisen. Die Stufe III führt eine differenzierte morphologische, funktionelle und ätiologische Diagnostik sowie eine eventuelle intrauterine Therapie durch. Auf dieser Stufe sollte die Unterstützung durch Genetiker, Neonatologen, Kinderchirurgen und Fetalpathologen jederzeit gewährleistet sein. Die Definition von diagnostischen Standards, die Aus- und Weiterbildung der Untersucher sowie eine angemessene Qualitätskontrolle sind deshalb wichtige Voraussetzungen für das Erreichen einer hohen diagnostischen Validität der pränatalen Ultraschalldiagnostik.
9.1.1
Diagnostischer Wert des Ultraschallscreenings
Der diagnostische Wert des Ultraschallscreenings hängt hauptsächlich von der Erfahrung der Untersucher, vom Zeitpunkt der Untersuchung und von der Art der Fehlbildung ab (Tegnander u. Eik-Nes 2006). Im Rahmen von Screeninguntersuchungen entdeckten niedergelassene Ärzte (Stufe I) 22%, Krankenhausärzte (Stufe I–II) 40% und Ärzte im Perinatalzentrum (Stufe III) 90% der Fehlbildungen (Bernaschek et al. 1996). Auf Stufe I wurden 24%, auf Stufe II 34% und auf Stufe III 58% der Fehlbildungen vor der 24. SSW erkannt. Die Eurofetus-Studie, bei der die antenatale Entdeckungsrate von Fehlbildungen durch ein Ultraschallscreening in unselektionierten Populationen untersucht wurde, zeigt, dass Anomalien des Zentralnervensystems die höchste Entdeckungsrate (88,3%) aufwiesen, gefolgt von Anomalien des Urogenitalsystems (84,4%) (Grandjean et al. 1999). Anomalien des Herzens und der großen Gefäße wurden dagegen nur in 38,8% der Fälle entdeckt. In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass die Entdeckungsrate für die meisten Fehlbildungen im Verlauf der letzten 10–15 Jahre zugenommen hat. Dies wird
zum größten Teil auf die verbesserte Ausbildung und auf die zunehmende Erfahrung der Untersucher zurückgeführt (Levi et al. 1995; Stoll et al. 1995).
9.1.2
Fetale Biometrie
Gewöhnlich wird eine geburtshilfliche Ultraschalluntersuchung in 3 Ebenen entsprechend der Axialebene, der Sagittalebene und der Koronarebene durchgeführt. Die Messung des biparietalen Durchmessers (BPD) erfolgt axial auf Höhe der Thalami, ausgehend vom äußeren Rand (proximal) und inneren Rand der Schädelkalotte. Tipp Der BPD ist der beste Indikator zur sonographischen Berechnung des Gestationsalters (Chervenak et al. 1998).
Der Kopfumfang (KU) beschreibt den Durchmesser von der einen zur anderen Seite des Schädels. Gewöhnlich werden der KU und der BPD zur Einschätzung der Kopfgröße herangezogen (. Abb. 9.1). Tipp Der Abdomenumfang (AU) eignet sich am besten, um das fetale Schätzgewicht zu ermitteln.
Der axiale Schnitt für den AU erfolgt auf Höhe des Übergangs der Umbilikalvene in die linken Portalvenen, d. h. auf Ebene der Leber (. Abb. 9.2). Der AU geht in die Berechnung des Schätzgewichtes mit ein, da die Leber bei Makrosomie groß und bei einem SGA-Feten (»small for gestational age«) klein ist. Die Femurlänge ist stark von der familiären Konstitution abhängig (. Abb. 9.3).
. Abb. 9.1. Biparietaler Durchmesser und Kopfumfang in der Axialebene
145 9.1 · Ultraschall im 2. Trimenon
. Abb. 9.2. Abdomenumfang mit Darstellung der Umbilikalvene (Pfeil) . Abb. 9.4. Transzerebellärer Durchmesser
ler Weise für Feten ≥4000 g. Neben dem rechnerischen Gestationsalter (GA) kann anhand der biometrischen Daten ein sonographisches GA berechnet werden. Differiert das sonographische GA durch den TCD oder den BPD um die 20. SSW vom rechnerischen Gestationsalter um mehr als 10 Tage, so ist das sonographische GA als relevantes zu führen.
9.1.3
Zentrales Nervensystem
Normale Sonoanatomie
. Abb. 9.3. Femurlänge
Tipp Der transzerebelläre Durchmesser (TCD) sagt das Schwangerschaftsalter am besten voraus (. Abb. 9.4). Die Faustregel: »TCD in mm entspricht der Schwangerschaftswoche (SSW)« lässt sich bis zur 22. SSW anwenden, danach sind Normogramme notwendig. Mittels TCD lässt sich ein SGA-Fetus eindeutig von einem Feten in einer falsch errechneten SSW unterscheiden.
Es gibt mehr als 40 Formeln zur Berechnung des fetalen Schätzgewichts. Die Berechnung nach Hadlock berücksichtigt z. B. BPD, KU, AU und die Femurlänge. Während das Schätzgewicht bei kleinen Feten zumeist im akzeptalen Schätzrahmen zutreffend ist, eignet sich keine Formel in idea-
Bei der sonographischen Untersuchung des Fetus im 2. Trimenon gilt es, 3 Areale des fetalen Gehirns zu untersuchen. Die erste Einstellung ist Teil der Standardbiometrie: ein Schnitt durch die Thalami, wobei gleichzeitig der einem Schlitz gleichende 3. Ventrikel und das Cavum septum pellucidi untersucht werden können (. Abb. 9.5). Der 2. Schritt ist die Darstellung der Seitenventrikel. Dies gelingt am besten im axialen Querschnitt durch das fetale Kranium knapp oberhalb der Ebene, die für den biparietalen Durchmesser eingestellt wird. Hier wird der Plexus choroideus begutachtet, insbesondere hinsichtlich des »dangling sign«. Erscheint der Ventrikel vergrößert, wird die Entfernung zwischen der inneren und der außen liegenden inneren Wand des Lateralventrikels auf Höhe des Atriums gemessen. Die obere Grenze liegt bei 10 mm. Die 3. Einstellung gewinnt man durch eine geringe Rotation des Ultraschallkopfs nach okzipital. Dabei lässt sich sowohl die Cisterna magna als auch der komplette Vermis darstellen. Allein diese 3 Einstellungen gewährleisten ein Erkennen von 90% der intrakraniellen Fehlbildungen (Filly u. Crane 2002). Bei einem auffälligen Befund müssen dann noch andere Einstellungen in der Sagittal- und Koronarebene zur Vervollständigung der Befunderhebung hinzugezogen werden.
9
146
Kapitel 9 · Fehlbildungsdiagnostik im 2. Trimenon
. Abb. 9.5. Midsagittale Einstellung: unauffällige Neuroanatomie im 2. Trimenon mit Darstellung des Corpus callosum (Pfeil)
. Abb. 9.7. Ventrikulomegalie (Pfeil: 3. Ventrikel)
9
. Abb. 9.6. Messung des Lateralventrikels
Ventrikulomegalie Als Hydrozephalus wird eine abnorme Zunahme der zerebrospinalen Flüssigkeit bezeichnet, die zu einer Dilatation des Lateralventrikels von >15 mm führt (. Abb. 9.6). Man unterscheidet zwischen obstruktiven und nichtobstruktiven Formen. Pränatal liegen meist obstruktive Formen vor, die durch eine gestörte Zirkulation des Liquors verursacht werden. Die Dilatation der Lateralventrikel und des 3. Ventrikels in Kombination mit einer normalen Fossa posterior deutet auf eine Aquäduktstenose hin. Oft sind die Seitenventrikel deutlich erweitert, was zu einer signifikanten Kompression des Kortex führt. Eine seltene Variante dieses Krankheitsbildes tritt in Familien als X-chromosomale Störung auf.
Eine weitere häufige Ursache für einen obstruktiven Hydrozephalus ist eine Veränderung der hinteren Schädelgrube, zu der es bei Feten mit Spina bifida oder einer Dandy-WalkerMalformation kommt (. Abb. 9.7). Die Erweiterung der Seitenventrikel, des 3. und 4. Ventrikels sowie des Subarachnoidalraums ist pathognomonisch für einen kommunizierenden Hydrozephalus. Dieser tritt z. B. bei Plexus-chorioideus-Papillomen auf, die mit einer Hyperproduktion der zerebrospinalen Flüssigkeit einhergehen. Grenzwertige Erweiterungen von 10–15 mm werden dagegen als Ventrikulomegalie bezeichnet. Ein wichtiges Hinweiszeichen auf eine Ventrikulomegalie ist die Abdrängung des Plexus chorioideus von der medialen Wand des Seitenventrikels (sog. »dangling«). Liegt eine Ventrikulomegalie vor, sollte eine genaue Suche nach intra- und extrakraniellen Anomalien erfolgen, da eine isolierte Ventrikulomegalie eine deutlich bessere Prognose hat als in Kombination mit anderen Fehlbildungen. Die Diagnostik sollte auch eine detaillierte neurosonographische Untersuchung beinhalten. Die häufigste assoziierte intrakranielle Anomalie ist die Agenesie des Corpus callosum. Eine invasive Diagnostik (Amniozentese) ist empfehlenswert, da in 6% der Fälle Chromosomenaberrationen vorkommen (Gaglioti et al. 2005; Goldstein et al. 2005; Breeze et al. 2007). Zur Abklärung einer isolierten Ventrikulomegalie gehört der Ausschluss von kongenitalen Infektionen (TORCH-Serologie), insbesondere wenn zusätzlich periventrikuläre Kalzifikationen darstellbar sind.
Dandy-Walker-Komplex Als Dandy-Walker-Komplex wird eine Gruppe von Fehlbildungen der hinteren Schädelgruppe bezeichnet. Die komplette Vermisagenesie ist immer mit einer großen Cisterna magna und einer deutlichen Verbindung mit dem 4. Ventrikel assoziiert (. Abb. 9.8). Kommen extrazerebrale Fehlbildungen wie polyzystische Nieren, kardiovaskuläre Defekte und Ge-
147 9.1 · Ultraschall im 2. Trimenon
Corpus-callosum-Agenesie Lässt sich das Cavum septi pellucidi nicht darstellen, erscheint der 3. Ventrikel dilatiert und/oder handelt es sich um eine Ventrikulomegalie, ist generell die Verdachtsdiagnose einer Corpus-callosum-Agenesie zu stellen. Die Diagnose wird dann durch ein nicht vorhandenes Cavum septi pellucidi und ein fehlendes Corpus callosum in der Midsagittalebene bestätigt (. Abb. 9.9). Der Vorteil der midsagittalen Aufnahme ist die mögliche Differenzierung zwischen einer kompletten und einer partiellen Agenesie des Corpus callosum. Die Corpuscallosum-Agenesie hat, kommt sie isoliert vor, eine gute Prognose, so wie dies auch bei anderen kranialen Fehlbildungen der Fall ist (Pilu u. Hobbins 2002). Da das Corpus callosum erst ab der 18. SSW fertig ausgebildet ist, sollte die Diagnose Corpus-callosum-Agenesie nicht vor diesem Gestationsalter gestellt werden.
Plexus-chorioideus-Zysten . Abb. 9.8. Dandy-Walker-Komplex. Verbindung zwischen Cisterna magna und 4. Ventrikel (Pfeil)
Plexus-chorioideus-Zysten werden in der 16.–24. SSW bei etwa 1% der Feten beobachtet. In >90% der Fälle verschwinden sie im Verlauf des 2. Trimenons und haben keinen Krankheitswert. Plexus-chorioideus-Zysten sind, falls sie zusammen mit anderen Anomalien auftreten, gehäuft mit chromosomalen Aberrationen, insbesondere mit der Trisomie 18, assoziiert. Isolierte Zysten erhöhen das Risiko für eine Trisomie 18 dagegen nur marginal und stellen keine Indikation für eine Karyotypisierung dar (Gross et al. 1995; Filly 2004).
Mikrozephalie Ein Kopfumfang unterhalb der 3. Perzentile (Mikrozephalie), ein relativ vergrößerter Subarachnoidalraum und eine schlecht abgrenzbare Insula sind typische Zeichen für eine kortikale Dysplasie (Martin 1970). Feten mit Mikrozephalie haben oft eine fliehende Stirn. Die zerebralen Hemisphären sind generell stärker betroffen als das Mittelhirn und die hintere Schädelgrube. In etwa 50% der Fälle kommt es zur ausgeprägten mentalen Retardierung.
. Abb. 9.9. Nicht vorhandenes Cavum septi pellucidi bei Corpuscallosum-Agenesie
sichtsspalten dazu, liegt meistens eine chromosomale Aberration vor, und die Prognose ist schlecht. Bei der isolierten Dandy-Walker-Fehlbildung wird in 40–70% der Fälle eine verminderte Intelligenz beobachtet. Bei der partialen Vermisagenesie, die oft Dandy-Walker-Variante genannt wird, kann in der axialen Aufnahme eine Verbindung zwischen 4. Ventrikel und Cisterna magna bestehen, die Größe der Cisterna magna ist allerdings normal. Erscheint der Vermis auffällig, sollte in midsagittaler Ebene sowohl die untere als auch die obere Vermis untersucht werden. Eine MRT-Untersuchung kann zur Bestätigung der Diagnose herangezogen werden. Die klinische Bedeutung der Dandy-Walker-Variante und der Mega-Cisterna magna (Weite der Cisterna magna >10 mm) sind weniger klar. Ist eine chromosomale Aberration ausgeschlossen, scheint die Prognose günstig zu sein.
9.1.4
Gesicht
Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten (LKG) kommen relativ häufig vor. In 50% der Fälle ist lediglich die Lippe betroffen. In 25% der Fälle sind sowohl die Lippe als auch der Kiefer und der Gaumen betroffen. Eine isolierte Gaumenspalte kommt in 25% der Fälle vor. Die einfachste Methode, die gesamte Lippe darzustellen, ist deren Einstellung in der Koronarebene, auf der die Nase, die Nasenlöcher, das Philtrum und der Mund jeweils einzeln betrachtet werden können (. Abb. 9.10). Besteht der Verdacht einer Lippenspalte aufgrund einer offenen Verbindung zwischen Nasenlöchern und Mund, so sollte eine genauere Untersuchung des Oberkiefers und des Gaumens erfolgen. Die Untersuchung des Oberkiefers wird in der Koronarebene mittels 2-D-Ultraschall durchgeführt. Der harte und weiche Gaumen kann im 3-D-Modus eingestellt werden. Eine 3-D-Darstellung im Oberflächenmodus des De-
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148
Kapitel 9 · Fehlbildungsdiagnostik im 2. Trimenon
. Abb. 9.10. Unilaterale Lippenspalte (Pfeil)
. Abb. 9.12. 3-D-Rekonstruktion des weichen und harten Gaumens (Pfeil)
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. Abb. 9.13. Unauffälliges Profil in midsagittaler Ebene im 2. Trimenon
. Abb. 9.11. Lippenspalte in 3 D
Prognose eines isolierten unilateralen Defekts ist exzellent. Bei belasteter Anamnese sollte wegen des hohen Wiederholungsrisikos eine gezielte Diagnostik erfolgen. Das Wiederholungsrisiko kann durch die tägliche Einnahme von 4 mg Folsäure 1 Monat vor und 2 Monate nach der Konzeption vermindert werden (Shaw et al. 1995).
Mikrognathie fekts erscheint sehr hilfreich und sinnvoll in der Beratung und Vorbereitung der Eltern (. Abb. 9.11, 9.12). Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten kommen zu 3% im Rahmen eines Syndroms vor. Handelt es sich um einen Mittelliniendefekt, so sind gewöhnlich andere Anomalien und ein abnormer Karyotyp (Trisomie 13 und 18) assoziiert. Die
Die Mikrognathie ist eine Komponente verschiedener Syndrome, u. a. des Apert-Syndroms, der Pierre-Robin-Sequenz, und darüber hinaus ein Merkmal der Trisomie 18. Das Kinn wird in der midsagittalen Ebene eingestellt, auf der sich der Nasenrücken, der Kieferkamm und die Mandibularspitze in einer Linie darstellen (. Abb. 9.13, 9.14).
149 9.1 · Ultraschall im 2. Trimenon
. Abb. 9.14. Mikrognathie
9.1.5
Herz
Herzfehler kommen isoliert oder in Kombination mit anderen Fehlbildungen, im Rahmen von Syndromen, sporadisch oder familiär vor. Das Wiederholungsrisiko beträgt ca. 4%, falls ein Geschwister einen Herzfehler hat, und bis zu 14%, falls die Mutter selbst erkrankt ist. Pränatal werden im Rahmen des Ultraschallscreenings (Population mit normalem Risiko) 25–50% der schweren Herzfehler entdeckt, wenn der 4-Kammer-Blick allein beurteilt wird (Tegnander et al. 1995, 2006). Die Sensitivität erhöht sich auf 70–80%, falls zusätzlich zum 4-Kammer-Blick der normalerweise gekreuzte Abgang der Aorta und des Truncus pulmonalis beurteilt wird (Achiron et al. 1992; Kirk et al. 1994).
. Abb. 9.15. 4-Kammer-Blick: linker Ventrikel (LV), rechter Ventrikel (RV), linker Vorhof (LA), rechter Vorhof (RA)
Normale Sonoanatomie Für die Untersuchung des Herzens wird am besten der 4-Kammer-Blick als Querschnitt des Thorax oberhalb des Zwerchfells gewählt (. Abb. 9.15, 9.16). Anhand dieser Einstellung kann die Anatomie des Herzens Schritt für Schritt untersucht werden. Dabei wird u. a. die Ausrichtung des Herzens beurteilt. Das Herz sollte zum größeren Teil auf der linken Seite des Brustkorbs liegen, und der Apex sollte in Richtung des darunter liegenden Magens weisen. Ein kompletter Situs inversus kann mit schweren Herzfehlbildungen assoziiert sein. Eine auffällige Herzneigung zur linken Seite (Levokardie) kann auf eine Transposition der großen Gefäße oder eine Fallot-Tetralogie hinweisen. Eine unterschiedliche Ventrikelgröße kann ein Hinweis auf eine Obstruktion im Bereich des Ausflusstraktes (z. B. hypoplastischer rechter Ventrikel bei Pulmonalstenose) sein. Das interventrikuläre Septum sollte in seiner gesamten Länge vollständig dargestellt werden. Kleinere Septumdefekte lassen sich allerdings nur mittels Farbdopplersonographie darstellen.
Hypoplastisches Linksherzsyndrom (HLHS) Das HLHS ist charakterisiert durch einen sehr kleinen linken Ventrikel in Kombination mit einer Atresie oder Hypoplasie der Mitralklappe und der Aorta ascendens. Die Durchblutung
. Abb. 9.16. Darstellung der Herzdurchblutung mittels Dopplersonographie im 4-Kammer-Blick
des Kopfes erfolgt retrograd über den Ducutus arteriosus. Intrauterin stellt das HLHS durch den offenen Ductus arteriosus kein Problem dar. Die Letalität beträgt allerdings postnatal ohne Therapie 100%. Als operative Therapie kommen entweder die Herztransplantation oder die in 3 Schritten erfolgende Norwood-Technik infrage.
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150
Kapitel 9 · Fehlbildungsdiagnostik im 2. Trimenon
Atrioventrikulärer Septumdefekt (AVSD) Diese Malformation stellt ca. 7% aller Herzfehler dar und ist, zumindest in der kompletten Form, leicht zu diagnostizieren. Dem Untersucher fällt auf, dass sich die Mitral- und die Trikuspidalklappe auf derselben Höhe des Septums einstellen lassen. Die Diagnose kann mittels Farbdoppler bestätigt werden, indem die atrioventrikuläre Regurgitation zur Darstellung kommt. Ein assoziierter AV-Block geht häufig mit Chromosomenaberrationen (Trisomie 18, 21) oder einer Drehungsanomalie (Linksisomerie) einher. Liegt eine Insuffizienz der atrioventrikulären Klappe vor, kann es zum intrauterinen Herzversagen kommen. Postnatal sterben 50% der unbehandelten Kinder im 1. Lebensjahr an Herzversagen, an Arrhytmien und pulmonarer Hypertension aufgrund des Eisenmenger-Syndroms (Rechts-links-Shunt). Die Überlebenswahrscheinlichkeit nach Operation (im 6. Lebensmonat) beträgt >90%, wobei 10% der Patienten eine weitere Operation zur Sanierung der atrioventrikulären Klappe benötigen.
Transposition der großen Gefäße (TGA)
9
Die Aorta tritt vollständig oder zum überwiegenden Teil aus dem rechten Ventrikel aus, während die Pulmonalarterie aus dem linken Ventrikel austritt. Weitere Herzfehler (Ventrikelseptumdefekt, Pulmonalstenose und Anomalien der Mitralklappe) liegen in 50% der Fälle vor. Man unterscheidet zwischen einer 4 TGA mit intaktem Ventrikelseptum mit oder ohne Pulmonalstenose, 4 TGA mit Ventrikelseptumdefekt und 4 TGA mit Ventrikelseptumdefekt mit Pulmonalstenose. Bewiesen ist eine TGA, wenn beide großen Gefäße parallel (anstatt gekreuzt) verlaufen (. Abb. 9.17). Die Prognose hängt vom Typ der TGA ab. Patienten mit TGA ohne VSD werden frühzeitig nach der Geburt zyanotisch und verschlechtern sich rasch. Patientin mit VSD sind nur leicht zyanotisch und entwickeln erst 2–4 Wochen postnatal eine Herzinsuffizienz. Die operative Therapie, bei der ein »switch« der Gefäße durchgeführt wird, erfolgt gewöhnlich in der 2. Lebenswoche. Die operative Mortalität beträgt 10%.
Supraventrikuläre Tachykardie (SVT) Der Vorhof sowie der Ventrikel schlagen synchron mit einer Frequenz von ca. 240 SpM. Bei dieser Frequenz kommt es im Verlauf zu einem Herzversagen und damit einhergehendem Hydrops, was letztlich, wenn untherapiert, zum intrauterinen Fruchttod führt. Die Therapie der Wahl ist die maternale Verabreichung von Digoxin. Als Alternative kommen Flecainide infrage.
Atrioventrikulärer Block (AV-Block) Beim AV-Block überträgt sich die Frequenz des Vorhofs nicht auf den Ventrikel, der mit einer Frequenz von 40–70 SpM schlägt. In 50% der Fälle sind andere gravierende Fehlbildungen (korrigierte Transposition der großen Gefäße oder eine Linksisomerie) vorhanden. In den Fällen ohne zusätzliche Fehlbildungen lassen sich oft maternale Autoantikörper
. Abb. 9.17. Transposition der großen Gefäße: Paralleleinstellung der Aorta und A. pulmonalis
(anti-Ro oder anti-La) als Ursache des AV-Blocks nachweisen. Die meisten Patientinnen sind asymptomatisch, wobei manchmal eine Autoimmunerkrankung assoziiert sein kann (Lupus erythematodes, Sklerodermie, rheumatoide Arthritis, SjögrenSyndrom).
9.1.6
Wirbelsäule
Die Prävalenz der offenen Spina bifida ist in den letzten 10 Jahren in den Ländern mit einem etablierten pränatalen Screening und einer liberalen Rezeptierung von Folsäure stark rückläufig. Das Wiederholungsrisiko nach der Geburt eines Kindes mit einem Neuralrohrdefekt (NRD) wird auf 4% geschätzt. In diesen Fällen kann das Risiko durch die Einnahme von 4 mg Folsäure/Tag während einem Monat vor und 2 Monate nach der Konzeption auf ca. 1% gesenkt werden. Es gibt 3 Ossifikationsherde in der fetalen Wirbelsäule: die Wirbelkörper, die Laminae und die Pedikel. Bei der Spina bifida fehlt der noch nicht verknöcherte Anteil der Wirbelsäule sowie die darüber liegende Haut (. Abb. 9.18). Ebenso divergieren die beiden Bogenplatten (Laminae; . Abb. 9.19). Die Diagnose wird pränatal zu einem hohen Prozentsatz gestellt, da praktisch jeder betroffene Fetus charakteristische Veränderungen der Kopfform (»lemon sign«) und Anomalien des Kleinhirns (»banana sign« bzw. »Fehlen des Kleinhirns«; . Abb. 9.20) aufweist als Ausdruck einer Herniation des Vermis cerebelli in den Spinalkanal (Arnold-ChiariTyp-II-Malformation). Nach Van den Hof et al. (1990) ist bei offener Spina bifida das »lemon sign« vor der 24. SSW in 98% der Fälle nachweisbar. Anomalien des Zerebellums liegen in 95% der Fälle vor. Das »banana sign« dominiert vor der 24. SSW. In bis zu 80% der Fälle entwickelt sich eine Ventrikulomegalie. Auf Sagittalschnitten der Wirbelsäule kann man bei offener Spina bifida die Vorwölbung der Hautbedeckung sowie der Myelomenin-
151 9.1 · Ultraschall im 2. Trimenon
. Abb. 9.18. Spina bifida aperta auf Höhe des Sakrums
. Abb. 9.21. 3-D-Darstellung des Defekts bei Spina bifida
. Abb. 9.19. Spina bifida aperta
gozele erkennen (. Abb. 9.21). Auf Querschnitten imponiert die V- oder U-förmige Deformierung der Wirbelbögen. Auf Frontalschnitten kommt das Abweichen der Wirbelbögen nach lateral besonders gut zur Darstellung. Die pränatale Beurteilung der Prognose einer Spina bifida ist schwierig. Die Ausdehnung des Defekts korreliert schlecht mit dem Outcome. Je tiefer der Defekt liegt, desto besser sind die Chancen für eine intakte Motorik der unteren Extremitäten. Als ungünstig gelten eine ausgeprägte und früh auftretende Ventrikulomegalie. Der Wert der pränatalen Chirurgie, die derzeit nur an wenigen Zentren unter kontrollierten Bedingungen praktiziert wird, ist noch nicht endgültig zu beurteilen.
9.1.7
Thorax und Lungen
Hydrothorax
. Abb. 9.20. Arnold-Chiari-Malformation (schmaler Pfeil: »lemonsign«, breiter Pfeil: »banana-sign«)
Unter einem Hydrothorax versteht man eine abnorme Flüssigkeitsansammlung im Pleuraraum, die entweder isoliert oder im Rahmen eines Hydrops fetalis auftritt. Zur Abklärung gehört der Ausschluss von Infektionen, Anämie und einer Aneuploidie. Spontane Rückbildungen kommen in 5–10% der Fälle vor. Ein progredienter Hydrothorax soll bei unreifen Fe-
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152
9
Kapitel 9 · Fehlbildungsdiagnostik im 2. Trimenon
. Abb. 9.22. Zystische adenomatoide Malformation (CCAM) mit Verdrängung des Herzens nach links
. Abb. 9.23. Linksseitige Zwerchfellhernie mit Darstellung der Magenblase (Pfeil)
ten aus diagnostischen und therapeutischen Gründen punktiert werden. Die häufigste Form des isolierten Hydrothorax, der Chylothorax, der durch eine Anomalie des Ductus thoracicus bedingt ist, kann pränatal anhand der erhöhten Lymphozytenzahl im Pleurapunktat diagnostiziert werden. Füllt sich der Hydrothorax nach Punktion wieder auf, so ist die Anlage eines pleuroamnialen Shunts zu diskutieren. Durch die permanente Ableitung kann die drohende Entwicklung einer Herzinsuffizienz und einer Lungenhypoplasie verhindert werden (Morin et al. 1994).
Zwerchfellhernie
Zystische adenomatoide Malformation (CCAM) Die CCAM ist ein Hamartom, das durch ein überschießendes Wachstum der terminalen Bronchioli auf Kosten der Sacculi entsteht. Die tumorartige multizystische Fehlbildung hat eine Verbindung zum Bronchialsystem und wird durch den pulmonalen Kreislauf versorgt. In 80–95% der Fälle ist die Anomalie unilobär (. Abb. 9.22). Makrozystische Formen imponieren pränatal durch echoarme zystische Areale und haben eine gute Prognose, wenn keine zusätzlichen Anomalien vorliegen. Mikrozystische Formen manifestieren sich sonographisch durch eine große echodichte Masse, welche das Herz und gesundes Lungengewebe komprimieren kann. Infolgedessen kommt es häufig zu einer Herzinsuffizienz mit Hydrops fetalis und zu einer Hypoplasie des übrigen Lungengewebes. Danach sind die kindlichen Überlebenschancen jedoch minimal. Differenzialdiagnostisch kommt eine bronchopulmonale Sequestration infrage, die sich sonographisch ebenfalls als echodichte Masse manifestiert. Die Diagnose kann durch den Nachweis der Blutversorgung aus dem großen Kreislauf mit Hilfe der Farbdopplersonographie gestellt werden.
Die Mehrzahl der Defekte liegt posterolateral auf der linken Seite. Durch den Defekt können sich Milz, Magen und Darmschlingen, seltener Teile der Leber, in den Thoraxraum verschieben. Sonographische Leitsymptome sind die Verdrängung des Herzens (meist auf die rechte Seite) und zystische Raumforderungen im Thorax (. Abb. 9.23). Schwierig zu diagnostizieren ist die Verlagerung der Leber in den Thoraxraum. Hilfreich kann in diesen Fällen die Darstellung der Gallenblase oder der intrahepatischen Gefäße (Farbdoppler) oder auch die Darstellung der Leber mittels MRT sein. Assoziierte Fehlbildungen werden in 50–75% der Fälle gefunden, in erster Linie Herzfehler und chromosomale Aberrationen. Die Prognose hängt neben dem Vorliegen von assoziierten Fehlbildungen und chromosomalen Aberrationen v. a. vom Ausmaß der Lungenhypoplasie ab. Diese ist am ausgeprägtesten, wenn ein Teil der Leber im Thoraxraum liegt. In diesen Fällen wird an einigen Zentren der intrauterine Verschluss der Trachea durch einen Ballon angewandt. Die Entbindung sollte in jedem Fall an einem perinatalen Zentrum stattfinden, wo eine enge Zusammenarbeit mit den Neonatologen und Kinderchirurgen besteht. Das Kind muss unmittelbar nach der Geburt intubiert werden. Die operative Korrektur erfolgt in der Regel, sobald sich das Kind kardiorespiratorisch stabilisiert hat.
9.1.8
Abdomen
Ösophagusatresie Die häufigste Form der Ösophagusatresie ist der blind endende Ösophagus mit einer distalen Fistel zwischen Ösophagus und Trachea. Die Verdachtsdiagnose wird gestellt, wenn der Magen wiederholt nicht darstellbar ist. Die einzige andere
153 9.1 · Ultraschall im 2. Trimenon
des Darms beschreibt. Ein Polyhydramnion ist bei Dünndarmatresien nur selten zu beobachten. Sonographisch fällt in seltenen Fällen eine Hyperechogenität des Darms auf, definiert durch eine mindestens gleich hohe Echogenität wie die Beckenknochen. Ursachen können verschlucktes Blut nach einer intraamnialen Blutung, eine fetale Infektion (Toxoplasmose, Zytomegalie), ein Vorzeichen einer fetalen Wachstumsrestriktion oder die Mukoviszidose sein. Chromosomale Aberrationen sollten ausgeschlossen werden, auch bei isolierten Befunden (Trisomie 21 in bis zu 42% bei assoziierten Anomalien, aber auch in 7% der Fälle bei isolierten Befunden).
Bauchwanddefekte . Abb. 9.24. Duodenalatresie mit »Double-bubble-Zeichen« und Polyhydramnion (Dürig u. Riao 2006)
Erklärung für die nicht gefüllte Magenblase ist eine neuromuskuläre Störung, die mit dem Schluckvorgang interferiert, was sehr selten auftritt. Häufig ist die Diagnose der Ösophagusatresie eine Ausschlussdiagnose, wobei es grundsätzlich möglich ist, den dilatierten, blind endenden Ösophagussack während des Schluckvorgangs darzustellen. Es muss daran gedacht werden, dass Begleitfehlbildungen in ca. 50% der Fälle vorliegen, wobei Herzfehler mit 25% am häufigsten sind (Robertson et al. 1994). Die Anomalien sind gehäuft in einer Form kombiniert, die als VACTERL-Assoziation (»vertebral, anorectal, cardiac, tracheo-esophageal fistula, esophageal atresia, renal and limb anomalies«) bekannt ist. Chromosomale Aberrationen liegen in 2–4% der Fälle vor. Eine invasive Diagnostik sollte daher bei Verdacht auf eine Ösophagusatresie angeboten werden.
Gastrointestinale Atresien Auf eine Duodenalatresie weist das »Double-bubble-Zeichen« hin, das durch den dilatierten Magen und das dilatierte proximale Duodenum verursacht wird (. Abb. 24). Vor der 20. SSW liegt häufig nur ein dilatierter Magen vor. Die Duodenalatresie wird im Verlauf durch ein Polyhydramnion kompliziert. Mehr als 50% der Feten mit Duodenalatresien haben Begleitfehlbildungen, darunter Herzfehler in 17–33%. Chromosomale Aberrationen sind häufig, wobei die Trisomie 21 mit 27–34% dominiert (Robertson et al. 1994). Atresien und Stenosen des Dünndarms sind am häufigsten im distalen Ileum und im proximalen Jejunum lokalisiert. Eine häufige Ursache ist die Mekoniumperitonitis, die als Folge einer Darmperforation vorkommt. Sonographische Zeichen der Mekoniumperitonitis sind intraabdominale Verkalkungen mit oder ohne Aszites. Eine weitere Ursache ist die Mukoviszidose. Zum Ausschluss dieser Diagnose empfiehlt sich eine Untersuchung beider Eltern. Eine unauffällige Gallenblase macht die Wahrscheinlichkeit einer Mukoviszidose, die eine Füllung der Gallenblase in ca. 75% der Fälle verhindert, unwahrscheinlich. Weitere Ursachen für eine Dünndarmobstruktion sind der Volvulus oder eine Invagination. Typisch für den Volvulus ist das sog. Whirlpool-Zeichen, das die spiralförmige Drehung
Bei der Omphalozele imponiert in der Mitte des Abdomens ein Bruchsack, der Magen, Darmschlingen oder Leber enthält. Die Nabelschnur mündet auf der Omphalozele (. Abb. 9.25). Assoziierte Fehlbildungen werden in 50–70% der Fälle gefunden. Als Cantrell-Pentalogie wird die Vorverlagerung von abdominalen und thorakalen Organen zusammen mit einem Zwerchfelldefekt und Herzfehlern bezeichnet. Das BeckwithWiedemann-Syndrom umfasst neben der Omphalozele eine Makroglossie und eine Viszeromegalie von Leber und Nieren. Es besteht eine Beziehung zwischen dem Omphalozeleninhalt und dem Karyotyp. Falls der Bruchsack klein ist und nur Darm enthält, liegen 4-mal häufiger chromosomale Aberrationen vor als in den Fällen, bei denen die Leber ebenfalls extrakorporal liegt (67 vs. 16%). Die Prognose wird im Wesentlichen durch Begleitfehlbildungen und chromosomale Aberrationen bestimmt. Zudem spielt die Größe der Omphalozele eine Rolle. Die postnatale chirurgische Versorgung, die manchmal in mehreren Schritten und unter Zuhilfenahme eines Silasticsacks durchgeführt werden muss, ergibt in der Regel zufriedenstellende Resultate. Eine Gastroschisis liegt in den meisten Fällen rechts vom Nabelansatz. Sonographisch stellen sich Darmschlingen dar, die außerhalb des Abdomens liegen und nicht von einer Membran bedeckt sind. Die Prognose der Gastroschisis wird allgemein als günstig eingeschätzt. Begleitfehlbildungen und Chromosomenanomalien sind im Gegensatz zur Omphalozele selten. In einigen Fällen kann es zum unerklärten intrauterinen Fruchttod kommen. Es wird deshalb eine engmaschige Ultraschallüberwachung ab der 32. SSW empfohlen. Verschiedene Autoren haben intrauterine Veränderungen der sonographischen Morphologie des Darms verfolgt. Bisher konnte jedoch keine eindeutige Korrelation zwischen dem Ausmaß der Dilatation bzw. der Wanddicke der extraabdominalen Darmschlingen und dem Outcome der Kinder gefunden werden. Die Entbindung sollte in einem perinatalen Zentrum stattfinden, um eine optimale Versorgung des Kindes sicherzustellen. Die Body-Stalk-Anomalie ist eine letale Anomalie, die mit einem großen Bauchwanddefekt, Extremitätenfehlbildungen, einer extrem kurzen Nabelschnur und einer extremen Verbiegung der Wirbelsäule einhergeht. Gelegentlich wird sie mit dem Amnionbandsyndrom verwechselt, das mit Amputationen, Enzephalozelen und ebenfalls einem großen Bauchwanddefekt assoziiert ist.
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154
Kapitel 9 · Fehlbildungsdiagnostik im 2. Trimenon
a . Abb. 9.26. Unauffälliger Fuß im 2. Trimenon
9
. Abb. 9.27. Unauffällige Hand im 2. Trimenon b . Abb. 9.25a, b. Omphalozele (b 3-D-Darstellung)
9.1.9
Extremitäten
Obwohl die Femur- und die Humeruslänge wichtige Parameter für die Berechnung des Gestationsalters sind (. Abb. 9.26), wird den Extremitäten generell wenig Aufmerksamkeit zuteil (Dugoff et al. 2000). Die Hände sollten z. B. eingehend dargestellt werden (. Abb. 9.27, 9.28), falls eine fetale Fehlbildung vermutet wird, da sie bei vielen Syndromen und Aneuploidien mitbetroffen sein können (. Abb. 9.33). Beispielsweise sind die Flexion und Überkreu-
zung des 2. und 3. Fingers mit der Trisomie 18 assoziiert. Bei der Trisomie 21 ist das Mittelglied des kleinen Fingers häufig hypoplastisch.
Klumpfüße Diese Anomalie gehört zu den häufigsten kongenitalen Fehlstellungen (. Abb. 9.29). In 50% der Fälle sind beide Seiten betroffen, und es liegen weitere Fehlbildungen vor. Klumpfüße treten familiär, im Rahmen von chromosomalen Aberrationen (am häufigsten Trisomie 18) und genetischen Syndromen vor. Ein Klumpfuß kann auch als Folge eines Bewegungsmangels (Neuralrohrdefekt, fetale neuromuskuläre Störungen) entstehen. Nicht zuletzt kann eine Störung des Bindegewebes (Arthrogryposis) ursächlich sein.
155 9.1 · Ultraschall im 2. Trimenon
a
. Abb. 9.28. Gesicht und Hand im 2. Trimenon im 3-D-Oberflächenmodus
Die pränatale Diagnose wird gestellt, wenn auf einem Frontalschnitt durch den Unterschenkel der Fuß in einem Längsschnitt zur Darstellung kommt. Die Mehrheit der betroffenen Kinder kann konservativ behandelt werden. Ein chirurgisches Vorgehen ist meistens nur bei sehr ausgeprägter Supination und Adduktion notwendig, was pränatal sonographisch gut diagnostizierbar ist.
Verkürzte Extremitäten Verkürzte Extremitäten können bezüglich der Ursache eine Herausforderung darstellen. Mehr als 100 äußerst seltene Fehlbildungskomplexe können infrage kommen, und eine definitive Klassifizierung der Skelettdysplasien aufgrund der pränatalen sonographischen Befunde ist nicht immer möglich. Tipp Wird der Femur bei der Routineuntersuchung zu kurz gemessen (8 cm vorhanden ist. Beim FWI wird der Uterus in 4 Quadranten eingeteilt und der jeweils größte Pool in die Berechnung miteinbezogen. Ein FWI von >20 cm bedeutet ein Polyhydramnion. Die heute empfohlene Methode ist die Bestimmung des größten vertikalen Fruchtwassersees, da die 4-Quadranten-Methode zur Überdiagnose eines Oligohydramnions und zu häufigeren Geburtseinleitungen führt ohne Verbesserung des kindlichen Outcomes (Magann et al. 2001, 2007; Nabhan u. Abdelmoula 2009).
Oligohydramnion Die häufigsten Ursachen für ein Oligohydramnion sind fetale Nierenfehlbildung, eine Wachstumsrestriktion (IUWR), der Blasensprung (. Abb. 9.34) oder eine Normvariante. Die häufigste mit einem Oligohydramnion assoziierte Nierendysplasie ist die infantile polyzystische Nierendegeneration. Diese Erkrankung manifestiert sich am Ende des 2. Trimenons mit bilateral vergrößerten, einheitlich hyperechogenen Nieren. Sie betrifft immer beide Nieren. Begleitfehlbildungen oder chromosomale Aberration sind nicht gehäuft. Die Kinder sterben kurz nach der Geburt an einer Lungenhypoplasie oder einem
. Abb. 9.33. Arthrogryposis multiplex congenita in 3 D
9
158
Kapitel 9 · Fehlbildungsdiagnostik im 2. Trimenon
. Abb. 9.34. Oligohydramnion bei vorzeitigem Blasensprung
. Abb. 9.36. Polyhydramnion bei Gestationsdiabetes
Die Obstruktion des unteren Harntrakts durch Urethralklappen ist eine ungewöhnliche, jedoch problematische Ursa-
9
che für ein Oligohydramnion. Dabei ist der gesamte Trakt oberhalb der Urethra dilatiert (. Abb. 9.35). Handelt es sich um eine Teilobstruktion, ist die Prognose gut, insbesondere wenn die Nieren keine Zeichen einer dysplastischen Veränderung zeigen (hyperechogenes Nierenparenchym mit kleinen subkortikalen Zysten). Bei einer entstehenden IUWR kann es aufgrund einer plazentaren Minderdurchblutung auch zu einem Oligyhydramnion kommen. Dabei findet eine Zentralisation des Kreislaufs auf Kosten der peripheren Organperfusion, insbesondere der Nieren, statt. Eine Verringerung des renalen Plasmaflusses führt zu einer geringeren Urinproduktion und somit zu einem Oligohydramnion. Eine weitere häufige Ursache für eine verminderte Fruchtwassermenge – nach Ausschluss einer Fetopathie – ist der vorzeitige Blasensprung.
. Abb. 9.35. Obstruktion des unteren Harntrakts durch Urethralklappe
Nierenversagen. Gelegentlich werden hyperechogene, große Nieren bei normalem oder sogar vermehrtem Fruchtwasser gefunden. Eine andere Ursache für das stark ausgeprägte Oligohydramnion ist die Nierenagenesie. Diese ist oftmals schwer zu diagnostizieren. Sonographische Leitsymptome sind das Anhydramnion und die nicht darstellbare fetale Harnblase. ! Die Nebennieren, die bei Agenesie der Nieren vergrößert sind und eine ovale Form annehmen, dürfen nicht mit den Nieren verwechselt werden. Die Unterscheidung gelingt anhand der fehlenden Kapsel und Nierenbecken.
Mithilfe der Farbdopplersonographie kann zudem das Fehlen der Nierenarterien nachgewiesen werden.
> Nicht das Oligohydramnion selbst, sondern vielmehr dessen Ursachen stellen somit eine Gefahr für den Feten dar. Am schlimmsten wirkt sich ein ausgeprägtes Oligohydramnion im 2. Trimenon aus, wenn die Entwicklung der Lungen erfolgt. Ohne Fruchtwasser in den fetalen Atemwegen kommt es zur pulmonaren Hypoplasie.
Polyhydramnion Die Kombination von Polyhydramnion und makrosomem Fetus (AU/KU >1) machen einen Gestationsdiabetes wahrscheinlich (. Abb. 9.36). Weitere Ursachen für ein Polyhydramnion sind eine gastrointestinale Obstruktion oberhalb des Ileums, eine Fehlbildung des ZNS oder eine Aneuploidie.
Nabelschnur Die Trisomie 13 und 18 sind die einzigen Chromosomenanomalien, die bei einer singulären Nabelschnurarterie zu erwarten sind (Persutte u. Hobbins 1995). Das Risiko einer Trisomie
159 9.2 · Fetale Magnetresonanztomographie (MRT)
ist allerdings bei sonographisch unauffälliger Sonoanatomie nicht signifikant erhöht und kein Grund für eine Amniozentese. Eine Nabelschnurumschlingung impliziert keinerlei nachgewiesene negative Auswirkung auf das fetale Outcome (Gonzalez-Quintero et al. 2004). Somit sollte der Befund keine therapeutische Konsequenz nach sich ziehen.
Plazenta Eine Placenta accreta kommt in 10% der Fälle von Placenta praevia vor, verglichen mit einer Wahrscheinlichkeit von 4 : 10.000 bei normal sitzender Plazenta (Clark et al. 1985; Benirschke u. Baergen 2006). Bei Zustand nach Sectio steigt die Wahrscheinlichkeit auf 40%. Plazentare Lakunen in Nähe einer Sectionarbe geben oft den besten Hinweis auf eine Placenta accreta (Comstock 2005), die ansonsten aufgrund der oftmals schlechten Abgrenzbarkeit des Myometriums, im Gegensatz zu einer Placenta increta und percreta, nur schwer zu diagnostizieren ist (Becker et al. 2001; Taipale et al. 2004).
9.2
Fetale Magnetresonanztomographie (MRT) W. Blaicher, D. Prayer
Die MRT hat eine höhere Weichteildifferenzierung als der Ultraschall. Die typischen Ursachen eingeschränkter sonographischer Bedingungen wie mütterliche Adipositas, Oligohydramnion oder ungünstige fetale Lage spielen eine untergeordnete Rolle. Die Entwicklung sog. ultraschneller MRT-Sequenzen ermöglichte die deutliche Verkürzung der Akquisition einer Bildserie auf ca. 30 s, sodass die Bildqualität durch fetale Bewegungen nur selten beeinträchtigt wird (Levine et al. 1996). Die Hauptindikationen für die fetale MRT sind Fehlbildungen. Weitere Indikationen sind vorzeitiger Blasensprung, Wachstumsrestriktion, Mehrlingsschwangerschaften, bekannte genetische Defekte und gelegentlich maternale Erkrankungen, die einen Einfluss auf den Verlauf der Schwangerschaft nehmen können. Die postnatale Therapieplanung kann durch die Zusatzuntersuchung mittels fetaler MRT zeitgerecht optimiert werden.
9.2.1
Methode
Untersuchungsgang Je nach Gestationsalter erfolgt die Lagerung der Schwangeren in Rücken- oder Seitenlage. Um die Position des Fetus zu bestimmen, erfolgt zunächst eine Suchersequenz. Im Anschluss daran erfolgt ein Referenz-Scan, um im weiteren Verlauf der Untersuchung parallele Bildgebung zu ermöglichen. Weitere Sequenzen werden unter der Annahme geplant, dass sich der Fetus noch dort befindet, wo er unmittelbar vorher war. Ein Standardprotokoll umfasst T2-gewichtete Sequenzen in 3 orthogonalen Ebenen des fetalen Kopfes, sagittale und frontale T2-gewichtete Schichten durch den fetalen Körper sowie frontale T1- und Steady-state-free-precession-Sequenzen durch den fetalen Rumpf. In vielen Fällen müssen jedoch noch zusätzliche Ebenen und Sequenzen akquiriert werden (Brugger et al. 2006). Derzeit wird mit ungefähr 15 unterschiedlichen Sequenzen gearbeitet. Die Abbildung einer Schicht dauert ca. 1 s, die Schichtdicke beträgt je nach Gestationsalter und untersuchter Region 0,3–5 mm. Eine Sequenz dauert ca. 20–30 s. Die Gesamtuntersuchungsdauer beträgt ca. 30 min. Diese Zeit ergibt sich durch die korrekte Einstellung aller gewünschten Ebenen und Sequenzen sowie der Wiederholung mancher Sequenzen wegen eingeschränkter Bildqualität, die z. B. durch fetale Bewegungen zustande kommen kann. Die Untersuchung mittels fetaler MRT ist ca. ab SSW 18 sinnvoll.
Neue Methoden Inzwischen sind dynamische Sequenzen mit 7 und mehr Bildern pro Sekunde möglich, bei denen fetale Bewegungen aufgezeichnet werden können (z. B. Schluckakt, Zwerchfellexkursionen, Darmperistaltik oder komplexe motorische Bewegungsmuster). T2-gewichtete Sequenzen mit 10– 50 mm Schichtdicke vermitteln einen dreidimensionalen Eindruck. Vielversprechend ist die Diffusions-Tensor-Bildgebung, bei der durch die Darstellung einzelner Faserzüge die Entwicklung von Hirnbahnen nachvollzogen werden kann (»fiber tracking«; . Abb. 9.37). Mekonium zeigt auf T1-gewichteten Sequenzen ein typischerweise hyperintenses Signal und gilt somit als natürliches Kontrastmittel, welches eine nichtinvasive Kolonographie ermöglicht. Durch Nachbearbeitung der Bilder entsteht ein dreidimensionaler Eindruck; Darmfehlbildungen können so besser nachvollzogen werden (Brugger et al. 2006).
Sicherheit und Risiken Der fetalen MRT liegt der Aufbau eines Magnetfeldes zugrunde. Im Gegensatz zu Röntgenuntersuchungen oder Computertomographie kommen keine ionisierenden Strahlen zum Einsatz. Bisher wurden keine schädigenden Einflüsse auf den Fetus nachgewiesen (De Wilde et al. 2005; Kok et al. 2004).
Kontraindikationen Die Kontraindikationen sind wie bei jeder anderen MRT-Untersuchung Klaustrophobie, metallische Implantate und ein Gewicht >130 kg (Goh et al. 1999).
9.2.2
Einsatzgebiete
Eingeschränkte sonographische Untersuchungsbedingungen Bei Verdacht auf Fehlbildung ist die Zusatzuntersuchung mittels fetaler MRT bei eingeschränkten sonographischen Untersuchungsbedingungen sinnvoll. Insbesondere bei Oligohydramnion wird die MR-Beurteilbarkeit nicht beeinträchtigt. Zudem ist hier eine Untersuchung der Lungenreife (Volumetrie und Signalmessung) angezeigt (Levine et al. 1999).
9
160
9
Kapitel 9 · Fehlbildungsdiagnostik im 2. Trimenon
. Abb. 9.37. Fetus mit Wachstumsrestriktion bei Plazentainsuffizienz in SSW 22. Mittels Diffusions-Tensor-Bildgebung kann durch die Darstellung einzelner Faserverbindungen die Entwicklung von
Hirnbahnen nachvollzogen werden (»fiber tracking«). Die kortikospinalen und thalamokortikalen Verbindungen sind regulär ausgebildet
Feten mit Fehlbildungen und geplanter postnataler Intervention
Entzündungen oder Traumata) des fetalen ZNS zusammen. Stoffwechselerkrankungen sind am ehesten dann erfassbar, wenn sie auch zu morphologischen Veränderungen führen, wie z. B. Pyruvatdehydrogenasemangel oder Zellweger-Syndrom. Die unterschiedlichen Ursachen sowie das Vorliegen oder der Ausschluss assoziierter Fehlbildungen geben Hinweise auf die Prognose und das Wiederholungsrisiko. Die gleichzeitige Beurteilung von morphologischen Veränderungen in der konventionellen fetalen MRT, Bewegungsmustern in der dynamischen MRT sowie die Darstellung einzelner Faserzüge in der Diffusions-Tensor-Bildgebung ermöglichen Rückschlüsse auf die neurologische Entwicklung des Fetus.
> Der Untersuchungsgang mittels postnataler statt fetaler MRT ist deutlich aufwendiger. Das oftmals hämodynamisch instabile Neugeborene muss für die postnatale MRT sediert und transportiert werden.
Im Rahmen der postnatalen MRT werden zudem häufig nur einzelne Organsysteme abgebildet – durch die Darstellung des ganzen Fetus im Rahmen der fetalen MRT können assoziierte Fehlbildungen beurteilt oder ausgeschlossen werden, eine Syndromzuordnung ist somit besser möglich. Bei Vorliegen einer fetalen MRT kann die interdisziplinäre Planung des Prozederes zeitgerecht und in Ruhe erfolgen. Zudem wird postnataler Zeitverlust durch weiterführende MR-Diagnostik vermieden (Blaicher et al. 2004).
Schwerwiegende fetale Fehlbildungen mit geplanter vorzeitiger Schwangerschaftsbeendigung Bei fetalen Fehlbildungen, bei denen aufgrund des Schweregrades der Ausprägung eine vorzeitige Schwangerschaftsbeendigung geplant ist, fungiert die fetale MRT als unabhängige »zweite Meinung«. Sowohl für den Pränataldiagnostiker als auch für die werdenden Eltern ist dieser psychologische Aspekt nicht außer Acht zu lassen. Zudem kann die fetale MRT anstatt oder als Ergänzung zur Autopsie durchgeführt werden. Im Rahmen der Autopsie kann insbesondere die Beurteilung des fetalen Gehirns durch fortgeschrittene Autolyse erschwert oder sogar unmöglich sein.
9.2.3
Typische Indikationen
Auffälligkeiten im Bereich des ZNS Neurologische Indikationen (. Abb. 9.37–9.38) setzen sich aus vermuteten anlagebedingten Fehlbildungen und erworbenen Störungen (hypoxisch-ischämische Ereignisse, Blutungen,
Thorakoabdominelle Fehlbildungen Meist liegen thorakoabdominelle Fehlbildungen isoliert vor (. Abb. 9.40), jedoch können sie auch mit ZNS-Fehlbildungen im Sinn eines Syndroms vergesellschaftet sein. Sonographische Auffälligkeiten lassen in manchen Fällen keine Organzuordnung zu. Die bessere Weichteilauflösung der MRT kann somit bei der Diagnose behilflich sein. > Die erste Wahl zur Beurteilung von Herzfehlern ist die Sonographie im Sinn einer dynamischen Untersuchungsmethode. Da jedoch gehäuft mit wahrscheinlich hämodynamisch bedingten sekundären ZNS-Veränderungen wie periventrikulärer Leukomalazie zu rechnen ist, stellen fetale Herzfehler ebenfalls eine Indikation zur MRT dar.
Vorzeitiger Blasensprung Die verminderte Fruchtwassermenge nach vorzeitigem Blasensprung stellt einen wesentlichen Risikofaktor für die Lungenentwicklung dar. Bei Schwangerschaften mit vorzeitigem Blasensprung werden daher das fetale Lungenwachstum mittels Volumetrie und die Lungenreife durch Analyse des Signalverhaltens des Lungenparenchyms erfasst (Brewerton et al. 2005; Keller et al. 2004). Zudem werden die fetale
161 9.2 · Fetale Magnetresonanztomographie (MRT)
. Abb. 9.38. Fetus mit Ventrikulomegalie aufgrund einer Aquäduktstenose in SSW 23. Die zugrunde liegende Ursache einer Ventrikulomegalie, wie z. B. Blutung oder Aquäduktstenose, kann häufig mittels fetaler MRT diagnostiziert werden. Zudem ist die Beurteilung assoziierter Fehlbildungen, wie z. B. Balkenmangel, und die Beurteilung der Hirnreife durch Darstellung der kortikalen Faltung sowie
der Entwicklung des Hirnparenchyms zur Einschätzung der Prognose von Bedeutung. Die Pfeilspitze auf der sagittalen T2-gewichteten Sequenz markiert den im distalen Bereich nicht mehr durchgängigen Aquädukt. Die koronale Schicht zeigt den Hydrozephalus internus, die axialen Schichten den Hydrozephalus mit verschlossenem Aquädukt
. Abb. 9.39. Fetus mit Lissenzephalie in SSW 27. Die sonographische Diagnose Lissenzephalie ist schwierig; die Feten fallen häufig lediglich durch Mikrozephalie auf. Da die Lissenzephalie sporadisch auftreten kann, aber auch verschiedenste Erbgänge möglich sind, wird bei belasteter Anamnese eine fetale MRT empfohlen. Auf den
T2-gewichteten Sequenzen sind wesentliche Gyri und Sulci (Gyrus temporalis superior, Zentralregion, Gyrus cinguli) nicht ausgebildet. Das Corpus callosum wirkt hypoplastisch. Die axiale diffusionsgewichtete Sequenz zeigt nur teilweise eine erhaltene Laminierung des fetalen Gehirns
Gehirnentwicklung und der Reifezustand der grauen und weißen Substanz beurteilt. Kleinere Blutungsareale, Infarkte oder Leukomalazie, die bei extremer Frühgeburtlichkeit gehäuft auftreten, können dargestellt werden. Die Entscheidung, im Fall einer Geburt »alles für das Kind zu tun« oder dem Kind evtl. »comfort care« zukommen zu lassen, wird erleichtert.
Mehrlingsschwangerschaften
Fetale Wachstumsrestriktion Die morphologische Beurteilung der Plazentastruktur im Sinn von Infarzierungen oder Einblutungen ist bei fetaler Wachstumsrestriktion von Bedeutung (Gowland 2005; . Abb. 9.37). Zudem erfolgt die Beurteilung des fetalen Gehirns im Hinblick auf Hirnreife, Blutungsareale, Infarkte, Leukomalazie sowie die Lungenentwicklung. Dennoch stehen bei der Beurteilung der fetalen Wachstumsrestriktion die sonographischen Dopplerströmungsmessungen und Wachstumskontrollen im Vordergrund.
Bei Mehrlingsschwangerschaften werden v. a. die Plazentastruktur und -verteilung beurteilt (Huisman et al. 2005). Insbesondere bei monochorialen Zwillingsschwangerschaften, die das Risiko des fetofetalen Transfusionssyndroms in sich bergen, ist diese Untersuchung sinnvoll. Feten, die sich eine Plazenta teilen, sind auch in späteren Schwangerschaftsstadien gefährdet, Schäden zu erleiden, die die zerebrale Entwicklung mitbetreffen können (Lopriore et al. 2003). Zusätzlich werden die Gehirnstruktur und die Lungenentwicklung beurteilt. Weiterhin kann die Auswirkung auf die Feten nach Laserkoagulation der Shuntgefäße dargestellt werden.
Bekannte genetische Defekte, bei denen Auffälligkeiten in der MRT zu erwarten sind Idealerweise liegen bei bekannten genetischen Defekten (. Abb. 9.39) molekulargenetische Befunde des Indexpatienten vor, die eine invasive pränatale Diagnostik mittels Cho-
9
162
Kapitel 9 · Fehlbildungsdiagnostik im 2. Trimenon
a
9
b
. Abb. 9.40. Fetus mit linksseitiger Zwerchfellhernie in SSW 25. Für die Art des therapeutischen Vorgehens und die Prognose der fetalen Zwerchfellhernie ist v. a. die Volumetrie des funktionellen Lungengewebes von Bedeutung. Die Entscheidung über Austragen oder Abbruch der Schwangerschaft sowie evtl. intrauterine Therapie mittels Ballonkatheter oder die Planung der postnatalen Therapie mit even-
tueller Notwendigkeit einer extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO) werden von der MR-Diagnose beeinflusst. Die sagittale T2-gewichtete Schicht ermöglicht die detaillierte Beschreibung der Bruchsackanatomie. Die axiale T2-gewichtete Schicht ermöglicht die Identifizierung der hypoplastisch komprimierten Lunge (Pfeilspitzen), das Herz ist an die Thoraxwand gedrängt
rionzottenbiopsie oder Amniozentese ermöglichen. In vielen Fällen ist dies jedoch nicht der Fall, entweder weil die der Krankheit zugrunde liegende Mutation nicht bekannt ist oder weil eine solche Untersuchung nicht veranlasst wurde, z. B. weil der Indexpatient gestorben ist oder weil am ehesten von einem sporadischen Fall auszugehen ist. In diesen Fällen steht im Rahmen einer neuerlichen Schwangerschaft letztendlich nur die bildgebende Diagnostik zur Verfügung (Jeng et al. 2001).
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9
10 10 Pränatale Diagnostik: Molekularbiologische Methoden O. Lapaire, S. Hahn 10.1
Einleitung – 166
10.2
Methoden zur Chromosomenzahlbestimmung – 166
10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4
Traditionelle Zytogenetik – 166 Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) – 167 Quantitative fluoreszierende PCR (qPCR) – 168 Real-time-PCR (Echtzeit-PCR) – 169
10.3
Pränatale Diagnostik mittels PCR – 170
10.4
Präimplantationsdiagnostik und Polkörperchendiagnostik – 170
10.5
Nichtinvasive Methoden – 171
10.5.1 10.5.2
Fetale Zellen im mütterlichen Blut – 171 Zirkulierende fetale DNA – 172
10.6
Ausblick – 172 Literatur – 173
H. Schneider et al. (eds.), Die Geburtshilfe © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
166
Kapitel 10 · Pränatale Diagnostik: Molekularbiologische Methoden
In den letzten Jahren hat sich durch den gezielten Einsatz von innovativen molekularbiologischen Methoden wie der Polymerasekettenreaktion (PCR) und der Fluoresenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) die Pränataldiagnostik methodisch erweitert. Der Goldstandard der Pränataldiagnostik bleibt allerdings heute noch die klassische Chromosomenuntersuchung. Die sich entwickelnden Methoden erlauben die Analyse von Chromosomenstörungen und monogenen Erkrankungen auch in einzelnen Zellen und stellen die Grundlage für eine Präimplantationsund Polkörperchendiagnostik dar. Auch sind große Fortschritte in der nichtinvasiven und somit risikofreien Diagnostik von fetalen genetischen Veränderungen erzielt worden, v. a. durch die PCR-Untersuchung von zellfreier fetaler DNA im mütterlichen Plasma, womit jetzt die ersten kommerziellen klinischen Tests für das Erfassen des fetalen Rhesusstatus in Schwangerschaften mit einer Rhesuskonstellation angeboten werden. Die Fortschritte stimmen optimistisch, dass viele Methoden, die aktuell in der Forschung geprüft und weiterentwickelt werden, einmal in der Zukunft im klinischen Alltag eingesetzt werden können.
10.1
10
Einleitung
Die heute routinemäßig angebotene pränatale Diagnostik zwecks Ausschluss von fetalen Aneuploidien und Malformationen ist seit den 1970er Jahren in der Klinik etabliert. Bei der invasiven Diagnostik muss jedoch das Abortrisiko von heute 0,5–1% mitberücksichtigt werden. Dies ist ein wichtiger Grund, weshalb Forschungsgruppen weltweit nach neuen, effektiven, risikofreien und verlässlichen Methoden sowie zusätzlichen Markern für ein pränatales Screening und für die pränatale Diagnostik suchen (Holzgreve 1997). Diese umfassen einerseits die Anreicherung und Analyse fetaler Zellen aus mütterlichem Blut, andererseits die PCR-Analyse von im mütterlichen Kreislauf zirkulierender zellfreier fetaler DNA (Holzgreve u. Hahn 2001). Weiterhin ermöglichen die dabei entwickelten Methoden auch eine genetische Analyse von Blastomerzellen in der Präimplantationsdiagnostik sowie die indirekte genetische Analyse von Oozyten bei IVF mittels Polkörperchendiagnostik. Eine Verknüpfung der Disziplinen der pränatalen Medizin, insbesondere der Ultraschalldiagnostik, der medizinischen Genetik, Biochemie und Geburtshilfe führen zu einem raschen Austausch vieler neuer Errungenschaften zwischen Labor und Klinik.
10.2
10.2.1
Methoden zur Chromosomenzahlbestimmung Traditionelle Zytogenetik
Chromosom Ein menschlicher Chromosomensatz besteht aus 23 Chromosomenpaaren: 22 Autosomenpaare und einem Gonosomenpaar, das geschlechtsbestimmend ist. Das männ-
6
liche Geschlecht wird durch das Vorliegen eines Y-Chromosoms bestimmt – in der Karyotypformel dargestellt als 46,XY –, während das weibliche Geschlecht 2 X-Chromosomen hat und als 46,XX bezeichnet wird.
Abweichungen von der normalen Chromosomenzahl, sog. Aneuploidien, sind die häufigsten Chromosomenanomalien. Dabei wird das Vorliegen von 3 Kopien eines Chromosoms als Trisomie, das Fehlen eines Chromosoms, also das Vorliegen nur einer Kopie, als Monosomie bezeichnet. Aneuploidien sind die häufigste Ursache für einen intrauterinen Fruchttod. Die Karyotypformel für Aneuploidien beschreibt neben der Chromosomenanzahl und dem Geschlecht spezifisch die vorliegende Aberration, z. B. ein zusätzliches oder fehlendes Chromosom (z. B. 47,XX,+21 oder 45,XX,–18). Aneuploidien sind bis auf wenige Ausnahmen nicht mit dem Leben vereinbar, dazu gehören das Down-Syndrom (Trisomie 21), das Pätau-Syndrom (Trisomie 13) und das Edwards-Syndrom (Trisomie 18) als autosomale Trisomien und alle gonosomalen Trisomien (47,XXY(Klinefelter-Syndrom), 47,XXX oder 47,XYY). Aufgrund der schwerwiegenden Fehlbildungen haben Patienten mit Trisomie 13 oder 18 nur eine geringe Überlebenschance, gonosomale Trisomien zeigen keine körperlichen Fehlbildungen und werden oft nur im Lebensverlauf diagnostiziert oder als Nebenbefund in der pränatalen Chromosomenuntersuchung festgestellt. Trisomien der Chromosomen 7 und 16 sind mit einem Spontanabort assoziiert. Die einzige mögliche lebensfähige Monosomie ist das Turner-Syndrom (45,X). Die Ursache für die steigende Inzidenz kindlicher Aneuploidien ist das höhere mütterliche Alter, das zu einer Zunahme der Fehlverteilung der Chromosomen in der mütterlichen Meiose führen kann. Bei einem mütterlichen Alter von 35 Jahren ergibt sich ein Risiko für eine Trisomie 21 von 1:249 zum Zeitpunkt des Ersttrimesterscreenings. Es steigt im Alter von 42 Jahren auf 1:38 an. Seit Ende der 1990er Jahre ist das frühe Screening mit 11–14 Schwangerschaftswochen (SSW) verfügbar, das unter Zugrundelegung des mütterlichen Alters, der sog. Nackentransparenz (NT) und von biochemischen Markern die Entdeckungsrate für Chromsomenanomalien deutlich verbessert. > Das Ersttrimesterscreening ist gegenwärtig der wichtigste Screeningparameter zur individuellen Risikoabschätzung für Chromosomenstörungen.
Neben der standardisierten Untersuchungstechnik sollte größter Wert auf die ausführliche Information und Beratung der Schwangeren sowie auf die Qualitätssicherung gelegt werden. Durch die Verbesserung der individuellen Risikospezifizierung mittels Sonographie, biochemischen Markern und dem mütterlichen Alter können unnötige invasive Untersuchungen vermieden und ihre Zahl insgesamt deutlich reduziert werden (Ekelund et al. 2008). Um den Chromosomensatz mittels konventioneller Zytogenetik zu bestimmen, wird während des Zellzyklus das Sta-
167 10.2 · Methoden zur Chromosomenzahlbestimmung
. Abb. 10.1. Karyogramm eines Fetus mit Trisomie 21. Dieses Karyogramm entstand nach einer Amniozytenkultur. Die Chromsomenbanden wurden mit Giemsa-Färbung sichtbar gemacht
dium maximaler Chromosomenkondensation, die sog. Metaphase, künstlich arretiert. An diesen Chromosomen kann mittels verschiedener Farbstoffe (z. B. Quinacrin für Q-Banden, Giemsa für G-Banden) ein charakteristisches Bandmuster erzeugt werden, das es erlaubt, die 23 Chromosomenpaare im Lichtmikroskop voneinander zu unterscheiden. Neben den genannten numerischen Aberrationen können auch strukturelle Aberrationen im Rahmen der Bänderungs- und lichtmikroskopischen Auflösung, z. B. Translokationen oder Deletionen und Duplikationen mittels dieser Färbungen erkannt werden (. Abb. 10.1). > Karyotypisiert werden kann aus allen Geweben, die aktiv sich teilende Zellen enthalten oder deren Zellen sich zur Teilung anregen lassen (z. B. Lymphozyten aus Blut, Hautfibroblasten).
In der Pränataldiagnostik besteht die Schwierigkeit, eine Gewinnung und Kultivierung fetaler Zellen ohne Schädigung des Fetus zu erreichen. Dies wurde ermöglicht durch die Etablierung der Amniozentese, bei der etwas Fruchtwasser durch eine unter Ultraschallkontrolle durchgeführte Punktion ab der 15+0. SSW gewonnen werden kann. Durch diese Methode konnte 1968 erstmals die Diagnose eines Down-Syndroms gestellt werden (Valenti et al. 1968). Seither hat sich die invasive Diagnostik zum Goldstandard entwickelt, an der andere Methoden der Pränataldiagnostik gemessen werden. Ein ge-
wisser Nachteil dieser Methode ist, dass das Kultivieren der Amniozyten sehr langwierig ist, wodurch die Karyotypisierung erst mehrere Tage nach dem Eingriff durchgeführt werden kann. Eine Alternative zur Amniozentese ist die Chorionzottenbiopsie, bei der ab der 11+0. SSW eine Probe des Zottengewebes der sich entwickelnden Plazenta entnommen wird. Weiterhin zu beachten ist das mögliche Vorliegen eines auf die Plazenta beschränkten Chromosomenmosaiks. Sowohl der Eingriff als auch die Chromosomenpräparation und Auswertung erfordern ein Team von Spezialisten. Darum wird diese Untersuchung nicht in allen Zentren angeboten. Bei bestimmten Indikationen (z. B. therapeutische Chordozentese bei fetaler Alloimmunthrombozytopenie) kann auch eine Chordozentese zur Gewinnung einer fetalen Blutprobe durchgeführt werden, bei der im späten 2. Trimenon etwas Blut aus der Nabelschnur entnommen wird.
10.2.2
Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH)
Die oben diskutierten konventionellen zytogenetischen Verfahren sind im klinischen Alltag als Goldstandard fest etabliert. Sie sind jedoch zeitaufwendig und erfordern einen hohen personellen Einsatz spezialisierten Personals.
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168
Kapitel 10 · Pränatale Diagnostik: Molekularbiologische Methoden
genomweite Analyse darstellen. Strukturelle Aberrationen können nicht dargestellt werden. Aufgrund der Gefahr eines falsch negativen Resultats im FISHSchnelltest wird die Forderung unterstrichen, dass ein FISH-Schnelltest obligat an eine konventionelle Chromosomenanalyse zu koppeln ist.
Zudem muss eine Verfälschung des Resultats durch eine maternale Kontamination ausgeschlossen werden. Eine Weiterentwicklung der FISH-Technologie ist das sog. Whole-Chromosomen-Painting (WCP) oder M-FISH (Multicolor-FISH) (Ried et al. 1998). Bei diesem Verfahren können
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. Abb. 10.2. FISH-Analyse an einer fetalen Zelle, die aus dem mütterlichen Blut angereichert wurde. Im Gegensatz zu den mitisolierten mütterlichen Zellen mit 2 grün gefärbten X-Chromosomen zeigt die fetale männliche Zelle neben einem X-Chromosom ein rot gefärbtes Y-Chromosom
Die Möglichkeit, rekombinant hergestellte Chromosomenfragmente mit Fluoreszenzfarbstoffen (z. B. FITC, Rhodamine) zu konjugieren, erlaubt unter beschränkten Fragestellungen auch die Chromosomenanalyse ruhender Interphasezellen (. Abb. 10.2). Die sog. FISH-Sonden werden in situ direkt auf die Zellkernchromosomen hybridisiert, wobei sich je nach Sondencharakter verschiedene Bereiche der Chromosomen für unterschiedliche Fragestellungen analysieren lassen: Man unterscheidet Zentromersonden zur Detektion von Aneuploidien der Chromosomen 13,18, 21, X und Y sowie lokusspezifische sondenspezifische Chromosomenabschnitte [Mikrodeletionen, z. B. DiGeorge-Syndrom (22q11)]. Unterdessen werden auch FISH-Schnelltests für die Analyse von unkultivierten Amniozyten kommerziell angeboten (Eiben et al. 1998), mit denen die 5 häufigsten numerischen Chromosomenaberrationen, betreffend die Chromosomen 13, 18, 21, X und Y, diagnostiziert werden können. Der Vorteil dieser Methode besteht darin, dass ein Ergebnis innerhalb von 24 h nach der Amniozentese geliefert werden kann. Somit kann in gewissen Fällen bei Paaren, die ein erhöhtes Risiko für eine fetale Chromosomenstörung haben, ein schnelles, jedoch vorläufiges Ergebnis erzielt und so die mit Ängsten besetzte Zeit bis zum Ergebnis der Karyotypisierung reduziert werden. ! Es muss darauf hingewiesen werden, dass diese FISH-Sonden nur spezifische Chromosomenloci markieren können und nicht wie der Karyotyp eine
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gleichzeitig alle 24 Chromosomen (1–22, X, Y) in unterschiedlichen Farben dargestellt werden. Dies geschieht mit Hilfe von FISH-Sonden, die über die gesamte Länge des Metaphasechromosoms binden und es dadurch einheitlich färben. Eine ähnliche Technologie ist die spektrale Karyotypisierung (SKY) (Schröck et al. 1996). Statt 5 Aufnahmen mit verschiedenen Farbfiltern und deren Überlagerung wie bei MFISH wird bei SKY nur ein Digitalbild des M-FISH-Präparats mittels Spektralphotometrie aufgenommen und anschließend mittels Fourier-Transformation analysiert. Dabei wird das fluorimetrische Spektrum jedes einzelnen Bildpixels mit Hilfe eines Interpherometers vermessen. Die Daten werden zur Erstellung eines pseudofarbigen Bildes, auf dem alle Chromosomen zu erkennen sind, ausgewertet. Anwendung finden beide Techniken v. a in der Tumorzytogenetik, nicht jedoch in der Pränataldiagnostik. Als weitere Methode haben array-basierte Verfahren wie die komparative genomische Hybridisierung (CGH) (Lapaire et al. 2007), eine hochauflösende fluoreszenzbasierte Methode, bei der Dosisabweichungen (Deletionen und Duplikationen) des zu untersuchenden Genoms vs. ein Referenzgenom detektiert werden, bei bestimmten Fragestellungen Einzug gehalten.
10.2.3
Quantitative fluoreszierende PCR (qPCR)
Polymerasekettenreaktion (PCR) Die Entwicklung der Polymerasekettenreaktion (PCR) ist eine der bedeutendsten Innovationen der modernen Molekularbiologie (Mullis et al. 1986). Bei diesem Verfahren wird eine bestimmte Gensequenz durch wiederholte Reaktion mit einer DNA-Polymerase tausendfach amplifiziert. Dies ermöglicht die Untersuchung von DNA-Sequenzen aus nur wenigen oder sogar aus nur einer einzelnen Zelle.
Zur numerischen Chromosomenanalyse können Mikrosatelliten benutzt werden, auch STR (»short tandem repeats«) genannt, die über das gesamte Genom verteilt auftreten (Verma et al. 1998). Einzelne Mikrosatelliten sind durch ihre spezi-
169 10.2 · Methoden zur Chromosomenzahlbestimmung
. Abb. 10.3. Quantitative fluoreszente PCR-Analyse für fetale Aneuploidien. In dieser Untersuchung wurde ein Mikrosatellitenlokus auf Chromosom 3 analysiert, das auf eine Trisomie 3 hindeutet, in dem 3 individuelle Loci amplifiziert wurden
fische Position auf den Chromosomen definiert und bestehen aus sich wiederholenden kurzen Nukleotidsequenzeinheiten, deren Wiederholungsanzahl sich interindividuell unterscheiden kann. Bei polymorphen Mikrosatelliten mit vielen unterschiedlichen Längenallelen ist es sehr wahrscheinlich, dass verschiedene Individuen und auch beide Kopien desselben Chromosoms eines Individuums unterschiedliche Wiederholungsanzahlen zeigen und sich daher geringfügig in der Größe unterscheiden. Da die DNA-Sequenzen, die einen bestimmten Mikrosatelliten flankieren, sehr spezifisch für den gegebenen Marker sind, können diese STR-Allele leicht PCR-amplifiziert und analysiert werden. Zur fetalen Chromosomenanalyse werden zuvor vom fraglichen Chromosom die elterlichen STR-Allele aus dem Blut typisiert, um ihre Anwesenheit anschließend im fetalen Gewebe zu analysieren. Die Länge der amplifizierten Allele wird mit einem automatischen Sequenzierer bestimmt, der es ermöglicht, PCR-Produkte zu differenzieren, die sich nur in einem Nukleotid unterscheiden. Durch diese Analyse ist es möglich, das Chromosomenkomplement zu bestimmen. So unterscheidet sich die Analyse eines aneuploiden Chromosomensatzes von einem normalen Chromosomensatz insofern, dass 3 anstelle von 2 STR-Markern vorhanden sind. Dies wird entweder sichtbar durch 3 verschiedene STR-Allele (. Abb. 10.3) oder durch die doppelte Menge eines der STR-Allele.
. Abb. 10.4. Quantitative Echtzeit-PCR-Analyse für RhD-Homooder -Heterozygotie. Diese Echtzeit-PCR für den RhD-Genlocus erlaubt die Diskriminierung zwischen 1 und 2 Kopien des RhD-Gens
. Abb. 10.5. Quantitative Echtzeit-PCR-Analyse für Trisomie 21. Diese Echtzeit-PCR für einen Genlocus in der Down-Region auf Chromosom 21 erlaubt die Diskriminierung zwischen einen normalen Karyotyp und dem Vorhandensein eines zusätzlichen Chromosoms 21
Studienbox Da diese Methode ebenfalls sehr schnell in einem automatischen Verfahren erfolgt, hat sie sich als Konkurrenz zum FISH-Schnelltest etabliert und auch in diversen großen Studien ihre Verlässlichkeit erwiesen (Mann et al. 2001; Verma et al. 1998). Sie hat aber auch deutlich die Limitierungen gezeigt (Evans MI et al. 1999).
10.2.4
Real-time-PCR (Echtzeit-PCR)
Eine neue Methode zur Bestimmung fetaler Aneuploidien beruht auf der sog. Echtzeit-PCR (»real time PCR«; Heid et al. 1996). Bei dieser PCR-Methode wird die Menge der amplifizierten Sequenz nach jedem Zyklus der PCR-Reaktion einzeln über Fluoreszenzmessung analysiert, was eine präzise Rück-
quantifizierung der Menge an Ausgangsprodukt im Bereich der exponentiellen PCR-Phase ermöglicht. Frühere Studien haben gezeigt, dass die Methode zwischen einer oder zwei Kopien eines bestimmten Gens oder Genprodukts unterscheiden kann. So kann im Fall einer Rhesus-D-Homozygotie des Vaters im Vergleich zu einer Heterozygotie die doppelte Menge an Rhesus-D-Erbgut nachgewiesen und so die Gefahr einer Rhesus-D-Inkompatibilität frühzeitig erfasst werden (. Abb. 10.4; Chiu et al. 2001; Li et al. 2005). Ebenso kann z. B. der 50%ige Anstieg an Erbgut bei einer Trisomie gezeigt werden (Zimmermann et al. 2002). Derzeit beschränkt sich der Einsatz dieses Tests noch auf Chromosom 21, zukünftig soll er aber auch auf die anderen wichtigen Chromosomenstörungen erweitert werden (. Abb. 10.5). Aufgrund fehlender Studien steht eine Anwendung dieser Tests in der Klinik noch aus.
10
170
Kapitel 10 · Pränatale Diagnostik: Molekularbiologische Methoden
. Abb. 10.6. Einzelzellen-PCR-Untersuchung für das fetale RhesusD-Gen und das Y-Chromosom in fetalen Zellen, die aus dem mütterlichen Blut isoliert wurden. In dieser Untersuchung wurden 3 unterschiedliche Zellen analysiert. Die G-Bahnen zeigen ein β-GlobinGenfragment, das mit der PCR amplifiziert wurde. Da dieses Gen in allen Zellen vorhanden ist, dient es als Kontrolle für die PCR-Reaktion und um sicherzustellen, dass tatsächlich eine Zelle im PCR-Reagenz-
10.3
10
Pränatale Diagnostik mittels PCR
Die konventionelle Zytogenetik mit einer Auflösung von 5– 10 Mio. Basenpaaren eignet sich nicht für die Untersuchung von monogenen Erkrankungen, die auf Veränderungen (Mutationen) in einzelnen Erbanlagen (Genen) beruhen. Die Entwicklung der PCR hat die molekulargenetische Diagnostik revolutioniert, indem sie ermöglichte, anhand sehr kleiner Mengen von Gewebe, sogar an einzelnen Zellen, in kurzer Zeit DNA-Sequenzen bis auf die Genauigkeit eines Basenpaars zu untersuchen. Bei der Diagnostik des fetalen Rhesus-D-Status sollte bei einem Rhesus-negativen Kind und einer Rhesus-negativen Mutter kein PCR-Produkt amplifiziert werden, da diesen Individuen das Rhesus-D-Gen generell fehlt (. Abb. 10.6). Davon abzugrenzen ist die Anwesenheit des sehr homologen Rhesus-CE-Gens, wobei auch zusätzlich Sequenzunterschiede zwischen diesen beiden Genen zur Diskriminierung herangezogen werden können.
gefäß vorhanden war. Die R- und Y- Bande deuten auf die PCR-Amplifikation des Rhesus-D-Gens und des Y-Chromosoms hin. Die ersten 3 Bahnen (1G, 1Y, 1R) zeigen, dass eine mütterliche Zelle untersucht worden war, da nur das Kontrollgen (β-Globin) amplifiziert wurde. Bahnen 2G-2R zeigen die Analyse einer männlichen Rhesusd-Zelle, während die Bahnen 3G-3R auf einen männlichen Rhesus-DFetus hindeuten
Zur Analyse von Genmutationen kann entweder die automatische PCR-Sequenzanalyse, die die veränderten Nukleotidsequenzen erfasst (. Abb. 10.7), oder – falls die Mutation sehr häufig ist – eine allelspezifische PCR durchgeführt werden (Newton et al. 1989). Letztere Methode – auch ARMS(»amplification refractory amplification system«-)PCR genannt – erlaubt die Diskriminierung zwischen gesunden und mutierten Allelen. Mutationsanalysen für bekannte Gene wie z. B. bei Mukoviszidose und β-Thalassämie sind auf diese Weise möglich. Die ARMS-PCR findet in der Geburtshilfe Anwendung, um zwischen den zwei sehr ähnlichen Kell-K- und kell-k-Allelen zu diskriminieren, da diese zwei Allele sich nur in einem Nukleotid unterscheiden. Sind nur flankierende Sequenzen von krankheitsrelevanten Genen bekannt, dann kann eine Mutationsanalyse evtl. indirekt über eine familiäre Haplotypenanalyse durchgeführt werden (. Abb. 10.6 und 10.7). Voraussetzung für diese Untersuchungen ist das Vorhandensein von reinem fetalem Gewebe ohne Verunreinigung durch mütterliches Material, das u. U. eine Fehldiagnose zur Folge hätte. Durch die sehr hohe Empfindlichkeit der PCR können schon kleinste Verunreinigungen das Resultat beeinträchtigen.
10.4
. Abb. 10.7. Automatische PCR-DNA-Sequenzierung für eine Mutation im β-Globin-Gen. Die Sequenzanalyse zeigt das Vorhandensein eines Polymorphismus der Nukleotidbase 193, wo sowohl ein C als auch ein T (=N) vorhanden sind. Das TAG (Basen 193–195) führt zu einem frühzeitigen Stoppkodon. Da nur ein mutiertes Allel vorhanden ist, ist die untersuchte Person heterozygoter Träger für eine β-Thalassämie
Präimplantationsdiagnostik und Polkörperchendiagnostik
Frühere Experimente in Tiermodellen haben gezeigt, dass die Entnahme von 1–2 Einzelzellen aus einem Präimplantationsembryo im 6- bis 10-Zell-Stadium sich nicht nachteilig auf die spätere Entwicklung des Fetus auswirkt (Hardy et al 1990). Da sowohl die FISH- als auch die PCR-Methode die Untersuchung einzelner Zellen erlaubt (Hahn et al. 2000), ist die Präimplantationdiagnostik (PID) – abhängig von der Gesetzgebung – zur Realität geworden. Sie ist in der Klinik eine mögliche Option bei Paaren, die Träger schwerer Erbkrankheiten sind.
171 10.5 · Nichtinvasive Methoden
Studienbox Die erste Studie bezüglich der klinischen Machbarkeit einer PID wurde von Handyside et al. (1989) in London durchgeführt. Sie bestimmten bei Paaren mit einem erhöhten Risiko für X-chromosomale genetische Störungen, wie z. B. die Duchenne-Muskeldystrophie, das fragile X-Syndrom oder die Hämophilie A das Geschlecht des Fetus vor der Implantation.
Inzwischen ist es möglich, monogene Erkrankungen durch PCR-Analyse vor der Implantation festzustellen, z. B. autosomal dominante Störungen wie Chorea Huntington, aber auch rezessive Erkrankungen wie Mukoviszidose, Hämoglobinopathien und die Tay-Sachs-Erkrankung (Wells u. Delhanty 2001). Als weitere Möglichkeit bietet sich bei der IVF, die z. B. bei einem erhöhten mütterlichen Alter, einer Fertilitätsstörung oder bei bekanntem Risiko für eine Erbkrankheit durchgeführt wird, die sequenzielle Untersuchung einzelner Zellen durch FISH mit anschließender genspezifischer PCR an, um die Implantation eines aneuploiden Fetus zu verhindern (Hahn et al. 2000). Obwohl weltweit schon mehrere hundert dieser Untersuchungen durchgeführt worden sind (Verlinsky et al. 2004), bleibt diese Methode den Hochrisikofällen vorbehalten, da es sich um technisch sehr anspruchsvolle und nur in wenigen Laboratorien durchführbare Untersuchungen handelt. Folglich erweisen sich die Ängste, diese Technik könne zu einer »Flut an Designer-Babys« führen, als unbegründet. Die Gesetzgebung in Deutschland verbietet die Durchführung der Präimplantationsdiagnostik. Eine eingeschränkte Alternative bietet die sog. Polkörperchendiagnostik, welche die während der Oozytenteilung entstehenden Polkörperchen zur genetischen Analyse heranzieht. Dieses indirekte Verfahren untersucht nur das genetische Komplement der Eizelle, sodass Aberrationen in der Eizelle selbst nicht zu 100% ausgeschlossen werden können. Weiterhin wird nur der mütterliche Beitrag zur Zygote untersucht, und der enge Zeitplan einer IVF/ICSI lässt nur wenig Zeit für die technisch anspruchsvolle Untersuchung.
10.5
Nichtinvasive Methoden
10.5.1
Fetale Zellen im mütterlichen Blut
Derzeit stehen nur invasive Verfahren wie die oben beschriebene Amniozentese oder die Chorionzottenbiopsie als klinisch etablierte Methoden für die Gewinnung von fetalem Gewebe zur Pränataldiagnostik zur Verfügung. Beide bergen jedoch Risiken für Mutter und Kind, weshalb aktiv nach sicheren nichtinvasiven Alternativen geforscht wird (Holzgreve 1997). Eine Möglichkeit ist die selektive Anreicherung intakter fetaler Zellen aus mütterlichem Blut (Holzgreve u. Hahn 2001), deren Vorhandensein schon seit dem 19. Jahrhundert bekannt ist (Lapaire et al. 2007). Das seltene Vorkommen (1 in 106–107
mütterlichen Zellen mit Zellkern) erschwert jedoch ihre gezielte Isolation und Analyse (Holzgreve u. Hahn 2001). Die magnetaktivierte Zellsortierung (MACS; Radbruch et al. 1994) unter Verwendung von Antikörpern gegen die spezifischen Oberflächenproteine CD71 und Glycophorin A zeigte in einer Multizenterstudie eine effizientere Anreicherung fetaler Erythroblasten als die fluoreszenzaktivierte Zellsortierung (FACS; Hulett et al. 1969; Bianchi et al. 2002). Neueste Anreicherungstechniken wie mittels Soybean-agglutinin-galactose-spezifischem Lectin, beschrieben von Kitagawa et al. (2002), resultieren im Vergleich zu MACS in 8fach höheren Erythroblastenzahlen (Babochkina et al. 2005a). Die fetalen Erythroblasten – Erythrozyten mit Zellkern – erscheinen als ideale Zielzellen, da sie früh in der Entwicklung im fetalen Blut vorkommen und recht spezifische Antigene exprimieren, die ihre Erkennung und Anreicherung vereinfachen. Gegenüber fetalen Lymphozyten haben sie eine kurze Lebensdauer, was verhindert, dass fetale Zellen aus vorherigen Schwangerschaften in die Untersuchung miteinbezogen werden (Hahn et al. 1998). Mittels FISH und PCR können einzelne Zellen erfasst und rasch fetale Aneuploidien und monogene Erkrankungen diagnostiziert werden (Hahn et al. 1999; Troeger et al. 1999).
Studienbox Die vielversprechenden Ergebnisse haben die amerikanische Gesundheitsbehörde (National Institutes of Health; NIH) veranlasst, eine groß angelegte Multizenterstudie zu fördern, die zum Ziel hat, die Wirksamkeit dieser Technologien im Vergleich zu den herkömmlichen invasiven Methoden zu belegen (Bianchi et al. 2002). Die Ergebnisse dieser Studie deuten darauf hin, dass das fetale Geschlecht und eine fetale Aneuploidie mit einer Spezifität entdeckt werden kann, die einem einzelnen Serummarker gleichkommt. Technische Fortschritte sind notwendig – so die Autoren – dass diese Technik sich im klinischen Alltag etablieren kann (Bianchi et al. 2002). Ähnliche Ergebnisse wurden bei der Erfassung von fetalen Genen während der Schwangerschaft, wie dem fetalen Rhesus-D-Gen, dem SRY-Lokus auf dem Y-Chromosom oder dem β-Globin-Locus bei der Thalassämie erzielt (Troeger et al. 1999; Di Naro et al. 2000).
Im adulten Organismus sind Erythroblasten auf das Knochenmark beschränkt, jedoch wandern sie in der Schwangerschaft auch in den Blutkreislauf ein, sodass die aus dem maternalen Blut isolierten Erythroblasten eine Mischpopulation fetaler und mütterlicher Herkunft darstellen. Fetale Erythroblasten exprimieren intrazelluläre Proteine wie das fetale Hämoglobin, oder Oberflächenantigene (z. B. Transferrinrezeptor, Blutgruppenantigene), die zur Detektion und Anreicherung genutzt werden können. Vor der genetischen Analyse muss also eine Abklärung zum Ursprung der vorliegenden Erythroblasten stehen, wobei ca. 50% maternaler Herkunft sind (Troeger et al. 1999). Noch sind keine Erythroblastenantigene mit rein fetaler Spezifität bekannt, die
10
172
Kapitel 10 · Pränatale Diagnostik: Molekularbiologische Methoden
eine Unterscheidung direkt während der Anreicherung ermöglichen würden. Weiterhin haben neuere Studien gezeigt, dass fetale Erythroblasten gegenüber maternalen Erythroblasten mittels FISH nur bedingt analysierbar sind (Mergenthaler et al. 2005). Dies wird u. a. auf die fetale Erythroblastenmorphologie, induziert durch unterschiedliche O2-Konzentrationen in fetalem und mütterlichem Blutkreislauf, zurückgeführt. (Babochkina et al. 2005b). Diese Methoden zur fetalen Zellanalyse sind derzeit noch zu arbeitsintensiv und langwierig, um sie in der Routinediagnostik einsetzen zu können. Die Ausarbeitung effizienter und automatischer Anreicherungsmethoden sowie spezielle softwaregesteuerte Mikroskope zur schnelleren und automatischen Auffindung und Relokalisation der Erythroblasten sind notwendig (Oosterwijk et al. 1998).
10.5.2
10
Zirkulierende fetale DNA
Seit Jahrzehnten ist das Vorhandensein zellfreier zirkulierender Desoxyribonukleinsäure (DNA) bekannt (Anker u. Stroun 2000), was stark an Bedeutung gewonnen hat durch die Entdeckung zellfreier Tumor-DNA im Plasma von Krebspatienten (Chen et al. 1996). Diese DNA scheint ein Abbauprodukt des apoptotischen Zelltodes zu sein. Angeregt durch die Ähnlichkeiten der Plazenta mit Tumoren konnten Lo et al. (1997) zeigen, dass zellfreie fetale DNA im Kreislauf von Schwangeren vorhanden ist. Die Arbeitsgruppe konnte mit der Bestimmung des Y-Chromosoms männlicher Feten demonstrieren, dass fetale DNA im mütterlichen Blut in einer viel höheren Konzentration vorhanden ist als fetale Zellen. Mittels quantitativer PCR konnten hohe mittlere Konzentrationen an fetaler DNA (bis zu 6,2% der totalen DNA) in der frühen und späten Schwangerschaft nachgewiesen werden. Wie auch bei den Erythroblasten in maternalem Blut ist es bei der zellfreien DNA ein Gemisch aus fetaler und maternaler DNA. Daher ist die Analyse von fetalen Genloci, die im maternalen Genom nicht vorhanden sind (Y-Chromosom und Rhesus-D-Gen bei Rhesus-D-negativen Schwangeren; Lo et al. 1999; Zhong et al. 2001a, b), einfacher als z. B. die Analyse von Punktmutationen in Genen, die auch in der mütterlichen DNA vorliegen. Der Test zur Rhesusabklärung wird aufgrund seiner hohen Genauigkeit bereits in mehreren Zentren kommerziell angeboten. Aufgrund von unterschiedlichen Varianten des RHD-DGens ist eine sog. »Multiplex-PCR« notwendig, in der verschiedene Regionen des Rhesus-D-Gens amplifiziert werden. Eine Deletion des Rhesus-D-Gens ist die häufigste Form bei Rhesus-D-negativen Kaukasierinnen. Im Gegensatz dazu trägt z. B. die Mehrheit der Rhesus-D-negativen afrikanischen Patientinnen ein Pseudogen (RHDψ) oder ein (C)cdes-Allel. In beiden Allelen sind Rhesus-D-spezifische Sequenzen vorhanden. Aufgrund der Anwesenheit eines Stoppkodons RHDψ) oder des Ersatzes der Rhesus-D-spezifischen Sequenzen bei Rhesus-CE-spezifischen Sequenzen ([C]cdes) sind keine feststellbaren D-Epitope auf den Erythrozyten vorhanden. Diese Sonderformen müssen bei der Muliplex-PCR mit-
berücksichtigt werden, um eine Sensitivität von >99% zu erreichen (Lapaire et al. 2008). Um die fetale DNA auch für in der Mutter ähnlich vorliegende Gensequenzen spezifisch untersuchen zu können, werden aktuell die Möglichkeiten zur Unterscheidung beider zellfreier DNA untersucht, um Parameter zu identifizieren, die die selektive Anreicherung der fetalen DNA erleichtern. Kürzlich konnte gezeigt werden, dass >90% der fetalen zellfreien DNA in Fragmenten 1 kb sind (Li et al. 2004). Nach Größenabtrennung der fetalen DNA aus dem DNA-Gesamtgemisch konnten mütterliche bzw. väterliche ererbte STR leicht detektiert werden (Li et al 2004). Weiterhin konnten, basierend auf dieser fetalen DNA-Anreicherung, mittels allelspezifischer PCR mit 93,8% Spezifität und 100% Sensitivität fetale β-Thalassämiemutationen (Li et al. 2005a) ebenso wie ein Fall mit einer fetalen Achondroplasiemutation nachgewiesen werden (Li et al. 2005b).
Studienbox Die fetale DNA lässt sich mittels der oben erwähnten Echtzeit-PCR sehr genau quantifizieren (Lo et al. 1998). Studien unseres Labors und anderer Forschungsgruppen haben gezeigt, dass die Menge an zellfreier fetaler DNA erhöht ist bei Schwangerschaften mit gewissen Aneuploidien, wie bei der Trisomie 21, nicht aber bei der Trisomie 18 (Lo et al. 1999; Zhong et al. 2000). Weiterhin zeigt sich eine Erhöhung der zellfreien DNA bereits im 2. Trimenon bei Schwangerschaften, in denen sich später eine Präeklampsie entwickelt (Leung et al. 2001; Zhong et al. 2001b). Dies deutet darauf hin, dass die Quantifizierung der zellfreien fetalen DNA im mütterlichen Blut als zusätzlicher Marker in der Schwangerschaft dienen könnte (Holzgreve u. Hahn 1999).
10.6
Ausblick
Mit Sicherheit werden Neuentdeckungen in der Molekularbiologie weiterhin Einzug in die Pränatalmedizin halten. So wurde z. B. die potenzielle Anwendbarkeit der Chip-Technologie, die eine parallele Untersuchung mehrerer tausend Gene auf Dosisabweichungen oder analog vieler Proben erlaubt, für die nichtinvasive Pränataldiagnostik bereits gezeigt (Cremonesi et al. 2004, Lapaire et al. 2007b). Ebenso konnte erst kürzlich die erfolgreiche Anwendung der Massenspektometrie zur nichtinvasiven Analyse fetaler Punktmutationen nachgewiesen werden (Ding et al. 2004). Gegenüber den Schwierigkeiten in der Analyse fetaler Zellen aus maternalem Blut zeigen diese Studien an fetaler zirkulierender DNA große technische Fortschritte, die ihren zukünftigen Einsatz in der nichtinvasiven Pränataldiagnostik ermöglichen sollten, allerdings sind auch hier noch weitere Optimierungen und Standardisierungen notwendig. Die Grundlagenforschung aller dieser Studien hat auch zu neuen Kenntnissen geführt, z. B. der erhöhte Übertritt von
173 Literatur
fetalen Zellen in den maternalen Kreislauf bei Präeklampsie (Holzgreve et al. 1998, 2001) sowie die unterschiedliche Erythroblastenmorphologie in beiden Blutkreisläufen (Babochkina et al. 2005b). Somit werden durch diese neuen Technologien nicht nur das Erfassen genetischer Merkmale für die Diagnostik, sondern auch andere Bereiche der Pränatalmedizin wesentlich beeinflusst. Die Weiterentwicklungen auf diesem Gebiet stimmen optimistisch, dass der gezielte Einsatz von geschlechtsunabhängigen Markern zur Identifikation von zellfreier fetaler DNA (z. B. spezifische DNA-Methylierungsmuster; Chan et al. 2006), oder die weitere Verfeinerung der PCR-Technik (Sikora et al. 2009) letztlich zu einem klinischen Einsatz führen werden.
Literatur Anker P, Stroun M (2000) Circulating DNA in plasma or serum. Medicina (B Aires) 60: 699–702 Babochkina T, Mergenthaler S, Lapaire O, Kiefer V, Yura H, Koike K, Holzgreve W, Hahn S (2005a) Evaluation of a soybean lectinbased method for enrichment of erythroblasts. J Histochem Cytochem 53–330 Babochkina T, Mergenthaler S, De Napoli G, Hristoskova S, Tercanli S, Holzgreve W, Hahn S (2005b) Numerous erythroblasts in maternal blood are impervious to fluorescent in situ hybridization analysis, a feature related to a dense compact nucleus with apoptotic character. Haematologica 90 (6): 740–745 Bianchi DW, Simpson JL, Jackson LG, Elias S, Holzgreve W, Evans MI, Dukes KA, Sullivan LM, Klinger KW, Bischoff FZ, Hahn S, Johnson KL, Lewis D, Wapner RJ, de la Cruz F (2002) Fetal gender and aneuploidy detection using fetal cells in maternal blood: analysis of NIFTY I data. National Institute of Child Health and Development Fetal Cell Isolation Study. Prenat Diagn 22 (7): 609–615 Chan KCA, Ding C, Gerovassili A, Yeung SW, Chiu RWK, Leung TN et al. (2006) Hypermethylated RASSF1A in maternal plasma: a universal fetal DNA marker that improves the reliability of noninvasive prenatal diagnosis. Clin Chem 52: 2211–2218 Chen XQ, Stroun M, Magnenat JL et al. (1996) Microsatellite alterations in plasma DNA of small cell lung cancer patients. Nat Med 2: 1033–1035 Chiu RW, Murphy MF, Fidler C, Zee BC, Wainscoat JS, Lo YM (2001) Determination of RhD zygosity: comparison of a double amplification refractory mutation system approach and a multiplex real-time quantitative PCR approach. Clin Chem 47: 667–672 Cremonesi L, Galbiati S, Foglieni B, Smid M, Gabini D, Ferrari A, Viora E, Campogrande M, Pagliano M, Travi M, Piga A, Restagno G, Ferrari M (2004) Feasibility study for a microchip-based approach for noninvasive prenatal diagnosis of genetic diseases. Ann N Y Acad Sci 1022: 105–112 Cruz F de la, Shifrin H, Elias S et al. (1995) Prenatal diagnosis by use of fetal cells isolated from maternal blood. Am J Obstet Gynecol 173: 1354–1355 Di Naro E, Ghezzi F, Vitucci A et al. (2000) Prenatal diagnosis of betathalassaemia using fetal erythroblasts enriched from maternal blood by a novel gradient. Mol Hum Reprod 6: 571–574 Ding C, Chiu RW, Lau TK, Leung TN, Chan LC, Chan AK, Charoenkwan P, Ng JS, Law HY, Ma ES, Xu X, Wanapirak C, Sanguamsermsri T, Liao C, Ai MA, Chui DH, Cantor CR, Lo YM (2004) MS analysis of single-nucleotide differences in circulating nucleic acids: application to noninvasive prenatal diagnosis. Proc Natl Acad Sci USA 101 (29): 10762–10767 Eiben B, Trawicki W, Hammans W, Goebel R, Epplen JT (1998) A prospective comparative study on fluorescence in situ hybridization
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10
174
10
Kapitel 10 · Pränatale Diagnostik: Molekularbiologische Methoden
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11 11 Physiologie des mütterlichen Organismus U. Lang, P. Husslein, R. Ahner, D. Bikas 11.1
Veränderungen des äußeren und inneren Genitales – 176
11.1.1 11.1.2 11.1.3 11.1.4
Vulva, Vagina, Perineum – 176 Uterus – 176 Tuben – 179 Ovarien – 179
11.2
Mammae – 179
11.3
Kardiovaskuläre Veränderungen – 179
11.4
Hämatologische Veränderungen – 182
11.5
Niere, Harntrakt, Wasserhaushalt – 183
11.6
Respirationstrakt – 184
11.7
Intermediärer Stoffwechsel – 184
11.8
Adipositas – 185
11.9
Gastrointestinalsystem und Leber – 186
11.10
Endokrines System – 187
11.11
Psychische Veränderungen – 188 Literatur – 190
H. Schneider et al. (eds.), Die Geburtshilfe © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
176
Kapitel 11 · Physiologie des mütterlichen Organismus
Die Schwangerschaft ist ein passagerer, normaler, aber veränderter physiologischer Zustand des weiblichen Organismus. Eine Schwangerschaft erfordert eine Reihe von physiologischen, anatomischen, psychischen und sozialen Adaptationsvorgängen, um dem Fetus optimale Voraussetzungen für sein Heranwachsen zu schaffen. Solche Adaptationsvorgänge können die maternale Reaktion auf Erkrankungen verändern oder die Grundlage schwangerschaftsspezifischer Erkrankungsrisiken darstellen. Die Anpassung erfolgt, um den Anforderungen der kindlichen Entwicklung und Ernährung gerecht zu werden und um im Rahmen der Geburt an den Geburtsvorgang adaptieren zu können. Der mütterliche Organismus verändert sich daher nicht nur im Bereich der Genitalorgane, sondern auch in sämtlichen anderen Organsystemen. Kreislauf, Nieren- und Lungenfunktion, Stoffwechsel und endokrine Regulation sind hierbei hervorzuheben. Von der normalen, physiologischen Adaptation muss die unphysiologische, pathologische Adaptation unterschieden werden. Nur bei Kenntnis der physiologischen Veränderungen kann diese sicher erkannt und dem Ungeborenen und seiner Mutter eine adäquate Betreuung gegeben werden. Normale schwangerschaftsbedingte Vorgänge im gesunden mütterlichen Organismus sollen nicht als krankhaft fehlinterpretiert, Gefahrenmomente frühzeitig erkannt und ein Teil der schwangerschaftsspezifischen Erkrankungen als Entgleisung verstanden werden.
11 11.1
Veränderungen des äußeren und inneren Genitales
11.1.1
Vulva, Vagina, Perineum
Während der Schwangerschaft nehmen die Gefäßversorgung sowie die Durchblutung von Haut und Muskulatur des Perineums und der Vulva zu. Die Vaskularisierung betrifft in einem sehr hohen Ausmaß die Vagina und führt zu ihrer charakteristischen Violettverfärbung (Chadwick-Zeichen). Die Mukosa der Vagina nimmt an Dicke zu, die Grundsubstanz lockert sich auf, und die glatte Muskulatur hypertrophiert nahezu in derselben Intensität wie im Bereich des Uterus. Durch die Zunahme des venösen Drucks kann es bei Prädisposition zur Ausbildung sehr großer schmerzhafter Varizen kommen. Die Scheidensekretion nimmt im Rahmen der Gravidität zu; dies resultiert aus einer vermehrten Umwandlung von Glykogen in Milchsäure durch das Bakterium Lactobacillus acidophilus. Das Sekret setzt sich aus Transsudat und abgeschilferten Epithelzellen zusammen. Bis zu 70% der Vaginalzytologien weisen ein Zellbild vom Navikulartyp auf, d. h., es finden sich Intermediärzellen mit bläschenförmigen Kernen und aufgefalteten Rändern. Seltener findet sich der sog. Östrogentyp mit Superfizialzellen. Sind große Mengen an Döderlein-Stäbchen vorhanden, so kann es zur Zytolyse kommen.
11.1.2
Uterus
Der Uterus erfährt im Lauf der Schwangerschaft eine morphologische Veränderung sowie einen tiefgreifenden Funktionswandel. Der nicht gravide Uterus wiegt etwa 70 g. In der Gravidität verwandelt er sich in ein dünnwandiges Organ, das dem Fetus, der Plazenta und dem Fruchtwasser Platz bieten muss, d. h., Adaptationsvorgänge ermöglichen es der Gebärmutter, das etwa 100Fache an Volumen aufzunehmen. In der Schwangerschaft verlängern sich die Muskelzellen und hypertrophieren; die Anzahl neu gebildeter Zellen ist jedoch begrenzt. Die Muskulatur der Gebärmutter ist in einem dreidimensionalen Scherengitter angelegt. Die einzelnen Schichten werden bezeichnet als 4 Stratum vasculare, 4 Stratum subvasculare und 4 Stratum supravasculare. Durch die Dehnung dieses Netzes kommt es zu einem enormen Flächengewinn mit gleichzeitiger Reduktion der Wanddicke. Mit Zunahme der Gebärmuttergröße erfolgt eine Vermehrung des Bindegewebes und dabei v. a. des elastischen Gewebes in der äußersten Muskelschicht. Auf diese Art und Weise wird ein Netz gebildet, das die Konsistenz des Fruchthalters erhöht. Parallel zur muskulären Zellhypertrophie kommt es auch zu einer massiven Vermehrung der Blut- und Lymphgefäße. Während der ersten Monate der Schwangerschaft ist die Muskelhypertrophie am ehesten durch hormonelle Stimuli, v. a. Östrogen und wahrscheinlich auch Progesteron, zu erklären. Die frühe Hypertrophie kann nicht allein durch eine mechanische Dehnung der Gebärmutter bedingt sein, denn gleiche Veränderungen finden sich auch bei ektopisch implantierten Schwangerschaften. Nach der 12. Woche ist die Vergrößerung des Uterus zu einem großen Teil durch das Wachstum des Gebärmutterinhalts mitbedingt. In den ersten Schwangerschaftsmonaten kommt es zuerst zu einer Dickenzunahme der Uteruswand, in der fortgeschrittenen Schwangerschaft dann zu ihrer schrittweisen Verdünnung. Am Termin ist die Muskulatur des Corpus uteri etwa 1,5 cm dick (oder sogar dünner). Die Zunahme der Gebärmuttergröße findet hauptsächlich im Bereich des Fundus uteri statt. In den ersten Schwangerschaftsmonaten finden sich die Tuben, Ovarien und die Ligg. rotunda knapp unterhalb des Fundusoberrandes, in den letzten Monaten nur noch etwas oberhalb der Uterusmitte. Auch die Lokalisation der Plazenta beeinflusst das Gebärmutterwachstum, denn derjenige Teil des Uterus, der die Plazenta umgibt, vergrößert sich schneller als das distale Myometrium. Uteruswachstum ist wie fetales und plazentares Wachstum perfusionsabhängig. > Die Gebärmutter durchläuft in der Schwangerschaft quantitatives und qualitatives Wachstum. Am Ende der 16. SSW beginnt der Fundus uteri bereits aus dem kleinen Becken über die Symphyse hinauszu-
6
177 11.1 · Veränderungen des äußeren und inneren Genitale
wachsen und ist somit etwa 1–2 Querfinger oberhalb der Schambeinfuge zu tasten. Ab diesem Zeitpunkt kann das Wachstum des Fetus neben Ultraschallmessung auch mittels Fundusstand beobachtet werden. Am Ende der 24. SSW erreicht der Fundus die Höhe des Nabels und findet sich in der 36. SSW hart am Rippenbogen, um sich dann in der 40. SSW wieder 1–2 Querfinger unterhalb des Rippenbogens zu senken.
Das in der Phase der Menstruation sehr aktive Myometrium ist in der Zeit der Schwangerschaft hauptsächlich hormonell ruhiggestellt (Csapo et al. 1963). Im Gegensatz zum Corpus uteri laufen die entscheidenden Veränderungen in der Cervix uteri, v. a. im Bindegewebe ab. Es kommt zur Erweichung und zu einer lividen Färbung der Zervix. Die Gründe für diese Umwandlungen sind die verstärkte Vaskularisation und die Ödembildung an der gesamten Cervix uteri sowie die Hypertrophie und Hyperplasie der zervikalen Drüsen. Der größte strukturelle Anteil setzt sich v. a. aus der Grundsubstanz und nicht aus Bindegewebefasern und glatten Muskelzellen zusammen, um eine bessere Auflockerung des Gewebes zu erreichen. Bis zum Geburtstermin verringert sich die Elastizität der kollagenen Fasern um das 12Fache der vorher bestehenden Festigkeit (Rechberger et al. 1988). Durch diese strukturellen Veränderungen ist die Muttermunderöffnung in einer relativ kurzen Zeit von einigen wenigen Stunden bis Tagen möglich. Bei der Zervixreifung scheint die Dehnung selbst mehr eine Folge einer veränderten Bindegewebequalität zu sein. Dies bedeutet, dass es durch den Abbau der Kollagenmoleküle und der Desintegration der Kollagenbündel mittels proteolytischer Enzyme (Uldbjerg et al. 1983) zur Eröffnung des Muttermunds kommen soll. Des Weiteren sind an der Zervixreifung Prostaglandine unmittelbar beteiligt (Rath et al. 1984). Die Schleimhaut der Cervix uteri hypertrophiert ebenfalls und ist oft als Schwangerschaftsektropium sichtbar. Dieses ektroponierte Gewebe ist verletzlich und kann bereits auf geringen Kontakt, wie z. B. bei Pap-Abnahme oder Geschlechtsverkehr, bluten. > Kurz nach der Konzeption wird die Cervix uteri durch einen Pfropfen verschlossen, der aus dickem Schleim besteht. Zu Beginn der Wehentätigkeit, wenn nicht sogar schon einige Zeit davor, erfolgt der Abgang dieses Schleimpfropfens. Da dem Schleimabgang häufig Blut beigemengt ist, suchen viele Frauen ärztliche Hilfe auf. Von gynäkologischer Seite wird der Prozess des Schleimabgangs als »Zeichnen« beschrieben.
Die Aufgabe des unteren Uterinsegments und der Zervix ist der schützende Verschluss des Cavum uteri. Während der Geburt wird der bis dahin passive Uterus zum aktiven Organ und dient der Austreibung. Die Cervix uteri wird weich und dehnbar und gehört während der Geburt gemeinsam mit dem unteren Uterinsegment, der Vagina und dem Beckenboden zum passiven Durchtrittskanal.
Die Wehen und damit die Erregungsbildung selbst entstehen multifokal im Myometrium und gehen von beliebigen Regionen aus. Der Nachweis eines Schrittmacherzentrums ist unsicher; man nimmt jedoch an, dass die Erregungen am Geburtsbeginn von den Tubenwinkeln herrühren. Um die entstandene Erregung weiterleiten zu können, gewinnt der Zuwachs an interzellulären Verbindungen, den »gap junctions«, maßgeblich an Bedeutung (Garfield et al. 1980). Durch eine Permeabilitätserhöhung für Natriumionen und die Permeabilitätsverminderung für Kaliumionen kommt es an den Schrittmacherzellen zu einer spontanen Depolarisation. Der nun folgende Kalziumeinstrom löst das Aktionspotenzial in den Zellen aus. Die Anzahl der Proteine Aktin und Myosin in den Muskelfibrillen nimmt im Lauf der Schwangerschaft zu (Hasselbach 1965). Durch Interaktion zwischen Kalziumionen und den genannten Proteinen erfolgt dann eine Muskelkontraktion. Unterschiedlichste Stoffe wie Progesteron, Östrogen, Prostaglandine und Oxytozin sind für die Kontraktion der Uterusmuskulatur ebenso wie für die Erregungsbildung von maßgeblicher Bedeutung. Bis kurz vor dem Geburtstermin wird dem Progesteron eine hemmende Wirkung auf die Gebärmuttermuskulatur zugeschrieben. Progesteron hyperpolarisiert die Zellmembran und drückt das Ruhepotenzial unter die normale Aktivierungsschwelle, ein Effekt, der nicht nur am Uterus, sondern an allen glatten Muskelzellen nachweisbar ist. Später kommt es durch die Erhöhung des Östrogenspiegels zu einer Zunahme der Oxytozinrezeptoren und damit zu einer erhöhten Oxytozinsensibilität. Die Wehentätigkeit selbst setzt erst durch das Zusammenspiel von Prostaglandinen mit Oxytozin ein (Husslein 1984).
Regulation der uterinen Durchblutung Eine adäquate uteroplazentare Perfusion während der gesamten Gestationsperiode ist eine Voraussetzung plazentaren und fetalen Wachstums. Grundlage der adäquaten uteroplazentaren Perfusion ist ein stetiger physiologischer Anstieg der uterinen Durchblutung mit zunehmendem Gestationsalter. Das kardiovaskuläre System der Mutter durchläuft während der Schwangerschaft grundlegende Veränderungen (7 Kap. 11.3). Der Anteil der Uterusdurchblutung am Herzminutenvolumen variiert von Spezies zu Spezies. Er beträgt beim Menschen bis zu 10%. Die arterielle Versorgung des Uterus wird über die beiden Aa. uterinae und die beiden Aa. ovaricae sichergestellt. Während der Schwangerschaft erfolgt eine beträchtliche Zunahme des Durchmessers der Aa. uterinae und der Spiralarterien. Die Uterusarterien und die Aa. ovaricae sind mit autonomen Nervenfasern reich versorgt. Insbesondere die adrenergen Fasern sind sowohl auf die großen Gefäße als auch auf die Abzweigungen verteilt. Dies bedeutet, dass der Uterus im Schock von der allgemeinen Zentralisation des Kreislaufs nicht ausgeschlossen wird, sondern das gesamte uterine Gefäßsystem an der Regulation des peripheren Widerstands im maternalen Organismus teilnimmt. Der venöse Abfluss des Uterus besteht aus einem kommunizierenden Plexus großer und kleiner Venen, die sich im Bereich der Plica lata sammeln und über den Plexus pampiniformis abfließen.
11
178
Kapitel 11 · Physiologie des mütterlichen Organismus
Die uterine Durchblutung ist dem Perufsionsdruck am Uterus direkt und dem uterinen Gefäßwiderstand indirekt proportional. Es gibt keinen experimentellen Hinweis auf eine Autoregulation des Uterus. Dies bedeutet, dass der Uterus selbst seinen Gefäßwiderstand nicht ändern kann, wenn die Durchblutung des Uterus abfällt. Allerdings nimmt der Uterus an der vaskulären Regulation des Gesamtorganismus teil. Beim hämorrhagischen Schock etwa wird eine Vasokonstriktion im uterinen Gefäßgebiet mit erhöhtem Gefäßwiderstand eintreten. Der venöse Rückstrom zum Herzen sinkt (hämorrhagischer Schock, V.-cava-Syndrom), sodass Herzminutenvolumen und Blutdruck absinken. Die Gegenregulation im Kreislauf führt zu einer Erhöhung des peripheren Widerstands, wodurch diese Blutdrucksenkung teilweise oder ganz kompensiert wird. Dies führt jedoch auch zu einer zusätzlichen Beeinträchtigung der uterinen Durchblutung durch Vasokonstriktion im Sinn der Wiederherstellung des Gesamtwiderstands. Die Durchblutung des Uterus wird dabei prozentual stärker vermindert als der Perfusionsdruck (Lang u. Künzel 2000).
11
> Minimale Blutdruckänderungen sind somit mit vergleichsweise großen Änderungen der uterinen Durchblutung verbunden, sodass der uterine Gefäßwiderstand mit fallendem Blutdruck zunimmt. Zur Regulation des zentralen arteriellen Mitteldrucks ist die uterine Durchblutung also für Vasokonstriktion in Zusammenhang mit dem Auftreten von Schockzuständen anfällig. Der Uterus hat demnach keine bevorzugte Perfusion wie etwa Hirn und Herz.
