Anke Spies • Dietmar Tredop (Hrsg.) „Risikobiografien"
Anke Spies DietmarTredop(Hrsg.)
„Risikobiografien" Benachteiligte Jugendliche zwischen Ausgrenzung und Forderprojekten
III
VSVERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN
Bibliografische information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natlonalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uber abrufbar.
Diese Publikation wurde durch eine Zuwendung der Friedrich stiftung in Seeize unterstiitzt.
1. Auflage November 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Stefanie Laux Der VS Verlag fur Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschlieBlich aller seiner Telle ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfaltigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronlschen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden durften. Umschlaggestaltung: KunkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-10 3-531-14944-X ISBN-13 978-3-531-14944-8
Inhalt
Anke Spies & Dietmar Tredop „Risikobiografien" - Von welchen Jugendlichen sprechen wir?
I.
9
Disziplinare Zugange Petra Korte Der Benachteiligtendiskurs aus allgemeinpadagogischer Perspektive ... 25
II.
Ute Karl & Wolfgang Schroer Fordem und Fordem - Sozialpadagogische Herausforderungen im Jugendalter angesichts sozialpolitischer Umstrukturierungen
41
Manuela Westphal Sozialisations- und Integrationsprozesse von Jugendlichen mit Migrationshintergrund
57
Hanna Kiper Identitatsbildung und Kompetenzerwerb - Lemangebote und Hilfen fiir benachteiligte Jugendliche in der Hauptschule
69
Karin Rebmann & Dietmar Tredop Fehlende „Ausbildungsreife" - Hemnmis fur den Ubergang von der Schule in das Berufsleben?
85
Institutionelle und strukturelle Bedingungen von Exklusionsfallen und Inklusionsbestrebungen Karl-Heinz Braun „Schulversagen" - ein vielschichtiges Gefiige von objektiven Ursachen und subjektiven Griinden
101
Franz Bettmer & Georg Cleppien Soziale und biografische Risiken benachteiligter Jugendlicher: Das Zusammenspiel der Erziehungsauftrage von Jugendhilfe und Schule .. 125 Lisa Pfahl Schulische Separation und prekare berufliche Integration: Berufseinstiege und biographische Selbstthematisierung von Sonderschulabganger/innen
141
Anke Spies Schulbezogene Jugendsozialarbeit und Schulsozialarbeit - Schamier(e) zwischen Disziplinen
157
III. Vorschlage zur Entwicklung von Schule Eric Muhrel Die sozialpadagogische Schule als Praventionsmodell fur abweichendes Verhalten
179
Norbert Wieland Benachteiligung als Merkmal (schulischer) Interaktion
191
Joachim Schroeder Jugendschulen - Konzeptionelle Ansatze fur die padagogische Arbeit mit markt-, sozial- und rechtsbenachteiligten jungen Menschen 207 Anja Grosch Individuelle Forderung aller Kinder in innovativen Schulformaten
223
Anke Spies „Unterricht ist eben nur ein kleiner Teil..." - Beratung fur benachteiligte Madchen, Jungen und ihre Eltem in der Berufsorientierungsphase
237
Karin Rebmann Evaluation einer MaBnahme zur Beforderung von sozialen und personalen Kompetenzen Jugendlicher aus Sicht der beteiligten Akteure
255
IV. Professionalisierungsbedarf und Losungsangebote Alexandra Obolenski Kooperation von Padagoginnen und Padagogen als Bestandteil professionellen Handelns
267
Renate Girmes Professionell Lehrende als strukturelle Chance? Pladoyer fiir ein aufgaben- und kompetenzorientiertes Lehrerausbildungscurriculum und eine veranderte Ausbildungskultur
281
Arnulf Bojanowski Auf der Suche nach tragenden Theoremen - zur Programmatik einer „beruflichen Forderpadagogik"
297
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
315
„Risikobiografien" - Von welchen Jugendlichen sprechen wir? Anke Spies & Dietmar Tredop
Mit dem Titel „Risikobiografien" greifen wir den von Peter Biichner und HeinzHermann Kruger (Biichner 2001; Biichner/Kruger 1996) im Rahmen ihrer Untersuchungen zur Milieuabhangigkeit von Bildungschancen und deren Ausschlussmechanismen gepragten Begriff der „Risikobiografie" auf. Ein Schlagwort, dessen Brisanz immer schneller ftir mehr und mehr sozial-, bildungs- und marktbenachteiligte Madchen und Jungen wachst. Die Gegebenheiten ihres Aufwachsens werden immer haufiger zum biografischen Risiko der gesellschaftlichen Ausgrenzung - sie drohen an ihrer strukturell bedingten, aber scheinbar individuell zu verantwortenden „Risikobiografie" zu scheitem. So haben wir den plakativen Begriff in Ermangelung eines neutralen Terminus, aber auch gezielt zur Multiplikation der Befunde von Biichner und Kriiger, zur biografischen Reichweite von Aufwachsensbedingungen in benachteiligenden Lebenslagen, gewahlt. Besonders prekar wird die Situation junger Menschen vor dem Hintergrund der wachsenden Anzahl von sozial-, bildungs- und marktbenachteiligten junger Frauen und Manner, die an der Schwelle des Ubergangs von der Schule ins Erwerbsleben ins gesellschaflliche Abseits zu rutschen drohen. Diese auBerst heterogene Gruppe hat insgesamt einen besonderen Forderbedarf und ist trotz, mit Oder auch wegen der uniibersichtlichen Vielzahl an schulischen und nachschulischen FordermaBnahmen einem wachsenden Ausgrenzungsrisiko ausgesetzt. Neben dem Herkunftsmilieu entscheiden Zugange zu Unterstiitzungs- und Orientierungsangeboten zur Berufswahl, Schulformate, Qualifikation, Selbstverstandnis und Habitus der padagogisch Verantwortlichen iiber gesellschaftliche Exklusionsrisiken junger Menschen in gering qualifizierenden Bildungsgangen. Madchen und Jungen in benachteiligenden ,Bildungs-Lebenslagen' intemalisieren ihrerseits massiv ein Geflihl der Chancenlosigkeit (vgl. Prager 2005) - mit der Folge, dass ihre gesellschaftliche Anschlussfahigkeit durch deutliche Verunsicherungen im Berufsorientierungs- und Berufswahlprozess immer mehr zum (scheinbar individuellen) biografischen Risiko wird. Die Vielzahl an disziplinaren Begriffszuweisungen flir diese vemachlassigte Klientel der Jugendlichen mit marginalisierenden, risikobehafteten Bildungsbiografien und Schwierigkeiten am Ubergang von der Schule in eine Erwerbstatig-
keit ist kaum mehr zu uberblicken. Einerseits finden sich zurzeit Begriffe, die die Jugendlichen mit einem Zusatz erganzend beschreiben, wie die folgenden Beispiele anzeigen: • Jugendliche mit Lemschwierigkeiten, • Jugendliche mit schlechten Startchancen, Jugendliche mit besonderem Forderbedarf, • Jugendliche in Multiproblemlagen. Andererseits werden diese Jugendlichen u. a. auch als „Risikoschiiler/innen", „Randgruppen", „Theoriegeminderte", „Praxisbegabte", „Ausbildungsunreife" bezeichnet - oder im Falle des Nicht-Erreichens von Bildungszertifikaten aus schulpadagogischer Perspektive auch als „Drop-Outs". Wir haben uns in diesem Band flir den Benachteiligtenbegriff als leitenden Terminus entscheiden. Zum einen ist dieser Terminus sowohl im sonderpadagogischen als auch im sozialpadagogischen Diskurs verankert und bezieht sich flir die Sozialpadagogik auf die anzustrebende soziale Gerechtigkeit (vgl. Sengling 1996). Zum anderen kann er unseres Erachtens fiir schulpadagogische Reflexionen hilfreich sein, indem er auch den Blick auf die strukturelle Bedingtheit von Lem- und Leistungsproblemen lenkt und die individualisierende „Versagensperspektive" (vgl. Braun in diesem Band) relativieren und entscharfen hilft, wenngleich auch dieser Begriff nicht ganz unproblematisch ist: Als Klammer fur all jene, die von Marginalisierung bedroht oder betroffen sind, eroffhet der Benachteiligtenbegriff den Zugang zu FordermaBnahmen, aber zugleich stigmatisiert dieser Terminus die Jugendlichen, wenn sie als Absolventen eines Angebotes der BenachteiligtenfDrderung den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt suchen\ GeBner (2004) weist in diesem Zusammenhang auf die fehlende Auseinandersetzung mit den dieses soziale Konstrukt defmierenden Merkmalen hin und bietet als Losung ein Verstandnis von „Benachteiligung als Diskrepanz von individuellen Handlungsmoglichkeiten und gesellschaftlichen Handlungsnotwendigkeiten" (ebd., 32) an. Auch im berufs- und wirtschaftspadagogischen Diskurs hat sich der Benachteiligten-Begriff fest etabliert. Dieser loste spatestens mit der Einrichtung des 1 Viel problematischer, aber aufgrund der Vielzahl beteiligter Fachdisziplinen mit unterschiedlichen Sprachcodes durchaus gangig, ist die Beschreibung der Jugendlichen als „Lembehinderte". Mit dieser Kategorisierung werden zwar Zugange eroffhet aber auch Ausgrenzungsmechanismen in Gang gesetzt. Ein dynamischer Defizitbegriff, der nicht von einer statistischen GroBe, sondem von einem „Konstrukt, welches von den jeweiligen gesellschaftlichen und arbeitsmarktbezogenen Bedingungen determiniert ist" (GeBner 2004, S. 42) fehh bislang. Schierholz (2004) thematisiert in empirischer Ubersicht die „Lembehinderung" und das Spannungsfeld zwischen Jugendhilfe und Behindertenforderung und verweist auf die strukturelle Reformbediirftigkeit des gesamten Fordersystems in Richtung einer kontinuierlichen, vertikalen Forderplanung und der fortwahrenden Begleitung, „die aus Unterstutzungsangeboten und angemessenen Arbeits- und Lemanforderungen bestehen musste" (ebd. S. 48).
10
durch Bundesmittel geforderten Benachteiligtenprogramms 1980 Begriffe, wie z. B. „Ungelemte", „Jungarbeiter" oder „Randgruppen" ab, die bis Anfang der 1970er Jahre leitende Begriffskategorien darstellten (vgl. auch Rtitzel 1995, 111). Dennoch fmden sich unter dem Stichwort „Benachteiligte" nahezu keine Eintrage in einschlagigen berufs- und wirtschaftspadagogischen Lexika oder Handbiichem. Dies gilt mithin auch fiir andere erziehungswissenschaftliche Teildisziplinen (vgl. Schroeder in diesem Band). Einzig in dem aus der Zeitschrifl „berufsbildung" hervorgegangen Worterbuch findet sich das Stichwort „Benachteiligte" (vgl. Riitzel 1998). Sowohl im Worterbuch Berufs- und Wirtschaflspadagogik (vgl. Rtitzel 1999) als auch im Handbuch der Berufsbildung (vgl. Rutzel 1995) fmdet man lediglich das Stichwort „Randgruppe". Betrachtet man die Entwicklung in den ostdeutschen Landem, handelt es sich bei benachteiligten Jugendlichen mit dem erhohten biografischen Risiko der Nichtanschlussfahigkeit keinesfalls um eine Randgruppe, vielmehr sind MaBnahmen zur Benachteiligtenforderung zu einem festen Bestandteil geworden. So werden ca. 20 - 25 % aller Ausbildungsverhaltnisse durch staatliche MaBnahmen bzw. durch die Bundesagentur fiir Arbeit fmanziert, so dass diese Programme den Charakter von Regeleinrichtungen eingenommen haben (vgl. Bojanowski/Eckert/Stach 2004, 6). Dies weist darauf hin, dass Benachteiligung neben individuellen ebenfalls soziale und strukturelle Grtinde hat. Auch die Ausbildungsquoten zwischen mannlichen und weiblichen auf der einen sowie deutschen und migrationsgepragten Jugendlichen auf der anderen Seite belegen diesen Zusammenhang (vgl. BIBB 2006, 20f.; BMBF 2002, 23f.). Nicht mehr das katholische Arbeitermadchen vom Lande, sondem ein aus der Unterschicht kommender Migrant mit schlechter schulischer Vorbildung gleicht gleichsam dem Prototyp eines benachteiligten Jugendlichen. Folgt man Bojanowski, Eckardt & Ratschinski (2004, 2), dann gelten Jugendliche ohne regulare Berufsausbildung als benachteiligt (vgl. auch Rtitzel 1995, 114). Diese Jugendlichen besuchen in der Folge MaBnahmen der Benachteiligtenforderung, die als Sammelbegriff fiir schulische und auBerschulische berufsbezogene FordermaBnahmen verschiedener Trager, Akteure und Institutionen zu verstehen sind (vgl. Bojanowski/Eckardt/Ratschinski 2004, 2). Auch wenn der Status „Benachteiligter" so einerseits Moglichkeiten der Forderung eroffnet, stigmatisiert er andererseits diese Jugendlichen - insbesondere wenn sie auf dem ersten Arbeitsmarkt FuB fassen wollen. Dies zeigen die Zahlen derjenigen Jugendlichen, die z. B. nach Abschluss des BVJ (vergeblich) einen Ausbildungsplatz nachfragen, also die erste Schwelle der Beschaftigung nicht tiberwinden konnen.
11
Das Duale System der Berufsausbildung iibemimmt noch immer eine wesentliche Funktion bei der beruflichen und damit gesellschaftlichen Integration. Es bildet mithin die zentrale Schamierfunktion zur LFberwindung der ersten und zweiten Schwelle der Beschaftigung. Misslingen diese LFbergange sind gravierende Langfristfolgen, wie Armut und gesellschaftliche Ausgrenzung, kaum zu vermeiden. Dies verscharft sich zunehmend, betrachtet man beispielsweise. die neu gestalteten Ausbildungsberufe. So besteht die Gefahr, dass in den kommenden Jahren durch die neuen Ausbildungsberufe, wie z. B. „Fachkrafte fur Mobel-, Kiichen- und Umzugsservice" oder „Servicefachkrafte ftir Dialogmarketing" vorhandene Nischenarbeitsplatze („Mobelpacker" bzw. „Callcenter-Mitarbeiter") verdrangt werden. Vor allem Jugendliche, die Programme fur Benachteiligte durchlaufen haben, sind vermehrt von diesen Ausschlussmechanismen betroffen. Paul-Kohlhoff & Zybell (2003, 3) gehen gar davon aus, dass das Duale System in seiner jetzigen Verfasstheit selbst Produzent von Benachteiligungen ist, womit sie auf die vorhandenen strukturellen Probleme aufmerksam machen. In eine ahnliche Richtung kann Laur-Emst (2002, 65) interpretiert werden, wenn sie anmerkt, dass das originare Ziel des Benachteiligtenprogramms, beeintrachtigte Jugendliche zu unterstiitzen, immer mehr dahingehend verandert wird, fehlende betriebliche Ausbildungsplatze zu schaffen; strukturelle Systemveranderungen bleiben so unangetastet. Traditionell werden benachteiligte Jugendliche in drei Benachteiligten-Kategorien unterteilt: soziale sowie markt- und lembezogene Benachteiligungen (vgl. z. B. bei Bohlinger 2004; Rtitzel 1995). Demzufolge sind es stets soziale, marktbedingte und bildungsbezogene Faktoren, die zu einer Benachteiligung fuhren konnen, aber nicht zwangslaufig dazu fuhren miissen. Schroeder (in diesem Band) benennt als weitere Kategorie die der Rechtsbenachteiligten, die aufgrund gesetzlicher Regelungen Benachteiligungen erfahren. Jenseits einer analytischen Klarung helfen solche Kategorisierungen jedoch nicht viel weiter, da sich die Jugendlichen zumeist nicht exklusiv einer bestimmten Kategorie zuordnen lassen. Eine andere Perspektive auf den Benachteiligten-Begriff wahlen Enggruber etal. (2003), insofem sie als Bezugspunkt fiir ihren Benachteiligtenbegriff die bildungsbiografische Ubergangsproblematik wahlen. Hiemach gelten „Jugendliche und junge Erwachsene (15- bis 20jalirige, +/- 5 Jahre) als benachteiligt, die in ihren Bildungsbiografien zu irgendeinem Zeitpunkt Probleme beim LFbergang in eine den Lebensunterhalt sichemden Beschaftigung aufweisen" (Enggruber/Euler 2003, 17). Damit richten die Autoren den Blick nicht ausschlieBlich auf die erste Schwelle der Beschaftigung, den tjbergang von Schule in Ausbildung. Vielmehr umfasst dieser Benachteiligten-Begriff zum einen bereits Jugendliche, die sich in den letzten beiden Schulbesuchsjahren befmden und keine Aussicht auf einen Hauptschulabschluss haben. Zum anderen bezieht diese
12
Definition explizit diejenigen Jugendlichen mit ein, die trotz anerkanntem (Schul- und/oder) Berufsabschluss in keine Lebensunterhalt sichemde Beschaftigung mtinden. Dies erlaubt es den Autoren zufolge, einerseits einen tJberblick iiber das AusmaB benachteiligter Jugendlicher an der jeweiligen bildungsbiografischen Station zu erhalten. Andererseits wird so die Moglichkeit eroffnet, diesen Jugendlichen gezielt zu helfen (vgl. Enggruber/Euler 2003, 17). Durch die weite Begriffsdefinition besteht die Moglichkeit, PraventionsmaBnahmen einzuleiten, bevor die Jugendlichen zu spat erfahren, dass sie keinen Ausbildungsplatz erhalten werden und ggf. in eine so genannte Warteschleifenund/oder MaBnahmenkarriere einmiinden. Die Einbeziehung der zweiten Schwelle berucksichtigt femer, dass das Problem der beruflichen und damit auch gesellschaftlichen Integration oftmals lediglich von der ersten auf die zweite Schwelle der Beschaftigung verschoben wurde und wird. Die sich verscharfende tjbemahmeproblematik in eine Dauerbeschaftigung zeigt an, dass eine Benachteiligung nicht damit aufhort, wenn ein Jugendlicher einen (betrieblichen oder auBerbetrieblichen) Ausbildungsplatz erhalten hat. Der gelaufige Ausspruch „Jede Ausbildung ist besser als keine Ausbildung" ftihrt nicht selten genug zu einer (langfristig wirkenden) Fehlqualifizierung. Die sich an die Ausbildung anschlieBenden MaBnahmen (Plural!) sind wiederum mit der Gefahr verbunden, dass Jugendliche trotz zusatzlich erworbener Qualifikationen stigmatisiert werden (konnen). Die Folge ist, dass strukturell wirkende Probleme so mit unter von den Jugendlichen gleichsam intemalisiert werden, d. h. die fehlende Integration wird als individuelle Schuld wahrgenommen. Um sowohl monokausale Zuschreibungen als auch Stereotypisierungen zu vermeiden, entscheiden sich Enggruber et al. (2003) nicht far eine bloBe Kategorisierung, sondem entwickeln eine Matrix, in der drei kritische Wirkfaktoren aus der Perspektive der Jugendlichen in Beziehung gesetzt werden mit sieben Benachteiligungstypen (vgl. Enggruber/Euler 2003, 48). Zu den drei kritischen Wirkfaktoren-Kategorien gehoren (vgl. im Folgenden Enggruber et al. 2003, lOf) 1. motivationsstUtzende Faktoren, die in Anlehnung an Deci & Ryan mit Autonomic- und Kompetenzerleben sowie sozialer Anerkennung und Eingebundenheit prazisiert werden; 2. sinnstiftende Faktoren, konkretisiert durch die Kriterien Arbeits- und Lebensorientierung sowie Berufswunsch; 3. Faktoren, die die Kompetenzbedingungen von Ausbildungs- und Arbeitsplatzen beriicksichtigen. Diese werden spezifiziert mit Sozialkompetenzen und Sachkompetenz bzw. genauer: kognitive Leistungsfahigkeit. Hierzu zahlt u. a. die Beherrschung von Kulturtechniken, die als ein wesentliches Merkmal ausbildungsreifer Jugendlicher seitens der 13
ausbildenden Untemehmen angefordert wird (vgl. Rebmann/Tredop in diesem Band; Tredop in Druck). Die Benachteiligungstypologie lehnt sich an der qualitativ-empirisch belegten, in Bezug auf Schulverweigerung entwickelten Typologie von Thimm (2000) an. Zu den sieben Typen gehoren (vgl. im Folgenden Enggruber/Euler 2003, 48-53): 1. Marktbenachteiligte Jugendliche. 2. Jugendliche mit schulischen Uberforderungen und Leistungsmisserfolg. 3. Jugendliche mit auBerschulischen tJberforderungen und Lebensproblemen. 4. Jugendliche auf Sinn- und Identitatssuche. 5. Jugendliche aus multiproblematischen Herkunftsfamilien mit Gewalterfahrungen. 6. Jugendliche mit Protest- und Autonomiebeweis. 7. Jugendliche mit Migrationshintergrund. Obwohl im Rahmen der Diskussion kritischer Wirkfaktoren auf den Umgang mit der eigenen Person (Selbstkompetenzen) eingegangen wird, fmdet dies keinen Niederschlag in der Matrix, ohne dies naher zu begriinden (vgl. Enggruber et al. 2003, 11). Demzufolge werden klassische Sekundartugenden wie Ehrhchkeit, Zuverlassigkeit und Durchhaltevermogen formal ausgeblendet, obwohl diese aus Sicht der an der Berufsausbildung Beteiligten - insbesondere der ausbildenden Untemehmen - eine relevante Bedeutung bei der Bestimmung ausbildungsreifer Jugendlicher einnehmen (vgl. Tredop in Druck; Ehrenthal/Eberhard/Ulrich 2005). Dies sehen (implizit) auch Enggruber & Euler (2003, 12), wenn sie als kritische Wirkfaktoren der betrieblichen Arbeit die Ausbildungsfahigkeit benennen (zur Abgrenzung zwischen Ausbildungsreife und -fahigkeit vgl. Rebmann & Tredop in diesem Band). Femer wird auch keine explizite „Gender-Perspektive" eingenommen. Im Vergleich zur traditionell vorgenommenen Kategorisierung und verengten Sicht auf die erste Schwelle der Beschaftigung erlaubt die von Enggruber et al. (2003) entwickelte Matrix dennoch eine deutlich differenzierte Betrachtung von Benachteiligungen. Gleichwohl: Der Benachteiligten-Begriff ist letztlich relational und zeitabhangig zu bestimmen, da gesellschaftliche bzw. Umwelt-Bedingungen als auch personlich-individuelle Entwicklungen einer Veranderung unterliegen. Wirklichkeit ist stets als (kontinuierlich) psychisch-soziale Konstruktionsleistung bzw. Phanomen zu interpretieren. Parallel zum Benachteiligtenbegriff erfahrt seit ca. 5 Jahren in der Berufsbildungspolitik zunehmend der Begriff „Jugendliche mit besonderem Forderbedarf an Bedeutung (vgl. BMBF 2001; 2002). Auch diese Bezeichnung lost zum einen die stigmatisierende Wolke, die diese Jugendlichen umgibt, nicht auf. 14
Ganz im Gegenteil, wird durch diese Bezeichnung die individuelle Schuldzuweisung - ahnlich wie beim Randgruppen-Begriff - noch verstarkt. Zum anderen erfolgt auch keine tibergreifende Definition, was Benachteiligung konkret ist. Es stellt sich mithin die Frage, ob sich iiberhaupt ein „neutraler" und allumfassender Begriff fiir diese Zielgmppe finden lasst, der den Fordemngsaspekt betont, ohne gleichsam die Stigmatisierung voranzutreiben. Vielmehr wiirde ein (vermeintlich) eindeutiger Begriff neue Setzungen implizieren und den Anschluss am vorhandenen Diskurs verlieren, da ein „neutraler" Begriff allenfalls kontextunspezifisch angewandt werden kann - dies ist jedoch nicht moglich, da Setzungen stets gebunden sind an (disziplinar gefarbten) VorausSetzungen. Die problematische Begriffsbestimmung begrlindet sich insbesondere dadurch, dass es nicht eine spezifische BezugsdiszipHn gibt, die sich mit BenachteiUgtenforderung beschaftigt. Vielmehr handelt es sich um (mindestens) vier erziehungswissenschaftliche Teildisziplinen, die sich in unterschiedlicher Intensitat mit der Gruppe der Benachteiligten beschaftigen. Fragen der Forderung von Benachteiligten weisen in der Berufs- und Wirtschaftspddagogik formal eine lange Tradition auf und sind eng mit den Berufsbildenden Schulen verbunden. Die Zahl derjenigen (berufsschulpflichtigen) Jugendlichen nimmt stetig zu, die sich friiher in sog. „Jungarbeiterklassen" wieder fanden und heute (z. T. mit Warteschleifen-Charakter) z. B. eine Berufsfachschule, das schulische BVJ oder das BGJ besuchen (vgl. auch Bojanowski/Eckert/Stach 2004, 5; Eckert 2004, 1). Diese Schulformen gleichen zwar wahren „Jobmaschinen" fur die berufsbildenden Schulen (zur zahlenmaBigen Entwicklung vgl. BIBB 2006, 22), faktisch befasst sich die Berufs- und Wirtschaftspadagogik jedoch nahezu ausschlieBlich mit dem Dualen System der Berufsausbildung. Diese Leerstelle trifft jedoch nicht nur fur die Berufs- und Wirtschaftspadagogik zu, sondem trifft in ahnlicher, z. T. in noch gravierender Weise auch fiir die anderen an der Benachteiligtenforderung beteiligten Disziplinen zu, wie Sozial-, Sonder- und Schulpddagogik (vgl. Bojanowski/Eckardt/Ratschinski 2004, 4ff) - obwohl vor dem Hintergrund des fmanziellen Volumens und der Anzahl geforderter Jugendlichen (vgl. hierzu z. B. BMBF 2001, 5) bereits von einem Parallelsystem neben dem Dualen System der Berufsausbildung auszugehen ist. Die Benachteiligtenforderung nimmt nicht mehr nur - wie angedacht eine vonibergehende Not- und Uberbrtickungsfunktion wahr, sondem ist „als Daueraufgabe und integraler Bestandteil der Berufsausbildung" (BMBF 2001, 5) zu interpretieren. Insofem ist es nur konsequent, wenn Bojanowski, Eckardt & Ratschinski (2004, 18f) fordem, die „empirische Forschung zu verstarken und dabei auch 15
eine ,padagogische Grundlagenforschung' ftir den Benachteiligtenbereich anzupacken [...] Ansonsten miisste sich die Benachteiligtenforderung auf die pragmatischen Setzungen der Praxis verlassen". Ahnlich argumentiert Bohlinger (2004, 234), wenn sie aus berufspadagogischer Sicht ausfuhrt, dass „die Entwicklung einer eigenstandig bemfspadagogischen, wissenschaftlich fundierten Benachteiligungstheorie stagniert". Fur die Benachteiligtenforderung zeigt sich auch angesichts der die Exklusion mehrenden Individualisierungstrends, der aktuellen Schub-eformdebatten sowie des prognostizierten Fachkraftemangels die sozial- und bildungspolitische DringUchkeit, (Teil-)Disziplingrenzen zu uberwinden, um der vielschichtigen Problematik begegnen und betroffene Jugendlichen adaquat unterstiitzen zu konnen. Nun lieBe sich einfach fordem, dass sich die beteiligten Disziplinen an einen Tisch setzen soUten, um das Problem zu losen. Ein solcher Weg ist in dieser Form jedoch kaum gangbar, da sich Disziplinen historisch herausgebildet haben und nicht immer einheitlichen Gesichtspunkten folgen. Gonon (2002, 135) bestimmt in Anlehnung an Stichweh (1987) eine Disziplin „als eine Ordnungsleistung von moglichst gesichertem Wissen fur Zwecke der Lehre, Forschung und Kommunikation, eingebunden in eine akademisch-wissenschaftliche Infrastruktur". Diese Ordnungsleistung beruht stets auf systemspezifischen Sinnzuweisungen. Eine tJbereinstimmung im Sinne von Konvergenz liegt deshalb nicht bereits dann schon vor, wenn gleichlautende Begriffe benutzt werden. Nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Sinnstrukturen der beteiligten Disziplinen existieren bislang nur wenige (und noch unzureichende) transdisziplinare Brticken. Sozialpadagogik, Sonderpadagogik, Schulpadagogik, Berufsund Wirtschaftspadagogik, Soziologie und Psychologic haben (notwendigerweise) je eigene Systemautonomien entwickelt, die eine problemzentrierte Verkniipfiing erschweren. Prinzipiell stellt die Benachteiligtenforderung jedoch einen gemeinsamen sozialen Bereich dieser Teildisziplinen dar, so dass eine darauf bezogene Interaktion moglich ware - trotz je eigener systemspezifischer Bedeutungszuweisungen. Voraussetzung ware eine Partialinklusion, d. h. Mitglieder des einen miissten auch Mitglied in den anderen Sozialsystemen bzw. Disziplinen sein. Dass solche „Grenzganger" bislang eher die Ausnahme bilden, liegt nahe und zeigt sich in den Veroffentlichungen. Der Diskurs um diese hochst heterogene Gruppe von Jugendlichen am Ubergang von der Schule in die Erwerbstatigkeit ist demgemaB ein in sich vielfaltiges, z. T. widerspriichliches und insgesamt wenig strukturiertes transdisziplinares (Forschungs-)Feld. Insofem will dieser Sammelband eine erste Briicke zwischen den erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen schlagen, d. h. den gemeinsamen Diskurs 16
zwischen Schulpadagogik, Sonderpadagogik, Sozialpadagogik, Berufs- und Wirtschaftspadagogik, Soziologie und Psychologic anrcgcn und die hicr angcdcutctcn disziplinarcn Doppclungcn und tJbcrschncidungcn in den Fachdiskurs cinbringen. Einigc dcr Bcitragc basiercn auf Rcfcratcn, die im Rahmen von zwei disziplinubergreifenden Oldenburger Symposien Zugange zur Benachteiligtenfordcrung suchtcn. Um andcre Bcitragc habcn wir ausgcwicscnc Kollcglnncn zur Erwcitcrung dcr Pcrspcktivcn gcbctcn. Insgcsamt ist cs unscr Anlicgcn, cine padagogische Diskussion anzuregen, die auch den von Solga (2005) aus soziologischer Perspektive formuliertcn Bcfiind beriicksichtigt: „,Bildungsvcrsagen' ist (...) keine Eigenschaft von Individuen, sondem wird durch institutionelle Rahmenbedingungen in zweifacher Weise defmiert: (a) als relational Bestimmung geringer Bildung in einem (Aus-)Bildungssystem und (b) als institutionelle Mechanismen, durch die Pcrsoncnmerkmale im Bildungsprozess sozialc Relevanz erhalten" (Solga 2005, 293, Hervorhebung i. Orig.). Sicherlich konnen wir mit unserer Zusammenstellung nicht annahrend das erfassen, was es zu diesem Problembereich alles zu sagen gabe. Unser Anliegen ist vielmehr eine Sammlung der Perspektiven aus den einzelnen Disziplinen, um Thesen und Hinweise zu erhalten, welche Strange kiinftig mit welchen erweiterten Blickwinkeln verfolgt werden miiss(t)en, damit das groBe biografische Risiko der gesellschaftlichen Randstandigkeit minimiert werden kann. Die mit diesem Buch bereit gestellte Plattform mochte weitere Diskussionen anregen und Argumentationsansatze fflr einen kiinftigen Diskurs bieten. Als Gliederungszugang haben wir uns fur vier Bereiche entschieden. Zunachst geht es darum, „Disziplmdre Zugange'' zu klaren, um dann „Institutionelle Bedingungen von Exklusionsfallen und Inklusionshestrebungen" TAX umreiBen. AnschlieBend werden „ Vorschldge zur Entwicklung von Schule " unterbreitet, um summierend und anstelle eines Resiimees Facetten fiir „ProfessionalisierungsbedarfundLosungsangebote " aufzuzeigen. Petra Korte leitet die „Disziplindren Zugange" mit der Frage ein, inwiefem die allgemeinpadagogische Perspektive als Interdiskurs die Argumentation der Benachteiligtenforderung erweitem und ihr verbindendes Element sein kann. Ute Karl und Wolfgang Schroer analysieren die sozialpadagogischen Herausforderungen in der Unterstiitzung benachteiligter Jugendlicher angesichts sozialpolitischer Umstrukturierungen. Manuela Westphal summiert den aktuellen Diskursstand zu Sozialisations- und Integrationsprozessen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, bevor Hanna Kiper aus schulpadagogischer Perspektive Handlungsbedarfe zur Unterstiitzung der Identitatsbildung und der Kompetenzentwicklung referiert. Der in enger Anlehnung am Benachteiligtenbegriff diskutierte Begriff der „Ausbildungsreife" wird von Karin Rebmann und 17
Dietmar Tredop auf syntaktischer und semantischer Ebene beleuchtet. Femer wird auf die vorhandenen Leerstellen des Konstruktes eingegangen. Die vielschichtigen „Institutionellen Bedingungen von Exklusionsfalien und Inklusionsbestrebungen " zur Behebung des Problems „Schulversagen" erlautert Karl-Heinz Braun aus der Perspektive der Schiiler/innen, die angesichts der Struktur von Schule deren Versagen auf sich nehmen (mtissen). Mit Blick auf die Organisationsbedingungen analysieren Franz Bettmer und Georg Cleppien das Zusammenspiel der Erziehungsauftrage von Schule und Jugendhilfe. Die Soziologin Lisa Pfahl belegt anhand empirischen Materials, dass berufliche Exklusion durch sonderpadagogische Forderung zu Selbst-Stigmatisierungsprozessen bei Jugendlichen flihren kann. Inwiefem schulbezogene Jugendsozialarbeit und Schulsozialarbeit schulformunabhangig eine individuell und institutionell strukturierende Schamierfiinktion zur erfolgreichen Bewaltigung der Schwelle „Berufsorientierung" erfiillen kann zeigt Anke Spies ebenfalls an empirischem Material. Bis hierhin ist unser Bestreben, Perspektiven der beteiligten Disziplinen zu sammeln und als Diskussionsgrundlagen fur eine kiinftig kooperative Gestaltung der Benachteiligtenforderung anzubieten. Es fallt auf, dass die Benachteiligtenforderung bislang kein explizites Thema der Schulforschung ist, wenngleich Patzold (2004) auf den Einfluss des „vorberuflichen Sozialisationsprozesses" und dessen Verschrankung mit „Defiziten einer Arbeits- und Berufsorientierung der allgemein bildendenden Schulen" (ebd., 581) verweist und die Kooperationsressourcen des Themenfeldes als „weitgehend ungenutzt" (ebd.) bezeichnet. Im aktuellen Diskurs zur „kooperativen Schulentwicklung" (Ackermann/Rahm 2004) werden zwar Themen wie ethnische Diversitat (Diehm 2004) oder Evaluationsbedingungen diskutiert, nicht aber Kooperationsansatze, die der Zukunftssicherung junger Menschen in Form der Sicherung des Zugangs in die Arbeitswelt dienen. Ackermann und Rahm (2004) betonen die strukturellen Defizite der Schulentwicklung, die Kooperationen und „padagogische Phantasie" blockieren, da der Bildungsadministration „eine interne sowie eine tiber die Schule hinausgreifende Kooperation, ein regelmaBiges Feedback tiber die Effekte padagogischen Handelns oder eine sich padagogischer Qualitatssteigerung verdankende LFberprlifung, welche Ziele die Schule erreicht und welche nicht, weitgehend fremd" (ebd., 7) ist. Jenseits der vielfaltigen praktischen Kooperations- und Fordermodellprojekte (vgl. z. B. Spies 2006) steht ein gezieltes Programm der kooperativen Schulentwicklung, welches die Zukunftschancen ihrer Absolventen als Kriterium von schulischer Qualitat ins Zentrum der Entwicklungsbestrebungen stellt und zugleich die fehlenden Unterstiitzungsinstanzen mobilisieren kann, noch aus. In diesem Sinne erweitem wir das „Professionalisierungsdilemma", das Niemeyer (2004a) flir die
berufs- und sozialpadagogische Ausbildung markiert hat, um die vorberufliche, allgemein bildende, schulische Ebene der „Benachteiligtenforderung". Insofem sind die Beitrage als ,, Vorschldge zur Entwicklung von Schule'' zu verstehen, wenn Eric Miihrel die sozialpadagogische Schule im Sinne John Deweys als (historisches) Devianz-Praventionsmodell erlautert, Norbert Wieland die EvaluationsbefUnde eines aktuellen Kooperationsmodells zwischen Schule und Jugendhilfe mit niedrigschwelligem, sozialraumbezogenem Zugang und Joachim Schroeder das Konzept der Jugendschulen als erfolgreiche Losung zur Bewaltigung von Schulaversivitat bei markt-, sozial- und rechtsbenachteiligten jungen Menschen vorstellt. Unabhangig von der Lebenslage der Schiilerinnen und Schiller zeigt Anja Grosch am Modell der schwedischen Futurum-Schule in Habo, dass ein innovatives Schulformat zur individuellen Forderung aller Schiiler/innen auf der Basis institutionalisierter, systematischer interdisziplinarer Kooperation die gesellschaftliche Anschlussmoglichkeit gewahrleisten kann. Den „wegeplanerischen" Beratungsbedarf von Madchen, Jungen und Eltem und die Chancen entsprechender Eltemarbeit erlautert Anke Spies am empirischen Material einer Projektevaluation. Auch Karin Rebmann prasentiert zum Schluss des dritten Bereichs Ergebnisse einer Evaluation: Diese Mafinahmen zur Forderung von sozialen und personlichen Kompetenzen erfolgen zwar jenseits der Institution Schule sind aber dennoch konzeptionell nicht losgelost von Schule angelegt. Dieser Beitrag leitet mit dem inharent vorhandenen Kooperationsgedanken iiber zum letzten, vierten Bereich des Sammelbandes: „Professionalisierungsbedarf und Losungsangehote". Um das Benachteiligungen verfestigende, mangelhafte Passungsverhaltnis zwischen Lehrenden und Lemenden zu befordem, erortert Alexandra Obolenski den Kooperationsbedarf von Padagoginnen und Padagogen als Bestandteil professionellen Handelns. Renate Girmes skizziert den professionellen Emeuerungsbedarf einer kiinftig aufgaben- und kompetenzorientierten Lehrerausbildung. Beide beziehen sich auf den ersten Blick zwar weniger explizit als andere Beitrage auf die Benachteiligtenforderung, zeigen aber mit ihren Ausftihrungen zu aktuellen Professionalisierungsdefiziten, dass das Problem der Benachteiligtenforderung auch und gerade als schulstruktureller Handlungsbedarf hinsichtlich der generellen Gestaltung von Lem- und Bildungsprozessen begriffen werden muss. Nach diesen Anregungen fiir den Professionalisierungsbedarf schlieBt unser Reader mit einem Losungsangebot von Amulf Bojanowski. Sein Entwurf einer „beruflichen Forderpadagogik" kann trotz der eingenommen berufspadagogischen Perspektive ganz explizit als ein diszipliniibergreifendes Angebot interpretiert werden - und eriibrigt insofem ein explizites Restimee. Den kritischen Leserinnen und Lesem wird auffallen, dass die Genderperspektive zwar in einzelnen Beitragen berucksichtigt ist, nicht aber unter dem 19
Fokus „Benachteiligung(en) qua Geschlecht" als Problem verfolgt wird. Eine Frage, die im ohnehin schmalen Diskurs um die Situation benachteiligter junger Frauen und Manner am tJbergang von der Schule in den Beruf wenig diskutiert wird und an dieser Stelle wenigstens als kurzer Exkurs Eingang finden soil. Aktuelle Veroffentlichungen thematisieren zwar den Benachteiligungsfaktor Geschlecht, weisen aber durchgangig auf Forschungsdesiderata, praktischen Handlungsbedarf und bislang fehlende Konzepte hin. So skizziert Stein (2004) den zu erwartenden sonderpadagogischen Ertrag einer fehlenden geschlechterreflektierenden Forschung zu Lebensverlaufen von Madchen, welche die vorhandenen Befunde der Arbeiten zu Chancen und Risiken von mannlichen Jugendlichen sinnvoll erganzen wiirden (vgl. Stein 2004). Solga (2005) weist nach, dass „Geschlechterzugehorigkeit heute erst im Zusammenhang mit einem geringen Bildungsniveau zu gruppenspezifisch ausgestalteten Diskreditierungsund Stigmatisierungsprozessen fiihrt" (Solga 2005, 293, Hervorhebung i. Org.). Froschl und Gruber (2005) belegen anschaulich die Geschlechtsabhangigkeit von sozialem Ausschluss bzw. Zugangen zu gesellschaftlicher Teilhabe und Geschlechterdemokratie als Auftrag sozialer Arbeit. Auch die Studie von Ostendorf (2006) zur mangelhaften Qualifikation der Berufsberatung fur Madchen, die im Rahmen der Arbeitsverwaltung angeboten wird, verweist auf dringlichen Handlungs- und Forschungsbedarf in diesem Feld. Dem gegentiber steht z. B. die Untersuchung zur „Kompetenzentwicklung junger Manner mit prekaren Ausbildungs- und Beschaftigungsperspektiven" von Kreher (2005), die als eine der wenigen geschlechtsbezogenen Untersuchungen die strukturellen Benachteiligungen in Erwerbsbiografien von jungen Mannem aus sozialpadagogischer Perspektive analysiert. Abgesehen von wenigen Publikationen zu madchenbezogenen Projekten und der kritischen Situationsanalyse von Nissen et al. (2003) hat der Benachteiligtendiskurs nach wie vor Liicken: So finden sich z. B. in der Darstellung von Praxisbeispielen der berufsorientierenden Jugendbildung u. a. ein Konzept von Madchenarbeit in einer geschlechtsheterogenen Gruppe (vgl. von Wensierski etal. 2005, 165). Hierin enthalten sind zwar eine Vielzahl von madchenfordemden Absichtserklarungen, eine kritische Diskussion der Gruppenkonstellationen vor dem Hintergrund sozialisatorischer Bedingungen der Zielgruppe und ihres Einflusses auf die Projektreichweite findet weder unter Gesichtspunkten des „Doing-Gender" mit „entdramatisierender" (vgl. Faulstich-Wieland et al. 2004) Argumentation noch mit Evaluationsbelegen statt. Zwei Stichworte, die aber keineswegs von den zu verandemden, vorhandenen Ungleichheiten im Bildungssystem ablenken soUen, die „dem Qualitatskriterium der bestmoglichen Forderung aller widersprechen. Diese Ungleichheiten stellen aber nicht mehr
20
primar Benachteiligungen von Madchen dar, sondem betreffen in unterschiedlicher Weise Madchen und Jungen" (Faulstich-Wieland 2006, 263). Insgesamt riickt Geschlechtszugehorigkeit als strukturell benachteiligender Faktor nur sehr langsam und bruchsttickhaft in die Designs der Studien zur Benachteiligtenforderung. So weist die Untersuchung des DJI zu „Lebenslagen, Lebensentwiirfen und Bewaltigungsstrategien von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Stadtteilen mit besonderem Emeuerungsbedarf (Kraheck 2004) Geschlechtszugehorigkeiten zwar im Erhebungsinstrumentarium aus, thematisiert diese allerdings nicht in der Befundfassung. Auch fiir den schulischen Zusammenhang geschlechtsbezogener Benachteiligungen ist die Situation uneindeutig: Nach Biermann und Koch-Priewe (2004, 524) gewinnen Debatte und Umsetzungsansatze des Gender-MainstreamingKonzepts zwar auch allmahlich auf Schulentwicklungsprozesse Einfluss; Rose und Dithmar sprechen dagegen aber fiir Schule von einem „schuHschen Tabu um die Geschlechterdifferenzen" (Rose/Dithmar 2004, 400), da die Institution in ihrer paradigmatischen Annahme der prinzipiell gleichen ZugangUchkeit ihrer Bildungsangebote konzeptionell und institutionell mit zu differenzierenden Bildungsanboten iiberfordert sei. Die vertiefende Auswertung der Datensatze von PISA 2000 scheint dies zu bestatigen: So fmdet sich dort ein signifikant steiler Anstieg der Sitzenbleiberquoten von Madchen in Klasse 7 und 8 und die Erklarung mit pubertaren Verhaltensproblemen sowie eine signifikante Haufigkeit von klassenwiederholenden Madchen aus MigrantenfamiUen (vgl. Krohne/Meier 2004) und Lembelastungen von Madchen durch ungiinstig zusammengesetzte Schtilerpopulationen (vgl. Schiimer 2004). Auch die Befunde von Nyssen (2004) deuten auf eine Wahmehmungsliicke, die auf Seiten der Schule durch die formale Gleichheit der Geschlechterverteilung in gelungenen Bildungsverlaufen gestiitzt wird: Schicht- und ethnienbedingte Benachteiligungen von Madchen bleiben im schulischen Gleichheitspostulat unberiicksichtigt, obwohl sich „die Schichtzugehorigkeit als die entscheidende Variable flir den formalen Schulerfolg" (Nyssen 2004: 394) erweist und Madchen in benachteiligenden Lebenslagen in der Option der fnihen Mutterschaft (vgl. Spies 2005a) einem weiteren biografischen Risiko ausgesetzt sind. Zur Perspektiverweiterung und Problemdifferenzierung im Sinne einer „Diversity"-orientierten Analyse und Konzepterweiterung bote sich der von Leiprecht und Lutz (2005) entwickelte Ansatz der zu verschrankenden „bipolaren Differenzlinien" an.
21
Literaturverzeichnis Ackermann, H./Rahm, S. (2004): Kooperative Schulentwicklung. Die Balance heterogener Interessenlagen und Zugange. In: Ackermann, H./Rahm, S. (Hrsg.): Kooperative Schulentwicklung. Wiesbaden. S. 7-15 Beher, K./Schulz, U. (2005): Die Ganztagsschule als Reformprojekt fiir eine geschlechterbewusste Schule? In: betrifft madchen, H. 2, S. 52-57 BIBB (2006): Schaubilder zur Berufsbildung. Strukturen und Entwicklungen. Ausgabe 2006. Bonn Biermann, C/Koch-Priewe, B. (2004): Gender in der Lehrerlnnenbildung und Schulentwicklung. In: Glaser, E./Klika, D./Prengel, A. (Hrsg.): Handbuch Gender und Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn/Obb. S. 523-539 BMBF (Hrsg.)(2002): Berufliche Qualifizierung Jugendlicher mit besonderem Forderbedarf. Benachteiligtenfbrderung. Berlin BMBF (Hrsg.)(2001): Kompetenzen fordem - berufliche Qualifizierung fur Zielgruppen mit besonderem Forderbedarf. Berlin Bohlinger, S. (2004): Der Benachteiligtenbegriff in der beruflichen Bildung. In: Zeitschrift fur Berufs- und Wirtschaftspadagogik, 2, S. 230-241 Bojanowski, A./Eckardt, P./Ratschinski, G. (2004): Forschung in der Benachteiligtenforderung. Sondierungen in einer uniibersichtlichen Landschaft. In: bwp@, 6, S. 1-27. www.bwpat.de/ ausgabe6^oj ano wski_eckardt_ratschinski_bwpat6 .pdf Bojanowski, A./Eckert, M./Stach, M. (2004): Neue Wege in der Benachteiligtenforderung? Zur Einleitung in die Fachtagung „berufliche Bildung Benachteiligter. Innovative Modelle und Netzwerke". In Bojanowski, A./Eckert, M./ Stach, M. (Hrsg.): Berufliche Bildung Benachteiligter vor neuen Herausforderungen: Umbau der Forderlandschaft - innovative Netzwerke - neue Aktivierungsformen. Bielefeld. S. 5-15 Buchner, P. (2001): Kindliche Risikobiografien. Uber die Kulturalisierung von sozialer Ungleichheit im Kindesalter. In: Rohrmann, E. (Hrsg.): Mehr Ungleichheit fur alle. Fakten, Analysen und Berichte zur sozialen Lage. Heidelberg. S. 97-114 Biichner, P./Kruger, H.-H. (1996): Schule als Lebensort von Kindem und Jugendlichen. Zur Wechselwirkung von Schule und auBerschulischer Lebenswelt. In: Buchner, P./Fuhs, B./Kriiger, H.-H. (Hrsg.): Vom Teddybar zum ersten Kuss. Wege aus der Kindheit in Ost- und Westdeutschland. Opladen. S. 201-224 Diehm, I. (2004): Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft: Ein „blinder Fleck" der aktuellen Reformdebatte. In: Ackermann, H./Rahm, S. (Hrsg.): Kooperative Schulentwicklung. Wiesbaden. S. 127-150 Eckert, M. (2004): Wohin entwickelt sich die Benachteiligtenforderung? Reflexionen im Horizont neuer Arbeitsmarkt-. Bildungs- und Sozialpolitik. www.bwpat.de/ausgabe6/ eckert_bwpat6.pdf Ehrenthal, B./Eberhard, V./Ub-ich, J. G. (2005): Ausbildungsreife - auch unter den Fachleuten ein heifies Eisen. Ergebnisse des BIBB-Expertenmonitors. www.expertenmonitor.de/downloads/ Ergebnisse_20051027.pdf. Enggruber, R./Euler, D. (2003): Zielgruppen benachteiligter Jugendlicher. In: Enggruber, R./ Euler, D./Gidion, G./Wilke, J. (Hrsg.): Pfade fur Jugendliche in Ausbildung und Betrieb. Gutachten zur Darstellung der Hintergriinde der unzureichenden Ausbildimgs- und Beschafligungschancen von benachteiligten Jugendlichen in Baden-Wiirttemberg sowie deren Verbesserungsmoglichkeiten. Stuttgart. S. 15-60 Enggruber, R. (2002): Gender Mainstreaming in der Jugendsozialarbeit. In: Gericke, T./Lex, T./Schaub, G./Schreiber-Kittl, M./ Schropfer, Ha. (Hrsg.): Jugendliche fordem und fordem. Strategien und Methoden einer aktivierenden Jugendsozialarbeit. Miinchen. S. 266-285
22
Engruber, R./Euler, D./Gidion, G./Wilke, J. (Hrsg.)(2003): Pfade fur Jugendliche in Ausbildung und Betrieb. Gutachten zur Darstellung der Hintergriinde der unzureichenden Ausbildungs- und Beschaftigungschancen von benachteiligten Jugendlichen in Baden-Wurttemberg sowie deren Verbesserungsmoglichkeiten. Stuttgart Faulstich-Wieland, H. (2006): Reflexive Koedukation als zeitgemaBe Bildung. In: Otto, H.U./Oelkers J. (Hrsg.): ZeitgemaBe Bildung. Herausforderung fur Erziehungswissenschafl und Bildungspolitik. Miinchen. S. 261-274 Faulstich-Wieland, H./Weber, M./Willems, K. (2004) Doing Gender im heutigen Schulalltag. Empirische Studien zur sozialen Konstruktion von Geschlecht in schulischen Interaktionen. Weinheim und Miinchen Froschl, E./ Gruber, C. (2005): Sozialer Ausschluss hat ein Geschlecht. In: Anhom, R./Bettinger, F. (Hrsg.): Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit. Positionsbestimmungen einer kritischen Theorie und Praxis Sozialer Arbeit. Wiesbaden 2005. S. 219-235 GeBner, T. (2004): Was benachteiligt wen und warum? Versuch einer Prazisierung des Konstrukts „Benachteiligung". In: Zeitschrift fur Sozialpadagogik. 2. Jhg. Heft 1/2004, S. 32-44 Kraheck, N. (2004): Karrieren jenseits normaler Erwerbsarbeit. Lebenslagen, Lebensentwiirfen und Bewaltigungsstrategien von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Stadtteilen mit besonderem Emeuerungsbedarf. Halle Kreher, T. (2005): Kompetenzentwicklung junger Manner mit prekaren Ausbildungs- und Beschaftigungsperspektiven. In: Arnold, H./ Bohnisch, L./ Schroer, W. (Hrsg.): Sozialpadagogische Beschaftigungsforderung. Lebensbewaltigung und Kompetenzentwicklung im Jugendund jungen Erwachsenenalter. Weinheim. S. 133-146 Krohne, J. A./Meier, U. (2004): Sitzenbleiben, Geschlecht und Migration. In: Schiimer, G./Tillmann, K.-J./WeiB, M. (Hrsg.): Die Institution Schule und die Lebenswelt der Schuler. Vertiefende Analysen der PISA-2000-Daten zum Kontext von Schiilerleistungen. Wiesbaden, S 117-147 Laur-Emst, U. (2002): Strukturwandel und Reformansatze in der Berufsbildung: Welche Wirkungen haben sie auf Jugendliche mit schlechten Startchancen? In: BIBB (Hrsg.): Benachteiligte durch berufliche Qualifizierung fordem! Bonn. S. 64-77 Leiprecht, R./Lutz, H. (2005): Intersektionalitat im Klassenzimmer: Ethnizitat, Klasse, Geschlecht. In: Leiprecht, R./Kerber A. (Hrsg.): Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Schwalbach/Ts.. S. 218-234 Niemeyer, B. (2004a): Benachteiligtenforderung zwischen Berufung und Profession. Professionstheoretische Uberlegungen zu einem diffiisen Bildungsbereich. In: bwp@, Nr. 6.; www.bwpat.de Nissen, U./Keddi, B./Pfeil, P.(2003): Berufsfmdungsprozesse von Madchen und jungen Frauen. Erklarungsansatze und empirische Befiinde. Opladen Nyssen, E. (2004): Gender in den Sekundarstufen. In: Glaser, E./Klika, D./Prengel, A. (Hrsg.): Handbuch Gender und Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn/Obb., S. 389-409 Ostendorf, H. (2006): Schlecht beraten auf dem Weg in die Arbeitsweh. Reform der Berufsberatung: Politische Steuerung nach „eigenem Recht" oder demokratisch legitimiert? www.fi--aktuell.de /ressorts/nachrichten_und_pollitik /dokumentation/?cnt=853 897 Patzold, G. (2004): Ubergang Schule - Berufsausbildung. In: Helsper, W./Bohme. J (Hrsg.): Handbuch der Schulforschung. Wiesbaden. S. 568-584 Paul-Kohlhoff, A./Zybell, U. (2003): Benachteiligtenforderung als Reformpotential fur das duale System. Berufsbildung, H. 82, S. 3-7 Prager, J.U./Wieland, C. (2005): Jugend und Beruf. Reprasentativumfrage zur Selbstwahmehmung der Jugend in Deutschland. Giitersloh Rose, L./Dithmar, U. (2004): Geschlechterorientiemng in der Kooperation zwischen Jugendarbeit und Schule. In: HartnuB, B./Maykus, S. (Hrsg.): Handbuch Kooperation von Jugendhilfe und Schule. Ein Leitfaden fur Praxisreflexionen, theoretische Verortungen und Forschungsfragen. Berlin und Fulda. S. 391-409
23
Riitzel, J. (1995): Randgmppen in der beruflichen Bildung. In Arnold, R./Lipsmeier, A. (Hrsg.): Handbuch der Berufsbildung. Opladen. S. 109-120 Rutzel, J. (1998): Benachteiligte. In Pahl, J.-P./Uhe, E. (Hrsg.): Betrifft: berufsbildung. Begriffe von A - Z. fur Praxis und Theorie in Betrieb und Schule. Seelze. S. 27 Rutzel, J. (1999): Berufliche Bildung von Randgmppen. In Kaiser, F.-J./Patzold, J. (Hrsg.): Worterbuch Bemfs- und Wirtschaftspadagogik. Bad Heilbrunn. S. 53-54 Schierholz, H. (2004): Strategien zur Integrationsforderung beim Ubergang zu Ausbildung und Beschaftigung. In: Bonifer-Dorr, G.A^ock, R. (Hrsg.): Berufliche Integration junger Menschen mit besonderem Forderbedarf. Entwicklung - Stand - Perspektiven. Darmstadt. S. 19-48 Schiimer, G. (2004): Zur doppelten Benachteiligung von Schiilem aus unterprivilegierten Gesellschaftsschichten im deutschen Schulwesen. In: Schumer, G./Tillmann, K.-J./Wei6, M. (Hrsg.): Die Institution Schule und die Lebenswelt der Schiiler. Vertiefende Analysen der PISA-2000Daten zum Kontext von Schulerleistungen. Wiesbaden. S. 73-114 Sengling, D. (1996): Wozu Sozialpadagogik? In: Gruschka, A. (Hrsg.): Wozu Padagogik? Darmstadt Solga, H. (2005): Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft. Die Erwerbschancen gering qualifizierter Personen aus soziologischer und okonomischer Perspektive. Opladen Spies, A. (2006): Sozialpadagogische Beratung in der Schule - Ein Instrument zur Sicherung der Berufseinmtindung bildungsbenachteiligter Madchen und Jungen. In: berufsbildung, Zeitschrift fur Praxis und Theorie in Betrieb und Schule. 60. Jg., 3, S. 67-68 Spies, A. (2005a): Kinder statt Beruf? - Zukunftsoptionen benachteiligter Madchen am Ubergang von der Schule in den Beruf. In: Unsere Jugend. 57 Jg., 12, S. 522-532 Spies, A. (2005b): Madchen - Ein blinder Fleck mit weitreichenden Folgen? In: Spies, A./Stecklina, G. (Hrsg.): Die Ganztagsschule - Schule und Jugendhilfe vor der Herausforderung gemeinsamen Handelns. Bd. II: Keine Chance ohne Kooperation - Handlungsformen und Institutionelle Bedingungen. Bad Heilbrunn/Obb.. S. 58-71 Stein, C. (2004): Fiinf Thesen zu einer feministisch orientierten sonderpadagogischen Lebensverlaufsforschung und zu deren schulpadagogischem Ertrag. In: Baur, W./Mack, W./Schroeder, J. (Hrsg.): Bildung von unten denken. Aufwachsen in erschwerten Lebenssituationen - Provokationen ftir die Padagogik. Bad Heilbrunn/Obb.. S. 89-96 Tredop, D. (in Druck). Kompetenzen von Jugendlichen an der ersten Schwelle zur Beschaftigung aus Sicht von ausbildenden Untemehmen. In: Graue, B./Mester, B./Sielmann, G.AVesthaus, M. (Hrsg.): Intemationalisierung - Europaisierung - Regionalisierung. Oldenburg
24
Der Benachteiligtendiskurs aus allgemeinpadagogischer Perspektive Petra Korte
Abstract Ausgehend von der Hypothese, dass das Thema Benachteiligung einen eigenen Diskurs stiflet, an dem die unterschiedlichsten erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Fachdisziplinen beteiligt sind, lasst sich behaupten, dass das Thema der Benachteiligtenfbrderung ein Teil des Benachteiligtendiskurses ist. Zunachst geht es darum aus allgemeinpadagogischer Perspektive das theoriehistorische Verhaltnis von Bildung und Benachteiligung zu bestimmen, da Bildungstheorie immer bereits darauf angelegt war, Benachteiligung zu reflektieren und gar nicht erst entstehen zu lassen. Bildungstheoretiker um 1800 versuchten daher auch, ein allgemein bildendes Schulsystem so zu denken, dass es alle Menschen auf ein gutes Leben in der offenen Modeme vorbereiten konnen wird. Benachteiligung ist Thema vieler Teildisziplinen der Erziehungswissenschaften - von der Allgemeinen Padagogik bis zu Sozialpadagogik und Berufspadagogik. Benachteiligung und Benachteiligtenforderung sind gleichermaBen Anlass ftir Forschung, Interpretation und Bewertung. Dabei kann die Allgemeine Padagogik zwar keine iibergeordnete Funktion einnehmen, aber wie ein Bindeglied verschiedene Disziplinen, vor allem in ihrer Kommunikation beobachten und die Empfehlung zu einer ,]V[etaforschung' hinsichtlich des Benachteiligungsdiskurses ermutigen. Benachteiligung lasst sich in einem so stark selektierenden Schulsystem, wie die BRD es hat, nicht von vomherein vermeiden. Sie lasst sich aber durch eine starkere Forderung von Selbstkompetenzen in der Phase zwischen drei und zehn Jahren erheblich mehr reduzieren. Statt ausschlieBlich Benachteiligtenforderung zu leisten, in dem man die Zielgruppe Jugendliche und junge Erwachsene fordert, erscheint es aus allgemeinpadagogischer Perspektive sinnvoll, Benachteiligungsfaktoren wie z. B. mangelnde Sprachkenntnisse wahrend der Schullaufbahn durch eine friiher einsetzende allgemeine, freie und kostenlose Bildung fiir alle, gar nicht erst entstehen zu lassen.
1
Einleitung
Benachteiligung ist ein Thema in fast alien Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft, vorausgesetzt „Erziehungswissenschaft" wird im Singular formuliert. Bei der Verwendung der Pluralformulierung „Erziehungswissenschaften", wie es je nach Universitatsstandort mit entsprechender Akzentuierung auf die Selbstandigkeit der jeweiligen Padagogiken auch moglich ist, ist Benachteiligung ein ebenso groBes Thema fur fast alle Einzelpadagogiken, die an Hochschulen gelehrt werden: So ist Benachteiligung ein genuin padagogisches Handlungs- und Forschungsfeld der Sozialpadagogik und von Berufs- und Wirtschaftspadagogik, Schulpadagogik, Heil- und Sonderpadagogik. Benachteiligung ist Forschungsfeld erziehungswissenschaftlicher Genderforschung und den sich daran anschlieBenden Koedukationsdebatten sowie Bildungskonzepten zum Gendermainstreaming, aber auch von interkultureller Padagogik. Welche Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft die jeweilige Benachteiligung erforschen, hangt von deren Erscheinungsformen und Ursachen ab, die sehr heterogen sein konnen: Jugendliche erhalten keinen Ausbildungsplatz, z. B. wegen eines schlechten Schulabschlusses und/oder mangelnder Sprachkenntnisse, vielleicht noch kombiniert mit einem Wohnsitz in einer sog. strukturschwachen Region. Kinder und Jugendliche erfahren Benachteiligung in der Schule, die wie PISA gezeigt hat in der Bundesrepublik ein krasses soziales Gesicht hat, nicht zuletzt auch, weil es in der BRD keinen Kindergarten bzw. eine Vorschule fiir alle gibt, der die groBen sprachlichen und sozialen Integrationsleistungen wie z. B. in den Niederlanden bereits vor dem 7. Lebensjahr leistet. Dariiber hinaus gibt es Genderbenachteiligung: bei den Frauen immer noch hinsichtlich des Erwerbs von gesellschaftlicher Macht trotz erheblich besserer Schul- und Studienabschltisse, bei Jungen und Mannem hinsichtlich problematischer Identitatsentwicklung und vielen Stigmatisierungsproblemen. Die Ursachen fiir Benachteiligung konnen chronische Krankheit, Behinderung, Lemprobleme oder schwierige bis traumatischen Kindheiten in Sucht- und/oder Gewaltfamilien darstellen. Benachteiligung ist daruber hinaus auch Gegenstand von Forderung und von Therapie, so dass auch die padagogische Psychologic als Teildisziplin am Benachteiligtendiskurs beteiligt ist (besonders in der Lemforschung). Es erschien aus der Perspektive der Allgemeinen Padagogik zunachst leicht, danach zu fragen, was Benachteiligung ist, um dann zu beschreiben, wie die einzelnen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen daruber denken und schlieBlich, ob und wenn ja wie sie miteinander agieren. Es schien deswegen so leicht, weil die „Allgemeine Padagogik" anders als z. B. die Sozial-, Berufsoder Schulpadagogik eine vollkommen handlungsentlastete erziehungswissenschaftliche Disziplin ist, und somit von einer Art historischer, theoretischer und 26
systematischer Metaperspektive, iiber den Benachteiligungsdiskurs innerhalb und zwischen den einzelnen Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft nachdenken kann. SchlieBlich kann sie als Allgemeine Padagogik einfach Probleme benennen und beschreiben, Diskursverlaufe skizzieren, Widerspruche thematisieren und Konsequenzen theoretischer Art formulieren ohne dass sie praktisch losbar sein mtissen - so die Annahme. Die Tatsache, dass die Allgemeine Padagogik eine theoretische, theoriehistorische und systematische Fachdisziplin ist, hat ihr in Vergangenheit und Gegenwart immer wieder den Vorwurf der Elfenbeinperspektive eingetragen, bei Themen von gesellschaftlicher Brisanz und Benachteiligtenforderung ist ein solches Thema - hat sie dadurch aber auch die Freiheit des Denkens und Suchens. Dass Benachteiligung und Benachteiligtenforderung ein groBes gesellschaftliches und padagogisches Themenfeld darstellen, lag hinsichtlich der aktuellen Uberlegungen zur Bekampfting von Jugendarbeitslosigkeit und Arbeitslosigkeit auf der Hand. Doch ist das nur erst die Oberflachenstruktur des Benachteiligtendiskurses. Das vorrangige Ziel dieses Aufsatzes ist es, aus allgemeinpadagogischer Perspektive historisch und aktuell einige Dimensionen dieses Diskurses zu benennen.
2
Benachteiligung in theoriehistorischer Perspektive der Allgemeinen Padagogik
Die Allgemeine Padagogik hat seit ihrem Entstehungskontext eine theoretische Moglichkeit das Problem von Benachteiligung zu reflektieren, indem sie zunachst darauf angelegt war, bestehende Benachteiligung aufzuheben (Johann Heinrich Pestalozzi) bzw. Benachteiligung erst gar nicht entstehen zu lassen (Johann Friedrich Herbart und Wilhelm von Humboldt). Allgemeine Padagogik ist im deutschsprachigen Raum von Beginn an eine theoretische und systematische Disziplin, die es mit erziehungs- und hWdung^theoretischen Themenstellungen zu tun hat. Bildung meinte - seit 1800 - im deutschsprachigen Raum zunachst die Befahigung des Individuums sich selbst zu entwickeln, in dem es zunehmend „Anteir an der Welt hat, also an der Welt „be-teiligt" ist, indem es die Welt verstehen lemt, sie gestalten lemt und sie als einen Raum erlebt, in dem es sich ausdriicken und verwirklichen kann. Wilhelm von Humboldt defmiert Bildung daher als die „gr6Btmoglichste, regeste und freieste Wechselwirkung des Menschen mit der Welt" (Wilhelm von Humboldt I, 235). Dabei gingen die Begrtinder des klassischen Bildungsbegriffs davon aus, dass jeder Mensch ein „bildsames" Wesen ist,, also nicht determiniert durch angeborene Anlagen, sondem 27
ein Wesen, dass das, was es mitbringt in vielfaltiger Interaktion mit der Welt durch Beziehungen, Kommunikation, Gestaltung, Lemen, Spiel und Arbeit erst entfaltetet, ein Wesen, das nicht schon festgelegt ist, sondem offen und entwicklungsfahig. Fiir Humboldt waren die Anerkennung von Bildsamkeit und Wurde des Menschen identisch. Im ersten Moment konnte es so erscheinen, als ob Humboldt u. a. mit ihrem Konzept einer unendlichen Bildung des Menschen bis zu seinem Tode schon das aktuell viel diskutierte Konzept lebenslangen Lemens vorweggenommen hatten. Dem ist jedoch nicht so, weil der Schwerpunkt der aktuellen Diskussion sehr stark auf der „Verwendbarkeit" des Gelemten fur berufliche und soziale Prozesse liegt. Fiir Humboldt war dies nicht die primare Zielrichtung seines Nachdenkens. Die sich je individuell entwickelnde Verkniipfiing des Menschen mit der Welt macht dann seine Bildung aus und lasst den einzelnen zu dem (originellen) Individuum werden, das es ist. Bildung ist um 1800 ~ so wie wir das heute fast nur noch in der Dominisierung des Lembegriffs denken konnen - kognitiv, reflektierend, praktisch, gestaltend, asthetisch und kommunikativ. Bildungsprozesse haben fur Humboldt - anders als in heutigen schulpadagogischen tjberlegungen sowie in den Konzepten und Aufgaben von Aus- und Weiterbildung - ihr Ziel in sich selbst, nicht aber in einem auBeren Ziel, z. B. einer Note, einer Zensur, einem Abschluss oder einem Zertifikat. Anders formuliert: Aus der Perspektive von 1800 lasst sich formulieren, je mehr Teilhabe dem Menschen an der Welt moglich ist, desto mehr Bildung hat er, umso gebildeter ist er und umkehrt je mehr Bildung ein Mensch hat, je mehr er sich bilden kann, umso mehr Teilhabe hat er. Der Begriff der Bildung steht in der Fachtradition fiir die Aktivitaten des Individuums. Bei Autoren wie Humboldt, Herbart, Pestalozzi, Friedrich Schlegel u. a. meinte er immer in erster Linie Selbstbildung des Einzelnen. Bildung bezeichnete um 1800 das, was heute manche Sozialisationstheoretiker/Innen als Selbstsozialisation bezeichnen. Bildung war fiir Humboldt und Herbart, fur Schlegel und Friedrich Schleiermacher das hochste Ziel des menschlichen Lebens (im Gegensatz zum Beispiel zu Vorstellungen von Pflichterfiillung, gottgefalligem Leben, Leistungsethik, Gehorsam dem Staat gegentiber ...). Bildung ist aus ihrer Perspektive die groBte und einzige Aufgabe, der der Mensch bzw. das Individuum unter den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Gegenwart nicht ausweichen kann. Bildung meinte dabei nicht nur die intellektuelle Auseinandersetzung des Einzelnen mit der Welt (also Wissen), sondem meinte die Zielvorstellung eines Individuums, das vielseitig, klug und selbstkompetent ist, ein Individuum, das Offenheit nicht nur aushalten und bewaltigen kann, sondem dass Offenheit auch als Chance erleben und begruBen kann, sich und die Welt zu verandem. Die Ausgangslage der Modeme ist insofem fiir alle Menschen eine Herausfordemng, da jeder auf sich selbst zuriickgeworfen ist. Insofem gibt es von der Ausgangs28
position - rein theoretisch betrachtet - eine Gleichheit zwischen den Menschen. Es gibt keine festgelegte Bestimmung des Einzelnen, die sich ausschlieBlich von Herkunft und Geburt regulieren lasst. Mit der Entlastung von geburtsstandischer Festlegung bzw. religioser/konfessioneller Bestimmung und anderen starken absolutistischen Einengungen, entsteht fiir den Einzelnen um 1800 - zumindest rein theoretisch - eine Offenheit, eine Moglichkeit zu groBer quantitativer und qualitativer Teilhabe an der Welt. Theoretisch deshalb, weil zunachst nur eine kleine intellektuelle Gruppe emphatisch die neue groBe (Denk- und Konzept) Freiheit begeistert nutzte und es genoss, nun endlich das eigene Leben selbst entwerfen zu konnen. Diese - im Verhaltnis betrachtet - kleine Gruppe lebte so, als ob es bereits konstruktivistische Stromungen gegeben hatten, die betonen, dass Menschen ihre Wirklichkeit in jeglicher Hinsicht selbst erzeugen und gestalten. Sie forderten und wahlten Lebensformen, die heute fiir viel mehr Menschen Alltag geworden ist: freie Partnerwahl, die Moglichkeit von Scheidung, von Geburtenkontrolle und Abtreibung, die Entscheidung alleine zu wohnen, mit anderen zu wohnen, Entscheidungen tiber den eigenen Kleidungsstil jenseits von festen Kleiderordnungen usw.. Fiir die plotzlich freigesetzten Massen jedoch ist die neue Freiheit und Offenheit auch eine beangstigende Herausforderung, brauchen sie doch fiir die Teilhabe an einer freien Welt, einer freien Gesellschaft, nun auf einmal viele individuelle Kompetenzen bzw. Qualifikationen fur eine menschwiirdige Subsistenzsicherung, die vorher nicht notwendig waren. Modeme Menschen brauchen - und diese Tendenz halt an - stets mehr Moglichkeiten zur Selbststeuerung. Doch sie konnen letztere nur haben, wenn sie, das gilt auch fiir die Zeit um 1800 - mit Bourdieu formuliert, iiber dementsprechendes kulturelles und soziales Kapital verfiigen. Nicht zufallig wurden die freigesetzten Leibeigenen zum Industrieproletariat. Sie hatten Freiheit, aber nichts, um mit dieser Freiheit auch ihr Leben zu unterhalten. Wer kein Bildungsbzw. kulturelles Kapital zu bieten hat, ist in der beginnenden Modeme zum Industrieproletariat verdammt oder zu unattraktiven bis scheuBlichen Dienstleistungen. Aus den Benachteiligten des Absolutismus, die dort ihre Welt nicht gestalten konnten, wurden nun massenhaft neue Benachteiligte der btirgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts mit ihrem entstehenden Industriekapitalismus. Diejenigen, die in Minen arbeiten mussten, hatten sogar - bildlich gesprochen nicht am Licht der Welt teil. Die PreuBische Bildungsreform und deren Protagonisten machten den Versuch diesem Geschehen Rechnung zu tragen, leider allerdings erst nach der Freisetzung. Neuzeitliche Bildungstheorie formuliert in ihrem Entstehungskontext um 1800 an die politische und gesellschaftliche Erfahrung der Franzosischen Revo29
lution ankniipfend, dass politische Freiheit und Gleichheit auch gebildete Menschen brauchen. Sie formuliert das an das Ideal freier Subjekte gekniipfte Prinzip, das jeder Mensch ein starkes SELBST braucht sowie den Anspruch, dass der Einzelne gestarkt werden muss, so sehr gestarkt, dass er in der Lage ist, sich selbst zu entwickeln, sich selbst TAX bilden, selbst zu lemen, selbst TAX iiben. Nur ein Mensch mit groBen „Selbstkraften", um einen Begriff Pestalozzis zu verwenden oder in aktueller Terminologie formuliert nur ein Mensch mit groBer „Selbstwirksamkeitserwartung" kann auf diese Weise gestarkt und ausgebildet auf die unbestimmte offene modeme Situation so reagieren, dass es ihm moglich wird, einen Platz - auch beruflich - in der Gesellschaft zu finden, der ihm jeweilig liegt. Johann Friedrich Herbart spricht daher davon, es sei oberste Aufgabe der Allgemeinen Padagogik die Bildsamkeit des Einzelnen durch eine Erziehung und einen Unterricht anzuerkennen, der permanente Aufforderung zur Selbsttatigkeit des Heranwachsenden ist. Herbart diskutiert das Problem der offenen Zukunft vor allem unter der Freiheitsthematik und fiir alle: also auch fur die reichen biirgerlichen Schichten. Vom Anspruch her freilich meint er, genau wie Rousseau, dass es um jeden Einzelnen geht, um jedes einzelne Kind: Erziehungsprozesse diirfen nicht in der Zukunft etwas herstellen wollen oder faktisch herstellen (selbst wenn es nicht beabsichtigt war), was vom je einzelnen Kind nicht hatte gewollt werden konnen. Rousseau macht - bis heute unhintergehbar deutlich, dass Kindheit und Jugend immer auch Selbstzweck sind, dass jeder Mensch und damit auch jedes Kind bzw. jeder Jugendliche das Recht auf den jetzigen Augenblick hat und somit das Argument, dass man fur eine Zukunft leme, keine Berechtigung in sich habe, weil es passieren kann, dass Kinder ihre Zukunft gar nicht erleben. Rousseau formuliert diese Idee vor dem Hintergrund der hohen Kindersterblichkeit seiner Zeit. Herbart erganzt den Gedanken systematisch mit der Feststellung, dass es kein Recht von Erwachsenen bzw. einer erwachsenen Generation gibt, etwas stellvertretend fur eine Zukunft von Kindem zu entscheiden, was diese - miissten sie selbst spater als Erwachsene frei den Entscheidungen zustimmen - nicht wollen konnten. Kinder haben ein Recht auf die Herausbildung einer „Vielseitigkeit des Interesses", die sie befahigt, in der sich schnell entwickelnden und sozial und beruflich ausdifferenzierenden biirgerlichen Gesellschaft ein sinnerflilltes, gebildetes und gliickliches Leben zu fuhren. AUein die Anerkennung der Bildsamkeit des Menschen, also auch jeden Kindes und Jugendlichen sowie die Herausbildung einer Vielseitigkeit des Interesses, mache es ihnen moglich, sich jeder Lebenslage der offenen Zukunft anzupassen. Kein Kind konnte jedoch Erziehungsbedingungen zustimmen, die ihm aus der Perspektive des jungen Erwachsenen nur Nachteile gebracht haben und es zum benachteiligten Menschen werden lassen (und schon gar nicht einem Schulsystem, bei dem schon im zweiten Schuljahr absehbar ist, ob jemand im Leben
30
Bildungschancen haben wird oder nicht). Die Konsequenz liegt auf der Hand: aus der Perspektive von Autoren wie Pestalozzi, Herbart, Humboldt, Schleiermacher u. a. muss ein Bildungssystem bzw. ein gesellschaftlicher Umgang mit Bildung entstehen, der far alle menschenwurdige Erziehung und Bildung enthalt. Anders als Pestalozzi, der in seine Uberlegungen auch explizit Thematiken wie Gewalt und Vergewaltigung, Sucht, Verwahrlosung, driickende Armut und Ausbeutung einbezieht, gehen die anderen deutschsprachigen Bildungstheoretiker ausschlieBlich theoretisch an das Problem. Aber theoretisch und systematisch geben sie auf die Probleme ihrer eigenen Gegenwart alle die gleiche Antwort. Die Antwort auf das freigesetzte Individuum der Modeme heiBt: Starkung des Selbst und zwar nicht abstrakt, sondem ganz konkret. Pestalozzi fordert daher als Ziele der Elementarbildung gerade und besonders auch fiir die armen Schichten Herausbildung von Sprachkraft, Anschauungskrafl, Denkkraft, Zahlkraft, Zeichenkraft und in bestimmten Schriften fasst er sein Programm als Starkung der „Selbstkraft". Es handelt sich bei jeglichem Bildungsprozess, bei jedem Prozess der Starkung des Selbst immer um Prozesse vom Noch-Nicht zum Jetzt, bzw. vom Weniger zum Mehr. Bildung des Menschen ist in diesem Sinne immer Hoherentwicklung des Einzelnen - egal von welchem Stand zu welchem Stand, von welchem Hoch zu Hoch, von welchem Wenig zu etwas Weniger - und lasst sich daher als theoretische Grundfigur fiir die Forderung von Benachteiligten als absolute Metapher nehmen. Benachteiligtenforderung bedeutet in dieser Denkweise die Bildung des Einzelnen, die er selbst vollbringen muss, die der Einzelne in sich selbst nachvoUziehen muss, ist gleichzeitig aber auch gesellschaftliche Bereitstellung von Bedingungen, in denen der Einzelne Chancen erhalt sich zu entwickeln. Humboldt sieht daher als notwendige Bedingungen von Bildung „Freiheit" und „Mannigfaltigkeit der Situation". Wo beide nicht gegeben sind, ist eine reiche Entfaltung nicht denkbar und es entsteht zwangslaufig Benachteiligung.
31
3
Benachteiligungspravention statt Benachteiligtenforderung?
