Agathe Bienfait (Hrsg.) Religionen verstehen
Studien zum Weber-Paradigma Herausgegeben von Gert Albert Agathe Bienfai...
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Agathe Bienfait (Hrsg.) Religionen verstehen
Studien zum Weber-Paradigma Herausgegeben von Gert Albert Agathe Bienfait Steffen Sigmund Mateusz Stachura Mit der Reihe „Studien zum Weber-Paradigma“ soll ein Ort für solche Publikationen geschaffen werden, die sich in Interpretationen, theoretischen Weiterentwicklungen und empirischen Studien mit dem Werk Max Webers auseinandersetzen. Die Bezugnahme auf das Webersche Forschungsprogramm schließt dessen kritische Diskussion durch Vertreter anderer theoretischer Positionen mit ein. Institutionentheoretische Fortführungen, ethische und sozialontologische Fragen im Gefolge Weberscher Unterscheidungen wie auch neue oder alte Verbindungen Weberianischer Theorie mit philosophischen Strömungen werden diskutiert. Die „Studien zum Weber-Paradigma“ sind einem undogmatischen und innovativen Umgang mit dem Weberschen Erbe verpflichtet.
Agathe Bienfait (Hrsg.)
Religionen verstehen Zur Aktualität von Max Webers Religionssoziologie
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17264-4
Inhalt
Agathe Bienfait Religionen verstehen – eine Einleitung ................................................................ 7 Mateusz Stachura Ideen und Interessen. Die Seitenwechselproblematik am Beispiel der Hinduismus- und Judentum-Studie von Max Weber ......................................... 18 Hartmann Tyrell Religion und Politik – Max Weber und Émile Durkheim ................................. 41 Hans G. Kippenberg Webers Konzeption von Brüderlichkeitsethik und die Macht religiöser Vergemeinschaftung ........................................................................................... 92 Martin Endreß „Postsäkulare Kultur“? Max Webers Soziologie und Habermas‘ Beitrag zur De-Säkularisierungsthese ............................................................................ 123 Gottfried Küenzlen Max Weber: Wissenschaft und Religion. Ein Rekonstruktionsversuch in gegenwartsdiagnostischer Absicht ................................................................... 150 Winfried Gebhardt Die Transformation des Religiösen. Religionssoziologie in der Tradition Max Webers ...................................................................................................... 177 Agathe Bienfait Klassen, Schichten, Religionen. Über die sozialstrukturellen Grenzen religiöser Individualisierung ............................................................................. 196 Franz Höllinger Der Pentecostalismus. Eine Verbindung von magischer Religiosität und protestantischer Gesinnungsethik ..................................................................... 219
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Inhalt
Friederike Benthaus-Apel Soziologische Lebensstilanalyse und Protestantische Ethik ............................. 242 Christel Gärtner Das Theodizeeproblem unter säkularen Bedingungen – Anschlüsse an Max Webers Religionssoziologie ............................................. 271
Religionen verstehen – eine Einleitung Agathe Bienfait
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Warum „Religionen verstehen“?
Der Titel dieses Sammelbandes lautet: Religionen verstehen. Was ursprünglich als reiner Arbeitstitel gedacht war, hat sich im Verlauf des Projekts als zutreffend und dauerhaft bestätigt, da hier bereits wesentliche Dimensionen und Besonderheiten der weberschen Religionssoziologie auf den Punkt gebracht werden. Zunächst der Plural „Religionen“: Die webersche Herangehensweise ist eigentlich keine Religionssoziologie, sondern immer eine Soziologie der Religionen. Wie kaum ein anderer Klassiker dieses Fachs hat Weber es verstanden, mit Präzision und Akribie die enorme Vielfalt und die Eigenartigkeiten des religiösen Denkens und Handelns herauszuarbeiten. Dies ist natürlich eine Folge seines eigentümlichen Geschichtsverständnisses. Wolfgang Schluchter spricht hier sehr treffend vom „antievolutionistischen Bezugsrahmen“, der es ermöglicht, „die Weltreligionen vergleichend in ihrer Individualität zu betrachten und sie gerade nicht in eine Stufenfolge [...] zu bringen“ (Schluchter 1979: 4; vgl. auch Schluchter 2007: 111). Diese anti-evolutionistische Perspektive hat zur Folge, dass Webers Soziologie der Religionen nicht einseitig auf Gesetzmäßigkeiten oder Regelmäßigkeiten ausgerichtet ist, sondern vielmehr das betont, was unserem Ordnungsdenken im Innersten widersprechen muss: Zufall, Kontingenz, Paradoxien. Dies mag auf den ersten Blick als Nachteil, als Mangel an systematischer Strenge erscheinen. Doch wir, die wir Weber schätzen, erkennen gerade darin die Fruchtbarkeit seines Zugangs zur sozialen Wirklichkeit. Denn vor diesem Hintergrund können Religionen wie auch alle anderen Phänomene als „historische Individuen“ betrachtet werden, „[...] d.h. ein Komplex von Zusammenhängen in der geschichtlichen Wirklichkeit, die wir unter dem Gesichtspunkte ihrer Kulturbedeutung begrifflich zu einem Ganzen zusammenschließen. Ein solcher historischer Begriff aber kann, da er inhaltlich sich auf eine in ihrer individuellen Eigenart bedeutungsvolle Erscheinung bezieht, nicht nach dem Schema: »genus proximum, differentia specifica« definiert (zu deutsch: »abgegrenzt«), sondern er muß aus seinen einzelnen der geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmenden Bestandteilen allmählich komponiert werden. [...]
A. Bienfait (Hrsg.), Religionen verstehen, DOI 10.1007/978-3-531-92777-0_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Agathe Bienfait Das liegt eben im Wesen der »historischen Begriffsbildung«, welche für ihre methodischen Zwecke die Wirklichkeit nicht in abstrakte Gattungsbegriffe einzuschachteln, sondern in konkrete genetische Zusammenhänge von stets und unvermeidlich spezifisch individueller Färbung einzugliedern strebt.“ (Weber 1988: 30-31)
Dank dieses methodischen Vorverständnisses gelingt es Weber, die Genese, die Wirkung und den Wandel religiöser Erscheinungsformen „in ihrer individuellen Eigenart und ihrem So-und-nicht-anders-Gewordensein“ (Weber 1980a: 257) zu fassen. Dass dies kein bloßes Lippenbekenntnis ist, davon zeugt nicht zuletzt die Begeisterung, mit der Weber in der „Religionssoziologie“ in „Wirtschaft und Gesellschaft“ (Weber 1980b: 245ff.) jeder Ausnahme, jeder Eigentümlichkeit und jeder noch so geringen Abweichung von der vorsichtig formulierten Regelmäßigkeit nachgeht. Sodann das „Verstehen“: Ausgangspunkt und treibende Kraft des religiösen Denkens und Handelns ist die „die innere Not“ des Menschen. Jede religiöse, ja jede kulturellen Konstruktion und Schöpfung des menschlichen Geistes hat den einen Ursprung: „[...] den Intellektualismus rein als solchen, speziell die metaphysischen Bedürfnisse des Geistes, welcher über ethische und religiöse Fragen zu grübeln nicht durch materielle Not gedrängt wird, sondern durch die eigene innere Nötigung, die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen zu können“ (Weber 1980b: 304).
Deshalb kann ein umfassendes Verständnis religiösen Handelns und Denkens laut Weber „nur von den subjektiven Erlebnissen, Vorstellungen, Zwecken der Einzelnen – vom ‚Sinn’ – aus gewonnen werden“ (Weber 1980b: 245). Die ausschließliche Beobachtung des äußeren Ablaufs religiösen Handelns sowie seiner Bedingungen und Wirkungen kann nicht zielführend, ja sogar bisweilen irreführend sein, da zwischen dem beobachtbaren Geschehen und dem innerlich gemeinten Sinn des Geschehens keine zwingende Korrespondenz besteht. Sicherlich besteht immer die Möglichkeit, dass das äußere Handeln mit dem gemeinten Sinn übereinstimmt, doch oft genug ist dies nicht der Fall. So wie die nach außen hin gleichen Handlungen einen unterschiedlichen Sinn verfolgen können1, so können nach außen durchaus unterschiedlich erscheinende Handlungen den glei1 Als Beispiel sei die Meditation oder Kontemplation genannt: Im Kontext asiatischer Weltflucht hat sie den Sinn, das aktive Handeln zu reduzieren bzw. zu meiden; doch im Zusammenhang puritanischer Weltgestaltung – wie im Falle des „Harrens“ der Quäker (Weber 1988: 158) oder der methodistischen „regeneration“ (Weber 1988: 149) – dient die gleiche Technik geradewegs dem Gegenteil, nämlich der „Ergänzung der reinen Werkheiligkeit“ oder der „religiöse[n] Verankerung der asketischen Lebensführung“ (Weber 1988: 149f.), kurzum: einer Steigerung der aktiven Handlungseffizienz.
Religionen verstehen – eine Einleitung
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chen Sinn verfolgen2. Im Falle paradoxer Wirkungen können beide Dimensionen schließlich vollständig auseinanderdriften; der Umschlag von der protestantischen Suche nach religiöser Erlösung und Freiheit in den kapitalistischen Systemzwang ist das beste Beispiel dafür. Webers verstehende Herangehensweise sucht letztlich nach den sinnhaften Bestimmungsgründen bzw. den Motiven oder „Interessen“ der Handelnden, soweit diese Gründe von anderen verstehbar sind. Dies gelingt keineswegs immer, und es bedeutet auch nicht, dass die von Deutenden zugeschriebenen Gründe völlig mit den Handlungsgründen der Akteure übereinstimmen. Aber immer werden Gründe als Ursachen von Handlungen betrachtet (vgl. Schluchter 2005: 20 ff.). Derartige Deutungen verlangen nun laut Weber etwas anderes als die bloße Subsumption eines Ereignisses unter die Regeln des Geschehens (Schluchter 2005: 17). Zwar soll das kausale Erklären als Ergänzung zum soziologischen Verstehen herangezogen werden (Weber 1980a: 436f.), aber letztlich bleibt das Verstehen die herausragende „Mehrleistung“, in der Weber „das dem soziologischen Erkennen Spezifische“ (Weber 1980a: 555) erkennt. Beide Aspekte, die Orientierung an der Vielfalt sowie der verstehende Zugang, führen in Webers Betrachtung der Religionen zu einer strikten Verweigerung gegenüber substanzialistischen oder funktionalistischen Verkürzungen, die vorschnell auf einen gemeinsamen Nenner ausgerichtet sind. Deshalb bleibt Webers Blick immer offen für die historischen und kulturellen Besonderheiten, die sich in den „Bedingungen und Wirkungen“ eines spezifischen religiös motivierten „Gemeinschaftshandeln“ (Weber 1980b: 245) offenbaren. Im Resultat ergibt sich in seiner Soziologie der Religionen ein Bild, das durch eine fundamentale „konfliktäre Pluralität“ gekennzeichnet ist: eine Pluralität, die sowohl durch gegensätzliche Positionen innerhalb einer jeden Religion als auch durch die Gegensätze zwischen verschiedenen Religionen sowie schließlich durch den konfliktären Widerspruch des Religiösen zu den nichtreligiösen „Ordnungen und Mächten“ gekennzeichnet ist. Hieraus resultiert eine unvermeidbare und auch schier unübersichtliche Vielfalt latenter und manifester Konflikte um die Durchsetzung von Geltungsansprüchen; eine schier explosive Dynamik, die fortwährend das Denken und Handeln herausfordert, etwas Anderes, bisweilen auch etwas Neues hervorzubringen. Man könnte auch von „Dialektik“ sprechen, wäre nicht dieser Begriff durch Hegel an die Idee der Versöhnung, der Aufhebung der Widersprüche gebunden worden. In Webers „konfliktärer Pluralität“ gibt es keine Versöhnung, keine Ruhe, kein Ende der Bewegung, sondern ein unendlich offener Horizont des Möglichen. 2 Sowohl die unermüdliche aktive Berufsarbeit der Calvinisten als auch der kontemplative „Bußkampf“ der Methodisten zielen auf das Gleiche: die Sicherstellung der asketischen und methodisch-rationalen Lebensführung der Reformierten.
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Agathe Bienfait Zu den Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes
Die hier zusammengestellten Beiträge geben einen Einblick in das breite Spektrum an Themen und Schwerpunkten, die in der weberschen Religionssoziologie angelegt sind. Trotz ihrer unterschiedlichen religionssoziologischen Herkunft und ihrer verschiedenen inhaltlichen Interessen ist allen Autoren eines gemeinsam: die Begeisterung für Webers „konfliktäre Pluralität“ und das Bedürfnis, deren Potenzial zu systematisieren und zu aktualisieren. Manche Autoren verfolgen dieses Ziel durch weitgehend systematisch-theoretische Reflexionen (Stachura, Tyrell, Endreß), andere wiederum konzentrieren sich primär auf empirische Untersuchungen (Benhaus-Apel, Gärtner), und wieder andere versuchen, ihre theoretischen Überlegungen mit empirischen Sachverhalten zu verbinden (Küenzlen, Gebhardt, Bienfait, Höllinger, Kippenberg). Der erste Beitrag von Mateusz Stachura konzentriert sich auf einen zentralen Schlüsselfaktor zur Erklärung der konfliktären Pluralität im Bereich des Religiösen: das komplexe Wechselspiel zwischen Ideen und Interessen. Nicht nur bestimmen die Interessen und Lebenslagen die Ausformulierung von Glaubensvorstellungen, sondern gleichzeitig bestimmen die ideellen Vorgaben auch die inhaltliche Ausgestaltung der zugrunde liegenden Motive und Interessen. Aufgrund der Berücksichtigung der beiden Seiten der Kausalrichtung gelingt es Weber, über Marx’ materialistische Religionskritik hinauszugehen und den Blick für eine umfassende religionssoziologische Betrachtung zu öffnen. Entscheidend ist für Stachura, dass diese „diachrone“ Wechselwirkung zwischen Ideen und Interessen nicht zu einem Einpendeln in der „goldenen Mitte“ führt, sondern vielmehr auf einem „Umschalten“ oder einem „Seitenwechsel“ basiert: Das eine Mal entfalten die Interessen eine durchschlagende Wirkung auf die Ideen, ein anderes Mal gelingt es den Ideen, die bestehenden Interessen zu modifizieren oder sogar zu brechen. Während die Wirkkraft der Interessen auf die Herausbildung herrschaftsstabilisierender Ideologien hinlänglich erforscht ist, fehlt bis dato eine entsprechende Analyse der revolutionären Wirkkraft von Ideen. An diesem Manko setzt Stachura mit seinem Beitrag an. Seine Frage lautet: Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit sich der „Seitenwechsel“ zum Ideellen vollzieht, d.h., damit die Ideen die Entwicklungsrichtung einer konkreten Religion dominieren? Zur Beantwortung dieser Frage setzt er sich mit zwei exemplarischen materialen Analysen in Webers Religionssoziologie auseinander: einerseits die Studien zum Hinduismus- und Buddhismus, andererseits die Studie zum antiken Judentum. Dabei zeigt sich Entwicklung des alten Buddhismus als Anpassung der Ideen an die Heils- und Erlösungsinteressen der negativ privilegierten Schichten: Aus einer vormals vornehmen Intellektuellensoteriologie wurde eine Heilands-
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religion, in der die zuvor verworfenen Mittel der magischen Gnadenspendung wieder einen prominenten Stellenwert erhalten. Ganz anders verlief die Entwicklung im Judentum: Hier wurde aus einem ursprünglich priesterlich-magischen Stammeskult eine ethische Gesinnungsreligiosität, die rigoros jeden Rest von Magie verneint und damit jenen epochalen Entzauberungsprozess in Gang setzt, der die abrahamitischen Buchreligionen insgesamt charakterisiert. Unter Rückgriff auf Robert K. Mertons Modell des Institutionenwandels (Merton 1968) kann diese revolutionäre Kraft des Judentums erklärt werden, wobei die „Praktikabilität“ der religiösen Forderungen im Judentum eine wesentliche Bedeutung erhält: Anstelle raffinierter und exklusiver virtuoser Heilsmethodiken basiert das Judentum auf einer umfassenden Alltagssittlichkeit, die die Institutionalisierung der Ideen und damit die sukzessive Prägung der Gläubigen durch ideelle Prämissen ermöglichte. Je mehr die religiösen Ideen ihre Macht über den Menschen entfalten, desto stärker geraten die Religionen in Widerstreit zu den nichtreligiösen „Ordnungen und Mächten“. Und auch hier dominiert wiederum das Moment der konfliktären Pluralität: Nicht nur zwischen den verschiedenen Religionen, auch innerhalb einer einzigen Religion existieren unterschiedlichste und teils einander widersprechende Formen, das Verhältnis zwischen Religion und Welt zu konzipieren. Diese binnenreligiöse Vielfalt zeigt Hartmann Tyrell in detaillierter Art und Weise am Beispiel des Verhältnisses zwischen Religion und Politik. Zur Explikation3 der weberschen Position verwendet Tyrell das methodische Mittel der Konfrontation: Durch den Vergleich mit Emile Durkheim, dem großen religionssoziologischen Gegenspieler, zeigt er die Originalität der weberschen Herangehensweise. Dabei gelingt Tyrell eine zweifache Korrektur bisheriger Missverständnisse und Fehlinterpretationen: Zunächst wird die nationalistische Vereinseitigung des weberschen Ansatzes korrigiert, die die religiode Aufladung des Politischen durch die charismatische Herrschaftslegitimation betont, ohne aber Webers Beharren auf den konfliktären Wechselwirkungen und Wertkollisionen zwischen Religion und Politik adäquat in Rechnung zu stellen. Zugleich werden im Falle Durkheims, der von vielen als Pate einer patriotischen und exklusiven Zivilreligion interpretiert wird, bislang unberücksichtigte universalistische und kosmopolitische Implikationen in den Vordergrund gestellt. Setzt man sich wie Tyrell mit der weberschen Herrschafts- und Religionssoziologie auseinander, dann zeigt sich eine schier unübersichtliche Bandbreite von Möglichkeiten des Verhältnisses zwischen Politik und Religion. Jede dieser Variationen ist abhängig von historisch kontingenten Weichenstellungen im 3
Zum Verfahren der Explikation siehe Schluchter (2005: 10f.; 2006: 17).
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jeweiligen kulturellen Raum. Ihre Konkretisierung ist sowohl von den religiösen als auch von den politischen Potenzialen geprägt ist, weshalb es im Verhältnis zwischen Politik und Religion letztlich keine Gesetzmäßigkeiten geben kann, sondern lediglich idealtypische Konstellationen, die im gegebenen Fall mit einer entsprechend hohen Wahrscheinlichkeit realisiert wurden. Vor diesem Hintergrund gelingt es Tyrell mit Weber das gesamte und durchaus ambivalente Spektrum der Religion aufzuzeigen, in dem das Trennende und das Verbindende, der bornierte Nationalismus und der weltumarmende Universalismus ineinander verschlungen sind. Zu diesen möglichen Variationen zählt auch die aktuell zu beobachtende Repolitisierung der Religionen, vom zivilgesellschaftlichen Engagement bis hin zum modernen politischen Fundamentalismus. Hans G. Kippenberg zeigt in seinem Beitrag, unter welchen religiösen und politischen Bedingungen die politische Revitalisierung der Religion zu erwarten ist. Hierzu bedient er sich des Vergleichs zweier vollkommen unterschiedlicher Kulturkreise, der USA und der islamischen Welt,4 die in politischer Hinsicht verschiedener nicht sein könnten, bis auf eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit: Sie sind beide ein äußerst fruchtbarer Boden für politisierte Religiosität. Die Suche nach den religiösen Voraussetzungen für diese Entwicklung führt Kippenberg zunächst zur Idee der Brüderlichkeit, die Weber (besonders in der „Zwischenbetrachtung“) als eigentlichen Kern aller Erlösungsreligionen extrahiert hat. Brüderlichkeit erweist sich als ein universalistischer Solidaritätsbegriff, der gerade unter „globalisierten“ Bedingungen sein sozialintegratives Potenzial entfalten kann. Trifft diese Brüderlichkeitsethik nun auf politische Rahmenbedingungen, die als Staatsversagen bezeichnet werden können, dann kann die Brüderlichkeitsidee ihr politisches Potenzial entfalten: Wo der Staat keine Lösungen für wohlfahrts- und sozialpolitische Herausforderungen anbietet, da springen die religiösen Vereinigungen mit ihrem etablierten und institutionalisierten religiösen Sozialkapital ein und übernehmen die Unterstützung vor Ort im Namen der brüderlichen Nothilfe. Diese Leistungen wiederum legitimieren die religiösen Organisationen als wichtige politische Akteure, die dann einen größeren Einfluss auf politische Entscheidungen beanspruchen. Kippenberg bestätigt damit nicht nur Webers These von der revolutionären Kraft der Brüderlichkeitsidee, er zeigt darüber hinaus, dass das Potenzial zur Repolitisierung bis hin zum grenzenlosen religiösen Eifer jeder Erlösungsreligion in die Wiege gelegt ist. Die Repolitisierung der Religion ist nur eine von vielen Formen der Resakralisierung des gesellschaftlichen Lebens, wie sie aktuell zu beobachten 4
Speziell zum Fundamentalismus siehe Riesebrodt (1990; 2000).
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sind. Insofern ist eine systematische Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Prozessen der De-Säkularisierung unverzichtbar. Zu diesem Zweck konfrontiert Martin Endreß das webersche Säkularisierungsverständnis mit den jüngsten Ausführungen von Jürgen Habermas zur „postsäkularen Kultur“: Im Unterschied zu Habermas’ stark rationalistischem Modernisierungsverständnis, durch das die religiösen und sakralen Dimensionen vorschnell als unzeitgemäße „Restbestände“ in einer noch nicht vollendeten Moderne diskreditiert werden, ermöglicht es Webers konflikttheoretische Herangehensweise, die Pluralität und Vielfalt nicht nur im Bereich des Religiösen, sondern auch im Bereich der Säkularität aufzuzeigen. Durch seine präzise Rekonstruktion des weberschen Pluralismus formuliert Endreß nicht nur einen treffenden Einwand gegen die weit verbreitete, einseitig rationalistische Lesart von Webers Säkularisierungskonzept, sondern zeigt auch auf, dass in Webers Religionssoziologie schon die Einsicht in die „Multiple Modernities“ (Eisenstadt 2002; Eisenstadt 2003; vgl. auch Schwinn 2009) vorweggenommen ist. Dass Habermas’ tendenzielle geltungstheoretische Konfundierung von wissenschaftlicher Rationalität und religiösem Glauben in einer langen Tradition steht, zeigt der Beitrag von Gottfried Küenzlen. Seine detaillierte Rekonstruktion von Webers Verhältnisbestimmung zwischen Wissenschaft und Religion erfolgt nicht nur in theoretischer, sondern auch in gegenwartsdiagnostischer Absicht: Sowohl im „neuen Atheismus“ als auch im sogenannten „Kreationismus“ sowie schließlich im „holistischen Paradigma“ der modernen Esoterik erkennt Küenzlen den höchst problematischen Rückfall auf die naive Wissenschaftsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts, die bereits Weber in seiner „Wissenschaftslehre“ aufs Schärfste kritisiert hat. Im Unterschied dazu hat Weber wie kaum ein anderer darauf beharrt, Wissenschaft und Religion, Wissen und Glauben im Kantischen Sinne als zwei zu unterscheidende Formen des Für-wahrHaltens zu betrachten, die sich in ihrem jeweiligen Eigenrecht und ihrer Eigenart nicht ausschließen, aber nichtsdestotrotz analytisch unterschieden werden müssen. Indem Küenzlen den Beitrag der „Wissenschaftslehre“ zur Lösung eines genuin religionssoziologischen Sachverhalts aufzeigt, ermöglicht er einen neuen Blick auf Webers methodologische Schriften, die oft und offensichtlich zu Unrecht als bloßes „Beiwerk“ vernachlässigt werden. Durch seine präzise Rekonstruktion von Webers Unterscheidung zwischen Sein und Sollen arbeitet er nicht nur die intellektuelle Schlagkraft der weberschen Position gegen die eingangs genannten „naturalistischen Fehlschlüsse“ heraus, sondern schärft darüber hinaus das Profil von Webers pluralistischem Säkularisierungsverständnis. Diese eigentümliche webersche Sicht, in der Säkularität und Sakralität in unterschiedlichsten Kombinationen miteinander konfligieren und kooperieren, resultiert nach Winfried Gebhardt auch aus Webers anthropologisch fundiertem
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Religionsbegriff. Durch seine Rückkopplung des Religiösen an das Bedürfnis nach Sinn und die zugrunde liegende „innere Not“ des Menschen kann Weber zu Recht als Ahnherr des funktionalistischen Religionsbegriffs bezeichnet werden, der in seiner Religionssoziologie die wissenssoziologische Wende à la Luckmann bereits vorexerziert hat. Im Unterschied zur gängigen Lesart, Webers Modell nur auf institutionalisierte Hochreligionen anzuwenden, plädiert Gebhardt deshalb für eine gezielte, an Weber orientierte Analyse der vielfältigen Formen „diffuser Religiosität“, die sich gerade auch in den modernen Gesellschaften etabliert haben und das religiöse Leben prägen. Im Unterschied zu Luckmann hat die webersche Perspektive den Vorteil, erstens mit einem soziologisch gehaltvollen historischen und sozialstrukturellen Differenzierungspotenzial zu arbeiten, das bei Luckmann angesichts seiner Orientierung an einem phänomenologischen Universalismus weitgehend verdeckt wird, und zweitens die emotionale und ekstatische religiöse Primärerfahrung deutlicher in den Vordergrund zu stellen. Es sind diese Potenziale, mit denen Gebhardt die enorme Aktualität von Webers „dichter Beschreibung“ für die zeitgenössische Religionssoziologie begründen kann. An diese thematische Vorgabe knüpft Agathe Bienfait an, indem sie das sozialstrukturelle Differenzierungspotenzial der weberschen Religionssoziologie eigens zum Thema macht. Ausgangspunkt ist hier die tendenzielle Blindheit von Luckmanns reinem Funktionalismus gegenüber der inhaltlichen Diversität des religiösen Bedürfnisses nach Transzendenz. Damit klammert Luckmann Aspekte des Religiösen aus, die in (religions-)soziologischer Hinsicht höchst relevant sind: In den inhaltlichen Ausformulierungen eines religiösen Weltbilds spiegeln sich sowohl die Motive der Trägergruppen als auch die Bedürfnisse der angesprochenen Laien wider. Indem Weber in idealtypischer Weise die Wahlverwandtschaften zwischen diesen „Interessen“ und den religiösen „Ideen“ in § 7 seiner Religionssoziologie in „Wirtschaft und Gesellschaft“ skizziert hat, gelingt es ihm im Unterschied zu Luckmann, die Wirkkraft der sozialstrukturell ungleichen Verteilung von Erlösungs- und Daseinschancen herauszuarbeiten, die für eine kritische Rekonstruktion der Funktion von Religionen geradewegs unerlässlich ist. Ein entsprechend geschärfter Blick auf die verschiedenen „neuen religiösen Bewegungen“ zeigt, dass diese Ungleichheit bis heute die Erlösungssehnsüchte und Erlösungshoffnungen mitbestimmt. Liest man Luckmanns These von der Subjektivierung des Religiösen als religionssoziologische Variante der Individualisierungsthese, die im Kern von der zunehmenden Unabhängigkeit der individuellen Biografie von Schicht- und Klassenzugehörigkeiten ausgeht, dann kann eine an Weber orientierte Analyse dagegen kritische Einwände angesichts der weiterhin bestehenden sozialstrukturellen Grenzen der (religiösen) Individualisierung begründen.
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Ein äußerst interessanter Fall im Bereich der „neuen religiösen Bewegungen“ sind die vielfältigen Varianten des evangelikalen Protestantismus, die in den vergangenen Jahrzehnten auf rasante Weise in Südamerika, Afrika und Teilen Südostasiens Verbreitung gefunden haben und den etablierten Religionen durchaus den Rang ablaufen. Hierzu zählt auch der sogenannte „Pentecostalismus“, mit dem sich Franz Höllinger detailliert auseinander setzt. Höllingers Interesse beruht darauf, dass der Pentecostalismus eine eigentümliche „Verbindung zwischen einer bestimmten Strömung des asketischen Protestantismus und den archaischen spiritistischen Trance- und Heilungsritualen afrikanischer bzw. indigener Kulturen“ verkörpert; eine Kombination, die auf den ersten Blick im Widerspruch zu Max Webers These steht, dass die Entstehung der Protestantischen Ethik nur vor dem Hintergrund einer konsequent durchgeführten Entzauberung der religiösen Weltbilds möglich sei, was auch als These von der Unvereinbarkeit von Moderne und Magie formuliert werden kann. Indem Höllinger die webersche These als idealtypischen (und nicht als empirischen) Zusammenhang liest, kann er zeigen, dass es sich beim Pentecostalismus um ein originelles und doch erklärbares Zusammenspiel zwischen religiösen Ideen einerseits und den Erlösungsinteressen der Laien andererseits handelt. Die Integration der magisch-ekstatischen Momente in das protestantische Weltbild ergibt sich aus dem Entgegenkommen des europäischen Protestantismus gegenüber der traditionalen nichtchristlichen Traditionen, weil sich diese magischen Heilsmittel als wirksames Mittel gegen die innere und äußere Not der Bedürftigen bewährt haben. Und ebenso pragmatisch motiviert ist die Akzeptanz des asketischen Ethos der Selbstdisziplinierung durch die indigene Bevölkerung: An der Askese wird festgehalten, weil sie als probates Mittel bei der Befreiung oder Erlösung von den vielen materiellen und spirituellen Formen des Leidens Wirkung zeigt. Höllinger expliziert mit seinem Beitrag an einem empirischen Beispiel die systematischen Vorteile des idealtypischen Denkens, das bei aller Suche nach Klarheit immer offen bleibt für die Vielfalt empirisch begründeter Variationen und „Abweichungen“, die fortwährend aus der konfliktären Pluralität freigesetzt werden. Die letzten beiden Beiträge beschäftigen sich mit aktuellen Binnendifferenzierungen innerhalb Deutschlands, anhand derer Webers Aktualität überprüft werden kann. Friederike Benthaus-Apel konzentriert sich auf die „binnengesellschaftliche Kulturkreisgebundenheit“ der protestantischen Religiosität und Kirchlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland entlang der Frage, inwieweit in den aktuellen Lebensstilen Evangelischer noch Aspekte einer protestantischen Ethik im Sinne Webers durchscheinen. Durch ihre systematische Analyse von sechs unterschiedlichen evangelischen Lebensstilen erkennt sie einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Klassenlage einerseits und der Verinnerlichung
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der traditionellen protestantischen Ethik andererseits, so dass man unter Rückgriff auf Bourdieu den protestantischen Ethos als Instrument der Anerkennung und Distinktion beschreiben kann. Damit bestätigt sich nicht nur die Aktualität der bereits von Weber dargelegten Affinität zwischen dem privilegierten sozialen Status und dem kulturprotestantischen Habitus der Selbstverantwortung und Selbstdisziplin; es zeigt sich auch, dass der spezifische Rationalismus der Weltbeherrschung weiterhin als Distinktionsinstrument kultureller Eliten wirksam wird und soziale Ungleichheit gleichemaßen zementiert und reproduziert. Christel Gärtner schließlich widmet sich der inhaltlichen Ausgestaltung der verschiedenen Strömungen innerhalb der deutschen Säkularität oder des deutschen Atheismus. Obwohl Ungläubigkeit und Religionslosigkeit als Bestandteile der modernen, säkularen Gesellschaft gelten, haben religionssoziologische Herangehensweisen, die einen substanziellen Religionsbegriff vertreten, massive Probleme, dieses Thema überhaupt zu bearbeiten. Der Vorteil von Webers Religionssoziologie besteht in seiner eigenwilligen Konzeption des Theodizeeproblems, das an die rationale Bewältigung des Leidens und nicht, wie bisweilen in der Theologie üblich, an die Rechtfertigung Gottes gebunden ist. Von hier aus kommt Weber zur prinzipiellen anthropologisch fundierten Sinnfrage, die bezeichnenderweise unabhängig von der Frage nach Gott gestellt und beantwortet werden kann. Dadurch ermöglicht Weber einen Zugang zu den Hoffnungen, den Nöten und Sehnsüchten der Menschen, die sich selbst nicht als religiös bezeichnen, und ermöglicht es, säkulare und atheistische Formen der Daseinsbewältigung und der Sinnsuche zu analysieren. Vor dem Hintergrund dieser weberschen Vorgabe rekonstruiert Gärtner die Transformation der Theodizee in die moderne Idee der säkularen, teilweise radikal diesseitigen Bewährung. Dabei zeigt sich, dass Säkularisierung keineswegs mit dem Bedeutungsverlust der metaphysischen Sinnfrage einhergeht, sondern sich vielmehr als eine Radikalisierung der Sinnproblematik erweist. Vor diesem Hintergrund ist offensichtlich, dass einer an Weber orientierten Religionssoziologie die Themen und Probleme nicht ausgehen werden. Es sieht vielmehr danach aus, dass sich eine durch „konfliktäre Pluralität“ gekennzeichnete Moderne zu einem unübersichtlichen Sammelbecken von vielfältigsten Varianten der alten Sinnfrage und einer noch unüberschaubaren Ansammlung an alten und neuen Beantwortungsversuchen entwickeln wird. Abschließend muss noch Zeit und Raum sein, um den Personen zu danken, die maßgeblich an der Fertigstellung dieses Buches beteiligt waren. Hier gilt mein Dank zuerst Regine Bürger und Hannelore Chaluppa, die den Großteil der Korrekturen mit außerordentlicher Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit übernommen haben. Ich danke meinen Heidelberger Kollegen Gert Albert, Steffen Sig-
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mund und Mateusz Stachura für ihren Zuspruch sowie dem VS-Verlag für Sozialwissenschaften, dass er dieses Buchprojekt durch überaus professionelle Redakteurinnen und Lektorinnen begleitet hat. Mein Dank gilt darüber hinaus allen Autorinnen und Autoren für ihre Bereitschaft zur Mitarbeit und vor allem für ihre außergewöhnliche Disziplin bei der Einhaltung unserer Zeitvorgaben. Und schließlich danke ich meinem Mann, Frank O. Martin, für seine unermüdliche Unterstützung, vor allem für seine Geduld und seinen technischen Sachverstand bei der Formatierung dieses Buches.
Literatur Eisenstadt, Shmuel N. (2002): Multiple Modernities. New Brunswick u.a.: Transaction Publishers. Eisenstadt, Shmuel N, (2003): „Die institutionellen Ordnungen der Moderne. Die Vielfalt der Moderne aus einer weberianischen Perspektive.“ In: Albert, G. et al (Hrsg.): Das Weber-Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 301-327. Merton, Robert K. (1968). „Sozialstruktur und Anomie. “ In: Sack, F./König, R. (Hrsg): Kriminalsoziologie. Frankfurt a. M.: Akademische Verlagsgesellschaft, S. 283-313. Riesebrodt, Martin (1990): Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung: Amerikanische Protestanten (1910-28) und iranische Schiiten (1961-79) im Vergleich. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck). Riesebrodt, Martin (2000): Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“. München: Beck. Schluchter, Wolfgang (1979): Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck). Schluchter, Wolfgang (2005): Handlung, Ordnung und Kultur. Tübingen: Mohr Siebeck. Schluchter, Wolfgang (2006): Grundlegungen der Soziologie, Bd. 1. Tübingen: Mohr Siebeck. Schluchter, Wolfgang (2007): Grundlegungen der Soziologie, Bd. 2. Tübingen: Mohr Siebeck. Schwinn, Thomas (2009): „Multiple Modernities. Konkurrierende Thesen und offene Fragen: Ein Literaturbericht in konstruktiver Absicht.“ In: Zeitschrift für Soziologie 38, S. 454-476. Weber, Max (1980a): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck). Weber, Max (1980b): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (Studienausgabe). Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck). Weber, Max (1988): „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus.“ In: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie 1. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), S. 17-206.
Ideen und Interessen. Die Seitenwechselproblematik am Beispiel der Hinduismus- und Judentum-Studie von Max Weber Ideen und Interessen
Mateusz Stachura
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Das Problem
Ein zweifaches Erklärungsproblem beschäftigt Weber in seinen religionssoziologischen Studien: Zum einen die Erklärung der Wirkung, die religiöse Ideen auf die Interessen der Akteure ausüben, zum anderen die Erklärung der Wirkung materieller Interessenlagen auf die Glaubensinhalte und Ideen religiöser Akteure. In der „Vorbemerkung“ zu den Studien über die „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ spricht er auch von zwei „Seiten“ der „Kausalbeziehungen“. Dabei steht die Protestantismusstudie für die eine Seite der Kausalbeziehung, während die „späteren Aufsätze“ über den Konfuzianismus, Hinduismus, Buddhismus und das antike Judentum „versuchen, in einem Überblick über die Beziehungen der wichtigsten Kulturreligionen zur Wirtschaft und sozialen Schichtung ihrer Umwelt, beiden Kausalbeziehungen >...@ nachzugehen“ (Weber 1988: 12).1 Die Rede von zwei Seiten der Kausalbeziehung macht deutlich, dass es Weber um eine Wechselwirkung von Ideen und Interessen geht. Doch diese Konstruktion ist mit einer grundsätzlichen Schwierigkeit behaftet. Versteht man darunter eine synchrone Kraftwechselwirkung, so ist gemäß einer günstigen Interpretation ein Einpendeln des gegebenen sozialen Gebildes irgendwo „in der Mitte“ des Kräftefeldes zu erwarten; in einer weniger günstigen Interpretation ist das Argument einfach zirkulär. Selbst wenn man von einer günstigen Interpretation ausgeht, führt die synchrone Wechselwirkung zu einem Durchschnittsresultat. Doch in Webers Analysen findet man keine Spur von „Durchschnitts“-Erklärungen und „Durchschnitts“-Denken. Nicht nur in der Protestantismusstudie, die gezielt nur die eine Seite der Kausalbeziehung verfolgt, sondern auch in den übrigen „Auf1
Eigentlich hat Weber mit einem viel komplexeren Erklärungsproblem zu tun, denn es geht ihm nicht nur um die Wechselwirkungen zwischen Ideen und Interessen, sondern auch um die Wechselwirkungen zwischen religiösen und wirtschaftlichen Teilbereichen, zwischen religiösen und wirtschaftlichen „Ethiken“ genauso wie zwischen wirtschaftlichen und religiösen Interessenlagen (Schluchter 1988a: 91; 1988b: 109, 265, 284). An dieser Stelle soll aber das Wechselwirkungsproblem von Ideen und Interessen isoliert von den anderen Problemlagen behandelt werden.
A. Bienfait (Hrsg.), Religionen verstehen, DOI 10.1007/978-3-531-92777-0_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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sätzen“ findet man sauber herauspräparierte ideelle Wirkungszusammenhänge, deren herausragendste Eigenschaft in der Brechung materieller Interessen besteht. Umgekehrt liefern Webers Analysen genügend viele Beispiele von durchschlagenden Wirkungen materieller und ideeller Interessen auf die ideellen Konstruktionen, die den Bedürfnissen der Gläubigen radikal angepasst werden. Offensichtlich ging Weber nicht von einer synchronen, sondern von einer diachronen Wechselwirkung zwischen den materiellen und den ideellen Kräften aus. Dies bedeutet, dass unter gegebenen Bedingungen nur eine Kraft wirken kann; während die andere Kraft unter diesen Bedingungen inaktiv ist, kann sie unter veränderten Bedingungen aktiviert werden. Ein Umschalten oder ein Seitenwechsel findet statt. Damit wird eine „Durchschnitts-Position“ ausgeschlossen. Denn entweder wird die ideelle Seite in eine aktive Position versetzt, die es ihr ermöglicht, gerade ohne Rücksicht auf die materiellen Lagen eine prägende Wirkung zu entfalten, oder es wird umgekehrt die materielle Seite aktiv, was automatisch den ideellen Gegendruck deaktiviert. Das diachrone Wechselwirkungsmodell muss aber die Bedingungen benennen, unter denen ein Umschalten oder Seitenwechsel vorgenommen wird. Dies erweist sich nun als ein ernsthaftes theoretisches Problem, das von Weber nicht explizit in Angriff genommen wurde. In der vorliegenden Abhandlung sollen theoretische Lösungsmöglichkeiten anhand von zwei religionssoziologischen Studien von Weber getestet werden. Im ersten Schritt werden die Hinduismusund die Judentum-Studie in den hier interessierenden Aspekten materiell rekonstruiert (2), im zweiten Schritt wird in der Auseinandersetzung mit dem Institutionenwandel-Modell von Robert K. Merton ein theoretisches Modell entwickelt (3), das zur Erklärung der unterschiedlichen Anpassungsrichtungen innerhalb der beiden Kulturreligionen herangezogen wird (4).
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Zwei Seiten der Kausalbeziehungen in Webers religionssoziologischen Studien
Prägnante Beispiele der Anpassung der religiösen Expertenlehre an die Bedürfnisse der Laien liefert die Hinduismus- und Buddhismusstudie. Um die Tragweite dieser Anpassung zu verstehen, müssen die von Weber herausgearbeiteten Grunddifferenzen zwischen den Weltreligionen deutlich gemacht werden. Diese betreffen in erster Linie Welt- und Gotteskonzeptionen. Der Hinduismus ist demnach „die Wiege der theoretisch und praktisch weltverneinendsten Formen von religiöser Ethik, welche die Erde hervorgebracht hat“ (MWG I/19: 479). Dem okzidentalen Protestantismus bescheinigt Weber hingegen eine „weltbeherrschende“ Grundhaltung. Wie leiten sich diese Charakteristika ab?
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Vereinfacht gesagt ergeben sich die unterschiedlichen Weltverhältnisse aus der Kombination der Annahmen über Heilsgüter und Heilswege. Heilsgüter werden, zumindest in den Erlösungsreligionen, dadurch bestimmt, „’wovon’ und ‚wozu’ man ‚erlöst’ sein wollte und – nicht zu vergessen: – konnte. Ob von politischer und sozialer Knechtschaft zu einem diesseitigen messianischen Zukunftsreich. Oder von der Befleckung durch das rituell Unreine oder von der Unreinheit der Einkerkerung in den Körper überhaupt zur Reinheit eines seelischleiblich-schönen oder eines rein geistigen Seins. Oder von dem ewigen sinnlosen Spiel menschlicher Leidenschaften und Begehrungen zur stillen Ruhe des reinen Schauens des Göttlichen“ (MWG I/19: 101-102).
Die Heilswege bestimmten hingegen die Mittel zur Erlangung dieser Güter: rituelle oder magische Handlungen, asketische Erprobung, meditative Übungen, Erweckung des rechten Glaubens oder ethisch korrektes Verhalten. Wiederum stark vereinfachend kann zwischen innerweltlichen und außerweltlichen Heilsgütern sowie zwischen aktiven und kontemplativen Mitteln unterschieden werden. Die „weltflüchtige“ Grundhaltung des Hinduismus ergibt sich aus der Kombination von Merkmalen der außerweltlichen Bühne der Heilssuche mit den kontemplativen Heilsgütern. Der Weltfluchtcharakter wird verstärkt durch die Gotteskonzeption einer unpersonifizierten immanenten Göttlichkeit. Der hinduistische Gläubige sehnt sich nicht nach der Erlösung von der „politischen oder sozialen Knechtschaft“ in dieser Welt, sondern gerade nach der Erlösung von der Verstrickung in diese Welt mit ihren politischen und sozialen Hoffnungen. Seine Heilsgüter sind nicht von dieser Welt und auch die Heilsmittel haben wenig mit dem Handeln in dieser Welt und seinen Ordnungen zu tun. Nicht das richtige, im engeren Sinne ethisch korrekte Handeln, sondern das richtige Wissen bringt das Heil. Da die Erlösung kein ethischer, sondern ein „epistemischer“ Akt ist, kann sie auch nicht als „Gnade“ gespendet werden. Damit hängt die Abwesenheit eines personifizierten, gnadenspendenden Gottes zusammen. Eine genau entgegengesetzte Position nimmt der asketische Protestantismus ein, der die Erlösung durch das aktiv-ethische Handeln in den Ordnungen dieser Welt anstrebt, sie in letzter Konsequenz aber von der Gnadenspende eines personifizierten Schöpfergottes abhängig macht. Nicht Weltflucht, sondern aktive Weltbeherrschung im Zuge eines ethisch gefärbten Handelns ist hier das dominante Weltverhältnis. Aktive Heilsmittel müssen nicht zwingend mit innerweltlichen Heilsgütern zusammengehen. Das okzidentale Christentum kombiniert z.B. außerweltliche Güter mit aktiven Heilsmitteln (Schluchter 1988b: 102). Die Merkmalstypen können also in unterschiedlichen Konfigurationen auftreten. Dies soll aber keineswegs heißen, dass die Merkmale beliebig kombinierbar wären. In der „Zwischenbetrachtung“ spricht Weber davon, dass die religiösen Ideen unter unter-
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schiedlichen Gesichtspunkten rationalisiert werden können: „und was von einem aus ‚rational’ ist, kann, von andern aus betrachtet, ‚irrational’ sein“ (Weber 1988: 11). Der einmal gewählte „Gesichtspunkt“ oder die Richtung der Rationalisierung ist, zumindest aus der Binnenperspektive der gegebenen Lehre, bindend und verpflichtend. Er kann nicht suspendiert oder mit gegensätzlichen Gesichtspunkten vermischt werden. Die Geschichte religiöser Ideensysteme zeigt, dass „auch das Rationale (…) nun einmal Gewalt über die Menschen“ hat (MWG I/19: 480). Zwischen den in rationaler Geschlossenheit ausgearbeiteten Weltreligionen gibt es daher nicht einfach Unterschiede, sondern Gegensätze, was Weber immer wieder betont (Schluchter 1988a: 90). „Für den innerweltlichen Asketen ist das Verhalten des Mystikers träger Selbstgenuß, für den Mystiker das des (innerweltlich handelnden) Asketen eine mit eitler Selbstgerechtigkeit verbundene Verflechtung in das gottfremde Treiben der Welt“ (MWG I/19: 483).
2.1 Anpassung an die Welt in der Evolution des alten Buddhismus Vor dem Hintergrund dieses Gegensatzes können nun die interessenbedingten Anpassungsprozesse rekonstruiert werden, die Weber in seiner Hinduismusstudie untersucht, insbesondere die Evolution des klassischen Buddhismus zu einer Heilandsreligiosität. Der Buddhismus radikalisiert zunächst einmal bestimmte allgemeine Züge altindischer Religiosität. Er behält das Heilsziel „aller indischen Intellektuellensoteriologie“, das in der Erreichung „ewiger Ruhe“ bestand, eliminiert aber alle anderen Zielvorstellungen, insbesondere die Erkenntnis um ihrer selbst willen und die Jenseitsvorstellungen. „Ewige Ruhe“ bedeutet nicht „ewiges Leben“, da gerade das Leben mit dem Grundübel der Vergänglichkeit behaftet ist. Die Erlösung besteht daher nicht im Übergang in eine zeitlose Jenseits- oder Hinterwelt, sondern in der Befreiung von der Individuation zu einer Lebensform als solche. Das Heilsmittel der kontemplativen Herbeiführung eines richtigen Bewusstseinszustands zwecks der zur Ruhe führenden Erleuchtung wird beibehalten, „unter rücksichtsloser Beseitigung aller Heilsmittel, die mit ihm nichts zu tun haben“ (MWG I/20: 328). Insbesondere wird jede Form von Askese und Selbstkasteiung verworfen. Denn man kann aus Verstrickung in die Welt nicht einfach durch das Abtöten oder Aushungern des Körpers gelangen. Die Gotteskonzeption der immanenten Göttlichkeit wird nur in dem Sinne beibehalten, dass sich der Buddhismus „mit absoluter Gleichgültigkeit gegen die Frage, ob es ‚Götter’ gibt und wie sie existieren“, verhält (MWG I/20: 330). Sollte es einen Gott geben, könnte dieser jedoch mit Sicherheit keine Gnade spenden, kein Schicksal bestimmen oder Gebete erhören. Die Erlösung ist eine absolut individuelle Leistung, bei der der Einzelne weder von
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einem Heiland noch von einer Organisation entlastet werden kann. Dies ergibt sich aus dem ontologischen Grundsatz, dass es keine „Seelen“, „Seelensubstanz“ oder „Wanderung“ geben kann. Was das konkrete Individuum „zusammenhält“, ist nicht die Seele, sondern das Wollen, „der Wille zum Leben“ (MWG I/20: 337). Es ist gerade die Einsicht in die Notwendigkeit, sich dieses Wollens zu entledigen, die den Weg zur Erleuchtung bereitet. Nun ist es unmittelbar einleuchtend, dass diese Einsicht nur vom Individuum selbst, nur vom Träger des Wollens vollzogen werden kann. Eine religiöse Lehre, die auf Gebet, Kultus und Organisation verzichtet, die eine elitäre individualistische Erlösungsdoktrin vertritt, ohne sich um die diesseitigen Belange religiös Minderbemittelter zu kümmern, muss wohl von einer speziellen sozialen Herkunft sein. In der Tat steht dem „alten“ Buddhismus der Charakter einer „vornehme(n) Intellektuellensoteriologie“ „an der Stirn geschrieben“ (MWG I/20: 327). Seine Träger rekrutieren sich weder aus dem Umkreis der Kultpriester noch aus den handwerklichen oder gar bäuerlichen Schichten, sondern aus dem städtischen Adel und reichen Bürgertum (MWG I/20: 362, 371). Buddhas Ansprachen setzten eine Schulung im hinduistischen Denken voraus, über die vorwiegend das reiche, intellektualistisch orientierte Patriziat verfügte. Für den Kschatriya-Adel und die Fürsten war die Kult- und Rituallosigkeit des Buddhismus attraktiv, da sie den Einfluss der brahmanistischen Priesterzunft minimierte. Der zutiefst apolitische Charakter der Religion machte sie insgesamt für die politischen Machthaber sympathisch, auch wenn sie als „Mittel für die Domestikation der Massen“ wenig taugte. Die Intellektuellen fühlten sich durch die rein diskursive Übermittlungsform der Lehre angesprochen. Dass der Einsatz der Heilsmittel keine Versetzung in extaktische psychische Zustände erforderte, entsprach nach Weber dem Würde- und Anstandsgefühl der vornehmen Patrizierschichten. So sehr die Lehre den Interessen vornehmer Intellektuellen entsprach, so wenig eignete sie sich für andere Schichten. „Der Kleinbürger und Bauer konnte ja mit den Produkten der Soteriologie der vornehmen Bildungsschicht nichts anfangen“ (MWG I/20: 373). Sie bot ihm keine Hilfe für die alltäglichen Belange an, keine magischen oder kultischen Mittel für die Beeinflussung der wirtschaftlichen oder familiären Geschäfte und schließlich keine Möglichkeit des emotionalen „Erleben(s) des Überweltlichen“. Weder das Heilsziel noch die Heilsmethodik entsprach den Bedürfnissen der breiten Schichten, die seit der Expansion des Buddhismus unter König Asoka mit der Lehre in Berührung kamen (Bechert 1992: 21). An dieser Stelle setzt nach Weber ein Anpassungsprozess an, der von fundamentaler Bedeutung für die Dynamik nicht nur des Buddhismus, sondern der indischen Religiosität insgesamt ist. Die Anpassung betrifft dabei sowohl die
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Gotteskonzeption als auch die Heilsmethodik und die Heilsziele. Sie fällt nach Weber in der Mahayana-Schule stärker aus als in der im Süden (Birma, Sri Lanka) operierenden Hinayana-Schule. Während die Anfangslehre an der Menschlichkeit Buddhas festhielt, wird dieser in der Mahayana-Dreikörperlehre vergottet. Er stellt nun eine spezifische Inkarnation des höchsten Wesens Dharmakaya dar. „Von da war der Weg nicht weit, den Buddha zu einem Typus: dem Repräsentanten des zur vollen Erlösung gelangten und dadurch vergotteten Heiligen zu machen, der in beliebig vielen Exemplaren erschienen sein und noch erscheinen konnte“ (MWG I/20: 395). Aus der Perspektive der religiösen Bedürfnisse der Laien war aber vor allem die vorletzte Inkarnationsstufe, Bodhisattva, interessant. Denn wird die höchste Erlösungsstufe erreicht, geht Buddha in einen Himmel über und kann nicht mehr in den Gang der irdischen Dinge eingreifen. In der Bodhisattva-Inkarnation ist er aber da und kann den Menschen helfen. Die Mahayana-Schule hat nun das Ausbleiben der letzten Inkarnationsstufe als einen heilsverheißenden Akt der göttlichen Gnade gedeutet. Die vom klassischen Buddhismus verworfenen Heilsmittel kamen wieder zu Ehren. Der metaphysische Grund dafür war mit der Bodhisattva-Figur schon vorgegeben: Er war nebenbei auch ein Wundertäter, begabt mit magischen Kräften. „Magische Therapeutik, apotropäische und magisch-homöopathische Ekstatik, Idolatrie und Hagiolatrie, das ganze Heer der Götter, Engel und Dämonen zogen in den Mahayana-Buddhismus ein“ (MWG I/20: 405). Himmel und Hölle regten die Vorstellungskraft der Anhänger und boten die Perspektive greifbarer Prämien und Sanktionen an. „Der Mahayanismus ist es auch gewesen, der zuerst durch formelhafte Gebetsandacht, schließlich durch die Technik der Gebetsmühlen und in den Wind gehängten oder an das Idol gespuckten Gebetspapiere das absolute Höchstmaß von Mechanisierung des Kultes erreicht und mit der Verwandlung der ganzen Welt in einen ungeheueren magischen Zaubergarten verbunden hat.“ (MWG I/20: 406).
Es liegt auf der Hand, dass der Anpassungsprozess weitgehende Konzessionen an die Laienbedürfnisse implizierte. Doch das entstandene Kompromissprodukt ist eklektisch: Gnosis passt nicht recht mit einer aktiven Gnadenspende zusammen; die messianistischen Hoffnungen korrespondieren schlecht mit außerweltlichen Heilszielen, magische und wissensbasierte Heilsmittel ergeben ebenfalls kein harmonisches Bild. Wie lässt sich nun diese für die Geschlossenheit einer einheitlich rationalisierten Lehre zerstörerische Anpassungsbereitschaft erklären? Handelt es sich dabei nicht etwa um einen universellen Prozess der Konzessionierung der Ideenkonstrukteure durch die Laieninteressen? Hätte nicht ein ähnlicher Anpassungsprozess innerhalb der protestantischen Sekten stattgefunden mit dem bekannten Ergebnis der Prägung einer asketisch orientierten Wirtschafts-
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ethik? Dies kann zunächst mit dem Hinweis auf eine andere prominente Studie von Weber verneint werden: In der Abhandlung über das antike Judentum wird ein umgekehrter Anpassungsprozess geschildert, in dem die religiöse Lehre nicht an die Interessen der Gläubigen, sondern umgekehrt, diese an die ideellen Vorgaben der Ideenkonstrukteure angepasst werden. Nach einer inhaltlichen Rekonstruktion dieser Vorgänge soll im weiteren Verlauf der Arbeit ein Erklärungsversuch der entgegengesetzten Anpassungsprozesse innerhalb der jeweiligen Kulturreligion unternommen werden.
2.2 Anpassung der Welt im antiken Judentum Es ist nicht schwer, die altisraelische Jahwe-Religiosität mit der klassischen buddhistischen Lehre zu kontrastieren: ein strafender, ethisch orientierter und in politisch-militärisches Geschehen intervenierender Schöpfergott auf der einen, ein unpersönliches, weltimmanentes, anethisches und apolitisches göttliches „Sein“ auf der anderen Seite; hier das innerweltliche, sozial-ethische Heilsziel der Befreiung aus der „Knechtschaft“ seitens der Nachbarmächte, dort das anethische Ziel der Erlösung von der sinnlosen Vergänglichkeit der Individuationen; kollektive versus individuelle Heilsgüter; aktiv-ethische versus passiv-gnostische Heilsmittel; offene Magiefeindschaft gegenüber der Indifferenz hinsichtlich der magisch-praktischen Fragen (Schluchter 1981: 14-28). Die Jahwe-Religiosität stellt einen eigenen, den weltflüchtigen Religionen entgegengesetzten Rationalitätstypus dar. Doch dies heißt keineswegs, dass bei ihr die Rationalitätsrechnung besser aufgeht als im Hinduismus, Buddhismus oder Islam. Jedes ideelle Bauwerk hat mit eigenen architektonischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die in mühsamer Kleinstarbeit einander angepassten Bausteine religiöser Konstrukte zeigen im Alltagsgebrauch immer wieder Risse, die ständig aufs Neue repariert werden müssen. Es kommt allein auf die Qualität der Reparatur an. Jahwe war für die israelischen Stämme ein fremder Gott. „Ägyptische Inschriften des 14. und 13. Jahrhunderts v. Chr. sprechen von Jhw-Beduinen südlich des Toten Meeres in midianitischen Gebiet“ (Otto 2006: 33). Israelitische Flüchtlinge aus dem ägyptischen Fronstaat kamen wahrscheinlich bei der Überquerung der Sinai-Wüste in Kontakt mit dem Kriegsgott Jahwe, der eine Unterstützung im Kampf gegen die in Palästina ansässigen Stämme versprach. Das militärisch-politische Motiv kann eine Erklärung für die Bindung der Ackerbauer und Viehzüchter an einen Wüstengott liefern. Seine Fremdheit für Israel erklärt wiederum die Vertragsform dieser Bindung. Der Vertrag (berith) weist gegenüber historisch überlieferten Parallelen zwei Besonderheiten auf: zum einen die
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Tatsache, dass nicht der Herrscher oder König, sondern das gesamte Volk Israels mit Gott den Vertrag abgeschlossen hat; zum anderen die Eigenart der damit einhergehenden Verpflichtungen für das Volk. Diese bestanden neben dem Verbot, andere Götter zu verehren, in der Einhaltung ethischer Normen. Damit wurde ein Zusammenhang konstruiert zwischen der Lebensführung des gesamten Volkes und seinem außenpolitischen Schicksal. Denn den Abfall vom Gesetz vergelte Jahwe direkt auf dem Schlachtfeld. Positive Sanktionen bestanden dagegen in Gewährung einer politischen Freiheit für das souveräne israelitische Reich. Spätestens ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. bezog sich die Verheißung auf die Existenzbehauptung gegenüber von den regionalen Großmächten, allem voran Assyr und Babylon. Es ging dabei also nicht um die Eroberung fremder Territorien, sondern um den Erhalt, später um die Wiederherstellung der eigenen politischen Unabhängigkeit. 722 v. Chr. wird Israel zunächst von den Assyrern unterworfen und später 586 v. Chr., nach dem Zusammenbruch des assyrischen Reichs unter babylonisch-medischem Druck, von den babylonischen Truppen besetzt. Jerusalem wird zerstört und das israelitische Volk ins Feindesland verschleppt. Vor diesem Hintergrund werden die sicherheitspolitischen Bedürfnisse der Anhänger der Jahwe-Religiosität deutlich, die zum Anpassungsprozess geführt haben. Doch die unbefriedigten Interessen können zweierlei Reaktionen auslösen, je nach dem, ob das Defizit dem Versagen den Institutionen selbst, oder nur einer fälschlichen Anwendung dieser Institutionen zuzuschreiben ist: Entweder war Jahwe ein zu schwacher Gott, um den außenpolitischen Schicksal Israels zu beeinflussen, oder war umgekehrt sein Volk zu schwach, um die im berith vereinbarten Gebote auszufüllen. Wenn Jahwe uns nicht helfen kann, sollen wir uns vielleicht an andere, mächtigere Götter werden sollen? Dies wäre auch der normale Gang der Dinge, wie die Geschichte des Vorderen Orients es zeigt: Die Niederlage eines Volkes war zugleich auch eine Niederlage seiner Götter, die rasch in Vergessenheit gerieten. Die israelitische Gemeinschaft ging aber einen anderen, außergewöhnlichen Weg, indem sie die politische Katastrophe nicht Gott, sondern sich selbst zugeschrieben hat. Aber auch diese Deutungsperspektive musste einen Anpassungsdruck auf die ideelle Lehre auslösen, und zwar in Richtung einer Revision des mit Gott geschlossenen Vertrags (berith). Denn gerade in einer Situation, in der strikt an der Vertragstreue festgehalten wurde, in der das verschleppte Volk aber zugleich kaum Raum zur Erfüllung der kultischen und ethischen Pflichten hatte, war ein starker Revisionsdruck zu erwarten. Diese Revision müsste einen Ausweg oder zumindest eine Perspektive der Rettung durch die „Neuverhandlung“ der im berith eingegangenen Verpflichtungen aufzeigen. Mit anderen Worten: Es ging um eine „Lösung“ für die deprivierten politischen und sozialen Interessen.
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Überraschenderweise wurden diese Erwartungen durch die tatsächliche Entwicklung nicht bestätigt. Es kam nicht zu einer Aufweichung, sondern eher zu einer Aufwertung der vertraglichen Pflichten des Volkes, nicht zu einer Anpassung der religiösen Institutionen an die Interessen der Gläubigen, sondern zu einer (zugegebenermaßen schrittweisen) Anpassung der Interessen an die ideellen Vorgaben der Institutionen. Die Neuerung hatte zwei wesentliche Momente. Zum einen eine Verlagerung des Schwerpunkts in der Heilsmethodik von kultisch-rituellen hin zu ethischen Normen, zum anderen eine neuartige Geltungsgrundlage dieser Methodik. Ethische und kultische Heilsmittel waren wohl von Anfang an ein fester Bestand innerhalb der Jahwe-Religiosität (Schluchter 1988b: 149 ff.). Aber ihre Gewichtung war unterschiedlich zu unterschiedlichen Zeiten. Mit der soziopolitischen Entwicklung von einem losen Verband bäuerlicher Stämme hin zu einem patrimonialen Königreich kam es zu einer Differenzierung der Rollenträger: die königlichen Beamten und die Priesterschaft übernahmen die Kultverwaltung, während die Einhaltung ethischer Vorschriften traditionell diffus sanktioniert wurde (Schäfer 1981: 79 ff.). Damit ging eine stärkere Betonung des Kultischen auf Kosten des Ethischen einher. Mit der besagten Neuerung rückte der ethische Aspekt in den Vordergrund: „nur die Befolgung seiner Gebote und nicht möglichst viele Opfer würden Jahwe erfreuen“ (Kippenberg 1991: 218). Das Interessante an dieser Einsicht bestand in der Bindung des gewünschten Effekts an den echten Glauben an Gott als Voraussetzungen desselben. „Die entscheidende religiöse Forderung der Propheten war nicht die Innehaltung einzelner Vorschriften, so wichtig diese an sich war und so sehr sich der echte Prophet als Sittenwächter fühlte […] Sondern: der Glaube. […] Er bedeutete wirklich nur das bedingungslose Vertrauen darauf, daß Jahwe schlechthin alles vermöge, daß seine Worte ernst gemeint seien und aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz in Erfüllung gehen werden.“ (MWG I 21.2: 669 f.)
Die Neuerung betraf also weniger die Heilmittel selbst als vielmehr ihre Geltungsgrundlage. Denn nicht die Inhalte der ethischen Forderungen haben sich geändert, sondern nur die innere Haltung, aus der heraus diese erfüllt werden sollten oder präziser gesprochen: die Forderung, dass es eine innere Haltung, eine Gesinnung als Bedingung des äußeren Erfolgs überhaupt geben soll. Mit der Entstehung dieser Gesinnungsreligiosität wurden Prozesse in Gang gesetzt, die in die genau entgegengesetzte Richtung zur situativen Anpassung im Buddhismus verlaufen sind. Die Lehre hat den Bedürfnissen der Gläubigen nicht nachgegeben, sondern diese als Motive für die Sozialisierung einer radikalisierten religiösen Idee genutzt. Die zentrale Frage bleibt aber, wie dieses Kunststück gelingen konnte.
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Das Erklärungsmodell
Die Sozialwissenschaften verfügen zwar über Theorien des sozialen Wandels, aber kaum über Theorien diachroner Wechselwirkungen zwischen Ideen und Interessen. Robert K. Mertons Anomie-Theorie stellt hier eine instruktive Ausnahme dar. Merton fragt nach den Ursachen sozialen Wandelns und sieht diese in einer Dreierrelation zwischen den kulturellen Zielen einer Gesellschaft, den institutionellen Mitteln zu diesen Zielen und den strukturellen Opportunitäten der Zielverwirklichung (Lepsius 1990: 171 ff.). Die ersten beiden Variablen repräsentieren den ideellen oder kulturellen Aspekt, während die „Struktur“ für den materiellen Aspekt des Handelns steht. Die generelle Aussage lautet: Wenn kulturell stark gewichtete Ziele aufgrund der strukturell gegebenen Möglichkeiten nicht erreicht werden können, kommt es zu einer Bewegung in der Relation zwischen den Zielen und den Mitteln (Merton 1995: 134). Diese Bewegung kann mehrere Formen haben. Eine Form der Anpassung (adaptation) besteht darin, dass die gegebenen institutionellen Mittel ausgehebelt und durch neue, illegitime Mittel ersetzt werden (innovation). Eine andere Form kann in der Temperierung der gehobenen kulturellen Ziele bestehen, die auf ein erreichbares Maß gestützt werden (ritualisation). Eine Resignation (retreatism) besteht in der Verwerfung sowohl der Ziele als auch der Mittel, in einem normativen und axiologischen Rückzug aus der Gesellschaft. Schließlich besteht die Rebellion (rebellion) in einer Umwertung sowohl der Ziele als auch der Mittel. Damit ist der genuine Wertewandel samt institutioneller Mittel gemeint. Die Aufzählung der Anpassungsformen liefert allerdings noch keine Erklärung der Anpassungsprozesse. Dazu muss man wissen, wann welche Form zum Tragen kommt. Mertons Antwort verweist auf die sozio-strukturellen Lagen; sie gilt aber nicht generell, sondern nur für bestimmte Gesellschaftstypen. In einer Gesellschaft amerikanischen Typus, die zwar durch universelle Ziele (openclass-ideology), aber gleichzeitig durch eine starke strukturelle Ungleichheit gekennzeichnet ist, erwartet Merton eine Affinität der niedrigen Schicht zur innovation, also zu einer illegitimen Unterlaufung der institutionalisierten Mittel, der unteren Mittelschicht zum ritualism, also zu einer Relativierung und Abwertung der kulturellen Ziele. Die niedrigeren Schichten greifen nach Merton zur innovation, weil bei ihnen die Diskrepanz zwischen den verfügbaren und den institutionell vorgeschriebenen Mitteln am höchsten ist. Das soll nicht heißen, dass sie generell zur Deinstitutionalisierung der Mittel tendieren. Das traditionale indische Kastensystem schränkt die Opportunitäten weit stärker ein als die amerikanische Sozialstruktur. Aber das indische Kultursystem oktroyiert den niedrigeren Schichten nicht die hochgeschraubten kulturellen Ziele der Oberschicht, zu deren Erreichung jene weder die materiellen noch die sozialen Ressourcen besit-
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zen (Merton 1995: 146). Die untere Mittelschicht nimmt den umgekehrten Weg der Abwertung der kulturellen Ziele, da sie infolge einer rigiden Sozialisierung an den institutionellen Mitteln festgenagelt sind. Rückzug und Resignation sind eher seltene Phänomene, die weniger in soziologischen als vielmehr in psychologischen Kategorien erklärt werden können und insofern nicht strukturell zurechenbar sind. Die Rebellion scheint ebenfalls ein seltenes, obwohl sozialtheoretisch relevantes Problem darzustellen. Die sozio-strukturelle Erklärung der Rebellion gestaltet sich aber eher schwierig. Inwieweit taugt nun Mertons Modell zur Erklärung der hier interessierenden Vorgänge? Merton konzentriert sich auf die Diskrepanz zwischen Kultur im weiteren Sinne und Struktur, zwischen kulturellen Zielen samt institutioneller Mittel und strukturellen Opportunitäten. Die Relation zwischen den Zielen und Mitteln selbst, ob in diskrepanter oder kongruenter Form, interessiert ihn nicht. Doch diese ist nicht irrelevant. Ob der Heilsweg tatsächlich zum Heilsgut führt, ist eine Frage, die über die Richtung des sozialen Wandels entscheiden kann. Damit hängt zusammen, dass sein Erklärungsansatz viel eher struktur- als handlungstheoretisch ausgerichtet ist. Nicht das enttäuschende Ergebnis des gegebenen Handelns, sondern die dazu fehlenden Opportunitäten lösen den Wandel aus. Ob Ritualist, Rebell oder Kulturentsager – die Motive ihrer Anpassungsbewegungen liegen allesamt weder im Zweifeln über die Richtigkeit der Handlungsregeln, noch in der Unsicherheit über die vorliegende Definition der Situation oder schlicht in der Korrektheit der Mittelberechnung, sondern in der faktischen Sperrung der Handlungs- und Aufstiegswege. Dem Opportunitätskriterium könnte aber mangelnde theoretische Schärfe attestiert werden, die aus der Tatsache der prinzipiellen Mittelknappheit resultiert. Die Mittel sind immer knapp, die Ergebnisse aber nicht immer enttäuschend. Hoffnungen, dass sich das Schicksal einmal wendet, können mitunter sehr zäh sein und jeglichen Wandel blockieren. Das Versagen institutioneller Mittel kann aber unter Umständen Evidenzgrade erreichen, die den Wandel unaufhaltsam machen. Dies führt zu einem rationalitätstheoretischen Kritikpunkt: Es ist nicht einzusehen, weshalb fehlende Anwendungsmöglichkeiten zum Geltungszweifel führen sollten. Das Gegenteil scheint zutreffend zu sein: Fehlende Anwendungsmöglichkeiten erhärten den Geltungsglauben eher, anstatt ihn zu gefährden. Wenn ich gar nicht dazu komme, ein Instrument zu testen, habe ich auch keinen Grund, dessen Wirkung anzuzweifeln. Menschen, die sich eine Krankenversicherung nicht leisten können, zweifeln weder den Wert noch die Wirksamkeit der Krankenversicherung nur deshalb an, weil diese außerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten liegt. Insbesondere die Anpassungsformen von ritualism, retreatism und rebellion scheinen daher unter einem Rationalitätsdefizit zu leiden, das den Verdacht nahelegt, es handele sich dabei um eine Variante des
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„Sauren-Trauben“-Phänomens (Elster 1987: 212 ff.). In der Fabel von Äsop versucht der Fuchs vergeblich, an die süßen Trauben heranzukommen. Frustriert von der Erfolglosigkeit seiner Bemühung wendet es mit der abschätzigen Bemerkung ab, dass sie ohnehin sauer seien. Obgleich das Ressentiment eine wichtige Rolle beim Wandel der Ideen spielt, muss die irrationale von der rationalen Anpassung unterschieden werden. Das Problem der sauberen Abgrenzung der unterschiedlichen Anpassungsformen führt schließlich zu Mertons Erklärungsmodell. Ein großer Verdienst besteht hier zunächst einmal darin, dass die Frage, wann welche Richtung der Anpassung eingeschlagen wird, überhaupt gestellt wurde. Wie fundamental die Fragestellung auch ist, so problematisch die Antwort darauf. Damit ist nicht die Gebundenheit der Erklärung an die historische Formation der modernen nordamerikanischen Kultur gemeint, sondern die generelle Strategie der Kopplung der Anpassungsrichtung an die Schichtzugehörigkeit. Aus ersichtlichen Gründen taugt der von Merton entwickelte Bezugsrahmen der open-class-ideology weder zur Analyse der indischen noch der altisraelischen Verhältnisse. Dieses Problem würde sich jedoch mit ein wenig Einfallsreichtum durch die Aufstellung einschlägiger Referenzrahmen beheben lassen. Aber weder ist die Kapitalausstattung der unterschiedlichen Schichten so einheitlich und eindeutig, als dass sich daraus klare Anpassungsstrategien ableiten lassen würden, noch muss der Wandel, wie bereits angedeutet, exklusiv durch Opportunitätsmomente ausgelöst werden. Lässt man genuin handlungstheoretische Momente zu – und nichts spricht dagegen –, dann wird die sozio-strukturelle Erklärung der Anpassungsrichtungen unhaltbar. Wie aber könnte eine handlungstheoretische Alternative in concreto lauten? Das hier entwickelte Modell2 geht von der einfachen Überlegung aus, dass der Wandel der Kultur und der Regeln des Handelns etwas mit der Wirksamkeit dieser Regel zu tun hat. Eine instrumentelle Regel des Handelns verspricht eine Folge q, wenn in einer bestimmten Situation S eine Handlung p vollzogen wird. Die Bestätigung der Folgenerwartung lässt die Regel natürlich unberührt. Die Enttäuschung der Folgenerwartung führt aber zu einer schwierigen Frage. Denn aus dem Scheitern einer Regel können nämlich zwei, genau entgegengesetzte Schlüsse gezogen werden: Entweder ist die Regel unwirksam und diese Unwirksamkeit erklärt auch das Scheitern, oder aber die Regel ist selbst durchaus wirksam, sie wurde aber falsch angewendet; d.h., man hat entweder die Situation S falsch eingeschätzt oder das Verhalten p falsch vollzogen. Die Frage, ob es an der Regel oder an der Anwendung liegt, hat schwerwiegende Konsequenzen: Ist die Regel selbst falsch, soll man sich möglichst schnell von ihr verabschieden. 2
Das Modell schließt an die Überlegungen in Stachura (2009a) und (2009b) an.
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Ist die Anwendung falsch, soll man mit der Regel möglichst viel „experimentieren“, damit ihre Anwendung korrekt erfolgen kann. Jedes Scheitern führt also zu der Frage, ob man mehr oder tunlichst weniger von dem gegebenen Verhalten an den Tag legen soll. Wie wird die Frage entschieden? Natürlich primär empirisch. Ob man an die Wirksamkeit einer Regel glaubt oder nicht, hängt selbstverständlich vom Wissen und der Situation ab. Aber es gibt gute Gründe für die Annahme, dass es nicht allein davon abhängt. Mit anderen Worten: Auch ein theoretisch fassbares Moment spielt bei der Beantwortung jener Frage mit ein. Dieses Moment könnte als eine „normative Einbettung“ der gegebenen instrumentellen Regel bezeichnet werden. Damit ist gemeint, dass instrumentelle Regeln nicht immer freischwebend und ungebundenen auftreten, sondern manchmal von anderen, normativen Regeln „begleitet“ werden. „Begleitung“ ist eigentlich ein viel zu harmloser Ausdruck, um das Verhältnis zwischen den beiden Regelarten zu erfassen. Denn die instrumentellen Regeln werden von dem normativen bevormundet und können sich von ihrer „Begleitung“ kaum lösen. Das Phänomen der normativen Einbettung tritt in allen Handlungsbereichen auf, man kann es also an beliebigen Beispielen illustrieren. Ein Bergsteiger-Beispiel ist jedoch besonders prägnant (Ritzer 2008: 202 ff.): Ein Hochgebirgsgipfel kann auf unterschiedliche Art und Weise erklommen werden. Man kann ihn im Alleingang oder mit einer Seilschaft, mit oder ohne Fixseile, in extremer Höhe mit oder ohne künstlichen Sauerstoff erreichen. Das Ziel ist mehr oder weniger immer das Gleiche: den Gipfel zu erreichen. Aber, um mit Merton zu sprechen, die institutionellen Mittel unterscheiden sich beträchtlich, insbesondere hinsichtlich ihrer Schwierigkeitsgrade. Die Besteigung des Mount Everest mit Sauerstoffflaschen, Fixseilen und Hochgebirgsträgern ist zu einem kommerziellen Event geworden, an dem jährlich Tausende teilnehmen (ebd.). Eine Everest-Besteigung ohne Sauerstoff, Fixseile und Träger schaffen jährlich nur ein paar Auserwählte. Obwohl diese Virtuosen des Höhenbergsteigens untereinander in scharfen Wettbewerb stehen, und obwohl es bei diesem im Wesentlichen darum geht, wer als Erster auf dem Gipfel steht, verzichten sie bereitwillig auf jene instrumentellen Mittel des kommerziellen Bergsteigerns, die sie dem Gipfel mit größter Wahrscheinlichkeit näher bringen würden. Denn nur ein instrumenteller Weg wird durch die bergsteigerische Ethik institutionell zugelassen: der spartanische Stil des „alpinen“ Bergsteigens ohne Hilfe von Trägern, Sauerstoffzufuhr und Fixseilen. Man könnte auch sagen: Die „alpinen“ Regeln sind normativ eingebettet, was nichts anderes bedeutet als dass alle anderen instrumentellen Regeln, die die gleichen Ziele verfolgen, normativ ausgeschlossen werden (Stachura 2010). Ein Handeln, das sich an normativ eingebetteten Regeln orientiert, ist kein Normhandeln in dem gängigen soziologischen
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Begriffsgebrauch. Das macht das Beispiel zumindest deutlich: Bergsteigen kann geradezu als Inbegriff des zweck- oder folgenorientierten Handelns verstanden werden. Es geht dabei gewiss nicht um das Verhalten um seiner selbst willen, sondern durchaus um die entscheidende Frage, ob der Gipfel erreicht wurde oder nicht.3 Aber gleichermaßen geht es dabei um die Frage, wie der Gipfel erreicht wird. Das analytische Grundmerkmal des normativ eingebetteten Handelns besteht darin, dass die Wie- und die Ob-Fragen nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Es ist gleichermaßen sinnlos, den Ob-Aspekt auf Kosten des Wie-Aspekts zu favorisieren, wie auch umgekehrt. Sicherlich besteht zwischen beiden Aspekten ein wichtiger theoretischer Unterschied. Der Griff auf die normativ ausgeschlossenen Mittel zerstört den Sinn des Unternehmens. Ein Fehltritt vernichtet den Erfolg des Unternehmens. Der Sinn verweist auf die ideelle, der Erfolg auf die materielle Dimension des Handelns. Und doch ist bei dem normativ eingebetteten Handeln der sinnlose Erfolg gleich wertlos wie das reale Scheitern. Der Anlass für diese Überlegungen bestand in der Frage, wann der Misserfolg einer Handlung den ihr zugrunde liegenden Handlungsregeln selbst oder bloß der Anwendung dieser Regeln zugerechnet wird. Eine grobe Antwort darauf lautet: Bei den eingebetteten Regeln wird der Misserfolg der Anwendung, bei nicht eingebetteten Regeln ihrer Geltung zugerechnet (Stachura 2010). Das bedeutet: Der Misserfolg einer eingebetteten Regel führt zur Intensivierung des Handelns, der Misserfolg einer nicht eingebetteten Regel aber zur Minimierung des Handelns. Die Einbettung wird den Akteur gegen den Zweifel an die Regelgeltung immunisieren und seine Enttäuschung kanalisieren. Jeder Rückschlag wird mit einer positiven Aufforderung zur „Standhaftigkeit“ aufgefangen. Dies hat den paradoxen Effekt, dass die viel „härteren“ eingebetteten Regeln „blind“ befolgt werden, während man die „weicheren“, nicht eingebetteten Regeln relativ leicht aufzugeben pflegt. Daher kann ein leichter Misserfolg die kommerziellen Bergsteiger aus dem Berg für immer vertreiben, während die normativ „Eingebetteten“ auf dem Berg oft für immer bleiben. Der Grund dafür liegt darin, dass die Geltung der nicht eingebetteten Regeln keine außerempirische Stütze hat. Spricht der Augenschein für die Wirkungslosigkeit einer instrumentellen Regel, wird diese aufgegeben. Der bloße Augenschein reicht aber nicht aus, um 3 Daher ist die normative Einbettung auch nicht etwa mit äußerer normativer Regulierung, z.B. einem Dopingverbot, gleichzusetzen, obwohl die Grenze nicht immer eindeutig zu ziehen ist. Der Unterschied liegt aber grundsätzlich in dem Verhältnis der Regeln zueinander. Dopingverbot reguliert von außen ein Verhalten, das auch bei der Verletzung der Verbote im Wesentlichen gleich bleibt. Ein gedopter Rennradfahrer hat die Strecke, obwohl unter Einsatz von unerlaubten Mitteln, gleichermaßen gefahren wie sein „sauberer“ Kollege. Demgegenüber verliert das Handeln durch die Verletzung der Einbettungsregeln seinen Sinn. Wer auf den Fixseilen auf den Gipfel hinaufgezerrt wurde, der hat den Berg eben nicht geklettert.
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die Geltung einer normativ eingebetteten Regel auszuhebeln. Denn sie hat zwar die Funktion, bestimmte materielle Folgen herbeizuführen, geht aber darin nicht auf. Sie ist zugleich ein Ausdruck einer Idee, der der materielle Misserfolg grundsätzlich nichts anhaben kann. Mertons „kulturelle Ziele“ und „institutionelle Mittel“ sind also oft mit einem normativen Band verschnürt, das ihre Kopplung besonders widerstandsfähig macht. Sie lassen sich aus dem prinzipiellen Grund nicht durch Krisen, Konjunktureinbrüche oder Opportunitätsknappheiten erschüttern, dass Normen sich immer gegen die Wirklichkeit richten, und nicht die Anpassung an die variierenden Umstände, sondern genau umgekehrt: die Anpassung der Umstände an ihre Ideale verlangen. Je anspruchsvoller das Ideal dabei, umso größer die Kluft zwischen diesem und der Wirklichkeit, umso verständlicher also das Scheitern und umso dringender der Appell, von dem ideell vorgezeichneten Weg angesichts der Widerstände nicht abzukommen. Kann man aber mit dem Besagten die Frage beantworten, wann welche Richtung der Situationsanpassung vorgenommen wird? Zumindest nicht direkt. Dazu muss eine weitere Überlegung zwischengeschaltet werden. Zunächst sieht es so aus, dass die eingebetteten Regeln generell unveränderbar sind, während die nicht eingebetteten Regeln immer nur durch andere instrumentelle Regeln ersetzt werden. Doch dies ist nur eine halbe Wahrheit. Tatsächlich können sich auch die eingebetteten Regeln wandeln; sie können im Laufe der Zeit ihren normativen Bezug verlieren, d.h. „entbettet“ werden. Rein instrumentelle Regeln können hingegen in einen normativen Bezugsrahmen neu eingebettet werden. Neben dem Festhalten an den eingebetteten Regeln unter ungünstigen Umständen, was Merton als ritualism oder Konformität bezeichnet, und neben einer Entbettung, die bei Merton innovation heißt, gibt es auch die Möglichkeit einer kreativen Fortentwicklung des gesamten normativen Gebildes. Dieser interessante Fall, der bei Merton unter rebellion subsumiert wird, verlangt eine gesonderte Erklärung. Wann bleibt eine rein instrumentelle Regel weiterhin instrumentell und wann wird sie in ein normatives Regelwerk überführt (Einbettung)? Wann zerfällt die normative Bindung eines eingebetteten Komplexes (Entbettung) und wann wird sie nicht zerstört, sondern beibehalten (Konformität) oder gesteigert (Umbettung)? Zunächst einmal: Dies hängt nicht allein von den Regeln, sondern auch von den Weltzuständen ab, d.h. nicht allein vom Tun und Denken rationaler Akteure, sondern auch von den Ergebnissen dieses Tuns. Und diese variieren unabhängig von den Überlegungen und Kalkülen handelnder Menschen.
Ideen und Interessen Abbildung 1:
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Wandelbedingung der Handlungsregeln Erwartungsenttäuschung
normativ eingebettete Regeln
instrumentelle Regeln
Passungszweifel Ausweitung der institutionellen Mittel
Geltungszweifel
Verknappung der institutionellen Mittel
Regelzerfall Innovationsversuche Erfolg
Misserfolg
Umbettung
Konformität
Entbettung
Wiedereinbettung
Ein regelgeleitetes Handeln kann entweder vom erwarteten Erfolg gekrönt werden oder Folgen zeitigen, die die Erwartungen enttäuschen (siehe Abbildung 1.). Ist das Handeln nicht erfolgreich, kann dies entweder zu einem Geltungs- oder zu einem Anwendungszweifel führen. Bei den eingebetteten Regeln wird, wie bereits erörtert, meist nicht die Geltung, sondern die Anwendung angezweifelt. Aber der Anwendungszweifel kann wiederum zwei sehr unterschiedliche Konsequenzen haben. Eingebettetes Handeln ist meist relativ teuer oder anspruchsvoll im Sinne der geistigen, mentalen oder auch körperlichen Fertigkeiten. Die strikte Einhaltung der eingebetteten Regeln setzt voraus, dass einem die institutionellen Mittel zur Verfügung stehen. Das ist nicht immer der Fall: Bei extremer Gefahr greift auch ein „eingebetteter“ Höhenbergsteiger zur Sauerstoffflasche, in großer Not bricht oder umgeht auch der strenggläubige Jude die rituellen oder kultischen Vorschriften. Dass die institutionellen Mittel anspruchsvoll sind, bedeutet auch: Sie müssen erst erworben oder erlernt werden. Ein buddhistischer Mönch befindet sich in einem lebenslangen Lernprozess, von dem je nach Schulrichtung
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nur bedingt das Erreichen der höchsten Erlösungsstufe erwartet wird. Insbesondere die anspruchsvollen Meditationstechniken verlangen einen geistigen Einsatz, der praktisch immer nur eine Annäherung an das angestrebte Ideal bedeuten kann. Ob nun der Pfad der Entbettung oder derjenige der Konformität/Umbettung eingeschlagen wird, hängt davon ab, ob die institutionell vorgeschriebenen Mittel verknappen oder ausgeweitet werden können. Hat man das Gefühl dem eingebetteten Ideal handlungspraktisch doch näher zu kommen, werden die Regeln trotz des Misserfolgs in ihrer Geltung beibehalten. Paart sich hingegen der Misserfolg mit der Einsicht, strukturell hinter dem institutionellen Praxisideal immer weiter zurückzufallen, werden die Regeln entbettet. Hier kommt das strukturelle Moment, das Merton in den Vordergrund seines Modells gestellt hat, zu seinem Recht. Es ist in der Tat entscheidend, ob man sich die eingebetteten Regeln überhaupt „leisten kann“, ob die zeitlichen, materiellen oder mentalen Mittel ausreichen, um jenen Virtuositätsgrad zu erreichen, der von den anspruchsvollen eingebetteten Regeln verlangt wird. Meditationen und Arbeitsenthaltsamkeit sind nur im Rahmen einer für die Virtuosen sorgenden Gemeinschaft möglich. Die kriegerische Einschulung eines „Vollkrieger“ verlangt seine „ökonomische Abkömmlichkeit“ vom Hof (MWG I 21.1: 373), die Rolle eines Honoratiorenpolitikers eine „Abkömmlichkeit“ vom Betrieb. Trotz unbestreitbarer Wichtigkeit der Opportunitäten für den Institutionenwandel löst nicht jede Diskrepanz zwischen den strukturellen Möglichkeiten und dem Ideal gleich einen Wandel aus. Denn erstens können bestimmte Institutionen selbst bei einer dauerhaften Kluft zwischen dem Möglichen und dem Idealen fortbestehen, wenn eine Annäherung im Bereich der institutionellen Mittel erkennbar ist. Zweitens kommt es logisch nicht auf den Zustand des Defizits, sondern auf die Bewegung oder die Bewegungsrichtung innerhalb des Möglichkeitsraums an: Die Annäherung zementiert die Geltung, während der Regress zum Geltungszerfall führt. Der Knappheitszustand dürfte in der sozialen Wirklichkeit keine Ausnahme, sondern eher der Normalfall sein. Insofern eignet er sich wenig zum alles entscheidenden Kriterium. Kein politisches Programm, keine Ideologie und keine soziale Bewegung, die nicht unter Mangel an Ressourcen leidet. Dennoch schaffen es auch unterfinanzierte, personell unterbesetzte, organisatorisch unterkoordinierte Programme und Bewegungen nicht nur am Leben zu bleiben, sondern ihre Legitimation und Einfluss auszubauen und zwar auch dann, wenn sie augenscheinlich an Handlungsregeln zurückgreifen, die ihrem eingebetteten Ideal nicht entsprechen. Es ist also nicht das Wildern in fremden institutionellen Gebieten an sich, das zum Geltungszerfall des eingebetteten Programms führt, sondern ein kontinuierliches und strukturelles Abdriften von dem Ideal, ohne Wiederannäherungsperspektive. Ein Monetarist darf auch eine Weile laxe Geldpolitik betreiben, eine Steuersenkungspartei darf auch mal Steuern erhöhen, ohne
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Entbettungsgefahr zu riskieren. Doch ohne eine Wiederkehr auf den „Pfad der Tugend“, ohne eine sichtbare Perspektive der künftigen Einsetzung derjenigen normativ vorgeschriebenen Regeln, die allein den erhofften Erfolg versprechen, gibt es für die eingebetteten Regeln keinen Halt. Sie werden entweder durch jene einfachen instrumentellen Regeln ersetzt, auf die man „pragmatisch“ in einer „Notsituation“ zurückgegriffen hat, oder faktisch durch ein konkurrierendes normatives Handlungsprogramm. Drittens ist das von Merton betonte strukturelle Moment nicht allein, sondern nur im Zusammenspiel mit dem Erfolgsmoment für die Dynamik des Institutionenwandels entscheidend, wie die Analyse der Umbettungsprozesse zeigt. Bislang wurden die Weichenstellungen für die Richtung des Entbettungspfads besprochen. Doch was steuert den Schaltmechanismus zwischen dem Konformitäts- und dem Umbettungspfad? Gemeinsam ist den beiden die besagte Annäherungsperspektive, was sie unterscheidet, ist der Erfolg. Der Konformitätspfad setzt keineswegs voraus, dass die Annäherung an die Praxis des eingebetteten Ideals vom Erfolg gekrönt werden muss. Tatsächlich scheint die institutionelle Praxis, d.h. der Vollzug der Mittelhandlung (p) generell viel wichtiger zu sein als der Erfolg (q). Menschen, die in der Lage sind, eingebettete Regeln zu befolgen, bleiben diesen Regeln auch dann treu, wenn sich diese dauerhaft als defizitär erweisen. Die judäische Diaspora hat erst nach 2500 Jahren einen eigenen souveränen Staat erhalten. Der Schlüssel zur Erklärung dieser Beharrlichkeit liegt in der Praktikabilität der Praxis, d.h. den mentalen, körperlichen oder materiellen Opportunitäten für die Mittelhandlung (p). Auf der anderen Seite können die Konformisten nicht nur rechts auf die Entbettungsspur abrutschen, sondern auch von den kulturellen Innovatoren links überholt werden. Das Überholungsmanöver kann aber nur mit Regeln geleistet werden, die 1. einen zumindest einen gleichen Geltungsgrad in Bezug auf das normative Ideal vorzuweisen imstande sind und 2. tatsächlich einen realen Erfolg erzielen. Die erste Bedingung verhindert das, was eine naive instrumentalistische Handlungstheorie erwarten und postulieren würde, nämlich dass die erfolglosen Regeln durch die erfolgreichen ersetzt werden. Dies ist, wie bereits gezeigt, nur unter bestimmten Zusatzbedingungen im Falle der normativen Entbettung möglich. Erfolglose Regeln werden von der Konkurrenz nicht schon deshalb ersetzt, weil diese erfolgreich sind. Der Monetarist wird nicht zum Keynesianer, bloß weil dessen Regeln im Moment erfolgreicher sind. Darum lässt die erste Bedingung nur solche Innovationen als Ausgangspunkt der Umbettungsprozesse zu, die sich im vorgefundenen normativen Rahmen bewegen. Es ist allerdings die zweite Bedingung, die darüber entscheidet, ob es zum Umbau eines normativen Regelwerkes kommt. Denn Innovationsversuche gibt es en masse. Die meisten verhallen jedoch folgenlos. Ob ein Innovationsversuch tatsächlich zur Umbet-
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tung führen wird, entscheidet sein relativer Erfolg. Der Monetarist wird also nicht zum Keynesianer aber der Erfolg einer vom Geist des Monetarismus beseelten innovativen Regel kann als Befreiung aus der konformistischen „Sackgasse“ empfunden werden und zur Umbettung des gesamten monetaristischen Ideengebäudes führen. Der Vollständigkeit halber kann an dieser Stelle auch der umgekehrte Fall der Neueinbettung einer rein instrumentellen Regel analysiert werden, obwohl er für den hier vorliegenden empirischen Fall keine direkte Bedeutung hat. Eine erfolglose instrumentelle Regel genießt im Unterschied zu eingebetteten Regeln keinen normativen Geltungsschutz. Dies hat zur Folge, dass sie nach einer relativ kurzen Karenzperiode gegen andere Regeln ausgetauscht wird, die prinzipiell mehr Erfolg versprechen. Dies können andere rein instrumentelle Regeln sein, oder aber, und genau diese Konstellation ist für die Neueinbettung entscheidend, Regeln, die einen normativen Hintergrund haben. Aus der Sicht des Akteurs werden diese Ersatzregel zunächst bloße Instrumente sein. Natürlich sind Situationen, in denen auf normativ eingebettete, anspruchsvolle Regeln zurückgegriffen wird, eher selten. Aber bei großer Verunsicherung über die instrumentell wirksamen Mittel oder bei großer materieller Deprivation wird unter Umständen alles ausprobiert, was man bekommt. Darunter können sich auch eingebettete Regeln befinden, die sich in ihrem instrumentellen Part von anderen Zweckregeln nicht unterscheiden. Natürlich wissen die rationalen Akteure auch, dass sie sich damit auf einem unsicheren Terrain bewegen. Aber es ist gerade diese Unwahrscheinlichkeit des Erfolgs einer normativ fundierten Regel, die beim tatsächlichen Erfolgseintritt für einen gewaltigen Überraschungseffekt sorgt. Diese Überraschung wird einen zunächst starken emotionalen Respekt vor den gegebenen Regeln einflößen und kann dann bei der Vergegenwärtigung der Gründe ihrer Wirksamkeit eine normative Bindung an diese erzeugen.
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Problemlösung
Zurück zum hier behandelten empirischen Problem: Antikes Judentum und Buddhismus schlagen entgegengesetzte Anpassungsrichtungen hauptsächlich deshalb ein, weil die Jahwe-Religiosität im Unterschied zu dem alten Buddhismus eine praktikable Institutionalisierung darstellte, welche die Anhänger nicht überforderte. Das Kriterium der Praktikabilität ist nicht mit dem Kriterium der Zielerreichung zu verwechseln. Die israelitische politische Gemeinschaft konnte ihre diesseitigen Erlösungsgüter ebenso wenig erreichen wie die absolute Mehrheit der buddhistischen Laien. In beiden Fällen weichen die Resultate von den Erwartungen ab. Da man es in beiden Fällen mit eingebetteten Regeln zu tun hat, führt
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diese Abweichung nicht zu einem Geltungs- sondern zu einem Passungszweifel. Aber im Rahmen der Jahwe-Religiosität könnte der Passungszweifel positiv verarbeitet werden. Dies liegt an der Einfachheit der zu befolgenden Regeln. Sie sind, und darauf wird großes Gewicht gelegt, jedermann bekannt und verständlich. „Sowohl ihr Gott wird als jedermann bekannt vorausgesetzt wie ebenso: daß ‚dem Menschen gesagt ist, was ihm frommt’ (Micha 9)“ (MWG I/21.2: 648649). Im krassen Unterschied zum buddhistischen Laien, der nur die untersten Sprossen der Regelleiter erklimmen kann, kann der Jahwe-Verehrer relativ unproblematisch alle Gesetze befolgen, die ihm auferlegt sind. Dies hängt damit zusammen, dass es sich bei den Institutionen um Gebote einer Alltagssittlichkeit handelt und nicht um raffinierte Regeln zur Erlangung außeralltäglicher Zustände. Weder große materielle Opfer noch ein großer geistiger Aufwand sind dazu nötig. Daher ist eine Annäherung an das angestrebte Praxisideal möglich und diese Möglichkeit wurde auch ergriffen. Die einzige Schwierigkeit bestand in der Kollektivität der Pflichterfüllung: Jahwe rechnet die moralische Schuld nicht den einzelnen Menschen, sondern seiner Gemeinde zu. Daher kann die Gemeinde zur Haftung einzelner Frevler herangezogen werden. Im Grunde ergab die Figur der kollektiven Haftung aber eine bequeme Erklärung des institutionellen Misserfolgs: Das Ideal ist greifbar nahe und doch erscheint es plausibel, dass es aufgrund allzu menschlicher Schwächen Einzelner immer wieder verfehlt wurde. Da das Ideal greifbar nahe ist, kommt es nicht zur Entbettung. Da sich in der Gemeinde vereinzelt schwarze Schafe befinden, kann der Misserfolg geltungsschonend auf einen Passungsmangel zurückgeführt werden. Dieser stabile institutionelle Zustand hätte ohne tiefgreifende strukturelle Umwälzungen fortbestehen können, käme es nicht zu einer innovativen Weiterentwicklung des eingebetteten Ideals. Die prophetische Innovation, die unter der Mitwirkung gebildeter Laienkreise und einen Teil der Priesterschaft zustande kam, bedeutete keine Entbettung, sondern gerade umgekehrt eine Radikalisierung der bestehenden Institutionen. Die Radikalisierung betraf dabei weniger die Inhalte der Handlungsregeln als, wie bereits angedeutet, ihre Geltungsgrundlage. Ihre zentrale Einsicht bestand in der Annahme, dass ohne eine Verinnerlichung der Gebote, ohne ihre gesinnungsethische Sublimierung der Motive, aus welcher heraus das äußerlich korrekte Handeln erfolgte, die Heilsgüter nicht erreichbar seien. Weshalb aber konnte sich die prophetische Innovation gegen die Konformität der eingebetteten Tradition durchsetzten? Letztlich deshalb, weil sie erfolgreich, oder zumindest sichtbar erfolgreicher als ihre traditionale Konkurrenz war. Die Erfolge bestanden im Wesentlichen in der Bewahrheitung der verkündeten Orakel, wobei Heils- und Unheilsprophetie gleich starke Effekte erzeugte. Als Jerusalem vom assyrischen Heer Ende des 8. Jh. v. Ch. belagert wurde, verkün-
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dete Jesaja entgegen der politischen Großwetterlage, dass „Jerusalem als Sitz Jahwes niemals fallen könne“ (MWG I/21.2: 662). Dies war angesichts des unaufhaltsamen Vormarsches der Assyrer in Babylon, Syrien, Oberägypten und Nordreich Israel eine mehr als gewagte Prognose. Doch der assyrische König Sanherib brach die Belagerung wider Erwarten tatsächlich ab, was als ein überwältigendes Zeichen der prophetischen Macht gedeutet wurde. „Der historische Zufall, daß der, aller Wahrscheinlichkeit spottende, felsenfeste Prophetenglaube des Jesaja: sein Gott werde Jerusalem, wenn nur der König fest bleibe, dem Assyrerheer nicht in die Hände fallen lassen, wirklich eintraf, war das seitdem unerschütterliche Fundament der Stellung dieses Gottes sowohl wie seiner Propheten“ (WuG: 243).