Die uterine Durchblutung wird auch durch den Tonus der Uteruswand bestimmt. Bei Kontraktion findet eine Verminderung der Blutdruckdifferenz zwischen der A. uterina und dem intervillösen Raum statt, ebenso kommt es zu einem Anstieg des uterinen Gefäßwiderstands durch Erhöhung des extramuralen Drucks auf die Aa. arcuatae und die Spiralarterien. Bei einer Kontraktion fällt die Uterusdurchblutung infolge der Erhöhung der Gefäßwiderstände ab. Jede Kontraktion ist unweigerlich mit einer Reduktion der uteroplazentaren Perfusion verknüpft. Neben der vaskulären Regulation ist die uterine Perfusion auch einer Beeinflussung durch die veränderte hormonelle Situation in der Schwangerschaft ausgesetzt. Über die adrenergen Rezeptoren und die entsprechende Katecholaminwirkung wurde bereits berichtet. Einer der wesentlichen Mechanismen der Vasodilatation sind östrogeninduzierte Veränderungen. Hier sind eine nongenomische, rasch einsetzende und abklingende Wirkung des Östrogens durch Veränderung der Zellmembran mit kalziumkanalblockierenden Effekten von einer später einsetzenden und wahrscheinlich NO-vermittelten Vasodilatation zu unterscheiden. Eine Kombination aus erhöhter NO-Konzentration und Anstieg der cGMP-abhängigen Proteinkinase führt zu verstärkter Aktivität kalziumaktivierter Kaliumkanäle und induziert die Gefäßrelaxation. Die Möglichkeit der östrogenabhängigen Vasorelaxation durch NO-Freisetzung nach Gabe agonistischer Substanzen wird diskutiert. Das Renin-Angiotensin-System mit Erhöhung der Reninaktivität im Plasma und dem Anstieg von Reninsubstrat sowie
Angiotensin II hat ebenfalls Einfluss auf die uterine Perfusion. Es gibt Hinweise darauf, dass der Uterus in der Lage ist, Renin zu produzieren. Angiotensin II wird im Zusammenhang mit der Entwicklung und Diagnostik der Präeklampsie diskutiert. Prostaglandine können die uterine Perfusion in mehrerer Hinsicht beeinflussen. Zum einen existiert ein direkter Effekt auf die glatte Gefäßmuskulatur, der über Prostaglandinrezeptoren zu Vasokonstriktion oder Dilatation führt. Weiterhin haben Prostaglandine eine Erhöhung des uterinen Tonus und der Kontraktilität zur Folge, die eine Reduktion der uterinen Durchblutung auf diesem Weg bewirken, und schließlich ist eine Verstärkung oder Abschwächung der adrenergen Neurotransmission möglich. Serotonin kann ebenfalls durch verschiedene Rezeptortypen regulierend in den Perfusionsvorgang eingreifen. Serotonin wird in Thrombozyten gespeichert und bei Thrombozytenaggregation und im Verbrauch freigesetzt. Bei lokaler Gabe wirkt das Senotonin über HT-2-Rezeptoren als Vasokonstriktor des uterinen Gefäßsystems. Systemisch appliziert ist die dosisabhängige Wirkung von Serotonin in verschiedenen Gefäßgebieten ausgesprochen variabel. Dosierungen, die Blutdruckanstiege auslösen, führen gleichzeitig zu Perfusionsrückgängen am Uterus. Vor diesem Hintergrund wird eine Rolle des Serotonins im Rahmen der schwangerschaftsinduzierten Hypertonie und des HELLP-Syndroms diskutiert. Schließlich sind Endotheline und Stickoxid an der Modulation der uterinen Durchblutung beteiligt. Endotheline sind vasoaktive Peptide, die ein breites Wirkungsspektrum aufweisen. So gelten sie als Wachstumsfaktoren und könnten auch in den Geburtsvorgang involviert sein. Sie wirken kontraktionsauslösend am Myometrium und auch an der glatten Gefäßmuskulatur. Vor allem Endothelin-1 ist als starker Vasokonstriktor bekannt, die Funktionen der anderen Endotheline (ET-2, ET-3 sowie BIG-ET-1 etc.) lassen folgern, dass die Endotheline eine wichtige Rolle in der Erhaltung des uterinen Gefäßtonus und der Entstehung pathologischer Situationen, etwa der schwangerschaftsinduzierten Hypertonie, einnehmen. Wie alle anderen Gefäßprovinzen sind die uterinen Gefäße mit Endothelzellen ausgekleidet, die neben anderen vasoaktiven Substanzen auch Stickoxid (NO) produzieren. NO entsteht durch Konversion von L-Arginin zu L-Citrullin, katalysiert durch die NO-Synthetase. Wie oben bereits für Östrogene erläutert, binden viele vasoaktive Substanzen an spezifische Rezeptoren und wirken direkt auf die Gefäße ein, können jedoch auch über die Synthese oder Freisetzung von NO wirksam werden. Acetycholin, Adenosin, Bradykinin, Histamin und Serotonin wirken zumindest partiell auf diese Art. Neben induzierter Freisetzung ist auch der basale Gefäßtonus am Uterus von der Verfügbarkeit von NO abhängig. Dies lässt sich durch Blockade der NO-Synthetase nachweisen. Während der Schwangerschaft ist die NO-Konzentration in Plasma und Harn erhöht, ebenso im Myometrium des schwangeren Uterus. NO senkt die Kontraktionsbereitschaft des Uterus und trägt dadurch zur Vermeidung kontraktionsbedingter Perfusionseinschränkungen bei. Auch in der umbilikalen und fetalen Zirkulation ist NO an der Erhaltung eines niedrigen Ge-
179 11.3 · Kardiovaskuläre Veränderungen
fäßwiderstands beteiligt. In Schwangerschaften, die durch schwangerschaftsinduzierte Hypertonie oder intrauterine Wachstumsrestriktion gekennzeichnet sind, findet sich eine Up-Regulation der endothelialen NO-Synthetase im villösen Gefäßsystem der Plazenta, begleitet von erhöhten Nitratkonzentrationen, dem Abbauprodukt des NO im Nabelschnurblut der betroffenen Feten. Dies lässt auf eine kompensatorisch erhöhte umbilikale NO-Produktion schließen, die durch Scherkraft über Endothelzellen infolge erhöhten Gefäßwiderstands stimuliert wird. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass NO eine wichtige Rolle in der Regulation des basalen Gefäßtonus, des basalen muskulären Uterustonus und als induzierbares Vasodilatans eine entscheidende Rolle in der Regulation der Uterusperfusion spielt (Lang et al. 2003).
11.1.3
Tuben
Die Muskulatur der Eileiter erfährt während der Schwangerschaft nur eine sehr geringe Hypertrophie. Das Tubenepithel erscheint abgeflacht, der Flimmerbesatz sogar vielfach verloren gegangen. Ab dem 4. Monat beginnen die Tuben wegen des Gebärmutterwachstums, das kleine Becken zu verlassen, und erfahren so eine »Streckung«. Auch an den Eileitern verstärkt sich die Durchblutung, und es bilden sich breitlumige Venen.
11.1.4
Brustdrüse werden knapp unter der Hautoberfläche zarte Venen sichtbar. Bereits durch zartes Massieren der Mammillae kann es zum Austritt einer dicken, gelblichen Flüssigkeit, dem Kolostrum (Vormilch), kommen, denn die alveolären Zellen entwickeln sich zu präsekretorischen kubischen Epithelien. Zu Beginn des 3. Trimenons haben die Drüsenschläuche und Endkammern weitgehend ihre endgültige Größe erreicht. Damit ist die Laktogenese abgeschlossen; die Voraussetzungen für die Milchsekretion sind gegeben. Die Alveolen sind von einer myoepithelialen Zellschicht umgeben, und Oxytozin, das nach der Geburt pulsatil aus der Neurohypophyse abgegeben wird, stimuliert diese Zellen zur Kontraktion. So kann die Entleerung der Milch in das duktale System erfolgen. Die morphologischen Veränderungen der Brustdrüse sind durch die Produktion von Östrogen und Progesteron, Prolaktin sowie durch die Stimulation der plazentaren Sexualsteroide bedingt. Supportiv wirken auch Insulin, Kortisol, Thyreoidhormon, Parathormon und Wachstumshormone an der Größenzunahme der Brustdrüse mit. Während der gesamten Schwangerschaft wird die sekretorische Wirkung des Prolaktins durch Plazentasteroide direkt unterdrückt. Unmittelbar postpartal, wenn die plazentare Hemmung des Prolaktins wegfällt, setzt die Milchproduktion ein. Steigende Konzentrationen von Kortisol können, wie an der Bauchhaut, zur Bildung von Striae distensae führen. Die Streifen zeigen sich anfänglich rot und hellen einige Zeit nach der Geburt weißlich auf.
Ovarien 11.3
Die Eierstöcke und damit auch das umliegende Bindegewebe werden wie viele andere Gewebe im Rahmen der Schwangerschaft stärker durchblutet. Die im Stroma enthaltenen Keimzellen können hypertrophieren und eine deziduale Umwandlung aufweisen. Das Corpus luteum nimmt an Größe zu. Bis zur 6.–7. SSW produziert das Corpus luteum das schwangerschaftserhaltende Progesteron; dann beginnt es zu degenerieren und sich bindegewebig zu organisieren. Der Trophoblast übernimmt nun die Gelbkörperproduktion.
11.2
Mammae
In den ersten Wochen der Schwangerschaft fällt die Brust der werdenden Mutter sehr häufig durch besondere Empfindlichkeit auf. Die Areolae mammae sind wie alle anderen pigmentreichen Körperregionen in der Schwangerschaft hyperpigmentiert. Nach dem 2. Monat nimmt die Brust an Größe zu, und es lassen sich bereits Knötchen, die auf ein Aussprossen der Alveoli mammae (Drüsenfelder) zurückzuführen sind, tasten. Dabei erfolgt eine Zurückdrängung des Fett- und Bindegewebes. Diese Hypertrophie der Alveoli mammae zählt zu einem der wahrscheinlichen Schwangerschaftszeichen. Ab dem 2. Trimenon kommt es verstärkt zur Zellhypertrophie. Es bilden sich stark vergrößerte und hyperämisierte Drüsenlappen aus. Im Rahmen der Größenzunahme der
Kardiovaskuläre Veränderungen
Die Schwangerschaft ist charakterisiert durch erhebliche, reversible Veränderungen des kardiovaskulären Systems. Das gesunde Herz kann diese Adaptation leisten, ein vorerkranktes Herz kann unter dieser Adaptation dekompensieren. Das Spektrum kardialer Erkrankungen bei Schwangeren ändert sich. Frauen mit kongenitaler Herzerkrankung, die aufgrund operativer Eingriffe im Kindesalter überleben, kommen vermehrt ins reproduktive Alter. Rheumatische Herzerkrankungen werden seltener, während degenerative und hypertensive kardiovaskuläre Erkrankungen aufgrund des erhöhten Alters der Schwangeren und Gebärenden deutlich zunehmen. Der Einfluss der physiologischen Veränderungen auf Schwangere mit kardiovaskulären Vorerkrankungen variiert je nach Art und Schwere der Erkrankung. Kann das Herzminutenvolumen nicht gesteigert werden, ist mit früher Dekompensation zu rechnen. Kann die Schwangerschaft kardial bewältigt werden, so können Geburt und unmittelbare Postpartalperiode die Belastungsgrenzen überschreiten – ein Lungenödem in dieser Phase ist gefürchtet (Burt u. Durbridge 2009). Die kardialen Veränderungen zeigt im Überblick . Tab. 11.1. Bereits in der frühen Embryonalphase verändert sich die Kreislaufdynamik der schwangeren Frau. Die Mediatoren für diese Umstellung dürften mit der Steroidgenese in der fetoplazentaren Einheit in enger Verbindung stehen (Longo 1983).
11
180
Kapitel 11 · Physiologie des mütterlichen Organismus
. Tab. 11.1. Kardiovaskuläre Veränderungen in der Schwangerschaft
11
Parameter
Veränderung
Normalbereich (Veränderung)
Plasmavolumen
↑
≈5–6 l (+30% bis +50%)
Blutdruck
↓
≈120/80 mm Hg
HZV
↑
≈5–7 l/min (+35% bis +45%)
Herzfrequenz
↑
≈70–105 SpM (+10 SpM bis +20 SpM)
Schlagvolumen
↑
≈70–100 ml (+10% bis +20%)
Totaler peripherer Widerstand (TPR)
↓
≈600–900 dyne/s/cm² (–25% bis –30%)
Onkotischer Druck
↓
≈15 mm Hg (–10% bis –15%)
Das Herzzeitvolumen (HZV), ein Produkt aus Herzfrequenz (die ab der 6. SSW zunimmt) und Schlagvolumen (Vergrößerung ab der 8. SSW), steigt um etwa 40% (Duvetkot et al. 1993). Dieser Anstieg des HZV bis zur Geburt ist ein physiologisch sinnvolles Geschehen (Mabie et al. 1994). In der Schwangerschaft kommt es zu einer Gesamterhöhung des Nährstoff- bzw. Sauerstoffbedarfs des Fetus, aber auch der verschiedenen mütterlichen Organe.
Zeitliche Sequenz der Veränderungen im mütterlichen Herz-Kreislauf-System 4 Abnahme des peripheren Gefäßwiderstands 4 Zunahme des zirkulierenden Blutvolumens 4 Zunahme des Herzminutenvolumens
Am Anfang der Frühschwangerschaft scheint eine Dilatation der Gefäße im Bereich der Arteriolen sowie auch der venösen Gefäße durch eine Tonusabnahme der glatten Muskulatur zu stehen. Dadurch kommt es zu einer relativen Verminderung des effektiv zirkulierenden Blutvolumens, das Renin-Angiotensin-Aldosteron System wird aktiviert. Dies hat zur Folge, dass eine gesteigerte renale Rückresorption von Natrium und Flüssigkeit stattfindet. Die Volumenzunahme führt daraufhin zu einem Anstieg des Herzschlagvolumens und der Herzfrequenz (. Abb. 11.1); zudem kommt es durch die überproportionale Volumenexpansion zu einer in der Frühschwangerschaft im Vordergrund stehenden »Blutverdünnung«. Ein relativer Hämatokrit- und Hämoglobinabfall sind die Folge. Die Zunahme der Erythropoese setzt erst sekundär ein. Die beschriebenen Anpassungsmechanismen im HerzKreislauf-System sowie auch im Stoffwechsel und im endokrinen Bereich sind bereits in der Frühschwangerschaft vorhan-
. Abb. 11.1. Lokale und systemische Anpassungsvorgänge im mütterlichen Kreislauf als Folge der Interaktion zwischen mütterlichen und embryonalen Geweben im Rahmen der Implantation. (Nach Schneider 1996)
den und damit nicht als Reaktion auf den steigenden Bedarf des wachsenden Fetus anzusehen (Clapp et al. 1988). Neben der Zunahme des Schlagvolumens kommt es bei der werdenden Mutter zu einer Senkung des Gefäßwiderstands (totaler peripherer Widerstand; TPR) sowie zu einer Dilatation des linken Ventrikels. Die Herzfrequenz erhöht sich um zusätzliche 10–15 Schläge pro Minute. Die Steigerung des zirkulierenden Blutvolumens um bis zu 40% (1,5–2 l) beginnt mit der 12. SSW, erreicht ihr Maximum in der 32.–36. SSW und setzt die oben genannten adaptierenden Vorgänge in der mütterlichen Hämodynamik voraus. Der vermehrte Sauerstoffbedarf beider Organismen erfordert eine Zunahme des Gesamtvolumens roter Blutzellen. Die Zunahme der intravasalen Flüssigkeit schützt die Frau bis zu einem gewissen Grad vor den Folgen einer Blutung unter der Geburt. Kommt es nicht zu einem erhöhten Blutverlust sub partu, normalisiert sich das zirkulierende Gesamtvolumen innerhalb der ersten 2 Wochen nach der Geburt. Der systolische Blutdruck verändert sich im Rahmen einer physiologischen Schwangerschaft kaum, wohingegen der diastolische Wert um bis zu 15 mm Hg abnimmt. Dies erklärt sich u. a. auch durch eine Abnahme des gesamten peripheren Gefäßwiderstands. Der Blutdruck, ein im Rahmen der Präeklampsie besonders wichtiger Parameter, ist in seiner Höhe allerdings von verschiedenen Größen wie der zirkulierenden Blutmenge, dem Herzzeitvolumen, dem peripheren Widerstand, der Blutviskosität und der Elastizität der großen Gefäße abhängig. Morphologisch kommt es neben der Dickenzunahme des interventrikulären Septums auch zu einer Zunahme der Wand der linken Herzkammer. Die intraabdominelle Organverschiebung führt zu einem Zwerchfellhochstand. Das Herz wird aus seiner normalen Lage verdrängt und die elektrische Herzachse gegen den Uhrzeigersinn abgedreht: Alterationen
181 11.3 · Kardiovaskuläre Veränderungen
im Elektrokardiogramm sind die Folge und werden gelegentlich fälschlich als Rechtsherzbelastung bzw. als Koronarinsuffizienz bezeichnet. Neben dieser anatomisch-physiologisch erklärbaren Umstellung sieht man in der Schwangerschaft auch noch andere, völlig normale Veränderungen mit Ursprung am Herzen, wie monofokale ventrikuläre Extrasystolen oder gelegentliches, sehr unangenehm empfundenes Herzrasen. > Bei 10–20% der schwangeren Frauen entstehen Turbulenzen im Auswurftrakt beider Herzkammern, die als Systolikum zu hören, aber nicht als pathologisch zu werten sind (Goeschen 1984). Bei vorbestehender Herzerkrankung ist davon auszugehen, dass während der Gravidität ein Insuffizienzgeräusch leiser, ein Stenosegeräusch jedoch lauter wird.
Während der Schwangerschaft ist der Venendruck immer an der oberen Grenze der Norm (4–8 cmH2O), in der unteren Körperhälfte steigt er im letzten Trimenon jedoch bis auf 10–25 cm H2O an. Diese Steigerung des Venendrucks, der verminderte onkotische Druck im Plasma sowie die durch den venösen Druck bedingte lymphatische Obstruktion können zu einer Schwellung der Knöchel führen. Bei entsprechender Disposition kann sich eine verschiedengradige Varikosis der unteren Körperhälfte einstellen, die v. a. die Venen der Beine, aber auch der Vulva, der Vagina und des rektalen Venenplexus betrifft. Im Rahmen der Schwangerschaft kommt es zu einer erhöhten Koagulabilität des Plasmas und damit zu einer Thrombophlebitis- bzw. Thromboseneigung. Um solchen Komplikationen sinnvoll vorzubeugen, sind körperliche Bewegung sowie das Tragen von Kompressionsstrümpfen von besonderer Bedeutung. Andererseits ist es aber auch wichtig, zu lange Kompressionen, z. B. während einer Autofahrt oder einer Flugreise, zu vermeiden. Eine andere, in der Schwangerschaft mögliche, aber leicht zu behebende Komplikation ist das V.-cava-Kompressionssyndrom, bei dem der schwangere Uterus in Rückenlage die mütterliche V. cava inferior komprimiert. Dies behindert den Abfluss im Bereich der uteroplazentaren Einheit, vermindert den venösen Rückfluss zum Herzen und führt damit zu einer »artifiziellen« arteriellen Hypotonie. Die subjektiven Beschwerden der Mutter werden mit Schwindel, Übelkeit und Dyspnoe angegeben, die Minderperfusion der fetoplazentaren Einheit führt zur Sauerstoffminderversorgung des Fetus, die im Kardiotokogramm zeitweilig darstellbar ist. Die Durchblutung und damit die Beschwerden werden durch Seitenlagerung der Schwangeren gebessert. Auch während des ruhigen Stehens kann es zu einer Kompression der großen Hohlvene kommen, wobei als Leitsymptom eine passagere mütterliche Tachykardie im Vordergrund steht. Reaktiv kommt es zur Kontraktion, der Uterus richtet sich auf; das große Gefäß wird entlastet. Die extreme Herzbelastung unter der Geburt ist durch eine Erhöhung des Herzminutenvolumens zwischen den Wehen sowie durch eine Erhöhung des zirkulierenden Blutvolumens unter Wehentätigkeit bedingt, wobei bis zu 500 ml Blut aus dem Uterus in die Zirkulation transportiert werden. An-
dererseits werden während der Geburt Stresshormone, v. a. Noradrenalin, freigesetzt und so der Gefäßtonus erhöht. Mit dem Fortschreiten der Zervixdilatation und der Wehentätigkeit erfolgt eine Erhöhung der Herzfrequenz und des Herzzeitvolumens um bis zu 35%. > Während der Presswehen kommt es zu einer Erhöhung des systolischen Blutdrucks auf bis zu 190 mm Hg. Auf diese massive Blutdruckerhöhung und Herzbelastung unter der Geburt ist v. a. bei Frauen zu achten, die durch eine belastende Anamnese oder Prädisposition gefährdet sind. In diesen Fällen ist es ratsam, schon im Rahmen der Schwangerenbetreuung und ggf. interdisziplinär die Geburt zu besprechen (Spontanpartus, Abkürzung der Pressphase mittels Vakuumextraktion, primäre Sectio caesarea), um eine massive Belastung des kardiovaskulären Systems zu vermeiden.
Im Gefolge von Fortschritten in Diagnose und Therapie kongenitaler Herzerkrankungen erleben Betroffene heute ihre reproduktive Phase und werden auch schwanger. Die Betreuung Schwangerer mit kongenitalen und später erworbenen Herzerkrankungen inkl. Zustand nach Transplantation setzt die Kenntnis der hämodynamischen Reaktion des jeweiligen individuellen Herz-Kreislauf-Systems auf die kardiovaskulären Belastungen von Schwangerschaft und Geburt voraus. Eine Grobeinteilung der kongenitalen Herzerkrankungen in 3 Läsionsgruppen 4 mit Volumenüberlastung, 4 mit Blutdruckanstieg oder 4 mit Zyanose erlaubt erste Hinweise auf Prognose, Behandlung und Entbindungsoption. Siu et al. (2001, 2002) entwickelten einen diesbezüglichen prognostischen Index. Optimal sind interdisziplinäre geburtshilfliche, kardiologische und anästhesiologische Betreuung und präkonzeptionelle Beratung (ACC/AHA Guidelines 2006). Schwangere Frauen mit kardialer Vorbelastung sind möglicherweise in der unmittelbaren Postpartalperiode dem höchsten Risiko eines Lungenödems ausgesetzt. Im Verlauf von 10–15 min nach der Geburt steigt das Herzminutenvolumen um etwa 60–80% an. Dieser sofortige Anstieg erklärt sich durch 4 die Aufhebung der venokavalen Obstruktion durch den schwangeren Uterus, 4 eine Autotransfusion uteroplazentaren Blutes und 4 eine extrem rasche Mobilisation von extravaskulärer Flüssigkeit, die sich in erhöhtem venösem Rückfluss zum Herzen und vergrößertem Schlagvolumen ausdrücken. Nach etwa 1 h geht das Herzvolumen auf Werte wie vor Beginn der Wehentätigkeit zurück. Im Wochenbett kommt es zu einer weiteren Mobilisierung der Extrazellulärflüssigkeit, die sich im Rahmen der Schwangerschaft angesammelt hat. Nach etwa 2 Wochen sinken diese Werte wieder auf die ursprünglichen Werte wie vor der Schwangerschaft ab (Monga 2004).
11
182
Kapitel 11 · Physiologie des mütterlichen Organismus
11.4
Hämatologische Veränderungen
Im Rahmen der physiologischen Schwangerschaft erhöht sich das mütterliche Gesamtgewicht kontinuierlich um etwa 10– 12 kg. Fünfzig Prozent sind der Zunahme von interstitieller Flüssigkeit, Plasmavolumen und Intrazellulärflüssigkeit zuzuschreiben, die restlichen 5–6 kg entfallen auf Kind, Plazenta, Fruchtwassermenge, Fettgewebe sowie Größenwachstum von Mammae und Uterus. Durch die physiologisch gesteigerte Erythropoese kommt es zu einer relativen Polyglobulie, die aber durch einen durchschnittlich 20- bis 30%igen Anstieg des Plasmavolumens als physiologische Anämie im Blutbild zu erkennen ist. Die Zunahme des Plasmavolumens ist also größer als die Erhöhung der Erythrozytenmasse, es stellt sich eine physiologische Blutverdünnung ein, die als Schwangerschaftshydrämie bezeichnet wird. > Der Grenzwert für die physiologische Hydrämie in der Schwangerschaft ist mit einem Hämoglobinwert von 11 g/dl angesetzt. Hämoglobinwerte Im Rahmen eines operativen Geburtsmodus (Sectio caesarea) oder bei anderen Gründen einer Immobilisierung ist auf eine ausreichende Thromboseprophylaxe zu achten.
trierte Glukosemenge bei unveränderter Glukosereabsorption. Die Glukosurie ist in den meisten Fällen als physiologisch zu werten, kann aber auch der erste Hinweis auf eine Störung im Kohlenhydratstoffwechsel sein. Aus diesem Grund ist bei wiederholtem Harnzucker in der Schwangerschaft ein latenter Diabetes mellitus mit einem Glukosetoleranztest, der ohnehin in der 24.–28. SSW erfolgen sollte, auszuschließen.
Ursächlich sind u. a. der Einfluss des Progesterons auf die glatte Muskulatur und die Verdrängung durch den graviden Uterus. Die Erweiterung der harnableitenden Organe ist klinisch wegen der Begünstigung einer Keimansammlung im Sinn einer asymptomatischen Bakteriurie bedeutungsvoll, die bei akuter Harnblasenentzündung via Keimaszension ein erhöhtes Risiko für eine Pyelitis gravidarum mit sich bringt. Diese anatomischen Veränderungen erklären, warum die Interpretation einer renalen Sonographie in der Schwangerschaft erschwert ist.
Bei einem Viertel aller schwangeren Frauen lässt sich eine Glukosurie mit durchschnittlich 350 mg Glukose im 24-h-Urin nachweisen. Eine erhöhte Glukosemenge im Harn kann die Ausbildung von Infektionen im Harntrakt begünstigen. Durch die verminderte Rückresorptionsfähigkeit der Tubuli kommt es in der Schwangerschaft zu einem – wenn auch selektiven – Verlust an Aminosäuren, der v. a. für Frauen mit extrem einseitiger Ernährung bedeutsam werden kann. Geringe Mengen von niedermolekularen Albuminen passieren bei allen Menschen das Glomerulumfilter und werden bei der Tubuluspassage wieder weitgehend rückresorbiert. Bei 20% aller Schwangeren wird jedoch die kritische Menge überschritten, sodass die Rückresorption bei der Tubuluspassage unvollständig sein kann (physiologische Schwangerschaftsproteinurie). Ziemlich willkürlich wurden 300 mg im 24-h-Urin als oberste Grenze festgelegt; Werte darüber gelten als pathologisch. Durch die Erhöhung der glomerulären Filtrationsrate kommt es zu einer vermehrten Tendenz, Natrium auszuscheiden. Als Gegenregulator fungiert Aldosteron, dessen Plasmaspiegel um das bis zu 5-Fache ansteigt und das eine vermehrte tubuläre Natriumrückresorption bewirkt. Durch die massiv gesteigerte Rückresorption von Natrium wird der natriuretische Effekt von Progesteron ausgeglichen. Im Rahmen einer Präeklampsie vermindert sich nun allerdings die Filtrationsrate im Glomerulum, und die konstant erhöhte tubuläre Rückresorption von Natrium und Wasser führt zum Auftreten von Ödemen.
> Vor allem im 2. und 3. Trimenon kommt es durchden vergrößerten Uterus zu einer gehäuften Kompression der Blase und damit zu dem bei schwangeren Frauen typischen gehäuften Harndrang (Pollakisurie).
> Harnsäure und Kreatinin im Serum sinken in den ersten beiden Trimena, um dann am Ende des letzten Trimenons wieder anzusteigen. Für die Präeklampsie ist die Harnsäure als Marker von Bedeutung.
Die Zunahme des intravasalen Volumens und das erhöhte Herzminutenvolumen während der Schwangerschaft führen zu einer vermehrten Nierendurchblutung (50–80%), zu einer um ca. 50% gesteigerten glomärulären Filtrationsrate (GFR) sowie zu einer Änderung der Tubulusfunktion. Die deutlich erhöhte GFR führt zu niedrigeren Kreatinin-, Harnstoff- und Harnsäurespiegeln in der physiologischen Schwangerschaft ebenso wie zu einer Halbwertszeitverringerung renal eliminierter Medikamente.
Bereits in den ersten Schwangerschaftswochen sinkt der Kalziumspiegel im mütterlichen Blut, was durch eine erhöhte renale Ausscheidung bedingt ist. Um ein normales Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, werden 1,5–2 g Kalzium pro Tag benötigt. Durch einen erhöhten 1,25-Dihydroxy-D3-Spiegel ist eine vermehrte intestinale Resorption möglich. Zusätzlich kommt es zu einem Verlust an Vitamin B12 und Folsäure, die durch die vermehrte Aufnahme von Milch- und Käseprodukten zum großen Teil ersetzt werden können. Postpartal zeigt sich eine erhöhte renale Exkretion von Natrium und Wasser. Der erhöhte renale Blutfluss und die
Im Rahmen von Schwangerschaftskomplikationen kann es zu massiven Störungen der Blutgerinnung kommen (z. B. vorzeitige Plazentalösung, Fruchtwasserembolie, intrauteriner Fruchttod, Präeklampsie).
11.5
Niere, Harntrakt, Wasserhaushalt
> In den harnableitenden Organen kommt es im Rahmen der Schwangerschaft zu typischen Veränderungen, die sich durch eine Zunahme des Nierenvolumens, Dilatation von Nierenbecken, Nierenkelch und Harnleiter manifestieren. Diese Erweiterungen, rechts mehr als links, werden etwa ab der 10. SSW deutlich.
> Die renale Glukosurie erklärt sich durch das vermehrte Glomerulumfiltrat und die damit erhöhte fil-
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11
184
Kapitel 11 · Physiologie des mütterlichen Organismus
erhöhte GFR kehren innerhalb weniger Wochen zum nichtschwangeren Niveau zurück (Hladunewich et al. 2004).
11.6
11
Respirationstrakt
Die Schleimhäute des oberen Respirationstrakts stehen, wie auch andere Organe, in der Schwangerschaft unter dem Einfluss von Östrogenen. Dadurch erklären sich die veränderten Kreislaufbedingungen, wie eine verstärkte Durchblutung, die venöse Stauung und die Wasserretention. Die Schwangerschaftsrhinitis bedarf trotz ihrer Lästigkeit keiner speziellen Therapie und verschwindet nach der Geburt vollständig. Der Sauerstoffbedarf der Schwangeren steigt bereits in der 8. SSW und wird durch eine 70%ige Zunahme der alveolären Ventilation kompensiert. Diese Zunahme wird wahrscheinlich durch eine direkte Einwirkung des Progesterons auf das Atemzentrum bewirkt, wobei es zu einer erhöhten CO2-Sensibilität kommen soll. Das subjektiv am häufigsten beobachtete Symptom der veränderten Lungenfunktion ist bei 50% aller Schwangeren die Dyspnoe bei körperlicher Belastung, die bei 20% auch ohne Anstrengung auftritt. Durch das Wachstum der Gebärmutter kommt es zu einer Anhebung des Diaphragmas an seiner Spitze um bis zu 4 cm und damit zu einer verminderten funktionellen Residualkapazität. Die Vitalkapazität sowie die inspiratorische Kapazität bleiben durch kompensatorische Erweiterung der Zwischenrippenabstände und einen größeren a.-p.-Thoraxdurchmesser unverändert. Die Abnahme des Muskeltonus wird durch hormonelle Veränderungen bedingt. Da im Verlauf der Schwangerschaft der O2-Bedarf um etwa 25%, das Atemminutenvolumen aber um mehr als 40% steigt, kommt es zur häufig beobachteten physiologischen Hyperventilation, die zu einer Steigerung der alveolären und arteriellen pO2-Spannung und einer Abnahme des CO2-Partialdrucks führt. Der »normale« paO2 in der Schwangerschaft liegt bei 100 mm Hg, der paCO2 bei 28–32 mm Hg – wichtig für die klinische Interpretation. Durch eine Steigerung der renalen Bikarbonatausscheidung bleibt der mütterliche pHWert konstant.
11.7
Intermediärer Stoffwechsel
In der Schwangerschaft gibt es eine Reihe von Adaptierungsvorgängen im mütterlichen Organismus, die den Stoffwechsel von Mutter und Kind begünstigen und den zusätzlichen Energiebedarf decken. Nach allgemeiner Empfehlung sollten pro Tag zusätzliche 300 kcal ausreichend sein. Für die regelrechte fetale Entwicklung und auch für das mütterliche Wohl ist der geregelte Kohlenhydratstoffwechsel von zentraler Bedeutung.
Die 2 Phasen des Glukosestoffwechsels 4 Frühschwangerschaft mit erhöhter Insulinempfindlichkeit 4 Spätschwangerschaft mit zunehmender Resistenz gegenüber Insulin
Durch die gesteigerte Insulinempfindlichkeit kommt es in der Frühschwangerschaft zu einem physiologisch erniedrigten Nüchternblutzucker im Vergleich zu nichtschwangeren Frauen. Dies ist nicht eine Folge einer verminderten Glukoneogenese, sondern resultiert wohl aus der erhöhten Glukoseclearance durch die Plazenta. In der 2. Schwangerschaftshälfte steht der zunehmende Glukosebedarf des Fetus sowie der Plazenta im Vordergrund. Der fetale Blutzuckerspiegel variiert in unmittelbarer Abhängigkeit vom mütterlichen Glukosespiegel. Durch vermehrt zur Wirkung kommende Insulinantagonisten wird der mütterliche Organismus gegenüber Insulin zunehmend resistent. Der Insulinbedarf in der Spätschwangerschaft steigt um bis zu 80%; dadurch kann eine latente diabetische Stoffwechsellage evident werden. Ein Gestationsdiabetes birgt aber auch die erhöhte Gefahr, im späteren Leben an einem manifesten Diabetes mellitus Typ 2 zu erkranken. > Bei schwangeren insulinpflichtigen Diabetikerinnen nimmt der Insulinbedarf weiter zu, was eine Therapieumstellung bzw. Dosissteigerung erforderlich macht.
Postpartal verschwinden die Symptome eines Gestationsdiabetes zumeist. In der Schwangerschaft ist v. a. auf einen ausgeglichenen Glukoseblutspiegel zu achten, denn zu geringe Mengen gefährden die Ernährung des Kindes, zu hohe können in der Frühschwangerschaft zu Fehlbildungen führen. Eine Stimulation mit Glukose führt zu einem erhöhten Plasmainsulinspiegel, wahrscheinlich als Folge der Progesteronwirkung. > Bei gesunden Schwangeren wird die hormonell bedingte erhöhte periphere Insulinresistenz durch vermehrte Insulinproduktion kompensiert. Da aber im Rahmen der Schwangerschaft sämtliche peripheren Gewebe eine verminderte Empfindlichkeit auf Insulin zeigen, ist die Schwangerschaft im Gesamten als diabetogen zu bezeichnen – ein »Belastungstest« für das maternale Pankreas.
Die Hormone der Plazenta (HPL, Östrogen und Kortisol) sind auch für die Erhöhung des Blutlipidspiegels mit einem Anstieg der freien Fettsäuren verantwortlich, die wiederum von essenzieller Bedeutung für die Freistellung von Energiereserven sind. Diese Veränderung zu kennen ist wichtig, um etwaige Fehlinterpretationen zu vermeiden. Triglyzeride und Cholesterin erhöhen sich gegenüber dem Normalwert um 50%. Der Fettstoffwechsel ist in der ersten Schwangerschaftshälfte zunächst durch die Neubildung von 2–3 kg Fettgewebe charakterisiert. Dabei steht die Lipogenese im Vordergrund; gegen Ende der Schwangerschaft kommt es jedoch zu einer
185 11.8 · Adipositas
vermehrten Lipolyse, was an der Zunahme der hormonabhängigen Lipase erkennbar wird. Dies führt zu einer vermehrten Freisetzung lipolytischer Substanzen, insbesondere freier Fettsäuren und Glycerol, in den mütterlichen Kreislauf. Glycerol wird v. a. in der Leber für die Glukoneogenese verwendet, während die freien Fettsäuren für die Ketogenese verwendet werden. Die Ketonkörper ihrerseits können die Plazenta passieren und als Substrat für den Energiestoffwechsel sowie für die Lipogenese in den fetalen Geweben verwendet werden. Die erhöht zirkulierenden Spiegel von Glycerol und freien Fettsäuren infolge der Lipolyse werden z. T. in der Leber reesterifiziert und anschließend in Form von VLDL-Triglyzeriden in den mütterlichen Kreislauf abgegeben. Die Produktion von VLDL in der Leber ist in der Spätschwangerschaft gesteigert und führt zu einem Anstieg der Plasmakonzentration im mütterlichen Organismus. > Die erhöhte Lipidkonzentration sowohl der Fettsäuren als auch der Ketonkörper dient anstelle von Glukose als Substrat für den mütterlichen Energiestoffwechsel. Dadurch kann der Glukoseverbrauch in den mütterlichen Geweben eingeschränkt werden.
Der Eiweißstoffwechsel ist für das Wachstum des Fetus von größter Bedeutung. Die Auswirkungen einer unzureichenden Versorgung des Fetus auf dem Boden mütterlicher Mangelernährung werden in zunehmendem Maß im Rahmen der kindlichen Langzeitentwicklung und der Gesundheit im Erwachsenenleben deutlich. Epidemiologische Untersuchungen zeigen eine Häufung von sog. degenerativen Erkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2, Hypertonie und Herzerkrankungen in schlecht versorgten Bevölkerungsgruppen. Als möglicher gemeinsamer Nenner gelten die mütterliche Unterernährung und damit die chronische Mangelversorgung, insbesondere der Proteinmangel während der intrauterinen Lebensphase (Dahri et al. 1995). Bereits im Kindesalter konnten erhöhte Cholesterinspiegel sowie eine gestörte Glukosetoleranz aufgezeigt werden. Während der Schwangerschaft besteht eine positive Stickstoffbilanz von etwa 1 g pro Tag. Obwohl es während der Schwangerschaft zu einem Anstieg der Serumproteine kommt, führt die erhöhte Menge an zirkulierendem Blutvolumen zu einer relativen Verminderung der Konzentration des Gesamteiweißes. > Eine Veränderung im Sinn einer Verschiebung im Albumin-Globulin-Quotienten erhöht die Blutsenkungsgeschwindigkeit, sodass dieser Parameter für die Diagnose von Entzündungen in der Schwangerschaft nicht zu verwerten ist.
Der Elektrolytstoffwechsel ist im Rahmen einer ausgeglichenen Ernährung meist ausreichend abgedeckt. Lediglich Eisen sollte bei der risikolosen Schwangerschaft substituiert werden (7 Kap. 11.4). Die Vermeidung von Früh- und Mangelgeburten durch Magnesiumsubstitution wird weiterhin kontrovers diskutiert.
Studienbox Eine prospektiv randomisierte Studie von Spätling u. Spätling (1988) vergleicht Magnesiumsubstitution in der Schwangerschaft vs. Plazebo. Die Ergebnisse zeigen, dass die Substitution von Magnesium während der Schwangerschaft einen signifikanten Einfluss auf die fetale und maternale Morbidität vor und auch nach der Geburt hat.
11.8
Adipositas
Mütterliche Adipositas ist ein Risikofaktor für Schwangerschaften. Adipositas wird assoziiert mit Zunahme von kongenitalen Fehlbildungen (besonders Neuralrohr, Herz), niedrigen Apgar-Scores, Gestationsdiabetes, hypertensiven Schwangerschaftserkrankungen, fetaler Makrosomie, operativen Entbindungen sowie anästhesiologischen und chirurgischen Komplikationen. Üblicherweise wird der Body-MassIndex (BMI) als Definitionsmaß angesehen. Die Adipositasprävalenz scheint massiv zuzunehmen, nach US-amerikanischen Daten sind mehr als 50% der Frauen zwischen 20 und 39 Jahren übergewichtig (BMI >25), ca. 30% sind adipös (BMI >30), und ca. 5% extrem adipös (BMI >40). Eine deutsche Untersuchung, die allerdings die Verwendung des BMI eher kritisch sah und die Verwendung maternaler Höhen- und Gewichtsmaße in separater Form andenkt, fand in einer Korhortenstudie mit nahezu 500.000 Schwangeren 10,3% mit einem BMI ≥30 und 0,8% ≥40 (Voigt et al. 2008). Maternale Adipositas ist verknüpft mit einer Steigerung der normalen Veränderungen während der Schwangerschaft einschließlich zunehmender Insulinresistenz, zunehmenden Sauerstoffbedarfs und zunehmender kardialer Belastung. Nach Ramsay et al. (2002) zeigen adipöse Frauen eine deutliche Zunahme der Seruminsulinspiegel, der Dyslipidämie (niedrige HDL-Lipoproteine, hohe Triglyzeride) und der Entzündungsmarker (CRP, IL-6). Diese Veränderungen scheinen den Grundstein für das erhöhte Risiko von Gestationsdiabetes und Präeklampsie zu legen. Die optimale Gewichtszunahme in der Schwangerschaft ist ein kontrovers diskutiertes Thema, je nachdem, ob der Body-Mass-Index oder individuellere Längen- und Gewichtskurven als Grundlage genommen werden. Die Mittelwerte von Gewichtszunahmen von relativ großen schlanken Schwangeren unterscheiden sich von der kleiner schwerer Schwangerer deutlich (Voigt et al. 2007). Die Auswirkung unzureichender Gewichtszunahme auf das Auftreten von fetalen Wachstumsrestriktionen wird kontrovers diskutiert, je nachdem, ob die Ausgangsgruppe untergewichtig, normalgewichtig oder adipös war. In der US-amerikanischen Literatur wird bei niedrigerem Body-Mass-Index eine Gewichtszunahme bis zu 18 kg, bei Adipositas eine Gewichtszunahme von 6–7 kg als sinnvoll angesehen (Bianco et al. 1998). Von der Konzeption bis zur Geburt und Postpartalperiode haben adipöse und massiv adipöse Schwangere erhöhte Risiken (. Tab. 11.3). Eine zusätzliche Substitution mit Folsäure
11
186
Kapitel 11 · Physiologie des mütterlichen Organismus
. Tab. 11.3. Erhöhte geburtshilfliche Risiken bei Adipositas
Zeitpunkt
Geburtshilfliches Risiko
1. Trimenon
Abort Neuralrohrdefekt Gestationsdiabetes
2. Trimenon
Gestationsdiabetes Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
3. Trimenon
Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen Erschwertes fetales Monitoring Intrauteriner Fruchttod Anästhesiekomplikationen
Folsäure, Eisen und Kalzium sowie Vitamin K und D notwendig machen können. Nach bariatrischen Eingriffen wird vermehrt per Kaiserschnitt entbunden. Seltene, sehr gefährliche Komplikationen in Schwangerschaft und Geburt sind Magenerosion oder Magenvolvolus sowie interne Herniation von Darmschlingen. Wünschenswert wäre eine langfristige Nachbetreuung adipöser Mütter und ihrer Kinder im Hinblick auf Langzeitkomplikationen (Arendas et al. 2008).
11.9
Gastrointestinalsystem und Leber
Durch die vermehrte Östrogeneinwirkung und die verstärkte Proliferation von Blutgefäßen kommt es zu einer gesteigerten Durchblutung im Bereich des Paradontiums, woraus eine vermehrte Blutungsneigung resultiert. Die Gingivitis hypertrophicans ist als lokaler Reizzustand zu verstehen, der durch infizierte Gewebetaschen zu einer massiven Hypertrophie der Schleimhäute führen kann.
Fetale Makrosomie Kaiserschnittrate Postpartal
Postpartale Hämorrhagie Infektionen
11
Schwangerschaftsepulis Als Schwangerschaftsepulis wird die Neubildung eines Angiogranuloms in Form einer tumorartigen Gewebehypertrophie mit Blutungen und Schmerzhaftigkeit zwischen den Zähnen bezeichnet.
Wunddehiszenz Thromboembolische Ereignisse
wird diskutiert (Mojtabai 2004). Die Kaiserschnittrate bei adipösen Schwangeren ist erhöht, diese Frauen haben ein höheres Risiko für postoperative Komplikationen wie Blutverlust, Hypoxämie, Atelektasen, venöse Thromboembolien und Wundinfektionen. Die Überwachung der Schwangerschaft mit Ultraschall und CTG kann erheblich beeinträchtigt sein. Neben erhöhten LGA- bzw. Makrosomieraten scheint für die Kinder, wie auch beim Gestationsdiabetes, ein Langzeitrisiko im Sinn »intrauteriner Programmierung« zu bestehen. Optimal wäre eine präkonzeptionelle Beratung und Gewichtsreduktion vor einer Schwangerschaft. Während der Schwangerschaft sollte Ernährungsberatung für übergewichtige und adipöse Schwangere zur Verfügung stehen, exzessive Gewichtszunahme sollte vermieden werden. Adipöse Schwangere sollten bereits im 1. Trimenon ein Gestationsdiabetesscreening erfahren. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Gruppe adipöser oder ehemals adipöser Patientinnen, die sich einem bariatrischen Eingriff unterzogen haben. Diese haben bei erfolgreicher Gewichtsreduktion die positiven Effekte in Form von verminderter Insulinresistenz, geringerer Diabetesrate, niedriger Makrosomie- und Hypertensionsrate zu verzeichnen (ACOG 2005; Buchwald et al. 2004; Sheiner et al. 2004). Nach bariatrischen Eingriffen können, je nach Eingriffsart, erhebliche Malabsorbationssituationen eintreten, die eine besondere Überwachung und Supplementation etwa mit Vitamin B12,
> Die verminderte Spontansekretion der Glandulae submandibulares und die damit verbundene Senkung des pH-Werts führt zu einem deutlich verminderten Schutz des Zahnschmelzes.
Durch die Gestagene wird die Kontraktilität der glatten Muskulatur gehemmt und so das Volumen der Gallenblase erhöht, der Tonus des unteren Ösophagussphinkters erniedrigt und die Dünndarmpassage verlängert. Die Steigerung des intraabdominellen Drucks durch das zunehmende Uterusvolumen führt häufig zu saurer Regurgitation. Um eine Entzündung im unteren Bereich des Ösophagus zu vermeiden, die durch den unzureichenden Sphinkterverschluss gefördert wird, sollte auf große Mahlzeiten verzichtet werden. Ebenso sollte vor dem Zubettgehen keine Mahlzeit mehr eingenommen werden; im Bett selbst ist der Oberkörper möglichst in einer leicht aufrechten Position zu lagern. Sollte bei der Geburt eine Narkose notwendig werden, so ist die Gefahr einer Aspiration erhöht; wenn möglich sollte von einer Vollnarkose abgesehen werden. > Ein häufiges Zeichen einer Frühschwangerschaft ist die morgendliche Übelkeit, die bei etwa 50% aller Schwangeren auftritt und oft von Erbrechen begleitet wird (Emesis gravidarum). Ursächlich werden die durch die Trophoblastaktivität bedingte hormonelle Umstellung und psychosomatische Gründe (Stauber 1986) genannt. Erst wenn es zu rezidivierendem Erbrechen mit Störung des Elektrolythaushaltes (Hyperemesis gravidarum) kommt, ist eine stationäre Aufnahme anzuraten.
187 11.10 · Endokrines System
Als Folge einer verminderten Peristaltik v. a. des Kolons und der tonussenkenden Wirkung des Gelbkörperhormons sowie der aldosteronbedingten erhöhten Wasserrückresorption findet sich bei vielen Schwangeren eine Obstipation. Zu empfehlen ist eine schlackenreiche Kost. In diesem Zusammenhang treten häufig erstmals Hämorrhoiden auf, deren Entstehung durch den erhöhten intraabdominellen Druck begünstigt wird.
11.10
Endokrines System
Durch die gesteigerte Sekretion von trophischen Hormonen in der Hypophyse sind in der Schwangerschaft alle endokrinen Drüsen der Mutter in ihrer Funktion verändert. Die Größe der mütterlichen Hypophyse verdoppelt sich im Verlauf der Schwangerschaft. Innerhalb der ersten Tage post conceptionem steigt die Produktion von Prolaktin deutlich an. Später wird die Sekretion von Prolaktin durch die Aktivität des HPL unterdrückt. Prolaktin ist durch die stimulierende Wirkung auf das Drüsenparenchym der Mammae an der Lakto- und Galaktopoese beteiligt. Die Freisetzung der Gonadotropine FSH und LH ist wegen der negativen Rückkopplung verschiedener Plazentahormone an die hypothalamisch-hypophysäre Achse gehemmt. Die Sekretion des hypophysären Wachstumshormons (STH) ist durch das HPL sowie einer Variante des Wachstumshormons plazentaren Ursprungs in seiner Freisetzung unterdrückt, die Produktion setzt im Rahmen des Wochenbetts wieder ein. Die Menge an adrenokortikotropem Hormon (ACTH), Kortisol und Corticotropin-relaeasing-Hormon (CRH) nimmt im Verlauf der Schwangerschaft weiter zu. Ein Teil dieser Hormone, wie insbesondere CRH, wird in erheblichen Mengen von der Plazenta gebildet und an den mütterlichen Blutkreislauf abgegeben. Die Sekretion des Thyreotropins (TSH) ist im 1. Trimenon HCG-bedingt leicht vermindert, in der restlichen Schwangerschaft aber gegenüber dem nichtschwangeren Zustand unverändert.
Studienbox Der Hypophysenhinterlappen ist während der Gravidität nicht an einer gesteigerten Hormonsekretion beteiligt; so konnte kein Anstieg des für die Wehentätigkeit wichtigen Oxytozins nachgewiesen werden (Fuchs et al. 1984).
Die Vasopressinfreisetzung sowie der osmotische Schwellenwert für Durst sinken während der Schwangerschaft. Das melanotrope Hormon (MSH) steigt erst im letzten Trimenon und kann derzeit nicht als Erklärung für die im 1. Trimenon beginnende Hyperpigmentierung der Haut herangezogen werden.
In der normal verlaufenden Schwangerschaft wird der Grundumsatz der Schilddrüse zwar um 20% gesteigert, die Euthyreose bleibt jedoch bestehen. Es kommt lediglich zu einer geringen Vergrößerung der Schilddrüse, die einerseits durch die Hyperplasie des Drüsengewebes, andererseits durch eine vermehrte Vaskularisierung bedingt ist (Glinoer et al. 1990). Die Schilddrüsenhormonproduktion der Mutter steigt an (Soldin et al. 2004). Die 3 wichtigsten Veränderungen der Schilddrüsenfunktion sind: 4 Erhöhung des zirkulierenden thyroxinbindenden Globulins (TBG), 4 schilddrüsenstimulierende Faktoren, v. a. plazentaren Ursprungs sowie β-HCG, 4 verringerte Mengen an Iodid für die mütterliche Schilddrüse. Die durch Östrogene induzierte Konzentrationserhöhung des TBG führt zu einem Anstieg der absoluten T3- und T4-Werte, ohne dass das freie T3 und T4 ansteigt. Das in der Frühschwangerschaft erhöhte, thyreotropinähnlich wirkende HCG bewirkt eine Stimulierung der mütterlichen Schilddrüse. Die Produktion von TSH ist aufgrund des negativen Feedbacks vermindert. In der Spätschwangerschaft kommt es dann zu einem relativen Absinken der Menge an freiem Schilddrüsenhormon, zu einem Sinken des HCG-Spiegels und somit zu einem TSH-Anstieg. > Die Vermehrung des Flüssigkeitsvolumens, die gesteigerte glomäruläre Filtration sowie der fetale Bedarf führen zu einem relativen Iodmangel, der wiederum eine Vergrößerung der Schilddrüse um bis zu 20% bedingt (Glinoer 1993). Im 1. Jahr nach der Geburt dürfte es bei bis zu 10% der Mütter zu einer Dysfunktion der Schilddrüse kommen, die mit Depression und Energielosigkeit einhergeht (Learoyd et al. 1992).
T3 und T4 spielen eine bedeutende Rolle in der Entwicklung des fetalen Nervensystems. Fetales Schilddrüsengewebe zeigt Funktion ab der 12. SSW und ist in der 18.–20. SSW voll funktionsfähig. Bis dahin ist der Fetus auf maternalen Hormontransfer angewiesen, ebenso wie der Fetus durch die gesamte Schwangerschaft Iodzufuhr benötigt. Ab ca. der 16.–18. SSW ist die fetale Schilddrüse empfindlich für transferierte maternale Antikörper oder Medikamente (Glinoer 2001). Das in der Nebenschilddrüse produzierte Parathormon führt infolge des erhöhten Bedarfs im letzten Trimenon (erhöhter Kalziumbedarf der Mutter, Laktation, Fetus) zu einer funktionellen Hypertrophie dieser Drüsen. Das freie Kalzium bleibt im Serum unverändert, das gebundene sinkt jedoch leicht ab. > Für den Knochenstoffwechsel spielen v. a. 1,25-Dihydroxy-Vitamin D3, Parathormon sowie Östrogen eine große Rolle.
Die mütterliche Nebennierenrinde, und zwar besonders die Zona fasciculata, dürfte in die Adaptationsvorgänge der Gravidität besonders eingebunden sein. Eine Vorstufe der Mineralokortikoide, das Plasma-11-Desoxykortikosteron, steigt in der Schwangerschaft kontinuierlich an; die Ursache könnte in
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188
11
Kapitel 11 · Physiologie des mütterlichen Organismus
einer Stimulierung über die fetoplazentare Einheit zu finden sein. Aldosteron nimmt in seiner Plasmakonzentration in der 21.–24. SSW und der 28.–32. SSW ab und sinkt damit parallel zum Progesteron. Man nimmt an, dass Progesteron direkt die Aldosteronfreisetzung beeinflusst. Bei den Glukokortikoiden erhöht sich das Plasmakortisol bis zum Ende der Schwangerschaft um das Doppelte und steigt während der Geburt sogar um das 2,5Fache an. Einerseits steigt das östrogeninduzierte Transportglobulin, andererseits könnte eine Ursache in der Erhöhung der mütterlichen ACTH-Sekretion zu finden sein. Der gesteigerte Anteil an freiem Kortisol könnte auch die Ursache der Striae distensae sein. Der Hauptanteil des in der Schwangerschaft benötigten Progesterons wird nicht in der mütterlichen Nebennierenrinde, sondern in der Plazenta selbst produziert und an den mütterlichen und fetalen Kreislauf abgegeben. Dieses Hormon ist an zahlreichen adaptierenden Vorgängen beteiligt, so z. B. an der Ruhigstellung der glatten Muskulatur am Uterus und im Gastrointestinaltrakt. Ein ganz besonders aktives endokrines Organ ist die Plazenta. Sie spielt eine sehr wichtige Rolle bei der Adaptation sowie Regulation von Stoffwechselvorgängen im mütterlichen Organismus und ist für die adäquate Versorgung des Fetus verantwortlich. Die Plazenta produziert eine Vielzahl von Steroidhormonen und Polypeptid- bzw. Proteinhormonen. Die Peptid- und Proteinhormone der menschlichen Plazenta weisen durch strukturelle sowie auch funktionelle Merkmale große Ähnlichkeit mit Substanzen des Hypothalamus, wie den Releasingfaktoren, sowie auch mit Hormonen des Hypophysenvorderlappens auf. Eine plazentare Variante des Wachstumshormons (Patel et al. 1995) führt im letzten Trimenon zu einer fast vollständigen Supression der Sekretion des hypophysären Wachstumshormons; das im mütterlichen Blut zirkulierende Wachstumshormon ist fast ausschließlich plazentaren Ursprungs. In Bezug auf die Rezeptorbindung und biologischen Eigenschaften besteht große Ähnlichkeit zwischen dem hypophysären und dem plazentaren Wachstumshormon. Das plazentare Wachstumshormon ist zusammen mit dem HPL für schwangerschaftsspezifische Umstellungen im intermediären Stoffwechsel der mütterlichen Gewebe wie einer gesteigerten Insulinresistenz und einer vermehrten Lipolyse in der Spätschwangerschaft verantwortlich. Einen Überblick über physiologische Veränderungen in der Schwangerschaft gibt . Tab. 11.4.
11.11
Psychische Veränderungen
Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett führen im Leben einer Frau zu einer Vielzahl von tiefgreifenden Veränderungen biologischer, psychischer und sozialer Natur, die in einem relativ kurzen Zeitraum zu bewältigen sind. Dies kann gelegentlich zu einer ausgeprägten Reifungs- und Entwicklungskrise führen.
Im Rahmen der Frühschwangerschaft kommt es zu teilweise auch hormonell bedingten Veränderungen des vegetativen Nervensystems mit unterschiedlichem Ausprägungsgrad. Die Symptome können vielfältig sein; häufig werden Schlafstörungen, Antriebsminderung und Veränderungen der Stimmungslage im Sinn einer Depression beschrieben, oft einhergehend mit schlechtem Allgemeinbefinden. Es gibt Hypothesen zum Einfluss physischen und psychischen Stresses der Mutter auf Frühgeburtlichkeit, Geburtsgewicht und frühkindliche Entwicklung, vermittelt über plazentares und maternales CRH, erhöhte Katecholamine und uterine Perfusionsveränderungen (Halbreich 2005). Das 1. und 2. Trimenon sind fast immer von intensiven Emotionen und widersprüchlichen Gefühlen begleitet, die eine adäquate Antwort auf die unterschiedlichen Belastungen sind. In diesem Zusammenhang ist es besonders wichtig, die Frau und ihren Partner auf den normalen Charakter dieser Ambivalenz hinzuweisen, um etwaigen Konflikten im Vorhinein entgegenzuwirken. In psychischen Ausnahmesituationen, wie Verlust des Partners, ungewollte Schwangerschaft, sehr junge Schwangere, jahrelanger Kinderwunsch u. a., kann es sogar zum Wunsch der Beendigung der Schwangerschaft kommen. Dies lässt sich durch die Sorge und Angst vor der zukünftigen ungewissen Entwicklung sowie durch eine unbewusste Ablehnung der Schwangerschaft erklären. Man nimmt an, dass v. a. auch die Vorstellung von Schwierigkeiten bei der bevorstehenden Geburt zu den Reaktionen Anlass gibt. > Im 2. Trimenon der Schwangerschaft ist das Wohlbefinden der schwangeren Frau besonders ausgeprägt, und in diesem Zeitabschnitt besteht auch ein hohes Maß an körperlicher Leistungsfähigkeit.
In der Spätschwangerschaft kommt es durch das Spüren der kindlichen Bewegungen, aber auch durch die Visualisierung des Kindes im Ultraschall (Langer et al. 1988) zu einer Stabilisierung der seelischen Befindlichkeit der werdenden Mutter (Stauber 1986). In dieser Phase ist dann auch eine verstärkte seelische Bindung an das Baby zu beobachten, die bis zu einem gewissen Grad mit einer Introversion verbunden ist. Ängste vor der nahenden Geburt modifizieren sich auch in Abhängigkeit von vorausgegangenen positiven oder negativen Geburtserlebnissen. > Die enge Verbindung mit dem noch Ungeborenen ist für die Partnerbeziehung eine oft sehr schwierige Phase, da sie eine Umorientierung und Neuordnung der Familie bedingt. Die Frau erwartet in dieser Situation eine besonders starke emotionelle Unterstützung durch ihren Partner.
Während der Entbindung ist die Frau der größten psychischen Belastung ausgesetzt, da sie mit massiven Ängsten den kommenden Ereignissen, v. a. der einsetzenden Wehentätigkeit, entgegensieht. Aus dieser Furcht ergibt sich das von Grantly beschriebene Syndrom aus Angst, Spannung und Schmerz, das auf den Verlauf der Geburt einen ungünstigen Einfluss nehmen kann. Hier ist es von besonderer Wichtigkeit, der Schwangeren schon im letzten Trimenon eine gute Geburtsvorbereitung anzuraten.
189 11.11 · Psychische Veränderungen
. Tab. 11.4. Physiologische Veränderungen in der Schwangerschaft
. Tab. 11.4 (Fortsetzung)
Parameter
Parameter
Veränderung
Blut
Veränderung
Laborwerte
Hämoglobin
Fällt
Albumin
Fällt
Hämatokrit
Fällt
Bikarbonat
Fällt
Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit (BSG)
Steigt
Cholesterol
Steigt
Glukose
Variabel
Folsäure
Fällt Harnstoff
Fällt
Eisen
Fällt Harnsäure
Fällt
Transferrin
Steigt Ionisiertes Kalzium
Unverändert
Blutvolumen
Steigt Totales Kalzium
Fällt
Plasmavolumen
Steigt Kreatinin
Fällt
Viskosität
Fällt Leberenzyme
Unverändert
Triglyzeride
Steigen
Herz, Kreislauf Blutdruck
Fällt und kehrt zum Ausgangswert zurück
Hormone
Herzminutenvolumen
Steigt
ACTH
Steigt
Herzfrequenz
Steigt
Aldosteron
Steigt
Hirndurchblutung
Unverändert
Calcitonin
Unverändert
Brustdurchblutung
Steigt
Kortisol
Steigt
Verdauungstrakt
Steigt gering
FSH
Fällt
Nierendurchblutung
Steigt
HCG
Steigt
Gebärmutterdurchblutung
Steigt
HGH
Fällt
Totaler peripherer Gefäßwiderstand
Sinkt
HPL
Steigt
Katecholamine
Unverändert, geringes Ansteigen
Prolaktin
Steigt
Relaxin
Steigt
TBG
Steigt
Gesamt-T4
Steigt
Freies T4
Unverändert
TSH
Früher Abfall, dann Wiederanstieg
Niere Glomeruläre Filtrationsrate (GFR)
Steigt
Kreatininclearance
Steigt
Renin und Angiotensin
Steigen
Ureterperistaltik
Fällt
Lunge Atemzugvolumen
Steigt
Atemfrequenz
Unverändert
Funktionelles Residualvolumen
Fällt
Arterieller pCO2
Fällt
Arterieller pO2
Steigt
11
190
Kapitel 11 · Physiologie des mütterlichen Organismus
Kommt es jedoch trotzdem zu dem beschriebenen Circulus vitiosus, so kann man z. B. durch eine Periduralanästhesie den gewünschten Erfolg hinsichtlich der Entspannung erreichen. > Als Regression der Gebärenden wird jene Verhaltensweise aus der Kindheit bezeichnet, durch welche die Frau Geborgenheit und Schutz beim betreuenden Personal sucht und sich durch »Klammern« an in der Nähe befindliche Personen Halt verschafft. So lässt sich auch die gut beeinflussbare Beziehung zwischen Gebärender sowie Hebamme und Arzt erklären, die mithilft, die Geburt positiv zu beeinflussen.
Retrospektiv betrachtet ist das größte Glückserlebnis für die Mutter die Geburt ihres Kindes, die damit vollbrachte Leistung sowie die erste Kontaktaufnahme mit dem Neugeborenen. Die Schmerzerlebnisse unter der Geburt sind vergessen und werden durch ein möglichst ungestörtes Kennenlernen (»bonding«) ersetzt. Vor allem für Eltern mit ambivalenten Gefühlen kann dieser Zeitraum bedeutsam sein. > Zur Förderung der Mutter-Kind-Beziehung ist das frühe Anlegen an die Mutterbrust besonders wichtig.
11
Während des Wochenbetts kommen zu den Gefühlen der Freude und des Stolzes wiederum Ängste im Sinn der Ambivalenz (Insuffizienzgefühle, Enttäuschungen etc.) hinzu. »Heultage« im Sinn der Entlastung nach der Geburt sind nicht selten und werden von den Müttern als besonders unangenehm bzw. lächerlich empfunden. Auch hier ist es wichtig, der Frau die Bestätigung zu geben, dass diese Gefühle normal sind und ohne Scham erlebt werden sollen. > Insgesamt beeinflussen Faktoren wie Alter, Parität, sozioökonomischer Status, Berufstätigkeit, Beziehungsstatus, Schwangerschaftsplanung und vorherige Geburtserfahrungen das psychische und emotionale Erleben und Verarbeiten einer Gravidität.
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11
12 12 Schwangerenvorsorge K. Vetter, M. Goeckenjan 12.1
Grundlagen der Schwangerenvorsorge – 194
12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.1.4
Bedeutung des Vorsorgekonzepts im Rahmen der Präventivmedizin – 194 Gesetzliche Regelungen – 194 Geschichte der Schwangerenvorsorge – 195 Internationaler Vergleich – 196
12.2
Ärztliche Beratung und Betreuung in der Schwangerschaft – 196
12.2.1 12.2.2 12.2.3
12.2.8
Erwartungen der Schwangeren an die Schwangerenvorsorge – 196 Präkonzeptionelle Beratung – 197 Diagnose der Schwangerschaft und Festlegung des errechneten Entbindungstermins – 198 Anamnese – 199 Untersuchungsmethoden – 199 Empfohlenes Vorgehen in der Schwangerschaft – 203 Beratung zu gesundheitlich relevanten Themen in der Schwangerschaft – 203 Risikoadaptiertes Vorgehen in der Schwangerschaft – 205
12.3
Daten aus Deutschland – 208
12.3.1 12.3.2
Akzeptanz der Schwangerenvorsorge – 208 Wandel der Mutterschafts-Richtlinien – 209
12.2.4 12.2.5 12.2.6 12.2.7
Literatur – 209
H. Schneider et al. (eds.), Die Geburtshilfe © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
194
Kapitel 12 · Schwangerenvorsorge
Schwangerenvorsorge umfasst neben einer Begleitung und Gesundheitsberatung sowohl die Prävention als auch das rechtzeitige Erkennen von Erkrankungen, die Risiken für Mutter und Kind bergen. Ziel der gesetzlichen, durch die MutterschaftsRichtlinien in Deutschland geregelten Strukturierung der Schwangerenvorsorge ist die flächendeckende standardisierte und optimierte Betreuung von Schwangeren. Die Betreuung soll kontinuierlich und durch eine oder wenige Bezugspersonen erfolgen, um eine tragende Beziehung zwischen der Schwangeren und der Vorsorgeeinrichtung zu ermöglichen. In Deutschland ist die Verzahnung von verschiedenen Versorgungsinstanzen wie niedergelassenen Ärzten, Hebammen und Geburtskliniken sowie der außerklinischen Geburtshilfe ein Kennzeichen der geburtshilflichen Versorgungsstruktur. Zumeist erfolgt die Schwangerenberatung durch niedergelassene Frauenärzte. Möglich ist die Schwangerenvorsorge aber auch durch Hebammen, die Untersuchungen im Umfang ihrer beruflichen Befugnisse bei Schwangeren ohne bekanntes Risiko durchführen können. Die Instrumente der Schwangerenvorsorge sind vielfältig und reichen von Anamnese und Beratung über klinische Untersuchung, Labordiagnostik, sonographische Diagnostik, spezielle Diagnostik in der Schwangerschaft bis hin zu invasiven diagnostischen Techniken wie z. B. einer Amniozentese. Die vorgeschriebenen Untersuchungen werden von den gesetzlichen Krankenund Ersatzkassen, aber auch von Krankenversicherungen getragen. Notiert werden die Befunde im standardisierten Mutterpass der KBV (Kassenärztliche Bundesvereinigung).
12
12.1
Grundlagen der Schwangerenvorsorge
12.1.1
Bedeutung des Vorsorgekonzepts im Rahmen der Präventivmedizin
Das medizinische Vorsorgekonzept in der Schwangerschaft besteht aus Information und individueller Beratung sowie Screening, Diagnostik und Therapie. Bei der Gesundheitsvorsorge – wie der Schwangerenbetreuung – stehen Information und Beratung zunächst im Vordergrund der Konsultation. Je nach Bedarf sind zusätzlich ergänzende Beratungsinstanzen, z. B. Sozialdienst, Psychologen, psychosoziale Beratungsstellen oder Drogenberatungsstellen, in die Versorgung zu integrieren.
Screening > Die Reihenuntersuchung von Schwangeren zur Erhebung des Gesundheitszustandes zielt auf das Erkennen oder den Ausschluss behandlungsrelevanter Risiken. Das Vorsorgekonzept umfasst zeitlich abgestuft diagnostische Leistungen, um mögliche Risiken zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Schwangerschaft erkennen zu können.
Voraussetzungen für einen Screeningtest 4 Frühe Erfassung des Problems 4 Hohe Erkennungsrate – hohe Sensitivität: RP/(RP+FN) 4 Niedrige Rate falsch positiver Resultate – hohe Spezifität: RN/(RN+FP) 4 Sicherheit 4 Kosten – Effizienz (RP richtig positiv, FP falsch positiv, RN richtig negativ, FN falsch negativ)
Screeningmethoden gelten dann als effektiv, wenn durch ihren Einsatz eine Unterscheidung zwischen normalen und pathologischen Befunden möglich ist und zudem das Erkennen des erhöhten Risikos mit einer angepassten Betreuung beantwortet werden kann. Einfache und schnell durchzuführende Untersuchungen, die ein Risiko erkennen lassen, sind neben Urinanalyse und Blutdruckmessung weitere effektive Screeningmethoden im Rahmen der Schwangerenbetreuung, wie die Antikörperbestimmungen bei Rhesuskonstellation, das Screening für behandelbare Infektionserkrankungen oder der sonographische Fehlbildungsausschluss.
Diagnose und Therapie Nach der Feststellung von Risiken schließen sich gezielte Diagnostik und Therapie an. Als Beispiele dafür zählen: 4 Antibiotikatherapie nach positivem Infektionsscreening auf pathogene Keime im Urogenitaltrakt, 4 Überwachung und ggf. Entbindung bei hypertensiver Schwangerschaftserkrankung, 4 intrauterine Bluttransfusion bei fetaler Anämie, 4 individuelle Geburtsplanung bei behandelbaren oder kritischen fetalen Fehlbildungen an einer dafür qualifizierten Klinik wie einem Perinatalzentrum.
12.1.2
Gesetzliche Regelungen
Für Deutschland existieren Mutterschafts-Richtlinien, in denen Art und Ausmaß der Versorgung in der Schwangerschaft und nach der Entbindung geregelt werden, diese sind rechtlich bindend. Damit stehen sie rechtlich auf einer anderen Stufe als die in den letzten Jahren zunehmend in Konsensusverfahren von Klinikern, Methodikern, Vertretern der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und Repräsentanten der ärztlichen Selbstverwaltung entstandenen Empfehlungen und Leitlinien, die einen Handlungskorridor beschreiben, von dem im individuellen Fall begründet abgewichen werden kann (www.dggg.de; www.awmf-online.de). Die Mutterschafts-Richtlinien werden derzeit vom Gemeinsamen Bundesausschuss der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der Krankenkassen verantwortet. Sie sind unter dem Titel »Richtlinien über die ärztliche Betreuung während der Schwangerschaft und nach der Entbindung (Mutterschafts-Richtlinien)« veröffentlicht (www.g-ba.de/ informationen/richtlinien/19/).
195 12.1 · Grundlagen der Schwangerenvorsorge
Es ist das Ziel, Risikoschwangerschaften und Risikogeburten frühzeitig zu erkennen und die weitere ärztliche Betreuung risikoadaptiert durchzuführen: »Es sollen nur Maßnahmen angewendet werden, deren diagnostischer und vorbeugender Wert ausreichend gesichert ist (…).« (ebd.) Bereits in der Reichsversicherungsordnung vom 19. Juli 1911 wurden Vorschriften über die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen bei Schwangerschaft und Mutterschaft geregelt (§§ 195–200b RVO). Durch diese Vorschriften wird bis heute die Leistungspflicht der Krankenkassen in der Schwangerschaft und der Mutterschaft im Gegensatz zu anderen Leistungspflichten, die Krankheitszustände betreffen, besonders hervorgehoben. Die versicherte Schwangere hat einen Anspruch auf ärztliche Betreuung, Hebammenhilfe und Krankenhausbehandlung. Im § 200 RVO werden die gesetzlichen Schutzfristen geregelt sowie die Höhe und der Pflichtzuschuss des Arbeitgebers zum Mutterschaftsgeld. Mit Hilfe der ärztlich initiierten Qualitätssicherung wurde zunächst auf Kammerebene und seit 1986 deutschlandweit der Versuch gestartet, die perinatalmedizinische Versorgung methodisch zu evaluieren und zu verbessern. Dieses Instrument ermöglichte es erstmals, die Qualität und den Versorgungsstandard bezüglich Beratung und Betreuung in der Schwangerschaft und während der Geburt flächendeckend und transparent zu vergleichen. Gemeinsame jährliche Konferenzen in München ermöglichten einen Qualitätsabgleich auf nationaler Ebene. Den Bögen der Perinatalerhebung ist z. B. zu entnehmen, wie viele Frauen die Schwangerenvorsorge in Anspruch nehmen. Kritisch zu erwähnen ist die lange Latenz, mit der neue Erkenntnisse in den Mutterschafts-Richtlinien umgesetzt werden können. Der Gemeinsame Bundesausschuss, im Internet unter www.g-ba.de/ präsent, führt regelmäßig Sitzungen durch. Aktuelle Themen der letzten Sitzungen und Beschlüsse waren: Diskussion der Einführung eines Gestationsdiabetesscreenings, Empfehlung der HIV-Testung in der Schwangerschaft sowie die Aufnahme der Beurteilung der Chorionizität bei Mehrlingsschwangerschaften mittels Sonographie in die Mutterschafts-Richtlinien im März 2008. Regelmäßig werden diese Aktualisierungen veröffentlicht und durch ärztliche Publikationsorgane wie das Deutsche Ärzteblatt und Fachzeitschriften publik gemacht.
12.1.3
Geschichte der Schwangerenvorsorge
Eine systematische Schwangerenberatung wurde schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts in Deutschland eingeführt. Besonders Döderlein hat sich um den Aufbau einer Schwangerenvorsorge verdient gemacht. In Deutschland empfahl er als »Vorschläge für eine gesetzliche Regelung der ärztlichen Überwachung der Schwangeren« schon 1941 standardisierte Beratung und Untersuchungen sowie die Anlage einer Karteikarte. Seit 1966 ist die Schwangerenvorsorge Leistung der gesetzlichen Krankenkassen, 1968 wurde in Westdeutschland der Mutterpass (. Abb. 12.1) und in der DDR der Schwanger-
. Abb. 12.1. Ein deutscher Mutterpass
schaftsausweis eingeführt. Der Mutterpass dient der standardisierten und transportablen Dokumentation der Vorsorgeuntersuchungen. Er gibt Auskunft über die Ergebnisse durchgeführter Untersuchungen im Rahmen der Mutterschaftsvorsorge, wie Blutgruppe, Rhesusfaktor, Rötelntiter sowie über weiterführende Diagnostik wie z. B. Ultraschall und CTG. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte zeigt eine Erweiterung der Ziele der Schwangerschaftsvorsorge ausgehend von einer Verminderung der mütterlichen und kindlichen Mortalität zur Verringerung der mütterlichen Morbidität und der ungestörten Entwicklu ngsfähigkeit des Kindes bis hin zur verbesserten individuellen Beratung und Betreuung der schwangeren Frau im Hinblick auf die familiäre Zufriedenheit (. Abb. 12.2). Nicht nur die technischen Entwicklungen und veränderten Überwachungsmöglichkeiten während der Geburt haben mütterliche und kindliche Morbidität und Mortalität im letzten Jahrhundert entscheidend positiv beeinflusst, sondern auch und gerade die verbesserte pränatale Überwachung der Schwangeren, die Abschätzung von Risikofaktoren für Schwangerschaft und Geburt und die Behandlung z. B. von Infektionskrankheiten sowie Präventionsmaßnahmen wie Impfungen, Anti-D-Prophylaxe etc.
12
196
Kapitel 12 · Schwangerenvorsorge
. Abb. 12.2. Entwicklung der Ziele von Schwangerschaftsvorsorge seit 1900
12.1.4
12
Internationaler Vergleich
Internationales Prinzip der effektiven Schwangerenvorsorge ist eine barrierefreie, überall gut verfügbare und kostenlose Versorgung wie in vielen europäischen Ländern (neben Deutschland z. B. Dänemark, Frankreich, Irland, Großbritannien) oder ohne Selbstbeteiligung (Norwegen). Die Anzahl der empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen variiert in den einzelnen Ländern. So umfasst die Routineschwangerenvorsorge in Großbritannien 7–9 Termine, während vom ACOG (American College of Obstetricians and Gynecologists) 12 Termine vorgeschlagen werden. Für Europa wird ein gemeinsamer Minimalkonsens gefordert, bislang variieren die nationalen Vorgaben für die Schwangerenvorsorgekonzepte stark (Bernloehr et al. 2005).
Studienbox Die Beurteilung der Evidenz verschiedener Aspekte der Schwangerenvorsorge ist schwierig. Dass sie mit einer Senkung der perinatalen Mortalität und Morbidität für Mutter und Kind einhergeht, ist eine theoretische Annahme. Zeitgleich mit der Einführung z. B. in Deutschland, Großbritannien und USA ist es zu einer Reduktion der mütterlichen und fetalen Mortalität gekommen. Die Form der Schwangerenvorsorge und die Anzahl der Untersuchungen sind jedoch in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich. Die Cochrane-Übersicht von Villar et al. (2004) über die Schwangerenvorsorge bei Schwangeren mit niedrigem Risiko beschäftigt sich mit den möglichen Auswirkungen einer Reduktion der Anzahl der Vorsorgetermine. Die Übersicht über 10 kontrolliert randomisierte Studien in verschiedenen Ländern zeigt, dass eine Reduktion von Vorsorgeterminen nicht mit einem nachweisbar schlechteren mütterlichen oder perinatalen Ergebnis verbunden ist, dass jedoch bei vielen Frauen die Zufriedenheit mit der Betreuung abnimmt. Die Effizienz der Vorsorge scheint weniger von der Frequenz der Untersuchungen als vielmehr vom Einsatz geeigneter Maßnahmen zu Prophylaxe und Erkennung einer Risikoschwangerschaft ab-
6
zuhängen. Versuche, flexible Vorgaben für die Vorsorge in einer risikoarmen Schwangerschaft zu entwerfen, führten zwar zu möglichen Einsparung von Terminen und somit Kosten, aber auch häufiger zu Unsicherheiten bei der Schwangeren (Jewell et al. 2000).
Ein Vergleich der deutschsprachigen Länder Deutschland, Österreich und Schweiz zeigt, dass die Schwangerenvorsorge nicht generell so klar gesetzlich geregelt ist wie in Deutschland. In Österreich gibt der kombinierte Mutter-Kind-Pass die Vorsorgeuntersuchungen in Schwangerschaft und Kindheit vor. Das Kinderbetreuungsgeld (entsprechend dem deutschen Erziehungsgeld) ist an eine Mindestanzahl von Vorsorgeuntersuchungen für Schwangere und Kind gekoppelt. In der Schweiz existiert kein einheitlicher Mutterpass, 7 geplante Konsultationen sind in der Schwangerschaft vorgesehen sowie ein postpartaler Kontrolltermin. Die Kantone regeln die Schwangerenvorsorge jedoch regional. An der Universitätsfrauenklinik Zürich wurde der Versuch gestartet, die Daten der Schwangerenvorsorgeuntersuchungen inklusive Ultraschalldokumentation, Geburt und Wochenbett sowie Informationen für die Schwangere im pdf-Format auf einer USB-Speicherkarte zu sammeln und somit sowohl für die betreuenden Institutionen als auch für die Schwangere leicht verfügbar und aktualisierbar zu machen (Zimmermann 2005).
12.2
Ärztliche Beratung und Betreuung in der Schwangerschaft
12.2.1
Erwartungen der Schwangeren an die Schwangerenvorsorge
Die Rolle der Frau wandelt sich in der Schwangerschaft, besonders bei der ersten Geburt, von der häufig berufstätigen unabhängigen und selbstbestimmten Frau zur Mutter. Aber auch bei Mehrgebärenden ändern sich Lebenssituation und Anforderungen deutlich. Aus diesem Rollenwechsel ergeben sich viele Fragen, die in einem angemessenen persönlichen Kontakt mit dem Frauenarzt zur Sprache kommen können.
197 12.2 · Ärztliche Beratung und Betreuung in der Schwangerschaft
Die Vermittlung von Wissen über Schwangerschaft und Geburt ist genauso wichtig wie die Betonung eines Gesundheitsbewusstseins für Mutter und Kind bzw. die Familie.
Studienbox Die Erwartungen, die Frauen an die Betreuung während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett stellen, sind – angelehnt an die österreichische Studie von Wimmer-Puchinger (1994) – elementar und beinhalten: 4 gründliche und verständliche Informationsvermittlung, 4 Verständnis und Akzeptanz der jeweiligen Lebenssituation der Frau, 4 freundliche und verständliche Betreuung, 4 möglichst kontinuierliche Betreuung während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett, 4 effiziente Ablauforganisation und kurze Ambulanzwartezeiten bei Untersuchungen, 4 Respekt vor der Intimität der Frau, 4 längere Gesprächszeiten, 4 kompetente Unterstützung bei Problemen, 4 Beratung und Unterstützung zum allgemeinen Gesundheitsverhalten, 4 Vermittlung und Beratung bezüglich des Geburtsorts.
Einige ergänzende, jedoch nicht wissenschaftlich validierte Programme zur Vorsorge sind in den letzten Jahren in Deutschland entstanden. So bietet beispielsweise das vom Berufsverband der Frauenärzte in Deutschland und von der AOK empfohlene »BabyCare« ein umfassendes Vorsorgeprogramm für Schwangere in Ergänzung zur üblichen Schwangerenvorsorge an: von der besonderen Ernährungsberatung bis hin zur Entspannungsmusik. Auch das Internet bietet Schwangeren diverse Möglichkeiten, sich zu informieren und in Foren auszutauschen (exemplarisch als ärztlich supervidierte Informationsseite: www.swissmom.ch/).
12.2.2
Präkonzeptionelle Beratung
Ziel der präkonzeptionellen Beratung ist die Reduktion der mütterlichen und kindlichen Morbidität und Mortalität, genau so wie die Vermeidung medizinisch indizierter Schwangerschaftsabbrüche. Schwerpunkte präkonzeptioneller Gesundheitsfürsorge (in Anlehnung an Jack u. Culpepper 1990) 4 Systematische Diagnostik präkonzeptioneller Risiken bei allen fertilen Frauen (Familien- und Eigenanamnese, gynäkologische und soziale Anamnese, Allgemeinzustand, Sucht- und Arzneimitteleinnahme) 4 Risikoorientierte Aufklärung und Beratung
6
4 Einschätzung des potenziellen Risikos einer Schwangerschaft für Mutter und Kind bei vorbestehenden Erkrankungen 4 Genetische Beratung und Diagnostik 4 Immunstatus und Impfschutz (Röteln, Hepatitis) 4 Ernährung und gesunde Lebensweise 4 Soziale, finanzielle und psychologische Aspekte 4 Wahl des Schwangerschaftszeitpunktes und der Kontrazeption 4 Frühzeitige und kontinuierliche Schwangerenvorsorge und gezielte risikoorientierte Betreuung
Die Phase vor dem gewollten Eintreten der Schwangerschaft ist eine sensible Phase für die Gesundheitserziehung. Viele Paare, die ihren Kinderwunsch bewusst realisieren wollen, sind bereit, sich gesundheitlich und sozial ganz auf die neuen Lebensumstände einzulassen. So lässt sich mit dem Einstellen von gesundheitsschädigenden Angewohnheiten wie dem Rauchen, dem Alkoholkonsum oder der unnötigen Einnahme von Medikamenten die Rate an Fehlbildungen und intrauterinen Wachstumsrestriktionen vermindern. Ein gut durchdachtes Konzept ist die Initiative »Rauchfrei in der Schwangerschaft«, z. B. als Broschüre angeboten von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (http://www.rauchfrei-info.de/). Auch die bewusste, konstruktive Aufklärung über Risiken der Adipositas im Rahmen der Schwangerschaft für Mutter und Kind kann die Frau motivieren, präkonzeptionell Gewicht zu verlieren. Dabei ist es wichtig, individuelle Befürchtungen und Ängste der Frau zu berücksichtigen.
Studienbox Ein Beispiel für die effektive Prävention von fetalen Fehlbildungen durch Ernährungsberatung ist die perikonzeptionelle Folsäuresubstitution mit 0,4 mg/Tag mit einer konsekutiven Reduktion von Neuralrohrdefekten um 70– 100% (Wild et al. 1997). Trotz der Aufklärung über diese effektive Maßnahme konnte die Inzidenz von Neuralrohrdefekten in Europa noch nicht eindeutig gesenkt werden. Wahrscheinlich lässt sich dies erst durch eine flächendeckende Folsäureergänzung zu Grundnahrungsmitteln erzielen (Busby et al. 2005).
Die Schwangerschaft bedeutet eine erhöhte hämodynamische Belastung und Stoffwechselanforderung für den Organismus der Mutter. Bei vorbestehenden Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Asthma bronchiale und Herzerkrankungen sollte eine Schwangerschaft geplant und unter möglichst optimaler medikamentöser Therapie eintreten. Aufgrund der steigenden Lebenserwartung auch von Frauen mit systemischen Erkrankungen, die früher selten das fertile Lebensalter erreicht haben, können heute auch Frauen mit Erkrankungen wie einer Mukoviszidose oder schweren angeborenen Herzfehlern bzw. nach einer Transplantation geplant schwanger werden. Dabei gilt es, die besonderen Charakteristika dieser Erkrankungen
12
198
Kapitel 12 · Schwangerenvorsorge
zu kennen und bei Bedarf gezielt therapeutisch zu intervenieren. Dies kann nur in besonderen Risikosprechstunden oder Zentren mit Erfahrung und interdisziplinärer Zusammenarbeit garantiert werden. Ein wichtiger Bestandteil der präkonzeptionellen Beratung ist die genetische Beratung und Diagnostik. In einer Sprechstunde der Humangenetik erfolgt eine individuelle Beratung zu verschiedenen konkreten Fragestellungen. Gründe für die Beratung könnten sein: 4 Trisomie 18 beim ersten Kind, 4 komplexes Fehlbildungssyndrom bei der Schwester der Mutter. Auch die Beratung bei habitueller Abortneigung gehört zur präkonzeptionellen Beratung. Bei Antiphospholipidantikörpersyndrom, Autoimmunerkrankungen und thrombophilen Risiken in Form von Gerinnungsstörungen wie Faktor-V-Leiden-Mutation oder Protein-S-Mangel soll während der Schwangerschaft eine gezielte Therapie erfolgen.
12.2.3
12
Diagnose der Schwangerschaft und Festlegung des errechneten Entbindungstermins
Schon in den ersten Wochen der Schwangerschaft bemerken viele Schwangere die physiologische Anpassung des Körpers. Häufig sind eine Zunahme des Brustumfangs, Übelkeit und Müdigkeit erste subjektive Schwangerschaftszeichen. Die hormonelle Umstellung mit Überwiegen der endogenen Gestagene in der Frühschwangerschaft kann schon früh zu vermehrtem Harndrang, Verstopfung und vermehrter Ödembildung führen. Das Ausbleiben der Menstruationsblutung führt heute üblicherweise zur Bestätigung der Schwangerschaft mittels Urin-HCG-Test. Die leichte Verfügbarkeit und verlässliche Qualität der Tests hat zu einer deutlich früheren Schwangerschaftsfeststellung in den letzten Jahrzehnten geführt. Nur bei nicht kohärenten Befunden wie persistierender Blutung oder unklarem sonographischem Befund wird eine HCG-Bestimmung im Serum durchgeführt. Diese ist quantitativ und sensitiver als die Bestimmung im Urin und wird schon 8– 10 Tage nach Konzeption positiv. Die vaginale Ultraschalluntersuchung gehört heute zur Routine bei der Feststellung der Schwangerschaft, wobei besonders die Lokalisation der Schwangerschaft, die Vitalität des Embryos sowie die Größe von Fruchthöhle und Embryo von Bedeutung sind. Klassische Schwangerschaftszeichen wie Lividität der Portio und des Introitus oder die tastbare Auflockerung und Vergrößerung des Uterus sind durch Ultraschalluntersuchungen in den Hintergrund getreten. Die Berechnung des Schwangerschaftsalters und somit des »errechneten Termins« für die Entbindung (ET) erfolgt nach dem 1. Tag der letzten Regelblutung. Bei unregelmäßiger Blutung werden die fehlenden oder zusätzlichen Tage mitberücksichtig. Mit Hilfe der Naegele-Regel lässt sich der errechnete Termin bestimmen (. Abb. 12.3). Andere Möglichkeiten zur ET-Bestimmung sind die Berechnung nach dem Konzeptionszeitpunkt, dem Zeitpunkt der Insemi-
. Abb. 12.3. Naegele-Regel zur Errechnung des erwarteten Entbindungstermins
nation oder des Embryonentransfers bei assistierter Reproduktion. Computerberechnungen nach der sonographischen Biometrie oder das Ablesen von Gravidarien bzw. Schwangerschaftsscheiben vereinfachen die Bestimmung des ET (. Abb. 12.4). Der ET ist eine berechnete Größe der mittleren Tendenz einer schiefen Verteilung (Median- bzw. Modalwert). Der Terminzeitraum ist definiert als die Zeit zwischen 37 und 42 vollendeten Wochen post menstruationem (p. m.). Zur genauen Schwangerschaftsaltersbestimmung eignet sich die sonographische Messung der Scheitel-SteißLänge (SSL) des Fetus vor 12 SSW. Danach werden Berechnungen auf der Basis der sonographischen Biometrie des Fetus zunehmend unsicherer. In späteren Schwangerschaftswochen besteht eine enge Korrelation lediglich zwischen dem transzerebellaren Durchmesser und dem Gestationsalter (. Abb. 12.5). Das Gestationsalter ist wichtig, um sonographisch das fetale Wachstum zu beurteilen und eine fetale Makrosomie bzw. intrauterine Wachstumsrestriktion zu erkennen. Bei vorzeitiger Wehentätigkeit und vorzeitigem Blasensprung bestimmt das Schwangerschaftsalter besonders in Grenzsituationen wie bei 24 SSW das perinatale Vorgehen. Auch bezüglich der Terminüberschreitung ist die Kenntnis des errechneten Termins für das Procedere ausschlaggebend.
. Abb. 12.4. Schwangerschaftsscheibe (Gravidarium), z. B. nach Dudenhausen u. Pluta
199 12.2 · Ärztliche Beratung und Betreuung in der Schwangerschaft
. Abb. 12.5. Scheitel-Steiß-Länge (SSL), transzerebellarer Durchmesser
Tipp Ergeben sich Differenzen zwischen errechnetem Termin nach der letzten Periode und dem sonographischen Schwangerschaftsalter, so sollte eine Korrektur entsprechend dem errechneten Termin nach Ultraschallbiometrie möglichst bis 12 SSW vorgenommen werden.
12.2.4
Anamnese
Anhand des Risikokatalogs im Mutterpass können anamnestische Risiken der Frau abgefragt werden. Diese werden gut sichtbar notiert und bei Bedarf bei den folgenden Untersuchungen ergänzt. Neben medizinischen Faktoren mit Einfluss auf die Schwangerschaft sollten auch soziale und psychische Bedingungen angesprochen werden. Diese lassen sich sinnvoll im direkten Gespräch während des Erstkontaktes im Rahmen der Schwangerenvorsorge thematisieren. Soziale Belastungen sind mit erhöhten medizinischen Risken in der Schwangerschaft – wie intrauterine Wachstumsrestriktion (IUWR), Frühund Fehlgeburten – verbunden. Die Identifizierung gefährdeter Frauen kann gelingen durch offene Fragen zu verschiedenen Aspekten der sozialen Integration: zur Qualität der Paarbeziehung, zur Familiensituation und wirtschaftlichen Absicherung sowie zu Gewalterfahrungen und Abusus. Folgende Fragen können das Gespräch im Rahmen der Schwangerenvorsorge und Geburt zur Beurteilung der psychosozialen Situation erleichtern (Goeckenjan et al. 2008): 4 War die Schwangerschaft geplant? 4 Wie ist die Beziehung zum Vater des Kindes? 4 Haben Sie in der letzten Zeit körperliche Gewalt erfahren? 4 Wie schätzen Sie Ihre wirtschaftliche Situation ein? 4 Haben Sie finanzielle Sorgen?
12.2.5
Untersuchungsmethoden
Jegliche diagnostische Maßnahme – sei es Screening oder Ultraschalluntersuchung – setzt die Zustimmung der Schwangeren voraus; der erwünschte »informed consent« basiert auf adäquater Information. Um den medizinischen und wissenschaftlichen Standard der Betreuung zu sichern, sollen (im Rahmen der Schwangerenvorsorge) »nur Maßnahmen angewendet werden, deren diagnostischer und vorbeugender Wert ausreichend gesichert ist« (Mutterschafts-Richtlinien). Dazu gehört im Einzelnen: 4 Untersuchung und Beratung i. d. R. im Abstand von 4 Wochen, in den letzten 2 Schwangerschaftsmonaten je 2 Termine, 4 Beratung in Bezug auf Schwangerschaft und Geburt, Beratung bei schwangerschaftsbedingten Beschwerden und persönlichen oder sozialen Problemen, 4 Untersuchung zum Zweck der Feststellung der Schwangerschaft, genaue Bestimmung des Gestationsalters, 4 Erhebung der Anamnese (Familien-, Eigen-, Schwangerschafts-, Sozialanamnese), 4 Maßnahmen der Gesundheitsförderung, Beratung bezüglich der Lebensführung (Ernährungsberatung, Sozialberatung, Beratung über allgemeine Hygiene, Mundhygiene und bei Bedarf über sexuelle Fragen), 4 Untersuchungen:
5 gynäkologische Untersuchung, einschließlich Zervixabstrich, Untersuchung auf Chlamydia trachomatis, ggf. Amniozentese oder Chorionzottenbiopsie, 5 Messung von Blutdruck, Körpergewicht, Untersuchung des Mittelstrahlurins auf Eiweiß, Zucker und Sediment, Bestimmung der Hämoglobinkonzentration, 5 Kontrolle des Standes der Gebärmutter, SymphysenFundus-Abstand, Kontrolle der kindlichen Herzaktionen, Feststellung der Lage des Kindes,
12
200
4
4
12 4 4 4 4 4
Kapitel 12 · Schwangerenvorsorge
5 kardiotokographische oder ggf. amnioskopische Untersuchungen; die Kardiotokographie ist laut Mutterschafts-Richtlinien indiziert ab 26/27 SSW bei drohender Frühgeburt, ab 28 SSW bei auskultatorischen Herzfrequenzveränderungen oder bei vorzeitiger Wehentätigkeit, 5 serologische Untersuchungen auf Infektionen, z. B. Lues, Röteln, Hepatitis B, bei begründetem Verdacht auf Toxoplasmose und andere Infektionen, zum Ausschluss einer HIV-Infektion auf freiwilliger Basis nach vorheriger obligater Beratung, blutgruppenserologische Untersuchungen während der Schwangerschaft und nach der Geburt oder Fehlgeburt und Anti-D-Immunglobulinprophylaxe, Ultraschalluntersuchungen jeweils bei 5 8+0 – 11+6 SSW, 5 18+0 – 21+6 SSW, 5 28+0 – 31+6 SSW mit dem Ziel der genauen Bestimmung des Gestationsalters, der Kontrolle der somatischen Entwicklung des Fetus, der Suche nach auffälligen fetalen Merkmalen und Beurteilung des fetalen Wachstums und der Plazenta, dem frühzeitigen Erkennen von Mehrlingsschwangerschaften. Dopplersonographische Untersuchung sind in der 2. Schwangerschaftshälfte indiziert bei: 5 Verdacht auf intrauterine Wachstumsrestriktion (IUWR), Präeklampsie, 5 anamnestischen Risiken, 5 auffälligem CTG, Mehrlingsschwangerschaften mit diskordantem Wachstum, 5 Verdacht auf Herzfehlbildungen. Untersuchung und Beratung der Frau während der Zeit des Wochenbetts. Medikamentöse Maßnahmen und Verordnungen von Verband- und Heilmitteln. Ausstellung und Führung eines Mutterpasses und Bescheinigungen. Überweisung der Schwangeren bei Risikokonstellationen. Beratung zur Wahl der Entbindungsklinik.
. Tab. 12.1. Zervixscore nach Bishop (1964; modifiziert) zur Beurteilung der Zervixreife
Punkte
0
1
2
3
Zervixlänge [cm]
2
1
0,5
0
Konsistenz
Derb
Mittel
Weich
Weich
Position
Sakral
Mediosakral
Zentriert
Zentriert
Muttermundsweite [cm]
Geschlossen
1
2
3
Höhenstand der Leitstelle
–3
–2
–1
+1–2
Interpretation: Bishop-Score 5 und 8 reif.
Mit der flächendeckenden Einführung der vaginalen Sonographie sind die Uteruszeichen in der Frühschwangerschaft in ihrer Bedeutung zurückgetreten. Die Vergrößerung des Uterus ist üblicherweise erst ab 6 SSW palpabel. Mittels standardisiertem Zervixscore, z. B. nach Bishop (. Tab. 12.1), kann die Zervix beurteilt werden, Länge, Position, Konsistenz der Portio sowie Öffnung der Zervix gehen in die Bewertung mit ein. Ein Bishop-Score von bis zu 5 Punkten beschreibt eine unreife Portio. Auch auf den die Zervix verschließenden Schleim kann geachtet werden. In höheren Schwangerschaftswochen wird der Bezug zum Becken, der Höhenstand in Relation zum Beckeneingang und die Beweglichkeit des vorangehenden kindlichen Teils beurteilt. Zur Objektivierung und Verlaufskontrolle bei vermuteter Zervixverkürzung eignet sich die Beurteilung der Zervixlänge mittels vaginaler oder abdominaler Ultraschalluntersuchung oder ggf. durch Introitussonographie.
Studienbox
Lediglich bei der Erstvorstellung ist eine gynäkologische Untersuchung gefordert. Diese besteht aus der Inspektion von Vulva, Scheide und Portio. Die typische schwangerschaftsbedingte livide Verfärbung der Scheide und der Portio kann dabei auffallen. Die Portio sollte beurteilt werden in Hinblick auf Verletzungen nach vaginaler Geburt oder Verkürzung, z. B. nach Konisation. Besonderes Augenmerk sollte auf die Beschaffenheit der Portio gerichtet werden. Eine zytologische Untersuchung im Rahmen der Krebsvorsorge wird empfohlen. Nativabstrich und pH-Wert der Scheide sollten beurteilt werden. Bei der Untersuchung ist es sinnvoll, typische Veränderungen der Scheide (Weite, Dehnbarkeit, Senkung) zu beurteilen. Die in den Richtlinien empfohlene Abklärung auf Chlamydia trachomatis erfolgt auf verschiedene Weise, z. B. sehr erfolgreich mittels Urin-PCR. Bei der bimanuellen Palpation können Vergrößerung, Auflockerung und Konsistenz des Uterus beurteilt werden.
Um die Zuverlässigkeit der Aussage und Reproduzierbarkeit der Untersuchungen der Zervixlänge zu erhöhen, wird seit einiger Zeit die sonographische Zervixbeurteilung eingesetzt. Es zeigt sich jedoch, dass die Aussagekraft der Zervixlängenmessung nicht zuverlässig eine Risikoerhöhung für eine Frühgeburt repräsentiert. Eine Studie zur Vorhersage einer Frühgeburt durch vaginalen Ultraschall in einem Risikokollektiv konnte für eine funktionelle Zervixlänge von Ein wichtiges Ziel ist es, gerade diese Risikogruppen stärker in die Vorsorge einzubinden.
12.3.2
Wandel der Mutterschafts-Richtlinien
Die Mutterschafts-Richtlinien werden möglichst zeitnah auf wissenschaftlicher Evidenz basierend an die Bedingungen in Deutschland angepasst. Die Leistungsstandards selbst unterliegen einem kontinuierlichen Wandel, wie aktuell am Beispiel des Gestationsdiabetes-Screenings zu sehen ist. Auch epidemiologische Faktoren – wie das zunehmende Alter der Erstgebärenden und damit der erhöhte Anteil von älteren Schwangeren, sowie Migration – führen zu einer kontinuierlichen Veränderung des Risikoprofils der »durchschnittlichen« Schwangeren. Zusätzlich hat auch die Entwicklung der Technik, beispielsweise der hochauflösende Ultraschall und die Dopplersonographie, die Standards der medizinischen Betreuung in der Schwangerschaft grundlegend verändert.
Literatur AG für materno-fetale Medizin, DGGG (2004) Anwendung des CTG während Schwangerschaft und Geburt, Konsusverfahren, federführend KTM Schneider [Schneider KTM et al. (2006) Z Geburtsh Neonatol 210: 38–49] Becker R, Vonk R, Vollert W, Entezami M (2002) Doppler sonography of uterine arteries at 20–23 weeks: risk assessment of adverse pregnancy outcome by quantification of impedance and notch. J Perinat Med 30: 388–394 Bernloehr A, Smith P, Vydelingum V (2005) Antenatal care in the European Union: a survey on guidelines in all 25 member states of the Community. Eur J Obstet Gynecol Reprod Biol 122: 22–32 Busby A, Armstrong B, Dolk H et al (2005) Preventing neural tube defects in Europe: a missed opportunity. Reprod Toxicol 20: 393–402 Chilcott J, Tappenden P, Lloyd Jones M, Wight J, Forman K, Wray J, Beverley C (2004) The economics of routine antenatal anti-D prophylaxis for pregnant women who are rhesus negative. BJOG 111: 903–907 Connor EM, Sperling RS, Gelber R et al (1994) Reduction of maternal-infant transmission of human immunodeficiency virus type 1 with zidovudine treatment. N Engl J Med 331: 1173–1180 Döderlein G (1942) Ärztliche Schwangerschaftsvorsorge und ihre gesetzliche Regelung, 26. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie 1941. Arch Gynäkol 173: 75–196 Frenkel LM, Cowles MK, Shapiro DE et al (1997) Analysis of the maternal components of the AIDS clinical trial group 076 zidovudine regimen in the prevention of mother-to-infant transmission of human immunodeficiency virus type 1. J Infect Dis 175: 971–974
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12
13 13 Lebensführung E. Krampl-Bettelheim 13.1
Allgemeine Veränderungen in der Schwangerschaft – 212
13.2
Bewegung während der Schwangerschaft – 212
13.2.1 13.2.2 13.2.3
Mögliche Vorteile von Training während der Schwangerschaft – 212 Risiken von Sport in der Schwangerschaft – 213 Beratung – 214
13.3
Berufstätigkeit während der Schwangerschaft – 214
13.3.1 13.3.2 13.3.3
Allgemeines – 214 Berufsspezifische Risiken – 215 Ärztliche Aufgaben – 216
13.4
Ernährung in der Schwangerschaft – 216
13.4.1 13.4.2 13.4.3 13.4.4
Allgemeine Empfehlungen – 216 Infektionen durch Nahrungsmittel – 216 Koffein – 217 Alkohol – 217
13.5
Rauchen in der Schwangerschaft – 218
13.5.1 13.5.2
Häufigkeit und klinische Beobachtungen – 218 Beratung – 219
13.6
Drogen in der Schwangerschaft – 219
13.7
Sexualität in der Schwangerschaft – 219
13.7.1 13.7.2
Tradition und Gewohnheiten – 219 Beratung – 219
13.8
Reisen in der Schwangerschaft – 219
13.8.1 13.8.2
Risiken – 219 Beratung – 220
13.9
Höhenexposition in der Schwangerschaft
13.9.1 13.9.2 13.9.3
Leben auf großer Meereshöhe – 220 Akute und kurzfristige Exposition – 220 Beratung – 220
Literatur – 221
H. Schneider et al. (eds.), Die Geburtshilfe © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 220
212
Kapitel 13 · Lebensführung
Die Schwangerschaft bringt beträchtliche körperliche Veränderungen mit sich und ist eine Zeit der Umstellung auf eine vollkommen neue psychosoziale Situation. Mortalität und Morbidität von Mutter und Kind sind auf einem historischen Tiefpunkt, daher richtet sich das Augenmerk zunehmend auf die Optimierung der »Brutzeit«. Eine evidenzbasierte Beratung über den Lebensstil in der Schwangerschaft ist nur teilweise möglich. Von erwiesenem Vorteil sind eine kontinuierliche medizinische Basisbetreuung, regelmäßige körperliche Aktivität, Nikotinabstinenz und eine gesunde Ernährung. Über Vitaminersatz, Medikamente und Komplementärmedizin sind keine Studien verfügbar, und auch mögliche Effekte von Flugreisen oder langen Auto- oder Zugfahrten sind nicht systematisch untersucht (AAP/ACOG 2007; NICE 2008).
13.1
13
Allgemeine Veränderungen in der Schwangerschaft
Es treten bereits in der Frühschwangerschaft deutliche körperliche Veränderungen auf (Clapp et al. 1988). Das Herzminutenvolumen steigt ab den ersten Wochen der Schwangerschaft an, der mittlere Blutdruck sinkt in der ersten Hälfte der Schwangerschaft ab, um danach wieder anzusteigen, und der systemische Gefäßwiderstand sinkt in der ersten Schwangerschaftshälfte stark ab, um danach wieder leicht anzusteigen (Kametas et al. 2003). Der Brustkorb hebt sich, dadurch wird die gesamte Lungenkapazität geringer, was sich sowohl auf ein geringeres Residualvolumen als auch auf eine geringere Vitalkapazität auswirkt (McAuliffe et al. 2002). Die Symptome der vermehrten Kapillarisierung und des niedrigeren Gefäßtonus sind häufig Sodbrennen, Müdigkeit, Varizen, Hämorrhoiden und Ödeme. Weiterhin gehören Obstipation, Rücken- und Symphysenschmerz sowie vermehrter vaginaler Ausfluss zu den normalen Veränderungen in der Schwangerschaft. Eine Schwangere sollte über diese Dinge schriftlich und mündlich informiert werden und auch durch Kurse Informationen über Screening, Betreuungsangebote und Lebensstil in der Schwangerschaft erhalten. Die Mutter ist die erste Umwelt für das sich entwickelnde und wachsende Kind. Durch ihr Verhalten in der Schwangerschaft oder den Konsum von Nahrungs- und Genussmitteln kann die Mutter den Schwangerschaftsverlauf und die Kindesentwicklung positiv oder negativ beeinflussen. Eine besondere Aufgabe haben die Ärzte, wenn das schädliche Verhalten aufgrund psychischer und somatischer Abhängigkeit gar nicht freiwillig aufgegeben werden kann. Dies gilt für die starke Raucherin, die abhängige Alkoholikerin und die Drogensüchtige. Wie später noch geschildert wird, ist es verständlich und durch wissenschaftliche Untersuchungen auch erwiesen, dass versucht wird, den Konsum gegenüber der Umgebung zu kaschieren. Das wird allerdings umso weniger geschehen, je besser das Patientin-Arzt-Vertrauensverhältnis ist. Um dieses müssen sich Beratende sehr bemühen.
> Schwangere Frauen mit einer Suchtproblematik sind Risikopatientinnen, die der intensiven Betreuung, Hilfe und Zuwendung bedürfen. Das oft ohnehin vorhandene Schuldgefühl gegenüber dem Ungeborenen darf nicht durch Belehrungen seitens des ärztlichen Personals, das keine Erfahrungen mit den Problemen einer Sucht hat, verstärkt werden.
Die betreuenden Ärzte müssen Kenntnisse über die vorhandenen Sozialdienste, Ernährungsund Drogenberatungsstellen haben und die Kontakte organisieren.
13.2
Bewegung während der Schwangerschaft
Sport ist ein integraler Teil der Lebensgestaltung geworden. Viele Frauen möchten ungern ihre diesbezüglichen Gewohnheiten wegen einer Schwangerschaft aufgeben, noch sind alle Hochleistungssportlerinnen bereit, ihre sportliche Karriere für eine Schwangerschaft zu unterbrechen oder zu beenden.
13.2.1
Mögliche Vorteile von Training während der Schwangerschaft
Regelmäßiges aerobes Training während der Schwangerschaft ist nicht mit einem schlechteren neurologischen Entwicklungsstand des Kindes im Alter von einem Jahr assoziiert (Clapp et al. 1998). Bei Kindern von regelmäßig trainierenden Müttern war das Verhaltensprofil nach dem Brazelton-Verhaltenstest 5 Tage nach der Geburt besser als das der Kinder von Müttern ohne Training (Clapp et al. 1999). Bewegung während der Schwangerschaft ist außerdem förderlich für eine Beibehaltung von Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit der Schwangeren, und es ist mit einem niedrigeren kardiovaskulären Risiko in der Perimenopause assoziiert (Clapp 2008). Das Risiko für Präeklampsie scheint durch regelmäßige Bewegung vermindert zu werden (Weissgerber et al. 2004), und übermäßige Gewichtszunahme kann verhindert werden (Asbee et al. 2009). Wiewohl die subjektive Auswirkung von körperlicher Aktivität schwer zu messen ist, zeichnen sich weitere wahrscheinliche Vorteile ab, wenn eine Frau in der Schwangerschaft sportlich aktiv ist (7 Übersicht). Vorteile (erwiesen oder sehr wahrscheinlich) von Sport in der Schwangerschaft (nach Huch 2001) 4 Prophylaxe von Thrombosen, Hypertension/Präeklampsie und Gestationsdiabetes 4 Vermeidung exzessiver Gewichtszunahme (Asbee et al. 2009) 4 Therapeutisch: Senkung des Insulinbedarfs beim Gestationsdiabetes 4 Verbessertes subjektives Wohlbefinden (besserer Schlaf, größeres Selbstwertgefühl)
6
213 13.2 · Bewegung während der Schwangerschaft
4 Förderung guter Haltung, Vermeidung von Rückenschmerzen 4 Größere Toleranz gegenüber Schwangerschaftsbeschwerden 4 Verbesserter Muskeltonus 4 Steigerung der Leistungsfähigkeit 4 Erhöhte kardiopulmonale Reserven 4 Kürzere Geburtsdauer 4 Weniger operative Entbindungen 4 Schnellere Rekonvaleszenz
13.2.2
Risiken von Sport in der Schwangerschaft
Auf der Basis theoretischer sportphysiologischer Überlegungen, tierexperimenteller Studien, anekdotischer Beobachtungen und (weniger) prospektiver Untersuchungen in der menschlichen Schwangerschaft werden im Wesentlichen 4 Risikokomplexe gefürchtet (7 Übersicht). Risiken von Sport in der Schwangerschaft 4 Erhöhte Gefahr einer Traumatisierung mit ihren direkten und indirekten Auswirkungen 4 Bei Extrembelastungen: Ansteigen der Körperkerntemperatur bei Mutter und Fetus 4 Auftreten von vorzeitigen Kontraktionen 4 Kurzfristige oder chronische Minderversorgung der uteroplazentaren Einheit
Die anatomischen Veränderungen in der Frühschwangerschaft – z. B. Veränderungen der Bindegewebe, Lockerung der Gelenkbänder – und die Gewichtszunahme und die Veränderungen der Körperproportionen in der Spätschwangerschaft lassen das Risiko einer traumatischen Gefährdung sicher begründet größer werden. Die meisten Sportarten können weiter betrieben werden. Wichtige Ausnahmen sind Tauchen und Extremsportarten mit Verletzungsgefahr für die Mutter. Zu denken ist auch an die indirekten Folgen von mütterlichen Stürzen und Verletzungen, z. B. notwendig werdende Röntgenaufnahmen oder medikamentöse Therapien. Eine Hyperthermie, d. h. Anstieg der Körperkerntemperatur, ist eine zwangsläufige Folge bei manchen Sportarten. Während Belastung werden nur 20–25% der zusätzlichen Energieaufwendung für die Muskelarbeit genutzt, die übrigen 75–80% werden in Wärme überführt. Die Totalwärmeproduktion kann auf das 20-Fache ansteigen. Die Folge sind zirkulatorische Anpassungen mit Anstieg des Blutflusses in die Haut zum Wärmeabtransport. Sind die Grenzen erreicht, so steigt die Körperkerntemperatur in Abhängigkeit von Intensität und Dauer der Aktivität an. Rein praktisch kommt ein Temperaturanstieg in hohe Bereiche vor, z. B. bei Langstreckenläufen
und beim intensiven Rudern. Temperaturen um 41°C werden erreicht. Folgende nachteilige Auswirkungen hoher mütterlicher und fetaler Temperaturen werden gefürchtet: 4 tierexperimentell gesicherte teratogene Effekte von Temperaturen über 39°C, 4 Effekte auf die Sauerstoffbindungskurve in Form einer Rechtsverschiebung mit Abnahme der Sauerstoffaffinität, 4 Steigerung des Sauerstoffbedarfs, 4 Blutumverteilung zur Haut auf Kosten der Uterusdurchblutung. Es wurde bereits vor geraumer Zeit untersucht, wie sich Training in der Frühschwangerschaft auswirkt. Bei körperlich gesunden Frauen, die aerobes Training mit 50–85% der Maximalbelastung weiter betreiben, wird die Komplikationsrate nicht messbar beeinflusst (Clapp 1989). Theoretisch besteht auch das Risiko vorzeitiger Kontraktionen. Von den bei körperlicher Aktivität stark ansteigenden Katecholaminen wirkt das Noradrenalin wehenfördernd. Über α-adrenerge Rezeptoren wird die glatte Muskulatur in Gefäßwänden und Uterusmuskulatur stimuliert. Die Beobachtungen der Schwangerschaftsverläufe sehr aktiver Athletinnen und Daten einer prospektiven Studie aus den USA (Clapp 1990) und Spanien (Barakat et al. 2008) sprechen allerdings diesem Mechanismus keine sehr große Bedeutung zu. Die Sorge vor einer uteroplazentaren Minderdurchblutung mit einer folgenden Wachstumsrestriktion des Fetusses durch mütterlichen Sport in der Schwangerschaft basiert auf den gleichen Pathomechanismen, die als Folge körperlicher Aktivität durch tierexperimentelle Studien sowie durch epidemiologische Beobachtungen beim Menschen deutlich gemacht werden. Bei Sport und körperlicher Arbeit kommt es neben der Steigerung des Herzauswurfs zu einer aktivitätsabhängigen Zunahme der Haut- und Muskeldurchblutung. Das Blut hierfür wird in erster Linie im Eingeweidebereich mobilisiert. Nur im Tierexperiment mögliche systematische Studien haben gezeigt, dass das uteroplazentare Gefäßbett sehr wahrscheinlich in die Blutumverteilung mit einbezogen wird. Das bedeutet, dass hier eine Drosselung zugunsten der Muskeldurchblutung stattfindet. Beim Menschen sind die Befunde indirekter Natur: In Abhängigkeit von der Intensität eines während der Schwangerschaft betriebenen Ausdauertrainings nehmen die Geburtsgewichte ab. Leichtes Training hingegen hat keinen Einfluss auf das Geburtsgewicht (Barakat et al. 2009), das Gestationsalter bei der Geburt und den Geburtsmodus (Baraka et al. 2009a–c). Es ist also eine Anpassung des Trainingsprogramms und der Bewegungsgewohnheit an die veränderte Physiologie in der Schwangerschaft empfehlenswert. So ist sowohl der Ruhepuls als auch das Atemminutenvolumen bereits ab der Frühschwangerschaft höher als vor der Schwangerschaft. Ein Cochrane-Review mit der letzten Aktualisierung 2008 fasst 11 Studien zusammen, die den Effekt von vorgeschriebenen Trainingsprogrammen auf gesunde Schwangere untersuchen (Kramer u. McDonald 2009). 5 davon zeigen eine Ver-
13
214
Kapitel 13 · Lebensführung
besserung der körperlichen Fitness in der Trainingsgruppe. Die Ergebnisse bezüglich Gestationsalter bei der Geburt und Geburtsgewicht waren nicht konsistent. Eine kleine Studie berichtet, dass vermehrtes Training in der Frühschwangerschaft mit der Geburt von größeren Kindern und größeren Plazenten assoziiert war. Insgesamt reichen die verfügbaren Daten nicht aus, um wirkliche Empfehlungen abgeben zu können.
13.2.3
Beratung
Es ist eine Anpassung des Trainingsprogramms und der Bewegungsgewohnheit an die veränderte Physiologie in der Schwangerschaft notwendig. So ist sowohl der Ruhepuls als auch das Atemminutenvolumen bereits ab der Frühschwangerschaft höher als vor der Schwangerschaft. Beim Training sollte laut American College of Obstetricians and Gynecologists eine Herzfrequenz von 140 SpM nicht überschritten werden (AAP/ACOG 2007). Auf der Basis der oben genannten Überlegungen bezüglich der Vorteile und Risiken sind Sportarten, die rhythmischer Natur sind und große Muskelgruppen bewegen, empfehlenswert (7 Übersicht). Empfohlene Sportarten/Aktivitäten in der Schwangerschaft
13
4 4 4 4 4 4 4 4
Wandern Nordic Walking Radfahren Laufen, Joggen, gemäßigter Ausdauerlauf Skilanglauf Bergtouren (2500 m
Vom Tauchen wird allgemein abgeraten. Bei nicht korrekter Dekompression könnten Gasblasen durch das offene Foramen ovale des Fetusses in den großen Kreislauf gelangen. Beim Reiten sind die Ansichten kontrovers. Gewichtheben, heute häufig von Frauen in Fitnesszentren an Maschinen praktiziert, kann theoretisch durch Valsalva-Manöver, Auswirkungen auf Gelenk- und Wirbelsäulenverbindungen sowie Druckerhöhungen im Abdomen nachteilig sein. ! Unter den absoluten Indikationen laut ACOG, mit dem Sport sofort zu sistieren, finden sich Schmerzen, Blutungen, Schwindel und Ohnmachtsepisoden, Atemnot, Abnahme der Kindsbewegungen und Blasensprung.
