Andreas Brachmann Re-Institutionalisierung statt De-Institutionalisierung in der Behindertenhilfe
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Andreas Brachmann
Re-Institutionalisierung statt De-Institutionalisierung in der Behindertenhilfe Neubestimmung der Funktion von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung aus sonderpädagogischer Perspektive
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Die Arbeit wurde vom Institut für Rehabilitationswissenschaften der Philosophischen Fakultät IV der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen und im Juli 2010 erfolgreich verteidigt.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch | Anette Villnow VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18130-1
Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort................................................................................................................ 9 1 1.1 1.2 1.3 1.4
Einführung: Problemstellung und Perspektiven ............................... 11 Die Legitimationskrise des Systems der Behindertenhilfe ..................... 11 Der gesellschaftliche Wandel der nachmodernen Gesellschaft .............. 19 Fragestellungen und Thesen der Arbeit.................................................. 21 Lösungsansätze....................................................................................... 24
2 2.1 2.2 2.3 2.3.1
Diskurse zur De-Institutionalisierung ................................................ 29 Vorbemerkung........................................................................................ 29 Neo-institutionalistische Ansätze ........................................................... 32 Diskurs I ................................................................................................. 42 Problemanalysen der aktuellen De-Institutionalisierungsdebatte der Sonderpädagogik.............................................................................. 42
2.3.2
Lösungsansätze der aktuellen De-Institutionalisierungsdebatte der Sonderpädagogik.............................................................................. 62
2.3.3
Kritische Würdigung des Diskurses ....................................................... 66
2.3.3.1 2.3.3.2 2.4 2.4.1
Die Ergebnisse der Debatte .................................................................... 66 Perspektiven ........................................................................................... 74 Diskurs II................................................................................................ 76 Überblick: Die aktuellen sonderpädagogischen Leitkonzeptionen des Lebensbereichs Wohnen .................................................................. 76
2.4.2
Die Problematisierung der Leitkonzeptionen als Ausdruck gesellschaftlichen Wandels .................................................................... 77
2.4.2.1 2.4.2.2 2.4.2.3 2.5
Das Normalisierungsprinzip................................................................... 79 Integration und Inklusion ....................................................................... 84 Selbstbestimmung .................................................................................. 91 Folgerungen............................................................................................ 98
6 3 3.1 3.2 3.3 3.4
Inhaltsverzeichnis
3.4.1
Wandlungsprozesse ............................................................................ 101 Vorbemerkungen .................................................................................. 101 Die Einbeziehung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ........... 102 Soziologische Gegenwartsdiagnosen ................................................... 108 Phänomene der Globalisierung und Modernisierung in der Nachmoderne ....................................................................................... 114 Globalisierung ...................................................................................... 115
3.4.2
Modernisierung .................................................................................... 119
3.4.2.1 Funktionale Differenzierung als Strukturmerkmal nachmoderner Gesellschaften ...................................................................................... 120 3.4.2.2 Neoliberale Entwicklungen: Ökonomisierung und Marktdominanz .... 123 3.4.2.3 Individualisierung und Pluralisierung als zentrale Phänomene der Modernisierung .............................................................................. 127 3.5 Die Umwelten der Wohneinrichtungen im Wandel ............................. 131 3.5.1 Technische Umwelten .......................................................................... 132 3.5.2
Institutionelle Umwelten ...................................................................... 134
3.5.2.1 Die Entwicklung von Sozialrecht und Sozialpolitik: Der Umbau des bundesdeutschen Sozialstaates....................................................... 134 3.5.2.2 Die Entgrenzung der Sozialen Arbeit................................................... 138 3.5.2.3 Der Wandel institutionalisierter Lebenslaufmuster .............................. 142 3.5.2.4 Die Institution „Geistige Behinderung“ im Wandel ............................. 148 3.5.2.5 Internationale Entwicklungen: ICF und UN-Behindertenrechtskonvention ......................................................... 151 3.6 Neubestimmung: Struktur- und Funktionswandel von Wohneinrichtungen .............................................................................. 160 3.6.1 Organisationale Reaktionen der Wohneinrichtungen auf den Wandel der technischen Umwelten ...................................................... 161 3.6.2
Organisationale Reaktionen der Wohneinrichtungen auf den Wandel der institutionellen Umwelten ................................................. 164
3.6.2.1 3.6.2.2 3.6.2.3 3.7
Lebenslauf ............................................................................................ 164 Geistige Behinderung ........................................................................... 166 Soziale Arbeit....................................................................................... 168 Fazit...................................................................................................... 170
Inhaltsverzeichnis
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4 4.1 4.1.1
Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung................................... 173 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen ........ 173 Wohneinrichtungen als Lebensräume für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung .................................................................... 173
4.1.1.1 4.1.1.2 4.1.1.3 4.1.2
Ethische Aspekte .................................................................................. 173 Funktionen des Wohnens ..................................................................... 175 Lebensräume mit „Enabling-Charakter“ .............................................. 176 „Anerkennung“ als zentrales Leitprinzip der Behindertenhilfe............ 183
4.1.2.1 Die Institutionalisierung des Begriffs der „Anerkennung“ zum gesellschaftstheoretischen Grundbegriff .............................................. 183 4.1.2.2 AXEL HONNETHS Theorie der Anerkennung ........................................ 189 4.1.2.3 KRASSIMIR STOJANOVS Bildungsverständnis im Rahmen einer „Pädagogik der Anerkennung“............................................................. 193 4.1.2.4 Das Prinzip „Anerkennung“ als neue zentrale Leitidee der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen ......................................... 197 4.1.3 Bildungsräume und Bildungsangebote: „Selbst-Entwicklung“ und „Welt-Erschließung“ durch die Schaffung von „Anerkennungsverhältnissen“ .............................................................. 204 4.1.3.1 Gestaltung von Anerkennungsverhältnissen ........................................ 204 4.1.3.2 „Selbst-Entwicklung“ und „Welt-Erschließung“ ................................. 209 4.1.3.3 Methodisch-Didaktische Überlegungen: SCHÄFFTERS Ansatz des institutionalisierten Lernens ................................................................. 219 4.1.4 Praxisbeispiele: Hilfeplanung und Persönliches Budget ...................... 228 4.1.4.1 Die individuelle Hilfeplanung .............................................................. 228 4.1.4.2 Das Persönliche Budget........................................................................ 236 4.2 Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung im Prozess der Veränderung ............................ 245 4.2.1 Vorbemerkung...................................................................................... 245 4.2.2
Prozesse institutioneller Veränderung aus neo-institutionalistischer Sicht ............................................................. 247
4.2.2.1 4.2.2.2 4.2.2.3 4.2.2.4 4.2.3
Begriffsbestimmung: Institution und Organisation .............................. 247 Institutionen und Akteure ..................................................................... 250 Institutionelle Beharrlichkeit ................................................................ 254 Institutioneller Wandel ......................................................................... 256 Wandel durch institutionelles Lernen................................................... 259
4.2.3.1 CSIGÓS Grundmodell des institutionellen Wandels.............................. 259
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Inhaltsverzeichnis
4.2.3.2 Aspekte institutionellen Lernens .......................................................... 264 4.2.3.3 Fazit: Institutioneller Wandel durch institutionelles Lernen ................ 266 4.2.4 Die institutionelle Umgestaltung der Wohneinrichtungen ................... 269 4.2.4.1 4.2.4.2 4.2.4.3 4.2.5
Zielbestimmung.................................................................................... 269 Konzeptionalisierung der Umgestaltung .............................................. 271 Anforderungen an die Akteure ............................................................. 281 Praxisbeispiel: Nutzung des EFQM-Modells ....................................... 286
4.2.5.1 Das EFQM-Modells for Excellence ..................................................... 286 4.2.5.2 Potenziale und Grenzen des EFQM-Modell for Excellence................. 295 5 5.1 5.2 5.3
Zusammenfassung und Ausblick ...................................................... 301 Zusammenfassung ................................................................................ 301 Konsequenzen für das System der Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung........................................................................... 315 Fazit und Perspektiven ......................................................................... 322
Literaturübersicht .......................................................................................... 329
1.1 Die Legitimationskrise des Systems der Behindertenhilfe
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Vorwort
Im Mittelpunkt vorliegender Arbeit, die durch die Philosophische Fakultät IV der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertationsschrift im Fachbereich Rehabilitationspädagogik angenommen und am 15.07.2010 erfolgreich verteidigt wurde, stehen Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung. Das eigentliche Thema sind allerdings die BewohnerInnen, also ein Personenkreis, der in dem wichtigen Lebensbereich „Wohnen“ auf unterschiedlichste Formen institutionell organisierter Unterstützung angewiesen ist. Das Spektrum der erforderlichen Leistungen der professionellen Einrichtungen und Dienste umfasst sowohl die vollstationären Settings der Wohnstätten als auch die ganz verschieden gestalteten ambulanten Wohnangebote und reicht hin bis zur Begleitung im Rahmen des Betreuten Einzelwohnens. Der geneigte Leser muss bereit sein, sich auf eine etwas ungewöhnliche sonderpädagogische Arbeit einzulassen: Die aktuelle Kritik an den Wohneinrichtungen wird als Ausdruck eines gesellschaftlichen Legitimationsverlustes infolge gesellschaftlicher Veränderungsprozesse gedeutet, der auch zur Problematisierung wichtiger sonderpädagogischer Leitvorstellungen führt. Zur Erklärung des gesellschaftlichen Wandels werden die Phänomene der Globalisierung und Modernisierung im Rahmen soziologischer Deutungstheorien diskutiert und neo-institutionalistische Ansätze zum Verständnis des Verhaltens sonderpädagogischer Institutionen herangezogen. Die neuen Chancen einerseits, die Risiken andererseits, die für die Individuen aus den gesellschaftlichen Umbrüchen resultieren, bedeuten für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung eine ungewohnte Konfrontation mit Herausforderungen, zu deren Bewältigung sie auf professionelle Unterstützung angewiesen sind. Die professionelle Einrichtungen und Dienste im Bereich Wohnen können dies allerdings weder mit ihren derzeitigen Institutionalformen noch mit ihren aktuellen Angeboten leisten. Ausgehend von einer grundlegenden Neubestimmung ihrer Funktion ist deshalb zunächst eine umfassende Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen notwendig. Es wird im weiteren Verlauf der Arbeit aufgezeigt, wie mit Hilfe neoinstitutionalistischer Ansätze, ausgewählter Aspekte institutionellen Lernens und einer Pädagogik der Anerkennung das Ziel einer solchen Re-Institutionalisierung
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Vorwort
erreicht und Wohneinrichtungen zu „Enabeling-Räumen“ für ihre BewohnerInnen umgestaltet werden können. Die notwendigen Unterstützungsangebote für die BewohnerInnen lassen sich dann als Bildungsangebote verstehen, entsprechend konzipieren und umsetzen. Den Herren Prof. Dr. Karl-Ernst Ackermann und Prof. Dr. Ortfried Schäffter gilt mein herzlicher Dank für die Betreuung der Arbeit, ihre vielfältigen Anregungen, kritischen Hinweise und die Ermutigung, die Thematik der Arbeit in einer solch interdisziplinären Breite zu bearbeiten. Sie haben über viele Jahre hinweg den Werdegang der Arbeit kontinuierlich begleitet – eine Vielzahl interessanter Fachdispute mit ihnen eröffneten immer wieder neue Perspektiven und haben wesentlich zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Bei Frau Prof. Dr. Iris Beck bedanke ich mich – ihre kritischen Hinweise haben einen Reflexionsprozess ausgelöst, der in vieler Beziehung sehr wertvoll war und zu wichtigen Impulsen für die Arbeit führte. Meine Frau Elisabeth hat mich mit größter Ausdauer und unerschöpflicher Geduld beim Schreiben der Arbeit begleitet, auf vielfältigste Weise unterstützt und immer wieder auf Freizeitunternehmungen mit mir verzichten müssen. Ihr verdanke ich das Gelingen dieses Unternehmens. Michael und Barbara, meine erwachsenen Kinder, waren bereit, die Arbeit zu lesen und mir kritische Rückmeldungen zu geben – ich danke ihnen dafür. Meine Schwiegereltern, Ursula und Manfred Hünniger, haben lebhaft Anteil am Entstehen der Arbeit genommen und mich immer wieder beherbergt, wenn ich in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig gearbeitet habe. Leider konnte mein Schwiegervater die Fertigstellung der Arbeit nicht mehr miterleben – ich danke beiden für ihre Unterstützung. Herr Rainer Hüsken und seine Frau Annette haben die Endfassung der Arbeit mit größter Sorgfalt gelesen – und noch eine Vielzahl an Fehlern gefunden und der Korrektur zugänglich gemacht. Dafür gebührt ihnen ein besonderer Dank. Schließlich bedanke ich mich beim VS Verlag als dem führenden sozialwissenschaftlichen Fachverlag im deutschsprachigen Raum für seine Bereitschaft, die Arbeit zu veröffentlichen – insbesondere gilt mein Dank meiner Lektorin, Frau Anette Villnow und Frau Anke Vogel für Korrektorat und Setzen des Textes. Diese Arbeit widme ich all den Menschen mit geistiger Behinderung, die zur Bewältigung ihres Lebens auf die Unterstützung professioneller Einrichtungen und Dienste angewiesen sind – verbunden mit der Hoffnung, dass sie in Zukunft mehr Wertschätzung und Anerkennung erfahren, sich ihnen neue Teilhabechancen erschließen, ihnen eigenverantwortliche Lebensgestaltung zugestanden wird und wir uns gemeinsam mit ihnen auf den Weg machen, um uns der Vision einer inklusiven Gesellschaft anzunähern.
1.1 Die Legitimationskrise des Systems der Behindertenhilfe
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1 Einführung: Problemstellung und Perspektiven
1.1 Die Legitimationskrise des Systems der Behindertenhilfe Bei der Betrachtung der Lebensbedingungen von Menschen, die aufgrund einer geistigen Behinderung1 institutionalisierte Leistungsangebote der Behindertenhilfe nutzen, lässt sich im Rückblick auf die letzten fünfzehn Jahre feststellen, dass sich diese generell verbessert haben – insbesondere in den neuen Bundesländern. Dies gilt für alle Bereiche der vorschulischen Förderung, der schulischen Bildung, der Arbeit, der Freizeit, der Erwachsenenbildung und des Wohnens. Die Träger der Einrichtungen und Dienste professioneller Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung haben begonnen, moderne behindertenpädagogische Leitideen2 in ihre Konzeptionen aufzunehmen und sie zumindest ansatzweise umzusetzen. Die professionellen MitarbeiterInnen des Hilfesystems gelangen zunehmend zu einem neuen Selbstverständnis ihrer Funktion3 – in Verbindung damit macht auch die Etablierung eines zeitgemäßen Begriffs von Behinderung4 in der All1
2 3
4
Trotz der innerhalb sonderpädagogischer Diskurse immer wieder vorgetragenen, durchaus begründbaren Kritik am Begriff „Geistige Behinderung“, soll er im Rahmen der vorliegenden Arbeit verwendet werden. Der Grund dafür ist rein pragmatischer Art: Die Terminologie „Menschen mit Behinderungen“ zur Bezeichnung der betroffenen Personen ist gesellschaftlich gebräuchlich und allgemein verständlich, in Sozialpolitik und Sozialrecht wird grundsätzlich darauf zurückgegriffen, bei der Übersetzung internationaler Dokumente wie die ICF (s. u.) und die UN-Behindertenrechtskonvention (s. u.) findet ausschließlich dieser Begriff Verwendung, der zudem inzwischen selbst zu einer Institution geworden ist (vgl. NIEDECKEN, 1989, sowie Abschn. 3.5.2.4). Da die besondere Berücksichtigung des gesellschaftlichen Kontextes eine vorrangige Intention der Arbeit darstellt und die gewählte sonderpädagogische Thematik durch Einbeziehung soziologischer, gesellschafts- und institutionstheoretischer Ansätze in einen interdisziplinären Diskurs gestellt wird, soll konsequenterweise der Begriff „Erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung“ benutzt und auf andere Bezeichnungen (z. B. „geistige Beeinträchtigung“, „Menschen, die wir geistig behindert nennen“ oder „Menschen, die behinderungserfahren sind“) verzichtet werden. (Es versteht sich, dass damit keine Wertung der Terminologie bzw. ihres semantischen Gehalts verbunden ist.). Damit sind vor allem die zentralen Leitkonzeptionen „Normalisierung“, „Integration“, „Inklusion“, „Empowerment“ sowie „Selbstbestimmung“ und „Teilhabe“ gemeint, die auch im weiteren Verlauf der Arbeit untersuchten werden. Die – sicher kritisch zu sehende – inflationäre Verwendung des Assistenzbegriffes bezüglich der Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung scheint immerhin ein Indiz dafür zu sein, dass sich eine Veränderung hin zu einem professionellen Rollenverständnis des Helfens mit Schwerpunktsetzung auf unterstützende, begleitende und beratende Aktivitäten vollzieht. Ein solch zeitgemäßer Begriff von Behinderung liegt z. B. der „International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)“ zugrunde, die auf einer Integration zweier gegen-
A. Brachmann, Re-Institutionalisierung statt De-Institutionalisierung in der Behindertenhilfe, DOI 10.1007/978-3-531-93205-7_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Einführung: Problemstellung und Perspektiven
tagspraxis der Behindertenhilfe erste Fortschritte. Die Rechte von Menschen mit geistiger Behinderung werden inzwischen eher respektiert, Entwicklungsmöglichkeiten und die Handlungsspielräume für Menschen mit Behinderungen haben sich in den unterschiedlichsten institutionellen Kontexten des Systems der Behindertenhilfe verbessert und erweitert1,2. Die Bundesregierung zieht in ihrem Bericht zur Lage von Menschen mit Behinderungen für die 16. Legislaturperiode (Behindertenbericht 2009) ebenfalls eine positive Bilanz der vergangenen Jahre3. Diese positiven Entwicklungen sind engagierten Elternvereinigungen, Selbsthilfegruppen behinderter Menschen, der akademischen Sonderpädagogik, kritischen Akteuren sowie der öffentlichen Verwaltung und Sozialpolitik (auf kommunaler und regionaler Ebene, Landes- und Bundesebene), aber durchaus auch dem bundesdeutschen Hilfesystem selbst zuzuschreiben.
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sätzlicher Modelle beruht: Dem medizinischen einerseits und dem sozialen Modell andererseits. Mit diesem „bio-psycho-sozialen“ Ansatz versucht die ICF eine Synthese zu erreichen, die eine kohärente Sicht der verschiedenen Perspektiven von Gesundheit auf biologischer, individueller und sozialer Ebene ermöglicht. (vgl. DEUTSCHES INSTITUT FÜR MEDIZINISCHE DOKUMENTATION UND INFORMATION, DIMDI; Hrsg.; 2004). Für WACKER u. a. geht von diesem neuen bio-psycho-sozialen Verständnis von Behinderung der ICF international eine „erhebliche Innovationskraft“ (vgl. WACKER u. a, 2006, S. 10) aus: weg von defizitorientierten Ansätzen hin zu einem „kompetenzorientierten und ökologischen Verständnis, welches die „Relativität und Relationalität von Behinderung anerkennt.“ (ebd.). Die Ziele der Rehabilitation würden neu definiert und präzisiert, sie verfolgten das generelle Ziel, die Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken (vgl. ebd.). Diese Einschätzung teilt auch FORNEFELD. Sie schreibt: „Im Kontext eines umfassenden Reformprozesses vollzog sich in Pädagogik und Rehabilitation für Menschen mit geistiger Behinderung ein fundamentaler Wertewandel, weg von der karitativen Fürsorge hin zum gesetzlich gesicherten Rechtsanspruch auf Bildung und Unterstützung. Die damit verbundenen normativen, konzeptionellen und institutionellen Veränderungen haben dazu geführt, dass sich die Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung verbessert hat. Sie werden ernst genommen und können mehr Einfluss auf ihr eigenes Leben nehmen. Neue Lebensformen, Verselbstständigung durch betreutes Wohnen oder die Öffnung der Heime durch Entwicklung kleinerer Wohneinheiten führen tatsächlich zu mehr Teilhabe.“ (FORNEFELD, 2008, S. 9). DEDERICH spricht von einem „Prozess der Humanisierung“ innerhalb der Behindertenhilfe und -pädagogik, der sich in den letzten Jahrzehnten schrittweise vollzogen habe (vgl. DEDERICH, 2008, S. 31). Der ehemalige Bundesminister für Arbeit und Soziales, Olaf Scholz, schreibt in seinem Vorwort im Juni 2009: „Die Behindertenpolitik der Bundesregierung hat in den letzten vier Jahren vieles bewirkt. Den seit 1998 eingeleiteten Paradigmenwechsel haben wir in dieser Legislaturperiode konsequent fortgesetzt, Selbstbestimmung und Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gesellschaft haben bei uns einen hohen Stellenwert erhalten. Der nun vorgelegte Bericht der Bundesregierung über die Lage von Menschen mit Behinderungen zieht eine Bilanz über vier Jahre erfolgreicher Behindertenpolitik. Er dokumentiert die Verbesserungen für die Lebenssituation behinderter Menschen, zeigt aber auch Bereiche auf, in denen wir weiter voran kommen müssen.“ (BUNDESMINISTERIUM FÜR ARBEIT UND SOZIALES, 2009, S. 7).
1.1 Die Legitimationskrise des Systems der Behindertenhilfe
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Ungeachtet dessen erfährt es durch 1. die sich verändernden normativen gesellschaftlichen Erwartungen, 2. die sich verändernden sozialpolitischen, sozialrechtlichen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen und 3. die zunehmende Kritik an seinen Leistungen und Institutionalformen eine wachsende In-Frage-Stellung so grundlegender Art, dass von einer beginnenden Legitimationskrise mit dem Verlust gesellschaftlicher Legitimation gesprochen werden muss1. Zu (1): Die nachmoderne, funktional ausdifferenzierte bundesdeutsche Gesellschaft ist in stetigem Wandel begriffen und verändert sich deshalb auch in Bezug auf ihre Erwartungen, Ansprüche und Forderungen an die eigenen Funktionalsysteme. Davon ist auch die Behindertenhilfe als Teil des Systems der Sozialen Sicherung betroffen. Während noch in der jüngeren Vergangenheit die Verwahrung, Unterbringung und Förderungen behinderter Menschen in Sondereinrichtungen als gesellschaftlich adäquate Problemlösung für Individuen galt2, die den Leistungsanforderungen der modernen Industriegesellschaft nicht entsprechen und deshalb auch nur schwer in gesellschaftliche Teilbereiche inkludiert werden können, hat sich die gesellschaftliche Position dazu deutlich gewandelt. Das neue Idealbild, an dem die nachmoderne Gesellschaft ihre Individuen misst, ist das aus traditionellen Bindungen freigesetzte, selbstbestimmte, sein Leben eigenverantwortlich gestaltende, alle möglichen Optionen nutzende, am öffentlichen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen, kulturellen aktiv teilhabende Subjekt, das seine Menschenrechte und Grundfreiheiten nutzt, hochflexibel dem Arbeitsmarkt zu Verfügung steht und bereit ist, lebenslang zu lernen. Diese Vorstellung überträgt sie grundsätzlich auch auf marginalisierte Personen in erschwerten Lebenslagen, zu denen insbesondere auch Menschen mit geistiger Behinderung zu rechnen sind. Ohne dass sich die Integrationsbereitschaft der Gesellschaft wesentlich erhöht hätte3, verändern sich die gesellschaftlichen Erwar1
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EBERWEIN spricht z. B. von einer Legitimationskrise, in der die Sonderpädagogik seit vielen Jahren stecke (vgl. EBERWEIN, 2002, S. 213). Er verweist auf BONFRANCHI, der aus ethischen, biologischen, ökonomischen und integrationspädagogischen Überlegungen zu dem Ergebnis kommt, „[…] dass man in naher Zukunft keine Sonderpädagogik mehr braucht bzw. dass die Sonderpädagogik ihrer eigenen Auflösung entgegengeht.“ (ebd.). Die Gesellschaft ließ sich diese „Problemlösung“ durchaus einiges kosten, stellte großzügig Finanzmittel in Form „prospektiver“ Förderung zur Verfügung, unterstützte die Entwicklung und Ausdifferenzierung das Systems der Behindertenhilfe durch die Schaffung immer neuer Sondereinrichtungen und kam auf diese Weise ihrer Verantwortung für Menschen mit Behinderungen nach. Das bezieht sich sowohl auf die Interaktionen in den sozialen Nahräumen der Gemeinwesen als auch auf die strukturellen Gegebenheiten, die nicht belegen, dass sich die bundesdeutsche Gesellschaft auf dem Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft befindet.
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1 Einführung: Problemstellung und Perspektiven
tungen an das System der Behindertenhilfe, das nun die Betroffenen zur Selbstbestimmung und Teilhabe an allen Formen des gesellschaftlichen Lebens, zur Wahrnehmung ihrer Bürgerrechte und Grundfreiheiten sowie zur Übernahme von Eigenverantwortung für die eigene Lebensführung und -gestaltung befähigen soll. Sowie die Gesellschaft die Verantwortung für das Gelingen oder Scheitern seines Lebens dem Einzelnen weitgehendst selbst zuordnet, weist sie nun in gleicher Weise dem Hilfesystem die Verantwortung für Menschen mit Behinderungen zu – mit dem Auftrag, sie in die Lage zu versetzen, ein gelingendes Leben unter den Bedingungen der nachmodernen leistungsorientierten Gesellschaft zu führen und dabei ihren Anforderungen zu entsprechen. Ausdruck dieser Verlagerung von Verantwortung ist die Tatsache, dass die Gesellschaft die dabei anfallenden Kosten nicht mehr prospektiv übernimmt, sondern nur noch auf Grundlage und im Rahmen von Kontrakten – mit streng limitierten Entgelten und der Kontrolle eng regulierter und überwachter Leistungen1. Das volle Risiko für das Gelingen dieser Aufgabe trägt das System der Behindertenhilfe mit seinen Institutionen und Organisationen. Zu (2): Dieser gesellschaftliche Wandel äußert sich ganz konkret im schrittweisen Umbau des Sozialstaates, der Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts begann, zur Veränderung seiner Institutionen im sozialpolitischen, sozialrechtlichen und sozialökonomischen Bereich führte und z. T. weitreichende Folgen insbesondere für Menschen in prekären Lebenslagen und die Systeme sozialer Hilfen – einschließlich der Institutionen und Organisationen der Behindertenhilfe – bewirkte. Sozialpolitisch fand in vielen Bundesländern eine Verlagerung der Zuständigkeit für Eingliederungshilfeleistungen von den überörtlichen auf die örtlichen Sozialhilfeträger statt2, das Prinzip „ambulant vor stationär“ erfuhr eine stärkere Betonung, die Umstellung institutionenzentrierter auf personorientierte Leistungsangebote für Menschen mit Behinderungen wurde zur anerkannten Zielgröße und die Forderung nach „Selbstbestimmung und Teilhabe behinderter Menschen“ rückte in den Mittelpunkt sozialpolitischer Programmatik. Die damit im Zusammenhang stehenden Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte im sozialrechtlichen Bereich sind vor allem durch die Verabschiedung der Sozialgesetzbücher SGB IX und XII, des Behindertengleichstellungsgesetzes (BBG)3, des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)4, der Novellierung 1 2 3 4
Das gilt zumindest für den Bereich der Eingliederungshilfe, die Schulfinanzierung unterscheidet sich davon und ist länderspezifisch unterschiedlich geregelt. „Regionalisierung der Sozialhilfe“ Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz, verabschiedet am 27. April 2002 (vgl. BUNDESMINISTERIUM FÜR JUSTIZ, 2007), ergänzt durch entsprechende Landesgleichstellungsgesetze. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verabschiedet am 14. August 2006 (vgl. BUNDESMINISTERIUM FÜR JUSTIZ, 2009).
1.1 Die Legitimationskrise des Systems der Behindertenhilfe
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des Heimgesetzes1 und des Wohnbetreuungsvertragsgesetzes WBVG)2 sowie die derzeitig stattfindende Reform der Eingliederungshilfe gekennzeichnet. Als Ausdruck der Globalisierung sind internationale Einflüsse auf Reformbemühungen des nationalen Sozialrechts zu bewerten. Beispiele dafür sind der enge Zusammenhang mit EU-Recht z. B. beim AGG, der maßgebliche Einfluss der ICF mit ihrem bio-psycho-sozialen Behinderungsbegriff3 auf das SGB IX und die Mitwirkung an der UN-Behindertenrechtskonvention und ihre In-KraftSetzung durch die Bundesregierung. Für die Einrichtungen und Dienste professioneller Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung ergaben sich die grundlegendsten Veränderungen allerdings aus der Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern als Ergebnis der Novellierung des Bundessozialhilfegesetzes im Jahr 1996 und seiner Ausführungsbestimmungen. Viele Träger wurden durch die darin (bewusst) angelegte Spannung zwischen stringentem Ordnungsrecht einerseits und hohen Leistungsanforderungen andererseits überfordert und gerieten in eine ihre Existenz bedrohende ökonomische Krise4.
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Im Rahmen der Förderalismusreform wurde die Gesetzgebungskompetenz für das Heimrecht auf die Bundesländer übertragen. Mit der Novellierung des Heimgesetzes erfolgte auch eine Umbenennung, in Berlin z. B. zu „Wohnteilhabegesetz“ (WTG). Das Wohnbetreuungsvertragsgesetz ist ein neues Bundesgesetz, das die Rechte der NutzerInnen institutioneller Wohnangebote als VerbraucherInnen deutlich stärkt. Die ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) ist eine Klassifikation der funktionalen Gesundheit und ihrer Beeinträchtigungen. Sie gehöre, so SCHUNTERMANN, zu der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelten „Familie“ von Klassifikationen für die Anwendung auf verschiedene Aspekte der Gesundheit und ergänze insbesondere die Klassifikation der Krankheiten (ICD) (vgl. SCHUNTERMANN, 2005, S. 11). Wie oben bereits erwähnt, trat damit an die Stelle einer kostendeckenden, prospektiven Finanzierung eine weitestgehende Festschreibung bestehender Entgeltsätze („Deckelung“) im Rahmen neuer Kontrakte als Voraussetzung und Grundlage der Leistungserbringung. Die bis dahin bestehende Absicherung der ökonomischen Basis durch den Sozialstaat in Form einer kostendeckenden, prospektiven Finanzierung wurde aufgelöst. An ihre Stelle traten vertragliche Regelungen, die die Leistungserbringung teilweise stark reglementierte, die Finanzierung einschränkte und das ökonomische Risiko in vollem Umfang den Einrichtungen zuwies. Damit sollten sie gezwungen werden, zur Kostenminimierung die Erbringung ihrer sozialen personenbezogenen Dienstleistungen kurzfristig umzustellen, um sie unter nunmehr marktförmigen Gesichtspunkten unternehmerisch anzubieten. Im Unterschied zu privaten Anbietern war und ist es für die Träger der freien Wohlfahrtspflege (die den überwiegenden Teil der Leistungen des Hilfesystems erbringen) mit ihren dem öffentlichen Dienst vergleichbaren Strukturen allerdings ungleich schwerer, diese „marktförmigen“ Unternehmensstrategien als Non Profit Organisationen in einer ganz neuen, ungewohnten und verschärften Konkurrenzsituation zwischen verschiedenen Leistungsanbietern zu entwickeln (vgl. NEUMANN, 2005).
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1 Einführung: Problemstellung und Perspektiven
Zu (3): Diese Kritik zielt sowohl auf die Leistungsangebote1 selbst – seit kurzem aus akademischer Sicht sogar auf die zugrunde liegenden Leitkonzeptionen der Behindertenpädagogik2 – als auch auf die institutionellen Kontexte3, innerhalb derer sie erbracht werden. Teilweise werden auch das System der Behindertenhilfe als Ganzes sowie bestimmte Aspekte sozialpolitischer und sozialrechtlicher Art kritisiert4. Die Kritik wird dabei von unterschiedlicher Seite aus vorgebracht: Zum einen unmittelbar aus professioneller Sicht durch kritische Anfragen seitens der akademischen Sonder- und Heilpädagogik, zum anderen durch Selbsthilfegruppen und -verbände. Auch die betroffenen Menschen mit geistiger Behinderung selbst formulieren zunehmend selbstbewusster und kritischer als NutzerInnen der Leistungsangebote ihre neuen Bedürfnisse, Erwartungen, Wünsche, Ansprüche und Forderungen gegenüber den Leistungserbringern der Behindertenhilfe. Unbestreitbar ist die Tatsache, dass ungeachtet aller positiven Entwicklungen die Lebenssituation von Menschen mit geistiger Behinderung als NutzerInnen professioneller Angebote der Behindertenhilfe noch immer als prekäre Lebenslage unter besonders erschwerten Bedingungen eingeschätzt werden muss – gekennzeichnet von fortbestehender sozialer Benachteilung, oftmals stark begrenzten sozialen, personalen und materiellen Ressourcen, mangelnder Inklusion sowie eingeschränkten Teilhabemöglichkeiten und Ausgrenzungsphänomenen gerade in den Lebensbereichen Bildung, Arbeit5, Wohnen und Freizeit. Die Auswirkung institutioneller Strukturen des Systems der Behindertenhilfe auf eine selbständige, selbstbestimmte Lebensführung wird von den NutzerInnen der Leistungsangebote vielfach als unverändert restriktiv, rigide und einengend erlebt. Die Leistungsangebote selbst sind zudem häufig tatsächlich noch stark 1 2
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Beispielsweise wird die institutionsbezogene Ausrichtung der Angebote kritisiert, während eine Adressatenorientierung erforderlich wäre. Vgl. FORNEFELD (2008). Ihre Kritik bezieht sich sowohl auf das Hilfesystem mit seiner „inneren Aussonderung“ (ebd., S. 9), das Ausschluss in der Gesellschaft befördert (vgl. ebd., S. 50. Hervorhebung im Original, Anm. A. B.) als auch auf die „paradoxe Wirkung“ (ebd., S. 128) der behindertenpädagogischen Leitgedanken aufgrund des gesellschaftlichen Wertewandels und des Umbaus des Sozialstaates (vgl. ebd.). Den institutionellen Strukturen und Prozessabläufen werden z. B. restriktive, hospitalisierende, Selbstbestimmung, Teilhabe und Inklusion verhindernde Wirkungen bescheinigt; weitere Ausführungen dazu im Teil II und III. Durch das System der Behindertenhilfe – so lautet die Kritik – werden diese Negativ-Phänome noch verstärkt, insbesondere im Zusammenhang mit Leistungen, die im Rahmen institutioneller Kontexte erbracht werden, deren institutionelle Strukturen sich noch immer unverändert restriktiv, rigide und einengend auf eine selbständige, selbstbestimmte Lebensführung auswirken. Diese Ausgrenzung trägt u. a. auch institutionelle Züge: Separierende Sonderbildungseinrichtungen und Werkstätten / Tagesstätten für Menschen mit geistiger Behinderung haben bekanntlich den unerwünschten Nebeneffekt, selbst zu stigmatisieren und auszugrenzen.
1.1 Die Legitimationskrise des Systems der Behindertenhilfe
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institutions- statt individuenorientiert ausgerichtet und berücksichtigen zu wenig die individuellen Hilfebedarfe, Erwartungen und Wünsche der NutzerInnen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die aktuellen sozialpolitischen und sozialrechtlichen Entwicklungen, die problematischen Veränderungen der ökonomischen Rahmenbedingungen und die kritische In-Frage-Stellung als unmittelbarer Ausdruck veränderter gesellschaftlicher Forderungen an die Leistungen und Institutionalformen des Systems der Behindertenhilfe gewertet werden können. Das führt zu einer wachsenden Diskrepanz zwischen diesen – in sich durchaus widersprüchlichen und ambivalenten – Anforderungen und Erwartungen der Gesellschaft einerseits und dem System der Behindertenhilfe in seiner jetzigen Form andererseits, da es diesen neuen Herausforderungen in seiner derzeitigen Form nicht entsprechen und gerecht werden kann. Aus diesem Grund büßt es seine gesellschaftliche Legitimation weitgehendst ein und befindet sich in einer zunehmenden Legitimationskrise1. Ausdruck dieser Legitimationskrise ist ein Diskurs, der seit einigen Jahren innerhalb der Sonderpädagogik – und zwar im Kern vor allem um die aufgeführten Kritikpunkte – sehr kontrovers geführt wird: Dabei handelt es sich um die so genannte „De-Institutionalisierungsdebatte“, in deren Rahmen die Gegner auf die Befürworter der Institutionen und Organisationen der Behindertenhilfe treffen. Dabei werden sehr unterschiedliche Positionen vertreten: Während die großen Wohlfahrtsverbände und die Träger der Einrichtungen und Dienste das Bestehende weitgehendst rechtfertigen und verteidigen2, „moderate Kritiker“3 positive Entwicklungstendenzen würdigen und das System der deutschen Behindertenhilfe zumindest vom Grundsatz her für reformfähig halten4, vertreten im Gegensatz dazu „radikalere“ Kritiker5 eine grundsätzlich andere Position. Die Legitimation sonderpädagogischer Einrichtungen wird durch diese Vertreter einer „De-Institutionalisierung“ generell in Frage gestellt, da aus ihrer Sicht die diesen Institutionen und Organisationen immanente separierende und stigmatisierende Wirkung von vornherein die Verwirklichung von Integrations-, Inklusions- und Teilhabekonzeptionen verhindere. Sie beziehen dabei vorschulische und schulische Einrichtungen sowie institutionelle Arbeitsangebote im Rahmen von Werk- und Tagesstätten für Menschen mit geistiger Behinderung ein. Besonders massiv richtet sich ihre 1 2 3 4 5
Diese gesellschaftliche Legitimationskrise trifft zwar nicht für alle Organisationen und Institutionen der Behindertenhilfe gleichermaßen zu – generell muss aber von einer beginnenden Legitimationskrise des Systems der Behindertenhilfe ausgegangen werden. Vgl. z. B. GAEDT (1997), (2003). Dazu lassen sich z. B. IRIS BECK, ELISABETH WACKER und MONIKA SEIFERT rechnen. Ein Beispiel dafür ist die Evangelische Stiftung Alsterdorf mit ihren in den letzten zehn Jahren sehr erfolgreichen Dezentralisierungsbemühungen. Wie z. B. die Initiative „Daheim statt Heim“.
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1 Einführung: Problemstellung und Perspektiven
Kritik gegen Wohneinrichtungen mit vollstationären Wohnangeboten – gerade auch innerhalb von Komplexeinrichtungen1. Hier fordern sie ganz radikal die völlige Auflösung bzw. Abschaffung jeder Art stationärer Heimeinrichtungen2. Im Rahmen vorliegender Arbeit wird zur Eingrenzung dieser komplexen Problematik der Fokus der Betrachtungen auf Wohnangebote3 für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung gerichtet – zum einen deshalb, weil gerade sie im Brennpunkt der De-Institutionalisierungsdebatte stehen und zum anderen, weil die Gestaltung des Lebensbereichs „Wohnen“ besonders weitreichende Auswirkungen auf die persönliche Lebenssituation der Betroffenen hat4. Aus diesem Grund wirkt sich für die unmittelbar Betroffenen – die Erwachsenen mit geistiger Behinderung – die derzeit oftmals festzustellende mangelnde Passung zwischen den erbrachten Leistungen der Wohneinrichtungen und dem tatsächlichen individuellen Hilfebedarf sehr problematisch aus, zumal sie gerade bei höherem Hilfebedarf oder Komplexer Behinderung5 stark abhängig vom System der Behindertenhilfe sind. Die aufgezeigte Diskrepanz wird noch deutlicher, wenn die ganz neuen Herausforderungen und Risiken infolge der gegenwärtigen gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse, die für alle Individuen, aber besonders für Menschen in 1 2 3
4 5
Prominentester Verfechter dieser Auffassung ist z. Z. sicher KLAUS DÖRNER (vgl. A. SCHÄFER „Reformer und provokanter Geist, Porträt Klaus Dörner, 2006). Vgl. z. B. den Aufruf der Forschungsarbeitsgemeinschaft „Menschen im Heim“ der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld vom Juni 2001 zur Einsetzung einer Kommission zur „Enquête der Heime“. Im Rahmen vorliegender Arbeit werden die Institutionalformen des Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung in ihrer Gesamtheit mit dem Oberbegriff „Wohneinrichtungen“ bezeichnet. Zu diesen institutionellen Arrangements rechnen die verschiedenen stationären Wohnformen (Wohnen innerhalb von Komplexeinrichtungen, „klassische“ Heime, Wohnen mit Internatscharakter als „Anhängsel“ von Werkstätten für behinderte Menschen, Wohnheime mit tagesstrukturierenden Angeboten für Menschen mit Komplexer Behinderung, Kleinstheime, Trainingswohnen u. a.) und die unterschiedlichsten ambulanten Wohnangebote (Wohngemeinschaften, Betreutes Einzel- und Paarwohnen, Formen des unterstützten Wohnens u. a.). Für stationäre Wohneinrichtungen findet auch der Begriff „Wohnstätten“ Verwendung; die NutzerInnen der Wohnangebote werden vereinfachend als „BewohnerInnen“ bezeichnet, auch wenn dies im Falle ambulanter Angebote nicht ganz korrekt ist. Zur Bedeutung des Wohnens vgl. auch HAHN (1998), S. 11. Der Begriff der „Komplexen Behinderung“ wurde durch FORNEFELD eingeführt, der es dabei nicht um eine neue Klassifikation von Behinderung geht, „[…] sondern um die Bezeichnung einer von Missachtung und Aussonderung bedrohten Personengruppe.“ (FORNEFELD, 2008, S. 10). Sie schreibt dazu weiter: „Der Name »Menschen mit Komplexer Behinderung« verbindet Personen mit geistiger Behinderung, die innerhalb der Gesamtpopulation der Menschen mit Behinderung vom System als die angeblich Leistungsschwächsten übersehen werden. Sie unterscheiden sich in ihren Schädigungen und Beeinträchtigungen stark voneinander, nicht aber in der Komplexität ihrer Lebensbedingungen.“ (ebd., Hervorhebung im Original, Anm. A. B.). Ausführlich Klärung des Begriffs vgl. FORNEFELD, 2008, S. 50-81.
