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Ring der Verdammnis (Time Wants a Skeleton) Von Ross Rocklynne Aus dem Amerikanischen übersetzt und bearbeitet von Walter Ernsting
Mit unbarmherziger Regelmäßigkeit drehte sich der Asteroid Nr. 1007 auf das Raumschiff zu. Leutnant Tony Crow bekam runde und erstaunte Augen. Seine Hände lösten sich von den Instrumenten des atomaren U-Antriebes und umklammerten die Kontrollen der Notdüsen. Nach etlichem Stottern sprangen diese in summendes Leben, und die Nase des Schiffes richtete sich steil auf. Sterne und bekannte Konstellationen wirbelten an der Sichtscheibe vorbei, verloren sieh im Nichts. Dann aber fiel das Schiff, fing sich noch einmal und krachte dann lautlos gegen den Fuß eines kleineren Felsens auf dem Asteroiden. Tony verlor seinen Halt und wurde aus dem Pilotensitz geschleudert. Er stieß gegen die gepolsterte Wandung und konnte den Stoß abfangen. Er fühlte, wie das Schiff schwankte, sich auf die Seite legte und endlich zur Ruhe kam. Dann war Stille, unheimliche Stille – bis auf das leise Zischen entweichender Luft. Nur eine einzige Sekunde überlegte Tony Crow, dann erfaßte sein Gehirn die drohende Gefahr. Er erhob sich schwankend, stand einige Augenblicke auf dem schrägen Boden und taumelte dann auf den Wandschrank zu. Er öffnete ihn und zerrte einen Druckanzug heraus. Auf seiner Stirn perlten große Schweißtropfen, während er mit zitternden Händen die schützende Bekleidung anlegte, den Helm verschraubte und die Sauerstoffzu3
fuhr regulierte, ehe die letzte Spur von Atemluft aus dem kleinen Schiff in den Raum entwichen war. Als er die Hände sinken ließ, stand er mitten in der Kabine. Er atmete in tiefen Zügen den belebenden Sauerstoff ein, und in seinen Augen zeigte sich zum ersten Mal eine gewisse Sorge. Sein Blick fiel wie zufällig auf den automatischen Kalender, und er seufzte: „Frohe Weihnachten!“ Doch dann schien die Erinnerung zurückzukehren. Ihm fiel Johnny Braker ein, der sich mit seinen zwei Helfershelfern draußen auf dem Asteroiden befinden mußte. Sie würden seinen Sturz bemerkt haben und nun die günstige Gelegenheit nicht versäumen, ihren Verfolger auch ganz zu erledigen. Er mußte ihnen zuvorkommen; nicht allein, um sie auftragsgemäß unschädlich zu machen, sondern aus eigenem Interesse. Denn seine einzige Hoffnung, je wieder diesen Asteroiden zu verlassen, war ihr Schiff. Er überprüfte noch einmal den richtigen Sitz seines Helmes, ehe er sich zur Luftschleuse begab. Mit einem befreiten Aufatmen stellte er fest, daß sie sich öffnen ließ. Das Gefühl unendlicher Einsamkeit überfiel ihn mit nie gekannter Intensität, als er die Oberfläche des winzigen Weltkörpers betrat, dessen Durchmesser kaum 30 km betrug und der fast 200 Millionen Kilometer von der Erde entfernt war. Zu seiner Linken stieg das Gebirge steil an. Tony stellte es mit Befriedigung fest, denn hier hatte er sowieso landen wollen. Dann wandte er sich seinem kleinen Patrouillenschiff zu, und sein Gesicht verzog sich fast schmerzhaft. Die Nase hatte sich in loses Geröll gebohrt und war geborsten. Die zickzackförmigen Risse ließen alle Hoffnung auf eine eventuelle Manövrierfähigkeit sinken. Er wußte, daß dieses Schaff niemals mehr fliegen konnte. Verdammt, es blieb tatsächlich keine andere Möglichkeit, als das Schiff der drei Verbrecher zu finden. 4
Mit grimmiger Miene zog er seine schwere Hampton-Pistole und machte sich auf den Weg. Geräuschlos und fast schwebend schritt er an der Felswand entlang und bog dann vorsichtig um die abschließende Ecke. Er duckte sich und wurde zu einem unbeweglichen Stück Stein, als er keine 300 m entfernt die schimmernde Hülle des feindlichen Schiffes sah, das unter dem Schutz eines überhängenden Felsens jenseits der mit Geröll bedeckten Ebene ruhig und abwartend lag. Gleichzeitig erblickte er die drei Gestalten, die in riesigen Sätzen die Ebene überquerten und in seine Richtung kamen. Ein Lächeln unbarmherziger Befriedigung stand in Tony Crows Augen, als er langsam die Waffe anhob und zielte. Vor den drei Gestalten war plötzlich eine explosionsartige Rauchwolke, die sich aber sofort in das Vakuum verflüchtigte. Die drei Männer kamen zu einem schnellen Halt und blieben da stehen, wo vorher die Rauchwolke gewesen war. Crow verließ seine Deckung und stand frei neben dem Felsen. Er schaltete das Helmgerät ein und rief: „Bleibt stehen und rührt euch nicht!“ Die erwartete Reaktion blieb aus. Brakers Stimme kam zurück, kalt und voll Entschlossenheit: „Den Teufel werde ich tun!“ Dicht neben den Füßen von Tony Crow entstand plötzlich ein kleiner, glühender Krater im Felsboden. Er fluchte und ließ sich in die Deckung zurückfallen. Dann kam seine Waffe hoch, und er sandte einen zweiten Schuß in die Richtung der drei Feinde. Eine der Gestalten sackte in sich zusammen, ihr rundgefüllter Raumanzug verlor gleichzeitig seine Form und wurde schlaff und leer. Die verbleibenden zwei Gangster flohen mit gewaltigen Sätzen und suchten hinter einem Felsbrocken Schutz, der fast genau in der Mitte der Ebene lag. Von dort aus sandten sie ungezielte Schüsse in Crows Richtung. 5
Tony zog sich ebenfalls zurück, denn er wußte, daß von hier aus ein weiterer Angriff sinnlos geworden war. Zwischen ihm und den Verfolgern befand sich nun die Felswand, mehr als 30 m hoch. Er blieb stehen und schnappte nach Luft. Wie zufällig fiel sein Blick auf die Höhle in halber Höhe des Felsens. Er starrte auf deren Eingang, eine kleine Plattform. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Hol’ mich der Teufel!“ stöhnte er und wurde bleich. Am Eingang der Höhle lag in halb sitzender Stellung ein menschliches Skelett. Tony Crows Gesicht war schneeweiß geworden, in seinem Magen revoltierte es. Blitzschnell arbeiteten seine Gedanken, wägten die Möglichkeiten ab. Ein Skelett? Hier? Auf dem atmosphärelosen Asteroid? Das Skelett war eine Unmöglichkeit. Es sei denn … Es mußte aus der Vergangenheit stammen, aus einer undenkbaren Vergangenheit. Es mußte bereits bestanden haben, ehe die Asteroiden sich formten und ehe die menschliche Rasse existierte. Seine Gedanken verwirrten sich und machten der Gegenwart Platz. Er stand da und starrte zu dem Skelett hoch. Er fühlte ein Würgen in der Kehle und überwand mit aller Willensanstrengung das Übelkeitsgefühl. Immer noch aber starrte er auf das Unheimliche, Unbegreifliche. Wenn er doch nur ahnen könnte, woher es käme … Wieder begann er zu denken, und vage Möglichkeiten schossen durch sein Hirn, Möglichkeiten, die ihn an den Rand des Wahnsinns brachten. „Es bestand, ehe die menschliche Rasse zu existieren begann“, flüsterte er verhalten.. „Woher kann dann ein solches menschliches Skelett kommen?“ Er straffte sich und überwand die abergläubische Scheu, die von ihm Besitz zu ergreifen drohte. Eine Illusion! Natürlich, es mußte ein Trugbild sein. 6
Langsam schritt er die schräge Felswand hoch und näherte sich der Höhle. Das Skelett lag dicht davor, an die Wand gelehnt. Das Dämmerlicht verbarg mehr als es enthüllte. Doch deutlich erkannte er den schimmernden Goldring am Finger des Skeletts. Altes und gelbes Gold, unberührt von jeglicher Atmosphäre. Er beugte sich hinab und betrachtete den Ring näher. In einer Fassung glänzte ein Smaragd, ein herrlich schimmernder Edelstein. Doch er hatte einen winzigen Fehler: Fast genau in der Mitte des durchsichtigen Edelsteins schwebte eine Luftblase. Sie war kaum erkennbar, aber zweifellos vorhanden. Langsam richtete Tony sich wieder hoch. In seinem Gesicht war ein ungläubiger Zug, als er murmelte: „Eine Illusion. Ich träume mit offenen Augen. Ich muß verrückt geworden sein.“ An der Felsenecke spritzten Steine in die Höhe, fielen langsam schwebend wieder zur Oberfläche zurück. Das brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Mit einem Satz sprang er von der Höhle zum Boden hinab, und ein weiterer Sprung brachte ihn zur Felsnase. Mit schußbereiter Hampton bog er um die Ecke und stand ohne Deckung. Sein Schuß traf den Felsen, hinter dem die Verbrecher verborgen lagen, genau in der Mitte. Er platzte auseinander, und die beiden Stücke rollten zur Seite. Zwei Gestalten sprangen auf und segelten in gewaltigen Sätzen von dannen, ab und zu ungezielte Schüsse abgebend. Tony wartete, bis die Sicht wieder klar wurde, dann sandte er ihnen einen Warnschuß nach, der haarscharf über ihre Köpfe ging. Doch gleichzeitig erkannte er seinen Fehler. Das Geschoß traf den überhängenden Felsen, unter dem das Raumschiff der Gangster lag. Tony hörte Brakers Stimme in seinem Helm: „Was, zum Teufel …“ Dann verstummte die Stimme in jähem Entsetzen. Die beiden Flüchtenden waren stehengeblieben und sahen mit Crow zu 7
dem Schiff hinüber. Keiner dachte mehr daran, einen Schuß auf den anderen abzufeuern. Es war unnötig geworden … Die überhängende Wand brach von dem Felsen ab und kam langsam in grandioser Lautlosigkeit herab, das Raumschiff dabei unter sich begrabend. Tony Crow fühlte, wie sich seine Nackenhaare senkrecht stellten, und ein Schauer des Entsetzens rann seinen Rücken herab. In der Hülle erschienen mehrere Risse. Als sich die Steintrümmer endlich gesetzt hatten, war von dem Schiff nichts mehr zu sehen. Nur ein Hügel zeugte noch von seinem Vorhandensein. Tony fluchte gräßlich und überwand damit seinen ersten Schrecken. Ob Schiff oder nicht Schiff – er hatte seine Aufgabe zu erfüllen. Und als sich die Gesetzlosen endlich umdrehten, starrten sie in die finstere Mündung seiner Hampton. „Hebt die Hände hoch“, sagte Leutnant Crow ohne besonderen Nachdruck. * Mit unverschämter Langsamkeit befolgte Harry Jawbone Yates, der kleinere der beiden Männer, den Befehl. Braker hingegen sah Crow mit einem höhnischen Grinsen entgegen und machte keine Anstalten, die Arme in die Höhe zu heben. „Warum sollte ich meine Flossen in den Himmel strecken“, wunderte er sich maßlos. „Sind wir nicht Schicksalsgenossen jetzt – gewissermaßen drei Männer in einem Boot?“ Sein Zorn war größer als seine Vorsicht. „Da hast du uns allen eine schöne Suppe eingebrockt. Erst jagst du uns durch das halbe Universum, um uns nun in eine Klemme zu bringen, aus der wir mit größter Wahrscheinlichkeit nie mehr herauskommen werden.“ Tony hielt seine Waffe fest auf Braker gerichtet. Er wußte, daß der alte Gauner nicht unrecht hatte. Wer würde sich schon um den winzigen Weltkörper kümmern, den einsamen Fels8
brocken, der auf den Karten als Asteroid Nr. 1007 verzeichnet war? Er seufzte und sagte: „Her mit den Knarren, Boys. Und seid vorsichtig!“ Er wartete, bis die geringe Gravitation die Waffen auf den Boden gezogen hatte. „Tut mir außerordentlich leid. Ich hatte die Absicht, euch zusammen mit dem Schiff mitzunehmen. Noch einmal würde ich nicht den gleichen Fehler begehen. Doch dazu ist es zu spät. – Komm’ her, Jawbone.“ Yates machte eine unsichere Bewegung. Er war blond und besaß große, blasse Augen. Von Natur aus war er nicht mit einem gerade zarten Gewissen belastet. Sein Kinn war einst von einem Schlag zertrümmert worden und die gesplitterten Knochen hatten einen unvorschriftsmäßigen Heilprozeß durchgemacht. Man sah es – und daher stammte sein Spitzname „Jawbone“. Er hielt seine Hände dem Leutnant entgegen. „Von mir aus lege mir die Armbänder an“, knurrte er mißmutig aber ohne jede Hoffnung. Seine Stimme klang weich und fast fraulich. Braker dagegen war anderer Natur: hart, kühn und verwegen. Schon sein kompakter und massiger Körper zeugte von diesen lobenswerten Eigenschaften, die jedoch in seinem speziellen Falle gegenteiligen Charakter erhalten hatten. Ein weiteres kam hinzu: Er besaß einen unbändigen Lebenswillen und hatte vor nichts mehr Angst als vor dem Tode. Seine Anschauungen von der menschlichen Moral waren mehr als nur elastisch. Tony Crow legte Yates die Handschellen an. „Nun, wird’s bald, Braker?“ erkundigte er sich freundlich. „Soll mich der Teufel holen, wenn ich es tue!“ „Er wird dich holen, wenn du es nicht tust“, eröffnete ihm Crow. Die Mündung der Hampton kreiste langsam. „Ich meine es ernst.“ Braker schüttelte den Kopf, schwieg aber. Er sah in die eis9
kalten Augen des Leutnants und zögerte. Dann streckte er die Hände gehorsam vor und sah zu, wie die Handschellen einschnappten. „Wir haben so und so keine Chance, von hier fortzukommen“, sagte er mürrisch. „Wozu das?“ Tony Crow gab keine Antwort, aber während er den Kopf wandte und in den sternenübersäten Himmel blickte, kam ein leises Lachen von seinen Lippen. Die anderen hörten es in ihren Helmen. „Möchte wissen, was es da zu lachen gibt“, stellte Braker fest. Crow lachte lauter. „Wegen der Chance lache ich, von der du soeben sprachst. Da ist sie nämlich schon.“ Braker fuhr herum und starrte in den Himmel. „Verdammt! Da ist sie!“ sagte er, ehe der Schreck ihn verstummen ließ. Matt schimmernd hing dort oben ein Raumschiff. Das Seltsame an ihm war das Fehlen der Düsen. Schwerelos und unbeweglich schwebte es im Nichts und schien auf etwas zu warten. Dann bewegte es sich plötzlich und verschwand. Eine Sekunde später stand es keine hundert Meter von der Gruppe entfernt auf dem steinigen Boden des Asteroiden. Eine Luke öffnete sich und eine Gestalt trat heraus. Sie trug einen Druckanzug. Mit metallischer Stimme sagte sie und die Männer hörten es in ihren Helmen: „Wohnt ihr hier?“ Die Worte klangen gleichgültig und schienen von einer Frau gesprochen. Tony erhöhte seine Aufmerksamkeit. „Das nicht gerade“, gab er zur Antwort. „Aber fast hätten wir uns hier häuslich einrichten müssen.“ „Oh, gestrandet?“ erkundigte sich der Unbekannte. „Das tut mir aber leid. Das beste wird sein, Sie kommen herein. Da können wir alles besprechen. – Sagen Sie: Sind das Handschellen?“ 10
Tony Crow bejahte. „Hm. Also zwei Verbrecher und ein Polizist? Na, dann kommt mal ins Schiff. Dort werden wir weitersehen …“ * Es war eine Stunde später. Tony Crow saß auf dem Bett in einer kleinen Kabine und rauchte die dritte Zigarette. Den Raumanzug hatte er abgelegt. An einer Wand der Kabine standen Braker und Yates. Dicht neben der Tür lehnte ein Mädchen in Breecheshosen und weißer Seidenbluse. Sie hieß Laurette, war blond und hatte blaue Augen. Sie kräuselte ärgerlich die Lippen, als Tony sie ohne Unterbrechung anstarrte. Neben ihr stand eine anderer Mann. Er hatte schwarzes Haar und sah ganz so aus, als sei er jähzornig und von äußerst geringer Geduld. Er besaß die unangenehme Gewohnheit, seinen Mitmenschen diese Charaktereigenschaft durch unaufhörliches nervöses Fingerschnappen zu dokumentieren. Sein Name war Erle Masters. Und nun betrat noch eine sechste Person den kleinen Raum, ein älterer Mann mit einer Brille. Das kennzeichnete ihn als einen in manchen Dingen altmodischen Menschen. Tony stand auf. „Darf ich Ihnen meinen Vater vorstellen, Leutnant“, sagte Laurette ohne besondere Betonung. „Daddy, dies ist Leutnant Crow von der Interplanetarischen Polizei. Und dort sind die beiden Gangster, die er verhaftete.“ „Verbrecher?“ wunderte sich Professor Overland. Er rieb sich nachdenklich das Kinn. „Well, das ist aber bedauerlich. Ausgerechnet jetzt, wo der DeTosque 1007 zu 70 paßte. Da waren untrügliche Zeichen vorhanden, daß 1007 genau in den vierten Krater von Ceres paßte, besonders dann, wenn man den berechneten Scheitelpunkt in Betracht zog. Schade, sehr schade. Ich hätte die Untersuchungen gerne fortgesetzt …“ 11
„Lassen Sie sich nicht unterbrechen darin“, ermunterte ihn Masters. „Wir sperren die beiden in eine Kabine ein und setzen unsere Forschungen einfach fort. In vier Wochen sind sie beendet und dann können wir sie auf Mars absetzen.“ Overland schüttelte langsam den ergrauten Kopf. „Vier Wochen sind eine lange Zeit, wenn man sie in Handschellen verbringen muß. Das kann ich kaum verantworten.“ „Gut, dann lassen wir sie auf Ehrenwort frei.“ Tony Crow lachte leise auf. „Tut mir leid. Die beiden Herren kennen kein Ehrenwort. Man darf ihnen keine fünf Minuten weit trauen, geschweige den einen Monat. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, Professor, daß ich dazu ermächtigt wäre, Sie zum sofortigen Flug nach dem Mars zu zwingen. Wenn Sie es freiwillig tun, sparen Sie eine Menge Zeit.“ Overland machte einen etwas hilflosen Eindruck. Er nickte. „Natürlich, schon. Aber ich werde dann zum Weihnachtsbankett in meiner Universität nicht zurechtkommen. Außerdem …“ Laurette Overland unterbrach ihn bitter: „Ich wollte, wir wären niemals auf 1007 gelandet. Sie wären auch ohne uns zurechtgekommen.“ „Und ob, Miß Overland“, bestätigte Crow grimmig. „Und ob wir das wären. Wir wären sehr schnell tot gewesen. Sehr tot sogar.“ „So?“ staunte sie ihn an. Erle Masters ergriff ihren Arm und zog sie aus dem Raum. Sie folgte ihm zögernd. * Der Professor sah den beiden nach und wandte sich dann an Crow. „Nehmen Sie das nicht so tragisch, was sie sagte. Sie meint es sicherlich nicht so. Benutzen Sie meine Kabine. In achtund12
vierzig Stunden liefere ich Sie auf dem Mars ab. Sieben oder acht Stunden benötigen wir, um den Asteroidengürtel zu durchqueren.“ Tony starrte den alten Mann an. „Sagten Sie – achtundvierzig Stunden?“ Overland grinste. Seine Zähne waren ganz gelb. „Ja, das sagte ich allerdings. Dies ist ein neues Schiff mit HH-Antrieb. Es bewegt sich ziemlich schnell.“ Tony entsann sich verschiedentlicher Gerüchte. „Die Fitz-Gerald-Kontraktion?“ Overland nickte flüchtig und verließ die Kabine. Tony sah ihm nach und dachte plötzlich an das Skelett. Gleichzeitig ertönte die unschöne Stimme von Braker: „Welch ein herrlicher Witz!“ Tony drehte sich um und fragte: „Was ist ein Witz?“ Braker stand breitbeinig da. Er spielte geistesabwesend mit einem Goldring an seinem dritten Finger seiner rechten Hand. Obwohl er gefesselt war, schien ihm das Vergnügen zu bereiten. Mit Hilfe der benachbarten Finger drehte er den Ring unaufhörlich immer rund. „Na, die Sache mit den Asteroiden. Man erzählt doch, sie seien einmal ein einziger Ring gewesen. Man weiß es nicht genau, daher schickt man graubärtige Gelehrte hinaus und läßt sie die Brocken untersuchen. Sie vermessen die Umrisse und schließen daraus auf die ehemalige Zusammengehörigkeit. Der Vater von dem Mädchen war gerade dabei, 1007, 70 und Ceres zu vermessen. Er wird seine Vorteile davon haben, warum auch nicht? Aber was haben wir denn davon, wenn wir es endlich erfahren, daß es einen Planeten zwischen Mars und Jupiter gab? Nichts. Gar nichts!“ Tony hörte kaum zu, denn er dachte an etwas anderes. Und dann fiel es ihm ein. 13