13.3
Berufstätigkeit während der Schwangerschaft
13.3.1
Allgemeines
Die Berufstätigkeit in der Schwangerschaft ist in Österreich, Deutschland und in der Schweiz gesetzlich geregelt. Ab Bekanntgabe der Schwangerschaft steht die werdende Mutter unter Entlassungs- und Kündigungsschutz. Die Schutzfrist bedeutet, dass eine werdende Mutter 6 (Deutschland) oder 8 Wochen (Österreich) vor dem errechneten Geburtstermin und bis 8 Wochen nach der Geburt (Österreich, Schweiz, Deutschland) nicht im Angestelltenverhältnis arbeiten darf. Weiters besteht ein Kündigungsschutz während des Mutterschutzes. Wenn während der Schwangerschaft der Arbeitsplatz nicht für eine Schwangere geeignet ist, ist ein Wechsel des Arbeitsplatzes oder eine Freistellung empfohlen. Beispiele dafür sind Erschütterungen, schweres Heben, Lärm, ionisierende Strahlung, extreme Hitze oder Kälte, körperlich sehr anstrengende Arbeit oder gesundheitsschädigende Arbeitsstoffe. Die meisten Schwangeren sind durch ihre Arbeit nicht gefährdet. Es gibt keinen eindeutig beobachteten Zusammenhang zwischen Arbeit und Schwangerschaftskomplikationen. Es sind schwangere Soldatinnen untersucht worden, und es gab weder vermehrte mütterliche noch fetale oder kindliche Komplikationen bei dieser Berufsgruppe (NICE 2008).
215 13.3 · Berufstätigkeit während der Schwangerschaft
13.3.2
Berufsspezifische Risiken
Schwere körperliche Arbeit, Arbeit im Stehen, Stress Körperlichen Anstrengungen kann die Schwangere in vielen Berufszweigen ausgesetzt sein. Körperliche Arbeit, besonders in großer Hitze und im Stehen, wirkt sich negativ auf das Geburtsgewicht und die perinatale Mortalität aus. Bereits in älteren Untersuchungen ist eindrücklich darauf hingewiesen worden, dass diese negativen Effekte nicht nur Folge schlechter sozioökonomischer Bedingungen sind, sondern dass sich schwere mütterliche Muskelarbeit allein genommen nachteilig auf den Schwangerschaftsverlauf und das fetale Wachstum auswirkt. Die Mutterschutzvorschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz untersagen in der Schwangerschaft schwere körperliche Anstrengungen und in Deutschland und Österreich ausdrücklich auch längeres Stehen: Deutschland: »Werdende Mütter dürfen nicht mit schweren körperlichen Arbeiten … beschäftigt werden, … nach Ablauf des 5. Monats der Schwangerschaft [nicht] mit Arbeiten, bei denen sie ständig stehen müssen, soweit diese Beschäftigung täglich 4 Stunden überschreitet …« Schweiz: »Werdende Mütter dürfen nicht zu Arbeiten herangezogen werden, die sich erfahrungsgemäß auf die Gesundheit und die Schwangerschaft … nachteilig auswirken.« Österreich: »Werdende Mütter dürfen nicht mit schweren körperlichen Arbeiten … beschäftigt werden, … [untersagt sind] Arbeiten, die von werdenden Müttern überwiegend im Stehen verrichtet werden müssen …, nach Ablauf der 20. Schwangerschaftswoche alle derartigen Arbeiten, soferne (sic!) sie länger als 4 Stunden verrichtet werden …«
Diskutierte Gründe für die fetale Mangelentwicklung basieren auf den mit Muskelarbeit verbundenen Veränderungen. Neben der Steigerung des Herzminutenvolumens kommt es bei schwerer Arbeit zur intensiven Blutumverteilung zugunsten der arbeitenden Muskulatur und zu Lasten anderer Gefäßgebiete, insbesondere der Durchblutung der Eingeweide, wovon auch die uteroplazentare Durchblutung betroffen ist. Bei ungünstigen thermischen Bedingungen muss zusätzlich Blut zur Thermoregulation in der Haut mobilisiert werden. Untersuchungen von Schneider et al. (1993) haben einen weiteren möglichen Mechanismus für die kindliche Mangelentwicklung und die Entstehung von Kontraktionen im Stehen erkennen lassen. Im 3. Trimenon tritt bei rund 2/3 aller gesunden Schwangeren im ruhigen Stehen eine Analogie zum V.-cava-Kompressionssyndrom in Rückenlage auf. Der gravide Uterus komprimiert die Beckengefäße, was zu einer Rückflussbehinderung aus den Beinen führt. Die verminderte Herzvorfüllung und die Abnahme des Schlagvolumens beantwortet der schwangere Organismus mit einer Herzfrequenzsteigerung bis in den tachykarden Bereich. Diese tachykarden Phasen treten in Abständen von 1–2 min auf, weil uterine Kontraktionen phasenhaft, offenbar durch Form- und Lage-
veränderungen des Uterus, die Rückflussbehinderung beseitigen.
Arbeit im Medizinbetrieb (Anästhetika, Strahlenbelastung, infektiöses Material, Chemotherapeutika) Bei der Arbeit im Krankenhaus, in medizinischen Laboratorien u. Ä. – Arbeitsbereiche mit einem hohen Frauenanteil – wird eine Frau in der Schwangerschaft einer Vielzahl von Risiken ausgesetzt. Für Anästhetika sowie Äthylenoxid, zur Sterilisation verwendet, wurden mutagene und teratogene Eigenschaften nachgewiesen. Ungünstige Effekte auf den Schwangerschaftsverlauf wurden beobachtet. Eine Metaanalyse der Studien aus den Jahren, bevor Gasabsaugvorrichtungen in allen Operationssälen installiert waren, zeigt dies deutlich (Boivin 1997). Seit Durchführung der meisten dieser Studien wurde durch konsequente Arbeitsschutzmaßnahmen das Expositionsrisiko drastisch verringert. Unumstritten ist die mutagene, teratogene und kanzerogene Potenz von Strahlen beim therapeutischen und diagnostischen Röntgeneinsatz und bei der Arbeit mit Isotopen. Durch die generellen Strahlenschutzvorschriften und die Überwachung mit Dosimetern ist die berufliche Exposition gering geworden. > Mit Kenntnis der Schwangerschaft werden die ohnehin niedrigen Dosislimits für Frauen im gebärfähigen Alter entsprechend den Verordnungen reduziert, oder es wird gar keine Exposition zugelassen (Deutschland: 0 mSv, Schweiz: 2 mSv/9 Monate, Österreich: 0 mSv).
Im Hinblick auf das Infektionsrisiko ist der Kontakt und die Gefährdung durch Krankheitserreger zu verhindern oder zu vermindern, von denen bekannt ist, dass sie eine intrauterine Fruchtschädigung, Aborte oder Frühgeburten verursachen können. Infektions- und Säuglingsabteilungen (CMV) erfordern besondere Vorsicht. Beim Umgang mit Zytostatika können Schwestern und Ärztinnen bei der Zubereitung oder bei der Injektion der Zytostatika über die Haut oder auch durch Einatmung von Aerosolen signifikante Mengen aufnehmen. Zusammenhänge zwischen Exposition und vermehrten Aborten wurden beschrieben.
Tätigkeit am Bildschirm Es gab Berichte über auffällige Häufungen von Fehlbildungen und Schwangerschaftskomplikationen bei Arbeit am Bildschirm. »Screen of fear« war die Schlagzeile eines Artikels in der Londoner Times im Jahr 1984. Neben den wohl kaum relevanten Auswirkungen der durch den Computer entstehenden Wärme und seiner Geräusche ist ein Effekt der Magnetfelder, der Strahlung und der elektrostatischen Felder theoretisch möglich. Die elektromagnetische Strahlung wurde in den letzten Jahren stark vermindert, da Flachbildschirme die Kathodenstrahlröhrenbildschirme weitgehend ersetzt haben. Insgesamt konnte nie eine erhöhte Fehlbildungsrate nachgewiesen werden.
13
216
Kapitel 13 · Lebensführung
Tätigkeiten mit Chemikalien Die Senatskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft für gefährliche Arbeitsstoffe gibt jährlich eine Liste von ca. 500 Stoffen mit deren Grenzwerten in der Raumluft am Arbeitsplatz heraus, die MAK-Liste. MAK-Werte MAK-Werte sind die am Arbeitsplatz höchstzulässigen Konzentrationen eines Arbeitsstoffes als Gas, Dampf oder Schwebestoff in der Luft, die bei 8-stündiger Exposition am Arbeitsplatz und einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 h i. Allg. die Gesundheit der Beschäftigten nicht beeinträchtigen.
Die Risikobewertung von Umweltchemikalien in der Schwangerschaft entspricht der Bewertung von Industriechemikalien. Eine strenge Unterscheidung von Industrie- und Umweltchemikalien ist nicht möglich.
13.3.3
13
Ärztliche Aufgaben
Wie dargelegt, gibt es in den heutigen Frauenberufen einige Tätigkeitsbereiche, für die ein negativer Einfluss auf Reproduktion, Schwangerschaftsverlauf und Entwicklung des Kindes gesichert ist oder befürchtet werden muss. Idealerweise sollte dies bereits bei Kinderwunsch, vor Eintritt der Schwangerschaft, evaluiert werden. Die Regel wird sein, dass Frauen nach der Konzeption Rat suchen bzw. auf Risiken bei entsprechender Anamnese aufmerksam gemacht werden müssen. Die gesetzlichen Mutterschutzvorschriften und -verordnungen sind umfassend (7 Kap. 12). Ärztliche Aufgabe ist es, auf ihre korrekte Anwendung zu achten. Die Arbeitsplatzgestaltung obliegt i. d. R. dem Arbeitgeber. Bei Zweifeln an der Risikolosigkeit eines Arbeitsplatzes können Gesundheitsämter oder Gewerbeaufsichtsbehörden um Mithilfe gebeten werden. Die Schwangere ist auf die Notwendigkeit aufmerksam zu machen, dass bei belasteten Arbeitsplätzen der Arbeitgeber Kenntnis von der Schwangerschaft haben muss. Ergeben sich bei der Schwangerenbetreuung neue Erkenntnisse zu beruflichen Schädigungsmöglichkeiten, die in den Schutzvorschriften keine Berücksichtigung gefunden haben, so muss die Absicht des Mutterschutzgesetzes – Mutter und Fetus vor schädlichen Stoffen und Überlastung zu schützen – individuell durch Freistellung vom Arbeitsprozess verwirklicht werden, bis sich die neuen Erkenntnisse in einer gesetzlichen Maßnahme auswirken.
13.4
Ernährung in der Schwangerschaft
13.4.1
Allgemeine Empfehlungen
Frauen im reproduktionsfähigen Alter werden heutzutage mit Informationen über Diäten und Idealgewicht bombardiert. Fettleibigkeit mit all ihren gesundheitlichen Folgeschäden wird als die Epidemie des 21. Jahrhunderts bezeichnet, in den
USA sind bereits rund 30% aller Frauen zwischen 20 und 39 krankhaft fettleibig, was durch einen Body-Mass-Index >30 definiert ist. Umgekehrt ist das Schönheitsideal »kein Gramm Fett« ebenfalls bedenklich. Gezielte Ernährungsberatung während der Schwangerschaft ist durchaus zu empfehlen, da die Schwangerschaft auch als Anlass zu einer Veränderung des Lebensstils genommen werden kann. Es gibt außerdem zunehmende Evidenz, dass Frauen, die vor, während und nach der Schwangerschaft ein gesundes Normalgewicht beibehalten, ein besseres Outcome haben. Frauen, die während der Schwangerschaft oder zwischen zwei Schwangerschaften stark zunehmen, haben häufiger schwangerschaftsinduzierten Diabetes mellitus, Präeklampsie und davon unabhängige intrauterine Fruchttode. Weiters haben mehrere Tierversuche gezeigt, dass die metabolische Umgebung des Fetusses ein wesentlicher Faktor für die spätere Entwicklung eines Typ-2-Diabetes mellitus ist. Auch Mangelernährung ist ein Problem: Frauen die untergewichtig sind, sind nicht nur subfertil, sondern haben eine höhere Frühgeburtenrate. Seit der Publikation von Barker (1990) ist »fetal programming« ein Begriff (7 Kap. 28). Es bedeutet, dass die fetale Umgebung den Körper »programmiert«. Es ist vielfach erwiesen, dass niedriges Geburtsgewicht im Zusammenhang mit Fehl- oder Mangelernährung der Mutter mit koronarer Herzkrankheit, Bluthochdruck und Diabetes mellitus im Erwachsenenalter assoziiert ist (Barker 1990; Barker et al. 2002). Während der Schwangerschaft steigt der Energie- und Nährstoffbedarf. Im 1. Trimenon steigt der Energiebedarf um 300 kcal pro Tag, der Bedarf steigt mit körperlicher Belastung und Schwangerschaftsdauer weiter an. Grundsätzlich wird während der Schwangerschaft empfohlen, reichlich Obst und Gemüse sowie größere Mengen von komplexen Kohlehydraten (Nudeln, Reis, Kartoffeln) zu essen. Die Proteinzufuhr ist ebenso wichtig, dabei empfiehlt es sich, mageres Fleisch und Fisch zu verzehren. Auch roher Fisch kann gegessen werden. Für den Darm ist es – wie auch außerhalb der Schwangerschaft – gut, wenn reichlich Ballaststoffe (Vollkorn) konsumiert werden. Produkte aus pasteurisierter Milch finden sind ebenfalls in der Liste der empfohlenen Nahrungsmittel. Genauere Informationen, insbesondere zur Vitaminsubstitution, sind in 7 Kap. 14 zu finden.
13.4.2
Infektionen durch Nahrungsmittel
Eine potenzielle Gefahr der Nahrungsaufnahme sind Infektionen. Listeriose kann zu Fehlgeburten, Totgeburt oder schweren Erkrankungen des Neugeborenen führen. Schwangere sollten daher angehalten werden, 4 nur pasteurisierte Milch zu trinken 4 keinen Käse aus unpasteurisierter Milch zu essen und keine Weichkäsesorten, 4 keine Pasteten (auch keine Gemüsepasteten) zu essen, 4 keine ungekochten oder zu wenig gekochten Fertiggerichte zu essen.
217 13.4 · Ernährung in der Schwangerschaft
Salmonelleninfektionen, die sog. »Nahrungsmittelvergiftungen«, führen zwar zu schwerem Durchfall und Erbrechen, aber zu keiner direkten Schädigung des Fetusses. Schwangere sollten informiert werden, dass das Infektionsrisiko mit Salmonellen vermindert werden kann durch Vermeidung von 4 rohen oder nur teilweise gekochten Eiern und Speisen, die solche enthalten (Mayonnaise), 4 rohem oder unvollständig gegartem Fleisch, besonders Geflügel. (Evidenzgrad 4) (NICE 2008). Toxoplasmose ist die Ursache einer der häufigsten konnatalen Infektionen, die zu Hirnschäden und Blindheit führen kann. Toxoplasmen sind im rohen Fleisch, in der Erde (Cave: Gartenarbeit!) und auch – bis zu einem gewissen Grad – im Katzenkot enthalten. Bei fehlender Immunität empfiehlt sich eine Expositionsprophylaxe während der Schwangerschaft. In Österreich ist Toxoplasmose ein Teil des pränatalen Screening-Programms, und bei Neuinfektionen wird eine Therapie durchgeführt.
13.4.3
Koffein
In tierexperimentellen Studien hat sich Koffein – z. T. allerdings in unphysiologisch hohen Dosen – als mutagen und teratogen erwiesen. Kleinwuchs als Folge der maternalen Koffeinexposition wurde bei Feten verschiedener Spezies gesehen. Epidemiologische Studien mit unterschiedlich großem Koffeinkonsum in der Schwangerschaft sind in ihren Aussagen widersprüchlich. Einerseits wurde über vermehrte Aborte, Tot- und Frühgeburten berichtet, wenn der Konsum hoch oder exzessiv war (Wisborg et al. 2003). Das Risiko für frühe Spontanaborte steigt (Cnattingius et al. 2000). Eine rezente, prospektive Studie hat gezeigt, dass Kaffeegenuss unter Berücksichtigung von Rauchen und Alkohol dosisabhängig zu Wachstumsrestriktion führt (CARE 2008). > Die Food Standards Agency (UK) empfiehlt neuerdings eine Beschränkung des Koffeinkonsums auf 100 mg/Tag. Das entspricht maximal 2 Tassen Kaffee oder 4 Tassen Tee.
13.4.4
Alkohol
Mütterliche Alkoholabhängigkeit und exzessiver Alkoholmissbrauch in der Schwangerschaft können zu schweren physischen und psychischen Schäden beim Kind führen. > Die Kombination von kindlicher Mangelentwicklung, Dysmorphien bzw. Fehlbildungen und mentalem Entwicklungsrückstand wird im deutschen Sprachgebrauch als Alkoholembryopathie (AE), im angloamerikanischen als »fetal alcohol syndrome« (FAS) bezeichnet (Charakteristika 7 Übersicht).
Charakteristika der ausgeprägten Alkoholembryopathie 4 4 4 4
Ausgeprägte pränatale Wachstumsrestriktion Postnatale Wachstumsrestriktion und Untergewicht Mikrozephalie Statomotorische und mentale Retardierung, Hyperaktivität, muskuläre Hypotonie 4 Typisches Gesicht mit abgeflachter Stirn, Stupsnase, Epikanthus, ausgeprägten Nasolabialfalten, flachem Philtrum, schmalem Lippenrot, Retrognathie 4 Fehlbildungen (besonders Herz, Urogenitalsystem)
Es besteht Einigkeit darüber, dass ausgeprägte Fälle von Alkoholembryopathie nur gesehen werden, wenn die Mutter alkoholabhängig ist oder exzessiv in der Schwangerschaft getrunken wird. Aber im Gegensatz zu den klaren Beziehungen beim Rauchen, bei dem die Zahl der täglichen Zigaretten das Ausmaß des Schadens bestimmt, gibt es nur angedeutete Zusammenhänge zwischen den täglichen Trinkmengen und den Schweregraden der Alkoholembryopathie. Die Inzidenz der Alkoholembryopathie bei alkoholkranken Frauen wird auf 43 pro 1000 Lebendgeburten geschätzt (Spohr u. Steinhausen 1996), was deutlich macht, dass zusätzliche Faktoren die Vulnerabilität von Embryo und Fetus bestimmen müssen. Als solche wurden diskutiert: 4 die Art des Trinkens, die u. U. zu Spitzenblutalkoholkonzentrationen führt, 4 körperliche Probleme als Folge der Alkoholsucht, 4 rassische (genetische?) Einflüsse, 4 Armut mit Unterernährung und Gesundheitsproblemen, 4 Stress mit Ausschüttung von Katecholaminen, 4 Mitkonsum von anderen Drogen oder von Nikotin. Weil letztendlich alle embryonalen und fetalen Schäden auf Zellniveau entstehen, wird bei Fehlen einer spezifischen pathognomonischen Veränderung und bei der Vielzahl der Anomalien ein mehr genereller Schädigungsmechanismus für den mütterlichen Alkoholkonsum angenommen. In erster Linie werden Sauerstoffmangel und die Entstehung von freien Sauerstoffradikalen angeschuldigt (Spohr u. Steinhausen 1996). Sauerstoffmangel könnte alkoholspezifisch durch hohen Sauerstoffverbrauch in der Leber bei der Alkoholmetabolisierung entstehen, in der Plazenta z. B. den energieabhängigen Substrattransport zum Fetus beeinflussen, im Hirn z. B. die zahlreichen neurotoxischen Effekte des mütterlichen Alkohols erklären. Hohe Blutalkoholkonzentrationen führen zum Kollaps der Umbilikalarterien und relativ niedrige zum Spasmus uteriner Gefäße. Beides führt über abnehmende Durchblutung zum Sauerstoffmangel. Zellschädigung kann auch über die alkoholspezifische Formation von freien Sauerstoffradikalen entstehen, indem die normalerweise vorhandenen Schutzmechanismen der Zelle (Antioxidanzien, Enzyme) durch Alkohol oder Substratmangel vermindert werden. Alarmierend sind neue Befunde, in welchem Ausmaß eine intrauterine Alkoholexposition den lebenslangen Tonus der
13
218
Kapitel 13 · Lebensführung
Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse erhöht. Dies könnte Immun- und kognitiven Defiziten und Verhaltensauffälligkeiten zugrunde liegen (Zhang et al. 2005). Auch Reproduktion und Schwangerschaftsverlauf werden durch den mütterlichen Alkoholkonsum negativ beeinflusst. Während der Einfluss auf Fertilität und Fekundität zumindest bei moderatem Konsum sehr widersprüchlich beurteilt wird, ist die höhere Rate spontaner Aborte bereits bei relativ niedrigem Konsum (etwa 4 Drinks pro Woche) evident. Alkoholkonsum ist auch mit intrauterinem Fruchttod und plötzlichem Säuglingststod assoziiert (Kinney 2009). Die Meinungen zur »Schwelle«, also zum höchstmöglichen »sicheren« Alkoholkonsum in der Schwangerschaft, gehen auseinander.
Studienbox
13
Mehrere Untersuchungen zur neurobiologischen Entwicklung und zum Verhalten von Kleinkindern in Abhängigkeit von der mütterlichen Alkoholmenge ergaben keinen risikofreien Grenzwert für die pränatale Alkoholexposition (Olson et al. 1997; Kartin et al. 2002). Dies wurde in umfassenden Untersuchungen bei 6- bis 7-Jährigen bestätigt (Sood et al. 2001). Ein systematisches Review aus dem Jahr 2007 hat die Effekte von geringfügiger Alkoholexposition und Betrunkenheit auf den Fetus evaluiert (Henderson et al. 2007a, b). Geringfügige Alkoholexposition war definiert als weniger als 1 Drink pro Tag (weniger als 12 g Alkohol pro Tag). Das wurde verglichen mit keinem Alkoholkonsum. Betrunkenheit (»binge drinking«) war definiert als 5 Drinks oder mehr bei einer Gelegenheit. Ergebnisse: Bei bis zu 6 Drinks war das relative Risiko für Fehlgeburten auf das 4-Fache erhöht. Bei einem ähnlich hohen Alkoholkonsum scheint auch das Risiko für einen intrauterinen Fruchttod erhöht zu sein. Alkoholkonsum scheint keinen Einfluss auf Blutungen in der Schwangerschaft zu haben. Zur intrauterinen Wachstumsrestriktion gibt es widersprüchliche Ergebnisse. Das gleiche gilt für das Geburtsgewicht. Kleine Mengen von Alkohol scheinen eher vor geringem Geburtsgewicht zu schützen. Nur eine von 16 Studien, die Frühgeburt untersucht haben, fand ein erhöhtes Risiko. In diese Studie war allerdings nicht kontrolliert für den sozioökonomischen Status. Keine der 6 Studien, die Fehlbildungen untersucht haben, konnten eine Assoziation mit Alkoholkonsum entdecken. 7 Studien haben die neuromotorische Entwicklung untersucht. Dabei konnte kein Zusammenhang mit geringfügigem Alkoholkonsum gefunden werden. Betrunkenheit allerdings scheint zu einem enthemmten Verhalten, einem niedrigeren verbalen IQ und einer Neigung zu delinquentem Verhalten sowie zu Lernproblemen zu führen.
Alkoholkonsum ist auch in der Schwangerschaft in Europa weit verbreitet. In den frühen 1990-er Jahren gaben in Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Niederlande, Portu-
gal, Schottland und Spanien weniger als 10% der Frauen in der Schwangerschaft gar keinen Alkoholkonsum und in den meisten Ländern weniger als 5% keinen Konsum in der Frühschwangerschaft an (1992). In den letzten Jahren ist das offenbar zurückgegangen, 25–50% der Europäerinnen trinken während der Schwangerschaft weiterhin Alkohol (ec.europa. eu/health-eu/news_alcoholineurope_en.htm). Hingegen war zwischen 1991 und 2005 der höchste Prozentsatz an Alkoholkonsum in den USA, nämlich 17%, bei den 35–44-jährigen Schwangeren zu erheben (CDC 2009). Unklar ist bei allen Studien, ob die Angaben über die Menge des Alkoholkonsums korrekt sind oder ob sie doch oft unter dem tatsächlichen Konsum liegen.
Beratung und Therapie Alkohol ist ein eindeutiges Teratogen in (wahrscheinlich) krankheits- und dosisabhängiger Weise. Schwere Alkoholikerinnen sollten bezüglich einer sicheren Antikonzeption intensiv beraten werden. Für die Betreuung in der Schwangerschaft ist es von großer Bedeutung, die Trinkgewohnheiten zu kennen. Es bestehen große Tendenzen und Fähigkeiten seitens der abhängigen Schwangeren, ihren Konsum zu verheimlichen oder zu bagatellisieren. Es ist auch ärztliche Aufgabe, nach Erkennen des Alkoholproblems neben engmaschiger Betreuung und Beratung in der Schwangerschaft die alkoholkranke Frau Gruppen oder Institutionen zuzuführen, die psychische und soziale Hilfen vermitteln können, letztere auch nach der Geburt für das Kind. Eine wirksame medikamentöse Behandlung ist nicht bekannt, es gibt zu diesem Thema keine relevanten prospektiven Studien (Smith et al. 2009). Psychologische Interventionen und Erziehungsprogramme sind erfolgreich in der Verminderung des Alkoholkonsums. Sie sind aufgrund ihrer Komplexität nicht ausreichend untersucht, um eine Methode besonders empfehlen zu können (Stade et al. 2009). Die Empfehlungen für nicht alhoholabhängige Frauen sind unterschiedlich: In den USA wird zu völliger Abstinenz geraten, in Europa ist man der Auffassung, dass Alkoholgenuss in der Schwangerschaft in kleinen Dosen wahrscheinlich ungefährlich ist. Es wird aber geraten, nicht mehr als 1- bis 2-mal pro Woche maximal 1 Einheit (= 1 Glas Wein) zu konsumieren und Betrunkenheit auf jeden Fall zu vermeiden (NICE 2008).
13.5
Rauchen in der Schwangerschaft
13.5.1
Häufigkeit und klinische Beobachtungen
Rauchen während der Schwangerschaft ist ein beträchtlicher und veränderbarer Risikofaktor für die fetale Entwicklung (Lumley et al. 2004; WHO 2009). Schädliche Wirkungen können durch frühes Aufhören vermieden werden. Vor vielen Jahren schon wurde zum ersten Mal durch eine Studie gezeigt, dass das Aufhören während der Schwangerschaft einen positiven Effekt auf das Geburtsgewicht hat (Sexton u. Hebel
219 13.8 · Reisen in der Schwangerschaft
1984). Eine rezente Kohortenstudie bringt neuerlich Evidenz, dass Rauchverzicht vor der 15. Schwangerschaftswoche die Rate an Frühgeburten, an Kindern unter der 10. Perzentile und an Schwangerschaftskomplikationen signifikant verringert. In den Vereinigten Staaten hören bis zu 40% der Schwangeren vor dem 1. Termin beim Gynäkologen von selbst mit dem Rauchen auf (Woodby et al. 1999; Quinn 2000).
13.5.2
Beratung
Raucherinnen sollten daher möglichst früh in der Schwangerschaft erstmals beraten werden, aber durchaus in jedem Stadium der Schwangerschaft zum Aufhören ermutigt werden (NICE 2008). Als wirksame Intervention haben sich Gruppensitzungen, Verhaltenstherapie und ärztliche Beratungen erwiesen. Wenn ein Aufhören nicht möglich ist, sollte zumindest die Reduktion der Zigarettenzahl angestrebt werden.
Die Hypothese, dass der Geschlechtsverkehr Fehl- oder Frühgeburten auslösen könnte, basiert auf verschiedenen pathophysiologischen Überlegungen: auf dem Fergusen-Reflex, der ausgelöst wird, wenn der Penis die Zervix berührt, der Oxytozinausschüttung während des Orgasmus und der Weheninduktion durch Prostaglandine im Sperma und genitale Infektionen (Andersen u. Fuchs 1993). Allerdings haben mehrere Studien eine Assoziation zwischen sexuellen Verhalten und der Schwangerschaftsdauer/Schwangerschaftskomplikationen oder dem Zustand des Neugeborenen nicht bestätigen können (Perkins 1979; Zlatnik u. Burmeister 1982; Neilson u. Mutambira 1989). Zwei amerikanische Kohortenstudien mit über 52.000 Schwangeren ergaben, dass die Häufigkeit von Geschlechtsverkehr umgekehrt proportional zur Frühgeburtenrate ist (Read u. Klebanoff 1993; Berghella et al. 2002). Es konnte auch keine Assoziation zwischen Häufigkeit von Geschlechtsverkehr und perinataler Mortalität gezeigt werden.
13.7.2 13.6
Beratung
Drogen in der Schwangerschaft
Schwangere sollten bei ihrem ersten Arztbesuch nicht nur über Alkohol und Nikotin, sondern auch über Drogenkonsum befragt werden. Dabei könnte ein Fragebogen hilfreich sein. Geschätzte 1–40% aller Schwangeren haben Kontakt zu Drogen (z. B. Morphium, Heroin, Kokain, Marihuana, Diazepam). Rund eines von 10 Neugeborenen war während der Schwangerschaft stimmungsverändernden Drogen ausgesetzt (AAP/ACOG 2007). Der Effekt von Cannabis auf die Schwangerschaft ist nicht genau erforscht, es ist jedoch der Genuss von Cannabis mit Rauchen assoziiert, daher sollte Schwangeren unbedingt von Cannabis abgeraten werden (NICE 2008). Schwangere, die härtere Drogen konsumieren, stellen eine Hochrisikogruppe dar, die einer spezialisierten, multidisziplinären Betreuung bedarf.
13.7
Sexualität in der Schwangerschaft
13.7.1
Tradition und Gewohnheiten
Sexualität in der Schwangerschaft ist ein Tabuthema. Schon in alten Zeiten wurde sexuelle Aktivität in der Schwangerschaft als ein potenzielles Risiko für den Fetus erachtet. Verschiedene Religionen sind gegen Geschlechtsverkehr während der Schwangerschaft, Hinweise finden sich im Koran, im Talmud und in Hinduskripten (Limner 1969; Andersen u. Fuchs 1993). Auch heutzutage fürchten sich viele werdende Eltern, durch Geschlechtsverkehr in der Schwangerschaft »Schaden« anzurichten. Es ist bekannt, dass sexuelle Aktivität während des 1. Trimenons abnimmt und im weiteren Verlauf der Schwangerschaft weniger wird. Einerseits fürchten die werdenden Eltern, eine Fehl- oder Frühgeburt auszulösen, andererseits ist die Schwangerschaft selbst mit einem Verlust des sexuellen Interesses assoziiert (Solberg et al. 1973).
Schwangere sollten informiert werden, dass Sexualität in der Schwangerschaft nicht mit Komplikationen assoziiert ist (NICE 2008).
13.8
Reisen in der Schwangerschaft
13.8.1
Risiken
Bei Flugreisen gibt es zwei potenzielle Risken: die Thrombosegefahr und die Strahlenbelastung. Die niedrigere Sauerstoffspannung durch den Kabinendruck, der auf einem Äquivalent einer Seehöhe von 5000–8000 Fuß (1524–2438 m über dem Meer) gehalten wird, beeinträchtigt die fetale Sauerstoffversorgung nicht. Die allgemeine Inzidenz symptomatischer Thrombosen nach Langstreckenflügen wird mit 1:500 bis 1:10.000 angegeben. Die Inzidenz der venösen Thromboembolien in der Schwangerschaft beträgt rund 0,1%. Es wird eine erhöhte Thrombosegefahr bei Flugreisen während der Schwangerschaft vermutet, obwohl es dazu keine Dokumentation gibt. Das zweite Problem bei Flugreisen ist die Strahlenbelastung. Je größer die Flughöhe, desto höher die kosmische Strahlung. Diese besteht zu 90% aus Protonenstrahlung. Die Jahresdosis, die bei einem Leben in großen Höhenlagen zustande kommt, ist allerdings auch nicht unbeträchtlich (Jahresdosis in der Schweiz ca. 500 mrem). Die Jahresdosis einer Flugzeugcrew beträgt pro Jahr 20–900 mrem (0,2–0,9 mSv). Das Dosisäquivalent durch berufliche Exposition sollte für das Ungeborene nicht mehr als 50 mrem (0,5 mSv) pro Monat betragen. Autoreisen stellen keine bekannte Gefährdung für die Schwangerschaft dar. Das Tragen eines Sicherheitsgurtes vermindert auch bei Schwangeren die Mortalität bei Unfällen. Vor Reisen können Impfungen notwendig werden. Prinzipiell können inaktivierte oder Totimpfstoffe, Toxoide und
13
220
Kapitel 13 · Lebensführung
Polysaccharide in der Schwangerschaft geimpft werden. Darunter fällt auch die Grippeimpfung, die sogar empfehlenswert ist. Lebendimpfstoffe sollen während der Schwangerschaft vermieden werden, obwohl das Risiko für Feten eher theoretisch ist. Beispiele für Lebendimpfstoffe sind Masern, Mumps, Röteln, Bacillus Calmette Guérin (BCG) und Gelbfieber. Malaria ist durchaus eine bedrohliche Situation in der Schwangerschaft. In 60% der Fälle kommt es zu einer Fehlgeburt, und die Müttersterblichkeit beträgt 10%. Weiters kann eine Infektion mit Hepatitis-E-Viren in der Schwangerschaft gefährlich werden. Hier beträgt die Mortalität 17–33%.
13.8.2
13
Beratung
Schwangere sollen angewiesen werden, nicht allein zu reisen. Das Wohlbefinden kann beträchtlich beeinflusst werden, und die typischen Beschwerden während einer Schwangerschaft wie Übelkeit, Müdigkeit und Beinkrämpfe können sich verschlechtern. Schwere Anämie (aufgrund der niedrigeren Sauerstoffspannung) gilt als relative Kontraindikation für eine Flugreise während der Schwangerschaft. Bei gesunden Schwangeren kann eine Risikominimierung für Thrombose durch reichliches Trinken und die Vermeidung von Alkohol und Kaffee erfolgen. Im Allgemeinen wird empfohlen, gut angepasste Stützstrümpfe zu tragen. Aufgrund der Strahlenbelastung wird in der Schwangerschaft eine Vermeidung von häufigen Langstreckenflügen empfohlen. Hierzu gibt es allerdings keine epidemiologischen Studien. Bei Autoreisen ist das richtige Tragen des Gurtes wichtig: Beim Dreipunktgurt sollte der Gurt oberhalb und unterhalb des Bauches verlaufen und keinesfalls quer über den schwangeren Bauch angelegt und getragen werden (7 Kap. 16.6). Zum Schutz vor Malaria gilt es, eine strenge Expositionsprophylaxe einzuhalten. Als prophylaktische Medikation kann Chloroquin und Proguanil verwendet werden und wenn nötig auch Mefloquin. Aufgrund der Gefahr von Hepatitis E ist es besonders wichtig, potenziell kontaminiertes Wasser und/oder kontaminierte Nahrung zu meiden (NICE 2008).
13.9
Höhenexposition in der Schwangerschaft
13.9.1
Leben auf großer Meereshöhe
Geschätzte 140 Mio. Menschen weltweit leben permanent auf über 2.500 m Meereshöhe. Das Leben in großer Höhe ist nach oben durch die zunehmende Hypoxämie begrenzt. Höchste menschliche Siedlungen finden sich in Chile bei 5.180 m, was naturgemäß eine Reproduktion in dieser Höhe erfordert. Hypobare Hypoxie die häufigste Ursache für fetomaternale Hypoxie (Moore et al. 1998). Babys, die in großer Höhe geboren werden, sind klein, und ihre Größe ist umgekehrt proportional zur Anzahl der Generationen von Vorfahren, die in großer Seehöhe gelebt haben (Zamudio et al. 1993). So gebären Aymaras und Quechuas in Südamerika und Tibetane-
rinnen größere Kinder als Frauen europäischer Abstammung in südamerikanischen Hochgebirgsregionen (Zamudio et al. 1993). Der Unterschied im Geburtsgewicht beträgt etwa 100 g pro 1000 m Höhenzunahme. Zur Adaptation an die große Höhe gehören u. a. Veränderungen im Thorax zur Verbesserung der Atemfunktion, in der Kapillardichte im Gewebe und in der Atemregulation. Es ist gezeigt worden, dass das Geburtsgewicht in dem Maße zunimmt, in dem die Schwangere in der Lage ist, ihr Atemminutenvolumen zu steigern (Huch 1996), und je größer das Lungenvolumen ist (McAuliffe et al. 2004). Es konnte gezeigt werden, dass das fetale Wachstum bei über mehrere Generationen adaptierten Schwangeren auf großer Meereshöhe ab der Mitte der Schwangerschaft signifikant geringer ist als bei einer ethnisch vergleichbaren Gruppe, die auf Meereshöhe lebt (Krampl et al. 2000). Diese Wachstumsrestriktion ist offenbar nicht auf verminderte Verfügbarkeit von Sauerstoff zurückzuführen (Zamudio et al. 2007). Die Sauerstoffspannung ist zwar im mütterlichen Blut deutlich niedriger (McAuliffe et al. 2001), der Hämatokrit ist jedoch höher (Kametas et al. 2004). Plazentastruktur und Durchblutung sind auf verbesserten Sauerstofftransport ausgerichtet (Espinoza et al. 2001; Krampl et al. 2001). Das niedrige Geburtsgewicht auf großer Meereshöhe ist möglicherweise auf den höheren Energieumsatz und auf die niedrige Insulinresistenz der Schwangeren (Krampl et al. 2001) zurückzuführen.
13.9.2
Akute und kurzfristige Exposition
Höhenexposition in der Schwangerschaft kann auch kurzfristig vorkommen, z. B. als akute Exposition beim Fliegen (entsprechend Höhen bis 2500 m; 7 Kap. 13.8) und bei Ski-, Wander- und Trekkingaktivitäten (Höhen zwischen 2.000 und 3.000 m). Es gibt für die menschliche Schwangerschaft nur wenige Untersuchungen, die Auswirkungen der akuten Höhenexposition in Verbindung mit körperlichen Aktivitäten auf den Fetus untersucht haben (Huch 1996). Da es bei Freizeitaktivitäten in der Höhe zu einer Kombination der Risiken aus Sport und Höhe kommt, wurde in den wenigen Studien aus Gründen der Vorsicht nur der Einfluss mäßiger Höhe mit moderater körperlicher Belastung untersucht. Aber bereits hier konnten in Einzelfällen fetale Bradykardien beobachtet werden.
13.9.3
Beratung
Die Empfehlungen bei geplanter Höhenexposition in der Schwangerschaft (meist kombiniert mit Sport) basieren nicht auf experimentellen Untersuchungen von Schwangeren, sondern auf einer Mischung aus höhenphysiologischen Kenntnissen, Befunden aus tierexperimentellen Untersuchungen, Erfahrungen aus dem Leben in großer Höhe und auf den Resultaten der wenigen systematischen Untersuchungen in der menschlichen Schwangerschaft (Jean et al. 2005). Demnach ist besondere Vorsicht geboten
221 Literatur
4 bei akuter Exposition in >3.000 m Höhe, 4 bei Sport in Höhen >2.500 m, 4 bei intensivem Sport in Höhen >2.000 m (v. a. in den ersten 3–4 Tagen des Aufenthalts), 4 bei Symptomen der Höhenkrankheit (beginnend 12 h nach Exposition), 4 bei Zusatzrisiken (Anämie, Rauchen, fetale Wachstumsrestriktion).
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13
222
13
Kapitel 13 · Lebensführung
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14 14 Schwangerschaft und Ernährung C. Tempfer, P. Bung 14.1
Allgemeine Empfehlungen – 224
14.1.1 14.1.2
Kindliche und mütterliche Morbidität – 224 Fleisch und Fisch – 224
14.2
Unterernährung/Überernährung, Makronährstoffe/Mikronährstoffe – 224
14.3
Energiebedarf, Gewichtszunahme, Ernährungsberatung – 225
14.4
Mikronährstoffe – 227
14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.4.4
Vitamine – 228 Mineralien und Spurenelemente – 235 Omega-3-Fettsäuren und Fisch – 239 Probiotika – 240
14.5
Schlussbetrachtung – 240
14.5.1
Ernährungsberatung – 240
Literatur – 241
H. Schneider et al. (eds.), Die Geburtshilfe © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
224
Kapitel 14 · Schwangerschaft und Ernährung
Eine ausgewogene und in manchen Bereichen gezielte Ernährung kann sowohl zum Wohlbefinden der werdenden Mutter als auch zur Gesundheit des Kindes beitragen. Eine fundierte Information der Schwangeren gehört daher zu den wichtigsten Aufklärungsinhalten der Schwangerenbetreuung durch den Frauenarzt. In der Folge sollen einschlägige Informationen aufgelistet werden, um eine gezielte Beratung zu erleichtern.
14.1
Allgemeine Empfehlungen
14.1.1
Kindliche und mütterliche Morbidität
Body-Mass-Index (BMI) 4 BMI = Körpergewicht [kg]/Körpergröße [m²]
14
Ein präkonzeptioneller maternaler BMI 35 – unabhängig von der schwangerschaftsbedingten Gewichtsveränderung mehr Schwangerschaftkomplikationen als normalgewichtige Patientinnen. Verlieren diese übergewichtigen Frauen in der Schwangerschaft Gewicht oder halten ihr Gewicht, so ist dies ebenfalls mit einem erhöhten Risiko für ein niedriges fetales Geburtsgewicht (16 kg steigt wiederum das Risiko für ein fetales Geburtsgewicht >4.000 g stark an. Insgesamt ist daher aus diesen Gründen auch bei Frauen mit einem erhöhten präkonzeptionellen BMI eine moderate Gewichtszunahme in der Schwangerschaft von 6–11 kg empfehlenswert (Jensen et al. 2005).
14.1.2
Fleisch und Fisch
Rohes oder halbgares Fleisch (Steak, Hackfleisch, Tartar, Salami, Geflügel, Sushi u. v. a.) sollte wegen der Gefahr einer Infektion mit Parasiten oder Bakterien wie Toxoplasmen, Listerien oder Salmonellen in der Schwangerschaft nach Möglichkeit überhaupt nicht konsumiert werden. Auch auf den Verzehr von Leber sollte aufgrund des hohen Vitamin-A-Ge-
halts (embryotoxisch) in den ersten 3 Schwangerschaftsmonaten gänzlich verzichtet und später in der Schwangerschaft auf eine Mahlzeit pro Woche beschränkt werden. Aufgrund der Gefahr von Schadstoffrückständen ist der Verzehr von Innereien in der Schwangerschaft ebenfalls nicht empfehlenswert. Fischmahlzeiten sollten aufgrund des möglichen Gehalts an Quecksilber und Dioxinrückständen auf eine Mahlzeit pro Woche beschränkt werden. Fleisch (Rind, Lamm, Schwein) sollte zur Ernährung einer Schwangeren gehören, da rotes Fleisch einen hohen Gehalt an dem für die Schwangerschaft wichtigen Eisen aufweist.
Zu vermeidende Lebensmittel in der Schwangerschaft 4 Nicht pasteurisierte Milch oder Rohmilchkäse → Gefahr der Infektion mit Listerien 4 Weichgekochte oder nicht durchgebratene Eier → Gefahr der Infektion mit Salmonellen 4 Speisen, die aus rohen Eiern zubereitet wurden, z. B. Tiramisu 4 Rohes oder halbgares Fleisch und Fisch, z. B. Steak, Hackfleisch, Tartar, Salami, Geflügel, Sushi → Gefahr der Infektion mit Toxoplasmen, Listerien, Salmonellen 4 Mehr als eine Fischmahlzeit pro Woche folgender Sorten: Aal, Hai, Thunfisch, Heilbutt, Rotbarsch, Seeteufel, Steinbeißer, Hecht → Gefahr durch Quecksilber- und Dioxinrückstände 4 Keine Lebermahlzeit in den ersten 3 Monaten und nicht mehr als eine Lebermahlzeit pro Woche danach → Gefahr der Vitamin-A-Überdosis mit möglicher Embryotoxizität 4 Innereien → Gefahr durch Schadstoffrückstände 4 Ungewaschene Salate, Früchte und Gemüse → Gefahr der Infektion durch Toxoplasmen und Fuchsbandwurm 4 Speiseeis aus Straßenverkauf → Gefahr der Infektion mit Salmonellen 4 Keine Eiswürfel aus unsicheren hygienischen Verhältnissen 4 Alkoholische Getränke
14.2
Unterernährung/Überernährung, Makronährstoffe/Mikronährstoffe
Grundsätzlich besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Nährstoffzufuhr und dem Wachstum der Plazenta und des Fetus. Im Tiermodell zeigt sich, dass eine Verminderung der Nährstoffzufuhr während der Gesamtdauer der Schwangerschaft oder während der 2. Schwangerschaftshälfte zu einem signifikant geringeren Geburtsgewicht von Plazenta und Fetus führt und auch mit einer Reduktion der Zahl an Nachkommen assoziiert ist (Griggio et al. 1997). Ähnliches gilt auch für den Menschen. In der bekannten Dutch Famine Study wurden Frauen nachuntersucht, die während der Hungersnot im Amsterdam des Jahres 1945 eine
225 14.3 · Energiebedarf, Gewichtszunahme, Ernährungsberatung
Schwangerschaft ausgetragen hatten (Lumey 1998). Analog zu den experimentellen Daten im Tiermodell war eine verminderte Nährstoffzufuhr während der Gesamtdauer der Schwangerschaft mit einem im Mittel um 300 g verminderten Geburtsgewicht assoziiert. Bemerkenswert ist jedoch, dass sowohl im Tiermodell als auch in der Dutch Famine Study eine Situation der Unterernährung ausschließlich während des 1. Trimesters der Schwangerschaft einen gegenteiligen Effekt zeigte. Neugeborene von Frauen mit Verminderung der Nährstoffzufuhr am Beginn der Schwangerschaft hatten nicht nur ein normales Geburtsgewicht, sondern auch ein deutlich höheres Plazentagewicht. Diese Beobachtung wurde auch in einer Vielzahl von Tierexperimenten bestätigt (Heasman et al. 1998). Vermindert man beispielsweise die Nährstoffzufuhr des trächtigen Schafes in der 1. Schwangerschaftshälfte um 50%, so führt dies zu einer signifikanten Steigerung des Plazentagewichts bei Termingeburt. Umgekehrt bewirkt eine Steigerung der Nährstoffzufuhr in der 1. Schwangerschaftshälfte im Schafmodell eine Verminderung des Geburtsgewichts der Lämmer um durchschnittlich 28% sowie eine Verminderung des Plazentagewichts um durchschnittlich 33% (Wallace et al. 1997). Untersuchungen am Princess Anne Maternity Hospital haben gezeigt, dass auch beim Menschen eine vermehrte Zufuhr von Nährstoffen in der Frühschwangerschaft, etwa durch eine besonders kohlenhydratreiche Diät, das Plazentawachstum unterdrückt und eine Verminderung des Geburtsgewichts von Fetus und Plazenta zur Folge hat (Godfrey et al. 1996). > Insgesamt zeigen diese Daten einen direkten positiven Einfluss einer verminderten Zufuhr von Nährstoffen in der Frühschwangerschaft auf das Wachstum der fetoplazentaren Einheit.
Als Erklärung dieses Phänomens wird eine günstigere Nährstoffaufteilung zwischen Mutter und Fetus (»nutrient partitioning«) in einer Mangelsituation angenommen. Konkret wird im Gegensatz zum plazentaren Wachstum das fetale Wachstum in der Frühgravidität v. a. durch IGF-2 gesteuert. Mütterliches Fasten führt zu einer Reduktion mütterlicher IGF-1-Serumspiegel, die fetalen IGF-2-Serumspiegel werden aber dadurch nicht beeinflusst. Bei Bestehen einer Hyperemesis gravidarum erlaubt dieser Umstand dem Fetus, trotz insgesamt verminderter Nährstoffzufuhr, überproportional von den vorhandenen Nährstoffen zu profitieren. Im 2. Trimenon der Schwangerschaft tritt der Beschwerdekomplex von Übelkeit und Erbrechen in den Hintergrund, gleichzeitig erfolgt eine Umstellung der fetalen Wachstumssteuerung von IGF-2 auf IGF-1 (Robinson et al. 1995; Gluckman u. Harding 1997). Die in der Frühschwangerschaft durch Übelkeit und Erbrechen hergestellte Mangelsituation führt demnach zu einem relativen Vorteil für die Versorgung des Fetus und der Plazenta mit Nährstoffen. Damit in Übereinstimmung stehen auch die Ergebnisse einer Reihe von Studien, die einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Übelkeit (bzw. Übelkeit und Erbrechen) in der Schwangerschaft und einem günstigen Schwangerschaftsverlauf dokumentieren. In einer Studie an >400 Frauen zeigten Tierson et al. (1986), dass betroffene
Frauen seltener einen Spontanabort hatten und einen geringeren Anteil an fetalen Wachstumsrestriktionen aufwiesen als Frauen ohne Übelkeit und Erbrechen. Ein geringeres Risiko für Spontanabort, Frühgeburtlichkeit und Wachstumsrestriktion sowie eine geringere perinatale Mortalität sind in der Literatur für Frauen mit Hyperemesis gravidarum beschrieben (Jarnfelt et al. 1983; Weigel u. Weigel 1988). In einer Metaanalyse von 11 diesbezüglichen Studien wurde eine signifikante Assoziation zwischen Übelkeit und Erbrechen in der Frühschwangerschaft und einem verminderten Risiko für Frühund Spätabort nachgewiesen (Weigel u. Weigel 1989). Tipp Eine übermäßige Nahrungszufuhr in der Frühschwangerschaft scheint daher nicht empfehlenswert zu sein.
Im Mitteleuropa der heutigen Zeit stellt nicht die Unterernährung, sondern die kalorische Übersättigung das vorherrschende Ernährungsproblem dar. Die Folgen einer übermäßigen Gewichtszunahme sind für die Schwangere und ihr Kind schwerwiegend. Sie reichen von der Ausbildung von Stoffwechselstörungen (z. B. erhöhte Inzidenz an Gestationsdiabetes) über ein gehäuftes Auftreten von Präeklampsien und Frühgeburten bis hin zu zahlreichen mechanischen Problemen unter der Geburt (Weichteil- und/oder Schulterdystokie). Die Überschreitung des durch die Schwangerschaft erhöhten Energiebedarfs um im Mittel lediglich etwa 13% (7 unten) wird häufig durch »leere Kalorien« bewirkt; dies führt letztlich dazu, dass im Alltag trotz der energetischen Überversorgung mit Makronährstoffen (Proteine, Kohlenhydrate und Fette) Defizite in der Bedarfsdeckung von Mikronährstoffen (Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente) auftreten. Dabei kristallisiert sich ganz allgemein in den westlichen Industriestaaten die ausreichende Zufuhr dieser Stoffe als ein wachsendes Problem heraus – Folge veränderter Verzehrgewohnheiten und Lebensmittelzubereitungen. Und wenn es schon dem Normalverbraucher nicht immer gelingt, eine optimale Versorgung sicherzustellen, so ist unter dem physiologischen Sonderumstand »Schwangerschaft und Laktation« eine ausreichende Zufuhr von Mikronährstoffen häufig nicht mehr gewährleistet.
14.3
Energiebedarf, Gewichtszunahme, Ernährungsberatung
Die vorliegenden Daten zur Frage des Energiebedarfs in der Schwangerschaft lassen die Annahme zu, dass für die adäquate kalorische Versorgung des Fetus ein unterer Schwellenwert für die tägliche Gesamtkalorienaufnahme in Höhe von 1.500–1.800 kcal definiert werden kann (Lechtig u. Klein 1981; Schneider 1985). Erst bei einer kontinuierlichen Unterschreitung dieses Angebots kommt es zu einer signifikanten Erniedrigung des Geburtsgewichts. Andererseits kann aus dem Umstand, dass die genannte kritische Kalorienmenge normalerweise unter der täglichen Kalorienaufnahme erwachsener Frauen in Deutschland liegt,
14
226
Kapitel 14 · Schwangerschaft und Ernährung
und unter Zugrundelegung eines mütterlichen Gewichtsanstiegs in der Schwangerschaft um 12–13 kg, der sich aus etwa 4 kg Fett, 1,6 kg Proteinen und 6,9 l Wasser rekrutiert, geschlossen werden, dass die kalorische Versorgung in der Schwangerschaft hierzulande kein Problem sein dürfte, auch wenn sich im Gestationsverlauf ein mittlerer täglicher Energiemehrbedarf von 300 kcal (ca. 13%) aufpfropft. Dies entspricht einem kumulativen Mehrbedarf an Energie von etwa 85.000 kcal, der sich auf die verschiedenen Phasen der Schwangerschaft unterschiedlich verteilt (Thomson u. Hytten 1980; Hytten 1991). Der Mehrbedarf an Nährstoffen und Energie in der Schwangerschaft wird z. T. durch eine gesteigerte Nahrungsaufnahme abgedeckt. Zusätzlich wird er durch Veränderungen der Nahrungsverwertung gewährleistet, wobei besonders die Resorption und die Bioverfügbarkeit für einzelne Stoffe, z. B. Mikronährstoffe, zunehmen. Laut Literaturangaben ist jedoch speziell der Energiehaushalt mit den Komponenten »gewebegebundene Energie«, »Energieumsatz« und »Energiezufuhr« sehr variabel. Tipp Die durchschnittliche tägliche Kalorienaufnahme der Schwangeren sollte ca. 2.500-2.700 kcal betragen.
14
Abhängig vom Body-Mass-Index vor einer Schwangerschaft sind laut Empfehlungen des Institute of Medicine der USamerikanischen National Academy of Sciences (Siega-Riz et al. 1994) die in . Tab. 14.1 genannten Gewichtszunahmen während der Schwangerschaft optimal. Durchschnittlich nehmen jedoch nur ca. 30% der schwangeren Frauen an Gewicht im empfohlenen Bereich zu. In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass die Gewichtszunahme durch unterschiedliche maternale Faktoren (BMI präkonzeptionell, Größe, Parität, Bildungsgrad, Nikotinabusus, Hypertonie, Ethnie und kindliches Geschlecht) beeinflusst wird. Das Ausmaß der Gewichtszunahme während der Schwangerschaft hat einen Einfluss auf Schwangerschaftsdauer und Schwangerschaftskomplikationen. In einer kanadischen populationsbasierten Kohortenstudie wurden bei Frauen mit normalem BMI vor der Schwangerschaft und einer überdurchschnittlichen Gewichtszunahme erhöhte Raten von Hypertonie und Makrosomie sowie häufigere Geburtseinleitun-
. Tab. 14.1. Optimale Gewichtszunahmen während der Schwangerschaft in Abhängigkeit vom prägraviden BMI nach National Academy of Sciences (USA)
BMI [kg/m2]
Gewichtszunahme [kg]
26,1
11,4–15,9 6,8–11,4
gen registriert. Bei übergewichtigen Frauen war eine überdurchschnittliche Gewichtszunahme in der Schwangerschaft mit erhöhten Raten von Hypertonie, Makrosomie und neonatalen metabolischen Auffälligkeiten assoziiert. In allen Gruppen von Frauen war eine überdurchschnittliche Gewichtszunahme in der Schwangerschaft mit einem erhöhten Risiko für Schwangerschaftskomplikationen assoziiert (Crane et al. 2009).
Studienbox Eine Longitudinalstudie von Goldberg et al. (1993) zeigte bei Probandinnen erhebliche Unterschiede der mittleren Gewichtszunahme, wobei diese Variabilität in erster Linie durch die Zunahme des Fettgewebes bedingt war; die mittlere Zunahme an Fettgewebe betrug 2,8 kg und schwankte zwischen –2,54 und +6,39 kg. Eine ähnliche Variabilität fand sich bei der Entwicklung des Grundumsatzes in der ersten Schwangerschaftshälfte, die bei einzelnen Frauen abnahm und bei anderen zunahm; im untersuchten Gesamtkollektiv war erst in der 36. SSW eine Erhöhung des mittleren Wertes gegenüber den Nichtschwangeren erreicht. Insbesondere schlanke Frauen zeigten eine initiale Abnahme, was einer »Sparschaltung« des Energiehaushalts entsprechen könnte. Ebensolche individuellen Unterschiede wies der Gesamtenergieumsatz auf. Die Differenz zwischen Gesamtenergieumsatz und Grundumsatz ist ein Indikator für die körperliche Aktivität, die im 1. und 2. Trimenon erhöht ist. Erst bei den Messungen zwischen der 30. und 36. SSW war in der Mehrzahl der Fälle eine Abnahme des Energieumsatzes für körperliche Aktivität zu verzeichnen. Die Kalorienaufnahme war bereits in der Frühschwangerschaft erhöht und blieb dann bis zur 36. SSW mehr oder minder konstant; hierbei resultierte eine bis heute ungeklärte Diskrepanz zwischen dem gemessenen Mehrbedarf an Energie und der auf den Angaben der Schwangeren basierenden Steigerung der Energiemehraufnahme.
Auch aufgrund dieser Überlegungen sollte bei der Ernährungsberatung auf folgende wichtige Faktoren geachtet werden: 4 Die Beurteilung der Gewichtszunahme darf keinen starren Regeln folgen. Insbesondere sollte zu Beginn der Schwangerschaft ein Über- oder Untergewicht der Graviden berücksichtigt werden. Dabei gilt als Richtwert der prägravide Body-Mass-Index (BMI; kg/m2) mit den in . Tab. 14.2 genannten Empfehlungen. 4 In der Spätschwangerschaft können pathologische Verschiebungen des Wasserhaushalts zu Fehlbeurteilungen führen. 4 Die genannten Werte sind Mittelwerte für die Energiezufuhr. Starke körperliche Aktivitäten durch Beruf oder Sport müssen ihren Niederschlag in einer individuell angepassten Ernährung finden. Während bei der Mehrzahl der Schwangeren in unserer Gesellschaft eine Steigerung der Gesamtkalorienaufnahme nicht angezeigt ist, bedarf die Aufteilung einer Korrektur: So werden zu viele Kalo-
227 14.4 · Mikronährstoffe
. Tab. 14.2. Beurteilung der Gewichtszunahme während der Schwangerschaft in Abhängigkeit vom prägraviden BMI
Prägravider BMI [kg/m2]
Klassifikation
Physiologische oder wünschenswerte Gewichtszunahme [kg]
29
Starkes Übergewicht
Wenn der Erhöhung des Bedarfs an Mikronährstoffen nicht Rechnung getragen wird, kann es in allen Phasen der Schwangerschaft zu klinisch fassbaren Störungen kommen. Diese bestehen im Tierversuch in Wachstumsrestriktion oder kongenitalen Anomalien und können sich im Vorfeld häufig durch biochemische und morphologische Parameter manifestieren.
14
228
Kapitel 14 · Schwangerschaft und Ernährung
. Tab. 14.3. Reservekapazität für ausgewählte Nährstoffe. (Nach Kübler 1987)
. Tab. 14.4. Empfehlungen zur Mehrzufuhr von Mikronährstoffen in der Schwangerschaft
Nährstoff
Zeitraum
Nährstoff
Mehrbedarf
Natürliche Quellen
Vitamin A
1–2 Jahre
Empfohlene Gesamtzufuhr
Vitamin D
2–4 Monate
Vitamin A
0,3 mg (38%)
1,1 mg
Pflanzen, Leber, Lebertran
Vitamin B1
4–10 Tage Vitamin D
0
5 mg
Vitamin B2
2–6 Wochen
Vitamin B6
2–6 Wochen
Margarine, Kalbfleisch, Seefisch, Milch
Vitamin B12
2–5 Jahre
Vitamin B1
0,2 mg (20%)
1,2 mg
Weizenkeime, Nüsse
Folsäure
2–4 Monate Vitamin B2 2–6 Wochen
0,2 mg (20%)
1,2 mg
Vitamin C
Milch, Eier, Nüsse, Fisch
Vitamin K
2–6 Wochen
Vitamin B6
0,7 mg (63%)
1,9 mg
Bohnen, Nüsse, Bananen
Eisen
1–1,5 Jahre 10–20 Jahre
Vitamin B12
0,5 mg (17%)
3,5 mg
Kalzium
Leber, Eier, Nieren, Käse
Folsäure
0,4 mg (100%)
0,8 mg
Leber, Hefe, Spinat, Korn
Vitamin C
10 mg (10%)
110 mg
Zitrusfrüchte, Gemüse, Obst
Vitamin K
0
60 mg
Pflanzen, Früchte, Leber
Eisen
15 mg (100%)
30 mg
Fleisch, Gemüse
Iod
30 μg (15%)
230 μg
Seefisch, Muscheln, Milch, Eier
Kalzium
0–200 mg (20%)
1000– 1200 mg, je nach Alter
Milch, Korn, Milchprodukte, Gemüse
Magnesium
0
300–310 mg, je nach Alter
Gemüse, Bananen, Milch
Fluorid
0
1 mg
Wasser, Saft, Milch
Zink
3 mg (40%)
10 mg
14.4.1
14
Vitamine
Vitamine können vom menschlichen Körper nicht synthetisiert werden, der damit auf die exogene Zufuhr angewiesen ist. Grundsätzlich werden die in fett- oder wasserlösliche Vitamine unterschiedenen Wirkstoffe für zahlreiche Stoffwechselvorgänge benötigt; der Mensch nimmt sie aus tierischen und pflanzlichen Quellen auf. Eine unzureichende Zufuhr kann zu manifesten Erkrankungen führen, wie sie landläufig für Vitamin C in Form des Skorbuts bekannt ist. Für den Zeitraum der Schwangerschaft wird eine Abschätzung oder gar eine Festsetzung des Vitaminstatus (und auch des Mineralstatus) insbesondere für das einzelne Individuum durch das Fehlen schwangerschaftsspezifischer Messwerte erschwert. Deren Erarbeitung und dynamische Entwicklung im Rahmen der Schwangerschaft sowie die Beschreibung möglicher Mangelerscheinungen würde kontrollierte Longitudinalstudien – auch mit systematischer Vorenthaltung der Wirkstoffe – erfordern; diese verbieten sich aus ethischen Gründen. Insofern ist ein großer Teil unseres Wissens und damit auch der Empfehlungen rudimentär und beruht auf Erfahrungen im Tierversuch, aus Einzelbeobachtungen oder aus Schätzungen über einen Mehrbedarf, die wiederum auf folgenden Grundüberlegungen (mod. nach Kübler 1988) basieren: 4 Auswirkung der hormonellen Veränderungen im Organismus der Schwangeren auf den Nahrungs- und Nährstoffumsatz; 4 Nährstofftransfer von der Mutter auf den Embryo/Fetus; 4 Nährstoffverluste durch erhöhte Exkretion (z. B. via Niere), durch erhöhte Syntheseleistung (z. B. Vergrößerung der Mammae und des Plazentagewebes), durch Abgabe ins Fruchtwasser oder Verluste unter der Entbindung.
Fleisch, Getreide, Milch
Empfohlene Energiezufuhr in der Schwangerschaft: 2.500 kcal (Mehrbedarf 300 kcal = 13,5%).
In . Tab. 14.4 sind Empfehlungen zur Mehrzufuhr der einzelnen Vitamine und Mineralstoffe in der Schwangerschaft sowie deren natürliche Herkunft bzw. Quellen aufgeführt.
Vitamin A Die klinische Wirkung von Vitamin A bei der Behandlung der Nachtblindheit ist in der Medizingeschichte seit langem bekannt, jedoch wurde dieses fettlösliche Vitamin erst 1913 in
229 14.4 · Mikronährstoffe
seiner Funktion als Antiexophthalmikum von McCollum und Davis beschrieben (Bässler et al. 1992). Vitamin A ist ein Oberbegriff für natürliche und synthetische Verbindungen mit ähnlicher chemischer Struktur, jedoch unterschiedlicher Wirkungsweise. Unter biologisch-medizinischen und auch toxikologischen Aspekten werden unter Vitamin A jedoch nur das Retinol und seine Ester verstanden, wogegen Retinoide Verbindungen mit Vitamin-A-Aktivität, jedoch ohne das komplette Wirkspektrum – z. B. Einfluss auf Spermatogenese oder Sehzyklus –sind. Wichtige Schwerpunkte der zahlreichen Wirkmechanismen sind: 4 Wachstum, Entwicklung und Differenzierung von Epithelgewebe, 4 Reproduktion (Spermatogenese, Embryogenese, Fetalentwicklung, Entwicklung der Plazenta), 4 Testosteronproduktion, 4 Sehvorgang. Die Aufnahme des Vitamins in den tierischen und menschlichen Organismus erfolgt mit der Nahrung in Form der in der Pflanzenwelt vorkommenden und als Provitamin A bezeichneten Carotinoide (α,- β- und γ-Carotin); diese finden sich in Möhren, dunkelgrünem Blattgemüse, Tomaten, Mais und Orangen. Hauptsächlich in den Zellen der Darmmukosa erfolgt dann die enzymatische Überführung in Vitamin A. Die bedeutendste natürliche Quelle an bereits vorgebildetem Vitamin A liegt in tierischen Produkten; dabei weisen Leber, Butter und Eiweiß, aber auch Fischprodukte wie Haifisch und Heilbutt einen besonders hohen Gehalt auf. Auch Meeressäuger (z. B. Polarbär) sind äußerst reich an Vitamin A, sodass bei einseitiger Ernährung oder vornehmlicher Zufuhr von Leberprodukten dieser Tiere, wie sie von Eskimos bekannt ist, Intoxikationen beschrieben sind. In verschiedenen Ländern der Dritten Welt stellt der Vitamin-A-Mangel heute noch ein vorrangiges Problem dar. Dagegen ist in Mitteleuropa bei gemischter Kost die Versorgung mit Vitamin A kein prominentes Problem. Der tägliche Bedarf gilt mit der Aufnahme von 1 mg Vitamin A pro Tag als gedeckt; lediglich bei einseitig pflanzlicher Kost kann dieser Bedarf evtl. unterschritten werden.
Studienbox Eine systematische Übersichtsarbeit der Cochrane Collaboration über 5 Studien zur Vitamin-A-Substitution an 23.426 Schwangeren ergab in der Gruppe der substitutierten Frauen eine signifikante Reduktion der maternalen Mortalität sowie der Rate an Anämien (Van et al. 2002). Allerdings wurden diese Studien in Ländern wie Nepal und Indonesien durchgeführt, sodass sich eine seriöse Empfehlung für Frauen in Mitteleuropa aus diesen Daten nicht ableiten lässt.
Eine Vitamin-A-Unterversorgung, definiert als Plasmawert Während das teratogene Potenzial von natürlichem Vitamin A noch nicht eindeutig geklärt ist, sind die synthetischen Retinoide in hohem Maße teratogen. Da diese Stoffe therapeutisch genutzt werden, ist im gebärfähigen Alter besondere Vorsicht indiziert. Tipp Eine generelle Vitamin-A-Substitution in der Schwangerschaft ist aufgrund der derzeit verfügbaren Daten nicht empfehlenswert.
Vitamin D
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Vitamin D ist ein Oberbegriff für eine Anzahl von Verbindungen, deren wichtigste Vitamin D2 (Ergocalciferol) und Vitamin D3 (Cholecalciferol) sind. Diese spielen mit ihren aktiven Metaboliten eine entscheidende Rolle im Kalzium- und im Phophorstoffwechsel. Allgemein bekannt ist die antirachitische Wirkung, die 1922 von McCollum über den Nachweis erbracht wurde, dass Fischlebertran einen Wirkstoff enthält, der für den Knochenstoffwechsel essenziell ist (Bässler et al. 1992). Neben der zentralen Position im Gleichgewicht des Knochenmetabolismus übt dieses gleichzeitig als Vorstufe für hormonartige Wirkstoffe geltende Vitamin seine biochemische Funktion hauptsächlich an den Zielorganen Darm, Niere und Nebenschilddrüse aus. Dabei wird in der Darmschleimhaut die Kalzium- und Phosphatresorption gefördert, in den Knochen die Mobilisation dieser Stoffe und die Mineralisation, und in der Niere deren Rückresorption. Über die Nebenschilddrüse besteht eine wechselseitige Beziehung zum Parathormon. Als Vitamin-D-Quellen gelten für Cholecalciferol z. B. Seefisch sowie insbesondere Fischöle und für Ergocalciferol z. B. Milch und Milchprodukte. Das mit der Nahrung aufgenommene Vitamin wird nach passiver Diffusion im Dünndarm unter der Einwirkung von Gallensalzen resorbiert. Daneben wird Vitamin D allerdings in größerem Umfang in der Haut aus 7-Dehydrocholesterin unter der Einwirkung von UV-B-Strahlung synthetisiert; insofern können Jahreszeit und Sonnenstand, aber auch Luftverschmutzung und Art und Dauer einer Sonnenexposition die Gesamtmenge des Vitamins erheblich beeinflussen. Für bestimmte Bevölkerungsgruppen mit erhöhtem Risiko einer Unterversorgung (Menschen mit stärker pigmentierter Haut; industrielle Ballungsgebiete; Regionen mit geringer Sonnendauer) ergibt sich daher die Empfehlung zur bewussteren Zufuhr über die Nahrung, der teilweise, wie z. B. in Milchprodukten oder Obstsäften, Vitamin D zugesetzt ist, oder ggf. auch zu einer regelmäßigen medikamentösen Supplementierung. Eine systematische Literaturanalyse der Cochrane Collaboration fand lediglich 2 kontrollierte Interventionsstudien mit Vitamin D an insgesamt 232 Schwangeren (Mahomed et al. 2000). Diese Studien zeigten kontroverse Resultate,
sodass eine eindeutige Aussage über den Effekt einer Vitamin-D-Substitution in der Schwangerschaft nicht möglich ist. Das klassische Bild des Vitamin-D-Mangels – die Rachitis beim Kind und die Osteomalazie beim Erwachsenen – dürfte in Mitteleuropa auch für den Zeitraum der Schwangerschaft eher selten sein. Dagegen kann eine Indikation zur aktiven Supplementierung vor, während und nach dieser Phase beim Menschen entstehen, wenn eine durch einseitige Ernährung zu geringe alimentäre Vitamin-D-Zufuhr oder – z. B. auch durch strenge Kleidervorschriften (Gesicht- und Armschleier) – eine ungenügende UV-Exposition besteht; daneben können intestinale (Malabsorption), hepatische und renale Defekte Anlass zu prophylaktischer und/oder therapeutischer Gabe sein.
Studienbox Untersuchungen an relativ stark vom Vitamin-D-Mangel betroffenen asiatischen Frauen zeigten positive Effekte einer zusätzlichen Gabe dieses plazentagängigen Vitamins auf das neonatale Geburtsgewicht und auf die hypokalzämischen Risiken der Neugeborenen. Während der Laktation führte im Tierversuch ein ernährungsbedingter Mangel dieses Vitamins zu fetalen und maternalen Hypokalzämien bis hin zur Tetanie. Ob außerdem Frühgeburtlichkeit ein Grund für ein kindliches Vitamindefizit darstellt, ist umstritten (Mimouni u. Tsang 1995).
Eine Überdosierung dieses fettlöslichen Vitamins ist durch die oben beschriebenen natürlichen Aufnahmemechanismen ausgeschlossen. Umgekehrt kann eine über die empfohlene Aufnahme hinaus durchgeführte exzessive und unkontrollierte Eigensupplementierung klinisch zu Intoxikationserscheinungen führen (Erbrechen, Schwindel, Muskelschwäche). Tipp Eine generelle Vitamin-D-Substitution in der Schwangerschaft ist aufgrund der derzeit verfügbaren Daten nicht empfehlenswert.
Vitamine der B-Gruppe Vitamin B1 (Thiamin). Vitamin B1 fungiert als Koenzym im Intermediärstoffwechsel fast aller Körperzellen. Es kommt in Fleischwaren, Mehl und Getreideprodukten vor. Wenngleich in der Normalbevölkerung aufgrund der derzeit herrschenden Ernährungsgewohnheiten eher von einer defizitären, zumindest aber marginalen Versorgung ausgegangen werden muss, finden sich die klinischen Symptome eines Mangels in Form von kardiovaskulären und neurologischen Störungen bis hin zur klassischen Beriberi selten. Die infantile Form dieser Avitaminose beim gestillten Neugeborenen ist Folge einer unzureichenden Versorgung bzw. eines schweren Thiaminmangels der Mutter. Als Haupt-
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ursache für einen Mangel gelten in den entwickelten Industrieländern eine unausgewogene Ernährung und der Alkoholkonsum. Vitamin B2 (Riboflavin). Vitamin B2 dient als Koenzym bei
verschiedenen Oxidations- und Reduktionsreaktionen. Es findet sich weit verbreitet in tierischen und pflanzlichen Produkten, insbesondere in Milch und Milchprodukten sowie in Fleisch und Fisch. Die von der DGE empfohlene Aufnahme von 1,2 mg für Frauen und die Zulage von 0,3 mg für Schwangere bzw. 0,4 mg in der Stillzeit dürfte über die tägliche Nahrungsaufnahme abgedeckt sein. Entsprechend selten finden sich Mangelsymptome wie entzündliche Veränderungen der Schleimhäute oder Störungen der intestinalen Eisenresorption mit den Folgen einer Anämie. Vitamin B6 . Vitamin B6 ist ein Sammelbegriff für viele vitaminwirksame 3-Hydroxy-2-Methylpyridin-Derivate mit der biologischen Aktivität des Pyridoxins. Es ist an zahlreichen enzymatischen Reaktionen in den verschiedensten Bereichen des Stoffwechsels beteiligt (z. B. Aminosäuresynthesestimulierung der humoralen und zellulären Immunabwehr). > Obwohl Vitamin B6 nahezu ubiquitär verbreitet ist (Fleisch, Frischgemüse, Brot, Getreideprodukte), sind die Ergebnisse von Untersuchungen über die Bedarfsdeckung von 1,6 mg/Tag für Frauen und einer Zulage von 1 mg für Schwangere bzw. 0,6 mg für Stillende teils kontrovers. So weisen 10–13% der Frauen im gebärfähigen Alter eine unzureichende Versorgung auf. Dabei findet sich ein klinisch fassbarer Mangel häufig in Verbindung mit einer Unterversorgung mit anderen B-Vitaminen.
Bei 15–20% der Frauen mit längerer Einnahme von hormonellen Kontrazeptiva wurde ein Pyridoxinmangel festgestellt. Hieraus oder aus einer inadäquaten Aufnahme des Vitamins können sich in einer folgenden Schwangerschaft bzw. insbesondere durch längeres Stillen Konsequenzen ergeben, die für die Mutter klinisch minder gravierend sind; die daraus erwachsende marginale Versorgung in der Schwangerschaft kann aber insbesondere dann eine kritische Steigerung für die Mutter gegenüber dem 3. Trimenon erfahren, wenn die Mutter über längere Zeit stillt. Schwerwiegender sind allerdings die (durch Zufuhr schnell reversiblen) Konsequenzen beim brustgefütterten Kind wie Ataxie, Tremor und Krämpfe. Vitamin B12 (Cobalamin). Vitamin B12 kann nur durch bestimmte Mikroorganismen synthetisiert werden; daher ist der Mensch auf die Zufuhr dieses Vitamins mit der Nahrung (tierische Produkte) angewiesen; rein vegetarische Kost ist frei von Vitamin B12. Es übt seine Funktion hauptsächlich bei der Neubildung schnell proliferierender Körperzellen aus, z. B. im zentralen Nervensystem und bei der Blutneubildung.
Studienbox Eine systematische Literaturanalyse der Cochrane Collaboration identifizierte 5 kontrollierte Interventionsstudien an 1.646 Schwangeren. Eine Vitamin-B-Substitution führte mit Ausnahme einer fraglichen Reduktion von maternalen Zahnproblemen (relatives Risiko 0,84; 95%-CI 0,71–0,98) zu keiner klinisch relevanten Verbesserung der untersuchten Schwangerschaftsparameter (Thaver et al. 2006).
Tipp Eine generelle Vitamin-B-Substitution in der Schwangerschaft ist aufgrund der derzeit verfügbaren Daten nicht empfehlenswert.
Folsäure Folsäure Unter der Bezeichnung Folsäure werden alle Verbindungen zusammengefasst, die als chemische Bestandteile einen Pteridinring, eine Para-Aminobenzoesäure und einen oder mehrere Glutaminsäurereste enthalten. Diese Verbindungen können durch höhere Pflanzen und die meisten Mikroorganismen synthetisiert werden und finden sich weit verbreitet in Nahrungsmitteln, besonders reichlich in grünem Blattgemüse, in Leber, Hefe und Vollkornprodukten.
Die Ergebnisse der Nationalen Verzehrstudie von 1991 zeigen, dass die Folataufnahme in nahezu allen Bevölkerungsgruppen unter den Empfehlungen der DGE liegt (DGE 1991). Vergleicht man diese Empfehlungen für Schwangere mit denen für menstruierende Frauen im gebärfähigen Alter, so steht dem im 2. und 3. Schwangerschaftsdrittel erhöhten Energiebedarf (13%) bereits früh in der Schwangerschaft eine Bedarfserhöhung an Folsäure um 100% gegenüber. Folat wird nach der Aufnahme über einzelne biochemische Schritte für die Aufnahme im Darm umstrukturiert und dort, auf Zellebene, zu der biologisch wirksamen Form reduziert, die als 5,6,7,8-Tetrahydrofolat (THF) im Stoffwechsel eine zentrale Stellung einnimmt. Bereits aus den hier dargestellten Zusammenhängen des Folatmetabolismus wird ersichtlich, dass dieses Vitamin für den normalen Organismus unerlässlich ist. Folate sind für die normale Zellteilung, also z. B. Erythropoese und Epithelwachstum im erwachsenen Organismus, aber auch für die Differenzierungs- und Wachstumsprozesse bei Embryo und Fetus von essenzieller Bedeutung. Effekte der Folsäureprophylaxe. Der Einsatz von Folsäure in der Schwangerschaft ist eine etablierte Methode zur Primärprävention von Neuralrohrverschlussstörungen. Die perikonzeptionelle Verabreichung von 0,4 mg Folsäure bis inkl. der 12. SSW führt zu einer signifikanten Reduktion von Neural-
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Kapitel 14 · Schwangerschaft und Ernährung
rohrverschlussstörungen wie z. B. Spina bifida und wird derzeit jeder Frau im reproduktionsfähigen Alter mit Kinderwunsch empfohlen.
Studienbox In einer groß angelegten chinesischen Studie, die in den Jahren 1993–1995 durchgeführt wurde, wurden 250.000 Frauen untersucht (Berry et al. 1999). Davon nahmen 130.142 vor der Schwangerschaft und während des 1. Trimenons der Schwangerschaft täglich 0,4 mg Folsäure ein, 117.689 Frauen erhielten keine Folsäureprophylaxe. Insgesamt fanden sich in den beiden Gruppen 102 und 173 Fälle von Neuralrohrverschlussstörungen. Dies bedeutet, dass man 1807 Frauen mit Folsäure versorgen muss, um einen Fall einer Neuralrohrverschlussstörung zu verhindern. Eine Kostenkalkulation erbringt folgendes Ergebnis: Wenn für die Folsäureprophylaxe 25 Euro pro Person berechnet werden, liegen die Kosten für eine verhinderte Neuralrohrverschlussstörung bei 45.175 Euro.
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Aus Gründen der Compliance und aus Kostengründen wurde in einigen Ländern versucht, eine flächendeckende und kostenschonende Methode zum Einsatz der Folsäure zu etablieren. In der kanadischen Provinz Ontario beispielsweise wird seit 1998 Weizenmehl mit Folsäure angereichert. Bei einem durchschnittlichen Konsum von Weizenprodukten kann dadurch von einer täglichen Einnahme von 0,1–0,2 mg Folsäure ausgegangen werden. In einer Untersuchung an 336.963 Frauen konnte gezeigt werden, dass die Häufigkeit von Neuralrohrverschlussstörungen von 1,13/1000 Geburten vor der Einführung dieser Maßnahme auf 0,58/1000 Geburten gesenkt werden konnte (Risikoreduktion 48%). Diese Erfahrungen aus Kanada sprechen für die allgemeine und gezielte Anreicherung von Nahrungsmitteln mit Folsäure als kostengünstige und flächendeckende Form der Prophylaxe von Neuralrohrverschlussstörungen (Ray et al. 2002).
Studienbox Die Ergebnisse einer groß angelegten, prospektiv randomisierten, plazebokontrollierten Studie zur hoch dosierten Vitamin- und Folsäureprophylaxe legen nahe, dass die Erhöhung der üblichen Folsäuredosis auf 0,8 mg in Kombination mit 12 Vitaminen, 4 Mineralien und 3 Spurenelementen neben einer Prophylaxe von Neuralrohrverschlussstörungen auch zu einer statistisch signifikanten Reduktion von angeborenen Herzfehlern und Fehlbildungen der Niere und der harnableitenden Wege führt (Czeizel u. Dudas 1992; Czeizel 1996). Diese Studie ist darüber hinaus die einzige randomisierte, kontrollierte Interventionsstudie zur Primärprävention von angeborenen Fehlbildungen. Die Supplementierung erfolgte zumindest 1 Monat präkonzeptionell bis zur 12. SSW. Aufgrund des niedrigeren Folsäurespiegels wurde bei Pillen-
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anwenderinnen eine 3-monatige präkonzeptionelle Einnahmephase eingehalten. Neben einer Reduktion der Rate an Neuralrohrverschlussstörungen zeigte diese Studie auch eine erhöhte Fekundität, eine Reduktion von Übelkeit und Erbrechen im 1. Trimenon und eine erhöhte Rate an Zwillingsschwangerschaften in der Interventionsgruppe. In dieser Studie wurde das Präparat Elevit Pronatal (n=2391) gegen ein Spurenelemente enthaltendes Plazebopräparat (n=2471) getestet. Konkret fanden sich in der Interventionsgruppe 51 und in der Plazebogruppe 97 kongenitale Anomalien (Odds-Ratio 0,53; 95%-CI 0,35–0,70). Neben Neuralrohrverschlussstörungen (6 Fälle vs. 0 Fälle), konnten Fehlbildungen der Niere und der harnableitenden Wege (9 Fälle vs. 2 Fälle) sowie Herzfehlbildungen (20 Fälle vs. 10 Fälle) in einem signifikanten Ausmaß reduziert werden. Extremitätenfehlbildungen, angeborene Pylorusstenosen und Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten fanden sich ebenfalls in der Interventionsgruppe seltener, dieser Unterschied war allerdings nicht statistisch signifikant. Insgesamt wurde die Rate an angeborenen Fehlbildungen exklusive der Neuralrohrverschlussstörungen von 38,1/10.000 auf 20,7/10.000 gesenkt. Dies bedeutet, dass im Vergleich zur Reduktion der Rate an Neuralrohrverschlussstörungen (Reduktion von 2,8/10.000 auf 0/10.000) die Reduktion anderer angeborener Fehlbildungen zahlenmäßig sogar bedeutsamer war. In 2 nicht kontrollierten Studien wurde eine reduzierte Rate an Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten bei Neugeborenen jener Frauen gefunden, die eine perikonzeptionelle Multivitaminsubstitution mit Folsäure eingenommen hatten. Shaw et al. (1995) dokumentierten eine 50%ige Reduktion an orofazialen Missbildungen, Tolarova et al. (1995) fanden eine 65%-ige Reduktion an wiederholten Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten bei Frauen mit belasteter Anamnese nach Einnahme von 10 mg Folsäure und einer Multivitaminkombination. In der prospektiv randomisierten Studie von Czeizel (Czeizel u. Dudas 1992; Czeizel 1996) konnte dieser Effekt nicht nachgewiesen werden. Die Rate an Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten in dieser Niedrigrisikopopulation betrug 5/2.391 in der Kontrollgruppe und 4/2.471 in der Interventionsgruppe.
Fekundität, Abortraten. Eine 0,8-mg-Folsäure- und Multivitaminsubstitution scheint komplexe Effekte auf die Frühschwangerschaft zu haben, die über die Prophylaxe von Missbildungen hinausgehen. In der Studie der Arbeitsgruppe von Czeizel (Czeizel u. Dudas 1992; Czeizel 1996) fand sich in der Interventionsgruppe eine um 7% höhere Konzeptionsrate, aber auch eine höhere Rate an fetalen Todesfällen (Summe aus chemischen Schwangerschaften, klinischen Aborten, intrauterinen Fruchttoden und ektopen Schwangerschaften – 13,4% vs. 11,4%; p=0,03). Unter den 11 intrauterinen Fruchttoden in der Interventionsgruppe waren 3 Zwillingsschwangerschaften, während dies in 0/9 Fällen in der Kontrollgruppe der Fall war.
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Dies spricht dafür, dass es in der Interventionsgruppe zu einer erhöhten Fekundität, einer erhöhten Rate an Zwillingen und einer konsekutiv erhöhten Rate an Aborten und fetalen Todesfällen kommt. Perniziöse Anämie. Ein potenzielles Problem im Rahmen einer Folsäuresubstitution besteht in der Maskierung der Symptomatik sowie einer Verzögerung der Diagnose einer perniziösen Anämie. Diese Erkrankung kommt mit einer Prävalenz von 1/1000 Personen vor, wobei die Häufigkeit mit dem Alter deutlich zunimmt. Es wird geschätzt, dass bis zu 1% aller Personen >65 Jahren davon betroffen sind. Umgekehrt ist die perniziöse Anämie bei Frauen im reproduktionsfähigen Alter eine Rarität. In der Studie der Arbeitsgruppe von Czeizel (Czeizel u. Dudas 1992; Czeizel 1996) fand sich kein einziger Fall bei >8000 im Rahmen dieser Studie untersuchten Frauen. Dennoch ist aus forensischen Gründen eine diesbezügliche Aufklärung oder eine Blutbildkontrolle vor Therapiebeginn empfehlenswert. Zwillingsschwangerschaft. Parazzini et al. (2001) untersuchten die Ernährungsgewohnheiten von 185 Frauen mit Gemini und 498 Frauen, die Einlinge ausgetragen hatten. Von den 35 untersuchten Nahrungskomponenten unterschieden sich die beiden Gruppen lediglich darin, dass die Geminimütter signifikant mehr Folsäure zu sich nahmen als die Mütter von Einlingen. In der Studie der Arbeitsgruppe von Czeizel (Czeizel u. Dudas 1992; Czeizel 1996) fand sich ein 40%-iger Anstieg an Geminigeburten. Die Rate an Geminigeburten betrug 64/2.369 (2,7%) in der Kontrollgruppe und 90/2.457 (3,6%; inkl. 3 Drillingsgeburten und 3 Einlingsgeburten nach Geminischwangerschaft) in der supplementierten Gruppe. In einer schwedischen Untersuchung von 2.569 Frauen konnte gezeigt werden, dass der geministeigernde Effekt der Folsäuresubstitution auf dichoriote Gemini beschränkt ist (Ericson et al. 2001). Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass die Einnahme von Folsäure zu einer signifikanten Steigerung der Rate an Mehrlingsschwangerschaften führt. > In Deutschland werden derzeit pro Jahr mehr als 300 Kinder mit Neuralrohrdefekten geboren; etwa 500 Interruptiones werden nach einer entsprechenden Diagnosestellung durchgeführt. Neben dem nicht fassbaren Leid für die Betroffenen dürften hinter diesen Zahlen Kosten von mehr als 250 Mio. Euro stehen. Tipp Wegen der zentralen Bedeutung der Folsäure bei der Vermeidung von Komplikationen in der Schwangerschaft, allen voran der Prävention kindlicher Neuralrohrdefekte, gibt es in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich Empfehlungen zur perikonzeptionellen Folsäuresupplementierung nicht nur bei bekannt erhöhtem Risiko für diesen Defekt, sondern auch für normale Schwangerschaften (Koletzko et al. 1995; Tönz et al.
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1996). Die Dosierung der empfohlenen Folsäureprophylaxe für alle Frauen mit Kinderwunsch bzw. im gebärfähigen Alter beträgt zumindest 0,4 mg/Tag, nach vorausgegangener Schwangerschaft mit Neuralrohrfehlbildung zumindest 4 mg/Tag. Die Einnahme sollte präkonzeptionell begonnen und bis inkl. der 12. SSW fortgesetzt werden.
Studienbox Derzeit werden die Empfehlungen zur Folsäureprophylaxe in Europa und in Deutschland nur unzureichend umgesetzt. In einer einschlägigen Untersuchung waren bei geplanten Schwangerschaften nur 8,6%, bei ungeplanten Schwangerschaften lediglich 3,3% der Frauen ausreichend mit Folsäure versorgt (Genzel-Boroviczeny et al. 1997).
[6S]-5-Methyltetrahydrofolat (Metafolin) ist ein biologisch aktives Derivat der Folsäure, welches zur Folsäuresubstitution in Schwangerschaft und Stillzeit eingesetzt werden kann. In einer prospektiv randomisierten Studie an 144 gesunden Frauen konnten Lamers et al. (2006) nachweisen, dass eine Substitution mit 416 μg Metafolin gegenüber der äquimolaren Dosis von 400 μg Folsäure zu einer signifikant erhöhten Folsäurekonzentration in Erythrozyten führt. Metafolin ist daher bezüglich der Verbesserung des Folsäurestatus effektiver als Folsäure. Auch während der Stillzeit ist Metafolin der reinen Folsäure als Supplement überlegen. In einer prospektiv randomisierten Studie an 72 stillenden Müttern konnten Houghton et al. (2006) zeigen, dass Metafolin in der Stillperiode gegenüber Folsäure ebenfalls einen signifikant höheren Erythrozytenfolatspiegel erreicht. Ein potenzielles Problem im Rahmen einer Folsäuresubstitution besteht in der Maskierung der Symptomatik sowie einer Verzögerung der Diagnose einer perniziösen Anämie. Ein diesbezüglicher Vorteil von Metafolin liegt in der Tatsache, dass Folsäure, nicht jedoch Metafolin, eine perniziöse Anämie maskieren kann, da Metafolin in Abwesenheit von Vitamin B12 nicht in Folsäurederivate metabolisiert werden kann. MTHFR-Polymorphismen. Das Enzym Methyltetrahydrofolsäurereduktase (MTHFR) reguliert die Folsäure- und Ho-
mozysteinspiegel in Blut und Gewebe. Personen, die Träger des häufigsten Polymorphismus des MTHFR-Gens (MTHFR C677T) sind, weisen eine erhöhte Thermolabilität und in der Folge eine reduzierte katalytische Aktivität des MTHFR-Enzyms auf. Vor allem bei homozygoten Trägern (MTHFR C677T T/T) ist eine Folsäuresupplementierung zur Reduktion der erhöhten Plasmahomozysteinkonzentrationen sinnvoll. Sowohl die Trägerschaft der homozygoten (T/T) als auch der heterozygoten Variante (C/T) ist mit einer geringgradig erhöhten Häufigkeit von Neuralrohrdefekten (NTD) assoziiert. In einer irischen Studie z. B. betrug die Erhöhung des
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Kapitel 14 · Schwangerschaft und Ernährung
relativen Risikos zwischen 52% (C/T) und 156% (T/T). In dieser Studie waren ein Viertel aller Fälle von Neuralrohrdefekten mit MTHFR-Varianten assoziiert. Der Zusammenhang zwischen MTHFR-Varianten und NTD wird auch dadurch nahegelegt, dass Verwandte von Betroffenen eine höhere MTHFR C677T T/T-Frequenz aufweisen als die Gesamtpopulation. Für Frauen, die Trägerinnen von MTHFR-Genvarianten sind, ist daher eine Folsäuresubstitution von besonderer Bedeutung, da sie grundsätzlich einen höheren Folsäurebedarf aufweisen und die Effizienz einer Folsäuresubstitution vom MTHFR-Genotyp beeinflusst wird (Fohr et al. 2002). Frauen mit dem MTHFR C677T T/T-Genotyp haben gegenüber den anderen Genotypen (C/T und C/C) den höchsten Substitutionsbedarf und profitieren am meisten von einer Folsäuresubstitution. In diesem Kollektiv von Frauen weist Metafolin einen spezifischen Vorteil auf, da [6S]-5-MTHF im Vergleich zu einer reinen Folsäuresubstitution signifikant höhere Erythrozytenfolatkonzentrationen erreicht und signifikant effektiver als Folsäure den Plasmahomozysteinspiegel senkt (Venn et al. 2003).
Vitamin C
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Vitamin C ist am Kollagenaufbau beteiligt und daher u. a. wichtig für Aufbau und Konsistenz der Eihäute. Die unzureichende Versorgung mit Vitamin C scheint ein Risikofaktor für einen vorzeitigen Blasensprung zu sein. In einer rezenten prospektiv randomisierten Studie an 126 Frauen konnte die Inzidenz eines vorzeitigen Blasensprungs durch die tägliche Substitution von 100 mg Vitamin C ab der 20. SSW gegenüber Plazebo von 25 auf 8% reduziert werden (Casanueva et al. 2005). Ein vorzeitiger Blasensprung wurde in dieser Studie gemäß der Definition des American College of Obstetricans and Gynecologists als Verlust von Fruchtwasser durch rupturierte Eihäute ≥2 h vor dem Einsetzen von regelmäßigen Wehen nach der 20. SSW definiert. Ascorbinsäure ist das am längsten bekannte und historisch interessanteste Vitamin. Dennoch erfolgte erst im 20. Jahrhundert der Nachweis des kausalen Zusammenhangs zwischen einer unzureichenden Aufnahme der Vitamin C enthaltenden Zitrusfrüchte und Frischgemüse, dem daraus resultierenden Mangel und dem klinischen Bild des Skorbuts. Ein großer Teil des Bedarfs an diesem sehr sauerstoff- und lichtempfindlichen Vitamin wird in Mitteleuropa durch den Verzehr von Obst, grünen Gemüsesorten und Kartoffeln gedeckt. Vitamin C hat im Körper zahlreiche Effekte, wovon der wichtigste die Beteiligung am Elektronentransfer von Hydroxilierungsreaktionen ist; diese finden bei der Kollagensynthese, bei der Bildung von Neurotransmittern und bei der Entgiftung von toxischen Metaboliten und Medikamenten statt. Weiterhin spielt Ascorbinsäure eine entscheidende Rolle bei der Steigerung der enteralen Eisenresorption (7 unten). Über die Höhe des Bedarfs gibt es – auch im Hinblick auf die präventive Rolle der Ascorbinsäure bei Infektionskrankheiten, der Stimulierung des Immunsystems u. a. m. – unterschiedliche Angaben. Gerade im Hinblick auf die Förderung der Ausnutzung von Eisen, dessen Versorgung bei menstruierenden Frauen
nicht selten grenzwertig ist, und die Nontoxizität von Vitamin C dürfte jedoch eine höhere Zufuhr empfehlenswert sein. Hinzu kommt, dass (nicht nur schwangere) Raucherinnen erst dann vergleichbare Spiegel erreichen, wenn sie das Doppelte an Vitamin C mit der Nahrung aufnehmen. In diesem Zusammenhang scheint es erwähnenswert, dass – neben den allseits bekannten und wichtigeren Auswirkungen auf die mütterliche und kindliche Gesundheit – bereits moderates Zigarettenrauchen (ab 5 Zigaretten/Tag) zu einer deutlich reduzierten Verfügbarkeit dieses Vitamins in den mütterlichen und fetalen Kompartimenten (mütterliches Plasma, Nabelschnurblut, Plazenta) führt (Norkus et al. 1991). Schließlich verschlechtern orale Kontrazeptiva den Vitamin-C-Status. Wenngleich die klassischen Avitaminosen heute in den westlichen Industrieländern kaum mehr vorkommen (Skorbut bzw. Möller-Barlow-Krankeit bei Säuglingen), finden sich nicht selten subklinische Mangelsymptome wie Leistungsschwäche, Abgeschlagenheit oder eine eingeschränkte Funktion des Immunsystems. Insofern ist insbesondere für die Zeit der Schwangerschaft auch der ausreichenden Aufnahme von Vitamin C Beachtung zu schenken.
Studienbox Eine Metaanalyse von 5 kontrollierten Interventionsstudien an 766 Schwangeren konnte gegenüber Plazebo für eine Vitamin-C-Substitution keine Reduktion der Häufigkeit von intrauterinem Fruchttod, geringem Geburtsgewicht, intrauteriner Wachstumsrestriktion oder eine Erniedrigung der perinatalen Mortalität feststellen. Ganz im Gegenteil wurde sogar in der Interventionsgruppe eine signifikant erhöhte Rate an Frühgeburten beobachtet (relatives Risiko 1,38, 95%-CI 1,04–1,82; 3 Studien, 583 Schwangere). Die Ergebnisse bzgl. Präeklampsieprävention waren nicht eindeutig (Rumbold et al. 2005).
Tipp Eine generelle Vitamin-C-Substitution in der Schwangerschaft ist aufgrund der derzeit verfügbaren Daten nicht empfehlenswert. Eine Vitamin-C-Substitution bei Schwangeren mit einem erhöhten Präeklampsierisiko wird ebenfalls nicht empfohlen.
Vitamin K Die antihämorrhagische Wirkung von Vitamin K wurde Ende der 1920er Jahre entdeckt. Aufgrund der weiten Verbreitung in tierischen und pflanzlichen Lebensmitteln und des recht niedrigen Bedarfs von 60 μg/Tag auch für schwangere und stillende Frauen wird die Versorgung als ausreichend angesehen.
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Studienbox Da früher Unsicherheiten hinsichtlich des Vitamin-K-Gehalts in Lebensmitteln bestanden und es keine aussagekräftigen experimentellen Untersuchungen zum VitaminK-Bedarf gab, konnten über einen langen Zeitraum von den nationalen Ernährungsorganisationen hierzu keine detaillierten Angaben gemacht werden (Bässler et al. 1992). Entsprechend amerikanischen Vorstellungen wird seit 1991 ein Vitamin-K-Bedarf von 1 μg/kg KG angenommen; verglichen mit den Angaben in älteren Standardlehrbüchern ist dies ein geringer Wert.
Bei Säuglingen und Neugeborenen ist der Bedarf jedoch häufig nicht gedeckt, da die intrauterinen Konzentrationen wesentlich niedriger als im mütterlichen Plasma sind. Wegen dieser Plazentaschranke reichen in der Regel die in der fetalen Leber gespeicherten Reserven bis zur Geburt, sind dann jedoch schnell verbraucht, wenn innerhalb der ersten Lebenstage keine zusätzliche Zufuhr erfolgt. Hierbei bleibt die Situation ausschließlich gestillter Kinder auch weiter kritisch, da reife Muttermilch einen nur minimalen Gehalt an Vitamin K (1–2 μg/l) enthält. Umgekehrt treten die frühen Vitamin-K-Mangel-Blutungen in den ersten 24 h nach der Geburt fast ausschließlich bei Kindern auf, deren Mütter in der Schwangerschaft interferierende Medikamente (z. B. Antikonvulsiva) eingenommen haben. Dem können zusätzliche Vitamin-K-Gaben an die Mutter während der letzten Schwangerschaftswochen ebenso wie die postpartale kindliche Substitution entgegenwirken.
Studienbox Eine Metaanalyse der Cochrane Collaboration von 2 randomisierten Interventionsstudien weist den Wert einer postpartalen intramuskulären bzw. oralen Vitamin-K-Applikation von 1 mg zur Prophylaxe einer innerhalb der ersten 7 Lebenstage auftretenden neonatalen Hämorrhagie nach (Puckett et al. 2000). Eine präpartale Vitamin-KApplikation bei drohender Frühgeburt führt zu keiner Reduktion neonataler Hämorrhagieepisoden, wie eine Metaanalyse von 5 kontrollierten Interventionsstudien an 420 Schwangeren zeigen konnte (Crowther et al. 2001).
Tipp Eine generelle Vitamin-K-Substitution in der Schwangerschaft ist aufgrund der derzeit verfügbaren Daten nicht empfehlenswert.
14.4.2
Mineralien und Spurenelemente
Eisen Die Zunahme des mütterlichen Blutvolumens und die damit verbundene Blutbildung fordern solche Mengen an Eisen ein,
dass dies durch die Nahrung nicht ausreichend aufgenommen werden kann. Gespeichertes Eisen wird daher aus dem Hämoglobin der Mutter mobilisiert. Manche Substanzen beeinflussen die Eisenaufnahme im Darm negativ und andere positiv (7 Übersicht). Einflussfaktoren auf die Eisenaufnahme 4 Gesteigerte Eisenaufnahme durch: – Salat, Früchte, Vitamin C (z. B. in Säften) 4 Verminderte Eisenaufnahme durch: – Tee, Kaffee, Rotwein, Fette, Sojaprodukte, Kalzium
In der Diskussion um Supplemente in der Schwangerschaft wird die Notwendigkeit einer Eisensubstitution immer wieder kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite wird angeführt, dass auch Kinder von eisendefizienten Müttern keine Anämie, sondern normale Eisenspeicher aufweisen (Picciano 1996) oder dass ein moderater Abfall der mütterlichen Hämoglobinkonzentration durch das Sistieren der Menstruation kompensiert würde (Hytten 1991). Demgegenüber steht der Hinweis auf den kumulativen Mehrbedarf von 800–1200 mg. Dieser setzt sich zusammen aus einem akuten Verlust unter der Geburt (etwa 250 mg) und dem Mehrbedarf verschiedener Gewebe. Neben dem Mehrverbrauch durch das mütterliche Gewebewachstum und einem Mehrverbrauch an Sauerstoff und Sauerstoffträgern (etwa 450 mg) werden für die Bildung der Plazenta (etwa 75 mg) und natürlich für den Fetus mit seinem eigenen Wachstum entsprechende Mengen benötigt (etwa 300 mg). Zudem besitzt fast die Hälfte aller Frauen zu Beginn der Gravidität keine oder nur geringe Eisenreserven bzw. weisen entsprechend ihrem Ernährungs- und Kontrazeptionsverhalten (erhöhte Menstruationsverluste unter IUP) bereits einen latenten Mangel auf. Auch wenn die Effizienz der intestinalen Eisenresorption während der Schwangerschaft deutlich verbessert ist, muss in Mitteleuropa von einer häufig unzureichenden Eisenversorgung in der Schwangerschaft ausgegangen werden, wenn nicht auf entsprechende Supplemente zurückgegriffen wird. . Tab. 14.4 weist aus, dass sich für Schwangere auch ein Mehrbedarf von 100% ergibt, der sich nur in den seltensten Fällen – u. a. auch mangels der erforderlichen Kenntnisse einer gezielten Kostzusammenstellung – über die Nahrung decken lässt. ! Die Folgen einer Anämie für die Schwangerschaft sind erheblich und erhöhen die mütterliche und die fetale Morbidität und Mortalität, insbesondere dann, wenn die Schwangerschaft bereits mit erniedrigten Eisenspeichern begonnen wird (7 Kap. 18; Picciano 1996). Es besteht eine Korrelation zu kardiovaskulärem Stress mit Assoziationen zu vermehrten Komplikationen vor und unter der Geburt (Banks u. Beutler 1988) und zu einem erhöhten Risiko für Frühgeburtlichkeit und reduziertem Geburtsgewicht.
Die kritische Situation ist bekannt und lässt sich laborchemisch neben der Hämoglobin-Hämatokrit-Bestimmung, die
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Kapitel 14 · Schwangerschaft und Ernährung
nur die periphere Situation wiedergibt, durch den Nachweis der Eisenreserven mit Bestimmung des Serumferritins erfassen. Es scheint, dass das Nahrungseisenangebot, das bei einer durchschnittlichen Mischkost um 15 mg/Tag liegt, in der Schwangerschaft nicht ausreicht. Was kann hinsichtlich der Nahrungszusammensetzung für das Eisen außerdem empfohlen werden? Einerseits ist im Fleisch gebundenes Eisen prinzipiell für die Resorption besser verfügbar, wobei der Wirkungsmechanismus dieses »meat-factor« nicht bekannt ist. Andererseits sind auch inhibitorische Faktoren zu bedenken, wie sie infolge vermehrter Aufnahme von Ballaststoffen (z. B. Kleiemüsli) wirksam werden können. Eine ähnlich hemmende Wirkung der Eisenausnutzung hat schwarzer Tee, dessen Inhaltsstoffe, hauptsächlich Gerbstoffe, als Komplexbildner für das häufigere Auftreten von Eisenmangelzuständen verantwortlich gemacht werden. Auf der anderen Seite können Promotoren, allen voran Ascorbinsäure, also Vitamin C (7 oben), die Eisenausnutzung fördern, weshalb man den praktischen Ratschlag geben kann, täglich ein Glas Orangensaft zu trinken. Hierbei wird das Eisen durch die reduzierende Wirkung des Vitamin C in zweiwertigem Zustand gehalten bzw. in diesen überführt.
Studienbox Eine Analyse von 20 kontrollierten Studien zum Thema der Eisensubstitution in der Schwangerschaft, die von der Cochrane Collaboration durchgeführt wurde, ergab in der Interventionsgruppe eine Verbesserung von Serumferritin- und Hämoglobinwerten, jedoch keine Verbesserung aller untersuchten klinisch relevanten Parameter (Mahomed et al. 2000).
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Tipp Eine generelle Eisensubstitution in der Schwangerschaft ist aufgrund der derzeit verfügbaren Daten nicht empfehlenswert. In Ländern mit einer hohen Prävalenz an Eisenmangelanämie sowie in Risikokollektiven ist eine Eisensubstitution empfehlenswert.
Iod Nach Definition der WHO ist Deutschland als mittelschweres Iodmangelgebiet anzusehen. Weltweit wird die Zahl von geistig behinderten Menschen als wahrscheinliche Folge eines Ioddefizits mit 20 Mio. beziffert. In Deutschland beträgt die Häufigkeit vergrößerter Schilddrüsen oder Strumen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen zwischen 12 und 50%. Beachtenswert ist dabei der mit 50% hohe Anteil junger Mädchen und Frauen, die in einer solchen Ausgangssituation eine Schwangerschaft beginnen. Auf die wünschenswerte Höhe der täglichen Iodzufuhr pfropft sich ein Mehrbedarf der Schwangeren von insgesamt 30 μg auf (. Tab. 14.4), eine Steigerung, die primär gering erscheint. Die Gefahren und Folgen einer Mangelsituation für eine Schwangerschaft liegen bei der werdenden Mutter häufig in
einer Aggravierung einer vorbestehenden Struma, in einer Nichterfüllung ihres Kinderwunsches (herabgesetzte Fertilität) oder in Störungen der Frühschwangerschaft (erhöhtes Abortrisiko, erhöhte Gefahr der Früh- und Totgeburt; Rabe 1990). Beim Kind besteht ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Struma im Säuglingsalter (Struma congenita) und in der späteren Kindheit; diese ist größtenteils kompensatorisch, also euthyreot, kann jedoch in einem gewissen Prozentsatz auch in eine hypothyreote Stoffwechsellage übergehen. So findet sich in Deutschland bei bis zu 6% der Neugeborenen bei der Geburt eine Struma, deren Ursache in den meisten Fällen in einem Iodmangel der Mutter vor und während der Schwangerschaft liegt. Iodprophylaxe. Der Zusammenhang zwischen Iodmangel und Kretinismus ist seit über 100 Jahren bekannt. Haddow et al. (1999) beschrieben ein Kollektiv von 62 Frauen mit TSHWerten von durchschnittlich 13 mU/l, also über der 96. Perzentile eines Kollektivs von 25.000 Schwangeren. Die 7–9 Jahre alten Kinder dieser Frauen mit subklinischem Hypothyreoidismus wiesen signifikant geringere IQ-Werte als ein Vergleichskollektiv auf (–7 Punkte auf der Wechsler Intelligence Scale for Children). Elf Jahre nach der Schwangerschaft hatten 64% der unbehandelten Frauen und 4% der Kontrollpersonen einen klinisch relevanten Hypothyreoidismus. Die klinischen Effekte einer Iodprophylaxe während der Schwangerschaft sowie der Postpartumperiode sind in einer Vielzahl von Studien untersucht worden. In einer randomisierten Studie an 180 primär euthyreoten Frauen mit erhöhtem Thyreoglobulin und vermindertem T4 am Ende des 1. Trimeonons beispielsweise konnten Glinoer et al. (1995) nachweisen, dass sowohl eine Iodgabe als auch eine kombinierte Iodund L-Thyroxin-Gabe mit jeweils 100 μg/Tag zu einer signifikanten Verbesserung von laborchemischen Parametern [Thyreotropin (TSH), Thyreoglobulin (TG), freies Thyroxin, T3/T4-Ratio) und klinischen Parametern (Schilddrüsenvolumen bei Müttern und Neugeborenen, Struma der Mütter) führt. Diese Ergebnisse wurden auch an anderen Populationen aus Gegenden mit mildem und mittelgradigem Iodmangel (Italien, Deutschland, Belgien) bestätigt (Romano et al. 1991; Glinoer et al. 1995; Klett et al. 1999). In einem retrospektiven Vergleich von 38 Mutter-KindPaaren mit Iodprophylaxe während der Schwangerschaft (300 μg/Tag) und 70 Mutter-Kind-Paaren ohne Iodprophylaxe wurde von einer pädiatrischen Arbeitsgruppe eine signifikante Verminderung des Schilddrüsenvolumens der Neugeborenen nach Iodprophylaxe beobachtet. Ein vermehrtes Auftreten von Autoantikörpern wurde nicht beobachtet (Liesenkotter et al. 1996). Auch in Gegenden mit minimalem Iodmangel (urinäre Iodausscheidung 2.500 Frauen untersucht wurden. Eine Metaanalyse aller Studien zeigt, dass im Vergleich zu Plazebo/keiner Intervention eine Magnesiumsubstitution spätestens ab der 25. SSW zu einer signifikant reduzierten Rate an Frühgeburten sowie Kindern mit intrauteriner Wachstumsrestriktion und geringem Geburtsgewicht führt. In Absolutzahlen kann eine Reduktion in der Größenordnung von 1–3% erwartet werden, wobei Frauen mit einem erhöhten Risiko für Frühgeburten von der Magnesiumsubstitution stärker profitieren (Makrides u. Crowther 2001). Des Weiteren fällt in den einschlägigen Studien auf, dass Frauen unter Magnesium seltener hospitalisiert wurden und es mit einer durchschnittlichen Risikoreduktion von 62% weniger häufig zu Blutungen in der Schwangerschaft kam. In einer systematischen Übersicht über 7 randomisierte Studien zur Magnesiumsubstitution konnte ebenfalls eine signifikante Reduktion von Feten mit Wachstumsrestriktion nachgewiesen werden (Merialdi et al. 2003).
1998). Wegen der Vielzahl der Aufnahmemöglichkeiten gibt es keine genauen Angaben über die tatsächliche tägliche Fluoraufnahme; sie liegt zwischen 1 und 3 mg pro Tag.
Magnesium in der Behandlung der Präeklampsie. Frauen
Zink
mit schwerer Präeklampsie profitieren von einer Magnesiumprophylaxe. In 4 randomisierten Studien an insgesamt über 12.600 Frauen konnte gezeigt werden, dass die Eklampsierate von 2% unter Plazebo bzw. keiner Therapie auf 0,6% gesenkt werden kann (Sibai 2004). Als häufigste Nebenwirkung sind respiratorische Probleme der Mutter zu nennen. In der bisher größten Untersuchung zur Eklampsieprävention bei Frauen mit leichter Präeklampsie mittels Magnesiumsulfat wurden 10.141 Frauen untersucht, wobei 5.071 mit Magnesiumsulfat (4 g MgSO4 über 10–15 min, gefolgt von 1 g/h über 24 h) und 5.070 mit Plazebo behandelt wurden (Altman et al. 2002). Durch die Magnesiumprophylaxe konnte das Risiko einer Eklampsie um 58% reduziert werden (11 Fälle weniger pro 1.000 behandelten Frauen). Magnesium zur Behandlung vorzeitiger Wehentätigkeit ist als obsolet anzusehen.
Zink ist ein essenzielles Element, das nach seiner Aufnahme über die intestinale Mukosa seine Funktion in zahlreichen Enzymen ausübt. Reich an Zink sind Fleisch und Innereien, Getreidekeime und Meeresfrüchte. Dennoch ist Zink ein Spurenelement, das häufig nicht in ausreichender Menge aufgenommen wird; Gründe liegen oft in einseitiger Kost, z. B. Heim- oder Krankenhauskost, in Nikotin- oder Drogenabusus oder – für die Geburtshilfe – in Mehrlingsgraviditäten. Bei der Bestimmung des Zinkbedarfs wird von einer durchschnittlichen Absorptionsrate von etwa 30% ausgegangen, die als Ersatz für die täglichen Verluste über Exkrete und die Haut gelten. Mit dem entsprechenden Zuschlag ergibt sich eine Empfehlung von 7 mg für die Frau, die in der Schwangerschaft ab dem 4. Monat um 3 mg pro Tag und in der Stillzeit um 4 mg pro Tag zu steigern ist. Die Schwangerschaft führt zu einem 3–5 mg, die Stillzeit zu einem bis zu 4 mg erhöhten Bedarf. In dieser Zeit sinken die Zinkspiegel im mütterlichen Plasma um ein Drittel im Vergleich zu Nichtschwangeren. Dies ist mitbedingt durch einen aktiven Transport durch die Plazenta zum Fetus.
Tipp Schwangere sollten Magnesium in Form von Magnesiumzitrat oder Magnesiumlaktat in einer Dosierung von mindestens 15 mmol täglich einnehmen.
Fluorid Fluor ist ein ubiquitär vorkommender Nahrungsbestandteil. In den USA und einigen europäischen Ländern erfolgt ein großer Anteil der Fluoraufnahme über fluoriertes Trinkwasser. Zu den natürlichen Quellen zählen Milch, Säfte und Tee, aber auch Hühnerfleisch und Meeresprodukte. Zudem erfolgt eine weitere Aufnahme über Zahnpasten und – hauptsächlich bei Kindern – über Fluorsupplemente. Nachdem derartige postnatale Fluoridgaben deutliche und gut dokumentierte Erfolge bei der Prävention der Zahnkaries aufgewiesen hatten, war diskutiert worden, ob eine Fluorsubstitution in der Schwangerschaft einen schützenden Effekt auf das Gebiss des Ungeborenen haben könnte. Diese Frage konnte bisher nicht abschließend beantwortet werden (Aggett et al.
Studienbox In einer prospektiv randomisierten Studie an 1.400 Schwangeren wurde eine 6-monatige Fluoridsubstitution mit 1 mg/Tag gegen Plazebo untersucht (Leverett et al. 1997). Nach 3 Jahren zeigte sich kein Unterschied in der Karieshäufigkeit der Kinder in der Interventionsgruppe (8%) und der Kontrollgruppe (9%).
Tipp Eine generelle Fluoridsubstitution in der Schwangerschaft ist aufgrund der derzeit verfügbaren Daten nicht empfehlenswert.
Studienbox Eine Metaanalyse von 13 randomisierten kontrollierten Interventionsstudien an über 6.800 Schwangeren konnte für eine Zinksupplementierung eine geringgradige, aber statistisch signifikante Reduktion an Frühgeburten nachweisen (relatives Risiko 0,86, 95%-CI 0,76–0,98; Mahomed et al. 2000).
Tipp Eine Zinksupplementierung kann Schwangeren mit belasteter Anamnese hinsichtlich Frühgeburt empfohlen werden.
239 14.4 · Mikronährstoffe
Weitere Spurenelemente Zu den weiteren, häufig diskutierten Spurenelementen mit einem Mehrbedarf in der Schwangerschaft zählen Kupfer und Selen. Bei diesen Stoffen muss jedoch davon ausgegangen werden, dass die Gravidität nicht zu einer Verarmung der Körperreserven führt und entsprechend auch keine spezifischen und klinischen Symptome für diesen Lebensabschnitt beschrieben sind. Die Schätzwerte für eine angemessene Zufuhr von Selen verändern sich weder durch Schwangerschaft noch Stillzeit und liegen zwischen 30 und 70 μg pro Tag. Allerdings wird eine Supplementierung von Selen in Form von Selenhefe als wünschenswert betrachtet, da nach mehreren Wochen des Stillens keine ausreichenden Selenreserven mehr vorliegen (Dietl u. Pudell 2000). Allerdings ist – ebenso wie beim Kupfer – die Leber des Säuglings bereits vor der Geburt in der Lage, diese Stoffe zu speichern, sodass auch in der Laktationsphase eine ausreichende Versorgung gewährleistet ist.
14.4.3
Omega-3-Fettsäuren und Fisch
Für die Schwangerschaft, die Stillzeit und die fetale Entwicklung ist die richtige Auswahl an Fetten bedeutsam. Dabei spielt die Versorgung mit essenziellen Fettsäuren und hier vornehmlich die hinreichende Zufuhr mit mehrfach ungesättigten Fettsäuren (PUFA) eine wesentliche Rolle. Diese sind wichtige Komponenten von Phospholipiden in Membranstrukturen und üben damit einen wesentlichen Einfluss auf vielerlei Reaktionen im Körper aus. Eine entscheidende Rolle spielen die aus der Alphalinolensäure (ALA) synthetisierbaren Ω3-Fettsäuren Eikosapentaensäure (EPA) und Docosahexaensäure (DHA) für bedeutende Entwicklungsschritte des Fetus. Dieser ist auf die plazentare Versorgung und damit auf die Ernährung der Mutter angewiesen.