1.2 Der gesellschaftliche Wandel der nachmodernen Gesellschaft
19
erschwerten und prekären Lebenslagen, die Gefahr des Scheiterns und weiterer Exklusion bergen1, in die Betrachtungen einbezogen werden. Um ihre gesellschaftliche Akzeptanz und Legitimation zurückgewinnen zu können, ihre Legitimationskrise zu überwinden und ihrem Dienstleistungscharakter für ihre BewohnerInnen mit geistiger Behinderung gerecht zu werden, müssen sich sonderpädagogische Institutionen und Organisationen der Herausforderung einer Neubestimmung ihrer Funktion stellen, um die neu auf sie zukommenden Herausforderungen und Aufgabenstellungen zu erkennen, zu bewältigen und ein Leistungsprofil zu entwickeln, das den Bedarfen, Anforderungen und Erwartungen ihrer ganz unterschiedlichen Stakeholder unter den Bedingungen der nachmodernen Gesellschaft gerecht wird. Deshalb ist es notwendig, den Blick zunächst auf den gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext zu richten. Das bedeutet, die für nachmoderne westliche Gesellschaften charakteristischen Phänomene der Globalisierung und Modernisierung mit ihren Auswirkungen auf die Individuen, die zentralen Institutionen des modernen Sozialstaates und das System der Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung näher zu untersuchen. 1.2 Der gesellschaftliche Wandel der nachmodernen Gesellschaft Den Beginn des 21. Jahrhunderts kennzeichnet ein Prozess weltweiten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Wandels, der im ausgehenden 20. Jahrhundert begann und für den insbesondere die beiden folgenden Aspekte bestimmend sind: 1.
2.
eine Intensivierung der Globalisierungsprozesse – verursacht durch politische, ökonomische, wissenschaftliche und technologische Entwicklungen – sowie die Verstärkung ihrer Dynamik mit allen daraus resultierenden Veränderungen und eine Dynamisierung des modernisierungsbedingten, grundlegenden Wandels der nach westlich demokratischem Muster konstituierten Gesellschaften.
Während die Phänomene der Globalisierung insbesondere in den letzten drei Jahren 2007, 2008 und 2009 durch eine Reihe sich weltweit dramatisch auswirkender und noch immer andauernder Krisen2 deutlich greifbar wurden und die 1 2
Vgl. dazu z. B. auch DEDERICH (2002), S. 175 ff., HERRIGER (2002), S. 37 ff. oder auch FORNEFELD (2008), S. 50 unter Bezug auf GAEDT (2003), S. 86 ff. Gemeint sind die weltweite Rohstoff-, Nahrungsmittel-, Energie-, Finanz- und nunmehr globale Wirtschaftskrise.
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1 Einführung: Problemstellung und Perspektiven
öffentliche Aufmerksamkeit nachhaltig beanspruchen, vollzieht sich der modernisierungsbedingte Wandel viel unauffälliger, in seinen Folgen allerdings nicht weniger bedeutsam. Durch diesen Wandel wurden Verschiebungen des Verhältnisses von Individuum, Institution und Gesellschaft durch Erosions-, Freisetzungs-, Fragmentierungs- und Pluralisierungsprozesse ausgelöst, die sich nachhaltig auf die individuellen Lebensformen, das Lebensgefühl und die Lebenssituationen der Individuen auswirkten. Das führte zu vielfältigen neuen Formen der Lebensgestaltung, zu einer Ausdifferenzierung unterschiedlichster Lebensstile und zu völlig veränderten Selbstwahrnehmungen mit dem Resultat einer grundlegenden Veränderung des Selbstverständnisses der meisten Menschen. Zusammengefasst werden diese Entwicklungen (in eher unzulässiger Weise) zumeist unter Verwendung des Begriffs „Individualisierung“1, wobei auf eine klare Inhaltsbestimmung in der Regel verzichtet wird und der Gebrauch dieses Terminus sehr diffus erfolgt. Die Dynamik dieser Individualisierungsprozesse mit ihren Folgen eröffnet Individuen einerseits vielfältige neue Handlungsspielräume, Lebensoptionen und Chancen, andererseits sind mit ihr aber auch besondere Herausforderungen, Risiken und Gefahren der Überforderung, des Scheiterns und neue Formen der Exklusion2 verbunden. Die Auswirkungen der genannten Umwälzungsprozesse erfahren die Individuen allerdings nicht nur unvermittelt und direkt, sondern in den entscheidenden Lebensbereichen vor allem über die selbst im Wandel begriffenen Institutionen der verschiedenen Funktionalsysteme der ausdifferenzierten nachmodernen Gesellschaften wie z. B.
des Beschäftigungssystems und des Arbeitsmarkts, des Bildungs- und Erziehungssystems, des Sozialwesens mit den Bereichen Sozialpolitik, Sozialrecht und dem System Sozialer Hilfen, der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sowie allen Bereichen der Informationsvermittlung und der Medien.
Von besonderer Bedeutung sind für die Individuen die Veränderungen der Institutionen „Familie“ und „Lebenslauf“, die durch Individualisierung, Fragmentierung und Pluralisierung der nachmodernen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten einen grundlegenden Wandel erfahren haben. 1 2
Vgl. z. B. HAUSINGER, B. (2004.1) S. 2. Ausführlich dazu DEDERICH (2008), S. 31-49.
1.3 Fragestellungen und Thesen der Arbeit
21
Von den genannten Modernisierungs- und Individualisierungsprozessen ist der Personenkreis der erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung ebenfalls betroffen – ihre Lebenslagen verändern sich, es eröffnen sich ihnen einerseits neue Chancen, in Verbindung damit entstehen andererseits auch bisher nicht vorhandene Risiken und eine besondere Gefährdung durch Überforderung. Daraus ergeben sich zusätzliche Hilfebedarfe, die bisher nicht durch entsprechende Leistungen beantwortet werden, da sie noch gar nicht erfasst wurden. Zu ihrer Bestimmung ist es notwendig, auf soziologisches Orientierungswissen über den gesellschaftlichen Wandel zurückzugreifen, das durch die Nutzung soziologischer Gegenwartsdiagnosen, die zur Erfassung und Deutung dieser Prozesse aus sozialwissenschaftlicher Sicht entwickelt wurden, zu erschließen ist. Die angemessene Erfassung der genannten komplexen Phänomene in ihrem wechselseitigen Zusammenwirken erfordert eine Verschränkung der mikro- mit der makrosoziologischen Perspektive1. Diesem Anspruch wird der von ULRICH BECK entwickelte Ansatz einer „Zweiten oder Reflexiven Moderne“2 gerecht, der sich zudem intensiv mit Prozessen der Individualisierung, die für die Thematik der Arbeit eine zentrale Rolle spielen, auseinandersetzt. Deshalb soll im Rahmen der Arbeit auf diese soziologische Deutungstheorie zurückgegriffen und die für die „Nachmoderne“3 charakteristischen Phänomene der Globalisierung und Modernisierung mit ihren Auswirkungen auf die zentralen Institutionen des modernen Sozialstaates und den Personenkreis erwachsener Menschen mit geistiger Behinderung untersucht werden. 1.3 Fragestellungen und Thesen der Arbeit Die Auseinandersetzung mit der Kritik am derzeitigen System der Behindertenhilfe, das den aktuellen gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen nicht 1
2 3
Für DEDERICH lassen sich die genannten gesellschaftlichen Umwälzungen zwar auf beiden Ebenen beschreiben, die Verschränkung einer subjektiv-lebensweltlich mikrosoziologischen mit einer objektivierenden strukturell makrosoziologischen Perspektive sei aber trotzdem notwendig. Denn während erstere die Entwicklung des Individuums in Wechselwirkung mit seiner Umwelt thematisiere, bildete die zweite eine dazu notwendige Ergänzung, so DEDERICH, indem sie die objektiven Gegebenheiten in den Blick nähme, d. h. die gesellschaftlichen Strukturen und systembezogenen Prozesse, die in die individuelle Biografie hineinwirkten und zu einer Differenzierung der Milieus und Lebenswelten führten (vgl. DEDERICH, 2001, S. 126, 127). Vgl. dazu auch ANTHONY GIDDENS und SCOTT LASH (z. B. in BECK & GIDDENS & LASH, 1996). Mit dem Begriff „Nachmoderne“ wird im Rahmen vorliegender Arbeit die Epoche, die sich an die „Moderne“ anschließt, rein chronologisch gefasst. Darin unterscheidet sich diese Terminologie grundsätzlich von Begriffen wie z. B. „Zweite Moderne bzw. Reflexive Moderne“ und „Postmoderne“, die Ansätze bezeichnen, die diese Epoche inhaltlich interpretieren und deuten.
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1 Einführung: Problemstellung und Perspektiven
mehr genügt und dessen Leistungen oftmals weder den veränderten Lebenslagen noch den erweiterten heutigen Hilfebedarfen von Menschen mit geistiger Behinderung entsprechen, begründet – wie gezeigt wurde – die Notwendigkeit einer Neubestimmung der Funktion des Hilfesystems. Wird der Fokus der Betrachtung dabei auf Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung gerichtet, ergeben sich im Zusammenhang damit folgende Fragestellungen: 1. 2.
3.
4. 5.
Worin besteht die konkrete Kritik an den Wohneinrichtungen, ihren Institutionalformen, Leistungsangeboten und Leitkonzeptionen ihrer pädagogischen Arbeit im Einzelnen? Wie lässt sich diese Kritik im Kontext des gesellschaftlichen Wandels und einer wachsenden Diskrepanz zwischen veränderten gesellschaftlichen Erwartungen einerseits und den Institutionalformen und Leistungen der Wohneinrichtungen andererseits deuten und für eine Neubestimmung ihrer Funktion konstruktiv nutzen? Welche Unterstützungsangebote wären geeignet, um erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung zu befähigen, die Herausforderungen des aktuellen gesellschaftlichen Wandels erfolgreich zu bewältigen, d. h. die mit den neuen Lebensbedingungen verbundenen Chancen zu nutzen und die daraus resultierenden Risiken zu meistern? Welche grundlegenden Aspekte müssten zum zentralen Bestand einer Neubestimmung der Funktion von Wohneinrichtungen für erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung gehören? Wie lassen sich, ausgehend von einer solchen Neubestimmung, die notwendigen Prozesse der Umgestaltung vollziehen?
Zur Beantwortung dieser Fragestellungen werden Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung untersucht. Unter Einbeziehung soziologischer Deutungstheorien, neo-institutionalistischer Ansätze und des Prinzips „Anerkennung“ als „[…] zentrale(r) Dimension pädagogischer Theorie und Praxis[…]“1 lassen sich folgende Thesen formulieren: 1.
Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung sind Organisationen, die durch eine grundlegende Re-Institutionalisierung institutionell völlig umgestaltet werden können, vorausgesetzt, ihre Institutionalformen und Leistungsangebote werden unter Berücksichtigung des sich wandelnden gesellschaftlichen Kontextes und der daraus resultierenden neuen Hilfebedarfe ihrer BewohnerInnen kritisch infrage gestellt.
1
HAFENEGER u. a. (2002), S. 8.
1.3 Fragestellungen und Thesen der Arbeit
2.
3.
4.
5.
23
Diese Re-Institutionalisierung von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung, deren Ausgangspunkt die Neubestimmung ihrer Funktion und Leistungsangebote bildet, ermöglicht ihnen den notwendigen Funktionswandel, der sie in die Lage versetzt, zukünftig den sich infolge des gesellschaftlichen Wandels der Nachmoderne verändernden aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen entsprechen zu können, ihre gesellschaftliche Akzeptanz und Legitimation damit zurückzugewinnen und ihre Legitimationskrise zu überwinden. Die neuen Hilfebedarfe der BewohnerInnen lassen sich erfolgreich im Setting der umgestalteten Wohneinrichtungen durch entsprechende Leistungsangebote im Rahmen eines Ansatzes beantworten, der gelingende Identitätsentwicklung in Form lebenslanger Bildung als Antwort auf die Bewältigung der neuen Herausforderungen der Nachmoderne versteht und eine Pädagogik der Anerkennung konsequent umsetzt. Damit sind Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung in der Lage, ihren Beitrag zur Förderung, Gewährleistung und zum Schutz des vollen und gleichberechtigten Genusses aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch ihre BewohnerInnen sowie zur Sicherung der Achtung der ihnen innewohnenden Würde im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention1 zu leisten. Um ihren BewohnerInnen Chancen auf eine volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu eröffnen2, müssen sich Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung konsequent gemeinwesen- und sozialraumorientiert ausrichten – mit dem Ziel, zu einer Umgestaltung des sie umgebenden Gemeinwesens aktiv beizutragen.
Mit diesen Thesen wird der Forderung nach einer radikalen De-Institutionalisierung der Institutionalformen des Wohnens für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung im Sinne einer völligen Auflösung3 als realisierbare Alternative ihre Re-Institutionalisierung gegenübergestellt. Mit „Re-Institutionalisierung“ wird ein Richtungswechsel des Institutionalisierungsprozesses der Wohneinrichtungen bezeichnet, der durch Umweltverände-
1 2 3
Vgl. UN-Behindertenrechtskonvention Art. 1 (BUNDESGESETZBLATT Jg. 2008 Teil II Nr. 35 vom 31.12.2008, S. 1423). Vgl. ebd., Art. 19 (S. 1433). Zumindest der stationären Wohnformen, d. h. der Wohnstätten für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung.
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1 Einführung: Problemstellung und Perspektiven
rungen, äußeren Druck1 und Handlungsentscheidungen der Akteure ausgelöst wird und zu einer Erosion der Legitimität der institutionalisierten Normen, Werte, organisationalen Strukturen, Funktionen und Verhaltensweisen führt. Dadurch beginnt der Zerfall dieser etablierten Elemente und Traditionen, sie werden kritisierbar und können durch völlig neue Elemente mit entsprechender Umwelt-Kompatibilität ersetzt werden. Durch diese Transformation formaler organisationaler Strukturen und institutioneller Verfahrensweisen bilden sich völlig veränderte Institutionen heraus, die sich grundlegend von den ursprünglichen Institutionen unterscheiden2. Die Thesen der Arbeit gehen von der unveränderten Notwendigkeit institutionell organisierter Wohnformen mit professioneller Unterstützung für Menschen mit geistiger Behinderung aus. Sie gründen auf der durch die Erkenntnisse soziologischer Deutungstheorien3 bestätigten Überzeugung, dass die Individuen in der nachmodernen Gesellschaft verstärkt den fremdbestimmenden Einflüssen der unterschiedlichsten Institutionen des Nationalstaates ausgesetzt sein werden, so dass gerade Menschen mit geistiger Behinderung auch zukünftig auf professionelle, institutionalisierte Hilfeangebote angewiesen sein werden. Zu ihrer Entwicklung bildet eine konsequente Re-Institutionalsierung der Wohneinrichtungen in Form einer grundlegenden Um- und Neustrukturierung einen zukunftsfähigen Lösungsansatz. Eine erfolgreiche Re-Institutionalsierung setzt allerdings voraus, dass die Akteure der Wohneinrichtungen und ihre Träger bereit sind, sich den neuen Anforderungen zu stellen und den notwendigen Funktionswandel durch entsprechende Umgestaltungen auch tatsächlich zu realisieren. 1.4 Lösungsansätze Zur Beantwortung der Fragestellungen und der Überprüfung der Thesen der Arbeit werden, wie oben bereits erwähnt, folgende theoretische Ansätze herangezogen: 1.
ULRICH BECKS soziologische Deutungstheorie der „Zweiten bzw. Reflexiven Moderne“, um den gesellschaftlichen Wandel mit seinen Auswirkungen auf Institutionen und Lebenslagen der Individuen – insbesondere auch die der erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung – betrachten und untersuchen zu können,
1
NEUMANN unterscheidet politischen (institutionell-regulative Einflussnahme), sozialen (institutionell-normative Einflussnahme) und funktionalen Druck (Einflussnahme der technischen Umweltdimension) (vgl. NEUMANN, 2005, S. 116) und Abschn. 3.5. Re-Institutionalisierung ist deshalb nicht mit Organisationsentwicklung zu vergleichen oder zu verwechseln. Vgl. dazu ULRICH BECKS Ausführungen zur Wirkung „Sekundärer Institutionen“ im Rahmen seines Individualisierungskonzeptes (vgl. BECK, U., 1986, S. 205 ff. und LEISERING, 1997, S. 143 ff.).
2 3
1.4 Lösungsansätze
2.
3.
25
neo-institutionalistische Ansätze, die ein vertieftes Verständnis institutioneller Persistenz und institutionellen Wandels, der wechselwirkenden Beziehungen zwischen Institutionen und ihren unterschiedlichen Umwelten und die Berücksichtigung mikro- und makrosoziologischer Perspektiven ermöglichen und das von KRASSIMIR STOJANOV1 auf Grundlage des anerkennungstheoretischen Paradigmas entwickelte Bildungsverständnis2, um daraus eine „Pädagogik der Anerkennung“ als Grundlage der pädagogischen Arbeit der Wohneinrichtungen zu entwickeln.
Zu (1): Mit der Berücksichtigung des gesellschaftlichen Kontextes und der gegenwärtigen Wandlungsprozesse wird eine von GREVING & GRÖSCHKE im Jahr 2002 gegenüber der Sonderpädagogik formulierte Forderung aufgegriffen und umgesetzt3, d. h. es wird eine systematische Gesellschaftsanalyse in heil- und behindertenpädagogischer Absicht aufgenommen. Zu (2): Unter Rückgriff auf neo-institutionalistische Ansätze werden konkrete Möglichkeiten zur Realisierung der für diesen Funktionswandel notwendigen Umgestaltungen von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung aufgezeigt. Dabei spielt SCHÄFFTERS „Theorie der Institutionalisierung“4 eine zentrale Rolle. Die Wahl fiel auch deshalb auf neo-institutionalistische Ansätze, weil ihre Nutzung die Entfaltung sowohl der institutionellen, die sonderpädagogische Organisationen und Institutionen erfassende, als auch die der individuellen, auf den Einzelnen ausgerichteten Perspektive und die Zusammenführung beider ermöglicht. Zur Bearbeitung vorliegender Thematik ist diese Berücksichtigung der mikro- und makrosoziologischen Perspektive nicht nur für die sozialwissen1 2 3
4
STOJANOW, KRASSIMIR (2006): Bildung und Anerkennung. Soziale Voraussetzungen von Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung. Wiesbaden. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Dieses Bildungsverständnis entwickelte KRASSIMIR STOJANOW als bildungstheoretische Umsetzung und Erweiterung des Anerkennungstheoretischen Konzeptes AXEL HONNETHS. Vgl. GREVING & GRÖSCHKE (2002). In ihrem Sammelband mit dem Titel „Das SisyphosPrinzip“, der den programmatischen Untertitel „Gesellschaftsanalytische und gesellschaftskritische Dimensionen der Heilpädagogik“ trägt, fordern sie eine „>...@ Heilpädagogik mit dem Gesicht zur Gesellschaft“ und bezeichnen die Soziologie als „>...@ wichtige Grundlagen- und Bezugswissenschaft für die Heilpädagogik“ (ebd., S. 9 und 13). Wenn Heilpädagogik, so GRÖSCHKE, eine Pädagogik für Benachteiligte und Ausgegrenzte sei, wäre sie mit einer solchen politischen Programmformel schon im Zentrum gesellschaftsanalytischer sowie sozial- und gesellschaftspolitischer Reflexionen und Auseinandersetzungen angekommen. Wissenschaftliche Heilpädagogik müsse auch als kritische Sozial- und Gesellschaftswissenschaft betrieben werden und sich einen kritisch-analytischen „Gesellschafts-Diskurs“ angewöhnen. (vgl. ebd., S. 9, 10). SCHÄFFTER, ORTFRIED (2001): Weiterbildung in der Transformationsgesellschaft. Hohengehren. Schneider Verlag.
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1 Einführung: Problemstellung und Perspektiven
schaftliche Erfassung und Deutung des gesellschaftlichen Kontextes und seiner Veränderungsprozesse grundlegend, sondern gleichermaßen für die Untersuchung sonderpädagogischer Organisationen und Institutionen sowie der Notwendigkeit und der Realisierungsmöglichkeiten ihres Wandels. Zu (3): Die zentralen Leitkonzeptionen der Sonderpädagogik, die als Theorieorientierung bestimmend für die konzeptionelle Ausrichtung der pädagogischen Arbeit der Wohneinrichtungen sind, werden einer kritischen Analyse unterworfen. Angesichts der aktuellen Herausforderungen durch den gesellschaftlichen Wandel mit veränderten gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen an das Hilfesystem und den neuen Hilfebedarfen seiner NutzerInnen erscheint ihre Fortentwicklung dringend geboten1. Dazu erfahren die Leitvorstellungen im Horizont neo-institutionalistischer Ansätze eine Deutung als „Institutionen“ und werden auf Grundlage dieses Verständnisses nicht deinstitutionalisiert, sondern in den Prozess der Re-Institutionalisierung einbezogen. Es erfolgt also keine Ablösung der Leitkonzeptionen, sondern ihre Weiterentwicklung und „Eingliederung“ in eine „Pädagogik der Anerkennung“ als neue Grundlage der pädagogischen Arbeit der Wohneinrichtungen2. Zentrale Bestandteile dieses pädagogischen Ansatzes sind das von KRASSIMIR STOJANOV auf Grundlage des anerkennungstheoretischen Paradigmas entwickelte Bildungsverständnis. Von diesem Ansatz ausgehend, lässt sich nun ein Lösungsweg entwickeln, der die Schaffung von Anerkennungsverhältnissen innerhalb von Wohneinrichtungen zum Ziel hat. Diese bilden die Voraussetzung für die Umsetzung eines Bildungsverständnisses, das unter der Prämisse des Prinzips Anerkennung Bildung als wechselwirkende Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung konzipiert. Dabei wird die Funktion von Bildung als Hilfe zur Lebensbewältigung für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung unter den Bedingungen der nachmodernen Gesellschaften thematisiert und ein erster Bezug zu Identitätsentwicklung und Identitätsarbeit hergestellt. Wohneinrichtungen erfahren auf dieser Grundlage eine neue Funktionsbestimmung als „Institutionen des Leben-Lernens“3 für ihre BewohnerInnen und nehmen die Gestalt von „Enabling-Räumen“ an. 1
2 3
Vergleiche dazu auch die Einschätzung FORNEFELDS. Sie zeigt auf, dass diese Leitprinzipien, die sie „Leitgedanken der Behindertenversorgung“ (!) nennt, durch den gesellschaftlichen Wertewandel und den Umbau des Sozialstaates inzwischen eine paradoxe Wirkung zeigen. Sie hält sie deshalb allerdings noch nicht für überholt (vgl. FORNEFELD, 2008, S. 128). FORNEFELD plädiert – allerdings bezogen auf den Personenkreis der Menschen mit Komplexer Behinderung – für eine Ergänzung der gängigen Leitkonzeptionen durch das Prinzip „Anerkennung“, welches für deren Erfüllung unverzichtbar sei (vgl. FORNEFELD, 2008, S. 132). Diese Begrifflichkeit stammt von GÖHLICH & ZIRFAS. Sie verwenden sie für Heime der Jugend- und interessanterweise auch der Altenhilfe (vgl. ebd., S. 161).
1.4 Lösungsansätze
27
Die beschriebenen theoretischen Ansätze werden durch Praxisbeispiele ergänzt, konkretisiert und gleichzeitig der notwendige Bezug zur Handlungsebene hergestellt. Herangezogen werden dazu
die individuelle Hilfeplanung, die neue Leistungsform des Persönlichen Budgets und das EFQM-Modell als Qualitätsmanagementsystem.
Mit Hilfe der genannten theoretischen Ansätze und Praxisbeispiele lassen sich die Thesen der Arbeit prüfen. Die am Beispiel von Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung aufgezeigten Perspektiven können auf ihre Übertragbarkeit für das gesamte System der Behindertenhilfe hin untersucht und abschließend Schwerpunkte zukünftiger Aufgaben des Systems der Behindertenhilfe angesichts des fortschreitenden gesellschaftlichen Wandels bestimmt werden.
2.1 Vorbemerkung
29
2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
2.1 Vorbemerkung Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung befinden sich derzeit in der Bundesrepublik in einer Krise – in einer Legitimationskrise1. Sie spielen innerhalb der funktional differenzierten nachmodernen bundesdeutschen Gesellschaft als Bestandteil des Systems der Hilfen für Menschen mit Behinderungen eine wichtige Rolle und entlasten als Dienstleistungsorganisationen die öffentliche Hand von der Erfüllung sozialstaatlicher Aufgaben in Bezug auf diesen Personenkreis. Damit sind sie als Organisationen „[…] integrativer Bestandteil sowohl der politisch-sozialen wie auch der kulturellen und wirtschaftlichen Infrastruktur.“2 Sie wirken nicht autark, sondern interagieren auf vielfältige Weise mit ihrer Umwelt, von der sie in hohem Maße abhängig sind. Diese Abhängigkeitsverhältnisse werden einerseits durch finanzielle, ordnungs- und leistungsrechtliche Regelungen bestimmt, widerspiegeln sich andererseits aber auch in den normativen Ansprüchen und Erwartungen, die die Gesellschaft an sie richtet3. Der schnelle gesellschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte führte, das wurde im Kap. 1 bereits kurz dargestellt, zu einer grundlegenden Veränderung der Umwelt der Wohneinrichtungen und damit auch der Rahmenbedingungen ihrer Arbeit. Diese erfolgte „[…] diskontinuierlich (ohne linearen Trend), hoch dynamisch (mit wachsender Geschwindigkeit) und komplex (paralleler Wandel vieler Variablen) […]“4 und löste in der Konsequenz die Legitimationskrise der Wohneinrichtungen aus: Sie konnten die Strukturen, in denen sie ihre Dienstleistungen bisher erbrachten, ihre herkömmlichen, in der Vergangenheit bewährten Konzepte, Strate-
1
2 3 4
Das betrifft insbesondere Wohnstätten, d. h. Wohneinrichtungen mit vollstationären Wohnangeboten für erwachsen Menschen mit geistiger Behinderung und oftmals hohem bzw. sehr hohem Hilfebedarf. (Auch der Personenkreis, den FORNEFELD als Menschen mit Komplexer Behinderung bezeichnet, ist in der Regel auf Einrichtungen dieser Art angewiesen, vgl. FORNEFELD, 2008.) Eine differenzierte Darstellung und ausführliche Begründung dieser These erfolgt im Rahmen der weiteren Ausführungen, wobei gezeigt wird, dass die Krise der gesellschaftlichen Legitimation durchaus auch ambulante Wohnangebote erfassen kann. NEUMANN (2005), S. 1. Vgl. auch ebd., S. 6. Ebd., S. 11 unter Bezug auf SALMON & ANHEIER (1998), S. 223 ff.
A. Brachmann, Re-Institutionalisierung statt De-Institutionalisierung in der Behindertenhilfe, DOI 10.1007/978-3-531-93205-7_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
gien und Managementverfahren nicht so schnell an die sich verändernden Kontextbedingungen anpassen, so dass wachsende Kompatibilitätsprobleme auftraten. Diese äußerten sich in zunehmenden Problemen der Wohneinrichtungen bezüglich der Sicherung, Bereitstellung und Steuerung ihrer Ressourcen, in stärker deutlich werdenden Defiziten in der Leistungserbringung, im Versagen bei der Erfüllung der ganz unterschiedlichen, in sich widersprüchlichen Anforderungen und normativen Erwartungen der gesellschaftlichen Umwelt und letztlich auch in einem massiven Imageverlust insbesondere der Wohnstätten mit vollstationären Wohnangeboten. Die kapazitätsstarken Wohnstätten für Menschen mit geistiger Behinderung der großen Komplexeinrichtungen der Behindertenhilfe mit ihren dezentralen, gemeindefernen Standorten und „All-Inclusive-Angeboten“ sind von dieser Legitimationskrise vorrangig betroffen, aber auch kleinere gemeindenahe Wohneinrichtungen und selbst ambulante Wohnangebote müssen mit dem Verlust ihrer gesellschaftlichen Legitimation rechnen. Diese Legitimationskrise stellt einerseits eine existentielle Bedrohung der Wohneinrichtungen dar, andererseits verdeutlicht sie auch die Tatsache, dass die für die Zielgruppe ihrer BewohnerInnen erforderlichen Leistungsangebote im Bereich des Wohnens durch die Wohneinrichtungen nur noch ungenügend und nicht mehr zeitgemäß erbracht werden1. Es scheint deshalb für Organisationen, die Wohnangebote für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung vorhalten, keine andere Alternative zu geben, als sich mit der Krise ihrer gesellschaftlichen Legitimation auseinanderzusetzen, nachhaltige und wirksame Strategien zu ihrer Überwindung zu entwickeln und diese umzusetzen. Das bedeutet, sich dem gesellschaftlichen Kontext bewusst zuzuwenden, d. h. zunächst die Prozesse des gesellschaftlichen Wandel zu analysieren und differenziert zu bewerten, die daraus resultierenden Veränderungen der Rahmenbedingungen und die neuen Vorgaben, Anforderungen und normativen Erwartungen der Umwelt zu analysieren und die in Zukunft notwendigen Leistungsangebote für die Zielgruppen der BewohnerInnen neu zu bestimmen. Vor diesem Hintergrund sind anschließend die eigenen normativen und professionellen Grundhaltungen und Selbstverständnisse kritisch zu reflektieren, um dann mögliche Ziele und Verfahrensweisen der notwendigen organisationalen Veränderungen der Organisationen näher betrachten zu können. Allerdings ist die erfolgreiche Bearbeitung dieser Thematik durch die Entwicklung pragmatischer Lösungsansätze auf handlungspraktischer Ebene allein 1
Diese Problematik stellt einen Schwerpunkt der aktuellen De-Institutionalisierungsdebatte innerhalb der Sonderpädagogik dar und wird in diesem Rahmen umfangreich belegt und begründet.
2.1 Vorbemerkung
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nicht zu gewährleisten, sie erfordert die zusätzliche Einbeziehung wissenschaftlicher Theorieansätze unterschiedlicher Fachdisziplinen. Im Rahmen vorliegender Ausführungen werden der gesellschaftliche Wandel, die Legitimationskrise der Wohneinrichtungen und die Möglichkeiten ihrer Überwindung aus einem bestimmten Erkenntnisinteresse heraus untersucht: Es geht vor allem um die Auswirkungen der sich verändernden nachmodernen gesellschaftlichen Bedingungen auf die Lebenslagen erwachsener Menschen mit geistiger Behinderung, ihre daraus resultierenden neuen, veränderten Hilfebedarfe und die gewandelte Funktion der Wohneinrichtungen als „EnablingRäume“ für eine gelingende Identitätsentwicklung ihrer BewohnerInnen. Deshalb wird eine konsequent sonderpädagogische Perspektive eingenommen, die allerdings nicht nur auf die entsprechenden sonderpädagogischen Ansätze zurückgreift, sondern auch das Bildungsverständnis einer Pädagogik der Anerkennung mit den entsprechenden bildungstheoretischen Folgerungen integriert. Um dem genannten Erkenntnisinteresse gerecht werden zu können, ist weiterhin die Öffnung dieser sonderpädagogischen Perspektive für soziologische1 und organisationstheoretische2 Ansätze von grundlegender Bedeutung. Im Kap. 2 erfolgt zunächst eine kurze Einführung in neo-institutionalistische Theoriekonzeptionen als Grundlage für ein tieferes Verständnis und eine differenzierte Bewertung der aktuellen De-Institutionalisierungsdebatte der Sonderpädagogik. Diese steht anschließend im Mittelpunkt der Betrachtungen. Dabei sollen zwei Diskurse unterschieden werden: Im Diskurs I geht es um die Kritik an der Funktion und den Strukturen der Wohneinrichtungen, um die durch sie erbrachten Leistungen sowie ihre in sich widersprüchlichen Effekte auf Lebensqualität, Entfaltungsmöglichkeiten und die Erschließung von Selbstbestimmungs- und TeilhabePotenzialen ihrer BewohnerInnen. Der Diskurs II setzt sich dagegen mit den aktuellen Leitkonzeptionen der Sonderpädagogik auseinander, die für die pädagogische Arbeit der Wohneinrichtungen eine grundlegende Funktion wahrnehmen: Als programmatische Leitsätze sollen sie Übereinstimmung mit den modernen, wissenschaftlich fundierten Standards der Profession signalisieren, um damit Legitimation zu sichern bzw. zurückzugewinnen. Als zentrale Bestandteile der
1 2
Zur Beschreibung und Analyse des gesellschaftlichen Wandels können geeignete soziologische Deutungstheorien herangezogen werden (vgl. die ausführliche Darstellung dazu im Abschn. 3.2). Der Rückgriff auf neo-institutionalistische Ansätze ermöglicht das Verständnis der Persistenz und des Wandels der Wohneinrichtungen und gestattet – in Verbindung mit ausgewählten konzeptionellen Bausteinen des institutionellen Lernens – die Entwicklung eines theoretischen Modells als Grundlage ihrer Umgestaltung (vgl. die differenzierten Darstellungen in den Abschn. 2.2 und 4.2).
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
Konzeptionen haben sie orientierende und – idealerweise – handlungsleitende Funktion für die pädagogische Arbeit1. Die Leitkonzeptionen spiegeln allerdings nicht nur den aktuellen Stand wissenschaftlicher sonderpädagogischer Erkenntnis wider, aus neo-institutionalistischer Sicht wurden sie durch Institutionalisierungsprozesse längst selbst zu „Institutionen“. Als solche sind sie in Bezug auf ihre Entstehung, Herausbildung und ihre Wirkungen in den gesellschaftlichen Kontext eingebunden, d. h. sie sind Ausdruck bestimmter sozialpolitischer Vorgaben und gesellschaftlicher Wertevorstellungen. Beide Diskurse der De-Institutionalisierungsdebatte verdeutlichen die Legitimationskrise, in der sich die Organisationen des Wohnens für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung derzeit befinden: Einerseits haben sie als Organisationen bisher die erforderlichen grundlegenden strukturellen und funktionalen Anpassungsleistungen an die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht erbracht2; andererseits stoßen die handlungsleitenden Prinzipien ihrer pädagogischen Arbeit, also die institutionalisierten sonderpädagogischen Leitvorstellungen, zunehmend auf eine veränderte gesellschaftliche Realität, der sie in ihrer herkömmlichen Form immer weniger gerecht werden können. Beide Diskurse sind in einem wechselwirkenden Zusammenhang zu sehen und verdeutlichen, dass die Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung nicht mehr in der Lage sind, ihren BewohnerInnen die von ihnen benötigten Leistungsangebote in einem entwicklungsförderlichen, ermöglichenden Setting zur Verfügung zu stellen. Deshalb müssen diese beiden Aspekte der Legitimationskrise bearbeitet werden – als zentrale Schwerpunkte einer Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen, wie im Kap. 4 zu zeigen sein wird. 2.2 Neo-institutionalistische Ansätze Voraussetzung für die erfolgreiche Bewältigung der Legitimationskrise der Wohneinrichtungen ist eine funktionale und strukturelle Umgestaltung dieser Organisationen, verbunden mit einer grundlegenden Veränderung der Ausrichtung ihrer fachlich-inhaltlichen Arbeit. 1 2
Für FORNEFELD sind sie „[…] übergeordnete Zielvorgaben des pädagogischen Handelns.“ (FORNEFELD, 2008, S. 109). Damit sollen die zweifellos stattfindenden Veränderungen innerhalb dieser Organisationen nicht in Abrede gestellt werden. Allerdings werden sie als nicht ausreichend und vor allem als lediglich einseitig eingeschätzt.
2.2 Neo-institutionalistische Ansätze
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Dies erforderte zunächst eine theoretisch fundierte Analyse ihrer aktuellen Situation, um die Herausbildung der Legitimationskrise der Wohneinrichtungen verstehen und Ansätze zu ihrer Überwindung entwickeln zu können. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Organisationen des Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung einer Vielzahl externer Einflussfaktoren unterliegen. Deshalb kann die erforderliche theoretische Handlungsorientierung nur aus organisationstheoretischen Ansätzen gewonnen werden, die in der Lage sind, sowohl die Wechselwirkungen zwischen den Organisationen und ihren sich wandelnden Rahmenbedingungen differenziert zu erfassen, als auch Antworten auf Fragestellungen interner Steuerung und Veränderungen der Strukturen und Prozesse durch die internen Akteure der Organisationen zu geben. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Prägung, Beeinflussung und Veränderung ihrer Präferenzen durch die Wohneinrichtungen und die gesellschaftliche Umwelt zu1. Auf diese Weise lässt sich ein theoretisches Modell entwickeln, mit dessen Hilfe die Herausbildung der Legitimationskrise der Wohneinrichtungen erklärt und Ansätze zu ihrer Überwindung konzeptualisiert werden können. NEUMANN analysiert in seiner Dissertation das Anpassungsverhalten von Organisationen des Gesundheitswesens und der sozialen Dienste in der freien Wohlfahrtspflege an die sich wandelnden Kontextbedingungen und gibt dabei einen Überblick über die „Dritte-Sektor-Forschung“ im Rahmen der Soziologie, der Politikwissenschaften und der Wirtschaftswissenschaften2. Die Ergebnisse seiner Betrachtungen sollen in die weiteren Überlegungen einbezogen werden. Er greift auf neo-institutionalistische Theorieansätze zurück, die sich für die theoretische Fundierung einer Analyse der aktuellen Situation der Wohneinrichtungen anbieten3.
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Die erforderlichen strukturellen und funktionalen Anpassungen werden sich als Prozesse im Spannungsfeld der durch die Umwelt extern induzierten Veränderungen und den auf subjektiven Interpretationen, Traditionen, impliziten Theorien und Überzeugungen basierenden Umgestaltungsmaßnahmen der „Akteure“ innerhalb der Organisationen entfalten. Die Übereinstimmung zwischen diesen beiden „Faktoren“ des Wandels der Organisationen entscheidet letztlich darüber, ob die strukturellen Anpassungen scheitern oder erfolgreich sind und damit die Legitimationskrise überwunden wird (vgl. dazu auch die Ausführungen NEUMANNS (2005), S. 13). Vgl. NEUMANN (2005). SENGE & HELLMANN bezeichnen den Neo-Institutionalismus „[…] als den derzeit wohl bedeutendsten Ansatz innerhalb der Organisationswissenschaften […].“ (SENGE & HELLMANN, 2006, S. 7). Mit leicht unterschiedlichen Facetten, so SENGE & HELLMANN, finde dieser Ansatz Anwendung vor allem in der Organisationssoziologie, der Organisationswissenschaft und der Ökonomie (vgl. ebd., S. 8.). Allerdings würde es den Rahmen dieser Arbeit sprengen, auf die unterschiedlichsten Strömungen einzugehen, die dem Neo-Institutionalismus zuzuordnen sind.
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
Ihre Stärken bestehen in der
besonderen Bezugnahme auf die Wechselwirkungen zwischen Organisationen und ihrer Umwelt einschließlich einer Analyse der Einflussnahme der Kontextfaktoren auf Strukturen und Prozesse der Organisation (makrosoziologische Perspektive) und in der Einbeziehung der subjektiven Interpretationen der Akteure, die die internen Entscheidungen innerhalb der Organisationen treffen und umsetzen (mikrosoziologische Perspektive)1.