Der Ring! Er sprang auf seine Füße und starrte Braker an. Braker und Yates starrten zurück. Die Augenbrauen des Gangsterbosses zogen sich drohend zusammen. „Was ist los?“ fragte er. „Sehen Sie Gespenster? Wohl verrückt geworden, Copper?“ Tonys Herz begann wie wild zu schlagen. Er fühlte es bis zum Hals und es würgte ihn. An den Schläfen klopfte es. Ein Gespenst sah er … Mit unheimlicher Schärfe sah er plötzlich, wie Brakers Fleisch verschwand und nichts blieb als das Skelett. Und ein Ring … „Nein, ich sehe keinen Geist“, brachte er endlich hervor, Braker noch immer anstarrend. Seine Augen verengten sich und die Fäuste ballten sich instinktiv. „Der ist bestimmt übergeschnappt“, vermutete Yates. „Aber sicher!“ stimmte Braker ihm zu. Tony öffnete die Augen wieder. Er stand noch immer in der Kabine des Schiffes und befand sich in Sicherheit. Langsam verließ ihn die ungeheure Spannung. Was auch immer geschehen würde, er würde sich vorsehen. Was immer es auch sein würde … „Es geht schon wieder vorüber, Braker“, sagte er ruhig. „Kann ich mal den Ring sehen?“ „Sind Sie sicher, daß der Anfall vorüber ist?“ erkundigte sich Braker vorsorglich. „Reden Sie keinen Unsinn. Los, zeigen sie ihn.“ Er trat einfach auf Braker zu und ergriff dessen gefesselte Hand. Beim ersten Blick schon erkannte er den grünen Stein, in dessen Mitte die winzige Luftblase schwebte. In seinem Magen krampfte es sich zusammen und erneutes Schwindelgefühl drohte ihn zu übermannen. Nur mit äußerster Willensanstrengung nahm Crow sich zusammen. „Wo haben Sie den Ring her?“ fragte er heiser. 14
Braker antwortete ärgerlich: „Was geht das Sie an? Ich habe ihn nicht gestohlen.“ „Vielleicht habe ich meine Frage falsch gestellt. Ich wollte wissen, ob es noch einen zweiten Ring wie diesen hier gibt? Ich hoffe es – oder auch wieder nicht. Ach, ich weiß es selbst nicht …“ „Und ich weiß nicht, was Sie da für einen Unsinn zusammenreden“, knurrte Braker wütend und verständnislos. „Ich glaube, Sie sind doch verrückt geworden. – Im übrigen wissen Sie doch ganz genau, daß Smaragde mit Fehlern – wie hier z. B. die Luftblase – wie Fingerabdrücke sind: es gibt keine zwei gleichen davon.“ Tony nickte bestätigend und ließ die Hand Brakers los. Er trat zurück und zündete eine Zigarette an. Tief zog er den aromatischen Rauch in die Lungen. „Ihr bleibt in der Kabine“, sagte er schließlich und verließ ohne eine Antwort abzuwarten den Raum. Er schloß die Tür sorgfältig ab. Langsam schritt er durch den Gang, stieg einige Stufen hinab und gelangte auf einen zweiten Gang. Da waren zwei Türen und er öffnete einfach eine von ihnen. Die Kabine bestand aus regelrechten Regalen, angefüllt mit kleinen Paketen. Er nahm geistesabwesend eins in die Hand, als sich die andere Tür öffnete und Laurette Overland auf den Gang trat. Die schnelle Bewegung, mit der er zurückfuhr, ließ ihn mit ihr zusammenstoßen. Sie taumelte und wäre gefallen, hätte er sie nicht aufgefangen. Ohne zu überlegen zog er sie an sich und küßte sie. Im nächsten Augenblick verspürte er den brennenden Schmerz einer wuchtigen Ohrfeige. Sie blitzte ihn mit wutfunkelnden Augen an. „Was fällt Ihnen ein?“ schnappte sie. „Sie Idiot! Außerdem: Was wollen Sie in dieser Kabine? Legen Sie das Paket zurück, ehe mein Vater oder Erle Sie erwischt. Es sind Weihnachtsgeschenke.“ 15
Tony war zu erstaunt, um eine Antwort zu geben. Er starrte verständnislos auf das Päckchen, auf dem geschrieben stand: „Nicht vor Weihnachten öffnen!“ Er legte es in das Regal zurück. Laurette sagte: „Tut mir leid, wenn ich zu heftig zuschlug, aber es war der erste Impuls. Vielleicht haben Sie es nicht böse gemeint.“ Tony bestätigte das mit einem sofortigen Kopfnicken, und sie lächelte ein wenig. Dann zeigte sie auf die andere Tür. „Wenn Sie den Kontrollraum suchen – da ist er.“ „Ich wollte Ihren Vater sprechen.“ „Der hat keine Zeit, er ist damit beschäftigt, den Kurs zu errechnen. Aber vielleicht in 15 Minuten. In der Zwischenzeit können Sie sich ja an Erle Masters wenden. Er steuert das Schiff gerade um einen Polyhedroniten.“ „Polyhedroniten?“ „Na ja, einen unregelmäßig geformten Asteroiden.“ „Ach so – für mich sind sie alle gleich. Aber wieso, sind wir denn schon gestartet? Ich habe den Andruck nicht gespürt.“ „Vor zehn Minuten bereits. Mit einem HH-Antrieb ausgerüstet gibt es keinen Andruck, egal wie hoch die Beschleunigung ist. Erle kann Ihnen das ja erklären.“ Sie nickte ihm zu und trat auf den Gang. Ehe sie davongehen konnte, holte er sie ein. „Sie können mir meine Fragen genausogut beantworten“, sagte er. „Wollen Sie das tun?“ „Bitte.“ Sie war stehengeblieben und lehnte mit dem Rücken gegen die Wand. Ihre Augen waren forschend auf den Leutnant gerichtet. Er begann: „Das einzige, was ich von dem Hoderay-Hammond-Antrieb weiß, ist, daß er die Umkehrung des Fitz-Geraldschen Kontraktionsprinzipes ausnutzt. Ein sich bewegendes Objekt zieht sich in Richtung seiner Bewegung zusammen. Also kann auch ein 16
ruhendes Objekt – z. B. ein Schiff – in Bewegung gesetzt werden, wenn es in der gewünschten Richtung zusammengezogen wird. Das ist die Theorie, wie aber die Praxis aussieht, weiß ich leider nicht.“ „Ganz einfach durch Gravitations… was haben Sie denn bloß bis heute gemacht?“ „Gelernt“, gab Tony Auskunft, „wie man sich zu benehmen hat.“ Sie wurde rot und schluckte krampfhaft. „Wenn Sie wüßten, welche wichtigen Arbeiten Sie durch Ihre Anwesenheit unterbrechen, würden Sie das nicht mehr sagen. Wir wollten rechtzeitig fertig werden, damit Dad am Abschiedsbankett teilnehmen kann. Aber wozu erzähle ich Ihnen das. Noch Fragen?“ Tony nickte und zündete sich eine Zigarette an, nachdem sie abgelehnt hatte. Dann sah er sie voll an und meinte: „Auf dem Asteroiden 1007 fand ich ein menschliches Skelett. An der einen Hand befand sich ein Ring.“ Sie zeigte nur geringes Interesse. „War er denn wenigstens wertvoll?“ „Warten Sie ab. Einer der beiden Männer, die ich verhaftete, heißt Braker. Er hat das Skelett niemals gesehen oder kam ihm auch nur nahe. Er trägt ebenfalls einen Ring. Und zwar ist es der gleiche Ring, den ich an dem Skelett erblickte.“ Sie schien verwundert. „Das hört sich recht unlogisch an, Leutnant.“ „Das gebe ich zu, denn dann müßte sich dar gleiche Ring zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Orten befinden.“ „Und eben das ist unmöglich. Doch erzählen Sie weiter. Ich weiß zwar nicht, worauf Sie hinaus wollen, aber es ist ganz interessant.“ „Es wird noch interessanter, warten Sie ab. Also: wieso unmöglich? Es ist die Wahrheit! Zwar kann ich es nicht erklären, 17
Miß Overland, aber es ist Tatsache. Hinzu kommt etwas anderes: Jenes Skelett – ein menschliches Skelett – muß bereits existiert haben, als es noch keine Menschen gab.“ Sie wich ein wenig von ihm zurück. „Sie müssen den Verstand verloren haben.“ Und als er keine Antwort gab fügte sie hinzu: „Woher wollen Sie das wissen?“ „Ich weiß es einfach. Und nun erklären Sie mir bitte den HHAntrieb, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ Sie nickte zögernd. „Gut. Ich will es versuchen. Jede Materie besteht aus Atomen, die sich u. a. aus Protonen und Elektronen zusammensetzen. Ein Graviton ist der kleinste Bestandteil eines Atoms. So hat z. B. ein Proton ganz genau 1846 Gravitonen und ein Elektron nur ein einziges. Daher ist ein Proton 1846 mal so schwer wie ein Elektron. – Jetzt können Sie mir eine Zigarette geben, Leutnant, denn ich werde nervös. Ich kann Ihnen nämlich noch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ich den Antrieb zu erklären vermag. Danke. Also, passen Sie auf: Der Wittenberg-Zertrümmerer zersplittert die Atome. Die freien Elektronen werden in Spezialbatterien gespeichert und zu Leucht- bzw. Heizzwecken verwendet. Die Protonen hingegen werden weiter gespalten, wodurch die Gravitonen frei werden. Sie werden in einem speziellen Sphärenfeld aufgefangen und ebenfalls gespeichert. Wollen wir das Schiff in Bewegung setzen, lassen wir sie einfach in der bestimmten Richtung frei. Der natürliche Platz für ein Graviton ist das Proton. Allein vermag es nicht zu existieren. Die freigelassenen Gravitonen eilen daher in Richtung der nächsten Protonen davon, die aber bereits mit 1846 Gravitonen gesättigt sind. Gravitonen können sich nicht im dreidimensionalen Raum halten. Sie flüchten daher durch die Zeitmauer und landen in der Vergangenheit. Diese Reaktion zieht die Atome des Schiffes und alles dessen, was sich in diesem befindet, zusammen und reißt es in entgegenge18
setzter Richtung der Raum-Zeitlinie davon – also sowohl räumlich wie auch zeitlich. Aus diesem Grunde kann das Schiff im Bruchteil einer Sekunde Tausende von Meilen zurücklegen, ohne daß man die Beschleunigung auch nur zu spüren imstande ist. Das ist alles, Leutnant. Können Sie was damit anfangen?“ Tony Crow überlegte kaum, als er fragte: „Und was würde geschehen, wenn man die Gravitonen statt in die Vergangenheit in die Zukunft lenken würde?“ „Ich hätte mich gewundert, wenn Sie diese Frage nicht gestellt hätten. Theoretisch ist es eine Unmöglichkeit. Jeder, der etwas von dieser Materie versteht, würde das behaupten. Da aber Braker einen Ring hat, den ein Skelett aus vorgeschichtlicher Zeit auch trägt – nein, es wird doch besser sein, Sie sprechen mit meinem Vater. Ich fürchte, ich verliere sonst auch noch den Verstand.“ * Erle Masters sah von Laurette auf Tony und dann wieder auf Laurette. „Und du glaubst diesen Quatsch, den er dir erzählte?“ wunderte er sich. „Deine Meinung interessiert mich überhaupt nicht“, gab sie scharf zurück. „Ich will Vaters Meinung hören.“ Overland räusperte sich unsicher. „Es hört sich tatsächlich an wie – Quatsch. Wenn Sie kein Mann der Raumpolizei wären, Leutnant, würde ich Sie für übergeschnappt halten. Eine Frage, junger Mann: Woher wollen Sie wissen, daß jenes Skelett älter als die menschliche Rasse ist?“ „Ich habe eigentlich nur gesagt, es hätte schon auf dem Asteroiden gelegen, bevor die menschliche Rasse zu existieren begann.“ 19
„Wo ist denn da der Unterschied?“ „Ich weiß nicht – aber da scheint mir einer zu sein.“ „Na gut. Und woher wissen Sie es?“ Tony zögerte unmerklich. „Auch das weiß ich nicht. Als ich vor der Höhle stand und es anschaute, war es mir, als habe es mir jemand – oder etwas – gesagt.“ „Jemand?“ kicherte Masters albern. „Ich weiß es nicht“, wiederholte Tony. „Ich kann nur das sagen, was ich wirklich weiß. Und jemand sagte es mir. Ob das etwas Übernatürliches war?“ Overland sagte schnell: „Keine voreiligen Schlüsse. Wir werden eine Erklärung finden, wenn es auch vielleicht schwer scheint jetzt.“ Er schwieg und nickte mehrmals vor sich hin. Dann setzte er hinzu: „Ich bin schon alt, sehr alt. Es gibt nichts, was ich nicht glaube. Für einen Wissenschaftler bleibt nur eine Lösung: Wir müssen zu 1007 zurückkehren und uns das Skelett ansehen.“ Masters trat einen Schritt vor und fauchte: „Das können Sie nicht tun!“ „Und ob wir es tun können, möchte wissen, warum nicht. Vergessen Sie bitte nicht, daß Sie mein Angestellter sind, und zwar nur deshalb, weil meine Tochter mich darum gebeten hat. Wenden Sie das Schiff in Richtung 1007. Vielleicht hat unsere Aufgabe erst jetzt einen Sinn erhalten und 1007 ist wichtiger als unsere ganze bisherige Arbeit.“ Er lachte kurz auf. Laurette schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Zurückzukehren halte ich für das Dümmste, was wir tun können. Aber nicht zurückzukehren erscheint mir genauso falsch.“ „Du redest vollkommenen Blödsinn“, beobachtete Masters unzufrieden und machte ein mürrisches Gesicht. Nach kurzer Überlegung ergriff er ihren Arm und zog sie mit sich, als er die 20
Kabine verließ. Professor Overland sah ihm nach und nickte Tony zu. Der Leutnant nickte zurück und begab sich dann zu der ihm und seinen Gefangenen zugewiesenen Kabine. Auf seinem Gesicht lag ein unmerkliches Lächeln, daß die aufsteigende Furcht verdecken sollte. Furcht – vor was? * Braker sprang auf die Füße, als Tony den Raum betrat. „Was gibt es Neues, Crow?“ wollte er wissen. „Ich möchte den Ring noch einmal sehen, Braker.“ Und nach einer Minute genauen Hinschauens fuhr er fort: „Es ist der gleiche Ring!“ Braker war einer Explosion nahe. „Ich möchte zum Teufel doch mal gerne wissen, was der Blödsinn mit dem Ring bedeuten soll“, tobte er. „Ich will es jetzt wissen.“ Tony betrachtete den Wütenden nachdenklich, ehe er sagte: „Vielleicht ist es besser für Sie, wenn Sie es nicht wissen.“ Er setzte sich nieder und zündete eine Zigarette an. Braker stieß einen Fluch aus und schritt zur Sichtluke. Schweigend schaute er hinaus. Der Leutnant wußte ganz genau, was der andere dachte: an die Erde mit ihren gewaltigen Weltstädten, an die riesigen Räume zwischen den bewohnten Planeten. An das Leben würde er denken, an das schöne und freie Leben, das er so sehr liebte. Ausgerechnet Braker, der den Ring trug … Crow erkannte die Sternbilder durch die Luke und sah, daß sie plötzlich ihre Umrisse veränderten. Braker taumelte zurück. Seine Augen traten fast aus den Höhlen. „Was zum Teufel …“ 21
Tony war aufgesprungen. Er hatte den Wechsel zu deutlich bemerkt, um an eine Sinnestäuschung zu glauben. Kalt und nüchtern gab ihm der Verstand die Antwort. Auf seinen Lippen stand ein gefrorenes Lächeln. „Sie haben richtig gesehen, Braker“, sagte er und griff rechtzeitig nach einem Halt. Braker und Yates hatten die Situation nicht so schnell erfaßt. Sie verloren das Gleichgewicht und rutschten über den Boden bis zur gegenüberliegenden Wand, gegen die sie mit voller Wucht prallten. Das Schiff schien sich zu drehen und vor der Luke sausten die Sterne vorbei. Einmal glaubte Tony auf die wüste Landschaft eines fremden Planeten zu schauen, dessen Horizont von hohen Gebirgen eingesäumt war und an dessen Himmel eine kleine, weiße Sonne stand. Dann wurde der Himmel heller, die Sterne verblaßten in der beginnenden Atmosphäre. Tony Crow fühlte, wie sein Bewußtsein schwand. Das Schiff stürzte und pfiff dann durch die tieferen Luftschichten. Er wußte ganz genau, was geschehen war. Und da gab es auf einem kleinen Asteroiden ein menschliches Skelett, Jahrmillionen alt … Oder – erst in Jahrmillionen … Mit einem harten Stoß berührte das Schiff den Boden. * Leutnant Tony Crow versuchte sich zu bewegen und schlug die Augen auf. Die Lichter im Schiff waren erloschen, aber durch die Luke schimmerte es bleich und ungewiß. Von irgendwoher kamen Geräusche. Regen fiel draußen. Er hörte die aufklatschenden Tropfen und das Rauschen des Windes. Vorsichtig richtete er sich auf. Er lag auf Braker, der schwer atmend im Unterbewußtsein die große Beule betastete, die auf seiner Stirn prangte. Unfreiwillig fielen Tonys Augen auf den Ring. Er glänzte golden auf in dem schwachen Licht – ein un22
heimliches, grünes Auge. Mit Gewalt zwang sich Tony, den Blick abzuwenden. Yates regte sich und stöhnte leise. Dann öffnete er seine Augen und starrte Tony an. „Was ist geschehen?“ ächzte er und versuchte, sich zu erheben. „Kümmern Sie sich um Braker“, gab Tony Antwort und lächelte ungesehen vor sich hin. Dann stand er endgültig auf und schwankte zur Tür, die lose in den Angeln hing. So schnell er konnte, schritt er durch den Korridor und begab sich zum Kontrollraum. Es war dunkel und er fühlte den Weg mehr als er ihn sah. In der Zentrale war es ebenfalls düster und er stolperte so lange in dem Raum herum, bis sein Fuß gegen den Körper eines Menschen stieß. Mit den Händen betastete er den Körper und schrak zusammen. Es war Laurette. Vorsichtig nahm er sie in die Arme und richtete sich hoch. Sie atmete, war aber bewußtlos. Er trug sie durch den Gang in die Kabine ihres Vaters. Ein Mond leuchtete hinter der Sichtluke und verbreitete dämmriges Licht. Er legte das Mädchen auf das Bett und begann, ihre Arme rhythmisch zu bewegen. Kurz darauf wurde ihr Atem regelmäßiger und er sah sogar, daß die Farbe in ihr Gesicht zurückkehrte. Dann schlug sie die Augen auf. „Leutnant?“ murmelte sie schwach. „Geht es Ihnen besser?“ „Ja, danke.“ Sie sah, daß sie auf dem Bett lag und richtete sich auf. Ehe Tony es verhindern konnte, hatte sie die Füße auf dem Boden. „Wo ist mein Vater?“ „Soll ich ihn holen gehen?“ erbot er sich. Fünf Minuten danach lag Professor Overland auf dem gleichen Bett. Er war bei Bewußtsein, aber in seinen Augen flackerte der Schmerz, denn er hatte sich bei dem plötzlichen Sturz drei Rippen gebrochen. Erle Masters hockte zu Füßen des Bettes und in seinem Blick lag der beginnende Irrsinn langsamen 23
Verstehens. Tony wußte, was Masters dachte, aber er versuchte krampfhaft, nicht an das gleiche zu denken. Dazu war später noch genug Zeit. Zuviel Zeit – vielleicht. Er fand Verbandsstoff und kümmerte sich um Overland. Die Rippen waren einfach gebrochen und würden in wenigen Wochen verheilt sein. Solange allerdings würde der Professor im Bett liegen müssen. Masters sah Tony an, als er sagte: „Wir werden die Druckanzüge anlegen und einen Blick auf unsere nähere Umgebung werfen müssen.“ „Die Anzüge sind kaum notwendig“, gab Tony achselzuckend zurück, „denn wir atmen bereits die Atmosphäre dieses Planeten, fühlen den hiesigen Luftdruck. Irgendwelche Luken müssen undicht geworden sein.“ Die tiefe Stimme Overlands ließ sich vernehmen: „Ich glaube, daß ich langsam weiß, wo wir uns befinden, Erle. Fühlen Sie nicht auch die Gravitation dieses Planeten? Sie ist vielleicht um die Hälfte größer als die der Erde. Das kann man abschätzen.“ Er verzog sein Gesicht zu einem schmerzhaften Lächeln. Dann setzte er hinzu: „Vielleicht bin ich jenes Skelett.“ Tony Crow zog mit einem pfeifenden Geräusch die Luft ein. „Unsinn! Braker trägt den Ring. Ich wünsche ihm nichts Böses, aber …“ Er ließ den Rest ungesprochen, sondern winkte Masters zu, indem er auf den Gang hinaustrat. Masters zögerte, aber als Laurette eine ungeduldige Bewegung machte, befolgte er die Aufforderung des Polizeileutnants. * Sie tasteten sich durch den Gang vor bis zur Zentrale. Hier fand Tony eine Stablampe und ließ sie aufleuchten. Der Geruch nach verbranntem Gummi und angesengtem Plastikstoff vermischte sich mit Ozon. Der Lichtschein bestätigte alle Vermutungen 24