Docosahexaensäure DHA und kindliche Intelligenz Mehrfach ungesättigte Fettsäuren wie Arachidonsäure (AA; 20:4 n-6) und DHA (22:6 n-3) sind für die Entwicklung des zentralen Nervensystems von Bedeutung. Das menschliche Gehirn zeigt im letzten Schwangerschaftstrimenon und in den ersten Lebensmonaten einen Wachstumsschub, der u. a. durch eine starke Zunahme der zerebralen Konzentration von AA und DHA gekennzeichnet ist. Eine Substitution mit DHA während Schwangerschaft und Stillzeit hat komplexe Effekte auf die fetale und frühkindliche neurophysiologische Entwicklung.
Studienbox In einer prospektiv randomiserten Studie an 341 Schwangeren wurde der Effekt von DHA-enthaltendem Kabeljauöl gegenüber Maisöl untersucht (Helland et al. 2003). Die Schwangeren erhielten die Präparate von der 18. SSW bis 3 Monate post partum. Im Alter von 6 Monaten, 9 Monaten sowie 4 Jahren wurden die Kinder nachuntersucht
6
und einem Intelligenztest (Kaufman Assessment Battery for Children) unterzogen. Jene Kinder, deren Mütter das DHA-enthaltende Kabeljauöl eingenommen hatten, wiesen signifikant höhere Werte auf der Mental-processingcomposite-Skala auf. In einem multiplen Regressionsmodell erwies sich die DHA-Einnahme als einziger unabhängiger Prädiktor der erreichten Werte für »mental processing« im Alter von 4 Jahren.
Daraus lässt sich schließen, dass die pränatale Einnahme von mehrfach ungesättigten Fettsäuren wie DHA einen positiven Einfluss auf die frühkindliche Intelligenzentwicklung hat. Auch die Einnahme von DHA während der Stillzeit scheint sich positiv auf die neurophysiologische Entwicklung auszuwirken. In 2 weiteren prospektiv randomisierten Studien an 56 und 103 Neugeborenen wurde der Einfluss von DHA auf kognitive Fähigkeiten und visuelle Funktion untersucht (Birch et al. 2000, 2005). In beiden Studien wurde bei den Säuglingen eine DHA- und AA-enthaltende Milchnahrung über die Dauer von 4 Monaten mit einer Kontrollmilchnahrung ohne mehrfach ungesättigte Fettsäuren verglichen. Nach 18 Monaten wiesen die Kinder der Gruppe mit DHAund AA-verstärkter Milchnahrung signifikant höhere Werte auf dem Mental-Development-Index auf. Dieser Effekt bezog sich sowohl auf die kognitiven als auch auf die motorischen Indizes. In der zweiten Studie erwies sich in der Gruppe der Kinder mit DHA-fortifizierter Milch nach 52 Wochen die Sehschärfe in Form von visuell evozierten Potenzialen als signifikant besser. Tipp Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass mehrfach ungesättigte Fettsäuren wie DHA und AA während Schwangerschaft und Stillzeit einen positiven Einfluss auf verschiedene Parameter der frühkindlichen neurophysiologischen Entwicklung ausüben.
Fisch Fischkonsum in der Schwangerschaft ist grundsätzlich empfehlenswert, da Fisch einen hohen Anteil an essenziellen Fettsäuren aufweist, die für die fetale Gehirnentwicklung von Bedeutung sind. Eine Kohortenstudie an 12.000 Schwangeren konnte eine Korrelation zwischen dem Verzehr von >340 g Fisch pro Woche und günstigen neurobiologischen Entwicklungsparametern nachweisen (Hibbeln et al. 2007). Diese Korrelation wurde allerdings in anderen Studien nicht beobachtet (Oken et al. 2008). Generell ist Schwangeren zu empfehlen, Fisch in gekochter Form zu sich zu nehmen (7 Kap. 14.1.2). Der Konsum von kontaminiertem Fisch kann zu Quecksilberexposition der Schwangeren führen, die mit zentralnervösen Schädigungen des Fetus einhergehen und zu motorischen, intellektuellen und psychomotorischen Langzeitschäden führen kann. Daher sollten Schwangere Fischsorten
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Kapitel 14 · Schwangerschaft und Ernährung
mit einem potenziell erhöhten Quecksilbergehalt wie Hai, Schwertfisch und Makrele meiden. Auch Thunfischsteaks sollten nicht häufiger als einmal pro Woche verzehrt werden. Als Meerestiersorten mit einem geringen Quecksilbergehalt gelten Schrimps, Lachs oder Wels. Tipp Für Schwangere und Stillende ist eine Substitution mit DHA empfehlenswert. Eine optimale Dosis kann aufgrund der vorliegenden Daten nicht empfohlen werden.
14.4.4
Probiotika
Pro-, Prä- und Synbiotika beeinflussen die natürliche Darmflora durch Bakterien, durch Bakteriennährstoffe oder die Kombination der beiden Stoffe. Gerade für Erstere konnte in einer plazebokontrollierten Untersuchung festgestellt werden, dass in einer familiär belasteten Konstellation durch die regelmäßige Zufuhr von Lactobacillus rhamnosus in den letzten Wochen der Schwangerschaft und während des Stillens sowie eine 6-monatige Substitution beim Kind das Risiko und die Häufigkeit von atopischen Hautveränderungen bei den Kindern während der beiden ersten Lebensjahre signifikant reduziert werden konnten (Kalliomäki et al. 2001, 2003). Allerdings konnte dieser Effekt in einer anderen Interventionsstudie an Schwangeren mit atoper Dermatitis nicht gezeigt werden. In dieser Studie wurde Lactobacillus acidophilus verwendet (Betsi et al. 2008). Tipp
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Für Schwangere mit belasteter Anamnese hinsichtlich atoper Dermatitis ist eine perinatale Substitution mit einem Lactobacillus-rhamnosus-Präparat empfehlenswert.
14.5
So sollten neben den obigen praktischen Ratschlägen zur Ernährung und Substitution Lebensmittel mit einer hohen »Nährstoffdichte«, also einem möglichst hohen Gehalt an bestimmten Stoffen bezogen auf den Kaloriengehalt, ausgewählt werden, um auch die fetale Versorgung zu unterstützen und sicherzustellen. Hierbei zeichnen sich z. B. Milch (für den Mehrbedarf an Kalzium) und Obst, Salate und Gemüse (für verschiedene Mineralien und Vitamine) durch ein günstiges Verhältnis zwischen Brennwert und Nährstoffgehalt aus. Auch hier ist die biologische Verfügbarkeit der Stoffe, die durch verschiedene Zubereitungsarten, durch Lagerung oder durch die Kombination mit anderen Nahrungsmitteln eingeschränkt sein kann, zu berücksichtigen.
Schlussbetrachtung
Bei der Auseinandersetzung mit der Frage nach der Notwendigkeit von Supplementen wird immer wieder diskutiert, ob und warum heutzutage eine Substitution mit Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen sowohl für die allgemeine Population als auch im Speziellen für den Zeitraum der Schwangerschaft und Laktation notwendig erscheint. Grundsätzlich und natürlicherweise sollten Möglichkeiten einer ausreichenden Versorgung mit diesen Stoffen durch die tägliche Nahrungsaufnahme bestehen. Eine generelle Verordnung von Mineralstoffen, Vitaminen und Spurenelementen mag nicht als notwendig erscheinen, sofern das Wissen um Nahrung und Ernährung vorhanden ist und umgesetzt wird. Dies erfordert heutzutage eine ausführliche und professionelle Ernährungsaufklärung und – vor allen Dingen – die Akzeptanz des Verbrauchers, die Ratschläge praktisch umzusetzen. Anderenfalls erscheinen Substitute indiziert.
14.5.1
Ernährungsberatung
Der betreuende Arzt sollte im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge allgemeine Ratschläge bezüglich der Ernährung und ggf. Supplementierung erteilen. Dabei sind bereits durch eine gezielte Anamneseerhebung Risikokollektive auszumachen, wie sie vom American College of Obstetrics and Gynecology beschrieben wurden (Task Force on Nutrition 1978; Goldberg et al. 1993; Kuhne et al. 1991): 4 sehr junge Schwangere oder Frauen mit rascher Schwangerschaftsfolge, bei denen das eigene Wachstum noch vermehrt Nährstoffe benötigt bzw. deren Reservoire – evtl. auch bedingt durch den Mehrbedarf des Stillens – noch nicht wieder aufgefüllt sind 4 ungünstiges sozioökonomisches Milieu der Schwangeren, zu dem erschwerend der Konsum von Alkohol, Nikotin und Drogen kommen kann 4 chronische Erkrankungen und damit verbunden eine reduzierte Aufnahme von Mikronährstoffen durch interferierende Medikamenteneinnahme 4 stark erniedrigtes Körpergewicht, da die reduzierte Ernährungslage oft mit einem Zuwenig an Mikronährstoffen korreliert Der Geburtshelfer ohne spezielle Kenntnisse ist in der Ernährungsberatung bei diesen Risikoschwangeren zumeist überfordert. Denn hier ist eine Umsetzung grundsätzlicher Empfehlungen in einen »Küchenplan« und damit in die praktische Anwendung von großer Wichtigkeit; hier ist die Mehrzahl der Ärzte am Ende ihres Wissens, und geschulte Ernährungsberaterinnen sind gefordert. Eine besondere Herausforderung stellt der Umgang mit den mehr oder minder ausgeprägten Extremformen einseitiger oder ausschließlicher Ernährung sowie den gelegentlich weltanschaulich oder religiös begründeten und in höchstem Grade eingeschränkten Nahrungsaufnahmen dar. Dazu zählt in moderater Form der Vegetarismus mit seinen Varianten des Ovolakto- bzw. Laktovegetariers (Milch und Milchprodukte zusätzlich zur Pflanzenkost) und – deutlich ausgeprägter – der Veganismus; die Veganer lehnen jeglichen Verzehr von Lebensmitteln tierischen Ursprungs ab und ernähren sich ausschließlich von Pflanzenkost. Vegetarier sind relativ häufig anzutreffen und müssen nicht unbedingt mit Problemen be-
241 Literatur
haftet sein, sofern die Essenspläne umsichtig erstellt werden, sodass für die Aufnahme von Energie, Proteinen, Kalzium, Eisen und anderen Nährstoffen (die in pflanzlicher Kost nicht oder unzureichend enthalten sind) ein entsprechender Ausgleich geschaffen wird. ! Ernährt sich eine Schwangere vegetarisch, verzichtet also auf Fleisch bei ansonsten jedoch ausgewogener Mischkost mit Milch, Milchprodukten, Eiern und Fisch, ist keine Unterversorgung des Neugeborenen zu befürchten. Schwieriger wird es jedoch, je einseitiger die Ernährung der Schwangeren ist. Bei streng veganer Ernährung beispielsweise, d. h. wenn eine Schwangere keine Nahrungsmittel isst, die vom Tier stammen (also Fleisch, Fisch, Eier- und Milchprodukte sowie Honig u. Ä.), kann es evtl. zu einem Eisen-, Kalzium-, Vitamin-B12-, Vitamin-D- und Eiweißmangel des Fetus kommen.
Da beispielsweise Vitamin B12 nur in tierischen Lebensmitteln enthalten ist, kann eine rein veganische Ernährung zu Vitamin-D-Mangelerscheinungen und einem Mangel an Eisen, Kalzium und Proteinen führen. Theoretisch kann zwar den einschlägigen Ernährungsempfehlungen Rechnung getragen werden, wenn sich die Kost nicht nur aus einigen wenigen pflanzlichen Lebensmitten zusammensetzt; zu Mangelsymptomen kommt es v. a. in Lebensphasen mit hohem Bedarf an essenziellen Nährstoffen (Schwangerschaft, Wachstum). In der allgemeinen und speziellen Beratung ist schließlich noch darauf hinzuweisen, dass einige Mikronährstoffe präventiv im Sinn einer Vermeidung von Schwangerschaftskomplikationen wirken, die neben einer Ersparnis von individuellem Leid durchaus gesundheitspolitisch und finanziell von Bedeutung sein können. Es wird daher auch in Zukunft – und vielleicht gerade in Zeiten wirtschaftlicher Engpässe – eine wichtige Aufgabe für alle im Umgang mit Schwangeren Beschäftigten sein, den in der Schwangerschaft gesteigerten Bedarf an Energie und Mikronährstoffen qualitativ und quantitativ richtig einzuschätzen und so eine kompetente Beratung durchzuführen. Dazu ist das Wissen um den physiologischen Hintergrund genauso wichtig wie die wissenschaftliche Auseinandersetzung.
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Kapitel 14 · Schwangerschaft und Ernährung
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14
15 15 Ultraschall im 3. Trimenon E. Ostermayer, M. Schelling, K. Chalubinski 15.1
Anforderungen und Indikationen
15.2
Fetales Wachstum – sonographische Diagnostik – 247
15.2.1 15.2.2
Biometrie – 247 Fetale Gewichtsschätzung – 249
15.3
Screening auf Entwicklungsstörungen – 249
15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4 15.3.5 15.3.6 15.3.7
Schädel und Hirn – 249 Hals und Thorax – 251 Herz – 253 Gastrointestinaltrakt – 254 Urogenitaltrakt – 256 Zystische abdominelle Raumforderungen – 258 Nichtimmunologischer Hydrops fetalis (NIHF) – 258
15.4
Fruchtwasser – 260
15.5
Plazenta – 261
15.5.1 15.5.2 15.5.3 15.5.4 15.5.5
Struktur – 261 Lokalisation – 261 Größe und Dicke – 261 Plazentaabnormitäten – 262 Sonographische Diagnostik der plazentaren Invasivität – 262
15.6
Zervixdiagnostik im 2. und 3. Trimenon – 266
15.6.1 15.6.2
Technik – 266 Zervixinsuffizienz – 267
Literatur – 269
H. Schneider et al. (eds.), Die Geburtshilfe © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 246
246
Kapitel 15 · Ultraschall im 3. Trimenon
Um die Ultraschalluntersuchung in der Schwangerschaft zu standardisieren, wurden Richtlinien über den Zeitpunkt und den Inhalt der Untersuchungen erarbeitet. Durch die Mutterschaftsrichtlinien (2009) wird ein 3-stufiges Screening festgelegt mit dem Ziel, somatisch relevante Wachstumsstörungen und auffällige fetale Merkmale zu erkennen.
15.1
Anforderungen und Indikationen
Die Basisuntersuchungen können dabei von einem geübten Facharzt i. d. R. mit ausreichender Zuverlässigkeit ausgeführt werden. Die jeweiligen Indikationen für eine weiterführende Untersuchung zur Abklärung und Überwachung pathologischer Befunde sowie für dopplersonographische Untersuchungen werden präzise beschrieben (7 Kap. 12). Durch die International Society of Ultrasound in Obstetrics and Gynecology (ISUOG) wurden für die Untersuchung des fetalen zentralen Nervensystems und des fetalen Herzens Leitlinien festgelegt, in denen die Basisuntersuchungen sowie Indikation und Inhalt der weiterführenden Untersuchung jeweils detailliert beschrieben werden (Guidelines ZNS 2007; ISUOG Guidelines 2006; Lee et al. 2008). > Ziele eines konsequenten Ultraschallscreenings in der Schwangerschaft sind u. a. 4 Kontrolle der somatischen Entwicklung und 4 Erkennung von Entwicklungsstörungen (Wachstumsverhalten, Erkrankungszustände mit und ohne Fehlbildungen). Im 3. Trimenon treten hierbei dynamische Elemente (Vitalität, Biometrie, Kindslage, Plazenta, Fruchtwasser) bzw. gezielte Fragestellungen in den Vordergrund.
15
. Tab. 15.1. Ultraschallscreening Mutterschaftsrichtlinien (7 Kap. 12); hier: 3. Screening 30. SSW (Beginn 29. bis Ende 32. SSW)
Parameter
Untersuchung
Einling
Ja/Nein
Lebenszeichen
Ja/Nein
Biometrie: 4 Maße
5 BPD 5 FOD oder KU 5 ATD oder APD oder AU 5 FL oder HL
Zeitgerechte Entwicklung
Ja/Nein/Kontrolle
Kindslage Auffälligkeiten hinsichtlich 5 Fruchtwassermenge
Ja/Nein/Kontrolle
5 körperlicher Entwicklung
Ja/Nein/Kontrolle
5 Körperumriss
Ja/Nein/Kontrolle
5 fetaler Strukturen
Ja/Nein/Kontrolle
5 Herzaktionen
Ja/Nein/Kontrolle
5 Bewegungen
Ja/Nein/Kontrolle
Plazentalokalisation und -struktur
Normal/Kontrolle
Weitere Untersuchung veranlasst
Ja/Nein
APD anteriorposteriorer Durchmesser des Abdomens; ATD Abdomentransversaldurchmesser; AU Abdomenumfang; BPD biparietaler Durchmesser; FL Femurlänge; FOD frontookzipitaler Durchmesser; HL Humeruslänge; KU Kopfumfang.
Die Hauptaufgabe des 3. Screenings (Beginn 29. bis Ende 32. SSW) liegt neben der biometrischen Kontrolle der zeitgerechten Entwicklung in der Beurteilung der Fruchtwassermenge, der Plazentalokalisation und -struktur sowie der der fetalen Lage. Gemäß dem 2. Screening müssen erneut Hinweiszeichen für Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen überprüft werden, da pathologische Befunde möglicherweise erst nach der 22. SSW (2. Screening) erkennbar werden (z. B. Hydrozephalus, Mikrozephalus, Herzklappenstenosen, Darmatresien, obstruktive Uropathie, Hydrops, kardiale Dekompensation). Ergeben sich hierbei kontrollbedürftige Befunde, so sind diese auch außerhalb der vorgesehenen Zeiträume Bestandteil des Screenings (. Tab. 15.1). Bei Patientinnen, die aufgrund ihrer Anamnese, der klinischen oder ultrasonographischen Untersuchung Auffälligkeiten bieten, ergibt sich ggf. die Indikation zu einer weiterführenden speziellen Ultraschalluntersuchung (7 Übersicht). Hierbei werden vom Untersucher über das übliche Maß hinausgehende Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet der pränatalen Sonographie und eine entsprechende apparative Ausstattung erwartet (AWMF 2008). In dieser Situation muss der Erstuntersucher entscheiden, ob er selbst nach Kenntnisstand und auch apparativer Ausrüstung in der Lage ist, die not-
wendigen Untersuchungen durchzuführen. Ist dies nicht der Fall, kann im Schadensfall eine Haftung unter dem Gesichtspunkt des Übernahmeverschuldens in Betracht kommen (Ratzel 1996). Im Zweifel sollte daher eine gezielte sonographische Untersuchung durch einen ausgewiesenen Experten (DEGUM Stufe II oder III) bzw. in einem Perinatalzentrum erfolgen.
Indikationen für die weiterführende Ultraschalldiagnostik nach den AWMF-Leitlinien (DGGG 2008) 4 Hinweiszeichen für Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen bei Untersuchungen im Rahmen des Screenings 4 Genetisch bedingtes Wiederholungsrisiko für bestimmte Fehlbildungen 4 Einmaliges Auftreten von Fehlbildungen in einer Familie 4 Erhöhte α-Fetoprotein- (AFP-) Konzentration im mütterlichen Serum und/oder Fruchtwasser
6
247 15.2 · Fetales Wachstum – sonographische Diagnostik
4 Einnahme von teratogen wirkenden Medikamenten 4 Mütterliche Infektionen (Toxoplasmose, Ringelröteln und andere Virusinfektionen) 4 Mütterliche Erkrankungen mit erhöhtem Risiko für Fehlbildungen (Diabetes mellitus) 4 Bei Mehrlingen 4 Ausschluss von Chromosomenanomalien als Alternative bei nicht erwünschter invasiver Diagnostik (Alter der Schwangeren, auffälliger Triple-Test).
Die Ergebnisse der Ultraschalluntersuchung müssen in Wort und Bild dokumentiert werden, wobei die Bilddokumentation je eines Kopf-, Rumpf- und Extremitätenmaßes sowie der auffälligen Befunde gefordert wird. Ebenso sollten der Inhalt des Aufklärungsgesprächs sowie mögliche Einschränkungen der Untersuchungsqualität (z. B. Adipositas, fetale Lage, Oligohydramnion etc.) schriftlich festgehalten werden. Verzichtet eine Schwangere auf eine empfohlene Ultraschalluntersuchung, sollte dies ebenfalls dokumentiert werden.
15.2
Fetales Wachstum – sonographische Diagnostik
15.2.1
Biometrie
Die Uniformität des fetalen Wachstums in der Frühschwangerschaft geht mit zunehmender Schwangerschaftsdauer verloren. Aufgrund dieser zunehmenden individuellen Streubreite ist die Biometrie im 2. und v. a. 3. Trimenon nicht mehr zur Bestimmung des Gestationsalters geeignet. Allerdings erlaubt die Biometrie in diesem Zeitraum Aussagen über das anzunehmende fetale Gewicht sowie den Wachstumsverlauf. In jedem Fall sollten mehrere Maße zur Bestimmung des fetalen Wachstums oder zur Bestätigung des Gestationsalters verwendet werden, wobei der biparietale Durchmesser zusammen mit dem Kopf- und Abdomenumfang und der Femurlänge die besten Ergebnisse bei der Bestätigung des Gestationsalters bzw. der Berechnung des Schätzgewichtes liefern. Teilweise stehen auch spezielle Normkurven, die das fetale Geschlecht oder die ethnische Zugehörigkeit berücksichtigen, zur Verfügung. > Insbesondere im 3. Trimenon kann es durch besondere Umstände zu einer Verfälschung einzelner Messparameter kommen, z. B. durch eine Kompression des fetalen Thorax bei Oligohydramnion oder durch eine dolichozephale Kopfform bei einer Beckenendlage. Solche Messparameter sollten folglich nicht in die Berechnungen des Schätzgewichts eingehen.
Bei der Beurteilung des fetalen Wachstums sollte außerdem bedacht werden, dass die Abstände von Messung zu Messung mindestens 10–14 Tage betragen sollen, um die technische Messungenauigkeit und die physiologische Abflachung der
a
b
c . Abb. 15.1a–c. Messebenen. a Ebene für die Messung des biparietalen Durchmessers (ca. 30. SSW). Der Kopfanschnitt sollte möglichst symmetrisch und möglichst rund gewählt werden, die Falx cerebri teilt als Mittelecho die beiden Hemisphären, der Thalamus als leicht hypodense Struktur ist symmetrisch zu erkennen. b Ebene für die Messung des Abdomenquerdurchmessers und Abdomenumfangs (ca. 30. SSW). Die Nabelvene sollte in ihrem intraabdominellen Verlauf im vorderen bis mittleren Drittel des Abdomens rund oder leicht queroval angeschnitten sein, die Rippen sollten beidseits von der Wirbelsäule aus zu verfolgen sein, und der gesamte Anschnitt sollte möglichst rund und gleichförmig sein. c Ebene für die Messung der Femurlänge (ca. 30. SSW). Der schallkopfnahe Femur wird in seiner längsten Ausdehnung ohne die distalen Epiphysenkerne vermessen
15
248
Kapitel 15 · Ultraschall im 3. Trimenon
. Abb. 15.2. Normkurven für den fetalen Wachstumsverlauf zwischen 12. und 42. SSW
15
Wachstumskurven auszugleichen. Weiterhin ist neben einer korrekten Einstellung der Messebene die Messmethodik (Messstreckenabgriff) von Bedeutung.
Biparietaler Durchmesser, frontookzipitaler Durchmesser und Kopfumfang Für die exakte Messung des biparietalen Durchmessers (BPD) und des frontookzipitalen Durchmessers (FOD) wird der fetale Kopf im Horizontalschnitt möglichst oval, symmetrisch und mit durchgehenden Konturen dargestellt (. Abb. 15.1a, Normkurven in . Abb. 15.2). Bei fortgeschrittenem Gestationsalter mit tief im Becken liegendem Kopf kann dies erschwert sein. Die Messebene wird so gewählt, dass das Mittelecho ventral durch das Cavum septi pellucidi unterbrochen wird. Beide Thalamuskerne stellen sich symmetrisch beidseits der Falx cerebri als echoarme Struktur dar. Kleinhirn oder Orbitae dürfen bei einer korrekten Einstellung nicht zu sehen sein. Aufgrund des hohen Ossifikationsgrades bei hohem Gestationsalter gelingt die Darstellung der intrazerebralen Strukturen allerdings nicht immer zuverlässig. Die Messstrecke für den BPD und FOD wird als Außenaußen-Messung am knöchernen Schädel abgegriffen; bei dolichozephaler Kopfform (stark längsovale Schädelkontur v. a.
bei Beckenendlage) ist der Kopfumfang (KU) ein verlässlicherer Parameter als der BPD.
Abdomenquerdurchmesser, Abdomenumfang > Als Referenzebene für die Messung von Abdomenquerdurchmesser [entspricht dem Abdomentransversaldurchmesser (ATD), früher Thoraxquerdurchmesser (THQ)] oder Abdomenumfang [(AU), früher Thoraxumfang] gilt die Einmündungsstelle der V. umbilicalis in den Sinus venae portae im Horizontalschnitt.
Der Schallkopf ist hierfür in Höhe der unteren Thoraxapertur distal von Herz- und Magenebene zu platzieren. Die V. umbilicalis sollte dabei am Übergang von vorderem zu mittlerem Abdomendrittel rund bis leicht queroval angeschnitten sein. Die Abdomenkontur sollte möglichst rund zur Darstellung kommen, was oft bereits durch Wegnahme von Druck auf den Schallkopf erreicht werden kann. Die Rippen sollten symmetrisch angeschnitten sein. Die Messung erfolgt von außen nach
249 15.3 · Screening auf Entwicklungsstörungen
außen der knöchernen Rippenkontur (. Abb. 15.1b, Normkurven in . Abb. 15.2). Insgesamt ist die Messung des Abdomens im 3. Trimenon aufgrund der biologischen Variabilität (fetale Lage, Bewegungen, relative Abnahme der Fruchtwassermenge) deutlich erschwert. Gleichzeitig geht dieses Maß jedoch i. d. R. mit der größten Relevanz in die Berechnungen des fetalen Gewichtes mit ein.
Die besten Ergebnisse für die sonographische Ermittlung des Schätzgewichts liefern bei 4 leichtgewichtigen Kindern die Berechnung nach Hadlock, 4 normalgewichtigen Kindern die Berechnung nach Schild und 4 schwergewichtigen Kindern die Berechnung nach Merz.
Femurlänge
Zunehmend werden Parameter der dreidimensionalen Sonographie in die Berechnung des fetalen Schätzgewichts mitein-
Der Oberschenkelknochen als größter Röhrenknochen ist i. d. R. ab der 12. SSW leicht zu vermessen (FL=Femurlänge). Bei der Darstellung des schallkopfnahen Oberschenkels im Querschnitt wird der Schallkopf um 90° gedreht, um den Knochen in seiner längsten Ausdehnung möglichst quer zur Schallrichtung zu erfassen. Schrägschnitte und Darstellungen in Schallrichtung können zu fälschlicherweise zu kurzen Maßen führen. Gemessen wird der ossifizierte Röhrenknochen ohne Berücksichtigung des distalen Femurkerns (. Abb. 15.1c).
Weitere Biometriemaße Die Messung der Humeruslänge (HL) erfolgt analog der Femurlänge, die Messung von weiteren Röhrenknochen der Extremitäten wie Radius und Ulna sind zur Differenzierung von Fehlbildungen oder Skelettdysplasien notwendig. Ebenso ist die Organbiometrie bei gezielten Fragestellungen analog dem 2. Trimenon durchzuführen (7 Kap. 9).
15.2.2
bezogen. Diese Parameter bieten durch die Verwendung von Volumina eine exaktere Korrelation zum fetalen Gewicht. Ein Vergleich von 2-D- und 3-D-Parametern zeigt, dass die höchste Korrelation zwischen Schätzgewicht und tatsächlichem Gewicht mit der volumetrischen Formel nach Schild erreicht werden kann (Fehlerrate 5,6%). Insgesamt 80% der ermittelten Schätzgewichte weisen hierbei eine Fehlerquote von Durchschnittlich befinden sich etwa 75% der Geburtsgewichte in einem Bereich von ±10% des sonographisch geschätzten Gewichts, nur etwa 45% liegen in einem Bereich von ±5%.
Die sonographische Gewichtsschätzung ist insbesondere bei einer Makrosomie oder Wachstumsrestriktion in ihrer Genauigkeit limitiert. Im 3. Trimenon kann nur etwa die Hälfte der untergewichtigen Kinder bei einer Falsch-positiv-Rate von etwa 10% erfasst werden. ! Je schwerer der Fetus ist, desto eher wird sein Gewicht sonographisch unterschätzt. IUWR-Kinder werden also oft zu schwer, makrosome Kinder oft zu leicht geschätzt. Dieses Problem besteht in ähnlicher Form bei allen Methoden der Gewichtsberechnung.
15.3
Screening auf Entwicklungsstörungen
15.3.1
Schädel und Hirn
Da die Hirnentwicklung zum Zeitpunkt des Zweittrimesterscreenings noch nicht abgeschlossen ist (neuronale Migration, Proliferation, Organisation, Gyrierung; Mac Gahan et al. 2003; Toi et al. 2004) und andererseits viele Hirnentwicklungsstörungen nicht auf eine fehlerhafte Embryogenese, sondern auf einen destruktiven Prozess im Schwangerschaftsverlauf (Infektionen, Blutungen, ungeklärte Pathogenese) zurückzuführen sind, ist eine aufmerksame Kontrolle der zerebralen Entwicklung im 3. Trimenon notwendig. In einem Referenzzentrum wurden 30% der zerebralen Entwicklungsstörungen, nach ursprünglich unauffälligem Zweittrimesterscreening, erst später in der Schwangerschaft diagnostiziert (Malinger et al. 2002).
Basisdiagnostik Die Basisdiagnostik (Guidelines ZNS 2007) erfolgt durch Untersuchung der beiden axialen Ebenen (transventrikulär und transzerebral) mit Darstellung der Mittellinie, des Cavum septi pellucidi, der Thalami, der Seitenventrikel (Norm 15 mm – Hohes Risiko 4 In jedem Fall Verlaufskontrolle und weitere Abklärung von: – Neuralrohrdefekten – Zerebralen Anomalien (z. B. Corpus-callosumAgenesie) – Extrazerebralen, inkl. kardialen Fehlbildungen – Zytomegalie, Toxoplasmose – Karyogramm anbieten – ggf. MRT
steht zusätzlich eine Ventrikulomegalie. Eine ausgeprägte Wachstumsrestriktion muss ausgeschlossen sein. Das pathologische Schädelwachstum ist meist Folge eines beeinträchtigten zerebralen Wachstums, bedingt z. B. durch strukturelle Hirnfehlbildungen (z. B. Holoprosenzephalie, Gyrierungsstörungen), fetale Infektionen (v. a. Zytomegalieinfektion), Teratogene, Syndrome und chromosomale Aberrationen (Benacerraf 2008; Bromley u. Bencereff 1995; Pilu et al. 1998; Malinger u. Pilu 2009). Die Diagnose wird meist erst im 3. Trimenon gestellt und erfordert weitere differenzialdiagnostische Abklärung (7 Übersicht). Gyrierungsstörung. Die Gyri und Sulci des Hirnmantels bilden sich erst im Verlauf des späten 2. Trimenon vollständig aus. Spätestens mit 27,9 SSW können alle Sulci, insbesondere die der Hirnkonvexität, sonographisch nachgewiesen werden. Anfangs stellt sich ein weißer Punkt dar, der in der Folge in eine V-förmige Einkerbung und schließlich Y-artige in die Hirnsubstanz reichende echogene Linie übergeht (Toi et al. 2004). Erste Hinweise auf eine Lissenzephalie (Gyrierungsstörung) kann die mangelhafte Ausbildung der prominenten Insula jedoch schon im mittleren 2. Trimenon geben (Fong et al. 2004). Intrakranielle Blutungen. Ein intrakranielles Blutungsgeschehen (bei Koagulopathie, Anämie, Thrombozytopenie, Trauma) ereignet sich meist im Bereich der Seitenventrikel und tritt durch primär helle, echogene intraventrikuläre Formationen in Erscheinung, die im Verlauf inhomogen mit zentralem, echoarmem Bezirk zur Darstellung kommen. Häufig entwickelt sich eine Ventrikulomegalie. Eine diffuse Verdichtung im Bereich der Hirnsubstanz, v. a. im Bereich der Fossa posterior, kann auch Hinweis auf ein Blutungsgeschehen sein (Ghi et al. 2003). Periventrikuläre Leukomalazie. Eine periventrikuläre Leukomalazie kann sich durch periventrikuläre echogene Bezirke manifestieren. Nach einigen (>2 Wochen) kann es zur Ausbildung multipler kleiner Zysten nahe der Hinterhörner der Seitenventrikel kommen, die sich sonographisch als kleinere echoarme/-leere Areale darstellen. Eine Persistenz der Befunde und eine zystische Degeneration sind mit einer schlechten neurologischen Prognose verbunden (Ghi et al. 2004; Van Gelder-Hasker et al. 2003). Porenzephalie. Hier liegen große zystische Bezirke im Be-
> Eine isolierte Ventrikulomegalie (30% der Fälle) ist eine Ausschlussdiagnose!!
Mikrozephalus Ein Mikrozephalus liegt vor, wenn der Kopfumfang 2 bzw. 3 Standardabweichungen unter der Norm liegt. Typisch sind eine fliehende Stirn sowie eine eindeutige Dysproportion zwischen Hirnschädel und Gesichtsschädel. Dies kann durch den Vergleich der Schädelmaße (BPD; KU, bzw. FOD) mit den Maßen des Gesichtsschädels (AOD: äußerer Orbitaabstand, IOD: innerer Orbitaabstand) objektiviert werden. Häufig be-
reich der Hirnrinde vor, die meist in Verbindung mit den Seitenventrikeln bzw. dem subarachnoidalen Raum stehen. Zytomegalievirusinfektion. Zerebrale Läsionen nach einer CMV-Infektion sind typischerweise periventrikuläre und intraparenchymale echogene Bezirke, Ventrikulomegalie und Mikrozephalus; daneben werden zerebelläre Hypoplasie, kortikale Abnormitäten und gelegentlich Einblutungen beobachtet (Malinger et al. 2003). Arachnoidalzyste. Hier liegt eine Ansammlung von liquorähnlicher Flüssigkeit zwischen Dura und Hirnsubstanz vor.
251 15.3 · Screening auf Entwicklungsstörungen
Die Bezeichnung wird häufig für jede intrakranielle Zyste im Subarachnoidalraum benutzt. Sonographisch fällt sie durch eine gut abgegrenzte, echoleere, asymmetrische Raumforderung, die das umgebende Gewebe verdrängt, auf. Sie wird meist erst im 3. Trimenon diagnostiziert. Differenzialdiagnostisch müssen Zysten des Plexus choroideus, eine Porenzephalie, Schizenzephalie, zystisches Neoplasma und intrakranielle Blutungen davon unterschieden werden. Intrazerebrale Tumoren. Diese sonographisch als inhomogene Raumforderung imponierenden Tumoren sind selten. In ca. 60% handelt es sich um Teratome, des Weiteren können neuroepitheliale Tumoren, Lipome und Kraniopharyngeome vorliegen. Häufig kommt es zur Entwicklung einer Makrozephalie, Ventrikelerweiterung, intrakraniellen Kalzifikationen und Einblutungen (Hämorrhagie) sowie gelegentlich Entwicklung eines Hydrops bedingt durch ein AV-Shunting (7 unten). Durch zentrale Schluckstörung oder Einengung des Pharynx kann es zur Ausbildung eines Polyhydramnions kommen. Vaskuläre Abnormitäten. Unter einem Aneurysma der V. Galeni wird ein Spektrum von arteriovenösen Malformationen (von einer einfachen breiten aneurysmatischen Dilatation der V. Galeni bis zu multiplen Verbindungen zwischen der V. Galeni und dem System der A. carotis und dem vertebrobasilären System) zusammengefasst. Sonographisch findet sich hierbei eine längliche, echoleere Struktur dorsal und kaudal der Thalami. Im Farb- und Power-Doppler zeigt sich ein turbulenter venöser und/oder arterieller Blutfluss. Es kann sich hierbei um AV-Fisteln, AV-Malformation mit Ektasie der V. Galeni und Varizen der V. Galeni handeln. AV-Fisteln manifestieren sich häufig intrauterin oder neonatal durch Highoutput-Herzversagen aufgrund einer kardialen Volumenüberlastung. Ektasie und Varizen fallen meist erst später im Leben durch Blutungsepisoden auf. Differenzialdiagnostisch kann durch Anwendung des Farbdopplers eine Arachnoidalzyste ausgeschlossen werden.
Differenzialdiagnose intrazerebraler zystischer und echogener Raumforderungen 4 Zystisch – Ventrikulomegalie – Plexuszyste (selten 3. Trimenon) – Arachnoidalzyste – Aneurysma der V. Galeni – Tumor – Porenzephalie – Schizenzephalie – Einblutung 4 Echogene Bezirke – Einblutung – CMV-Infektion – Periventrikuläre Leukomalazie – Tumor
15.3.2
Hals und Thorax
Hals Im Halsbereich muss auf zystisch-solide Raumforderungen geachtet werden. Diese werden häufig erst bei der 3. Screeninguntersuchung entdeckt. Differenzialdiagnostisch kommen Lymphangiome (überwiegend zystisch), Hämangiome, Teratome (überwiegend solide, Kalkeinlagerung) bzw. eine Struma (solide, gut abgegrenzt) in Betracht (Yoshida et al. 2006; Paladini et al. 2005; Viora et al. 2000). Zervikale Neuralrohrdefekte, bzw. Enzephalozelen, sowie zystische Hygrome werden i. d. R. beim Zweit- bzw. Ersttrimesterscreening entdeckt. Da insbesondere Lymphangiome/Hämangiome und Teratome sehr groß werden können, kommt es häufig zu relativer Fehlhaltung und Bewegungseinschränkung des fetalen Köpfchens bzw. Abspreizung eines Ärmchens, wodurch die Entwicklung des Köpfchens bzw. der oberen Extremität bei Geburt behindert werden kann. Infiltratives Wachstum kann zu Trachealkompression führen. In diesen Fällen muss per sectionem entbunden werden und nach Entwicklung des Köpfchens, noch vor dem Abklemmen der Nabelschnur, unter Aufrechterhaltung der uteroplazentaren Zirkulation, intubiert werden (EXIT-Procedure; Hirose et al. 2004; 7 Kap. 26.1.8). Durch die mechanisch bedingte Schluckstörung kann sich ein Polyhydramnion entwickeln.
Zwerchfell Das Zwerchfell stellt sich im Längsschnitt als zarte, kontinuierliche Linie dar. Die Herzspitze und Lungenbasis sind kranial, die Magenblase und Leber kaudal davon zu erkennen. Zwerchfelldefekte kommen v. a. linksseitig (75–90%) vor und fallen dann durch die Verlagerung abdominaler Organe in den Thoraxbereich auf, ggf. kann Darmperistaltik nachgewiesen werden. Die sonographische Identifikation einer durchgängigen Zwerchfellstruktur schließt jedoch die Zwerchfellhernie nicht mit letzter Sicherheit aus, v. a. wenn solide oder zystische Raumforderungen im fetalen Thorax beobachtet werden (Benacerraf u. Adzick 1987). Ebenso besteht hoher Verdacht auf das Vorliegen einer Zwerchfellhernie, wenn die Lage des Herzens von der normalen Position abweicht. Normalerweise zeigt die Herzspitze nach links, die Herzachse steht in einem Winkel von 45° zur Sagittalachse, zwei Drittel des Herzens sind in der linken Thoraxhälfte, ein Drittel in der rechten lokalisiert. In diesem Fall müssen sorgfältig intrathorakale Raumforderungen, die in der Echogenität vom Lungengewebe abweichen, ausgeschlossen werden. Die Prognose hängt vom funktionellen Lungenvolumen ab und ist günstiger, wenn der Defekt erst im 3. Trimenon zur Darstellung kommt. Prognosefaktoren für schlechtes Outcome sind: intrathorakal prolabierte Leber, abnorme »lung/ head ratio« (Jani et al. 2007; Doné et al. 2008), kleine Lungen (MRT), frühe Diagnosestellung (7 Kap. 9). Bei ausgeprägten Befunden mit schlechter Prognose kann, um die Lungenhypoplasie zu vermeiden, eine intrauterine, endoskopische fetale Therapie in Erwägung gezogen werden. Hierbei wird die
15
252
Kapitel 15 · Ultraschall im 3. Trimenon
. Abb. 15.3. Zystisch adenomatoide Lungenmalformation (CCAM) mit Hydrops fetalis. Sagittalschnitt von Thorax und Abdomen. Durch die große thorakale Raumforderung, entsprechend einer CCAM (Pfeil), kommt es zur Mediastinalverschiebung und Komprimierung des Herzens mit konsekutivem Hydrops (Aszites, Hautödem)
. Abb. 15.4. Zystisch adenomatoide Lungenmalformation (CCAM) mit Hydrops fetalis. Thorakaler Querschnitt: Durch die große thorakale Raumforderung (einfacher Pfeil) wird das Herz (Doppelpfeil) an die linke Thoraxwand gedrängt und komprimiert
Trachea mittels eines fetoskopisch eingeführten Ballonkatheters vorübergehend verschlossen (»fetal endoskopic tracheal occlusion«; FETO) (7 Kap. 26; Deprest et al. 2009).
gen. Eine Thoraxhypoplasie muss Anlass zum Ausschluss von Skelettdysplasien geben. Ein Pleuraerguss kann Symptom eines generalisierten Hydrops sein oder isoliert auftreten. Organische und chromosomale Anomalien müssen ausgeschlossen werden. Handelt es sich um einen isolierten Pleuraerguss, so ist in einem hohen Prozentsatz eine Malformation (Atresie oder Fistel) des Ductus thoracicus, die zur Ausbildung eines Chylothorax führt, die Ursache. Kompression der Lunge sowie Verdrängung des Mediastinums und des Herzens auf die kontralaterale Seite können eine Entlastungspunktion bzw. Einlage eines Shunts erforderlich machen (Yamamoto et al. 2007; . Abb. 15.5).
Lunge und Thorax
15
Die fetale Lunge füllt neben dem Herzen den restlichen Thorax aus. Die sehr seltenen pathologischen Veränderungen (z. B. Lungenzysten, zystisch-adenomatoide Malformationen der Lunge, Lungensequester; 7 Kap. 9) müssen von Abdominalorganen, die durch einen Zwerchfelldefekt im Thorax zu liegen kommen, unterschieden werden. Häufig bilden sich die Befunde bei der zystisch-adenomatoiden Lungenmalformation im 3. Trimenon zurück. Eine operative Intervention ist jedoch fast immer nötig, wobei die Prognose meist sehr gut ist. Ausgedehnte Befunde können zur Kompression der Restlunge und langfristig zur Lungenhypoplasie führen. Aufgrund dessen kann es notwendig werden, makrozystische Befunde durch serielle Punktionen oder Shunt-Einlage zu verkleinern. Gegebenenfalls wird direkt antepartal eine Entlastungspunktion vorgenommen, um nach Geburt eine ausreichende Oxygenierung zu ermöglichen (Knox et al. 2006). Abhängig von der Größe der Veränderung kann es zu Mediastinalverdrängung mit Verlagerung des Herzens und hieraus resultierendem Hydrops kommen (. Abb.15.3, 15.4). Die Prognose ist in diesen Fällen (abhängig vom Schwangerschaftsalter) schlecht. Bei der Zwerchfellbeurteilung im Längsschnitt (7 oben) kann auch die Thoraxgröße einfach abgeschätzt werden (Cave: Sektkorkenphänomen als Hinweis für hypoplastischen Thorax), wobei eine ungünstige fetale Lage gelegentlich einen kleineren knöchernen Thorax vortäuschen kann. Durch die Messung des Thoraxumfangs auf Herzhöhe (TU) im Querschnitt kann dies objektiviert werden. Der Thoraxumfang sollte mindestens 80% des Bauchumfangs (AU; 7 oben) betra-
. Abb. 15.5. Chylothorax. Thorakaler Querschnitt: Durch den Pleuraerguss (Chylothorax) werden Lungen und Herz (Doppelpfeil) komprimiert. Kranial betontes Hautödem
253 15.3 · Screening auf Entwicklungsstörungen
15.3.3
Herz
Herzfehler mit später Manifestation Es ist bekannt, dass sich einige anatomische Anomalien des Herzens und der Gefäße erst im Lauf der Schwangerschaft entwickeln, somit dem Zweittrimesterscreening entgehen und erst später sonographisch darstellbar sind (Yagel et al. 1997). Besonders trifft dies für Obstruktionen des ventrikulären Ausflusstrakts bzw. Stenosen der großen Gefäße, Herzmuskelveränderungen sowie kardiale Tumoren zu. So führt z. B. eine zunehmende Störung des Wachstums der Aorten- bzw. Pulmonalklappe zur Einengung des Ausflusstrakts und damit zu veränderten Druckgradienten. Hierdurch entsteht vorerst eine Asymmetrie und Erweiterung des zugehörigen vorgeschalteten Ventrikels, was in der Folge zur Endokardfibroelastose und Kammerhypoplasie führen kann. Da das beeinträchtigte Klappenwachstum häufig erst im Verlauf an funktioneller Bedeutung gewinnt, werden diese Veränderungen erst in der 2. Hälfte der Schwangerschaft auffällig (Yagel et al. 2009). Die Beurteilung des Myokards ermöglicht die Diagnose einer sich entwickelnden Kardiomyopathie (verdicktes Ventrikelseptum und Ventrikelwand), die sich auch bei primären Formen (z. B. Speichererkrankungen, Noonan-Syndrom) typischerweise erst spät manifestiert (. Abb.15.6). Sekundär entstandene Myokardhypertrophien können sich z. B. bei fetofetalem Transfusionssyndrom, renalen Anomalien und bei mütterlichem Diabetes mellitus entwickeln. Liegt in der Familie eine Kardiomyopathie vor, so ist eine sonographische Diagnostik des fetalen Herzens im 3. Trimenon indiziert. Rhabdomyome, die häufigsten der pränatal diagnostizierten kardialen Tumoren, stellen sich als homogene, glatte, ins Lumen vorspringende Raumforderungen, die etwas echogener als das Myokard sind, dar. Sie gehen meist vom interventrikulären Septum oder der freien Wand des rechten oder linken Ventrikels aus. Je nach Lokalisation kann es zum Verlegen der Einfluss- oder Ausflusstrakte und zu Rhythmusstörungen kommen. Meist weisen sie Wachstumsprogredienz bis zur 32.–34. SSW auf. Postnatal ist eine zumindest teilweise Rückbildung typisch (. Abb. 15.7). In 50–80% liegt eine tuberöse Sklerose zugrunde, besonders häufig (bis zu 95%) bei multiplen Rhabdomyomen. Eine sorgfältige sonographische Suche nach weiteren, z. T. kleinen Tumoren v. a. zerebral und viszeral muss deshalb erfolgen. Eine MRT-Untersuchung des fetalen Hirns kann ggf. sinnvoll sein. Die Prognose hängt von möglichen Ausflusstraktobstruktionen bzw. dem Vorliegen einer tuberösen Sklerose ab. Es handelt sich hierbei um einen autosomal dominanten Erbgang. Bei nachgewiesener Mutation bei einem Familienmitglied kann eine pränatale Diagnostik im 1. Trimenon angeboten werden (Fesslova et al. 2004; Isaacs 2004; Geipel et al. 2001; Mühler et al. 2007; Tworetzky 2003).
Richtlinien für die sonographische Untersuchung des fetalen Herzens Im Rahmen des Dritttrimesterscreenings wird eine erneute Überprüfung der Hinweiszeichen für Entwicklungsstörungen gefordert (7 oben; Mutterschaftsrichtlinien 2009, AWMF 2008). Von der internationalen Gesellschaft für Ultraschall in
. Abb. 15.6. Hypertrophe Kardiomyopathie bei Noonan-Syndrom. Ventrikelseptum und Septum verdickt; Pleuraerguss
. Abb. 15.7. Multiple Rhabdomyome
der Medizin (ISUOG) wurden Richtlinien über eine Basisbzw. eine erweiterte Basisuntersuchung des fetalen Herzens erarbeitet (ISUOG Guidelines 2006). Für die Basisuntersuchung soll das fetale Herz exakt im 4-Kammer-Blick eingestellt und nach den geforderten Kriterien detailliert beurteilt werden. Besonderes Augenmerk muss auf die Symmetrie der Ventrikel und Vorhöfe gerichtet werden. Eine Ventrikeldiskordanz, hinweisend auf Ausflusstraktobstruktionen, einen hypoplastischen Ventrikel (prostaglandinabhängige Vitien!), Endokardfibroelastose, sollten ausgeschlossen werden. Die regelrechte Öffnung der AV-Klappen muss überprüft werden. Eine Kardiomegalie liegt vor, wenn das Herz mehr als ein Drittel der Thoraxfläche einnimmt, z. B. bedingt durch eine AV-Klappeninsuffizienz. Davon zu unterscheiden ist ein normalgroßes Herz bei zu kleinem Thorax als Folge einer ausgeprägten Wachstumsretardierung bzw. Thoraxhypoplasie aufgrund einer Skelettdysplasie. Eine Verdickung des Myokards spricht für eine hypertrophe Kardio-
15
254
Kapitel 15 · Ultraschall im 3. Trimenon
. Abb. 15.8. Pathologischer 3-GefäßeBlick. Retrograder Fluss im Aortenbogen bei kritischer Aortenstenose. Im 3-GefäßeBlick kommt der Ductus arteriosus und der Aortenbogen in einer V-förmigen Konfiguration zur Darstellung. Normalerweise werden beide Gefäße in die gleiche Richtung perfundiert, mit entsprechender farbdopplersonographischer Darstellung. Bei einer Verengung im Bereich des Ausflusstraktes kann es zu retrogradem Fluss distal der Engstelle kommen. In dieser Abbildung füllt sich die schmale Aorta über den Ductus arteriosus retrograd (rotes Signal)
15
myopathie. Bei einer Veränderung der Herzachse (45°±20°Winkel zur Sagittalachse) bzw. der Position des Herzens im Thorax (zwei Drittel befinden sich in der linken Thoraxhälfte) besteht nach Ausschluss einer Zwerchfellhernie bzw. Lungenmalformation ein hochgradiger Verdacht auf Vorliegen eines Herzfehlers. Kontraktilität, Herzfrequenz und Rhythmus sollen überprüft werden. Es ist wünschenswert, zusätzlich den Abgang der großen Gefäße und deren Überkreuzung sowie den 3-Gefäße-Blick, der den Aortenbogen und den Ductus arteriosus tangential darstellt, zu überprüfen. Erst hierdurch werden z. B. Feten mit einer Transposition der großen Gefäße (7 Kap. 9.1.5) identifiziert, die aufgrund des ductusabhängigen Vitiums direkt postnatal Prostaglandine zur Verhinderung des physiologischen Ductusverschlusses benötigen. Es wird diskutiert, die Darstellung der Gefäße in die Anforderungen an das Basisscreening zu implementieren (Allan et al. 2001; Chaoui 2003; Yoo et al. 1997; DeVore 1992; Vinals et al. 2003; Yagel et al. 2002; Carvalho et al. 2002).
Mit dem Farbdoppler kann die Kammerfüllung, der Fluss über den Klappen sowie die Flussrichtung in den großen Gefäßen einfach dargestellt werden (. Abb. 15.8, . Tab. 15.2). Eine weiterführende differenzierte fetale Echokardiographie muss bei sonographischen Auffälligkeiten, bei verdickter NT >3,5 mm und bei positiver Eigen- und Familienanamnese (z. B. Kardiomyopathie, Aortenisthmusstenose, angeborene Herzfehler) erfolgen (Lee et al. 2008). > Ziel muss sein, Feten mit ductusabhängigen Vitien (. Tab. 15.2) sowie mit Herzfehlern, die sofortiger neonatologischer Therapie/Überwachung bedürfen, zu identifizieren, um eine optimale postpartale Versorgung in qualifizierten Abteilungen gewährleisten zu können.
15.3.4
Gastrointestinaltrakt
Entwicklungsstörungen im Gastrointestinaltrakt werden häufig erst im 3. Trimenon durch ein zunehmendes, oft massives
. Tab. 15.2. Ductusabhängige Herzfehler. Zur Aufrechterhaltung der kindlichen pulmonalen bzw. systemischen Zirkulation postpartal muss der Ductus arteriosus durch Prostaglandingabe offen gehalten werden
Pulmonale Zirkulation beeinträchtigt
Systemische Zirkulation beeinträchtigt
Blutfluss der unteren Körperhälfte beeinträchtigt
5 Pulmonalatresie 5 Kritische Pulmonalstenose 5 Schwere Fallot-Tetralogie
5 Hyoplastisches Linksherz 5 Kritische Aortenstenose 5 Unterbrochener Aortenbogen
5 Kritische Aortenisthmusstenose
Komplette TGA
Komplette TGA
TGA Transposition der großen Arterien.
255 15.3 · Screening auf Entwicklungsstörungen
Polyhydramnion diagnostiziert. Obstruktionen im oberen/ mittleren Gastrointestinaltrakt sind hierfür verantwortlich.
Ösophagus, Magen Bei der Beurteilung des oberen Gastrointestinaltrakts wird die Lage und Füllung des Magens überprüft. Lässt sich der Magen in seriellen Untersuchungen nicht oder nur sehr klein nachweisen, so besteht der Verdacht auf Ösophagusatresie. In 85–90% der Fälle kommt jedoch durch Fistelbildung zwischen Ösophagus und Trachea oder durch Sekretproduktion der Magenschleimhaut eine gefüllte Magenblase zur Darstellung. Gelegentlich kann dorsal des Herzens im oberen Mediastinum das mit Fruchtwasser gefüllte proximale Ösophagusende als echoleerer, länglicher Sack (»pouch«) visualisiert werden und damit die Verdachtsdiagnose bestätigen (Kalache et al. 2000). Durch die »Schluckstörung« kommt es v. a. im 3. Trimenon (ab der 25. SSW) zur Ausbildung eines Polyhydramnions. In ca. 40% der Fälle wird eine zunehmende Wachstumsrestriktion (SGA) beobachtet. Differenzialdiagnostisch müssen bei nicht darstellbarem Magen und Polyhydramnion Prozesse, die zur Kompression des Ösophagus führen (intrathorakale Raumforderungen, Thoraxhypoplasie bei Skelettdysplasie) sowie neurogene Schluckstörungen (zerebrale Fehlanlagen, Aneuploidien) ausgeschlossen werden (Shulman et al. 2002; Yagel et al. 2005).
a
Ösophagusatresie, -stenose 4 Eine gefüllte Magenblase schließt eine Ösophagusatresie nicht aus 4 Häufig Polyhydramnion, SGA 4 Begleitfehlbildungen/assoziierte Anomalien in 50–70% der Fälle 4 Chromosomale Aberrationen in 10–20% der Fälle
Duodenum Bei der Duodenalstenose/-atresie liegt neben dem gut gefüllten Magen eine nach rechts reichende, echoleere zystische Raumforderung, die dem prästenotischen proximalen, mit Fruchtwasser gefüllten Duodenalanteil entspricht. Die Verbindung des Magens mit dem dilatierten Duodenum sollte dargestellt werden, um differenzialdiagnostisch andere zystische Veränderungen (Choledochuszyste, Leberzysten, Duplikaturen) auszuschließen. Da erst nach der 20. SSW bedeutende Mengen Fruchtwasser vom Feten geschluckt werden, ist das »Double-bubble-Phänomen« meist erst nach der 20. SSW nachweisbar (. Abb. 15.9). Ebenso erklärt sich die im Verlauf zunehmende Fruchtwassermenge mit Ausbildung eines Polyhydramnions im 3. Trimenon.
Dünndarm, Kolon Dünndarm und Dickdarm sind normalerweise bis zum 3. Trimenon sonographisch einheitlich echogen. Danach kommt das Kolon zunehmend echoärmer neben dem zentral gelegenen, echogenen Dünndarm zur Darstellung. Eine Dilatation darf nicht vorliegen. Der Durchmesser des Dünndarms
b . Abb. 15.9a, b. Duodenalstenose. Der Magen und das proximale Duodenum stellen sich dar als 2 nebeneinander liegende Zysten (»double bubble« b), die durch den Pylorus in Verbindung stehen (a)
beträgt in der 30. SSW 10 mm (mäßige/schwere Hydronephrose), so ist der Befund häufig progredient. Postnatal muss in jedem Fall eine urologische Abklärung erfolgen, eine primäre antibiotische Therapie (bis ein Reflux ausgeschlossen ist) kann erwogen werden. In ca. 30% der Fälle muss eine operative Intervention erfolgen. Eine milde Hydronephrose bildet sich häufig intrauterin spontan zurück. Bei Persistenz wird eine Kontrolle in der frühen Neugeborenenperiode
15–19 SSW
20–29 SSW
30–40 SSW
>4 mm
>5 mm
>7 mm
Mäßige Hydronephrose
>10 mm
Schwere Hydronephrose
>15 mm
sowie 3–6 Monate später empfohlen, eine operative Therapie ist extrem selten nötig (Sairam et al. 2001; Wollenberg et al. 2005). > Da Nierenerkrankungen im Säuglingsalter meist klinisch inapparent sind, muss besonderer Wert auf die pränatale Diagnostik und das postnatale Follow-up gelegt werden. Selten ist eine intrauterine Therapie (Shunteinlage oder serielle Punktionen) bei ausgeprägter Megazystis oder Hydronephrose beidseits erforderlich.
Das Ausmaß der Pyelektasie/Hydronephrose wird mittels des a.-p.-Durchmessers des Nierenbeckens bestimmt. Hierfür gelten die in . Tab. 15.3 genannten Richtwerte (ISUOG 2009).
Blase Die fetale Harnblase wird von den beiden intraabdominellen Abschnitten der Aa. umbilicales umschlossen. So kann sie durch farbdopplersonographische Darstellung der Aa. umbilicales eindeutig von zystischen Prozessen im Unterbauch (z. B. Ovarialzyste) abgegrenzt werden. Zur Beurteilung des Füllungszustands muss entsprechend der fetalen Miktionsfrequenz im Verlauf der Ultraschalluntersuchung in Abständen von 30–45 min kontrolliert werden (Wladimirow u. Campbell 1974).
Ovar Im 3. Trimenon werden häufig bei weiblichen Feten Ovarialzysten beobachtet. Durch hormonelle Stimulation (mütterliche Östrogene, plazentares HCG; fetale Gonadotropine) kommt es zur Entwicklung dieser i. d. R. funktionellen, benignen Zysten. Sie sind meist einseitig, glatt begrenzt, echoleer und unilokulär zu visualisieren. Torsion und Einblutung können zu Veränderung der Binnenstruktur führen; gelegentlich wird eine Ruptur beobachtet. Die Größe ist variabel, und häufig kommt es schon intrauterin zu einer spontanen Rückbildung. Bei großen Zysten kann einerseits bei Verdrängungserscheinungen eine intrauterine Entlastungspunktion notwendig werden. Inwieweit andererseits eine intrauterine Punktion eine Schädigung des Ovarialgewebes verhindern kann, wird kontrovers diskutiert (. Abb. 15.14; Foley et al. 2005; Perrotin et al. 2000).
15
258
Kapitel 15 · Ultraschall im 3. Trimenon
. Abb. 15.14. Ovarialzyste (4,1 cm groß, Zustand nach Einblutung)
15.3.6
15
Zystische abdominelle Raumforderungen
Bei unklaren zystischen Veränderungen müssen differenzialdiagnostisch zunächst Harnblase, Magen, Gallenblase und Darm abgegrenzt werden. Mit der Darstellung beider Nieren sind Nierenzysten, multizystische Nierendysplasien bzw. Hydronephrose auszuschließen. Die Diagnose wird dann durch die Beurteilung der exakten Lage im Abdomen, der Beziehung zu den Nachbarorganen, der Ausdehnung (Quer- und Sagittalschnitt), der Binnenstruktur und Farbdopplersonographie gestellt; ggf. sind sequenzielle Untersuchungen nötig. Am häufigsten liegen zystische Veränderungen bzw. Dilatation der Nieren, des Ureters sowie des Darmes vor. Im Unterbauch müssen Ovarialzysten von einer dilatierten Blase oder einem Hydroureter unterschieden werden. Selten können Leberzysten, Choledochuszysten, Milzzysten, Mesenterialzysten, Darmduplikaturen (dicke muskuläre Wand, Peristaltik) sowie Hydrometrokolpos oder eine Kloakenbildung beobachtet werden.
15.3.7
Nichtimmunologischer Hydrops fetalis (NIHF)
Die Diagnose eines Hydrops fetalis wird gestellt, wenn mindestens 2 abnorme Flüssigkeitsansammlungen in Haut (Hautödem) und/oder Körperhöhlen (Perikarderguss, Pleuraerguss, Aszites) vorliegen (. Abb. 15.15). Der immunologische Hydrops, verursacht durch eine Blutgruppeninkompatibilität (v. a. Rhesusimkompatibilität), ist aufgrund der Rhesusprophylaxe in den Hintergrund getreten (7 Kap. 12.2.8). Er muss vom nichtimmunologischen Hydrops (NIHF), der 90% der Fälle ausmacht, unterschieden werden. Als Hauptursache für die Ausbildung eines NIHF werden eine Beeinträchtigung der Herzfunktion, strukturelle lymphatische Obstruktionen und Hypoproteinämie angesehen
. Abb. 15.15. Ausgeprägtes kraniales Hautödem bei nichtimmunologischem Hydrops fetalis (NIHF) aufgrund eines therapiebedürftigen Chylothorax
(Hyett 2009). In ca. einem Viertel der Fälle liegen kardiovaskuläre Störungen zugrunde: Einerseits führt eine verminderte kardiale Auswurfleistung zur Hydropsentwicklung. Dies ist der Fall bei Tachy- bzw. Bradyarrhythmien, strukturellen Herzfehlern (v. a. schwere Klappeninsuffizienzen), die zu erhöhtem rechtsatrialem und damit venösem Druck führen, sowie bei beeinträchtigter Myokardfunktion (Kardiomyopathie, infektiös bedingte Myokarditis; . Abb. 15.6). Andererseits kann eine vermehrte Volumenbelastung zu einem Highoutput-Herzversagen führen, da das unreife fetale Herz die hyperdyname Zirkulation nicht aufrechterhalten kann. Verantwortlich hierfür sind in erster Linie fetale und plazentare AV-Shunts. Diese sind typisch bei fetalen Tumoren (z. B. Steißbeinteratom), Aneurysma der V. Galeni und Chorangiom der Plazenta. Beim fetofetalen Transfusionssyndrom besteht beim Rezipient ebenfalls eine Volumenüberlastung. Seltener kann eine venöse Kompression durch thorakale Raumforderungen oder kardiale Tumoren zu vermindertem venösem Rückstrom und damit Herzversagen führen (. Abb. 15.3, 15.4, 15.6). In 12% der Fälle liegen chromosomale Aberrationen vor. In erster Linie handelt es sich um Monosomie X, gefolgt von Trisomie 21, 18, 13. Als Ursache der Hydropsentwicklung wird eine lokale lymphatische Obstruktion bzw. eine Anlagestörung des lymphatischen Systems diskutiert. Nicht immunologisch bedingte Anämien (10%) können durch Verlust von Erythrozyten (Hämolyse oder Blutung) oder durch mangelhafte Erythrozytensynthese entstehen. Durch die Anämie kommt es zur Hypoxie der Kapillaren und des Gewebes mit Extravasaten von Protein oder durch Kompensationsmechanismen zum High-output-Herzversagen mit in der Folge Hydropsentwicklung (. Tab. 15.4). Fetale Infektionen (7 Kap. 20) führen über verschiedene Wege zur Ausbildung eines NIHF. Eine hämolytische Anämie (z. B. bei CMV-Infektion), Myokarditis mit in der Folge verminderter Pumpleistung sowie Hepatitis mit evtl. hierdurch induzierter Hypoproteinämie werden dafür ver-
259 15.3 · Screening auf Entwicklungsstörungen
. Tab. 15.4. Differenzialdiagnostische Abklärung des NIHF: sonographische Hinweise und weiteres Vorgehen
Zugrunde liegende Ursache
Sonographie
Zerebral
Aneurysma der V. Galeni
5 Echoleere Raumforderung mit Strömungsnachweis im Farbdoppler
Infektionen
5 5 5 5
Rhythmusstörungen
5 Tachyarrhythmie
5 Intrauterine Therapie
5 Bradyarrhythmie/AV-Block
5 SSA-/SSB-AK?
Kardial
Thorakal
Ventrikulomegalie Parenchymveränderung Einblutung Mikrozephalus
Weitere Abklärung/Therapie
5 TORCH (CMV, Toxoplasmose)
Angeborene Herzfehler
5 z. B. Klappeninsuffizienz
Kardiale Tumoren
5 Rhabdomyome
Myokardveränderungen
5 Verminderte Kontraktilität
5 Kardiomyopathie
5 Verdicktes Septum und Myokard
5 Stoffwechselerkrankung? 5 Noonan-Syndrom?
5 Myokarditis
5 Echogenes Myometrium
5 Infektion (TORCH)?
Lungentumoren/Zysten
5 Intrathorakale Raumforderung 5 Mediastinalverschiebung
5 Shunt bei großen Zysten
5 Zerebrale Veränderungen?
Zwerchfellhernie Abdomen
Mekoniumperitonitis
5 Dilatierter Darm, Verkalkung, Aszites
Hepatitis/Leberfibrose Skelett
Skelettdysplasien
Syndrome
Multiple Fehlbildungen/ Softmarker
Plazenta
Chorangiom (hydropische Plazenta)
5 Genetische Beratung, ggf. molekulargenetische Abklärung
5 AV-Fisteln im Farbdoppler 5 Polyhydramnion?
Fruchtwasser Tumoren
Steißbeinteratom
Infektion
Parvovirus, CMV, Toxoplasmose, Syphilis, Röteln, Coxsackie, HSV, Adenovirus
Chromosomale Aberration
Familienanamnese
5 Femurlänge? 5 Hypoplastischer Thorax
Stoffwechsel-/Speichererkrankungen, genetische Syndrome, Konsanguinität
5 5 5 5 5
Zerebrale Veränderungen (s. o.) Anämie (Vmax) IUWR Leberpathologie Polyhydramnion
5 TORCH 5 ggf. Virusnachweis aus Fruchtwasser 5 ggf. bei Anämie durch Parvovirusinfektion: intrauterine Transfusion
5 5 5 5
IUWR Polyhydramnion Sonographische Marker Strukturelle Anomalien
5 Karyogramm (FISH und Langzeitkultur) 5 Genetische Abklärung 5 Genetische Abklärung
15
260
Kapitel 15 · Ultraschall im 3. Trimenon
antwortlich gemacht. Bei der Parvovirusinfektion kann sich eine ausgeprägte aplastische Anämie entwickeln. Wird diese kurzfristige aplastische Krise durch intrauterine Transfusion therapiert, bildet sich i. d. R. der Hydrops vollständig zurück. Mit zunehmendem Gestationsalter nimmt die Wahrscheinlichkeit einer therapiebedürftigen fetalen Erkrankung ab. Skelettdysplasien (insbesondere mit Thoraxhypoplasie), genetische Syndrome, neuromuskuläre Erkrankungen sowie Stoffwechselerkrankungen (z. B. Speichererkrankungen) können ebenfalls dem NIHF zugrunde liegen. Das diagnostische Vorgehen zeigt die 7 Übersicht. Vorgehen zur Abklärung eines Hydrops fetalis Differenzierte Sonographie einschl. Echokardiographie und Dopplersonographie: 4 Biometrie 4 Ausschuss struktureller Anomalien, Marker für chromosomale Aberrationen 4 Dopplersonographie der A. cerebri media (Vmax) Mütterliche Blutanalyse: 4 Blutgruppenantikörper 4 Differenzialblutbild 4 Hb-F-Bestimmung 4 Virusserologie (TORCH): – Parvovirus B19, CMV, Toxoplasmose, Syphilis, Röteln, Coxsackie, HSV, Adenovirus Ausführliche Familienanamnese: 4 ggf. zusätzlich genetische Abklärung
15
Invasive Diagnostik: 4 Amniozentese – Karyotypisierung (FISH, Langzeitkultur) – ggf. Molekulargenetik – ggf. Virusnachweis (PCR) – ggf. Stoffwechseldiagnostik 4 ggf. Fetalblutentnahme in Transfusionsbereitschaft 4 Material asservieren für weitere Abklärung!
15.4
Fruchtwasser
Im 1. Trimenon entsteht Fruchtwasser in erster Linie aus einer Serumfraktion, die in die Amnionhöhle abfiltriert wird. Zwischen der Produktion und der Resorption von Fruchtwasser (Amnionepithel, Nabelschnur, Plazenta, fetale Haut bis zur Keratinisierung in der etwa 15. SSW) besteht ein ständiges Gleichgewicht. Im weiteren Schwangerschaftsverlauf werden dann v. a. die fetalen Nieren für die Fruchtwasserproduktion und der fetale Gastrointestinaltrakt für die Resorption verantwortlich gemacht. In der Frühschwangerschaft steigt die Fruchtwassermenge kontinuierlich an und beträgt in der 12. SSW etwa 60 ml. Verminderte Fruchtwassermengen führen durch einen reduzierten Turgor zu einer sonographisch
sichtbaren Entrundung der Fruchtblase und sind damit oft ein Hinweis auf eine gestörte Frühgravidität. Bis zur etwa 34. SSW ist ein beständiger Anstieg der Fruchtwassermenge zu beobachten (bis etwa 1000 ml), danach wieder ein leichter Rückgang bis zum Termin (etwa 800 ml). In der 42. SSW beträgt die Fruchtwassermenge im Mittel nur noch etwa 500 ml. > Eine pathologisch vermehrte oder verminderte Fruchtwassermenge geht häufig auch mit maternalen und fetalen Erkrankungen oder Anomalien einher, sodass die Fruchtwassermenge diesbezüglich als wichtiges Hinweiszeichen gewertet werden muss.
Bei der subjektiven Einschätzung der Fruchtwassermenge wird das Oligohydramnion bei einer Fruchtwasserverminderung mit einer eingeschränkten fetalen Bewegungsfähigkeit und das Anhydramnion bei fehlenden Fruchtwasserdepots zwischen Fetus und Uterus beschrieben. Dagegen ist ein Polyhydramnion anzunehmen, wenn subjektiv in einer Fruchthöhle noch ein zweiter Fetus Platz fände. Die zunehmende Häufigkeit von Fehlbildungen, Wachstumsrestriktion und IUFT bei Poly- und Oligohydramnion macht allerdings eine möglichst objektivierbare und reproduzierbare Abschätzung der Fruchtwassermenge notwendig. Die Messung des »amniotic fluid index« (AFI) oder des tiefsten Fruchtwasserdepots (Single-pocket-Methode) stellt dabei im Vergleich zur groben visuellen Abschätzung der Fruchtwassermenge ein besser reproduzierbares Maß dar (Magann et al. 1999). Für die Bestimmung des AFI wird die Tiefe der Fruchtwasserdepots in allen 4 Quadranten des Uterus vermessen und summiert; eine Interponierung von Nabelschnur oder kleineren Extremitätenanteilen wird dabei ignoriert. Für die Single-pocket-Methode wird der vertikale Durchmesser der größten Fruchtwassernische verwendet. Sowohl bei der AFI-Bestimmung als auch bei der Single-pocketMethode können ausreichende Genauigkeiten und damit entsprechend niedrige Intra- und Inter-observer-Variabilitäten erzielt werden (Magann et al. 1999; Nabhan u. Abdelmoula 2009). Als Normwerte für den AFI gelten die in . Tab. 15.5 aufgeführten Bereiche.
. Tab. 15.5. Normwerte des »amniotic fluid index« (AFI). Bestimmung durch Vermessung der Fruchtwasserdepots in allen 4 Quadranten von anterior nach posterior; Summenbildung
Fruchtwasser
Vermessung der Fruchtwasserdepots
Anhydramnion
18 cm
261 15.5 · Plazenta
15.5
Plazenta
15.5.1
Struktur
Bereits am Übergang vom 1. zum 2. Trimenon lassen sich die Hauptstrukturen der Plazenta sonographisch visualisieren: 4 auf der fetalen Seite die von der Amnionmembran bedeckte Chorionplatte, 4 das aus bis zu etwa 40 Untereinheiten (Kotyledonen) bestehende Zottengewebe (Parenchym), 4 die Basalplatte, die das Parenchym vom retroplazentaren Gefäßbett und Myometrium trennt. Im weiteren Verlauf werden nach Grannum et al. (1979) charakteristische morphologische Veränderungen beschrieben (. Tab. 15.6), die mit steigendem Schwangerschaftsalter zunehmen. Da die Variabilität bei diesen Veränderungen sehr groß ist, sollte die Einstufung nach der Lokalisation mit der ausgeprägtesten Veränderung erfolgen. Ansätze, diese morphologischen Zeichen der Plazentareifung mit der Plazentafunktion bzw. einer Plazentainsuffizienz oder dem fetalen Reifungsgrad (z. B. Lungenreife) zu korrelieren, haben zu keinen einheitlichen Ergebnissen geführt. Dagegen ist der Grad der Plazentareifung mit bestimmten maternalen Erkrankungen assoziiert. Bei einer arteriellen Hypertonie, einer Präeklampsie oder einem Nikotinabusus ist oft ein früheres Auftreten der Veränderungen Grad III zu beobachten. Daher entsprechen Auffälligkeiten der sonographischen Klassifikation per se zwar noch nicht einem pathologischen Befund, sollten aber zu einer erhöhten Aufmerksamkeit bezüglich weiterer Hinweise auf eine maternale oder fetale Störung führen.
15.5.2
Lokalisation
Der Plazentasitz ist sonographisch der Hinterwand, der Vorderwand, der rechten oder linken Seitenwand oder dem Fundus zuzuordnen, wobei häufig Zwischenformen bestehen. Unter geburtshilflichen Aspekten sind v. a. die Vorderwandplazenta mit einer Lokalisation im Schnittbereich der Uterotomie bei einer notwendigen Kaiserschnittentbindung und die tiefsitzende Plazenta mit einer Beziehung zum Muttermund von Interesse.
Zur korrekten transabdominalen sonographischen Beurteilung der tief sitzenden Plazenta ist die mittel gefüllte Harnblase der Patientin Voraussetzung. Hierdurch lässt sich der Bezug von Plazenta zur Zervix und zum inneren Muttermund am besten feststellen. Bei der Placenta praevia ist eine Unterscheidung von Placenta praevia marginalis und partialis sonographisch meist nicht möglich, dagegen ist die Placenta praevia totalis meist gut zu erkennen. Tipp Die definitive Angabe einer Placenta praevia und damit möglicherweise die Festlegung des Geburtsmodus sollte im 2. Trimenon mit äußerster Zurückhaltung getroffen werden, da sich diese Situation bei der Ausziehung des unteren Uterinsegments und der Verlagerung der Plazenta in höhere Uterusbereiche im Verlauf der Schwangerschaft noch ändern kann (»plazentare Migration«). Die Diagnosestellung in einem frühen Gestationsalter ist lediglich für die Veranlassung einer Kontrolluntersuchung im weiteren Schwangerschaftsverlauf sinnvoll. Bei der Durchführung eines abdominalen Ultraschalls kann auch eine maximal gefüllte Harnblase der Mutter eine Placenta praevia vortäuschen. Insgesamt lässt sich eine im 2. Trimenon diagnostizierte Placenta praevia (bis zu 6%) im 3. Trimenon nur noch in den seltensten Fällen nachvollziehen (bis zu 0,6%; American College of Obstetricians and Gynecologists 1993). Nach der 32. SSW allerdings verlagert sich eine Placenta praevia totalis nur noch selten.
15.5.3
Größe und Dicke
Die sonographische Bestimmung der Plazentadicke sollte im Bereich der Nabelschnurinsertion erfolgen. Der maximale Durchmesser wird in der 36. SSW erreicht (36±5 mm) und nimmt danach wieder geringfügig ab. Aufwendiger zu ermitteln sind das Plazentavolumen (3-D-Sonographie), die Haftfläche und die Oberfläche. Alle Maße sind bei Abweichungen von der Norm nicht als strenge Kriterien für eine fetale oder maternale Erkrankung zu sehen, sondern können lediglich zusammen mit anderen Veränderungen auf bestimmte Risikokonstellationen hinweisen. So ist beispielsweise die intrauterine Wachstumsrestriktion mit einer Plazentainsuffizienz
. Tab. 15.6. Morphologische Veränderungen der Plazenta. (Nach Grannum et al. 1979)
Grad
Chorionplatte
Parenchym
Basalplatte
0
Glatt begrenzte Linie
Homogen
Homogen glatt, echoarm
I
Gewellte oder gezackte Begrenzung
Einzelne ungeordnete Echoverdichtungen
Homogen glatt, echoarm zum Fruchtwasser
II
Wie Grad I oder mit Einkerbungen
Strichförmige Echoverdichtungen
Abgrenzung zum Parenchym durch kleine Echoverdichtungen
III
Wie Grad I oder mit Einkerbungen, z. T. bis zur Basalplatte reichend
Durchgehende girlandenartige Echoverdichtungen, die das gesamte Parenchym durchziehen
Größere Echoverdichtungen oder durchgehend echodicht
15
262
Kapitel 15 · Ultraschall im 3. Trimenon
i. d. R. mit einem verringerten Volumenzuwachs der Plazenta vergesellschaftet. > Die auffallend dicke Plazenta (>40 mm) kann auf einen Diabetes mellitus mütterlicherseits, einen fetalen Hydrops oder kongenitale Anomalien/Infektionen hinweisen und sollte daher Anlass zu weiterführenden Untersuchungen sein.
15.5.4
15
Plazentaabnormitäten
Grundsätzlich sollte bei der sonographischen Diagnostik im 2. und 3. Trimenon (2. und 3. Screening) die plazentare Insertionsstelle der Nabelschnur dargestellt werden. Eine randständige Insertion oder die Insertio velamentosa können auf ein erhöhtes perinatales Risiko hinweisen, dem oftmals durch geeignete Verhaltensempfehlungen begegnet werden kann (. Abb. 15.16). In etwa 3% aller Schwangerschaften kann eine Placenta bipartita oder eine Nebenplazenta als wichtiger Hinweis auf mögliche Komplikationen in der postpartalen Periode beobachtet und sonographisch diagnostiziert werden. Insbesondere mit der farbkodierten Dopplersonographie sind dabei die Gefäßverbindungen gut darstellbar. Plazentazysten sind häufig (etwa 20%) darzustellen, jedoch funktionell ohne pathologische Bedeutung. Sie imponieren als echoleere Areale, in denen dopplersonographisch kein Fluss nachzuweisen ist. Dagegen weisen plazentare Kavernen eine Blutströmung auf, die oftmals bereits im B-Bild als turbulente Strömung zu erkennen ist. Bei Größen- und Formkonstanz sind auch diese Veränderungen ohne Bedeutung; kurzfristige Veränderungen in Form und Größe können dagegen auf plazentare Thrombosen hinweisen. Plazentainfarkte lassen sich nur im Frühstadium sonographisch diagnostizieren (hypodense Areale meist nahe der Basalplatte), später unterscheiden sie sich kaum vom normalen Parenchymmuster. Hämatome sind im frischen Stadium als hypodense Areale zu erkennen und treten meist als retroplazentare Hämatome in Erscheinung. Nach dem Gerinnungsvorgang und mit fortschreitender Organisation nimmt die Echogenität zu, sodass die Abgrenzung zum normalen Plazentagewebe schwierig wird. Retroplazentare Hämatome stellen i. d. R. auch die Vorstufe bei einer vorzeitigen Plazentalösung dar. ! Sonographisch sind retroplazentare Hämatome oder die vorzeitige Plazentalösung, v. a. bei einer geringen Ausprägung oder einer Hinterwandplazenta, oft schwer zu erkennen. Der sonographische Ausschluss einer Plazentalösung ist daher nicht möglich.
Bei einer hochgradigen Lösung steht i. d. R. ohnehin die klinische Symptomatik im Vordergrund, sodass die Sonographie nur additiv zur Diagnosestellung beiträgt.
15.5.5
Sonographische Diagnostik der plazentaren Invasivität
Bei einer invasiven Plazentation, die durch ein gestörtes Gleichgewicht zwischen der Aktivität der Trophoblasten und
a
b
c . Abb. 15.16a–c. Pathologische Nabelschnurinsertion. a Insertio velamentosa mit freiem Gefäßverlauf im Fundusbereich. b Insertio velamentosa mit freiem Gefäßverlauf im unteren Uterinsegment (in vorliegendem Fall wurde die Patientin im 3. Trimenon stationär überwacht und musste nach vorzeitigem Blasensprung mit blutigem Fruchtwasserabgang per Notsectio entbunden werden). c Dreidimensionale Darstellung einer randständigen Nabelschnurinsertion
dem antitryptischen Deziduaschutz bedingt ist, dringen die plazentaren Zotten durch die Dezidua basalis (Placenta accreta), invadieren das Myometrium (Placenta increta) oder erreichen die Uterusserosaschicht bzw. brechen durch diese durch (Placenta percreta).
263 15.5 · Plazenta
> Eine operativ vorgeschädigte Uteruswand ist ein prädisponierender Faktor. Bei Lokalisation der Plazenta im unteren Uterusdrittel nimmt aufgrund des unterschiedlichen Gewebeaufbaus die Invasionstendenz deutlich zu (Daltveit et al. 2008; Wu et al. 2005).
Andere seltenere Risikofaktoren sind: hohes maternales Alter, Multiparität, submuköse Myome, rezidivierende Endometritis und der zu tief implantierte Embryo bei artefizieller Befruchtung (Ginsburg et al. 1994; Wu et al. 2005). Die risikoabhängige Inzidenz zeigt . Tab. 15.7. Die erst sub partu erkannte Invasion führt die Statistik der mütterlichen Mortalität an (Clark et al. 2008; DGGG 2008; 7 Kap. 58).
der Folge mit lebensbedrohlicher Blutung, hämorrhagischem Schock, disseminierter intravasaler Koagulopathie (DIC) zu rechnen (Clark et al. 2008). Somit ist eine rechtzeitige, pränatale Abklärung des Risikokollektivs sehr bedeutend und sollte alle Patientinnen mit Voroperationen am Uterus und Lokalisation der Plazenta im Narbenbereich und/oder im isthmischen bzw. zervikalen Uterinsegment erfassen. Dagegen relativiert eine Plazentation im Fundus oder an der Hinterwand des Uterus das Risiko bei Patientinnen mit Zustand nach einem Kaiserschnitt.
Studienbox Die Aussage des Ultraschalls ist mit einer Sensitivität von 82,4–100% und Spezifität von 79,1–96,8% zuverlässig (Chou et al. 2000; Comstock 2005).
Maternale Mortalität 4 Placenta praevia accreta, increta, percreta 0,01–2% 4 Placenta cervicalis percreta 6–50%
Da es bei diesen Patientinnen nach der Kindesentwicklung zu keiner oder nur partiellen Lösung der Plazenta kommt, ist in
. Tab. 15.7. Inzidenz der Trophoblastinvasion
a
Risiko
Inzidenz
Ohne Risikoanamnese
1 : 2.500
Placenta praevia, keine Voroperation am Uterus
1 : 10
Placenta praevia bei Zustand nach Sectio
1:4
Placenta praevia nach 2 Schnittentbindungen
1 : 2,5
In-vitro-Fertilisierung (IVF)
1 : 1.000
Sonomorphologische Zeichen einer Plazentainvasivität Die Untersuchung beginnt mit Abgrenzung der plazentaren Haftfläche zur myometranen Schicht im B-Bild. > Bei der Grenzziehung ist nicht primär die hypodense subplazentare Zone bedeutend, sondern die eindeutige sonomorphologische Schichttrennung.
Die in der Literatur zitierte echoarme Dezidua (»echolucend zone«) – als Beweis der guten Abgrenzung – ist im Bereich der Vorderwand oft auch bei regelrechter Plazentation nicht darstellbar, dagegen kann bei einer ausgeprägten Trophoblastpenetranz die echoarme subplazentare Zone einer pathologischen Hypervaskularisation entsprechen (Comstock 2005). > Typische Invasivitätszeichen sind unregelmäßig begrenzte, intraplazentare Aussparungen, die als »Mottenfraßlöcher« bezeichnet werden und großen Gefäßlakunen entsprechen (. Abb. 15.17).
b
. Abb. 15.17a, b. Intraplazentare Gefäßlakunen (Pfeil) (a Power-Doppler, b makroskopisches Bild)
15
264
Kapitel 15 · Ultraschall im 3. Trimenon
a
. Abb. 15.18. Plazenta (P) accreta ragt in die deziduale Zone hinein, ohne die myometrane Schicht (M) zu erreichen (Pfeil)
15
Um alle hypodensen Areale differenzieren zu können, muss jede Untersuchung im B-Bild durch eine farbdopplersonographische Darstellung ergänzt werden. Mit dieser Methode ist es möglich, die lakunäre Gefäßerweiterung von anderen strömungsfreien vakuoligen Strukturen (Infarktareale, Einblutungen) zu unterscheiden und ebenso, um eine massive Hypervaskularisation von der dezidualen Auflockerung mit regelrechter Gefäßzeichnung differenzieren zu können. Mittels Pulsed-wave-Doppler (PW-Doppler) lässt sich die Flussart differenzieren: Die Gefäßlakunen weisen eine venös-pulsatile Strömung und die Arterien im hypervaskulären Bereich eine sehr hohe Diastole auf. Letzteres ist aus der onkologischen Diagnostik bekannt (Comstock 2005; Chou et al. 2000).
b . Abb. 15.19a, b. Placenta (P) praevia increta mit verstärkter intraplazentarer Vaskularisation und z. T. mangelhafter Abgrenzung zum Myometrium (M)
Differenzierung der Invasionstiefe Die sonographischen Auffälligkeiten sind abhängig vom Grad der Invasion. Bei dem oberflächigen dezidualen Durchbruch (Placenta accreta) sind meist nicht die gesamte Haftfläche, sondern nur kleinere Areale von der Invasivität betroffen. Zapfenförmige Unregelmäßigkeiten ragen in die deziduale Schicht hinein, und die Vaskularisation ist nur in diesem Bereich etwas verstärkt (. Abb. 15.18). Bei einer Placenta increta im untersten Uterinsegment ragt das Plazentagewebe tief in das Myometrium hinein, und die beiden Schichten imponieren verwischt. Die Gefäßlakunen sind vereinzelt bis mäßig zahlreich nachweisbar – je nach Ausprägung der Trophoblastpenetration (. Abb. 15.19). Dagegen weist eine in der oberen Uterushälfte lokalisierte, kleinflächig-inkrete Plazenta diese Veränderungen deutlich spärlicher auf und wird deshalb oft erst postpartal entdeckt, wenn während einer manuellen Lösung ein Plazentaanteil adhärent verbleibt.
. Abb. 15.20. Plazentarest (P) im Fundusbereich penetriert das Myometrium (M). Ultraschall post partum
Bevor jedoch eine Uterusausschabung durchgeführt wird, sollte eine Ultraschalluntersuchung stattfinden, da die Kürettage zu einer kaum stillbaren Blutung führen könnte, falls die Vaskularisation im Invasionsbereich stark ausgeprägt ist (. Abb. 15.20). Hier ist es oft sinnvoller, zuzuwarten und erst nach einer konservativen Therapie mit Methotrexat und so-
265 15.5 · Plazenta
a
b
. Abb. 15.21a, b. Placenta (P) percreta mit Serosadurchbruch (Pfeil) im B-Bild und makroskopisch
nographisch nachweisbarer Reduktion der Gefäßzeichnung den Eingriff durchzuführen, wenn es nicht zu einem spontanen Gewebeabgang kommt. Bei perkretem Wachstum ist die myometrane Zone nicht mehr abgrenzbar, und auch die echoreiche Serosa könnte partiell eine Unterbrechung aufweisen, v. a. bei einer Narbeninvasion, die dann mit einer vesikalen Ingression verbunden ist (. Abb. 15.21). Die intraplazentaren Lakunen sind bei Placenta percreta zahlreich, und die im Ultraschall subplazentar darstellbare wabenförmig hypodense Zone entspricht nicht der Dezidua, sondern einer massiven Hypervaskularisation, welche vorwiegend prä- und intrazervikal ausgeprägt ist (. Abb. 15.22).
a
Studienbox Twickler et al. (2000) konnten zeigen, dass der positive Vorhersagewert 100% beträgt, wenn die myometrane Schicht Die gefährlichste Form der Implantation ist die Placenta praevia cervicalis, da das muskelfaserarme, gefäßreiche Gewebe schnell von Trophoblasten penetriert wird, die Gefäßerweiterung massiv ist und die intraoperative Blutstillung in diesem Gebiet sich oft als besonders schwierig erweist (. Abb. 15.23).
b
. Abb. 15.22a, b. Placenta (P) percreta retrovesikal (a B-Bild, b Farbdarstellung der Hypervaskularisation)
15
266
Kapitel 15 · Ultraschall im 3. Trimenon
a
b
. Abb. 15.23a, b. Placenta (P) percreta cervicalis, der Vaginalsonde nahezu anliegend, lakunendurchsetzt, keine Abgrenzung zum Zer-
Im Gegensatz zu der im Zervixkanal lokalisierten Plazenta ist die komplette intrazervikale Schwangerschaftsanlage weniger gefährlich, da diese schon im 1. Trimenon diagnostizierbar und die trophoblastbedingte Gefäßerweiterung zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgeprägt ist (Ginsburg et al. 1994).
Untersuchungszeitpunkt
15
Es ist nicht möglich, einen optimalen Zeitpunkt für die Abklärung der pathologischen Plazentation anzugeben, da die sonographischen Veränderungen von der Ausprägung und der Lokalisation der Invasivität abhängen. Eventuelle Auffälligkeiten sollten bei jeder Ultraschallkontrolle wahrgenommen und bei Verdacht die Patientin an ein Zentrum mit adäquater Kompetenz überwiesen werden. Erfahrungsgemäß ist spätestens nach der 30. SSW eine zuverlässige Aussage möglich.
Aufklärung der Patientin Im Aufklärungsgespräch müssen das erhöhte Blutungsrisiko, die absolute Sectioindikation sowie die unmittelbaren präund intraoperativen Behandlungsmaßnahmen (7 Kap. 29 »Blutungen in 3. Trimenon«) genannt werden (ACOG 2002).
Studienbox In einer 2008 verfassten Leitlinie zu »Plazentationsstörungen bei Status nach Sectio« stellt die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe ein Risk-Management vor, welches Empfehlungen zur Abklärung, Schwangerschaftsbetreung, Entbindungszeitpunkt sowie zu den therapeutischen Optionen beinhaltet (AWMF-Leitlinie 015/046 der DGGG 2008).
> Eine gezielte pränatale Abklärung der Risikopatientinnen ist im Management der Plazentationsstörun-
6
vixgewebe möglich (a B-Bild, b Farbdarstellung der Hypervaskularisation)
gen führend. Falls sonographisch Auffälligkeiten darstellbar sind, sollte die Invasionsausprägung eingestuft werden. Dieses Wissen ermöglicht eine sorgfältige Aufklärung der Patientin, die optimale interdisziplinäre präoperative Vorbereitung, und somit ist ein Verblutungsnotfall meist vermeidbar.
15.6
Zervixdiagnostik im 2. und 3. Trimenon
Die Transvaginalsonographie ist die beste Methode, die Länge der Zervix zu bestimmen. Sie ermöglicht eine objektivierbare und reproduzierbare Messung der Zervixlänge sowie eine Beurteilung des inneren Muttermunds, der bei der vaginalen Untersuchung bei geschlossenem äußerem Muttermund nicht zugänglich ist. Die Inter- und Intra-observer-Variabilität ist geringer als bei der digitalen Untersuchung (Heath et al. 1998). Die gemessenen Werte der Zervixlänge liegen höher als die bei der klinischen Untersuchung ermittelten Schätzwerte. In der Vorhersage der Frühgeburt (5%) aufgrund erschwerter Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme und Störungen im Flüssigkeits- und Elekrolythaushalt.
Epidemiologie Übelkeit und Erbrechen treten in 50–90% aller Schwangerschaften auf, während die klinisch bedeutsame Hyperemesis eine Inzidenz von 0,3–2% hat, wobei große soziale und regionale Unterschiede bestehen. Epidemiologische Studien haben ein gehäuftes Auftreten bei Nulliparae, Adipositas, Mehrlingsschwangerschaften, Trophoblasterkrankungen, bei Ernährungsstörungen (Bulimie), bei Vorhandensein von fetalen Fehlbildungen sowie bei einem Auftreten einer Hyperemesis bei einer vorangegangenen Schwangerschaft festgestellt. Ein vermindertes Auftreten hingegen wurde bei Müttern über 35 Jahren und Zigarettenraucherinnen beobachtet. Nach Abell u. Riely (1992) stellt die Hyperemesis einen protektiven Faktor gegen Aborte in der 1. Schwangerschaftshälfte sowie gegen die postpartale Depression dar.
gerschaft, die sich als ambivalente oder ablehnende Haltung gegenüber der Schwangerschaft manifestiert, sowie soziale Probleme, die ein für die Schwangerschaft ungünstiges Umfeld schaffen, genannt. Die Koinzidenz des Anstiegs von β-HCG, Östrogenen und Gestagenen in der Frühschwangerschaft führte zur Theorie der hormonellen Genese der Hyperemesis. Diese Theorie wird von der Beobachtung gestützt, dass bei Trophoblasterkrankungen vermehrt, bei Abortivschwangerschaften vermindert Symptome beobachtet werden. Die Assoziation der Hyperemesis gravidarum mit einem weiblichen Fetus könnte ein Hinweis für einen erhöhten Östrogenspiegel in utero darstellen (Schiff et al. 2004). Passagere Hyperthyreosen, Hyperparathyreosen und Leberfunktionsstörungen treten gehäuft bei Hyperemesis auf. Möglicherweise sind sie als Begleiterkrankungen der Hyperemesis zu verstehen, die mit dieser eine gemeinsame Ursache haben. Andere Theorien, die vorgebracht wurden, sind Störungen der Magenperistaltik, Fettstoffwechselstörungen, Störungen des vegetativen Nervensystems, eine Infektion mit Helicobacter pylori sowie ein Mangel an Vitamin B6 oder Spurenelementen.
Bedeutung für Mutter und Fetus Frauen mit einer Emesis gravidarum haben eine geringere Abortneigung, weniger intrauterine Wachstumsrestriktionen sowie seltener Frühgeburten im Vergleich zu Schwangeren ohne Emesis (Brandes 1967). Bei einer Hyperemesis gravidarum kann es durch das gehäufte Erbrechen zu Ösphagusverletzungen oder zu einem Pneumothorax kommen. Ein Vitamin-B1-Mangel kann die Ursache für das Auftreten einer Wernike-Enzephalopathie oder einer pontinen zentralen Myelinolyse sein. Periphere Neuropathien werden durch Vitamin-B6- bzw Vitamin-B12Mangel verursacht. Ein Vitamin-K-Mangel kann die Ursache für Gerinnungsstörungen sein. Durch die meist frühzeitige Therapie treten maternale Komplikationen nur noch extrem selten auf. Bei ausgeprägter Hyperemesis besteht ein signifikanter Zusammenhang zur fetalen Wachstumsrestriktion. Ebenso wurde ein vermehrtes Auftreten von Fehlbildungen beobachtet.
Evaluation Das klinische Bild der Hyperemesis wird durch den Wasserund Elektrolytverlust geprägt, der einerseits durch das häufige Erbrechen, andererseits durch die Unfähigkeit, ausreichend Flüssigkeit zu sich zu nehmen, bedingt ist. In schweren Fällen kommt es zusätzlich zur Dehydratation auch zu einem Mangel an lebenswichtigen Nahrungsbestandteilen, Vitaminen und Spurenelementen.
Ätiologie
Anamnese
Die Ätiologie der Hyperemesis ist größtenteils noch ungeklärt, wobei neben somatischen auch psychische Faktoren von Bedeutung sind. Als psychosoziale Faktoren der Hyperemesis wurden eine gestörte psychische Auseinandersetzung mit der Schwan-
Typischerweise beginnen die Beschwerden zwischen der 5. und 6. SSW, wobei mit 9–10 SSW die Beschwerden am ausgeprägtesten und bis 20 SSW meist sistieren. Bei längerdauernder Hyperemesis kommt es durch die Unfähigkeit, ausreichend Nahrung zu sich zu nehmen, auch zu einem Ge-
16
278
Kapitel 16 · Erkrankungen und Risikofaktoren in der Schwangerschaft
wichtsverlust sowie im Verlauf zu Temperaturanstieg und Benommenheit bis hin zum Delirium.
Befunde Klinisch stehen primär die Zeichen einer Exsikkose (Mundtrockenheit, faltige Haut, gerötete Schleimhaut, Ptyalismus) im Vordergrund. Durch die zunehmende metabolische Ketoazidose besteht ein obstartiger Mundgeruch. Als Harnbefunde zeigen sich Nachweis von Ketonkörpern, erhöhtes spezifisches Gewicht, Azidurie. An Blutbefunden liegen erhöhter Hämatokrit, Elektrolytstörungen (Na-, K-, Cl-Ionenerniedrigung) vor sowie metabolische Alkalose, erhöhte Serumamylasen, erhöhte Aminotransferasen, Erhöhung des Gesamtbilirubins, passagere Hyperthyreose.
Differenzialdiagnose Zur Diagnose einer Hyperemesis gravidarum sind alle Erkrankungen auszuschließen, in deren Folge es ebenfalls zu Übelkeit und Erbrechen kommen kann (7 Übersicht). Auf charakteristische Symptome dieser Erkrankungen muss daher bei der Differenzialdiagnose der Hyperemesis geachtet werden.
Differenzialdiagnose der Hyperemesis Gastrointestinale und hepatobiläre Ursachen 4 Refluxösophagitis 4 Hiatushernie 4 Peptisches Ulkus 4 Pankreatitis 4 Gallenwegerkrankungen 4 Appendizitis 4 Hepatitis 4 Schwangerschaftsfettleber 4 Entzündliche oder obstruktive Darmerkrankungen
16
Urogenitale Ursachen 4 Pyelonephritis 4 Nephrolithiasis 4 Urämie 4 Stielgedrehte Ovarialzyste 4 Degenerative Prozesse in Myomen Verschiedene 4 Medikamentöse/toxische Ursachen 4 Metabolische Erkrankungen (z. B. Diabetes mellitus) 4 Hyperthyreose 4 Hyperkalzämie, Hyperparathyreoidismus 4 Migräne 4 ZNS-Erkrankungen 4 Vestibuläre Erkrankungen Hyperemesis als Folge von anderen Schwangerschaftserkrankungen 4 Trophoblasterkrankungen 4 Polyhydramnion (bei fetalem Hydrops) 4 Schwangerschaftshypertonie, Präeklampsie 4 Vorzeitige Plazentalösung
Management In leichten Fällen von Übelkeit und Erbrechen genügen diätetische Maßnahmen. Empfohlen werden häufigere, kleinere Mahlzeiten, eine eiweiß- und fettarme Kost auf Kohlenhydratbasis sowie eine Pausierung der Einnahme oraler Eisenpräparate. Bei ausgeprägter Hyperemesis zielt die Therapie durch parenterale Flüssigkeits- und Elektrolytsubstitution auf eine rasche Normalisierung des Wasser- und Elektrolythaushalts ab. Im Allgemeinen werden die Beschwerden durch diese Therapie rasch gebessert. Auf eine orale Zufuhr von Nahrung sollte zunächst gänzlich verzichtet und damit erst nach Besserung der Beschwerden wieder vorsichtig begonnen werden. Durch die parenterale Zufuhr von Vitaminen können Hypovitaminosen, die als Folge der Mangelernährung entstanden sind, ausgeglichen werden. Besonderes Augenmerk sollte auf die Substitution der Vitamine B1 bzw. B6 gerichtet werden. In schweren Fällen und bei länger andauernder Hyperemesis kann auch eine vollständige parenterale Ernährung notwendig werden. Die medikamentöse Therapie der Hyperemesis kann die Infusionstherapie nicht ersetzen und sollte nur unterstützend bzw. in leichteren Fällen angewandt werden. In der Behandlung der Hyperemesis haben sich v. a. H1Antihistaminika (Dimenhydrinat, Diphenhydramin, Doxylamin, Meclozin), Dopaminantagonisten (Metoclopramid), Phenothiazine (Chlorpromazin, Triflupromazin, Promethazin), aber auch Vitamine (Vitamin B6) bewährt. Die Akupunktur bzw. Akupressur des Punktes P6 am Unterarm zeigte ebenfalls einen günstigen Einfluss auf Übelkeit und Erbrechen. Die psychosomatische Exploration und Behandlung ist ein zentraler Faktor der Betreuung. Zusätzlich ist die Durchleuchtung des sozialen Umfeldes (Mobbing am Arbeitsplatz, Partnerprobleme, Schwangerschaftskonflikte) ein wichtiger Ansatzpunkt für eine erfolgreiche Therapie.
16.2
Schilddrüsenerkrankungen
Die Diagnose und Behandlung von Schilddrüsenerkrankungen in der Schwangerschaft unterscheidet sich kaum vom Vorgehen außerhalb der Schwangerschaft, es sind jedoch einige schwangerschaftsspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen. Die Beurteilung von Schilddrüsenerkrankungen in der Schwangerschaft setzt die Kenntnis der physiologischen Änderungen der Schilddrüsenfunktion voraus. Der erhöhte Iodbedarf in der Schwangerschaft führt insbesondere in Iodmangelgebieten zu einem vermehrten Auftreten von euthyreoten Strumae. Daher ist auf eine ausreichende Iodzufuhr zu achten, wobei diese aber wegen der Gefahr einer induzierten fetalen Hypothyreose die in der Schwangerschaft notwendige Menge nicht übersteigen soll. Hyperthyreosen treten meist als Folge eines M. Basedow auf und haben, sofern sie erfolgreich medikamentös eingestellt sind, eine günstige mütterliche und kindliche Prognose. Zur Therapie stehen Thioharnstoffpräparate zur Verfügung, deren Dosierung so bemessen sein soll, dass der Grenzbereich zwischen Euthyreose und Hyperthyreose erreicht wird, da eine zu hohe Dosierung die Gefahr einer induzierten fetalen Hypo-
279 16.2 · Schilddrüsenerkrankungen
thyreose mit sich bringt. Zur symptomatischen Therapie stehen darüber hinaus β-Blocker zur Verfügung. Hypothyreosen sind in der Schwangerschaft wegen der oft begleitenden Infertilität selten, müssen aber wegen der Gefahr eines vermehrten Auftretens von Totgeburten und Kindern mit niedrigem Geburtsgewicht mit Schilddrüsenhormonen substituiert werden. Eine mütterliche Hypothyreose führt nach dem 1. Trimenon meist zu keiner kindlichen Hypothyreose. Tritt diese trotzdem auf, so ist eine rasche Therapie notwendig, um die Folgen einer kongenitalen Hypothyreose zu vermeiden. Aus diesem Grund ist auch das Screening aller Neugeborenen auf eine hypothyreote Stoffwechsellage angezeigt.
16.2.1
mütterlichem T4 ist in dieser Phase für die Entwicklung des Kindes sehr wichtig. Ab Beginn des 2. Trimenons wird die Plazentadurchlässigkeit deutlich geringer, und die fetale Schilddrüse nimmt ihre Funktion als eigenes Organ mit einer eigenen fetalen Rückkopplungsschleife auf. Allerdings kann es durch den Übertritt von anderen plazentagängigen Substanzen zu einer Beeinflussung der fetalen Schilddrüsenfunktion kommen, die entweder kompensiert werden kann oder zu einer fetalen Hyper- bzw. Hypothyreose führt. So können z. B. schilddrüsenstimulierende Antikörper bei M. Basedow zu einer fetalen Hyperthyreose führen, während ein erhöhter mütterlicher Iodspiegel, radioaktive Iodisotope, Thyreostatika und antithyreoidale Antikörper (wie bei Hashimoto-Thyreoiditis) eine fetale Hypothyreose bewirken können.
Physiologische Änderungen der maternalen Schilddrüsenfunktion 16.2.3
Ursachen der veränderten Schilddrüsenfunktion sind ein vergrößerter Iodverteilungsraum durch die physiologische Hämodilution und den Verteilungsraum der fetoplazentaren Einheit. Zusätzlich entstehen erhöhte renale Iodverluste, die durch eine gesteigerte glomeruläre Filtration verursacht werden. Hauptverantwortlich für die schwangerschaftsspezifischen Veränderungen sind der Anstieg des thyroxinbindenden Globulins (TBG) und die Stimulation des TSH-Rezeptors durch das Choriongonadotropin (HCG). Die Plazentaaktivität bedingt einen erhöhten Umsatz von T3 und T4. Labordiagnostisch drücken sich diese Änderungen als Zunahme des Gesamt-T3 bzw. -T4 und als Zunahme des TBG aus, während die Werte des thyreoideastimulierenden Hormons (TSH) und des freien T3 bzw. T4 unverändert bleiben und somit eine euthyreote Stoffwechsellage anzeigen.
16.2.2
Physiologische Änderungen der fetalen Schilddrüsenfunktion
Die fetale TSH-Bildung und die Bildung von Schilddrüsenhormonen beginnen zwischen 10 und 12 Schwangerschaftswochen. Bis zur 20. SSW ist jedoch nur eine sehr geringe fetale Hormonproduktion vorhanden, die in der zweiten Schwangerschaftshälfte kontinuierlich zunimmt. Am Entbindungstermin sind die Serum-TSH-Spiegel höher als bei der Mutter. Unmittelbar nach der Geburt steigen die TSH-Spiegel auf 50–80 mU/l an, um in den ersten 48 h dann wieder auf Werte von 10– 15 mU/l abzufallen. Das fetale freie T3 und T4 ist niedriger als bei der Mutter, steigt jedoch nach der Geburt rasch an und erreicht Spiegel, die etwas höher sind als beim Erwachsenen. Tipp Durch den gesteigerten Umsatz von T3 und T4 steigt auch der Iodbedarf in der Schwangerschaft an. Zur Prophylaxe einer Iodmangelstruma wird daher von der WHO eine Zufuhr von 150–300 μg Iod pro Tag empfohlen.
Bis zum Ende des 1. Trimenons ist die Plazenta für T4 gut durchgängig. Eine ausreichende Versorgung des Fetus mit
Euthyreote Struma (Iodmangelstruma)
Bei unzureichender Zufuhr von Iod in der Nahrung reagiert die Schilddrüse zur Aufrechterhaltung einer euthyreoten Stoffwechsellage mit einer kompensatorischen Hypertrophie und Hyperplasie, die sich klinisch als Struma bemerkbar macht. Bei länger dauerndem Iodmangel kann es zu morphologischen und funktionellen Veränderungen der Struma kommen, die dann als nodulär-hyperplastische Struma oder als adenomatöser Knotenkropf erscheint. Funktionell drückt sich diese Umwandlung in der Entstehung autonomer, von regulierenden Einflüssen unabhängiger Schilddrüsenzellverbände aus. Besonders in endemischen Iodmangelgebieten wie Deutschland tritt die euthyreote Struma auch in der Durchschnittsbevölkerung mit einer Inzidenz von 10–15% auf. Der in der Schwangerschaft erhöhte Iodbedarf führt unter diesen Umständen zu einer noch größeren Inzidenz. Vielfach werden dabei bereits vor der Schwangerschaft bestehende subklinische Strumae erstmals in der Schwangerschaft auffällig. Auch im Regulationssystem der fetalen Schilddrüse macht sich ein Iodmangel als euthyreote Struma bemerkbar. Kann der Iodmangel nicht kompensiert werden, kommt es zu den in 7 Kap. 16.2.6 beschriebenen kindlichen Folgeerscheinungen. Als therapeutische Möglichkeiten stehen die Gabe von Iod oder Schilddrüsenhormonen oder eine Kombination von beiden zur Verfügung, wobei die Zufuhr von Iod wegen der Gefahr einer induzierten fetalen Hypothyreose nicht die in der Schwangerschaft notwendige Menge übersteigen soll. Prophylaktisch ist besonders in Iodmangelgebieten auf eine ausreichende Iodzufuhr zu achten, da in diesen Gebieten trotz der Verwendung von iodiertem Speisesalz der Iodbedarf aus dem Trinkwasser und der Nahrung nur etwa zur Hälfte gedeckt werden kann.
16.2.4
Hyperthyreose
Eine Hyperthyreose in der Schwangerschaft tritt mit einer Inzidenz von bis zu 1/500 auf. In 85–90% der Fälle ist sie ein Symptom des M. Basedow, einer Autoimmunerkrankung, die
16
280
Kapitel 16 · Erkrankungen und Risikofaktoren in der Schwangerschaft
durch eine Bildung von thyreoidstimulierenden Antikörpern charakterisiert ist, sowie Folge von autonomen Schilddrüsenknoten bzw. einer disseminierten Autonomie. Der Krankheitsverlauf bessert sich meist in der Spätschwangerschaft, da die TSH-Rezeptor-Antiköper nach primär stimulierender Aktivität eine zunehmend blockierende Funktion ausüben. Darüber hinaus sind passagere Hyperthyreosen in der Schwangerschaft nicht selten und treten gehäuft auf bei Hyperemesis gravidarum und Trophoblasterkrankungen (bedingt durch die TSH-Produktion des Trophoblasten).
Klinik und Labor Die klinischen Zeichen der Hyperthyreose sind ein Ruhepuls >100 SpM, Vergrößerung der Schilddrüse, Exophthalmos, Onycholyse und fehlende Gewichtszunahme trotz normaler Ernährung. Eine milde Hyperthyreose, die sich nur in einer milden Tachykardie bzw. Herzklopfen und einer leichten Hitzeintoleranz bemerkbar macht, ist wegen der geringen Spezifität dieser Symptome in der Schwangerschaft schwer zu diagnostizieren. Laborchemisch ist die Diagnose in der Schwangerschaft erschwert, da auch pathologisch erhöhte HCG-Werte in der Frühschwangerschaft eine Hyperthyreose verursachen können. Eine exzessive Erhöhung der Thyreoglobulinwerte führt zu einer Erhöhung der Gesamt-T4-Werte bei jedoch normalen freien T4-Werten. Die Diagnose sollte daher primär anhand der erniedrigten TSH-Werte ( Frauen mit einer Herzerkrankung der Schweregrade 3 und 4, die nicht medikamentös behandelt oder operativ korrigiert werden können, ist grundsätzlich von einer Schwangerschaft abzuraten. In diesen Fällen und bei einzelnen Herzerkrankungen mit besonders ungünstiger Prognose, wie der pulmonalen Hypertonie, einer dilatativen Kardiomyopathie, einem Marfan-Syndrom mit kardiovaskulärer Beteiligung oder bei Vorliegen pulmonaler A-V-Fisteln, ist ein Schwangerschaftsabbruch in der Regel indiziert.
Allerdings ist diese Entscheidung selbstverständlich im Einzelfall mit einer genauen Besprechung der individuellen Prognose und der therapeutischen Möglichkeiten zu treffen. In jedem Fall erfordern solche Schwangerschaften eine besonders intensive Schwangerschaftsbetreuung. Ziel der ärztlichen Überwachung ist die möglichst frühzeitige interdiziplinäre Beurteilung der kardialen Situation mit rechtzeitiger Intervention bei drohender kardialer Dekompensation. Die Betreuung erfolgt ausschließlich in Zentren mit entsprechender kardiologischer und perinatolo-
gischer Kompetenz. Die Indikation zur stationären Betreuung sollte auch bei leichteren Zusatzerkrankungen (Harnwegs-, Atemwegsinfektionen, Hyperemesis gravidarum) großzügig gestellt werden. Schwangerschaftsbedingte Begleiterkrankungen (Anämie, Präeklampsie, Gestationsdiabetes, Schilddrüsenerkrankungen) sollen durch Screeninguntersuchungen frühzeitig erfasst werden. Die kardiologische Therapie richtet sich nach den spezifischen Erfordernissen der Erkrankung und ist prinzipiell keinen Einschränkungen unterworfen, wenngleich Präparaten der Vorzug gegeben werden sollte, für die bereits langjährige Erfahrungen in der Behandlung Schwangerer vorliegen: 4 Patientinnen mit Herzvitien oder künstlichen Herzklappen sollten bei allen chirurgischen Eingriffen sowie intrapartal antibiotisch abgeschirmt werden. 4 Eine Antikoagulationstherapie mit Kumarinderivaten muss wegen der möglichen Teratogenität prinzipiell auf Heparinpräparate umgestellt werden. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass in manchen Fällen, etwa bei mechanischem Klappenersatz, die Heparinisierung allein nicht ausreicht und trotz des erhöhten teratogenen Risikos auf Kumarinderivate nicht verzichtet werden kann. Das teratogene Risiko ist dosisabhängig, sodass bei Bedarf eine niedrig dosierte Therapie mit Kumarinderivaten vertretbar erscheint. In solchen Fällen wird ab etwa der 36. SSW bis zum Geburtstermin eine Umstellung auf Heparine durchgeführt. Zweck der fetalen Überwachung ist das frühzeitige Erkennen von fetalen Risikofaktoren (Frühgeburtlichkeit, Wachstumsrestriktion, Fehlbildungen). Im Rahmen der pränatalen Fehlbildungsdiagnostik ist die Beurteilung der Nackentransparenz zwischen der 11. und 14. SSW zu empfehlen. Zusätzlich sollte eine ausführliche fetale sonographische Organdiagnostik zwischen der 20. und 22. SSW erfolgen. Eine Dopplersonographie der Aa. uterinae am Beginn des 3. Trimenons ermöglicht die frühzeitige Erfassung einer Präeklampsie. Neben der Kontrolle des fetalen Wachstums erfolgen gegen Ende der Schwangerschaft, bei drohender fetaler Hypoxie entsprechend früher, regelmäßige CTG-Kontrollen. Tipp Allgemeine Empfehlungen für herzkranke Schwangere betreffen die Vermeidung von zusätzlichen kardialen Belastungen wie vermehrte physische Aktivität oder übermäßige Gewichtszunahme sowie die Motivation zur kontinuierlichen Betreuung. Eine Grippeimpfung ist prinzipiell bei allen Herzkranken zu empfehlen.
Spezielle Aspekte bei der Geburt Unter der Geburt, besonders während der Austreibungsperiode, kommt es zu extremen Druck- und Volumenschwankungen. Sie stellt daher eine hämodynamische Extremsituation dar. Die Gefahr einer hämodynamischen Dekompensation von Herzkranken ist besonders groß.
16
284
Kapitel 16 · Erkrankungen und Risikofaktoren in der Schwangerschaft
> Als allgemeine Faustregel gilt, dass bei Herzkranken der Gruppen 1 und 2 eine vaginale Geburt angestrebt werden sollte.
Neben einer kontinuierlichen Überwachung der hämodynamischen Parameter haben sich Maßnahmen zur Verminderung der Geburtsbelastung wie Epiduralanästhesie und die vaginaloperative Geburtsbeendigung bewährt. Wehenfördernde Mittel sollten wegen der hämodynamischen Mehrbelastung zurückhaltend angewandt werden. > Bei Herzkranken der Gruppen 3 und 4 ist trotz des hohen Narkose- und intraoperativen Risikos die Indikation zur Schnittentbindung großzügig zu stellen.
Das Wochenbett, in dem es erneut zu einer beträchtlichen hämodynamischen Umstellung kommt, stellt eine weitere kritische Phase dar. Es sollte besonders auf Zeichen einer kardialen Dekompensation geachtet und für eine ausreichende Thromboseprophylaxe gesorgt werden. Eine spezielle kardiologische Erkrankung stellt wegen ihrer klinischen Relevanz die peripartale Kardiomyopathie dar. Aufgrund meist unklarer Genese (Virusinfekt, hormonelle Umstellung) versagt im 3. Trimenon oder bis zu 5 Monate nach der Geburt bei vorher gesunden Frauen die Pumpleistung des linken Ventrikels, wobei es innerhalb von wenigen Tagen zur Dekompensation der Kreislauffunktion mit raschem Tod kommen kann. Die klinische Symptome (Dyspnoe, Tachykardie, präkardiale Beschwerden, Ödeme, Husten) werden meist als typische Schwangerschafts- oder Wochenbettbeschwerden fehlgedeutet. Es muss frühzeitig ein EKG und eine Sonographie des Herzens erfolgen, um rechtzeitig mit einer kompetenten Therapie beginnen zu können. Neben der klassische Therapie der Herzinsuffizienz (Vermeidung der Hyperhydratation, β-Blocker, Kalziumantagonisten, ACE-Hemmer, Nitrate) erfolgt eine Antikoagulation. Bei rascher Verschlechterung ist die Herztransplantation die einzige Therapieoption. 16.3.2
16
Bedeutung für Mutter und Fetus Eine Hypotonie ohne Symptome besitzt keinen Krankheitswert, dies ist erst bei einer Minderperfusion von uterinen Gefäßen sowie einer maternalen zerebralen Minderperfusion der Fall. Nur bei uteriner Minderperfusion kommt es zu einer erhöhten Rate von Frühgeburten und Wachstumsrestriktionen.