Der Begriff ,benachteiligen' ist seit dem 19. Jahrhimdert bekannt und bedeutet Jemanden zuriicksetzen", ,jemandem weniger geben, als ihm zusteht". Seinen Ursprung hat das gemeingermanische Wort in dem Begriff ,Teir, dessen Beziehungen jedoch unsicher sind. Das Verb ist aktiv, deutlich durch die Vorsilbe, und bezeichnet damit einen Vorgang, eine Aktivitat oder einen Prozess im Sinne von ,jemanden den gleichen Teil nicht geben". In verwaltungsdeutschen Kontexten hat der Begriff eine administrative Konnotation. Jegliche Bildung ist - und so lautet nun generell eine der moglichen systematischen Antworten der AUgemeinen Padagogik zum groBen Feld der Diskussion um BenachteiHgtenforderung - Prevention, ist bereits Forderung des Einzelnen. Je friiher ein Kind und ein Jugendlicher Gelegenheit hat, sich zu entfalten, also z. B. die Sprache zu sprechen, die in dem Schulsystem, das er besucht, gesprochen wird, die Umgangsregeln zu lemen, die gelten, die aber haufig nicht explizit gemacht werden usw., desto groBer ist seine Chance nicht bereits einen Abstand zu den anderen Kindem bei Einschulung zu haben, den es nie wieder einholen konnen wird. Dann werden aus moglicherweise ein paar Benachteiligungsfaktoren viele neue entstehen (z. B. schlechte Noten usw.). Bildung und Forderung von Menschen sind in der deutschsprachigen Theorietradition von 1800 nur denkbar, wenn die entsprechenden Mafinahmen, ob schulisch oder auBerschulisch, ob privat oder offiziell, den - leider semantisch sehr aufgeladenen, aber hier treffenden Begriff - „padagogischen Augenblick" als vollstandigen anerkennen und nicht als defizitaren. Jegliche padagogische MaBnahme, egal ob in der Schule, in der beruflichen Ausbildung oder in der Weiterbildung, muss sich daran messen lassen, dass sie dem Einzelnen im Jetzt sein Recht auf VoUstandigkeit lasst, ihn also auf der einen Seite nicht nur als defizitar im Hinblick auf eine abstrakte Zukunft oder ein Anforderungsprofil jetzt defmiert (bzw. etikettiert oder stigmatisiert) und gleichzeitig aber das, was gelemt wird, so prasentiert, dass es in der nicht benennbaren Zukunft auch noch in sich sinnvoll ist. Wie etymologisch schon deutlich wurde, handelt es sich bei Benachteiligung um einen Prozess. Aus der Perspektive des Einzelnen erfahren wir ,Be-nachteiligung', bei der die/der Einzelne von anderen oder durch etwas, durch ein Subjekt benachteiligt wird. Wenn das so ist, gibt es auch Akteure, Menschen, welche ,be-nach-teiligen', d. h. andere von Teilhabe ausschlieBen, unabhangig von Faktoren und Konstellationen. Benachteiligung ist also ein Phanomen, das sozial in Interaktions- und Kommunikationsprozessen unterschiedlichster Art hergestellt wird. Zum Beispiel: Man ist nicht benachteiligt, weil man krank ist oder kein Deutsch sprechen 32
kann, sondem well die Krankheit und das Nicht-Deutsch konnen, von bestimmten Teilhaben ausschlieBen. Die Teilhaberegeln werden aber vorher implizit Oder explizit formuliert (und zwar in einem Diskurs uber Inklusion und Exklusion, Leistung, Bildung, Status und Macht), beispielsweise fiir den Unterricht in der BRD: Wenn fur die Teilhabe an einem Fach, wie Mathematik, Deutsch notwendig ist, um den Ausfuhrungen, Erklarungen und Modellen zu folgen, um Tests zu schreiben, dann ist klar, dass Sprache hier das Ausschlusskriterium ist, mit dem aktiv benachteiligt wird. Mit anderen Worten: Kann das Bildungssystem nicht sicherstellen, dass jedes Kind am Ende des ersten Schuljahres die sprachlichen und elementaren Voraussetzungen fiir den weiteren Aufenthalt im allgemeinbildenden Schulsystem hat, erzeugt es als Bildungssystem selbst Benachteiligung. Diese Situation ist nicht neu, sondem so alt wie die Geschichte des offentlichen Schulsystems. Humboldt versuchte, als er die von ihm nicht gesuchte und schnell wieder verlassene Gelegenheit erhalt, Bildungspolitik zu betreiben, eine Schulidee bzw. eine Beschulungsidee zu wahlen, die dem Einzelnen soviel Freiheit und „Mannigfaltigkeit der Situation" wie moglich bietet. Da ihm die scharfen sozialen Gegensatze bewusst waren, auch wenn ihm selbst nie sehr an deren Linderung gelegen war, forderte Humboldt ein einheitliches Elementarschulwesen fur alle Kinder, das gewahrleistete, dass kein Kind mehr auf Grund seiner sozialen Herkunft benachteiligt war, die Fahigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens kurzum die Elementartechniken, aber auch die Fahigkeit des Lemens des Lemens zu erwerben. Offenheit und Mannigfaltigkeit der Situation sollte dadurch erreicht werden, dass nach dem Verlassen der Elementarschule (fiir alle Kinder) im Prinzip jede Klasse der Schule, die Humboldt Gymnasium nannte, die aber eher einer Allgemeinen Gesamtschule entsprach, verschiedene Wege moglich waren: ab dem 5. Schuljahr konnten die Schtiler entweder die nachst hohere Klasse besuchen oder aber die Schule verlassen und dann „beruflich" das lemen, was notwendig war. Wilhelm von Humboldt hatte mit den deutschsprachigen Bildungstheoretikem seiner Zeit gemeinsam, dass sowohl er selbst, als auch Herbart, Schleiermacher, Schlegel u. a. nicht davon ausgingen, dass es ausgerechnet im deutschsprachigen Raum das Bildungssystem (das man sich zur Umsetzung einer humanen Freiheit gedacht hatte) sein wtirde, welches dann zunehmend zum Hauptselektionsmittel und Distinktionsmittel der biirgerlichen Gesellschaft und des Staates wurde. Mit anderen Worten: Die maBgeblichen Bildungstheoretiker gingen bei all ihrer Scharfe und auch Frechheit des Denkens leider von einem nicht aus: von dem Bedtirfnis vieler Menschen in der btirgerlichen Gesellschaft sich bewusst und aktiv abzugrenzen im Sinne eines bejahten Distinktionsverhaltens, das auf der anderen Seite fur die Betroffenen Exklusion zur Folge hat. Sie wollten eine 33
Gleichheit herstellen, wir konnten heute ruhig von Chancengleichheit sprechen, die andere gerade nicht suchen. Und genau hier liegt meines Erachtens das Problem der Gegenwartsschule und teilweise auch vieler Forderungsmafinahmen. Auf der einen Seite lemen Jugendliche in diesen MaBnahmen einen Beruf und vieles, was fur sie an sich sinnvoll ist. Auf der anderen Seite aber handelt es sich - wenn auch in noch so guter Absicht - urn „padagogische Insellagen", in denen sie - hart formuliert „padagogisch sinnvoll beschaftigt" werden. Von daher verwundert es nicht, dass angesichts der heutigen Situation auf dem Arbeitsmarkt, viele junge Menschen zunehmend nicht eine Verlangerung ihres „Freiraums Jugendphase", auch wenn das immer noch auf eine groBe Gruppe zutrifft, sondem sich friih sinnvolle Beschaftigungen wiinschen. Friih einen Beruf zu haben und eine Anstellung ist fur die meisten Jugendlichen aulJerst erstrebenswert. Echte Verantwortung Selbstandigkeit, Arbeit und lebenslanges Lemen einzufordem ist dort, wo das Leben in einer an sich schon problematischen Phase gar nicht in Sicht ist, ein grundloses Bedtirfhis. Angesichts der Tatsache multidisziplinarem Interesses an Benachteiligung und ihrer Auswirkung, sind etliche Studien zu diesem Thema, die tiber das Internet veroffentlicht sind, keine Uberraschung. Forschungsergebnisse, z. B. iiber Kinderarmut in der Bundesrepublik, tiber Benachteiligung in der Weiterbildung usw., zeigen in der Gesamtheit geradezu 'Schwindel erregende' Zahlen von benachteiligten Menschen auf. Urn im Feld Bildung und Benachteiligung zu bleiben: Es gibt allein eine Million arme Kinder in Deutschland, die in der Sozialhilfestatistik erscheinen und eine weitere Million Kinder, die zwar nicht zu Familien gehoren, die Sozialhilfe in Anspruch nehmen, die aber dennoch unter der Armutsgrenze leben, d. h. es geht schon um zwei MilHonen Kinder. Die von Hock u. a. 2001 referierte Studie der AWO (2000) zeigt, dass diese Kinderarmut sogar zur so genannten multiplen Deprivation flihrt, also erheblich weitere Benachteiligungsfaktoren schafft. Neben diesen nunmehr schon zwei Millionen Kindem gibt es viele Kinder, die aus anderen Griinden benachteiligt sind, z. B. weil in ihren Familien ausschlieBlich die Muttersprache und nicht Deutsch gesprochen wird. Das deutsche Schulsystem setzt jedoch mit seinen stark selektiven Mechanismen die deutsche Sprache voraus. Die Zahlen verdeutlichen: Arme Kinder werden nicht nur insgesamt haufiger als nicht-arme Kinder vom Schulbesuch zuriickgestellt, sondem auch bei vergleichbarer Ausgangslage beziehungsweise dem gleichen MaB an „Auffalligkeiten" haben sie geringere Chancen ftir einen regularen Ubertritt in die Regelschule als nicht-arme Kinder. Nach der Veroffentlichung der letzten PISA-Ergebnisse hat sich bestatigt, dass die Bundesrepublik
34
weltweit die hochste Korrelation zwischen sozialem Status der Eltem und Schulbildung der Kinder hat. Wenn aber Benachteiligung und damit die Ausgrenzung an Teilhabe so groB ist, so bleibt die Gegenfrage offen, wie Wenige sich dann die Welt teilen und ob es iiberhaupt nicht benachteiligte bzw. kaum benachteiligte Menschen gibt. Zieht man einen Artikel Briinings hinzu, die angesichts der Heterogenitat und Quantitat benachteiligter Menschengruppen in der BRD systematisch versucht zu eruieren, was unter Benachteiligung zu verstehen ist, findet man dort einen wichtigen Hinweis. Sie formuliert, dass es wiinschenswert ware, Forderung nicht erst dann einsetzen zu lassen, wenn bereits Benachteiligung vorhanden ist, sondem den Praventionsgedanken starker in die Forschung und in die dementsprechenden MaBnahmen einflieBen zu lassen (vgl. Briining 2001). Aus allgemeinpadagogischer Perspektive ist das ein wichtiger Ansatzpunkt. Etwas plakativ formuliert: Statt sich wie bisher mit ReparaturmaBnahmen zufrieden zu geben (z. B. in MaBnahmen Beruflichkeit erwerben zu konnen bzw. eine Lehre abzuschlieBen, die aber vielleicht gar nicht mehr marktgerecht ist und daher nicht zu einer Arbeitsstelle fiihrt) und Milliarden in eine, zwar der aktuellen Situation angepassten, Jugendforderung zu stecken, konnte man bei gleichzeitiger genereller Veranderung des Systems langfristig alles erreichen: praventieren, bilden und fordem. Zusammengefasst lasst sich sagen, dass Pravention von Benachteiligung untrennbar mit Bildung verkniipft ist: Bildung schafft Offenheit und Zukunft, ganz im Gegensatz zu Benachteiligung. Bildung hat das Ziel, das neuzeitliche Individuum zu befahigen, eine offene Zukunft zu bewaltigen. Und zwar auch und gerade in beruflicher Hinsicht. Wenn der Einzelne nicht mehr weiB, was aus ihm wird, das Schlagwort Perspektivlosigkeit ist in aller Munde, ja wenn die Eltemgeneration nicht mehr weiB, was aus der nachfolgenden Generation wird, dann bedarf es einer Bildung bzw. Ausbildung die befahigt, sich in der offenen Zukunft situationsangemessen und kontextbezogen zurechtzufinden. Die theoretische Antwort auf das Problem lautet schlicht mit Herbart: der Einzelne muss eine groBtmogliche Vielseitigkeit des Interesses herausbilden. Humboldt formuliert und fordert analog zu Herbart die Herausbildung der Fahigkeit des „Lemens des Lemens", damit der Einzelne gar nicht mehr in eine Benachteiligungssituation geraten kann. Keiner befmdet sich dann in einen Prozess, in dem etwas mit ihr/ihm geschieht, sondem das Individuum kann sich immer aktiv bewegen und sich selbst steuem. In der klassischen Terminologie war das dann Bildung. Bildung ist also in der systematischen tJberlegung um 1800 Verhinderung und Pravention von Benachteiligung.
35
Nachdenken iiber Benachteiligung ist die Bildungsdiskussion inharent. Die Reflexion von Benachteiligung und ihre Verhinderung ist in systematischer Perspektive konstitutiv fur Bildungstheorie und Bildung. Bildung ist die Antwort auf das Benachteiligungsproblem.
4
Facetten des Benachteiligtendiskurses: ein Ausblick
Um den Diskurs iiber Benachteiligung und Benachteiligtenforderung zu beschleunigen bzw. anzuregen, gibt es aus allgemeinpadagogischer Perspektive folgende Moglichkeiten: a) Es ware sinnvoll, wenn sich alle am Benachteiligtendiskurs beteiligten Disziplinen noch starker als es nun in Ansatzen geschieht mit der BenachtQiligtQnforschung der anderen auseinandersetzen und in einer sog. Metaforschung ihre Ergebnisse vemetzen (erste AnstoBe liegen mit zwei Oldenburger Tagungen sowie den Forschungen von Bojanowski, Schroer, Spies u. a. vor). Die Datenmenge, die notwendig ist, um gezielte FordermaBnahmen zu eruieren sind enorm und die Erhebung von Daten sowie die Umsetzung von Auswertungsergebnissen schafft gleich wieder einen erhohten Kommunikationsbedarf zwischen unterschiedlichsten Branchen, Disziplinen, beruflichen und wissenschaftlichen Fachkulturen. b) Immer wieder muss erst einmal darliber Verstandigung erzielt werden, woriiber man sich verstandigt. Eine besondere Schwierigkeit liegt auch in der fachlichen Verwendung von Begriffen. Da die Erziehungswissenschaft keine Fachsprache im Sinne einer Terminologie besitzt, haben Begriffe wie „Bildung", „Erziehung" und „Unterricht" die unterschiedlichsten Konnotationen und Verwendungen. Noch schwieriger ist es Begriffe wie „Weiterbildung", „Benachteiligung", „Chancengleichheit" differenziert auszuformulieren. Die Allgemeine Padagogik kann hier - das ware vermessen - auch kein Tiirwachter sein. AUerdings ist sie insofem nicht unbeteiligt, als dass sie iiber hohes sprachhistorisches und sprachanalytisches Niveau in der Diskursbeschreibung verfligt und von daher auch ihren eigenen Blick auf das Feld werfen kann. Es ware eine Art Metakommunikation notwendig. c) SchlieBlich ware eine Diskursbeschreibung des Benachteiligtendiskurses seitens der an ihm beteiligten Disziplinen wiinschenswert, eine Art Fazit aus Metaforschung und Metakommunikation. Es ginge darum die theoretischen Grundannahmen auf Gemeinsamkeiten und Differenzen zu iiberpnifen, z. B. begegnet man iiberall dem Etikettierungs- und dem Stigmatisierungsproblem, die dem Benachteiligungsbegriff inne sind sowie den Gedanken der Aufhebung von Differenz durch Forderung (und nicht z. B. der Idee, diese Differenz der Einzel36
nen bestehen zu lassen, dafur aber den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Benachteiligung neu und offen zu diskutieren). Weiterhin gehen viele Uberlegungen vom Einzelnen aus, der bereits „benachteiligt" ist, weniger aber vom aktiven Prozess, von der Tatigkeit des Be-nachteiligens. Es ware sicher hilfreich, um den Umgang mit Benachteiligung zu verstehen, einmal so etwas wie eine Mentalitatsgeschichte der Exklusion bzw. des Exklusionsverhaltens zu leisten. d) Geht man davon aus, dass der Einzelne im Augenblick seines Bildungsprozesses vollstandig ist, macht es keinen Sinn ihn immer nur daran zu messen, was er jetzt noch nicht kann oder konnen sollte. Sondem es wird dann sinnvoll festzustellen, was jetzt schon da, zu loben, zu bestatigen, zu unterstutzen und zu helfen ist, um den Augenblick zu vervollstandigen. Wenn aber „Doing gender" bzw. „Doing Benachteiligung" eine theoretische Moglichkeit ware, dann miisste es auch einen anderen Umgang mit Vorbeugung geben oder wie Gerhild Brtining es nennt, mit „Prophylaxe" und „Pravention". In der Geschichte der Padagogik war das der Bildungsgedanke, der sich fiir die neu entstehenden Felder der Schulpadagogik, Sozialpadagogik, Kindergartenpadagogik schnell weit verbreitete. In der Sozialpadagogik hat sich diese Denkfigur vor allem im Pestalozzischen Konzept der Hilfe zur Selbsthilfe wieder gefunden, in der Erziehungstheorie ist es Aufforderung zur Selbsttatigkeit. Es lassen sich z. B. prophylaktische MaBnahmen denken wie die Integration von Selbstmanagementtrainings fur Jugendliche, in denen sie u. a. lemen konnen iiber Ziele und deren Erreichung nicht nur nachzudenken, sondem auch zu iiben, dann die Anerkennung der beschriebenen Vollstandigkeit des Augenblicks und schlieBlich eine Veranderung im Umgang mit Differenz. Hier konnten m. E. in der Benachteiligungsforschung einige Teildisziplinen von der Doing- Gender-Hypothese lemen. Die Gemeinsamkeit von Diskussionen iiber Benachteiligung und doing gender liegt z. B. darin, dass jeder auf der Basis seiner Erfahmngen eine Vorstellung von Benachteiligung entwickeln kann, die letztlich dazu fuhrt, dass er diese Vorstellung in Handeln tibersetzt und letztlich Benachteiligung selbst herstellt oder, was dann das Ziel ware, nicht herstellt. Entsprechende Schritte konnten dann „Doing Benachteiligung" in das Bewusstsein bringen, weil sich solch ein Konzept fur alle Gmppen eignet, sich unterschiedliche Bereiche vemetzen lieBen und damit der Differenzbegriff gestarkt wird. e) Dieses Ziel wird umso interessanter, wenn man beriicksichtigt, dass der Benachteiligtendiskurs - wortlich genommen - einen Bevorzugtendiskurs zum Gegenteil hat. Jedem Diskurs liegt unter seiner Oberflache auch das NichtSagbare zugmnde bzw. das, was nicht gesagt wird. Im Hinblick auf den Benachteiligungsdiskurs ware das moglicherweise die Thematisiemng des Gegenteils 37
von Benachteiligung, also Bevorzugung. Wahrend im Wortteil „nach" ja ein „hinter her laufen" gezeigt wird, liegt im Wortteil „vor" der Abstand. Mit anderen Worten: man kann letztlich nur iiber Benachteiligung reden, wenn es auch so etwas wie Bevorzugung gibt, alles andere macht keinen Sinn. So lasst sich auch erklaren, weshalb Eliten, Exzellenzen, Leistungen, Pisa-Skalen und ahnliches standig auf der Agenda der Allgemeinheit stehen. Das Bedtirfnis in Tabellen oben zu sein ist so verbreitet, dass alle nach Bevorzugung streben, Benachteiligung ist ein gesellschaftliches Thema, das aber momentan nicht im Hauptstrom des erziehungswissenschaftlichen Bildungsdiskurses steht. f) Die Allgemeine Padagogik kann nur historisch und systematisch etwas zum Nachdenken iiber Benachteiligtenforderung beitragen, sie ist eine der vielen Teildisziplinen, die am Benachteiligtendiskurs beteiligt ist. Der Benachteiligtendiskurs, den es noch naher zu erforschen gilt, ist aber nicht nur ein Diskurs, sondem auch ein sog. Interdiskurs, spatestens bei der Annahme, dass wenn wir von Leistung und Exzellenzforderung, Eliten und Hochbegabung sowie von Erfolg sprechen, indirekt eben nicht nur am Leistungsdiskurs teilhaben, sondem auch am Benachteiligungsdiskurs. Denn ein Interdiskurs - so der Literatur- und Kulturwissenschaftler Jtirgen Link - bezieht sich auf je „spezielle Wissensausschnitte, deren Grenzen durch Regulierungen dessen, was sagbar ist, was gesagt werden muss und was nicht gesagt werden kann, gebildet sind (...) sowie durch ihre je spezifische Operativitat. So bezeichnet der Interdiskursbegriff all jene Diskurselemente und diskursiven Verfahren, die der Re-Integration des in den Spezialdiskurs arbeitsteilig organisierten Wissens dienen". Fiir den hier zuvor ausgefiihrten Themenzusammenhang ist dabei am wichtigsten, dass der Benachteiligungsdiskurs ein Interdiskurs z. B. zwischen erziehungswissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen, historischen und politikwissenschaftlichen Teildisziplinen ist, der von der Verwendung eines „diskursubergreifenden Dispositivs" (Link) gekennzeichnet ist, dem der „Benachteiligung". Und wie jeder Diskurs hat er seine eigenen Regeln, seine sagbaren und seine verdeckten Momente. Fur die Erziehungswissenschaft ist es zu begnifien, dass uber dieses Thema eine neue Kommunikation zwischen den Teildisziplinen entsteht. Ihn als Spezialdiskurs metatheoretisch zu erforschen ware eine wiinschenswerte Aufgabe.
38
Literaturverzeichnis Bohlinger, S. (2004): Der Benachteiligtenbegriff in der beruflichen Bildung. In: Zeitschrift fur Berufs- und Wirtschaftspadagogik, 2004, S. 230 ff. Bruning, G. (2001): Benachteiligte in der Weiterbildung / Projektabschlussbericht. Deutsches Institut fur Erwachsenenbildung. FrankfUrt am Main Girmes, R./Korte P. (Hrsg.) (2003): Bildung und Bedingtheit. Opladen Bruning, G. (2001): Lebenslanges Lemen und Benachteiligung in der Weiterbildung. www.lifelongleaming.de/pdf/07%20Text%20Br%FCning.pdf Hock, B./Holz, G./Wiistendorfer, W. (2001): Armut und Benachteiligung im Vorschulalter - Uber die fnihen Folgen von Armut und Handlungsansatze in der Kita-Arbeit. In. Kita-aktuell, 2/2001, S. 28ff Humboldt, W. v. (1960): Werke in fiinf Banden, hrsg. von A. Flitner und Klaus Giehl. Darmstadt Korte, P. (1995): „Projekt Mensch" - Ein Fragment aus der Zukunft. Friedrich Schlegels Bildungstheorie. Miinster/Hamburg Korte, P. (2001): Selbstkraft oder Pestalozzis Methode. In: Trohler, D. (Hrsg.): Methode im 18. Jahrhundert. Bem/Stuttgart/Wien. 2001. S. 1-16 Link, J. (2001): Artikel "Interdiskurs, regenerierender". In: Nunning, A. (Hrsg.): Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie. Ansatze - Personen - Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar. S. 281
39
Fordern und Fordern - Sozialpadagogische Herausforderungen im Jugendalter angesichts sozialpolitischer Umstrukturierungen Ute Karl & Wolfgang Schroer
Es ist ein Gliick, dass die Formel vom Fordern und Fordern nicht mehr jeden Tag in den Zeitungen zu lesen ist. Auch auf den entsprechenden Fachtagungen ist inzwischen ein wenig Ruhe eingekehrt. Das padagogische Programm, das mit dieser Formel verbunden wurde, ist hinlanglich kritisiert und es ist gezeigt worden, dass zwar gefordert, aber nicht entsprechend gefordert wird (vgl. bspw. Galuske 2005; Trube 2003). Doch leider ist das Thema mit dieser Programmkritik nicht aus der Welt. Im Gegenteil: Jenseits der programmatischen Ebene gilt es nun zu analysieren, welche sozialpadagogischen Herausforderungen sich mit den sozialpolitischen Umstrukturierungen in der Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik fur Jugendliche und junge Erwachsene ergeben haben. Deutlich wird, dass sich sozialpolitische Verschiebungen andeuten, die die Ubergangsstrukturen in Beschaftigung sowie das Verhaltnis von Jugend und Arbeit grundsatzlich verandem. Diese Aufgabe trifft die Sozialpadagogik zwar nicht ganz unvorbereitet, denn im Bereich der Jugendsozialarbeit (Schulsozialarbeit, Jugendberufshilfe) wird seit langerer Zeit mit unterschiedlichen Ansatzen und Modellprojekten experimentiert (vgl. Fiilbier/Miinchmeier 2001). Dennoch hat sie iiber viele Jahre in ihrer Fokussierung auf die Kinder- und Jugendhilfe die Beschaftigungsforderung nicht als ihren Kembereich angesehen. Obwohl oder gerade weil sie sich in ihren disziplinaren Reflexionen sozialpolitisch immer wieder mit der „dauerhaften Transformation von Nicht-Lohnarbeitem in Lohnarbeiter" (Lenhardt/Offe 1977, 101) auseinander gesetzt hat, fehlen jenseits von institutionellen Zugangen und mafinahmebezogenen Ansatzen und Evaluationen (vgl. hierzu die Beitrage in Burghardt/Enggruber 2005) vor allem empirisch-systematische Analysen auf der Grundlage sozialpadagogischer Theoriekonzepte zur Frage der Beschaftigungsforderung junger Erwachsener (vgl. Amold/Bohnisch/Schroer 2005). Folgt die Sozialpadagogik weiterhin allein den neu defmierten gesetzlichen Zustandigkeitsbereichen, so konnte sich die Marginalisierung der Frage nach den Uber-
gangen in Arbeit der Gruppe der unter 25-jahrigen noch verstarken.^ Allerdings zeigt die Praxis, dass sich Jugendhilfe und Bundesagentur ftir Arbeit iiber die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit bewusst sind und dass eine solche Zusammenarbeit nur gelingen kann, wenn Grundlinien sozialpadagogischer Professionalitat berucksichtigt werden (vgl. AGJ/BA 2005).^ Allerdings ware hier zu fragen, inwiefem insgesamt von sozialpadagogischer Professionalitat noch gesprochen werden kann, wenn deren Logik aufgrund von strukturellen Vorgaben immer wieder unterlaufen wird. Auch ein Blick in die Geschichte macht deutlich, dass die Herausforderung, junge Erwachsene bei ihren Ubergangen in Arbeit zu begleiten, unabhangig vom gesetzlichen Zustandigkeitsbereich im Zuge der Entwicklung des modemen Wohlfahrtsstaates als eine sozialpadagogische wahrgenommen wurde (vgl. Burghardt 2005). So bezeichnete z. B. Carl Mennicke 1930 - angesichts der Aufgaben von sozialen Berufen in den neu geschaffenen Arbeitsamtem der Weimarer Republik - die Arbeitsvermittlung als „ein sozialpadagogisches Problem groBen Stils. Denn immer wirkt Arbeitslosigkeit auf den gesamten sozialen und damit psychischen Zustand des Menschen ein. Und die Gesellschaft wird seinem Schicksal in keiner Weise damit gerecht, dass sie ihm Arbeitslosenunterstiitzung gewahrt und nach einer gewissen Zeit [...] wieder Arbeit verschafft. Wiirde der Arbeitsvermittler den sozialen und psychologischen Teil seiner Aufgabe wirklich erfassen, so miisste er auf Mittel und Wege sinnen, dem Arbeitslosen an Stelle der ihm mangelnden Arbeit Inhalte zu vermitteln, die eine gewisse Befriedigung fiir ihn bedeuten konnten. Die Kreise, die fur eine sachgemaBe Organisation der gesamten soziale Fursorge die Verantwortung tragen, kampfen deshalb darum, den Arbeitsvermittler neben der wirtschaftlichen mit einer sozialen Bildung auszustatten, die ihn in die Lage versetzt, der umrissenen Aufgabe wirklich gerecht zu werden." (Mennicke 1930, 322-323).
Mennicke rtickte die Arbeitsvermittlung unmittelbar in den Rahmen der sozialen Bildung, die er letztlich flir die Sozialpadagogik als paradigmatisch ansah. In unserem Beitrag woUen wir an diese Tradition ankniipfen, indem wir der Frage 1 Nur die Leistungen des SGB II, § 3 Abs. 2 und SGB II, §§14-16 gehen dem SGB VIII vor. Ansonsten besteht ein Vorrang des SGB VIII (vgl. SGB VIII, § 10, Abs. 3). Fur erwerbsfahige Hilfebediirftige unter 25 Jahren besteht jedoch weiterhin ein Handlungserfordemis im Rahmen der Jugendsozialarbeit, wenn die soziale Integration bzw. die Festigung der Lebensverhaltnisse das vorrangige Ziel der Hilfe darstellt. Die Frage des Vorrangs stellt sich allerdings sowieso nur dann, wenn ein Anspruch nach SGB II besteht. Auch ist die Jugendhilfe selbst dann noch zustandig, wenn junge Menschen aufgrund von Sanktionen durch das SGB II nicht mehr erreicht werden (vgl. Deutscher Verein 2005, 399f). 2 Die Rahmenbedingungen hierfur sind im SGB II §16 Abs. 2, § 17 und § 18, Abs. 1 und 3 geregelt. Insbesondere legt der § 17 Abs. 1 nahe, dass Einrichtungen und Dienste nicht neu geschaffen werden soUen, soweit geeignete Einrichtungen und Dienste Dritter vorhanden sind, und Trager der freien Wohlfahrtspflege soUen in ihrer Tatigkeit auf dem Gebiet der Grundsicherung fiir Arbeitssuchende angemessen unterstiitzt werden.
42
nachgehen, in welcher Weise bildungstheoretische Vergewisserungen gegenwartig zur sozialpadagogischen Fachlichkeit beitragen koiinen und welche Herausforderungen sich fiir diese im Spannungsfeld von Bildungs- und okonomischer Logik ergeben. In einem ersten Schritt wollen wir exemplarisch anhand des 12. Kinder- und Jugendberichts aufzeigen, wie einerseits in den gegenwartigen Diskussionen an einem Bildungsverstandnis festgehalten wird, das uber schulische und berufliche Ausbildung hinausgeht und das auf der Eigensinnigkeit von Bildungsprozessen besteht, andererseits dieses aber auf eine okonomische Verwertungslogik hin ausgelegt wird, indem Bildung vor allem als Kompetenzentwicklung verstanden wird. Zweitens werden wir das Verhaltnis von Bildungs- und okonomischer Logik, wie es sich in den Diskussionen um Ubergange in Arbeit junger Menschen und Kompetenzentwicklung zeigt, beleuchten. Davon ausgehend entwickeln wir dann drittens unsere These, dass die unterschiedlichen arbeitsmarktpolitischen und bildungstheoretischen Zugange sich in der Dimensionierung der Fahigkeit zur Selbstorganisation kaum unterscheiden, wodurch die Moglichkeiten einer solchen Differenzierung aufgegeben werden. SchlieBlich fragen wir, inwieweit es moglich ist, eine sowohl disziplin- als auch professionsbezogene Perspektive zu entwickeln, die die Paradoxien, die die jungen Menschen im tjbergang in Beschaftigung gegenwartig erleben, und das Spannungsfeld von Okonomie und Bildung nicht negiert.
1
Bildungsprozesse und Kompetenzentwicklung - ein aktueller Aufriss
Der 12. Kinder- und Jugendbericht (2005) geht zunachst von einem weiten Bildungsverstandnis aus, das Bildung als umfassenden „Prozess der Entwicklung einer Personlichkeit in der Auseinandersetzung mit sich und ihrer Umwelt" (BMFSFJ 2005, 23) beschreibt und iiber die Reduzierung von Bildung auf Ausbildung, Schule und Wissenserwerb hinausgeht. Das Subjekt wird dabei als ein sich aktiv in Ko-Konstruktions- bzw. Ko-Produktionsprozessen bildendes verstanden, das in seiner Aneignung von Welt auf Bildungsgelegenheiten und -anregungen angewiesen ist. Bildungsprozesse werden als aktive Prozesse beschrieben, in denen „sich das Subjekt eigenstandig und selbsttatig in der Auseinandersetzung mir der sozialen, kulturellen und nattirlichen Umwelt bildet" (BMFSFJ 2005, 107). Mit diesem Bildungsverstandnis wird an den klassischen, deutschen Bildungsbegriff angekniipft. Es wird betont, dass Bildung in diesem Sinne eine zweifache Bedeutung habe: die personliche und gesellschaftliche Entwicklung
43
bzw. die Selbstkonstitution des Subjekts und die Konstitution der Gesellschaft.^ Die mit diesem Bildungsverstandnis verbundenen Ziele und Dimensionen werden beschrieben als „die Befahigung zu einer eigenstandigen und eigenverantwortlichen Lebensfuhrung in sozialer, politischer und kultureller Eingebundenheit und Verantwortung" (BMFSFJ 2005, 109). Als Kern eines „zeitgema6en Bildungskonzepts" wird explizit die „Fahigkeit zur Selbstregulation in einem umfassenden Sinne" verstanden, die dann auf konkrete Lebenslagen bezogen und als „lebenslanger Prozess" verstanden wird. „Eigenstandigkeit" ziele dabei auf die „individuelle Fahigkeit, auf die Kompetenz, in einer gegebenen komplexen Umwelt kognitiv, physisch und psychisch eigenstandig aktiv handeln zu konnen, aber auch auf die Fahigkeit, sich mit anderen auseinander zu setzen" (BMFSFJ 2005, 109). Bildung bewege sich dabei - angesichts der sozialen Ungleichheit - zwischen dem sozialpadagogischen Ansatz der Lebensbewaltigung und der allgemeinen Idee von VervoUkommnung und Fortschritt. In zweierlei Hinsicht ist das im 12. Kinder- und Jugendbericht formulierte Verstandnis von Bildung in Bezug auf die tFbergange in Arbeit junger Menschen interessant: Erstens wird ein instrumentelles Bildungsverstandnis abgelehnt, welches das Bildungsgeschehen einseitig auf die Erfordemisse einer spateren Existenzsicherung, d. h. auf Beruf und Arbeitswelt ausrichtet. Es wird zudem herausgestellt, dass es nicht nur um eine Einbindung in eine bestehende Gesellschaft im Sinne der Zurichtung der Individuen gehe, sondem dass Bildung auch intendiere, die einzelnen Subjekte zu befahigen, sich Zumutungen und Anspriichen der Gesellschaft, die der individuellen Entfaltung entgegenstehen, zu widersetzen. Bezug nehmend auf die Tradition kritischer Erziehungswissenschaft wird „Kritikfahigkeit" und „Rollendistanz" (BMFSFJ 2005, 108) als Bildungsziel formuliert. Damit beharrt dieses Bildungsverstandnis auf der Eigenwilligkeit und Nicht-Verfligbarkeit von Bildungsprozessen. Zweitens wird der Bildungsbegriff gegenstandsbezogen in vier Weltbezugen dimensioniert: einen kulturellen, einen materiell-dinglichen, einen sozialen und einen subjektiven Weltbezug.
In ihrer gesellschaftlichen Funktion diene Bildung „der Reproduktion und dem Fortbestand der Gesellschaft, der Sicherung, Weiterentwicklung und Tradierung des kulturellen Erbes, der Herstellung und Gewahrleistung der gesellschaftlichen und intergenerativen Ordnung, der sozialen Integration und der Herstellung von Sinn" (BMFSFJ 2005, 107). Die gesellschaftliche Seite von Bildung konne dabei - und hier beziehen sich die Autorlnnen auf Humboldt - nur durch die Bildung des einzehien Individuums erreicht werden. Zu einer Kritik an der Unterstellung eines auf Hoherentwicklung zielenden Zusammenhangs zwischen Individuumund Gattung (Karl 2005, 111; Ehrenspeck 1998, 281).
44
Die vier Weltbeziige operationalisieren die Autorlnnen dann in vierfacher Weise als Kompetenzen/ Bildung wird als „Prozess des Aufbaus und der Vertiefung von Kompetenzen" (BMFSFJ 2005, 113) in diesen Weltbeziigen verstanden. Die „Fahigkeit zur Selbstregulierung" fungiere dabei als „Metakompetenz" (BMFSFJ 2005, H I , FN 75). Zuriickgewiesen wird dabei die einseitige Betonung kognitiver Kompetenzen ebenso wie eine in erster Linie institutionenbezogene Logik des Kompetenzerwerbs. Wir woUen im Folgenden zunachst die Problematik der Kompetenzentwicklung, wie sie in den letzten Jahren im Bereich der Beschaftigungsforderung im Zusammenhang mit Humankapitalpolitik diskutiert wird, naher beleuchten. Dabei wird deutlich werden, dass der im 12. Kinder- und Jugendbericht formulierte Kompetenzbegriff trotz seiner Verzahnung mit dem Bildungsbegriff in ahnlicher Weise angelegt ist und letztlich den Anschluss zur Humankapitalperspektive fmdet.
2
Ubergange und Kompetenzentwicklung - Junge Menschen als Entrepreneurs ihrer Cbergange?
Vergleicht man die Uberlegungen des 12. Kinder- und Jugendberichts zum Verhaltnis von Kompetenz und Bildung mit den Diskussionen der vergangenen zehn Jahre beziiglich der tJbergange junger Menschen in Erwerbsarbeit, so wird deutlich, dass darin auf ahnliche Weise argumentiert wird. In beiden steht die Forderung nach einer Starkung der Selbstregulation oder genauer: der Selbstorganisationsfahigkeit im Mittelpunkt und es wird ebenfalls sowohl eine allein institutionenbezogene als auch kognitive Auslegung des Kompetenzbegriffs zuriickgewiesen (vgl. Kirchhofer 2004). So lasst sich die derzeitige Kompetenzdebatte in der Berufspadagogik und der Weiterbildung dahingehend zusammenfassen, dass mit ihr „die Personlichkeit (,Selbstorganisation') emeut in den Mittelpunkt geriickt worden (ist). Wenn man sich Aussagen zur Kompetenzent4 Kulturelle Kompetenzen meinen die sprachlich-symbolische Fahigkeit, sich kulturelles Wissen anzueignen, zu verstehen und zu deuten; instrumentelle Kompetenzen beziehen sich auf die naturwissenschaftliche erschlossene Welt sowie auf die technisch hergestellte Welt der Produkte; soziale Kompetenzen meinen intersubjektiv-kommunikative Fahigkeiten, die „soziale AuBenwelt wahrzunehmen" und gestaltend an der sozialen Welt teilzuhaben; personale Kompetenzen meinen hier eine „asthetisch-expressive Fahigkeit", sich zu entwickeln, sich selbst wahrzunehmen und mit sich umzugehen (BMFSFJ 2005, 14). Dabei sind sie sich zwar der Problematik bewusst, dass der Begriff der Kompetenzen Gefahr lauft, das zuvor sehr umfassend formulierte Bildungsverstandnis zu reduzieren (vgl. BMFSFJ 2005, 112); dennoch wird dieses letztlich aufgegeben und die Spannung zwischen Bildungsprozessen und Kompetenzerwerb vermieden. Insbesondere taucht in der Formulierung der Kompetenzen, iibersetzt als Fahigkeiten zur Aneignung von Welt, „Kritikfahigkeit" und die reflexive Distanz zu sich und zur Welt nicht mehr explizit auf
45
wicklung betrachtet, so wird zum einen die Selbstorganisationsfahigkeit betont und dass sich Kompetenzen nicht vermitteln lassen wie Qualifikationen, sondem dass sie (...) als subjektive Konstruktionsleistungen der Lemenden aufzufassen sind."(Vonken 2001, 416) Insgesamt wird davon ausgegangen, dass die neue Dynamik der Okonomie die Berufswegeplanung der jungen Menschen grundlegend auf ihre Selbstorganisationspotentiale verweist. Entsprechend werde die Arbeitsbiographie nicht mehr nur durch eine grundlegende Berufswahl im Jugendalter entschieden, sondem in einem tJbergangsprozess von einigen Jahren, der weit in das dritte Lebensjahrzehnt hineinreicht. In diesem tJbergangsprozess miisse der junge Mensch lemen, sich selbst in der Arbeitsgesellschaft zu platzieren und seinen Ubergangspfad selbstorganisiert zu gestalten. Dies bedeute, dass heute die Berufswegeplanung eher biographisiert verlauft und gleichzeitig die bisherige Struktur der Statuspassagen und Selbstverstandlichkeiten aufbricht. Mit der LFbergangsperspektive wird darum entsprechend das Konzept der Statuspassagen, das den arbeitsweltbezogenen Bereich der Sozialisations- und Bildungsforschung traditionell gepragt hat (vgl. Hagestad 1991), erweitert. Dabei riickt die tjbergangsperspektive den Aspekt der prinzipiellen biographischen Offenheit und die damit verbundenen Bewaltigungsherausforderungen in den Mittelpunkt. Bereits heute verweisen die „Ubergangspfade" (vgl. Lex 1997) junger Menschen auf ein Geflecht aus ganz unterschiedlichen informellen und formellen Netzwerken, Bildungs- und Beratungsformen. Die Betonung der Selbstorganisations- und Selbstregulationsfahigkeit als zentrale Kompetenzen erscheint hier als ein Weg, die arbeitsmarktpolitischen und okonomischen Schwierigkeiten bildungstheoretisch zu bewaltigen, was allerdings auch mit einer zunehmenden Responsabilisierung der Individuen ftir das Gelingen und Scheitem ihrer Ubergange verbunden ist. Denn angesichts einer dynamisierten Okonomie konnen kaum Prognosen iiber die Entwicklung der Kompetenzen gemacht werden, die zuktinftig auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werden. Diese Entwicklungen korrespondieren gegenwartig mit den politischen Anstrengungen, die die Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik neu zu akzentuieren versuchen. Hier ruckt zunehmend die Humankapitaltheorie vor die des Arbeitskraftebedarfansatzes: „In der Humankapitaltheorie werden die Einzelnen als Teilnehmer des Arbeitsmarktes definiert. Sie spielen hier eine DoppelroUe. Sie sind zum einen Arbeitskraft und zum anderen Burger, die die Arbeitskraft als Humankapital besitzen. Die Arbeitskraft gleicht dinglichem Kapital darin, dass iiber sie instrumentell verfiigt werden kann. Der Humankapitaltheorie zufolge liegt die Verfiigungsgewalt uber die Arbeitskraft bei den Biirgem selbst, dem Arbeitskraftebedarfansatz zufolge muss sie letztlich bei einer staatlichen Planung liegen" (Lenhardt 2001, 316).
46
Dabei wird der Einzelne als Burger und Inhaber seines Humankapitals zum selbstorganisierten Akteur auf dem Arbeitsmarkt emannt. Protagonisten der Humankapitaltheorie sehen darin eine Befreiung der Burger aus der sozial- und bildungsstaatlichen Zuweisung ihrer Arbeitsmarktchancen. Auffallig erscheint aber, dass in diesem Zusammenhang - und gerade in den neuen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten und Verfahren - der Biirgerstatus und eine entsprechende Ausformulierung von Rechten bisher kaum systematisch und differenziert Eingang gefunden hat. Es wird darum kritisiert, dass in neoliberalen Modellen die politische Figur des Burgers und die okonomische Figur des Untemehmers^ zusammen geschoben werden: In der Konzeption des Friihkapitalismus' „stellt die individuelle Freiheit die technische Bedingung einer rationalen Regierung dar, und diese kann die Freiheit nicht einschranken, ohne ihre eigene Grundlage zu gefahrden. Zwar bindet auch der NeoUberalismus die RationaUtat der Regierung an das rationale Handeln der Individuen; er sucht jedoch das rationale Prinzip fur die Regulierung des Regierungshandelns nicht mehr in einer natiirlichen Freiheit, die es zu respektieren gilt, sondem findet es in einer kiinstlich arrangierten Freiheit: dem untemehmerischen Verhalten der okonomischrationalen Individuen" (Lemke/Krasmann/Brockling 2000, 15).^ Auch der junge Mensch wird - dies zeichnet sich ab - zum Entrepreneur seiner Ubergange emannt. Er hat vor allem einen ,Anspruch' darauf, von vomherein als Anbieter und Produzent seines Humankapitals angesehen zu werden, der die eigenen Lemprozesse selbst steuert und verantwortet. In diesem Kontext ist der verscharfte „positionale Wettbewerb" (vgl. Brown 2004) um Arbeitsplatze langst im Jugendalter angekommen. Wer sich in diesem Wettbewerb durch eine gestreckte Pubertat irritieren oder vom Weg abbringen lasst, oder aufgrund von regionalen Disparitaten im Erwerbsarbeitssektor iiberfltissig wird sowie unter sozialem Druck gerat, hat die Fehlsteuerung zu beheben und den reaktiven Bildungsbereich aufzusuchen. Fallmanager entwickeln dann mit ihm oder ihr neue Steuerungsmodelle ihrer/seiner Biographic. Diese orientieren sich jedoch nur bis zu einem gewissen Grad - namlich gemafi den Grundsatzen von 5 Dabei scheint „die Generalisiemng der okonomischen Form zwei wichtige Aufgaben" zu haben: „Erstens fiingiert sie als Analyseprinzip, indem sie nicht okonomische Bereiche und Handlungsformen mittels okonomischer Kategorien untersucht. Soziale Beziehungen und individuelles Verhalten werden nach okonomischen Kriterien und innerhalb eines okonomischen Intelligibilitatshorizonts dechiffriert. Zweitens besitzt das okonomische Raster aber auch ProgrammCharakter, indem es die kritische Bewertung der Regiemngspraktiken anhand von Marktbegriffen erlaubt. Es ermoglicht, sie zu priifen, ihnen UbermaB und Missbrauch entgegenzuhalten und sie nach dem Spiel von Angebot und Nachfrage zu filtem" (Lemke/Krasmann/Brockling 2000, 17). 6 Regierung meint hier im Sinne Foucaults die „Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels derer man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung" (Foucault 1996, 118). „Regieren heiBt in diesem Sinne, das Feld eventuellen Handelns der anderen zu strukturieren" (Foucault 1987, 255).
47
Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (vgl. bspw. SGB II, § 3, §14) - an den biographischen Bewaltigungsanforderungen junger Menschen. Die Agenturen ftir Arbeit und die Bildungseinrichtungen werden dann zu Steuerungsagenturen von Lemprozessen umdefiniert, in denen sich jeder an die okonomisierten Zielvereinbamngen der Ausbildung und Verwertung seines Humankapitals zu halten hat. Eine gleichzeitige Analyse der Diskussionen zur Kompetenzentwicklung zeigt, dass auch hier der Humankapitalansatz letztlich die Hintergrundtheorie darstellt. Kritiker der Perspektive bemangeln, dass in diesem Diskurs die „Interessendifferenz zwischen Tragem und Nachfragem von Qualifikationen und Kompetenzen wenig thematisiert" wird (Bolder 2002, 661). Die weitergehende Kritik richtet sich darauf, dass das „ordnungspolitische Interesse" (Bolder), das in der offentlichen Propagierung und Forderung der Kompetenzperspektive zum Ausdruck komme, nicht bewertet werde und dass in der mafinahmepolitischen Wirklichkeit der funktionale Aspekt der „Selbstoptimierung" den des selbstbestimmten Lemens in den Hintergrund drange. Primar werde auf die „Flexibilisierung der allseits disponiblen Arbeitskraft" (Kade 1997, 90) abgezielt.
3
Selbstbestimmung und Selbstorganisation - Zur Spannung von Bildungs- und Kompetenzorientierung
Grundlegend ftir unsere Argumentation erscheint nun, dass in den Kritiken und vor allem in der bildungstheoretischen Erweiterung des Kompetenzbegriffes, wie sie z. B. im 12. Kinder- und Jugendhilfebericht vorgenommen wird, zwar eine begriffliche Differenz zwischen Bildungsprozessen und Kompetenzentwicklung formuliert wird, diese aber nicht systematisch gesellschaftspolitisch und sozialpadagogisch riickgebunden wird. Damit verbunden ist auch, dass der Bildungsanspruch auf Selbstbestimmung in der allgemeinen Rhetorik von Selbstorganisation und Selbstregulation aufgegeben wird. Auch wenn unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen sowie vor dem Hintergrund der empirisch nicht einholbaren Polaritat zwischen Selbstbestimmung und Entfremdung gegenwartig nicht einfach an den Diskussionen Uber Jugend der 1980er Jahre angekniipft werden kann, so kann aber darauf verwiesen werden, dass in diesen der Gegensatz zwischen Bildungs- bzw. Sozialisationsund Produktionslogik zumindest betont wurde (vgl. Bohnisch 1982, 86). Damit verbunden war ein gesellschaftstheoretischer Jugendbegriff, der Jugend als in einem Spannungsverhaltnis zu den Anforderungen der Arbeitsgesellschaft definierte. Jugend bekam so eine eigene Qualifizierungs- und Entwicklungslogik zugesprochen. Mit dem in diesem Moratorium gewonnen Status sollte dann die 48
Eingliederung in die (Arbeits-) Gesellschaft erfolgen (Integration durch Separation). In der gegenwartigen Diskussion um Kompetenzentwicklung im Kontext der Ubergange in Arbeit wird dagegen davon ausgegangen, dass nunmehr der junge Mensch als Entrepreneur und Burger in den arbeitsweltlichen Beziigen zu einer souveranen Selbstorganisation finden kann. Diese Entwicklung wird untersetzt durch „die nahezu uneingeschrankte Dominanz der technologisch-okonomischen Entwicklung und die damit einhergehende Transformation der Arbeit. Diese Veranderungen fuhren dazu, dass Jugend nicht mehr als menschlich-genuine Jugend gefragt ist, sondem als flexibel einsetzbarer Trager von Kompetenzen und Qualifikationen" (Homstein 2004, 52). Dies bedeutet: Wird die Humankapitaltheorie und Kompetenzperspektive konsequent auf das Jugendalter bezogen, dann braucht die Bildungsorientierung in dieser Argumentation nicht mehr in Kontrast zur industriekapitalistischen Arbeitslogik durchgesetzt werden, sondem es kann sich aus den arbeitsweltlichen Beziigen selbst ein Lemfeld der Selbstbestimmung eroffnen (vgl. Schroer 2004). Im Gegensatz zur alten industriellen Arbeitsgesellschaft wiirden nunmehr Raume oder auch Bildungsnischen in der Arbeitswelt geschaffen, die diesem Anspruch entsprechen konnten. M. a. W.: Die Produktions- und Sozialisations- bzw. Bildungslogiken entgrenzen sich und es kommt zu neuen Mischungen: So geht es „im iiberwiegenden Teil der politischen Programmatiken (...) weniger darum, welche Fahigkeiten Menschen haben sollen, als darum, wie sie sein sollen. Die bisherige Dominanz von Selbsttatigkeitsbeschreibungen im Diskurs iiber das lebenslange Lemen (...) scheint sich hin zu einer Konzentration auf den selbstandigen „ganzen Menschen" zu verschieben, die von den massiven Umbrtichen im Bereich der Arbeit nicht zu trennen ist" (Liesner 2004, 285). Diese Entgrenzung lasst sich auch an der Positionierung zum Humankapitalbegriff verdeutlichen, wie sie im Kinder- und Jugendbericht vorgenommen wird und die auf die neuen Durchdringungen hinweist:
49
„Als Konsumgut macht Bildung SpaB; sie kann aber auch als eine Investition in das eigene Humankapital betrachtet werden.^ Fiir Bildung als Konsumgut, das Freude macht, weil man geme etwas lemen mochte, gibt es wenige Griinde, dass dieser private Nutzen offentlich unterstutzt wird. Anders kann es sich bei Bildung als Investition in das eigene Humankapital verhalten, da damit mehr Moglichkeiten fur gesellschaftlich und volkswirtschaftlich wichtige (spatere) Haushalts- und Marktproduktion eroffiiet werden." Und weiter heifit es dann: „Wenn eine ganzheitliche Bildung (...) ganz verschiedene Kompetenzen umfasst und fur Menschen sowohl als Konsumgut wie auch als Investition niitzlich ist, dann gibt es vom Grundsatz her keinen Gegensatz zwischen padagogischen Bildungsinteressen und der wirtschaftlichen Verwertung von Bildung. Selbst im Hinblick auf das enge Kalktil der Investition in Bildung werden weder Wirtschaftswissenschaftler noch Personalchefs nur auf die unmittelbar im Produktionsprozess verwertbaren Fertigkeiten schauen, weil bekannt ist, dass produktives Humankapital aus einem ganzheitlichen Bundel von Kompetenzen besteht." (BMFSFJ 2005, 134-135)
Entsprechend steht die bildungstheoretische Erweiterung des Kompetenzbegriffes im Kinder- und Jugendhilfebericht nicht mehr in einer Spannung zum Produktionsprozess oder zur okonomischen Logik. Der Jugendbericht unterstreicht damit letztlich eine Einschatzung, wie sie auch in dem Bericht der Enquete-Kommission zur Zukunft des biirgerschafllichen Engagements zu lesen war. Hier sah man angesichts der neuen arbeitsgesellschaftlichen und okonomischen Tendenzen die Chance, dass sich in den neuen Mischungen von Okonomie und biirgerschaftlichen Engagement Lebensentwiirfe verwirklichen konnten, die „in den theoretischen Debatten der 70er Jahre um ein: ,Anders arbeiten anders wirtschaften'" angelegt worden seien (vgl. Enquete-Kommission 2002). So werden die im Humankapital- und Kompetenzdiskurs vorhandenen Ganzheits- und Selbstbestimmungsversprechen allein begrifflich vervielfaltigt und in andere Diskursfelder verlangert, aber nicht systematisch problematisiert. Dem kommt entgegen, dass sich auch umgekehrt Begriffe wie Selbstorganisation - ein Begriff der in der Projektbewegung der 1960er/1970er/1980er Jahre bereits schon einmal als praktisches Prinzip Konjunktur hatte - und auch Selbstregulation - auch ohne deren kompetenztheoretische Fundierung - problemlos in das Programm eines modemen, auf Selbstbestimmung zielenden Bildungsbegriffs und dieser Humankapitallogik einreihen. In diesem Zusammenhang zeigen die
7 Und in einer erklarenden FuBnote heiBt es an dieser Stelle: „Der Begriff Humankapital ist ein Terminus der Wirtschaftswissenschaften (...). Er bezeichnet die Tatsache, dass ein Mensch seinen Korper und seine Bildung produktiv nutzen kann. Insofem stellen Korper und Bildung ein Kapital dar, das eine Rendite abwirft. Man kann iiber den Begriff durchaus geteilter Meinung sein, da (1) man im Gegensatz zu Sach- und Geldkapital sein Humankapital nicht „fur sich arbeiten lassen kann", sondem es nur nutzen kann, wenn man selbst arbeitet, und (2) Humankapital im AUgemeinen nicht beliehen werden kann, da private Banken es nicht als Sicherheit fur einen Kredit akzeptieren. Der letzte Punkt spielt fiir individuelle Bildung und das Bildungswesen eine groBe RoUe (...). Aber man kann nicht bestreiten, dass der Begriff zur Beschreibung und zur Analyse der Wirklichkeit, die von knappen Ressourcen gepragt ist, niitzlich ist." (BMFSFJ 2005, 134)
50
erziehungswissenschaftlichen Diskussionen der letzten Jahre, dass die Leitlinien des modemen, deutschen Bildungsbegriffs wie Miindigkeit (vgl. Rieger-Ladich 2002), Autonomie (vgl. Meyer-Drawe 2000), Individualisierung (vgl. Masschelein 2003) oder auch Selbstorganisation und Selbststandigkeit im Kontext gegenwartiger Vergesellschaftungsformen in sich ambivalent geworden sind oder sich in veranderten gesellschaftspolitischen Konstellationen wieder fmden. Vor diesem Hintergrund reicht es nicht aus, Subjektivierungsformen, die auf Selbstorganisation und Selbstregulation verweisen als ,falsches Bewusstsein' zu deklarieren (vgl. Liesner 2004) und zwar schon deshalb nicht, weil „die Ideologic der eigenen Gestaltbarkeit der Lebensverhaltnisse [...] begierlich von den Subjekten reproduziert [wird]. Und sie entspricht ja auch einem tatsachlichen Wechselverhaltnis. Die Individuen machen etwas aus den vorgegebenen Situationen, sie bewegen sich in den Widerspriichen und finden ihre eigenen Deutungsmuster und Losungen. Das heil3t, die Mehrzahl bewaltigt Spaltung, BenachteiHgung, WiderspnichHchkeit. Allerdings nicht ohne Verluste. Denn es gibt keinen Raum, in dem die WiderspnichHchkeit der Anforderungen tatsachlich thematisierbar ware." (Bitzan 2000, 341)
Darum erscheint es offensichtlich, dass die Sozialpadagogik mit der Herausforderung, neue tJbergangsstrukturen zur Kompetenzentwicklung mitzugestalten, vor allem nach sozialen Paradoxien fragen muss, die die Neuausrichtung der Beschaftigungs- und Arbeitsmarktpolitik sowie eine darauf abgestimmte Kompetenzorientierung implizieren (vgl. Bohnisch/Schroer 2002).
4
Fordern und Fordern - Spielraume sozialpadagogischer Fachlichkeit?
Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Paradoxien und Ambivalenzen in den kompetenz- und bildungsorientierten Diskussionen tiber die tJbergange in Arbeit, stellt sich nun jenseits des Slogans „Fordem und Fordern" die Frage, wie ein sozialpadagogischer Blick aussehen kann, der in der Lage ist „Gemeinsamkeiten, Uberlappungen, Verschiebungen und Differenzen zwischen okonomischem und padagogischem Wissen" (Liesner 2004, 296) zu erkennen. Ziel einer solchen sozialpadagogischen Perspektive ware, auf die mit den tJbergangen in Arbeit verbundenen Widerspriichlichkeiten in der alltaglichen Lebensfflhrung und -bewaltigung der jungen Menschen sozialpadagogisch reagieren zu konnen. Dabei stellt sich nicht nur die Frage nach den Spielraumen der jungen Menschen in den jeweiligen tJbergangskonstruktionen, sondem ebenso die nach den Spielraumen sozialpadagogischer Fachlichkeit. Betrachtet man die gesetzlichen Vorgaben des SGB II, so wird deutlich, dass hier eine Strukturlogik kodifiziert ist, die trotz der in den Ausfuhrungslogiken postulierten, an sozialpadagogischen Handlungsformen angelehnten Verfahren 51
und Settings (Fallmanagement, Eingliederungsvereinbarung, personlicher Ansprechpartner, Passgenauigkeit der Hilfen) sozialpadagogischer Professionalitat entgegen steht (einseitige Betonung des Fordems, Grundsatze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, hierarchische Verwaltungsstruktur, KontroUe). Die Professionellen sind hier in eine Fall- und Institutionenlogik eingebunden, die bereits vielfach als unvereinbar mit einer sozialpadagogischen Fachlichkeit bezeichnet wurde (vgl. BuestrichAVohlfahrt 2005). Dennoch ware zu fragen, inwieweit es nicht Teii sozialpadagogischer Fachlichkeit sein kann, gerade diese gegensatzlichen Logiken zu benennen und eigene Handlungslogiken zu entwickeln. Dabei reicht es in diesem Kontext jedoch nicht aus, zwischen einer an Ganzheitlichkeit orientierten Fallperspektive und einer verwaltungslogischen Umgangsweise zu unterscheiden, denn gerade ,Ganzheitlichkeit' wird als Postulat in die institutionellen Ablaufe integriert. Auch wenn im Kontext der Institutionen der LFbergange in Arbeit in besonderer Weise die paradoxale Struktur von sozialpadagogischer Professionalitat und biirokratischen, hoheitsstaatlichen Aktivitaten (vgl. Schiitze 1996) besonders deutlich wird, so ist diese Problematik bereits in den Anfangen der Sozialpadagogik selbst angelegt. Neu dagegen ist, dass diese Paradoxien in den Regulierungsformen der Ubergange in Arbeit junger Menschen nicht mehr konsequent problematisiert werden und sozialpadagogische Diskurse in der Ausgestaltung konkreter Arrangements nur selten systematisch aufgenommen werden: So gibt es zwar Empfehlungen (vgl. Deutscher Verein 2004), Absprachen (vgl. AGJ/BA 2005), ebenso wie Problematisierungen, dass beispielsweise ,Freiwilligkeit' als Grundlage von Beratung im Rahmen des SGB II nicht gegeben ist (vgl. Autorenteam, 15); dennoch flieBen in die konzeptionellen Umsetzungen erziehungswissenschaftliche Diskussionen, die gerade jene Spannung zwischen Bildungs- und okonomischer bzw. arbeitsmarktpolitischer Logik beriicksichtigen, ebenso selten ein wie professionstheoretische tJberlegungen zu den Paradoxien zwischen hoheitsstaatlichen Verwaltungsakten, in denen die Leistungsgewahrung an bestimmte Verhaltensweisen der Anspruchsberechtigten und deren KontroUe gekniipft ist, und sozialpadagogischer Fallorientierung. Eine solche sozialpadagogische Fallorientierung miisste beispielsweise die individualisierenden Tendenzen der Logik des fiir die sozialen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt anvisierten Fallmanagements, das „Regieren durch Individualisieren" (vgl. Masschelein 2003, 139) in ihren Ambivalenzen betrachten: Dadurch wird einerseits ermoglicht, im Sinne passgenauer Hilfen die individuelle Lebenssituation zu beriicksichtigen. Andererseits erfolgt aber trotz der (rhetorischen) Beriicksichtigung schwieriger Situationen am Arbeitsmarkt eine
52
einseitige Verantwortungszuschreibung auf Seiten der Subjekte.^ Denn die implizite Logik ist, dass wer passgenaue Hilfen zur Starkung der employability erhalt, sich selbst die Schuld zuzuschreiben hat, wenn daraus dennoch kein Erwerbsarbeitsverhaltnis auf dem ersten Arbeitsmarkt entsteht. Eine sozialpadagogische Fallorientierung miisste vor diesem Hintergrund die Ermoglichung von gesellschaftlicher und politischer Partizipation sowie die Gestaltung des Sozialen und gesellschaftliche Ungleichheitsverhaltnisse einbeziehen. Eine begriffliche Entdifferenzierung von „Bildungsprozessen" und „Kompetenzentwicklung", die die Spannung zwischen Okonomie und Bildung aufgibt, und die rhetorische Reduzierung von Bildungsprozessen auf Selbstregulation Oder Selbstorganisation, konnen dazu beitragen, dass die Moglichkeiten sozialpadagogischer Fachlichkeit ungenutzt bleiben oder ihre Kraft einbuBen. Gerade der inflationar gebrauchte Begriff der Selbstorganisation miisste gleichsam bildungstheoretisch an Bewaltigungsherausforderungen und Lebenslagen riickgebunden und dadurch die Frage in den Vordergrund gestellt werden, wer je im Konkreten als sich selbst organisierendes Subjekt „angerufen" (vgl. Althusser 1977) wird. Nur so kann deutlich werden, in welchem Kontext „Selbstorganisation" zu einer zynischen Floskel verkommt, ohne dabei insgesamt ein Begehren nach selbstbestimmter Lebensfuhrung als ideologische Fiktion zu verabschieden: „Wenn sich das Subjekt (...) nur auf eine Seite seiner Doppeldeutigkeit hin auslegt, die es nur als Marionette unsichtbarer Fadenlenkungen verstandlich werden lasst, dann ist nicht nur fur Autonomie kein symbolischer Ort aufzufinden, dann biiBen selbst auch noch die lUusionen [von Autonomie; d. A.] ihre Kraft ein. Das Elend der Unterdriickung erhielte so gleichsam ontologische Weihen." (Meyer-Drawe 2000, 17f).
Urn jedoch der hier nur programmatisch formulierten Thematisierung der Komplexitat sozialpadagogischer Fachlichkeit auch gerecht werden zu konnen, muss zukiinftig eine empirisch-systematische Analyse dieser Formen der sozialen Dienstleistungen iiber eine qualitative Evaluationsforschung und quantitative Wirkungsforschung hinausgehen. Es gilt, Handlungsweisen im Kontext der tjbergange in Arbeit zu untersuchen und darauf aufbauend eine sozialpada1 Deutlich wird dies nicht nur in der grundlegenden Ausrichtung des SGB II (§ 1: „...die Eigenverantwortung von erwerbsfahigen Hilfebediirftigen starken und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, starken..."), sondem auch im Fachkonzept „Beschaftigungsorientiertes Fallmanagement im SGB 11" (BA (Hg.) 2005, 10): „Fallmanagement in der Beschaftigungsforderung ist ein auf den Kunden ausgerichteter Prozess mit dem Ziel der moglichst nachhaltigen Integration in den Arbeitsmarkt." Und weiter heiBt es: „So wird der individuelle Versorgungsbedarf eines Kunden im Hinblick auf das Ziel der mittel- und/oder unmittelbaren Arbeitsmarktintegration durch Beratung und Bereitstellung der verfugbaren Ressourcen abgedeckt und seine Mitwirkung eingefordert."
53
gogische Fachlichkeit im Kontext genuin sozialpadagogischer Handlungsformen (Beratung, Case-Management, Eingliederungsvereinbarung in Analogie zum Hilfeplanprozess) zu entwickeln und gleichzeitig deutlich zu machen, dass die strukturellen Bedingungen, wie beispielsweise die (Androhung von) Sanktionen, einer umfassenden sozialpadagogischen Professionalitat, die auf ein vertrauensvolles Verhaltnis und die Entstehung eines Arbeitsbtindnisses aufbaut, entgegenstehen.
Literaturverzeichnis Althusser, L. (1977): Ideologic und ideologische Staatsapparate. Aufsatze zur marxistischen Theorie. Hamburg und Westberlin Arbeitsgemeinschaft fur Jugendhilfe/Bundesagentur fur Arbeit (Hrsg.): Das SGB II und seine Auswirkungen auf die Kinder- und Jugendhilfe - Handlungsempfehlungen fur die kommunale Ebene der Kinder- und Jugendhilfe -. Berlin und Niimberg 2005; www.agj.de/pdf^5/ 2005/sgb2.pdf Arnold, H./Bohnisch, L./Schroer, W. (Hrsg.)(2005): Sozialpadagogische Beschaftigungsforderung. Lebensbewaltigung und Kompetenzentwicklung im Jugend- und Erwachsenenalter. Weinheim und Miinchen Autorenteam aus Kommunen, der Bundesagentur fur Arbeit, der Fachhochschule Frankfurt, der Fachhochschule des Bundes/FB Arbeitsverwaltung (Hrsg.): Fachkonzept „Beschaftigungsorientiertes Fallmanagement im SGB 11". www.kompetenzagenturen.de/download/2520_ver_dk_ 05 04_fachkonzept_abs_fallm.pdf Bitzan, M. (2000): Konflikt und Eigensinn. Die Lebensweltorientierung repolitisieren. In: neue praxis, 30 Jg., 4/2000, S. 335-346 BMFSFJ (Hrsg.)(2005): Zwolfter Kinder- und Jugendbericht: Bericht iiber die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin. Bohnisch, L. (1982): Der Sozialstaat und seine Padagogik. Neuwied und Darmstadt Bohnisch, L./Schroer, W. (2002): Kompetenzentwicklung und soziale Benachteiligung. In: Handbuch Kompetenzentwicklung. Miinster, New York und Berlin. S. 199-228 Bolder, A. (2002): Arbeit, Qualifikation und Kompetenzen. In: Tippelt, R. (Hrsg.)(2002): Handbuch Bildungsforschung. Opladen. S. 651-674 Brown, P. (2004): Gibt es cine Globalisierung positionalen Wettbewerbs. In: Mackert, J. (Hrsg.)(2004): Die Theorie sozialer SchlieBung. Wiesbaden. S. 233-256 Buestrich, M./Wohlfahrt, N. (2005): Case Management in der Beschaftigungsforderung? Zur sozialpolitischen Logik und Modemitat einer Methode in der Sozialen Arbeit. In: neue praxis. Zeitschrift fur Sozialarbeit, Sozialpadagogik und Sozialpolitik, 4/2005, S. 307-323 Bundesagentur fur Arbeit (Hrsg.): Fachkonzept „Beschafligungsorientiertes Fallmanagement im SGB 11". Abschlussfassung des Arbeitskreises. www.kompetenzagentur.de/themen/casemanagement .html#0505fachkonzept Burghardt, H. (2005): Arbeitsfiirsorge, Hilfe zur Arbeit und „modeme Dienstleistungen am Arbeitsmarkt". Stationen einer Chronologic. In: Burghardt/Enggruber (Hrsg.): Soziale Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Soziale Arbeit zwischen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Weinheim und Miinchen. S. 15-45
54
Burghardt, H./Enggruber, R. (Hrsg.)(2005): Soziale Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Soziale Arbeit zwischen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Weinheim und Miinchen Deutscher Verein (Hrsg.)(2005): SGB II und Jugendsozialarbeit. Empfehlung des Deutschen Vereins zur Zustandigkeit und Kooperation zwischen den Tragem der Jugendhilfe und den Tragem der Grundsicherung fiir Arbeitsuchende. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins, 11, 2005, S. 397-402 Deutscher Verein fur offentliche und private Fursorge: Empfehlungen des Deutschen Vereins zu Qualitatsstandards fur das Fallmanagement. 2004; www.deutscher-verein.de/stellungnahmen/ 200403/pdf/20040301 .pdf Ehrenspeck, Y. (1998): Versprechungen des Asthetischen: Die Entstehung eines modemen Bildungsprojekts. Opladen Enquete-Kommission „Zukunft des biirgerschaftlichen Engagements" (2002): Biirgerschaftliches Engagement: Auf dem Weg in eine zukiinftige Burgergesellschaft. Berlin Foucault, M. (1987): Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus, H. L./Rabinow, P.: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt am Main. S. 243-250 Foucault, M. (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Frankfurt am Main Fiilbier, P./ Munchmeier, R. (Hrsg.)(2001): Handbuch Jugendsozialarbeit. Munster Galuske, M. (2005): Hartz-Reformen, aktivierender Sozialstaat und die Folgen fur die Soziale Arbeit - Anmerkungen zur Politik autoritarer Fiirsorglichkeit. In: Burghardt/Enggruber (Hrsg.): Soziale Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Soziale Arbeit zwischen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Weinheim und Miinchen. S. 193-212 Hagestadt, G. (1991).: Trends and dilemmas in Life-course Research. In: Heinz, W. R. (Hrsg.): Theoretical advances in Life-course Research. Weinheim Homstein, W. (2004): Jugendpolitik - wider ihren Ruf verteidigt. In: Diskurs, 2, 2004 Kade, S. (1997): Denken kann jeder selbst - Das Ethos selbstbestimmten Lemens. In: Nuissl, E./Schiersmann, Chr./Siebert, H.: Pluralisierung des Lehrens und Lemens. Bad Heilbrunn. S. 8291 Karl, U. (2005): Zwischen/Raume. Eine empirisch-bildungstheoretische Studie zur asthetischen und psychosozialen Praxis des Altentheaters. Miinster Kirchhofer, D. (2004): Lemkultur Kompetenzentwicklung. Berlin Lemke, Th./Krasmann, S./Brockling, U. (2000): Gouvemementalitat, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In: Brockling, U./Krasmann, S./Lemke, Th. (Hrsg.): Gouvemementalitat der Gegenwart. Studien zur Okonomisiemng des Sozialen. Frankfurt am Main, S. 740 Lenhardt, G. (2001): Bildung. In: Joas, H. (Hrsg.): Lehrbuch der Soziologie. Frankfiirt und New York Lenhardt, G./Offe, C. (1977): Staatstheorie und Sozialpolitik. In: Ferber, Chr. v./Kaufmann, F.-X. (1977): Soziologie und Sozialpolitik. Sonderheft 19 KZfSS, Opladen Lex, T. (1997): Bemfswege Jugendlicher zwischen Integration und Ausgrenzung. Weinheim und Miinchen Liesner, A. (2004): Von kleinen Herren und groBen Knechten. Gouvemementalitatstheoretische Anmerkungen zum Selbstandigkeitskult in Politik und Padagogik. In: Ricken, N./Rieger-Ladich (Hrsg.): Michel Foucault. Padagogische Lektiiren. Wiesbaden. S. 285-300 Masschelein, J. (2003): Trivialisiemng von Kritik. Kritische Erziehungswissenschaft weiterdenken. In: Benner, D. u. a. (Hrsg.): Kritik in der Padagogik. Versuche uber das Kritische in Erziehung und Erziehungswissenschaft. Zeitschrift fur Padagogik, 46. Beiheft, S. 124-141 Mennicke C. (1930): Die sozialen Bemfe. In: Gablentz, O. v. d./Mennicke, C. (Hrsg.): Deutsche Bemfskunde. Leipzig Meyer-Drawe, K. (2000): lUusionen von Autonomic. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. Miinchen
55
Rieger-Ladich, M. (2002): Miindigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur padagogischen Semantik. Konstanz Schroer, W. (2004): Befreiung aus dem Moratorium. Zur Entgrenzung von Jugend. In: Lenz, K./Schr6er, W./Schefold, W.: Entgrenzte Lebensbewaltigung. Weinheimund Miinchen. S. 19-74 Schiitze, F. (1996): Organisationszwange und hoheitsstaatliche Rahmenbedingungen im Sozialwesen: Ihre Auswirkung auf die Paradoxien des professionellen Handelns. In: Combe, A./ Helsper, W. (Hrsg.): Padagogische Professionalitat. Untersuchungen zum Typus padagogischen Handelns. Frankfurt am Main. S. 183-275 Trube, A. (2003): Vom Wohlfahrtsstaat zum Workfarestate - Sozialpolitik zwischen Neujustierung und Umstrukturierung. In: Dahme, H.-J./Otto, H.-U./Trube, A.AVohlfahrt, N. (Hrsg.): Soziale Arbeit fur den aktivierenden Staat. Opladen Vonken, M. (2001): Von Bildung zu Kompetenz die Entwicklung erwachsenenpadagogischer Begriffe oder die Ruckkehr zur Bildung? In: Zeitschrift ftir Berufs- und Wirtschaflspadagogik, 4, 2001, S. 503-522
56
Sozialisations- und Integrationsprozesse von Jugendlichen mit Migrationshintergrund^ Manuela Westphal
Das Thema Sozialisation und Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund wird iiberwiegend vom Paradigma des Kulturkonflikts und von der Modemitats-Traditionalitatshypothese aus interpretiert sowie mit der Annahme patriarchalisch-autoritarer Strukturen in Migrantenfamilien erklart. Dass diese Perspektive nicht folgenlos bleibt, sondem sich konkret auf die Bildung der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auswirkt, zeigt die Studie GomoUa/Radtke (2002) iiber die institutionelle Diskriminierung in der Schule. In den gegenwartigen Diskussionen stehen jedoch ausschUeBHch die Misserfolge und Defizite entweder der Migrantenkulturen oder der Aufhahmegesellschaft im Vordergrund. Studien, die nach den Bildungserfolgreichen, den kompetenten Migrantenfamilien und -jugendlichen, ihren Ressourcen und Leistungen aber auch Restriktionen suchen, sind noch selten. Dies vermittelt dann haufig auch den Eindruck, als gebe es sie nicht. Letztlich haben wir es hier mit einer hartnackigen Reduktion der Migration auf einen Prozess des Verlustes, der Misserfolge und vielfaltiger Unterdriickung zu tun, die das Potenzial, das durch die Migrationserfahrung gegeben ist, fast vollstandig ignoriert. Fallbeispiele aus dem Bereich Jugend- und Familienhilfe zeigen, dass in Beratungssituationen (z. B. bei familiaren Erziehungskonflikten) mit auslandischen bzw. zugewanderten Klientel nach wie vor mit dem Traditions-Modemitatsansatz und der Kulturkonfliktthese gearbeitet wird. Andere Erklarungsfaktoren wie Uberschuldung, Tod eines Eltemteils, Armut etc. werden haufig als nachrangig betrachtet oder sogar ganz aus der Beratung ausgegrenzt. Dahinter steht die schlichte Erwartung, dass sich familiare Krisen vermeiden bzw. auflosen lassen, je mehr die Migrantenfamilie die westlich-modemen Strukturen und Orientierungen iibemehme (vgl. z. B. Kiss-Suranyi 2001). Familien und Jugendliche sehen sich dadurch dem Vorurteil und sogar dem Vorwurf ausgesetzt, eine doppeldeutige Haltung einzunehmen und ein „Leben zwischen zwei Welten" zu fiihren. Neuere Erkenntnisse iiber 1 Der Beitrag stellt eine iiberarbeitete Version des Vortrages „Migrantenfamilien: Soziale Lage und padagogische Angebote" auf dem Fiinften Bundeskongress Soziale Arbeit, 2003, Kassel, dar (vgl. Westphal 2005).
Integrationsprozesse und deren Auswirkungen auf Familien und Jugendliche liegen zwar bereits vor (vgl. Herwartz-EmdenAVestphal 2000), doch haben sie noch keinen Eingang in die offentlichen Debatten und in die Praxiszusammenhange von Sozialarbeit, Schule etc. gefunden, wie auch der 6. Familienbericht der Bundesregierung kritisiert (vgl. BMFSFJ 2000). Durch die Annahme der Kulturkonfliktthese besteht neben dem einseitigen Interpretationsmuster und der daraus resultierenden Festschreibung der Defizitthese auch eine weitere Gefahr: es werden einerseits die Unterschiede verdeckt, die sowohl zwischen als auch innerhalb von Migrationsgruppen existieren, und andererseits die Gemeinsamkeiten und Ubereinstimmungen verschleiert, die zwischen einheimischen Familien und denjenigen mit Migrationshintergrund herrschen.
1
Heterogenitat der Migrationsfamilie
Migranten- bzw. Einwandererfamilien in Deutschland insgesamt zu beschreiben, ist kaum zu leisten: durch (Gast-)Arbeitsmigration, Familiennachzug, Aussiedlerzuwanderung, Asylbewerber und Biirgerkriegsfluchtlinge, Heiratsmigrationen, Arbeitsmigrationen aus Osteuropa, Asien, Afrika sind diese sowohl sprachlich, kulturell, soziookonomisch als auch rechtlich eine auBerst heterogene Gruppe. Daraus ergeben sich unterschiedliche Migrationserfahrungen, teilweise sogar innerhalb der Familie. Zunehmend kommt es vor, dass selbst Eltemteile von Kindem der dritten Generation unterschiedlichen Migrationsgenerationen angehoren: der Vater, in Deutschland geboren und aufgewachsen, der zweiten; die Mutter, im Rahmen von Heiratsmigration aus dem Herkunftsland zugewandert, der ersten Generation. Innerhalb von Aussiedlerfamilien gibt es Deutsche und Auslander. Nur nach Herkunft zu differenzieren ist auBerst problematisch. In den Herkunftslandem der Migranten existiert ein Nebeneinander und Miteinander unterschiedlichster Familienformen. Ethnische Zugehorigkeit, geographische Herkunft, okonomische Situation sowie Migrationsmotivation und -geschichte etc. unterscheiden die Familien vielfaltig.
58
Daneben gelten die Aspekte der Individualisierung und Pluralisierung auch fiir Familien mit Migrationshintergrundl Hohere Scheidungsraten, allein lebende Frauen, veranderte Familienplanung, Erwerbstatigkeit von Frauen und gewandelte Erziehungsziele und -einstellungen sind nur einige Merkmale hierfur und zeigen gleichzeitig gemeinsame Strukturen zu Familien und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund auf. Folglich heiBt es Abschied zu nehmen von der These, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im Kontext zweier Welten - einerseits Herkunftskultur und andererseits deutsche Schule, Gesellschaft und Kultur stehen. Herkunfts- und Aufnahmekontext stehen nicht im Gegensatz, sondem werden im Migrations- und Integrationsprozess zu etwas Neuem verbunden. Mit dem Konzept der TransnationaUtat wird in der Forschung zunehmend dieser LebenswirkUchkeit Rechnung getragen. MigrantenfamiUen und deren JugendUche lassen sich immer weniger eindeutig auf ein Land, eine Kultur oder eine Sprache festlegen. So zeigt sich fiir Bildungslaufbahnen, dass sie zwischen den Kontexten verlaufen konnen, in beiden oder mehreren Kontexten verwertbar sind (Geburt und Aufwachsen in Deutschland, Abitur, Studium der Germanistik in der Tiirkei, Religions- und Ttirkischlehrerin in Deutschland, etc.). Jugendliche mit Migrationshintergrund zeigen zunehmend mobile Bildungsorientierungen, in der sie familien- (bzw. herkunfts)sprachliche Kompetenzen und kulturelle Erfahrungen als Wettbewerbsvorteil nutzen wollen (vgl. Gogolin 2003; Fiirstenau 2004). Eine Rtickkehr- (wie auch Pendler- oder Weiterwanderungs)perspektive ist dann keineswegs mehr nur ein Festhalten an der Herkunftskultur, sondem eine adaquate Strategic, sich im europaischen bzw. intemationalen Kontext souveran zu bewegen. Damit stehen Bildungs- und Beratungseinrichtungen zunehmend vor der Aufgabe, nationalitaten- bzw. herkunftsiibergreifende interkulturelle Kompetenzen entwickeln zu mussen (vgl. Pavkovic 1999). Das heiBt dann aber auch, dass nicht nur die kulturelle Dimension einzubeziehen ist, sondem auch die psychologischen, sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen von Sozialisations- und Integrationsprozessen zu beriicksichtigen sind.
2 Schepker u. a. (1997) finden in ihrer Studie uber familiare Bewaltigungsformen der Migration diverse kompetente Familientypen (definiert als Familien ohne auffallige Kinder): die „hinubergerettete" monokulturell-selbstbewusste Familie, die erfolgreiche, modeme Migrantensubkulturfamilie, die intellektuell weitsichtige Familie, die modeme GroBstadtfamilie, die selbstbewusste Alleinerziehende, die familienzentriert kohasive Familie, stabil religiose Familie und politische Familie.