Als sich auch das Unheilsorakel von Jeremia, der die Verschleppung des Volkes prophezeite, im Jahre 586 v. Ch. erfüllte, war die „Autorität der Prophetie [...] unerschütterlich“ (MWG I/21.2: 659). Letztlich trafen nicht nur Unheils-, sondern auch Heilsverkündigungen ein, so vor allem die „vorhergesagte Heimkehr aus dem Exil“ (ebd.). Weber hat diesem „Erfolg“ der prophetischen Deutung einen richtigen Stellenwert bei Transformation des Institutionengefüges eingeräumt: „Es ist völlig undenkbar, dass ohne die erschütternde Erfahrung einer Bestätigung der in aller Öffentlichkeit gesprochenen, noch nach Jahrhunderten im Gedächtnis haftenden (Jer. 26, 18) prophetischen Unheilsworte der Glaube des Volkes durch die furchtbaren politischen Schicksale nicht nur nicht zerbrochen, sondern in einer einzigartigen und ganz unerhörten historischen Paradoxie gerade erst definitiv gefestigt worden wäre“ (MWG I/21.2: 691).
Mit anderen Worten: Ohne den (objektiv gesehen zufälligen) Erfolg der prophetischen Innovation könnte das Institutionengefüge nicht aus der Konformitätsbahn herausgehoben werden. Ohne den zufälligen Erfolg der Prophezeiung wäre die konforme Haltung aber unter dem zunehmenden Restriktionsdruck dem Entbettungsprozess freigegeben. Die Geschichte des Südreichs Juda hätte die gleiche Wendung genommen wie die der Hethiter, Ammoniter, Moabiter, Edomiter oder unzähliger anderer Völker, die dem friedlichen oder gewaltsamen Assimilationsdruck benachbarter Großmächte nachgegeben hatten. Die messianische Evolution des Mahayana-Buddhismus ist hingegen nicht Ausdruck einer Radikalisierung, sondern einer weitgehenden Abschwächung der ideellen Prämissen des alten Buddhismus. Diese erklärt sich zum einen durch den materiell kaum realisierbaren Anspruch der vorgeschriebenen institutionellen Praxis. Die Bauern, kleinere Landbesitzer, Handwerker und Kleinbürgertum
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konnten sich höchstens die soteriologisch unbefriedigende Rolle der die Ordensgemeinschaft alimentierenden Laien leisten. Die Abschwächung resultierte zweitens aus der für indische Verhältnisse untypischen Stellung einer politisch motivierten Missionsreligion, die der Buddhismus unter Asoka angenommen hat. Das religiöse Angebot richtete sich weder intern an die Mitglieder einer normativ integrierten Gemeinschaft, noch wurde es als rein ideelles Missionsgut im Netzwerk religiöser Schulen verbreitet, sondern es begleitete die politischen Ambitionen einer expandierenden Territorialherrschaft. Gerade für Außenstehende musste es deshalb einen zunächst instrumentellen Charakter haben. Die Gewinnung neuer Anhänger verlange eine ganz andere Anpassungsbereitschaft als die Festigung einer bestehenden Gemeinschaft, selbst in existenzieller Notlage. Dies wird bereits an einer tiefgreifenden Umgestaltung der Heilsmittel im Mahayanismus sichtbar, die von der prophetischen Innovation weitgehend unangetastet geblieben sind. Die Erklärung der entgegengesetzten Anpassungsrichtungen ergibt sich drittens tatsächlich aus der Differenz der sozialen Trägerschichten und ihren Interessen: dem „persönlichen Heilstreben einer vornehmen literarischen Schicht von Denkern“ im alten Buddhismus und der „Sündenbeicht- und Sühne-Praxis praktischer Seelsorger“ im antiken Israel (MWG I/21.2: 643). Diese soziale Differenz war, zumindest im Buddhismus, verantwortlich für das Ausmaß der einmal in Gang gesetzten Anpassung. Aber eine soziostrukturelle Stellung erzeugt aus sich noch keine Dynamik. Dafür muss die Schwelle zwischen der institutionellen Konformität und Entbettung überschritten werden. Und dazu ist wiederum, wie mehrfach betont, ein Zusammenspiel von genuin handlungstheoretischen und strukturellen Momenten notwendig.
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Religion und Politik – Max Weber und Émile Durkheim1 Hartmann Tyrell
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Vorbemerkung
Die Soziologie Max Webers behandelt Religion und Politik als verschiedene ‚Wertsphären’ oder ‚Lebensordnungen’ (Weber 1920a: 536ff.; vgl. auch Schwinn 2001: 151ff.). Das heißt: Sie geht von der Differenz des Politischen und des Religiösen aus und ist bemüht, beides begrifflich (und systematisch) auseinander zu halten, und sie tut das auch im Blick auf Sozialverhältnisse, in denen Religion und Politik sich überschneiden oder eng korrelieren. Auch setzte Weber bezüglich dieser beiden Lebensordnungen in einem evolutionär-langfristigen und Trennungssinne auf Differenzierung; zugleich aber war es sein universalhistorisch dimensioniertes Forschungsanliegen, beide Sphären zueinander ins Verhältnis zu setzen, nach Wechselwirkungen zu fragen und die unerhörte Vielgestaltigkeit der religiös-politischen Konstellationen systematischer auszuleuchten.2 Weber hat das in „Wirtschaft und Gesellschaft“ nicht zuletzt im Kontext seiner Herrschaftssoziologie getan (MWG I/22-4: 578ff., 1972: 688ff.) und in der „Zwischenbetrachtung“ (1920a: 536ff.) geschieht es auf das Spannungsverhältnis hin, in dem religiös-universalistische Werte zu den Eigengesetzlichkeiten des Politischen stehen. Blickt man nun auf die zeitgenössische Soziologie in Frankreich und des Näheren auf die Soziologie (und zumal die Religionssoziologie) Émile Durkheims, so stellt sich das Bild vom Verhältnis von Religion und Politik gänzlich anders dar; hier geraten beide Sphären unter dem Gesellschaftsbegriff in enge Berührung, miteinander, ja geradezu zur Deckung.3 Diese so markante 1
Einmal mehr habe ich Klaus Dey für die gründliche und kritische Durchsicht des Manuskripts zu danken. 2 Treffend formuliert Hermes (2003: 23): „Den okzidentalen Rationalisierungsprozeß kann man mit Weber als Prozeß der Ausdifferenzierung eigengesetzlicher Lebensordnungen beschreiben, wenn die von ihm immer auch gesehenen Wechselwirkungs- und strukturellen Wahlverwandtschaftsverhältnisse angemessen berücksichtigt werden.“ 3 Zum Gesellschaftsbegriff Durkheims zuletzt und sehr instruktiv Terrier (2009); bei Weber dagegen entfällt der Gesellschaftsbegriff ganz; unter den ‚soziologischen Grundbegriffen’ ist er nicht vertreten; vgl. Tyrell (1994, auch 2005: 31ff.).
A. Bienfait (Hrsg.), Religionen verstehen, DOI 10.1007/978-3-531-92777-0_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Diskrepanz zwischen den beiden gern klassisch genannten, zeitgenössischen Soziologien gibt starken Anlass, beide, was ihren intellektuellen Zugriff auf das Verhältnis von Religion und Politik angeht, genauer in den Blick zu nehmen und miteinander zu vergleichen. In der einschlägigen Literatur ist das bislang nicht einmal ansatzweise geschehen. Die Kontrastierung der beiden Soziologien, vor allem der Religionssoziologien soll im Weiteren versucht werden. Auf dreierlei kommt es mir dabei an: In einem ersten Gedankengang gilt es, die vor allem herrschaftssoziologisch geführte Auseinandersetzung Webers mit den religiös-politischen Problemen dem ganz anders zugeschnittenen soziologischen Blick Durkheims gegenüberzustellen. Ich möchte Max Webers Unterscheidungen von ‚politisch’ und ‚hierokratisch’, von ‚Staat’ und ‚Kirche’ konfrontieren mit der durkheimschen Begrifflichkeit von ‚Religion’ und ‚Kirche’ (Église)4; gerade von der 'Kirche' (als ‚moralischer Gemeinschaft’) her gewinnt man Zugang zu den zivilreligiösen Implikationen der Terminologie Durkheims. Ich lege bei diesen Überlegungen (Abschnitt II. und III.) auch Wert auf das Problem des ‚methodologischen Nationalismus’; es gilt also auf die je nationalstaatliche Prägung und Bestimmtheit dieser Begrifflichkeiten zu achten (vgl. auch Tyrell 2005: 29ff.).5 Im Übrigen zeigt sich schon in diesem Kontext: Die Scheidung von Religion und Politik will nicht perfekt aufgehen; dies vor allem deshalb nicht, weil die Seite der Politik ohne zumindest ein Minimum an Religiösem, das ihr (als solcher) zugehört, schwerlich ‚zurechtkommt’; man mag hier auch den simmelschen Begriff des ‚Religioiden' verwenden oder mit Thomas (2001) von ,impliziter Religion' sprechen. Das zweite Anliegen schließt hier an: Es geht im Folgenden, wie schon gesagt, um die Kontrastierung zweier ausgesprochen heterogener ‚Entwürfe’ oder Konstruktionsweisen des, wenn ich so sagen darf, religio-politischen Komplexes. Der Unterschied, der dabei zutage tritt, ist zu weiten Teilen beschreibbar als einer von differenziert und undifferenziert. Weber differenziert: Er konfrontiert nicht nur den ‚politischen’ mit dem ‚hierokratischen’ Verband, ihm sind Religion und Politik zwei unterschiedliche Lebenssphären, wobei er für die religioiden Momente des Politischen bzw. des Nationalen eher unempfänglich ist. Das webersche Differenzieren ist schon in der zweifachen Gestalt angelegt, die das Charisma bei Weber annimmt: Magier oder Prophet hier und Berserker oder
4 Durkheim (1981: 75, 1985: 65) legt bekanntlich größten Wert darauf, „daß die Idee der Religion von der Idee der Kirche nicht zu trennen ist“. 5 Vgl. dazu auch die Studien von König (2002) und Bielefeld (2003), die beide Frankreich und Deutschland bzw. Durkheim und Weber kontrastieren. Ich reagiere teilweise auch auf José Casanova (2001: 424f.), der die webersche Begriffsbildung jüngst für obsolet erklärt hat.
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Kriegsheld dort.6 Und immer ist an diesen Unterscheidungen Konflikt mitgedacht, sei es herrschaftssoziologisch im Sinne des Macht- und ‚Kulturkampfes’ beider Seiten7, sei es als Kollision der religiösen mit den politischen Werten. Bei Durkheim dagegen – so meine These – ist der religio-politische Komplex über den Gesellschaftsbegriff zur Einheit gebracht, zu einer Einheit, in der Gesellschaft (Kollektivität) und Moral, Religiöses und Politisches undifferenziert zusammengeführt sind. Es ist dies allerdings ein Verdacht, der sich, wie sich zeigen wird, durchaus nicht ‚perfekt’ bewahrheitet. Denn Durkheim hat durchaus im Blick, dass die ‚politische’ und die ‚religiöse Gesellschaft’ auseinanderfallen können. Für das dritte Moment, das hier ins Spiel kommen soll und das in den Abschnitten IV. und V. verhandelt wird, ist zunächst wichtig, dass die sozialen Reichweiten und Grenzen des Politischen und die Grenzen des Religiösen vielfach nicht kongruent sind und daran beider Differenzierung erkennbar wird. Dementsprechend müssen im Weiteren sowohl Fälle zur Sprache kommen, in denen – wie im Falle der antiken Groß- und ‚Weltreiche’ - der politische Verband, der Staat über die religiösen Unterscheidungen hinausgreift, aber ebenso solche Fälle, wo umgekehrt die religiösen Zusammengehörigkeiten weit über die politischen Grenzen hinausreichen, wie es auf die ‚Weltreligionen’ zutrifft. Das führt zugleich auf die Unterscheidung zwischen religiösem Universalismus und religiös-politischem Partikularismus. Im letzteren Fall sind politischer und religiöser Verband (in bestimmter, ethnischer oder städtisch-politischer Rahmung) koextensiv, und für Weber wie für Durkheim sind es vor allem die griechische Polis und Rom, die das verkörpern; in deren Welt hat die ‚Zivilreligion’ ihre semantischen Wurzeln. Im Falle der universalistischen oder Weltreligionen dagegen ignoriert bzw. durchstößt, wie gesagt, die Religion gerade auch die politischen Grenzen/Differenzen. Mein absichtsvoll zitatenreicher Gedankengang vollzieht sich in vier Schritten: Der erste Schritt (II.) führt hinein die webersche Herrschaftssoziologie, zunächst in deren religiös-politische Grundbegrifflichkeit, und er führt dann auch zu den evolutionären und langfristigen Perspektiven, die hier erschlossen werden, die „Trennung“ von Staat und Kirche einschließend. Der zweite Schritt (III.) kommt auf den durkheimschen Religions- und Kirchenbegriff zu sprechen sowie auf die Weiterführung desselben unter dem von Robert Bellah reaktivierten Titel der Zivilreligion. Zugleich kommt hier ‚die Nation’ ins Spiel und die ihr zugehörende Sakralsemantik und -praxis. Der dritte Schritt (IV.) nimmt die Universa6 „Der Gegensatz zwischen politischem und magischem Charisma ist uralt“ (Weber 1972: 699, MWG I/22-4: 609). 7 Von Weber (1924: 44) etwa bezeichnet als der „offene oder latente Kampf weltlich-politischer mit theokratischen Gewalten, die ganze Struktur des sozialen Lebens beeinflussend“.
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lismus/Partikularismus-Unterscheidung auf. Bewusst bezieht er auf der Seite des Partikularismus die großen (Durkheim und Weber voranliegenden) historischen Beschreibungen der politischen Religionen des Altertums mit ein. Ich greife dafür zurück auf „La Cité antique“ von Fustel de Coulanges, das berühmte Buch von Durkheims Lehrer, und auf Jacob Burckhardts „Griechische Kulturgeschichte“, die ihrerseits von Fustels Buch bereits Kenntnis hat.8 Im Vorfeld davon sind auch Rousseau und Machiavelli im Blick; von beiden her komme ich auf den Internationalismus und Kosmopolitismus des Religiösen (über die Grenzen des Politischen hinaus) zu sprechen, der ein wichtiges Durkheim-Thema ist. Im vierten Schritt (V.) schließlich geht es – wieder auf der Seite Max Webers – im Differenzierungssinne um das Auseinandertreten von Politik und Religion: ‚inhaltlich’, sozialorganisatorisch und bezüglich der sozialen Reichweiten. Am Ende steht bei Weber (im Blick auf den Krieg) die Wertkollision von religiösuniversalistischer Brüderlichkeitsethik hier und ‚binnenmoralisch-patriotischer’ Brüderlichkeit, wie sie (auch) dem modernen Nationalstaat zugehört, dort. Der Beitrag schließt mit einem Blick auf die durkheimschen Kriegsschriften.
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Staat, Kirche und die ‚religiöse Evolution’ bei Max Weber
1. Max Weber hat die begriffliche Bestimmung von Religion bekanntlich verweigert (MWG I/22-2: 121); er tat dies ganz im Unterschied zu seiner prägnanten Bestimmung ‚des Politischen’ (zunächst MWG I/22-1: 204ff.) und obwohl dem Vokabular des ‚rein Religiösen’ in seiner Religionssoziologie erhebliche Bedeutung zukommt (vgl. Tyrell 1992). Immerhin aber bietet Weber an prominenter Stelle und unter herrschaftssoziologischen Vorzeichen, nämlich im (letzten) § 17 der „Soziologischen Grundbegriffe“, eine klare Fassung von politischem und hierokratischem Verband und dann spezifischer von Staat und Kirche (1972, 29f.).9 Ich will zu diesem doppelten Begriffspaar vorweg nur anmerken: 8 Weber war mit beiden bestens vertraut, wie seinen „Agrarverhältnissen im Altertum“ (1924: 279, 283) explizit zu entnehmen ist; Durkheim war es wohl nur mit dem Ersteren; dazu Tyrell (1985: 200ff.). 9 Was den herrschaftssoziologischen Kontext angeht, so sei hier dreierlei angemerkt: 1. Die Unterscheidung von ‚politisch’ und ‚hierokratisch’, von Staat und Kirche schließt die Grundbegriffsdarstellung ab; ihr geht im § 16 die Bestimmung der Begriffe von ‚Macht’, ‚Herrschaft’ und ‚Disziplin’ voraus. Und auch das große Kapitel „Politische und hierokratische Herrschaft“ (1972: 688ff.; MWG I/22-4: 578ff.) war innerhalb des frühen Manuskripts von „Wirtschaft und Gesellschaft“ als Teil der das Ganze abschließenden Herrschaftssoziologie vorgesehen. 2. Der webersche Herrschaftsbegriff ‚generalisiert’, er ist ein Formbegriff im Sinne der Soziologie Georg Simmels (vgl. Tyrell 2007: 20ff.), und die „drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“ sind dementsprechend illustrierbar nicht nur (wie primär) an politischen, sondern ebenso sehr an religiösen (1920a: 267ff.), ökonomischen, militärischen oder sonst organisatorischen (MWG I/22-4: 727f.) Inhalten. Den drei ‚formalen’
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Wenn uns die Zeit um 1900 als die klassische und Hochzeit des Nationalstaats gilt, so muss man religionssoziologisch wohl hinzufügen: Sie ist, wie ich anderer Stelle breiter ausgeführt habe (Tyrell 2008), auch die Hochzeit der Kirche, die Zeit auch ihrer Bürokratisierung und ‚organisatorischen Hochrüstung’ (Hans Geser) und zugleich ihres stabilen und kontrollierenden Zugriffs auf große Bevölkerungsteile, wie es zumal auf katholischer Seite gegeben war. Ich weise an dieser Stelle nur auf Olaf Blaschkes Schlagwort vom 19. Jahrhundert als dem „Zweiten konfessionellen Zeitalter“ hin (Blaschke 2000), auch wenn dieses inzwischen Widerspruch auf sich gezogen hat.10 Was also dem Nationalstaat recht ist, das ist der Kirche billig: Unser Vorverständnis, unsere Standardbegriffe auch von Kirche und kirchlicher Organisation sind wesentlich Produkt des 19. Jahrhunderts. Max Webers Parallelisierung der beiden ‚Anstalten’ kommt durchaus nicht von ungefähr. Ich verzichte hier darauf, die hinreichend bekannten weberschen Definitionen einmal mehr zu zitieren, und beschränke mich auf vier Momente daran, wobei mir zunächst am Parallelismus der Bestimmungen liegt, die Weber gibt: a.
Beide, politischer und hierokratischer Verband, Staat und Kirche stehen für Fälle von herrschaftlicher Sozialorganisation; für beide gilt die dreistellige Struktur von Herr, Verwaltungsstab und Beherrschten. Zumal auf die Letzteren richten sich, staatlich wie kirchlich, die Gehorsamserwartungen. Überdies heißen Staat und Kirche mit makrosoziologischem und institutionellem Akzent Anstalt. Für Weber verbindet sich damit inklusionsbezogen, auch auf der religiösen Seite, die Vorstellung von ‚geborenen’ Mitgliedern; die Kindertaufe, die allen im Geltungsbereich der Kirche zuteil wird und die
Herrschaftstypen (rational-legal, traditional, charismatisch) gegenüber sind die politische und die hierokratische Herrschaft inhaltlich spezifiziert; auch folgt ihre Darstellung (innerhalb der Herrschaftssoziologie) nicht der Legitimitätslogik. 3. Zugleich aber gilt: das Kapitel „Politische und hierokratische Herrschaft“ ist teilweise speziell den religiösen Herrschaftsformen (u.a. ‚Kirche’, ‚Sekte’) gewidmet, zunächst aber den vielfältigen Verhältnissen von religiöser und politischer Herrschaft. Unabhängig davon sah die frühe Fassung von „Wirtschaft und Gesellschaft“ ein relativ ‚herrschaftsfreies’ religionssoziologisches Kapitel vor: Webers „systematische Religionssoziologie“ (jetzt MWG I/22-2) und darüber hinaus – als Finale der Herrschaftssoziologie – auch eine (nie ausgeführte) „Staatssoziologie“. Vgl. zur weberschen Herrschaftssoziologie im übrigen Breuer (1991), Hanke/Mommsen (2001) und Hermes (2003). 10 Zur Kritik an Blaschke vgl. Steinhoff (2004); zum ‚versäulten’ oder auch „Milieukatholizismus“ (nicht nur in Deutschland, ebenso in den Niederlanden, Belgien, der Schweiz u.a.) vgl. nur Vanderstraeten (1999); die Versäulung wird, was den Grad der damit gegebenen Verkirchlichung angeht, heute – in Parallele zum „Churching of America“ und (temporär) gegenläufig zur Säkularisierungsthese – nachgerade als historisches Ausnahmephänomen beschrieben; vgl. nur Bergunder (2001: 230ff.), jetzt auch unter dem Stichwort „Mobilisierung“ (Taylor 2009: 703ff.). Soziologisch ist sie nicht zuletzt als Organisationserfolg einzuschätzen.
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Hartmann Tyrell jedermann ‚unter ihr Regiment’ bringt, ist dafür der (christlich) einschlägige Ritus.11 Den Unterschied machen die je spezifischen Zwangsmittel gegenüber den Beherrschten: physische Gewalt und ihre Androhung hier und „psychischer Zwang durch Spendung und Versagung von Heilsgütern“ dort. Die Letzteren sind dabei nicht notwendig die schwächeren Zwangsmittel; Machiavelli sah es bekanntlich genau umgekehrt. Auf der politischen Seite ist zusätzlich Territorialität, mithin räumliche Begrenzung begriffswesentlich, auf der hierokratischen ist sie es nicht; und schon das deutet die Möglichkeit des Auseinanderfallens der sozialen Reichweiten von Religion und Politik an. Als Differenz fällt auf die Moderne bezogen auch ins Gewicht: Der Staat stellt die Organisationsform des Politischen dar; er steht auf dem politischen Feld alternativlos und als Monopolist da, während auf dem religiösen Feld durchaus auch andere, nicht kirchenartige Organisationsformen zum Tragen kommen. Der für Weber prominenteste Fall war bekanntlich die Sekte (vgl. nur Tyrell 2003: 216ff.).
Im Kontrast zu Durkheim fällt darüber hinaus, wie ich an anderer Stelle breiter ausgeführt habe (Tyrell 2008), ins Gewicht: Die moderne Trennung von Staat und Kirche – soziologischer: die Differenzierung von Religion und Politik – ist mit den weberschen Begriffen angemessen beschreibbar; ja, die Begriffsbildung ist durchaus darauf ausgerichtet, wobei für den Kirchentypus vor allem der römisch-katholische Fall steht (Tyrell 2003). Gerade die römische Kirche, deren Eigenstaatlichkeit (als ‚Kirchenstaat’) im Jahre 1870 der Durchsetzung des italienischen Nationalstaats zum Opfer gefallen war, befand sich seither ja in ihrem umso ausgeprägteren ‚Internationalismus’ (auch in ihrer Selbstbeschreibung) ‚der Staatenwelt gegenüber’ (Kallscheuer 2003). Und in Webers Augen war sie zumal seit dem Ersten Vatikanum (1869/70) über die Staatsgrenzen hinweg ein besonders repräsentativer Herrschafts- und Bürokratiefall. Dass sie dies – nach dem Ende des Ancien régime und der ‚Adelskirche’ – im Laufe des 19. Jahrhunderts hat werden können, war wesentlich mitbedingt durch die zeitgenössischen „‚Kulturkämpfe’ und namentlich durch die ‚Trennung von Staat und Kirche’“.12 11
Zur Problematik des Verständnisses der ‚Kirche als Anstalt’ (analog zum Staat) und der Diskussion dieser Begrifflichkeit um 1900 sehr hilfreich: Anter (2003: 40ff.). Erst diese „gaben der hierarchischen Gewalt Möglichkeit und Anlaß, ihr Streben nach Beseitigung des ‚Rechts am Amt’, nach Ersetzung der Präbendalisierung durch das ‚ad nutum amovible’ Kirchenbedienstete in der ganzen Welt in steigendem Maße durchzusetzen – eine der ohne allen Lärm sich vollziehenden, aber wichtigsten Verschiebungen der Kirchenverfassung“ (MWG I/22-4: 306f.). Zu den ‚Kulturkämpfen’ des 19. Jahrhunderts und ihrer soziologischen ‚Verarbeitung’ näher: Tyrell (2008).
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Im Übrigen ist der Typus der Kirche im anspruchsvolleren soziologischen Sinne13 ein auf dem religiösen Feld bzw. im interreligiösen Vergleich eher seltener, zudem primär christlicher Fall von religiöser Herrschafts- und Sozialorganisation (Weber 1972: 692f., MWG I/22-4: 590f.). Es ist hier unumgänglich, darauf aufmerksam zu machen, dass dem weberschen Differenzieren, was Religion und Politik angeht, Grenzen gesetzt sind. Nicht zuletzt entstammen diese Grenzen den uns heute so sehr vertrauten Problemen, die der Religionsbegriff beschert. Das lässt sich schon am Herrschaftsfall des Charisma verdeutlichen: Das Religiöse oder doch ‚Religioide’, das dem Charisma als solchem spezifisch ist, zeigt sich schon daran, dass dieses in einer Semantik beschrieben und bestimmt wird, die ganz überwiegend dem religiösen Feld entnommen ist. Das gilt bekanntlich für den Charismabegriff selbst, aber nicht minder für das zugehörige Vokabular von ‚Gnadengabe’, ‚Glaube’, ‚Hingabe’ usw. (vgl. nur MWG I/22-4: 734ff.). Und dass die charismatischen Fälle, die Weber im Sinn hatte, zu einem erheblichen Teil dem religiösen Feld zuzurechnen sind, versteht sich. Das Religioide, das dem Charisma als ‚Typus’ zukommt, gilt aber nicht minder für die Exempel auf der politischen Seite: für den charismatischen Kriegsfürsten, den hellenischen Demagogen usw. ‚Charismatische Führerschaft’ lag Weber ja bekanntlich gerade in der Sphäre des Politischen am Herzen. Überhaupt hat der Legitimitätsbedarf des Politischen, was seine Befriedigung und deren Artikulationen angeht, eine Disposition ins Religiöse. Das ist ablesbar auch an der Sprache, in der Weber seinen Typus der ‚traditionalen Herrschaft’ charakterisiert. Wiederholt bedenkt er ‚das Traditionale’ – auf seine Nichtänderbarkeit („Stereotypierung“) hin – mit dem Titel des Heiligen. So wird die ‚traditionale Herrschaft’ charakterisiert als eine „kraft Glaubens an die Heiligkeit der von jeher vorhandenen Ordnungen und Herrengewalten“ (ebd.: 729). Die Schwierigkeiten, zwischen ‚religiös’ und ‚politisch’ zu trennen, zeigen sich im übrigen auch an der (nicht stark ausgearbeiteten) Typologie, die Weber den Varianten der „Beziehung der politischen zur kirchlichen Macht“ gewidmet hat; sie findet sich am Anfang des erwähnten Kapitels „Politische und hierokratische Herrschaft“ (ebd.: 582ff.). Die webersche Typenbildung hält diesbezüglich zwei Fälle von ‚Hierokratie’ auseinander: den (eher seltenen) ‚theokratischen’, in dem die Königsfunktionen im priesterlichen Spitzenamt mitvollzogen 13
Für Weber zählt dazu u.a. die Ausdifferenzierung eines ‚Berufspriesterstands’, das dazugehörige ‚Amtscharisma’, ein bestimmtes Rationalisierungsniveau von Dogma und Kultus, dies alles im Rahmen „einer anstaltsartigen Gemeinschaft“. Von Gewicht ist auch, daß „die Hierokratie ‚universalistische’ Herrschaftsansprüche erhebt, d.h. mindestens die Gebundenheit an Haus, Sippe, Stamm überwunden hat, im vollen Sinne erst, wenn auch die ethnisch-nationalen Schranken gefallen sind, also bei völliger religiöser Nivellierung“ (1972: 692, MWG I/22-4: 590f.).
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werden, sowie den Fall des „priesterlich, sei es als Inkarnation, sei es als gottgewollt legitimierten“ Herrschers. Von beiden unterschieden ist der ‚cäsaropapistisch’ genannte Fall, in dem der politische Herrscher „kraft Eigenrecht auch die höchste Macht in kirchlichen Dingen“ für sich in Anspruch nimmt (ebd.: 583).14 Es ist aber weniger die Typologie selbst, die hier interessiert, und auch nicht die schwer vermeidliche Zuhilfenahme der spezifisch dem Okzident zugehörigen semantischen Unterscheidung von ‚weltlich’ und ‚kirchlich’. Interessieren muss vielmehr, dass, wie Weber es selbst zur Sprache bringt, die herrschaftssoziologische Unterscheidung von ‚politisch’ hier und ‚hierokratisch’ dort nicht perfekt aufgehen will. Sie tut es deshalb nicht, weil die politische Seite für sich – als „legitime politische Gewalt“ – nicht ohne ein „Minimum“ an Eigensakralität oder religiös/‚religoidem’ Charisma auskommt; Weber spricht diesbezüglich, in Anführungsstrichen, von ‚Gottesgnadentum’.15 Auch der ‚weltlich’-politischen Herrschaft also haftet, als deren Eigenqualität, ein sakral-hierokratisches Moment an. Man braucht dafür nur an die „wundertätigen Könige“ Frankreichs und Englands zu denken, denen Marc Bloch (1998) sein großes Buch gewidmet hat; dessen französischer Untertitel sagt es deutlich: „Étude sur le charactère surnaturel attribué à la puissance royale particulièrement en France et en Angleterre“. 2. Die Bestimmungen zu Politik und Hierokratie bzw. zu Staat und Kirche, die der § 17 der „Soziologischen Grundbegriffe“ gibt, besagen zunächst noch nichts über beider Verhältnis zueinander aus. Es versteht sich nach den zuvor Gesagten aber, dass Weber – historisch zurückblickend und universalhistorisch vergleichend – die funktionalen Verflechtungen, also die vielfältigen herrschaftsbezogenen Interdependenzen zwischen Politik und Religion vor Augen waren. Zumal ‚die Nützlichkeit’ der Hierokratie für die politischen Herrschaftsverhältnisse ist bei Weber stark herausgestellt; die Stichworte dafür sind Legitimationsbeschaffung bzw. Legitimitätssicherung sowie ‚Massendomestikation’. So beobachtet Weber (1972: 689, MWG I/22-4: 584), was das letztere angeht, etwa, dass sich die Hierokratie (die Priesterschaft) „überall den Erobererstaaten 14 Die gemeinhin dualistisch genannte und, denkt man vom okzidentalen Investiturstreit her, differenzierungsträchtige Konstellation, die ein institutionelles Nebeneinander (und Gegenüber) von politischer und priesterlich-hierokratischer Herrschaftsstellung vorsieht, wird von vielen Autoren als dritter Typus neben ‚Theokratie’ und ‚Cäsaropapismus’ geltend gemacht; vgl. nur Assmann (2000: 28). Webers Typologie sieht sie explizit nicht vor, hat sie in der Sache aber durchaus im Blick. 15 Vgl. MWG I/22-4: 587: „Irgendwelches Minimum von theokratischen oder cäsaropapistischen Elementen pflegt (...) also mit jeder legitimen, politischen Gewalt, welcher Struktur immer, sich zu verschmelzen, weil schließlich jedes Charisma doch irgendeinen Rest von magischer Herkunft beansprucht, also religiösen Gewalten verwandt (sic! – meine Hervorhebung, HT) ist und also das ‚Gottesgnadentum’ in irgendeinem Sinne immer in ihr liegt.“
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als ein Mittel der Domestikation unterworfener Völker empfohlen“ hat. Wichtiger aber ist mir an dieser Stelle sein Insistieren auf dem Konfliktpotenzial, das hier strukturell angelegt ist. Gemeint ist damit jener schon zitierte „offene oder latente Kampf weltlich politischer mit theokratischen Gewalten“, wie er ihn für die Herrschaftsverhältnisse im Altertum so deutlich herausgestellt hat (1924: 44). Darüber hinaus galt Webers kulturvergleichende Aufmerksamkeit den institutionellen Resultaten, die der Kampf von politischer Herrenschicht und Hierokratie jeweils produzierte.16 Diese Kämpfe konnte er Kulturkämpfe nennen. Ich gebe zur Illustration ein eindrucksvolles längeres Zitat aus der Indienstudie (1920b, 138f.), das mit Blick auf die jeweilige Frühzeit Indien mit China vergleicht und dabei vor Augen führt, welch unterschiedliche Entwicklungspfade die religiös-politischen Verhältnisse hier jeweils eingeschlagen haben. Weber unterstellt – vor dem Hintergrund durchaus affiner Ausgangslagen – Abweichungsverstärkungen, die sich dann institutionell irreversibel konsolidiert und verfestigt haben. In seiner eigenwillig komparativen Diktion spricht Weber auf der chinesischen Seite vom „kaiserlichen Oberpontifex“, ja vom chinesischen ‚Kirchenstaat’. Ganz anders in Indien: „Der Begriff der Legitimität war hier vielmehr lediglich der: daß der einzelne Fürst dann und insoweit als ein „legitimer“, d.h. rituell korrekter Herrscher galt, als er sich in seinem Verhalten, zumal gegenüber den Brahmanen, an die heilige Tradition band. Andernfalls war er „Barbar“, ebenso wie ja auch die Feudalfürsten Chinas an dem Maßstab ihrer Korrektheit gegenüber der Literatenlehre gemessen wurden. Kein König Indiens aber, so groß auch [...] seine faktische Macht selbst in rituellen Dingen sein mochte, war je als solcher zugleich ein Priester. Und zwar geht dieser Unterschied gegenüber China offenbar in die ältesten [...] erreichbaren Zeiten der beiderseitigen Geschichte zurück. Schon die altvedische Überlieferung bezeichnete die schwarzhäutigen Gegner der Arier im Gegensatz zu diesen als „priesterlos“ (abrahmana). Bei den Ariern steht dagegen von Anfang an neben dem Fürsten selbständig der im Opferritual geschulte Priester. Dagegen weiß die älteste Überlieferung der Chinesen von selbständigen Priestern neben einem rein weltlichen Fürsten nichts. Bei den Indern ist das Fürstentum ersichtlich aus der rein weltlichen Politik, aus den Kriegszügen charismatischer Kriegshäuptlinge, herausgewachsen, in China dagegen [...] aus dem Oberpriestertum. Welche historischen Vorgänge die Entstehung dieses überall höchst wichtigen Gegensatzes der Einheit oder Zweiheit der politischen und priesterlichen höchsten Gewalt in diesem Fall erklären, dafür ist es 16
„Das, nicht immer, im offenen Kampf sich äußernde Ringen zwischen Kriegs- und Tempeladel, zwischen königlicher Gefolgschaft und priesterlicher Gefolgschaft, ist überall bei der Prägung von Staat und Gesellschaft am Werk gewesen. Es hat [...] mit […] für den Orient und Okzident so ganz verschiedenen Ergebnissen für die Kulturentwicklung entscheidende Züge und Unterschiede hervorgebracht“ (Weber 1972: 690, MWG I/22-4: 584f.). Siehe dort auch weiter; vgl. weiterhin Hermes (2003: 201ff).
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Hartmann Tyrell wohl ausgeschlossen jemals auch nur bis zu hypothetischen Vermutungen zu gelangen.“
Man sieht: Krieg und Kult sind hier – auf Politik bzw. auf Religion hin – als zwei ‚von vornherein’ differente ‚Funktionskeime’ veranschlagt; beide sind – auf Kriegsfürstentum bzw. Priesterschaft hin – herrschaftlich disponiert, und es hängt von durchaus kontingenten gesellschaftlichen Umständen in den evolutionären Frühstadien ab, ob beide im Zuge der hochkulturellen Etablierung stabilisierter Herrschaftsverhältnisse institutionell getrennte Wege gehen oder ob sie unter der Dominanz der einen oder der anderen Seite als Funktionen zusammenfinden. Hier sei, bezogen auf die ‚getrennten Wege’, nur angemerkt: zu dem Sonderweg, den der Okzident, den die ‚lateinische Christenheit’ seit der Spätantike und vor allem im Mittelalter eingeschlagen hat, gehört als eine der prominenten strukturellen Eigentümlichkeiten der ausgeprägte institutionelle Dualismus von Sacerdotium und Imperium (Reinhard 1992, Mitterauer 2003: 152ff.); auf die organisatorische Potenz der römischen Kirche und ihre römischrechtliche Ausstattung kam es dabei (als historische Besonderheit) an. Weber hat gerade auch auf diese „Zweiheit“ hin Ernst Troeltschs These von der „Einheitskultur des Mittelalters“ mit Nachdruck widersprochen (dazu näher Tyrell 2003: 201ff.). Die Doppelbestimmungen von ‚politischem’ und ‚hierokratischem Verband’ bzw. von ‚Staat’ und ‚Kirche’ im § 17 der „Soziologischen Grundbegriffe“ haben auch das im Sinn. Man stößt hier im Übrigen, was das Gegenüber von Staat und Kirche angeht, auf eine weitere Asymmetrie: Während Webers Definition des Staates exklusiv die modernen Verhältnisse im Sinn hat, ist der ‚hierokratische Anstaltsbetrieb’ der Kirche (mit seinem „Monopol legitimen hierokratischen Zwanges“) durchaus kompatibel auch (schon) mit den mittelalterlichen Gegebenheiten; die vorreformatorische ‚Alleinstellung’ der römischen Kirche auf dem religiösen Feld und ihr vielbetonter ‚Modernitätsvorsprung’ vor den seinerzeitigen ‚politischen Verbänden’ weisen in die gleiche Richtung. Es wäre hier, was den besagten § 17 angeht, weiterhin vonnöten, sich eingehender auf eine Auseinandersetzung mit José Casanova (2001: 424f.; 1994: 54ff.) einzulassen, der mit Blick auf die aktuellen Sozialverhältnisse der Jahrtausendwende meint, „that globalization makes Weber’s definition of both, church and state, outmoded and increasingly irrelevant.“ Diese muss hier aus Platzgründen unterbleiben. Anmerken will ich nur so viel: Casanova unterstellt in seinem Argument der bzw. den ‚christlichen Kirche(n)’ seit der Spätantike eine Staatsnähe, wie sie Weber interkulturell vergleichend nicht ‚akzeptiert’ hätte. Diesem war vielmehr die erhebliche Autonomie der römischen Kirche und ihre institutionelle Unterschiedenheit von den politischen Verbänden (zumal im Blick auf das europäische Mittelalter) das universalhistorisch Bemerkenswerte. Maßgeb-
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lich für ihre Widerstandsfähigkeit war in Webers Augen, dass der Kirche „eine göttlich verordnete, von der weltlichen Gewalt gesonderte Form der Kirchenverfassung“ zukam (MWG I/22-4: 6111f.).17 Im Übrigen halte ich fest: Im Hinblick auf die ‚nationale Konstellation’ von 1900 – bezogen also auf eine Zeit, in der auf katholischer Seite noch Hölle und Verdammnis gepredigt wurden, in der der Klerus das Sündenbewusstsein der Gläubigen wach hielt und in der man noch beichtete (Ebertz 2004: 177ff.) – waren die ‚Kirchenbestimmungen’ des § 17 auf der Höhe der Zeit.18 Casanova (1994: 45ff.) liegt freilich mit dem Hinweis richtig, dass Weber in der „Einleitung“, die er den Studien zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ vorangestellt hat, eine Unterscheidung (in der englischen Übersetzung) zwischen „community cults“ und „religious communities“ macht.19 Beide stehen für Weber allerdings ‚ungleichzeitig’ zueinander. Bezogen auf archaische Sozialverhältnisse hat er zwei soziale Konstellationen als Ausgangs- und Anknüpfungspunkte der religiösen Evolution benannt. Es ist dies einerseits „der urwüchsige Gemeinschaftskult, vor allem derjenige der politischen Verbände“20; er ist Sache des Kollektivs, und „die individuellen Interessen“ bleiben hier „aus dem Spiel“ (Weber 1920a: 243). Diesem „Kult der Gemeinschaft“ steht, andererseits, die Magie gegenüber, die gerade auf Individualnachfrage reagiert: „Zur Abwendung oder Beseitigung von Uebeln, die den Einzelnen betrafen, – vor allem: Krankheit –, wendete dieser sich nicht an den Kult der Gemeinschaft, sondern als Einzelner an den Zauberer, den ältesten individuellen ‚Seelsorger’“ (Weber 1920a: 243). Weber zieht von hier aus eine Linie, die vom Magier über den Mystagogen zum Propheten führt; eine Linie, die „unter günstigen Umständen zu einer von den ethnischen Verbänden unabhängigen ‚Gemeinde’-Bildung“ führte und an deren Ende die großen Erlösungsreligionen stehen.21 Die Religion brach17
Es heißt dort weiter: „Die katholische Kirche mit ihrem eigenen, auf römischer Tradition ruhenden, Amtsapparat, der für ihre Bekenner divini juris ist, hat cäsaropapistischen Neigungen den hartnäckigsten und, nach notgedrungenen Konzessionen in Zeiten der Bedrängnis, schließlich erfolgreichen Widerstand entgegengesetzt.“ 18 Vgl. zu Kirche(n) und Staat im deutschen Kaiserreich nur Hübinger (2003), ferner deutschfranzösisch vergleichend Tyrell (2008). 19 Ganz irrig scheint es mir allerdings, die ‚christliche Kirche’ zum spezifischen historischen Fall der „Fusion“ oder Kombination der beiden Typen („the community cult and salvation religions“ bzw. „religious community“) zu erklären, wie es Casanova (1994: 47) dann tut. 20 „Der Stammesgott, Lokalgott, Stadtgott, Reichsgott kümmerte sich nur um Interessen, welche die Gesamtheit angingen: Regen und Sonnenschein, Jagdbeute, Sieg über die Feinde. An ihn wendete sich die Gesamtheit als solche im Gemeinschaftskult“ (Weber 1920a: 243). 21 „Damit war eine religiöse Gemeinschaftsveranstaltung für individuelles ‚Leiden’ als solches und für ‚Erlösung’ davon entstanden. Die Verkündigung und Verheißung wendete sich nun naturgemäß an die Massen, welche der Erlösung bedurften. Sie und ihre Interessen traten in den Mittelpunkt des berufsmäßigen Betriebes der ‚Seelsorge’, welche damit recht eigentlich entstand“ (Weber 1920a: 43).
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te es damit zu ‚eigener’ Gemeinschaftsbildung, die sich nicht mehr an die politischen und/oder ethnischen Verbände anlehnt, und ‚Kirche’ ist dafür ein prominenter Fall. Das „unter günstigen Umständen“ sagt aber deutlich: Der Weg hin zu den Erlösungsreligionen (und zur „religious community“) ist alles andere als ein ‚selbstläufiger’; er stellt einen unwahrscheinlichen Entwicklungspfad dar, und Fälle der strukturellen „Hemmung“ der „Entwicklung zur ‚Erlösungsreligion’“ waren Weber soziologisch deutlich vor Augen (1972: 692, MWG I/224: 589). Gerade im Blick auf China, „wo der Staatskult [...] von der Not des einzelnen keine Notiz nahm“ und wo weder Taoismus noch der importierte Buddhismus „eine religiöse Gemeindebildung“ („für die Laien“) im Gefolge hatten, wollte er (Weber 1920a: 511f.) „soziologisch angesehen“ nur von „verkümmerten Ansätzen von Erlösungsreligiosität“ sprechen. Was nun für Weber im Sinne ‚religiöser Evolution’22 zählte, das war die (zweite) Linie, die mit Casanova, was die religiöse Sozialorganisation angeht, auf „religious communities“ hinausführt. Man darf sich dabei nicht durch den starken typologischen Gegensatz, den Weber an anderer Stelle zwischen Magie hier und Religion dort bzw. zwischen Zauberer und Priester aufmacht (1972: 240ff., MWG I/22-2: 154ff.), irritieren lassen: Der Ausgangspunkt der religiösen 22 Ich nehme diese Begrifflichkeit in lockerem Anschluss an Robert N. Bellah (1964) auf. Bellah war seinerzeit schon als Weberkenner ausgewiesen, wofür auf seine Rezension der 1958 erschienenen englischen Version von Webers Indienstudie hingewiesen sei, die mit der Übersetzung streng ins Gericht geht; dazu auch Kantowsky (1982: 345ff.). Was die ‚religiöse Evolution’ angeht, so werden wesentliche Probleme daran heute unter dem auf Karl Jaspers zurückgehenden Titel der Achsenzeit verhandelt. Auch an dieser Debatte hat sich Bellah (2005b) beteiligt und den Blick dabei u.a. auf die achsenzeitlichen Verschiebungen „in the relation of god and king“ gerichtet. An dieser Stelle sei bezüglich der ‚Achsenzeit’ nur zweierlei kurz angemerkt: 1. Der Gedanke, den Jaspers auf den Begriff der ‚Achsenzeit’ gebracht hat, war um 1900 längst ‚im Gespräch’; vgl. dafür nur Vollers (1907: 7f.). In diesem mit den ‚Weltreligionen’ befassten Buch liest man zu Beginn dies: „Schon von anderer Seite ist hervorgehoben (sic! – HT), daß die Mitte, genauer die mittlere Hälfte, des letzten vorchristlichen Jahrtausends (750-250 v. Chr.) von ungewöhnlicher Fruchtbarkeit und maßgebender Bedeutung für die Entfaltung der großen Gedanken gewesen ist, deren Geschichte hier verfolgt werden soll.“ Es folgt – von Griechenland bis nach Ostasien – die Aufzählung der Denker jener „großen Gedanken“, von deren „Errungenschaften wir zum Teil zum großen Teil noch jetzt zehren.“ Vom (wenn man so sagen darf) religiös-intellektuellen Weltkulturerbe des ersten vorchristlichen Jahrtausends hat dann Jaspers in ganz ähnlicher Tonart gesprochen. 2. Es gilt nun aber zu sehen: Weber hat diesen Faden nicht aufgenommen, er hat hier nicht angeknüpft, denn das interhochkulturelle „Gesamtphänomen der Achsenzeit“, wie es Jaspers dann – auf Einheit hin - stark gemacht hat, lief seiner Denkungsart durchaus zuwider. Die Webersche Religionssoziologie betrieb eben ein vergleichendes Geschäft und interessierte sich vorrangig für kulturelle ‚Eigentümlichkeiten’ und Unterschiede (Song-U Chon 1992). Man braucht dafür nur auf den dem Propheten (als Typus) gewidmeten Abschnitt 4 der ‚systematischen Religionssoziologie’ hinzuweisen (MWG I/22-2, 177ff.). Alles, was in der Achsenzeit (von Konfuzius über den Buddha zu Sokrates) Rang und Namen hat, ist dort versammelt – aber auf Unterscheidung hin, und jede Anstrengung, eine Formel für die Einheit des Unterschiedenen zu suchen, unterbleibt. Vgl. zur Achsenzeit im Übrigen den sehr instruktiven und eher auf der Linie Webers sich bewegenden Bericht von Stefan Breuer (1994).
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Evolution liegt bei der Magie und ihrer seelsorgerischen Bearbeitung von „Not und Leid des einzelnen“, ihrer Bezugnahme auf die ‚Wechselfälle des Lebens’. Und man darf sagen: alle (spätere) Erlösungsreligion befindet sich in der Kontinuität dieses Ausgangspunktes und seiner Problembezüge. Dass der webersche Weg zur Erlösungsreligion andererseits von bestimmten Entwicklungskonstellationen aus auf die Zurückdrängung des Magischen hinausläuft und Entzauberung beinhaltet, ist religionssoziologisch hinreichend bekannt. Dabei kommt der Gegensatz von Magie und Religion voll zum Tragen, im Sinne der Überwindung der Ersteren und damit auch als ein Nacheinander von Magie und Religion. Das klassische China aber stellt, was das angeht, in Webers Sicht (1920a: 511) einen Fall dar, der diese Hürde nicht genommen hat, einen weitgehend „in Magie stecken gebliebenen“ Fall und durchaus nicht den einzigen. Man kann durchaus sagen: Der Zuschnitt und die Reichweiten der weberschen Religionssoziologie ergeben sich daraus, dass ihm die ‚religiöse Evolution’ vor allem als eine auf der Linie von der Magie zu den großen Erlösungsreligionen vor Augen war; die herrschaftssoziologischen Fragen nach dem Verhältnis von Religion und Politik und damit auch das Problem des öffentlichen und „Gemeinschaftskults“ liefen dabei seitlich mit.23 Das ergibt zwangsläufig eine ganz andere Religionssoziologie als die durkheimsche, der gerade der ‚Gemeinschaftskult’ das Zentrum des Religiösen war.
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Durkheim: Religion, Kirche und Zivilreligion
1. Damit wechsle ich nun auf die Seite von Émile Durkheim.24 Hier gilt es, vorweg zu sagen: die Begriffsbildung, auf die wir bei diesem stoßen, muss insofern eine undifferenzierte genannt werden, als sie bemüht ist, Gesellschaft und Staat, Nation und Kollektivgefühle, Religion und normative Bindung unter einem Dach zusammenzuführen. Ich habe das an anderer Stelle breiter dargelegt (Tyrell 2008) und möchte an dieser Stelle noch einen weiteren Kollektivbegriff ins Spiel bringen, der unter dasselbe Dach gehört und den Vorzug hat, den religionssoziologischen Kontrast zu Weber sichtbar zu machen. Es geht um den durkheimschen Begriff der Kirche. Im Blick ist damit Durkheims religionssoziologisches Hauptwerk, 1912 publiziert: „Les formes élémentaires de la vie reli23
Hier wiederholt sich, was sich oben schon ergeben hatte: Der (erlösungs)religiösen Seite gehört nicht die ‚ganze Religion’; ein ‚religiöser Rest’, wenn man so sagen darf, hält sich, wie artikuliert und wie stark expliziert auch immer, auf der politischen Seite. 24 Die weiteren Darlegungen halten sich ganz überwiegend an die „Formes élémentaires de la vie religieuse“ (Durkheim 1981, 1985). Eine umfassende Darstellung der durkheimschen Religionssoziologie und ihrer Themen findet sich bei Pickering (1984).
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gieuse“. Und ich wende mich unmittelbar der bekannten Religionsdefinition zu, die das Resultat des ersten Kapitels des ersten Buches ist und nachdrücklich auf den Kirchenbegriff baut (1981: 75; 1985: 65). Sie lautet, um eine Erläuterung angereichert, so: „Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken, beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören. Das zweite Element, das in unserer Definition auftaucht, ist nicht weniger wichtig als das erste; denn wenn man zeigt, daß die Religion von der Idee der Kirche nicht zu trennen ist, dann kann man ahnen, daß die Religion eine im wesentlichen kollektive Angelegenheit ist.“
Man sieht sofort: Die Definition zielt in ihrem zweiten Teil, um den allein es im Weiteren geht, auf das, was bei Weber „Gemeinschaftskult“ heißt. Und man sieht auch, dass die Definition nicht auf die Unterscheidung der Religion von der Politik bzw. der Kirche vom Staat hin angelegt ist. Im Gegenteil: Da es vor allem darauf ankommt, dass die Religion „une chose éminemment collective“ ist, hat die Definition zur Politik, genauer: zu den politischen Kollektiven hin eine offene Flanke.25 Und weit mehr als das: dass in der Moderne die Nation ‚Kirche’ – also jene „communauté morale, appelée Église“ der Religionsdefinition – sein kann, ist, wie ich andernorts detaillierter gezeigt habe (Tyrell 2008), eines der zentralen Anliegen der durkheimschen Religionssoziologie. Wichtig zu wissen ist auch: Unter den Kollektivbegriffen, die Durkheim zu Gebote waren, ist der (substantiell religiöse) Begriff der ‚Kirche’ eher ungewöhnlich, und auch innerhalb der „Formes élémentaires“ kommt er, wenn ich recht sehe, nur in der auf die Religionsdefinition hinführenden Passage so nachdrücklich zum Zuge; danach regiert wieder ‚die Gesellschaft’. Entscheidend ist nun auf Max Weber hin: An der (weberschen) Unterscheidung der ‚Kultgemeinschaft’, die sich an verwandtschaftliche, politische oder ethnische Verbände anlehnt, einerseits und der spezifisch (erlösungs-)religiösen Vergemeinschaftung, die u. U. ‚Kirche’ sein kann, andererseits ist Durkheim nicht gelegen. Das kirchliche Kollektiv in seinem Sinne kann ein ethnischpolitisch begrenztes sein, es kann aber auch über die nationalen Grenzen hinausgreifen und ebenso auch ein Teilkollektiv innerhalb dieser Grenzen bezeichnen; ausschlaggebend ist das Gegebensein einer ihrer selbst bewussten ‚moralischen Gemeinschaft’ als solches. Das religiöse und das politische Kollektiv können also, was ihre jeweiligen sozialen Reichweiten angeht, unabhängig voneinander 25
Dass diese ‚Kirche’ dem Herrschafts- und Anstaltsverständnis, das sich bei Weber damit verbindet, fernsteht, muss wohl kaum betont werden.
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variieren; ihre Koinzidenz ist aber durchaus nichts Fernliegendes. Auch auf die Herrschaft von Priestern kommt es nicht an. Auf das hin, was er historisch vor Augen hat und unter denselben Begriff ‚der Kirche’ zieht, lohnt es, Durkheim (1981: 71; 1985: 60f.) noch ein zweites Mal zu hören: „Eine Gesellschaft, deren Mitglieder vereint sind, weil sie sich die heilige Welt und ihre Beziehungen mit der profanen Welt auf die gleiche Weise vorstellen und diese gemeinsamen Vorstellungen in gleiche Praktiken übersetzen, nennt man eine Kirche. Nun begegnen wir in der Geschichte keiner Religion ohne Kirche. Manchmal ist die Kirche eng national, manchmal dehnt sie sich über die Grenzen aus; manchmal umfaßt sie ein ganzes Volk (Rom, Athen, das jüdische Volk), manchmal nur einen Teil davon (die christlichen Gesellschaften seit dem Aufkommen des Protestantismus); manchmal wird sie von einer Körperschaft von Priestern geleitet, manchmal fehlt fast jedes offizielle Leitungsgremium. Aber überall, wo wir religiöses Leben beobachten, hat sie als Unterbau eine bestimmte Gruppe.“
Hier muss nun weiterhin interessieren, dass ‚die Kirche’ bei Durkheim einen (hier bereits eingeführten) Gegenbegriff hat. Der Kollektivbegriff der Kirche dient ihm nämlich dazu, die Magie aus der Religion herauszuhalten. Und wie bei Max Weber stößt man auch hier, was die Unterscheidung von ‚Religion’ und ‚Magie’ angeht, auf den Gegensatz von ‚kollektiv’ und ‚individuell’, wenngleich in ganz anderer Akzentuierung: Der Problembezug der durkheimschen Magie sind nicht die Not und der Leidensanfall bei den Individuen, vielmehr ihr gewerblicher Charakter und die soziale Figuration, die sich dadurch auf der Nachfrageseite ergibt. Die magische Dienstleistung ‚vereinigt’ die, die ‚therapiert’ und magisch behandelt werden, untereinander typischerweise nicht, schon gar nicht zu einer Gemeinde, wie sie „die Gläubigen eines gleichen Gottes und die Anhänger eines gleichen Kultes bilden. Der Magier hat eine Kundschaft und keine Kirche“ (1981: 72). Im Spiel ist hierbei auch der Gegensatz von ‚privat’ und ‚öffentlich’. Und man muss weiterhin den Versammlungssinn von ‚Kirche’ bedenken, den Durkheim (1981: 571ff.), ohne dabei allerdings noch explizit von ‚Kirche’ zu sprechen, mit guten soziologischen Gründen herausstellt: Das Bezugsproblem dafür ist die Stabilisierung dessen, was der jeweiligen Gruppe oder Gesellschaft ‚heilig’ ist, das Intakthalten der darauf bezogenen „Kollektivgefühle und Kollektivideen“. Es bedarf der regelmäßigen Feste und sich wiederholenden gemeinsamen Riten, die diese Gefühlslagen und Ideenbestände wachhalten und reaktivieren. Solche „moralische Wiederbelebung“ aber braucht die kollektive Anwesenheit der Gläubigen, sie braucht „de réunions, d’assemblées, de congrégations“ (1985: 610). Und nicht zufällig kommt gerade an dieser Stelle der zivilreligiöse Gedanke, der Durkheims Buch durchzieht, ganz explizit zum Ausdruck (1981: 571):
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„Welchen wesentlichen Unterschied gibt es zwischen einer Versammlung von Christen, die die wesentlichen Stationen aus Christi Leben feiern, oder von Juden, die den Auszug aus Ägypten oder die Verkündigung der Zehn Gebote zelebrieren, und einer Vereinigung von Bürgern, die sich der Errichtung einer neuen Moralcharta oder eines großen Ereignisses des nationalen Lebens erinnern?“
Natürlich soll die Antwort sein: Da ist kein wesentlicher Unterschied, jedenfalls keiner, der daran hinderte, auch jener „réunion de citoyens“ den Titel des Religiösen unbeeinträchtigt zuzuerkennen. Damit aber kommen „la vie nationale“ und „la vie religieuse“, Nation und Kirche zur Deckung. Durkheims „Formes élémentaires“ sind bekanntlich ein Buch über die australischen Ureinwohner, über ihre Religion als die Elementarreligion, die schlechthin einfachste, die aller Rollen- oder sonstigen Differenzierung im religiösen Feld voranliegt. Zugleich aber geht es um Religion (und Kirche) schlechthin, um eine Religion, die alles hat, was einer Religion zukommt, in deren Kontinuität sich alle spätere Religion hält und für die jede Gesellschaft vitalen Bedarf hat, auch die moderne Gesellschaft. Und nimmt man nun, durchaus in Durkheims Sinne, im Blick auf die Moderne die Nation (und den Nationalstaat) als die adäquate Figuration und Verfassung von Gesellschaft, dann geht es, wie gehört, bei ‚Religion’ und ‚Kirche’ vor allem um die ihr, der Nation, zugehörigen öffentlichen Praktiken und Glaubensvorstellungen. Spitzt man die Dinge nun für Frankreich und seine Kulturkampfsituation um 1900 weiter zu, so kann man sagen: Innerhalb der „moralischen Gemeinschaft“ (und „Kirche“), wie sie die Nation verkörpert, ist seit 1905 – durch die in diesem Jahr vollzogene Trennung von Staat und Kirche – für die katholische Kirche kein Platz mehr vorgesehen.26 Mit seiner Entfernung aus der Substanz des Nationalstaats und der ihm staatlich dekretierten Privatisierung und Vereinsförmigkeit ist der Katholizismus, nach durkheimschen Kategorien, in die Nähe zur Magie gebracht. Und selbst der Kirchentitel scheint dem Katholizismus soziologisch aberkannt und nun für die Nation und den Patriotismus in Anspruch genommen. Wenn man Durkheim unterstellt, dass er dergleichen im Sinn hatte, dann befindet man sich in Übereinstimmung mit nicht wenigen Durkheiminterpreten (gut: Firsching 1995). Gleichwohl wird einiges davon zu relativieren sein. 2. Die durkheimsche Religionssoziologie ist wiederholt in den Zusammenhang von Zivilreligion gestellt worden (vgl. nur Kleger/Müller 1985: 79ff., Willaime 26
Im Kontext eines Kolloquiums, das dem Trennungsgesetz gewidmet war, hat Durkheim im Jahre 1905 die (zeitgenössische) katholische Kirche „eine soziologische Monstrosität“ genannt; vgl. Pickering (1984: 432).
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1986: 150ff.), der ‚Zivilreligion’ zunächst im Sinne Jean-Jacques Rousseaus, wie sie im 8. Kapitel des 4. Buches des „Contrat Social“ (1966: 181ff.) entwickelt wird. Der wesentliche Ausgangspunkt Rousseaus war bekanntlich, dass mit dem Christentum ‚kein Staat zu machen’ ist. Mit dem Christentum sei vielmehr eine für „die Einheit des Staates“ dauerbedrohliche Differenz in die Welt gekommen.27 Das Spaltende und Friedensstörende an dieser Differenz lag nicht zuletzt darin, dass sie es „letzten Endes“ ungeklärt ließ, „ob man dem Herrn oder dem Priester zu gehorchen verpflichtet war“ (ebd.: 184). Rousseaus ‚Zivilreligion’, die diese Wunde heilen sollte, ist dann so entworfen, dass sie die Differenz zurücknimmt und die Religion, die politisch unverzichtbar ist, nach antikem Vorbild ganz dem Staat und seinem Integrationsbedarf adaptiert – als eine Religion des Staates und für den Staat. Durkheims Religionssoziologie hat weniger ‚Staat’ und mehr ‚Gesellschaft’ im Sinn, und doch kann man sie insofern auf das rousseausche Programm rückbeziehen, als sie einerseits den französischen Nationalstaat auf eine im Sinne der Laïzität dezidiert nichtchristliche, aber doch ‚religiöse’ kollektiv-integrative Grundlage gebaut sehen wollte und ihr damit das Christentum – religionssoziologisch (!) – zur quantité negligeable wurde; die (gesellschaftlich-national) tragende moralische Gemeinschaft - und insofern: Kirche - konnte und sollte es eben nicht mehr sein. Mit der ‚Privatisierung’ des Katholizismus sind ‚die Zweiheit’ und Differenz von Staat und Kirche zum Verschwinden gebracht. An eine Differenzierung zwischen Politik und Religion war also soziologisch nicht mehr zu denken. Damit zu Robert N. Bellah. Dieser hat, als er 1967 ‚die Zivilreligion’ – als eigenreligiöse Praxis des US-amerikanischen Staates von seinen Anfängen an – neu erfand, unmittelbar an Durkheim angeschlossen (vgl. auch Thomas 2001: 177f., 184ff.). Das ist schon an seiner ersten Kennzeichnung ‚des Religiösen’ an dieser Art Religion abzulesen: „a collection of beliefs, symbols, and rituals with respect to sacred things and institutionalized in a collectivity“ (Bellah 1970: 175). Beide Komponenten des durkheimschen Religionsbegriffs – Sakralität und Moralgemeinschaft – sind hier festgehalten. Andererseits ist die, wenn man so sagen darf, ‚Staatszugehörigkeit’ der Zivilreligion bei Bellah klar zum Ausdruck gebracht. Worum es in der Sache geht, hat Claudia Haydt (2000: 717) im Metzler Lexikon Religion treffend dargestellt: „Zivilreligion bezeichnet ein System von Sprachformeln (Metaphern, Zitate, Merksätze), Symbolen, Ritualen und Mythen in repräsentativer Öffentlichkeit und Politik, das die Bedeutung und die Grenzen einer Gesellschaft von Staats wegen definiert, 27 Rousseau (1966: 184) nennt sie „die Trennung des theologischen Systems vom politischen“; ihr schreibt er „jene inneren Spaltungen“ zu, „die nie aufgehört haben, die christlichen Völker zu beunruhigen“.
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Hartmann Tyrell ihre Ziele legitimiert, sinnstiftend und gemeinschaftsfördernd wirkt, die Bevölkerung mit den verkörperten Werten und Grundhaltungen vertraut macht und Kräfte zur Verwirklichung dieser Ziele mobilisiert. Die Sprache der Formeln, symbolischen Handlungen und kollektiven Repräsentationen greift auf solche religiösen Motive, Ausdrucksformen und Glaubenssysteme zurück, die von möglichst vielen Gesellschaftsmitgliedern akzeptiert werden können, und versucht, ein umfassendes, allgemeinverbindliches Wertesystem zu schaffen. Zivilreligion ist Teil der politischen Kultur und des öffentlichen Diskurses einer Gesellschaft, ohne dabei auf institutionalisierte Religion zurückzugreifen. Zivilreligiöse Motive tauchen somit losgelöst von konkreter organisierter Religiosität im ‚zivilen Raum’ auf, bei Feiern an Gedenkstätten, bei politischen Reden, anläßlich staatlicher Feiertage und Staatsbegräbnisse sowie im politischen Totenkult.“
Es geht hier also um eine Religion, die Teil des öffentlichen, nationalen und politischen Lebens ist, eine Religion für die Staatsbürger und an sie adressiert. Es geht um eine Religion ohne Theologie28, aber mit reichem nationalem Symbolbestand (in Amerika durchaus auch mit antik-paganen Bestandteilen), mit Laienpriestern, dem Präsidenten als Vorbeter - eine Religion ohne Heilsgüter oder Heilsversprechen, aber mit Integrationseffekt für die nationale ‚societal community’. Ich möchte daran nur dreierlei herausstellen: Die Zivilreligion, wie sie, was ihren funktionalen Bezug angeht, gemeinhin beschrieben wird, ist erstens national-binnenorientiert; ein Außenverhältnis ist nicht mitgedacht. Und zweitens: die Vielfalt der Religionen des heils- und erlösungsreligiösen Charakters liegt – (gerade in den USA) vom Staat ‚getrennt’ und geschützt – jenseits der Zivilreligion. Diese tritt ihrerseits nicht als Wettbewerber auf dem religiösen Markt auf; und dass (zivilreligiös) ‚gute Amerikaner’, seien sie Mormonen, Zeugen Jehovas oder Pentecostals, zugleich in großer Zahl jenseits der amerikanischen Grenzen, in aller Welt missionieren, ist zivilreligiös alles andere als unvereinbar. Und drittens sei noch einmal bekräftigt: Die Zivilreligion ist definitiv nicht Erlösungsreligion; für die Leiden und Sündennot des Einzelnen hat sie weder Sinn noch seelsorgerische Zuständigkeit – individuelles Seelenheil hat sie nicht im Angebot! Aus dem Gesagten ergibt sich nun eine differenzierungstheoretische Folgerung: Gerade wenn man, wie es auch Max Weber sah, die amerikanische Trennung von Staat und Kirche(n) als den ‚religionsfreundlich’ institutionalisierten Trennungsfall versteht, als Fall, dem es auf die Autonomie des religiösen Feldes und der ‚freien Religionsausübung’ positiv ankommt (vgl. Bellah 1986: 46ff.), dann ist klar: Bei der pluralistischen Religion, die die amerikanische Verfassung 28 Immerhin aber nennt Reinhold Niebuhr, worauf Bellah (1970: 176ff., 189, Anm. 12) nachdrücklich hinweist, Abraham Lincoln, einen der zentralen Heiligen der amerikanischen Zivilreligion, „one of the greatest theologians of America“.
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meint und schützen will, handelt es sich (ursprünglich) um die der christlichen Kirchen und Sekten, aber natürlich nicht um die staatlicherseits praktizierte Zivilreligion im Sinne Bellahs. Wir haben es institutionell mit zweierlei höchst unterschiedlicher Religion zu tun, von denen die eine dem ‚politischen Feld’ zugehört. Dem Unterscheidungsbedarf, der sich damit ergibt, trug Bellah seinerzeit durchaus Rechnung. Er nannte die andere, die verfassungsgeschützte Religion – den ‚religiösen Markt’, wie heute so gern gesagt wird, – eher provisorisch „Christianity“ (1970: 176; 2005a: 138) bzw. „church religion“ und stellte fest: „There was an implicit but quite clear division of function between the civil religion and Christianity“. Damit ist über die Differenz hinaus die Koexistenzfähigkeit der beiden heterogenen Arten Religion herausgestellt. Es wird dementiert, die Zivilreligion könne als Konkurrent oder als „a substitute for Christianity“ auftreten. Talcott Parsons spricht diesbezüglich dann ganz explizit von einem Differenzierungsprozess.29 Für ihn war im Blick auf die Vielfalt der Denominationen wichtig, dass die enge Bindung der Gläubigen an ihre jeweilige Denomination die gemeinsame Akzeptanz der nationalen Zivilreligion, deren ‚Kollektivität’ (im Sinne Durkheims) nicht ausschloss. Und andererseits sind die öffentlichen Artikulationen der amerikanischen Zivilreligion – die Gebete des Präsidenten etwa – durchaus anschlussfähig an die religiösen Symbole und Praktiken auf Seiten der „church religion“; auch insoweit also Kompatibilität der einen mit der anderen Religion. Ganz anders als bei Rousseau hat das Christentum, hat seine Differenz zum Staat im amerikanischen Fall damit nichts Einheitsstörendes. Und der Zivilreligion im Sinne Bellahs ist das Gegenüber, in dem sie sich zur „church religion“ und seiner denominationellen Vielfalt befindet, kein Anlass zur Irritation. Die Kompatibilität, die sich hier zeigt, fällt besonders im Kontrast zu Frankreich auf. Denn dort ist das Band zwischen der national-laizistischen Zivilreligion, der auch Durkheim ‚zugearbeitet’ hat (Willaime 1986), und dem Christentum, der katholischen Kirche zumal, seit 1905 zerschnitten. Die Verbannung des Katholizismus aus dem ‚öffentlichen Raum’ nötigt in Frankreich die staatlich-nationale Selbstdarstellung dazu, sich in ihrer Herstellung von Sakralität jeder Bezugnah29 Vgl. Parsons (1977: 295): „a process of differentiation whereby ‘church’ religion has become differentiated from what Robert Bellah, in his very illuminating conception, calls ‘civil’ religion. The latter can, of course, be shared by members of plural denominational groups”. Zu Parsons’ Aneignung von Bellahs Konzept auch Brandt (1993: 269ff., 336ff.). Kaum zufällig aber gibt es nicht nur von katholischer Seite, so etwa von John C. Murray, dem berühmten Jesuiten und Konzilstheologen, Äußerungen, die die amerikanisch-nationale Zivilreligion problematisieren; etwa so: „Die amerikanische Republik verdiene zwar die volle Loyalität der Katholiken, aber die Verfassung sei kein Glaubensbekenntnis, sondern ein Instrument zur Sicherung des Friedens“ (Stüwe 1997: 467f., 470f.). Damit ist auf einer Differenzierung von Religion und Politik bestanden, die der Politik keine religiösen Bestandteile zugesteht.
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me auf das herkömmlich-christliche Symbolrepertoire zu enthalten. Allerdings bleibt die nationale Zivilreligion mit diesem Enthaltungsgebot dann doch – im Negativen – auf das Christentum (und die anderen Offenbarungsreligionen) fixiert. Vor dem Hintergrund des zivilreligiösen Differenzierungsarguments von Bellah und Parsons erscheint es sinnvoll, noch einen kurzen Seitenblick auf das zu werfen, was in Deutschland seit einiger Zeit von der Totalitarismusdebatte her unter dem Titel der politischen Religion diskutiert wird. In diesem Zusammenhang möchte ich eine ‚religionspolitische’ Typologie nicht unerwähnt lassen, die Juan Linz (1996: 130ff.) vorgeschlagen hat und in der u. a. auch die französische ‚feindlich-laizistische’ wie die amerikanische ‚freundschaftliche’ Trennung von Staat und Kirche ihren Platz gefunden haben. Mit ‚politischen Religionen’ wird hier auf jene totalitären Exempel des 20. Jahrhunderts Bezug genommen, in denen die politische Seite selbst Heils- und Höchstrelevanzansprüche mit kollektiver Ambition (Nation, Rasse, Klasse und Menschheit) geltend gemacht hat und wo infolgedessen die etablierten religiösen Institutionen und Organisationen unmittelbar als störende Konkurrenz in den staatlichen Blick gerieten. Die politischen Machthaber reagieren darauf im Sinne von Inkompatibilität und erklären der „church religion“, die ihnen ohnehin auf dem Absterbeetat der Weltgeschichte zu stehen scheint, ‚den Krieg’: mit Liquidierungsabsicht.30 Den anderen, konkurrierenden Heilsanspruch – und damit etwas beiden Seiten ‚Gleiches’ – registriert auch die religiöse Seite; stärker aber registriert sie die Differenz, nämlich Religionsfeindlichkeit und ‚Säkularisierung’: „Politische Religionen versuchen mit den existierenden Religionen zu konkurrieren, sie zu ersetzen und, wenn möglich, sie zu zerstören. Aus der Perspektive existierender religiöser Traditionen sind sie tief anti-religiös. Da sie jeglichen Bezug auf die Transzendenz und auf religiöse, kulturelle Traditionen ablehnen, sind sie aus der Perspektive existierender Religionen nicht noch eine weitere Religion, sondern sie sind ‚Nicht-Religion’. Somit sind sie Teil eines Säkularisierungsprozesses“ (Linz 1996: 130f.).
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Partikularismus und Universalismus – politisch und religiös
1. Der nächste Schritt führt zu dem in der Soziologie seit klassischen Zeiten beheimateten begrifflichen Gegensatz von ‚Partikularismus’ und ‚Universalismus’. Will man diesen präzise bestimmen, so ist auf der Seite des Universa30 Vgl. für die entsprechenden Nachkriegspläne des Nationalsozialismus Eder (2005); das dortige Resümee: „Alles in allem hat der Nationalsozialismus keine Ersatzreligion geschaffen, sondern er war vielmehr selbst ein aus zahllosen Versatzstücken zusammengeschusterter Religionsersatz“ (ebd.: 167).
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lismus zu sagen: Dieser bezeichnet, in einem ersten Zugriff, eine Perspektive, die, was eine anonyme Vielzahl von Menschen angeht, unter diesen in einer bestimmten Hinsicht keinen Unterschied machen will und sie – wie etwa im besonders ‚kühlen’ Fall von Geld und Kaufkraft – differenzlos gleichbehandelt. Jedem, der zahlen kann, wird unterschiedslos verkauft; alle Zahlungsunfähigen gehen ebenso unterschiedslos leer aus. Universalismus kann dann erst recht eine Perspektive bezeichnen, der es explizit, in einer selektiven Hinsicht, unter tendenziell allen Menschen oder staatsintern: unter allen Bürgern auf ‚Gleichheit’ ankommt. Entscheidend ist: alle ‚ohne Unterschied’, nämlich unter präferenzlosem Absehen von bestehenden Unterschieden, also so, wie – im Sinne des „Gehet hin in alle Welt ... !“ – alle Menschen Adressaten der Mission der ‚Weltreligionen’ sind und keiner nicht, welcher Klasse, Rasse, Nationalität usw. auch immer er angehöre (Kretschmar 1987: 187ff.). Das Ignorieren, das ‚Unberücksichtigtlassen’ von sichtbaren und unbestrittenen ‚Ungleichheiten’ ist hier ausschlaggebend. Universalismus artikuliert sich deshalb nicht nur positiv in der ‚nivellierenden’ Sprache des „alle gleich“ oder des „jedermann ohne Ansehen der Person“; er kann sich ebenso gut über die explizite Negation bestimmter (und dann typisch besonders aufdringlicher) Unterschiede unter den Menschen artikulieren. In diesem Sinne haben wir es bei Paulus, Galater 3, 26f. mit klassisch universalistischer Rhetorik zu tun; sie spricht beide Sprachen, die zweite aber nachdrücklicher: „Denn ihr alle“, heißt es dort, „die ihr auf Christus getauft worden seid, ihr habt Christus angezogen. Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ Ethnizität, Stratifikation und Geschlecht, sie sollen auf Christus hin keinen Unterschied machen. Die politische Differenz kommt hier, vor dem Horizont des römischen ‚Weltreichs’, interessanterweise nicht zur Sprache. Dass es zumal im Deutschen – wie etwa im Fall von ‚Weltreich’ oder ‚Weltreligion’ – häufig Komposita des Weltbegriffs sind, die universalistische Hinsichten transportieren, sei angefügt. Partikularismus dagegen besagt das Geltendmachen und Wichtignehmen von Unterschieden unter den Menschen. Es ist Geltendmachung mit erheblichen sozialen Weiterungen, zumal solchen für Verkehrs- und Interaktionsmöglichkeiten, für alle Fragen des „wer mit wem?“. Immer hat dabei der Unterschied, der einen Unterschied macht und ernst genommen sein will, die Form des „‚Wir’ im Unterschied zu anderen“, sei das nun ethnisch, national, religiös oder politisch gemeint. Dabei ist aber das ‚Wir’ im Sinne der entschiedenen ‚binnenmoralischen’ (und ‚sozial natürlichen’) Präferenz ‚für uns’, für die ‚eigenen Brüder’ in Differenz zu den Anderen, den Fremden, den Ausländern usw. gemeint. Ich will zur Illustration an dieser Stelle nur auf einen weiteren Fall der Verdoppelung des Religionsbegriffs hinweisen, nämlich auf Hans-Ulrich
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Wehlers Vorschlag, den nationalistischen Partikularismus des 19. Jahrhunderts als „politische Religion“ zu verstehen (vgl. Wehler 2004: insbes. 32ff., 65ff.). Man stößt hier neuerlich auf die Empfehlung, den Religionsbegriff aus der Fixierung auf die Erlösungsreligionen zu lösen, und Wehler kann sich dafür ganz direkt auf Ernst Moritz Arndt als den Propheten und Enthusiasten des frühen deutschen Nationalismus berufen, wenn dieser seine nationale Präferenz wie folgt ausdrückt: „das ist die höchste Religion, das Vaterland lieber zu haben als Herren und Fürsten, als Väter und Mütter, als Weiber und Kinder“ (zit. nach ebd.: 65). Die Überbietungsrhetorik ist unmittelbar christlich übernommen, und ‚das Religiöse’ meint hier zuallererst Höchstrelevanz, jenes „über alles“ bezüglich der nationalen Präferenz, wie es bis dahin nur Gott und das Heil der Seele beansprucht hatten. Damit zurück zu Durkheim. Mir geht es im Weiteren darum, dass sich diesem in Sachen Religion, sozusagen aus nächster Nähe, zwei Offerten aufdrängten: eine universalistische, nämlich die Comte’sche Idee bzw. das Comte’sche Projekt der Menschheitsreligion (mit katholischem Vorbild; vgl. Fuchs-Heinritz 1998: 235ff.; Wernick 2001) und eine extrem partikularistische, wie sie klassische Beschreibungen der ‚Religion der Alten’ offerierten, der Religion also des klassischen Griechenlands und Roms. Es ist dies die Religion, der, wie bei Augustinus überliefert, Marcus Terentius Varro (+27 v. Chr.), der römische Gelehrte, in der ‚dreiteiligen’ Religionstypologie seiner „Antiquitates rerum divinarum“ den Titel der „Theologia civilis“ gegeben hatte (vgl. Rüpke 2001: 132ff.). Das berühmteste Buch des 19. Jahrhunderts über diese Religion aber war, 1864 erschienen, Fustel de Coulanges’ „La Cité antique“. Fustel war Durkheims Lehrer, und sein Buch hat im durkheimschen Werk vielfältige Spuren hinterlassen (vgl. Tyrell 1985: 200ff.). Diesen Spuren folgen die anschließenden Überlegungen. Wichtig ist vorab: Für den Fall der griechischen Polis und Roms gilt die unbedingte Identität von politischem und Kultverband; beide sind, was ihre sozialen Reichweiten angeht, koextensiv (typologisch hilfreich: Strayer 1958: 40ff.). Sie sind es im sozial-exklusiven Sinne gegenüber allen Dritten, Fremden, die vom Kult der Stadt wie vom Bürgerrecht ausgeschlossen sind: „Der Fremde ist“ damit, wie Weber (1972: 235, MWG I/22-2: 143) sagt, „nicht nur politischer, sondern auch religiöser Ungenosse“. Die Sakralität der Stadt hat überdies auch einen räumlich exklusiven Sinn. Die unbedingte Deckungsgleichheit von politisch und religiös/sakral macht damit, im partikularistischen Vollsinne, nach außen hin einen Unterschied nahezu ums Ganze, und die religiöse Fundierung oder Forcierung (wie immer man will) der politischen Differenz hatte in der antiken Welt enorme soziale Weiterungen. Folglich muss sich das Interesse des Weiteren nicht zuletzt auf das Außenverhältnis der antiken ‚Zivilreligion’ richten.
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Wie eingangs angekündigt, gilt es, was diese Zivilreligion angeht, zunächst Fustel selbst und anschließend Jacob Burckhardt zu Wort kommen zu lassen. „Man hat“, womit wohl Machiavelli gemeint ist, „gesagt, daß diese Religion eine Religion der Politik gewesen sei“, heißt es bei Fustel (1981: 294). Die ganze Anlage seines Buches will das Gegenteil demonstrieren, sie will auf den Primat der Religion hinaus. Es ist die Macht bestimmter religiöser Zwangsvorstellungen gewesen, die sich den politischen Rahmen und den (jeweiligen) Partikularismus des antiken Gemeinwesens geformt hat.31 Im Rückblick auf die eigenen Darlegungen sagt Fustel (ebd.: 505f.): „Wir haben uns bemüht, die Gesellschaftsform der Alten zu erklären, in der die Religion die absolute Herrscherin im privaten wie im öffentlichen Leben war, in der der Staat ein religiöses Gemeinwesen, der König ein Pontifex, der Beamte ein Priester, das Gesetz eine heilige Formel, der Patriotismus eine Frömmigkeit, das Exil eine Exkommunikation war; in der die persönliche Freiheit unbekannt war und der Mensch dem Staat Seele, Leib und Besitz hingeben mußte; in der Haß gegen den Fremden Gebot war, in der die Vorstellung von Recht und Pflicht, von Gerechtigkeit und Neigung nur bis an die Grenzen der Stadt reichten; in der die menschliche Gesellschaft notwendigerweise auf einen bestimmten Bezirk um das Prytaneion beschränkt war und in der man keine Möglichkeit sah, größere Gesellschaften zu gründen. Das waren die charakteristischen Merkmale der griechischen und italischen Gesellschaften während einer Periode, die sich schätzungsweise über fünfzehn Jahrhunderte erstreckte.“
Ich merke dazu nur dreierlei an: Zunächst gilt es auf Durkheim hin zu sehen, wie stark hier auf den Gesellschaftsbegriff und dessen Gebrauch im Plural gesetzt ist und wie sehr in diesem Gesellschaftsbegriff Religion und Politik zusammengeführt sind; beider ‚undifferenziertes’ Koinzidieren ist die Botschaft. Die Außengrenzen der Gesellschaft(en) sind dabei klar im Blick; bestimmend ist aber doch der Blick nach innen: gerichtet auf das ‚gesellschaftliche Band’, auf die Ermöglichung von sozialer Ordnung und institutioneller Stabilität (vgl. insbes. ebd.: 176f.). Wichtig ist sodann, dass in Fustels ‚Erklärung’ der antiken Institutionenentwicklung ‚Religion’ und ‚Politik’ auseinander gehalten werden; sie müssen dies, denn die Erklärung soll ja mit Hilfe der ersteren erfolgen. Zugleich aber ist deutlich, dass Fustels Beschreibung der antiken Religion als Religion gar nicht anders kann, als sich primär an die Plausibilitäten der eigenen zeitgenössischen Religion, also des (zumal katholischen) Christentums zu halten;
31 „Die religiöse Vorstellung ist bei den Alten der inspirierende und organisierende Atem der Gesellschaft gewesen“ (Fustel de Coulanges 1981: 177).
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damit ist aber auf ‚ausdifferenzierte’ Religion Bezug genommen.32 Und schließlich: „Der Sieg des Christentums bezeichnet das Ende der antiken Gesellschaft“ (ebd.: 505), und Fustel macht das vor allem an dessen definitivem Universalismus fest, den er als etwas religionshistorisch „sehr Neues“ ansieht. Der Gott des Christentums kannte und machte, was die Gläubigen angeht, die sich zu ihm bekannten, eben keine Unterschiede mehr.33 Er unterschied „weder Völker noch Familien, noch Staaten [...]. Für diesen Gott gab es keine Fremden mehr. Der Fremde entweihte nicht mehr den Tempel [...]. Der Tempel war für jeden offen, der an Gott glaubte“ (ebd.: 508). Das Ende der antiken Gesellschaft sah Fustel vor allem aber in dem, was er die „Trennung von Staat und Religion“ nennt.34 Bei dieser Trennung hatte er bezüglich der Religion – jenseits des Staates – weniger die Kirche und ihre (im Sinne Rousseaus) Gehorsam fordernden Priester im Sinn; vielmehr ging es um den Einzelnen. Diesen hatte ‚der antike Staat’, hatte „die Gesellschaft“ in vorchristlicher Zeit, wie gehört, umfassend für sich in Anspruch genommen. Das Christentum aber sprach dem Einzelnen, seiner ‚unsterblichen Seele’ etwas ‚Außergesellschaftliches’ zu: Es „lehrte, daß der Mensch nur zum Teil der Gesellschaft angehöre [...], daß [...] seine Seele frei und nur Gott verpflichtet sei“ (ebd.: 510). Jacob Burckhardts Sicht der antiken Zivilreligion, der der griechischen Polis, stimmt im partikularistischen Kern der Sache mit Fustel überein. Seine Erklärung der institutionellen ‚Eigentümlichkeit’ der Polis ist allerdings genau gegenläufig zu der Fustels: Für ihn ist es die Logik der Politik, die die Religion kontrolliert und die deren Entwicklungsmöglichkeiten klar limitiert. Die Logik der Politik war für Burckhardt aber wesentlich die der auswärtigen Politik, die des Krieges. In der „Griechischen Kulturgeschichte“ heißt es dementsprechend (2005: 129f.): „Die Priester sind hier gar nichts als Bürger einer Stadt welche damit betraut sind, jeder an seinem Tempel die Opfergaben in Empfang zu nehmen, und die Bitten der 32 Schon Rousseaus Beschreibung der religion du citoyen, mit der ja die Religion der Polis und Roms gemeint ist, praktiziert dieses Beschreibungsmuster: „Es ist eine Art Theokratie, in der man keinen andern Hohenpriester hat als den Fürsten und keine anderen Priester als die Obrigkeiten haben darf. Der Tod für das Vaterland ist nun ein Märtyrertod“ (1966: 188). 33 Von der schwerwiegenden Unterscheidung zwischen Christen und Heiden sei hier abgesehen; innerhalb des römischen Reiches entfiel diese am Ende des vierten Jahrhunderts, als unter Theodosius das Christentum zur ‚Staatsreligion’ erhoben wurde. 34 Fustel (1981: 510) gibt dafür u.a. die eindrucksvolle, auf das ‚institutionelle Gedächtnis’ setzende Begründung, „daß die neue Religion drei Jahrhunderte lang außerhalb des staatlichen Wirkungsbereichs lebte; sie wußte sich dem Schutz des Staates zu entziehen und kämpfte sogar gegen ihn. Diese drei Jahrhunderte schufen eine Kluft zwischen Regierung und Religion. Und da die Erinnerung an jene ruhmreiche Epoche nicht verblassen konnte, wurde auch diese trennende Kluft eine unbestreitbare Wahrheit, die nicht aus der Welt zu schaffen war.“
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Andächtigen, unter Umständen der ganzen Bevölkerung, den Göttern nach richtigem Ritual zu übermachen. [...] Vollends aber wäre die Entstehung eines gesammtgriechischen Clerus, einer Hierarchie undenkbar gewesen, schon wegen der Natur der Polis. Man muß sich immer gegenwärtig halten, daß letztere schon für sich an ihre Bürger Anforderungen stellte wie sie etwa eine sehr fanatische Religion ihren Gläubigen zumuthet, und daß die stärksten Gefühle überhaupt nicht für die Götter sondern für das öffentliche Wesen in Anspruch genommen wurden. Nun enthielt die Polis außerdem durch ihre Tempel und Culte den größern Teil dessen was man sonst Kirche nennt, in sich und hatte damit ein eifersüchtiges Besitzrecht auf die Religion ihrer Bürger. Bei der Abschließung von Polis gegen Polis würde daher jeder Zusammenhang von Priestern mit Priestern anderer Städte thatsächlich als Hochverrath gegolten haben. Die Religion, welche in anderen Gegenden der Weltgeschichte, im Catholicismus, im Islam, Völker der weitesten Fernen miteinander irgendwie verbindet, hielt die Griechen im Gegentheil getrennt, nicht nur weil jede Stadt ihre besondern Riten und im Zusammenhang damit ihren besonderen Kalender hatte, sondern weil die örtliche Andacht auf das Stärkste in den Dienst des Staates, d.h. eines in der Regel mit allen Nachbarn verfeindeten Wesens gerathen war. Alle Religion ist hier in erster Linie auf Schutz und Rettung des betreffenden Gemeinwesens verpflichtet. Allerdings war sie die des ganzen Griechenvolkes und dessen gemeinsame Hervorbringung, und die großen nationalen Feste mit ihren Wettspielen und die großen Orakelstätten hielten dieß Bewußtsein aufrecht. Aber so wie die Polis den Gedanken des Gesammtvolkes weit überragte, so genossen auch die Götter weit die größte und ernsteste Verehrung als Schützer des einzelnen Staates.“
Bei Max Weber werden beide Positionen, die Fustels wie die Burckhardts, aufgegriffen. Einerseits wird die unbestritten starke religiös-kultische Bestimmtheit des griechischen und römischen Lebens herausgestellt.35 Andererseits aber richtet sich Webers Blick auf den Kampf des politischen mit dem hierokratischen Charisma, auf seinen Ausgang und seine kulturellen Folgen: „In der hellenischen Polis und vollends in Rom“ führte jener Kampf im sozialen Resultat zu „der völligen Auslieferung der Priestertümer in die Gewalt der weltlichen Adelsgeschlechter“ (1972: 690; MWG I/22-2: 584). Zur Konsequenz hatte das, hält man sich an Webers religionspolitischer Herrschaftstypologie, das Regiment des Cäsaropapismus, eben die völlige Kontrolle der politisch-‚weltlichen’ Herrenschicht über die Priesterschaft und die zugehörigen Ämter, wie es „in ziemlich reiner Ausprägung [...] in den Staaten der okzidentalen Antike“ gegeben gewesen sei. Was die Folgen für die „Kulturentwicklung“ angeht, so sei im Sinne Burckhardts und Webers nur an den ‚laienhaften’ Charakter der griechischen 35 Vgl. Weber (1972, 691; MWG I/22-4, 587): „die antike Polis hat man – zutreffend, nur etwas übertreibend – geradezu als einen primär religiösen Verband auffassen wollen“; im Übrigen zum mediterranen Synoikismus und der Polis als „Kultgemeinschaft unter einer Polisgottheit“ (Weber 1972, 235ff.; MWG I/22-2, 143ff.).
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Religion erinnert (vgl. näher Tyrell 1999: 175ff.). Dieser Religion blieb eben die priesterliche ‚Bearbeitung’ und Rationalisierung erspart, und auch das besagte im Sinne Webers: Blockierung der „Entwicklung zur ‚Erlösungsreligion’“ (1972: 691f.; MWG I/22-4: 588f.). 2. Ich wende mich nun noch einmal Rousseau und seiner Zivilreligion zu und tue es vor allem im Anschluss an die begriffsgeschichtliche Arbeit von Heinz Kleger und Alois Müller (1985: 47ff.). Ich tue es deshalb, weil die politisch-religiöse Antinomie von Partikularismus und Universalismus bei Rousseau in einer kaum zu überbietenden Deutlichkeit ausgesprochen ist, wobei für Universalismus auch ‚Kosmopolitismus’ stehen kann. Der Partikularismus tritt hier staatsbezogen als ‚Patriotismus’ auf, und zwar vorrangig auf die Unterschiede hin, die er sozial macht: in explizit odiös-feindlicher Wendung nach außen. Und das verbindet sich mit einer ins Prinzipielle gehenden Verneinung des christlichen Liebesuniversalismus – von der Freund/Feind-Logik des Politischen her. Die (mit Weber gesprochen) Wertkollision zwischen dem Partikularismus des Politischen und dem Universalismus der christlichen Brüderlichkeit, die Rousseau so scharf zur Sprache bringt, wird von ihm zugleich historisch bebildert. Für Patriotismus (als „amour de la patrie“) und Politik steht historisch der ‚Geist Spartas und Roms’; er wird dem des Christentums mit seinem unterschiedslosen Liebesgebot ‚konträr’ entgegengesetzt. In einem Brief aus dem Jahre 1763 sagt Rousseau es so (nach Kleger/Müller 1985: 60): „L'esprit patriotique est un esprit exclusif qui nous fait regarder comme étranger et presque comme ennemi tout autre que nos concitoyens. Tel était l'esprit de Sparte et de Rome. L'esprit du christianisme au contraire nous fait regarder tous les hommes comme nos frères, comme enfants de Dieu. La charité chrétienne ne permet pas de faire une différence odieuse entre le compatriote et l'étranger; elle n'est bonne à faire ni des républicains ni des guerriers, mais seulement des chrétiens et des hommes; son zèle ardent embrasse indifféremment tout le genre humain. Il est donc vrai que le christianisme est, par sa sainteté même, contraire à l'esprit social particulier.“
In einer Welt von einander tendenziell feindlichen Staaten ist mit dem sozial indifferenten Geist des Christentums ‚kein Staat zu machen’. Die politische Untauglichkeit des Christentums hat Rousseau ein ums andere mal ausgesprochen. Und es ist, als sein Lehrmeister, zumal Machiavelli gewesen, von dem er es übernahm, diese Untauglichkeit immer wieder im Kontrast zu den politischen Verhältnissen des Altertums herauszustellen. Es war Machiavelli, der die Religion für die Zwecke der Politik als nützlich, ja als unverzichtbar einschätzte, und er hatte dabei die partikularistische „Religion der Alten“ im Sinn. Die Religion bot in seinen Augen ein besonderes Potenzial der Erzeugung von Fügsamkeit,
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weil sie aus der Furcht geboren war und weil ihm „die Angst vor göttlicher Strafe“ als viel größer galt „als die vor weltlichen Gesetzen“ (Kleger/Müller 1985: 55ff.). Bei Rousseau wird solche Entgegensetzung der politisch tauglichen antiken und der ‚unpolitischen’ christlichen Religion fortgeführt; sie ist greifbar in dem typologischen Gegensatz von religion de l’homme und religion du citoyen des Zivilreligionskapitels (Rousseau 1966: 187f.), der abermals vor allem einer von Universalismus und Partikularismus ist.36 Nun ist das, was Rousseau als ‚Zivilreligion’ entwirft, zwar nicht die unmittelbare Wiederaufnahme der archaischen ‚Religion des Bürgers’; die eigene historische „Gegenwart“ nennt er eine, „wo es keine ausschließliche Nationalreligion mehr gibt noch geben kann“ (ebd.: 195). In wenigstens zwei wesentlichen Hinsichten aber steht die Zivilreligion eben doch in der Kontinuität jenes religiös-politischen Partikularismus nach antikem Modell: Zum einen nämlich kommt der Staat ohne Religion, ohne ‚Zusatzbeatmung’ durch eine solche nicht aus, denn ‚Religion’, wie sie hier unterstellt ist, vermag ein anderweitig nicht erreichbares Mehr an normativer Bindung zu schaffen, und zugleich hat sie einen Sonderzugang zu ‚den Herzen’, zu den Affekten. Speziell die Religion soll es vermögen, den Bürger im Interesse des Staates „seine Pflichten liebgewinnen“ zu lassen (ebd.: 192). Und dementsprechend bleibt es auch bei dieser ‚Zivilreligion’ – mit ihrem staatlich kontrollierten Minimalbestand an Dogmen, der die religion de l’homme unberührt lässt – bei einer dem Staatswesen subsumierten Religion zum Nutzen des Staates. Zum anderen aber ist da die Dauerdrohung des ‚auswärtigen Krieges’ (ebd.: 190f.); auf diese hin bedarf das Gemeinwesen, soll es sich behaupten können, der patriotischen Partikularreligion und der „différence odieuse entre le compatriote et l’etranger“, die dieser zugehört. Erst das sichert die unentbehrliche Todesbereitschaft der Bürger, „die Bereitschaft zum Opfer des eigenen Lebens“ ‚im Dienst am Vaterland’ (vgl. Kleger/Müller 1985: 60f.). Die damit angesprochenen Probleme haben ihr Echo auch bei Émile Durkheim gehabt. Sie haben es unter dem Titel des „Konflikts von Patriotismus und Kosmopolitismus“.37 Dies aufgreifend komme ich zu Durkheim zurück und frage nach der Partikularismus/Universalismus-Problematik im Rahmen einer Gesellschafts- und Religionstheorie, die einerseits von ‚Gesellschaft’ im Plural aus36 Für die partikularistische (antike) ‚Religion des Bürgers’ gilt: „Mit Ausnahme des Volkes allein, das sich zu ihr bekennt, gilt ihr jedes andere für ungläubig, fremd und barbarisch; sie dehnt die Pflichten und Rechte des Menschen nur so weit aus, wie ihre Altäre reichen“ (Rousseau 1966: 187). 37 Dieser besteht erst für das moderne Bewusstsein. Ausdrücklich heißt es bei Durkheim (1981: 106): „Die Antike kannte diesen Konflikt noch nicht, denn damals war nur ein einziger Kult denkbar: der Kult des Staates, dessen symbolische Form die Staatsreligion war. Daher gab es bei den Gläubigen gar keinen Raum für eine Wahl oder für Zweifel. Sie kannten nichts, was über dem Staat, über der Größe und dem Ruhm des Staates gestanden hätte. Das ist heute anders.“
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ging, also Gesellschaften im Nacheinander wie im Nebeneinander vorsah, und die andererseits so nachhaltig auf die Gesellschaft als ‚moralische Gemeinschaft’ setzte. Die Frage betrifft, von Rousseau her, vor allem das Außenverhältnis von Gesellschaft/Nation/Kirche, und man kann sofort hinzusetzen: Mit jener odiösen Außenseite der Gesellschaft, wie sie bei Rousseau so stark herausgekehrt war, hatte Durkheim wenig im Sinn – dies erkennbar aus moralischen Gründen. Drei knappe Bemerkungen müssen hier genügen, dies näher zu erläutern: Erstens: Die Gleich-, ja Ineinssetzung von Nation und Gesellschaft, wie sie Durkheim immer wieder angelastet wird (vgl. Bielefeld 2003: 191ff.) und gern als ‚nationale Verengung des Gesellschaftsbegriffs’ getadelt wird, ist nicht die ganze Wahrheit. Zumindest darf man sagen: Im Unterschied zu vielen Soziologen nach ihm hat Durkheim die Frage nach der Reichweite und den Grenzen der Gesellschaft mit Nachdruck aufgeworfen und eine, was die modernen Verhältnisse angeht, mit Gründen versehene Entscheidung zugunsten eines nationalstaatlich limitierten Gesellschaftsbegriffs getroffen.38 Er hat die Reichweitenfrage vor allem mit Bezug auf das Problem von Patriotismus und Kosmopolitismus behandelt. Die kosmopolitische Option empfahl sich ihm (als ‚gesellschaftliche’ Option) deshalb, weil die Gesellschaft „communauté morale“ sein musste, die Menschheit aber – im Blick auf die Menschenrechte – für ihn einen hochkarätigen Wertbegriff und unbestreitbaren „Pol der Moralität“ darstellte (vgl. auch König 2002: 74ff.). Der Gedanke einer ‚Weltgesellschaft’ – „die Menschheit insgesamt als Gesellschaft“ (Durkheim 1991: 108) – lag deshalb nicht fern. Gleichwohl entschied sich Durkheim, was die moderne Form der Gesellschaft angeht, für die Seite des Patriotismus, für Nation und Nationalstaat. Und seine Begründung dafür setzt zunächst auf die staatliche Rahmung und Organisiertheit: „Nun sind aber die Staaten heutzutage die am höchsten organisierten Gesellschaften, die es gibt“ (ebd.). Durkheim spricht der staatlich verfassten Gesellschaft (verglichen mit Familie und Menschheit) zudem einen besonderen „Moralwert“ zu. Sehr wohl hat er allerdings auch die hässliche, konfliktgeneigte Außenseite des staatlich-nationalen Partikularismus vor Augen, die er sich bei dieser Entscheidung unvermeidlich ‚miteingekauft’ hat. Er sagt (Durkheim 1984: 128), „[...], daß nicht alle Gesellschaften, von denen der Mensch ein Teil ist oder sein kann, den gleichen Moralwert haben. Es gibt aber eine, die wirklichen Vorrang vor den anderen hat, und das ist die politische Gesellschaft, das ist das Vaterland, allerdings unter der Bedingung, daß es sich nicht als eine gierige egoistische Individuali38 Vgl. Durkheim (1984: 126ff.), wo das Problem einen pädagogischen Zuschnitt hat: An welche Gesellschaft soll die Schule das Kind binden: an die Familie, die Nation oder die Menschheit? Vgl. ferner Durkheim (1991: 106ff.); zur 'nationalgesellschaftlichen' Frage auch Thomas (2001: 176ff.).