Diagnostik Zur Differenzierung der orthostatischen Regulationsstörungen werden der Blutdruck und die Herzfrequenz im Liegen bzw. 1, 3 und evtl. 7 min nach dem Aufstehen bestimmt und anhand der erhaltenen Messwerte nach Reaktionstypen klassifiziert (. Tab. 16.2).
Differenzialdiagnose Bei Auftreten von Hypotonie ist die Abgrenzung zur sekundären Hypotonie wichtig. Differenzialdiagnostisch sind daher eine hypovolämische oder therapeutisch bedingte Hypotonie sowie der seltene M. Addison abzugrenzen.
Management Bei den sympathikotonen bzw. asympathikotonen Reaktionsformen sind zur Verbesserung des venösen Rückstroms physikalische Maßnahmen (Wechselduschen, körperliche Bewegung, Bürstenmassagen, Kneipp-Anwendungen), vermehrte Flüssigkeitszufuhr, salzreiche Ernährung sowie Stützstrumpfhosen zu empfehlen. Eine medikamentöse Therapie ist bei der symptomfreien Schwangeren nicht indiziert und sollte nur bei ausgeprägten klinischen Symptomen erfolgen, da die vasoaktiven Substanzen (Dihydroergotamin) durch eine Kontraktion der uterinen Gefäße die plazentare Perfusion negativ beeinflussen können. Bei der hypertonen Reaktionsform sind primär β-Blocker indiziert. Bei der vasovagalen Form ist in erster Linie eine Aufklärung der Schwangeren über physikalische Maßnahmen und die Harmlosigkeit des Befundes wichtig.
Arterielle Hypotonie
Das vergrößerte Plasmavolumen bei Schwangeren entspricht zum größten Teil einer Vergrößerung des Volumens im Niederdrucksystem, das durch hormonelle Einflüsse dehnbarer wird und damit größere Volumina aufnehmen kann. Dementsprechend sind die Volumenverschiebungen bei orthostatischer Belastung in der Schwangerschaft wesentlich größer als bei Nichtschwangeren. Durch diese Volumenverschiebungen und den in der Schwangerschaft v. a. im 2. Trimenon physiologisch erniedrigten Blutdruck neigen Schwangere in verstärktem Maße zur orthostatischen Dysregulation. Die arterielle Hypotonie führt zu einer Minderperfusion der Plazenta, da diese ein funktionell peripheres Organ ohne Fähigkeit zur Autoregulation der Blutversorgung ist. Arterielle Hypotonie Nach den WHO-Richtlinien liegt eine arterielle Hypotonie bei Blutdruckwerten von 100/60 mm Hg oder darunter vor.
. Tab. 16.2. Reaktionstypen der arteriellen Hypotonie
Reaktionsform
Kennzeichen
Hypertone Reaktionsform
Erhöhung des Blutdrucks und der Herzfrequenz
Sympathikotone Reaktionsform
Extremer Herzfrequenzanstieg bei gleichzeitigem Blutdruckabfall
Asympathikotone Reaktionsform
Absinken des Blutdrucks ohne Herzfrequenzänderung
Vasovagale Reaktionsform
Im Stehen kommt es zu einem plötzlichen Absinken des Blutdrucks und der Herzfrequenz, was durch ein Absinken des peripheren Gefäßwiderstands und eine Erhöhung der Skelettmuskeldurchblutung bedingt ist
285 16.4 · Asthma bronchiale
16.3.3
Vena-cava-Kompressionssyndrom
V.-cava-Kompressionssyndrom Eine Sonderform der Hypotonie ist das V.-cava-Kompressionssyndrom, bei dem es in Rückenlage durch den Druck des schwangeren Uterus auf die untere Hohlvene zu einer Verminderung des venösen Rückstroms zum Herzen und damit zu einer Verminderung des Herzzeitvolumens und der peripheren Durchblutung kommt. Diese Verminderung des venösen Rückstroms kann aber auch im Stehen auftreten, besonders beim Stehen ohne Bewegung (Schneider 1984).
der Einhaltung dieser Therapiepläne und der regelmäßigen Messung des Atemwiderstands mit Peak-flow-Messgeräten zur Beurteilung der aktuellen Situation hingewiesen werden. Zusätzlich sollten Ratschläge zur Vermeidung von exogenen Noxen und zur Einhaltung eines engmaschigen mütterlichen und fetalen Monitorings gegeben werden. Unter der Geburt muss auf eine Fortsetzung der Asthmatherapie bzw. auf die Bereitstellung einer Notfallmedikation geachtet werden. Die Möglichkeit einer evtl. notwendigen intensivmedizinischen Betreuung sollte bestehen.
Inzidenz Symptomatisch macht sich das V.-cava-Kompressionssyndrom durch Schwindel, Atemnot und ein Erstickungsgefühl bemerkbar. Im Extremfall kann es aber auch zu einem Kreislaufschock kommen. Die Folgen des V.-cava-Kompressionssyndroms sind eine mütterliche und plazentare Minderperfusion, die als hypoxische, bradykarde Reaktionen beim Fetus in Erscheinung treten. Im Extremfall kann es auch zu einer für den Fetus lebensbedrohlichen massiven intrauterinen Asphyxie kommen. Wenig beachtet werden asymptomatische Formen des V.-cava-Kompressionssyndroms, bei denen ohne erkennbare Beeinträchtigung des mütterlichen Befindens eine Verminderung der Plazentaperfusion den längerfristigen Folgen einer fetalen Minderperfusion wie einer erhöhten Rate von Früh- und Mangelgeburten besteht. Tipp Rückenlage und langes Stehen, besonders ohne Bewegung, sind zu vermeiden, auch dann, wenn dies für die Mutter asymptomatisch bleibt. Bei der Betreuung von Schwangeren ist darauf zu achten, dass bei allen Untersuchungen und Eingriffen, die eine längere Immobilisierung erfordern, eine zumindest leichte Linksseitenlage eingehalten wird.
16.4
Asthma bronchiale
Asthma bronchiale wird heute als chronischentzündliche obstruktive Lungenerkrankung angesehen, die durch eine erhöhte Empfindlichkeit der Atemwege gegenüber exogenen Reizen charakterisiert ist. Durch die Obstruktion der Atemwege kommt es zu einer Hypoxämie, die in schweren Fällen und bei insuffizienter Behandlung lebensbedrohlich sein kann. Zur Einteilung des chronischen Asthma bronchiale in verschiedene Schweregrade hat sich das vom National Institute of Health herausgegebene Klassifikationsschema bewährt. Die mütterliche und kindliche Prognose ist vom Schweregrad und vom Erfolg der medikamentösen Einstellung abhängig. Zur korrekten medikamentösen Einstellung stehen – dem Schweregrad der Erkrankung angepasste – Therapiepläne zur Verfügung. Die Patientinnen sollten auf die Wichtigkeit
Asthma bronchiale ist eine häufige Begleiterkrankung der Schwangerschaft und tritt bei etwa 4% aller Schwangerschaften auf.
Pathophysiologie Asthma bronchiale Darunter wird eine heterogene Gruppe von Lungenerkrankungen verstanden, die durch eine teilweise oder komplett reversible Obstruktion der Atemwege und eine erhöhte Empfindlichkeit der Atemwege gegenüber exogenen Reizen charakterisiert ist. Es wird seit einigen Jahren v. a. als eine chronisch-entzündliche Lungenerkrankung angesehen.
Infolge einer im Asthmaanfall auftretenden Ventilationsstörung kommt es durch die Durchblutung von minderbelüfteten Lungenabschnitten zu einer Hypoxämie und Hyperkapnie, die erst durch eine Verbesserung der Ventilation reversibel ist. Sie kann bei insuffizienter Behandlung lebensbedrohend sein.
Einteilung Asthma bronchiale wurde ursprünglich in eine extrinsische oder intrinsische Form unterteilt. Extrinsisches Asthma, das v. a. bei Kindern und jungen Erwachsenen auftritt, wurde als allergische Reaktion gegen verschiedene Antigene wie Bäume- und Gräserpollen oder tierische Eiweiße verstanden und tritt oft gemeinsam mit anderen allergischen Reaktionen, wie dem atopen Ekzem, Rhinitis oder Urtikaria auf. Intrinsisches Asthma, das v. a. bei Erwachsenen in Erscheinung tritt, wird nicht durch Allergene, sondern durch nichtallergische Reize wie Infektionen, Stress, kalte Umgebungsluft oder Aerosole ausgelöst. In der Realität lassen sich diese beiden Formen allerdings nicht klar trennen, und beide Aspekte treten gemeinsam in Erscheinung. Zur Einteilung des chronischen Asthma bronchiale in verschiedene Schweregrade hat sich das vom National Institute of Health (NIH) herausgegebene Klassifikationsschema bewährt (7 Übersicht).
16
286
Kapitel 16 · Erkrankungen und Risikofaktoren in der Schwangerschaft
NIH-Klassifikation des Asthma bronchiale Chronisches mildes Asthma bronchiale 4 Intermittierende, kurze (2 Jahre eine Anfallsfreiheit besteht. Eine Schwangerschaft sollte erst nach mindestens 1/2 Jahr Anfallsfreiheit ohne Therapie eintreten, ansonsten ist die medikamentöse Therapie auch während der Schwangerschaft fortzuführen. Eine Umstellung auf eine Monotherapie sollte präkonzeptionell erfolgen. Die Einstellung soll mit der niedrigst möglichen Dosierung erfolgen, wobei durch mehrmalige über den Tag verteilte Gaben hohe Serumspiegel vermieden werden können. Eine antiepileptische Dauertherapie muss während der Schwangerschaft unverändert fortgesetzt werden. Anfallshäufungen während der Schwangerschaft sind hauptsächlich auf eine fehlerhafte Compliance (eigenständige Reduzierung der Dosis aus Sorge vor Fehlbildungen) zurückzuführen. Bei fehlender Compliance müssen die Serumspiegel der Schwangeren (freie Serumspiegel der Medikamente) in m onatlichen Abständen kontrolliert werden, wobei die schwangerschaftsbedingten Veränderungen der Pharmakokinetik (Reduzierung des freien Medikamentenspiegels durch hormonelle Induktion von Leberenzymen, erhöhte Proteinbindung) zu berücksichtigen sind. Tipp Wegen des bekannten Einflusses von Antiepileptika auf den Folsäurestoffwechsel (Carbamazepin, Valproinsäure) sollte bereits präkonzeptionell eine Folsäuregabe in hoher Dosis (4 mg/Tag) erfolgen, um das Risiko für Neuralrohrdefekte zu reduzieren. Zusätzlich sind Nebenwirkungen von Antikonvulsiva auf das Neugeborene (Entzugssymptome) zu beachten. Wegen des erhöhten Auftretens von Fehlbildungen in der Schwangerschaft sollte die Möglichkeit eines Fehlbildungsscreenings mit α-Fetoprotein-Bestimmung, Ultraschall und ggf. Amniozentese in Anspruch genommen werden.
Der in mehreren Arbeiten beschriebene Effekt der Antiepiletika auf den Vitamin-K-Metabolismus des Neugeborenen konnte in einer prospektiven Studie nicht nachgewiesen werden (Kaaja et al. 2002).
Spezielle Aspekte bei der Geburt Im Allgemeinen kann unter der Voraussetzung, dass die Möglichkeit der Schnittentbindung sowie der maternalen und neonatalen Intensivbetreuung besteht, eine vaginale Geburt angestrebt werden. Tipp Wegen der verminderten Resorption oraler Antikonvulsiva während der Geburt sollte besonders bei einem protrahierten Geburtsverlauf der Wirkstoffspiegel durch parenterale Gaben des jeweiligen Medikaments aufrechterhalten werden. (Wenn die gewohnte Medikation mit Präparaten erfolgt, die nur in oraler Verabreichungsform zur Verfügung stehen, kann durch parenterale Gaben von Phenytoin oder Benzodiazepinen ein Anfall verhindert werden).
289 16.6 · Traumata
Beim ersten Auftreten eines Krampfanfalls in der Schwangerschaft ist die Unterscheidung zwischen Epilepsie und Eklampsie nicht immer möglich. Im Zweifelsfall sollte ein eklamptischer Anfall angenommen und das geburtshilfliche Management danach ausgerichtet werden. Ein Status epilepticus während der Geburt stellt wegen der begleitenden mütterlichen und fetalen Hypoxie einen Notfall dar, der eine maternale und neonatale intensivmedizinische Betreuung notwendig macht. Die Patientin sollte zur Vermeidung eines V.-cava-Kompressionssyndroms seitlich gelagert werden und zur Unterdrückung des Anfalls eine rasche intravenöse Gabe Phenytoin, alternativ Benzodiazepine oder Phenobarbital erhalten. Sobald wie möglich sollte ein sorgfältiges Monitoring von Mutter und Kind mit Pulsoxymeter und kontinuierlicher CTG-Überwachung erfolgen, um eine maternale oder fetale Hypoxie oder eine Plazentalösung rasch erkennen und entsprechend reagieren zu können.
Antiepileptika und Stillen Obwohl alle gebräuchlichen Antiepileptika in die Muttermilch übertreten, ist Stillen prinzipiell nicht kontraindiziert. Bei Verwendung von Medikamenten mit sedierender Wirkung wie Primidon, Phenobarbital oder Benzodiazepinen ist auf eine Sedierung sowie bei Absetzen der Medikation auf eine evtl. auftretende Entzugssymptomatik des Neugeborenen zu achten.
Prävention Eine Beratung von Epilepsiepatientinnen vor der Schwangerschaft ist empfehlenswert, um eine optimale Kontrolle der Anfallshäufigkeit bei möglichst geringen Nebenwirkungen erreichen zu können. Im Rahmen des Beratungsgespräches sollte erwähnt werden, dass Schwangerschaften bei Epilepsie i. Allg. komplikationslos verlaufen. Allerdings muss auf ein geringgradig erhöhtes Risiko von kongenitalen Fehlbildungen hingewiesen werden. Darüber hinaus besteht aus bisher nicht geklärter Ursache ein etwa 4-fach erhöhtes Risiko von Krampfanfällen bei Kindern von Müttern mit Epilepsie. Vor der Schwangerschaft sollte durch sorgfältige Einstellung der Antikonvulsivadosis und eine Umstellung auf Monotherapie Anfallsfreiheit – im Idealfall eine anfallsfreie Periode von mehreren Monaten – erreicht werden. Bei einer bereits bestehenden Anfallsfreiheit von mehreren Jahren lässt sich auch ein schrittweises Absetzen der Antikonvulsiva vor der Schwangerschaft erwägen; allerdings kommt es im Verlauf der Schwangerschaft bei bis zu 50% dieser Patientinnen zu einem Rückfall. Schließlich sollte empfohlen werden, in der Schwangerschaft ausreichend zu ruhen und zu schlafen, um eine Steigerung der Anfallshäufigkeit durch Schlafmangel zu vermeiden.
16.6
Traumata
Traumata zählen zu den wichtigsten nicht geburtshilflich bedingten Todesursachen von Schwangeren. Unter diesen sind stumpfe Bauchtraumata, meist Folge von Verkehrsunfällen, besonders hervorzuheben. Obwohl direkte Verletzungen von Gebärmutter und Fetus die Ausnahme sind, ist die kindliche Mortalität durch die infolge eines Traumas häufige vorzeitige Plazentalösung hoch. Für das erfolgreiche Management ist die enge Kooperation zwischen Traumatologen und Geburtshelfern wichtig, um nach der Durchführung der lebensnotwendigen Sofortmaßnahmen und der maternalen Evaluation auch eine frühzeitige fetale Evaluation vornehmen zu können. Primär erfolgt eine ausführliche sonographische Diagnostik, um eine vorzeitige Plazentalösung, Hämatome und freie intraabdominelle Flüssigkeit zu erfassen. Zusätzlich erfolgt eine CTG-Dauerüberwachung über 4–6 h. Die wichtigste präventive Maßnahme gegen Bauchtraumata in der Schwangerschaft ist das korrekte Anlegen von Sicherheitsgurten im Auto. Bei mütterlichem Herz-Kreislauf-Stillstand muss bei Nachweis der Vitalität und Lebensfähigkeit des Fetus auch die Möglichkeit einer Peri-mortem-Sectio in Betracht gezogen werden. Schwere Verbrennungen sind seltene, wegen des begleitenden massiven Flüssigkeits- und Elektrolytverlusts und des hohen Infektionsrisikos aber ernste Ereignisse mit schlechter kindlicher Prognose.
Inzidenz Schwere traumatische Ereignisse stellen die häufigste Todesursache bei Frauen im reproduktiven Alter dar und sind in der Schwangerschaft für 20% der nicht geburtshilflich bedingten mütterlichen Todesfälle verantwortlich.
Anatomische und physiologische Besonderheiten Die anatomischen Veränderungen in der Schwangerschaft führen zu einer Veränderung der Prädilektionsstellen von Bauchtraumata. Durch die Vergrößerung der Gebärmutter und die kraniale Verlagerung der Harnblase kommt es zu einer häufigeren Verletzung dieser Organe. Umgekehrt sind Darmverletzungen durch die Verdrängung des Darms in den Oberbauch seltener, wenngleich bei einer Verletzung des Oberbauchs meist mehrere Darmschlingen betroffen sind. Unter den Bauchtraumata sind stumpfe Bauchtraumata weit häufiger als spitze. Die häufigsten Ursachen sind: 4 Verkehrsunfälle (50–60%), 4 Stürze (20%), 4 tätliche Angriffe (20%). Infolge stumpfer Bauchtraumata kommt es nur selten zu direkten Verletzungen des Fetus, da dieser durch Gebärmutter und Fruchtwasser gut geschützt ist. Die fetale Mortalität bei stumpfen Bauchtraumata ist v. a. durch eine vorzeitige Plazentalösung bedingt. Neben der direkten fetalen Verletzung ist auch eine Gebärmutterruptur durch den muskulären Aufbau der Gebärmutter selten. Eine Ausnahme stellen hierbei Beckenfrakturen dar, in deren Folge es zu direkten Verletzungen von Gebär-
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Kapitel 16 · Erkrankungen und Risikofaktoren in der Schwangerschaft
mutter und Fetus, zu einer vorzeitigen Plazentalösung sowie zu Verletzungen der Harnwege kommen kann. Im Falle einer Gebärmutterruptur kann es, bedingt durch die vermehrte Durchblutung des schwangeren Uterus, zu starken abdominellen (und meist geringeren vaginalen) Blutungen kommen. Die Rate an vorzeitigen Plazentalösungen liegt bei leichten bzw. schweren Traumata bei 1–5% bzw. bei 40–50%. Dazu korrespondierend wurde eine kindliche Mortalität von 1–5% bzw. 40– 50% beobachtet. Nachdem leichte Traumata weitaus häufiger als schwere Traumata sind, sind die meisten kindlichen Todesfälle Folgen leichter Traumata! Ausgedehnte Verbrennungen in der Schwangerschaft sind seltene Ereignisse. Die mütterliche und fetale Prognose ist vom Ausmaß der von der Verbrennung betroffenen Körperoberfläche abhängig. So ist ab einem Anteil der verbrannten Körperoberfläche von über 30% mit einer fetalen Mortalität von über 50% zu rechnen. Für diese schlechte fetale Prognose dürfte in erster Linie der im Rahmen von schweren Verbrennungen auftretende massive Flüssigkeits- und Elektrolytverlust sowie infektiöse Komplikationen verantwortlich sein.
Management Bei der Behandlung von Traumata in der Schwangerschaft steht die rasche maternale Evaluation und hämodynamische Stabilisierung im Vordergrund. An sie schließt die fetale Evaluation an, um eine schnelle Entscheidung über das weitere geburtshilfliche Vorgehen treffen zu können. Die weitere Therapie richtet sich nach Art und Ausmaß der einzelnen Verletzungen.
Lebensnotwendige Erstmaßnahmen Die primäre kardiopulmonale Reanimation wird in gleicher Weise wie bei Nichtschwangeren durchgeführt, wenngleich auch eine frühzeitige fetale Evaluation zur Entscheidung über die Durchführung einer Peri-mortem-Sectio (7 unten) vorgenommen werden sollte.
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> Zur Einschätzung der hämodynamischen Situation ist zu beachten, dass es in der Schwangerschaft zu einer 18- bis 30%igen Zunahme des Erythrozytengesamtvolumens kommt und das rote Blutbild sich durch eine gleichzeitige 50%ige Zunahme des Plasmavolumens, aber niedrigere Normalwerte (Hkt 32– 34%, Hb 10,5–11 g/dl) auszeichnet. Dieser hypervolämische Zustand führt zu einer erhöhten Toleranz gegenüber Blutverlusten. So sind hämodynamische Reaktionen wie Tachykardie und Hypotonie erst bei Blutverlusten von 1500–2000 ml zu erwarten, während sie bei Nichtschwangeren bereits bei Blutverlusten von 500–1000 ml auftreten. Umgekehrt ergibt sich daraus ein erhöhter Volumenbedarf von 3 ml Ringer-Lösung pro ml geschätzten Blutverlust zur Wiederherstellung der physiologischen Ausgangssituation.
Eine rasche Volumensubstitution ist wichtig, um eine Zentralisierung des Kreislaufs, die zwar die Versorgung der lebensnotwendigen mütterlichen Organe sichert, aber zu einer Reduktion der Plazentaperfusion führt, zu verhindern. Zur Vermeidung eines V.-cava-Syndroms mit einer Reduktion des
zentralen Rückstroms von Blut ist streng auf eine Linksseitenlagerung zu achten. Im Rahmen der lebensnotwendigen Erstmaßnahmen sollte des Weiteren zur Verhinderung einer Aspiration eine Magensonde gelegt werden, da wegen der in der Schwangerschaft verringerten Magenmotilität und verzögerten Magenentleerung Nüchternheit nicht voraussetzbar ist. Aus dem gleichen Grund ist die präoperative Gabe von Antazida empfehlenswert. Die Flüssigkeits- und Elektrolytsubstitution steht auch im Fall von ausgedehnten Verbrennungen im Vordergrund. Zusätzlich sollte wegen des hohen Infektionsrisikos unverzüglich mit einer breiten antibiotischen Abschirmung begonnen werden.
Maternale Evaluation Im Rahmen der maternalen Evaluation sollte ein rascher orientierender physikalischer Status vorgenommen werden, wobei das Hauptaugenmerk auf Zeichen einer Verletzung innerer Organe oder Knochenverletzungen zu richten ist. Daneben ist auch auf äußere Zeichen einer vorzeitigen Plazentalösung (Tonisierung der Gebärmutter, Wehentätigkeit, vaginale Blutung) zu achten.
Fetale Evaluation Die fetale Evaluation sollte mit einer Ultraschalluntersuchung (idealerweise mit einem Dopplerultraschallgerät) auf positive fetale Lebenszeichen begonnen werden. Darüber hinaus sollten eine Messung der fetalen Herzfrequenz, die Überprüfung der Integrität von Plazenta und Fruchtblase und eine Überprüfung der fetalen Lebensfähigkeit durch eine orientierende Biometrie erfolgen. Nach Durchführung der lebensnotwendigen Sofortmaßnahmen sollte eine kontinuierliche CTG-Überwachung zur Evaluation der uteroplazentaren Perfusion durchgeführt werden, da selbst bei hämodynamischer Stabilisierung des mütterlichen Kreislaufs eine uteroplazentare Minderperfusion möglich ist. Als Zeichen einer fetalen Minderperfusion sind eine fetale Tachykardie, Bradykardie, späte Dezelerationen sowie eine verminderte Herzfrequenzvariabilität zu werten. Darüber hinaus kann das CTG auch zur Beurteilung des mütterlichen Zustands verwendet werden, weil es ein sensibler Marker der mütterlichen Hämodynamik ist. Das CTG ist, was die kindliche Prognose betrifft, ein sensiblerer Verlaufsparameter als die klinischen Symptome, die wiederum einen guten negativen Vorhersagewert haben. Tipp Zum Ausschluss einer Plazentalösung, die in den meisten Fällen unmittelbar nach dem Trauma, aber auch bis 48 h nach dem Trauma auftreten kann, sollte zunächst eine kontinuierliche CTG-Überwachung über 4–6 h erfolgen. Bei schweren mütterlichen Traumata oder bei Auffälligkeiten wie Wehentätigkeit, vaginaler Blutung oder Blasensprung sollte die kontinuierliche CTG-Überwachung fortgesetzt werden.
291 16.6 · Traumata
Weiterführende Diagnostik und Therapie Röntgenaufnahmen sind bei Bedarf zur Abklärung mütterlicher Verletzungen indiziert, wenngleich sie möglichst unter Abschirmung des Fetus durchgeführt werden sollten. Das Risiko potenzieller Strahlenschäden des Fetus, wie Fehlbildungen, Wachstumsrestriktion und neonatale Malignome, ist v. a. in der Zeit der Organogenese, also etwa 2–7 Wochen nach der Konzeption, am größten. Insgesamt besteht aber bei Einzelröntgenaufnahmen nur ein geringes und erst bei aufwendigeren Untersuchungen wie etwa einer Computertomographie ein zunehmendes Risiko für fetale Schäden. Der Ausschluss einer intraabdominellen Blutung erfolgt mit der Sonographie, da Schwangere gegenüber Nichtschwangeren eine nur gering ausgeprägte peritoneale Symptomatik zeigen. Die weiteren therapeutischen Maßnahmen sind von den einzelnen Verletzungen abhängig und werden in gleicher Weise wie bei Nichtschwangeren durchgeführt. Zur Verhinderung einer vorzeitigen Wehentätigkeit ist eine Tokolyse indiziert. Sie sollte allerdings erst nach Stabilisierung des mütterlichen Kreislaufs begonnen werden. Besonderes Augenmerk sollte man auch auf die Überwachung der mütterlichen Blutgerinnung richten, da in der Schwangerschaft ein erhöhtes Thromboserisiko besteht. Darüber hinaus ist die Gefahr einer disseminierten intravasalen Gerinnung durch Freisetzung von thromboplastischen Substanzen (z. B. bei vorzeitiger Plazentalösung) erhöht.
Idealerweise sollte die Sectio innerhalb von 4 min nach dem mütterlichen Kreislaufstillstand erfolgen, weil trotz einer intrauterinen Asphyxie über diesen Zeitraum ein gesundes Kind geboren werden kann. Nachdem aber über das Überleben von Kindern auch nach einer Zeitspanne von 15–20 min hinaus berichtet worden ist, sollte bei positiven fetalen Lebenszeichen auch zu jedem späteren Zeitpunkt der Versuch gemacht werden, das Kind lebend zu entwickeln. Die mütterlichen Wiederbelebungsmaßnahmen müssen während der Schnittentbindung fortgesetzt werden. Kontraindikationen für eine Peri-mortem-Sectio sind: 4 hämodynamisch instabiler Zustand der Mutter ohne Herz-Kreislauf-Stillstand (durch den Eingriff würde die mütterliche Prognose verschlechtert), 4 Zustand nach erfolgreicher Reanimation – auch mit Zeichen einer verminderten Plazentadurchblutung–, da die Wahrscheinlichkeit einer spontanen intrauterinen Reanimation des Fetus groß ist.
Beratung von Gewaltopfern Obwohl Traumata als Folge direkter menschlicher Gewalteinwirkung in der Häufigkeit nicht an erster Stelle liegen, wird an dieser Stelle auf dieses zunehmend wichtiger werdende Problem hingewiesen, da dem Frauenarzt als primärem Ansprechpartner von Schwangeren eine besondere Rolle bei der Erkennung und Beratung von Gewaltopfern zukommt.
Fetomaternale Hämorrhagie
Prävention
Bei Bauchtraumata kommt es in etwa 25% der Fälle zum Übertritt von kindlichen Erythrozyten in das mütterliche Blut (im Durchschnitt etwa 15 ml, in 90% der Fälle Die wichtigste präventive Maßnahme gegen stumpfe Bauchtraumata in der Schwangerschaft ist das Tragen von Sicherheitsgurten im Auto.
Tipp Zur Abklärung des Ausmaßes der fetomaternalen Hämorrhagie kann das transfundierte Volumen durch Zählen von kernhaltigen fetalen Erythrozyten im mütterlichen Blut mit folgender Formel geschätzt werden: 4 Transfundiertes Volumen = kernhaltige/kernlose Erythrozyten × mütterliches Gesamterythrozytenvolumen Als Sensibilisierungsprophylaxe werden 300 μg Anti-DImmunglobulin pro 30 ml transfundiertes Volumen verabreicht.
Obwohl bei einem Verkehrsunfall der Schutzeffekt durch das Tragen von Gurten das Risiko möglicher Verletzungen durch den Gurt bei weitem überwiegt, werden Gurte trotzdem oft aus Angst vor einer möglichen Verletzung des Fetus nicht angelegt. Die wenigen Fallbeschreibungen von schweren fetalen Verletzungen durch Sicherheitsgurte betreffen allerdings nur die heute nicht mehr verwendeten horizontal über den Bauch führenden Zweipunktgurte und nicht die heute üblichen Dreipunktgurte. Richtig angelegt verläuft der Gurt oberhalb und unterhalb des Bauches und nicht quer über den schwangeren Bauch (7 Kap. 13.8). Tipp
Peri-mortem-Sectio Bei mütterlichem Herz-Kreislauf-Stillstand muss nach Beginn der kardiopulmonalen Reanimation die Entscheidung über eine Peri-mortem-Sectio als Notmaßnahme zur Rettung des Fetus getroffen werden. Voraussetzungen für eine Perimortem-Sectio sind: 4 Nachweis von positiven fetalen Lebenszeichen (positive Herzaktion, Bewegung), 4 Nachweis der Lebensfähigkeit des Fetus durch eine biometrische Schätzung des Gestationsalters.
Um das Risiko einer potenziellen Verletzung zu vermindern, wird empfohlen, den Gurt so anzulegen, dass der untere, horizontale Gurt in Leistenhöhe und der obere, schräge Gurt über dem Fundus uteri zu liegen kommt.
16
292
Kapitel 16 · Erkrankungen und Risikofaktoren in der Schwangerschaft
16.7
Appendizitis
Die Appendizitis ist die häufigste nicht geburtshilfliche Indikation für einen chirurgischen Eingriff in der Schwangerschaft. Wegen der in der Schwangerschaft erschwerten Diagnose und der abwartenden Haltung gegenüber chirurgischen Eingriffen wird häufiger eine perforierte Appendizitis diagnostiziert als bei Nichtschwangeren. Da diese mit einer erhöhten fetalen Mortalität einhergeht, ist die genaue diagnostische Abklärung und eine ohne Zeitverzögerung durchgeführte Appendektomie wichtig. Bei der Diagnosestellung ist die veränderte Lage der Appendix, die meist schwach ausgebildete peritoneale Reaktion und die physiologische Leukozytose zu beachten. Prinzipiell kann auch nach erfolgter Appendektomie eine vaginale Geburt angestrebt werden. Allerdings ist bei perforierter Appendizitis und fortgeschrittener Schwangerschaft die Kaiserschnittentbindung anzuraten.
Epidemiologie Mit einem Auftreten von etwa 1/1500 Schwangerschaften stellt die Appendizitis die häufigste nicht geburtshilfliche Indikation für einen bauchchirurgischen Eingriff während der Schwangerschaft dar. Sie tritt am häufigsten im 2. Trimenon (etwa 50% der Fälle) auf. Der Anteil an perforierten Appendizitiden ist, bedingt durch die erschwerte Diagnose und die in der Schwangerschaft abwartendere Haltung gegenüber chirurgischen Eingriffen, mit etwa 25% aller Fälle wesentlich größer als bei Nichtschwangeren. Perforierte Appendizitiden treten gehäuft im 3. Trimenon (etwa 70% der Fälle) auf.
Bedeutung für Mutter und Fetus
16
Die mütterliche Mortalität bei einer Appendizitis in der Schwangerschaft ist heutzutage durch eine rasche chirurgische Intervention und eine begleitende Antibiotikatherapie auf unter 1% zurückgegangen. Im Vergleich dazu wurde die fetale Mortalität weiterhin als hoch beschrieben und lag bei Appendizitiden insgesamt bei etwa 9% (ohne Perforation 5%, mit Perforation 19%). In neuren Fallreihen liegen diese Werte deutlich niedriger und sind v. a. Appendizitiden im 1. Trimenon zuzuschreiben. Vorzeitige, durch Appendizitis bedingte Wehen werden in etwa 6% aller Fälle gesehen (ohne Perforation 1%, mit Perforation 22%).
Befunde Obwohl die Appendix im Laufe der Schwangerschaft nach kranial verlagert wird und in der 20. SSW im rechten Mittelbauch, ungefähr in Nabelhöhe, zu liegen kommt, ist der Schmerz im rechten Unterbauch das verlässlichste diagnostische Zeichen der Appendizitis in der Schwangerschaft. Die für die Appendizitis typische umschriebene peritoneale Symptomatik wird in der Schwangerschaft seltener als bei Nichtschwangeren beobachtet. Wegen der verstärkten Lymphdrainage in den in der Schwangerschaft besser durchbluteten Beckeneingeweiden, Braxton-Hicks-Kontraktionen und der fehlenden Bedeckung der Appendix durch das große Netz oder die Bauchdecke kommt es seltener zu einer Abkapselung des entzündlichen Prozesses, sondern eher zu einer diffusen Peritonitis. Die bei einer Peritonitis auftretende Abwehrspannung der Bauchmuskulatur ist dabei durch den schlafferen Zustand der Bauchmuskulatur in der Schwangerschaft vermindert. > Eine begleitende Leukozytose ist durch die in der Schwangerschaft erhöhten Normalwerte von Leukozyten (6000–16.000/mm3; bis zu 30.000/mm3 bei Wehentätigkeit) wenig spezifisch. Umgekehrt ist allerdings bei Werten unter 10.000 Leukozyten/mm3 eine Appendizitis unwahrscheinlich.
Da die Körpertemperatur bei nichtperforierter Appendizitis meist unter 38°C liegt, kann Fieber als Symptom einer perforierten Appendizitis angesehen werden.
Spezielle Diagnostik Zur weiterführenden Diagnostik kann eine Ultraschalluntersuchung hilfreich sein. Sie ermöglicht die Darstellung weiterer Appendizitiszeichen (die allerdings nicht immer darzustellen sind) sowie den Ausschluss tuboovarieller und uteriner Prozesse.
Differenzialdiagnose Die in der Schwangerschaft wesentlich unspezifischere Symptomatik der Appendizitis erfordert eine genaue Differenzialdiagnose zum Ausschluss von anderen geburtshilflich und nicht geburtshilflich bedingten Ursachen der Beschwerden (7 Übersicht).
Evaluation Die Diagnose der Appendizitis wird in der Schwangerschaft in gleicher Weise wie bei Nichtschwangeren gestellt. Allerdings sind die für die Appendizitis typischen Symptome durch die physiologischen Veränderungen in der Schwangerschaft verschleiert.
Anamnese Die im Initialstadium der Appendizitis wichtigen Symptome der Appetitlosigkeit und der Übelkeit bzw. des Erbrechens sind in der Schwangerschaft, besonders im 1. Trimenon, häufig und daher wenig spezifisch.
Differenzialdiagnose der Appendizitis Geburtshilfliche Differenzialdiagnosen 4 Vorzeitige Wehentätigkeit 4 Vorzeitige Plazentalösung 4 Chorioamnionitis 4 Degenerative Prozesse in Myomen 4 Stielgedrehte Adnexe 4 Extrauteringravidität 4 »Pelvic inflammatory disease« 4 Dehnungsschmerz des Lig. rotundum
6
293 16.8 · Nieren- und Harnwegerkrankungen
Nicht geburtshilfliche Differenzialdiagnosen 4 Pyelonephritis 4 Nierenkolik 4 Cholezystitis 4 Obstruktive Darmerkrankungen 4 Pankreatitis 4 Gastroenteritis 4 Hernien
Harnkonkremente treten in der Schwangerschaft nicht häufiger als bei Nichtschwangeren auf. Aufgrund der physiologischen Dilatation der Ureteren gehen sie meist spontan ab, sodass nur selten eine operative Entfernung notwendig ist. Akute Glomerulonephritiden sind sehr selten und prognostisch günstig. Die Prognose von chronischen Glomerulonephritiden ist vom Ausmaß der Proteinurie, Hypertonie und Azotämie abhängig. Fälle mit begleitender Hypertonie, besonders aber mit pathologischer Stickstoffretention, sind prognostisch ungünstig. Bei allen Verlaufsformen sollte auf das Auftreten einer Pfropfpräeklampsie geachtet werden.
Management Aufgrund der deutlich schlechteren fetalen Prognose bei Perforation der Appendix ist nach dem Grundsatz von Babler (1908): »The mortality of appendicitis complicating pregnancy is the mortality of delay« eine zeitgerechte Appendektomie wesentlich. Die Indikation zur Appendektomie muss wegen der unklareren Symptomatik in der Schwangerschaft großzügigerer als bei Nichtschwangeren gestellt werden. Die Appendektomie sollte – nach Ausschluss aller Differenzialdiagnosen – ohne Zeitverzögerung durchgeführt werden.
Allgemeine therapeutische Maßnahmen Die Appendektomie wird in der Schwangerschaft in gleicher Weise – allerdings in Linksseitenlage und unter Beachtung der geänderten anatomischen Verhältnisse – wie bei Nichtschwangeren durchgeführt. Zur Vermeidung von vorzeitigen Wehen sollten Manipulationen an der Gebärmutter auf das notwendige Minimum beschränkt werden. Perioperative Tokolyse und antibiotische Abschirmung sind anzuraten. Ein intraoperatives fetales Monitoring ist empfehlenswert und sollte auch nach dem Eingriff fortgesetzt werden. Tipp Bei perforierter Appendizitis und fortgeschrittener Schwangerschaft ist wegen der Gefahr eines intrauterinen Fruchttodes durch die im Rahmen des toxischen Geschehens zirkulierenden Endotoxine eine gleichzeitige Kaiserschnittentbindung empfehlenswert. Diese sollte vor der Versorgung der Appendix durchgeführt werden. In Fällen von nicht perforierter Appendizitis ist nach erfolgter Appendektomie prinzipiell eine vaginale Geburt anzustreben.
16.8
Nieren- und Harnwegerkrankungen
Die physiologische Dilatation des Nierenhohlraumsystems und der Ureteren und die verminderte Kontraktilität der Ureteren in der Schwangerschaft werden als prädisponierende Faktoren zur Entstehung von aufsteigenden Infektionen angesehen. Diese können in der Form einer asymptomatischen Bakteriurie unbemerkt über längere Zeit bestehen, um dann häufig in eine symptomatische Infektion überzugehen. Wegen der erhöhten kindlichen Morbidität und Mortalität sind alle – auch die asymptomatischen – Infektionen antibiotisch zu behandeln und in regelmäßigen Abständen zu kontrollieren.
Im Folgenden werden die Infektionen der Harnwege, die unter den Nieren- und Harnwegerkrankungen von größter praktischer Bedeutung sind, ausführlicher behandelt. Die Beteiligung der Nieren im Rahmen der Präeklampsie wird in 7 Kap. 17 besprochen. Zur Beurteilung der Nieren- und Harnwegerkrankungen in der Schwangerschaft ist die Kenntnis der physiologischen Veränderungen in der Schwangerschaft wichtig. Morphologische Veränderungen betreffen in erster Linie die auf hormonelle Einflüsse zurückgeführte Dilatation des Nierenhohlraumsystems und der Ureteren. Gemeinsam mit der verminderten Kontraktilität der Ureteren werden diese Veränderungen als prädisponierende Faktoren zur Entstehung von aszendierenden Infektionen angesehen. Funktionelle Änderungen der Nierenfunktion, die durch eine erhöhte Nierendurchblutung und glomeruläre Filtration sowie durch eine Änderung der tubulären Funktion gekennzeichnet sind, führen zu einer veränderten Zusammensetzung des Primärharns. Im Urin Schwangerer besteht eine relative Glukosurie und Proteinurie, und es sind vermehrt Leukozyten und Erythrozyten zu finden.
16.8.1
Asymptomatische Bakteriurie, Zystitis, Pyelonephritis
Asymptomatische Bakteriurie (ASB) Eine asymptomatischen Bakteriurie besteht bei einer Keimzahl von >100.000 Keimen/ml Mittelstrahl- oder Katheterharn. Klinische Symptome, Entzündungszeichen sowie anamnestische Hinweise auf eine Entzündung der Harnwege fehlen.
Die Häufigkeit der ASB beträgt etwa 2% bei jungen Erstgebärenden und steigt bei älteren Mehrgebärenden auf bis zu 10% an. Im Gegensatz zur ASB außerhalb der Schwangerschaft ist die Behandlung in der Gravidität außerordentlich wichtig. Die ASB geht bei Nichtbehandlung zu 30–50% in eine symptomatische Harnweginfektion, in etwa 25% in eine akute Pyelonephritis über, wobei diese fast ausschließlich im 2. und 3. Trimenon sowie postpartal auftritt. Darüber hinaus werden die Schwangerschaftsverläufe bei bakteriurischen Frauen häufig kompliziert durch: 4 Frühgeburten, 4 mütterliche und kindliche Infektionen,
16
294
Kapitel 16 · Erkrankungen und Risikofaktoren in der Schwangerschaft
4 Präeklampsien, 4 erhöhte perinatale Mortalität. Im Laufe der Gravidität erkranken etwa 1% aller Schwangeren an einer manifesten Zystitis und etwa 1–2% an einer akuten, meist einseitigen, häufiger rechts auftretenden Pyelonephritis. Die Diagnose ist aus dem Urinbefund, der charakteristischen klinischen Symptomatik wie Dys- und Pollakisurie sowie bei Pyelonephritiden zusätzlich Flankenschmerz und intermittierende Fieberschübe zu stellen. Allerdings verlaufen 2/3 aller Pyelonephritiden symptomarm und afebril und machen sich nur durch ein allgemeines Krankheitsgefühl, Übelkeit, Erbrechen und leichte Flankenschmerzen, die bei Bettruhe und Lagerung auf die andere Seite wieder abklingen, bemerkbar. Wegen ihrer Symptomarmut bleiben diese Verlaufsformen oft unbeachtet und sind daher in besonderem Maße mit den oben beschriebenen mütterlichen und kindlichen Komplikationen verbunden. Nach der diagnostischen Sicherung eines Harnweginfekts mittels Teststreifen und Harnsediment sollte man unverzüglich mit einer antibiotischen Therapie beginnen. Vor Therapiebeginn sollte in jedem Fall eine Urinkultur eingesandt werden, um die Wirksamkeit der eingeleiteten Therapie zu überprüfen und ggf. das Antibiotikum umzustellen. Tipp
16
Die Antibiotika der Wahl sind Penicillinderivate und (bei Penicillinallergie) Cephalosporine. Die Dauer der Behandlung einer ASB bzw. Zystitis wird in der Literatur sehr unterschiedlich empfohlen und reicht von 3–10 Tagen. Bei Pyelonephritis sollte eine hoch dosierte intravenöse Therapie über 7–14 Tage begonnen werden. Nach Absetzen der Antibiotika werden bakteriologische Kontrollen im Abstand von etwa 2 Wochen empfohlen, um das Wiederauftreten einer Bakteriurie sofort zu erfassen und zu behandeln. Bei häufigen Rezidiven wird eine Langzeittherapie mit niedrig dosierten Nitrofurantoinpräparaten bis zum Ende der Schwangerschaft empfohlen. In Ausnahmefällen kann bei therapieresistenter Pyelonephritis auch eine perkutane Nephrostomie, die bis zur Geburt bestehen bleibt, durchgeführt werden.
16.8.2
Urolithiasis
Die Häufigkeit von Harnkonkrementen ist in der Schwangerschaft gegenüber dem nichtgraviden Zustand nicht erhöht. Das Vorliegen von Harnkonkrementen wird bei Auftreten von kolikartigen Schmerzen im Flankenbereich, die nach unten ziehen, vermutet und kann durch Nachweis von Erythrozyten im Harn und eine Ultraschalluntersuchung der Nieren und ableitenden Harnwege erhärtet werden. Dabei ist zu beachten, dass die Ureteren in der Schwangerschaft physiologisch erweitert sind und der Nachweis von Konkrementen im Ultraschall unzuverlässig ist. Mitunter findet sich eine gleichzeitige Infektion der Harnwege; die Abgrenzung zur Pyelonephritis kann dadurch er-
schwert sein. Weiterführende diagnostische Maßnahmen wie röntgenologische Untersuchungen sind in der Schwangerschaft i. Allg. kontraindiziert. Durch die physiologische Dilatation der Harnwege kommt es oft zu einem Spontanabgang der Konkremente, sodass eine operative Entfernung mittels Schlinge nur in seltenen Fällen notwendig ist. Tipp Als therapeutische Maßnahme werden ausreichend Flüssigkeitszufuhr und eine symptomatische Therapie mit Spasmolytika empfohlen.
16.8.3
Andere Nierenerkrankungen
Akute Glomerulonephritis. Eine akute Glomerulonephritis während der Schwangerschaft ist sehr selten und sowohl aus mütterlicher als auch aus kindlicher Sicht prognostisch günstig. Die Therapie unterscheidet sich nicht von der Nichtschwangerer. Chronische Glomerulonephritis. Die Diagnose einer chronischen Glomerulonephritis in der Schwangerschaft ist aufgrund der fehlenden morphologischen Kriterien schwer zu stellen. Prognostisch ist die Einteilung in 3 Schweregrade, abhängig vom Ausmaß der Proteinurie, Hypertonie und Azotämie hilfreich: 4 Patientinnen mit manifester Proteinurie ohne Hypertonie und ohne Azotämie haben ein geringes Risiko einer Verschlechterung des Grundleidens. Auf das Auftreten einer Pfropfpräeklampsie muss geachtet werden. 4 Fälle mit manifester Proteinurie und Hypertonie sind in hohem Maße für eine Präeklampsie prädisponiert. Tritt die Komplikation relativ früh auf, so ist die perinatale Mortalität hoch. Eine Verschlechterung der Nierenfunktion hingegen ist während der Schwangerschaft nicht nachweisbar. 4 Kommt zur Proteinurie und Hypertonie noch eine pathologische Stickstoffretention als Zeichen einer erheblichen renalen Insuffizienz hinzu, dann ist die Prognose für Mutter und Kind derart schlecht, dass ein Schwangerschaftsabbruch angezeigt ist. Chronische Niereninsuffizienz mit Hämodialysebedarf.
Über erfolgreich verlaufene Schwangerschaften bei chronischer Niereninsuffizienz mit Hämodialysebedarf ist berichtet worden. Allerdings ist wegen der in der Regel stark eingeschränkten Plazentafunktion die Rate von fetalen Komplikationen sehr hoch. Bei der Betreuung von dialysepflichtigen Schwangeren ist besonders auf eine engmaschige Kontrolle des Blutdrucks, der Elektrolyte, der Blutgase, eine ausreichende Nierenperfusion und auf die rechtzeitige Erkennung einer Anämie zu achten. Nierentransplantierte Schwangere. Patientinnen nach Nierentransplantationen sollten 2 Jahre nach der Operation mit einer Schwangerschaft warten, da zu diesem Zeitpunkt ein
295 16.9 · Erkrankungen der Gallenwege
Ausgleich der Nierenfunktion angenommen und die Dosis an Immunsuppressiva reduziert werden kann. Die Behandlung mit Immunsuppressiva muss allerdings auch in der Schwangerschaft fortgesetzt und wegen des erhöhten Risikos der Transplantatabstoßung in der Schwangerschaft meist sogar mit erhöhter Dosierung durchgeführt werden. Von Kortikosteroiden abgesehen, ist die Therapie mit Immunsuppressiva mit einer erhöhten Fehlbildungsrate, mit einer erhöhten Rate von Frühgeburten und IUWR sowie mit einem erhöhten Prozentsatz von körperlich und mental restringierten Kindern verbunden, worauf bei der Beratung der Patientin hingewiesen werden muss.
16.9
Erkrankungen der Gallenwege
Die intrahepatische Schwangerschaftscholestase ist die häufigste Erkrankung der Leber in der Schwangerschaft, ätiologisch jedoch weitgehend ungeklärt. Sie ist durch ausgeprägten Juckreiz, in etwa 10% der Fälle durch einen leichten Ikterus und gastrointestinale Beschwerden charakterisiert. Aus unbekannten Gründen hat die Erkrankung eine ungünstige kindliche Prognose, sodass eine Kontaktaufnahme mit einem Perinatalzentrum mit der Möglichkeit einer regelmäßigen fetalen Evaluation empfohlen wird. Therapeutisch stehen Ursodeoxycholsäure (eine natürlich vorkommende Gallensäure), Colestyraminpräparate und Antihistaminika zur Verfügung. Obwohl der Zusammenhang zwischen Schwangerschaft und einem vermehrten Auftreten von Gallensteinen nicht klar belegt ist, wurde eine Reihe von Faktoren beschrieben, die die Ausbildung von Gallensteinen fördern. Symptomatische Gallensteine, die wegen der Heftigkeit ihrer Beschwerden einen operativen Eingriff erfordern, sind allerdings selten, sodass in den meisten Fällen eine medikamentöse Therapie ausreichend ist. Operative Maßnahmen werden nur bei unter konservativen Maßnahmen unverändert stark symptomatischen Erkrankungen, v. a. bei Fällen mit Choledocholithiasis und chologener Pankreatitis, in Erwägung gezogen. In diesen Fällen bieten die laparaskopische Cholezystektomie und endoskopische Papillotomie mit Steinentfernung prognostische Vorteile gegenüber der offenen Cholezystektomie mit Gallengangsexploration.
Unter den Erkrankungen der Gallenwege in der Schwangerschaft sind die intrahepatische Cholestase, auch rezidivierender idiopathischer Schwangerschaftsikterus genannt, und die Cholelithiasis, einschließlich ihrer Komplikationen wie Choledocholithiasis, Verschlussikterus und chologene Pankreatitis, von größter praktischer Bedeutung.
16.9.1
Intrahepatische Schwangerschaftscholestase
Epidemiologie Die intrahepatische Schwangerschaftscholestase ist die häufigste Erkrankung der Leber in der Schwangerschaft und nach
der viralen Hepatitis die zweithäufigste Ursache eines Ikterus in der Schwangerschaft. Die Häufigkeit der Erkrankung zeigt erhebliche geographische Unterschiede, mit einem gehäuften Vorkommen in den skandinavischen Ländern, Chile und Bolivien. In anderen Ländern ist sie mit einem Auftreten von 1,5, 4 erhöhtes (vorwiegend direktes, konjugiertes) Bilirubin, 4 unveränderte Aktivitäten von γ-GT, LDH und GLDH.
Differenzialdiagnose Differenzialdiagnostisch sind andere Lebererkrankungen, v. a. die viralen Hepatitiden, eine toxische Leberschädigung oder ein Verschlussikterus abzugrenzen.
Prognose Die mütterliche Prognose der Erkrankung ist gut. Bleibende Leberschädigungen sind nicht zu erwarten. Wichtig ist die Kontrolle der Gerinnungsfaktoren, insbesondere des QuickWerts, da die Vitamin-K-abhängigen Faktoren abfallen können und ggf. eine entsprechende Vitamin-K-Substitution notwendig machen. Eine Substitution der fettlöslichen Vitamine ist in jedem Fall empfehlenswert. Demgegenüber ist – aus unbekannten Gründen – die kindliche Prognose ungünstig. Die Frühgeburtlichkeit wurde mit einer mittleren Rate von 20% (7–60%) und die Rate intrauteriner Fruchttode mit 1–2% angegeben, wobei zu beachten ist, dass die kindlichen Todesfälle fast ausschließlich im letzten Monat der Schwangerschaft auftreten.
Medikamentöse Therapie Obwohl noch beschränkte Erfahrungen vorliegen, was die Sicherheit der Anwendung in der Schwangerschaft betrifft, gilt die Therapie mit Ursodeoxycholsäure, einer natürlich vorkommenden Gallensäure, als 1. Wahl. Sie verbessert sowohl die Symptomatik als auch die veränderten Laborwerte und führt zu einer besseren kindlichen Prognose. Daneben stehen Colestyraminpräparate, die eine enterale Resorption der Gallensäuren verhindern, sowie Antihistaminika zur Behandlung des Juckreizes zur Verfügung.
16
296
Kapitel 16 · Erkrankungen und Risikofaktoren in der Schwangerschaft
Geburtshilfliches Management Als präventive Maßnahme ist bei Diagnose der Erkrankung die Kontaktaufnahme mit einem perinatologischen Zentrum empfehlenswert, um eine regelmäßige fetale Evaluation vorzunehmen. Es werden wöchentliche CTG-Kontrollen ab der 34. SSW empfohlen. Eine primäre Sectio caesarea wird von manchen Autoren in der 38. SSW, bei ikterischen Verläufen bzw. bei bereits vorangegangener intrahepatischer Cholestase in der letzten Schwangerschaft, in der 36. SSW, vorgeschlagen.
16.9.2
Cholelithiasis
Ätiologie Obwohl der Zusammenhang zwischen Schwangerschaft und einem vermehrten Auftreten von Gallensteinen nicht klar belegt ist, wurde eine Reihe von Faktoren beschrieben, die die Ausbildung von Gallensteinen fördern. Darunter fallen ein erhöhter Gallensäurepool, ein verringerter enterohepatischer Kreislauf, eine Erhöhung des Cholsäure- bei gleichzeitiger Verminderung des Chenodeoxycholsäurespiegels, eine vermehrte Cholesterinausschüttung sowie eine verminderte Motilität der Gallenblase mit konsekutiver Gallenstase.
Inzidenz Der Vergleich der Häufigkeit von Gallensteinen in der Schwangerschaft verglichen mit Nichtschwangeren ist allerdings wegen der großen Zahl von asymptomatischen, »stillen« Steinen erschwert. Die Häufigkeit von akuten Gallenbeschwerden wie Gallenkoliken oder Cholezystitiden scheint in der Schwangerschaft nicht erhöht zu sein, allerdings ist eine gewisse Häufung in der postpartalen Zeit zu beobachten. Symptomatische Gallensteine, die wegen der Heftigkeit ihrer Beschwerden einen operativen Eingriff erfordern, kommen in weniger als 0,1% aller Schwangerschaften vor.
Evaluation
16
Die klinischen Bilder der Gallenkolik ohne oder mit begleitender Cholezystitis sind oft nur schwer voneinander zu trennen. Schmerzen im Epigastrium oder im rechten Oberbauch, die in den Rücken bzw. in die Schulter ausstrahlen, sind ein relativ spezifisches Symptom für eine »blande« Gallenkolik. Eine eher uncharakteristische Schmerzsymptomatik, Übelkeit, Erbrechen, Fieber und laborchemische Entzündungszeichen deuten auf eine Cholezystitis hin.
Differenzialdiagnose Wichtig ist die Abklärung von anderen Ursachen, die eine ähnliche Symptomatik hervorrufen können (7 Übersicht). Differenzialdiagnose der Gallenkolik/Cholezystitis 4 4 4 4 6
Akute virale Hepatitis Akute alkoholische Hepatitis Duodenalulkus Akute Pankreatitis
4 4 4 4 4 4 4
Pulmonalembolie Basale Pneumonie Akuter Myokardinfarkt Akute Appendizitis Akute Schwangerschaftsfettleber Präeklampsie HELLP-Syndrom
Beim Auftreten eines Ikterus mit oder ohne Begleitsymptome einer akuten Gallenerkrankung muss an die Möglichkeit einer Choledocholithiasis gedacht werden. Insgesamt sind etwa 7% aller Fälle von Ikterus in der Schwangerschaft durch Gallensteine bedingt. Darüber hinaus sind Gallensteine die häufigste Ursache einer Pankreatitis in der Schwangerschaft, weil andere häufige Ursachen, v. a. Alkoholkonsum, selten sind. Die Schwangerschaft an sich stellt keinen prädisponierenden Faktor für eine Pankreatitis dar, wenngleich auch eine bereits bestehende Hyperlipidämie in der Schwangerschaft verstärkt werden und auf diese Weise zu einer Pankreatitis führen kann. Die Symptome der akuten Pankreatitis in der Schwangerschaft unterscheiden sich nicht von denen Nichtschwangerer. Schmerzen im Epigastrium oder linken Oberbauch, die in den Rücken ausstrahlen, Übelkeit, Erbrechen, mäßiges Fieber und Ileus lassen an die Diagnose einer Pankreatitis denken, die durch erhöhte Lipase- und Amylasewerte im Serum erhärtet wird. Differenzialdiagnostisch ist in der Schwangerschaft an die in der 7 Übersicht aufgelisteten Krankheitsbilder zu denken. Differenzialdiagnose der Pankreatitis in der Schwangerschaft 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Akute Cholezystitis Perforiertes Doudenalulkus Milzruptur Perinephritischer Abszess Akute kardiopulmonale Erkrankungen Akute Appendizitis Rupturierte Extrauteringravidität Hyperemesis gravidarum Präeklampsie
Weiterführende Diagnostik Die weiterführende Diagnostik von Gallenerkrankungen in der Schwangerschaft beschränkt sich in erster Linie auf Laborund Ultraschalluntersuchungen. Radiologische Untersuchungen wie Abdomenübersichtsaufnahmen, Cholezystogramme und endoskopisch-retrograde Cholangiopankreatikographien sind i. Allg. kontraindiziert.
Management Allgemein wird empfohlen, Gallenblasenerkrankungen in der Schwangerschaft konservativ zu behandeln. Die Therapie von Gallenkoliken beinhaltet analgetische und spasmolytische Maßnahmen, eine fettarme Diät und eine intravenöse anti-
297 16.10 · Maligne Erkrankungen
biotische Therapie bei Cholezystitis. Bei Patientinnen mit Pankreatitis wird eine stationäre Aufnahme mit Nahrungskarenz, Infusionstherapie und analgetischer Medikation bzw. in Fällen, die durch eine Hypertriglyzeridämie hervorgerufen wurden, eine spezifische enterale oder parenterale Ernährung empfohlen. Operative Maßnahmen werden nur bei unter konservativen Maßnahmen unverändert stark symptomatischen Erkrankungen, v. a. bei Fällen mit Choledocholithiasis und chologener Pankreatitis, in Erwägung gezogen. Der günstigste Zeitpunkt eines operativen Eingriffes ist das 2. Trimenon, da im 1. Trimenon die kindliche Mortalität bei chirurgischen Eingriffen mit etwa 5% angegeben wird. 4 Die laparoskopische Cholezystektomie hat sich bei unkomplizierteren Fällen bewährt, wenngleich bisher nur beschränkte Erfahrungswerte vorliegen. 4 Bei Choledocholithiasis hat die endoskopische Papillotomie mit Steinentfernung prognostische Vorteile gegenüber der offenen Cholezystektomie mit Gallengangsexploration gezeigt, da für diese klassische Methode, besonders bei Patientinnen mit Pankreatitis, eine hohe mütterliche und kindliche Mortalität von 15 bzw. 60% angegeben wurde.
16.10
Maligne Erkrankungen
Krebserkrankungen in der Schwangerschaft sind nicht selten. Sie zählen zu den häufigsten Todesursachen unter der Bevölkerungsgruppe von Frauen zwischen 15 und 34 Jahren. Insgesamt ist etwa eine von 1000 Schwangerschaften von einer malignen Erkrankung betroffen, wobei Zervix- und Mammakarzinome am häufigsten sind. Invasive Zervixkarzinome werden in der Schwangerschaft häufiger in früheren Stadien entdeckt. Bis zur Mitte des 2. Trimenons und bei höheren Stadien wird die Therapie in gleicher Weise wie bei Nichtschwangeren durchgeführt, wobei eine Konisation immer mit einer Cerclage erfolgen sollte. Ab der Mitte des 2. Trimenons wird im Stadium I unter genauer Abwägung der Risiken für die Mutter und der kindlichen Prognose ein abwartendes Management bis zum Erreichen der kindlichen Lebensfähigkeit empfohlen. Im Unterschied zum Zervixkarzinom wird das Mammakarzinom häufiger in einem fortgeschritteneren Stadium diagnostiziert. Bezogen auf das Tumorstadium ist die mütterliche Prognose durch die Schwangerschaft allerdings nicht verschlechtert. Verglichen mit der Normalbevölkerung sind Ovarialtumoren in der Schwangerschaft zu einem geringeren Anteil maligne; häufiger als in der Normalbevölkerung finden sich Keimzelltumoren, die oft in einem früheren Stadium entdeckt werden und dann prognostisch günstiger sind. Eine operative Sanierung wird für alle Ovarialtumoren mit einer Größe >6 cm, einem signifikanten soliden Anteil, bilateralem Auftreten oder einer Persistenz über die 14. SSW hinaus empfohlen. Phäochromozytome in der Schwangerschaft sind selten, haben aber wegen der Gefahr einer durch bereits geringe mechanische Belastungen entstehenden hypertensiven Krise eine ungünstige mütterliche und kindliche Prognose.
Bei Diagnose einer akuten Leukämie in der Schwangerschaft ist wegen der raschen Progredienz eine unverzügliche Therapie notwendig.
16.10.1
Invasives Zervixkarzinom
Das invasive Zervixkarzinom stellt mit einer Häufigkeit von etwa 1:1000 die häufigste Krebserkrankung in der Schwangerschaft dar. Im Vergleich zu Nichtschwangeren finden sich häufiger Karzinome in früheren Stadien (was auf das zuverlässigere Screening in der Schwangerschaft zurückzuführen ist). Die therapeutischen Überlegungen gehen davon aus, auf operative Eingriffe möglichst zu verzichten. Tipp Bei pathologischen zytologischen Befunden wird zunächst eine Kolposkopie und, falls nicht sowohl der zytologische als auch der kolposkopische Befund eine nur leichte Dysplasie anzeigen, eine Biopsie empfohlen, um das Ausmaß einer evtl. vorhandenen Invasion festzustellen. Bei fehlender Invasion sind engmaschige zytologische und kolposkopische Kontrollen für die restliche Schwangerschaft vorgesehen. Liegt ein mikroinvasives Karzinom vor, so sollte eine Konisation mit einer Cerclage durchgeführt werden, um auf diese Weise die Gefahr einer stärkeren Nachblutung bzw. einer postoperativen Chorioamnionitis zu vermindern.
Das invasive Zervixkarzinom wird bis zur Mitte des 2. Trimenons genauso wie bei Nichtschwangeren behandelt. Ab der Mitte des 2. Trimenons wird bei Vorliegen eines Stadiums IA (evtl. auch IB) ein abwartendes Management bis zum Erreichen der kindlichen Lebensfähigkeit empfohlen. Ab dem Stadium II kann bei der Behandlung keine Rücksicht auf die Schwangerschaft genommen werden. Diese Entscheidung kann natürlich nur im Einzelfall und unter genauer Abwägung der mütterlichen Risiken und der kindlichen Prognose getroffen werden. Für die mütterliche Prognose dürften, sowohl hinsichtlich des Einflusses der Schwangerschaft auf das Tumorwachstum als auch hinsichtlich des abwartenden Managements im 3. Trimenon, keine Unterschiede zu Nichtschwangeren bestehen. Auch die kindliche Prognose erscheint, abgesehen von Fällen, in denen eine Radikaloperation durchgeführt werden muss, durch die Erkrankung nicht verschlechtert. Eine vaginale Geburt ist bei allen nicht bzw. mikroinvasiven Karzinomen (nach Konisation im Gesunden) anzustreben. In allen anderen Fällen erscheint wegen Fallberichten über das Auftreten von Tumorzellimplantationen in Episiotomiewunden nach einer vaginalen Entbindung eine primäre Sectio sinnvoll.
16
298
Kapitel 16 · Erkrankungen und Risikofaktoren in der Schwangerschaft
16.10.2
Mammakarzinom
Mit einer Häufigkeit von 1:3000–1:10.000 ist das Mammakarzinom die zweithäufigste maligne Erkrankung in der Schwangerschaft. Im Unterschied zum Zervixkarzinom wird das Mammakarzinom in der Schwangerschaft häufiger in einem fortgeschritteneren Stadium entdeckt. Dies dürfte auf die schlechtere palpatorische Abgrenzbarkeit von Tumorknoten und die geringere Sensitivität der Mammographie durch die in der Schwangerschaft verstärkte Ödembildung und Hyperämie des Brustgewebes zurückzuführen sein. Aus dieser Tatsache ist aber auch die Konsequenz zu ziehen, dass bei suspekten Befunden auch in der Schwangerschaft die Diagnosesicherung, v. a. mit ultraschallgesteuerten Feinnadelbiopsien, nicht verzögert werden soll. > Bezogen auf das Tumorstadium ist die mütterliche Prognose durch die Schwangerschaft nicht verschlechtert, und es wurde auch keine Progression der Erkrankung durch die hormonelle Umstellung in der Schwangerschaft nachgewiesen (Antonelli et al. 1996). Eine Erklärung dafür ist, dass die meisten Mammakarzinome in der Schwangerschaft hormonrezeptornegativ sind.
16
Eine chirurgische Sanierung ist die Therapie der 1. Wahl. Eine Bestrahlungstherapie in der Schwangerschaft wird wegen der hohen fetalen Strahlenbelastung nicht empfohlen und kann ohne Verschlechterung der mütterlichen Prognose meistens bis nach Ende der Schwangerschaft verschoben werden. Das gleiche Prinzip gilt auch für eine adjuvante antihormonelle Therapie. Die Auswirkungen einer Chemotherapie auf den Fetus werden bei den Leukämien besprochen (7 Kap. 16.10.5). Abgesehen von den Auswirkungen der Therapie kommt es zu einem vermehrten Auftreten von Frühgeburten und Kindern mit niedrigem Geburtsgewicht. Einer Schwangerschaft nach vorangegangenem Mammakarzinom ist grundsätzlich nichts entgegenzustellen. Idealerweise sollte ein Zeitraum von mindestens 2 Jahren nach der Diagnose bis zum Eintritt der Schwangerschaft eingehalten werden, da die meisten Rezidive innerhalb dieses Zeitraums auftreten.
der Abklärung eines akuten Abdomens entdeckt, weitere 15% als Zufallsbefund bei einer Schnittentbindung. Tipp Eine operative Sanierung wird nach allgemeinen Empfehlungen für alle Ovarialtumoren mit einer Größe >6 cm, einem signifikanten soliden Anteil, bilateralem Auftreten oder einer Persistenz über die 14. SSW hinaus empfohlen.
Wegen der erhöhten Gefahr eines akuten Eingriffs durch Torsion von Ovarialtumoren und einer damit verbundenen erhöhten fetalen Mortalität wird in den oben beschriebenen Fällen kein abwartendes Management empfohlen.
16.10.4
Obwohl bisher nur 200 Fälle von Phäochromozytomen in der Schwangerschaft in der Literatur beschrieben worden sind, sind sie wegen der Ähnlichkeit des klinischen Bildes mit hypertensiven Schwangerschaftserkrankungen wichtig. Schon durch geringe mechanische Belastungen wie abrupte Bewegungen oder Wehentätigkeit kann es zu einer plötzlichen Ausschüttung von Katecholaminen kommen. Obwohl die mütterliche Mortalität der hypertensiven Krisen von 50% auf 17% gesenkt werden konnte, bleibt die kindliche Prognose wegen der gleichzeitigen Minderperfusion der Plazenta mit einer Mortalität von 26% und einem vermehrten Auftreten von Wachstumsrestriktionen weiterhin ungünstig. Tipp Die optimale Therapie von Phäochromozytomen ist umstritten. Von den meisten Autoren wird bis zum 2. Trimenon eine operative Sanierung und im 3. Trimenon eine medikamentöse Therapie mit α-und β-Blockern empfohlen. Präventiv ist bei Verdacht des Vorliegens eines Phäochromozytoms die Indikation zu einer diagnostischen Abklärung mittels MRT großzügig zu stellen.
16.10.5 16.10.3
Ovarialkarzinom
Ovarialkarzinome treten mit einer Häufigkeit von etwa 1:10.000 in Schwangerschaften auf. Nur 2–5% aller in der Schwangerschaft entdeckten Ovarialtumoren sind Malignome, verglichen mit einem Anteil von 15–20% in der Normalbevölkerung. Aufgrund der Altersstruktur ist mit einem häufigeren Auftreten von Keimzelltumoren zu rechnen. Diese werden öfter in einem früheren Stadium entdeckt und sind daher prognostisch günstiger. Wegen der anatomischen Veränderungen, die mit einer erhöhten Mobilität des Ovars in der Schwangerschaft einhergehen, werden etwa 25% der Ovarialkarzinome im Rahmen
Phäochromozytom
Leukämien
Leukämien treten in etwa einer von 75.000 Schwangerschaften auf (ungefähr 60% akute myeloische, 30% akute lymphatische und 10% chronisch-myeloische Leukämien). Die Diagnose einer akuten Leukämie ist wegen der Notwendigkeit einer unverzüglichen Therapie wichtig, da die mittlere Überlebensrate ohne Behandlung in der Normalbevölkerung mit 2 Monaten angegeben wird. Daher kann bei akuten Leukämien nur in Ausnahmefällen mit der Behandlung bis nach der Geburt gewartet werden. Demgegenüber zeichnen sich chronisch-myeloische Leukämien durch eine geringere Progredienz aus. Ein abwartendes Management bis zum Erreichen der Lebensfähigkeit des Fetus scheint gerechtfertigt.
299 16.11 · Erhöhtes mütterliches Lebensalter und Schwangerschaft
Insgesamt dürfte die Prognose der Mutter mit jener von Nichtschwangeren bei durchgeführter intensiver Chemotherapie vergleichbar sein. Die Prognose des Kindes ist mit einer Mortalität von etwa 10% und einer Frühgeburtsrate von etwa 30–40% ungünstig. Daneben kommt es zu einem gehäuften Auftreten von Kindern mit niedrigem Geburtsgewicht, Panzytopenien oder Neoplasien. Das Risiko von fetalen Fehlbildungen wird im 1. Trimenon mit 25% bei kombinierten und mit 17% bei einfachen Chemotherapien angegeben, wobei dieser Prozentsatz sich nach Ausschluss von Patientinnen mit Bestrahlungs- oder Chemotherapie mit Folsäureantagonisten auf 6% verringert. Im 1. Trimenon ist daher auch immer an einen Schwangerschaftsabbruch zu denken. Im 2. und 3. Trimenon ist mit keiner erhöhten Fehlbildungsrate mehr zu rechnen. > Das Langzeitergebnis von überlebenden Kindern dürfte in erster Linie durch Spätfolgen der Frühgeburtlichkeit, aber nicht durch die Therapiefolgen bestimmt sein. Unter Chemotherapie ist ein Abstillen grundsätzlich erforderlich.
16.11
Erhöhtes mütterliches Lebensalter und Schwangerschaft
Der Anteil von Schwangeren mit einem Alter von >35 Jahren hat stark zugenommen. Als Ursachen sind sozioökonomische Faktoren, die Berufsplanung sowie die Reproduktionsmedizin anzuführen. Der höhere Anteil von Chromosomenanomalien ist seit langen bekannt. Über den Anteil von weiteren Risikofaktoren (perinatale Mortalität, Präeklampsie, Fruchttod, Gestationsdiabetes, operative Entbindungsrisiken) gibt es in der Literatur unterschiedliche Angaben. In der Beratung der Schwangeren ist hervorzuheben, dass ein erhöhtes Risiko von Fehlgeburten und Chromosomenanomalien besteht. Bei primär gesunden Schwangeren ist jedoch bei entsprechender Schwangerenbetreuung mit einem guten Ausgang der Schwangerschaft zu rechnen.
Erhöhtes mütterliches Alter Ein erhöhtes Risiko wird ab einem Alter der Schwangeren von >35 Jahren angenommen (Cleary-Goldman et al. 2005). Der Grenzwert von 35 Jahren gilt daher als Grenze für eine differenzierte genetische Beratung. Für eine individuelle Beratung ist eine Einteilung in 4 Altersgruppen sinnvoll: 4 Altersgruppe ≥35 Jahre, 4 Altersgruppe ≥40 Jahre, 4 Altersgruppe ≥45 Jahre, 4 Altersgruppe Menopause (ausschließlich durch Reproduktionsmedizin).
Epidemiologie In den letzten 30 Jahren hat der Anteil von Schwangeren >35 Jahren in den westlichen Industrienationen von ca. 5% auf bis zu 20% zugenommen (Martin et al. 2002). Das durch-
schnittliche Alter der Schwangeren in Deutschland liegt derzeit bei 30 Jahren mit einer durchschnittlichen Kinderzahl von 1,3. Derzeit nimmt bei sinkenden Geburtenzahlen der Anteil der schwangeren Frauen mit einem Alter >35 Jahren weiterhin zu. Ursachen für das zunehmende Alter bei der ersten Schwangerschaft sind die Planbarkeit der Schwangerschaft aufgrund einer zuverlässigen Schwangerschaftsverhütung sowie die meist lange Ausbildungszeit bis zur Berufsfähigkeit. Die besseren beruflichen Karrierechancen und finanzielle Vorteile bei Kinderlosigkeit führen dazu, dass sich Frauen zunehmend erst im höheren Lebensalter für eine Schwangerschaft entscheiden. Ein weiterer Faktor ergibt sich aufgrund von reproduktionstechnischen Maßnahmen, die auch bei höherem Lebensalter zu einer Zunahme von Schwangerschaften führen.
Bedeutung für Mutter und Fetus Fetale Risikofaktoren ergeben sich aus der Zunahme von Chromosomenanomalien mit steigendem Alter. Eine Zunahme von Frühgeburten, Wachstumsrestriktionen oder makrosomen Feten ist v. a. bei Schwangeren mit einem Lebensalter >40 Jahre zu verzeichnen. Maternale Risikofaktoren sind ein vermehrtes Auftreten von Fehlgeburten, eine Zunahme des Gestationsdiabetes, eine erhöhte Rate von Fällen mit Placenta praevia sowie ein erhöhtes Risiko für vorzeitige Plazentalösung. Es ist kein bestimmtes Alterslimit als Grenze anzusehen, sondern es handelt sich um eine kontinuierliche Zunahme der Komplikationen mit steigendem Lebensalter.
Management Für die klinische Betreuung ist eine Einteilung in verschiedene Altersgruppen sinnvoll:
Gruppe 1: Alter ≥35 Jahre In der Altersgruppe zwischen 35 und 40 Jahren ist eine differenzierte Beratung und Abklärung von Chromosomenanomalien (auch aus forensischen Gründen) durchzuführen. In dieser Gruppe ist mit einer geringen Zunahme von Fehlgeburten zu rechnen. Bei gesunden Schwangeren sind jedoch keine zusätzlichen Untersuchungen außerhalb der Mutterschafts-Richtlinien erforderlich. Ein oraler Glukosetoleranztest sollte auf jeden Fall durchgeführt werden. Spezielle Aspekte bei der Geburt. Das Vorgehen unterschei-
det sich nicht von Schwangeren aus der Altersgruppe unter 35 Jahren. Die in der Literatur wiederholt festgestellte Zunahme der operativen Entbindungsrate wird wesentlich von einem starken Sicherheitsbedürfnis von Schwangeren und dem betreuenden Personal (Arzt und Hebamme) mitbeeinflusst.
Gruppe 2: Alter ≥40 Jahre Die Durchführung der pränatalen Diagnostik erfolgt individuell. Da das Risiko von Chromosomenanomalien deutlich erhöht ist, erfolgt die Abklärung meist durch einen invasiven Eingriff. Durch die Möglichkeit der Nackentransparenzmessung und einer differenzierten Ultraschalluntersuchung ist eine Alternative zur risikoreichen invasiven Diagnostik,
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300
Kapitel 16 · Erkrankungen und Risikofaktoren in der Schwangerschaft
wenngleich mit geringerer diagnostischer Zuverlässigkeit, gegeben. Wesentliche Risikofaktoren sind bereits vorhandene Grunderkrankungen (Hypertonie, Nierenerkrankungen, Zustand nach Nierentransplantation, Diabetes mellitus, Uterus myomatosus). Bei primär gesunden Schwangeren ist mit einem erhöhten Risiko für Frühgeburtlichkeit, Präeklampsie und Gestationsdiabetes zu rechnen. Die Daten in der Literatur sind dazu jedoch widersprüchlich. Die Betreuung während der Schwangerschaft sollte intensiviert werden. Durch die frühzeitige Erfassung von Feten mit Wachstumsrestriktion (fetomaternale Dopplersonographie) kann die Rate von intrauterinen Fruchttoden vermindert werden. Ab 38 SSW sollte eine wöchentliche Kontrolle erfolgen, da unvorhersehbare intrauterine Fruchttode in dieser Gruppe gehäuft beobachtet werden. Eine Geburtsterminüberschreitung von >1 Woche sollte vermieden werden.
schaft einen positiven Einfluss auf den folgenden Schwangerschaftsverlauf. Während der Schwangerschaft soll zwar keine Gewichtsreduktion angestrebt werden, eine übermäßige Gewichtszunahme soll jedoch vermieden werden. Adipositas Für die Klassifizierung des Körpergewichtes wird anhand des Body-Mass-Index (BMI) durchgeführt. Die Berechnung erfolgt durch Division des Körpergewichtes in kg durch die Körpergröße in cm zum Quadrat: 4 BMI = Körpergewicht [kg]/Körpergröße [cm2] Der Wert ist etwas ungenau, da er die individuelle Zusammensetzung des Körpergewichtes (Fett-/Muskelgewebe) nicht berücksichtigt. Adipositas ist definiert als ein BMI-Wert ≥30 kg/m2.
Spezielle Aspekte bei der Geburt. Die Sectiofrequenz liegt
bei etwa 50%, da neben medizinischen Indikationen auch der meist langgehegte Kinderwunsch, vielfach nach reproduktionsmedizinischen Maßnahmen, Anlass für eine Sectio darstellt (Scholz et al. 1999; Berkowitz et al. 1990). Bei komplikationslosen Schwangerschaftsverläufen kann mit Einverständnis der Schwangeren jedoch eine vaginale Entbindung angestrebt werden (Callaway et al. 2005).
Die Prävalenz der Adipositas während der Schwangerschaft beträgt in Abhängigkeit von der untersuchten Population zwischen 6 und 28%. Die Zunahme der Adipositas in der Gesamtpopulation hat verständlicherweise auch zu einer Zunahme der Prävalenz während der Schwangerschaft geführt.
16.12.1
Gruppe 3: Alter ≥45 Jahre Der Anteil von Schwangerschaften, die >20 SSW bestehen, ist aufgrund der hohen Fehlgeburtsrate sehr gering. Die Risikofaktoren in der Spätschwangerschaft bestehen in erster Linie in der Entwicklung einer Präeklampsie mit fetaler Wachstumsrestriktion. Zusätzliche Probleme entstehen v. a. durch den höheren Anteil von bereits vorbestehenden Erkrankungen. Sind Chromsomenstörungen ausgeschlossen und handelt es sich um gesunde Frauen, so ist jedoch auch in dieser Altersgruppe von einem zufriedenstellenden Schwangerschaftsausgang, bei jedoch hoher operativer Entbindungsrate, auszugehen.
16
Gruppe 4: Schwangerschaft bei Frauen in der Menopause Aufgrund der geringen Fallzahlen ist eine zuverlässige Aussage über die Risiken noch kaum möglich, und die Schwangerschaften sind als medizinisches Experiment mit unsicherem Ausgang für Mutter und Kind zu betrachten.
16.12
Adipositas und Schwangerschaft
Adipositas während der Schwangerschaft ist mit einer Vielzahl von perinatalen Komplikationen assoziiert. In vielen Fällen ist es jedoch schwierig zu unterscheiden, inwieweit die Adipositas direkt für die Krankheitsfolgen verantwortlich ist, oder ob Begleiterkrankungen (Diabetes mellitus, Hypertonie) für die Schwangerschaftskomplikationen verantwortlich sind. Auf jeden Fall hat aber eine Gewichtsreduktion (Ernährungsumstellung, Bewegungstherapie) vor der Schwanger-
Fertilität und Adipositas
In den meisten Studien zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Subfertilität und Adipositas. Die Ursache ist meist Folge einer ovariellen Dysfunktion, in vielen Fällen im Zusammenhang mit einem polyzystischen Ovarialsyndrom (PCOS). Außerdem besteht eine erniedrigte Schwangerschaftsrate nach IVF bei Adipositas. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass neben ovariellen Problemen zusätzlich Implantationsstörungen gehäuft auftreten. Eine Gewichtsreduktion allein führt daher bereits zu einer Erhöhung der Fertilitätsraten. Der Einfluss von Stoffwechselparametern auf die Fertilität wird auch durch die Behandlung bei Adipositas und PCOS mit Metformin belegt, da durch die alleinige Stoffwechseloptimierung Ovulationen ausgelöst werden können.
16.12.2
Risiken während der Schwangerschaft
Gestationsdiabetes und Adipositas Das Risiko eines Gestationsdiabetes ist bei Adipositas signifikant erhöht (6–12% vs. 2–4% im Normkollektiv); es ist zusätzlich von der Schwere der Adipositas abhängig (Ehrenberg et al. 2002). Die Durchführung eines oralen Glukosebelastungstests ist daher bereits im 1. Trimenon zu empfehlen. Das erhöhte Risiko wird durch eine erhöhte Insulinresistenz verursacht. Auch wenn sich die Blutzuckerwerte nach der Geburt meist wieder normalisieren, so besteht für diese Frauen ein mehrfach erhöhtes Risiko. später einen Typ-2-Diabetes zu entwickeln.
301 16.12 · Adipositas und Schwangerschaft
Frühgeburtlichkeit
Makrosomie
Die erhöhte Frühgeburtenrate wird anhand von verschiedenen Studien hauptsächlich durch adipositasassoziierte Faktoren verursacht (Sebire et al. 2001). Eine Prävention der Frühgeburtlichkeit wird daher in erster Linie durch adäquate Behandlung der Begleiterkrankungen (Präeklampsie, Diabetes mellitus) ermöglicht. In einer Studie von Baeten et al. (2001) wird jedoch auch nach Ausschluss von Fällen mit Hypertonie und Diabetes mellitus bei einem BMI ≥30 weiterhin eine erhöhte Rate von Frühgeburten 1000 ml, einer erhöhten Rate von Notfallsectiones besteht zusätzlich zu einer verlängerten Operationsdauer eine erhöhte Wundinfektion (inkl. Endometritis) bei erhöhtem Thromboserisiko (Perlow u. Morgan 1994, Sebire et al. 2001). Bei Zustand nach Sectio ist die Wahrscheinlichkeit einer vaginalen Geburt bei Adipositas deutlich vermindert. In einer Studie von Hibbard (et al. 2006) betrug die sekundäre Sectiorate bei Normalgewichtigen 15%, bei mäßigem Übergewicht 30% und bei massiver Adipositas 39%. Auch die Rate von Narbendehiszenzen oder Uterusrupturen war bei Adipositas signifikant erhöht (0,9 vs. 2,1%).
Anästhesiologische Risiken Im Vergleich zu normalgewichtigen Schwangeren besteht eine höhere Versagensrate beim Legen einer Periduralanästhesie (6% vs. 42%). Auch das Risiko einer erschwerten Intubation ist erhöht (Soens et al. 2008).
Geburtstrauma Die Häufigkeit von Geburtsverletzungen, postpartalen Blutungen und höhergradigen Dammrissen ist bei der ersten Geburt erhöht. Bei einer weiteren Geburt besteht für diese Risiken trotz Adipositas kein erhöhtes Risiko (Sebire et al. 2001). Das Risiko für eine Schultderdystokie ist sowohl durch die meist vorhandene fetale Makrosomie als auch unabhängig davon durch die Adipositas signifikant erhöht (Jensen et al. 2003).
16
302
Kapitel 16 · Erkrankungen und Risikofaktoren in der Schwangerschaft
16.12.4
Postpartale Komplikationen
Der stationäre Aufenthalt nach der Geburt ist bei Adipositas deutlich verlängert. Ein stationärer Aufenthalt von mehr als 5 Tagen nach Spontangeburt beträgt in einer Studie von Perlow u. Morgan (1994) bei einem maternalen Normalgewicht 2% im Vergleich zu 35% bei Adipositas. Auch nach einer Sectio ist der stationäre Aufenthalt im Vergleich zu einem Normalkollektiv verlängert (7,3±5,0 vs. 5,4±3,1 Tage; Hood u. Dewan 1993).
Infektion im Wochenbett Unabhängig vom Entbindungsmodus besteht ein höheres Risiko für Wundinfektionen (Dammverletzungen, Episiotomie, Sectionarbe) und eine Endomyometritis. Das Infektionsrisiko bleibt auch nach Antibiotikaprophylaxe bestehen (Myles et al. 2002; Robinson et al. 2005).
Postpartale Blutung Der Zusammenhang zwischen Adipositas und verstärkter postpartaler Blutung wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Große Kohortenstudien (Sebire et al. 2001) finden jedoch eine signifikant höhere Blutungsrate bei einem BMI >30 kg/m2 (OR 1,44, 95% CI 130–1,60). Tipp Eine Gewichtsreduktion bereits vor dem Eintritt der Schwangerschaft ist aus zahlreichen medizinischen Gründen anzustreben. Gelingt dies nicht, dann ist durch eine risikoadaptierte Betreuung während der Schwangerschaft und intrapartal eine Reduzierung der aufgeführten Risiken anzustreben.
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17 17 Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen L. Raio, M. Baumann, H. Schneider 17.1
Allgemeine Grundlagen – 307
17.1.1 17.1.2
Normales Blutdruckverhalten in der Schwangerschaft – 307 Messung des Blutdrucks in der Schwangerschaft – 307
17.2
Inzidenz, Klassifizierung und Bedeutung der Hypertonie in der Schwangerschaft – 308
17.2.1 17.2.2 17.2.3
Chronische Hypertonie – 308 Gestationshypertonie – 309 Management – 309
17.3
Präeklampsie – 313
17.3.1 17.3.2 17.3.3 17.3.4 17.3.5 17.3.6 17.3.7 17.3.8
Ätiologie und Pathogenese – 313 Auswirkungen – 315 Diagnose – 317 Schweregrad und Verlauf – 318 Management – 318 Wiederholungsrisiko und Langzeitprognose – 323 Psychosoziale Folgen – 324 Screening und Prävention – 324
17.4
Eklampsie – 327
17.4.1 17.4.2 17.4.3 17.4.4 17.4.5
Pathogenese – 327 Inzidenz und Risikofaktoren – 327 Auftreten und Prodromalsymptome – 328 Bedeutung für Mutter und Kind – 328 Management – 328
17.5
HELLP-Syndrom – 329
17.5.1 17.5.2 17.5.3 17.5.4 17.5.5
Pathophysiologie – 329 Bedeutung für Mutter und Kind – 329 Klinische Symptome und Diagnose – 330 Management – 331 Wiederholungsrisiko – 332
H. Schneider et al. (eds.), Die Geburtshilfe © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
17.6
Akute Schwangerschaftsfettleber – 332
17.6.1 17.6.2 17.6.3 17.6.4 17.6.5 17.6.6
Epidemiologie und Pathogenese – 332 Klinische Symptome und Verlauf – 332 Laborbefunde – 333 Diagnose – 333 Management – 334 Wiederholungsrisiko – 334
17.7
Antiphospholipidsyndrom – 334
17.7.1
Therapie – 335
17.8
Folgeuntersuchungen – 336 Literatur – 337
307 17.1 · Allgemeine Grundlagen
Der arterielle Blutdruck zeigt bei schwangeren Frauen eine ähnlich kontinuierliche Verteilung der Werte wie in der nichtschwangeren Population. Der Grenzwert zwischen normo- und hypertonem Blutdruck in der Schwangerschaft wurde arbiträr festgelegt und unterteilt eine Population quantitativ, aber nicht qualitativ. Für den klinischen Gebrauch hat sich eine Klassifizierung der hypertensiven Schwangerschaftserkrankungen bewährt, die zwischen chronischer und schwangerschaftsinduzierter Hypertonie oder Gestationshypertonie, Präeklampsie und Pfropfpräeklampsie unterscheidet. Eine vorbestehende, chronische Hypertonie wird definiert als ein systolischer Blutdruck ≥140 mm Hg und/oder diastolischer Blutdruck ≥90 mm Hg vor der 20. SSW oder erhöhte Blutdruckwerte, die länger als 3 Monate postpartal persistieren. Die Blutdruckgrenzwerte, die eine schwangerschaftsinduzierte Hypertonie klassifizieren, sind identisch mit denen bei der chronischen Hypertonie. Bei der Gestationshypertonie wird im Gegensatz zur chronischen Hypertonie eine Blutdruckerhöhung erst nach der 20. SSW manifest. Von einer schweren Hypertonie wird gesprochen, wenn die Blutdruckwerte systolisch auf ≥160 mm Hg und/oder diastolisch auf ≥110 mm Hg ansteigen. Tritt nach der 20. SSW neben einer chronischen Hypertonie oder Gestationshypertonie zusätzlich eine signifikante Proteinurie auf, spricht man von einer Pfropfpräeklampsie bzw. von einer Präeklampsie. Die Höhe des Blutdrucks, der Schweregrad der Proteinurie, das HELLP-Syndrom als charakteristische Laborauffälligkeit oder generalisierte tonisch-klonische Krämpfe im Rahmen einer Eklampsie können zu einer deutlichen Verschlechterung des mütterlichen und kindlichen Outcomes führen und definieren die schwere Variante einer Präeklampsie. Je früher eine Präeklampsie auftritt, desto schwerer ist in der Regel ihr Verlauf. Eine kausale Therapie hypertensiver Schwangerschaftserkrankungen und im Speziellen einer Präeklampsie exsistieren bislang nicht. Mittels einer medikamentösen antihypertensiven Behandlung der Hypertonie kann das Risiko der Entwicklung einer schweren Hypertonie mit potenziell schweren mütterlichen Folgekomplikationen wie zerebrovasuklärer Insult, Herz- und Nierenversagen reduziert werden; die Prävalenz einer Präeklampsie wird dadurch jedoch nicht gesenkt. Ein besonderes klinisches Dilemma stellt die Behandlung der frühen, schweren Präeklampsie dar: Es gilt, zwischen dem Wohl der Mutter und jenem des Kindes abzuwägen und das Management anzupassen. Zurzeit ist die Beendigung der Schwangerschaft innerhalb von 24–48 h nach erfolgter Stabilisierung der Mutter, Eklampsieprophylaxe mittels intravenöser Magnesiumsulfatbehandlung und einer fetalen Lungenreifeinduktion mit Glukokortikoiden nach wie vor das Standardverfahren, insbesondere jenseits der 32. SSW. Zwischen der 24. und 32. SSW kann ein länger dauerndes konservatives Management unter intensiver Überwachung von Mutter und Kind zwecks Reduktion fetaler Mortalität und Morbidität erwogen werden. Störungen der Gerinnung und der hepatischen Funktion, wie dies beim HELLP-Syndrom der Fall ist, können die Situation zusätzlich komplizieren und zu einem rascheren Eingreifen zwingen. Modulierend auf das Management wirkt sich auch der fetale Zustand aus, da insbesondere eine schwere, frühe Präeklampsie oft mit einer Plazentainsuffizenz mit konsekutiver fetaler Wachstumsrestriktion vergesellschaftet ist.
Untersuchungen konnten zeigen, dass sowohl Frauen mit Zustand nach Präeklampsie ein höheres Risiko bezüglich späterer kardiovasuklärer Krankheiten aufweisen als auch untergewichtige Kinder negativ durch die Geschehnisse in utero beeinflusst werden. Die betroffenen Frauen (und Kinder) sollten langfristig in regelmäßigen Abständen geziehlt auf Herz-KreislaufErkrankungen untersucht werden und gegebenenfalls im Hinblick auf eine nächste Schwangerschaft beraten werden. Die Ansätze zur Früherkennung durch neue, auf einem verbesserten Verständnis der Pathogenese der Präeklampsie basierende Screeninguntersuchungen sind vielversprechend. Allerdings konnte bislang für keines der verschiedenen Programme für eine sekundäre Prophylaxe der Präeklampsie ein klarer Nutzen gezeigt werden. Die Behandlung mit Low-dose-Aspirin und Kalzium ab der Frühschwangerschaft scheint in speziellen Patientinnenkollektiven das Präeklampsierisiko zu reduzieren und sollte bei Zustand nach schwerer Präeklampsie empfohlen werden. Des Weiteren sollten Frauen mit Risikofaktoren wie z. B. Hypertonie, Adipositas, Diabetes mellitus und Krankheiten aus dem rheumatologischen Formenkreis einer kompetenten präkonzeptionellen Beratung zugewiesen werden.
17.1
Allgemeine Grundlagen
Hypertonie in der Schwangerschaft Die Hypertonie in der Schwangerschaft ist definiert durch Blutdruckwerte von systolisch ≥140 mm Hg und diastolisch ≥90 mm Hg. Bei Blutdruckwerten von systolisch ≥160 mm Hg und diastolisch ≥110 mm Hg spricht man von einer schweren Hypertonie.
17.1.1
Normales Blutdruckverhalten in der Schwangerschaft
Der Blutdruck ist direkt proportional zum systemischen Gefäßwiderstand und der Herzleistung. Die periphere Vasodilatation stellt die primäre schwangerschaftspezifische Kreislaufveränderung dar. Der kontinuierliche Abfall des Afterloads und des Preloads bewirkt eine kompensatorische Zunahme der Herzleistung um 40–50% und eine komplexe Aktivierung volumenregulierender Mechanismen (Renin-AngiotensinAldosteron-System). Die Trägheit des Systems führt aber initial dazu, dass der Blutdruck in der ersten Hälfte der Schwangerschaft kontinuierlich abfällt. Ab dem 3. Trimenon steigt er wieder an und erreicht gegen den Termin hin Ausgangswerte. Nach der Geburt fällt der Blutdruck in der Regel ab, kann aber auch langsam wieder ansteigen (Duvekot 1993).
17.1.2
Messung des Blutdrucks in der Schwangerschaft
Vor über 100 Jahren haben Briggs und Cook erstmals die Sphyngomanometrie nach Riva-Rocci zur Blutdruckmessung in der Schwangerschaft eingesetzt (Cook 1903). Seither ist dieses Verfahren der am häufigsten verwendete Screeningtest
17
308
Kapitel 17 · Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
in der Schwangerschaft. Falsch hohe Blutdruckwerte sind bedingt durch Messfehler oder inadäquate Blutdruckmessgeräte, andererseits aber auch durch persistierend erhöhte Blutdruckwerte ausschließlich in der Arztpraxis oder im Krankenhaus. Von einer sog. »Weißkittelhypertonie« sind bis 30% der jungen Frauen betroffen, und sie stellt eine wichtige Differenzialdiagnose dar, da sie in der Regel mit einem günstigeren Outcome assoziiert zu sein scheint (Bellomo et al. 1999). Neben der selbstständigen Blutdruckmessung zu Hause mit für die Schwangerschaft zugelassenen Blutdruckmessgeräten kann auch mit einer 24-h-Blutdruckmessung eine solche Weißkittelhypertonie identifiziert werden (Higgins u. de Swiet 2001). Viele Fachgesellschaften haben Richtlinien erstellt, um Fehler bei der konventionellen Blutdruckmessung zu minimieren (7 Übersicht). Standardisierte Blutdruckmessung in der Schwangerschaft. (Nach O’Brian et al. 2005) 4 Sitzende Position, Lagerung des Armes auf Niveau des Herzens 4 Ruhephase von mindestens 5 min vor der Messung 4 Korrekte Breite und Länge der Blutdruckmanschette (16×36 cm bei einem Armumfang > 34 cm) 4 Erfassung des systolischen Blutdruckwertes bei Korotkoff-Phase I (Auftreten des Strömungsgeräuschs) 4 Erfassung des diastolischen Blutdruckwerts beim Verschwinden des Strömungsgeräusches (KorotkoffPhase V) 4 Bestätigung erhöhter Werte durch eine 2. Messung im Abstand von mind. 4 h 4 Messung des Blutdrucks jeweils am gleichen Arm, vorzugsweise rechts (falls die Seitendifferenz nicht zu stark variert)
17.2
17
Inzidenz, Klassifizierung und Bedeutung der Hypertonie in der Schwangerschaft
Hypertone Blutdruckwerte finden sich gemäß den Angaben der ACOG (2002) bei 12–22% aller Schwangerschaften. Weltweit beträgt die Häufigkeit der Präeklampsie 3–14%, in den USA 5–8%. In 75% der Fälle wird die Präeklampsie als leicht und in 25% als schwer eingestuft. In 10% der Fälle tritt sie vor der 34. SSW auf. Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen stehen in vielen Ländern an führender Stelle der mütterlichen Todesursachen und sind für 20–25% der perinatalen Morbidität und Mortalität verantwortlich (Ounsted el al. 1988; Moddley 2008; Steiner et al. 1989; Khan et al. 2006). Für den klinischen Gebrauch hat sich die in . Tab. 17.1 dargestellte Klassifizierung der Hypertonie in der Schwangerschaft bewährt, die auf einer Empfehlung des National Institutes of Health (2000) basiert (modifiziert nach Leitlinien der DGGG 2008; AWMF 2008).
. Tab. 17.1. Einteilung der hypertensiven Erkrankungen in der Schwangerschaft
Hypertensive Erkrankung
Klassifizierung
Chronische Hypertonie 4 primäre 4 sekundäre
Erhöhte Blutdruckwerte vor der 20. SSW, vorbestehend oder post partum >12 Wochen persistierend.
Gestationshypertonie
Erhöhte Blutdruckwerte nach der 20. SSW ohne Proteinurie. Bei Normalisierung der Werte bis 12 Wochen post partum spricht man von transienter Hypertonie, bei Persistieren >12 Wochen von chronischer Hypertonie.
Nichtproteinurische Präeklampsie
Hypertonie nach der 20. SSW ohne Proteinurie, aber mit fetaler Wachstumsrestriktion, HELLP-Syndrom oder Niereninsuffizienz.
Präeklampsie
Neuauftreten von erhöhten Blutdruckwerten und Proteinurie nach der 20. SSW (leichte und schwere Form).
Pfropfpräeklampsie
Chronische Hypertonie mit Neuauftreten einer Proteinurie nach der 20. SSW. Exazerbation der Hypertonie oder Proteinurie in der 2. Schwangerschaftshälfte bei chronischer Hypertonie und vorbestehender Proteinurie.
17.2.1
Chronische Hypertonie
Eine chronische Hypertonie wird in 1–5% der Schwangerschaften angetroffen. Die Rate ist höher bei älteren und bei übergewichtigen Schwangeren. Häufig besteht eine familiäre Disposition. Wie im nichtschwangeren Kollektiv wird die chronische Hypetonie eingeteilt in eine primäre oder essenzielle Form (90–95%) und in sekundäre Formen (5–10%; 7 Übersicht). Wichtig für die Diagnosestellung einer chronischen Hypertonie ist die Kenntinis des präkonzeptionellen Ausgangswerts. Der schwangerschaftsbedingte Blutdruckabfall in der ersten Hälfte der Schwangerschaft kann dazu führen, dass eine Frau mit vorbestehender Hypertonie »normotone« Blutdruckwerte aufweist. Folglich kann fälschlicherweise eine Gestationshypertonie und nicht korrekt eine chronische Hypertonie diagnostiziert werden.
Sekundäre Formen der chronischen Hypertonie 4 Nierenkrankheiten: vesikoureteraler Reflux, Glomerulonephropathien, adulte polyzystische Nieren 4 Systemkrankheiten mit Nierenbeteiligung: Diabetes mellitus und Lupus erythematodes disseminatus (LED) 4 Endokrine Krankheiten: Phäochromozytom, Cushingund Conn-Syndrom 4 Gefäßkrankheiten: Nierenarterienstenose, Koarktation der Aorta
309 17.2 · Inzidenz, Klassifizierung und Bedeutung der Hypertonie in der Schwangerschaft
Eine Metaanalyse von Studien über das Risiko bei Schwangeren mit leichten Formen von chronischer Hypertonie ergab einen Anstieg der perinatalen Mortalität um den Faktor 3, einer Abruptio placentae um den Faktor 2 sowie eine signifikante Zunahme von intrauteriner Wachstumsrestriktion (Rey et al. 1994) und der Rate vorzeitig indizierter Schwangerschaftsbeendigungen. Dabei waren Pfropfeklampsien ausgeschlossen (Ferrer et al. 2000). Das Risiko für Mutter und Fetus ist jedoch bei einer lange bestehenden, schweren Hypertonie mit Gefäßveränderungen und bei den sekundären Formen noch deutlich höher. Dabei sind folgende Komplikationen von Bedeutung: 4 Exazerbation der Hypertonie 4 Entwicklung einer Pfropfpräeklampsie 4 Entwicklung einer uteroplazentaren Insuffizienz 4 vorzeitige Plazentalösung Das Ausmaß einer Gefäß- bzw. Organschädigung muss in solchen Situationen vorher abgeschätzt werden (7 Übersicht). Abklärungen von Frauen mit schwerer chronischer Hypertonie Generell werden folgende Laboruntersuchungen speziell empfohlen (ACOG 2001; Sibai 2002): 4 Augenhintergrunduntersuchung, EKG, Echokardiographie, Sonographie inkl. Duplexsonographie der Nieren 4 Urinstatus und -kultur 4 Serumkreatinin, Harnstoff, Elektrolyte, Glukose, TSH 4 24-h-Urin für Kreatininclearance und Gesamteiweißausscheidung
Während der Schwangerschaft sollten diese Untersuchungen je nach zugrundeliegender Ursache der chronischen Hypertonie periodisch wiederholt werden. Solange der Teststreifen auf Eiweiß im Urin negativ ist, kann auf die quantitative Erfassung der Tagesgesamteiweißausscheidung verzichtet werden.
17.2.2
Gestationshypertonie
Eine Gestationshypertonie wird in 6% aller Schwangerschaften beobachtet (Sibai 2002; Lain u. Roberts 2002). Die Häufigkeit liegt in den westeuropäischen Ländern etwas niedriger. > Meistens normalisiert sich der Blutdruck 6 Wochen postpartal, kann aber in seltenen Fällen bis 3 Monate erhöht bleiben. Entsprechend ist es wichtig, Frauen mit erhöhten Blutdruckwerten während der Schwangerschaft postpartal solange zu überwachen, bis sich der Blutdruck normalisiert hat. Falls dies nicht eintreten sollte, dann muss die initiale Diagnose einer Gestationshypertonie revidiert werden.
Obschon die Gestationshypertonie in der Regel einen gutartigen Verlauf nimmt, ist die Inzidenz einer Präeklampsie bei früher Manifestation erhöht. Eine Progression zu einer Präeklampsie wird mit etwa 25–50% beziffert. Bei Anstieg des Blutdrucks vor der 32. SSW besteht ein etwa 50%-iges Risiko, ab 38 Wochen lediglich ein 7%-iges Risiko für eine Präeeklampsie (Barton 2001; Saudan 1998; Magee 2003). Nicht nur das Risiko einer Präeklampsie ist erhöht, sondern auch ohne Proteinurie kann eine schwere Hypertonie eine mütterliche und perinatale Morbidität aufweisen, welche vergleichbar ist zu derjenigen von Frauen mit schwerer Präeklampsie (Hauth et al. 2000; Magee et al. 2003). Entsprechend sollten Frauen mit schwerer Hypertonie, speziell solche mit möglicher Endorganschädigung, ähnlich behandelt werden, als ob sie eine schwere Präeklampsie hätten. > Das Wiederholungsrisiko in einer folgenden Schwangerschaft ist erhöht sowie auch das Risiko, später an einer manifesten Hypertonie zu erkranken.
17.2.3
Management
Das Management hypertensiver Schwangerschaftserkrankungen richtet sich ganz nach der Diagnose, da davon abhängen kann, ob eine Schwangerschaft vorzeitig beendet werden muss. Eine ausführliche Anamnese, die Klinik, entsprechende Laboruntersuchungen und eine sorgfältige Evaluation der fetoplazentaren Einheit helfen, die korrekte Diagnose zu stellen, anhand derer die Behandlungsstrategie festgelegt wird. In diesem Abschnitt werden allgemeine therapeutische Konzepte diskutiert, insbesondere bei Frauen mit chronischer Hypertonie, die im Gegensatz zu jenen mit einer Gestationshypertonie ein höheres Risiko für einen ungünstigen Schwangerschaftverlauf aufweisen. Generell gibt es keine Unterschiede bei der Behandlung einer chronischen oder schwangerschaftsinduzierten Hypertonie oder einer Hypertonie im Rahmen einer Präeklampsie. Im Vergleich zur chronischen Hypertonie toleriert man bei einer Gestationshypertonie höhere Blutdruckwerte, da in einem geringeren Prozentsatz mit einer vorbestehenden Endorganschädigung zu rechnen ist. Während bei der chronischen oder schwangerschaftsinduzierten Hypertonie eine ambulante Betreuung die Regel ist, erfodert die Betreuung von Frauen mit einer Präeklampsie (7 Kap. 17.3) eine stationäre Überwachung. Beim Management der chronischen Hypertonie in der Schwangerschaft stehen neben verschiedenen allgemeinen Maßnahmen die engmaschige Überwachung der Mutter und des Fetus zur frühzeitigen Diagnose einer Pfropfpräeklampsie sowie einer Plazentainsuffizienz mit intrauteriner Wachstumsrestriktion (IUWR), die Planung der Entbindung und die Frage der antihypertensiven Therapie im Vordergrund (7 Übersicht).
17
310
Kapitel 17 · Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
Chronische Hypertonie 4 Engmaschige, klinische Kontrollen mit Blutdruckmessung und Urinuntersuchungen 4 Auf jeden Fall 24-h-Blutdruckprofil 4 Instruktion zur Blutdruckselbstmessung 4 Instruktion bezüglich Selbstbeobachtung von beginnenden Präeklampsiesymptomen 4 Auf jeden Fall vorbestehende antihypertensive Medikation sistieren oder reduzieren, insbesondere ACEHemmer und Angiotensin–II-Rezeptorblocker präkonzeptionell umstellen 4 Labetolol, Methyldopa oder Nifedipin sind die Antihypertensiva der 1. Wahl 4 Fetale Wachstumskontrolle monatlich ab 24 Wochen, alle 2–3 Wochen ab 32 Wochen 4 Einleitung diskutieren ab 38–39 Wochen
Allgemeine Maßnahmen Beratung. Frauen mit einer chronischen Hypertonie sollten ihre Kinder wenn möglich in jungem Alter haben, d. h. bevor hypertensive Gefäßveränderungen auftreten. Vor einer geplanten Schwangerschaft können Antihypertensiva versuchsweise abgesetzt werden. Schwangere mit einer chronischen Hypertonie sollen übermäßigen Stress vermeiden und häufige Ruhepausen während des Tages einplanen. Hospitalisation, Bettruhe. Es ist nicht erwiesen, dass Hospitalisation und Bettruhe die Prognose für Mutter und Kind verbessern. Bei einem Vergleich einer engmaschigen ambulanten Betreuung mit der stationären Behandlung und Bettruhe bei Schwangeren mit einer chronischen Hypertonie hatte die Behandlung unter Krankenhausbedingungen keinen Einfluss auf den Schwangerschaftsausgang, verursachte aber wesentlich höhere Kosten als die ambulante Betreuung (Tuffnell et al. 1992). Bei Patientinnen mit einer schweren Hypertonie kann eine vorübergehende Hospitalisation zur Überwachung und Therapieeinstellung angebracht sein. Diät. Eine Reduktionsdiät bei Adipositas ist während der
17
Schwangerschaft nicht zu empfehlen. Jedoch sollte einer übermäßigen Gewichtszunahme während der Schwangerschaft entgegengewirkt werden. Ebenso wird von einer kochsalzarmen Diät abgeraten, außer es liegt eine kochsalzempfindliche Hypertonie oder eine eingeschränkte mütterliche Nierenfunktion vor.
Überwachung der Mutter Schwangere mit einer chronischen Hypertonie müssen engmaschig überwacht werden. Eine regelmäßige Selbstmessung des Blutdrucks zu Hause ist zu empfehlen. Zu achten ist insbesondere auf das Neuauftreten einer Proteinurie oder anderer Zeichen einer Pfropfpräeklampsie. Die Frauen sollten regelmäßig instruiert werden, auf neu aufgetretene Präeklampsiesymptome zu achten. Des Weiteren hat es sich bewährt, die Patientin zur Selbstmessung einer Proteinurie mittels Streifentest – falls der Blutdruck zu Hause die Grenzwerte über-
steigt – zu instruieren. Falls nicht bereits durchgeführt, muss eine sorgfältige Hypertonieabklärung durchgeführt werden (. Tab. 17.1).
Überwachung des Fetus Die antepartale Überwachung des Fetus hat v. a. die Erkennung einer Plazentainsuffizienz zum Ziel. Dazu werden klinisch serielle Messungen des Symphysen-Fundus-Standes empfohlen. Sonographisch sollte ab 24 SSW alle 4 Wochen das fetale Wachstum durch Erfassung der Biometrie überwacht werden; ab 32 SSW werden die Intervalle auf alle 2–3 Wochen verkürzt. Bei normalem Wachstum wird eine zusätzliche Überwachung des Fetus allerdings kontrovers diskutiert, ein klarer Nutzen konnte bislang nicht gezeigt werden. Zeigt der Fetus jedoch eine Reduktion der Wachstumsgeschwindigkeit (Perzentilensprung bzw. »late flattening«) oder die Mutter klinische Zeichen einer Pfropfpräeklampsie, soll der Zustand des Fetus zusätzlich mittels CTG (Non-StressTest), Ultraschall (Fruchtwassermenge, biophysikalisches Profil) und Doppleruntersuchungen (fetale und umbilikale Gefäße) überwacht werden. Das Intervall zwischen den Untersuchungen wird durch das Ausmaß der Plazentainsuffizienz und der fetalen Anpassung bestimmt (7 Kap. 17.3.5; National Institutes of Health 2000; ACOG 2001; Sibai 2002).
Entbindung Bei einer unkomplizierten chronischen Hypertonie und einem normal entwickelten Fetus soll eine vaginale Entbindung am Termin angestrebt werden. Es wird empfohlen, bei Terminüberschreitung die Geburt einzuleiten (ACOG 2001). Auch bei Schwangeren mit schwerer Hypertonie, Pfropfpräeklampsie, IUWR oder belasteter Anamnese soll die Geburt eingeleitet werden, sobald die Lungenreife des Fetus erreicht ist. Die perinatale fetale Mortalität in einem Niederrisikokollektiv nimmt kontinuierlich ab, um mit etwa 41 Wochen den Nadir zu erreichen (Smith 2001). Hingegen steigt das kumulative Risiko eines intrauterinen Fruchtodes ab 38 SSW beinahe exponentiell an (Simulian et al. 2002; Künzel u. Misselwitz 2003). Bei Fällen mit Plazentainsuffizienz, aber auch bei jenen mit Hypertonie oder Diabetes mellitus ist dieser Zusammenhang noch verstärkt, weshalb eine Terminüberschreitung in diesen Hochrisikokollektiven vermieden werden sollte.
Antihypertensive Therapie Bei einer chronischen Hypertonie mit hohem Risiko (. Tab. 17.2) ist eine antihypertensive Therapie angezeigt, um einerseits mütterliche Komplikationen, insbesondere intrazerebrale Blutungen, zu vermeiden und anderseits dem Fortschreiten des Grundleidens, insbesondere von Nierenkrankheiten, vorzubeugen. Die anzustrebenden Zielblutdruckwerte werden in verschiedenen Fachgesellschaften kontrovers diskutiert. Während bei der chronischen Hypertonie die Therapieindikation strenger gestellt wird, akzeptiert man bei der Gestationshypertonie tendenziell höhere Blutdruckwerte. Jedenfalls sollten Blutdruckwerte von ≥170/110 mm Hg dringend zum Wohl der Mutter abgeklärt und behandelt werden. Im letzten CEMACH-Report wird empfohlen, dass alle schwangeren
311 17.2 · Inzidenz, Klassifizierung und Bedeutung der Hypertonie in der Schwangerschaft
. Tab. 17.2. Chronische Hypertonie mit hohem Risiko
Hypertonie
Kennzeichen
Schwere Hypertonie
Blutdruck 4 systolisch >170 mm Hg 4 diastolisch >110 mm Hg
Leichte Hypertonie
Blutdruck 4 systolisch >140 mm Hg 4 diastolisch >90 mm Hg mit Nierenpathologie Kardiomyopathie Koarktation der Aorta Retinopathie Diabetes mellitus Konnektivitiden Antiphospolipidsyndrom Früherer Präeklampsie Mütterliches Alter >40 Jahre Dauer der Hypertonie >4 Jahre
Frauen mit Blutdruckwerten von systolisch ≥160 mm Hg oder diastolisch ≥100 mm Hg antihypertensiv behandelt werden sollten (Lewis 2007; Lowe et al. 2009). Bei einer leichten chronischen Hypertonie (Blutdruck 100 mm Hg und systolisch ≥160 mm Hg liegen oder wenn bereits hypertoniebedingte Endorganschäden bestehen oder angenommen werden müssen (National Institutes of Health 2000; Abalos et al. 2007; Rey et al. 1997; Lowe 2009). Eine medikamentöse Behandlung einer leichten chronischen Hypertonie sollte auch bei besonderen Risikofaktoren in Betracht gezogen werden (Sibai 2002).
. Tab. 17.3. Antihypertensiva bei chronischer Hypertonie in der Schwangerschaft
Substanzen
Dosierung
Nebenwirkungen/ Interaktionen
α-Methyldopa
250 mg–3 g/Tag
Hämolytische Anämie, Hepatopathie, Sedation, Oedeme, orthostatische Dysregulation, Kopfschmerzen, trockener Mund, Bradykardien, depressive Verstimmungen
Labetalol
200–1600 mg/Tag
Hepatopathie, Müdigkeit und Schwäche, Bradykardie
Nifedipin
30–90 mg/Tag (Retardform), maximale Dosis 120 mg/Tag
Kopfschmerzen
Antihypertensiva, über deren Langzeitanwendung in der Schwangerschaft genügend Erfahrungen vorliegen, sind in . Tab. 17.3 aufgeführt. α2-Rezeptorenblocker. Methyldopa reduziert als sog. falscher Transmitter die Bildung und Freisetzung des physiologischen, sympathischen Neurotransmitters Noradrenalin durch Bindung an prä- und postsynaptische α2-Rezeptoren. Noradrenalin erhöht den Blutdruck via Vasokonstriktion. > Methyldopa ist das Mittel der Wahl für die Therapie der chronischen Hypertonie in der Schwangerschaft, weil es die einzige Substanz ist, deren Auswirkung auf das Kind in Langzeitstudien untersucht worden ist.
Nach oraler Verabreichung kann ein Abfall des Blutdrucks nach 6–12 h erwartet werden bei einer Initialdosis von 500– 750 mg und einer anschließenden Erhaltungsdosis von 1–3 g täglich. Die Nebenwirkungen sind selten, können aber klinsich und labormäßige Veränderungen hervorrufen, die den Symptomen einer schweren Präeklampsie oder eines HELLPSyndroms nicht unähnlich sind. Ein abruptes Absetzen des Medikaments sollte vermieden werden, da es zu einem sprunghaften Anstieg des Blutdrucks und der Herzfrequenz kommen kann (»Rebound-Effekt«). Außer einem verminderten Kopfumfang bei Kindern, die zwischen der 16. und 20. SSW exponiert wurden, sind keine negativen Effekte bekannt. Der verminderte Kopfumfang scheint ohne Bedeutung zu sein, da die Kinder in Langzeituntersuchungen einen normalen IQ und eine normale psychomotorische Entwicklung zeigten (Redman u. Ounsted 1982). Der uteroplazentare und der fetale Kreislauf werden durch Methyldopa nicht beeinflusst, obschon das Medikament die Plazenta passiert und in relativ hoher Dosierung im Fruchtwasser nachgewiesen werden konnte (Jones u. Cummings 1978).
17
312
Kapitel 17 · Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
α-β-Blocker. Labetalol bewirkt infolge der kombinierten α-β-Blockade eine periphere Vasodilatation ohne wesentliche Veränderung der Herzfrequenz und des Herzzeitvolumens. Verglichen mit Methyldopa weist Labetalol weniger maternale Nebenwirkungen auf. Wie bei den meisten β-Blockern wurde auch Labetalol mit neonataler Hypoglykämie, Hypotonie und Bradykardie assoziiert. Das Outcome der Kinder ist aber in allen Studien gut (Mabie et al. 1987; Belfort et al. 2006). Negative Auswirkungen auf den uteroplazentaren und auf den fetalen Kreislauf sind nicht bekannt. Sowohl die kanadische (SOGC 2008) wie auch die amerikanische (ACOG 2002) Gesellschaft empfehlen Labetalol, und auch die australische Gesellschaft (Brown et al. 2000; Lowe et al. 2009) hat Labetalol als eines der Medikamente der ersten Wahl bei Hypertonie und/oder Präeklampsie in den entsprechenden Leitlinien. Labetalol zeigt zusätzlich einige nichtantihypertensive Wirkungen, die diese Substanz, v. a. bei der Blutdrucksenkung bei schwerer Hypertonie und Präeklampsie, interessant machen: Es hemmt die Plättchenaggregation (Greer et al. 1985a), reduziert Thromboxane (Greer et al. 1985b) und scheint einen positiven Effekt auf die fetale Lungenreife zu haben (Michael et al. 1980). Die zerebrale Hämodynamik ist dadurch gekennzeichnet, dass der Blutfluss über weite Blutdruckbereiche konstant bleibt. Diese Autoregulation schützt das Gehirn vor Überoder Unterperfusion. Eine Art protektive Vasokonstriktion der proximalen Hirngefäße bei Präeklampsie scheint die distalen, dünnwandigen Hirngefäße zu schützen und einen normalen Blutfluss zu garantieren. Eine gestörte Autoregulation, wie sie vereinzelt bei präeklamptischen Frauen gesehen wird, kann zu einer zerebralen Hyperperfusion mit hypertensiver Enzephalopathie führen. Labetalol senkt den peripheren Widerstand und somit den zerebralen Perfusionsdruck, ohne die Hirnperfusion zu beeinflussen, was wiederum zu einer Senkung der Eklampsierate führen kann (Belfort et al. 2006).