59
2
Komplexitat der Integrationsprozesse
Der Einwanderungsprozess fiir Familien und die sich anbahnenden Veranderungen, auch in den Identitatskonstruktionen der Mitglieder, verlaufen sehr komplex und konnen in einem solch eindimensionalen Bezugsrahmen meist nicht erklart werden (vgl. Herwartz-Emden 2000). Befragt man Aussiedler Jugendliche wie Eltem -, zeigt sich in deren Selbstbeschreibungen, dass sie sich nicht als zwischen zwei Kulturen oder Gesellschaften Stehende begreifen, sondem sich als im Prozess des Reflektierens und Neudefinierens inmitten verschiedener Kontexte beschreiben (vgl. Herwartz-EmdenAVestphal 2000). Damit stellen Integration und Sozialisation keine einseitigen Anpassungsprozesse an die Umwelt dar, sondem sind produktive Realitatsverarbeitung. Jugendliche mit Migrationshintergrund miissen sich zu verschiedenen kulturellen, gesellschaftlichen Kontexten aktiv und gestaltend verhalten. Wie sie das tun bzw. wie sie damit umgehen, diese ausbalancieren und vereinbaren, mit- und umgestalten, ist zum einen von den individuellen Voraussetzungetf und Ressourcen wie Bildungshintergrund, Sprachkompetenz und Einreisealter abhangig. Zum anderen liegt der jeweilige Ausgang von Integration aber auch in der Bereitschaft der Aufiiahmegesellschaft bzw. ihrer Mitglieder, Teilhabechancen (wie z. B. im Bildungssystem, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt) zu gewahrleisten und Kontakte sowie Partizipation (im offentlichen und kulturellen Leben) tiberhaupt zuzulassen bzw. zu fordem. Uber Kinder und Jugendliche hat man lange Zeit angenommen, dass sie sich wesentlich schneller und einfacher integrieren wiirden als Erwachsene, auch aufgrund der Tatsache, dass sie die Sprache leichter erlemen und insgesamt iiber Schule, Freunde etc. eher sozial integriert seien. Die nun in den letzten Jahren gewachsenen Integrationsprobleme z. B. von Aussiedlerkindem und -jugendlichen werden meist damit erklart, dass sie eine „mitgenommene" oder „zwangsausgesiedelte" Generation seien, der kein Mitspracherecht bei der Ausreise eingeraumt wurde. Die Annahme der Unfreiwilligkeit der Ausreise mit ihren dramatischen Konsequenzen fiir Kinder und Jugendliche zeigt sich empirisch als nicht haltbar. Es ergibt sich im Gegenteil ein vielschichtigeres Bild hinsichtlich der Mitwirkung der Jugendlichen bei der Ausreiseentscheidung (vgl. Dietz/Roll 1998). Demnach tragt die Mehrheit der Jugendlichen die Ausreiseentscheidung mit, indem sie gemeinschaftlich mit der Familie entschieden oder den Ausreiseentschluss begruBten. Nur wenige Jugendlichen haben das Gefiihl, keinen wesentlichen Einfluss auf die Ausreiseentscheidung gehabt zu haben oder nicht 3 Die Voraussetzungen werden gegenwartig in neueren, qualitativ-rekonstruktiv angelegten Studien vor allem als biographische Vorerfahrungen und Subjektkonstruktionen analysiert (vgl. Badawia 2002; Gultekin 2003; Hummrich 2002; Nohl 2001; Sauter 2000; Unger 2000).
60
gefragt worden zu sein. Empirisch belegt ist allerdings, dass die Freiwilligkeit, die Akzeptanz und eine bejahende Einstellung zur Ausreise positive Auswirkungen auf die Befindlichkeit der Kinder und Jugendlichen nehmen (vgl. Schmitt-Rodermund u. a. 1996; Meister 1997). Auch positive Vorstellungen uber das Leben in Deutschland, das Vorhandensein bereits ausgesiedelter Freunde und Familienmitglieder, klar umrissene Zukunftserwartungen, vor allem in Hinblick auf Berufsmoglichkeiten und die Verbesserung der materiellen Situation, begiinstigen die Bereitschaft der Kinder und Jugendlichen, sich auf die neuen Verhaltnisse einzulassen und die auf sie zukommenden Schwierigkeiten als zeitlich befristet zu sehen. Die Komplexitat und Prozesshaftigkeit von Sozialisation und Integration bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund kann femer am Beispiel der Religion aufgezeigt werden. Der religiose Einfluss z. B. des Islams ist in Bezug auf das familiare Interaktionsgeschehen und die Positionsbestimmungen von Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund differenziert zu betrachten. Tatsachlich orientieren sich nur wenige Familien in alien Bereichen ihres Lebens am Islam und stellen einen Bezug zwischen ihrem Erziehungsverhalten und islamisch bestimmten Normen her (vgl. Riesner 1990). Auch hinsichtlich des Ehrkonzeptes und der den Madchen auferlegten Einschrankungen und Grenzen zeigt sich eine erhebliche Spannbreite des Eltemverhaltens. Die Einschrankungen haben aber jeweils unterschiedliche Auswirkungen fiir Madchen: von Akzeptanz und Beftirwortung der elterlichen Einschrankungen (bzw. werden diese nicht als Einschrankung empfunden) bis hin zur familiaren Krise oder Abbruch der Beziehung zu den Eltem. Viele erweitem ihre Spielraume gerade in Konfrontation mit ihren Eltem, sie setzen dabei auf eine Strategic der sanflen und stetigen Durchsetzung mit Hilfe von Ftirsprechem (z. B. der eigene Bruder), Begleitung (z. B. durch die Mutter), tJberredungskiinsten, Ausreden, Verharmlosungen, Verschweigen oder Verheimlichen. Ein wichtiger Faktor ftir das jeweilige familiare Geschehen ist der Grad der Kontrolle durch die ethnische Gemeinde. Es ist nicht selten so, dass die Eltem spezifische Freizeitinteressen (z. B. Sport) der Madchen unterstiitzen wiirden, es ihnen jedoch gleichzeitig wichtig ist, ein bestimmtes Bild vor der eigenethnischen Gmppe bzw. Community aufrecht zu erhalten (Westphal 2004). Autonomiebestrebungen der Jugendlichen mit Migrationshintergmnd verlaufen nicht gegen die Familie, sondem in Interaktion mit den Eltem und Geschwistem. Ein Individuum zu werden und gleichzeitig eine Beziehung zu den Eltem bzw. zur Herkunftsfamilie zu haben, muss bei Jugendlichen kein Gegensatz sein, sondem reprasentiert die beiden Seiten eines einzigen Entwicklungsprozesses. Dementsprechend ist das „Wie" der Interaktion mit den Eltem ausschlaggebend fur Entwicklungsverlaufe sowie die gesamte Orientiemng der 61
Eltem in dieser Lebensphase. Andererseits nehmen die Jugendlichen in dieser Phase die Erwartungen an die Eltem mit Blick auf materielle und emotionale Unterstutzung zuriick - sie werden von den Erwartungen an den Freundeskreis bzw. die Clique iiberlagert. Die ausgepragte Orientierung der Jugendlichen an ihrer Alters- und Freundschaftsgruppe verweist auf die hohe Bedeutung dieser Bezugspersonen. Alle Schwierigkeiten werden besprochen und bewaltigt; hier werden wesentliche Praktiken und Orientierungen gemeinsam diskutiert, ausprobiert und verhandelt und somit versucht, diese in einen individuellen oder kollektiven handlungsleitenden Bezugsrahmen zu bringen. Oft entwickeln die Jugendlichen in ihrer Clique - meist in bewusster Abgrenzung und Entgegensetzung zu einheimischen Jugendlichen - einen neuen, jugendkulturellen Lebensstil. Mit diesem treten sie in Konkurrenz zu anderen, vomehmlich zu den einheimischen Jugendlichen und ihren Jugendkulturen bzw. ihren Stilen. Diese von ausgesiedelten Jugendlichen selbst berichtete und reflektierte Praxis ist ein Beispiel ftir die interkulturelle Kompetenz der Jugendlichen und flir ihre Fahigkeit, ihre sprachliche und soziale Diversitat produktiv in eigene Konzepte umzusetzen. Andererseits entsteht auch ein negativer Begleiteffekt: Bei der Bewaltigung der alltaglich zu leistenden Anforderungen, dem Umgang mit Stigmatisierung und Ausgrenzung gewinnen stabile und damit auch „traditionelle" Orientierungen an Bedeutung. Diese von auBen erlebten Stigmatisierungen konnen im Zusammenspiel mit dem Empfmden, geringe Spielraume zu haben, eine AuBenseitermentalitat befordem - wobei diese Haltung vorwiegend von mannlichen Jugendlichen in die Gruppen getragen wird (vgl. Herwartz-Emden/ Westphal 2002; Sauter 2000). Viele Jugendliche mit Migrationshintergrund erleben im Alltag einen Rechtfertigungszwang, sich entweder dem Herkunfts- oder Aufiiahmekontext begriindet zuordnen zu miissen, was sie flir sich ablehnen und im Grunde genommen auch nicht leisten konnen. Ihre Entwicklungsprozesse und Lebensentwiirfe werden innerhalb mehrerer Kulturen und Kontexte gestaltet: Sie bewegen sich nicht zwischen den Stiihlen, sondem sitzen auf einem dritten Stuhl (Badawia 2002) bzw. diuf alien Stiihlen (Otaykmaz 1995). Der dritte Stuhl verweist dariiber hinaus auf kulturelle Neukonstruktionen im Sinne von Ich bin beides und trotzdem beiden gegeniiber doch anders. Bildungserfolgreiche wissen dabei um die Extraleistungen standige Selbstaktualisierung und Selbstvergewisserung in und mit den verschiedenen Kulturwelten, die sie alltaglich erbringen (vgl. Badawia 2002). Typisch sind deutliche Abgrenzungen sowohl vom „Auslanderstatus der Gastarbeitergeneration" als auch von der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland. Gerade diese Ablosungen, die eine Art Selbstbefreiung der jungen Generation aus der historisch etablierten Kategorie „Auslander" darstellt, scheint eine der zentralen Prozessaspekte der Konstruktion eines eigenen kulturell-
62
reflektierten Wertesystems, einer modem-transkulturellen Identitat, eines „dritten Stuhls" zu sein. Die verweigerte Normalitat bzw. der nicht zugesprochene Subjektstatus stellt ein zentrales Moment fur die Abgrenzung von der deutschen Mehrheitsgesellschaft dar. Ihre Lebensentwixrfe und Interkulturalitat (z. B. Mehrsprachigkeit) werden als Identitatsvarianten eher abgewertet und als Dauerkrise stigmatisiert. Damit werden jedoch die in ihrem Entwicklungsprozess enthaltenen sozial-kreativen und flexiblen Anteile nicht als Ressourcen wahrgenommen und anerkannt.
3
Migrations- und geschlechtsspezifische Aspekte der Sozialisation
In Bezug auf das Lebensalter Adoleszenz ist es wichtig, die geschlechtsspezifischen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz mit den Herausforderungen und Schwierigkeiten, welche sich durch die Migration ergeben, in Zusammenhang zu bringen. Die Aufgaben der Adoleszenz sind fur Einheimische und fur Jugendliche mit Migrationshintergrund geschlechtsspezifisch variiert. Sie stellen sich fiir Jungen und Madchen unterschiedlich dar, so dass sich grundsatzlich verschiedene Entwicklungsverlaufe ergeben. Zu der Frage, wie Integrationsbemiihungen auf Seiten der Jugendlichen mit der Konstituierung der Geschlechtsidentitat zusammenwirken, liegen bis dato keine Untersuchungen vor. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass sich die Erfahrungen von kultureller Differenz an die geschlechtsspezifischen Entwicklungsaufgaben anlagem oder diese z. T. tiberlagem - denn Diskriminierung wegen fremdartigem Aussehen, Hautfarbe, Sprachgebrauch u. a. gehoren zum Alltagserleben. Madchen reagieren auf solche Diskriminierungserfahrungen haufig mit dem Verlust des Selbstwertgefiihls, wahrend Jungen nach Reaktionsweisen suchen, die mehr auf der Ebene der nach auBen gerichteten Aktivitat - wie aggressives oder gewaltformiges Verhalten - liegen (vgl. Herwartz-Emden/Steber 2004). Die Adoleszenz lasst sich als Einiibung in die Spielraume und Zumutungen von Weiblichkeit bzw. Mannlichkeit interpretieren, wobei sich diese je nach gesellschafllichem Hintergrund (Herkunfts- und Aufnahmekontext) unterschiedlich darstellen und sich z. T. widersprechen konnen. Die Befragung von weiblichen Aussiedlerjugendlichen ergab, dass sie sich mit Vorgaben an die Weiblichkeit, wie z. B. den rein korperbezogenen Idealen von Schonheit und Mode, Schlankheit und Gesundheit sowie Mutterschaft auseinandersetzen. Dennoch scheint fur einige Madchen die Abwertung von Mutterschaft, wie sie im bundesdeutschen Kontext zum Tragen kommt, eine wenig vertraute GroBe zu sein (vgl. Herwartz-Emden/Westphal 2002). Ebenso erfahren sie die Dimension der Vereinbarkeitsproblematik, die in Deutschland an die „private Losung" durch 63
die Frau gebunden und mit „typisch weiblichen" Berufswiinschen verkniipft ist, als Widerspruch zu den GeschlechterroUen aus ihrem Herkunftskontext. Daneben gibt es allerdings auch weibliche Aussiedlerjugendliche, die hinsichtlich der Zukunftsperspektiven eine Heirat nur unter der Bedingung erstrebenswert finden, auch den richtigen Mann gefunden zu haben. Sie konnen sich durchaus ein Leben als allein erziehende Mutter vorstellen. Diese Madchen, die sich - wie auch einige einheimische Madchen - noch nicht vorstellen konnten, tiberhaupt Kinder zu bekommen und zu heiraten, thematisierten stark das Thema Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann und Unabhangigkeit - und lehnten ausdriicklich eine Abhangigkeit vom Mann ab. Ebenso werden „altemative" Familienvorstellungen wie voreheliche oder nichteheliche Partnerschaften thematisiert (vgl. ebd.). Solche „altemativen" Familienvorstellungen werden jedoch von Migrantinnen ttirkischer Herkunft nicht bzw. kaum thematisiert. Dennoch fmden auch hier Neukonstruktionen statt, die sowohl die geschlechtsspezifischen Zuschreibungen aus dem Herkunfts- wie auch dem Aufnahmekontext verbinden. Neuere Untersuchungen machen deutlich, dass z. B. die Orientierung an Religiositat und Selbstbestimmung bei den jungen Frauen und Mannem tiirkischer Herkunft durchaus keinen Widerspruch in den Identitats- und Lebensentwtirfen darstellt (vgl. Karakasoglu 2003). Dieser Aspekt fmdet besonderen Ausdruck in Lebensbereichen, die kulturell segmentiert bleiben, wie z. B. im Bereich der Partnerwahl. Auch Migrantinnen der zweiten Generation heiraten bevorzugt in der Herkunftskultur, modifizieren aber durch ihre kritische Haltung und geschlechteregalitares Denken traditionelle Ehe- und Partnerschaftskonzepte (vgl. Herwartz-EmdenAVestphal 2002). Dieser Zusammenhang lasst sich derzeit eher bei den Madchen und jungen Frauen nachweisen, als bei den gleichaltrigen Mannem. Auch die von ihnen teilweise voUzogene Neo-Islamisierung zeigt sich eher als nicht desintegrativ. Oft sind es die bildungserfolgreichen jungen Frauen, die selbstbewusst religiose Zeichen mit denen der Massenkultur kombinieren, wie auch Glaubigkeit mit Modemitat (vgl. Nokel 2002). Ihre Neo-Islamisierung verstehen sie als selbstbewusstes Bekenntnis zur eigenen Identitat, und nicht als Ausdruck folgsamer bis hin zu fiindamentalistischer Religiositat. Ihre Islamisierung voUzieht sich auch nur zum Teil in den Strukturen der Moscheen, meist weichen sie von diesen Strukturen ab. Sie suchen durch ihre reflektierte Ausrichtung insbesondere die Befreiung von nicht originar islamischen, aber qua Religion legitimierten Regulationen des weiblichen Verhaltens. Im Gegensatz hierzu zeigt sich insbesondere bei mannlichen Jugendlichen der zweiten Migrationsgeneration ein Festhalten an traditionellen und zum Teil konflikthaften Mannlichkeitskonstruktionen („ethnic revival"), die durch die verweigerte Anpassung an die Normalitat eine fiir sie besondere Bedeutsamkeit erhalt.
64
Die Mehrzahl der jungen Migrantinnen erweitert ihre Lebenskonzepte selbstbestimmt und kreativ. Dabei steht die in Migrantenfamilien anzutreffende starke Familienbindung der Autonomie- und Identitatsentwicklung von Tochtem nicht im Wege. Biografisch angelegte Studien zeigen (vgl. Apitsch 1996; Hummrich 2002), dass Madchen die familiare Bindung nutzen, um emotionale Handlungssicherheit zu erhalten. Entfremdung und Distanznahme zu den Eltem bzw. zu einem Eltemteil werden situativ herbeigefuhrt, um eigene Interessen durchzusetzen und sich gegen deren normative Vorstellungen zu behaupten. Offenbar wirkt sich dabei der familiare Widerspruch zwischen Reproduktion der Tradition (starkere Kontrolle der Tochter) und Transformation der Lebensform durch das Migrationsprojekt (Bildungserwartung) produktiv auf die Reflexionsfahigkeit und die selbstandigen Handlungsentwiirfe der Tochter aus. Ihr Bildungserfolg wird durch, mit und gegen Familie und Schule erbracht (Hummrich 2002). Insgesamt scheinen junge Migrantinnen der zweiten (und dritten) Generation flexibler auf die Migrationsbedingungen und Anforderungen der deutschen Gesellschaft zu reagieren. Sie zeigen zumeist auch bessere und hohere Schulabschltisse als die mannlichen Altersgenossen. Madchen wie Jungen streben eine qualifizierte Schul- und Berufsausbildung an. Dennoch zeigt sich im Vergleich zu deutschen Jugendlichen ein enormes Bildungs- und Ausbildungsgefalle (vgl. Granato 2003). Dieses zeigt sich vor allem im Anteil auslandischer Jugendlicher an den unterschiedlichen Schulformen und -arten. Wahrend Grund-, Haupt-, Gesamt- und Sonderschulen einen Anteil von auslandischen Schtilem und Schiilerinnen zwischen 12 %-18 % aufwiesen, besuchten bundesweit lediglich 6,8 % von ihnen die Realschule und nur 3,9 % ein Gymnasien (Schuljahr 2002/03). Diese Segregation wirkt sich dementsprechend auch auf die Bildungsabschliisse aus: So erhielten 25,1 % deutsche, aber nur 9,6 % auslandische Absolventen die Allgemeine Hochschulreife; mit Realschulabschluss verlieBen 41,2 % deutsche und 28,8 % auslandische Schiller und Schiilerinnen die Schule, mit Hauptschulabschluss 24,1 % bzw. 40,8 %. Der Unterschied setzt sich bei denjenigen Jugendlichen fort, die ohne Abschluss die Schule verlassen: Hier sind es 8,2 % deutsche zu 19,5 % auslandische Jugendliche (Schuljahr 2001/2002). Allerdings sind bzgl. der Schulformen und der Bildungsabschliisse regionale Unterschiede ebenso zu beriicksichtigen, wie Nationalitaten- und Geschlechterunterschiede (vgl. Herwartz-Emden 2005). Junge Frauen mit Migrationshintergrund messen der beruflichen Ausbildung einen hohen Stellenwert bei: 84% der Schulabgangerinnen auslandischer Nationalitat halten es fiir sehr wichtig, dass eine Frau einen Beruf erlemt und iiber ein eigenes Einkommen verfiigt (vgl. Granato 2004). Trotz verbesserter Bildungsabschliisse hat sich der Anteil junger Frauen auslandischer Nationalitat an einer Ausbildung im dualen System seit Mitte der 1990er Jahre nicht erhoht, sondem
65
ist seither sogar riicklaufig. So miinden junge Frauen mit Migrationshintergrund vielfach in den Warteschleifen der BerufVorbereitung - viele von ihnen (iiber 40 %) bleiben sogar ohne Berufsabschluss (vgl. ebd.). Auffallig an der Ausbildungssituation ist vor allem, dass junge Frauen mit Migrationshintergrund sich auf nur wenige Berufe konzentrieren: Friseurin, Arzt- oder Zahnarzthelferin, Verkauferin oder Kauffrau im Einzelhandel - schliefilich miinden 51 % der weiblichen Jugendlichen in nur vier Ausbildungsberufen. Kennzeichen der ihnen offenen Berufsfelder sind geringe tJbemahmechancen und VerdienstmogHchkeiten sowie schlechte Arbeitsbedingungen. Dass junge Migrantinnen in kaufmannischen Berufen wie Industriekauffrau, Bank- und Versicherungskauffrau oder im offentlichen Dienst kaum anzutreffen sind, lasst sich aus dem o. g. schon fast ableiten.
4
Fazit
Migration ist nicht allein als eine Situation anzusehen, die vorwiegend oder ausschlieBlich Krisenpotentiale enthalt, sondem sie ist selbst bereits ein Projekt zur Uberwindung von Krisen und zur Erlangung von Autonomic. Dabei ist zwischen einzelnen Migrationsfamilien zu differenzieren, da Herkunft, okonomische Lage, Bildungsniveau u. a. ebenfalls in den Integrations- und SoziaKsationsprozess von Kindem und JugendUchen einflieBen. Die Differenzen, die zwischen einzelnen Migrationsgruppen bestehen, dtirfen dabei ebenso wenig iibersehen werden wie die Differenzen, die innerhalb einer scheinbar „homogenen" Gruppe existieren. AuBerdem diirfen die Gemeinsamkeiten nicht aus dem Blick geraten, die zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund vorhanden sind, da diese z. B. einen Hinweis darauf geben, welche Problemlagen oder Lebensentwurfe eher im Kontext der Migration und welche eher im Entwicklungs- und Sozialisationskontext, z. B. der Adoleszenz, zu interpretieren sind. Ebenso soUte die Aufmerksamkeit starker auf die erfolgreichen Migrantenfamilien und deren Mitglieder gerichtet werden sowie auf ihre Kreativitat, Ressourcen und Eigeninitiative. Deren Integrationsprozesse verlaufen allerdings nicht einheitlich, sondem verschieden und nicht-linear von einer Migrationsgeneration zur nachsten. Sie sind vielschichtig, haufig auch in sich widerspriichlich und flir jeden Bereich (geschlechts)spezifisch.
66
Literaturverzeichnis Apitzsch, U. (1995): Frauen in der Migration. In: Zeitschrift fur interkulturelle Frauenalltagsforschung, 1/1995, S. 9-25 Badawia, T. (2003): „Der Dritte Stuhl" Eine grounded-theory-Studie zum kreativen Umgang bildungserfolgreicher Immigrantenjugendlicher mit kultureller Differenz. Frankfurt a.M. Bundesministerium fur Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2000): Familien auslandischer Herkunft in Deutschland. Leistung, Belastung, Herausforderung, 6. Familienbericht. Berlin Dietz, B./Roll, H. (1998): Jugendliche Aussiedler - Portrait einer Zuwanderergeneration. Frankfurt a.M./New York Fiirstenau, S. (2004): Transnationale (Aus-)Bildungs- und Zukunftsorientierung. Ergebnisse einer Untersuchung unter zugewanderten Jugendlichen portugiesischer Herkunft. In: Zeitschrift fur Erziehungswissenschaft, 1/2004, S. 33-57 Gogolin, I. (2003): Bildung: Grenzenlos flexibel? In: Betrifft, Zeitschrift der Auslanderbeauftragten des Landes Niedersachsen, 3/2003, S.4-5 GomoUa, M./Radtke, F.-O. (2002): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen Granato, M. (2004): Feminisierung der Migration - Chancengleichheit fur Qunge) Frauen mit Migrationshintergrund in Ausbildung und Beruf Kursexpertise fiir den Sachverstandigenrat ftir Zuwanderung und Integration. Bonn Dies (2003): Jugendliche mit Migrationshintergrund - auch in der beruflichen Bildung geringe Chancen? In: Auemheimer, G. (Hrsg.): Schieflagen im Bildungssystem: Die Benachteiligung der Migrantenkinder. Opladen. S.113-135 Giiltekin, N. (2003): Bildung, Autonomic, Tradition und Migration. Doppelperspektivitat biographischer Prozesse junger Frauen aus der Tiirkei. Opladen Herwartz-Emden, L. (2005): Migrant/-innen im deutschen Bildungssystem. In: Bundesministerium fur Bildung und Forschung (Hrsg.): Migrationshintergrund von Kindem und Jugendlichen: Wege zur Weiterentwicklung der amtlichen Statistik. Bonn/Berlin. S. 7-24 Herwartz-Emden, L. (2000): Einwanderfamilien. Geschlechterverhaltnisse, Erziehung und Akkulturation. IMIS-Schriften Band 9. Osnabriick Herwartz-Emden, L./Steber, C. (2004): Migration, Ethnizitat und Geschlecht. In: Richter, U. (Hrsg.): Jugendsozialarbeit im Gender Mainstream. Gute Beispiele aus der Praxis. Wiesbaden. S. 137151 Herwartz-Emden, L./Westphal, M. (2002): Integration junger Aussiedler: Entwicklungsbedingungen und Akkulturationsprozesse. In: Oltmer, J. (Hrsg.): Migrationsforschung und Interkulturelle Studien. IMIS-Schriften Band 11. Osnabriick. S. 229-259 Dies.(2000): Akkulturationsstrategien im Generationen- und Geschlechtervergleich bei eingewanderten Familien. Materialien zum 6. Familienbericht, Bd.l. Opladen. S. 229-271 Dies.(1999): Frauen und Manner, Miitter und Vater. Empirische Ergebnisse zu Veranderungen der Geschlechterverhaltnisse in Einwandererfamilien. In: Zeitschrift fUr Padagogik, 45/1999, S. 885902 Hummrich, M. (2002): Bildungserfolg und Migration. Biographien junger Frauen in der Einwanderungsgesellschaft. Opladen Karakasoglu, Y. (2002): Geschlechteridentitaten (Gender) unter turkischen Migranten und Migrantinnen. In: Deutsch-Ttirkischer Dialog der Korberstiftung (Hrsg.): Geschlecht und Recht. Hamburg. S. 34-53 Kiss-Suranyi, I. E. (2001): Erziehungsprobleme traditionell-patriarchaler Migrantenfamilien in der sozialen Beratung. In: Sozialmagazin, 26/2001, S. 12-18 Meister, D. (1997): Zwischenwelten der Migration. Biographische Ubergange jugendlicher Aussiedler aus Polen. Weinheim/Miinchen
67
Nohl, A.-M. (2001): Migration und Differenzerfahnmg. Junge Einheimische und Migranten im rekonstruktiven Milieuvergleich. Opladen Nokel, S. (2002): Die Tochter der Gastarbeiter und der Islam. Znr Soziologie alltagsweltlicher Anerkennimgspolitiken. Eine Fallstudie. Bielefeld Otaykmaz, B. O. (1995): Auf alien Stiihlen: das Selbstverstandnis junger tiirkischer Migrantinnen in Deutschland. Koln Pavkovic, G. (1999): Interkulturelle Kompetenz in der Erziehungsberatung. In: Zeitschrift fur Migration und soziale Arbeit, 2/1999, S. 23-29 Riesner, S. (1990): Junge turkische Frauen der zweiten Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Analyse von Sozialisationsbedingungen und Lebensentwiirfen anhand lebensgeschichtlich orientierter Interviews. Frankfurt a. M. Sauter, S. (2000): Wir sind »Frankfurter Turken«. Adoleszente Ablosungsprozesse in der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Frankfurt a. M. Schmitt-Rodermund, E./Silbereisen, R. K.AViesner, M. (1996): Junge Aussiedler in Deutschland: Pradikatoren emotionaler Befindlichkeit nach der Immigration. In: Zeitschrift fur Entwicklungspsychologie und padagogische Psychologic, 4/1996, S. 35-76 Schepker, R. u. a. (1997): Familiare Bewaltigungsstrategien und institutionelle Zugange bei Erziehungsschwierigkeiten. Am Beispiel von migrierten Familien aus der Ttirkei. In: Gogolin, I.: Tagungsband FABER (Folgen der Arbeitsmigration fur Bildung und Erziehung, 20.-22. Marz. Gustav-Stresemann-Institut. Bonn. S. 344-343 Westphal, M. (2005): Sozialisation und Akkulturation in Migrantenfamilien. In: Thole, W. u. a.: Soziale Arbeit im offentlichen Raum. Wiesbaden. (Tagungsbeitrag Fiinfter Bundeskongres* Soziale Arbeit). CD Rom Kap. 4.3 Soziale Arbeit im privaten und offentlichen Raum Westphal, M. (2004): Integrationschancen fur Madchen und Frauen mit Migrationserfahrung im und durch den Sport. In: Deutsche Jugend, 52/2004, S. 480-485 (Teil I), 52/2004, S.526-532 (Teil II) Westphal, M. (2004): Migration und Genderaspekte. In: Bundeszentrale fiir politische Bildung; www.bpw.de Gender Bibliothek
68
Identitatsbildung und Kompetenzerwerb - Lernangebote und Hilfen fur benachteiligte Jugendliche in der Hauptschule Hanna Kiper
1
Einleitung
In diesem Beitrag frage ich zunachst danach, wer zu den benachteiligten Jugendlichen zu zahlen ist. Ich diskutiere die Fragen nach Identitatsbildung und Kompetenzerwerb auch als Zielsetzungen fur die padagogische Arbeit in der Hauptschule. AbschlieBend erortere ich, inwiefem Lernangebote und Hilfen, die von der Hauptschule bereitgestellt werden, benachteiligten Jugendlichen eine Chance geben und stiitze mich dabei auf die Vorschlage im Niedersachsischen Erlass: „Zur Arbeit in der Hauptschule".
2
Benachteiligte Jugendliche
Unter der Jugendphase wird eine Ubergangsperiode verstanden, die zwischen der Kindheit und dem Erwachsenenalter liegt. Jugendliche miissen Schritt fiir Schritt die Vorrechte von Kindem aufgeben und sich mit Aufgaben und Rollen von Erwachsenen vertraut machen. Die Dauer der Jugendphase ist einerseits abhangig vom Zeitpunkt des Eintritts der Geschlechtsreife (Pubertat) und von der Lange des Zeitraums, der fur die Ubemahme von Rollen und Aufgaben in der Gesellschaft als notwendig angesehen wird, also von der Dauer der Schulzeit und der Lange von Ausbildung und/oder Studium. Sie wird auch beeinflusst von den Moglichkeiten des frtihen oder spaten Berufseintritts. Wenn wir tiber Jugendliche, Benachteiligung und Bildung nachdenken, kann das unter unterschiedlichen Perspektiven geschehen. Unter einer soziologischen Perspektive wird, ausgehend von der Idee der Chancengleichheit, uber Benachteiligung nachgedacht. Dabei wird mit zwei Grundmodellen gearbeitet, namlich einem einfachen statistischen Proporzmodell. Dabei werden die Anteile von gesellschaftlichen Gruppen (z. B. nach Herkunft/Schicht, Geschlecht, Ethnic) auf den verschiedenen hierarchischen Ebenen der Bildungsinstitutionen mit ihren Anteilen an der Gesamtbevolkerung verglichen. „Proportionale Chancengleichheit ist verwirklicht, wenn die Gruppen auf den verschiedenen Ebenen des
Bildungssystems anteilmaBig so vertreten sind wie in der Bevolkerung. Je weiter Bevolkerungsproporz und Proporz in den Bildungseinrichtungen auseinander liegen, desto groBer ist die Chancenungleichheit" (GeiBler 2005, 72). Das Proporzmodell wird als MaB ftir den Grad der Ungleichheit gewahlt. Beim meritokratischen Modell orientiert sich die Chancengleichheit am Leistungsprinzip. Auf dem Hintergrund der international vergleichenden Schulleistungsstudien wurde festgestellt, dass zwar Kinder aus alien Schichten, vor allem auch die Madchen, von der Bildungsexpansion profitiert haben, dass es aber keinen Abbau schichttypischer Unterschiede gab. „Der Ausbau der Realschulen und Gymnasien kam zwar alien Schichten zugute, aber nur an den Realschulen konnten die Kinder aus der unteren Halfte der Gesellschaft zu den anderen aufschlieBen; beim Run auf die Gymnasien haben sich dagegen die Chancenabstande zwischen privilegierten und benachteiligten Gruppen vergroBert (...). So lagen die Chancen von Kindem der hoheren Beamten und leitenden Angestellten, ein Gymnasium zu besuchen, 1950 um 37 Prozentpunkte hoher als die diejenigen der Kinder von Un- und Angelemten. Bis 1989 ist dann der Abstand auf 54 Prozentpunkte angestiegen" (GeiBler 2005, 75). Die Ergebnisse der PISA-Studie resiimierend, stellt GeiBler heraus, dass das deutsche Bildungssystem (zusammen mit Belgien, Ungam und der Schweiz) zu den Landem gehort, in der Kinder aus sozial schwachen Schichten am meisten benachteiligt werden. Das deutsche Bildungssystem schopfe das Leistungspotential der Kinder aus unteren sozialen Schichten nicht aus. Die Bildungsverlaufe wiirden von einem leistungsunabhangigen sozialen Filter beeinflusst, der bei den Ubergangen in weiterflihrende Bildungseinrichtungen wirksam werde durch das Zusammenspiel von Entscheidungen in den Familien und Lehrerurteile: „Bei gleichen Fahigkeiten (kognitiven Grundfahigkeiten, Lesekompetenz) sind die gymnasialen Chancen von Kindem aus der Oberen Dienstklasse um fast das Vierfache hoher als bei Facharbeiterkindem" (Baumert/Schiimer 2002, 169, zitiert nach GeiBler 2005, 78). Dabei konnen wir feststellen, dass sich die Schulbesuchschancen der Jungen im Vergleich zu denen der Madchen verschlechterten. „Nach dem Mikrozensus 2002 besuchten 19 Prozent der 17- bis 18-jahrigen Jungen aus bildungsschwachen Eltemhausem (Haupt- oder Volksschulabschluss) die gymnasiale Oberstufe, aber 24 Prozent der Madchen; von den Kindem aus bildungsstarken Familien waren es 61 bzw. 67 Prozent. Am starksten waren die geschlechtstypischen Ungleichheiten in Eltemhausem mit mittlerem Bildungsniveau (mindestens ein Eltemteil mit Realschulabschluss) ausgepragt. Lediglich 28 Prozent der Jungen, aber 40 Prozent der Madchen waren auf dem Weg zum Abitur" (GeiBler 2005, 85).
70
Betrachtet man daruber hinaus die Tatsache, dass es in der Schule zu einer eingeschrankten Interessenentwicklung und Berufsorientierung/Berufswahl kommt, so werden geschlechtsspezifische Benachteiligungen zusatzlich beim tjbergang aus der Hauptschule in das duale System feststellbar. GeiBler konstatiert das Fortbestehen geschlechtstypischer Interessenprofile: „Jungen interessieren sich weiterhin starker fur Mathematik, Physik, Chemie, Technik, Computer und Informatik; Madchen haben dagegen starkere Praferenzen fur Lesen, Deutsch, Fremdsprachen, Biologie und Kunst; beide Geschlechter wahlen daher an den Schulen (...) entsprechende Facher (...)" (2005, 88). Dies fuhrt zu Ungleichheiten junger Frauen beim LFbergang in die Arbeitsweit, auch aufgrund eingeschrankter Wahlen von moglichen Berufen und zu einer schlechteren Platzierung in iiberfiillten oder schlecht bezahlten Segmenten des Arbeitsmarktes. Fine weitere Benachteiligung besteht in gravierenden Chancenunterschieden zwischen deutschen und auslandischen Jugendlichen. GeiBler resiimiert, dass wolle man eine Kunstfigur schaffen, um die kumulativ wirkenden Benachteiligungen zusammenzufassen, nicht mehr von der „katholischen Arbeitertochter vom Lande", sondem vom „Migrantensohn aus bildungsschwachen Familien" gesprochen werden miisse. Unter einer pddagogischen Perspektive wird mit unterschiedlich weiten oder engen Begriffen von Benachteiligung gearbeitet: Unter einem weiten Benachteiligungsbegriff WQrdQn alle diejenigen Jugendlichen gefasst, die Sonderschulen und Hauptschulen besuchen, weil davon auszugehen ist, dass sie nicht in der Lage sind, sich langfristig erfolgreich beruflich zu integrieren. Dabei wird abgehoben auf die Veranderung des Arbeitsmarktes und auf den Verdrangungswettbewerb, der Schiilerinnen und Schiller, die nicht mindestens einen mittleren Abschluss erwerben, von weiteren Chancen abkoppelt. Durch die Reduktion des Angebots an Ausbildungs- und Arbeitsplatzen und durch die geforderten Kompetenzen, die heute in der Berufs- und Arbeitsweit benotigt werden, sind Jugendliche ohne eine solide Grundbildung per se benachteiligt. Aus dieser Sicht reichen der Hauptschulbildungsgang und das von der Hauptschule bereit gestellte Bildungsangebot nicht aus. Daruber wird herausgestellt, dass es einen engen Zusammenhang gibt zwischen dem besuchten Typ der Sekundarstufe (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) und der auBerschulischen Vorbildung, der Beherrschung der Unterrichtssprache, der Lemmotivation und den habitualisierten Lemgewohnheiten. Die Separation der Jugendlichen in verschiedene Bildungsgange und Schulformen bewirkt eine herkunftsabhangige Kanalisierung, Differenzierung von sozialen Lemumwelten sowie spezifische schulische Leistungsentwicklungsmilieus (vgl. SolgaAVagner 2004, 195). Die Zusammensetzung der Schtilerschaft der Hauptschulen hinsichtlich sozialer Herkunft der
71
Eltem und der Verkehrskreise (Freunde, Mitschiileriimen und Mitschiiler) bestimmt die soziale Binnenstruktur von Lemsettings. Von daher flihren Solga und Wagner aus, dass die Jugendlichen in Hauptschulen mehrfach benachteiligt sind, einmal aufgrund ihrer schlechteren familiaren Ressourcen, dann aufgrund der inhaltlichen Reduktion der Leminhalte, dem schlechteren LemkUma und der geringeren Ausstattung mit extemen sozialen Ressourcen und mit Vorbildem, Motivatoren sowie Unterstutzem. Mit der Schrumpfung der Schulbesuchsquote (also des Anteils der Jugendlichen eines Jahrgangs, die die Hauptschule besuchen), geht eine soziale Homogenisierung, Isolierung und Stigmatisierung der Jugendlichen aus sozial schwacheren Familien einher (vgl, SolgaAVagner 2004). Spatestens seit den Ergebnissen international vergleichender SchuUeistungsstudien wissen wir, dass die verschiedenen weiterfiihrenden Schulen nicht nur unterschiedliche Abschlussberechtigungen erteilen (Hauptschulabschluss, Realschulabschluss und Abitur), sondem auch unterschiedlich forderliche Lem- und Entwicklungsmilieus bereit stellen, sodass die Lem- und Leistungsunterschiede zwischen den Kindem, mit denen sie in die weiterfiihrenden Schulen eintreten, im Laufe der Schulzeit verstarkt werden. Es ist davon auszugehen, „dass mit der Wahl des Bildungsweges in die Sekundarstufe I auch eine grundlegende Entscheidung iiber die weitere Kompetenzentwicklung getroffen wird. Selbst wenn kognitive, motivationale und soziale Eingangsvoraussetzungen konstant gehalten werden, verlauft die Entwicklung von Kompetenzen sowie fachlichen Leistungen in den Schulformen hochst unterschiedlich. In einer Langsschnittanalyse von der siebten zur zehnten Klassenstufe verbessem sich die Leistungen von Schiilem mit gleichen Eingangsvoraussetzungen im Gymnasium um den Faktor 1,9, an den Realschulen um den Faktor 1,7, und an den Gesamtschulen bzw. Hauptschulen um den Faktor 1,6 bzw. 1,4 (Baumert etal. 2003, 287). Insofem sind Schulformen als „differenzielle Entwicklungsumwelten anzusehen" (Ditton 2004, 254). Auch Solga und Wagner beschreiben Schulen und ihre Schulgemeinschaften als unterschiedliche Entwicklungsmilieus, die durch separate Schultypen unterschiedliche Erfahrungsraume bieten, in denen die soziale Kontakthaufigkeit „weitgehend auf Angehorige der jeweils eigenen Schulform beschrankt ist" (Solga/Wagner 2004, 201). Damit bilden sich schulformspezifische Aspirationsniveaus aus, die nicht nur von der Familie, sondem auch von der Schule mitbestimmt werden. „Die Unterschiede im Anregungsgehalt der Schulumwelt tragen ihrerseits zu Unterschieden in Leistungstests bei" (SolgaAVagner 2004, 201). „Das soziale Klima an Schulen beeinflusst dabei nicht nur die taglichen Interaktionen mit Mitschiilerinnen und Mitschiilem, sondem auch - iiber die Beobachtung anderer Lemeinstellungen und Lebensentwiirfe - die eigene Lemhaltung (...). Die besuchte Schule und die dort anzutreffenden Mitschulerinnen und
72
Mitschiiler sind somit eine aktivierbare soziale Ressource" (SolgaAVagner 2004, 201). Wird der Begriffder Benachteilung enger gefasst, wird auf Jugendliche ohne Hauptschulabschluss abgehoben, also auf Jugendliche, die die verschiedenen Schulformen ohne Abschluss verlassen und deren Chancen, in Arbeit oder Beruf einzumtinden, sehr eingeschrankt sind. Klaus Klemm und Gabriele Bellenberg haben diese Jugendlichen mit dem Begriff .JCellerkinder" des Bildungssystems bezeichnet. 1997 betrug der Anteil der Schiiler am Altersjahrgang, der die allgemeinbildenden Schulen ohne Schulabschluss verlieB, in Deutschland 8,7 % davon stammte mehr als ein Drittel aus Sonderschulen, die iibrigen kamen tiberwiegend aus Hauptschulen, vereinzelt auch aus Gesamtschulen, Realschulen und Gymnasien (Bellenberg/Klemm 2000, 62). Im Jahr 1997 verHeBen 80.486 Jugendliche die Schulen ohne Schulabschluss. Davon 52.411 (mannliche) Schiiler und 28.075 Schiilerinnen. Wahrend 63.638 deutsche Schiilerinnen und Schiiler ohne Abschluss blieben, lag die Zahl der auslandischen Jugendlichen ohne Abschluss bei 16.859 (vgl. Bellenberg/Klemm 2000, 67). „Die Wahrscheinlichkeit, keinen Schulabschluss zu erreichten, ist bei Jungen mit 11 % deutlich hoher als bei Madchen (6,2 %). (...) Noch deutlicher unterscheiden sich deutsche und auslandische Schulabsolventen. 7,7 % der deutschen, aber 16,3 % der auslandischen Schiilerinnen und Schiiler verlassen die Schulen ohne einen Abschluss" (Bellenberg/Klemm 2000, 67 f.). Von den Jugendlichen ohne Schulabschluss erhielt nur ein Sechstel die Chance, einen Ausbildungsvertrag abzuschlieBen und damit einen Beruf zu erlemen (Bellenberg/Klemm 2000, 69). Dabei ist anzumerken, dass die Chancen, ftir bestimmte Leistungen einen Hauptschulabschluss zu erhalten, bisher - je nach landesspezifischen Vorgaben und schulintemen Anforderungen - unterschiedlich waren. Die Abschlussqualifikation wurde nicht an das Erreichen bestimmter Standards gebunden. Es kann daher sein, dass Jugendliche zwar einen Hauptschulabschluss erhielten, ihr Wissen und Konnen aber fiir ein anschlussfahiges Lemen nicht ausreicht. Schiilerinnen und Schiiler, deren Wissen und Konnen nicht fiir ein anschlussfahiges Lemen ausreicht, werden in international vergleichenden Schulleistungsstudien als Risikoschiiler bezeichnet. Darunter werden demzufolge diejenigen Jugendlichen verstanden, die aufgrund mangelhafter Kompetenzen erwarten lassen, nicht anschlussfahig weiterlemen zu konnen. Es wurde festgestellt, dass 9,9 % der 15-Jahrigen bezogen auf die Lesekompetenz und 7 % bezogen auf mathematische Kompetenzen unterhalb des Niveaus der Grundschule liegen. Daruber hinaus verfiigen von den Fiinfzehnjahrigen ca. 13 % (Lesekompetenz) resp. 15 % (Mathematische Kompetenz) gerade mal iiber Kompetenzen, die auf Grundschulniveau liegen. Zwar kann es sein, dass sie - abhangig davon, welche Standards in einer Schule angelegt werden - einen Hauptschulabschluss erhalten; 73
dieser steht nicht fiir eine gesicherte Mindestqualifikation (vgl. auch Rosner 2002,218).
3
Kompetenzerwerb
Traditionell wird als Ziel der Hauptschule die Vermittlung einer gmndlegenden Bildung angesehen: ,Allgemeine Grundbildung meint eine schulisch realisierbare Form allgemeiner Menschenbildung. Aufgabe einer so verstandenen Grundbildung ist es, den Heranwachsenden durch Entfaltung und Forderung grundlegender Kompetenzen zu einer Teilhabe an zentralen Bereichen der gesellschaftlichen Lebenspraxis zu befahigen. Sie dient dem Erwerb von Wissensbestanden, Fahigkeiten und Einstellungen, die im Kontext anderer Sozialisationsinstanzen wie u. a. der Familie nicht oder nicht zureichend erworben werden konnen, der beruflichen und berufsorientierten Differenzierung und Spezialisierung von Bildungsgangen voraus liegen und ein Plateau flir Selbstandigkeit und verantwortetes Handeln bieten. (...) Vergleichsweise konstant bleiben die Lembereiche und das Set an Fachem, durch das ,Grundbildung' curricular naher bestimmt wird. Dazu gehoren Deutsch und (mindestens) eine Fremdsprache, Mathematik und Naturwissenschaft, der gemeinschaftskundliche bzw. gesellschaftswissenschaftliche Bereich (Geschichte, Geographic, Sozialkunde, Politik) sowie der musisch-kiinstlerische Bereich" (Brockmeyer/Zedler 1992, 208 f.). Nach Auffassung von Brockmeyer und Zedler soil Grundbildung in der Sekundarstufe I die kommunikativen Fahigkeiten erweitem, zum Erkennen systemischer Zusammenhange im Bereich Natur und Gesellschaft befahigen, dazu verhelfen, mit neuen Technologien umzugehen und ihre Wirkungen in einzelnen Praxisfeldem abzuschatzen, zur Verwendung und Selektion des Medienangebotes fur eine Informationsgewinnung beitragen, zur methodischen Strukturierung von Arbeitsaufgaben, zur tJbemahme von Teamaufgaben, zur Einteilung von Zeit und zur demokratischen Konfliktbewaltigung und Konsensfmdung befahigen (Brockmeyer/Zedler 1992,225). Der Begriff der Grundbildung erfahrt in jungster Zeit eine Anschlussfahigkeit im Zuge der Diskussion international vergleichender SchuUeistungsstudien, indem der dabei verwendete Begriff „Literacy" mit „Grundbildung" iibersetzt wird. Ein weiterer Begriff, der als Ubersetzung dient, ist der der „Kompetenzen", nicht zuletzt weil beim Literacy-Begriff nach erworbenen „Basiskompetenzen" gefragt wird.
74
Basiskompetenzen sind dabei solche, die „in modemen Gesellschaften fur eine befriedigende Lebensfuhrung in personlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie fur eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig sind" (Deutsches PISA-Konsortium 2001, 16). Es geht um die „Funktionalitat der bis zum Ende der Pflichtschulzeit erworbenen Kompetenzen flir die Lebensbewaltigung im jungen Erwachsenenalter und deren Anschlussfahigkeit fiir kontinuierliches Weiterlemen in der Lebensspanne" (Deutsches PISA-Konsortium 2001, 16). Die zu erwerbenden Kompetenzen sind also auf anschlussfahiges Lemen bin angelegt. Sie beziehen sich sowohl auf die Fahigkeiten, die ein Staatsbiirger benotigt wie auf solche, die zur Bewaltigung der Anforderungen in Alltag und Beruf notwendig sind. Der Kompetenzbegriff selbst wird - je nach Tradition - unterschiedlich verwendet, was unterschiedliche Vorstellungen von Kompetenz beinhaltet. Hierzu zahlenu. a.: • Vermittlung einer soliden Grundbildung. • Umfassende Fundierung von Handlungsfahigkeit. • Bewaltigung des Alltagslebens an den Randem der Gesellschaft. Neben dem Kompetenzbegriff aus Schulleistungsstudien (Vermittlung einer soliden Grundbildung) fmdet sich ein Kompetenzbegriff, der darauf zielt, Schiilerinnen und Schiiler handlungsfahig werden zu lassen. Wilhelm H. PeterBen verkntipft den Begriff der Kompetenzen mit der Idee, eine ganzheitlichintegrative Handlungsfahigkeit durch Unterricht aufzubauen und Schiilerinnen und Schiiler in vollstandiges Lemen einzuftihren. „Als handlungsfahig gilt, wer imstande ist, selbstandig mit moglichst vielen Situationen fertig zu werden, in die sein Leben ihn hineinfiihrt, weil er die darin vorfmdbaren Probleme eigenstandig zu losen fahig ist" (PeterBen 1999, 12). Auf dieser Grundlage mochte PeterBen, dass Schiilerinnen und Schiiler nicht nur iiber trages, sondem iiber intelligentes Wissen verfiigen, um produktiv Probleme zu losen. Handlungsfahig zu sein bedeutet daher sachkompetent zu sein, d.h. Informationen iiber relevante Sachverhalte zu erschlieBen und auf Probleme anzuwenden. Methodenkompetenz meint Wege zur selbstandigen ErschlieBung und Aneignung von benotigten Informationen zu wahlen. Da Probleme in der Kegel nicht allein gelost werden konnen, ist Sozialkompetenz erforderlich, um mit anderen zusammenarbeiten und kommunizieren zu konnen. PeterBen geht davon aus, dass Handlungen durch begleitende Reflexion auf ihre Verantwortbarkeit hin iiberpriift werden sollten und pladiert fiir Moralkompetenz. „Handlungsfahigkeit ist (...) eine ganzheitlichintegrative Fahigkeit mit den Komponenten Sach-, Sozial-, Methoden- und Moralkompetenz" (PeterBen 1999, 14). PeterBen unterscheidet mit Winfried Hacker drei Dimensionen der Regulation des Handelns, namlich eine sensumotorische Regulation, eine perzeptiv-begriffliche Regulation und eine intellektu75
elle Regulation. Basierend auf der Tatigkeitspsychologie mochte er Schulerinnen und Schuler dabei anleiten, den Prozess der selbstandigen Planung, Durchflihrung und Kontrolle von Tatigkeiten zu durchlaufen. In diesem Kompetenzbegriff wird die Zielsetzung der Handlungsfahigkeit formuliert, die zum leitenden Kriterium bei der Auswahl und Bearbeitung von Inhalten wird. Oftmals wird im Kontext einer Padagogik der Hauptschule ein dritter Kompetenzbegriff eingeftihrt, indem die Zielsetzung formuliert wird, „Alltagskompetenzen" zu vermitteln. Dazu zahlt Gotthilf Gerhard Hiller das Vermitteln von Kenntnissen in den Lebensbereichen Schule/Ausbildung/Beschaftigung, Einkommen und Ausgaben (Konsumverhalten), Personliche Beziehungen (Aufbau eines sozialen Netzes), Wohnungssuche und Wohnungspflege, Selbstverantwortliches Zeitmanagement, Gesundheitsfursorge, Legalitat, Umgang mit Behorden, Banken, Versicherungen, Krankenkassen. Dabei kommt es Hiller darauf an, „eine AUgemeinbildung zu konzipieren, die darauf anlegt, flir Unterprivilegierte eine nichtbtirgerliche, weitestgehend jedoch (...) selbstbestimmte Lebensfuhrung zu ermoglichen" (Hiller 1998, 180). Weil er davon ausgeht, dass es zur Normalbiographie von Hauptschulabgangerinnen und -abgangem gehoren wird, dass Phasen von Arbeitslosigkeit mit Phasen von Erwerbsarbeit wechseln werden, will er auf Unterbeschaftigung und Arbeitslosigkeit vorbereiten. Er schlagt vor, die „Orientierung auf Berufsfelder" durch eine „Orientierung im Informellen Sektor" bzw. durch „Orientierung in Arbeitslosigkeit" zu erganzen. „Erganzend bzw. altemativ zum Betriebspraktikum ware die mehrwochige Tatigkeit in diversen Jobs anzubieten; erganzend zur Berufsberatung: Beratung in Jugend- und Sozialamt; anstelle von Betriebserkundungen: Erkundungen in der Leistungsabteilung des Arbeitsamtes, in Personalvermittlungsfirmen, in Beschaftigungsprojekten fur Jugendliche verbunden mit Gesprachsrunden, zu denen Jugendliche und junge Erwachsene eingeladen werden, die arbeitslos sind" (Hiller 1998, 182). In dieser Auffassung verabschiedet sich die Hauptschule von den Zielsetzungen der grundlegenden Bildung, die auch curricular gedacht wird und antizipiert solche zuktinftigen Situationen, in den an den Rand gedrangte Jugendliche und Erwachsene leben miissen. Allen drei der hier vorgestellten LFberlegungen zur Kompetenz kommt in der padagogischen Arbeit in der Hauptschule Bedeutung zu. Konzeptionelle Vorschlage zur padagogischen Arbeit in der Hauptschule betonen jedoch nicht ausschlieBlich den Kompetenzerwerb. Sie konnen vielmehr auf einem Kontinuum angeordnet werden, dass sich zwischen der Aufgabe des Kompetenzerwerbs und der Identitatsarbeit spannt.
76
4
Identitatsbildung und Kompetenzerwerb durch benachteiligte Jugendliche
Je nach Orientierung werden die einzelnen Pole Kompetenzerwerb und Identitatsbildung unterschiedlich gewichtet. Zusammengebunden werden beide Aufgaben im Konzept der Entwicklungsaufgaben. Darin wird Entwicklung als Lemprozess gefasst, der sich tiber die gesamte Lebensspanne streckt und durch die Auseinandersetzung mit realen Anforderungen zum Erwerb von Fertigkeiten und Kompetenzen fuhrt und dazu verhilft, ein befriedigendes Leben in der modemen Gesellschaft zu fiihren. Entwicklungsaufgaben ergeben sich aufgrund von Prozessen physischer Reifung, gesellschaftlicher Erwartungen und aufgrund individueller Zielsetzungen und Werte. Fiir die Adoleszenz, also im Alter von 12-18 Jahren, werden von Dreher und Dreher (1985, 59), folgende Entwicklungsaufgaben aufgefuhrt: 1. „Neue und reifere Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts aufbauen 2. Ubemahme der mannlichen/weiblichen Geschlechterrolle 3. Akzeptieren der eigenen korperlichen Erscheinung und effektiven Nutzung des Korpers 4. Emotionale Unabhangigkeit von den Eltem und anderen Erwachsenen erreichen 5. Vorbereitung auf Ehe und Familienleben 6. Vorbereitung auf eine berufliche Karriere 7. Werte und ein ethisches System erlangen, das als Leitfaden fiir Verhalten dient - Entwicklung einer Ideologic 8. Sozial verantwortliches Verhalten - Entwicklung einer Ideologic" (Dreher/Dreher 1985, 59, zitiert nach Fend 2001, 211). Das Konzept der Entwicklungsaufgaben kann in zwei Richtungen akzentuiert werden. In der „Bildungsgangdidaktik" wird es in Richtung der Jugendlichen aufgelost, die ihre Entwicklungsaufgaben eigenstandig angehen miissen. Dabei wird die Bedeutung der Schule und des Unterrichts relativiert; Lehrkrafte sollen Schiilerinnen und Schiiler dabei unterstutzen, ihren personlichen Bildungsgang zu gestalten (vgl. Schenk 2005). Im Gegensatz zu diesen Annahmen unterscheidet Helmut Fend Entwicklungsaufgaben in solche, die vom Jugendlichen selbst angegangen werden miissen wie z. B. die folgenden: „den Korper bewohnen lemen", „Umgang mit Sexualitat lemen" und „Umbau der sozialen Beziehungen". Daneben stellt er Entwicklungsaufgaben heraus, an denen die Schule einen wichtigen Anteil hat. Dazu zahlt er den „Umbau der Leistungsbereitschaft", „die Berufswahl", „Bildung" und „Identitatsarbeit" (vgl. Fend 2001). Mehr noch, der Wissenschaftler versteht „den Umgang mit Schule" selbst 77
als Entwicklungsaufgabe. Dabei sind die Rahmenbedingungen flir die Auseinandersetzung mit Schule abhangig von kontextuellen Moglichkeitsraumen und von den intemen Handlungsmoglichkeiten des Jugendlichen. Helmut Fend ist interessiert an einer „Entwicklungspsychologie solcher intemer Rahmenbedingungen" (2001, 330), die bei der Bewaltigung schulischer Anforderungen wirksam werden. Er wiirdigt die Schule als Institution, die die Voraussetzung fur die Entstehung der Jugendphase schuf und ausgewahlte Personlichkeitsmerkmale wie eine Haltung disziplinierter Handlungsregulation und ein Verhaltnis des Menschen zu sich selbst fordert. Als Voraussetzung der Nutzung von schulischen Lemmoglichkeiten seitens der Jugendlichen nennt er die Entwicklung des Habitus der Lemanstrengung und die zunehmende Selbstverantwortung und Selbstregulierung (vgl. Fend 2001, 335 ff.). In der Jugendphase mtisse nicht nur eine neue Einstellung zur Schule gewonnen werden, sondem auch neue Fahigkeiten zur Lemregulierung entfaltet werden. Jugendliche mtissten sich bewusst in ein Verhaltnis zu den schulischen Anforderungen und Lemmoglichkeiten setzen. „Umgang mit Schule in der Adoleszenz bedeutet somit: zunehmende Eigenstandigkeit und Eigenverantwortung in der Regulierung von Anstrengung und Zeitinvestition entwickeln und von der Lenkung durch Autoritaten unabhangiger werden, den emotionalen Bezug zur Schule reorganisieren, ihn selektiv gestalten und von einer Totalidentifikation Abstand nehmen, Interessensschwerpunkte als Aufgangsbasis fiir Berufsentscheidungen entwickeln (...), aus dem sich herauskristallisierenden Selbstbild, was man kann, was einen interessiert und was man geme tut, eine Zielperspektive fur die zukiinftige Ausbildung, den Beruf und den damit verbundenen Lebensweg entwickeln, (...) die von der Schule attestierte Leistungsfahigkeit in das eigene Selbst einbauen, sie mit der Bediirfiiisdynamik der Person integrieren, schulische Erfolgs-, Misserfolgsprofile mit dem Bediirfhis nach Selbstwert und GroBe versohnen, individuelle Leistungserbringung mit koUegialen sozialen Haltungen harmonisieren lemen" (Fend 2001, 350 f.). Wenn man den Umgang mit Schule als Entwicklungsaufgabe im Jugendalter und darin auch Identitatsbildung und Kompetenzerwerb als wesentlich begreift, stellt sich die Frage, ob die Struktur des Sekundarbereiches I daflir forderlich ist und inwiefem durch die Hauptschule mit ihrer Schulkultur, ihrem Curriculum und den besonderen Lemangeboten und Lemmoglichkeiten darauf hingewirkt wird, dass es nicht zur Beeintrachtigung der Lemmotivation kommt und die Fahigkeit 78
entwickelt wird, eine Lebensplanung zu entfalten, in die realistische Berufsplanungen eingebettet sind.
5
Lernangebote und Hilfen in der Hauptschule - Die Vorschlage in Niedersachsen
Nach der Veroffentlichung international vergleichender Schulleistungsstudien wurden von der Kultusministerkonferenz (KMK) verschiedene MaBnahmen verabschiedet, die auch fiir die padagogische Arbeit in der Hauptschule relevant sind. Dazu zahle ich die Formulierung von Bildungsstandards in verschiedenen Fachem (Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen) fur den Hauptschulabschluss (Jahrgangsstufe 9) und damit die Bindung der Vergabe eines Hauptschulabschlusses an erfolgreich erworbene Qualifikationen, damit einher gehend MaBnahmen zur Verbesserung der Lesekompetenz und zur Sicherung eines grundlegenden Verstandnisses mathematischer und naturwissenschaftlicher Zusammenhange, MaBnahmen zur Forderung bildungsbenachteiligter Kinder, insbesondere auch der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, Initiativen zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualitat von Unterricht und Schule auf der Grundlage verbindlicher Standards sowie einer ergebnisorientierten Evaluation, MaBnahmen zur Verbesserung der Professionalitat der Lehrertatigkeit, vor allem im Hinblick auf diagnostische und methodische Kompetenzen als Bestandteil von Schulentwicklung und MaBnahmen zum Ausbau von schulischen und auBerschulischen Ganztagsangeboten mit dem Ziel erweiterter Bildungs- und Fordermoglichkeiten (vgl. 296. Plenarsitzung der KMK am 5. und 6. 12. 2001). Wie sieht nun die Implementation dieser Ideen auf der Ebene der bildungspolitisch-administrativen Umsetzung flir die Hauptschulen in Niedersachsen aus? Im Vergleich zu anderen Bildungsgangen im Sekundarbereich I ist hier die Dauer der Hauptschule verktirzt (9 statt 10 Schuljahre), der Bildungsauftrag eingeschrankt und das Curriculum weniger anspruchsvoll. In Niedersachsen wird der Umfang des angebotenen Unterrichts durch die Empfehlung, durch die Schtilerinnen und Schtiler sechzig Praktikumstage in Klasse 8 oder 9 in Betrieben oder Berufsschulen absolvieren zu lassen, eingeschrankt. Als besondere MaBnahmen wird das Formulieren eines Erziehungskonzeptes verlangt, dass mit den Eltem abgestimmt ist. In der Hauptschule soil ein Forderkonzept fiir alle Schulerinnen und Schtiler entwickelt werden. In der Hauptschule sollen Sozialpadagoginnen oder Sozialpadagogen arbeiten und es sollen Ganztagsangebote bereitgestellt werden. In den Hauptschulen wird es moglich sein, klassentibergreifende Lemgruppen mit besonderen Unterrichtsangeboten einzurichten; damit wird in der Hauptschule selbst ein Weg zur Separation einer 79
besonderen Gruppe benachteiligter Schiller frei gemacht. Im Folgenden soUen am Beispiel des Erlasses des Niedersachsischen Kultusministeriums: „Die Arbeit in der Hauptschule" vom 3.2.2004 - ausgewahlte MaBnahmen in ihren Chancen und Probleme in einer Synopse dargestellt werden. Bereich: Hauptschule
Chancen
Probleme
Umfasst die Klassen 5-9/10
kumulativer Wissensaufbau im Sekundarbereich I wird moglich
Eingeschrankter auflrag
Bildungs-
Konzentration auf besondere Klientel
GroBere Gewichtung der Facher Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaften in der Stundentafel
Konzentration auf den Aufbau von Kemkompetenzen
Foraiuliemng verbindlicher schuleigener Arbeitsplane (unter angemessener Beriicksichtigung von fachbereichsbezogenen und fachbereichsiibergreifenden Inhalten).
Vergegenwartigung des systematischen Wissensaufbaus in den Fachem und facheriibergreifenden Lembereichen von Klasse 5-9/10; Kooperation zwischen Lehrkraften der verschiedenen Klassenstufen Aussagen uber Lemausgangslage, Nachdenken iiber Lemprozesse, die beim Wissenserwerb und Konnensaufbau erforderlich werden, Verstandigung iiber angestrebte Ziele, MaBnahmen, Einschatzung des Fordererfolgs; Nachdenken iiber die Lemausgangslage und Lementwicklung jedes einzehien Schulers wird erforderlich. Konzentration auf wesentliche und ausgewahlte Inhalte
Sehr fruhe Ubergangsentscheidungen; Trennung der Bildungsgange im Sekundarbereich I Abkoppelung der HS vom allgemeinbildenden Schulwesen Abwertung der iibrigen Facher gegeniiber den Hauptfachem; sie konnen - sofem Praxistage durchgefiihrt werden - auch z. T. wegfallen Intensives zeitliches Engagement fur eine entsprechende curriculare Entwicklungsarbeit in der Schule erforderlich; Belastungen
Dokumentation der individuellen Lementwicklung in der Klassen 5 bis 9 (10)
2. Fremdsprache (ab Klasse 6) nur individuell durch Besuch des entsprechenden Unterrichts an der Realschule
80
Problem mit einer angemessenen Dokumentation (zwischen Dokumentation und Zuschreibung eines Lem- und Leistungsstandes); Zuschreibungen dienten eher der Entlastung als der Forderung; Probleme mit dem Datenschutz.
Abkoppelung der HS bezogen auf die Durchlassigkeit nach oben durch einen hohen Aufwand, Lemangebote in der 2. Fremdsprache zu erhalten
Bereich: Hauptschule
Chancen
Probleme
Erziehungskonzept; Erziehungsvereinbarung fur jedes einzelne Kind soil in die dokumentierte individuelle Lementwicklung aufgenommen werden
HS muss iiber ihr Erziehungskonzept nachdenken und eine allgemeine Erziehungsvereinbarung mit den Eltem treffen
Sozialpadagogische stutzung
Unter-
Gestaltung des SchuUebens; Entwicklung und Umsetzung von Forder- und Erziehungskonzepten, Zusammenarbeit mit Berufsschulen, Betrieben und Einrichtungen, die am Berufsleben beteiligt sind Ubemahme umfassender Verantwortung
Enge Kooperation mit den Betrieben und Berufsschulen durch praktische Erfahrungen in Betrieben und fachpraktischen Unterricht oder praktische Ausbildung in der Berufsschule (zwischen sechzig und achtzig Praxistagen in den Klassen 8 und 9) Klassenubergreifende und j ahrgangsubergreifende Lemgruppen zur Durchfuhrung besonderer Forderprojekte (begrenzt auf die Dauer eines Schulhalbjahres). Forderprojekte sind Lemaufgaben mit Werkstattcharakter
Konzentration auf Einmiindung in Berufe resp. in die Arbeitswelt
Auf die Lebensprobleme der Schiiler/innen wird zu wenig geguckt; Keine Padagogik der Bewaltigung, sondem Konzentration auf die Sekundartugenden (Zuverlassigkeit, Teamfahigkeit, Ordnung, Punktlichkeit) Gefahr der Uberfrachtung mit (organisatorischen) Aufgaben; Gefahr der Delegation eines Teils der Aufgaben der Lehrkrafte an die Sozialpadagoginnen resp. Sozialpadagogen ... ohne ausreichende materielle Sicherung, auf der Basis von Vemetzung und Engagement Entschulung durch Betriebsund Praxistage; viel Organisationsaufwand, diesen Ansatz flachendeckend einzufuhren; Reduktion des Unterrichts in verschiedenen Fachem; sinnvolle Vor- und Nachbereitung scheint nicht mehr moglich
Ganztagsangebote
Angebote fur besonders lemmiide Schiiler/innen mit geringen Kompetenzen
Segregation Systems
innerhalb
Tabelle 1 Chancen und Probleme in Bezug auf die Arbeit in der Hauptschule
des
Aus diesem tjberblick geht hervor, dass fiir die padagogische Arbeit in der Hauptschule ein doppelter Ansatz gewahlt wird. Einerseits wird iiber die Setzung von Bildungsstandards fur die verschiedenen Facher ftir den Hauptschulabschluss und durch die Erarbeitung von Kemcurricula darauf orientiert, dass die Schule eine solide Wissensvermittlung gewahrleisten, systematisch Wissen und Konnen aufbauen und die Qualitat des Hauptschulabschlusses sichem soil, auch dadurch, dass der Abschluss mit schriftlichen Prufiingen verkniipft wird. Mit Blick auf die Befahigung zur Entwicklung von Lebensentwurfen und zur Entwicklung von Vorstellungen iiber die eigene gesellschaftliche Platzierung ebenso wie zur Erleichterung der Einmtindung in die Berufs- und Arbeitswelt, werden Praktika angeboten. Hier soil beides moglich werden, namlich Identitatsbildung und Kompetenzaufbau. Zugleich sollen alle Schiilerinnen und Schiiler, auf der Grundlage von Lementwicklungsdokumentationen, gezielter als bisher gefordert werden. Zugleich sollen in den Hauptschulen auch Angebote ftir Schiilerinnen und Schiilem mit besonderen Lemschwierigkeiten gemacht werden. Damit wird dem Versuch, besonders benachteiligte Hauptschiiler auszugrenzen oder sie friihzeitig zum Verlassen der Schule zu motivieren, entgegengesteuert und die Lehrkrafte aufgefordert, ihnen ein eigenstandiges Angebot zu machen. Damit steht die Padagogik und Didaktik der Hauptschule vor der Aufgabe, die Schule und ihre Schul- und Unterrichtskultur - solange diese Schulform existiert - zu entwickeln und zu befestigen und zugleich Elemente einer Reform in die Hauptschule zu implementierten, die Konzepten der Entschulung entlehnt sind wie z. B. „Konzepte Praktischen Lemens" (Akademie ftir Bildungsreform/ Robert Bosch Stiftung 1993) oder „Produktiven Lemens" (Institut ftir Produktives Lemen in Europa 2004). Um diese Ziele zu erreichen, wird die padagogische Arbeit in der Hauptschule starker als bisher doppelte Zielsetzungen zu entfalten und umzusetzen haben.
Literaturverzeichnis Akademie fur Bildungsreform/Robert Bosch Stiftung GmBH (1993)(Hrsg.): Praktisches Lemen. Ergebnisse und Empfehlungen. Ein Memorandum. Weinheim und Basel Baumert, J./Schiimer, G. (2002): Familiare Lebensverhaltnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb im intemationalen Vergleich. In: Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000 - Die Lander der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Opladen. S. 323-407 Baumert, J./Trautwein, U./Artelt, C. (2003): Schulumwelten - institutionelle Bedingungen des Lehrens und Lemens. In: Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000 - Ein differenzierter Blick auf die Lander der Bundesrepublik Deutschland. Opladen. S. 261-333 Bellenberg, G./Klemm, K. (2000): Scheitem im System, Scheitem des Systems? Ein etwas anderer Blick auf Schulqualitat. In: RoUf, H.-G. u. a. (Hrsg.): Jahrbuch fur Schulentwicklung. Band 11. Weinheim und Miinchen
82
Brockmeyer, R./Zedler, P. (1992): Grundbildung. Aufgaben und Herausforderungen des Unterrichts in der Sekundarstufe I. In: Zedler, P. (Hrsg.): Strukturprobleme, Disparitaten, Grundbildung in der Sekundarstufe I. Weinheim. S. 203 - 228 Deutsches PISA-Konsortium (2001)(Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schulerinnen und Schulem im intemationalen Vergleich. Opladen Ditton, H. (2004): Der Beitrag von Schule und Lehrem zur Reproduktion von Bildungsungleichheit. In: Becker, R./Lauterbach, W. (Hrsg.): Bildung als Privileg. Erklarungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. Wiesbaden. S. 251-279 Erikon, E. H. (1984): Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart Fend, H. (2001): Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Opladen GeiBler, R. (2005): Die Metamorphose der Arbeitertochter zum Migrantensohn. In: Berger, P. A./Kahlert, H. (Hrsg.): Institutionalisierte Ungleichheiten. Weinheim und Miinchen. S. 71-100 Hiller, G. G. (1998): Alltagskompetenzen entwickeln. Curriculare Schwerpunkte eines realitatsnahen Unterrichts an der Hauptschule. In: Bronder, D. J./Ipfling, H. J./Zenke, K. G. (Hrsg.): Handbuch Hauptschulbildungsgang. Bad Heilbrunn. S. 179-186 Institut fiir Produktives Lemen in Europa (ILPE) (2004): Produktives Lemen - von der Tatigkeit zur Bildung. Ein Beitrag zur Schulreform in der Sekundarstufe I. Baltmannsweiler Kiper, H. (2001): Sekundarbereich I - jugendorientiert. Baltmannsweiler Lenzen, D. (1991): Modeme Jugendforschung und postmodeme Jugend: Was leistet noch das Identitatskonzept? In: Helsper, W. (Hrsg.): Jugend zwischen Modeme und Postmodeme. Opladen. S. 41-56 Niedersachsisches Kultusministerium (2003): Niedersachsisches Schulgesetz. Juli 2003. Hannover Niedersachsisches Kultusministerium (2004): Niedersachsens Schulen mit neuem Profil. Die Gmndsatzerlasse fur Gmndschule, Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Kooperative Gesamtschule, Integrative Gesamtschule. Hannover PeterBen, W. H. (1999): Kleines Methoden-Lexikon. Miinchen Rosner, E. (2002): Schiiler ohne Hauptschulabschluss - Kellerkinder der Nation? In: Magdefrau, J./ Schumacher, E. (Hrsg.): Padagogik und soziale Ungleichheit. Bad Heilbmnn. S. 217- 231 Schenk, B. (2005) (Hrsg.): Bausteine einer Bildungsgangtheorie. Wiesbaden Sekretariat der Kultusministerkonferenz vom 5. und 6.12.2001: Erste Konsequenzen aus den Ergebnissen der PISA-Studie. Sekretariat der Standigen Konferenz der Kultusminister der Lander in der Bundesrepublik Deutschland (2005): Bildungsstandards im Each Mathematik fur den Hauptschulabschluss. Beschluss vom 15.10.2004. Miinchen und Neuwied Sekretariat der Standigen Konferenz der Kultusminister der Lander in der Bundesrepublik Deutschland (2005): Bildungsstandards im Each Deutsch flir den Hauptschulabschluss. Beschluss vom 15.10.2004. Miinchen und Neuwied Sekretariat der Standigen Konferenz der Kultusminister der Lander in der Bundesrepublik Deutschland (2005): Bildungsstandards fiir die erste Fremdsprache (Englisch/Franzosisch) fur den Hauptschulabschluss. Beschluss vom 15.10.2004. Miinchen und Neuwied Solga, H./Wagner, S. (2004): Die Zuruckgelassenen - die soziale Verarmung der Lemumwelt von Hauptschiilerinnen und Hauptschulem. In: Becker, R./Lauterbach, W. (Hrsg.): Bildung als Privileg? Wiesbaden. S. 195-224
83
Fehlende „Ausbildungsreife" - Hemmnis fiir den Ubergang von der Schule in das Berufsleben? Karin Rebmann & Dietmar Tredop
1
Einleitung
Die Problematik derjenigen Jugendlichen, die nicht die erste Schwelle von der Schule zur Berufsausbildung oder die zweite Schwelle zur Beschaftigung iiberwinden, nimmt in der aktuellen bildungspolitischen Diskussion wieder breiten Raum ein. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass es sich um eine bedeutsame Anzahl handelt, die je nach Datenbasis und Definition zwischen 10 bis 25 Prozent eines Altersjahrgangs schwanken kann (vgl. Sehrbrock 2005; Bojanowski in diesem Band). Diesen Jugendlichen wird nicht selten pauschal eine mangelnde Ausbildungsreife attestiert, ohne zwischen den strukturellen und individuellen Bedingungen ihrer Benachteiligung zu differenzieren oder ohne das Konstrukt der Ausbildungsreife konkreter zu fassen. Die Diskussion um ausbildungsunreife Jugendliche ist dabei vorwiegend gepragt durch gegenseitige Schuldzuweisungen. Die Wirtschaft wirft den Schulabganger(inne)n wegen ihrer schlechten Schulbildung eine mangelnde Ausbildungsreife vor. Gewerkschaften sehen das Problem in der schlechten wirtschaftlichen Lage, die dazu fuhrt, dass nicht ausreichend Ausbildungsplatze zur Verfiigung gestellt werden. Die Schulen wiederum sehen sich vor allem wegen einer veranderten Schiilerklientel und z. T. sinkender Unterstiitzung durch die Eltem kaum in der Lage, den Ausbildungsmangeln entgegenzuwirken. Diese zugegebenermaBen verkiirzte Darstellung umschreibt im Kern die derzeit offentlich gefiihrte Debatte um mangelnde Ausbildungsreife. Das Klagelied iiber „dumme Schiiler/innen" ist jedoch bereits wesentlich alter (vgl. z. B. bei Rutenfranz/UUch 1961, 337). In den 1950er bis 1960er Jahren sprach man dabei von Berufsunreife, in den 1980er Jahren von Berufswahlunreife und seit den 1990er Jahren von Ausbildungsunreife. Ziel der nachfolgenden Ausfiihrungen ist es, sich dem Konstrukt „Ausbildungsreife" anzunahem. Es wird dabei nicht eine weitere normativ gefarbte Definition von Ausbildungsreife entfaltet. Es geht vielmehr darum, einen deskriptiven Blick auf das Konstrukt „Ausbildungsreife" zu werfen, um so mogliche Erklarungsangebote bereitstellen zu konnen, die sich vor allem auf
potenzielle Liicken in der Diskussion und auf Fehlinterpretationen des Konstruktes beziehen. •3 ^ "a, c D
g
£
X
X
X
X
«
2 u.
*
^1 > « 4)
X
60
m-s
, 'B -^ 11 > U
XI
«j JO
60 C
X
X
1 S) m "S 1
60
42
c
s § U
X
60
X
X
05 "S
G
1 II
1 tiJ
I.
i
ON
B
X
%
§
'2 M
42 ,1)
X
X
§1
X X
PQ
1 60 S
3
S
1^
4
5 .!>
3
X X
X
§
« Erstaunlich, dass sie trotz dieser Unkenntnis das gesamte sozialpadagogische Modell auch als schiilerzentriert, motivierend und zielorientiert bewerten (konnen).
169
nehmungen ihrer leistungsorientierten RoUe in Einklang zu bringen. Fast durchgehend schatzen die Lehrerlimen die eigene Qualifizierung zur zielgruppenspezifischen Unterstiitzung als nicht ausreichend ein: Vor der Einfuhrung des sozialpadagogischen Angebots mussten vielfach autodidaktisch erworbene Kenntnisse oder Erfahrungswissen die gezielte Qualifikation ersetzen, wenn Verantwortungsbewusstsein und Handlungsdruck in einzelnen Fallen zum Engagement „zwangen". Seit der Projektinstallation verstehen sie die Entlastung als gelungene Kooperation - ohne aber dabei den eigenen Beitrag benennen zu konnen. Insgesamt zeigen die Schulexpertlnnen eine Neigung, sich bei der Berufswahl und Berufsorientierung der Schiilerlnnen auf die Unterstiitzung durch die Arbeitsagentur zu verlassen, ohne deren Reichweite in Zweifel zu ziehen. Obwohl Berufswahlprozesse auch in ihren Schulprogrammen festgeschrieben sind, haben auffallig viele der befragten Lehrerlnnen keine Kenntnis davon. Sie konnen auf die Frage danach nur Vermutungen auBem und bestreiten sogar in einem Fall die berufliche Tragweite der sozialen Probleme ihrer Schiilerlnnen. Von den zentralen Schnittstellenaufgaben der Sozialpadagoglnnen profitieren Schulen und Lehrkrafte im schwierigen Feld der Zukunftssicherung fiir sozial benachteiligte Jugendliche ohne strukturierende Vorgaben und Aufgaben eher in Form von nicht mehr zu leistender Koordination, denn als aktiven Kooperationsprozess. Die Schulverantwortlichen reflektieren die sozialpadagogischen Erganzungen ihrer Arbeit nur selten als padagogisches Qualitatsmerkmal. Sie scheinen vielmehr zu hoffen, dass im Rahmen der Projektteilnahme sozialpadagogisches „Know-how" ohne eigene Aneignung - quasi als Selbstlaufer - an der Schule bleibt. Auch die Aussicht auf eine dauerhaft engere Zusammenarbeit mit Betrieben als kiinftigen Arbeitgebem der Jugendlichen wird kaum thematisiert. Wie weit sozialpadagogische Arbeit umgesetzt wird ist offensichtlich von der Bereitschaft der Schule abhangig, ihre Strukturen auf sozialpadagogisches Handeln auszurichten, um so optimale Rahmenbedingungen fiir eine erfolgreiche Arbeit zu bieten. Wenn Schule die enge Zusammenarbeit zwischen LehrerkoUegium und Sozialpadagoglnnen fordert, hat die Forderarbeit eine gute Basis. Schulen mit Erfahrung in der Kooperation der padagogischen Professionen, wie den beiden teilnehmenden Forderschulen, gelingt es deutlich besser, die sozialpadagogische Arbeit anzuerkennen, diese in den Schulalltag zu integrieren und als Gewinn fur die padagogische Arbeit ihrer Schule insgesamt zu begreifen. Auch in einer Hauptschule mit hohem Innovationsbewusstsein ist ein fachlicher Austausch iiber padagogische Themen, Fallberatung und die kooperative Umsetzung der Projektidee mit viel Engagement von beiden Seiten moglich. Wenn es aber vor allem darum geht, nur koordinierend und nachgeordnet Schule von problematischem Schiilerverhalten zu entlasten und den Fachunterricht zu
170
erganzen, schadet dies der sozialpadagogischen Arbeit und damit den Jugendlichen. Erst die schulische Einsicht in den grundlegenden Orientierungsbedarf und die Notwendigkeit von beraterischen Entscheidungshilfen in individuellen Fallen verbessert die Zukunftsperspektiven der Madchen und Jungen, deren Lemmotivation nachweislich gesteigert werden kann. Schule hatte hier die Moglichkeit, den Blick zu erweitem - einzusehen, wo sie unnotig einengt und eigene Ressourcen nur begrenzt nutzt. „Schickt" zum Beispiel der Klassenlehrer den Schtiler in die sozialpadagogische Beratung, ist liber die unreflektierte Fortsetzung der Hierarchien ein Selektionseffekt innerhalb der zu beratenden Schulerlnnenschaft zu erwarten. Unterrichtshospitationen von Sozialpadagoglnnen konnen diesen Effekt verringem. Ubemehmen diese allerdings originar schulische Aufgaben wie den Forderunterricht, festigt sich das den von Schtilerlnnen deutlich wahrgenommene hierarchische Gefalle zwischen den padagogischen Professionen und stort so den gewonnenen Kontakt: SchlieBlich sind diese Jugendlichen auch deshalb benachteiligt, weil sie tendenziell einen groBen „Sicherheitsabstand" zu ihren Lehrerlnnen halten. Als „Schamier" konnten die Sozialpadagoglnnen jedoch die Organisation oder Vermittlung von und in Forderunterricht tibemehmen und ihr Motivationspotenzial zur Aktivierung der Schtilerlnnen nutzen. Die Sozialpadagoglnnen berichten von einem fast gleich groBen Anteil von Berufsorientierung, Berufsvorbereitung und psychosozialer Beratung^ in den Kontakten mit den Schtilerlnnen. Dieses Indiz belegt, wie wichtig die Stabilisierung der Lebenssituation ftir die konstante und Erfolg versprechende Teilnahme am Projekt ist. Der Unterstiitzungsbedarf der Jugendlichen deckt im psychosozialen Bereich dabei eine breite Palette ab: Er reicht von der Vermittlung in schulischen Konflikten iiber das Lemen sozial angepasster Verhaltensweisen bis hin zur Vermittlung von Erziehungshilfen. Die Sozialpadagoglnnen erfiillen hier eine individuell wichtige Schamierfunktion an der Schnittstelle zwischen Alltagsbewaltigung auf der einen sowie Berufwahl und Berufseinstieg auf der anderen Seite. Im Projekt fallt auf, dass sich die Schulen insgesamt schwer tun, die sozialpadagogische Arbeit in die organisatorische Gestaltung ihres Regelangebots einzubinden. Eine zogerliche Haltung der Schule und miihevolle Integrationsbemtihungen der Sozialpadagoglnnen verschleiBen unnotige Krafte, wenn die formell vorhandene Kooperation in der Praxis erst noch „erkampft" werden muss. Die Vermutung liegt nahe, dass Verantwortliche in den teilnehmenden 9 Zum Zeitpunkt der Abschlussevalation(6/06) hat sich der quantitativ belegte Beratungsbedarf in diesem Bereich auf 13,6% gesenkt. Die Vermutung Hegt nahe, dass durch die Unterstutzung im Berufsorientierungs- und Berufswahlbereich die psychosozialen Probleme moglicherweise abnehmen - was im weiteren Evaluationsprozess noch zu priifen ist.