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tät versteht, einzig und allein darauf ausgerichtet, sich zu erweitern und zu vergrößern zu ungunsten von ähnlichen Staaten, sondern als die fortschreitende Verwirklichung der Idee der Menschheit.“
Zweitens: Durkheim rechnete, was die gesellschaftliche Zukunft anging, langfristig mit weniger und größeren, aber doch immer mit einer „Mehrzahl von Staaten“. Wo immer er auf deren Verkehr miteinander zu sprechen kommt, plädiert er bis in seine Kriegsschriften hinein für eine (im Sinne von Norbert Elias) zivilisierte internationale Politik – von Expansionismen frei. Das ist wieder und wieder gesagt. So wünscht er sich den Wettbewerb der Nationen nicht „streitsüchtig, militärisch“, sondern „wissenschaftlich, künstlerisch, industriell, mit einem Wort wesentlich friedlich“ (Durkheim 1984: 127; vgl. auch Joas/Knöbl 2008: 168ff.). Und was die „Antinomie zwischen Kosmopolitismus und Patriotismus“ angeht, so wollte er diese darin aufgelöst sehen, dass die Gesellschaften, die Nationalstaaten sich je einzeln in den Dienst des Menschheitsfortschritts stellen und diesen intern voranbringen, dass also „der Patriotismus zu einem untergeordneten Bestandteil des Kosmopolitismus wird“ (Durkheim 1991: 109). Dabei sind die Achtung und die Beförderung der Menschenrechte ohnehin Sache des einzelnen Nationalstaats, des französischen zumal, ja: allen voran. Und an dieser Stelle kommt, wenn man sich an Durkheims engagierte Stellungnahme zur Dreyfusaffäre von 1898, also an „L’individualisme et les intellectuels“ (hier 1986) hält, wieder die Religion ins Spiel: als „Religion des Individuums“ bzw. „der Menschheit“. Die Zivilreligion der Dritten Republik, wie sie der Aufsatz von 1898 verstand und normativ ‚geltend machte’, ist von bemerkenswerter partikularistisch-universalistischer Janusköpfigkeit. Sie ist nämlich einerseits, was den Kreis ihrer Bekenner angeht, strikt die Religion eines national selbst- und differenzbewussten Gemeinwesens, die Religion einer partikularen, ‚staatlich organisierten’ Gesellschaft. Zugleich aber ist der ideelle Gehalt dieser Religion – als einer Religion, die Gebote „von besonderer Autorität“ gibt und in einem „imperativen Ton“ zu ‚ihren Gläubigen’ spricht (Durkheim 1986: 59, 62) – ein substanziell universalistischer, der seiner inneren Logik nach, weil menschheitsweit zugeschnitten, auch von der nationalen Differenz nichts wissen soll. Man hat es hier mit einer national unterschiedsbewussten (französischen) Zivilreligion zu tun, die sich der unterschiedslosen Geltung der Menschenrechte für jedermann verschrieben hat, die sich in dem Patriotismus, den sie beschwört, explizit an die Seite der theologia civilis der Alten stellt und die doch supranationale und menschheitsweite Geltungsansprüche im Sinn hat und am Menschenrecht auf kein einziges Individuum hin Ausnahmen dulden will. Das liest sich bei Durkheim (ebd.: 65f.) so:
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Hartmann Tyrell „Eine Religion, die Sakrilegien toleriert, gibt jede Herrschaft über die Gewissen auf. Die Religion des Individuums kann sich also nicht widerstandslos verhöhnen lassen, sonst wird ihre Glaubwürdigkeit zerstört; [...] So verteidigt der Individualist, der die Interessen des Individuums verteidigt, zugleich die vitalen Interessen der Gesellschaft; denn er verhindert, daß man sträflich diese letzte Reserve von Ideen und Gefühlen verarmen läßt, die die eigentliche Seele der Nation ist. Er erweist seinem Vaterland denselben Dienst, den der alte Römer vor Zeiten seiner Stadt erwies, als er die traditionellen Riten gegen verwegene Neuerer verteidigte. Und wenn es ein Land unter allen anderen gibt, in dem die Sache des Individuums wirklich Sache der Nation ist, dann ist es das unsere; denn es gibt kein anderes, das sein Schicksal so eng mit dem Schicksal dieser Ideen verknüpft hat.“
Drittens: Die Sache der Durkheimschen Religionssoziologie ist bisher wesentlich als zivilreligiöse beschrieben worden: orientiert am Nationalstaat als der gesellschaftlichen Einheit und an der Religion als der besonderen Religion dieser (partikularen) Gesellschaft. Dieses Bild, das ‚Gesellschaft’ und ‚Religion’ so eng zusammenführt und beide als sozial kongruent nimmt, ist nun aber auch wieder zu modifizieren. Denn Durkheim kann bisweilen durchaus auch anders. Nicht zufällig hatte es in den Überlegungen zum Kirchenbegriff geheißen: „Manchmal ist die Religion eng national, manchmal dehnt sie sich über die Grenzen aus; manchmal umfaßt sie ein ganzes Volk (Rom, Athen, das jüdische Volk), manchmal nur ein Teil davon (die christlichen Gesellschaften seit dem Aufkommen des Protestantismus)“ (1981: 71).
Deutlich sind damit der Religion eigene Variationsmöglichkeiten jenseits (außerhalb wie innerhalb) des politischen und ethnischen Verbandes zugesprochen. Und es kommt hinzu: Durkheim schreibt und traut speziell den religiösen „Vorstellungen“, dem religiösen Ideenhaushalt eine Disposition zu, über den jeweils partikularen (lokalen, ethnischen oder nationalen) Rahmen sozial hinauswachsen und sich damit aus den national-zivilreligiösen Gebundenheiten zu lösen. Die Religion ist dann aber nicht mehr die einer bestimmten, ethnisch-politisch unterschiedenen Gesellschaft: also dieser ‚von innen her’ zugehörig, auf sie beschränkt und ihr Produkt. Die inhärente Tendenz ins Internationale, ja Universale wird an verschiedenen Stellen der „Formes élémentaires“ spezifisch den Gottesvorstellungen bescheinigt und dies nicht erst im Falle ‚höher entwickelter’ Religion. Schon bezüglich des ‚elementaren’ Totemismus in Australien soll ja, was das Verhältnis von Clan und Stamm betrifft, gelten: Der Clan steht in Durkheims Argumentation zwar als „eine selbständige Gesellschaft“ da und hat ‚für sich’ seine Religion. Aber die verschiedenen Totemkulte innerhalb eines Stammes, sie verhalten sich durchaus nicht als distinkte und fremde, gar feindliche Religionen zueinander.
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Durkheim (1981: 215) liegt vielmehr an ihrer ‚nachbarschaftlichen’ Verbundenheit und sogar noch mehr: „Sie umfassen sich gegenseitig; sie sind nur die Teile eines und desselben Ganzen, die Elemente einer und derselben Religion.“ Die verschiedenen Clans „teilen denselben Glauben“; die Pluralität verschmilzt zu einem Glauben. Der (nach außen feindselige) religiös-politische Partikularismus mit seinen exklusiven Stadtgottheiten, wie ihn Fustel für die Antike so eindrucksvoll beschrieben hatte, ist so gesehen nicht die archaische oder elementare Sozialgestalt des Religiösen. Und mehr noch: schon die elementar-religiösen Verhältnisse weisen über den Stamm als solchen hinaus. Denn „vom Anfang der Geschichte an zeigen die religiösen Ansichten eine Neigung, nicht auf eine eng umrissene politische Gesellschaft beschränkt zu bleiben. Sie haben so etwas wie eine natürliche Befähigung, sich zu verbreiten, sich zu internationalisieren“ (1981: 391).39 Das Auseinanderfallen ‚religiöser Gesellschaft’ hier und (ethnisch-national verfasster) ‚politischer Gesellschaft’ dort wird damit zu etwas fast ‚Natürlichem’.40 An dieser Dissoziation aber ist die religiöse Vergesellschaftung durchweg als die sozial weiter ausgreifende unterstellt. Fragt man nun soziologisch nach den transnational-‚zwischengesellschaftlichen’ Beziehungen und dem internationalen Verkehr, so waren es nicht Handel und wirtschaftliche Verflechtung, denen Durkheim so etwas wie eine ‚sozialmoralische Verdichtung’ jenseits (oder oberhalb) der ‚politischen Gesellschaft’ und ihrer (‚binnenmoralischen’) Zivilreligion zutraute.41 Vielmehr setzte er, was die soziale Ermöglichung von transnationaler ‚moralischer Dichte’ und Vergemeinschaftung angeht, auf die Religion und insbesondere die Tendenzen zum „religiösen Universalismus“. Am Ende der „Formes élémentaires“ (1981: 569ff., hier 570f.) ist das deutlich ausgesprochen. Hier richtet Durkheim den Blick auf „die großen internationalen Götter“ und den ‚religiösen Universalismus’ und kann – aller je nationalen Zivilreligion zum Trotz und fast im Wider-
39 Durkheim fügt (1981: 391) allerdings einschränkend hinzu: „Zweifellos hat es Völker und Zeiten gegeben, da diese spontane Fähigkeit durch entgegengesetzte soziale Notwendigkeiten in Schach gehalten worden ist.“ Auch Max Weber meint: „Die Götter [...] sind [...] auch in den primitivsten Verhältnissen, oder vielmehr gerade da, teils interlokale, teils lokale“ (MWG I/22-4: 609f.; 1972: 699). 40 Durkheim kann dann in „Deutschland über alles“ (1995: 266, Anm. 3) sogar sagen: „Dabei giebt es sehr wenig menschliche Gesellschaften, in denen die Götter einen so eng nationalen Charakter haben. Es giebt kaum eine grosse Gottheit, die nicht in gewissem Masse international ist.“ Im Übrigen wird in Durkheims Händen selbst die Religion der Griechen zur Einheit: „der griechische Polytheismus“ als „die Vereinigung aller Sonderkulte [...], die man verschiedenen Gottheiten widmete“ (1981: 217). 41 In den „Regeln“ hatte Durkheim (1961: 197f.) dem grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Verkehr jeden moralischen Gehalt abgesprochen, ihm die ‚dynamische’, nicht aber die ‚moralische Dichte’ zuerkannt; diese blieb hier den nationalstaatlichen Binnenverhältnissen vorbehalten; vgl. auch Tyrell (2005: 26f.).
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spruch zum Nationalstaat als der ‚heute’ höchsten Organisationsform von Gesellschaft – sagen: „Es gibt keine Gesellschaft, keinen Staat, der nicht mit einer anderen (sic! – HT), mehr oder weniger unbegrenzten, Gesellschaft verbunden wäre, einer Gesellschaft, die alle Völker, alle Staaten umfasst, mit denen die ersteren direkt oder indirekt in Beziehung stehen. Es gibt kein nationales Leben, das nicht durch ein kollektives Leben internationaler Natur beherrscht wäre.“ (Durkheim 1981: 570f.)
Dies moralisch getönte ‚kollektive Leben internationaler Natur’, das jener anderen, umfassenden Gesellschaft zugehört, es ist für Durkheim tendenziell ein religiös-universalistisches. Nimmt man das ernst, so hat man im durkheimschen Oeuvre dafür zwei anschlussfähige Denkfiguren. Die eine wäre, wie angesprochen, die der französischen Zivilreligion und ‚Nationalkirche’, die in ihrem Menschenrechtsengagement partikularistisch-religiösen Patriotismus mit universalistisch-religiösem Kosmopolitismus kombiniert, nun aber so verstanden, dass der Kosmopolitismus nicht nur von innen her bezogen und getragen ist, sondern auch gestützt ist durch die Einbettung in eine kulturell-legitimierende Umwelt. Die andere Denkfigur aber wäre die (tendenziell) ‚weltreligiöse’: Hier löst sich die ‚Religionsgesellschaft’, ‚die Kirche’ aus der politisch-nationalen Bindung, tut es ideell wie rituell-praktisch und findet transnational zu eigenem kollektiven Leben; sie tut es auf der Ebene einer moralischen Gemeinschaftsbildung, welche die ‚höchste’ Organisationsstufe von ‚Gesellschaft’, die nationalstaatliche ‚unter sich’ lässt. Damit aber fände das Christentum und mit ihm die (transnationale) katholische Kirche – als ‚Kirche’ – den Weg auf den religionssoziologischen Bildschirm zurück. Allerdings gibt es keine Verlautbarung, in der sich Durkheim als Soziologe in diesem Sinne klar geäußert hätte. Wohl aber gibt es in der antideutschen Kriegsschrift „Deutschland über alles“ von 1915 Bemerkungen, die man so verstehen kann. In dieser Schrift setzt sich Durkheim bekanntlich mit Heinrich von Treitschkes bekennend nationalistischer Politikvorlesung auseinander, dies unter der Negativdevise Der Staat über der Moral unter anderem mit dessen erklärtem Machiavellismus (Durkheim 1991: 260ff.). Gegen Treitschkes Deformation des Christentums und dessen Anstrengung, die christliche Ethik dem Staatsinteresse zu subsumieren, tritt Durkheim hier als Verteidiger des universalistischen Christentums auf. Und an dieser Stelle gibt es dann auch in der eigenen Gegenwart und von Durkheim ‚akkreditiert’: Religionen mit Menschheits- und menschheitsweitem Anspruch. Das Christentum zählt prominent dazu. Wieder liegt – religiös ideell – der kosmopolitische Gedanke der Menschheit als ‚Kirche’ nahe (Durkheim 1991: 266):
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„Denn nach unseren Begriffen, d.h. nach der Anschauung aller Kulturvölker, aller derjenigen, welche in der Schule des Christentums gebildet worden sind, soll die Moral vor allem die Menschheit verwirklichen, sie von jeder sie schmälernden Knechtschaft befreien, in ihr mehr Liebe und mehr Brüderlichkeit wecken. [...] Denn der einzige Gott, den die jetzigen großen Religionen anerkennen, ist nicht etwa der Gott einer bestimmten Stadt oder eines bestimmten Staats, es ist der Gott des Menschengeschlechts, Gott Vater, Gesetzgeber und Wächter einer Moral, welche für die ganze Menschheit gilt.“
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Weltreich und Gemeindereligiosität - Nation und Weltreligion
1. Die Frage nach der sozialen Kongruenz bzw. Inkongruenz von politischer und religiöser Systembildung, die in den bisherigen Überlegungen immer wieder angeklungen ist, kann man (vom politischen Verband her) territorial verstehen; man kann sie aber auch auf Personengruppen oder Personalbestände beziehen und ebenso auf soziale Beziehungsnetze und ihre Verdichtungen. Diese Frage soll hier im Schlussabschnitt auf ihre differenzierungstheoretischen Implikationen hin näher zur Sprache kommen. Shmuel N. Eisenstadt (1962) hat das Problem in einer seiner frühen Arbeiten bereits – und ganz explizit auf „religious and political structures“ bezogen – deutlich beim Namen genannt. Für die Beschreibung der innergesellschaftlichen Differenzierung von politischer und religiöser Funktion kann man sich, sozialstrukturell wie ideell, an mancherlei orientieren, etwa daran, ob der politischen Herrschafts- und Verbandsbildung eine Entwicklung auch von „specialized religious roles and organizations“ korrespondiert oder gegenübersteht. Hier nun soll, teilweise auch den ‚weltgesellschaftlichen’ Ideen Niklas Luhmanns folgend, im Vordergrund stehen, dass die Differenzierung von Religion und Politik auch daran zum Vorschein kommt, dass beide in ihren Reichweiten und ihrem sozialen Volumen auseinanderfallen, dass sie diesbezüglich unabhängig voneinander variieren können und dass beide innerhalb der sozialen Welt je für sich andere Grenzen ziehen.42 Das aber heißt: Beider Inkongruenz ist ein Indikator für Differenzierung. Und dafür ist es, wie auch bei Durkheim formuliert, unerheblich, ob die religiösen Beziehungen die politischnationalen Grenzen überschreiten, also weiter reichen als diese oder ob die politischen Verhältnisse so weiträumig zugeschnitten sind, dass innerhalb dieses 42 Vgl. etwa Luhmann (1972: 334): „Jedes Teilsystem stabilisiert dann nicht nur eigene gesellschaftsinterne Grenzen gegenüber anderen Teilsystemen, sondern fordert aus der abstrakten Perspektive seiner spezifischen Funktion und aus der Eigenlogik seiner Selbsterhaltung heraus auch jeweils andere Gesellschaftsgrenzen. Entwicklungen in dieser Richtung haben sich bereits in den antiken Hochkulturen abgezeichnet und zu unterschiedlichen Grenzdefinitionen in religiöser und politischer Hinsicht geführt.“ Hier soll es im Weiteren primär um ‚unterschiedliche’ „Bezugsgruppen für Religion und Politik“ gehen.
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Rahmens verschiedenen Religionen und Religionsgemeinschaften (geringerer Reichweite) Platz und Auskommen geboten ist (vgl. auch Eisenstadt 1962: 271ff.). Allerdings muss einschränkend hinzugefügt werden: der Fall der Kongruenz, der Fall also, in dem Politik und Religion sich koextensiv zueinander verhalten, ist nicht ‚automatisch’ ein Fall von ‚Undifferenziertheit’. Ich möchte das Differenzierungsargument hier nur andeutungsweise und in groben Zügen entwickeln und tue es unter weitgehender Beschränkung auf das, was man bei Max Weber zur Sache findet. Ich halte mich dabei an eine unter den vielen Linien, die, vielfältig untereinander verknüpft, das komplexe gedankliche Netzwerk seiner Religionssoziologie ausmachen. In dieser findet man die Frage nach den gleichen oder ungleichen Grenzen von Religion und Politik wiederholt aufgeworfen, etwa (mit räumlicher Akzentuierung) als Frage nach dem (Nichtzusammenfall oder) „Zusammenfall der politischen Grenzen mit dem Verbreitungsgebiet der Religion“ (MWG I/ 22-4: 609f., 1972: 699f.). Und nach dem zuvor Dargelegten ist klar: Die Stadt der Antike ist historisch das klassische Exempel solchen Zusammenfalls. Dieses wähle ich als Ausgangspunkt und zitiere Max Weber (ebd.) mit einem Passus, der in einem historisch-typologisch weitläufigeren Sinne von der Stadt spricht und dabei auch die mittelalterliche einbezieht: „Das starke Hervortreten der lokalen Gottheiten und damit einer weitgehenden Koinzidenz von Religion oder vielmehr, richtiger ausgedrückt: von Kultusgegenstand und politischem Gebietsumfang findet sich naturgemäß ganz besonders auf der Stufe der endgültigen Siedelung kat’ exochén: der Stadt. Von da an ist die Stadtgottheit oder der Stadtheilige als Schutzpatron das ganz unentbehrliche Requisit jeder politischen Gründung, und die polytheistischen Konzessionen aller großen monotheistischen Religionen sind, solange die Stadt Träger der politischen und ökonomischen Existenz der Einzelnen ist, unumgänglich. Jede große Staatengründung ist in diesem Stadium unvermeidlich von einem Synoikismus der Götter und Heiligen der angegliederten und unterworfenen Städte und Regierungssitze in der neuen Hauptstadt begleitet.“
Hier ist, was die politisch-religiöse Koinzidenz angeht, der Synoikismus, also das Zusammensiedeln der Stadtgottheit und ihrer Stadtbürger in denselben räumlichen Grenzen das Entscheidende: Politische Stadtgemeinde und Kultgemeinde fallen in eins. Für Weber bedeutete diese enge Koppelung „eine ungemeine Steigerung des politischen Partikularismus. Zumal auf dem Boden der Polis.“ Und wo, wie im römischen Fall, im Kampf der Städte die eine sich die anderen unterwarf, da eignete sie sich auch deren Götter an. Im Krieg versprach man „den Göttern des Feindes Aufnahme und Verehrung im eigenen Land, wenn sie die Feinde verlassen (‚evocare deos’), wie es z.B. Camillus vor Veji tat“ (1972:
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236, MWG I/22-2: 143ff.). Die Frage aber, die sich damit im Blick auf die religiöse Evolution auftut, lautet: Wie kommt es angesichts solcher engen und im Effekt forciert partikularistischen Koppelung von politischem und religiösem Verband zur Ausdifferenzierung, zu der unwahrscheinlichen Emanzipation einer spezifisch religiösen Gemeinde? Wie kommt es zur ‚Desintegration’ des politischen Verbandspriestertums? Webers Antwort darauf hieß zunächst: Groß- oder Weltreichbildung (1972: 259, MWG I/22-2: 198). „Der Übergang vom politischen Verbandspriestertum zur religiösen Gemeinde [...] ist zuerst in größerem Umfang mit der Entstehung der vorderasiatischen Weltreiche, vor allem des persischen, verknüpft gewesen. Die politischen Verbände wurden vernichtet, die Bevölkerung entwaffnet, die Priesterschaften dagegen, mit gewissen politischen Befugnissen ausgestattet, in ihrer Stellung garantiert. Ähnlich, wie die Zwangsgemeinde aus dem Nachbarschaftsverband zur Sicherung fiskalischer Interessen, so wurde hier die religiöse Gemeinde als ein Mittel der Domestikation der Unterworfenen verwertet. So entstand durch Erlasse der persischen Könige von Kyros bis Artaxerxes das Judentum als eine vom König anerkannte religiöse Gemeinde mit einem theokratischen Zentrum in Jerusalem. Ein Sieg der Perser hätte vermutlich dem delphischen Apollon und den Priestergeschlechtern anderer Götter, vielleicht auch orphischen Propheten, ähnliche Chancen gebracht. In Ägypten entwickelte das nationale Priestertum nach dem Untergang der politischen Selbständigkeit eine Art „kirchlicher“ Organisation, die erste dieser Art, wie es scheint, mit Synoden.“
Das weiträumig beherrschte und in diesem Sinne pazifizierte Großreich zieht von den ehedem ‚eigenständigen’ politisch-ethnisch-religiösen Verbänden in seinem Innern die politisch-militärischen Funktionen ab, ermöglicht den ‚depolitisierten’ Verbänden aber die Fortführung ihrer je partikularen Sozialexistenz in der Form spezifisch religiöser (im jüdischen Fall: religiös-ethnischer) Gemeindebildung. Die enge religiös-politische Kopplung ist damit gelöst. Ich hebe formal nur zwei Wirkungen davon hervor: Zum ersten sind die politischen Außengrenzen nun weiträumig neu gezogen; sie sind den religiösen gegenüber die sozial weiterreichenden. Das politische Zentrum liegt nun andernorts, und die um ihre ‚Eigenstaatlichkeit’ gebrachte (bloß noch) religiöse Gemeindebildung registriert sich selbst in einer sozialen Befindlichkeit innerhalb des umfassenden Großreiches bzw. unterhalb des Großkönigs oder Kaisers; sie tut das aber nicht mehr als Teil und unmittelbar eingebunden in die politische Herrschaftsordnung, sondern darin ‚toleriert’, partikulare Eigentradition weiterzupflegen bzw. sie sich neu zu erfinden. Darin aber spricht sich die Dissoziation von Religion und Politik aus. Zum zweiten aber ‚pluralisiert sich’ innerhalb der ‚Reichseinheit’ die Religion; es koexistiert nun reichsintern eine Mehrzahl von verschiedenen Kulten, die vom politischen Zent-
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rum (und von dessen eigenem Kult) her mehr oder minder intensiv beobachtet und kontrolliert werden. Vor allem aber: mit dem neuartigen (wechselseitige Beobachtung und u. U. Konkurrenz einschließenden) religiösen Nebeneinander verändern sich die sozialen Bedingungen für den jeweiligen Kultpartikularismus. Jedenfalls entfallen für diesen, zumal was sein Außenverhältnis angeht, die politischen und ‚militärisch-existenziellen’ Implikationen, und auf dieser Ebene treten dann in der Tendenz die puren Kriegsgottheiten von der Bühne ab. Ich lasse hier die religiösen Weiterungen politischer Weltreichbildung beiseite, bezüglich derer Weber vor allem eine Tendenz zum religiösen „Universalismus und Monotheismus“ herausstellte, wirksam allerdings nicht im Sinne eines engen Korrelierens.43 Stattdessen gilt es nun, gegenläufig zu den Gegebenheiten des politischen Weltreichs, den Fall ins Auge zu fassen, in dem die Religion ihrerseits über die Grenzen des Politischen hinausgreift. Es geht damit um den religiösen Universalismus, wie er zunächst, auch von politischer Bindung gelöst, die Sache der Erlösungsreligionen des Buddhismus und des Christentums war. Es geht um die Weltreligionen, die, um es mit Niklas Luhmann (2000: 276) zu sagen, „ihre Glaubensinhalte allen Menschen anbieten ohne ethnische, völkische oder territoriale Einschränkung.“ Es heißt dort weiter: „Weltreligionen sind ein wichtiger, vielleicht der wichtigste Beitrag zur Ausdifferenzierung eines Religionssystems.“ Der Begriff der Weltreligion(en) war – vor allem als Typus in Entgegensetzung zur ‚Nationalreligion’ – vor und um 1900 längst in Gebrauch.44 Max Weber hat ihn allerdings, so wie er sich den Begriff für die Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen zurechtgelegt hat, bloß quantitativ bestimmt und das universalistische Moment beiseite gelassen; auf „besonders große Mengen von Bekennern“ kam es ihm hier an (1920a: 237f.; vgl. auch Kippenberg 2001: 94ff.). In diesem Sinne sollten dann – nach seiner nur zum Teil realisierten Planung – (unter Hinzunahme des Judentums) Konfuzianismus, Hinduismus, Buddhismus, Christentum und Islam Gegenstand der Studien sein.
43 Bei Weber (1972: 238, MWG I/22-2: 151) heißt es: „Die Weltreichbildung in China, die Erstreckung des Priesterstandes der Brahmanen durch alle politischen Einzelbildungen hindurch in Indien, die persische und die römische Weltreichbildung haben alle die Entstehung des Universalismus und Monotheismus – in irgendwelchem Maße beide, wenn auch nicht beide gleichmäßig – begünstigt, wenn auch mit höchst verschiedenem Erfolg.“ 44 Um 1900 geht es in Deutschland vorwiegend um die drei Weltreligionen von Buddhismus, Christentum und Islam. „Allen drei Religionen ist gemeinsam, 1. daß sie über außerordentlich große Gebiete verbreitet sind, 2. daß sie eine dementsprechende hohe Zahl an Bekennern haben, und 3. daß sie die Grenzen ihrer Heimat überschritten und die Schranken der Nationalität durchbrochen haben und von den verschiedensten Völkern und Rassen angenommen sind“ (Vollers 1907: 1). Für die Welt- oder Universalreligion im Gegensatz zur ‚Nationalreligion’ und im Sinne der „Loslösung von einem bestimmten Volkstum und seinen besonderen Kulturverhältnissen“ etwa auch Steinmann (1913: 976); vgl. im Übrigen: Tyrell (2004: 21ff.).
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Hält man sich an die drei universalistisch orientierten Weltreligionen, also an den Buddhismus, das Christentum sowie den Islam45, dann gilt, wie schon gesagt: Hier überbietet die Religion die sozialen Reichweiten und Grenzen der politischen Systembildungen und u. U. noch die Grenzen der Großreiche. Die Weltreligionen tun das, sei es in einem Heilsversprechen an alle Menschen, sei es mit einer monotheistisch-universalistischen Gotteskonzeption, die menschheitsweite Geltung beansprucht. Zugleich kommt es darauf an, den universalistischen Anspruch auch faktisch-sozial im kommunikativen Missionssinne unter die Menschen zu bringen. ‚Die Welt’ (und zugleich die Umwelt) aber, innerhalb deren speziell das Christentum, um nur von ihm zu sprechen, missionierend auf den Weg gekommen ist, war das pazifizierte römische Weltreich. Und dem christlichen Heilsuniversalismus und seiner kommunikativen Verbreitung (unter „allen Völkern“) kam dieses mit seinem Verkehrsnetz, seinem ‚Weltverkehr’ und dem Griechischen als Gemeinsprache (‚Koine’) in besonderer Weise entgegen (von Harnack 1924: 23ff.). Aber das Christentum und ebenso der Mesopotamien entstammende Manichäismus – als in besonderer Weise ‚erklärte Weltreligion’46 – sind dann in der Spätantike nach Osten hin weit über die Grenzen des römischen Reiches und des Mittelmeerraums hinausgewachsen (Kretschmar 1987). Die politischen Grenzen halten die religiöse Propaganda und die frommen Vernetzungen nicht auf. Für den Islam und seine kriegerische Ausbreitung galt, dass er sich „von Anfang an mit den Expansionsinteressen der Araber vermählte und zu seinem positiven Gebote die Unterwerfung der unerbötigen Welt gehörte“ (Weber 1972: 700, MWG I/22-4: 612). Der religiöse Universalismus stellte sich hier – über einen religiösen (auch steuervermeidungsinteressierten) ‚Nachfragedruck’ seitens der unterworfenen nichtarabischen Bevölkerungen – erst verzögert ein. Die ‚islamische Welt’ als zusammenhängender Kulturraum – so wie sie sich seit dem 10. Jahrhundert im Zuge des Niedergangs des Khalifats darbot – zeigt das Bild von einheitlicher (allerdings schismabefallener) Religion und weiträumiger religiöser Zusammengehörigkeit im Sinne der umma als ‚Gemeinschaft’ aller Muslime, dies aber verteilt über den Boden einer Vielzahl staatlicher Gebilde. Das letztere erscheint vor dem Großreichshintergrund der früheren Jahrhunderte als ‚politische Zersplitterung’. Diese Differenz von religiöser und politischer Struk45 Weber (MWG I/22-2: 390f.) macht, was den „alten Islam“ angeht, Vorbehalte geltend, weil dieser „auf Universalismus der Bekehrung bewußt verzichtete und die Unterjochung wie die Unterwerfung der Glaubensfremden unter die Herrschaft eines dem Glaubenskampf als Grundpflicht gewidmeten herrschenden Ordens, nicht aber die Erlösung der Unterworfenen als Ziel kennt. Denn dies ist dann eben keine universalistische Erlösungsreligion.“ 46 Mani selbst hat (nach Kretschmar 1987: 159) erklärt: „Die früheren Religionen waren nur in einem Lande und in einer Sprache verbreitet. Meine Religion ist derart, daß sie sich in jedem Land und in allen Sprachen zeigen und in fernen Ländern gelehrt werden wird.“
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tur ging allerdings zusammen mit einer (an der lateinischen Christenheit gemessen) nur schwachen institutionellen Differenzierung. Denn auf der ‚religiösen Seite’ kam es u. a. zwar zur Ausbildung eines rechtsgelehrten Spezialistentums, nicht aber zu einer (kirchenartigen) Institutionenbildung in Differenz zu den staatlichen Gebilden und über diese hinaus. Und andererseits waren die Einzelstaaten immer und abstandslos islamische Staaten (vgl. nur Strayer 1958: 42f.). 2. Ich schließe an dieser Stelle eine historische Skizze an, die die okzidentale Entwicklung seit der Spätantike in den Blick nimmt; sie konzentriert sich auf die Frage der Koextension bzw. der wechselnden Innen/Außen-Konstellationen im Verhältnis Politik und Religion. Blickt man, als Ausgangspunkt, zurück auf die römische Kaiserzeit der ersten drei Jahrhunderte, so stößt man zunächst auf die auffällige reichsinterne religiöse Vielfalt, unter die auch die Christen fallen, und zugleich gilt es, auf die „Toleranz“ des römischen Staatswesens hinzuweisen, die Weber der in Asien, zumal der im chinesischen Kaiserreich an die Seite stellte.47 Er kennzeichnet diese ‚Toleranz’ so: Man „akzeptierte die Kulte aller Götter angegliederter Staaten, wenn sie qualitativ dazu geeignet schienen und – in der Kaiserzeit – sich dem politisch motivierten Staatskult (Kaiserkult) ihrerseits fügten“ (1972: 699f., MWG I/22-4: 610). Mit den Christen allerdings gab es die bekannten, den Kaiserkult betreffenden Schwierigkeiten. Diese politischreligiöse Lage wendet sich nun aber im 4. Jahrhundert ins komplette Gegenteil. An dessen Ende war das Christentum monopolistische ‚Staatsreligion’; andere Religion werden nun einschließlich des alten Kaiserkults innerhalb des Reiches nicht mehr ‚toleriert’. Und es setzt damit für die ‚lateinische Christenheit’ die Jahrhunderte währende Politik der, im Zusammengehen mit der Kirche, staatlicherseits erzwungenen religiösen Homogenisierung ein. Dies in der Form des bereitgehaltenen Arms der ‚weltlichen Macht’, die den kirchlichen Willen exekutiert. Weber kommentiert das generalisierend so: „Und die Religion einer selbständig entwickelten Priesterschaft findet in den Staatsuntertanen ihr natürlichstes Missionsgebiet und schreitet gern zum ‚coge intrare’ fort, zumal wenn sie ‚Erlösungsreligion’ ist“ (1972: 700, MWG I/22-4: 610).
Mit der von Augustinus geprägten Formel des „coge intrare“ (bzw. „compelle intrare“), also mit der an den Staat adressierten Aufforderung, die Kirchenmitgliedschaft der Untertanen gegebenenfalls (mit den staatsspezifischen Mit47 Vgl. Weber (1920b: 363f.): „Asien war und blieb, im Prinzip, das Land der freien Konkurrenz der Religionen, der ‚Toleranz’ im Sinne etwa der Spätantike. Das heißt also: unter Vorbehalt der Schranken der Staatsräson“. Ferner auch zur „‚Toleranz’ in cäsaropapistischen Gemeinwesen“, durch den Staatskult begrenzt (MWG I/22-4: 677f., 1972: 725).
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teln) zu erzwingen, kommen nun ‚politischer’ und ‚hierokratischer Verband’ – bezüglich ihrer sozialen Reichweite, im Hinblick also auf den Kreis der von ihnen Beherrschten – zur Deckung, zum „Zusammenfall“, wie Weber sagt. Der Problembezug der religiösen Homogenisierung aber verlagert sich im Lauf der Zeit ganz weg von Mission und Bekehrung und hin zur (staatsinternen) Kontrolle religiöser Devianz, zur Ketzerverfolgung usw.; schon bei Augustinus war es (innerchristlich) der Donatistenstreit gewesen, der ihn am Ende nach dem Staat rufen ließ. Zu der Sonderentwicklung, die Europa damit eingeschlagen hat, gehört im Blick auf die lateinische Christenheit des Mittelalters strukturell aber nicht zuletzt: das (konfliktreiche) institutionelle Gegenüber der europaweit einen Kirche mit römischem Zentrum hier und der Vielzahl der politischen Verbände dort: von den verschiedenen Königtümern bis hin zu den selbständigen Städten (Reinhard 1992: 234ff.). In der frühen Neuzeit aber verschärfte sich einzel- und innerstaatlich die entschiedene Politik der religiösen Homogenisierung, zunächst im komplett katholisierten Spanien nach Abschluss der Reconquista, dann erst recht im Gefolge der Reformation, nun aber, nach dem Verlust der ‚Glaubenseinheit’ und angesichts der Mehrzahl von Konfessionen, im Sinne von jeweiliger konfessioneller Homogenisierung.48 Hans-Heinrich Nolte (1997: 199) beschreibt die Eigentümlichkeiten davon so: „Die Besonderheit des westeuropäischen Christentums bestand in der Radikalität, mit der Interessen unmittelbarer Machterhaltung zurückgestellt wurden, um konfessionelle bzw. religiöse Homogenität einer Bevölkerung durchzusetzen. Umsiedlung und Vertreibung erhielten dabei neue Funktionen. Marranen und Moriskos waren offiziell Christen und sehr gute Steuerzahler, als die Inquisition die Reinheit ihres Glaubens in Frage stellte; die Hugenotten waren nicht nur landständische Adelige aus Bearn oder Languedoc, sondern die besten Handwerker des Königreiches, als Ludwig XIV. die Gnadenedikte seiner Vorgänger aufhob; und jeder deutsche Landesherr, der Landeskinder abweichender Konfession über die Grenze schickte, wußte, daß er seine fiskalischen Interessen hinten ansetzte. Dadurch unterschieden sich die christlichen Gesellschaften Westeuropas von den islamischen (in der frühen Neuzeit), die in der Regel fiskalisch darauf angewiesen waren, daß Nichtmuslime stärker belastet wurden sowie ökonomische Tätigkeiten entfalteten, und in denen es keine institutionalisierte Mission gab.“
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Vgl. für „Monokonfessionalisierung als politisches Programm“ etwa Herzig (2000) (auf ‚Rekatholisierungen’ vom 16. bis 18. Jahrhundert hin); vgl. ferner Burkhardt (2002: 77ff., 178ff.), speziell zur deutschen Situation mit ihrer „Staatsbildung im Plural“ – bezogen auf die Landesstaatlichkeit mit konfessionell je homogener Bevölkerung – und andererseits dem Reich und seinem internbikonfessionellen Nebeneinander seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555.
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Europa erscheint damit nicht nur als der Kontinent der ‚innerchristlich’konfessionellen Bürgerkriege, sondern vor allem als der des staatlichen Religionszwangs, und man wird hinzusetzen müssen: nur um dessentwillen dann auch als der Kontinent, auf dessen Boden ‚die Toleranz’ erfunden werden konnte bzw. musste.49 In der Tradition der Politik der religiösen Homogenisierung bewegte sich im Übrigen auch Rousseaus ‚Zivilreligion’, wenn sie denjenigen, der das „rein bürgerliche Glaubensbekenntnis“ nicht gläubig rezipierte, mit Verbannung und Tod bedrohte.50 Zu Recht sprach Weber (1972: 725, MWG I/22-4: 678) von der „Staatstheorie Rousseaus mit ihrem staatlichen Religionszwang“; an diesem Religionszwang ist aber von besonderem Interesse, dass zu den wenigen zivilreligiös unbedingt verpflichtenden Glaubensartikeln, die Verwerfung der religiösen „Unduldsamkeit“ gehörte: der Unduldsamkeit nun aber, jenseits der Zivilreligion, auf dem Feld der „church religion“ (und dort zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften). Die Geschichte der Toleranz auf dem europäischen Kontinent war dann zumal im 18. Jahrhundert die der langsamen Abkehr von der rigiden frühneuzeitlichen Politik der religiösen Homogenisierung. Auch ist sie weitgehend eine Geschichte der nach Staatsraison obrigkeitlich gewährten Toleranz gewesen, dies etwa dann, wenn neu hinzugewonnene Gebiete dem Staat auf seinem Territorium neue Untertanen abweichender Konfession bescherten. Und es konnte ‚wirtschaftspolitisch’-gewerbliche Gründe geben, auch Sekten und Separatisten wie die Mennoniten auf dem eigenen Territorium zuzulassen (Konersmann 2004). Das führte dann im günstigen Fall zu Konstellationen, wie sie rechtlich etwa das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 schuf. Es sicherte zwar jedem Einwohner „eine vollkommene Glaubensund Gewissensfreiheit“ zu, unterteilte die „Religionsgesellschaften“ dann aber in die drei Klassen der privilegierten, der genehmigten und der nicht geduldeten. Erwartet war von diesen zuerst, dass sie „ihren Mitgliedern Ehrfurcht gegen die Gottheit, Gehorsam gegen die Gesetze, Treue gegen den Staat und sittlich gute Gesinnungen gegen ihre Mitbürger“ ‚beibrachten’ (vgl. pointiert Kehrer 2003: 125f.). Wenn es bei der ‚Religionsfreiheit’ um den Schutz der Autonomie der Religion(en) auf dem jeweiligen Staatsgebiet geht, so ist damit vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte vor allem der Schutz vor dem Staat gemeint, aller49
Vgl. zur europäischen Geschichte der Toleranz jetzt die großartige Studie von Forst (2003). Vgl. bezüglich der zivilen Glaubensartikel Rousseau (1966: 193): „Ohne jemand zwingen zu können, sie zu glauben, darf der Staat jeden, der sie nicht glaubt, verbannen, zwar nicht als Gottlosen, wohl aber als einen, der den Gesellschaftsvertrag verletzt, der unfähig ist, Gesetze und Gerechtigkeit aufrichtig zu lieben und im Notfalle sein Leben seiner Pflicht zu opfern. Sobald sich jemand nach öffentlicher Anerkennung dieser bürgerlichen Glaubensartikel doch als Ungläubiger aufführt, verdient er den Tod; er hat das größte aller Verbrechen begangen, er hat vor den Gesetzen falsch geschworen.“
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dings als einer durch den Staat. Auf den Weg dahin führt die Staatsräson von sich aus schwerlich. Sieht man die Dinge auf Differenzierung und ‚Trennung’ hin an, so setzte gerade Max Weber nicht auf die Politik als ‚Initiatorin’ davon. Vielmehr setzte er im Einvernehmen mit Georg Jellinek und Ernst Troeltsch auf die religiöse Seite.51 Nur von dieser her schien ihm die Gewissensfreiheit als Menschenrecht ‚denkmöglich’ und in einem prinzipiellen Sinne postulierbar. Weber nennt sie „das prinzipiell erste, weil weitestgehende, die Gesamtheit des ethisch bedingten Handelns umfassende, eine Freiheit von der Gewalt, insbesondere von der Staatsgewalt, verbürgende ‚Menschenrecht’“ (1972: 725, MWG I/22-4: 678). Der religiös-soziale Entstehungskontext dieses (mit Jellinek: ersten) Menschenrechts ist, wie man es in Heidelberg sah, nicht ein ‚kirchlicher’, sondern einer der Sektenreligiosität, wobei sich mit ‚Sekte’ immer religiöse Pluralisierung verbindet: im Sinne der Mehrzahl der Sekten und im separatistischen Sinne der Abspaltung von ‚der Kirche’. Auch war es nicht kontinentaleuropäischer, sondern angelsächsisch-amerikanischer Boden, auf dem sich die Gewissensfreiheit erstmals religiös artikuliert und konsequent begründet fand. Zu denken ist dabei insbesondere an Roger Williams und an „die religiöse Begründung eines rein säkularen Staatswesens“, die er schon 1644 publiziert hat (Forst 2003: 239ff.). Und Amerika, dessen ‚christliche Anfänge’ so stark von europäischen Glaubensflüchtlingen bestimmt waren, war dann auch das erste Land, das im Zuge seiner Staatswerdung die Menschenrechte instituierte, wozu das individuelle Recht des „free exercise of religion, according to the dictates of conscience“ essentiell gehörte (vgl. ebd.: 446ff.). Gezielt war mit dieser Freiheit aber auf ein intern plurales religiöses Feld, innerhalb dessen das individuelle Gewissen ‚wählerisch’ sein konnte. 4. Wolfgang Reinhard (1992: 254) hat sich mit Nachdruck die Auffassung Tocquevilles zu Eigen gemacht, derzufolge es nur zwei Kräfte gebe, die „zur totalen Mobilisierung von Menschen in der Lage“ seien: „Religion und Patriotismus“. Das war im Rückblick auf die französische Revolution gesagt. Im Hinblick auf den ‚nationalen Staat’ des 19. Jahrhunderts und seine europäische ‚Verallgemeinerung’ wird bei Reinhard daraus eine Verdrängungs- und Säkularisierungsthese. Denn in der engen Koppelung von Staat und Nation – im Unterschied zu den dynastischen Staatsgebilden Alteuropas – war ein politischer Integrationsmodus gefunden, der sich legitimatorisch wie motivational selber trug, dies religionsbezogen mit der Konsequenz, dass „die Dienste der Kirche und anderer Ideologieproduzenten (...) hinfort zur Legitimitätsstiftung nicht mehr benötigt“ wurden: „Die Kirchen hatten politisch ausgedient. In der denkbar radi51
Vgl. Tyrell (1993: 336ff.), König (2002: 111ff.); zuletzt, allerdings mit der Neigung, Troeltsch und Weber zu dissoziieren: Joas (2003).
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kalsten Weise war der Staat definitiv auch ideologisch zum Selbstversorger geworden“ (Reinhard 1992: 254f.). Die kirchlichen Funktionsverluste schwächen in Reinhards Augen die religiöse Seite nachhaltig. Er hält sich allerdings deutlich zurück, den Nationalismus – auf seine legitimierenden und mobilisierenden Funktionen hin und um dieser funktionalen Äquivalenz willen – ebenfalls Religion zu nennen, ihn als Religionsersatz zu verbuchen oder sonst unter Religionsverdacht zu bringen. Im Unterschied zu Hans-Ulrich Wehler (2004: 27ff.) etwa, der im 19. Jahrhundert den Nationalismus zur ‚politischen Religion’ gesteigert sieht, belässt es Reinhard dabei, auf den „Gemeinplatz“ vom Nationalismus als einer „Art von Religion“ hinzuweisen. Wie hat es Max Weber mit diesem Problem gehalten? Dazu ist zweierlei anzumerken: Einerseits fällt auf, in wie starkem Maße Weber – persönlich wie soziologisch-analytisch (Ay 2003) – zugänglich war für den Gedanken (und die Semantik) der ‚Ehre der Nation’ (vgl. Koller 2003). Soziologisch geht es ihm dabei um „eine spezifische ‚Prestige’-Prätension“ im Außenverhältnis (gerade auch) der modernen Nationalstaaten. Diese Prestigeprätensionen der ‚politischen Gemeinschaften’ im Verkehr miteinander projizierte Weber, was ihre ‚soziale Abkunft’ und die Verhaltensweisen und Attitüden, in denen sich artikulieren, angeht, auf das Sozialgebaren ‚feudaler Herrenschichten’.52 Indem er das tat, rückte er sie aber weit weg von allen religiösen Sinn- und Verhaltenszusammenhängen. Die ‚ständische Ehre’ ist eben etwas nach weberschen Begriffen ausgesprochen religionsfremdes. Andererseits und wie ich andernorts (Tyrell 2008: 152ff.) detaillierter gezeigt habe: Weber ist bemerkenswert konsequent dabei geblieben, von der Nichtidentität von Politik und Religion auszugehen und auf die Differenzierung beider Sphären, ja auf gegenläufige Rationalisierung zu setzen. Beider Logik ist einander ‚fremd’. Zwar bescheinigt Weber der Nation und dem Nationalen nachdrücklich ihr spezifisches Pathos, und es ist damit ein durchaus ‚religioider’ Begriff gewählt. Lässt man das aber beiseite, dann kann man nur sagen: Weber hält das Nationale strikt auf der Politikseite und hält es von Religion frei; weder hat es einen Religionsbedarf, noch können – ganz im Sinne Reinhards – die Kirchen aus ihrer Substanz Wesentliches zu ihm beitragen. Und natürlich sind für Weber andererseits Religion und religiöse Ethik in Differenz und in Distanz zum Politischen verstanden. Das aber gibt dann Religion und Politik frei für den Vergleich miteinander, und dies gerade auch da, wo 52
„Die Erfahrung lehrt, daß Prestigeprätensionen von jeher einen schwer abzuschätzenden, generell nicht bestimmbaren, aber sehr fühlbaren Einschlag in die Entstehung von Kriegen gegeben haben: ein Reich der ‚Ehre’, ‚ständischer’ Ordnung vergleichbar, erstreckt sich auch auf die Beziehungen der politischen Gebilde untereinander; feudale Herrenschichten, ebenso wie moderne Offiziers- und Amtsbürokraten sind die naturgemäß primären Träger dieses rein an der Macht des eigenen politischen Gebildes als solcher orientierten ‚Prestige’-Strebens“ (MWG I/22-1: 223).
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sie einander ersichtlich ‚funktional affin’ sind oder wo sie ein ähnliches Verhalten oder ähnliche Affektlagen motivieren. Diese Affinität hebt aber die Differenz nicht auf; im Gegenteil: sie erzeugt, ja sie steigert beider Konkurrenz. Und genau in diesem Sinne bezieht Weber in der „Zwischenbetrachtung“ Religion und Politik aufeinander. Genauer noch: er konfrontiert im politikbezogenen Teil dieses Textes das Pathos der Nation, nämlich der Nation im Krieg53, mit der religiös-universalistischen Brüderlichkeitsethik. Weber bringt dort zunächst den Gegensatz des Partikularismus der politischen Verbände, zumal des Nationalstaats hier und des religiös-ethischen Universalismus dort zur Sprache.54 Angemerkt sei dazu nur, dass der Text die partikularistische ‚Doppelmoral’ – also den im ökonomischen Kontext so stark herausgearbeiteten Gegensatz von ‚Binnenmoral’ (‚unter Brüdern’ oder Genossen) und ‚Außenmoral’ (gegenüber Fremden und Feinden) – auf dem politischen Feld eher schwach akzentuiert. Umso nachdrücklicher ist dort dann, auf tolstoischem Hintergrund, das Thema der physischen Gewalt verhandelt, wie sie dem politischen Verband konstitutiv, der Brüderlichkeitsethik aber prinzipiell verwerflich ist (vgl. Tyrell 1997: 205). Was aber in der „Zwischenbetrachtung“, (auch) unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs, in den Vordergrund tritt, ist das, worin es die ‚politische Gemeinschaft im Kriege’ der religiösen (auf deren Feld) gleichtut, ja mehr noch: worin sie die letztere mitunter überbieten kann. Und das ist einerseits die Caritas, die tätige ‚Nächstenliebe’ und Hilfsbereitschaft, welche die politische Gemeinschaft im Kriege geradezu massenhaft freisetzt und motivieren kann. Andererseits ist es die Antwort, die die ‚Kriegsbrüderlichkeit’ auf eben jene je individuell anfallenden Sinn-, Kontingenz- oder Theodizeeprobleme zu geben weiß, die ansonsten, abgekürzt gesagt, so ganz ‚die Sache’ der großen Erlösungsreligionen sind. Ich zitiere Weber bewusst etwas ausgiebiger (1920a, 548f.): „Die Fremdheit beider Sphären gegeneinander bei voller Rationalisierung jeder von beiden wirkt sich nun aber besonders scharf darin aus, daß in entscheidenden Punkten die Politik [...] als direkte Konkurrentin der religiösen Ethik aufzutreten vermag. Der Krieg als die realisierte Gewaltandrohung schafft, gerade in den modernen politischen Gemeinschaften, ein Pathos und ein Gemeinschaftsgefühl und löst dabei eine Hingabe und bedingungslose Opfergemeinschaft der Kämpfenden und überdies eine 53
Im Hinblick auf Nationalstaat(en) und Krieg in der soziologischen Klassik ausgiebig Joas/Knöbl (2008: 161ff.); dort auch eine nicht recht geglückte Kontrastierung der Positionen Webers und Durkheims. Sie registriert auf der weberschen Seite vorzugsweise „schneidenden Nationalismus“ und attestiert Durkheim „edle“ Motive, bleibt aber blass, was die Explikation von beider soziologischen Problemlagen und Einsichten angeht. 54 „Den Lokal-, Stammes- und Reichsgott gingen nur die Interessen seiner Verbände an. [...] Das Problem entstand [...] erst mit der Sprengung dieser Schranken durch universalistische Religionen, mit dem einheitlichen Welt-Gott also, und in voller Stärke da, wo dieser ein Gott der ‚Liebe’ sein sollte: – für die Erlösungsreligion auf dem Boden der Brüderlichkeitsforderung“ (Weber 1920a: 546).
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Hartmann Tyrell Arbeit des Erbarmens und der alle Schranken der naturgegebenen Verbände sprengenden Liebe zum Bedürftigen als Massenerscheinung aus, welcher die Religionen im allgemeinen nur in Heroengemeinschaften der Brüderlichkeitsethik ähnliches zur Seite zu stellen haben. Und darüber hinaus leistet der Krieg dem Krieger selbst etwas, seiner konkreten Sinnhaftigkeit nach, Einzigartiges: in der Empfindung eines Sinnes des Todes, die nur ihm eigen ist. Die Gemeinschaft des im Felde stehenden Heeres fühlt sich bis heute, wie in den Zeiten der Gefolgschaft, als eine Gemeinschaft bis zum Tode: die größte ihrer Art. Und von jenem Streben, welches gemeines Menschenlos ist und gar nichts weiter, ein Schicksal, welches jeden ereilt, ohne daß je gesagt werden könnte, warum ihn und gerade jetzt, welches ein Ende setzt, wo doch gerade mit steigender Entfaltung und Sublimierung der Kulturgüter ins Unermeßliche hinein stets nur ein Anfang sinnvoll zu sein scheint: – von diesem unvermeidlichen Sterben scheidet sich der Tod im Felde, daß hier, und in der Massenhaftigkeit nur hier, der Einzelne zu wissen glauben kann: daß er ‚für’ etwas stirbt. Daß, warum und wofür er den Tod bestehen muß, kann ihm – und außerdem nur dem, der ‚im Beruf’ umkommt – in aller Regel so zweifellos sein, daß das Problem des ‚Sinnes’ des Todes in jener allgemeinsten Bedeutung, in welchem sich die Erlösungsreligionen mit ihm zu befassen veranlaßt sind, gar keine Voraussetzungen seiner Entstehung findet. Diese Leistung einer Einstellung des Todes in die Reihe der sinnvollen und geweihten Geschehnisse liegt letztlich allen Versuchen, die Eigenwürde des politischen Gewaltsamkeitsverbandes zu stützen, zugrunde. Die Art aber, wie der Tod hier als sinnvoll erfaßt werden kann, liegt nach radikal anderen Richtungen als eine Theodicee des Todes in einer Brüderlichkeitsreligiosität. Dieser muß die Brüderlichkeit der kriegsverbundenen Menschengruppe als bloßer Reflex der technisch raffinierten Brutalität des Kampfes entwertet scheinen und jene innerweltliche Weihe des Kriegstodes als Verklärung des Brudermordes. Und gerade die Außeralltäglichkeit der Kriegsbrüderlichkeit und des Kriegstodes, welche er mit dem heiligen Charisma teilt, steigert die Konkurrenz in die äußerst mögliche Höhe.“
Unterstrichen sei hier nur die Außeralltäglichkeit der ‚Kriegsbrüderlichkeit’. Aufmerksam zu machen ist darüber hinaus auf die unvermeidlich religiöse Sprache, der sich – auf der politischen Seite – auch Weber nicht entzieht, wenn er von „sinnvollen und geweihten Geschehnisse(n)“ oder der „innerweltliche(n) Weihe des Kriegstodes“ spricht.55 Aber so sehr Politik und Religion hier einander affin sind, so wenig hebt dies beider Unterschiedenheit auf und vor allem nicht (und für die „Zwischenbetrachtung“ entscheidend): die ins Prinzipielle gehende Wertkollision. Aus religiös-universalistischer und brüderlichkeitsethischer Perspektive drängt sich am Kriege eben weniger das Sterben als das Töten auf, und unabweisbar liegt auf dem Feinde tötenden Kriegsgeschehen die Deu-
55
Vgl. hierzu auch Thomas (2001: 84ff.); zur Sache des Kriegstodes aber – Weber mit Martin Heidegger kontrastierend – Hahn (2001: 105ff.).
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tung des dem göttlichen und Liebesgebot widersprechenden organisierten Menschenbrudermordes. Das letzte Wort aber soll hier, ebenfalls kriegsbezogen, Durkheim haben, wobei ich auf „Deutschland über alles“ von 1915 Bezug nehmen will, eine antideutsche Schrift, die ein intellektueller Beitrag zum Kampfe Frankreichs sein wollte. Sie interessiert an dieser Stelle nur, soweit sie Religiöses zur Sprache bringt. Durkheim bezieht in dieser Schrift nachdrücklich die Position des französischen Patriotismus, der sich universalistisch die Menschheitswerte auf die Fahnen geschrieben hat. Er tut dies hier nun aber, wie zuvor angedeutet, unter Berufung auf das Christentum, auf ein Christentum, das nicht gegen die ‚Religion der Menschheit’ steht; vielmehr steht diese ihrerseits in der Kontinuität des Christentums.56 Aber nicht allein die französische Gesellschaft ist „durch die Schule des Christentums“ gegangen; allen Gesellschaften des christlichen Europa ist, durch dieses erzogen, die Moral auferlegt, „vor allem die Menschheit (zu) verwirklichen“ und „in ihr mehr Liebe und mehr Brüderlichkeit (zu) wecken“ (Durkheim 1995: 266).57 Der Vorwurf an die Adresse des kriegsführenden Deutschland – intellektuell verkörpert in Heinrich von Treitschke – ist der, auf der anderen Seite des Rheins habe man die Menschheit „aus der Reihe der sittlichen Werte gestrichen“ (Durkheim 1995: 265). Dies sei die Abwendung von der zivilisatorischen Arbeit der „christlichen Gesellschaften seit 20 Jahrhunderten“, und Durkheim kommt dann gar nicht umhin, dies in christlicher Sprache „die Rückkehr zur heidnischen Moral“ zu nennen: die Rückkehr „zur alten römischen Moral, zu der Stammesmoral, nach welcher die Menschheit sich nicht über die Grenzen des Stammes oder der Stadt hinaus erstreckte“ (Durkheim 1995: 265). (Eine Anmerkung fügt noch hinzu: „Wilhelm II. soll gesagt haben, für ihn höre die Menschheit an den Vogesen auf.“) Die christliche ‚Sprengung’ des Partikularismus der antiken Zivilreligion(en) steht damit als zivilisatorische Großtat da, und der das christliche Erbe beiseite schiebende deutsch-nationale Partikularismus, dem die eigene Nation „über alles“ geht und der von den kosmopolitischen (z.B. völkerrechtlichen) Werten nichts (mehr) wissen will, besagt den Rückfall ins ‚Heidnische’ und in die vorchristliche antik-zivilreligiöse ‚Barbarei’. Man findet Durkheim selten so identifiziert mit der christlichen Seite.
56
Das ‚Lob des Christentums’ in diesem oder verwandtem Sinne findet man bei Durkheim aber nicht nur an dieser Stelle, sondern auch andernorts, zumal im Erziehungskontext; vgl. die Zusammenstellung bei Pickering (1984: 422ff.). 57 Natürlich ist diese Brüderlichkeit die französische von 1789 und nicht die religiös-ethische vom „Hinhalten des anderen Backens“, nicht die im Sinne Tolstois, die Weber meinte; vgl. Tyrell (1997: 204ff.).
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Webers Konzeption von Brüderlichkeitsethik und die Macht religiöser Vergemeinschaftung Webers Konzeption von Brüderlichkeitsethik
Hans G. Kippenberg
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Spontane Nachbarschaftshilfe und religiöse Brüderlichkeitsethik: Aufarbeitung einer These von Max Weber
Es ist eine der bleibenden und nach wie vor faszinierenden Leistungen von Max Weber, den großen gesellschaftlichen Ordnungen und Mächten eine verselbstständigte Existenz abzusprechen. In „Wirtschaft und Gesellschaft“, wo er dieses Programm durchführt, setzt er an die Stelle einer „Metaphysik“ von Institutionen ein Gemeinschaftshandeln. Damit richtet er den Blick auf die Akteure, die Strukturen der Koordination ihres Handelns sowie die Sinndeutung, die mit ihrem Handeln verbunden ist (vgl. Lepsius 2003). Den großen gesellschaftlichen Ordnungen und Mächten kommt man wissenschaftlich nur auf die Spur, wenn man sie als Formen von Gemeinschaftshandeln aufschlüsselt. Auf diese Weise machte Weber aus der Macht der Wirtschaft ein uns innewohnendes Arbeitsethos, aus der Macht der Herrschaft einen Legitimationsglauben. Dass Weber auch mit Religion ähnlich verfahren ist, ist seltener gesehen oder gewürdigt worden. Anders als zu seiner Zeit, in der es üblich war, Religionen als Rituale oder als inneres Erleben zu studieren, erfasste Weber Religionen als ein Handeln, das von einem Verlangen nach außeralltäglichem Heil getrieben wird und sich dabei an unterschiedlichen Trägern von Heil orientiert: an Magiern, Schamanen, Priester, Asketen, Propheten, Intellektuelle. Die Mittel, mit der diese Charismatiker das Erlangen von Heil in Aussicht stellten, wurden bei den Gläubigen zu eigenen Heilswegen: Magie, Ekstase, Kult, Ethik, Askese, Mystik. Da Weber vorrangig an Weltablehnung als Voraussetzung der Überwindung traditionalistischen Handelns interessiert war, richtete er seine Untersuchungen auf den Fall aus, dass Heilsuchende den vorgefundenen tradierten sozialen Ordnungen der Welt ablehnend gegenüberstanden und weltablehnende geschlossene Gemeinschaften ins Leben riefen. Das Thema der Gemeinschaft verbindet seine Behandlung von Religion mit der vorangehenden Behandlung von Hausgemeinschaft, Nachbarschaft und ethnischer Gemeinschaft. In seinem Projekt, die großen Gemeinschaftsformen zur Wirtschaft in Beziehung zu setzen, hielt er eine bestimmte Reihenfolge ein. A. Bienfait (Hrsg.), Religionen verstehen, DOI 10.1007/978-3-531-92777-0_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Webers Konzeption von Brüderlichkeitsethik
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Noch bevor er auf die Religionsgemeinschaft zu sprechen kam, behandelte er die Nachbarschaft von Hausgemeinschaften. Auch hier folgte er der Strategie, aus einem statischen Sachverhalt einen Typus von Gemeinschaftshandlung zu machen. Dabei rückte er die Hilfe in Not ins Zentrum seiner Betrachtung. Wenn Haushalte in Schwierigkeiten kommen, dann muss die Nachbarschaft zu Hilfe gerufen werden. „Der Hausverband ist die Gemeinschaft, welche den regulären Güter- und Arbeitsbedarf des Alltages deckt. Wichtige Teile des außerordentlichen Bedarfs an Leistungen bei besonderen Gelegenheiten, akuten Notlagen und Gefährdungen, deckt unter den Verhältnissen agrarischer Eigenwirtschaft ein Gemeinschaftshandeln, welches über die einzelne Hausgemeinschaft hinausgreift: die Hilfe der ‚Nachbarschaft’“ (MWG I/22-1: 121). „Nachbarschaft bedeutet praktisch […] Aufeinanderangewiesen sein in der Not. Der Nachbar ist der typische Nothelfer, und ‚Nachbarschaft’ daher Trägerin der ‚Brüderlichkeit’ in einem […] unpathetischen vorwiegend wirtschaftsethischen Sinn des Wortes“ (MWG I/22-1: 122).
Nachbarschaft als Aufeinandergewiesensein in der Not und daher Träger von Brüderlichkeit existiert laut Weber nicht nur in dörflichen Lebensformen, sondern auch in den Mietskasernen der Armenviertel einer Großstadt, wo ebenfalls der Nachbar der typische Nothelfer ist (MWG I/22-1: 121). Zwar kann diese „Volksethik“ durch persönliche Feindschaft oder durch Interessenkonflikte der Nachbarn außer Kraft gesetzt werden und Feindseligkeit an ihre Stelle treten (MWG I/22-1: 124). Immer aber bleibt die „nüchterne ökonomische ‚Brüderlichkeit’“ in Notfällen “eine naturwüchsige Grundlage von jeder Art ‚Gemeinde’“ (MWG I/22-1: 125f.).1 Im Fall der Sippe stellt die Nothilfe sogar eine strenge Pflicht dar, was Weber besonders bei der Untersuchung des Judentums feststellt. In ihr gründet das Zinsverbot unter Glaubensgenossen.2 Webers Analyse knüpft hier begrifflich an Ferdinand Tönnies an, der von der Gemeinschaft des Blutes (der Verwandtschaft) die Gemeinschaft des Ortes (Nachbarschaft) unterschied; sie bringt – im Gegensatz zu Gesellschaft, die durch Tausch und Vertrag zustande kommt – durch das pure Zusammenleben soziale Bande hervor (Tönnies 1912: 16-19, 28-34).3 In Übereinstimmung mit dieser Unterscheidung
1 Das von Wolfgang Mommsen edierte Stichwortmanuskript zu den Gemeinschaften notiert: „’Brüderlichkeitsbeziehung’ (nüchtern und unpathetisch)“ (MWG I/22-1: 293). 2 Vgl. MWG I/21, S. 252-254 und S. 326-328. Siehe auch Webers Stichwortmanuskript zu den Gemeinschaften in MWG I/22-1, S. 324. 3 Hierzu auch Wolfgang Mommsens Einleitung zu MWG I/22-1, S. 39-41.
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Hans G. Kippenberg
nimmt auch Weber an, dass Brüderlichkeitspflichten unabhängig sind von Markt, Staat und Recht (MWG I/22-1: 194). In der Anordnung der Gemeinschaftsformen in „Wirtschaft und Gesellschaft“ stellt Weber die Nachbarschaftsgemeinde aus systematischen Gründen vor die Religionsgemeinde (MWG I/22-2: 195). Der Grund für diese Reihenfolge besteht darin, dass die auf Propheten zurückgehende religiöse Gemeinschaft die Nothilfepflicht der Nachbarn und Sippen übernahm und daraus das Gebot der „Brüderlichkeit“ machte. Die religiöse Gemeinde, die sich neben dem „aus ökonomischen, fiskalischen oder anderen politischen Gründen vergesellschafteten Nachbarschaftsverband“ als „zweite Kategorie von Gemeinde“ bildet, setzt den Glaubensgenossen an die Stelle des Sippengenossen. „Den Verbänden der Sippe, der Blutsbrüder und des Stammes fügt die Gemeindereligiosität als Stätte der Nothilfepflicht den Gemeindegenossen hinzu. Oder vielmehr, sie setzt ihn an die Stelle des Sippengenossen. Wer nicht Vater und Mutter verlassen kann, kann nicht Jesu Jünger sein, und in diesem Sinn und Zusammenhang fällt auch das Wort, dass er gekommen sei, nicht um den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Daraus erwächst dann das Gebot der ‚Brüderlichkeit’, welches der Gemeindereligiosität – nicht etwa aller, aber doch gerade ihr – spezifisch ist, weil sie die Emanzipation vom politischen Verbande am tiefsten vollzieht“ (MWG I/22-2: 372).
Beistand und Nothilfe lösen sich von der nachbarschaftlichen Reziprozität bzw. der Sippenpflicht und werden zu Forderungen einer prophetischen religiösen Ethik, die damit die religiöse Gemeinde auch vom politischen Verband unabhängig werden lässt, aber auch von den Gesetzen des Marktes. Dieses Gebot konnte in einem weiteren Schritt zu einer spezifisch religiösen „Liebesgesinnung“, zu einem „Liebeskommunismus“ radikalisiert werden.4 Die Botschaft Jesu, heißt es gegen Ende des Religionsteils von „Wirtschaft und Gesellschaft“, hat die Nothilfeethik des Nachbarschaftsverbandes „gesinnungsethisch“ zur brüderlichen Liebesgesinnung systematisiert und außerdem noch universalisiert, sodass sich die Forderung auf den jeweiligen Nächsten und nicht mehr nur auf den faktischen Nachbarn erstreckt (MWG I/22-2: 445). Wo das geschieht, tritt die Selbstständigkeit der Brüderlichkeitsethik in eine grundsätzliche Spannung zur sozialen Realität und wird Bestandteil von weltablehnender Erlösungsreligiosität. „Die Erlösungsreligiosität bedeutet, je systematischer und gesinnungsethisch verinnerlichter sie geartet ist, eine desto tiefere Spannung gegenüber den Realitäten der Welt“ (MWG I/22-2: 367). 4 MWG I/22-2, S. 373-76; S. 373f., Fn. 6 legt dar, dass der Begriff „Liebeskommunismus“ von Ernst Troeltsch stammt.
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Für wie folgenreich Weber die Umwandlung von nachbarschaftlicher Nothilfe und von Sippensolidarität in eine Brüderlichkeitsethik hielt, zeigt sich darin, dass er sie in seiner „Zwischenbetrachtung“ wieder aufgriff, verdichtete und in seiner Dramatik noch steigerte. Erlösungsreligiosität überträgt die „alte ökonomische Nachbarschaftsethik auf die Beziehung zum Glaubensbruder“. Nothilfepflicht für Witwen, Waise, Arme, und Kranke wird ethisches Grundgebot, an dessen Befolgung das Heil hängt (MWG I/19: 48). Dabei hängt der Umfang der Solidarität mit dem Bedürftigen auch von der Art ab, wie die Erfahrung der Irrationalität der Welt verarbeitet wird (Yokota 2002). Wenn die Wirklichkeit als eine des unbegreiflichen Leidens gilt, weicht die sozial eingeschränkte Reziprozitätspflicht einer universalistischen Brüderlichkeitsethik und überspringt alle sozialen Schranken (MWG I/19: 487). Je konsequenter sie praktiziert wird, desto härter stößt sie mit den Ordnungen und Werten der Welt zusammen; je mehr dabei deren Eigengesetzlichkeiten zur Entfaltung kommen, desto unversöhnlicher wird der Zwiespalt. Es ist diese Wendung der Brüderlichkeit zu einer weltablehnenden Haltung, die eine weitere Problematik erzeugt. Das Handeln unter den Bedingungen der „brüderlichkeitsfremden Bedingungen der Welt“ gerät Weber zufolge unter einen neuartigen Entscheidungszwang: ob der ethische Wert dieses Handelns am Eigenwert des Tuns hängt oder an seinem Erfolg; ob der Wert der Gesinnung dazu berechtigt, die Verantwortung für die Folgen von sich zu weisen, oder ob die Verantwortung für die Folgen auch über die richtige Wahl der Mittel entscheidet (MWG I/19: 497). Weber sah diese ethischen Alternativen demnach als gleichrangige Optionen. Wolfgang Schluchter hat Webers Gegensatzpaar Gesinnungsethik/Verantwortungsethik überprüft und dabei das Missverständnis beseitigt, es handele sich um den Gegensatz von ethischem versus machtpolitischem Handeln. Verantwortungsethik setzt die Geltung genau derselben Werte voraus wie Gesinnungsethik. „Es kann […] keine ethische Handlung ohne Gesinnungswert geben“. Beide Maximen haben formalen Charakter und können nur dort angewandt werden, „wo der Glaube an die Geltung bestimmter absoluter ethischer Werte, in denen der Gesinnungswert einer Handlung gründet, bereits vorhanden ist“ (Schluchter 1988: 198).5
5 Vgl. auch Schluchter (1988: 165-200), „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik: Probleme einer Unterscheidung“. Zu einem ähnlichen Befund kommt Hartmann Tyrell (2001: 331-333).
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Hans G. Kippenberg Solidaritätsethik in der Gemeindereligiosität von Juden, Christen und Muslimen
Keineswegs alle Religionen haben in ihrer Geschichte geschlossene Gemeinschaften der Gläubigen ausgebildet. Oft decken sich Religionen mit bestehenden sozialen Einheiten wie Hausgemeinschaft, Verwandtschaftsgruppe, Stamm oder Nation; weiterhin haben oft andere als spezifisch religiöse Kriterien, z.B. Alter und Geschlecht, über die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft entschieden. All dies ist anders, wenn das Erlangen des Heils an eine bestimmte Lebensführung gebunden ist und wenn der Gesamtheit der Gläubigen das Heil verheißen ist, wie das bei prophetischen Religionen der Fall ist. Dann wird die religiöse Gemeinschaft selbst Gegenstand des Glaubens. Die Religionen Judentum und Christentum sowie Islam, die sich als Träger der Abraham gegebenen Verheißung sehen (1. Moses 12, 1-3), sind in diesem Sinne Gemeindereligionen par excellence. Das erkennt man besonders klar daran, dass die religiöse Gemeinschaft Adressat einer Heilszusage und so selbst Gegenstand des Glaubens der Mitglieder ist. Diesen Sachverhalt möchte ich Gemeindereligiosität nennen. Mit ihr verknüpft ist die Idee, dass die einzelnen lokalen Religionsgemeinden Teil einer transzendenten Gemeinschaft aller Erlösten sind („Volk Gottes“; „Kirche“, „umma“). Diese Gemeinschaft verlangt von ihren Mitgliedern in Zeiten, in der sie in ihrer Existenz bedroht ist, die Bereitschaft, für den Glauben zu sterben, und sieht darin etwas religiös Vorbildliches („Märtyrerkult“). Auch verlangt sie von ihren Angehörigen, Glaubensgenossen in Not zu helfen und beizustehen („Brüderlichkeitsethik“). Wo diese Tatbestände zusammenkommen, wird es überhaupt erst möglich, dass eine religiöse Gemeinde ein soziales Band begründet, das sich von andersartigen Beziehungen in einer Gesellschaft wie Tausch oder Herrschaft unterscheidet und ein eigenes Prinzip sozialer Integration bildet. Da die großen abrahamitischen Religionen aus ihrem Glauben die Auffassung gewinnen, Garanten des Gemeinwohls zu sein, haben sie Anerkennung auch von nichtreligiösen sozialen Ordnungen und Mächten eingefordert („Legitimität“ bzw. „Legalität“). Ein genauerer Blick auf diese Religionen bestätigt und modifiziert diesen Typus von Gemeindereligiosität.
2.1 Judentum Als das Judentum Palästinas nach der Rückkehr aus der Verbannung im 5. Jahrhundert v. Chr. in Jerusalem und Umgebung einen eigenen Rechtsverband ins Leben rief, dem von den persischen Herrschern Autonomie zugebilligt wurde,
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verpflichteten sich die Bürger gegenüber dem jüdischen Statthalter Nehemia, keine Heiraten ihrer Kinder mit Nichtjuden zuzulassen, am Sabbat keinen Handel zu treiben und im siebten Jahr auf den Ertrag des Landes und auf das Pfand, das man für ein Darlehen erhalten hat, zu verzichten. Damit bekräftigten sie zugleich auch eine Forderung der Propheten, wonach der Glaube daran, dass das Land Palästina Gottes Eigentum ist, jede Gleichgültigkeit gegenüber der Not eines Glaubensgenossen verbietet und eine Unterstützung der Kranken, Witwen, Waisen, Sklaven und Fremden verlangt. Sie nahmen sogar die Verpflichtung auf sich, die Schuldversklavung von Glaubensgenossen und die Aneignung von dessen Landesbesitz als Übertretung des Bundes mit Gott zu ächten. Regelmäßige Freilassung der Schuldsklaven wurde zu einem religiösen Gebot (Nehemia 10, 31-38).6 Als im 2. Jahrhundert v. Chr. die religiöse Ordnung des jüdischen Gemeinwesens von Anhängern des Hellenismus bedroht wurde, wurden diejenigen, die sich mit Gewalt widersetzten und dabei starben, als Märtyrer gefeiert.7 Gleichzeitig trennten sich besonders Glaubenstreue auch territorial vom jüdischen Stadtstaat Jerusalem, gründeten die Gemeinde von Qumran und erneuerten mit ihren Regeln die biblische Verpflichtung gegenüber den Armen und Schutzbedürftigen (Weinfeld 1986). In Israel war auf diese Weise die Tora ein Dokument geworden, das nicht den Priestern vorbehalten war, sondern sich an das ganze Volk richtete. Dieser Öffentlichkeitsanspruch der Offenbarung war die Voraussetzung dafür, dass Juden, die in Städten der hellenistischen Imperien und des Römischen Reiches lebten, für ihre Gemeinden geltende Rechtsformen übernahmen wie den griechischen Verein oder das römische „collegium“ (Kippenberg 2005; Kloppenborg/ Wilson 1996; Egelhaaf-Gaiser/Schäfer 2002). So erhielten die religiös kodifizierten Beziehungen der Mitglieder untereinander rechtliche Verbindlichkeit (Rajak 1984, 1985; Noethlichs 1995, 2001). Eine Ethik der Solidarität wurde so auch rechtlich institutionalisiert (Schwartz 2010). Einem ähnlichen rechtlichen Prinzip folgten noch viele Jahrhunderte später jüdische Organisationen, die im 20. Jahrhundert mit der Organisation der „aliyah“, des „Aufstiegs nach Jerusalem“, also der Einwanderung von Juden nach Palästina betraut waren. Die Einwanderung nach Israel war, bevor es den Staat Israel gab, eine Aufgabe der „World Zionist Organization“ und der „Jewish Agency“. Beide Organisationen vertraten die Interessen des jüdischen Volkes vor der britischen Mandatsbehörde. Und auch nachdem der Staat Israel gegründet worden war, blieben sie als Körperschaft mit 6
Dazu Hans G. Kippenberg (1991: 119-138). Judas Makkabaios spornte seine Soldaten mit Redewendungen an, die an die Martyrien erinnern. "Er erweckte ihren Mut und ihre Bereitschaft, für die Gesetze und das Vaterland zu sterben"(2 Makk. 8, 21; ähnlich 13,14); vgl. dazu van Jan Willem van Henten (1985: 388). Der Artikel von van Henten enthält Einsichten, die er in seiner Dissertation (van Henten 1986) detaillierter begründet hat. 7
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weitgehenden eigenständigen Befugnissen bei der Ansiedlung von Juden in Palästina bestehen (Quigley 2005: 17-19, 118f.).
2.2 Christentum Das Christentum trat im Hinblick auf die Gemeindereligiosität in die Fußstapfen des Judentums. Der Basistext, der im Christentum die Solidarität mit den Bedürftigen zum Heilsweg machte, kommt aus dem Matthäusevangelium. „Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr mir getan“, wird den Gerechten bzw. Verdammten im Endgericht gesagt, als sie sich erkundigen, warum die einen das Reich Gottes erben, die anderen zum ewigen Feuer verdammt sind (Matthäus 25, 31-46).
Der wirkliche Bruder ist nicht an der äußeren Zugehörigkeit zum jüdischen Volk erkennbar, sondern allein an seiner Bedürftigkeit: an Hunger, Durst, Heimatlosigkeit, Krankheit, Gefangenschaft. Dies zu erkennen ist die Bewährungsprobe für den Glauben. In der Antike bewältigten Christen diese Aufgabe gemeinschaftlich, indem sie dazu Vereinigungen bildeten. Die Wohlhabenden zahlten in eine gemeinsame Kasse ein; der Vorsteher unterstützte aus ihr Waisen, Witwen, Kranke, Gefangene und Fremde (Justin 1. Apologie 67, 6). Die christlichen Gemeinden übernahmen darüber hinaus auch das Begräbnis verarmter Mitglieder. Obwohl Christen bis zur Anerkennung durch Konstantin wegen ihrer Weigerung, an den Kulten der Städte und des Reiches teilzunehmen, verfolgt wurden, konnten sie sich dennoch in diesen Vereinigungen organisieren, da dieser Typ wegen seiner sozialen Nützlichkeit vom sonst geltenden Verbot der unautorisierten Gründung von Vereinen ausgenommen war. Wenn Mittellose sich unter einem Patron zu einem „collegium“ zusammenschlossen und einmal im Monat zusammenkamen, um in die gemeinsame Kasse einen Beitrag zu entrichten, der für die Beerdigung verstorbener Mitglieder gedacht war, war dies wahrscheinlich von einem generellen „senatus consultum“ gedeckt. Dies wird wohl auch der Grund dafür gewesen sein, dass der Kirchenvater zu Beginn des 3. Jahrhunderts n. Chr. die christlichen Gemeinden für rechtmäßig hielt. Er kannte die Vorwürfe, die gegen die christliche Kirche erhoben wurden: es handele sich um eine illegale Organisation („factio illicita“, apologeticum 38, 1) bzw. eine unerlaubte Vereinigung („coitio illicita“, apol. 39, 20). Illegal könnten doch nur solche Vereinigungen sein, die den Frieden einer Stadt gefährdeten und die Bürgerschaft spalteten, hielt er dagegen. Christen aber sei das Politische ganz und gar fremd (apol. 38, 2-3). Nach dieser Zurückweisung beschreibt er die Christen dann als eine rechtlich verfasste Gemeinschaft mit einer Brüderlichkeitsethik, die
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in der paganen Antike vorbildlich ist. Die christliche Körperschaft nimmt sich der Unterstützung der Bedürftigen an und ist daher jeder Heimlichkeit abgeneigt. Wie die jüdischen, so übernahmen also auch christliche Gemeinden römische Rechtsformen und etablierten sich damit in der antiken Zivilgesellschaft (Kippenberg 2002). Eine verlässliche Reziprozität innerhalb der Gemeinden und eine bedingungslose Wohltätigkeit nach außen haben substanziell zur Ausbreitung und Vorherrschaft der katholischen Kirche nach ihrer Anerkennung im 4. Jh. geführt (Runciman 2004). Das Vereins- und Korporationsrecht der modernen säkularen Verfassungsstaaten, das in Kontinuität zum römischen Recht steht, sichert bis heute der christlichen, aber auch der jüdischen und islamischen Solidaritätsethik eine zivilgesellschaftliche Wirksamkeit. Äußere Bedingungen wirkten verstärkend in die gleiche Richtung. Mit dem Aufkommen der Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert bildeten Christen freiwillige Vereinigungen, die sich die Aufgabe stellten, der anwachsenden Zahl von Menschen in Not zu helfen. Es entstanden in der Arbeiterschaft Gemeinden mit Strukturen gegenseitiger Hilfe; daneben richteten Angehörige des Mittelstands wohltätige Vereinigungen für Hilfsbedürftige ein, womit sie ihr religiöses und soziales Ansehen steigerten. Philanthropie wurde ein Beweis für die Echtheit des Glaubens.8 Nicht überall in den christlichen Ländern wurde die Fürsorge jedoch gleich organisiert. Während in puritanischen Ländern primär die religiösen Gemeinschaften Träger dieser Wohlfahrt waren (so ausgeprägt in den USA), wurde sie in den katholischen als Aufgabe staatlicher Sozialpolitik gesehen (Italien, Frankreich), und in Deutschland und England als eine Aufgabe, die sich Staat und Religionsgemeinschaften teilten.9 Die jeweils andere Prägung der Wohlfahrt hat auch dem jeweiligen kapitalistischen Wirtschaftssystem einen jeweils anderen Stempel aufgedrückt.10
2.3 Islam Das rituelle Gebet alleine macht noch keinen Muslim. Auch im Islam macht das Gebet alleine noch keine rechtgläubigen Muslime. Hier wird man Sure 2:177 den Basistext nennen können.
8
Vgl. eine Untersuchung zu England von Jane Lewis (1995). Zwei Artikel im „Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften“ (46/2005) behandeln den Zusammenhang von Konfession und Wohlfahrtsstaatlichkeit: Elmar Rieger (2005) und Philip Manow (2005). 10 Wichtig ist die Herausarbeitung des rheinischen Modells von Kapitalismus im Unterschied zum angloamerikanischen durch Michel Albert (1992). 9
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Hans G. Kippenberg Frömmigkeit besteht nicht darin, dass ihr euer Gesicht nach Osten und Westen wendet. Frömmigkeit besteht darin, dass man an Gott, den Jüngsten Tag, das Buch und die Propheten glaubt, dass man, aus Liebe zu Ihm, den Verwandten, den Waisen, den Bedürftigen, dem Reisenden und den Bettlern Geld zukommen lässt, und (es) für den Loskauf der Sklaven und Gefangenen (ausgibt), und dass man das Gebet verrichtet und die Almosensteuer entrichtet. (Fromm sind auch) die, die ihre eingegangenen Pflichten erfüllen, und die, die in Not und Leid zur Zeit der Gewalt geduldig sind. Sie sind es, die wahrhaftig sind, und sie sind die Gottesfürchtigen.
Anders als im Christentum haben bestimmte Gruppen von Gemeindemitgliedern ein verbrieftes Anrecht auf Unterstützung durch ihre Glaubensbrüder. Dies sind: Arme, Bedürftige, die Verwalter der Almosensteuer, Sklaven (für ihren Loskauf), Verschuldete, Reisende, Teilnehmer an einem „jihad“ (Sure 9:60), Konvertiten. Gerechtigkeit bezeichnet auch noch im modernen islamischen Denken eine zwar materiell asymmetrische, aber sozial reziproke Beziehung zwischen Ungleichen.11 Die vermögenden Muslime sind verpflichtet, sich für Gerechtigkeit und das allgemeine Wohl („maÒlaÎa“) des Gemeinwesens einzusetzen, die gesetzliche Almosensteuer („zakat“) zu entrichten und Bedürftige mit freiwilligen Gaben („zadaqa“) zu unterstützen (Ismael/Ismael 1995). Gerechtigkeit basiert auf Ungleichheit (Rosen 2002: 68f.). Wie im Judentum und Christentum erwuchs auch im Islam die Brüderlichkeitsethik aus alten Institutionen tribaler Solidarität, wie Ignaz Goldziher bereits 1884 in einem Artikel gezeigt hat und in jüngster Zeit erneut von Toshihiko Izutsu (2002: 55-104) herausgearbeitet wurde. Anders als im Christentum haben im Islam in Not geratene Gemeindeglieder jedoch ein Anrecht auf Unterstützung durch ihre Glaubensgemeinschaft, die Reichen und Mächtigen umgekehrt eine Pflicht, ihnen zu helfen. Gerechtigkeit bezeichnet ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Ständen, Klassen und Gruppen in der sozialen Ordnung insgesamt; Ungerechtigkeit ist synonym mit dem Verlust dieses Gleichgewichts. Von allen Muslimen wird verlangt, sich für Gerechtigkeit und damit für das allgemeine Wohl („maslaha“) des Gemeinwesens einzusetzen.12 Eine Rechtsform dafür bot das islamische Stiftungswesen (Hoexter 2002; Meier/Pahlitzsch/Reinfandt 2009). Mittels „waqf“, so die Bezeichnung dieser Institution, übertrugen Privatleute, aber auch Herrschende ihre Einkünfte aus Land, Mieten, Betrieben oder Geldvermögen unwiderruflich an islamische Institutionen und Gruppen. Bis heute treten Herrscher und Regierende als Wohltäter
11
Zu diesem Sozialmodell fundamental: James Scott (1977). Zur gegenwärtigen Praxis siehe die Studie von Jonathan Benthall und Jérôme Bellion-Jourdan (2003), bes. S. 7-28: “Financial Worship”.
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gegenüber Bedürftigen auf;13 staatliche Wohlfahrtssysteme fehlen weitgehend. Überwiegend blieb unter diesen Bedingungen die Hilfe für Bedürftige eine Angelegenheit der religiösen Gemeinschaften. Eine weitere Rechtsform waren private religiöse Vereinigungen, die derartige Aufgaben übernehmen konnten (Clark 2004: 11f.).14 Die Geschichte des Islams ist von Beginn an mit verschiedenen Formen von Vereinsbildungen wie Rechtsschulen, Orden, Zünften und Männerbünden verbunden (Lapidus 1996). Seit dem 19. Jahrhundert kamen Vereine europäischen Typs dazu. Die rechtlich gesicherte Existenz von Vereinigungen, die zwischen dem Individuum und dem Staat stehen und den Bürger an der Sphäre des Gemeinwohls teilhaben lassen, ist eines der Strukturmerkmale von islamischer Öffentlichkeit heute.15 In allen drei Religionen ist die Solidaritätsethik ein Feld der Bewährung des Glaubens; zugleich ist diese Leistung rechtlich institutionalisiert worden.
3
Bewertungen von Gemeindereligiosität unter den Bedingungen von Globalisierung
Mag es eine Zeitlang so ausgesehen haben, als verliere die gemeinschaftliche Religion in der Moderne an sozialer Wirklichkeit, so wird das heute anders beurteilt. Ein stetiges Wachstum religiöser Gemeinden in den USA, eine geradezu explosionsartige Ausbreitung protestantischer Gemeinden in den USA, Lateinamerika, im Pazifikraum und andernorts (Finke/Stark 1992)16 ebenso wie die Welle der Gründung von Moscheegemeinden in Europa, Nahost und den USA17 bezeugen die veränderte Situation. Um diese zu erklären, muss man den Wert religiöser Vergemeinschaftung in den Blick nehmen. Diesen Zusammenhang haben Pippa Norris und Ronald Inglehart näher zu erklären unternommen.18 Ihren Studien zufolge wendet sich die öffentliche Meinung in den Industriegesellschaften nach wie vor von religiösen Orientierungen ab und säkularen zu, während auf der Welt insgesamt Menschen mit traditionellen religiösen Ansich13 Dazu Michael Bonner, Mine Ener und Amy Singer (Hrsg.) (2003), bes. Teil III: “The State as Benefactor”. 14 Zu den islamischen Wohlfahrtsinstitutionen in Ägypten seit dem 19. Jahrhundert: Steffen Wippel (1997: 201-205); zu Jordanien: Quintan Wiktorowicz (2001: 21-33). 15 Zur Verwendung des Konzepts von Öffentlichkeit in Bezug auf islamische Gesellschaften: Armando Salvatore und Dale F. Eickelman (Hrsg.) (2004), hier auf S. 13-15. 16 Dem englischen Religionssoziologen David Martin (1990 und 2002) verdanken wir fundierte empirische Studien zur weltweiten Ausbreitung des Protestantismus. 17 Übersicht der Zahlen von Moscheegründungen in Europa bei Stefano Allievi (2009). 18 Dazu Pippa Norris und Ronald Inglehart (2004), bes. S. 215-241: “Secularization and its Consequences”.
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ten zunehmen; sie erklären dies damit, dass Religiosität unter schutzlosen Bevölkerungen fortbesteht, besonders in armen Ländern und schwachen Staaten: Physischen, gesellschaftlichen und persönlichen Risiken ausgesetzt zu sein, befeuert Religiosität; umgekehrt findet unter den wohlhabenden Schichten reicher Nationen eine systematische Erosion religiöser Praktiken, Werte und Glaubensanschauungen statt. Norris’ und Ingelharts Hypothese wirft ein neues Licht auf die weltweite Konjunktur der Verbreitung religiöser Gemeinden und kann den Anspruch erheben, den globalen Trend der Gründung von Religionsgemeinden zu erklären. Globale Entgrenzungen der Marktwirtschaft bringen eine Individualisierung der Lebensrisiken mit sich. Elmar Rieger und Stephan Leibfried stellen ganz überzeugend einen funktionalen Zusammenhang her zwischen der Öffnung von Märkten und der Sozialpolitik (Rieger/Leibfried 2001: 98). Wenn ein Nationalstaat einen Schutz in Notlagen organisieren kann, ist er imstande, auf Protektionismus zu verzichten. Wenn aber der Staat dazu nicht imstande ist, kann es geschehen, dass die Aufgabe der Bereitstellung sozialer Leistungen auf Religionsgemeinschaften mit ausgeprägter Brüderlichkeitsethik übergeht. Besonders beachtlich sind in diesem Zusammenhang auch Ausführungen von Jürgen Habermas in seiner berühmten Diskussion mit Joseph Ratzinger 2004. Habermas argumentierte damals, dass unsere Pflichten als Staatsbürger vom Recht her weitgehend festgelegt sind, dass dies aber für unsere Rolle als Gesellschaftsbürger nicht der Fall ist. Das wird besonders dann spürbar, wenn – so Habermas’ Diagnose – die Mächte von Märkten und von Verwaltung eine soziale Integration der Gemeinschaft durch Solidarität zu verdrängen drohen. Soweit Bürger des Verfassungsstaates an der Aufrechterhaltung dieses Modus sozialer Integration ein Interesse haben, haben sie guten Grund, Religion als eine Ressource zu aktivieren und mit ihrer Hilfe das soziale Band kontrafaktisch zu wirtschaftlicher und staatlicher Macht zu stärken. Unter diesen Bedingungen sollte die Vernunft bereit sein, ihre Grenzen zu überschreiten und sich einer „vorandrängenden Solidarität mit den Erniedrigten und Beleidigten, die das messianische Heil beschleunigen will“ öffnen (Habermas/Ratzinger 2008: 29). Insofern hat Habermas auf die Frage nach „vorpolitischen Grundlagen des demokratischen Rechtstaates“ eine positive Antwort gegeben (Habermas/Ratzinger 2008: 15). Allerdings lässt Habermas eine Unklarheit bestehen, die sich mit Blick auf die These von Max Weber besonders deutlich zeigt. Wenn die Vernunft die religiöse Sprache in ihre eigene übersetzt, hebt diese Übersetzung dann die Differenz zwischen ihr und der Religion auf, oder bezieht auch die Vernunft ihre Kraft an diesem Punkt aus einer nach wie vor weiter bestehenden Diffe-
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renz?19 Weber war an dieser Stelle eindeutig: Brüderlichkeitsethik besitzt aus sich heraus die Fähigkeit, sich von den wirtschaftlichen und politischen Großmächten des Marktes und der Bürokratie unabhängig zu machen. Oder mit seinen Worten aus der Studie zum Judentum: „War die religiöse Verbrüderung in ihrer Leistungsfähigkeit als politisches und ökonomisches Machtmittel einmal bewährt und erkannt, dann trug dies zu ihrer Ausbreitung mächtig bei“ (MWG I/21: 355f.).
Damit bin ich beim Thema dieses Beitrages. Die Ausweitung der Marktwirtschaft mit der damit einhergehenden Arbeitsmigration hat den Wert religiöser Gemeinschaftlichkeit gesteigert, was sich mit Hilfe von Webers Konzeption religiösen Gemeinschaftshandelns angemessen verstehen und erklären lässt. Da die Risiken für die Einzelnen wachsen, wenn sie einerseits durch die Migration ihren Rückhalt in lokalen Gemeinschaften und verwandtschaftlichen Verbänden verlieren und andererseits die Einwanderungsgesellschaften bei der Gewährung sozialer Teilhaberechte restriktiv sind, öffnet sich ein Feld, in dem religiöse Gemeinschaften mit ihrer Brüderlichkeitsethik sozialintegrativ operieren. Im Folgenden werde ich zwei Untersuchungsfelder vorstellen, die eine solche Leistungsfähigkeit religiöser Verbrüderung erkennen lassen: die Verrechtlichung des religiösen Sozialkapitals in der amerikanischen Wohlfahrtsreform von 1996 sowie die Institutionalisierung von Brüderlichkeitsethik in islamischen Ländern.
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Die Institutionalisierung religiöser Solidaritätsethik in der amerikanischen Wohlfahrtsreform von 1996
Ein erstklassiger Ausgangspunkt für das Studium christlicher Solidaritätsethik unter den Bedingungen der Globalisierung ist die Wohlfahrtsreform der Vereinigten Staaten von 1996. Neue Gesetze zur Wohlfahrt unter Präsident Bill Clinton sollten an die Stelle herkömmlicher materieller Hilfe für Menschen in Not treten. Die von der Bundesregierung finanzierten Hilfsprogramme für alleinerziehende junge Mütter, für Arbeitsunfähige und Kranke, für Drogenabhängige und Obdachlose wurden unabhängig von der individuellen Bedürfnislage auf maximal 60 Monate (5 Jahre) für den Einzelnen befristet. Dieses Gesetz beende
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Dies war 2004 u. a. Gegenstand eines Symposiums mit Jürgen Habermas in Langthaler/NaglDocekal (Hrsg.) (2007).
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die Wohlfahrt, wie man sie bislang kennt, merkte Präsident Clinton bei der Unterzeichnung am 22. August 1996 an.20 Paragraph 104 des neuen Gesetzes eröffnete den Bundesstaaten die Möglichkeit, zum Zwecke der Umsetzung der Hilfsprogramme mit wohltätigen, religiösen und privaten Organisationen Verträge abzuschließen und an die Bedürftigen Gutscheine auszuhändigen, die sie bei Organisationen ihrer Wahl, einschließlich religiösen, einlösen können (Section 104 b) („charitable choice“).21 Damit war das Verfassungsgebot, es dürften keine öffentlichen Gelder an religiösen Organisationen gehen, umgangen. Vor allem auf die religiösen Gemeinden („congregations“) wurden große Erwartungen gesetzt. Ermöglicht war dies durch eine Entwicklung der Rechtsprechung des „Supreme Court“ zum „First Amendment“ der Verfassung der USA aus dem Jahre 1791. Es untersagte dem Kongress, in irgendeiner Weise zur Einrichtung einer Religion beizutragen, auch nicht finanziell. So sollten Religionen vor staatlichen Einflüssen geschützt werden. Die Bestimmung galt allerdings nur für den Bund; erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde sie auch mittels Gerichtsverfahren in den Bundesstaaten durchgesetzt. Stand dabei am Anfang das Dogma einer „wall of separation“ zwischen Staat und Religion, so wurde allmählich das Kriterium einer Gleichbehandlung von religiösen mit säkularen Organisationen leitend (Brugger 2001: 187f.). Die Möglichkeit der Wahl einer religiösen Gemeinde als Anbieter von Hilfe etablierte neben den bestehenden staatlichen Behörden, säkularen Hilfsorganisationen sowie den überregionalen religiösen Wohlfahrtsorganisationen, die schon lange staatliche Mittel empfingen (John S. Coleman 2003), einen neuen Träger. Dem Gesetzgeber war an ihm besonders gelegen, wie man daran sieht, dass er ihm Unabhängigkeit von staatlichen Eingriffen und von rechtlichen Einschränkungen zusicherte (Section 104 c und d). Den Gemeinden wurde sogar gestattet, sich bei ihrer Hilfeleistung offen zu ihren religiösen Beweggründen zu bekennen; sie wurden außerdem von Diskriminierungsverboten, die sonst auf dem Arbeitsmarkt gelten, befreit, damit sie ihre Mitarbeiter nach religiösen Kriterien auswählen und einstellen können (Section 104 f). Jedoch müssen sie je20 Wörtlich sagte Clinton: “[...] this legislation provides an historic opportunity to end welfare as we know it and transform our broken welfare system by promoting the fundamental values of work, responsibility, and family.”(http://www.ontheissues.org/celeb/Bill_Clinton_Welfare_+_Poverty.htm) 21 Das Gesetz wurde als Broschüre von dem „Center for Public Justice“ herausgegeben und kommentiert: „A Guide to Charitable Choice. The Rules of Section 104 of the 1996 Federal Welfare Law Governing State Cooperation with Faith-based Social-Service Providers”. Washington: Center for Public Justice 1997. Im Internet erhältlich unter http://www.cpjustice.org/charitablechoice/guide (Zugriff am 15. April 2009). Das „Center for Public Justice“ ist ein protestantischer „Think-Tank“, der dem alten Wohlfahrtssystem kritisch gegenüberstand und auch selbst auf die neue Gesetzgebung Einfluss genommen hat. Dazu Black/Koopman/Ryden (2004: 46-48).