17
Kalziumantagonisten. Die Erfahrung mit der Langzeittherapie von Nifedipin in der Schwangerschaft ist im Gegensatz zum kurzzeitigen Einsatz bei der Präeklampsie begrenzt (Sibai et al. 1992; Fenakel et al. 1991; Smith et al. 2000). Kalziumantagonisten sind aber für diese Indikation nicht zugelassen, bzw. es handelt sich um einen sog. »off-label use« dieser Medikamente. Die sublinguale Verabreichung von Nifedipin kann einen gefährlichen Blutdruckabfall innerhalb von 10–15 min verursachen und sollte nicht mehr in dieser Art verabreicht werden (Impey 1993). Die theoretische Gefahr der Kombination von Magnesiumsulfat und Nifedipin ist anekdotisch und basiert auf wenigen Fallvorstellungen (Waisman et al. 1988; Snyder et al. 1989). Die deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sieht gemäß ihren Leitlinien in Nifedipin als Medikament der 1. Wahl in der hypertensiven Akuttherapie (AWMF 2008; . Tab. 17.4). Dabei wird empfohlen, mit 5 mg oral zu beginnen. Diese Dosierung ist z. B. in der Schweiz nicht erhältlich. Die Literatur bezüglich intravenöser Nifedipingabe ist spärlich. Die uteroplazentare Hämodynamik wird durch Nifedipin angeblich kaum beeinflusst.
. Tab. 17.4. Antihypertensiva bei schwerer Hypertonie
Substanzen
Dosierung
Labetalol
4 50 mg (in 0,9% NaCl) als Bolus langsam i.v., gefolgt von kontinuierlicher Infusion von 20 mg/h bis maximal 160 mg/h 4 20 mg i.v., verdoppelt jede Stunde bis Blutdruckkontrolle 4 20 mg i.v., dann alle 10 min erneut Bolus von 20–80 mg bis die Maximaldosis von 300 mg erreicht ist (z. B. 20–40–80–80– 80 mg) 4 Konstante Infusion von 1–2 mg/min, dann Erhaltungsdosis 0,5 mg/min
Nifedipin
4 30 mg p.o. Retard-Tbl., bis 120 mg/Tag oder 5 mg i.v. in 4–8 h
Dihydralazin
4 5 mg langsam i.v. oder i.m. 4 Nach 20 min erneut 5–10 mg, falls Blutdruckziel nicht erreicht ist 4 Maximale Dosis 20 mg 4 Falls nach 30 mg keine Besserung: Medikament wechseln 4 5 mg langsam i.v., gefolgt von kontinuierlicher Infusion von 5 mg/h
β-Blocker. Unter der Langzeittherapie mit Atenolol wurde in mehreren Studien ein deutlich vermindertes fetales Wachstum gefunden (Montan et al. 1992; Butters et al. 1990; Lydakis et al. 1999). Nach antepartaler Gabe von β-Blockern wurden zudem bei Neugeborenen respiratorische Depression und Hypoglykämie beschrieben. Die Daten über die Wirkung von verschiedenen β-Blockern auf die uteroplazentare und umbilikale Hämodynamik sind kontrovers (Sibai 1996). β-Blocker sollten deshalb für die Langzeittherapie in der Schwangerschaft nur bei zwingender Indikation eingesetzt werden. Andere Sympathikolytika. Das zentrale Sympatikolytikum Clonidin und der α1-Blocker Prazosin wurden in der Schwan-
gerschaft in einzelnen Fällen ohne negative Auswirkungen auf den Fetus und das Neugeborene eingesetzt. Beide Substanzen sollen in der Schwangerschaft nur in Ausnahmefällen angewandt werden, da kontrollierte Studien fehlen. ACE-Hemmer. Der Einsatz von Angiotensin-converting-enzyme-Hemmern wie Captopril oder Enalapril ist während der
Schwangerschaft und der Stillzeit kontraindiziert, da diese Substanzen mit intrauteriner Wachstumsrestriktion, fetalem Nierenversagen und neonatalen Todesfällen assoziiert sind (Cooper et al. 2006). Ebenso sind Angiotensin-II-RezeptorTyp-B-Blocker kontraindiziert. Medikamente aus beiden Stoffgruppen sollten bereits präkonzeptionell ersetzt werden. Diuretika. Die Behandlung von Ödemen durch Diuretika ist
während der Schwangerschaft grundsätzlich kontraindiziert. In Ausnahmefällen kann Furosemid bei Schwangeren mit ei-
313 17.3 · Präeklampsie
ner kochsalzempfindlichen chronischen Hypertonie von Nutzen sein, sollte jedoch beim Auftreten einer Pfropfpräeklampsie abgesetzt werden. Thiazide und Azetazolamid sind während der Schwangerschaft wegen des teratogenen Risikos und der Gefahr der fetalen Hypoglyämie kontraindiziert. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Methyldopa oder Labetalol die antihypertensiven Medikamente der Wahl für die Langzeitbehandlung der chronischen Hypertonie in der Schwangerschaft sind. Als Zweitmedikament empfiehlt sich ein Kalziumantagonist wie die Retardform von Nifedipin. Dihydralazin. Diese Substanz war Mittel der Wahl bei schwe-
ren, akuten Hypertonien. Es wird in der Regel intravenös bolusweise oder als kontinuierliche Infusion verabreicht, und seine Wirkung tritt innerhalb von 20–30 min ein. Dihydralazin blockiert die kontraktilen Eigenschaften der glatten Muskulatur. Der Hirndruck und der zerebrale Blutfluss werden aufgrund der Vasodilatation der Hirngefäße erhöht, was die häufig beklagten schweren Kopfschmerzen erklärt. Zusätzlich führt es zu einer markanten Tachykardie, Unruhe, Angst und Hyperreflexie. Diese Nebenwirkungen zusammen mit den Kopfschmerzen werden in beinahe 50% der Fälle beobachtet und simulieren Symptome einer drohenden Eklampsie (Assali et al. 1953). Daneben stimuliert Dihydralazin die Freisetzung von Noradrenalin, einem potenten Vasokontriktor für die uteroplazentare Zirkulation. Zeichen eines »fetal distress« sind nach Blutdrucksenkung mit diesem Medikament beschrieben worden (Vink et al. 1982). In einer kürzlich erschienenen Metaanalyse wurde zur Behandlung von sehr hohen Blutdruckwerten bei schwerer Präeklampsie oder bei einer hypertensiven Krise Labetalol und Nifedipin gegenüber Dihydralazin (Dosierung . Tab. 17.4) der Vorzug gegeben (Magee et al. 1999, 2003; Duley et al. 2006). Labetalol ist auch bei dieser Indikation gut untersucht und zeigt einen raschen Blutdruckabfall ohne die typische dihydralazinbedingte Tachykardie oder die durch Kalziumantagonisten verursachten Kopfschmerzen. Die intravenöse Antihypertensiva sollten verabreicht werden, wenn die orale Applikationsform nicht zum Ziel geführt hat.
17.3
Präeklampsie
Präeklampsie Die Präeklampsie ist definiert durch das Auftreten einer Hypertonie und einer Proteinurie ab der 20. SSW. Eine signifikante Proteinurie liegt bei einem Eiweißverlust von >300 mg/24 h, entsprechend einer Anzeige von 1–2 Kreuz positiv in einem Streifentest, vor. Definition der Hypertonie 7 Kap. 17.1.
Die Inzidenz der Präeklampsie beträgt 3–5% bei Nulliparae und 0,5% bei Multiparae (Redman 1995). Es sind verschiedene, gut definierte Risikofaktoren für die Entwicklung einer Präeklampie beschrieben worden (Sibai et al. 1991;
. Tab. 17.5. Relatives Risiko für die Entwicklung einer Präeklampsie
Bedingung
Relatives Risiko
Diabetes mellitus
2,0
Primigravidität
3,0
Alter >40 Jahre
3,0
Mütterliche Frühgeburtlichkeit
3,6
Zwillingsschwangerschaft, insbesondere monochoriale
4,0
Präeklampsie in der Familie
5,0
Mütterliches Untergewicht bei Geburt
5,2
Chronische Hypertonie
10,0
Antiphospholipidsyndrom
10,0
Chronische Nierenkrankheit
20,0
Angiotensinogen-Genmutation 4 heterozygot 4 homozygot
4,0 20,0
Status nach schwerer Präeklampsie vor der 28. SSW
120,0
ACOG 2002; Duckitt u. Harrington 2005; Innes et al. 1999; . Tab. 17.5). Das erhöhte Risiko von adoleszenten Primigravidae konnte in einer neuen Studie nicht bestätigt werden und bleibt somit kontrovers (Duckitt u. Harrington 2005). Rauchen in der Schwangerschaft hat offensichtlich einen protektiven Effekt gegenüber Präeklampsie (Xuong et al. 2000).
17.3.1
Ätiologie und Pathogenese
Die eigentliche Ätiologie der Präeklampsie ist nach wie vor unbekannt. Im Zentrum der Pathogeneseforschung der Präeklampsie stehen Anpassungsstörungen an die Schwangerschaft. Nach dem allgemein akzeptierten Modell läuft das Krankheitsgeschehen in 2 Phasen ab (Roberts u. Hubel 1999): 4 Störung der Implantation und Plazentation in der Frühschwangerschaft mit Hypoxie des Trophoblasten infolge von Perfusionsstörung 4 endotheliale Dysfunktion im peripheren mütterlichen Kreislauf Nach herkömmlicher Auffassung ist die ungenügende Invasion der Dezidua durch den extravillösen Trophoblasten mit mangelhaftem Umbau der Spiralarterien die Basis für die gestörte Implantation und Plazentation (Goldmann-Wohl u. Yagel 2002; McMaster et al. 2004). Huppertz hat kürzlich dar-
17
314
Kapitel 17 · Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
auf hingewiesen, dass die Differenzierungsstörung des Trophoblasten als Ursprung der Präeklampsie bereits im Blastozystenstadium erfolgt (Huppertz 2008). Die weiteren Schritte in der Pathogenese wie die Störung der Interaktion des extravillösen Trophoblasten mit dem mütterlichen Immunsystem und die ungenügende Remodellierung der uteroplazentaren Gefäße sind Folgen dieser frühen Störung der Differenzierung des Trophoblasten. Die in der normalen Schwangerschaft erfolgende Interaktion des mütterlichen Immunsystems mit dem semiallogenetischen Gewebe embryonalen Ursprungs ist Auslöser einer inflammatorischen Reaktion sowohl lokal im fetomaternalen Grenzbereich wie auch systemisch im mütterlichen Organismus. Diese inflammatorische Antwort auf das Vordringen des Trophoblasten in die Dezidua erfährt bei der Präeklampsie eine deutliche Verstärkung und ist auch qualitativ verändert (Redman u. Sargent 2003; Redman et al. 1999; . Abb. 17.1). Auf die Bedeutung der Interaktion des Trophoblasten mit den mütterlichen Immunzellen mit Aktivierung der Naturalkiller-Zellen (NK-Zellen) mit Freigabe verschiedener angio-
. Abb. 17.1. Pathogenese der Präeklampsie
17
genetisch wirkender Moleküle, die regulierend auf den Umbau der Spiralarterien und die Entwicklung des uteroplazentaren Kreislaufes wirken, wurde bereits in 7 Kap. 1 eingegangen. Für die Regulation der Invasivität des fetalen extravillösen Trophoblasten scheint die Interaktion verschiedener Haplotypen des KIR-Rezeptors der NK-Zellen und des HLA-C des Trophoblasten von zentraler Bedeutung zu sein. Die Konstellation von KIR-Rezeptoren des Haplotypen der Gruppe A mit dem HLA-C2-Haplotyp führt zu einer Deaktivierung der NKZellen mit einer Suppression der Zytokinproduktion und einer Hemmung des Vordringens des extravillösen Trophoblasten in der Dezidua sowie im Lumen der Spiralartien. Das Präeklampsierisiko ist am höchsten bei Schwangeren, die homozygot für den KIR A Haplotyp (AA) sind, insbesondere, wenn der Fetus homozygot für den HLA-C2-Haplotyp ist (Hiby et al. 2004; Moffett u. Hiby 2007). Das bereits erwähnte, ursprünglich von Roberts u. Hubel beschriebene 2-Phasen-Konzept der Pathophysiologie der Präeklampsie wurde von den gleichen Autoren kürzlich in mehreren Punkten modifiziert (Roberts u. Hubel 2009):
315 17.3 · Präeklampsie
4 Die von dem Trophoblasten ausgehende Störung wird bereits im frühen 1. Trimenon wirksam, d. h. deutlich vor der Remodellierung der uteroplazentaren Gefäße durch den extravillösen Trophoblasten. 4 Mehrere Links verknüpfen die beiden Phasen, und je nach Link werden verschiedene Subtypen des Syndroms unterschieden. 4 Bei der Manifestation der für eine Präeklampsie typischen Symptome kommt mütterlichen konstitutionellen Faktoren eine spezielle Bedeutung zu. Bemerkenswert ist dabei die Parallelität zu den Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen. Der bei der gestörten Plazentation als Folge der mangelhaften Perfusion des intervillösen Raumes entstehende oxidative Stress und die dadurch induzierten inflammatorischen Vorgänge sind für die Entwicklung des Krankheitsbildes von besonderer Bedeutung (Redman u. Sargent 2009). Das Ungleichgewicht zwischen der Freisetzung von Sauerstoffradikalen und den antioxidativen Schutzmechanismen des mütterlichen Organismus führt zu oxidativem Stress mit inflammatorischen Reaktionen in der fetomaternalen Grenzzone. Die dabei entstehenden Substanzen wie Zytokine, Lipidperoxide, diverse Proteine und Peptide sowie aktivierte Leukozyten und Monozyten gelangen in den mütterlichen Kreislauf und sind Auslöser einer mehr oder weniger generalisierten Dysfunktion des Endothels in zahlreichen Organen des mütterlichen Organismus. Vesikuläre Plasmamembranfragmente, die bei Präeklampsie vermehrt von der Trophoblastoberfläche der Plazentazotten an den mütterlichen Kreislauf abgegeben werden, sind ebenfalls bei der Verursachung der Dysfunktion des Endothels beteiligt (Knight et al. 1998; Van Wijk et al. 2002; Redman u. Sargent 2003; Gupta et al. 2005). Die Dysfunktion des Endothels begünstigt die Aktivierung von Leukozyten sowie Thrombozyten mit einer prokoagulatorischen Stimulation des Gerinnungssystems (. Abb. 17.1). Die als Folge der gestörten Funktion des Trophoblasten entstehende Dysbalance in der Sezernierung von angiogenen und antiangiogenen Faktoren mit Beeinträchtigung der Entwicklung des Zottenkreislaufs der Plazenta (Ahmad u. Ahmed 2004) ist ein zentrales Element der Pathogenese der Präeklampsie (Tjoa et al. 2007). Die im peripheren mütterlichen Blut in erhöhter Konzentration zirkulierenden antiangiogenetischen Faktoren sind ebenfalls an der Entstehung der endothelialen Dysfunktion beteiligt. Sie sind als diagnostische Marker für die Früherkennung der Präeklampsie auch klinisch von erheblichem Interesse (Levine et al. 2004, 2006). In 7 Kap. 17.3.8 (»Screening und Prävention«) wird näher darauf eingegangen. Nach neueren Erkenntnissen kann auch eine Störung der Volumenexpansion in der Frühschwangerschaft Ursache für die Perfusionsstörung und die damit verbundene Beeinträchtigung der Plazentaentwicklung sein (Shojaati et al. 2004). Neben den genuinen Anpassungsstörungen in der Frühschwangerschaft sind andere Faktoren wie die »große« Plazenta bei Mehrlingsschwangerschaften, Triploidie oder Blasenmole mit einem erhöhten Risiko einer Präeklampsie assoziiert. Als Ausdruck der Zunahme der Plazentamasse kommt
es auch in der normalen Spätschwangerschaft andeutungsweise zu Veränderungen, wie sie verstärkt bei einer Präeklampsie auftreten können (Redman 1999; 7 Übersicht). Gemeinsame Veränderungen in der physiologischen späten Schwangerschaft und Präeklampsie. (Nach Redman 1999) 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Steigender diastolischer Blutdruck Steigende Harnsäurespiegel im mütterlichen Plasma Steigende Albuminausscheidung im mütterlichen Urin Zunehmende Ödeme Fallende Thrombozytenzahlen im mütterlichen Blut Erhöhte Spiegel von Markern der Thrombozytenaktivierung Steigende Corticotropin-releasing-Faktor-Spiegel im mütterlichen Plasma Erhöhte Fibronektinspiegel im mütterlichen Plasma Erhöhte von-Willebrandt-Faktor-Spiegel im mütterlichen Plasma Erhöhte Plasminogen-Aktivator-Inhibitor- und GewebePlasminogen-Aktivator-Konzentrationen
Neben den bereits oben als Risikofaktoren aufgeführten vorbestehenden Krankheiten vermindern Störungen wie chronische Infekte, Hyperhomozysteinämie und angeborene Thrombophilien (APC-Resistenz, Protein-C- und -S-Mangel) die mütterliche Resistenz und begünstigen die Entstehung einer Präeklampsie. Die geschilderte komplexe Pathogenese der Präeklampsie macht deutlich, dass es keine klar definierte Ursache für das äußerst vielschichtige Krankheitsbild gibt. An der Entstehung des Syndroms sind verschiedene Faktoren beteiligt wie die Plazenta mit Störung der Plazentation in der Frühschwangerschaft, eine relativ zu große Plazentamasse, eine primär, d. h. kostitutionell oder sekundär durch Umweltfaktoren oder bestimmte Vorerkrankungen erhöhte Vulnerabilität des mütterlichen Endothels u. a. (Ness u. Roberts 1996). > Der gemeinsame Nenner ist die Entstehung einer endothelialen Dysfunktion als zentrale Pathologie, auf die sich die Mehrzahl der klinischen Symptome zurückführen lässt.
Auch die Tatsache, dass bis heute kein Screeeningtest gefunden wurde, der die Entstehung einer Präeklampsie zuverlässig voraussagt, und dass keine einzelne prophylaktische oder therapeutische Maßnahme – mit Ausnahme der Beendigung der Schwangerschaft – sich allein als wirksam erwiesen hat, unterstreicht das Konzept einer multifaktoriellen Genese.
17.3.2
Auswirkungen
In den folgenden Abschnitten werden die wichtigsten klinischen Symtome der Präeklampsie besprochen. Das breite Spektrum spiegelt die Natur der Präeklampsie als Multiorganerkrankung wider.
17
316
Kapitel 17 · Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
Die klinischen Symptome entwickeln sich typischerweise Wochen bis Monate nach den pathogenetischen Störungen der Plazentation im 1. und frühen 2. Trimenon. Frühe klinische Zeichen, d. h. vor der 20. SSW, werden bei Schwangerschaften mit Blasenmole, chromosomalen Aneuploidien (Broekenhuizen et al. 1983) sowie Kokainabhängigkeit der Mutter beobachtet (Towers et al. 1993). Die Vielfalt der Symptomatik lässt sich auf eine generaliserte Vasokonstriktion, Aktivierung der Gerinnung sowie Mikroangiopathien in verschiedenen Organsystemen zurückführen (National Institutes of Health 2000). Für die Ausprägung der Pathologie in verschiedenen Organen und den unterschiedlichen Phänotyp des Krankheitsbildes im Einzelfall gibt es bislang keine schlüssige Erklärung.
Zentralnervensystem Im Gehirn kann es infolge der gestörten Autoregulation zu lokalisierten Durchblutungsstörungen kommen mit Sehstörungen (Augenflimmern, Photophobie, Diplopie, Skotome, Amaurose) und Kopfschmerzen. Eine Hyperreflexie und ein Klonus sind Ausdruck der gesteigerten zerebralen Erregbarkeit und weisen auf die drohende Gefahr eines eklamptischen Anfalls hin. Die Eklampsie ist eine seltene, schwere Komplikation der Präeklampsie, die sich in generalisierten tonisch-klonischen Krämpfen äußert (7 Kap. 17.4). Bei einem raschen Blutdruckanstieg können die zerebralen Arteriolen geschädigt werden und ihre Autoregulation verlieren. Eine Folge davon sind intrakranielle Blutungen, die die häufigste vaskuläre Komplikation der Präeklampsie darstellen.
Kardiovaskuläres System
17
Die Hypertonie ist ein frühes klinisches Zeichen der Präeklampsie. Der Blutdruck ist zumindest zu Beginn der Erkrankung instabil. Der zirkadiane Rhythmus ist typischerweise verändert. Initial kommt es zu einem Verlust des normalen Blutdruckabfalls in der Nacht, und in fortgeschrittenen Stadien findet man eine Umkehr des Rhythmus mit einer Erhöhung des Blutdrucks während des Schlafes. Untersuchungen zum hämodynamischen Zustand bei Patientinnen mit Präeklampsie zeigten je nach Stadium und Schweregrad der Erkrankung unterschiedliche Resultate. In der Latenzphase ist das Herzminutenvolumen erhöht bei normalem peripherem Widerstand. Mit dem Auftreten von Symptomen nimmt das Herzminutenvolumen ab, und der Gefäßwiderstand steigt (Bosio et al. 1999). Bei unbehandelten Patientinnen mit schwerer Präeklampsie wurde unter invasivem Monitoring ein normaler bis verminderter kardialer Index, ein mäßig bis stark erhöhter systemischer Gefäßwiderstand und ein normaler bis tiefer pulmonaler kapillarer Wedge-Druck gefunden (Mushambi et al. 1996). Die Präeklampsie führt in seltenen Fällen zu einer Linksherzinsuffizienz und einem Lungenödem. Daneben können auch andere Mechanismen wie verminderter onkotischer Druck im Plasma, erhöhter kapillärer »leak« oder iatrogen Volumenüberlastung beteiligt sein. Die Präeklampsie geht i. d. R. mit einer Verminderung des Plasmavolumens und einer Hämokonzentration einher. In
85% der Fälle kommt es zur Ausbildung von Ödemen sowie Aszites, Pleura- und Perikardergüssen. Ursächlich von Bedeutung sind die erhöhte Durchlässigkeit der Gefäßwände, der infolge des Eiweißverlustes verminderte kolloidosmotische Druck und die verminderte Aktivität des Renin-AldosteronSystems.
Nieren und Flüssigkeitshaushalt Die glomeruläre Filtrationsrate ist gegenüber der normalen Schwangerschaft um 30–40% reduziert. Die Schädigung der Endothelien der Glomeruli geht mit einer nicht selektiven Proteinurie einher (Moran et al. 2004). Infolge einer Störung der tubulären Funktion, die der glomerulären Schädigung i. d. R. vorausgeht, ist die Ausscheidung von Harnsäure, Kalzium und Kallikrein im Urin vermindert. Speziell die Harnsäure ist aber ein schlechter Marker zur Vorhersage für mütterliche oder fetale Komplikationen (Thangaratinam S et al. 2006). Ein Anstieg von Kreatinin und Harnstoff im Plasma deutet zusammen mit einer Oligo- bis Anurie auf eine schwere Nierenfunktionsstörung hin. Die Oligurie ist häufig durch eine Hypovolämie, d. h. prärenal bedingt. In seltenen Fällen, z. B. im Rahmen einer vorzeitigen Plazentalösung, kommt es infolge des Volumenmangels, des verminderten Herzzeitvolumens und der renalen Vasokonstriktion zu einem akuten Nierenversagen mit tubulären und kortikalen Nekrosen, sodass eine Dialysebehandlung erforderlich werden kann.
Leber Eine Leberschwellung äußert sich in epigastrischen Schmerzen, Nausea und Erbrechen. Bei einer Dysfunktion der Leberzellen kommt es zu einem Anstieg der Aminotransferasen im Serum. In Verbindung mit einer Hämolyse und einer Thrombozytopenie spricht man von einem HELLP-Syndrom (7 Kap. 17.5). Oft sind die eigentlichen Kriterien eines HELLPSyndromes nicht erfüllt, und man findet lediglich als Zeichen einer Begleithepathopathie leicht erhöhte Transaminasen oder seltener auch ein erhöhtes γ-GT mit oder ohne Hämolysezeichen bei stabilen Thrombozyten. Histologisch findet man in schweren Fällen periportale Blutungen, ischämische Infarkte und eine mikrovesikuläre Verfettung der Parenchymzellen. Selten kommt es zu ausgedehnten Blutungen mit Ausbildung von subkapsulären Leberhämatomen. Die Kombination von Nausea oder Erbrechen mit einer abnormen Leberzellfunktion und einer Hypoglykämie lässt an eine akute Schwangerschaftsfettleber denken, die häufig mit einer Präeklampsie assoziiert sein kann (7 Kap. 17.6).
Thrombozyten und Blutgerinnung Die Thrombozytenzahl ist in 20% der Fälle leicht vermindert (100000–150000/μl). Die Thrombozyten sind meist vergrößert (d. h. jünger). Dies deutet zusammen mit erhöhten Spiegeln von plättchenspezifischen Markern (β-Thromboglobulin, Plättchenfaktor 4) auf eine gesteigerte Aktivierung und einen erhöhten Turnover der Thrombozyten hin (Redman 1995).
317 17.3 · Präeklampsie
Die plasmatische Gerinnung ist ebenfalls gesteigert. Während die globalen Gerinnungstests meist noch normal sind, können erhöhte Plasmaspiegel von D-Dimeren, Fibrinopeptid A und Thrombin-Antithrombin-III-Komplexen nachgewiesen werden. Die Plasmaspiegel von Inhibitoren der Gerinnung, z. B. Antithrombin III und Protein C, sind dagegen reduziert. In der Mehrzahl der Fälle liegt ein chronischer, kompensierter Zustand der aktivierten Gerinnung vor. Außer bei einer vorzeitigen Lösung der Plazenta kommt es selten zu einer akuten disseminierten intravasalen Gerinnung mit einer Verbrauchskoagulopathie. Sinkende Spiegel von Fibrinogen, Faktor VII und VIII sowie der Anstieg von Fibrin-FibrinogenSpaltprodukten im Plasma können eine erhöhte Blutungsneigung zur Folge haben.
Plazenta und Fetus Die gestörte Adaptation des uteroplazentaren Kreislaufs führt auf dem Boden eines unzureichenden Plazentawachstums zusammen mit ischämiebedingtem Gewebeuntergang zu einer chronischen Plazentainsuffizienz. Diese tritt insbesondere bei vorbestehenden Gefäßschäden frühzeitig in der Schwangerschaft auf und führt zu einer ausgeprägten Wachstumsrestriktion, im Extremfall zu intrauteriner Asphyxie und Tod des Fetus. Je nach fetaler Anpassung an die Plazentainsuffizienz kann sich auch ein Oligohydramnion ausbilden (Odegard et al. 2000). Bei später einsetzender Präeklampsie werden eher erhöhte mittlere Geburtsgewichte, wahrscheinlich als Folge der großen Plazenta, beobachtet (Rasmussen u. Irgens 2003). Im Zusammenhang mit der gestörten vaskulären Adaptation im Bereich des Plazentabetts kommt es gehäuft zu einer vorzeitigen Plazentalösung oder zu sonomorphologischen Auffälligkeiten der Plazenta (Raio et al. 2004). Neben dem Untergewicht der Plazenta ist histologisch die sog. diskordante Zottenreifung mit frühzeitiger Ausreifung und kompensatorischer Hypervaskularisierung der Endzotten typisch. Nach einer Präeklampsie treten vermehrt neonatale Komplikationen auf. Hämatologische Störungen, z. B. eine Neutropenie, eine Thrombozytopenie und eine Anämie, werden häufig beobachtet. > Generell treten die durch Frühgeburtlichkeit bedingten Störungen wie Atemnotsyndrom, Hirnblutung oder nekrotisierende Enterokolitis gegenüber gleichaltrigen Neugeborenen von Schwangeren mit normalem Blutdruck gehäuft auf (Friedman et al. 1995).
17.3.3
Diagnose
Die Präeklampsie ist ein Syndrom, das durch die Verbindung von Hypertonie und Proteinurie definiert ist. Funktionsstörungen verschiedener Organe (Kopfschmerzen, Sehstörungen, epigastrische Schmerzen) und generalisierte Ödeme bzw. eine Gewichtszunahme von >1 kg/Woche können auf eine Präeklampsie hinweisen. Allerdings ist zu beach-
ten, dass Ödeme bei 80% der normotonen Schwangeren auftreten und dass Präeklampsieformen ohne nennenswerte Ödeme oft besonders schwer verlaufen (trockene Präeklampsie). Regelmäßige Kontrollen des Blutdrucks und der Proteinurie im Rahmen der Schwangerenvorsorge stellen die Meilensteine für die Erkennung einer Präeklampsie dar. Bei Schwangeren mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer Präeklampsie (vorausgegangene schwere Präeklampsie, vorbestehende Nierenkrankheiten, Antiphospholipidsyndrom, chronische Hypertonie) sollte die Anzahl der Vorsorgeuntersuchungen erhöht und eine medikamentöse Prophylaxe der Präeklampsie in Betracht gezogen werden (7 Kap. 17.3.8). Auf die Besonderheiten bei der Blutdruckmessung wurde bereits hingewiesen. Die semiquantitative Erfassung der Proteinurie mithilfe des Streifentests hat sich als Screeningtest ebenfalls etabliert, korreliert jedoch bei leichter Proteinurie (1+ positiv) schlecht mit einer 24-h-Urinsammlung (Waugh et al. 2004). Im Gegensatz zum Streifentest weist die Bestimmung der Protein-Kreatinin-Ratio in einer Urinprobe eine höhere Sensitivität und Spezifität in der Vorhersage einer signifikanten Proteinurie (≥300 mg/24 h) auf (Malin et al. 2007). Bei persistierender Proteinurie im Teststreifen sind ein Urinstatus und eine 24-h-Urinsammlung vorzunehmen. Von Interesse ist die kürzlich publizierte systematische Übersicht über die Bedeutung der Proteinurie im Hinblick auf die Inzidenz mütterlicher oder fetaler Komplikationen bei Präeklampsie. Dabei konnte klar gezeigt werden, dass der Schweregrad der Proteinurie nicht mit den Komplikationen assoziiert ist (Thangaratinam et al. 2009). Die Diagnose einer Pfropfpräeklampsie wird gestellt, wenn zu einer chronischen bzw. vorbestehenden Hypertonie eine Proteinurie hinzutritt. Die Abgrenzung der Pfropfpräeklampsie von einer Nierenkrankheit, die mit einer Hypertonie und einer Proteinurie einhergeht, ist schwierig. Der Anstieg des Harnsäurespiegels im Serum, eine Thrombozytopenie, eine Dysfunktion der Leber, des Zentralnervensystems oder anderer Organe deuten auf eine Pfropfpräeklampsie hin. In Zweifelsfällen sollte die Patientin so behandelt werden, als ob eine Pfropfpräeklampsie vorliegen würde. Zusammen mit der Untersuchung umbilikaler und fetaler Gefäße im Rahmen einer fetalen Wachstumsrestriktion ist die Dopplersonographie der uterinen Arterien für die Diagnose einer zugrundeliegenden Plazentainsuffizienz als Ursache der IUWR hilfreich, hat jedoch keinen Einfluss auf das Management. Die Inzidenz von Pathologien im uterinen Strömungsgebiet ist sowohl vom Schweregrad der Präeklampsie als auch vom Gestationsalter bei Diagnosestellung der Präeklampsie abhängig. So werden eine erhöhte Pulsatilität in den Aa. uterinae oder eine persistierende postsystolische Inzisur (»Notch«), bei schweren und frühen Formen der Präeklampsie signifikant häufiger vorgefunden als bei den späten Formen. Nach der 37. SSW werden nur in knapp 29% Auffälligkeiten im Strömungsmuster der A. uterina gefunden, während dies bei Präeklampsiefällen vor der 34. SSW in 87% der Fall ist (Vetter u. Kilavuz 1999; Li et al. 2005).
17
318
Kapitel 17 · Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
17.3.4
Schweregrad und Verlauf
Die Beurteilung des Schweregrads der Präeklampsie wird durch das breite Spektrum der klinischen Symptome, das Ausdruck der unterschiedlichen Organbeteiligung ist, erschwert. Das Ausmaß der Hypertonie ist nicht unbedingt maßgebend für den Schweregrad der Erkrankung. Leichte Formen der Hypertonie können mit einer schweren Beeinträchtigung der Leber- und Nierenfunktion verbunden sein. > Das Gestationsalter bei der Erstmanifestation spielt eine wichtige Rolle bezüglich der Einteilung der Präeklampsie und der Prognose des Schwangerschaftsverlaufs (7 Kap. 17.3.3).
Generell zeigt eine sog. Early-onset-Präeklampsie, d. h. vor der 34. SSW und im Speziellen vor der 28. SSW, einen schwereren Verlauf als eine Präeklampsie, die erst in der Spätschwangerschaft als sog. Late-onset-Präeklampsie manifest wird. Die Early-onset-Präeklampsie ist meistens mit einer Plazentainsuffizienz vergesellschaftet. Die Lateonset-Präeklampsie ist selten mit einer intrauterinen Wachstumsrestriktion assoziiert. Entsprechend finden sich zwischen diesen beiden Gruppen auch deutlich unterschiedliche Resultate der Doppleruntersuchung der A. uterina (Li et al. 2005). Die Vielfältigkeit der klinischen und labormäßigen Präsentation dieses Krankheitsbildes hat zur Einführung der Bezeichnung »atypische Präeklampsie« geführt (. Tab. 17.1).
tigen Konzept nicht als eine klar definierte Krankheit begriffen, sondern als Ausdruck verschiedener Krankheitsbilder, die pathogenetisch in einer gestörten Plazentation mit nachfolgend mütterlicher inflammatorischer Reaktion ihren Ursprung haben. Als besondere Formen werden die Manifestationen einer schweren Präklampsie (oder sogar Eklampsie) vor der 20. SSW (z. B. bei Blasenmole, Triploidie) oder >48 h nach der Geburt betrachtet (Sibai 2009). Atypische Präeklampsien Die nichtproteinurische Präeklampsie ist definiert als Gestationshypertonie ohne Proteinurie, aber mit mindestens einem der folgenden Befunde: 4 Klinische Symptome einer Präeklampsie (. Tab. 17.3) 4 Hämolyse oder Thrombozytopenie (48 h nach der Geburt.
Atypische Präeklampsien
17
Diese verschiedenen Präeklampsievarianten sind Gegenstand intensiver Diskussion in verschiedenen nationalen und internationalen Fachgesellschaften und auch in die neuen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe als eigene Entitäten aufgenommen worden. Es handelt sich um »Abortivformen« der klassischen, schweren Präeklampsie mit ihren typischen Charakteristika, aber z. B. ohne Proteinurie (nichtproteinurische Präeklampsie) oder ohne Hypertonie (nichthypertensive Präeklampsie; Sibai et al. 2009). Die Präeklampsie ist ein Syndrom, das in der Frühschwangerschaft durch eine inadäquate Trophoblastentwicklung initiiert wird und sich klinisch durch pathologische mütterliche und/oder fetale Reaktionen äußert. So betrachtet entwickelt sich die Hypertonie über Wochen und Monate bis hin zum klassischen Bild der Präeklampsie. Die Überlegung, auch die atypische Präeklampsie vermehrt zu berücksichtigen, trägt diesem Prozess Rechnung und durchbricht das eher dichotome Denken der letzten Jahre. Dies entspricht auch der Einteilung von Redman, der anhand des Schweregrades und des Gestationsalters ätiologisch die Präeklamspie in eine maternale und eine plazentare Variante einteilt, wobei die maternale Präeklampsie die späte Form mit praktisch nur mütterlichen Symptomen darstellt, während andererseits die plazentare Variante den frühen, schweren Verlauf – charakterisiert durch eine Plazentainsuffizienz und eine konsekutive mütterliche systemische Reaktion – beschreibt (Redman et al. 1999). Gemäß diesen Überlegungen wird die Präeklampsie im heu-
> Die Einführung der atypischen Präeklampsie in der Klassifizierung von hypertensiven Schwangerschaftserkrankungen trägt der Tatsache Rechnung, dass der Faktor Zeit wichtig ist. Sie bricht mit der dichotomen Betrachtungsweise bzw. Definition der Präeklampsie als »Hypertonie und Proteinurie nach der 20. SSW« und unterstreicht den syndromalen, evolutiven Charakter dieser Erkrankung.
17.3.5
Management
Für das Management der Präeklampsie hat sich die Unterscheidung zwischen einer leichten und einer schweren Form der Erkrankung bewährt (. Tab. 17.6). Dabei ist zu beachten, dass sich eine schwere Präeklampsie langsam über Tage aus einer leichten Präeklampsie entwickeln oder auch ohne prodromale Symptome binnen Stunden auftreten kann. Zur Vermeidung lebensbedrohlicher Komplikationen bei der Mutter muss die frühzeitige Beendigung der Schwangerschaft als einzige kausale Therapie der Präeklampsie grundsätzlich in Betracht gezogen werden. Zusammen mit der Sicherung des mütterlichen Wohlergehens wird idealerweise ein intaktes Überleben des Fetus angestrebt. Die Entscheidung zwischen einem konservativem, die Schwangerschaft verlängernden Management und der raschen Entbindung orientiert sich an den Parametern
319 17.3 · Präeklampsie
4 4 4 4
Zustand der Mutter bzw. Schwere der Erkrankung Zustand des Kindes bzw. Schwere der Plazentainsuffizienz Schwangerschaftsalter Begleiterkrankungen (z. B. Diabetes mellitus Typ 1)
. Tab. 17.6. Einteilung der Präeklampsie. (Nach ACOG 2002)
Präeklampsie
Kennzeichen
Leichte Präeklampsie
Blutdruck 4 systolisch ≥140 mm Hg 4 diastolisch ≥90 mm Hg Proteinurie ≥0,3 g/24 h
Schwere Präeklampsie
Blutdruck 4 systolisch ≥160 mm Hg 4 diastolisch ≥110 mm Hg Labor 4 Proteinurie ≥5 g/24 h 4 Thrombozytopenie 4 Erhöhte Aminotransferasen 4 Erhöhtes Serumkreatinin 4 Erhöhte Laktatdehydrogenase Klinik 4 Hyperreflexie, Kopfschmerzen, Sehstörungen, Wesensveränderungen 4 Rechtseitige Oberbauchschmerzen, epigastrische Schmerzen, Nausea und Erbrechen 4 Retrosternale Schmerzen, Kurzatmigkeit 4 Oligurie 400 ml/24 h Plazenta 4 Intrauterine Wachstumsrestriktion (IUR) 4 Vorzeitige Plazentalösung
Bei einer leichten Präeklampsie bietet sich ein konservatives Management an. Die erforderliche engmaschige Überwachung der Mutter und des Fetus muss in der Mehrzahl der Fälle unter Klinikbedingungen erfolgen. Während die Lungenreifebehandlung mit Glukokortikoiden vor der 34. SSW unbestritten ist, wird der Nutzen einer antihypertensiven Therapie kontrovers beurteilt (7 unten). Bei nachgewiesener Reife des Fetus oder fortgeschrittenem Gestationsalter sollte wegen der Gefahr des Übergangs in eine schwere Präeklampsie die Indikation zur Entbindung großzügig gestellt werden. Bei einer schweren Präeklampsie muss die Patientin unverzüglich hospitalisiert und die Beendigung der Schwangerschaft geplant werden. Vor der Entbindung muss eine stabilisierende Behandlung der Mutter durchgeführt werden, da sonst schwere Komplikationen wie ein eklamptischer Anfall oder eine Hirnblutung auftreten können. Zur Stabilisierung gehören neben der Reizabschirmung gegenüber Lärm, grellem Licht und Schmerz in erster Linie die antikonvulsive Prophylaxe mit Magnesium, die Sen-
kung des Blutdrucks und strikte Kontrolle der Ausscheidung. Bei Vorliegen einer Gerinnungstörung und bei einer Thrombozytenzahl 25 SSW sind die Überlebenschancen des Kindes auch bei konservativem Management sehr gering, und die Beendigung der Schwangerschaft sollte den Eltern wegen des hohen Risikos für Gesundheit und Leben der Mutter nahegelegt werden (Jenkins et al. 2002; Bombrys et al. 2008). 4 Zwischen der 25. und 32. SSW kann unter konservativem Management die Schwangerschaft um durchschnittlich 10 Tage verlängert und dadurch die Überlebenschancen des Kindes erheblich verbessert werden. 4 Nach der 32. SSW ist der Gewinn für das Kind vernachlässigbar, und die Schwangerschaft sollte nach Stabilisierung der Mutter und nach Gabe von Glukokortikoiden innerhalb von 48 h beendet werden. 4 Das obere Zeitlimit von 32 SSW kann in Abhängigkeit von der neonatalmedizinischen Erfahrung und den Resultaten nach unten bis in die 30. SSW, evtl. in die 28. SSW verschoben werden.
Indikationen für den Abbruch des konservativen Managements 4 Unkontrollierbare Hypertonie 4 Therapierefraktäre Kopfschmerzen, Sehstörungen, Oberbauchschmerzen 4 Persistierende Oligurie bis Anurie 4 Gerinnungsstörung, fallende Thrombozytenzahl, Eklampsie 4 Abruptio placentae 4 Lungenödem 4 Fetaler Distress
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320
Kapitel 17 · Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
Allgemeine Maßnahmen Interdisziplinäre Betreuung Eine interdisziplinäre Betreuung der Schwangeren und ihres Partners durch Hebammen, Geburtshelfer, Neonatologen und Anästhesisten ist aus medizinischen und psychologischen Gründen anzustreben. Die Eltern müssen darauf vorbereitet werden, dass eine rasche Beendigung der Schwangerschaft jederzeit notwendig werden kann. Bereits vor der Geburt sollen die Eltern die Intensivstation für Neugeborene kennenlernen und durch die Neonatologen über die kindlichen Risiken und die möglichen therapeutischen Maßnahmen informiert werden. Die Anästhesisten sollten die Patientin frühzeitig sehen, damit jederzeit eine Sectio durchgeführt werden kann.
Bettruhe Bettruhe führt zu einer Verminderung des Sympathikotonus und zu einer Verbesserung der renalen und uteroplazentaren Durchblutung. Sinkende Blutdruckwerte und eine Gewichtsabnahme infolge der Ausschwemmung von Ödemen stellen eine positive Reaktion auf die Bettruhe dar. Einige Stunden zusätzlicher Bettruhe, bei der die Schwangere sich vorwiegend auf die Seite legen soll, sind ausreichend. Der Nachweis des Nutzens von strikter Bettruhe konnte nicht erbracht werden (Goldenberg et al.1994).
Diät Eine kochsalzarme Diät, die früher zur Therapie von Ödemen bei der Präeklampsie häufig eingesetzt wurde, ist heute obsolet, da sie die Tendenz zur Hypovolämie verstärkt. Die einzige prospektive Studie zur Kochsalzrestriktion in der Schwangerschaft zeigte, dass die perinatale Mortalität in der Gruppe mit kochsalzarmer Diät doppelt so hoch war wie in der Kontrollgruppe mit normaler Diät. Unter Kochsalzrestriktion trat zudem häufiger eine »Toxämie« auf (Robinson 1958).
Medikamentöse Therapie Glukokortikoide
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Die antepartale Therapie mit Glukokortikoiden war bei der Präeklampsie nach der initialen Publikation von Liggins u. Howie (1972), die eine erhöhte Inzidenz von intrauterinen Todesfällen in der Gruppe mit Glukokortikoidtherapie beschrieben, lange Zeit verpönt. Diese unerwünschte Wirkung konnte nie bestätigt werden. Die Hypothese, dass die Präeklampsie eine Beschleunigung der Lungenreifung bewirkt, konnte widerlegt werden (Chang et al. 2004), sodass der Benefit einer Behandlung mit Glukokortikoiden vor der 34. SSW heute unbestritten ist. Es wird zudem postuliert, dass die Glukokortikoidtherapie, unabhängig von ihrer Wirkung auf die Lungenreife, die Inzidenz von intrazerebralen Blutungen bei sehr kleinen Frühgeborenen vermindert (Leviton et al. 1993).
Tipp Die Glukokortikoide werden intramuskulär nach folgendem Schema gegeben: 4 Betamethason 2-mal 12 mg, i.m. im Abstand von 24 h 4 Dexamethason 4-mal 6 mg, i.m. im Abstand von 12 h 4 Von einer Wiederholung der Steroidgabe nach 7–10 Tagen wird heute abgeraten
Für die Überwachung des Fetus ist zu beachten, dass Glukokortikoide eine vorübergehende, aber signifikante Reduktion der fetalen Bewegungen und der Variabilität der fetalen Herzfrequenz bewirken (Derks et al. 1985).
Magnesiumsulfat Die Wirksamkeit und Überlegenheit von Magnesiumsulfat (MgSO4) für die Prävention von eklamptischen Anfällen konnte in zahlreichen Studien gezeigt werden. (Lucas et al. 1995; The Magpie Trial 2002; Sibai 2004b). Der protektive Effekt wird durch eine selektive Vasodilatation der zerebralen Gefäße erklärt (Belfort u. Moise 1992). Es hat ferner den Anschein, dass die antepartale Therapie mit Magnesium die Inzidenz von zerebralen Komplikationen bei unreifen Kindern vermindert (Nelson u. Grether 1995). Die Inzidenz von intraventrikulären Blutungen ist bei Neugeborenen von Schwangerschaften mit Präeklampsie generell niedriger, wobei unklar ist, wie weit dies dem Einfluss von Magnesiumsulfat und/oder Glukokortikoiden zuzuschreiben ist (Perlman et al. 1997). In anderen einschlägigen Untersuchungen zur Eklampsieprävention konnte nachgewiesen werden, dass Magnesium anderen zerebral wirksamen Antikonvulsiva wie Diazepam, Phenytoin und Nimodipin überlegen ist (Duley et al. 2003). Ob eine generelle Magnesiumsubstitution auch für Frauen mit leichter Präeklampsie empfehlenswert ist, war lange umstritten (Livingstone et al. 2003). In einer umfangreichen Untersuchung zur Eklampsieprävention bei Frauen mit leichter Präeklampsie mittels Magnesiumsulfat wurden 10.141 Frauen untersucht, wobei 5071 mit Magnesiumsulfat (4 g MgSO4 über 10–15 min, gefolgt von 1 g/h über 24 h) und 5070 Frauen mit Plazebo behandelt wurden. Durch die Magnesiumprophylaxe konnte das Risiko einer Eklampsie um 58% reduziert werden (11 Fälle weniger pro 1000 behandelte Frauen). Etwa jede hundertste Frau mit leichter Präeklampsie profitiert daher von einer Magnesiumtherapie. Zusätzlich konnte die Rate an vorzeitigen Plazentalösungen und die mütterliche Mortalität in geringem, aber signifikantem Ausmaß gesenkt werden (Altman et al. 2002). Magnesiumsulfat wird v. a. intrapartal, vor Geburtseinleitung oder Sectio oder auch während der konservativen Behandlung von früher schwerer Präeklampsie eingesetzt (Sibai 2004b).
321 17.3 · Präeklampsie
Tipp Dosierung Magnesiumsulfat (MgSO4): 4 Bolus 4 g MgSO4 über 5–10 min als Kurzinfusion 4 Erhaltungsdosis: 1–2 g MgSO4/h i.v. mittels Perfusor 4 Bei einem eklamptischen Anfall erneut Bolus von 2 g über 10 min und/oder Erhaltungsdosis auf 1,5–2 g/h steigern 4 Infusion für 24–48 h nach der Geburt oder 24 h nach dem letzten eklamptischen Anfall
Im therapeutischen Bereich ist Magnesiumsulfat für die Mutter und den Fetus gut verträglich. Selten können Kopfschmerzen, Übelkeit und neuroophthalmologische Nebenwirkungen (Diplopie, Ptose, verlangsamte Pupillenreflexe) auftreten. Zu beachten ist die toxische Wirkung des Magnesiums, die bei einer Überdosierung auftreten kann. ! Die therapeutischen Plasmaspiegel des Magnesiums liegen im Bereich von 2–3 mmol/l. Bei Werten >5 mmol/l kommt es zu einem Verlust der Sehnenreflexe und zu einer Atemdepression. Bei Werten >7 mmol/l ist mit Herzrhythmusstörungen, Atemlähmung und Herzstillstand zu rechnen.
Die Gefahr einer Überdosierung ist v. a. bei eingeschränkter Nierenfunktion gegeben, da Magnesium fast ausschließlich über die Nieren eliminiert wird. Die Bestimmung des Magnesiumspiegels im Plasma ist zeitaufwändig und an vielen Orten nicht durchführbar. Für die Routine genügt es, die Urinausscheidung, die Sehnenreflexe und die Atemfrequenz engmaschig zu kontrollieren. ! Die Magnesiumzufuhr muss vermindert oder gestoppt werden, wenn 4 die 4-stündliche Urinausscheidung unter 100 ml fällt, 4 die Sehnenreflexe nicht auslösbar sind, 4 die Atemfrequenz unter 12/min liegt. Bei einer Magnesiumintoxikation soll als Antidot 1 g Kalziumglukonat (Ampulle à 10 ml Kalziumglukonat 10%) langsam intravenös gegeben werden.
tensive Therape 6 h vor dem Ereignis, und nur 43% standen unter einer Magnesiumtherapie. Sechsundneunzig Prozent der Frauen mit Hirnblutungen hatten einen Blutdruck systolisch >160 mm Hg; einen diastolischen Blutdruck >100 mm Hg hatten 21% der Frauen. Eine kindliche Indikation zur antihypertensiven Therapie besteht nicht. Wegen der Gefahr von »fetal distress«, die v. a. bei einer vorbestehenden Plazentainsuffizienz gegeben ist, soll ein überschießender Blutdruckabfall vermieden werden. Für die Blutdrucksenkung werden heute bevorzugt Labetalol und Nifedipin eingesetzt (. Tab. 17.3 und 17.4). Langfristige antihypertensive Therapie. Für eine langfristige antihypertensive Therapie im Rahmen des konservativen Managements der leichten Präeklampsie kommen die gleichen Medikamente wie bei der isolierten Hypertonie (. Tab. 17.3) infrage. Der Wert einer antihypertensiven Medikation bei leichter Präeklampsie ist allerdings umstritten. Befürworter argumentieren, dass der Blutdruck bei der Präeklampsie extrem labil sei und dass durch die antihypertensive Therapie ein akuter Blutdruckanstieg verhütet werden könne. Gegner führen ins Feld, dass eine kurzdauernde Erhöhung des Blutdrucks für die Mutter nicht schädlich sei und dass die uteroplazentare und die fetale Perfusion von einem adäquaten Blutdruck abhänge. Diese Theorie der sog. Bedarfshypertonie steht jedoch im Widerspruch mit der Tatsache, dass die Hypertonie im Rahmen der Präeklampsie im Grunde eine pathologische Reaktion des mütterlichen Organismus auf die Schwangerschaft darstellt. Somit ist der Anstieg des Blutdrucks nicht als ein adaptiver Prozess mit dem Ziel, die intervillöse Minderperfusion zu verbessern, zu verstehen. Diese Überlegungen stehen in einem gewissen Widerspruch mit einer Metaanalyse (von Dadelszen et al. 2000). Es konnte gezeigt werden, dass das fetale Wachstum abhängig vom mittleren arteriellen Blutdruck (MAD) ist. Eine Abnahme des MAD von 10 mm Hg bei Frauen mit moderater Hypertonie im 3. Trimenon war mit einer kindlichen Geburtsgewichtsreduktion von 145 g assoziiert; und dies unabhängig von der Dauer der antihypertensiven Medikation, dem verwendeten Medikament oder der Art der Hypertonie. Auch in einem Teil der Fälle mit leichter Präeklampsie kann der Blutdruckanstieg als eine Adaptation angesehen werden, während es sich bei anderen Fällen um eine pathologische Reaktion des mütterlichen Organismus handelt.
Studienbox
Diuretika
Magnesiumsulfat führt zu einer Verminderung der Variabilität der fetalen Herzfrequenz, jedoch nicht zu einer Verminderung der Anzahl der Akzelerationen (Atkinson et al. 1994). Das biophysikalische Profil des Fetus wird durch Magnesiumsulfat nicht verändert (Gray et al. 1994).
Diuretika (Furosemid) werden nur bei Zeichen einer Herzinsuffizienz oder eines Lungenödems gegeben. Eine Oligurie (60% 4 Status nach Massentransfusion: sobald Thrombozyten >100.000/μl und Quick-Wert >60%: 10.000 IE Heparin/24 h i.v. (Perfusor). Dosisanpassung, bis die Thrombinzeit I ungerinnbar ist und die Thrombinzeit II etwa 10 s beträgt 4 Niedermolekulares Heparin bei nephrotischem Syndrom mit einem Serumalbumin Um die kindliche Exposition zu minimieren, ist es empfehlenswert, Medikamente generell nach der Laktation einzunehmen oder nach erfolgter Einnahme eine Stillkarenz von wenigstens 4 h einzuhalten. Es sollte versucht werden, mit der tiefstmöglichen Dosis auszukommen.
17.3.6
Wiederholungsrisiko und Langzeitprognose
Schwangerschaftskomplikationen wie Präeklampsie, Hypertonie, Plazentainsuffizienz, aber auch Gestationsdiabetes und Frühgeburtlichkeit scheinen darauf hinzuweisen, dass der mütterliche Organismus auf die »Belastung Schwangerschaft« pathologisch reagiert. Es mehren sich die Hinweise, dass Frauen mit Zustand nach plazentaassoziierten Komplikationen im weitesten Sinn ein höheres Risiko aufweisen, später eine Hypertonie zu entwickeln (Wikstrom et al. 2005), an einer koronaren Herzkrankheit, an einem Diabetes mellitus oder gar an einer terminalen Niereninsuffizienz zu erkranken (Vikse et al. 2008; Sattar et al. 2002; Ray et al. 2005). Der Ausgang einer Schwangerschaft liefert wichtige Informationen, die für eine adäquate Beratung und entsprechende Anpassungen des Liefestiles verwendet werden können. Die enge Einbindung des Hausarztes in das Betreuungskonzept von Frauen mit komplizierten Schwangerschaften könnte helfen, die beschriebenen Langzeitrisiken zu reduzieren. Bei Erstgebärenden mit einer »klassischen« Präeklampsie in der Spätschwangerschaft ohne Vorerkrankungen besteht kein erhöhtes Risiko für eine Wiederholung oder die Entwicklung einer Hypertonie im späteren Leben. Das Wiederholungsrisiko und die Langzeitprognose werden hauptsächlich durch mütterliche Vorerkrankungen und bestehende Risikofaktoren bestimmt. Als Risikofaktoren gelten z. B. Adipositas, vorbestehende Hypertonie und frühes Gestationsalter bei Krankheitsmanifestation im Rahmen der letzten Problemschwangerschaft. Da insbesondere Nephropathien häufig stumm verlaufen, muss im Rahmen der Nachuntersuchung eine gezielte Abklärung erfolgen (7 Kap. 17.8). Das Wiederholungsrisiko nach vorausgegangener Schwangerschaft mit schwerer Präeklampsie schwankt in der Literatur zwischen 11,5 und 27% (Spinnato et al. 2007; Villar et al. 2007). Bei früher Präeklampsie >34 Wochen wird ein Wiederholungsrisiko von 25% angegeben (van Rijn et al. 2006). Dieses Risiko kann bei Zustand nach schwerer Präeklampsie im 2. Trimenon, z. B. nach Blasenmole oder Triploidie, bis auf 65% ansteigen (Sibai et al. 1991). Oft nehmen diese »Rezidivpräeklampsien« einen schwereren Verlauf und manifestieren sich früher als bei nulliparen Frauen, die zum ersten Mal eine Präeklamspie entwickeln (Hnat et al. 2002).
17
324
Kapitel 17 · Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
17.3.7
Psychosoziale Folgen
Bei einer Präeklampsie wird eine hochspezialisierte medizinische Diagnostik und Therapie bei Mutter und Kind durchgeführt. Im psychosozialen Bereich besteht dagegen häufig ein Betreuungsdefizit. Die Präeklampsie trifft die Mehrzahl der Eltern völlig unerwartet. Der abrupte Rollenwechsel aus dem »Zustand der guten Hoffnung« in den Zustand der Hochrisikoschwangerschaft stellt ein Trauma dar, das ohne Hilfe häufig schlecht verarbeitet wird. Eine Nachbetreuung der Eltern in einer Gesprächsgruppe unter der Leitung von Hebammen und Ärzten sollte fester Bestandteil des Betreuungsangebots sein. Die Auswertung der Gespräche zeigte folgende Verarbeitungsprobleme: 4 Ausgeliefertsein, Machtlosigkeit, 4 Angst um die Mutter und um das Kind, 4 Schuld- und Versagensgefühle der Mutter, 4 erschwerte Eltern-Kind-Beziehung bei einer Frühgeburt, 4 Hoffnungslosigkeit beim Verlust oder bei einer Behinderung des Kindes, 4 Verunsicherung und Ungewissheit in Bezug auf eine weitere Schwangerschaft. Durch intensive Information und Zuwendung von Seiten der Betreuenden vor, während und nach der Geburt kann die Belastung der Eltern vermindert und die emotionale Bewältigung der Präeklampsie erleichtert werden.
17.3.8
17
Screening und Prävention
Die mit einer Präeklampsie assoziierte hohe Rate an mütterlichen und fetalen Komplikationen und die insbesondere in der Dritten Welt hohe Mortalität unterstreichen die Relevanz von effektiven Screeninguntersuchungen, die es erlauben, Hochrisikopopulationen zu selektionieren, bei denen durch intensivierte antenatale Überwachung und Maßnahmen im Sinn einer sekundären Prophylaxe versucht werden könnte, einerseits die Prävalenz der Erkrankung zu senken und andererseits durch frühe Erfassung die damit vergesellschafteten maternofetalen Komplikationen zu reduzieren. Eine primäre Prophylaxe muss wegen der komplexen und multifaktoriellen Genese des Krankheitsbildes unrealistisch erscheinen. Anamnestische Angaben zusammen mit der Beurteilung des Blutdrucks, der Proteinurie und von Ödemen werden seit über 50 Jahren zur Risikoabschätzung der Entwicklung einer Präeklampsie genutzt (Barton et al. 2008). Ein Screening, basierend lediglich auf anamnestischen Angaben, würde lediglich etwa 30% der schweren und 20% der leichten Formen einer Präeklampsie erfassen (Poon et al. 2009). Ebenfalls ist die Messung des Blutdrucks wenig effektiv, um zwischen den Kollektiven zu differenzieren. Immerhin konnte gezeigt werden, dass der mittlere arterielle Blutdruck (MAD) (diastolischer Blutdruck+1/3×[systolischer–distolischer Blutdruck]) für die Vorhersage einer Präeklampsie deutlich besser geeignet ist. Ein MAD von ≥90 mm Hg ist mit einem 3,5fach
(95%-CI 2,0–5,0) höheren Vorhersagewert assoziiert und weist eine bessere Diskriminierungsfähigkeit auf als der systolische oder diastilische Blurdruck im 1. oder 2. Trimenon (Cnossen et al. 2009). Chien et al. (2000) konnten zeigen, dass pathologische Dopplerbefunde in den Aa. uterinae (erhöhte Pulsatilität und/oder Notch) mit einem 6fach höheren Präeklampsierisiko assoziiert sind. Jedoch liegen die positiven Vorhersagewerte einer pathologischen A. uterina in einer Population mit erhöhtem Präeklampsierisiko zwischen 20 und 60% und in einer Population mit niedrigem Risiko lediglich zwischen 6 und 40%. Dabei scheint eine erhöhte Pulsatilität mit Notch der A. uterina einen höheren prädiktiven Wert für Präeklampsie als für Wachstumsrestriktion zu haben (Cnossen et al. 2008). Wegen der insgesamt limitierten diagnostischen Effizienz ist ein ausschließlich dopplersonographisches Screening in einer Populationen mit geringem Risiko sicherlich nicht gerechtfertigt und in jenen mit erhöhtem Risiko zumindest fragwürdig (Chien et al. 2000; Papagorghiou et al. 2001; Conde-Agudelo et al. 2004; Cnossen et al. 2008; Meads et al. 2008). In den 1960er Jahren konzentrierte sich die Forschung auf nichtbiochemische Marker, wie z. B. die erhöhte AngiotensinII-Sensitivität mit dem Ziel, eine gesteigerte Reaktion auf vasoaktive Substanzen, eine für Präeklampsie typische Eigenschaft, in präeklamptischen Patientinnen nachzuweisen (Talledo 1966). Im Verlauf fokussierte sich die Wissenschaft auf die Identifikation von biochemischen Substanzen, die zur Risikoevaluation einer späteren Präeklampsie genutzt werden konnten. Diverse potenzielle Serummarker wurden bereits untersucht, und die Liste wird ständig länger (Baumann 2007): Inhibin A, Activin A, »placental growth factor« (PlGF), »vascular endothelial growth factor« (VEGF), »soluble vascular endothelial growth factor receptor-1« (sVEGFR-1) oder »soluble fms-like tyrosine kinase-1« (sFlt-1), »placental protein 13« (PP-13), pregnancy-associated plasma protein A« (PAPPA) , humanes Choriongonadotropin (HCG) , »soluble endoglin« (sEng), α-Fetoprotein (AFP), »corticotropin-releasing factor« (CRF), »CRF-binding protein« (CRF-BP), »insulinlike growth factor-1« (IGF-1), »IGF-binding protein-1« (IGFBP-1), Homozystein, »asymmetric dimethylarginine« (ADMA), fetale Erythroblasten und fetale DNA im mütterlichen Serum. Viele dieser Marker wurden während des 2. Trimenons untersucht und eignen sich nicht nur wegen des relativ späten Zeitpunkts einer Risikoevaluation, sondern auch wegen niedriger prädikiver Werte leider nicht für ein Screening (Levine et al. 2005). Wie bereits in 7 Kap. 17.3.1 »Ätiologie und Pathogenese« beschrieben, entwickelt sich die Präeklampsie aufgrund einer gestörten Trophoblastdifferenzierung, die im Blastozystenstadium 6 Tage post conceptionem erfolgt (Huppertz 2008). Die daraus resultierende beeinträchtigte Trophoblastfunktion führt zu einem Ungleichgewicht in der Sezernierung von angiogenen und antiangiogenen Faktoren (Stepan u. Jank 2009), die auf fetoplazentarer Seite eine pathologische Plazentation bewirken (Ahmad u. Ahmed 2004) und auf
325 17.3 · Präeklampsie
mütterlicher Seite eine Endothelstörung sowie eine systemische inflammatorische Reaktion auslösen können (Venkatesha et al. 2006). Diese angiogenen Faktoren wie »placental growth factor« (PLGF) und antiangiogene Faktoren wie sEng und sFlt-1 rückten auf der Suche nach Präeklampsiemarkern und einer prophylaktischen oder therapeutischen Interventionsmöglichkeit ins Zentrum wissenschaftlichen Interesses. In einer kürzlich erschienenen Studie wurden in der 12.–14. SSW im Vergleich mit Kontrollen erhöhte sFLT-1- und sEngSerumkonzentrationen bei Schwangeren, die später eine Präeklampsie entwickelten, beschrieben (Baumann 2008). Zwischen der Serumuntersuchung und der Manifestation der Präeklampsiessymptome lagen mehr als 21 Wochen. Diese vielversprechenden Screeningmarker müssen jedoch noch in prospektiven Longitudinalstudien geprüft werden, bevor sie für den klinischen Alltag genutzt werden können. Bedingt durch die Komplexität der pathophysiologischen Kaskade, die zur Präeklampsie führt, und wegen der reduzierten Effizienz von Einzelparametern, durch die sich die Kollektive genügend sauber trennen ließen, soll die Detektionsrate durch die Kombination von einzelnen, voneinander unabhängigen Parametern (biochemische und nichtbiochemische Marker) und durch Prädiktionsalgorythmen verbessert werden. Stepan et al. (2008) konnten zeigen, dass während des 2. Trimenons eine kombinierte Messung von uteriner Dopplersonographie, sEng und sFlt-1 bezüglich des Präeklampsierisikos eine Sensitivität von 80%, eine Spezifität von 89% und eine positive Vorhersage von 50% erreicht werden kann. Hinsichtlich der Prädiktion einer Early-onset-Präeklampsie erhöhen sich die Werte substanziell auf eine Sensitivität von 99%, eine Spezifität von 93% und eine positive Vorhersage von 71%. Der Grund der besseren Vorhersage der Early-onset-Präeklampsie liegt wohl darin, dass die als Marker verwendeten antiangiogenen Faktoren sEng und sFlt-1 vorwiegend plazentarer Provenienz sind und die Plazentastörung, v. a. bei den frühen Präeklampsieformen, im Vordergrund steht. Bei den späten Formen sind wohl eher konstitutionelle Momente der Mutter mit Dysfunktion der mütterlichen Endothelien von Bedeutung. Poon et al. (2009b) untersuchten 7797 Schwangerschaften während des 1. Trimenons. Mittels logistischer Regressionsanalysen entwickelten die Forscher einen Algorithmus, der uterine Dopplerwerte, MAD (mittlerer arterieller Blutdruck), PAPP-A- und PlGF-Serumkonzentrationen, BodyMass-Index (BMI), Parität sowie Zustand nach Präeklampsie kombiniert: Mit diesem Prädiktionsmodell betrugen für eine Early-onset-Präeklampsie Sensitivität und Spezifität jeweils beachtliche 94% bei einer falsch positiven Rate von 5%. In Zahlen ausgedrückt sind von 7797 Frauen 476 screeningpositiv gewesen. Davon waren 375 falsch positiv (=5% des Gesamtkollektivs). In der Gruppe der screeningpositiven Frauen wurden 101 Fälle mit hypertensiven Erkrankungen gefunden. Entsprechend betrug der Vorhersagewert eines positiven Screeningresultats für hypertensive Störungen lediglich 21,2%. Auch wenn dieser Wert etwas nüchtern
erscheint, waren in diesem Kollektiv immerhin 93,1% der Frauen mit Early-onset-Präeklampsie, 35,7% der Frauen mit später Präeklampsie und 18,3% der Frauen mit schwangerschaftsinduzierter Hypertonie vertreten. Der negative Vorhersagewert dieser Arbeit lag bei stattlichen 97,4%. Einschränkend muss erwähnt werden, dass zusätzlich PIGF nur in einem kleinen Kollektiv von Frauen (627 von 7.797 Fällen) bestimmt worden ist. Diese, von verschiedenen Gruppen beschriebenen Resultate sind vielversprechend, müssen jedoch vorerst noch in prospektiven Studien mit unterschiedlichen Populationen validiert werden, bevor ein solcher Algorithmus Eingang in den klinischen Alltag findet. Ein Screening ist nur dann sinnvoll, wenn bei positivem Resultat mittels einer geeigneten Intervention die Prävalenz der Erkrankung und/oder die damit assoziierte Morbidität gesenkt werden können. Bei Präeklampsie wurde eine ganze Reihe von Interventionen untersucht, die größtenteils als ineffizient oder sogar als gefährlich eingestuft werden mussten (Meads et al. 2008). So wurde z. B. in älteren Arbeiten eine kochsalzarme Diät zur Ödemtherapie im Rahmen einer Präeklampsie propagiert. Diese Haltung ist aufgrund klinischer Studienresultate (Robinson 1958) obsolet. Eine kochsalzrestriktive Ernährung wird nur empfohlen, wenn entweder eine kochsalzempfindliche Hypertonie oder eine eingeschränkte mütterliche Nierenfunktion den Schwangerschaftsverlauf beeinträchtigen. Als Prophylaxe, die die Entwicklung einer Präeklampsie verhindern oder in ihrer Ausprägung günstig beeinflussen kann, werden die folgenden Interventionen diskutiert: 4 Low-dose-Aspirin (60–100 mg/Tag), 4 Low-dose-Heparin (5.000–10 000 IE niedermolekulares Heparin/Tag), 4 Supplementation von Kalzium, ω-3-Fettsäuren und Antioxidanzien.
Azetylsalizylsäure Azetylsalizylsäure hemmt in einer täglichen Dosis von 60– 100 mg selektiv die Thromboxansynthese. Die Ursache der Präeklampsie ist weitgehend unklar. Jedenfalls weiß man, dass eine fehlerhafte Trophoblastinvasion der Spiralaterien in der Frühschwangerschaft zu einer Hypoperfusion der Plazenta mit Ischiämie und Infarktbildungen führt. Der dadurch entstandene Schaden bedingt eine Aktivierung der Thrombozyten, mit gesteigerter Aggregationsneigung, und des Gerinnungssystems. Es kommt zu einem Ungleichgewicht zwischen Prostazyklin, einem potenten Vasodilatator, und Thromboxan, einem Vasokontriktor. Die Prostazyklinsynthese wird in dieser Dosierung nicht wesentlich beeinträchtigt. Daraus resultiert eine Korrektur des Thromboxan-Prostazyklin-Ungleichgewichts zugunsten des Prostazyklins. Der initiale Optimismus wurde durch nachfolgende größere Studien abgeschwächt (CLASP 1994). In einer kürzlich erschienen Metaanalyse konnte jedoch gezeigt werden, dass Aspirin das Risiko für Präeklampsie signifikant senkt. Negative Effekte auf den Fetus und ein erhöhtes Blutungsrisiko unter der Geburt wurden bei der verwendeten Dosierung nicht gefunden.
17
326
Kapitel 17 · Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
Studienbox Die prophylaktische Gabe von Azetylsalizylsäure senkt das Riskio einer Präeklampsie um 10% (RR 0,90, 95%-CI 0,84–0,97). Diese Abnahme ist unabhängig vom Risikostatus, scheint aber größer zu sein bei höheren Azetylsalizylsäuredosen (100 mg anstatt 50–60 mg) und bei Beginn der Prophylaxe in einem früheren Gestationsalter, d. h. vor der 20. SSW. Zudem wird über eine Abnahme des Risikos einer Geburt vor der 34. SSW um 10% (RR 0,90, 95%CI 0,83–0,98) berichtet. Die Analyse zeigt auch, dass das Risiko für untergewichtige Kinder um 10% und dasjenige für intrauterinen Fruchttod oder neonatalen Tod um 9% gesenkt wird. Auch wenn die letzteren Zahlen nur knapp nichtsignifikant waren, wird das Gesamtrisiko für einen ungünstigen Ausgang der Schwangerschaft durch die Aspiringabe um 10% gesenkt (RR 0,90, 95%-CI 0,85–0,96; Askie et al. 2007).
Die zahlreichen Studien lassen keine verbindlichen Rückschlüsse darüber zu, welche Untergruppen von Schwangeren von einer niedrig dosierten Aspirinprophylaxe tatsächlich profitieren. Auch über den Zeitpunkt des Beginns und die optimale Dosierung besteht keine Einigkeit (Dekker u. Sibai 2001).
Studienbox Bei einem Niedrigriskokollektiv konnte kein eindeutiger Effekt von Aspirin auf die Inzidenz von Präeklampsie festgetellt werden, sodass eine generelle prophylaktische Gabe in dieser Gruppe nicht angezeigt ist (Subtil et al. 2003a). Die Resultate einer weiteren Multicenterstudie der gleichen Gruppe aus Frankreich ergaben ferner, dass ein Screening mittels uteriner Dopplersonographie in der 20.–24. SSW in einer Population mit geringem Risiko in Verbindung mit der Gabe von 100 mg Acetylsalicylsäure bei pathologischen Werten nicht sinnvoll ist (Subtil et al. 2003b).
17
Bei den folgenden Indikationen wird eine prophylaktische Gabe von 100 mg Azetylsalizylsäure, beginnend im 1. Trimenon ab der 8.–10. SSW, empfohlen (Uzan et al. 1991): 4 vorrausgegangene schwere Präeklampsie, 4 vorausgegangene schwere intrauterine Wachstumsrestriktion, 4 Antiphospholipidantikörpersyndrom (7 Kap. 17.7).
Heparin Der Einsatz von unfraktioniertem (UH) oder Low-molecularweight-Heparin (LMWH) zur Senkung des Thromboserisikos bei Frauen mit Thrombophilie oder Zustand nach thromboembolischen Komplikationen ist gut untersucht und wurde in den kürzlich erschienenen Guidelines von Bates et al. (2008) zusammengefasst. Auf die daraus resultierenden Empfehlungen wird in 7 Kap. 19 näher eingegangen.
Obschon thrombotische Ereignisse im uteroplazentaren Kreislauf häufig mit Komplikationen wie einer schweren Präeklampsie, Small-for-gestational-age-Kindern und vorzeitiger Plazentalösung assoziiert sind, ist die Datenlage bezüglich des Zusammenhangs zwischen Thrombophilie und Präeklampsie widersprüchlich (Kupferminc et al. 1999; Facchinetti et al 2009; Kahn et al. 2009). Bislang gibt es keine zuverlässigen Studien, die zeigen konnten, dass die Gabe von unfraktioniertem Heparin oder LMWH das Präeklamspsierisiko bei Frauen mit kongenitaler oder erworbener Thrombophilie reduziert (Rodger et al. 2008, Middeldorp et al. 2007). Bei Frauen mit Thrombophilie und Zustand nach plazentagebundener Komplikation beschränkt sich deshalb die Indikation zur präventiven Verabreichung von unfraktioniertem Heparin oder LMWH auf die Thromboembolieprophylaxe. Präeliminäre Daten zeigen aber, dass in einem selektionierten Hochrisikokollektiv ohne kongenitale Thrombophilie die Rate an plazentagebundenen Komplikationen signifikant gesenkt werden konnte (Rey et al. 2009): Dalteparin wurde gewichtsadaptiert vor der 16. SSW bis maximal zur 36. SSW verabreicht. Das Risiko für Schwangerschaftskomplikation generell wurde im Kollektiv mit LMWH von 23,6 auf 5,5% (OR 0,15, 95%-CI 0,03–0,70) signifikant gesenkt. Ein besseres Schwangerschaftsoutcome wurde auch von Sergio et al. (2006) beschrieben bei Frauen mit Zustand nach schwerer Präeklampsie, die in der Folgeschwangerschaft mit LMWH allein oder zusätzlich mit niedrig dosiertem Aspirin behandelt worden sind (Mello et al. 2005). Aspirin und LMWH zeigten ebenfalls bessere Resultate bei Frauen mit renalen Störungen (North et al. 1994). > In Anbetracht der kleinen Fallzahlen und der größtenteils nicht randomisierten Studien sollte Heparin allein oder in Kombination mit Aspirin im Sinn einer Präeklampsieprävention allenfalls für ein Hochrisikokollektiv diskutiert werden (Dao et al. 2009).
Kalzium Eine inverse Relation zwischen Kalziumzufuhr und der Inzidenz von hypertensiven Schwangerschaftserkrankungen wurde von Belizan et al. (1991) beschrieben. Eine niedrige Kalziumzufuhr führt zu einer Erhöhung des Parathormonspiegels im Plasma oder zu einer vermehrten Reninausschüttung. Daraus resultieren erhöhte Kalziumspiegel in den glatten Muskelzellen, die via Vasokonstriktion die Entstehung einer Hypertonie begünstigen (Bucher et al. 1996). In einer systematischen Übersichtsarbeit (Hofmeyr et al. 2007) konnte gezeigt werden, dass nicht nur die Hypertonie in der Gruppe mit Kalzium gesenkt wird (RR 0.70; 95%CI 0,57–0,86) sondern auch die Präeklampsie (RR 0,48; 95%-CI 0,33–0,69). Dabei war der Effekt der Prophylaxe am größten bei Frauen mit hohem Risiko für hypertensive Schwangerschaftserkrankungen (RR 0,22; 95%-CI 0,12–0,42) oder kalziumarmer Ernährung (RR 0,36; 95%-CI 0,18–0,70). Entsprechend konnten auch die mütterliche Morbidität und Mortalität signifikant gesenkt werden (RR 0,80; 95%CI 0,65–0,97).
327 17.4 · Eklampsie
> Eine Kalziumsubstitution von mindestens 1–2 g täglich halbiert das Risiko für Präeklampsie, wobei der Effekt ausgeprägter ist bei Frauen mit hohem Risiko für hypertensive Erkrankungen oder niedriger Kalziumzufuhr. Für dieses spezielle Kollektiv wird Kalzium als präventive Maßnahme empfohlen.
Omega-3-Fettsäuren ω-3-Fettsäuren kommen in der Nahrung als Linolensäure, Eikosapentaensäure (EPA) und Decosahexaensäure (DHA) vor. Linolensäure ist in pflanzlichen Ölen enthalten, EPA und DHA finden sich ausschließlich in Fischölen. Die essenziellen ω-3-Fettsäuren sind Vorläufer des Prostazyklins und hemmen kompetitiv die Arachidonsäure, den Vorläufer des Thromboxans A2. Die Downregulation der Prostaglandinsynthese kann auch zu einer Senkung der Frühgeburtlichkeit führen. Frauen der Inuit, die sich fischölreich ernähren, weisen ein geringeres Risiko für die Entwicklung einer Präeklampsie und einer IUWR als Europäerinnen auf (Olson et al. 2000; Williams et al. 1995). Eine adäquate Anreicherung der Ernährung mit diesen Fettsäuren (mind. 340 g Meeresfrüchte/Woche) führt auch zu einer besseren kindlichen neurologischen Entwicklung (McGregor et al. 2001; Hibbeln et al. 2007; Genius et al. 2008). Die Überprüfung anderer Modifikationen der Diät während der Schwangerschaft wurde in kleineren randomisierten Untersuchungen vorgenommen. Dabei konnten keine positiven Einflüsse auf den Schwangerschaftsverlauf gezeigt werden (Villar et al. 2004).
Antioxidanzien Es wird vermutet, dass oxidativer Stress mit Schädigung der Zellmembranen von Endothelien, Leukozyten und Thrombozyten durch überschießende Lipidperoxidation eine Rolle in der Pathogenese der Präeklampsie spielt (Roberts u. Hubel 1999). Die Lipidperoxidation wird durch freie Radikale initiiert. Antioxidanzien schützen die Zellmembranen, indem sie die Energie, die durch freie Radikale generiert wird, absorbieren. In kleineren Studien wurde eine verminderte Prävalenz von Präeklampsien in der Gruppe mit Vitamin C und E als antioxidativ wirkende Substanzen gefunden (Mikhail et al. 1994), in anderen wiederum nicht (Beazley et al. 2005). Die CochraneAnalyse vom 2008 über den Einsatz von Antioxidanzien in der Schwangerschaft konnte ebenfalls keinen eindeutig positiven Zusammenhang zwischen Vitamin C und E und positivem Ausgang der Schwangerschaft zeigen. Beunruhigend ist die Tatsache, dass im Vergleich mit Kontrollen mehr Frauen, die Vitamin C und E erhalten hatten, einer hypertensiven Behandlung bedurften und deswegen hospitalisiert wurden (Rumbold et al. 2008) und das Risiko für untergewichtige Kinder sogar höher war als in der Plazebogruppe (Poston et al. 2006).
17.4
Eklampsie
Eklampsie Unter einer Eklampsie versteht man generalisierte tonischklonische Krämpfe, die antepartal, intrapartal oder innerhalb von 7 Tagen postpartal auftreten. Ein zerebrales Anfallsleiden oder andere Zustände, die zu zerebralen Anfällen prädisponieren, müssen ausgeschlossen sein.
Die Anfälle beginnen mit einer tonischen Phase, die etwa 15 s dauert. Darauf folgt eine klonische Phase von etwa 60 s Dauer, die meist von einer Apnoe begleitet wird. Die postiktale Bewusstseintrübung kann einige Minuten bis mehrere Stunden dauern. Die Anfälle können sich wiederholen und gehen selten in einen konvulsiven Status über. Die Eklampsie wird allgemein als Endpunkt der Präeklampsie angesehen. Allerdings sind in bis zu 40% der Fälle einer Eklampsie weder eine Hypertonie noch eine Proteinurie bekannt, und prodromale Symptome können fehlen. Das griechische Wort εκλαμπσια (»die plötzlich Hervorschießende«) ist somit eine treffende Bezeichnung.
17.4.1
Pathogenese
Als auslösende Faktoren der Eklampsie werden eine zerebrale Ischämie infolge von Spasmen und Mikrothromben der kleinen intrakraniellen Gefäße, endotheliale Schädigung sowie eine hypertensive Enzephalopathie mit Hyperperfusion und Blutung diskutiert (Morris et al. 1997). Auf Computer- und Magnetresonanztomogrammen können Veränderungen festgestellt werden, die charakteristisch für eine zerebrale Ischämie, Infarkt und Blutung sind (Zeeman et al. 2004). Die histopathologischen Befunde sind denjenigen bei anderen hypertensiven Enzephalopathien ähnlich und umfassen Thrombosen und fibrinoide Nekrosen der Arteriolen, Mikroinfarkte und fokale Blutungen (Redman 1995).
17.4.2
Inzidenz und Risikofaktoren
Die Inzidenz der Eklampsie beträgt in Westeuropa 1:2000 bis 1:3500 Geburten. Die Inzidenz ist im Lauf der letzten 50 Jahre drastisch gesunken, z. B. in Großbritannien von 8:1000 auf 0,5:1000 Geburten (Douglas u. Redman 1994). Die Abnahme wird hauptsächlich auf die verbesserte Diagnostik und das aggressive Management der Präeklampsie zurückgeführt. In Ländern der Dritten Welt variiert die Inzidenz erheblich und liegt bei 6–100 auf 10.000 Lebendgeburten (WHO 1988). Am höchsten ist sie bei jungen farbigen Erstgebärenden mit niedrigem Sozialstatus. Ein erhöhtes Risiko besteht: 4 bei Schwangeren unter 19 Jahren (3,0), 4 bei Mehrlingsschwangerschaften (6,0), 4 nach vorausgegangener Präeklampsie oder Eklampsie (1,5) (Douglas u. Redman 1994).
17
328
Kapitel 17 · Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
17.4.3
Auftreten und Prodromalsymptome
Nach Douglas u. Redman (1994), die 383 Fälle mit Eklampsie retrospektiv untersuchten, ereigneten sich 38% der eklamptischen Anfälle vor der Geburt, 18% während der Geburt und 44% nach der Geburt. Zwölf Prozent der postpartalen Anfälle traten mehr als 48 h, 2% mehr als 6 Tage nach der Geburt auf. Die Eklampsie manifestierte sich in 77% der Fälle während der Hospitalisation. Nur bei 62% dieser Patientinnen waren vor dem Anfall eine Hypertonie und eine Proteinurie bekannt. Prodromale Symptome hatten 59% der Patientinnen, am häufigsten Kopfschmerzen (50%), gefolgt von Sehstörungen (19%) und epigastrischen Schmerzen (19%).
17.4.4
Management
Therapie des eklamptischen Anfalls Das Management des eklamptischen Anfalls beruht auf 3 Prinzipien (. Tab. 17.7): 4 antikonvulsive Therapie und Stabilisierung, 4 Blutdrucksenkung, 4 rasche Entbindung. > Ein eklamptischer Anfall muss möglichst rasch unterbrochen werden. Falls die erwähnten Maßnahmen den eklamptischen Zustand nicht beheben, müssen mittels Intubation die Luftwege offen gehalten werden, um eine adäquate Oxygenierung sicherzustellen.
Bedeutung für Mutter und Kind
Die mütterliche Mortalität beträgt 1,5–2%. In Westeuropa ist die Eklamspie für etwa 10% aller mütterlichen Todesfälle verantwortlich (Steiner 1989; Douglas u. Redman 1994; Welsch u. Krone 1994). Die mütterliche Morbidität ist hoch (7 Übersicht).
Mütterliche Komplikationen in Zusammenhang mit einem eklamptischen Anfall (nach Douglas u. Redman 1994) 4 4 4 4 4 4 4 4
17.4.5
Künstliche Beatmung: 23% Disseminierte intravasale Gerinnung: 9% HELLP-Syndrom: 7% Nierenversagen: 6% Lungenödem: 5% Adult-respiratory-distress-Syndrom: 2% Intrazerebrale Blutung: 1,8% Herzstillstand: 1,6%
Die kindliche Mortalität beträgt 7–12%. Die Mehrzahl der kindlichen Todesfälle ist mit extremer Frühgeburtlichkeit oder mit einer vorzeitigen Plazentalösung assoziiert (Ounsted 1988).
Weitere unterstützende Maßnahmen bei einem eklamptischen Anfall (nach Sibai 2005) 4 Einlage eines Gummikeils zwischen die Zähne zur Verhütung eines Zungenbisses (Cave: Verschlucken des Gummikeils) 4 Seitenlagerung zur Aspirationsprophylaxe 4 Intensivüberwachung (Blutdruck, Puls, Oxymetrie, CTG) 4 Sauerstoffgabe (8–10 l/min) über Maske
In prospektiven kontrollierten Studien konnte gezeigt werden, dass Magnesiumsulfat dem Phenytoin und dem Diazepam für die Prophylaxe von weiteren eklamptischen Anfällen überlegen ist (Eclampsia Trial Collaborative Group 1995; Lucas et al. 1995). Es wird angenommen, dass die krampfhemmende Wirkung des Magnesiums hauptsächlich auf der Dilatation von intrakraniellen Gefäßen beruht sowie der Hemmung des Einstroms von Kalziumionen in ischämische Nervenzellen, der Aggregation von Thrombozyten, dem Schutz der Endothelzellen vor freien Radikalen und der kompetitiven Hemmung von Glutamat-Asparat-Rezeptoren (Roberts 1995). Auf die toxische Wirkung des Magnesiumsulfats wurde bereits eingegangen (7 Kap. 17.3.5). Es sei an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen, dass die Urinausscheidung
17 . Tab. 17.7. Medikamentöse Therapie bei eklamptischen Anfällen
Substanzen
Dosierung
Antikonvulsive Therapie
MgSO4
4 g über 5–10 min über Perfusor, gefolgt durch Erhaltungsdosis von 1 g/h für 24 h (nach dem letzten Anfall)
Erneuter Anfall unter MgSO4
MgSO4
Weiterer Bolus von 2 g i.v. über 5 min oder eine Steigerung der Infusionsrate auf 1,5–2 g i.v./h (Perfusor)
2. Wahl
Diazepam
10–20-mg langsam i.v.
Pentothal
75–125-mg langsam i.v.
Labetalol
Bolus: 20 mg i.v. (40 mg, 80 mg nach jeweils 10 min, maximal 300 mg) oder Infusion: 20–160 mg/h (Perfusor)
Blutdrucksenkung (. Tab. 17.3)
329 17.5 · HELLP-Syndrom
(≥20ml/h), die Sehnenreflexe und die Atemfrequenz (≥12/ min) regelmäßig kontrolliert werden müssen. Als Antidot für eine Magnesiumintoxikation wird Kalziumglukonat 1 g (10 ml) über 10 min i.v. verabreicht.
Studienbox Trotz Magnesiumtherapie können nicht alle eklamptischen Anfälle vermieden werden. Sibai et al. (1986) fanden unter 200 Eklampsien 70 Fälle (35%), die sie als nicht verhinderbar einstuften. Dabei lagen folgende Umstände vor: 4 Anfälle ohne bekannte Präeklampsie (31 Fälle), 4 spät auftretende postpartale Anfälle (22 Fälle), 4 Anfälle unter Magnesiumtherapie (7 Fälle), 4 Anfälle bei leichter Präeklampsie (7 Fälle), 4 Anfälle vor der 20. SSW (3 Fälle).
Der eklamptische Anfall geht oft mit einer exzessiven Blutdruckerhöhung einher. Intrazerebrale Blutungen stehen in direktem Zusammenhang mit dem Ausmaß der Hypertonie und sind für 15–20% der tödlichen Verläufe verantwortlich (Lewington et al. 2002). Generell wird eine aggressive antihypertensive Therapie bei persisitierenden Blutdruckwerten von diastolisch >105–110 mm Hg und systolisch von ≥160 mm Hg empfohlen (National Institutes of Health 2000; . Tab. 17.3). > Sobald der Zustand der Patientin stabil ist, muss die Entbindung erfolgen. Falls der vaginale Befund eine rasche Geburt erwarten lässt, kann eine Geburtseinleitung versucht werden. Bei unreifem vaginalem Befund ist eine primäre Sectio angezeigt. Das postpartale Management wird gehandhabt wie bei der Präeklampsie.
Neurologische Abklärung Bei Anfällen, die ohne Zeichen einer Präeklampsie oder später als 48 h nach der Geburt auftreten, sowie bei persistierenden neurologischen Symptomen müssen ein EEG und ein CT oder MRT des Schädels veranlasst werden.
Studienbox Lubarsky et al. (1994) fanden bei 8 von 62 Patientinnen mit späten postpartalen Anfällen andere Krankheiten, darunter in 5 Fällen eine zerebrale venöse Thrombose und in je einem Fall ein Sturge-Weber-Syndrom, eine neu aufgetretene Epilepsie und eine hepatische Enzephalopathie.
17.5
HELLP-Syndrom
HELLP-Syndrom Die Assoziation einer Hämolyse und einer Thrombozytopenie mit einer schweren Präeklampsie oder einer Eklampsie ist in der Geburtshilfe seit langem bekannt. Weinstein prägte 1982 den Begriff des HELLP-Syndroms (»haemolyis, elevated liver enzymes, low platelets«) und stufte das Syndrom als schwere Verlaufsform der Präeklampsie ein.
Die Inzidenz des HELLP-Syndroms beträgt bei Patientinnen mit einer Präeklampsie 10–14%, bei Patientinnen mit einer Eklampsie bis zu 30%. In den letzten Jahren wird das HELLPSyndrom zunehmend häufiger und früher diagnostiziert. Dies ist weniger auf einen Wandel des Erscheinungsbildes der Präeklampsie als vielmehr auf einen Bewusstwerdungsprozess der Ärzteschaft zurückzuführen (Rath et al. 1992).
17.5.1
Pathophysiologie
Die Symptomentrias des HELLP-Syndroms lässt sich durch die Mikrozirkulationsstörung im Rahmen der Präeklampsie erklären. Infolge der Endothelzellschädigung kommt es zu einer Vasokonstriktion, zu einer gesteigerten Aggregation der Thombozyten und zu einer Aktivierung der intravasalen Gerinnung mit Bildung von Mikrothromben. Daraus resultieren eine Thrombozytopenie und eine mehr oder weniger ausgeprägte Hämolyse, die durch eine mechanisch-hypoxische Schädigung der Erythrozyten bei der Passage durch die verengten Blutgefäße verursacht wird. Die erhöhten Leberenzyme sind Ausdruck einer hypoxischen Leberzellschädigung, die sich histologisch in periportalen Leberzellnekrosen äußert.
17.5.2
Bedeutung für Mutter und Kind
Das HELLP-Syndrom ist gemäß der älteren Literatur mit einer mütterlichen Mortalität von 3–5% und einer perinatalen Mortalität von 22–24% belastet. In neueren Studien liegen die mütterliche Mortalität bei 0–1% und die prinatale Mortalität unter 15% (Rath et al. 1994; Visser u. Wallenburg 1995). Neben der Manifestation einer disseminierten intravasalen Gerinnung muss in bis zu 20% der Fälle mit einer vorzeitigen Plazentalösung, bei 8% mit einer Niereninsuffizienz, bei 5% mit intrakranialen Blutungen und bei 4,5% mit einem Lungenödem gerechnet werden (Sibai et al. 1993). Eine lebensbedrohliche Komplikation stellt die Ruptur eines subkapsulären Leberhämatoms dar, die bei 1,5–1,8% der Patientinnen mit HELLP-Syndrom auftritt und mit einer mütterlichen Mortalität von 56–61% und einer fetalen Mortalität von 62–77% belastet ist (Hüskes et al. 1991). Bei klinischem Verdacht auf ein subkapsuläres Hämatom kann besonders vor der Ruptur eine MRT- oder Ultraschalluntersuchung hilfreich sein (Barton u. Sibai 1996). Die Leberruptur kann sich sowohl
17
330
Kapitel 17 · Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
antepartal als auch postpartal ereignen und manifestiert sich durch Schockzeichen sowie Schulter- und Flankenschmerzen. Bei schwerer Symtomatik muss neben Schockbekämpfung mit Substitution von Volumen, FFP, Erythrozyten- und Thrombozytenkonzentraten unverzüglich laparotomiert werden. Die Blutstillung kann durch gezielte Gefäßumstechungen, Fibrinkleber, eine Netzplombe oder Einpacken der Leber in ein hämostatisches Vicrylnetz erfolgen. Auch der erfolgreiche Einsatz von rekombinantem Faktor VIIa (Merchant et al. 2004) sowie Lebertransplantation wurde beschrieben (Hunter et al. 1995).
17.5.3
Klinische Symptome und Diagnose
Sibai et al. (1993) haben bei 442 Schwangerschaften mit HELLP-Syndrom folgende Charakteristika gefunden: Auftreten in 69% der Fälle antepartal (3% im 2. Trimenon) und in 30% der Fälle postpartal (meist innerhalb von 48 h). Bei 79% der Patientinnen lagen Zeichen einer Präeklampsie vor. Die Symptome des HELLP-Syndroms sind unspezifisch. Die Patientinnen klagen über allgemeines Unwohlsein (90%)‚ epigastrische Schmerzen (90%), Nausea oder Erbrechen (50%). Die klinische Untersuchung zeigt eine Druckdolenz im rechten Oberbauch (80%)‚ eine rasche Gewichtszunahme oder generalisierte Ödeme (60%). Die Hypertonie ist schwer (50%), leicht (30%) oder kann fehlen (20%). Eine Proteinurie liegt in 85–95% aller Fälle vor. Gelegentlich präsentiert sich das Syndrom als Krampfanfall, gastrointestinale Blutung, Hämaturie, Flanken- oder Schulterschmerz. Häufige Fehldiagnosen sind Gastroenteritis, Pyelonephritis, Appendizitis, Glomerulonephritis, Cholezystitis, Magenulkus oder akute Schwangerschaftsfettleber.
17
! Zur Vermeidung dieser Fehldiagnosen sollte deshalb bei allen Schwangeren, die eines oder mehrere der oben erwähnten Symptome aufweisen, unabhängig von der Höhe des Blutdrucks ein Laborscreening mit Blutbild, Thrombozyten und Leberenzymen veranlasst werden. Es muss jedoch betont werden, dass v. a. die Oberbauchschmerzen inklusive die epigastrischen Beschwerden noch vor den typischen Laborveränderungen auftreten können (Martin et al. 2006).
4 Leberfunktionsstörung, charakterisiert durch erhöhte Serumspiegel der Aspartataminotransferase (ASAT) und der Alaninaminotransferase (ALAT). Die ASAT steigt in der Regel höher an als die ALAT. 4 Thrombozytenabfall auf 160/110 mm Hg müssen wegen der Gefahr einer mütterlichen Hirnblutung durch Antihypertensiva (Labetalol i.v.) rasch gesenkt werden. Unbestritten ist die Lungenreifeinduktion mit Glukokortikoiden vor der 34. SSW. In einer randomisierten Studie wurde nach antepartaler Gabe von Glukokortikoiden (10 mg Dexamethason 12-stündlich i.v.) ein Anstieg der Thrombozy-
tenzahl und der Urinausscheidung sowie ein Abfall der Leberenzyme gefunden (Magann et al. 1994a). Eine Metaanalyse von 5 randomisierten Studien konnte jedoch keine signifikante Verbesserung der mütterlichen Morbidität und auch Mortalität nach hochdosierter Steroidapplikation zeigen (Matchaba u. Moodley 2004). Ähnliche Resultate fanden Fonseca et al. (2005). Dexamethason wirkte sich jedoch günstig auf die Urinproduktion, den mittleren arteriellen Druck, den Anstieg der Thrombozyten und den Abfall der Leberenzyme aus. Hoch dosiertes Dexamethason (10 mg i.v. alle 12 h bis zu einer deutlichen Zustandsverbesserung) ist in seiner Auswirkung auf die genannten mütterlichen Parameter effektiver als eine niedrige Dosierung (5 mg) oder als Betamethason i.m. Nach Martin et al. (2006) profitieren v. a. Patientinnen mit HELLP-Syndrom der Mississippi-Klassen 1 und 2 von dieser Behandlung. Die DGGG empfiehlt nun ebenfalls die Gabe von Steroiden zur Prolongation der Schwangerschaft. Dabei wird Methylprednisolon in einer Dosierung von 32 mg/Tag i.v. oder Dexamethason 10 mg 8- bis 12-stündlich i.v. verabreicht. Aus der vorliegenden Literatur ist insgesamt unklar, inwieweit die hoch dosierte Steroidtherapie sich günstig (oder ungünstig) auf die kindliche und mütterliche Situation auswirkt. In randomisierten Studien und Metaanalysen ist ein deutlicher Effekt jedenfalls nicht ersichtlich, auch wenn die pathophysiologischen Überlegungen korrekt zu sein scheinen (Matchaba u. Moodley 2004; Fonseca et al. 2005; Martin et al. 2006). Sowohl die Indikation zur hochdosierten Steroidmedikation, das zu verwendende Steroid, dessen Dosierung und Dosierungsintervall als auch die Dauer der Behandlung sind Gegenstand intensiver Diskussionen und werden sehr unterschiedlich beurteilt. Wir verwenden, z. B. bei schwerem HELLP-Syndrom mit rasch fallenden Thrombozytenwerten, Betamethason in einer Dosierung von 16 mg/16 mg/8 mg/8 mg i.m. in 12stündlichen Intervallen. Somit ist gleichzeitig die Lungenreifungsinduktion gesichert, was beim Einsatz von Prednison nicht der Fall wäre.
Entbindung Nach Stabilisierung des mütterlichen Zustands sollte, unabhängig vom Gestationsalter, die Entbindung vorgenommen werden. In der Mehrzahl der Fälle wird man sich angesichts des unvorhersehbaren Verlaufs des HELLP-Syndroms für eine primäre Sectio entscheiden. Allerdings sind die Risiken bei einer Sectio für die Mutter erheblich, sodass bei spontaner Wehentätigkeit und progressiver Muttermundseröffnung die Möglichkeit einer vaginalen Geburt wahrgenommen werden sollte. Bei einer Gerinnungsstörung mit einer Thrombozytenzahl 32 (–34) SSW stellt sich analog zur schweren Präeklampsie die Frage, ob mit einem abwartenden Verhalten die perinatale Morbidität und Mortalität gesenkt werden kann, ohne dass dadurch die Mutter gefährdet wird.
Studienbox
17
Visser u. Wallenburg (1995) untersuchten in der bisher größten kontrollierten Fallstudie bei einem Gestationsalter >34 SSW ein expektatives Management bei je 128 Patientinnen mit schwerer Präeklampsie mit und ohne HELLP-Syndrom. Zur Überwachung des mütterlichen Kreislaufs wurden während 1–3 Tagen ein pulmonaler Einschwemmkatheter und ein peripherer arterieller Katheter gelegt. Bei Bedarf wurden Plasmaexpander (PPL), Vasodilatatoren (Dihydralazin) und Antihypertensiva (Methyldopa) eingesetzt. Glukokortikoide wurden nicht gegeben. Die mediane Verlängerung der Schwangerschaft betrug mit HELLP-Syndrom 13 Tage, ohne HELLP-Syndrom 17 Tage (Differenz statistisch nicht signifikant). Eine komplette Remission des HELLP-Syndroms wurde bei 43% der Patientinnen erreicht. In 74% der Fälle stieg die Thrombozytenzahl vor der Geburt auf über 100 000/μl an. Die perinatale Mortalität betrug ohne HELLP-Syndrom 14,1%, mit HELLP-Syndrom 14,8%. Schwere mütterliche Komplikationen (Abruptio placentae, Eklampsie, Blutungen) traten in 14,1% der Fälle auf. Die mütterliche Mortalität war Null. Die Sectiorate betrug 79,7%. Rath et al. (1994) erreichten dagegen als Befürworter des aktiven Vorgehens bei 129 Patientinnen mit HELLPSyndrom zwischen der 26. und 41. SSW (Median 35 SSW) bei einem medianen Intervall von 3 h zwischen der Diagnosestellung und der Entbindung und einer Sectiorate von 98% eine mütterliche Komplikationsrate von 11,6% und eine perinatale Mortalität von 5%. Es kam zu keinem mütterlichen Todesfall.
17.6
Akute Schwangerschaftsfettleber
17.6.1
Epidemiologie und Pathogenese
Die akute Schwangerschaftsfettleber ist eine seltene Krankheit. Sheehan beschrieb 1940 eine Serie von 6 Patientinnen, die an einer akuten Schwangerschaftsfettleber starben. Die Inzidenz wird heute auf etwa 1:10000 Schwangerschaften geschätzt (Castro et al. 1999). Diese Zahl ist wahrscheinlich zu niedrig, da viele Fälle nicht diagnostiziert oder nicht mitgeteilt werden. Die akute Schwangerschaftsfettleber tritt i. d. R. im 3. Trimenon auf und ist etwas häufiger bei Mehrlingsschwangerschaften. Häufig liegt eine Mikroangiopathie, ausgehend von einer Endothelzellschädigung, mit Thrombozytopenie, aktivierter Gerinnung und Hämolyse vor, die an eine Verwandtschaft mit der Präeklampsie denken lässt. Als prädisponierender Faktor wird ein genetischer Defekt der LCHAD oder anderer Enzyme, die an der mitochondrialen β-Oxidation von Fettsäuren beteiligt sind (Treem et al. 1996; Yang et al. 2002), vermutet. Die autosomal rezessiv vererbten Genmutationen können durch die Störung der β-Oxidation von Fettsäuren in den Geweben des Fetus sowie der Plazenta zu einer Anhäufung toxischer Metabolite in der mütterlichen Leber führen. Die mütterliche und die fetale Mortalität lagen bis vor 25 Jahren bei 50–70%. Seither ist die mütterliche Mortalität gegen Null und die fetale Mortalität auf 20–30% gesunken, v. a. dank früherer Diagnosestellung, verbesserter intensivmedizinischer Therapie und rascherer Schwangerschaftsbeendigung.
17.6.2
Klinische Symptome und Verlauf
Die initialen klinischen Symtome sind uncharakteristisch und umfassen Unwohlsein, Nausea oder Erbrechen und Schmerzen im rechten Oberbauch. Oft dominieren die Symtome von Begleitkrankheiten. Am häufigsten handelt es sich dabei um eine Präeklampsie, die in bis zu 46% der Fälle gefunden wird (Riely 1987), seltener um eine intrahepatische Cholestase oder um einen Diabetes insipidus.
Studienbox
17.5.5
Wiederholungsrisiko
Frauen mit Zustand nach HELLP-Syndrom weisen ein erhöhtes Risiko auf, in einer nächsten Schwangerschaft eine hypertensive Erkrankung zu entwickeln. Dieses Risiko wird mit mindestens 20% beziffert (range 16–52%). Das Risiko für die Wiederholung eines HELLP-Syndroms bewegt sich zwischen 2 und 19% und ist abhängig u. a. vom Gestationsalter bei Diagnose bei der vorhergehenden Problemschwangerschaft sowie von vorbestehenden, chronischen Erkrankungen (Chames et al. 2003; Martin et al. 2006).
Reyes et al. (1994) beschrieben 12 Fälle mit einer akuten Schwangerschaftsfettleber. Bei 7 Patientinnen lag eine intrahepatische Cholestase mit Juckreiz vor, der in 2 Fällen mehrere Wochen vor der Manifestation der Schwangerschaftsfettleber auftrat. Ein transienter Diabetes insipidus wurde von Kennedy et al. (1994) bei 6 Patientinnen mit einer akuten Schwangerschaftsfettleber beschrieben. Alle 6 Frauen entwickelten früh im Verlauf der Krankheit eine Polyurie. Der Diabetes insipidus wird auf einen verlangsamten Abbau der Oxytozinase durch die geschädigte Leber zurückgeführt.
333 17.6 · Akute Schwangerschaftsfettleber
Spät auftretende Symptome sind Ikterus, Fieber und Bewusstseinstrübung oder Koma als Ausdruck der Hypopglykämie oder des Leberversagens. In fortgeschrittenen Stadien kommt es häufig zu gastrointestinalen Blutungen und einem Nierenversagen. Geburtshilfliche Komplikationen umfassen vorzeitige Wehen und einen fetalen Distress infolge der uteroplazentaren Minderdurchblutung und der metabolischen Azidose der Mutter.
17.6.3
Laborbefunde
> Eine ausgeprägte und lang dauernde Hypoglykämie ist ein typisches Zeichen der akuten Schwangerschaftsfettleber.
In vielen Fällen werden Zeichen einer Hämolyse und einer aktivierten intravasalen Gerinnung gefunden. Eine disseminierte intravasale Gerinnung und erhöhte Ammoniakwerte im Serum liegen in Spätstadien der Krankheit vor. ASAT- und ALAT-Werte erreichen eine mäßige Erhöhung von 1000 IE/l. Es findet sich i. d. R. eine deutliche Leukozytose mit Linksverschiebung.
17.6.4
der periportalen Region spricht für eine akute Schwangerschaftsfettleber, periportale Leberzellnekrosen für eine Präeklampsie oder ein HELLP-Syndrom, diffuse Leberzellnekrosen mit Entzündungszeichen für eine akute (virale) Hepatitis (Rolfes u. Ishak 1985). Die Leberbiopsie ist bei einer gestörten Blutgerinnung riskant. Ultraschall und Computertomographie sind in frühen Stadien der akuten Schwangerschaftsfettleber wenig aussagekräftig, können aber zum Ausschluss von Krankheiten der Gallenblase und des Pankreas eingesetzt werden. Differenzialdiagnose. Die Abgrenzung der akuten Schwangerschaftsfettleber von einer Präeklampsie und einem HELLP-Syndrom ist schwierig. 10 von 14 Patientinnen mit akuter Schwangerschaftsfettleber wurden mit der Diagnose Präeklampsie oder HELLP-Syndrom eingewiesen (Usta et al. 1994; Sibai 2007). > Bei der Präeklampsie steht die Hypertonie und die Proteinurie, beim HELLP-Syndrom die typische Laborkonstellation im Vordergrund, während bei der akuten Schwangerschaftsfettleber das Leberzellversagen mit Hypoglykämie und Enzephalopathie dominiert. Tipp Unabhängig von diagnostischen Problemen sollte jede Patientin mit Zeichen einer akuten Schwangerschaftsfettleber stabilisiert und rasch entbunden werden. Die Differenzialdiagnose kann oft erst retrospektiv gestellt werden.
Diagnose
An eine akute Schwangerschaftsfettleber muss bei allen Schwangeren mit Zeichen einer Präeklampsie, einer Hypoglykämie, einer Hypofibrinogenämie oder einer disseminierten intravasalen Gerinnung in Abwesenheit einer vorzeitigen Plazentalösung gedacht werden. Die Diagnose kann durch eine Leberbiopsie erhärtet werden. Eine panlobuläre feintropfige Steatose unter Aussparung
Wichtig ist die Abgrenzung der akuten Schwangerschaftsfettleber von einer akuten viralen Hepatitis, bei der eine rasche Entbindung nicht angezeigt ist. Im Gegensatz zu der akuten
. Tab. 17.9. Differenzialdiagnose: HELLP-Syndrom, akute Schwangerschaftsfettleber, akute virale Hepatitis
Klinik
HELLP
Akute Fettleber
Akute Hepatitis
Beginn (Trimenon)
2–3
3
1–3
Klinische Zeichen
Hypertonie
Gastrointestinale Blutung, Koma, kleine Leber, Nierenversagen
Große Leber
Hämolyse
++
+/–
–
Proteinurie
++
+/–
–
Aminotransferasen
5fach erhöht
10fach erhöht
100fach erhöht
Bilirubin
Mehr oder weniger erhöht
5- bis 10fach erhöht
10- bis 15fach erhöht
Blutzucker
Normal
Tief
Normal
Leukozyten
Normal
Erhöht
Normal
Thrombozyten
Vermindert
Normal oder vermindert
Normal
Prothrombinzeit
Normal
Verlängert
Normal
17
334
Kapitel 17 · Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
Schwangerschaftsfettleber ist bei der akuten viralen Hepatitis die Leber vergrößert und druckdolent, und die Leberenzyme sind meist deutlich erhöht (1 000–4 000 IE/l). Die Diagnose wird durch eine positive Serologie gestellt. In . Tab. 17.9 sind die Charakteristika des HELLP-Syndroms, der akuten Schwangerschaftsfettleber und der akuten Virushepatitis zusammengefasst. Andere Krankheiten, die differenzialdiagnostisch in Betracht kommen, umfassen eine durch Medikamente (Halothan, Phenytoin, Valproat, INH, Methyldopa, Labetalol) induzierte Hepatopathie, den Lupus erythematodes disseminatus, das Budd-Chiari-Syndrom, die thrombotisch-thrombozytopenische Purpura und das hämolytisch-urämische Syndrom.
17.6.5
Management
Patientinnen mit einer akuten Schwangerschaftsfettleber müssen in einem perinatalen Zentrum behandelt werden. Ein kontinuierliches Monitoring der kardiorespiratorischen Funktionen ist angezeigt. Serielle Kontrollen der Leber- und Nierenfunktion, der Blutgerinnung und des Säure-BasenHaushalts sind wichtig. Die Glukosespiegel im Serum müssen stündlich gemessen werden. Die Hypoglykämie kann schwer sein und mehrere Tage über die Geburt hinaus andauern. Ein zentraler Venenkatheter ist für die Infusion von hochprozentiger Glukoselösung notwendig. Gerinnungsstörungen sollen mit FFP, Gerinnungsfaktorkonzentraten und Vitamin K behandelt werden. Ein Plättchenersatz ist bei Werten 40 GPL-Einheiten) und der Nachweis des Lupus anticoagulans mit einer signifikant höheren Rate von fetalen Verlusten und Präeklampsie assoziiert (Lockwood u. Rand 1994). Der prädiktive Wert eines hohen Titers von Antikardiolipinantikörpern für einen IUFT beträgt 33% (Pattison et al. 1993).
In Tierversuchen wurde eine direkte toxische Wirkung der Antiphospholipidantikörper auf den Fetus nachgewiesen (Inbar et al. 1993). In den Plazenten von Patientinnen mit Antiphospholipidsyndrom wurden vermehrt Thrombosen und Fibrinablagerungen (sog. Gitterinfarkte) gefunden.
17.7.1
Therapie
Für die Formulierung verbindlicher Therapieempfehlungen in den verschiedenen Untergruppen dieses komplexen Krankheitsbildes fehlt es an großen Studien mit dem Einsatz verschiedener Behandlungsprotokolle in vergleichbaren Gruppen.
17
336
17
Kapitel 17 · Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
Die Wirksamkeit von Heparin (5.000 IE/Tag s.c.) oder niedermolekularem Heparin (z. B. Deltaparin, 5.000 IU/Tag s.c.) in Kombination mit 100 mg Azetylsalizylsäure täglich ist bei Vorliegen eines Antiphospholipidsyndroms erwiesen. Sowohl Kutteh (1997) als auch Rai et al. (1997) haben in randomisierten Studien eine signifikante Reduktion des Präeklampsierisikos und eine Verbesserung des fetalen Outcomes zeigen können. Mit der Behandlung sollte bereits präkonzeptionell begonnen werden. In neuerer Zeit wurden verschiedene Therapiestudien publiziert, die eine Differenzierung je nach Vorgeschichte nahelegen (Brauch u. Khamashta 2003; Tincani et al. 2003). Bei einem APS mit vorausgegangener Thrombose besteht wegen der hohen Rezidivgefahr i. d. R. eine orale Dauerantikoagulation. Bei geplanter Schwangerschaft wird eine Umstellung auf niedermolekulares Heparin entweder vor der Konzeption oder möglichst früh, d. h. vor der 6. SSW, empfohlen. Niedermolekulares Heparin muss nur einmal täglich appliziert werden und hat ein deutlich geringeres Risiko für Blutungen, Thrombopenie oder Osteoporose. Wegen der Gefahr eines Hämatoms bei der Periduralanästhesie muss in Nähe des Geburtstermins auf unfraktionierte Heparininfusion umgestellt werden. Bei APS mit einem oder mehreren Schwangerschaftsverlusten nach der 10. SSW wird ebenfalls niedermolekulares Heparin in Kombination mit 100 mg Acetylsalicylsäure tgl. eingesetzt. Postpartal wird niedermolekulares Heparin bis 6 Wochen weitergegeben oder durch orale Antikoagulation ersetzt, die bei einer Thrombose in der Anamnese als Dauertherapie weitergeführt wird. Glukokortikoide sollen nur angewandt werden, wenn die Aktivität einer Grundkrankheit (z. B. SLE) dies erfordert. Andere immunsuppressive Therapien, z. B. Azathioprin, Plasmapherese oder hochdosierte Immunglobuline sind für die Routine nicht zu empfehlen und kommen nur bei Versagen der oben genannten Therapiekonzepte in Einzelfällen infrage. Die Überwachung dieser Risikoschwangerschaften erfordert eine Reihe von Zusatzmaßnahmen (ACOG Committee Opinion 1998). Zu Beginn der Schwangerschaft wird eine 24h-Urinsammlung für eine Kreatininclearance und die Bestimmung der Eiweißausscheidung sowie eine Kontrolle von ASAT und ALAT zum Ausschluss von vorbestehender Leber- oder Nierenpathologie vorgenommen. Unter Heparin ist eine Kontrolle der Thrombozyten 3 Tage nach Therapiebeginn und einmal wöchentlich während 3 Wochen erforderlich. Ein Frühultraschall zur Festlegung des Gestationsalters sowie Wiederholung alle 3–4 Wochen ab dem 2. Trimenon werden zur Kontrolle des fetalen Wachstums sowie der Fruchtwassermenge empfohlen. Für die Überwachung des Fetus werden Dopplerultraschall, biophysikalisches Profil und CTG angeregt. Der Beginn der Überwachung und die Wiederholungsfrequenz müssen individuell festgelegt werden. Die Schwangere muss über Frühsymptome einer Präeklampsie sowie eines thromboembolischen Ereignisses aufgeklärt werden. In Abhängigkeit vom Zustand der Mutter bzw. des Fetus muss die rechtzeitige Entbindung erfolgen. Die Prognose für den Schwangerschaftsausgang hängt von der anamnestischen Vorbelastung ab. Auch bei ≥2 Schwan-
gerschaftsverlusten kann in 70–80% mit einer Lebendgeburt gerechnet werden. wenn die genannten Therapiemodalitäten in Kombination mit einer engmaschigen und konsequenten Überwachung der Schwangerschaft eingesetzt werden (Kutteh 1997). Trotz der Gefahr einer frühen Frühgeburt konnte bei 55 Kindern von Müttern mit APS im Alter von 5 Jahren keine erhöhte Rate von Fehlbildungen, Thrombosen oder Verzögerung der neurologischen Entwicklung festgestellt werden (Ruffati et al. 1998).
17.8
Folgeuntersuchungen
Alle Frauen, die eine schwere Präeklampsie durchgemacht haben, sollen wegen der hohen Prävalenz von Vorerkrankungen bzw. zum Ausschluss von anderen kardiovaskulären Risikofaktoren 3–6 Monate postpartal nachkontrolliert werden. Dabei werden folgende Untersuchungen durchgeführt: 4 Blutdruck, 24-h-Proteinurie und Albuminurie, Kreatininclearance, 4 Natrium, Kalium, Kreatinin, TSH, HbA1c, antinukleäre und Antikardiolipinantikörper, 4 Sonographie der Nieren, Dopplersonographie der Nierenarterien. 4 In ausgewählten klinischen Situation (z. B. frühe und schwere Präeklampsie, familliäre Belastung, Rezidivpräeklampsie) kann auch das Suchen nach einer Thrombophilie oder ein Lipidprofil hilfreich sein.
Studienbox Wir haben 47 Patientinnen (60% Erstgebärende, 40% Mehrgebärende) mit schwerer Präeklampsie oder HELLP-Syndrom 3–6 Monate postpartal untersucht. Bei 32 der 47 Frauen(68%) wurde eine vorbestehende Pathologie gefunden, darunter in 18 Fällen eine essenzielle Hypertonie, in 4 Fällen eine Nephropathie (Glomerulonephritis, Refluxnephropathie), in je 3 Fällen ein Lupus erythematodes disseminatus und ein Antiphospholipidsyndrom, in 2 Fällen eine Schilddrüsenstörung und je einmal eine Sarkoidose und eine Resistenz gegen aktiviertes Protein C (APC-Resistenz). Eine ähnlich hohe Prävalenz von Pathologien wurde von Dekker et al. (1995) beschrieben. Sie fanden bei 101 Patientinnen mit schwerer, früh aufgetretener Präeklampsie (mittleres Schwangerschaftsalter bei der Geburt 28,8 ± 2,6 Wochen) in Es ist darauf hinzuweisen, dass sowohl Plasmaverschiebungen als auch Veränderungen der Erythrozytenmasse während der Schwangerschaft einer Vielzahl endogener (Hormone, Fetus, Nierenfunktion, Eisenstatus) als auch exogener Einflussfaktoren unterliegen; dadurch sind genaue Aussagen und Studien über die Erythropoese in der Schwangerschaft nach wie vor limitiert.