und enthüllte das, was von dem HH-Antrieb übriggeblieben war. Es war nicht viel. Masters stieß einen Fluch aus und schwieg dann. Erst nach einer langen Weile flüsterte er: „Das wäre das!“ „Was meinen Sie damit?“ erkundigte sich Crow mißtrauisch. „Ich meine, daß wir gestrandet sind – Millionen von Jahren vor unserer Zeitrechnung. In der Vergangenheit. Es wird keine Rückkehr mehr für uns geben.“ Ohne besondere Erregung gab Tony zurück: „Wieso? Hat das Schiff denn keine gewöhnlichen Düsenaggregate?“ „Natürlich hat es die. Aber was sollten sie nutzen? Wir befinden uns auf einer Welt mit anderthalbfacher Erdenschwere. Und außerdem nehme ich an, daß diese Düsen unter dem Sturz aus mehr als 50 m Höhe stark gelitten haben.“ „Wir werden sie reparieren, Masters. – Warum sind Sie eigentlich so sicher, daß wir uns Jahrmillionen in der Vergangenheit befinden?“ Masters lehnte sich gegen die Wand. Sein Gesicht bekam einen harten und kalten Ausdruck. Es war plötzlich wie aus Stein gehauen. „Wissen Sie es nicht, Leutnant? Ich habe Ihre Geschichte mit dem Ring und dem Skelett nicht geglaubt – jetzt glaube ich sie. Sie haben die Ereignisse vorausgesagt und sie trafen ein. Also nehme ich an, daß wir uns in der Vergangenheit befinden. Hinzu kommt die Tatsache, daß sich in der näheren Umgebung des Asteroidenringes ganz bestimmt kein Planet befindet, der ausgerechnet die hier vorhandene Schwerkraft besitzt. Aber es hat mal einen solchen gegeben.“ Ohne seine Lippen zu bewegen sagte Tony: „Ja …?“ „Ja, und aus ihm entstanden dann die Asteroiden.“ 25
Plötzlich lächelte Tony. „Ich freue mich, daß Sie die Tatsache erkannt haben.“ Dann drehte er sich einfach um und verließ die Zentrale. Es erwies sich als unmöglich, die Luftschleuse zu öffnen, daher gab er es bald auf und folgte dem deutlich spürbaren Luftzug. Er kam aus der aufgesprungenen Kabine eines Vorratsraumes, dessen Luke zertrümmert war. Tony erblickte jenseits der Luke dunkle Nacht. Der Mond war nicht zu sehen. Masters kam nach, als Tony durch die Luke kletterte und bald danach auf dem nassen Boden im Schutze des Schiffes stand. Gelegentliche Regentropfen peitschten in ihr Gesicht und über die felsige Ebene heulte der Wind. Von irgendwoher kam ein Geräusch, es klang wie das Schreien eines Tieres. Dichte Wolken verdeckten den Mond, der sich nur ab und zu kurz zeigte. Masters Zähne klapperten. Er mußte jämmerlich frieren. Tony machte einige vorsichtige Schritte und versuchte, die Beschädigungen an der Hülle des Schiffes festzustellen. Er atmete erleichtert auf, als er außer den verbogenen Düsenöffnungen und der zerbrochenen Luke nichts fand. Beides würde mit der Zeit wieder instand gesetzt werden können, denn man hatte Ersatzteile an Bord. Als sie in das Schiff zurückklettern wollten, griff Masters nach Tonys Arm und hielt ihn fest. Er zeigte hinauf zum Himmel, wo die Wolkendecke für wenige Augenblicke aufgerissen war. Tony sah, was Masters meinte und nickte bestätigend. Dort oben stand an dem bleichen Firmament eine winzige, silberne Sichel. „Ein Planet“, murmelte Tony. „Es muß einer sein“, bestätigte Masters. *
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Als sie durch den Gang schritten, begegneten sie Braker und Yates. Braker grinste Tony hinterhältig an und fragte: „Was ist eigentlich mit diesem Skelett los, von dem ich hörte?“ Tony biß sich auf die Lippen. „Von wem haben Sie das gehört?“ „Das Mädchen und ihr Vater erzählten davon. Wir machten einen Spaziergang und kamen zufällig an die Tür zu ihrer Kabine. Natürlich traten wir nicht gleich ein, besonders dann nicht, als wir hörten, daß sie sich so laut unterhielten. Und zwar eine Menge unsinniges Zeug, was sie sich zu erzählen hatten, aber ganz interessant. Etwas von einem Smaragdring, einer Höhle und einem Skelett.“ Er machte einen Schritt auf Tony zu, und in seinen Augen glühte es gefährlich auf. „Reden Sie schon, Crow! Was hat mein Ring mit jenem Skelett zu tun?“ Tony blieb ruhig. „Sie reden Unsinn“, sagte er bestimmt. „Das beste wird sein, Sie gehen in die Kabine zurück und legten sich hin. Wird Ihnen guttun.“ Braker stieß ein höhnisches Gelächter aus. „Man kann uns nicht einsperren, wenn die Türen zerbrochen sind.“ „Lassen Sie doch diese Leute in Ruhe, Leutnant“, mischte sich Masters energisch ein. „Wir haben wichtigere Probleme zu lösen. Im übrigen glaube ich, daß sie uns später beim Richten des Schiffes helfen könnten – in ihrem eigenen Interesse“ Tony nickte und sah Yates an. „Verstehen Sie etwas von Elektrizität und Elektronik? Wenn ich mich recht entsinne …“ Das Gesicht Yates’ zeigte einen erfreuten Schimmer, wurde aber gleich wieder düster, als er an die Rolle dachte, die er spielte. Er warf Braker einen fragenden Blick zu, ehe er antwortete: 27
„Ja, stimmt schon. Sie haben recht.“ Braker schien nicht damit einverstanden. „Tut uns leid“, knurrte er, mißbilligend seinen Gefährten ansehend. „Wir haben nicht die Absicht, für Sie zu arbeiten. Wir sind Gefangene und Sie haben die Pflicht, für uns zu sorgen. Natürlich würden wir Ihnen oder dem Boß dieses Unternehmens helfen, wären wir keine Gefangenen.“ Tony nickte. „Einverstanden. Heute nacht bleibt ihr noch gefesselt, vielleicht lasse ich euch morgen frei.“ Ohne eine Entgegnung abzuwarten, brachte er die beiden Männer in ihre Kabine zurück und schloß sie mit den Handschellen an einem metallenen Haltegriff fest. Dann, während er auf den Gang hinaustrat, zog er die Stirn in dicke Falten. Braker war allzu bereitwillig auf sein Angebot eingegangen. Schneller als er gedacht hatte, erkannte er auch den Grund. Auf dem Boden des Korridors sah er etwas Blitzendes. Eiskalter Schreck durchfuhr ihn, als er sich bückte, um den Ring aufzuheben. Masters war stehengeblieben. Er fragte scharf: „Was haben Sie da?“ Crow grinste hilflos, warf den Ring zwei- oder dreimal in die Luft und fing ihn mit der flachen Hand wieder auf. Dann hielt er ihn Masters hin. „Wenn Sie einen Ring zu tragen wünschen – bitte.“ Das Gesicht des anderen überzog sich mit tödlicher Blässe. Er wich einen Schritt zurück und streckte abwehrend die Hände aus. „Der Ring …! Nehmen Sie den Ring weg!“ „Braker scheint ihn fortgeworfen zu haben“, stellte Crow fest und seine Stimme durchschnitt das entstandene Schweigen. Er ließ Masters einfach stehen und ging zurück in die provisorische Gefangenenzelle. Braker sah ihm entgegen. 28
„Sie haben Ihren Ring verloren, Braker. Hier ist er.“ Braker lachte höhnisch auf. „Sie können ihn behalten, Copper. Oder glauben Sie, ich wollte das verdammte Skelett sein? Meinen Sie nicht auch, ich wüßte nicht ganz genau, was hier gespielt wird?“ Crow ließ den Ring in seine Jackentasche fallen und verließ den Raum. Mit wiegendem Gang, kaum beeinträchtigt durch die etwas höhere Gravitation, begab er sich zur Kabine Overlands. Er klopfte an und trat ein, als er Laurettas Stimme hörte. Masters und Laurette sahen ihm entgegen. Overland hatte sich ein wenig aus dem Kissen erhoben und blickte ihn an. Mit einem verlegenen Lächeln sagte er: „Das menschliche Gehirn kommt recht oft auf sehr seltsame Gedanken. Da denkt Masters z. B., weil Sie jetzt den Ring hätten, müßten Sie auch unbedingt jenes Skelett werden.“ Masters zuckte nervös mit den Augenlidern. „Ist es denn nicht so? Die Gefangenen wissen um das Skelett und den Ring, wir ebenfalls. Crow hat den Ring, das wissen wir auch. Und es ist todsicher, daß keiner ihm den Ring abnehmen wird.“ Overland gab einen erstickten Laut von sich. „Lächerlich! Sie benehmen sich wie ein Kind, Masters, und nicht wie ein Wissenschaftler. Eins ist sicher: Jemand von uns stirbt und wird zu jenem Skelett, aber es ist nicht sicher, wer es sein wird. Es besteht sogar die Möglichkeit, daß wir alle umkommen. Eure Angst vor dem Ring ist kindisch, ihr seid abergläubisch geworden. Auf einmal wird aus einem gewöhnlichen Ring ein ‚Ring des Todes’. Derjenige der den Ring trägt, wird sterben. Pah!“ Er streckte seine Hand Crow entgegen. „Geben Sie mir den Ring. Ich werde euch eins sagen: wenn ich da draußen das Skelett sein sollte, so wird keine Macht des Universums es verhindern können, daß ich hier sterbe. Und genauso ist es, wenn ich es nicht sein sollte. Dann stirbt einer von euch.“ 29
Tony schüttelte den Kopf. „Danke, ich behalte ihn vorerst. Aber lassen Sie sich gesagt sein: Sie werden selbst mit den vernünftigsten Argumenten niemanden davon zu überzeugen vermögen, daß der Ring nicht doch ein ‚Ring des Todes’ ist. Denn er ist es tatsächlich, Professor.“ Overland sank in die Kissen zurück. Seine Lippen kräuselten sich spöttisch. „Und was werden Sie nun tun?“ fragte er. Und als er keine Antwort erhielt fuhr er fort, indem er das Thema wechselte: „Die ganze Situation, in der wir uns befinden, ist vollkommen unmöglich. Was haben Sie draußen Interessantes entdecken können?“ * In aller Kürze berichtete Crow und erklärte, daß es wenigstens drei Erdenwochen dauern würde, bis man die elektrischen Anlagen soweit repariert haben konnte, um mit den eigentlichen Arbeiten zu beginnen. Overland hörte mit einem sinnenden Ausdruck im Gesicht zu. „Eigentlich ist es seltsam“, murmelte er dann leise. „Alle die Theorien, die bekannte Männer wie DeTosque, Bodley, Morrell, Haley und die Gebrüder Farr aufgestellt haben, konnten nie bewiesen werden. Sie arbeiteten an einem Problem, das allein durch unser Hiersein gelöst wurde.“ Laurette lächelte Tony an und sagte ohne Zusammenhang: „Vielleicht war das Skelett eine Frau, Leutnant.“ „Eine Frau?“ Masters war erschrocken zusammengezuckt. „Aber nicht du, Laurette!“ „Warum denn nicht? Frauen haben auch ein Skelett – oder wußtest du das nicht?“ Sie wandte sich wieder an den Leutnant. „Ich hatte Sie etwas gefragt.“ 30
In dem Gesicht Tonys regte sich kein Muskel. „Das Skelett war von einem Mann.“ „Gut, Leutnant“, sagte Laurette Overland und hielt Crow die geöffnete Hand hin, „dann geben Sie mir bitte den Ring.“ Tony Crow wunderte sich über die Eiseskälte, die seinen Rücken heraufkroch. Daran hatte er nicht gedacht, daß seine Lüge solche Folgen haben könnte. Er bemerkte, daß Overland bleich geworden war. Masters hingegen konnte sich nicht beherrschen. „Du verdammter Hund!“ schrie er und stürzte sich auf Tony. „Das ist nur ein blutiger Trick, mit dem du den Ring loswerden willst.“ Tony war auf den Angriff nicht gefaßt. Er ging zu Boden und Masters fiel auf ihn. Ganz nahe war seine wütende Fratze. Laurette schrie: „Erle, du Narr! Was tust du?“ Über Tonys Gesicht huschte ein Schatten. Er bäumte sich mit aller Anstrengung auf und warf den Gegner ab. Dann schoß seine Faust vor. Es krachte wuchtig und dann rührte sich Masters nicht mehr. Der Leutnant erhob sich und sah auf das Mädchen herab, die neben dem Bewußtlosen kniete. Sie blickte hoch und suchte seine Augen. „Es tut mir leid, Leutnant“, entschuldigte sie sich. „Wieso sollte es Ihnen leid tun“, gab Tony kurz zurück. „Wenn Ihnen etwas leid tun könnte, dann nur die Tatsache, daß Sie mit einem solchen Idioten verlobt sind und ihn heiraten wollen.“ Die Bemerkung tat ihm gleich darauf wieder leid, aber er vermochte sie nicht rückgängig zu machen. Er wandte sich Overland zu. „Es ist Nacht draußen und es regnet“, sprach er in abgehackten Worten. „Morgen, wenn die Sonne scheint, sieht alles ganz anders aus. Wir werden uns die Sache bei Licht betrachten und 31
unsere Pläne machen …“ Er schwieg. Was für Pläne? Wofür Pläne? Er schloß: „Ich schlage vor, wir schlafen noch einige Stunden. Wer weiß, wie lange die Nacht auf dieser Welt dauert.“ Ohne eine Antwort abzuwarten verließ er den Raum und suchte die Zentrale auf, nachdem er vorher einige Decken aus dem Vorratsraum geholt hatte. Er legte sich einfach auf den Boden und fiel bald darauf in einen unruhigen Schlummer. Durch seine Träume geisterte ein Skelett … Am anderen Morgen saßen sie zu fünf Personen am Frühstückstisch. Laurette bediente und spielte Hausfrau; Masters saß neben ihr und betrachtete das Essen mit trüben Blicken; Braker verschlang die Speisen mit ungewöhnlichem Appetit, so gut es die Handschellen erlaubten; Yates aß ohne jedes Interesse. Tony trank die zweite Tasse Kaffee leer und strich sich mit der Hand die Haare aus der Stirn. Er stand auf. „Ich sehe mir mal die Umgebung an“, sagte er zu Laurette. Braker lehnte sich zurück und balancierte, bis der Stuhl auf zwei Beinen stand. Auf seinem Gesicht war ein widerliches Grinsen. „Und wohin werden Sie gehen, Mr. Skelett?“ Tony erstarrte in seiner Bewegung. Seine Augen lagen kalt und unbarmherzig auf Braker, als er antwortete: „Wenn der Augenblick gekommen ist, wird schon dafür gesorgt werden, daß der Ring an den Platz kommt, an den er gehört.“ Yates stieß die Gabel auf den Teller hinab. „Wenn Sie meinen, Sie könnten ihn einfach wegwerfen, so haben Sie sich geirrt. Er würde immer wieder zu uns zurückkehren.“ Masters sagte nichts. Er sah nur hoch und seine Augen verrieten die wirren Gedanken, die hinter seiner Stirn verborgen waren. Tony wunderte sich, was das wohl für Gedanken seien, als er den Raum verließ. 32
Durch die Luke in der Vorratskabine gelangte er in das Freie. Langsam und in Gedanken versunken wanderte er vom Schiff weg, obwohl er sich nicht an die Tiere und die Atmosphäre entsinnen konnte. Bäume waren vorhanden, auf denen Lebewesen hockten und ihn neugierig betrachteten. Es waren jedoch keine intelligenten Lebewesen. Ein flachgestrecktes Gebirge stieg nicht weit vom Schiff in sanften Wellen an, nur hier und da waren kleinere Steilhänge. Er schritt auf das Gebirge zu. Die kleine aber außergewöhnlich helle Sonne warf fast keinen Schatten. Sie stand senkrecht über der bizarren Planetenlandschaft. Dann verhielt er vor einer Felsschlucht, deren Abgrund sich plötzlich vor ihm auftat. Die fremdartigen Farben nahmen seine Aufmerksamkeit gefangen, und er starrte bewegungslos hinab auf den breiten Strom. Er hörte das fremde Rauschen eines gewaltigen Falles – aber er hörte auch ein anderes Geräusch. Zu spät jedoch erkannte er die Bedeutung. Er wirbelte herum, aber es gelang ihm nicht mehr, den Träger der Schuhe zu erblicken, dessen Schleifen ihn gewarnt hatte. Er spürte nur noch den harten Stoß im Rücken und verlor den Halt. Wie ein Stein fiel er in die Tiefe, sich mehrmals überschlagend. Dann kam der Aufprall und eisige Kälte biß sich in seine Glieder. Mit aller Macht hielt er die Luft in den Lungen und begann, mit den Armen Schwimmbewegungen zu machen. Er erreichte die Wasseroberfläche und erblickte die Sonne. Dann tauchte er wieder unter. Diesmal versuchte er seinen Armen und Beinen den Befehl zu geben, sich nicht wie in wilder Panik zu benehmen, sondern ordentliche Schwimmbewegungen zu machen, so, wie er es auf der Erde gelernt hatte. Und siehe da – er erreichte ein zweites Mal die Oberfläche und konnte sich halten. Das Ufer war noch fern, aber er näherte sich ihm und hatte die Gefahr des Ertrinkens gebannt. Nicht mehr weit vom Ufer entfernt, hörte er das Rauschen 33
stärker werden. Und dann sah er die ersten Klippen des Wasserfalls scharf aus den Wellen ragen. Die Strömung wurde stärker. Verzweifelt kämpfte er gegen sie an, aber vergebens. Seine Augen suchten nach einem Halt, nach der nächsten Stelle des rettenden Ufers. Und sie fanden ihn – einen im Wasser liegenden Baum. Mit letzter Kraft schwamm er darauf zu und ergriff die Zweige keine dreißig Meter vom Rand des Wasserfalls entfernt. Stark geschwächt zog er sich auf den Stamm und legte sich lang darauf hin. Schwer atmend überdachte er die Geschehnisse und brennend fielen ihm die Hände wieder ein, die ihn in den Abgrund stießen. Instinktiv griff er in die Tasche. Natürlich, den Schlüssel zu den Handschellen fehlte. Man mußte ihn gestohlen haben. Wahrscheinlich nachts. Und noch wahrscheinlicher Masters. Damit hatte er die beiden Gefangenen befreit und alles auf eine Karte gesetzt. Er – oder einer der beiden Verbrecher. Nach einer ganzen Weile erst erhob er sich und kletterte ans Ufer. Dort blieb er stehen und sah sich um. Zur Linken war ein niedriger Felszug mit einer Steilwand. In der anderen Richtung erkannte er oben auf dem Plateau, das sich ihm entgegen senkte, die Spitze des Schiffes. Es lag schief. Er vergaß es jedoch sehr schnell wieder und betrachtete nun nachdenklich den Felszug. Er sah die Spalte und ging unwillkürlich darauf zu. Erst als er nahe davorstand, blieb er wie gebannt stehen. Die Spalte war nichts anderes als der Eingang einer Höhle. Es war die Höhle! Die Schlucht, die Ebene, der Gebirgszug – das alles war nichts anderes als die künftige Oberfläche eines Asteroiden, den man mit der Nummer 1007 versehen würde, um ihn von den vielen anderen zu unterscheiden. In einigen Millionen Jahren. Tony Crow fühlte, wie sich seine Haare sträubten. Dann aber wurde er ganz ruhig, so ruhig, wie er niemals zuvor in seinem 34