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dem unabhängig von seinem Glauben helfen (Section 104 g) und in diesem Sinne wie staatliche Behörden handeln, obwohl die christliche Brüderlichkeitsethik aus der Einsicht des Gebenden in die Bedürftigkeit eines anderen entsteht.22 Auch dürfen die staatlichen Mittel nicht für Gottesdienste, für Religionsunterricht oder die Anwerbung neuer Mitglieder ausgegeben werden (Section 104 j). Die nachdrücklich gewollte Einbeziehung der lokalen Gemeinden („congregations“) ergab sich aus einem Zweifel daran, ob die staatlichen Behörden und die großen Wohlfahrtsverbände ihrer Aufgabe wirklich gerecht würden. Marvin Olasky behauptete in einem viel gelesenen Buch, dass echte christliche Nächstenliebe zu einer bürokratischen Sozialhilfe mutiert sei und die Nöte, die sie zu bekämpfen vorgibt, erst selber hervorbringt (Olasky 1992). Schon lange vor ihm findet sich im amerikanischen Schrifttum zur Armut die Auffassung, zu großzügige Wohltätigkeit könne eine Ursache ihrer Ausbreitung werden. Da soziale Probleme ihren Grund in moralischen Mängeln der Betroffenen hätten, könne nur eine Hilfe, die sich auf eine moralische Korrektur des Bedürftigen erstreckt, erfolgreich sein. Nicht große Organisationen, sondern Gemeinden von engagierten Christen sind dazu imstande. Die Hilfe muss persönlich sein, der Gebende dem Bedürftigen in die Augen schauen können und von seiner Notlage überzeugt werden. Bedürftige bräuchten Zuwendung, keine Dienstleistungen. Wegen ihrer sozialen Verankerung in der Lebenswelt von Nachbarschaften sind Religionsgemeinden geeignete Träger der Hilfsprogramme. Dazu kommt, dass Transaktionskosten sinken. Man kann auf teure Kontrollinstrumente verzichten, da es im ureigensten Interesse der mit den Mitteln betrauten Gemeinden war, den Bedürftigen zu helfen.23 Die Bereitschaft des Kongresses, die Wohlfahrtsgesetzgebung in dieser Weise zu ändern, wurde von der „Entdeckung“ einer neuen Form von Kapital, nämlich des „Sozialkapitals“, vergrößert. Robert Putnam, Professor für Regierungslehre an der Harvard Universität, hatte in Italien die Effektivität von zwanzig Regionalregierungen untersucht, die 1970 neu gebildet worden waren und denen im Laufe der siebziger Jahre die Zuständigkeit über ein weites Spektrum öffentlicher Aufgaben übertragen wurde. Während die Reform im Norden des 22 Die kirchlichen Organisationen verstehen sich allerdings selbst nicht als Anbieter von Diensten, die der Staat nach Bedarf durch Vergabe von Gutscheinen abrufen kann. Der christlichen Auffassung der Nächstenliebe ist eine Entpersönlichung von Hilfe wesensfremd. Siehe dazu Nancy T. Ammerman (2002: 150). 23 Das Online-Verwaltungslexikon definiert Transaktionskosten folgendermaßen: „’Marktbenutzungskosten’, die bei Beschaffung von Gütern und Dienstleistungen über den Markt entstehen, weil Austauschprozesse bei unvollkommener Information und auf unvollkommenen Märkten stattfinden: Such- und Informationskosten, Verhandlungs- und Entscheidungskosten, Kontrollkosten und Kosten der Durchsetzung (einschließlich der Kosten bei Insolvenz des Vertragspartners)“; vgl.: http://www.olev.de/t/transaktionskost.htm.
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Landes ein Erfolg wurde, war sie im Süden ein Fehlschlag. Die Ursache dafür sah er in einer unterschiedlichen Entwicklung beider Regionen. In den Städten von Nord-Italien existierten seit Langem aktive Vereinigungen von Bürgern, die gewohnt waren, die Angelegenheiten ihrer Orte selber in die Hand zu nehmen; im Süden waren die Stadtbewohner abhängig von Grundherren und erwarteten die Regelung ihrer Angelegenheiten von „denen da oben“ (Putnam 1993b: 130f.). Das Zivilengagement des Nordens stellt ein soziales Kapital dar, das für den wirtschaftlichen und politischen Erfolg der neu gebildeten Regionalregierungen ausschlaggebend war (Putnam 1993b: 179). Sogleich nach Veröffentlichung dieses Buches wandte Putnam seine neu gewonnene Erkenntnis auf die USA an (Putnam 1995, 1999). Putnam stellte den USA eine besorgniserregende Prognose: „Das Sozialkapital in den Vereinigten Staaten (in der Form von zivilen Vereinigungen) scheint seit der letzten Generation einen Erosionsprozess zu durchlaufen“ (Putnam 1999: 55).
Nur die Religionsgemeinschaften böten noch Anlass zur Hoffnung:24 „Religiöse Aktivität ist eine entscheidende Dimension zivilen Engagements. Trends im zivilen Engagement sind eng an sich wandelnde Formen religiöser Aktivität gebunden“ (Putnam 2000: 69).
Als Putnam seinen Fund mit dem Begriff „Sozialkapital“ versah und Sozialkapital als „Netzwerke, Normen und soziales Vertrauen, die Koordination und Kooperation zum gegenseitigen Nutzen fördern“ (Putnam 1999: 28), definierte, folgte er einem Trend in der sozialwissenschaftlichen Literatur seit den achtziger Jahren (Putnam 2001: 18).25 James C. Coleman war vorangegangen und hatte soziales Kapital als eine eigene Ressource neben dem ökonomischen Kapital und dem Humankapital bestimmt und in ihm eine spezielle Bedingung für den Erfolg oder Misserfolg des Handelns erkannt.26 Dieses „Beziehungskapital“, das nichts mit Vetternwirtschaft zu tun hat, kann seinen Wert nur dadurch zur Geltung
24 Putnam (2000), bes. S. 65-79: „Religious Participation“. Religionsgemeinschaften bringen gewaltige Finanzmittel für die Wohlfahrt auf – schätzungsweise 15-20 Milliarden $ jährlich – und entfalten vielfältige soziale Aktivitäten (Putnam 2000: 67f.). 25 In der Einleitung zum Band (Putnam 2001: 15-43) – verfasst zusammen mit Kristin A. Goss – legt Putnam dar, dass die Bezeichnung 1916 zum ersten Mal vorkommt und danach weitere sechs Male unabhängig von einander neu erfunden wurde (S. 17f.). 26 James Coleman (1990: 300-321), bes. Kapitel 12: “Social Capital”; zuvor James Coleman (1988).
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bringen, dass es zirkuliert.27 Je intensiver Einzelne sich darauf verlassen, um so größer wird es; je weniger sie es tun, um so kleiner (James Coleman 1990: 321). Grund für die begeisterte Einbeziehung von Religionsgemeinden in die Wohlfahrtsgesetzgebung war der Umfang, in dem Gemeinden sich für die soziale Unterstützung Bedürftiger engagieren. Regelmäßig machen Pastoren in ihren Predigten die soziale Ungleichheit in den USA zu ihrem Thema und ermahnen die Gläubigen zum Dienst an den Bedürftigen.28 Doch in welchem Umfang genau schlägt christliche Nächstenliebe wirklich zu Buch? Angesichts der hohen Zahl von ca. 300.000 lokalen Gemeinden („congregation“) wurde dieser Aspekt seit den 90er Jahren mehrfach zum wissenschaftlichen Untersuchungsobjekt, darunter von einer „National Congregations Study“ aus dem Jahre 1998.29 Die untersuchten Gemeinden unterscheiden sich beträchtlich voneinander. Einer großen Anzahl von kleinen Gemeinden steht eine kleine Anzahl (10%) von Großgemeinden gegenüber, auf die aber die Hälfte aller Kirchgänger entfällt.30 Dazu kommen die Unterschiede zwischen Liberalen und Evangelikalen. Mark Chaves schätzt, dass 56% aller Gemeinden (mit 38% aller Kirchgänger) sich dem evangelikalen Lager verbunden fühlen, 25% der Gemeinden und Kirchgänger dem liberalen (Chaves 2004: 21-29, 28), und dass die Zahl der liberalen Protestanten von 57% im Jahre 1970 auf 47% in den späten 90er Jahren gesunken ist; evangelikale Denominationen hingegen wuchsen von 43% auf 51% (Chaves 2004: 33). Die erhobenen Daten geben einen Einblick in die von Gemeinden geleistete Hilfe. An Lebensmittelprogrammen sind 32% der Gemeinden beteiligt; es folgen mit abnehmender Häufigkeit Wohnungsprojekte, Kinder- und Jugendprojekte, Kleidersammlungen, Gesundheitsprojekte, Fortbildung, Projekte zur häuslichen Gewalt, Antidrogenprojekte. Durchschnittlich beteiligt sich eine Gemeinde an einem von diesen Programmen, wobei die liberalen Gemeinden es an mehr tun als die evangelikalen (Chaves 2004: 47-54). Am intensivsten beteiligen sich solche Gemeinden an Sozialhilfe, die in armen Nachbarschaften zu27
Vgl. dazu Putnam (1993a); ich stütze mich auf S. 3 der Internetveröffentlichung dieses Artikels (http://www.prospect.org/archives/13/13putn.html). 28 Vgl. Robert Wuthnow (2004) im Kapitel “Congregations as Caring Communities”. Wuthnow fügt die entsprechenden Daten des US „Census Bureau“ für 2000 hinzu. Die Zahl der Menschen, die von weniger als ca. $ 9000 jährlich leben müssen, der offiziellen Armutsgrenze, liegt zwischen 11% und 15%. 5% der Amerikaner leben von weniger als der Hälfte (Wuthnow 2004: 177-181). 29 Die „National Congregations Study“ aus dem Jahre 1998 ist im Internet veröffentlicht unter http://www.cpanda.org/data/a00189/a00189.html. Sie wurde für weitere Studien grundlegend. Neben Chaves (2004), der an der Datenerhebung selber aktiv beteiligt war und in seinem Buch die Methodologie darstellt (Appendix A S. 213-221), ist diese Studie auch die Grundlage geworden für Robert Wuthnow (2004) und Nancy T. Ammerman (2005). Auch Beiträge in Wuthnow/Evans (Hrsg.) (2002) beziehen sich darauf. 30 Vgl. Chaves (2004: 17-21) mit Tabellen. „Most congregations are small, but most people are associated with large congregations“ (Chaves 2004: 19).
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hause sind und die unter ihren Mitgliedern Angehörige der Mittelklasse haben (Chaves 2004: 53). Hilfe für Bedürftige sind für durchschnittlich ein Drittel aller amerikanischen Gemeinden die allerwichtigste Aufgabe (Ammerman 2005: 117).31 Mark Chaves hat bei seinen Untersuchungen beobachtet, dass Hilfsbedürftige sich oft an mehrere Stellen zugleich wenden und dass Religionsgemeinden mit Sozialämtern, säkularen und religiösen Wohlfahrtsverbänden zusammenarbeiten. Diese sind in ihren Bereichen jeweils unterschiedlich leistungsfähig.32 Wenn kurzfristig Hilfe nötig ist, reagieren lokale Gemeinden schneller und wirkungsvoller als Sozialämter und große Wohlfahrtsverbände; im Fall langfristiger Hilfe sind es umgekehrt Behörden und die großen karitativen Organisationen, die effektiver arbeiten (Chaves 2004: 58-64).33 Neben schneller Nothilfe vermitteln religiöse Gemeinden Bedürftigen soziale Netzwerke, wie auch Nancy T. Ammerman schildert.34 Die Kooperation bedeutet, dass die Unterschiede zwischen den beteiligten Organisationen, die in der Wohlfahrtsdiskussion eine so prominente Rolle spielen, in der Realität verschwimmen. Auch ist eine dauerhafte Einbeziehung der Bedürftigen in die Gemeinden und eine damit einhergehende Veränderung ihrer Lebensführung kein irgendwie signifikanter Vorgang (Chaves 2004: 67). Mit der Verlagerung von Wohlfahrt auf religiöse Gemeinden wurde religiöse Gemeinschaftlichkeit im öffentlichen Raum institutionalisiert. Religionsgemeinden, in den USA als private Vereinigungen lange Zeit rechtlich strikt von staatlichen Instanzen getrennt, wurden nun zu Trägern öffentlicher Aufgaben, wie Alexander Kenneth Nagel herausgearbeitet hat (Nagel 2006). Damit wurde eine Entwicklung beschleunigt, die seit den siebziger Jahren zu beobachten ist: Oberhalb der einzelnen religiösen Gemeinden und jenseits der Denominationen 31 Die Bewertung fällt unter liberalen, konservativen, afrikanischen, katholischen Gemeinden jeweils anders aus. 32 Eine Übersicht über unterschiedliche Arten von Hilfeleistungen in Bezug auf die vier Typen von Hilfsorganisationen: staatliche Behörden, säkulare Organisationen, „Faith-Based“-Organisationen und lokalen Religionsgemeinden, findet sich bei Robert Wuthnow (2004: 203). Die Übersicht zeigt, dass die beiden säkularen Organisationen statistisch häufiger um Hilfe gebeten werden als die religiösen. 33 Die Daten der Erhebung von 1998 über die sozialen Aktivitäten von über tausend religiösen Gemeinschaften geben zu erkennen, dass diese Gemeinden zwar effektiv sind, wenn kurzfristig Hilfe organisiert werden muss - für einen Arbeitslosen, eine junge werdende Mutter, einen Obdachlosen, einen Kranken -, dass sie aber weniger gut darin sind, für derartige Problemfälle langfristige Lösungen zu finden. Sie arbeiten in diesen Fällen häufig mit staatlichen Behörden zusammen, die offensichtlich in dieser Hinsicht nicht ersetzt werden können. Anders als die Rhetorik von einer Wahl zwischen staatlichen und religiösen Anbietern erwarten lässt, fördert das neue System Homogenität in der Wohlfahrt, wie Robert Wuthnow (2004: 287f.) sagt. 34 So auch Nancy T. Ammerman (2005: 158-205) im Kapitel “Doing Good Together: Networks of Work in the World”.
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bildeten sich auf nationaler Ebene Organisationen heraus, die den Anspruch erhoben, für die wahre und richtige moralische Ordnung in den USA zu streiten. Hervorgegangen waren sie aus einer Empörung über Entscheidungen des Obersten Gerichtes, vor allem des Verbots des Gebets an öffentlichen Schulen 1963 und der Straffreiheit von Abtreibung 1974. Sie stritten für die USA als eine christliche Republik und gegen den Feind des ‚säkularen Humanismus’. Dort, wo private Religiosität zu einem öffentlichen Gemeingut wird, wird umgekehrt auch öffentliche Moral zu einer Angelegenheit von Religionsgemeinden und privater Religiosität, wie José Casanova gut gesehen hat: Die Entprivatisierung von Religiosität hat zur Folge, dass öffentliche Angelegenheiten, z.B. Debatten über die Aufgaben des Staates, zum Gegenstand religiöser Diskurse werden. „By bringing publicity into the private moral sphere and by bringing into the public sphere issues of private morality, religions force modern societies to confront the task of reconstructing reflexively and collectively their own normative foundations“ (Casanova 1994: 229).
Religionsgemeinden können so Parteien auf dem Schlachtfeld des Kulturkriegs werden (Hunter 1991). Das widerfuhr auch dem evangelikalen Lager. Gegen die Auffassung, die Marvin Olasky zusammen mit vielen Neokonservativen vertrat, dass die Unterstützung Hilfsbedürftiger dem Mitempfinden („compassion“) der Religionsgemeinden überlassen werden soll, traten vermehrt nach 2004 progressive Evangelikale auf, die darin eine öffentliche Aufgabe des Staates sahen.35 Diese Differenzierung im Lager der Evangelikalen begünstigte den Sieg von Barack Obama bei der Präsidentenwahl 2008, der aus diesem religiösen Milieu kam.36
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Institutionalisierung von Brüderlichkeitsethik im Islam
Gemeindereligiosität wurde auch unter Muslimen die Triebkraft einer Institutionalisierung religiöser Solidaritätsethik. Dies geschah in Schüben und unterschiedlichen Formen im 20. Jahrhundert. Vorausgegangen waren zwei einschneidende historische Entwicklungen. Muslimische Intellektuelle stießen im 19. Jahrhundert Reformen des Islams an, um der Übermacht der europäischen Kolonialmächte kulturell angemessen entgegentreten zu können. Ein antitraditionalistischer Islam war die Folge. Dies geschah zu einer Zeit - und das ist die 35
Dies war die These des Bestsellers von Jim Wallis (2005). Zu dieser Neuformierung eines „progressiven“ Flügels unter Evangelikalen und Fundamentalisten siehe Robert P. Jones (2008). 36
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andere Entwicklung-, als europäische Mächte die Auflösung erst des indischen Mogulreiches, dann des türkischen osmanischen Reiches sowie schließlich die Unterwerfung des persischen Reiches betrieben. Mit dem Niedergang dieser Reiche und mit der Konfrontation kolonialer Fremdherrschaft und nichtmuslimischer Kultur wurde eine Neubegründung des Islams notwendig. Beide Prozesse prägten die Versuche, den Islam als eine Ordnungsmacht in der Gesellschaft zu etablieren. Auf zwei Wege, die dabei beschritten wurden, möchte ich eingehen: auf die Gründung islamischer Gemeinschaften, die exemplarisch für die Gesellschaft insgesamt sein sollten, und auf die Verbreitung islamischer Lebensführung, die für alle Gläubigen vorbildlich sein sollte. Alle diese neuen Konstellationen etablierten neue Institutionen eines Islam der Brüderlichkeit. Der bekannteste und älteste Fall für die Gründung exemplarischer Gemeinschaften sind die ägyptischen Muslim-Brüder. Die klassische Studie stammt von Richard P. Mitchell, „The Society of the Muslim Brothers“, der zwischen 1953 und 1955 in Ägypten dazu Recherchen durchgeführt hat (Mitchell 1969). Die Quellen, die Mitchell damals ausgrub, erzählen von einer neuen islamischen Gemeinschaftsform. Gegründet in den 1920er Jahren von dem Lehrer Hasan alBanna (1906-1949) bildeten die Muslim-Brüder eine Organisation neuen Typs, in der die Laien und nicht die Rechtsgelehrten den Ton angeben. Al-Banna deutet die Situation, in der die ägyptischen Muslime lebten, als eine neue Periode der heidnischen Unwissenheit. Damit begründete er seine Forderung an sie, sich inmitten einer heidnischen Welt für die islamische Ordnung („al-nizam alislami“) aktiv einzusetzen. Jeder wahre Muslim muss Heidentum und Imperialismus aus seinem eigenen Herzen vertreiben und auch den Mitbruder dazu bringen, das Rechte zu tun und das Verbotene zu unterlassen (Cook 2003). Von jedem einzelnen Gläubigen wurde dabei eine eigene Anstrengungen verlangt, wobei der wahre Aktivismus wenn nötig auch bis zum Tod gehen muss. Die Mitglieder bezeichneten sich als Brüder im Dienste des Islam (Mitchell 1969: 8). Wer gestorben ist, ohne in diesem Sinne gekämpft zu haben, ist einen „jahiliiyya“ Tod gestorben, einen heidnischen Tod (Mitchell 1969: 207). Aus der Sicht der staatlichen Instanzen wirkte dieses Programm gewalttätig. Und tatsächlich bildeten sich in Ägypten aus dem breiten Strom der MuslimBrüder kleinere gewalttätige Gruppen, die gewaltsam gegen Alkohol, Banken, Tourismus, emanzipierte Frauen vorgingen und sich sogar eine Gelegenheit der Ermordung von Anwar al-Sadat nicht entgehen ließen.37 Mehrheitlich aber waren die Muslim Brüder nicht gewalttätig. Gewalt gegen andere Muslime oder NichtMuslime traf auf Ablehnung. Ein Muslim darf sich nicht zum Richter über einen anderen Menschen machen; er muss sich auf die Glaubenswerbung allein be37
Zum Mord an Sadat siehe Gilles Kepel (1995: 229-234).
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schränken. Überwiegend vermieden die Brüder daher eine Konfrontation mit der staatlichen Macht, auch wenn sie ihr scharfes Urteil über die Verwestlichung der Kultur Ägyptens nicht abschwächten. Die Bruderschaft wollte eine islamische Ordnung sukzessive realisieren: erst Werbung von Anhängern, dann islamische Inseln im Meer des Heidentums und schließlich am Ende ein islamischer Staat (Mitchell 1969: 13-15). Vor allem die Etablierung islamischer Enklaven in einer ansonsten westlich durchdrungenen Kultur gelang ihnen. Da die Muslim-Brüder die dritte Phase jedoch nicht erreichten, spricht Olivier Roy von einem Scheitern des politischen Islams (Roy 1995, 2004: 1-17). Doch sieht derselbe Olivier Roy in diesem Scheitern den Antrieb zur Herausbildung eines – wie er es nennt – „Neo-Fundamentalismus“, der die Individualisierung des Islam als Religion vorantreibt. „Der Post-Islamismus bedeutet eine Privatisierung der Re-Islamisierung“, kann er schreiben (Roy 2004: 97). Olivier Roy nimmt eine innere Verbindung zwischen der Individualisierung des Islamismus und der Verbreitung islamischer NGOs an. Sie schwächen den Staat, stärken die Märkte und bringen den Muslimen eine Art ethischen Kapitalismus. Die Brüderlichkeitsethik ist nicht spontane Nothilfe beschränkt geblieben, sondern hat sich auf die Gründung von sozialen Institutionen erstreckt. Ähnlich paradoxale Vorgänge kennen wir aus der Religionsgeschichte Europas. Hier war es der Puritanismus, der eine ähnliche Entwicklung genommen hatte. Nachdem er in England mit dem Versuch gescheitert war, einen puritanischen Staat zu gründen, wurde er eine Quelle unpolitischer Laienethik. Aus dieser Periode stammen viele der Quellen, mittels denen Max Weber den Zusammenhang von religiöser Weltablehnung und der Genese rationaler Lebensführung ermittelt hat (Lehmann 1988: 539f.). Das geschieht offenbar heutzutage in islamischen Gesellschaften. Neben der Gründung islamischer Gemeinschaften, die in ihrer Ordnung vorbildlich sein wollten für alle Muslime, verbreitete sich unter Muslimen des Nahen und Mittleren Ostens noch ein anderes Vorbild: die Ur-Muslime der ersten drei Generationen. Sie wurden zum Vorbild für die eigene Lebensführung. Da diese frommen Vorfahren auf Arabisch „salaf“ heißen, heißt diese Strömung „Salafiyya“. Ihre Anhänger wenden sich gegen alle Neuerungen, die nach der Zeit der „Vorväter“ im Islam verbreitet wurden, wie den Heiligenkult, und praktizieren in ihrem Alltagsleben einen von allen Neuerungen gereinigten ethischen Islam. Diese Reformbewegung geht einerseits auf islamische Intellektuelle des 19. Jahrhunderts zurück, die die „ulama“ wegen ihrer politischen Abstinenz scharf kritisierten (z. B. Jamal-al-Din Afghani), andererseits auf Abd al-Wahhab (19. Jh.) und Ibn Taimiyya (14. Jh.). Vertreter beider Modelle – der exemplarischen Gemeinschaft und der ethisch vorbildlichen Lebensführung, hier gemeinsam Islamisten genannt – wa-
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ren aktiv an der Gründung von privaten freiwilligen Vereinen beteiligt. Rechtlich war es in Ägypten und den anderen Staaten des Nahen Ostens Privatleuten gestattet, Vereinigungen zu bilden – heutzutage oft als Non-GovernmentOrganizations bezeichnet. In Ägypten wurden 1991 14.000 solcher privaten Vereinigungen („jamaciyy-t“) registriert; sie waren freiwillig, klein, lokal und wurden vom Gesetz in zwei Kategorien unterteilt: Wohlfahrtsorganisationen und Entwicklungsorganisationen. Das Gesetz legte auch die (vierzehn) Aufgabenfelder fest, für die die Entwicklungsorganisationen zugelassen wurden. Waren sie islamisch motiviert, hießen sie „jamaciyy-t islmiyya“. Daneben gab es eine unbekannte Anzahl nicht-registrierter Vereine. Schließlich gab es noch rein religiöse Vereinigungen, die „jamct islmiyya“, die den staatlichen Behörden verdächtig waren. Das gilt besonders auch für die Wohlfahrtsorganisationen. Die Philosophie aller genannten Vereinigungen ist das des Auf-sich-selbstVerlassens (self-reliance).38 Im Laufe des 20. Jahrhunderts errichteten Islamisten in Ägypten zahllose private Moscheen, denen Schulen für Jungen und für Mädchen, handwerkliche Betriebe oder Kliniken angegliedert waren. Ein erheblicher Prozentsatz der Ägypter, darunter auch Christen, sucht heute bei Krankheit eine islamische Klinik auf, wobei man für die Behandlung zwar zahlen muss, jedoch weniger als in staatlichen Einrichtungen. Nur wenn die Kranken mittellos sind, können sie von der zugehörigen Moscheegemeinde eine Unterstützung aus der Zakat-Kasse erhalten. Die Ärzte kommen aus staatlichen Kliniken; ihre Einkünfte sind dort so niedrig, dass sie zur Ausübung von Nebentätigkeiten gezwungen sind. Brigitte Rieger (1996) hat diese Leistung, ein „Überleben ohne Staat“ zu garantieren, in ihrer verwaltungswissenschaftlichen Studie nicht ohne Bewunderung beschrieben. Auch wenn die Aktivitäten dieser Vereinigungen sich nur auf ausgewählte soziale Bereiche richten durften und keinesfalls auf allgemein politische, wurden sie ein Ort öffentlichen Engagements von Muslimen. Da die meisten Regime des Mittleren Osten ihre Bürger von der politischen Mitverantwortung fern hielten, engagierten sich diese in informellen Netzwerken oder Vereinen. Dort, wo es gefestigte Staaten gibt, wie in Jordanien, haben islamische Aktivisten eine große Bandbreite sozialer Institutionen und Leistungen hervorgebracht und mit diesen viele Mitbürger erreicht; es waren Muslim-Brüder mit ihren Institutionen und „Salafisten“ mit ihren informellen Netzwerken, die diese soziale Bewegung trugen – allerdings zum Preis einer Kontrolle durch die Bürokratie und den Verzicht auf politische Mitsprache. Quintan Wiktorowicz, dem wir diese Studie 38 Ich stütze mich auf Denis Sullivan (1994: 12-35); siehe auch seine spätere Studie zusammen mit Sana Abed-Kotob (Sullivan/Abed-Kotob 1999).
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verdanken, hat eine Sammlung weiterer Untersuchungen veröffentlicht, die gleichfalls auf eine schnelle Auskristallisierung dieses sozialen Aktivismus sowie eine dadurch verursachte Spannung mit den staatlichen Instanzen hinweisen (Wiktorowicz 2001, 2004). Wie sehr ein solcher sozialer Aktivismus sich in den Märkten festgesetzt hat, hat Patrick Haenni in einem Essay zum Thema gemacht (Haenni 2005). In ihrer Studie über islamische Organisationen in Ägypten, Jordanien und Jemen hat Janine Clark diese als das Werk einer akademischen Mittelklasse beschrieben, die ihre Arbeitsmöglichkeiten unabhängig vom Staat schafft und damit zugleich die bedürftigen Glaubensbrüder in den Genuss der benötigten sozialen Leistungen bringt (Clark 2004). Die Dynamik von Gründung islamischer Institution ist besonders in Gebieten, die von Bürgerkrieg und Staatsversagen betroffen sind, noch sehr viel intensiver geworden. Hier ist Gaza ein besonders eklatanter Fall. Bis 1967 stand es unter ägyptischer Hoheit. Als Israel 1967 den Gazastreifen besetzte, verbesserten sich die Rahmenbedingungen der Muslim-Brüder, die zuvor in Ägypten verfolgt wurden. 1967 war das Jahr der Hinrichtung von Sayyid Qutb. Israel gab den Muslim-Brüdern freie Hand, wohl auch, weil es sie für ein unpolitisches Gegengewicht zur PLO hielt. Die Muslim-Brüder ihrerseits konzentrierten sich auf den Aufbau eines sozialen Islams. Treibende Kraft der Islamisierung der Gesellschaft Gazas wurde seit den siebziger Jahren Sheikh Ahmad Yasin, der bei den Muslim-Brüdern zu einer dominanten Figur aufstieg und als Anführer der Gläubigen („amir al-muminin“) galt.39 Er veranlasste die Bildung islamischer Vereine in Flüchtlingslagern und gründete 1973 das „Islamische Zentrum“ („mu-jammaÝ al-Islami“), das die Arbeit der Muslim-Brüder in Gaza koordinierte. Israel legalisierte 1978 die Vereinigung, womit auch die rechtliche Voraussetzung für den zivilgesellschaftlichen Erfolg der Muslim-Brüder in Gaza gelegt wurde. Im „Islamischen Zentrum“ wurden Komitees für Glauben, Wohlfahrt, Gesundheit, Sport und Mediation gegründet und unter ihrer Leitung Kindergärten, Schulen, medizinische Einrichtungen, Sportvereine und Berufsbildungszentren für Jungen und Mädchen eingerichtet und betrieben (Mishal/Sela 2000: 20). Die MuslimBrüder fassten in fast allen Berufsverbänden Fuß. 1983 erlangten sie die Kontrolle über die islamische Universität in Gaza, die 1978 als Ableger der al-Azhar Universität in Kairo gegründet worden war. Finanziert wurden ihre Einrichtungen überwiegend aus Zakat-Abgaben und Spenden; reichhaltige Finanzmittel kamen aus den Golfstaaten, dazu Mittel von islamischen Hilfsorganisationen 39
Sein Vater war Bauer im Gaza-Streifen gewesen und durch den Krieg von 1948 zum Flüchtling geworden. Ahmad Yasin, 1936 geboren, wuchs in einer Moschee der islamischen Bruderschaft auf. Im Alter von sechzehn brach er sich beim Spielen den Hals und war seitdem fast vollständig gelähmt. Zum Leben und Wirken von Sheikh Ahmad Yasin sind wichtig die Studien von Ziad Abu-Amr (1997).
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weltweit (Chehab 2007: 150-157). Die Anzahl der Moscheen, darunter viele private, schnellte in die Höhe.40 Auch auf die Verwaltung des waqf-Vermögens, das nach Schätzung von Ze’ef Schiff und Ehud Ya’ari 10 Prozent aller Immobilien im Gazastreifen – darunter private Moscheen, Läden, Handwerksbetriebe, Wohnungen – umfasste, konnten die Muslim-Brüder Einfluss nehmen (Schiff/Ya’ari 1990).41 Eine besondere Aufgabe der Muslim-Brüder war die Unterstützung verarmter Palästinenser. 1997 erhielten mehr als 22.000 Familien in Gaza und im Westjordanland von ihnen Unterstützung. 40 Prozent aller Wohlfahrtsorganisationen in Gaza und dem Westjordanland gehörten zur Bruderschaft (Pape 2005: 191f.). Die Muslim-Brüder hatten lange Zeit einer Islamisierung Gazas und Palästinas den Vorzug vor einer militärischen Konfrontation mit der israelischen Besatzungsmacht gegeben. Das änderte sich 1987 mit dem spontanen Aufstand der Palästinenser, der Intifada. In dieser Situation ergriff das Oberhaupt des „Islamischen Zentrums“ in Gaza, Sheikh Ahmad Yasin, die Initiative und beschloss mit den wichtigsten Leuten der Muslim-Brüder, die Koordination des Aufstandes nicht den säkularen Gruppierungen zu überlassen, sondern eine eigene Organisation ins Leben zu rufen: die „Islamische Widerstandsbewegung“ („harakat al muqawama al-Islamiyya“), abgekürzt „hamas“, was auf arabisch „Eifer“ bedeutet. Am 14. Dezember stellte sich die neue Organisation mit einem ersten Kommuniqué vor; weitere Kommuniqués folgten.42 Fünf Jahre später 1992 erweiterte „hamas“ seine sozialen Institutionen und baute eine eigene Abteilung auf, deren spezielle Aufgabe der bewaffnete Kampf war: die „Izz al-Din al-Qassam Brigaden“. Die Muslim-Brüder etablierten durch ihre Brüderlichkeitsethik Netzwerke und soziale Institutionen; dieselben Netzwerke und Institutionen legen ihrem Aktivismus aber auch Verantwortung auf. Das soziale Kapital, das die Vereinigungen für ihre schutzbedürftigen Mitglieder bildete, verlangt von den Aktivisten Zurückhaltung bei Konflikten mit der staatlichen Macht. Gesinnungsethik ist gezwungen, Verantwortungsethik zu werden. Zwei israelische Wissenschaftler haben Flugblätter und interne Diskussionspapiere von „hamas“ ausgewertet. Abgeschottete Zellen unternehmen zwar Rachefeldzüge gegen Israelis, aber interne Papiere lassen erkennen, dass die Führung um die sozialen Netzwerke und Institutionen besorgt ist und erwägt, dass „hamas“ sich z.B. an den Wahlen 40 Zu der Rechtsform der privaten Moschee siehe Denis Sullivan (1994: 142-147); nach Zaki Chehab (2007: 151) wuchs im Zeitraum 1967 bis 1987 in Gaza die Zahl von 200 auf 600, im Westjordanland von 400 auf 750. 41 Michael Dumper (1993) hat mit Hilfe von Interviews Licht in die Geschichte der waqf-Verwaltung im Gaza-Streifen gebracht; siehe auch Shaul Mishal und Avraham Sela (2000: 22). 42 Eine Auswahl übersetzter Kommuniqués von Hamas bei Shaul Mishal und Re’uven Aharoni (1994).
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zum palästinensischen Nationalrat beteiligte, was inzwischen mit großem Erfolg geschehen ist. Den ungeduldigen militanten Zellen wird Geduld als eine islamische Tugend angeraten. Mit Israel ist zwar kein dauerhafter Friede möglich, aber einen Waffenstillstand kann man sich durchaus vorstellen (Mishal/Zela 2000).43 Wenn man die libanesische „hizbollah“ in die Betrachtung einbezieht, bestätigt sich, dass selbst hoch militante, ja gewalttätige Jihad-Organisationen sich unter dem Zwang ihrer sozialen Aktivitäten verändern und zu einer politischen Partei, die eng mit einem sozialen Milieu verwoben ist, mutieren (Rosiny 1996; Harik 2004). Ein Zitat des Libanonkenners Stephan Rosiny wirft darauf ein Licht: „Neben ihrem Guerillakrieg beruht der Erfolg der Hizbollah auf drei weiteren Säulen. Durch ein dichtes Netz an Bildungseinrichtungen, sozial-karitativen Hilfsangeboten und Infrastrukturmaßnahmen in vom Staat vernachlässigten Bereichen und Regionen gelang es ihr, beträchtliche Teile der schiitischen Bevölkerung für sich zu gewinnen. Durch ihre kompetente Arbeit im Parlament und in Lokalverwaltungen hat sie sich Ansehen über die Grenzen der eigenen Konfession hinaus erworben. Schließlich betreibt sie eine elaborierte Informations- und Propagandatätigkeit.“44
Die „jihad“ genannte Glaubenspraxis von „hizbollah“ ist nicht auf militärische Angriffe auf Israel zu verengen; sie umfasst alle Handlungen, die zur Einrichtung einer islamischen zivilen Ordnung beitragen.
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Solidaritätsethik und religiöse Vergemeinschaftung im Zeitalter der Globalisierung
Religiöse Gemeinschaften können sich mit ihrer Praxis der Solidaritätsethik unabhängig von staatlichen und wirtschaftlichen Mächten ausbreiten und dabei eine eigenständige Macht entfalten. Diese Hypothese Max Webers ist plausibel, sollte aber durch weitere Untersuchungen empirisch präzisiert werden, u.a. auf welche Religionsgemeinschaften sie zutrifft und welche Interaktionen und Interferenzen mit anderen sozialen Ordnungen dabei entstehen. In diesem Zusammenhang ist auf jeden Fall beachtenswert, dass sogar Pfingstgemeinden, die wegen ihrer individualisierten Heilsgüter wie Ekstase, Heilung, Wohlstand für viele anziehend sind, auch soziales Engagement zu ihrem Markenzeichen gemacht haben (Miller/Yamamori 2007). Sozialer Aktivismus hat Religions43 44
Zu einem ähnlichen Resultat kommt Khaled Hroub (2000), bes. S. 209-251: „Theory and Practice“. Orientjournal Herbst 2001: 11.
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gemeinden vieler Richtungen erfasst und ihre zivilgesellschaftliche Macht begründet. Die Entprivatisierung ihrer Brüderlichkeitsethik hat sie aber umgekehrt auch zu Akteuren im öffentlichen Raum werden lassen und damit zu Objekten staatlicher Beobachtung, Vereinnahmung oder Unterdrückung werden lassen. Der Wert der Brüderlichkeit kann sowohl die Maxime eines an Gesinnungsethik wie an Verantwortungsethik orientierten Handelns werden. Als speziellen Fall erörtert Weber in der „Zwischenbetrachtung“ den Krieg. Dieser muss aus der Sicht einer Brüderlichkeitsethik verwerflich erschienen und als Verklärung des Brudermords jeden Wertes entkleidet werden. Er kann aber auch genau umgekehrt als Mittel verstanden werden, der immer schon gewalttätigen Welt Gottes Willen aufzuzwingen. Eine solche außeralltägliche „Kriegsbrüderlichkeit“ tritt in äußerste Konkurrenz zu einem Gewaltverzicht, wie die Bergpredigt sie lehrt, ist aber nur eine entgegengesetzte Auflösung einer gesinnungsethischen Spannung zwischen Brüderlichkeit und Politik (MWG I/19: 492-496). Der islamistische Jihadismus, der das Urteil Gottes an der gottlosen Welt vollzieht, ist ein analoger Fall aus heutiger Zeit.45 Eine Reihe von Anschlussfragen sind zu stellen, darunter diese: ob das Sozialkapital religiöser Gemeinschaften wirklich eine geradezu magische Größe ist, die es Politikern erlaubt, ihre Gemeinwesen kostengünstig zu heilen, oder ob eine Verlagerung öffentlicher Aufgaben auf religiöse Gemeinschaften eine Machtdynamik in Gang setzen kann, die schwer oder gar nicht zu kontrollieren ist? Wenn eine Entprivatisierung der Brüderlichkeitsethik ein Motor der Ausbreitung religiöser Gemeinschaften ist, wird nicht zwangsläufig eine neue öffentliche Religion, die allein dem Gemeinwohl verpflichtet ist, daraus hervorgehen. Es können auch der Zivilgesellschaft feindliche geschlossene religiöse Gemeinschaften sein, die der bestehenden Ordnung den gewaltsamen Kampf ansagen. Neben der Beziehung der Brüderlichkeitsethik zu den politischen Mächten ist auch die zum Markt neu zu bedenken. Dazu muss man die Kategorie der Armut/Bedürftigkeit in die Überlegungen einbeziehen. Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, Amartya Sen, hat die These vertreten, dass quantitative Modelle unzureichend sind, um Bedürftigkeit zu definieren. Dieser lehnt es als Ökonom ab, Fortschritt und Entwicklung an Wachstum des Bruttosozialproduktes oder dem Ansteigen des Einkommens messen zu wollen. Eine wirtschaftliche Entwicklung, die diesen Namen verdient, besteht in mehr und anderem: der Erweiterung von Selbstverwirklichungschancen.
45
Dazu Hans G. Kippenberg (2008), bes. S. 161-184): „Am 11. September: Ein Kriegszug auf dem Wege Gottes“.
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„Es gibt gute Gründe dafür, Armut als Mangel an fundamentalen Verwirklichungschancen zu betrachten, und nicht bloß als zu niedriges Einkommen“ (Sen 2003: 32).46
Mit dieser Einsicht kann Amartya Sen eine breitere und reichere Perspektive auf den Markt öffnen als das gewöhnliche Entweder-Oder: ihn entweder aus wirtschaftlichen Gründen zu verteidigen oder aus ethischen Gründen zu verdammen.47 Religiöse Gemeinschaften werden aufgrund ihrer Solidaritätsethik Marktakteure und wirken aktiv mit an der Bereitstellung von Institutionen der Bildung, der Entwicklungshilfe, der Krankenbehandlung, der Streitschlichtung, usw.48 Damit vollziehen sie die von Max Weber beobachtete tiefgehende Emanzipation vom politischen Verband. Fazit: Webers Überlegungen zum Zusammenhang von religiöser Gemeinschaftlichkeit und Solidaritätsethik sind ein faszinierendes Modell, das die Ausbreitung religiöser Gemeinschaften unter Bezug auf den Wandel von Staatlichkeit und der Suche nach neuen Quellen von Gemeinwohl erklären kann, ohne die Gefährlichkeit dieser Entwicklung zu übersehen.
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46 Zu den Folgen einer solchen Auffassung für eine Theologie der Armut siehe Walter Schmidt (2005). 47 Eine ähnliche Auffassung von Selbstverwirklichung vertritt, von philosophischer Seite her kommend, Christoph Menke (2005). 48 Eindrucksvoll die Fälle in Wendy R. Tyndale (2006).
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„Postsäkulare Kultur“? Max Webers Soziologie und Habermas‘ Beitrag zur De-Säkularisierungsthese1 „Postsäkulare Kultur“?
Martin Endreß
Die Begriffe „säkulare Gesellschaft“ bzw. „säkulare Kultur“ gehören im Gefolge von Max Webers Analyse kultureller Rationalisierung und seiner Diagnose der „Entzauberung“ zum klassischen Repertoire der Soziologie für die Beschreibung moderner Gesellschaften. Zwar sind Einwände gegen die analytische Fruchtbarkeit des Säkularisierungsbegriffs u.a. aufgrund seiner normativen – entweder pejorativen oder affirmativen – Konnotationen inzwischen Legion (vgl. nur Kaufmann 1989: 278f.; Gabriel 1992: 141ff.). Gleichwohl aber bildet er den fortwährenden Hintergrund der aktuellen Diskussion – und zwar hinsichtlich seiner beiden Komponenten: der Beschreibung sozialer Differenzierung und Verselbständigung gesellschaftlicher Funktionsbereiche von der Religion (im Anschluss an Max Weber) einerseits wie des Entstehens einer „säkularen Religion“ („Zivilreligion“) (im Anschluss an Emile Durkheim)2 andererseits. Einer Diskussion, deren Konturen nicht zuletzt durch das von Jürgen Habermas eingespeiste Stichwort einer „postsäkularen Kultur“ geprägt werden. Gerade die analytische Stoßrichtung der Begriffsbildung von Habermas ist jedoch zu unterscheiden von der typischerweise damit verbundenen Optik einer Revitalisierung des Religiösen.3 Die Perspektive Max Webers ist der hier leitenden Überzeugung zufolge für das verhandelte Thema analytisch ertragreich und bildet umgekehrt zugleich einen aktuellen Anwendungsbezug, der die ungebrochene Relevanz seiner Un1 Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag an der Universität Heidelberg im Oktober 2006. Er wurde für die vorliegende Schriftfassung durchgängig überarbeitet und erheblich erweitert. Oliver Berli und Stefan Nicolae danke ich für ihre kritischen Hinweise. 2 Vgl. Durkheims allgemeinen Religionsbegriff: „Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, […] die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft […] alle vereinen, die ihr angehören“ (1981: 75). 3 Dabei wäre es vermessen, der komplexen Frage nach einer ‚postsäkularen Kultur‘ nachfolgend in allen Facetten gerecht werden zu wollen. Im schillernden Spektrum vielschichtiger Fundamentalismen und eines polyphonen religiösen Orientierungshorizontes scheint etwas Abschließendes zum Thema beisteuern zu wollen schon deshalb vermessen, weil das mit dem Titel bezeichnete Phänomen inzwischen in großer Breite zumindest von theologischer, philosophischer und soziologischer Seite verhandelt wird. Die folgenden Überlegungen verstehen sich somit lediglich als soziologischer Beitrag im Horizont eines der Klassiker der Disziplin.
A. Bienfait (Hrsg.), Religionen verstehen, DOI 10.1007/978-3-531-92777-0_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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tersuchungen zu verdeutlichen vermag.4 Zwar mögen, wie Guenther Roth (2003: 29) meinte, „Webers Schriften selbst [...] nach einem halben Jahrhundert an disziplinärer Nützlichkeit und Ausbeutbarkeit für die Soziologie verloren [haben]“, aber jenseits der wohl spärlicher gewordenen Chancen von Entdeckungsreisen in bisher unbekanntes Terrain bleibt doch die nach wie vor kaum überbotene Bedeutung Webers als eines Wegweisers für gelingende Soziologie ungebrochen, und zwar in der Kombination von hinreichendem Komplexitätsbewusstsein, empirischer Sensibilität, begrifflicher Prägnanz und weltdeutungsmäßiger Zurückhaltung. Es wird nachfolgend im Hinblick auf die Frage nach der Realität einer „postsäkularen Kultur“ darum gehen, Max Webers methodische wie methodologische Grundüberzeugung einer Unterscheidung von strukturanalytischer Explikation und empirischer Forschung für die soziologische Analyse zur Anwendung zu bringen. In einem weiteren Schritt ist dann die durch Max Weber erarbeitete soziologische Grundüberzeugung fruchtbar zu machen, dass soziale Ordnungen als Prozess zu verstehen sind, und zwar als ein Prozess, der sich über die fortwährende pragmatische Bewältigung der Spannung von Alltäglichkeit (Routine) und Außeralltäglichkeit (Krise) vollzieht und deshalb als kontinuierliche Produktion und Reproduktion von Innovationen und Normalisierungen (Typisierungen) beschrieben werden kann. Die nachfolgenden Überlegungen beginnen mit einer knappen begrifflichen Vorbemerkung (1), an die sich eine Orientierung über den Begriff der „postsäkularen Kultur“ bei Jürgen Habermas anschließt (2). Diese eröffnet den Blick auf das hintergründige Kernproblem dieses Topos, das Verhältnis von Modernität und Säkularität (3). Im Anschluss ist das Potential der Perspektive Max Webers im Hinblick auf die entwickelte Fragestellung auszuloten (4). Wenige abschließende Bemerkungen sollen den Beitrag abrunden (5).
1
Begriffliche Vorbemerkung
Die Begriffe „Säkularisierung“ wie „Säkularisation“ stehen für den historischen Prozess einer profanen Um- oder Neubestimmung ursprünglich (christlich-) religiös bzw. kirchlich-theologisch geprägter Bereiche, Sachverhalte oder Begriffe. Dabei signalisiert bereits diese Dopplung der Begrifflichkeit die Vielschich4 Das gewählte Thema ermöglicht es, zwei systematische Aspekte zu konturieren: das wissensanalytische Profil verstehender Soziologie einerseits und ihr modernitätsspezifisches Argumentationsprofil andererseits. Im Sinne des wirklichkeitswissenschaftlichen Programms Max Webers geht es dabei darum, aus der Interpretation empirischen Materials und historischer Konstellationen (also aus einer historischen Strukturphänomenologie) Konsequenzen für die soziologische Theorie zu entwickeln (so wie das auch für eine phänomenologische Orientierung soziologischer Theoriebildung selbstverständlich ist).
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tigkeit des in Frage stehenden Phänomens. Während sich der Begriff der „Säkularisation“ auf den Vorgang der Nutzung oder auch der Ein- bzw. Entziehung kirchlicher Hoheitsrechte wie auch kirchlichen Besitzes und Vermögens durch den Staat, also durch eine weltliche Gewalt bezieht,5 zielt demgegenüber der Begriff der „Säkularisierung“ auf das entsprechende Phänomen im Bereich der Kultur- und Geistesgeschichte. Hier bezeichnet er die Lösung wesentlicher Inhalte des Denkens wie der allgemeinen Kultur aus ihren religiösen Kontexten und Geltungskriterien hin zur Entwicklung einer „profanen“ Kultur auf der Basis eigenständiger und als allein gültig angesehener Legitimierungskriterien. In dieser letzteren Hinsicht steht er also im Kern für Prozesse der Pluralisierung der modernen Kultur. Max Webers berühmte Charakterisierung des Begriffs „Macht“ variierend könnte man festhalten: Säkularisierung ist ein amorpher Begriff. „Säkularisierung“ kann Differenzierung, Profanisierung, Entchristlichung, Desakralisierung, Pluralisierung und bzw. oder Rationalisierung („Entzauberung“6) bedeuten. Und deren positive oder negative Einschätzung changiert je nachdem, welcher Wertwandel und welche politischen Entwicklungen auf den so bezeichneten Prozess zurückgeführt werden. In seiner schärfsten Form entwickelt sich der damit be-
5 Der Prozess der Säkularisation, der seit dem Mittelalter Vorläufer in ganz Europa kennt, vollzog sich zugespitzt 1782 in Österreich unter Joseph II. mit der Aufhebung von über 700 als „unnütz“ bezeichneter Klöster, erfuhr eine weitere Radikalisierung in Frankreich im Zuge der Revolution als auf Vorschlag Talleyrands am 2. November 1789 alle Kirchengüter durch den Staat eingezogen und an meistbietende Privatleute versteigert wurden, und sah eine nochmalige Radikalisierung in den deutschen Ländern in den Jahren 1802/03, insbesondere im Gefolge des „Reichsdeputationshauptschlusses“ von 1803, als u.a. unter dem Vorwand des Ersatzes für die linksrheinischen französischen Eroberungen die Hoheitsrechte und der Besitz von vier Erzbistümern, 18 Bistümern und etwa dreihundert Abteien, Stiften und Klöstern seitens des Staates eingezogen wurden. In historischer Perspektive war damit, und das ist soziologisch dann von besonderem Interesse, zugleich die Entmachtung bzw. „Mediatisierung“ zweier Trägergruppen verbunden: einmal der Reichsstädte, deren Kompetenzen nunmehr von den Königen und Großherzögen auf reine Verwaltungsaufgaben eingeschränkt wurden, und zweitens des reichsunmittelbaren Adels zu einem nunmehr zwar noch sozial privilegierten, aber politisch entmachteten Stand. Die alteuropäische Ordnung einer „societas civilis cum imperio“ transformierte sich solchermaßen in das moderne Ordnungsmodell zweier getrennter Sphären: die des Staates und die der Gesellschaft. Auch wenn historisch gesehen also Säkularisationen die Geschichte Europas kontinuierlich begleiten, so erfahren sie doch um die Wende zum 19. Jahrhundert eine solche Zuspitzung, dass sich entsprechende Unternehmungen fortan schlicht erübrigen. Dass der „Säkularisierungsprozess“ die Entstehung des Staates und damit auch die einer davon autonom gedachten Gesellschaft voraussetzt, ist aufgrund dieser Genealogie auch unter Juristen im Prinzip unstrittig. Vgl. dazu u.a. Kaufmann (2004). 6 In der Weber-Literatur hat Tyrell (1993: 311 Anm. 37) darauf hingewiesen, dass die Formel von der „Entzauberung“ keine Erfindung Webers ist, sondern sich bereits bei August W. Schlegel und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts findet; vgl. auch Winckelmann (1980) sowie insgesamt auch die Studien von Lübbe (1965) und Marramao (1999).
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Martin Endreß
zeichnete Prozess zu einem „Säkularismus“, der eine religiöse Sinndeutung bzw. Sinnorientierung in der Welt für prinzipiell unhaltbar bzw. überflüssig erachtet.7 Der utopische Gehalt jedoch, der ehedem mit der Vorstellung von einer anbrechenden religionslosen und, so meinte man, deshalb auch befreiten Zeit verbunden war, dieser Gehalt hat sich nachdrücklich verflüchtigt. Die Hoffnung auf eine Entzauberung ist ihrerseits entzaubert worden. Das bestätigt der Blick auf entsprechende zeitdiagnostische Publikationen, die die religiös Musikalischen in Schwingung versetzen: die „Wiederkehr der Götter“ (Graf 2004) wird verkündet, eine „Götterdämmerung“ (Krech 2003) diagnostiziert, die „Rückkehr der Religionen“ (Riesebrodt 2000) beobachtet, ja die Religion zum „Modernisierungsgewinner“ (Lübbe 2004) ernannt. Beherrschten noch vor gut zehn Jahren Stimmen die Szenerie, die entweder fortschreitende Prozesse einer „Dechristianisierung“ (Lehmann 2004) identifizierten oder aber in Sachen der Religion zumindest eine Situation der „Uneindeutigkeit“ (Gabriel 1992) ausmachten,8 so scheint heute die Situation des Religiösen nicht mehr nur in der Ambivalenz von Säkularisierung und Resakralisierung (Hildebrandt et al. 2001; vgl. auch Fischer/Senkel 2004), von „Privatisierung“ (Luckmann 2002) und „Deprivatisierung“ (Graf 2004) oder in der Spannung von Dechristianisierung und Rechristianisierung (Lehmann 2004) angemessen auf den Begriff gebracht, sondern ganz offensiv eine ReSakralisierung individueller Sinnorientierungen wie öffentlicher Räume auf die Tagesordnung gerückt. Derartige Elogen auf die Renaissance des Religiösen erinnern einen unwillkürlich an die Worte Max Webers, der in seiner Rede über „Wissenschaft als Beruf“ mutmaßte: „Die alten vielen Götter, [wenn auch] entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf“ (Weber 1994: 17). Denn das Leben, so Weber weiter, kennt „nur den ewigen Kampf jener Götter miteinander [...], – unbildlich gesprochen: die Unvereinbarkeit und also die Unaustragbarkeit des Kampfes der letzten überhaupt möglichen Standpunkte zum Leben, die Notwendigkeit also: zwischen ihnen sich zu entscheiden“ (Weber 1994: 20). Habermas’ These vom Entstehen einer „postsäkularen Kultur“ ließe sich also als Gemeinplatz abtun, wie dies vor einigen Jahrzehnten noch für ihr Gegenstück, die Säkularisierungsthese, galt. Doch erstens ist Habermas’ These von vornherein zu unterscheiden von Thesen einer „Renaissance des Religiösen“, 7
Die ganz anders gelagerte Analyse von Hans Blumenberg (1966), der für die europäische Neuzeit eine nicht der Religion geschuldete Legitimität eigenen Rechts postuliert, kann hier nicht Gegenstand sein; dazu beispielsweise Pippin (1999). 8 So im Übrigen schon in den späten 1960er-Jahren auch schon P.L.Berger, dessen Arbeiten aus jener Zeit so gerne undifferenziert als exemplarisch für eine klassisch-orthodoxe Säkularisierungsthese genommen werden (vgl. 1967: ix, 105; 1969: 149 [1990]) sowie Berger/Luckmann (1966).
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weshalb zweitens die Polyphonie der Stimmen, die sich diesbezüglich vorderhand im Einklang zu befinden scheinen, für das Erfordernis einer vertiefenden Rückfrage nach dem Gehalt der Diagnose sprechen, und drittens wird sich der Bezug von Habermas auf Max Weber als problematisch erweisen (vgl. ad 4). Zunächst allerdings sind die Konturen von Habermas’ Argument in Erinnerung zu rufen.
2
„Postsäkulare Kultur“ – Zur Karriere eines Begriffs
Der Begriff „postsäkular“ verdankt seine Karriere vor allem der öffentlichen Aufmerksamkeit, die der Rede von Jürgen Habermas anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 2001 zu Teil wurde, in der dieser Begriff erstmals auftauchte.9 Ohne Scheu verwendet Habermas die Begriffe „Säkularisierung“ und „postsäkular“. Steht der Begriff der „Säkularisierung“ bei ihm für einen historisch (als unabgeschlossen betrachteten) Prozess, der nach wie vor „entgegengesetzte Bewertungen“ mobilisiere (2001: 12), so das Etikett „postsäkular“ für die Realität des „Fortbestehen[s] religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung“ (2001: 13).10 Säkularisierung meint bei Habermas somit den substantiellen Prozess eines Ersetzens (eines Substituierens im Sinne einer auflösenden Aufhebung) vormals in religiöser Sprache zum Ausdruck gebrachter und gekommener Sinngehalte durch säkulare Äquivalente. Die Verhältnisbestimmung der Begriffe „Säkularisierung“ und „postsäkular“ steht für ihn damit nicht nur für „die unabgeschlossene Dialektik des [...] abendländischen Säkularisierungsprozesses“ (2001: 11),11 sondern trägt für Habermas zudem einen klaren 9
Angemerkt sei, dass der hier im Zentrum stehende Aspekt der Frankfurter Rede lediglich einen Strang des von Habermas auch noch in anderer Hinsicht diagnostizierten Spannungsverhältnisses zwischen säkularer Gesellschaft und religiöser Weltorientierung thematisiert. Dieser hier nicht im Fokus stehende zweite Strang ist für Habermas – neben der Erwähnung in der Frankfurter Rede (Habermas 2001: 1f., 15-20, 29-31) – Gegenstand in der Debatte um die Gentechnik, in der die großen christlichen Kirchen mit ihrer Kritik an einem szientistischen Fortschrittsglauben und eines jede Moral untergrabenden kruden Naturalismus sowie mit ihren Befürchtungen sowohl eines wiederkehrenden Obskurantismus als auch einer wissenschaftsskeptischen archaischen Gefühlswelt der organisierten Wissenschaft gegenüberstehen. 10 Habermas (vgl. 2005b) bezieht sich mit seinem Religionsbegriff erklärtermaßen auf die biblische, also die jüdisch-christliche Tradition und deren „semantisches Potential“. Insoweit bei ihm vereinzelt an anderen Stellen ein abstrakterer „philosophischer“ Religionsbegriff zur Anwendung kommt, verwendet er jedoch ebenso das Christentum bzw. die jüdisch-christliche Tradition als Anschauungsbeispiel. 11 Die Rede von einer „Dialektik“ muss in diesem Zusammenhang verwundern und kann sicherlich nicht als konzeptionell befriedigende Antwort bewertet werden, wenn Habermas einerseits von einem
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funktionalen Index: „Die postsäkulare Gesellschaft setzt die Arbeit, die die Religion am Mythos vollbracht hat, an der Religion selbst fort [...] in der Absicht [...], im eigenen Haus der schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn entgegenzuwirken“ (2001: 29). Die Stoßrichtung von Habermas’ um die Kategorie „postsäkular“ zentrierter These weist mit Rücksicht auf den hier in Frage stehenden Zusammenhang damit offenkundig zwei Komponenten auf: Einmal eine zeitdiagnostische (bzw. sozial- und politisch-philosophische) Optik, die auf integrative Relevanz zielt (2001: 22f.);12 sodann eine gesellschaftstheoretische Perspektive, die sich im Konzept einer „sich im Modus der Übersetzung“ vollziehenden Säkularisierung niederschlägt, „die nicht vernichtet“ (2001: 29, 2008: 29f.).13 Beiden Aspekten von Habermas’ These ist zunächst nachzugehen, um diese These angemessen im Horizont der Soziologie Max Webers zu erörtern.14 Habermas’ Thematisierung ist von ernster Sorge motiviert, die das Ordnungs- bzw. Integrationsproblem moderner Gesellschaft in einer dem Blick Durkheims wie Böckenfördes vorderhand durchaus verwandten Perspektive zu fokussieren scheint. So bezweifelte Habermas schon im Zuge seiner Kontroverse um die Zukunft der Metaphysik mit Dieter Henrich, „dass wir als Europäer Begriffe wie Moralität und Sittlichkeit, Person und Individualität, Freiheit und Emanzipation [...] ernstlich verstehen können, ohne uns die Substanz des heilsgeschichtlichen Denkens jüdisch-christlicher Herkunft anzueignen“ (Habermas anhaltenden, also keineswegs an sein Ende gekommenen Prozess spricht, er andererseits aber zugleich mit dem Etikett „postsäkular“ eine neue Phase oder Epoche („post“!) deklariert. 12 Vgl. Joas’ (2004) Kritik an dieser Begriffsprägung, wonach Habermas damit entweder nur einen eigenen „Bewußtseinswandel“ anzeigen und „eine bisherige Unterschätzung“ der Bedeutung des Religiösen in modernen Gesellschaften einräumen wollen könne (2004: 123f.) oder aber „eine veränderte Haltung des säkularen Staates oder der Öffentlichkeit zum Fortbestehen religiöser Gemeinschaften“ dokumentieren wolle (2004: 124f.). 13 Joas (2004) spricht angesichts dieses Plädoyers von der Idee einer „rettenden Säkularisierung“, die „die säkulare Seite“ auffordere, „den täglichen Übersetzungsleistungen der Gläubigen mehr entgegenzukommen“ (2004: 126). Die jüngere Resonanz, die dem Begriff der „Übersetzung“ in der sozialtheoretischen Literatur zuteil geworden ist, verdankt sich zweifellos seiner prominenten Platzierung in Habermas’ Frankfurter Rede (ebenso in 2004a: 32, 36); vgl. dazu Renn (1998), Hammerschmid/Krapoth (Hrsg. 1998) sowie jüngst Renn/Straub/Shimada (Hrsg. 2002) und Renn (2006). Kaum beachtet werden in der Literatur überraschenderweise die frühen soziologischen Verwendungen des Übersetzungsbegriffs beispielsweise bei Stephen P. Turner (1986) und zeitgleich im Kontext der Wissenssoziologie bei Callon (1986). 14 Dabei geht es in dem hier zur Debatte stehenden Strang von Habermas’ Argument nicht zuletzt auch um die Auseinandersetzung mit einem religiösen Fundamentalismus, der sich aus einer „Ungleichzeitigkeit von Kultur und Gesellschaft [...] infolge einer beschleunigten und radikal entwurzelten Modernisierung herausgebildet hat“ (Habermas 2001: 10). Systematisch betrachtet kann man in einer noch nicht weitreichend vollzogenen Privatisierung des Religiösen ebenso wie in der noch nicht vollzogenen Säkularisierung der Legitimationsgrundlagen des Politischen die Gründe für die ausgeprägten Mobilisierungschancen öffentlichen anti-westlichen Protestes in zahlreichen islamischgeprägten Ländern sehen.
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1988a: 23).15 Eine „Aneignung“, die, so ist der Friedenspreisrede jetzt zu entnehmen, im „Modus einer Übersetzung“ zu geschehen hat, die die semantischen Gehalte der religiösen Sprache in the long run in säkularer Rede zu übertragen und damit bewahrend zu ersetzen vermag (Habermas 2001: 25, 29). Doch während Durkheim und Böckenförde die prozeduralistisch gewendeten Geltungsansprüche als von „vorpolitisch-sittlichen Überzeugungen religiöser oder nationaler Gemeinschaften“ abkünftig betrachten,16 sieht Habermas „das demokratische Verfahren [selbst] [...] als eine Methode zur Erzeugung von Legitimität aus Legalität“ an (Habermas 2004a: 20f.).17 Danach fungiert „der demokratische Prozess selbst“ als das „einigende Band“18, d.h. als die Solidarität generierende Ressource: „Autonomie erwirbt ein Rechtssystem nicht für sich alleine. Autonom ist es nur in dem Maße, wie die für Gesetzgebung und Rechtsprechung institutionalisierten Verfahren eine unparteiliche Meinungs- und Willensbildung garantieren und auf diesem Wege einer moralischen Verfahrensrationalität gleichermaßen in Recht und Politik Eingang verschaffen. Kein autonomes Recht ohne verwirklichte Demokratie“ (Habermas 1992: 599; vgl. 1987: 16). Diese Auffassung ermöglicht es, die Bestimmung des Begriffs „postsäkular“ bei Habermas zu schärfen. Habermas zufolge bleiben in religiösen Überlieferungen „hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe 15 Diese sich im Kern durchhaltende Diagnose stellte Habermas im Jahr 1988 auch schon angesichts einer von ihm in der modernen Kultur beobachteten „Deflationierung des Außeralltäglichen“ (1988b: 57): „Die explosiven Erfahrungsgehalte des Außeralltäglichen sind in die autonom gewordene Kunst abgewandert. Auch nach dieser Deflationierung ist freilich der vollends profanisierte Alltag gegen den erschütternd-subversiven Einbruch außeralltäglicher Ereignisse keineswegs immun geworden. Die ihrer Weltbildfunktion beraubte Religion ist, von außen betrachtet, nach wie vor unersetzlich für den normalisierenden Umgang mit dem Außeralltäglichen im Alltag. Deshalb koexistiert auch das nachmetaphysische Denken noch mit einer religiösen Praxis. Und dies nicht im Sinne der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem. [...] Solange die religiöse Sprache inspirierende, ja unaufhebbare semantische Gehalte mit sich führt, die sich der Ausdruckskraft einer philosophischen Sprache (vorerst?) [sic!] entziehen und der Übersetzung in begründende Diskurse noch harren, wird Philosophie auch in ihrer nachmetaphysischen Gestalt Religion weder ersetzen noch verdrängen können“ (1988b: 60). Die Philosophie als Diskurstheorie legt sich selbst also Zurückhaltung auf und erweist sich als gnädig: „Die kommunikative Vernunft [...] verzichtet auf Exklusivität. Solange [sic!] sie im Medium begründender Rede für das, was Religion sagen kann, keine besseren Worte findet, wird sie sogar mit dieser [...] enthaltsam koexistieren“ (1988c: 185). Angesichts dieser Kontinuität seiner Position muss die öffentliche Emphase wie Bestürzung ob seiner Friedenspreisrede dann doch überraschen. 16 Vgl. für Durkheim den bekannten Hinweis auf die nicht-kontraktuellen Voraussetzungen des Vertrages (1988: 256ff.) und für Böckenförde den Verweis auf die „Voraussetzungen, die er [der moderne Staat] nicht garantieren kann“ (1967: 112). 17 Dies im Kontext von Habermas’ Rechtstheorie, vgl. besonders Habermas (1987 und 1992). 18 So Habermas (2004a: 24) in Übernahme der Formel von Böckenförde.
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und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge“ in noch nicht und in nicht ausschließlich durch sogenannte „Experten“ substituierbarer Weise „intakt“ (Habermas 2004a: 31). Insofern liegt es seiner Auffassung zufolge „im eigenen Interesse“ des demokratischen Verfassungsstaates, gerade auch mit den religiösen „Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speist“ (2004a: 32f.).19 Eine „postsäkulare Gesellschaft“ sei daher eine solche, in der sich die Erkenntnis durchgesetzt habe, „dass die ‚Modernisierung des öffentlichen Bewusstseins phasenverschoben religiöse wie weltliche Mentalitäten erfasst und reflexiv verändert“ (2004a: 33). Es ist demnach gewissermaßen die Unumgänglichkeit einer geteilten Schicksalsgemeinschaft angesichts der Mühlen öffentlicher Diskurse, die Habermas zufolge eine neue „Ehe“ zwischen Säkularität und Sakralität begründet – eine, wie man angesichts dieser Herleitung in Anspielung auf frühere Kritiken wohl sagen darf, erneut „unglückliche Ehe“. Denn an dieser Positionsbestimmung wird insbesondere deutlich, dass Habermas im Säkularisierungsbegriff die Komponenten einer substanziellen Orientierung auf der einen und eines Legitimationsprozesses bzw. -modus auf der anderen Seite ineinander schiebt bzw. amalgamiert. Und das geht zu Lasten der Tragfähigkeit seines Arguments. Vorbehalte gegen Habermas’ Begriffsprägung der „postsäkularen Gesellschaft“ sind zunächst insofern nachvollziehbar, als für Habermas eine Gesellschaft dann und insofern „postsäkular“ ist, wenn sie sich „auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellt“ (Habermas 2001: 13). Dieser Aspekt des „Einstellens“ trägt jedoch eher Züge eines achselzuckenden Hinnehmens eines offenkundig (zumindest temporär noch) Unvermeidbaren, letztlich aber ebenso Irrelevanten wie potentiell irgendwann doch Verschwindenden. Eine postsäkulare Kultur ist offenkundig eine solche „auf Abruf“.20 Und ganz ähnlich kann man auch die Mahnung lesen, dass sich „die säkulare Seite“ angesichts des Sinnstiftungspotentials der Religion „einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen“ bewahren solle (Habermas 2001: 22). Auch diese Formulierung trägt deutlich Züge eines Hinweises auf lediglich ergänzendes Darstellungspotential („semantische
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Lediglich angemerkt sei, dass es sich nicht erschließt, wieso Habermas in diesem Zusammenhang die Auffassung vertritt, mit solchen „inhaltlichen Gründen“ über ein Plädoyer für einen „funktionalen Beitrag“ der Religion hinauszugehen (vgl. 2004a: 31, 33). 20 In gänzlich anderer Hinsicht verwendet hingegen Eder (2002) den Begriff der „postsäkularen Gesellschaft“: Bei ihm ist diese Begriffsverwendung Reflex der neuen und intensivierten (öffentlichen) Präsens und „Sichtbarkeit“ des Religiösen in modernen Gesellschaften.
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Potentiale“, 2001: 25), keineswegs jedoch auf die Nichtersetzbarkeit eines substanziellen Gehalts.21 Leitend bleibt damit bei Habermas eine Reflexionsperspektive, die im Kern von einem notwendigen Zusammengehen von Modernisierungs- und Säkularisierungsprozessen geprägt ist. Ja, zuspitzend lässt sich argumentieren, dass die von Habermas entwickelte Perspektive letztlich im Kern auf einen „Säkularismus“ hinausläuft, also vom Telos einer rein immanenten Weltauslegung beseelt ist. Und zwar insofern als die Relevanzbezeugung gegenüber dem religiösen Artikulationspotential einen klaren temporalen Index trägt. Denn die Konturen eines „komplementären Lernprozesses“, auf den Habermas im Zuge seines Gesprächs mit Kardinal Ratzinger abstellte (Habermas 2004a: 33), lassen sich hier kaum identifizieren22 – es handelt sich um einen Lernprozess „bis auf Weiteres“, nämlich bis zur vollständigen Einverleibung des „semantischen Potentials“ der religiösen Sprache in den Horizont säkularer Ausdruckskapazitäten. So lässt sich die Sachlage paradox zuspitzen: Hinter dem Etikett der „Postsäkularität“ verbirgt sich bei Habermas gerade die Erwartung vollendeter Säkularisierung. Eine Argumentationsperspektive, die mit Blick auf Habermas’ Werk dann aber auch keineswegs überraschen kann. Denn schon in seiner Heidelberger Rede zur Entgegennahme des Karl-Jaspers-Preises im Jahr 1995 inthronisierte er die Philosophie als „unparteiisches Grundwissen“, welches „die religiösen und metaphysischen Weltbilder über deren eigene Reflexivität“ aufkläre und diese Traditionen „über jenen Schritt einer Distanzierung von sich selbst, den die Vernunft ihnen abverlangt“, belehre (Habermas 1997: 56; vgl. auch Anm. 14). Das medienwirksam bekundete Einverständnis von Habermas und Ratzinger muss vor diesem Hintergrund wohl als grandioses Selbstmissverständnis zweier sich im Kern einander diametral entgegenstehender Positionen gewertet werden.23 Diese Annahme einer „sich fortschreitend säkularisierenden“ Moderne, die einen noch nicht an sein Ende gekommenen Prozess unterstellt, an dessen Ende offenkundig vollständige Säkularisierung im Sinne eines Gegensatzes zu Sakralität steht, diese Annahme der Nicht-Abgeschlossenheit kann bei Habermas allerdings auch auf die Übersetzungskapazität einer säkularen Sprache bezogen sein (2001: 29), die die „semantische[n] Potentiale“ der religiösen Tradition zur Gänze eben „noch nicht ausgeschöpft“ hat (2001: 25). Aber auch ein solcher Zuschnitt des Arguments lässt sich angemessen gerade nur auf der Basis eines 21
Zumal der nachfolgende, im Prinzip als Begründung deutbare Hinweis von Habermas ebenso singulär wie unausgeführt bleibt: dass „die Grenze zwischen säkularen und religiösen Gründen [...] ohnehin fließend“ sei (Habermas 2001: 22). 22 Vgl. Habermas/Ratzinger (2005). Kritisch zur vermeintlichen Einvernehmlichkeit dieses Gesprächs auch: Schnädelbach (2004). 23 Von einer Unterstellung strategischen Handelns bei beiden Akteuren sei hier bewusst abgesehen.
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der Sakralität entgegen gesetzten Säkularisierungsbegriffs ausweisen, da er im Kern auf eine verwandelte Gestalt des Religiösen in einer auch für die religiös Unmusikalischen rezipierbaren Form zielt – und damit letztlich ebenso auf eine sich vollendende Aufhebung der Religion bzw. religiöser Artikulationspotentiale in säkular-transformierter Gestalt.24 Festzuhalten werden kann nach diesen Überlegungen, dass Habermas’ Formel von der „postsäkularen Kultur“ bzw. „postsäkularen Gesellschaft“ weder seine eigenen Überlegungen hinsichtlich einer nicht-vernichtenden Übersetzungsform angemessen auf den Begriff zu bringen vermag, noch dass sie in einem irgendwie relevanten Zusammenhang oder gar komplementärem Verhältnis zu sogenannten De-Säkularisierungsbeobachtungen steht. Denn Letztere konzentrieren sich, wie prominent von Peter Berger (1998) zum Ausdruck gebracht, auf das vielschichtige Phänomen einer religiösen Wiederbelebung; also darauf, dass die gesellschaftliche Modernisierung bedeutsame Ent-Säkularisierungsbewegungen hervorgebracht hat (1998: 3), dass sich die internationale religiöse Szene durch eine Ubiquität von traditionalen und orthodoxen Bewegungen auszeichnet (1998: 6) und dass diese somit generell durch Wechselverhältnisse von Säkularisierungs- und Re-Sakralisierungsprozessen gekennzeichnet sei (1998: 7). In beiderlei Hinsichten also scheint Habermas’ Vorstellung eines prinzipiell an sein Ende gelangen könnenden Säkularisierungsprozesses (im Sinne substantieller Entsakralisierung) unbefriedigend bzw. kontraintuitiv. Und nimmt man die in den angesprochenen Diskussionszusammenhängen aufgewiesenen, hier nicht gesondert auszuführenden Indizien für eine ungebrochene (oder gar neue) Vitalität religiöser Ausdrucksformen Ernst, dann ist konzeptionell eher von einer strukturellen Ambivalenz der Moderne zwischen Säkularisierung und Sakralisierung auszugehen. Diese konzentriert sich keineswegs auf eine Gleich-zeitigkeit von westlichen (säkularen) und nicht-westlichen (sakralen) Weltbildern und deren antipodischen Zuschnitt. Vielmehr gilt es, diese Ambivalenz gerade im Kontext sogenannter westlich-säkularer Weltansichten zu verorten.25 Prozesse der Säkularisierung stehen in modernen Gesellschaften relativ bruchlos und unvermittelt neben Prozessen einer (Re-)Sakralisierung.26 Die Frage nach dem Verhältnis von Modernität und Säkularität stellt sich damit also unverändert. 24 Deshalb scheint mir auch Habermas‘ Abgrenzung von Hegels „vereinnahmende[r] Vernunft“, der er die Verwechselung von heilsgeschichtlicher Zukunft mit einem in sich kreisenden Weltprozess vorrechnet (Habermas 2001: 26), nicht wirklich in eine andere Richtung zu weisen. 25 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen von Howard Becker (1950) zur Typologie von „sacred and secular societies“. 26 Nicht von einer Ausgrenzung bzw. Ausschließung religiöser Sinnbezüge, sondern von einer Pluralisierung und Individualisierung religiösen Lebens ist empirisch wohl auszugehen.
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Das hintergründige Kernproblem – Zum Verhältnis von Modernität und Säkularität
Gibt es zwischen „Modernität“ und „Säkularität“ einen notwendigen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang dergestalt, dass erstere (die Moderne) nicht ohne letztere (Säkularisierungsprozesse) zu denken ist (also strukturell), oder aber ist dieser empirisch regelmäßig dokumentierte Zusammenhang eher ein historisch zufälliger (also kontingenter)? Für eine Beantwortung dieser Frage nach dem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Modernität und Säkularität ist m.E. eine Orientierung am religionssoziologischen Werk von Peter L. Berger hilfreich. Berger unterscheidet in seinen (früheren wie späteren) Schriften zwischen Prozessen der Pluralisierung und solchen der Säkularisierung (z. B. Berger 1967: 122ff.; 1979: 28ff., 39f.). Während er Pluralisierung als „ein notwendiges Resultat der Modernisierung“ begreift,27 scheint ihm dies im Gegensatz zu einer orthodoxen Säkularisierungstheorie nicht notwendig für das Moment der Säkularisierung zu gelten (Berger 2001: 169f.).28 Die Intuition hinter Bergers Argument weist in die richtige Richtung und wird in seinen jüngeren Arbeiten noch deutlicher profiliert. Danach ist die Säkularisierungstheorie zu ergänzen durch (und nicht gleichzusetzen mit) eine Pluralisierungstheorie (vgl. Berger 1992: 43ff.; vgl. Berger/Luckmann 1966). Säkularität wie Pluralität (Heterogenität, Komplexität) werden damit als Kennzeichen von Modernität ersichtlich (Berger 1992: 46). Präziser und auf die Kernthese der hier verfolgten Argumentation zugespitzt wäre zu formulieren: Moderne (westliche) Gesellschaften sind durch ihre strukturelle Säkularität wie strukturelle Pluralität gekennzeichnet. Ein Doppelkennzeichen, das empirisch mit einer Vielfältigkeit sakraler Orientierungsmuster durchaus einhergeht. Dies soll nachfolgend im Gespräch mit Max Weber weiter erläutert werden. Hält man sich Aspekte einer Phänomenologie des Religiösen in modernen Gesellschaften im Zusammenhang vor Augen, dann ergibt sich mit Blick auf die leitende Fragestellung nach dem Verhältnis von Säkularität und Sakralität also ein schillerndes Bild: Die Moderne ist, so die soziologische Analyse, strukturell 27 „Modernität pluralisiert“, heißt es ebenso thetisch wie lapidar bei Berger (1979: 28); vgl. auch die Hinweise in der folgenden Anmerkung. 28 Allerdings bleibt auch Berger hier argumentativ noch insofern unscharf, als bei ihm der Säkularisierungsbegriff ebenfalls nach wie vor sowohl inhaltlich verstanden als auch (gewissermaßen monolithisch) in große Nähe zum Begriff des Pluralismus gesetzt wird. So wenn es bei Berger beispielsweise heißt: Der „Pluralismus der Bekenntnisse“ sei „als Zwillingsphänomen der Säkularisierung anzusehen“ (1969: 38). Oder an anderer Stelle: „Zwischen Säkularisierung und Pluralisierung der Plausibilitätsstrukturen [...] besteht zuallermindest eine sehr enge Beziehung“ (1979: 39).
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säkularisiert, empirisch hingegen in vielgestaltigen sozio-historischen Formen bzw. Ausprägungen immer auch durch religiöse Sinnorientierungen und Handlungswirklichkeiten geprägt. Das heißt, der Umstand, dass moderne Gesellschaften wie die Gesellschaft Deutschlands prinzipiell säkularisiert sind, schließt religiöse Lebensformen und Sinnorientierungen bzw. Weltansichten gerade nicht aus (vgl. in diesem Sinne auch Blickle/Schlögl 2005: 14). Insgesamt scheint also eine strukturelle Ambivalenz, eine „Dialektik“ zu verzeichnen. Offenkundig ist das Verhältnis von Modernisierung und Säkularisierung komplexer als es eine einsinnige evolutionstheoretische Perspektive suggeriert: Weder die Einlinigkeit der klassischen Säkularisierungsthese, der zufolge es einen eindeutigen Niedergang religiösen Bewusstseins gebe, noch der Determinismus der klassischen Säkularisierungsthese, der zufolge Modernisierung zwangsläufig Säkularisierungsprozesse nach sich ziehe, lassen sich in dieser Form halten. Doch auch mit diesem (wenig überraschenden) Hinweis scheint der Kern des Problems und damit auch der Sinn der vorgeschlagenen Formel, die Moderne als strukturell säkularisiert zu begreifen, noch nicht hinreichend erfasst. Denn mit dem Begriff der „strukturellen Säkularisierung“ geht es darum, die Umstellung der Legitimierungsgrundlagen im Zuge sich modernisierender Gesellschaften auf den Begriff zu bringen; es geht also um eine herrschaftssoziologische Pointe des Säkularisierungsbegriffs. Diese Umstellung zielt auf den unter modernen Bedingungen einer strukturellen Pluralität29 von Orientierungsmustern unabdingbar gewordenen, im weitesten Sinne „diskursiven“ Ausweis jedweder Geltungsansprüche und in Anspruch genommener Orientierungskompetenzen – also deren Begegnungsnotwendigkeit „in einem Universum öffentlicher Gründe“ (so Habermas 2001: 19).30 So paradox es also auch erscheinen mag: Es ist gerade der im Kern säkularisierte Basistext der modernen Kultur, der die Chancen für die Pflege und Ausbildung vielfältiger Formen religiösen Engagements bildet. Dieser Basistext ist es, der als Voraussetzung der ‚demokratisch befriedeten‘ 29
Berger spricht treffend von der „Pluralisierung der Plausibilitätsstrukturen“ (Berger 1979: 39; vgl. zudem: 1969: 62ff.): „Modernität pluralisiert sowohl Institutionen wie Plausibilitätsstrukturen“ (1979: 30; vgl. auch 1967: 44ff., 143ff.). „Das moderne Individuum“, so Berger (1969: 73), „lebt in einer Pluralität von Welten, ein Pendler zwischen konkurrierenden Plausibilitätsstrukturen, deren jede durch die bloße Tatsache ihrer unfreiwilligen Koexistenz mit anderen geschwächt ist.“ 30 Aufgrund der strukturellen Pluralität von Deutungsangeboten wird alles befragbar, steht alles stets unter Vorbehalt, muss alles sozial (politisch) je neu als legitim ausgewiesen werden. Dieser Hinweis ermöglicht ebenfalls einen Blick auf den Zusammenhang von struktureller Pluralisierung (als Resultat einer gesellschaftlichen Entwicklung, die auf die strukturelle Säkularisierung von (modernen) Gesellschaften hinausläuft) und struktureller Illoyalität (der individuellen Akteure) gegenüber allen einzelnen Sinnorientierungsangeboten: Denn insofern durch das Faktum pluraler Sinnorientierungsangebote alles befragbar wird und unter Vorbehalt steht, da es sich sozial stets neu als legitim ausweisen muss, sind alle Sinnorientierungsangebote auf die Form diskursiver Legitimierung zur Generierung von Akzeptanz strukturell verwiesen.
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Koexistenz einer Polyphonie religiöser Stimmen und Überzeugungen anzusehen ist.31 Dieser Umstand verweist nicht nur auf den unmittelbaren Zusammenhang von Religions- und Herrschaftssoziologie, sondern er verdeutlicht darüber hinaus den systematischen Sinn einer Bestimmung des Verhältnisses von Modernität und Säkularität auf der Grundlage einer Unterscheidung zwischen Strukturphänomenen auf der einen und empirischen Konstellationen auf der anderen Seite.32 Ein solches Verständnis des Begriffs der „Säkularisierung“ kann dann für die europäisch-westliche Moderne im Prinzip von einem bereits vollzogenen, also im Kern an sein Ende gekommenen Prozess ausgehen. Gleichwohl impliziert – das ist im vorliegenden Zusammenhang eine erste systematische Implikation der Unterscheidung von strukturtheoretischer und empirischer Untersuchungsebene – diese Diagnose einer etablierten strukturellen Säkularität keineswegs eine konsensualistische Lesart im Sinne der von Habermas qua diskursiver Universalisierung in den Blick genommenen Homogenität. Im Gegenteil: Die vorstehend im Anschluss an Weber wie Berger favorisierte Charakterisierung fortgeschrittener Gesellschaften mittels des Doppelhorizontes struktureller Säkularität wie struktureller Pluralität akzentuiert mit Weber die elementare Heterogenität kultureller Orientierungsmodi wie (potentiell) religiöser Überzeugungen und favorisiert dementsprechend ebenso mit Weber eine konfliktanalytische Lesart von Modernität. Dieser Zuschnitt der Analyse macht Gebrauch von einem Argumentationstypus, den Thomas Luckmann in seiner kritischen Behandlung des Säkularisierungsbegriffs (1969) bereits verwandt hatte – gibt diesem jedoch eine andere Wendung:33 Luckmann identifizierte die allgegenwärtige Rede von einer Säkularisierung in den 1960er Jahren als einen Selbstbeschreibungsmythos moderner Gesellschaften (Luckmann 1969: 163), der „den wissenschaftlichen Zugang zu Religion als sozialer Wirklichkeit“ versperre (1969: 165). Festzuhalten sei demgegenüber, so Luckmann: „Die Sozialstruktur [moderner Gesellschaften] ist säkularisiert – nicht aber das Individuum“ (1969: 172). Zwar habe die „Sozial31 Womöglich lässt sich in diesem Sinne auch die Bemerkung deuten, mit der Böckenförde seinen bereits angesprochenen klassischen Beitrag schließt. Dort heißt es unter Bezug auf Hegel (1970: §552), es sei erforderlich, dass „die Christen diesen [den säkularen] Staat [...] erkennen [...] als die Chance der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist“ (Böckenförde 1967: 114). Zu unterscheiden ist die hier auf der Basis einer Differenzierung von strukturtheoretischer und empirischer Ebene vorgenommene Klärung von der Position Gogartens (1953), für den eine positive Bestimmung des Verhältnisses von Säkularisierung und Religion zur Befreiung des soteriologischen Kerns des Glaubens wird. 32 Diese Auffassung ist aber keineswegs gleichzusetzen mit der aktuell in der Religionssoziologie diskutierten Annahme, dass es einen (möglichen) positiven Zusammenhang zwischen weltanschaulichem und also auch religiösem Pluralismus einerseits und religiösem Engagement andererseits gebe (vgl. dazu: Warner 1993; Chaves/Gorski 2001; Voas et al. 2002). 33 Vgl. auch Luckmann (2002) sowie in ähnlichem Sinne schon Berger (z. B. 1967: 105, 147).
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struktur [...] aufgehört, als konsistenter Mittler zwischen religiösem Kosmos und individuellem Bewusstsein zu fungieren“ (1969: 169), aber der „Mythos der Säkularisation“ beruhe „auf einer folgenschweren Verwechslung: eine einmalige und vorübergehende historische Situation erhält [darin] den Status eines dauernden strukturellen Arrangements zwischen Gesellschaft und Religion“ (1969: 171). Damit nutzt bereits Luckmann eine Unterscheidung zwischen Strukturphänomen und empirisch historischen Konstellationen, wenngleich der von Luckmann diesbezüglich vorgenommene Zuschnitt auf „Sozialstruktur“ und „Individuum“ im vorliegenden Zusammenhang nicht zu übernehmen ist. Präziser gefasst findet sich die hier mit einer Unterscheidung von Strukturphänomen und historisch empirischer Ausprägung angezielte Reflexionsfolie im Werk Max Webers.
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Die Perspektive der Soziologie Max Webers
Als Ausgangspunkt bietet sich erneut Habermas an. Habermas (2001: 13) identifiziert Weber als einen Vertreter des sogenannten „Verdrängungsmodells“ der Säkularisierung. Den Vertretern dieses Models rechnet Habermas nun einen zum sogenannten „Enteignungsmodell“ der Säkularisierung, also dem kulturpessimistischen Verfallsmodell der Entwicklung hin zu einer obdachlosen Moderne, komplementären Fehler vor: Offenkundig direkt an Weber adressiert urteilt Habermas, dieser stelle sich den historischen Entwicklungsprozess „fortschrittsoptimistisch“ als „eine Art Nullsummenspiel“ vor (Habermas 2001: 13). Danach stehe Webers These von der entzauberten Moderne für den Vorgang einer unaufhaltsamen Ersetzung „religiöser Denkweisen und Lebensformen durch vernünftige, jedenfalls überlegene Äquivalente“ (Habermas 2001: 12f.). Ein Vorwurf an die Adresse Webers, der nach der zuvor entwickelten Lesart von Habermas’ Argument offenkundig jedoch gerade diesen selbst trifft.34 Wie steht es um diese Kritik sowie die sie tragende Weber-Deutung? 34 Seine Kritik an Weber führt Habermas dahingehend fort, dass bei dieser Vorstellung eines Nullsummenspiels, so der zentrale Einwand, „die zivilisierende Rolle eines demokratisch aufgeklärten Commonsense [...] als dritte Partei zwischen Wissenschaft und Religion“ ausgeblendet werde (Habermas 2001: 13). Dieser Aspekt muss insbesondere deshalb irritieren, weil er umgekehrt offenkundig mit Blick auf Habermas’ eigene Position insinuiert, bei ihm komme den Trägergruppen einer demokratisch verfassten Zivilgesellschaft eine mediierende Aufgabe zwischen Wissenschaft und Religion mit dem Ziel zu, „religiöse Denkweisen und Lebensformen“ zu erhalten. Genau das Gegenteil aber konnte zuvor als Kern von Habermas’ Position identifiziert werden. Dabei kann im vorliegenden Zusammenhang die Logik des zivilgesellschaftlichen Arguments von Habermas, wie es insbesondere in „Faktizität und Geltung“ (1992) sowie in „Die Einbeziehung des Anderen“ (1996) entwickelt ist, dahingestellt bleiben.
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Insofern sich Habermas zufolge bei Weber das „Verdrängungsmodell“ „der kirchlichen Autorität durch die weltliche Gewalt“ (Habermas 2001: 12) in der entzauberten Moderne mit einer substantiellen Entwertung religiöser Traditionen durch die These der Aufhebung ihres semantischen Potentials verquickt, bleibt bei Habermas nach wie vor (wie schon in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ von 1981) eine dreifache Engführung von Webers Konzeption leitend. Denn erstens reduziert Habermas‘ Lesart Webers soziologische Analyse auf den Typus der Zweckrationalität, zweitens unifiziert sie diese auf einen einzigen gesellschaftlichen Makrotrend hin und drittens unterläuft ihr dabei eine kognitivistische Engführung. Hinsichtlich der ersten beiden Gesichtspunkte hatte Weber bereits in der „Protestantischen Ethik“ herausgestellt, dass „die Geschichte des Rationalismus keineswegs eine auf den einzelnen Lebensgebieten parallel fortschreitende Entwicklung zeigt“ (1920: 61). Ein Bild, das durch Webers sparsame Verwendung des für eine sich kumulativ verzahnende und wahlverwandtschaftlich verstärkende Entwicklung stehenden Begriffs des „okzidentalen Rationalismus“ gestützt wird (1920: 11, 12). Zudem ist mit Bezug auf diese beiden Aspekte an Webers differenzierten Rationalitätsbegriff zu erinnern,35 der als Veto gegen eine Gleichsetzung von diskursiver Legitimierung mit Zweckrationalitäten, also mit einem sehr spezifischen Rationalitätsbegriff und damit dessen Verabsolutierung zu werten ist. Stattdessen ist diese Typik diskursiver Legitimierung nicht nur mit einer Breite von Plausibilisierungsmustern und Legitimierungsstrategien vereinbar, sondern sie verweist konstitutiv auf diese Vielfalt. Mit Bezug insbesondere auf die weiteren Annahmen eines gesellschaftlichen Makrotrends ist darüber hinaus das Rationalisierungspotential der Religion von ihrer Rationalisierung zu unterscheiden! Während Weber ersteres, also die potentiell rationalisierende Wirkung religiöser Orientierungen der Lebensführung, exemplarisch anhand der sich „dynamisierenden Wahlverwandtschaft“ (Tyrell 1993: 301) von Protestantischer Ethik und dem ‚Geist des Kapitalismus‘ herausarbeitet, negiert er letzteres, also die Folge einer Rationalisierung der Religion selbst, ebenso entschieden: „Mit jeder Zunahme des Rationalismus“, so Weber, wird „die Religion [...] die irrationale oder antirationale überpersönliche Macht schlechthin“ (Weber 1920: 564). Diese historische Doppelbewegung einer gleichzeitigen „Potenz und Depotenzierung der Religion“ (so der Titel eines Beitrages von Tyrell 1993), die Weber die „Paradoxie der Wirkung“ nannte 35
Dazu der Hinweis von Tyrell (1993: 300 Anm.1), dass für Weber sowohl die „Vieldeutigkeit des Begriffs der ‚Rationalisierung’“ (Weber 1976: 22) als auch die „Vielseitigkeit“ des „nur scheinbar eindeutigen Begriff[s] des ‚Rationalen’“ (Weber 1920: 35 Anm.1) „gravierende Einsicht[en]“ bildeten, weshalb deren Zuspitzung auf Zweckrationalität bei Habermas (1981: I: 299ff.) als Verkürzung anzusehen ist.
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(1920: 524), bildet den Kern von Webers Argument und markiert damit zugleich den Doppelsinn des Begriffs der „Entzauberung“: Wie er für den Rationalisierungsprozess (der Religion) durch Religion steht, so auch für den Entlegitimierungsprozess der Religion – im einen Fall kommt die Religion als Akteur der Rationalisierung, im anderen als Adresse von Prozessen der Rationalisierung in den Blick.36 So steht der Bindung des Handelns („Stereotypisierung“, Weber 1958: 303, 308) durch Magie und Ritualismus37 die Entbindung des Handelns durch Religion entgegen. Das heißt, der Prozess der „Entzauberung der Welt“38 im Sinne eines Bedeutungsverlustes und Verschwindens von magischen Praktiken und Sinngehalten aus dem Alltagsleben ist in Webers Perspektive im Kern ein innerreligiöser Veränderungs- bzw. Entwicklungsprozess gewesen (vgl. auch Tyrell 1993: 305f.). So heißt es in Webers „Wirtschaftsgeschichte“: „Die Magie zu brechen und Rationalisierung der Lebensführung durchzusetzen, hat es zu allen Zeiten nur ein Mittel gegeben: große rationale Prophetien [...]. Prophetien haben die Entzauberung der Welt herbeigeführt und damit auch die Grundlage für unsere moderne Wissenschaft, die Technik und den Kapitalismus geschaffen“ (Weber 1958: 308f.). Und entsprechend argumentiert Weber in der ergänzten Fassung der Protestantischen Ethik, dass der „absolute [...] Fortfall kirchlich-sakramentalen Heils“ im Gefolge der Reformation „jener große religionsgeschichtliche Prozess der Entzauberung der Welt, welcher mit der altjüdischen Prophetie einsetzte und, im Verein mit dem hellenischen wissenschaftlichen Denken, alle magischen Mittel der Heilssuche als Aberglaube und Frevel verwarf, [...] hier seinen Abschluß“ fand (Weber 1920: 94f.). Weber zeigt dies nicht zuletzt an der „Reinigung“ (Exklusion und Desozialisierung) der mittelalterlich-katholischen Frömmigkeit von Fürbitten für die Toten, Seelenmessen etc. durch die Reformatoren (1920: 95, 513) – dies besonders im Zuge der für den Calvinismus und 36
Und mit Tyrell (1993) bin ich der Auffassung, dass diese argumentative Doppelbewegung als konzeptionelle Einlösung von Nietzsches Gedanken der „Selbstaufhebung“ des Christentums auf dem Boden soziologischer Analyse zu sehen ist. Eine Doppelbewegung, die in der Ambivalenz von Bewirken und Bewirktwerden den Kern des Gesellschaftsbegriffs bei Berger/Luckmann bildet, für den sie den Begriff der „Dialektik“ reservieren und von einem „dialektischen Gesellschaftsbegriff“ sprechen (vgl. Berger 1967: 3f.). 37 Schichtmäßig sind beide, Weber zufolge, primär gebunden an die Bauern (1976: 285ff.). 38 Die „Entzauberung der Welt“ zeigt für Weber im Kern die Struktur eines Wissens um das Wissenkönnen: „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also [...] das Wissen [...]: dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte [...]. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt“ (Weber 1994: 9). Dieses Wissen um Beherrschbarkeit durch „technische Mittel und Berechnung“ bedeutet, so Weber weiter, „die Intellektualisierung als solche“ (Weber 1994: 9). Man kann in diesem Gedanken – lange bevor es Christian Meier (vgl. 1993: 470ff.) gelang, die „Entdeckung des Könnensbewusstseins“ bei den Griechen herauszuarbeiten – eine gewissermaßen vorwegnehmende Identifizierung seiner Radikalisierung unter modernen Vorzeichen sehen.
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insbesondere den Puritanismus zentralen „unbedingte[n] Verwerfung aller ‚Kreaturvergötterung’ als einer Entwertung der Gott allein geschuldeten Ehrfurcht“ (1920: 154). Diesen Prozess der Entzauberung im Spannungsbogen der beiden Pole Magie und Rationalität, der zum Verlust der Universalität und damit des Legitimierungsmonopols magischer Rechtfertigungen, aber keineswegs zu ihrem Verschwinden führt, diesen Prozess veranschaulicht Weber an mehreren seiner Auffassung zufolge typischen sozialen Entwicklungsprozessen: so an der Entstehung der okzidentalen mittelalterlichen Stadt (Weber 1976: 741ff.), an der modernen kapitalistischen Arbeits- und Wirtschaftsethik (Weber 1920: 1ff.), an der Herausbildung rationaler Rechtsordnungen (Weber 1976: 387ff.) und an der Entfaltung der rationalen Herrschaftslegitimierung (1976: 551ff.). Webers Absage sowohl an eine Reduktion auf den Typus der Zweckrationalität wie auch seine Distanzierung von Vorstellungen eines einzigen gesamtgesellschaftlichen Makrotrends steht somit auf breiter empirischer Grundlage. Was den dritten kritischen Aspekt anbelangt, die Thematisierung von Religion bei Habermas unter Bezug auf deren „semantische Potentiale“, so muss im Horizont von Max Webers Soziologie auch darin nicht nur ein Reduktionismus, sondern zudem ein sachfremder Zuschnitt der Analyse gesehen werden. Denn Weber geht es in seinen historisch-kulturvergleichenden Religionsuntersuchungen stets um die praktischen Implikationen und Wirkungen religiöser Sinnorientierungen bzw. religiös geprägter Formen der Lebensführung. Und dieser Zuschnitt seiner Analysen verweist einmal auf die jeweiligen Träger, also die Verwalter und Vermittler religiösen Wissens und religiöser Macht,39 sodann auf die Laien als den Trägern der durch diese ersteren vermittelten Weltbilder und Ethiken, und er verweist schließlich auf die in diesen Weltansichten als möglich entworfenen Formen der Lebensführung (vgl. auch Kippenberg 2001a: 8; 2001b: 26, 28). Entsprechend stellt Weber in seiner „Religionssoziologie“ mehrfach unmissverständlich klar: „Religiös oder magisch motiviertes Handeln ist [...] diesseitig ausgerichtet“ (Weber 1976: 245). „Für uns“, so Weber, „kommt die Erlösungssehnsucht, wie immer sie geartet sei, wesentlich in Betracht, sofern sie für das praktische Verhalten im Leben Konsequenzen hat“ (1976: 320). Das heißt, „der Effekt im Handeln ist es, der uns angeht“ (1976: 334). Dieser Zu39
Vgl. Webers Typologie der persönlichen Träger außeralltäglicher Macht: Priester, Zauberer und Prophet (1976: 259ff., 268ff., 278f.). Priester sind „berufsmäßige Funktionäre“ eines „regelmäßigen organisierten stetigen Betriebs der Beeinflussung der Götter“ auf der Basis „rationaler Vorbildung und Disziplin“. Zauberer üben einen „freien Beruf“ aus und zwingen „Dämonen“ durch „individuelle Inanspruchnahme [...] von Fall zu Fall“ auf der Grundlage „einer rein empirischen Kunstlehre“. Propheten sind „Träger von metaphysischen oder religiös-ethischen ‚Offenbarungen’“ bzw. Verkünder „einer religiösen Heilswahrheit kraft persönlicher Offenbarung“. Demgegenüber gilt: Laien sind die „Anhänger eines Kultus“.