171
Schulen an dieser Stelle die Positionierung der sozialpadagogischen Arbeit nicht hinreichend reflektiert haben. Bis bin zu der Konsequenz, dass zum Beispiel die schulorganisatorisch bedingte Ausgrenzung einer Sozialpadagogin vom berufsvorbereitenden Regelangebot wie Bewerbungstrainings die Schiilerlimen in ihren prekaren Lebensphasen zusatzlich verunsichert. Alle Jugendlichen zeigen seit Einftihrung des sozialpadagogischen Angebotes einen deutlichen Entwicklungsschub in Personlichkeit und Selbstbewusstsein. Die Bilanz der Schulabschlusse oder Lehrvertrage deutet darauf hin^", dass auch schulmiide und schulfeme Jugendliche in erstaunlich kurzer Zeit die Ausbildungs- und Beschaftigungsreife^^ unabhangig vom Schultyp erlangen konnen. Als Kooperationspartner eines solchen Projektes ist die Schule gefordert, in ihren Strukturen die Rahmenbedingungen fur erfolgreiche sozialpadagogische Arbeit zu bieten. Unabhangig von der Form der Schule ist der Erfolg auch davon abhangig, wie die Schule die Kooperation zwischen den padagogischen Professionen gestaltet. Um Kontroversen im jeweiligen Professionsverstandnis vorzubeugen, sind Vertrage zur Umsetzung, besser aber noch iibergreifende Standards erforderlich. Neben der Anerkennung der sozialpadagogischen Profession und der kreativen Losungen zur Umgestaltung des Schulalltags braucht die/der Sozialpadagogin ein Biiro mit angemessenen Beratungsmoglichkeiten und modemen Kommunikationsmedien - eine weitere Aufgabe fur die beteiligten Schultypen. Wenn sich schul-, sonder- und berufspadagogisch Tatige auf die Impulse sozialpadagogischer Arbeit rund um Schule und dariiber hinaus einlassen, gewinnen die sozial benachteiligten Schiilerlnnen neue Perspektiven^l Ftir sie zahlt, mit sozialpadagogischer Hilfe eine eigenverantwortliche und bewusste Entscheidung ftir Erwerbstatigkeit oder Weiterqualifikation getroffen zu haben. Die Tragerschaften und Weisungsbefugnisse sind hierfur irrelevant. Das haben die Aussagen der Gruppendiskussionen gezeigt. Vielmehr miiss(t)en die biografischen Zusammenhange und Zukunftsoptionen der Madchen und Jungen im Fokus der Aufmerksamkeit aller beteiligten Disziplinen stehen.
10 Von 9 Jahrespraktikanten der Projektanfangsphase (3 Schulen) wurden 5 Jugendliche im Anschluss an ihre Praktika in Ausbildungsverhaltnisse iibemommen. 11 Vgl. dazu kritisch Rebmann/Tredop in diesem Band. 12 Ihnen gelingt es mit dieser Unterstutzung, ihre schulverweigemden Haltungen zu tiberwinden und akzeptable Abschliisse zu erwerben.
172
5
Fazit
Die padagogisch Tatigen stehen vor der Herausforderung, eine Interdisziplinaritat zu etablieren, die sich in der Praxis in gegenseitiger fachlicher Wertschatzung und einem selbstreflexiven Professionsbewusstsein zeigt: Die Schule kann durch organisatorische Kreativitat den sozialpadagogischen Gestaltungsspielraum enorm erweitem. Die sozialpadagogischen „bildungs- und lemrelevanten Akteure" (BMFSFJ 2005, 547) mtissen dagegen ihren tendenziell vorauseilenden Gehorsam wie auch ihr grundsatzliches Misstrauen gegeniiber der Institution Schule aufgeben. Es geht darum, gemeinsam nach kreativen Losungen mit Blick auf die Lebenswelt der Schiilerinnen und Schtiler zu suchen, zu koordinieren und langfristig zu kooperieren. Wie schwierig das ist, mag ein Verweis auf die im Rahmen der o. g. Studie ausgewerteten Berichte veranschaulichen: In keinem Bericht finden sich Hinweise auf Erfahrungen von Schiilerinnen, die am System gescheitert sind - vielmehr wird der leistungsorientierte Defizitblick der Schule tendenziell tibemommen und fortgeflihrt. Ein „blinder Fleck" auf Grund der moglicherweise unreflektierten Anpassung an schulpadagogische Deutungsvorgaben. Denn frlihere Schwierigkeiten im Bildungssystem wie Biografien, die belastende Auswirkungen auf das schulische Lemverhalten haben oder geschlechtsrollenkonforme und milieuabhangige Orientierungen (vgl. Spies 2005) konnen zu Verweigerungshaltungen fiihren. Die von Ehninger und Melzer (2005) nachgewiesenen Abhangigkeiten zwischen schulbezogenen Selbstwirksamkeits-Uberzeugungen, Sozialkompetenz und Fachleistungen sprechen daflir, dass Schulsozialarbeit und schulbezogene Jugendsozialarbeit das Handlungsfeld fiir die notwendigen tJbersetzungsleistungen zwischen den Disziplinen ist - sofem die „Ubersetzung" in Auftrag gegeben wird. Wichtigste Grundlage ist die von Braun et al. (1999) betonte Dringlichkeit, alien Jugendlichen der Sekundarstufe I einen verwertbaren Schulabschluss zu ermoglichen, und ihnen fiir den (Jbergang in den Beruf die notwendige Orientierungs- und Handlungskompetenz zu vermitteln. Durch gezielte Lemangebote konnen Schulverweigerungsformen vermieden und berufsvorbereitende Angebote zwischen der allgemein bildenden Schule und der beruflichen Erstausbildung angesiedelt werden (ebd. S. 24). Diese Form der tJbergangsgestaltung konnen auch zertifizierte und honorierte Jahrespraktika abdecken, die von sozialpadagogischen Fachkraften begleitet werden. Die daflir erforderliche Interdisziplinaritat fehlt bislang im aktuellen Diskurs zur kooperativen Schulentwicklung bezogen auf Berufsorientierung und tJbergangsgestaltung an Schulen. Hier werden zwar Themen wie ethnische Diversitat (Diehm 2004) oder Evaluationsbedingungen diskutiert, nicht aber sozialpadagogische Arbeit und Kooperationsansatze, die der Zukunftssicherung junger Menschen in der Arbeitswelt dienen. 173
Ackermann und Rahm (2004) betonen die strukturellen Defizite der Schulentwicklung, die Kooperationen und „padagogische Phantasie" blockieren: Der Bildungsadministration sei „eine interne sowie eine iiber die Schule hinausgreifende Kooperation, ein regelmafiiges Feedback uber die Effekte padagogischen Handelns oder eine sich padagogischer Qualitatssteigerung verdankende LFberpriifung, welche Ziele die Schule erreicht und welche nicht, weitgehend fremd" (ebd. 7). Es fehlt ein gezieltes Programm zur kooperativen Schulentwicklung, das die Zukunftschancen ihrer Absolventen ins Zentrum der Entwicklungsbestrebungen stellt und die fehlenden Unterstiitzungsinstanzen mobilisieren kann. Erst wenn sich alle Schulen als lemende Organisation verstehen und kreative Losungen fur Zugange zu ungenutzten Ressourcen mitzuentwickeln bereit sind, ist eine Verbesserung der schwierigen Situation in Sicht. Schulsozialarbeit bzw. schulbezogene Jugendsozialarbeit kann in diesem noch ausstehenden Prozess einen wesentHchen Beitrag leisten: Ftir ein differenzierteres „Spektrum von Giitekriterien flir das Lemangebot der Schule, fur Lemprozesse, die sie ermoglicht, und ftir deren Ergebnisse" (Knab 2004, 306). „Es ist fur alle an der Schule Beteiligten gut, wenn den besonders Bedurftigen Menschen zur Seite stehen, die ihnen Mut machen, sie mit Aufmerksamkeit begleiten und sie in schwierigen Situationen untersttitzen konnen. So viel Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung muss sein" (Liebau 2004, 359). Inwiefem dies je nach Schultyp flir Forder-, Berufs- und AUgemeinbildende Schulen zu differenzieren ist oder schulformiibergreifend angelegt sein muss, ist eine der Herausforderungen an sozialpadagogische Arbeit „rund um" Schule statt „in oder an" Schule, wie die Argumentation des 12. Kinder- und Jugendberichts zu differenzieren vorschlagt (s. o.). Bislang fehlen Bedingungen, die Koordination gewahrleisten und langfristige Standards fiir Koordination etablieren konnen - der angesichts der damit verbundenen Zukunftsoptionen benachteiligter Jugendlicher dringlichste Entwicklungsbedarf Schulsozialarbeit bzw. schulbezogene Jugendsozialarbeit als Schamier zwischen Disziplinen und Interessengruppen wie Schiilerlnnen, Eltem, Lehrerlnnen und der Offentlichkeit hat die professionelle Kompetenz, Interessen stellvertretend zu deuten und zu vertreten (vgl. Liebau 2004, 359). Sie ist die Schnittstelle, die die Schule(n) mit anderen Lemorten und Lemangeboten vernetzt (vgl. Knab 2004, 305). Wenn auch fiir alle bediirftigen und interessierten Jugendlichen wtinschenswert, ist die schulische Sozialarbeit doch besonders fur benachteiligte Madchen und Jungen notwendig, die als Schiilerlnnen bisher wenig erfolgreich waren. Die sozialpadagogische Arbeit sichert damit ihren gesellschafllichen Anschluss und minimiert so das Risiko der Exklusion. Welchen Anteil die schulischen Erfahrungen des Scheitems an Kausalitats- und Selbstwirksamkeits-Uberzeugungen, Leistungen, lemrelevantem Verhalten und
174
Resignationshaltungen haben, ist bislang nicht hinreichend empirisch untersucht. Die Analyse von Hosenfeld (2002) legt jedoch die Vermutung nahe, dass schulische Erfahrungen die subjektiven Zukunftsperspektiven massiv beeinflussen. In diesem Fall sind die Folgen von schulpadagogischem Nichthandeln kaum abschatzbar, die Sozialpadagoglnnen nur zur zum Teil flankierend auffangen konnen - es sei denn, Schule lasst sich auf einen einschneidenden Lem- und Kooperationsprozess'^ ein. Um dem biografischen Risiko des Scheitems am Ubergang von der Schule in eine den selbstandigen Lebensunterhalt sichemde Erwerbstatigkeit friihzeitig, passgenau und professionell zu begegnen, sind Risikobiografien von Schtilerlnnen friihzeitig anzugehen. Dies geschieht durch ein lebensweltorientiertes, sozialpadagogisches Forderangebot zur Schwellenbewaltigung, statt die Risken des Scheitems zu verscharfen. Schulsozialarbeit und schulbezogenen Jugendsozialarbeit sind dabei „als Ressource fiir die Qualitatsentwicklung von Schule, statt als Mangelverwaltung des Schulversagens zu begreifen" (Miiller 2004, 226).
13 Ein Lemprozess, der die Institution in ihrer paradigmatischen Annahme der prinzipiell gleichen Zuganglichkeit ihrer Bildungsangebote konzeptionell und institutionell mit zu differenzierenden Bildungsanboten herausfordert und z. B. des sozialpadagogischen „Know-How" aus iiber 30 Jahren Madchenarbeit bedarf, um Befiinden aus der vertiefenden Auswertung der Datensatze von PISA 2000 zu begegnen: Dort findet sich ein signifikant steiler Anstieg der Sitzenbleiberquoten von Madchen in Klasse 7 und 8, ein Verweis auf deren pubertaren Verhaltensprobleme, sowie eine signifikante Haufigkeit von klassenwiederholenden Madchen aus Migrantenfamilien (vgl. Krohne/ Meier 2004) und Lembelastungen von Madchen durch ungiinstig zusammengesetzte Schiilerpopulationen (vgl. Schiimer 2004).
175
Literaturverzeichnis Ackermann, H./Rahm, S. (2004): Kooperative Schulentwicklung. Die Balance heterogener Interessenlagen und Zugange. In: Ackermann, H./Rahm, S. (Hrsg.): Kooperative Schulentwicklung. Wiesbaden. S. 7-15 BMFSFJ (2005): 12. Kinder- und Jugendbericht; www.bmfsfj.de/doku/kjb/haupt.html Bolay, E. u. a.(1999): Unterstiitzen - Vemetzen - Gestalten. Eine Fallstudie zur Schulsozialarbeit. Tubingen; http://w210.ub.uni-tuebingen.de/dbt/volltexte/2005/ 1786/ Bolay, E./Flad, C./Gutbrod, H. (2004): Jugendsozialarbeit an Hauptschulen und im BVJ in BadenWtirttemberg. Abschlussbericht der Begleitforschung zur Landesforderung. Tubingen 2004; www.leu.bw.schule.de/bild/Jugendsozialarbeit-an-Schulen.pdf Bolay, E. (2004): (Praxis-)Forschung in der Kooperation von Jugendhilfe und Schule: Standort- und Bedarfsbestimmung. In: HartnuB, Birger/Maykus, Stephan (Hrsg.): Handbuch Kooperation von Jugendhilfe und Schule. Ein Leitfaden flir Praxisreflexionen, theoretische Verortungen und Forschungsfragen. Berlin/Fulda. S. 1007-1035 Braun, F./Lex,T./Rademacker, H. (1999): Probleme und Wege der beruflichen Integration von benachteiligten Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Expertise. Munchen Chapman, M. V./Sawyer, J. S. (2001): Bridging the Gap for Students at Risk of School Failure: A Social Work-Initiated Middle to High School Transition Program. In: Children & Schools. 23./2001,S. 235-240 Diehm, I. (2004): Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft: Ein „blinder Fleck" der aktuellen Reformdebatte. In: Ackermann, H./Rahm, S. (Hrsg.): Kooperative Schulentwicklung. Wiesbaden. S. 127-150 Drilling, M. (2004): Schulsozialarbeit. Antworten auf veranderte Lebenswelten. Bern Ehinger, F./Melzer, W. (2005): Der mogliche Beitrag der Ganztagsschule zur Kompetenzentwicklung von Schulerinnen und Schiilem. In: Spies, A./Stecklina, G. (Hrsg.): Die Ganztagsschule Schule und Jugendhilfe vor der Herausforderung gemeinsamen Handelns. Bd. I: Dimensionen und Reichweite(n) des Entwicklungsbedarfs. Bad Heilbrunn/Obb. S. 35-54 Flad, C./Gutbrod, H. (2005): Ganztagsschule und Kooperationskonzept? Uberlegungen ausgehend von der Schulsozialarbeit. In: Spies, A./Stecklina, G. (Hrsg.): Die Ganztagsschule - Schule und Jugendhilfe vor der Herausforderung gemeinsamen Handelns. Bd. II: Keine Chance ohne Kooperation - Handlungsformen und Institutionelle Bedingungen. Bad Heilbrunn/Obb. S. 43-57 Frommann, A./Kehrer, H./Liebau, E. (1987): Vergleichende und systematische Betrachtung der Praxisprojekte. In: Frommann, A./Kehrer, H./Liebau, E. (Hrsg.): Erfahrungen mit Schulsozialarbeit. Moglichkeiten der Zusammenarbeit von Sozialpadagogik und Schule. Weinheim und Miinchen. S. 121-200 Hosenfeld, I. (2002): Kausalitatsiiberzeugungen und SchuUeistungen. Munster Knab, D. (2004): Schulqualitat: Unerledigte Aufgaben der Schulpadagogik. In: Baur, W./Mack, W./Schroeder, J. (Hrsg.): Bildung von unten denken. Aufwachsen in erschwerten Lebenssituationen - Provokationen fiir die Padagogik. Bad Heilbrunn/Obb. S. 301-312 Kraimer, K. (2003): Schulsozialarbeit auf dem Weg zum Regelangebot. Konzepte, Handlungsstrategien, Qualitatsentwicklung fur Soziale Arbeit in der Schule. In: Blatter der Wohlfahrtspflege. 1/2003, S. 17-23 Krohne, J. A./Meier, U. (2004): Sitzenbleiben, Geschlecht und Migration. In: Schiimer, G./Tillmann, K.-J./Wei6, M. (Hrsg.): Die Institution Schule und die Lebenswelt der Schiller. Vertiefende Analysen der PISA-2000-Daten zum Kontext von Schiilerleistungen. Wiesbaden. S 117-147 Liebau, E. (2004): Armut, Bildung, Schulsozialarbeit. In: Baur, W./Mack, W./Schroeder, J. (Hrsg.): Bildung von unten denken. Aufwachsen in erschwerten Lebenssituationen - Provokationen fur die Padagogik. Bad Heilbrunn, Obb. S. 349-360
176
Ludewig, J.; Paar, M. (2001): Schulsozialarbeit. In: Fiilbier, P./Miinchmeier, R. (Hrsg.): Handbuch Jugendsozialarbeit. Geschichte, Grundlagen, Konzepte, Handlungsfelder, Organisation. Band 1. Munster.S. 516-533 Moor, C. H. (1976): From School To Work. Effective Counselling and Guidance. London Miiller, B. (2004): Handlungskompetenz in der Schulsozialarbeit - Methoden und Arbeitsprinzipien. In: HartnuB, B./Maykus, S. (Hrsg.): Handbuch Kooperation von Jugendhilfe und Schule. Bin Leitfaden fur Praxisreflexionen, theoretische Verortungen und Forschungsfragen. Berlin/Fulda. S. 222-237 Nieslony, F. (2004): Schulsozialarbeit global - Skizzierungen auf dem Weg zur intemationalen Vemetzung. In: HartnuB, B./Maykus, S. (Hrsg.): Handbuch Kooperation von Jugendhilfe und Schule. Bin Leitfaden fur Praxisreflexionen, theoretische Verortungen und Forschungsfragen. Berlin/Fulda 2004. S. 140-163 Reischach, G. v. (2006): Beziige von Jugendhilfe und Schule in der Bundesrepublik und im westlichen Ausland. Bin Blick iiber den eigenen Tellerrand. In: Sozialmagazin, 4/2006, S. 52-59 Schiimer, G. (2004): Zur doppelten Benachteiligung von Schtilem aus unterprivilegierten Gesellschaftsschichten im deutschen Schulwesen. In: Schiimer, G./Tillmann, K.-J./WeiB, M. (Hrsg.): Die Institution Schule und die Lebenswelt der Schiiler. Vertiefende Analysen der PISA-2000Daten zum Kontext von Schiilerleistungen. Wiesbaden. S. 73-114 Spies, A. (2005): Kinder statt Beruf? - Zukunftsoptionen benachteiligter Madchen am Ubergang von der Schule in den Beruf In: Unsere Jugend, 57/2005, S. 519-529 Verein fur Kommunalwissenschaften e.V. (1997): Soziale Arbeit in der Schule (Schulsozialarbeit) Konzeptionelle Grundbedingungen. Abschlusspapier eines Workshops des Vereins fur Kommunalwissenschaften e.V. vom 13. bis 14. Dezember 1996 in Berlin. Berlin
177
Die sozialpadagogische Schule als Praventionsmodell fiir abweichendes Verhalten Eric Miihrel
1
Einleitung
Auf die Kinder und Jugendlichen dieses Landes wartet ein ganzes Arsenal von Moglichkeiten devianten, also abweichenden Verhaltens. Das Risikopotential fiir die Jugend hinsichtlich primarer wie sekundarer Devianz scheint enorm hoch zu sein, so wird es zumindest in den Medien gem vermittelt. Begriffe wie Medienverwahrlosung, Schulabstinenz und Risikoschuler haben sich dort wie im wissenschaftlichen Diskurs fest etabliert. Gerade auch innerhalb der Schule scheint abweichendes Verhalten normal TAX sein. Dafiir sprechen schon einige spektakulare Aufdeckungen von Mobbing, Abziehen und permanenten Demiitigungen einzelner Schiiler oder gar Gruppen von Schtilem in Hauptschulen und berufsbildenden Schulen in den vergangenen Jahren. Tatsachlich aber ist das Risikopotential fiir eine bestimmte Gruppe von Jugendlichen besonders hoch. Es sind jene mit schlechten Bildungschancen und damit mit mangelnden Moglichkeiten gesellschaftlicher Partizipation. Dazu ein Beispiel: der fiiihere Bundeswirtschaftsund -arbeitsminister Wolfgang Clement gab im Sommer des Jahres 2005 zu, dass mit den Programmen des Fordems und Fordems im Kontext von Hartz IV nur die Halfte der anvisierten Jugendlichen und Heranwachsenden erreicht werden konne. Es fi*agt sich dann, was mit der anderen Halfte geschieht. Wird sie, verabschiedet aus der Partizipation an der Gesellschaft, nicht besonders gefahrdet sein hinsichtlich sekundarem abweichendem Verhalten in all seinen Facetten? Doch wie wird auf die vermeintliche Erhohung des Risikopotentials abweichenden Verhaltens seitens der Politik reagiert? Der Kriminologe Christian Pfeiffer konstatiert, dass die Investition in die Jugend die zentrale Leitlinie fiir die Politik werden muss. Damit verbindet er die Fruhforderung von Kindem, den Ausbau von Schulen zu Ganztagsschulen und auch eine Starkung der Hochschulen. Die Politik verhalte sich aber so, als ob die Zukunft Deutschlands im Ausbau von Gefangnissen liege. Er belegt dies mit eindnicklichen Zahlen. So sei trotz gtinstiger Kriminalitatsentwicklung die Zahl der Strafgefangenen seit 1992 um mehr als 40 % gestiegen. Die Mehrkosten hierfiir betragen nach Pfeiffer 5
Milliarden Euro jahrlich. Hinzu kamen noch im Bau befindliche Neubauten von Justizvollzugsanstalten in Hohe von 1,4 Milliarden Euro (vgl. Pfeiffer 2005). Der Ausbau von Gefangnissen ist sicherlich ein Weg abweichendem Verhalten zu begegnen, allerdings wohl kein praventiver und padagogischer. Konnte es mit anderen Feldem der Devianz als der Kriminalitat ahnlich bestellt sein? Wird vieles an Interventionsmoglichkeiten erst dann - kostenintensiv - in Gang gesetzt, wenn das Kind in den Brunnen gefallen istl Und liegt es nicht nahe, die Schule zu einer Institution der Pravention abweichenden Verhaltens zu gestalten anstatt zu einer der Forderung desselben? Kann die Schule das iiberhaupt? Und wie soUte eine Schule gestaltet sein, in der eine solche Praventionsarbeit gewahrleistet sein konnte? Zudem stellt sich aus der sozialpadagogischen Perspektive heraus die Frage, welchen Beitrag die Sozialpadagogik zur Konzeption und Gestaltung einer solchen Schule zu leisten vermag? Kann dieser Beitrag gar so weit gehen, dass die Rede von einer sozialpadagogischen Schule moglich ware? Doch auf welcher Tradition baut eine derartige sozialpddagogische Schule auf und worin liegt ihr sozialpadagogisches Charakteristikum? Im Folgenden wird den Urspriingen einer Verbindung von Schul- und Sozialpadagogik nachgegangen. Dabei wird ersichtlich werden, dass die Vision einer sozialpadagogischen Schule schon auf eine lange, jedoch zeitweise vergessene. Tradition zuriickblicken kann. AnschlieBend wird die preventive Wirkung einer solchen Schule hinsichtlich der Problematiken abweichenden Verhaltens aufgezeigt.
2
Die sozialpadagogische Schule^
Den Weg zur Beschreibung der sozialpadagogischen Schule bereitet eine historische Besinnung darauf, was unter Sozialpadagogik verstanden werden kann. Gewohnlich wird Sozialpadagogik heute im Sinne einer auBerschulischen Jugendhilfe verstanden. Dies hat seine Griinde, denn unter anderem verortete Klaus Mollenhauer die Sozialpadagogik als gesellschaftliches Konfliktlosungsmodell einer Jugendhilfe auBerhalb der Schule. Wahrend bei der Schulpadagogik der Anlass aller MaBnahmen eine gesellschaftliche, objektive Leistungsanforderung sei, so bei der Sozialpadagogik ein Konflikt (Mollenhauer 1974, Kapitel „Konflikte"), eine Unterscheidung, die heute obsolet zu sein scheint, da die Konfliktbewaltigung den Schulalltag vieler Schulen dominiert (vgl. Puhr 2003, 9097). Die berufspolitische Intention zwischen den 1960er und 1980er Jahren, die diese radikale Trennung von Schulpadagogik und Sozialpadagogik begleitet, ist
1 Vgl. zum folgenden Kapitel auch Miihrel 2005.
180
hervorzuheben. Im Rahmen des Ausbaus des Sozialstaats lockte die VerheiBung eines professionellen und wissenschaftlichen Aufbruchs, der sich in einem immensen quantitative!! Ausbau von Stellen fur Sozialarbeiterinnen und Sozialpadagoginnen sowie in einer stetig steigenden Fachlichkeit niederschlug. Im Rausch dieser Jahre gingen andere Traditionslinien der Sozialpadagogik jedoch fast vollig verloren.^ Heute jedoch konnten genau diese vor einer Renaissance stehen. Die Sozialpadagogik kann seit ihren Anfangen bei Karl Mager (1820-1858) und Adolph Diesterweg (1790-1866, selber Volksschullehrer und Lehrerausbilder) als das Aufsptiren einer padagogischen Antwort auf die soziale Frage der jeweiligen Epoche verstanden werden. Ein entscheidender Ort fiir eine solche padagogische Antwort ist die Schule. In der Epoche Diesterwegs und Magers bestand die soziale Frage vor allem in der Verelendung des Proletariats im Rahmen der Industrialisierung. Es drohte dabei die Gefahr einer Radikalisierung des Politischen und Gesellschaftlichen hin zu totalitaren Systemen, entweder einem reaktionar absolutistischen oder einem sozialistischen. Der aufgeheizten Stimmung in dieser Epoche wollte die Sozialpadagogik in dieser Traditionslinie^ als eine gemafiigte, dem btirgerlichen Lager verpflichtete Bewegung mit padagogischen Mitteln begegnen. Das Mittel war eine Bildung des einzelnen Menschen zu einem emanzipierten, aufgeklarten und selbst bestimmten Individuum, das sich aber gleichzeitig dem Gemeinwohl der Gesellschaft gegentiber verpflichtet sah (vgl. Konrad 1998; Miiller 2002,4-24). Das Ideal der am demokratischen Gemeinwesen orientierten Burgerinnen und Burger ist heute im Rahmen der Debatten um Biirger- und Zivilgesellschaft aktueller denn je. Die heutige soziale Frage ist dabei gekennzeichnet durch die Herausforderungen der Ambivalenzen von Integration und Desintegration/ Zur Bewahrung eines demokratischen Gemeinwesens unter diesen Herausforderungen bedarf es einer Erziehung zur Demokratie.^ Fiir die padagogische Antwort auf die soziale Frage von heute ist die Schule dabei weiterhin ein entscheidender Ort. Aber wie soil die Schule aussehen, in der die soziale Frage eine padagogische Antwort erhalt? Auch hierauf fmden wir Antworten in einer historischen Betrachtung der Sozialpadagogik. Franz Michael Konrad verweist auf die enge 2 Zur Thematisierung der Beziehung von Schule und Sozialpadagogik in dieser Zeit vgl. Homfeld 1977. Homfeld halt die Idee Qmex sozialpadagogischen Schule wach. 3 Andere Traditionslinien der Sozialpadagogik und der sozialen Arbeit insgesamt beschreibt Herman Nohl in Die padagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie (erstmals als komplette Monographic erschienen 1935). Vgl. hierzu Nohl 1963, Kapitel I - II des ersten Abschnitts). 4 Siehe hierzu Kapitel II. 5 Zur Erziehung zur Demokratie im Kontext der Sozialpadagogik vgl. die eingehende Besprechung bei Muller 2005, Kapitel 4.
181
Verbindung des Begriffs Sozialpadagogik mit einer gewtinschten und angestrebten Schulreform in Deutschland zwischen den Jahren 1900 und 1930. Die angestrebte Schulreform zielte unter anderem auf die Schulgeldfreiheit und vor allem die Einrichtung der Einheitsschule ab (vgl. Konrad 1998, 45-50). Herman Nohl beschreibt diese Einheitsschulbewegung als Ausdruck einer Suche nach der tjberwindung der Zerspaltung des Schulwesens, welche fur die reine Reproduktion der Klassen der damaligen Zeit verantwortlich gemacht wurde. Im Sinne eines humanistischen Bildungsideals zielte diese Einheitsschulbewegung, so heterogen sie in ihren verschiedenen Ansatzen (sozialistisch, christlich und/oder nationalistisch bewegt) auch gewesen sein mag, auf eine Bildungseinheit, die den Kindem und Jugendlichen aller Klassen und Schichten individuelle Entfaltungsmoglichkeiten und die Erfahrung von einer Gemeinschaft iiber die Klassenschranken hinweg ermoglichen soUte (vgl. Nohl 1963, 67-76; zu einer Beschreibung der Bewegung von ihren Anfangen bis 1919 besonders Sallwiirk, 1920). Der Begriff Sozialpadagogik dient in dieser Bewegung daher dem Vermitteln von zwei Forderungen. Einerseits der Betonung der Gemeinschaft flir eine sinnvoUe Erziehungs- und Bildungsarbeit. Zweitens dem Ansinnen eines padagogisch organisiertem und reflektiertem Durchbrechens des Klassen- und Standesdenkens im Sinne eines republikanisch-demokratischen Ideals. Diese Bewegung gipfelt inhaltlich in den Entwiirfen des zu Recht als Sozialpadagogen zu bezeichnenden pragmatischen Philosophen John Dewey (18591952), ein US-Amerikaner, der sich auf diese Tradition der deutschen Sozialpadagogik stutzt (vgl. Muller 2005, 210-220). Der Schiller soil dabei vom Objekt des Lehrens zum Subjekt des Lemens werden. Der Unterrichtsstoff wird nicht vorgegeben, sondem Probleme sollen als solche erfahren und als Projekt in der Gruppe gelost werden. Dewey entschliisselte den engen Bezug zwischen der Ubermittlung sozialer und gesellschaftlicher Kompetenzen und der tatigen Auseinandersetzung mit der Umwelt. Seine oft auf die Parole „leaming by doing" reduzierte Theorie pragte das amerikanische Bildungs- und Schulwesen theoretisch und praktisch entscheidend mit. Sie basiert auf der Einsicht, dass Erziehung und Entwicklung des Menschen nicht auf tJbermittlung von Informationen auf rein rationaler Ebene beruhen, sondem auf eigenen Erfahrungsprozessen mit der Umgebung. Ihm ging es darum, das Schulwesen zu reformieren, es einer immer komplexer werdenden Gesellschaft anzupassen. Erziehungsaufgaben, die bis dahin die GroBfamilie wahrgenommen hatte, sollte nun die Schule iibemehmen. Dewey schwebte eine Schule vor, die zu einer „embryonic community" werden sollte, die in ihren Grundzugen der Idealfamilie der vorindustriellen Zeit entsprach. Die Schule sollte ftir die Kinder zu einer Umgebung werden, zu einem Ort, wo das Kind lebt (vgl. Miihrel 2000, 1013). „Es wird der Schule dadurch (durch Einfiihrung praktischer Tatigkeiten 182
Anm. d. Verf.) die Moglichkeit geboten, sich mit dem Leben zu verbinden, des Kindes Heim zu werden, worin es durch ein wohlgeleitetes Leben lemt; anstatt nur ein Ort zu sein, in dem man seine Aufgaben lemt, die eine abstrakte und nur entfemte Verbindung mit irgend einem moglichen Berufe in femer Zukunft haben. Es wird dadurch der Schule die Moglichkeit geboten, eine Miniaturgemeinschaft, eine embryonische Gesellschaft zu werden." (Dewey 1905, 11). Dewey verstand Bildung als aktiven und aufbauenden Vorgang, der ein handlungsorientiertes und lebensnahes Lemen forderte. Durch die Praxis war ein direkter Kontakt mit der Wirklichkeit gegeben, so dass notwendige und personliche Erfahrungen gemacht werden konnten. Entscheidend war die Selbstaneignung des Wissens durch den Schiiler. Die Eigentatigkeit ist ein wichtiger Bestandteil seiner Padagogik, da nur durch sie Erfahrungen und Erkenntnisse iiber die Zusammenhange der Welt gemacht werden konnen und sie zur Motivation als Ausgangspunkt fur weitere Erfahrungen fiihrt. „Durch Erfahrung lemen heiBt das, was wir den Dingen tun, und das, was wir von ihnen erleiden, nach nickwarts und vorwarts miteinander in Verbindung bringen. Bei dieser Sachlage aber wird das Erfahren zu einem Versuchen, zu einem Experiment mit der Welt zum Zwecke ihrer Erkennung. Das sonst bloB passive Erleiden wird zum Belehrtwerden, d. h. zur Erkenntnis des Zusammenhangs der Dinge." (Dewey nach U. Schreiber 1998, 42). Dewey fertigte Plane fur seine Idealschule an, in denen er die enge Verkniipfung zwischen Theorie und Praxis veranschaulicht. Vorgesehen waren Werkstatten, Laboratorien, Raume ftir die darstellenden Ktinste und die Musik, eine Bibliothek und ein Industriemuseum. Bibliothek und Museum sollten die Orte sein, in denen die praktischen Erfahmngen theoretisch erganzt, gefestigt und vertieft werden sollten, um wiedemm in die laufenden Arbeiten der Werkstatten und Laboratorien integriert zu werden. Schiiler und Lehrer konnten ihre Erkenntnisse und Erfahmngen bei gemeinsamen Mahlzeiten im groBen Speisesaal austauschen und sich gegenseitig zu neuen Aktivitaten ermuntem. In einem Garten sollte den Kindem Gelegenheit geboten werden, das Gedeihen der Pflanzen und des Gemiises zu beobachten, um sich der Herkunft der Nahmngsmittel bewusst zu werden. Das Industriemuseum kam Deweys Vorstellung der inneren Verbindung von Kunst, Wissenschaft und Industrie am nachsten. Seine Aufgabe sollte darin bestehen, eine Verbindung zu anderen Landem herzustellen, damit Interesse und Verstandnis far andere Lander und Volker zu wecken und Vomrteile zu korrigieren. Die Idealschule, wie sie Dewey vorschwebte, wurde nie gebaut. Allerdings versuchte er einige seiner Ideen in seiner Versuchs-Elementarschule,
183
die der Universitat von Chicago angegliedert war und die er 1897 eroffhete, zu verwirklichen (vgl. Muhrel 2000, 10-13).' In diesen Beschreibungen der Reformpadagogik^ Deweys sind viele Ideen ftir ein Reformvorhaben der Schule in den heutigen Debatten nach dem Pisa-Schock in Deutschland wieder zu erkennen. Aus sozialpadagogischer Sicht ist dabei zweierlei zu betonen. Zum einen dient die embryonische Gesellschaft der Schule als Raum des Lemens demokratischen Denkens und Handelns der Erziehung zur Demokratie, d. h. zu einem Handeln als erwachsener Mensch in einem demokratischen Gemeinwesen mit der tJbemahme von Rechten und Pflichten. Zum anderen, und nur so kann Demokratie gelingen, miissen die sozialen Bedingungen des Lemens in der Schule beriicksichtigt werden. Die Schule ist nicht nur ein Lebensumstand der Schiller neben anderen, sondem sie ist der Ort, wo die Lebensumstande der Schtiler artikuliert, beriicksichtigt und im emanzipatorischen Sinne im Lemen eingebunden werden miissen. Die Schiilerinnen und Schiiler bringen iiber ihre sozialen Hintergriinde die heutige soziale Frage der Integration bzw. Desintegration mit in die Schule. In einem sozialpadagogischen Ansatz jeglicher Padagogik in den Schulen sollte daher eine padagogische Antwort auf die soziale Frage von Integration und Desintegration gesucht und umgesetzt werden (vgl. Opp/Unger 2003, 44-46). Anzumerken ist auch, dass die Neurophysiologie durch ihre Erkenntnisse aus naturwissenschaftlicher Sicht die Reform-sozial-padagogik in ihren Zielen unterstiitzt.^
3 Die praventive Wirkung der sozialpadagogischen Schule beziiglich abweichenden Verhaltens Wie stehen die Problematiken von Integration bzw. Desintegration und abweichenden Verhaltens in Relation? Wenn Desintegration eine Bedingung ftir die Moglichkeit abweichenden Verhaltens ist, so ware die sozialpddagogische Schule, die ja die soziale Frage von Integration und Desintegration mit dem Ziel der Forderung von Integration und Vermeidung von Desintegration bearbeitet, ein Praventionsmodell beziiglich abweichenden Verhaltens. Die Beziehung der beiden Problematiken sei daher nun genauer betrachtet.^
6 Die Ideen Deweys finden sich u. a. wieder in der Beschreibung einer Reformschule in einem SPIEGEL SPECIAL aus 12/1997. 7 Zu den Entwicklungslinien von Sozialpadagogik und Reformpadagogik vgl. Miiller 2005, 246-259. 8 Beispielsweise sei hier auf die Schriften des Gottinger Himforschers, Neurobiologen und Padagogen Gerald Hiiters verwiesen. 9 Zum folgenden Absatz vgl. auch Muhrel 2006a.
184
Wilhelm Heitmeyer konstatiert in seiner Einleitung zu dem 1997 erstmals erschienenen Sammelband iiber die Frage Was treibt die Gesellschaft auseinander?: „Desintegration avanciert zu einem Schlusselbegriff der zukunftigen gesellschaftlichen Entwicklung." (Heitmeyer 1997a, 9) In dem im selben Jahr erschienen Parallelband Was halt die Gesellschaft zusammen? stellt er als Pendant zu dieser Ausfiihrung fest: „Die Frage nach der Integrationsfahigkeit modemer Gesellschaften ist zu einem zentralen offentlichen wie wissenschaftlichen Diskussionsthema avanciert." (Heitmeyer 1997b, 9) Heute, neun Jahre spater, ist diesen Aussagen Heitmeyers nachdrucklich zuzustimmen. Die Frage von Integration und Desintegration ist eine, wenn nicht die zentrale soziale Frage unserer Zeit. Woran lasst sich dies festmachen? Grundlegend bilden nach Arnold Schwendtke Integration und Desintegration konstitutive Gegebenheiten flir den sozialen Wandel in Gesellschaften. Misslingende soziale Integration fiihrt zu einer Vielzahl individueller und sozialer Konflikte (vgl. Schwendtke 1995). In der heutigen Zeit stellen sich dabei vomehmlich zwei im 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus 2005 empirisch gut belegte Integrationsprobleme: 1. Die Integration von Immigranten mit unterschiedlichen Herkunftskulturen. Ein Beispiel hierfiir sind mangelnde Bildungschancen von Kindem und Jugendlichen aus Migrantenfamilien. Exemplarisch sei hier das Armutsrisiko bei der Bevolkerung mit Migrationshintergrund genannt. 2. Die innerkulturelle Integration von Personen in den LFbergangen der Lebensalter, beispielsweise von der Kindheit zum Jugendalter oder von der Schule zum Beruf. Wiederum exemplarisch mag hierfiir stehen die Armut von Familien und Kindem, die unter anderem zu einem erhohten Risiko gesundheitlicher Probleme bei den Kindem und zu deren Ausgrenzung und mangelndem Schulerfolg schon in der Gmndschule fiihrt (vgl. 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregiemng 2005). Christian Pfeiffer beschreibt zwei Formen der Desintegration. Zum einen die emotionale Desintegration, die er als erlebte Nichtzugehorigkeit mit der Erfahmng von emotionaler Ausgrenzung und Nichtakzeptanz beschreibt. Zum anderen die soziookonomische Desintegration, die sich in einer Ausgrenzung bei dem Zugang zu sozialen Positionen, zu Wohlstand und Entwicklungschancen offenbart (vgl. Pfeiffer 1999). Aus der Sicht des betroffenen Individuums handelt es sich bei den Erfahmngen beider Arten der Desintegration um dynamische Prozesse der Missachtung ihrer Anerkennungswiinsche. Mit Axel Honneth lassen sich drei Anerkennungsweisen bzw. -ebenen beschreiben: die emotionale Zuwendung, die kognitive Achtung und die soziale Wertschatzung - aus denen heraus im Falle einer gelingenden Anerkennung, im Rahmen der reziproken Beziehungen mit anderen 185
Menschen, das Individuum entsprechend den Anerkennungsweisen Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschatzung entwickelt. Was geschieht jedoch im Falle misslingender Anerkennung? Diese fxihrt zur Erfahrung von Missachtung in den Formen der emotionalen und soziookonomischen Desintegration (vgl. Honneth 1992, Kapitel 6). Das Individuum reagiert darauf mit einem Bewaltigungsverhalten zum Ausgleichen dieser Missachtungen. Honneth geht dabei vom positiven Falle aus, dass das Individuum dann in einen Kampf um Anerkennung tritt, bei dem es sich an die allgemeinen Regeln, Werte und Normen halt. Dies muss aber nicht der Fall sein. Denn die individuellen Konflikte durch Missachtung in den Modi der emotionalen wie soziookonomischen Desintegration werden nach Lothar Bohnisch bei Menschen, die nicht auf ausreichende emotionale, kognitive und soziale Ressourcen zuriickgreifen konnen, durch abweichendes Verhalten, beispielsweise Gewalt, bewaltigt (vgl. Bohnisch 1999, 36-42). Auch in einem solchen Bewaltigungsverhalten im negativen Falle zeigt sich ein Streben des Individuums nach „situativer und biographischer Handlungsfahigkeit und psychosozialer Balance in kritischen Lebenssituationen und -konstellationen" (Bohnisch 1999, 11), wie sie eben durch Missachtungserfahrungen ausgelost werden. Doch solches Bewaltigungsverhalten fuhrt wiederum zu individuellen und sozialen Konflikten, wie beispielsweise Selbstabwertungsspiralen aufgrund andauemder Missachtungen und anhaltender Desintegration (vgl. Schreiber 1999). Unter padagogischen, politischen und auch okonomischen Gesichtspunkten sind diese Konflikte dann nur - falls iiberhaupt mit groBem Aufwand zu bewaltigen. Als Beispiel sei hier die Resozialisierung als eine Art der /Reintegration im Strafvollzug genannt. Gelingende Integration ist daher die beste Pravention der durch soziale Desintegration/Segregation provozierten individuellen und sozialen Konflikte. Zusammenfassend lasst sich aufzeigen, dass abweichendes Verhalten sich in seinen verschiedenen Formen umso eher auspragt und manifestiert, ,je groBer die Desintegrationsbelastungen in unterschiedlichen Teildimensionen der Gesellschaft mit der Folge einer negativen Anerkennungsbilanz" (Endrikat et al 2002,40) sind.^^ In welcher Art und Weise kann die sozialpddagogische Schule beztiglich der Problematik abweichenden Verhaltens praventiv Einfluss nehmen? Einerseits durch die Annahme der sozialen Frage der Integration bzw. Desintegration, indem der soziale Hintergrund der Schiilerinnen und Schiiler, mit welchem die soziale Frage in die Schule getragen wird, padagogisch bearbeitet und selber wertgeschatzt wird. Andererseits vermittels einer sozialpadagogisch orientierten Padagogik in der Forderung der emotionalen, physischen, psychischen und sozialen Ressourcen der Schiilerinnen und Schiiler, damit diese im Falle von
10 Vgl. zu dieser Wechselwirkung von Desintegration und Missachtung vertiefend Dungs 2006.
186
Erfahrungen der Desintegration und Missachtung auf ein positives Bewaltigungsverhalten und nicht auf solches abweichenden Verhaltens zunickgreifen. Dies kann jedoch nur in einer Schule erreicht werden, die nicht auf eine Anstalt antisozialen Verdrangungsverhaltens, die selber abweichendes Verhalten bei Schtilem und Lehrem hervorruft, reduziert ist (vgl. Bohnisch 1999, 168-178). Zusammenfassend lasst sich mit Bezug auf das Risiko und die Problematik abweichenden Verhaltens daher folgende praventive Wirkungsweise der sozialpddagogischen Schule beschreiben: • Starkung des Selbstvertrauens, der Selbstachtung und der Selbstschatzung des einzelnen Schiilers. Dies geschieht • mittels der Selbstaneignung des Wissens und der Freude am Lemerfolg, • der Forderung kooperativen, demokratischen Handelns statt antisozialen Verdrangungsverhaltens, • der Forderung der Partizipation - und damit Integration anstatt Entfremdung, Verangstigung und Vereinzelung - und somit Desintegration. • Damit dient sie zudem der Bereitstellung von Ressourcen fur die Entwicklung eines positiven Bewaltigungsverhaltens der Schiilerinnen und Schiiler beziiglich Erfahrungen von Desintegration und Missachtung auBerhalb der Schule.
4
Ausblick
Der Zeitpunkt fiir einen Wandel des deutschen Schulsystems scheint insgesamt giinstig zu sein. Die Gesellschaft der Bundesrepublik ist aufgrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse und des offentlichen, intemationalen Drucks verhalten bereit, die Schule zu reformieren. In den kommenden zwanzig Jahren wird sich das Schulwesen in Deutschland wohl grundlegend verandem. Dabei ist eine inhaltliche Ausgestaltung der Schule im Sinne der Sozial-reform-padagogik Deweys richtungweisend. Lehrerinnen und Lehrer sollten demnach genauso wie Erzieherinnen und Erzieher (Fruhpadagoginnen und Friihpadagogen) akademisch gebildete iSozza/padagoginnen bzw. iSoz/a/padagogen, oder doch zumindest sozialpadagogisch geschult, sein. Zudem ergeben sich fiir ein zuktinftig wiinschenswertes multiprofessionelles Team in der Schule fiir Sozialpadagoginnen und Sozialarbeiterinnen interessante Berufsfelder.
187
Mit Schulsozialarbeit als sozialer Tupfer in Haupt- und Sonderschulen ist es eben nicht getan.^^ Diese sicherlich positiven Ansatze der Schulsozialarbeit gehoren ausgebaut in einer umzusetzenden Einheitsschule im Sinne Deweys oder/und nach finnischem Vorbild. Hier werden sich Chancen flir die soziale Arbeit insgesamt auftun. Auch die auBerschulische Jugendhilfe wird dann gesellschaftlich akzeptabel und durchsetzbar bleiben, wenn sie sich aus der Mitte der Schule als notwendige sozialpadagogische Hilfe fiir die Familie und den Sozialraum des Schiilers erweist, ohne die der Bildungserfolg des jungen Menschen in Frage gestellt ist. Die Behauptung auBerhalb jeglichen Schulzusammenhangs wird sich in der derzeitigen finanz- wie sozialpolitischen Situation dagegen auBerst schwierig gestalten. Es stellt sich nun abschlieBend eine Frage: Wird die Sozialpadagogik ihre Chancen wahmehmen und ein Akteur des Reformprozesses der Schulen sein? Einige Vertreter der Sozialpadagogik werden dies bejahen. So hat sich nach Miiller die Sozialpadagogik einer demokratischen Schulkonzeption zu widmen, „welche den kooperativen Charakter gemeinsamen Lemens und Problemlosens jenseits einer Fixierung auf berufliche Ausbildung starkt" (Miiller 2005, 259). Andere Vertreter der Profession und wissenschaftlichen Disziplin halten sich beziiglich einer solchen Verbindung von Sozial- und Schulpadagogik eher bedeckt. Hierzu gehoren z. B. Lothar Bohnisch, Wolfgang Schroer und Hans Thiersch, die in ihrer Neubestimmung sozialpadagogischen Denkens^^ diese Moglichkeit ausblenden. Dabei liefem sie selbst Argumente, die auch flir eine solche Verbindung sprechen. So flihren sie aus: „Soziale Arbeit versucht Zugangsgerechtigkeit mit lebensweltlichen Bewaltigungshilfen (...) zu verbinden" (Bohnisch/ Schroer/Thiersch 2005, 258). Ist nicht gerade die Schule im dargestellten Sinne der „Erziehung zur Demokratie" in diesem Blickwinkel von Zugangsgerechtigkeit und lebensweltlichen Bewaltigungshilfen ein ausgezeichneter, wenn nicht der ausgezeichnete sozialpadagogische Ort? Die Autoren flihren weiter fort: „Vor allem aber brauchen aus der Sicht des Lebenswelt- und Bewaltigungskonzeptes die Adressatinnen und Adressaten fimktionale Aquivalente, in denen sie (...) Selbstwert, Anerkennung und Selbstwirksamkeit erlangen konnen." (ebenda, 264). Die sozialpadagogische Schule ware genau ein solches funktionales Aquivalent, ein solcher fiinktionaler Gegenwert und Ausgleich zur Wirklichkeit vieler Kinder und Jugendlicher, die durch Missachtung in all ihren
11 Falls iiberhaupt noch professionelle und in regularen Arbeitsverhaltnissen eingesetzte Krafte hierfur zum Zuge kommen und nicht - wie es in eigen Kommunen geplant und teilweise schon umgesetzt ist - die Schulsozialarbeit von ehrenamtlichen Kraften oder iiber 1 Euro-Jobs geleistet wu-d. 12 Zu einer weiteren Suche nach einer Neubestimmung siehe Miihrel 2006b.
188
gravierenden Formen (vgl. Honneth 1992, 211) und emotionale wie soziookonomische Desintegration (vgl. Pfeiffer 1999) gepragt ist.
Literaturverzeichnis Bohnisch, L. (1999): Abweichendes Verhalten. Eine padagogisch-soziologische Einfuhrung. Weinheim und Miinchen Bohnisch, L./Schroer, W./Thiersch, H. (2005): Sozialpadagogisches Denken. Wege zu einer Neubestimmung. Weinheim Bundesministerium fur Gesundheit und soziale Sicherung (Hrsg.) (2005): Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin Dewey, J. (1905): Schule und offentliches Leben. Berlin Dungs, S. (2006): Anerkennungsmodelle des Anderen. Sozialphilosophische Reflexionen und ihre Bedeutung fiir die Soziale Arbeit. In: Muhrel, E. (2006): Quo vadis Soziale Arbeit? Auf dem Wege zu grundlegenden Orientierungen. Essen. S. 83-104 Endrikat, K./Schaefer, D./Mansel, J./Heitmeyer, W. (2002): Soziale Desintegration. Die riskanten Folgen negativer Anerkennungsbilanzen. In: Heitmeyer, W. (Hrsg.): Deutsche Zustande. Folge I. Frankfurt am Main. S. 37-58 Heitmeyer, W. (1997a): Auf dem Weg in eine desintegrierte Gesellschaft. In: ders. (Hrsg.): Was treibt die Gesellschaft auseinander? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Frankfurt am Main. S. 9-28 Heitmeyer, W. (1997b): Sind individualisierte und ethnisch-kulturell vielfaltige Gesellschaften noch integrierbar? In: ders.: Was halt die Gesellschaft zusammen? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Frankfurt am Main. S. 9-22 Honneth, A. (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main Homfeld, H.-G. u. a. (1977): Fur eine sozialpadagogische Schule. Miinchen Konrad, F.-M. (1998): Sozialpadagogik. Begriffsgeschichtliche Annaherungen - von Adolph Diesterweg bis Gertrud Baumer. In: Merten, R. (Hrsg.): Sozialarbeit, Sozialpadagogik, Soziale Arbeit. Begriffsbestimmungen in einem uniibersichtlichen Feld. Freiburg i.Br. S. 31-62 MoUenhauer, K. (1974): Einfuhrung in die Sozialpadagogik: Probleme und Begriffe der Jugendhilfe. Weinheim Miihrel, E. (2005): Sozialpadagogik macht Schule. Eine alte richtungweisende Zukunft. In: Sozialmagazin, 4/05 Mtihrel, E. (2006a): Sozialpadagogik und gesellschaftliche Partizipation. Padagogisch reflektierte und organisierte Sozialisation. In: Soziale Arbeit, 2/2006, S. 100-104 Miihrel, E. (Hrsg.) (2006b): Quo vadis Soziale Arbeit? Auf dem Wege zu grundlegenden Orientierungen. Essen Miihrel, M. (2000): Kinder- und Jugendmuseen im Blickfeld der padagogisch orientierten Kunsttherapie, unveroffentlichte Diplomarbeit an der Universitat zu Koln. Heilpadagogische Fakultat Muller, C. (2002): Wir alle sind Aristen ... well Burger. In: Andresen, S./Trohler, D. (Hrsg.): Gesellschaftlicher Wandel und Padagogik. Studien zur historischen Padagogik. Ziirich. S. 14-24 Miiller, C. (2005): Sozialpadagogik als Erziehung zur Demokratie. Ein problemgeschichtlicher Theorieentwurf. Bad Heilbrunn Nohl, H. (1963): Die padagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. Frankfurt am Main Opp, G. (Hrsg.) (2003): Arbeitsbuch schulische Erziehungshilfe. Bad Heilbrunn
189
Opp, G./Unger, N. (2003): Begriffliche Grundlagen. In: Opp, G. (Hrsg.): Arbeitsbuch schulische Erziehungshilfe. Bad Heilbrunn. S. 43-64 Pfeiffer, Chr. etal. (1999): Iimerfamiliare Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und ihre Auswirkungen. KfN Forschungsberichte Nr. 80. Hannover Pfeiffer, Chr. et al. (2005): Weniger Verbrecher, mehr Panikmache. In: DIE ZEIT Nr. 23/2005, S. 9 Puhr, K. (2003): Schule zur Erziehungshilfe als lemende Organisation. In: Opp, G. (Hrsg.): Arbeitsbuch schulische Erziehungshilfe. Bad Heilbrunn. S. 65-107 Sallwiirk, E. v. (1920): Die deutsche Einheitsschule und ihre padagogische Bedeutung. Langensalza Schreiber, W. (1999): Bildungskonzepte und Bildungswiderstande mit psycho-sozial belasteter Klientel. In: neue praxis, 5/99, S. 457-470 Schreiber, U. (1998): Kindermuseen in Deutschland. Grundlagen, Konzepte, Praxisformen. Unna Schwendtke, A. A. (1995): Integration. In: Ders. (Hrsg.): Worterbuch der Sozialarbeit und Sozialpadagogik. Wiesbaden Spiegel Special 12/1997
190
Benachteiligung als Merkmal (schulischer) Interaktion Norbert Wieland
1
Ausgangsthese
Die Beseitigung bzw. Milderung von Benachteiligung ist ein zentrales Anliegen (nicht nur) Sozialer Arbeit in all ihren Bereichen (Staub-Bemasconi 1995, 2002; Hillebrandt 2002), auch im Kontext von Schulsozialarbeit (01k 2000; Seithe 2002). Die in dem Kontext vorherrschende strukturelle Sicht auf Benachteiligung verstellt nicht nur den Blick auf die Benachteiligung generierenden konkreten Prozesse, sondem erschwert auch eine theoriebasierte Bearbeitung. Eine solche ware namlich mit prozessorientierten Modellen von Benachteiligung besser bedient. Es konnte also vielversprechend sein, Benachteiligung als Merkmal konkreter Interaktionen bzw. Interaktionsmuster zu konzipieren, Im Rahmen eines solchen Konzepts sind Interaktionsanalysen ein geeigneter Ansatzpunkt sowohl fur eine theoretische Klarung von Benachteiligung als auch fiir deren Bearbeitung z. B. im Kontext von Schulsozialarbeit. Derartige Interaktionsanalysen sind Hauptbestandteil einer perspektivverschrdnkenden Evaluation, mit deren Hilfe der Autor ein Modellprojekt zur Kooperation von Schule und Jugendhilfe in Miinster beschrieben hat und aus der Handlungsmaximen auch zur Bearbeitung von Benachteiligung gewonnen wurden. Die prozessorientierte Sicht auf Benachteiligung orientiert sich an handlungstheoretischen Ansatzen vomehmlich aus der Psychologic und wird, da ihre Kenntnis kaum vorausgesetzt werden kann, in einem ersten Abschnitt ansatzweise skizziert. Es folgen die Entfaltung der Perspektivverschrankung als Verfahren von Interaktionsanalysen, die Darstellung einer solchen Analyse aus der o. g. Evaluation und eine kurze Skizze, in welche Richtung sich ein solcher Ansatz entwickeln konnte.
2 Benachteiligung als Merkmal von Interaktion: eine interaktionstheoretische Einfiihrung Benachteiligung wird i. d. R. als Folge struktureller Bedingungen konzipiert; und das entweder soziologisch oder psychologisch. Soziologisch erscheint Benachteiligung z. B. als Korrelation von Migrationshintergrund und Schulerfolg (Hefi-Meining 2004; BMFSFJ 2005), von Armut und Gesundheit (Chasse 2003) usw. Diese Herangehensweise ist hilfreich, insofem sie die sozialen Bereiche, in denen Benachteiligung geschieht, identifiziert und den Zusammenhang von individuellem Schicksal und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verdeutlicht. Psychologisch wird Benachteiligung z. B. als Korrelation von intellektueller Leistungsminderung und schulischem Erfolg, von sozialer Inkompetenz und Delinquenz (Fend 2000; Krappmann/Oswald 1995) u. a. erfasst. Diese Herangehensweise ist hilfreich, insofem sie Identitatsbereiche definiert, deren Veranderung z. B. durch Angebote Sozialer Arbeit den Einzelnen Chancen vermitteln, sich gegen benachteiligende soziale Strukturen abzusichem. Diese strukturellen Modelle von Benachteiligung sind allerdings reduktionistisch: das soziologische blendet die subjektiven Aspekte, das psychologische die sozialen Aspekte von Benachteiligung aus, was den unsinnigen und nutzlosen Streit um die gesellschaftliche oder individuelle Verantwortung ftir Benachteiligung hervorgebracht hat (Zander 2005). Zudem bieten beide keinen unmittelbaren Ansatzpunkt fiir MaBnahmen, die Benachteiligung als psychosoziales Phanomen mildem oder auflieben konnten. Denn sie erfassen nicht, wie Benachteiligung sich im Alltag jeweils konkret realisiert. Ein solcher unmittelbarer Ansatzpunkt lasst sich nur bestimmen, wenn man Benachteiligung prozesshaft, d. h. als Merkmal von Interaktionen bzw. Interaktionsmustern analysiert und sich damit der Verkniipfung subjektiver und sozialer Faktoren zuwendet, die Benachteiligung ausmachen. Denn Interaktionen lassen sich als Schnittstelle von Subjektivem und Sozialem auffassen: die einzelnen Interaktionspartner bilden ein inneres, d. h. subjektives Modell von der Interaktionssituation, das vomehmlich • die Erwartungen der anderen an sie und an die tibrigen Interaktionspartner, • die eigenen Erwartungen an die anderen • und die eigenen Erwartungen und die der anderen an das Interaktionsergebnis enthalt und zueinander in Beziehung setzt, • um schlieBlich aufgrund all dieser Vorstellungen (iiber eigene Ziele, die Ziele der Interaktionspartner und das Interaktionsziel) die eigenen Strategien dafur zu entwickeln, dass die eigenen Ziele moglichst weitge192
hend und im Rahmen des Interaktionszieles umzusetzen sind oder das Interaktionsziel in Richtung auf die eigenen Ziele hin zu verandem. Dieses Modell (vgl. das innere Arbeitsmodell von Bindung bei GroBmann/ GroBmann 2004; Spangler/Zimmermann 1995; verschiedene Handlungsregulationsmodelle: z. B. Holodynski 1999) ist ein Ergebnis dtr Aneignung (Holzkamp 1973; Leont'ew 1974) der Interaktionssituation und beruht groBenteils auf Verstehensprozessen (Krappmann 2005), also darauf, sich in die anderen Interaktionspartner hineinzuversetzen, die Interaktion und sich selbst mit den Augen der Interaktionspartner zu sehen (Krappmann 2005). Dieses Modell steuert die eigenen Interaktionsbeitrage, d. h. die Vergegenstdndlichung der eigenen Vorstellungen, v. a. der Motive/Ziele in der Handlung (Leont'ew 1973). Diese Steuerungsfunktion erfullt es nur so gut, wie es auf einem guten Verstehen der Anderen beruht. Die Handlungen eines Interaktionsteilnehmers werden von alien anderen wiederum als Aspekt der Interaktionssituation angeeignet, jeweils in ihre inneren Modelle integriert und damit zur Grundlage weiterer Interaktionsbeitrage Einzelner. Weil diese Interaktionsbeitrage einen sach- und bedtirfnisbezogenen Zusammenhang zu den Zielen der anderen und v. a. zum Interaktionsziel haben und deshalb zueinander passen, bilden sie eine soziale Struktur. Die geht damit einerseits aus den Handlungen und das bedeutet: den subjektiven Prozessen (v. a. den Motiven) der Interaktionsteilnehmer hervor. Andererseits bewahrt sie gegeniiber den an der Interaktion beteiligten Subjekten ihre Selbstandigkeit, tritt ihnen als Handlungsbedingung gegeniiber. Die inneren Modelle entstehen in jeder Interaktion nicht vollig neu, sondem sie enthalten auch in der Biografie entwickelte stabile Elemente: die eigenen Erwartungen und Strategien grunden in der Identitat (Neuenschwander 2001) bzw. konfigurieren diese. Die Erwartungen an die anderen und an die Interaktion insgesamt beziehen sich auch auf das Wissen tiber die Interaktionspartner, v. a. das, was „man" von ihnen erwarten kann, sowie auf das Wissen (iber den Typus der jeweiligen Interaktion, das meint u. a. die organisationsbezogenen Rahmenbedingungen. An dieser Stelle kommen die eingangs beschriebenen psychischen bzw. sozialen Strukturen als Ergebnisse von Interaktion wieder ins Spiel. Das Interaktionsziel als praktischer Kompromiss aller Einzelziele und als MaBstab fiir die Entwicklung dieser Einzelziele verweist darauf, dass Interaktionen i. d R. durch Konflikte um eben dieses Ziel geprdgt sind. Es spielt eine zentrale Rolle fiir das Zustandekommen und die Dauer von Interaktionen: bildet das Interaktionsziel keinen von alien tragbaren Kompromiss, scheitert die Interaktion, die durch sie realisierte soziale Struktur lost sich auf Dies ist fiir viele Beteiligte oft mit groBer Angst verbunden, die aus der Erfahrung resultiert, auBerhalb von Interaktion nicht tiberleben zu konnen. Deshalb losen sich Inter193
aktionen infolge der innewohnenden Konflikte meist nicht einfach ersatzlos auf. Vielmehr werden die nicht-tragfahigen Ziele rasch durch andere, geeignetere ersetzt. Aus der gescheiterten entsteht eine neue Interaktion, die neue soziale und subjektive Strukturen hervorbringt. Dieser Vorgang ist fiir viele Beteiligte hochst belastend, die entsprechenden Interaktionen sind fur sie mit Unzufriedenheit, oft mit Ohnmachtsgefuhlen verbunden (Flammer 1990) (s. u.), v. a. wenn ihre Motive und Ziele jetzt schlechter als zuvor im Interaktionsziel reprasentiert sind. Anderen dagegen gelingt es in solchen Umbruchsituationen, ihren Einfluss auf das Interaktionsziel zu verstarken, ihre Bediirfnisse in zunehmendem MaBe durchzusetzen. An dieser Stelle wird die Bedeutung der Machtverhdltnisse innerhalb von Interaktionen deutlich: einzelne Interaktionspartner tiben mehr Einfluss auf das Interaktionsziel aus als andere, sie haben mehr Macht. Es sind nicht alle Interaktionspartner gleichermafien am Zustandekommen des Interaktionsziels beteiligt. In Interaktionen sind die Handlungsoptionen der Interaktionspartner unterschiedlich breit. Aber alle sind aktiv beteiligt, da ohne die aktive Beteiligung aller die Interaktion gar nicht zustande kame. In dieser Formel sind die Zwange kollektiven Handelns ebenso aufgehoben wie die Bewegungsspielraume der einzelnen Akteure (vgl. Crozier/Friedberg 1993). Die Machtverhaltnisse in einer Interaktion spielen vermittelt iiber die Ziele und Motive der Beteiligten eine zentrale Rolle fur den Wandel von Interaktionsmustem und sind wichtige Aspekte bei der Analyse von Interaktionen und ihrer gezielten Veranderung. Folgt man dem bisher skizzierten Ansatz, ist Benachteiligung ein Merkmal prekdrer Interaktionen. Das sind Interaktionen mit unbalancierten Machtverhaltnissen, d. h. die Interaktionsteilnehmer verfiigen iiber deutlich unterschiedliche Ressourcen, und die ressourcenreichen Interaktionsteilnehmer setzen ihre Ressourcen in erheblichem Umfang ein, um das Interaktionsziel zu bestimmen, auch gegen den Willen Schwacherer. Weil aber Interaktionen an die Teilnahme aller gebunden sind, stehen prekare Interaktionen in Gefahr zu scheitem. Die Interaktionsziele prekarer Interaktionen bilden keinen fiir alle befriedigenden Kompromiss ab. Vielmehr bleibt die Interaktion nur aufrechterhalten, well sich die Schwacheren aufgrund negativer Motive (Rudolph 2003; Lewin 1982) an das Ziel binden und deshalb z. B. geneigt sind, es durch einzelne Beitrage auch schon mal zu sabotieren. Sie sehen sich namlich gezwungen, an der Interaktion teilzunehmen (Wieland 2002), ihr aktiver Beitrag besteht moglicherweise nur darin, das Interaktionsziel zu dulden. Genese und Verlauf prekarer Interaktionen ist mit dem Begriff Ausgrenzungs- bzw. Marginalisierungsprozess (Bohnisch 1999) gut zu beschreiben. Wann prekare Interaktionen tatsachlich scheitem, ist z. B. im Schulkontext eine interessante Frage, v. a. vor dem Hintergrund des Schlagwortes von der Un194
beschulbarkeit einer immer groBeren Gruppe von Schiilerlnnen - man sollte im Sinne des hier entfalteten Konzeptes zutreffender vom Zusammenbruch des Unterrichts reden. Konzipiert man Benachteiligung als Merkmal prekarer Interaktionen, wird man die Griinde fiir Benachteiligung nicht bei einzelnen Interaktionspartnem suchen, etwa denen, die Ausgrenzung provozieren, oder umgekehrt denen, die sie am aktivsten umsetzen. Man wird sie auch nicht in den Strukturen der Interaktion suchen und damit die aktive Beteiligung aller ausblenden. Vielmehr wird man sich auf die Beschreibung der inkompatiblen Ziele und Motivlagen der Einzelnen sowie die Beschreibung des Interaktionszieles konzentrieren, das als Kompromiss nicht recht geeignet ist und das deshalb eine tragfahige Integration aller nicht sicherzustellen vermag. Solche Beschreibungen treffen den Kern von Benachteiligung: sie ist nicht das Problem der Betroffenen, sondem eben ein Interaktionsmerkmal. Damit wird die Bedeutung von Benachteiligung fur alle Interaktionsteilnehmer sichtbar: Prekdre Interaktionen schopfen die Ressourcen der Interaktionspartner nicht aus und sind deshalb bezogen auf ihr Ziel nicht effektiv. Den Schaden haben von auBen betrachtet alle, freilich erklaren der Nutzen, den die Ressourcenreichen auch von prekaren Interaktionen haben, ebenso wie die Angst, die Ressourcenarme vor umfassender Ausgrenzung haben, das Bemiihen, sie aufrecht zu erhalten. Interaktionen zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden sind wegen der entwicklungsbedingten relativen Ressourcenarmut Heranwachsender in besonderer Gefahr, prekar zu werden (Wieland 2002). Dem soil die Norm, dass Erwachsene die Verantwortung fur die Interaktion tragen und gegentiber den Heranwachsenden die Pflicht zur Fiirsorge haben und entsprechend feinftihlig (Spranger/Zimmermann 2002) sein sollen, entgegenwirken. Der Alltag vieler Heranwachsender lehrt uns, dass diese Norm nicht gerade durchgangig beachtet wird (BMFSFJ 2005). Es bietet sich daher an, die Strategien Heranwachsender, mit ihrer relativen Ressourcenarmut umzugehen, genauer zu untersuchen, bzw. ihre in der Perspektive Erwachsener storenden, unangepassten, gefahrlichen Handlungsmuster als Bewaltigung dieser Ressourcenarmut und damit als Interaktionsbeitrag zu deuten.
195
3 Perspektiwerschrankung als Verfahren fiir Interaktionsanalysen im Rahmen Sozialer Arbeit Das soeben skizzierte Konzept von Interaktionen und ihren Gelingensbedingungen legt es nahe, Interaktionen perspektivverschrankend zu analysieren: die Interaktionsteilnehmerlnnen selbst orientieren sich fur ihre Beitrage an einer solchen Verschrankung der Perspektiven (s. o.) und • setzen die eigenen Ziele (Subjektperspektive, Ich-Perspektive), • die wahrgenommenen Ziele der anderen (Fremdperspektive, Du-Perspektive) • und ihre Vorstellung vom Interaktionsziel als zentrale Handlungsbedingung (Wir-Perspektive) in Bezug zueinander. Dies lasst sich von auBen, d. h. aus der Perspektive unbeteiligter Dritter, beschreiben. Diese Perspektive unterscheidet sich von den vorgenannten dadurch, dass sie entweder auf Beobachtungen von Menschen beruht, die sich am Aushandeln des Interaktionsziels nicht beteiligen - das sind z. B. Forscher oder Supervisoren (Krappmann/Oswald 1995) -, oder auf Darstellungen der Interaktion durch die Interaktionspartner. Diese Darstellungen konnen schriftlich vorliegen und so jenen unbeteiligten Dritten zur Kenntnis kommen oder auf speziellen Interaktionen zwischen ihnen und den Teilnehmem der in Frage stehenden Interaktion beruhen, d. h. per Interview erhoben sein. In jedem Fall rekonstruieren in einer perspektiwerschrankenden Interaktionsanalyse unbeteiligte Dritte die ihrerseits auf Perspektiwerschrankung beruhenden Modelle der Einzelnen und setzen sie - eben aus der Perspektive der unbeteiligten Dritten - wiederum in Bezug zueinander: es entsteht neben den Modellen der Beteiligten ein ebenfalls auf Perspektiwerschrankung beruhendes Bild von der Interaktion von auBen. Dabei gilt das Hauptaugenmerk den Fragen: (a) wie sich das Interaktionsziel im Verlauf der Interaktion verschiebt, welche Kompromisse die Beteiligten miteinander und bezogen auf das Interaktionsziel machen und (b) wie die einzelnen Beteiligten die Interaktion bewerten: als erfolgreich oder als Misserfolg. Diese Bewertung orientiert sich naturlich ausschUeBlich an den jeweiligen Motiven und gibt deshalb guten Aufschluss dariiber, wie bzw. wodurch die Einzelnen im Rahmen der Interaktion auf ihre Kosten kommen. Das wiederum kann als ein Kriterium dafar genommen werden, wie prekar eine Interaktion ist und Einblicke geben in die subjektiven und sozialen Seiten von Benachteiligung.
196
Die Bewertungen der Interaktionsteilnehmer sind perspektivgebundene Evaluationen von Interaktionen und insofem eine notwendige Basis fiir alle Evaluationen aus der Perspektive unbeteiligter Dritter, die Erfolg prozesshaft definieren und, indem sie die Perspektiven aller Beteiligter verschranken, auf das Zusammenwirken aller zuriickfiihren. Derartige Evaluationen sind besonders geeignet, Interaktionen mit starkem Machtgefalle zu beurteilen. Denn sie machen die verschiedenen Perspektiven auf die Interaktion und ihr Ergebnis deutlich und zeigen z. B., dass das, was unter der Perspektive der Machtigen als Stoning erscheint unter der der Ressourcenarmen als Strategie zu sehen ist, sich den Benachteiligungen zu widersetzen. Sie zeigen damit gleichzeitig, dass diese Benachteiligungen sich daraus ergeben, dass die Machtigen das Interaktionsziel bestimmen und die Ressourcenarmen es dulden. Angewendet auf Interaktionen im Rahmen von Schule konnen perspektivverschrankende Evaluationen Benachteiligungen identifizieren helfen, die sich aus dem Machtgefalle zwischen Fachleuten und Nutzem (vgl. zum Nutzerbegriff: Oelerich/Schaarschuch 2005) ergeben. Das ist zum einen deshalb relevant, well Schule der Vorwurf gemacht wird, Ausgrenzung systematisch zu betreiben (Baumert et al. 2000), zum anderen weil eine Beschreibung derartig benachteiligender Interaktionen eine Veranderung der Fachleutebeitrage in Richtung auf weniger Ausgrenzung erleichtert und damit auch Ansatze fur Schulsozialarbeit beinhalten konnte.
4
Benachteiligung als Merkmal schulischer Interaktion
Gemeinsame Anstrengungen der Stadt Mtinster, von Jugendhilfetragem und einer Hauptschule dort flxhrten ab 2000 zum Aufbau eines Kooperationsmodells. Dieses Modell beinhaltet drei Bausteine: (a) fur Schtilerlnnen der Eingangsstufe, deren Integration in die Hauptschule gefahrdet scheint, (b) fur Schulerlnnen der Mittelstufe, die eine massive Schulverweigerung entwickelt haben (ProB-Klasse), (c) fur Schtilerlnnen der Abschlussstufe, die sich wegen ihrer geringen Chance auf einen Hauptschulabschluss nur schwer ins Berufsleben werden integrieren lassen (BUS-Klasse). Im Rahmen der Evaluation dieses Kooperationsprojektes wurden perspektivverschrankende Interaktionsanalysen eingesetzt, um zu klaren, • wie die Schtiler, Eltem, Lehrer und Sozialpadagogen jeweils Erfolg definieren, um die im Modellkonzept vorgegebenen Ziele auf ihre Wirksamkeit hin zu priifen. 197
•
welche Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Erfolgskriterien bestehen, • und welche „Kompromisse" - aus der Perspektive des unbeteiligten Dritten - denkbar sind (vgl. Wieland 2005). Dabei spielt die Sicherung des Unterrichts als Interaktionsziel eine besondere Rolle insofem, als eine Verstandigung darauf die entscheidende Voraussetzung fiir eine Beteiligung an Schule ist. Die Interviews mit Schiilem und Eltem brachten schulische Interaktionen der Vergangenheit zur Sprache, in denen die Benachteiligung fortgeschrieben bzw. hergestellt wurde und die schlieBlich gescheitert sind: die Schiiler verweigerten den Schulbesuch. Zugleich wurden aktuelle Interaktionen beschrieben v. a. unter dem Blickwinkel eines von alien Beteiligten angestrebten „MaBnahmeerfolges". Dabei zeigten sich bei den meisten Beteiligten mafiige Diskrepanzen bezogen auf das, was als Mafinahmeerfolg bezeichnet wurde. Im Rahmen dieses Beitrages soil am Beispiel der Schiilerin Na. aus der ProBKlasse Einblick gewahrt werden in den Prozess der Ausgrenzung, wie ihn Mutter und Schiilerin beschreiben. Zudem soil erklart werden, wie die Folgen dieser Benachteiligung fur Schtilerin und Mutter im Schulverweigerungsprojekt gemildert wurden. Die Falldarstellung beruht auf Interpretationen von Interviews mit Na., ihrer Mutter, Herm B., dem Sozialpadagogen fiir Na., und Frau B., ihrer Lehrerin im Projekt. Diese Interpretationen wurden in Anlehnung an das Interpretationsverfahren nach Meuser/Nagel (1995) durchgefuhrt und zielten, der evaluativen Fragestellung gemaB, auf die Einschatzung des Projekterfolges durch die Beteiligten. Eine Analyse der Daten bezogen auf die vergangenen, durch Verweigerung beendeten Interaktionen kann sich daher nur auf die Aussagen von Mutter und Tochter und auf die Aussagen aus zweiter Hand stutzen, die von Herm B. und Frau B. kommen. Das schrankt die Validitat der Daten etwas ein. Der Fall wird aber auch weniger um seiner selbst willen, als in seiner Beispielfunktion fiir Entstehen und Reduktion von Benachteiligung dargestellt. Die der Analyse zugrunde liegenden Interviewtranskripte und die darauf beruhenden Interpretationen sind beim Autor einzusehen. Die vorliegenden Ausfiihrungen kntipfen in einem darstellenden Schritt an diesen Interpretationen an und versuchen, in einem reflektierenden Schritt, weiterfiihrende Uberlegungen dariiber anzustellen, was bei einer Analyse von Benachteiligung als Merkmal schulischer Interaktionen zu beachten ist.