Leben gewesen war. Er stieg den schrägen Abhang zu der Höhle empor und kniete davor nieder. Vor nicht langer Zeit hatte er das gleiche getan, nur hatte damals ein Skelett davor gelegen. Und eine innere Stimme hatte ihm gesagt, daß es schon Jahrmillionen da läge. Er nahm den Ring aus der Tasche und steckte ihn an den dritten Finger seiner rechten Hand. Er schimmerte in dem Licht der kleinen und grellweißen Sonne. Minutenlang hockte er so, als sei er im Gebet versunken, dann aber erhob er sich, zog den Ring ab und behielt ihn in der Hand. Auf seinem Gesicht lag ein eingefrorenes Lächeln. In wenigen Schritten war er den Abhang hinabgelaufen und hatte das Ufer des Flusses erreicht. Er holte aus, um den Ring weit hinaus in den Strom zu schleudern. Aber durch einen tückischen Zufall entglitt er seinen Fingern und fiel zu Boden. Er hob ihn auf und versuchte es ein zweites Mal. Diesmal fiel er nur einige Meter und er konnte ihn in dem klaren und niedrigen Wasser glänzen sehen. Er holte ihn heraus und warf ihn ein drittes Mal. Mehr als zwanzig Meter von ihm entfernt plumpste er in das tiefe Wasser. Tony schaute auf die tiefe Stelle und erwartete halb, daß er zurückkommen würde. Aber er war und blieb verschwunden. Mit einem erleichterten Seufzer begann er, den flachen Abhang zum Schiff hin emporzuklettern. Bald hatte er die obere Ebene erreicht. Die Schlucht war nicht besonders tief. Er sah Masters schon von weitem. Er stand an dem Bug des Schiffes und betastete die verbogenen Bremsdüsen. Als er sich umdrehte, erblickte er Crow, dessen Uniform kleine Bäche auf den steinigen Boden zauberte. Erle Masters wich zurück und erbleichte, als sähe er einen Geist. Verächtlich verzogen sich Tonys Mundwinkel. „Wer von euch hat es getan?“ Masters stieß mit dem Rücken gegen die Hülle des Schiffes. 35
„W – was getan?“ „Du wirst schon genau wissen, was ich meine“, sagte Tony und machte drei schnelle Schritte auf ihn zu. Masters duckte sich, aber die linke Faust des Offiziers erwischte ihn. Fluchend sackte er in die Knie. Crow packte zu und riß ihn wieder hoch. Mit geübten Fingern durchsuchte er die Taschen und fand den Schlüssel, den er suchte. „Mörder, verfluchter!“ brüllte Tony und schüttelte den Hilflosen hin und her, daß dessen Zähne laut gegeneinander schlugen. „Du verdammter Mörder!“ Masters verlor gänzlich seine Nerven und vergaß alle Vorsicht. „Ich würde es immer und immer wieder tun“, raste er und schlug zu. Er fehlte und erhielt dafür einen wohlgezielten Kinnhaken, der ihn zu Boden warf. Tony schenkte ihm keinen Blick, als er in das Schiff kletterte. Er begegnete Laurette, die über die Stufen auf den Gang herabkam. „Leutnant!“ rief sie ihm entgegen. „Wir haben gesucht. Wo sind Sie gewesen?“ In ihren Augen tanzte die Erregung. „Fragen Sie Ihren zukünftigen Gatten“, gab er zurück und schritt an ihr vorbei. Sie folgte ihm, faßte seinen Ärmel. „Sie sind ja ganz naß, Leutnant. Können Sie mir denn nicht erklären, was geschehen ist? Waren Sie schwimmen?“ „Unfreiwillig“, sagte er kurz und ging weiter. Sie griff fester zu und hielt ihn fest. In ihren Augen war ein gefährliches Blitzen. „Was meinten Sie damit, als Sie sagten, ich solle mich bei Masters erkundigen? Soll das etwa heißen, daß er Sie ins Wasser gestoßen hat? Wenn ja, dann – dann …“ Tony stieß ein Lachen aus, das gar nicht lustig klang. „Er hatte meine Schlüssel gestohlen und die Gefangenen freigelassen. Vielleicht glaubte er, in ihnen eine Hilfe zu haben, 36
wenn ich – wenn ich die Vorbehandlung eines künftigen Skeletts durchgemacht hatte.“ Sie starrte ihn an. „Wie schrecklich!“ murmelte sie entsetzt. „Wie schrecklich.“ Er sah ihr in die Augen und sie hielt seinen Blick aus. „Vielleicht hätte ich Ihnen das nicht erzählen sollen – schließlich ist Masters Ihr Verlobter.“ Sie nickte langsam und gab immer noch seinen Blick zurück. „Möglich. Aber es kann genausogut sein, daß ich meine Meinung noch ändere. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, Leutnant. – Doch kommen Sie mit mir. Vater hat etwas ganz Wundervolles entdeckt …“ * Professor Overland saß im Bett, den Kopf durch einige aufgestapelte Kissen gestützt. Auf den Knien hatte er Papier und Bleistift. „Ah – Leutnant!“ rief er anscheinend erfreut. „Kommen Sie herein. Sehen Sie sich das hier einmal an. Es ist tatsächlich möglich, daß Gravitonen in die Zukunft flüchten und dabei das Schiff in die Vergangenheit stoßen. Aber nur dann, wenn es sich in einem ätherischen Vakuum befindet, in einem Vakuum ohne Elektronen, Protonen, kosmische Strahlen usw. Es hat oder mag Zeiten geben, in denen das Vakuum durch einen Protonenstrom überbrückt wurde oder wird. Wenn die Gravitonen also in das Vakuum geraten, finden sie sofort diese Protonen und verwandeln sich in gewöhnliche negativ geladene Elektronen. Nehmen wir doch einmal an, diese Lichtphotonen befänden sich weiter in der Vergangenheit als in der Zukunft. Die Gravitonen werden natürlich dem näheren Ziel zuströmen – also in die Zukunft. Trotzdem könnte sich der Photonenstrom immer noch Millionen von Jahren in der fernsten Zukunft be37
finden, irgendwo im Vakuum. Indem sie aber diese Zeitlinie verfolgen, stoßen sie gleichzeitig das Schiff eine entsprechende Zahl von Jahren in die Vergangenheit zurück. Das ist keine bloße Theorie, denn sie haben es mit uns gemacht. Dabei verbrannte die Maschine und ließ uns auf der Oberfläche dieses Planeten stranden, der einstmals den Asteroidengürtel bilden wird.“ Laurette sah Crow an, als sie sagte: „Weiter, Vater. Das war nicht das Wichtigste.“ „Es wäre möglich“, fuhr Overland ruhig und doch mit einer gewissen Begeisterung fort, „ein anderes ätherisches Vakuum zu finden.“ Er zeigte auf eine Reihe von Gleichungen, die er auf das Papier gemalt hatte. „Mit der gleichen Struktur und vom gleichen Typus. Doch dazu müssen wir zurück zu dem Planeten Erde, da wir nur dort das Material finden, die Kontraktionsmaschinerie zu reparieren. Wir müssen diese Welt hier verlassen ehe sie sich in den Ring der Planetoiden verwandelt.“ Tony erstarrte. „Bevor diese Welt …?“ „Natürlich! Sie müssen …“ Overland unterbrach plötzlich und sah Crow scharf an. „Ach Sie wissen es noch gar nicht?“ Er schob das Kinn vor und überlegte einen Augenblick. Dann fuhr er fort: „Sie entsinnen sich der silbernen Sichel, die Sie gestern abend am Himmel sahen? Well, Masters hat sich näher damit befaßt und einige Berechnungen angestellt. Das Ergebnis ist eindeutig. Wir wissen jetzt genau, warum dieser Planet auseinanderplatzte – oder platzen wird. Zusammenstoß mit einem schweren aber kleineren Weltkörper.“ Tony wurde blaß bis unter die Haarwurzeln. „Sie meinen …“, begann er, um dann auszurufen: „Lieber Himmel!“ Auf seiner Stirn zeigte sich der Schweiß. „Wann geschieht es?“ „Erle Masters hat die Berechnungen. In achtzehn oder neun38
zehn Tagen. Es wird eine kosmische Katastrophe – und wir sind Zeuge.“ Der Professor lächelte schwach. „Ich glaube, ich bin zu sehr Wissenschaftler. Ich denke noch nicht mal daran, daß wir sterben könnten und damit sechs statt nur ein Skelett abgeben würden.“ „Es wird überhaupt kein einziges Skelett geben“, sagte Tony mit zusammengekniffenen Augen. „Erstens können wir das Schiff rechtzeitig flugfertig bekommen, wenn wir alle mit besten Kräften daran arbeiten und zweitens habe ich den Ring in den Fluß geworfen.“ Laurette schien verwirrt. „Sie haben den Ring – wie ist denn das möglich? Wie kann denn der Ring plötzlich nicht mehr dasein, wenn er doch an der Hand des Skeletts existiert?“ „Er ist weg“, bestand Tony verbissen darauf. „Und zwar für immer. Und vergessen Sie eins nicht: Es gibt auch kein Skelett! Ich rate Ihnen, daß auch Masters einzureden, damit er nicht versucht, eins zu schaffen.“ Er verließ Vater und Tochter mit einem kurzen Nicken und ging mit schnellen Schritten zu der Kabine, die das Gefängnis darstellte. Braker und Yates saßen nebeneinander auf dem Bett, gefesselt an dem Haltering, an den sie Crow gekettet hatte. Er nahm den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Handschellen. In kurzen und knappen Worten erklärte er den beiden die Situation und machte ihnen hauptsächlich die Tatsache klar, daß in knapp zwei Wochen Planetenzeit das Ende der Welt käme und sie dann mit dem Schiff weit im Raum sein müßten. Yates sollte sich um die Zuleitungen im Schiff kümmern, während er zusammen mit Braker und Masters die Hülle und die Düsen reparieren würde. Schweißbrenner standen zu Verfügung. Dann erklärte er ihnen die Sache mit dem Ring. Yates machte ein nachdenkliches Gesicht. 39
„So leicht ist das nicht, wie Sie sich das vorstellen“, lehnte er die einfache Lösung Crows ab. „Vor jener Höhle liegt ein Skelett und an einem seiner Finger steckt Brakers Ring. Einer von uns wird dieses Skelett sein, da gibt es keinen Ausweg. Es kann keinen geben.“ Er sah zuerst Braker an, dann Crow. „Ich werde jedenfalls meinen Rücken stets frei halten und versuchen, nicht das Knochengerippe zu werden.“ Braker ging wutentbrannt auf seinen Kameraden zu. „Du verdammte Ratte“, zischte er. „Auf so einen hinterhältigen Gedanken kannst auch nur du kommen. Nimm’ dich in acht und komme mir nur nicht zu nahe. Crow, es wird gut sein, wenn Sie auf ihn aufpassen. Er besteht aus reinem Gift, wenn es um sein Leben geht.“ „Schon gut“, unterbrach ihn Tony Crow. „Wenn wir das Schiff früh genug in die Luft bekommen, sehe ich gar keine Veranlassung, einen Toten hier zurückzulassen. Wir können alle sechs diesen Planeten verlassen.“ Er wandte sich zur Tür und trat auf den Gang. Braker und Yates folgten ihm und Crow wurde sich mit einmal der Tatsache bewußt, daß es diesmal sein Rücken war, den er Leuten zukehrte, die nicht die geringste Spur eines Gewissens ihr eigen nennen konnten. * Eine ganze Woche verging. Die Länge der Tage entsprach ungefähr der Zeitspanne, die sie von der Erde her gewohnt waren. Hammerschläge und das Zischen der Schweißbrenner zeugten von einer emsigen Tätigkeit, aber drei der Düsen waren so zerstört, daß eine Reparatur aussichtslos blieb. Tony kletterte von der Hülle herab. Plötzliche Stimmen und zornige Ausrufe versetzten ihn in angespannte Aufmerksamkeit. Der Lärm kam aus dem Innern des Schiffes. So schnell er 40
konnte schlüpfte er durch die inzwischen wiederhergestellte Luftschleuse und eilte den Korridor in Richtung des Hecks hinab. Er unterschied die wütenden Organe von Braker und Yates. „Ich bringe ihn um, den Hund!“ schrie Braker aus Leibeskräften und hob den Hammer. Ohne Zweifel hatte er die Absicht, seinem Gefährten den Schädel einzuschlagen. Masters stand untätig daneben und kaute erwartungsvoll an seiner Unterlippe. Mit einem Fluch sprang Tony dazwischen und entwand Braker den schweren Hammer. Yates erhob sich. Aus seinem Mundwinkel tropfte Blut. „Der Hund!“ heulte Braker und starrte Tony wütend an. „Er kam von hinten mit dem Schweißbrenner.“ „Das ist eine Lüge!“ stritt Yates heftig ab. Er zeigte auf Braker. „Er war es, der mich mit dem Brenner umbringen wollte.“ „Halte dein Maul!“ brüllte Tony ihn an. Dann wirbelte er herum und sah Masters an, der immer noch an seiner Unterlippe kaute. „Und du hast den Nerv, einfach dabeizustehen und zuzuschauen. Aber du willst ja unbedingt das Skelett haben, nicht? Soll dich der Teufel holen, wenn du eins kriegst. Fragt sich nur, wessen Leiche es dann sein wird, solltest du deinen Willen erhalten. – Wer also von den beiden hat angefangen?“ Masters begann zu stammeln: „Ich – ich weiß es nicht. Ich habe nichts gesehen.“ „Verdammter Lügner!“ schrie Tony und wandte sich blitzschnell zu den beiden anderen. Er betrachtete sie mit eiskalten Augen. „Ihr seid Narren. Einer macht den anderen für eine falsche – vielleicht sogar unbewußte – Bewegung verantwortlich, die er selbst gemacht hat. Damit ihr es nur wißt: Das Skelett, das ich sah, war heil. Was denkt ihr, wie das Skelett eines Mannes aussehen würde, den man mit einem Schweißbrenner tötete?“ Braker bückte sich und hob den Schweißbrenner auf. Er warf 41
Yates einen haßerfüllten Blick zu, der sich ebenfalls bückte und einen Hammer ergriff. Tony sah es und machte sich seine eigenen Gedanken. Er war kaum erstaunt, als Yates ihn endlich fragte: „Sie sagten, das Skelett sei heil gewesen?“ In den Augen des Mannes glomm Hoffnung, vage und freudig schimmernde Hoffnung. Tony blickte flüchtig auf das zerbrochene und schlecht verheilte Kinn von Jawbone Yates und antwortete: „Der Kopf lag im Dunkel der Höhle. Ich sah ihn nicht.“ Er erschrak, als er die plötzliche Hoffnungslosigkeit bemerkte. Obwohl Yates ein Verbrecher war, war und blieb er ein Mensch. Er drehte sich einfach um und ließ die Gruppe stehen. Langsam ging er durch den Korridor und seufzte tief auf. Welche schwierige Aufgabe hatte er doch übernommen, eine fast unlösbare Aufgabe: Er wollte das Schicksal betrügen – etwas ungeschehen machen, was geschehen war. * An diesem Abend arbeitete Tony länger als gewöhnlich. Er untersuchte jede einzelne Treibstoffzufuhr, überprüfte die Asbestumwicklung der Leitungen und legte sich eine entsprechende Liste an. Die kleine Sonne war untergegangen, und ein frischer Wind pfiff über das Plateau. Er hatte das wieder funktionierende Licht eingeschaltet und schrieb, abgespannt, nervös und müde. Sie hatten nicht mehr viel Zeit. Der Planet war näher gekommen, sein Durchmesser wuchs mit jedem Tag um fast einen Grad. Ungewöhnlich heftige Stürme zeugten von steigender Anziehungskraft des fremden Weltkörpers. Er setzte gerade ein Kreuz hinter einen Absatz, als ein gräßlicher Schrei durch das Schiff gellte. Für einen Augenblick 42
blieb Tony wie festgefroren auf seinem Platz sitzen, dann aber ließ er Papier und Bleistift einfach fallen und raste durch die Tür hinaus auf den Korridor. Mit zwei Sätzen war er die Treppe hoch im oberen Gang und prallte mit einem Mann zusammen. Es war Masters, der einen zweiten Schrei ausstieß, sich umdrehte und taumelnd den Weg zurücklief, den er gekommen war. Masters war mit einem Schlafanzug bekleidet. Aus seiner Schulter ragte der Griff eines Messers. Tony faßte sich und eilte hinter dem Schwankenden her. Noch bevor er ihn erreichen konnte, brach dieser zusammen und blieb dann stöhnend liegen. Tony war eine Sekunde später bei ihm, ließ sich auf die Knie nieder und starrte auf den Griff des schweren Küchenmessers, dessen Schneide ganz im Fleisch Masters verschwunden war. Der Verwundete drehte sich mühsam auf die Seite; er stammelte einige unverständliche Worte und hatte die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Als er schwieg, zögerte Tony nicht mehr. Er ließ Masters liegen und lief dem Geräusch nach, das er zu hören geglaubt hatte. Und er hatte sich nicht geirrt. Ein Schatten tauchte vor ihm im Halbdunkel des Ganges auf, versuchte davonzulaufen. Tony holte ihn mit wenigen Schritten ein und legte ihm von hinten den Arm um den Hals. „Warte – Mörder!“ Yates wehrte sich aus allen Kräften. Es gelang ihm sogar, sich aus der Umklammerung zu befreien. Sein Gesicht zeigte eine Mischung aus furchtbarer Angst und unbändigem Zorn. Tony schlug zu und traf Yates mit der flachen Hand mitten im Gesicht. Der Mann verlor den Halt und polterte zu Boden. Dort stützte er sich nach einigen vergeblichen Versuchen auf den Ellenbogen und sah seinen Bezwinger frech an. „Warum hast du es getan?“ fragte Tony und beugte sich drohend zu dem unter ihm Liegenden. Yates hatte tückisch funkelnde Augen. 43
„Weil ich leben will – hörst du, ich will leben und kein Skelett sein.“ Er stieß plötzlich die Beine vor, aber der Leutnant war auf der Hut. Er sprang zurück und wartete, bis Yates aufgestanden war. Und als dieser angriff, ließ er seine beiden geballten Fäuste vorschnellen. Es knirschte vernehmlich, und Yates verlor den Halt zum zweiten Mal an diesem Abend. Er stieg regelrecht einige Zentimeter in die Höhe, ehe er wie ein nasser Sack auf den metallenen Boden krachte und sich nicht mehr rührte. Tony zog ihn an den Armen zu der Kabine, die sein Gefängnis gewesen war. Braker war wach und sah ihm entgegen. Er blinzelte mit den Augen, als sei er soeben erst erwacht. „Dein Genosse hat Masters ein Messer in den Rücken gestoßen“, klärte ihn Tony kurz auf. Er sah das Aufblitzen in dessen Augen. „Ist er tot?“ „Das würde dich freuen, was?“ Wie selbstverständlich war das förmliche Sie nun endgültig gefallen. Braker schüttelte den Kopf und betrachtete den am Boden liegenden Yates. „Hör’ zu, Copper. Ich würde dir raten, nicht den Fehler zu machen, mich mit einer Ratte wie Yates zu verwechseln. Ich würde niemals jemand ein Messer in den Rücken jagen. Trotzdem wäre ich froh, wenn Masters tot wäre. Damit wäre ein Problem gelöst, das uns alle angeht. Was wirst du mit Yates anstellen?“ „Nichts mehr. Aber du kannst ihm bestellen, daß er sich in Zukunft vorsehen soll. Das beste wird sein, er läßt Masters nicht mehr aus den Augen.“ Braker grunzte verächtlich. „Der Feigling Masters. Vor dem braucht Yates sich kaum zu fürchten.“ Tony verließ wortlos die Kabine. 44
* Laurette und Overland kümmerten sich um Masters, nachdem sie ihn in seine Kabine gebracht hatten. Die Wunde war zwar tief, blutete aber kaum. Overland, immer noch ein wenig blaß und kaum von seinen eigenen Verwundungen genesen, stand im Türrahmen. „Es ist nichts Ernstliches“, sagte er zu seiner Tochter, die den Verband angelegt hatte. Sie sah hoch und blickte in Tonys Augen. „Nichts Ernstliches? Sehen Sie sich Masters an, Leutnant. Würden Sie auch sagen, die Verwundung sei harmlos?“ Tony gab keine Antwort. Masters lag auf dem Bauch, das Gesicht seitwärts gewendet. Seine Augen waren weit aufgerissen und verrieten immer noch den wahnsinnigen Schrecken. Er stammelte unverständliches Zeug vor sich hin, und nur ab und zu vermochte man, einige Worte zu verstehen. „Ich schlief – das war mein Fehler. – Aber ich hörte ihn trotzdem kommen – und dann stieß er zu.“ Tony legte seine Hand auf den Arm von Laurette. „Ich werde den Rest der Nacht bei ihm bleiben“, erbot er sich. Overland kaute an der Unterlippe. „Wer hat es getan?“ fragte er lauernd. Tony erzählte es ihm. „Werden wir ihn bestrafen?“ Tony lachte kurz auf. „Aber wieso denn? Hat Masters nicht auch versucht, mich zu ermorden? Wurde er dafür bestraft? Er ist, bei Gott, kein Engel.“ Overland nickte langsam und ließ sich von seiner Tochter 45