Veränderungen in der gesellschaftlichen Umwelt bewirken im Verständnis neoinstitutionalistischer Ansätze einen Wandel der Organisationen, der allerdings durch die aktive Rolle, die Akteure innerhalb der Organisationen dabei spielen, entscheidend geprägt wird2. Organisationen würden dabei als Teile der Gesellschaft interpretiert, so NEUMANN, die zu ihrer Überlebenssicherung in ihren Strukturen und Verfahrensweisen bestimmte Normen, Werte und Regeln von ihrer Umwelt übernähmen. Dies geschehe in der Erwartung, dass die konforme Verhaltensweise zu einem Legitimitätszuspruch für ihre Existenz führe3. Mit Hilfe makrosoziologischer neo-institutionalistischer Ansätze ließen sich auch Legitimitätsrisiken identifizieren, wenn es zu Inkonsistenzen zwischen den Erwartungen der Anspruchsgruppen und den Kalkülen der Organisation käme, so NEUMANN weiter4. Neo-institutionalistische mikrosoziologische Ansätze beschäftigen sich dagegen mit den kognitiven Prozessen der Akteure, die im Rahmen von Umwelt-
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Zu diesen Stärken des Neo-Institutionalismus rechnen SENGE & HELLMANN die Berücksichtigung der Bedeutung des gesellschaftlichen Umfeldes, der institutionellen Gebundenheit organisationalen Handelns und des Einflusses von Kultur und Werten auf Organisationen: Im Kern gehe es im Neo-Institutionalismus, so SENGE & HELLMANN, um die institutionelle, multikausale und multikontextuelle Einbettung von Organisationen in die Gesellschaft (vgl. SENGE & HELLMANN, 2006, S. 8). Vgl. NEUMANN, (2005), S. 14, 15. Er weist darauf hin, „[…] dass für tiefergehende und umfassendere Analysen organisationaler Veränderungen beide Perspektiven zu berücksichtigen sind.“ (ebd., S. 67). Die Integration beider Perspektiven, so NEUMANN, fasse gleichzeitig die Kernaussagen und -elemente des neo-institutionalistischen Ansatzes zusammen und zeige bestehende Zusammenhänge auf (vgl. ebd.). Vgl. ebd., S. 14 unter Bezug auf SCOTT (1983) und SCOTT & MEYER (1983). Ein Zuspruch erfolge, so NEUMANN, wenn organisationale Ziele und Aktivitäten den von diesen externen oder internen Anspruchsgruppen vertretenen (anerkannten) Normen und Werten entsprächen (vgl. MEYER & ROWAN, 1977 und MEYER & SCOTT, 1983). Vgl. ebd., S. 15.
2.2 Neo-institutionalistische Ansätze
35
veränderungen durch die Einflussnahme sozialer Faktoren (wie z. B. Werte und Normen) ausgelöst werden1. Die Betrachtung von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung zeigt, dass diese als Dienstleistungsorganisationen in stark regulierten „sozialen“ Märkten agieren2. Darüber hinaus sind sie „[…] fest in bestehende gesellschaftliche Wertestrukturen eingebettet […]“3. Überlegungen zum notwendigen organisationalen Wandel der Wohneinrichtungen müssen einerseits diesen Kontextbezug als wichtige Einflussgröße aufgreifen, andererseits aber auch die inhärenten Sozial- und Wertestrukturen als normative „interne“ Legitimationsaspekte dieser Organisationen berücksichtigen. Um neue Strukturen und Verfahrensabläufe in dieser normativen Basis verankern zu können, ist eine Verknüpfung beider Einflussfaktoren notwendig. Folgt man der Argumentation NEUMANNS, so wird der „Anpassungsmechanismus“4 organisationaler Veränderungen in NPO wesentlich durch die Normen und Werte der Akteure bestimmt, die eine „reformfördernde oder reformbremsende Wirkung“5 entfalten können. Übertragen auf die Organisationen des Wohnens bedeutet dies, dass Erfolg oder Scheitern einer erfolgreichen Anpassung6 der Wohneinrichtungen an die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in hohem Maß vom Gelingen des Vermittlungsprozesses zwischen externen Stimuli und den internen Entscheidungsgrundlagen abhängt7. Mit Hilfe neo-institutionalistischer Ansätze, die die makro- mit der mikrosoziologischen Perspektive verknüpfen, lassen sich derartige Anpassungsmechanismen als organisationale Reaktionen auf Kontextveränderungen näher untersuchen.
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Vgl. NEUMANN (2005), S. 15. Dazu schreibt NEUMANN: „Die Betrachtung der kognitiven Dimension ist von besonderer Bedeutung, da es hier zu einem Vermittlungsprozess zwischen externen Stimuli, Interpretationen und Anpassungsentscheidungen kommt.“ (ebd.). Vgl. ebd., S. 64. Ebd. Ebd. Ebd., S. 65 unter Bezug auf NÄHRLICH & ZIMMER (1997), S. 254. Scheiternde Anpassungen würden, so NEUMANN, mit mangelnder Kompatibilität (zwischen Umwelt und der internen normativen Basis, Anm. A. B.) begründet. Der Anpassungsmechanismus stelle sich, so NEUMANN weiter, somit als zentrale Größe für das Verständnis der organisationalen Reaktionen auf veränderte Rahmenbedingungen dar. Der Begriff der „Anpassung“ wird weiter unten näher bestimmt. Vgl. S. 64, 65. Nach NEUMANN könnte ein Scheitern der Anpassung in der mangelnden Kompatibilität beider Einflussgrößen begründet sein – die Organisation müsste dann ihre Werte überdenken bzw. sogar neu formulieren (vgl. ebd., S. 65 unter Bezug auf OTTE, 2002).
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
Aus den genannten Gründen werden neo-institutionalistische Konzeptionen1 im Rahmen der Arbeit zur organisationstheoretischen Fundierung der Analyse der Situation der Wohneinrichtungen herangezogen, um daraus anschließend Zielstellungen zur Umgestaltung der Wohneinrichtungen ableiten zu können. Bei diesen Betrachtungen sollten allerdings immer auch die Defizite und Grenzen dieser Ansätze im Blick behalten werden. WALGENBACH verweist in diesem Zusammenhang darauf,
dass neo-institutionalistische Ansätze derzeit noch keine in sich geschlossene Theorie bildeten, dass das ihnen zugrunde liegende Konzept der Institutionalisierung nicht durchgängig und konsequent beibehalten würde und dass zu wenig Aufmerksamkeit dem aktiven strategischen Verhalten von Organisationen gewidmet werde2.
Als nicht unproblematisch bei ihrer Nutzung erweist sich im Rahmen neo-institutionalistischer Ansätze weiterhin
die teilweise Vernachlässigung intentionaler und strategischer Handlungen der Akteure, die Ausblendung des Einflusses individueller und kollektiver Interessen, die mangelhafte Erklärung des Wandels institutionalisierter Regeln und insbesondere die weitestgehende Ausblendung des Phänomens Macht3.
Beim Rückgriff auf neo-institutionalistische Ansätze sind diese Grenzen zu beachten. Ihre Stärken kommen vor allem im Rahmen der theoretischen Analyse der Wechselwirkungen dieser Organisationen mit ihrer Umwelt zur Geltung. Das Gleiche gilt für den grundsätzlichen Nachweis der Möglichkeiten ihres organisationalen Wandels und das Entwickeln von Verfahren zu ihrer Umgestaltung im Allgemeinen. Anders stellt sich dies dar, wenn es darum geht, die Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen mittels der Konzeptionierung konkreter Maßnahmen theo1 2 3
Dabei wird auf Ansätze des soziologischen Neo-Institutionalismus zurückgegriffen. Vgl. WALGENBACH (2002), S. 347, 348. Reaktionen wie Widerstand, aktives Intervenieren oder politisch motiviertes Manipulieren würden nicht thematisiert, so WALGENBACH, Organisationen blieben in (neo-) institutionalistischen Ansätzen passiv (vgl. ebd.). Die Problematisierung des Phänomens „Macht“ spielt eine wichtige Rolle im Rahmen der DeInstitutionalisierungsdebatte (vgl. Abschn. 3.2). Bei der Umgestaltung der Wohneinrichtungen ist der Auseinandersetzung mit der Ausübung von Macht – in struktureller und interaktiver Form – besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Dies bildet einen wesentlichen Aspekt bei der Schaffung von Anerkennungsverhältnissen innerhalb von Wohneinrichtungen (vgl. Abschn. 4.1).
2.2 Neo-institutionalistische Ansätze
37
retisch zu fundieren. Dabei spielen die Intentionen, Interessen und Strategien der Akteure, unterschiedliche Fragen und Probleme im Zusammenhang mit der Ausübung von Macht sowie bezüglich des Umgangs mit der strukturellen Asymmetrie sozialer Bezüge innerhalb der Wohneinrichtungen eine wichtige Rolle und erfordern eine Ergänzung der einseitigen Ausrichtung neo-institutionalistischer Ansätze durch Einbeziehung geeigneter anderer organisationstheoretischer Konzeptionen, beispielsweise emanzipatorischer Ansätze1. Ehe nun mit einer kurzen Einführung in die für die Bearbeitung der Thematik relevanten Aussagen dieser Ansätze zu den Wechselwirkungen zwischen Organisationen und ihrer Umwelt begonnen wird, sollen zunächst die Inhalte der im weiteren Verlauf genutzten grundlegenden Begriffe „Anpassung“, „Organisation“, „Institutionalisierung“ und „Institution“ näher bestimmt werden. Mit „Anpassung“ werden die Strategien der Organisation beschrieben, die sie entwickelt, um den Fortbestand ihrer Existenz angesichts einer sich verändernden Umwelt zu sichern. Dabei handelt es sich zunächst um eine positive organisationale Reaktion, die inhaltlich ganz unterschiedlich ausgerichtet sein kann, z. B.
affirmativ im Sinne einer Bestätigung und positiven Beantwortung der Umweltanforderungen oder verweigernd als differenzierte Ablehnung einzelner Aspekte dieser Erwartungen oder umweltverändernd in Form der Entwicklung von Strategien zur aktiven Einflussnahme auf bestimmte Kontextfaktoren.
Bestimmend für das Anpassungsverhalten ist, wie oben bereits erläutert, der Vermittlungsprozess zwischen den Anforderungen der sich wandelnden Umwelt und der internen normativen Basis, die die Entscheidungsgrundlage für das Handeln der Akteure bildet. In Bezug auf Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung – bei denen es sich um Organisationen handelt – wird im weiteren Verlauf im Zusammenhang mit der Legitimationsproblematik gezeigt, dass diese Organisationen ein Anpassungsverhalten entwickeln müssen, das jeden dieser drei Aspekte umfasst, um aus der gegenwärtigen Krise herauszufinden und – nach erfolgreicher Umgestaltung – ihre Legitimation zurückzugewinnen und fortbestehen zu können. Die völlige Umgestaltung der Wohneinrichtungen durch eine grundlegende Re-Institutionalisierung kann in diesem Sinne als Prozess der Anpassung dieser Organisationen an ihre sich verändernde Umwelt verstanden werden. 1
Vgl. z. B. den Ansatz einer „Organisationspädagogik“ von GEISSLER (2000).
38
2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
Eine inhaltliche Bestimmung des Begriffs der Organisation selbst erweist sich – im Unterschied zur Beschreibung ihres Verhaltens – als schwieriger, da es keine einheitliche, wissenschaftlich fundierte Theorie der Organisation gibt, sondern im Gegenteil eine Vielzahl miteinander konkurrierender organisationstheoretischer Ansätze1. In Anlehnung an SCOTT werden im weiteren Verlauf der Ausführungen Organisationen als soziale Strukturen begriffen, die von Einzelnen in der Absicht geschaffen wurden, gemeinsam mit Anderen bestimmte Ziele zu verfolgen2. Zur Präzisierung dieses Organisationsbegriffs sollen unter Rückgriff auf GEISSLER3 zusätzlich folgende Kriterien eingeführt werden:
eine klare Grenzziehung, die trotz (enger) Wechselwirkungen mit der Umwelt die Innen- und Außenbeziehungen der Organisation unterscheidbar macht4, Aktivitäten des Arbeitens und Kooperierens als Aktivität der wechselseitigen Abstimmung individuellen Arbeitens und die „konstitutiven“ Komponenten „übergreifende Werte und Ideale“, „machtgestützte Ordnung“, „marktmäßiger Tausch“, „auf Überlegenheit zielender Kampf“, „sozial-emotionale Bindungen“, „ästhetisches Erleben“ und „die gemeinsame Suche nach neuen Erkenntnissen“5.
Während das Bemühen einer Organisation, Mittel und Verfahren zu finden, um bestimmte Ziele zu erreichen, als Zweckrationalität bezeichnet werden kann, ist die Begründung der Zielsetzungen der Organisation nur durch Wertrationalität möglich6. Organisationen sind einerseits durch formale Strukturen gekennzeichnet, die eine zielgerichtete Koordination ihrer Aktivitäten ermöglichen sollen7, andererseits durch Regeln, Verfahrensweisen und Ziele, die nicht durch diese Strukturen abgebildet werden, sondern die Kultur der Organisation bestimmen. 1
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7
Im Rahmen neo-institutionalistischer Ansätze steht nicht die Organisation als autonome Einheit mit ihren internen Strukturen und Prozessen im Zentrum der Beobachtung, sondern das Verhältnis von Organisation und institutionellen Umwelten. Allerdings differieren die Konzeptionalisierungen dieser Umwelten, so dass es auch unterschiedliche Organisationsbegriffe gibt: MENSE-PETERMANN unterscheidet z. B. drei verschiedene Organisationsbegriffe (vgl. MENSEPETERMANN, 2006, S. 64, 65). Vgl. SCOTT (1986), S. 31. Vgl. GEISSLER (2000). Das bedeutet allerdings nicht, dass Organisationen als „autarke“ Einheiten zu betrachten sind. Vgl. GEISSLER (2000), S. 18 ff. Die o. g. konstitutiven Merkmale einer Organisation ordnet GEISSLER nun ihren Rationalitätsformen wie folgt zu: Zweckrationalität: Organisationale Komponenten der Arbeit, der Ordnung, des Tausches und des Kampfes Wertrationalität: Übergeordnete Werte und Normen, zwischenmenschliche Sympathie und Fürsorglichkeit, ästhetisches Erleben und Kritik (vgl. ebd., S. 24 ff.). Dazu gehören z. B. der formale Aufbau der Organisation, formale Gremienstrukturen, Kompetenz- und Stellenbeschreibungen, die Ablauforganisation u. a. m.
2.2 Neo-institutionalistische Ansätze
39
Die Begriffe „Institutionalisierung“ und „Institution“ unterscheiden sich zwar vom Organisationsbegriff, stehen aber in engem Zusammenhang zu ihm. Der Prozess der Institutionalisierung könne, so NEUMANN, im Rahmen neoinstitutionalistischer Ansätze als kognitiver Prozess verstanden werden, in dessen Verlauf langfristig die Handlungen und das Verhalten der Akteure festgeschrieben würden, in dem sich Elemente, wie z. B. Verfahrensweisen, zu Institutionen entwickelten und nicht mehr hinterfragte Regeln darstellten. Vorliegende Muster würden demnach verbindlich und zu „ungeschriebenen“ (teilweise aber auch zu schriftlich fixierten) Gesetzen1. Im Unterschied zu Organisationen handelt es sich aus neo-institutionalistischer Sicht bei Institutionen um „[…] soziale Regeln, die das organisationale Geschehen in zeitlicher Perspektive dauerhaft […], in sozialer Hinsicht verbindlich […] und in sachlicher Hinsicht maßgeblich […] beeinflussen.“2
In der Logik des Neo-Institutionalismus werde die Gesellschaft als ein Gefüge von Institutionen begriffen, so SENGE & HELLMANN, die dauerhaft, verbindlich und maßgeblich das organisationale Handeln bestimmten3. Deshalb, so SENGE & HELLMANN weiter, bestimmten der gesellschaftliche Kontext und somit letztlich Institutionen in erheblichem Maße das Handeln der Organisationen4. Einen vergleichbaren Zusammenhang zwischen Institution und Organisation stellt z. B. SCHÄFFTER auf der Grundlage seines institutionalistischen Ansatzes mit folgendem „Definitionsvorschlag“ her: „Institution bezieht sich auf einen gesellschaftlich verfestigten, handlungsleitenden Sinn- und Deutungszusammenhang, der mögliche Spielarten von Organisationen übergreift. Institutionelle Strukturen liegen damit auf einer höheren Ebene als Organisationsstrukturen: sie konstituieren verfestigte Erwartungsstrukturen zwischen Organisationen, aber auch zwischen Handlungskontexten innerhalb von Organisationen.
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Vgl. NEUMANN (2005), S. 78, 79. Dabei würden neu entwickelte Verfahrensweisen oder Innovationen im Rahmen der Institutionalisierung zunächst systematisiert, organisational integriert und schließlich über die Zeit stabilisiert (vgl. ebd., S. 79 unter Bezug auf ROWAN, 1982). SENGE & HELLMANN (2006), S. 17. NEUMANN versteht unter Institutionen (unter Bezug auf SCOTT, 2001) als „[…] soziale, konstruierte Systeme, die einen partikularen, routine-reproduzierenden Prozess aufweisen.“ (NEUMANN, 2005, S. 78). Institutionen seien, so NEUMANN, demnach Systeme, die symbolische Elemente, kognitive Konstruktionen oder normative Regeln beinhalteten und durch regulativen Druck soziales Verhalten beeinflussten (vgl. ebd.). Vgl. SENGE & HELLMANN (2006), S. 17. Vgl. ebd., S. 18. Als Beispiele für Institutionen nennen SENGE & HELLMANN z. B. den Staat, die Professionen, allgemeine Werte und Normen, aber auch die „[…] alltäglichen, oftmals unbewußten Handlungsroutinen.“ (ebd.).
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
Institution ersetzt somit nicht den Organisationsbegriff, sondern »hebt die Bedeutung über die Organisation hinausweisender legitimatorischer und symbolischer Dimensionen in besonderer Weise hervor«.“1 (Hervorhebungen im Original, A. B.).
Im Abschn. 4.2 werden die beiden Begriffe Institution und Organisation unter Berücksichtigung der Überlegungen CSIGÓS2 weiter vertieft3. Ausgehend von den vorgenommenen Begriffsbestimmungen können nun die Wechselwirkungen zwischen Organisationen als Teil der Gesellschaft und ihrer Umwelt näher betrachtet werden. Neo-institutionalistische Ansätze gehen davon aus, dass die Gesellschaft mit ihren Erwartungen und Vorstellungen die für eine Organisation charakteristischen Strukturen, Verfahren und Merkmale entscheidend prägt und bestimmt. Dabei werden Organisationen mit zwei unterschiedlichen „Arten“ von Kontexten4 konfrontiert, die eine Art „dualer“ Umweltstruktur5,6 bilden: 1. 2.
mit „technischen“ Umwelten, die den Tausch von Produkten und Diensten am Markt abbilden und ein marktgerechtes Verhalten der Organisation durch effektive und effiziente Steuerung zur Überlebenssicherung erfordern und mit „institutionellen“ Umwelten, die der Organisation Unterstützung gewähren und Legitimität zusprechen, wenn sie durch die Übernahme von Normen, Werten und Regeln aus diesen Umwelten Konformität beweisen.
Diese beiden Kontexte wirken jeweils unterschiedlich auf Organisationen ein. Im Falle der technischen Umwelten erfolgt die Einflussnahme vorwiegend über eine Ergebniskontrolle, die die Entwicklung von Strukturen zur Verbesserung der internen Koordination und der Effektivität der Leistungserbringung anregt7. Dagegen steuern institutionelle Umwelten Organisationen über Prozesskontrolle bzw. – so WALGENBACH – über eine Kontrolle der „Adoption“ institutionalisierter Strukturelemente, denn durch die
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SCHÄFFTER (2001), S. 40 unter Bezug auf HASSE & KRÜCKEN 1996. Vgl. CSIGÓ (2006). Für CSIGÓ stellen sich Organisationen allerdings, so viel soll vorweggenommen werden, als eine „spezifische institutionelle Form“ (CSIGÓ, 2006, S. 72) dar – sie betrachtet Organisationen als einen bestimmten Typus von Institution (vgl. ebd., S. 73). Diese Unterscheidung dient analytischen Zwecken; die Umwelten der Organisation weisen sowohl eine technische als auch eine institutionelle Dimension auf, deren Ausprägung abhängig von der Art der jeweiligen Organisation allerdings variieren kann, vgl. WALGENBACH (2002), S. 328. Vgl. NEUMANN (2005), S. 70, 71. Vgl. WALGENBACH (2002), S. 326. Ebd.
2.2 Neo-institutionalistische Ansätze
41
„[…] Adoption formaler Strukturen, die den vorherrschenden Vorstellungen von Rationalität entsprechen, erreichen Organisationen Legitimität und Stabilität und erhöhen so den Ressourcenzufluss“1.
Der Erfolg und der Fortbestand der Organisation hängen stark vom gesellschaftlichen Vertrauen in ihren Sinn und ihre Zweckmäßigkeit ab. Dies wird durch die Adoption institutionalisierter Regeln erreicht. Bei einer näheren Betrachtung der institutionellen Umwelten lässt sich eine weitere Differenzierung in einen institutionell-regulativen und einen institutionell-normativen Bereich vornehmen2: Organisationen sind in die rechtlichen Strukturen ihrer Umgebung eingebettet, die sie begrenzen und an denen sie ihre Handlungsspielräume ausrichten müssen. Aber auch der normativ-kulturelle Bereich der Umwelt ist von hoher Relevanz für die Legitimation der Organisation und wirkt sich deshalb nachhaltig auf ihre Strukturen und Verfahrensweisen aus. Um Erfolg zu haben und ihren Fortbestand zu sichern, stehen Organisationen damit vor der Aufgabe, gleichzeitig ganz unterschiedlichen, oftmals miteinander konfligierenden Umweltanforderungen gerecht werden zu müssen. Sie müssen sowohl den Effizienzanforderungen der technischen Umwelten genügen, als auch immer wieder die Anerkennung ihrer institutionellen Umwelten in den beiden o. g. Dimensionen gewinnen3. Die konfligierenden Anforderungen an die Organisationen können zu Inkonsistenzen führen, insbesondere dann, wenn – wie oben bereits erwähnt – die externen Erwartungen mit den internen Normen und Werten inkompatibel sind. In solchen Fällen kann es zu Existenzgefährdungen der Organisation kommen: Bei Missachtung von Effizienzkriterien besteht die Gefahr ökonomischer Engpässe, bei Verstößen gegen geltende Normen und Regeln kann die Umwelt Organisationen durch Entzug des Legitimitätszuspruchs sanktionieren4. Genau in diesem Spannungsfeld – das veranschaulicht die aktuelle De-Institutionalisierungsdebatte der Sonderpädagogik auf anschauliche Weise – befinden sich derzeit die Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung.
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WALGENBACH in KIESER (2002), S. 326. Vgl. NEUMANN (2005), S. 75. WALGENBACH merkt dazu an: „Technische Umwelten betonen eine Rationalität, die Vorschriften umfasst, die Mittel und Zwecke in einer Form in Übereinstimmung bringt, die in effizienter Weise vorhersagbare Ergebnisse produziert. Institutionelle Umwelten betonen einen anderen Aspekt von Rationalität: anderen Akteuren Gründe liefern, die Handlungen, Strukturen oder auch Konzepte verständlich und akzeptabel erscheinen lassen.“ (WALGENBACH, 2002, S. 327). Vgl. NEUMANN (2005), S. 133.
42
2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
Die grundlegende Kritik an den Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung, die für diesen Diskurs kennzeichnend ist, muss aus neo-institutionalistischer Perspektive als gesellschaftlicher Legitimationsverlust der Organisationen des Wohnens verstanden werden. Das bedeutet, dass sie die Anerkennung ihrer institutionellen Umwelten in der institutionell-normativen Dimension eingebüßt und damit ihre gesellschaftliche Legitimation verloren haben. Damit soll diese kurze Einführung in neo-institutionalistische Ansätze zunächst abgeschlossen und im Abschn. 4.2 erneut aufgegriffen und vertieft werden. Die dargestellten Aspekte bilden die theoretische Grundlage für die weiteren Betrachtungen, so dass die Aufmerksamkeit nun auf die beiden Diskurse der De-Institutionalisierungsdebatte gerichtet werden kann. 2.3 Diskurs I: Der gesellschaftliche Legitimationsverlust der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung 2.3 Diskurs I 2.3.1 Problemanalysen der aktuellen De-Institutionalisierungsdebatte der Sonderpädagogik Mit der Veröffentlichung der Ergebnisse seiner Untersuchungen in psychiatrischen Großeinrichtungen der USA Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts eröffnete ERVING GOFFMAN einen Diskurs, der als De-Institutionalisierungsdebatte bezeichnet werden kann1. In den folgenden Jahrzehnten blieb diese De-Institutionalisierungsdebatte nicht auf den Bereich der Psychiatrie beschränkt, sie wurde auch innerhalb der Jugendhilfe geführt, später erfolgte durch die Leitkonzeption der Integration eine Ausweitung auf Einrichtungen der schulischen und vorschulischen Bildung2. Seit Mitte der 1980er Jahre wurde auch innerhalb der Behindertenhilfe eine De-Institutionalisierungsdebatte aufgenommen, in deren Mittelpunkt die Sondereinrichtungen des Hilfesystems für die Bereiche des Wohnens, der Arbeit und der Bildung stehen3.
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Die deutsche Übersetzung erfolgte 1973 unter dem Titel „Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen.“ (GOFFMAN, 1973). Eine gewisse Sonderrolle nimmt in diesem Zusammenhang IVAN ILLICHS Werk „Die Entschulung der Gesellschaft“ ein, das erstmals 1984 ins Deutsche übersetzt wurde (vgl. ILLICH, 2003). Vgl. dazu z. B. die kritischen Infragestellungen der Institutionen der Behindertenhilfe durch KLEE (1987).
2.3 Diskurs I
43
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sollen die Ausführungen ausschließlich auf Diskurse über Wohneinrichtungen beschränkt werden, wobei es vorrangig um Wohnstätten mit vollstationären Wohnangeboten geht. Als denkwürdiger Höhepunkt im Verlauf der De-Institutionalisierungsdebatte kann ein eindrucksvoller Vorstoß der Kritiker der Institutionen gelten, bei dem diese vor fast 10 Jahren ihre Positionen besonders öffentlichkeitswirksam formulierten: An die Fraktionen des Deutschen Bundestages erging im Juni 2001 ein Aufruf, in dem die Forschungsarbeitsgemeinschaft „Menschen im Heim“ der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld1 die Einsetzung einer Kommission zur „Enquête der Heime“ forderte2. Das „heutige Anstalts- und Heimsystem“3 (der Altenhilfe, der Behindertenhilfe und der Sozialpsychiatrie) wurde einer generalisierten Kritik unterzogen, wobei sich die massiv vorgetragenen Angriffe besonders gegen die folgenden Auswirkungen stationärer Unterbringung in Heimen richteten: 1. 2. 3. 4.
die Schaffung „extremer Abhängigkeitsverhältnisse“, die „keine Alternativen zulassen und die Anpassung der HeimbewohnerInnen erzwingen“, die „Unvereinbarkeit“ der Heimsituation mit den Persönlichkeitsrechten (insbesondere der Individualisierung und Selbstbestimmung) der hilfebedürftigen HeimbewohnerInnen, die zukünftig weiter expandierenden Kosten vollstationärer Leistungen bei demographisch bedingtem Anstieg der Zahl der Hilfebedürftigen und die Verzögerung des Ausbaus ambulanter Angebote4.
Zusammenfassend wurde gefolgert, dass die Umsetzung der Persönlichkeitsrechte der BewohnerInnen in Heimen 1
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4
Mitunterzeichner waren eine Vielzahl prominenter Vertreter der Alten- und Behindertenhilfe, insbesondere auch aus dem akademischen Bereich. Dazu gehörte auch KLAUS DÖRNER, der wohl als der prominenteste Kritiker stationärer Wohneinrichtungen gelten kann (vgl. auch DÖRNER, 1991; 1996; 2001 und DÖRNER & BÖKER, 1996, DÖRNER & SNETHLAGE, 1997). Vgl. FORSCHUNGSARBEITSGEMEINSCHAFT „MENSCHEN IN HEIMEN“; Universität Bielefeld (2001). Aus Sicht der Autoren könne die Institution Heim, die als Versorgungstyp eine Innovation vor allem des 19. Jahrhunderts sei, den Ansprüchen der Individualisierung und der expandierenden Persönlichkeitsrechte der post- oder nachmodernen Menschen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht werden. Die „fortlaufenden und strukturellen Veränderungen in den Heimen“ (ebd., S. 5), so die Autoren, habe nicht zu wirklichen Verbesserungen geführt, eher im Gegenteil. Die bestehenden Gesetze würden weder dem in Folge des gesellschaftlichen Prozesses der zunehmenden Individualisierung schnell wachsenden Anspruchsbereich der Persönlichkeitsrechte noch den „unveränderlichen Bedingungen“ (ebd., S. 5) des Institutionstyps Heim gerecht (vgl. ebd. S. 5). Vgl. ebd., S. 1.
44
2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
„>...@ inzwischen mit der Institution Heim selbst (auch bei optimaler Ausstattung) unvereinbar geworden sind, das Heim insofern unkontrollierbar und somit unverantwortbar geworden ist.“1
Die Heime entsprächen im 21. Jahrhundert „>...@ weder in verfassungsrechtlicher noch in moralisch-politischer noch in ökonomischer Perspektive den selbstverständlichen Gegebenheiten heutiger Lebenswelten, schon gar nicht dem Anspruch eines möglichst selbstbestimmten Lebens.“2
Deshalb sei das derzeitige „Sorgesystem“ zur „community care“ umzubauen und die „De-Institutionalisierung des Heimsystems“ voranzutreiben. Dabei meint „De-Institutionalisierung“ im Verständnis der Bielefelder Forschungsgruppe die völlige Auflösung der Heime und an deren Stelle die Entwicklung „ambulantkommunaler Hilfs-Mix-Alternativen“3. Interessanterweise formulierte die Bielefelder Forschungsarbeitsgemeinschaft in den Punkten 1. und 2. ihrer Ausführungen Positionen, die bereits durch GOFFMAN4 sehr differenziert dargestellt und begründet wurden. Seine Ergebnisse basierten auf soziologischen Feldforschungen in amerikanischen Groß-Psychiatrien mit bis zu 7000 Patienten, die er in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts – vorwiegend unter Rückgriff auf ethno-methodologische Verfahren unter Verzicht auf quantitative Methoden – selbst durchführte5. Er benennt deutlich die Grenzen und Beschränkungen seines „Untersuchungsdesigns“ und hebt hervor, welche Faktoren in die Erfassung und Bewertung seiner Untersuchergebnisse einflossen6. Bezogen auf die „Insassen“ der von ihm mit dem Begriff „totale Institution“ bezeichneten Einrichtungen kommt GOFFMAN im Wesentlichen zu folgenden Schlussfolgerungen7: 1 2 3 4 5 6
7
FORSCHUNGSARBEITSGEMEINSCHAFT „MENSCHEN IN HEIMEN“; Universität Bielefeld (2001), S. 8. Ebd., S. 11. Ebd., S. 11. Vgl. GOFFMAN (1973) und Abschn. 2.1. Im deutschsprachigen Raum veröffentlichten FENGLER & FENGLER 1980 vergleichbare Untersuchungen aus dem Bereich der Sozialpsychiatrie (vgl. FENGLER & FENGLER 1994) und KOCH-STRAUBE 1997 eine ethnologische Studie, die sie in einem Altenpflegheim durchführte. Er begründet z. B. seine voreingenommene Parteinahme für die Patienten, den Einfluss seines persönlichen Normen- und Wertesystems, die Auswirkungen der eigenen (Mittelschicht-) Sozialisation und beschreibt den Einfluss der „Subjektivität“ des Forschers bei dieser Art der „Feldarbeit“, den er für unausweichlich und durchaus nicht nachteilig hält, vgl. GOFFMAN (1973), S. 7 ff. Vgl. ebd., insbesondere Kap. 2 („Über die Merkmale totaler Institutionen“), S. 13-123.
2.3 Diskurs I
1.
2.
3.
4.
1 2 3 4 5 6 7
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Die Institutionen weisen einen „binären“ Charakter auf: Die Individuen innerhalb der Institutionen lassen sich generell in zwei Gruppen trennen, die sich gegenüberstehen. Dabei handelt es sich um die große, gemanagte, kontrollierte, disziplinierte, und überwachte Gruppe der „Insassen“ sowie um die zahlenmäßig geringere Gruppe des „Aufsichtpersonals“1. Während die Insassen von der Außenwelt relativ abgeschlossen in allen ihren Lebensvollzügen dem Einfluss der Institution ausgesetzt sind, arbeitet das Aufsichtspersonal im Rahmen eines Acht-Stundentages und ist in die Außenwelt integriert2. Zwischen beiden Gruppen gibt es ein unantastbares Hierarchieverhältnis, welches das Selbstverständnis, das Rollenverhalten, Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten und die Formen der Interaktionen zwischen den Individuen innerhalb und gruppenübergreifend entscheidend prägt. Die Situation der Gruppe der „Insassen“ ist gekennzeichnet durch die Erfahrung vielfältiger Demütigungsprozesse (Erniedrigungen, Degradierungen, Demütigungen und Entwürdigungen), die auf strukturelle und personale Fremdbestimmung und Gewalt innerhalb der Institution zurückzuführen sind3, die Beschränkungen des „Selbst“ und den Verlust wesentlicher Rollen (wesentlich durchaus auch für das eigene Selbstbild!) durch die Isolation von der Außenwelt4, die Bedrohung und Gefährdung des „Selbst“ durch den Verlust vielfältiger identitätsstiftender Faktoren (persönliches Eigentum, individueller täglicher Lebenszyklus, selbstgestaltbare Umgebung u. a.)5, den Verlust der Privat- und Intimsphäre6, erzwungene zwischenmenschlichen Kontakte und soziale Beziehungen7, den Verlust des zur Selbstbestimmung gehörenden Spielraums selbst gewählten Ausdrucksverhaltens (Ablehnung, Zuneigung oder Gleichgütigkeit), den Verlust bestimmter, für das Individuum wichtiger körperlicher Bequemlichkeiten und die Zerstörung des formalen Verhältnisses zwischen dem handelnden Individuum und seinen Handlungen. Vgl. GOFFMAN (1973), S. 18. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 25. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 31 ff. Vgl. ebd., S. 33. GOFFMAN erläutert dazu: „[...] die Grenze, die das Individuum zwischen sich und der Umwelt zieht, wird überschritten; die Verkörperung des Selbst wird entwürdigt.“ (ebd.). Vgl. ebd., S. 37.
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
GOFFMAN unterscheidet zwischen 1. 2.
elementaren und direkten Angriffen auf das Selbst der Insassen, die zu einer drastischen Störung des Selbstgefühls führen und den sich weniger direkt auswirkenden Folgen der institutionellen Unterbringung.
Zu ersteren gehören die institutionalisierten Demütigungsprozesse und die „Einbindung“ des Individuums in das „Privilegiensystem“ der Institution mit Strafen und Privilegien1. Zur zweiten Gruppe rechnet GOFFMAN: die dramatische Einschränkung der individuellen Handlungsfähigkeit des Einzelnen durch Verunmöglichung der „normalen“ Schutzreaktionen gegenüber den Angriffen auf das Selbst wie Flucht, Abwehr, Verweigerung u. a., ständige Bewertung aller Handlungen, permanente Unterbrechung individueller Handlungen durch sanktionierende Interventionen, Verwehren der Befriedigung eigener Wünsche und Bedürfnisse sowie des Erreichens eigener Ziele, Reglementierung alltäglicher „Verhaltensfragen“, Einbindung in ein gestaffeltes Autoritätssystem und die erzwungene Orientierung an einem vorgegebenen Verhaltensmodell, das als ideal gilt und dem Individuum zu seinem Wohle vorgeschrieben wird2. Zusammengefasst lautet GOFFMANS Fazit: 1.
Insassen totaler Institutionen erfahren massive Angriffe auf ihr „Selbst“ mit nachhaltig negativen Folgen für ihre Identität, ihr Selbstbild, ihr Selbstverständnis und Selbstwertgefühl3.
1
Vgl. GOFFMAN (1973), S. 54 ff. GOFFMAN begründet den „Angriff“ auf das Selbst mittels des Privilegiensystems: „Strafen, wie schwer sie immer sein mögen, kennt der Insasse von zu Hause nur als etwas, das Tieren und Kindern zukommt; dieses behavioristische Konditionierungsmodell wird im allgemeinen nicht auf Erwachsene angewandt, da eine mangelhafte Erfüllung der Normen gewöhnlich zu indirekten nachteiligen Folgen, und keineswegs zu einer spezifischen, unmittelbaren Bestrafung führt. Und in einer totalen Institution sind Privilegien, dies muss betont werden, nicht dasselbe wie Vergütungen, Vergünstigungen oder Werte, sondern lediglich die Abwesenheit von Entbehrungen, die man normalerweise nicht ertragen zu müssen erwartet.“ (ebd., S. 56 ff.). Vgl. ebd., S. 43 ff. Vgl. ebd., S. 24-77.
2 3
2.3 Diskurs I
2.
3.
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Sie reagieren auf die Angriffe auf ihre eigene Identität mit unterschiedlichen Anpassungsstrategien, die sämtlich mehr oder weniger als Regressionsprozesse der Persönlichkeitsentwicklung mit zerstörerischen Folgen für die eigene Identität eingestuft werden müssen1. Totale Institutionen unterbinden Selbstbestimmung, Autonomie und die zum „Erwachsenensein“ gehörende Handlungsfreiheit2.
Wenn auch die von GOFFMAN vor etwa 50 Jahren untersuchten Großeinrichtungen der Psychiatrie in den USA nur wenig mit den heutigen Einrichtungen des bundesdeutschen Hilfesystems für Menschen mit Behinderungen gemein haben dürften, erscheinen viele Erkenntnisse seiner brillanten Analyse auch heute noch durchaus aktuell und zutreffend. Das verdeutlicht ein Vergleich der Ergebnisse seiner Untersuchungen und Schlussfolgerungen mit den innerhalb der aktuellen De-Institutionalisierungsdebatte der letzten Jahre vorgetragenen Kritikpunkten vor allem an den stationären Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung3. Im Wesentlichen entzündet sich diese Kritik an folgender Besonderheit, die diesen Wohneinrichtungen mit stationären Wohnangeboten zugeschrieben wird: Die Wohnstätten, so der Vorwurf, konstituierten aufgrund ihres besonderen institutionellen Charakters eine „Sonderwelt“ mit eigenen institutionellen Regeln, Gesetzen und Interessen4. Das Leben der BewohnerInnen wäre stark durch diesen institutionellen Kontext bestimmt – sie würden insbesondere „behütet“ vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit ihren Risiken, Gefahren und Härten, damit aber auch stigmatisiert, der Institution „ausgeliefert“, „entindividualisiert“, massiv fremdbestimmt und weitgehendst entmündigt. 1 2 3
4
Vgl. GOFFMAN (1973), S. 64 ff. Er unterscheidet: 1. Den Rückzug aus der Situation, 2. Verweigerung der Kooperation, 3. Die Kolonisierung der Lebenswelt „Institution“ und 4. Die Konversion zur Begeisterung für die Institution, vgl. S. 65-67. Vgl. ebd., S. 49, 50. Stellvertretend für viele andere können als VertreterInnen einer kritischen Position gegenüber diesen Institutionalformen des Wohnens beispielsweise IRIS BECK, CHRISTIAN BRADL, KLAUS DÖRNER, JAKOB EGLI, WOLFGANG JANTZEN, JOHANNES SCHÄDLER, GEORG THEUNISSEN und WALTER THIMM genannt werden. ELISABETH WACKER u. a. (1998), KERSTIN ROCK (1999), SABINE MICHALEK (2000) sowie MONIKA SEIFERT u. a. (2001) haben im Unterschied zu dieser zuerst genannten Gruppe von Autoren eigene empirische Untersuchungen in Heimeinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderungen durchgeführt und sind dabei zu kritischen Ergebnissen und Schlussfolgerungen gelangt, die große Übereinstimmungen mit den Positionen der Vertreter der ersten Gruppe aufweisen. Auf Grundlage ihrer Ergebnisse können sie ihre Schlussfolgerungen im Rahmen der De-Institutionalisierungsdebatte allerdings fundiert und insbesondere differenziert darstellen. Das gilt natürlich verstärkt für große Komplexeinrichtungen mit ihren „All-InklusivAngeboten“, durch deren institutionelle Kontexte noch immer oftmals nicht nur das Wohnen, sondern zusätzlich z. B. die Bereiche Arbeit, Bildung und Freizeit bestimmt werden.
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
Als negative Auswirkungen dieser „aufgezwungenen“ Lebensweise werden im Einzelnen beispielsweise genannt:
Hospitalisierungsdefizite in Form erlernter Hilflosigkeit und anerzogener „UnSelbstständigkeit“, fehlende Möglichkeiten, über die eigene Lebensperspektive bestimmen zu können, das Erleben von Überbehütung, fehlende Möglichkeiten, eigene Fähigkeiten zu entwickeln und zu erproben, fehlende Möglichkeiten, das Wählen zwischen unterschiedlichen Optionen als Voraussetzung zur Entwicklung eines selbstbestimmten Lebens zu erlernen1, stark eingeschränkter Erfahrungshorizont (im Wesentlichen auf die Institution beschränkt) mit der Folge eines Defizits an Erfahrungen, die Erfahrung der Fremdbestimmung durch institutionelle Strukturen, Prozesse, Denksysteme, Handlungs- und Beziehungssysteme sowie organisatorische Notwendigkeiten2, das Erlebnis der ständigen Gefährdung der eigenen Intimsphäre, des Privatbereiches und des persönlichen Eigentums, die Erfahrung personaler Gewalt in verschiedenster Form durch MitbewohnerInnen und MitarbeiterInnen der Einrichtung3.