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schnitt der Untersuchungen Webers geht mit dem ausschließlichen Blick auf „semantische Potentiale“ – wie Habermas dies unternimmt – verloren. Hält man sich die bekannten Absagen Webers an einsinnige wie einlinige Rationalitäts- und Rationalisierungsvorstellungen ebenso vor Augen wie seine Akzentuierung der pragmatischen Dimension, dann erschließt sich die Bedeutung einer Unterscheidung von strukturtheoretischer und empirischer Ebene für das hier gestellte Thema. Die aus der Soziologie Webers zu gewinnenden Maßstäbe für eine Auseinandersetzung mit Habermas’ Begriff der „postsäkularen Kultur“ können sich von dieser methodologischen Leitidee Webers orientieren lassen. Im Kern lässt sich diese Idee folgendermaßen formulieren: Erst auf der Grundlage einer analytischen Unterscheidung von Strukturebene und Empirie eröffnet sich der Soziologie der Blick auf die strukturelle Ambivalenz gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse. An wohl keiner anderen Stelle seines Werkes hat Weber diese Unterscheidung klarer herausgearbeitet als am Ende des ersten Abschnitts seiner Herrschaftssoziologie. Dort grenzt Weber die Analyse der verschiedenen „Grundtypen der Herrschaftsstruktur“ von den sozio-historisch realisierten Herrschaftsformen ab (Weber 1976: 548ff.). Weber zufolge ist „der soziologische Charakter der Herrschaft“ unter Bezug auf die „allgemeinen Fundamente der Herrschaftsgeltung“ zu bestimmen (1976: 545). Eine Unterscheidung verschiedener „Grundtypen der Herrschaft“ nimmt also Bezug auf solche „letzten Prinzipien“ der „‚Geltung’ einer Herrschaft“ (1976: 549).40 Den in diesen Legitimitätsprinzipien enthaltenen Bestimmungen der Relationierung der einzelnen Momente eines Herrschaftsverhältnisses41 entsprechen dann „die ‚reinen’ Grundtypen der Herrschaftsstruktur, aus deren Kombination, Mischung, Angleichung und Umbildung sich die in der historischen Wirklichkeit zu findenden Formen ergeben“ (1976: 550).42 40 Weber ist der Auffassung: „Solcher letzter Prinzipien gibt es drei“ – „’Geltung’ einer Befehlsgewalt“ und damit Gehorsamsverhältnisse aufgrund „rationaler Regeln“ (Legalität) oder aufgrund „persönlicher Autorität“ basierend entweder auf „der Heiligkeit der Tradition“ (Traditional) oder auf „der Hingabe an das Außerordentliche“ (Charisma) (Weber 1976: 549f.). 41 Also „die allgemeine Eigenart der Beziehung des oder der Herren zu dem Apparat und beider zu den Beherrschten und weiterhin durch die ihr spezifischen Prinzipien der ‚Organisation’, d.h. der Verteilung der Befehlsgewalten“ (Weber 1976: 549). 42 In vergleichbarer Prägnanz findet sich die entsprechende reflexionslogische Differenzierung dann noch in Webers Unterscheidung von „spezieller Erörterung“ und „allgemeiner Betrachtung“ am Anfang des Kapitels über die „Typen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung in ihrer Beziehung zur Wirtschaft“ (Weber 1976: 212). Strukturell analog zu seinem angeführten Argument in der Herrschaftssoziologie verdeutlicht Weber hier, dass die „allgemeine Betrachtung“ nicht auf eine Erörterung der „Beziehung der Wirtschaft zu den einzelnen Kulturinhalten“, sondern auf die Explikation der „allgemeinen Strukturformen menschlicher Gemeinschaften“ zielt. Eine Abgrenzung, die die hier eingeführte Lesart bestätigt. Analog die Bemerkung in der Rechtssoziologie, wonach
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Schließlich lässt sich diese Unterscheidung zwischen struktureller und empirischer Ebene der Betrachtung nicht zuletzt auch im Hintergrund des Prinzips der Konstruktion idealtypischer Begriffe identifizieren. Idealtypen ermöglichen es dem Soziologen, im ‚Wirklichen‘ (also in der rekonstruierten historischen Realität) das Mögliche (also die potentiell anderen angelegten Entwicklungschancen) zu identifizieren. Idealtypen bringen die Eigentümlichkeiten soziohistorischer Wirklichkeiten mittels komparativer, diachroner wie synchroner Analyse prägnant zur Darstellung. Im Zuge dieser in objektiver Einstellung („objektiver Sinn“) erfolgenden Zurechnung von Sinnstrukturen auf das rekonstruktiv erfasste Handeln wird dieses systematisch sowohl in den Horizont historisch als möglich rekonstruierter Alternativen gestellt, als auch im Zuge der dabei leitenden Unterscheidung von subjektiv-gemeintem und objektiv-zugerechnetem Sinn auf die Unterscheidung einer sich durchhaltenden Struktur (einer inneren Logik) auf der einen und ihrer (typischerweise in Mischformen auftretenden) empirischen Gestalt auf der anderen Seite bezogen (vgl. Kippenberg (2001a: 11f.) im Anschluss an Karl Jaspers). Die Reflexionsfigur einer Unterscheidung von struktureller und empirischer Ebene bewährt sich im vorliegenden Zusammenhang also in mehrfacher Hinsicht: zunächst (wissens-) analytisch zur Unterscheidung eines (säkularen) Basistextes der Moderne von ihren sozio-historischen spezifischen (durchaus auch religiösen) Erscheinungen, sodann politisch (herrschaftssoziologisch) zur Unterscheidung verfassungsmäßig verankerter (säkularer) Entscheidungsregeln von ihren potentiellen Gegenständen (eben auch sakralen Lebens- bzw. Ausdrucksformen) (vgl. auch Habermas 2001: 15);43 schließlich methodologisch im Hinblick auf die Form idealtypischer Begriffsbildung. Der Ertrag dieser Kritik an einer dreifachen Engführung der Untersuchung von „Post-Sakularität“ bei Ha„gewisse gemeinsame Züge in der logischen Struktur des Rechts [...] Produkt untereinander sehr verschiedener Herrschaftsformen sein“ können (1976: 469). Ebenso in diese Richtung weist Webers Hinweis im Kontext der Frage der ethnisch-nationalen Gemeinschaftsbeziehungen: „Unterschiede der sozialen und ökonomischen Gliederung und der inneren Herrschaftsstruktur mit ihren Einflüssen auf die ‚Sitten’ können eine Rolle spielen, müssen es aber nicht“ (1976: 244). Gerne spricht Weber in durchaus klassischer Manier für die Bestimmung des strukturellen Kerns auch von der „Feststellung des Wesens“ (1976: 212; aber im Gegensatz zu 1976: 245). 43 Somit kann gerade auch der vielberufene Gestaltwandel des Religiösen mit der Formel von der Moderne als strukturell säkularisiert und empirisch gleichwohl vielgestaltig – also auch religiös – adäquat auf den Begriff gebracht werden. Und das gilt, nebenbei bemerkt, auch für sogenannte Fundamentalismen. Diese als grundsätzlich anti-modern zu geißeln, zeigt nichts weiter als historisches Unverständnis., da sich doch erst auf dem Boden der modernen Kultur und der für sie konstitutiven (also strukturellen) Pluralität Fundamentalismus als Denkhaltung überhaupt identifizieren, konzipieren und verstehen lässt. Die entsprechende Argumentation zeigt sich bereits im Zuge von Karl Mannheims Verwendung des Ideologie-Begriffs sowie insbesondere in seiner Analyse von Prozessen der „Reprimitivisierung“ in der modernen Kultur (Mannheim 1930: bes. 72ff.).
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bermas im Horizont der analytischen Perspektive der Soziologie Max Webers führt zu einigen abschließenden Bemerkungen.
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Resümee
Es war ein ehemaliger Heidelberger, der die von Jürgen Habermas erneut auf die Tagesordnung gesetzte „Frage nach den bindenden Kräften“ auf die klassisch gewordene Formel brachte: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Dieser Satz von ErnstWolfgang Böckenförde (1967: 112) klingt in der von Habermas erneut eröffneten Diskussion fraglos nach. Im Unterschied jedoch zu Böckenförde gibt Habermas auf die besagte Frage eine im Kern gegenteilige Antwort. Sie würde in der überlieferten Diktion lauten: Der freiheitliche säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst im Prinzip zu garantieren vermag. Und in dieser Einschränkung verbirgt sich sowohl der Hinweis auf eine durch Legalität fortwährend zu erzeugende Legitimität wie auch auf eine konsequent an ihr Ende zu führende Übersetzungsarbeit, die das „semantische Potential“ der religiösen, genauer: der christlichen Tradition in den Sprach- und Plausibilitätshorizont des Säkularen transformiert. Letztlich haben wir es damit bei Habermas’ Position mit einem Gegenpol zu Lübbes Religionsanalyse zu tun. Ist bei Lübbe (2004) die Religion angesichts ihrer Kontingenzbewältigungsfunktion aufklärungsresistent, so erachtet Habermas sie aufgrund ihres bis auf Weiteres gegebenen semantischen Potenzials lediglich partiell wie temporär, keineswegs jedoch prinzipiell und dauerhaft für aufklärungsresistent. Will man Habermas’ Position typologisch bestimmen, dann ergibt sich, dass Habermas weder – wie im Kern Kippenberg (1997) und Riesebrodt (2000) – ein gegenläufiges Spannungsverhältnis, also eine Konstellation nicht aufhebbaren Konflikts zwischen Religion und Moderne identifiziert, noch – wie Lübbe – ein Verhältnis entspannter, wechselseitig förderlicher Koordination und Kooperation zwischen beiden erkennt, sondern dass er ein Verhältnis temporärer Konkurrenz um Deutungskapazität und Deutungshoheit im Sinne eines auf Zeit angelegten einseitigen Ergänzungsverhältnisses meint. Eines Spannungsverhältnisses also, das letztlich auf einen die Stimme der Religion irgendwann transzendierenden Konsens hinausläuft. Bei Habermas gewährt die Religion der Moderne also gewissermaßen Flankenschutz, bis diese es (endlich) gelernt hat, vollständig auch in ihren semantischen Potenzialen auf eigenen Füßen zu stehen. In der von Habermas ehedem geprägten Begrifflichkeit demnach wohl ein Kolonialisierungsverhältnis, welches das „Projekt der Moderne“ allererst zu einem Abschluss bringen könnte. Die Verwendung des Begriffs „postsäkular“ scheint bei
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Habermas deshalb insgesamt wenig sinnvoll.44 Konfrontiert man Habermas‘ Zugriff somit mit der von Max Weber eröffneten Optik, dann erweist sich dieser analytisch als deutlich zu unterkomplex. Die Rede von einer „postsäkularen Kultur“ scheint eher als geschmäcklerische Zuspitzung zu werten, denn als analytische Durchdringung der Verhältnisse in modernen Gesellschaften aufzufassen sein. So eröffnet sich am Schluss dieser Bemerkungen die Gelegenheit, Max Weber selbst nochmals mit einer seiner kraftvollen Formulierungen Raum zu geben. In den abschließenden Worten des siebten Abschnitts des Fragments über „Religiöse Gemeinschaften“ lesen wir: „Das Bedürfnis des literarischen, akademisch-vornehmen oder auch Kaffeehausintellektualismus aber, in dem Inventar seiner Sensationsquellen und Diskussionsobjekte die ‚religiösen’ Gefühle nicht zu vermissen, das Bedürfnis von Schriftstellern Bücher über diese interessanten Problematiken zu schreiben und das noch weit wirksamere [Bedürfnis, M. E.] von findigen Verlegern, solche Bücher zu verkaufen, vermögen zwar den Schein eines weit verbreiteten ‚religiösen Interesses’ vorzutäuschen, ändern aber nichts daran, dass aus derartigen Bedürfnissen von Intellektuellen und ihrem Geplauder noch niemals eine neue Religion entstanden ist und dass die Mode diesen Gegenstand der Konversation und Publizistik den sie aufgebracht hat, auch wieder beseitigen wird“ (Weber 2005: 81). Diese Überlegung Webers stößt einen abschließenden Gedanken an: Man kann davon ausgehen, dass seit den Anschlägen vom 11. September 2001 das öffentliche Interesse an Religion als einem politisch relevanten Phänomen stark zugenommen hat. Aber diese Zunahme könnte mittelfristig für die Frage nach einer „postsäkularen Kultur“ eher in umgekehrter Richtung Bedeutung gewinnen: Denn gerade in der Diskussion über den Islam insistieren die veröffentlichten Meinungen in Deutschland nachhaltig auf der Bedeutung der Säkularität von Staat, Recht und Politik sowie von Wissenschaft. Insofern Reli44
Mit Blick auf die Frage nach der Realität eines „postsäkularen Zeitalters“ und der Wirkmächtigkeit von De-Säkularisierungs- bzw. Re-Sakralisierungsprozessen ist damit klar: Weder „post“ noch „säkular“, sondern eine offene Entwicklung hier und sich durchhaltende Spannungsverhältnisse dort sind zu beobachten. Insgesamt ist also eher von einem Gestaltwandel des Religiösen auszugehen. Strukturelle Ambivalenzen dominieren das Bild: gleichviel ob man auf die Tendenzen zur Säkularisierung im spätmittelalterlichen reformatio-imperii-Diskurs einerseits und auf die Absicht einer Sakralisierung politischer Macht durch die Reformation (Ernst Troeltsch) andererseits schaut, oder ob man das weithin als gültig angesehene Rationalisierungstheorem für die moderne Welt (Max Weber) mit der Wahrnehmung der europäischen Faschismen als politischen Religionen kontrastiert (Emilio Gentile). Wobei eine erste Abgrenzung hier leicht fällt: Wenn sich die Diagnose einer ReSakralisierung auf das Phänomen sogenannter „politischer Religionen“ wie die europäischen Faschismen stützt, ist schlicht eine begriffliche Korrektur vonnöten. Denn politische Religionen (Gentile) sind lediglich ein immanentes Phänomen der Moderne und damit potenziell gerade auch als Ausdrucksgestalten von Säkularisierungsprozessen zu werten.
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gion hier zum Gravitationszentrum der Austragung politischer Konflikte wird, ist diese politische Aufladung religiöser Differenzen als Indiz einer keineswegs als vollzogen zu beurteilenden Differenzierung von Politik und Religion zu werten. Und das wiederum muss man keineswegs als vormodernes Relikt in noch nicht vollständig modernisierten Gesellschaften werten, wie dies typischerweise im Horizont hoher Selbstverständlichkeitswerte für eine Theorie funktionaler Differenzierung geschieht. Eine alternative Deutung könnte geradezu umgekehrt davon ausgehen, dass es gerade die strukturelle Einforderung einer diskursiven Legitimierung jedweder Sinnorientierungen ist, die – auf einer Metaebene – den wechselseitigen Wiedereintritt bzw. die argumentativen wechselseitigen Bezugnahmen von vorderhand als getrennt betrachteten Diskursuniversen zur Problematisierung wie Plausibilisierung von Argumentationen und Positionen nach sich zieht. In der fortschreitenden (westlichen) Moderne käme es so gewissermaßen zu einer Verschränkung zweiter Ordnung von Sinnhorizonten: Während im Kontext erster Ordnung noch von unmittelbarer Plausibilität auszugehen ist, so wäre im Falle von Kontexten zweiter Ordnung eine nur noch mittelbare Plausibilität über den notwendigen Bezug auf diskursiv einlösbare Geltungsansprüche zu konstatieren.45 Eine Perspektive, die nicht nur funktionale (Simmel, Weber, Parsons, Luhmann) wie kognitive Differenzierungsdiagnosen (Dilthey, Weber, Schütz) zu einer Revision ihres analytischen Profils zwingen könnte, sondern die zugleich – im Sinne einer Aufnahme des kritischen Impulses von Gogarten (1953) bezüglich jener „falschen“ Säkularisierung, die er Säkularismus nennt – dem von Habermas vertretenen Verständnis von „postsäkularer“ Kultur einen gänzlich neuen Sinn abgewinnen könnte: nämlich als begriffliche Verdichtung der Autosakralisierung einer diskurstheoretischen Explikation des modernen Selbstverständnisses.46
45 Das wiederum könnte eine Perspektive sein, die mit Habermas’ Position, die vom säkularen Bewusstsein „einen selbstreflexiven Umgang mit den Grenzen der Aufklärung erwartet“ (2004a: 35; vgl. 2008: 27, 33f.), eine gemeinsame Stoßrichtung teilt. In diesem Sinne stellt Habermas klar: „Die weltanschauliche Neutralität der Staatsgewalt […] ist unvereinbar mit der politischen Verallgemeinerung einer säkularisierten Weltsicht“ (2004a: 36). 46 Und zwar insofern, als Gogarten (1953: 138ff.) mit dem Begriff des „Säkularismus“ eine solche „Entartung der Säkularisierung“ bezeichnen wollte, die genau „das, was der Glauben ist, für sich in Anspruch“ nehmen will: Eine Sakralisierung aufgrund einer Erhebung der als alles entscheidend verstandenen politischen und kulturellen profanen Kriterien zur Würde des Absoluten (vgl. Marramao 1999: 87) – also gewissermaßen eine Sakralisierung zweiter Ordnung. Vgl. für eine entsprechende Kritik bzw. Identifizierung der paradoxen Folgen einer sich gewissermaßen selbst überbietenden bzw. geschichtsphilosophisch übersteigernden Säkularisierung hin zur Verabsolutierung und Sakralisierung geschichtlicher Vernunft auch Löwith (1953).
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Max Weber: Wissenschaft und Religion. Ein Rekonstruktionsversuch in gegenwartsdiagnostischer Absicht Max Weber: Wissenschaft und Religion
Gottfried Küenzlen
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Wissenschaft und Religion: Die Wiederkehr alter Fronten?
Der Siegeszug der neuzeitlichen Wissenschaft war nicht allein gegründet in bloßem Erkenntnisstreben oder in der Suche nach Verbesserung der äußeren Daseinsumstände; vielmehr: Am Anfang stand der religiöse Antrieb, die göttliche Ordnung in der Natur aufzudecken. Gerade weil das biblische Buch der Offenbarung, nicht zuletzt in den nachreformatorisch-konfessionellen Auslegungskämpfen, als mehrdeutig und der menschlichen Auslegung bedürftig erschien, galt es nun, das „Buch der Natur“ zu entdecken, um so im Versprechen exakter Naturwissenschaft den eindeutigen Weg zu Gott zu finden. In der prägnanten Zusammenfassung Benjamin Nelsons: „Die Begründer der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie waren alles andere als Skeptiker. Sie waren vielmehr überzeugte Anhänger der neuen Wahrheiten, die so deutlich vom Buch der Natur verkündet wurden. Das Buch der Natur enthüllte in ihren Augen all jenen seine Geheimnisse, die sich in gutem Glauben ernstlich bemühten und die Zeichen entzifferten, die der Autor der Natur so verschwenderisch darbot. Für sie war das Buch der Natur in Zahlen geschrieben, es trog niemals; dagegen war die Bibel mit Worten geschrieben, die leicht missdeutet werden und zu Missdeutungen verführen konnten. Männer wie Galilei und Descartes waren sich in weit höherem Maße der Wahrheit gewiss, die ihnen die Zahlen offenbarten, als der auf Schriftauslegung gestützten Wahrheit in den Kommentaren der Theologen.“ (Nelson 1972: 118)
Man muss diese Herkunftsgeschichte kennen, um den Aufstieg der Wissenschaft zu einer säkularen Glaubensmacht zu verstehen. Je mehr die neuzeitliche Wissenschaft sich in ihrem Fortgang von ihren theologischen Fundamentierungen löste, um so stärker wurde der Anspruch, in der Wissenschaft selbst stünde nun die gültige Legitimationsquelle der säkularen Moderne bereit, die allein imstande sei, die wirkliche Ordnung der Natur, dann aber auch die wahren Gesetze der Gesellschaft, der Erziehung und der Seele aufzudecken. „Als Quelle der AnweiA. Bienfait (Hrsg.), Religionen verstehen, DOI 10.1007/978-3-531-92777-0_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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sungen auf legitime Ordnungen ist Wissenschaft entstanden. In dieser Eigenmacht hat sie unsere heutige Welt geschaffen.“ (Tenbruck 1976: 7). So wurde die Wissenschaft als Fundament der neuzeitlichen Fortschrittsgewissheit zu einer bestimmenden Glaubensmacht der säkularen Religionsgeschichte der Moderne (vgl. Küenzlen 1997). Für Lage und Schicksal der überlieferten Religion, also des Christentums als der Herkunftsreligion Europas bedeutete dies: Mit dem Aufstieg der Wissenschaft zur bestimmenden Kulturmacht und der damit einhergehenden religiösen Entzauberung von Welt und Natur war notwendigerweise der Geltungsverlust der Kulturbedeutung der überlieferten Religion, insbesondere als Legitimationsquelle und Legitimationsinstanz verbunden. Begleitet war dieser Prozess von der Formierung einer von kirchlicher Autorität und theologischer Fundamentierung sich emanzipierenden Kulturintelligenz, die sich nunmehr im Namen und mit der Vollmacht der Wissenschaft als entscheidende Deutungsinstanz der menschlichen Dinge wusste.1 Wissenschaft oder Religion: Dies wurde im 19. Jahrhundert zur immer wichtiger werdenden Entscheidungsfrage, je mehr die Wissenschaft selbst sich in säkularreligiöser Gewissheit als siegreiche Gegenmacht zur überlieferten Religion verstand. Dieses Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der Wissenschaft findet etwa – als nur ein Beispiel – einen prägnanten Ausdruck bei Rudolf Virchow. Für ihn hat die Wissenschaft das einzige Ziel, „dem Humanismus zu dienen und in die Rolle einzutreten, welche in früheren Zeiten den transzendenten Bestrebungen der Kirche zugefallen war“ (Virchow 1971: 52). Wissenschaft oder Religion: Diese Entscheidungsfrage war dann auch bestimmenden Strömungen in der Genese und Verlaufsgeschichte der Human- und Sozialwissenschaften einverwoben, die im Erbe St. Simons und Comtes stehend, etwa die Soziologie (so bei Durkheim) in säkularreligiöser Dimension in den Rang der wahren Autorität erhoben; einer letzten Autorität, zuständig nicht nur für die Gestaltung und Sicherung der äußeren Daseinsverhältnisse, sondern entscheidende Kraft eines säkularen Glaubens, durch die die wahre Ordnung von Kultur und Gesellschaft endlich den wahren Zwecken des Menschen gemäß errichtet werden könnte. Die weitere Verlaufsgeschichte des Verhältnisses von Religion und Wissenschaft trieb dann aber immer mehr auf eine Positionsbestimmung hin, die sich in die Formel „Wissenschaft und Religion“ fassen lässt – wobei auch hier knappste summarische Hinweise und Bemerkungen genügen müssen. Philosophie1 Selbstverständlich ist damit nur ein, wenngleich wirkungsmächtiger Strang der Entwicklungsgeschichte der Moderne benannt. Eine ausgeführtere Darstellung müsste auch die religionsproduktiven Strömungen aufzeigen, die die Moderne in ihrer Verlaufsgeschichte immer wieder aus sich heraus setzte.
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geschichtlich hatte schon Kant der Religion ihren eigenen Platz als notwendiges Postulat der praktischen Vernunft und als Voraussetzung und Garant menschlicher Moralität zu sichern gesucht: „Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatism der Metaphysik, d. i. das Vorurteil in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist.“ (Kant 1920: 24) Oder Schleiermacher, der in ganz anderem, Kant hinter sich lassenden Zugriff, in seinen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ die Religion „als eigene Provinz im Gemüte“ bestimmt hat – neben Metaphysik und Moral. Generell lassen sich bestimmende Strömungen der Theologiegeschichte des neuzeitlichen Protestantismus als glanzvolle Versuche studieren, die überlieferte Religion in die neuen, von den Voraussetzungen und Ergebnissen der säkularen Wissenschaft bestimmten Horizonte hinein auszulegen.2 Dazu trat auf der Seite der Wissenschaft selbst jener Vorgang, der sich mit Friedrich Tenbruck als „Trivialisierungsprozess“ der Wissenschaft fassen lässt und im Kern die stille Zurücknahme des Glaubens bedeutet, es sei die Wissenschaft, die das diesseitige Glück, ja die Erlösung der Menschheit von Not und Bedrückung und schließlich die Perfektibilität des Menschen heraufführen könne. Zu dieser wissenschaftsimmanenten Selbstbegrenzung trat die kulturelle Erfahrung, dass die Evolutionsdynamik der Verwissenschaftlichung unserer gesamten Lebenswelt mit kulturellen Folgelasten einhergeht, die sich selbst nicht wieder wissenschaftlich ausgleichen lassen. So bedeutet etwa die voranschreitende Verwissenschaftlichung auch einen bestimmten Zukunftsgewissheitsschwund, also die Erfahrung der Ungewissheit über die Welt, in der wir schon morgen leben werden. Kurz: Der Geltungsverlust der Wissenschaft als letzte Instanz von Welt- und Daseinsdeutung, gar als Fundament der Moral lässt die Bedeutung außerwissenschaftlicher Instanzen der Wirklichkeitsorientierung, insbesondere der Religion, als eigene Deutungsmächte neu hervortreten. Ein Vorgang, den Hermann Lübbe als Erwerb „vollendeter Aufklärung“ bezeichnete, indem sich mit dem Fortschreiten der Wissenschaften „zugleich die Einsicht in die religiöse Indifferenz dieses Fortschritts kulturell ausgebreitet“ hat; ein Vorgang, in dem der einst im Namen eines säkularen Glaubens auftretende wissenschaftliche „Confessor“ nun zum schlichten „Professor“ seiner Zunft geworden ist (Lübbe 1986: 27, 36). Für die Human- und Sozialwissenschaften war es – wie später genauer auszuführen ist – insbesondere Max Weber, der die Macht und Dignität der Wissen2
Als Gesamtdarstellung hierfür bis heute eindrucksvoll: Hirsch (1975).
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schaft als Instrument empirischer Wirklichkeitserkenntnis ebenso betont hat, wie er darauf bestand, dass „Werte“, also die Maßstäbe des ethischen Handelns von der Wissenschaft selbst nicht begründet werden können. Alle in einer ausgeführteren Darstellung eigentlich nötigen Gemengelagen im Verhältnis von Wissenschaft und Religion beiseite lassend, lässt sich zusammenfassen: Das Verhältnis von Wissenschaft und Religion, von Wissen und Glauben wurde zunehmend von der Einsicht bestimmt, dass in ihnen jeweils zwei zu unterscheidende Bereiche des Zugangs zur Wirklichkeit bereitstehen, die sich in ihrem jeweiligen Eigenrecht und ihrer Eigenart nicht ausschließen, zumindest nicht notwendig ausschließen müssen. Dieses Verhältnis von Wissenschaft und Religion lässt sich abschließend mit Herwig Schopper, dem ehemaligen Direktor des Europäischen Kernforschungszentrums (CERN), plastisch zusammenfassen: „Man muss zugestehen, dass die Wissenschaft mit ihrer auf Reproduzier- und Falsifizierbarkeit beruhenden Wahrheit nicht die ganze Realität erfasst. Sie kann eine transzendente Realität des Glaubens nicht ausschließen. Sie kann dazu gar nichts sagen. Ich stelle mir die Realität als einen komplexen Körper vor, von dem wir in verschiedenen Richtungen Schattenwürfe machen können. Die Wissenschaft liefert eine Projektion, die Religion eine andere, die Kunst eine weitere usw. Wir sollten uns nicht wundern, wenn wir dabei zunächst anscheinend widersprüchliche Ergebnisse erhalten. Projektieren wir eine Kreisscheibe entlang ihrer Achse, ergibt sich ein kreisförmiger Schatten. Projektieren wir diesen Teller senkrecht zur Achse, ergibt sich ein linienförmiger Schatten: Ein scheinbarer Widerspruch! Es gilt, die Projektionen zusammen auszuwerten, um daraus rückwärts die volle Gestalt des Tellers, der schattenwerfenden Realität also zu ergründen“ (Schopper 1991: 31f.).
Zu den gegenwartsdiagnostisch auffallenden Beobachtungen gehört, dass dieses Verhältnis von Wissenschaft und Religion als Erwerb gelungener Aufklärung in Frage gestellt wird. Alte Fronten kehren wieder, so wird die Wissenschaft in gegenwärtigen Strömungen und Bewegungen neu zur säkularen Glaubensmacht, die allein die Wahrheit des Menschen, seines richtigen Handelns und seiner Stellung in der Welt zu verbürgen vermag. Dies sei an ausgewählten Beispielen illustriert, die hier nur genannt und nicht ausführlicher dargestellt werden können. So unterschiedlich, ja unvereinbar in den Inhalten diese auch sind, so ist ihnen eines gemeinsam: In ihnen wird die oben genannte Unterscheidung von Wissenschaft und Religion in ihren jeweiligen nur ihnen zukommenden Geltungsbereichen aufgehoben. Als Erstes sind zu nennen die Strömungen und Bewegungen, die sich unter dem Stichwort „neuer Atheismus“ fassen lassen. Ein auffallendes Merkmal die-
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ses neuen Atheismus ist, dass er mit aggressiv-missionarischem Antrieb auftritt und in offensiver Propagierung in nahezu ganz Europa Wirkung entfaltet. Ein Hauptakteur dieser Bewegung ist der Oxforder Biologe und Wissenschaftspublizist Richard Dawkins. Sein Buch „Der Gotteswahn“ („The God Delusion“) wurde nach seinem Erscheinen 2006 rasch zum weltweiten Bestseller. Für Dawkins sind alle Religionen eine spezifische Art von Wahn. Nicht als Resümee einer religionsphänomenologischen Analyse, sondern als vorausgesetzte These gilt: Alle Religionen sind ein krankhaftes, nur psychiatrisch zu beschreibendes Wahnphänomen: „Leidet ein Mensch an einer Wahnvorstellung, so nennt man es Geisteskrankheit. Leiden viele Menschen an einer Wahnvorstellung, so nennt man es Religion.“ (Dawkins 2007: 17f.) Nun wäre es ein Leichtes, die kognitiven Defizite, die (religions-)philosophische Leere und die religionswissenschaftliche Ignoranz, die sich bei Dawkins nahezu auf jeder Seite finden, aufzuzeigen: Ob naturwissenschaftlich Einstein und Heisenberg, ob philosophisch Kant, Hegel oder Schleiermacher, aber auch Feuerbach, Marx oder Nietzsche, ob religionswissenschaftlich Tylor, Frazer oder Malinowski, ob Emil Durkheim oder gar Max Weber, - sie alle kennt Dawkins nicht oder wenn, dann haben sie für ihn vergeblich gelebt. Hier interessiert – im Kontext unserer Fragestellung – nur der Befund: Dawkins führt seinen Feldzug gegen die Religion im Namen der Wissenschaft, wie er sie versteht. Zentral für Dawkins’ Ansatz ist, dass die „Gotteshypothese“ als „wissenschaftliche Hypothese […] wie jede andere“ (Dawkins 2007: 72) anzusehen ist, über die ausschließlich durch Verifikation oder Falsifikation empirisch zu entscheiden ist. „Gott“ und Religion überhaupt sind wissenschaftlich auf der gleichen Ebene anzusiedeln wie jede andere (natur-)wissenschaftliche Theorie, die dann zu verwerfen ist, wenn andere wissenschaftliche Theorien der „Gotteshypothese“ gegenüber, wie insbesondere die Evolutionstheorie, eine überlegene Erklärung unserer Wirklichkeit liefern. Man muss diesen Ansatz mit der oben zitierten Position Herweg Schoppers vergleichen, um zu verstehen: Mit Dawkins kehren – freilich in trivialisierter Form – die alten, längst überwunden geglaubten Schatten im Verhältnis von Religion und Wissenschaft wieder, nämlich die Entscheidungsfrage: Wissenschaft oder Religion. Diese ist bei Dawkins freilich nicht einmal mehr als Frage präsent. Vielmehr ist „Wissenschaft“ hier die Instanz, die den Wahn und Trug der Religion endgültig überwindet.3 So ist nicht die Selbstbegrenzung der Wissenschaft, sondern ihre säkularreligiöse Feier als Garantiemacht eines szientistisch-ideologischen Messianismus die Grundlage des „neuen Atheismus“. 3 Es wäre reizvoll, in kultursoziologischer Perspektive der Frage nachzugehen, warum solch „neuer Atheismus“, unbeschadet seiner theoretischen und intellektuellen Dürftigkeit oder vielleicht gerade deshalb, gegenwärtige gesellschaftliche Resonanz findet und seine Kulturchance sucht.
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Doch auch im religiösen Fundamentalismus findet sich eine bestimmte, den Inhalten und Antrieben nach gewiss entgegengesetzte, instrumentalisierende Inanspruchnahme von Wissenschaft.4 Was immer unter dem häufig missleitenden Begriff „Fundamentalismus“ zu verstehen ist, im Kern ist das Phänomen „Fundamentalismus“ nur dann zu verstehen und der Begriff heuristisch fruchtbar zu machen, wenn man Fundamentalismus als modernen Antimodernismus begreift; d.h. als Erscheinung der Moderne selbst, hervorgegangen aus strukturellen und kulturellen Lagen der säkularen Moderne, gerade auch wo er sich als Protest und Gegenentwurf zu ihr versteht. Hierher gehört nun eben auch ein eigentümliches Verhältnis von Wissenschaft und Religion, das in bestimmten, wenn auch nicht in allen fundamentalistischen Strömungen zu beobachten ist und sich am klarsten im sogenannten „Kreationismus“ zeigt.5 Kreationismus ist im Ergebnis der Versuch, die buchstäbliche Wahrheit der Heiligen Schrift, hier insbesondere des biblischen Schöpfungsberichtes, wonach Gott die Welt in sechs Tagen (oder auch nach anderer Lesart in 6.000 Jahren) geschaffen hat, naturwissenschaftlich zu belegen. Dieser sich selbst „wissenschaftlicher Kreationismus“ (scientific creationism) nennende Ansatz nimmt für sich in Anspruch, eine alternative Naturwissenschaft zu begründen, die imstande sei, die methodischen und sachlichen Irrtümer und Kurzschlüsse der dominierenden biologischen Evolutionstheorie zu überwinden. Auch hier geht es uns nicht um den Nachweis, dass dieser Ansatz wissenschaftsimmanent gescheitert ist und scheitern musste und der scientificcommunity rundweg als nicht diskutabel gilt, vielmehr geht es auch hier um den Befund: Der fundamentalistische Kreationismus, in seinem Versuch, seine religiöse Wahrheit durch (Natur-)Wissenschaft zu fundamentieren, ist ein Rückfall zurück in ein von Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie nachaufklärerisch überwunden geglaubtes Verhältnis von Wissenschaft und Religion.6 Der säkulare Fundamentalismus eines Richard Dawkins und der religiöse Fundamentalismus des Kreationismus sind nur zwei Seiten der gleichen Medaille. Beiden wird die Wissenschaft zur Garantiemacht ihres Glaubens, hier des säkular-diesseitigen, dort des religiösen Glaubens.7 Als drittes Beispiel, das sich in unseren Fragenkatalog einfügt, lässt sich die moderne Esoterik (New Age) nennen. Zwar ist es um den Namen „New Age“, der in den 1980er und -90er Jahren weithin Verbreitung und Resonanz fand, 4
Zum Fundamentalismus insgesamt siehe „Fundamentalismus. Phantom oder Phänomen der Moderne?“ in: Küenzlen (2003: 41-64). 5 Siehe insbesondere Hemminger (2007). 6 Siehe hierzu: MacGrath, Alister/McGrath, Joanna C. (2007). 7 Siehe Hempelmann (2009). Darin für unseren Fragezusammenhang besonders prägnant: „Gegen das Projekt eines geschlossenen Weltbildes“, S. 62-66.
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stiller geworden. Das hängt auch damit zusammen, dass die weitgespannten utopischen Antriebe, die sich mit der Hoffnung auf das „neue Zeitalter“ verbanden, sich erschöpft haben – wie dies auch für nahezu alle anderen säkularreligiösen utopischen Entwürfe gilt. Geblieben ist aber in weiter Verbreitung, wie z.B. jeder Blick auf den Büchermarkt zeigt, das Bedürfnis, sich der esoterischen Orientierungs- und Weltdeutungsangebote zu bedienen. Geblieben sind die Formen und Techniken einer Alltagsesoterik (Pendel, Astrologie usw.), aber auch die religiösen oder religionsartigen Daseinsauffassungen und Lebensführungsangebote der esoterischen Weltdeutung. So gehören Esoterik und Okkultismus weiterhin zu den auffälligen Phänomenen gegenwärtiger Religionskultur. Deren Dauerpräsenz in den westlich-säkularen Gesellschaften des Westens erlaubt es nicht mehr, hier nur eine marginale, schnell sich verflüchtigende, gar nur „modische“ Erscheinung zu sehen. Esoterik ist vielmehr ein Weltdeutungsangebot, mit dem viele Zeitgenossen ihr Leben zu gestalten und sichern suchen.8 Zum Binnen- und Selbstverständnis des esoterischen Denkens gehört wesentlich, dass es sich als Überwindung des „alten“, von westlicher Wissenschaft geprägten „cartesianisch-newtonschen Paradigmas“ versteht und sich selbst als neues „holistisches Paradigma“ weiß. In diagnostischer Außenbetrachtung freilich zeigt sich, dass das esoterische Denken in vielen seiner Gehalte und Antriebe dem „alten Paradigma“ neuzeitlich-westlicher Zivilisation verhaftet bleibt und an deren Orientierungsströme anschließt. Dies zeigt sich gerade in einem bestimmten Glauben an die Wissenschaft, der die Esoterik vielfach prägt. Denn es sei die Wissenschaft, die in ihren fortgeschrittensten Erkenntnissen – so das esoterische Selbstverständnis – den Weg ins neue Paradigma unausweichlich weise. So seien es die Fortschritte der Wissenschaft selbst, die notwendig zu einer neuen Synthese von vor allem östlicher Spiritualität und Wissenschaft drängten. Hier aber erfährt der säkulare Wissenschaftsglaube im esoterischen Denken seine Fortsetzung und womögliche Überhöhung in der These, dass nur die Wissenschaft selbst in eine religiös-spirituelle Dimension führe. Noch einmal zusammengefasst: In inhaltlich ganz unterschiedlichen Gegenwartsströmungen, so marginal oder kulturell verbreitet sie auch sein mögen, zeigt sich der übereinstimmende Befund: Ein Rückfall hinter jenen Bestand gelungener Aufklärung, wonach die Macht und Dignität von Wissenschaft und Religion gerade darin gründen, dass sie unterschiedliche und jeweils zu unterscheidende Zugänge zur Erkenntnis und Deutung der neuzeitlichen Wirklichkeit sind.9
8
Siehe hierzu „Esoterik: Die New Age-Botschaft“, in: Küenzlen (2003: 64-88). Ganz außer Betracht muss hier die weitere Bestimmung dieses Verhältnisses bleiben, das selbstverständlich nicht im Sinne eines endgültigen, gar schiedlich-friedlichen Auseinandertretens beider 9
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2.1 Vorbemerkung Der folgende Hauptteil des Aufsatzes geht von der vorgängigen Überzeugung aus, dass die Klärung des Verhältnisses von Wissenschaft und Religion in der Perspektive Max Webers von grundlegender gegenwartsdiagnostischer Bedeutung ist, wie sie sich etwa im Blick auf die in Teil 1 genannten Befunde zeigt. Freilich kann es nicht darum gehen, Weber zwanghaft „aktualisieren“ zu wollen. Vielmehr ist es die Aufgabe der folgenden Abschnitte, die Grundlinien der weberschen Bestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft und Religion herauszuarbeiten. Dabei wird nahezu jeder Seitenblick auf die umfangreiche Sekundärliteratur vermieden; dies in der Absicht, die Texte selbst sprechen zu lassen, um so – mit unverstelltem Blick – die Grundaussagen Webers aus den Texten selber zu erschließen.10 Die folgenden drei Abschnitte beziehen sich vorrangig jeweils auf einen zentralen Text: Der „Objektivitätsaufsatz“ aus der Wissenschaftslehre, die „Zwischenbetrachtung“ aus der „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ und schließlich der Vortrag „Wissenschaft als Beruf“.
2.2 „Die haarfeine Linie, welche Wissenschaft und Glauben scheidet“ Den folgenden Ausführungen liegt vorweg die Überzeugung zugrunde, dass die „Wissenschaftslehre“ Max Webers keineswegs nur ein methodologisches oder „wissenschaftstheoretisches“ Beiwerk darstellt, als das es oft verstanden wurde, dass sie vielmehr in die eigentlichen Sachgehalte des Werkes hineinverwoben ist und nur so verstanden werden kann. Ohne dies an dieser Stelle weiter ausführen und begründen zu können,11 geht es uns hier um folgendes auf unsere Themenstellung begrenztes Vorhaben:
Mächte zu verstehen ist, deren Spannungsverhältnis vielmehr bestehen bleibt und bestehen bleiben muss, um in Abgrenzung und Begegnung fruchtbar werden zu können. 10 Selbstverständlich ist damit nicht die unsinnige Haltung, gar arrogante Attitüde verbunden, die Rezeption und Diskussion der Literatur über Weber sei unnötig. Freilich könnte dies angesichts der zahllosen Veröffentlichungen der „Weberindustrie“ weltweit ohnedies nur in Auswahl geschehen; doch hätte auch dies den hier gesetzten Rahmen und meine Untersuchungsabsicht weit überschritten. Auch schien es mir, nach all den Jahren des Studiums der Literatur über Weber, eine reizvolle Aufgabe, durch den Blick (nahezu) allein auf die Texte, mir den Zugang zum Werk Webers neu zu bahnen. 11 Ich folge hier Tenbruck (1999: 157ff., 219 ff.).
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In seinem berühmten „Objektivitätsaufsatz“ von 1904,12 auf den wir uns nachstehend konzentrieren, hat Weber die Grundlinien seines Verständnisses von Wissenschaft entwickelt. In ausgewählten, am Text selber erhobenen Grundaussagen dieses Aufsatzes, sollen die für unser Thema insbesondere wesentlichen Ausgangsperspektiven festgehalten werden. Der „Objektivitätsaufsatz“ ist schon formal deshalb ein so zentraler Text, da er die wesentlichen Grundlagen vorstellt, denen sich das „Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik“, dessen Herausgeberschaft Max Weber zusammen mit Werner Sombart und Edgar Jaffè 1903 übernahm, programmatisch verpflichtete. Im Hintergrund stand der bekannte „Methodenstreit“ der Nationalökonomie, also jene „zwei Nationalökonomien“, die jeweils durch ihre „theoretische und historische Betrachtungsform […] durch eine scheinbar unüberbrückbare Kluft getrennt sind“ (Weber 1988a: 161) und deren jeweilige Hauptrepräsentanten Carl Menger und Gustav Schmoller darstellten. Die Kenntnis der jeweiligen Grundpositionen – den Weber-Kennern ohnedies geläufig – sind hier vorauszusetzen; sie eigens darzustellen, wäre ein eigenes Vorhaben. Die empirischen Sozialwissenschaften – von Weber häufig auch als „Kulturwissenschaften“ bezeichnet – haben zuerst die Aufgabe, „die Wahrheit der Tatsachen zu sehen“ (Weber 1988a: 155; Heraushebung G. K.). Die Dringlichkeit dieser ersten Aufgabe der Sozial- und Kulturwissenschaft, sofern sie sich als „empirische“ begreift, ergibt sich aus der Nötigkeit einer „prinzipiellen Scheidung von Erkenntnis des ‚Seienden’ und des ‚Seinsollenden’“ (Weber 1988a: 148). Warum ist diese Unterscheidung von so grundsätzlicher Bedeutung? Weber geht von einer bestimmten Entwicklung aus, welche die Kulturwissenschaften – zu denen Weber noch umstandslos die Nationalökonomie rechnete und zu seiner Zeit noch rechnen durfte – genommen haben. An ihrem Anfang standen – wie bei nahezu jeder Wissenschaft, „deren Objekt menschliche Kulturinstitutionen und Kulturvorgänge sind“ (Weber 1988a: 148) – praktisch-technische Antriebe, wozu die Formulierung von „Werturteilen“, z. B. für bestimmte wirtschaftspolitische staatliche Maßnahmen gehört. Dieses Ineinander von „Sein“ und „Sollen“ verfestigte sich wissenschaftshistorisch mit der Annahme „unabänderlich gleicher Naturgesetze“, also eines „unabänderlich Seienden“ oder eines „eindeutigen Entwicklungsprinzips“, also eines „unvermeidlich Werdenden“ (Weber 1988a: 148). Mit dem „Erwachen des historischen Sinnes“ und damit eines bestimmten „historischen Relativismus“ (Weber 1988a: 148), mit der Fortbildung der Kulturwissenschaften zu einer empirischen „Erfahrungswissenschaft“, bricht dieses fraglose Ineinander von „Sein“ und „Sollen“, von „Zweck“ und „Mittel“ 12 „Die ‚Objektivität’ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ in: Weber (1988a: 146-214).
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auseinander; es festhalten zu wollen, verfehlt die Möglichkeiten und die Grenzen empirischer Kulturwissenschaft, wie sie auch den Wert und Eigenanspruch der menschlichen Sinngebungen, Ideen, Werturteile und die „spezifische Dignität der ethischen Imperative“ (Weber 1988a: 148) verfehlt. Denn: „Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will“ (Weber 1988a: 151). Schon in diesem Zitat wird deutlich, dass für Weber „Werturteile“ nicht außerhalb der wissenschaftlichen Analyse stehen, diese vielmehr, wie noch zu zeigen sein wird, wegen ihrer „Kulturbedeutung“ und ihres Einflusses auf das menschliche Handeln Gegenstand der Wissenschaft sein müssen. „Aber: die Geltung solcher Werte zu beurteilen, ist Sache des Glaubens […], aber nicht Gegenstand einer Erfahrungswissenschaft“ (Weber 1988a: 152). Entscheidend ist die Einsicht: Wird diese Scheidung zwischen Geltung von Werturteilen und wissenschaftlich möglicher Erkenntnis nicht durchgehalten, wird beides verspielt: die Dignität und Eigenart des „Glaubens“ und die Dignität und Eigenart der Wissenschaft, deren Aufgabe und „Pflicht“ es eben ist, „die Wahrheit der Tatsachen zu sehen“. So geht es um Macht und Grenze der empirischen Wissenschaft. Ihre Macht, die nur ihr eignet, ist es, die „empirische Wirklichkeit in einer Weise denkend zu ordnen, welche den Anspruch auf Geltung als Erfahrungswahrheit erhebt“ (Weber 1988a: 155) und prinzipiell auch von einem „Chinesen“ als richtig anerkannt werden muss. Ihre Grenze ist: „Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es wissen zu müssen, dass wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen, dass ‚Weltanschauungen’ niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können“ (Weber 1988a: 154).
Mit Macht und Grenze der Wissenschaft sind auch Macht und Grenze der Religion, des Glaubens, der Metaphysik, der Welt der Ideen und Werturteile bezeichnet: Ihre Macht ist es, dass Menschen gar nicht anders können, als ihr Handeln auf in Werten gegründeten Sinn zu stellen – wenn, wie Weber an anderer Stelle formuliert, in seinem Objektivitätsaufsatz aber ständig voraussetzt, „das Leben als Ganzes, wenn es nicht wie ein Naturereignis dahin gleiten, bewusst geführt werden soll“ (Weber 1988a: 507). Ihre Grenze ist, dass ihr die Erkenntnis der empirischen Wirklichkeit, so etwa auch noch die Einsicht in die Folgen des auf den „Sinn“ gegründeten Handelns verwehrt bleibt. Wie wenig freilich bei Weber die Dinge in glatten Formeln aufgehen, zeigt ein Hinweis, den Weber nur nennt und – ebenfalls Weber-typisch – vorläufig auch „dahingestellt bleiben“ lässt:
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„Es liegt hier das Vorurteil durchaus fern, als ob Betrachtungen des Kulturlebens, die über die denkende Ordnung des empirisch Gegebenen hinausgehend die Welt metaphysisch zu deuten versuchen, etwa schon um dieses ihres Charakters willen keine Aufgabe im Dienste der Erkenntnis erfüllen könnten“ (Weber 1988a: 156).
Freilich ist diese kurz skizzierte Scheidung von Werturteilen und Erfahrungswissen eine zwar entscheidende, aber nur erste Voraussetzung in der Bestimmung der Aufgaben der Sozialwissenschaften. So verstellte man sich die Einsicht in die Bedeutung der weberschen Wissenschaftsauffassung, wollte man sie auf eine schiedlich-friedliche Trennung von Wert und Wirklichkeit, gar von „Theorie“ und „Empirie“ reduzieren. Die These, dass es die Aufgabe der Wissenschaft sei, die „Wahrheit der Tatsachen“ zu erheben, führt zu weiteren ganz anderen Fragen und zu dem Problem: „Wir haben bisher, in dem wir ‚Werturteile’ und ‚Erfahrungswissen’ prinzipiell schieden, vorausgesetzt, dass es eine unbedingt gültige Art der Erkenntnis, d. h. der denkenden Ordnung der empirischen Wirklichkeit auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften tatsächlich gebe. Diese Annahme wird jetzt insofern zum Problem, als wir erörtern müssen, was objektive ‚Geltung’ der Wahrheit, die wir erstreben, auf unserem Gebiet bedeuten kann“ (Weber 1988a: 160).
Das „Problem“, vor das die Kultur- und Sozialwissenschaften in ihren Bemühungen um die „Wahrheit der Tatsachen“ gestellt sind, liegt in der spezifischen Besonderheit der empirischen Wirklichkeit des Sozialen und Kulturellen. Denn diese tritt uns entgegen als „schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von nachund nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen, ‚in’ uns und ‚außer’ uns“ (Weber 1988a: 171). Diese unendliche Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit, die auch noch die „erschöpfende“ Beschreibung, gar kausale Erklärung jedes ihrer Einzelphänomene zu einer unendlichen Aufgabe macht, zwingt zu der Einsicht: „Alle denkende Erkenntnis der unendlichen Wirklichkeit durch den endlichen Menschengeist beruht daher auf der stillschweigenden Voraussetzung, dass jeweils nur ein endlicher Teil derselben den Gegenstand wissenschaftlicher Erfassung bilden, dass nur er ‚wesentlich’ im Sinne von ‚wissenswert’ sein solle“ (Weber 1988a: 171).
Die Grundfrage, auf die dann alles zuläuft, heißt dann aber: „Nach welchen Prinzipien […] wird dieser Teil ausgesondert?“ (Weber 1988a: 171). Die Antwort ist verblüffend klar und einfach, wenn man sich erst durch die argumentativ oft verwickelte, teils in knapp hingeworfene Sätze gefasste, teils – zumindest vordergründig – auf Seitenpfade führende Gedankenführung Webers hindurchgear-
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beitet hat: Wir erkennen das an der empirischen Wirklichkeit, was wir erkennen wollen. Die Schlüsselbegriffe, die nunmehr leitend werden, sind Kultur und Kulturbedeutung, sind Wertideen, Werturteile, Wertbeziehung und Ideen. Knapp zusammengefasst geht es um den – in der Weber-Literatur zwar bekannten, aber in seiner elementaren Bedeutung für jede Kultur- und Sozialwissenschaft immer noch wenig beachteten – Zusammenhang von Kultur und Wertbeziehung. Dieser Zusammenhang liegt in der Eigenart der empirischen Wirklichkeit selber. Diese versteht man, Weber zufolge, nur dann, wenn man erkennt, dass die empirische Wirklichkeit selbst sich dem Verstehen nur dann aufschließt, wenn man sie zu allererst als „Kultur“ begreift. „Kultur“, aber ist für Weber nicht ein „objektiv“ gegebener Gegenstand der Forschung, dessen Studium voraussetzungsloser Analyse zugänglich wäre. Vielmehr: Von „Kultur“ reden, heißt von „Wertideen“ reden, durch die sie konstituiert ist. Die „Tatsachen“ also der empirischen Wirklichkeit selbst, in ihrer stetigen Bezogenheit auf Wertideen drängen dazu, sie in ihrer Kulturbedeutung wahrzunehmen. So geht es um „die Beziehung der Wirklichkeit auf Wertideen, die ihr Bedeutung verleihen, und die Heraushebung und Ordnung der dadurch gefärbten Bestandteile des Wirklichen unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung […]“ (Weber 1988a: 176). Damit aber ist die oben gestellte Frage noch nicht beantwortet, nämlich: Welcher Teil der unendlichen Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit, die uns, gerade wenn wir sie in ihrer von Wertideen bestimmten Eigenart wahrnehmen, als „Chaos“ entgegentritt, denn „ausgesondert“ wird und nach welchen Gesichtspunkten dies geschieht. Webers Antwort lautet: „In dieses Chaos bringt nur der Umstand Ordnung, dass in jedem Fall nur ein Teil der individuellen Wirklichkeit für uns Interesse und Bedeutung hat, weil nur er in Beziehung steht zu Kulturwertideen, mit welchen wir [Heraushebung G. K.] an die Wirklichkeit herantreten“ (Weber 1988a: 177f.).
So sind es die den Forscher bestimmenden „Wertideen“, die als „subjektive“ Voraussetzungen, Auswahl, Fragestellung und „Interesse“ des Forschers bestimmen und seinem Blick auf die „Tatsachen“ die Richtung weisen. Die Eigenart also der empirischen Wirklichkeit als Kultur zwingt zu solcher Auswahl: „‚Kultur’ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“ (Weber 1988a: 180). Deshalb ist, wer Wissenschaft betreibt, selbst eingebunden in die „logisch notwendige[n] Verankerung aller historischen Individuen an ‚Wertideen’“ (Weber 1988a: 180). So gilt als „transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft […] nicht etwa, dass wir eine bestimmte oder überhaupt irgendeine ‚Kultur’ wertvoll finden, sondern dass wir Kulturmenschen
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sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen“ (Weber 1988a: 180). Die Eigenart, Aufgabe und Prägung solcher Wissenschaft, welche die Erkenntnis der empirischen Wirklichkeit zur „Pflicht“ hat und die sich hierbei unabdingbar eingebunden weiß in das Geflecht von „Kultur“ und „Werturteil“, lässt sich in einem Begriff zusammenfassen: Diese Wissenschaft ist Wirklichkeitswissenschaft. Dieser für den Objektivitätsaufsatz so zentrale Begriff „Wirklichkeitswissenschaft“ erschließt sich freilich in seiner gemeinten Dimension erst dann, wenn man ihn liest vor dem Hintergrund der oben umrissenen Eigenart des Sozialen und Kulturellen und damit auch der Verflochtenheit des Wissenschaftlers selbst in diese Wirklichkeit – und nur so lässt sich auch der Sinn des oft zitierten, programmatischen Satzes begreifen: „Die Sozialwissenschaft, die wir treiben wollen, ist eine Wirklichkeitswissenschaft. Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen – den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits“ (Weber 1988a: 170f.). In einer ausgeführteren Darstellung des im Objektivitätsaufsatz zusammengefassten Wissenschaftsverständnisses müsste nun nachgezeichnet werden, in welchen Dimensionen Weber seine Argumentation im Weiteren entwickelt und fundamentiert. Dies kann hier nicht geleistet werden. Wenigstens summarisch seien, des Gesamtzusammengangs wegen, in Stichworten folgende zentrale Sachgehalte genannt: Seine besondere Kontur und Tiefenschärfe gewinnt die gemeinte „Wirklichkeitswissenschaft“, indem Weber sie der „Gesetzeswissenschaft“ gegenüberstellt, welche, naturwissenschaftlicher Theoriebildung folgend, durch die Annahme generalisierender Regeln, Hypothesen und Gesetze der Eigenart der empirischen Wirklichkeit nicht gerecht werden kann. Sodann: Der Wirklichkeitswissenschaft und damit dem ihr zugrunde liegenden Wirklichkeitsverständnis entspricht als Mittel und Methode der Erkenntnis die Bildung von Idealtypen als heuristischer Konstruktionen, die, gerade weil sie nicht identisch sind und sein können mit der zu verstehenden Wirklichkeit, zu deren Erkenntnis dienen. Sie bilden die „Nothäfen, [um] sich auf dem ungeheuren Meere der empirischen Tatsachen zurecht zu finden“ (Weber 1988a: 206). Schließlich: Gerade die unendliche Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit, die deren Erkenntnis immer nur in den von Werturteilen und jeweiliger Kulturbedeutung bestimmten Ausschnitten erlaubt, begründet die „ewige Jugendlichkeit“ der Kulturwissenschaft. Denn die kulturbestimmenden Wertideen wandeln sich und „endlos wälzt sich der Strom des unendlichen Geschehens der Ewigkeit entgegen. Immer neu und anders gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, die die Menschen bewegen“ (Weber 1988a: 184). Dann aber, wenn „das Licht der gro-
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ßen Kulturprobleme weiter gezogen [ist], dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln“ (Weber 1988a: 214). Dies also – noch einmal – muss so stehen bleiben. Dagegen sollen im Versuch einer sehr vorläufigen Zusammenfassung der beschriebenen Sachgehalte, die Grundlinien des Verhältnisses von Wissenschaft und Religion, wie sie sich aus dem Objektivitätsaufsatz erschließen lassen, festgehalten werden. Hier ist zunächst der formale Befund festzustellen: Nur an ganz wenigen Stellen des Aufsatzes ist explizit von „Religion“ die Rede. Der Sache nach ist sie ständig präsent. Werturteile, Wertideen, Weltanschauung, die „Dignität ethischer Imperative“, Glaube, Kulturprobleme, ja der Begriff der „Kultur“ selbst, – diese leitenden Begriffe des Textes können zwar gewiss nicht umstandslos mit „Religion“ gleichgesetzt werden – aber: Dort, wo Religion eine die Lebensführung von Menschen bestimmende Macht war und wo sie dies noch ist, ist sie ein Teil der Kultur selbst und damit auch prägende oder doch mitprägende Größe der geltenden „Wertideen“. Ob nun die Botschaften positiver Religion oder andere sinnverbürgende Letztbegründungen: Es geht um das Verhältnis von empirischer „sozialwissenschaftlicher Erkenntnis“ und dem „uns allen in irgendeiner Form innewohnende[n] Glaube[n] an die überempirische Geltung letzter und höchster Wertideen, an denen wir den Sinn unseres Daseins verankern“ (Weber 1988a: 213). Worum es Weber im ganzen Aufsatz im Kern geht, wird abschließend zusammengefasst: „Wir sind am Ende dieser Ausführungen, die lediglich den Zweck verfolgen, die oft haarfeine Linie, welche Wissenschaft und Glauben scheidet, hervortreten und den Sinn sozialökonomischen Erkenntnisstrebens erkennen zu lassen“ (Weber 1988a: 212).
Zunächst also geht es um den von uns weiter oben schon vorläufig zusammengefassten Befund: Die „haarfeine Linie“ dieser Scheidung von Wissenschaft und Glaube zu bestimmen, bedeutet, deren jeweilige Aufgabe, Dignität und Eigenanspruch in ihrer jeweiligen Macht und Grenze festzuhalten. Dazu gehört vor allem – wie gezeigt – die Scheidung von „Sein“ und „Sollen“, von Empirie und Werturteil, – und damit die Einsicht, die Weber abschließend noch einmal geradezu beschwört, nämlich dass „sozialwissenschaftliche Erkenntnis […] niemals zum Piedestal für den empirisch unmöglichen Nachweis ihrer [i. e. der Wertideen] Geltung gemacht“ werden kann (Weber 1988a: 213). Sodann aber geht es um die Frage nach den Voraussetzungen, ja dem „Sinn“ von Wissenschaft und damit um eine ganz andere Dimension, ohne die die Substanz und auch Dramatik der weberschen Wissenschaftslehre überhaupt
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nicht zu begreifen ist. Dies lässt sich in den Satz fassen: Die Wissenschaft selbst ruht auf rational nicht begründbaren Voraussetzungen. Allein schon, dass wir wissenschaftliche „Wahrheit wollen“ (Weber 1988a: 184) und dass wissenschaftliche Erkenntnis „Sinn“ macht, lässt sich wiederum selbst wissenschaftlich nicht mehr ausweisen; vielmehr ist „der Glaube (Heraushebung G. K.) an den Wert wissenschaftlicher Wahrheit […] Produkt bestimmter Kulturen und nichts Naturgegebenes“ (Weber 1988a: 213). Zur entscheidenden; rational nicht begründbaren Voraussetzung der „empirischen sozialen Kulturwissenschaften“13 gehört – wie gezeigt – die vor „der unendlichen Fülle des Geschehens“ (Weber 1988a: 213) unabdingbare Ausrichtung und Bindung an rational und empirisch nicht ausweisbare Wertideen und Werturteile, die allein der wissenschaftlichen Erkenntnis die Auswahl und Richtung ermöglichen. In immer neuen sprachlichen Wendungen und Bildern fasst Weber diese Voraussetzungen, auf denen Wissenschaft beruht und ohne die deren „Sinn“ gar nicht erfasst werden kann. Denn: „[…] ohne Wertideen des Forschers gäbe es kein Prinzip der Stoffauswahl und keine sinnvolle Erkenntnis des individuell Wirklichen und wie ohne den Glauben des Forschers an die Bedeutung irgendwelcher Kulturinhalte jede Arbeit an der Erkenntnis der individuellen Wirklichkeit schlechthin sinnlos ist, so wird die Richtung seines persönlichen Glaubens, die Farbenbrechung der Werte im Spiegel seiner Seele, seiner Arbeit die Richtung weisen“ (Weber 1988a: 182).
So also sind das Reich der Wissenschaft und das Reich der von Wertideen bestimmten Kultur getrennte Mächte und doch ineinander verwoben. Getrennt, weil nur die Wissenschaft – in den Grenzen ihrer Möglichkeiten – uns Erkenntnis und damit „Wahrheit“ über die empirische Wirklichkeit des Sozialen und Kulturellen zu verschaffen vermag; „nur sie allein kann leisten“, was ihre Aufgabe ist: „Begriffe und Urteile, die nicht die empirische Wirklichkeit [selbst] sind, auch nicht sie abbilden, aber sie in gültiger Weise ordnen lassen“ (Weber 1988a: 213). Getrennt, weil die Wahrheit der Wertideen – und damit, wo kulturkräftig, auch die der Religion – sich wissenschaftlicher und damit empirischer und rationaler Begründbarkeit entzieht. Und doch ineinander verwoben, weil die empirische Wirklichkeit selbst, auf die das wissenschaftliche Erkenntnisstreben sich richtet, immer eine von Kultur und damit Wertideen bestimmte Wirklichkeit ist – und der Forscher selbst in sie „hineingestellt“ (Weber 1988a: 171) ist.
13 Dieser am Ende des Aufsatzes verwendete Begriff bezeichnet m. E. am genauesten die von Weber gemeinte Wissenschaft, die er an anderer Stelle „sozialwissenschaftlich“, „sozialökonomisch“, „kulturwissenschaftlich“, „soziologisch“ usw. nennt.
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2.3 Wissenschaft, Religion und Rationalität Die vorstehenden Darlegungen haben deutlich gemacht, dass für Weber die Voraussetzungen, auf denen die Wissenschaft ruht, die Ziele, für die sie sich anstrengt, die Rationalität, der sie sich verpflichtet weiß, selbst sich nicht wieder rational ausweisen lassen. Nicht um die rationale Selbstbegründung der Wissenschaft geht es also, sondern um die Einsicht in ihre kulturelle und damit stets werturteilsgebundene Prägung. Damit stellt sich – bezogen auf unsere Themenstellung – sogleich die andere Frage: Wie ist – Weber zufolge – das Verhältnis von Religion und Rationalität zu bestimmen? Die vorweggenommene Antwort lautet in thesenhafter Zuspitzung: So wenig es bei der Wissenschaft um deren rationale Selbstbegründung geht, so wenig geht es bei der Religion um deren prinzipielle Irrationalität. Die Bedeutung, ja Dramatik dieser These erschließt sich freilich erst wirklich vor dem Hintergrund der zeitgenössischen geistigen Lage, in der sich Weber zu Anfang des 20. Jahrhunderts vorfand. Religion und Rationalität: Das konnte für das bestimmende zeitgenössische intellektuelle Bewusstsein nur die Beschreibung eines Gegensatzes sein.14 Schon im 19. Jahrhundert hatte sich die Auffassung immer deutlicher durchgesetzt – bei allen Differenzen der jeweiligen Positionen –, dass die Geschichte der Religion und der Metaphysik im Ergebnis die Geschichte von Irrtümern war; von Irrtümern deshalb, weil Religion und Metaphysik von irrationalen Annahmen über Welt und Mensch bestimmt waren; eine Geschichte des Irrtums also, die nun aber durch die immer mehr zu sich selbst kommende autonome Vernunft abgelöst würde, und nun in die neue Geschichte der Rationalität, als der wahren Bestimmung des Menschen führen würde. Die entscheidende, über die Irrationalität der Religion triumphierende Macht wurde diesem Denken die Wissenschaft. Das Verhältnis von Wissenschaft und Religion ist dann nur als Gegensatz zu begreifen; hier die sich siegreich durchsetzende Rationalität, dort die überlebte, historisch überwundene oder doch endlich zu überwindende Irrationalität. Wissenschaft also ist hier nicht bloßes Mittel der Erkenntnis, der Weg, die empirische Wirklichkeit „denkend zu ordnen“, sondern wird zur alleinigen Kraft und Autorität, die Wahrheit von Welt und Mensch aufzudecken und gültig zu erklären. So galt die neuzeitliche Rationalität der Wissenschaft als Grundlage des zeitgenössischen Selbstbewusstseins und Selbstverständnisses; sie schien die Kulturüberlegenheit der westlicheuropäischen Welt dauerhaft zu begründen und so den Glauben an den weiteren unaufhaltsamen Fortschritt zu sichern. Der Religion blieb, vor dem Forum wis14
Siehe zum Folgenden auch die Ausführungen in Kapitel 1.
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senschaftlicher Rationalität, sich in die reine Irrationalität zurückzuziehen, oder sich in den wirkenden Fortgang der wissenschaftlichen Rationalität selbst hineinzuverweben – ein Weg, den etwa der liberale Protestantismus durch sein Bündnis mit der Wissenschaft einschlug. So gewiss dieser Aufstieg der Wissenschaft zur säkularen Glaubensmacht gerade in Deutschland auch seine gegenstrebigen Bewegungen fand, so war dieser doch eine Haupttendenz der geistigen Lage, in die Weber sich gestellt sah. Wie ganz anders Weber das Verhältnis von Religion und wissenschaftlicher Rationalität bestimmte, ist oben schon angeklungen und soll – in vergröberndem Zugriff – hier knapp skizziert werden: Zunächst ist – mit Blick auf unsere Darlegungen in Teil 1 – noch einmal festzuhalten: Für Weber war die Vorstellung, Wissenschaft könne nicht nur ein Weg der empirischen Erkenntnis sein, sondern Wege für die gültige, gar moralisch richtige Ordnung weisen, ganz ausgeschlossen.15 Dies ist auch der Kern des zwar häufig diskutierten, aber oft missverstandenen Gebots der Werturteilsfreiheit, dem Weber sich verpflichtet wusste: Nicht um die wissenschaftliche Ausblendung von Werten oder um die Behauptung ihrer (dezisonistischen) Beliebigkeit geht es, sondern um deren rationale Unbeweisbarkeit. Sodann aber: Die Religion selbst hat ihre eigene Rationalität. Die Geschichte der Religion ist auch die Geschichte eines religiösen Rationalisierungsprozesses. Um die Bedeutung dieser Sicht auf die Religion in ihrer fast schon ungeheueren Tragweite im weberschen Werk zu verstehen, ist eine Zwischenbemerkung vonnöten. Diese bezieht sich auf den weberschen Rationalitätsbegriff. Rationalität ist für Weber ein historischer Begriff, der „eine Welt von Gegensätzen in sich schließt“,16 und lässt sich nicht in ein generalisierend-ahistorisches, gleichsam substanzielles Verständnis fassen. Genauer: Schon in der PE in der Fassung von 1904 findet sich der Satz: „Man kann eben das Leben unter höchst verschiedenen letzten Gesichtspunkten und nach sehr verschiedenen Richtungen hin ‚rationalisieren’“ (Weber 1988b: 62). Und in der überarbeiteten Fassung von 1919 fügt Weber die zusätzliche Mahnung ein: „Dieser einfache Satz, der oft vergessen wird, sollte an der Spitze jeder Studie stehen, die sich mit ‚Rationalismus’ befasst“ (Weber 1988b: 62). So also können die unterschiedlichsten Bereiche des Lebens, die verschiedensten Weisen der Lebensführung, auch wo diese von normativ ganz entgegengesetzten „letzten Gesichtspunkten“ geleitet sind, rational bestimmt sein, denn es
15
Dies zeigt sich z.B. deutlich im Werk Emile Durkheims. Siehe hierzu: „Der bleibende Gegensatz: Die Religion in der Soziologie Max Webers und Emile Durkheims“, in: Küenzlen (2003: 153-169). 16 „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, in: Weber (1988b: 17-206), hier S. 62.
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gilt: „was von einem aus ‚rational’ ist, kann, vom anderen aus betrachtet, ‚irrational’ sein“ .17 Man muss diese Vorannahmen über Rationalität kennen, um zu verstehen, warum Weber Religion und Rationalität überhaupt zusammendenken und von einem Prozess der religiösen Rationalisierung ausgehen konnte, dem in seinem historisch-soziologischen Werk eine so zentrale Bedeutung zukommt. Hierzu müssen wenige Anmerkungen genügen: Schon die PE muss man vor dem Hintergrund dieser Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Rationalität lesen. Deren Kernthese lautet ja: Die neuzeitliche Rationalität, die alle Lebensbereiche der okzidentalen Kultur durchdringt, ist in ihrer Genese ohne die Schubkraft einer die Lebensführung rational bestimmenden religiösen Glaubensmacht nicht erklärbar. Nur die Stärke einer Religion mit ihren religiös-ethischen Postulaten zur methodisch-rationalen Erfassung des ganzen Menschen, „nur die ungeheuere weltüberwindende Macht der rationalen Askese“ konnte es sein, die dem neuzeitlichen Rationalismus wesentlich zu Durchbruch und Sieg verhalf. So erschloss sich Weber schon in der PE die Einsicht in jenen Prozess, der im weiteren Fortgang sein kultur- und religionssoziologisches Werk bestimmt. Der Prozess religiöser Rationalisierung heißt im Ergebnis: Dass nicht der Rationalismus einer autonomen Vernunft, sondern die rationale Ethik einer Religion den Weg in die westliche Moderne wesentlich bestimmte; dies deshalb, weil in der Religion selbst sich eine „systematische, praktische Rationalisierung der Realitäten des Lebens“ vollzog; denn es war „die Richtung der ganzen Lebensführung, wo immer sie planmäßig rationalisiert wurde, auf das tiefgreifendste bestimmt durch die letzten Werte, an denen sich diese Rationalisierung orientierte. Dies waren, gewiss nicht immer und noch weit weniger ausschließlich, aber allerdings, soweit eine ethische Rationalisierung eintrat und soweit ihr Einfluss reichte, in aller Regel auch und oft ganz entscheidend religiös bedingte Wertungen und Stellungnahmen“.18 Hier muss nun freilich die weitere Stufe der weberschen Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Rationalität benannt werden, die deren gegenwartsdiagnostische Bedeutung überhaupt erst deutlich werden lässt. Hier geht es um jenen historischen Entwicklungsprozess, in dem die Rationalität der Religion und die immanent diesseitige Rationalität auseinander treten und in ein grundsätzliches, gegenseitiges Spannungsverhältnis geraten. Vor allem in der „Zwischenbetrachtung“ zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ hat Weber diesen
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„Vorbemerkung“, in: Weber (1988b: 1-16), hier S. 11. „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“, in: Weber (1988b: 237-573), hier S. 259f.
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Prozess beschrieben.19 Die Sprachgestalt der „Zwischenbetrachtung“, vor allem aber ihr Sachgehalt entziehen sich einer knappen „Zusammenfassung“. Deshalb kann es hier nur um – vergröbernde – Hinweise gehen, die sich allein auf unseren thematischen Zusammenhang richten. Die „Zwischenbetrachtung“ trägt den Untertitel: „Theorien der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung.“ Weltablehnung: Damit ist eine Dynamik benannt, die in der Entwicklung der Religion selbst liegt. Genauer: Je mehr eine Religion, aus ihren magischen Ursprüngen sich lösend, sich zu einer rationalen Erlösungsreligion entwickelt, umso stärker führt sie diese Entwicklung in einen Gegensatz zur Welt. Die treibende Kraft solcher Entwicklung hin zu einem dauernden Spannungsverhältnis zur Welt und ihren Ordnungen“ (Weber 1988b: 541) liegt gerade in der einer Erlösungsreligion innewohnenden Rationalität selbst. „Dies folgt aus dem Sinn der Erlösung und dem Wesen der prophetischen Heilslehre, sobald diese sich, und um so mehr, je prinzipieller sie sich zu einer rationalen und dabei an innerlichen religiösen Heilsgütern als Erlösungsmittel orientierten Ethik entwickelte“ (Weber 1988b: 541).
Dieses Spannungsverhältnis zwischen „Religion“ zur „Welt“ wird nun freilich umso tiefgreifender und elementarer, „je weiter auf der anderen Seite (Heraushebung G. K.) die Rationalisierung und Sublimierung des äußerlichen und innerlichen Besitzes der (im weitesten Sinne) ‚weltlichen’ Güter auch ihrerseits fortschritt“ (Weber 1988b: 541). War auf einer ursprünglichen Entwicklungsstufe die Beziehung zur Außenwelt gekennzeichnet durch „urwüchsige Unbefangenheit“, so erwuchs bei zunehmender Rationalisierung und Sublimierung von Religion und Welt ein Bewusstsein „innerer Eigengesetzlichkeiten“ der jeweiligen religiösen oder weltlichen Daseinsbereiche. Die Richtungen der religiösen Weltablehnung analysiert Weber vorrangig für die ökonomische, politische, ästhetische, erotische und intellektuelle Sphäre; der letzteren wenden wir uns hier, unserer Themenstellung gemäß, zu. In ihr hat Weber das historisch gewordene Spannungsverhältnis von Religion und Welt in ihrer jeweiligen inneren Eigengesetzlichkeit am klarsten ausgebildet gefunden: „Am größten und prinzipiellsten wird schließlich die bewusste Spannung der Religiosität gerade zum Reich des denkenden Erkennens“ (Weber 1988b: 564).
19
Die folgenden Zitate sind aus der „Zwischenbetrachtung“ (Weber 1988b: 536-573). In diesem so schwer entschlüsselbaren, teils fast schon enigmatisch erscheinendem Text, schlägt – zusammen mit der „Vorbemerkung“ (Weber 1988b: 1-16) und der „Einleitung“ zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ (Weber 1988b: 237-275) – m. E. das Herz der Weberschen Religionssoziologie – und womöglich seines Werkes überhaupt.
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Auch hier gibt es in der historischen Realität Entwicklungen religiöser und innerweltlicher Rationalität, in der es zwischen beiden Sphären selbstverständlich Verbindungen gab und gibt, was hier nicht weiter zu benennen ist. Auch nur genannt werden soll, dass für Weber zwischen Erlösungsreligion und innerweltlich-intellektueller Welterklärung, bei allen gegenseitigen Verstrebungen, eine grundsätzlich „letzte innere Spannung“ (Weber 1988b: 565) bestehen muss, denn „es gibt durchaus keine ungebrochene, als Lebensmacht wirkende, Religion, welche nicht an irgendeiner Stelle, das ‚credo non quod, sed quia absurdum’ – das ‚Opfer des Intellekts’ – fordern musste“ (Weber 1988b: 566). Entscheidend ist für unseren Fragezusammenhang jener Vorgang, in dem die innerweltlich-empirische Rationalität mit dem Anspruch auftrat, selbst eine gültige Wahrheit über den Menschen und seine Welt zu besitzen. Hier war eine Lage geschaffen, die das „Spannungsverhältnis“ unüberbrückbar machen musste: „Das rationale Erkennen, an welches ja die ethische Rationalität selbst appelliert hatte, gestaltete, autonom und innerweltlich seinen eigenen Normen folgend, einen Kosmos von Wahrheiten, welche nicht nur mit den systematischen Postulaten der rationalen religiösen Ethik: dass die Welt als Kosmos ihren Anforderungen genüge oder irgendeinen ‚Sinn’ aufweise, gar nichts mehr zu schaffen hatte, diesen Anspruch vielmehr prinzipiell ablehnen musste“ (Weber 1988b: 569).
Hier muss die Religion um ihres eigenen Sinngebungsanspruches und um ihrer Rationalität willen darauf beharren, dass allein sie letzte Stellungnahmen über „die Welt“ und ihren „Sinn“ erschließen könne. So scheiden sich die Rationalität der Erlösungsreligion und die Rationalität des innerweltlich-empirischen Intellektualismus. Vor dem Rationalismus der empirischen Wissenschaft kann der Rationalismus der Religion nur noch als „Irrationalismus“ dastehen: „Mit jeder Zunahme des Rationalismus der empirischen Wissenschaft wird dadurch die Religion zunehmend aus dem Reich des Rationalen ins Irrationale verdrängt und nun erst: die irrationale oder antirationale überpersönliche Macht schlechthin“ (Weber 1988b: 564).
Das Spannungsverhältnis von Erlösungsreligion und empirischer Wissenschaft vollendet sich in jener historischen Stufe, die Weber „die Entzauberung der Welt“ genannt hat und in der er die okzidentale Gegenwart unentrinnbar gebannt sah. „Wo immer aber rational empirisches Erkennen die Entzauberung der Welt und deren Verwandlung in einen kausalen Mechanismus konsequent vollzogen hat, tritt die Spannung gegen die Ansprüche des ethischen Postulates: dass die Welt ein gottge-
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Gottfried Küenzlen ordneter, also irgendwie ethisch sinnvoll orientierter Kosmos sei, endgültig (Heraushebung G. K.) hervor“ (Weber 1988b: 564).
Hier nun ist die Frage nach dem Ort der Religion und dem Ort und Sinn der Wissenschaft in der „entzauberten Welt“ gestellt, wie Weber sie sah – und der wir uns nunmehr zuwenden.
2.4 Wissenschaft und Religion in der entzauberten Welt Der Befund von Lage und Schicksal der Religion in der „entzauberten Welt“ lautet also: Die Tragödie der okzidentalen Religion ist es, dass sie in dem „Jahrtausende fortgesetzten Entzauberungsprozess“,20 dessen Trägerin sie wesentlich war, selbst sich aufhob. Diese Religion kam, wenn auch nicht an ihr faktisches historisches Ende, so doch an ihr Ende als kulturprägende „Lebensmacht“ (Weber 1988b: 566). Denn das heißt „Entzauberung“: Der Prozess auch religiöser Rationalisierung hat sich vollendet, die Rationalität der Religion ist ins prinzipiell „Irrationale geschoben“: – „eine gottfremde und prophetenlose Zeit“ (Weber 1988a: 610). Da mag religiöse Erfahrung im Bereich privater Innerlichkeit weiter leben und auch in womöglich vitalem Ausdruck sich neu formieren, doch öffentlich-kulturprägende Macht kann sie im Blick auf die Gegenwart nicht mehr gewinnen. „Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, dass gerade die letzten und so sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen zueinander.“ (Weber 1988a: 612)
Ob diese kulturelle Entmachtung der Religion historisch das letzte Wort sein wird, welche Zukunft die Religion im Okzident schließlich haben wird, darüber finden sich bei Weber keine oder nur kryptische Aussagen. Das ist nicht zufällig. Denn Webers Denken – und so auch seine Religionsauffassung – war nicht eingebunden in geschichtsphilosophische oder auch soziologische Theoriegebäude, die Aussagen über den künftigen Weg von Kulturen, Gesellschaften und eben auch Religionen enthalten. So ist auch die Gegenwartsdiagnose von der Entzauberung der Welt nicht zu identifizieren mit der im Erbe der Religionskritik des 19. Jahrhunderts stehenden Fortschrittsgewissheit, nach der die Religion immer 20 Die folgenden Ausführungen beziehen sich primär auf „Wissenschaft als Beruf“, in: Weber (1988a: 582-613).
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mehr schwinde, je mehr die menschliche Vernunft emanzipatorisch der Welt sich bemächtige. Solch geschichtsprovidentielle Gewissheit, wie sie für Karl Marx und – in selbstverständlich ganz anderem Zugriff – auch für Emil Durkheim und deren Religionstheorie leitend war, konnte sich die Wissenschaft, wie Weber sie verstand, niemals anmaßen. Es gehört zur Selbstbegrenzung der Wissenschaft, wie sie für Weber galt, dass uns wissenschaftlich-objektivierbare Aussagen, gar Prognosen über den künftigen Weg der Religionen nicht verfügbar sind. Doch gibt es Fragen – unentscheidbar und ununterdrückbar zugleich –, die sich im Blick auf die Zukunft der Religion stellen. So drängt die geradezu anthropologisch verankerte Erfahrung von der Irrationalität der Welt, die leitend war für Webers Studien zu den Erlösungsreligionen, zu der Frage: Mit welch kulturellem „Sinn“ wird sich diese Erfahrung künftig verbinden? Ob schließlich „ganz neue Propheten“ oder eine „mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale“ oder „wenn keins von beidem: mechanische Versteinerung“ den künftigen Weg der entzauberten Welt bestimmen werden (Weber 1988b: 204) – dies kann als Frage gestellt werden, deren Beantwortung aber unserem in die Gegenwart gebannten Blick verborgen bleibt. Doch nicht nur die Religion, sondern auch die Wissenschaft selbst ist in den Prozess der Entzauberung gestellt. Die zentrale Frage hierbei, auf die für Weber, bezogen auf die Wissenschaft alles hinausläuft, lautet: Welchen Sinn hat die Wissenschaft in der entzauberten Welt? Die Frage stellt sich deshalb so unausweichlich, weil alle Zuschreibungen vom Sinn der Wissenschaft, welche die abendländische Wissenschaftsgeschichte in ihren unterschiedlichen Epochen und Stadien, in ganz unterschiedlicher Ausprägung begleitet haben, in der entzauberten Welt als Illusion dastehen. Jedem Leser von „Wissenschaft als Beruf“ hat sich eingeprägt, wie eindringlich Weber diesen Befund an zentralen Epochenschwellen der Wissenschaftsgeschichte durchmustert: Ob Platon im „Höhlengleichnis“, in dem die Menschen vom Schein der bloßen Sinne zur Erkenntnis des wahren Seins geführt werden und bei Platon das „große Mittel“ alles wissenschaftlichen Erkennens, der Begriff, zur Erkenntnis der „ewigen Wahrheit“ (Weber 1988a: 596) führt; ob die Entdeckung des „rationalen Experimentes“ in der Renaissance, nicht zuletzt als Weg „zur wahren Kunst“ (Weber 1988a: 597); ob im Entstehen der exakten Naturwissenschaften, deren erster Antrieb es war, durch Entzifferung des Buches der Natur „den Absichten (Gottes) mit der Welt auf die Spur zu kommen“ (Weber 1988a: 597); ob im späteren „naiven Optimismus die Wissenschaft, das heißt: die auf sie gegründete Technik der Beherrschung des Lebens, als Weg zum Glück gefeiert“ wurde (Weber 1988a: 598) – all diesen Stadien der Wissenschaftsgeschichte war je ein verbürgter Sinn von Wissenschaft und Erkenntnis
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gemeinsam. Da aber in der Welt selbst nach ihrer Entzauberung kein Sinn mehr zu finden ist, sind auch diese Antworten vom Sinn der Wissenschaft entzaubert: „Dass Wissenschaft heute […] nicht eine Heilsgüter und Offenbarung spendende Gnadengabe von Sehern (und Propheten) oder ein Bestandteil des Nachdenkens von Weisen und Philosophen über den Sinn der Welt [ist], das freilich ist eine unentrinnbare Gegebenheit unserer historischen Situation.“ (Weber 1988a: 609)
Dann aber ist die Frage nach dem Sinn der Wissenschaft heute gestellt: „Was ist unter diesen inneren Voraussetzungen der Sinn der Wissenschaft als Beruf, da alle diese früheren Illusionen: ‚Weg zum wahren Sein’, ‚Weg zur wahren Kunst’, ‚Weg zur wahren Natur’, ‚Weg zum wahren Gott’, ‚Weg zum wahren Glück’“ (Weber 1988a: 598) versunken sind? Die Antwort hierauf liegt für Weber aber nun gerade nicht in dem ungeheueren Nutzwert, den die Evolutionsdynamik der modernen Wissenschaft mit sich gebracht hat. Der Beitrag der Wissenschaft zur technischen Beherrschung des Lebens, zumal nach der Verselbständigung und Ausbildung der empirischen Einzelwissenschaften, eingepasst in einen „prinzipiell ins Unendliche gehende Fortschritt“ (Weber 1988a: 593), mag noch so gewaltig sein, - das „Sinnproblem der Wissenschaft“ (Weber 1988a: 593) selbst ist damit noch nicht gelöst. Denn die jeweiligen empirischen Einzelwissenschaften, die Weber daraufhin durchbuchstabiert (Weber 1988a: 597f.) ruhen auf Voraussetzungen, auf Vorannahmen von Kulturwertideen, die sich selbst nicht wieder wissenschaftlich ausweisen lassen, so z.B.: „Alle Naturwissenschaften geben uns Antwort auf die Frage: Was sollen wir tun, wenn wir das Leben technisch beherrschen wollen? Ob wir es aber technisch beherrschen sollen und wollen, und ob das letztlich eigentlich Sinn hat: – das lassen sie ganz dahin gestellt oder setzen es für ihre Zwecke voraus.“ (Weber 1988a: 599f.)
Welchen Sinn aber hat dann die Wissenschaft, wenn sie über den Sinn der Welt und des Lebens, zu deren Entzauberung sie selbst beitrug, nichts zu sagen vermag und auch nicht den werturteilsgebunden Sinn ihrer selbst wissenschaftlich belegen kann? Auf die knappste Formel gebracht, lautet die Antwort: Der Beruf der Wissenschaft ist es, dazu zu verhelfen, „sich selbst Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn eines eigenen Tuns.“ (Weber 1988a: 608) Um die Dimension dieser Antwort zu verstehen, gilt es, sich die Kulturlage der entzauberten Welt vor Augen zu stellen. Denn die entzauberte Welt stellt den Menschen in den Kampf der Ordnungen und Werte, als eines neuen säkularen Polytheismus, zwischen dessen „Göttern“ die Wissenschaft nicht zu entscheiden vermag; in der berühm-
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ten Formulierung Webers, die zwar gerne als flottes Aperçu zitiert, aber selten in ihrem prägnanten kulturdiagnostischen Sinne rezipiert wird: „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander ihren ewigen Kampf.“ (Weber 1988a: 605)
In dieser Lage kann die Wissenschaft nicht nur ihren alle Illusionen vertreibenden Blick auf die empirische Wirklichkeit richten, sie kann zur Klarheit und zur Selbstbesinnung verhelfen über unsere „letzte Stellungnahmen“ und über die Folgen, die diese für unser Handeln jeweils haben. So lassen sich Sinn und Bedeutung der Wissenschaft in der entzauberten Welt zusammenfassen: „Weber versucht […] zu zeigen, welche Dienste die Wissenschaft dem modernen Menschen auch heute noch leisten kann, wenn er selbst zu Klarheit gelangen will. Dazu hilft sie schon dadurch, dass sie uns unbequeme Tatsachen lehrt, die uns vor der trügerischen Sicherheit der eigenen Überzeugungen und öffentlichen Meinungen bewahren. Und richtig betrieben kann sie sogar, ihr letzter, größter Dienst, aber auch ihre Grenze, sogar der Besinnung auf die letzten eigenen Werte dienen, sofern sie uns nämlich verdeutlicht, auf welchen letzten Standpunkten zum Leben unsere praktischen Stellungnahmen beruhen, und uns dadurch eben zur Rechenschaft über den letzten Sinn des eigenen Lebens zwingt.“ (Tenbruck 1999: 257)
3
Schlussbemerkungen
Gewiss bedürften allein schon die vorherigen Abschnitte zu Weber, neben vielen sachlichen Erweiterungen, nun einer genaueren Interpretation und – auch in kritischer Außenperspektive – einer Formulierung all der offenen Fragen, die sich im Anschluss an Weber stellen. Dies konnte aber nicht die Aufgabe sein, die vielmehr darin bestand, in knapper Skizzierung die Grundlinien des weberschen Verständnisses des Verhältnisses von Wissenschaft und Religion herauszustellen, – in gegenwartsdiagnostischer Absicht. Nun wäre es freilich eine eigene und zweite, hier nicht zu leistende Aufgabe, die Aussagen Webers in detaillierter Durchmusterung an die einleitend genannten Gegenwartsströmungen heranzutragen und im Einzelnen durchzugehen. Doch seien abschließend – in systematisiertem Zugriff – einige der zentralen Gesichtspunkte genannt, die sich in der Perspektive Webers auf die einleitend skizzierte „Wiederkehr alter Fronten“ beziehen.
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1.
Der Abschied von Wissenschaft als säkularer Glaubensmacht. Die Neuzeit hat sich in ihrer Genese und wesentlichen Stadien ihrer Entwicklung in säkularem Glauben an die Wissenschaft als Garantiemacht menschlichen Glücks, Sinns- und innerweltlichen Heils entfaltet. Doch nicht zuletzt durch das Aufkommen und die Verselbständigung der empirischen Einzelwissenschaften, die durch keine „Philosophie“ einer gemeinsamen Weltdeutung mehr zusammengehalten werden, sind die einst mächtigen säkularen Hoffnungen auf die Wissenschaft zur Illusion geworden. Die Wissenschaft bleibt beschränkt auf die Entdeckung und Erhellung der tatsächlichen Zusammenhänge. Sie kann nicht, und weil sie es nicht kann, darf sie keine Illusionen mehr erwecken, in der Welt einen Sinn zu entdecken und solchen gar zu verkünden.
2.
Damit hängt zusammen: Wissenschaft mit ihrer großen Aufgabe, „die Wahrheit der Tatsachen“ zu entdecken, kann aber selbst die Wahrheit von Werten, Kulturideen und von Sinn nicht begründen. Sie gibt keine Antwort und kann sie auch nicht geben auf die Frage: „Was sollen wir tun? Und wie sollen wir unser Leben einrichten?“(Weber 1988a: 609) Deshalb ist es ein Gebot nicht nur der intellektuellen Redlichkeit, sondern der Wahrung des „Sinns wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens, die oft haarfeine Linie welche Wissenschaft und Glaube scheidet“ nicht zu überschreiten. Doch auch diesen „Sinn“ ihrer selbst kann die Wissenschaft nicht wieder selbst begründen, gar beweisen: „Das ist wieder ein Werturteil“ (Weber 1988a: 609).
3.
Die Entzauberung der Welt ist selbst wesentlich Ergebnis der Rationalitätsgeschichte der Religion und nicht vorrangig der Aufklärung und ihrer Religionskritik. Doch es gehört zum Geschick der okzidentalen Religion: „Die moderne Form der zugleich theoretischen und praktischen intellektuellen und zweckhaften Durchrationalisierung des Weltbildes und der Lebensführung hat die allgemeine Folge gehabt: Dass die Religion, je weiter diese besondere Art von Rationalisierung fortschritt, desto mehr ihrerseits in das – vom Standpunkt einer intellektuellen Formung des Weltbildes aus gesehen: – Irrationale geschoben wurde.“ (Weber 1988b: 253)
Deshalb auch ist „die Spannung zwischen der Wertsphäre ‚Wissenschaft’ und der des religiösen Heils unüberbrückbar“ (Weber 1988a: 611). 4.
Doch geht die Religionsgeschichte auch in der „entzauberten Welt“ weiter. Die Erfahrung von der Irrationalität der Welt hat ja mit deren Entzauberung nicht aufgehört. Vielmehr:
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„Weil das Problem im Prinzip unlösbar war, setzte sich die Geschichte der Religion in der Moderne […] fort. Die Religionsgeschichte der ‚entzauberten Welt’ ist jedoch nicht die gleiche wie die der traditionalen Welt. Je mehr Mensch, Natur und Geschichte ihren Sinn verlieren, umso dringlicher stellt sich dem Handelnden das Problem von Sinn und Heil.“21
5.
„Die geschulte Rücksichtslosigkeit des Blicks“, für Weber ein vorrangiges Handwerkszeug wissenschaftlichen Arbeitens, richtet sich auch auf die Religion. Dazu gehören zum einen die illusionslose Diagnose der gegenwärtigen Lage und Kulturbedeutung der okzidentalen Religion und der in (West-)Europa nicht zu übersehenden kulturellen Entkräftung der Religion. Dazu gehört aber auch – nicht zuletzt durch historische Kenntnis belehrt – die Unterscheidung von Religion als einer auch in der entzauberten Welt die Lebensführung des Einzelnen bestimmenden Macht von jenen „religiösen“ Surrogaten, die als bloße Epiphänomene der säkularen Kultur keine lebensbestimmende Kraft ausüben. Religion als Lebensmacht ist – in der plastischen Formulierung Webers – „nie dadurch entstanden, dass manche moderne Intellektuelle das Bedürfnis haben, sich in ihrer Seele sozusagen mit garantiert echten, alten Sachen auszumöblieren, und sich dabei noch daran erinnern, dass dazu auch die Religion gehört hat, die sie nun einmal nicht haben, für die sie aber eine Art von spielerisch mit Heiligenbildchen aus aller Herren Länder möblierter Hauskapelle als Ersatz sich aufputzen oder ein Surrogat schaffen in allerhand Arten des Erlebens, denen sie die Würde mystischen Heiligkeitsbesitzes zuschreiben und mit dem sie, – auf dem Büchermarkt hausieren gehen. Das ist einfach: Schwindel oder Selbstbetrug.“ (Weber 1988a: 611).
Die bisherigen Ausführungen haben schon immer wieder implizit deutlich gemacht oder doch wenigstens anklingen lassen: Ruft man sich die in Teil 1 genannten Strömungen und Bewegungen in Erinnerung, wird sogleich unübersehbar, dass sie – in gewiss je eigener Ausprägung – hinter den weberschen Anspruch in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Religion und Wissenschaft zurückfallen. In ihnen wird die Wissenschaft neu zur Glaubensmacht und Legitimationsinstanz, in deren Namen die Wahrheit der säkularen oder religiösen Sinnbotschaften behauptet wird. Keine „haarfeine Linie“ trennt mehr zwischen Wissenschaft und Glaube, die vielmehr in einander fließen. Gegenwärtig also scheint es an der Zeit, die Scheidung von Wissenschaft und Religion, von Glaube und Wissen als Erwerb eines kulturellen Gutes neu zu verstehen und argumentativ zu verteidigen, eines Gutes, das aufzugeben einen kulturellen Verlust bedeutete, dessen tatsächliche Folgen wir noch gar nicht
21
Kippenberg (2003: 230). Siehe auch Kippenberg (1999: 33-46).
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kennen. Freilich ist dies wiederum ein „Werturteil“. Wer sich ihm verpflichtet weiß, hat Anlass, auch sich des Werkes Max Webers neu zu vergewissern.
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Die Transformation des Religiösen. Religionssoziologie in der Tradition Max Webers Die Transformation des Religiösen
Winfried Gebhardt
Wer heute sagen soll, was es heißt, Religionssoziologie beziehungsweise religionssoziologische Forschung in der Tradition Max Webers zu betreiben, steht vor einem gewissen Problem. Denn Max Weber hat sich über die religiöse Kultur seiner Zeit – der aufscheinenden ‚Spätmoderne’ – nicht systematisch geäußert. Auch dies mag mit dazu geführt haben, dass Max Weber – jedenfalls bei denen, die sich mit seinen religionssoziologischen Schriften nur am Rande beschäftigt haben – gemeinhin als Vertreter der Säkularisierungstheorie gilt, der mit seiner These von der Entzauberung der Welt das Ende der Religion als Lebensführungsmacht ankündigte. Es gibt natürlich Stellen in seinem Werk, die eine solche Interpretation befürworten. Das Ende des Aufsatzes „Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ scheint diesen Schluss ebenso nahezulegen wie einige Äußerungen aus dem religionssoziologischen Kapitel in Wirtschaft und Gesellschaft. Doch Weber bleibt in seinen Diagnosen seltsam ambivalent. So formuliert er am Ende der „Protestantischen Ethik“: „Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals in der Geschichte zuvor. Heute ist ihr Geist – ob endgültig, wer weiß es? – aus diesem Gehäuse gewichen“ (Weber 1978: 204).
Und wenige Zeilen später heißt es: „Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiederkehr alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber – wenn keins von beiden – mechanisierte Versteinerung mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt“ (Weber 1978: 204).
Weber lässt wenig Zweifel daran, dass der von ihm nachgezeichnete okzidentale Rationalisierungsprozess zu einem akzelerierenden Bedeutungsverlust der institutionalisierten christlichen Religion geführt habe; ob damit aber auch das Ende A. Bienfait (Hrsg.), Religionen verstehen, DOI 10.1007/978-3-531-92777-0_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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der christlichen Religion, ja das Ende der Religion überhaupt eingeleitet sei, darüber ist er sich – die Zitate weisen darauf hin – keineswegs sicher. Eine Revitalisierung religiöser Emphase und religiösen Enthusiasmus – in welchen Formen auch immer – schließt er jedenfalls nicht aus. Ähnlich argumentiert er in § 7 „Stände, Klassen und Religion“ des religionssoziologischen Kapitels in „Wirtschaft und Gesellschaft“. Hier schreibt er: „Das moderne Proletariat aber ist, soweit es religiös eine Sonderstellung einnimmt, ebenso wie breite Schichten der eigentlich modernen Bourgeoisie durch Indifferenz oder Ablehnung des Religiösen ausgezeichnet. (…) Der proletarische Rationalismus ebenso wie der Rationalismus einer im Vollbesitz der ökonomischen Macht befindlichen, hochkapitalistischen Bourgeoisie, dessen Komplementärerscheinung er ist, kann daher aus sich heraus nicht leicht religiösen Charakter tragen, jedenfalls eine Religiosität nicht leicht erzeugen“ (Weber 1976: 295f.).
Auch diese Sätze scheinen auf den ersten Blick die Säkularisierungsthese zu stützen. Unmittelbar darauf folgt aber die Aussage: „Die Religion wird hier vielmehr durch andere ideelle Surrogate ersetzt“ (Weber 1976: 296). Man kann dies so interpretieren, dass Weber der Überzeugung ist, dass mit der Entstehung des Kapitalismus die herkömmlichen Formen von Religion zwar strukturell an ihr Ende gekommen seien, an ihre Stelle aber nun ‚Ersatzreligionen’ getreten sind, wie beispielsweise Positivismus, Monismus, Nationalismus oder Sozialismus (vgl. Küenzlen 1980). Und die Begründung liefert er sofort nach: „Gerade dieses Beispiel zeigt, dass das Erlösungsbedürfnis und die ethische Religiosität noch eine andere Quelle hat als die soziale Lage der negativ Privilegierten und den durch die praktische Lebenslage bedingten Rationalismus des Bürgertums: den Intellektualismus rein als solchen, speziell die metaphysischen Bedürfnisse des Geistes, welcher über ethische und religiöse Fragen zu grübeln nicht durch materielle Not gedrängt wird, sondern durch die eigene innere Nötigung, die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen zu können“ (Weber 1976: 304; vgl. auch: Weber 1973: 180).