aus dem Raum führen. Tony blieb allein zurück mit dem fiebernden Masters. Er hatte sich einen Stuhl herangezogen und beobachtete den Verwundeten, der lange nach Mitternacht erst in einen ruhigeren Schlummer fiel. Die Nacht verging, und die Sonne ging auf. Durch die Luke kam ihr blasser Schein durch regennasse Wolken. Masters erwachte und erkannte Tony. Seine Augen zeigten grauenhafte Angst, und er versuchte, sich aufzurichten. Der Schmerz verzerrte sein Gesicht. „Raus!“ keuchte er und machte eine abwehrende Handbewegung. „Verrückt!“ stellte Tony nüchtern fest. „Es war Yates.“ Masters nickte erstaunlicherweise mit dem Kopf. „Ich weiß“, gab er zu. „Aber wo liegt da der Unterschied? Ihr seid ja doch alle gleich. Ich werde in Zukunft schon auf mich aufpassen. Mir wird es nicht noch einmal passieren, daß man mich von hinten ermorden will. Ich halte mir den Rücken frei, damit keiner von euch …“ Tony machte eine drohende Geste, und Masters schwieg. „Wenn Sie vernünftig sind, dann vergessen Sie den Vorfall“, sagte er leise. „Aber vielleicht wäre es wirklich besser, Sie wären tot, als wenn Sie nun noch geistesgestört sind.“ „Raus!“ brüllte Masters verzweifelt. „Lassen Sie mich allein!“ Tony stand auf und verließ kopfschüttelnd die Kabine. * Er stand draußen neben dem Schiff und rauchte eine Zigarette, als er aus dem Dunkel der Nacht Schritte hörte. Sie kamen aus dem Inneren des Schiffes. Als er herumwirbelte, sah er sich Laurette gegenüber. Sie lächelte mühsam und hob beruhigend die Hand. „Nervös?“ 46
„Ist das noch ein Wunder, wenn sich sechs Menschen zwei Wochen lang gegenseitig belauern und einer auf eine Handlung des anderen wartet?“ Sie zögerte, und ein Schauer durchlief ihre Gestalt. Das konnte nicht allein die Kälte sein. „Ich schätze, Sie meinen Erle.“ „Den auch. – Ihr Vater ist auch aufgestanden heute. Er hätte in jener Nacht im Bett bleiben sollen.“ „Es geht ihm besser.“ „Es ginge ihm noch besser, wenn er sich in seiner Kabine einschließen würde. Die anderen glauben nämlich bestimmt daran, daß der Ring wieder auftauchen wird.“ Sie antwortete nicht sofort. In dem Silberlicht des stark angewachsenen Planeten, der wie eine Sichel am schwarzen Himmel hing, sah er deutlich ihr Gesicht und das rätselhafte Lächeln, das für einen Moment darüber huschte. Dann war es wieder verschwunden. „Erle hat mir berichtet, daß beim letzten Versuch drei weitere Düsen ausbrannten und unbrauchbar wurden. Stimmt das?“ „Ja“, gab er zu und fühlte erneuten Ärger. Sie fuhr fort: „Außerdem erzählte er mir, daß das Schiff – falls es sich überhaupt vom Boden lösen soll – von allem überflüssigen Ballast befreit werden muß. Wir werden alles rauswerfen müssen: Bettzeug, Kleider und entbehrliche Metallteile.“ Sie zögerte unmerklich, ehe sie schloß: „Und vielleicht wird sogar ein Mensch zurückbleiben müssen.“ Auf Tonys Gesicht erschien ein eingefrorenes Lächeln. „Damit würde die Prophezeiung wahr?“ „Ist es nur das?“ wunderte sich Laurette. „Vielleicht ist es mehr. Und sie muß sich erfüllen, weil – weil …“ Sie verstummte und drehte sich verwirrt um. Ehe Tony etwas sagen konnte, war sie im Schiff verschwunden. 47
Er starrte hinter ihr her, und einige unerfreuliche Gedanken tauchten in ihm auf. Einer davon blieb: Das Schicksal ließ sich nicht betrügen. Die Zukunft konnte nicht geändert werden. Das Schiff mußte für den Start leichter gemacht werden, es hatte ein zu hohes Gewicht. Was jetzt noch Vermutung war, konnte sich bestätigen. Und schließlich würde auch ein Mensch zurückbleiben müssen … Professor Overland trat vorsichtig aus der Luftschleuse. Als er den kalten Wind spürte, zuckte er zusammen und schüttelte sich. Zu lange hatte er im Bett gelegen. Er erblickte Tony und sah ihn aus tiefliegenden Augen forschend an. Dann sah er zum Himmel hoch in Richtung der wachsenden Sichel. „Erle hat es ausgerechnet“, murmelte er heiser. „Noch elf Tage, acht Stunden und etliche Minuten. Nicht mehr viel.“ „Wir sind fast startbereit. Noch einige Düsen sind zu richten. Und dann könnten wir ja wohl beginnen, die überflüssige Ladung über Bord zu werfen. Und zwar eine ganze Menge.“ „Ich weiß, ich weiß.“ Er seufzte auf und zögerte, weiterzureden. Dann aber schien er sich aufzuraffen. In seiner Stimme klang verhaltene Furcht mit, als er sagte: „Da ist noch etwas, was ich Ihnen sagen wollte, Leutnant: Der Ring ist wieder da.“ Es war, als träfe Tony ein Schlag. Vor seinen Augen drehte sich alles. „Der Ring – ist wieder da?“ „Ja, in einem Fisch.“ Er starrte den Professor fragend an. „Vor einer Woche schon hatte Laurette mit einem provisorischen Netz unten im Strom Fische gefangen, oberhalb des Wasserfalls. Ich fand den Ring in meiner Kabine, da ich allein aß. Leutnant, ich bin bestimmt nicht abergläubisch, denn ich weiß, daß einer von uns das Skelett sein wird. Einer muß es sein. Also behielt ich den Ring und sagte keinem etwas davon. Ich steckte ihn an meinen Finger. Und heute morgen“ – seine Stimme wurde 48
zu einem Flüstern – „war er verschwunden. Niemand außer Laurette kann ihn genommen haben. Alle anderen wären froh gewesen, wenn sie den Ring an meiner Hand gewußt hätten – sogar Erle Masters.“ Tony sah durch Overland hindurch und entsann sich an das seltsame Lächeln auf Laurettas Gesicht. Er machte einige Schritte auf die Luftschleuse zu und drehte sich noch einmal um. „Gehen Sie besser auch ins Schiff, Professor“, warnte er und stieg durch die offene Luke. Vor Laurettas Kabine blieb er stehen und klopfte an. Ihre ängstliche Stimme antwortete ihm. „Wer ist da?“ „Crow. Darf ich hineinkommen?“ „Nein! Bleiben Sie draußen. Was wollen Sie?“ Er überlegte nicht sehr lange, sondern stieß die Tür auf und trat ein. Das Mädchen stand neben ihrem Bett und sah ihm aus gehetzten Augen entgegen. Er blieb vor ihr stehen und streckte die Hand aus. „Geben Sie mir den Ring.“ „Ich werde ihn behalten, Leutnant. Sie können das auch den anderen sagen. Vielleicht hört dann endlich diese ganze Zankerei auf, und wir werden wieder wie Menschen zusammen leben können.“ „Es könnte sein, daß Sie das Skelett aus der Höhle werden.“ „Sagten Sie nicht, es sei das Skelett eines Mannes?“ „Ich habe gelogen.“ „Dann ist es also das Skelett einer Frau?“ In ihrer Stimme war so etwas wie Angst. „Ich meinte lediglich, daß ich es nicht weiß. Und nun geben Sie mir endlich den Ring.“ „Glauben Sie denn, daß es entscheidend ist, wer den Ring trägt? Man kann ihn jedem Toten an den Finger stecken.“ 49
Tony trat einen weiteren Schritt auf sie zu. „Selbst Ihrem Vater kommen allmählich Zweifel.“ „Trotzdem werde ich ihn behalten. Ich werde einfach immer in meiner Kabine bleiben, außer wenn ich koche. Und dann können Sie dafür sorgen, daß keiner außer mir im Schiff ist. So kann mir keiner zu nahe kommen.“ Draußen auf dem Gang waren Schritte, und sie kamen näher. Dann trat Masters ohne anzuklopfen ein. Unter seinen Augen waren tiefe Ringe, und der Blick flackerte unstet. Er starrte Tony erstaunt an und sah dann zu Laurette. „Ich habe mit deinem Vater gesprochen“, sagte er. „Schon gut, Erle, ich habe den Ring. Und ich werde ihn behalten.“ „Nein, das darfst du nicht. Wir werden ihn schon irgendwie beiseite schaffen. Er muß verschwinden.“ „Er wird niemals verschwinden“, behauptete sie und sah Masters merkwürdig an. Und dann riß sie plötzlich den Ring von ihrem Finger und reichte ihn ihm. „Nun gut, da hast du ihn.“ „Das ist sinnlos – das hat keinen Zweck. Behalte ihn, bis wir uns entschlossen haben.“ In seinen Augen leuchtete es mit einmal auf, als sei ihm eine gute Idee gekommen. „Ja, gib ihn dem Leutnant. Er vertritt gewissermaßen das Recht hier – und er ist daher der rechte Mann.“ Sie starrte ihn sprachlos an, und ein verächtlicher Zug machte ihr Gesicht für einen Augenblick unschön. Dann fauchte sie wütend: „Du Feigling, du erbärmlicher Feigling! Ich werde den Ring behalten. Zuerst wird mein Vater schwach in den Knien, und nun auch du.“ Sie maß ihn von oben bis unten mit einem Blick, der mehr als sprechend war. „Laßt mich allein – alle beide.“ Tony zuckte mit den Schultern und ging auf den Gang. Masters folgte ihm und schloß hinter sich die Tür. Tony hielt ihn fest. 50
„Wieviel Zeit haben wir noch?“ wollte er wissen. „Wir landeten vor vierzehn Tagen, und am 25. Tage wird die Katastrophe eintreten, das wären also noch elf Tage und einige Stunden.“ „Wie ist es mit dem Gewicht des Schiffes?“ „Schlecht. Wir werden alles Unnötige entfernen und zurücklassen müssen. Türen und Möbel, Kleider, Betten und – und …“ „Was – und?“ „Ich weiß nicht“, murmelte Masters und ging einfach davon. * Der Schiffskalender zeigte den 24. Dezember. Die Stürme waren heftiger geworden, und dunkle Wolkenfetzen bedeckten unaufhörlich den Himmel. Es regnete fast immer, und selten war die Sonne sichtbar. Bäume wurden entwurzelt, und der Strom trat über die Ufer. Der Wind brach sich wütend an dem Hindernis, das sich neben dem Schiff aufzutürmen begann. Kleider, Bücher und Matratzen wurden davongewirbelt und verloren sich zwischen den Felsen des Plateaus. Wie gleichgültig das alles war! Zwei Welten würden nahe aneinander vorbeiziehen oder gar zusammenstoßen. Nur eines war sicher: Gerade dieses Plateau würde heil bleiben und später einen Asteroiden bilden. Jener Felszug würde bleiben, die Ebene – und die Höhle. In der offenen Luftschleuse stand Masters und wog alle Gegenstände ab, die aus dem Schiff geworfen wurden. Sorgfältig notierte er sich die Zahlen. Die Türen waren verschwunden und der Metallfußboden abgedeckt. Nur die nötigsten Lebensmittel und Wasservorräte blieben an Bord, denn man konnte picht wissen, wie es auf der Erde aussah. Auf einer Erde, die noch jung und ohne Menschen war. Das Schiff wog ohne Einrichtung 11 Tonnen, mit Lebensmit51
teln sowie Möbeln etwa 13 Tonnen. Auf diesem Planeten mit anderthalb g waren es 20 Tonnen. Da die Hälfte der Düsen ausfiel, hatte Masters errechnen können, daß das Schiff, sollte es sich überhaupt vom Boden abheben, nicht mehr als 10 Tonnen und 750 kg wiegen durfte. Masters sah von dem Zettel auf, den er in der Hand hielt. In seinen Augen spiegelte sich gehetzte Unsicherheit und offene Angst. Braker, Yates und Tony Crow standen in seiner Nähe und blickten ihn fragend an. Masters mußte das bemerkt haben, denn er trat unwillkürlich einen Schritt zurück und fauchte: „Was starrt ihr mich so an?“ Yates grinste. „Wir sind neugierig, mehr nicht. Wir warten auf das Ergebnis des Abwiegens. Wieviel fehlt noch? Wir können nichts mehr finden.“ „Nichts mehr?“ flüsterte Masters hoffnungslos. „Gar nichts mehr? Wir haben immer noch 800 Pfund zuviel. Wie ist es mit der Kontraktionsmaschinerie?“ „Sie ist unsere einzige Hoffnung, wieder in die Gegenwart zurückzukehren“, schüttelte Tony entschieden den Kopf. „Der Professor benötigt sie außerdem, um den HH-Antrieb zu reparieren.“ „Raumanzüge?“ „Sechs Stück müssen wir behalten, denn das Schiff könnte undicht geworden sein.“ „Türen – Fußböden!“ schrie Masters wild. „Alles bereits draußen.“ Masters schloß die Augen und öffnete sie wieder. Er war blaß geworden. „Genau 800 Pfund zuviel, und in elf Stunden ist es soweit.“ Er sah auf seine Armbanduhr und löste sie, einer plötzlichen Eingebung folgend. Er warf sie einfach durch die Luke auf den Haufen draußen. „Wieder einige Gramm weniger.“ 52
„Ich werde Overland holen“, entschied Tony. „Warten Sie!“ Masters zeigte auf die beiden anderen Männer. „Sie können mich doch nicht mit diesen Bluthunden allein lassen. Die warten ja nur darauf, uns umzubringen. Bedenken Sie: Viermal 150 Pfund sind 600 Pfund.“ „Der Kerl ist verrückt“, stellte Braker wütend fest. „Abgesehen davon“, gab Yates zu bedenken und grinste höhnisch dabei, „woher sollen wir die restlichen 200 Pfund herbekommen, die dann immer noch zuviel wären?“ Masters klammerte sich an Tony fest. „Da haben Sie es selbst gehört Er überlegt schon, wo er die restlichen 200 Pfund herbekommen soll.“ „War doch nur ein Spaß“, spöttelte Yates. „Das Messer in meinem Rücken war auch Spaß.“ „Unsinn! Aber es dreht sich ja bei allem nur um ein Skelett, nicht aber um vier oder fünf. – Ich gehe Overland holen.“ Er kam bald darauf zurück und brachte Laurette und Overland mit sich. Der Professor sah von einem zum anderen, als er den Berichten lauschte. Dann schüttelte er bedächtig den Kopf hin und her und sagte: „Die Maschinerie darf nicht angetastet werden, auch wenn sie unbrauchbar scheint. Da habe ich einen besseren Vorschlag: Wir nehmen alle Sichtluken heraus. Ich glaube schon, daß sie ihre 800 Pfund ausmachen.“ „Nicht schlecht“, nickte Braker zustimmend. „Die Hülle scheint sowieso undicht zu sein,. Wir ziehen einfach unsere Raumanzüge an.“ Masters winkte aufgeregt mit den Händen. „Dann los, an die Arbeit. Laurette, komm’ zu mir. Du hast den Ring, nicht wahr? Und du willst doch auch nicht das Skelett sein? Na also, dann stelle dich hier mit dem Rücken gegen die Wand. Ich werde aufpassen, daß dir nichts geschieht.“ Sie sah ihn nicht einmal an, als sie ihrem Vater folgte. 53
* Tony suchte aus dem Haufen vor dem Schiff drei Metallsägen heraus. Dann machte er sich mit Braker und Yates an die Arbeit. Sie lösten die Luken samt der Metallringe und brachten alles in die Schleuse. Das Schiff war nur noch ein bloßes Wrack und bestand fast bloß noch aus der nackten Hülle. Die Sichtluken wurden auf die Waage gelegt und gewogen. „561 Pfund“, stammelte Masters erschrocken. „Nicht genug.“ Tony schob ihn einfach beiseite und sah auf die Skala. „Stimmt, genau 561 Pfund. – In der Berechnung kann ein Fehler sein. Braker, Yates! Raus mit der Waage!“ Die beiden Gerufenen folgten dem Befehl und warfen das schwere Gerät aus dem Schiff. Polternd fiel es zu dem anderen Zeug, genau auf die vorher herausbeförderten Sichtluken. Tony wandte sich an Masters. „Kommen Sie!“ Masters trottete hinter ihm her wie ein Hund. Er schien keines Gedankens mehr fähig zu sein und zog wortlos den Raumanzug an, den Tony ihm hinhielt. Auch die anderen sprachen nicht, als sie die Anzüge anlegten. Tony verschraubte seinen Helm. „Zünden Sie die Düsen!“ befahl er. Masters stand vor den Kontrollen der Hilfsdüsen und begann zu schwitzen. Deutlich konnte man die Tropfen an der Stirn herabrinnen sehen. Die Augen waren weit aufgerissen, und seine Hände zitterten, als er sie auf die Hebel legte. Dann zog er sie vor. Ein donnerndes Heulen ertönte, und das Schiff ruckte an. Für einen Augenblick war es so, als stiege es, aber auch das konnte Täuschung gewesen sein. Die Steinwüste bewegte sich nicht. Das Heulen wurde stär54
ker, aber das Bild draußen veränderte sich nicht im geringsten. Masters schob den Hebel wieder in die Ausgangsstellung zurück. „Ich habe mich nicht verrechnet“, flüsterte er hoffnungslos. Professor Overland hob die Hand und gebot Schweigen. In seinen Augen war ein fieberiger Glanz, als er begann: „Es grenzt an Wahnsinn, was wir erleben. Und die Konsequenz ist voller Wahnsinn. Die Geschehnisse sind vorgeschrieben, und wir können sie nicht ändern. Die Vergangenheit formte die Zukunft. Und in jener Zukunft, die keiner mehr von uns erleben mag, liegt draußen vor der Höhle ein Skelett mit einem Ring an der rechten Hand. Was wird durch was verursacht? Ursache oder Wirkung? Einiges, was wir bisher erlebt haben, scheint unglaublich und sogar unmöglich. Denken wir nur an Leutnant Crows ‚Erinnerung’. Er sah das Skelett und hatte den Eindruck, sich an etwas zu entsinnen. An was entsann er sich? An die Vergangenheit? Das scheint nicht gut möglich. Das nämlich ist das Hauptproblem, was wir zu lösen hätten: Wie konnte er wissen, daß jenes Skelett bereits existierte, als es noch keine menschliche Rasse gab? Doch noch andere Dinge sind unglaublich. Drei Schiffe machten an dieser Stelle des Planeten Bruch. Oder der Ring. Leutnant Crow versuchte, ihn in den Strom zu werfen und mußte es dreimal wiederholen, bis es gelang. Und dann kam der Ring zurück. Meine Tochter stahl ihn von meiner Hand und gab ihn mir nicht wieder. Sie hat mir bis heute noch nicht verraten, warum sie das getan hat und was sie mit dem Ring beabsichtigt. Ich weiß nicht, ob wir jetzt die Zukunft zu formen im Begriff stehen, oder ob uns die Zukunft unsere Handlungen vorschreibt. Und schließlich stehen wir jetzt vor der erstaunlichen Tatsa55
che, daß uns noch 200 Pfund Übergewicht von der Rettung trennen. Ganze lächerliche 200 Pfund. Es gibt nur einen einzigen Ausweg: Wir müssen das Skelett besorgen. Das Schicksal und die Zukunft wollen es so.“ Das Schweigen wurde nur durch das ferne Rauschen des Flusses unterbrochen und durch die immer wilder werdenden Stürme, die über das Plateau rasten und in das Innere des Schiffes drangen. Braker sagte: „Er hat recht. Irgendeiner von uns muß das Schiff verlassen und draußen bleiben. Der Professor wird es nicht sein, denn ihn benötigen wir, um zurückzufinden.“ „Natürlich nicht. Der Professor kann es nicht sein“, stimmte Yates zu, obwohl ihn niemand gefragt hatte. Masters stolperte fast, als er abwehrend die Hände hob. „Was sehen Sie mich so an?“ keuchte er entsetzt. „Ich habe dich nicht angesehen“, knurrte Yates gereizt. * In Tonys Magen bildete sich ein Knoten. Er konnte es ganz deutlich fühlen. Sie wußten alle, daß es jetzt nur noch eine Möglichkeit gab, dieses Skelett zu beschaffen. Einer mußte zurückbleiben. Aber wer? Das Los würde entscheiden müssen. „Laurette lassen wir aus dem Spiel“, betonte Tony schwer. Braker machte eine schnelle Wendung und protestierte. „Den Teufel werden wir – natürlich macht sie mit.“ „Ich will keine Ausnahme sein“, nickte Laurette, und in ihrer Stimme vibrierte die Angst. „Nur Vater darf nicht mitmachen.“ Overland sagte mit schmerzerfüllter Stimme: „Vielleicht sind es gerade 150 Pfund, die uns vom Weltall und vom Leben trennen. Ich werde die Todeslotterie arrangieren.“ Masters schnaubte verächtlich. 56