Eine Lebensgestaltung, die sich an den Grundsätzen von Selbstbestimmung, Normalisierung der Lebensverhältnisse und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft mit all ihren Angeboten, Möglichkeiten und Errungenschaften orientiert, so die Argumentation4, sei unter diesen institutionellen Bedingungen einfach nicht möglich:
1 2 3 4
das Übermaß institutioneller Fremdbestimmung und konstitutiver Abhängigkeitsbeziehungen, das auch durch entsprechende Gesetzlichkeiten (z. B. Heimgesetz) nicht wirklich eingeschränkt werden könne, verhindere nicht nur Selbstbestimmung, sondern darüber hinaus selbst die Wahrung elementarer Persönlichkeitsrechte, Normalisierung scheitere oft bereits im Ansatz an den institutionellen Wohnbedingungen, den vorgegebenen institutionellen (und damit standardisierten) Zeitabläufen, den aufgezwungenen sozialen Bezügen (zu MitbewohnerInnen und MitarbeiterInnen der Einrichtung), der kaum vorhandenen Privatsphäre, den stark eingeschränkten Möglichkeiten individueller Bedürfnisbefriedigung Vgl. ROCK (1999). Vgl. BRADL (1997), S. 362 ff. Vgl. MICHALEK (2000). Vielleicht etwas generalisierend und zugespitzt zusammengefasst.
2.3 Diskurs I
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(z. B. in den Bereichen Essen, Trinken, Umgang mit Genussmitteln, Gestaltung der eigenen Wohnumwelt, Freizeitgestaltung, Partnerschaft und Sexualität u. a.) und Teilhabe bzw. Integration oder gar Inklusion beschränke sich für die BewohnerInnen allenfalls auf singuläre Aktionen – die mit der von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgegrenzten Wohn- und Lebensform verbundene Stigmatisierung verhindere zwangsläufig eine echte lebensweltliche Integration. Darüber hinaus entwickele sich innerhalb der Wohneinrichtungen eine eigene „Parallelwelt“ (mit dem Charakter einer Schutz- und Schonwelt) – die wenig mit der Wirklichkeit außerhalb der Institution gemein hat und den BewohnerInnen diese Wirklichkeit entfremdet.
Diese zunächst überblicksartige Darstellung soll durch die Betrachtung der Argumentation einiger Autoren exemplarisch weiter konkretisiert werden. Zur Systematisierung ihrer Herangehensweise dient folgende Zuordnung: 1. 2. 3.
Kritik, die überwiegend auf einer lebensweltlichen Handlungsebene ansetzt, Kritik, die – ausgehend von einer lebensweltlichen Handlungsebene – auch nach Möglichkeiten theoretischer Begründung sucht und Kritik, die sich überwiegend auf empirische Ergebnisse stützt1.
Zu (1): Beginnend mit BRADL2 sollen zunächst Vertreter der Gruppe zu Wort kommen, die ihre Kritik äußern, ohne dabei auf die Ergebnisse eigener empirischer Untersuchungen zurückzugreifen3. Er bescheinigt den Wohneinrichtungen im Vergleich zu den 60er und 70er Jahren hinsichtlich der Lebensqualität der BewohnerInnen insgesamt zwar eine positive Entwicklung, seine „zentrale These“4 lautet ungeachtet dessen jedoch: „So unterschiedlich sich die Heime in den letzen Jahren auch entwickelt haben mögen, es gibt darin durchgehend Bedingungen, die ein selbstbestimmtes Leben derer, für die solche Institutionen eigentlich eingerichtet sind, strukturell erschweren bis verunmöglichen. Diese strukturellen Grenzen von Selbstbestimmung im Heim liegen im »institutionellen System« selbst: 1
2 3 4
Diese Zuordnung ist zwangsläufig recht grob, verallgemeinert stellenweise vielleicht zu stark und kann nicht in jedem Einzelfall allen Facetten der Positionen der genannten Autoren gerecht werden. Das ist auch nicht vorrangiges Anliegen, vielmehr geht es um eine Systematisierung der Argumentationslinien innerhalb der De-Institutionalisierungsdebatte mit dem Ziel, diese verständlich zu machen. Vgl. BRADL (1997), S. 365. Das schließt allerdings nicht aus, dass Autoren wie z. B. THEUNISSEN und JANTZEN nicht auch in sonderpädagogischen Handlungsfeldern mit eigenen Untersuchungen tätig wären. BRADL (1997), S. 365.
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
in der institutionellen Struktur, d. h. in institutionellen Abläufen und Strukturen; in institutionellen Denksystemen, d. h. in institutionsgeprägten Interessen, Haltungen und Einstellungen; in institutionellen Handlungssystemen, d. h. im alltäglichen und professionellen Handeln; in institutionellen Beziehungssystemen, d. h. in institutionstypischen Beziehungsmustern und Rollen.“1 (Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.).
Er benennt eine Reihe konkreter Kritikpunkte, die seine These stützen sollen, wie z. B.2
die Diskriminierung, die im strukturellen System der Behindertenhilfe selbst stecke (z. B. im Aufnahmeverfahren mit wenig realen Mitbestimmungsmöglichkeiten), die Entindividualisierung des Einzelnen durch die Eigendynamik insbesondere der Großeinrichtungen, die Pauschalierung des individuellen Hilfebedarfs, die Vorgegebenheit des Lebensrahmens mit der Fixierung auf die Wohngruppe, die fehlende Möglichkeit, auf die Betreuungspersonen Einfluss ausüben zu können (z. B. auf die Zusammensetzung des Mitarbeiterteams, ihren Umgangsstil, ihre Einstellungen und Grundhaltungen, ihren Arbeitsstil u. a.), der fehlende Einfluss auf die Organisation der Betreuung (z. B. Dienstplanung), der Zwang und die Gewalt in Institutionen, die Fremdbestimmung durch lebenslange Förderung, die Fremdbestimmung durch institutionsdefinierte Interessen, die Fremdbestimmung durch mitarbeiterdominierte Entscheidungsabläufe, die besondere soziale Abhängigkeit durch das institutionelle Handlungssystem, die Polarisierung der Betreuungskonzepte (entweder institutionelle Vernachlässigung oder Überbehütung), die Fremdbestimmung durch das institutionelle Beziehungssystem (hervorgerufen insbesondere durch das komplexe System der Beziehungen zwischen Träger, Organisation, Team, begleitende Dienste und BewohnerInnen).
Die Schlussfolgerung, die BRADL zieht, lautet:
1 2
BRADL (1997), S. 365 Vgl. ebd., S. 366 ff.
2.3 Diskurs I
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„Es gibt in vielen Bereichen strukturelle Grenzen der Selbstbestimmung von behinderten Menschen in einem Heim. Selbstbestimmtes Leben ist vom Prinzip her mit einem fremdbestimmten System nicht vereinbar.“1
Die Positionen der Forschungsarbeitsgemeinschaft „Menschen im Heim“2 der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Bielefeld3, die sie in ihrem Aufruf an die Fraktionen des deutschen Bundestages vertreten, wurde bereits oben erläutert. Die Vertreter des fib e.V. beziehen in der Auseinandersetzung mit Heimeinrichtungen eine ähnliche, allerdings noch drastischer formulierte Position: Bereits die bloße Existenz von Heimen könne als Indikator für diskriminierende Maßnahmen gegen behinderte Menschen gelten, da die reglementierenden Strukturbedingungen dieser Einrichtungen der Behindertenhilfe regelmäßig bedeuteten, dass es ein Drinnen (Unfreiheit) und Draußen (Freiheit) gäbe. Heime hätten einen „Verwahrauftrag“ und es wäre eine „Menschenrechtsverletzung“, wenn notwendige pflegerische und lebenspraktische Hilfen einem Menschen nur im Heim angeboten werden könne. Heime böten zwar ein hohes Maß an „Versorgungssicherheit“, hätten die individuellen Wünsche der BewohnerInnen jedoch nur „ungenügend auf der Tagesordnung“4. Spätestens seit Erscheinen seines Werkes „Wege aus der Hospitalisierung“ im Jahr 1989 kann THEUNISSEN5 ebenfalls zu den konsequenten Kritikern der Institutionen der Behindertenhilfe, insbesondere der Großeinrichtungen und Wohnheime, gerechnet werden. In vielen seiner Veröffentlichungen setzt er sich – zumeist aus unterschiedlichen Perspektiven mit bestimmter fachlicher Schwerpunktsetzung (z. B. Erwachsenenbildung, Ästhetische Bildung, Verhaltensauffälligkeiten, Altern bei geistiger Behinderung, Empowerment) – mit den nachteiligen Folgen des Lebens unter institutionellen Bedingungen für Menschen mit geistiger Behinderung auseinander6. Zusätzlich zu den defizitären Auswirkungen einer „Unterbringung“ von Menschen mit geistiger Behinderung in Heimeinrichtungen kritisiert er auch die
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BRADL (1997), S. 374. Unter Mitwirkung von KLAUS DÖRNER, der wohl als der prominenteste Kritiker stationärer Wohneinrichtungen gelten kann. Vgl. auch DÖRNER (1991), (1996), (2001) und DÖRNER & BÖKER (1996), DÖRNER & SNETHLAGE (1997). Vgl. FORSCHUNGSARBEITSGEMEINSCHAFT „MENSCHEN IN HEIMEN“, Universität Bielefeld (2001). Vgl. z. B. GÜNTHER (1995). Vgl. THEUNISSEN (1989). Diese Arbeit entstand auf Grundlage seiner Habilitationsschrift an der Universität Frankfurt am Main, Fachbereich Erziehungswissenschaften, 1987. Vgl. z. B. THEUNISSEN (1993), (1995a), (1995b), (1997), (1999), (2000) und (2003); THEUNISSEN & PLAUTE (2002).
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
aus seiner Sicht dahinterstehende Interessenlage der „Repräsentanten der traditionellen Wohlfahrtsverbände“ am eigenen Machterhalt1. Zu (2): JANTZEN, der zwar im Unterschied zu THEUNISSEN der zweiten Gruppe zuzurechnen wäre, vertritt ähnliche Positionen und geht dabei mit seiner Kritik noch entschieden weiter. Für ihn ist die Verteilung von Macht und Ohnmacht innerhalb eines sozialen Feldes der Schlüssel für eine „angemessene und den Grundund Bürgerrechten behinderter Menschen Rechnung tragenden Reform“2. Er fragt: „Weshalb aber ist es nötig, >...@ höchst kritisch mit der bisherigen Praxis öffentlicher Wohlfahrt in Deutschland umzugehen?“3
Seine Antwort lautet in Anlehnung an BOURDIEU: „Der Hauptgrund liegt darin, dass in diesem Bereich in vielfältiger Weise »verborgene Mechanismen der Macht« existieren, welche durch spezifische Prozesse von Institutionalisierung soziale Prozesse von Behinderung naturalisieren und fatalisieren.“4 (Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.).
Da JANTZEN Behinderung vor allem als Phänomen versteht, das aus sozialer Zuschreibung resultiert5, muss sein Vorwurf gegenüber den Institutionen der Behindertenhilfe so verstanden werden, dass sie durch ihre Machtstrukturen selbst „Behinderung produzieren“, und zwar in besonders fataler Weise: Zum 1
2 3 4 5
THEUNISSEN und PLAUTE schreiben z. B.: „Das kirchliche Anstaltswesen hatte hierzulande >...@ eine Fürsorgementalität und Vorstellungen erzeugt, nach denen Menschen mit geistiger Behinderung aufgrund von Hilflosigkeit, Lebensuntüchtigkeit und Pflegebedürftigkeit eines »besonderen Schutzes«, einer lebenslangen Versorgung, Betreuung und Beaufsichtigung in (großen) Heimen bedürfen. Wenngleich heute diese Ideologie nicht mehr als wegweisend gilt, scheint sie bei Repräsentanten der traditionellen Wohlfahrtsverbände dann noch eine Rolle zu spielen, wenn es um Machterhalt, sozialpolitische Einflussnahme und Zuständigkeit geht. Dabei findet sie im Lager der konservativen Politik ihre Verbündeten, deren Interesse für Veränderung auf der Basis eines Mitspracherechtes und durch mehr Einflussnahme Betroffener ebenso gering ist wie das der mächtigen Verbände.“ (Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.; vgl. THEUNISSEN & PLAUTE, 2002, S. 64). Damit unterstellen sie den Verbänden der traditionellen Wohlfahrtspflege, aus Eigennutz und Machtinteressen Menschen mit geistiger Behinderung, die die Leistungsangebote der Einrichtungen nutzen, zu instrumentalisieren. Vgl. JANTZEN & LANWER-KOPPELIN & SCHULZ (1999), S. 192. Ebd. Ebd. JANTZEN formuliert wörtlich: „Geistige Behinderung betrachte ich damit als sozial geschaffenes, transaktionales Gebilde und nicht als essentielle Eigenschaft geistig behinderter Menschen.“ (JANTZEN 2003, S. 277 und 278).
2.3 Diskurs I
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einen wird durch die „Naturalisierung“ die Behinderung als mit dem Habitus des behinderten Menschen wesensmäßig (und damit weitgehendst unveränderbar) verknüpft und zum anderen als schicksalhaft vorgegeben („fatalisiert“) festgeschrieben. Deshalb fordert er auch eine „>...@ Beweislastumkehrung in der Hinsicht, dass es seitens der Versorgungsträger einschließlich der Heime selbst nachzuweisen wäre, dass der heute von diesen 142 000 Menschen (die in Behindertenheimen bundesweit leben, Anm. A. B.) repräsentierte Entwicklungsstand nicht ein Resultat der Hospitalisierung ist, statt wie bisher behauptet, ein Resultat des Defekts.“1
Um JANTZENS Kritik in ihrer ganzen Reichweite verstehen zu können, muss seine Argumentation betrachtet werden. Er bezieht sich stark auf die Institutionenkritik GOFFMANS und FENGLER & FENGLERS2 sowie die soziologischen Überlegungen BOURDIEUS3 und richtet seine Angriffe vorwiegend gegen kirchliche Wohlfahrtseinrichtungen, denen er die „Gestaltung ihrer Produktionsverhältnisse nach dem Familienmodell“, die „Verklärung von Ausbeutungsbeziehungen“ und eine „paternalistische Stellvertretung“ vorwirft4. Letztere ist von besonderem Übel, denn „Ihr Kern ist es, die »wirklichen Bedürfnisse« der Ausgegrenzten vorgeblich besser erkennen zu können als diese selbst sowie der hieraus resultierende Anspruch eigener moralischer Überlegenheit (JACKMANN 1996). Unter diesen Bedingungen realisiert sich das wechselseitige Schema von Delegation und Ehrerbietung, das zwischen MitarbeiterInnen »an der Basis« und Leitungsstrukturen in Einrichtungen der öffentlichen Wohlfahrt besonders präsent ist, gegenüber der Klientel selbst nur allzu leicht in der Doppelstrategie von emotionaler Bestechung und kriminalisierender Ausgrenzung.“5 (Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.).
Die paternalistische Stellvertretung6 und das familiale Prinzip7 bildeten die Basis einer unter dem Deckmantel der Nächstenliebe entfalteten Machtausübung auf 1 2 3 4 5 6 7
JANTZEN (2003), S. 286. Vgl. FENGLER & FENGLER (1994). Vgl. z. B. BOURDIEU (1993). JANTZEN & LANWER-KOPPELIN & SCHULZ (1999), S. 192. Ebd., S. 193. JANTZEN spricht auch von den „Samthandschuhen paternalistischer Herrschaft“ (JANTZEN 2003, S. 293). Dazu führt JANTZEN aus: „Dies bedeutet jedoch auch, dass die inneren Beziehungen im Prinzip nach einem Modell gebildet sind, das andere Menschen als Brüder behandelt oder zu behandeln vorgibt, aber zugleich die interne Überprüfung dieses Handelns nicht gestattet. Wo Brüderlichkeit Betriebsprinzip ist, schickt es sich nicht, weder von Geld noch von Herrschaft noch von der Weitergabe von Gewalt gegenüber behinderten und psychisch kranken Menschen zu reden >...@.“ (vgl. ebd., S. 135).
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
der „Hinterbühne“ (GOFFMAN), während auf der „Vorderbühne“ Brüderlichkeit, Dienst am Gemeinwohl und an den ihnen überantworteten Menschen demonstriert würden, so JANTZEN1. Schließlich bescheinigt JANTZEN den Einrichtungen von Diakonie und Caritas neben „vorkapitalistischen Verhältnissen“ einen „vergleichsweise geringen Professionalisierungsgrad auf vergleichsweise niedrigem Niveau“ sowie „fehlende Mitbestimmung“ und eine „Entpolitisierung“, da „Mitarbeiter/innen geradezu gehalten sind, die Hilfsbedürftigkeit des Einzelnen, nicht aber den sozialen und sozialpolitischen Kontext ihrer Arbeit wahrzunehmen“.2 Im Unterschied zu JANTZEN stellt IRIS BECK ihre Kritik am Hilfesystem in den Rahmen eines systemtheoretischen Bezugssystems. Dabei setzt sie Institutionen mit dem Begriff der sozialen Norm gleich und orientiert sich an der von ihr vertretenen Leitkonzeption „Integration durch Normalisierung der Hilfen“3. Als negative Folgen institutionalisierter Hilfen stellt sie die so genannte Expertokratisierung, Bürokratisierung, Monetarisierung, Verrechtlichung und Professionalisierung helfender Beziehungen als Merkmale der modernen Organisation des Helfens heraus4. Damit wird die Entwicklung symmetrischer Kommunikationen, auf die soziale Dienstleistungsbeziehungen auszurichten sind5, verhindert. Diese negativen Folgen als Ausdruck der Verregelung sozialer Beziehungen entsprächen nicht mehr den Bedürfnissen und Erwartungen der Adressaten6. Zu (3): Vertreter der dritten Gruppe, die eine kritische Stellung gegenüber den Wohninstitutionen der Behindertenhilfe einnehmen, legen Befunde vor, die sie aus eigenen empirischen Untersuchungen mit konkreten Fragestellungen zur Lebenssituation der BewohnerInnen der Einrichtungen gewonnen haben und deren „kritisches Potenzial“ sich bereits durch ihre öffentliche Darstellung erschließt. Schlussfolgerungen und abgeleitete Forderungen verstärken diese Wir-
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Vgl. JANTZEN (2003), S. 136. Vgl. ebd., S. 136. Vgl. BECK, I. (1994), S. 69 ff. Vgl. BECK, I. (1994), S. 69 ff. Vgl. ebd., S. 221. Zur Begründung bezieht sich IRIS BECK auf THIMM u. a. (1985), die den Gedanken entwickelten, dass dem Normalisierungsprinzip eine „kommunikationstheoretische Prämisse“ vorgelagert sei (vgl. auch Abschn. 1.2.1) und erläutert: „Das Erleben sinnhafter Handlungen setzt aufeinander bezogene Interaktions- und Kommunikationsprozesse voraus. Im Prozess der Bedürfniserfüllung als Grundlage von Interaktionen wird Identität entwickelt: über normative Anforderungen wird Handlungssicherheit gewährleistet. Dabei sind für das Erleben sinnhaften Handelns, für die »Herstellung« identitätsstiftender Erfahrungen, symmetrische Kommunikationsprozesse notwendig, wie sie sich jenseits der für Organisationen typischen zur Zielerreichung notwendigen Kommunikationsprozessen vor allem in Interaktionssystemen ereignen können.“ (Hervorhebung im Original, Anm. A. B.) (ebd., S. 220).
2.3 Diskurs I
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kung und das Gewicht, das ihnen innerhalb der De-Institutionalisierungsdebatte zukommt. Als Beispiel für diese Art der Argumentation kann ROCK1 gelten. Sie geht in ihrer Dissertation vom „Selbstbestimmt Leben-Ansatz“ aus und überprüft Möglichkeiten der Übertragung dieses Konzeptes auf die Arbeit mit geistig behinderten Menschen. Zentraler Schwerpunkt sind für sie die „wesentlichen Deutungs- und Orientierungsmuster, an denen sonderpädagogische Fachkräfte2 ihr professionelles Handeln ausrichten“3. Diese von ihr mittels eines qualitativen Untersuchungsdesigns erfassten Orientierungs- und Deutungsmuster der MitarbeiterInnen untersucht sie „im Hinblick auf die Ermöglichung und Unterstützung von Selbstbestimmung“4. Dabei stößt sie auf „widersprüchliche Handlungsorientierungen“5. Dies führe zwangsläufig dazu, so ROCK, dass Fachkräfte in der Behindertenhilfe für Erwachsene mit einer geistigen Behinderung hinsichtlich der Ermöglichung und Unterstützung von Selbstbestimmung in Ambivalenzen verstrickt seien6. Im Rahmen ihrer Dissertation beschäftigt sich MICHALEK7 mit den Gewaltund Konflikterfahrungen der Menschen mit geistiger Behinderung im Lebenskontext Heim. Sie untersucht die „Institution als Lebensraum“ und greift dabei auf BRONFENBRENNERS Ökologie der menschlichen Entwicklung“8 zurück, um damit eine „pädagogisch-ökologische Perspektive zur Erfassung einer Entwicklung im Kontext“ für die Heil- und Sonderpädagogik zu eröffnen9. Wichtig ist ihr insbesondere die Verbindung zwischen entwicklungspsychologischen Aspekten und Ergebnissen der Sozialisationsforschung. Aus ökologischer Sicht, so MICHALEK, sollten die Folgen der Institutionalisierung abgeschätzt und dabei das Augenmerk insbesondere auf die Einschränkungen für das Handeln des Individuums gerichtet werden. Institutionalisierte Lebensräume seien für die menschliche Entwicklung in 1 2 3 4 5
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ROCK (1999). in Werkstätten für behinderte Menschen und Wohnstätten (vgl. ebd., S. 3). Ebd. ROCK (1999), S. 181. Ebd., sie führt dazu aus: „Die Leitvorstellung der Autonomie kollidiert mit anderen, mehr oder weniger impliziten Deutungs- und Orientierungsmustern, an denen das professionelle Handeln in der Arbeit mit geistig behinderten Erwachsenen ausgerichtet wird. Im Einzelnen stehen die Fachkräfte bei der Förderung und Unterstützung von Selbstbestimmung in der Spannung von Autonomie und Fürsorge, Autonomie und Verantwortlichkeit, Autonomie und einer pragmatisch auf Arbeitserleichterung und Entlastung ausgerichteten Handlungsorientierung, (4) Autonomie und Anpassung an gesellschaftliche Normalitätsstandards, (5) Autonomie und Organisationserfordernisse, (6) Autonomie und Förderung, (7) Autonomie und eigenem Leitungsanspruch.“ Vgl. ROCK (1999), S. 181. Vgl. MICHALEK (2000). Vgl. BRONFENBRENNER (1981). Vgl. ebd., S. 42.
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
qualitativer und quantitativer Beziehung ungünstige Lebensorte, die für die Individualentwicklung Stagnation oder sogar Regression bedeuten können1. Ihre Ergebnisse werfen ein kritisches Licht auf den Alltag in den Wohnstätten und die eingeschränkten Entwicklungsmöglichkeiten für Menschen mit geistiger Behinderung. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend führte die Forschungsstelle „Lebenswelten behinderter Menschen“ der Universität Tübingen Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine bundesweite Untersuchung im Rahmen des Forschungsprojektes „Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in Einrichtungen“ durch. Unter dem Titel „Leben im Heim: Angebotsstrukturen und Chancen selbständiger Lebensführung in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe“ legten WACKER & WETZLER & METZLER und HORNUNG 1998 den Abschlußbericht dieser Studie vor2. In die Untersuchung wurden von den (zum Stichtag 01.03.1995 hochgerechneten) 146774 Wohnplätzen der Behindertenhilfe in etwa 2500 Einrichtungen 80395 Plätze in 1384 Wohneinrichtungen einbezogen3. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass die erhobenen Daten noch weitgehendst repräsentative Aussagekraft besitzen, auch wenn ihre Erfassung nunmehr fast 15 Jahre zurückliegt. Darüber hinaus handelt es sich bei dieser Studie um die erste und bisher einmalige Untersuchung, die in diesem Umfang die aktuelle Situation innerhalb der „Lebenswelt Heim“ bundesweit systematisch zu erfassen sucht. Die Autoren verweisen bezüglich der Heime der Behindertenhilfe auf einen „>...@ Mangel an grundlegenden statistischen Informationen, das Überwiegen eher episodenhafter Betrachtungen des Alltags, die Vernachlässigung der Sichtweise der Bewohnerinnen und Bewohner >...@.“4
Im Rahmen ihrer Untersuchungen ging es WACKER u. a. darum, „Rahmenbedingungen und Erfahrungsweisen des »Lebens im Heim« aus verschiedenen Perspektiven“ zu erschließen und weniger um „eine umfassende Aufzählung aller Elemente des Heimlebens und der Einrichtungsorganisation“5. Sie führen zum Konzept ihrer Untersuchung aus: 1
2 3 4 5
Vgl. MICHALEK (2000), S. 43, 44. MICHALEK bezieht sich dabei neben BRONFENBRENNER auch auf LEWIN, Zielpunkt ihrer Kritik sind sowohl die eingeschränkten Wandlungsoptionen der betreuenden Einrichtungen als auch extrem mangelhafte Ausdifferenzierung des Lebensraumes eines „Ein-Institutionen-Lebens“ (vgl. ebd.). Vgl. WACKER u. a. (1998). WACKER u. a. (1998). S. 31. Ebd., S. 9. Ebd., Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.
2.3 Diskurs I
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„>...@ wurde der Weg einer Querschnittsbetrachtung gewählt, in der Lebensräume und -bereiche im Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren beschrieben werden. Sachlichen und räumlichen Bedingungen des Wohnens, sozialen Zusammenhängen, Handlungsspielräumen und Einflussmöglichkeiten von Bewohnerinnen und Bewohnern in organisatorischen Abläufen, der Gestaltung des Alltags und zeitlichen Lebensrhythmen gilt dabei besondere Aufmerksamkeit.“1
Theoretische Grundlage ist das Konzept der „Selbstbestimmten Lebensführung“2, das „>...@ als Brückenschlag verstanden werden >muss, Anm. A. B.@ zwischen einerseits der Sicherung notwendiger Hilfen und andererseits einer Organisation der Hilfen in der Art, dass das individuelle Recht auf Selbstbestimmung und auf den Erhalt und die Erweiterung der persönlichen Kompetenzen ernst genommen und nicht beeinträchtigt wird.“3
Zusammenfassend formulieren WACKER u. a. zu den Ergebnissen ihrer Untersuchungen: „In Kenntnis der seit Jahrzehnten vorgetragenen Kritik an totalen Institutionen gibt es zwar in der stationären Behindertenhilfe bereits eine seit Jahren geführte interne fachliche Diskussion mit dem Bemühen, die Bedürfnisse jeden einzelnen Bewohners ernstzunehmen, auch wenn er in einem vorstrukturierten Alltag und in der Regel in unfreiwilligen Gruppenverbänden lebt. Dennoch besteht zwischen der theoretischen Zielsetzung der institutionellen Wohnangebote und der Umsetzung dieser Intentionen ein Spannungsverhältnis, das sich auf allen Alltagsebenen manifestiert und einer optionalen Ausrichtung an dem Konzept der selbständigen und selbstbestimmten Lebensführung nicht immer entspricht.“4
Sie ermitteln im Einzelnen charakteristische Defizite der Wohneinrichtungen, die eine selbstbestimmte Lebensführung erschweren und sogar verhindern können. Dazu gehören z. B.:
ein zu gering ausdifferenziertes Spektrum der Wohnangebote, welches es oft nicht ermöglicht, die geeignete Wohnform entsprechend der individuel-
1 2
WACKER u. a. (1998), S. 9. Vgl. ebd., S. 13-16. Das Konzept „Selbstbestimmtes Leben“ wurde von HÄUSLER & WACKER & WETZLER im Rahmen der Studie „Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung – Hilfe- und Pflegebedarf von Menschen mit Behinderung in Haushalten und Heimen“ (HÄUSLER u. a. 1996) entwickelt. WACKER u. a. (1998), S. 14. Ebd.
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
len Bedürfnisse, Kompetenzen und Fähigkeiten des jeweils Betroffenen zu finden, der Charakter der Heimaufnahme als „Notlösung“ bei „Ausfall“ der anderen Unterstützungssysteme mit der faktischen Zuweisung einer Versorgungsfunktion an die Adresse der Wohneinrichtung, Entmündigung und Entindividualisierung der zukünftigen BewohnerInnen bereits bei der Heimaufnahme (z. B. geringe oder gar keine Einflussmöglichkeiten auf den Entscheidungsprozess, kaum echte Beratung und Wahlmöglichkeiten, mangelnde Informationen über Angebote und Besonderheiten des Heimes, kaum Möglichkeiten der Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse und Wünsche u. a.), ungenügende räumliche Voraussetzungen der individuell nutzbaren Wohnräume und Sanitäterbereiche mit der Folge einer Zerstörung der Privat- und Intimsphäre, die erzwungene Form des Zusammenlebens in Wohngruppen ohne Einflussmöglichkeiten auf Gruppenzusammensetzung (Schwere und Art der Behinderung, Homogenität, Alterszusammensetzung u. a.) und Gruppengröße durch die BewohnerInnen, die besondere Form des kognitiven und sozialen Gefälles, die mangelnde Transparenz, die Inkonstanz der Beziehungen und die geringen Möglichkeiten der Berücksichtigung individueller Wünsche der BewohnerInnen, die die Interaktionen zwischen MitarbeiterInnen und BewohnerInnen charakterisieren, die unzureichende Thematisierung und Berücksichtigung individueller Lebensperspektiven der BewohnerInnen, die aufgezwungene zeitliche Gestaltung des Alltags, d. h. der als stark fremdbestimmt wahrgenommene Alltagsrhythmus, begrenzte Möglichkeiten, Verantwortung für den engsten Privatbereich, für das eigene Erscheinungsbild, Wohlergehen und die Selbstversorgung (Ernährung, Bekleidung, Zimmerreinigung) zu übernehmen, begrenzte Möglichkeiten der Verwaltung der privaten Finanzmittel durch die BewohnerInnen sowie der freien Verfügung über das eigene Bargeld, begrenzte Möglichkeiten, institutionelle Kontexte zu verlassen (z. B. im Zusammenhang mit Arbeit, Bildung, Tagesstrukturierung und Freizeit), begrenzte Möglichkeiten der Mitwirkung an der Lösung von Konflikten innerhalb der Wohnstätte, begrenzte Möglichkeiten der eigenständigen individuellen Freizeitgestaltung.
WACKER u. a. gelangen auf der Basis ihrer Untersuchungsergebnisse zu folgendem Fazit:
2.3 Diskurs I
59
„Zieht man Bilanz zu den Kompetenzräumen, die sich für die Bewohnerinnen und Bewohner im Heim eröffnen, wird eher der Eindruck der Grenzen prägend, auf die man in den Dingen des Alltags mannigfach stößt. >...@ Allerdings kann eine Erweiterung von Handlungsspielräumen allein Bewohnerinnen und Bewohnern auf ihrem Weg zu Selbstständigkeit und Selbstbestimmung nur bedingt unterstützen. Neben der individuellen Kompetenzförderung – als Voraussetzung, Spielräume auch nutzen zu können – erscheint es vielmehr ebenso erforderlich, dass Menschen mit Behinderungen in den Einrichtungen als grundsätzlich gleichwertige Interaktionspartner anerkannt werden. Sie müssen die Chance erhalten, zu ihren Vorstellungen von Alltagsgestaltung und -bewältigung gehört zu werden, die Regeln des Alltags mit zu definieren und wenn nötig zu verändern sowie die Bereiche abzustecken, in denen sie selbst aktiv werden können bzw. in denen sie auf Hilfe angewiesen sind.“1 (Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.).
In ihren neueren Veröffentlichungen vertieft WACKER ihre Kritik an den Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen und entwickelt sie fort2. Durch das Seminar für Geistigbehindertenpädagogik der Heilpädagogischen Fakultät der Universität Köln3 wurde in ausgewählten Heimen der Behindertenhilfe und Pflegeheimen in Nordrhein-Westfalen ein Forschungsprojekt zur Lebenssituation schwer behinderter Menschen4 durchgeführt und die Ergebnisse im Jahr 2001 unter dem Titel „Zielperspektive Lebensqualität. Eine Studie zur Lebenssituation von Menschen mit schwerer Behinderung im Heim“5 veröffentlicht. Theoretischer Rahmen der Studie bilden ausgewählte Dimensionen des Konzeptes der „Lebensqualität“, das „objektive Bedingungen und subjektives Wohlbefinden integriert“6. Die Autorinnen erläutern zur Durchführung ihres Forschungsprojektes: „Die objektive Einschätzung der Lebensbedingungen basieren auf Standards der Behindertenhilfe, die sich an den Leitideen Normalisierung, soziale Integration, Partizipation, Selbstbestimmung und Empowerment orientieren. Sie beziehen sich auf objektiv feststellbare personale, strukturelle und institutionelle Aspekte. >...@ Die 1 2 3 4
5 6
WACKER u. a. (1998), S. 318. Vgl. z. B. WACKER (2002a), S. 80-100. Zuständig für Planung, Organisation und Durchführung waren MONIKA SEIFERT, die Leitung des Forschungsprojektes lag bei BARBARA FORNEFELD (vgl. SEIFERT & FORNEFELD & KOENIG 2001, S. 9). Die Studie konzentrierte sich auf zwei Personengruppen: Menschen mit schwerer mehrfacher Behinderung einschließlich geistiger Behinderung und Menschen mit schwerer geistiger Behinderung (vgl. ebd., S 19). Konkret wurde die Lebenssituation von 11 Frauen und 11 Männern mit schwerer Behinderung im Alter zwischen 21 und 55 Jahren aus insgesamt 16 Einrichtungen untersucht. SEIFERT & FORNEFELD & KOENIG (2001). Vgl. ebd., S. 16. sowie die Ausführungen in Abschn. 1.2.6.
60
2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
subjektive Einschätzung der persönlichen Zufriedenheit mit den Lebensbedingungen in unterschiedlichen Bereichen wird durch die Berücksichtigung persönlicher Werte und Ziele gewichtet. Diese sind geprägt durch biographische, kulturelle, alters-, geschlechtsspezifische und behinderungsbedingte Aspekte sowie Persönlichkeitsmerkmale und die aktuelle Lebenssituation. Bei Menschen mit schwerer Behinderung sind für die Gewichtung der verschiedenen Bereiche des Wohlbefindens die lebensgeschichtlichen Erfahrungen von besonderer Relevanz. >...@ Lebensqualität in Wohneinrichtungen konstituiert sich somit innerhalb subjektiver Sinngebungen im Kontext der gegebenen Bedingungen. Im Beobachten bzw. Erkennen solcher Sinnstiftungen erfolgt eine Annäherung an die Nutzerperspektive. Auf diesem Hintergrund soll in der hier vorliegenden Studie ermittelt werden, welche Komponenten von Wohlbefinden für diesen Personenkreis von besonderer Bedeutung sind.“1 (Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.).
Die Untersuchung, so die Autorinnen, gliedere sich in einen hermeneutischen und einen empirischen Teil. Während es in ersterem unter anderem um ethischanthropologische Fragestellungen, einen Vergleich der Grundannahmen der Schwerstbehindertenpädagogik mit aktuellen Konzepten der Pflegewissenschaft und die Erarbeitung eines Modells zur Erforschung der Lebensqualität von Menschen mit schwerer Behinderung gehe, würde auf Basis dieses Modells mittels überwiegend qualitativer Verfahren im Rahmen des zweiten Teils die Lebensqualität ausgewählter BewohnerInnen in Einrichtungen der Behindertenhilfe und in Pflegeheimen untersucht2. Die Autorinnen betonen, dass aus den Ergebnissen der Studie keine generellen Rückschlüsse auf die Lebenssituation schwer behinderter Menschen gezogen werden dürften, die Studie liefere nur Ergebnisse bezüglich der individuellen Situation ausgewählter BewohnerInnen einer insgesamt sehr kleinen Untersuchungsgruppe. Zur „Alltagswirklichkeit im Spiegel des subjektiven Wohlbefindens der Bewohner“ ermittelt die Studie ein „facettenreiches Bild“: Neben Alltagssituationen, die das Wohlbefinden der schwer behinderten BewohnerInnen stärken und zu ihrer Zufriedenheit beitrügen, so die Autorinnen, fänden sich auch Situationen, die ihr Wohlbefinden gefährden und dringend der Veränderung bedürften3. Ergänzend sei noch ein Problem erwähnt, auf das FORNEFELD im Zusammenhang mit dem Personenkreis von Menschen mit Komplexer Behinderung verweist: Sie kritisiert die ausdifferenzierte Ordnung des Hilfesystems, die in der 1 2 3
SEIFERT & FORNEFELD & KOENIG (2001), S. 111 und 112. Vgl. ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 326 ff. Dazu gehörten vor allem das physische Wohlbefinden, das soziale Wohlbefinden, das emotionale Wohlbefinden, das aktivitätsbezogene Wohlbefinden und das materielle Wohlbefinden.
2.3 Diskurs I
61
Lebenswirklichkeit auf das nicht-geordnete Phänomen der Komplexen Behinderung trifft, diesem dadurch nicht gerecht werden kann und zu einer für die Betroffenen nachteiligen Komplexitätssteigerung führt1. Diese Problematik betrifft nicht selten gerade den Lebensbereich „Wohnen“. Neue Anstöße erhielt die De-Institutionalisierungsdebatte in der jüngeren Vergangenheit durch die Gründung der Bundesinitiative „Daheim statt Heim“ am 01.12.2006 unter Federführung von Silvia Schmidt, MdB, in Berlin2. Die Initiatoren nennen als Zielstellung ihrer Bundesinitiative die Konfrontation von Gesellschaft und Politik mit der Situation behinderter und pflegebedürftiger Menschen in Heimen3. Heime stünden, so die Initiatoren, dem Wunsch- und Wahlrecht sowie dem Selbstbestimmungs- und Teilhabegedanken des SGB IX entgegen. Ältere und behinderte Menschen hätten einen menschenrechtlich verbrieften Anspruch auf ein Leben in einer „normalen“ Welt und sollten nicht mehr in die Sonderwelt „Heim“ abgeschoben werden4. Damit soll – ohne damit den Anspruch auf Vollständigkeit zu verbinden – die kurze exemplarische Betrachtung der Argumentationslinien einiger VertreterInnen kritischer Positionen in Bezug auf Wohninstitutionen des Hilfesystems für Menschen mit geistiger Behinderung zunächst abgeschlossen werden. Auch die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention können in gewisser Weise als kritischer Beitrag zur De-Institutionalisierungsdebatte aus rechtlicher Sicht gewertet werden, beispielsweise Art. 19 („Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft“), der hervorhebt, dass Menschen mit Behinderungen „[…] nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“5. Eine Analyse der aus unterschiedlichen Perspektiven vorgetragenen kritischen Anfragen an Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung zeigt eine breite Übereinstimmung in folgenden zentralen Punkten:
1
2 3 4 5
Vgl. FORNEFELD (2008), S. 128. Sie führt dazu aus: „Die strukturelle, institutionelle, konzeptionelle und professionelle Ausdifferenzierung des Behindertensystems bewirkt, dass Bedarfe von Menschen nicht in Absprache, sondern isoliert voneinander analysiert und Entscheidungen unabhängig von einander getroffen werden.“ Weitere Mitwirkende des Initiativkreises Bundesinitiative „Daheim statt Heim“ sind u. a. Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner und Ottmar Miles-Paul (vgl. auch Homepage www.bundesinitiativedaheim-statt-heim.de). Vgl. ebd. Vgl. www.bundesinitiative-daheim-statt-heim.de. BUNDESGESETZBLATT Jg. 2008 Teil II Nr.35 vom 31.12.2008, S. 1433.
62 1. 2.
3.
2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
Die Kritik bezieht sich nahezu ausschließlich auf Wohnstätten mit stationären Angeboten, ambulante Wohnformen werden dagegen nicht hinterfragt, sondern oftmals idealisiert1. Aus gesellschaftlicher Sicht wird den Wohnstätten eine nur noch ungenügende Leistungserbringung bescheinigt. Sie können den Effizienz- und Effektivitätsanforderungen ihrer technischen Umwelten immer weniger gerecht werden – die wachsenden Kosten ihrer Refinanzierung werden deshalb zunehmend kritischer beurteilt. Zudem entsprechen sie nicht mehr den gewandelten normativen Erwartungen ihrer institutionellen Umwelten, insbesondere in Bezug auf die Wahrung der Bürgerrechte ihrer BewohnerInnen, die Ermöglichung von Wahlfreiheit und Selbstbestimmung. Die Angebote der Wohnstätten können die Funktionen des Wohnens2 nachmoderner Gesellschaften nicht sichern; sie entsprechen nicht mehr den durch die Bedingungen der Nachmoderne veränderten Hilfebedarfen ihrer BewohnerInnen. Außerdem beeinträchtigen sie in restriktiver Weise ihre eigenverantwortliche Lebensgestaltung und Identitätsentwicklung.
Nach der Kritik sollen im folgenden Abschnitt nun die im Kontext der aktuellen De-Institutionalisierungsdebatte vorgeschlagenen Lösungsansätze überblicksartig vorgestellt werden. 2.3.2 Lösungsansätze der aktuellen De-Institutionalisierungsdebatte der Sonderpädagogik Das Spektrum der „Lösungsvorschläge“ reicht von der Forderung nach 1. 2. 3. 4.
1 2
vollständiger Auflösung der Heime über die vorrangige Priorisierung ambulanter, offener Hilfen und die Reduzierung stationärer Angebote oder dem Aufbau differenziert gestaffelter Wohnverbundsysteme bis zur Legitimierung der Angebote stationärer Wohnstätten auch innerhalb von Großeinrichtungen.