Max Weber als ‚reinen’ Vertreter der Säkularisierungsthese zu bezeichnen, ist also falsch. Ebenso unrichtig ist es, in ihm den Befürworter eines engen, ‚substanziellen’ Religionsbegriffs zu sehen, der nur die historischen ‚Hochreligionen’ als Religion begreift. Letzterer Eindruck mag damit entstanden sein, dass Weber sich in seinen „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“ nur mit diesen beschäftigte, was im Interesse seines eigentlichen Forschungsfokus’, der Identifikation der Spezifik des okzidentalen Rationalisierungsprozesses, auch verständlich ist. Dass Weber nicht als Anhänger eines ‚substanziellen’ Religionsbegriffs bezeichnet werden kann, zeigen ganz deutlich einige Stellen seiner syste-
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matischen Religionssoziologie in „Wirtschaft und Gesellschaft“. Denn hier verweigert Weber nicht nur eine explizite Definition von Religion, wenn er sagt: „Eine Definition dessen, was Religion ‚ist’, kann unmöglich an der Spitze, sondern könnte allenfalls am Schlusse einer Erörterung wie der nachfolgenden stehen“ (Weber 1976: 245). Hier wird auch deutlich, dass er Religion primär nur an situative außeralltägliche, charismatische Erfahrungen bindet, die nicht unbedingt einen expliziten ‚Transzendenzbezug’ im Sinne der Ausbildung einer ‚jenseitigen Welt’ aufweisen müssen, also eine in der Regel eher ‚diffuse’ Religiosität einer ausbuchstabierten und institutionalisierten Religion voranstellt. Außeralltägliche, charismatische Erfahrungen können aber vielfältig bestimmt sein, ebenso wie sie nicht jedem in gleicher Weise und in gleichem Umfang zugänglich sind – woraus Weber dann später die gerade für die Analyse der religiösen Gegenwartskultur überaus bedeutsame Unterscheidung einer jeweils spezifischen, weil von unterschiedlichen Interessen getragenen Laien- und Virtuosenreligiosität ableitet (vgl. Weber 1976: 245f. und Weber 1976: 327ff.). Allein von daher gesehen muss Weber einen geschlossenen, ‚substanziellen’ Religionsbegriff vermeiden. Nicht die ‚Religion’ an sich erregt sein soziologisches Interesse, sondern die Art und Weise, wie sie menschliches Handeln zu formen vermag: „Allein wir haben es überhaupt nicht mit dem ‚Wesen’ der Religion, sondern mit den Bedingungen und Wirkungen einer bestimmten Art von Gemeinschaftshandeln zu tun, dessen Verständnis auch hier nur von den subjektiven Erlebnissen, Vorstellungen, Zwecken der Einzelnen – vom ‚Sinn’ – aus gewonnen werden kann, da der äußere Ablauf ein höchst vielgestaltiger ist“ (Weber 1976: 245).
Webers Religionsbegriff und sein Religionsverständnis – das lässt sich nicht zuletzt aus diesem Zitat ableiten – sind explizit soziologisch, weil ‚Religion’ ausschließlich als Produkt sozialen Handelns begriffen wird. Beide werden von drei Grundannahmen getragen: einer anthropologischen, einer gesellschaftstheoretischen und einer methodologischen. 1.
Religiosität und Religion gründen auf den Fähigkeiten beziehungsweise dem ‚Schicksal’ des Menschen, zum einen außeralltäglichen, charismatischen Erfahrungen ausgesetzt zu sein beziehungsweise diese geradezu zu suchen, zum anderen die Welt als einen sinnvollen Kosmos zu erfassen und dazu Stellung nehmen zu können. Diese Fähigkeiten oder dieses ‚Schicksal’ mögen unterschiedlich verteilt sein. Max Weber scheint, gerade was das Bedürfnis beziehungsweise die Sehnsucht nach außeralltäglichen, charismatischen Erlebnissen und Erfahrungen betrifft, davon auszugehen, dass es
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Winfried Gebhardt eher ‚religiös musikalische’ und eher ‚religiös unmusikalische’1 Menschen gibt – und zwar immer und überall. Und er ist der Überzeugung, dass das intellektuelle Bedürfnis danach, die Welt als einen sinnvollen Kosmos verstehen zu wollen, in seiner Intensität durchaus nach Soziallagen differenziert werden muss. Gleichwohl betrachtet er Religion als eine anthropologisch begründete, wenn auch sozial und individuell ‚ungleich’ verteilte ‚Konstante’ menschlicher Sozialität.
2.
Daraus folgend muss davon ausgegangen werden, dass Religion und Gesellschaft als eigenständige Daseinsbereiche menschlichen Lebens in einem unauflösbaren Wechselspiel nicht nur die soziale, sondern auch die personale Wirklichkeit der Menschen gestalten. Darauf weist der in der „Zwischenbetrachtung“ seiner „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“ aufgestellte Leitsatz hin, der unbestritten als Ausgangspunkt seines Nachdenkens über die gesellschaftliche Bedeutung von Religion gelten kann: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: Die ‚Weltbilder’, welche durch ‚Ideen’ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte“ (Weber 1978: 252).
3.
Religion – als individuell gelebte Religiosität oder als institutionell verdichtete Religion – ist der Soziologie nur als eine spezifische Form des Gemeinschaftshandelns zugänglich, das in seinen vielfältigen Ausdrucksformen und in seinem Wandel von unterschiedlichen, historischen bedingten, ideellen und strukturellen Faktoren abhängig ist.
Dieses Religionsverständnis Max Webers scheint überaus aktuell zu sein, es ist auf jeden Fall kompatibel mit heute existierenden kultur- und wissenssoziologischen Ansätzen innerhalb der internationalen Religionssoziologie und Religionswissenschaft (z.B. Casanova 1994, Aldridge 2000, Bourdieu 2000, Davie 2007, Riesebrodt 2007, Knoblauch 2009). Dass in diesen Ansätzen Max Weber als ‚Ahnherr’ eines anthropologisch fundierten, nicht-substanziellen und deshalb für historische Wandlungen ‚offenen’ Religionsbegriffs und eines Religionsverständnisses, das sich nicht ausschließlich an die institutionalisierten 1
Der Begriff der „religiösen Musikalität“ ist kein systematischer Begriff, den Weber in seinen wissenschaftlichen Arbeiten benutzt hat. Er entstammt einem Brief an Ferdinand Tönnies, in dem Weber sich selbst nicht als „antireligiös“ oder „irreligiös“, sondern als ‚religiös unmusikalisch’ bezeichnet (Brief an Ferdinand Tönnies vom 19.2.1909, in: Weber 1994: 63). Dieser Brief ist für ein umfassendes Verständnis von Webers wissenschaftlicher Religionskonzeption von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
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Religionen binden lässt, sondern seinen Ausgangspunkt in der subjektiven religiösen Erfahrung nimmt, weitgehend in Vergessenheit geraten ist, hat – neben den üblichen Idiosynkrasien, die sich aus der Rivalität soziologischer Schulen fast notwendig ergeben – vor allem mit der historischen Entwicklung der Soziologie im Allgemeinen, der Religionssoziologie im Besonderen als wissenschaftlichen Fachdisziplinen zu tun.
1
Zur Geschichte der Religionssoziologie
Religion war von Anfang an ein Thema der Soziologie2 und zwar immer in gesellschaftstheoretischer Absicht. Religionssoziologie im heutigen Verständnis entsteht um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert vor allem in Deutschland und Frankreich und ist bis heute unabweisbar mit „dem Spitzenduo der klassischen Soziologie verbunden: mit den Namen von Emile Durkheim und Max Weber“ (Krech/Tyrell 1995: 13). Zwar wurde Religion auch schon in der frühen Soziologie, bei Auguste Comte, Karl Marx und Herbert Spencer thematisiert, hier aber fast durchgehend in religionskritischer Absicht. In deren geschichtsphilosophischen Fortschrittstheorien erscheint Religion – trotz aller Unterschiede im Detail – als überholte und deshalb fortschrittshemmende Denkund Wissensform, die es durch Wissenschaft, insbesondere durch die Soziologie zu ersetzen gilt. Hartmann Tyrell hat diese Perspektive auf die treffende Formel „Soziologie statt Religion“ (Tyrell 1995: 85) gebracht. Mit Georg Simmel, William James, Ernst Troeltsch, der als Religionssoziologie bis heute unterschätzt wird, insbesondere aber mit Max Weber und Emile Durkheim ändert sich die Sicht auf das Verhältnis von Religion und Gesellschaft. Um die Jahrhundertwende waren die Fortschrittshoffnungen, die vor allem in die Wissenschaft als treibende Instanz gesetzt wurden, weitgehend verflogen. Vor allem Georg Simmel, Ernst Troeltsch und Max Weber entlarvten den frühen soziologischen Fortschrittsglauben selbst als ‚religiös’. Auf der Grundlage einer neukantianisch geprägten Erkenntnistheorie, die die ‚Objektivität’ wissenschaftlicher Erkenntnis relativierte, wurde Soziologie nun neu konzipiert: als werturteilsfreie, empirischanalytische Fachwissenschaft – frei von jeglicher geschichtsphilosophischer Spekulation. Die Soziologie löste sich damit aus ihrer grundsätzlichen Opposition gegen die Religion. Sie war nun in der Lage, Religion nüchtern als einen 2 Zur Geschichte der Religionssoziologie informiert zuverlässig immer noch der von Volkhard Krech und Hartmann Tyrell herausgegebene Sammelband „Religionssoziologie um 1900“ (Krech/Tyrell 1995). Eine gute Auswahl ‚klassischer’ theoretischer Texte zur Religionssoziologie (von Emile Durkheim bis hin zu José Casanova) bietet die von Karl Gabriel und Hans-Richard Reuter herausgegebene Textsammlung „Religion und Gesellschaft“ (Gabriel/Reuter 2004).
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sozial relevanten Sachverhalt zu betrachten. „Anstatt des Programms ‚Soziologie statt Religion’ war der Weg damit frei für eine ‚Soziologie der Religion’“ (Tyrell 1995: 96). Diese Sichtweise bildete die gemeinsame Basis für die frühe deutsche Religionssoziologie, auch – allerdings mit gewissen Abstrichen – für die religionssoziologischen Arbeiten Emile Durkheims und seiner Schule. Ebenfalls gemeinsam war ihnen die Überzeugung von der Universalität der Religion als sozialem Sachverhalt. Ihre umfangreichen historischen Betrachtungen führten sie zu der Überzeugung, dass Religion als spezifische Form sinngebender Inhalte mit der Sozialität des Menschen notwendig verbunden sei. Max Weber sah die Ursprünge der Religion in der Bestimmtheit des Menschen als Kulturwesen, dem es aufgegeben sei, seinem Leben einen Sinn geben zu können, vielleicht sogar zu müssen. Für Durkheim war Religion der „symbolische Ausdruck der Kollektivität“ (Durkheim 1984: 151). Georg Simmel, Max Weber und – auf andere Weise William James bestimmten Religion als einen grundsätzlich eigenständigen Erfahrungsbereich des Menschen, deren Nutzen für das Individuum und deren gesellschaftliche Funktionen es – historisch und interkulturell vergleichend – zu erheben gelte. So groß die Unterschiede in den religionssoziologischen Arbeiten der ‚Gründerväter’ im einzelnen auch sein mögen – Durkheim und seine Schule legten den Schwerpunkt ihrer Betrachtung auf Religion als Kollektivangelegenheit, Weber und andere analysierten Religion in ihrer Bedeutung für die Reglementierung der Lebensführung und der Persönlichkeitsbildung –, dass Religion und Gesellschaft untrennbar (auch funktional) miteinander verbunden sind, war allen gemeinsam und bildete den Ausgangspunkt für ihre umfangreichen materialen Studien. Angesichts der Bedeutung, die dem Thema Religion in den Werken der ‚Gründungsväter’ der Soziologie zukam, überrascht es auf den ersten Blick durchaus, dass sich die Soziologie in der Folgezeit kaum noch mit religionssoziologischen Fragen beschäftigte. Zwar blieb der Gedanke der Religion als gesellschaftsintegrierender Kraft in den Theoriekonzeptionen von Ferdinand Tönnies, Hans Freyer und dann insbesondere in der amerikanischen Systemtheorie von Talcott Parsons erhalten, die gesellschaftsgestaltende Funktion der Religion trat aber zunehmend in den Hintergrund innerhalb der soziologischen Theoriebildung – auch weil sich das Säkularisierungstheorem immer mehr ausbreitete und Anerkennung fand. Hinzu kam, dass die gesellschaftstheoretische Orientierung der Religionssoziologie insgesamt im Zuge der Institutionalisierung der Soziologie als empirische Fachdisziplin zurücktrat zugunsten der empirischen Erforschung kirchlicher Phänomene – eine Entwicklung, die etwa um 1930 herum einsetzte. Religionssoziologie wandelte sich zunehmend zur Kirchensoziologie, in der das Verhalten von Kirchenmitgliedern (Mitgliedschaftskriterien, Got-
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tesdienstbesuch, Gebetshäufigkeit u.a.) empirisch vermessen und auf soziale Abhängigkeiten untersucht wurde. Anfang der 60er Jahre des 19. Jahrhundert wurde die Kritik an der empirischen Kirchensoziologie, ihrer Verflechtung mit kirchlich-pastoralen Interessen, ihrem weitgehenden Theorieverzicht, vor allem aber an ihrer unreflektierten Gleichsetzung von Kirchlichkeit und Religiosität, lauter und läutet eine, später als ‚wissenssoziologische Wende’ bekanntgewordene Renaissance der Religionssoziologie ein (vgl. Wohlrab-Sahr 2003). Von zentraler Bedeutung dabei waren dabei die Arbeiten von Joachim Matthes, Peter L. Berger und Thomas Luckmanns (Matthes 1993, Berger 1980, Luckmann 1991), insbesondere Luckmanns Schrift „The Invisible Religion“ von 1967, in der die These aufgestellt wurde, dass die die kirchensoziologische Forschung dominierende Beschränkung des Religionsbegriffs auf kirchlich verfasste Religion den Blick auf neuere Entwicklung im weiten Feld des Religiösen versperre. Indem Luckmann mit seiner anthropologisch begründeten Lehre von den drei Transzendenzen (kleine, mittlere und große Transzendenzen) den Begriff der Religion wieder aus den kirchensoziologischen Beschränkungen befreite, gelang es ihm - wie auf eine andere Weise auch Niklas Luhmann (2000), der in der Religion eine spezifische Form der Kontingenzbewältigung sieht - den Blick zu öffnen für nicht kirchlich gebundene Sozialformen von Religion, die er als ‚privatisierte’ oder ‚individualisierte’ Sinnformen bezeichnete, und damit auch einer Säkularisierungstheorie zu widersprechen, die die soziologische Diskussion dominierte: Nicht Religion als solche sei auf dem Rückzug, sondern nur ihre kirchlich gebundenen Sozialformen. Damit war der Grundstein gelegt für eine Revitalisierung eines weiten, umfassenden und im Kern funktional bestimmten Religionsbegriffs, der es erlaubte, die Vielzahl gegenwärtig zu beobachtender religiöser Phänomene unvoreingenommen zu erfassen und auf ihre Kulturbedeutung hin zu befragen. Dass in den seither erschienenen, umfangreichen empirischen Analysen zur religiösen Gegenwartskultur auf Max Weber, seinen Religionsbegriff und sein Religionsverständnis kaum noch Bezug genommen wird, liegt vor allem in dem breiten Erfolg des Luckmannschen wissenssoziologischen Ansatzes begründet – ein Ansatz, der Weber zwar nicht theoretisch nihiliert, ihn aber in einem Akt der Mystifikation zu einem jener Riesen erklärt, auf deren Schultern wir angeblich stehen, mit der Folge, dass die eigene Position, weil aktueller und theoretisch fortgeschrittener, als nunmehr allein rezipierenswert angesehen wird.
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Winfried Gebhardt Prämissen religionssoziologischer Forschung heute
Ohne nun Max Webers Religionsverständnis gegen das von Thomas Luckmann ausspielen zu wollen – dazu sind die Gemeinsamkeiten einfach zu deutlich zu erkennen –, zeichnet sich der religionssoziologische Ansatz Webers gegenüber dem von Luckmann zumindest durch zwei Besonderheiten aus, die für die religionssoziologische Erforschung der religiösen Gegenwartskultur von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind (vgl. Tenbruck 1993). Er enthält (a) ein dezidiertes historisches und soziales Differenzierungspotential, das in Luckmanns Religionskonzeption, bedingt durch seine Orientierung an einem phänomenologischen Universalismus, zumindest verdeckt wird, und das es erlaubt, religiöse Transformationsprozesse expliziter historisch, kulturell und sozialstrukturell zu verorten. Und er betont (b) stärker als der Luckmanns die Bedeutung der emotionalen, enthusiastisch-ekstatischen Dimension der Religion, die gerade heute – als Folge von Deinstitutionalisierungsprozessen ‚organisierter’ Religion – wieder deutlicher in Erscheinung tritt. Dementsprechend hat religionssoziologische Forschung in der Tradition Max Webers heute, insbesondere dann, wenn sie sich religiösen Gegenwartsphänomenen zuwenden will, von vier Prämissen auszugehen: Die erste Prämisse liegt in der Konzentration auf die wissenschaftliche ‚Rekonstruktion’ von ‚Glaubenswirklichkeiten’ aus der subjektiven Binnenperspektive der Gläubigen – soweit dies methodologisch überhaupt möglich ist3. Es geht also primär um eine „dichte Beschreibung“ (Clifford Geertz) der neu entstehenden ‚Glaubenswirklichkeiten’ in ihren unterschiedlichen Dimensionen, so wie sie von den Menschen erlebt, gedeutet und gestaltet werden. Eine solche Vorgehensweise hat zur Konsequenz, die Menschen selbst ausführlich zu Wort kommen zu lassen, sie als ‚Experten’ ihrer eigenen Religiosität ernst zu nehmen, einfühlsam zu verstehen und nachzuzeichnen, was sie bewegt und was sie umtreibt, und deshalb auf vorschnelle Beurteilungen und Bewertungen des Geäußerten zu verzichten. Das heißt nicht, sich generell einer Interpretation des Gesagten zu verweigern. Nur soll diese – ganz im Sinne der Wissenschaftslehre Max Webers – ausschließlich dazu dienen, die subjektiven ‚Glaubenswirklichkeiten’ der Menschen in einer ‚logischen Konsistenz’ und ‚inhaltlichen Kohärenz’ nachzuzeichnen, die in den subjektiven Äußerungen oftmals nicht vorhanden ist. Und dies kann sie, indem sie versucht, „die letzten Axiome, welche dem 3 Über die ‚erkenntnistheoretischen’ Voraussetzung einer solchen, in der Regel sich eher ‚qualitativer’, oder besser: nichtstandardisierter Methoden bedienenden Religionsforschung informiert – wenn man sie nicht bei den ‚Gründungsvätern’ der Religionssoziologie studieren will – zuverlässig, wenn auch nicht gänzlich unproblematisch, weil ebenfalls von phänomenologischen Grundannahmen durchsetzt, Hubert Knoblauch (2003).
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Inhalt (ihres) Wollens zugrunde liegen, [...] die letzten Wertmaßstäbe, welche sich in dem konkreten Werturteil manifestieren“ (Weber 1973: 151) zu identifizieren und darzustellen. Die zweite Prämisse liegt in der bewusst vollzogenen Abkehr von einem substanziellen Religionsbegriff und der Hinwendung zu einem historischfunktionalen Religionsverständnis. Denn nur ein solches erlaubt es, das Phänomen des religiösen Wandels im Allgemeinen, der Transformation des ‚Christlichen’ im Besonderen, in den Griff zu bekommen, weil Religion hier nicht an ‚transzendente’ und deshalb ‚auf ewig geltende’ ‚Wahrheiten’ gebunden wird, sondern historisch variable funktionale Äquivalente mit einschließt. Ein substanzieller Religionsbegriff hat immer gewisse Probleme mit dem Faktum des religiösen Wandels, weil er gezwungen ist, jenseits aller beobachtbaren, inneren wie äußeren Veränderungen an einem unveränderbaren, weil ‚heiligen’ Proprium festzuhalten. Nicht umsonst kann man auch heute noch von konservativen Vertretern, insbesondere in der Katholischen Kirche, den Satz hören: „Das Volk Gottes hat keine Sozialgeschichte“. Zwar ist der Einwand berechtigt, dass ein historisch-funktionaler, und deshalb sehr weiter Religionsbegriff die Gefahr in sich trägt, dass ‚Religion’ als erkennbares Phänomen im Diffusen verschwindet. Diese Gefahr muss heute freilich in Kauf genommen werden, weil das wichtigste Kennzeichen der religiösen Gegenwartskultur gerade in der – alle bisher bekannten Konturen verwischenden – Diffusität oder Hybridität des religiösen Lebens und Erlebens besteht. Die dritte Prämisse besteht darin zu erkennen, dass die ‚subjektive Glaubenswirklichkeit’ der Menschen aus mehr besteht als aus der Übernahme kanonisierter Lehraussagen und Dogmen der institutionalisierten Religion, und dass man sie nicht begreifen kann, wenn man menschliche Religiosität nicht auch als eine auf emotionale (charismatische) Zustände gegründete Lebenshaltung versteht. Nach Weber gibt es – ähnlich wie auch bei William James – so etwas wie eine religiöse Primärerfahrung, die auf einer unmittelbaren persönlichen Begegnung zwischen dem Individuum und der von ihm als übernatürlich aufgefassten Instanz beruht, und diese Primärerfahrung ist eine in der Regel von hoher Emotionalität erfüllte. Diese religiöse Primärerfahrung geht auch dann nicht verloren, wenn sich institutionalisierte Formen von Religion bilden, die, folgt man hier James, der diesen Gedanken ausführlicher als Weber behandelte, nur noch einen ‚Glauben aus zweiter Hand’ bieten, weil sie die unmittelbaren religiösen Erfahrungen des Religionsstifters zu einem starren Gerüst kanonisierter Lehraussagen abstrahieren (vgl. James 1902). Denn auch diese müssen immer individuell angeeignet und mit ‚Leben’ erfüllt werden. Die vierte Prämisse besteht darin, ‚Religion’, ‚Religiosität’ und ‚Kirche’ (als spezifische Form institutionalisierter Religion) zu entkoppeln, Religionsfor-
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schung also aus ihrer ‚kirchlichen Gefangenschaft’ zu befreien, um das historisch und sozialstrukturell variable, sich gerade unter den Bedingungen forcierter Individualisierung gerade neu formierenden Verhältnis von individueller Religiosität und institutionell verfestigter Religion adäquat erfassen zu können (vgl. Bochinger/Engelbrecht/Gebhardt 2009: 158f.). Das kann auch bedeuten, die von Ernst Troeltsch und Max Weber entwickelten soziologischen Typenbegriffe von Kirche, Sekte und Mystik zu überdenken. Denn diese scheinen ebenso wie die Unterscheidung von innerkirchlicher und außerkirchlicher Religiosität kaum noch geeignet, „die komplexen und heterogenen religiösen Lebenswelten der Gegenwart angemessen zu beschreiben“ (Graf 2004: 259). Aufgabe religionssoziologischer Forschung muss also die Identifikation und Analyse der sich ‚neu’ bildenden Sozialformen von ‚Religion’ sein.
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Legt man diese vier Prämissen der heutigen soziologischen Religionsforschung zugrunde, dann lässt sich der Wandel in der religiösen Gegenwartskultur (insbesondere, aber nicht ausschließlich in westlich-europäischen Gesellschaften) als ein spezifischer und, trotz mancher beobachtbarer Parallelen in der Religionsgeschichte, historisch einzigartiger Transformationsprozess beschreiben (vgl. Bochinger/Engelbrecht/Gebhardt 2009: 145ff.). Als charakteristisch für die Transformation, der Religion in diesen ‚spätmodernen’ Gesellschaften (allerdings in unterschiedlichen graduellen Abstufungen und in jeweils kulturell bedingten Variationen) unterliegt, können gelten:
3.1 Prozesse der Pluralisierung, Individualisierung und Synkretisierung In spätmodernen Gesellschaften steigt aufgrund der wachsenden Mobilität und des technischen Fortschritts vor allem im Medienbereich das Angebot ‚sinnstiftender Weltdeutungen’. Jeder hat – wenn er will – heute die Möglichkeit, sich über alles, was der Markt der Sinnstiftung offeriert, zu informieren und davon Gebrauch zu machen. Und dieser Markt ist ein Wachstumsmarkt – ein Blick in die entsprechenden Regale der Buchhandlungen oder ins Internet genügt, um dies zu sehen. Die Angebote reichen von Rückgriffen in den reichen Bestand der christlichen Traditionen und die Revitalisierung traditionaler christlicher Gemeinschafts- und Glaubensmodelle über die nichteuropäischen Weltreligionen und ‚magische Praktiken’ sogenannter ‚Naturvölker’ bis hin zu den immer noch nachgefragten ‚New Age’-Weisheiten und den gerade boomenden biogene-
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tischen Fortschrittsutopien. Dabei hat der spätmoderne Mensch die Möglichkeit, entweder sich für ein Angebot (vielleicht nur auf Zeit) zu entscheiden oder sich seine eigene Religion aus unterschiedlichen Bestandteilen ‚zusammenzubasteln’ beziehungsweise sich den ‚Basteleien’ anderer ‚religiöser Virtuosen’ anzuschließen. Die Folge ist eine von Tag zu Tag wachsende Pluralität synkretistischer, oftmals miteinander konkurrierender Sinnstiftungsangebote und Wahrheitsansprüche. Und diese führt zusammen mit der für spätmoderne Gesellschaften typischen Steigerung der Wahlfreiheit zu vielfältigen Ausformungen von Religiosität in unterschiedlicher Intensität und Ausrichtung in kaum überschaubarer Fülle (vgl. z.B. Casanova 1994, Hitzler 1999, Bergunder 2001, Groß 2006, Beck 2008, Knoblauch 2009). Die wachsende Pluralität, die einhergeht mit einem zunehmenden Machtverlust der ‚institutionalisierten Religion’ als soziale Kontrollinstanz, schließt heute auch die Möglichkeit mit ein, auf eine Wahl gänzlich zu verzichten und nicht einmal eine negierende Position einzunehmen (vgl. exemplarisch: Wohlrab-Sahr/Karstein/Schmidt-Lux 2009). Aufgrund dieser Entwicklungen diffundieren einstmals (relativ geschlossene) ‚homogene’ Frömmigkeitsmuster und ‚Glaubenswirklichkeiten’ und es entsteht zunehmend ein unverbundenes Nebeneinander unterschiedlicher religiöser Kulturen, außerhalb aber auch innerhalb der unterschiedlichen Formen der institutionalisierten Religion, insbesondere dann, wenn sie als ‚Kirche’ organisiert ist (vgl. Gebhardt/ Engelbrecht/Bochinger 2005; Bochinger/Engelbrecht/Gebhardt 2009). Aus der Sichtweise der betroffenen Institutionen lassen sich diese Entwicklungen dann als Deinstitutionalisierungs- oder sogar als Erosionsprozesse (vgl. z.B. Ebertz 1998) beschreiben.
3.2 Prozesse der Verszenung und Eventisierung Pluralisierung, Individualisierung und Synkretisierung haben unmittelbare Auswirkungen auf die soziale Organisation von Religion. Die bisherigen Organisationsstrukturen der Kirchen (Parochial-, Dekanats-, Synodal-, Diözesanstrukturen, Vereins- und Verbandsstrukturen etc.) aber auch anderer Formen ‚institutionalisierter Religion’ (traditionale Kultgemeinschaften) bestehen zwar weiter fort, vor allem aufgrund ihrer bürokratisierten und staatskirchenrechtlich fixierten Form, werden aber zunehmend von religiös interessierten Personen als ‚geistlos’, ‚beengend’, ‚kalt’, ‚distanziert’ und ‚unpersönlich’ erlebt. Im subjektiven Empfinden vieler religiös Interessierter herrscht die Meinung vor, dass die ‚bürokratisierten’ oder in ‚Traditionen erstarrten’ Strukturen der ‚institutionalisierten Religion den ‚religiösen Geist’, die ‚Spiritualität’ abgetötet haben. Immer
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öfter ist das Verlangen zu hören, man müsse sich ‚mündig machen’, sich befreien aus den ‚einengenden Strukturen’ institutionalisierter Unmündigkeit und Unselbstständigkeit. Dementsprechend sind neue Organisationsformen des Religiösen jenseits der klassischen religionssoziologischen Typologien von Kirche, Sekte und Mystik (vgl. Troeltsch 1994) zu beobachten. Individualisierung führt ja nicht, wie es oftmals heißt, in Strukturlosigkeit, sondern zu neuen (mitunter fundamentalen) Umstrukturierungen des sozialen Lebens. Diese neuen Organisationsformen des sozialen Lebens im Allgemeinen, des religiösen Lebens im Besonderen, lassen sich als ‚Szenen’ bezeichnen. Szenen sind Gruppen von Menschen, die für eine gewisse Zeit ein gemeinsames Interesse teilen und deswegen zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten zusammenkommen (vgl. Gebhardt 1999, Hitzler/Bucher/Niederbacher 2005). Im religiösen Feld gruppieren sich Szenen oftmals um ‚charismatische’, manchmal auch nur um hinreichend ‚prominente’ Personen. Der ‚etwas besondere Seelsorger und Prediger’, zu dem die Leute in den Sonntagsgottesdienst, zum Freitagsgebet oder zu medial inszenierten religiösen Großveranstaltungen von weither anreisen, sprengt ebenso die herkömmlichen Sozialformen von Religion und gründet religiöse Szenen wie neu entstehende religiöse Bewegungen und Kultgemeinschaften, die in der Regel überregional, wenn nicht sogar global orientiert sind. Menschen aber, die sich in religiöse Szenen begeben, sind am Leben ihrer Herkunftsgemeinde kaum mehr interessiert. Denn im Vergleich zu herkömmlichen religiösen Sozialformen sind religiöse Szenen weitaus offener, in ihrem Normierungsanspruch unverbindlicher und in ihrem Weltdeutungsanspruch individualistischer. In Szenen kann man seine je individuellen und aktuellen religiösen Bedürfnisse befriedigen, ohne sich dauerhaft binden zu müssen (vgl. Davie 2007). Dementsprechend häufig lässt sich auch ein ‚Wandern’ von religiöser Szene zu religiöser Szene beobachten. Eng mit dem Prozess der Verszenung hängt der Trend zur Eventisierung der Religion zusammen, weil locker und offen organisierte Szenen nur auf sogenannten ‚Events’ ihr zur Aufrechterhaltung der ‚Gemeinschaft’ notwendiges Wir-Gefühl aktualisieren, herstellen und intensivieren können. Events sind Veranstaltungsformen, die – perfekt organisiert und zumeist monothematisch zentriert – unterschiedlichste Erlebnisinhalte und Erlebnisformen zu einem nach primär ästhetischen Kriterien konstruierten Ganzen zusammenbinden (vgl. Gebhardt 2000). In einer sich zunehmend differenzierenden, ja partikularisierenden Welt scheinen Events eine der wenigen Möglichkeiten zu sein, die es noch erlauben, die Erfahrung von ‚Einheit’, ‚Ganzheit’ und ‚Authentizität’ zu machen, weil sie Erlebnisformen anbieten, die nicht nur den Intellekt, sondern alle Sinne ansprechen (vgl. Ebertz 2000, Forschungskonsortium WJT 2007). Und in der Tat kann gerade in den letzten Jahren eine sprunghafte Zunahme von religiösen
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Events beobachtet werden: die Diözesanjugendfestivals ‚Jugend + Kirche + X’, die katholischen Weltjugendtage mit dem ‚Superpapst als Pop-Star’, die europäischen Jugendtreffen von Taizé, die Missionsdiscos der evangelikalen ProChrist-Bewegung, das sich vor allem in Asien, Afrika, Nord- und Südamerika ausbreitende Phänomen christlicher (oftmals evangelikal geprägter) ‚MegaChurches’, Esoterikmessen mit christlich-mikrobiotischen Unterhaltungsprogramm, aber auch die medial inszenierten Großveranstaltungen sufischer Gemeinschaften im islamischen Raum locken Zehn- wenn nicht Hunderttausende von Besuchern an. Einiges scheint dafür zu sprechen, dass der ‚religiöse Event’ in seiner typischen Kombination von herkömmlichen religiösen Inhalten und Ritualen und popkulturell geprägten Unterhaltungsprogrammen als zeitgemäße Ausdrucksform religiöser Erfahrung und religiösen Erlebens weiter an Bedeutung gewinnen wird.
3.3 Prozesse der Spiritualisierung und Ästhetisierung Ebenso wie die bisher genannten Trends sind auch Spiritualisierung und Ästhetisierung keine auf das religiöse Feld beschränkten Entwicklungen, sondern gelten allgemein. Sie sind Teil der von Gerhard Schulze diagnostizierten akzelerierenden Erlebnisorientierung in ‚spätmodernen’ Gesellschaften, die sich dem Projekt des ‚schönen Lebens’ verschrieben haben. Bedingt durch das Ansteigen des Lebensstandards, die quantitative Zunahme der Freizeit, die Expansion der Bildung, den technischen Fortschritt im Allgemeinen, der revolutionären Vervielfältigung medialer Angebote im Besonderen und der Auflösung starrer biografischer Muster wandelt sich in allen sozialen Schichten und Milieus auch der Bedeutungsinhalt dessen, was ein Erlebnis sein soll. Der verantwortungsvolle Außenbezug auf das ‚Ganze’ beziehungsweise die ‚Gemeinschaft’ geht zunehmend verloren. Erlebnis wird immer mehr als ein rein innenorientierter, als ein rein subjektbezogener Vorgang begriffen. Erlebnis bezeichnet jetzt den Willen des Menschen, sein Handeln an dem Ziel auszurichten, vorübergehende psychophysische Prozesse positiv gewerteter Art in sich selbst herbeizuführen. Damit aber schließen Erlebnisse nicht mehr länger die Wirklichkeit, die sich der Mensch außerhalb seiner selbst vorstellt, mit ein. Erlebnisse verlieren ihre Bedeutung als umfassende, reflexiv gesteuerte und kontrollierte Prozesse; sie werden geschichtslos, zu einem Produkt des Hier und Jetzt. Erlebnis bedeutet heute, das ‚lebendige Ich’ zu spüren. Das momentane Glücksempfinden, die den Alltag sprengende ‚außeralltägliche’ Erfahrung, das ‚schöne Gefühl’, der ‚ultimative Kick’ – flüchtige Situationen dieser Art werden zum Inbegriff des Erlebnisses (vgl. Schulze 1992: 58ff.).
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Im religiösen Bereich finden diese zunehmende Subjektzentrierung und die damit verbundene Erlebnisorientierung ihren Ausdruck vor allem im Trend hin zur Spiritualisierung (vgl. Bochinger 1994, Ebertz 2005, Knoblauch 2005). Spiritualisierung verweigert sich zum einen der Unterwerfung unter die normativen Vorgaben der institutionalisierten Religion und dem Machtanspruch ihrer Führer und stellt die ‚eigene religiöse Kompetenz’ in den Mittelpunkt. Es ist der Einzelne, der seinen eigenen Weg hin zu ‚Gott’ (oder einer ‚göttlichen Kraft’) zu finden hat – und der Weg, der dahin führt, ist ein individueller Weg. Das schließt allerdings nicht aus, dass sich mehrere für eine gewisse Zeit gemeinsam auf den gleichen Weg machen (typischerweise in szeneartigen Gemeinschaftsformen). Spiritualisierung richtet sich zum anderen gegen eine als starr und lebensfremd empfundene (Universitäts-) Theologie und Dogmatik. In der einen (häufigeren) Variante vertritt sie eine ich-zentrierte ‚Spaß- und Freude-Religion’, in deren Mittelpunkt ‚individuelles Wohlbehagen’ steht und die sich gegen die ‚lebensfeindlichen’ und ‚lustfeindlichen’ Lehren und Praktiken der institutionalisierten Religion richtet. Dementsprechend spielen hier auch die klassischen Fragen der ‚Religion’ wie Schuld, Sühne, Sünde, Gerechtigkeit, Vergebung, Gehorsam oder die Erklärung des ‚Bösen’ nur eine unbedeutende Rolle. Die andere (weniger häufigere) Variante vertritt ein traditionales, vormodernes und dezidiert antiindividuelles Religionsmodell, das der institutionalisierten Religion vorwirft, sich schon allzu sehr mit der Moderne eingelassen und Zugeständnisse an den ‚Zeitgeist’ gemacht zu haben, und die Rückkehr zu den alten Werten und Normen fordert, teilweise auch versucht, diese wieder in revitalisierten traditionalen Gemeinschaftsformen zu leben. Und schließlich richtet sich Spiritualisierung gegen die Parzellierung der religiösen Erfahrung, gegen die Dominanz der Vernunft und des Wortes als einzig legitime Quellen religiöser Erkenntnis. Gesucht wird hingegen nach ‚ganzheitlichen’, ‚authentischen’, ‚echten’ Erfahrungen des ‚Göttlichen’, was in der Regel entweder zur Orientierung an ‚pantheistischen’, ‚naturreligiösen’ Vorstellungsmodellen oder zur geforderten Rückkehr zu den sogenannten ‚Ursprungswahrheiten’ oder aber, auch dies ist zu beobachten, zur Kombination von beidem führt.. Insbesondere aus diesem letztgenannten Widerstand leitet sich der eng mit der Spiritualisierung verbundene Trend hin zur Ästhetisierung der Religion ab. Ästhetisierung heißt, dass zunehmend alte religiöse Rituale und Lebensformen oder neue religiöse ‚Performances’ und spektakuläre Inszenierungen von Religion, wie es beispielsweise einige der neuen Jugendkirchen tun, gesucht werden, die Religion auch körperlich und mit allen Sinnen, also anschaulich erfahren und gelebt werden lassen. Kerzengottesdienste, Lichterprozessionen, Laserprojektionen in Gottesdiensträumen haben Konjunktur. Das mit Abstand attraktivste Angebot auf dem evangelischen Kirchentag in Frankfurt am Main war der
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‚Feuergottesdienst’. Auf dem Weltjugendtag der katholischen Kirche in Köln war für viele der jugendlichen Teilnehmer die ergreifendste Veranstaltung die Vigil mit dem Papst am Vorabend des Abschlussgottesdienstes. Popularisierte Sufi-Musik und -Tänze füllen in der Türkei große Sportstadien. Kollektive ZenMeditationen, liturgische und meditative Tänze, Liedchoreografien zu SakroPop-Klängen finden weltweit immer mehr Interesse, weil sie im Bewusstsein der Teilnehmer die ‚ganzheitliche’ Erfahrung von ‚Körper-Seele-Geist’ ermöglichen. Gesucht wird zunehmend das ‚totale religiöse Erlebnis’, das ‚ganz einfach schön ist’, das einem ‚wohl tut’ und einen für einen Moment ‚eins sein läßt mit dem Universum’ oder aber die Geborgenheit einer in der Sicherheit der Tradition aufgehobenen festen Gruppe. Gesucht wird also angesichts der zunehmenden Parzellierung der modernen Lebenswelt entweder die situative und deshalb außeralltägliche ‚Wiederverzauberung der Welt’ im religiösen Event (vgl. Gebhardt 2008), die von der ‚kalten Rationalität’ der alltäglichen Lebenswelt entlastet, oder der sichere Hort von Gesinnungsgemeinschaften, die vor den Zumutungen der parzellierten ‚Spätmoderne’ schützen.
3.4 Prozesse der Methodisierung und Technisierung In weitgehend entdogmatisierten, ich-zentrierten Frömmigkeitsstilen, in denen Wahrheit nicht mehr dogmatisch festgeschrieben und institutionell gesichert ist, wird ‚Wahrheit’ individuell definierbar, interpretierbar und verfügbar und damit in letzter Konsequenz ‚unsicher’ und ‚ungewiss’. Wo es aber nur noch Wahrheiten gibt und keine Wahrheit mehr, verliert ‚Wahrheit’ oftmals an Wert und der ‚Weg’, der zur Wahrheit führt, gewinnt an Bedeutung. Wahrheit steht nicht für immer und ewig fest, sie muss unter ‚spätmodernen’ Bedingungen gefunden oder entdeckt werden. Glaube besteht nicht mehr in der Akzeptanz vorgegebener Wahrheiten, sondern wird als ein ‚lebendiger Prozess’ verstanden – dynamisch, ungerichtet und unabgeschlossen. Der Weg wird zum Ziel, die Art und Weise, wie der Weg bewältigt wird, also die Methoden und Techniken des je spezifischen ‚Voranschreitens’ treten in den Mittelpunkt des religiösen Erlebens (vgl. Gebhardt/Engelbrecht/Bochinger 2005, Knoblauch 2005). Die Form wird wichtiger als der Inhalt. Gleichzeitig – und damit verbunden – erobert eine pragmatische Einstellung zur Religion Terrain. Es geht darum, Angebote ‚auszutesten’ und zwar gemäß dem Motto: „Was hilft, ist gut“. Dementsprechend gewinnen Bewusstseinssteigerungstechniken (wie Yoga, Zen etc.), Psychomethoden (wie Enneagramm, Märchen-Psychoanalyse à la Drewermann, Heilungsgottesdienste etc.), Körper- und Körpererfahrungstechniken (wie meditative und liturgische Tänze), aber auch Sakro-Pop-Konzerte ebenso an Bedeutung wie die technisch
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vor- und durchorganisierte ‚totale’ Spiritualitätserfahrung in religiösen Events oder die gewollte Unterwerfung unter strikte und damit ‚Sicherheit’ versprechende, traditionale Werte und Regeln, nicht nur in Schweigeseminaren oder Erlebnisexerzitien, wie sie mit steigendem Erfolg von christlichen, buddhistischen oder shintoistischen Mönchsorden angeboten werden.
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Schlussbemerkung
Religion und Religiosität befinden sich gegenwärtig weltweit in einem umfassenden und in seinen Konsequenzen letztendlich noch kaum einschätzbaren Transformationsprozess, der, je nachdem aus welcher Perspektive er beobachtet wird, entweder als ‚Selbstermächtigung des religiösen Subjekts’ oder als ‚Deinstitutionalisierung’ traditionaler Sozialformen von Religion beschrieben werden kann. Für die Religionssoziologie – aber nicht nur für sie – bedeutet dies, sich neu orientieren zu müssen, sowohl was ihren Begriffsapparat als auch ihr Methodenarsenal betrifft. Augenscheinlich ist, um mit Max Weber zu sprechen, das Licht der großen Kulturprobleme wieder einmal weitergezogen. Jetzt gilt es auch für die Religionssoziologie, „ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens“ (Weber 1973: 214) zu blicken, um das neu Entstehende in seiner Kulturbedeutung angemessen erkennen zu können. Jenseits der Revisionsbedürftigkeit einzelner seiner begrifflichen Konstruktionen wie beispielsweise der Kirche-SekteTypologie bietet Max Webers anthropologisch-historische Konzeption der Religionssoziologie dazu immer noch die besten Chancen. Folgt man deren Spuren, dann lässt sich auch Webers am Ende der „Protestantischen Ethik“ aufgeworfene Frage, wer oder was die religiöse Kultur der Zukunft prägen wird, „ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiederkehr alter Gedanken und Ideale (…), oder aber – wenn keins von beiden – mechanisierte Versteinerung mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt“ (Weber 1978: 204), jedenfalls vorläufig beantworten. Alle drei von Weber genannten ‚Entwicklungspotentialitäten’ sind Wirklichkeit geworden. Aber anders als Weber gemutmaßt hatte, treten sie nicht als Konkurrenten auf, sondern bilden einen Pool der Möglichkeiten, aus dem der ‚spätmoderne’ Mensch das entnehmen kann, was ihm in seiner jeweiligen lebensgeschichtlichen Situation als angemessen erscheint. Jetzt gilt es, diese neuen ‚Glaubenswirklichkeiten’ zu verstehen und begrifflich neu zufassen.
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Klassen, Schichten, Religionen. Über die sozialstrukturellen Grenzen religiöser Individualisierung Klassen, Schichten, Religionen
Agathe Bienfait
Einleitung Thomas Luckmanns Beitrag zur Religionssoziologie ist unbestritten. Mit seinem anthropologisch fundierten, funktionalen Religionsbegriff ist es ihm gelungen, die ethnozentrischen Engführungen eines christlichen Religionsverständnisses zu überwinden und den Blick für die Vielfalt und Vielgestaltigkeit des Religiösen zu öffnen. Allerdings hat Luckmanns reiner Funktionalismus auch einen entscheidenden Nachteil: Er ist blind gegenüber der inhaltlichen Diversität des religiösen Bedürfnisses nach Transzendenz. Mit der Vernachlässigung dieser materialen Dimension klammert Luckmann Aspekte des Religiösen aus, die in (religions-)soziologischer Hinsicht höchst relevant sind: In den inhaltlichen Ausformulierungen eines religiösen Weltbildes spiegeln sich sowohl die Motive der Trägergruppen als auch die Bedürfnisse der angesprochenen Laien wider. In diesen Wahlverwandtschaften zwischen „Ideen“ und „Interessen“ kommt die ungleiche Verteilung von Erlösungs- und Daseinschancen zum Tragen, die für eine kritische Rekonstruktion der Funktion von Religionen geradewegs unerlässlich ist. Das im Folgenden konzipierte Plädoyer für eine religionssoziologische Rückbesinnung auf Max Webers sowohl funktionales als auch substanziell gesättigtes Religionsverständnis basiert auf einer vergleichenden Konfrontation von Thomas Luckmanns „Unsichtbarer Religion“ (1) mit Max Webers systematischer Darstellung der Wahlverwandtschaften von Religion und sozialer Lage, die er insbesondere in § 7 der Religionssoziologie in „Wirtschaft und Gesellschaft“ ausgeführt hat (2). Anschließend wird die Aktualität des weberschen Funktionalismus anhand der sozialstrukturellen Imprägnierung der neuen religiösen Bewegungen dargelegt (3). Im Ergebnis zeigt sich nicht nur die ungebrochene Relevanz der weberschen Religionssoziologie, sondern es eröffnet sich auch der Blick auf die bis heute bestehenden sozialstrukturellen Grenzen der religiösen Individualisierung.
A. Bienfait (Hrsg.), Religionen verstehen, DOI 10.1007/978-3-531-92777-0_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Transzendenz als universelle Sozialform der Religion
Thomas Luckmanns Schrift „Die unsichtbare Religion“, die 1967 erstmals in New York erschien, kann in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden. Wenngleich Luckmann selbst sein Werk als „Essay“, als eine Art vorläufige Skizze entworfen hat (Knoblauch 1991: 10f.), wird mit dieser Schrift eine veritable „Zäsur“ in der deutschsprachigen Religionssoziologie verbunden. Drei große Themen werden hier bearbeitet: die Definition der Religion, das Schicksal der Religion in fortgeschrittenen Industriegesellschaften und schließlich die Bestimmung einer neuen Sozialform der Religion (vgl. Grassi 1978: 375). Im Zentrum von Beachtung und Kritik steht nach wie vor Luckmanns anthropologisch-funktionale Definition der Religion.1 In strikter Distanz zu jeder substanziellen Definition der Religion, in der die Erfahrung eines „Heiligen“, „Übernatürlichen“ oder „Numinosen“ als Wesensmerkmal der Religion bestimmt wird (vgl. Berger 1974; Eliade 1998; Otto 2004), will Luckmann die Religion in Analogie zu Durkheim ausschließlich durch ihre universale soziale Funktion definieren. Deshalb lautet seine zentrale Frage: „Welches sind die allgemeinen anthropologischen Bedingungen für das, was als Religion institutionalisiert werden kann?“ (Luckmann 1991: 79). Durch diesen reduzierten Funktionalismus will er jede ideologische und ethnozentrische Befangenheit substanzieller Definitionen vermeiden. Gerade das unkritische Festhalten an der spezifisch christlichen Verengung des Religionsbegriffs (Knoblauch 1999: 9) versperrte über lange Zeit den religionssoziologischen Blick auf wesentliche Aspekte des religiösen Lebens. Ein allgemeiner Begriff der Religion, so die Anforderung, darf nicht durch historisch kontingente Inhalte gekennzeichnet werden, sondern nur durch die zugrunde liegenden anthropologischen Merkmale menschlicher Existenz. Von hier aus bestimmt Luckmann die allgemeine Funktion der Religion als „Transzendenz“, d.h. als Überschreiten der bloß biologischen und unmittelbaren Existenz, wobei Transzendenz hier weder Jenseitigkeit noch Außerweltlichkeit bedeutet, sondern schlicht „Sinntranszendenz“ (Hahn 1974: 42). Dabei kennt Luckmann Überschreitungen von unterschiedlicher Reichweite: Es gibt zunächst die „kleinen“ Transzendenzen, also jene alltäglichen Bezüge und Verweise auf etwas außerhalb unserer selbst, die zwar Raum und Zeit überschreiten, aber immer noch in potenzieller Reichweite sind. Im Unterschied dazu haben die „mittleren“ Transzendenzen anderer Menschen nur noch eine mittelbare Evidenz; sie müssen über den Umweg von Ausdruck und Zeichen kommuniziert werden. Die „großen“ Transzendenzen schließlich entziehen sich unserem 1 Zur Differenz zwischen substanzialer und funktionaler Religionsdefinition siehe Berger (1974), Knoblauch (1999) und Tyrell (1996).
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Zugang; sie sind lediglich durch den mystischen „Sprung“ erlebbar und zeichnen sich durch die Erfahrung von etwas Außeralltäglichem aus (Berger/Luckmann 1998/1966: 28). Doch ganz unabhängig von den Unterschieden der Reichweite ist für Luckmann jede Form der Transzendenz in ihrem Kern bereits ein religiöses Phänomen. Wie jede andere Objektivierung von Erfahrungen zu Deutungsmustern sind auch religiöse Deutungen Ergebnisse sozialer Interaktionen; wie jedes andere Wissen von der Wirklichkeit ist auch Religion ein kommunikativ erzeugtes Konstrukt. Deshalb ist Luckmanns Theorie der Transzendenz mit einer Theorie der Zeichen und Symbole verknüpft. Im Fokus der Luckmann’schen Religionssoziologie stehen nicht die inneren religiösen Erlebnisse, sondern deren objektivierte Ausdrucksformen und damit die Prozesse der Konstruktion und Kommunikation religiöser Deutungen. Hier schließt Luckmann an seine wissenssoziologischen Vorarbeiten an. Bereits in „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger/Luckmann 1998/1966) hatte er zusammen mit Peter L. Berger herausgearbeitet, dass das Überwinden des eigenen Bewusstseinsstroms nur durch die Vermittlung gewisser Schemata gelingt, die in intersubjektiven Beziehungen stabilisiert werden müssen. Sprachliche Zeichen erhalten in diesen Zusammenhang eine herausragende Bedeutung: Sie objektivieren einerseits durch ausdrückliche Verweise oder Hinweise auf etwas außerhalb meiner selbst, und sie generieren zugleich Objektivität durch die Typisierung und Entpersönlichung subjektiver Erfahrungen. Nur so kann zwischen verschiedenen Individuen eine gemeinsame Erfahrungs- und Erlebnisbasis entstehen, die wiederum wechselseitige Spiegelung, Reziprozität und Rollenübernahme ermöglicht, um die konstruierte Wirklichkeit permanent zu reproduzieren (vgl. Berger/Luckmann 1998/1966: 36ff., 49ff.). Im wesentlichen Unterschied zu anderen Deutungsmustern zeichnen sich die religiösen dadurch aus, dass sie die Welt der alltäglichen Erfahrungen mit einer transzendenten Wirklichkeit in Beziehung setzen und damit über die Alltagswelt hinausweisen. Solche Objektivierungen werden „symbolische Universa“ (Luckmann 1991: 81) oder „Weltansichten“ (Luckmann 1991: 89) genannt. Sie enthalten nicht nur Gebrauchswissen über die „Welt“, sondern zugleich die Legitimation ihrer Struktur und Ordnung (Berger/Luckmann 1998/1966: 98ff.; Luckmann 1991: 80ff., 89). Diese Weltansicht als ganze bezeichnet Luckmann als „grundlegende“, „unspezifische“ und „universale Sozialform der Religion“ (Luckmann 1991: 90, 93). Sie ist als „soziohistorisches Apriori“ immer schon vorhanden, so dass jedes Individuum in eine Weltansicht hineingeboren und hineinsozialisiert wird (Luckmann 1991: 88). Aus der Perspektive des Individuums zeigt sich die Weltansicht wiederum als wesentliche Bedingung der persönlichen Identität. Vor dem Hintergrund
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einer Anthropologie, die die „Weltoffenheit“ oder soziokulturelle Plastizität des Menschen in den Mittelpunkt stellt (Berger/Luckmann 1998/1966: 50ff.), erkennt Luckmann in der grundlegenden Religiosität zugleich den Prozess der Menschwerdung: Religion als Transzendierung der biologischen Natur des Menschen ist zugleich der „Vorgang, der zur Herausbildung eines Selbst führt“ (Luckmann 1991: 86; Wohlrab-Sahr 2000: 44ff. und 2001: 318). Der Mensch als instinktarmes Mängelwesen ist gezwungen, sich auf kulturelle Konstruktionen (Deutungsmuster, Normen, Ordnungen) zu beziehen, die ihm als Stütze und Sicherheit dienen und es ihm zugleich ermöglichen, sein Innerstes, seine Absichten und Pläne nach außen zu kehren, um sich seiner selbst gewahr und bewusst zu werden. Nur im Rückgriff auf diese Deutungsmuster kann der Einzelne eine konsistente Biografie entwerfen und verwirklichen: „Ein streng aus biologischer Perspektive betrachteter menschlicher Organismus würde sozusagen in der Unmittelbarkeit seiner ablaufenden Erfahrungen völlig aufgehen. [...] Er hätte weder eine klare und erinnerliche Vergangenheit noch eine ‚offene’ Zukunft mit verschiedenen Handlungsmöglichkeiten. Sein Leben könnte keine zusammenhängende Gestalt als Biographie annehmen. Oder anders gesagt: Er würde sich nicht zu einem individuellen Selbst entwickeln.“ (Luckmann 1991: 82f., 89)
So wie die Weltansicht die universale Form der Religion ist, so lässt sich die persönliche Identität als die universale Form der individuellen Identität definieren (Luckmann 1991: 109). Insofern konstatiert Luckmann eine unmittelbare Verbindung zwischen Weltansicht, Religion und Identität: „Weltansicht = Religion/Religiosität = persönliche Identität“ kann als „luckmannsche Gleichung“ bezeichnet werden (Mörth 1993: 631). Von diesen allgemeinen Erfahrungen der Transzendenz streng zu unterscheiden sind die institutionell spezifischen Formen der Religion, d.h. jene soziohistorisch verschiedenen inhaltlichen Ausformulierungen der universalen Religiosität. Der Übergang von der universalen zur kulturell spezifischen Weltansicht setzt allerdings zweierlei voraus: die Ausbildung spezifisch religiöser Institutionen einerseits und die Genese eines „Heiligen Kosmos“ andererseits. Der Heilige Kosmos als „spezifische, historische Sozialform der Religion“ (Luckmann 1991: 99) entsteht dann, wenn sich innerhalb der Weltansicht eine distinkte, spezifisch religiöse Repräsentation herauskristallisiert. Grundlage des Heiligen Kosmos sind die Erfahrungen der „großen Transzendenzen“. Diese Abgrenzung eines gesonderten Heiligen Kosmos findet bereits in den frühen Hochkulturen statt (Luckmann 1991: 96ff.). Wenn schließlich darüber hinaus dieser religiöse Kosmos noch von einer hochgradig spezialisierten Institution getragen wird, deren Vertreter ein Expertenwissen über den Heiligen Kosmos monopolisieren, dann spricht Luckmann von „Kirchlichkeit“ (Luckmann 1991: 100ff.). Allerdings ist
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diese institutionell spezialisierte Form der Religion eine historische Sonderform des Okzidents. Das Hauptanliegen der kirchlichen Experten besteht darin, die durch sie repräsentierte und institutionalisierte Form des Religiösen als „offizielles Modell“ der Transzendenzbewältigung zu etablieren und zu stabilisieren. In dieser Hinsicht erweist sich gerade die okzidentale Verkirchlichung als ambivalente Maßnahme: Einerseits ist sie ein geeignetes Mittel zur Durchsetzung eines kulturellen Deutungsmonopols, das aber andererseits den Keim der De-Institutionalisierung und Schwächung des „offiziellen Modells“ bereits in sich trägt (Luckmann 1991: 113-116). Denn je mehr die spezifischen religiösen Institutionen ihre Eigendynamik entwickeln, desto stärker ist die Tendenz, dass die erzeugten Deutungen zu reinem Expertenwissen werden und den Laien nur noch bruchstückhaft zugänglich sind (Luckmann 1991: 120ff.). Institutionalisierung und Spezialisierung des religiösen Wissens führen aber nicht nur zur sukzessiven Entfremdung zwischen den Bedürfnissen der Laien und den Deutungsangeboten der Experten, sondern auch zu einer fortschreitenden Ausdifferenzierung der nichtreligiösen institutionellen Gesellschaftsbereiche, die ihrerseits zunehmend an Autonomie gewinnen und mit dem Deutungsmonopol der offiziellen Religion konkurrieren (Luckmann 1991: 136ff.). Damit entpuppt sich Kirchlichkeit selbst als Ursache eines zweifachen Säkularisierungsprozesses: sowohl innerhalb der Kirchen durch die Zunahme nichtreligiöser (politischer, kultureller, sozialer, etc.) Funktionen als auch in der Alltagswirklichkeit der Laien, deren Bindung an die Religion der etablierten Kirchen immer schwächer wird (Knoblauch 1991: 18). Am Ende dieses Prozesses steht der Geltungsverlust des kirchlich institutionalisierten „offiziellen Modells“ als gesamtgesellschaftlich verpflichtender Weltansicht. Die Kirchenreligion wird zu einer Institution neben anderen, wobei die gesellschaftliche Integration breiter Bevölkerungsschichten in ein gemeinsames kulturelles Deutungssystem von anderen sekundären Institutionen übernommen wird. Allerdings gilt hier zu bedenken: Dieser Prozess der Säkularisierung bezieht sich lediglich auf das „offizielle Modell“ der kirchlichen Religiosität. Von einem Bedeutungsverlust der „universalen Sozialform“ kann hingegen keine Rede sein. Das anthropologische Bedürfnis des Menschen nach Transzendenz bleibt bestehen. Deshalb erfolgt in der universalen Dimension des Religiösen keine Säkularisierung, sondern eine zunehmende „Privatisierung“2. Dies bedeute, dass sich in 2 Mit Hart (1987) kann der Privatisierungsbegriff in sechs Phänomene ausdifferenziert werden, die alle in Luckmanns Schlüsselbegriff mitschwingen: (1) Religion ohne Kirche, (2) Kirche als freiwillige Vereinigung, (3) individuell-theologische Verantwortung, (4) religiöser Subjektivismus, (5) Trennung von religiösen und öffentlich-politischen Anliegen sowie schließlich (6) die zunehmende Marktorientierung in religiösen Fragen.
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modernen Gesellschaften eine „neue Sozialgestalt“ der Religion herausbilde, die das Individuum zum Leitthema herausarbeite und ihre Basis zunehmend in der Privatsphäre finde, besonders in der Familie und den unmittelbaren sozialen Beziehungsgeflechten (Luckmann 1991: 139ff., 156ff.; Wohlrab-Sahr 2000: 45; 2001: 318). Die neue oder moderne Sozialform der Religion lässt sich in ihrer Ausrichtung als zwischenmenschlich (interpersonal), diesseitig und innerlich (inward) charakterisieren (Knoblauch 1991: 19; Luckmann 1991: 154). Ein wesentliches Kennzeichen dieser privatisierten oder subjektivierten Religiosität ist die „Schrumpfung der Transzendenz“ (Mörth 1978: 89ff.) durch die „Sakralisierung“ privater Bedürfnisse: „Die im modernen Heiligen Kosmos vorherrschenden Themen verleihen dem Individuum so etwas wie einen sakralen Status, indem sie seine ‚Autonomie’ hervorheben. Dies steht natürlich im Einklang mit unserer Feststellung, daß die ‚letzten’ Bedeutungen des typischen Individuums in der modernen Industriegesellschaft der ‚Privatsphäre’ – und so seiner ‚privaten’ Biographie – angehören.“ (Luckmann 1991: 153)
Damit rücken Themen ins Zentrum des modernen Heiligen Kosmos, die eigentlich zu den mittleren und kleineren Transzendenzen gehören: Körperlichkeit und Sexualität, Familie, individuelle Selbstverwirklichung, persönliches Glück und Wohlbefinden. Dieser Trend zur Subjektivität ist laut Luckmann kombiniert mit einer zunehmenden Marktorientierung der religiösen Organisationen, die ihr religiöses Angebot immer stärker an der Konsumorientierung der individualisierten Subjekte ausrichten, so dass moderne Kulturen als „Warenlager ‚letzter Bedeutungen’“ (Luckmann 1991: 145) bezeichnet werden können. Dies führt auf lange Sicht zum religiösen Synkretismus: „Gehen wir aus von dem Warenangebot an religiösen Repräsentationen, die dem potentiellen Konsumenten zur Verfügung stehen, und vom Fehlen eines offiziellen Modells, dann ist es prinzipiell möglich, dass der ‚autonome’ einzelne nicht nur bestimmte Themen auswählt, sondern sich sozusagen ‚eigenhändig’ ein klar umschriebenes privates System von ‚letzten’ Bedeutungen zusammenbaut.“ (Luckmann 1991: 148)
Religion wird in der Form in Anspruch genommen, wie sie der Befriedigung individueller Bedürfnisse dienlich ist, wobei die pragmatische Durchmischung von Glaubensinhalten und religiösen Ethiken als probates Mittel erscheint. Fürstenberg (1982) spricht in diesem Zusammenhang von einer „vagabundierenden Religiosität“, die laut Kehrer (1988) durch die teilweise willkürliche Kombinati-
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on von traditionellen Religionsthemen mit Themen moderner Selbstverwirklichung charakterisiert werden kann (vgl. Knoblauch 1991: 24ff.). Dazu zählen auch jene neuen Formen der Religion, die klassischerweise als „Kult“3 oder quasi-religiöse „Surrogatbewegungen“ bezeichnet werden: alternative und lebensreformerische Bewegungen, „Human Potential Movements“, New-Age, Hexerei, Okkultismus und Astrologie, politische Bewegungen, Sport und Körperkult bis hin zu atheistischen Vereinigungen; unterschiedlichste Formen der Sinnsuche, denen aber die „Weltfrömmigkeit“ und die „Vergöttlichung“ des innerweltlichen Subjekts als zentrale Merkmale gemein sind.4 Mit diesem Befund geht Luckmann über die Religionssoziologie im engeren Sinne hinaus und nimmt gewissermaßen die Individualisierungsthese (Beck 1986) vorweg, indem er konstatiert, dass sich das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft in modernen Gesellschaften auf grundlegende Art und Weise verändert habe: Die Individualisierung und Pluralisierung der modernen Kultur führen zu einer Herauslösung des Einzelnen aus den sozialstrukturellen Determinanten, was sich in ambivalenten Freiheits- und Rechtfertigungszumutungen niederschlägt. Die religiöse Entwicklung dient als der ausgezeichnete Indikator dieses Prozesses. Mit seiner Rede von der „unsichtbaren Religion“ hat Luckmann einen fruchtbaren Gegenvorschlag zu der zur reinen Kirchensoziologie erstarrten Religionssoziologie vorgenommen. Das Heraustreten der Religionssoziologie aus dem „engen Blickwinkel der Pfarrsoziologie“ (Luckmann 1991: 51, 53ff.) und damit die Öffnung des religionssoziologischen Blicks für andere und neue Sozialformen des Religiösen sind sicherlich sein Verdienst. Luckmann stellte damit die Weichen für eine wissenssoziologisch fundierte Religionssoziologie (Fischer/Marhold 1978; Mörth 1978), die sich zunehmend der Erforschung kommunikativer Gattungen widmete5 und die Entwicklung neuer Methoden stimulierte, um subjektive Religiosität und subjektive Bedeutungssysteme jenseits der Kirchen zu erfassen.6
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Zur Genealogie des Kultbegriffs siehe Knoblauch (1989). Siehe dazu Barker (1982; 1983; 1989), Barker/Warburg (1998), Campbell (1971), Demerath (1969; 1974), Honer (1985a; 1985b), Knoblauch (1989; 2002a; 2002b), Wallis (1984) Hahn/Willems (1993), Willmann (1996). 5 Hierzu zählen insbesondere die Studien über Konversionserzählungen von Jödicke (1993), Knoblauch et al. (1997) und Ulmer (1988) sowie die Thematisierung moralischer Alltagskommunikationen durch Luckmann (1986, 1998). 6 In diesem Zusammenhang muss der Einfluss der Biografieforschung auf die zeitgenössische Religionssoziologie genannt werden; vgl. Klein (1994), Pollack (1996) und Wohlrab-Sahr (1995, 2000, 2001). Daneben seien die umfangreichen Studien zur Selbstthematisierungsthematik genannt: Hahn (1982), Hahn/Kapp (1987) und Meulemann/Birkelbach (1993). 4
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Zugleich enthält „Die unsichtbare Religion“ eine differenzierte Re-Vision des Säkularisierungskonzepts (Luckmann 1991: 56ff.): Indem Luckmann die vielfältigen synkretistischen, diesseitigen, privatistischen Religionen ins Zentrum stellt, die sich in modernen Gesellschaften als legitime Mittel der Sinnstiftung etabliert haben und in Konkurrenz zu den etablierten institutionalisierten Kirchen treten, kann er die These der generellen Säkularisierung in Frage stellen, ohne deshalb vorschnell und undifferenziert von einer „Wiederverzauberung“ oder gar „De-Säkularisierung“ moderner Gesellschaften reden (vgl. Heenan 1973; Hunter 1981). Vielmehr kann man im Anschluss an Luckmanns Religionssoziologie glaubhaft zeigen, dass der Eindruck einer „Wiederverzauberung“ auf einer überzogenen und falschen Vorstellung des Mythos der Säkularisierung beruht, demzufolge nicht nur die traditionellen Sozialformen der Religion, sondern die Religion tout court an den Rand gedrängt werde (Knoblauch 1989: 504). Die weite Bestimmung des Religiösen ist allerdings auch Anlass für scharfe Kritik. Verschiedene Autoren konstatieren, dass bei Luckmann die Religion nicht mehr von anderen Formen des Wissens unterschieden werden könne. Wissenschaft, Technik, kurz: jegliche kulturelle Leistung des Menschen erscheine aus seiner Perspektive als Ausdruck des Religiösen. Selbst der Atheismus und andere Aspekte der Irreligiosität können damit unter dem Begriff der „Religion“ subsumiert werden (Campbell 1971; Demerath 1969). Diese Kritik wird ganz besonders von Vertretern „substanzialistischer“ Theorien formuliert, zu denen auch Luckmanns wissenssoziologischer Mitstreiter Peter L. Berger zählt; sie beunruhigt, dass mit dieser Gleichsetzung auch weltliche Weltanschauungen einen religiösen Status erhielten und damit das „spezifisch Religiöse“, das „Heilige“ und „Numinose“ geleugnet würde (vgl. Berger 1974). Ich möchte im Folgenden für eine modifizierte Fassung des funktionalistischen Religionsbegriffs plädieren, die einerseits an Luckmanns Distanzierung gegenüber „substanziellen“ Religionsbegriffen festhält, da hier in der Tat eine eurozentristische Voreinstellung gegeben ist, die nicht nur politisch, sondern vor allem auch theoretisch problematisch ist. Andererseits, und darin besteht die Modifikation, verlangt ein funktionalistischer Religionsbegriff keineswegs, wie Luckmann suggeriert, den Inhalt einer religiösen Weltansicht vollends zu ignorieren. Vielmehr lassen sich Religionen und religiöse Weltanschauungen sehr gewinnbringend danach unterscheiden, „’wovon’ und ‚wozu’ man ‚erlöst’ sein wollte und – nicht zu vergessen: - konnte“ (Weber 1988a: 252). In den inhaltlichen Ausformulierungen eines religiösen Weltbildes spiegeln sich sowohl die Motive der Trägergruppen als auch die Bedürfnisse der angesprochenen Laien wider. In diesen Wahlverwandtschaften zwischen „Ideen“ und „Interessen“ kommen die soziologisch höchst brisanten Aspekte der ungleichen Verteilung von Erlösungs- und Daseinschancen zum Tragen, die für eine kriti-
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sche Rekonstruktion der Funktion von Religionen geradewegs unerlässlich sind. Zugleich erlaubt diese Herangehensweise die Thematisierung der sozial strukturierten Grenzen der (religiösen) Individualisierung. Einen solchen funktionalen und zugleich substanziell gesättigten Religionsbegriff bietet uns Max Webers Religionssoziologie. Im Folgenden sollen der webersche Funktionalismus rekonstruiert und sein analytisches Potenzial am Beispiel der neuen religiösen Bewegungen dargelegt werden.7
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Religion als Antwort auf die „Not“
Bereits auf den ersten Blick zeigen sich in den Religionssoziologien von Weber und Luckmann tiefgreifende Parallelen: Beide distanzieren sich von einer Engführung der Religionssoziologie als Kirchensoziologie zugunsten der internen Vielfalt der Religionen, die Max Weber durch das komplexe Wechselspiel zwischen Ideen, Institutionen und Interessen konzipiert. Beide Autoren stellen die institutionelle Vielfalt der Religion ins Zentrum; in diesem Zusammenhang sei insbesondere Webers Unterscheidung zwischen Kirchen und Sekten genannt. Und schließlich vertreten beide Autoren einen funktionalistischen Religionsbegriff8: Man wird nach Weber der eigentlichen Funktion der Religion nur dann gerecht, wenn man sie an ein umfassendes Verständnis der menschlichen „Not“ oder Bedürftigkeit rückbindet, indem neben der „äußeren“ auch die „innere Not“ als eigenständiges Handlungsmotiv und unabhängige Variable der Religionsentwicklung anerkannt wird. Im Beharren auf einer eigenständigen „inneren Not“ distanziert sich Weber rigoros sowohl von Nietzsches RessentimentTheorie als auch von Marx’ einseitiger Zurückführung der religiösen Ideen auf Klasseninteressen. „Und vor allem war die Art einer religiösen Verheißung [...] keineswegs notwendig oder auch nur überwiegend, lediglich Sprachrohr eines Klasseninteresses, sei es äußerlicher oder innerlicher Art. [...] Im übrigen aber war die Eigenart der großen religiös-ethischen Systeme durch weit individuellere gesellschaftliche Bedingungen als durch den bloßen Gegensatz von herrschenden und beherrschten Schichten bestimmt.“ (Weber 1988a: 248f.) 7
Diese Interpretation Webers als einem „Ahnherrn“ des funktional bestimmten Religionsverständnisses wird auch von Winfried Gebhardt (in diesem Band) vertreten und ausführlich bearbeitet. Der hier vorliegende Beitrag konzentriert sich in erster Linie auf das sozialstrukturelle Differenzierungspotenzial der weberschen Religionssoziologie; eine Dimension, die laut Gebhardt bei Luckmann durch die Orientierung an einem phänomenologischen Universalismus verdeckt bleibt. 8 Zu den möglichen Funktionen und Leistungen der Religion siehe Knoblauch (1999).
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Am Beispiel des Buddhismus, jener „Erlösungsreligion einer stolz und vornehm die Illusionen des diesseitigen wie des jenseitigen Lebens gleichmäßig verachtenden, zunächst fast durchweg aus den privilegierten Kasten [...] rekrutierten Intellektuellenschicht“, zeigt Weber, dass das Bedürfnis nach religiöser Erlösung auf eine ganz eigenständige Quelle zurückzuführen ist, nämlich „den Intellektualismus rein als solchen, speziell die metaphysischen Bedürfnisse des Geistes, welcher über ethische und religiöse Fragen zu grübeln nicht durch materielle Not gedrängt wird, sondern durch die eigene innere Nötigung, die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen zu können“ (Weber 1980b: 304). Genährt wird dieses menschliche Bedürfnis nach Sinn durch das Problem der Theodizee und die unvermeidbare Erfahrung, dass die Welt als solche an sich irrational ist: „Das uralte Problem der Theodizee ist ja die Frage: Wie kommt es, daß eine Macht, die als zugleich allmächtig und gütig hingestellt wird, eine derartig irrationale Welt des unverdienten Leidens, des ungestraften Unrechts und der unverbesserlichen Dummheit hat erschaffen können. [...] Dies Problem: die Erfahrung von der Irrationalität der Welt war ja die treibende Kraft aller Religionsentwicklung.“ (Weber 1980b: 314ff.; vgl. auchWeber 1988a: 242ff.; 1988c: 443f.)
Diese „innere Not“, das eigenständige Bedürfnis nach Sinn, ist für Weber eine Grundvoraussetzung aller menschlichen Kulturleistungen und lässt sich in seiner elementaren anthropologischen Bedeutung durchaus mit Luckmanns Transzendenz vergleichen. Beide Begriffe behandeln ähnliche kognitive und moralische Bedürfnisse: Zunächst ist da die Notwendigkeit, das Weltgeschehen als irgendwie sinnvoll, nachvollziehbar und deshalb in Grenzen kontrollierbar zu begreifen. Für Weber ist das Leitmotiv der fortschreitenden Rationalisierung nichts anderes als eine Antwort auf das Bedürfnis nach Berechenbarkeit und Kontrolle, um sich derart der allumfassenden Ohnmacht und Sinnlosigkeit entgegenzustemmen. Insofern steht hinter allen kulturellen Leistungen des Menschen „eine Stellungnahme zu etwas, was an der realen Welt als spezifisch »sinnlos« empfunden wurde und also die Forderung: daß das Weltgefüge in seiner Gesamtheit ein irgendwie sinnvoller »Kosmos« sei oder: werden könne und solle“ (Weber 1988a: 253). Darüber hinaus ist diese „innere Not“ ein zentrales Motiv der Identitätsbildung. Wie bei Luckmann, so ist auch bei Weber die Theorie der Religion unmittelbar mit einer Theorie der Herausbildung einer moralisch zurechnungsfähigen Persönlichkeit verbunden (Wohlrab-Sahr 2001: 317). Allein die menschliche Fähigkeit, unter Bezugnahme auf Weltbilder und Wertideen „bewußt zur
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Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen“ (Weber 1980a: 180), sichert die Identität und Konsistenz der eigenen Biografie und integriert an sich disparate Einzelhandlungen zu einer subjektiv sinnhaften „Lebensführung“. Andernfalls droht der Untergang im bloßen Sichverhalten, in der „Masse alles eingelebten Alltagshandelns“, in ein „dumpfes, in der Richtung der einmal eingelebten Einstellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Reize“ (Weber 1980b: 12). Weil das „Leben als Ganzes [...] eine Kette letzter Entscheidungen bedeutet, durch welche die Seele [...] den Sinn ihres Tuns und Seins [...] wählt“ (Weber 1980a: 138), ist der Bezug auf Ideen und Weltbilder unverzichtbar. Darin erkennt Weber die universale „Kulturbedeutung“ der Religion. Auch hier hat Transzendenz im Sinne des Bezugs auf eine „Hinterwelt“ eine wesentliche Bedeutung, wobei diese Hinterwelt weder als etwas Heiliges noch als etwas Übernatürliches konzipiert sein muss (Weber 1980b: 245ff.). Zudem bestimmt die Unterscheidung zwischen Welt und Hinterwelt weder den Sitz der Götter noch die Art des Heils: Es gibt sowohl immanente als auch transzendente Götter und Geister, und das Heil kann entweder als Glück oder als Erlösung gedacht sein (Schluchter 1988: 28). Entscheidend für die religiöse Transzendenz im Unterschied zur Magie aber ist, dass die Beziehung zur Hinterwelt nicht mehr als instrumentelle Kausalbeziehung verstanden wird, sondern als eine Zeichenbeziehung, vermittelt über Rituale und Symbole (Knoblauch 1999: 53f.; Schluchter 1988: 24f.). Von Religion (im Unterschied zur Magie) kann nach Max Weber dann gesprochen werden, wenn „einmal ein Reich der Seelen, Dämonen und Götter entstanden [ist], welches ein nicht im Alltagssinne greifbares, sondern ein regelmäßig durch Vermittlung von Symbolen und Bedeutungen zugängliches hinterweltliches Dasein führt“ (Weber 1980b: 248). Dies geschieht im Zuge verschiedener Abstraktionsleistungen (Pantheonbildung, Anthropomorphisierung, Kompetenzabgrenzung, Spezialisierung), die zu einer sukzessiven Durchsystematisierung der Hinterwelt führen (Weber 1980b: 250f.). Erst durch diese intellektuellen Leistungen wird die Kluft zwischen Welt und Hinterwelt derart vertieft, dass ein direkter magischer Zugriff auf die andere Realität nicht mehr möglich ist. So kommt es zum Übergang vom magisch-manipulativen Gotteszwang zum religiösen Gottesdienst. Die religiöse Beziehung wächst aus der Magie heraus, freilich ohne diese je ganz zu überwinden. Allerdings – und nun kommen wir zu den Differenzen zwischen Weber und Luckmann – ist es für Weber bedeutsam, diese religiöse Transzendenz nochmals in ihre verschiedenen Spielarten zu unterteilen. Hier ist der Unterschied zwischen Erlösungsreligion und erlösungsfreier Kulturreligion von besonderer Bedeutung (Schluchter 1988: 24-28): Während in erlösungsfreien Kulturreligionen die Differenz zwischen Welt und Hinterwelt lediglich als eine graduelle betrach-
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tet wird und Glücksverheißungen als Prämien eingesetzt werden, fassen Erlösungsreligionen die Kluft zwischen den Realitäten als eine prinzipielle auf und setzen damit das Bedürfnis und die Hoffnung auf Erlösung frei. Erst durch die Erlösungshoffnung kann die menschliche Leiderfahrung an das Bedürfnis nach Sinngebung gekoppelt und durch Theodizeen intellektuell abgearbeitet werden. Aus den genannten Differenzen ergeben sich dann auch unterschiedliche Stellungnahmen zur Welt: Während die Erlösungsreligionen zur Weltablehnung tendieren, sind erlösungsfreie Kulturreligionen primär durch Weltanpassung gekennzeichnet.9 In welche dieser beiden Richtungen sich die religiöse Transzendenz entwickelt, ist eine historische Frage, die in besonderer Art und Weise mit den ideellen und materiellen Interessen der jeweiligen Trägergruppen zusammenhängt. Es ist Webers zentraler Verdienst, dass er die Eigenart der Religiosität auch als Wechselspiel zwischen religiösen Ideen und sozialer Schichtung analysiert hat. Er hat immer wieder die „charakteristische[n] Gegensätze dessen, was Religionen den verschiedenen sozialen Schichten »leisten« mußten“ (Weber 1980b: 299), hervorgehoben, wobei eine systematische Darstellung dieser Wahlverwandtschaften zwischen Religion und sozialer Lage in § 7 der Religionssoziologie in „Wirtschaft und Gesellschaft“ zu finden ist (Schluchter 1988: 32ff.; Weber 1980b: 285-314):10 So ist das Verhältnis der sozial und ökonomisch positiv privilegierten Schichten gegenüber erlösungsreligiösen Lehren durch Indifferenz bis hin zur Ablehnung geprägt. Wenn Weber im Rahmen dieser Analyse den erlösungsorientierten Intellektualismus der buddhistischen Eliten als das „radikalste Gegenteil jedes Ressentimentmoralismus“ (Weber 1980b: 304, 306) hervorhebt, so muss dies als Argument gegen Nietzsche und auch Marx gelesen werden; eine beachtenswerte Ausnahme, mit der Weber erneut auf die oft übersehene Komplexität des Wechselspiels zwischen Ideen und Interessen hinweisen will. Je9 Wobei die Weltablehnung nicht als eine „Semantik des Geheimnisses, der Mystik oder des Numinosen“ verstanden und von einer innerweltlichen „Weltzugewandtheit“ unterschieden werden darf (Wohlrab-Sahr 2001). Vielmehr unterscheidet Weber in der „Zwischenbetrachtung“ (1988b: 538ff.) innerhalb der „Weltablehnung“ zwischen innerweltlicher „Weltbeherrschung“ und außerweltlich orientierter „Weltflucht“; letztere nennt er an anderer Stelle (Weber 1980b: 334ff.) „Mystik“ oder „Kontemplation“ im Unterschied zur „Askese“. Beides sind für Weber legitime Arten, dem grundsätzlichen Abgrund zwischen religiösem Sollen und kreatürlichem Sein, zwischen Gott und Welt, zu begegnen. 10 An dieser Stelle sollte darauf hingewiesen werden, dass es sich hier nicht um deterministische Gesetzmäßigkeiten handelt, sondern um sogenannte „Wahlverwandtschaften“, d.h. idealtypische Affinitäten und Adäquanzverhältnisse, die mit einer größeren „Chance“ auftreten als andere Zusammenhänge. Wie so häufig plädiert Weber auch an dieser Stelle gegen jeden Determinismus und für ein Denken in Wahrscheinlichkeiten und „Chancen“, mit dem die historische Kontingenz, der Zufall und die Komplexität kultureller Prozesse rekonstruiert werden können.
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doch: An der typischen Distanz der positiv Privilegierten gegenüber erlösungsreligiösen Lehren ändert dies nichts, wobei diese Ablehnung durchaus auf Gegenseitigkeit beruht: „Das in den eigentlichen Erlösungsreligionen in aller Regel vorhandene Mißtrauen gegen Reichtum und Macht hatte seinen natürlichen Grund vor allem in der Erfahrung der Heilande, Propheten und Priester: daß die in dieser Welt begünstigten und »satten« Schichten das Bedürfnis nach einer Erlösung - gleichviel welchen Charakters - im allgemeinen nur in geringem Maße besaßen, und daher minder »fromm« im Sinne jener Religionen waren.“ (Weber 1988a: 248)
Dieses religiöse Desinteresse zeigt sich sowohl im Falle der bürgerlichen Patrizier (Weber 1980b: 291) als auch beim Adel, dessen Würdegefühl durch Begriffe wie „Sünde“, „Erlösung“ und vor allem „Demut“ regelrecht verletzt wird (Weber 1980b: 288). Ähnliches gilt auch für die privilegierten Beamten, deren tiefe Verachtung für jede „irrationale Religiosität“ zu einem „absoluten Fehlen jeglichen Erlösungsbedürfnisses“ führt (Weber 1980b: 290). Letztere neigen zur Ausbildung einer weltangepassten und erlösungsfreien Kulturreligion, die die eigene Vornehmheit in den Vordergrund stellt. Klassisches Beispiel ist das kultivierte „Gentleman-Ideal“ (Weber 1980b: 309; 1988b: 420ff., 449ff.) im Konfuzianismus, dem weberschen Prototyp einer „inhaltlich rein opportunistischutilitaristische[n], aber ästhetisch vornehme[n] Kunstlehre eines bürokratischen Standeskonventionalismus“ (Weber 1980b: 290). Ganz generell formuliert steht bei den positiv privilegierten Schichten die ideologische Funktion der Religion im Vordergrund: zunächst als Mittel der Subordination und als Garantie der Fügsamkeit der negativ Privilegierten, darüber hinaus auch zur Legitimation der eigenen Privilegien durch eine „Theodizee des Glücks“ (Weber 1988a: 242): „Sie schieben vielmehr der Religion in erster Linie die Rolle zu, ihre eigene Lebensführung und Lebenslage zu »legitimieren«. Diese höchst universelle Erscheinung wurzelt in ganz allgemeinen inneren Konstellationen. Daß ein Mensch im Glück dem minder Glücklichen gegenüber sich nicht mit der Tatsache jenes Glücks begnügt, sondern überdies auch noch das »Recht« seines Glücks haben will, das Bewußtsein also, es im Gegensatz zu dem minder Glücklichen »verdient« zu haben während dieser sein Unglück irgendwie »verdient« haben muß -, dieses seelische Komfortbedürfnis nach der Legitimität des Glückes lehrt jede Alltagserfahrung kennen, [...]. Die »Legitimierung« in diesem innerlichen Sinne ist das, was die positiv Privilegierten innerlich von der Religion verlangen, wenn überhaupt irgend etwas.“ (Weber 1980b: 299)
Ganz anders, ja sogar „entgegengesetzt“ ist die Lage der negativ Privilegierten. „Ihr spezifisches Bedürfnis ist Erlösung vom Leiden.“ (Weber 1980b: 299) Da-
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bei zielt die Erlösungshoffnung der negativ Privilegierten nicht nur auf die Befriedigung materieller Interessen, sondern ebenso auf ideelle Bedürfnisse: Es geht ihnen auch um Würde und Anerkennung. Da die sozial gedrückten Schichten im Unterschied zu den positiv Privilegierten das eigene Würdegefühl nicht aus ihren Daseinsverhältnissen, also aus ihrem „Sein“ ziehen können, orientieren sich die sozial gedrückten Schichten an einem noch nicht vorhandenen, aber erhofften „Sollen“, genauer an dem Glauben an eine ihnen anvertraute besondere „Mission“, an eine von Gott gestellte „Aufgabe“ (Weber 1988a: 248). „Was sie zu »sein« nicht prätendieren können, ergänzen sie entweder durch die Würde dessen, was sie einst sein werden, zu sein »berufen« sind, in einem Zukunftsleben im Diesseits oder Jenseits oder (und meist zugleich) durch das, was sie, providentiell angesehen, »bedeuten« und »leisten«. Der Hunger nach einer ihnen, so wie sie und so wie die Welt sind, nicht zugefallenen Würde schafft diese Konzeption, aus welcher die rationalistische Idee einer »Vorsehung«, einer Bedeutsamkeit vor einer göttlichen Instanz mit anderer Rangordnung der Würde entspringt.“ (Weber 1980b: 300)
Es sind die „Mühseligen und Beladenen“, die sich nach einer „Theodizee des Leidens“ sehnen (Weber 1988a: 244) und deren Hoffnung auf Erlösung oft mit radikalen Formen der „Heilandsreligiosität“ (Weber 1980b: 296f.; 1988a: 244ff.) gepaart ist, mit dem Glauben am persönlichen, göttlichen oder menschlichen Erlöser. Wovon und wozu man schließlich erlöst sein wollte und konnte, dies wird letztendlich durch das jeweilige religiöse Weltbild, die vorhandene oder auch nicht vorhandene Gottesvorstellung und die damit verbundenen Heilswege festgelegt, woraus sich eine nahezu unübersichtliche Vielfalt erlösungsreligiöser Hoffnungen ergibt (Weber 1988a: 252). Doch dass man überhaupt erlöst sein will, ist in großem Maße von der sozialen Lage abhängig: „Jedes Erlösungsbedürfnis ist Ausdruck einer »Not« und soziale oder ökonomische Gedrücktheit ist daher zwar keineswegs die ausschließliche, aber naturgemäß eine sehr wirksame Quelle seiner Entstehung.“ (Weber 1980b: 299)
Zusammenfassend kann man also sagen: „Universell“ oder anthropologisch fundiert ist das Bedürfnis des Menschen, seinem Leben und seiner Welt einen Sinn abzuringen. Diese Sinnsetzung erfordert eine Art reflexives Bewusstseins, das Helmut Plessner (1928/1975) als „exzentrische Positionalität“ bezeichnet hat. Das Bedürfnis nach Sinntranszendenz enthält die Notwendigkeit, das eigene irdische Dasein im Hinblick auf eine andere Realität zu transzendieren. Diese „innere Not“ ist die universelle Grundlage des religiösen Lebens in all seinen vielfältigen historischen Formen.
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Allerdings ist die Herausbildung der verschiedenen historischen Sozialformen weder willkürlich noch zufällig. Vielmehr kann man mit Webers funktionalistischem Religionsbegriff zeigen, dass das Ausmaß und die Art und Weise, wie Sinntranszendenz verwirklicht wird, deutlich durch die sozialstrukturelle Position der jeweiligen Trägergruppe bestimmt wird. In Webers Terminologie könnte man sagen: Die „äußere Not“ bedingt die inhaltliche Ausgestaltung der „inneren Not“. Es ist die soziale Lage, die mitentscheidet, ob man überhaupt erlöst werden will oder ob man nur an Glücksverheißungen interessiert ist. Je nach den Interessen der Trägergruppen entwickelt sich dann entweder eine weltablehnende Erlösungsreligion oder eine weltanpassende Kulturreligion.11
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Die sozialstrukturelle Bedingtheit der „neuen religiösen Bewegungen“
Es stellt sich nun die Frage, ob diese sozialstrukturelle Bedingtheit der Religiosität, die Weber in Quasi-Gesetzen formuliert, auch für die heutige Situation zutrifft. Die Antwort auf diese Frage ist sowohl von religionssoziologischer als auch von gesellschaftstheoretischer Relevanz, wenn man Luckmanns These von der Subjektivierung des Religiösen als religionssoziologische Variante der Individualisierungsthese begreift, die im Kern von der zunehmenden Unabhängigkeit der individuellen Biographie von Schicht- und Klassenzugehörigkeiten ausgeht. Vor diesem Hintergrund wäre die empirische Bestätigung des von Weber unterstellten Zusammenhangs zwischen sozialer Lage und religiösem Interesse zugleich ein Beleg für die weiterhin bestehenden Grenzen der Individualisierung. Angesichts der zahllosen und weitverbreiteten neuen religiösen Bewegungen in der Gegenwart scheint es schwierig, eine zutreffende Definition dieses Phänomens zu finden. Um die Vielfalt der Heilswege und Heilsziele halbwegs zu bewältigen, entscheiden sich manche Autoren für eine sehr offene und inhaltsleere Bestimmung: „Eine Bewegung kann insofern als neu gelten, als sie seit dem Zweiten Weltkrieg in ihrer gegenwärtigen Form besteht, und als religiös insofern, als sie sich selbst jenen letzten Fragen des Lebens zuwendet, die bisher üblicherweise von eher traditionellen religiösen Organisationen und Glaubenssystemen beantwortet wurden: Wozu sind wir da? Was ist der Sinn des Lebens? Wo kann ich den Sinn meines Daseins erkennen? Wer bin ich?“ (Barker 2004: 338)
11 Dabei muss betont werden, dass dieser Unterschied von ganz entscheidender Bedeutung ist: Nur im erlösungsreligiösen Kontext kann das Charisma seine revolutionäre Kraft entfalten und eine Umgestaltung der sozialen Verhältnisse vorantreiben.
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Hubert Knoblauch hat darüber hinaus versucht, die neuen religiösen Bewegungen durch einen gemeinsamen inhaltlichen Kern zu definieren, den er unter dem Stichwort „Ganzheitlichkeit“ subsumiert (Knoblauch 1989: 507ff.; Knoblauch 2000a, 2000b und 2002). Ganzheitlichkeit bezeichnet zunächst die Tendenz, Religion mit religiöser Erfahrung gleichzusetzen. Im Zentrum der neuen Religiosität steht die ganz persönliche Offenbarungserfahrung, was mit einem deutlichen Bedeutungsverlust anderer religiöser Dimensionen einhergeht. Aufgrund des teilweise dezidiert „antiintellektuellen Gestus“ (Knoblauch 2002: 298) neuer religiöser Bewegungen kann man durchaus von einer Entmachtung des religiösen Wissens, der akademischen Theologie und der sie betreibenden religiösen Experten sprechen (Knoblauch 2002: 302). An deren Stelle tritt eine medial vermittelte „Populärtheologie“, die ganz bewusst den Anspruch erhebt, jedem Gläubigen zugänglich zu sein, so dass durchaus von einer „demokratischen Spiritualität“ (Knoblauch 2002: 397) gesprochen werden kann. Angesichts dieser zentralen Bedeutung des religiösen Erlebnisses ist Ganzheitlichkeit zugleich ein Synonym für die Subjektivierung: Im Kontext ganzheitlicher Bewegungen wird Religion fast vollständig ins Subjektive verlagert (Knoblauch 2000a und 2002: 297, 300, 303). Neben diesen Gemeinsamkeiten zeigen sich zugleich beachtliche Unterschiede. Dies gilt zunächst im Hinblick auf die religiösen Heilsziele: Während außerhalb von Europa vornehmlich erlösungsreligiöse, teils fundamentalistische, teils charismatisch-evangelikale Bewegungen auf dem Vormarsch sind, wird die europäische Religiosität durch jene kulturreligiösen Tendenzen charakterisiert, die als „Esoterik“, „New Age“ oder moderner Okkultismus bezeichnet werden (Barker 1989; 2004; Knoblauch 1989; 2002). Diese inhaltlichen Unterschiede lassen sich sehr gut durch die unterschiedlichen sozialen Lagen der Anhänger oder Trägergruppen erklären: Bereits in der Gründungsphase der meisten westlichen religiösen Bewegungen, die ursprünglich in den USA, insbesondere in Kalifornien entstanden und mittlerweile auch in Europa etabliert sind, rekrutierten sich die Anhänger aus „einer Klasse junger Menschen, die über viel Zeit verfügten, wenig Verantwortung tragen mussten, dafür aber über große Kaufkraft verfügten und eine eigene Jugendkultur bildeten“ (Barker 2004: 340). „Tatsächlich sind es heute – anders als in vielen früheren religiösen Bewegungen – nicht die Armen und Unterdrückten, auf die die neuen Religionen eine Anziehungskraft ausüben, sondern unverhältnismäßig viele junge, gebildete und materiell gutstehende Angehörige der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft.“ (Barker 2004: 341)
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Die europäische Form der neuen Religiosität zeigt damit eine deutliche Übereinstimmung mit dem, was Max Weber als „Theodizeen des Glücks“ bezeichnet hat: Trägergruppen sind die wohlhabenden Mittelschichten, die im Zuge des Wertewandels in spätindustriellen Gesellschaften den Postmaterialismus für sich entdeckt haben. Angesichts ihrer relativ komfortablen Daseinssituation sehen sie das Ziel ihres religiösen Engagements in einer rein kulturreligiösen Weltanpassung zur Optimierung der eigenen Situation. In den aktuellen Formen der neuen Religiosität zeigt sich diese Weltanpassung besonders gut im gnostischen Motiv einer verborgenen Harmonie zwischen Mensch und Gott (Knoblauch 1989: 507). Zwar zeigen diese „Theodizeen des Glücks“ eine gewisse Übereinstimmung mit Oevermanns „struktureller Religiosität“ (vgl. auch Oevermann 1995), d.h. mit einem konstanten Bedürfnis nach Bewährung, das im Säkularisierungsprozess durch den Verlust sicherer Glaubensinhalte und „Gnadengewissheit“ (Weber) regelrecht forciert wird und in der Moderne entweder im Rekurs auf eine alte Leistungsethik oder aber „in Form angestrengter Selbstverwirklichung“ befriedigt wird (Oevermann, zit. in Wohlrab-Sahr 2001: 320). Doch diese Bewährung zielt nicht auf die erlösungsreligiöse Überwindung oder sittliche Überbietung der gegebenen Verhältnisse, sondern dient der erlösungsfreien Glückssuche des „flexiblen“ (Vogd 1999) und „erfahrungshungrigen“ (Knoblauch 1989: 517f.) Mittelschichtangehörigen im Hier und Jetzt. Daher die Konzentration auf kleine Transzendenzen, auf die Themen des alltäglichen Lebens und des innerweltlichen Glücks (Knoblauch 1989: 514). Dies zeigt sich schon im Falle der Hippie-Bewegung, deren Aktivisten keineswegs versucht haben, das System zu bekämpfen, sondern sich eher passiv aus der Welt zurückzuziehen, unterstützt durch wohlhabende Eltern, die reich genug waren, um ihren Kindern den „Luxus eines bescheidenen Lebens“ zu finanzieren (Barker 2004: 342). Im Fokus dieses eigentümlichen „Protests“ stand dementsprechend auch nicht das unterdrückte oder ausgebeutete Individuum, sondern ein Subjekt, das sich um das eigene Wohlergehen und die Entfaltung des Selbst sorgt (Barker 2004: 343). Diese Tendenz zur religiösen Selbstverwirklichung und Selbstermächtigung privilegierter Subjekte zeigt sich nicht nur bei den Anhängern der neuen religiösen Bewegungen, sie findet sich auch in den modernen Formen des Protestantismus in Deutschland (siehe der Beitrag von Benhaus-Apel in diesem Band) sowie in der eigentümlichen Rezeption asiatischer Erlösungsreligionen durch westliche Adepten. So zeigt Werner Vogd (1999), wie westliche Buddhisten diese ursprünglich streng asketische und weltablehnende Erlösungsreligion in eine weltanpassende Klugheitslehre transformieren, die primär zur Selbstfindung, Selbsterfahrung und Eigentherapie dienlich ist. Dies geht soweit, dass selbst buddhistische Lehrer den „spirituellen Materialismus“ (Trungpa 1973;
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Fazit
Mit Recht erkennt Ingo Mörth die Krux des reinen Funktionalismus darin, dass er entscheidende Fragen unbeantwortet lässt, insbesondere die Frage, warum sich 12 Vgl. Chesnut (1997: 2003), Freston (2001; 2008), Höllinger (2007), Martin (1990), Martin (2001) sowie der Beitrag von Franz Höllinger in diesem Band.
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in einem gesellschaftlichen Kontext bestimmte Themen und Symbole als „heilig“ qualifizieren und einen individuellen, identitätssichernden Belang erhalten (vgl. Mörth 1993). Angesichts der enormen Unterschiede in der konkreten Ausformulierung von Glaubens- und Sinnangeboten scheint es geboten, Weber folgend die inhaltliche Differenzierung von Weltbildern und Formen der Transzendenz- und Kontingenzbewältigung mehr als bisher in den Vordergrund zu stellen. Die webersche Herangehensweise, mit der sowohl die Funktion als auch der Inhalt religiöser Deutungen analysiert werden können, belässt es nicht einfach bei der Feststellung, Religionen seien Antworten auf eine „innere Not“. Vielmehr geht es Weber auch immer um die Erklärung der enormen Unterschiede im Hinblick auf die gegebenen Antworten oder Deutungen. Diese inhaltlichen Ausformulierungen sind keineswegs zufällig oder willkürlich. Sie sind einerseits durch die ideellen Traditionen mitbestimmt, die den Zugriff auf bestimmte Gottesvorstellungen, Heilsgüter und Heilsmittel eher nahelegen als andere: In diesem Sinne kann man von einer „ideellen Weichenstellungen“ sprechen, deren Relevanz immer von Weber herausgearbeitet wird. Aber dies ist nur die „eine Seite der Kausalbeziehung“ (Weber 1988b: 12). Nicht weniger relevant ist offensichtlich die materielle Situation der Trägergruppen und der angesprochenen Anhängerschaft. Die „äußere Not“ bedingt ihrerseits die inhaltliche Antwort auf die „innere Not“; zur „ideellen“ Weichenstellung tritt die „materielle“ oder sozialstrukturelle hinzu. Es ist auch die soziale Lage der angesprochenen Akteure, die mit darüber entscheidet, ob die Antwort auf die umfassenden Sinnfragen in einer Erlösungsreligion gesucht wird, die auf Selbst- und Weltüberwindung ausgerichtet ist, oder ob man sich einer erlösungsfreien Kulturreligion anschließt, die das Gefühl der eigenen Selbstverwirklichung und Selbstermächtigung widerspiegelt. Dieses Plädoyer für eine webersche Erweiterung des funktionalen Religionsbegriffs ist nicht nur ein erneuter Beleg für die ungebrochene Aktualität seiner Religionssoziologie, sondern auch durch die gesellschaftskritische Brisanz der damit gewonnenen Ergebnisse motiviert: Entgegen aller Versprechen auf fortschreitende Individualisierung zeigt sich nämlich, wie tiefgreifend bis heute die ungleiche Verteilung von Lebenschancen und Glücksgütern in das elementare Erleben der Menschen hineinragt und selbst noch ihre vermeintlich privatisierten Erlösungssehnsüchte und –hoffnungen mitbestimmt.