„Und Sie werden dabei schon darauf achten, daß Ihre Tochter nicht das tödliche Los zieht.“ Overland gab keine Antwort, sondern betrachtete ihn forschend, etwa so, wie man sich ein seltenes Insekt ansieht. Dann schritt er einfach davon, seiner Kabine zu. Als er zurückkam, trug er ein Buch unter dem Arm, aus dessen Seiten fünf Grashalme herausragten. „Laurette, gib mir jetzt den Ring“, forderte er seine Tochter auf. Sie wurde blaß und stotterte verlegen: „Ich habe ihn nicht mehr, Vater. Er ist weg.“ Overland blieb ruhig. „Gut, dann werden wir eben warten, bis er wieder auftaucht.“ Braker verlor den letzten Rest seiner Beherrschung. Er brüllte: „Da soll doch der Teufel …! Wir werden sofort losen! Der Ring wird dann schon noch kommen, ganz gleich, wo er jetzt ist.“ „Ich habe ihn vergraben“, gestand Laurette leise. „Es wird besser sein, er bleibt, wo er ist. Wer will …“ „Eingegraben!“ tobte Masters wie ein Irrer. „Warum denn nicht gleich mit einem Hammer zertrümmert oder mit dem Schweißbrenner zerschmolzen. Dann wäre er weg. Ein für allemal.“ „Halte das Maul!“ fuhr Braker ihn an und sein Kinn schob sich brutal vor. Er wandte sich an Laurette: „Wo ist der Ring? Das Skelett hatte einen Ring an der Hand, und ich werde dafür sorgen, daß es auch einen bekommt.“ Tony zündete sich eine Zigarette an und inhalierte den Rauch wie ein Verdurstender. Seine Augen hefteten sich kalt auf die Streitenden, als er sagte: „In zehn Stunden findet der Zusammenstoß statt.“ Overland hielt das zugeklappte Buch hoch. „Dann wird es Zeit für die Lotterie. Die Grashalme sind ver57
schieden lang. Meine Tochter wird zuletzt ziehen, damit keiner sagen kann, ich wolle sie bevorzugen. Wer den kürzesten Halm zieht, bleibt hier.“ Tony griff zu und zog einen Halm aus dem Buch. „Legt sie vor euch auf den Boden. Es könnte sein, daß jemand zufällig einen Grashalm in der Tasche oder am Anzug hat.“ Tony legte den Halm vor seine Füße. Sein Gesicht zeigte keinerlei Bewegung, es war wie aus Stein gemeißelt. Der Halm war so lang wie die Seiten des Buches. Braker sagte mit einem häßlichen Unterton in der Stimme: „Soll mich doch der Teufel holen …“ Dann zog er. Es war ein kürzerer Halm. Er legte ihn zu Boden. Yates zog als dritter. Sein Halm war noch kürzer. Das triumphierende Grinsen verschwand aus seinem Gesicht, und Schweißperlen rollten zwischen seine Augenbrauen. Er sah zu Masters hin und zischelte: „Nun mach’ schon voran, du Feigling! Nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit ist dein Halm wieder ein Stück länger als meiner.“ „Ich glaube nicht an dieses Gesetz – wenigstens nicht hier und jetzt – auf diesem Planeten. Ich überlasse die Wahl Laurette. Bitte, Laurette, du kannst zuerst ziehen.“ „Wie reizend von dir, mein Liebling“, höhnte das Mädchen und zog einen der beiden verbliebenen Halme aus dem Buch. Es war ein ziemlich kurzer Halm. Masters sagte nervös: „Er ist kurz, nicht wahr?“ „Bestimmt kürzer als der meinige“, gab Yates ihm recht und atmete erleichtert auf. „Nun zieh’ doch schon den letzten, Masters! Ich möchte wissen, was es da noch zu überlegen gibt.“ Masters griff zu und zog den letzten Halm. Er legte ihn auf den Boden. Es war ein langer Halm. 58
Von Overlands Lippen kam ein entsetzter Schrei. „Laurette!“ Sie rührte sich nicht, sondern starrte die Männer mit herabgezogenen Mundwinkeln an. Ihre Stimme triefte vor Verachtung. „Ich will hoffen, daß meine 100 Pfund euch helfen.“ Tony ließ die Zigarette fallen und drückte sie aus. „Wahrscheinlich nicht. Wir waren Narren, Sie in die Lotterie mit einzubeziehen.“ Etwas veranlaßte ihn, Braker schärfer zu beobachten. Er wußte nicht, was ihn mißtrauisch gemacht hatte. Overland murmelte schwach: „Wie konnte ich nur zulassen, daß meine Tochter an dieser irrsinnigen Lotterie teilnahm? Die 100 Pfund nutzen nichts, es müßten schon mehr sein.“ „Wir werden sie auf keinen Fall wiederholen“, sagte Braker bestimmt. Yates warf ihm einen fragenden Blick zu und meinte: „Und was wird geschehen, du dämlicher Narr, wenn wir tatsächlich zur Erde gelangen, bevor sich die Menschenrasse entwickeln konnte? Sie würde niemals entstehen – ohne Frau.“ „Habe ich das Gegenteil behauptet? Natürlich nehmen wir das Mädchen mit. Sie hat zwar das kurze Stück Grashalm erwischt, aber wir könnten ja einen der Herren bitten, an ihrer Stelle hierzubleiben.“ Er machte eine hastige Bewegung, aber Tony war schneller. Seine Hampton kam hoch, und die Mündung zeigte auf Braker. „Fallenlassen!“ rief er warnend. „Ich sagte: Fallenlassen!“ Brakers Augen zeigten bloßes Entsetzen und maßlose Überraschung. Er sah in die Mündung von Tonys Waffe und schien erst langsam zu begreifen. Langsam öffnete er die Hände, und seine Waffe polterte auf den metallischen Boden, dessen Isolierschicht entfernt worden war. „Dürfte ich wissen, wo du die Knarre herhast?“ erkundigte sich Tony freundlich, ohne seine Hampton zu senken. Braker 59
erinnerte an ein gefangenes Raubtier. Seine Augen gingen gehetzt hin und her und blieben unwillkürlich auf Masters einen Augenblick länger haften. Tony wandte leicht den Kopf und sah Masters an. „Das konnte kein anderer gewesen sein …“ Er wirbelte herum, kam jedoch zu spät. Yates war mit einem einzigen Satz vorgesprungen und prallte gegen ihn. Er konnte sich nicht halten und stürzte zu Boden. Braker benutzte die Gelegenheit, sich mit aller Gewalt auf ihn zu werfen. Seine beiden Hände griffen zu und entwanden ihm die Waffe. Dann sprang er zurück und richtete die Hampton auf den Leutnant. „Besten Dank, Yates“, keuchte er. „Gut gemacht. Crow, stehe auf. Sieh mal einer an, was für ein Mann – diese kräftige Figur! Er hat mindestens seine 200 Pfund, wenn nicht noch mehr. Aufstehen, Crow. Und dann raus aus dem Schiff!“ Overland machte einen Schritt nach vorn. Sofort kam die Waffe in seine Sichtung. „Vorsichtig, alter Herr! Jetzt halte ich die Fäden in der Hand, und alles geschieht so, wie ich es wünsche. Yates, achte auf das Mädchen. Und du, Masters, bleibst dort stehen, wo du bist – oder du bist die längste Zeit mein Freund gewesen. All right, Leutnant, du kannst gehen. Und vergiß nicht, zu graben. Nach dem Ring.“ Er brach in ein häßliches Gelächter aus. „Wir können doch das Skelett nicht enttäuschen.“ * Ganz langsam erhob sich Tony Crow. Das Herz pochte wie wild gegen seine Rippen und drohte die Brust zu sprengen. Seine Augen suchten in den Gesichtern der anderen nach einem winzigen Funken Hoffnung und blieben schließlich auf Laurette hängen. Das Mädchen machte eine impulsive Bewegung, aber Yates hielt sie fest. 60
„Sie dürfen das nicht mit Ihnen tun, Leutnant!“ rief sie verzweifelt. „Es ist gemein und unfair. Von allen vier sind Sie derjenige, der ein solches Schicksal am wenigsten verdiente. Ich werde …“ Sie zögerte. Ihre Stimme bekam einen fast zärtlichen Tonfall, als sie leiser fortfuhr: „Ich muß jetzt gerade daran denken, was Sie damals taten – wissen Sie noch? In dem kleinen Vorratsraum, in dem die Weihnachtspakete lagen, die wir von der Universität mitbekommen hatten. Sie küßten mich, und ich habe Sie geschlagen. Dabei habe ich in Wirklichkeit nur den Wunsch gehabt, Sie würden mich noch einmal küssen.“ Yates stieß ein widerliches Lachen aus. „Nun hör’ sich das einer an! Masters, finden Sie das nicht interessant, wie Ihre angebliche Verlobte mit einem anderen Mann Süßholz raspelt?“ Masters zuckte die Achseln und gab keine Antwort. Braker sagte: „Hoffentlich hört der Quatsch bald auf. Wir haben wenig Zeit.“ Tony schien mit Laurette allein zu sein. „Ich hätte dich auch am liebsten gleich noch mal geküßt, Laurette.“ Er sah in ihre aufgerissenen Augen und fühlte einen stechenden Schmerz. Sie starrte ihn fast ungläubig an. Dann senkte er den Blick und biß sich die Unterlippe blutig. Es schien ihm unfaßbar, daß er nun hier stand und sich selbst gegenüber zugeben mußte, daß es keinen Ausweg aus dieser Situation mehr gab. Seine Schultern hingen schlaff herab, und eine wohltuende Schwäche überkam ihn. „Genug!“ schnappte Braker. „Gehen wir.“ Tony blieb stehen. Die Gesichter vor ihm verschwammen, und nur das von Laurette blieb. Er sah ihren Mund, ihre Augen und ihre Haare. Sie war schön, fast unwirklich schön, und eine heiße Welle spülte für einen Augenblick seine Todesangst hin61
weg. Er sah die Tränen in ihren Augen und hörte ihr Schluchzen. Lange stand er so da und trank das Bewußtsein in sich hinein, daß sie seine Liebe erwiderte. „Leutnant!“ hauchte sie kaum hörbar. „Laurette – auf Wiedersehen!“ gab er zurück. Er wandte sich abrupt um und ging zur Luftschleuse. Schwer schleiften seine Füße über den Boden. Er erinnerte an einen Mann, der nur noch wenige Meter zur Todeszelle zu gehen hat. Vor der offenen Luke blieb er stehen. Braker stieß die Waffe gegen seinen Rücken. Er zögerte. „Worauf wartest du noch, Copper? Los, spring runter!“ Ohne jede Entgegnung schritt Tony weiter und sprang die wenigen Meter achtlos hinab. Es war dunkel geworden, und der kalte Wind pfiff um das Schiff. Oben am Himmel leuchtete zwischen den Wolkenfetzen die gewaltige Sichel des näher kommenden Planeten. Von hinten kam die verwehte Stimme Brakers: „Viel Vergnügen, Copper!“ Dann schloß sich mit einem dumpfen Laut die Schleusentür. Man hatte sie aus verschiedenen Gründen nicht abmontieren können. Langsam wanderte er in die Nacht hinein, vorbei an dem wirren Haufen der aus dem Schiff geworfenen Sachen. Das Gefühl, ganz allein auf einer Welt zu sein, war noch niemals so stark gewesen wie jetzt. Er befand sich in einer unwirklichen Welt, in einer Welt, die gar nicht mehr existierte. Er fühlte einen Schmerz, der so ungeheuer war, daß er ihm fast die Besinnung raubte. Dann drehte er sich plötzlich um. Aus dem Heck des Schiffes schlugen helle Flammen. In der Mitte war der Hauptstrahl, um den sich die Flammenfinger der Hilfsdüsen gruppierten. Das Schiff bewegte sich schwerfällig, rutschte auf seinen Gleitschienen über die Ebene. Viel zu schnell näherte es sich dem nahen Abgrund, und immer noch erhob es sich nicht. Tony warf unwillkürlich die Arme in die Luft. 62
„Höhensteuer!“ brüllte er in die stürmische Nacht hinein. „Den Bug hoch!“ Der Bug des Schiffes erhob sich vom Boden und richtete sich auf, als die kurzen Schwingen den Luftwiderstand spürten. Dann – mit einem letzten Stoß – hob es vom Boden ab und glitt in die Dunkelheit empor. Der Abgrund war keine zehn Meter mehr entfernt gewesen. Das donnernde Heulen brach sich in unzähligen Echos an der Felswand. Dann wurde es leiser. Nur noch die flammenden Düsen waren in der Nacht sichtbar und wurden zusehends kleiner. Dann war nichts mehr zu sehen. * Tony sah hinauf in den schwarzen Himmel und bemerkte kaum, daß er naß geschwitzt war. Seine Haut spannte sich über die Backenknochen, und er fühlte den eisigen Wind. Langsam ließ er die Arme sinken. Ein heiseres Lachen kam zwischen den zusammengepreßten Lippen hervor. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und stemmte sich gegen den Sturm. Kein Mond war am Himmel zu sehen, am Himmel einer Welt, die in Jahrmillionen nur aus Tausenden und aber Tausenden von Planetoiden bestehen würde. Nur ein geisterhafter Schimmer leuchtete durch die finstere Nacht, nicht immer sichtbar. Es war das Licht des nahenden Unglücksplaneten, jener Welt, die den Untergang verursachen würde. Sie bestand immer noch aus einer Sichel. Deutlich erkannte er die unvorstellbare Größe. Der Planet füllte fast die Hälfte des linken Horizontes aus. Er würde nicht auf diese Seite des Asteroidenplaneten fallen. Ein schwacher Trost. Bewegungslos stand er da. Er überlegte, in welche Richtung er sich wenden sollte und dachte kaum daran, daß es im Grunde genommen gleich sei. Es gab unzählige Richtungen für ihn, aber keine schien Vor- oder Nachteile zu bergen. 63
Er kam zu keinem Ergebnis und schritt schließlich jener Stelle zu, die für ihn die letzte Erinnerung an Laurette bedeutete: der ungeordnete Haufen Einrichtungsgegenstände, die sie aus dem Schiff geworfen hatten. Gedankenverloren stand er vor den Paketen, die alle die Aufschrift „Nicht vor Weihnachten öffnen!“ trugen. Ein Paket war sogar recht groß, fast wie ein Sarg. Es mußte ein besonders wertvolles Geschenk enthalten. War es für Laurette oder für Professor Overland? Er grinste vor sich hin und dachte an Weihnachten, an die Erde und eine untergehende Welt. Er war der einzige Mensch auf dieser Welt. Er war der letzte Mensch, und es war kein anderer mehr da, der außer ihm hätte zu einem Skelett werden können. Er war das Skelett. Das Skelett aber hatte einen Ring gehabt. Natürlich, jetzt wußte er es wieder. Er mußte den Ring finden, sonst war alles umsonst gewesen. Wo aber hatte Laurette den Ring vergraben? Wie sollte er ihn finden? Aber er würde ihn bestimmt finden, denn jenes Skelett hatte den Ring … Seine Gedanken gingen im Kreis. Sie schnitten wie glühende Messer in sein Gehirn und verursachten eine unangenehme Übelkeit. Jedenfalls mußte er den Ring finden, sonst hätte er nicht in Jahrmillionen vor seinem eigenen Skelett stehen können. Stundenlang suchte er die Umgebung jener Stelle ab, an der das Schiff gestanden hatte. Sorgfältig fühlte er mit den Händen nach einer kleinen Erhöhung, die vielleicht verraten könnte, wo der Ring war. Aber es war ein sinnloses Unterfangen, und er wußte es. Und trotzdem konnte der Ring nicht für immer verloren sein; denn er würde an seinem Finger stecken müssen, wenn er starb. Zeitreise war eine wunderbare Sache. Man konnte den Tod der Welten miterleben – oder auch ihre Geburt. Man würde die Antworten auf alle die Fragen finden können, die ungelöst 64
blieben. Man würde das Sonnensystem in seiner Entstehung beobachten und die Expansion des Weltalls beweisen können. Man würde kein einziges ungelöstes Problem mehr kennen. Wie z. B. das Problem, wo der Ring war. Und in dieser Sekunde kam ihm die Erleuchtung. Natürlich, nichts einfacher als das. Laurette würde genauso überlegt haben wie er, wohin sie den Ring bringen sollte. Und es gab einfach nur eine Antwort darauf: In die Höhle. * Erneut stemmte er sich gegen den Wind und ging Schritt für Schritt in Richtung der Höhle davon. Bald lag die Ebene hinter ihm, und die Felswand stellte vor ihm in die Höhe. Da war die Höhle, aber es lag kein Skelett an ihrem Eingang. Woher auch? Aber es würde eines Tages dort liegen – mit einem Ring an der rechten Hand. Unglaublich, wie die Zukunft die Vergangenheit formen konnte – oder war es umgekehrt? Er hatte das unheimliche Gefühl, als ob sein eigenes Skelett – auf dem jetzt noch das Fleisch saß – ihm zuflüsterte, was er zu tun habe. Das eigene Skelett, dem er in Jahrmillionen gegenüberstehen würde. Mit kalter Methodik begann er zu graben. Am hinteren Ende der Höhle fing er damit an und erreichte endlich den Eingang. Von dem Ring fand er nicht die geringste Spur, obwohl er die Handschuhe auszog und mit einem scharfen Stein die Suche unterstützte. Nichts. Die Stunden vergingen, und der Augenblick der Katastrophe kam näher und näher. Was sollte er tun? Sein Verstand drohte sich vor Verzweiflung zu verwirren. Eine Stunde noch – vielleicht, dann kam der Zusammenstoß – und das Ende. Und er war in der Höhle, er – das Skelett. Er saß am Eingang der Höhle und hatte den Kopf in die Hände 65
gestützt. Dann lehnte er sich zurück mit dem Rücken gegen den Felsen. Der Sturm war stärker geworden, und entwurzelte Bäume wirbelten über die Ebene. Nicht mehr lange, und der Planet würde einfach unter der fremden Anziehungskraft auseinanderbrechen. Schon meinte er, die geringere Schwerkraft spüren zu können. Millionen von Jahre würden danach vergehen, ehe er – Leutnant Crow – auf der Jagd nach drei entflohenen Verbrechern auf diesem Asteroiden landen und vor seinem eigenen Skelett stehen würde. Nur würde er es nicht wissen. Er lag da und sinnierte. Er wartete. Vielleicht würde der Wind den Ring zur Höhle tragen, stark genug dazu war er. Er würde sicher den Aufschlag hören, wenn er gegen den Felsen fiel. Er würde ihn aufheben und an den Mittelfinger der rechten Hand stecken. Und dann würde der Planet auseinanderbrechen und er sterben. Es würde alles so kommen, wie es kommen mußte. Er lag da und wartete auf den Ring. Irgendwo in dem Dunkel war ein menschlicher Schrei. Mit einem Satz war er auf seinen Füßen. Er lauschte, aber das Pochen seines Herzens schien selbst das Heulen des Windes zu übertönen. Sein Körper zitterte vor Erregung. Er mußte sich geirrt haben. Auf dieser Welt gab es außer Ihm keinen Menschen, mehr. Und ganz bestimmt keine Frau – besonders keine, die Laurette Overland hieß. Der aber hatte die Stimme gehört. Natürlich sah er Gespenster. Wahrscheinlich war das immer so, kurz bevor man starb. Und er mußte ja sterben, sonst würde er nicht … Er brach den Gedanken gewaltsam ab und schritt den Abhang hinunter, von der Höhle fort. Der eisige Wind umfegte ihn und drohte ihn umzureißen. Er wartete auf einen neuen Schrei, obwohl er wußte, daß da kein Schrei sein konnte. Trotzdem wartete er. Und dann hörte er ihn, schon näher als zuvor. 66
Er rannte zu der Felsenecke und blieb erneut stehen. Mit beiden Händen griff er zum Helm, als wolle er ihn festhalten. „Leutnant!“ Er hörte die Stimme nah und deutlich, aber er glaubte nicht an sie. Es war unmöglich und gegen alle Gesetze. Zeitreise war möglich, die Vernichtung einer Welt war möglich – aber Laurette hier? Das war unmöglich. Er sah die Gestalt, die sich aus dem Dunkel herausschälte. Sie kam auf ihn zu, und er erkannte das Gesicht. Lippen murmelten Worte, die der Wind hinwegriß, so daß er sie nicht hören konnte. Und es war zweifellos Laurette Overland.. Da wußte Tony Crow, daß er endgültig verrückt geworden war. Er stand reglos da und wartete. Auf seinen Lippen war wieder das eingefrorene Lächeln, kalt und gefühllos. Es war interessant, sich selbst zu beobachten, wenn man den Verstand verlor. Und doch – mußte er nicht irgendwie den Ring bekommen? Und nun kam Laurette und brachte ihn, damit er das Skelett würde. Wie egoistisch von ihr, dachte er. Wie ungeheuer egoistisch. Denn wenn sie ihn behielt, würde sie das Skelett sein. Oder würde es nun vielleicht zwei Skelette geben? Mit plötzlicher und grimmiger Entschlossenheit machte er einige Schritte vor und griff nach dem Phantom. Er spürte die festen Formen des Mädchens selbst durch den Raumanzug hindurch … * Die Lippen des Mädchens stachen ab gegen die blasse Hautfarbe. Sie murmelte unverständliche Worte vor sich hin, und er war unfähig, einen Sinn in ihnen zu entdecken. Das kalte Grauen hatte ihn gepackt, und der beginnende Wahnsinn versuchte, sich in seinem Gehirn festzufressen. Er hörte die Worte, begriff sie aber nicht. 67