Eine Ausnahme bildet JOHANNES SCHÄDLER, der auch ambulante Wohnangebote kritisch reflektiert, wenngleich sie für ihn eine grundsätzliche Alternative zu stationären Angeboten bilden. Vgl. dazu die Ausführungen im Abschn. 4.1.1.
2.3 Diskurs I
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Zu (1): Prominenteste Vertreter dieses Lösungsansatzes sind die Mitglieder der Forschungsarbeitsgemeinschaft „Menschen im Heim“ der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Sie fordern „[…] das bisherige Heimsystem im Rahmen sämtlicher materieller, sozialer und moralischer Ressourcen zu diskutieren“ und einen „Prozess der De-Institutionalisierung, des Umbaus des Heimsystems zugunsten von community care“ einzuläuten. Dazu sollten die „familiären Netzwerke und das zunehmende bürgerschaftliche Engagement gestärkt sowie kommunal-ambulante Sorge-Systeme in Form von einzelfallbezogenen Sorge-Mix-Alternativen aufgebaut werden“1.
Diese gemeinwesenintegrierten Angebote, ambulanten Dienste und integrativen Hilfeformen sollen allen Menschen mit geistiger Behinderung offen stehen, in jedem Einzelfall den individuellen Hilfebedarf außerhalb institutioneller Strukturen abdecken und die erfolgreiche Umsetzung des Selbstbestimmungsparadigmas garantieren2. Diese Überlegungen basieren auf der – bisher theoretisch noch nicht fundierten – Annahme, dass sich in Zukunft eine tragfähige „CommunityCare-Kultur“ herausbilden wird, in der die „Bürgergesellschaft“ (überwiegend auf Basis ehrenamtlicher Tätigkeit) die soziale Verantwortung innerhalb der kommunalen Bezüge übernimmt3. Die Bundesinitiative „Daheim statt Heim“ setzt sich deshalb „Für ein Leben behinderter und älterer Menschen“4 ein und fordert zu seiner Realisierung einen Baustopp für neue Heime, den Abbau bestehender Heimplätze, den flächendeckenden Aus- und Aufbau individuell-bedarfsdeckender vernetzter Unterstützungsangebote, eine Garantie der Wahlmöglichkeit und der Beteiligung der Betroffenen sowie die Gewährleistung des Grundsatzes „Daheim statt Heim“ durch sozial- und verwaltungsrechtliche Regelungen5. Zu (2): Stellvertretend für viele andere Autoren kann SCHÄDLER als Vertreter eines klaren Vorrangs ambulanter, offener gegenüber stationärer Hilfen genannt werden. Für ihn ist es unstrittig, dass nur mit den gemeindeintegrierten ambulanten Wohnformen Optionen auf ein besseres Leben der Betroffenen, verbunden mit Fortschritten in Bezug auf Normalisierung, Nichtaussonderung und Selbstbestimmung realisierbar sind6. Allerdings betont er auch, die An1 2 3 4 5 6
Vgl. FORSCHUNGSARBEITSGEMEINSCHAFT „MENSCHEN IN HEIMEN“; Universität Bielefeld (2001). Vgl. ebd. SCHABLON untersuchte erstmalig 2008 in seiner Dissertation Community-Care-Ansätze unter dem Aspekt der Gemeinweseneinbindung von Menschen mit geistiger Behinderung (vgl. SCHABLON, 2009). Vgl. www.bundesinitiative-daheim-statt-heim.de. Vgl. ebd. Vgl. SCHÄDLER (2002), S. 103.
64
2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
nahme, allein strukturelle Bedingungen führten in gemeindenahen Diensten zu mehr Lebensqualität für Menschen mit geistiger Behinderung, als dies stationäre Einrichtungen ermöglichen könnten, sei verkürzend und falsch: „Bevormundung, mangelnde Aktivität bzw. erzwungene Passivität, Kontaktarmut und negative Selbstkonzepte sind als Wirkungen professioneller Hilfen offensichtlich nicht auf Anstaltssettings beschränkt, auch gemeindeintegrierte Dienste können entsprechende institutionelle Mechanismen und fremdbestimmte Routinen entwickeln.“1
Zu (3): Diesen Lösungsweg favorisiert z. B. der Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe (BEB)2. Als Reaktion auf den Aufruf zur Einsetzung einer Kommission zur „Enquête der Heime“ formulierte der BEB in einem offenen Brief an die Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag vom 26.11.01 seine offizielle Position: „Der Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe (BEB) teilt ausdrücklich die Einschätzung, dass die derzeitigen Versorgungsstrukturen unter den gegebenen gesetzlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen dem steigenden individuellen Hilfebedarf der Menschen mit Behinderungen immer weniger gerecht werden können. >...@ Wir hielten aber die Fokussierung und somit Engführung auf den Versorgungssektor der Heime allein für zu eng gefasst. Heime stellen ein Segment in einer breiten Angebotspalette von Einrichtungen und Diensten für Menschen mit Behinderungen dar. Der BEB hat in den vergangenen Jahren in verschiedenen Publikationen Anstöße und Vorschläge unterbreitet, wie eine den Bedürfnissen, Wünschen und Vorstellungen behinderter Menschen entsprechende Versorgungslandschaft, insbesondere im teilstationären und ambulanten Bereich, fachgerecht weiterentwickelt werden kann. Diese Angebote reichen von familienunterstützenden Angeboten, Maßnahmen der ambulanten wohnortnahen medizinischen Rehabilitation, Angeboten zur Teilhabe am Arbeitleben, ein differenziertes Wohnangebot bis hin zu vollstationären Wohnangeboten (für besondere Zielgruppen). Um Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen zu fördern, müssen ihnen Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Angeboten eröffnet werden. Konzeptionelle Vielfalt der Angebote sowie Trägervielfalt sind dafür Voraussetzung.“3
Der Bundesverband der Lebenshilfe reagierte ebenfalls mit einem Statement, in dem die gleichen Positionen vertreten werden. Es heißt dort z. B.:
1 2 3
SCHÄDLER (2002), S. 103. Der BEB ist der Fachverband der Behindertenhilfe im Diakonischen Werk der EKD. Offener Brief des BEB an die Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag vom 26.11.01.
2.3 Diskurs I
65
„Zur Gestaltung möglichst selbstbestimmter Lebensräume ist somit eine Ausdifferenzierung von Hilfearten gerade auch im Bereich des Wohnens von Menschen mit geistiger Behinderung aus unserer Sicht eine notwendige Voraussetzung. Hierzu zählen z. B.
Angebote stationären Wohnens; Angebote ambulanter Unterstützung beim Wohnen im eigenen Wohnraum; Familienunterstützende und -entlastende Angebote beim Wohnen in der Herkunftsfamilie bzw. bei Angehörigen.
Die Lebenshilfe hat >...@ ein bundesweites Netz gemeindeintegrierter Wohnstätten geschaffen>...@. Derartige Wohnstätten sind häufig in ein Verbundsystem unterschiedlich gestalteter Wohnformen eingebunden, von gruppengegliederten Wohnstätten über Wohngemeinschaften bis hin zu ambulanten Diensten für ein Paar- oder Einzelwohnen.“1
Zu (4): Der ehemals leitende Arzt der Evangelischen Stiftung Neuerkerode, Dr. CHRISTIAN GAEDT, stellte zum Kongress „Ich weiß doch selbst, was ich will! Menschen mit geistiger Behinderung auf dem Weg zu mehr Selbstbestimmung“ im Jahr 1994 in Duisburg in einem Beitrag mit dem Titel „Autonomie und Partizipation von Menschen in Großeinrichtungen“ die besonderen Chancen eines Lebens in „differenzierten Großeinrichtungen“2 anhand einer Reihe von Beispielen aus Neuerkerode dar. Er betrachtet die Autonomieentwicklung unter den Bedingungen einer geistigen Behinderung und begründet die Notwendigkeit einer „strukturellen Unterstützung“3 als Voraussetzung für eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung mit der Zielsetzung Autonomie, Integration und Normalisierung4. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Grundlagen für autonomes Leben für Menschen mit geistiger Behinderung in Großeinrichtungen geschaffen werden könnten, da es „Möglichkeiten gäbe, die noch nicht ausgeschöpft seien.“5 GAEDT verbindet damit die Hoffnung, „>...@ dass das Selbstverständnis großer Einrichtungen, mehr Leben zu ermöglichen, in der Zukunft überzeugende Realitäten aufzeigen kann.“6 Einen ganz anderen Vorschlag unterbreitet das Positionspapier der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin7, in dem die Schaffung von „Enabling Communities“ vorgeschlagen wird, 1 2 3 4 5 6 7
Fachdienst der Lebenshilfe 3/02, S. 22 und 23. Vgl. GAEDT (1997), S. 377 ff. Ebd., S. 378. Vgl. ebd., S. 378. Ebd. S. 384. GAEDT (1997), S. 384. Evangelischen Stiftung Alsterdorf & Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin (2009).
66
2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
die als inklusive Gemeinwesen befähigt sind, die Einbeziehung aller in ihnen lebenden Menschen zu leisten1. 2.3.3 Kritische Würdigung des Diskurses 2.3.3.1 Die Ergebnisse der Debatte Zur Bewertung der Erträge der aktuellen De-Institutionalisierungsdebatte erscheint es zweckmäßig, zwischen den Problemanalysen und den vorgeschlagenen Lösungsansätzen zu unterscheiden. Zunächst ist auffällig, dass sich die Argumentationen der Kritiker der Institutionen voneinander weniger in inhaltlicher Beziehung, dafür aber sehr stark in der Art des Vortrags, in der Bezugnahme auf Begründungen und in ihrer Differenziertheit unterscheiden. Das betrifft insbesondere die Problemanalysen. Diese lassen sich ganz grob kategorisieren in 1. Beiträge mit populistischem Charakter, 2. wissenschaftlich begründete kritisch-reflexive Positionen und 3. Ergebnisse empirischer Forschungen. Zu (1): Vertreter, die diese Argumentationsweise bevorzugen, zeichnen sich vor allem durch eine grundsätzliche Ablehnung der Organisationen der Behindertenhilfe, insbesondere der Wohneinrichtungen, aus. Um ihren Forderungen mehr Gewicht und öffentliche Aufmerksamkeit zu verleihen, greifen sie oftmals auf Formulierungen zurück, die zu einer affektiven Aufladung ihrer Kritik und einer polemischen Überzeichnung der dargestellten Sachverhalte führen2. Im Unterschied zu den eben zitierten Autoren gibt es auch wissenschaftlich renommierte Kritiker, die es – ungeachtet ihrer eigenen fundierten Forschungsergebnisse – vorziehen, mit populistischen Äußerungen zu agieren. Dazu ist beispielsweise JANTZEN zu rechnen, der in einem Vortrag zur Mitgliederver1 2
Vgl. Evangelischen Stiftung Alsterdorf & Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin (2009), S. 3 und Kap. 5.2. Der fib e.V. proklamiert im Rahmen eines Forderungskataloges z. B. eine „Heimverhinderungsund Heimauflösungsverordnung“ einschließlich eines grundsätzlichen Verbots von Heimneubauten um die „Fortsetzung traditioneller Ausgliederungsformen“ zu verhindern. „Betroffene würden nicht anklagen“, so die Autoren, denn „[…] bisher wird durch fast alle Teile der so genannten gesellschaftlichen Eingliederung geistig behinderter Menschen erfolgreich verhindert, dass diese für sich selbst Ansprüche stellen können. Von der Wiege bis zur Bahre greift ein umfassendes System der Bevormundung und Entmündigung, das die Betroffenen zwar zu schützen vorgibt, sie jedoch jeder möglichen Eigeninitiative beraubt.“ (vgl. fib. e. V., 1995, S. 11).
2.3 Diskurs I
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sammlung der Arbeitsgemeinschaft Evangelische Behindertenhilfe in Bayern am 22.04.1997 über den „Krieg als Gesellschaftszustand“ referierte, zum Ausgangspunkt die nicht aufgearbeiteten Wehrmachtsverbrechen nahm (!) und dann den direkten Vergleich zur Behindertenhilfe mit den Worten „Wie kann Enthospitalisierung und De-Institutionalisierung stattfinden als Beendigung von Krieg als Gesellschaftszustand und zugleich Aufbau friedlicher Verhältnisse.“1 (Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.)
herstellte. Im Rahmen eines anderen Vortrags am 27.11.1997 im Theodor-Fliedner-Werk, Mülheim/R. beschreibt er die „Doppelrolle“ der MitarbeiterInnen von Wohneinrichtungen als „Helfer/innen einerseits und Techniker/innen der Gewalt (Befriedungsverbrecher) andererseits“2. DÖRNER, der sich selbst nach seiner Pensionierung als Leiter der Gütersloher Klinik nun als „Heimauflöser im Zweitberuf“3 bezeichnet, liebt ebenfalls publikumswirksame Auftritte mit Äußerungen wie „Kein Mensch will freiwillig im Heim leben und kein Mensch muss auf Dauer im Heim leben.“4 „Umgang mit Kranken und Behinderten – gegen die Schutzhaft der Nächstenliebe – Wir müssen die Heime abschaffen – und die »Insassen« endlich in ihrer Menschenwürde ernst nehmen.“5 „Die »Geiselnehmer-These«: Aus ökonomischen Gründen halten (besonders die großen) Heimkonzerne, aber auch private Betreiber ihre Bewohner/innen in einer Art »Geiselhaft«, um möglichst hohe Belegungen zu erzielen und die eigenen Einrichtungen abzusichern.“6 (Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.).
Aus seinen „Gütersloher Erfahrungen“ leitet er sehr pauschal schwergewichtige Zahlen ab, z. B. könne man (nach DÖRNER) in der Bundesrepublik „50 Prozent der geistig Behinderten unter fachlichen Gesichtspunkten auf der Stelle entlassen“, bei dem Rest würde es „nur etwas länger dauern“. Dies wäre „fachlich geboten, unter dem Aspekt der Würde des Menschen zwingend“ und schließlich brauche man dafür „weniger als die Hälfte der Kosten“7. 1 2 3 4 5 6 7
JANTZEN (2003), S. 57. Vgl. JANTZEN (2003), S. 298. Vgl. DÖRNER (2001), Heim in die Wohnung statt Wohnen im Heim. In. Soziale Psychiatrie 2/2001, S. 18-21. Ebd. Publik-Forum 15 / 13. August 1999. DÖRNER (2001), Heim in die Wohnung statt Wohnen im Heim. In. Soziale Psychiatrie 2/2001, S. 18. Vgl. Publik-Forum 15 / 13. August 1999.
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
Zu (2): Zu den Vertretern dieser Gruppe können z. B. BECK, I., BRADL, DEDERICH, FORNEFELD und SCHÄDLER gerechnet werden, deren Beiträge durch eine ausgewogene, differenzierte Form der Darstellung gekennzeichnet sind. Sie verzichten weitgehendst auf populistische Stilmittel und greifen zur Veranschaulichung und Begründung ihrer Argumente auf eigene Erfahrungen und wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse anderer zurück1. Die von JANTZEN vertretenen wissenschaftlichen Positionen, die er in einer Reihe von Veröffentlichungen dargelegt hat, lassen sich ebenfalls dieser Kategorie der Problemanalysen zuordnen. Zu (3): Diese Argumentationslinie repräsentieren z. B. GOFFMAN, FENGLER & FENGLER sowie alle die im Abschn. 2.2.1 mit eigenen Untersuchungen aufgeführten VertreterInnen. Die Fakten, die sie durch ihre wissenschaftlichen Forschungen empirisch ermittelt haben, sprechen eine deutliche Sprache, vermitteln klare Einblicke in die Situation innerhalb stationärer Einrichtungen und erlauben die Ableitung fundierter Schlussfolgerungen. Zusammenfassend lassen sich nun die Schwerpunkte der Argumentation der Kritiker der Institutionen des Systems der Behindertenhilfe, die sich für den Lebensbereich Wohnen nahezu ausschließlich auf Wohnstätten mit vollstationären Angeboten beziehen, wie folgt bewerten:
1 2
Die Kritik an diesen Einrichtungen der Behindertenhilfe ist in vollem Umfang berechtigt, insoweit sie sich auf beobachtbare Phänomene der Lebenswirklichkeit innerhalb der Wohneinrichtungen bezieht. Die Kritik ist vollem Umfang berechtigt, insoweit sie sich auf die Auswirkungen der institutionalisierten Strukturen und Prozesse auf BewohnerInnen und MitarbeiterInnen bezieht. Das schließt Selbstbilder und Rollenverständnisse mit ein. Die Kritik erscheint insbesondere dann in vollem Umfang berechtigt, wenn sie die Machtstrukturen der sozialen Felder innerhalb der institutionellen Kontexte aufdeckt und problematisiert. Die Kritik kann nachvollzogen werden, wenn sie Trägern und Wohlfahrtsverbänden die Instrumentalisierung ihrer Klientel aus eigennützigen ökonomischen Gründen vorwirft und z. B. eine unselige Verknüpfung zwischen idealisierter christlicher Nächstenliebe und einer Stabilisierung der Machtstrukturen der Institutionen apostrophiert2. SCHÄDLER bezieht dabei auch internationale Forschungsergebnisse, z. B. aus den USA, ein (vgl. SCHÄDLER 2002). Das gilt auch dann, wenn die Kritik ideologisch eingefärbt zu sein scheint, wie das z. B. bei JANTZEN der Fall ist, der von der Position einer materialistischen Ethik mit hoher Affinität zum historischen und dialektischen Materialismus aus argumentiert.
2.3 Diskurs I
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Die Kritik verliert an Wirksamkeit und inhaltlicher Substanz, wenn sie MitarbeiterInnen und Trägervertreter verbal kriminalisiert („Techniker/innen der Gewalt“, „Befriedungsverbrecher“, „Geiselnehmer“).
Die weitgehendste Berechtigung der Argumente der Institutionenkritiker, soweit sie sich nachweislich auf die defizitären Auswirkungen bestehender Einrichtungen auf die Lebenswirklichkeit der in ihnen lebenden Menschen beziehen, wird auch von den meisten „Verteidigern“ der Institutionen grundsätzlich anerkannt. Zusammenfassend lassen sich die folgenden positiven Effekte der sonderpädagogischen De-Institutionalisierungsdebatte hervorheben:
1
Die Kritik hat zu einer Sensibilisierung der Professionellen und der Öffentlichkeit bezüglich der regressiven Auswirkungen institutioneller Kontexte für die BewohnerInnen von Wohnstätten geführt. Mit dieser Infragestellung der lange Zeit für notwendig und richtig gehaltenen institutionellen Strukturen, Settings, Rollenmuster, der professionellen Selbstverständnisse und Grundhaltungen, wurde eine wichtige Voraussetzung für Veränderungen geschaffen. Von einem breiten Übergang der institutionszentrierten zur personenzentrierten Leistungserbringung kann zwar noch nicht die Rede sein, aber diese Infragestellung beginnt Wirkung zu zeigen bei MitarbeiterInnen, den Trägern und Wohlfahrtsverbänden, den Sozialhilfeträgern und einer wachsenden gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Zur Bearbeitung wichtiger Aspekte, die die Möglichkeiten der Gestaltung von Bildungsprozessen, aber auch ihre Einschränkungen innerhalb von Wohneinrichtungen betreffen, liegen inzwischen eine Vielzahl kritischer Fakten und fundiert erhobener Daten vor, auf die zurückgegriffen werden kann1. Das betrifft insbesondere Fragen der Handlungs- und Freiräume für die Persönlichkeitsentwicklung bis ins Alter, die Konstituierung von Identität, den realen Zugewinn an Autonomie und den Umgang mit Optionen und Zwängen. Die Frage nach der Sicherung von Würde, Persönlichkeitsrechten und Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung konnte zwar (noch längst) nicht befriedigend beantwortet werden, immerhin wird ihr verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet und inzwischen auch erhebliche Bedeutung beigemessen. Die Prozesse der Umstrukturierung und Ausdifferenzierung der großen Komplexeinrichtungen der bundesdeutschen Behindertenhilfe durch den Aufbau von Wohnverbundsystemen unterschiedlichster Wohnformen mit Gerade dabei kommt GOFFMANS Erkenntnissen noch immer eine zentrale Bedeutung zu – als wären sie zeitlos gültig.
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dem Schwerpunkt der Schaffung gemeindezentrierter Wohnangebote sind sicher als ein Ergebnis der De-Institutionalisierungsdebatte zu werten. Die Debatte verdeutlicht die Legitimationskrise der Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung, insbesondere die der stationären Wohnangebote. Dabei spielt die öffentlich kontrovers diskutierte Frage, inwieweit diese Form der Leistungserbringung noch zeitgemäß und zukunftsfähig ist – aus ethischer fachlicher und ökonomischer Sicht. der Leistungen der Dienste der Behindertenhilfe, eine zentrale Rolle. Durch die De-Institutionalisierungsdebatte wird der enge gesellschaftliche Bezug zum Hilfesystem erhellt, die Erwartungshaltungen der durch Wandlungsprozesse gekennzeichneten nachmodernen Gesellschaft gegenüber der Behindertenhilfe verändern sich grundlegend: Das System der Hilfen wird in Frage gestellt und herausgefordert durch sich schnell wandelnde Umweltanforderungen durch eine Gesellschaft im Umbruch.
Von der wissenschaftlich fundierten, gut belegten und nachvollziehbar dargestellten Kritik und dem hohen kritisch-emanzipativen Potenzial, das durch die Institutionenanalysen im Rahmen der De-Institutionalisierungsdebatte freigesetzt wurde, heben sich die vorgeschlagenen Lösungsansätze deutlich ab – sie wirken insgesamt viel weniger überzeugend und teilweise auch realitätsfern. Das liegt daran, dass sie überwiegend als programmatische Forderungen mit visionären Elementen formuliert werden. Als prominente Beispiele dafür können KLAUS DÖRNER und WOLFGANG JANTZEN1 herangezogen werden: DÖRNER propagiert z. B. die sofortige Entlassung der Hälfte der Menschen mit geistiger Behinderung aus den Heimen, bei genauer Nachfrage gibt er dann aber einen „Zeithorizont“ von mindestens 50 Jahren an, „auf dem ich bestehe“ und „ohne dass wir wissen dürfen, ob wir das Ende (des Prozesses der Auflösung der Heime, Anm. A. B.) je erreichen“ und „ein gutes Heim dürfe nie mehr als 10 % seiner Bewohner/innen im Entlassungsprozess haben“2. Er plädiert – richtiger Weise – dafür, bei allen Enthospitalisierungsbemühungen bei den Menschen mit den höchsten Hilfebedarfen zu beginnen, kann dann allerdings keine konkreten Lösungsvorschläge zur Realisierung eines solchen Ansatzes unterbreiten (angesichts der Tatsache, dass in den meisten Bundesländern die Art der Finanzierung dieser Dienste diese im Vergleich zu stationären Leistungen benachteiligen – insbesondere aufgrund der Begrenzung der Entgelte und der fehlenden Planungssicherheit für die Anbieter). 1 2
Insgesamt scheint sich der Fokus seiner Arbeiten allerdings viel stärker auf die Analyse der Institutionen der Wohlfahrtspflege zu richten, als auf die Entwicklung konkreter Lösungsansätze. Vgl. Interview der Redaktion mit DÖRNER „Was nun, Herr Dörner?“. In: Soziale Psychiatrie 2/2001, S. 42.
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71
Für JANTZEN stellt die Verteilung von Macht und Ohnmacht, die in „vielfältiger Weise »verborgenen Mechanismen der Macht« (BOURDIEU 1997a)“1 den Schlüssel für eine angemessene und „den Grund- und Bürgerrechten behinderter Menschen Rechnung tragende“ Reform dar2. Ein zentraler Aspekt besteht für ihn darin, die Position der NutzerInnen von Einrichtungen bei der Gestaltung ihrer Beziehungsnetzwerke zu stärken, um der institutionalisierten strukturellen Gewalt entgegenwirken zu können3. In diesem Zusammenhang verweist JANTZEN interessanterweise ausdrücklich darauf, dass die Wirkweise totaler Institutionen nicht an eine Organisationsform (Großeinrichtung, Wohnheim, Ambulanter Dienst) gebunden sei, sondern vielmehr an „Positionierungen im Feld von Macht und Ohnmacht“4. Die Bundesinitiative „Daheim statt Heim“, die am 01.12.2006 durch Silvia Schmidt, MdB, in Berlin5 unter Beteiligung einer Vielzahl prominenter Initiatorengegründet wurde, nennt als Zielstellung ihrer Bundesinitiative die Konfrontation von Gesellschaft und Politik mit der Situation behinderter und pflegebedürftiger Menschen in Heimen6. Heime stünden, so die Initiatoren, dem Wunsch- und Wahlrecht sowie dem Selbstbestimmungs- und Teilhabegedanken des SGB IX entgegen. Ältere und behinderte Menschen hätten einen menschenrechtlich verbrieften Anspruch auf ein Leben in einer „normalen“ Welt und sollten nicht mehr in die Sonderwelt „Heim“ abgeschoben werden7. Die proklamierten Forderungen der Bundesinitiative „Daheim statt Heim“ sind nahezu identisch mit den Positionen des Aufrufs der Forschungsarbeitsgemeinschaft „Menschen im Heim“ der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld vom Juni 2001 zur Einsetzung einer Kommission zur „Enquête der Heime“. Insofern lieferte die Bundesinitiative „Daheim statt Heim“ bisher keine substantiell grundsätzlich neuen Vorschläge, sie führte aber zu einer Belebung und Intensivierung der De-Institutionalisierungsdebatte8 in der jüngeren Vergangenheit sowie zu einer deutlichen Verstärkung ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit. 1 2 3 4 5 6 7 8
JANTZEN (1999), S. 192. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 195. JANTZEN (1999), S. 195 unter Bezug auf BOURDIEU (1997b). Weitere Mitwirkende des Initiativkreises Bundesinitiative „Daheim statt Heim“ sind u. a. Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner und Ottmar Miles-Paul. (vgl. auch Homepage www.bundesinitiativedaheim-statt-heim.de). Vgl. ebd. Vgl. www.bundesinitiative-daheim-statt-heim.de. Die Initiatoren von „Daheim statt Heim“ beziehen in ihre Überlegungen allerdings nicht nur die Wohnangebote für Menschen mit Behinderung ein, sondern auch die Bereiche Sozialpsychiatrie und Altenhilfe.
72
2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
Werden im Rahmen der De-Institutionalisierungsdebatte konkrete Lösungsvorschläge entwickelt, so beziehen sie sich in der Regel auf Ambulantisierungsprozesse, also auf Beschreibungen des Übergangs aus stationären in ambulant unterstützte Wohnformen. Bei den betroffenen Menschen mit geistiger Behinderung handelt es sich überwiegend um selbständige Erwachsene mit geringem Hilfebedarf, die über die für das eigenständige Wohnen erforderlichen alltagspraktischen Kompetenzen verfügen. Die Vertreter radikaler De-Institutionalisierungspositionen nutzen die mit derartigen Enthospitalisierungsprojekten gesammelten – durchaus positiven – Praxiserfahrungen gern als Beleg für die generelle Notwendigkeit und den Erfolg der Auflösung stationärer Wohnangebote. Daraus allerdings generelle Rückschlüsse für alle betroffenen Zielgruppen abzuleiten, wäre eine unzulässige Verallgemeinerung – dies wird in den Diskursen zur De-Institutionalisierung oft übersehen1. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die aktuelle De-Institutionalisierungsdebatte bisher keine überzeugenden, praktikablen Lösungsvorschläge hervorgebracht hat. Das gilt insbesondere für die Forderung nach einer radikalen De-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen im Sinne einer vollständigen Auflösung der Wohnstätten mit stationären Angeboten, die aus folgenden Gründen problematisch erscheint2:
1
2
Das gilt insbesondere dann, wenn es sich um die Enthospitalisierung chronisch psychisch Kranker (z. B. Landeskrankenhaus Gütersloh, 435 Patienten im Zeitraum 1981-96) bzw. geistig behinderter Menschen (z. B. Psychiatrische Langzeitklinik Kloster Blankenburg, 1988) aus psychiatrischen Kliniken oder um die irreführenderweise als De-Institutionalisierung bezeichnete Re-Organisation von Komplexeinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung handelt. JANTZEN beschreibt z. B. einen solchen Prozess, den er selbst in den Jahren von 1995 bis 1998 beratend begleitete. Als Schwerpunkte dieses von ihm mit dem Begriff „DeInstitutionalisierungsprozess“ einer Großeinrichtung bezeichneten Projektes führt er Aspekte wie „Entbürokratisierung und Enthierarchisierung“, „Neuorganisation der Dienste“, „Einwerbung zusätzlicher personeller Ressourcen durch Kooperationspartner von außen“, „Umgestaltung im Gelände“ sowie „Veränderungen der Kontakte zum Ort“ an (JANTZEN, 2003, S. 45). Auch die in der Praxis bereits erfolgreich umgesetzten Projekte der Dezentralisierung von Heimeinrichtungen für Erwachsene mit geistiger Behinderung bei geringerem Hilfebedarf in gemeindenahe Wohnformen, die z. T. mit wissenschaftlicher Begleitforschung durchgeführt wurden (z. B. das Forschungsprojekt USTA, das durch die Humboldt-Universität Berlin in der Zeit von 1994 – 98 durchgeführt wurde), können aus diesem Grund nur als bedingt verallgemeinerungsfähig betrachtet werden. Eine radikale De-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen im Sinne einer kompletten Auflösung wäre mit enormen zusätzlichen investiven und laufenden Kosten verbunden, so dass sie zudem – angesichts der aktuellen Finanzlage des Bundes, der Länder und vor allem auch der Kommunen im Jahr 2010 und den Folgejahren – als nicht realisierbar eingeschätzt werden muss.
2.3 Diskurs I
1.
2.
3.
1 2
3
4
73
Zwischen stationären und ambulanten Wohnangeboten wird eine Dichotomie konstruiert, die ignoriert, dass beide Wohnformen bestimmte Institutionalformen darstellen, die sich nur in ihrer organisationalen Ausprägung unterscheiden, in den entscheidenden institutionellen Merkmalen dagegen übereinstimmen. Die fachliche und moralische Abwertung der stationären Angebote, die damit verbunden ist, wird dem eigentlichen Anliegen, adäquate Hilfen für den Lebensbereich Wohnen anzubieten, nicht gerecht1,2. Die ihnen – explizit oder implizit – zugrunde liegende Annahme, alle Formen erlebter Fremdbestimmung sind ausschließlich und einseitig auf die unmittelbar restriktive Wirkung von Wohnorganisationen zurückzuführen, ist falsch und führt zu der irrigen Schlussfolgerung, eine „Freisetzung“ der Organisationsmitglieder aus deren Einflussbereich muss quasi zwangsläufig zu voller Selbstbestimmung führen. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass Veränderungen der organisationalen Form der professionellen Hilfen (z. B. als Wechsel von stationären in ambulante Wohnformen) oder gar die völlige „Entlassung“ in die Allltagslebenswelt keineswegs „automatisch“ zu einem Zuwachs an tatsächlicher Selbstbestimmung führen muss, sondern gerade hinein in eine Konfrontation mit neuen, oft sehr subtil wirkenden institutionalisierten Zwängen3. Insbesondere Menschen mit geistiger Behinderung benötigen umfangreiche Unterstützung – zumeist professioneller Art – um sich diesen Herausforderungen zu stellen und sie erfolgreich bewältigen zu können. Die Herstellung eines monokausalen Zusammenhangs zwischen dem Leben in einer Wohneinrichtung und der sozialen Exklusion von Menschen mit geistiger Behinderung verstellt den Blick auf weitere wichtige Exklusionsfaktoren4. Vgl. SCHÄPER (2006), S. 263. Die eigentliche Frage, so SCHÄPER, welche Angebote denn aus Sicht der behinderten Menschen diejenigen sind, die am ehesten ihre Lebensqualität sichern, wird vermieden (ebd.). SCHÄPER betont, dass die „Institution Geistige Behinderung“ auch in ambulanten Formen weiterlebe und Praktiken der Unterwerfung nicht primär oder gar ausschließlich an organisationale Strukturen gekoppelt seien – schon gar nicht in einer einfachen Dichotomisierung (ambulant = geringfügig institutionalisiert, stationär = hochgradig institutionalisiert), wenn Institutionen als Gesamtheit der Haltungen, Vorstellungen, Verhaltensweisen und Strukturen verstanden würden, die auf behinderte Menschen einwirkten. Dann wäre die organisationale Ausgestaltung der Hilfen auch nur ein Aspekt von Institution (vgl. SCHÄPER, 2006, S. 265). Das von ULRICH BECK entwickelte Konzept der Individualisierung beschreibt z. B. die fremdbestimmende Wirkungsweise sekundärer Institutionen sehr differenziert und lässt den täglich wahrnehmbaren Prozess der gesellschaftlichen Institutionalisierung und die erlebten institutionellen Abhängigkeiten der Konstituierung „nachmoderner“ individualisierter Lebensformen verständlich erscheinen (vgl. Kap. 3). Dabei ist soziale Exklusion von Menschen mit Behinderungen nicht nur, so belegt eine europaweite Befragung von Behindertenorganisationen, auf die institutionalisierte Form des Lebens zurückzuführen. (vgl. SCHÄPER, 2006, S. 259. In der Studie „Disability and Social Exclusion in
74 4.
5.
2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
Die Tatsache, dass institutionalisierte Settings wichtige Funktionen wahrnehmen, auf die Menschen mit geistiger Behinderung angewiesen sind, um Prozesse gelingender Identitätsentwicklung, der Herausbildung von Selbstbestimmung und Erschließung von Teilhabemöglichkeiten erfolgreich zu absolvieren1, wird vollständig ignoriert. Die weitgehend vernachlässigte Thematisierung der Problematik des Ausschlusses von Menschen mit sehr hohem Hilfebedarf und mit Komplexer Behinderung (vgl. FORNEFELD, 2008) aus den Ambulantisierungsbemühungen führt letztlich zu einer exkludierenden Wirkung der De-Institutionalisierungsdebatte in Bezug auf diesen Personenkreis2.
Aufgrund der aufgezeigten Problematik des Ansatzes einer radikalen De-Institutionalisierung in Verbindung mit der kurz- und mittelfristig fehlenden Finanzierungsbasis für seine Umsetzung scheidet dieser als Lösungsansatz aus. Andererseits fehlen Ansätze einer wissenschaftlichen Grundlegung zur Konzeptionalisierung der nachhaltigen Fortentwicklung des gesamten professionellen institutionellen Arrangements der Wohnangebote für Menschen mit geistiger Behinderung, die im Rahmen einer konstruktiven Weiterführung der DeInstitutionalisierungsdebatte zu entwickeln wären. 2.3.3.2 Perspektiven Der betrachtete Diskurs I der sonderpädagogischen De-Institutionalisierungsdebatte belegt zwar eindrücklich die gesellschaftliche Legitimationskrise der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung, konnte bisher aber keine Lösungsansätze zur Überwindung dieser Krise aufzeigen. Dazu ist neben dem Rückgriff auf soziologische Deutungstheorien zur Analyse der gesellschaftlich bedingten Ursachen des Legitimationsverlustes die Einbeziehung organisationstheoretischer Ansätze unerlässlich, um
1
2
the European Union” (European Disability Forum 2002, S. 63) wurden folgende Faktoren als wichtiger (im Vergleich zum Leben in einer Institution) benannt: Zugang zum sozialen Umfeld, Arbeitslosigkeit, Zugang zu Dienstleistungen, Stigmatisierung, angemessene Förderung, spezialisierte Dienstleistungen, inadäquate Bildungssysteme und die Struktur des Wohlfahrtssystems (vgl. ebd.). Diese stützenden, stabilisierenden, entwicklungsförderlichen, entlastenden und entschleunigenden Funktionen der Institutionalformen des Wohnens entsprechen nicht nur den besonderen individuellen Hilfebedarfen der BewohnerInnen, sondern auch den gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen an die Wohneinrichtungen. Vgl. FORNEFELD (2008), S. 9, 10 und SCHÄPER (2006), S. 263.
2.3 Diskurs I
75
die den jeweiligen Positionen zugrunde liegenden – oftmals nicht explizit formulierten, aber implizit umso wirkungsvolleren – Theoriemodelle von Organisationen und Institutionen im Rahmen des Diskurses bewusst zu machen und zu thematisieren1, eine organisationstheoretisch fundierte Situationsanalyse dieser Organisationen unter Berücksichtigung des sich verändernden gesellschaftlichen Kontextes mit den daraus resultierenden Folgerungen für die Wohneinrichtungen durchzuführen und eine Re-Institutionalisierung im Sinne einer grundlegenden Umgestaltung dieser Organisationen als alternativer Lösungsansatz zur Überwindung der Legitimationskrise der Wohneinrichtungen zu entwickeln.
Im Unterschied zu den radikalen De-Institutionalisierungsforderungen nach einem generellen, vollständigen Abbau stationärer Wohnangebote für Menschen mit geistiger Behinderung, die sich im Diskurs I als letztlich nicht überzeugende Option einer Problemlösung erwiesen haben, gestattet der Rückgriff auf neo-institutionalistische Ansätze eine lösungsorientierte Weiterführung der De-Institutionalisierungsdebatte, um Wohneinrichtungen für erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung einen Weg aus ihrer Legitimationskrise aufzuzeigen. Die Rückgewinnung gesellschaftlicher Legitimation ist nur durch eine grundlegende Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen möglich, die auch die Auseinandersetzung mit dem zweiten Aspekt der Legitimationskrise – der Krise 1
Diese impliziten Theorien scheinen sich oftmals an WEBERS Bürokratietheoriemodell (vgl. dazu die Überblicksdarstellung in KIESER, 2002, S.39 ff.) zu orientieren. Das hat weit reichende Folgen, wie eine Betrachtung des Modells sofort verdeutlicht: Wichtige Aspekte dieses von WEBER entwickelten „Idealtyps der Bürokratie“ zum Verständnis der Funktionsweise von Institutionen sind Sachlichkeit, Unpersönlichkeit und Berechenbarkeit – also Formen der Zweckrationalität. Daraus ergibt sich ein grundlegendes Problem, das WEBER selbst als „>...@ Konflikt zwischen der Rationalisierung der Institutionen, die u. a. zur Bürokratie und rationalen Arbeitsorganisation führt und der Rationalisierung auf der Ebene der praktischen Lebensführung“ (Hervorhebungen im Original, A. B.; KIESER, 2002, S. 51 mit Bezug auf GABRIEL, 1979) beschreibt. Die Institutionen werden zu „stahlharten Gehäusen“, die Entfaltung der Persönlichkeit und die Rationalität der Organisation scheinen in einem unauflöslichen Widerspruch zu stehen – die „Systemwelt greift in die »Lebenswelt« über und »kolonialisiert« diese.“ (Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.; vgl. HABERMAS, 1981). Da es in der Praxis sozialer Organisationen genügend Beispiele gibt, die WEBERS These zu bestätigen scheinen, entsteht und verfestigt sich der Mythos, dass diese Art der Ordnung (oder Struktur) rational legitimiert und damit jeder Beeinflussung und Kritik zunächst entzogen bzw. durch Mitglieder der Organisation nicht veränderbar ist. Damit bildet sich ein Teufelskreis aus, der nicht zu durchbrechen ist, solange das Bürokratiemodell (das ja tatsächlich zuzutreffen scheint) als das einzig richtige Bild von der Organisation verstanden wird. SCHÄDLER problematisiert dieses Defizit als „verkürztes heilpädagogisches Institutionenverständnis“ das „auf einen begrifflichen Holzweg führt“ (SCHÄDLER, 2002, S. 249) und entwickelt Überlegungen zur Überwindung dieser Engführung (vgl. ebd.).
76
2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
der sonderpädagogischen Leitkonzeptionen und ihrer Re-Institutionalisierung – umfasst. Deshalb soll im nächsten Abschnitt zunächst eine Einführung in den Diskurs II der aktuellen sonderpädagogischen De-Institutionalisierungsdebatte gegeben werden, ehe in den folgenden Kapiteln die Überlegungen zur Umgestaltung der Wohneinrichtungen im Sinn ihrer Re-Institutionalisierung fortgeführt werden. 2.4 Diskurs II 2.4.1 Überblick: Die aktuellen sonderpädagogischen Leitkonzeptionen des Lebensbereichs Wohnen Zu den aktuellen Leitkonzeptionen der Behindertenhilfe1, die für die pädagogische Arbeit im Lebensbereich Wohnen bedeutungsvoll sind, können die seit Jahren eine zentrale Rolle spielenden „klassischen“ Leitvorstellungen2
Normalisierung, Integration, Inklusion, Selbstbestimmung
und neuere Ansätze, wie z. B.
das Empowerment-Konzept3, unterschiedliche Lebensqualitätskonzeptionen4 sowie Ansätze zur Steigerung der Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen5.
gerechnet werden. Zunehmend öffnen sich die sonderpädagogischen Diskurse in diesem Bereich aber auch für eine kontextbezogene Sichtweise, indem sie Hand1 2
3 4 5
Für FORNEFELD werden die „aktuellen Menschenbildentwürfe der Behindertenpädagogik“ an ihren Leitgedanken, d. h. den Leitkonzeptionen, erkennbar (FORNEFELD, 2008, S. 108). FORNEFELD stellt unter Bezugnahme auf GREVING & ONDRACEK (2005) die Bedeutung gerade dieser Leitkonzeptionen besonders heraus, denn diese markieren „[…] einen umfänglichen Reformprozess, der sich seit Ende des Zweiten Weltkrieges in der Versorgung, Rehabilitation und Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung vollzogen hat.“ (FORNEFELD, 2008, S. 17). Vgl. z. B. THEUNISSEN (1995, 1997, 2002a, 2005, 2006) und THEUNISSEN & PLAUTE (2002). Vgl. z. B. BECK, I. (1994, 1998, 1999, 2000, 2004, 2006b), SEIFERT (1993, 1997a, 1997b) SEIFERT & FORNEFELD & KOENIG, (2001), THIMM (1978), WACKER (2001, 2002a, 2002b), WACKER u. a. (1998) und WACKER & WANSING & SCHÄFERS (2006). Vgl. z. B. WACKER (2005a, 2005b), WACKER u. a. (2005) und WANSING (2006).