198
(a) Darstellender Schritt: Beschreibung schulischer Interaktionen mit Na. Na. fiihrt ihre Schulverweigemng auf Streit mit den Klassenkameradinnen zuruck und darauf, dass die Lehrerlnnen ihr dabei nicht zur Seite standen. Dies macht ihr Ausscheren aus der schulischen Interaktion plausibel: Unterricht als Interaktionsziel entsprach ihren Zielen nicht. Diese beziehen sich vermutUch zum einen darauf, den Schutz von Erwachsenen (Lehrerlnnen) zu genieBen, v. a. bei den fiir sie unertragHchen Konflikten mit den Peers, zum anderen auf aus den Daten nicht klar rekonstruierbaren Erwartungen an ebendiese Peers. Fiir die Mutter bedeutet die Schulverweigemng Na.s, dass sie der Schule gegeniiber ihre Fahigkeit unter Beweis stellen muss, dass sie Na. zum Schulbesuch, d. h. Unterrichtsbesuch bewegt. Sie kann dieser Interaktion nicht volHg entkommen (Schulpflicht), obwohl sie das Interaktionsziel nicht zufrieden stellend erfullen kann, wie sie im Interview aber auch als Beitrag zur Projektinteraktion gegeniiber den Fachkraften berichtet. Damit verweist sie zum einen darauf, dass diese Schul-Interaktion prekar war, zum anderen auf ihre Interaktion mit Na., die durch die Schulinteraktion der Mutter in hohem MaBe bestimmt ist. Zudem wird aber sichtbar, dass auch in der Mutter-Tochter- Interaktion massive Konflikte vorliegen. Freilich ist nicht klar, was das Interaktionsziel von Mutter und Tochter ist. Bin Hinweis von Herm B. deutet darauf hin, dass dieses Interaktionsziel ebenfalls hochst prekar ist: es gibt Bemiihungen seitens des KSD (Kommunaler Sozialer Dienst), eine stationare Erziehungshilfe einzurichten, die Mutter-Tochter-Interaktion von auBen massiv zu verandem. Dies scheitert daran, dass die Mutter die Einwilligung zuriickzieht, iiber den Beitrag des KSD zu dieser Entwicklung ist nichts bekannt. Bis hierher sind vier Punkte deutlich zu machen: • Die schulischen Interaktionen scheitem bzw. sind prekar. • Die schulische Interaktion ist abhangig von der ebenfalls prekaren Interaktion von Mutter und Tochter und beeinflusst diese. • Mutter und Tochter wahlen Rtickzug und/oder passiven Widerstand als erfolgreiche Losungsstrategien und zeigen damit an, dass sie sich geringer Ressourcen im Zusammenspiel mit Lehrem und KSD bewusst sind. • Lehrer und KSD bestimmen weitgehend die jeweiligen Interaktionsziele, treffen aber damit die positiven Bedtirfnisse von Mutter und Tochter nicht. Na. vermutet, dass die Lehrer ihre Bedtirfnisse gar nicht kennen, hinsichtlich KSD gibt es keine Informationen. Die Mutter fiihlt sich von den Erwartungen der Lehrer iiberfordert. Das Schulverweigererprojekt erleben Mutter und Tochter erfolgreich: • Na., weil Frau B. und Herr B. auch in Konfliktfallen ruhig bleiben, man immer mit ihnen reden kann: ihre (Na.s) Ausraster im Unterricht, denen 199
manchmal auch eine mehrtagige Abwesenheit von der Schule folgt, werden zwar zum Anlass fur Gesprache genommen, sie wird aber auch eigens zum Unterricht wieder eingeladen. Der Unterrichtsbesuch ist nicht Vorbedingung, aber Bezugsrahmen daflir, von den Fachkraften gehort und im Rahmen der emotional extrem belastenden Konflikte geschtitzt zu werden. Frau B. erklart ihr das Versaumte in gesonderten Terminen. • Ihre Mutter, weil ihr immer wieder Gesprachsangebote gemacht werden und V. a., weil ihr ein Teil der Verantwortung fur Na. 's Schulbesuch abgenommen wird: Herr B. fordert nicht einfach, dass Na. wieder zur Schule kommt, sondem sucht sie zu Hause auf und ladt sie ein. Insofem das Projekt (Unterricht) den Zielen von Na. und ihrer Mutter entgegenkommt, akzeptieren sie das Interaktionsziel, wenn auch nicht zu 100%. Es bleiben bei Mutter und Tochter Bedtirfnisse, die nicht im Interaktionsziel des Projektes aufgehen und die Erreichung dieses Zieles beeintrachtigen. Die beiden Fachkrafte erleben die Interaktion nicht ganz so positiv: zwar orientiert sich Na. zunehmend am Interaktionsziel „Unterricht", so wie es im Projekt umgesetzt wird. Sie sind aber unsicher, was die Nachhaltigkeit dieser Veranderung fur andere, spatere schulische Interaktionen angeht. Denn sie fuhren die fur schulische Interaktionen generell problematischen Bediirfhisse Na.s auf die Mutter-Tochter-Interaktion zuriick. Und diese bleibt ihnen weitgehend unklar und damit auch nicht bearbeitbar. Herr B. glaubt z. B., dass Na.s Wunsch nach Schutz seitens Erwachsener eigentlich der Mutter gilt, die sich seiner Meinung nach keineswegs hinreichend um Na. kiimmert. Das macht deutlich, dass er seinen Interaktionsbeitragen v. a. eine Analyse von Na.s Subjekt- und Fremdperspektive zugrundelegt: ein probates und offenbar erfolgreiches Verfahren, weil er daraus den Verzicht auf eine voUstandige Erfiillung des Ziels „Unterricht" ableiten kann. Wenn damit die Sorge um die Nachhaltigkeit des Erfolgs einher geht, dann deshalb, weil dieser Verzicht im „normalen" Schulbetrieb sehr eingeschrankt moglich ist: ein Hinweis auf die Bedeutung der Organisation als Interaktionsrahmen. Dies macht vier Punkte klar: • Die neue schulische Interaktion basiert auf einem Interaktionsziel, welches ein Kompromiss zu sein scheint, der in starkerem MaBe als bisher positive Motive von Tochter und Mutter bedient. • Dies ist v. a. dadurch moglich, dass die Fachkrafte (a) auf einen absolut regelmaUigen Unterrichtsbesuch verzichten und (b) Na. Raum anbieten, die sozialen Konflikte, die im Projekt entstehen, zu verarbeiten. D. h. sie raumen in erster Linie Na.s Bediirfhissen, in zweiter Linie denen der Mutter
200
einen groBeren Stellenwert ein, als das bisher in den schulischen Interaktionen geschehen war. Dies ist letztlich moglich, weil beide Fachkrafte darauf verzichten, das Interaktionsziel weiter in Richtung eigener Erwartungen zu verandem. Sie schopfen ihre Machtmittel dafur nicht aus. Abgesichert wird dies, zumindest teilweise, durch das Konzept des Schulverweigerungsprojektes, d. h. durch die organisationsbezogenen Interaktionen der Fachkrafte
(b) Reflektierender Schritt: wichtige Bezugsgrofien filr eine Analyse (prekdrer) schulischer Interaktionen Der Fall Na. weist auf zwei BezugsgroBen hin, die eine Analyse (prekarer) schulischer Interaktionen erfordert: (1) der Bezug auf psychische Strukturen der Interaktionsteilnehmerlnnen, v. a. auf deren Identitat und (2) der Bezug auf die beiden Logiken, unter denen verschiedene Interaktionen aufeinander bezogen sind: die organisationale und die biografische. (1) Identitat als wichtiges Konstrukt im Kontext von Interaktionsanalysen Na. scheint grundsatzlich in prekare Interaktionen verwickelt zu sein. Herr B. ftihrt das auf die Mutter-Tochter-Interaktion zurtick und verweist auf einen Aspekt psychischer Struktur Na.s: Na. hat haufig Erwartungen an andere Menschen, die diese nicht erfallen mogen. Auch verfligt sie nicht iiber Strategien, dies zu andem: weder gelingt es ihr, ihre eigene Bedtirfnisstruktur zu verandem, noch andere fur ihre Bediirfnisse einzuspannen. Die Psychologic stellt zum Verstehen derartiger Sachverhalte Begriffe wie Identitat bzw. Selbst, Selbstbild und Selbstwertgefahl (Greve 2000) zur Verftigung: Na. hat offenbar eine Motivstruktur, d. h. Identitat, entwickelt, die konfliktreiche und fiir sie belastende Interaktionen wahrscheinlich werden lasst. Ihre Motivstruktur passt schlecht zu denen ihrer Altersgenosslnnen. Der Bezug auf die Identitat der Interaktionspartner gehort zu jedem subjektiven Modell, das die individuellen Beitrage zu einer Interaktion steuert (s. o.). Folglich ist auch eine Analyse aus der Perspektive unbeteiligter Dritter auf dieses Konstrukt angewiesen. Die Vollstandigkeit der Analyse erfordert es allerdings, die psychischen Strukturen aller Beteiligten zu rekonstruieren. D. h. bezogen auf Na.: die Fehlpassung Na.s wird erst als Interaktionsaspekt sichtbar, wenn ihre Identitat mit den Motivstrukturen z. B. der Klassenkameraden in Beziehung gesetzt, auf ihre interaktive Einbettung 201
hin untersucht wird. So werden die Beitrage Na.s und ihrer Klassenkameraden zum Entstehen der Benachteiligung Na.s sichtbar. Das Gleiche gilt fur Fachleute-Nutzer-Interaktionen. Auch hier reicht es nicht, auf psychische Strukturen der Nutzer hinzuweisen, um die Interaktion zu verstehen. Zwar ist die Bedeutung der psychischen Strukturen der Fachkrafte (Wissen, Motivation, Haltung - berufliche Identitat) fur die NutzerFachleute-Interaktion unstrittig (Klatetzki 1993). In konkreten Analysen fallen sie allerdings oft unter den Tisch und aus dem Interaktionsmerkmal wird ein Problem der Nutzer. Das Konzept von Benachteiligung als Interaktionsmerkmal kommt ohne Bezug auf psychische Strukturen, also ohne eine analytische Trennung der verschiedenen Fremd- und Selbstperspektiven, nicht aus, erfordert aber deren Erhebung fur alle Beteiligten, um sie dann verschranken zu konnen. Eine Auseinandersetzung mit der beruflichen Identitat von Lehrem und Sozialpadagogen ist daher unerlasslich, wenn Benachteiligung als Merkmal schulischer Interaktion erfasst werden und im Rahmen schulischer Interaktion gemildert werden soil. (2) Verkniipfiing von Interaktionen als Aspekt von Interaktionsanalysen Die Frage, warum die Ziele von Interaktionspartnem nicht kompatibel sind, lasst sich mit Blick auf deren Motive nur vordergriindig erklaren, weil diese Motive selbst nicht nur Ausgangspunkt flir die Einzelbeitrage sind, sondem auch Ergebnis der Interaktion. Es bleibt namlich offen, warum bestimmte Menschen „unpassende" Motive entwickeln, wo doch alle anderen mit ihren Bediirfhissen „im Rahmen" bleiben. Ein Blick auf die Verkniipfung von Interaktionen miteinander konnte mehr Aufschluss zu dieser Frage bringen. Dabei kann man sowohl einer sozialen (organisationsbezogenen) Logik folgen und z. B. alle Interaktionen untersuchen, die mit Schule in Zusanmienhang stehen. Dann kommen die Bedingungen, die die Organisation fiir die Interaktionen setzt, besonders in den Blick. Oder man folgt einer subjektiven, d. h. biografischen Logik und verfolgt die Interaktionen, an denen eine bestimmte Person beteiligt ist. Der Fall Na. macht deutlich, dass eine Kombination beider Logiken erforderlich ist: die Benachteiligung zeigt sich als Merkmal der schulischen Interaktion im engeren Sinne und wird von den Vorgaben der Organisation Schule bzw. den Vorgaben des Modellprojektes gepragt. Wahrend die Regelschule sich schwer damit tut, die Forderung nach regelmafiigem Schulbesuch in Einzelfallen zeitweise auszusetzen, ist solches nach dem Konzept von ProB durchaus vorgesehen.
202
Benachteiligung zeigt sich aber auch als durchgehendes Merkmal anderer Interaktionen, an denen Na. beteiligt ist, z. B. als Merkmal der MutterTochter-Interaktion. Eine genauere Beurteilung ergibt sich aus der Analyse der Beziige zwischen diesen Interaktionen, und die muss sich natiirlich daran orientieren, wie diese Interaktionsziele miteinander kompatibel sind. Im Fall Na. scheint es nur prekare Interaktionen zu geben, und iiber die Kompatibilitat des schulischen und familiaren Interaktionsziels wissen wir leider nichts und konnen nur auf die Vermutung von Herm B. verweisen, dass diese Kompatibilitat eher begrenzt ist.
5
Ein Ansatz zur Milderung von Benachteiligung im schulischen Kontext
Wenn Benachteiligung ein Merkmal prekarer Interaktionen ist, also solcher, in denen ein starkes Machtgefalle einige Interaktionsteilnehmer auf ihre negativen Motive beschrankt, dann sollten Fachkrafte als ressourcenreiche Interaktionspartner ihre Macht zuriickhaltend gebrauchen und die Aushandlung eines integrativen Interaktionsziels anstreben, d. h. eines Interaktionszieles, das positive Motive aller Beteiligter optimal aufnimmt. Dies legt unterschiedliche MaBgaben nahe: (1) Klarung der Motive der Fachkrafte v. a. auf die Frage hin, ob der Verzicht auf den Einsatz von Machtmitteln jeweils bediirfnisgerecht ist. Wenn nicht, kann mit einer unmittelbaren Umsetzung dieser MaBgabe nicht gerechnet werden. Organisationale Vorgaben konnen dann u. U. dieses Problem reduzieren (s. u.). (2) Ein integratives Interaktionsziel setzt ein gutes Verstehen, d. h. die Rekonstruktion der inneren Modelle aller Interaktionspartner voraus. Das erfordert auch Kenntnisse iiber die weiteren Interaktionen, an denen diese beteiligt sind. Denn sie erklaren haufig deren spezifische Bediirfnislagen. (3) Fachkrafte setzen i. d. R. die Organisationsziele als Interaktionsziele durch. Das erklart sich aus ihren Interaktionen innerhalb der Organisation. Sind diese Organisationsziele eng defmiert und wenig offen flir verschiedenste Kompromisse, so wachst die Wahrscheinlichkeit fiir prekare Interaktionen, v. a. dann, wenn die Fachkrafte die dadurch entstehenden Konflikte organisationsorientiert und nicht nutzerorientiert losen. Dies alles spricht ftir kompromissoffene Organisationsziele und ftir solche, die mit den bekannten Zielen von Nutzem kompatibel sind, z. B. mit dem erwartbaren Bedtirfnis von Jugendlichen nach Schutz vor Ubergriffen seitens der Peers. 203
(4) Umgekehrt konnen kompromissoffene Organisationsziele wirkungslos werden, wenn Fachkrafte aufgrund eigener Motivstrukturen ihre Macht bevorzugt auch gegen den Widerstand von Nutzem ausspielen. Dann sind Organisationsziele hilfreich, die solche Strategien begrenzen. Es sind die auf Partizipation der Nutzer orientierten Ziele der Organisation. (5) Prekare Interaktionen innerhalb der Organisation erhohen die Wahrscheinlichkeit flir ebensolche mit den Nutzem. Denn sie provozieren gegeniiber der Organisation Ohnmachtsgeflihle, aufgrund derer das Bedtirfnis wachsen kann, sich dafur am Nutzer schadlos zu halten. Von daher gilt das fur die Fachkraft-Nutzer-Interaktion hinsichtlich partizipativer Strukturen Gesagte analog flir die Interaktionen innerhalb der Organisation. Die Beschrankung auf diese flinf MaBgaben, die sich auf die Machtaspekte von Interaktionen beziehen, erklart sich nicht nur aus der Bedeutung, die sie flir das Zustandekommen prekarer Interaktionen haben, sondem auch aus ihrer Bedeutung flir die aktuelle Debatte iiber die Veranderung von Schule und ihrer Bedeutung flir eine Subjektives und Soziales verbindende prozessorientierte Sicht auf Benachteiligung. Die flinf hier genannten MaBgaben beschreiben also die Moglichkeiten, Benachteiligung zu mildem, keineswegs voUstandig.
204
Literaturverzeichnis Chasse, K. A./Zander, M./Raasch, K. (2003): Meine Familie ist arm. Opladen Baumert, J. et al. (2001): Pisa 2000. Opladen Bohnisch, L. (1999): Abweichendes Verhalten. Weinheim Crozier, M./Friedberg, E. (1993): Die Zwange koUektiven Handelns. Frankfurt am Main Fend, H. (2000): Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Opladen Flammer, A. (1990): Erfahrung der eigenen Wirksamkeit. Bern Greve, W. (2000): Psychologie des Selbst. Weinheim GroBmann, K./Grol3mann, K. (2004): Bindungen - Das Gefiige psychischer Sicherheit. Stuttgart HeB-Meining, U./Bednartz-Braun, (2004): Migration, Ethnie und Geschlecht. Wiesbaden Hillebrandt, F. (2002): Hilfe als Funktionssystem fiir Soziale Arbeit. In: Thole: Grundriss Soziale Arbeit. Opladen. S. 215-226 Holodynski, M. (1999): Handlungsregulation und Emotionsdifferenzierung. In: Freidlmeier/Holodynski: Emotionale Entwicklung. Heidelberg/Berlin. S. 29 - 51 Holzkamp, K. (1973): Sinnliche Erkenntnis. Frankfurt BMFSFJ (2005): 12. Kinder und Jugendbericht. Berlin Klatetzki, Th. (1993): Wissen, was man tut. Bielefeld Krappmann, L./Oswald, H (1995): Alltag der Schulkinder. Weinheim Krappmann, L. (2005): Soziologische Dimensionen der Identitat. Stuttgart Leont'ew, A. N. (1973): Probleme der Entwicklung des Psychischen. Berlin Lewin, K. (1982): Werkausgabe Bd. 6. Bern Meuser, M./Nagel, U. (2003): Das Expertlnneninteview - Wissenssoziologische Voraussetzungen und methodische Durchfuhrung. In: Friebertshauser /Prengel: Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim Neuenschwander, M. etal.(2001): Schulkontext und Identitatsentwicklung im Jugendalter. Forschungsbericht Nr.22. Universitat Bern. Oelerich, G./Schaarschuch, A. (2005): Soziale Dienstleistungen aus Nutzersicht. Miinchen Oik, Th. et al.(2000): Jugendhilfe und Schule. Weinheim Rudolph, U. (2003): Motivationspsychologie. Weinheim Seithe, M. (1999): Schulsozialarbeit. in: Chasse/Wensierski: Praxisfelder der Sozialen Arbeit. Weinheim. S.78 - 88 Spangler, G./Zimmermann, P. (2002): Bindungstheorie. Stuttgart Staub-Bemasconi, S. (1995): Systemtheorie, Soziale Probleme und Soziale Arbeit. Bern Staub-Bemasconi, S. (2002): Soziale Arbeit und Soziale Probleme. Eine disziplin- und professionsbezogene Bestimmung. In: Thole: Grundriss Soziale Arbeit. Opladen. S. 245 - 258 Wieland, N. (2002): Und bist Du nicht willig, so branch ich Gewalt - zur Entwicklungspsychologie des Zwangs. Unveroff. Vortrag. Miinster Wieland N. (2005): Abschlussbericht der Evaluation zum Modellprojekt „Kooperation von Schule und Jugendhilfe im Siidviertel". unveroff. Forschungsbericht. Munster Zander, M. (2005): Kindliche Bewaltigungsstrategien von Armut im Grundschulalter - ein Forschungsbericht. In: Zander, M. (Hrsg.): Kinderarmut - Einfiihrendes Handbuch fiir Forschung und Soziale Praxis. Wiesbaden. S. 110-141
205
Jugendschulen Konzeptionelle Ansatze fiir die padagogische Arbeit mit markt-5 sozial- und rechtsbenachteiligten jungen Menschen Joachim Schroeder
1
„Benachteiligung" - ein schillernder Begriff
Der Begriff „Benachteiligung" ist in den Sozialwissenschaften theoretisch und empirisch eigenttimlich blass geblieben. Wahrend beispielsweise fiir die Kategorie „Behinderung" ausgefeilte juristische, medizinische und erziehungswissenschaftliche Defmitionen und Theorien erarbeitet wurden, ist eine ahnlich differenzierte Auseinandersetzung um „Benachteiligung" nicht gegeben. In kaum einem deutschsprachigen sonder-, sozial- oder berufspadagogischen Lexikon hat der Begriff bislang Aufnahme gefunden; auch in den Nachschlagewerken der Soziologie fehlt er durchweg. Dies, obwohl „Benachteiligung" seit den 1960er Jahren zu einer der wichtigen sozial- und erziehungswissenschaftlichen Kategorien geworden ist, der Begriff fiir die schultheoretische Reflexion ebenso bedeutsam wurde wie fur die konzeptionelle Orientierung padagogischer Praxis, und er in der Bildungspolitik genauso haufig Verwendung findet wie in der Gesetzgebung. Obgleich diese Kategorie - mit Luhmann formuliert - als eine „Kontingenzformer' betrachtet werden kann, die geeignet ist, Kommunikation zwischen Systemen und Disziplinen (zumindest auf Zeit) zu ermoglichen, verfiigen wir tiber keine ausgearbeiteten Benachteiligungstheorien, ja wir haben noch nicht einmal konsensfahige Defmitionen. In meinem Verstandnis gehe ich von der Auffassung aus, dass Benachteiligung ein relationaler Begriff ist, der semantisch auf Hindemisse fiir die individuelle Selbstgestaltung, auf Kontexte, Situationen und Erfahrungen der Ungleichheit verweist, und sich normativ auf Ansprliche von Gerechtigkeit und Erhohung von Chancen gesellschaftlicher Teilhabe bezieht. In einer solchen Perspektive kommt das Spannungsverhaltnis von Lebenswelt und System in den Blick, eine von Jurgen Habermas getroffene Unterscheidung zwischen zwei Aspekten des gesellschaftlichen Lebens: Sehr verkiirzt ausgedriickt, sind im ersten Begriff eher die sozio-kulturellen Dimensionen, im zweiten eher die institutionellen Seiten gesellschaftlicher Verhaltnisse gefasst. Und er schreibt: „Beide Paradigmen, Lebenswelt und System, haben ein Recht; ein Problem stellt
die Verkniipfung dar" (Habermas 1973, 14). In dieser Sichtweise wird somit unterstellt, dass sich einerseits die gegenwartigen Lebenswelten Deutschlands angemessen als sozial ausdifferenziert und kulturell pluralisiert beschreiben lassen, dass es jedoch andererseits dem Bildungssystem bislang nicht gelungen ist, in der Gestaltung seiner Binnen- wie auch seiner AuBenverhaltnisse entsprechende Verkniipfiingsleistungen zu erbringen, so dass fur alle Schtilerinnen und Schiller wesentliche Voraussetzungen zur Existenzsicherung geschaffen werden: namlich einen Schulabschluss zu erreichen und einen Arbeitsplatz zu finden. In einer relationalen Perspektive auf Bildungsbenachteiligungen wird nach schulpddagogischen Verkniipfungsproblemen gefragt; das heiBt, lebensweltliche Problemkonstellationen von Kindem und Jugendlichen werden als unzureichend verbunden mit dem Bildungssystem verstanden. Bezieht man den letztlich verfassungsrechtlich begriindeten gesellschaftspolitischen Anspruch der Verwirklichung von Chancen sozialer Teilhabe in die schultheoretische Reflexion mit ein, so lassen sich wenigstens drei verschiedene schulpddagogisch relevante Benachteiligungssituationen unterscheiden: (1) Marktbenachteiligungen aufgrund einer unzureichenden schulischen Vorbereitung auf die Arbeitswelt, (2) soziale Benachteiligungen durch fehlende lebenslagenspezifische Bildungskonzepte und (3) Rechtsbenachteiligungen in Form von gesetzlichen Ausschlussen Oder erschwerten Zugangen zum allgemeinen und beruflichen Bildungswesen. Jeder dieser drei Kontexte stellt je unterschiedliche Herausforderungen an die Organisation schulischer Bildung sowie an deren curriculare und didaktischmethodische Auslegung. Problemkonstellation
Marktbenachteiligungen
M erkmale der Klientel • • •
Potenziell erwerbsfahig Potenziell ausbildungsfahig Probleme beim Ubergang von der Schule in die Arbeitswelt
• •
Prekare Lebenslagen Ausgepragte Lem- und Verhaltensprobleme Zeitweise nicht erwerbsfahig Eingeschrankt schulpflichtig Nicht ausbildungsberechtigt Eingeschrankte/verwehrte Arbeitserlaubnis unbestimmte Aufenthaltsdauer
Soziale Benachteiligungen
Rechtsbenachteiligungen
• • • • •
Konsequenzen fiir Schulentwicklung und Unterricht • Verdichtung der Nahtstelle Schule/Arbeitswelt • Schulformubergreifende Bildungsgange • Alltagsorientiertes Curriculum • Personenbezogene Angebote • Bildungspass • Wiedereinstieg ermoglichen • Alltagsbegleitung/Therapie • Existenzsichemde Angebote wahrend des Verfahrens der Anerkennung • Nachholende Angebote bei Anerkennung
Tabelle 1: Schulpddagogisch relevante Benachteiligungssituationen
208
2
Marktbenachteiligungen
Obwohl viele Jugendliche in ihren individuellen Voraussetzungen uneingeschrankt arbeits- und ausbildungsfahig sind, scheitert eine betrachtliche Zahl von ihnen einmalig oder immer wieder an einer der Schwellen zur beruflichen Eingliederung. Probleme konnen sich beim Obergang von der allgemein bildenden Schule in die Ausbildung einstellen; schwierig kann es werden, von einer Aus~ bildung in das Erwerbssystem zu gelangen; manche schaffen den Wiedereinstieg nach Wehrdienst, Mutterschaft, Arbeitslosigkeit, Haftstrafe oder Suchtentzug nicht. Das gemeinsame Merkmal der Betroffenen besteht darin, dass sie unter gegenwartigen Konkurrenzbedingungen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt nicht oder nur schwer vermittelbar sind, eine Tatsache, die in der Berufsbildungsforschung zu dem Begriff der Marktbenachteiligung gefuhrt hat (Storz 1997; Galuske 1998).
Andrea Die junge Frau hat eine Forderschule in einer Kleinstadt in MecklenburgVorpommern besucht und dort einen passablen Abschluss erreicht. Dennoch findet sie keinen Ausbildungsplatz und besucht deshalb einen einjdhrigen Forderlehrgang mit Schwerpunkt Hauswirtschaft. Bin kleines Hotel auf Amrum bietet ihr eine Lehrstelle an, doch kaum hat sie dort begonnen, ist der Betrieb auch schon pleite. Das Arbeitsamt vermittelt Andrea in eine Grofikiiche nach Hamburg, dort entldsst man sie nach drei Monaten zum Ende der Probezeit wieder, weil das Arbeits tempo sie iiberfordert. Gegenwdrtig ist zu kldren, ob sie den Hauptschulabschluss nachholen soil, ob ein geeigneter Job, gar ein Ausbildungsplatz gefunden werden kann. Andrea selbst liebdugelt - inzwischen 19-jdhrig - mit der Zukunftsperspektive „Heirat'\ Jugendlichen wie Andrea, die einen Sonder- oder Hauptschulabschluss erworben haben, bleiben nach dem Schulabgang vier Moglichkeiten: (1) Sie versuchen, trotz aller Widrigkeiten, einen Ausbildungsplatz zu finden, (2) sie bilden sich in berufsqualifizierenden MaCnahmen fort, obwohl es eher fraglich ist, dass ihnen der Ubergang in eine Ausbildung, gar die Einmtindung in das Beschaftigungssystem auf diesem Wege dauerhaft gelingen wird, (3) sie nehmen als Ungelemte und gering Qualifizierte Jobs an, (4) in Hartefallen geraten sie zeitweise oder auch lang andauemd in Erwerbslosigkeit. In der Diskussion um eine angemessene Forderung marktbenachteiligter Jugendlicher vertreten Lehrerinnen und Berufsberater, Reprasentanten der Wirtschaft, Bildungspolitikerinnen und Erziehungswissenschaftler in seltener Einig209
keit die Auffassung, dass ausnahmslos alle jungen Menschen nur iiber Ausbildungsgdnge im dualen System, die in (zukunftssichere) Berufe flihren, in existenzsichemde Erwerbsarbeit gelangen konnen. Solcher Dogmatismus macht blind gegen die Tatsache, dass es gleichwohl im untersten Qualifikationssegment nach wie vor in erheblichem Umfang Jobs gibt und dort auch laufend neue entstehen. Diese sind iiberwiegend unsicher, weil befristet, korperlich anstrengend, wenig attraktiv und haufig schlecht bezahlt. Und dennoch gilt: Selbst junge Frauen und Manner, die mit Ach und Krach und folglich mageren Resultaten ihre selten markttauglichen (Sonder-)Ausbildungen durchgestanden haben, miissen sich mit solchen Jobs arrangieren. Hinzu kommen all jene, die dieses Ziel (aus welchen Grunden auch immer) nicht erreichen konnten und die dennoch nicht dauerhaft von Transferleistungen leben konnen. Jobs fur benachteiligte Jugendliche sind vor allem im Dienstleistungsbereich zu fmden. Denn die Entwicklung des Arbeitsmarktes ist durch zwei voneinander abhangige Prozesse gekennzeichnet: Zum einen erfordert er immer mehr hochqualifizierte Arbeitsplatze, in denen karriereorientierte und gut gebildete Menschen beschaftigt werden, die sowohl im Beruf als auch in ihrer Freizeit unter hohem Effizienzdruck stehen. Der „neue" Arbeitsmarkt erzeugt jedoch nicht nur solche Arbeitsplatze, sondem in noch starkerem MaBe auch Jobs am unteren Rand der beruflichen Hierarchic: „Die haushaltsbezogenen Dienstleistungen nehmen in dem MaBe zu, in dem die Zahl der karriereorientierten Menschen wachst. Sie organisieren die Reproduktion eben nicht nach dem Ehe- und Familienmodell (sprich: die Frau macht die Hausarbeit), sondem sie kaufen sich den grofiten Teil als Dienstleistungen (Saubermachen, Waschen und Reinigen, Kochen, Kinder erziehen). Aber auch die wachsende Zahl der untemehmensbezogenen Dienste erfordert ein zunehmendes Heer an reinigenden, wartenden, zur Hand gehenden, Dienste abnehmenden, Sicherheit bewahrenden Kraften, die wiederum von spezialisierten Dienstleistem angeboten werden" (Dangschat 1995, 52).
Die betrieblichen Wachdienste beispielsweise sind eine Branche mit enormen Zuwachsraten. Die Vorbereitung auf eine Tatigkeit als „Sicherheitsfachfrau" dauert nur wenige Tage, ein Schulabschluss wird nicht verlangt. Die Schulung zur „gepruften Werkschutzfachkraft" umfasst zehn Monate, nachzuweisen ist ein Sonder- oder Hauptschulabschluss. Auch in anderen Branchen des unteren Qualifikationsbereichs werden viele Arbeitskrafte gesucht. Eine andere „Nische" bilden die vorwiegend von Einwanderem aufgebauten Wirtschaftssegmente, die so genannten Migrantenokonomien. So gab es 1999 in Deutschland iiber 40.000 turkische Untemehmen mit knapp 200.000 Beschaftigten, Tendenz stark ansteigend (Goldberg/Sen 1999). Jeder zehnte Job in diesen Untemehmen ist iibrigens mit deutschen Arbeitnehmem ohne turkische Sprachkenntnisse besetzt (ebd., 31). Jede vierte „turkische" Firma bildet Jugend210
liche aus, in den Handwerks-, Einzelhandels- und Baubetrieben ist es sogar jeder zweite. Dreiviertel der tiirkischen Untemehmen verzeichneten in den letzten Jahren Umsatzzuwachse und planen Neueinstellungen. Gegenwartig gibt es in Deutschland rund 280.000 Betriebe mit Inhabem auslandischer Herkunft, die tiber eine Million Arbeitnehmer beschaftigen. Schatzungen besagen, dass ca. 11.000 Ausbildungsplatze in den auslandischen Untemehmen potenziell brach liegen (Institut der deutschen Wirtschafl 2001). Euphorie ist sicherlich nicht angebracht: Nicht jeder dieser Betriebe verfiigt tiber das Know-how fur eine Ausbildung. Auch die Gleichung „Tiirken bilden Ttirken aus" ist zu einfach, einige tiirkische Betriebe suchen gezielt deutsche Lehrlinge, und so mancher tiirkische Jugendliche will alles - nur nicht in einem tiirkischen Betrieb ausgebildet werden. Eben dies eroffnet jedoch beiden Gruppen Chancen. Kennzeichnend fur das deutsche Schul- und Berufsbildungswesen ist jedoch die hartnackige Weigerung, die Herkunflssprachen von Jugendlichen mit einem Migrationshintergrund wahrzunehmen, geschweige denn diese zu fbrdem. Englisch und Franzosisch, Tiirkisch und Arabisch, Spanisch und Russisch sind aber Sprachen, die in Deutschland einen hohen Marktwert haben, weil sie in den intemationalen Wirtschaftsbeziehungen aber auch fiir den Binnenmarkt bedeutsam sind: Mehrsprachige Mechaniker und Lkw-Fahrer sind ebenso gesucht wie Verkaufs- und Pflegepersonal, das auch andere Sprachen kann als lediglich Deutsch. Jugendliche, die eine, gar mehrere dieser Sprachen beherrschen, werden in Deutschland in der Regel jedoch entweder im Fremdsprachenunterricht mit Lemanfangem zusammen beschult und somit vollig unterfordert, oder sie werden iiberhaupt nicht gefordert. Selten konnen sie ihr sprachliches Vermogen in den schulischen Raum einbringen oder es gar erweitem. Dies ist umso fataler, weil auch die Annahme irrig ist, dass alle jungen Migrantinnen und Migranten lebenslang in Deutschland bleiben diirften oder wohnen wollten. Kenntnisse in international relevanten Sprachen sind jedoch ein Kapital, das an andere Lebensorte mitgenommen werden kann und dort verwertbar ist. Ebenso ist immer wieder erstaunlich, wie selten padagogische Konsequenzen gezogen werden aus der Tatsache, dass benachteiligten Schtilerinnen und Schiilem ihre verwandtschaftlichen Beziige als ein „soziales Kapital" zumeist wenig niitzen. Was Familie leisten sollte - die Heranwachsenden in ihrem Alltag fordemd zu begleiten - kann aus verschiedenen Griinden bei Jugendlichen in Risikolagen nicht vorausgesetzt werden: Weil die Vater und Miitter aufgrund von Alkoholabhangigkeit und Tablettensucht, Depressionen oder Uberschuldung selbst hilfsbediirftig sind, weil aufgrund von Streitereien die Jugendlichen ausgezogen sind oder rausgeworfen wurden und nun familiare „Funkstille" herrscht, oder weil sie ohne Familie nach Deutschland gekommen sind. Viele, vermutlich die meisten Jugendlichen sind de facto auf sich alleine gestellt und dies schon
211
seit Jahren - aber auch dariiber wissen ihre Lehrer und Sozialpadagoginnen nicht immer so ganz genau Bescheid. In Sonder- und Hauptschulen oder in den Berufsvorbereitungsjahren ist deshalb sehr sorgfaltig zu iiberlegen, wie die Schiilerinnen und Schiiler unterstiitzt werden konnen, tragfahige und verlassliche soziale Beziehungen zu mindestens einem kompetenten Erwachsenen aufzubauen. Denn selbst ftir diejenigen Jugendlichen, die in sehr prekaren sozialen Verhaltnissen leben, erhohen sich die Chancen deutlich, erfolgreich im Bildungs- und Ausbildungssystem zu bestehen, wenn sie durch eine engagierte und verbindliche private Betreuung gefordert werden. Demgegeniiber zeigt sich, dass selbst Jugendliche mit relativ guten kognitiven und sozialen Ausgangsbedingungen aufgrund mangelnder Unterstutzung keinen ihren Fahigkeiten angemessenen Bildungserfolg erzielen. Es ist nachweislich moglich, durch Unterricht oder durch die sozialpadagogische Betreuungsarbeit die erforderlichen Erwachsenen ausfindig zu machen und sie in der Alltagsbegleitung zu schulen und zu unterstutzen (vgl. Schroeder/Storz 1994; Zenke 2005). Nicht erst bei der Entlassung aus der Sonderschule sollte die Frage befriedigend beantwortet sein, wer denn kunftig ehrenamtlich einen der Absolventen durch die Klippen der Ausbildung oder der ersten Berufstatigkeit und in den anderen Erfordemissen des erschwerten Alltags begleiten wird. Die jahrzehntelangen Debatten um Forderung benachteiligter Kinder und Jugendlicher haben gezeigt, dass sich solche Vorhaben vor allem mit der „Schnittstellenproblematik" auseinanderzusetzen haben, d. h. sich mit dem (Jbergang von der allgemein bildenden Schule in das nachfolgende System beruflicher Bildung befassen miissen. Ftir die Gruppe der potenziell Arbeits- oder Ausbildungsfahigen haben die allgemein bildenden Regel- oder Sonderschulen somit Bildungsangebote zu machen, die es den Betroffenen ermoglichen, Sach-, Orientierungs- und Strategiewissen sowie entsprechende Kompetenzen und Fahigkeiten zu erwerben, um in Ausbildung und Weiterqualifizierung, in Jobs des informellen Sektors wie auch in Erwerbslosigkeit gleichermaBen bestehen, die jeweiligen Hiirden erfolgreich iiberwinden, Anschliisse ausfindig machen und Neuanfange gestalten zu konnen. Um systemische Ubergangsprobleme zu beseitigen, sind die Nahtstellen zwischen allgemein und berufsbildenden Schulformen zu verdichten, um den Verbleib dieser Schiilerinnen und Schiiler im Bildungswesen abzusichem und um den Anschluss an nachfolgende Teilsysteme des Bildungs- und Beschaftigungssystems zu optimieren. Dies gelingt am ehesten durch die Konzipierung entsprechender schulformiibergreifender Bildungsgange fur den unteren Qualifikationsbereich, in denen systematisch und konsequent die Sonder- und Hauptschule mit der Berufsschule und Jugendhilfe verzahnt sind (vgl. Hiller 1994; Mack 1995; Friedemann /Schroeder 2000). In solchen Jugendschulen wird durch personelle, organi212
satorische und inhaltliche Verzahnung allgemeiner Grundbildung mit beruflicher Vorbereitung und Ausbildung dafiir gesorgt, dass beschaftigungsrelevante Inhalte fruher als bislang (schon ab den Klassen 8) die Schiilerinnen und Schiller emsthaft fordem, zugleich stiitzende und erganzende Angebote sowie sozialpadagogische Begleitung langer als bisher (liber die 10. Klasse hinaus) vorgehalten werden, um so den Schulerfolg abzusichem. Durchgangig sind solche Bildungsangebote auf die Lebensumstande und Zukunftshorizonte dieser Schtilerinnen und Schtiler zu zentrieren, auf mittelfristig attraktive Berufsfelder vor allem im sozialen und gewerblichen sowie im Dienstleistungsbereich auszurichten. Es rat sich zudem, mit im Stadtteil angesiedelten Betrieben zusammenzuarbeiten, um potenzielle Praktikums-, Ausbildungs- und Arbeitsplatze zu erschlieBen.
3
Soziale Benachteiligungen
Obwohl der erschwerte Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt bereits zu individuellen Lebenslagen fiihren kann, die den Betroffenen erhebliche Schwierigkeiten in der Alltagsbewaltigung und der tJberwindung von strukturellen Barrieren des Marktes bereiten, gibt es Jugendliche und jiingere Erwachsene, die sich in solch prekaren Lebenssituationen befmden, dass an das Absolvieren einer Ausbildung oder an die Aufnahme einer Beschaftigung - oft flir Jahre - nicht zu denken ist. Es sind junge Menschen, die pejorativ als „Ausbildungsunwillige", „Lemgeschadigte", „Verhaltensauffallige" oder „Betriebsunfahige" bezeichnet werden - ich bevorzuge den Begriff Sozialbenachteiligte. Es sind Jungen und Madchen mit besonders ausgepragten Lem-, Leistungs- oder Verhaltensproblemen, auch so mancher Schulverweigerer gehort sicherlich dazu. Es handelt sich ebenso um obdachlose oder nicht gemeldete Jugendliche sowie Menschen mit gravierenden Sucht- oder Delinquenzproblemen. Deren Lebenssituation ist jedenfalls in einer Weise belastet, dass sie trotz Forderung, Begleitung und Beratung nur einen erschwerten Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe fmden konnen.
213
Bjorn Zwischen 1981 und 1987 hesucht er nacheinander zwei Grundschulen, zwei Sonderschulen fur Lernbehinderte, dann eine Schule filr Erziehungshilfe und schliejilich zwei Hauptschulen; mit ca. vierzehn Jahren gibt er den regelmdfiigen Schulbesuch auf, er gerdt an Drogen und verdient sich das Geld dajur am Hamburger Hauptbahnhof. Mit siebzehn Jahren kommt er in ein Berufsvorbereitungsjahr bei einem Jugendhilfetrdger, bricht aber schon nach wenigen Wochen ab. Als er eine mehrjdhrige Haftstrafe absitzen muss, wird ihm im Gefdngnis ein Alphabetisierungskurs geboten, weil in den anderen Bildungsgdngen kein Platz ist. In einem anderen Gefdngnis beginnt er einen Forderlehrgang, den er aber wegen Uberforderung abbricht. Seit der Haftentlassung 2001 ist er erwerbslos, einen Schulabschluss hat der inzwischen 28-Jdhrige immer noch nicht. Er nimmt an einem Methadon-Programm teil, miiht sich mit seinem kleinen Zimmer, hat chronische Geldsorgen und die Wieder-Anndherung an seine Familie gelingt nur sehr langsam. Neulich safi er an einem Sonntagnachmittag bitterlich weinend vor meiner HaustUr, denn am Morgen hatte sich sein einziger guter Kumpel aus dem Fenster gestUrzt.
Die meisten der bislang angebotenen Benachteiligtenprogramme der Arbeitsverwaltung und der Jugendberufshilfe richten sich vomehmlich an die „Betriebsfahigen" und an die „Ausbildungsreifen" (vgl. Rebmann & Tredop in diesem Band). Im AUgemeinen nicht erreicht werden damit diejenigen jungen Menschen, die sich in sehr erschwerten Lebenslagen befinden. Fiir diese werden Bildungs- und BeschaftigungsmogHchkeiten benotigt, obwohl abzusehen ist, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Zeitpunkt des Eintritts in das Bildungsangebot und auch mittelfristig keine berufliche Ausbildung beginnen und erfolgreich absolvieren konnen, die eine berufsvorbereitende MaBnahme iibUchen Zuschnitts kaum durchstehen werden oder bereits abgebrochen haben, von denen bekannt ist, dass sie in regularen Klassenverbanden oder Kleingruppen nicht integrierbar sind, die also ausgepragte personenzentrierte Lemangebote benotigen. Beispielhaft und wegweisend flir ein solches Bildungsangebot ist die „Freie Schule Hamburg" (vgl. Konopka 1996; Schroeder 2002). Hier werden 75 voUoder teilzeitschulpflichtige Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 14 und 20 Jahren, die aus verschiedenen Griinden in Regelschulen gescheitert sind (Verweigerung, Abschulung aufgrund von Gewalttaten oder Drogenkonsum), von sechs Lehrkraften unterrichtet. Kaum eine/r der Schiilerinnen und Schiiler kann aufgrund der gesundheitlichen oder sozialen Situation regelmafiig am Unterricht teilnehmen, denn sie miissen Termine in der Therapie, 214
auf Amtem oder bei Gericht wahmehmen, sich fur langere Zeit in einen Drogenentzug oder in Haft begeben, es gibt familiare Verpflichtungen oder es ist ein eigenes Kind zu versorgen; es sind Jobs oder Arbeitsverhaltnisse, in die die Teilnehmer eingebunden sind und an deren Zeitmuster sich die Schule anpassen muss. Das heiBt: „Unterricht" nach Stundenplan, an festgelegten Zeiten am Tag oder in der Woche, kann nicht stattfmden, sondem es werden mit den Zeitplanen der Schtilerinnen und Schtiler abgestimmte, individuelle Bildungsangebote gemacht. Dennoch ist das Lehrerteam ganztagig in der Schule und steht fur Einzeloder Gruppenarbeit, Beratungs- und Betreuungstatigkeiten zur Verfiigung. Die Unterbrechung des Schulbesuchs und eine Riickkehr sind problemlos moglich, es steht den JugendHchen offen zu entscheiden, wie lange sie in der Freien Schule bleiben mochten. Es gibt nicht wenige, die nur einige Monate an den Bildungsangeboten teilnehmen, dann einen Job flnden, in eine weiterfuhrende Schule vermittelt werden oder aus den verschiedensten Griinden den Schulbesuch abbrechen miissen. Unterbrechung flihrt aber, anders als in Regelschulen, nicht zum Schulausschluss. Denn das Bildungsangebot ist nicht abschlussorientiert, vielmehr steht die Vermittlung in Jobs oder regulare Arbeitsverhaltnisse im Vordergrund. Die Bildungsangebote in dieser Schule beziehen sich zum einen auf allgemein bildende Facher, die als Paukkurse in Kompaktform angeboten werden, orientiert an zuvor festgelegten Lemzielen, die die einzelnen Jugendlichen oder die Kleingruppen erreichen sollen oder wollen (Mathematik, Deutsch, Gesundheit, Hygiene, Emahrung). Ein zweiter Lembereich bezieht sich auf die Erfordemisse der Alltagsbewdltigung. In geringem Mal3e werden hierzu ebenfalls Kurse angeboten, hauptsachlich wird dies jedoch in Einzelarbeit durchgefiihrt, so dass auch die Begleitung zu Amtem oder die Berticksichtigung individueller Betreuungserfordemisse moglich werden. Ein drifter Lembereich sind Projekte, in denen sich moglichst viele Schtilerinnen und Schtiler beteiligen sollen. So wurde beispielsweise ein stadtteilbezogenes Projekt „Wohnumfeldverbessemng" durchgeftihrt, in dem ein Konzept zur Verkehrsbemhigung sowie ein Nutzungsvorschlag fiir ein brachliegendes Gelande im Quartier erarbeitet, ein Projektantrag geschrieben und beim Umweltsenator zur Entscheidung eingereicht wurde. Da die Freie Schule im Kommunikationszentmm „Honigfabrik" untergebracht ist, konnen von den Schtilerinnen und Schtilem die Kinder- und Jugendraume, das Cafe, vor allem die Werkstatten (Holz, Metall, Topferei, Fotolabor, Videoschnittraum, Geschichtswerkstatt) entweder nach Absprache individuell und in Kleingmppen genutzt werden, oder die Jugendlichen konnen an den dort angebotenen Kursen und Veranstaltungen teilnehmen. Die Freie Schule kann auf diese Weise einen vierten Lembereich zur Freizeitorientierung anbieten: „Das Leben der Jugendlichen spielt sich ab am Rande von Arbeits-
215
losigkeit, Depression, beengten Wohnverhaltnissen, erstarrten Familienstmkturen und Perspektivlosigkeit. Von vom herein war es die Absicht der Schule, vorrangig fur sozial benachteiligte Schuler(innen) und fur Schulverweigerer da zu sein. Deshalb wurde dieser Standort gewahlt: wenn die Jugendlichen nicht zur Schule kommen wollen, geht eben die Schule dorthin, wo die Jugendlichen sich in ihrer Freizeit aufhalten - ein Konzept, das aufgegangen ist" (Konopka 1996, 27). Das Schulkonzept ist provokativ, weil in ihm ein padagogischer Arbeitsbegriff demontiert wird, der benachteiligten jungen Menschen in seinem Versprechen individueller Selbstverwirklichung triigerisch erscheinen muss. Typisch fiir die Zunft der Schulpadagogen sei es, so Konopka (1996, 11), das Thema „Geld und Lemen" entweder - weil anriichig und unfein - gar nicht erst zu thematisieren oder es sogleich zu padagogisieren. Ideen, Lemende fur ihre Tatigkeit zu bezahlen, seien im Gefolge neuhumanistischer Schulreformen in Deutschland schnell verworfen worden. Allenfalls wiirden die existenziellen Bediirfhisse des Lebens durch Sozialhilfe und BAfoG abgesichert, „damit der Mensch frei ist sich dem zu widmen, was man Lemen nennt" (ebd., 13). Auch in der Entlohnung von Praktika entgehe man nicht dem grundsatzlichen Widerspruch, „dass traditionelle Lemtatigkeiten, die u. a. zum Hauptschulabschluss fuhren, ohne erkennbaren Bezug zum Geld verlaufen." Fast alle arbeits- und berufsorientierten Projekte fur Jugendliche und junge Erwachsene kennzeichne, dass in ihnen Lemen als Erfahmng und Aufarbeitung von Arbeitsprozessen durch die Herstellung von Arbeitsprodukten bildungstheoretisch und padagogisch begrundet werde. Anders als man sich dies in solchen Projekten denke, zeigten die Jugendlichen jedoch ganz andere Bediirfhisse: „Langfristige Projekte in einer Schreinerei oder SchweiBerei wecken bei den Schiilem kaum Interesse. Ihnen ist nicht an den Arbeitsprozessen, auch nicht an den Arbeitsprodukten, wenig an den Kommunikationsvorgangen, allenfalls etwas an Geld gelegen" (ebd., 16). Viele benachteiUgte Jugendliche und junge Erwachsene zeigten kein Interesse an einer an Bildungszwecken ausgelegten Form der Arbeit, vielmehr richte sich ihr Interesse darauf, „die schnelle Mark" (ebd.) zu machen. Daraus sei padagogisch zu folgem: Das Bestreben nach „schnellem Geld" emst zu nehmen, seitens der Schule entsprechende Moglichkeiten anzubieten, in denen die Jugendlichen auf legale Weise rasch etwas verdienen konnten (Vermittlung von Jobs, Ubemahme von Kleinauftragen durch die Schule etc.). Das Beispiel Freie Schule zeigt, dass eine Schule keineswegs auf Schulabschliisse und Zeugnisse fixiert sein muss, mehr noch, dass sie es bei besonders benachteiligten Jugendlichen nicht sein darf. In ihrem Lem- und Qualifiziemngsbegriff offhet sich die Freie Schule anderen als abschlussrelevanten Feldem: Der 216
direkte Obertritt von der Schule in das Arbeits- und Erwerbsleben wird gefordert, well es den Interessen, Bedtirfnissen und auch Kompetenzen der Jugendlichen entspricht. Mit diesem Ansatz stellt sich die Freie Schule jedoch gleich gegen mehrere den allgemeinen Bildungsdiskurs kennzeichnende ijberzeugungen: Der hier anklingende Abschied von der Ausbildungsfixierung, die schulpadagogische Rehabilitierung des Arbeitsmarktsegments „Jedermannstatigkeiten", der Bruch mit der fragwtirdigen Cberzeugung, erst mit Schulabschluss und Ausbildung sei der einzig abgesicherte Weg in das Erwerbssystem zu fmden, nicht zuletzt die Demaskierung der auf fragwtirdigen bildungstheoretischen Pramissen beruhenden Berufsorientierung macht den Ansatz der Freien Schule zukunftsfahig fiir die weitere Diskussion um die Bildung der sozial Benachteiligten.
4
Rechtsbenachteiligungen
In der deutschen Schulgeschichte gibt es immer wieder soziale Gruppen, die vom Schulbesuch ausgeschlossen sind bzw. denen das Bildungsrecht verwehrt wird. Gegenwartig betrifft dies Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben. Immer noch sind in mehreren Bundeslandem junge Fliichtlinge gar nicht schulpflichtig, damit haben sie keinen Anspruch, sondem lediglich ein Anrecht auf Beschulung, wenn die entsprechenden sachlichen, fmanziellen und personellen Ressourcen verfugbar sind. Problematisch ist deren Situation jedoch vor allem deshalb, weil sie allenfalls an einem nicht BafoG-berechtigten allgemeinen Bildungsgang teilnehmen diirfen, somit der Besuch einer weiterfiihrenden allgemein oder berufsbildenden Sekundarstufe II ausgeschlossen ist. Da sie bis zur Anerkennung als Fliichtlinge entweder mit einem Arbeitsverbot belegt werden oder allenfalls eine auf maximal zwei Stunden pro Tag eingeschrankte Arbeitserlaubnis erhalten, konnen sie weder eine Ausbildung absolvieren noch an einer berufsqualifizierenden MaBnahme teilnehmen. Zudem sind Fliichtlinge vom Forderinstrumentarium des Sozialgesetzbuch III (Benachteiligtenprogramm) ausgeschlossen.
217
Eric Derjunge Mann stammt aus Westafrika, Genaueres sagt er dazu nicht, denn eine prdzise Zuordnung zu einem Staat wurde die Abschiebung beschleunigen. Wie viele junge FlUchtlinge aus Afrika spricht er mehrere afrikanische Sprachen sowie Englisch und Franzosisch, auch ein sehr passables Deutsch hat er rasch in einer Vorbereitungsklasse erlernt. Obwohl zu alt, wurde er dennoch zwei Jahre an einer Forderschule unterrichtet, weil nichts anderesfur ihn zufinden war. Mit viel Uberredungskunst konnten wir einen Schulleiter Uberzeugen, ihn in ein Berufsvorbereitungsjahr aufzunehmen, das er motiviert und mit guten Leistungen besucht hat; den Hauptschulabschluss schaffte er mit der Note 1,7. Sein Berufswunsch ist Krankenpfleger, er absolvierte sein Praktikum in einem Altenheim. Aufgrund seiner Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft kommt er in dem Heim gut an; man wUrde ihn dort sofort ausbilden. Weil aber iiber sein Asylverfahren nicht entschieden ist, verweigert das Arbeitsamt, ihm eine Arbeitserlaubnis zu erteilen, somit klavvt es weder mit einer Ausbildun2 noch mit einem Job. Jugendliche und junge Erwachsene ohne gesicherten Aufenthaltsstatus sind einer spezifischen Diskriminierung ausgesetzt, die sich von den beiden bislang beschriebenen Formen unterscheidet. In ihren Auswirkungen auf die Betroffenen konnen Benachteiligungen durch den Markt oder durch erschwerte Lebenslagen denen der Fliichtlinge durchaus ahnlich sein, doch sind die Ursachen, die den jeweiligen Benachteiligungskontext hervorbringen, sehr unterschiedlich. Fliichtlinge sind in erster Linie rechtlich diskriminiert. Als Rechtsbenachteiligte stellt sich ihnen die Frage nach Bildung entweder nur sehr eingeschrankt oder gar nicht. Gleichgiiltig, was diese Jugendlichen und Erwachsenen in ihren Herkunftslandem jemals gelemt und vollig unerheblich, welche beruflichen Vorstellungen und Ziele sie haben - ihr rechtlicher Status schrankt den Zugang zur allgemeinen wie zur beruflichen Bildung erheblich ein und verwehrt ihnen jeglichen Einstieg in das Ausbildungs- oder Erwerbssystem (Schroeder 2003). Ftir junge Fliichtlinge werden einerseits Angebote benotigt, in denen sie die Zeit zwischen Ankunft in Deutschland und Entscheidung uber den Aufenthaltsstatus sinnvoll nutzen konnen, Kriegserfahrungen bearbeitet, alltagsorientierte Lemangebote gemacht, Sprach- und Computerkenntnisse gefordert sowie Grundlagen zur Existenzsicherung im Riickkehr- oder Abschiebeland geschaffen werden. Andererseits sind flir die Zeit nach der Sicherung des Aufenthaltsstatus und somit des Verbleibs in Deutschland entsprechende Angebote zur ziigigen Alphabetisierung, Grundbildung oder beruflichen Ausbildung zu machen. Eine bedeutsame Entwicklung ist ab 2002 durch die Gemeinschaftsinitiative EQUAL der Europaischen Union in Gang gekommen, denn nun gibt es in Deutschland 218
erstmalig ein arbeitsmarktpolitisches Instrument zur Forderung der beruflichen Integration fiir Fliichtlinge und Asylbewerber. Projekte konnen darin bestehen, fiir die Betroffenen neue Moglichkeiten des Zugangs zum Arbeitsmarkt zu finden und entsprechende schulische und berufliche Qualifizierungsangebote zu machen, aber auch abgelehnte Asylbewerber vor Verlassen des Landes auszubilden. In Kooperationsverbiinden aus Fliichtlings- und Migrantenorganisationen, Bildungs- und Beschaftigungstragem, schulischen Einrichtungen, Fachbehorden, Betrieben und Wirtschaftsuntemehmen werden verschiedene Modelle beruflicher Integration erprobt. Die Angebote richten sich an Jugendliche und Erwachsene mit ausdriicklichen Schwerpunkten fur Frauen und traumatisierte Menschen. Die Projekterfahrungen sind sehr ermutigend, denn es zeigt sich, dass die jungen Fliichtlinge hochmotiviert und sehr erfolgreich berufliche Ausbildungen und QualifizierungsmaBnahmen absolvieren und danach in den ersten Arbeitsmarkt vermittelbar sind (vgl. Schroeder/Seukwa 2005). Bei vielen minderjahrigen Fliichtlingen handelt es sich um Jugendliche in erschwerten Lebenslagen: Die meisten haben nahe Angehorige und Freunde verloren oder sind im Ungewissen iiber deren Schicksal. Einige leiden aufgrund ihrer Erfahrungen unter psychischen Beeintrachtigungen und sind in ihrer Leistungsfahigkeit eingeschrankt. Wegen der fflr Asylbewerber und Fliichtlinge sehr begrenzten Moglichkeiten, Beratungs-, Betreuungs- und Bildungsangebote des offentlichen Hilfs- und Sozialsystems in Anspruch zu nehmen, sind zur Kompensation solcher institutioneller Benachteiligungen Ausgleiche vonnoten. Gerade junge Fliichtlinge sind in besonderer Weise darauf angewiesen, Beziehungen zu Menschen zu kniipfen, die sich im deutschen System auskennen und sie in den alltaglichen Erschwemissen kompetent beraten und begleiten konnen. Hierfiir sind Gelder zur Gewinnung und Schulung von Ehrenamtlichen fur die Alltagsbegleitung junger Fliichtlinge bereitzustellen sowie institutionelle Strukturen in Schulen, Wohngruppen, in Berufsvorbereitungsjahren, bei Beschaftigungs- und Bildungstragem, bei Fliichtlingsorganisationen usw. zu schaffen, um friihzeitig und systematisch junge Fliichtlinge mit kompetenten Erwachsenen zusammenzubringen und Alltagsbegleitungen anzubahnen (vgl. Schroeder 2004). Ein solcher auf wechselseitige Erfahrungsproduktion zielender Bildungsansatz ermoglicht in der konkreten Begegnung mit Kindem, Jugendlichen und Erwachsenen, denen in ihren Herkunftslandem die Menschenrechte verwehrt wurden und die auch in Deutschland Repressionen ausgesetzt sind, zu erkennen, wie Zugange zu Bildung und zu Ausbildung systematisch versperrt, wie die Menschenwiirde in Fliichtlingslagem und Sammelunterkiinften alltaglich missachtet, wie Lebensentwiirfe zerstort werden. Lemprozesse werden ausgelost durch konkrete Probleme, die es zu bearbeiten gilt: Wie fmdet man als Fliichtling in Deutschland eine Wohnung? Welcher Kindergarten nimmt kleine Asyl-
219
bewerber auf, welche Schule macht Angebote flir jugendliche Analphabeten, wer kanri eine Vormundschaft iibemehmen? Viele Alltagsbegleiter haben noch nie einen Sozialhilfeantrag gestellt, waren noch nie von Arbeitslosigkeit betroffen, mussten sich iiber ihre Staatsbiirgerschaft nie Sorgen machen. Die Alltagsbegleitung eroffiiet ihnen Einblicke in Lebensprobleme, von denen sie teilweise nie selbst betroffen sein werden. Es wird erkennbar, was es heiBt, am Rande der Gesellschaft zu leben. Die Verkniipfiing der alltaglichen Beziehungen mit den abstrakten Debatten um Asylrecht und Zuwandemngsgesetz werden ganz plotzlich im Privaten sichtbar und subjektiv bedeutungsvolL Das Kniipfen neuer sozialer Beziehungen zwischen Etablierten und AuBenseitem, zwischen Deutschen und FliichtUngen, zwischen Alt und Jung wird mogHch. Ausgangspunkt der Bildungsarbeit ist die personHche Begegnung, doch das Ziel ist die Vorbereitung, Befahigung und Unterstutzung zu einer gegenseitigen solidarischen Beistandschaft. Dies halte ich fur einen respektvollen Umgang zwischen Menschen, weil er zu einer wechselseitigen Wiedergewinnung von Menschenwiirde ftihrt.
220
Literaturverzeichnis Dangschat, J. (1995): „Stadt" als Ort und als Ursache von Armut und sozialer Ausgrenzung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B31-32, S. 50-62 Friedemann, H.-J./Schroeder, J. (2000): Von der Schule ... ins Abseits? Untersuchungen zur beruflichen Eingliederung benachteiligter Jugendlicher. Ulm-Langenau Galuske, M. (1998): Jugend ohne Arbeit. Das Dilemma der Jugendberufshilfe. In: Zeitschrift far Erziehungswissenschaft l.Jg., 4/1998, S. 535-560 Goldberg, A./Sen, F. (1999): Turkische Untemehmer in Deutschland. In: IZA, Nr. 1, S. 29-37 Habermas, J. (1973): System und Lebenswelt. In: ders.: Legitimationsprobleme im Spatkapitalismus. Frankfurt am Main. S. 9-18 Hiller, G. G. (1994): Jugendtauglich. Konzept fiir eine Sekundarschule. Ulm-Langenau Institut der deutschen Wirtschaft (2001): Empfehlungen fur Schulen und Betriebe. Koln Konopka, D. (1996): Zehn Jahre Freie Schule Hamburg in der Honigfabrik. Eine Schule fiir postmodeme Zeiten. Riickblick und Vorblick. Wilhelmsburg Mack, W. (Hg. 1995): Hauptschule als Jugendschule. Beitrage zur padagogischen Reform der Hauptschule in sozialen Brennpunkten. Ludwigsburg Schroeder, J. (2002): Eine Altemativschule fiir gescheiterte Jugendliche. In: ders: Bildung im geteilten Raum. Schulentwicklung unter Bedingungen von Einwanderung und Verarmung. Munster.S. 217-228 Schroeder, J. (2003): Viele Barrieren, wenig Wahl. Eine Problemskizze zur schulischen und auBerschulischen Angebotsstruktur fiir Jugendliche ohne gesicherten Aufenthaltsstatus. In: Neumann, U. u. a. (Hrsg.): Lemen am Rande der Gesellschaft. Munster. S. 77-92 Schroeder, J. (2004): „Ich konnte da ganz anders auftreten!" Ein Schulungskurs fiir die AUtagsbegleitung von jungen Fluchtlingen. In: Gemeinsam Leben. Zeitschrift fur integrative Erziehung, 12. Jg., 3/2004, S. 135-138 Schroeder, J./Seukwa, L.-H. (2005): Was bleibt? Qualifizierungsoffensive fiir Asylbewerber/innen und Fliichtlinge. Hamburg Schroeder, J./Storz, M. (Hrsg. 1994): Einmischungen. Alltagsbegleitung junger Menschen in riskanten Lebenslagen. Ulm-Langenau Storz, M. (1997): Schone neue Arbeitswelt. Anmerkungen zur beruflichen (Teil-) Integration von marktbenachteiligten Jugendlichen und jungen Erwachsenen in postindustrieller Zeit. In: Zeitschrift fiir Heilpadagogik, 48, S. 398-405 Zenke, K. G. (2005): Paten fiir Schiilerinnen und Schiiler im Ubergangsprozess zur Ausbildung: Aufbauhelfer fur kulturelles Kapital. In: Hiller, G. G./Jauch, P. (Hrsg.): Akzeptiert als fremd und anders - Padagogische Beitrage zu einer Kultur des Respekts. Ulm-Langenau. S. 130-135
221
Individuelle Forderung aller Kinder in innovativen Schuiformaten Anja Grosch
1
Vorwort - Im Land der Selektion „Deutschland ist das Land der Selektion. Wir sind die besten Miilltrenner, wir trennen die Kinder, wir setzen immer noch aufs Homogenisieren. Wir waren mal das Volk, das Minderheiten physisch eliminiert und unsere geistige Elite verstofien hat, weil sie etwas Falsches gedacht hat. Wir trennen. Wir haben eine Kultur, die zur Selektion neigt, weil wir glauben, dass es besser funktioniert, wenn alles schon geordnet ist und nichts durcheinander geht." (Gisela Erler, zitiert nach Kahl 2004, 70)
In diesem Sinne kategorisieren Deutschlands (staatliche) Schulen ihre SchiilerInnen und bieten ihnen in Facher gespaltenes und damit lebensfremdes Material, dass zu Klausur- und Prufungsterminen aus dem Kurzzeitgedachtnis wiedergegeben werden muss. So verbringen sie ihre gesamte Schulzeit auf der Suche nach diesen priifungsrelevanten Bruchstticken, denn die Fahigkeit die „richtigen" isoHerten Brocken herauszupicken, entscheidet neben ihrer sozialen Herkunft (vgl. BMBF) uber ihre gesellschaftliche Klassenzugehorigkeit und besiegelt damit ihre Zukunftschancen. Die Folgen fur die Verlierer dieses Selektionsprozesses beschreibt Hogefoster als gefuhlte Nutzlosigkeit und Trennung vom Leben (vgl. Hogefoster, zitiert nach Kahl 2004, 81). Tiirk weist auf die sich anschlieBende Ausgrenzung aus dem „gesellschafllichen Verkehr" hin (Tiirk 1995, 225). Neben den personlichen Folgen der direkt Betroffenen werden die fmanziellen Kosten dafur in Kauf genommen, dass sich fiinfiindzwanzig Prozent der Schulabganger nicht fur einen Arbeitsplatz qualifizieren konnen. Deshalb liegt es nicht nur im Interesse von Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaft neue (Bildungs-)Wege einzuschlagen, um individuelle Forderung aller Kinder zu realisieren. Die Zukunft unseres Landes hangt davon ab (vgl. BMBF), und „segmentierte Schulformen sind keine gute Losung fur einen modemen Staat mitten in der EU", wie es Mats Eckholm formulierte (vgl. Eckholm, zitiert nach Rieger 2005, 34). Die Verwirklichung individueller Forderung muss eine andere Qualitat besitzen. Der folgende Beitrag zeigt auf, welchen bislang vemachlassigten aber entscheidenden Anteil schulspezifische Organisationsentwicklung an der Realisierung individueller Forderung als Chance fiir alle Kinder hat.
2
Das fehlende Puzzleteil - adaquate Organisationsformate
Die Schulreformbewegungen der letzten Jahrhunderte konzentrierten sich auf inhaltliche und methodische Aspekte von Lehren und Lemen, und in den letzten Jahrzehnten zusatzlich auf die Rolle der Lehrenden. Diese wichtigen Aspekte sollen keinesfalls in Abrede gestellt werden, aber da Organisationsstrukturen dabei vemachlassigt wurden und neue Inhalte, Methoden und besser ausgebildete Lehrerlnnen in alten Strukturen Verwirklichung suchten, konnten nur Bruchteile dessen erreicht werden, was angestrebt wurde (vgl. Rolff 1998, 306; Tacke 2004, 20). Energien und Potentiale wurden in einem „organisationstheoretischen Anachronismus nur vergeudet", wie es Wirries bezeichnet (2002, 89). Hurrelmann sprach schon 1978 von der Notwendigkeit der Organisationsanalyse und der zeitgemaiJen Veranderung der Organisationsstrukturen in padagogischen Einrichtungen (Hurrelmann 1978, 160). Die im Vergleich zu anderen Landem seitdem nur schleppend voranschreitende deutsche Bildungsreform liegt auch darin begnindet, dass Hinweise dieser Art konsequent ignoriert wurden.^ In Anbetracht des neu geforderten Anspruchs auf individuelle Forderung ist die radikale Umgestaltung der Organisationsstrukturen unentbehrlich, da Bedingungen flir ein entsprechendes professionelles Handeln geschaffen werden mtissen (vgl. Girmes 2004a, 53). In den bestehenden Strukturen wird das Konzept der individuellen Forderung auf dem Riicken der Lehrerlnnen ausgetragen und bedeutet oft aufopferungsreiches Engagement in der Freizeit. Der Schlussel zu individueller Forderung liegt in der Bereitstellung von Organisationsformaten, die Padagoglnnen im Rahmen ihrer professionellen Tatigkeit erlauben, dies auch zu tun (vgl. Girmes 2004b, 103). Unterrichtsentwicklung muss von Organisationsentwicklung getragen werden. GroBere und flexiblere Zeiteinheiten sind beispielsweise erforderlich, die einen Spielraum flir die individuellen Bedtirfnisse der Kinder lassen. Ebenso verlangt die Realisierung facheriibergreifenden Unterrichts andere Zeiteinteilungen als es der flinfiindvierzig Minutentakt erlaubt. Das Vemetzen der Facher sowie das Lenken und Verorten der Schiilerlnnen in ihrem Entwicklungsprozess bedeutet auBerdem einen enormen Dokumentationsaufwand. Auch daflir miissen zeitliche Ressourcen und technische Unterstutzung zur Verfligung gestellt werden, um Komplexitat zu reduzieren sowie die NachvoUziehbarkeit der Entwicklung zu gewahrleisten. Teamsitzungen und Dokumentationen miissen im Format der Schule verankert sein. Auf diese Weise braucht die Verwirklichung individueller 1 Die Bildungsreform in den USA oder Schweden beispielsweise, die auch eine Umgestaltung der Organisationsstrukturen umfasste, fuhrte zu deutlich groBeren Erfolgen. (Vgl. Hall/Hord 2001, 2030)
224
Entwicklungsplane von den Lehrerlnnen nicht in ihrer Freizeit bewaltigt werden, d. h. die Verankerung von Unterrichtsentwicklung in der Organisationsentwicklung schafft die notwendigen Bedingungen fiir realisierbare Veranderungen. Deshalb muss das Gebiet der Organisationsentwicklung fiir einen schulischen Kontext erschlossen werden. Das individuelle Forderung ermoglichende neue Schulformat muss dabei Bedingung fur padagogisches Handeln und Werkzeug zu padagogischem Handeln darstellen, auf die Akteure mit ihren Rollen und Befmdlichkeiten zugeschnitten sein sowie die politischen, finanziellen und gesetzlichen Rahmenbedingungen beachten. Auf diese Weise kann eine „lemende Schule" im Sinne einer „lemenden Organisation" geschaffen werden. Senge defmiert eine lemende Organisation als „eine Organisation, die kontinuierlich die Fahigkeit ausweitet, ihre eigene Zukunft schopferisch zu gestalten. Eine solche Organisation gibt sich nicht damit zufrieden, einfach zu iiberleben." (Senge 2003, 24). Der reine Uberlebenskampf vieler deutscher staatlicher Schuien verdeutlicht den damit verbundenen Kraftakt, der keinerlei Reserven fur Innovationen wie individuelle Forderung bietet. Erfolgreiche Beispiele innovativer deutscher Privatschulen, die sich bereits lemenden Organisationen annaherten, zeigen, dass strukturelle Voraussetzungen daftir geschaffen werden miissen (vgl. Kahl 2004). Die skandinavischen Lander, die individuelle Forderung in Gesamtschulkonzepten realisieren und hervorragende Leistungen in den Landervergleichsstudien erzielen, weisen ebenso in eine mogliche Richtung (vgl. Dobert 2004). Es fehlt weder an Konzepten noch an erfolgreichen Beispielen, die diesen Weg markieren. Es bedarf nur des Mutes diesen Schritt auch in Deutschland zu wagen, aber offensichtlich scheint uns Deutschen das schwerer zu fallen als anderen Nationen bzw. wurden Veranderungen auch falsch in Angriff genommen, wie der nachste Abschnitt zeigt.
3
Die notwendige Implementation von Veranderungen
Statt die angestrebten Veranderungen mit den Padagoglnnen gemeinsam zu entwickeln und das System iiber nachhaltige Implementationsstrategien aufzubrechen, wurden bildungspolitische MaBnahmen unreflektiert von auBen aufgesetzt (vgl. Brohm 2004, 183-189). Ein eindringliches Beispiel fiir die kontraproduktive Wirkung einer derartigen Mafinahme zeigt Brohm auf Sie verdeutlicht, wie Bildungsstandards zur Sicherung der Durchlassigkeit des Bildungssystems durch fehlende Kommunikation von den unaufgeklarten Anwendem lediglich als Selektionsinstrumente interpretiert wurden (Brohm 2004, 186). Die deutsche Schulentwicklung zeichnet sich offensichtlich insgesamt durch „hastige Umsetzungsversuche" (Dubs 2005, 4) aus, denen es an koharenten Gesamtkonzepten 225
und Systemdenken mangelt. Isolierte und systemisch unreflektierte Teilinterventionen flihrten zu unbedachten Nebenwirkungen und vereitelten die Reformversuche. So dass z. B. angedachte Veranderungen des Curriculums in unveranderten Strukturen nicht umgesetzt werden (vgl. Girmes 2004b, 105) konnten. Als logische Konsequenz dessen findet man eine uniiberschaubare Situation sowie die mangelnde Innovationsbereitschaft der Betroffenen vor, deren Krafte durch zahlreiche gescheiterte Reformansatze aufgezehrt sind (vgl. Dubs 2005, 4). Weder werden klare Rahmenbedingungen geschaffen, die eine Orientierung erleichtem wtirden, noch werden Ressourcen zur Bewaltigung der Veranderung zur Verfiigung gestellt. Es fehlen Zeitfenster sowie finanzielle Unterstutzung flir den Umgang mit Angsten und zur Erarbeitung neuer Kompetenzen (vgl. ebd., 6). Die Padagoglnnen werden allein gelassen. Es wird weiterhin versaumt, die angestrebten Veranderungen im System zu verankem. Schon Lewin stellte fest, dass Systeme vor einer Veranderung zunachst aufgebrochen und anschlieBend wieder verfestigt werden miissen, damit die Veranderungen nachhaltig wirken konnen (vgl. Lewin 1951, 228), d. h. fur nachhaltig wirksame Veranderungen bedarf es eines „Change Managements", das „nachhaltige und effektive Wandlungsprozesse initiieren, implementieren und stabilisieren" (Brohm 2004, 174) kann. Hall und Hord benennen dazu Prinzipien des Wandels, die als Indikatoren fur eine erfolgreiche Implementation gelten (vgl. Hall/Hord 2001, 2-18): Veranderung ist ein Prozess und kein Event. Es gibt einen signifikanten Unterschied zwischen Entwicklung und Implementation von Innovationen. Eine Organisation verandert sich nur so viel, wie sich die Individuen darin verandem. Innovationen haben verschiedene AusmaBe. Interventionen sind der Schltissel zum Erfolg von Veranderungsprozessen. Eine horizontale Perspektive hat die groBte Aussicht auf Erfolg. Administrative Fiihrung ist eine wichtige Voraussetzung fiir nachhaltige Veranderungen. Mandate konnen funktionieren. Die Schule ist nur eine Einheit im System. Veranderungen zu ermoglichen ist eine Teamaufgabe. Entsprechende Interventionen verringem das AusmaB an Bedrohung. Der Kontext der Schule beeinflusst den Veranderungsprozess.
226
LFbertragen auf Veranderungen im Schulkontext heiBt das, Schulentwicklung wird dann erfolgreicher sein, wenn: Fur Veranderungen geniigend Geduld aufgebracht wird. Implementationsstrategien eingesetzt werden, d. h. die Verwirklichung der Veranderung nicht dem Zufall iiberlassen wird. Die Padagoglnnen aktiv in den Veranderungsprozess einbezogen werden. Die Ebene und Reichweite der Innovationen geklart wurde. Entsprechende Interventionen veranlasst werden. Die Veranderung top down und bottom up geschieht. Die Verwaltung die Veranderungen mit alien Kraften untersttitzt. Projektleiter fiir den Veranderungsprozess eingesetzt (teilweise vom Unterricht befreit) werden. Systemische Schulentwicklung vorgenommen wird. Teamarbeit vorherrscht. Die Befindlichkeiten der Padagoglnnen wahrgenommen und ihre Unsicherheiten aufgefangen werden. • Das Umfeld der Schule nicht auBer Acht gelassen wird. Anhand eines schwedischen Beispiels soil im Folgenden die Unterstiitzungsleistung von Veranderungen in diesem Sinne sowie der Zusammenhang zwischen Unterrichtsentwicklung und Organisationsentwicklung verdeutlicht werden. Ein Exkurs in das schwedische Bildungssystem soil dem deutschen Leser zuvor die Orientierung erleichtem.
Exkurs - Die schwedische Grundskola^ Im Gegensatz zum dreigliedrigen deutschen Schulsystem fmdet man in Schweden seit der Bildungsreform 1962 eine neunjahrige Grundskola fiir alle Kinder vor. Das iibersichtliche schwedische Schulsystem enthalt neben der Grundskola den Vorschulbereich, den Kindergarten (Forskola) und aufierschulische padagogische Betreuungsangebote (Skolbarnomsorg) sowie die freiwillige Option zur Vorschule im sechsten Lebensjahr, die von zwei Dritteln der Sechsjahrigen wahrgenommen wird. Nach der neunjahrigen Grundskola besteht die Option, das dreijahrige Gymnasium zu besuchen, wo auch berufsfeldorientierte und berufspraktische Zweige angeboten werden. 2 (Vgl. Dobert 2004, 459-476) Die folgenden Abschnitte basieren zusatzlich auf Informationen aus Interviews, die mit einem der Projektleiter der Umgestaltung der Futurum-Schule - Hans Ahlenius - im Oktober 2004, Juni 2005 und September 2005 geftihrt wurden.
227
Bildung liegt in Schweden direkt in der Verantwortung der Kommunen. Regierung und Parlament legen Rahmenrichtlinien fest, deren Umsetzung vom Ministerium fur Bildung und Wissenschaft {Utbildningsdepartement) beobachtet und kontrolliert wird. Die zustandige Verwaltungsbehorde des Ministeriums mit entsprechenden KontroU- und Entwicklungsaufgaben - Skolverket - ist Parlament und Regierung regelmaBig Rechenschaft schuldig. Dies erfolgt in Form von Evaluationen, QualitatskontroUen und Statistiken, wahrend die sich selbst verwaltenden Kommunen innerhalb der Rahmenrichtlinien die absolute Entscheidungshoheit innehaben. Die Kommunen erhalten staatliche Zuschiisse zur Selbstverwaltung, die neben den kommunalen Steuereinnahmen zur Sicherung der Gebaudeerhaltung, Lehrergehalter und Weiterbildung verwendet werden. Schulbildung ist in Schweden, einschlieBlich des Vorschulbereiches und privater Schulen, kostenfrei. Private Schulen, die sich von staatlichen Schulen in ihren padagogischen Konzepten unterscheiden (z. B. Montessori-Schulen), mussen von den Kommunen ebenso fmanziert werden wie staatliche Schulen. Seit 1994 existiert ein neuer schwedischer Lehrplan (Lpo 94), der die grundlegenden Lemziele und Richtlinien aufgrund eines Wertekanons beschreibt. Zusatzlich werden vom schwedischen Kultusministerium Kursplane fur die einzelnen Fachgebiete festgelegt, welche Ausrichtung und Lemziele fiir das ftinfte und das neunte Schuljahr enthalten. In beiden Schuljahren werden in ganz Schweden zentrale Vergleichsklausuren geschrieben, deren Ergebnisse in jeder schwedischen Zeitung veroffentlicht werden. Auf diese Weise ist sowohl die Vergleichbarkeit der Schulabschliisse als auch das regelmaBige Selbstverorten der einzelnen Schulen gewahrleistet. Auf Benotung vor dem achten Schuljahr der Grundskola wird grundsatzlich verzichtet, um die intrinsische Motivation der Kinder zu fordem. Die notwendige Unterrichtszeit der Facher wird in sechzig Minuten-Einheiten in einem Stundenplan abgesichert, wobei diese Absicherung keine organisatorische Funktion in Form von festgelegten Schulstunden erftillt. Die Stundenzahl der Wahlfacher kann um zwanzig Prozent erhoht oder gesenkt werden. Diese Eigenschaft verhilft den schwedischen Schulen dazu, ihre eigenen Profile auszubilden, nach denen die Schulwahl der Eltem erfolgt. Nachdem der Kontext des folgenden Beispiels kurz umrissen wurde, kann die Reise in die Welt der ungeahnten Moglichkeiten beginnen. Die Darstellung der Futurum-Schule erfolgt mit der freundlichen Genehmigung des Projektleiters der Umgestaltung der Schule, Hans Ahlenius, der als ausgebildeter Lehrer fur Naturwissenschaften auch als IT-Experte und Besucherbetreuer an der FuturumSchule tatig ist.
228
4
Die Futurum-Schule in Habo (Schweden) - die Realisierung individueller Entwicklungsplane^
Futurum heiBt die 12.000 m^ groBe, im Januar 1999 wiedereroffnete Grundskola, die seitdem ca. 1.000 Schtilemlnnen und 108 Lehrerlnnen zeitgemaBes Lemen und Lehren ermoglicht. Der Eroffnung ging ein zweijahriger Umgestaltungsprozess voraus, der bauliche Umgestaltung und innovative Arbeitsorganisation in ein neues padagogisches Konzept - Skola 2000 - einbettete. AUe Skola 2000 Schulen in Schweden verfiigen neben schulspezifischen Modifikationen iiber charakteristische Hauptmerkmerkmale, die auf der Homepage nachgelesen werden konnen."^ Die Futurum-Schule stellt eine mogliche Interpretation dieses Konzeptes dar. Sie ist ein aus sechs nach Farben benannten kleinen (Teil-)Schulen bzw. Teams bestehendes Gebilde. Die grundlegende Struktur, d. h. der Genotyp neuer Padagogik, Architektur und Arbeitsorganisation, vereint alle Teams, wahrend sich die individuelle Realisierung des Gesamtkonzeptes im Phanotyp sehr facettenreich gestaltet. Die tibergreifende padagogische Vision umfasst fachertibergreifenden Unterricht, thematisches Arbeiten, Eigenverantwortung der Schiilerlnnen sowie ein hohes MaB an Freiheit und Mitbestimmung. Eine veranderte Lehrerlnnenrolle bestimmt den AUtag in altersgemischten Arbeitseinheiten. Teamarbeit in einer modemen, variablen und offenen Umgebung fiihrt zu freier Wahl des Arbeitsplatzes und einer angenehmen Lematmosphare, die korperliches Wohlbefmden ebenso enthalt wie SpaB und Freude am Lemen. Das Besondere der Futurum-Schule besteht in den individuellen Entwicklungspldnen der Kinder. Die Schiilerlnnen besuchen wahrend ihrer gesamten Schulzeit eine von ihren Eltem gewahlte Einheit {Team). In jeder Einheit sind ca. 160 Schiilerlnnen und 16 Padagoglnnen zu Hause. Sie sind in jiingere (die ersten jRinf Schuljahre) und altere Schiilerlnnen unterteilt. Wahrend sie sich in den ersten 5 Jahren Schritt fur Schritt die Fahigkeit aneignen, ihren eigenen Entwicklungsplan mit den Eltem und Lehrerlnnen gemeinsam zu erarbeiten, tragen sie als altere Schiilerlnnen eine immer groBer werdende Mitverantwortung fiir ihre eigenen Lemprozesse und bestimmen verstarkt ihre Lern- und Arbeitsniveaus. Die Einteilung in die jiingere und altere Altersgmppe bedeutet verschiedene Handlungsspielraume und Grade an Verantwortungsiibemahme der Kinder, die individuell variieren. Unter den alteren Schiilerlnnen fmdet eine starkere Altersmischung statt und der Anteil an thematischer Arbeit, facheriibergreifendem
3 Weiter Informationen und Kontakt sind iiber folgende Webpage erhaltlich: www.futurum.habo.se 4 Es sind derzeit 13 Skola 2000 Schulen, 11 Gesamtschulen {Grundskola) und 2 Gymnasien. (vgl. Skola 2000)
229
Unterricht und Projektarbeit wird weiter gesteigert.^ Die Aufgabe der Padagoglimen besteht darin, die Schiilerlnnen zu fuhren, sie zur Selbsthilfe anzuleiten und sie zu ermutigen eigenverantwortlich zu lemen. SpaB und Freude am Lemen sowie das korperliche und psychische Wohlbefinden wahrend der gemeinsamen Arbeit werden als wichtige Voraussetzungen fur die Lemerfolge der Kinder erkannt. Sie konnen im Rahmen ihres bevorzugten Lernstils die Zimmertemperatur, Lichtintensitat und Umgebungslautstarke wahlen, sich fur oder gegen Musik und Essen wahrend des Unterrichts entscheiden, in Gruppen oder allein arbeiten und zusatzliche Hilfestellung beanspruchen. An dieser Stelle wird die Verkniipfung von Padagogik und unterstutzender Lemumgebung deutlich, da entsprechende Raume und Moglichkeiten zur Verfiigung stehen mtissen.