„… raus – ich mußte – hundert Pfund zuviel …“ Sie lachte hysterisch auf, während sie sprach. Und langsam begann er zu begreifen. Die ganze phantastische Wahrheit dämmerte durch sein Bewußtsein. Das Schiff war nicht vom Boden hochgekommen, und sie war einfach aus irgendeiner Luke gesprungen. Die flammenden Heckdüsen hatten sie gestreift, und der Rücken ihres Raumanzuges war verbrannt. Er war noch dicht, aber das spielte im Augenblick keine Rolle. Stunde um Stunde hatte sie gegen den Sturm angekämpft und gewußt, daß sie etwas tun mußte – etwas, das mit einem Skelett und einem Ring zusammenhing. Das Schiff war emporgestiegen und verschwunden. Aber der Ring lag noch vergraben, und keiner wußte, wo. Sie mußte ihn finden. Tony gewann seine Ruhe wieder zurück. Er begann, an das Unmögliche zu glauben, denn er hatte die Erklärung dafür. Er hielt sie in seinen Armen und sah sie an. Ihre feuchten Handschuhe verrieten, daß sie in der Erde gegraben hatte. Der Ring war also nicht in der Höhle gewesen, und er hatte dort umsonst gesucht. „Gib mir den Ring“, sagte er. „Nein, Tony, ich kann ihn dir nicht geben. Es wird alles ganz anders werden, als du glaubst. Arnos wird es sein. Arnos!“ „Du mußt den Verstand verloren haben, einfach aus dem Schiff zu springen. Gib mir den Ring! Wer ist Arnos?“ Er wartete ihre Antwort nicht ab. Seine Finger zwangen ihre zusammengeballten Hände auf – aber in ihnen war kein Ring. Wütend schüttelte er sie hin und her. „Der Ring! Wo ist der verdammte Ring? Gib ihn mir, du Närrin! Wenn du ihn trägst, dann …“ Der Wind verwehte seine Worte ebenso wie die ihren. Er verstand nicht, was sie antwortete. Da verlor er die Geduld. Mit unbarmherziger Gewalt riß er ihr die Handschuhe von den Fin68
gern und befühlte ihre Finger. Er mußte den Ring haben, denn er liebte Laurette. Und wenn sie den Ring behielt, dann würde sie … Als ob das jetzt nicht vollkommen gleichgültig wäre! Sie löste sich von ihm und lief einige Schritte davon. Der fallende Planet war unter den Horizont gesunken, und Tony fühlte die erneut ansteigende Schwerkraft, denn nun waren gewissermaßen zwei Welten unter seinen Füßen. Der Zusammenstoß würde bald erfolgen, es konnte jetzt nur noch Minuten sein. Und er, der er das Skelett sein würde, hatte den Ring nicht. Langsam folgte er ihr. Sein Kinn hatte sich vorgeschoben, und in seinen Augen funkelte die Entschlossenheit, sein Ziel zu erreichen. Sie wich zurück. Dann, als er nahe genug herangekommen war, wirbelte sie herum und lief ihm einfach davon. Er rannte hinterher, aber er fühlte seine Schritte schwerer und schwerer werden. Die Katastrophe begann … Und Laurette lief auf den Eingang der Höhle zu. Sie verschwand darin. Er verlangsamte seine Schritte und zögerte fast, ihr in die Dunkelheit zu folgen. Doch dann überwand er seine Hemmungen und trat ein. Laurette stand ihm gegenüber und erwartete ihn. Das Heulen des Windes war hier kaum noch zu hören, und er konnte verstehen, wie sie mit kalter und nüchterner Stimme sagte: „Es bleibt uns nicht viel Zeit mehr, hin und her zu reden. Wo hast du deine Handschuhe? Ziehe sie an, denn bald wird die Atmosphäre sich in den Raum verflüchtigen.“ „Gib mir den Ring!“ gab er störrisch zurück. Sie schwieg eine Weile, und er konnte ihre Augen undeutlich sehen. „Gut“, sagte sie schließlich. Ihre Hände kamen hoch, und sie 69
zog den rechten Handschuh aus. Dann trat sie auf ihn zu, und sie berührten sich fast. „Wenn du unbedingt das Skelett sein willst, so will ich dich nicht länger daran hindern.“ Er fühlte ihre Finger an seiner Hand. Und dann glitt ein Ring auf den Mittelfinger. Er spürte ihn und wußte, daß sich das Schicksal nun erfüllen mußte. Ehe er mit der linken Hand versuchen konnte, sich von dem Vorhandensein des Ringes zu überzeugen, zog sie ihm einfach die Handschuhe an, die er vom Boden aufgehoben hatte. Zuerst den rechten, dann den linken. Die Magnetschnallen klickten zu. Ihre Arme schlangen sich um seinen Nacken, und sie drängte sich an ihn. Heftiges Schluchzen verriet, daß sie weinte. „Halte mich ganz fest, Tony, lasse mich nicht los. Vielleicht überleben wir die kommende Katastrophe. Vielleicht haben wir eine Chance …“ „Wir haben keine, Laurette. Du weißt ganz genau, daß es keine geben kann. An meinem Finger ist der Ring.“ Er hörte, wie sie den Atem plötzlich scharf einzog. „Ach ja – du hast den Ring. Er steckt an deinem Finger. – Jetzt kann es nicht mehr lange dauern.“ Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern, als sie hinzufügte: „Vielleicht überleben wir es.“ „Du vielleicht – ich aber nicht.“ „Diese Höhle, dieser Gebirgszug – dieses ganze Stück Land überstehen den Weltuntergang und werden zu einem Asteroiden. Warum sollen wir denn dabei umkommen?“ Er wußte, daß sie unlogisch war, aber er wehrte sich nicht mehr dagegen. Sein Gehirn weigerte sich, aus seiner Lethargie zu erwachen, somit widersprach er ihr nicht. Sollte sie sich in Sicherheit wiegen, wenn ihr das half! Schließlich war der Ring ja auch an seinem Finger, nicht an ihrem. War er wirklich an seinem Finger? Ein heißer Schreck durchfuhr ihn, als er daran dachte, er könne sich getäuscht haben. Er bewegte die Finger – und der 70
heiße Schreck verwandelte sich in eiskaltes Entsetzen. Dort, wo er den Ring deutlich gefühlt hatte, befand sich kein Ring. Sie mußte ihn überlistet haben und den Ring selbst tragen. Sie war das Skelett. Es war jetzt keine Zeit mehr, ihr den Ring abzunehmen. Draußen vor der Höhle raste der globale Sturm und riß Bäume und kleinere Felsen mit sich. Der Zusammenstoß mußte in jeder Sekunde erfolgen. Das Blut stieg ihm zu Kopf, und er zog Laurette ganz dicht an sich heran. In dem Dämmerlicht konnte er ihre Augen erkennen, die ihm aufgerissen entgegenstarrten. Er flüsterte heiße Worte, und sie wußte, daß er den Betrug bemerkt hatte. Sie schien zu lächeln, ein zufriedenes und wissendes Lächeln voller Verstehen. Und dann brach die Hölle los, eine grausige, unvorstellbare Hölle – das Inferno eines Weltunterganges. Die beiden Planeten berührten sich und brachen auseinander. Ein Strom größerer und kleinerer Felsbrocken löste sich von der wirbelnden Masse und verfolgte einen neuen Kurs. Tony und Laurette spürten nichts davon, denn im Augenblick des Zusammenpralls schaltete sich ihr Gehirn vollkommen aus, und sie waren keines Gedankens mehr fähig. Sie wußten nicht, daß sie auf einem in den Raum hinauseilenden, winzigen Planetensplitter lagen, der durch die Wucht der auf der anderen Seite der verurteilten Welt stattgefundenen Katastrophe herausgeschleudert worden war. Wie ein gigantisches Geduldspiel muteten die beiden auseinandersplitternden Welten an, deren einzelne Teile selbst durch kosmische Gewalten nicht wieder zusammengesetzt werden konnten. Die unvorstellbare Katastrophe eines Weltunterganges nahm ihren Anfang – und sie würde mit dem Asteroidengürtel enden. Und mit dem Skelett eines Mädchens in Jahrmillionen … *
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Er lebte. Er lebte und konnte denken. Es schien unmöglich und nur ein Traum zu sein. Mit dem Rücken an den Felsen gelehnt, lag er im Hintergrund der Höhle. Schwach schimmerte Licht zwischen den Ritzen eines Steinbrockens hindurch, der vor der Mündung der Höhle wuchtete. Er atmete. Sein Raumanzug war intakt und mit normalem Luftdruck gefüllt. Die Wärme der automatischen Heizung lockerte seinen Körper auf. Er lebte, und er konnte wieder denken. Zwar nur langsam und scheinbar völlig unlogisch – aber immerhin denken. Er saß in dem Halbdunkel einer Höhle, und draußen war die atmosphärelose Oberfläche eines Asteroiden von knapp 30 km Durchmesser. Laurette Overland würde tot sein, daran bestand kein Zweifel. An ihrer Hand würde der Ring glänzen, dieser verdammte, tödliche Ring. In seine Augen traten Tränen, und er schämte sich ihrer nicht. Wie lange mochte er jetzt schon hier liegen? Minuten – Stunden – oder gar bereits Tage? Wo waren Overland, Masters, Braker und Yates? Würden sie zurückkehren und nach ihm schauen? Irgendwo im Felsen war eine plötzliche Erschütterung. Er konnte ganz deutlich die Vibration spüren, ohne sich ihre Ursache erklären zu können. War es eine Explosion gewesen, vielleicht infolge der vergangenen Katastrophe? Aber das war kaum möglich, denn die Erschütterung war nur kurz und leicht gewesen. Er erhob sich langsam und fühlte die geringe Gravitation. Obwohl er denken konnte, waren seine Gedanken verwirrt und unklar. Immer wieder kehrten sie zum Ausgangspunkt zurück. Und dieser Ausgangspunkt war ein menschliches Skelett, das bereits vor Beginn der menschlichen Geschichte existiert haben mußte. Daran dachte er immer und immer wieder. 72
Nach fünf Minuten – vielleicht war es auch eine Stunde – kam ihm endlich zu Bewußtsein, daß er Arme, Beine und eine schlagendes Herz besaß. Er streckte sich und atmete tief ein. Steif waren seine Glieder, als habe er sie lange nicht mehr gebraucht. Seine Schritte waren leicht und doch zögernd, so, als habe er das Gehen verlernt. Er stemmte sich gegen den vor dem Ausgang liegenden Felsbrocken und wunderte sich, wie leicht dieser wich. Geräuschlos rollte er ein kleines Stück und blieb dann liegen. Die entstandene Lücke war groß genug, ihn hindurchzulassen. Der Himmel war schwarz und voller Sterne. Ja, das war der Himmel, der damals über Asteroid 1007 auch gestanden hatte. Wieder fühlte er die Vibration, genauso wie vorher. Sie war kurz und leicht, als sei ein Schiff auf einem kleinen Planetoiden gelandet. Gleich darauf wiederholte sich der Stoß, pflanzte sich durch die Felsen fort. Und erst jetzt reagierte sein Gehirn folgerichtig und logisch, mit einem winzigen Unterton der Verwunderung, daß er nicht früher daran gedacht habe. Er schaltete den Empfänger seines Helmsenders ein und lauschte. Da war das dumpfe Summen einer Trägerfrequenz – oder war es nur das Rauschen des eigenen Blutes? Nein, das konnte es nicht sein. Es mußte tatsächlich ein fremder Sender sein, der eingeschaltet war. Und dann kam die Stimme: „Geht weiter, Professor, Masters.“ Es war die Stimme von Braker. „Wir werden alle noch verrückt, wenn wir nicht endlich erfahren, wer nun tatsächlich das Skelett ist.“ Also war Braker zurückgekehrt, nachdem das Schiff dem Weltuntergang entkommen war. Sie waren zurückgekommen, um die Lösung zu finden. Tony atmete unwillkürlich erleichtert auf, um gleich danach vorsichtig den Atem anzuhalten. Wenn Braker das hörte, würde er mißtrauisch werden. Und wenn Tony auch nicht alles verstand, was geschehen war, so wurde er sich 73
doch über eine Sache klar: Was auch immer sein mochte, das Wichtigste würde sein, Braker die Hampton abzunehmen. Overland murmelte verzagt: „Gehen Sie vor, Braker – denn vielleicht ist es meine Tochter.“ Tony hörte dann die Stimme von Masters sagen: „Ich gehe vor, Professor. Ich würde alles tun, nur um …“ „Schon gut, Erle. Wir haben im Leben alle unsere schwachen Minuten. Im übrigen werden wir noch kein Skelett vorfinden.“ „Wieso nicht?“ das war Yates. „Ach so, stimmt. Der Teufel soll die ganze Geschichte holen, Professor. Ich werde daraus nicht schlau, wenn ich auch fast darüber lachen möchte.“ „Hör’ zu, Yates“, sagte Braker jetzt. „Ich verstehe das genausowenig wie du. Aber der Professor müßte es erklären können. Diese ganze Angelegenheit mit der Zeit – die ist mir zu hoch. Aber man muß sich ja damit befassen, da sie passiert ist. Sie sagten, Overland, daß uns praktisch die Gravitation des Planeten damals in der Vergangenheit zurückgehalten hätte – so ähnlich wie ein Gummiband. Und als dann die Gravitation plötzlich aufgehoben wurde und verschwand, riß auch dieses Gummiband, das uns an die Vergangenheit fesselte. Wir wurden wieder zurück in die Gegenwart geschleudert. Gut, ich versuche, das zu kapieren, wenn es mir auch schwerfällt. Was aber dann, wenn Ihre Tochter und Crow nun nicht das gleiche erlebten wie wir? Dann müssen wir das Skelett finden – oder sogar deren zwei.“ „Die Gravitation des Asteroiden reicht nicht aus, sie in der Vergangenheit festzuhalten“, flüsterte Overland düster und hoffnungslos, „obwohl diese Möglichkeit doch mehr Chancen bot als umgekehrt.“ „Ich verstehe immer noch nicht“, nörgelte Braker weiter, „wie es möglich ist, daß Crow ein Skelett sehen konnte. Dies hier ist die Gegenwart, dazu haben wir die Beweise. Dort drüben sehen wir noch den Felsen, auf dem unser Schiff damals 74
lag. Es ist einfach unmöglich. Meinen Sie, daß der Copper uns hat irreführen wollen? Ob er uns belogen hat?“ „Crow hat nicht gelogen“, warf Yates ein. Overland sagte: „Das Skelett wird an der Höhle liegen. Der Leutnant sah es.“ „Vielleicht sah er sein eigenes Skelett“, beteiligte sich auch Masters an der Unterhaltung. Und Braker endete: „Warum eigentlich nicht? Der Ring war gleichzeitig an zwei verschiedenen Plätzen, und es war unzweifelhaft der gleiche Ring. Also konnte auch das gleiche Skelett vor dem Eingang zur Höhle liegen und sich zugleich noch im Körper von Crow befinden. Langsam beginne ich auch an diesen Blödsinn zu glauben.“ * In Tonys Kopf kreuzten wirre Gedanken. Worüber sprachen sie nur? Glaubten sie etwa daran, daß nur die Gravitation sie an die Vergangenheit gefesselt hatte und daß sie sich wieder in der Gegenwart befanden, aus der sie gekommen waren? Er starrte in den ewig schwarzen Himmel empor, und seine Hände begannen plötzlich zu zittern. Die Sternbilder waren so, wie er sie gewohnt war. Natürlich war es möglich. Die Flucht der Gravitonen hatte sie damals in die Vergangenheit befördert. Und Gravitonen, der Urstoff der Gravitation, hatte sie auch dort gehalten. Und als die anderthalb g im Verlauf einer Sekunde plötzlich nicht mehr existieren, die Gravitonen in einen anderen Raum hinüberwechselten, als die fesselnde Spannung nachließ – da wurden sie dorthin zurückgestoßen, wo sie hergekommen waren. … sie …? Also alles? Er fühlte die Kälte, die seinen Rücken hinabrieselte. Da stimmte etwas nicht. Irgend etwas in dieser Richtung 75
stimmte nicht. In seinem Kopf brummte es, und er preßte die Hände zu Fäusten. Dann lauschte er wieder. Mehr als eine Minute lang vermochte er nichts zu hören, aber er konnte sich vorstellen, wie die vier Männer sich der Höhle näherten. Overland und Masters voran, Yates und Braker mißtrauisch hinter ihnen. Dann: „Nun gehen Sie doch schon, Professor. Hinter der nächsten Biegung muß es sein.“ „Schon gut, Braker“, flüsterte Overland heiser und voller Furcht vor dem, was er sehen würde. Und eine Sekunde später: „Ja – da ist es.“ „Das Skelett!“ stieß Yates hervor. In seiner Stimme war Verwunderung und Schreck. „Sie blieben in der Vergangenheit, kehrten nicht zurück. Wie ist das möglich, Professor?“ Tony hörte nicht auf die Antwort. Er schob sich ein wenig seitlich des abschließenden Gesteinsbrockens vor. Sein Gesicht war von einer tödlichen Blässe gekennzeichnet, und er zitterte am ganzen Körper. Er vermochte, einen Blick nach außen zu werfen und bemerkte, daß er fast ganz im Hintergrund der Höhle gesteckt hatte. Unter ihm lag weiß schimmernd das Skelett, so, wie er es damals gesehen hatte. An der rechten Hand blitzte der goldene Ring mit dem Smaragd. Laurette! Er hob vorsichtig den Kopf und sah wie durch einen Schleier hindurch Braker, Yates, Masters und Overland. Sie standen mehr als 15 Meter vor dem Höhleneingang, schweigend, reglos und abwartend. Mit schwankender Stimme brach Braker dieses Schweigen. „Wie seltsam. Wir wußten ganz genau, daß es dort liegen würde – und jetzt, wo wir das sehen, was wir erwarteten, raubt es uns den Verstand. Es scheint uns unbegreiflich.“ Yates räusperte sich. „Wer aber ist es? Crow oder das Mädchen?“ 76
Overland machte einen unsicheren Schritt nach vorn. „Es ist nicht besonders lang – oder irre ich mich?“ Braker sagte, bereits wieder nüchterner: „Nun redet euch keinen Blödsinn ein, auch Sie nicht, Professor. Von hier aus kann man es nicht so genau sehen. Es ist unmöglich, schon jetzt zu sagen, wer es ist. – Masters, reißen Sie sich endlich zusammen. Sie zittern ja am ganzen Körper, Sie Feigling. Los, gehen Sie zur Seite! Und ich warne Sie: Versuchen Sie den Trick nicht noch einmal, mit dem Sie mich auf dem Schiff hereinlegen wollten. Ich hätte keine Rücksicht auf Sie nehmen sollen. Ich werde jetzt gehen und mir das Skelett näher betrachten.“ Tony wunderte sich sehr darüber, daß man anscheinend wieder gesellschaftliche Umgangsformen eingeführt hatte, dann behielt er Braker im Auge, ohne sich zu verraten. Braker machte einige Schritte auf die Höhle zu. Seine Rechte lag am Gürtel, wo die Hampton griffbereit steckte. Er kam bis zum Eingang hoch und blieb dann stehen. Sein Gesicht war deutlich erkennbar. Dicke Falten zogen sich quer über die Stirn, und in seinen Augen leuchtete es. Dann bückte er sich und streckte die Hände aus, aber er berührte das Skelett nicht. * Tony Crow fühlte seine Erregung bis ins Unerträgliche steigen. Der Augenblick der letzten Entscheidung nahte unaufhaltsam. Ganz vorsichtig drückte er sich an dem Felsen vorbei und stand plötzlich im Freien. Braker hob den Kopf und sah ihn an. Sein Gesicht verzog sich zu einer ungläubigen Fratze des Entsetzens, die Augen wurden größer und größer und drohten, aus den Höhlen zu quellen. So mußte ein Mensch aussehen, der einem Toten begegnet. 77