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Der Pentecostalismus. Eine Verbindung von magischer Religiosität und protestantischer Gesinnungsethik Der Pentecostalismus
Franz Höllinger
Einleitung Am Beginn des 20. Jahrhunderts entstand in den USA eine neue Richtung des Protestantismus, die in den letzten Jahrzehnten in Lateinamerika, Schwarzafrika und in Teilen Südost-Asiens eine erhebliche Verbreitung fand. Der Pentecostalismus, wie diese neue Form der Religion bezeichnet wird, hat in religionssoziologischen Kreisen nicht nur wegen seiner dynamischen Verbreitung, sondern auch wegen seiner Inhalte Aufmerksamkeit und Erstaunen hervorgerufen. Das charakteristische Kennzeichen des Pentecostalismus ist die Verbindung von ekstatischen und magischen Formen der Religiosität mit einer Ethik, die große Ähnlichkeiten mit dem klassischen Typus der asketischen protestantischen Gesinnungsethik aufweist. Diese Verbindung von magischer Religiosität und protestantischer Ethik im Pentecostalismus steht in auffälligem Widerspruch zu Max Webers These, dass die konsequente Entzauberung des religiösen Weltbilds eine entscheidende Voraussetzung für die Entstehung der protestantischen Ethik und in weiterer Folge für die Entwicklung des kapitalistischen Geistes und anderer Formen der modernen Rationalität war. In diesem Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit die in der Protestantismusthese implizit enthaltene Annahme der Unvereinbarkeit von Magie und Modernität durch den Pentecostalismus in Frage gestellt wird. Zu diesem Zweck wird in einem ersten Schritt die Weber-These kurz erörtert. Im zweiten Schritt werden die zentralen religiösen Grundideen, die charakteristischen Formen der religiösen Praxis und die Ethik des Pentecostalismus dargestellt. Ich werde hierbei insbesondere auf die Entwicklung des Pentecostalismus in Brasilien eingehen, mit dem ich mich im Rahmen der Recherchen für mein Buch "Religiöse Kultur in Brasilien" etwas näher beschäftigt habe. In den daran anschließenden Abschnitten soll auf zwei Punkte näher eingegangen werden: Erstens auf die Frage, ob und inwieweit der Pentecostalismus tatsächlich – in ähnlicher Weise wie der historische Protestantismus - zur Entwicklung moderner Bewusstseinsstrukturen und zu einer daraus resultierenden A. Bienfait (Hrsg.), Religionen verstehen, DOI 10.1007/978-3-531-92777-0_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen beiträgt. Zweitens soll aufgezeigt werden, dass die nach Webers Ansicht unplausible Verbindung von Magie und protestantischer Ethik besser verständlich wird, wenn man die religiösen Praktiken des Pentecostalismus aus der Perspektive neuerer Ritualtheorien betrachtet und zudem in Rechnung stellt, in welcher Weise auch hier Entzauberungsprozesse stattfinden.
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Der Zusammenhang zwischen Entzauberung und Rationalisierung der Lebensführung bei Max Weber
In der Interpretation der Schriften Max Webers wird immer wieder die Frage diskutiert, ob sich Weber tatsächlich von den im 19. und frühen 20. Jahrhundert vorherrschenden evolutionistischen Sichtweisen der gesellschaftlichen Entwicklung gelöst hat oder ob seinem soziologischen, insbesondere seinem religionssoziologischen Forschungsprogramm letztlich doch ein evolutionistisches Entwicklungsverständnis zugrunde liegt. Nach Wolfgang Schluchter zeigt sich der „antievolutionistische Bezugsrahmen“ Max Webers ganz deutlich darin, dass dieser „die Weltreligionen vergleichend in ihrer Individualität betrachten und sie gerade nicht in eine Stufenfolge bringen [will]“ (Schluchter 1979: 4; vgl. dazu auch Schluchter 2007: 111). Friedrich Tenbruck argumentiert demgegenüber, Weber betone zwar in seinen empirischen Analysen der Weltreligionen den „Vorrang der Einzigartigkeit der Geschichte gegenüber Fortschrittsgesetzen“, die theoretischen Folgerungen, die er in der Vorbemerkung zur protestantischen Ethik und in der Einleitung und Zwischenbetrachtung der „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ aus diesen Analysen ableite, beruhten jedoch durchaus auf einem evolutionistischen Fortschrittsdenken (Tenbruck 1975: 670ff.). Meines Erachtens liegt eine angemessene Einschätzung des weberschen Denkens in der Mitte zwischen diesen beiden Positionen. Weber wollte in seinen komparativen religionssoziologischen Studien herausarbeiten, auf welche Weise die Ausgestaltung der religiösen Weltbilder der einzelnen Weltreligionen und die mit bestimmten religiösen Ideen in Verbindung stehenden Formen der Lebensführung das wirtschaftliche Handeln beeinflussten. Der evolutionistische Kern seiner Analysen liegt in der Annahme einer universalgeschichtlichen Tendenz zur Rationalisierung der religiösen Weltbilder wie auch der religiösen Heilswege. Der historische Prozess der religiösen Rationalisierung begann nach Weber in der Achsenzeit, d.h. in der Phase des Übergangs von den durch und durch magischen Religionen der archaischen Stammesgesellschaften zu den Weltreligionen, die in den antiken Hochkulturen entstanden. In den Beiträgen zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ zeigt Weber jedoch auf, dass dieser Prozess in
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Abhängigkeit von den jeweiligen Trägerschichten der Religion wie auch von zahlreichen anderen historischen Rahmenbedingungen in den einzelnen Weltreligionen höchst unterschiedliche Richtungen eingeschlagen hat, die sich nicht im Sinne eines evolutionistischen Stufenmodells erklären lassen. Die Besonderheit der europäisch-okzidentalen Entwicklung liegt nach Weber darin, dass die Entzauberung im Protestantismus im Vergleich zu den anderen Weltreligionen und zu den vorangehenden Entwicklungen im Christentum besonders radikal vollzogen wurde und durch die Aufhebung der Differenz zwischen Virtuosen- und Laienreligiosität die gesamte Bevölkerung erfasste. „Jener große, religionsgeschichtliche Prozess der Entzauberung der Welt, welcher mit der altjüdischen Prophetie einsetzte und, im Verein mit dem hellenischen wissenschaftlichen Denken, alle magischen Mittel der Heilssuche als Aberglaube und Frevel verwarf, fand hier seinen Abschluss. […] Es gab nicht nur kein magisches, sondern überhaupt kein Mittel, die Gnade Gottes dem zuzuwenden, dem Gott sie zu versagen sich entschlossen hatte“ (Weber 1988a, Band I: 94f.).
Der entscheidende Punkt liegt für Weber darin, dass sich erst auf der Grundlage dieser radikalen Entzauberung die protestantische Gesinnungsethik entwickeln konnte, welche wiederum eine wichtige Voraussetzung nicht nur für die Entstehung des kapitalistischen Geistes, sondern für die Entstehung moderner Bewusstseinsstrukturen schlechthin darstellte. Jegliche Art von magischer Religiosität, so Webers Annahme, geht davon aus, dass das Schicksal des Menschen im Diesseits und Jenseits von spirituellen Mächten beeinflusst wird, die von außen auf den Menschen einwirken. Dementsprechend fühlt sich der Einzelne hier nicht in vollem Sinne für sein Handeln verantwortlich. Erst die Überzeugung, dass wir keinerlei göttliche Hilfe für die Bewältigung unseres Lebens erwarten noch auch eigene Unzulänglichkeiten und Fehler mit dem Argument entschuldigen können, wir stünden unter dem Einfluss böser Kräfte, führt dazu, dass der Einzelne die Verantwortung für sein Leben voll und ganz bei sich selbst sieht. „[…] das bedeutet nun aber praktisch, im Grunde: dass Gott dem hilft, der sich selber hilft, dass der Calvinist […] seine Seligkeit – korrekt müsste es heißen: die Gewissheit derselben – selbst ’schafft’, dass aber dieses Schaffen nicht wie im Katholizismus in einem allmählichen Aufspeichern verdienstlicher Einzelleistungen bestehen kann, sondern in einer zu jeder Zeit vor der Alternative: erwählt oder verworfen? stehenden systematischen Selbstkontrolle.“ (Weber 1988a, Band I: 111)
Das entscheidende Merkmal der protestantischen Gesinnungsethik ist also die Betonung der prinzipiellen Eigenverantwortung des Einzelnen für sein Wohlergehen auf Erden und im Jenseits. Sie ist die treibende Kraft für die Systematisierung der Lebensführung - auch wenn diese zunächst in einem erheblichen
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Maße durch Disziplinierung von Außen etwa im Rahmen der calvinistischen „Kirchenzucht“ erzwungen oder jedenfalls begünstigt wurde. Wie aus dem zweiten Teil von Webers Protestantismusstudien, dem Aufsatz "Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus", hervorgeht, hat Weber während seiner Amerikareise die Beobachtung gemacht, dass es in den USA eine Vielzahl an protestantischen Glaubensbekenntnissen - wie etwa die Baptisten, Adventisten oder Methodisten – gibt, in denen die charakteristischen Formen der Systematisierung der Lebensführung in ähnlicher Weise praktiziert werden wie im Calvinismus, während zugleich magisch-charismatische Formen der Religiosität eine durchaus wichtige Rolle spielen. Im Unterschied zum ersten Teil der Protestantismusstudien, in dem Weber die Entzauberung des religiösen Weltbilds als entscheidende Voraussetzung für die Entstehung der autonomen Gesinnungsethik sieht, schien ihm beim amerikanischen Protestantismus der sektenhafte Charakter der Religionsgemeinschaften - die bewusste Entscheidung für die Mitgliedschaft, die ethische Bewährung als Kriterium für die Aufnahme, die außerordentlich straffe Kirchenzucht durch eine selbstverwaltete Gemeinde ausschlaggebend für die Umsetzung des Programms der protestantischen Ethik zu sein (vgl. Weber 1988a, Band I: 220ff.). Der von Weber unterstellte Zusammenhang zwischen Moderne und Entzauberung ist somit kein empirischer, sondern nur ein idealtypisch gedachter, der nicht einmal für den Protestantismus selbst durchgängig zutrifft. In voller Konsequenz tritt dieser Zusammenhang nur beim Calvinismus in Erscheinung. Die aus dem Calvinismus hervorgegangenen religiösen Bewegungen des Arminianismus, des Täufertums und des Methodismus lehnten die Lehre von der doppelten Prädestination ab, weil diese in ihrer Härte für die Laien unerträglich war. In diesen wie auch in anderen Formen des Protestantismus, wie etwa im Pietismus oder bei den Quäkern, erlangte die mystische Gotteserfahrung sogar wieder eine außerordentlich große Bedeutung. Für Max Weber stand natürlich außer Zweifel, dass der universalgeschichtliche Prozess der Entzauberung der Welt nicht nur durch die Entwicklungen im Bereich der Religion selbst, sondern maßgeblich auch durch die Verbesserung der Lebensbedingungen infolge der technischen und ökonomischen Entwicklung vorangetrieben wird. Weber hat diesen Aspekt in seinem Werk nicht näher verfolgt. Auffällig ist jedoch, dass er in seinen diesbezüglichen Bemerkungen den Gedankengang der Protestantismus-These im Grunde nur umkehrt: Wenn man die Entwicklung der religiösen Weltbilder als Ausgangspunkt nimmt, dann hat der Prozess der Rationalisierung dieser Weltbilder bewirkt, dass die Menschen in zunehmendem Maße das Gefühl und das Bewusstsein erlangten, nicht von spirituellen Mächten abhängig, sondern selbst für ihr Handeln verantwortlich zu sein. Wenn man den Entzauberungsprozess hingegen von der Seite der technischökonomischen Entwicklung her betrachtet, dann führte das Gefühl, die Vorgänge
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in der Natur und in der Gesellschaft in zunehmendem Maße mit technischen Mitteln kontrollieren und gestalten zu können, dazu, dass die Menschen den Glauben an eine göttliche Beeinflussung dieser Vorgänge immer mehr ablegten (Weber 1988b: 594). International vergleichende Studien, wie etwa die „World Value Study“, das „International Social Survey Programme“ oder der „Religionsmonitor“, zeigen, dass zwischen dem Grad der sozioökonomischen Entwicklung (gemessen am BIP pro Kopf oder am Human Development Index) und dem Grad der Religiosität der Bevölkerung eines Landes (gemessen am Anteil der Personen, die regelmäßig beten, an Gott glauben usw.) tatsächlich ein relativ starker negativer Zusammenhang besteht. Einen noch stärkeren Zusammenhang kann man in diesen Studien zwischen dem Niveau der sozialen Ungleichheit (gemessen am GiniIndex) und dem Grad der Religiosität der Bevölkerung feststellen (Höllinger 2007: 238f.). Webers These, dass ein höheres Maß an existenzieller Sicherheit mit einem Bedeutungsverlust der Religion einhergeht, wird somit auf der Makroebene des Ländervergleichs recht deutlich bestätigt. Eine Ausnahme von dieser Regel sind bekanntlich die USA, da hier die Religion trotz eines hohen sozioökonomischen Entwicklungsniveaus weiterhin eine außerordentlich große gesellschaftliche Bedeutung hat. Wie aus den Ergebnissen des „Religionsmonitors“ hervorgeht, ist in den USA nicht nur die kirchlichreligiöse Praxis bedeutend höher als in Europa; die US-Amerikaner haben auch viel häufiger ein religiöses Weltbild, das im Sinne von Weber als magisch zu bezeichnen ist: Während in westeuropäischen Ländern nur etwa 20 Prozent der Befragten an Engel glauben, sind dies in den USA fast 60 Prozent. An Dämonen glauben in Westeuropa nur 7 Prozent, in den USA hingegen 27 Prozent. Zudem zeigt diese Studie, dass der Glaube an Engel und Dämonen unter den amerikanischen Protestanten erheblich weiter verbreitet ist als im Rest der USamerikanischen Bevölkerung (Höllinger 2009: 470). Die USA sind somit für die Thematik dieses Aufsatzes von besonderer Bedeutung, weil sich hier der Protestantismus in eine völlig andere Richtung entwickelte als in Europa und weil aus dem amerikanischen Protestantismus der Pentecostalismus hervorging.
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Franz Höllinger Der Pentecostalismus
Der Pentecostalismus entstand Anfang des 20. Jahrhunderts - fast zur gleichen Zeit, als Max Weber seine „Protestantische Ethik“ veröffentlichte (1904) - aus einer protestantischen Erweckungsbewegung im Westen der USA. Bereits wenige Jahre nach der Gründung der ersten pentecostalischen Denominationen begannen Missionare die neue Religion nach Lateinamerika, Schwarzafrika und etwas später auch nach Asien zu tragen. Die wichtigste und bis heute in vielen Ländern größte pentecostalische Denomination ist die „Assembly of God“. In den ersten Jahrzehnten, in denen sich die Missionskirchen stark am US-amerikanischen Vorbild orientierten, ging die Ausbreitung relativ langsam vor sich. Ab etwa 1950 bildeten sich jedoch durch sukzessive Wellen von Abspaltungen zahlreiche neue Pfingstkirchen, deren Gründer meist Einheimische waren, die sich stärker an den jeweiligen nationalen religiösen und kulturellen Traditionen orientierten. Seit damals nahm die Ausbreitung des Pentecostalismus in der südlichen Hemisphäre eine höchst dynamische Entwicklung. Schätzungen zufolge bekennen sich mittlerweise weltweit mindestens 250 Millionen, d.h. ca. ein Drittel aller Protestanten und etwa ein Achtel der gesamten christlichen Weltbevölkerung, zu einer pentecostalischen Kirche (vgl. Martin 2002). Nach dem „10Country Survey of Pentecostals“ des „Pew Forum on Religion & Public Life“ aus dem Jahre 2006 (im folgenden kurz „10-Country Survey“) ist der Anteil der Pfingstkirchler an der Gesamtbevölkerung in Kenia (ca. 30 %), Nigeria, Guatemala (jeweils ca. 20 %) und Brasilien (ca. 15 %) besonders hoch. In einer Reihe weiterer lateinamerikanischer und schwarzafrikanischer Länder liegt der Anteil zwischen 5 und 10 Prozent. Eine relativ starke Resonanz findet der Pentecostalismus auch in den südostasiatischen Ländern Philippinen und Südkorea. Im Vergleich dazu spricht die Pfingstbewegung in Europa nur eine verschwindend kleine Zahl an Menschen an. Nach Walter Hollenweger und David Martin, zwei der bedeutendsten sozialwissenschaftlichen Interpreten des Pentecostalismus, liegen das entscheidende Charakteristikum und der Schlüssel zum Verständnis des Erfolgs dieser Religion in der Amalgamierung von europäisch-christlicher und schwarzafrikanischer bzw. indigener Religiosität. In ähnlicher Weise wie der amerikanische Blues und die darauf aufbauenden Musikstile europäische Harmonien und afrikanische Rhythmen zu neuen Synthesen zusammenführten, kam es im Pentecostalismus zu einer Verbindung zwischen einer bestimmten Strömung des asketischen Protestantismus und den archaischen spiritistischen Trance- und Heilungsritualen afrikanischer bzw. indigener Kulturen (Martin 1990, 2002). Und in gleichem Maße, wie die afro-amerikanische Musik des 20. Jahrhunderts aufgrund des befreienden Lebensgefühls, das sie vermittelt, eine starke Anziehungskraft auf
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die Jugendkultur und einen erheblichen Einfluss auf die gesamtkulturelle Entwicklung in der westlichen Welt ausübte, stellt der Pentecostalismus in jenen Weltregionen, in denen spiritistische Formen der Religion noch stark im kollektiven Bewusstsein verwurzelt sind, für viele Menschen eine attraktive neue religiöse Alternative dar, die es ihnen ermöglicht, ihre religiösen Traditionen in modifizierter Form fortzuführen und sich gleichzeitig mittels der protestantischen Ethik jene Tugenden und Persönlichkeitshaltungen anzueignen, die für das Vorankommen in der modernen Gesellschaft von erheblichem Vorteil sind. Die christlich-europäischen Wurzeln des Pentecostalismus liegen im Methodismus. John Wesley, der Gründer des Methodismus, distanzierte sich vom Heilsaristokratismus der calvinistischen Prädestinationslehre und ging davon aus, dass grundsätzlich alle Menschen Gottes erlösende Gnade erlangen können, wenn sie bereit dazu sind. Zugleich wurde jedoch im Methodismus, wie schon der Name zum Ausdruck bringt, das calvinistisch-puritanische Modell der methodischen Selbstkontrolle der Lebensführung fortgeführt. Von zentraler Bedeutung für den Methodismus ist das Bestreben nach „Heiligung des Lebens“, d.h. die umfassende Erneuerung des Menschen nach dem Vorbild Gottes. In der Anfangszeit der methodistischen Bewegung war es üblich, die Gläubigen durch ekstatische kollektive Erweckungsrituale für das Fließen der göttlichen Gnade empfänglich zu machen. Das dabei empfundene Gefühl der "Heiligung" sollte sodann durch eine vorbildliche religiöse und moralische Lebensführung verfestigt und konserviert werden. Während im englischen Methodismus der Aspekt der religiösen Erweckung in weiterer Folge zugunsten der einseitigen Konzentration auf die methodische Lebensführung in den Hintergrund trat, blieb der Erweckungsgedanke im amerikanischen Methodismus (wie auch in anderen protestantischen Denominationen in Amerika) viel stärker präsent. Aus diesen Erweckungsbewegungen entwickelte sich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts der vom biblischen Pfingstereignis ausgehende Pentecostalismus. In der Religionsgeschichtsschreibung gilt üblicherweise das „Azusa Street Revival“, welches 1906 unter der Leitung des schwarzen Bischofs William J. Seymour in Los Angeles stattfand, als der eigentliche Ursprung des modernen Pentecostalismus (vgl. Martin 1990; Corten 1996; Chesnut 1997). Dadurch, dass die pentecostalischen Kirchen von Anfang an einen hohen Anteil an schwarzen Mitgliedern hatten und maßgeblich von ihnen mit gestaltet wurden, wurde das religiöse Leben in diesen Kirchen sehr stark mit Elementen afrikanischer Religiosität angereichert. Die Religiosität der Schwarzafrikaner ist nicht nur in den traditionellen Stammesgebieten, wo sie bis heute in ursprünglicher Form praktiziert wird, sondern auch dort, wo sich die Stammesreligionen durch den Übertritt in moderne, urbanisierte Lebensformen aufgelöst haben, von spiritistischen Vorstellungen und Praktiken bestimmt. Nach der Vorstellung der
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Afrikaner gibt es in der Welt eine Vielzahl an spirituellen Entitäten (Gottheiten, Geister), die auf die Menschen einen positiven oder negativen Einfluss ausüben. Durch spirituelle Trancetechniken, die in Afrika in Verbindung mit der rhythmus- und körperbetonten Musik eine sehr hohe Entwicklungsstufe erreichten und in vielen religiösen Ritualen zum Einsatz kommen, ist es den initiierten Mitgliedern der religiösen Gemeinschaft möglich, sich in einen Zustand zu versetzten, in dem sie sich von einer Gottheit besessen fühlen. Die Präsenz der Gottheit wird hierbei in mimetischer Form durch Tänze dargestellt, die die Qualitäten der jeweiligen Gottheit zum Ausdruck bringen (vgl. Bastide 1978; da Silva 1995). Die Trancetechniken werden auch für die Manipulation spiritueller Energien zur Erzielung praktischer Effekte, insbesondere für spirituelle Heilungsrituale verwendet. In der afrikanischen Religiosität sind somit, in anderen Worten ausgedrückt, Religion und Magie noch aufs engste miteinander verbunden Diese Form des religiösen Empfindens und des Umgangs mit Trancetechniken wurde in den Pentecostalismus inkorporiert, wobei die spirituellen Erfahrungen nunmehr im Sinne der christlichen Theologie als Wirken des Heiligen Geistes interpretiert und auch die spirituellen Heilungsrituale in entsprechender Weise adaptiert wurden. „Jesus rettet, er tauft mit dem Heiligen Geist, er heilt die Kranken und er wird wiederkommen“ wurde zum Motto der neuen Bewegung (Chesnut 1997). Mit der Rückkehr zu den magisch-charismatischen Fundamenten des ursprünglichen Christentums, das seine Überzeugungskraft dem Wirken eines wundertätigen Messias und dem Pfingstwunder verdankte, vollzog der Pentecostalismus eine radikale Kehrtwende gegenüber dem Entzauberungsprogramm der europäischen Reformation und Gegenreformation. In vielen pentecostalischen Kirchen bilden sowohl Trancerituale zur Induzierung des Gefühls der „unio mystica“ als auch spirituelle Heilungsrituale einen regelmäßigen Bestandteil des Gottesdienstes. Durch die „Lobpreisungen“, gemeinsame Gesänge und Gebete, die von Musik und rhythmischen Körperbewegungen begleitet allmählich immer intensiver und lauter werden, wird ein Teil der Gottesdienstteilnehmer in einen Trancezustand versetzt, in dem sie in die Glossolalie, das Zungengebet, verfallen. Nach dem „10-Country Survey“ praktizieren je nach Land etwa 30 bis 40 Prozent der Pfingstkirchler die Glossolalie wöchentlich oder häufiger; es gibt jedoch auch einen erheblichen Anteil (je nach Land zwischen 30 und 50 Prozent) an Kirchenmitgliedern, die diese Erfahrung nie machen. Die spirituellen Heilungsrituale finden in der Regel gegen Ende des Gottesdienstes statt, wenn die Atmosphäre nach den vorangehenden Lobpreisungen und kollektiven Tranceerfahrungen bereits sehr stark emotional aufgeladen ist:
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„Der Gottesdienst kommt zum Höhepunkt, wenn der Pastor alle auffordert, aufzustehen und nach vorne und zu den Seitenwänden zu gehen. [...] Die Leute klatschen in die Hände und der Pastor geht über zu einem schnellfeuerartigen Zungensprechen über die Austreibung von Dämonen. Seine Zungensprachen-Rede peitscht die Versammlung zum Wahnsinn. Die Atmosphäre ist elektrisierend. Zungensprechen, Heulen, Klagen und Schreien steigern sich zu einem fast unerträglichen Lärm. Nach ungefähr fünf Minuten durchbohrt ein plötzlicher Schrei die Kakophonie. Eine Frau ist besessen, sie springt herum und schreit. Ein Helfer packt sie bei den Haaren und schleppt sie nach vorne, wo sie in die Knie gezwungen wird und während des Exorzismus fortfährt, wild zu gestikulieren und zu schreien. [...] Gefolgt von einer Schar von Helfern steigt der Pastor vom Altar herunter und bittet die Gläubigen, bei der Dämonenaustreibung zu helfen. Die Besessene, die mit einer schrillen, diabolischen Stimme schreit, weigert sich, dem Pastor ihren Namen zu sagen. Es folgt ein fürchterlicher Kampf, in dem der Pastor, unterstützt von der rasenden Menge, dem Dämon befiehlt, zu weichen. Der Dämon [d.h. die besessene Frau] wirft mit allen Schimpfwörtern, die man in den Strassen der Vorstadt hört, um sich, bevor er sich der höheren göttlichen Gewalt unterwirft, die der Pastor angerufen hat. Die Frau erholt sich und alle applaudieren.“ (Chesnut 1997: 84, Übersetzung von F. H.)
Neben diesen spektakulären individuellen Behandlungen gibt es in den Kirchen auch kurze symbolische Heilungsrituale, wie etwa die Handauflegung, an denen die Mehrheit der Gottesdienstbesucher regelmäßig teilnimmt. Spirituelle Heilungsrituale werden nicht nur zur Behandlung psychischer, psychosomatischer und körperlicher Krankheiten eingesetzt, sondern auch zur Lösung verschiedener anderer Leiden und Probleme, wie Armut, Arbeitslosigkeit oder Partnerschaftskonflikte, die aus der Sicht der Beteiligten auf spirituelle Ursachen zurückzuführen sind. Durch die Verknüpfung des dualistischen christlichen Weltbilds mit den spiritistischen Vorstellungen der afrikanischen Religiosität wird das methodistische Streben nach Heiligung des Lebens im Pentecostalismus als „spiritueller Krieg“ zwischen Gott und dem Teufel mit seinem Heer von bösen spirituellen Mächten (Dämonen u. dgl.) interpretiert. Alle Ereignisse im Leben werden als Kampf zwischen Gott und dem Satan wahrgenommen und das Ziel des Gläubigen besteht darin, zum Sieg Gottes über das Böse beizutragen (Mariano 1999). Die Abwehr und Bekämpfung des Bösen erfolgt einerseits durch die spirituellen Heilungsrituale, die im christlichen Kontext, wie das Beispiel oben zeigt, vielfach die Form eines Exorzismus annehmen, andererseits durch das Bemühen um eine vorbildliche, „heilige“ Lebensführung im Sinne der protestantischen Ethik. In der ersten Periode der Ausbreitung orientierten sich die pentecostalischen Kirchen in den Ländern der südlichen Hemisphäre noch ganz stark am Vorbild der amerikanischen Mutterkirchen. Die Gläubigen sollten sämtliche Vergnügungen und Versuchungen meiden, die die Heiligung des Lebens gefährden
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könnten. Der Konsum von Alkohol, Kartenspiele und andere Glücksspiele und jegliche Art von sexueller Betätigung außerhalb der Ehe waren strikt untersagt. Selbst in einem tropischen Land wie Brasilien wurde von den weiblichen Kirchenmitgliedern verlangt, dass sie uniformartige Kleider trugen, die den gesamten Oberkörper und die Beine bis zu den Knien bedeckten; Frauen durften kein Make-up, keinen Schmuck und keine Bikinis tragen; beiden Geschlechtern war die Teilnahme an öffentlichen Festlichkeiten und am Karneval verboten; die strengeren Kirchen verboten sogar das Fußball-Spielen. Diese sektenhafte Lebensführung, die in scharfem Kontrast zum brasilianischen Lebensstil stand, war für die große Mehrheit der Brasilianer nur schwer zu akzeptieren und stellte daher eine Hemmschwelle für die Ausbreitung des Pentecostalismus dar (Mariano 1999). Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts kam es durch die Gründung einer Reihe neuer, autochthoner pentecostalischer Kirchen zu einer sukzessiven Abschwächung der sektenhaften protestantischen Ursprünge und zu einer Annäherung an die brasilianische Kultur und Volksreligiosität. Durch die Aufhebung der strengen Kleidungsvorschriften wurde der weltfremde Charakter der Religion gemildert. Der Kern der puritanisch-protestantischen Ethik, das kontinuierliche Streben nach Disziplin, Fleiß, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Pflichtbewusstsein in Beruf und Familie und die Meidung aller Verlockungen, durch die man vom rechten Weg abgelenkt werden könnte, wurde jedoch aufrechterhalten (Chesnut 2003). Mit der Entstehung der „Prosperity Theology“ (etwa um 1980) wird das Streben nach beruflichem Erfolg und materiellem Wohlstand im Neopentecostalismus zu einem expliziten religiösen Anliegen (Campos 1999; Mariano 1999). Als Strategie zur Erreichung dieses Ziels propagieren die Kirchen wiederum eine Mischung aus magischem Ritualismus und eigenen Anstrengungen. So ist es in manchen neopentecostalischen Kirchen, insbesondere in der brasilianischen „Igreja Universal do Reino do Deus“, üblich, dass der Pastor den Gottesdienstbesuchern bei der Einhebung von Spenden für die Kirche in Aussicht stellt, Gott würde ihnen umso mehr materiellen Erfolg schenken, je mehr sie ihm geben, d.h. je mehr sie für die Kirche spenden. Zugleich betont der Pastor aber in aller Deutlichkeit, dass es nicht genug ist, sich allein auf Gottes Gnade zu verlassen, man müsse sich auch selbst mit allen verfügbaren Kräften anstrengen. Dieser Aufruf zur moralischen Selbstdisziplinierung wird dann vielfach wiederum mit magischen Symbolen verstärkt. So werden etwa am Schluss des Gottesdienstes T-Shirts mit religiösen Aufschriften verkauft oder verteilt und den Gottesdienstbesuchern wird empfohlen, diese T-Shirts zu tragen, weil sie dadurch in ihrem Glauben gestärkt und vor den Versuchungen des Bösen bewahrt würden; oder es werden Fläschchen mit geweihtem Wasser oder kleine Dosen mit Sand
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„aus der Wüste Sinai“ verteilt, die man zum selben Zweck in der Hosentasche oder Handtasche tragen soll (vgl. Mariano 1999).
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Der Einfluss des Pentecostalismus auf die Lebensführung
Die Bereitschaft, sich dem moralischen Disziplinierungsprogramm einer pentecostalischen Kirche zu unterwerfen, wird verständlicher, wenn wir die Motive näher betrachten, die Menschen auf diesen religiösen Weg führen. Der Pentecostalismus verzeichnet seine größten Erfolge in den großstädtischen Agglomerationen der Entwicklungs- und Schwellenländer. Die meisten dieser Städte sind in den vergangenen Jahrzehnten mit rasanter Geschwindigkeit gewachsen. Getrieben von der Hoffnung auf bessere Arbeits- und Lebensbedingungen sind Abermillionen von Menschen dem Ruf der modernen Großstadt gefolgt. Die Bedingungen, die sie dann tatsächlich vorfinden, bleiben jedoch meist weit hinter den Erwartungen zurück. Trotz des starken Wirtschaftswachstums finden viele keine Beschäftigung im formellen Wirtschaftssektor und leben in prekären materiellen Bedingungen, während gleichzeitig in den Supermärkten und Shopping-Malls die Verlockungen der modernen Konsumindustrie, und in den Bars und Vergnügungsstätten die Versuchungen des großstädtischen Freizeit- und Nachtlebens auf sie warten. Armut, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot begünstigen familiäre Konflikte, Flucht in den Alkoholismus, Drogenkonsum und ein drastisches Ansteigen der Eigentums- und Gewaltdelikte. Ein weiteres gravierendes Problem ist der sorglose Umgang mit Sexualität bei Männern in den unteren sozialen Schichten und ihr mangelndes Verantwortungsbewusstsein in Hinblick auf ihre familiären Verpflichtungen. Männer sind vielfach nicht bereit, Unterhalt für ein uneheliches Kind zu zahlen oder sie verlassen Frau und Kinder, um sich ihrer finanziellen Verantwortung zu entziehen (Burdick 1998; Mariz 1994). Frauen stehen hiermit vor der doppelten Belastung, ihre Kinder nicht nur ohne Mithilfe eines Mannes betreuen, sondern darüber hinaus auch noch allein für den Unterhalt der Familie aufkommen zu müssen. Derartige Formen der Entsolidarisierung und des Abgleitens in anomische Zustände sind charakteristische Begleiterscheinungen des Übergangs von ländlichen zu urbanen Lebensformen. Während in der traditionellen ländlichen Gesellschaft das gesamte soziale Leben sehr stark durch die Verwandtschaft und Dorfgemeinschaft kontrolliert wurde, hat der Einzelne nun viel mehr Freiheiten, ohne jedoch gelernt zu haben, mit diesen Freiheiten verantwortungsbewusst umzugehen. Das Leben in der modernen, urbanen Gesellschaft erfordert völlig andere psychische Dispositionen, Verhaltensregulierungen und soziale Kompetenzen als das Leben in einer prämodernen ländlichen Gesellschaft. Der Erwerb dieser
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Dispositionen und Fähigkeiten ist jedoch schwierig und zieht sich oft über mehrere Generationen hin. Der hohe Leidensdruck, den alle diese sozialen Probleme verursachen, macht die Menschen empfänglich für die Heilsbotschaften der pentecostalischen Kirchen. Die Hoffnung auf Befreiung von einem körperlichen oder psychischen Leiden oder die Suche nach einem Ausweg aus einer schwierigen Lebenssituation stellen in den meisten Fällen das primäre Motiv dar, eine pentecostalische Kirche aufzusuchen (Martin 2002; Chesnut 2003). Wenn es dem Betreffenden gelingt, sich von der ekstatischen Atmosphäre des Gottesdienstes mitreißen zu lassen und er sich dann einem kollektiven oder sogar einem individuellen Heilungsritual unterzieht, kommt es infolge der kathartischen Wirkung, d.h. infolge der psychischen Entspannung und der euphorischen Gefühle, die derartige Rituale hervorrufen, in vielen Fällen zu einem vorübergehenden Verschwinden oder Nachlassen psychischer und körperlicher Krankheitssymptome. Einen noch stärkeren Effekt auf die psychische Befindlichkeit hat nach persönlichen Erfahrungsberichten die „Taufe im Heiligen Geist“. Menschen, die diese Erfahrung gemacht haben, stellen sie mit ähnlichen Worten dar wie die großen Mystiker ihre Gotteserfahrungen. Die Geisttaufe wird durch die kollektiven Trancerituale vorbereitet, sie kann sich jedoch nicht nur während des Gottesdienstes, sondern auch in der Privatsphäre ereignen, wie das folgende Beispiel zeigt: „Ich war so versenkt in mein himmlisches Gebet, dass ich nicht einmal bemerkte, dass ich mein Bad beendet hatte. Nur mit einem Handtuch bekleidet ging ich in mein Schlafzimmer und kniete nieder. Als ich wieder zu beten begann, passierte es: Alle meine Worte kamen in Engelszungen, in fremden Sprachen hervor. Es war wirklich eine Explosion des Heiligen Geistes in meinem Leben. Ich hatte keine Kontrolle mehr über mich und als meine Schwestern das viele Zungenreden hörten, kamen sie in mein Zimmer und sahen, wie ich vom Heiligen Geist getauft wurde. […] Während des restlichen Tages konnte ich nicht einmal zum Himmel hinaufschauen oder meinen eigenen Atem fühlen, weil ich Gott in allem spürte. Wenn ich zum Himmel schaute, waren dort die fremden Zungen. Ich schaute auf einen Baum und dort waren die fremden Zungen. Ich fühlte ein starkes Feuer in mir. Es war wirklich ein wundervoller Tag für mich, ein unvergessliches Erlebnis.“ (Chesnut 1997: 96, Übersetzung von F. H.).
Das überwältigende Gefühl der emotionalen Befreiung oder, in religiöser Sprache ausgedrückt, der spirituellen Kraftübertragung, das sich bei derartigen Trance- und Heilungsritualen einstellt, ist ein entscheidender Faktor für die Konversion, d.h. für die bewusste Entscheidung, Mitglied der Kirche zu werden und
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sein Leben nach den religiösen und ethischen Leitlinien dieser Kirche zu gestalten. Die Willenskraft zur Selbstdisziplinierung im Sinne der protestantischen Ethik, die diese Kirchen propagieren, beruht also zum einen auf der psychischen Energie, die durch die Trancerituale freigesetzt wird, und der damit verbundenen vorübergehenden Verbesserung des Lebens- und Selbstwertgefühls. Das Vermögen, die hohen moralischen Anforderungen im Alltag durchzuhalten, wird in weiterer Folge durch die enge Einbindung in eine sektenartige religiöse Gemeinschaft, d.h. durch den starken Konformitätsdruck und die wechselseitige Kontrolle, die in derartigen Gruppen stattfindet, sehr gefördert. Bei einem Großteil der pentecostalischen Denominationen haben die lokalen Kirchen höchstens einige hunderte Mitglieder. Nach dem „10-Country-Survey“ besuchen je nach Land 80 bis 90 Prozent der Mitglieder von Pfingstkirchen mindestens einmal, 30 bis 50 Prozent sogar mehrmals pro Woche einen Gottesdienst. 60 bis 80 Prozent der Kirchenmitglieder nehmen darüber hinaus mindestens einmal pro Woche an Gebetsgruppen oder religiösen Schulungen teil. Um die Religion noch stärker im Privatleben zu verankern, finden die Treffen dieser Gebetsgruppen meist bewusst nicht in den Räumlichkeiten der Kirche, sondern in Privatwohnungen statt (Campos 1999). Angesichts der großen Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung moderner Bewusstseinsstrukturen und die damit einhergehenden Prozesse der ökonomischen Modernisierung, Demokratisierung und generellen Verbesserung der materiellen und sozialen Lebensbedingungen in Europa und Nordamerika, stellen sich viele Soziologen (z.B. Martin 1990; Burdick 1998; Stoll 1993) heute die Frage, ob durch die Ausbreitung des Protestantismus und Pentecostalismus in der südlichen Hemisphäre ähnliche Prozesse in Gang gesetzt werden. Brasilianischen Untersuchungen zufolge kommt es durch die Konversion und Mitgliedschaft in einer pentecostalischen Kirche insbesondere im Bereich des Ehe- und Familienlebens zu deutlichen Verbesserungen. Pfingstkirchen vertreten unter Berufung auf entsprechende biblische Aussagen generell ein traditionelles Geschlechtsrollenbild, d.h. die Unterordnung der Frau in der Ehe. Dennoch kommt es durch die Mitgliedschaft in einer pentecostalischen Kirche in vielen Fällen zu einer Aufwertung der Stellung der Frau in der Ehe, da durch die Konversion ihr Selbstbewusstsein und ihre spirituelle und moralische Autorität in der Familie gestärkt werden. „Nachdem ich zum neuen Glauben übergetreten war, habe ich nicht mehr gestritten, weil ich mehr Kraft hatte, über die Dinge zu reden, ohne zu streiten. Du spürst, dass immer jemand für dich betet. […] Ich habe mit ihm [meinem Mann] in aller Deutlichkeit gesprochen, und er hat geweint. Ich hab ihm ganz ruhig erklärt, dass es nicht richtig ist, das wenige Geld, das wir haben, für etwas anderes auszugeben als für das
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Franz Höllinger tägliche Brot; denn so will es die Bibel. […] Meine Kirchenmitgliedschaft gab mir mehr Autorität, zu Hause so zu sprechen.“ (Interview mit einem Mitglied der „Asembleia de Deus“, zit. nach Burdick 1998: 91, Übersetzung von F. H.).
Burdick (1998), Brusco (1993) und Machado (1996) haben in ihren Untersuchungen des Familienlebens von Mitgliedern pentecostalischer Kirchen festgestellt, dass sich das Eheleben und die familiäre Situation von Unterschichtsfamilien vor allem dann nachhaltig verbessern, wenn es der Frau, die zunächst meist allein die Kirche besucht, gelingt, auch ihren Mann zur Konversion zu bewegen, weil dieser unter dem Einfluss der Religion seine machistischen Gewohnheiten – außereheliche Sexualbeziehungen, Alkoholkonsum, Glückspiel, männliches Imponiergehabe, Rivalitätskämpfe und Streitereien – ablegt. Das patriarchale Familienleitbild bleibt zwar in der Regel weiterhin aufrecht. Da der Mann aber nun seine Verantwortung für Frau und Kinder ernst nimmt, indem er sich mehr als bisher bemüht, seine Familie finanziell zu versorgen und sich an der Hausarbeit und Kinderbetreuung zu beteiligen, finden eine deutliche Verbesserung des Familienklimas und zugleich eine Annäherung an eine egalitäre Partnerschaft statt. Inwieweit kommt es nun aber bei Protestanten und Pfingstkirchlern zu einer tatsächlichen Verbesserung der materiellen Lage? David Martin (1990) hat eine Reihe von empirischen Studien aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern in Hinblick auf diese Frage einer Metaanalyse unterzogen. In einem großen Teil dieser Studien wurde festgestellt, dass Mitglieder von protestantischen und pentecostalischen Denominationen im Vergleich zu Katholiken, die in einem vergleichbaren sozialen Umfeld leben, einen höheren materiellen Lebensstandard aufweisen (Martin 1990: 205ff.). Ein exemplarisches Beispiel hierfür ist die mittlerweile klassische Studie „Followers of the New Faith“ von Emilio Willems (1967), die auf umfangreichen empirischen Erhebungen und Feldstudien in ländlichen und städtischen Regionen Brasiliens und Chiles beruht. Diese Studie ergab u.a., dass in beiden Ländern Protestanten und Pfingstkirchler aufgrund ihrer höheren Arbeitsmoral bei der Vergabe von Arbeitsplätzen in der Industrie gegenüber Katholiken bevorzugt werden. Weiter konnte gezeigt werden, dass sich in ländlichen Mikroregionen mit einem hohen Protestantenanteil durch die Einführung von Bewässerungssystemen und neuen Produktionsmethoden im Lauf der Zeit die materiellen Lebensbedingungen gegenüber vergleichbaren katholischen Regionen deutlich verbesserten. In eine ähnliche Richtung deuten auch Beobachtungen, die John Burdick (1998) in seiner anthropologischen Feldstudie im Bundesstaat Rio de Janeiro machte. Obwohl im Pentecostalismus im Unterschied zur katholischen Befreiungstheologie und ihren Basisgemeinden nicht der gemeinschaftliche politische Kampf nach gerechteren gesellschaftlichen Strukturen und Maßnahmen zur
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Verbesserung der materiellen Lage der Armen, sondern das individuelle Streben nach moralischer Reinheit und Selbstvervollkommnung im Vordergrund steht, wird dieses Heilsziel doch vielfach als Aufforderung verstanden, sich auch für eine Verbesserung der Lebensbedingungen im eigenen sozialen Umfeld einzusetzen. Um Menschen aus den unteren sozialen Schichten diesen Zusammenhang plausibel zu machen, verwenden pentecostalische Prediger in ihrem Diskurs oft sehr anschauliche Bilder und Gleichnisse: „Wir haben die Erlösung, aber die Erlösung findet erst im Himmel statt. Jetzt sind wir hier auf der Erde. Jesus wird kommen, aber er ist noch nicht da. Schau, diese Straße hier ist in einem schlechten Zustand: Wäre es nicht besser, sie zu asphaltieren? Würden die Leute nicht davon profitieren? Wenn man die Dinge nicht verbessert, werden sie schlechter. Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, muss ich ein Bad nehmen, damit ich mich besser fühle. Ich lege mich doch nicht schmutzig ins Bett. Gott liebt Verbesserungen, und alles, was verbessert wird, ist sauber. […] Stellen wir uns vor, wir haben ein leeres Glas und sagen: ‚Beten wir, dass es sich mit Wasser füllt. Nichts wird passieren! Wir müssen das Wasser suchen und das Glas selber füllen. […] Das Gebet ist dazu da, uns die Kraft zu geben, zu den politischen Interessenvertretern zu gehen und Forderungen zu stellen. Ihr müsst Gruppen bilden und zum Bürgermeister gehen, um die Dinge zu fordern. […]“ (Burdick 1998: 161, Übersetzung: F.H.).
Burdick (1998) zufolge haben Mitglieder pentecostalischer Kirchen eine ähnliche Bereitschaft, sich in Nachbarschaftsvereinigungen u. dgl. für soziale Anliegen in ihrem Lebensumfeld einzusetzen wie Mitglieder katholischer Basisgemeinden (ebd.). Auch die Ergebnisse der Repräsentativbefragung des „International Social Survey Programme (ISSP-1998)“ in Brasilien zeigen, dass sich Mitglieder von Pfingstkirchen, aber auch Anhänger der katholischen charismatischen Erneuerungsbewegung, die ein religiöses Konversionserlebnis hatten, häufiger an karitativen und an kommunalpolitischen Aktivitäten beteiligen als Personen, die kein Konversionserlebnis hatten. Willems (1967), Martin (1990, 2002), Burdick (1998) und andere Autoren vertreten daher die These, dass der Protestantismus und der Pentecostalismus in Lateinamerika die Entstehung moderner Bewusstseinsstrukturen und den sozioökonomischen Entwicklungsprozess in ähnlicher Weise fördern wie dies beim historischen Protestantismus in Europa der Fall war. Die empirischen Befunde zu dieser Frage sind jedoch keineswegs eindeutig. In Chile ist nach den Ergebnissen der oben erwähnten ISSPStudie bei Mitgliedern von Pfingstkirchen keine überdurchschnittliche politische Aktionsbereitschaft festzustellen. Und aus dem „10-Country-Survey“ geht hervor, dass Pfingstkirchler zwar in einigen, aber keineswegs in allen der zehn untersuchten Länder häufiger in politischen Organisationen, Bürgerinitiativen, Wohlfahrtsdiensten u. dgl. mitarbeiten als der Rest der Bevölkerung.
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Andere Autoren vertreten die Auffassung, dass sich durch die Disziplinierung der Lebensführung, die mit der Konversion zum Pentecostalismus einhergeht, zwar die materielle Situation der Familien etwas verbessere, indem nunmehr ein größerer Teil des Geldes für familiäre Bedürfnisse ausgegeben wird. Der lateinamerikanische Pentecostalismus sei jedoch in Hinblick auf die Ausbreitung einer neuen Arbeitsethik keineswegs mit dem historischen Protestantismus in Europa und in den USA vergleichbar (Rolim 1985; Bastian 1997; Mariano 1999). Eine äußerst scharfe Formulierung dieser Position findet sich bei Jean-Pierre Bastian (1997). Ihm zufolge ist die „heterodoxe religiöse Efferveszenz“ des Pentecostalismus in Lateinamerika nichts anderes als „die Erneuerung der katholischen Volksreligiosität ohne Priester.“ Während der historische Protestantismus „eine Bildungs- und Erziehungsreligion mit zivilem und rationalem Charakter“ und dementsprechend ein Medium für die Ausbreitung liberaler demokratischer Werte war, sei der Pentecostalismus von „mündlicher Überlieferung, Analphabetismus und Efferveszenz“ geprägt und verstärke „caudillistische Modelle der religiösen und sozialen Kontrolle“ (Bastian 1992, zit. nach Stoll 1993: 10). Nach Ansicht von Cecilia Mariz (1994: 120) ist die Situation im heutigen Lateinamerika auch deshalb nicht mit der damaligen Situation der protestantischen europäischen Länder vergleichbar, weil durch die tiefe strukturelle Verankerung der sozialen Ungleichheit in Lateinamerika dem sozialen Aufstieg der unteren sozialen Klassen sehr enge Grenzen gesetzt sind. Die pentecostalische Bewegung hat sich in den hundert Jahren ihres Bestehens äußerst dynamisch entwickelt und in eine Vielzahl an Kirchen aufgespalten, die sich voneinander sehr stark unterscheiden. Die älteren Kirchen sind meist nach wie vor in relativ kleinen Gemeinschaften organisiert und halten an den hohen ethischen Anforderungen fest. Die neopentecostalischen Kirchen hingegen nehmen immer größere Dimensionen an und versuchen, mit massivem Einsatz von Werbung und spektakulär inszenierten Gottesdiensten Menschen anzuziehen (Campos 1999; Mariano 1999). Dementsprechend wird hier der Anteil derer, die die Kirche nur wegen der Heilungsrituale besuchen, ohne sich auf eine verbindliche Mitgliedschaft einzulassen, immer größer. Angesichts dieser Vielfalt ist eine Gesamteinschätzung des gesellschaftlichen Veränderungspotenzials des Pentecostalismus schwierig. Entgegen der weit verbreiteten Annahme, dass die stark emotionale Religiosität und die spiritistischen Heilungsrituale der Pfingstkirchen vor allem bei den Ärmsten der Armen Anklang finden, zeigen Zensusdaten und Repräsentativbefragungen wie die zuvor erwähnte ISSP-Studie oder der „10-CountrySurvey“, dass die Pfingstkirchen mit ihren vielfältigen und je nach Kirche unterschiedlichen Angeboten Menschen aus allen sozialen Schichten ansprechen. In den USA und in Lateinamerika liegt das Einkommens- und Bildungsniveau der
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Mitglieder der Pfingstkirchen insgesamt geringfügig unterhalb des Bevölkerungsdurchschnitts; afrikanische und südostasiatische Pfingstkirchen rekrutieren ihre Mitglieder sogar leicht überproportional aus den höheren Bildungs- und Einkommensschichten. Eine empirische Verifizierung der Frage, ob sich durch die Mitgliedschaft in einer pentecostalischen Kirche die ökonomische Lage verbessert, würde groß angelegte Paneluntersuchungen erfordern, in denen die Erwerbs- und Einkommenssituation der Betreffenden über einen längeren Zeitraum beobachtet wird. Vermutlich würden derartige Studien entsprechend der Vielfalt des Pentecostalismus zu keinem eindeutigen Ergebnis kommen. Und selbst wenn sich eine positive Korrelation nachweisen ließe, könnten kritische Stimmen immer noch den Einwand erheben (wie dies auch in Hinblick auf Webers Protestantismus-These der Fall war), dass letztlich nicht die Religion, sondern andere Faktoren zur Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen geführt hätten (vgl. Hamiliton 2001: 155ff.). Auch wenn die Vielfältigkeit der pentecostalistischen Bewegung und die fragmentarischen empirischen Befunde kein gesichertes Gesamturteil erlauben, kann ich mich doch der Diagnose jener, die dem Pentecostalismus aufgrund seiner magisch-ekstatischen Komponenten jegliches gesellschaftliche Innovationspotenzial absprechen, nicht anschließen. Im folgenden Abschnitt sollen einige Argumente vorgebracht werden, warum so genannte magische Praktiken durchaus einen positiven Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung und zur Übernahme von Eigenverantwortung leisten können.
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Die Wirkung magischer Rituale und Symbole
Im Zuge der Entwicklung des modernen wissenschaftlichen Fortschrittsdenkens wurde die Magie als eine primitive, kindliche Entwicklungsstufe des menschlichen Weltverständnisses und Handelns betrachtet, die es auf dem Weg zum „Mannesalter“ des menschlichen Geistes zu überwinden gilt. Nach Edward Tylor und James Frazer sind die Gesetze der Magie erste protowissenschaftliche Versuche, eine Ordnung in den undurchschaubaren und vielfach bedrohlichen Ereignissen der Natur zu erkennen und diese zu beeinflussen, die jedoch vom heutigen Wissensstand her betrachtet auf falschen Kausalannahmen beruhen. Sigmund Freud sieht eine direkte Parallele zwischen dem magischen Denken primitiver Gesellschaften und dem narzisstischen Omnipotenzdenken von Kindern. In ähnlicher Weise, wie das Individuum im Lauf seiner psychischen und kognitiven Entwicklung dieses Wunschdenken ablegt und eine realistische Haltung zu seinen Lebensproblemen einnimmt, würden auch Gesellschaften, die einen höheren Reifezustand erreicht haben, auf die Phantasiegebilde von Göttern und Geistern
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verzichten können (vgl. Hamilton 2001: 28f., 64f.). Auch Max Webers These der Entzauberung der Welt gründet auf ähnlichen Überlegungen. Eines der Probleme im sozialwissenschaftlichen Diskurs über Magie besteht darin, dass der Begriff Magie selbst sehr unterschiedlich verwendet wird und nicht immer klar ist, was genau darunter verstanden wird. In der Anthropologie und Religionssoziologie wird üblicherweise eine idealtypische Unterscheidung zwischen Religion und Magie vorgenommen: Religion ist demnach primär eine Gemeinschaftsaktivität, bei der Rituale um ihrer selbst, d.h. ohne ein spezifisches Ziel erreichen zu wollen, ausgeführt werden. Magie hingegen ist der Tendenz nach eine individuelle Aktivität, die darauf abzielt, mittels bestimmter Techniken konkrete Effekte hervorzurufen. Religion und Magie sind jedoch, wie Max Weber in seinen kurzen Ausführungen zur Entstehung der Religionen deutlich zum Ausdruck gebracht hat, in archaischen Religionen aufs Engste miteinander verwoben und praktisch nicht voneinander zu trennen. Ihre gemeinsame Wurzel liegt erstens in der Erfahrung, dass von bestimmten Objekten in der Natur außeralltägliche Kräfte ausgehen und dass auch manche Menschen über derartige Kräfte verfügen, die ihnen die Fähigkeit verleihen, Krankheiten zu heilen, die Zukunft vorauszusagen oder andere Dinge zu vollbringen, zu denen die meisten Menschen nicht im Stande sind. Weber bezeichnet diese außeralltäglichen Kräfte mit dem Begriff „Charisma“. Das Charisma ist manchen Menschen angeboren, es kann jedoch auch durch Übungen, insbesondere durch Ekstasetechniken geweckt und gesteigert werden. Die Ekstase hat eine magisch-religiöse Doppelfunktion: Sie dient dazu, die Verbindung mit der außeralltäglichen Kraft (mit dem Göttlichen) herzustellen und zugleich diese Kraft für praktische Zwecke zu nutzen. Die Fähigkeit zur Beherrschung der Ekstasetechniken ist laut Weber die Grundlage für die Entstehung des ältesten aller Berufe, des Zauberers, der sowohl für die Anleitung der religiösen Kulthandlungen als auch für die Ausführung magischer Rituale zuständig ist (Weber 1985: 245ff.). Religion und Magie sind in archaischen Gesellschaften zweitens dadurch miteinander verbunden, dass religiösen und magischen Handlungen die gleichen animistischen oder spiritistischen Weltdeutungen zugrunde liegen: die Vorstellung, dass in den magisch qualifizierten Objekten spirituelle Wesen hausen oder dass die spirituellen Kräfte von Geistern oder Gottheiten ausgehen. Die dritte Gemeinsamkeit zwischen Religion und Magie besteht darin, dass sowohl das religiöse als auch das magische Handeln primär aus Ritualen, d.h. aus der regelmäßigen Ausführung fest gefügter Abläufe von symbolischen Handlungen besteht. Im Zuge der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsphären kam es zu einer allmählichen Trennung zwischen Religion und Magie und zur entsprechenden Scheidung zwischen dem Priester als Leiter des religiösen Kultbetriebs und dem Zauberer als Experten für magische Rituale, wobei jedoch zwischen den
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beiden Sphären in den meisten Fällen weiterhin ein fließender Übergang bestand. Ob ein religiöses Ritual magischen Charakter hat oder nicht lässt sich nach Weber daran bemessen, wie es von den beteiligten Akteuren gedeutet wird. Die katholische Transsubstanziationslehre, d.h. die Vorstellung, dass der Gläubige beim Abendmahl den Leib und das Blut Christi in sich aufnimmt, hat magische Züge. Erst durch die protestantische Neuinterpretation des Abendmahls im Sinne einer Erinnerungsfeier verliert dieses Ritual seinen magischen Charakter (ebd.: 338ff.). Im Unterschied zu vielen anderen, wie etwa zu Freud, die die Magie generell als infantiles Wunschdenken abqualifizieren, hat Weber anerkannt, dass charismatisch begabte Personen mittels magischer Rituale, insbesondere mit Hilfe von Ekstasetechniken durchaus starke Effekte erzielen können. Da Max Webers Interesse primär dem Zusammenhang zwischen der Entwicklung der religiösen Heilswege in den Weltreligionen und der Rationalisierung der Lebensführung galt, befasste er sich mit den magischen Aspekten der Ekstasetechniken nicht näher. Er war jedoch der Ansicht, dass die emotionell-ekstatischen Praktiken in Hinblick auf das Ziel einer dauerhaften Heilsgewissheit einen geringeren Grad an Rationalität aufweisen als die elaborierten mystisch-asketischen Techniken der östlichen Weltreligionen (Weber 1988a, Band II: 150ff.). Desgleichen bedeutete für Weber auch die schrittweise Überwindung von religiösen Weltbildern, die davon ausgehen, dass das Geschehen in der Welt von einer Vielzahl antagonistischer spiritueller Kräfte oder Wesenheiten beeinflusst wird, zugunsten von Weltbildern, bei denen alle Vorgänge in der Welt auf eine einzige Ursache (auf Gott oder auf ein abstraktes universelles Grundprinzip) zurückgeführt werden, einen Zugewinn an Rationalität der Welterklärung (Weber 1985: 314ff.). Da sich die protestantische Gesinnungsethik Weber zufolge erst auf der Grundlage eines langen, universalgeschichtlichen Prozesses der Rationalisierung der religiösen Heilswege und der religiösen Weltbilder entwickeln konnte, war für ihn klar, dass magische Formen des religiösen Handelns und Denkens für eine Systematisierung der Lebensführung nicht förderlich sind. Dementsprechend glaubte er auch, dass der religiöse Ritualismus nur dann zu einer ethischen Gesinnungsreligiosität führen kann, wenn „die Anforderung ritueller Reinheit zur seelischen Sündenreinheit rationalisiert worden ist“ und zugleich die Rituale ohne jegliche magische Intention ausgeführt werden (Weber 1985: 323). Webers These der Unvereinbarkeit von magischer Religiosität und (protestantischer) Gesinnungsethik beruht auf der Annahme, dass das entscheidende Merkmal der Magie in der kognitiven Vorstellung liege, das Schicksal der Menschen werde von spirituellen Wesenheiten oder Kräften beeinflusst, die von außen auf den Menschen einwirken; der Magiegläubige delegiere somit die Verantwortung für sein Leben an äußere Kräfte, anstatt sich selbst dafür verantwort-
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lich zu fühlen. Es gibt jedoch mittlerweile eine Reihe von theoretischen Ansätzen, die das Phänomen der Magie anders erklären. Robert Marett (1914) kritisierte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass intellektualistische Theorien der Magie die Bedeutung der kognitiven Komponente überbewerten. Rituelles Handeln sei primär durch Emotionen und nicht so sehr durch Glaubensvorstellungen bestimmt: „Savage religion is something not so much thought out as danced out“ (Marett 1914, zit. nach Hamilton 1995: 56). Der Schlüssel zum Verständnis magischer und religiöser Rituale liege in den starken emotionalen Erfahrungen, die diese Rituale hervorrufen. Das magisch-religiöse Ritual hat einen kathartischen Effekt, es baut psychische Spannungen ab, gibt Hoffnung, Mut und Selbstvertrauen. Diese Erfahrungen werden nach Marett erst nachträglich mit Hilfe von magisch-religiösen Vorstellungen gedeutet, wobei sich die Akteure auf höheren Entwicklungsstufen von Religion und Magie durchaus darüber im Klaren sind, dass es sich hierbei um symbolische Vorstellungen handelt. In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Bronislav Malinowski (1974): Religion und Magie hätten ihren Ursprung gleichermaßen in den emotionalen Spannungen, die durch die Unsicherheit der menschlichen Existenz entstehen. Die zentrale Funktion magischer und religiöser Rituale liege in ihrem kathartischen Effekt und in der Ritualisierung des Optimismus. Das Verständnis für die Wirkungsmechanismen magischer Rituale wurde auch durch den Vergleich derartiger Rituale mit modernen Methoden der (körperorientierten) Psychotherapie erweitert (Levi-Strauss 1977: 204ff.). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen möchte ich nun nochmals zur Ausgangsfrage dieses Beitrags, der Vereinbarkeit von magischer Religiosität und protestantischer Gesinnungsethik, zurückkehren. Aus den vorangehenden Abschnitten geht hervor, dass die magisch-ekstatischen Trancerituale der pentecostalischen Kirchen für die Bereitschaft zur Konversion und die daran anschließende Formung der Persönlichkeit im Sinne der protestantischen Ethik keineswegs nur eine periphere, sondern in mehrfacher Hinsicht eine zentrale Rolle spielen. Sie ermöglichen erstens den Anschluss an die traditionelle spiritistische Religiosität, die in vielen Teilen der Erde noch stark präsent ist, und stellen somit eine wesentliche Voraussetzung für die Erfolge des Pentecostalismus in diesen Regionen dar. Die Trancetechniken werden jedoch in ein streng dualistisches christliches Weltbild integriert, in dem der Kampf des Guten gegen das Böse an oberster Stelle steht. Die Pfingstkirchen distanzieren sich vehement von den magisch-spiritistischen Vorstellungen und schwarzmagischen Praktiken, die unter der Bevölkerung Südamerikas, Afrikas und Asiens noch stark präsent sind. Wenn pentecostalische Pastoren bei den Heilungsritualen vielfach eine Besessenheit durch eine spirituelle Entität der afrikanischen Religionen diagnostizie-
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ren und diesen Geist symbolisch austreiben, dann steht dahinter auch die Intention, die traditionellen spiritistischen Vorstellungen und die damit verbundenen Ängste aus dem Bewusstsein der Betroffenen zu vertreiben. Die Trance- und Heilungsrituale vermitteln zweitens religiöse Prämien, die als Verbesserung des psychischen Wohlbefindens, in manchen Fällen sogar des körperlichen Gesundheitszustands unmittelbar wahrnehmbar sind. Diese "Energetisierung" und die damit verbundene Stärkung des Selbstwertes wiederum bilden die Grundlage für die Bereitschaft zur Selbstdisziplinierung, die mit der asketischen Lebensführung verbunden ist. Dass viele Menschen infolge dieser spirituellen Erfahrungen beginnen, ihr Leben radikal im Sinne der protestantischen Ethik umzugestalten, ist allerdings nur deshalb möglich, weil die magischen Techniken und Symbole in ein religiöses Gesamtsystem eingebunden sind, das die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung des Menschen für sein Schicksal betont. Auch wenn die Sprache des Pentecostalismus vielfach mit Bildern operiert, die die Vorstellung suggerieren, dass spirituelle Kräfte von außen auf den Menschen einwirken, wird doch immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um symbolische Vorstellungen handelt und dass diese Kräfte letztlich aus dem Menschen selbst hervorgehen. Diese symbolische Sichtweise wird sichtbar, wenn pentecostalische Pastoren beispielsweise von „den Dämonen der Migräne, den Dämonen der Depression und der Angst, den Dämonen des Lasters“ sprechen, oder wenn Gottesdienste, in denen in psychodramatischer Form böse Geister ausgetrieben werden, in Anlehnung an moderne technische oder psychotherapeutische Termini als "Entladungsgottesdienste“, d.h. als Gottesdienste zur Entladung negativer psychischer Energien, bezeichnet werden. Es zeigt sich hier also, in ähnlicher Weise wie dies Wouter Hanegraaff für die New-Age-Bewegung diagnostiziert hat, eine Tendenz, die Wirkung traditioneller magisch-spiritueller Praktiken mit dem Vokabular der modernen Wissenschaften, insbesondere mit psychologischen Begriffen zu erklären und sie hierdurch (teilweise) zu entzaubern (Hanegraaff 1996: 482ff.). So betrachtet steht die Religiosität des Pentecostalismus gar nicht so sehr in Widerspruch zu Webers These der Unvereinbarkeit von Magie und protestantischer Ethik, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat.
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Soziologische Lebensstilanalyse und Protestantische Ethik Friederike Benthaus-Apel
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Lebensstilanalyse in der religionssoziologischen Forschung
„Religion kann sich nur je kulturell spezifisch eingebettet ereignen“. Das war eine Grundüberzeugung des Religionssoziologen Joachim Matthes, die ich zum Verständnis einer religionssoziologisch gewendeten Lebensstilforschung der Analyse von Lebensstilen Evangelischer voranstellen möchte. Matthes hatte zwar die interkulturellen Unterschiede vor Augen, wenn er dazu riet, bei „der Reflexion des ‚Religiösen’ stets ihre Kulturkreisgebundenheit präsent zu halten und sie als Resultat eines Diskursprozesses zu begreifen“ (Feige 2009: 2). Aber dies gilt, so die im Weiteren verfolgte These, nicht allein für die Analyse von Religion im interkulturellen Kontext, sondern auch für die Wahrnehmung von Religion in der „eigenen“, der bundesrepublikanischen Gegenwartgesellschaft. In diesem Zusammenhang leistet ein ethnographischer Kulturbegriff, wie ihn Pierre Bourdieu in die soziologische Diskussion eingeführt und anhand der Lebensstilanalyse der französischen Gesellschaft ausgearbeitet hat, einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der religiösen Gegenwartslage. „Der Geschmack bildet“ demnach „mithin den Operator für die Umwandlung der Dinge in distinkte und distinktive Zeichen, der kontinuierlichen Verteilungen in diskon-tinuierliche Gegensätze: Durch ihn geraten die Unterschiede aus der physischen Ordnung der Dinge in die symbolische Ordnung signifikanter Unterscheidungen“ (Bourdieu 1984: 284). Das Anliegen der in diesem Beitrag präsentierten Ergebnisse der Lebensstilanalyse Evangelischer ist es, die je spezifische „binnengesell-schaftliche“ Kulturkreisgebundenheit von Religiosität und Kirchlichkeit anhand der Analyse von Lebensstilen herauszuarbeiten und sie darauf hin zu befragen, inwieweit in Lebensstilen Evangelischer, in ihren religiösen Weltsichten Aspekte einer protestantischen Ethik im Sinne Max Webers durchscheinen.
A. Bienfait (Hrsg.), Religionen verstehen, DOI 10.1007/978-3-531-92777-0_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Lebensstilanalyse – ein kultursoziologischer Ansatz in der Sozialstrukturforschung
Die soziologische Lebensstilforschung hat sich zu einem festen Bestandteil der sozialen Ungleichheitsforschung entwickelt. „Während Klassen-, Schicht- und Lagenmodelle Menschen zunächst nach ausgewählten Merkmalen ihrer ‚objektiven’ Lebensbedingungen in verschiedene Gruppen gliedern und anschließend danach fragen, ob und wie typische Klassen- bzw. Soziallagen mit bestimmten Subkulturen und Lebenschancen zusammenhängen, gehen die Milieu- und Lebensstilmodelle genau umgekehrt vor: Sie ordnen zunächst die kulturelle Vielfalt (Wertorientierungen, Einstellungen, Verhaltensweisen, Interaktionen u.a.) nach bestimmten Mustern und fragen [...] erst in einem zweiten Schritt danach, wie diese kulturellen Muster mit den ‚objektiven’ sozialstrukturellen Merkmalen zusammenhängen. Es ist daher gerechtfertigt, Milieu und Lebensstilanalysen als kultursoziologisch bzw. kulturalistische Ansätze der Sozialstrukturforschung zu bezeichnen“ (Geissler 2006: 106). Mit Lebensstilkonzepten reagierten Sozialstrukturforscher zu Beginn der 1980er Jahre auf gesellschaftliche Prozesse zunehmender Individualisierung, die auf eine mangelnde Erklärungskraft der klassischen Ungleichheitsmerkmale wie Einkommen, Schulbildung und Statusunterschieden hinzuweisen schienen. Spätestens seit Beginn der 1990er Jahre zeigten jedoch die Ergebnisse der empirischen Lebensstilforschung, dass trotz gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse nicht von einer Unabhängigkeit zwischen sozialer Lage und Lebensstil auszugehen ist, sondern Lebensstile von objektiven Lebensbedingungen durchaus abhängig sind (vgl. Geissler 2006). Lebensstilforschung ergänzt und erweitert somit die soziale Ungleichheitsforschung um die wichtige Dimension soziokultureller Unterschiede. Im Folgenden wird mit einem Lebensstilkonzept gearbeitet, das auf theoretische und empirische Überlegungen zu einer mehrdimensionalen Rekonstruktion von Lebensstilen zurückgeht (Lüdtke 1989, Müller 1993, Spellerberg 1996) und Lebensstil als „die unverwechselbare Struktur und Form der Lebensorganisation eines privaten Haushalts bzw. der in ihm lebenden Individuen“ definiert (Lüdtke 1990: 434). Lebensstile werden verstanden als subjektiv sinnvoll erlebte und erprobte Formen der Lebensorganisation, die sich in habitualisierten Alltagsroutinen, insbesondere in ästhetischen und sozio-kulturellen Präferenzen der Menschen äußern (vgl. Lüdtke 1990). Lebensstilen kommt eine gesellschaftlich relevante Funktion zu, weil sie mittels sozialer Vergleichsprozesse (Übereinstimmung mit bzw. Abgrenzung von Lebensstilen anderer) zur Stabilisierung der sozialen Identität ihrer Träger beitragen und von diesen dazu
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genutzt werden, Ansprüche auf soziale Zugehörigkeit und Anerkennung zu signalisieren und diese mittels Distinktionsstrategien durchzusetzen.
2.1 Die Lebensstilanalyse evangelischer Kirchenmitglieder – in Anschluss an Max Weber und Pierre Bourdieu Lebensstilforschung betreiben Mit der oben eingeführten Lebensstildefinition wird in verschiedener Hinsicht an den Begriff des Lebensstils von Max Weber angeschlossen. Max Weber beabsichtige mit dem Begriff des Lebensstils die ständische Lage als „typisch wirksam in Anspruch genommene positive und negative Privilegierung in der sozialen Schätzung“ durch die Lebensführungsart, das Berufsprestige, das Abstammungsprestige sowie durch die formale Erziehungsweise näher in ihrer Bedeutung zu erfassen und beschrieb den Begriff des sozialen Standes als eigenständigen sozialen Sachverhalt, der in Abgrenzung zur „sozialen Klasse“ steht (Weber 1980: 179).1 Wenngleich mit dem in der Sozialstrukturforschung heute verwendeten Begriff von Lebensstil nicht mehr auf eine ständische Lebensführung rekurriert wird, bleiben dennoch Max Webers Überlegungen zu „Lebensstilen“ und „Lebensführung“ als Aspekte einer soziokulturell gewendeten Sozialstrukturforschung relevant. Denn die aktuelle Lebensstilforschung nimmt Bezug auf die verallgemeinerbaren sozialen Funktionen von Lebensstil, wie sie in der Konzeption des Begriffes der Lebensführung, des Lebensstils von Max Weber angelegt sind: Dies ist erstens der sich im Lebensstil ausdrückende Anspruch auf soziale Anerkennung, der in aktuelle Arbeiten zur Analyse von Lebensstilen Berücksichtigung findet. Zweitens wird Lebensstil als eine Strategie und ein Mittel zur Schließung sozialer Beziehungen (Assimilations- und Distinktionsstrategien) untersucht. Und drittens wird mittels Lebensstilanalyse die Funktion der Stiftung sozialer Identität durch die Zugehörigkeit zu einer Lebensstilgruppe angesprochen. Zugehörigkeit zu einem Lebensstil stellt sich durch die Wahrnehmung der Lebensführung anderer und im wechselseitigen Vergleich zwischen einander ähnlichen Personen her (vgl. Lüdtke 1989: 24f.). Lebensstile sind somit als habituelle Muster der Lebensführung zu verstehen, die aktiv genutzt werden, um soziale Identität herzustellen und sich als Individuum oder Gruppe anderen zu zeigen, also Gemeinsamkeit wie Distinktion im Sinne von „Stilisierung“ bewusst oder habituell zu erzeugen. „Mit der Art, wie man sich kleidet, einrichtet, die 1 Müller hat darauf hingewiesen, dass der Begriff des Lebensstils erst über „den Umweg über die Vereinigten Staaten zu uns gekommen ist: Max Webers „Lebensführung“ wird von Gerth/Mills (1946) und Tumin (1968) als „style of life“ wiedergegeben – heute ist daraus „life style“ oder „Lebensstil“ geworden (Müller 1993: 371).
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Freizeit verbringt oder sich gibt, ordnet man sich zu und andere ein. Ob verschiedene Personen gemeinsame Interessen und Erlebniswelten haben, ob sie freiwillig in Kontakt miteinander treten und wo soziale Grenzen bestehen, ist am ehesten an selbstgewählten Aktivitäten ablesbar. Wahrnehmbare Verhaltensmuster, symbolische Zuordnungen und dahinterliegende Orientierungen sind damit die zentralen Elemente, nach denen sich Bevölkerungsgruppen erkennen und unterscheiden“ (Spellerberg 1996: 57). Pierre Bourdieu hat die von Max Weber eingeführte Unterscheidung von „Klasse“ und „Stand“ und der in diesem Kontext beschriebenen ständischen Lebensführung aufgegriffen, jedoch in gegensätzlicher Weise weiterentwickelt. Im Unterschied zu Max Weber zeichnet sich Pierre Bourdieus Konzept von Lebensstil gerade dadurch aus, dass er die bei Max Weber strikt getrennten Bereiche von „Klasse“ und „Stand“ durch eine soziokulturelle Klassentheorie miteinander zu verbinden sucht. Im Gegensatz zu Max Weber geht Bourdieu davon aus, dass Lebensstilen die zentrale Funktion zukommt, zur gesellschaftlichen Reproduktion sozialer Klassen unmittelbar beizutragen. In seiner kultursoziologisch gewendeten Klassentheorie beschreibt er, wie sich mittels Lebensstil die Transformation von ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen in statusmäßige Überlegenheit vollzieht (vgl. Müller 1993). Mit seiner innovativen Unterscheidung unterschiedlicher Kapitalsorten, dem ökonomischen, dem kulturellen und dem sozialen Kapital, hat Bourdieu die Grundlage dafür gelegt, die besondere Bedeutung der Bildung für die Ausdifferenzierung von Lebensstilen eigens thematisieren zu können.2 „Die im Habitus verkörperten kulturellen Ressourcen (das „symbolische Kapital“) sind zugleich notwendige Bedingung dafür, objektive Klassenlagen zu reproduzieren. Kultur als Medium der Reproduktion sozialer Ungleichheit – auf diese Formel lassen sich Bourdieus Arbeiten zur Klassenanalyse bringen“ (Eder 1989: 8). Dass damit dem Kulturbegriff ein zentraler Stellenwert in der Sozialstrukturforschung zukommt, darauf hat Müller hingewiesen, wenn er schreibt, dass „Bourdieu die Webersche Problematik von Klasse und Stand weiterentwickelt, den Zusammenhang zwischen Klasse und Klassifikation untersucht und auf diese Weise die Kultursoziologie in das Zentrum der Gesellschaftstheorie zurückholt“ (Müller 1993: 241). In Fortführung dieser Überlegung ist es das Ziel der Lebensstilanalyse Evangelischer, die Bedeutung soziokultureller Unterschiede für die Beschreibung und Erklärung differentieller Formen von Religiosität und Kirchlichkeit in 2 In diesem Kontext erweist sich der ethnologische Kulturbegriff als besonders geeignet, da er das Augenmerk kognitiv auf die unterschiedlichen Klassifikations- und Repräsentationsweisen von Statusgruppen, evaluativ auf das in sozikulturellen Geschmacksnormen verkörperte Klassenethos und expressiv auf differentielle Lebensstile richtet“ (Müller 1993: 241).
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der bundesrepublikanischen Gegenwartsgesellschaft herauszuarbeiten. Die grundlegenden und an Max Weber und Pierre Bourdieu anknüpfenden Fragen hierbei lauten: Können typische Wahlverwandtschaften zwischen Lebensstilen Evangelischer und ihren kirchlichen Beteiligungsformen und religiösen Deutungsmustern festgestellt werden? Inwieweit werden in diesem Zusammenhang die sozialen Funktionen von Lebensstil „Anspruch auf soziale Wertschätzung“, „Soziale Abgrenzung durch Distinktion“ und „Stiftung sozialer Identität“ deutlich? Und lassen sich in Lebensstile Evangelischer, in ihrer Lebensführung Aspekte einer protestantischen Ethik erkennen?
2.2 Kirchlichkeit und Religiosität in Lebensstiltypen Evangelischer Die empirische Durchführung der Rekonstruktion von Lebensstilen Evangelischer folgt einem Vorschlag von Hans-Peter Müller zur mehrdimensionalen Konzeption von Lebensstil (Müller 1993: 376 ff.). Demnach sind vier Dimensionen von Lebensstil zu erfassen, um Lebensstiltypen rekonstruieren zu können: Die Dimension des expressiven Verhaltens (z.B. Freizeitaktivitäten, Konsummuster), die Dimension des interaktiven Verhaltens (z.B. Freundeskreis, Mediennutzung), die evaluative Dimension (z.B. Werte, Motive) von Lebensstil und der kognitive Aspekt von Lebensstil (z.B. Wahrnehmungsweisen, Selbstbild). In der vierten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft konnten Lebensstile Evangelischer auf der Basis der Daten einer Repräsentativerhebung rekonstruiert werden.3 Hierfür wurden Aussagen zu Freizeitverhalten, Musikgeschmack, Geselligkeitsformen, Wertorientierungen und persönlich für wichtig erachtete Lebensbereiche und Lebensziele erhoben. Sind Personen einander anhand dieser Merkmale ähnlich, so bilden sie eine Lebensstilgruppe.4 Insgesamt wurden sechs verschiedene Lebensstiltypen Evangelischer unterschieden:
3
Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft basiert auf einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe aus der Grundgesamtheit der deutschen Wohnbevölkerung ab 14 Jahren. Aus der Grundgesamtheit wurden zwei Teilpopulationen, evangelische Kirchenmitglieder und Konfessionslose (durch Fragen zur Zielgruppenidentifikation) ermittelt. Insgesamt wurden 2701 Personen befragt, davon 1821 evangelische Kirchenmitglieder und 880 Konfessionslose. Die im Folgenden referierten empirischen Ergebnisse zu Lebensstilen und Weltsichten basieren auf der Teilpopulation der 1821 evangelischen Kirchenmitglieder in Ost- und Westdeutschland. 4 Zur Auswertung wurden Faktoren- und Clusteranalyse verwendet (vgl. Benthaus-Apel 2006a: 208).
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Der hochkulturell-traditionsorientierte Lebensstiltyp Der gesellig-traditionsorientierte Lebensstiltyp Der jugendkulturell-moderne Lebensstiltyp Der hochkulturell-moderne Lebensstiltyp Der Do-it-yourself geprägte, moderne Lebensstiltyp Der traditionsorientierte und unauffällige Lebensstiltyp
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13 % 16 % 22 % 14 % 18 % 16 %
Die sechs Lebensstilgruppen, die allein aufgrund der Übereinstimmung in ihren kulturellen, ästhetischen und wertbezogenen Präferenzen gebildet wurden, sind sozialstrukturell eindeutig unterscheidbar.5 Dieser Sachverhalt weist darauf hin, dass entgegen der These einer Entkoppelung von Lebensstil und sozialer Lage, welche in der Sozialstrukturforschung in den 1980er Jahren die Lebensstilforschung auslöste, ein enger Zusammenhang zwischen Lebensstil und sozialer Lage besteht, der somit die Ergebnisse der Lebensstilforschung der 1990er Jahre auch für das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts bestätigt. Im Folgenden werden die sechs Lebensstilgruppen Evangelischer charakterisiert und typische Zusammenhänge zwischen Lebensstil, Kirchenbindung und kirchlich-religiösen Einstellungen beschrieben..6
2.2.1 Evangelische des hochkulturell-traditionsorientierten Lebensstiltyps Evangelische des hochkulturell-traditionsorientierten Typs gehen einer Vielzahl hochkultureller Aktivitäten nach: Sie besuchen Ausstellungen und Museen, gehen häufig ins Theater und lesen oft Bücher. Sie bevorzugen klassische Musik und distanzieren sich von einem Musikgeschmack der Rock- und Popmusik. In ihrer Freizeit ist Evangelischen dieses Typs außerdem die Geselligkeiten im Kreis von Familie und Freunden besonders wichtig. Für persönlich bedeutsam erachten sie die Fürsorge für andere Menschen, politisches Engagement und ein hohes gesellschaftliches Ansehen. Werte der Pflichterfüllung und Mäßigung sind ebenfalls überdurchschnittlich wichtig. Hinsichtlich der Frage, welche Rolle der Frau in der Familie zukommt, ist man der Meinung, dass die Frau sich um Haushalt und Familie kümmern sollte.
5 Die Analyse von Lebensstilen wurde zunächst unabhängig von den Merkmalen der Sozialstruktur wie Einkommen, Bildung und Beruf rekonstruiert, weil nur so die Effekte der sozialen Lage auf den Lebensstil und vice versa erfasst und beschrieben werden können (vgl. Benthaus-Apel 2006a). 6 Ich verzichte an dieser Stelle auf die tabellarische Wiedergabe der statistischen Kennwerte (vgl. hierzu Benthaus-Apel 2006a: 213f.).
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Das durchschnittliche Alter für diese Gruppe beträgt 63 Jahre und entsprechend hoch ist der Anteil an Rentnern und Rentnerinnen. Bezüglich der beruflichen Stellung sind bzw. waren überdurchschnittlich viele Evangelische dieses Lebensstiltyps leitende Angestellte oder Beamte oder freiberuflich Tätige. Es überrascht deshalb auch nicht, dass das formale Bildungsniveau ebenso wie das Einkommensniveau dieser Gruppe – bezogen auf die Generationenlage – als gehoben bezeichnet werden kann. Mehr Frauen als Männer teilen diesen Lebensstil. Betrachtet man die kirchlichen und religiösen Bindungen dieser Lebensstilgruppe, sind ihre hohe Kirchenverbundenheit und ihr explizit formulierter christlicher religiöser Glaube überdurchschnittlich stark ausgeprägt. Nach den persönlichen Gründen der Kirchenmitgliedschaft gefragt, wird diese mit einer hohen persönlichen Bedeutung des christlichen Glaubens begründet. Evangelische des hochkulturell-traditionsorientierten Typs besuchen besonders häufig Gottesdienste und engagieren sich in kirchlichen Gruppen und Kreisen. Die Analyse des Zusammenhangs von Lebensstil und kirchlichen und religiösen Einstellungen in dieser Gruppe zeigt besonders deutlich, dass von einer typischen Korrespondenz zwischen Lebensstil und religiös-kirchlichen Orientierungen und Beteiligungsformen gesprochen werden kann. Festzustellen ist, dass das starke Interesse an hochkulturellen Aktivitäten sowohl die Art und Weise der kirchlichen Beteiligung als auch eine spezifische Erwartungshaltung in dieser Gruppe präformiert: Evangelische dieses Typs besuchen häufiger als andere Lebensstilgruppen Evangelischer kirchliche Musik- und Kulturveranstaltungen und äußern überdurchschnittlich oft die Erwartung, dass die Kirche auch kulturelle Angebote anbieten möge. Dass es sich hierbei um eine Erwartungshaltung handelt, die vor allem - im Sinne Bourdieus - die „legitimen“ und das heißt auch „distinktiven“ Kunstformen in den Blick nimmt, wird daraus ersichtlich, dass man in dieser Gruppe Gottesdiensten mit Kunst- und Kulturformen aus dem Genre der Volkstümlichen- oder der Populärkultur eher skeptisch bis ablehnend gegenübersteht. Dass hochkulturell-traditionsorientierte Evangelische politisches Engagement für wichtig erachten, man sich selber in der Verantwortung als Bürger sieht, wird auch auf der Handlungsebene deutlich: Hochkulturelltraditionsorientierte Evangelische sind überdurchschnittlich oft mit kirchlichen Leitungsaufgaben betraut. Neben der Einstellung, dass persönliches Engagement in Kirche und Gesellschaft wichtig ist, kommt diesen Personen ihre Leitungserfahrung zugute, die sie in beruflichen Kontexten als leitende Angestellte/Beamte erworben haben. Insgesamt verfügt diese Gruppe – ganz im Sinne Bourdieus Habituskonzept – über einen Lebensstil, der sich an den gesellschaftlich dominanten legitimen wie legitimierenden Kunst-, Kultur- und Glaubens-
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formen orientiert. Dass in dieser Gruppe eine Ethik der Lebensführung favorisiert wird, in der auch Werte der Pflichterfüllung und Mäßigung von zentraler Bedeutung sind, weist darauf hin, dass, wie in Kapitel 3.1 noch ausführlich gezeigt werden wird, in dieser Gruppe der Lebensstil besonders stark von einer Lebensführung protestantischer Ethik geprägt ist.
2.2.2 Evangelische des gesellig-traditionsorientierten Lebensstiltyps Evangelische des gesellig-traditionsorientierten Typs gehen in ihrer Freizeit einer Vielfalt geselliger Freizeitaktivitäten im Kreis von Freunden, Familie und Nachbarschaft nach. „Geselligsein“ wird als ein Wert angesehen, den es zu pflegen gilt. Entsprechend werden die Fürsorge für andere und die Pflege von Nachbarschaftskontakten als persönlich wichtig erachtet. Man orientiert sich an Werten der Pflichterfüllung und der Mäßigung und lehnt Lebensgenuss und Unabhängigkeit als Lebensziele ab. Persönlich wichtig ist eine naturverbundene Lebensweise, während das Interesse an hochkulturellen Aktivitäten eher gering ausfällt. Dementsprechend erwartet man auch nicht von der Kirche, dass sie sich für ein breiteres kulturelles Angebot engagiert. Vielmehr sieht man die Aufgabe der Kirche im Bereich der diakonischen Arbeit. Am ausdrücklichsten von allen Lebensstilgruppen wird in dieser Gruppe eine traditionelle geschlechts-spezifische Rollenverteilung vertreten. Ausgeprägt ist in dieser Gruppe zudem eine Vorliebe für Volksmusik. Mit einem Altersdurchschnitt von 65 Jahren ist dies die „älteste“ und eine überwiegend weibliche Lebensstilgruppe von Rentner/-innen mit unterdurchschnittlichem Einkommens- und Bildungsniveau. Auch für diese Gruppe kann von einer Korrespondenz zwischen Lebensstil und der Art und Weise der Gestaltung der Kirchenmitgliedschaft gesprochen werden. Evangelische des gesellig-traditionsorientierten Typs sind der Kirche hoch verbunden und sie besuchen häufig Gottesdienste. Im Unterschied zu den Evangelischen des hochkulturell-traditionsorientierten Typs wählen sie jedoch Teilnahmeformen, die ihrem Bedürfnis nach Geselligkeit und persönlichen Kontakten zu Nachbarn, zum Pfarrer oder der Pfarrerin entsprechen. Vorträge oder kirchenmusikalische Veranstaltungen sind hierfür weniger geeignet. Letztere bedienen in der Regel von ihren Inhalten her die hochkulturelle Geschmacksorientierung der klassischen Musik anstatt der Volksmusik und gehen zudem häufig mit einer spezifischen Atmosphäre der „distanzierten und distanzierenden“ Form der Geselligkeit einher. Gesellig-traditionsorientierte jedoch wertschätzen eine Kultur der sozialen Nähe. Die niedrige Soziallage dieser Lebensstilgruppe lässt vermuten, dass Mäßigung und Pflichterfüllung Wertorientierungen sind, die in dieser Gruppe einen
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anderen Bedeutungsgehalt als im hochkulturell-traditionsorientierten Typus tragen. „Mäßigung“ wird in dieser Gruppe vermutlich7 weniger als frei gewählte Askese, denn als Ausdruck einer von der sozialen Lage diktierten Notwendigkeit zu einer „sparsameren“ Lebensführung verstanden, welches als habitualisiertes Muster die Wertorientierung und Lebensführung dieser Gruppe prägt: sowohl als „Notwendigkeitsgeschmack“ als auch in der Pflege von „Geselligkeit“, die den Wert sozialer Beziehungen als unterstützendes soziales Netzwerk zu schätzen weiß (vgl. Bourdieu 1984: 288ff.).
2.2.3 Evangelische des jugendkulturell-modernen Lebensstiltyps Evangelische mit jugendkulturell-modernem Lebensstil besuchen häufig das Kino, sie gehen in die Disco, sind sportlich aktiv und beschäftigen sich gerne mit dem Computer. Eine Vorliebe für Rock- und Popmusik kennzeichnet den Musikgeschmack, während klassische Musik nicht den eigenen Geschmacksvorlieben entspricht. Charakteristisch für diese Lebensstilgruppe ist ihre kulturelle Distanz sowohl zur Hoch- wie zur Volkskultur. Wichtig sind ‚Unabhängigkeit’ und ‚Lebensgenuss’ im Leben, während die Fürsorge für andere Menschen, die Naturverbundenheit oder etwa eine Freizeitgestaltung des Heimwerkens vollkommen unwichtige Bereiche des Lebens darstellen. Es erstaunt nicht, dass der Altersdurchschnitt in dieser Gruppe 29 Jahre beträgt, und somit vom Altersdurchschnitt die „jüngste“ der sechs Lebensstilgruppen Evangelischer ist. In dieser Gruppe ist die Geschlechterverteilung annähernd ausgewogen. Ein großer Anteil an Schüler/-innen, Student/-innen und in Ausbildung befindlichen Personen gehören zu dieser Lebensstilgruppe, aber auch Berufstätige, die überwiegend als mittlere Angestellte/Beamte oder als Selbstständige arbeiten. Ein jugendkulturell-moderner Lebensstil ist charakteristisch für ein Fünftel der hier untersuchten Evangelischen und stellt somit die größte Lebensstilgruppe dar. Jugendkulturell-moderne Evangelische sind, betrachtet man ihre Kirchenverbundenheit, kirchlich „distanziert“. Die Kirchenmitgliedschaft wird mit der (familiären) Tradition und der gesellschaftlichen Konvention begründet. Sie zählen zu den eher seltenen Gottesdienstbesuchern. Die Distanz zur Kirche wird auch durch die überdurchschnittlich häufige Wahl der Glaubensaussage: „Ich 7 Bourdieu hat darauf verwiesen, dass die in Statistiken zum Ausdruck kommenden Ergebnisse dahingehend zu Fehlschlüssen verleiten, dass die „durch den homogenen Charakter der Befragung erzwungene nominelle Gleichheit wie meistens, wenn von einem Extrem des sozialen Raums zu einem anderen übergewechselt wird, grundverschiedene Realitäten kaschiert“ (Bourdieu 1984: 291). Insofern ist davon auszugehen, dass die Wertschätzung von „Mäßigung“ und „Pflichterfüllung“, die sowohl beim gesellig-traditionsorientierten als auch beim hochkulturell-traditionsorientierten Lebensstiltyp überdurchschnittlich ist, dennoch mit verschiedenen Bedeutungsgehalten versehen ist.
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glaube an eine höhere Macht, aber nicht an einen Gott wie ihn die Kirche beschreibt“ deutlich. Der jugendkulturell-moderne Lebensstil weist von allen Lebensstilgruppen am deutlichsten Diskrepanzen zwischen Lebensstil und christlich-kirchlichen Normen der Lebensführung auf. Entsprechend hoch ist die Distanz zur Kirche, die anhand der hohen Austrittsbereitschaft und einer geringen Gottesdienstbeteiligung ebenso deutlich wird wie an der geringen Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen. Aber auch die Tatsache, dass man in dieser Gruppe häufig zu einer Haltung der Indifferenz bezüglich der im Fragebogendesign verfügbaren Aussagen zu christlich-religiösen Einstellungen neigt, macht deutlich, dass anhand der standardisierten Befragungsdaten das gesamte Bedeutungsfeld von Religiosität und Kirchlichkeit in dieser Lebensstilgruppe offensichtlich nicht ausreichend erschlossen wurde: Man kann den vorformulierten Items nicht zustimmen, mag aber auch nicht in eine Haltung der offenen Ablehnung gehen. Soziokulturell gesehen ist Kirche für diese Lebensstilgruppe somit eher „fremdes Terrain“ denn Heimat. Kirchenmitgliedschaft erwächst und bleibt gebunden an die familiäre Tradition, die somit ein wichtiges Bindeglied zwischen „gelebter Distanz“ und der Kirchenmitgliedschaft jugendkulturell-moderner Evangelischer darstellt. Mäßigung und Pflichterfüllung, Wertorientierungen, die, wie gezeigt, die Evangelischen des hochkulturell-traditionsorientierten Typs oder des geselligtraditionsorientierten Typs in je soziokulturell verschiedener Weise als Protestantische Ethik und Ausdruck eines „Notwendigkeitsgeschmackes“ verkörpern, gehören in dieser Gruppe nicht zum dominanten Wertekanon. Mäßigung und Pflichterfüllung kommen durchaus in der Lebensführung jugendkulturellmoderner Evangelischer zum Tragen, etwa wenn es um die Gestaltung des persönlichen Lebenssinns geht. Es wäre sicher falsch, die Orientierung an Zielen von Lebensgenuss und Unabhängigkeit in dieser Lebensstilgruppe allein mit dem pejorativen Begriff des „Hedonismus“ zu beschreiben. Pflichterfüllung als Aspekt von Leistung, der konnotativ auch die Ebene des „Spaßhabens an Leistung“ umfasst, käme dem Wertekanon dieser Gruppe wohl mehr entgegen, wurde im Befragungsdesign aber nur unzureichend berücksichtigt (vgl. Benthaus-Apel 2007). Die Lebensstilanalyse für diese Gruppe macht somit deutlich, dass hier von Diskrepanz zwischen Lebensstil und kirchlich-religiösen Einstellungen zu sprechen ist. Sie zeigt, dass diese Diskrepanzen nicht allein auf einer kulturellästhetischen Ebene angesiedelt sind, sondern dass sich kulturelle Fremdheit grundlegender auf die mit der dominanten christlich-kirchlichen Kultur verbundenen Semantiken und Ethiken der Lebensführung bezieht.
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2.2.4 Evangelische des hochkulturell-modernen Lebensstiltyps Das Besondere dieses Lebensstils ist die Verbindung von Hoch- und Jugendkultur: Diese beiden, die Vor- und die Nachkriegsgeneration trennenden Sphären des „guten Geschmacks“ werden in dieser Lebensstilgruppe gezielt miteinander verbunden. Häufige Theater- und Ausstellungsbesuche mischen sich mit Discotheken- und Kinobesuchen. Man hört häufig klassische Musik, hat aber durchaus auch eine Vorliebe für Rock- und Popmusik. Die häufige Beschäftigung mit dem Computer ist ebenso selbstverständlich wie die viele Zeit, die man mit dem Lesen von Büchern verbringt. Selbst in der Frage der geschlechterspezifischen Rollenzuweisung wird dieses Lebensstilmuster deutlich, indem man mehrheitlich der Aussage zustimmt: „Mindestens wenn die Kinder noch klein sind, ist es besser, wenn die Frau zu Hause bleibt“. Dieses Item markiert im Fragebogendesign die „mittlere“ Position zwischen den möglichen „traditionellen“ oder „modernen“ Einstellungen zur Rolle der Frau in der Familie. Nachbarschaftskontakte sind für Evangelische dieses Typs unwichtig. Das durchschnittliche Alter dieser Gruppe Evangelischer beträgt 44 Jahre. Ein überdurchschnittlich hohes Bildungs- und Einkommensniveau ist ebenso kennzeichnend wie die Tatsache, dass der Anteil an leitenden Angestellten und Beamten sowie an freiberuflich Tätigen unter den Erwerbstätigen auffallend hoch ist. Frauen sind mit einem Anteil von 66% in dieser Gruppe besonders häufig vertreten; der hochkulturell-moderne Lebensstiltypus ist somit der „weiblichste“ unter allen sechs Lebensstilgruppen. Das Charakteristikum dieses Lebensstiltyps, das in der Kombination unterschiedlicher, an und für sich widerstreitender Orientierungen liegt, ist auch hinsichtlich der kirchlichen und religiösen Einstellungen erkennbar: Zwei Drittel dieser Gruppe bezeichnen sich als kirchlich sehr verbunden, aber es gibt auch einen erhöhten Anteil jener, die einen Kirchenaustritt in naher Zukunft nicht ausschließen. Fast die Hälfte dieser Gruppe vertritt einen explizit christlichen Gottesglauben, aber knapp 30% einen Glauben an eine höhere Macht, jedoch nicht an einen Gott, wie ihn die Kirche beschreibt. Typischerweise verbindet sich in dieser Gruppe ein (christlich) religiöser Glaube mit der Erfahrung der Geborgenheit durch Schutzengel. In dieser Gruppe ist auch das Interesse für alternative Formen des Religiösen überdurchschnittlich hoch. Im Unterschied zum jugendkulturellen-modernen Typ lehnen Evangelische des hochkulturell-modernen Typs all jene Aussagen ab, die die Kirchenmitgliedschaft mit (familiärer) Tradition und Konvention begründen. Dies verweist auf eine bewusste Entscheidung für die Kirchenmitgliedschaft. Entsprechend sind auch spezifische Erwartungen gegenüber der Institution Kirche feststellbar: Kirche soll sich neben Verkündi-
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gung und diakonischer Arbeit auch ihren sozialpolitischen und kulturellen Aufgaben widmen. Fragt man danach, ob Korrespondenzen zwischen Lebensstil und kirchlichreligiösen Einstellungen bestehen, fällt zunächst auf, dass auch in dieser Gruppe der hochkulturelle Lebensstil mit der Erwartungshaltung verbunden ist, Kirche möge kulturelle Angebote anbieten. Die eigene hochkulturelle Orientierung dient demnach wie bei den hochkulturell-traditionsorientierten Evangelischen als Anknüpfungspunkt, als kulturelle „Heimat“ für die Gestaltung der Kirchenmitgliedschaft. Das Besondere an dieser Lebensstilgruppe ist jedoch, dass sich ihr Lebensstil wie auch ihre kirchlich-religiösen Einstellungen und Handlungsmaximen als Transformationen eines kulturprotestantischen Habitus lesen lassen: Man versteht sich als Kirchenmitglied mit spezifischen Erwartungen und Interessen, die im Unterschied zum hochkulturell-traditionsorientierten Lebensstiltyp inhaltliche „Brüche“ mit den traditionellen Formen und Inhalten christlichkirchlicher Kultur deutlich werden lassen: Man besucht nicht reguläre, sondern eher Gottesdienste im Grünen oder Frauengottesdienste. Man verbindet persönlich christlich-kirchliche Glaubensbestände mit neuen, individualisierten Ausdrucksformen des Religiösen, etwa dem Glauben an Schutzengel. Im Unterschied zum hochkulturell-traditionsorientierten Lebensstiltypus sieht man sich wohl eher nicht als Vertreter(innen) der „legitimen“ christlich-kirchlichen Kultur, sondern sucht und sondiert neue Formen des Religiösen. Dass man dabei gleichwohl selbstbewusst auftritt, ist mit dem spezifischen hohen kulturellen und ökonomischen Kapital verbunden, über das diese Gruppe verfügt und das es ihnen ermöglicht, eine Haltung kritischer Distanz gegenüber der „legitimen“ christlich-kirchlichen Kultur einzunehmen und für eine aktive (Um-)Gestaltung dieser einzutreten. Zu vermuten ist, dass Vertreterinnen dieses Lebensstiltyps auch ihre je spezifischen kulturellen, politischen und religiösen Sozialisationserfahrungen als Vertreterinnen der Generation der Counter Culture einbringen, wenn sie sich als Kirchenmitglieder etwa als Vertreterinnen einer feministischen Theologie kritisch und dennoch affirmativ kirchlich-religiös engagieren.