18.1.2
Eisenstoffwechsel in der Schwangerschaft
Die Zunahme der Erythrozytenmasse und damit der Hämoglobinsynthese sowie das Wachstum des Fetus und der Plazenta sind die Hauptfaktoren für einen gesteigerten Eisenbedarf in der Schwangerschaft.
So beträgt der Eisenbedarf für die Zunahme der Hämoglobinsynthese insgesamt 400–500 mg; Uterus, Plazenta und Fetus benötigen weitere 200–300 mg; dazu kommt ein maternaler Eisenverlust von etwa 330 mg. > Der tägliche Eisenbedarf liegt somit bei 4–5 mg/Tag, in der Spätschwangerschaft bei 6–7 mg/Tag. Demgegenüber stehen 1 mg bis maximal 3 mg Eisen/Tag, die über den Gastrointestinaltrakt resorbiert werden, wobei prinzipiell nur maximal 10–15% des in der Nahrung enthaltenen Eisens resorbiert werden können. Somit entsteht also ein Defizit von etwa 3 mg Eisen pro Tag.
Dieses Defizit wird ausgeglichen durch: 4 gesteigerte intestinale Resorption, 4 gesteigerte Bindung von Eisen an Transferrin,
4 Freisetzung von Eisen aus den Eisenspeichern, sofern genügend Eisen an das Speicherprotein Ferritin gebunden ist. Ist die Eisenresorption ungenügend, z. B. durch eisenarme Ernährung oder geringe Resorption, oder sind die Eisenspeicher zu Beginn der Schwangerschaft entleert, kommt es zu einem zunächst latenten und später manifesten Eisendefizit, was primär zu einem funktionellen Eisenmangel mit ineffektiver Erythropoese und schließlich zur manifesten Eisenmangelanämie führen kann (Bridges 1990). Es ist davon auszugehen, dass das neu entdeckte Eisenregulationsprotein Hepcidin auch in der Schwangerschaft eine wichtige Rolle im Bezug auf die Eisenresorption spielt. Erste Untersuchungen in der Schwangerschaft zu dessen Funktion wurden begonnen. > Nur ausreichende Eisenspeicher in Verbindung mit ausreichender Zufuhr durch die Nahrung können i. Allg. ein dauerhaftes Eisendefizit in der Schwangerschaft verhindern.
Der Fetus verfügt auch bei extremen Eisenmangelerkrankungen der Mutter nach der Geburt meist über ausreichende Eisenreserven, da der Mutter über die plazentare Hochregulation von Transferrinrezeptoren das benötigte Eisen entzogen wurde (Bridges 1990; Harris 1992; Krawinkel et al. 1990). Es ist darauf hinzuweisen, dass sich Eisenmangel nicht nur hinsichtlich der Erythropoese bemerkbar macht, sondern dass Eisen auch ein wichtiges Element zur Synthese von Myoglobin und Enzymen der Atmungskette ist und an vielfältigen Stoffwechselreaktionen beteiligt ist. Daneben spielt Eisen eine wichtige Rolle bei der zellulären Infektabwehr von Mikroorganismen (Hollan u. Johansen 1993). Auswirkungen eines Eisenmangels während der Schwangerschaft auf diese Funktionen sowie auf die Thermoregulation, kognitive Leistungen und allgemeine Leistungsfähigkeit der Schwangeren sind derzeit kaum untersucht. Der hohe Eisenbedarf während der Schwangerschaft wird durch die u. U. hohen Blutverluste, die bei Atonien oder Blutungsstörungen bis zu über 2000 ml betragen können, im Wochenbett verstärkt. Daneben verliert die Mutter Eisen über die Muttermilch, sodass prinzipiell auch die Wochenbettphase hinsichtlich des Eisenbedarfs als kritisch zu betrachten ist und die endogenen Eisenreserven oft nicht ausreichen. Wir konnten zeigen, dass Frauen mit isoliertem peripartalem Eisenmangel (ohne Anämie) ihre Eisenspeicher mit Nahrungseisen allein nicht wieder aufzufüllen in der Lage sind (Krafft et al. 2004).
18.1.3
Folsäure und Cobalamin in der Schwangerschaft
Zwei weitere Substanzen, die für die gesteigerte Erythropoese in der Schwangerschaft benötigt werden, sind Folsäure und Cobalamin.
18
346
Kapitel 18 · Anämie
Der Folsäurebedarf während der Schwangerschaft wird auf etwa 100–300 μg/Tag geschätzt. Er wird hauptsächlich über die Nahrung (Niere, Leber, Spinat) gedeckt. Untersuchungen zum Folsäuremetabolismus in der Schwangerschaft sind beschränkt, zumal die individuellen und tageszeitlichen Schwankungen groß sind. In der Schwangerschaft nimmt der Serumfolsäurespiegel meist leicht ab, wobei der erythrozytäre Folsäuregehalt aufgrund geringerer Schwankungen genauere Aussagen über den Folsäurestatus zulässt. > Trotz des erhöhten Bedarfs ist ein pathologischer Folsäuremangel mit Anämie in der Schwangerschaft bei normaler Ernährung sehr selten; bei unterernährten Patientinnen kann der Erythrozytenfolsäurespiegel von 320 ng/ml auf 250 ng/ml absinken (Harris 1992).
Auch über die Absorption und den Stoffwechsel von Cobalamin in der Schwangerschaft liegen keine genauen Daten vor, die Absorption von Cobalamin und die Bindung an Transcobalamin im Blut scheinen aber in der Schwangerschaft gesteigert zu sein. Der tägliche Bedarf an Cobalamin wird auf etwa 30μg/Tag geschätzt, die Körperreserven liegen bei etwa 3000 μg und der durchschnittliche Nahrungsgehalt bei 5 μg, sodass ein Mangel an Cobalamin in der Schwangerschaft eine Rarität ist. Gegen Ende der Schwangerschaft können die Cobalaminspiegel bis auf 20 μg/l fallen gegenüber einem Wert von 205– 1025μg/l bei Nichtschwangeren (Gibson 1990b).
18.2
Diagnose und Differenzialdiagnose der Anämie in der Schwangerschaft
Unter Umständen berichten die Patientinnen bei genauer Befragung zur Vorgeschichte schon von vorbestehenden Anämien, z. B. durch Eisenmangel oder gastrointestinale Blutungen, oder sie sind Träger einer bereits abgeklärten Hämoglobinopathie wie der Thalassämie, insbesondere, wenn sie aus dem Mittelmeerraum stammen. Falls dies bereits bekannt ist, kann man schon viel an weiteren diagnostischen Abklärungen und damit Kosten und Zeit sparen. Ist die bisherige Anamnese jedoch bland, sollten weitere Abklärungen zur genauen Abgrenzung erfolgen. Die erste Untersuchung, die i. Allg. bei der Abklärung einer Anämie durchgeführt wird, ist das kleine Blutbild, das normalerweise folgende Faktoren beinhaltet: 4 Hämoglobinkonzentration, 4 Hämatokritwert, 4 MCV, 4 MCH, 4 Erythrozytenzahl, 4 ggf. Retikulozytenzahl. Voraussetzung für die korrekte Diagnose einer Anämie anhand der Hämoglobinkonzentration in der Schwangerschaft ist aber die Kenntnis der unteren Normwerte eines Normalkollektivs im Verlauf der Schwangerschaft. So liegt die untere Grenze (5. Perzentile) für das Normalkollektiv in der 24. SSW bei 10,5 g/dl, was zu diesem Zeitpunkt als normal bzw. durch Volumenverschiebungen bedingt angesehen werden sollte und daher nicht therapiebedürftig ist. Dagegen liegt die 5. Perzentile im 1. Trimenon bei 11,0 g/dl und im letzten Trimenon bei 11,9 g/dl, sodass zu diesem Zeitpunkt ein Wert von 10,5 g/dl als außerhalb der Norm angesehen werden muss. Definition
18
Die Pathogenese der Anämie in der Schwangerschaft kann vielfältig und multifaktoriell sein. Daher reicht es nicht, eine Anämie lediglich anhand des Hämoglobinwerts zu diagnostizieren, sondern es sollten immer auch die Ursachen für die verminderte Hämoglobinkonzentration differenzialdiagnostisch abgeklärt werden. Erste Hinweise für die Diagnose einer Anämie in der Schwangerschaft geben Anamnese und die klinische Vorsorgeuntersuchung, an die spezifische Laboruntersuchungen angeschlossen werden sollten. Je nach der Schwere der Anämie und der Zeit der Entstehung klagen die Patientinnen über Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Schwäche, verminderte Belastbarkeit bei der Arbeit, u. U. auch Herzjagen. Bei der Untersuchung fällt eine ausgeprägte Blässe mit blutarmen Schleimhäuten im Mund und an den Konjunktiven auf, daneben bei schwereren Anämien eine Tachykardie, in seltenen Fällen gar eine Vergrößerung des Herzens. Es ist allerdings bekannt, dass gerade junge Patientinnen mit chronischen Anämien, z. B. im Rahmen einer Thalassämie, auch ausgeprägte Anämien in der Schwangerschaft erstaunlich gut kompensieren und meist erst bei Auftreten von Zusatzbelastungen (Infekte, Herzbelastung, Eisenmangel) Dekompensationszeichen zeigen.
Die Daten für die Normalverteilung der Hämoglobinkonzentration und der Hämatokritwerte im Verlauf der Schwangerschaft wurden zuletzt durch die Centers of Disease Control festgelegt (Bridges 1990). Demnach ist nicht jeder Hämoglobinwert Wesentliche Vorteile der niedermolekularen Heparine sind die längere Halbwertszeit, die i. d. R. nur eine, maximal 2 Injektionen am Tag erforderlich macht, sowie die offenbar niedrigere Rate an Komplikationen.
Risiken der Heparinprophylaxe in der Schwangerschaft Zu den möglichen Risiken einer Heparinprophylaxe zählen die Blutung, die Osteoporose und die heparininduzierte Thrombopenie (HIT; Ginsberg et al. 2001; Heilmann 2002). Bei richtigen Indikationsstellung scheinen jedoch die Vorteile einer Heparinprophylaxe bei insgesamt geringer Risikosituation zu überwiegen (Bauersachs et al. 2007). In der bisher größten klinschen Studie zur Anwendung von Dalteparin (Fragmin, EthIG-Studie) konnte ein erhöhtes Risiko für eine heparininduzierte Thrombzytopenie und eine heparininduzierte Osteoporose (1 Fall bei 810 behandelten Schwangeren) nicht nachgewiesen werden (Bauersachs et al. 2007). Blutungen. Das Blutungsrisiko hängt zum einen von der Dosis der Heparinprophylaxe und zum anderen vom Intervall zwischen der letzten Gabe und Traumata wie Operation oder Geburt ab. Vaginale Blutungen wurden bei 1–5% der publizierten Fälle, die mit niedermolekularen Heparinen in der Schwangerschaft behandelt wurden, berichtet (Heilmann 2002). In der EthIG-Studie wurden bei 810 mit Dalteparin behandelten Schwangeren in 2,7% klinisch relevante Blutungen beobachtet (in 7 Fällen präpartal, in 17 Fällen perioder postpartal). In 9 Fällen (1,1%) wurde ein Zusammenhang mit der Heparintherapie vermutet (Bauersachs et al. 2007). Für unfraktionierte Heparine werden vergleichbare Blutungsraten angegeben (Ginsberg et al. 2001). Um verstärkte peripartale Blutungen zu vermeiden, wird ein Absetzen der Heparinprophylaxe vor der Geburtseinlei-
19
372
Kapitel 19 · Thromboembolische Komplikationen in Schwangerschaft und Wochenbett
tung oder bei Wehenbeginn gefordert. Die Empfehlungen hinsichtlich des erforderlichen Intervalls sind uneinheitlich und reichen von 24 h (Ginsberg et al. 2001) bis 12 h (Heilmann 2002) bei mittlerem Thromboserisiko. Bei Patientinnen mit einer Low-dose-Thromboembolieprophylaxe sollte ein Mindestabstand von 4 h zwischen der letzten Heparingabe zur epiduralen Punktion bzw. zur Katheterentfernung eingehalten werden. Die Anlage einer Peridural- bzw. Spinalanästhesie unter einer intravenösen Heparinisierung in therapeutischen Dosen ist kontraindiziert. Nach Absetzen der intravenösen Therapie muss in diesen Fällen ein Mindestabstand zur epiduralen Punktion von 4 h eingehalten werden. Nach einer rückenmarknahen Anästhesie oder der Katheterentfernung kann nach frühestens 1 h unfraktioniertes Heparin erneut appliziert werden. Bei Schwangeren, die mit niedermolekularen Heparinen behandelt werden, muss ein Mindestabstand zur rückenmarknahen Analgesie bzw. zur Katheterentfernung von 24 h eingehalten werden. Besondere Aufmerksamkeit ist bei Frauen mit Nierenfunktionsstörungen (Cave: Präeklampsie/HELLP-Syndrom) geboten, da es in diesen Fällen zu einer verzögerten renalen Elimination des Heparins kommen kann (Übersicht bei Hering Ret al. 2005). Besondere Vorsicht ist bei Frauen mit HELLP-Syndrom angeraten. Eine Heparinprophylaxe bzw. -therapie ist bei einer Thrombozytopenie von Es ist festzuhalten, dass es solange keine wirksame kausale Prävention der Präeklampsie geben wird, solange die pathophysiologischen Mechanismen dieser bedeutsamen Krankheit nicht geklärt sind. Bislang liegen nur gesicherte Ergebnisse für die präventive Wirkung von Azetylsalizylsäure (ASS) in Risikokollektiven vor.
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Kapitel 19 · Thromboembolische Komplikationen in Schwangerschaft und Wochenbett
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19
20 20 Infektionen in der Geburtshilfe I. Mylonas, K. Friese 20.1
Grundlagen – 380
20.1.1 20.1.2
Einleitung – 380 Transmissionsformen – 380
20.2
Virale Infektionen – 382
20.2.1 20.2.2 20.2.3 20.2.4 20.2.5
Herpes, Zytomegalie und Varizellen – 382 Röteln – 392 Parvovirus B19 – 397 Hepatitisinfektion – 400 HIV-Infektion und »Acquired Immune Deficiency Syndrome« (Aids) – 404
20.3
Bakterielle Infektionen und Protozoen – 412
20.3.1 20.3.2 20.3.3 20.3.4 20.3.5
Syphilis – 412 Lyme-Borreliose – 417 Chlamydia trachomatis – 419 Streptokokkeninfektionen der Gruppen A und B – 421 Toxoplasmose – 425
Literatur – 430
H. Schneider et al. (eds.), Die Geburtshilfe © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
380
Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
20.1
Grundlagen
20.1.1
Einleitung
Infektionen während der Schwangerschaft sind besonders gefürchtet, da nicht nur die Mutter, sondern auch das Kind gefährdet ist. Infektionsbedingte Komplikationen für das Kind beinhalten u. a. 4 eine direkte fetale Schädigung (Embryopathie, Fetopathie), 4 eine indirekte fetale Schädigung (Frühgeburt, Spontanabort) sowie 4 eine intrapartale Infektion des Kindes mit späteren gesundheitlichen Folgen (Petersen 1997; Friese et al. 2002; Mylonas u. Friese 2004a). Eine Infektion der Mutter birgt ebenfalls Risiken wie u. a. eine Exazerbation der Infektion, eine Reaktivierung latenter mütterlicher Infektion sowie aszendierende Infektionen (Petersen 1997; Friese et al. 2002). Eine frühe Erkennung einer Infektion in der Schwangerschaft ist unabdingbar, um mögliche Schäden für die Mutter und das Kind frühzeitig zu behandeln. Dementsprechend stellt die maternale und präpartale Diagnose den wichtigsten Schritt einer weiterführenden Therapie dar. Die Schwangerenvorsorge hat einen hohen Stellenwert in der Prävention und Früherkennung unterschiedlicher Erkrankungen. Während der Schwangerschaft sind 5 infektiologische Untersuchungen gesetzlich festgelgt: Röteln, Lues, Chlamydia trachomatis, HIV und Hepatits B (. Abb. 20.1). Alle weiteren infektiologischen Untersuchung (z. B. Toxoplasmose, CMV, β-Streptokokken) werden nicht routinemäßig in den Schwangerschaftsvorsorge gesetzlich festgelegt, sind aber
eine sehr sinnvolle Diagnostik, die in den Leitlinien weltweit Berücksichtigung finden. Bei klinischem bzw. sonographischem Verdacht auf eine Infektion während der Schwangerschaft oder einer fetalen Schädigung ist die sog. »TORCH-Serologie« obligater Bestandteil der Diagnostik (Friese et al. 2002; Mylonas u. Friese 2004a).
TORCH-Serologie 4 T = Toxoplasmose 4 O = Others (Hepatitis, HIV, Lues, Parvovirus, Borreliose, Listeriose etc.) 4 R = Röteln 4 C = Zytomegalie 4 H = Herpes simplex
20.1.2
Transmissionsformen
Mikroorganismen können über eine Reihe von unterschiedlichen Übertragungswegen (. Abb. 20.2) Zugang zum Amnion und dem Fetus erlangen (Goncalves et al. 2002; Mylonas u. Friese 2004a): 4 Aszension von der Scheide und dem Gebärmutterhals, 4 hämatogene Dissemination durch die Plazenta (transplazentare Infektion), 4 retrograde Ausbreitung über den abdominellen Raum durch die Salpingen, 4 unbeabsichtigte Keimeinführung während pränataler invasiver Maßnahmen (z. B. Amniozentese).
20
. Abb. 20.1. Vorschlag zum zeitlichen Ablauf der infektiologischen Diagnostik nach den Mutterschaftsrichtlinien
381 20.1 · Grundlagen
Übertragung von Infektionen durch kontaminierte Blutprodukte ist in den Industrienationen mittlerweile selten geworden.
Vertikale Transmission
. Abb. 20.2. Unterschiedliche Übertragungswege
Horizontale Transmission Generell steigt das Risiko für genital übertragbare Infektionen (»sexual transmitted diseases«; STD) mit der Anzahl der Sexualpartner pro Zeitraum, jungem Alter bei Kohabitation, Bisexualität, Drogenabusus, risikoreichen Sexualpraktiken, Kontakt zu Risikogruppen, schlechten sozialen Verhältnissen, fehlender ärztlicher Betreuung und einer eventuellen Immunschwäche (Friese et al. 2002; Goncalves et al. 2002). Eine weitere Form der Ausbreitung ist die sog. Nischenkolonisation, die neben der dermalen, oralen und gastrointestinalen Kolonisation auch die vaginale Erregerausbreitung betrifft. Die
Insgesamt 1–1,5% der Neugeborenen könnten von einer vertikal erworbenen Infektion betroffen sein (Friese et al. 2002). Die vertikale Transmission kann in präpartale, peripartale und postpartale Transmission unterteilt werden. Die meisten Infektionen sind primär durch Übertragung bakterieller Erreger unter der Geburt möglich. Einige Erreger besitzen die Fähigkeit, über die Plazentaschranke oder die fetalen Membranen Zugang zum Fetus zu bekommen, und können so bei einer fetalen Infektion Früh- und Spätaborte oder Frühgeburten verursachen (. Tab. 20.1). Postpartale Infektionen durch Stillen können als besondere Form der horizontalen Übertragung angesehen werden. Grundsätzlich ist das Neugeborene durch mütterliche IgGLeihtiter für 12–15 Monate postpartal gegen Neuinfektionen vom akuten Typ geschützt, sofern die Mutter in der Schwangerschaft durch eine frühere Infektion oder Impfung einen ausreichenden Schutz besitzt. Dieser »Nestschutz« wird ebenfalls durch das Stillen erhalten. Die mütterliche Leihimmunität mildert nur die Symptomatik, ohne die Infektion zu verhindern. Bei vielen latenten und v. a. persistierenden Infektionen, die das mütterliche Immunsystem unterlaufen haben, besteht dieser Schutz nicht mehr (Friese et al. 2002).
. Tab. 20.1. Zusammenhang zwischen Erregern und Infektionen der Plazenta, Aborten, Frühgeburten und fetalen Infektionen in der Schwangerschaft. (Nach Friese et al. 2002; Mylonas u. Friese 2004a)
Erreger mit kongenitaler Infektion
Plazentare Infektion
Aborte oder Frühgeburt
Präpartale Infektion des Fetus
Präpartale Infektion mit fetalen Symptomen
CMV
+++
+++
+++
+++
HBV
–
+
+
–
HCV
–
–
+
–
HIV
?
+
+++
–
HSV
?
+
+
?
Listeriose
+++
+++
+++
+++
Lues
+++
+++
+++
+++
Masern
?
+
+
?
Mumps
?
–
+
–
Parvovirus B19
+++
++
+++
+++
Röteln
+++
–
+++
+++
Toxoplasmose
+++
+++
+++
+++
VZV
?
++
+++
+++
(? = fraglich, – = kein Zusammenhang, + bis +++ = schwacher bis sehr starker Zusammenhang.)
20
382
Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
20.2
Virale Infektionen
20.2.1
Herpes, Zytomegalie und Varizellen
Die Herpesviren werden aufgrund ihres Zelltropismus und ihrer Vermehrungseigenschaften in 3 unterschiedliche Herpes-Unterfamilien unterteilt, den α-, β- und γ-Herpesviriniae. Die Herpesviren gleichen sich in der Morphologie, der Genomstruktur und deren Replikationszyklus (Mylonas u. Friese 2004a). Ein charakteristisches Merkmal dieser Viren ist außerdem deren lebenslange Persistenz im Organismus nach abgelaufener Erstinfektion. Durch meist unbekannte Einflüsse kann eine Reaktivierung des Virus mit oder ohne Krankheitssymptomatik erfolgen. Von besonderer Bedeutung für die Schwangerschaft und dem Fetus sind die HSV-1, HSV-2, CMV und VZV.
Herpes genitalis
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Weltweit haben in den letzten Jahren Infektionen mit Herpes genitalis zugenommen, die überwiegend durch das Herpesvirus Typ 2 (HSV-2), vermehrt auch durch Typ 1 (HSV-1) hervorgerufen werden. Die Viren sind sexuell übertragbar. Bei 75% der Patientinnen verläuft die Infektion untypisch, sodass keine exakte Diagnose gestellt werden kann. Fast 90% der Mütter von Kindern mit neonatalem Herpes sind zum Geburtszeitpunkt symptomlos. Die Herpesviren rufen zunächst erythematöse Papeln, im weiteren Verlauf feuchte und schmerzhafte Ulzerationen hervor. Bakterielle Superinfektionen sind selten möglich. Die primäre HSV-2-Infektion kann zu Aborten und Frühgeburten führen. Eine frühere HSV-1-Infektion hat einen gewissen protektiven Effekt. Die intrauterine Infektion durch transplazentare Transmission ist ein seltenes Ereignis. Hauptweg der neonatalen Infektion ist der direkte peripartale Kontakt mit infiziertem maternalem Genitalsekret. Bei einer neonatalen Infektionsrate von 40–50% beträgt die Mortalität 40 und die Morbidität 20%. Im Gegensatz dazu führt die rekurrierende Infektion nur in etwa 1–5% der Fälle zu einer neonatalen Infektion, bedingt durch maternale IgGAntikörper und geringe Virusmengen. Eintrittspforten für die Infektion des Kindes sind Augen und Nasen-Rachen-Raum. Der neonatale Herpes manifestiert sich in unterschiedlicher Ausprägung entweder lokal oder mit Beteiligung des Zentralnervensystems. Bei disseminierter Erkrankung mit multiplem Organbefall steigt die Mortalität auf 90%. Die Diagnosestellung erfolgt entweder über die klinische Symptomatik oder über den Nachweis von Virusantigen aus der Vesikelflüssigkeit durch Virusanzucht oder PCR. Die Bestimmung von Antikörpern ist ebenfalls möglich, aber bei rekurrierender Infektion wenig aussagefähig. Das therapeutische Konzept beinhaltet zunächst die ausführliche Aufklärung der werdenden Mutter und des Partners. Bei Patientinnen mit symptomatischer Herpes-genitalis-Infektion sollte spätestens 4–6 h nach dem Blasensprung die abdominale Schnittentbindung erfolgen, weil sonst kein Vorteil für das Kind zu erwarten ist. Die anamnestisch rekurrierende Infektion stellt keine prophylaktische Kaiserschnittindikation dar. Die suppressive Aciclovir-Therapie ab der 36. SSW reduziert die
Symptomatik und die Häufigkeit rezidivierender Herpes-genitalis-Fälle bei Schwangeren und führt zu einem Rückgang der Kaiserschnittentbindungen. Weder die primäre Schnittentbindung noch die Aciclovir-Therapie schließen eine maternofetale Transmission absolut aus.
Einleitung Infektionen mit Herpes genitalis (HSV-2) haben in den letzten Jahren weltweit zugenommen, wobei auch genitale Infektionen mit HSV-1 vermehrt nachzuweisen sind. Damit sind beide Herpestypen neben Chlamydia trachomatis eine der häufigsten Ursachen für sexuell übertragbare Krankheiten. Bei 75% aller Patientinnen mit genitalem Herpes – unabhängig davon, ob Erstinfektion oder rekurrierende Erkrankung – kann die Infektion asymptomatisch oder untypisch verlaufen, sodass eine richtige Diagnose nicht gestellt wird. > Da fast 90% der Mütter von Kindern mit neonatalem Herpes zum Geburtszeitpunkt symptomlos sind, werden die Infektionen nicht entdeckt.
Erreger Das HSV gehört zu den Herpesviren, wobei HSV-2 primär den Herpes genitalis verursacht. Für die rekurrierende Infektion werden ein neuraler Reiz oder ein »Trigger« vermutet, der durch physikalische, neuroendokrinologische, hormonelle oder immunologische Faktoren (z. B. Sonne, Stress, HIV-Infektion) ausgelöst werden kann. Die so verstärkt gebildeten Viren werden durch die Ganglienzellen zur epidermalen Körperoberfläche transportiert und infizieren die mukosalen und epidermalen Zielzellen erneut unter dem Bild einer produktiven Infektion.
Klinische Symptome Nach sexueller Transmission von HSV-2 treten nach 4–5 Tagen Inkubationszeit erythematöse Papeln auf, die sich zu Vesikeln und Pusteln mit serösem Inhalt entwickeln. Mit Viruspartikeln angefüllte Bläschen sind besonders infektiös (Friese et al. 2002; Sauerbrei u. Wutzler 2007a, b). Nach etwa dem gleichen Zeitraum entleeren sich diese Läsionen und bilden feuchte, schmerzhafte Ulzerationen, die nach weiteren 6 Tagen eintrocknen und im Verlauf einer Woche abheilen. Neben den z. T. unerträglichen Schmerzen sind Jucken, vaginaler oder urethraler Ausfluss und Dysurie nicht selten vorhanden. Nach unspezifischen Prodromi (u. a. Fieber, Kopfschmerz, Schwellung der inguinalen Lymphknoten) sind weitere klinische Manifestationen, wie z. B. Ösophagitis, Hepatitis, Myelitis, Eczema herpeticatum und Enzephalitis beobachtet werden (Sauerbrei u. Wutzler 2007a, b). Da etwa die Hälfte der Frauen mit primärem genitalem Herpes schon eine zeitlich früher auftretende HSV-1-Infektion durchgemacht hat, ist der klinische Verlauf der primären genitalen Herpeserkrankung in diesen Fällen leichter und milder (Kulhanjian et al. 1992). Schwerer verlaufende HSVInfektionen mit Beteiligung von ZNS, Leber und Lunge wurden bei Schwangeren selten beobachtet. Die rezidivierende genitale Herpesinfektion weist auch in der Schwangerschaft eine geringer ausgeprägte und kürzer anhaltende klinische
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Symptomatik als eine Primärinfektion auf (Brown et al. 1997). Die Infektion kann insbesondere bei maternaler primärer genitaler HSV-2-Infektion, ohne Gegenwart von HSV-1-Antikörpern, zu einer erhöhten Abort- und Frühgeburtenrate führen. Demnach haben auch früher erworbene HSV-1-Antikörper bei nachfolgender HSV-1-Infektion (»non-primary first episode«) einen gewissen protektiven Effekt für den Fetus (Friese 1998). > Ein rekurrierender genitaler Herpes zum Zeitpunkt der Geburt, der bei 75% der Gebärenden asymptomatisch verläuft, führt nur in 1–5% der Fälle zu einer neonatalen Infektion. Gründe hierfür sind zum einen der Schutz durch maternale IgG-Antikörper sowie die geringe Virusmenge und verkürzte Virusausscheidung im Verhältnis zur Primärinfektion. Neonataler Herpes. Eine intrauterine Infektion durch trans-
plazentare Transmission stellt ein relativ seltenes Ereignis dar (Friese et al. 2002). Nur in etwa 5% der Fälle mit neonatalem Herpes ist die Infektion entweder durch aszendierende Infektion oder transplazentar erfolgt (Prober et al. 1992; Friese 1998). Ein hohes vertikales Transmissionsrisiko haben Mütter mit einer primären genitalen HSV-Infektion und fehlenden HSV-Antikörpern. Die Infektionsgefahr ist während der ersten 20. SSW am höchsten und kann mit erhöhter Frequenz von Spontanaborten (25%), Totgeburten und unterschiedlichen Fehlbildungen (z. B. Mikrozephalie, Krampfanfälle, Koma, Mikroopthalmie, Dysplasie der Retina, Chorioretinitis, Meningitis, Enzephalitis, geistige Retardierung) einhergehen (Stagno u. Whitley 1985; Young et al. 1996; Gilstrap u. Faro 1997; Mylonas u. Friese 2004a). Demgegenüber scheint eine diaplazentare Infektion nach der 20. SSW. kein erhöhtes Risiko für den Fetus darzustellen. > Bei bis zu 90% der Fälle basiert das Risiko eines neonatalen Herpes auf einer peripartalen Infektion, und zwar durch direkten Kontakt mit infiziertem maternalem Genitalsekret (Prober et al. 1992; Sauerbrei u. Wutzler 2007a, b). Dieser Weg der Transmission ist mit einer neonatalen Infektionsrate von 40–50%, einer Mortalität von 40 und einer Morbidität von 20% behaftet.
In weiteren 5% der Fälle handelt es sich um eine postpartale Infektion durch soziale Kontakte, wie z. B. Küssen des Kindes. Ein rekurrierender genitaler Herpes zum Zeitpunkt der Geburt verläuft bei ca. 75% der Gebärenden asymptomatisch und führt nur in 1–5% zu einer neonatalen Herpesinfektion (Friese 1998). Gründe hierfür sind: 4 Schutz durch plazentagängige mütterliche IgG-Antikörper, 4 geringe Virusmenge im Verhältnis zur Primarinfektion, 4 verkürzte Virusausscheidung (Friese 1998). Eintrittspforten für kindliche Infektionen sind die Augen und der Nasen-Rachen-Raum. Die initialen Symptome eines neo-
natalen Herpes sind gewöhnlich unspezifisch, und es dauert einige Tage bis zur Sicherung der Diagnose. Postpartale Infektionen sind seltener als intrapartale Infektionen. Der neonatale Herpes manifestiert sich in unterschiedlich starken Ausprägungen. Meist tritt er als generalisierte Infektion auf, wobei die häufigste Infektionsquelle der Geburtskanal ist, wenn die Mutter zum Geburtszeitpunkt eine primäre oder rekurrierende HSV-Infektion hat.
Klassifikation einer neonatalen Herpeserkrankung (Whitley 1996; Friese 1998) 4 Am geringgradigsten klassifiziert man eine lokale Erkrankung von Haut, Auge und Mund (SEM – »skin, eye, mouth«). 4 Gravierender ist ein Befall des zentralen Nervensystems (mit einer Enzephalitis oder Meningitis), wobei die Neugeborenenletalität drastisch zunimmt (50–80%). 4 Die schwerwiegendste Form ist die disseminierte Erkrankung mit Einbeziehung multipler Organe wie Leber, Lunge, Drüsen oder Gehirn. Bei diesem Grad der Erkrankung steigt auch die Mortalitätsrate bis auf 90% an.
Diagnostik Allgemein wird die Diagnose klinisch anhand der prodromalen Schmerzsymptomatik und der typischen kleinen vesikulären Effloreszenzen bei der Schwangeren gestellt. Aus diesen Vesikeln lässt sich bei diagnostischer Unsicherheit leicht Herpesantigen durch effloreszierende Antikörper nachweisen und eine Virusanzucht bzw. PCR-Diagnostik durchführen. In vielen Fällen, v. a. bei Schwangerschaften mit einer Herpes-genitalis-Anamnese bei der Mutter oder ihrem Partner, kann eine virulente Infektion häufig ohne Symptome verlaufen. Ähnliches gilt für den neonatalen Herpes, der differenzialdiagnostisch von einer bakteriellen Sepsis durch das Fehlen von Bläschen abgegrenzt werden kann. Innerhalb von 1–2 Wochen erfolgt ein relativ langsamer Titeranstieg für IgG-, aber nicht immer für IgM- und IgA-Antikörper. Bei rekurrierendem Herpes ohne oder mit klinischen Manifestationen sind die Antikörper meist unauffällig, sodass sie diagnostisch wenig hilfreich sind. > Der zytologische Nachweis einer Herpes-genitalisInfektion in der Schwangerschaft ist obsolet und sollte vorrangig – trotz höherer Kosten – durch Viruskultur und PCR-Diagnostik abgelöst werden.
Therapie Vor jeder Form der Behandlung müssen die werdende Mutter und ihr Partner ausführlich aufgeklärt werden. Insbesondere sollten Patientinnen mit einem rezidivierenden Herpes genitalis über das relativ geringe Transmissionsrisiko, die Möglichkeit einer prophylaktischen Aciclovir-Gabe und der Kaiserschnittentbindung hingewiesen werden.
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Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
Studienbox Eine prospektive Studie über 18 Jahre mit über 40.000 Schwangeren zeigte einerseits, dass die Rate einer neonatalen Herpesinfektion durch eine Prävention einer maternalen HSV-1- und HSV-2-Infektion gesenkt werden kann, und andererseits einen protektiven Effekt einer Kaiserschnittentbindung bei Frauen mit einer HSV-Ausscheidung (Brown et al. 2003).
Unabhängig von einer medikamentösen Therapie sollte eine Kaiserschnittentbindung bei Patientinnen mit klinischer Symptomatik und symptomatischer Herpes-genitalis-Infektion vor oder spätestens innerhalb eines Zeitraumes von 4–6 h nach Blasensprung erfolgen, da ansonsten Nachteile für das Kind zu erwarten sind (Randolph et al. 1993). > Ein prophylaktischer Kaiserschnitt bei Frauen mit anamnestisch rezidivierendem Herpes genitalis zur Verhinderung einer maternofetalen Transmission ist nicht indiziert. Es müssten ca. 1580 Kaiserschnitte vorgenommen werden, um einen Fall von neonatalem Herpes zu verhindern (Randolph et al. 1993).
Der Einsatz einer antiviralen Therapie in der Schwangerschaft ist für die Routineanwendung allerdings noch nicht etabliert. Auch die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta, USA, empfehlen den Einsatz von Aciclovir bei rezidivierendem Herpes genitalis in der Schwangerschaft nicht. Allerdings kann eine suppressive Therapie mit Aciclovir in der Schwangerschaft empfohlen werden, da keine erhöhte Fehlbildungsraten und negativen Effekte für den Fetus beobachtet wurden (Stray-Pedersen 1990, 1993; Andrews et al. 1992). Die Gabe von Valaciclovir wäre ebenfalls möglich. Die suppressive Aciclovir-Therapie ab der 36. SSW reduzierte die Symptomatik und die Häufigkeit rezidivierender Herpes-genitalis-Fälle bei Schwangeren und führte zu einem Rückgang der Kaiserschnittentbindungen. Tipp
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Die Behandlung der Schwangeren im 3. Trimenon mit einer Aciclovir-Dosis von 4-mal 200 mg/Tag über einen Zeitraum von 2–3 Wochen vor Entbindung vermindert die Zahl der Sectioentbindungen dramatisch und erwies sich als vorteilhaft für primäre wie für rezidivierende Infektionen mit genitalem Herpes (Brocklehurst u. French 1998; Braig et al. 2001; Scott et al. 2001, 2002). Allerdings könnte diese Behandlung in bestimmten Situationen, wie z. B. bei Oligohydramnion oder fetaler Niereninsuffizienz, eine Gefahr für das Kind darstellen (Schleiss 2003). Die Therapie des neonatalen Herpes erfolgt ebenfalls mit Aciclovir mit 10 mg/kg KG, alle 8 h für 10 Tage, dabei muss das Kind in jedem Fall während der Behandlung in der Klinik stationär aufgenommen werden.
Eine orale oder topische Therapie des neonatalen Herpes ist obsolet. Trotz einer antiviralen Medikation sind Morbidität
und Mortalität bei einem disseminierten neonatalen Herpes sehr hoch.
Prophylaxe In Abhängigkeit von der Symptomatik bietet die primäre Sectio und der Versuch einer prophylaktischen Behandlung mit Aciclovir 3–4 Wochen vor Entbindungstermin Möglichkeiten zur Verhinderung der maternofetalen Transmission (. Abb. 20.3). Prophylaktische Maßnahmen 4 Sectio cesarea bei Schwangeren mit Läsionen im Geburtskanal 4 Gabe von Aciclovir (Cave: keine Zulassung in der Schwangerschaft) 4 Hyperimmunglobulingabe bei Immunsupprimierten oder bei Neugeborenen, die mit einer primären Herpesinfektion (oral/genital) in Kontakt kamen 4 In der Schwangerschaft Gebrauch von Kondomen sowie Vermeidung orogenitaler Kontakte bei seronegativen Frauen 4 Langzeitgabe von Aciclovir über 1 Jahr von 2-mal 400 mg/Tag senkt signifikant die Rekurrenz der okulären Manifestation im Vergleich zur Placebogruppe, Gleiches gilt für andere Manifestationen
Trotz dieser Maßnahmen muss festgestellt werden, dass in keinem Fall eine absolute Sicherheit für den Fetus gegeben ist. Ein Impfstoff zur aktiven Prophylaxe existiert derzeit nicht. Bezüglich HSV-Impfstoffen besteht eine wichtige Frage mit öffentlicher Relevanz darin, ob diese die symptomatische Krankheit, aber nicht eine asymptomatische Infektion verhindern können. Im Fall von genitalem Herpes könnten asymptomatische Infektionen eine Latenz und eine Reaktivierung hervorrufen. Gegenwärtig werden einige Impfstoffe klinisch getestet (Krause u. Straus 1999; Stanberry et al. 2000; Haddow u. Mindel 2006).
Zytomegalie (CMV) Das humane Zytomegalievirus (CMV) ist die häufigste Ursache kongenitaler Infektionen bei kindlichen Erkrankungen. Weltweit sind 0,2–2,3% aller Neugeborenen mit dem CMV infiziert. Das CMV, mit einem aus doppelsträngiger DNA bestehenden Genom, gehört zur Gruppe der Herpesviren. Die genaue Pathogenese einer CMV-Infektion ist noch weitgehend unklar, wobei chromosomale Schädigung, Beeinflussung der Immunantwort und Modulation der Apoptose eine wichtige Rolle spielen. Die postnatale Übertragung erfolgt durch Schmier- und Tröpfcheninfektion, Urin, Speichel, Genitalsekrete, Blut, Blutprodukte sowie Muttermilch. Die perinatale Infektion wird durch infizierte Sekrete bei der Passage durch den Geburtskanal erworben. Pränatal infizierte Neugeborene sind bei Geburt ca. zu 10% symptomatisch und weisen in etwa 5% die klassischen Stigmata der kongenitalen CMV-Erkrankung bzw. eines oder mehrere dieser Symptome auf (neurologische Auffälligkeiten, Frühgeburt, Hepatosplenomegalie, Pneumonie, Petechien, Hörverlust,
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. Abb. 20.3. Algorithmus bei vermuteter HSV-Infektion in der Schwangerschaft. (Nach Mylonas und Friese 2009)
Chorioretinitis); an deren Folge sterben 2–30%. Mehr als 90% der Überlebenden weisen Spätfolgen auf. Von den asymptomatischen Neugeborenen zeigen 8–15% Spätmanifestationen. Das Hauptrisiko von Kindsschäden besteht bei Erstinfektion der Mutter im 1. bis zum Beginn des 3. Trimenons. Die CMV-Erstinfektion wird wegen der uncharakteristischen Symptome selten klinisch diagnostiziert. Bei Kombination abnormer sonographischer Befunde mit positivem Virusnachweis ist der Schwangerschaftsabbruch zu diskutieren. Für die Therapie steht heute v. a. Ganciclovir bzw. Foscarnet oder Aciclovir zur Verfügung. Impfstoffe sind z. Zt. in klinischer Erprobung.
Einleitung Weltweit sind ca. 0,2–2,3% aller Neugeborenen mit dem Zytomegalievirus (CMV) infiziert (Friese et al. 2002). Das Hauptrisiko für eine kindliche Erkrankung bei Geburt mit eventuellen Spätfolgen ist eng mit einer mütterlichen Primärinfektion verbunden, wobei diese durch den Nachweis einer IgG-Serokonversion und erhöhten IgM-Antikörpertiter definiert ist. Rekurrierende Infektionen werden anhand von IgGAntikörpern vor Konzeption und dem Nachweis einer kongenitalen Infektion beim Neugeborenen erfasst (Friese et al. 2002). Interessanterweise kann es, im Gegensatz zu anderen Erregern wie Rötelnvirus oder Toxoplasma gondii, nicht nur bei mütterlicher Primärinfektion, sondern auch bei einer rekurrierenden Infektion zur fetalen Infektion kommen (Henrich et al. 2002). Allerdings stellen kindliche Schäden bei einer rekurrierenden mütterlichen Infektion Ausnahmen dar. Ne-
ben der Schwangerschaft spielt die CMV-Infektion eine große Rolle für immunsupprimierte Patienten, z. B. nach Transplantationen, bei Tumoren oder HIV-Infektion (Enders 1998b). > Das Zytomegalievirus (CMV) ist der häufigste Verursacher kongenitaler Infektionen mit Erkrankung des Kindes bei Geburt sowie kindlicher Spätschäden.
Erreger Das CMV hat eine doppelsträngige (ds) DNA und gehört zur Gruppe der Herpesviren. Die genaue Pathogenese einer CMVInfektion ist noch weitgehend unklar. CMV zeigt eine chromosomale Schädigung, welche einige fetale Erkrankungen erklären könnte (Mylonas u. Friese 2005).
Klinische Symptome Das Risiko der Geburt von kongenital infizierten Kindern ist bei Müttern aus niedrigeren sozialen Schichten am höchsten. Junge Erwachsene (14–20 Jahre) erwerben die primäre Infektion meist durch Sexualverkehr (Friese et al. 1991a), während sich schwangere Frauen aus mittleren und höheren Schichten erstmals im Alter zwischen 20–30 Jahren hauptsächlich durch Kontakt mit virusausscheidenden Säuglingen und Kleinkindern infizieren (Adler 1992). CMV-IgG-Antikörper konnten in ca. 46% von 512 schwangeren Frauen nachgewiesen werden, wobei nur 1,3% IgM-positiv waren (Friese et al. 1991a). Bei der mütterlichen Erstinfektion beträgt die intrauterine Infektionsrate ca. 40%, für die rekurrierende Infektion ca. 1%.
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Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
Rekurrierende Infektionen sind bei seropositiven Frauen in 10–20%, besonders im 2. und 3. Trimenon, zu erwarten, wobei kindliche Schädigungen bei Geburt selten sind. Eine Primärinfektion stellt dagegen ein erhöhtes Risiko für eine fetale Schädigung dar. Die jährliche Rate für Primärinfektionen liegt bei ca. 1–4%, wobei eine fetale Erkrankung bei klinisch auffälligen Neugeboren in ca. 90 und bei asymptomatischen Kindern in 15% vorliegt (Stagno 1990). Bei einer vor der Schwangerschaft akquirierten CMV-Infektion bei immunkompetenten Frauen ist die Geburt von Kindern mit kongenitaler Erkrankung selten, wohingegen bei immunsupprimierten Frauen mit rekurrierender CMV-Infektion in der Schwangerschaft konnatale Malformationen auftraten (Schwebke et al. 1995; Nigro et al. 1999). Bei Frauen, die vor der SchwangerschaftCMV-seropositiv und immunkompetent waren, ist die Geburt von Kindern mit kongenitaler Erkrankung äußerst selten. Pränatale (kongenitale) Infektion und Symptomatik. Bei
der maternalen Erstinfektion geht die intrauterine Infektion wahrscheinlich von der mütterlichen Virämie mit Beteiligung von Endothelzellen der Plazentagefäße und/oder den Fibroblasten des Chorions aus. Bei Infektion des Chorions ist die Ausbreitung des Virus zum Fetus über die Amnionflüssigkeit möglich. Allerdings können noch weitere Transmissionswege vorhanden sein (z. B. direkte Infektion reaktivierender Infektionsherde von Endometrium, Tube bzw. Spermien oder aszendierende Infektion aus der Vagina vor und insbesondere nach dem Blasensprung), da die fetale Infektion trotz geringer Virämie und maternaler IgG-Antikörper auch bei mütterlicher rekurrierender Infektion stattfinden kann (Enders 1998b). Die pränatal mit CMV infizierten Neugeborenen scheiden bei Geburt CMV im Urin und Rachen aus, wobei die Virusausscheidung im Urin mehrere Jahre andauern kann. > Das Hauptrisiko von Kindsschäden bei Geburt sowie von Spätfolgen ist die Primärinfektion der Mutter im 1. bis zum Beginn des 3. Trimenons. Bei rekurrierenden Infektionen sind zwar fetale Infektionen, aber keine Schädigungen bei der Geburt zu erwarten. In etwa 5–8% der Fälle ist jedoch mit Spätschäden, besonders in Form von Hörstörungen, zu rechnen.
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Pränatal infizierte Neugeborene sind bei Geburt zu ca. 10% symptomatisch, davon etwa 5% mit klassischen Stigmata der kongenitalen CMV-Erkrankung bzw. tragen eines oder mehrere dieser Symptome: 4 Hörverlust, 4 Sprachstörung, 4 Chorioretinitis, 4 Mikrozephalie, Krampfanfälle, Paresen. Von diesen Kindern sterben ca. 12–30%. Die Überlebenden leiden zu ca. 90% unter Spätfolgen. Bei den ca. 90% asymptomatischen Neugeborenen ist zu 8–15% mit Spätmanifestationen zu rechnen. Perinatale und frühpostnatale Infektion und deren Symptomatik. Die perinatale Infektion wird durch infizierte Se-
krete bei der Passage durch den Geburtskanal erworben. Die frühpostnatale Infektion erfolgt v. a. über die Muttermilch. Die Inkubationszeit bei peri- und frühpostnatalen Infektionen beträgt bis zur Ausscheidung des Virus im Rachen und Urin des Neugeborenen ca. 4–12 Wochen. Bei reifen Neugeborenen sind kurz- oder längerfristige Symptome nicht zu erwarten. Selten kommt es zu Pneumonien im frühen Säuglingsalter. Frühpostnatale Erkrankungen (sepsisartige Verläufe mit Thrombozytopenie, Hepatosplenomegalie und respiratorische Insuffizienz) bei Frühgeborenen mit geringem Geburtsgewicht kommen heute im Wesentlichen durch die Übertragung der Infektion von CMV-seropositiven Müttern durch das Stillen zustande. Postnatale Infektion und Symptomatik. Bei der postnatalen
Infektion erfolgt nach Eintritt des CMV über die Schleimhäute des Respirations- bzw. Genitaltrakts und der lokalen Vermehrung die virämische Phase. Die Inkubationszeit des CMV ist nicht genau bekannt. Die Erstinfektion verläuft im Kindesalter meist unbemerkt. Im jugendlichen Alter ist die Mehrzahl der Infektionen ebenfalls asymptomatisch, oder es treten uncharakteristische Symptome wie Unwohlsein, Müdigkeit, Fieber und Lymphadenopathie auf. Gelegentlich kommt es zu mononukleoseähnlichen Krankheitsbildern, Pneumonie, Hepatitis, Meningoenzephalitis, hämolytischer Anämien, Kolitis, Ösopharyngitis, Retinitis, Myokarditis bis zum Guillain-Barré-Syndrom. Die reaktivierte Infektion ist bei immunkompetenten Personen beinahe immer asymptomatisch. Bei immunsupprimierten Personen kann sowohl die Primär- als auch die rekurrierende Infektion zum schwerwiegenden und lebensbedrohlichen Verlauf führen (Friese et al. 2002).
Diagnostik Die CMV-Erstinfektion wird wegen der meist uncharakteristischen Symptomatik oder dem subklinischen Verlauf nur selten diagnostiziert. In der Schwangerschaft wird aber bei der diesbezüglichen Symptomatik in zunehmendem Maße eine Laboruntersuchung für CMV als Ausschlussdiagnostik veranlasst. > Die pränatale Diagnostik wird in zunehmendem Maß bei asymptomatischen und symptomatischen schwangeren Frauen mit auffälligen serologischen Befunden (insbesondere wegen grenzwertiger bis positiver IgM-Befunde) oder aufgrund abnormaler Befunde im Ultraschall bei unbekannter oder unauffälliger CMV-Serologie durchgeführt.
Die serologische Differenzierung der primären von einer rekurrierenden Infektion in der Schwangerschaft ist in Anbetracht des erhöhten Risikos von Schäden des Kindes bei der primären im Vergleich zur rekurrierenden Infektion von praktischer Relevanz. Labordiagnostik. Zur Feststellung des Immunstatus bzw. einer akuten oder rekurrierenden Infektion werden u. a. Antikörperbestimmungen durchgeführt. Bei der pränatalen Diagnostik und der pädiatrischen Diagnostik werden der Virusund der Antikörpernachweis eingesetzt. Die Viren können im
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. Abb. 20.4. Vorschlag für das Management von schwangeren Frauen mit primärer CMV-Infektion (NVW negativer prädikativer Wert; PPW positiver prädikativer Wert). (Mod. nach Gilstrap u. Faro 1997; Revello u. Gerna 2004; Mylonas u. Friese 2005)
Urin, Speichel, Rachensekret, Zervixsekret, Fruchtwasser, fetalen Blut, Aszites, Chorionzotten, Gewebebiopsien und in der Muttermilch nachgewiesen werden. Als Methoden kommen die Isolierung in der Zellkultur, der Early-Antigennachweis nach Schnellanzucht (mit monoklonalen Antikörpern), der pp65-Antigendirektnachweis im Blut und der Nukleinsäurenachweis mit der PCR in Betracht (Mylonas u. Friese 2005). Diagnose in der Schwangerschaft. Die CMV-Erstinfektion
wird wegen der meist uncharakteristischen Symptomatik oder dem subklinischen Verlauf nur selten diagnostiziert. In der Schwangerschaft werden aber bei einer entsprechenden Symptomatik in zunehmenden Maß Laboruntersuchungen veranlasst (. Abb. 20.4).
Folgende Aspekte sollten berücksichtigt werden (Enders 1998b): 4 Bei negativem IgG-Befund kann die Schwangere im Hinblick auf eine Reduzierung des Infektionsrisikos beraten werden. 4 Bei positivem IgG- und negativem IgM-Befund kann der schwangeren Frau mitgeteilt werden, dass kein kongenital geschädigtes Kind zu erwarten ist. 4 Bei positivem IgG- und IgM-Befund können weitere Zusatztests zur Differenzierung von primärer oder reaktivierter Infektion eingesetzt und bei auffälligen Befunden die pränatale Diagnostik zur Abklärung einer fetalen Infektion veranlasst werden.
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Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
> Der positive Virusnachweis aus dem Urin oder Zervixabstrich ist als Diagnosehilfe zur Unterscheidung von maternalen primären oder rekurrierenden Infektionen begrenzt. Pränatale Diagnostik. In der Frühschwangerschaft (11.– 19. SSW) kommen als fetale Untersuchungsproben Chorionzotten und Fruchtwasser, in der späteren Schwangerschaft (≥22. SSW) v. a. fetales EDTA-Blut und Amnionflüssigkeit in Betracht. Die globale Sensitivität der pränatalen Diagnose beträgt 80%; 100% Spezifität nach Amniozentese bei >21 SSW und einem 7-wöchigen Intervall zwischen der Diagnose einer maternalen Infektion und antenataler Diagnostik. Entscheidend für die Fortsetzung oder den Abbruch der Schwangerschaft ist jedoch der auffällige Befund im Ultraschall kombiniert mit positivem CMV-IgM-Antikörperbefund (Enders et al. 2001). Pädiatrische Diagnostik. Bei Neugeborenen von Müttern
mit Verdacht auf CMV-Infektion in der Schwangerschaft und auch bei klinisch auffälligen Neugeborenen ohne bekannte mütterliche CMV-Infektion sollte der Virusnachweis im Urin, Speichel und/oder im Rachensekret sowie die Antikörperbestimmung veranlasst werden. Positive Virusbefunde in der 1–2. Woche nach Geburt zeigen treffsicherer als die Antikörperbestimmung an, ob eine kongenitale Infektion vorliegt. Beim intrauterin infizierten symptomatischen Neugeborenen können IgM-Antikörper bei ca. 35%, v. a. bei spät in der Schwangerschaft erfolgter maternaler Infektion, fehlen. Die KBR und IgG-Antikörpertiter bei Geburt entsprechen meist in etwa denen der Mutter. Bei Durchführung virologischer Untersuchungen erst ca. 3–4 Wochen nach Geburt lässt sich bei asymptomatischen Säuglingen mit positivem Virusbefund nicht mehr unterscheiden, ob die Infektion prä-, peri- oder postnatal erworben wurde. Rein serologisch kann eine asymptomatische prä-, peri- bzw. postnatal erfolgte Infektion nur durch den Nachweis persistierender IgG-Antikörper im 8.–10. Lebensmonat festgestellt werden. Kinder mit einer diagnostizierten CMVInfektion sollten engmaschig überwacht werden, um eventuelle Spätfolgen zu erkennen. Bei kongenital infizierten Kindern wird eine früh einsetzende Kontrolle des Gehörs empfohlen. Quantitative PCR-Analysen in peripheren Serumleukozyten von CMV-infizierten Neugeborenen können zur Überwachung der Viruslast, v. a. während einer GanciclovirTherapie, genutzt werden (Maine et al. 2001).
Therapie
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Für die Therapie steht heute v. a. Ganciclovir (azyklisches Nukleosid-DHPG, Cymeven) bzw. bei Resistenzentwicklung Foscarnet zur Verfügung. Ganciclovir, das liquorgängig ist, wird seit einigen Jahren z. T. gleichzeitig mit der Gabe von CMV-Hyperimmunglobulin (IVIG) bei immunsupprimierten Patienten mit unterschiedlicher CMV-Symptomatik angewandt. Erst kürzlich konnte demonstriert werden, dass eine Behandlung von Schwangeren mit einem spezifischen hCMVHyperimmunoglobulin mit einem signifikant geringeren Ri-
siko einer kongenitalen Infektion des Neugeborenen einherging (Nigro et al. 2005). Somit könnte diese Behandlung in der Prävention und Therapie einer kongenitalen hCMVInfektion von Vorteil sein. Allerdings ist der Wert dieser Maßnahme zur Verhinderung einer hCMV-Infektion bisher nicht abschließend zu beurteilen, da entsprechende randomisierte Studien mit größeren Fallzahlen z. Zt. noch durchgeführt werden und die Behandlung als sehr kostspielig einzustufen ist. > Für schwangere Frauen mit Verdacht auf akute primäre CMV-Infektion wird die Ganciclovir-Therapie z. Zt. noch nicht empfohlen. Ebenso ist die intrauterine Therapie mit Ganciclovir bei Feten mit CMV-Infektion problematisch.
Prophylaxe Die Expositionsprophylaxe ist aufgrund der verschiedenen Transmissionswege und der mangelnden Symptomatik kaum erfolgreich. Eine Empfehlung für ein CMV-Screening in der Schwangerschaft wurde kürzlich vorgeschalgen (. Abb. 20.5). Seronegative Frauen sollten über die Hauptinfektionsquellen (Sexualverkehr, Schmierkontakt durch Kinder in Tagesheimbetreuung bzw. Berufskontakt mit virusausscheidenden Kindern) über das Ansteckungsrisiko und mögliche Verhaltensweisen informiert werden:
Mögliche Verhaltensweisen zur Expositionsprophylaxe von CMV 4 Feststellung des CMV-Immunstatus des Sexualpartners 4 Hygienemaßnahmen wie gründliches Händewaschen nach Windelwechsel oder nach Umgang mit bespeichelten Spielsachen 4 Vermeidung intensiver Mundküsse mit möglicherweise virusausscheidenden Säuglingen
Zur passiven Immunisierung stehen verschiedene Hyperimmunglobulinpräparate (IVIG) zur Verfügung. Sie werden vorwiegend prophylaktisch für CMV-seronegative Empfänger vor Transfusionen und Transplantationen bzw. therapeutisch in Kombination mit Ganciclovir bei immunsupprimierten Patienten eingesetzt sowie besonders bei Frühgeborenen mit CMV-Symptomatik. > Für seronegative Schwangere, insbesondere nach beruflichem CMV-Kontakt, wird ebenfalls die Gabe von IVIG in Betracht gezogen. Der Wert dieser Maßnahme zur Verhinderung einer CMV-Infektion ist bisher nicht abschließend beurteilbar, da diese Maßnahme z. Zt. in einer europaweiten Studie evaluiert wird.
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. Abb. 20.5. Vorschlag eines CMV-Screenings in der Schwangerschaft (OAE otoakustische Emissionen). (Nach Enders et al. 2006)
Varizellen und Zoster (VZV) Studienbox Seit einigen Jahren wird die Entwicklung einer aktiven Impfung der Mutter zur Prophylaxe der kongenitalen CMV-Infektion als oberste Priorität angesehen. Zwei entwickelte Impfstoffe, die attenuierte CMV-Lebendvakzine Towne 125 und die Subunit-Glycoprotein-B-Vaccine sind z. Zt. in klinischer Erprobung. Kürzlich wurden die Ergebnisse einer Phase-II-Untersuchung eines rekombinanten Impfstoffs (Glucoprotein B und MF 59) für die Prävention der konnatalen CMV-Infektion bekanntgegeben (Pass et al. 2009). Dabei zeigte sich eine Wirksamkeit dieses Impfstoffes bei 50% der untersuchten Frauen. Obwohl keine statistischen Unterschiede bei der Analyse einer kongenitalen CMV-Infektion in der geimpften (1 Fall einer kongenitalen CMV-Infektion von 81 Schwangeren) und nicht geimpften Population (3 Fälle einer kongenitalen CMV-Infektion von 97 Schwangeren) beobachtet werden konnten, stellt diese Untersuchung eine sehr vielversprechende Entwicklung auf der langen Suche nach einem wirkungsvollen Impfstoff zur Prävention einer kongenitale CMV-Infektion dar.
Varizellen- und Zosterinfektionen sind verschiedene Manifestationen des gleichen Virus: des Varicella-zoster-Virus (VZV). Eine VZV-Infektion in der Gravidität ist jedoch ein relativ seltenes Ereignis. In Deutschland sind bei ca. 5–7% der 16– bis 40-jährigen Frauen keine VZV-Antikörper zu finden. Bei mütterlicher Varizelleninfekion bis zur 20. SSW konnten bei 2–3% der Feten Schäden im Sinn eines kongenitalen Varizellensyndroms (CVS) festgestellt werden. Bei den meisten betroffenen Feten finden sich Extremitätenhypoplasien, die der Pränataldiagnostik zugänglich sind. Weiterhin zeigen sich Hautvernarbungen, Wachstumsredardierungen, Augendefekte, Paralysen mit Muskelatrophie, zerebrale Krämpfe oder psychomotorische Retardierung. Der Manifestationszeitpunkt der neonatalen Varizellen und die unterschiedlichen Krankheitsverläufe hängen im Wesentlichen von dem Vorhandensein mütterlicher IgG-Antikörper ab. So konnte gezeigt werden, dass bei mütterlichen Varizellen ±4 Tage vor Entbindung meist noch keine IgG-Antikörper nachweisbar sind, während dies bei mütterlichen Varizellen mehr als 5 Tage vor Entbindung der Fall ist. Trotz der klinisch sicheren Diagnose anhand des typischen Krankheitsbildes bei Varizellen
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Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
und Zoster muss insbesondere in der Schwangerschaft und beim Neugeborenen eine serologische Untersuchung und ggf. auch eine molekularbiologische Diagnostik mittels PCR-Analyse erfolgen. Eine aktive Prophylaxe kann mit Lebendimpfstoff vorgenommen werden, wobei Schwangere jedoch nicht geimpft werden sollten. Bei seronegativen Frauen gegen Varicella-zosterVirus wird ebenfalls eine Impfung mindestens 3 Monate vor Konzeption empfohlen.
Einleitung Varizellen- und Zosterinfektionen sind verschiedene Manifestationen des gleichen Virus: des Varicella-zoster-Virus (VZV). Die primäre Infektion mit VZV verursacht das Krankheitsbild der Windpocken, eine weit verbreitete, bei Kindern überwiegend komplikationslos verlaufende Erkrankung. Nach Reaktivierung derselben Infektion entsteht der Zoster (Gürtelrose).
Eine Varizelleninfektion in der Schwangerschaft ist aus mehreren Gründen gefürchtet: 4 Das Virus kann bei der Mutter einen akuten Krankheitsverlauf mit einer hohen Morbidität und Mortalität verursachen. 4 Bei Varizelleninfektion in der 1. Hälfte der Schwangerschaft besteht das Risiko für eine kongenitale Embryopathie (kongenitales Varizellensyndrom; CVS). 4 Eine Varizelleninfektion um den Geburtstermin erhöht das Risiko einer schwer verlaufenden neonatalen Varizelleninfektion. Eine VZV-Infektion in der Gravidität ist jedoch ein relativ seltenes Ereignis. In Deutschland sind nur bei ca. 5–7% der Frauen im gebärfähigen Alter (16–40 Jahre) keine VZV-Antikörper zu finden (Enders 1984; Sauerbrei et al. 1990; Sauerbrei u. Wutzler 2007a, b). Bei Varizellen in der 1. Hälfte der Schwangerschaft besteht das Risiko für das CVS, wobei der Herpes zoster in der Schwangerschaft weder kindliche Schädigungen noch perinatale Infektionen erwarten lässt (Friese u. Enders 1998).
Erreger und Pathogenese VZV-Infektionen sind eine der weitest verbreiteten menschlichen Infektionen, wobei der VZV nur beim Menschen pathogen ist. Die Übertragung des hochkontagiösen Virus erfolgt vermutlich über Tröpfcheninfektion. In der Pubertät beträgt der Durchseuchungsgrad 90% und im hohen Alter nahezu 100%. Varizellen treten in einer Frequenz von 1–5/10.000 Schwangerschaften auf (Stagno u. Whitley 1985).
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> Bei mütterlichen Varizellen können als Komplikation in ca. 10–20% schwer verlaufende Pneumonien auftreten (Chapman 1998).
Die Risiken für den Fetus bzw. das Neugeborene sind bei mütterlichen Varizellen in der Frühschwangerschaft das CVS und bei mütterlichen Varizellen um den Entbindungstermin schwer verlaufende neonatale Varizellen mit tödlichem Ausgang in ca. 8% der Fälle (Miller et al. 1989). Die Inzidenz von
Zoster in der Schwangerschaft ist noch nicht ausreichend bekannt, wird aber auf 0,5/10.000 Schwangerschaften geschätzt (Gilstrap u. Faro 1997). Da die Mutter noch IgG-Antikörper besitzt und ein Herpeszoster mit einer geringen Virämie einhergeht, ist das Risiko für den Fetus gering.
Klinische Symptome Die Infektiosität beginnt ca. 1–2 Tage vor Auftreten des Hautausschlags und dauert rund 1 Woche. Generell geht die Infektion mit charakteristischen Symptomen wie Übelkeit, Fieber und dem für das Krankheitsbild typischen papulovesikulären Exanthem einher. Die Infektiosität besteht bis zum Eintrocknen der zuletzt aufgetretenen Effloreszenzen. Beim Erwachsenen, also auch bei Schwangeren, kann eine VZV-Infektion im Hinblick auf pneumologische Komplikationen schwerer verlaufen. Vor allem HIV-infizierte Frauen sind besonders durch eine VZV-Infektion gefährdet. Die neonatalen Varizellen des Neugeborenen sind Folge einer transplazentar übertragenen Infektion zum Zeitpunkt der mütterlichen Virämie. Eine transplazentare VZV-Infektion über den Blutweg gilt als wahrscheinlich, obwohl aufgrund der segmentalen Verteilung der Symptomatik eine aszendierende Infektion aus dem Epithel der Zervix möglich wäre (Higa et al. 1987). Beim Neugeborenen ist die Abwehrkraft gegen eine VZVInfektion aufgrund einer noch nicht voll ausgereiften eigenen zytotoxischen T-Zellfunktion zum Geburtstermin noch nicht entwickelt (Arvin u. Koropchak 1980). Der Manifestationszeitpunkt der neonatalen Varizellen und die unterschiedlichen Krankheitsverläufe hängen im Wesentlichen vom Vorhandensein mütterlicher IgG-Antikörper ab. So konnte gezeigt werden, dass bei mütterlichen Varizellen ±4 Tage vor Entbindung meist noch keine IgG-Antikörper nachweisbar sind, während dies bei mütterlichen Varizellen mehr als 5 Tage vor Entbindung der Fall ist (Friese u. Enders 1998).
Kongenitales Varizellensyndrom (CVS) Das CVS ist zwar selten, aber die Schädigungen sind schwerwiegend. Die Inzidenz wird mit 1% zwischen der 1. und 20. SSW und mit 2% zwischen der 13. und 20. SSW angegeben. Somit ist das Risiko einer Embryo- bzw. Fetopathie nach maternalen Windpocken mit ca. 2,2% relativ niedrig (Enders et al. 1994; Pastuszak et al. 1994). Bei mütterlicher Varizelleninfekion bis zur 20. SSW konnten bei 2–3% der Feten Schäden im Sinn eines CVS festgestellt werden. Bei den meisten betroffenen Feten finden sich Extremitätenhypoplasien (86%), die der Pränataldiagnostik zugänglich sind. Weiterhin zeigen sich Hautvernarbungen (100%), Wachstumsredardierungen (82%), Augendefekte (64%), Paralysen mit Muskelatrophie (70%), zerebrale Krämpfe oder psychomotische Retardierung (50%). Die Letalität bei Ausprägung des Vollbildes ist trotz Behandlung weiterhin mit ca. 25–50% in den ersten Lebenswochen hoch.
Neonatale Varizellen Definitionsgemäß handelt es sich um Windpocken nach intrauteriner Virusübertragung zwischen dem Zeitpunkt der Geburt und dem 12. Lebenstag des Neugeborenen. Aus frü-
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heren Studien ist bekannt, dass Varizellen in den letzten 4 Wochen vor der Geburt in 50% zur Infektion der Feten führen, wobei ein Drittel der Neugeborenen eine manifeste Erkrankung entwickeln kann. Die größte Gefahr besteht, wenn die mütterliche Varizellenvirämie 1–2 Tage vor der Geburt auftritt; zu diesem frühen Zeitpunkt der Infektion, etwa 24–48 h vor dem Auftreten des Exanthems, sind noch keine signifikanten Antikörperspiegel ausgebildet, die auch das Kind schützen könnten; die spezifischen Antikörper steigen mit der Entwicklung des Exanthems an und erreichen etwa am Tag 5 ihren Höhepunkt (Prober et al. 1992; Connan et al. 1996). Neuere prospektive Studien weisen nur noch auf 8% schwere neonatale Infektionen hin, und diese treten hauptsächlich bei Neugeborenen von Müttern mit akuten Varizellen 5 Tage vor bis 3 Tage nach dem Geburtstermin auf. Im Rahmen der Virämie werden etwa 24% aller Kinder infiziert. Der Schweregrad der Erkrankung korreliert daher meist streng mit dem Zeitpunkt der mütterlichen Infektion: Jene Kinder sind am höchsten gefährdet, die 2 Tage vor bis 5 Tage nach dem Auftreten des mütterlichen Varizellenexanthems zur Welt kommen. Die Mortalitätsrate beträgt ohne Behandlung bis zu 30% (Paryani u. Arvin 1986). Tritt das Exanthem in den ersten 5 Lebenstagen auf, beträgt die Letalität 0%, wohingegen die Letalität bei einer Exanthemmanifestation zwischen dem 5. und 10. Lebenstag bei ca. 21% liegt (Keutel 1968). Schwer verlaufende neonatale Varizellen kommen nicht nur bei der transplazentar übertragenen Infektion vor, sondern können gelegentlich auch durch eine frühpostnatal erworbene Infektion auftreten.
Diagnose Trotz der klinisch sicheren Diagnose anhand des typischen Krankheitsbildes bei Varizellen und Zoster muss insbesondere in der Schwangerschaft und beim Neugeborenen eine serologische Untersuchung und ggf. auch eine molekularbiologische Diagnostik mittels PCR-Analyse erfolgen (. Abb. 20.6). Die serologische Diagnostik von Varizellen wird durch den Nachweis von spezifischen IgG- und IgM-Antikörpern in den ersten 4–5 Tagen nach Exanthembeginn erbracht. ! Nicht selten werden bei primärer Varizelleninfektion bei Erwachsenen zuerst die IgG-Titer und danach die IgM-Antikörper nachweisbar (Enders 1985; Zieger et al. 1994).
Bei Zostererkrankungen steigen v. a. die Spiegel für IgG- und IgA-, seltener für IgM-Antikörper an. Ein Zoster in der Schwangerschaft sollte in jedem Fall eine HIV-Diagnostik veranlassen (Friese u. Enders 1998). Bei Kindern mit CVS ist die serologische Diagnostik weniger aussagekräftig, sodass hier der Varizellen-DNA-Nachweis mit der PCR im EDTA-Blut bzw. in Abstrich- oder Gewebsproben durchgeführt werden sollte. Bei Auftreten einer Varizelleninfektion am Geburtstermin sollte bei der Graviden und beim Neugeborenen sofort die VZV-IgG- und IgM-Titerbestimmung vorgenommen werden.
> Bei akuten Varizellen in der Frühschwangerschaft wird heute in jedem Fall eine Ultraschallkontrolle der Stufe II–III in der 22./23. SSW empfohlen. Bei Auffälligkeiten sollte der DNA-Nachweis mit der PCR im Fetalblut und Fruchtwasser durchgeführt werden (Hartung et al. 1999; Johnson et al. 2000).
Therapie Bei VZV-Exposition seronegativer Schwangerer bietet sich eine Postexpositionsprophylaxe mit VZV-Immunglobulin (VZIG) an. Diese kann zwar den Ausbruch der Varizellen nicht immer verhindern, vermindert aber den Schweregrad der Erkrankung. Außerdem scheint die prophylaktische Gabe von VZIG die Infektionsrate der Feten zu reduzieren (Prober et al. 1990, 1992). Die Gabe von VZIG sollte innerhalb von 72–96 h post infectionem bis zur 24. SSW verabreicht werden. Auch die prophylaktische Gabe von Aciclovir wird derzeit diskutiert, wobei dafür noch keine kontrollierten Studien vorliegen. Eine Behandlung richtet sich zunächst nach dem Schweregrad der Erkrankung der Mutter. Bei extensivem Hautbefall, hohem Fieber und Varizellenpneumonie ist die intravenöse Gabe von Aciclovir über einen Zeitraum von 7 Tagen indiziert. Abhängig vom Schweregrad der Erkrankung kann die Dosierung erhöht bzw. die Therapiedauer verlängert werden (Prober et al. 1990; Connan et al. 1996).
Zu beachtende Punkte einer VZV-Infektion 4 Die Virämie ist beim Einsetzen des mütterlichen Exanthems längst erfolgt und daher auch die diaplazentare Transmission. 4 Der Fetus könnte in diesem Zeitraum durch die Bildung mütterlicher spezifischer Antikörper geschützt sein (Prober et al. 1990; Prober et al. 1992). 4 Welche antivirale Wirkung Aciclovir in der Inkubationsphase des Fetus hat, ist noch unklar.
Neugeborene mit Varizellen sollten streng isoliert und erst bei Verkrusten der Läsionen entlassen werden. Bei Ausbruch der Varizellen zwischen dem 5. und 10. Lebenstag ist in jedem Fall eine Aciclovir-Therapie (30 mg/kg KG/Tag) indiziert (Sauerbrei u. Wutzler 2001, 2007a, b; Wutzler et al. 2001). Erfolgt die Infektion des Fetus in der Peripartalperiode, ist zunächst eine prophylaktische Gabe von Varicella-zoster-Immunglobulin (VZIG) bei der Geburt und Aciclovir i.v. bei Ausbruch der Erkrankung angezeigt. Bei Verdacht auf eine VZV-Infektion am Entbindungstermin sollte versucht werden, die Entbindung um 3–4 Tage zu verzögern, damit die mütterlichen IgG-Antikörper (die erst ca. 5–6 Tage nach akuten Varizellen ansteigen) auf den Fetus bzw. das Neugeborene übertragen werden können (Zieger et al. 1994; Friese u. Enders 1998). Gelingt eine Tokolyse nicht, erhält das Neugeborene sofort post partum VZIG. Die Aciclovir-Therapie wird prophylaktisch empfohlen, meist jedoch bei Anzeichen einer verdächtigen Symptomatik.
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Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
. Abb. 20.6. Vorgehen bei Verdacht auf VZV-Infektion (Mod. nach Mylonas u. Friese 2009)
Prophylaxe Eine aktive Prophylaxe kann mit Lebendimpfstoff vorgenommen werden, wobei Schwangere jedoch nicht geimpft werden sollten. Tipp
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Bei seronegativen Frauen gegen Varicella-zoster-Virus wird ebenfalls eine Impfung mind. 3 Monate vor Konzeption empfohlen. Eine passive Prophylaxe kann mit VZVImmunglobulin (VZIG) durch i.m.- oder i.v.-Applikation vorgenommen werden. Seronegative Frauen mit Varizellenkontakt während der Gravidität und zum Entbindungszeitpunkt sowie Neugeborene von Müttern mit Varizellen um den Entbindungstermin werden so behandelt.
Da ca. 95% der Schwangeren immun sind, betrifft die passive Immunisierung nur eine kleine Restpopulation. Entschließt man sich ohne vorherige Bestimmung des Immunstatus bzw. bei negativem IgG-Befund zu einer Immunprophylaxe, sollte diese innerhalb von 72–96 h nach Infektion erfolgen. Durch Gabe von VZIG kann nur in ca. 48% die Varizelleninfektion verhindert werden. In weiteren 6% findet eine asymptomatische Infektion statt, und in den restlichen Fällen verlaufen die Varizellen milde (Zieger et al. 1994; Friese u. Enders 1998).
20.2.2
Röteln
Die durch das Rötelnvirus hervorgerufenen Röteln zählen wegen ihrer hohen Fehlbildungsrate zu den am meisten gefürchteten Infektionen in der Schwangerschaft. Die Übertragung des
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Erregers erfolgt durch Tröpfcheninfektion. Das Rötelnvirus befällt überwiegend die lymphadenoiden Organe, die Haut, Schleimhäute und Synovialgewebe, gelegentlich das perivaskuläre Gewebe und in der Schwangerschaft die Plazenta. Die Infektion ist mit einem Exanthem vergesellschaftet. Bei Kindern verläuft die Infektion in 50% der Fälle subklinisch. Zum Infektionsnachweis und zur Beurteilung der Immunitätslage werden IgM-, IgA- und IgG-Antikörper bestimmt. Standardtest ist der Hämagglutinationshemmtest (HAH). Die IgMTiter können, insbesondere auch nach Impfung, lange persistieren und ein diagnostisches Problem darstellen. Eine gezielte pränatale Diagnostik ist mittels PCR (Polymerasekettenreaktion) aus Chorionzotten, Fruchtwasser und Fetalblut sowie durch Virusnachweis möglich. Die versehentliche Impfung seronegativer Frauen perikonzeptionell oder in der Frühschwangerschaft kann in etwa 2% der Fälle zur fetalen Infektion führen, allerdings wurden bisher keine Schädigungen des Kindes nachgewiesen. Reinfektionen sind bekannt (v. a. nach Impfung) führen aber nur in seltenen Fällen zur Rötelnembryopathie. Der Fetus kann diaplazentar infiziert werden. Insbesondere die Infektion in den ersten 12 SSW, also während der Embryogenese, führt zum sog. Rubellasyndrom. Dies umfasst Herz-, Augen- und Ohrfehlbildungen. Mit zunehmendem Gestationsalter nimmt der Schädigungsgrad des Fetus ab. Bei akuter Rötelninfektion in den ersten 12 SSW sollte wegen des hohen Embryopathierisikos eine Beendigung der Schwangerschaft in Betracht gezogen werden, wenn die pränatale Diagnostik, z. B. durch PCR, einen positiven Befund ergibt. Die Rötelnprophylaxe erfolgt durch aktive bzw. passive Impfung.
Einleitung Obwohl Röteln als eine überwiegend harmlose Kinderkrankheit angesehen wurden, sind Infektionen in der Schwangerschaft wegen ihrer Teratogenität und hohen Missbildungsrate noch immer am meisten gefürchtet. Trotz vieler Maßnahmen (aktive Impfung, Schwangerenvorsorge, verbesserte Labordiagnostik) gibt es bei uns noch zu viele Rötelnembryopathien (»congenital rubella syndrome«; CRS), ausnahmsweise auch bei Kindern von früher geimpften Müttern.
Erreger und Pathogenese Das Rubella-(Röteln- bzw. Rubi-)virus ist das einzige Mitglied des Genus Rubivirus in der Familie der Togaviren. Die Übertragung des Rötelnvirus auf den Fetus erfolgt transplazentar im Verlauf der mütterlichen Virämie. Womöglich durch eine Schädigung der Plazenta gelangt das Virus in regelmäßigen Abständen in den Fetus. Das Virus durchdringt das Chorionepithel und das Kapillarendothel der plazentaren Blutgefäße und gelangt über den fetalen Blutkreislauf zu etlichen Organen. > Die Hauptzielorgane sind die lymphadenoiden Organe, die Haut, die Mukosa des Respirations- und des Urogenitaltrakts, das Synovialgewebe der Gelenke, gelegentlich das perivaskuläre Gewebe im Gehirn und bei Schwangerschaft auch die Plazenta.
Klinische Symptome Die Ansteckung erfolgt durch Tröpfcheninfektion. Die Inkubationszeit bis zum Auftreten der Symptome beträgt meist 15–17 Tage (14–21 Tage). Etwa 7–9 Tage nach Ansteckung setzen die Virämie und die Ausbreitung des zellfreien und mit Lympho-zyten assoziierten Virus in viele Organen ein. Immunabwehrreaktionen werden durch das Auftreten der humoralen Antikörper im Serum und im Nasopharynx beendet. Die Patienten sind somit etwa 7 Tage nach Exanthembeginn kontagiös.
Bei Kindern verläuft die Rötelninfektion in ca. 50% subklinisch oder inapparent ab, wohingegen bei Jugendlichen und Erwachsenen oft ausgeprägte Symptome auftreten. Das Hauptmerkmal von Röteln ist ein makulopapulöses, rosafarbenes Exanthem sowie eine postaurikuläre, subokzipitale und zervikale Lymphknotenschwellung. Die Erkrankung ist meist harmlos. > Die Hauptkomplikationen sind die thrombozytopenische Purpura bei Kindern (1/3000), Meningoenzephalitiden bei jungen Erwachsenen (1/10.000), Arthralgien und rheumatische Beschwerden bei jungen Frauen (etwa 35%).
Obwohl Röteln meist harmlos verlaufen, ist bei Schwangeren wegen der CRS extreme Vorsicht geboten. Es treten primär Lymphknotenschwellungen im Halsbereich sowie ein mittelfleckiges, nicht konfluierendes Exanthem (auch mit Juckreiz einhergehend) auf, das sich über Gesicht, Rücken und die Streckseiten der Extremitäten ausbreitet und ca. 2–3 Tage persistiert. Im Blutbild besteht eine Leukopenie mit mäßiger Linksverschiebung, relativer Lymphozytose und atypischen Lymphozyten. Weitere Symptome sind arthralgische Beschwerden v. a. der kleinen Fuß- und Handgelenke. > Eine Diagnose von früheren oder kürzlich durchgemachten Röteln kann also nur im Labor mittels Antikörpernachweis erfolgen.
Röteln und Embryopathie Die Übertragung des Rötelnvirus auf den Fetus erfolgt transplazentar im Verlauf der mütterlichen Virämie. So lassen sich mit den empfindlicheren Röteln-IgM-Tests in der 22./23. SSW, meist aber noch nicht in der 18.–21. SSW, IgM-Antikörper in etwa 94% der Fälle im Serum rötelninfizierter Feten nachweisen (Daffos et al. 1984; Enders u. Jonatha 1987). Bei der Geburt sind in 98% aller Fälle mit CRS selbstgebildete IgMAntikörper und überwiegend von der Mutter stammende IgG-Antikörper vorhanden. Die IgG-Antikörper persistieren in abfallenden Titern langfristig bis lebenslang. In etwa 5–10% der Fälle können IgG-Antikörper jedoch nach dem 4.–5. Lebensjahr nicht mehr nachgewiesen werden. Bei der mütterlichen Erstinfektion liegen die fetalen Infektionsraten wesentlich höher als die Raten für Embryopathien. Die Häufigkeit der CRS liegt bei ca. 1:6000–120.000 Lebendgeborenen. Die Raten für CRS, die von einzelnen Autoren z. T. in unterschiedlicher Häufigkeit angegeben werden, orientieren sich an amerikanischen Langzeitstudien (Cooper et al. 1965), prospektiven englischen Studien (Miller et al. 1982),
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Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
. Tab. 20.2. Symptome und Häufigkeiten der Rötelnembryopathie. (Mod. nach Enders 1998a; Friese et al. 2002; Mylonas u. Friese 2004a; Mylonas et al. 2006a)
Symptome der Rötelnembryopathie Die klassischen Gregg-Trias
Häufigkeit [%] 1. Herzfehlbildungen: Pulmonalstenose, Ductus arteriosus apertus, Herzscheidewanddefekte
52–80
2. Augenanomalien: Cataracta congenita, Retinopathie, Glaukom
50–55
3. Innenohrschwerhörigkeit
Ca. 60
Manifestationen fetaler Entwicklungsstörungen
Dystrophie, Mikrozephalie, statomotorische und geistige Retardierung
40–50
Erweitertes Rubellasyndrom mit viszeralen Symptomen
Thrombozytopenische Purpura
45
Knochenveränderungen
30
Osteopathie
60
Entwicklungs-/Wachstumsstörungen
60
Pneumonien
Letalität ≤70
Viszerale Schäden Hepatosplenomegalie und Ikterus Geringes Geburtsgewicht Exanthem Thrombozytopenie Anämie von hämolytischem Charakter Myokarditis Enzephalitis
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Diabetes mellitus
Erhöhtes Risiko 50
Gesamtletalität
13–20
Late-onset-Rubellasyndrom; Beginn zwischen dem 4. und 6. Lebensmonat
Wachstumsstillstand, chronisches Exanthem, Pneumonie, IgG-, IgA-Hypogammaglobulinämie, Vaskulitis
Spätmanifestationen im jugendlichen Alter
Irreversible Hörschäden, Diabetes mellitus, andere endokrine Störungen, Krampfleiden, progressive Panenzephalitis (PRP)
skandinavischen Studien (Grillner et al. 1983) und an deutschen prospektiven und retrospektiven Studien von 1969– 1997, die zahlenmäßig in großem Umfang durchgeführt wurden (Enders et al. 1988; Enders u. Nickerl 1988; Enders 1998a, 1991). Folgende Häufigkeiten von Rötelnembryopathien sind in Abhänigkeit vom Gestationsalter bei mütterlicher Infektion zu erwarten: 4 2.–6. SSW: 56% 4 7.–9. SSW: 25% 4 10–12. SSW: 20% 4 13.–17. SSW: 10% 4 >18. SSW: Bei Röteln vor Konzeption bis 10 Tage nach der letzten Menstruation wurden keine Infektionen und Schädigungen des Kindes festgestellt (Enders et al. 1988).
Die klassischen Organmissbildungen treten primär bei Infektionen während der 1.–11. SSW auf. Bei Infektionen zwischen der 12. und 17. SSW sind in abnehmendem Maß v. a. ZNS-Schäden und Hörschäden zu erwarten (. Tab. 20.2). Bei mütterlichen Röteln nach der 18. SSW wurden in Studien keine signifikanten Auffälligkeiten beim Neugeborenen oder Säugling beobachtet.
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Folgen von Rötelninfektionen in der Schwangerschaft 4 Die Röteln der Mutter in der 1. bis Ende der 11. SSW verursachen Organfehlbildungen und Symptome des erweiterten Rubellasyndroms. 4 Bei Röteln in den ersten 8. SSW wird die Abortrate mit 20% angegeben (Enders 1998a). 4 Bei einer Infektion ab der 12.–17. SSW ist in abnehmendem Maße v. a. Innenohrschwerhörigkeit – schwer- bis geringgradig, uni- und bilateral – zu erwarten. Bei Röteln der Mutter nach der 18. SSW wurden in Studien neueren Datums keine signifikanten Auffälligkeiten beim Neugeborenen oder Säugling (bis auf 3 Fälle mit Hördefekten bei Röteln der Mutter bis zur 20. SSW) beobachtet. 4 Röteln der Mutter kurz vor der Entbindung können zu neonatalen und frühpostnatalen Rötelnerkrankungen führen.
Das Risiko für fetale Infektionen bei früher geimpften Frauen mit Reinfektion in den ersten 18 SSW wurde mit ca. 8% kalkuliert, wobei das Risiko für CRS nicht zu ermitteln ist, da es sich um Einzelfälle handelt (Best et al. 1989; Morgan-Capner et al. 1991). Obwohl für das Rubellasyndrom eine Meldepflicht besteht, werden nicht alle Fälle erfasst, besonders die Spätfolgen, wie z. B. Hörschäden, die erst im frühen Kindesalter auffallen.
Diagnostik Verdächtig sind Lymphknotenschwellungen, insbesondere im Nackenbereich, sowie ein kurz danach hinter den Ohren beginnendes mittelfleckiges, nicht konfluierendes Exanthem, das sich schnell über das Gesicht, dann im Bereich des Rückens und den Streckseiten der Extremitäten ausbreitet und etwa 2–3 Tage persistiert. Gelegentlich geht es mit Juckreiz einher. ! Differenzialdiagnostische Schwierigkeiten bereiten die durch das Parvovirus B19 und durch Entero-, Epstein-Barr- und Adenoviren bedingten Exantheme sowie Arzneimittelallergien und auch die bei einer Parvovirus-B19-Infektion auftretenden Gelenkaffektionen.
Röteln können auch im Erwachsenenalter in 20% der Fälle uncharakteristisch bzw. ohne Exanthem verlaufen und in etwa 30% der Fälle mit anderen exanthematischen Krankheiten verwechselt werden. Eine Diagnose von früheren oder kürzlich durchgemachten Röteln kann also nur im Labor mittels Antikörpernachweis erfolgen (. Abb. 20.7). Bei Rötelnkontakt oder serologischem Verdacht auf Röteln in der Schwangerschaft ist es erforderlich, gründlich nach den oben angeführten Symptomen sowie serologischen Befunden und Impfungen vor dieser Schwangerschaft zu fragen.
Labordiagnostik Die postnatalen Röteln werden mittels Antikörpernachweis diagnostiziert. In der pränatalen Diagnostik und der Diagno-
se von CRS wird zusätzlich der Virusnachweis mithilfe von molekularen Techniken (PCR) eingesetzt. Der Standardtest des Rötelnscreenings ist immer noch der Hämagglutinationshemmtest (HAH; Friese 2002; Friese et al. 2002). Eine sichere Immunität kann erst ab einem Titer von 1:32 angenommen werden. Titerergebnisse von 1:8 und 1:16 sind zu hinterfragen. Zur Bestätigung niedriger HAH-Titer werden IgG-Tests, wie der HiG-Test (Hämolysis-in-Gel-Test) und eine Vielzahl von EIA-Tests eingesetzt. Die in den EIA gemessenen IgG-Antikörper werden anhand eines WHOStandards, z. B. in International Units, bewertet. Zum Nachweis einer akuten Infektion werden die IgMAntikörper in indirekten EIA, μ-Capture-EIA und EIA mit rekombinantem Antigen bestimmt. Als Ergänzung zur Differenzierung des Infektionszeitpunkts werden der IgA-Antikörpernachweis sowie EIA zur Bestimmung der Avidität von IgG-Antikörpern angewendet. Da die verschiedenen EIATestkits unterschiedliche Spezifität und Sensitivität besitzen, sollten bei positivem IgM-Antikörperbefund weitere Kontrollen erfolgen. Vermehrt wird heute der nicht reduzierende Immunoblottest benutzt, um die zeitliche Abfolge der Bildung von rötelnspezifischen IgG-Antikörpern zu ermitteln. Häufige Probleme sind positive IgM-Antikörperbefunde von Schwangeren ohne/mit erhöhten HAH- und IgG-Titerwerten. Als Ursache für positive IgM-Antikörper bei klinisch unauffälligen Frauen kommen verschiedene Faktoren in Betracht (Enders 1998a): 4 akute kürzliche bzw. länger zurückliegende Rötelninfektion, 4 kürzlich durchgeführte Impfungen (MMR-Impfung), 4 Reinfektionen nach früherer Impfung, 4 langpersistierendes IgM nach früherer Infektion oder Impfung, 4 gelegentlich kreuzreagierende IgM-Antikörper bei anderen akuten/chronischen asymptomatischen Infektionen, z. B. CMV, Epstein-Barr-Virus (EBV). In der Mehrzahl der Fälle lässt sich mit den heute verfügbaren Testmethoden im Speziallabor die Ursache der IgM-Antikörper aufklären. Dadurch kann die Indikation zur pränatalen Diagnostik eingeschränkt werden (Enders 1998a).
Pränatale (kongenitale) Diagnostik Nach Diagnose einer maternalen Primärinfektion muss der Status des Fetus durch Ultraschalldiagnostik und invasive Pränataldiagnostik erhoben werden. Im Allgemeinen gilt, dass positive IgM-Antikörperbefunde im fetalen Blut bzw. positive PCR-Ergebnisse in Chorionzotten, Amnionflüssigkeit oder Fetalblut das Vorliegen einer fetalen Infektion anzeigen, jedoch negative Befunde dies nicht absolut ausschließen können. In der pränatalen Diagnostik wird eine IgM-Antikörperbestimmung im fetalen Blut mit 3 verschiedenen IgM-Tests empfohlen (Enders 1998a). Bei Infektionsverdacht wird sich in jedem Fall ein Virusnachweis anschließen, der sich entweder aus dem Chorionzottenmaterial, dem Fruchtwasser oder dem Nabelschnurblut ergibt. Hierfür wird, außer durch die Anzucht des Virus in bestimmten Zellkulturarten, heute vor-
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. Abb. 20.7. Vorschlag für das Management von schwangeren Frauen mit primärer Rötelninfektion. (Mod. nach Mylonas et al. 2006a)
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nehmlich der Nachweis von Rötelnvirus-RNA mit der PCRDiagnostik verwandt (Cradock-Watson et al. 1989). Im Fall einer fetalen Infektion kann eine Interruptio in Erwägung gezogen werden. Die PCR ist die weitaus sensitivere und schnellere Methode, jedoch sind falsch positive PCR-Ergebnisse nicht auszuschließen (Enders 1998a), und somit sollten diese bei starkem Kinderwunsch noch durch eine Fetalblutentnahme nach der 22. SSW abgesichert werden. Bei negativem Virusnachweis kann in der Regel die Schwangerschaft fortgesetzt werden. Eine Chordozentese ist aber trotzdem in der 22.–23. SSW angeraten, um fetales Blut auf spezifische IgM-Antikörper und Virus-RNA untersuchen zu können.
> Da die IgM-Antikörperproduktion vor der 21. SSW zu gering für einen Nachweis sein kann, sollte zur Vermeidung falsch negativer Befunde die Chordozentese keinesfalls vor der 22. Woche erfolgen. Bei akuten Röteln in den ersten 10 SSW sollte wegen des hohen Embryopathierisikos eher ein Schwangerschaftsabbruch in Betracht gezogen werden.
Postnatale Diagnostik Zum Ausschluss oder zur Bestätigung einer CRS bzw. einer pränatalen Infektion ohne Symptome bei Geburt wird die IgM- und IgG- bzw. die HAH-Antikörperbestimmung durchgeführt. Die IgM-Antikörper sind bei Kindern mit CRS i. d. R. zu 98% bei Geburt und zu 50–70% bis zum 6–8. Lebensmonat
397 20.2 · Virale Infektionen
nachweisbar (Enders 1998a). Bei asymptomatischen Kindern mit pränataler Infektion ist die Nachweisdauer für IgM-Antikörper kürzer. Die HAH- und IgG-Antikörper sind mehrere Jahre bis lebenslang meist nur in niedrigen Titern vorhanden. Der Virusnachweis ergänzt die Serodiagnostik. Untersuchungsproben im 4.–7. Lebensmonat sind Rachensekret, Urin, Blut und Liquor. Später können weitere Untersuchungen im Kammerwasser, Augen- und Linsengewebe durchgeführt werden. Die Rate positiver Befunde in der Gewebekultur und in der PCR in Rachensekret und Urin sinkt vom 1.–6. Lebensmonat von 85 auf 20% ab (Enders 1998a).
Therapie Eine Behandlung ist bei unkomplizierten Röteln nicht erforderlich. Die Behandlung von arthralgischen Beschwerden ist symptomatisch. Bei Kindern mit CRS sind eine frühzeitige Erkennung der Hördefekte und unterstützende Maßnahmen wichtig.
20.2.3
Parvovirus B19
Das Parvovirus B19 weist einen ausgeprägten Tropismus für die erythropoiden Vorläuferzellen auf. Bei Kindern verursacht das Virus die Ringelröteln (Erythema infectiosum). Mittlerweile wird eine Infektion mit einem weiten Spektrum von hämatologischen und nicht hämatologischen Erkrankungen und Komplikationen in Verbindung gebracht. Parvovirus B19 konnte mit einem Hydrops fetalis und intrauterinen Fruchttod bei Infektionen in der Schwangerschaft assoziiert werden. Ein sicherer Zusammenhang zwischen Missbildung und Parvovirus-B19-Infektion ist noch nicht gewährleistet. Obwohl kongenitale Malformationen nach Parvovirusinfektion berichtet worden sind, scheint dies allerdings ein seltenes Phänomen zu sein. Eine intrauterine Therapie mit Erythrozytenkonzentrat könnte bei Hydrops fetalis und erniedrigten Hämoglobinwerten durchgeführt werden. Untersuchungen zur Entwicklung und klinischen Testung eines effizienten Impfstoffs gegen Parvovirus B19 sind zzt. in Vorbereitung.
Prophylaxe Eine Expositionsprophylaxe ist wegen der Virusausscheidung aus dem Rachen etwa 7 Tage vor Auftreten der Symptome (falls diese auftreten) wenig erfolgversprechend. Als passive Prophylaxe stehen Rötelnimmunglobuline mit definiertem Antikörpertitergehalt derzeit nicht mehr zu Verfügung. Als aktive Prophylaxe wird das attenuierte Rötelnimpfvirus (RA-27/3) als Komponente im Masern-MumpsRöteln- (MMR-)Impfstoff bzw. Einzelimpfstoff genutzt, wobei diese Impfstoffe in der Schwangerschaft kontraindiziert sind (Mylonas et al. 2005a). Nach Impfung kommt es zu einer abgeschwächten Infektion mit stark reduzierter Virusvermehrung, gelegentlicher Lymphknotenschwellung und Exanthem. Ähnlich wie bei natürlichen Röteln werden bei jugendlichen Frauen vorübergehende Arthralgien in bis zu 40%, arthritisähnliche Symptome in ca. 20% und chronische rekurrierende Beschwerden in 2–5% beschrieben (Enders 1998a). > Reinfektionen nach einer Impfung sind bei Kontakt mit dem Wildvirus wegen fehlender lokaler Immunität im Nasopharynx v. a. bei niedrigen HAH- und IgG-Titern relativ häufig. Reinfektionen sind i. d. R. asymptomatisch. Dabei kommt es zu einem hohen Anstieg der IgG-Antikörper mit mehr oder weniger ausgeprägter IgM-, aber meist signifikanter IgA-Antikörperbildung. Reinfektionen können trotz präexistierender HAH- und IgG-Antikörper zu fetalen Infektionen führen, jedoch nur in Ausnahmefällen zu CRS (Enders 1991; Aboudy et al. 1997)
Bei Rhesus-negativen Frauen mit Anti-D-Prophylaxe nach Entbindung sollte im Fall der Seronegativität für Röteln die aktive Impfung erst 2–3 Monate später erfolgen. Die versehentliche Impfung seronegativer Frauen kurz vor oder in der Frühschwangerschaft kann in etwa 2% der Fälle zwar zur fetalen Infektion führen, jedoch sind Schädigungen des Kindes bisher nicht beobachtet worden (Enders 1998a; Mylonas et al. 2005a).
Einleitung Das Parvovirus B19 wurde 1975 im Serum von gesunden Blutspendern nach einem Screening für das Hepatitis-B-Antigen entdeckt (Brown et al. 1984). Anfänglich wurde das Parvovirus B19 nicht mit einer speziellen Krankheit in Verbindung gebracht. Mittlerweile gilt er als die Ursache der Ringelröteln (Erythema infectiosum, M. Quintus, »fifth disease«) und wird in Zusammenhang gebracht mit einem weiten Spektrum von hämatologischen und nicht hämatologischen Erkrankungen (Mylonas et al. 2006b).
Erreger Das humanpathogene Parvovirus B19 (Erythrovirus B19) gehört zur Familie der Parvoviridae (Genus: Erythrovirus). Das Parvovirus-B19-Virus ist aufgrund seiner fehlenden Hülle sehr resistent gegenüber inaktivierenden Umwelteinflüssen. Das Virus weist einen ausgeprägten Tropismus für die erythropoiden Vorläuferzellen auf, in denen es sich lytisch vermehrt.
Klinische Symptome Bei der Infektion mit dem Parvovirus B19 beträgt die Inkubationszeit nach Eindringen des Virus über den Rachenraum bis zum Auftreten von Symptomen zwischen 13 und 18 Tagen. Die virämische Phase beginnt zwischen dem 5. und 6. Tag nach Ansteckung und erreicht ihren Höhepunkt ca. 3–4 Tage vor Beginn des Exanthems bzw. bei asymptomatischen Personen vor Auftreten der IgM-Antikörper. Dem relativ einfachen molekularen Aufbau von Parvovirus B19 steht eine große Bandbreite unterschiedlicher Erkrankungen und Symptome gegenüber (Mylonas et al. 2006b).
20
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Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
Symptome bei Parvovirus-B19-Infektion 4 4 4 4 4 4
4 4 4 4 4
Ringelröteln (Erythema infectiosum) Leberversagen Fieber, Kopfschmerzen, Übelkeit, Durchfälle Hepatitis Aplastische Krisen, v. a. bei chronischen hämolytischen Anämien Autoimmunanämie oder mit Enzymanomalien der Erythrozyten (Sichelzellanämie, Sphärozytose, Thalassämien, Pyruvatkinasedefizienz) Arthralgien/Arthritis und chronische Arthritis Transiente/persistierende Anämien Granulozytopenie sowie Thrombozytopenie Vaskulitis Glomerulonephritiden
Der Verlauf der Infektion und die Schwere der dabei auftretenden Symptome sind hauptsächlich vom hämatologischen und immunologischen Status der Patienten abhängig. Knapp ein Drittel der Parvovirus-B19-Infektionen verlaufen beim Erwachsenen symptomlos. Vor allem bei Kindern verursacht das Virus das Erythema infectiosum (Ringelröteln), welches durch ein unspezifisches Prodromalstadium mit erkältungsähnlichen Symptomen gekennzeichnet. Nach etwa 2–5 Tagen erscheint der charakteristische Ausschlag, zuerst als Erythem auf den Wangen (»slapped cheeks«). Nach weiteren 1–4 Tagen folgt das 2. Stadium. Dies ist mit einem erythematösen makulopapulösen Exanthem (häufig mit typischer Girlanden- oder Ringelform) an Körper und Gliedmaßen charakterisiert, das häufig mit starkem Juckreiz einhergeht. Bei Kindern verlaufen die Parvovirus-B19-Infektionen i. Allg. problemlos und mild. Bei Erwachsenen sieht das Exanthem oft untypisch aus oder kann auch fehlen (Mylonas et al. 2006b). > Insbesondere bei Frauen manifestiert sich eine akute Parvovirus-B19-Infektion durch plötzlich auftretende symmetrische, polyarthritische Symptome oder Polyarthralgien, besonders der kleinen Gelenke.
20
Wenn Parvovirus B19 schwangere Frauen infiziert, kann dies mit schweren Folgen für den Fetus verbunden sein. Infektionen in der Frühschwangerschaft können u. a. zum Hydrops fetalis, Spontanabort und intrauterinen Fruchttod führen (Brown et al. 1984; Enders 1998a). Die Transmissionsrate wird mit ca. 33% angegeben (Enders 1998a). Die meisten schwangeren Frauen sind asymptomatisch, wobei einige Patientinnen ein charakteristisches Exanthem zeigen bzw. unspezifische Symptome wie Arthralgien auftreten können. Hydrops fetalis. Mittlerweile wird angenommen, dass eine
Parvovirus-B19-Infektion in ca. 15–20% der beobachteten Hydrops-fetalis-Fälle eine wichtige Rolle spielt (Jordan 1996), wobei das Intervall zwischen dem Beginn einer mütterlichen Infektion bis zur fetalen Symptomatik ca. 4–6 Wochen beträgt (Komischke et al. 1997). Die Wahrscheinlichkeit einer Fehlgeburt nach Infektion scheint zwischen der 11. und 23. SSW am
höchsten zu sein. Das Risiko der Entwicklung eines Hydrops fetalis nach einer Parvovirus-B19-Infektion wird zwischen 0 und 24% angenommen, wobei dieses Risiko nach neueren Studien geringer zu sein scheint (1–1,6%; Miller et al. 1998). Abort, Fehlgeburt und intrauteriner Fruchttod. Obwohl eine Transmission in jedem Trimenon auftreten kann, scheint eine Infektion innerhalb des 2. Trimenons das höchste Risiko eines negativen Ausgangs der Schwangerschaft zu besitzen. Obwohl ein kausaler Zusammenhang nicht nachgewiesen werden konnte, wird angenommen, dass ca. 2–3% der Fälle eines spontanen Aborts mit einer Parvovirusinfektion einhergehen. Die meisten Fälle einer Fehlgeburt nach einer nachgewiesen Parvovirusinfektion sind allerdings im 2. Trimenon beobachtet worden (Wattre et al. 1998). Die Raten für den intrauterinen Fruchttod liegen bei verschieden Studien mit kleinen Fallzahlen zwischen 1,6 und 38% (Enders 1998a; Wattre et al. 1998), wobei eine geschätzte fetale Verlustrate in prospektiven Studien von 11,8 und 12,5% im 2. Trimenon angenommen wird (Enders 1998a; Yaegashi et al. 1998). Ein intrauteriner Fruchttod (IUFT) tritt meistens 4–6 Wochen nach Infektion auf (Hedrick 1996). In den letzten Jahren wird ein durch Parvovirus B19 verursachter IUFT in der Spätschwangerschaft zzt. kontrovers diskutiert, wobei allerdings die notwendigen prospektiven Studien noch ausstehen, die einen solchen Zusammenhang klären könnten. Fetale Schädigung. Die Mehrzahl von suspekten Fällen einer infektionsbedingten fetalen Schädigung wurde an abortierten Feten beschrieben: Herzanomalien, Augenerkrankungen, Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte und Mikrognathie. Allerdings sind solche Berichte eher vereinzelte Fallberichte. Dabei ist ein sicherer Zusammenhang zwischen Missbildung und Parvovirus-B19-Infektion noch nicht gewährleistet. Eine retrospektive Analyse von 300 Neugeborenen mit kongenitalen Anomalien zeigte keine erhöhte Inzidenz einer Parvovirus-B19-Infektion im Vergleich zu gesunden Kindern (Van Elsacker-Niele et al. 1989). Dementsprechend könnte Parvovirus B19 eher embryotoxisch als teratogen wirken. Obwohl kongenitale Malformationen nach Parvovirusinfektion wahrscheinlich möglich sind, scheint dies allerdings ein seltenes Phänomen zu sein.
Diagnostik Eine akute Parvovirus-B19-Infektion sollte bei schwangeren Frauen mit entsprechender Kontaktanamnese und besonders bei der entsprechenden Symptomatik als Differenzialdiagnose in Betracht gezogen werden. Für die hämatologischen Befunde sind ein kurzfristiges Absinken der Hämoglobinkonzentration sowie eine passagere Retikulozyto- und Thrombozytopenie typisch (Mylonas et al. 2006b). Bei Schwangerschaften mit Hydrops fetalis sollte eine Parvovirus-B19-Ursache ausgeschlossen werden. Indikationen für die pränatale Diagnostik sind ein auffälliger Ultraschallbefund bei klinisch und/oder serologisch bewiesener akuter Infektion sowie ein auffälliger Ultraschallbefund bei routinemäßigem Ultraschallscreening (. Abb. 20.8).
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. Abb. 20.8. Vorgehen bei Parvovirus-B19-Exposition oder verdächtiger Symptomatik in der Schwangerschaft. (Mod. nach Mylonas et al. 2006a, b)
Ein Nachweis einer Parvovirus-B19-Infektion erfolgt primär durch die Antikörperbestimmung (EIA und Immunfluoreszenztest mit rekombinanten Antigenen), wobei der Parvovirus-B19-DNA-Nachweis zusätzlich bei problematischen serologischen Befunden und in der pränatalen Diagnostik durchgeführt wird. Da in ca. 15–18% der Fälle eines nicht immunen Hydrops fetalis Parvovirus-B19-DNA nachgewiesen werden, sollte die konvetionelle Diagnostik durch die Parvovirus-B19-PCR Bestimmung ergänzt werden. > Eine Parvovirus-B19-PCR-Untersuchung scheint der sensitivste Nachweis einer intrauterinen Infektion zu sein, da bis zu 50% der infizierten Feten IgM-negativ gegen Parvovirus B19 sind (Dieck et al. 1999).
Therapie Eine Therapie mit Erythrozytenkonzentraten ist nur gelegentlich bei immunkompetenten Kindern und Erwachsenen mit parvovirusbedingten aplastischen Krisen, jedoch häufig bei Personen mit chronischen hämolytischen Anämien erforderlich. Intravenöse Immunglobulingabe (IVIG) kann eine geringgradige Virämie unterdrücken sowie die Erythropoese und die IgG-Antikörperbildung stimulieren. Bei chronischerParvovirus-B19-Infektion ohne Anämie ist der Wert der IVIG-Therapie bisher nicht genau bekannt. > In Fällen einer fetalen Infektion könnten intrauterine Bluttransfusionen, v. a. bei Hydrops fetalis, ebenfalls von Vorteil sein, wobei eine solche Be-
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Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
handlung ebenfalls Risiken beinhaltet (Schwarz et al. 1988; Hansmann et al. 1989). Die intrauterine Gabe von IVIG zeigte ebenfalls in einigen Fällen einen Erfolg in der Behandlung eines Hydrops fetalis (Selbing et al. 1995; Alger 1997).
Prophylaxe Eine Expostitionsprophylaxe ist selten erfolgreich, da die Infektiosität vor Auftreten der Symptomatik besteht und die akute Infektion im Erwachsenenalter sehr oft asymptomatisch verläuft. Bei seronegativen schwangeren Frauen in Risikoberufen sollte bei Auftreten von Ringelröteln eine engmaschige Beobachtung sowie die IgM- und IgG-Antikörperbestimmung erfolgen. Eine passive Prophylaxe mit entsprechenden Immunglobulinen ist prinzipiell möglich, wird aber derzeit nicht empfohlen. Derzeit existiert auch keine Möglichkeit der aktiven Prophylaxe, da noch kein effektiver Impfstoff zur Verfügung steht (Mylonas et al. 2006b).
20.2.4
20
Hepatitisinfektion
Die Hepatitis A wird durch das Hepatitis-A-Virus (HAV) hervorgerufen. Das Virus wird fäkal-oral übertragen. Die Infektion verläuft akut und heilt bei Immunität aus, wobei eine Chronizität und Entwicklung einer Leberzirrhose nicht bekannt sind. Bei Infektion in der Schwangerschaft besteht nur selten ein erhöhtes Risiko für den Fetus. Eine spezielle Therapie existiert nicht. Die passive, besser noch die aktive Impfung der Mutter ist möglich. Bei akuter Hepatitis A am Geburtstermin ist primär eine passive Immunprophylaxe des Neugeborenen anzustreben. Die Hepatitis B wird durch das Hepatitis-B-Virus (HBV) verursacht und ist weltweit mit 200–300 Mio. infizierten Menschen die häufigste Hepatitisform. Die akute Infektion geht in 5–10% der Fälle in eine chronische Verlaufsform über und ist mit einem hohen Risiko des Auftretens von Leberzirrhose und Leberzellkarzinom vergesellschaftet. Der Verlauf einer akuten Hepatitis B wird durch eine Gravidität nicht beeinflusst. In der Schwangerschaft kann eine vertikale Transmission auf den Fetus erfolgen, wobei das Risiko im 3. Trimenon stark ansteigt. Bei Nachweis von maternalem HBeAg beträgt das Transmissionsrisiko für den Fetus 90%, die Frühgeburtenzahl steigt um das 3Fache. Die infizierten Kinder zeigen meist milde Verlaufsformen der Hepatitis B, allerdings sind chronische Verläufe mit den oben genannten Risiken in bis zu 90% der Fälle beschrieben. Die Diagnostik erfolgt serologisch bzw. molekularbiologisch. Entsprechend den Mutterschaftsrichtlinien sollte ein HBsAg-Screening im 3. Trimenon bei allen Schwangeren erfolgen. Bei Nachweis von HBsAg ist die Überprüfung des Anti-HDV-Antikörpers zur Diagnose einer akuten Hepatitis D notwendig. In der Schwangerschaft kann eine HBV-Impfung risikolos erfolgen. Alle Neugeborenen von HBsAg-positiven Müttern sollten bis max. 12 h postpartal einer Simultanimpfung unterzogen werden. Das Hepatitis-C-Virus (HCV) ist für etwa 90% der posttransfusionell akquirierten Hepatitiden verantwortlich. Etwa 80% der Infektionen sind klinisch inapparent, 60–85% gehen in eine chronische Verlaufsform mit erhöhtem Risiko einer Leberzirrho-
se und eines hepatozellulären Karzinoms über. Der Infektionsnachweis gelingt nur serologisch bzw. molekularbiologisch mit hochsensitiven Testsystemen. Anti-HCV-IgM-Antikörper können nicht nachgewiesen werden. Das diagnostische Fenster post infectionem und bei fehlender Immunantwort ist zu beachten. Die Möglichkeit einer vertikalen Transmission wird kontrovers beurteilt. Das potenzielle perinatale Infektionsrisiko für das Neugeborene scheint gering zu sein, steigt aber mit hoher maternaler Virusreplikation. Wenn HCV-RNA in der Muttermilch nachgewiesen wird, sollte ein Abstillen empfohlen werden.
Einleitung Hepatitisviren sind eine heterogene Gruppe von Viren, deren hauptsächliche klinische Manifestation eine Hepatitis ist. Hepatitisviren wirken aber auch auf andere Organsysteme und beeinflussen die Embryo- und Fetogenese. Hepatitisviren können durch mehrere Möglichkeiten übertragen werden. Die Letalität schwankt in Abhängigkeit vom Virus und der regionalen Verteilung zwischen 1% in den westlichen Ländern und 25% in Ländern der Dritten Welt. Nur die durch das Hepatitis-E-Virus bedingte akute Hepatitis ist bei Schwangeren mit einer im Vergleich zur Normalbevölkerung deutlich schlechteren Prognose verbunden (ca. 25% Letalität). Inzidenz, klinische Symptome und Komplikationen der durch die Hepatitisviren der Typen A–D verursachten akuten Hepatitiden weisen bei Schwangeren einen identischen Verlauf zu nicht schwangeren Frauen auf, Missbildungen werden nicht vermehrt beobachtet (Sherlock 1996). Hepatitis A und E treten als akute, selbst limitiert verlaufende Hepatitiden in Erscheinung. Hepatitis B, C und D weisen neben der akuten Erkrankung einen chronisch-persistierenden Verlauf mit Spätkomplikationen auf. Von Bedeutung sind dabei Transmissionsmodus und -risiko, Chronizität und Progredienz der Hepatitis sowie onkogenes Potenzial. Auch eine fetomaternale Übertragung kann erfolgen (. Tab. 20.3). Die zur Verfügung stehenden serologischen und molekularbiologischen Tests ermöglichen eine zuverlässige Identifizierung und Charakterisierung der akuten und chronischen Verlaufsform der unterschiedlichen viral bedingten Hepatitiden (. Tab. 20.4).
Hepatitis-A-Virus (HAV) Erreger Das Hepatitis-A-Virus gehört zur Familie der Picornaviren. Die Übertragung erfolgt primär fäkal-oral über Nahrungsmittel und Wasser, obwohl eine Übertragung durch Kontakt von Person zu Person ebenso möglich ist. Eine Infektion mit dem HAV ist relativ häufig, wobei die Erkrankung eine gutartige, selbstlimitierende Hepatitis darstellt, welche nach einer kurzen virämischen Phase ausheilt (Siegl 2004). In der Schwangerschaft ist die Hepatitis-A-Infektion in Schwere und Häufigkeit mit der Erkrankung bei Nichtschwangeren vergleichbar (Schneider u. Wirth 1998). Eine vertikale (Watson et al. 1993) und intrauterine Transmission (Leikin et al. 1996) wurde in Einzelfällen beobachtet. Die pränatale Infektion kann mit Hydrops fetalis und dem Bild einer Sepsis verlaufen (Leikin et al. 1996). Die postnatale
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. Tab. 20.3. Verlauf, fetomaternale Übertragung und Prophylaxe der Hepatitisinfektion. Nach (Rossol 1998)
Hepatitis
Inkubation (Wochen)
Verlauf
Fetomaternale Übertragung
Screening
Prophylaxe
A
2–6
Mild
Nein
Nein
Aktiv + passiv (HAV-Vakzine)
B
4–25
Häufig schwer
Ja
Ja (3. Trimenon)
Aktiv + passiv (HBV-Vakzine)
C
2–20
Häufig mild
Ja
Nein
Nicht vorhanden
D
13–25
Häufig schwer
Ja
Nein
Aktiv + passiv (HBV-Vakzine)
E
2–9
Fulminant möglich
Nein
Nein
Nicht vorhanden
G
?
Mild
Ja
Nein
Nicht vorhanden
. Tab. 20.4. Diagnostische Maßnahmen und Antigen-/Antikörperbestimmungen von Hepatitisinfektionen. (Mod. nach Mylonas u. Friese 2004a; Mylonas et al. 2006a)
Hepatitis
A (Picorna)
B (Hepadna)
C (Flavi)
Akut
Anti-HAV IgM+ Stuhl PCR+
HBsAg + HBeAG + Anti-HBc + Anti-HBc-IgM +
Antikörper ± PCR +
Kontrollen
Nach 6 Monaten
Nach 8–12 Wochen
Nach 3–4 Monaten
Abgelaufene limitierte Infektion
Anti-HAV gesamt + Anti-HAV IgM ±
Anti-HBs ± Anti-HBc + Anti-HBe ± HBsAG – HBeAG –
Antikörper ± PCR –
Kontrollen
Keine
Keine
Bei bestehender Symptomatik in 1–3 Monaten
Chronisch
Nicht bekannt (lang persistierende Fälle bekannt)
HBsAG + HBeAG ± Anti-HBc + Anti-HBc IgM ± Anti-HBe ± PCR +
Antikörper + PCR +
Kontrollen
Nach 1 Jahr
Nach 4–6 Monaten
Nach 4–6 Monaten
Erkrankung ist gutartig. Selten wurde ein fulminanter Verlauf der akuten Hepatitis A mit letalem Ausgang für die Mutter (bis zu 0,14%) beobachtet. Ein Risiko für den Fetus besteht nur in Einzelfällen (Sherlock 1996).
Klinische Symptome Infektionen bei Jugendlichen und Erwachsenen verlaufen im Gegensatz zu Erkrankungen in der Kindheit symptomatisch ab. Erste klinische Symptome sind Fieber, Müdigkeit, Gliederund Kopfschmerzen sowie Übelkeit, Durchfall und Erbrechen. In wenigen Tagen kann sich das Vollbild einer ikterischen Hepatitis entwickeln (Dauer wenige Tage bis Wochen). Der Stuhl erscheint hell, der Urin durch das Bilirubin dagegen dunkel. Eine Hepatomegalie, Splenomegalie, Pankreatitis,
Zeichen einer Cholestase und Hautjucken können beobachtet werden (Siegl 2004).