„Crow!“ kam es wie ein Stöhnen aus seinem Mund, und Tony hörte es im Empfänger. Dann sprang er. Braker hatte sich halb aufgerichtet und wurde von dem Anprall zu Boden geschleudert. Die geringe Gravitation verhütete eine Verletzung des Raumanzuges. Die Rechte fuhr zur Hampton. Aber Tony war genausoschnell. Er packte zu, und nun lagen zwei Hände auf dem Griff der Waffe. In seinem Helm war ein Durcheinander aufgeregter Stimmen. Undeutlich sah er, wie Masters und Overland reglos an ihrem Platz stehenblieben, als habe sie der Schlag getroffen. Yates dagegen kam in großen Sätzen näher. Tony hatte den Griff der Waffe sicher in der Hand, aber er konnte sie nicht aus der Sicherheitshalfter ziehen. Braker trat mit seinen schweren Metallstiefeln nach ihm; vielleicht hatte er die Absicht, seinen Anzug zu zerfetzen, was den sofortigen Tod bedeutete. Durch die Sichtscheibe blickte er in das erbarmungslose und verzerrte Gesicht des Verbrechers. Die Sterne verschwanden plötzlich, verdeckt von dem Körper Yates’. Er stürzte sich auf die Kämpfenden, und zusammen mit Braker gelang es ihm, die Waffe freizubekommen und dem Griff Tonys zu entwinden. „Gebt mir die Waffe!“ schrie plötzlich eine schrille Stimme. Es war Masters. Yates, der die Hampton jetzt hielt, war derart überrascht, daß Masters ihm die Pistole aus der Hand nehmen konnte. Doch diese Überraschung dauerte nicht sehr lange. Schon war Yates wieder auf und stürzte sich auf Masters. Diesen Moment benutzte Tony, um freizukommen. Er machte einen Satz und warf sich hinter dem davoneilenden Yates her. Er bekam den Fuß zu fassen, und der Verbrecher stolperte. Aber er vermochte doch noch, Masters einen Schlag zu versetzen. Die Hampton segelte in großem Bogen gegen den Felsen und fiel am Eingang der Höhle zu Boden nieder. „Yates! Dort liegt sie!“ brüllte Braker wütend und versuchte, 78
auf die Füße zu kommen. Masters war schneller. Er hatte fast die Höhle erreicht, als Yates bei ihm war und ihn zur Seite schleuderte. Aber auch Braker war inzwischen nicht faul gewesen. An Tony vorbei war es ihm gelungen, alle anderen zu überholen. Noch ein Schritt, und er hatte die Waffe erreicht. Seine Hände streckten sich schon aus, und er wollte diesen letzten Schritt machen. Aber er kam nicht mehr dazu. Wie plötzlich erstarrt blieb er stehen und starrte zum Eingang der Höhle empor. Eine Gestalt trat dort heraus, bückte sich und ergriff die Waffe. Eine kalte und bekannte Stimme sagte unmißverständlich: „Hoch damit! Braker und Yates! Hoch, sagte ich!“ Brakers Luft entwich mit einem Pfeifen aus den Lungen. Er sackte langsam auf die Knie und verharrte in dieser für ihn sicherlich seltenen Stellung. Seine Stimme war voller Schrecken. „Ich bin verrückt geworden“, sagte er und schwieg dann. Seine Augen sahen zu der Figur hoch, die an der Höhle stand, die Mündung der tödlichen Waffe auf ihn gerichtet. Das Blut hämmerte gegen die Schläfen Tonys. Vor seinen Augen verschwamm alles und überzog sich mit einem rosigen Schimmer. Dann wurde seine Sicht wieder klar, und er flüsterte: „Laurette.“ Sechs Menschen standen jetzt vor der Höhle. Und da lag das Skelett … * Wie lange sie so reglos da verharrten, hätte hinterher keiner mehr zu sagen vermocht. Overland stand dicht neben Tony, die Arme halb erhoben. In seinen Augen war ein verwunderter Ausdruck des absoluten Unglaubens. Masters lag lang auf dem Bauch und starrte zu Laurette hoch. Unter anderen Umständen hätte der Anblick zum Lachen gereizt. Yates befand sich in einer 79
ähnlichen Stellung und schien zu Stein geworden. Er rührte sich nicht. Braker kniete noch immer. Sein Atem ging keuchend und stoßweise. Das Mädchen hatte die Waffe immer noch auf Braker gerichtet, der ihr am nächsten war. Ihr Gesicht war angespannt und bleich. Und als sie sprach, schien es Tony, als käme ihre Stimme aus dem Grabe. „Es ist Arnos“, sagte sie und sah ihren Vater dabei an. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, machte es wieder irdisch. „Arnos?“ flüsterte Overland, und seine Stimme war voller Unglauben. Er machte einige Schritte auf die Höhle zu und blieb wieder stehen. „Arnos? Und wir dachten – wir dachten …“ Er stockte. Dann riß er sich zusammen und fuhr fort: „Wir dachten, du seist das – und es ist Arnos?“ Er begann plötzlich hysterisch zu lachen. Laurette sagte in dieses Lachen hinein, das dann verstummte: „Nein, nicht ich bin das Skelett. Es ist Arnos – und er war es immer schon. Ich habe nicht daran gedacht, bis das Schiff startete. Als es nicht hochkam, glaubte ich, daß vielleicht meine 100 Pfund daran schuld wären. Auch dachte ich daran, daß der Leutnant allein auf einer sterbenden Welt wäre – und schließlich dachte ich an die Weihnachtsgeschenke. Die Leitung der Universität wußte ja, daß wir bis Weihnachten nicht zurücksein konnten. Vater, und sie hatten uns die Geschenke ins Schiff geschickt. Du wußtest nichts davon, aber ich. Was konnten sie dir wohl in dem großen Paket geschickt haben, das so leicht war und wie ein Sarg aussah? Erinnerst du dich, was du den Herren Professoren immer gesagt hattest? Wenn du die Universität verlassen müßtest, möchtest du gerne Arnos mitnehmen. – Nun, mir kam die Vermutung, daß sie dir in diesem Jahr – deinem letzten – Arnos zu Weihnachten geschenkt haben mochten. Sie konnten für ihren Biologiesaal ein neues bekommen.“ 80
Sie machte eine Pause, und keiner sprach. Nicht alle hatten sie verstanden, aber sie wußten, daß Laurette die Lösung des Rätsels in der Hand hielt. Daß es zu ihren Füßen bleich schimmernd lag. „Wir haben alles aus dem Schiff geworfen“, fuhr Laurette fort, und in ihrer Stimme war Bitterkeit, als sie Crow mit einem kurzen Blick streifte. „Auch die Weihnachtsgeschenke. Als ich dann auch aus dem Schiff sprang, kämpfte ich mich durch den Sturm zu dem hinausgeworfenen Zeug vor und öffnete das große Paket, das für dich, Vater, bestimmt war. Meine Vermutung stimmte. In ihm lag Arnos. Ich steckte den Ring, den ich inzwischen wieder ausgegraben hatte, an den Mittelfinger der rechten Hand von Arnos und ließ ihn einfach liegen. Ich wußte, daß der Wind oder der Zusammenprall das Skelett irgendwie zur Höhle schleudern würde. Es würde einfach so kommen müssen.“ Masters lag immer noch auf dem Bauch. Seine Stimme klang heiser und gebrochen, als er sagte: „Ein Weihnachtsgeschenk! Nur ein Weihnachtsgeschenk.“ „Wir müßten heute den 25. Dezember haben“, bemerkte Laurette. Sie sah Tony an. „Und nun komm her, Leutnant, nimm mir die Waffe ab. Und höre endlich auf, mich so anzustarren, als ob ich ein Geist sei.“ Tony ging automatisch auf sie zu, an Yates und Braker vorbei, und nahm die Hampton aus ihren plötzlich zitternden Händen. Sie lächelte ihm müde zu und schwankte ein wenig. „Frohe Weihnachten, Tony!“ hauchte sie. Dann brach sie zusammen. Sie lag neben dem Skelett. * Tony winkte Masters schweigend zu, der sich darauf erhob und zu ihm kam. Mit einem verlegenen Gesichtsausdruck nickte er, 81
bückte sich und hob das Mädchen auf. Bewußtlos lag sie in seinen Armen. „Kommen Sie her, Professor!“ forderte Tony den alten Overland auf. Er fühlte eine bleierne Müdigkeit. Overland kam, schüttelte unaufhörlich den Kopf und murmelte wiederholt: „Arnos! Es ist Arnos! Und nicht Laurette.“ „Steht auf, Braker und Yates!“ befahl Tony. Brakers Stimme schien gebrochen, als er sich langsam erhob. „Also das war es! Dafür die ganze Angst und der Schreck.“ Er sah auf das Skelett, und in seinen Augen funkelte die Wut. „Ein verdammtes Schulgerippe! Ein Lehrskelett!“ Er wiederholte das letztere: „Ein verdammtes Lehrskelett!“ Dann sah er Tony an. „Damit wären wir also an der gleichen Stelle, an der wir schon einmal standen. Frohe Weihnachten, Leutnant!“ Tony machte einen tiefen Atemzug und fühlte die Erleichterung. „Ja, natürlich. Frohe Weihnachten! Das wünsche ich allen, auch Arnos – wer immer es gewesen sein mag.“ Keiner gab Antwort. Es schien, als dächten sie für einen Augenblick alle noch einmal an jenen Planeten, der vor dem Asteroidenring bestanden hatte. Besonders Masters schien sich zu entsinnen, denn er sah beschämt zu Boden, als er dem Blick des Leutnants begegnete. Der aber nickte ihm zu. „Machen Sie das Schiff fertig, Masters. Und sorgen Sie für – Miß Overland.“ Masters nickte und schritt davon. Auf seinen Armen ruhte die besinnungslose aber regelmäßig atmende Laurette. Overland warf einen letzten Blick auf das Skelett. Da lag Arnos, jenes wundervolle Gerippe, das er immer so bewundert hatte. Nun hatte man es ihm zu Weihnachten geschenkt. Er sah genauer hin und erkannte die feinen Drähte, die die einzelnen Knochen zusammenhielten. Und grün schimmerte an der rechten Hand der Smaragd. 82
Dann wandte Overland sich um und folgte Masters. Arnos würde zurückbleiben. Tony sah Braker an und grinste böse. Mit der freien Hand zeigte er auf das Skelett und fragte: „Der Ring, Braker. Willst du ihn nicht?“ Braker zuckte heftig zusammen und starrte den Leutnant wütend an. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Nein, ich will ihn nicht!“ keuchte er. Zum ersten Male seit Wochen lachte Tony befreit auf. „Gehen wir“, brachte er mühsam hervor und winkte mit der Waffe. Braker und Yates gingen mit schleppenden Schritten vor ihm her auf das ferne Schiff zu. Tony schritt hinter ihnen her und drehte sich nur einmal um. Aber nicht, um einen Blick zu dem Skelett zurückzuwerfen, sondern nur, um mit einem Gefühl, das ihm den Magen zusammenkrampfte, zu dem Wrack seines kleinen Patrouillenschiffes hinüberzusehen, das sich mit der Nase in den Felsen gebohrt hatte. Seine Haare standen steil nach oben, und eine kalte Hand griff nach seinem Herz. Da war noch etwas, was er sich nicht erklären konnte. Aber langsam dämmerte ihm die Erkenntnis, und er wußte, daß die Wahrheit ihn dem Wahnsinn so nahe bringen würde wie nie zuvor in seinem Leben. * Overland und Masters brachten Laurette in ihre Kabine, während Tony seine beiden Gefangenen in die alte Zelle führte. Er überlegte sich dabei, wie er sie wohl am besten fesseln sollte. Masters löste das Problem, indem er eine kleine Rolle isolierten Drahtes brachte und sich wortlos daran machte, die beiden Männer an den Haltering zu binden. Als er damit fertig war, überprüfte Tony die Fesseln. Sie waren unbedingt sicher. 83
Draußen auf dem Gang hielt Masters Tony an. Sein Gesicht war eine bleiche Maske nackten Schuldbewußtseins. „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll“, begann er heiser. „Was sagen?“ fragte Tony zurück. Masters wich seinem Blick aus. „Daß mir alles so leid tut.“ Tony sah die tiefen Falten, die sich um den Mund seines Gegenüber eingegraben hatten, und die trüben Augen ohne Leben. „Lassen Sie nur, ich kann es verstehen. Ich schätze, Sie haben Ihren Fehler wiedergutgemacht, als Sie draußen vor der Höhle in den Kampf eingriffen. Die Situation könnte jetzt auch umgekehrt sein und wir in jener Zelle sitzen.“ In einer plötzlichen Aufwallung klopfte er Masters auf die Schulter. „Vergessen Sie es, Masters. Das wird wohl am besten sein.“ Masters atmete erleichtert auf, und das Leben kehrte in seine Augen zurück. Er ging neben Tony durch den Gang, und sie näherten sich Laurettas Kabine. „Sie ist auf dem Wege der Besserung“, murmelte er. „Hallo, Leutnant“, begrüßte Laurette den eintretenden Tony. „Ich glaube, mir sind im letzten Augenblick die Knie schwach geworden.“ „Uns wohl allen“, gab er zurück und lächelte schwach Dann ließ er sich auf die Knie nieder und stützte ihren Kopf. Sie lag immer noch auf dem Boden der Kabine und stand erst mit seiner Hilfe auf. Overland unterstützte sie und lachte kurz vor sich hin. „Die ganze Arbeit von DeTosque, den Gebrüdern Farr, Morell und von mir ist umsonst gewesen. Wir wissen, daß der fünfte Planet einst existierte. Wir wissen es wirklich, aber haben wir auch Beweise? Seht ihr, wir haben keinerlei Beweise.“ Er schwieg plötzlich und sah dann Tony an. Sein Blick war forschend, und seine Augen kniffen sich zusammen. „Und dann ist da noch etwas, was geklärt werden müßte. Ich glaube aber 84
nicht, daß wir eine Antwort finden werden. Sie meinen, es wäre eine Art Erinnerung, Leutnant. Pah, das erklärt gar nichts. Sie standen vor der Höhle und sahen das Skelett. Und dann wußten Sie plötzlich, daß es alt war, älter als die menschliche Rasse. Woher konnten Sie das wissen, Leutnant? Woher?“ „Ich werde Ihnen sagen, woher ich es wußte“, sagte Tony gleichgültig. Er sah geistesabwesend aus der leeren Sichtluke, hinaus auf die Todeslandschaft des Asteroiden und hinüber zu dem Felsen, an dessen Fuß sein Patrouillenschiff lag. „Ja, ich werde Ihnen erklären, woher ich es wußte.“ Laurette, Overland und Masters schauten ihn schweigend und erwartungsvoll an. Sie wunderten sich über den seltsamen Tonfall in seiner Stimme. „Laurette und ich befanden uns im Hintergrund der Höhle, als die beiden Welten zusammenstießen. Wir haben es wie durch ein Wunder lebend überstanden. Als ich erwachte, hab ich sie nicht gefunden, sie muß noch weiter hinten gelegen haben. Glücklicherweise erwachte sie genau im rechten Augenblick. Als ich das Skelett erblickte, war ich natürlich zu verwirrt, um zu erkennen, daß es nicht Laurettas Überreste sein konnten. Als die Gravitation schwand, wurden wir alle zurück in die Gegenwart geschleudert – nicht genau in die Gegenwart, aber ein wenig zuvor. Ich erkläre das noch später.“ Er holte tief Luft, ehe er weitersprach. „Es ist sehr schwierig zu erklären. Ich war also in der Höhle und fühlte dann auf einmal eine Erschütterung. Das war mein Patrouillenschiff – und ich war der Pilot.“ Er sah schnell von einem Gesicht zum anderen und erkannte das plötzliche Aufleuchten in den Augen des Professors. „Weiter, Leutnant“, sagte dieser. „Aber vorsichtig!“ Tony nickte, und ein gezwungenes Lächeln stahl sich in seine Züge. „Das ist die ganze Wahrheit. Als mein Schiff gegen den Felsen rammte, verließ ich es. Wenige Minuten später stand ich vor der 85
Höhle und erblickte das Skelett. Da erinnerte ich mich. Es waren nur Gedankenfetzen, die mein Gehirn durchwirbelten – aber sie waren da. Und warum sollte es nicht so sein? Während ich vor der Höhle stand, befand ich mich auch gleichzeitig in ihrem Inneren. Der Tony Crow vor der Höhle und der Tony Crow in der Höhle waren ein und dieselbe Person. Und ihr Gehirn war auch das gleiche.“ Er schwieg und netzte sich mit der Zunge die trockenen Lippen. Masters flüsterte mit verhaltener Stimme: „Zwei Tony Crows – das ist unmöglich!“ Tony lehnte sich gegen die Tür. „Der gleiche Ring war gleichzeitig an zwei verschiedenen Plätzen. Das gleiche Skelett existierte zweimal in ein und derselben Zeitebene. Braker hatte den Ring am Finger, und Arnos lag wohlverpackt in seinem Karton. Vor der Höhle aber lag gleichzeitig das Skelett mit dem Ring. Ihr wißt dies alles und gebt es auch zu. Well, warum sollte ich nicht auch zweimal existieren? Aber wenn ich noch länger darüber nachdenke, glaube ich doch, daß mich der Wahnsinn …“ „Immer langsam damit“, unterbrach ihn Overland. „Es ist alles nur so lange aufregend, so lange man keine Erklärung hat. Schon allein die Tatsache der Zeitreise setzt eine Duplizität der Materie voraus. Unser Schiff und wir selbst setzen uns aus Elektronen und anderen Bausteinen zusammen, die ebenfalls in einer anderen Zeitebene existieren. Es ist nichts Besonderes dabei, wenn Tony Crow zweimal gleichzeitig lebte. Wir alle bestanden in doppelter Ausführung. Vergessen wir nicht, daß unser Schiff Jahrmillionen zurückgeworfen wurde, und zwar eine Stunde bevor es erneut hier landete. Trotzdem besteht nicht mehr die Gefahr, daß wir uns selbst begegnen. Die Vergangenheit ist – vorbei.“ Laurette und Tony sahen sich in die Augen und schwiegen. 86
Dann stahl sich ein Lächeln auf ihre Gesichter, und Masters begann, unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten. Overland sprach weiter: „Was der Leutnant noch erklären wollte, ist folgendes: Während unserer Reise in die Vergangenheit müssen wir bei irgendeiner Gelegenheit Energie verloren haben. Vielleicht verlor sich ein Teil der Gravitonen. Jedenfalls kehrten wir nicht genau in die Gegenwart zurück, sondern zu einem etwas früheren Zeitpunkt. Eigentlich hätten wir zur Gegenwart zurückkehren müssen plus die drei Wochen, die wir auf jenem Planeten verbrachten. Im übrigen war dort bereits Weihnachten, und Laurette handelte richtig, als sie mein Paket öffnete.“ Er lächelte kurz und endete: „Und nun haben wir erst in drei Wochen Weihnachten – aber keine Geschenke mehr. Ich könnte den Energieverlust genau berechnen, wenn ich Papier und Bleistift hätte …“ Erle Masters unterbrach ihn. Er hustete verlegen und grinste gleichzeitig. „Ob wir jetzt nicht besser in die Zentrale gehen und den Kurs berechnen, Professor?“ „Warum?“ fragte Overland und folgte dem Blick Masters. Er fiel auf Laurette und Tony Crow. „O ja, das hätte ich fast vergessen.“ Er ging zu Masters und legte seine Rechte auf dessen Schulter. „Schätze, Sie haben recht diesmal“, brummte er und öffnete die Tür. * „Ich bin sehr froh, daß du nicht Arnos warst“, begann Tony. „Das wäre wissenschaftlich unmöglich gewesen, Tony“, sagte sie. Er grinste und brachte seinen Helm ganz nahe an den ihren. Eine engere Berührung war leider im Augenblick nicht möglich. 87
„Wenn wir wieder auf der Erde sind, Laurette, werde ich einen Ring an deine Hand …“ Er stockte plötzlich, und die Flut der Erinnerungen stürmte auf ihn ein. Sie starrte ihn an und erbleichte. Unwillkürlich wanderte ihr Blick hinaus auf die Oberfläche des Asteroiden 1007, wo irgendwo eine Höhle war, ein Skelett und ein Ring. Dann nickte sie, langsam und vorsichtig. „Das ist eine gute Idee, Tony.“ Sie lächelte jetzt sogar. „Aber auf keinen Fall einen Goldring – mit einem Smaragd …“ – Ende –
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