5
Drei Instrumente zur Realisierung der individuellen Entwicklungsplane
Alle Lehrerlnnen sind fiir ungefahr 12 bis 15 Schiilerlnnen als Kontaktperson fiir die Entfaltung der individuellen Stunden- und Entwicklungsplane personlich verantwortlich, d. h. sie begleiten und betreuen diese Schiilerlnnen wahrend ihrer gesamten Schulzeit. Drei Instrumente helfen, die individuellen Entwicklungsplane TAX verwirklichen. Das erste Instrument besteht in den nach Bedarf frequentierten Entwicklungsgesprachen zwischen Eltem, Kontaktlehrerlnnen und Kindem. In diesen Gesprachen werden der Entwicklungsstand des Kindes und der entsprechende Entwicklungsplan geklart, wobei auch soziale Kompetenzen eine groBe RoUe spielen. Die Eltem agieren als aktive Partner der Schule. Sie sind mitverantwortlich fiir die Entwicklungsplane ihrer Kinder und damit expliziter Teil des Bildungs- und Erziehungsprozesses. Sie fungieren als Spezialistlnnen in Bezug auf die Lemprozesse ihrer Kinder und werden an Lemprozessentwicklung, -unterstiitzung sowie -evaluation beteiligt: Alle drei Parteien bestimmen in den Entwicklungsgesprachen gemeinsam das Bearbeitungsniveau der Aufgaben des Kindes. Die wahlbaren Niveaus: „sehr gut", „gut" und „okay" entsprechen den Bewertungskategorien der schwedischen Abschlussnoten bzw. Vergleichsarbeiten, so dass sich die Kinder ihrer Leistungen durchaus bewusst sind, obwohl sie erst ab der achten Jahrgangsstufe explizit benotet werden. Auf diese Weise verfolgen die Kinder intrinsisch motiviert ihre eigenen Entwicklungsplane ohne vorprogrammierten Misserfolgserlebnissen ausgesetzt zu sein, die durch Aufgaben provoziert werden, die der Entwicklung des Kindes nicht 5 Das AusmaB an facherubergreifendem Unterricht, thematischer Arbeit und Projektarbeit ubertrifft auch im Bereich der jiingeren Schiilerlnnen bei weitem das Ausmai3 einer deutschen staatlichen Schule.
230
entsprechen. Sie konnen stattdessen gemaB ihrer eigenen Leistungsfahigkeit lemen und handeln. Die Lehrerlnnen bereiten entsprechend der gewahlten Niveaus die Aufgabenangebote auf. Kontaktperson und Eltem beeinflussen anhand ihrer Einschatzung der Fahigkeiten des Kindes die Entwicklungsgesprdche. Zur Untersttitzung von lemschwacheren Kindem stehen in jedem Team so genannte Specialpedagoglnnen zur Verfiigung, die in den individuellen Arbeitseinheiten den Kindem Zusatzangebote machen. Die Arbeit der Specialpedagoglnnen umfasst auch soziaipadagogische und psychologische Aspekte. Alle Schiilerlnnen fuhren ein Logbuch - das zweite Instrument zur Verwirklichung der individuellen Entwicklungspldne. Die Logbucher dokumentieren den Entwicklungsprozess der Schiilerlnnen und evaluieren Lemaufgaben und Lemniveau. Die Schiilerlnnen beschreiben darin wochentlich oder taglich ihre gewahlten Aufgaben und bewerten sich diesbeziiglich selbst.^ Die jeweilige Kontaktperson kommentiert und unterzeichnet das Logbuch, bevor es den Eltem zur Unterschrift vorgelegt wird. Auf diese Weise wird der Entwicklungsverlauf wochentlich dokumentiert und iiberpriift. Das dritte Werkzeug ist die Intranetplattform der Schule. Sie bietet alien Beteiligten zusatzliche Informationen. So gibt es Bereiche, die nur von Padagoglnnen eingesehen werden konnen und Bereiche, die auch Eltem und Schiilem zuganglich sind. Eltem konnen sich dort orientieren und den Entwicklungsstand des Kindes nachvollziehen sowie die Hausaufgaben ihrer Kinder einsehen. Schiilerlnnen konnen Arbeitseinschatzungen sowie den eigenen Entwicklungsstand online nachvollziehen und fmden noch anstehende Aufgaben dort vor. Padagoglnnen konnen auf Einschatzungen und Berichte anderer Padagoglnnen zugreifen, damnter sind auch specialpedagogische Gutachten. Das Intranet unterstiitzt den Informationsfluss und die Transparenz von Lemprozessen und der Arbeitsorganisation der gesamten Schule, d. h. auch Kiichenpersonal, Krankenschwestem, Hausmeister und Reinigungskrafte haben ihre eigenen Intranetbereiche. Man kann beispielsweise in den Terminkalender der Headmasterlnnen^ schauen und sich so z. B. fiir ein dringendes Gesprach orientieren bzw. sogar online einen Termin vereinbaren.
6 Die Logbucher variieren in den Teams und sind auf die Bediirfnisse der Kinder in den Teams zugeschnitten. 7 So heiBen die drei Direktorlnnen der Schule, die jeweils zwei Teams verwalten und als Geschaftsfuhrerlnnen fungieren und neben der Kontroll- und Uberwachungsfunktion rein administrativ tatig sind, also nicht unterrichten.
231
6
Der Futurum-Schulalltag
Ein Schultag in Futurum beginnt fur alle jiingeren Schiilerlnnen um 8.00 Uhr und endet um 16.00 Uhr, d. h. Futurum ist ein Ganztagsschulkonzept. Der Hort, inklusive Verpflegung, kann zusatzlich von 6.00 Uhr - 18.00 Uhr besucht werden. Aufgrund der wissenschaftlichen Diskurse iiber die Leistungsfahigkeit der Kinder am Morgen entwickelten die Projektleiter ein Konzept, das die so genannte Flex-Zeit fur die alteren Schiilerlnnen beinhaltet. Sie haben die Moglichkeit ihren Schultag um 45 Minuten nach hinten zu verschieben. Das verlangt, dass zu Beginn und zum Ende des Tages individuell gearbeitet wird, d. h. die Schiilerlnnen bearbeiten entsprechend ihrer Entwicklungspldne individuelle Aufgaben. Der Unterrichtstag beginnt (nach der eventuellen Flex-Zeit) mit dem zwanzigminiitigen Planning, das der Kontaktperson dazu dient die Tages- oder Wochenaufgaben ihrer Kontaktschiilerlnnen zu koordinieren. AnschlieBend fmden vielfaltige Unterrichtsformen statt. Es existiert einerseits „herkommlicher" Unterricht, d. h. altersgemischte Lemgruppen ziehen sich in einen Raum zuriick und bearbeiten facheriibergreifende Aufgaben. Inputs, Diskussionen, Gruppen- oder Frontalunterricht sind dabei zu beobachten. Andererseits fmdet thematisches Lernen in Projekten iiber langere Zeitraume sowie das praktische Arbeiten mit Holz oder Textil statt. Des Weiteren wurde stilles Lesen als fester Bestandteil des Unterrichts implementiert, wobei alle Schiilerlnnen einer Einheit gemeinsam ein individuell gewahltes Buch still lesen. Die Flex-Zeit lasst den Schultag ausklingen.^ Projektwochen des Kunst- und Kulturbereiches, die verstarkt auf Performance, d. h. Biihnenauftritte fokussieren und den Unterricht ftir einige Tage vollig ersetzen, gehoren ebenfalls zum padagogischen Repertoire der Schule. Fiir Auffiihrungen stehen insgesamt drei groBe Biihnen zur Verftigung, die sich jeweils zwei Teams teilen. Die dazugehorige Videotechnik sowie ein Backstagebereich - der schalldichte Musikraum hinter der Biihne - gehoren zur Grundausstattung der Schule. Die Ausstattung mit Computer-, Femseh- und Videotechnik unterstutzt die multimedialen Lemprozesse. In jedem Team befmdet sich, neben kleineren Unterrichtsraumen, ein groBer zentraler und gemeinschaftlich genutzter Raum mit einer Flache von 240 m^. Alle Kinder einer Einheit haben hier ihre Lemmaterialien sowie Logbiicher und ihren festen Arbeitsplatz, d. h. sie leben und lernen gemeinsam in diesem Raum, iiben gegenseitige Riicksichtsnahme und nehmen sich in ihrer Vielfalt wahr.
8 Schaubilder von Stundenplanen sind iiber Hans Ahlenius erhaltlich: www.futurum.habo.se
232
7
Das Geheimnis des Erfolges
Alle Padagoglnnen jeder Einheit sind in standiger Teamarbeit miteinander verbunden. Zu jedem Team gehoren Specialpedagoglnnen, Horterzieherlnnen und Lehrerlnnen fur den Bereich der jtingeren und alteren Schiilerlnnen. In jedem KoUegium werden Teamleiterlnnen ftir beide Altersgruppen gewahlt. Die Teamleiterlnnen, die jederzeit abgewahlt werden konnen, sind Entscheidungstrager fflr alle teamintemen Fragen und beraten sich regelmafiig auf TeamleiterInnentreffen untereinander sowie mit den Direktorlnnen. Alle wichtigen Entscheidungen werden dennoch auf der Gmndlage gemeinsamer Teamdiskussionen getroffen. Die Padagoglnnen der Teams tragen demokratisch Verantwortung fiir „ihre Kinder" und konnen deren spezifische Interessen berucksichtigen sowie ihre eigenen Kompetenzen dementsprechend flexibel handhaben. Der damit verbundene Kommunikationsbedarf spiegelt sich in der folgenden Arbeitsorganisation wider. Die Padagoglnnen arbeiten in einer 45-StundenWoche. Zehn Stunden dieser Arbeitszeit konnen zu Hause geleistet werden, fiir den Rest der Zeit besteht eine Anwesenheitspflicht in der Schule.^ Die in der Schule verrichtete Arbeitszeit unterteilt sich in siebzehn Stunden Unterrichtszeit und siebzehn Stunden Teamarbeit. Eine Stunde der Teamarbeitszeit wird fiir Beratungsgesprache mit den Eltem anberaumt. Teamarbeit bedeutet Kommunikation - Gesprache aller Art, Fachkonferenzen, facheriibergreifende Konferenzen, Teamleiterlnnenkonferenzen, Schulkonferenzen etc. - fiir die explizite Zeitfenster eingerichtet wurden. Das gemeinsame Lehrerzimmer je Schuleinheit, in dem sich die Arbeitsplatze aller Padagoglnnen befinden, unterstlitzt durch die raumliche Nahe den regelmaBigen Austausch, den der facheriibergreifende, altersgemischte und an individuellen Entwicklungspldnen orientierte Unterricht verlangt. Hier konnen die Lemaufgaben fachertibergreifend auf drei verschiedenen Niveaus entwickelt und in Bezug auf verschiedene Altersgruppen diskutiert werden. Die tagliche Realisierung des facheriibergreifenden Unterrichts unter Beriicksichtigung der individuellen Bediirfnisse der Kinder wird durch groBere und flexiblere Zeiteinheiten ermoglicht. Ftir das Vemetzen der Facher sowie das Lenken und Verorten der Schiilerlnnen in ihrem Entwicklungsprozess einschlieBlich der entsprechenden Dokumentation sind ebenfalls Zeitfenster vorhanden. Teamsitzungen und Dokumentation sind im Format der Schule verankert. Der Entwicklungsprozess der Kinder wird dadurch individuell beeinflussbar und bleibt dabei tiberschaubar sowie nachvollziehbar. Auf diese Weise braucht die Realisierung individueller Entwicklungspldne von den Lehrerlnnen nicht in ihrer Freizeit bewaltigt werden.
9 Das ist in alien schwedischen Schulen der Fall,
233
Die Einbettung der neuen Padagogik in eine innovative Arbeitsorganisation stellte sich als erfolgreiche Strategie heraus. Die professionelle Gestaltung des Veranderungsprozesses spielte dabei eine entscheidende RoUe. Der Umgestaltungsprozess der Futurum-Schule wurde als Prozess erkannt und entsprechend geduldig, aber nachhaltig in Angriff genommen, d. h. die Dauer von mindestens zwei bis fflnf Jahren wurde akzeptiert. Projektleiter und Headmasterlnnen entwickelten zunachst das Konzept und implementierten es anschliefiend. Den beiden Projektleitem der Umgestaltung stand dazu jeweils eine Halbtagsstelle iiber einen Zeitraum von zwei Jahren zur Verftigung. Alle Padagoglnnen der Schule wurden aktiv in die Umgestaltung ihrer Schule einbezogen, d. h. die wochentliche Beteiligung an einer Arbeitsgruppe diesbeztxglich war obligatorisch. Auf diese Weise wurden auch mogliche Gegner in den Veranderungsprozess mit einbezogen. Es gab elf Arbeitsgruppen mit unterschiedlichen Schwerpunkten, deren Ergebnisse in die Entscheidungsprozesse der Projektleiter unter Berticksichtigung des Gesamtkonzeptes einflossen. Eltem und Schtilerlnnen wurden in den Veranderungsprozess einbezogen. Sie bildeten eigene Arbeitsgruppen, nahmen an den Meetings teil und beeinflussten auf diese Weise Entscheidungen. Die Projektleiter stellten regelmaiJig Informationsmaterial zum Veranderungsprozess zusammen, um den Padagoglnnen den bevorstehenden Umbruch zu erleichtem. Zusatzlich wurden alien Padagoglnnen Weiterbildungen in Kooperation mit der Universitat in Uppsala ermoglicht. In diesen Veranstaltungen machten sie sich mit dem Skola 2000 Konzept vertraut und eigneten sich die damit verbundene neue Padagogik an, d. h. die Beteiligten konnten sich mental auf die Veranderung einstellen und sich das neue Konzept allmahlich erarbeiten. Das Bereitstellen von Ressourcen und die Betreuung durch die Projektleiter war dabei sehr hilfreich. Auf diese Weise konnten auch viele der anfanglichen Innovationsverweigerer von der Notwendigkeit der Veranderung tiberzeugt werden. Die Nachhaltigkeit der Veranderungen wurde durch die Kombination von „top down" und „bottom up" Prozessen verstarkt. Klare Zielvorgaben, die administrative Unterstiitzung der Umgestaltung sowie die Teamarbeit verringerte Angste und Bedrohungen bzw. boten Raum, sich damit konstruktiv auseinander zu setzen und das padagogische Konzept im neuen Schulformat erfolgreich zu etablieren.
234
8
Schlussgedanken
Fiir alle Schiller bedeutet Lehren und Lemen in der Futurum-Schule, in ihrer Individualitat respektiert und unterstiitzt zu werden. Individuelle Entwicklungspldne unter Berticksichtigung individueller Lernstile bei institutionalisierter Unterstiitzung der Eltem schaffen optimale Bedingungen fiir alle Kinder und zugleich passgenaue, praventive und sofort intervenierende Hilfe fur benachteiligte Kinder. Das Beispiel der Futurum-Schule veranschaulicht die Wechselwirkung zwischen geschaffenen Rahmenbedingungen, dem Spielraum der Akteure und dem Organisationsformat als Bedingung und Werkzeug padagogischen Handelns. Der Zusammenhang zwischen Unterrichtsentwicklung und Organisationsentwicklung tritt deutlich hervor, d. h. dass individuelle Forderung und facheriibergreifender Unterricht veranderte Arbeitsbedingungen und innovative Organisationsstrukturen erforderlich machen. Deshalb miissen neue Organisationsstrukturen entwickelt bzw. bestehende erfolgreiche Formate naher untersucht werden. Es gilt hierbei auch die Erfolgsfaktoren fur die Implementation von Veranderungen weiter zu erforschen und fiir einen deutschen Kontext fruchtbar zu machen. Dazu wird es notig sein, sich von gewohnten Denkweisen zu losen. Vester verdeutlicht die Art des notwendigen Qualitatssprungs an einem Beispiel der friihen Geschichte - dem Ubergang der Sammler und Jager zu den Ackerbauem und Viehztichtem (vgl. Vester 2004, 75). Die auBergewohnliche Leistung der damaligen Individuen bestand darin zu erkennen, dass man Nahrung langfristig absichem kann, indem man Tiere fxittert und ziichtet, statt sie sofort zu toten. Diese Erkenntnis ist insofem bemerkenswert, da es damals mit Sicherheit abwegig und lebensbedrohlich erschien, die knappen Nahrungsvorrate mit Tieren zu teilen. Dennoch ermoglichte genau dieses radikale und auf Nachhaltigkeit angelegte Umdenken das weitere tJberleben. Ein derartiges Umdenken, das sich in der Veranderung der Organisationsformate von Schulen mit einer entsprechenden Investitionsbereitschaft auBem miisste, konnte auch die deutsche Schullandschaft retten, den Benachteiligtendiskurs im Nachgang der PISA Studien beenden und die im erziehungswissenschaftlichen Diskurs bemangelte Implementationslticke schHeBen (vgl. Rolff 1998, 308). Auf diese Weise kann individuelle Forderung fester Bestandteil unserer Schullandschaft werden und das nach wie vor leere Schlagwort „Chancengleichheit" seine Bedeutung zuriickerlangen.
235
Literaturverzeichnis Baecker, D. (2003): Organisation und Management. Aufsatze. Frankfort am Main BMBF (Bundesministerium for Bildung und Forschung); www.bmbf.de/de /899.php Brohm, M. (2004): Management des Wandels. In: Bottcher, W./Terhart, E. (Hrsg.): Organisationstheorie in padagogischen Feldem. Analyse und Gestaltung. In: Gohlich, M. (Hrsg.): Organisation und Padagogik. Bd. 2. Wiesbaden. S. 173-190 Dobert, H. (2004): Schweden. In: Dobert, H./Homer, W./Kopp, B. v./Mitter, W. (Hrsg.): Die Schulsysteme Europas. In: Bennack, J./Kaiser, A./Winkel, R. (Hrsg.): Grundlagen der Schulpadagogik. Band 46. Baltmannsweiler. S. 459-476 Dubs, R. (2005): Schulinnovation, Schulentwicklung und Leadership. In: Padagogische Fuhrung, 16/2005,8.4-10 Girmes, R. (2004a): Professionalisierung von Bildung und Unterricht. (Sich) Aufgaben stellen. GroBburgwedel Girmes, R. (2004b): Organisation und Profession. In: Bottcher, W./Terhart, E. (Hrsg.): Organisationstheorie in padagogischen Feldem. Analyse und Gestaltung. In: Gohlich, M. (Hrsg.): Organisation und Padagogik. Bd. 2. Wiesbaden Hall, G. E./Hord, S. M. (2001): Implementing Change. Patterns, Principles, and Potholes. Needham Heights/Massachusetts Hurrelmann, K. (1978): Erziehungssystem und Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg Kahl, R. (2004): Treibhauser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen. Archiv der Zukunft. Beltz Lewin, K. (1951): Field Theory in Social Science. Selected theoretical papers by Kurt Lewin. New York Rolff, H.-G. (1998): Entwicklung von Einzelschulen: Viel Praxis, wenig Theorie und kaum Forschung - Ein Versuch, Schulentwicklung zu systematisieren. In: Rolff, H.-G./Bauer, O. /Klemm, K./Pfeiffer, H. (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung. Daten, Beispiele und Perspektiven. Bd.lO. Weinheim und Miinchen Rieger, U. (2005): Mit dem Mut der Verzweiflung? Positionen zur Reformsituation in Deutschland. In: Padagogische Fuhrung, 16/2005, S. 33-39 Senge, P.M. (2003): Die fonfte Disziplin. Kunst und Praxis der lemenden Organisation. Aus dem Amerikanischen vom Maren Klostermann. Freiburg im Breisgau Skola (2000); www.skola2000.se Tacke, V. (2004): Organisation im Kontext von Erziehung. In: Bottcher, W./Terhart, E. (Hrsg.): Organisationstheorie in padagogischen Feldem. Analyse und Gestaltung. In: Gohlich, M. (Hrsg.): Organisation und Padagogik. Bd. 2. Wiesbaden. S. 19-42 Tiirk, K. (1995): „Die Organisation der Welt": Herrschaft durch Organisation in der modemen Gesellschaft. Opladen Vester, F. (2004): Die Kunst vemetzt zu denken. Ideen und Werkzeuge fiir einen neuen Umgang mit Komplexitat. Der neue Bericht an den Club of Rome. Miinchen Wirries, I. (2002): Die gute Staatsschule. Problemanalyse und Modemisiemngskonzeption aus schulpadagogischer und organisationstheoretischer Sicht. Herbolzheim
236
„Unterricht ist eben nur ein kleiner Teil..." - Beratung fiir benachteiligte Madchen, Jungen und ihre Eltern in der Berufsorientierungsphase Anke Spies
Es ist der Schulleiter einer Hauptschule, der im Interview darauf verweist, man diirfe nicht vergessen, dass Unterricht „ eben nur ein kleiner Tell im Letzten (ist), wenn man so ein ganzes Leben sieht". Zuvor hat er dariiber gesprochen, dass es das „Kerngeschdft" seiner Schule sei, „die Schuler in den Berufzu kriegen und nichts anderes. NatUrlich dazu gehort auch, dass sie eine anstdndige Schulausbildung haben und einen anstdndigen Abschluss machen, aber das ist nur ein Teil und die anderen Parameter spielen daja auch noch eine ganz grofie Rolle " (S 1, 145-150) Interessanterweise bezieht er sich im gesamten Experteninterview, das im Rahmen einer Projektevaluation^ zur Verbesserung der Situation benachteiligter Jugendlicher am Ubergang von der Schule in den Beruf erhoben wurde, an keiner Stelle auf die so genannte „Ausbildungsreife" (vgl. kritisch dazu Rebmann /Tredop in diesem Band) seiner Schtilerlnnen. Offensichtlich kein Thema im Kollegium seiner Schule, das vielmehr die biografischen Risiken der Schtilerlnnen im Blick hat. Gemeinsam tragen sie zur Minimierung der Risiken bei, indem sie den Schtilerlnnen die sozialpadagogische Einzelberatung wahrend der Unterrichtszeit ermoglichen und ihren Unterricht nebst seinen Inhalten mit Angeboten der Sozialpadagogin verzahnen.
1 Abschlussevaluation ORIENT: Teilprojekt des in Tragerschaft der Initiative fur Beschaftigung in Westfalen GmbH an Haupt-, Forder- und Berufsschulen konzipierten und umgesetzten Modells „BRUCKE ZUM BERUF" (vgl. dazu auch Spies in diesem Band).
Kern der Projektkonzeption sind individuelle Hilfen und differenzierte Informationen durch (teil)standardisierte Beratung bei der Berufs- und Lebenswegplanungl Ein Angebot, das von den Schiilerlnnen mit unterschiedlichen ethnischen Hintergrunden wie auch von deren Eltem tiberraschend gut angenommen wird, wie die quantitative Auswertung^ einer schulformiibergreifenden Stichprobe"^ der Jahreskontakte zur Beratungsnachfrage belegt. Deren Auswertung verweist aber auch auf die Notwendigkeit, kiinftige Beratungsangebote unter Berucksichtigung der zu verschrankenden bipolaren Differenzlinien (vgl. Leiprecht/Lutz 2005) Geschlecht und ethnische Herkunft zu konzipieren. Eine These, die am Datenmaterial aus der Arbeit mit den berufsvorbereitenden Klassen eines Berufskollegs, sowie der beiden letzten Jahrgange einer Hauptschule und zwei Forderschulen belegt werden soil.
1
Beratungsnachfrage
Die Nachfrage der Adressaten zeigt einen eindeutigen tJberhang an defmitiv berufsorientierter Beratung - und widerspricht der sozialpadagogischen Einschatzung, dass psychosoziale Probleme fur die Jugendlichen im Vordergrund stehen, wie die Daten zu den Themen Schulprobleme und psychosoziale Probleme belegen
2 Die Sozialpadagoginnen haben das ITB- Beratungskonzept (vgl. Spies 2006) fur die Zielgruppe modifiziert: Sie verzichten auf Vertrage, die Misstrauen erzeugen (konnen) und systematisch nicht notig sind, ftihren keine Exitgesprache durch sondem arbeiten mit individuellen Pausen im Beratungsprozess bzw. langfristige Beratungen in bedarfsorientierten Intervallen. Sie verstehen das Beratungskonzept als padagogisches Instrument zur Anregung von Verselbstandigungsprozessen, zur Zielklarung, zur Ressourcenermittlung und zur Erfassung von Lembedarfen. Zur Multiplikation ihres Angebotes nutzen sie zugehende Arbeitsansatze, verzahnen ihre Gruppenangebote mit dem curricularen Unterricht und unterstutzen die Schiilerlnnen durch Ausbildungs- und Praktikumsplatzakquise beim Einstieg in Berufstatigkeit. 3 Fiir den Zeitraum vom 1.4.2005 bis 31.3.2006 wurden fur die Abschlussevaluation samtliche Kontakte in standardisierten Tabellen erfasst und durch eine qualitative Erhebung mit leitfadengestUtzten Interviews (Sozialpadagoginnen und Netzwerkpartner) erganzt. 4 Insgesamt haben die vier Sozialpadagoginnen in ihrer quantitativen Arbeitsdokumentation vom 1.4.2005 bis zum 30.3.2006 eine Schulerpopulation von 771 Schiilerlnnen (2/3 Jungen, 1/3 Madchen) zu betreuen und mit den Erfassungsblattem 1742 Beratungskontakte erfasst. Davon wurden 1242 Kontakte von Jungen nachgefragt und 500 von Madchen. Die ethnische Verteilung der beratenen Schiilerlnnen zeigt hinsichtlich geschlechtsbezogener Differenzierung keine nennenswerten Abweichungen wohl aber hinsichtlich der Verteilung insgesamt, denn im Verhaltnis zur Gesamtschiilerschaft werden migrationsgepragte Jungen und Madchen mit deutlich geringerem Anteil von den Beratungsangeboten erreicht: Ihr Anteil von 31,8% an der Gesamtzielgruppe steht einer Beratungsnachfrage von 20,0% gegeniiber.
238
30%
20% A DJungen IDMadchen
Berufsorientierung
Praktikum
Bewerbung
nachste Schritte psychosoziale Beratung
Schulprobleme
Abbildung 1 Beratungsschwerpunkte % Vergleich nach Geschlechtern Es fallt auf, dass an diesen vier Schulen mit deutlicher Madchenunterreprasentanz die Schiilerinnen haufiger die psychosoziale Beratung nachfragen bzw. erhalten, als die Schiiler. Ein Befiind, der eine Reihe von Deutungen zulasst: Zunachst sind in den Bildungsgangen der durch ORIENT unterstutzen Schulen eben jene Madchen anzutreffen, die in der vertiefenden Analyse der PISA 2000 Daten aufgrund psychosozialer, leistungsbezogener und/oder ethnischer Problemkumulationen als „doppelt benachteiligt" bezeichnet werden (vgl. Krohne /Maier 2004). AuBerdem haben Madchen - besonderes gegeniiber der gleichgeschlechtlichen Sozialpadagogin - eine nachweislich hohere (psychosoziale) Beratungsbereitschaft, wahrend Jungen in der Regel ein eher reserviertes Beratungsverhalten zeigen (vgl. Spies 2005, 106). Die groBe Beratungsbereitschaft der Jungen ist damit u. a. auf die thematische „Eingrenzung" der Berufsorientierung zuriickzufiihren: Sie setzen vermutlich die Schwerpunkte bei Beratungsthemen, die ihrem Rollenbild des mannlichen Familienemahrers entsprechen: ,Jch will ein Haus, ich will ein Auto, ich will ne Familie, ich will zwei Kinder, ich will so ein ganz normales Lebenfuhren'' (I 1, 62-63).
239
Ein Effekt berufsorientierender Beratungsarbeit kann also in der schwellensenkenden Zugangsfunktion zu sozialpadagogischer Beratung fur Jungen liegen und bei langfristiger Installation deren Differenz zwischen Selbst- und Fremdwahmehmung verringem helfen. Fiir die Madchen kann die Position der psychosozialen Beratung auf dem dritten Rang auch andere Ursachen haben: a) Moglicherweise haben sie mehr psychosoziale Probleme am tJbergang von der Schule in den Beruf, weil ihre Rollenorientierungen viel weniger klar sind, ihre Berufsmoglichkeiten deutlich begrenzter sind, Vorbilder, Erfahrungen und Altemativen zu den traditionellen zehn beliebtesten Ausbildungsberufen flir Madchen fehlen und sie moglicherweise mit den psychosozialen Problemen indirekt auch den langfristigen Konflikt zwischen Familienarbeit und Erwerbsarbeit thematisieren. b) Vielleicht zeigen aber auch die Sozialpadagoginnen in gleichgeschlechtlichen Beratungssituationen ein eher psychosozial orientiertes Zuordnungsund/oder Beratungshandeln indem sie im Sinne eines (unbewussten) , doinggender' Geschlechtsrollenerwartungen spiegeln; eine Vermutung, die angesichts der auch in den Interviews nicht sichtbaren Geschlechterreflexionen Oder -differenzierungen gar nicht so unwahrscheinlich ist und sich auf die Zuschreibungs- und Besonderungsprozesse bezieht. Ein Hinweis, dass die tatsachlich geschlechtsreflektierte Beratung in die weitere Modulentwicklung einflieBen miisste, damit das Ziel der Geschlechtergerechtigkeit erreicht werden kann. Diese Moglichkeit wird durch die Ergebnisse einer Studie von Ostendorf (2006) gestutzt: Helga Ostendorf kommt in ihrer kritischen Analyse der Madchenberatung durch die Berufsberatung der Bundesagentur fur Arbeit zu dem Ergebnis, dass die soziale Selektion anhand der Kategorie Geschlecht durch das Beratungshandeln der dort tatigen Beraterlnnen die Madchen beim Einstieg in die Erwerbstatigkeit benachteiligt und sie aus der Breite der moglichen Berufsfelder nachhaltig ausgegrenzt werden. c) Eine weitere Differenzierung des Beratungsbedarfs von Madchen zeigt Unterschiede hinsichtlich der ethnischen Herkunft, denn deutsche (18,45%) und migrationsgepragte^ (12,04%) Madchen werden vermehrt zu psychosozialen Problemen beraten, wahrend spatausgesiedelte Madchen nur in geringem MaBe psychosozialen Beratungsbedarf thematisieren. Sie haben den groBten Bedarf an Unterstiitzung zur Bewerbung. Deutsche und migrationsgepragte Madchen unterscheiden sich in ihrem Beratungsbedarf, denn deutsche Madchen fragen fast gleichmaBig nach Praktikum (27,76%) und 5 Die in der Erhebung nach „Migrationshintergrund" und „Duldungsstatus" differenziert erfassten Jungen und Madchen sind hier und im Folgenden unter der Bezeichnung „niigrationsgepragt" zusammengefasst.
240
Berufsorientierung (25,67%), wahrend migrationsgepragte Madchen eine deutlich geringere Nachfrage nach Praktikumsberatung (15,74%) zeigen und ihren Beratungsschwerpunkt fast doppelt so haufig in der Berufsorientierung (57,4%)) haben, aber nur selten „nachste Schritte" thematisieren (0,93%)) die wiederum flir deutsche (12,24%) und spatausgesiedelte (14,04%)) Madchen wesentlich mehr Beratungsbedarf beinhalten. Die ethnisch unterschiedenen Rangfolgen der Beratungsnachfrage geben Hinweise darauf, dass ein passgenaues Madchenberatungsmodul in seiner Konzeption ethnisch verschiedene Bedarfslagen benicksichtigen muss - diese aber zunachst einmal erhoben werden miissten. Ein Vergleich der Nachfrage nach Unterstiitzung in LFberlegungen zu „nachsten Schritten" belegt, dass die Entwicklung von passgenauer herkunftsreflektierter Beratung zu diesem Punkt gegeniiber der geschlechtsbezogenen Beratung Vorrang haben muss, denn hier unterscheiden sich deutsche Madchen und Jungen um nur 1,25 Prozentpunkte. 70% n Deutsche Schulerinnen H Spatausgesiedelte Schulerinnen D Migrationsgepragte Schulerinnen 50%
30%
I^H Berufsorientierung
psychosoziaie Beratung
~ : ! ! ! _ i — I 2,8%
B'MmH-i,
nachste Schritte
Schulprobleme
Praktikum
Bewerbung
Abbildung 2 Beratungsbedarf der Madchen nach ethnischer Herkunft
241
• Deutsche Schuler HSpatausgesiedelte Schuler DMigrationsgepragte Schuler
Berufsorientierung
psychosoziale Beratung
nachste Schritte
Schulprobleme
Praktikum
Bewerbung
Abbildung 3 Beratungsbedarf der Jungen nach ethnischer Herkunft Auf der ethnienreflektierenden Ebene wird Geschlecht flir diesen Beratungsbereich wieder relevant: Migrationsgepragte Jungen (16,25%) und Madchen (0,93%) weisen beziiglich der „nachsten Schritte" einen um bis zu 15 % verschiedenen Beratungsbedarf auf. Die migrationsgepragten Jungen liegen mit ihrem Wert etwa gleich mit dem von deutschen und spatausgesiedelten Jugendlichen. Betrachtet man die Gruppe der Jugendlichen mit Duldungsstatus wird dieser Bedarf um eine politische Ebene erweitert, denn Jungen mit Duldungsstatus fragen zu 26,39% etwa doppelt so haufig wie die Jugendlichen der anderen Gruppen nach Hilfe bezuglich ihrer „nachsten Schritte" - ein keineswegs rein vom ungeklarten Aufenthaltsstaus abhangiges Thema, denn in der Beratung von Madchen mit Duldungsstatus wird dieser Bereich der Planung nicht thematisiert. Auf den ersten Blick zeigen sich die beratenen Jungen als eindeutig homogenere Gruppe mit nahezu herkunftsunabhangigem Unterstutzungsbedarf - eine Vermutung, die aber auch wieder der kritischen Reflexion bedarf, denn es ist durchaus moglich, dass das Beratungshandeln der Sozialpadagoginnen von geschlechtsbezogenen Erwartungen und Haltungen gegeniiber den Jungen gepragt ist - z. B. deren Berufsthemennachfrage dem erwarteten Rollenhandeln eher entspricht. Ebenso denkbar ist aber auch, dass die bis auf wenige Ausnahmen identische Beratungsnachfrage der Jungen ihre Ursachen im sozialen Milieu der besonders Benachteiligten hat - wobei ein Vergleich zwischen deutschen, spatausgesiedelten und migrationsgepragten Jungen mindestens auf eine zu differenzierende Verschrankung mit ethnischen Zugehorigkeiten hindeutet: Etwa ein Viertel der Beratungskontakte von deutschen Jugendlichen sowie 242
mannlichen Spataussiedlem und migrationsgepragten Jungen beziehen sich auf Praktika. Es fallt auf, dass migrationsgepragte Jungen mit insgesamt 37,92% Anteil der Beratungskontakte einen um etwa 12% hoheren Bedarf an Beratung zur Berufsorientierung, aber mit insgesamt 7,5 % einen gegeniiber spatausgesiedelten (23,44%) und deutschen Jungen (22,07) um etwa 15% geringeren Bedarf an Untersttitzung bei Bewerbungen thematisieren. Differenziert man hier das Verhaltnis zusatzlich nach Duldungsstatus, so zeigt sich zwischen den Jungen mit Migrationshintergrund und jenen mit bekanntem Duldungsstatus eine Differenz von 10% zum Thema Bewerbung. Bezieht man die Differenz in der Relevanz von „nachsten Schritten" zwischen Jungen mit Duldungsstatus (26,39%) und Jungen mit Migrationshintergrund (11,9%) in die Interpretation ein, bieten sich folgende Deutungen an: a) Jungen mit Migrationshintergrund sind derart haufig mit der Berufsorientierung (42,86%) beschaftigt, dass anschlieBende Themen wie die Planung von nachsten Schritten und deren Umsetzung u. a. in Form von Bewerbungen noch nicht, bzw. erst spater zur Bewaltigung anstehen. b) Ftir Jungen mit Duldungsstatus dagegen sind aufgrund ihrer ungeklarten Aufenthaltsposition die Klarung der „nachsten Schritte" (26,39%) ebenso relevant wie die Berufsorientierung (26,39%) selbst. Bewerbungen gehoren damit zur Umsetzung der „nachsten Schritte" und sind auBerdem mit der ungewissen Zukunftsperspektive des Aufenthaltes bzw. der drohenden Abschiebung verkniipft. c) Zu klaren ware, warum migrationsgepragte Jungen gegeniiber den anderen Jungen insgesamt Bewerbung und Planung derart selten thematisieren: Moglicherweise haben sie Schwierigkeiten, empfundene oder reelle Benachteiligungen aufgrund ihrer Herkunft bei Bewerbungen und/oder Sprachbzw. Schreibprobleme zu thematisieren. Unwahrscheinlich ist, dass sie diese Kompetenzen bereits in anderen Zusammenhangen erworben haben, denn das hatte den Sozialpadagoginnen auffallen miissen und in der Interviewfrage nach den Ressourcen der Jugendlichen erwahnt werden miissen oder es konnte im Sinne von „Peerteaching" (vgl. Goy 2005) in die methodische Arbeit eingebracht werden. Mit anderen Worten: Ware dem tatsachlich so, ware das eine derartige „Sensation", die keineswegs verdeckt bleiben wiirde. d) Wahrscheinlicher ist allerdings die Deutung, dass migrationsgepragte Jungen deutlich spater mit der berufsorientierenden Auseinandersetzungen beginnen und/oder eine deutlich verunsicherte oder resigniertere Haltung in Bezug auf die Moglichkeiten ihrer aktiven Zukunftsgestaltung haben. e) Sofem aber die spatausgesiedelten und deutschen Jungen ihre Anregungen zur berufsorientierenden Auseinandersetzung aus Unterrichtsinhalten bezie243
hen, liegt hier die Vermutung nahe, dass diese Inhalte die Jungen mit Migrationshintergrund und/oder Duldungsstatus nicht erreichen. Das mag u. a. auch soziokulturelle Ursachen haben, denn moglicherweise ist eine gegeniiber den anderen Ethnien unterschiedliche Vorbildung oder Sensibilisierung zu diesen Themen im Rahmen der Herkunftsfamilien oder der PeerGroups ursachlich - Vermutungen, die in diesem Evaluationsrahmen nicht zu klaren waren. Es bietet sich an, die Daten der Madchen dieser beiden Gruppen flankierend in die Deutung einzubeziehen - wenngleich auch hier die Fragen letztlich offen bleiben mussen: Da die migrationsgepragten Madchen in der Bewerbungsberatung im Verhaltnis ihres gesamten Beratungsbedarfs im Vergleich mit den deutschen Madchen mit 11% einen ethnienunabhangigen, identischen Wert zeigen, spiegelt sich hier moglicherweise eine geschlechtsbezogen hohere Planungskompetenz dieser Madchen. Und - sofem sie sich fur schulische Ausbildungen bewerben - auch die hohere Bildungsaspiration von migrantisch gepragten Madchen. Sie scheinen kaum Bedarf an Unterstiitzung zu haben („nachste Schritte" = 1,14 %, bzw. 0%) - sind also a. entweder von entsprechenden Unterrichtsinhalten erreicht worden b. oder sie haben aus soziokultureller Perspektive einen anderen Zugang zum Thema als Jungen c. vielleicht sind sie aber auch weniger resigniert d. oder haben moglicherweise aus ihrem Rollenverstandnis heraus die Option der Familienarbeit als Alternative, falls ihre Bewerbungen nicht erfolgreich verlaufen. Festzuhalten ist zunachst, dass es entweder unterschiedliche Bedarfe innerhalb der Jungengruppe gibt, auf die auch konzeptionell reagiert werden miisste, um auch Jungen mit weniger Initiative oder Ressourcen im Bereich Planung und Bewerbung erfolgreich auf dem Weg in die Erwerbstatigkeit zu unterstiitzen. Wichtigster Befund in diesem Zusammenhang ist der Nachweis der ethnisch und ethnisch-geschlechtsbezogen verschrankten Unterschiede in der Beratungsnachfrage. Das Beratungskonzept bedient in Abgrenzung zur „klassischen Schulsozialarbeit" in den Schwerpunkten tatsachlich die auf den Berufseinstieg bezogenen Themen und ist eher als „wegeplanende" spezifische Form von Schulsozialarbeit (vgl. Spies in diesem Band) zu verstehen. Fraglich ist, ob ein die zu verschrankenden bipolaren Differenzlinien beriicksichtigendes Beratungskonzept noch mit den Beratungsangeboten der Arbeitsagentur ,kompatiber sein kann - eine Erwartung, die diese Netzwerkpartnerin an das Beratungsmodell hat: „Der Berufsberater kann ja darauf aufbauen, was im Rahmen der Betreuung in der Schulsozialarbeit festgestellt worden ist, so dass er 244
nicht wieder von vorne anfangen muss, im Grunde genommen ist das Teamarbeit, die da geleistet wird. Und das hdngtja sehr stark von den Personen ab, sowohl von denjenigen, die Schulsozialarbeit machen, als auch von denen, die Berufsberatung machen'' (Ex 4, 144-149). Ein Hinweis, dass die Anerkennung der Beratung aus „einer Hand" (der Sozialpadagogin) durch die Arbeitsagentur moglicherweise das ungiinstige, personenabhangige Spannungsverhaltnis mindem und den Jugendlichen eine eindeutigere Lebens- und Berufswegplanung ermoglichen konnte. Erinnert sei hier an die Jugendlichen der Zwischenevaluation (vgl. Spies in diesem Band), die wenig Ertrag aus den dortigen Beratungen ziehen konnten sondem vielmehr kontraproduktiv verunsichert wurden.
2
Elternarbeit
AuBergewohnlich hoch ist die Beratungsnachfrage bzw. Zuganglichkeit seitens der Eltem der Jugendlichen. Eltem die sonst kaum von Schule zu erreichen sind konnen mit dem Beratungsangebot als Motivationsressource bzw. als Motivationsmotor in den Orientierungsprozess der Berufsfindung eingebunden werden, denn 40,7% der Eltem nehmen das Eltemberatungsangebot im telefonischen oder personlichen Gesprach wahr - ohne dass die Sozialpadagoginnen auf zeitintensive und tendenziell entmtindigende Hausbesuche angewiesen sind: Die Sozialpadagoginnen sind fur die Eltem Vertrauenspersonen, deren Einladungen zum Gesprach sie geme und aktiv (!) wahmehmen: „ Wenn ich denen meine Karte gebe, hab ich das nicht selten, dass sie mich anrufen, „ ich weifi einfach nicht mehr, was ich machen soil, mir steht es bis hier'' und dann biete ich denen auch an zu mir zu kommen und mit mir zu sprechen. Ich kann dann natiirlich nur begrenzt da handeln, ich versuche dann immer einen Kontakt zur Erziehungsberatungsstelle aufzubauen oder zum KSD, biete ihnen auch an, sie dahin zu begleiten, wenn ich merke, da sind Hemmschwellen zu iiberwinden " (I 4,235-241). Von den insgesamt 331 in den Erfassungsbogen dokumentierten Eltemkontakten der intensiven Eltemberatung im Erhebungsjahr bezogen sich 231 auf mannliche Schuler (70,1%) und 99 auf weibliche Schiilerinnen (29,9 %). Die Aufschliisselungen der nachgefragten Themen belegen: Als Bemfsberaterin der Schule, aber auch in psychosozialen Fragen und bei Schulproblemen, ist die Sozialpadagogin eine wichtige Anlaufstelle fiir alle deutschen Eltem (72%o) sowie fiir Eltem von migrationsgepragten Jugendlichen (19,28%)). Damit ist der Beratungsanteil deutscher Eltem groBer als der Anteil deutschen Schiilerinnen (64,7%)) wahrend der Anteil migrationsgepragter Eltem dem Anteil migrations245
gepragter Schiilerlnnen (20%) entspricht. Auffallig ist, dass der Anteil spatausgesiedelter Eltem mit 8,4 % nur etwa die Halfte des entsprechenden Schiilerlnnenanteils (15,3%) ausmacht - diese Eltem werden also weniger gut erreicht. Die Eltem von deutschen Jugendlichen wie auch die der migrationsgepragten Schiilerlnnen nehmen die Beratungsangebote verhaltnismaBig starker als ihre Sohne und Tochter selbst wahr - werden also insgesamt sehr gut erreicht bzw. beteiligen sich intensiv an der Zukunftsplanung und -gestaltung ihrer Kinder. Mit dieser Hilfe konnen sie ihre Verantwortung ftir den weiteren Lebensweg ihrer Kinder wahmehmen. In der Rangfolge der Themen unterscheiden sich die Beratungsbedarfe der Eltem von jenen der Schiilerlnnen in einigen Themenschwerpunkten erheblich, in anderen decken sie sich aber auch.
40% 35% 30,9% 30% 25% 20% ^^•^°^°
15%
12,7%
16,0%
17,2%
DEItern DSchijIerlnnen
12,8%
10% 5% 0% Berufsorientierung
Praktikum
Bewerbung
nachste Schritte psychosoziale Beratung
Schulprobleme
Abbildung4 Vergleich in % BeratungsbedarfEltern und Schiilerlnnen Die Gegeniiberstellung zeigt einen auffallig hoheren Beratungsbedarf der Eltem hinsichtlich der schulischen und psychosozialen Probleme ihrer Kinder. Geht man davon aus, dass eben jene Eltem bislang im schulischen Kontext wenig bis kaum Ansprechpartner fur diese Themen hatten, liegt die Vermutung nahe, dass die
246
a)
Sozialpadagoginnen als ,neutrale' also nicht in das schulische Leistungsund Zuweisungssystem involvierte Instanzen eher das Vertrauen dieser Eltem erwerben konnen und b) als „Berufsberaterinnen" bzw. „Wegeplanerinnen" diese Themen mit Blick auf die weitere Gestaltung der Bildungsbiografie bearbeiten und als fachkompetent wahrgenommen werden. Eltem haben also hier die Moglichkeit, statt einer defizitorientierten, entmutigenden Perspektive des „Nicht-Konnens" bzw. „(Schul-)Versagens" (vgl. Braun in diesem Band) eine positive, motivationssttitzende Beratung im Sinne ressourcenorientierter Moglichkeiten, Wiinsche und Ziele ihrer Kinder zu erhalten. Ob diese These tatsachlich die Beratungsbereitschaft der Eltem erklart, kann letztlich nur in einer Eltem- und Schiilerbefragung geklart werden. Auch die geringe Nachfrage nach den Themenfeldem Praktikum und Bewerbung kann nur hypothetisch erklart werden. Eine der Deutungsmoglichkeiten ist hier das Vertrauen der Eltem, dass diese Themen im schulischen bzw. Projektkontext hinreichend bearbeitet werden und nicht (mehr) in ihren Verantwortungsbereich fallen miissen - also eine Entlastungsfiinktion der Projektarbeit beinhalten konnen. Vielleicht sind die Eltem aber auch durch eigene negative Bewerbungserfahmngen fiir dieses Themenfeld wenig aufgeschlossen und gegentiber den Praktika eher skeptisch, so dass sie die „Gelegenheit nutzen", schulisch und psychosoziale Probleme, flir die sie sonst keine geeigneten Ansprechpartner haben, zu besprechen. Die geschlechtsdifferenzierte Rangfolge zeigt, dass der Beratungsbedarf zu Schulproblemen und psychosozialen Fragen fiir Eltem offensichtlich nicht vom Geschlecht ihrer Kinder abhangig ist, denn hier ist die Nachfrage nahezu ausgeglichen, wenngleich der psychosoziale Beratungsbedarf der Madchen deutlich iiber dem der Jungen liegt (s. o.). Auch die geringe Relevanz von Praktikum und Bewerbung zeigt keine geschlechtsbezogenen Unterschiede. Unterscheidet man allerdings die geschlechterdifferenzierte Rangfolge der Beratung nach ethnischen Gmppiemngen^ zeigen sich verschiedene klamngsbediirftige Abweichungen: • Die (wenigen erreichten) Eltem spatausgesiedelter Jungen thematisieren deutlich seltener psychosoziale Fragen als die Eltem von deutschen oder migrationsgepragten Jungen. Insgesamt entspricht der Beratungsbedarf spatausgesiedelter Eltem mit kleinen Abweichungen (nachste Schritte, Schulprobleme) annahemd dem ihrer Sohne. • Eltem deutscher Jungen haben die groBte Nachfrage nach psychosozialer Beratung, aber insgesamt einen relativ ausgewogenen Beratungsbedarf (19,28-15,06%) mit Ausnahme der nur in drei Fallen thematisieren Bewer6 Die zur grafischen Verdeutlichung der Verhaltnisse in absoluten Zahlen abgebildet sind.
247
bungsfragen. Sie unterscheiden sich von ihren Sohnen besonders in der Platzierung von Fragen zu Praktikum, Bewerbung und psychosozialen Fragen. Eltem von Jungen mit Migrationshintergrund thematisieren wie ihre Sohne kaum Bewerbungsfragen, haben aber deutlich den hochsten Bedarf an Unterstutzung bei Schulproblemen und in psychosozialen Fragen. Wahrend ihre Sohne viel Unterstutzung zum Thema Praktikum benotigen, haben die Eltem hier kaum Beratungsbedarf.
n Eltem von deutschen Jungen DEItern von spatausgesiedelten Jungen DEItern von migrationsgepragten Jungen
50
30
Berufs-orientierung
psychosoziale Beratung
nachste Schritte
Schulprobleme
Praktikum
Bewerbung
Abbildung 5 Beratungsschwerpunkte und ethnische Verteilung Eltern von Jungen N=232 •
•
•
248
Die Eltem deutscher Madchen haben die groBten Abweichungen im Vergleich zu ihren Tochtem. Diese Eltem fragen in erster Linie Beratung zu Bemfsorientiemng, nachsten Schritten und Schulproblemen nach. Die Eltem von Madchen mit Migrationshintergmnd stimmen - soweit sie das Beratungsangebot wahmehmen - in der Nachfrage nach bemfsorientierender Beratung mit ihren Tochtem iiberein. Die Eltem von spatausgesiedelten Madchen und Madchen mit Duldungsstatus werden kaum vom Angebot erreicht bzw. nehmen es nicht wahr, wahrend diese beiden Gmppen sich bezogen auf ihre Sohne relativ haufig
beraten lassen. Moglicherweise haben die Madchen eine groBere Planungskompetenz oder sind in ihren Zukunftsentwurfen an familienorientierte Rollenbilder gebunden. Mit der Planung der „nachsten Schritte" sind fur Eltem von deutschen Madchen deutlich mehr Fragen verbunden als fur die Eltem von Jungen sowie fiir die Madchen selbst.
I Eltem von deutschen Madchen ] Eltern von spatausgesiedelten Madchen D Eltern von migrationsgepragten Madchen
8
IIL^ Berufsorientierung
psychosoziale Beratung
nachste Schritte
Schulprobleme
Praktikum
Bewerbung
Abbildung 6 Beratungsschwerpunkte und ethnische Verteilung Eltern von Madchen N=99 Insgesamt haben alle Eltem unabhangig von der Geschlechtszugehorigkeit ihrer Kinder einen hohen Bedarf an bemfsorientierender Beratung (vgl. Abb.4). Das lasst vermuten, dass diese Eltem ihre Kinder geme bei der Wahl eines geeigneten Bemfsfeldes unterstiitzen mochten. Der deutliche Abstand zu den nachfolgenden Beratungsthemen lasst aber auch die Grenzen der Ressource Eltern erahnen: Ihr groBes Interesse an Bemfsorientiemng steht der deutlich nachgeordneten (ca. Vi des Interesses) Nachfrage nach konkretisierenden Schritten zum Bemfseinstieg gegeniiber bzw. wird von den dringlicheren individuellen Problemen (bezogen auf Schule) iiberlagert. Ethnisch differenziert zeigen sie auBerdem zu den Themen „nachste Schritte" „Bewerbung" und „Praktikum" sowie zu individuellen Problemen (Schule, 249
psychosozial) deutliche Unterschiede, die bislang (mit Ausnahme weniger Modellprojekte) in der konzeptionellen Gestaltung von Eltemarbeit kaum Niederschlag finden. Ein Hinweis zur konzeptionellen Weiterentwicklung und Professionalisierung der (teil)standardisierten Beratungsarbeit, die von hier aus sowohl den Ausbau der Eltemarbeit aber auch die Unterstutzung in den Verselbstandigungsprozessen der Jugendlichen begriinden konnte. So mag z. B. das insgesamt relativ geringe Interesse der Eltem an Praktikum und Bewerbung als Hinweis verstanden sein, dass dieser Bereich im schulischen Kontext (z. B. durch systematische Unterrichtsverzahnung) gestarkt werden sollte, dort aber auch entsprechend ethnisch reflektiert und passgenau differenziert entwickelt werden miisste. Die hohe, individuell problembezogene, Beratungsnachfrage der Eltem wiedemm miisste als konzeptioneller Verzahnungsanlass von schulischer und sozialpadagogischer Eltemarbeit hochst sensibel und mit dem Schwerpunkt auf das bemfsbezogene sozialpadagogische Angebot weiterentwickelt werden: Zu groB ist hier die Gefahr, den einmal gewonnenen Zugang zu den Eltem der besonders benachteiligten Schtilerlnnen wieder zu verlieren! Vielmehr miisste, ausgehend vom Bedarf der Zielgmppe „Eltem", die Bemfsorientiemng als Zugangsschliissel fur sonst kaum erreichbare Eltem gemeinsam als schulinteme Eltemarbeit in sozialpadagogischer „Verantwortung" koordiniert und gestaltet werden, denn in der Vemnsichemng und Sorge um die Zukunft ihrer Kinder offnen sich auch solche Eltem fur entsprechend sensible Beratungs- und Hilfeangebote, die sonst noch ,schulfemer' als ihre Kinder sind. Gelange dies, dann miisste aber auch ein „erweiterter Eltembegriff (hilfreiche und unterstiitzende Bezugspersonen) beriicksichtigt werden. Dann ist in diesem Feld eine (in Anbetracht der oben nachgewiesenen Erreichbarkeit von 40 %) vermutlich enorme Ressource zur Motivationsfordemng und Risikominimiemng nutzbar zu machen. Eltemarbeit in Form von Hausbesuchen ist mit nur einem Besuch im gesamten Erhebungszeitraum belegt. Ein Hinweis, dass diese zeitintensive Form der Eltemarbeit konzeptionell eher zu vemachlassigen ist, denn die hohe Erreichbarkeit von Eltem iiber Telefonkontakte und Vermittlungen durch Klassenlehrer - auch und gerade bei individuellem Hilfebedarf - deutet eher darauf hin, dass die sozialpadagogische Anlaufadresse am Ort Schule als Scharnierstelle auf „halber Schwelle" zwischen der Bemfsberatung der Arbeitsverwaltung und dem Kontakt im privaten Raum der Wohnung dem Anlass „Ubergang" entspricht: Hier miissen weder private Grenzen iiberschritten bzw. geoffnet werden, noch die anonyme und moglicherweise reglementierende Institution der Arbeitsverwaltung aufgesucht werden. Im Gegenteil: bei Bedarf geht die Unterstutzung der Sozialpadagoginnen sogar soweit, dass sie Begleitung bei der Bewaltigung der hohen Schwellen „Arbeitsverwaltung und Beratung" oder
250
„Jugendamt" anbietet und leistet. Die gemeinsame AuBendarstellung der Sozialpadagoginnen und Schulpadagoglnnen im Rahmen von schulischen Eltemveranstaltungen, in Kombination mit aktiver Kontaktaufnahme per Telefon und getrennter Verantwortlichkeit bzw. Kompetenz zur Berufsorientierung hat wahrscheinlich in der Summe der Mittel die notige schwellensenkende Wirkung, die durch die konsequente Partizipation der Schiilerlnnen sowie die Vermittlungstatigkeit in Eltem-Schuler-Konflikten eine vertrauensbildende Wirkung erzielt. Auf dieser Vertrauensbasis konnen Eltem ihren Handlungsdruck sowohl umsetzen als auch - an ihren Handlungsgrenzen - Unterstutzung finden. Die hohe Beratungsnachfrage bestatigt diesen wertschatzenden und partizipierenden Ansatz, und widerlegt zugleich die gangige Defizitdeutung, dass Eltem kein Interesse an Berufsorientierung hatten. Das Gegenteil ist der Fall: Eltem haben einen hohen Informationsbedarf, der gedeckt werden muss, damit sie ihre Kinder untersttitzen konnen indem sie z. B. das Thema im Familienalltag gezielt besprechen: „Dann werden schon mal als kleine Aufgaben bis zum ndchsten Gesprdch gesetzt, dass man sich dock zu diesem Themenbereich Gedanken machen soil, es besprechen soil Manch einer hat sich dann auch schon einmal einen Jugendberufshilfetrdger angeguckt zusammen mit dem Kind oder Kontakte mal aufgenommen oder sind mal zum Arbeitsamt gegangen'' (I 3 193-197). Eltemarbeit ist also keinesfalls „Lehrersache", sondem im Gegenteil als konzeptioneller Bestandteil ressourcenorientierter Unterstiitzung am Ubergang von der Schule. Sie kann Motivation befordem und den erzieherischen Einfluss von Eltem auf die sich verselbstandigenden Jugendlichen starken aber kontraproduktiv sein: „ Oft haben Eltern vollig andere Vorstellungen, was sie sich fur ihre Kinder vorstellen konnen, aber gar nicht den Realitdtsbezug sehen. (...) Sie wollte gerne in einen Malerbetrieb, dann hab ich mit ihr drei Stunden hier gesessen und geguckt, was passt und realistisch ist, hatten auch schon einen Betrieb und dann war der Punkt, dass die Eltern ihr das nicht erlaubt haben. Sie ist ein Mddchen, sie ist tUrkischer Nationalitdt, sie haben ihr das verboten, das sei halt so ein Jungenberuf und Papa hat ihr dann ein Praktikum gesucht. Meine Arbeit boykottiert, ihre Sachen nicht wahrgenommen und nicht ernst genommen und das gemacht, was erfiir sie mochte'' (I 5, 144-152). Die ethnischen Beziige dieser Erfahmng sttitzen den Befund der quantitativen Auswertung, dass die Eltemarbeit geschlechtsbezogen mit Bezug zur sozialen und ethnischen Herkunft konzeptionell weiter entwickelt werden sollte.
251
3
Fazit
Wenngleich die Anzahl der direkt in Ausbildung vermittelten Jugendlichen an den beteiligten Schulen iiber die Projektlaufzeit nur geringfligig gestiegen sind, lasst sich an dieser Stelle mit gutem Gewissen behaupten, dass die Beratungsmethode^ in Anbetracht der stetig sinkenden Stellenzahlen ein geeignetes Mittel zur Minimierung der biografischen Risiken von benachteiligten Madchen und Jungen am LFbergang von der Schule in den Beruf ist. Die Daten zur Beratungsnachfrage zeigen, dass mit diesem „F6rderinstrument" die motivationshemmenden Zukunftsangste und Verunsicherungen der Jugendlichen aufgefangen werde konnen, da sie die mit Hilfe der Beratungsangebote nicht mehr in ihrem lahmenden Chancenlosigkeitsgefiihl (vgl. PragerAVieland 2005) verharren milssen, sondem mit aktiver Lebensgestaltung und Berufswegeplanung Motivation und Perspektiven erhalten. Hier stellt sich die Frage, ob der Blick auf die (vermeintliche) „Ausbildungsreife" nicht starker von einem organisationsbezogenen Focus auf die Optimierungsmoglichkeiten von professioneller, (teil)standardisierter und individualisierter Orientierung, Motivation und vemetzender Lobbyarbeit geleitet sein miisste. Mit anderen Worten: Die Bestrebungen der Benachteiligtenforderung miissen vielmehr an biografischer Kompetenz und Netzwerkstrukturen, denn an den kaum zu fassenden (oder auch vermeintlichen) Anforderungen der Wirtschaft ausgerichtet werden. Die mit dem sozialpadagogischen Konzept in den Schulentwicklungsprozess hineingetragene Komponente des mit der individuellen Beratung verbundenen Kompetenzerwerbs^ fur Schiilerlnnen und ihre Eltem, der nachhaltigen und langfristigen Lobby- und Vermittlungsarbeit in Betriebskontakten scheinen schulformiibergreifend das biografische Risiko des Scheitems am LFbergang in Erwerbstatigkeit minimieren zu konnen, denn alle Schiilerlnnen der Zielgruppe verlassen ihre abgebende Schule mit einer weiterfuhrenden Perspektive und dem Gefuhl der Sicherheit: In problematischen Situationen fmden sie auch nach Verlassen der Schule Hilfe bei der Sozialpadagoginnen.
7 Die aber zwingend in Kombination mit dem Praktikums- und Ausbildungsplatzakquise- und Betreuungsauftrag der Sozialpadagoginnen sowie ihrer Gruppenarbeitsansatze in kooperativen unterrichtlichen und aufierunterrichtlichen Lemsituationen verstanden werden muss. 8 „Informationen beschaffen", „Beratung einholen" „Starken und Schwachen analysieren", „Verhaltensrepertoire hinterfragen und bearbeiten".
252
Die schulbezogene Konzeption mit der direkten Anbindung der einzelnen Sozialpadagogin an eine Einzelschule lost in ihrem konzeptionellen Querschnitt der Handlungsfelder und Zielgruppen (vgl. BIBB 2006^). Ein Grenzubertritt, der den Adressaten zugute kommt, denn sie fmden sich auch nach dem Schulwechsel (z. B. auf ein Berufskolleg) mit Hilfe des dortigen, konzeptionell deckungsgleichen Untersttitzungsangebotes besser zurecht, bzw. erhalten eine lediglich personell gebrochene, Unterstiitzung im Beruf- und Lebensplanungsprozess eine den mit Schulwechseln verbundenen Motivationseinbrtichen (vgl. Btichner 2001; Patzold 2004) praventiv entgegenwirkende konzeptionelle Strategie, die durch „weiche" Ubergaben im gemeinsamen Gesprach zwischen Jugendlichen und den Sozialpadagoginnen der abgebenden und aufnehmenden Schulen gestaltet wird. Insgesamt konnte die strategische Zusammenarbeit zwischen sozialpadagogischer „Wegeplanerin" und schulischen Akteuren zu gemeinsamen Inhalten am Ubergang in den Beruf tiber die methodischen Instrumente des TeamTeachings, der Unterrichtsverzahnung, der Projekt- und Gruppenarbeit sowie der Praktika weiter verbessert und ebenfalls (teil)standardisiert werden. Ein Vorteil ware, dass Aufzeigen und Abstimmen von Methoden sowohl deren Weiterentwicklung als auch der Kooperationsgestaltung in Bezug auf Rolle, Selbstbild und professionelle Grenzen aller beteiligten Padagoglnnen zugute kommen wiirden. Das Modell bietet eine hervorragende Anschlussfahigkeit an ganztagige Schulkonzepte, denn im erweiterten zeitlichen und konzeptionellen Rahmen einer Ganztagsschule konnen Angebote noch systematischer verzahnt und z. B. mit dem „Fit for Life"-Programm (vgl. Jugert et. al 2002) erganzt werden. ORIENT enthalt alle relevanten Bestandteile der Benachteiligtenforderung, unterscheidet sich mit seinem erfolgreichen, tragfahigen, (teil)standardisierten Beratungsansatz fiir benachteiligte Jugendliche und ihre Eltem von ahnlichen Projekten und ist ein ausgezeichnetes, ausbaufahiges Modell ftir Benachteiligtenforderung und Schulentwicklung, das intemationalen Standards entspricht (vgl. Petersen 2005). Vorsichtig formuliert, geben die oben skizzierten Evaluationsbefunde Anlass zur Hoffnung, dass der allzu haufig negativ konnotierte Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und sozialer Zukunft aufgebrochen werden kann, indem ein integrationsfahiges Beratungs- und Vemetzungsmodell im Bildungssystem 9 Ein Hinweis, dass die BIBB-Differenzierung in Handlungsfelder (Berufsorientierung, Berufsvorbereitung, Begleitung zur Ausbildung, Ausbildung, Ubergang in Arbeit, Nachqualifizierung, Weiterbildung, Strukturentwicklung) und Zielgruppen (Individuell Beeintrachtigte, Lembeeintrachtigte, Sozial Benachteiligte, Madchen und Frauen, Migranten) moglicherweise kontraproduktiv zur BIBB-Forderung nach integrativen und an Niedrigschwelligkeit orientierten Fordermodellen steht und Differenzierung vielmehr in der Entwicklung von zielgruppen-spezifischen Modellen zur Beratung sowie zur Akquise von Praktikums- und Ausbildungsstellen anzusiedeln ist.
253
etabliert wird. Lucken in Kompetenzen und Ressourcen der traditionellen Bildungs- und Beratungsinstitutionen konn(t)en prozessorientiert, niedrigschwellig geschlossen und biografische Risiken minimiert werden - wenn die Losung der lebens- und berufsplanerischen Aufgaben systematisch und professionell begleitet wird und als gewichtige, weit reichende Erganzung von Unterricht verstanden wird.
Literaturverzeichnis BIBB (2006); www.good-practice.de/infoangebote_beitrag2276.php Biichner, P. (2001): Kindliche Risikobiographien. Uber die Kulturalisierung von sozialer Ungleichheit im Kindesalter. In: Rohrmann, E. (Hrsg.): Mehr Ungleichheit fiir alle. Heidelberg. S. 97-114 Goy, A. (2005): Peerteaching - Doppelt gelemt halt besser. In: Sozialmagazin, 30. Jg. 4/2005, S. 2433 Jugert, G./Rehder, A./Notz, P./Petermann, F. (2002): Fit for Life. Module und Arbeitsblatter zum Training sozialer Kompetenzen fur Jugendliche. Weinheim. Krohne, J. A./Meier, U. (2004): Sitzenbleiben, Geschlecht und Migration. In: Schiimer, G./Tillmann, K.-J./WeiB, M. (Hrsg.): Die Institution Schule und die Lebenswelt der Schiiler. Vertiefende Analysen der PISA-2000-Daten zum Kontext von Schulerleistungen. Wiesbaden. S 117-147 Leiprecht, R./Lutz, H. (2005): Intersektionalitat im Klassenzimmer: Ethnizitat, Klasse, Geschlecht. In: Leiprecht, R./Kerber A. (Hrsg.): Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Schwalbach/Ts., S. 218-234 Ostendorf, H. (2006): Schlecht beraten auf dem Weg in die Arbeitswelt. Reform der Berufsberatung: Politische Steuerung nach „eigenem Recht" oder demokratisch legitimiert? www.fraktuell.de/ ressorts/nachrichten_und_pollitik/dokumentation/?cnt=853897 Patzold, G. (2004): Ubergang Schule - Berufsausbildung. In: Helsper, W./B6hme. J (Hrsg.): Handbuch der Schulforschung. Wiesbaden. S. 568-584 Petersen, W. (2005): Berufsvorbereitungsansatze in Deutschland und GroBbritannien im Vergleich. In: Bojanowski, A./Ratschinski, G./Strasser, P. (Hrsg.): Diesseits vom Abseits. Studien zur beruflichen Benachteiligtenforderung. Bielefeld. S. 206-221 Prager, J. U./Wieland, Ch. (2005): Jugend und Beruf Reprasentativumfrage zur Selbstwahmehmung der Jugend in Deutschland. Giitersloh Spies, A. (2006): Sozialpadagogische Beratung in der Schule - Ein Instrument zur Sicherung der Berufseinmundung bildungsbenachteiligter Madchen und Jungen. In: berufsbildung, Zeitschrift fur Praxis und Theorie in Betrieb und Schule. 60. Jg., 3/2006, S. 67-68 Spies, A. (2005): (Schul)probleme, Zukunftsfragen und Unsicherheiten: Beratungsbedarf von Schiilerinnen und Schiilem. In: Spies, A./Stecklina, G. (Hrsg.): Die Ganztagsschule - Schule und Jugendhilfe vor der Herausforderung gemeinsamen Handehis. Bd. II: Keine Chance ohne Kooperation - Handlungsformen und Institutionelle Bedingungen. Bad Heilbrunn/Obb. S. 104-119
254
Evaluation einer Mafinahme zur Beforderung von sozialen und personalen Kompetenzen Jugendlicher aus Sicht der beteiligten Akteure Karin Rebmann
1
Einleitung
Angebote zur Beforderung von Kompetenzen fur so genannte benachteiligte Jugendliche nehmen in den letzten Jahren stetig zu. Hierbei handelt es sich haufig um rein schulische MaBnahmen, an denen die Jugendlichen bereits in der Vergangenheit gescheitert sind. Neben „klassischen" Angeboten berufsbildender Schulen sowie MaBnahmen der Bundesagentur fiir Arbeit gibt es vermehrt auch Angebote jenseits dieser Institutionen. So bietet z. B. die Stiflung OASE (vgl. www.stiftungoase.de) Seminare an, die sich u. a. an JugendUche an berufsbildenden Schulen (insbesondere Berufsfachschule, Berufsvorbereitungsjahr, Berufsgrundbildungsjahr) richtet, die Defizite in den Bereichen sozialer und personaler Kompetenz haben. Den drei- bis funftagigen - auBerhalb des Lemorts Schule stattfmdenden - Seminaren Uegt ein sozialpadagogischer Ansatz zu Grunde, der die individuellen Erfahrungs- und Erlebniswelten der JugendUchen als Ausgangspunkt der nachfi-ageorientierten Seminarplanung und Seminargestaltung nimmt. Hierzu fuhren die Mitarbeiter/innen der Stiftung OASE vorab eine Bedarfsanalyse bei den Schiiler(inne)n und deren Klassenlehrer bzw. Klassenlehrerin durch. So werden konsensuell die Themen gewonnen, die dann in den Seminaren behandelt werden. Eine gemeinsame Diskussion mogUcher MaBnahmen von Teamem und Lehrkraften soil den Transfer der Erfahrungen und Lemerfolge in den Schulalltag untersttitzen. Ziel der Seminare ist es, zum einen Anregungen, Losungen und Perspektiven flir die Jugendlichen zu erarbeiten in Hinblick auf • Erfahrungen in Alltagswelt, Schule und Ausbildung, • Konflikten und Motivationen im Schul- und Berufsalltag, Zukunftsperspektiven, • Ausbildung und Freizeit. Zum anderen sollen insbesondere soziale sowie personale Kompetenzen gefordert werden. Hierzu zahlen Teilkompetenzen wie neue Menschen kennen lemen.
die eigenen Fahigkeiten erkennen, neue Ideen entwickeln, eigenverantwortlich Entscheidungen treffen und neue Lebensperspektiven erarbeiten. Aber auch vermeintlich einfache Fahigkeiten, wie z. B. regelmaBig in der Gemeinschaft Mahlzeiten einnehmen. Im Fokus dieses Beitrags stehen die Ergebnisse der Evaluation dieser Kurse. Zunachst werden das Konzept und die Instrumente der Evaluation sowie die Stichprobe vorgestellt. Danach erfolgt die Beschreibung zweier Ausschnitte aus den Ergebnissen: erstens die Zufriedenheit der Beteiligten mit der Seminargestaltung und dem Seminarverlauf und zweitens die Beurteilung der Lemerfolge aus der Sicht der beteiligten Akteure dieser Seminare.
2
Evaluationskonzept und Erhebungsinstrumente im Uberblick
Das Evaluationskonzept umfasst in erster Linie die Produktevaluation (vgl. Abbildung 1). Damit werden die Seminare im Hinblick auf die Zufriedenheit und Akzeptanz der beteiligten Schtiler/innen, Teamer und begleitenden Lehrkrafte sowie im Hinblick auf die erzielten Lemerfolge abschliefiend bewertet.
Evaluationskonzept
1 Produktevaluation
Lernerfolg i. S. v. > Erreichen von Lemzielen > Akzeptanz/Zufriedenheit
Instrumente > Blitzlichter > Abschlussfragebogen fiir Schiiler/innen > Fragebogen fiir Teamer > Fragebogen fiir Begleitpersonen
[/
Abbildung 1: Uberblick iiber das Evaluationskonzept
256
In der Evaluation der Intensivseminare ftir benachteiligte und desintegrierte Jugendliche wurden die Evaluationsinstrumente fiir die Schtiler/innen, die Teamer sowie die Begleitpersonen auf die Leitideen der Seminare, namlich der Beforderung von sozialen und personalen Kompetenzen, abgestimmt, entwickelt und einem Pretest unterzogen. Aus den Ergebnissen des Prestests ergaben sich insbesondere sprachliche Veranderungen bzw. Vereinfachungen. Es wurden schlieBlich die folgenden Erhebungsinstrumente eingesetzt: Blitzlicht 1 „Schiiler/innen": zur Erhebung der Erwartungen der Schtilerinnen und Schiiler vor Beginn des Seminars. Darauf aufbauend kann in einem nachfolgenden zweiten Blitzlicht danach gefragt werden, inwieweit sich die Erwartungen nach Beendigung des Seminars erfiillt haben. Blitzlicht 2 „Schtiler/innen": zur Erhebung des Erfiillungsgrades der Anfangserwartungen am Ende der MaBnahme sowie zur Erhebung der Akzeptanz und Zufriedenheit. • Abschlussfragebogen „Schtiler/innen": zur Erhebung von Akzeptanz und Zufriedenheit ca. zwei bis drei Wochen nach Beendigung der MaBnahme sowie zur Erhebung des Lemerfolgs aus Sicht der Schiilerinnen und Schiiler (Selbsteinschatzung). • Fragebogen „Teamer": zur Erhebung des Lemerfolgs der Schiilerinnen und Schiiler aus der Sicht der Teamer (Fremdeinschatzung). Fragebogen „Begleitperson": zur Erhebung des Lemerfolgs im Sinne des Transfers aus Sicht der Begleitpersonen ca. zwei bis drei Wochen nach Abschluss der MaBnahme.
3
Die Stichproben
Die Stichprobe der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Intensivseminaren besteht aus 154 Schiilerinnen und Schiilem, die vorwiegend das BVJ besuchen. Es handeh sich um insgesamt elf Kurse, die 2005 (zehn Kurse) und 2006 (ein Kurs) stattfanden. Line Aussage iiber die Riicklaufquote ist nicht moglich, da nicht bekannt ist, wie viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer die einzelnen Kurse besucht haben. Auch eine geschlechtsspezifische Verteilung kann nicht angegeben werden. Da bereits im Vorfeld bekannt war, dass manche Kurse nur von wenigen Teilnehmem und Teilnehmerinnen (deutlich unter zehn) besucht werden, wurde aus datenschutzrechtlichen Grunden auf die Erhebung dieser Daten verzichtet. Tabelle 1 zeigt die Verteilung der teilnehmenden Schiilerinnen und Schiiler auf die elf Kurse.
257
Kursl 21
Kurs2 Kurs3 22 7
Kurs4 5
Kurs5 16
Kurs6 16
Kurs7 15
KursS 19
Kurs9 11
Kurs 10 12
Kurs 11 10
I154
Tabelle 1: Anzahl der Schiiler/innen in den evaluierten Kursen Ftir die Evaluation liegen insgesamt 14 Fragebogen von Teamem aus den elf evaluierten Kursen vor. Aus datenschutzrechtlichen Griinden wurden keine weiteren Daten erhoben, die die Stichprobe naher charakterisieren konnten. Vergleichbares gilt ftir die Stichprobe der Begleitpersonen. Diese besteht aus 12 Lehrkraften, die an den elf evaluierten Kursen als Begleitpersonen teilgenommen haben.
4
Akzeptanz und Zufriedenheit mit den Seminaren
4.1 Akzeptanz und Zufriedenheit der Schillerinnen und Schiller Durch den Einsatz von Kurzbefragungen als „Blitzlichter" sollte die Zufriedenheit der Schillerinnen und Schiller mit dem Seminar erhoben werden. Hierbei mussten diese sechs kurze Fragen zum Seminarverlauf beantworten. So zeigt ihr Blitzlicht beispielsweise die Erwartungen, welche die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an die MaBnahme stellten, die erlebten Vorziige und Grenzen sowie mogliche Verbesserungsvorschlage auf Die Beantwortung erfordert ca. 15 Minuten Zeit. Als Indikatoren frir die Zufriedenheit und Akzeptanz der Schillerinnen und Schiller mit dem Seminarverlauf wurden gewahlt: das AusmaB der Erfllllung der Anfangserwartungen an das Seminar, • die Bereitschaft, ein solches Seminar noch einmal besuchen zu wollen, die Aussage, dieses Seminar auch Freunden und Freundinnen zu empfehlen sowie • die Benotung des Seminars. Abbildung 2 zeigt die Zufriedenheit aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu zwei verschiedenen Zeitpunkten im Uberblick. Bereits zum Zeitpunkt der ersten Erhebung gibt es eine sehr groBe Zufriedenheit mit dem Seminarverlauf Dies ist daran zu erkennen, dass die MaBnahme durchschnittlich mit gut beurteilt wird, dass ilber 85 % aller Befragten ein solches Seminar nochmals besuchen und dieses auch ihren Freunden bzw. Freundinnen empfehlen wilrden. SchlieBlich benennt nur jeder zweite Teilnehmer bzw. jede zweite Teilnehmerin Verbesserungsvorschlage und dann durchschnittlich auch nur einen. AuBerdem wurden etwa 93 % aller Anfangserwartungen im Urteil der Schillerinnen und Schiller auch tatsachlich im Verlaufe der Seminarzeit mindestens zum Teil erflillt. Diese Anfangserwartungen bezogen sich z. B. darauf, dass die Schil-
258
ler/innen SpaB haben wollten, sich eine Verbesserung der Klassengemeinschaft von der Teilnahme am Kurs versprachen und auch etwas lemen wollten. Das durchweg sehr hohe Zufriedenheitsniveau wird in der wiederholten Befragung ein paar Wochen nach Abschluss der MaBnahme eindrucksvoll bestatigt: Die durchschnittliche Schulnote flir das Seminar weist mit 1,9 eine Verbesserung auf, auch die Werte fur den Wiederbesuch der MaBnahme und die Empfehlung an Freunde und Freundinnen haben nochmals zugelegt. Die Aspekte „Anzahl der Kritikpunkte" und „Anzahl der Vorztige" werden hier als Indikatoren fiir Zufriedenheit eher vorsichtig interpretiert. AUerdings zeigt sich, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer durchschnittlich mehr Vorztige als Kritikpunkte benennen. Positive Aspekte sind vor allem die Spiele und Meditationsiibungen, die angenehme Atmosphare, die Teamarbeit und die Gemeinschaft. Viele Nennungen beziehen sich weiterhin auf die Zufriedenheit mit den Teamem. Auch die Betreuung und Versorgung wird von vielen Schiilem und Schtilerinnen als positiv erlebt. Bis auf die Teamer sind dies allerdings auch die Aspekte, die Anlass zu Kritik geben. Insgesamt kann berechtigt von einem sehr hohen Zufriedenheitsgrad gesprochen werden, der sich in der Riickschau der Schiilerinnen und Schiller sogar noch verstarkt. Dieses positive Ergebnis wird zusatzlich gesttitzt durch die Beurteilung der Seminargestaltung und des Seminarverlaufs. Es zeigt sich namlich, dass sowohl am Ende des Seminars als auch einige Wochen spater die Schtilerinnen und Schtiler im Durchschnitt alle Aussagen zur (positiven) Seminargestaltung und zum (positiven) Seminarverlauf als mindestens eher zutreffend beurteilen. Im Durchschnitt stimmen die Befragten den Aussagen meist voU und ganz zu. Es handelt sich dabei um die folgenden Einschatzungen: Die Zusammenarbeit in der Gruppe klappt gut. Das Zusammensein in der Gruppe macht SpaB. Die Teamer nehmen mich emst. Die Teamer haben ein offenes Ohr fiir mich. Die Teamer haben viel dazu beigetragen, dass die Zeit hier gut ist. Das Seminar ist abwechslungsreich. Ich komme einmal aus der Schule raus. Wir konnen die Themen selbst auswahlen. Eher zugestimmt wird den Aussagen: Wir reden tiber Themen, die mich wirklich interessieren. Ich mache mir Gedanken tiber Themen, fur die sonst wenig Zeit ist. Ich kann auch einmal von mir erzahlen. Ich habe viel dazugelemt. Ich habe auch viel erlebt. 259
tl: 93% aller Erwartungen mindestens z. T. erfullt Grad der ErwartungserfuUung der Teilnehmer/innen tl: 2,0 t2:1,9 Schulnote
tl:87,7% t2: 90,2 % Wiederbesuch
Weiterempfehlen tl: 85,8 % t2: 93,9 %
tl: 0 1,1 Verbesserungsvorschlage
Kritikpunkte an der MaBnahme t2:0O,7 Vorziige der MaBnahme t2: 0 1,8
pos. Seminargestaltung/'Verlauf tl: mindestens eher zutreffend t2: mindestens eher zutrejfend
tl = unmittelbar am Ende des Seminars t2 = ca. 2 bis 3 Wochen im Anschluss an das Seminar
Abbildung 2: Zufriedenheit der Schulerinnen und Schuler zum Zeitpunkt tl und t2 Die Zufriedenheit der Schulerinnen und Schuler zeigt sich neben den oben genannten Indikatoren sicherlich auch darin, dass aus der Sicht der Schulerinnen und Schuler etliche Lemerfolge zu verzeichnen sind. Zusammenfassend lasst sich sagen, dass alle Aussagen zu moglichen Lemerfolgen direkt am Ende des Seminars von alien Befragten als mindestens eher zutreffend eingeschatzt wurden (vgl. die detaillierten Ergebnisse bei Rebmann 2006).