2.2.5 Evangelische des Do-it-yourself geprägten modernen Lebensstiltyps Die vielfältigen Arbeiten rund um Haus und Garten, das Interesse für Computer und die aktive sportliche Betätigung sind wichtige Merkmale dieses Lebensstils. Ein Lebensstil, der kennzeichnend ist für evangelische Männer (66%), die in Familien mit (kleinen) Kindern leben. In dieser Gruppe werden die Fürsorge für andere, enge Nachbarschaftskontakte und eine naturverbundene Lebensweise als persönlich wichtige Bereiche des Lebens genannt. Insgesamt klingt in diesem
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Lebensstil Evangelischer eine Orientierung an Werten der protestantischen Arbeitsethik an. Ein charakteristischer Unterschied zum hochkulturell-modernen Lebensstiltypus, der bezüglich der Werte der Pflichterfüllung und der Mäßigung sich zumeist durchschnittlich positioniert, diese Werte also weder ablehnt noch explizit vertritt, während im Do-it-yourself geprägten Lebensstiltypus Mäßigung als eine an (Selbst-)Disziplin orientierte Leistungsbereitschaft häufiger explizit vertreten wird (vgl. Benthaus-Apel 2007). Die Einkommenssituation in dieser Gruppe liegt im Vergleich zur Gesamtstichprobe im mittleren und höheren Bereich. Es überwiegen mittlere Schulabschlüsse, der Anteil an mittleren Angestellten und Beamten und mittleren Selbstständigen ist überdurchschnittlich. Personen dieser Lebensstilgruppe bezeichnen sich als ‚mit der Kirche etwas verbunden’. Sie besuchen gelegentlich Gottesdienste. Ihre Haltung zur Kirche ist von freundlicher Distanz geprägt: Kirche ist überwiegend Kirche für andere (Arme, Kranke und Kinder) und erfährt in dieser Funktion Unterstützung. Als Ort etwa für eine persönliche Lebenshilfe oder Gemeinschaftserfahrung kommt sie jedoch nicht in den Blick. Diese Haltung einer geringen Bedeutung von Kirche für die eigene Glaubenspraxis, die dennoch als Organisation hohe Wertschätzung erfährt, kann als typisch „männliche“ Sicht auf Kirche bezeichnet werden (vgl. Engelbrecht/Rosowski 2007: 159). Vergleichbar mit den meist weiblichen Evangelischen des hochkulturell-modernen Typs erwartet man von der Kirche, dass sie ihre Aufgaben in Verkündigung und Diakonie wahrnimmt, sich gegen Fremdenhass positioniert und sich für Entwicklungshilfe engagiert. Auch hier wird also ein spezifischer sozialpolitischer Anspruch mit der Unterstützung der Kirche durch die eigene Kirchenmitgliedschaft verbunden. Sucht man nach typischen Korrespondenzen zwischen Lebensstil und religiösen wie kirchlichen Einstellungen und Handlungsmustern, so fällt zum einen auf, dass eine auf die Familie und die „familiäre“ Fürsorge zentrierte Lebensführung mit der Wahrnehmung der Kirche als Heimat für die Familie korrespondiert, während zum anderen auf der persönlichen Ebene ein sportlich-jugendkulturell geprägter Lebensstil mit Einstellungen des „Zweifelns“ und der „Brüche“ mit und an christlich-religiösen Glaubensüberzeugungen in Zusammenhang steht. Andererseits findet gerade in dieser Lebensstilgruppe eine Lebensführung Wertschätzung, die Merkmale einer protestantischen Ethik wie eine überdurchschnittlich hohe Arbeitsethik und Mäßigung als Ausdruck von Selbstdisziplin erkennen lässt (vgl. Kapitel 3.1 und Benthaus-Apel 2007).
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2.2.6 Evangelische des unauffällig traditionsorientierten Typs Die für die Lebensstilanalyse im Allgemeinen wichtigen Merkmale der Expressivität im Freizeitverhalten stoßen in dieser Lebensstilgruppe auf keinerlei Resonanz, weshalb dieser Lebensstil mit der Bezeichnung ‚unauffällig’ versehen wurde. Lediglich hinsichtlich des Musikgeschmacks kann diese Lebensstilgruppe in ihren kulturellen Vorlieben positiv beschrieben werden: Sie schätzen Volksmusik. Darüber hinaus zeichnet sich diese Personengruppe durch eine negative Einstellung gegenüber allen Formen geselliger Freizeitaktivitäten aus. Das Durchschnittsalter in der Gruppe beträgt 53 Jahre und etwas mehr Frauen als Männer sind in dieser Lebensstilgruppe vertreten. Hinsichtlich der sozialstrukturellen Merkmale sind ein niedriges Einkommens- und Bildungsniveau und ein überdurchschnittlich hoher Anteil an un- und angelernten Arbeitern kennzeichnend, so dass insgesamt von einer unterprivilegierten sozialen Lage dieses Lebensstiltyps gesprochen werden kann. Die Unauffälligkeit im Lebensstil prägt auch die Gestaltung der Kirchenmitgliedschaft: Besonders jene Mitgliedschaftsgründe werden in dieser Gruppe verneint, die auf das Erleben von Gemeinschaft und die Mitarbeit in der Gemeinde zielen. Es verwundert also nicht, dass man am Gottesdienst eher selten teilnimmt und sich auch, den eigenen Bedürfnissen von Nähe und Distanz entsprechend, nur gelegentlich an kirchlichen Veranstaltungen beteiligt. Bezüglich des religiösen Glaubens finden jene Haltungen starke Zustimmung, die einen christlichen Gottesglauben zum Ausdruck bringen, aber auch persönlichen Zweifel am Glauben zulassen. Typisch für diese Gruppe ist eine durchaus kritische Haltung gegenüber der Institution Kirche: Dass Kirche sich vor allem für soziale Gerechtigkeit einsetze, dieser Aussage kann man ebenso wenig zustimmen wie einer christlich-religiösen Haltung der ‚Dankbarkeit dafür, dass man lebt’. Die sozial benachteiligte Lage dieser Lebensstilgruppe korrespondiert mit einer Haltung der skeptischen Distanz gegenüber den „legitimen“ Formen kirchlichen und religiösen Handelns, die im Unterschied – aber in Übereinstimmung mit dem persönlichen Lebensstil – zu einer geringen, eher unauffälligen Beteiligung an Kirche führt. Insgesamt, so lassen sich die Ergebnisse der Lebensstilanalyse evangelischer Kirchenmitglieder zusammenfassend bewerten, sind für alle sechs Lebensstilgruppen Evangelischer typische Zusammenhänge zwischen Lebensstil und kirchlich-religiösen Einstellungen und Praxisformen auszumachen, die zeigen, dass ganz im Sinne der Eingangsüberlegung in Anlehnung an Joachim Matthes, sich „Religion und Kirchlichkeit je kulturell spezifisch eingebettet ereignet“. Darüber hinaus wurde bereits verschiedentlich deutlich und wird im Folgenden für die Lebensstile der Hochkulturorientierung noch detaillierter aufgezeigt, dass in
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Übereinstimmung mit dem Lebensstilansatz von Pierre Bourdieu, Lebensstile Evangelischer durchaus als soziokultureller Ausdruck der sozialen Ungleichheit zwischen evangelischen Kirchenmitgliedern betrachtet werden können.
2.3 Die gesellschaftliche Bedeutung des hochkulturellen Lebensstiltyps Die Analyse der Lebensstile Evangelischer hat gezeigt, dass sich zwei der sechs Lebensstilgruppen Evangelischer durch eine hochkulturelle Orientierung im Lebensstil auszeichnen.8 Im Folgenden wird die gesellschaftliche Bedeutung eines hochkulturellen Lebensstils als ein Lebensstil der gehobenen Sozialschicht anhand einer Studie von Jürgen Gerhards über „Die kulturell dominierende Klasse in Europa“ (2008) aufgezeigt und die soziale Funktion des hochkulturellen Lebensstils als Mittel und Strategie der sozialen Schließung verdeutlicht. Jürgen Gerhards untersuchte auf der Basis des Eurobarometers die Intensität der Hochkulturnutzung von Bürgern aus 27 Ländern der Europäischen Union und konnte zeigen, dass ein hochkultureller Lebensstil in allen 27 Ländern ein eigenständiges Verhaltenssyndrom darstellt, das als Lebensstil der kulturell dominierenden sozialen Klasse der jeweiligen Gesellschaft zu begreifen ist. Ein hochkultureller Lebensstil Evangelischer, so die These, ist somit nicht allein Ausdruck einer zufälligen Geschmacksvorliebe Evangelischer für klassische Kunst und Musik, sondern hochkulturell orientierte Evangelische gehören auch einer gesellschaftlichen Sozialschicht an, die mit ihrem Lebensstil - mehr oder weniger bewusst – auch einen Anspruch auf soziale Zugehörigkeit zur kulturell dominierenden Klasse in der Bundesrepublik und darüber hinaus demonstrieren. 8 Claudia Schulze, Eberhard Hauschildt und Eike Kohler haben in „Milieus praktisch“ die oben dargestellten, im Rahmen der vierten EKD-Erhebung empirisch rekonstruierten Lebensstiltypen für ihre Analyse verwendet, jedoch mit neuen Bezeichnungen versehen (vgl. Schulze/Hauschildt/Kohler 2008: 46). Der hochkulturell-traditionsorientierte Lebensstil Evangelischer findet sich dort als das soziale Milieu der „Hochkulturellen“, der hochkulturell-moderne Lebensstiltypus Evangelischer als das Milieu der „Kritischen“ wieder. Problematisch ist diese Umbenennung zum einen, weil die Ergebnisse der sechs Lebensstiltypen Evangelischer inhaltlich mit Ergebnissen aus unterschiedlichsten Milieustudien verknüpft werden, die Autoren jedoch keine methodischen Kriterien angeben, wie sie die von Stichproben, Ansätzen und Verfahren sehr disparaten Studien, die sie hierfür verwenden, in das neue, alle Studien übergreifende Modell „sozialer Milieus“ Evangelischer überführen. Darüber hinaus wird zum anderen mit diesem Vorgehen, wie die Autoren folgerichtig selber anmerken (vgl. Schulze/Hauschildt/Kohler 2008: 47), der in der EKD-Studie verfolgte konzeptionelle Ansatz der Rekonstruktion von Lebensstilen verlassen, wodurch die intendierte Absicht, die Ergebnisse der Lebensstiltypologie Evangelischer in Bezug auf die sozialkritische Theorie Pierre Bourdieus und weiterer Lebensstilstudien zu diskutieren, nicht weiter verfolgt werden kann. Weil in diesem Beitrag an die Bourdieu’sche Theorie explizit angeschlossen wird, behalte ich sowohl den ursprünglich gewählten theoretischen Ansatz wie die Begrifflichkeit der Lebensstile Evangelischer bei, wie sie in der vierten EKD-Erhebung über Mitgliedschaft gewählt wurde.
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2.3.1 Hochkultureller Lebensstil Evangelischer und soziale Schließung Gerhardts zeigt, dass ein hochkultureller Lebensstil in allen untersuchten Ländern ein in der Bevölkerung äußerst gering verbreiteter aber dennoch sozial dominanter Lebensstil ist und er urteilt: „Es gehört zu den konstitutiven Merkmalen von Eliten und von elitären Lebensstilen, dass sie gerade nicht von einer breiten Bevölkerung praktiziert werden; dies scheint für alle hier untersuchten Länder zu gelten. Die Distinktion des eigenen Lebensstils in Abgrenzung zum Massengeschmack ist ein konstitutives Merkmal der Eliten in den 27 Ländern“ (Gerhards 2008: 733). Auch für die Lebensstile Evangelischer gilt, dass ein hochkulturelltraditionsorientierter Lebensstil ebenso wie ein hochkulturell-moderner Lebensstil nur von einer Minderheit von je 14 % bzw. 13 % der Evangelischen kennzeichnend ist. Ein hochkultureller Lebensstil ist somit auch unter Evangelischen ein Lebensstil einer Minderheit, der – zumindest in der Variante des hochkulturell-traditionsorientierten Lebensstiltypus - sich zudem dadurch auszeichnet, dass er sich explizit von kulturellen Orientierungen der Volks- wie Populärkultur, also vom „Massengeschmack“ deutlich abgrenzt. Man kann somit für hochkulturelltraditionsorientierte Evangelische davon ausgehen, dass die eingangs erwähnten allgemeinen Funktionen von Lebensstil im Sinne Max Webers als Strategien zur sozialen Identifikation und sozialen Schließung in dieser Gruppe ihre Wirksamkeit entfalten. Gerhards weist für alle untersuchten Länder nach, dass ein hochkultureller Lebensstil mit hohen ökonomischen und kulturellen Ressourcen einhergeht: Leitungskräfte, Professionals und Selbstständige sind häufiger hochkulturell orientiert als Angestellte. Selbstständige pflegen im Vergleich zu der Hochkulturfraktion (Leitungskräfte/Professionals) im geringeren Maße einen hochkulturellen Lebensstil. Seine Untersuchungsergebnisse zeigen, dass „je höher die Bildung des Befragten und je höher sein inkorporiertes kulturelles Kapital ist, desto stärker ist er in seinen kulturellen Aktivitäten hochkulturell“ (Gerhards 2008: 740). Damit, so Gerhards, haben sich durch Analysen einer hochkulturellen Orientierung in den Lebensstilen europäischer Bürger die „Bourdieu’schen Annahmen einer Korrespondenz von Soziallage und Lebensstil sehr gut bewährt. Der Raum der Lebensstile wird entscheidend bestimmt durch den der Klassen und Klassenfraktionen und durch die Kapitalien, über die Personen verfügen“ (vgl. Gerhards 2008: 740). Berücksichtigt man die Tatsache, dass in der älteren Generation das formale Bildungsniveau durchschnittlich niedriger zu veranschlagen ist als in den jüngeren Generationen, die durch die Bildungsexpansion über durchschnittlich höhere Bildungsabschlüsse verfügen, dann zeichnen sich beide hochkulturell orientierten Lebensstilgruppen Evangelischer sowohl durch überdurchschnittlich hohe
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kulturelle Ressourcen wie auch durch einen überdurchschnittlich hohen beruflichen Status aus: Sowohl Evangelische des hochkulturell-traditionsorientierten Lebensstiltyps als auch Evangelische des hochkulturell-modernen Typs sind häufiger als Evangelische anderer Lebensstilgruppen freiberuflich tätig oder gehören zu den leitenden Angestellten und Beamten. Es ist also durchaus angemessen, Evangelische mit hochkultureller Orientierung nicht nur als Teil der kulturell dominanten Klasse in der Bundesrepublik wahrzunehmen, sondern auch als Bevölkerungsgruppe der gehobenen Soziallage. In Anlehnung an Max Weber ist davon auszugehen, dass mit einem hochkulturellen Lebensstil eine ‚typisch wirksam in Anspruch genommene positive Privilegierung in der sozialen Schätzung“ zum Ausdruck gebracht wird oder werden kann.
2.3.2 Hochkultureller Lebensstil, protestantische Lebensführung und Bildung Jürgen Gerhards stellt in seiner Untersuchung über die kulturell dominierende Klasse einen Zusammenhang zwischen Protestantismus und hochkulturellem Lebensstil insofern fest als „[...] die Hochkulturorientierung in den eher nordisch-protestantischen Ländern weiter verbreitet ist als in den südlichen, katholischen und christlich-orthodoxen Ländern“ (Gerhards 2008: 733). Er bewertet dieses Ergebnis als „eine ‚Scheinkorrelation’ [...], denn es gibt zumindest keine plausible Ad-hoc-Hypothese, warum Religion einen Effekt auf das Ausmaß des hochkulturellen Lebensstils haben sollte“ (Gerhards 2008: 733). Ein hochkultureller Lebensstil, wenngleich vom Umfang her der Stil einer Minderheit, prägt gleichwohl gleich zwei der sechs Lebensstilgruppen Evangelischer und kann somit als durchaus typisch für Evangelische bezeichnet werden. Für beide hochkulturell orientierten Lebensstilgruppen kann außerdem eine hohe Kirchenverbundenheit bestätigt werden, insbesondere für den hochkulturelltraditionsorientierten Typ. Als mögliche Ursache für den Zusammenhang von Protestantismus und hochkulturellem Lebensstil ist die in beiden hochkulturell geprägten Lebensstilgruppen überdurchschnittlich hohe Wertschätzung für Bildung zu sehen, die auch ein zentrales Merkmal des bürgerlich geprägten Kulturprotestantismus ist. So verfügen beide hochkulturell orientierten Lebensstilgruppen, wie erwähnt, über ein hohes kulturelles Kapital. Beide Gruppen zeichnen sich zudem dadurch aus, dass sie ein ausgeprägt hohes Ethos der Eigenverantwortlichkeit und eine stark individualistische Orientierung vertreten, die beide als Kennzeichen eines bürgerlich geprägten Kulturprotestantismus gelten. Ein hochkultureller Lebensstil steht, so lässt sich resümieren, offenbar durchaus in enger Beziehung mit einer kulturprotestantischen Haltung, die sich in hoher Wertschätzung für Bildung, einer protestantischen Arbeitsethik und einer ausge-
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prägten Haltung zur Eigenverantwortung äußert. Mit Bourdieu gesprochen, kommt in diesen Gruppen zudem ein Habitus protestantischer Prägung zum Ausdruck, der als typische Verbindung von Wohlstand und Askese, d.h. als „ [...] Asketismus aus freier Wahl und als bewusste Beschränkung – Sparsamkeit der Mittel, Zurückhaltung, Mäßigung, die sich in der absoluten Äußerung des Vollkommenen bezeugen: dem Entspanntsein in der Anspannung“ zu beschreiben ist (Bourdieu 1984: 287). Man muss jedoch einschränkend hinzufügen, dass Bildung offensichtlich mehr Erklärungskraft für die Entstehung eines hochkulturellen Lebensstils hat als die Konfessionszugehörigkeit.9 Dafür spricht zum einen der in der Lebensstilanalyse festgestellte enge Zusammenhang zwischen Bildung und hochkulturellem Lebensstil. Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse der vierten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, dass unter Konfessionslosen ebenfalls ein hochkultureller Lebensstil festzustellen ist, der mit einer überdurchschnittlich hohen formalen Bildung seiner Träger verbunden ist (vgl. Benthaus-Apel 2006b). Ob sich eine protestantische Konfessionszugehörigkeit im hochkulturellen Lebensstil tatsächlich in besonderer Weise auswirkt, Katholiken weniger häufig hochkulturell orientiert sind, kann anhand der vierten EKD-Erhebung nicht näher untersucht werden, weil Katholiken in der vierten EKD-Erhebung nicht befragt wurden.
2.3.3 Hochkultureller Lebensstil, Geschlecht und Alter Die Ergebnisse von Jürgen Gerhards Studie zeigen, dass der Richtung nach Frauen und ältere Menschen in höherem Maße hochkulturell orientiert sind als Männer und jüngere Personen (vgl. Gerhards 2008: 740, Fußnote). Sowohl der geschlechtsspezifische als auch der altersbezogene Unterschied in der hochkulturellen Orientierung findet in den Daten der vierten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft Bestätigung: Nicht nur im hochkulturell-traditionsorientierten Lebensstiltyp sondern auch im hochkulturell-modernen Lebensstiltyp sind Frauen überrepräsentiert. Das Interesse und die Beschäftigung mit Kunst und Kultur folgen damit offensichtlich den gesellschaftlich dominanten Geschlechtsrollen, die den Frauen expressiv-künstlerischer Interessen, den Männern 9 Wößmann hat den Zusammenhang von Protestantismus und wirtschaftlichen Erfolg untersucht und stellt fest, dass „der wirtschaftliche Unterschied zwischen Protestanten und Katholiken komplett verschwindet, wenn wir die ökonomischen Effekte der Bildung herausrechnen (Wößmann 2009). Demnach erklärt „Bildung“ den größeren wirtschaftlichen Erfolg von Protestanten und nicht ihre spezifische protestantische Arbeitsethik. Dennoch kann mit den Ergebnissen der Lebensstilanalyse Evangelischer davon ausgegangen werden, dass mit Bildung eine spezifische Wertschätzung von Bildung einhergeht, die als Relikt einer kulturprotestantischen Haltung verstanden werden kann.
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eher funktional-pragmatische Interessen zuweist. Der hochkulturell-traditionsorientierte Lebensstil ist zudem typisch für Personen höheren Alters, während sich im hochkulturell-modernen Lebensstil Jüngerer auch ein typischer Wandel in der kulturellen Orientierung abzeichnet. Die charakteristische Mischung von Hoch- und Populärkultur kann als Kennzeichen dafür angesehen werden, dass sich die Stilisierungsformen einer hochkulturellen Orientierung hin zum „Spannungsschema“ (Schulze 1992) verjüngen.
2.3.4 Hochkultureller Lebensstil – Reproduktionsmechanismus der gesellschaftlichen Elite? Gerhards stellt in seiner Untersuchung fest, dass ein hochkultureller Lebensstil nicht allein von den kulturellen Ressourcen der Beteiligten abhängig ist, sondern auch von der kulturellen Infrastruktur eines Landes. Die Gelegenheitsstruktur an kulturellen Aktivitäten teilzunehmen, beeinflusst in den untersuchten 27 Mitgliedsstaaten der EU die Häufigkeit eines hochkulturellen Lebensstils. Jedoch zeigt seine Studie auch, „dass die jeweilige Sozialstruktur eines Landes die wichtigste Determinante für die Herausbildung eines hochkulturellen Lebensstils ist.“ „Verwerfungen und Umbrüche in der Zusammensetzung der Elite, die nach Regimeumbrüchen (in Deutschland z.B. nach 1945 und 1989) zu beobachten sind, lassen die kulturell(e) dominierende Klasse entsprechend weitgehend unberührt. Zugleich ist die Zugehörigkeit zur kulturellen Oberschicht nicht folgenlos für die Zugangsmöglichkeiten zu anderen Eliten; das hochkulturelle Kapital lässt sich durchaus in andere Kapitalien transferieren“ (Gerhards 2008: 744). Die Lebensstilanalyse Evangelischer konnte – entgegen meiner ursprünglichen Erwartungen – für ost- und westdeutsche Evangelische gemeinsam durchgeführt werden. Insbesondere der hochkulturell-traditionsorientierte Lebensstil zeichnet sich durch einen überdurchschnittlich hohen Anteil an ostdeutschen Evangelischen aus: Ein Sachverhalt, der Gerhards Überlegungen stützt, dass ein hochkultureller Lebensstil durchaus robust gegenüber Regimeumbrüchen ist.
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Merkmale protestantischer Ethik in Weltsichten Evangelischer
Es ist naheliegend, die Analyse von Lebensstilen Evangelischer auf den konzeptionellen Ausgangspunkt der Lebensstilforschung, Max Webers Frage nach einer spezifisch protestantischen Lebensführung, zu beziehen. Abschließend wird deshalb untersucht, in welcher Weise Aspekte einer protestantischen Ethik in
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Weltsichten Evangelischer explizit zum Tragen kommen.10 Max Weber bezeichnete mit der protestantischen Ethik bekanntlich eine methodisch-rationale Form der Lebensführung, die sich vor allem durch die (Berufs-)Arbeit als gottgewollten Lebenszweck auszeichne. Dabei ging Weber von der Überlegung aus, dass sich der besondere Stellenwert der beruflichen Tätigkeit in der Protestantischen Ethik aus der religiös begründeten Vorstellung der Calvinisten speise, Arbeit sei nicht Mittel der Existenzsicherung, sondern ein Weg zur Mehrung des Ruhmes Gottes. Beruflicher Erfolg werde dementsprechend als Zeichen des Auserwähltseins in den Gnadenstand Gottes verstanden. Aus diesem religiös begründeten besonderen Verständnis von Arbeit entwickele sich, so Weber, eine Haltung der Berufspflicht, die Beruf als Berufung und Ort der Bewährung begreift und den Einzelnen dazu nötige, rastlos tätig zu sein. Ein typisches Kennzeichen der Protestantischen Ethik sei demzufolge, dass ein hohes Arbeitsethos mit einer Lebensführung verbunden werde, die sich durch nüchterne Selbstbeherrschung und Mäßigung ebenso auszeichne wie durch eine Ablehnung gegenüber allen Formen von Genuss und demonstrativen Reichtum. Um zu untersuchen, inwieweit Aspekte der protestantischen Arbeitsethik in Lebensstilen Evangelischer durchscheinen, wird auf die Frage nach dem Lebenssinn aus der vierten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft zurückgegriffen. Um typische Sinndeutungsmuster in den Lebensstilgruppen Evangelischer zu rekonstruieren, wurden die einzelnen Aussagen über den Sinn des Lebens zunächst einer Faktorenanalyse unterzogen. Im Ergebnis der Faktorenanalyse können drei voneinander unabhängige Deutungsmuster des Lebenssinns ermittelt werden (siehe Tabellen 1). Im Folgenden werden diese Sinndeutungsmuster interpretiert und dargestellt, wie sich die sechs Lebensstilgruppen Evangelischer hinsichtlich der drei rekonstruierten typischen Muster der Deutung von Lebenssinn unterscheiden. Technisch gesprochen: Interpretiert werden die Mittelwert-
10 Mit dem Konzept „Weltsicht“ wurde in der EKD-Studie ein wissenssoziologischer Ansatz gewählt, um Religion und Kirchlichkeit nicht nur in der Perspektive der organisationssoziologischen Frage nach den Einstellungen der Kirchenmitglieder zu ihrer Kirche und zum christlichen Glauben zu erfassen, sondern auch, um Religion „als ein[en] Vorgang der Interpretation und Herstellung einer kognitiven Ordnung – einer Sinnordnung – in den Blick“ zu nehmen (vgl. Wohlrab-Sahr/BenthausApel 2006: 282ff.). Eine detaillierte Darstellung von Konzeption, Auswertungsverfahren und Ergebnissen aller in der EKD-Studie verfügbaren thematischen Bereiche der Weltsicht ist nachzulesen in Wohlrab-Sahr (2003) und Wohlrab-Sahr/Benthaus-Apel (2006). Wenn die hier dargestellten Ergebnisse von den Ergebnissen aus den genannten Beiträgen abweichen, dann weil unterschiedliche Bezugsgruppen in Betracht gezogen wurden. In diesem Beitrag werden die Unterschiede in den Weltsichten der sechs Lebensstiltypen Evangelischer untersucht und hierfür wird allein die Frage nach dem Sinn des Lebens berücksichtigt. Es wurde eine neue Berechnung der Sinndeutungsmuster (Faktorenanalysen zum Sinn des Lebens) durchgeführt, die entsprechend neu interpretiert und mit einer neuen Begrifflichkeit versehen wurde.
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abweichungen der Lebensstilgruppen bezogen auf die drei Faktoren des Lebenssinns (vgl. Tabelle 2). 3.1 Protestantische Ethik und Sinn des Lebens in den Lebensstilen Evangelischer Tabelle 1 weist die Ergebnisse der Faktorenanalyse aus und veranschaulicht die drei verschiedenen Muster in der Deutung von Lebenssinn Evangelischer. Tabelle 1: Deutungsmuster von Lebenssinn Evangelischer (Faktorenanalyse)11 Sinn des Lebens
Erklärte Gesamtvarianz: 50 % Was im Leben passiert, ist Zufall und Willkür. Man muss sich im Leben ständig auf Neues einstellen. Ich glaube, dass die menschliche Existenz nach einem bestimmten Plan verläuft. Für das, was aus dem eigenen Leben wird, ist man vor allem selbst verantwortlich. Auch wenn man viel bewirken kann, hat man doch nicht alles in der Hand. Man kann sich bemühen, letztendlich kommt es ja doch, wie es kommen muss. Für mich trägt das Leben seinen Sinn in sich selbst Man soll sich an das halten, 11
Faktor 1 Christlichreligiöse Weltsicht
22 %
Faktor 2 Verstandesbetonte Weltsicht: Zufall und Willkür sind Teil des Lebens 14 % .71
Faktor 3 Weltsicht der Selbstverantwortung und Flexibilität
14 %
.77 .70
.72
.57
.52
.57 .68
Quelle: Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, 2002, ENIGMA; eigene Berechnung.
Soziologische Lebensstilanalyse und Protestantische Ethik was man mit dem Verstand erfassen kann. Leben hat nur Bedeutung, wenn es Ziele gibt, die über persönliches Dasein hinausweisen. Das Leben erhält seine Bedeutung, weil es Gott gibt. Ich mache mir über den Sinn des Lebens eigentlich keine Gedanken. Das Leben besteht darin, die Aufgabe zu erfüllen, vor die man gestellt ist. Ich muss Leben nicht durch Anstrengung Sinn geben. Lebenssinn ist ein Geschenk.
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.57
.73 .70
.44
.42
.70
Das erste Muster (Faktor 1) ist Ausdruck einer christlich-religiösen Weltsicht, in der Gott als Schöpfer und Stifter von Lebenssinn benannt wird, und der Einzelne von der Verantwortung, den Sinn des Lebens selbst gestalten und stiften zu müssen, durch den Glauben an Gott entlastet wird: Der Lebenssinn wird als Geschenk Gottes betrachtet und man erwartet, dass das eigene Leben einem (göttlichen) Plan folgt. Dieses Deutungsmuster kann als eine transzendente christlichreligiöse Weltsicht interpretiert werden. Demgegenüber thematisiert das zweite Sinndeutungsmuster (Faktor 2) Zufälligkeit und Willkür im Leben und dementsprechend geht dieses Deutungsmuster mit einer Weigerung einher, sich über den Lebenssinn viel Gedanken zu machen. Man vertraut auf das, was man mit dem Verstand erfassen kann. Mit diesem Deutungsmuster kommt eine immanent verstandesbetonte Weltsicht zum Tragen, die mit Zufall und Willkür im Leben rechnet. Das dritte Muster (Faktor 3) hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass Lebenssinn als Aufgabe verstanden wird, die selbst zu gestalten und zu verantworten ist. Zentrales Merkmal dieser Weltsicht ist Selbstverantwortung, die berücksichtigt, dass man sich flexibel auf unterschiedliche Lebenssituationen einstellen muss und mit der Verpflichtung verbunden wird, die Lebensaufgaben, vor die man gestellt ist, zu bewältigen. Die Pflicht zur Gestaltung des Lebenssinns rechnet jedoch mit den Grenzen, die dem Erfolg eigener Handlungsbemühungen gesetzt sind. Selbstverantwortung ist in diesem Deutungsmuster der Weltbeherrschung zentral.
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Während das erste Muster einer christlich-religiösen Weltsicht die Handlungsbeschränkung und Entlastung des Einzelnen durch göttliche Verwiesenheit thematisiert, können im zuletzt beschriebenen Muster der „Selbstverantwortung“ in verschiedener Weise Aspekte der Protestantischen Ethik wahrgenommen werden: Die Pflicht und persönliche Verantwortung, das Leben aktiv, als ein sinnvoll Geführtes zu gestalten und dies trotz der Einsicht in die Begrenzung menschlicher Gestaltungsmöglichkeiten. Inwiefern zeichnen sich nun in den sechs Lebensstilgruppen Evangelischer typische Muster des Lebenssinns ab? Wie werden die drei Deutungsmuster des Lebenssinns miteinander kombiniert? In welcher Weise können für die Lebensstilgruppen Evangelischer typische Kombinationen von christlicher Weltsicht, protestantischer Ethik und rational-immanenter Deutung des Lebenssinns ausgemacht werden? Die Ergebnisse in Tabelle 2 zeigen, dass Evangelische des hochkulturelltraditionsorientierten Typs geradezu in idealtypischer Weise eine Weltsicht der Protestantischen Ethik aufweisen12: Hochkulturell-traditionsorientierte Evangelische - das überrascht aufgrund ihres starken kirchlichen Engagements und ihres christlich-religiösen Glaubens nicht - vertreten überdurchschnittlich häufig eine christlich-religiöse Weltsicht, in der der Lebenssinn als durch Gott gestiftet angesehen wird. Zugleich stimmt man jedoch – wenn auch deutlich weniger stark und statistisch nur als Tendenz interpretierbar – einer Weltsicht zu, die aktives, gestaltendes Handeln in den Vordergrund stellt; ein Deutungsmuster, das die persönliche Verpflichtung zur selbstverantwortlichen Lebensbewältigung thematisiert. Mit dieser Kombination aus christlicher Weltsicht und Verpflichtung zu selbstverantwortetem, flexiblem Handeln bringen Evangelische des hochkulturell-traditionsorientierten Typs eine Weltsicht zum Ausdruck, die als methodisch-rationale Lebensführung im Sinne Webers zu bezeichnen ist: Es ist eine Weltsicht der innerweltlichen Askese, die es „erlaubt, Selbst- und Weltbeherrschung miteinander zu kombinieren. Diese Kombination äußert sich im ökonomischen Bereich ursprünglich gerade nicht in einer Enthemmung des ‚Erwerbs’und des Konsumtriebs, sondern in ihrer rationalen Temperierung, nicht in einem Kompromiß zwischen ökonomischem und moralischem Handeln, sondern in der radikalen Unterordnung der Ökonomie unter die Moral und in einer daraus resultierenden unwahrscheinlichen Kongruenz zwischen dem Streben nach inneren und äußeren Gütern, nach Heilszielen und ‚Glücks’zielen. Diese Kongruenz aber 12
Es werden die Mittelwertabweichungen von den Faktorenwerten dargestellt. Der Z-standardisierte Mittelwert je Faktor beträgt den Wert 0 und eine Standardabweichung von 1. Eine Mittelwertabweichung mit einem Wert von .33 Standardabweichung und höher stellt eine interpretierbare Größe dar, Abweichungen unter .33 geben lediglich Richtungen an und können als Tendenzen interpretiert werden.
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ist das ‚Werk’ der Reformationszeit gewesen (Schluchter 1979: 209)“(Müller 2007: 86). Wie die Werte in Tabelle 2 zeigen, vertreten Evangelische des hochkulturell-traditionsorientierten Typs mit einer Mittelwertabweichung von .55 überdurchschnittlich eine christlich-religiöse Weltsicht, in die sich die innerweltlichen Aufgaben und Pflichten ein- bzw. unterordnen (.18). Eine rationalimmanente Weltsicht, die mit Willkür und Zufall als Lebenssinn rechnet, hat jedoch in dieser, von der Protestantischen Ethik geprägten Weltsicht plausiblerweise keinen Platz und wird abgelehnt (-.29). Tabelle 2:
Sinndeutungsmuster in den Lebensstilgruppen Evangelischer13
Lebensstiltyp
Hochkulturelltraditionsorientierter LS Gesellig-traditionsorientierter LS Jugendkulturell-moderner LS Hochkulturell-moderner LS Do-It-yourself geprägter moderner LS Unauffälligtraditionsorientierter LS Mittelwert Standardabweichung
Christlichreligiöse Weltsicht
Sinn des Lebens VerstandesWeltsicht der betonte SelbstverantWeltsicht: wortung Zufall und und FlexibiliWillkür sind tät Teil des Lebens
.55
-.29
.18
.44
-
-.12
-.52
.34 -.49
.23 .22
-.16
.19
-.42
.00 1.00
.00 1.00
.00 1.00
Eine explizit von der Protestantischen Ethik geprägte Weltsicht wird allein von Evangelischen des hochkulturell-traditionsorientierten Typs vertreten. Geselligtraditionsorientierte Evangelische teilen zwar mit den Evangelischen des hochkulturellen Typs eine Weltsicht christlich-religiöser Prägung (.44), jedoch wird dieses Deutungsmuster gerade nicht mit einer innerweltlichen Selbst- und Weltverantwortung verbunden, was die zumindest als Tendenz interpretierbare negative Mittelwertabweichung für Faktor 3 zeigt; gesellig-traditionsorientierte 13
Quelle: Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, 2002, ENIGMA; eigene Berechnung
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Evangelische lehnen die Verpflichtung zur innerweltlichen Flexibilität und Eigenverantwortung der Richtung nach eher ab (-.12). Wie nicht anders zu erwarten, ist für Evangelische des jugendkulturellmodernen Typs eine explizit christlich-religiöse Weltsicht nicht charakteristisch; sie erfährt überdurchschnittlich häufig eine Absage (-.52). Vielmehr stimmen jugendkulturell-moderne Evangelische dem Sinndeutungsmuster einer verstandesbetonten immanenten Sinndeutung zu und eine Weltsicht, in der Eigenverantwortung und Flexibilität zentral sind, erfährt eine durchschnittliche Zustimmung. Mit anderen Worten: Eigenverantwortung und innerweltliche Verpflichtung zur Bewältigung von Lebensaufgaben fügen sich in ein Sinndeutungsmuster einer rational-immanenten Weltsicht ein. Man rechnet mit Zufälligen und Willkürlichen im Leben und weiß dies zu kontrollieren. Eine transzendente Sinndeutung christlich-religiöser Prägung findet hier keinen Platz. Somit ist eine explizit protestantische Ethik auch für diese Gruppe nicht festzustellen, jedoch sind „Restbestände“ einer protestantischen Ethik in Form von Pflichterfüllung und Selbstbeherrschung als Aspekte der beruflichen Lebensführung in dieser Gruppe noch präsent. Flexibilität und Selbstverantwortung sowie die Verpflichtung, die Aufgaben, die das Leben stellt, zu meistern, kennzeichnen der Richtung nach die Weltsicht in den Lebensstilen Evangelischer des hochkulturell-modernen (.23) und des Do-it-yourself-Typs (.22). Die genannten Merkmale, die zu den innerweltlichen Bezügen der Protestantischen Ethik, der Selbst- und Weltbeherrschung zu rechnen sind, kennzeichnen damit die „modernen“ Lebensstile der mittleren Generation. Auch in diesen beiden Gruppen haben sich - im Unterschied zum Typus der hochkulturell-traditionsorientierten Evangelischen - die innerweltlichen Aspekte der Protestantischen Ethik offensichtlich mehr (Typ 5) oder weniger (Typ 4) stark von einer christlich-religiösen Weltsicht abgelöst. Für beide Lebensstilgruppen Evangelischer scheint die mit einer explizit christlichreligiösen Weltsicht verbundene „radikale Unterordnung der Ökonomie unter die Moral“ durchbrochen. An anderer Stelle habe ich den Stellenwert der Leistungsund Arbeitsethik moderner Gesellschaften für die sechs Lebensstilgruppen beschrieben und konnte zeigen, dass moderne Gesellschaften durch eine Arbeitsethik gekennzeichnet sind, in der eine protestantische Leistungsethik allmählich durch eine Erfolgsethik verdrängt wird und sich eine neue „Wahlverwandtschaft“ zwischen „flexibilisierten“ Produktions- und Arbeitsbedingungen und einer Orientierung am „Erfolg“ abzeichnet (Benthaus-Apel 2007). Es ist eine durchaus spannende Frage, welchen Stellenwert und welche Ausdrucksformen in dieser gesellschaftlichen Entwicklung dem „frei gewordenen“ religiösen Wertehimmel in den verschiedenen Lebensstilgruppen Evangelischer zukommt.
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Die Ergebnisse dieses Beitrages machen deutlich, dass zumindest Evangelische des hochkulturell-modernen Typs eine Weltsicht verstandesbetontimmanenter Sinndeutung stark ablehnen (-. 49). Man kann diese Zurückweisung auch als Offenheit für eine transzendente Weltsicht deuten, die sich jedoch nicht (mehr) allein auf christlich-religiöse Transzendenzvorstellungen stützen mag. Für diese Gruppe ist es plausibel, von einer Hinwendung zu religiösen Weltsichten auszugehen, die durch spezifische Korrespondenzen zwischen dem Ethos der „Selbstverantwortung“ und dem Wunsch nach „religiöser Selbstermächtigung“ gekennzeichnet sein dürften. Aus der in Kapitel 1 dargelegten Beschreibung der religiösen Einstellungen dieser Lebensstilgruppe ist bekannt, dass sie durchaus noch christlich-religiöse Transzendenzvorstellungen vertreten, diese jedoch mit neuen Formen, etwa den Glauben an Schutzengel, verbinden. Diese Lebensstilgruppe ist, wie wir aus der EKD-Studie wissen, überdurchschnittlich stark an alternativen Formen des Religiösen interessiert. Weitergehende Untersuchungen wären jedoch notwendig, um Umfang und Inhalte neuer Formen von Religiosität in diesem Lebensstiltyp herauszuarbeiten. Hinzuweisen ist an dieser Stelle jedoch noch auf zu vermutende geschlechtsspezifische Unterschiede in den Weltsichten dieser beiden Lebensstilgruppen: Weil die Lebensstilgruppe der hochkulturell-modernen Evangelischen zumeist Frauen, die von Do-it-yourself geprägten Evangelischen eher Männer umfasst, sind geschlechtsspezifische Unterschiede in der Bedeutung der Weltsichten dieser beiden Gruppen in folgender Richtung zu erwarten: Die Forschungen von Engelbrecht und Rosowski (2007) zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in Bezug auf die Deutung von Lebenssinn weisen darauf hin, dass Männer häufiger eine kosmologisch orientierte, verstandesbetonte und immanente Weltsicht verträten, die mit Zufall und Willkür als dem Leben zugehörige Faktoren rechneten. Demgegenüber verträten Frauen, diesen Untersuchungen zufolge, häufiger transzendente Weltsichten, die Raum für persönliche Gottesbeziehungen umfassten. Diese geschlechtsspezifisch begründeten Unterschiede könnten erklären, warum evangelische Männer des „Do-it-yourself“-Typs im Unterschied zu den Frauen des hochkulturell-modernen Typs eine verstandesbetonte immanente Weltsicht zumindest noch durchschnittlich vertreten (Faktor 2), wie aus Tabelle 2 ersichtlich wird, während Frauen des hochkulturell-modernen Typs dieses Sinndeutungsmuster deutlich ablehnen (-. 49). Abschließend ist auf die Weltsicht der unauffällig-traditionsorientierten Evangelischen einzugehen. Charakteristisch ist für Evangelische dieses Typs, dass sie –geradezu im Unterschied zu den hochkulturell-traditionsorientierten Evangelischen – jene beiden Sinndeutungsmuster ablehnen, die auf eine protestantische Ethik hinweisen. Mit einer Mittelwertabweichung von -. 42 distanziert man sich in dieser Gruppe vor allem von dem „innerweltlichen Bezug einer pro-
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testantischen Ethik“, einer Sinndeutung, die auf die Pflicht zur selbstverantwortlichen Welt- und Lebensgestaltung Bezug nimmt. Ebenso kennzeichnet diese Gruppe eine negative Haltung zu einer christlich-religiösen Weltsicht, während man einer verstandesbetonten immanenten Weltsicht der Richtung nach zuneigt (.19). Charakteristisches Merkmal unauffällig-traditionsorientierter Evangelischer ist somit, dass sie eine Weltsicht der Selbst- und Weltbeherrschung verneinen. Man kann vermuten, dass dieser Sachverhalt in Erfahrungen des Verlustes von Handlungskontrolle aufgrund einer unterprivilegierten sozialen Lage begründet ist.
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Fazit
In diesem Beitrag wurde danach gefragt, ob typische Korrespondenzen zwischen Lebensstilen, sozialer Lage und der Einstellungen und Praxisformen christlichreligiöser Lebensführung erkennbar sind und inwiefern in den Lebensstilen Evangelischer eine protestantische Ethik erkennbar ist. Der Beitrag zeigt, dass von habitualisierten Mustern der Lebensführung Evangelischer gesprochen werden kann, in die Religiosität und Kirchlichkeit dem Lebensstil gemäß eingebettet sind; dementsprechend kann Matthes Aufforderung, die „Kulturkreisgebundenheit bei der Reflexion des Religiösen zu berücksichtigen“, durch die Ergebnisse der Lebensstilanalyse Evangelischer unterstrichen werden. In Anknüpfung an die Arbeiten von Max Weber und Pierre Bourdieu, die die verallgemeinerbaren sozialen Funktionen von Lebensstil als Mittel der sozialen Schließung und Identifikation thematisieren, zeigt die Lebensstilanalyse Evangelischer, dass Lebensstile mit typischen Soziallagen verbunden sind und Prozesse der sozialen Schließung in Lebensstilen zu beobachten sind. Mit Bezug auf die Arbeit von Jürgen Gerhards kann gezeigt werden, dass dem hochkulturellen Lebensstil eine besondere gesellschaftliche Bedeutung zukommt, die zudem auf eine privilegierte soziale Lage Evangelischer hinweist und die Bedeutung des kulturellen Kapitals verdeutlicht. Zudem weisen die Ergebnisse der Lebensstilanalyse darauf hin, dass im hochkulturellen Lebensstil eine Wertschätzung von Bildung mit einer grundlegenden kulturprotestantischen Orientierung einhergeht. Fragt man allgemeiner nach Aspekten einer protestantischen Ethik in den Lebensstilen Evangelischer, ist festzustellen, dass insbesondere für hochkulturell-traditionsorientierte Evangelische eine Weltsicht protestantischer Ethik typisch ist. Sie verbinden als einzige Lebensstilgruppe explizit einen christlichen Gottesglauben mit einer Orientierung der Selbst- und Weltbeherrschung.
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In den modernisierten Lebensstilgruppen hingegen (hochkulturell-modern; Do-it-yourself und jugendkulturell-modern) ist ein charakteristischer Wandel in Bezug auf eine protestantische Ethik festzustellen: Vor allem jene Aspekte der Protestantischen Ethik werden in diesen Gruppen beibehalten, die sich auf eine innerweltliche Askese, auf Selbst- und Weltbeherrschung beziehen, während die Bezüge zum christlich-religiösen Glauben verblassen. Allerdings können neue Formen von Transzendenzbezügen, insbesondere im hochkulturell-modernen Lebensstiltyp Evangelischer vermutet werden, während in den anderen modernisierten Lebensstilgruppen allein weltimmanente Bezüge zu Aspekten einer protestantischen Ethik virulent bleiben.
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Literatur
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Friederike Benthaus-Apel
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Das Theodizeeproblem unter säkularen Bedingungen – Anschlüsse an Max Webers Religionssoziologie Das Theodizeeproblem unter säkularen Bedingungen
Christel Gärtner
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Das Theodizeeproblem in Max Webers Religionssystematik
Max Weber räumt dem Theodizeeproblem in seiner Religionssystematik breiten Raum ein. Er befasst sich mit diesem Problem sowohl in den materialen Religionsstudien, dort vor allem in der „Einleitung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ und der „Zwischenbetrachtung“, als auch in seiner Religionssoziologie in „Wirtschaft und Gesellschaft“, in der er diesem Konzept ein eigenes Kapitel widmet (§8: Das Problem der Theodizee). Die vielleicht „kondensierteste Aussage“ (Tyrell 2008: 153, Fn. 194) dazu findet sich jedoch in „Politik als Beruf“; dort wird das Theodizeeproblem im Zusammenhang mit Fragen der Ethik thematisiert, vor allem dem gesinnungs- und verantwortungsethischen Handeln in der Politik, und richtet sich gegen die Auffassung, „aus Gutem kann nur Gutes und aus Bösem nur Böses folgen“ (Weber 1956: 177). Weber setzt dieser allzu „einfachen These“ die sie widerlegende soziale Erfahrung und starke These entgegen, dass gerade diese Inkongruenz zwischen Schicksal und Verdienst der Entwicklung der Religionen zugrunde liege: „Das uralte Problem der Theodizee ist ja die Frage: Wie kommt es, dass eine Macht, die als zugleich allmächtig und gütig hingestellt wird, eine derartig irrationale Welt des unverdienten Leidens, des ungestraften Unrechts und der unverbesserlichen Dummheit hat erschaffen können. Entweder ist sie das eine nicht oder das andere nicht, oder es regieren gänzlich andere Ausgleichs- und Vergeltungsprinzipien das Leben, solche, die wir metaphysisch deuten können oder auch solche, die unserer Deutung für immer entzogen sind. Dies Problem: die Erfahrung von der Irrationalität der Welt war ja die treibende Kraft aller Religionsentwicklung. Die indische Karmanlehre und der persische Dualismus, die Erbsünde, die Prädestination und der Deus absconditus sind alle aus dieser Erfahrung herausgewachsen.“ (Weber 1956: 177f.)
Weber verknüpft das Problem der Theodizee systematisch mit der Frage nach dem Sinn (vgl. Hanke 2001; Tyrell 2008: 153). Als Soziologen beschäftigt ihn das Theodizeeproblem jedoch nicht als (philosophischer oder theologischer)
A. Bienfait (Hrsg.), Religionen verstehen, DOI 10.1007/978-3-531-92777-0_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Versuch der Rechtfertigung Gottes; vielmehr interessiert er sich für die („rationalen“) Antworten und praktischen Folgen einer „spezifisch religiös determinierten ‚Lebensführung’“ (Weber 1980: 320; im Folgenden: WuG), die das Problem der prinzipiellen Unvollkommenheit der Welt und der ungleichen Verteilung von Glücksgütern religionsgeschichtlich hervorgebracht hat. Diese (Leid-) Erfahrung der Irrationalität der Welt verbindet sich nach Weber gerade in den Erlösungsreligionen mit dem „metaphysischen Bedürfnis“, die Welt als ein sinnvolles Ganzes deuten zu wollen: „Die letzte Frage aller Metaphysik lautete von jeher so: wenn die Welt als Ganzes und das Leben im besonderen einen ‚Sinn’ haben soll, – welches kann er sein und wie muß die Welt aussehen, um ihm zu entsprechen?“ (WuG: 275).
Dieses Bedürfnis, der ungerechten diesseitigen Weltordnung einen ethischen „Sinn“ zu verleihen, nimmt nach Weber in der Religionsgeschichte zu (Weber 1988: 246; im Folgenden: RI) und steht am Beginn der Erlösungsreligionen.1 Dadurch wird eine Dynamik in Gang gesetzt, die zur Systematisierung und Rationalisierung von Weltbildern und der Ausformulierung von Theodizeen führt. Diese stehen – je nach historischer Ausgangssituation und Bedingung ihrer Entstehung – in je unterschiedlicher Weise im Zusammenhang mit der Gotteskonzeption oder der Prägung der Sünden- und Erlösungsidee, werfen Fragen der Gerechtigkeit auf und verweisen in irgendeiner Art auf ein Jenseits – und sei es in Form der eigenen Kinder, die über den eigenen Tod hinausweisen (WuG: 315). Dabei bindet Weber den Theodizeebegriff nicht an einen überweltlichen Schöpfergott, sondern an die Notwendigkeit, das Leiden irgendwie sinnvoll zu deuten. Gerade die Erfahrung, dass individuell unverdientes Leiden jeden treffen konnte, also unabhängig von der Herkunft war, sei zum Antrieb geworden, sowohl nach Erklärungen für die Ursachen (wie dem eigenen Verschulden, den Sünden aus vergangenen Leben oder der Schuld der Vorfahren) als auch nach Hoffnungen zu suchen, die ein künftiges besseres Leben innerhalb der Welt (Seelenwanderung), für die Nachfahren (messianisches Reich) oder im Jenseits (Paradies) verheißen (RI: 246). Diese Erlösungshoffnungen brachten nach Weber immer eine „Theodizee des Leidens“ hervor, die aber je nach historischer Ausgangslage unterschiedliche Varianten ausgeformt habe. Die tragende Rolle bei der Entwicklung dieser Konzeptionen, die die Erlösung vom Leiden – und letztlich vom Tod – ins Zentrum der Verkündigung stellen, schreibt Weber vor allem den religiösen Virtuosen und Intellektuellen zu. Er arbeitet am Judentum zwar heraus, dass das Ressentiment im Sinne Nietzsches 1 Darin stimmen Weber und Troeltsch, der die Theodizee als „Sprungfeder“ der Religion bezeichnet, überein.
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eine Begleiterscheinung der religiösen Ethik der „negativ Privilegierten“ sein kann2 – als Hoffnung auf Erlösung von „äußerer Not“. Einen deutlich prinzipielleren und systematischeren, wenn auch lebensfremderen Charakter hätten die Erlösungsreligionen aber erst durch die stets auf „Erlösung von ‚innerer Not’“ beruhende Suche von Intellektuellen erhalten. „Der Intellektuelle sucht auf Wegen, deren Kasuistik ins Unendliche geht, seiner Lebensführung einen durchgehenden ‚Sinn’ zu verleihen, also ‚Einheit’ mit sich selbst, mit den Menschen, mit dem Kosmos. Er ist es, der die Konzeption der ‚Welt’ als eines ‚Sinn’-Problems vollzieht“ (WuG: 307f.).3
Diese intellektuellen Leistungen setzten nach Weber den Prozess der Rationalisierung der Religionen in Gang. Je radikaler Gott dabei als „universeller überweltlicher Einheitsgott“ (WuG: 315) konzipiert worden sei, desto stärker sei er in Spannung zur Welt getreten und habe das Theodizeeproblem verschärft und elaboriert. Weber arbeitet die drei oben erwähnten idealtypischen Gedankensysteme heraus, die in der Religionsgeschichte eine rational befriedigende Antwort auf die Theodizeefrage entwickeln: die Prädestinationslehre, der zarathustrische Dualismus und die indische Karmalehre (vgl. WuG: 317ff.; RI: 246, 571ff.), wobei diese drei „rational geschlossenen Lösungen“ Idealtypen darstellen, die nur ganz ausnahmsweise in reiner Form aufgetreten seien (RI: 246).4 Indem Weber die Theodizee an die rationale Bewältigung des Leidens und nicht an die Rechtfertigung Gottes bindet, entfernt er sich vom klassischen Theodizeebegriff.5 Dies hat ihm zwar von philosophischer Seite den Vorwurf 2 Die Ressentiment-These schließt an Nietzsche an und gründet auf den Gedanken, dass es in der Regel nicht die Glücklichen, Besitzenden und Herrschenden gewesen seien, die eines Erlösers bedurft hätten, sondern die Bedrückten und Notleidenden (RI: 247). Zur Bedeutung von Nietzsche für Webers Religionssystematik vgl. Hanke (2001), Lichtblau (2001) und Tyrell (1992: 201f.). 3 Zwar entsteht die explizite Frage nach dem Sinn des Lebens erst im 19. Jahrhundert, wie Lübbe herausstellt (vgl. Lübbe 1988), aber der Sache nach reagieren alle mythischen Konstruktionen und Weltdeutungen auf die Sinnfragen: Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich? Anders formuliert: Sie geben Antworten auf die Fragen der Herkunft, der Identität und der Zukunft (Erlösung) von kollektiven und individuellen Lebensformen (vgl. Oevermann 1995; Gärtner 2000). 4 Die Kritik Colin Campbells an Webers „Idealtypen-Lösung“ (vgl. Campbell 1998) beruht m.E. insofern auf einem Missverständnis, als Campbell glaubt, alle Theodizeen müssten eine Variante dieser drei Typen darstellen oder sich aus ihren Bestandteilen zusammensetzen. Diese Kritik lässt sich mit Weber selbst, beispielsweise in seinen Bemerkungen zum Konfuzianismus (RI: 491ff.), widerlegen. 5 Hanke zeigt, dass Webers Begriff der Theodizee als „Relation von Gott, Welt und Mensch“ durchaus dem zeitgenössischen weiten theologischen Theodizeebegriff als dem „Problem der Lehre von Gott und seiner Beziehung zur Welt“ entspricht; so wird er z.B. von Otto Lempp in „Religion in Geschichte und Gegenwart“ verwendet (vgl. Hanke 2001: 221f.).
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eingebracht, er habe zur Verwirrung und Ausweitung des Begriffs beigetragen (z.B. Wildfeuer 2002), aus soziologischer Sicht bietet er jedoch in mehrfacher Hinsicht Anschlussmöglichkeiten für die aktuelle Religionsforschung. Zum einen öffnet er den Begriff, den er von der engen Bindung an die abendländisch monotheistische Konzeption eines allmächtigen und gütigen Schöpfergottes löst, für den universalen Religionsvergleich (vgl. Hanke 2001: 222). Den Buddhismus erachtet Weber z.B. als radikalste Lösung der Theodizee, in dessen Konzeption es keine „Sünde“ mehr gäbe, sondern nur noch Verstöße gegen das eigene individuelle Interesse, aus dem Rad der Wiedergeburt und des Leidens auszusteigen (WuG: 319). Aber auch in dem sehr diesseitig orientierten Konfuzianismus macht Weber eine Art von esoterischem Prädestinationsglauben als Antwort auf das Theodizeeproblem aus (RI: 491). Zum anderen legt die Verknüpfung des Theodizeeproblems mit der Sinnfrage die Annahme nahe, dass auch säkulare Lebensformen der Theodizee nicht entgehen, weil auch sie (individuelle) Antworten angesichts der Inkongruenz von Schicksal und Verdienst brauchen. Im Folgenden möchte ich die Optionen, die Webers Religionssystematik mit der Öffnung des Theodizeebegriffs bietet, aufgreifen, mich aber auf die in seiner Rekonstruktion der im Buch Hiob und die darauf zurückgreifende Prädestinationslehre angelegten Transformationslinien beschränken. Ich will aufzeigen, wie sich das Theodizeeproblem in der aktuellen Religionsforschung zum einen bei Gläubigen (z.B. über die Hoffnung einer jenseitig ausgleichenden Gerechtigkeit), zum anderen in säkularen und atheistischen Sinnkonzeptionen in einer radikal diesseitigen Wendung rekonstruieren lässt – und welche Folgen es für die jeweilige Lebensführung hat.
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Von Hiob über die Prädestinationslehre zur säkularen Bewährung
Bereits das Buch Hiob verzichtet auf eine rationale Lösung des Theodizeeproblems und nimmt mit der Idee, sich in die absolute Souveränität Gottes zu fügen, eine „individuelle Theodizee des persönlichen Einzelschicksals“ (WuG: 302) vorweg. Aufgrund des kollektiven Vergeltungsgedankens im antiken Judentum sei der Blick auf diese Auslegung des Hiob-Buchs noch versperrt geblieben, aber später umso deutlicher durch den Calvinismus in der Prädestinationslehre zur Entfaltung gekommen. Gerade weil rationale Konzeptionen der Theodizee unbefriedigend bleiben mussten, „blieb dann letztlich nichts übrig, als jene Folgerung, in welche der Allmacht- und Schöpferglaube schon bei Hiob umzuschlagen im Begriff steht: diesen allmächtigen Gott jenseits aller ethischen Ansprüche seiner Kreaturen zu stellen, seine Ratschläge für derart jedem menschlichen Begreifen verborgen, seine absolute Allmacht über seine Geschöpfe als so
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schrankenlos und also die Anwendung des Maßstabs kreatürlicher Gerechtigkeit auf sein Tun für so unmöglich anzusehen, daß das Problem der Theodizee als solches überhaupt fortfiel“ (WuG: 317).
2.1 Die Annahme eines allmächtigen, gütigen Gottes als Begründung für religiöse wie atheistische Lösungen In dieser Hinsicht betrachtet Lübbe die Theodizeefrage nicht als religiöse, sondern als Seminarfrage (Lübbe 1988).6 Gleichwohl lässt sie sich praktisch nicht beseitigen und entfaltet auf der Ebene der Lebenspraxis eine Dynamik. Die religiöse Lösung, wie sie von Hiob (und in der christlichen Tradition von Gläubigen) gewählt wird, suspendiert somit nur die theoretische Frage zugunsten einer praktischen Stellungnahme: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.“ Diese Formel weist jedes Grübeln um Sinn und die Schuldfrage zurück und antwortet mit Gottvertrauen. Der „Gläubige“ fügt sich demütig in die für ihn nicht rational oder immanent verstehbare Unvollkommenheit und Ungerechtigkeit der Welt, die jeden, auch einen selbst, auch unverschuldet, treffen kann. Eine solche „religiöse Lebensannahme“ (Lübbe 1988: 424) setzt aber einen bedingungslosen Glauben voraus. Gerade weil die Ungerechtigkeit der Welt diesseits prinzipiell nicht zu lösen ist, hält der Glaube die Hoffnung an eine jenseitige Gerechtigkeit aufrecht. Das wirft die Frage auf: Was geschieht mit der Theodizeefrage in einer sich säkularisierenden Welt? Die beobachtbare Tatsache des ungerechten Leidens kann für Christen einerseits ein Grund sein, am Glauben an Gott festzuhalten, weil so die Hoffnung auf jenseitige Gerechtigkeit verbürgt ist, andererseits aber auch zum ethischen Handeln im Diesseits anhalten. So erzeugt der eigene Wohlstand häufig die Bereitschaft, anderen Menschen, denen es schlechter geht, helfen zu wollen. Sich in einer privilegierten Position zu befinden kann zum Motiv werden, sich für weniger Privilegierte einzusetzen und aktiv das Leiden von Menschen zu mindern. Dieses Engagement lässt sich in gewisser Weise als umgekehrtes Theodizeeproblem bzw. „Theodizee des Glücks“ (vgl. RI: 242) charakterisieren: Wenn es mir gut geht, muss ich das rechtfertigen, indem ich anderen helfe! Anders formuliert: Aus dem eigenen Glück und Wohlstand wächst die Verpflichtung, anderen zu helfen (vgl. Gabriel et al. 2002: 42ff.). Die Erfahrung des Helfens gibt zwar eine konkret praktische Antwort auf die Sinnfrage bzw. das Bewährungsproblem 6 Auch die Theologie begreift das Theodizeeproblem nicht als rational zu beantwortende oder zu erledigende Frage, sondern als Problem, das gelebt sein wolle. „Derart bleibt die Frage als Anruf: Zur Tat wie zur Hoffnung (‚wider alle Hoffnung’ [Röm 4, 18]) über unser Tun hinaus“ (Kern/Splett 1972: 236; Hervorhebung im Original).
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(dazu weiter unten mehr), schafft zugleich aber auch wieder Ungleichheit und hält damit die Ungerechtigkeit aufrecht. Dieser Konflikt, der dadurch entsteht, dass solidarisches Engagement (zwangsläufig) aufgrund von Zeit- und Mittelknappheit auch wiederum Ungerechtigkeit und Ungleichheit erzeugt, kann seinerseits wieder zur Theodizeefrage führen, wobei sich der religiöse und säkulare Umgang damit jeweils unterscheiden. Ein gläubiger Jesuit, der in Bukarest lebt und sich um Straßenkinder kümmert, drückte das so aus: Er könne das Elend (dass er vielen Kindern nicht helfen kann) nur deshalb ertragen, weil er nach dem biblischen Leitspruch lebe: Wenn Du einem meiner Brüder hilfst, dann hast Du mir geholfen (vgl. Gabriel et al 2002: 49, Fn. 32). Während gläubige Christen die notwendige Begrenztheit ihres Engagements und die dadurch entstehende Ungerechtigkeit im Glauben begründen, besteht die Lösung von Säkularen eher in dem Verzicht auf die Vorstellung einer jenseitigen, ausgleichenden Gerechtigkeit und in der Anerkennung der eigenen begrenzten Möglichkeiten zur Solidarität. Ein prominentes historisches Ereignis, an dem die Theodizeefrage bis heute immer wieder aufgeworfen wird, ist „Auschwitz“: Die Massenvernichtung der europäischen Juden wird sowohl als Beweis gedeutet, dass es keinen Gott geben kann, als auch umgekehrt dazu herangezogen, an Gott festzuhalten, weil diese von Menschen geübten Gräuel nur im Glauben an Gott überhaupt ertragen werden können. So hat beispielsweise der deutsche Papst, Benedikt XVI., bei seinem Besuch in Auschwitz im Jahre 2006 die radikalisierte Theodizeefrage ins Zentrum seiner Rede gestellt: „An diesem Ort versagen die Worte, kann eigentlich nur erschüttertes Schweigen stehen – Schweigen, das ein inwendiges Schreien zu Gott ist: Warum hast du geschwiegen? Warum konntest du das alles dulden? […] Immer wieder ist da die Frage: Wo war Gott in jenen Tagen? Warum hat er geschwiegen? Wie konnte er dieses Übermaß an Zerstörung, diesen Triumph des Bösen dulden?“7
In seiner Antwort schließt der Papst an Hiob an: „Wir können in Gottes Geheimnis nicht hineinblicken – […] – im letzten müssen wir bei dem demütigen, aber eindringlichen Schrei zu Gott bleiben“ (ebd.), gibt ihr aber eine spezifische Note, indem er die Verantwortung der Menschen in den Vordergrund rückt und an Gott die religiöse Bitte richtet, die Menschen zur Einsicht zu bringen, damit sie erkennen, dass Gewalt keinen Frieden stiftet. Er hält angesichts von Auschwitz an einem „Gott der Vernunft“ fest, aber einer „Vernunft der Liebe“. Letztlich formuliert er die Hoffnung, dass sich die Menschen der Liebe Gottes in Vertrau7 Benedikts Rede in Auschwitz: „Ich konnte unmöglich nicht hierher kommen“ in: FAZ, 29.05.2006. http://www.faz.net/s/RubDDBDABB9457A437BAA85A49C26FB23A0/Doc~EA90A84B558BC4D B5A0EDC4E0990F7155~ATpl~Ecommon~Sspezial.html (Zugriff: 6.12.2009).
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en öffnen, damit die Einsicht in die Kraft der Versöhnung die Oberhand gewinne. Eine weniger theologisch inspirierte Antwort auf „Auschwitz“ wird von christlichen Gruppen im Umfeld von Aktion Sühnezeichen praktiziert. Sie nehmen die nationalsozialistischen Verbrechen zum Anlass, sich aktiv um die Wiedergutmachung und Aussöhnung mit den Opfern des Nationalsozialismus zu bemühen: „Wenn wir nach Polen fahren, sagen wir nicht: wir machen Versöhnung. Wir gehen hin, ganz demütig, und wir bitten um Versöhnung“ (Gabriel et al. 2002: 218). Die Verankerung im Glauben gibt ihnen die Kraft, es den Betroffenen selbst anheim zu stellen, ob diese sich ihrerseits dazu durchringen können, das Versöhnungsangebot anzunehmen und ihnen, den Angehörigen des Tätervolkes, zu verzeihen. Der Glaube versetzt sie somit in die Lage, trotz der eigenen Sühnebereitschaft, eine Verweigerung des Vergebens seitens der Opfer auszuhalten; wenn diese gewährt wird, erleben sie das als „Gnade“ (vgl. dazu Gabriel et al. 2002: 218-273). Das Theodizeeproblem lässt sich auch religionskritisch wenden: So dient die Rede von der „unmenschlichen Güte“ Gottes – gerade auch im Angesicht der nationalsozialistischen Verbrechen – eher dazu, sich von ihm abzuwenden, als sich vertrauensvoll auf ihn zu verlassen. Die Erkenntnis der diesseitigen Ungerechtigkeit kann somit nicht nur der Aufrechterhaltung des Glaubens dienen, sondern auch zum Abfall von Gott führen. Schon Weber hat darauf verwiesen, dass die Unvereinbarkeit einer göttlichen Vorsehung mit der Ungerechtigkeit und Unvollkommenheit der sozialen Ordnung vor allem Arbeiter motivierte, die Existenz Gottes zu bestreiten (WuG: 315; RI: 246): „Noch 1906 antwortete von einer gegebenen (recht beträchtlichen) Zahl Proletariern auf die Frage nach dem Grunde ihres Unglaubens nur die Minderzahl mit Folgerungen aus modernen naturwissenschaftlichen Theorien, die Mehrzahl aber mit dem Hinweis auf die ‚Ungerechtigkeit’ der diesseitigen Weltordnung“ (RI: 246).
Auch heute noch – so belegt eine Internet-Befragung der katholischen Kirche im Erzbistum Köln – wird das diesseitige Leiden als Begründung für die NichtExistenz Gottes und den Abfall vom Glauben angegeben (vgl. Jahn/Zimmermann 2008). Diese negative Antwort enthält aber immer noch die Bindung der Theodizeefrage an einen „allmächtigen“ Gott, dessen Existenz jedoch zugunsten einer gerechten diesseitigen sozialistischen Ordnung bestritten wird. Komplementär zur Begründung des Abfalls vom Glauben mit der „Ungerechtigkeit“ der diesseitigen Weltordnung findet man bis heute noch philosophische Positionen, die hinter die Theodizeekritik von Kant zurückfallen und glauben, aus der ratio-
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nalen Unlösbarkeit des Theodizeeproblems eine Destruktion des Christentums gewinnen zu können (z.B. Stemminger 1992).8
2.2 Transformation der Theodizee: von der Prädestinationslehre zur säkularen Bewährung Die rationale Unlösbarkeit des Theodizeeproblems muss aber nicht notwendigerweise zur Ablehnung Gottes und zu atheistischen Lösungen führen, vielmehr hat sie historisch auch eine andere Entwicklung genommen: Das Problem der Theodizee kann nämlich auch durch die Transformation der an die Konzeption des „Deus absconditus“ gebundenen Prädestinationslehre in Richtung einer säkularen Lebensführung wegfallen. Ausgangspunkt ist nach Weber die Prädestinationslehre, nach der das Schicksal des Menschen durch Gottes unergründlichen Ratschluss festgelegt ist und durch keine irdischen Taten beeinflusst werden kann: „Ethisches Verhalten kann hier nie den Sinn haben, die eigenen Jenseits- oder Diesseitschancen zu verbessern, wohl aber den anderen, praktisch-psychologisch unter Umständen noch stärker wirkenden: Symptom für den eigenen, durch Gottes Ratschluß feststehenden Gnadenstand zu sein. […] Gerade weil dieser Glaube keine rationale Lösung des praktischen Theodizeeproblems enthält, birgt er die größten Spannungen zwischen Welt und Gott, Sollen und Sein.“ (WuG: 317)
Damit diese Spannung, die daraus resultiert, dass man weder wissen kann, ob man zu den Erwählten gehört, noch aktiv in diese Richtung wirken kann, ausgehalten werden kann, wurde im Puritanismus die Prädestinationsgnade eng mit der Idee verknüpft, dass „der Erfolg rationalen Handelns Gottes Segen erweise“ (WuG: 347). Der Gedanke der „Bewährung“ im gottgewollten „Beruf“ wurde zum Beweis für die persönliche Gnade Gottes „in einer systematischen asketischen rationalen Lebensmethodik als der dort einzig möglichen Quelle der certitudo salutis verankert“ (WuG: 303). Weber hat am Calvinismus die Faktoren aufgezeigt, „die im Verhältnis von religiöser Ethik und Lebensführung eine entscheidende Rolle spielen: die religiösen Grundlagen oder Ideengehalte einerseits, das dogmatische Konsistenzbedürfnis und das pragmatische Bedürfnis nach Heilsgewißheit, man könnte auch sagen: das religiöse Legitimationsbedürfnis, andererseits“ (Schluchter 1987: 35). Wolfgang Schluchter betont, dass die Prädestinationslehre erst in 8 Zum Überblick und zur Kritik an der Theodizeedebatte vgl. Engstler (1992) und Brachtendorf (1995).
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Verbindung mit dem doppelt gedeuteten Bewährungsgedanken (einmal manifest im Dogma, zum anderen latent in der Suche nach diesseitigen Anzeichen) in asketische Bahnen und in das innerweltliche Berufsleben lenkt, und so die Weichen für die innerweltliche Berufsaskese stellt (Schluchter 1987: 35f.). „Dies führt zu einem Rationalismus der Weltbeherrschung und zum Lebensideal des erfolgreichen Berufs- und Fachmenschen“ (Schluchter 1987: 36). Indem sich die Prädestinationsgnade mit dem Bewährungsgedanken in Form der Berufsausübung verbindet, hat sich der säkulare Mythos der Leistungsethik entwickeln können. Die Hiobsfrage nach dem „warum“ angesichts der Erfahrungen von Unrecht und Leiden stellt sich nach dieser Lesart auch für säkulare Lebensformen, wenn die Bindung an Gott wegfällt. Strukturell taucht die „Theodizee des Leidens“ vor allem bei Personen und Kollektiven auf, die ein schweres Schicksal zu tragen haben - öffentlich vor allem nach Naturkatastrophen wie beispielsweise dem Tsunami von 2004 und den Erdbeben in Haiti 2010 - und wirft implizit die Frage der Schuld auf: Warum geschieht uns dieses Unrecht? Womit haben wir das verdient? Was habe ich getan, dass ich dieses Schicksal erleiden muss? Aber auch in der Frage: Warum mussten diese Menschen oder mein Kind so früh sterben? Die Antwort auf dieses Problem, so meine These, verschärft sich sogar, weil es erstens, Weber zufolge, für die säkulare Moderne keinen kohärenten, auf Gott oder eine transzendente Macht rückführbaren sinnvoll geordneten Kosmos mehr geben kann (vgl. dazu Eisenstadt 2006: 142) und dementsprechend kein entlastender religiöser Mythos mehr unhinterfragt zur Verfügung steht (vgl. dazu Gärtner 2000).9 Und zweitens steht die Lösung gläubiger Christen, nämlich auf die Güte Gottes zu vertrauen und die Theodizeefrage zu suspendieren, für säkularisierte und religiös indifferente Menschen nicht mehr zur Verfügung. Da die oben genannten Leiderfahrungen dennoch zur Lebensrealität gehören, stößt jeder Versuch, sie vollständig in immanenten Handlungssinn zu verwandeln, notwendig an seine Grenzen (vgl. Lübbe 1988). Man muss die These Lübbes, dass man sich zu dieser prinzipiellen Kontingenz des Daseins nur religiös verhalten könne (Lübbe 1988: 412), nicht teilen, um zu konstatieren, dass die Theodizeefrage in dem Sinne nicht stillstellbar ist, als unbegriffenes Leid nach einem über immanente Gründe hinausweisenden Sinn sucht. Lübbe selbst gibt ein gutes Beispiel dafür: In einer Traueranzeige zur Mitteilung des Todes einer Mitschülerin bringt eine Schülergruppe mit einem einzigen Wort ihre „Theodizeeresistenz“ ange9 Das hängt nach Charles Taylor vor allem damit zusammen, dass sich im 19. Jahrhundert die Option des Unglaubens von einer Elite auf die generelle Verfügbarkeit ausweitet. Davon sei auch das Theodizeeproblem betroffen, das aus dem philosophisch-theologischen Rahmen gelöst wird und dessen Beantwortung schwieriger wird (Taylor 2007: 299, 305f.).
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sichts des unbegriffenen Todes zum Ausdruck: „Warum?“ (vgl. Lübbe 1988: 419).
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Der Umgang mit dem Theodizeeproblem unter säkularen Bedingungen
Im Folgenden will ich an zwei Fallbeispielen, einem westdeutschen und einem ostdeutschen, zeigen, dass weder die Sinnfrage noch Fragen der Letztbegründung unter der Bedingung der religiösen Indifferenz ganz entfallen.
3.1 Radikale Diesseitsorientierung und Bewährung durch Berufsarbeit In Deutschland kam es wie in den meisten europäischen Ländern Mitte der 1960er Jahre zu einer tief greifenden und in den Konsequenzen durchaus radikalen Säkularisierung, zu dem die Medien in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wesentlich beigetragen haben. Gerade deshalb war es erstaunlich, dass wir in dem Forschungsprojekt „Religion bei Meinungsmachern – Der Stellenwert religiöser Orientierungen bei meinungsbildenden Eliten in Deutschland“ kaum ausgeprägte antireligiöse oder atheistische Positionen bei Journalisten gefunden haben (vgl. Gärtner 2008a, 2008b). Unter den ersten siebzehn Interviews fanden wir die unterschiedlichsten Varianten eines konfessionell geprägten Religionsverständnisses, und erst nach gezielter Suche ist es uns gelungen, in dieser Zielgruppe eine Journalistin zu finden, die auch atheistische Positionen vertritt. Diese Feuilletonredakteurin ist 1967 geboren und die Jüngste in unserem Sample. In ihrer religiösen Sozialisation spielte Religion nur im Hintergrund eine Rolle. Ihre Eltern gehören verschiedenen christlichen Konfessionen und auch verschiedenen Kulturen an. Sie ist noch, wie viele westdeutsche Protestanten ihrer Generation, konfirmiert worden, sagt von sich auch: „Ich war, glaub’ ich, früher auch mal gläubig“. Gleichwohl hat sie einen eher diffusen Glauben an ein „göttliches Prinzip“ erworben und orientierte sich vor allem am christlichen „Solidargedanken“. Sie ist zwar nach wie vor von christlichen Werten wie Nächstenliebe, Toleranz und Rücksichtnahme überzeugt. Den kirchlichen Bezug hat sie jedoch aufgegeben und ihren Glauben in einem unmerklich sich vollziehenden Prozess verloren. Anlass, über ihren Glauben nachzudenken und sich zu prüfen, wurden für sie die Berichterstattung um den Tod des vorangegangenen und die Wahl des jetzigen Papstes sowie die zunehmende mediale Präsenz von Religion: „und ich habe tief in mich reingehorcht und festgestellt, nein, ich glaube nicht an Gott, es gibt keinen, für mich gibt es keinen Gott“. Dann schiebt sie noch hinterher,
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„nicht nur für mich, sondern überhaupt Punkt Ende, es gibt keinen“. Mit dem Nachsatz geht sie über die Gewissheit und Gültigkeit ihrer Selbstbetrachtung hinaus; indem sie die Existenz Gottes bestreitet, nimmt sie eine atheistische Haltung ein.10 Sie tritt zwar für das Grundrecht der freien Religionsausübung ein, verweist die Religion aber in die Privatsphäre und spricht ihr jeden öffentlichen Deutungsanspruch und politischen Anspruch ab. Trotz ihrer religionskritischen und atheistischen Position erkennt die Journalistin an, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens eine Berechtigung hat und dass die diesbezüglichen Antworten prekär geworden sind. Diese Entwicklung führt sie darauf zurück, dass die Welt unübersichtlich geworden ist, sowohl klare Feindbilder als auch große Utopien weggefallen sind. Anders als die Menschen, die eine Sehnsucht nach Antworten auf existenzielle Fragen haben, hat sie selbst die Sinnfrage für sich praktisch gelöst: Sie ist in der Welt verortet und in ihrem Beruf sesshaft. Obwohl sie sich somit die Sinnfrage nicht stellen muss, hat sie einen Mythos entwickelt, der eine Antwort darauf bereitstellt: „Wir sind ein Staubkorn […] ein Staubkorn im Universum, und wir sind jetzt hier und bald sind wir weg, und kaum jemand hat’s mitgekriegt, und wenn man Glück hat, dann reden die anderen noch ein bisschen über einen und es […] bleiben Erinnerungen, aber es gibt keinen höheren Sinn, und es gibt niemand der’s gemacht hat, […] sondern wir sind da und drumrum ist riesig viel nichts […], und das ist alles, […] und das ist ne ziemlich kalte Vorstellung.“
Ihre persönliche Antwort ist eine sehr nüchterne: ein Staubkorn im Universum zu sein, heißt unbedeutend und kaum wahrnehmbar zu sein. In der zeitlichen Dimension liegt nochmals eine Steigerung: Ein Menschenleben währt, gemessen an der Menschheitsgeschichte, nur einen Bruchteil einer Sekunde. Bemerkenswert an diesem naturwissenschaftlich gefärbten Weltbild, das ganz und gar nichts Erbauliches hat, sind somit zwei Dinge: das Postulat der menschlichen Bedeutungslosigkeit und die Erkenntnis und Anerkennung der eigenen Endlichkeit. Gleichwohl stellt sie sich die Frage, welche Substanz nach dem eigenen Tode bleibt. Zum einen können „Erinnerungen“ auf persönlichen Beziehungen (Familie, Freunde) gründen, zum anderen auf Werken, die man für die Nachwelt hinterlässt, und die die eigene Lebenszeit überdauern können. Diese können eine unterschiedliche Reichweite haben, je nachdem, welche Leistung damit für die Menschheit verbunden ist. Einen von einer übergeordneten Macht gegebenen transzendenten Sinn schließt die Interviewte explizit aus und verneint einen 10 Im Gegensatz zur religiösen Indifferenz, die sich gleichgültig oder unentschieden gegenüber der Gottesfrage verhält, bezieht der Atheismus eine Position, die die Existenz Gottes bestreitet und darin seinem Gegenstand noch verhaftet bleibt. Zur begrifflichen Differenz vgl. Pollack et al. (2003: 12f.).
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Schöpfergott, der die Voraussetzung für einen höheren Sinn wäre. Obwohl sie sich das Universum tendenziell nihilistisch vorstellt („riesig viel nichts“), ist sie davon überzeugt, dass ein solches, rein naturwissenschaftliches Weltbild schwer auszuhalten ist. Sie selbst empfindet diese nüchterne Vorstellung auch als unangenehm. Das drängt die Frage auf, wie diese „kalte Vorstellung“ ausgehalten werden kann? Die Journalistin entwirft eine diesseitige Sinnkonstruktion, die ganz ohne die Hoffnung auf ein Jenseits auskommt: „Weil das so ist, hab’ ich eigentlich nur die Chance, aus diesem Leben das zu machen, was zu machen ist, und das Beste rauszuholen […] und die Zeit zu nutzen, die ich habe. Da kommt danach […] kommen weder irgendwie 50 […] Jungfrauen noch irgendwie der alte Mann auf der Wolke noch irgendwie sonst irgendwas Schönes […], da kommt dann einfach nix mehr.“
Die radikale Diesseitsorientierung führt bei ihr nicht zu dem Schluss, ein hedonistisches Leben zu führen; sie entwirft auch keine fatalistische Weltsicht. Vielmehr steigert sich der in der Prädestinationslehre entwickelte Bewährungsgedanke in dem Maße, in dem sie auf einen transzendenten Sinn verzichtet: „Ich kann mich nicht damit trösten, dass da irgendwas kommt“. Sie muss die Zeit, die sie zur Verfügung hat, nutzen, um das „Beste rauszuholen“. Das Bewährungsproblem11 stellt sich angesichts der Realisierung der eigenen Endlichkeit und treibt die Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz aus sich heraus, für die sie entsprechende Antworten (einen „Mythos“) braucht. Ihre Maxime ist: das Leben selbst in die Hand zu nehmen, zu handeln und maximale Leistung anzustreben. Der Lebenssinn vollzieht sich in dieser Konstruktion im praktischen Handeln und liegt darin, den eigenen Mikrokosmos durch Entscheidungen sinnvoll oder sinnerfüllend zu gestalten. Dabei markiert der Tod in ihrem Entwurf das endgültige Ende des Lebens. Ein Leben nach dem Tod und ein damit verbundener Erlösungsmythos werden nur in Form einer Karikatur verschiedener religiöser Konzeptionen thematisiert, von denen sie sich abgrenzt. Für sie stellen alle Hoffnungen auf jenseitige Erlösung Illusionen dar: „Ich find’s Leuteverdummung“. An ihre Stelle tritt für sie ein positiv benanntes „Nichts“, das materiell allenfalls als „Gänseblümchen“ vorgestellt wird. Der erhöhte Bewährungsdruck führt somit nicht zu einer wie auch immer gearteten jenseitigen Hoffnung. Was setzt sie an diese Stelle? 11
Dieser Begriff Webers wurde von Oevermann weiterentwickelt. Sein „Strukturmodell von Religiosität“ trennt Struktur und Inhalte von Religiosität und unterstellt auch für den religiös indifferenten Menschen der Gegenwart die Notwendigkeit eines Bewährungsmythos, der Antworten auf das Bewährungsproblem gibt; vgl. dazu Oevermann (1995).
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Im Wesentlichen sind es drei Momente, die für ihr Leben als sinnvoll gelten: ihre Berufsarbeit, soziale Kontakte und Freunde, bei denen sie im Gespräch Trost findet. Die Freunde stehen im Gegensatz zu einem imaginären, moralisierenden, ohnmächtigen oder gar lieblosen Gott, „der irgendwie sich den ganzen Rotz anguckt und nicht eingreift“. Diese Rede zeigt, dass in der Abgrenzung noch ein Rest einer negativen Vorstellung eines göttlichen Schöpfers vorhanden ist. Dabei ist ihr durchaus bewusst, dass sie mit ihrem Anspruch zwischenmenschliche Beziehungen auch stark belasten kann. In der Verpflichtung zur Solidarität, die ein wichtiger Maßstab in ihrem Leben ist, hat sich der ursprünglich religiös begründete ethische Anspruch erhalten, aber insofern in einen säkularen transformiert, als sie auf jede religiöse Begründung und Bindung verzichten kann: „Ich bin moralisch, weil ich das für richtig halte“. Ihre ethische Wertbindung führt sie auf immanente Quellen wie ihre Erziehung, die Aufklärung oder die jüngere deutsche Geschichte, wie das „Nie-wieder“ nach Auschwitz, zurück. Daraus gewinnt sie ihren hohen ethischen Anspruch (Solidarität, Nächstenliebe, Toleranz), den sie auch auf ihr journalistisches Handeln überträgt.
3.2 Familie als säkulare Sphäre der Letztbegründung in Krisen Als Kontrastfall zu der Journalistin, die immerhin, so könnte man einwenden, noch aufgrund der religiösen Sozialisation einen Zugang zur Theodizeeproblematik haben könnte, habe ich einen in der DDR sozialisierten Fall gewählt. Der Atheismus stellte in der DDR einen weltanschaulichen Kontext dar, in dem mithilfe des Theodizeearguments religionskritisch agitiert wurde (vgl. Wohlrab-Sahr et al. 2009: 142f.). Zudem gilt Ostdeutschland nach wie vor – auch 20 Jahre nach der Wende – als eine der säkularisiertesten Regionen überhaupt (vgl. Pollack/Pickel 2000; Gärtner et al. 2003; Wohlrab-Sahr et al. 2009). Das Datenmaterial entnehme ich einem Dokumentarfilm des Filmemachers Wolfgang Ettlich aus dem Jahr 1999. Das Filmteam besuchte die Familie Schütze im sächsischen Zschopau zwischen 1989 und 1999 mehrmals, befragte und filmte sie.12 Der Film schildert ihr Leben in den ersten zehn Jahren nach der Wende. Die Schützes ergreifen die Chance, sich nach der Wende ihren „Traum vom eigenen Laden“ zu erfüllen und machen sich selbstständig. Ihr Drang nach Selbstverwirklichung ist mit großem persönlichen Engagement, einer ausgeprägten Leistungsmotivation und der Bereitschaft, das Privatleben einzuschränken, verbunden. Nach anfänglichen Erfolgen, die sich aufgrund der schnell ergriffenen Initiative einstellen, expandieren sie und übernehmen sich dabei 12
Zur ausführlichen Rekonstruktion des Films vgl. Gärtner/Sammet (2003).
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sowohl finanziell als auch personell. Dem raschen Erfolg und Aufstieg folgen durch Fehlentscheidungen ausgelöste Krisen und der Abstieg. Die Misserfolge zwingen sie zwar, ihren „Traum“ aufzugeben, gleichwohl bemühen sie sich weiter, eine selbstständige Existenz zu erhalten. Nebenbei wird im Film deutlich (z.B. durch die Jugendweihe der Tochter), dass die Schützes religionslos sind und auch in massiven Krisen keine religiösen Lösungen oder eine religiöse Gemeinschaft suchen; umgekehrt ist aber auch keine ausgeprägt atheistische Haltung sichtbar. Ein anthropologisches Bedürfnis nach Religion (etwa: Not lehrt Beten) kann ausgeschlossen werden. Die Bewährungsdynamik als solche ist jedoch deutlich greifbar und im Filmtitel auf den Punkt gebracht: „Wir machen weiter“. Als Bewährungsinhalt lässt sich die sehr ausgeprägte Leistungs- und Berufsethik rekonstruieren. Es stellt sich aber die Frage, welche Antwort diese auf die Erfahrung des Scheiterns zu geben vermag und was das Weitermachen motiviert, wenn auf der einen Seite weder eine ethisch religiöse Bindung noch ein religiöses Jenseits eine Rolle spielen und auf der anderen Seite das Scheitern mit der Erfahrung verbunden ist, dass Anstrengung und Leistung gerade nicht belohnt werden. Diese Frage will ich anhand von Selbstmordgedanken erörtern, die sich als Reaktion auf die gescheiterte Existenzgründung und den damit verbundenen Abstieg einstellen. Jürgen Schütze befindet sich aufgrund des enormen finanziellen Drucks durch die sehr hohen Kredite in einer akuten Krise (vgl. Gärtner/Sammet 2003: 301ff.). Da er weder auf religiöse Werte und Überzeugungen noch auf eine religiöse Gemeinschaft zurückgreifen kann, richtet sich seine Klage dementsprechend auch nicht an Gott, sondern an die Gesellschaft. Ihr wirft er auf der Suche nach Erklärungen für sein Leiden vor, dass sie ihn so weit gebracht habe, dass er, um seinen Erfolg zu realisieren, zum Egoisten geworden sei, der gegenüber seiner Familie rücksichtslos gehandelt hat und deswegen von Schuldgefühlen geplagt ist. Ich will eine Szene aus dem Film herausgreifen, die diese Lebenskrise nach dem Scheitern des Traums von der eigenen Existenz inszeniert. Der Film zeigt Jürgen Schütze, wie er über eine Brücke geht, am Geländer stehen bleibt und auf einen Fluss hinunter schaut. Nach einer längeren (Sprech-)Pause spielt er verschiedene Lösungsmöglichkeiten hypothetisch durch: „Also do geht mir viel durch den Kopf, manchmal sach’ ich, wenn ich über ne Brücke lauf, aufs Geländer steigen und runter“. Er führt sich die mögliche Konsequenz dieses Selbstmordgedankens, nachdem er die Szene bereits verlassen hat, vor Augen: „drei Sekunden ist alles vorbei“. Indem Jürgen Schütze diese Möglichkeit hypothetisch thematisiert, wird deutlich, dass die Krise nicht (mehr) manifest ist und er sich nicht in einer aktuellen Suizidsituation befindet. Er spielt mit den Implikationen, die für ihn vor allem bedeuten: „Hast du keine Sorgen mehr hinterher“
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und „da kann dir niemand mehr was tun“, das heißt, seine finanziellen Probleme spielten dann keine Rolle mehr und er wäre nicht mehr seinen Mitmenschen ausgeliefert, sondern „erlöst“. Er beschreibt andere als Täter und sich selbst als Opfer, und diesen Status könnte er durch Suizid abschütteln. Auf der einen Seiten steht der vollzogene Selbstmord für das Ende des Leidens, auf der anderen – und das ist die Kehrseite – wären damit alle zukünftigen Optionen geschlossen; das heißt, es würde kein Zwang mehr bestehen, weitere Entscheidungen treffen zu müssen, aber auch keine Chance mehr dazu. Nachdem Jürgen Schütze gedankenexperimentell eine Möglichkeit der individuellen „Erlösung“ von allen Leiden und Bewährungsanforderungen entworfen hat, räumt er gleich ein, dass diese Lösung nicht für die Familie gelte; im Gegenteil, für sie würde sich die Situation verschärfen, denn „auf der Familie bleibt der Druck liegen“. Diese Erkenntnis, dass seine Familie dann die Last seines Scheiterns alleine zu tragen hätte, ist für ihn einer der Gründe, seinen Egoismus aufzugeben. Die Verantwortung, die er für seine Familie trägt, schließt Suizid für ihn als Lösung aus und stellt für ihn lediglich eine prinzipielle Möglichkeit der (gedanklichen) Entlastung dar: „Irgendwie hat jeder manchmal die Gedanken“. Das heißt, die Begründung gegen den Selbstmord liegt (ebenso wie die dafür) im Diesseits; kein Glaube an ein Jenseits oder an ein Leben nach dem Tod hält ihn davon ab. Er erwägt keine ethischen und religiösen Gründe gegen den Selbstmord, sondern relativiert und entdramatisiert seine Selbsttötungsfantasie durch Normalisierung und Verallgemeinerung: Er schreibt sie auch anderen – seiner Frau im Besonderen und jedem Menschen im Allgemeinen – zu. Die Kraft, weiter zu leben bzw. „weiter zu machen“, bezieht Jürgen Schütze, so die These, vor allem aus seiner Familie; sie stellt die eigentliche Solidargemeinschaft dar. Schon Weber hatte in seiner „Zwischenbetrachtung“ argumentiert, dass die Familie als eine konkurrierende Wertsphäre zur Religion in Spannung steht und ein Reservoir für säkulare Sinnantworten bereithält. Zu der Erfahrung, dass man gemeinsam schon viel durchgestanden hat, kommt die Hoffnung hinzu, dass neue Aufträge, also Arbeit und Geld, wieder die Lust am Leben wecken. Beides – die Familie als Solidargemeinschaft und die Hoffnung auf die Möglichkeit der Bewährung durch Arbeit – hilft ihm, der Belastung standzuhalten. Der Gedanke an Selbstmord, der eine Reaktion auf die Existenzkrise ist, führt bei Jürgen Schütze nicht dazu, „letzte Fragen“ religiös zu beantworten. Nicht religiöse Inhalte halten ihn von diesem Schritt ab, sondern die Einsicht in seine Verantwortung gegenüber seiner Familie und die Hoffnung, die Krise durch Arbeit überwinden zu können. Der vollzogene Selbstmord wäre nicht nur ein Eingeständnis des Scheiterns, sondern ein Schließen von allen weiteren Lebens- und Bewährungschancen. Auch dieser Fall zeigt somit, dass die Säkulari-
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sierung das Theodizeeproblem nicht stillstellt, sondern das Bewährungsproblem eher verschärft, und zwar um so mehr als entlastende religiöse Mythen oder ein bedingungsloses Vertrauen in Gott nicht mehr zur Verfügung stehen.
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Fazit
Wie die Beispiele zeigen, ist die Theodizeefrage nicht (mehr) an Erlösungsreligionen oder den Glauben gebunden und wird auch in der säkularen Moderne nicht suspendiert, aber die Antworten bzw. der Umgang damit kann sehr unterschiedlich ausfallen. Während Christen eine „Theodizee des Glücks“ vor allem auf der praktischen Ebene durch Solidarität und Gemeinwohlengagement lösen, bewältigen sie das Problem der prinzipiellen Ungerechtigkeit und des Leidens der weltlichen Ordnung mit der Hoffnung auf Gott bzw. eine transzendente, jenseitige Gerechtigkeit. Genauso gut kann die Theodizee aber auch zum Anlass werden, die Güte und Gerechtigkeit Gottes zu bezweifeln und als Beweis für die Nicht-Existenz Gottes dienen. Bei religiös indifferenten oder säkularen Individuen finden sich praktische Antworten, die sich auf den Beruf bzw. die Leistungsethik oder die Familie beziehen, wobei darin die spezifisch okzidentalen Transformationslinien der christlichen Religion zum Ausdruck kommen. Die Journalistin entwickelt als Intellektuelle auch eine rationale diesseitige Konzeption auf die Theodizeefrage, die sich zwar noch auf Gott bezieht, diesen aber ausschließt. Eine säkulare Antwort ist aber nicht notwendigerweise mit dem Verzicht auf die Anerkennung der Transzendenz verbunden, wie andere Fälle zeigen (vgl. dazu Gärtner 2008a, 2008b). Abschließend möchte ich nochmals die theoretischen Perspektiven diskutieren, die Webers Erweiterung des Theodizeeproblems auf die Sinnfrage hervorgebracht haben. Thomas Luckmann hat insofern an Webers Religionssoziologie angeschlossen, als er die Sinngebung des Daseins per se als religiös versteht (vgl. Luckmann 1991). Der damit verbundene funktionale Religionsbegriff, demzufolge alle, auch rein private und individuelle Antworten auf die Sinnfrage wie etwa die hedonistische Selbstverwirklichung als religiöse Äquivalente gelten, ist vor allem kritisiert worden, weil er zu weit und unspezifisch sei. Darüber hinaus ist er auch problematisch, weil damit der Bezug der Religion vom Gemeinwohl gelöst wird. Nach Webers Theorie der Ausdifferenzierung der Wertsphären können Sphären wie Politik, Wissenschaft, Kunst oder Liebe deshalb zur Religion in Konkurrenz treten und (praktische) Antworten die Sinnfrage generieren, weil sie einen Raum für die Bereitschaft zur bedingungslosen Hingabe sowie die Möglichkeit, sich als ganzer Mensch an eine Sache zu binden, bereitstellen. Ulrich
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Oevermann schließt daran in seinem „Strukturmodell von Religiosität“ an, indem er das aus der Lebenspraxis und der Endlichkeit des Lebens abgeleitete Bewährungsproblem ins Zentrum rückt. Er charakterisiert darin lediglich die Notwendigkeit, Antworten auf die Sinnfragen zu finden, als „strukturell“ religiös, während die Inhalte in modernen ausdifferenzierten Gesellschaften auch säkular sein können (vgl. Oevermann 1995). Gleichwohl sind diese nicht beliebig, sondern an Bereiche gebunden, in denen Individuen eine Position als ganzer Mensch einnehmen. Das betrifft Bereiche wie die Bestreitung der eigenen Existenz (z.B. durch Beruf), die gesellschaftliche Reproduktion (z.B. Elternschaft oder andere für die Gesellschaft relevante Bereiche wie Kunst und Wissenschaft) sowie den engeren Bereich der Gemeinwohlbindung (Staatsbürgerschaft, politisches Engagement) (vgl. Oevermann 2001: 111f.). Oevermann wirft auch das Problem auf, wie ein Mythos für ein individuiertes Subjekt der Moderne aussehen kann, wenn religiöse Inhalte ihre kollektiv geteilte Evidenz verloren haben, aber authentische Antworten auf die Sinnfrage oder authentische Selbstverwirklichung nach wie vor an die Hingabe an eine Sache gebunden sind (Oevermann 1995: 93ff.). Seine Evidenz erhalte ein individuierter Bewährungsmythos, so Oevermann, nicht mehr über gemeinschaftlich verbürgte Inhalte, sondern indem er formalen Kriterien der ästhetischen Authentizität einer gelingenden Darstellung folge; das heißt, im Bemühen, das eigene Leben möglichst klar und kohärent zu rekonstruieren (ebd.: 95). Mit dieser These ließe sich ein Bezug zu Charles Taylor herstellen, der von einer generalisierten „culture of authenticity“ in westlichen Gesellschaften spricht, „or expressive individualism, in which people are encouraged to find their own way, discover their own fulfillment“, wobei er eine die Kultur durch-dringende „ethic of authenticity“ beobachtet (Taylor 2007: 299).
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