Diagnose Die Diagnostik einer akuten HAV-Infektion erfolgt durch die serologische Bestimmung von IgM-Antikörpern (die schon 14 Tage post infectionem für max. 2–12 Monate nachweisbar sind) bzw. PCR-Nachweis des Erregers im Stuhl. Die serologische Sequenz des HAV und der korrespondierenden Antikörper zeigt erstmals positive Serumantikörper (anti-HAV), wenn die Viruskonzentration im Stuhl schon deutlich reduziert bzw. nicht mehr nachweisbar ist. Antikörper der Klasse IgG sind mit einer sicher protektiven Immunität gegen eine erneute HAV-Infektion verbunden.
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Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
Therapie Die Therapie der akuten Hepatitis-A-Infektion, die mit der Akquirierung im Erwachsenenalter in >70% der Fälle klinisch apparent verläuft, folgt den allgemeinen symptomatischen Therapierichtlinien. Eine spezifische Therapie existiert nicht (Siegl 2004).
Prophylaxe Wahrscheinlich kann man bei der Anwendung des Totimpfstoffes auf die Erfahrungswerte mit dem Impfstoff gegen Hepatitis B zurückgreifen. Bei Gefährdung sollte eine aktive und passive Immunisierung erfolgen. Bei einer akuten Hepatitis A der Mutter zum Geburtstermin ist jedoch eine passive Immunprophylaxe des Kindes anzustreben. Eine Immunisierung des Kindes bei Erkrankung der Mutter ante partum ist sinnvoll, da die diaplazentar übertragenen maternalen Antikörper das Neugeborene nicht absolut schützten.
Hepatitis-B-Virus (HBV) Erreger Die Hepatitis B ist durch ihre weltweite Verbreitung mit 200– 300 Mio. chronisch infizierten Menschen die zahlenmäßig häufigste Hepatitisform (Ranger-Rogez u. Denis 2004). Sie ist von enormer Bedeutung durch die in Abhängigkeit von der Virusreplikation erhöhte Gefahr der vertikalen Transmission, kann aber in den westlichen Ländern durch verfügbare Vakzine beherrscht werden. Die HBV-Trägerrate in Deutschland beträgt ca. 0,8%, wobei ca. 0,9–1,4% der Schwangeren HBsAg-Träger sind (Schneider u. Wirth 1998). Es ist mit ca. 7000–7500 Neugeborenen bei HBsAg-positiven Müttern pro Jahr zu rechnen. Die vertikale Transmissionsrate hängt primär von der Virämie der Mutter ab. Eine intrauterine pränatale diaplazentare Transmission stellt eine Ausnahme dar, ist aber v. a. im 3. Trimenon möglich und hat keinen negativen Einfluss auf den Schwangerschaftsverlauf. Eine perinatale und frühpostnatale Infektion ist möglich, da das Virus bei infizierten Müttern praktisch immer im Vaginalsekret zu finden ist, bei ca. 35% in der Amnionflüssigkeit, bei ca. 50% im Nabelschnurblut und bei >70% in der Muttermilch.
Klinische Symptome
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Nach einer Inkubationszeit von 6–25 Wochen beginnt die Prodromalphase mit Unwohlsein, Übelkeit und Erbrechen sowie Gelenkbeschwerden. Eine fulminante Hepatitis mit hoher Morbidität und Letalität kann ebenfalls in der Schwangerschaft beobachtet werden. Bei durchschnittlich 5–10% (Kleinkinder 30%, Neugeborene 90%) entwickelt sich eine chronische Erkrankung mit chronisch persistierender bzw. chronisch aggressiver Hepatitis mit Entwicklung einer Zirrhose bzw. nachfolgend eines Leberzellkarzinoms (chronische Entzündung, Regeneration der Leberzellen) nach 25–30 Jahren (Ranger-Rogez u. Denis 2004). Eine Störung der Hämatopoese kann auftreten. Hepatitis B ist häufig bei Patienten mit Polyarteritis nodosa oder bei membranoproliferativer Glomerulonephritis (Immunkomplexerkrankungen) nachzuweisen. Bei akutem Verlauf tritt gelegentlich eine Pankreatitis auf. Eine Ansteckungsfähigkeit besteht, solange serologisch HB-
sAg, HBeAg oder HBV-DNA nachgewiesen werden kann. Eine Koinfektion mit HDV ist ebenso möglich. Im Erwachsenenalter erworben, geht die HBV-Infektion in 5–10% der Fälle in eine chronische Verlaufsform über und ist in einem hohen Maß mit der Entwicklung einer Leberzirrhose und eines primären Leberzellkarzinoms vergesellschaftet. Der klinische Verlauf bei Kindern ist überwiegend asymptomatisch. Die Wahrscheinlichkeit eines chronischen Verlaufs steigt, je jünger das Kind bei Infektion war. Sicher pränatal infizierte Kinder weisen in >90% einen chronischen Verlauf auf (Shapiro 1994). Die Infektiosität ist wegen extrem hoher zirkulierender Virusmengen erheblich. Obwohl die Parenchymentzündung wenig ausgeprägt ist, kann der Verlauf Aktivitätsschübe und eine stetige Progredienz zur Zirrhose aufweisen. Leberzellen werden während der Infektion nicht durch die Viren (fehlender zytopathischer Effekt), sondern durch das Immunsystem des Organismus abgetötet. Je effektiver die Viruselimination, desto stärker ist die Zellzerstörung. Ungefähr ein Drittel aller an Hepatitis B Erkrankten haben sich im Kindesalter infiziert (Shapiro 1994). Selten kommt es bei vertikaler Transmission zu einer fulminanten neonatalen Hepatitis (Schneider u. Wirth 1998). > Bei einem HBsAg-Trägerstatus der Mutter besteht ein Risiko für den Fetus von 40%, bei gleichzeitiger HBeAg-Positivität erhöht sich das Risiko auf 90%. Unabhängig hiervon ist ein messbarer HBV-DNASpiegel im Serum der Mutter mit einer erhöhten Infektionsrate der Kinder assoziiert.
Diagnose Die zur Verfügung stehenden serologischen und molekularbiologischen Tests ermöglichen eine zuverlässige Identifizierung und Charakterisierung der akuten und chronischen Verlaufsform der Hepatitis B (. Tab. 20.4; . Abb. 20.9). Insbesondere in der Differenzialdiagnose eines Ikterus während der Schwangerschaft sollte nach einer HBV-Infektion gesucht werden. Post infectionem wird nach 2–8 Wochen der Nachweis des Oberflächenantigens (HBsAg) positiv. Bei den chronischen Verlaufsformen zeigt eine Persistenz nach ca. 4–6 Monaten eine permanente Virusreplikation an (Sherlock 1996). Typische serologische Antigen-Antikörper-Muster lassen bei der Hepatitis-B-Infektion klare Aussagen über Verlauf, Infektiösität und Virusreplikation zu. Bei Nachweis von HBsAg ist die Überprüfung des Anti-HDV-Antikörpers zur Diagnose einer akuten Hepatitis D notwendig.
Therapie Die mögliche Therapie einer chronisch aktiven Hepatitis B mit Interferon-α ist aufgrund der noch unbekannten Auswirkungen dieses Immunmodulators auf den Fetus nicht indiziert (Sherlock 1996; Schneider u. Wirth 1998). Da eine Progression der Erkrankung während der Schwangerschaft nur in seltenen Fällen beobachtet wird, kann mit der antiviralen Therapie bis nach der Entbindung gewartet werden. Bei Kindern von Müttern mit positivem HBs- und/oder HBeAgNachweis ist eine Simultanimpfung sowie Absaugung des
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Ein effektiver Schutz kann mit diesem Schema in bis zu 95% der Fälle erreicht werden, ohne dass eine Interferenz mit anderen Vakzinen befürchtet werden muss (Sherlock 1996; Schneider u. Wirth 1998). > Da nach neueren Studien eine Übertragung des Hepatitis-B-Virus von Müttern mit HBeAg- und HBVDNA-Positivität auf das Neugeborene in fast allen Fällen angenommen werden muss, wird eine Kaiserschnittentbindung in Kombination mit einer simultanen passiven/aktiven Immunprophylaxe als verbesserte Präventivmaßnahme, zumindest bei sehr hoher Viruslast, diskutiert (Lee et al. 1988).
Hepatitis-C-Virus (HCV) Erreger
. Abb. 20.9. Vorgehen bei Verdacht auf HBV-Infektion. (Mod. nach Mylonas u. Friese 2009)
Magensekrets (>95% HBV) zu empfehlen. Durch dieses Vorgehen lassen sich ca. 90% der Infektionen bei Neugeborenen verhindern.
Prophylaxe Ein HBsAg-Screening der Mutter bei Risikogruppenzugehörigkeit und im 3. Trimenon soll bei allen Schwangeren durchgeführt werden (Friese 2002). Eine Hepatitis-B-Impfung in der Schwangerschaft kann mit rekombinanten Impfstoffen ohne Risiko für Kind oder Mutter durchgeführt werden (Friese 2000; Mylonas et al. 2005a). Alle Neugeborenen von HBsAg-positiven Müttern sollten unmittelbar post partum, auf jeden Fall aber innerhalb von 12 h, eine simultane Immunprophylaxe mit Hepatitis-B-Immunglobulin (0,5 ml i.m.) und einer Hepatitis-B-Vakzine (10 μl10 IE/ ml eine protektive Wirkung besitzen. Nachimpfungen (Booster) sind je nach Ergebnis der Grundimmunisierung, in jedem Fall aber bei einem Anti-HBs-Titer 80% der Fälle wird ein chronischer Verlauf
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Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
beobachtet, häufig mit Leberzirrhose bzw. der Gefahr der nachfolgenden Entstehung eines Leberzellkarzinoms. Bei aktivem Verlauf können eine Pankreatitis und eine Störung der Hämatopoese auftreten. Bei einer gleichzeitig bestehenden und häufig okkulten HBV-Infektion (bei ca. einem Drittel der Patienten mit HCV) existiert ein signifikant erhöhtes Risiko der Entwicklung einer Leberzirrhose und eines Leberzellkarzinoms. Bei bestehender Zirrhose reduziert eine Therapie mit Interferon die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung eines Leberzellkarzinoms (um den Faktor6) nur bei Patienten ohne HBV-Infektion (Cacciola et al. 1999). Weiterhin können bei chronischer Hepatitis C eine Kryoglobulinämie, membranoproliferative Glomerulonephritis, Sjögren-Syndrom und selten eine Thyreoiditis Hashimoto beobachtet werden. Bei perinataler Infektion besteht eine diagnostisch unklare Phase nach der Geburt mit HCV-RNA-Negativität für wenige Tage. Spätestens ab der 2. Lebenswoche ist das Virusgenom im Serum nachweisbar. Drei klinische Verläufe können beobachtet werden (Schneider u. Wirth 1998): 4 transitorische Virämie (selten): vorübergehender Nachweis von HCV-RNA ohne Erkrankung, 4 akute, symptomatische Hepatitis bis zum fulminanten Verlauf (selten), 4 protrahierte, subklinische Hepatitis mit variabler Klinik, phasenweisem Transaminasenanstieg und histologisch nur gering aktiver Hepatitis. Der weitere Verlauf ist chronisch schubweise. Kinder mit positivem Genomnachweis müssen langfristig überwacht werden. Die Häufigkeit von Zirrhose oder Karzinom nach perinataler Infektion ist unbekannt, obwohl diese primär im Erwachsenenalter auftreten.
Studienbox Derzeit wird die Möglichkeit der vertikalen Transmission des Hepatitis-C-Virus sehr kontrovers beurteilt. Insgesamt scheint das Risiko für das Neugeborene, sich perinatal bei der mit Hepatitis C infizierten Mutter anstecken zu können, gering zu sein (1 spezifischen Bande ist das Ergebnis positiv! 5 Der Test kann nicht zwischen einer akuten, chronischen (infektiösen) oder ausgeheilten (nicht mehr infektiösen) Erkrankung unterscheiden!
HCV-PCR
EDTA-Blut
5 Indikationen: – Antikörperpositive Patienten (ELISA und/oder Blot) – Differenzialdiagnose: akute oder ausgeheilte Hepatitis – Frische Infektion vor dem Auftreten von Antikörpern – Diagnose/Verlauf einer chronischen Infektion mit fehlendem Antikörpernachweis (ELISA und/oder Blot) – Unklarer serologischer Befund bei ELISA und/oder Blots 5 Derzeit die einzige verfügbare Methode, um eine Aktivität und Infektiosität einer Hepatitis-CErkrankung nachzuweisen
In Deutschland werden jährlich 200–250 Kinder HIV-positiver Schwangerer entbunden. Heute beträgt in der BRD die Rate der vertikalen HIV-l-Infektion nur noch 1–2%. Diese niedrige Transmissionsrate wurde durch Kombination des Protokolls ACTG076 mit einer primären Sectio am wehenlosen Uterus erreicht. ACTG076 beinhaltet die Therapie der HIV-positiven Schwangeren in der Schwangerschaft mit Zidovudin oral, während der Geburt i.v. und die Behandlung der Neugeborenen 6 Wochen mit Zidovudin oral. Die Kinder dürfen nicht gestillt werden. Dieses Vorgehen wird im Rahmen einer regelmäßig stattfindeten, interdisziplinären Konsensuskonferenz weiter modifiziert und an neueste Erkenntnisse angepasst (zuletzt 2005). Grundvoraussetzung jeglicher Prävention der HIV-MutterKind-Übertragung ist jedoch das konsequente Angebot einer HIV-Testung im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge entsprechend den gültigen Mutterschaftsrichtlinien an jede Schwangere. Ziel geburtsmedizinisch-pädiatrischer interdisziplinärer Arbeit war in den vergangenen Jahren primär die Verhinderung der maternofetalen HIV-Transmission. Durch die therapeutischen Fortschritte in der antiretroviralen Therapie (ART) bei Erwachsenen (hochaktive antiretrovirale Therapie) können jedoch die gesundheitlichen Interessen der Mutter und die des Kindes divergieren, da die unerwünschten Langzeitwirkungen dieser Medikamente auf das Kind weitgehend unbekannt sind.
Einleitung Epidemiologische und klinische Untersuchungen durch die Centers for Disease Control (CDC) führten 1981 zur Definition des Acquired Immune Deficiency Syndroms (Aids). In den Studien wurde deutlich, dass homosexuelle Männer, intravenöse Drogenkonsumenten und Empfänger von Bluttransfusionen oder Blutprodukten ein hohes Risiko für diese Erkrankung haben. Das 1983 von Montagnier (Pasteur-Institut, Paris) erstmals isolierte, zuvor unbekannte humane Virus ist die Ursache von Aids. Nach eindeutiger Identifikation als RNA-Retrovirus trägt das Virus heute die Bezeichnung humanes Immundefizienzvirus (HIV). Das HIV2 verdankt seine späte Entdeckung dem Umstand, dass es im Vergleich zu HIV1 einen leichteren und längeren Verlauf nimmt und schwerer auf sexuellem oder perinatalem Weg übertragbar ist. Bis Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre wurde HIV-positiven Schwangeren meist zu einem Schwangerschaftsabbruch geraten, häufig verbunden mit einer Sterilisation. Durch verbesserte therapeutische Möglichkeiten ist die Reduktion der fetomaternalen Transmissionsrate des HI-Virus von ca. 15–20% ohne Therapie auf Die HIV-Infektion bedeutet heute keine Kontraindikation für die Austragung einer Schwangerschaft.
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Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
Erreger Das humane Immundefizienzvirus (HIV) ist ein Retrovirus aus der Familie der Lentiviren. Man unterscheidet 2 Virustypen (HIV-1 und HIV-2). Diese Subtypen zeichnen sich durch entsprechende Unterschiede des Virusgenoms und der geographischen Verteilung aus. HIV-1 Subtyp B ist vorherrschend in Westeuropa und Nordamerika, während in Afrika alle wesentlichen HIV-1-Subtypen und HIV-2 (SubtypA–E) gefunden werden. HIV-2-Infektionen in Westeuropa sind selten. Zielzellen für HIV sind alle Körperzellen des Menschen, die den CD4-Rezeptor auf ihrer Oberfläche tragen (Feinberg 1996; Pillay u. Phillips 2005). HIV kann sowohl in zellgebundener Form als auch als zellfreies Virus übertragen werden. Es handelt sich dabei v. a. um Zellen des Immunsystems wie CD4-positive T-Lymphozyten (T-Helferzellen) und Zellen des Monozyten-Makrophagen-Systems (z. B. dendritische Zellen, dermale Langerhans-Zellen, Mikroglia des Gehirns, antigenpräsentierende Zellen des Darmes).
primären Symptome zusammen; je schwerer, desto früher und schneller tritt eine Progression ein. Bei Personen mit möglicher Exposition sind folgende Symptome wichtig: morbilliformes Exanthem (auch als makulopapulös beschrieben) besonders am Körperstamm (in 40–80%); in einigen Fällen aseptische Meningitis; mukokutane Ulzerationen der bukkalen Mukosa, Gingiva, Gaumen, Ösophagus, Anus (. Tab. 20.6).
Studienbox Studienergebnisse aus Grundlagen- und klinischer Forschung haben ergeben, dass die HIV-Transmission eine multifaktorielle Genese hat (European 1996; Burns et al. 1997; Mayaud 1997; Mandelbrot 1998; Rokos et al. 1998; Burns u. Mofenson 1999, 2001) und dass dementsprechend durch kombinierte Intervention das HIV-Transmissionsrisiko auf 70–90%) Exanthem (>40–80%) Kopfschmerzen (32–70%), Lymphadenopathie (40–70%) Pharyngitis (50–70%), Myalgie, Arthralgie (50–70%) Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö (30–60%) Aseptische Meningitis (24%) Orale und genitale Ulzerationen (5–20%) Thrombozyto- und Leukopenie (40–45%)
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Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
Als diagnostische Methoden bei einer HIV-Infektion stehen Antikörper- und Antigennachweis sowie RT-PCR zu Verfügung. Als sog. Surrogatmarker spiegelt die Absolutzahl von T-Helferzellen im peripheren Venenblut die progrediente Schädigung des Immunsystems wieder und wird zur klinischen Stadieneinteilung herangezogen. Die virologische und immunologische Diagnostik der HIV-exponierten Neugeborenen und Säuglinge verfolgt wesentliche Zielsetzungen: 4 Früherkennung HIV-infizierter Neugeborener und Säuglinge, die den Einsatz entsprechender Prophylaxemaßnahmen erlaubt (Prophylaxe der Pneumocystis carinii – Pneumonie, Immunglobulinsubstitution, Optimierung der Ernährung). 4 Identifikation von HIV-infizierten Patienten mit hohem Risiko für einen rasch progredienten Krankheitsverlauf (Kandidaten für eine antiretrovirale Frühtherapie). 4 Identifikation von Nebenwirkungen der prä- und postpartalen Prophylaxe mit antiretroviralen Chemotherapeutika (z. B. Zidovudin) auch bei nicht HIV-infizierten Kindern. Da zukünftig vermehrt Infektionen mit Zidovudin-resistenten HIV-Stämmen auftreten können (Duwe et al. 2001), sollte vor einer Zidovudin-Gabe der genotypische Nachweis eines HIV-Wildtypus erbracht werden (Ausschluss einer genotypischen Resistenz).
Indikation für eine Resistenztestung
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4 Um eine mögliche Beeinträchtigung der Wirksamkeit der antiretroviralen Prophylaxe/Therapie in der Schwangerschaft aufgrund vorliegender Resistenzen zu vermeiden, ist generell bei jeder bis dahin unbehandelten Schwangeren vor Therapie-/Prophylaxebeginn eine Resistenztestung indiziert (Welles et al. 2000). 4 Bei Frauen, die unter antiretroviraler Behandlung schwanger werden, ist entsprechend den DeutschÖsterreichischen Empfehlungen zur HIV-Therapie bei Erwachsenen bei einem virologischen Therapieversagen eine Resistenztestung indiziert. 4 Ist zum Ende einer antiretroviralen HIV-Transmissionsprophylaxe (Bestimmung ca. 1 Woche vor Sectio- bzw. Entbindungstermin oder am Entbindungstermin) bei der Schwangeren die Viruslast im nachweisbaren Bereich, sollte ebenfalls eine Resistenzbestimmung veranlasst werden, um eine eventuelle Resistenzentwicklung unter Prophylaxe zu dokumentieren, die ggf. bei späterer Behandlungsbedürftigkeit der Frau zu berücksichtigen wäre (Eastman et al. 1998). 4 Falls eine Nevirapin-Ultrakurzprophylaxe (einmalige Dosis kurz vor der Geburt für die Mutter) verabreicht wurde, sollte eine Resistenztestung 4–6 Wochen nach Ende der Einnahme antiretroviraler Medikamente durchgeführt werden.
Therapie Ziel eines optimalen initialen Therapieregimes in der Schwangerschaft ist neben der Hemmung der Virusreplikation bei der Mutter eine wirksame Prophylaxe der HIV-Transmission. Auch in der Schwangerschaft gelten die für erwachsene HIVPatienten formulierten Behandlungsindikationen mit einigen Modifikationen. Die Therapie der HIV-Infektion erfolgt zumeist in Kombination mit Präparaten aus 3 Substanzklassen, welche die Funktion HIV-spezifischer Enzyme an 2 Stellen inhibieren (Friese et al. 2002). 4 Inhibition der HIV-spezifischen reversen Transkriptase, die durch nukleosidale Inhibitoren der RT (NRTI) und durch nicht nukleosidale reverse Transkriptaseinhibitoren (NNRTI) erfolgt. 4 Inhibition einer HIV-Protease, die erst spät im Replikationszyklus das HIV-gag-pol-Protein in einzelne Proteine zerschneidet. > Bei der Diagnosestellung sollte umgehend der Kontakt zu einem interdisziplinären Zentrum mit HIV-Schwerpunkt hergestellt und von nun an die Schwangere in einer engen Kooperation mit dem niedergelassenen Frauenarzt betreut werden. Eine geschickte Terminplanung gewährleistet dabei engmaschige Kontrollen.
Spätestens in den Zentren sollte jeder HIV-positiven Schwangeren eine psychosoziale Betreuung und die Kontaktaufnahme zu Frauengruppen der Aids-Hilfegruppen angeboten werden. In den Zentren erfolgt die ausführliche Aufklärung der Patientin über das bestehende maternofetale Transmissionsrisiko und die die aktuellen Möglichkeiten zu dessen Reduktion, die bestehenden Restrisiken, die möglichen Kurz- bzw. Langzeitwirkungen einer antiretroviralen Therapie auf das Kind in utero. Gemeinsam mit der Patientin sollte eine risikoadaptierte antiretrovirale Therapie entsprechend den aktuellen Deutsch-Österreichischen Richtlinien zur Therapie in der Schwangerschaft in Kooperation mit dem betreuenden Haus- und/oder Frauenarzt erarbeitet werden (. Tab. 20.7). Therapieänderungen im Rahmen einer Schwangerschaft oder ein Therapiebeginn sollten nur nach Absprache mit einem mit der antiretroviralen Therapie vertrauten Arzt/Zentrum erfolgen. Therapiebegleitend erfolgt ein monatliches Monitoring der klinisch-chemischen, immunologischen und virologischen Parameter (Lymphozytensubpopulationen, HIV-Viruslast) durch ein erfahrenes Labor (. Tab. 20.8). Die Behandlung der Mutter erfolgt nicht nur aus rein mütterlicher Indikation. Mütter mit hoher Viruslast und/oder niedrigen T-Helferzellen übertragen häufiger HIV auf ihre Kinder, sodass die erfolgreiche Therapie der Mutter auch für das Kind von Nutzen ist, aber zugleich ein Risiko darstellt. Die Risiken, die sich für das Kind aus einer lang dauernden intrauterinen Exposition gegenüber antiretroviralen Kombinationstherapien ergeben könnten, sind derzeit nicht abschließend kalkulierbar.
409 20.2 · Virale Infektionen
. Tab. 20.7. Antiretrovirale Medikamente und Einsatzmöglichkeiten in der Schwangerschaft: nukleosidale Reverse-TranskriptaseHemmer (NRTI), nichtnukleosidale Reverse-Transkriptase-Hemmer (NNRTI), Proteinasehemmer (PI), Fusionsinhibitoren, Nebenwirkungen (NW). (Mod. nach Buchholz et al. 2004; Public Health Service Task Force 2004; Gingelmaier u. Friese 2005)
Substanz
Empfohlene Medikamente (meiste Erfahrungen damit)
Alternative Medikamente
Medikamente (wenige Erfahrungen damit)
Nicht zu empfehlende Medikamente, Kombinationen
NRTI
5 Zidovudin (ZDV) (NW: Anämie, Leukopenie, Übelkeit) 5 Lamivudin (3TC) (NW: Anämie, Leukopenie, Übelkeit)
5 Stavudin (d4T) (NW: Polyneuropathie; Lipiddystrophie) 5 Didanosin (DDI) (NW: Polyneuropathie und Pankreatitis) 5 Abacavir (NW: Hypersensitivität)
5 Tenofovir (TNF) (Cave: Kreatininkontrolle) 5 Emtrcitabin (FTC)
5 Zalcitabine (DDC) (Teratogenität) 5 Kombination aus d4T und DDI wegen hoher mitochondrialer Toxizität mit Risiko der Laktatazidose
NNRTI
5 Nevirapin (NVP) (NW: erhöhtes Risiko der Lebertoxizität bei CD4>250 c/μl; gehäuft Arzneiexantheme; Hypersensitivität)
PI
5 Nelfinavir (NFV) (als ungeboostereter PI nicht mehr so empfehlenswert) 5 Saquinavir (SQV) + Ritonavir (RTV) 5 Lopinavir/Ritonavir (LPV/r)
5 Efavirenz (EFV) (NW Teratogenität) 5 Delaviridin (DLV) (NW teratogenes, karzinogenes Risiko) 5 Indinavir (IDV) + RTV (NW: Nierensteine, ggf. Kernikterus bei Neugeborenem) 5 Anprenavir + RTV
Fusionsinhibitor
Prophylaxeschema (keine mütterliche Behandlungsindikation) 4 Viruslast bei der Schwangeren 10.000 Genomkopien/ml: Das Risiko der vertikalen Transmission ist direkt proportional zur Viruslast der Schwangeren. Besteht noch keine eigene mütterliche Behandlungsindikation (CD4-Zellzahl >250/ml, Viruslast 10.000 (Shaffer 2001; Buchholz et al. 2004).
6
5 Atazanavir (ATV) + RTV (NW:ggf. Kernikterus bei Neugeborenem) 5 Fosamprenavir (FPV) + RTV
5 Ritonavir (RTV) wird nur als Booster in Kombination mit anderen PI gegeben
5 Enfuvirtid (T20) (erste Berichte zeigen gute Verträglichkeit, nicht plazentagängig) 5 Salvage-Therapie
4 Primäre Kaiserschnittentbindung, zügig und unter Verwendung einer möglichst blutarmen Operationstechnik, durchgeführt von einem erfahrenen Geburtshelfer zwischen SSW 36+0 bis 37+6. 4 Prä- und intraoperative intravenöse Zidovudingabe mit Beginn 3 h vor der Sectio (2 mg/kg KG als »lading dose« für 1 h, danach 1 mg/kg KG bis zur Entwicklung des Kindes lt. Originalprotokoll ACTG 076). 4 Postnatale Zidovudin-Gabe für das Kind 10 Tage i.v. (1,5 mg/kg KG alle 6 h) oder 2–4 Wochen oral (2 mg/ kg KG alle 6 h; Buchholz et al. 2004).
Zusätzliche Schwangerschaftsrisiken erfordern eine intensivierte Prophylaxe. Bei geburtsmedizinischen HIV-Transmissionsrisiken ist die HIV-Transmissionsprophylaxe risikoadaptiert zu steigern. Mehrlingsschwangerschaft, vorzeitige Wehen und Frühgeburt. Wegen des erhöhten Risikos der Frühgeburt sollte
bei Mehrlingsschwangerschaften mit der prophylaktischen Gabe von Zidovudin bereits ab SSW 29+0 begonnen werden. Falls vorzeitige Wehen einsetzen, die Schwangere nicht aus
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Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
. Tab. 20.8. Diagnostik im Verlauf der Schwangerschaft bei HIV-Infektion. (Mod. nach Buchholz et al. 2004; Public Health Service Task Force 2004; Gingelmaier u. Friese 2005)
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Diagnostik
Zeitpunkt
Begründung
HIV-Antikörper- und ggf. HIV-Bestätigungstest
5 Routinemäßig im 1. Trimenon
5 Reduktion der vertikalen HIV-Transmission möglich
CD4-Zellzahl und Viruslast
5 Mind. alle 2 Monate
5 Verlaufskontrolle der HIV-Infektion 5 Kontrolle der Wirksamkeit einer antiretroviralen Therapie (ART)
Genotypischer Resistenztest
5 1. Vor Therapiebeginn 5 2. Bei virologischem Therapieversagen einer ART 5 3. Bei nachweisbarer Viruslast gegen Ende bzw. 5 4–6 Wochen nach Absetzen einer HIVProphylaxe
5 1. Ausschluss einer primären Resistenz 5 2. Optimierung eines Therapiewechsels 5 3. Dokumentation einer eventuellen Resistenzinduktion
Hämoglobinwert
5 Monatlich
5 Anämien, Thrombopenien
Laktatspiegel, Leberwerte, Nierenwerte
5 5 5 5
5 Erkennung einer Laktatazidose (gehäuftes Auftreten im 3. Trimenon), Leber-, Nierentoxizität
Oraler Glukosetoleranztest
5 Zwischen SSW 23+0 und 27+6
5 Erkennung eines Gestationsdiabetes (v. a. bei Proteaseinhibitoren)
pH-Wertbestimmung im Vaginalsekret, Nativpräparat
5 Bei jeder Vorsorgeuntersuchung
5 Erkennung und rechtzeitige Behandlung lokaler Koinfektionen, die das HIV-Transmissionsrisiko und das Frühgeburtsrisiko erhöhen können
Mikrobiologische Kultur
5 Zu Beginn der Schwangerschaft und bei entsprechender Klinik
STD-Diagnostik: Chlamydien, Gonorrhö, Trichomonaden, Syphilis, Hepatitisserologie
5 Beginn der Schwangerschaft und bei entsprechender Klinik
Toxoplasmosescreening
5 Zu Beginn der Schwangerschaft sowie im 2. und 3. Trimenon
5 Zur Diagnose einer Neuinfektion oder Toxoplasmosereaktivierung
Kolposkopie, zytologische Untersuchung auf vulväre, vaginale und zervikale Dysplasien
5 Zu Beginn der Schwangerschaft; bei Auffälligkeiten kolposkopische Kontrollen und ggf. Biopsie
5 Erhöhtes Dysplasierisiko bei HIVInfektion
Sonographie mindestens DEGUMStufe 2
5 SSW 19+6 bis SSW 22+6; Frühschwangerschaft
5 Fehlbildungsausschluss Nackentransparenzmessung
1. Zu Beginn der Schwangerschaft 2. Nach Beginn Therapie/Prophylaxe 3. Bei Klinik 4. Monatlich im 3. Trimenon
eigener Indikation mit einer Kombinationstherapie behandelt wird, eine Kaiserschnittentbindung wegen Unreife des Kindes noch nicht infrage kommt und die Wehen noch gestoppt werden können, sollte sofort mit einer antiretroviralen Kombinationstherapie begonnen werden, z. B. mit Zidovudin + Lamivudin + Nevirapin oder einem geboosterten Proteaseinhibitor. Als problematisch erweist sich hier die extreme Frühgeburtlichkeit (24.–28. SSW), bei der eine Prolongierung der Schwangerschaft wenigstens zur Lungenreifebehandlung prognostisch für die weitere kindliche Entwicklung eine entscheidende Bedeutung hat. Eine individuelle Abwägung zwischen
dem erhöhten HIV-Übertragungsrisiko und der gesamten Prognose des Frühgeborenen muss hier erfolgen. Vorzeitiger Blasensprung, Amnioninfektionssyndrom. Bei
diesen geburtsmedizinischen Ausnahmesituationen ist das Transmissionsrisiko stark erhöht (Mandelbrot 1998). In einer großen Metaanalyse von 15 prospektiven Kohortenstudien (International Perinatal HIV Group 2001) zeigte sich an 4.721 Mutter-Kind-Paaren mit HIV-Exposition und vorzeitigem Blasensprung ein Anstieg der vertikalen Transmissionsrate um 2%/h. Der präpartale Teil der Prophylaxe sollte beit AZT-Monotherapie durch eine (zusätzliche) Gabe von Nevi-
411 20.2 · Virale Infektionen
rapin 1-mal 200 mg, soweit zeitlich noch möglich, gesteigert werden. Postnatal kann die Transmissionsprophylaxe beim Neugeborenen ebenfalls durch Gabe von Nevirapin 2 mg/kg KG (1 Dosis, falls die Mutter präpartal 1 Dosis erhalten hat, 2 Dosen innerhalb von 72 h, falls die Mutter kein Nevirapin präpartal erhalten hat), zusätzlich zu einer Kombinationsprophylaxe mit Zidovudin + Lamivudin eskaliert werden (Moodley et al. 1998; Buchholz et al. 2004). Der zu bevorzugende Entbindungsmodus ist die Sectio, die möglichst schnell nach dem Blasensprung erfolgen sollte. Bei Zeiträumen >4 h nach dem Blasensprung ist kein Vorteil der Kaiserschnittentbindung bezüglich der Transmissionswahrscheinlichkeit mehr zu erwarten (Read 2000). Die Entscheidung muss jedoch an geburtsmedizinischen Aspekten orientiert werden. Schnittverletzung des Kindes/Absaugen von blutigem Fruchtwasser aus dem Magen. Bei einer Schnittverletzung
des Kindes oder wenn blutiges Fruchtwasser aus dem Magen abgesaugt werden kann, muss von einer perkutanen Inokulation bzw. einer Schleimhautexposition gegenüber virushaltigen Körperflüssigkeiten ausgegangen werden. Dies rechtfertigt eine Erweiterung der üblichen Standardprophylaxe beim Kind hin zu einer Kombinationsprophylaxe bestehend aus 2 NRTI in Anlehnung an Postexpositionsprophylaxeempfehlungen für Erwachsene (1999). > Eine über die Ultrakurzprophylaxe hinausgehende verlängerte Gabe von Nevirapin zur Postexpositionsprophylaxe kann angesichts fehlender Daten zur Pharmakokinetik und zur Sicherheit derzeit nicht empfohlen werden.
Reduktion der maternofetalen Transmission Bekannte Risikofaktoren der perinatalen HIVTransmission 4 4 4 4 4 4 4
Hohe mütterliche Viruslast Niedrige CD4-Zellzahl Aids-Erkrankung der Mutter Vaginale Entbindung Vorzeitiger Blasensprung >4 h zurückliegend Frühgeburt ( Die akute Toxizität von Zidovudin während der Schwangerschaft und beim Neugeborenen ist nach der vorliegenden Datenlage tolerabel (Sperling et al. 1998; Shapiro et al. 1999). Allerdings lassen sich evtl. zu befürchtende Langzeitfolgen (Kanzerogenese) beim Kind durch die pränatale ZidovudinExposition aufgrund der bislang begrenzten Beobachtungszeiten noch nicht mit Sicherheit ausschließen (Antiretroviral Pregnancy Registry 1997; Sperling et al. 1998; Poulton et al. 1999).
Prophylaxe Da trotz intensiver Bemühungen noch kein Impfstoff zu Verfügung steht, ist die Expositionsprophylaxe von entscheidender Bedeutung. > Der durchgeführte HIV-Antikörpertest in der Frühschwangerschaft stellt die Voraussetzung aller effektiven Präventionsmaßnahmen dar, um die HIVÜbertragung von der Mutter auf das Kind zu verhindern. Mittlerweile ist in den Mutterschaftsrichtlinien eine Beratung jeder Schwangeren bezüglich eines HIV-Tests vorgesehen. Diese Beratung soll auch im Mutterpass dokumentiert werden. Tipp Die Bevorratung eines HIV-PostexpositionsprophylaxeNotfallsets und das Wissen um die Indikation für und das Vorgehen bei einer HIV-Postexpositionsprophylaxe nach beruflicher HIV-Exposition (z. B. Nadelstichverletzung des Operateurs) ist dringend zu empfehlen.
20.3
Bakterielle Infektionen und Protozoen
20.3.1
Syphilis
Die Syphilis wird durch Treponema pallidum ssp. pallidum (Familie der Spirochaetae) hervorgerufen. T. pallidum ist extrem empfindlich gegenüber Umwelteinflüssen und kann fast nur sexuell übertragen werden. Die erworbene (S. aquisita), eine zyklisch verlaufende Infektionskrankheit, wird von der angeborenen (S. connata) Syphilis unterschieden. Die Primärsyphilis ist durch den primären Schanker im Genitalbereich charakterisiert. Ohne Antibiotikatherapie erfolgt der Übergang zur sekundären Syphilis mit generalisierten Symptomen. Es erfolgt der Übergang in eine klinisch symptomfreie latente Syphilis. In dieser Phase können Schwangere ihre ungeborenen Kinder infizieren. Der Übergang zur tertiären (späten) bzw. Neurosyphilis ist heute selten zu beobachten. Reinfektionen sind trotz spezifischer Antikörper möglich. Die angeborene Syphilis tritt nur bei zu spät erkannter und nicht behandelter Infektion der Schwangeren auf. Die Infektion führt in einem hohen Prozentsatz zu Aborten, Tot- und Frühgeburten. Als Erstmanifestation gilt eine blutig-schleimige Rhinitis (Koryza), wobei prinzipiell alle Organe mitbeteiligt sind (Hepatosplenomegalie, interstitielle Pneumonie, Osteochondritis und Periostitis). Eine basale Meningitis kann später zu einem Hydrozephalus führen. Der direkte Erregernachweis kann im Dunkelfeld erfolgen. Es stehen etliche serologische Such- und Bestätigungstests zur Verfügung. Nach Infektion bleibt der Test lebenslang positiv. In der Schwangerschaft sollte in jedem Fall im 1. Trimenon und kurz vor der Geburt serologisch auf Syphilisantikörper untersucht werden. Gleiches gilt bei unklaren Veränderungen im Genitalbereich, inguinalen Lymphknotenschwellungen und allgemeinen, anders nicht erklärbaren Krankheitssymptomen, Eine
413 20.3 · Bakterielle Infektionen und Protozoen
Testung wird auch nach Aborten und Tot- bzw. Frühgeburten empfohlen. Zu beachten ist, dass die Syphilis beinahe jedes Krankheitsbild vortäuschen kann. Die Therapie erfolgt durch hochdosierte parenterale Penicillin-G-Gaben. Bei Penicillinallergie kommen Cephalosporine oder Erythromycin zur Anwendung.
Einleitung Die Häufigkeit der Lues connata ist in den westlichen Ländern extrem zurückgegangen. Allerdings stellt eine kongenital erworbene Syphilis immer noch eine große Herausforderung in Ländern der Dritten Welt dar. So wird angenommen, dass jedes Jahr ca. 1 Mio. Schwangerschaften durch eine maternale Syphilisinfektion negativ beinflusst werden: ca. 270.000 Kinder werden mit einer kongenitalen Syphilis geboren, 460.000 Schwangerschaften enden mit einem Abort oder perinatalen Fruchttod, und ca. 270.000 Kinder werden vorzeitig geboren oder haben ein erniedrigtes Geburtsgewicht. Diese Zahlen und Annahmen sind um ein Vielfaches höher als für andere neonatale Infektionen einschließlich HIV und Tetanus (540.000 bzw. 300.000 Fälle/Jahr; Walker u. Walker 2002).
Erreger Treponema pallidum ist ein Mitglied der Familie Spirochaetaceae, Gattung Treponema, der 4 menschliche pathogene und mindestens 6 nicht pathogene Organismen enthält. T. pallidum ssp. pallidum besitzt einen ausgeprägten Tropismus für die Endothelzellen der kleinen Blutgefäße. Nach Infektion mit Treponemen entstehen eine Endarteritis obliterans und eine Periarteritis mit einer konsekutiven Verengung des Gefäßlumens, die zu einer Minderperfusion des befallenen Gewebes führt, sodass eine progressive, ischämische Zellzerstörung stattfindet (Singh u. Romanowski 1999). Die Folgen sind je nach Organ sehr spezifisch (u. a. Aortitis, uteroplazentare Apoplexie, Demenz, Tabes dorsalis).
Klinische Symptome Der Übertragungsweg von Mensch zu Mensch ist hauptsächlich der Geschlechtsverkehr (Pieringer-Müller u. Hof 1998). Die Inkubationszeit ist abhängig von der Inokulummenge und beträgt durchschnittlich 3 Wochen (2–10 Wochen). Nach Infektion kommt es zunächst an der Eintrittspforte zu einer Vermehrung der Keime. Jedoch hat der Erreger die Tendenz, schon bald im gesamten Körper zu disseminieren. Man unterscheidet klinisch zwischen der erworbenen (Syphilis aquisita) und der angeborenen Syphilis (Syphilis connata). Die erworbene Syphilis ist eine zyklische Infektionskrankheit, die in Stadien abläuft, wobei sich klinisch auffällige mit klinisch unauffälligen Stadien abwechseln (. Tab. 20.10). Frühsyphilis bzw. primäre Syphilis (Lues I). Der typische
primäre Schanker beginnt als einzelne, schmerzlose Papel mit Übergang in ein induriertes schmerzloses Ulkus an der Eintrittspforte, wobei sich in 30% der Fälle noch weitere Läsionen bilden können. Entzündungen bei Abwesenheit eines Exsudats sowie Schmerzlosigkeit sind verdächtig. Prädilektionsorte bei der Frau sind die Labien und die Vulva. Die regionären Lymphknoten können beidseitig anschwellen, sie sind dabei
schmerzlos, derb, beweglich und abgrenzbar. Der Schanker heilt innerhalb von 3–6 Wochen spontan ab. > Die Primärsyphilis kann mit Antibiotika gut geheilt werden. Sekundäre Syphilis (Lues II). Ungefähr 9 (–24) Wochen p.i. können Allgemeinsymptome wie Fieber, Gewichtsverlust, Krankheitsgefühl, Anorexie, Kopfschmerzen, Arthralgien u. Ä. den Verdacht auf eine sekundäre Syphilis lenken. In diesem Stadium sind zu 90% die Haut und die Schleimhäute betroffen. Typische schubweise auftretende Exantheme entstehen, zunächst makulöse (Roseola), später makulopapulöse Exantheme. Das Zentralnervensystem ist ungefähr bei 40% der Erkrankungen bereits befallen (Kopfschmerzen). Die Hautund Schleimhautreaktionen sind vom Antigenload und von der Stärke der immunologischen Reaktion des Infizierten abhängig. Im Lauf der Zeit klingen diese Exantheme ab. Nebenbei kommt es zu einer generalisierten harten Lymphknotenschwellung (Polyskleradenitis). Latente Syphilis (Lues latens seropositiva). Nach Abklingen
der Symptome geht die Syphilis in ein klinisch symptomfreies Stadium über. Die Erreger erscheinen intermittierend im Blut, und der Antigenload mit T. pallidum ssp. pallidum geht langsam zurück. Bei bis zu 90% der unbehandelten Patienten entwickeln sich generalisierte oder mukokutane Rückfälle innerhalb des ersten Jahres. ! Schwangere infizieren auch in dieser Phase ihre noch ungeborenen Kinder. Auch Blutkonserven von Infizierten sind infektiös. Tertiäre oder späte Syphilis (Lues III), Neurosyphilis (Lues IV). Die tertiäre Syphilis findet sich heute nur noch selten.
Schon früh beginnt in der latenten Syphilis die langsam fortschreitende Erkrankung der Aorta oder des Zentralnervensystems (. Tab. 20.10). Kongenitale Syphilis (Lues connata). Die kongenitale Syphilis tritt nur noch auf, wenn die Syphilis der Schwangeren nicht rechtzeitig diagnostiziert und behandelt worden ist. Die Infektion führt zu Abort, Totgeburt oder Frühgeburt bzw. zu fetalen Deformitäten (. Tab. 20.10). Im Vergleich gibt es mehr Totgeburten bei Schwangeren mit einer primären Syphilis (Rawstron et al. 1997). > Zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft, bevorzugt aber ab der 18. SSW, kann T. pallidum ssp. pallidum durch eine syphilitische Mutter transplazentar übertragen werden.
Die Erkrankung des Kindes verläuft besonders bei hoher Keimbeladung (v. a. im II. Stadium) schwer (Friese et al. 2002). Die Kinder werden in der Mehrzahl der Fälle termingerecht geboren, scheinen gesund, jedoch treten zwischen der 2. und 12. Lebenswoche die Erstmanifestationen einer angeborenen Syphilis auf. Meist 2–12 Wochen nach Geburt bilden sich makulopapulöse Exantheme (Syphilide) an Handtellern
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414
Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
. Tab. 20.10. Verlauf der Syphilis in unterschiedlichen Stadien. (Nach Pieringer-Müller u. Hof 1998; Friese et al. 2002; Mylonas u. Friese 2004a)
Stadium
Klinische Manifestationen
Inkubation
Primäre Syphilis (Lues I)
Schanker (»chancre«): regionäre Lymphknotenschwellung
3 Wochen (3–90 Tage)
Sekundäre Syphilis (Lues II)
Fieber, Übelkeit, Kopfschmerzen, Lymphadenopathie, Meningitis, makulöse Exantheme, Palmoplantarsyphilis, Condylomata lata, »plaques muqueuses«, Angina syphilitica, Alopecia specifica, syphilitisches Leukoderm
2–12 Wochen (2 Wochen bis 6 Monate)
Latente Syphilis
Asymptomatisch
Frühe 1 Jahr
Aortenaneurysma, Koronarstenose
10–30 Jahre
Tertiäre/späte Syphilis (Lues III)
Kardiovaskuläre Syphilis
Neurosyphilis
Kongenitale Syphilis
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5 Asymptomatisch
Keine
5 Akute syphilitische Meningitis
Kopfschmerzen, meningeale Reizung, Wahrnehmungsstörungen
5 Meningovaskuläre Syphilis
Kraniale Nervenparalyse
5 Generelle Parese
Kopfschmerzen, Vertigo, Persönlichkeitsveränderungen, vaskuläre Schädigung
5–7 Jahre
5 Tabes dorsalis
Demenz mit Intensionstremor, Schmerzen, Fatique, Muskelschwäche und Muskeltonusverlust, Dysurie, Ataxie und Areflexie, Argyll-Robertson-Pupillen
15–20 Jahre
5 Gummata
Monozytische Infiltrate mit Gewebedestruktion
1–46 Jahre
5 Frühe Manifestation
Fulminante disseminierte Infektion, mukokutane Läsionen, Pemphigus syphiliticus, Parrot-Furchen, Coryza syphilitica, Hepatosplenomegalie, Anämie, Osteochondritis syphilitica, Pneumonia alba, Neurosyphilis
Beginn 2 Jahre nach Geburt
und Fußsohlen, an Mund, Nase und Anus; Rhagaden führen zur Bildung von radiären Narben. Als Erstmanifestation der frühen kongenitalen Syphilis bis hin zu einem Alter von 2 Jahren gilt eine blutig-schleimige Rhinitis (Koryza), die beim Übergreifen auf das Nasenskelett zu nachfolgenden Deformierungen führt, was dann später als Sattelnase imponiert. Darüber hinaus sind jedoch im Prinzip alle Organe mitbeteiligt, denn man findet eine Hepatosplenomegalie, eine interstitielle Pneumonie, Osteochondritis und Periostitis. Eine basale Meningitis kann später zu einem Hydrozephalus führen. Ursache für den Tod der Kleinkinder sind Lungenblutungen, schwere Hepatitis oder Superinfektionen (Friese et al. 2002).
Um die gravierenden Folgen einer konnatalen Syphilis zu verhindern, ist es unbedingt notwendig, bei Hochrisikoschwangeren im 3. Trimenon und zum Zeitpunkt der Entbindung eine Luesserologie durchzuführen.
Die Spätmanifestationen der späten kongenitalen Syphilis (Syphilis connata tarda nach dem 2. Lebensjahr) treten erst lange nach der Geburt auf. Sie zeigen sich typischerweise in der Hutchinson-Trias (Keratitis parenchymatosa, Innenohrschwerhörigkeit, Zahnveränderungen). Zusätzlich treten entzündliche Periostverdickungen an den Tibien auf (»Türkensäbelbeine«).
415 20.3 · Bakterielle Infektionen und Protozoen
Diagnose Der Verdacht auf eine Syphilisinfektion kann durch die klinische Symptomatik geäußert werden. > Bei der frühen latenten und der späten latenten Syphilis sind die Patienten bis auf wenige Ausnahmen symptomfrei. Schwangere sollten in jedem Fall im 1. Trimenon und kurz vor der Geburt serologisch auf Syphilisantikörper untersucht werden. Es empfiehlt sich auch, bei Frauen nach einem Abort, einer Totgeburt und nach Frühgeburten eine Syphilisserologie durchführen zu lassen.
Der direkte Erregernachweis des Bakteriums aus Haut- oder Schleimhautläsionen ist beweisend für eine Infektion und kann im Dunkelfeld geführt werden. Ein negatives Ergebnis schließt eine Infektion jedoch nicht aus. Mit Immunfluoreszenzmethoden gelingt der Erregernachweis im Gewebe. In der Praxis haben diese Methoden jedoch z. Zt. einen niedrigen Stellenwert. Die PCR zum Nachweis von T.-pallidum-ssp.pallidum-spezifischer Nukleinsäure wird nur bei besonderen Fragestellungen angewendet (Amnionflüssigkeit, Liquor bei Verdacht auf Neurosyphilis). Als serologischer Luessuchtest zum Nachweis spezifischer Antikörper gegen T. pallidum ssp. pallidum wird der TPHATest, der TPPA-(Treponema-pallidum-Partikelagglutinations-)Test oder der Tp-ELISA eingesetzt. Ist dieser Test negativ, kann auf weitere Untersuchungen verzichtet werden, wenn klinisch kein begründeter Verdacht auf eine Frühinfektion vorliegt. Ist ein solcher Verdacht gegeben, erfolgt eine wöchentliche Kontrolle, bis eine Syphilisinfektion sicher ausgeschlossen werden kann. Je nach Infektionsdosis kann man schon 2 Wochen p.i. in einem treponemenspezifischen Test (TPHA oder FTA-ABS) IgM-Antikörper nachweisen. Frühestens 4 Wochen p.i. lassen sich treponemenspezifische IgG-Antikörper mit hohen Titern erfassen, die danach nur ganz langsam abfallen. Lebenslang wird diese »serologische Narbe« bleiben. Frühestens 5–6 Wochen p.i. sind im VDRL-Test antilipoidale, nicht treponemenspezifische Antikörper nachweisbar (Müller 1996). > Der FTA-ABS-Test gilt als Bestätigungstest für ein zweifelhaftes (schwach reaktives) oder ein positives (reaktives) Ergebnis im TPHA-Test. Die Sensivität des FTA-ABS-Tests liegt für die frühe Primärsyphilis bei>99%, für die späteren Infektionsstadien bei 97%. Der Tp-IgG-ELISA kann als Bestätigungstest für den TPHA verwendet werden. Bei Diagnose in der Schwangerschaft zu beachten 4 Nicht immer entwickelt sich nach der Infektion mit T. pallidum ssp. pallidum ein typischer primärer Schanker (Primäraffekt) an den Labien und/oder an der Vulva, der Primäraffekt kann auch an der Zervix entstehen! 4 Einzelne Papeln, ein induriertes, schmerzloses Ulkus sind schon verdächtig für eine primäre Syphilis, eben-
6
so eine beidseitige Schwellung der regionären Lymphknoten. Die Papeln können von den Patienten übersehen werden, zumal sie auch von selbst abheilen. 4 Allgemeine Krankheitssymptome wie Krankheitsgefühl, Anorexie, Kopfschmerzen, makulöse bis makulopapulöse Exantheme auf der Haut weisen auf eine sekundäre Syphilis hin. 4 Bei Vorliegen einer Osteomyelitis oder einer neurologischen Symptomatik entsteht der Verdacht einer Syphilisinfektion.
Das serologische Vorgehen bei Neugeborenen von unbehandelten Müttern, bei denen vor oder während der Schwangerschaft eine durchgemachte Infektion mit T. pallidum diagnostieziert wurde, unterscheidet sich nicht von der serologischen Diagnostik bei Infektionen in der Schwangerschaft (Müller 1996). Grundsätzlich wird bei Verdacht einer Syphilis connata das Kind bis zu einem Alter von 6 Monaten im Abstand von 2–3 Monaten getestet. Die Menge der gebildeten treponemenspezifischen IgM ist vom intrauterinen Infektionszeitpunkt abhängig.
Therapie Das Mittel der Wahl zur Therapie der Syphilis ist bis heute das Penicillin G (. Tab. 20.11; Pieringer-Müller u. Hof 1998). Wird in der Anamnese eine mütterliche Syphilisinfektion – ganz gleich, zu welchem Zeitpunkt der Schwangerschaft die Infektion stattgefunden hat – vermutet, ergibt sich aus der Antikörperkonstellation die Notwendigkeit einer Antibiotikabehandlung des Kindes und der Mutter. Über die Höhe der Penicillin-Dosierung und die Behandlungsdauer gibt es verschiedene Auffassungen. Eindeutig ist, dass bei angeborener Syphilis, Lues III und bei der Neurosyphilis eine höhere Penicillin-G-Dosierung erforderlich ist und dass eine bestimmte Mindestdauer der Behandlung nicht unterschritten werden darf. > 5 Sofortiger Therapiebeginn in der Schwangerschaft ist wesentlich! 5 Sicherheitshalber kann die Behandlung 1–2 Monate vor dem Geburtstermin in gleicher Dosierung und Dauer wiederholt werden. 5 Penicillin ist immer noch die Standardtherapie. 5 Bei Penicillin-Allergie empfiehlt sich eine Penicillin-Desinsibilisierung.
Eine Syphilistherapie erfolgt nur ausnahmsweise oral. Um die Symptome einer Jarisch-Herxheimer-Reaktion zu vermindern, die bei einer Behandlung durch den Zerfall der Treponemen ausgelöst werden kann, gibt man vorher oder gleichzeitig ein wasserlösliches Glukokortikoid, z. B. Prednisolon.
Prophylaxe Im Rahmen der Mutterschaftsvorsorge werden serologische Untersuchungen zur Erkennung einer Syphilisinfektion der Schwangeren durchgeführt. Das gibt die Möglichkeit, das Fortschreiten einer Infektion in der Schwangerschaft rechtzei-
20
416
Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
. Tab. 20.11. Therapie der Syphilis. (Nach AWMF 2008; AWMF-Leitlinie Nr. 059/002), (Cave: Doxycyclin und Tetracyclin sind in der Schwangerschaft kontraindiziert)
Lues I und Il (Frühsyphilis)
Indikation
Substanz (Beispielpräparat) und Dosierung
Anmerkungen
Empfehlung
Benzathin-Benzylpenicillin 2,4 Mio. IE i.m.
Gluteal li/re je 1,2 Mio. IE
Procain-Benzylpenicillin 1-mal 1,2 Mio. IE/Tag i.m. über 14 Tage
Procain-Benzylpenicillin 0,9 Mio. IE + Benzylpenicillin-Natrium 0,3 Mio. IE
Alternativen
Ceftriaxon 1 g/Tag i.v. über 10 Tage
Lues latens
Tetrazyklin 4-mal 500 mg/Tag p.o. über 14 Tage Clemizolpenicillin G 1 Mio. IE/Tag i.m. über 14 Tage
Keine Therapieunterbrechung
Non-Compliance
Benzathin-Benzylpenicillin 2,4 Mio. IE i.m./Woche
Tag 1, 8 und 15 (insgesamt 7,2 Mio. IE)
Penicillinallergie
Doxycyclin 2-mal 100 mg/Tag p.o. für 14–21 Tage
Cephalosporinallergie
Erythromycin 4-mal 500 mg/Tag p.o. für 14– 21 Tage
Serologische Kontrollen
1. Wahl
Benzathin-Benzylpenicillin 2,4 Mio. IE/Woche i.m.
Tag 1, 8 und 15 (glutäal links/rechts je 1,2 Mio. IE; insgesamt 7,2 Mio. IE)
2. Wahl
Procain-Benzylpenicillin 1-mal 1,2 Mio. IE/Tag i.m. über 21 Tage
Procain-Benzylpenicillin 0,9 Mio. IE + Benzylpenicillin-Natrium 0,3 Mio. IE
Alternativen
Ceftriaxon 1-mal 1 g/Tag i.v. Kurzinfusion über 14 Tage
Bei Penicillinallergie
Doxycyclin 2-mal 100 mg/Tag p.o. für 28 Tage
Lues III (Spätsyphilis, auch Neurosyphilis)
Erythromycin 4-mal 500 mg/Tag i.v. über 21 Tage 1. Wahl
Penicillin G 6-mal 4 Mio. IE/Tag oder 3-mal 10 oder 5-mal 5 Mio. IE/Tag i.v. mindestens 14 Tage (10– 14–21)
2. Wahl
Ceftriaxon1-mal 2 g/Tag i.v. über 10–14 Tage
Initial 2-mal 2 g
Alternativen
Clemizolpenicillin G 1 Mio. IE i.m. für 21 Tage
Keine Therapieunterbrechung
Penicillinallergie (3. Wahl)
Doxycyclin 4-mal 200 mg/Tag über 28 Tage
Erythromycin 4-mal 500 mg p.o oder i.v. für 14 Tage Erythromycinlactobionat 4-mal 500 mg i.v. für 14 Tage
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Lues connata
Säuglinge und Kleinkinder
Stationäre Bedingungen
Penicillin G 100.000–150.000 IE/kg KG/Tag i.v., aufgeteilt in 3 Dosen für 14 Tage Ceftriaxon 75 mg/kg KG/Tag für 14 Tage
Schulkinder
Penicillin G 200.000–300.000 IE/kg KG/Tag, aufgeteilt in 3 Dosen für 14 Tage Ceftriaxon 0,25–0,5 g/Tag i.m. oder i.v. für 14 Tage
Herxheimer-Reaktion
Eine Prophylaxe erfolgt mit einer einmaligen Gabe von 1 mg/Prednisolonäquivalent/kg KG p.o. vor Beginn der Therapie
417 20.3 · Bakterielle Infektionen und Protozoen
tig zu erkennen, therapieren und kongenitale Erkrankungen durch eine präventive Behandlung zu verhindern. Eine anonyme Meldung eines sicher Syphiliskranken und einer Syphilis connata ist verpflichtend. Die sicherste Methode, eine Syphilisinfektion zu verhüten, ist das Kondom. Findet der Kontakt mit syphilitischen Hautoder Schleimhautveränderungen, über Bluttransfusionen oder über Nadelstichverletzungen statt, besteht in seltenen Fällen die Gefahr einer Übertragung des Syphiliserregers. Mütter, bei denen der Verdacht auf eine frische Syphilisinfektion besteht und die noch nicht ausreichend therapiert werden, sollten ihr Kind nicht stillen. ! Da die Syphilis praktisch jedes Krankheitsbild vortäuschen kann, muss man erst die Syphilisserologie durchführen, um eine Infektion auszuschließen, besonders wenn es sich um Risikopatienten handelt.
20.3.2
Lyme-Borreliose
Die Lyme-Borreliose ist eine komplexe Multiorganerkrankung nach vorangegangenem Zeckenbiss. Sie beginnt mit Erythema chronicum migrans und assoziierten Symptomen (Stadium I). Wochen bis Monate später entwickeln einige der Patienten neurologische oder kardiologische Symptome (Stadium II). Nach weiteren Wochen oder Monaten kann es zu intermittierenden Anfällen arthritischer Beschwerden (Stadium III) und zur möglichen Chronifizierung kommen. Die Diagnose ist klinisch gut, serologisch aber nur schlecht möglich. Bereits vorhandene IgG-Antikörper scheinen nicht vor Neuinfektionen zu schützen. Immunfluoreszenz oder Enzymimmunoassay zeigen geringere Sensitivitäten und Spezifitäten als PCR und Serologie. Eine frühe, hoch dosierte und lang andauernde Antibiose ermöglicht die komplette Ausheilung, während v. a. im Stadium III Therapieversager auftreten. Bei Auftreten von Symptomen ist eine antibiotische Therapie zu beginnen. Infektionen in der Schwangerschaft wurden in einigen Fällen mit intrauterinem Fruchttod, Mangelentwicklung, Frühgeburt, fetalen Herzfehlern, Hydrozephalus, Spaltbildungen und urogenitalen Fehlbildungen assoziiert. Obwohl diese anfänglichen Fallberichte alarmierend waren, führten neuere prospektive Untersuchungen zu einer gewissen Beruhigung, da offensichtlich die mütterliche Infektion für den Fetus eher selten ernsthafte Konsequenzen hat. Eine Indikation zur Schwangerschaftsbeendigung besteht nicht. Ein effektiver Impfstoff steht bisher nicht zur Verfügung.
Einleitung Im Jahr 1975 wurde in Lyme im US-Bundesstaat Connecticut eine vermehrte Inzidenz von Arthritisfällen primär bei Kindern beobachtet, der anamnestisch in Verbindung mit Zeckenbissen gebracht wurde. Steere et al. (1986) fassten das Erythema chronicum migrans, die Meningopolyneuritis, die Lymphadenosis cutis benigna, die Acrodermatitis chronica atrophicans sowie viele andere Symptome unter dem Namen Lyme-Disease (Lyme-Krankheit) zusammen. Erst 1981 gelang
es W. Burgdorfer, den ursächlichen bakteriellen Erreger der Lyme-Krankheit nachzuweisen. > Das Risiko, nach einem Zeckenbiss an einer FSME zu erkranken, wird mit ca. 1:10.000 und für eine LymeBorreliose mit 1:100 angegeben, vorausgesetzt, die Zecke bleibt 2–3 Tage am Körper angeheftet.
Erreger Borrelien gehören zusammen mit den Treponemen zur Gattung der Spirochäten. In der Borreliengruppe gibt es mehrere Arten, die unterschiedliche Krankheiten verursachen können. Borrelia recurrentis erzeugt das Rückfallfieber, das früher in Zeiten von Kriegen schwerste Epidemien hervorgerufen hat. Heute ist die Lyme-Krankheit mit Abstand die wichtigste Borrelieninfektion des Menschen. Während in Amerika ausschließlich Borrelia burgdorferi vorkommt, ist bei uns daneben mit B. afzelii und B. garinii zu rechnen (Friese 2002; Singh u. Girschick 2004).
Klinische Symptome Nach der Übertragung auf den Menschen durch Vektoren (Zecken) vermehren sich die Borrelien in der Haut, wobei es in In der Vergangenheit bestand deshalb große Sorge in Hinsicht auf häufige fetale Infektionen und eine mögliche Teratogenität von B. burgdorferi, v. a. durch die Ähnlichkeiten von Borrelien und Treponemen und der Krankheitsbilder der Lyme-Borreliose mit der Syphilis. Obwohl die anfänglichen Fallberichte in dieser Hinsicht alarmierend waren, führten neuere prospektive Untersuchungen zu einer gewissen Beruhigung, da offensichtlich die mütterliche Infektion für den Fetus eher selten ernsthafte Konsequenzen hat (Strobino et al. 1993).
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Allerdings konnten derartige Schäden mitunter nicht eindeutig einer fetalen Infektion zugeordnet werden, und auch bei den fetalen Todesfällen wurde oft keine fetale Infektion, sondern eine Begleiterscheinung der mütterlichen Reaktion auf die Infektion verantwortlich gemacht. Hinzu kommt, dass natürlich sofort eine Therapie eingeleitet wird, wenn eine LymeBorreliose in der Schwangerschaft nachgewiesen wird, was nach den meisten Studien die Frequenz einer möglicherweise fetalen Symptomatik um ca. zwei Drittel senkt. Somit ist ein teratogener Effekt nicht auszuschließen; ein genauer Beweis steht allerdings noch aus.
Meningitis Garin-Bujadoux-Bannwarth-Syndrom Enzephalitis Hirnnervenlähmung Radikuloneuropathie
Periphere Neuropathie Subakute Enzephalopathie Progressive Enzephalomyelitis Garin-Bujadoux-Bannwarth-Syndrom
Insgesamt wird das Risiko einer intrauterinen Übertragung von der Mutter auf den Fetus als unwahrscheinlich eingeschätzt, v. a. dann, wenn eine frühe und hoch dosierte Antibiotikatherapie erfolgt. Allerdings wurde auch von einer konnatalen Infektion trotz oraler Antibiotikabehandlung der Mutter berichtet (Weber et al. 1988). Mehrere Studien haben den Zusammenhang zwischen Seropositivität in der Schwangerschaft und fetalem Ausgang untersucht, wobei kein erhöhtes Risiko von angeborenen Missbildungen, niedrigem Geburtsgewicht oder fetalem Tod unter den Kindern der seropositiven Mütter berichtet wurde (Strobino et al. 1993, 1999). > Zu Beginn der Schwangerschaft ist die Wahrscheinlichkeit einer transplazentaren Infektion vermutlich höher als im weiteren Verlauf der Gravidität. Eine Indikation zur Schwangerschaftsbeendigung besteht derzeit nicht.
Diagnostik Eine Borrelieninfektion sollte serologisch abgeklärt werden. Die Diagnostik bei Infektionen kann allerdings schwierig sein, da die Antikörperbildung verzögert ist (2–3 Wochen nach Infektion) und ein negativer Antikörpernachweis eine akute Borreliose nicht ausschließt. Der direkte Nachweis der Bakterien durch Mikroskopie bzw. Kultur ist nur in wenigen Labors
419 20.3 · Bakterielle Infektionen und Protozoen
möglich und für den Einzelfall ungeeignet. Der Nachweis von bakterieller DNA mittels der PCR ist möglich, bringt aber praktisch keine Sicherheit. IgM-Antikörper, die zunächst gebildet werden, können dann aber über Monate hinweg persistieren, sodass ihre Präsenz nicht mit Sicherheit auf eine ganz frische Infektion schließen lässt. Die Ergebnisse des ELISAScreenings müssen durch den Immunoblot/Western Blot bestätigt werden (Mylonas u. Friese 2004a; Mylonas et al. 2005b). Serologische Kontrollen sollten nach 3 Wochen (nach Beginn der Erkrankung) bis 6 Wochen (nach Zeckenbiss) durchgeführt werden. In Einzelfällen kann die Bewertung eines Laborbefunds äußerst schwierig sein, und oft beruht die Diagnose nur auf einer Verknüpfung von Labordaten mit klinischen Befunden. Bei einer weitgehend gesicherten Borrelieninfektion in der Frühgravidität kann bei fetalen Auffälligkeiten eine Fruchtwasseruntersuchung veranlasst werden. Eine Untersuchung des mütterlichen Blutes sowie des Nabelschnurblutes kann ebenfalls durchgeführt werden. Das Neugeborene sollte bis zum 6. Lebensmonat auf auffällige Symptome untersucht und beobachtet werden.
Therapie Infektionen sollten grundsätzlich und in ausreichender Dosierung antibiotisch therapiert werden. Auch das selbstlimitierende Erythema migrans stellt eine Behandlungsindikation dar. Hautmanifestationen sowie Arthritiden sprechen in der Regel ganz gut auf Tetracycline (Doxycyclin) an. Allerdings ist eine Doxycyclin-Therapie in der Schwangerschaft und Stillzeit kontraindiziert. Während der Schwangerschaft können Penicillin G (20 Mio. IE/Tag) oder Amoxicillin (3-mal 0,75–1,0 g) für 3 Wochen ebenfalls gegeben werden. Auch Cephalosporine, z. B. Cefotaxim (Claforan, 2-mal 3 g/Tag) sind geeignet (Mylonas et al. 2005b). Die Rolle der Makrolide ist noch nicht klar definiert, wobei eine Behandlung in der Schwangerschaft nicht kontraindiziert ist. Bei der Neuroborreliose hat Ceftriaxon wegen seiner pharmakologischen Eigenschaften einen Vorteil. Wenn innerhalb von 3 Monaten kein Therapieerfolg zu beobachten ist, muss an dem Kausalzusammenhang zwischen den Beschwerden und dem positiven serologischen Befund gezweifelt werden.
Prophylaxe Im Jahr 1998 wurde in den USA. der erste Impfstoff gegen eine Borrelieninfektion eingeführt. Mittlerweile wurde dieser Impfstoff, wahrscheinlich aufgrund der Nebenwirkungen (z. B. Arthritiden) und dem mangelnden Interesse der Bevölkerung, vom Markt genommen. > Da bisher Fälle einer Übertragung der Borrelien über die Muttermilch nicht bekannt sind, ist das entsprechende Risiko noch nicht einzuschätzen. Die Patientin sollte diesbezüglich ausführlich aufgeklärt werden und ein eventuelles Übertragungsrisiko im Hinblick auf die bekannten Ergebnisse besprochen werden.
20.3.3
Chlamydia trachomatis
Weltweit zählt die urogenitale Chlamydia-trachomatis-Infektion zu den häufigsten bakteriell bedingten, sexuell übertragbaren Erkrankungen. Die aktuelle Prävalenz in Deutschland ist weitgehend unbekannt, sie dürfte bei unselektierten Schwangeren 1–5% betragen. Eine Infektion während der Schwangerschaft kann mit folgender Problematik einhergehen: Fehlgeburten und Spontanaborte, Chorioamnionitis, vorzeitigem Blasensprung, Frühgeburten, geringes Geburtsgewicht, höhere Prävalenz einer weiteren Infektion (z. B. der bakteriellen Vaginose). Unter der Geburt kommt es bei Befall der Cervix uteri bei zwei Dritteln der exponierten Neugeborenen zur Infektion mit Einschlusskörperchenkonjunktivitis, atypischer Pneumonie; Otitis media oder Entzündungen des Nasopharynx. Das routinemäßige Screening auf Chlamydia trachomatis ist in den Mutterschaftsrichtlinien verankert. Es soll bei der ersten Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchung vorgenommen werden. Mittlerweile ist die einzige zugelassene Nachweismethode die Polymerasekettenreaktion (PCR) Chlamydia trachomatis ist der wichtigste Erreger einer Konjunktivitis in der Neonatalperiode und für ein Drittel aller pulmonalen Infektionen des Neugeborenen verantwortlich. Die Therapie erfolgt mit Erythromycin, Erythromycinethylsuccinat, Azithromycin und Amoxicillin.
Einleitung Weltweit zählt die urogenitale Chlamydia-trachomatis-Infektion zu den häufigsten bakteriell bedingten sexuell übertragbaren Erkrankungen. Die Inzidenz und Prävalenz einer genitalen Chlamydia-trachomatis-Infektion variieren zwischen 1 und 40%, abhängig von der jeweiligen getesteten Bevölkerung (Mylonas et al. 2007). Chlamydieninfektion werden für 25–50% der 2,5 Mio. Fälle von »pelvic inflammatory disease« (PID) in den USA verantwortlich gemacht. Unbehandelte zervikale Chlamydieninfektionen führen in bis zu 40% zur Adnexitis bzw. PID. Frauen mit einer anamnestischen Adnexitis/PID haben evtl. schwerwiegende gesundheitliche und reproduktionsmedizinische Probleme einschließlich 4 Infertilität (ca. 20%), 4 chronische pelvine Schmerzen (ca. 18%), 4 Extrauteringravidität (ca. 6%) (Mylonas et al. 2007; Hoyme 2007; Hitti u. Watts 2008).
Erreger Chlamydien sind obligat intrazelluläre Bakterien, die als infektiöse Elementarkörperchen extrazellulär und als nichtinfektiöse, jedoch als meist metabolisch aktive Retikularkörperchen in Endosomen der Wirtszelle auftreten. Es werden 18 verschiedene Serotypen von Chlamydia trachomatis je nach Ausprägung des »major outer membrane proteine« (MOMP) unterschieden, von denen die Serotypen 4 A–C das Trachom, 4 D–K Urogenitalinfektionen und 4 L1–L3 das Lymphogranuloma venereum verursachen (Mylonas et al. 2007; Hoyme 2007; Hitti u. Watts 2008).
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420
Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
Chlamydia trachomatis ist der am häufigsten vorkommende sexuell übertragbare Erreger in der Bundesrepublik Deutschland. Als genitale Chlamydieninfektion wird unabhängig vom klinischen Erscheinungsbild der Befall der Cervix uteri und/ oder der Urethra mit Chlamydia trachomatis vom Serotyp D–K bezeichnet. Der Befall erhöht das peripartuale Erkrankungsrisiko für Mutter und Kind und muss deshalb in jedem Fall behandelt werden. Eine gesetzliche Meldepflicht besteht nicht, wird aber diskutiert. Die aktuelle Prävalenz ist weitgehend unbekannt, dürfte aber bei unselektierten Schwangeren 1–5 % betragen (Mylonas et al. 2007; Hoyme 2007; Hitti u. Watts 2008). Generell gilt, wie für jede STD-Prävalenz, dass diese bei Frauen Chlamydia trachomatis ist der wichtigste Erreger einer Konjunktivitis in der Neonatalperiode und für ein Drittel aller pulmonalen Infektionen des Neugeborenen verantwortlich.
Diagnostik > Das routinemäßige Screening auf Chlamydia trachomatis in der Schwangerschaft ist in Deutschland »standard of care«. Es soll bei der 1. Schwangerenvorsorgeuntersuchung und bei sich zusätzlich stellender Indikation zwischen der 30. und 34. SSW nach Information und Einverständnis der Mutter vorgenommen werden. Historische Standardmethode ist die Gewebekultur mit einer Sensitivität von 40–85% und einer Spezifität von theoretisch 100%. Der Enzymimmunoassay (EIA; Sensitivität 40–100% und Spezifität >99%) sowie mit Einschränkungen der Immunfluoreszenztest (IFT; Sensitivität 50–90% und >95%) und die DNA-Hybridisierung (Senitivität 60–93? bzw. Spezifität 83– 99%), stellen mögliche Nachweismethoden dar. Als wesentlich treffsichereres, aber erheblich kostenaufwendigeres Verfahren kommt heute die Polymerasekettenreaktion zur Anwendung (Mylonas et al. 2007; Hoyme 2007; Hitti u. Watts 2008). Gemäß dem Beschluss des gemeinsamen Bundesausschusses vom 13. September 2007 über eine Änderung der Richtlinien zur Empfängnisregelung und zum Schwangerschaftsabbruch sowie der Mutterschaftsrichtlinien liegt die Präferenz beim Screening auf genitale Chlamydia-trachomatis-Infektionen bei Frauen heute bei Urin als Untersuchungsprobe und bei der Polymerasekettenreaktion als Nachweisverfahren. Wichtig ist es, den morgendlichen Ersturin (»first void«) dafür zu nutzen.
Therapie Infektionen sollten grundsätzlich und in ausreichender Dosierung antibiotisch therapiert werden. Aufgrund wissenschaftlich einwandfrei dokumentierter guter Wirksamkeit und Verträglichkeit wurde in Deutschland primär die Therapie mit Erythromycinäthylsukzinat oral 4-mal 800 mg für mind. 7 Tage empfohlen. Bei Unverträglichkeit kann die Dosis halbiert und die Einnahmezeit entsprechend verlängert werden. Erythromycinestolat ist im Übrigen wegen seiner Hepatotoxizität in der Schwangerschaft kontraindiziert (Centers for Disease Control and Prevention 2006). Die Behandlung erfolgt alternativ gemäß den CDC-Guidelines (Centers for Disease Control and Prevention 2006) mit Azithromycin 1 g als Einmaldosis, wobei in der deutschen Zulassung eine ausgesprochen strenge Indikationsstellung für dieses Pharmakon hervorgehoben wird. Auch Amoxicillin 3mal 500 mg p.o. für 7 Tage ist vergleichbar aktiv. Die bei der Chlamydieninfektion außerhalb der Schwangerschaft empfohlenen Pharmaka Doxycyclin, Ofloxacin und Levofloxacin sind in der Gravidität kontraindiziert. > Die Behandlung sollte möglichst unmittelbar nach der Diagnosestellung, aus Sicherheitsgründen aber nicht vor Abschluss der 14. SSW begonnen werden. Es wird empfohlen, den Therapieerfolg durch eine Kontrolle 3–4 Wochen nach Behandlungsende sicherzustellen. Die Partnertherapie ist in jedem Fall obligat.
421 20.3 · Bakterielle Infektionen und Protozoen
Prophylaxe Aufgrund der bekannten Komplikationen wurde im Jahr 2007 eine Screeninguntersuchung einmal jährlich bei allen sexuell aktiven Frauen bis zum abgeschlossenen 25. Lebensjahr beschlossen. Ebenfalls ist ein routinemäßiges Screening in der Schwangerschaft national und international empfohlen und mit Wirkung vom 01.05.1995 in den Mutterschaftsrichtlinien verankert. Es soll bei der 1. Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchung vorgenommen werden. Die in den USA noch durchgeführte Augenprophylaxe mit lokalem Silbernitrat, Tetracyclin oder Erythromycin gegen Gonoblenorrhö ist nicht ausreichend wirksam gegen Chlamydia trachomatis. Demzufolge wird eine neonalate Augenprophylaxe in Deutschland derzeit nicht generell empfohlen. Zur Prävention einer Chlamydia-trachomatis-Infektion ist ebenfalls eine entsprechende Aufklärung von Kindern und Jugendlichen über Geschlechtserkrankungen sowie Sexualhygiene wünschenswert. Einen gewissen Schutz vor Ansteckung bieten Kondome.
20.3.4
Streptokokkeninfektionen der Gruppen A und B
Streptococcus pyogenes ist für die meisten der Streptokokkeninfektionen des Menschen verantwortlich. In der Vergangenheit hat er als Erreger des Kindbettfiebers eine bedeutende Rolle gespielt. Die β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A rufen eine Vielzahl von akuten eitrigen Krankheitsbildern hervor, die auch gefürchtete, nicht eitrige Folgeerscheinungen nach sich ziehen können. Während einige Erkrankungen wie akute eitrige Pharyngitis (Tonsillitis), Scharlach und Erysipel als typische A-Streptokokkenerkrankungen angesehen werden können, ist bei anderen nicht immer eine Streptokokkenätiologie zu erschließen. Mögliche Ursachen einer neonatalen A-Streptokokkeninfektion wie auch des Puerperalfiebers können sowohl in einer vertikalen, sub partu ablaufenden Transmission bei möglicher Kolonisation von A-Streptokokken im Anus, in der Vagina oder Zervix als auch in einer sub- oder postpartalen Übertragung durch Kontakt mit infizierten wie auch asymptomatischen Keimträgern (Mutter, Krankenhauspersonal, Begleitpersonen) liegen. Werden Streptokokken der Gruppe A erstmals nachgewiesen, so ist eine Penicillin-Therapie über mindestens 10 Tage empfohlen, auch ohne jegliche klinische Symptomatik. Während die B-Streptokokken früher als harmlose Saprophyten angesehen wurden, haben sie sich zum häufigsten Erreger von Neugeboreneninfektionen entwickelt. Das klinische Spektrum der perinatalen B-Streptokokkeninfektionen ist sehr variabel. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Gestationsalter, weil insbesondere bei unreifen Frühgeborenen häufiger eine Sepsis auftritt. Bei reiferen Neugeborenen tritt häufiger eine Pneumonie auf. Die Frühform der Erkrankung beginnt sofort nach der Geburt und führt zu respiratorischer Insuffizienz und septischem Schock, häufig in Verbindung mit einer Verbrauchskoagulopathie. Diese Verläufe sind durch eine hohe Letalität gekennzeichnet. Die späte Form der
B-Streptokokkeninfektion beginnt 1–6 Wochen post partum und verläuft häufig als Meningitis mit einer Letalität von 25%. Beweisend für eine B-Streptokokkeninfektion ist der Erregernachweis im Blut, Liquor bzw. im punktierten Blasenurin des Neugeborenen. Der Nachweis von B-Streptokokken in anderen Abstrichen bzw. Sekreten stellt nur bei gleichzeitig vorhandenen klinischen Infektionszeichen eine Therapieindikation für das Neugeborene dar. In der Schwangerschaft ist ein Screening auf B-Streptokokken im 3. Trimenon wegen der Möglichkeit einer Prophylaxe sinnvoll. Therapie der Wahl bei einer B-Streptokokkeninfektion sind Penicillin oder Ampicillin. Wegen der klinischen Folgen für das Neugeborene, besonders im Zusammenhang mit Frühgeburten, wird angestrebt, die neonatale B-Streptokokkeninfektion durch prophylaktische Behandlung der Schwangeren zu vermeiden.
Einleitung Die Familie der Streptococcaceae umfasst die Genera grampositiver Kokken. Streptokokken können aufgrund ihrer typischen Morphologie und ihres Hämolyseverhaltens auf der Blutagarplatte in hämolysierende, vergrünende und nicht hämolysierende Arten eingeteilt werden. Aufgrund der in der Zellwand lokalisierten, gruppenspezifischen Kohlenhydratantigene (C-Substanz) konnten Lancefield u. Hare (1935) durch entsprechende Antiseren die Streptokokken in die serologischen Gruppen A, B, C, D, E, F, G und H einteilen.
Streptokokken der Gruppe A Einleitung Streptococcus pyogenes ist für die meisten der Streptokokkeninfektionen des Menschen verantwortlich. In der Vergangenheit hat er als Erreger des Kindbettfiebers eine bedeutende Rolle gespielt (Hollm-Delgado et al. 2005). Die β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A rufen eine Vielzahl von akuten eitrigen Krankheitsbildern hervor, die gefürchtete nicht eitrige Folgeerscheinungen nach sich ziehen können.
Erreger Serologisch ist die Spezies Streptococcus pyogenes durch das gruppenspezifische, in der Zellwand gelegene Antigen A gekennzeichnet. Streptococcus-pyogenes-Infektionen des Respirationstrakts gehören zu den häufigsten Infektionskrankheiten, v. a. bei Kindern. Die klinische Apparenz einer Infektion, meist eine Angina, macht sicher nur einen Teil der Infektionen aus. Da auch völlig gesunde Keimträger vorkommen, ist das Reservoir für die meist durch Tröpfcheninfektion übertragenen Erreger groß. Personen mit Racheninfektionen stellen die wichtigste Infektionsquelle dar. Eine peripartale Übertragung von Streptokokken vom Personal auf die Entbindende wäre möglich. > Eine subpartale, vertikale Transmission von der Mutter auf das Neugeborene muss in Erwägung gezogen werden, wobei neben dem eigentlichen Reservoir, AStreptokokken auf der Haut, im Mund und im oberen Respirationstrakt, auch der Anus und die Scheide als Ausgangsort möglich sind (Crum et al. 2002).
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Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
Klinische Symptome Streptokokkeninfektionen weisen ein breites Spektrum an Symptomen und Krankheitsbildern auf. Während einige Erkrankungen wie akute eitrige Pharyngitis (Tonsillitis), Scharlach und Erysipel als typische A-Streptokokkenerkrankungen angesehen werden können, ist bei anderen nicht immer eine Streptokokkenätiologie zu erschließen.
Einteilung der S.-pyogenes-Infektionen nach Lokalisation und Invasivität (Hollm-Delgado et al. 2005) 4 Nichtinvasive Infektionen der Schleimhaut (z. B. Tonsillitis, Pharyngitis, Scharlach) 4 Nichtinvasive Infektionen der Haut (z. B. Pyodermien, Erysipel) 4 Invasive Infektionen (z. B. Neugeboreneninfektion, Puerperalfieber)
Mögliche Ursachen einer neonatalen A-Streptokokkeninfektion wie auch des Puerperalfiebers können sowohl in einer vertikalen, sub partu ablaufenden Transmission bei möglicher Kolonisation von A-Streptokokken im Anus, in der Vagina oder Zervix als auch in einer sub- oder postpartalen Übertragung durch Kontakt mit infizierten wie auch asymptomatischen Keimträgern (Mutter, Krankenhauspersonal, Begleitpersonen) liegen. Bei epidemischem Auftreten sollten Hygienemängel ausgeschlossen werden. Verzögertes Auftreten oder Fehlen der klassischen Symptome, wie sehr hohe Temperaturen gleich zu Beginn des Wochenbetts und fehlende Zeichen einer Endomyometritis, können beim Puerperalfieber (7 Kap. 50) zur Fehleinschätzung des Krankheitsbildes und zum verspäteten Therapiebeginn führen. Eine der wichtigsten Spätfolgen der A-Streptokokkeninfektion ist das akute rheumatische Fieber mit einer schmerzhaften Arthritis, einer (Pan-)karditis, seltener sind Schädigungen im ZNS (z. B. Chorea minor). Eine weitere typische, nicht eitrige Folgeerkrankung einer S.-pyogenes-Infektion stellt die akute Glomerulonephritis dar mit Hypertonie, Hämaturie, Proteinurie und nephrotischem Syndrom.
Diagnose
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Untersuchungsmaterial sollte durch Abstrich mittels Tupfer gewonnen werden. Die Kultivierung auf Blutagarplatten sollte aerob und anaerob erfolgen. Über die alleinige Diagnose hämolysierender Streptokokken hinaus sollte die serologische Differenzierung angezüchteter Streptokokken durchgeführt werden, sodass richtige Schlussfolgerungen für die Therapie gezogen werden können. Serologische Untersuchungen bei Streptokokkenerkrankungen betreffen fast ausschließlich den Nachweis von Antikörpern gegen S. pyogenes. Sie sind bei Verdacht auf akutes rheumatisches Fieber, Chorea minor und akute Glomerulonephritis geboten, da bei diesen Erkrankungen beim Auftreten der klinischen Erscheinungen die Streptokokken selbst nicht mehr nachweisbar sind, die Antikörpertiter jedoch auf die Streptokokkenätiologie schließen lassen. Insbesondere
Hautinfektionen und hieraus resultierende Komplikationen bewirken nicht immer eine signifikante Erhöhung des Antistreptolysin-O-Titers, da das Antigen (Streptolysin O) im Fettgewebe neutralisiert werden kann. Bewährt hat sich die kombinierte Bestimmung verschiedener Antikörper gegen verschiedene Exoenzyme der Streptokokken, insbesondere des ASL- und DNaseB-Titers. Ein normaler ASL-Titer schließt eine Streptokokkeninfektion nicht aus. Die quantitativen Nachweise von Anti-Streptolysin O und Anti-Desoxyribonuklease B gelten als günstige Kombination (Nachweisrate steigtdurch die Kombination von 80 auf 95%; Friese et al. 2002).
Therapie Werden Streptokokken der Gruppe A erstmals nachgewiesen, so ist eine Penicillin-Therapie über mind. 10 Tage empfohlen, auch ohne jegliche klinische Symptomatik. Bei fehlendem Ansprechen sollte eine weitere Behandlung mit Cephalosporinen oder einem Makrolid erfolgen.
Streptokokken der Gruppe B (GBS) Erreger Serologisch werden verschiedene Typen der Streptokokken der Gruppe B unterschieden. Ihnen gemeinsam ist das hitzeund säurestabile, gruppenspezifische Antigen B mit dem wichtigsten Vertreter Streptococcus agalactiae.
Klinische Symptome Ernste Infektionen durch S. agalactiae sind besonders bei schwangeren Frauen zu erwarten: 4 akute Chorioamnionitis, 4 vorzeitiger Blasensprung, 4 Frühgeburt, 4 Wundinfektionen (Sectio cesarea), 4 postpartale Endometritis, 4 Bakterämie mit Sepsis, 4 Harntraktinfektionen. Wichtigstes Krankheitsbild ist die Infektion bei Neugeborenen (Sepsis, Meningitis, Pneumonie). Infektionsquellen sind dann z. B. die Hände der Mutter, Muttermilch oder auch das Krankenhauspersonal (Friese et al. 2002). Eine neonatale Streptokokkeninfektion lässt sich in 2 Formen unterteilen 4 die Frühform (»early onset«) und 4 die Späterkrankung (»late onset«), die ca. 1–6 Wochen nach der Geburt einsetzt. Als geburtshilfliche Risikofaktoren für die Entstehung einer Early-onset-Sepsis beim Neugeborenen gelten: 4 Nachweis von GBS im Anogenitalbereich der Mutter zum Zeitpunkt der Geburt, 4 hohe Keimdichte von GBS im Anogenitalbereich der Mutter zum Zeitpunkt der Geburt, 4 Dauer zwischen Blasensprung und Geburt von ≥18 h, 4 Fieber ≥38,0°C unter der Geburt, 4 Frühgeburt vor vollendeten 37 Wochen, 4 Zustand nach Geburt eines Kindes mit Neugeborenensepsis durch GBS.
423 20.3 · Bakterielle Infektionen und Protozoen
Das klinische Spektrum der B-Streptokokkeninfektionen in der Perinatalzeit ist außerordentlich variabel. In schweren Fällen beginnt die Erkrankung sofort nach der Geburt und schreitet rasch fort. Betroffen sind häufig Frühgeborene, wahrscheinlich weil ein durch B-Streptokokken kompliziertes Amnioninfektionssyndrom zur vorzeitigen Entbindung führt. Je unreifer das Neugeborene ist, umso eher verläuft die B-Streptokokkeninfektion als Sepsis. Bei reifen Neugeborenen handelt es sich dagegen eher um eine Pneumonie, die oft nicht von einem Atemnotsyndrom zu unterscheiden ist. Es gibt kein spezifisches Symptom für eine B-Streptokokkeninfektion. Nur bei reifen Neugeborenen kommt es initial zu Fieber. Frühzeichen sind Atemstörungen (Apnoen, Stöhnen, Tachy- und Dyspnoe), eine gestörte Perfusion der Haut (Blässe, marmorierte Haut, Hypotonie) und Tachykardie. Die respiratorische Insuffizienz und der septische Schock zwingen i. d. R. zur Intubation und Beatmung. Eine Verbrauchskoagulopathie mit Petechien und Hautblutungen ist ein Spätsymptom. Ungeklärt ist die Pathogenese einer anscheinend übernormal häufigen Assoziation einer B-Streptokokkensepsis mit einer vorwiegend rechtsseitigen Zwerchfellhernie. Die Letalität dieser Verläufe ist hoch (Roos u. Proquitte 1998). Die Spätform der B-Streptokokkeninfektionen (»late onset«) im Alter von 1–6 Wochen verläuft vorwiegend als Meningitis. Häufig tritt eine kurze Periode von Fieber, Trinkunlust, Unruhe und Berührungsempfindlichkeit ein. Das Vollbild besteht aus einer Meningitis mit Lethargie bis zum Koma und tonisch-klonischen Krampfanfällen. Der Verlauf ist oft nicht so foudroyant wie bei der Frühsepsis. Die Letalität ist aufgrund des entzündlichen Hirnödems hoch und liegt bei mindestens 25% (Roos u. Proquitte 1998).
Therapie B-Streptokokken sind empfindlich gegen alle β-Laktamantibiotika, aber resistent gegen Aminoglykoside, wobei die Kombination mit Ampicillin/Amoxicillin mit Gentamycin sowohl in vitro als auch im Tierversuch synergistisch wirksam ist. Deshalb sollten B-Streptokokkeninfektionen mit einem Penicillinderivat und einem Aminoglykosid für mind. 5 Tage behandelt werden. Alternativ kann auch ein Cefalosporin gegeben werden. Die Gesamtdauer der antibiotischen Therapie einer gesicherten Sepsis beträgt traditionell 10 Tage. Eine Meningitis sollte mind. 14 Tage über den Zeitpunkt des Nachweises der Sterilisierung des Liquors behandelt werden. Neben einer antibiotischen Therapie sind intensivmedizinische Maßnahmen bei jeder Neugeborenensepsis durchzuführen. Bei einer Therapie einer Early-onset-B-Streptokokkeninfektion wurde eine Letalität von 10–20% beobachtet, wobei die Prognose einer Late-onset-Infektion ungleich schlechter ist. Diese Kinder haben z. T. neurologische Spätschäden (z. B. zerebrale Bewegungsstörungen, Hydrozephalus, mentale Retardierung) oder sterben an Hirnödemen (Benitz et al. 1999a, b; Embleton 2001). Zur intrapartalen Prophylaxe ist Penicillin G (zu Beginn 5 Mio. IE i.v., anschließend 2,5 Mio. IE alle 4 h bis zur Geburt) Mittel der Wahl. Alternativ kommen Ampicillin (zu Beginn 2 g i.v., anschließend 1 g alle 4 h bis zur Geburt) oder Cefazolin (zu Beginn 2 g i.v., anschließend 1 g alle 8 h) infrage. Bei bekannter Allergie kann ebenfalls Clindamycin (900 mg i.v. alle 8 h) genutzt werden. > Für den klinischen Bedarf sind bei ausreichender Dosierung die meisten β-Laktamantibiotika gegen B-Streptokokken ebenso wirksam wie Erythromycin oder Vancomycin.
Diagnostik Beweisend für eine B-Streptokokkeninfektion ist die Kultivierung, hauptsächlich in speziellen Kulturmedien. Ein Nachweis von B-Streptokokken in Haut- und Schleimhautabstrichen, Ohrabstrichen, Magensekret, Nabelabstrich oder Mekonium beweist primär allerdings nur eine Besiedelung. Eine Behandlung für das Neugeborene sollte bei gleichzeitiger klinischer Symptomatik durchgeführt werden (Roos u. Proquitte 1998). Tipp Ein Screening aller Schwangeren im letzten Trimenon auf B-Streptokokken wäre zu empfehlen, da dies die Möglichkeit einer Prophylaxe eröffnet.
Dazu geeignet sind Schnellkulturmedien, die durch einen Farbumschlag innerhalb von längstens 24 h das Wachstum von B-Streptokokken nachweisen. Die Sensitivität dieser Kulturmedien liegt bei 95%, die Spezifität bei fast 100%. Mittlerweile ist es möglich, durch eine Modifikation an der PCRTechnik einen Nachweis in ca. 45 min zu erlangen, sodass eine intrapartale (mit oder ohne Blasensprung) Diagnostik auf BStreptokokken stattfinden kann (Bergeron et al. 2000).
Prophylaxe In einzelnen Studien war eine dichte Besiedlung der Vagina Ursache eines vorzeitigen Blasensprungs bzw. einer Frühgeburt (Apgar et al. 2005). Es ist naheliegend, die neonatalen B-Streptokokkeninfektionen durch eine prophylaktische Behandlung der besiedelten Schwangeren zu verhindern. Zur Abschätzung der Gefährdung von Mutter und Kind ist eine gezielte Untersuchung in den letzten 4 Wochen der Schwangerschaft empfehlenswert. Es wurden 3 therapeutische Strategien zur Prävention einer neonatalen Sepsis durch B-Streptokokken vorgeschlagen (Rouse et al. 1994): 4 allgemeine Behandlung (z. B. intrapartale Penicillingabe), 4 Behandlung basierend auf maternalen Risikofaktoren, 4 Behandlung basierend auf Frühgeburtlichkeit und Kulturstatus ab 36. SSW. Die Behandlung einer mit B-Streptokokken besiedelten Schwangeren vor einer normalen Geburt ohne zusätzliche Risikofaktoren ist unnötig. Das Infektionsrisiko für das Neugeborene liegt unter diesen Bedingungen zwischen 0,5 und 1%. Bei der Annahme einer 100%igen Sicherheit müss-
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424
Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
. Abb. 20.10. Risikofaktoren einer B-Streptokokkeninfektion des Neugeborenen. Algorithmus bei Verdacht auf GBS-Infektion in der Schwangerschaft (Mod. nach Mylonas u. Friese 2009; AWMF 2008, AWMF-Leitlinie 024/020)
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ten zwischen 98 und 200 Gebärende behandelt werden, um eine B-Streptokokkeninfektion des Neugeborenen zu verhindern. Bislang war in den meisten Kliniken Standard, dass Frühgeborene nach Geburt trotz Prophylaxe der Mutter solange einer antibiotischen Therapie zugeführt werden, bis eine Infektion durch normale Entzündungsparameter, negative Kulturen oder fehlende klinische Symptome ausgeschlossen werden konnte. Neuere Untersuchungen deuten darauf hin, dass auf diese präsumptive Therapie bei Frühgeborenen nach der 30. SSW verzichtet werden kann, wenn die Mutter mindestens 2 Dosen eines Antibiotikums (Ampicillin oder Cefotaxim) vor der Geburt erhalten hat.
Tipp Die selektive intrapartale Behandlung einer mit B-Streptokokken besiedelten Schwangeren mit Geburtsrisiken wird dringend empfohlen. Die Rate der Infektionen des Kindes kann signifikant gesenkt werden, wenn mind. 2 Dosen eines Antibiotikums an die Schwangere verabreicht wurden.
Einige Fachgesellschaften haben die Risikofaktoren sowie Empfehlungen zur Prophylaxe einer neonatalen Sepsis veröffentlicht. Die CDC gaben 1996 Richtlinien heraus, die entweder eine Therapiestrategie basierend auf einem Kulturnachweis in der 35.–37. SSW. oder eine Therapie gestützt nur auf Risikofaktoren empfahl. Des Weiteren wurde die Verwendung von Penicillin als eine Alternative zu Ampicillin empfohlen (Centers for Disease Control and Prevention 1996).
425 20.3 · Bakterielle Infektionen und Protozoen
Diese Therapiestrategie hat sich als effektiv erwiesen (Apgar et al. 2005). Natürlich führen diese Strategien zu einer völlig unterschiedlichen Häufigkeit der Notwendigkeit einer intrapartalen antibiotischen Prophylaxe (. Abb. 20.10). Auch liegen keine ausreichenden vergleichenden Untersuchungen zur Effizienz und zu den Kosten dieser Strategien vor, wobei eine kürzlich bekannte Untersuchung eine gute Kosten-EffizienzRelation für ein Screening/risikoadaptiertes Vorgehen demonstrierten (Akker-van Marle et al. 2005). Diese verschiedenen Empfehlungen unterstreichen aber, dass das Problem der Prävention der neonatalen B-Streptokokkeninfektionen noch keineswegs ausdiskutiert ist.
20.3.5
Toxoplasmose
Die Toxoplasmose wird durch Toxoplasma gondii hervorgerufen. Dabei ist der Mensch nur der Zwischenwirt, Hauptwirt sind Katzen und katzenartige Raubtiere. Die Oozysten werden aus dem Darm der Katzen ausgeschieden und gelangen mit ungenügend erhitztem (rohem) Fleisch bzw. mit durch Katzenkot verunreinigte Lebensmittel zum Menschen. Die postnatale und die pränatale Infektion werden unterschieden. Normalerweise verläuft die Toxoplasmoseinfektion klinisch symptomlos. Ausnahmen kommen bei immunsupprimierten Menschen vor. Klinisch können grippeähnliche Beschwerden und Lymphknotenschwellungen auftreten. Bei maternaler Erstinfektion in der Schwangerschaft sind der Infektionszeitpunkt, die Infektionsdosis sowie die immunologische Kompetenz für die Auswirkungen auf den Fetus entscheidend. Während mit zunehmendem Gestationsalter die Wahrscheinlichkeit einer pränatalen Infektion zunimmt, sinkt die Schwere der Erkrankung. Die klassische Trias: Retinochorioiditis, Hydrozephalus, intrazerebrale Verkalkung mit postenzephalitischem Schaden tritt nur etwa in 1% der Fälle auf. Nach überwiegend symptomlosem oder mit unspezifischen Krankheitsbildern einhergehendem Verlauf entwickelt sich in der Folgezeit bei 65–95% der Fälle eine typische Retinochorioiditis. Bei begründetem Verdacht auf eine akute Infektion sollte unverzüglich eine Behandlung eingeleitet werden. Bei speziellen Fragen bzw. unklaren Fällen können Referenzlabors konsultiert werden. Im Rahmen der Pränataldiagnostik ist die Frage nach einer möglichen fetalen Infektion zu beantworten, wenn auffällige sonographische Befunde vorliegen oder eine wahrscheinliche bzw. gesicherte akute Toxoplasmainfektion der Mutter. Dabei ist zu beachten, dass der Nachweis einer fetalen Infektion nicht mit fetaler Schädigung gleichzusetzen ist. Die invasive Diagnostik kann relativ risikolos über eine Amniozentese mit PCR erfolgen. Bei Chordozentese sind höhere Abortraten bekannt. Bei nachgewiesener fetaler Infektion und sonographischen Auffälligkeiten muss mit den Eltern ein Schwangerschaftsabbruch diskutiert werden. Anderenfalls erfolgt eine medikamentöse Therapie über die Geburt hinaus bis zum 12. Lebensmonat. Die Schwangere wird bei akuter Infektion bis zur 15. SSW mit Spiramycin, danach über 4 Wochen mit Pyrimethamin und Sulfadiazin behandelt. Teratogene Effekte sind nicht bekannt. Durch eine zusätzliche Gabe von Folinsäure wird eine Thrombo-
penie vermieden. Bei nachgewiesener fetaler Infektion wird die oben genannte Therapie im 4-wöchigen Wechsel mit Rovamycin bis zur Geburt fortgeführt. Der präventiven Beratung der Schwangeren ist große Bedeutung beizumessen.
Einleitung Wenn eine schwangere Frau erstmals während der Gravidität Kontakt mit Toxoplasma gondii hat, kann der Parasit während der akuten Infektionsphase auf den Fetus übergehen. Obwohl Toxoplasmainfektionen bei schwangeren Frauen häufig sind, wird dieses Schwangerschaftsrisiko weiterhin zu wenig beachtet. Im Vordergrund steht neben der Problematik der seltenen schweren Erkrankungsfälle v. a. die Langzeitprognose der häufigen subklinischen pränatalen Toxoplasmainfektionen. Pränatal infizierte Kinder zeigen oft erst nach vielen Jahren eine klinische Schädigung. Da auch in der Schwangerschaft die meisten Infektionen asymptomatisch verlaufen, sind Laboruntersuchungen für das Erkennen der akuten Infektion und den frühzeitigen Beginn der erforderlichen Antibiotikatherapie wichtig.
Erreger Die Toxoplasmose ist eine durch das Protozoon Toxoplasma gondii, einen intrazellulären Erreger, hervorgerufene Zoonose. Hauptwirt des Erregers ist die Katze, wobei die Ausscheidung von Oozysten mit dem Kot passiert. Die Sporogonie (Reduktionsteilung) erfolgt im Freien. Eine azyklische Entwicklung mit proliferativer Phase (Tachyzoiten: Pseudozysten) und Zystenphase (Bradyzoiten) findet im Zwischenwirt (Mensch, Hund, omni- und herbivore Säuger und Vögel) statt (Friese et al. 2002). Toxoplasmainfektionen können bei vielen verschiedenen Säugetieren und Vögeln beobachtet werden. > Kontaminierter Katzenkot ist erst nach einer extrakorporalen Reifezeit ab dem 3. Tag infektiös.
T. gondii erzeugt umschriebene herdförmige Entzündungen und Nekrosen. Es besteht eine Affinität zum ZNS (zerebrale Form). 3 Infektionsmöglichkeiten kommen beim Menschen in Betracht: 4 orale Aufnahme von Zysten in nicht ausreichend erhitzten Fleisch- und Wurstwaren, 4 orale Aufnahme von Oozysten über Lebensmittel (z. B. Salate), Wasser, Gegenstände und Erdboden, welche durch Katzenkot kontaminiert sind (z. B. während der Gartenarbeit), 4 diaplazentarer Übertritt auf den Fetus während einer akuten Toxoplasmainfektion der werdenden Mutter.
Klinische Symptome In der Regel verläuft die Toxoplasmainfektion symptomlos ab (Ausnahme: immunsupprimierte Patienten), wobei sich oft eine Toxoplasmose nur serologisch nachweisen lässt. > Eine serologische Kontrolle auf Toxoplasmaantikörper muss bei jeder Schwangeren in jedem Fall vorgenommen werden, falls eine Lymphknotenschwellung bzw. eine grippale Symptomatik auftritt.
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426
Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
Der Erregerübertritt, der in ca. 50% der Primärinfektionen und vorwiegend im 2. und 3. Trimenon erfolgt, kann zur Fetopathia toxoplasmotica führen. Da die Passage im 1. Trimenon der Schwangerschaft längere Zeit als gegen ihr Ende beansprucht, gelingt der inzwischen entwickelten mütterlichen Abwehr meist die Herdsanierung noch vor einer Generalisierung im Fetus. So wurde errechnet, dass bei unbehandelten Müttern die Infektion im 1. Trimenon in ca. 13% die Frucht beeinflusst, im 2. Trimenon jedoch schon zu ca. 24% und im 3. in 62% (Ahlfors et al. 1986). Wird die Infektion erst in der letzten Schwangerschaftswoche erworben, steigt die Übertragungsrate auf ca. 90%. Die Gefahr für eine schwere Erkrankung des Fetus sinkt dagegen mit dem Gestationsalter. Vor der 16. SSW schädigen Toxoplasmaherde den Trophoblasten offenbar so schwer, dass Spontanaborte Folge der Infektion sind. Eine kausale Beziehung konnte zwischen einer akuten Infektion während der Schwangerschaft und Frühgeburt, Totgeburt und Geburt von Säuglingen mit anormalem Schädelvolumen festgestellt werden (Djurkovic-Djakovic 1995). Durch Toxoplasmose verursachte Embryopathien sind deshalb nicht zu erwarten. > Infiziert sich eine Frau in der Schwangerschaft erstmalig mit Toxoplasma gondii, so ist der Zeitpunkt der Infektion, die Infektionsdosis sowie die immunologische Kompetenz, einschließlich der maternalen diaplazentaren Antikörperübertragung, von Bedeutung. Mit fortschreitender Schwangerschaft steigt die Wahrscheinlichkeit der pränatalen Infektion des Fetus, andererseits nimmt die Schwere des Krankheitsbildes beim Kind ab.
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In höchstens 10% der Fälle treten nach einer Inkubationszeit von 1–2 Wochen Krankheitssymptome auf (Friese et al. 1991b). Nur sehr selten sieht man die typischen klinischen Zeichen mit Lymphadenitis, Fieber und Kopfschmerzen, meistens sind nur uncharakteristische grippale Symptome zu beobachten. Das klinische Bild der konnatalen Infektion des Fetus mit Toxoplasmen kann unterschiedlich ausgeprägt sein. Fließend gehen die Stadien einer durch T. gondii hervorgerufenen Fetopathie ineinander über: von Zeichen der generalisierten Erkrankung, der floriden Meningoenzephalitis bis hin zum postenzephalitischen Schaden. Die genannten klinischen Bilder kommen zum Zeitpunkt der Geburt etwa im Verhältnis 1:10.100 vor. Kardiopulmonale und hepatische Symptome stehen im Vordergrund einer fetalen Infektion (. Tab. 20.13). Die meisten Kinder zeigen kurz nach der Geburt das klinische Bild einer Dyspnoe, Tachypnoe und Zyanose, ein großes Abdomen mit Hepatosplenomegalie und zunehmendem Ikterus sowie purpuraähnliche Hautblutungen. Augenveränderungen finden sich als uncharakteristische Zeichen der akuten Entzündung mit Ödemen und Blutungen in Retina und Papille. Zeichen einer Enzephalitis fehlen oft in diesem frühen Stadium. Die seltene Generalisation der Infektionserkrankung ist durch nekrotisierende Entzündungsherde in den Organen gekennzeichnet. Das Stadium der floriden Meningoenzephalitis ist bei Kindern gekennzeichnet durch eine ZNS-Symptomatik. Die Entzündungsherde sind in anderen Organen bereits oft abgeheilt. Infolge entzündlicher Veränderungen im Gehirn und
auch des beginnenden Hydrozephalus sind die Kinder schläfrig, wimmern und bereiten anhaltende Fütterungsschwierigkeiten. Der Schädel zeigt progredientes Wachstum, und die abgelaufene Hirnerkrankung wird nach Wochen mit intrazerebralen Verkalkungen, Retardierung, Krämpfen, Chorioretinitis oder Hydrozephalus deutlich. Es resultiert meist ein schwerer Hirnschaden.
Die klassische Trias mit Hydrozephalus, Chorioretinitis und intrazerebralen Verkalkungen tritt nach der Geburt umso eher klinisch in Erscheinung, je massiver der postenzephalitische Schaden ist. Auch oligosymptomatische Verlaufsformen werden oft beobachtet. Bis zu 85% der infizierten Neugeborenen können im Verlauf von Jahren eine oder mehrere Episoden von Chorioretinitis durchmachen (Stray-Pedersen u. Jenum 1992). Auch Intelligenzdefekte, Verhaltensstörungen, Lähmungen oder Krampfanfälle können einer durchgemachten konnatalen Toxoplasmose zugeordnet werden (. Tab. 20.13).
Diagnostik Das Vorliegen der klassischen Trias (CT, MRT, Augenhintergrunduntersuchung, Liquorbefund) macht die Diagnose wahrscheinlich. Den Beweis einer Toxoplasmainfektion würde der direkte Erregernachweis aus Liquor oder Gewebe oder die Anzüchtung mittels Tierversuch erbringen, wobei diese Methoden aufwendig und noch nicht für die Routine geeignet sind (Friese et al. 1991b). Eine Antikörperbestimmung im Serum kann ebenfalls durchgeführt werden. Die Tatsache, dass der Nachweis der fetalen Infektion nicht zwangsläufig eine Schädigung des Kindes bedeutet, erschwert die Indikationsstellung für eine invasive Diagnostik. Alle Kinder von Müttern mit gesicherter oder wahrscheinlicher akuter Toxoplasmainfektion in der Schwangerschaft sollten längerfristig, mindestens im 1. Lebensjahr, klinisch und labordiagnostisch überwacht werden. > Wurde eine fetale Toxoplasmainfektion nachgewiesen und bestehen gleichzeitig sonographische Anzeichen für eine Schädigung des Kindes, muss die Möglichkeit einer Abruptio mit den Eltern besprochen werden.
Die PCR und verbesserte Routinetests ermöglichen heute sowohl bei Screeninguntersuchungen als auch im schwierigen Einzelfall eine sichere Diagnostik (. Tab. 20.14). Da besonders bei Neugeborenen von therapierten Müttern spezifische IgMund IgA-Antikörper als Hinweise für die konnatale Infektion fehlen können, ist eine Kombination folgender Methoden sinnvoll: 4 Direkter Erregernachweis aus Plazentagewebe, Nabelschnur und Nabelschnurblut mithilfe der PCR und Versuch, positive PCR-Befunde durch Tierversuch bzw. Zellkultur zu bestätigen. 4 Nachweis spezifischer IgA und IgM unter Berücksichtigung der Möglichkeit falsch positiver Befunde durch ein »placenta leak«. Wie bei der pränatalen muss auch bei der postpartalen Diagnostik aus Nabelschnurblutproben die Möglichkeit der Kon-
427 20.3 · Bakterielle Infektionen und Protozoen
. Tab. 20.13. Symptome einer Toxoplasmoseerkrankung bei Mutter, Fetus, Neugeborenem und Säugling. (Aus Mylonas u. Friese 2004a)
Symptome einer Toxoplasmose Mutter
Subakuter und akuter Verlauf 5 Grippe-/mononukleoseähnliche Symptomatik 5 Lymphknotenschwellung/Lymphadenitis 5 Kopfschmerzen und Müdigkeit 5 Uncharakteristisches Fieber bzw. Angina 5 Abdominale Beschwerden 5 Exanthem (bei Jugendlichen) 5 Reaktive Arthritis 5 Meningismus 5 Meningoenzephalitis 5 Hepatitis (selten) 5 Myokarditis (selten) 5 Pneumonien (selten) 5 Primäre Chorioretinitis (selten)
Chronischer Verlauf 5 Schubweises Fieber 5 Kopfschmerzen 5 Gelenkbeschwerden 5 Psychische Alterationen 5 Chorioretinitis 5 Iridozyklitis 5 Organmanifestation in – Lymphknoten – Leber – Milz – ZNS
Fetus
Verlauf 5 Fetopathia toxoplasmotica 5 Abort 5 Totgeburt 5 Frühgeburt
Sonographie 5 Hydrozephalus 5 Mikrozephalus 5 Zerebrale Kalzifikationsherde 5 Oligohydramnion 5 Hepatosplenomegalie
Kind
Neugeborenes 5 Häufig subklinisch erkrankte Kinder 5 Dyspnoe, Tachypnoe und Zyanose 5 Klassische Trias mit Hydrozephalus, Chorioretinitis und intrazerebralen Verkalkungen 5 Hepatosplenomegalie und Ikterus 5 Thrombozytopenie 5 Floride Meningoenzephalitis 5 Purpura 5 Lungenbeteiligung 5 Intelligenzminderung 5 Hydrozephalus 5 Chorioretinitis 5 Epileptische Anfälle 5 Hepatosplenomegalie und Ikterus
Toxoplasmose im 1. Lebensjahr 5 Liquorveränderungen (34,8%) 5 Chorioretinitis (21,8%) 5 Intrakranielle Verkalkungen (11,4%) 5 Hydrozephalus oder Mikrozephalie (9,0%) 5 Psychomotorische Retardierung (5,2%) 5 Hepatosplenomegalie (4,2%) 5 Krämpfe (3,8%)
tamination mit mütterlichem Blut stets bedacht und ggf. ausgeschlossen werden. Diagnostik bei der schwangeren Frau. Im Rahmen der Schwangerenvorsorge kommen ausschließlich serologische Methoden zur Anwendung; der direkte Erregernachweis mithilfe der PCR aus peripherem Blut ist im Normalfall nicht indiziert, weil ein negativer PCR-Befund eine akute oder kürzliche Infektion grundsätzlich nicht ausschließen kann. Wenn spezifische IgG-Antikörper nachweisbar sind und spezifische IgM-Antikörper fehlen, kann in der Regel von einer latenten Toxoplasmainfektion der Schwangeren mit Immunschutz für das ungeborene Kind ausgegangen werden. Wenn im Blut der werdenden Mutter auch IgM-Antikörper zu finden sind und keine Vorbefunde zur Verfügung stehen, muss man folgende Möglichkeiten unterscheiden: 4 akute oder kürzliche Infektion mit Relevanz für die Schwangerschaft,
4 abklingende (subakute) Infektion ohne aktuelle Bedeutung, da die Infektion vor Eintritt der jetzigen Schwangerschaft abgelaufen ist, 4 Antikörperboosterung mit Auftreten von spezifischen IgA-Antikörpern aufgrund eines erneuten intestinalen Antigenkontakts oder einer klinisch irrelevanten Reaktivierung (in der Praxis kann man eine Antikörperboosterung oft nicht eindeutig von einer abklingenden Infektion unterscheiden), 4 unspezifische IgM-Reaktion (sog. natürliche IgM-Antikörper gegen Toxoplasmaantigene, die gelegentlich auch bei Menschen ohne vorherigen Kontakt mit Toxoplasma gondii zu finden sind). ! Ein positiver IgM-Test darf nicht bei der ersten Untersuchung der Schwangeren ohne weitere kritische Abklärung als Zeichen für eine akute schwangerschaftsrelevante Infektion gewertet werden.
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Kapitel 20 · Infektionen in der Geburtshilfe
. Tab. 20.14. Die serologischen Stadien der Toxoplasmainfektion p.i. (post infectionem). (Aus Mylonas u. Friese 2004a; Mylonas et al. 2006a)
Infektionsphase
Zeitraum (Monate p.i.)
Typischer Ablauf der Immunantwort
0–3
5 Nach 10–14 Tagen Auftreten von IgM, IgG und IgA 5 Zuerst beginnende Immunantwort im SFT zu erkennen (wird nur noch in wenigen Laboratorien durchgeführt)
3–6
5 Maximale Antikörperproduktion 5 Mittelhohe bis hohe Konzentrationen der IgM-, IgG- und IgA 5 IgM in allen Testmethoden gut nachweisbar 5 IgA nachweisbar 5 IFT von negativ auf positiv (sicherer Nachweis)
Serologische Untersuchungen und Titer
Verlaufskontrollen
Phase I Serokonversion oder signifikanter Titeranstieg
Im Abstand von 2–3 Wochen zwingend
Phase II Aktive Infektion; Phase I+II= akute Infektion
KBR
1>40
IFT
1>512
IgM-FT
1>40
IgM-ISAGA
1>10.000
IHA
11000
IFT
1:1024
IgM-FT
1: 20
IgM-ISAGA
1: 2000
IHA
1>1000
KBR
1: 10
IFT
1: 256
IgM-FT
Negativ
IgM-ISAGA
Negativ
IHA
1>1000
5 Im Abstand von 2–3 Wochen, um Identität der Proben und Reproduzierbarkeit der Befunde zu dokumentieren 5 Titeranstieg bei Kontrolle nicht mehr nachweisbar
Phase III Abklingende (subakute) Infektion
6–12 (–36)
5 Langsam abfallende IgM-, IgA-, IgG Titer 5 Persistenz von IgA länger als IgM (1/3 der Infektionen) 5 IgM-Persistenz zwischen 1 und 3 Jahren 5 Manchmal können stark erhöhte IgG-Titer (SFT oder IgG-IFT ≥1:1024) über mehr als ein Jahr beobachtet werden
Im Abstand von 2–3 Wochen empfehlenswert, um ausbleibenden Titeranstieg zu dokumentieren