260
4.2 Akzeptanz und Zufriedenheit der Tearner und der Begleitpersonen Als Indikator der Zufriedenheit mit dem Ablauf der Seminare kann bei den Teamem folgendes Ergebnis gewertet werden: Wenn die 14 Teamer von ihren Erfahrungen in den Seminaren berichten, dann iiberwiegen dabei die positiven Erfahrungen. Die Aussagen zeugen insbesondere von positiven Erfahrungen mit der Arbeit der Gruppe, der Offenheit der Schiilerinnen und Schiller sowie mit der Lehrer-Teamer-Zusammenarbeit. Positiv erlebt werden femer die Motivation und das Interesse der Schiilerinnen und Schiiler. Negative Erfahrungen lassen sich den Dimensionen „Organisation", „Evaluation", „Begleitpersonen" sowie „Schiiler/innen" zuordnen. Auf die Dimension „Organisation" entfallen negative Erfahrungen wie die Kiirze der Seminare (nur drei Tage), die GroBe des Kurses (namlich zu wenige Teilnehmer/innen) oder die eigene Miidigkeit. Hinsichtlich der Dimension „Evaluation" wird zweimal die negative Erfahrung mit dem komplizierten Evaluationsbogen hervorgehoben. Auf die Dimension „Lehrer/innen bzw. Begleitpersonen" entfallen Nennungen, die sich auf das inkonsequente Verhalten der Begleitpersonen beziehen. Die Mehrzahl aller negativen Erfahrungen hangt mit den Schiilerinnen und Schiilem zusammen. Hierunter werden Drogen- und/oder Alkoholkonsum der Schiiler/innen - jedoch nur in einem der evaluierten Kurse - gefasst, aggressives und maBloses Verhalten, eine zu Starke Freizeitorientierung sowie Konzentrationsschwache. AuBerdem war es fiir manche Teamer schwer, die Schiilerinnen und Schiiler einzuschatzen und darauf abgestimmt ein Arbeitsprogramm zu gestalten. Insgesamt berichten die Teamer durchschnittlich von weniger als zwei negativen Erfahrungen, hingegen aber von knapp drei positiven Erfahrungen. Hieraus lasst sich vorsichtig schlieBen, dass sie daher auch mit den Seminaren eher zufrieden sind. Hinsichtlich der Zufriedenheit der Begleitpersonen lassen sich folgende Aussagen treffen. So kann als Indikator fiir die Zufriedenheit der Lehrkrafte herangezogen werden, inwieweit ihre Anfangserwartungen an das Seminar erflillt wurden. Es zeigt sich, dass die Anfangserwartungen, hierunter z. B. Beforderung von Sozial- und Methodenkompetenz, Starkung der Klassengemeinschaft und einzelner Schiiler/innen, Aktivitat und SpaB sowie Verbesserung der Sozialbeziehungen, weitgehend erfiillt wurden. Dies lasst auf eine Zufriedenheit der Lehrerinnen und Lehrer mit dem Seminar schlieBen. Als weiterer Indikator der Zufriedenheit der Begleitpersonen kann gelten, inwieweit die Lehrkrafte Fortschritte im Verhalten ihrer Schiilerinnen und Schiiler wahrend und nach den Seminaren beobachten konnen. Auch hier spricht das Ergebnis fiir die Zufriedenheit mit den Seminaren. Denn die Mehrheit der Lehrer und Lehrerinnen stellt tendenziell positive Veranderungen ihrer Schiiler261
innen und Schiiler fest. Fortschritte werden insbesondere hinsichtlich eines gegenseitigen Verstandnisses (Achtung) und eines fairen Umgangs, einer Verbesserung der Gemeinschaft und des gegenseitigen Kennenlemens beobachtet. Nachfolgend werden die Teilergebnisse des zweiten Strangs des Evaluationskonzeptes dargestellt. Es handelt sich um die vergleichenden Einschatzungen aller Beteiligten in Bezug auf den angestrebten und erzielten Lemerfolg.
5
Lernerfolge aus Sicht der Beteiligten - eine vergleichende Gegeniiberstellung
Alle Beteiligten sollten Auskunft darliber geben, inwieweit Lernerfolge im Hinblick auf die Seminarziele erreicht wurden. Hierzu mussten sie Aussagen iiber allgemeine Lernerfolge, Lernerfolge in Bezug auf Selbstreflexionsfahigkeit und Selbstvertrauen (personale Kompetenzen), Lernerfolge in Bezug auf Umgang und Kommunikationsfahigkeit (kommunikative Kompetenzen) sowie Lernerfolge in Bezug auf Teamfahigkeit (soziale Kompetenzen) anhand einer vierstufigen Ratingskala auf ihre Zustimmung bin beurteilen. Tabelle 2 zeigt die von den Lehrkraften, den Teamem und den Schiilerinnen und Schiilem selbst wahrgenommenen Fortschritte hinsichtlich dieser Seminarziele nach dem Besuch der Seminare. Dabei fallen zwei Aspekte auf Erstens gibt es eine recht groBe ijbereinstimmung zwischen den Beteiligten, wobei zweitens die Schiilerinnen und Schiiler tendenziell eher Lemfortschritte fiir sich in Anspruch nehmen. Deutliche Mittelwertunterschiede gibt es nur in Bezug auf die Beurteilung folgender Lemfortschritte: sich auf eine Sache konzentrieren konnen, beim Sprechen Blickkontakt behalten, Meinung vertreten, ohne andere zu beleidigen, anderen auch Recht geben konnen sowie Probleme auch aus der Sicht von anderen sehen.
262
Lehrer Teamer Lernfortschritte M M Die Schulerinnen und Schiller sollen ... Allgemeiner Lemerfolg 1,50 1,58 Neues dazuleraen. 2,93 2,64 Motivation bekommen, ihre Schule zu beenden. 1,50 Interesse an den Themen zeigen. 1,91 1,79 sich wohl fUhlen. Konzentrationsfahigkeit/Ausdauer 2,58 2,29 langere Zeit bei einer Sache bleiben. sich auf eine Sache konzentrieren. 2,55 1 2,00 Selbstreflexionsfdhigkeit/Selbstvertrauen 1,79 1,75 auch iiber sich selber nachdenken. 2,57 2,58 neue Perspektiven fUr sich gewinnen. 1,93 2,27 Neues an sich entdecken. 2,21 2,18 Zuversicht in cie eigenen Starken gewinnen. 1,83 einfach mal Neues ausprobieren. 1,71 2,00 2,10 ihre eigenen Ideen einbringen. 2,43 2,08 ihre Starken und Schwachen erkennen. 1,64 1,82 Selbstvertrauen gewinnen. die Bedeutung von sozialem Miteinander erkennen. 1,82 2,36 1,75 auch mal von sich erzahlen. 1,71 2,40 off en ihre Probleme ansprechen konnen. 2,29 Umgang/Kommunikationsfdhigkeit 1,67 freundUch miteinander umgehen. 2,08 2,25 andere Meinung tolerieren. 2,50 2,60 auch mal zugeben, wenn sie Unrecht haben. 3,29 Regeln einhalten. 1,92 1,86 2,25 die Bedurfnisse der Mitschiiler/innen beachten. 2,29 2,17 Riicksicht aufeinander nehmen. 2,36 andere ausreden lassen. 2,33 2,64 2,42 auf Redebeitrage anderer eingehen. 2,43 anderen zuhoren. 2,33 2,57 beim Sprechen Blickkontakt halten. 2,18 3,36 ihre Meinung vertreten, ohne andere zu beleidigen. 2,42 3,07 anderen auch Recht geben konnen. 2,45 3,07 eine gute Beziehung zum Teamer/Lehrer aufbauen. 1,50 1,36 ein gutes Verhaltnis zueinander entwickeln. 1,86 Konflikte nicht mit Fausten austragen. 2,20 1,93 Teamfahigkeit im Team arbeiten. 1,83 1,93 positiv zur Klassengemeinschaft beitragen. 1,83 2,08 Aufgaben mit anderen bearbeiten. 1,83 1,79 mit der Themenwahl zufrieden sein. 1,75 Probleme auch aus der Sicht von anderen sehen. 3,00 2,45 Themen nach eigener Wahl bearbeiten. 2,21 2,33 freiwillig Aufgaben iibernehmen. 2,00 2,29 anderen helfen. 1,82 1,93 sich auch helfen lassen. 2,10 2,36 Verantwortung fiir eine Sache iibernehmen. 2,18 2,14 Teamgeist entwickeln. 1,64 l=ja; 2=eher ja; 3=eher nein; 4=nein
Schiller M 1,93 2,04 1,78 1,50 1,67 1,67 2,02 2,02 2,26 1,98 1,46 1,99 2,03 1,63 1,48 1,79 1,98 1,47
1,86 1,46
-
1,77 1,62 1,46 1,46 1,70 1,48 1,64 1,77 1,59
1,52 1,70 1,32 1,30 1,70 1,70 1,78 1,62 1,79
1,35
Tabelle 2: Ein Vergleich der erzielten Lernfortschritte im Urteil von Lehrkrdften, Teamern und Schuler(inne)n 263
6
Zusammenfassung
Im Zentrum der vorliegenden Evaluation standen die Intensivseminare „Zukunft gestalten" der Stiftung OASE, Osnabruck. Diese Seminare fur sozial benachteiligte und desintegrierte Jugendliche sollen insbesondere soziale und personale Kompetenzen befordem. Die Seminare wurden im Hinblick auf die Zufriedenheit und Akzeptanz der beteiligten Schiiler/innen, Teamer und Begleitpersonen sowie im Hinblick auf die erzielten Lemerfolge abschliefiend bewertet. Hierzu wurden mehrere Erhebungsinstrumente entwickelt und bei elf Kursen mit insgesamt 154 Schuler(inne)n, 14 Teamem sowie 12 Lehrer(inne)n (Begleitpersonen) 2005/2006 eingesetzt. Zufriedenheit der Beteiligten mit den Seminaren Die Untersuchung zeigt, dass die Schiiler/innen durchweg sehr zufrieden mit dem Seminarverlauf sind. 85 % der Befragten wurden ein solches Seminar nochmals besuchen und dieses auch ihren Freund(inn)en weiterempfehlen. Auch die Anfangserwartungen der Schiiler/innen sind zu ca. 93 % im Verlauf des Seminars mindestens teilweise erfiillt. Das hohe Zufriedenheitsniveau zum Zeitpunkt der ersten Erhebung wird in der Riickschau der Teilnehmer/innen einige Wochen nach Seminarende eindrucksvoll bestatigt. So hat sich die durchschnittliche Schulnote fiir das Seminar von 2,0 auf 1,9 verbessert und die Werte fiir den Wiederbesuch der MaBnahme und die Empfehlung an Freunde und Freundinnen haben nochmals zugelegt. Die Beurteilung der Seminargestaltung und des Seminarverlaufs spiegelt ebenfalls eine hohe Zufriedenheit wider: Sowohl am Ende des Seminars als auch einige Wochen spater schatzen die Schiiler/innen im Durchschnitt alle Aussagen zum positiven Seminarverlauf und zur positiven Seminargestaltung als mindestens eher zutreffend ein. Den meisten Aussagen stimmen sie sogar voll und ganz zu. Um die Zufriedenheit der Begleitpersonen zu ermitteln, wurden das Mali ihrer Erwartungserfullung sowie die Anzahl der von ihnen beobachteten Fortschritte im Verhalten ihrer Schiiler/innen herangezogen. Aufgrund des durchschnittlich hohen AusmaBes der Erwartungserfullung lasst sich auf eine positive Bewertung des Seminars durch die Begleitpersonen schUeBen. Auch die beobachteten Fortschritte bei den Schiiler(inne)n aus Sicht der Begleitpersonen spiegehi Zufriedenheit mit dem Verlauf des Seminars wider. So stellt die Mehrheit der Begleitpersonen tendenziell positive Veranderungen im Verhalten ihrer Schiiler/innen fest.
264
Lernerfolge aus Sicht der Beteiligten Alle Beteiligten sollten Auskunft dartiber geben, inwieweit Lernerfolge erreicht wurden. Hierzu mussten sie Aussagen iiber allgemeine Lernerfolge, Lernerfolge in Bezug auf Selbstreflexionsfahigkeit und Selbstvertrauen (personale Kompetenzen), Lernerfolge in Bezug auf Umgang und Kommunikationsfahigkeit (kommunikative Kompetenzen) sowie Lernerfolge in Bezug auf Teamfahigkeit (soziale Kompetenzen) anhand einer vierstufigen Ratingskala auf ihre Zustimmung bin beurteilen. Im Schiiler/innen-Urteil werden alle aufgefiihrten Lernerfolge durchweg als eher erreicht eingestuft. Im Urteil der Teamer wird das Lemziel „Die Schtiler/innen bauen eine gute Beziehung zu den Teamem auf als voll und ganz erreicht angesehen. Die Mehrheit der Lemziele wird als zum Teil erreicht beurteilt. Allerdings fmden sich auch Lemziele, die im Urteil der Teamer eher nicht erreicht wurden. Es handelt sich dabei insbesondere um Lemziele, die aus dem kommunikativen Kompetenzbereich stammen. Im Urteil der Lehrerinnen und Lehrer konnten mit Ausnahme weniger Lemziele eher Fortschritte festgestellt werden. Insgesamt lasst sich feststellen, dass die evaluierten Seminare sowohl in Bezug auf die Zufriedenheit und Akzeptanz als auch in Bezug auf den Lemerfolg uberzeugen: Sie werden als positiv und erfolgreich erlebt.
Literaturverzeichnis Rebmann, K. (2006). Evaluation von Seminaren der Stiftung OASE zur Beforderung von sozialen und personalen Kompetenzen von sozial benachteiligten und desintegrierten Jugendlichen. Abschlussbericht. Projektberichte und Materialien zur Berufs- und Wirtschaftspadagogik, Heft 34. Oldenburg
265
Kooperation von Padagoginnen und Padagogen als Bestandteil professionellen Handelns Alexandra Obolenski
In der Diskussion um die Professionalisierung von Padagoginnen und bei dem vertieften Verstandnis in die Binnenstruktur des Handelns riickt die einzelne Person immer mehr in den Blick. Die folgenden Ausftihrungen gehen jedoch iiber diese Perspektive der individuellen padagogischen Praxis hinaus, indem auch die Potentiate kooperativer Praxis fokussiert werden. Ziel des Beitrages ist es, die Potentiale einer padagogischen Kooperationskultur als eine Antwort auf Heterogenitat herauszustellen. Mit dieser Position wird Kooperation als ein Kembestandteil professionellen Handelns verortet. Eine wirkungsvolle Forderung benachteiligter Kinder und Jugendlicher erfordert eine funktionierende Kooperation verschiedener Fachkompetenzen. Dabei geht es jedoch nicht nur um die positiven Effekte bei der Ausdifferenzierung individueller Fordermoglichkeiten flir die Kinder und Jugendlichen. Auch die Padagoginnen konnen durch eine gelingende Kooperation in besonderer Weise profitieren. Dabei steht neben moglichen Entlastungseffekten vielmehr die Chance im Vordergrund, sich in den beruflichen Kemtatigkeiten erfolgreich und eben kompetent zu erfahren: an Lem- und Entwicklungsfortschritten teilzuhaben, die durch das eigene Handeln evoziert werden.
1
Problemhorizonte
1.1 Zur Spannweite des Begriffes Heterogenitat Die AnstoBe fiir die Auseinandersetzung mit dem Heterogenitatsphanomen kommen zum einen aus dem gesteigerten Pluralitatsbewusstsein fiir gesellschaftliche Prozesse (vgl. z. B. Kruger-Potratz 2002) und zum anderen aus drei unterschiedlichen Forschungsrichtungen, die dazu beitragen, das Normalitatskonstrukt zu dekonstruieren: der feministischen Padagogik, der Migrations- oder interkulturellen Padagogik und der Sonderpadagogik bzw. Integrationspadagogik. Der Begriff Heterogenitat verweist zunachst einmal schlicht auf die Verschiedenartigkeit innerhalb einer Gruppe. Im Gegensatz zur homogenen Gemein-
samkeit driickt sich Heterogenitat durch eine Vielfalt adressatenbezogener Merkmale (wie Geschlecht, Sprache, Sozialstatus, Gesundheit, Kultur, Einkommensniveau) aus. Zum anderen hat die Debatte um den Heterogenitatsbegriff eine Entwicklung von der Feststellung des Defizitaren bin zur Anerkennung der Differenz durchlaufen. Hinsichtlich seiner normativen Wertigkeit entspricht er dem Konzept der „egalitaren Differenz" (Prengel 1995), also einem Verstandnis fur Differenz, aus dem sich keine Diskriminierungen ableiten lassen soUten. Aus der Genderforschung entwickelten die US-amerikanischen schwarzen Feministinnen Crenshaw (1994) und Smith (1998) die Intersektionsanalyse, die davon ausgeht, dass es notwendig sei, Geschlecht, Ethnizitat, Klasse, sexuelle Orientierung, Nationalitat usw. in ihrem Zusammenspiel und in Bezug auf die Gleichzeitigkeit ihrer Wirkung zu untersuchen. Intersektionelle Analyse- und Theoriemodelle konnen dazu dienen, sich von der Vorstellung zu verabschieden, padagogische Arbeitsfelder als Einheitskulturen zu verstehen. Die Arbeiten der beiden Sozialwissenschaftlerinnen verdeutlichen, dass Heterogenitat sich zwar ideell als Anerkennung der Vielfalt darstellt, sich auf einer makrosoziologischen Ebene aber in einem hierarchisch gegliederten Feld befmdet. Mit dem Begriff der Differenzlinien wird auf eine soziale Hierarchic hingewiesen, die sich haufig als Grunddualismus offenbart. Fiir das Merkmal Geschlecht z. B. besteht weiterhin in vielen gesellschaftlichen Bereichen das mannliche als Norm; fiir den Menschen der WeiBe. Fiir den padagogischen Bereich bleibt nach Fiedler et. al. (2003,157) eine bloBe Feststellung von Differenzen alleine „unaufschlussreich". Fiir sie bleibt der Begriff Heterogenitat begrifflich arm, weil er lediglich Vielfalt betont; er bleibt inhaltlich leer, weil er keine gesellschaftlichen Entwicklungen einbindet; er bleibt padagogisch ziellos, weil er ohne eine Bildungsorientierung auskommt. Erst wenn die individuellen Differenzen als Unterschiede in der Realisierung von Entwicklungspotentialen betrachtet werden, konnen die Differenzen auch als soziale, kulturell bedingte Benachteiligungen erkennbar werden. Erst unter dieser Perspektive gewinnt der Begriff seine kritische Dimension, aus der padagogische und didaktische Aussagen ableitbar werden. Heterogenitat verlangt einerseits Freiheitsgrade beim individuellen Lemen und andererseits eine Riickbindung an ein ausbildungsrelevantes Gemeinsames. D. h., bei aller Begeisterung fiir das Subjekthafte und seine Potentiale bedarf die Differenz-Perspektive einer Riickbindung auf ein verpflichtendes Gemeinsames, z. B. in der Anerkennung von Menschenrechten, und eine Verpflichtung auf eine rationale Reflexionsbasis.
268
1.2 Kooperation als Losungshilfe angesichts Heterogenitdt Schon die Ergebnisse der Integrationsforschung aus den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts weisen auf die Erfordemisse und Chancen von Kooperation gleichermaBen hin (vgl. Fechler 1987, Wocken 1988). In der Sonderpadagogik zahlt das Kooperieren schon langer zu den basalen padagogischen Kompetenzen liber die nach Wittrock (1997) Einvemehmen herrscht. Kooperation ist durch die Zusammenarbeit mit Erzieherlnnen und Sozialpadagoglnnen und durch die Zusammenarbeit von Sonderpadagoglnnen und Regelschullehrerlnnen in diesem Berufsfeld ein alltagliches Erfordemis. Wocken (1991, 18) formuliert, dass aus der Verschiedenartigkeit der Lemvoraussetzungen eine stetige Individualisierung des Unterrichts folgen muss, die nur ein padagogisches Team in kooperativer Praxis bewaltigen kann. Die Integrationsforschung arbeitete heraus, dass Vorteile von Kooperation in Synergieeffekten bestehen, die sich beispielsweise bei der gemeinsamen Zustandigkeit fiir alle Lemenden sowie bei padagogischen Unterstutzungs- und Interventionsformen einstellen konnen. Viele Forschungsarbeiten beztiglich der Schulleistungsentwicklungen dokumentieren, dass die homogenen Lemniveaus in der so genannten Sonderschule fur Lemhilfe wenig individuell forderliche Wirkungen fur die Schiilerlnnen zur Folge haben. Hildeschmidt und Sander (1996) fassen deutschsprachige Forschungsbefunde liber die Wirkung dieses Schulbesuches zusammen: Hinsichtlich der sozialen Integration und der psychischen Entwicklung stellen sich keine bleibenden positiven Effekte ein. In der Integrationspadagogik werden deshalb Forderkonzepte praktiziert, in denen innere Differenzierung und Lehrerlnnenkooperation realisiert werden. Haeberlin fordert eine intensive und schon in der Ausbildung vorbereitete Zusammenarbeit (1998, 172ff.). Nach Knauer (2004, 339) lassen sich im kooperativen Unterricht durch einen intensiven, partnerschaftlichen Austausch Widerspriiche und Dilemmata der heutigen Schule, die sich im Unterricht in Sperrigkeitsphanomenen seitens der Schiilerlnnen manifestieren, als solche erkennen und benennen. Es kann eine Sprache gefunden werden, die die Einsamkeit und Entfremdung tiberwindet und damit vor innerpsychischen Deformationen schiitzt. Im Kontext von Schulentwicklung besteht laut Bastian (2004) Einigkeit dariiber, dass Kooperation und Teamarbeit eine wichtige Funktion beim Aufbau einer neuen, angemessenen Lemkultur darstellen.
269
1.3 Kooperation benotigt (Selbst-) Reflexionsarbeit In dem Umfang, in dem sich der gesellschaftliche Wandel vollzieht, kulturelle Modemisierungs- und Enttraditionalisierungsprozesse in immer mehr Mikrostrukturen des gesellschaftlichen und individuellen Lebens eindringen und wirksam werden, verandem sich auch die Bedingungen und Anforderungen padagogischer Professionalitat. Weil ftir die Adressatlnnen der padagogischen Arbeit (Schiilerlnnen, Auszubildende) die Selbstverstandlichkeit ihrer lebensweltlichen Orientierung immer fragiler wird, ist auf Seiten der Professionellen selbstbeziigliche Reflexivitat mit dem eigenen Wissen, Konnen und Handeln grundsatzlich erforderlich. Die Notwendigkeit, alle Routinen und Schemata des Erfahrungswissens einer standigen Priifung auf ihre Geltung hin zu unterziehen, folgt aus der explosionsartig sich ausbreitenden Nicht-Standardisierbarkeit padagogischer Situationen. Eine Intensivierung des berufsfachhchen Austausches und der Zusammenarbeit bieten Hilfen bei der Ausformung bzw. Umstrukturierung fur subjektive Findungsprozesse in der eigenen Berufsrolle. Aufgrund der wachsenden Komplexitat padagogischen Handelns bindet eine kooperative Praxis zunehmend haufiger verschiedene soziale Institutionen mit ein, mit der Folge, dass das GeHngen oder MissHngen von Kooperation auf immer mehr Personen zuriickwirkt. Bastian und Helsper (2000, 184) siedeln bedeutsame Professionalisierungsprozesse von Padagoglnnen nicht nur im Ausbildungs- und Fortbildungsbereich, sondem auch gerade in den padagogischen Einrichtungen selbst an. Professionalisierung vollzieht sich namlich nicht nur als ein individueller Bildungsprozess, sondem vor allem als ein interaktiver Prozess im Rahmen kollegialer Verhaltnisse. Die kollegialen Kooperations- und Kommunikationsmoglichkeiten auf der Ebene der einzelnen padagogischen Einrichtung miissen nach Combe (1999) in ihren reflexiven Potentialen gestarkt werden. Dazu miissen reflexive Subsysteme in den alltaglichen Arbeitsrhythmus eingebaut werden. Ftir Helsper (2002, 69) wird die raumliche, zeitliche und soziale Institutionalisierung der Reflexion innerhalb der Schule die zentrale Herausforderung der Lehrerlnnenbildung. Ftir jede weitere Professionalisierung des Berufes erlangt die Institutionalisierung der Reflexion eine fundamentale Bedeutung. Institutionalisierte kooperative Praxen bieten sich daflir mit einer vemetzten Handlungsebene von Reflexion und Arbeitsbiindnissen an. Es geht nicht nur um handlungsentlastete, sondem auch um handlungsbasierte Raume der Reflexion. Hilbert Meyer (2001) fordert im Kontext der Professionalisiemng von Padagoglnnen eine Diskussion um die Lemortfrage flir Reflexivitat. Er schlagt sowohl flir Studierende als auch flir Lehrerlnnen Bausteine zur Weiterentwicklung 270
der Reflexions- und Handlungskompetenzen vor, die gleichermaBen Kooperation bedingen wie auf Kooperationsformen zuriickstrahlen. Auf den Zusammenhang zwischen Merkmalen von Handlungsroutinen und individueller (Berufs-)Biografie verweisen viele Forschungsarbeiten (vgl. Terhart 1996, Goodson/Hargreaves 1996). Deswegen betonen professionstheoretisch-orientierte Autoren wie Bastian und Helsper (2000), dass zum Lehrerlnnenwissen ein (berufs-)biografisch, reflexives Wissen zahlt. Eine selbstreflexive, durch kollegiale oder professionelle Dritte unterstutzte Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie, zumindest aber mit den eigenen Schulerfahrungen und den Erfahrungen der Einsozialisation in die Lehrerlnnentatigkeit, schon beginnend im Studium, begleitend zum Referendariat und fortlaufend wahrend der gesamten Berufsphase wird von ihnen vorgeschlagen. Das biografische Lemen bewegt sich auf zwei Ebenen: Einerseits in der biografischen Selbstreflexion (Biografiearbeit), in der sich das Subjekt selbst mit der Einheit aus Biografie als Lebenslauf und Bildungsprozess auseinandersetzt. Andererseits in der Auseinandersetzung mit Fremdbiografien als vertieftes Verstandnis fremder Lebensgeschichte. Diese wird in ihrer erziehungswissenschaftlichen Auspragung als Biografieforschung verstanden. Es geht beim biografischen Lemen um die Institutionalisierung der Moglichkeit der Befremdung des professionellen Eigenen durch einen extemen Blick. Fallbezogene Reflexion und biografische Selbstreflexion eroffnen Einsichten in nicht intendierte Nebenfolgen des eigenen Handelns und in unausgeschopfte Chancen durch dieses Handeln.
1.4 Kooperation zwischen Anspruch und Wirklichkeit in verschiedenen Handlungsfeldern Kooperation in der Schule ist von einem Widerspruch gekennzeichnet: Auf der einen Seite hat Teamarbeit bisher in der schulischen Realitat nur vereinzelt Einzug gehalten. Auf der anderen Seite werden von den handelnden Lehrerlnnen von der Schul- sowie Ausbildungsadministration Kooperation und entsprechende Praxiskompetenzen gefordert. Dieser Gegensatz von Schulwirklichkeit und Anspruch findet sich in den nachfolgenden Untersuchungen auch in anderen padagogischen Handlungsfeldern wieder. Dabei ist der Widerspruch komplex, da sich strukturelle, qualifizierende, personale und proklamierende Anteile wechselseitig bedingen. Diese Tatsache ftihrt dazu, dass eine trennscharfe Darstellung verschiedener Bereiche nicht moglich ist. Ein Ergebnis lasst sich aber schon jetzt formulieren: Die derzeitige Ausbildung fiir Padagoglnnen und die Arbeits- und
271
Besoldungsstrukturen behindem Kooperation immer noch mehr, als dass sie sie ermoglichen.
2
Forschungsarbeiten zur Kooperation
2.1 Kooperation zwischen verschiedenen pddagogischen Berufsgruppen Die heutigen Anspruche an die Padagoglnnen mit der ihnen abverlangten Fahigkeit zum Verstehen und zur Kooperation mit anders Spezialisierten sind hoch. Als ein in der Padagogik fast schon klassisches Beispiel fur Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit und Abstimmung professionellen Handelns gelten die Probleme in der Kooperation zwischen Lehrerlnnen und Fachkraften aus der Jugendhilfe: Angehorige aus beiden Berufsgruppen agieren oft aneinander vorbei Oder gar gegeneinander, obwohl die fachliche Diskussion in regelmaBiger Wiederkehr eine engere Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule fordert (vgl. beispielsweise Warzecha 2000). Nach Szczyrba (2003) ist festzuhalten, dass Sozialpadagoglnnen vor dem Hintergrund ihres Berufsfeldes Kooperation als professionelles Abkiirzungs- und Routineverfahren intemalisiert haben. Lehrerlnnen folgen hingegen einem Berufsverstandnis, in dem Teamarbeit und Kooperation nicht habituell verankert sind. Hier treffen zwei Verstandnis- und Umgangsweisen aufeinander, deren Unklarheiten die Kooperationspartnerlnnen auf der direkten Interaktionsebene auflosen miissen. Bisher bleibt die Herstellung der notwendigen Verstandigungsprozesse den jeweils betroffenen Akteurlnnen allein iiberlassen. Um ein Verstandnis fur den spezialisierten anderen unaufwendiger herzustellen, bedarf es institutionalisierter Formen der Forderung des wechselseitigen Verstehens, gerade auch um Mehrarbeit zu vermeiden.
2.2 Kooperation in der Integrationsforschung In vielen Integrationsversuchen zeigen sich bei den beteiligten Padagoglnnen wiederholt Defizite in ihrer Kooperationspraxis (vgl. Kreie 1985, Wocken 1988) Die Kooperation von Padagoglnnen hat sich nach Reiser et. al. (1984) selbst „zum zentralen Problem" des gemeinsamen Unterrichts entwickelt. Padagoglnnen berichten in Untersuchungen von Sucharowski (1988 und 1990) vom „Gefuhl der Uberforderung", „einem permanenten Rechtfertigungsdruck", „standiger Imagegefahrdung" u. a. m. In den Hamburger Integrationsklassen ist beispielsweise in den ersten fiinf Jahren fast jedes zweite Team von einem oder 272
mehreren Ausstiegen freiwillig eingestiegener Kolleglnnen betroffen gewesen (Boban/HinzAVocken 1988). In den Integrationsversuchen arbeiten Lehrerlnnen gleicher oder unterschiedlicher Ausbildung miteinander, bzw. auch Lehrerlnnen mit Erzieherlnnen oder Sozialpadagoglnnen. Bereits 1985 arbeitete Kreie heraus, dass Kooperationsprobleme die Folge davon sind, dass Lehrerlnnen normalerweise alleine arbeiten und Veroffentlichungen ihres Denkens und Handelns in „integrativer Kooperation" nicht gewohnt sind. Unter einer „integrativen Kooperation" fasst sie u. a. die Wahrnehmung der eigenen und der anderen Person, Einigungen beztiglich des Unterrichts und der Veranderungen beruflicher Leitbilder sowie der gesellschaftlich-ethischen Mafistabe. Wenn Sonderpadagoglnnen auf einer Spezialistlnnenrolle oder nur in der Orientierung auf die einzelne Schtilerin beharren, bzw. wenn Regelpadagoglnnen nur ihren Blick auf die gesamte Klasse richten, werden Einigungsprozesse schwierig. Die Kooperation von Padagoglnnen mit unterschiedlichen Ausbildungsschwerpunkten bedarf im Hinblick auf die Forderung aller - gerade der von Benachteiligung bedrohten Schiilerlnnen - besonders klarer Rollenabsprachen und wechselseitiger Kompetenztransfers sowie der Bereitschaft zur gemeinsamen Reflexion der Kooperationsprozesse.
2.3 Zwei Ergebnisse einer empirischen Untersuchung uber Teamarbeit In der Fakultat far Bildungswissenschaften an der Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg arbeiten Studierende und Lehrerlnnen im Team nach einem spezifischen Konzept Forschenden Lemens. Die Ausbildung von Teamkompetenz gehort nicht zum vorrangigen Ziel, wird aber als beilaufige Wirkung angenommen. In einer Untersuchung sollten Auswirkungen dieser Teamarbeit auf das Teamverstandnis und die Teamkompetenz der Studierenden rekonstruiert werden. Auf zwei Ergebnisse sei in diesem Zusammenhang kurz hingewiesen: Wesentliche, in der PISA-Studie als qualifizierend herausgearbeitete Aspekte von Kooperations- und Kommunikationsfahigkeiten werden von den Oldenburger Teilnehmerlnnen als eigener Kompetenzzuwachs beschrieben (PerspektivenerweiterungZ-iibemahme, Empathiefahigkeit, aber auch die Verantwortlichkeit fur die Kooperation). In der Untersuchung zeigten sich dagegen als ein Kemproblem die Herausforderung in der Zusammenarbeit mit dem „schwierigen" Anderen innerhalb des Teams und ein reflexiver, problemlosender Umgang damit als ein Kemproblem. 273
Langfristig erscheint es damit in der Arbeits- und Forschungshaltung wichtig, ein Modell fur den selbstreflexiven Umgang mit dem „signifikanten Anderen" zu implementieren. Die einsozialisierende Ausstrahlungskraft dieses Modells auf die Studierenden ware wunschenswert und konnte einen Bestandteil zum Aufbau einer professionellen Haltung darstellen. Die Arbeit im Team konnte durch die Integration von Reflexionsverfahren auch iiber die Gruppenprozesse, die z. B. aus der Organisationspsychologie vorliegen, im Hinblick auf die Kooperationskompetenz flir den Beruf als Padagogin intensiviert werden.
2.4 Ergebnisse aus der Genderforschung Untersuchungen aus der Lehrerlnnenberufsforschung beispielsweise von Schiimer (1992) lassen, es geboten erscheinen „von der Vorstellung gegensatzlicher Geschlechterqualitaten Abschied zu nehmen" (Hansel 1997, 21). Gleichwohl sind geschlechtsspezifisch beeinflusste Blickwinkel nicht zu verleugnen. Die Untersuchung von Terhart et. al. zu Berufsbiografien (1994) erbrachte eine starkere Sach- und Berufsorientierung von Lehrem und eine starkere Personen- und Familienorientierung von Lehrerinnen. Mit der schon von Flaake (1989) herausgearbeiteten starkeren Beziehungsorientierung von Lehrerinnen korreliert das geschlechtsspezifische Verhalten im Hinblick auf Kooperation. Es bestehen geschlechtsspezifische Unterschiede in der Einstellung und der Bereitschaft zur Kooperation. Im Vergleich zu den mannlichen KoUegen verfligen Lehrerinnen nach Koch-Priewe (1996) tiber angemessenere Stile fur Kommunikation und Kooperation. Baur/Marti (2000) halten nach ihrer Untersuchung Frauen sogar fur teamfahiger. Die Untersuchung von Denner (2000) zeigt, dass Lehrerinnen Teamarbeit im starkeren MaBe beflirworten. Frauen verfagen iiber eine komplexe padagogische Professionalitat, die sich in kooperativer Beziehungsarbeit zeigt, die aber manchmal im Verborgenen bleibt. Schiimer (1992) erweitert diesen Fokus durch ihre schulformdifferenzierende Untersuchung. Danach ist das AusmaB der Kooperation von Lehrkraften dann besonders hoch, wenn sie an Gesamtschulen, besonders niedrig, wenn sie an Gymnasien unterrichten.
274
2.5 Forschungsstand zur Kooperation in Schulen Die Untersuchung von Roth (1994) zeigt, dass die Entwicklung von Kooperation den Padagoglnnen nicht leichter fallt als Angehorigen anderer Berufsgruppen. Bauer gibt 2004 einen Uberblick zum Thema Lehrerlnnenkooperation. Er bezieht sich auf deutschsprachige und amerikanische Forschungsarbeiten. Fiir die hier relevante Fragestellung lassen sich die Ergebnisse folgendermafien btindeln: Seit Mitte der 1990er Jahre nimmt das Interesse an Kooperation und Teamarbeit in Deutschland und USA wieder zu. Der Zusammenfassung von mehreren Studienergebnissen von Hargreaves (1992) folgend, wurde nur in sehr wenigen Schulen eine Zusammenarbeitskultur (regelmafiige gegenseitige Unterstutzung, Vertrauen und Offenheit in alltaglichen Interaktionen sichtbar) entwickelt; ahnliches kann fur Deutschland angenommen werden. Zusammenfassend lassen sich mit Bauer drei Ergebnisse nennen, wobei Parallelen zu Ergebnissen aus auBerpadagogischen Forschungsarbeiten bestehen: (vgl. z. B. Katzenbach/Smith 1993) 1. Zu kooperationsfordemden strukturellen Bedingungen gehoren die Bildung von kleinen Untereinheiten, fachtibergreifende Teams, die Planungshoheit iiber Lehr- und Lemzeiten und Bildung von Klassenleitertandems. 2. Kooperationspraxen, die auf einem gemeinsamen padagogischen Zielkonsens beruhen, eine allgemeine unterstlitzende Arbeitsumgebung und eine unterstlitzende Schulleitung besitzen, starken die Bereitschaft zur kooperativen Praxis. 3. Kooperation entlastet durch geringer erlebte Beanspruchung, bessere Problembewaltigung und giinstigeres Schulklima. Eine kompetente Leitung und die Aufgabenspezialisierung in fachlich heterogenen Gruppen wirken als unterstutzende Indikatoren. Die beiden bisher umfassendsten Studien zum Thema stammen aus den USA: Die Ergebnisse der Rosenholtz-Studie (1989) zeigen, dass positives Feedback und Lehrerlnnenkooperation hohere padagogische Effektivitat hervorbringen. Gleichzeitig wird die Notwendigkeit von gemeinsamen Zielen fur die Kooperation im padagogischen Handlungsfeld hervorgehoben. Die Legters Studie (1999) zeigt ebenfalls Parallelen der Untersuchungsergebnisse zu auBerpadagogischen Untersuchungen: Die erfolgreiche Zusammenarbeit hangt in erster Linie ab von der Ftihrung der Gruppe, der Zusammensetzung, der Kontinuitat der Mitgliedschaft und der Art der Lemgruppe, die betreut wird. Ein eher deutsches Phanomen bei der Kooperation scheint in der Bereitschaft, wenn nicht sogar im Bedtirfnis zu bestehen, berufliche und private Kooperation und Kommunikation miteinander zu verbinden. Zu diesem Ergebnis 275
kommen jedenfalls Bohm-Kasper et. al. (2001) und auch die fast zehnjahrigen Erfahrungen mit iiber 50 Forschungsarbeiten in der Oldenburger Teamforschung weisen in eine ganz ahnliche Richtung. Einen anderen Aspekt kann man querliegend aus den deutschen Untersuchungen von Ulich (1996) und Bauer/Kopka/Brindt (1996) herauslesen: Hochmotivierte und qualifizierte Lehrkrafte suchen Zusammenarbeit eher auBerhalb ihres KoUegiums. Ein Grund dafur liegt in den sehr hohen Erwartungen an Kooperation und den konkreten Erfahrungen mit Kooperation. Gleichfalls scheint fiir viele Lehrerlnnen Kooperation vor allem aus arbeitsorganisatorischen Vorteilen fiir sie selbst sinnhaltig zu sein, weniger um ihren Unterricht auf Heterogenitat abzustimmen. Schonknecht arbeitete in ihrer Untersuchung (o. J.) noch ein fur diesen Kontext bedeutsames innovationshemmendes Hindemis im schulischen Berufsalltag von Lehrerlnnen heraus. Die weitverbreitete berufstypische Praxis, in der es Mitglieder des KoUegiums selten wagen, sich in die Tatigkeit der Kolleglnnen hilfreich einzumischen, begreift sie als Manko. Mit Eder und Altrichter (2003 zit. in Gruber/Leutner 2003) bezeichnet sie dieses „Autonomie-Paritatsmuster" als entscheidende Innovationsbarriere. Der Mangel an systematischer Riickmeldung und Austausch erschwert die Entwicklung von professionellen Standards und ihrer Evaluation. Fiir Schonknecht zeichnen sich erfolgreiche, innovative Schulen durch eine niedrige Auspragung des „Autonomie-Paritats-Musters" aus. Durch eine vermehrte kooperative Praxis lassen sich nach ihren Erfahrungen innovative Entwicklungsprozesse in Gang setzen.
3.
Konsequenzen
3.1 Heterogenitat erfordert fachilbergreifende Zusammenarbeit in der Ausbildung Die alltagliche Kooperation der Praktikerlnnen im Kontext von Heterogenitat als prioritarem Thema verlangt bereits auf der Ausbildungsebene eine Kooperation der verschiedenen Disziplinen. Beispielsweise wachst durch die Kooperation von Sozialpadagogik und Allgemeinpadagogik die Perspektivenbreite, die firuhzeitig zu einem kritischen Dialog im Hinblick auf den Umgang mit Heterogenitat fiihren kann.
276
3.2 Kooperationskompetenz als curricularer Bestandteil der Erziehungswissenschaft Wenn Kooperationsfahigkeit mit Weinert (2002) als Schliisselfahigkeit gefasst wird, bedarf sie auch der durchgangigen Berucksichtigung in der Erziehungswissenschaft. Im Abschlussbericht der Kultusministerkonferenz zu Perspektiven der Lehrerbildung in Deutschland wird bei der Kooperation von einem selbstverstandlichen Merkmal fiir den Beruf ausgegangen. Im Kemcurriculum der Deutschen Gesellschaft fur Erziehungswissenschaft werden Teamentwicklung und die Analyse von Kooperationsstrukturen als Inhalte der professionsspezifischen Vertiefung genannt. Die Strukturen in Universitaten und die Curricula benicksichtigen eine theoretisch fundierte Starkung der Bereitschaft zur Kooperation und die Ausbildung von individuellen Kooperationsfahigkeiten bisher hingegen unzureichend. Die Ausbildung von Kooperationskompetenz bedarf aber der Verankerung im Curriculum der Erziehungswissenschaft. Padagoglnnen, die sich schon in der Ausbildung differenziert theoretisch und praktisch mit Kooperation auseinandergesetzt haben, erwerben hilfreiche Voraussetzungen, um sich in der spateren Praxis auch in andere Perspektiven eindenken zu konnen und die eigenen Kooperationskompetenzen weiterzuentwickeln.
33 Kooperation als Handlungspraxis Kooperation erhalt sowohl von der Theorie als auch aus der Praxis eine hohe Bedeutungszuweisung, obwohl sie faktisch nicht zwangslaufig die padagogische Qualitat verbessert. In der padagogischen Praxis wird Kooperation als wichtige Arbeitsform proklamiert aber bisher relativ selten praktiziert. Dieser Widerspruch ist bedingt durch strukturelle Rahmenbedingungen, traditionelle Selbstbilder berufstypischer Praxis und qualifikatorische Defizite im padagogischen Beruf Wesentlich erscheint es, genau zu untersuchen unter welchen Bedingungen Kooperation die angestrebten Ergebnisse hervorbringen kann. Positive Effekte far Schtilerlnnen, fiir Schule als System und fiir Lehrerlnnen konnen nicht bloB postuliert werden. So fmden sich beispielsweise in vielen Praxisberichten Hinweise auf die zufriedenstellendere Bewaltigung komplexer Aufgaben, eine wechselseitige Entlastungsmoglichkeit fiir die Lehrerlnnen und eine grundsatzlichere Berufszufriedenheit durch Kooperationen. Ob und wie damit jedoch die Qualitat der padagogischen Arbeit gesteigert wird, bleibt oftmals noch viel zu undeutlich.
277
Kooperative Praxen sind im padagogischen Kontext noch keine Selbstverstandlichkeit. Angesichts der Pluralisierung von Wissensbestanden, Lebens- und Arbeitsformen und Ausdifferenzierungsprozessen sowie im Hinblick auf das padagogische Gebot Benachteiligungen zu verhindem, gehoren Kooperationen zum unverzichtbaren Inventar einer habitualisierten professionellen Handlungskompetenz und sind damit Bedingung flir den Abbau von Benachteiligungen.
Literaturverzeichnis Bastian, J. (2004): Unterrichtsentwicklung - Lemkultur - Fachkultur. In: Popp, U./Reh, S. (Hrsg.): Schule forschend entwickeln. Weinheim. S.89-104 Bastian, J./Helsper, W./Reh, S./Schelle, C. (2000) (Hrsg.): Professionalisierung im Lehrerberuf. Opladen Bastian, J./Helsper, W. (2000): Professionalisierung im Lehrberuf - Bilanzierung und Perspektiven. In: Bastian, J./Helsper, W./Reh, S./Schelle, C. (Hrsg.): Professionalisierung im Lehrerberuf. Opladen. S. 167-192 Bauer, K.-O. (2004): Lehrerinteraktion und -kooperation. In: Helsper, W./Bohme, J. (Hrsg.): Handbuch der Schulforschung. Wiesbaden. S.813-831 Bauer, K.-0./Kopka, A./Brindt, S. (1996): Padagogische Professionalitat und Lehrerarbeit. Weinheim Baur, E./Marti, M. (2000): Kurs auf Genderkompetenz. Bern Boban, I./Hinz, A./Wocken, H. (1988): Warum Padagogen aus der Arbeit in Integrationsklassen aussteigen. In: Wocken, A./Antor, G./Hinz, A. (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen. Hamburg. S.275-333 Bohm-Kasper, O./Bos, W./K6mer, S.C./Weishaupt, H. (2001): Sind 12 Schuljahre stressiger? Weinheim Combe, A. (1999): Belastung, Entlastung und Professionalisierung in Schulentwicklungsprozessen. In: Combe, A./Helsper, W./Stelmaszyk, B. (Hrsg.): Forum qualitative Schulforschung 1. Weinheim. S.l 11-139 Crenshaw, K. (1994): Mapping the margins: intersectionality, identity politics and violence against women of color. In: Fineman, M./Mykitiuk, R. (Eds.): The public nature of private violence. NewYork. S.93-118 Denner, L. (2000): Gruppenberatung fur Lehrer und Lehrerinnen: eine empirische Untersuchung zur Wirkung schulintemer Supervision und Fallbesprechung. Bad Heilbrunn Deutsche Gesellschaft fur Erziehungswissenschaft: Strukturkommission: Strukturmodell fur die Lehrerbildung im Bachelor-Master-System. www.dgfe.pleurone.de/news/StrukturBAMA Fechler, H. (1987): Moglichkeiten und Grenzen des Kompagnon-Modells. Anmerkungen zu einem Schulversuch in Hildesheim. In: Sonderschule in Niedersachsen, 2/1987, S.43-61 Fiedler, U./Steenbuck, 0./Zimpel, A.F. (2003): Gleichaltrigeninteraktion in heterogenen Gruppen als didaktische Herausforderung. In: Warzecha, B. (Hrsg.): Heterogenitat macht Schule. Miinster. S.153-171 Flaake, K. (1988): Berufliche Orientierung von Lehrerinnen und Lehrem. Frankfurt am Main Goodson, I./Hargreaves, A. (1996) (Eds.): Teachers' professional lives. London Gruber, H./Leutner, D. (2003): Die kompetente Lehrperson als Multiplikator von Innovation. In: Gogolin, I./Tippelt, R. (Hrsg.): Innovation durch Bildung. Beitrage zum 18. Kongress der Deutschen Gesellschaft fur Erziehungswissenschaft. Opladen. S.263-274 Haeberlin, U. (1998): Das Scheitem der schulischen Integrationsbewegung verhindem! In: Hildeschmidt, A./Schnell, I. (Hrsg.): Integrationspadagogik. Weinheim. S. 161-177
278
Hansel, D. (1997): Frauen und Manner im Lehrberuf. In: Padagogik, 4/1997, S.16-21 Hargreaves, A./Fullan. M. (1992) (Eds.): Understanding Teacher Development. New York Helsper, W. (2002): Wissen, Konnen, Nicht-Wissen-Konnen: Wissensformen des Lehrers und Konsequenzen fiir die Lehrerbildung. In: Breidenstein, G./Helsper, W./K6tters-K6nig, C. (Hrsg.): Die Lehrerbildung der Zukunft - eine Streitschrift. Opladen. S. 67-86 Hildeschmidt, A./Sander, A. (1996): Zur Effizienz der Beschulung sogenannter Lembehinderter in Sonderschulen. In: Eberwein, H. (Hrsg.): Handbuch Lemen und Lem-Behinderungen. Weinheim.S.115-139 Katzenbach, J.R./Smith, D.K. (1993): Teams - Der Schliissel zur Hochleistungsorganisation. Wien Knauer, S. (2004): Was konn(t)en Padagogik und Schulpolitik in Post-PISA-Zeiten von der Integrationspadagogik lemen? In: Zeitschrift fur Heilpadagogik, 7/2004, S.335-340 Koch-Priewe, B. (1996): Schulentwicklung durch Frauen - Thesen und Visionen. In: Fischer, D./Jacobi, J./Koch-Priewe, B.: Schulentwicklung geht von Frauen aus. Weinheim. S.176-197 Kreie, G. (1985): Integrative Kooperation. Weinheim Kriiger-Potratz, M. (2002): Tradition und Transformation - ein historischer Blick auf den Umgang mit Pluralitat. In: Achtenhagen, F./Gogolin, I. (Hrsg.): Bildung und Erziehung in Ubergangsgesellschaften. Beitrage zum 17. Kongress der Deutschen Gesellschaft fiir Erziehungswissenschaft. Opladen. S. 95-109 Legters, N.E.: Teacher Collaboration in a restructuring urban high school, www.csos.jhu.edu/crespar /techReports/Report3 7 .pdf Meyer, H. (2001): Turklinkendidaktik. Berlin Prengel, A. (1995): Padagogik der Vielfalt. Opladen Reiser, H./Gutberlet, M./Klein, G. (1984): Sonderschullehrer in Grundschulen. Weinheim Rosenholtz, S. (1989): Teachers' workplace. New York Roth, H. (1994): Zusammenarbeit im Lehrerberuf. Lizentiatsarbeit. Universitat Ztirich, Padagogisches Institut. Ziirich Schonknecht, G. (o. J.): Die Entwicklung der Innovationskompetenz von Lehrerlnnen aus (berufs-) biographischer Perspektive. www. bwpat.de/spezial2/schoenknecht.shtml Schiimer, G. (1992): Unterschiede in der BerufsausUbung von Lehrem und Lehrerinnen. In: Zeitschrift fur Padagogik, 5/1992, S.655-679 Smith, V. (1998): Not just race, not just gender. London Sucharowski, W./Lieb, B./Kaak, S. u. a. (1988): Verhalten zwischen Verstandigung und Verstehen. Kiel Sucharowski, W. (1990): Kooperation in der Schule - Erfahrungen aus einem Schulversuch. In: Zeitschrift fiir Heilpadagogik, 4/1990, S.217-234 Szczyrba, B. (2003): Antagonismus in padagogischen Kooperationsbeziehungen oder Warum interprofessionelle Kooperation so schwierig sein kann. In: Journal Hochschuldidaktik, 1/2003, S.18-21 Terhart, E./Cerwenka, K./Ehrich, K./Jordan, F./Schmidt, H.J. (1994): Berufsbiographien von Lehrem und Lehrerinnen. Frankfurt am Main Terhart, E. (1996): Neuere empirische Untersuchungen zum Lehrerbemf. In: Bottcher, W. (Hrsg.): Die Bildungsarbeiter. Weinheim. S. 171-201 Terhart, E. (2000) (Hrsg.): Perspektiven der Lehrerbildung. Abschlussbericht der von der Kultusministerkonferenz eingesetzten Kommission. Weinheim Ulich, K.(1996): Bemf Lehrer/in. Weinheim Warzecha, B. (2000) (Hrsg.): Institutionelle und soziale Desintegrationsprozesse bei schulpflichtigen Heranwachsenden. Miinster Weinert, F. (2002) (Hrsg.): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim Wittrock, M. (1997): Sonderpadagogik in der Zukunft? Eine Hinfuhmng. In: Wittrock, M. (Hrsg.): Sonderpadagogischer Forderbedarf und sonderpadagogische Fordemng in der Zukunft. Berlin. S.9-25
279
Wocken, H. (1988): Kooperation von Padagogen in integrativen Grundschulen. In: Wocken, H./Antor, G./Hinz, A. (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen. Bilanz eines Modellversuchs. Hamburg. S. 199-274 Wocken, H. (1991): Integration heisst auch: Arbeit im Team. In: Padagogik, 1, S.18-22
280
Professionell Lehrende als strukturelle Chance? Pladoyer fiir ein aufgaben- und kompetenzorientiertes Lehrerausbildungscurriculum und eine veranderte Ausbildungskultur Renate Girmes
In einem Band, in dem es um biografische und strukturelle Risiken fur benachteiligte Jugendliche geht, spielt berechtigterweise die Schule eine groBe Rolle. Da Schule wesentlich von den darin wirkenden Lehrenden gepragt wird, ware die Frage durchaus berechtigt, ob und inwieweit Lehrerinnen und Lehrer als mogliche strukturelle Risiken fur Schiiler zu sehen sind. Denn man wird in der Rekonstruktion von Lembiografien nicht selten finden, dass es - auch und nicht unmaBgeblich - Lehrende waren, die das Entstehen von Angst, von Mutlosigkeit, von Genervtheit und Distanz zu einzelnen Fachem und zur Schule als Ganzer mit bewirkt haben. Aber auch das Gegenteil wird man fmden: Manche Lehrende - so sie denn in bestimmter Weise professionell agiert haben - waren eine strukturell bedingte Chance fiir Kinder und Jugendliche in dem Sinne, dass sie Schtilerinnen und Schiiler mit schwierigem sozialen und personlichem Hintergrund erfolgreich darin untersttitzen konnten, eine bestehende Benachteiligung auszugleichen und Schule und Unterricht in produktiver Weise fur ihre Entwicklung zu nutzen. In diesem Beitrag soil es darum gehen zu beschreiben und zu erlautem, wie die Professionalitat von Lehrenden beschaffen sein konnte und miisste, die als strukturelle Chance gegen Benachteiligung zu wirken vermochte. Die Frage ist, wie eine entsprechende Aus- und Weiterbildung von Lehrkraften zu gestalten sein wiirde, damit eine produktiv wirksame Lehrprofessionalitat entstehen kann, die naturlich alien Adressaten derartig qualifiziert agierender Lehrender zu Gute kame und insofem auch dazu beitragen wiirde, dem Entstehen von Benachteiligung entgegen zu wirken. Meine Uberlegungen entwickeln in der hier gebotenen Kurze ein Konzept, das sich - wegen seiner generellen Ausrichtung - auch als ein Beitrag zu der derzeitigen Diskussion um eine kompetenzorientierte Lehreraus- und -weiterbildung versteht.' 1 Reprasentiert wird diese Diskussion durch die Beitrage von Oelkers (2004); Terhart (2002; 2005) sowie durch den Beschluss der KMK aus dem Jahr 2004.
Beginnen mochte ich meine nachfolgenden tJberlegungen mit der Kennzeichnung der Bedingungsfaktoren und Zielvorstellungen, die das hier vertretene Verstandnis heutiger Anforderungen an die Ausbildung von Lehrenden generell pragen (1). Dabei zeigt sich, dass es in der Ausbildung darauf ankommt, das Losungswissen der Wissenschaften vom Lehren und Lemen - wie ich es nenne (vgl. Girmes 2004) - „aufgabenorientiert" zu dimensionieren und dabei dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Lehren als „Kommunizieren" zu verstehen ist. Das hat konstitutive Bedeutung fiir die theoretische Konzeption der zu entwickelnden beschriebenen ProfessionaHtatsdimensionen (3) und wirkt sich notwendigerweise auf die Ausbildungskultur und -struktur beim „Lehren lemen" aus: Die Ausbildungsphasen und -schritte waren in der Umsetzung dieser Uberlegungen zu einem kompetenzorientierten Spiralcurriculum fur Lehrende weiter zu entwickeln (4), was zahlreiche Veranderungen fiir Ausbildungsformate, fiir Ausbildungsinhalte und fiir die Qualifikation der Lehrerbildnerlnnen nach sich zoge (5).
1
Zu den heutigen Professionalitatsanforderungen an Lehrende
Wir leben heute in einer Gesellschaft, die ich „posttraditionar' nenne (vgl. Girmes 1997) und fiir die gilt, dass alle Menschen fiir das, was sie in ihrem Leben aus den verfiigbaren Traditionen auswahlen, zunehmend selbst verantwortlich sind und verantwortlich gemacht werden. Fiir eine heutige Theorie des Lemens und Lehrens und auch fiir eine Theorie der Professionalisierung von Wissensiibermittlung und Bildung ergibt sich daraus, dass es eine ihrer Aufgaben sein wird, die LFbemahme dieser Verantwortung der Menschen fiir sich selbst zu unterstiitzen. In dieser Formulierung steckt die Option, individuelle Entfaltungsanspriiche, die der einzelne Lemende aber auch der einzelne Lehrende stellt, mit gesellschaftlichen Erwartungen oder auch Zumutungen, denen sich Lemende und Lehrende ebenfalls gegeniibersehen, zu vermitteln. Erwartungen und Zumutungen, die aus der Gesellschaft heraus formuliert werden, besagen u. a.: • man sollte fiir sein So-Sein Verantwortung tragen konnen und wollen • man sollte die an einen heran getragene Selbstentwicklungserwartung akzeptieren und erfiillen • man sollte lebenslanglich Neues lemen wollen und konnen • man sollte Orientiemngs- und Entscheidungsfi*agen selbst sehen und selbst losen • man sollte aus angebotener Ftille Auswahlen treffen • man sollte sein Leben eigenverantwortlich ausgestalten.
282
Diesen Anforderungen sehen sich praktisch alle Menschen heute und in absehbarer Zukunft ausgesetzt und zwar auch dann, wenn das soziale und kulturelle „Kapitar', was sie zur Bewaltigung dieser Anforderungen aus ihrem sozialen Umfeld mitbringen, eher nicht ausreichend dafiir ist, diesen Anforderungen angemessen zu entsprechen. Sich ihnen zu entziehen, gelingt potenziell in traditionsgepragten und traditionsbewussten Kontexten, allerdings um den Preis, sich als Person auBerhalb solchermaBen traditionsgepragter, gewissermafien komplexitatsreduzierter sozialer Raume moglicherweise besonders hilflos zu erfahren. Diesen Preis nicht zahlen zu wollen, kann dazu fiihren, dass Menschen die auBere Absicherung ihrer Geborgenheit in einer traditionalen, ideologisch klaren, gegen Komplexitat und gegen Fremdes abgegrenzten Welt durch Teilhabeverzicht und durch selbst gewahhe Aus- und Abgrenzung aufrecht zu erhalten versuchen. Das zu tun, bedeutet nicht selten einen Weg in die BenachteiHgung zu gehen. Da mir dieser Weg als gesellschaftlich problematisch und im Sinne des einzelnen Individuums als nicht aussichtsreich erscheint, sollten aus meiner Sicht Bildung und Erziehung einerseits sowie die Ausbildung und Weiterbildung von Menschen andererseits dazu beitragen konnen, dass dieser Weg moglichst nicht als Ausweg gewahlt wird. Dazu kann die Professionalitat und notwendigerweise zuvor die Ausbildung von Lehrenden ihren Beitrag leisten und zwar dadurch, dass beide eine Form des Lehrens praktizieren, die den Menschen die oben aufgelisteten Erwartungen nicht langer als Zumutungen sondem als Entfaltungsmoglichkeiten ihrer selbst erscheinen lasst. Man konnte in diesem Zusammenhang von einem entfaltenden Lehren und Lemen (vgl. Jacoby 1994) sprechen, das besonders bedeutsam fiir die Kinder und Jugendlichen ist, deren familiale und soziale Situation zur Entfaltung der personlichen Ressourcen eher wenig beitragen kann. Die Befdhigung dazu, entfaltend so zu lehren, dass Lemen die Vorfreude auf sich selbst sein kann, wie Peter Sloterdijk einmal formuliert hat, ist also die im Folgenden geltende Zielvorstellung. Sie versteht sich als Vorschlag einer angemessenen Antwort auf die skizzierten gesellschaftlichen Anforderungen an die heutigen Menschen und damit auch an die Qualitat der Prozesse des heutigen Lehrens und Lemens und die dafiir erforderliche Entwicklung und Ausgestaltung von Lehrprofessionalitat.
283
2
Das Losungswissen der Wissenschaften vom Lehren und Lernen aufgabenorientiert dimensionieren: Die Qualifizierungsaufgaben von Lehrenden und ihre Zuordnung zu Kompetenzen und „Werkstatten"
Das entfaltende Lernen bei anderen Menschen anzuregen und zu befordem, ist eine sehr komplexe Aufgabe. Sich auf ihre professionelle Wahmehmung vorzubereiten, so dass es lernende Vorfreude auf den Lehrberuf wQrden kann, setzt voraus, dass Studierende die eigene Professionalisierung so erfahren konnen, dass sie sich darin unterstutzt sehen, • die von Adressaten und Abnehmem an sie als Lehrende gestellten Anforderungen differenziert wahrzunehmen dass sie Wege gezeigt bekommen, • die Vorschlage zur Entwicklung und zur Ausgestaltung der Organisation Schule fiir sich produktiv zu machen • die Problematik und die Losungsansatze zu einem heute vertretbaren Curriculum zu erfassen und zu bearbeiten • sich die Fiille der Konzepte und der konkreten Vorschlage, die es fur zeitgemaBen, guten Unterricht gibt, zu erschlieBen dass sie Moglichkeiten erhalten, • sich selbst als Person in der padagogischen Interaktion wahrzunehmen und sich hier gezielt und konzeptionell reflektiert einzubringen dass sie schlieBlich liber Moglichkeiten verfugen, • ihr Tun und dessen Wirkung zu dokumentieren und anhand von Kriterien zu bewerten. Ist die Untersttitzung bei der Auseinandersetzung mit diesen Fragen und den darin steckenden Aufgaben gewahrleistet, dann besteht die Aussicht, dass derart unterstiitzend ausgebildete Lehrende in jedem der benannten Bereiche Kompetenz ausbilden. Dadurch entsteht qua Ausbildung ein Kompetenzgeflige und damit auch ein Begriff davon, was eine kompetenzorientierte Ausbildung meint und ausmacht. Die gerade benannten Bereiche einer aufgaben- und kompetenzorientierten Ausbildung kann man nicht alle zugleich lehren, lemend erschlieBen und bearbeiten, weshalb ich vorschlage, die in der Aufzahlung zum Ausdruck kommende komplexe Gesamtaufgabe, die zukiinftig Lehrende vor sich sehen, in 10 Teilaufgaben zu unterteilen und diese zum Gegenstand der Ausbildung zu machen. Dazu scheint es mir hilfreich, die entstehenden ausbildungsbezogenen Lehrangebote sechs verschiedenen Kompetenzbereichen und diesen zugeordneten „Werkstatten" zuzuordnen. Das sind Werkstatten, in denen Angebote im Sinne von Wissen und Konnen zur Verfugung gestellt werden, auf die sich eine Professionalitat grlinden lasst. 284
Wie die 10 Teilaufgaben, die ich Qualifikationsaufgaben nenne, den sechs Kompetenzen und Werkstatten zugeordnet sind, zeigt folgende Ubersicht: Adressaten- und Abnehmeranalyse - diagnostische Kompetenz 1. Lemmoglichkeiten der Adressaten wahmehmen und berucksichtigen 2. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen fiir die eigene Lehrtatigkeit klaren Institutionenbauhof- Institutionelle Kompetenz 3. Arbeitsbedingungen in Lehrorganisationen klaren und gestalten 4. Lemumgebungen/ Lemraume gestalten Curriculumschmiede - curriculare Kompetenz 5. Lehrvorhaben sachgerecht, kompetenz- und aufgabenorientiert klaren und konzipieren 6. Lemaufgaben adressaten- und sachgerecht formulieren/ Lehr-LemMittel herstellen Methodenlabor - Methodische Kompetenz 7. Lehr- und Lemprozesse (Artikulationen) gedanklich, material und in der Zeit vorplanen; geeignete Anfange fmden und gestalten Interaktions- und RoUenfindungs labor - kulturelle und personate Kompetenz 8. In Lemsituationen den eigenen Vorhaben und Prinzipien entsprechend handeln und sprechen 9. Prinzipien fur die eigene Rolle/ fiir eine Haltung gegeniiber Lemenden fmden Evaluationsagentur - reflexiv evaluative Kompetenz 10. Formen der prozessbegleitenden und ergebnisbezogenen Erhebung von Lehr- und Lemergebnissen nutzen und Ergebnisse im Blick auf Kriterien bewerten Professionalitat im Blick auf diese Aufgaben zu entwickeln, bedeutet, als zukiinftig Lehrender gelemt zu haben, die in der je einzelnen Aufgabe steckende Herausforderung an die eigene Lehrtatigkeit wahrzunehmen und iiber Wissen und Konnen zu verftigen, um diesen Herausforderungen qualifiziert zu begegnen. Zu diesem Zweck hat ein/e in diesem Sinne Professionelle/r sich mit erziehungswissenschaftlichen und anderen Wissensbestanden auseinandergesetzt und gelemt, dieses Wissen als Losungsoptionen fur anstehende Aufgaben aufzugreifen und es eigenstandig sowie eigenverantwortlich zu nutzen. Die Werkstattmetapher, die ich zur Ordnung und Btindelung der Qualifizierungsaufgaben nutze, entspricht dem skizzierten Gebrauch von theoretischem und praxisbezogenem Handlungswissen, den ich anstrebe und anregen mochte: Die Werkstatt gibt mit ihren Raumen dem Wissen eine aufgaben- und tatigkeitsbezogene Ordnung, die dem professionell Lehrenden „vor Antretung des Geschafts" das Ganze seines Vorhabens moglichst klar vor Augen fiihrt und das 285
verfligbare Losungsrepertoire iibersichtlich gestalten und zuganglich machen kann und soil. Diese topografische Orientierung erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung (vgl. hierzu ausfiihrlich Girmes 1997) zielt darauf ab, die verschiedenen Riicksichten einer professionellen Lehrtatigkeit im einzelnen klar zu entwickeln, damit man sie sodann als verantwortlicher Professioneller im Vollzug der Tatigkeit klug kombinieren moge. Die Metapher der Werkstatt mit ihren Raumen bringt zum Ausdruck, dass die Topoi als mogliche Orientierungen didaktischen und schulpadagogischen Nachdenkens heute - genauso wie die Orientierungen far das Verstandnis der Welt iiberhaupt - weniger festen, sicheren Orten, denn eher aktiven Baustellen gleichen. Hier herrscht Pluralitat und es wird fortgesetzt gearbeitet, allerdings moglichst auf dem verftigbaren Niveau, d. h. auf der Basis des umfangreich verftigbaren Materials aus der Tradition und aus den Wissensbestanden der Disziplin. Was ein/e zukunftig Lehrende/r sich in welcher Weise davon zu eigen macht und wie er/ sie es kombiniert, um seine/ ihre jeweilige Lehraufgabe gut zu losen, das verantwortet sie oder er selbst, allerdings mit der Mafigabe, iiber die dabei getroffenen Entscheidungen Rechenschaft ablegen zu konnen. Es sind also insgesamt sechs verschiedene Raume, denen Ausbildungsangebote, dahintersteckenden Forschungsfragen und beides reprasentierende Qualifizierungsaufgaben zugeordnet sind, und in denen sich zukiinftig professionell Lehrende eine kompetente Nutzung des jeweils bereitstehenden Wissensund Konnensbestandes^ aneignen und in denen sie durch aktives Ausiiben der mit der Werkstatt verbundenen Aktivitaten Kompetenz aufbauen. Im ersten Raum geht es um die Analyse und das Verstehen der Adressaten von Lehrangeboten und um die Anforderungen der Abnehmer von gebildeten und ausgebildeten Menschen. Hier zu klarende Fragen sind zu (1): Was wissen wir iiber die Lemmoglichkeiten und Lemerfahrungen unserer Adressaten? Was folgt aus neuen Forschungsergebnissen etwa des Konstruktivismus oder der Himforschung fiir unser Verstandnis von Lemen? Bezugswissenschaften sind u. a. Entwicklungs- und Lemtheorien, erkenntnistheoretische und neurobiologische Fragestellungen. Zu (2): In welche Gesellschaft hinein lehren wir, unterstiitzen wir das Sich-Bilden und Ausbilden? Was kennzeichnet die so genannte Wissensgesellschaft und die mit ihr verbundene Posttraditionalitat und muss Bildung in ihr vielleicht etwas anderes heiBen als bisher? Bezugs-
2 Das Wissen und Konnen, auf das ich nachfolgend Bezug nehme, wird hier beispielhaft erwahnt. Ich meine es also ausdriicklich nicht als einen Vorschlag fur ein materiales Kemcurriculum. Welche Literatur sich in meiner Prasentation der Qualifizierungsaufgaben in der Ausbildung, die ich verantworte, mit den Aufgaben verkniipft, ist in der Intemetprasenz der Raume der Didaktikwerkstatt unter www.uni-magdeburg.de/didaktik auffmdbar.
286
wissensgebiete sind: Gesellschaftstheorien, Zivilisationstheorien, heutige Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Im zweiten Raum der Didaktikwerkstatt, dem Institutionenbauhof, geht es um die Konstruktion der Institution, in der Lehrende arbeiten. Zu (3): Was sind hier die Arbeitsbedingungen, wovon hangen sie ab, wie kann man sie mitgestalten und verandem? Das sind Fragen, die im Zentrum z. B. von Schulentwicklungsprozessen stehen, wo Lehrerinnen und Lehrer beginnen, die Struktur, Kultur, Leitung, Kooperationsbeziehungen ihrer Organisation zu betrachten und gezielt zu verandem. Bezugsliteratur ist die Schulklimaforschung, Schulentwicklungsliteratur aber auch Organisationsentwicklungsliteratur wie z. B. Peter M. Senge's Funfle Disziplin. Der Arbeitsrahmen, den man sich dabei mit entwickelt, hat eine ganz reale Seite: (4) die Lemumgebung und ihre Gestaltung. Jeder, der in Schulen oder sonstigen Bildungseinrichtungen arbeitet, kennt die groBe Wirksamkeit dieses stummen Mitakteurs, der die eigene Arbeit tragen kann oder gegen den man ermiidend anarbeitet. Das sehen und andem zu konnen: die Forderlichkeit der Umgebung ist Gegenstand in den Wissensgebieten Theorie des Raums/ der Ergonomie/ Asthetik/ Farbpsychologie, deren gezielte Rezeption fur Bildungseinrichtungen im WesentUchen noch zu leisten ware (vgl. hierzu z. B. Girmes/Lindau-Bank 2002; Rittelmeyer 1994; Liebau/Miller-KippAVulf 1999). In der Curriculumschmiede geht es um die Arbeit am Curriculum. Zu (5): Wie baut man ein Curriculum - gemeinsam, aufeinander abgestimmt, fur eigenverantwortliches, kooperatives Lemen? Welche Strategien zur Reduktion der Fiille, zur Gewahrleistung von Exemplaritat und Relevanz kommen da in Betracht? Was heiBt es, sie umzusetzen? Zu (6): Wie kann man Aufgaben formulieren und durch Material unterstiitzen, die die Sachen zu klaren helfen und die Schiilerinnen und Schiller dabei starken - um es mit von Hentig zu sagen? In diesem Werkstattraum lasst sich die Tragfahigkeit und Relevanz von didaktischen Ansatzen erschlieBen und erproben und dabei auch erforschen. Wie weit tragt die Lehrkunstdidaktik a la Wagenschein, das Primarstufenmaterial von Montessori, Lehrplankonzepte der Reformpadagogik oder Klafkis Schliisselprobleme oder das von mir vertretene Konzept einer Aufgabenorientierten Didaktik (Girmes 1997; 2004) mit alien Menschen sich stellenden Aufgaben, die ihnen zu Bildungsaufgaben (gemacht) werden konnen? Hier geht es auch um offene Forschungsfragen: Wie konzipiert man ein Lehrangebot, das dem Lemen Zeit lasst und Anschliisse fur Weiterlemen gmndlegt? Wie prasentiert man es so, dass es Lemer erreicht und angeht? Wie kann es gelingen, eine aufgabenhaltige
287
Lemumgebung als Lemsetting zu gestalten, in der Lemende ihrem eigenen Rhythmus entsprechend arbeiten und lemen.^ Im Methodenlabor liegt die Fiille des methodischen Wissens von Sokrates bis Mindmapping. Hier (7) bedarf es einer Ordnung und Aneignung, die Lehrenden hilfl, Lemprozesse so zu artikulieren, dass daraus ein Arrangement wird, das Sache, Adressaten und situative Bedingungen in der verftigbaren Zeit zu (Lem-) Aktivitaten in sozialen Formen miteinander klug und produktiv vermittelt. Jeder kennt die Forschungsfrage, die hier geparkt ist: das Entwerfen einer Aufgabe des Artikulierens adaquate Theorie der Methode, die den bestehenden Reichtum an methodischen Konzepten und EinzeHdeen aus dem Status der Sammlung herausffihrt.' Lehrer und Lehrerinnen wirken durch ihre Person und zwar in doppelter Weise, was die Auseinandersetzung mit zwei QuaHfizierungsaufgaben im RoUenfmdungs- und Interaktionslabor zur Folge haben sollte: Lehrend wirkt man durch Korpersprache, Mimik, Gestik, Tonfall in einer bestimmten Weise, die nicht selbstverstandHch und ohne Nachdenken und Bedacht mit dem, was man sagen und vertreten will, iibereinstimmt. Zu lemen, wie man wirkt und zu wirken, wie man will, ist Gegenstand der 8. Qualifizierungsaufgabe. Ihre Bezugswissensgebiete sind Kommunikationswissenschaft/ Konzepte zur Korpersprache, zur Stimmbildung etc., aber auch - in Hinsicht auf die nachfolgende Qualifizierungsaufgabe - Ansatze zur Rekonstruktion der eigenen Biografie (vgl. z. B. Gudjons/PieperAVagener 1992) sowie naturlich erziehungstheoretische Literatur. Denn hinter der korpersprachlichen Oberflache steht eine Haltung/ ein Verstandnis der eigenen RoUe (9). Auch hier gibt es einen Fundus, der die Klarung anregen kann: So z. B. Janusz Korczak oder Werner Loch mit dem Prinzip der Achtung, das Prinzip der Aufforderung zur Selbsttatigkeit in seinen vielfaltigen Ausformulierungen, aber auch das Wissen um die sich selbst erfullenden Prophezeiungen aus der Studie „Pygmalion im Unterricht" von Rosenthal und Jacobson und anderes mehr. Das, was in organisierten Lehr-Lemprozessen geschieht, bedarf der Dokumentation, Einschatzung, Bewertung und Reflexion. Dem dienen die Wissenselemente, die in der so genannten Evaluationsagentur Bedeutung haben - z. B. iiber die Wirkungen von Lob und Tadel, die Effekte von Schulerfolg und Schulversagen, die Formen der Leistungserhebung, formativer und summativer Art, bezogen sowohl auf die Lemer als auch bezogen auf die Lehrenden und ihre Organisation. Auf diese Anforderung sollte ein Professionalisierungsprozess vorbereiten, damit (10) Lehrende iiber Strategien verfligen, ihre Wirkungsannahmen 3 Girmes (2004) zeigt dazu einen gangbaren Weg auf, der zudem Kooperation und Arbeitsteiligkeit bei alien, die ihn nutzen, unterstutzt 4 Welche Richtung dazu produktiv eingeschlagen werden konnte vgl. Girmes (2004,178-214).
288
und die real eintretenden Wirkungen - als Individuen und als Organisation empirisch gehaltvoll - zueinander in Beziehung zu setzen und zu reflektieren. Bezugwissen ist hier in Konzepten zur Leistungserhebung und -bewertung sowie in Theorien formativer und summativer Evaluation zu finden.
3
Lehren ist Kommunizieren: Zur theoretischen Konzeption der beschriebenen Professionalitatsbereiche und der ihnen zuzuordnenden Kompetenzen
Es sind sechs Kompetenzen und die ihnen zugeordneten Werkstatten, in denen sich zukiinftig Lehrende mit vielerlei theoretisch verfugbarem Werkzeug auseinandersetzen und es erproben. Wenn Lehrende die 10 Qualifizierungsaufgaben, die sie in den Werkstatten prasentiert finden, bearbeiten, brauchen sie eine mentale Verkntipfling, damit sich die vielfaltigen Aufgaben als Bestandteil der einen, eigenen professionellen Rolle zusammenfugen. Wenn die Schule in einer posttraditionalen und zugleich demokratisch und pluralistisch verfassten Gesellschaft die Organisation ist, die sich explizit der Herausforderung stellt, eine jeweils nachwachsende Generation von Kindem und Jugendlichen in ihrer Entwicklung und Bildung so zu unterstiitzen, dass diese einerseits zu eigenverantwortlichen und andererseits zu sozial und okonomisch tragfahigen Mitgliedem der bestehenden Gesellschaft werden konnen, bedeutet das ftir die professionell Lehrenden, (iber die bestehende Welt mit der jeweils nachwachsenden Generation gehaltvoll und in einer „Bildung" forderlichen Weise zu kommunizieren. Schule und Lehrende haben so gesehen die Aufgabe, ein wenn nicht der Ort und Anreger einer intergenerativen Kommunikation zu sein, einerseits tiber das, was wir alle fiir unsere gemeinsame Welt halten wollen und andererseits iiber die Probleme und Aufgaben, die wir in dieser Welt haben, bearbeiten und losen wollen und auch miissen. Insofem Lehren Kommunikation tiber die Welt und die menschlichen Belange in ihr ist - auch im Sinne der Anstiftung zur Ko-Konstruktion von Weltverstehen durch die Lemer - kann man die Summe der oben benannten LehrKompetenzen auch als Elemente einer padagogisch artikulierten kommunikativen Kompetenz verstehen. Damit diese kommunikative Kompetenz entsteht, muss man als Lehrender lemen, einerseits gut zuzuhoren und andererseits die mindestens vier Botschaften, die man gemaB Schulz von Thun (1981) mit jedem Kommunikationsakt tibermittelt, kompetent und miteinander stimmig zu tibermitteln.