2.4 Diskurs II
77
lungskonzepte aus anderen Bereichen der Sozialen Arbeit wie z. B. die Ansätze der Gemeinwesenarbeit sowie des Umfeldbezuges und der Sozialraumorientierung1 aufnehmen. In der Vergangenheit wurde durch THIMM mit der Rezeption des DAHRENDORFSCHEN Konzeptes der Lebenschancen bereits ein soziologischer Ansatz in die Sonderpädagogik eingeführt2. Zukünftig könnten auch die Ergebnisse der Salutogenese3- und Resilienzforschung4 eine wachsende Berücksichtigung finden. 2.4.2 Die Problematisierung der Leitkonzeptionen als Ausdruck gesellschaftlichen Wandels Die Entwicklung der sonderpädagogischen Leitkonzeptionen in den letzten dreißig Jahren ist – davon wird in vorliegender Arbeit ausgegangen – nur vor dem Hintergrund des globalisierungs- und modernisierungsbedingten gesellschaftlichen Wandels richtig zu verstehen. Sie waren zum Zeitpunkt ihrer Einführung bzw. Rezeption unmittelbarer Ausdruck ganz bestimmter aktueller Anforderungen und Erwartungen der sich funktional ausdifferenzierenden nachmodernen Gesellschaft an das System der Behindertenhilfe und trugen insbesondere der zunehmenden gesellschaftlichen Individualisierung und Pluralisierung Rechnung5. Dieser Zusammenhang lässt sich theoretisch begründen, wenn die sonderpädagogischen Leitkonzeptionen in den Deutungshorizont neo-institutionalistischer Ansätze gestellt und selbst als „Institutionen“ verstanden werden6. Inzwischen haben sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aufgrund des weiter fortschreitenden gesellschaftlichen Wandels grundlegend verändert. Damit kommt es zu Spannungen zwischen den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen und den inzwischen etablierten sonderpädagogischen Leitkonzeptionen – sie genügen als „Institutionen“, d. h. als regulative, normative und kognitive Strukturen mit ihren konstitutiven Bedeutungen den Anforderungen ihrer Umwelten7 inzwischen nur noch unzureichend.
1 2 3 4 5
6 7
Vgl. z. B. FRANZ & BECK, I. (2007). Vgl. THIMM (1997). ANTONOVSKY (1997). Vgl. z. B. GUNKEL (2004), RETZLAFF (2006) und SCHMIDTHERMES (2009). Vgl. dazu Abschn. 3.4. Die Konzipierung sonderpädagogischer Leitkonzeptionen wie das Normalisierungsprinzip, Ansätze der Integration und Inklusion, Selbstbestimmung und das Konzept des Empowerments stellten damit bereits in der Vergangenheit kritische Reaktionen auf die Systemleistungen der traditionellen Behindertenhilfe dar. Vgl. Abschn.4.1. Auf den Begriff der institutionellen Umwelten wird im Abschn. 3.5.2 näher eingegangen.
78
2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
Da die sonderpädagogische Diskussion sich erst in den letzten Jahren für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren geöffnet hat1, beschränkte sich die Fortentwicklung der sonderpädagogischen Leitkonzeptionen auf erste, teilweise nur fragmentarisch umgesetzte Konzeptualisierungen. Diese – aus neo-institutionalistischer Sicht als unzureichende Anpassung dieser Institutionen an den sich in rascher Veränderung befindlichen gesellschaftlichen Kontext zu bezeichnende Situation – lässt die sonderpädagogischen Leitkonzeptionen heute in ihrer bisherigen Form als nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Infolge dessen öffnen sich zwischen den Ansprüchen der Leitkonzeptionen und der zunehmend komplexer, unübersichtlicher und ambivalenter werdenden Lebenswelten von Menschen mit geistiger Behinderung wachsende Diskrepanzen2. Sie haben ihr Potenzial, den gesellschaftlichen Kontext kritisch zu deuten, weitgehendst eingebüßt, sind kaum noch in der Lage, eine theoretische Orientierungsfunktion für das Hilfesystem wahrzunehmen – und lösen inzwischen z. T. paradoxe Wirkungen aus3. Folgt man FORNEFELD, für die die Leitkonzeptionen übergeordnete Prinzipien sind, nach denen die Behindertenpädagogik ihr Denken und Handeln ausrichtet, dann haben die kritischen Anfragen an diese Leitgedanken, ausgelöst durch veränderte gesellschaftliche Verhältnisse, weitreichende Folgen: Einerseits erfahren die sonderpädagogischen Leitkonzeptionen dadurch als „Institutionen“ nicht nur den Verlust ihrer gesellschaftlichen Legitimation, sondern eine faktische De-Institutionalisierung, d. h. ihrem Wirkungsverlust folgt ein Bedeutungsverlust, der sie letztlich obsolet werden lässt und zu ihrer Auflösung als Institution führt. Andererseits verschärft dieser Wirkungs- und Bedeutungsverlust der Leitkonzeptionen auch die Legitimationskrise der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung, da sie die konzeptionelle Grundlage ihrer pädagogischen Arbeit bilden. Das daraus resultierende Unbehagen und die inzwischen spürbaren Defizite führten innerhalb der Sonderpädagogik in den letzten Jahren einerseits zur Entwicklung neuer, zeitgemäßerer Leitideen, wie z. B. zu Ansätzen der Gemeinwesenarbeit, des Umfeldbezuges und der Sozialraumorientierung. Andererseits 1 2 3
Vgl. Abschn. 3.2. FORNEFELD spricht davon, dass diese Leitideen inzwischen „[…] in gewissem Widerspruch zur Lebensrealität von Menschen mit Komplexer Behinderung zu stehen […]“ scheinen (FORNEFELD, 2008, S. 108). FORNEFELD kritisiert dieses Phänomen sehr deutlich, beschreibt es für den Personenkreis der Menschen mit Komplexer Behinderung als „Doppeldeutigkeit“ und weist es für den „Integrations- und Inklusionsgedanken“ sowie den „Selbstbestimmungs- und Autonomiegedanken“ nach (FORNEFELD, 2008, S. 108 ff.).
2.4 Diskurs II
79
begann die akademische Sonderpädagogik, insbesondere die klassischen Leitkonzeptionen einer ersten kritischen Hinterfragung zu unterziehen1. Eine umfassende systematische Reflexion der zentralen sonderpädagogischen Leitkonzeptionen unter Berücksichtigung des sich wandelnden gesellschaftlichen Kontextes steht bisher allerdings noch aus. Im Folgenden werden – ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben – die sich an den Leitkonzeptionen Normalisierung, Integration / Inklusion und Selbstbestimmung entzündenden Dispute als zentrale Schwerpunkte des zweiten Diskurses der De-Institutionalisierung skizziert2. Dabei werden sowohl sonderpädagogische als auch gesellschaftstheoretische Aspekte berücksichtigt. Darüber hinaus richten sich die kritischen Betrachtungen auch auf die Diskrepanzen, Spannungsfelder und Ambivalenzen, die zwischen diesen Leitideen und den veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten entstanden. Damit sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, um im weiteren Verlauf als Alternative zur De-Institutionalisierung der Leitkonzeptionen ihre Re-Institutionalisierung als „Institutionen“ aufzuzeigen. 2.4.2.1 Das Normalisierungsprinzip Das Normalisierungsprinzip kann als das grundlegende Reformkonzept der Behindertenhilfe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden3. Es gelangte in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – ausgehend von Dänemark und Schweden – in die USA4, Kanada sowie durch THIMM5 etwa zwanzig Jahre später auch nach Deutschland. Die normative Basis, welche das Normalisierungsprinzip als Reformansatz legitimiert, bilden die demokratischen Grundwerte der Gleichheit, der Men1 2 3
4 5
Vgl. z. B. DEDERICH (2001), GREVING & GRÖSCHKE (2002), RÖSNER (2002), KATZENBACH (2004), WANSING (2005, 2006) und DEDERICH (2008) sowie FORNEFELD (2008). Die Auswahl gerade dieser Leitkonzeptionen erfolgte aufgrund ihrer besonderen Bedeutung in Orientierung an GREVING & ONDRACEK (2005) und FORNEFELD (2008). Für IRIS BECK steht das Normalisierungsprinzip in unmittelbar wechselwirkendem Zusammenhang mit weiteren Leitkonzeptionen der Sonderpädagogik wie z. B. der Selbstbestimmung, Integration und Inklusion sowie der Teilhabe und der Lebensqualität. Normalisierung, so BECK, I., habe Zielsetzungen wie der der Selbstbestimmung den Weg bereitet, sei das Mittel zum Ziel der Integration als gleichberechtigter Teilhabe (Integration durch Normalisierung der Hilfen) und das Konzept der Lebensqualität könne dem Normalisierungsprinzip zur Ergebnisoperationalisierung dienen (vgl. BECK, I., 2006, S. 107). Dort wurde es durch WOLFENSBERGER fortentwickelt. Für PITSCH ist THIMM „[…] der wohl profilierteste wissenschaftliche »Normalisierungsexperte« im deutschsprachigen Raum.“ (vgl. PITSCH, 2006, S. 227; Hervorhebung im Original, Anm. A. B.).
80
2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
schenrechte und der menschlichen Würde1. Seine wissenschaftlich-theoretische Fundierung entwickelte sich „[…] aus der Analyse des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, von Prozessen der Interaktion und Kommunikation und der Störung und Behinderung dieser Prozesse.“2 Während WOLFENSBERGER aus dem Normalisierungsprinzip sein Konzept der „Aufwertung der sozialen Rolle“3 ableitete, legte THIMM den Schwerpunkt seiner theoretischen Überlegungen auf eine „dem Normalisierungsprinzip vorgelagerte kommunikationstheoretische Prämisse“4, die in symmetrischen, gleichberechtigten Kommunikations- und Interaktionsstrukturen die Basis identitäts- und integrationsfördernder Prozesse angelegt sieht5. Übereinstimmend mit THIMM versteht BECK, I. das Normalisierungsprinzip als „Leitformel für alle Bemühungen […], die auf die »Stützung lebensweltlicher Funktionen« unter dem Primat »verständigungsorientierten Handelns« gerichtet“6 (Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.) seien. Bezüglich ihrer Einschätzung, das Normalisierungsprinzip habe als umfassendes Konzept für das politisch-rechtliche, administrative, pädagogische und soziale Handeln Reformen bewirkt, neuen Modellen, wie z. B. dem gemeindenahen Wohnen und Arbeiten, den offenen Hilfen und der Erwachsenenbildung den Weg bereitet7,, kann THIMM und BECK, I.1 nur zugestimmt werden. 1 2 3
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Vgl. BECK, I. (1996), S. 21. Ebd. Die wissenschaftliche und handlungsbezogene Rezeption des Normalisierungsprinzips wurde, so die Einschätzung von IRIS BECK, durch BENGT NIRJE, WOLF WOLFENSBERGER und WALTER THIMM geleistet. Vgl. WOLFENSBERGER (1986). Der Ansatz WOLFENSBERGERS und seines daraus abgeleiteten Verfahrens zur systematischen Entwicklung und Beurteilung einer normalisierungsnahen Angebotsstruktur stellt aus IRIS BECKS Sicht eine erhebliche Ausweitung und Vertiefung des Normalisierungsprinzips dar, fand in der Bundesrepublik Deutschland allerdings nur wenig Resonanz (vgl. BECK, I., 1996, S. 21 sowie THIMM, 2005a, S. 8). Vgl. BECK, I. (2006), S. 107. Dieses „kommunikations- und interaktionstheoretische Modell“ (THIMM, 1980, S. 81) könne „über die Aufwertung der sozialen Rolle behinderter Menschen hinaus“ gleichfalls die „Normalisierung der Beziehungen zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen“ (PITSCH, 2006, S. 227 unter Bezug auf BECK, I., 1996, S. 37) fokussieren. Dazu IRIS BECK: „Die wichtigste Erweiterung des Normalisierungsprinzips und eine tragende theoretische Begründung nahm WALTER THIMM vor, indem er das Normalisierungsprinzip »in die Zusammenhänge menschlicher Kommunikation und Interaktion als Mittel der Identitätsfindung« stellte.“ (BECK, I. 1996, S. 13 unter Bezug auf THIMM, 1994b, S. 66. Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.). BECK, I. (2006), S. 107. Vgl. BECK, I. (2006), S. 107. THIMM dazu 1992: „Zusammenfassend kann gesagt werden: Normalisierung als sozialpolitische, sozialadministrative und als pädagogische Leitidee scheint in hohem Maße das System der Hilfen für behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene beeinflusst zu haben. Das gilt insbesondere in Bezug auf Menschen mit geistiger Behinderung.“ (THIMM, 2005a, S. 210). Er sieht durch das Normalisierungsprinzip die Anbahnung eines Perspektivwechsels ausgelöst – von einem Denken, Planen und Handeln, das vornehmlich auf In-
2.4 Diskurs II
81
Allerdings ist wohl auch kaum eine andere Leitidee der Behindertenarbeit derart oft genannt, beschworen und missverstanden worden wie das Prinzip der Normalisierung2. Zudem, so die Einschätzung THIMMS, seien – bei aller scheinbaren Präsenz des Normalisierungsgedankens in Theorie und Praxis3 – noch große Lücken in seiner Rezeption zu beklagen4. Die Geschichte dieses Reformkonzeptes lässt sich als unmittelbare Folge globalisierungsbedingter gesellschaftlicher Veränderungen verstehen: Die Verbreitung des Ansatzes von Dänemark und Schweden in die USA und Kanada sowie nach Deutschland kann als Ausdruck eines sich auch im Bereich der Behindertenhilfe abzeichnenden intensivierenden internationalen Austausches im Ergebnis der beginnenden Globalisierung gedeutet werden. Die Tatsache, dass das Reformkonzept in den verschiedenen Staaten ganz verschiedene Entwicklungen auslöste und unterschiedliche Fortentwicklungen erfuhr, wäre dann einer der Globalisierung impliziten Gleichzeitigkeit von Globalem und Lokalem5 zuzuordnen. Das Normalisierungsprinzip führte eine neue, soziologische Sichtweise von Behinderung ein und löste damit den herkömmlichen, medizinisch-defektologischen Behinderungsbegriff ab. Diese Entwicklung eines neuen Verständnisses von Behinderung „als prozessuales, relatives und komplexes Geschehen zwischen Individuen und ihrer näheren und weiteren sozialen Umgebung“6 und damit seiner gesellschaftlichen Bedingtheit sowie die durch das Normalisierungskonzept auf-
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stitutionen gerichtet sei, zu einem funktionsbezogenen Denken und Handeln, das von altersund alltagsspezifischen Lebensvollzügen nicht behinderter Menschen ausgehe (vgl. THIMM, 2005a, S. 210). IRIS BECK geht noch weiter mit ihrer Einschätzung, das Normalisierungsprinzip habe als Reformkonzept wie keine andere Zielformulierung das System der Hilfen und die Lebensbedingungen für behinderte Menschen verändert; es könne im Bereich der Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung als die wichtigste internationale Leitidee überhaupt bezeichnet werden (vgl. BECK, I., 2006, S.107). Die systemverändernde Kraft des Normalisierungsprinzips, so IRIS BECK, zeige sich dort am eindruckvollsten, wo es auf bestehende Verhältnisse wie ein Antidogma wirke und eine überzeugende, in den grundlegenden Ableitungen einfach nachzuvollziehende Alternative darstelle (vgl. BECK, I., 1996, S. 20). Vgl. PITSCH (2006), S. 224. Die wissenschaftliche und handlungsbezogene Rezeption des Normalisierungsprinzips wurde, so die Einschätzung von IRIS BECK, durch BENGT NIRJE, WOLF WOLFENSBERGER und WALTER THIMM geleistet. Einen davon abweichenden Standpunkt vertritt allerdings SCHILDMANN, die eine theoretische Beschäftigung mit Normalisierung und dem Normalisierungsprinzip im engeren Sinn bei seinen Vertretern nicht erkennen kann und den Beginn der theoretischen Erfassung der Konstruktion des Normalisierungsprinzips der interdisziplinären Normalismusforschung am Ende der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zuordnet (vgl. SCHILDMANN, 2007, S. 201, 202). Vgl. THIMM (2005) S. 9. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das von ULRICH BECK auch als „Glokalisierung“ bezeichnet wird. Vgl. BECK (1996), S. 23.
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
geworfenen Fragen nach Teilhabechancen, Bürgerrechten, sozialer Rollen und sozialer Gerechtigkeit für Menschen mit geistiger Behinderung fällt in eine Zeit beginnender gesellschaftlicher Umbrüche und eines ersten Individualisierungsschubs in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts1,2. Auch wenn es noch längst nicht vollständig umgesetzt werden konnte, entspricht das inzwischen „klassische“ Reformkonzept der Normalisierung aufgrund des rasant fortschreitenden Wandels der Nachmoderne heute nicht mehr den aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten3. Das liegt vor allem daran, dass eine kritische Reflexion und Weiterentwicklung dieses Leitkonzepts vor dem Hintergrund dieses sich schnell verändernden gesellschaftlichen Kontextes bisher nicht stattfand4. GRÖSCHKE, der sich ebenfalls detailliert mit dem Problemkomplex Normalität / Normalisierung / Normalismus auseinandergesetzt5.hat, gelangt zur gleichen Schlussfolgerung: Das Normalisierungsprinzip mit seiner reformerischen Semantik („normaler Tages-, Wochen- und Jahresablauf, normaler Lebenslauf“) so GRÖSCHKE, sei noch einer weitgehend vergangenen Zeit verhaftet, während die Verhältnisse andere geworden wären6. Denn unter „>
[email protected] heutigen Bedingungen hochindustrieller, post- oder spätmoderner Übergangsgesellschaften haben sich die bisher gewohnten und stabilisierenden Orientierungs- und Organisationsmuster der individuellen Biografie und der Sozialisation der Individuen weitgehendst aufgelöst. »Normalarbeitsverhältnisse« als gesellschaftsintegrative Basismechanismen werden immer seltener; »NormalBiografien« als normative individuelle Strukturierungsmuster des Lebenslaufes sind unter den 1
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Wenn THIMM der Behindertenpädagogik im Rahmen des Normalisierungsprinzips z. B. programmatisch „verordnet“, Menschen mit Behinderungen nicht länger als Objekte sonderpädagogischer Interventionen, sondern als Subjekte einer Lebenswelt zu behandeln, entspricht diese Aufforderung bereits unmittelbar der neuen gesellschaftlichen Realität, die sich mit der aus Individualisierungsprozessen resultierenden Freisetzung des Individuums und der Pluralisierung der Lebensstile und Lebenslagen abzuzeichnen beginnt (vgl. BECK, I., 1996, S. 23). IRIS BECK stellt ebenfalls den Zusammenhang zwischen Normalisierungsprinzip und gesellschaftlichem Wandel her, wenn sie schreibt: „Das Normalisierungsprinzip konnte sich in den skandinavischen und angloamerikanischen Ländern in einer Zeit der bildungs- und sozialpolitischen Reformen, des Wandels von Werten und des gesellschaftlichen Bewusstseins durchsetzen, die Umsetzung erfolgte im Rahmen sozialpolitischer und rechtlicher Reformen.“ (BECK, I., 1996, S. 24). Das gilt nicht in gleicher Weise für THIMMS kommunikations- und interaktionstheoretisches Modell. (s. o.). Das erscheint bei dieser Leitidee ausgesprochen verwunderlich, da es ihr ja in besonderer Weise um die sozialen Rahmenbedingungen, die Kritik gesellschaftlich geschaffener Lebensbedingungen und die Idee vom guten menschlichen Leben ging (vgl. THIMM, 1986, S. 228). „Normalität, Normalisierung, Normalismus – Ideologiekritische Aspekte des Projekts der Normalisierung und sozialen Integration“ (vgl. GRÖSCHKE, 2002, S. 175-201). Vgl. GRÖSCHKE, 2002, S. 178.
2.4 Diskurs II
83
Bedingungen heutiger »Risiko«- und Transformationsgesellschaften nicht mehr langfristig berechenbar.“1 (Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.).
Werden die Überlegungen GRÖSCHKES weitergeführt und erweitert, ergeben sich aus den globalisierungs- und modernisierungsbedingten gesellschaftlichen Veränderungen eine Reihe kritischer Anfragen an das Normalisierungsprinzip wie z. B. 1.
2.
1 2
Wie müsste „Normalisierung“ als „pragmatisch bestimmtes Praxis- und Reformprojekt“2 die Auswirkungen der Dominanz einer globalisierten Ökonomie über das Politische und Soziale, der Globalisierung der Lebensformen, der zunehmenden Verbildlichung der Welterfahrung, der Veränderungen der Arbeitswelt, des Bedeutungsverlustes der Nationen sowie der Annäherung und wechselseitigen Durchdringung von Kulturen und der steigenden Tendenz zur Vereinheitlichung der Konsummuster, Lebensstile und Kulturen auf die Lebenswelt von Menschen mit geistiger Behinderung bewerten? Welche pragmatischen Antworten wird Normalisierung auf die daraus resultierenden offenen Fragestellungen zukünftig geben? Welche Leistungen sind künftig vom Normalisierungsprinzip bezüglich der beiden von WOLFENSBERGER benannten Dimensionen des Normalisierungsprinzips zu erwarten? Auf der Ebene der Interaktionen geht es dabei um die Befähigung der Individuen, die Folgen der Fragmentierung und Pluralisierung ihrer Lebensformen und -kontexte erfolgreich zu bewältigen. Es geht um die Aneignung von Kompetenzen zum Aushandeln von Regeln, Normen, Zielen und Wegen, um die selbständige Verknüpfung und Kombination multipler Realitäten und um die individuelle Lebensgestaltungskompetenz im Alltag mit seinen vielen neuen Freiheiten, Optionen, Chancen und Möglichkeiten einerseits und Risiken und Gefährdungen andererseits. Auf der Ebene der Interpretationen sind es dagegen die Orientierungshilfen der individuellen Sinnsuche, die Deutungsmuster zur Bewältigung und zum Aushalten von Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten, der Umgang mit den modernitätsbedingten Verunsicherungen und die Auseinandersetzung mit der Veränderung des gesellschaftlichen Zurechnungsmo-
GRÖSCHKE, 2002, S. 178. Ebd., S. 177.
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3.
2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
dus im Rahmen der Individualisierung1, die neuerdings ins Zentrum der Betrachtung rücken. Schließlich muss sich Normalisierung als „Prinzip und zugleich allgemeiner moralischer, politischer und pädagogischer Imperativ“2 fragen lassen, wie es sich inhaltlich konkret fassen lassen wird angesichts der Auflösung geltender Wertordnungen, der Intensivierung von Freisetzungsprozessen, die das gesamte Zusammenleben neu definieren, der Pluralisierung von Lebenslagen und Lebensstilen und der Tatsache, dass es keine einheitliche Normalität mehr gibt – sondern nur noch Normalitäten im Plural.
Um diesen neuen Realitäten Rechnung tragen zu können, muss das „herkömmliche“ Normalisierungsprinzip im Sinne einer Re-Institutionalisierung vollständig umformuliert werden. Die für eine solche Fortentwicklung erforderlichen Potenziale enthält dieses Reformkonzept selbst in hohem Maß – mehr als andere Leitkonzeptionen. Das konnte IRIS BECK mit ihren grundsätzlichen Ausführungen zum Normalisierungsprinzip bereits 1996 belegen3. 2.4.2.2 Integration und Inklusion Aus dem Normalisierungsprinzip entwickelte sich das Leitkonzept der Integration4, das für FORNEFELD eine „[…] konsequente Weiterentwicklung […]“1 als 1 2 3
4
siehe Abschnitt 3.4. Vgl. SPECK (2003), S. 403. Vgl. BECK, I., 1996b. Da eine ausführliche Darstellung ihrer Überlegungen den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, sei nur angemerkt, dass die von ihr thematisierten Fragekomplexe, auf die die Reflexion des Normalisierungskonzeptes verweist, in den Kontext gesellschaftlicher Theorien der Modernisierung und Individualisierung gestellt, untersucht und beantwortet werden sollten. Auf diese Weise wäre die notwendige Aktualisierung und Fortentwicklung des Normalisierungsansatzes zu leisten und seine unverändert beachtlichen Potenziale zu erschließen. Dies entspricht nicht nur den Grundintentionen des Normalisierungsprinzips selbst mit der Analyse von Lebenswelt, von Individuum und Gesellschaft, sondern auch dem Anliegen einer Soziologie der Behinderten, der es schwerpunktmäßig um die Rekonstruktion und Analyse gesellschaftlicher und sozialer Einflussfaktoren auf die Lebenslagen behinderter Menschen geht. Vgl. NEUMANN (1999), S. 29. Dieses Prinzip „>...@ hatte und hat zum Ziel, die behinderten Kinder in die normale Grundschule zu integrieren wie den behinderten Erwachsenen in das soziale Leben seiner Gemeinde und in eine ihm entsprechende Arbeitsmöglichkeit, vorzugsweise auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln. Leben, wohnen, arbeiten und die Freizeitgestaltung sollten nicht abgesondert vom allgemeinen gesellschaftlichen Leben stattfinden, sondern in unmittelbarer Nachbarschaft anderer Menschen.“ (ebd.).
2.4 Diskurs II
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„[…] Angleichung der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung an die der nicht behinderten Bevölkerung.“2 darstellt. Durch den Ausschuss Sonderpädagogik der Bildungskommission des deutschen Bildungsrates (1970-73) wurde der Begriff der „Integration“ erstmalig im Schulbereich eingeführt3. Von dort aus fand er Eingang in andere Bereiche der Sonderpädagogik wie Frühförderung, Arbeit, Wohnen und Erwachsenenbildung. Für SPECK stellt Integration ein „normatives Prinzip im Widerstreit“4 dar: Soziale Integration sei keine Einpassung behinderter Menschen in Lebenszusammenhänge nicht behinderter Menschen, sondern ein Wechselwirkungsprozess, bei dem sich beide Seiten aufeinander zu verändern, so dass gegenseitig adäquate Beziehungen und Verbindlichkeiten, kurzum mehr Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit entstünden, die sich auf die verschiedensten Lebensbereiche wie Familie, Schule, Beruf und Freizeit erstrecken könnten5. Integration umfasst für ihn neben der sozialen aber auch eine personale Dimension, da Menschen mit Behinderungen sowohl von sozialer als auch personaler Desintegration bedroht seien. Beide Aspekte stünden miteinander in Wechselwirkung, seien aber auch als eigene Zielgrößen zu sehen6. Die Frankfurter Integrations-Arbeitsgruppe um REISER vertritt ein ähnliches, ausdifferenziertes „erweitertes Verständnis von Integration“7. Sie entwickelte ein Mehrebenenmodell, mit dessen Hilfe sich desintegrative und integrative Prozesse in pädagogischen Handlungsfeldern analysieren lassen. Dabei werden folgende vier idealtypische Ebenen unterschieden, die auf unterschiedliche Weise miteinander verbunden sind:
die innerpsychische Ebene, die interaktionale Ebene, die institutionelle Ebene und die gesellschaftlich-normative Ebene8.
1 2 3
FORNEFELD (2008), S. 110. FORNEFELD (2008), S. 110. SPECK schreibt dazu: „Die Integrationsdiskussion ist in der Bundesrepublik vergleichsweise spät und verhältnismäßig zähe in Gang gekommen. >...@. Der erst in den sechziger Jahren einsetzende Aufbau eines Sonderschulwesens nach traditionellem Muster verhinderte eine geistige Vorbereitung auf eine neue gesellschaftliche Realität, wie sie sich beispielsweise in den skandinavischen Ländern und in den USA schon Jahrzehnte vorher angebahnt hatte.“ (vgl. SPECK 2003, S. 386.). Integration ist aus SPECKS Sicht „>...@ das Signalwort für das Prinzip der sozialen Eingliederung behinderter Menschen in natürliche und kulturell gewachsene Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen im Lernen, Spielen, Arbeiten und Geselligsein gemäß den eigenen Bedürfnissen.“ (SPECK, 2003, S. 386.). Vgl. ebd. Vgl. SPECK (2003)., S. 363, 364. Vgl. LINDMEIER (2002), S. 23. Vgl. SCHULZE (2004), S. 217.
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FORNEFELD hebt hervor, dass die Fachdiskussion um Integration heute ethisch, pädagogisch und politisch geführt werde1. In Abgrenzung zur Behindertenpädagogik, so FORNEFELD, gehe es der Integrationspädagogik um die Auflösung der ontologischen Bestimmung von Behinderung2 und die theoretische Aufhebung der Differenz zwischen Kultur, Geschlechtern und Begabungen in einer allgemeinen „Pädagogik der Vielfalt“3. Integration als Ziel sei allerdings nicht unmittelbar erreichbar4; integrative Prozesse seien „[…] Wege, die in den Individuen und Gruppen selbst gegangen werden müssen […]“5, so SCHULZE unter Bezug auf REISER. Für SPECK gibt es die beiden Möglichkeiten des Weges der direkten Integration (gemeinsames Lernen und Leben) und der indirekten Integration (besondere individual-soziale Förderung als Voraussetzung für mehr Gemeinsamkeit im späteren Leben). Während beim ersten Weg Prozess und Ziel zusammenfallen, wird beim zweiten das Ziel Integration durch zeitweise Segregation zu erreichen versucht6. FEUSER vertritt dagegen eine radikale Position7 zur Integration, die „ernstmachen will mit der direkten Verwirklichung der Solidargemeinschaft aller Mitglieder der Gesellschaft“8. Für ihn ist „Integration unteilbar“9 – mit diesem „ideologischen Kampfmotto“10 signalisiere er allerdings, so SPECK, im Grunde „Intoleranz gegenüber der Vielfalt“11, denn in der sozialen Wirklichkeit seien nach wie vor soziale Distanzierungen unübersehbar12.
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Vgl. FORNEFELD (2008), S. 110, 111. Damit verbunden ist ein Bruch mit der Sonderanthropologie von Behinderung als defizitärem Anderssein. Stattdessen trete eine subjekt- und kompetenzorientierte Sichtweise in den Vordergrund, so FORNEFELD (vgl. ebd., S. 111). Ebd. unter Bezug auf HINZ, PRENGEL; PREUSS-LAUSNITZ, vgl. dazu auch PRENGEL (2006). Vgl. ebd. Ebd. Vgl. SCHULZE (2004), S. 217. MARKOWETZ vertritt diese Auffassung z. B. auch, für ihn ist die Unteilbarkeit von Integration ein „kardinales“ Prinzip (vgl. MARKOWETZ 2003, S. 181). SPECK (2003), S. 390. SPECK (2003), S. 166. Ebd. SPECK (2003), S. 394. Ebd., S. 390. SPECK wirft FEUSER vor, dass er sich mit seiner radikalen Auslegung gegen alle Bedenken und Einwände, wie sie in einer Gesellschaft mit normativer Vielfalt und einem hohen Individualisierungsgrad an sich zu erwarten sind, richte. Zur Durchsetzung seiner Einheitslösung müssten Teile der Wirklichkeit ausgeblendet und diskreditiert werden ... durch die so entstandene Integrationsideologie würde ein konstruktiver Diskurs erschwert bzw. unmöglich gemacht. Unter Ideologisierung einer Idee versteht SPECK, dass deren „>...@ Realisierung gegen die – stets komplexe – Wirklichkeit absolut gesetzt, also widerstreitende Teile der Wirklichkeit missachtet werden.“ (SPECK, 2003, S. 394).
2.4 Diskurs II
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Dieser Tatbestand – die im schulischen1 wie außerschulischen Bereich nicht umfassend gelingende Umsetzung des mit der Leitkonzeption „Integration“ verbundenen Anspruchs – führt inzwischen zur In-Frage-Stellung dieser Leitkonzeption insgesamt. Vor dem realen Hintergrund der Unzufriedenheit mit dem quantitativen und qualitativen Stagnieren der Integrationsbemühungen bzw. der nicht eingelösten konzeptionellen Versprechungen der Integrationspädagogik2 in Deutschland begann sich in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Wechsel des Zielbegriffes anzubahnen: An die Stelle des Begriffs Integration rückte zunehmend die Leitvorstellung der Inklusion3, die Integrationspädagogik suchte Anschluss an die Inklusionspädagogik. Die Vertreter dieses neuen Leitbegriffs verstehen ihn als Fortentwicklung, Erweiterung, Vertiefung4 bzw. Perspektivwechsel5 der Leitkonzeption der Integ1 2 3
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5
FORNEFELD gibt an, dass z. B. nur etwa 5 % der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen integrativ beschult würden – obwohl, so FORNEFELD, der Leitgedanke der Integration am stärksten im schulischen Bereich thematisiert wurde (vgl. FORNEFELD, 2008, S. 110, 111). Vgl. z. B. die kritischen Ausführungen FEUSERS dazu, der der Integrationspädagogik als „totaler Integrationalist“ vorwirft, sie sei (in ihrer Umsetzung in der schulischen Praxis) „ein Artefakt nicht überwundener Segregation“ (vgl. FEUSER, 1998, S. 272-278). SCHULZE erläutert dazu: „>...@ lassen nach Lösungsansätzen suchen, die helfen sollen, die in die »Sackgasse« geratene Integrationsidee und -bewegung wieder daraus herauszuführen. Seit der Salamanca-Konferenz 1994 glauben namhafte Vertreter des Faches, ihn in dem angloamerikanischen Denkmodell der Inklusion (eng. inclusion) gefunden zu haben, die als eine »verbesserte, weiterentwickelte, von Fehlformen bereinigte Integration« (SANDER 2002, S. 146) angesehen werden kann. Grundanliegen dieses nicht nur begrifflichen Wandels ist der Versuch, dem mit dem Begriff und Konzept Integration verbundenen Spannungsverhältnis zwischen einer Gruppe, die integriert werden soll, und einer Gruppe, in die integriert wird, zu entkommen (vgl. dazu TERVOOREN 2003, S. 29). Vielmehr gilt es »wahrzunehmen, dass die, die integriert werden sollen, bereits ein integraler Bestandteil des Ganzen sind ...« (ebd., S. 31). Inklusion als Begriff zielt also weniger auf den Prozess des Integrierens, als auf die Konstituierung der Behinderung als »integrales Moment von Gesellschaft« (ebd.).“ (SCHULZE 2004, S. 229. Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.). HINZ sieht im Leitkonzept der Inklusion keineswegs einen völlig neuen Ansatz, es gehe eher um eine Systematisierung und einen geschärften Fokus. Werde Integration allerdings als eine Variante sonderpädagogischer Förderung unter anderen angesehen, dann bedeute Inklusion eine massive Infragestellung und Veränderung des Bisherigen. (vgl. HINZ, 2006, S. 98). SANDER begreift Inklusion (in Anlehnung an HINZ) als „optimierte und erweiterte Integration“ (ebd., S. 99): er erhofft sich eine „Vertiefung des Integrationskonzeptes“ (ebd., S. 99) durch das Inklusionskonzept. Für MARKOWETZ, der sich auf SANDER und HINZ bezieht, ist Integration eine „real existierende Vorstufe von Inklusion und als praktisch offensichtlich notwendiger Schritt in Richtung auf ein umfassendes Inklusionsverständnis anzuerkennen.“ (MARKOWETZ, 2003, S. 180. Inklusion, so MARKOWETZ, brauche deshalb auch keine neue „Ganzheit“ im Sinne einer Vereinheitlichung und Zusammenfassung der Teile zu schaffen, sondern ziele auf eine vorbehaltlose Gleichstellung und Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderungen (vgl. ebd.). Vgl. z. B. REISER, der davon ausgeht, „>...@ dass die Forderung nach Inklusion ein Ergebnis der integrationspädagogischen Diskussion pointiert formuliert und mit einer programmatischen
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ration. Ungeachtet aller Bestimmungsversuche1 des Begriffs der Inklusion wird ein Grundproblem dieses Ansatzes allerdings schon auf theoretischer Ebene deutlich: Die trennscharfe Abgrenzung zur Leitidee der Integration gelingt nicht wirklich, es bleibt bei einer unklaren Begriffsverwendung, die zu einer Sinnentleerung als Modewort führen kann. Zudem wurde aus sonderpädagogischer Sicht zunächst kaum berücksichtigt, dass dieser Leitbegriff nicht nur eine normative pädagogische Zielgröße, sondern gleichermaßen einen soziologischen Begriff2 darstellt. Der Leitgedanke der Inklusion, der vom gesellschaftlichen Einschluss des Phänomens Behinderung als Tatsache und nicht als Notwendigkeit ausgeht3, beschreibt ein anzustrebendes Ideal, steht aber im Widerspruch zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen Gegebenheiten und insbesondere zur Lebensrealität von Menschen mit geistiger Behinderung. Damit wird allerdings auch diese „Leitidee mit visionärem Charakter“4 durch die gesellschaftliche Wirklichkeit infrage gestellt. Die Kritik an den Leitkonzeptionen Integration und Inklusion richtet sich demzufolge auch nicht vorrangig gegen ihren normativen Gehalt, sondern gegen die praktische Wirkungslosigkeit ihres Anspruchs – wesentlich durch die fehlende Einbeziehung soziologischer und gesellschaftstheoretischer Ansätze zur Deutung der aktuellen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse verursacht. Diese fehlende theoretische Fundierung äußert sich z. B. in folgenden Defiziten beider Leitkonzeptionen:
1
2 3 4
Verschiebung der Perspektive beantwortet. Diese >...@ geht nicht mehr aus von einer Parteinahme ausschließlich für Behinderte und Benachteiligte, sondern von einer Parteinahme für ein inklusives System, das heißt nicht mehr von einem partikulären und parteilichen Standpunkt, sondern von einem allgemeinen und für alle Personen anzuwendenden.“ (REISER, 2003, S. 308). Eine ähnliche Sichtweise entwickelt THEUNISSEN (vgl. THEUNISSEN, 2006, S.13 ff.). Ob es sich allerdings tatsächlich um einen theoretischen und konzeptionellen Perspektivwechsel handelt, ist umstritten (vgl. FORNEFELD, 2008, S. 114 unter Bezug auf DEDERICH u. a., 2006, S. 11). Vgl. z. B. LINDMEIER, für den im Unterschied zur Integration der Gedanke der Inklusion die Verschiedenheit im Gemeinsamen bestehen lasse, die Notwendigkeit institutioneller und struktureller Veränderung betone, die Verschiedenheit der einzelnen Menschen als einen positiven, bereichernden Wert ansehe und statt Ausschluss aus den Leistungszusammenhängen die Mitbestimmung aller an der komplexen und differenzierten modernen Gesellschaft impliziere (vgl. LINDMEIER, 2003, S. 303, 304). Explizit verweisen darauf z. B. SPECK, der zwischen einem normativem Begriff sozialer Integration im Sinne einer Prozess- und Zielvorstellung und einem soziologischen Begriff der Inklusion unterscheidet (vgl. SPECK, 2003, S. 391) sowie analog dazu WANSING (2006). Vgl. FORNEFELD (2008), S. 114. THEUNISSEN (2006), S. 13 mit Bezug auf PERSKE.
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Der mangelnden Berücksichtigung der zunehmenden Ausdifferenzierung und Rationalisierung der funktionalen Systemstrukturen nachmoderner Gesellschaften in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen (Politik, Wirtschaft, Familie, Wissenschaft, Religion1,2,3). Damit können die neuen Inklusionsbedingungen, Exklusionsdynamiken und Exklusionsrisiken nachmoderner Gesellschaften nicht gedeutet und adäquat beantwortet werden. Einer bisher fehlenden Auseinandersetzung mit Individualisierungskonzepten, insbesondere um die Phänomene der Individualisierung mit ihren Erosions- und Freisetzungsprozessen, der fortschreitenden Pluralisierung der Lebensstile, Lebenslagen und Lebensverläufe sowie der Fragmentierung der Lebenskontexte kritisch analysieren und die normativen Aussagen beider Leitkonzeptionen neu formulieren und inhaltlich als „finale Zielgröße“ füllen zu können. Eine bisher kaum stattfindende Klärung der Aspekte, die nach REISER auf der innerpsychischen Ebene der Integration stattfinden, die SPECK als personale Integration bezeichnet und die auf Probleme der Desintegration in nachmodernen Gesellschaften in diesem Bereich verweisen. Damit werden auch Fragen im Zusammenhang mit der Herausbildung einer eigenen Identität ausgeblendet4. Die fehlende Untersuchung der Prozesse des Wandels der Integrationsfähigkeit dieser nachmodernen, funktional hoch ausdifferenzierten Gesellschaften und der Frage, ob es mit fortschreitender Individualisierung nicht zu ei-
Vgl. SCHÄPER (2006), S. 38. THEUNISSEN (vgl. auch THEUNISSEN & SCHIRBOTH, 2006) blendet die Tatsache der funktionalen Differenzierung nachmoderner Gesellschaften bei seinen Ausführungen zur Leitidee der Inklusion völlig aus, wenn er postuliert: Inklusion bedeute nicht nur eine bloße Eingliederung in die Gesellschaft, auch nicht eine Normalisierung durch eine Anpassung behinderter Menschen an normale Lebensstandards nichtbehinderter Menschen, sondern die „Umgestaltung der Umwelt im Sinne einer inklusiven Gesellschaft, die die Bürgerrechte aller ihrer BürgerInnen respektiert und zu realisieren hilft.“ (THEUNISSEN, 2006, S. 20 unter Bezug auf HINZ, 2004). Infolge zunehmender Differenzierung und Komplexität moderner Gesellschaften werde der herkömmliche Integrationsmodus segmentärer und stratifikatorischer Gesellschaften untauglich, so WANSING, da nicht länger von einer gedachten Gesamtgesellschaft als Einheit, als gemeinsame Perspektive und Handlungsziel aller Gesellschaftsmitglieder ausgegangen werden könne, denn die funktional differenzierte Gesellschaft steuere die gesellschaftliche Einbeziehung von Personen nur durch die einzelnen Funktionssysteme und ihre Kommunikationszusammenhänge. Das bedeute, dass die moderne Gesellschaft Individuen nicht mehr in der Gesamtheit ihrer Lebensführung in ein Sozialsystem einschließe (vgl. WANSING, 2006). Vgl. z. B. KEUPP (1994a, 1994b, 1997 und 2004). DEDERICH mahnt die Beschäftigung mit Aspekten der Identitätsbildung und -entwicklung unter nachmodernen gesellschaftlichen Bedingungen dringend an, zumal er einen engen Zusammenhang zwischen Exklusion und der Beschädigung individueller Identität und Integrität sieht (vgl. DEDERICH, 2002, S. 181).
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ner Schwächung sozialer Beziehungen und damit zu einem Verlust des sozialen „Kitts“ der Gesellschaft komme1,2. Im Rahmen des Diskurses der De-Institutionalisierung der Leitkonzeptionen werden insbesondere Aspekte, die dem Pkt. 1 zugeordnet werden können, problematisiert3. Sie stellen die Legitimation beider Leitideen in ihrer bisherigen Form besonders nachhaltig in Frage. Durch die UN-Behindertenrechtskonvention erfährt die Leitidee der Inklusion aus rechtlicher Sicht eine völlig neue inhaltliche Bestimmung4: Soziale Inklusion wird zum Menschenrecht und zur Zielstellung. Die Konvention fordert, die Verwirklichung dieses Anspruchs für Menschen mit Behinderung ohne Diskriminierung zu gewährleisten und zu fördern sowie ihre faktische Teilnahme als BürgerInnen an den zivilen, politischen und sozialen Anerkennungsformen zu ermöglichen5. Damit verschiebt sich der konzeptionelle Schwerpunkt dieser 1
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In der sonderpädagogischen Diskussion spielten Überlegungen in dieser Richtung bisher kaum eine Rolle. Eine Ausnahme bildet dabei SPECK, der Probleme gesellschaftlicher Integrationsfähigkeit thematisiert. (vgl. SPECK, 2003, S. 390 ff.). Aus soziologischer Sicht haben sich dagegen BECK & SOPP ausführlich mit dieser Thematik beschäftigt (vgl. BECK & SOPP, 1997, S. 9.) Sie führten dazu mit dem Hamburger Institut für Sozialforschung im November 1995 einen Workshop unter dem Titel „Sind hochindividualisierte Gesellschaften integrierbar?“ durch und stellen eine „[…] immer wiederkehrende Diskussion um den Zusammenhang von Individualisierung und (Des-)Integration“ fest, in deren Rahmen die Individualisierung undifferenziert verantwortlich gemacht wird für alle Probleme der gesellschaftlichen Integration und die Gefährdung des Zusammenhalts der Individuen einer Gesellschaft.“ (ebd.). Gegen diese „simplifizierende Rezeption“ wenden sich BECK & SOPP: Diese unterstelle, so BECK & SOPP „dass mit zunehmender Verbreitung von Individualisierungstendenzen das »Soziale«, hier durchaus im soziologischen wie auch alltäglichen Sinne des Wortes, verschwindet. Die Auflösung und Abschwächung klassischer industriegesellschaftlicher Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsformen führt danach zu einem Zerfall der kollektiv geteilten Werte, Normen, Handlungsmuster und -orientierungen. Das Ergebnis sind alleingelassene Individuen, die scheinbar ihrem eigenen „Egoismus“ hilflos ausgeliefert sind. Soziale Bindungen und soziale Verpflichtungen werden nur noch sporadisch eingegangen und wenn, dann nur noch aus Gründen des eigenen Vorteils. Letztlich zerfällt die Gesellschaft, da dauerhafte Solidarität als Bindeglied zwischen Individuen nicht mehr herstellbar ist.“ (ebd., S. 9, 10). Integration sollte dabei nicht länger ausschließlich als „Systemleistung“ oder Leistung eines „kulturell-normativen Systems“ verstanden werden, sondern eben auch als eine „Leistung der und Anforderung an die Individuen”. (BECK & SOPP, 1997, S. 2). Vgl. z. B. SCHAPER (2006), WANSING (2006), DEDERICH (2008) sowie FORNEFELD (2008). Allgemeine Betrachtungen zur Exklusion mit kritischem Potenzial bezüglich des Anspruchs dieser sonderpädagogischen Leitkonzeption stellen auch BUDE & WILLISCH (2006) an. BIELEFELDT betont, dass der Begriff der Inklusion ein Kernbegriff der Behindertenrechtskonvention sei, der über einen traditionellen Integrationsansatz hinausweise (vgl. BIELEFELDT, 2009). Vgl. Positionspapier der Evang. Stiftung Alsterdorf und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (2009), S. 3.
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Leitkonzeption ganz entscheidend, es geht nun um eine Veränderung der Gesellschaft hin zu einem inkludierenden Gemeinwesen1. 2.4.2.3 Selbstbestimmung „Selbstbestimmung“ ist gegenwärtig sicher einer der am häufigsten benutzten Begriffe in der aktuellen sonderpädagogischen Debatte – allerdings nicht nur im akademischen Bereich, sondern auch in der Praxis, wie eine Vielzahl ambitionierter Beiträge mit stark praxisorientiertem Bezug belegen (vgl. z. B. fib e.V. 1995; Kongressbeiträge „Selbstbestimmung“ 1996; FRIEBE & WETZLER 1998; HÄHNER u. a. 1999; ROCK 1999; FRANKE & WESTECKER 2000; OSBAHR 2000 und THEUNISSEN 2006). BIEWER, für den Selbstbestimmung als Begriff „nicht so einfach inhaltlich zu fassen ist“2, empfiehlt eine differenzierte Analyse3. Er verweist darauf, dass mehrere Begriffe existierten, die in ihrem Bedeutungsgehalt ähnlich seien, und nennt unter Bezug auf HAHN (der zwischen diesen nicht unterscheide, sondern sie in der Regel gleichbedeutend verwende): Selbstbestimmung, Autonomie, Freiheit und Unabhängigkeit. BIEWER selbst definiert Selbstbestimmung „>...@ als die Fähigkeit und Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, zu vertreten und handelnd umzusetzen“4,5. Für LINDMEIER hat die Leitidee der Selbstbestimmung einen besonderen Stellenwert, da diese als „Orientierungsprinzip der Erziehung und Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung“6 dient. HAHN vertritt einen anthropologischen Ansatz – Selbstbestimmung ist für ihn ein Wesensmerkmal des Menschseins7. Für ihn nimmt der Mensch durch Selbstbestimmung Einfluss auf das eigene Wohlbefinden – zeit seines Lebens, auf allen Alters- und Entwicklungsstufen8. Mit der Realisierung dieses Autonomiepotenzials, so HAHN, verwirkliche der Mensch seine Existenz9. 1 2 3 4 5
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Vgl. auch Kap. 5.1. BIEWER (2000), S. 241. Vgl. ebd. BIEWER (2000), S. 241. SCHÄDLER nennt folgende Perspektiven der deutschen Fachdiskussion: Selbstbestimmung unter Bürgerrechtsgesichtspunkten (MILES-PAUL); Selbstbestimmung aus anthropologischer Sicht (HAHN); Selbstbestimmung unter soziologischen Aspekten (THIMM) und Selbstbestimmung als Ergebnis von Empowermentprozessen (THEUNISSEN & WEISS). (SCHÄDLER, 2002, S. 157). LINDMEIER (1999), S. 209. Vgl. HAHN (1999), S. 17, 18. Vgl. ebd., S. 19. Vgl. ebd., S. 20.
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Im Gegensatz zu Hahn entwickelt WALDSCHMIDT eine historisch argumentierende Perspektive. Für sie ist „[…] Selbstbestimmung weniger eine universale Eigenschaft des Menschen als vielmehr eine überlieferte Kategorie […]. Die moderne Identität, die der individuellen Autonomie den Boden bereitet, hat sich in einem langwierigen geschichtlichen Prozess ausgeprägt.“1
SCHÄDLER diskutiert die Leitidee der Selbstbestimmung als ein „Grundrecht aus der Perspektive des Bürgerrechtsansatzes“, die die „rehabilitative Perspektive“2 ablösen will. Dieser Ansatz gehe von den verfassungsgemäß verbürgten Rechten und Pflichten jedes Einzelnen aus, die für Menschen mit geistiger Behinderung in gleicher Weise Geltung hätten, unabhängig davon, dass diese aufgrund ihrer Behinderung Unterstützung und soziale Hilfen benötigten, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Die Möglichkeiten, über das eigene Leben bestimmen zu können, würden damit zum zentralen Ausgangspunkt des Bürgerrechtsansatzes, so SCHÄDLER, der Hilfeansprüche und -leistungen von Rechten ableite. Erforderlich seien daher individuell angepasste Hilfekonzepte; die entscheidende Aufgabe bestünde darin, Zugänge zu den gewünschten Umwelten zu eröffnen und die vorfindbaren Bedingungen an die Bedürfnisse des einzelnen behinderten Menschen anzupassen3. Die drei von HAHN, WALDSCHMIDT und SCHÄDLER vertretenen Ansätze sind aus Sicht von KULIG & THEUNISSEN charakteristisch für die Begründung der Leitidee der Selbstbestimmung innerhalb der heilpädagogischen Diskussion4. Die kritische Hinterfragung der Leitkonzeption Selbstbestimmung setzt wie bei der Inklusion an der Uneindeutigkeit der Begrifflichkeit an: SCHÄDLER stellt ganz grundsätzlich fest, dass der Selbstbestimmungsbegriff in der Heilpädagogik noch immer sehr diffus erscheine5. KULIG & THEUNISSEN 1
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WALDSCHMIDT (1999), S. 28. KATZENBACH dazu erläuternd: Damit werde der Kampf der Menschen mit Behinderungen um mehr Selbstbestimmung zu einer Form „nachholender Befreiung“ (KATZENBACH, 2004, S.136) die andere gesellschaftliche Gruppen längst für sich realisiert hätten. Allerdings konnten sich erst durch die gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse der Nachmoderne mit ihren Individualisierungsschüben und Freisetzungsprozessen die für diese Emanzipationsbewegung notwendigen Freiräume herausbilden (vgl. ebd.). Vgl. SCHÄDLER (2002), S. 151. Diese verbinde, so SCHÄDLER, mit der Hilfe für geistig behinderte Menschen einen Ort mit einem pädagogisch-therapeutischen Inhalt und dem Zweck, entwicklungsfördernd auf die dort betreuten Menschen einzuwirken. Vgl. SCHÄDLER (2002), S. 151. Vgl. KULIG & THEUNISSEN (2006), S. 239, 240. Letztendlich, so KULIG & THEUNISSEN, zeigten alle diese theoretischen Bestimmungsversuche, dass es sehr schwierig sei, menschliche Autonomie bzw. die Möglichkeit menschlicher Autonomie generell zu begründen (vgl. ebd., S. 241). SCHÄDLER (2002), S. 12.
2.4 Diskurs II
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verweisen ebenfalls auf die relative Unbestimmtheit des Selbstbestimmungsbegriffs: „Selbstbestimmung ist zu einem Schlagwort in der Behindertenarbeit geworden. Dabei ist die Bedeutung von Selbstbestimmung nicht eindeutig definiert. Sie reicht von einer normativen Forderung nach mehr Unabhängigkeit von Helfern […], Institutionen und Organisationen bis hin zu Versuchen, Selbstbestimmung als grundlegendes theoretisches Konzept zu verwenden.“1
Auch KATZENBACH konstatiert, dass der Begriff der Selbstbestimmung meist eigentümlich unbestimmt bleibe, nur in wenigen Beiträgen2 würden positive Bestimmungsmerkmale der Selbstbestimmung erörtert, wobei diese zumeist als anthropologische Konstante abgeleitet würde, dadurch „eigentümlich ahistorisch“3 bliebe und die gesellschaftliche Dimension des Begriffs kaum berücksichtigte. LINDMEIER geht mit seiner Kritik noch weiter. Er konstatiert, dass die Diskussion über Selbstbestimmung in der Geistigbehindertenpädagogik „Spuren erheblicher Verunsicherungen“4 nach sich zöge. Diese hätte ihre Wurzeln aber nicht nur in dem Wandel des Denkens und Handelns, der unter der Leitvorstellung der Selbstbestimmung für erforderlich erachtet würde, sondern auch darin, dass sich das so genannte „Selbstbestimmungsparadigma“, wie es bislang in der Geistigbehindertenpädagogik vorgetragen würde, hinsichtlich der pädagogisch grundlegenden Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Erziehung und Bildung noch nicht hinreichend klar artikuliere5. Aus der relativen Unbestimmtheit des Selbstbestimmungsbegriffs folgert SCHÄDLER: „Daher verwundert es nicht, dass bisher auch noch keine heilpädagogischen Ansätze vorliegen, die systematisch benennen können, was sich aus dem Selbstbestimmungsparadigma an praktischen Anforderungen für das professionelle Hilfesystem ergibt.“6
THIMM stellt die Leitkonzeption der Selbstbestimmung grundsätzlich in Frage7. Selbstbestimmung, so THIMM, müsse vor dem Hintergrund gesellschaftlicher
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WILKENS, 2004, S. 171 in KULIG & THEUNISSEN, 2006, S. 237. Vgl. KATZENBACH (2004), S. 134, 135. Als Beispiele nennt KATZENBACH die Ausführungen HAHNS (vgl. HAHN 1999), WALTHERS (vgl. WALTHER1999) und OSBAHRS (vgl. OSBAHR2000). Ebd., S. 135. LINDMEIER (1999), S. 209. Vgl. LINDMEIER (1999), S. 209. SCHÄDLER (2002), S. 12. Vgl. THIMM (1997).
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
Prozesse diskutiert werden1. Dabei geht er davon aus, „[…] dass wir uns in einer gesellschaftlichen Umbruchsituation befinden […]“2. Wenn dieser Umbruch nun die Grundlagen gesellschaftlicher Lebensformen tief greifend verändere, so THIMM, dann müsse die sozialwissenschaftliche Analyse diese aufsuchen in den sozialen und kulturellen Selbstverständlichkeiten des Alltagslebens3. Genau diese Annahme einer gesellschaftlichen Umbruchsituation als erkenntnisleitender Gesichtspunkt (im Sinn eines heuristischen Ausgangspunktes) zur Analyse spezifischer aktueller gesellschaftlicher Phänomene (d. h. der Lebenslage behinderter Menschen) stehe in der Behindertenpädagogik noch aus, so THIMM4. Die gesellschaftliche Umbruchssituation bringe, so THIMM, die Gefahr der ideologischen Einengung der Selbstbestimmungsdiskussion auf die Dimension der Autonomie mit sich. Er bezieht deshalb in seine Überlegungen zur Leitidee der Selbstbestimmung Ergebnisse der Expertise KEUPPS zum ACHTEN JUGEND5 BERICHT DER BUNDESREGIERUNG , der Untersuchungen SCHULZES zur „Erleb6 nisgesellschaft“ und DAHRENDORFS „Lebenschancenkonzept“7 ein. Dadurch wird es ihm möglich, das Leitkonzept der Selbstbestimmung durch die Aufnahme wichtiger Themenbereiche, die in unmittelbarem, ergänzendem Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsbegriff stehen, zu erweitern. Das betrifft Fragestellungen zur Entwicklung individueller Identität, zum Umgang mit der Polyoptionalität freiheitlicher Lebensgestaltung, zur Erhebung der Philosophie der Selbstverwirklichung zum Leitbild für das eigene Leben und der Erschließung von Lebenschancen als Balance zwischen Optionen und Ligaturen8. Diese Fragestellungen diskutiert THIMM konsequent vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Veränderungen. Sein Votum lautet:
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THIMM (1997), S. 224. Die meisten Veröffentlichungen zum Thema „Autonomie“, „Selbstbestimmung“ und die vorliegenden Studien zur Lebenssituation geistig behinderter Menschen, so THIMM, thematisierten Wandlungen und Neuakzentuierung von Konzepten sowie Veränderungen der Strukturen der Behindertenhilfe nicht vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Veränderungsprozesse. (Hervorhebung nicht im Original, Anm. A. B.). Vgl. ebd. THIMM (1997), S. 225. Vgl. ebd. Aus Sicht THIMMS sind die „[…] vehement eingeforderte Ausrichtung auf Selbstbestimmung mit bisweilen extremen Ausuferungen eines einseitigen Autonomiebegriffes […]“ (ebd.) Zeichen, Signale, dass die Behindertenhilfe selbst in dieser Umbruchsituation nach ihrem Selbstverständnis ringe. Vgl. KEUPP (1990). Vgl. SCHULZE (1992). Vgl. DAHRENDORF (1979). Vgl. THIMM (1997), S. 223 ff. Im Abschn. 1.2.7. wird ausführlicher auf das Lebenschancenkonzept DAHRENDORFS eingegangen.
2.4 Diskurs II
95
Selbstbestimmung bedarf „[…] als Chance und Fähigkeit, zwischen Handlungsalternativen wählen zu können und selbst über das Handeln bestimmen zu können, […] der Rückbindung an soziale Beziehungen, die diesem möglichen und tatsächlichen Handeln erst Sinn verleihen.“1
Infrage gestellt wird das Leitkonzept der Selbstbestimmung auch durch THEUNISSEN & PLAUTE, die zur Selbstbestimmung in kritische Distanz gehen und diese durch den Empowerment-Ansatz, der als „tragfähiges Konzept für eine zeitgemäße Behindertenarbeit gelten kann“2 ablösen wollen3. Übereinstimmend mit THIMM, THEUNISSEN u. a. warnt auch KLAUSS unter Bezugnahme auf THEU4 NISSEN & PLAUTE vor der Gefahr einer Selbstbestimmungs-Ideologie, die das Selbst als eine „egobezogene Größe verabsolutiere“5 und zu „grenzenlosem Individualismus und Egoismus, der antisoziale Züge trägt“6 führe7. Menschen seien Individuen und soziale Wesen, damit gleichzeitig unabhängig und abhängig. Deshalb sei die Voraussetzung für eine sinnvolle Verwendung des Leitbegriffs Selbstbestimmung die Klärung des Verhältnisses von individueller Selbstbestimmung und sozietärer Einbindung8. Auch für Erziehung und Bildung müsse ein bestimmtes Maß an Fremdbestimmung als notwendig anerkannt werden. Dadurch würde, so KLAUSS, ein „verengtes Verständnis von Selbstbestimmung zu Recht korrigiert“9. Er kommt zu dem Fazit, dass sich die Leitidee der Selbstbestimmung als sinnvolle Leitidee erweisen könne, allerdings „>...@ bedarf dieses Ziel immer der Ergänzung und Korrektur durch die Idee der Gleichheit (Normalisierung) und Solidarität (Zugehörigkeit, Inklusion), die seit langem als Leitideen anerkannt sind >...@. Selbstbestimmung und soziale Orientierung bedingen sich gegenseitig.“10
Zusammenfassend lässt sich folgendes Fazit aus dem aktuellen sonderpädagogischen De-Institutionalisierungsdiskurs der Leitidee der Selbstbestimmung ziehen: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
THIMM (1997), S. 232. THEUNISSEN & PLAUTE (2002), S. 9. Vgl. ebd. THEUNISSEN & PLAUTE (2002), S. 23. Vgl. KLAUSS (2003), S. 98. KLAUSS (2003), S. 98. Ebd. Vgl. KLAUSS (2003), S. 99. KLAUSS (2003), S. 105. Ebd., S. 121.
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
Die Leitkonzeption der Selbstbestimmung ist zwar als „normative pädagogische Kategorie“1 in der sich zur nachmodernen Gesellschaft gewandelten Moderne „gar nicht mehr hintergehbar“2, wird aus dem Bezug zu gesellschafts- und modernitätstheoretischen Problemstellungen heraus aber infrage gestellt3. Die Kritik bezieht sich vor allem auf die drei folgenden Fragenkomplexe: 1. Die nachmoderne Gesellschaft der Gegenwart erlegt ihren Mitgliedern Selbstbestimmung als Pflichtprogramm auf. Damit wird aus der Freiheit von Zwang, Entmündigung und Bevormundung erneut Zwang, nämlich der zur Selbstbemächtigung4. Die kritische Frage lautet nun: Entspricht die Forderung nach Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen, wie sie sozialpolitisch und sozialrechtlich postuliert wurde, letztlich vor allem dem Eigeninteresse der neoliberalen nachmodernen Gesellschaft an einem selbstverantwortlichen Individuum, das flexibel, mobil und selbstbestimmt sein Leben als Akteur nach eigenen Vorstellungen gestaltet5 – als wichtiger Voraussetzung für ihren Fortbestand6? 2. Selbstbestimmung als Konsequenz der Individualisierungsprozesse ermöglicht Menschen mit Behinderungen einerseits Emanzipation. Andererseits wird auch die Kehrseite des Konzeptes Selbstbestimmung, insofern es als „neoliberales Pflichtprogramm“ zu absolvieren ist, deutlich: Jeder ist „unter dem Postulat von Gleichheit, Gerechtigkeit und Normalisierung“7 für das Gelingen der eigenen Biografie ausschließlich selbst verantwortlich – ebenso allerdings auch für deren Scheitern, selbst wenn es sich um eine unterstützte Lebensbewältigung, z. B. durch Assistenz, handelt8. Wie können Menschen mit Behinderung, insbesondere geistiger Behinderung, diese kaum erfüllbare Anforderung, letztlich ganz auf sich allein gestellt zu sein, bewältigen9? 1 2 3 4 5
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KATZENBACH (2004), S. 127. KATZENBACH (2004), S. 127. Beispielsweise durch die Überlegungen THIMMS (vgl. THIMM 1997), WALDSCHMIDTS (vgl. WALDSCHMIDT 1979), STINKES (vgl. STINKES 2000), KATZENBACHS (vgl. KATZENBACH 2004) und ACKERMANNS (vgl. ACKERMANN 2004) zu rechnen. Vgl. ACKERMANN (2004), S.170 unter Bezugnahme auf STINKES (2000), S. 182. Dazu führt ACKERMANN unter Bezugnahme auf STINKES (2000) aus: „Die vorherrschenden Selbstbeschreibungen bedienen also eine »Philosophie der Kompetenz«: das Selbstverständnis des Klienten als mündiges Individuum, das selbst entscheidet, welches Assistenzangebot es annimmt und welches nicht, entspreche dem neoliberalen Interesse.“ (Hervorhebung im Original, Anm. A. B., ACKERMANN, 2004, S. 170). Vgl. ACKERMANN, 2004, S. 170 Ebd. Vgl. ebd. Vgl. dazu auch WALDSCHMIDT (1999), S. 44.
2.4 Diskurs II
3.
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Eine allzu einseitige Ausrichtung am Begriff der Selbstbestimmung birgt die Gefahr, die weiterhin bestehenden, offenen oder verdeckten Abhängigkeiten behinderter Menschen zu übersehen1. Wie kann im Diskurs der Behindertenhilfe dieses Problem thematisiert und bearbeitet werden? Diese Fragestellung sensibilisiert für die soziale Dimension des Selbstbestimmungskonzeptes und darüber hinaus für das Spannungsfeld von Autonomie und Angewiesensein, das angesichts des gesellschaftlichen Wandels besondere Bedeutung für Menschen mit geistiger Behinderung erhält.
Weitere kritische Anfragen an die Leitkonzeption der Selbstbestimmung betreffen die Einbeziehung der Bedürfnis- bzw. Ressourcenperspektive2. Die beschriebenen Diskussionen, die innerhalb des Diskurses II die zentralen Leitkonzeptionen in Frage stellen, sind zweifelsohne als Belege für eine gesellschaftliche Legitimationskrise zu werten, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der schon seit längerem diagnostizierten Krise der Sonderpädagogik als Wissenschaft3 steht. Allerdings könnten sie auch erste Hinweise auf einen beginnenden Um- und Aufbruch bzw. eine Neuorientierung der Sonderpädagogik sein.
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Vgl. KATZENBACH (2004), S. 127 unter Bezugnahme auf STINKES (2000) und WEISS (2000). Die Annahme, so STINKES, Ungleichheit und Machtstrukturen könnten sich unter neoliberalem Selbstverständnis auflösen, stelle sich als eine „naive heilpädagogische Verblendung“ heraus (STINKES, 2000, S. 183). Vgl. SCHÄDLER (2002), S. 155 unter Bezug auf WEISS (2000), S. 246 ff. Die Faktoren, die auf der Ebene des Individuums die dazu erforderlichen individuellen Voraussetzungen bildeten, so SCHÄDLER; wären neben affektiven und motivationalen Bedingungen Selbststeuerung, Selbstvertretung, individuelle Wissensbestände, Problemlösungskompetenzen sowie sozialpsychologische Fähigkeiten und Faktoren der Handlungskompetenz, wie soziale und kommunikative Fertigkeiten, Vertrauen in die Wirksamkeit des eigenen Verhaltens und Attribuierungen für Erfolg und Misserfolg. Interessant wäre es auch, KEUPPS „freiheitspädagogischen“ Ansatz mit der Forderung, das Subjekt müsse – gegenläufig zum Prozess der Auflösung fester sozialer Einbindungen – zunehmend und notwendigerweise selbst zum Baumeister des Sozialen, seiner eigenen Gemeinde oder Lebenswelt werden, als kritische Anfrage in die Überlegungen einzubeziehen. BUNDSCHUH, der von ihrem „krisenerschütterten Selbstverständnis als Wissenschaft“ (BUNDSCHUH, 2002, S. 92) spricht, verweist in diesem Zusammenhang auf SPECK, der schon 1990 von einer Krise der Sonderpädagogik sprach und die Frage nach der „Selbstauflösung der Sonderpädagogik als gesellschaftspolitischer Konsequenz“ stellte (SPECK, 1990, S. 38-48) und ihr bescheinigte, dass sie zur Frage geworden sei, „[…] grundlegend zur Disposition gestellt“ (SPECK, 1991, S. 11) und JANTZEN, der 1995 ebenfalls feststelle, die Sonderpädagogik sei in einer Krise (vgl. JANTZEN, 1995, S. 368). Auch wenn diese Einschätzungen sich vorrangig auf den Bereich der Sonderschulpädagogik beziehen, lässt sich Ähnliches für den außerschulischen Bereich postulieren. Für die hier behandelte Thematik interessant ist die Einschätzung BUNDSCHUHS, dass die Frage der Integration als Modell der Zukunft „[…] die Sonderpädagogik in eine Krise stürzte und ihr Selbstverständnis verletzte.“ (BUNDSCHUH, 2002, S. 92).
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
An dieser Stelle soll die Betrachtung des Diskurses zur De-Institutionalisierung der sonderpädagogischen Leitkonzeptionen Normalisierung, Integration, Inklusion und Selbstbestimmung zunächst abgeschlossen werden. In ähnlicher Weise könnten die Anfragen an weitere Leitideen wie Empowerment, Lebensqualität und Teilhabe untersucht werden. Damit würden die bisherigen Befunde der Betrachtungen des Diskurses II zusätzlich bestätigt und die Notwendigkeit einer grundlegenden Re-Institutionaliserung der sonderpädagogischen Leitkonzeptionen unter Einbeziehung soziologischer Deutungstheorien und gesellschaftstheoretischer Ansätze weiter bestärkt. 2.5 Folgerungen Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Die beiden sonderpädagogischen Diskurse der De-Institutionalisierung verdeutlichen unmissverständlich, dass Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung – insbesondere Wohnstätten mit vollstationären Wohnangeboten – und die von ihnen erbrachten Leistungen nicht mehr den aktuellen Erfordernissen, Anforderungen und Erwartungen ihrer Umwelten entsprechen – weder aus gesellschaftlicher, noch aus individueller Sicht. Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung, deren Defizite durch die De-Institutionalisierungsdebatte deutlich problematisiert wurden, entsprachen in der Vergangenheit mit ihren formalen Strukturen und Prozessabläufen den Vorstellungen und Erwartungen einer damals noch weitgehendst segmentär und stratifikatorisch strukturierten Gesellschaft, die ihnen – zur eigenen Entlastung – die Versorgung, Betreuung, Pflege sowie die Wahrnehmung der Kontroll- und Aufsichtsfunktion über diese Zielgruppe als Aufgabenstellung zuwies. Inzwischen führten die globalisierungs- und modernisierungsbedingten Veränderungen der letzten Jahrzehnte zur Entwicklung nachmoderner hochfunktional ausdifferenzierter (westlicher) Gesellschaften, die ganz andere Forderungen an ihre Funktionalsysteme stellen. Damit verbunden ist ein Wandel zentraler Institutionen1 der Gesellschaft und eine Veränderung der Lebenslagen der Individuen. Neue Anforderungen und Erwartungen an das Hilfesystem bilden sich heraus. Die durch die gesellschaftlichen Umbrüche zusätzlich entstandenen Hilfebedarfe unverändert benachteiligter Personengruppen wie z. B. der Menschen mit geistiger Behinderung, werden immer deutlicher und erfordern adäquate Leistungsangebote. 1
Dieser Wandel führt auch zu einer Veränderung des Verhältnisses zwischen Individuum und Institution.
2.5 Folgerungen
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Die Wohneinrichtungen wurden durch diese Umweltveränderungen zwar zu bestimmten Anpassungsleistungen – vor allem an die technischen Umwelten und die regulativen Vorgaben ihrer institutionellen Umwelten veranlasst. Das führte zur Übernahme neuer Finanzierungsmodalitäten, der Entwicklung marktorientierter Strategien, der Veränderung bestehender Strukturen und der Einführung von Managementmaßnahmen zur Steigerung der Effizienz und Effektivität ihrer Leistungsangebote. Diese Anpassungsleistungen reichten für eine Rückgewinnung der gesellschaftlichen Legitimation allerdings nicht aus, zumal die gesellschaftliche Legitimationskrise der Wohneinrichtungen zwei – eng miteinander wechselwirkend verbundene – Dimensionen betrifft: Einmal die organisationalen Formen und Inhalte ihrer Hilfen, und zum anderen die institutionalisierten zentralen Leitkonzeptionen, die die Grundlage ihrer pädagogischen Arbeit bilden1. Die erforderliche umfassende Auseinandersetzung mit den veränderten normativ-kulturellen Dimensionen der institutionellen Umwelten wurde bisher – das zeigen beide Diskurse recht eindrucksvoll – durch die Leistungsträger und Akteure der Wohneinrichtungen – von Einzelfällen abgesehen – nicht aufgenommen. Voraussetzung für die notwendige Umgestaltung der institutionalisierten Elemente der Wohneinrichtungen, die diese Dimension abbilden (dazu gehören neben den Strukturen, Prozessabläufen, internen Regeln z. B. auch das professionelle Selbstverständnis und Rollenverhalten der MitarbeiterInnen, die organisationalen Formen der Hilfeleistung, die Organisationskultur und die normativen Grundlagen der pädagogischen Arbeit, d. h. die handlungsorientierenden Leitvorstellungen), wäre zu allererst ein völliges Umdenken der Akteure, Leistungsund Entscheidungsträger. Dann könnten sie die unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Anforderungen der technischen und institutionellen Umwelten an die Organisationen durch ihre Entscheidungsträger wahrnehmen, bewerten und die grundlegende Umgestaltung der Wohneinrichtungen im Sinn ihrer Re-Institutionalisierung in Angriff nehmen.
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Diese beiden Dimensionen stehen permanent in Spannung zueinander – das lässt sich für jede Leitidee aufzeigen, gleichgültig, ob es sich dabei um das Normalisierungsprinzip, um Selbstbestimmung oder Integration / Inklusion handelt: Die Institutionalformen der Wohneinrichtungen haben bisher immer einen z. T. stark einschränkenden, begrenzenden Einfluss auf die Wirkmächtigkeit der Leitkonzeptionen im lebensweltlichen Alltag ihrer BewohnerInnen ausgeübt. Andererseits haben die Leitkonzeptionen mit ihrem reformerischen Potenzial die Wohneinrichtungen in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert, wie THIMM und BECK, I. z. B. für das Normalisierungsprinzip aufgezeigt haben. Die Legitimationskrise der Wohneinrichtungen und der Leitkonzeptionen konnte dadurch allerdings nicht verhindert werden.
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2 Diskurse zur De-Institutionalisierung
Erfolgt dies nicht, dann lassen sich die Inkonsistenzen und Spannungen nicht mehr bewältigen – der gesellschaftliche Legitimationsverlust schreitet fort und führt zu einer Verschärfung der Legitimationskrise dieser Organisationen. In dieser Situation scheinen sich derzeit die Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung zu befinden. Deshalb ist es notwendig, im folgenden Kapitel 3 zunächst die gesellschaftlichen Umbrüche und die dadurch ausgelösten Veränderungen in den technischen und institutionellen Umwelten der Wohneinrichtungen zu betrachten, um daraus anschließend einen Lösungsansatz zur Überwindung ihrer Legitimationskrise abzuleiten.
3.1 Vorbemerkungen
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3 Wandlungsprozesse: Die Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der Nachmoderne 3
Wandlungsprozesse
3.1 Vorbemerkungen Die im Kapitel 2 „diagnostizierte“ Legitimationskrise von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung führt zu einem fortschreitenden Verlust der gesellschaftlichen Legitimation dieser Organisationen und zu Defiziten der Leistungserbringung für ihre NutzerInnen. Die entscheidende Voraussetzung für ihre Überwindung ist eine aktive, umfassende Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, den daraus folgenden Veränderungen sowohl der Lebenslagen von Menschen mit geistiger Behinderung als auch der Einflussfaktoren mit ihren Auswirkungen auf die Wohneinrichtungen. Dabei geht es vor allem um die Entwicklung wichtiger Institutionen der nachmodernen Gesellschaft, die die technischen und institutionellen Umwelten der Einrichtungen bilden. Die Forderung, eine derartige Auseinandersetzung aufzunehmen, richtet sich, soweit es ihre eigenen Organisationen betrifft, an die Akteure und Entscheidungsträger der Wohneinrichtungen und ihrer Träger. Darüber ist auch die Sonderpädagogik, insbesondere in Bezug auf das gesamte System der Behindertenhilfe und die Weiterentwicklung der institutionalisierten sonderpädagogischen Leitvorstellungen angefragt, sich als Wissenschaft dieser Herausforderung zu stellen. Dies steht in systematischer Form seitens der Sonderpädagogik (zumindest in breiter Front) zwar noch aus, das Problem als solches scheint aber erkannt. Es gibt kritische Stimmen innerhalb der Sonderpädagogik, die schon länger eine Einbeziehung des gesellschaftlichen Kontextes fordern, und seit einigen Jahren auch die Entwicklung erster Ansätze, die klar in diese Richtung weisen. Deshalb wird im Abschn. 3.2 zunächst eine kurze Einführung in diese – eher noch als randständig zu bezeichnende, aber stärker werdende – sonderpädagogische Diskussion gegeben, um den Anschluss an diesen Diskurs herstellen zu können. Anschließend erfolgt im Abschn. 3.3 eine Vorstellung soziologischer Zeitdiagnosen, mit deren Hilfe sich die im Abschn. 3.4 erörterten Phänomene der Globalisierung deuten lassen. Diese Deutungstheorien werden in ihrer Spezifik A. Brachmann, Re-Institutionalisierung statt De-Institutionalisierung in der Behindertenhilfe, DOI 10.1007/978-3-531-93205-7_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Wandlungsprozesse
beschrieben und danach erläutert, aus welchem Grund sich gerade diese Form soziologischer Zeitdiagnosen zum Verständnis der gesellschaftlichen Umbruchsprozesse besonders eignet. Schließlich wird aus der Vielzahl unterschiedlicher Deutungstheorien ULRICH BECKS Ansatz der „Reflexiven oder Zweiten Moderne“ ausgewählt, durch Aspekte postmoderner Theorien ergänzt und begründet, warum die Wahl im Rahmen vorliegender Arbeit gerade auf diese Zeitdiagnosen fiel. Diese soziologischen Deutungsansätze ermöglichen es, den durch Prozesse der Globalisierung und Modernisierung geprägten gesellschaftlichen Wandel in der Epoche der Nachmoderne zu erfassen, zu beschreiben und zu deuten. Daraus lassen sich die Veränderungen der für die Wohneinrichtungen relevanten technischen und institutionellen Umwelten ableiten, die entsprechende Anpassungsleistungen dieser Organisationen im Sinne eines grundlegenden Struktur- und Funktionswandels erforderlich machen. Um dazu Aussagen zu treffen, sollen zuvor die grundsätzlichen Strategien des Anpassungsverhaltens von Organisationen vorgestellt werden. Beides erfolgt im Abschn. 3.5, ehe im Abschn. 3.6 die Ergebnisse der Kap. 2 und 3 mit ihren Konsequenzen für die Umgestaltung der Wohneinrichtungen zusammengefasst werden. 3.2 Die Einbeziehung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: Einführung in die aktuelle sonderpädagogische Diskussion 3.2 Die Einbeziehung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen WALTER THIMM kann wohl als einer der Ersten gelten, die aus sonderpädagogischer Perspektive schon frühzeitig die Einbeziehung des gesellschaftlichen Kontextes in sonderpädagogische Überlegungen thematisierten1 und in der eigenen Forschungstätigkeit immer im Blick behielten2. 1992 beschreibt THIMM im Rahmen einer Bestandsaufnahme für die Bundesrepublik „[…] Normalisierung als Leitvorstellung für das sozialpolitische, das sozialadministrative, soziale und
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Vgl. THIMM, 1979, S. 24 ff. Im Zusammenhang mit der Einführung des Normalisierungsprinzips in Deutschland forderte THIMM bereits 1979 sogar die Beeinflussung der sozialen und gesellschaftlichen Systeme und ihrer Wertevorstellungen durch diese Leitidee (unter Bezugnahme auf GOFFMANS Stigmatheorie und WOLFENSBERGERS Modell der Handlungsebenen der Normalisierung). Vgl. z. B. THIMM (1980), (1991), (1994a), (1994b), (1998) und (2005a). Diese Offenheit für die Einbeziehung gesellschaftlicher Fragestellungen ist sicher in seinem Interesse für eine „Soziologie der Behinderten“ begründet.