289
Bezieht man diesen Gedanken auf die vorgestellten Werkstatten, lasst sich sagen: Im InstitutionenbauhofQntstoht kommunikationstheoretisch gesprochen - qua Lemumgebung und Organisationskultur - maBgeblich die Beziehungsbotschaft, die eine Schule bzw. eine Bildungseinrichtung generell ausstrahlt: so gehen wir hier miteinander und mit Dir um: freundlich, offen, vertrauensvoU oder gleichgtiltig, zugeknopft, misstrauisch. Aus der Curriculumschmiede kommt die Sachbotschaft: sie sagt mittels Curriculum, Aufgaben und Medien: darum geht es hier. Im Methodenlabor wird tiber die Gestaltung der Lemprozesse gearbeitet und damit entschieden, welcher „kommunikative Appell" von der gewahlten Artikulation und den getroffenen methodischen Einzelentscheidungen ausgeht. Die Haltung, Gestik, Mimik und der Ton, mit denen Lehrende agieren, entstehen im so genannten Interaktionslahor. Sie formulieren eine Ich-Botschaft, signalisieren also etwas von dem Ich, das hier lehrt, und sagen: so einer/eine bin ich und geben damit Auskunft iiber die von einem/einer Lehrenden vertretenen und gelebten Prinzipien und professionellen Haltungen. Was sich in der Analyse und Reflexion lehrender Tatigkeit - verstanden als Kommunikation - trennen lasst in 1. die „Sprache der Institution", die der organisatorische Rahmen und die konkrete Lemumgebung spricht, 2. die curriculare Sachbotschaft, die als „Sprache der Sache" kommuniziert, worum es hier geht, 3. die „Sprache der angestifteten Prozesse", die den lemenden Adressaten qua Methode sagt, was die ihnen angebotenen Rollen und Aktivitaten sind, und schlieBlich 4. in die Ich-Botschaft des interaktiven und korpersprachlichen Stils und der dahinter liegenden Haltung als „Sprache der Person", das alles vollzieht sich in der Praxis des Lehrens zugleich und ineinander verwoben. Daraus resultiert die enorme Komplexitat lehrender Tatigkeit: hier verkniipft man in einer Situation die Sprachen der Institution, der Sache, der Prozesse und der Person zu einem Geschehen, wenn man so will einer funften Sprache, der Sprache der Situation. Das geschieht in der Qualitat, in der man in den Werkstatten - oder wo auch immer sonst - gelemt hat, zu horen und die einzelnen Sprachen je ftir sich moglichst kompetent zu sprechen. Es ist die, die verschiedenen Botschaften integrierende fiinfte Sprache einer konkreten Situation, die letztlich ftir die sich professionalisierenden Lehrenden das komplexe Geftige von zu bewaltigenden Teilaufgaben in eine erfahrbare RoUe miinden lasst. In der eigenen, selbst verantworteten situativen Kombination der vier benannten Botschaften erfahrt man lehrend Gelingen oder Misslingen 290
von Lehrtatigkeit. Dabei voUzieht sich die mentale und reale Verknupfiing der vielfaltigen Teilaufgaben. Die gute Kenntnis eben dieser Teilaufgaben und moglicher Losungen fiir sie bereitet die Verkntipfung dabei genauso vor, wie sie sie wac/zzubereiten hilft: Denn Gelingen und Misslingen konnen in der gegebenen Komplexitat vielerlei Ursachen haben. Nur wenn man diesen nachzugehen gelemt hat, wird man letztlich etwas fiir Professionalitat Zentrales erfahren, namlich dass differenzierte Abhangigkeiten bestehen zwischen den verschiedenen, aber gleichzeitig kommunizierten Botschaften der Lehrenden und dass es klug ist, z. B. darauf zu achten, dass die tibermittelten Beziehungs- und IchBotschaften der Lehrenden nicht konterkariert werden von ihren Sachbotschaften und ihren im Unterricht tibermittelten kommunikativen Appellen. Denn eine IchBotschaft: ich bin jemand, der dir vertraut und auf dich setzt, wird z. B. durch eine methodische Prasentation nach der 4-Aufgaben-Methode: Anschreiben, Abschreiben, Auswendiglemen, Aufsagen vermutlich auf die Dauer unglaubwiirdig. Haufig zeigen alternative Schulen und nicht-schulische Bildungseinrichtungen mehr Sensibilitat beim Bemiihen um die Stimmigkeit ihrer Botschaften und erweisen sich dadurch als bessere Unterstiitzung der Kompetenz und Professionalitat ihrer Mitarbeiter. Mit diesem Hinweis ist auch angedeutet, dass lehrende Professionalitat ebenso wie Nicht-Professionalitat nicht nur individuell zurechenbar und zu verantworten sind.^ Wie man sich ihre institutionelle Anstiftung und dauerhafte Unterstiitzung durch Ausbildung denken kann, behandelt der nachfolgende Punkt.
4
Das Lehren lehren: Die Ausbildungsphasen in einem institutionell verantworteten, kompetenzorientierten Spiralcurriculum fiir Lehrende
Die Anstiftung der erstmaligen und dabei bewussten Auseinandersetzung mit den professionellen Aufgaben von Lehrenden ist aus meiner Sicht Auftrag der 1. Phase der Lehrerbildung. In den in sie eingebauten Praktika und in der 2. Phase kommt es im Blick auf das Voranstehende wesentlich darauf an, Erfahrungen mit der Kombination der vier Botschaften, die man als Lehrender iibermittelt, zu machen und zwar vor dem Hintergrund eines moglichst differenzierten und ausgewogenen „Horens" auf die Merkmale der Situation, in der man agiert. In der Kombinatorik entsteht eine Erfahrung und ein eigener Handlungsmodus oder Stil und auf die Dauer eine ihm entsprechende Routine. Man konnte sagen, hier lemt man als Lehrender das Sprechen der oben skizzierten fiinften Sprache aus der 5 Da es den Rahmen sprengen wurde, auf die Bedingtheit von Professionalitat durch die Schule als Organisation einzugehen, mochte ich hier nur auf Bottcher/Terhart (2004) verweisen.
291
situationsgerechten Kombination der anderen vier; oder mit einem alten und immer noch tragfahigen Begriff bezeichnet: man entwickelt padagogischen Takt.^ Dessen Qualitat wird von den Erfahrungen abhangen, die die ersten eigenen aktiven Schritte begleiten. Sind die ersten eigenen Versuche, die man macht und zu machen angeregt wird, wohl bedacht, erfolgreich und in ihrer Reflexion belehrend, wird i. d. R. eine tragfahigere Professionalitat entstehen, als wenn die ersten praktischen Aktionen unklug kombiniert und situiert sind, man ganz oder teilweise scheitert und dann moglicherweise weder versteht, warum man gescheitert ist, noch, welche Altemativen sich batten bieten konnten. Damit praktische Versuche im „Sprechen der funften Sprache" Professionalitat aufbauend und belehrend wirken konnen, braucht man als das Lehren Lemender eine kollegiale, differenziert wahmehmende und solidarische Aktionsvorbereitung und differenzierte Rtickmeldung und Beratung zum eigenen Tun. Inwieweit diese in den praktischen Phasen der Ausbildung gewahrleistet ist, erscheint mir eine kritische, aber zentrale Frage an die entsprechenden Ausbildungsstellen zu sein.^ Was die Grundausbildung pragt, setzt sich aus meiner Sicht in der berufsbegleitenden Weiterbildung fort, nur auf einem elaborierterem Niveau, weshalb ich den Begriff und das Konzept des Spiralcurriculums fur sachgemaB und programmatisch sinnvoll halte: man kann sich und seine Kompetenzen bezogen auf alle benannten Qualifizierungsaufgaben ein Berufsleben lang sinnvoll und wirksam fortbilden: z. B. zur Erweiterung seiner curricularen Kompetenz, seiner methodischen Kompetenz, seiner organisations- und institutionsbezogenen Fahigkeiten, seiner Selbstprasentation und zwar jeweils fur sich. Daraus erwachst dann aber - systemisch betrachtet - zumindest potenziell auch eine Veranderung der eigenen, kombinatorischen (Gesamt-)Praxis; soil diese Veranderung wirklich produktiv erfahren werden, kann es notig sein, auch hier wieder Aktionsvorbereitung, differenzierte Rtickmeldung und Gesprachsangebote ftir die Veranderungserfahrungen verfugbar zu haben: das genau begriindet in meinen Augen die steigende und berechtigte Nachfrage nach Supervision auch bei ausgebildeten Lehrenden, die sich weiterentwickeln woUen. Mir scheint, die produktive Entwicklung und Begleitung des Sprechens der 5. Sprache, also der der Situation - mit tradierten Worten, die Kultivierung padagogischen Takts - und einer der Entwicklung dieses Takts gemaBen Artikulation lehrender (Ausbildungs-)Tatigkeit ist eine zu wenig theoretisch wie praktisch bearbeitete Herausforderung, der sich zu stellen zentral ist fiir die Qualifizierung und kompetenzorientierte Qualitatsentwicklung der Lehrerbildung. 6 Ich verwende den Begriff im Anschluss an Herbart (1802, 121-131; 126). 7 Wie man die Ausbildung von Lehrenden gnindsatzlich neu gestalten konnte, habe ich an anderer Stelle ausfuhrlicher behandelt vgl. Girmes 2002.
292
5
Pladoyer fur eine veranderte Ausbildungskultur als Konsequenz des umrissenen Professionalisierungskonzepts fur Lehrende
Damit Lehrende nicht auf Dauer als mogliche strukturelle Risiken fiir Schiiler und Schiilerinnen zu sehen sind, sondem als stmkturell bedingte Chancen ftir Kinder und Jugendliche wirken konnen, geht es darum, dass zuktinftig Lehrende auf alien Ebenen des Bildungswesens Gelegenheit erhalten, die Komplexitat der auf sie zukommenden Gesamtaufgabe mit ihren Teilaufgaben wahrzunehmen und auf der Hohe des verfligbaren Wissens, das als relevant fiir die jeweilige Teilaufgabe eingeschatzt wird, zu bearbeiten. Das damit vorgeschlagene Aus- und Weiterbildungs-Curriculum ist eines von verbindlich zu stellenden und zu bearbeitenden Qualifizierungsaufgaben, nicht eines von verbindlich gemachten Losungen. Es unterstiitzt den Aufbau einer, an den gemeinsamen Aufgaben orientierten Kommunikation zwischen Ausbildenden und Ausgebildeten, deren Gegenstand das vielfaltige Losungswissen der Erziehungswissenschaft und beizuziehender anderer Disziplinen ist (vgl. dazu Girmes 1996). Diese Kommunikation soUte auf der Hohe des Wissensstandes der beigezogenen Wissensgebiete sein. So kann ein qualifiziertes Niveau gesichert werden, ohne dass ein material bestimmter Ausbildungskanon festgelegt wiirde. Ausbildungsdidaktisch fiihrt das dazu, erziehungswissenschaftliche, schulpadagogische und andere Literatur und Traditionen bezogen auf die formulierten Kompetenzen und die darauf bezogenen Qualifizierungsaufgaben zu ordnen und in den Ausbildungsprozess einzubringen. Die Auseinandersetzung mit Wissensbestanden verbindet sich dann mit der Frage: Was ist das fiir eine padagogische Ausgangslage und Fragestellung, mit der der Autor/die Autorin versucht umzugehen und eine Bearbeitungsmoglichkeit zu eroffnen? Was also sieht er Oder sie als Aufgabe, als Frage, und wie lautet ihr oder sein Losungsvorschlag, also eine prasentierte Antwort? Mit dieser Fragestellung lasst sich das Gedankengut vieler Autorinnen und Autoren in seiner Authentizitat und ggf Modemitat erschlieBen und nutzen, ohne dass man sich gezwungen sahe, alle Begnindungsfiguren und potenziell problematischen theoretischen Dimensionen einer Position ebenfalls weiter mit zu transportieren. Es ist ein „werkstattgemaBer" Umgang mit Literatur, der beinhaltet: Theorie und Theoretisierungen in ihrer heutigen Tragfahigkeit ftir anstehende Aufgaben des Lehrerberufs zu prufen und wenn moglich neu produktiv zu machen, auch dann, wenn man aus heutiger Sicht bestimmte Theorieanteile nicht teilen kann. Das soil beispielsweise heiBen: Man muss nicht an eingeborene Ideen der Menschen glauben, um das Kommunikationsangebot, das man als Lehrender mit der sokratischen Methode machen kann, aufzugreifen und einzusetzen, genau so wenig wie man
293
Steiners Menschenbild teilen muss, um sich von den Raumgestaltungskonzepten der Waldorfianer anregen zu lassen. Professionalisierung bedeutet, so betrachtet, dazu anzuregen und beizutragen, dass Lemende eigene Losungen fur die professionell sich stellenden Aufgaben entwickeln, das allerdings in Fortsetzung dessen, was an Losungsrepertoire verfugbar ist, also eine Entwicklung von Losungen, die aufsetzen auf das schon erreichte Niveau. In diesem Sinne professionalisierend Lehren zu konnen, stellt eine Forschungsfrage, deren Bearbeitung mir im Wesentlichen noch anzustehen scheint: namlich eine Rekonstruktion der Theoriebestande aus aufgabenorientierter Perspektive. Es ist ein Programm zur „Rettung" der Ideen, um es mit Walter Benjamin (1925/1980) zu sagen, deren Verlust es dadurch abzuwehren gelingt, dass man sie immer wieder neu in Bezug auf die jeweils aktuell gegebenen Phanomene ins Spiel und in die Erinnerung bringt, was aus meiner Sicht eine permanente Aufgabe der Wissenschaft ist. Fiir ein professionalisierendes Ausbildungs- und auch Weiterbildungs-Curriculum muss das padagogische Rad also nicht neu erfiinden werden. Es gibt viele tragfahige Vorschlage fiir wirksames und Eigenaktivitat und Selbstverantwortung befordemdes Lemen. Allerdings scheint mir, dass es bisher nicht gelungen ist, die vielen existierenden Rader so in ein heute fahrtiichtiges Fahrgestell zu integrieren, dass daraus ein, in unserer jetzigen historischen Situation gut laufendes System und Ausbildungssystem wiirde: Der Grund fiir diese betrubliche Diagnose ist einerseits, dass zu wenig wahrgenommen und beriicksichtigt wird, was man wissenschaftlich langst geklart hat und es wird in der Breite wenig von dem praktisch umgesetzt, was sich z. B. in hiesigen Schulversuchen und im Ausland vielfach bewahrt hat. Andererseits fehlte bisher ein tragfahiger Ordnungsvorschlag fiir die Fiille des vorhandenen Wissens und Konnens, ein Ordnungsvorschlag, der auch deshalb allgemein mit getragen werden kann, weil sich mit ihm keine positionell gepragte Perspektive verbindet. Dieses Problem kann und will die vorgeschlagene Orientierung an Kompetenzen, an den dazu gehorenden Qualifizierungsaufgaben und an den „Werkstatten" losen. Bezogen auf die so benannten Aufgaben, denen Lehrende sich iibrigens auf alien Stufen des Bildungssystems gegeniibersehen, lasst sich das verfiigbare konzeptionelle Wissen und das Erfahrungswissen namlich so aufbereiten, dass es fiir die professionalisierende Kommunikation allgemein zuganglich ist und dieser Zugang aktiv Lehrenden gleichermafien fiir ihren Fort- und Weiterbildungsprozesse offen steht. Neue technische Moglichkeiten machen eine bisher nicht bekannte, allgemeine Verfiigbarkeit und einen Austausch von Wissen und Erfahrung moglich, der auch neue Ausbildungsoptionen eroffhet: Die skizzierte Verallgemeinerung des Zugangs zu ausbildungsrelevanten Wissensressourcen mindert die Abhan294
gigkeit von zufallig angetroffenen Ausbildenden einer Ausbildungsinstitution mit deren spezifischen Praferenzen und je individuell blinden Flecken. Sie befordert die Selbstthematisierung der Ausbildungsverstandnisse und -prozesse und mutet uns als Ausbildenden das zu, was anderen Lehrenden schon langer zugemutet ist: den Verlust des „Wissensmonopols" und die Verschiebung der eigenen Rolle vom Belehrenden zum Kommunizierenden, vom Anregenden zum Mitlemenden. Vielleicht muss diese Verschiebung erst in der Ausbildung der Lehrenden angekommen und umgesetzt sein, damit die so verandert ausgebildeten Lehrenden dann ihrerseits Lehren als Kommunikation tiber gemeinsam sich stellende Aufgaben begreifen, akzeptieren und umsetzen konnen. Mit anderen Worten: Vermutlich setzt die nicht selten geforderte und - wie ich finde - zu Recht angemahnte veranderte schulische Lehrpraxis und Lemkultur eine veranderte Ausbildungskultur voraus.
Literaturverzeichnis Benjamin, W. (1925/1980): Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd 1(1). Frankfurt a. M.. S. 203-430 Girmes, R. (1996): „Erziehungswissenschaft und padagogische Professionalitat: Lehrende gewinnen einen neuen Zugang zu erziehungswissenschaftlicher Theorie". In: Marotzki, W./Meyer, M.A./ Wenzel, H. (Hrsg.): Erziehungswissenschaft fur Gymnasiallehrer. Weinheim. S. 114-138 Girmes, R. (1997) Sich zeigen und die Welt zeigen, Bildung und Erziehung in posttraditionalen Gesellschaften. Opladen Girmes, R. (2002): „Modell einer gestuften Ausbildung fur die professionelle Ausiibung Lehrender Berufe". In: Kotters-Konig, C./Helsper, W. (Hrsg.): Die Lehrerbildung der Zukunft - eine Streitschrift. Opladen. S.141-158 Girmes, R./Lindau-Bank, D. (Hrsg.) (2002a): Lem(T)raume. Themenheft von: Die Lemende Schule, Heft 20, 5. Jg. Girmes, R. (2004): [Sich] Aufgaben stellen. Seelze Girmes, R. (2004a): „Organisation und Profession: Welches Organisationsformat fordert Professionalitat in Bildungseinrichtungen?" In: Bottcher, W./Terhart, E. (Hrsg.) (2004): Organisationstheorie in padagogischen Feldem. Wiesbaden Herbart, J. F. (1802): Die ersten Vorlesungen iiber Padagogik. Die erste Vorlesung. In: Ders.: Padagogische Schriften. Hrsg. von Walter Asmus. 3 Bde. Diisseldorf, Miinchen 1964-1965. Bd. 1, S. 127 Jacoby, H. (1945/1994): Jenseits von „Begabt" und „Unbegabt": zweckmaBige Fragestellung und zweckmaBiges Verhalten; Schliissel fiir die Entfaltung des Menschen. Hamburg Liebau, E./Miller-Kipp, G./Wulf, Ch. (1999): Metamorphosen des Raums. Erziehungswissenschaftliche Forschungen zur Chronotophologie. Weinheim KMK (2005): Standards fur die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.12.2004. In: Zeitschrift fur Padagogik, 51, S. 280-290 Oelkers, J. (2004): „Entwicklung curricularer Standards fur die Lehrerbildung". Vortrag vor dem Erziehungswissenschaftlichen Fakultatentag am 19. November 2004 in der Philipps Universitat Marburg
295
Rittelmeyer, Ch. (1994): Schulbauten positiv gestalten. Wie Schiiler Farben und Foraien erleben. Wiesbaden und Berlin Schulz von Thun, F. (1981/1996): Miteinander Reden 1. Storungen und Klarungen. Reinbeck Senge, P.M. (1999): Die funfte Disziplin. Kunst und Praxis der lemenden Organisation. Stuttgart Terhart, E. (2002): Standards fur die Lehrerbildung. Eine Expertise fur die Kultusministerkonferenz. ZKL-Texte Nr. 23. Universitat Miinster Terhart, E. (2005): Standards und Kompetenzen in der Lehrerbildung. Vortrag auf der Tagung des Stifterverbandes am 1.12. Juli 2005 in Paderbom
296
Auf der Suche nach tragenden Theoremen - zur Programmatik einer „beruflichen Forderpadagogik" ArnulfBojanowski
Vorbemerkung In diesem Beitrag will ich einen Vorschlag begriinden, den ich anderenorts ausfuhrlicher eingebracht habe (vgl. Bojanowski 2005). Meines Erachtens ist es an der Zeit, die verschiedenen disparaten Telle einer Padagogik fiir benachteiligte Jugendliche begrifflich zu fassen und systematisch(er) zusammenzufiihren. Urn die vorhandenen Disziplingrenzen zu tiberwinden, bedarf es eines neuen Zugangs, einer neuen Strukturierung, ja eines neuen Namens fiir das Vorhaben. Es gilt, die Eigenlogiken und domanenspezifischen Sinnstrukturen der die Benachteiligtenforderung tangierenden Bereiche aufzubrechen. Eine solche Padagogik fiir benachteiligte Jugendliche bezieht sich auf ein real existierendes allerdings voUig ungeordnetes - Gesamt-System der beruflichen Forderung benachteiligter Jugendlicher, das wirklich gebraucht wird und das auf gesellschaftliche Probleme reagiert. Zudem ist die Tatsache einer dramatisch groiJen Gruppe Jugendlicher unbestreitbar, eine Gruppe Jugendlicher, die als sozial oder personlich Benachteiligte spezifischer Forderung bediirfen. Angesichts des derzeitig vollig unbefriedigenden Zustandes besteht hoher padagogischer Entwicklungsbedarf So sei vorgeschlagen, versuchsweise einmal auf der Ebene des Wissenschaftssystems bzw. der Erziehungswissenschaft anzusetzen und von hier her eine Strukturierung fiir eine Benachteiligtenpadagogik zu entwickeln. Der konkrete Vorschlag lautet: Die Padagogik, die sich um benachteiligte Jugendliche ktimmert, also die Padagogik der Benachteiligtenforderung, soil programmatisch den Titel ,,berufliche Forderpddagogik" tragen. Mit diesem Begriffsvorschlag soil zum einen eine Grundfigur padagogischer Tatigkeit fur diese Jugendlichen eingebracht werden, es soil aber auch skizzenhaft angedeutet werden, welche innerfachlichen Dimensionen einer solchen Padagogik zuzurechnen seien.
1
Bezugspunkte in vier erziehungswissenschaftlichen Disziplinen
Keine erziehungswissenschaftliche Disziplin zeichnet fur die Benachteiligtenforderung „verantwortlich". Innerhalb des padagogischen Diskurses lassen sich vielmehr sehr verschiedene „Zustandigkeiten" ausmachen (vgl. Fiilbier 2002). In der Fortfuhrung bisheriger Diskussionslinien (vor allem: Biermann/Rutzel 1999) sollte theoriestrategisch an den Wissensbestanden von vier erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen angekniipft werden, die in unterschiedlicher Intensitat fflr das Feld der beruflichen Benachteiligtenforderung strukturierend und inspirierend wirken, namlich Berufspddagogik, Sozialpddagogik, Sonderpddagogik und SchulpddagogiW. Alle vier Padagogiken bieten einen produktiven Einfluss auf die Praxis der beruflichen Forderung benachteiligter Jugendlicher. Diese Teildisziplinen beziehen sich zudem - in unterschiedlicher Intensitat - auf die in der beruflichen Benachteiligtenforderung arbeitenden Professionsgruppen, so dass tiber eine Identifikation mit einer Teildisziplin ein Zugang auf die Breite der Problematik moglich wird. Damit kann an das Professionswissen der verschiedenen Praktiker in der beruflichen Benachteiligtenforderung produktiv angeknupft werden. Die Leistungen und Aufgaben der vier erziehungswissenschaftlichen Disziplinen sind fur die Entwicklung einer eigenstandigen „beruflichen Forderpadagogik" unterschiedlich und soUen hier in knappsten Strichen angedeutet werden. Die Aufgabe der Berufspddagogik besteht darin, Arbeit und Beruf im gesellschaftlichen Kontext zu thematisieren und padagogisch aufzubereiten. Bei der Benachteiligtenforderung fallt der Berufspadagogik insbesondere die Rolle zu, als Sachwalterin fur die in der Jugendphase unmittelbar anstehende Aufgabe der Berufsorientierung und -findung genauso zu fungieren wie Beitrage ftir die inhaltliche Ausgestaltung der Lemprogramme in Berufsschule (BVJ), Werkstatt Oder Betrieb zu liefem. Die Berufspadagogik hatte ihre Schwerpunkte in den (alteren) Diskussionen tiber „Jungarbeiter" und „Jugendarbeitslosigkeit" (z. B. Nolte/Rohrs/Stratmann 1973). Neuere Ansatze aus der Berufspadagogik sind zur Benachteiligtenfrage rar (anregend z. B. Eckert u. a. 2000). Und es ist bei den einschlagigen Studien zu beobachten, wie gering die Beziige zur Sozialpadagogik Oder gar Sonderpadagogik sind. Man kann durchaus zusammenfassen: Der berufs-padagogische Mainstream nimmt die Problematik einer Forderung benachteiligter Jugendlicher zu wenig zur Kenntnis.
1 Wenn hier vorgeschlagen wird, die Erwachsenhildung nicht zur Strukturbildung beizuziehen, dann liegt das darin begriindet, dass eine berufliche Forderpadagogik ihr Selbstverstandnis in erster Linie als Jugendpadagogik gewinnt und von hierher aus jugendnahen Padagogiken Anregungen zieht.
298
In der Sozialpddagogik geht es - wiederum vereinfacht - um die Pravention und Intervention in verschiedensten gesellschaftlichen Handlungsfeldem, um Klienten vor Abweichung zu bewahren und ihre (Re-)Integration in die Gemeinschaft zu befordem. Fiir die Forderung Benachteiligter gibt es eine Fiille von Anregungen etwa zum Umgang oder zur Beratung eines Heranwachsenden („Einzelfallhilfe"), zur individuellen Betreuung im Gruppenkontext („Gruppenarbeit") oder zur Netzwerkarbeit in einer Region („Gemeinwesenarbeit"). Die Sozialpadagogik thematisiert die Benachteiligtenproblematik vorrangig im Feld der „Jugendsozialarbeit". Diese konzentriert sich meist auf flankierende MaBnahmen zur Berufsausbildung wie individuelle Beratung und Betreuung, Konfliktlosungen, Eltemarbeit, die Organisation von Stutzunterricht und Kontakte zur Berufsschule (Biermann/Rutzel 1999, 28). Wer sich in dieser Tradition bewegt, betont die extracurricularen, beratenden, freizeitbezogenen Aspekte und ist unbefangener in seiner Kritik der Erwerbsarbeit und Berufsorientierung, leider zumeist ohne Zurkenntnisnahme der berufspadagogischen Diskurse (z. B. Galuske 1993; Krafeld 1989; Gogercin 1999). Bei der Sonderpddagogik steht als Motiv die Achtung der Wurde und Integritat des einzelnen (abweichenden oder behinderten) Menschen im Vordergrund, nebst weit verzweigten Anregungen zur Betreuung und Unterrichtung dieses Personenkreises. Solche Ansatze, vor allem im Hinblick auf Lembehinderungen oder Verhaltensprobleme gilt es fur Unterricht oder Rehabilitation fruchtbar zu machen. Wer aus der Sonderpadagogik kommt, nimmt eher die Herkiinfte der Jugendlichen (vor alien aus der Sonderschule), sodann den Alltag oder die Lebensbegleitung in den Blick. Forschungen in dieser Teildisziplin sind fast ausnahmslos auf die Sekundarstufe I ausgerichtet und hier naturgemaB auf die Bedingungen der Sonderpadagogik, also den Ubergang von der Sonderschule in die Phase der Berufsbildung (z. B. Brandt 1996). Die Literatur im Umkreis der beruflichen Rehabilitation fokussiert auf die LFbergange behinderter Menschen ins Erwerbsleben (Ellger-Ruttgardt 1982). Lediglich Hiller vertritt einen Forschungsstrang, der auch die LFbergange und die biographischen Entwicklungsmuster der Sonderschuler nach ihrem Schulbesuch thematisiert (Hiller 1997). Allerdings nehmen auch solche Ansatze wenig Bezug auf die Erkenntnisse anderer Teildisziplinen. Schulpddagogik schlieBHch thematisiert und strukturiert Lehr-Lemprozesse in schulformigen Organisationen und entwickelt didaktisch-methodische Vorschlage fur die Ausgestaltung von Unterrichtssituationen. Aus diesem Erfahrungskreis kann die Benachteiligtenforderung Anregungen ziehen fur die Entwicklung von Unterrichtsprozessen und angemessenen Lehr-Lem-Arrangements bspw. im BVJ oder in den ausbildungsbegleitenden Hilfen (abH). Explizit schulpadagogische Forschungsansatze zur beruflichen Benachteiligtenforderung sind 299
m. W. nicht vorhanden, sieht man davon ab, dass viele didaktische Konzepte auch auf die Lembedingungen in der Benachteiligtenforderung iibertragen worden sind, gerade im berufsschuiischen Berufsvorbereitungsjahr, oder dass neuere schulpadagogische Konzepte, die auf Konstruktivismus oder Handlungsorientierung aufbauen, auch in der Benachteiligtenforderung rezipiert worden sind oder werden. ImpHzit bedeutsam ist die Schulpadagogik, wenn man die empirischen Ergebnisse der schulpadagogischen international vergleichenden Studien einbezieht. Solche intemationalen Vergleichsstudien zeigen tibereinstimmend, dass Entwicklungen zu einer verstarkten Benachteiligung ganzer Gruppen junger Menschen aus Eigenarten des deutschen Bildungssystems resultieren: Mangelnde Forderung in der Vorschulzeit, uneinheitliche und hoch willkiirliche Zuweisung zu weiterfthrenden Schulen in der Grundschule, extrem friihe Sortierung der Schtiler nach der vierten Klasse, ausgepragte schichtenspezifische Reproduktion im Schulwesen, unzureichender und wenig kompetenzfordemder Unterricht - solche Kritikpunkte verweisen darauf, dass die Schule immer mehr Drop-Outs produziert, die dann mit 16 bis 18 Jahren im System der Benachteiligtenforderung landen, wo ein Defizitausgleich nur unter individuell extrem erschwerten Bedingungen und in einem Fordersystem stattfindet, das diese Kompensation nur unzureichend leisten kann.
2
Explizit benachteiligtenpadagogische Theoreme
Wichtige Versuche einer Theoriebildung in der Benachteiligtenforderung werden im Folgenden kurz vorgestellt. Aus biografischer Perspektive liegt eine hervorstechende und auf unsere Zielgruppe bezogene Theoriekonzeption von Hiller vor (Hiller 1997). Neben einer verdienstvollen Polemik fiir mehr Aufmerksamkeit fur die benachteiligten Jugendlichen gibt seine Theorie Anregungen zur empirischen Forschung und zur padagogischen Praxis. Killers praktischer Vorschlag lautet, schulische Forderung mit einer breit ansetzenden „Alltagsbegleitung" zu verbinden. Das Theoriegerust bezieht sich vorrangig auf soziologische Konzepte: Es gehe bei den Jugendlichen um die Notwenigkeit des Erwerbs von okonomischem, kulturellem und sozialem „Kapital" (dies in Anschluss an Bourdieu). Dabei gelte es, deren Lebenslaufe in „Teilkarrieren" auszudifferenzieren, in denen jeweils unterschiedliche „Kapitalsorten" erworben werden konnen (dies im Anschluss an Luhmann). Killers Frage geht dahin, wie das in einer bestimmten Teilkarriere erworbene „Kapital" ftir andere Teilkarrieren fruchtbar gemacht („konvertiert") werden kann. Mit dieser theoretischen Konzeption bieten sich praxisnahe mikrosoziologische Kypothesen zur Analyse von Lebenslaufen benachteiligter Jugendlicher. 300
Aus makro- bzw. bildungssoziologischer Sicht ist die These vom „stabilen Provisorium" des Benachteiligtenbereichs aufzufassen. Frank Braun postuliert - zustimmungsfahig - eine allmahliche Eingewohnung der Offentlichkeit an ein provisorisches berufliches Bildungssystem fiir die Verlierer im Bildungswesen (Braun 2002). Er kann mit dieser u. a. aus den empirischen Ergebnissen des DJI gewonnenen bildungssoziologischen Theorie plausibel machen, dass dieses „Mixgebilde" verschiedener Institutionen inzwischen die Ubergangsmuster einer groBen Gruppe Heranwachsender beeinflusst. Aus einem anderen wiederum eher makrosoziologischen Theorieblick ergaben sich Fragen nach dem „Orientierungsdilemma" der Jugendberufshilfe. Hier wird die berufspadagogische Orientierung („Fixierung") der Benachteiligtenforderung auf (Erwerbs)-Arbeit und (Lebens)-Beruf heftig und durchaus bedenkenswert angesichts der Veranderungen der Arbeitsgesellschaft kritisiert (Galuske 1993; Krafeld 2000). Die theoretischen Konzepte fur benachteiligte Jugendliche setzen auf „lebensweltliche Aktivierung" im Anschluss an Konzepte „sinnvoller Arbeitslosigkeit". Diese Diskussion wird aktuell im Riickgriff auf die angelsachsische Konzeption des „workfare" fortgesetzt unter der Frage, ob sozialstaatliche Alimentation nur fur deutlich gezeigte Arbeitsbereitschafl gerechtfertigt ist (Reis 2003). Andere sozialwissenschaftlich gepragte Theoreme greifen z. B. auf Konzepte der Regionalokonomie zuruck, um die soziookonomische Einbettung der Benachteiligtenforderung zu diskutieren oder vor dem Hintergrund internationaler Erfahrungen die Moglichkeiten fur benachteiligte und arbeitslose Jugendliche auszuloten (Walter 2000). Etliche Theoriekonzepte rekonstruieren aus historischem oder politikwissenschaftlichem Blickwinkel die Entstehung der Jugendsozialarbeit oder der berufsvorbereitenden MaBnahmen, um eine aktuelle bildungspolitische Einschatzung zu gewinnen. Aus pddagogischer Sicht gibt es eine Fiille von Einzelstudien und padagogischen Konzepten. Anregend ist ein Sammelband zu einer „Didaktik der Benachteiligten" (Biermann/Bonz/Riitzel 1999), in dem zum Benachteiligtenbegriff, zu Randgruppen, zu verschiedenen padagogischen Ansatzen oder zu tragerspezifischen Realisierungsformen gearbeitet wird. Jedoch fugen sich die hier versammelten Teilstticke aus Berufs-, Sozial-, Sonder- und Schulpadagogik noch langst nicht zu einen konsistenten Theoriegeriist. So gibt es durchaus padagogisch anregende Teilstudien, etwa zur Didaktik des Werkstattlemens oder zur ganzheitlichen Forderung oder gar „Paradigmata padagogischer Praxis" (Gessner 2003, 247ff.). Daruber hinaus fmden sich - wiederum ohne Anspruch auf Vollstandigkeit - etliche theorie-inspirierende und oft empirisch angereicherte padagogische Leitkonzepte wie „lebensweltorientierte Jugendarbeit" (Thiersch 2002), zur „Individualisierung" (z. B. Baudisch 2002), oder zur „Kompetenzfest301
stellung" (Enggruber/Bleck 2004, Lippegaus 2005). Weitgehend abgekoppelt vom engeren wissenschafllichen Diskurs hat sich in der Praxis der auBerschulischen Forderung benachteiligter Jugendlicher - konkretisiert durch Arbeiten von HIBA, INBAS und dem BIBB - ein Konzept der „sozialpadagogisch orientierten Berufsausbildung" (BMBF 2005) entwickelt, das unterschiedliche Anleihen bei der Sonderpadagogik (Individualisierung, Forderplanung) der Sozialpadagogik (Begleitung, Beratung, Gemeinwesenorientierung) und der Berufspadagogik (Berufsbezug, Arbeitspadagogik) vomimmt. Die Konzeption nimmt eine Sonderstellung in der Theorieentwicklung ein, weil viele produktive padagogische Elemente aufgenommen und vielfach eingesetzt werden. Sie bietet gute Anregungen und konnte mittelfristig als Vorarbeit fur eine integrative padagogische Theorie der Benachteiligtenforderung fungieren. Aus diskurspolitischer Sicht bieten auch die verschiedenen padagogischen Debatten zwischen den Akteuren in unserem Feld Bausteine zur Theorieentwicklung. Typisch hierfur waren z. B. die Diskussion urn den poHtischen Stellenwert der Benachteiligtenforderung innerhalb des Bildungswesens, die Diskussion, ob die sog. „marktbenachteiligten Jugendlichen" zu den originaren Zielgruppen gezahlt werden konnen, die Debatte um zweijahrige Berufe oder die Frage nach dem Sinn von sog. Modularisierungskonzepten und der beruflichen Verwertung von Qualifizierungsbausteinen. Hier konnen Bausteine zur Theorieentwicklung deshalb entstehen, weil solche Diskurse auf zentrale Probleme der Forderpraxis aufmerksam machen und damit Theorien generieren helfen konnen. Dieser sicherlich erganzungsbediirftige Durchgang durch das interne „Theoriegelande" kann zeigen, wie wenig gefestigt sich die Benachteiligtenforderung darstellt. Insgesamt uberrascht die Inkonsistenz der Ansatze in ihrem Bezug zueinander, die geringe wechselseitige Bezugnahme und insgesamt der „rohe" Zustand des Entfaltens von Theorien.
3
Zum Stand der Forschung bei benachteiligten Jugendlichen
Gibt es eventuell eine die Padagogik der Benachteiligtenforderung beeinflussende und strukturierende empirische Forschung? Eine kiirzlich vorgenommene Sichtung des Gesamtfeldes der empirischen Forschungsergebnisse zur Benachteiligtenforderung (Bojanowski/Eckardt/Ratschinski 2005) zeigte iiberdeutlich disparate und unsystematische Tendenzen. Unsere Ergebnisse einer Sichtung von 30 Jahren Forschung in der Benachteiligtenforderung lassen sich folgendermafien zusammenfassen: Auf der forschungsorganisatorisch-institutionellen Ebene sind keine klaren Konturen zu verzeichnen. Forschung wird zumeist fragmentarisch, kurzfristig 302
und meist nur von einzelnen interessierten Personen oder Institutionen getragen. Gemessen an den MaBstaben der Implementations- oder Diffusionsforschung kann ein Eindruck von Dezisionismus in der Forschung nicht von der Hand gewiesen werden. Dies mag mit der quasi-chaotischen Struktur der Benachteiligtenforderung zusammenhangen, deren „Forderdschunger' nur partielle Rationalitat ermoglicht und „Claim-Sicherung" befordert. Eine strukturierte, koordiniert organisierte und mit ausreichend fmanziellen Mitteln ausgestattete berufspadagogische Benachteiligtenforschung steht also noch aus. Benachteiligtenforderung ist mehr als andere Bereiche des Bildungswesens auf eine strukturierte Koordination der Aktivitaten des Bundes, der Lander und Kommunen, der staatlichen Institutionen, der Wissenschaftsorganisationen sowie der Trager und Akteure angewiesen. Sichtet man die bisherigen quantitativen empirischen Forschungen, so zeigt sich deutlich eine bildungssoziologische Orientierung. In der bisherigen Empirie ist besonders die „Ubergangsthematik" in verschiedenen Facetten und in erhellenden empirischen Studien angemessen ausgearbeitet. Vermisst wird systematische padagogische Forschung, mit der Kembereiche des Benachteiligtensystems kontroUiert tiberprtift werden. Die bisher vorliegenden Erkenntnisse erscheinen als beliebig. Bei den von uns herangezogenen und ausgewerteten Studien ist keine Struktur, keine gemeinsame Fragestellung, kein systematisches „Oberzier', keine Koordination von Forschungsfragen, kaum Aufeinander-Beziehen von Studien, kaum Replikationen von Untersuchungen und selten nur ein Ankniipfen an alteren Studien zu fmden. Gtinter Ratschinski fasst den Gesamtertrag der empirischen Forschung in einem alle Studien erfassenden Blick so zusammen: Die bisherigen quantitativen empirischen Forschungen haben deutlich ein Schwergewicht in soziologischer bzw. bildungssoziologischer Ausrichtung. Zudem seien die quantitativen Studien stark am aktuellen politischen Bedarf ausgerichtet; daher stelle sich die Frage nach der Relevanz der Forschungsergebnisse und die Notwendigkeit, Theorie und Empirie starker aufeinander zu beziehen (Ratschinski 2005). Auch die qualitativen Forschungen lassen keine einheitliche Linie erkennen. Zwar sei festzuhalten: Vor allem die Modellversuche haben das Programm einer padagogischen Ausgestaltung der Forderpraxis durch eine untibersehbare Ftille produktiver Praxisanregungen vielfaltig eingelost. Mit dem Konzept der Modellversuchsforschung zeigen sich allerdings wissenschaftspolitische Probleme der Benachteiligtenforderung. Der Ertrag der Modellversuche flir die Benachteiligtenforschung ist deshalb eher gering einzuschatzen, weil es nicht gelang, tragfahige Systematisierungen zu etablieren. Damit steht die bisher praktizierte Begleitforschung zur Evaluation von Modellprojekten auf dem Prufstand. Es wird nicht alleine darauf ankommen, Modellversuche in komplexe „Programme" 303
einzubinden und Programmtrager mit der Durchfuhrung zu beauftragen, sondem Modellversuche miissen auch verstarkt ihren Beitrag zur Entwicklung breit ansetzender Hypothesen und wissenschafllicher Theorien formulieren. Zusammengefasst: Im Zusammenklang von Theorie, Praxis und Empiric sind die Ergebnisse der empirischen Forschung so rudimentar und zusammenhanglos, dass von dieser Seite keine entscheidenden konstruktiven AnstoBe zu erwarten sind. Faktisch gibt es keine organisierenden „Stutzpfeiler", die entweder der empirischen Forschung Anhaltspunkte weisen oder die das Gestrupp metaevaluativ organisieren konnte. Es bedarf vielmehr einer empirie-inspirierendc Theorie, fur die es der konstruktiven Vorschlage bedarf.
4
Der Vorschlag: Ausarbeitung eines eigenstandigen Padagogikbereichs
Lasst sich vor dem Hintergrund eines solchen ungeklarten Gesamtfeldcs gleichwohl cine Padagogik zur Forderung benachteiligter Jugendlicher angemessen, zeitgemaB, konsistent, anschlussfahig und anspruchvoll beschreiben? Im Folgenden gehe ich davon aus, dass etliche und wie beschrieben z. T. voUig heterogene padagogische Elemente, Bausteine und Puzzelstiickc einer Padagogik der Benachteiligtenforderung existieren. Jedoch ist es bisher nicht gelungen, das „Puzzle" zusammenzufugen und in ein cinheitHch-integratives Forderkonzept einzubaucn. Die folgenden Bestimmungen und Definitionsversuche zum (1) Gcgenstandsbercich, zum (2) bildungspolitisch-organisationellen Bezugsfeld, zu den (3) Adressaten einer beruflichen Forderpadagogik und (4) zum Begriffsfeld dcs „F6rdems" sollen ein erstes Referenzsystem bilden. 1. Gegenstandsbereich: Der Basis-Vorschlag lautet: Wir nutzen die Fiille disparater padagogischer Elemente der schon vorhandenen Padagogiken ftir benachteiligte Jugendliche, strukturieren sic unter ordnenden Gesichtspunkten und kombinieren sic in ein konzeptionell verbundenes Gebilde. Dieses Gebilde soil den Begriff tragen: „berufliche Forderpadagogik": Berufliche Forderpadagogik sei als eine integrierende Padagogik des Jugendalters zu verstehen, die im Blick auf die Forderung benachteiligter Jugendlicher wissenschaftliche Hypothesen und Argumente, Impulse aus aktuellen Zeit- und Situationsbeschreibungen, padagogische Leitlinien und Handlungsregulative sowie Ergebnisse derpddagogischen Forschung bilndelt und vor allem fur die Praxis in der beruflichen Benachteiligtenforderung und fur ihre Professionalitdtsentwicklung aufbereitef. Eine so verstandene Padagogik soil im Kontext von Forderung oder Betreuung 2 Lose lassen sich mit einer beruflichen Forderpadagogik auch Beziige zu padagogischen Aktivitaten und Ansatzen fiir diejenigen Jugendhchen fassen, die mit Lem- oder Verhaltensproblemen in der (Teilzeit- )Berufsschule zu fmden sind und besonderer Betreuungsformen bediirfen.
304
benachteiligter Jugendlicher umfassend Impulse far die padagogische Gestaltung von Einrichtungen der Benachteiligtenforderung oder ftir die Fortbildung des Personals oder auch fiir die Entwicklung von Curricula geben. Desgleichen soil sie dazu beitragen, den Diskurs in der Fachszene zu strukturieren und rationaler zu gestalten. 2. Bildungspolitisch-organisationelles Bezugsfeld: Der zweite Vorschlag bezieht sich auf den „gesellschaftlichen Ort" der Padagogik einer beruflichen Forderung: Wir unterstellen fur Deutschland (und in gewisser Weise auch fur alle modemen Industrienationen) mit dem Begriff der „beruflichen Benachteiligtenforderung" ein reales „Gesamt-System" (vor-)beruflicher Forderung fur benachteiligte Jugendliche. Zwar ist dieses „Gesamt-System" noch vollig roh und unausgeformt; ja, es besteht in Wahrheit lediglich aus Teilstticken, besonders plastisch ablesbar am sog. „Forderdschungel". Die vorhandenen Teilstiicke sind als Reaktionen auf die seit vielen Jahren auftauchenden Dilemmata einer schwierigen arbeitsmarktbezogenen Integration und defizitaren lebensweltlichen Forderung benachteiligter Jugendlicher zu verstehen, an denen verschiedenste Institutionen beteiligt waren. Jedoch haben trotz einer solchen bruchstiickhaften Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme alle Institutionen einen identischen Kern oder eine ihnen zuschreibbare klare Aufgabe, namlich die Forderung benachteiligter Jugendlicher (vgl. Wiirfel 2004; Schulte 2004). Auch in der Fachszene wird seit einiger Zeit betont, es habe sich in das deutsche Bildungssystem eine neue „Etage" etabUert (Schierholz 2001). Dafur spricht auch, dass sich langst ein entsprechender „Uberbau" entwickelt hat, etwa die Wohlfahrtsverbande oder Tragergruppierungen, oder die dieses Feld regulierenden Krafte, wie die Bundesagentur far Arbeit oder die Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit, oder die Rechtsregelungen der Bundeslander zu den jeweiligen Bemfsvorbereitungsjahren bzw. die Verordnungen der Bundesagentur zur Durchfuhrung ihrer MaBnahmen. Unterstellen wir ein solches hypothetisches Gesamtsystem „beruflicher Benachteiligtenforderung" und denken wir dabei die verschiedenen auf benachteiligte Jugendliche gerichteten MaBnahmen der Arbeitsverwaltung oder der Jugendberufshilfe (sog. vorberufliche Bildungsmafinahmen oder Berufsausbildungsvorbereitung), die schulischen BildungsmaBnahmen (Berufsvorbereitungsjahr), die auBerbetriebliche Berufsausbildung fiir benachteiligte Jugendliche (BaE), die sog. ausbildungsbegleitenden Hilfen (abH) sowie weitere institutionelle Ansatze wie freie Jugendwerkstatten oder Berufsbildungswerke fur Lembehinderte als Quasi-Einheit zusammen, dann gewinnen wir eine neue Perspektive: Berufliche Forderpddagogik wurde ihren verankernden Bezug in einem offenen Benachteiligtensystem finden, das schon in vielfdltigen Elementen existiert, aber einer vertiefenden bildungspolitischen Systematisierung und einer pddagogischen Durchdringung bedarf.
305
3. Adressaten einer heruflichen Forderpddagogik: Der dritte Vorschlag bezieht sich auf die Adressaten einer Benachteiligtenpadagogik. Seit Jahren und Jahrzehnten gibt es in Deutschland (in Europa, in alien Industrienationen, in alien Entwicklungslandem) real eine Gruppe von Jugendlichen, die nicht nur am Arbeitsmarkt geringe (oder keine) Chancen, sondem die oft auch selber individuelle Probleme haben (Lemprobleme, Verhaltensauffalligkeiten, etc.), so dass sowohl Arbeitsmarktintegration scheitert, als auch Personlichkeitsentwicklung und Lebensbewaltigung gefahrdet sind. Deutschland lebt inzwischen mit der Faktizitdt von ca. 15 bis 20 % Jugendlichen eines Alterjahrgangs, die durch solcherlei Ausgrenzungen bedroht sind und die sich (damit) als benachteiligt umschreiben lassen. Damit blieb gesellschaftlich keine andere Wahl, als die fi-aglichen Zielgruppen rechtlich-administrativ zu erfassen, Bildungsorganisationen zu griinden und auszubauen und die Gruppen versuchsweise zu defmieren. Fiir die Bestimmung der Adressaten einer beruflichen Forderpadagogik gibt es also hinreichend fachliches Wissen, annahemde Klarungen oder auch „Intuitionen" der Praktiker. Es ist fi-eilich bisher nicht gelungen, die Zielgruppen allgemeingiiltig oder konsensfahig zu bestimmen. Unbestritten bleibt im gesellschaftlichen und im fachlichen Diskurs, dass es diese Gruppe benachteiligter Jugendlicher tatsachlich gibt und sie als Problem einer modemen Gesellschaft kaum wahrgenommen wird. Der grofie Zielkorridor der Gruppen hat Konsequenzen fur eine Padagogik der Benachteiligten. Berufliche Forderpddagogik muss bei diesen Jugendlichen nicht nur die Ubergdnge in die Arbeitswelt thematisieren (Zielformel: employability), sondern auch Anregungen zur eigenstdndigen Lebensbewaltigung geben (Zielformel: independent life). Damit ist Berufliche Forderpddagogik in erster Linie eine integrative Jugendpddagogik; sie bezieht sich auf Jugendliche bzw. junge Erwachsene zwischen 15/16 und 20/25 als ein alterstypisches Arbeitsfeld. 4. Zum Begriffsfeld des „Fdrderns'': Der vierte Vorschlag schlieBlich bezieht sich auf die gewahlte Nomenklatur. Meines Wissens existiert weder eine ausgearbeitete Forderpadagogik noch eine entwickelte Theorie des Fordems. Allerdings ist es zweifellos eine der unmittelbarsten padagogischen Aufgaben, Heranwachsende, also Kinder und Jugendliche so zu (be)fordem, dass ihre Selbstentwicklung vorangeht und sie Integrationsperspektiven entwickeln konnen. Insofem greife ich begrifflich auf eine langst (bzw. immer schon) vorhandene padagogische Tatigkeit zurtick, ohne die wahrscheinlich padagogisches Handeln gar nicht gedacht werden kann. Damit aber kann eine padagogische Intention deutlicher werden: Der Begriff „fdrdern'' scheint mir am besten zum Ausdruck zu bringen, dass es hier um von aujien kommende Anregungen zur (inneren) Selbstentwicklung geht. Wer mithin einen Menschen fordert, der will ihn bewegen, will ihn anregen, will ihn unterstutzen, jedoch ohne den autonomen Kern des Menschen anzugreifen oder gar zu verletzen. „Fordem" druckt in seiner
306
padagogischen Begrifflichkeit aus, dass es immer um eine Art angeleitete Selbstentwicklung geht. Wenn hier von beruflicher Forderpadagogik die Rede sein soil, dann deshalb, um zum Ausdruck zu bringen, dass die Adressaten Jugendliche sind, die sich „irgendwie", aber unausweichlich, der Entwicklungsaufgabe Oder dem Thema „Arbeit und Beruf stellen miissen. Berufliche Forderpadagogik wird damit eine Padagogik, die nach der Allgemeinbildungsphase (Kindheit und friihe Jugend) AnstoBe fiir die dann lebensgeschichtlich notwendige Qualifizierungsphase geben will. Da sich berufliche Forderpadagogik auf benachteiligte Jugendliche (mit entsprechenden Lebensproblemen) bezieht, wird sie notwendigerweise Fragen nach dem Versaumten, nach dem Nicht-Gelebten zu beantworten suchen.
5
Berufliche Forderpadagogik - ein umrisshafter Beschreibungsversuch
Das in diesem Aufsatz nur skizzenhaft zu beschreibende komplexe Feld stellt sich in grafischer Form als ein „Drei-Waben-Modell" (siehe folgende Grafik) dar. Man kann erkennen: Zunachst geht es um den inneren Kern einer solchen Padagogik mit ihren normativen Annahmen und Setzungen (a). Sodann werden durch Bezugnahmen auf zentrale Debatten und Erkenntnisse des Feldes weitere zentrale Strukturkategorien beschrieben (b). Und dann geht es um wichtige gesellschaftliche Einbettungen und Rahmungen (c). a) Zu den Kernaufgaben und normative Voraus setzungen: Der „innere Bereich" einer beruflichen Forderpadagogik will den„normativen" Kern verdeutlichen; hier werden padagogische Vorgaben oder Regulativa verhandelt, die (naturlich) in der padagogischen community diskutierbar bleiben, die aber aus ihrem wechselseitigen Verweisungszusammenhang nicht einfach heraus gebrochen werden konnen. Die Leitlinien sollen die verschiedenen Elemente im Benachteiligtenbereich so zusammenfahren, dass ein (halbwegs) konsistentes Gefiige entsteht.
307
Abb. 1: Drei Waben Modell Vorgeschlagen werden in dieser „Wabe" sechs Bereiche: Eine berufliche Forderpadagogik muss sich deshalb ihres ,^enschenbildes'' vergewissem, well sie unhintergehbar auf padagogische Individualisierung verwiesen ist, angesichts der hoch ausdifferenzierten Problemlagen der Heranwachsenden. Als weitere padagogische Kategorien kommen die .Xompetenzfeststellung und Forderplanung" ins Spiel, denn um padagogische Individualisierung zu betreiben, bedarf es durchdachter und klug eingesetzter Instrumente. Die dann eingebrachte Fragestellung „ Curriculum und Didaktik'' zeigt, dass Lehren und Lemen curricular und didaktisch so auf die Adressaten bezogen werden, dass die Kriterien der Individualisierung giiltig bleiben. Hier werden also entscheidende padagogische Strukturierungsvorschlage vorgenommen. Mit den folgenden Begriffen .^rofes308
sionalisierung" und ,,Orgamsationskultur" wird darauf verwiesen, dass hier wichtige Fragen der beruflich-professionellen Fortentwicklung des padagogischen Personals in der Benachteiligtenforderung in Bezug auf die jeweiligen Organisationsformen beschrieben werden. Denn so werden Fragen nach den Durchfuhrenden angesprochen sowie deren Orte und deren Organisationsformen des padagogischen Geschafts. Im letzten Punkt .^eruflichkeif wird der Versuch untemommen, einen konkrete Bestimmung fflr die Ausrichtung der Benachteiligtenforderung zu liefem. Ftir eine genauere Ausarbeitung der hier nur andeutbaren sechs Felder sind Bezugnahmen zu den vier oben umrissenen rahmenden erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen ebenso sinnvoU wie zu weiteren Wissenschaftsdisziplinen. Wenn es gelingt, in einer beruflichen Forderpadagogik diese padagogischen Aspekte zu bearbeiten und fur die benachteiligtenpadagogische Praxis sowie fur Ausbildung und Weiterbildung fruchtbar zu machen, dann bestiinde die Chance, diese Feld besser zu ordnen und padagogisch zu durchdringen. b) Fachliche Diskurse zur Herausbildung einer beruflichen Forderpadagogik. In der zweiten „Wabe" werden die fachlichen Diskurse erortert, die fiir die Konstituierung einer beruflichen Forderpadagogik pragend sind. Diese Sichtung und Strukturierung des Diskursbestands - vor dem Hintergrund einer ausdifferenzierten aber uneinheitlichen Fachszene in der beruflichen Benachteiligtenforderung - bietet nicht nur klarendes Anschauungsmaterial, sondem auch konkrete Hinweise auf zentrale Probleme. Die erste Kategorie ^Zielgruppen" soil zeigen: AUe Probleme, eine wie geartete Definition zu finden, liegen darin, dass bisher kein entdiskriminierender oder entstigmatisierender Begriff gefunden werden konnte (Riitzel 1995). In den fachlichen Beitragen ist das Spektrum der sozial-kulturellen Merkmale benachteiligter Jugendlicher ungeklart. Auch die entwicklungspsychologischen Merkmale schwieriger Jugendlicher bieten keine einheitliche Klassifizierung, ebenso wenig wie die in der Sonderpadagogik vertreten Modelle der Erscheinungsformen von Verhaltensauffalligkeiten und Lemschwierigkeiten. Und schlieBlich erscheinen Schulverweigerer als neue Zielgruppe, mit der sich die berufliche Benachteiligtenforderung befassen muss (Thimm 1998). Unter .JLeitbilder und Basisideen" ist allererst an die bildungspolitische Forderung der 80er und fnihen 90er Jahre zu erinnem: „Ausbildung fiir alle". Sichtet man entsprechende Konzepte, dann geht es um „volle berufliche Handlungsfahigkeit" oder die Idee einer „lebensweltorientierten Jugendsozialarbeit". Bei den Klarungen zu „Ubergdngen und Karrieremustern" konnen die Diskurse in diesem Bereich herausarbeiten, wie sich die Ubergange von der Schule in Arbeit, Tatigkeit und Beruf jenseits der jugendlichen Normalbiografie entwickelt und verandert haben. Damit erklaren sich die Anfragen an eine berufliche Forderpadagogik: Wenn stabile Inte-
309
grationen nicht mehr moglich sind, auf was soil dann vorbereitet warden? Ftir benachteiligte Jugendliche hieiJe das, auch in Gewissheit prekarer Erwerbsarbeit „volle berufliche Handlungsfahigkeit" anzuregen, um die Grundausstattung des Individuums - auch gegen aktuelle Notigungen der Gesellschaft oder des Arbeitsmarktes - zu vervoUkonunnen. In der Kategorie regionale ,JVetzwerke und Kooperationen" geht es um die Landschaft der Benachteiligtenforderung, ihre Zersplitterung, die inzwischen auch fur Eingeweihte nur miihsam zu durchschauen ist. Der Fachdiskurs fordert seit Jahren, zumindest auf der regionalen Ebene die Kooperationen zwischen den Einrichtungen zu verstarken. Eine regionale Betrachtungsweise kann helfen, die mittel- bis langfristigen Folgewirkungen mangelnder Kooperation zu thematisieren. Bei der Diskursdimension .flerausbildung eines „Parallelsystems'' erkennt man ein zugrunde liegendes Strukturmuster: Gesellschaftliche Akteure aus verschiedenen Instanzen greifen angesichts aktueller Probleme der Jugend zu Hilfsinstrumenten und Forderprogrammen; dies aber jeweils in dem eigenen Sektor, ohne Abstimmung oder gar in Konsultation mit anderen Akteuren. Immer ging es um aktuelle Krisenbewaltigung oder um die Aktivierung von Partialpolitiken. Mit der Kategorie der ,,experimentellen Produktionsschule" schlieBlich wird ein Diskurs aufgegriffen, der postuliert, dass es eines „Modells", eines „Prototyps" von Einrichtung bedarf, besser: einer Vision einer Einrichtung, die eine gewisse Chance hatte, Vorbildcharakter zu gewinnen. Diese partialutopische Organisation kann im Anschluss an Erfahrungen mit dem danischen Modell beschrieben (vgl. Bojanowski 1996). c) Gesellschaftliche Wirkfaktoren auf eine berufliche Forderpddagogik: Es gibt massive gesellschaftliche Einflussfaktoren, die in eine berufliche Forderpadagogik hineinwirken. Hatte die vorige „Wabe" gezeigt, wie fachliche Diskurse, empirische Ergebnisse und Problembeschreibungen zur Entwicklung einer eigenstandigen Fachlichkeit diese Feldes beigetragen haben, so miissen nun in der dritten „Wabe" die gesellschaftlichen Kontexte beschrieben werden. Die Rahmenbedingungen und Einfltisse zu einer beruflichen Forderpadagogik sind schwierig zu beschreiben, und zwar deshalb, weil die Konturen unscharfer werden und die wechselseitigen Beziige immer mehr interferieren. Gleichwohl gibt es massive gesellschaftliche Einflussfaktoren, die unmittelbar in die Dimensionierungen einer beruflichen Forderpadagogik einflieBen. In dieser „Wabe" werden Beztige zu zentralen Feldem wie Okonomie, Recht, Soziologie, Politik oder Wissenschaftssoziologie vorgenommen. Bei der gesellschaftlichen ,^xklusion und Desintegration" wird allein das Gewicht der groBen Zahl, der Jahr um Jahr wachsenden Anzahl junger Menschen ohne Ausbildung, ohne Arbeit und ohne Perspektive zum Tragen kommen. Systematisch scheint der Integrationsmodus einer „Vergesellschaftung durch 310
Arbeit" zu brockeln. Neben solchen Exklusionstendenzen lassen sich Desintegrationsprozesse erkennen, bei denen in einer immer „ungleicher" werdenden Gesellschaft benachteiligte Jugendliche besonders chancenlos sind, weil sie nicht nur aus den Optionen gesellschaftlicher Integration herausfallen, sondem weil sie ohne Zukunftsperspektiven auf den Schattenseiten der sich modemisierenden Gesellschaft leben werden („Bildungsarmut": Allmendinger/Leibfi"ied 2002). Die ,,rechtlich-administrativen Rahmenregelungen" zeigen, dass es in der beruflichen Benachteiligtenforderung faktisch keine organisierenden Ankntipfiingspunkte ftir eine Systematisierung der rechtlichen Basis gibt. Um nachhaltig Klarheit und Verstandlichkeit zu schaffen, bedarf es einheitlicher und stabiler Rechtsgrundlagen, wie es bei den .finanziellen Transfers und den makrookonomischen Faktoren" darum geht, zu klaren, dass die Finanzierung der beruflichen Benachteiligtenforderung zersplittert, extrem uniibersichtlich, partiell unterfinanziert und nicht nachhaltig ist. Zudem sind m. W. die verschiedensten Finanzstrome bisher weder volkswirtschaftlich angemessen dargestellt noch okonomisch erforscht. Insgesamt wird die finanziell-quantitative Dimension des Sektors in der Offentlichkeit und der Wissenschaft nicht angemessen verdeutlicht. Die Wirkfaktoren .J^ebenswelten und Milieus" verweisen darauf, dass die Jugendlichen in der beruflichen Benachteiligtenforderung zumeist aus bestimmten soziologisch abgrenzbaren Milieus und Lebenswelten kommen. „Milieu" will als soziologische Kategorie den Ort oder die soziale Herkunft benachteiligter Jugendlicher herausarbeiten. „Lebenswelt" kann auf Phanomene und allgemeine Strukturen der Lebenssituationen der Jugendlichen aufmerksam machen. Studien zur Stadtforschung haben die Problematik regionaler Disparitaten klargemacht (Kraheck 2004). Und in jtingerer Zeit wird die Frage drangender, wie man die Tendenz von jugendlichen Migranten zu verstarkter Abschottung durchbrechen kann. Unter der Kategorie ,J^olitische Steuerung -fehlende offentliche Aufmerksamkeif zeigt sich, dass wir an die Grenze eines „naturwtichsigen" Umganges mit benachteiligen Menschen gelangt sind. Ohne erhebliche gesamtstaatliche Anstrengungen wird die gesellschaftliche Integration solcher Zielgruppen immer prekarer werden. Solange dieser Bereich politisch unterkomplex verwaltet wird und es im Spannungsfeld divergierender Einflussspharen nicht gelingt, eine Steuerungsinstanz zu fmden, die sich fiir benachteiligte Jugendliche verantwortlich fiihlt, hat man mit einem „Staatsversagen" zu tun. Es geht um eine gesellschaftliche, um eine offentliche Verantwortung fiir Bildung und Berufsausbildung dieser Zielgruppe, ein Bereich, der auch im „Wissensmanagement" nicht eingelost wird: Da es fiir eine forderpadagogische Entwicklung und Forschung keine gemeinsamen padagogischen Disziplinen gibt, fehlen nicht nur eine „padagogische Zustandigkeit" sondem auch eine entsprechende wissenschaftliche Infrastruktur.
311
6
Zum Abschluss
1st das alles haltbar? Kann man mit dieser Programmatik etwas anfangen? Gibt es einen Gebrauchswert ftir diesen Strukturierungsvorschlag? Bieten sich Ansatzpunkte zur Weiterarbeit? Die Suche nach tragenden Theoremen und die Konkretisierung in einem Strukturierungsversuch bzw. in eine Programmatik ist noch langst nicht abgeschlossen. Denn noch fehlen weiterfiihrende Beitrage aus der scientific community und aus der Praxis der Benachteiligtenforderung. Ich will abschlieBend hervorheben: Es handelt sich bei der hier vorgelegen „Topologie" um einen tastenden Versuch in einem offenen Feld. Meines Wissens hat bisher niemand versucht, das explizite und implizite Wissen der Padagogik der Benachteiligten zusammenzufugen und in dieser Form (hoffentlich) etwas besser handhabbar zu machen. Es soil sich um einen erganzungs- und diskussionsbediirftigen Ansatz handeln, der der Diskussion und der kritischen Weiterentwicklung bedarf und der - mit Bodenhaftung und Praxisnahe! - weiterentwickelt werden sollte. Ich freue mich auf Resonanz, Kritik und Anregungen.^
Literaturverzeichnis Allmendinger, J./Leibfried, S. (2002): Bildungsarmut im Sozialstaat. In: Burkart, G./Wolf, J. (Hrsg.): Lebenszeiten, Erkundungen zur Soziologie der Generationen. Opladen. S. 41-60 Baudisch, W. (2002): Zum Perspektivwechsel in der Rehabilitationspadagogik - seine Bedeutung fur Fragen der beruflichen Rehabilitation. In: Baudisch, W./Bojanowski, A. (Hrsg.): Berufliche Rehabilitation mit behinderten und benachteiligten Jugendlichen im Berufsbildungswerk. Munster. S. 3-17 Biermann, H./Riitzel, J. (1999): Didaktik der beruflichen Bildung Benachteiligter. In: Biermann, H./Bonz, B./Riitzel, J. (Hrsg.): Beitrage zur Didaktik der Berufsausbildung Benachteiligter. Stuttgart. S. 11-37 Biermann, H./Bonz, B./Riitzel, J. (Hrsg.)(1999): Beitrage zur Didaktik der Berufsausbildung Benachteiligter. Stuttgart BMBF (Bundesministerium fur Bildung und Forschung) (Hrsg.)(2005): Berufliche Qualifizierung Jugendlicher mit besonderem Forderbedarf. Benachteihgtenforderung. Bonn/Berlin Bojanowski, A.(1996): Die Produktionsschule. In: Dedering, H. (Hrsg.): Handbuch zur arbeitsorientierten Bildung. Munchen/Wien. S. 479-500 Bojanowski, A. (2005): Umriss einer beruflichen Forderpadagogik. Systematisierungsvorschlag zu einer Padagogik fur benachteiligte JugendUche. In: Bojanowski, A./Ratschinski, G./Stra6er, P. (Hrsg.): Diesseits vom Abseits - Studien zur beruflichen Benachteiligtenforderung. Bielefeld. S. 330-362
3 Eine erste und sehr positive Einschatzung des Modells findet sich im Internet in einer Rezension von Ruth Enggruber unter: http://www.socialnet.de/rezensionen/2917.php
312
Bojanowski, A./Eckardt, P./Ratschinski, G. (2005): Annaherung an die Benachteiligtenforschung. Verortung und Strukturierungen. In: Bojanowski, A./Ratschinski, G./StraBer, P. (Hrsg.): Diesseits vom Abseits - Studien zur beruflichen Benachteiligtenforderung. Bielefeld. S. 10-40 Brandt, M. (1996): Berufschancen von Absolventen der Schule fur Lembehinderte. In: Eberwein, H. (Hrsg.): Handbuch Lemen und Lem-Behinderungen. Weinheim/Basel. S. 212-227 Braun, F. (2002): Jugendarbeitslosigkeit und Benachteiligtenforderung. In: Tippelt, R. (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. Opladen. S. 761-774 Eckert, M. u. a. (2002): Die Berufsschule vor neuen Herausforderungen. Darmstadt Ellger-Riittgardt, E. (1982): Berufsvorbereitende Mafinahmen fiir behinderte Jugendliche. In: Bleidick, U./EUger-Riittgardt, E. (Hrsg.): Berufliche Bildung behinderter Jugendlicher. Stuttgart. S. 107-128 Enggruber, R./ Bleck, Ch. (2004): Modelle der Kompetenzfeststellung im beschaftigungs- und bildungstheoretischen Diskurs - unter besonderer Beriicksichtigung von Gender Mainstreaming; www. equal- sachsen- sozialwirtschaft. de Fulbier, P. (2002): Quantitative Dimensionen der Jugendberufshilfe. In: FUlbier P./Munchmeier, R. (Hrsg.): Handbuch Jugendsozialarbeit, Geschichte, Grundlagen, Handlungsfelder, Organisation. Bd. 1. Miinster (2. Aufl.). S. 486-503 Galuske, M. (1993): Das Orientierungsdilemma. Jugendberufshilfe, sozialpadagogische Selbstvergewisserung und die modemisierte Arbeitsgesellschaft. Bielefeld Gessner, T. (2003): Berufsvorbereitende MaBnahmen als Sozialisationsinstanz. Zur beruflichen Sozialisation benachteiligter Jugendlicher im Ubergang in die Arbeitswelt. Munster Gogercin, S. (1999): Jugendsozialarbeit. Eine Einfuhrung. Freiburg Hiller, G. G. (1997): Schulisch wenig erfolgreiche Jugendliche aus Haupt- und Sonderschulen im Ubergang ins Beschaftigungssystem. In: Stark, W./Fitzner, T./Schubert, Ch. (Hrsg.): Lemschwachere Jugendliche im Ubergang zum Beruf. Eine Fachtagung. Evangelische Akademie Bad Boll. Stuttgart. S. 39-60 Krafeld, F.-J. (1989): Anders leben lemen. Von berufsfixierten zu ganzheitlichen Lebensorientierungen. Weinheim/ Basel Krafeld, F.-J. (2000): Die iiberfliissige Jugend der Arbeitsgesellschaft. Eine Herausforderung an die Padagogik. Opladen Kraheck, N. (2004): Karrieren jenseits normaler Erwerbsarbeit. Lebenslagen, Lebensentwiirfe und Bewaltigungsstrategien von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Stadtteilen mit besonderem Emeuerungsbedarf. Deutsches Jugendinstitut. Halle Lippegaus, P. (2005): Kompetenzen feststellen und entwickeln. DIA-TRAIN - eine Diagnose- und Trainingseinheit fiir Jugendliche im Ubergang Schule - Beruf. In: Bojanowski, A./Ratschinski, G./StraBer, P. (Hrsg.): Diesseits vom Abseits - Studien zur beruflichen Benachteiligtenforderung. Bielefeld. S. 130-150 Nolte, H./Rohrs, H.-J./Stratmann, K. (1973): Die Jungarbeiter als Problem der Berufsschule. In: Neuordnung des beruflichen Schulwesens NW. Strukturforderung im Bildungswesen des Landes Nordrhein-Westfalen. Heft 22. Ratingen. S. 141-205 Ratschinski, G. (2005): Viele Daten - (zu) wenig Erkenntnis? Zum Wert der empirischen Benachteiligtenforschung fur die Padagogik. In: Bojanowski, A./Ratschinski, G./StraBer, P. (Hrsg.): Diesseits vom Abseits - Studien zur beruflichen Benachteiligtenforderung. Bielefeld. S. 41-71 Reis, C. (2004): Workfare - Internationale Erfahrungen und ihre Resonanz in Deutschland. In: Bojanowski, A./Eckert, M./Stach, M. (Hrsg.): Berufliche Bildung Benachteiligter vor neuen Herausforderungen: Umbau der Forderlandschaft - innovative Netzwerke - neue Aktivierungsformen. Bielefeld. S. 147-162 Riitzel, J. (1995): Randgruppen in der beruflichen Bildung. In: Arnold, R./Lipsmeier, A. (Hrsg.): Handbuch der Berufsbildung. Opladen. S. 109-120
313
Schierholz, H. (2001): Strategien gegen Jugendarbeitslosigkeit. Zur Ausbildungs- und Berufsintegration von Jugendlichen mit schlechteren Startchancen. Hannover Schulte, E. (2005): Die berufliche Benachteiligtenforderung - eine vorrangige bildungspolitische Gestaltungsaufgabe. In: Bojanowski, A./Ratschinski, G./StraBer, P. (Hrsg.): Diesseits vom Abseits - Studien zur beruflichen Benachteiligtenforderung. Bielefeld. S. 72-84 Thiersch, H. (2003): Lebensweltorientierte Jugendsozialarbeit. In: Fulbier, P./Munchmeier, R. (Hrsg.): Handbuch Jugendsozialarbeit, Geschichte, Grundlagen, Handlungsfelder, Organisation. Bd. 2. (2. Aufl.). Munster. S. 777-789 Thimm, Kh. (1998): Schulverdrossenheit und Schulverweigerung. Berlin Walther, A. (2000): Spielraume im Ubergang in die Arbeit. Junge Erwachsene im Wandel der Arbeitsgesellschaft in Deutschland, Italien und GroBbritannien. Weinheim/Miinchen Wiirfel, W. (2004): Aktuelle Entwicklungen und Perspektiven im System der beruflichen Integrationsfbrderung. In: Bojanowski, A./Eckert, M./Stach, M. (Hrsg.): Berufliche Bildung Benachteiligter vor neuen Herausforderungen: Umbau der Forderlandschaft - innovative Netzwerke neue Aktivierungsformen. Bielefeld. S. 17-27
314
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Bettmer, Franz: Dr. phil., Dipl. Soz., Mitarbeiter am Fachbereich Sozialwesen, Institut fur Sozialpadagogik und Soziologie der Lebensalter der Universitat Kassel; Arbeitsschwerpunkte: Theoretische Grundlagen der Sozialpadagogik/Sozialarbeit, Forschungsmethoden, Jugendhilfe und Schule, Sozialarbeit und Straflustiz. Internet: http://www.uni-kassel.de/fb4/issl/mitg/bett/biog.htm Mail:
[email protected] Bojanowski, Arnulf. Prof. Dr., Professor fur Sozialpadagogik fur die berufliche Bildung am Institut fiir Berufspadagogik der Universitat Hannover; Arbeitsschwerpunkte: Didaktik der Berufsbildung Benachteiligter, Sozialpadagogische Zugange zur Benachteiligtenforderung - Jugendsozialarbeit, Individualisierung in der Berufsausbildung Benachteiligter, Regionale Berufsbildungsentwicklung, Organisationsentwicklung und Qualitatsmanagement in Benachteiligteneinrichtungen, Personlichkeitsorientierte Forderdiagnostik. Internet: http://www.erz.uni-hannover.de/ifbp/mitarbeiter.php?pid=6&n=l 142612628 Mail:
[email protected] Braun, Karl-Heinz: Prof. Dr., Professor fur Sozialpadagogik/Erziehungswissenschaften im Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule Magdeburg-Stendal (FH); Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Praxis der Schulreformen, Schulsozialarbeit, padagogische Handlungstheorie und forschung, Theorie und Methoden der Kinder- und Jugendarbeit. Mail:
[email protected] Cleppien, Georg: Dr. phil., Dipl. Pad., Mitarbeiter am Institut fur Sozialpadagogik, Erwachsenenbildung und Padagogik der friihen Kindheit der Universitat Dortmund; Arbeitsschwerpunkte: Theoretische Grundlagen der Sozialpadagogik/Sozialarbeit, Jugendhilfeforschung, Innovation und Veranderungsprozesse in der Jugendhilfe. Internet: http://www.fbl2.uni-dortmund.de/isep/cleppien.htm Mail:
[email protected] Girmes, Renate: Prof Dr., Professorin fur AUgemeine Didaktik und Theorie der Schule im Institut fur Erziehungswissenschafl der Otto-von-Guericke-Universitat Magdeburg; Arbeitsschwerpunkte: Lem- und Wissensmanagement, Schul- und Curriculumentwicklung, Lehrprofessionalitat, Cultural Engineering - Konzepte interdisziplinarer Hochschuldidaktik. Internet: http ://www.uni-magdeburg.de/didaktik/ Mail:
[email protected] Grosch, Anja: M.A. Padagogik, Psychologic, Philosophic, Lehrbeauftragte im Bereich Lem- und Wissensmanagements im Bachelorstudiengang „KWL-Cultural Engineering" an der Otto-vonGuericke Universitat Magdeburg, Arbeitsschwerpunkt: Organisationsentwicklung in Schulwesen. Mail:
[email protected] 315
Karl, Ute: Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut fur Sozial- und Organisationspadagogik der Universitat Hildesheim; Arbeitsschwerpunkte: Beratung, Obergange junger Menschen in Arbeit, sozialwissenschaftliche Alter(n)sforschung, Geschlechterforschung, Methoden der Qualitativen Sozialforschung, Asthetische Bildung. Internet: http://www.uni-hildesheim.de/de/l 1842.htm Mail:
[email protected] Kiper, Hanna: Prof. Dr. phil. habil., Professorin fur Schulpadagogik im Institut fiir Padagogik der Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg; Arbeitsschwerpunkte: Schulpadagogik, Allgemeine Didaktik, Unterrichtstheorie, Theorie der Schule, Bildungspolitik, Qualitatsentwicklung Internet: http://www.member.uni-oldenburg.de/hanna.kiper/ Mail:
[email protected] Korte, Petra: apl. Prof. Dr. phil. habil. HD, Professorin fur Allgemeine Padagogik am Institut fur Erziehungswissenschaft an der Technischen Universitat Braunschweig; Arbeitsschwerpunkte: Erziehungs- und Bildungstheorie zwischen 1770 und 1830, Asthetische Bildung, Padagogisches Schreiben, Padagogische Rhetorik, Evaluation in der Personalentwicklung, Kommunikation und Management, Trainingspraxis und Trainingstheorie, Theorie und Didaktik der Erwachsen- und Weiterbildung. Mail:
[email protected] Miihrel, Eric: Prof Dr. phil. (et habil.), geb. 1965, Diplom-Sozialarbeiter u. Diplom-Padagoge, Professor fiir Sozialarbeitswissenschaft und Sozialpadagogik an der Fachhochschule Oldenburg /Ostfi-iesland/Wilhelmshaven - FB Sozialwesen Emden. Obolenski, Alexandra: PD Dr. phil. habil., Wissenschaftliche Assistentin an der Fakultat fur Erziehungs- und Bildungswissenschaften an der Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg. Arbeitsschwerpunkte: Lehrerlnnenbildung, Integrationspadagogik, Hochschuldidaktik. Mail:
[email protected] Pfahl, Lisa: Dipl.-Soz., Mitarbeiterin der Abteilung Arbeit, Wissen, Sozialstruktur im Institut fur Soziologie der Georg-August-Universitat Gottingen und Doktorandin des Max-Planck-Instituts fur Bildungsforschung, Berlin; Arbeitsschwerpunkte: (Sozial)Benachteiligung bei Jugendlichen, StigmaManagement und Berufsorientierung, Stigmatisierungen und modeme Sozialstruktur, qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung. Internet: http://www.imprs-life.mpg.de/biographical_sketches.htm - pfahl Mail:
[email protected] Rebmann, Karin: Prof Dr., Professorin am Institut fiir Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftspadagogik der Fakultat Informatik, Wirtschafls- und Rechtswissenschaften der Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg; Arbeitsschwerpunkte: empirische Lehr-Lem-Forschung, wirtschaftsberufliche Curriculumforschung und -entwicklung, betriebliche Aus- und Weiterbildung, okonomische Umweltbildung, Disziplinentwicklung der Berufs- und Wirtschaflspadagogik. Internet: http://www.uni-oldenburg.de^wp/6850.html E-Mail:
[email protected] 316
Schroeder, Joachim: Prof. Dr., Universitatsprofessor am Institut fur Sonderpadagogik/Fachrichtung Lemhilfe, Fachbereich Erziehungswissenschaften der Johann-Wolfgang-Goethe-Universitat Frankfurt am Main; Arbeitsschwerpunkte: Lemen unter Bedingungen von Armut und Migration, Berufliche Eingliederung in erschwerten Lebenslagen, sozialraumliche Schulentwicklung und Bildungsplanung. Internet: http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb04/personen/schroeder.html Mail:
[email protected] Schroer, Wolfgang: Prof Dr., Professor am Institut fiir Sozial- und Organisationspadagogik der Universitat Hildesheim; Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Sozialpadagogik und Sozialpolitik. Kinder- und Jugendhilfe, Migration, Sozialpadagogische Beschaftigungsforderung, Transnationale Soziale Arbeit. Internet: http://www.uni-hildesheim.de/de/9298.htm Mail:
[email protected] Spies, Anke: Prof Dr. phil.; Juniorprofessorin mit dem Schwerpunkt Schulsozialarbeit und schulbezogene Jugendhilfe/Jugendarbeit am Institut fur Padagogik der Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg; Arbeitsschwerpunkte: Biografische Risiken, Berufsorientierung/Berufseinstieg, Beratung, Kooperationsformen Schule - Jugendhilfe, Ganztagsschule. Internet: http://www.uni-oldenburg.de/fkl/8328.html Mail:
[email protected] Tredop, Dietmar: Dipl.-Hdl., Mitarbeiter am Institut fur Betriebswirtschaflslehre und Wirtschaflspadagogik der Fakultat Informatik, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften der Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg; Arbeitsschwerpunkte: Wirtschaftsdidaktik, Bildungsmanagement, Schulautonomie, Konstruktivistische Systemtheorie. Internet: http://www.uni-oldenburg.de/bwp/7488.html E-Mail:
[email protected] Westphal, Manuela: Prof, Dr., Juniorprofessorin fur AUgemeine Padagogik und Frauenforschung am Fachbereich Erziehungs- und Kulturwissenschaften, Mitglied im Institut fur Migrationsforschung und interkulturelle Studien (IMIB) der Universitat Osnabriick; Arbeitsschwerpunkte: Sozialisation, Erziehung und Geschlecht in Migrationsfamilien, Gender Mainstreaming und Personalentwicklung, Geschlechterverhaltnis und Interkulturalitat als Bildungsansatze. Internet: http://www.paedagogik.uni-osnabrueck.de/lehrende/westphal/ Mail:
[email protected] Wieland, Norbert: Prof Dr., Dipl.-Psych., Psych. Psychotherapeut, Professor in der Fachgruppe Psychologic des Fachbereichs Sozialwesen der Fachhochschule MUnster; Arbeitsschwerpunkte: Organisationsberatung und Supervision fiir die Erziehungshilfe, Soziale Arbeit in und mit Schule, Arbeit mit aken Menschen. Mail:
[email protected] 317