3.2 Die Einbeziehung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
103
pädagogische Interventionssystem und als Zielperspektive dieser Interventionen […]“1,2. In einem Artikel zur Selbstbestimmungsdiskussion3 adaptiert er 1991 das Konzept der Lebenschancen des Soziologen DAHRENDORF4 unter ausdrücklichem Bezug auf die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen als neue Leitidee für die Sonderpädagogik. In einem Referat, das er 1998 über Zieldimensionen behindertenpädagogischen und sozialpolitischen Handelns hält, spielen die Merkmale der gesellschaftlichen Umbruchssituation eine wichtige Rolle5. 2005 analysiert er den gesellschaftlichen Wandel sowie gesellschaftspolitische Tendenzen erneut und prognostiziert, das System der Behindertenhilfe sei auf dem Weg zur Gemeinwesenorientierung6. Auch IRIS BECK7, KONRAD BUNDSCHUH8, GÜNTHER DÖRR9, BARBARA FORNEFELD10, CHRISTIAN GAEDT11, HEINRICH GREVING12, DIETER GRÖSCHKE13, URS HAEBERLIN14, WOLFGANG JANTZEN15, HANS-UWE RÖSNER16, JOHANNES SCHÄDLER 17, OTTO SPECK18 und URSULA STINKES19 beziehen in ihre sonderpädagogischen Überlegungen explizit Aspekte des gesellschaftlichen Kontextes ein und fordern eine solche Herangehensweise z. T. auch mit großer Deutlichkeit20. 1
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THIMM (1992), S. 210 ff. In einer kritischen Auseinandersetzung mit den Positionen GAEDTS fordert THIMM eine gründliche Diskussion einer Reihe zentraler gesellschaftsanalytischer Fragestellungen im Zusammenhang mit der Umsetzung des Normalisierungsprinzips (vgl. ebd., S. 215-217). Die sozialpolitische Dimension des Normalisierungskonzeptes, so THIMM, sei im Wesentlichen von dem Soziologen v. FERBER entfaltet, dem die Soziologie der Behinderten und damit die Behindertenhilfe viel verdanke (vgl. THIMM, 2006, S. 4). Vgl. THIMM (1997). Vgl. DAHRENDORF (1979). Vgl. THIMM (1998), S. 233 ff. Vgl. THIMM (2005a). Vgl. z. B. BECK, I. (1994), (1996), (1998), (1999), (2000), (2002), (2003), (2004), (2006a) und (2006b). Vgl. z. B. BUNDSCHUH (2002). Vgl. z. B. DÖRR (2002). Vgl. z. B. FORNEFELD (2008). Vgl. z. B. GAEDT (1997), (2003). Vgl. z. B. GREVING (2002c). Vgl. z. B. GRÖSCHKE (1997), (1998), (2002a), (2002b) und (2002c). Vgl. z. B. HAEBERLIN (1994), (1996) und (2002). Vgl. z. B. JANTZEN (1999), (2002) und (2008). Vgl. z. B. RÖSNER (2002). Vgl. z. B. SCHÄDLER (2002a), (2002b) und (2003). Vgl. z. B. SPECK (1990), (1991), (1996), (1999a), (1999b), (2002) und (2003). Vgl. z. B. STINKES (2002) und (2008). GREVING & GRÖSCHKE fordern z. B. man müsse „[…] diese Gesellschaft näher in den Blick nehmen, d. h. […] systematische Gesellschaftsanalyse in heil- und behindertenpädagogischer Absicht betreiben.“ (GREVING & GRÖSCHKE, 2002, S. 8.) BUNDSCHUH schreibt: „Eine Sinnbe-
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3 Wandlungsprozesse
ANDREAS BÄCHTHOLD1 führt in seine Untersuchung gemeindenaher Hilfen für Behinderte die gesellschaftstheoretische Perspektive ein, indem er auf den von HABERMAS2 bestimmten Begriff der Lebenswelt zurückgreift und die Probleme, die bei der Umsetzung des Normalisierungsprinzips auftreten, im „Bezugsrahmen der Lebenswelt-Reproduktionen und der Systemimperative“3 diskutiert. Im Zusammenhang mit Überlegungen zur Zukunft der Heilpädagogik, die sie in einem Sammelband 1996 veröffentlichten, räumen PETERANDER & OPP4 den gesellschaftlichen Umbrüchen einen zentralen Stellenwert ein. Diese bilden aus ihrer Sicht die „substanziell veränderten Rahmenbedingungen moderner heilpädagogischer Praxis“5. PETERANDER & OPP verstehen die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen und Umbrüche als „Impulse für eine Weiterentwicklung“ der Heilpädagogik6; heilpädagogische Theorie und Praxis müsse ein modernes Aufgabenverständnis aus diesen neuen Herausforderungen ableiten, so ihre Forderung7. In seinem Artikel „Postmoderne – Pluralisierung – Differenz: Soziologische, ethische und politische Implikationen“ analysiert MARKUS DEDERICH8 unterschiedliche Aspekte der gesellschaftlichen Veränderungen, wobei er sich verschiedener soziologischer Deutungstheorien9 bedient. Die Relevanz derartiger Untersuchungen begründet DEDERICH damit, dass die Theorien der Postmoderne der Behindertenpädagogik aufschlussreiche Metaperspektiven auf das gegenwärtige gesellschaftliche Bedingungsgefüge einschließlich ihrer theoretischen,
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stimmung sonderpädagogischer Forschung und Praxis liegt darin, die Identität der Sonderpädagogik als Interventions- und Integrationswissenschaft verstärkt bezogen auf gesellschaftliche Bedingungen und Verhältnisse zu begründen und weiter zu entwickeln. Wir können unsere Chancen in Zukunft nur wahrnehmen, wenn wir auch die außerwissenschaftlichen, d. h. die gesellschaftlichen Bedingungen und Veränderungen in ihren Auswirkungen auf die Betroffenen hinterfragen, analysieren und mit der Zielrichtung Lebenserleichterung zu verändern versuchen. Insgesamt betrachtet müssen wir auf die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen offensiv reagieren.“ (BUNDSCHUH, 2002b, S. 99). Vgl. BÄCHTHOLD (1990). Vgl. HABERMAS (1981). BÄCHTHOLD (1990), S. 90 ff. Vgl. PETERANDER & OPP (1996). Ebd., S. 19. Die Autoren verweisen darauf, dass geschichtlich gesehen, aus jedem gesellschaftlichen Umbruch neue pädagogische Ansätze wuchsen, pädagogische Selbstbeschreibungen sich veränderten und zu neuen Aufgabenstellung führten. Als Beispiele für solche pädagogische Reformen führen sie die Ausdifferenzierung des Bildungssystems und die Etablierung einer allgemeinen Sozialpädagogik an (ebd., S. 20). Vgl. ebd., S. 21. Vgl. DEDERICH (2002a). Er greift sowohl auf postmoderne Ansätze (unter Bezug auf BAUMAN und LYOTARD), auf das Konzept der Reflexiven Moderne (unter Bezug auf ULRICH BECK) als auch auf soziologische Aussagen der Systemtheorie LUHMANNS zurück.
3.2 Die Einbeziehung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
105
konzeptionellen und praktischen Problemstellungen sowie der daraus resultierenden praktischen Aufgaben eröffneten1. Zudem rückten sie „[…] eine Veränderungsdynamik in den Blick, die für die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderungen […] von erheblichem Belang sind“2. In seinen weiteren Veröffentlichungen stellt er die Probleme, mit denen sich Menschen mit Behinderungen konfrontiert sehen, konsequent in ihren Folgen als Ausdruck der gravierenden Veränderungen der Gegenwartsgesellschaft dar3. GUNDRUN WANSING 4 setzt sich im Rahmen ihrer 2004 an der Universität Dortmund abgeschlossenen Dissertation systematisch mit der Leitkonzeption „Teilhabe“ auseinander. Ausgehend von der neueren Systemtheorie Luhmannscher Prägung analysiert sie die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse, untersucht die neuen Exklusionsrisiken moderner Gesellschaften (insbesondere das Exklusionsrisiko Behinderung) sowie den Wandel des Sozialstaates, formuliert Zielstellungen, Konzepte und Instrumente für den notwendigen Wandel sozialer Dienste und entwirft schließlich mit der „Bürgergesellschaft“5 ein neues Sozialmodell, das „[…] mit einem veränderten Verständnis von sozialer Gerechtigkeit einhergeht und auf eine neue Verantwortung aller gesellschaftlichen Akteure zielt.“6 Das analytische Potenzial des Individualisierungsansatzes für das Verständnis von Behinderung und die Lebenslage von Menschen mit Behinderung versucht ALBRECHT ROHRMANN7 in seinem im Jahr 2007 erschienen Werk zu erschließen. Dabei untersucht er auch, „[…] ob und wie das professionelle Unterstützungsangebot auf die damit verbundenen Herausforderungen reagiert“8. In diesem Zusammenhang betrachtet er nicht nur die Leitvorstellung „Selbstbestimmung“ im Kontext der Individualisierung und Pluralisierung von Lebensverläufen, für ihn verbindet sich damit auch die Frage nach den Reaktionen der Behindertenhilfe auf die Veränderungen in den Vorgaben zum Lebenslauf sowie die veränderten Anforderungen an die alltägliche Lebensführung und Identitätsarbeit9. In der Entwicklung von Offenen Hilfen, die ROHRMANN am
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Vgl. DEDERICH (2002a), S. 33. DEDERICH (2002a), S. 33. Er verweist z. B. auf die neuen Risiken der Lebensgestaltung für Menschen mit Behinderungen sowie auf die Gefahr der Beschädigung ihrer Identität und Integrität (vgl. DEDERICH, 2002b) und die neuen Exklusionsgefahren in Folge des gesellschaftlichen Wandels (vgl. DEDERICH, 2008). Vgl. WANSING (2006). Ebd., S. 18. Ebd. Vgl. ROHRMANN (2007). ROHRMANN (2007), S. 8. Vgl. ROHRMANN (2007), S. 156.
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3 Wandlungsprozesse
Ende seiner Ausführungen profiliert, sieht er eine bzw. die (!) „[…] Strategie reflexiver Modernisierung der Behindertenhilfe […]“1. DIETER GRÖSCHKE hat sich immer wieder für ein gesellschaftsbezogenes Denken in Wissenschaft und Praxis der Heilpädagogik eingesetzt2. In der Einleitung zu dem mit GREVING im Jahr 2002 herausgegebenen Sammelband „Das Sisyphus-Prinzip. Gesellschaftsanalytische und gesellschaftskritische Dimensionen der Heilpädagogik“3 untersucht er das Verhältnis zwischen Heilpädagogik und Gesellschaft. Aus seiner Sicht ist „[…] die kritisch-realistische Aufklärung dieses Verhältnisses […] jeder wissenschaftlich betriebenen und auf reformerische Praxis eingestellten Heilpädagogik als Daueraufgabe übertragen“4. Eine solche Heilpädagogik dürfe nicht nur pädagogische Handlungs- und Beziehungswissenschaft sein, sondern müsse, so GRÖSCHKE, auch als kritische Sozial- und Gesellschaftswissenschaft betrieben werden5. Abgesehen von der materialistischen Behindertenpädagogik, zu deren Theorieprogramm die politökonomische, materialistische Gesellschaftsanalyse und -kritik gehörte und gehört, überließ die wissenschaftliche Heilpädagogik diese Aufgabe bisher allerdings den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften6. Deshalb fordert GRÖSCHKE, dass sich Heilpädagogik einen kritisch-analytischen Gesellschaftsdiskurs noch weiter angewöhne7 und dabei „[…] das gesamte Spektrum soziologischer und gesellschaftswissenschaftlicher Konzepte und Perspektiven“8 uneingeschränkt zu Rate ziehe. Ihm geht es einerseits um eine „gesellschaftlich aufgeklärte heilpädagogische Praxis“9 auf Grundlage einer „Gesellschaftsdiagnose vom heilpädagogischen Standpunkt“10 aus, andererseits aber auch um die Aneignung einer gesellschafts- und ideologiekritischen Haltung der
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ROHRMANN (2007), S. 156. Vgl. z. B. GREVING & GRÖSCHKE (2002), S. 8. Vgl. GREVING & GRÖSCHKE (2002). GRÖSCHKE (2000a), S. 9. Er geht dabei davon aus, dass man die Geschichte der Heilpädagogik auch als Geschichte ihres Verhältnisses zur jeweiligen Gesellschaft rekonstruieren könne (vgl. ebd.). Vgl. ebd., S. 10. Der Auftrag der Heilpädagogik erschöpfe sich nicht, so GRÖSCHKE, in der Gestaltung exklusiver heilpädagogischer Erziehungsverhältnisse – in einer Art „pädagogischer Provinz“ als Gegenentwurf angesichts der Unübersichtlichkeit, der Unsicherheiten und Risiken des Lebens, Lernens und Arbeitens unter heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen (vgl. ebd.). Den Grund dafür sieht GRÖSCHKE darin, dass die kritische Gesellschaftsanalyse bis heute nicht systematisch zum wissenschaftlichen Selbstverständnis der Heilpädagogik gehört und ihre Vertreter sich der Ergebnisse der Sozial- und Gesellschaftswissenschaften, so GRÖSCHKE, entweder partiell oder gar nicht bedienten (vgl. ebd., S. 13). Vgl. GRÖSCHKE (2000a), S. 10. Ebd., S. 13. GREVING & GRÖSCHKE (2002), S. 32. Ebd., S. 13.
3.2 Die Einbeziehung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
107
Heilpädagogik zur Verteidigung der wertnormativen Grundlagen der Wohlfahrt1. Eine Sonderstellung nehmen die Forschungen der „Disability Studies“ ein2. Sie stellten „Behinderung“, so WALDSCHMIDT, in den Mittelpunkt eines theoretisch und methodologisch anspruchsvollen, interdisziplinär angelegten Forschungsprogramms3. Mit dem Forschungsfeld der Disability Studies sei, so WALDSCHMIDT, auch ein Teilhabe und Emanzipationsversprechen verknüpft: „Ihr Ausgangspunkt ist die konkrete Utopie, mit Hilfe von Wissenschaft individuelle und gesellschaftliche Sichtweisen und Praktiken verändern zu können, so dass behinderten Menschen ein voller Subjektstatus und uneingeschränkte gesellschaftliche Partizipation möglich wird.“4
Alle Forschenden der Disability Studies begriffen ihre Arbeit als den Versuch, so erläutert WALDSCHMIDT weiter, Behinderung als Gesellschaftsprodukt und soziale Konstruktion zu konzeptualisieren. Dabei werde Behinderung als historisches, kulturelles und gesellschaftliches Differenzierungsmerkmal verstanden5. Angesichts ihrer interdisziplinären Herangehensweise, der im Rahmen ihrer Forschungen entwickelten Ansätze eines „sozialen“ und „kulturellen“ Modells von Behinderung6, dem engen Kontakt zu sozialen Bewegungen behinderter Menschen und ihrem emanzipatorischen Anspruch ist es verständlich, dass Disa1 2 3 4 5
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Vgl. GREVING & GRÖSCHKE (2002), S. 29 und 32. In Deutschland werden Disability Studies an verschiedenen Hochschulen wie z. B. in Berlin, Bremen, Dortmund, Köln und Marburg betrieben (vgl. WALDSCHMIDT, 2007, S. 163). Vgl. WALDSCHMIDT, 2007, S. 161. Ebd., S. 162. Wesentliche Impulse erhielten die Disability Studies, so WALDSCHMIDT, von den internationalen Behindertenbewegungen, deren Programmatik sie sich verpflichtet fühlten (vgl. ebd.). Zentraler Ausgangspunkt sei die These, so WALDSCHMIDT, dass „Behinderung“ nicht einfach „vorhanden“ sei, sondern „hergestellt“, produziert und konstruiert werde – in wissenschaftlichen und alltagsweltlichen Diskursen, politischen und bürokratischen Verfahren, subjektiven Sichtweisen und Identitäten (ebd., S. 163). Alternativ zum „individuellen Modell von Behinderung“ des Rehabilitationsparadigmas der spätmodernen westlichen Gesellschaften, so WALDSCHMIDT, laute der Kerngedanke des sozialen Modells: Behinderung sei kein Ergebnis medizinischer Pathologie, sondern das Produkt sozialer Organisation. Sie entstehe durch systematische Ausgrenzung, denn Menschen würden nicht auf Grund gesundheitlicher Beeinträchtigungen behindert, sondern durch das soziale System, das Barrieren gegen ihre Partizipation errichte (vgl. ebd.). Das kulturelle Modell gehe dagegen davon aus, so fährt WALDSCHMIDT fort, dass es sich bei „Behinderung“ um eine spezifische Form kultureller Problematisierung von körperlicher und verkörperter Auffälligkeit handele (vgl. ebd.). Mit dem kulturwissenschaftlichen Ansatz werde die Perspektive umgedreht: Nicht die behinderten Menschen als Randgruppe, sondern die Mehrheitsgesellschaft werde zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand (vgl. ebd., S. 166). WALDSCHMIDTS Fazit lautet: „Alle drei Ansätze werden benötigt, um die Komplexität des Behinderungsgeschehens zu verstehen.“ (ebd., S. 167).
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3 Wandlungsprozesse
bility Studies ein besonderes Interesse an gesellschaftlichen Zusammenhängen und den Phänomenen des Wandels innerhalb der Nachmoderne haben. Damit soll diese kurze Einführung, die keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, abgeschlossen werden. Sie lässt erkennen, das gesellschaftsbezogenes Denken, welches die gegenwärtigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Arbeit des Systems der Behindertenhilfe in Theorie und Praxis kritisch analysiert und hinterfragt, innerhalb der Sonderpädagogik schrittweise Einzug zu halten beginnt. Auch die Notwendigkeit einer offensiven, systematischen Auseinandersetzung mit allen relevanten Aspekten des gesellschaftlichen Wandels durch die Sonderpädagogik wird inzwischen – zumindest von einigen ihrer Vertreter – wahrgenommen und fundiert begründet; erste Ansätze zur Umsetzung dieses Anspruchs sind zu verzeichnen. Diese kritische Reflexion der gesellschaftlichen Bedingungen und Prozesse ist allerdings nicht nur in Bezug auf die notwendige Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen erforderlich. Der Horizont der Betrachtung muss auf das gesamte System der Behindertenhilfe ausgedehnt werden, um aus dieser Perspektive die gesellschaftlichen Umbruchsprozesse kritisch zu analysieren, die neuen Aufgabenstellungen und Herausforderungen, die daraus resultieren, abzuleiten und konkrete Schritte und Maßnahmen zur Veränderung zu konzipieren. Dieser Herausforderung muss sich die Sonderpädagogik stellen, um den Einrichtungen und Trägern der Dienste der Behindertenhilfe die dringend benötigte Handlungsorientierung zu liefern und um zukünftig weiterhin bzw. erneut ihrer Doppelfunktion als Reflexions- und Handlungswissenschaft1 gerecht werden zu können. 3.3 Soziologische Gegenwartsdiagnosen Um die sich gegenwärtig im Umbruch befindlichen gesellschaftlichen Verhältnisse verstehen zu können, ist es zweckmäßig, soziologische Theorieansätze zu Hilfe zu nehmen, die eine Erfassung und Deutung der globalen Prozesse des sozialen Wandels ermöglichen. Dazu eignen sich soziologische Zeitdiagnosen,
1
Vgl. FORNEFELD (2008). In ihrer Funktion als Reflexionswissenschaft „[…] erforscht sie Bildungs- und Erziehungskontexte und als Handlungswissenschaft erarbeitet sie Vorschläge, wie die Bildungs- und Erziehungspraxis zu gestalten ist.“ (ebd., S. 108).
3.3 Soziologische Gegenwartsdiagnosen
109
die ihren Niederschlag in soziologischen Deutungstheorien finden. Charakteristisch für dieses Genre1 ist, dass
es immer um die Gesellschaft als Ganzes geht2, sie ein Abstraktionsniveau aufweisen, das sich zwischen „enger gefassten“ und „weiter gefassten“ Gesellschaftsanalysen verorten lässt3, sie eine „gewisse Theoriezurückhaltung“4 zeigen, sie kaum empirisch abgesichert sind5, sie einen unverkennbar spekulativen Überhang aufweisen und ihre Überzeugungskraft aus theoretischen Plausibilisierungen und Extrapolationen gewinnen.
Die spezifische Funktion soziologischer Gegenwartsdiagnosen bestehe nun gerade darin, so SCHIMANK6, dass sie einen wichtigen Beitrag zur soziologischen Aufklärung der Gesellschaft über sich selbst leisteten. Sie offerierten den Gesellschaftsmitgliedern generelles Orientierungswissen zur Deutung gesellschaftlicher Phänomene, so SCHIMANK weiter, und ermöglichten damit eine gesellschaftliche Selbstverständigungsdebatte, die die Voraussetzung bildet, um „[…] die gesellschaftlichen Verhältnisse im konzertierten Zusammenwirken zumindest partiell zu gestalten […]“7. In diesem Zusammenhang würden sie, so SCHIMANK, zunehmend wichtiger. Das macht zweifelsohne die Stärke der soziologischen Deutungstheorien aus – und ihre grundsätzliche Eignung als Deutungsansätze, auf die die Sonder1 2
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Vgl. SCHIMANK (2007), S. 14. Er bezieht sich in seiner Analyse der soziologischen Zeitdiagnosen auf Beobachtungen, die WALTER REESE-SCHÄFER festgehalten hat (vgl. REESE-SCHÄFER, 1996). Vgl. ebd. Das bedeutet, sie konzentrieren sich nicht auf bestimmte einzelne gesellschaftliche Teilbereiche oder „[…] soziale Gebilde unterhalb der Gesellschaftsebene, etwa Organisationen oder Interaktionen […]“, sondern auf die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, wobei allerdings die Teilbereiche durchaus eingeschlossen sind. Vgl. SCHIMANK (2007), S. 15, 16. Soziologische Gegenwartsdiagnosen sind also analytisch abstrakter als Untersuchungen einzelner Gesellschaften, so SCHIMANK, aber konkreter als generelle Gesellschaftstheorien. Ebd., S. 16. Zitat REESE-SCHÄFER (1996), S. 379. Diesen Aspekt soziologischer Zeitdiagnosen kritisiert MÜNCH am Beispiel ULRICH BECKS Theorie der reflexiven Modernisierung massiv (vgl. MÜNCH, 2004, S. 536, 537). SCHIMANK vertritt dagegen eine etwas andere Sicht. Er vermerkt, dass in manchen Fällen eine Einbettung in generelle soziologische Gesellschaftstheorien zwar diffus und implizit, bei näherem Hinsehen aber unverkennbar sei. Als Beispiel führt er ebenfalls ULRICH BECKS Gegenwartsdiagnose an, die „[…] unausgesprochen stark differenzierungstheoretisch angelegt ist […].“ (ebd.). Vgl. ebd., S. 16, 17. Vgl., S. 17. Vgl. MÜNCH, 2004, S. 536, 537.
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3 Wandlungsprozesse
pädagogik zur Klärung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation und ihren Entwicklungen zurückgreifen kann. Bevor die Sonderpädagogik allerdings die gesellschaftlichen Umbrüche mittels soziologischer Zeitdiagnosen aus ihrer eigenen Perspektive und Interessenslage untersucht und deutet, sollte sie sich zunächst auch die Grenzen und strukturellen Mängel dieser Deutungstheorien bewusst machen1. SCHIMANK stellt folgende kritische Aspekte soziologischer Deutungstheorien heraus2:
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Es gäbe immer eine Generalbehauptung, die auf einen kritischen Moment gesellschaftlicher Entwicklung aufmerksam mache. In diesem Zusammenhang werde für das Hier-und-Jetzt diagnostiziert, dass sich ein historischer Bruch vollziehe oder zumindest unmittelbar bevorstehe3. Überwiegend gehe es dabei um aktuelle oder drohende Krisen mit den damit verbundenen Risiken und Chancen4. Ihre Aussagen seien in besonderem Maß zeitlicher Vergänglichkeit unterworfen – d. h. die gesellschaftliche Dynamik schreite über sie hinweg5, da sie keinerlei gesellschaftliche Wirkung erzielt hätten6. Andererseits gäbe es auch den Fall, dass die gesellschaftliche Dynamik im positiven Sinn über die Gegenwartsdiagnose hinweggehe, nämlich von ihr gelenkt, voranschreite7. Ihr spekulativer Charakter bürge Irrtumsrisiken; in sachlicher Hinsicht stelle jede soziologische Gegenwartsdiagnose eine Vereinseitigung dar, da das
Ein solch notwendiger Diskurs, der diese Aspekte thematisiert, hat innerhalb der Sonderpädagogik bisher noch gar nicht stattgefunden. Vgl. auch MÜNCHS kritische Bewertung der Zeitdiagnose, die ULRICH BECK seiner Theorie reflexiver Modernisierung zugrunde legt, und die sich teilweise sicher verallgemeinern und auf soziologische Zeitdiagnosen generell beziehen lässt (vgl. MÜNCH, 2004, S. 520 ff.). Vgl. SCHIMANK (2007), S. 18. Den Grund dafür sieht SCHIMANK darin, dass es „[…] den Gegenwartsdiagnosen letztlich um das Durchdenken gesellschaftlicher Gestaltungsmöglichkeiten- und erfordernisse geht […].“ (ebd.). MÜNCH versucht, am Beispiel der Theorie reflexiver Modernisierung aufzuzeigen, dass es keinerlei empirische Belege für die Richtigkeit der Generalbehauptungen (Steigerung der Risikoproduktion, Übergang von der Ersten zur Zweiten Moderne) dieser Deutungstheorie gäbe, sondern diese allenfalls durch mediale Thematisierung erzeugt würden (vgl. MÜNCH, 2004, S. 520 ff.). Vgl. SCHIMANK (2007), S. 18. In solchen Fällen hätten sie sich entweder als unzutreffend erwiesen oder wären zwar richtig, aber – aus welchen Gründen auch immer – ohne Bestätigung (vgl. ebd.). Vgl. ebd. Es ließe sich sicher behaupten, so SCHIMANK, dass beispielsweise die Betrachtungen ULRICH BECKS und NIKLAS LUHMANNS zur ökologischen Gefährdung das Denken und die Programmatik der Ökologiebewegung und der Grünen und Teilen anderer politischer Gruppierungen mitgeprägt hätten.
3.3 Soziologische Gegenwartsdiagnosen
111
jeweils hervorgehobene Merkmal für das zentrale, alle anderen aber für nebensächlich erklärende Merkmale gehalten würden1. Sie seien besonders werturteilsbehaftet und neigten dadurch zur Überdramatisierung der herausgestellten Entwicklungen mit ihren Gefährdungs-Potenzialen oder Chancen2. Sie setzten die Akteure, die die Gesellschaft auf Grundlage ihrer Zeitdiagnose aus wertgetriebenem Engagement gestalten wollten, unter extremen Zeitdruck, damit diese den historischen Moment nicht unwiderruflich verpassten3. Sie suggerierten – aufgrund des stark vereinfachten Bildes der gesellschaftlichen Situation – mehr Ordnung, als tatsächlich vorhanden sei und damit die Möglichkeit einer zielgenau berechenbaren Gestaltbarkeit der gesellschaftlichen Dynamik. Das führe zu einer Überschätzung des kausalen Zusammenhangs zwischen den von der betreffenden Gegenwartsdiagnose herausgestellten Faktoren und zur Unterschätzung zahlloser weiterer relevanter Kausalfaktoren4.
Angesichts der hohen Irrtumsanfälligkeit soziologischer Gegenwartsdiagnosen empfiehlt SCHIMANK
diese erstens dem Korrektiv der Konfrontation mit der Empirie und konkurrierenden Theorien besonders intensiviert auszusetzen und zweitens das Gespräch zwischen den verschiedenen soziologischen Gegenwartsdiagnosen zu initiieren und aufrechtzuerhalten, so dass diese einander gegenseitig anregen, korrigieren und ergänzen können5.
Die Pluralität soziologischer Perspektiven, aus der die soziale Wirklichkeit wahrgenommen wird und die sich in der Vielzahl der miteinander konkurrierenden, sich teilweise widersprechenden bzw. ergänzenden und unterschiedliche Schwerpunkte setzenden Zeitdiagnosen mit ganz verschiedenen Deutungs- und 1 2 3 4 5
Vgl. SCHIMANK (2007), S. 19. Vgl. ebd. SCHIMANK verweist darauf, dass soziologische Gegenwartsdiagnosen aufgrund ihrer Einseitigkeit und Werturteilsbehaftetheit für alle von KARL POPPER (1957) herausgestellten Gefahren des „Historizismus“ anfällig seien Vgl. SCHIMANK (2007), S. 19. Vgl. SCHIMANK (2007), S. 19, 20. Vgl. ebd., S. 20. SCHIMANK zieht folgendes Fazit: Auch wenn man nicht erwarten dürfe, dass sich die verschiedenen soziologischen und auch außersoziologischen Sichtweisen auf die moderne Gesellschaft jemals zu einem in sich geschlossenen Bild zusammenfügen, versprächen eine „[…] sekundäranalytische Verknüpfung möglichst vieler und möglichst heterogener soziologischer Gegenwartsdiagnosen […].“ (ebd., Hervorhebung im Original, Anm. A. B.) erhebliche, vielleicht sogar sprunghafte Erkenntnisgewinne.
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3 Wandlungsprozesse
Erklärungsansätzen1 widerspiegelt, stellt für die Sonderpädagogik eine besondere Herausforderung bei der Suche nach einer geeigneten soziologischen Deutungstheorie dar. Eine Auflistung wichtiger Deutungstheorien, wie sie z. B. von KNEER u. a.2 zusammengestellt wurde, verdeutlicht dies sofort. Sie rechnen zu den gesamtgesellschaftlichen Zeitdiagnosen, die in den gegenwärtigen soziologischen Debatten eine bedeutende Rolle spielen, u. a. die Konzepte der
Postmodernen Gesellschaft, Multikulturellen Gesellschaft, Funktional differenzierten Gesellschaft, Individualisierten Gesellschaft, Postindustriellen Gesellschaft, Risikogesellschaft und der Erlebnisgesellschaft3.
SCHIMANK klassifiziert wichtige soziologische Gegenwartsdiagnosen nach ihrer Entstehung in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA. Die Zusammenstellung von KNEER u. a. könnte damit z. B. um die Ansätze der
Kommunikationsgesellschaft, Multioptionsgesellschaft, Bürgergesellschaft, Asymmetrischen Gesellschaft und des Kommunitarismus4
erweitert werden5. 1
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Vgl. SCHIMANK (2007), S. 14. Er schreibt dazu: „Man mag das als unverbesserliche Unreife dieser Disziplin einstufen […]. Aber vielleicht ist die Perspektivenvielfalt ja auch die einzig adäquate Reaktion auf die immense Komplexität sozialer Wirklichkeit, die sich analytisch einfach nicht in eine einzige Sicht der Dinge hineinpressen lässt.“ (vgl. SCHIMANK, 2007, S. 14). Vgl. KNEER, GEORG & NASSEHI, ARMIN & SCHROER, MARKUS (1997). Vgl. KNEER, GEORG & NASSEHI, ARMIN & SCHROER, MARKUS (1997), S. 8. Sie wollen damit „[…] einen Überblick darüber vermitteln, wie vielfältig und unterschiedlich, widersprüchlich und disparat die gegenwärtige soziologische Diskussion sich dem Phänomen Gesellschaft nähert.“ (Hervorhebung im Original, Anm. A. B.). Vgl. SCHIMANK & VOLKMANN (2007). Dabei handelt es sich allerdings nur um eine Auswahl, sie untersuchen in ihrem Band noch eine Veilzahl weiterer Zeitdiagnosen. GRÖSCHKE zitiert angesichts „der Vielzahl dieser Konzepte und analytischen Modelle“ (GRÖSCHKE, 2002a, S. 28) ARMIN PONGS wie folgt: „Deshalb müssen wir vorläufig schlussfolgern, dass wir in einer funktional differenzierten, desintegrierenden, risikobewussten, bürgerlichen, arbeitsdominierten, erlebnisorientierten, postindustriellen, wissensbasierten, multi-
3.3 Soziologische Gegenwartsdiagnosen
113
Es wäre sicher von hohem Interesse, wenn Sonderpädagogik als Reflexionswissenschaft die unterschiedlichsten soziologischen Gegenwartsdiagnosen heranziehen, zur Deutung der gesellschaftlichen Situation nutzen und – entsprechend der Anregung SCHIMANKS – in einen gemeinsamen sonderpädagogischen Diskurs zur gegenseitigen Anregung, Korrektur und Ergänzung einbringen könnte. Den Rahmen vorliegender Arbeit würde ein solches Vorhaben allerdings bei weitem sprengen; für die Bearbeitung der Thematik ist die Auswahl zunächst einer geeigneten Deutungstheorie ausreichend. Diese ist unter Berücksichtigung folgender Gesichtspunkte zu bestimmen: 1. Sie sollte möglichst für alle Aspekte gesellschaftlichen Wandels, die für die Behindertenhilfe relevant sind, plausible Erklärungen liefern, 2. die veränderten Lebenslagen der Individuen analysieren und deuten sowie 3. möglichst einen Bezug zu einer soziologischen Gesellschaftstheorie aufweisen. Unter den in Frage kommenden Gegenwartsdiagnosen ist ULRICH BECKS Theorie der Reflexiven Modernisierung aus folgenden Gründen am ehesten geeignet, dem Anliegen der Arbeit gerecht zu werden:
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Sie erfüllt die Forderungen (1) und (2). Gleichzeitig können mit dieser Theorie durch die Verschränkung einer objektivierenden strukturell makrosoziologischen mit einer subjektiv-lebensweltlich mikrosoziologischen Perspektive die komplexen Phänomene des gesellschaftlichen Wandels der Gegenwart angemessen erfasst und plausible Deutungsmuster, die sie anbietet, genutzt werden1. Sie ist stark differenzierungstheoretisch angelegt2, korrespondiert mit den entsprechenden Gesellschaftstheorien und erfüllt damit Pkt. 3.
optionierten, multikulturellen, transkulturellen, globalen Gesellschaft leben. Auch wenn damit noch immer nicht eine konsistente Antwort gegeben ist – sie wird sich auch nicht finden lassen – so haben wir vielleicht aber eine neue Einsicht in die Gesellschaft gewonnen.“ (ebd. unter Bezug auf PONGS, 1999, S. 282). Vgl. auch DEDERICH (2001), S. 126. Die Zusammenführung der mikro- und makrotheoretischen Perspektive ist notwendig, da die gesellschaftlichen Umwälzungen sich auf beiden Ebenen beschreiben lassen (vgl. ebd., S. 127): Während erstere die Entwicklung des Individuums in Wechselwirkung mit seiner Umwelt thematisiere, bildete die zweite eine dazu notwendige Ergänzung, so DEDERICH, indem sie die objektiven Gegebenheiten in den Blick nähme, d. h. die gesellschaftlichen Strukturen und systembezogenen Prozesse, die in die individuelle Biografie hineinwirkten und zu einer Differenzierung der Milieus und Lebenswelten führten (vgl. ebd., S. 126). Vgl. dazu die Einschätzung SCHIMANKS (SCHIMANK, 2007, S. 16).
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3 Wandlungsprozesse
Sie wurde bereits durch eine ganze Reihe von Vertretern der Sonderpädagogik und der Sozialen Arbeit1 – mehr oder weniger implizit oder explizit – genutzt, um Bezüge zum gesellschaftlichen Kontext herzustellen. Das eröffnet die Möglichkeit, an ihre Überlegungen anzuknüpfen.
Deshalb wird im Folgenden auf ULRICH BECKS soziologische Gegenwartsdiagnose zurückgegriffen, ohne dabei die ihr von verschiedenen Seiten vorgeworfene Einseitigkeit und nicht völlig auszuschließende Irrtumsanfälligkeit aus dem Blick zu verlieren2. Ergänzend dazu sollen sowohl Zeitdiagnosen postmoderner Ansätze herangezogen werden, die in ihren Aussagen zumindest in der Nähe des BECKSCHEN Ansatzes3 zu verorten sind, als auch die Theorie funktionaler Differenzierung als gesellschaftstheoretische Bezugsbasis. 3.4 Phänomene der Globalisierung und Modernisierung in der Nachmoderne Den Übergang des 20. zum 21. Jahrhunderts kennzeichnet ein Prozess weltweiten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und ökologischen Wandels, für den insbesondere 1. 2.
eine Intensivierung der Globalisierungsprozesse – verursacht durch politische, ökonomische, wissenschaftliche und technologische Entwicklungen – sowie die Verstärkung ihrer Dynamik und eine Dynamisierung modernisierungsbedingter Veränderungsprozesse der nach westlich demokratischem Muster konstituierten Gesellschaften
kennzeichnend sind. Diese beiden gesellschaftlichen Entwicklungsströmungen sollen im Folgenden mit den Begriffen „Globalisierung“ und „Modernisierung“ bezeichnet und knapp in überblicksartiger Form dargestellt werden4.
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Dazu zählen z. B. BECK, I., DEDERICH, GREVING, ROHRMANN, SCHÄDLER und HERRIGER. Vgl. dazu z. B. auch die umfangreiche Kritik MÜNCHS in MÜNCH (2004), S. 520 ff. ULRICH BECK selbst betont allerdings stärker die Unterschiede seiner Theorie zu postmodernen Ansätzen, vgl. z. B. BECK, U. u. a. (2001), S.25 ff. Eine ausführliche Darstellung, die diesen vielschichtigen und komplexen Prozessen auch nur annähernd gerecht werden könnte, würde den Rahmen vorliegender Arbeit bei weitem sprengen. Zudem liegt dazu inzwischen umfangreiche Literatur vor.
3.4 Phänomene der Globalisierung und Modernisierung in der Nachmoderne
115
3.4.1 Globalisierung Die inflationär benutzte Chiffre Globalisierung bezeichnet – oftmals sehr diffus und unbestimmt – die Veränderungen der Weltgesellschaft innerhalb der letzten Jahrzehnte, die inzwischen faktisch zu einem Leben der gesamten Menschheit innerhalb einer Weltgesellschaft1 bzw. Weltgemeinschaft geführt haben2. ULRICH BECK, der sich im Rahmen seiner Zeitdiagnose auch intensiv mit Globalisierungsphänomenen beschäftigt hat3, führt zur Klärung des Begriffs Globalisierung4 eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen „Globalismus“ einerseits und „Globalität“ und „Globalisierung“5 andererseits ein: Unter „Globalismus“ versteht BECK die Ideologie der Herrschaft der „Weltmacht Weltmarkt“, also die „Ideologie des Neoliberalismus“6. Während mit dem Begriff „Globalität“7 die Tatsache des Lebens in einer Weltgemeinschaft beschrieben wird, bezeichnet „Globalisierung“ 1 2 3 4
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Vgl. z. B. BECK, U. (1997c), S. 27 ff. WULF & MERKEL verstehen unter Globalisierung multidimensionale und expansive Prozesse mit expansiver globaler Dynamik, die die verschiedenen Regionen der Welt, die Nationen und die örtlichen Kulturen einander angleichen (vgl. WULF & MERKEL, 2002, S. 12). Vgl. z. B. BECK, U. (1997b), (1997c) und (2004). Er schreibt dazu: „Globalisierung ist sicher das am meisten gebrauchte - missbrauchte - und am seltensten definierte, wahrscheinlich missverständlichste, nebulöseste und politisch wirkungsvollste (Schlag- und Streit-) Wort der letzten, aber auch der kommenden Jahre.“ (BECK, U., 1997c, S. 42). BECK, U. (1997c), S. 26. Dabei lehnt er sich an die angelsächsische Diskussion an (vgl. ebd., S. 27). Diese Unterscheidung ermöglicht tatsächlich eine klärende Versachlichung der teilweise äußerst affektiv eingefärbten Debatte um die Folgen der Globalisierung sowie ein vertieftes Verständnis der komplexen Problematik. Diese „[...] verfährt monokausal, ökonomistisch, verkürzt die Vieldimensionalität der Globalisierung auf eine, die wirtschaftliche Dimension, die auch noch linear gedacht wird und bringt alle anderen Dimensionen – ökologische, kulturelle, politische, zivilgesellschaftliche Globalisierung – wenn überhaupt, nur in der unterstellten Dominanz des Weltmarktsystems zur Sprache.“ (ebd., S. 26.). Verblüffenderweise zieht der Globalismus sowohl Befürworter als auch Gegner in seinen Bann, die gleichermaßen von der „unentrinnbaren Dominanz des Weltmarktes“ (ebd.) überzeugt sind. Damit ist allerdings auch der Verzicht auf die politische Steuerung von Globalisierungsprozessen verbunden. Der Zusammenbruch des Weltfinanzsystems in der zweiten Hälfte des Jahres 2008 und die daraus unmittelbar resultierende Weltwirtschaftskrise hat nun allerdings die Grenzen des Mythos der „Weltmacht Weltmarkt“ und damit die Fragwürdigkeit einer „Ideologie des Neoliberalismus“ demonstriert – plötzlich sind wieder politische Regulierung und Intervention gefragt. ULRICH BECK führt dazu aus: „Globalität meint: Wir leben längst in einer Weltgesellschaft, und zwar in dem Sinne, dass die Vorstellung geschlossener Räume fiktiv wird. Kein Land, keine Gruppe kann sich gegeneinander abschließen. Damit prallen die verschiedenen ökonomischen, kulturellen, politischen Formen aufeinander, und die Selbstverständlichkeiten, auch des westlichen Modells, müssen sich rechtfertigen.“ (U. BECK, 1997c, S. 27, 28). Die Existenzform in dieser entgrenzten Welt sei gekennzeichnet, so ULRICH BECK, von Fragmentierung statt
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3 Wandlungsprozesse
„[...] die Prozesse, in deren Folge die Nationalstaaten und ihre Souveränität durch transnationale Akteure, ihre Machtchancen, Orientierungen, Identitäten und Netzwerke unterlaufen und querverbunden werden.“1 (Hervorhebung im Original. A. B.).
Die moderne Globalisierung stellt sich als eine Vielzahl uneinheitlicher Prozesse dar, die durch Vieldimensionalität, Gegenläufigkeiten, Widersprüchlichkeiten, Ambivalenzen und Paradoxien in gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer, ökologischer und kultureller Hinsicht gekennzeichnet sind2. ULRICH BECK unterscheidet dabei verschiedene Dimensionen der Globalisierung. Als Beispiele nennt er
die kommunikationstechnische, die ökologische, die ökonomische, die arbeitsorganisatorische, die kulturelle und die zivilgesellschaftliche Dimension3.
Werden diese Dimensionen in ihrer Gesamtheit betrachtet, dann lassen sich sowohl Phänomene einer „Verdichtung“ als auch von „Entgrenzung“ feststellen, die miteinander in wechselwirkendem Zusammenhang stehen: Ökonomische und technische Vorgänge führen zu einem Wachstum der weltweiten Dichte der Vernetzung – wirtschaftlich, kulturell, touristisch, wissenschaftlich, technisch und kommunikativ4. Die Finanz- und Wirtschaftssysteme der Nationalstaaten werden längst durch das System der globalen Finanz- und Wirtschaftsmärkte bestimmt, Märkte und Produktionen der unterschiedlichsten Länder sind infolge grenzüberschreitenden Handels und der Bewegung von Kapital und Technologie stark voneinander abhängig.
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Übereinstimmung, von Exklusion statt Inklusion und vom zunehmenden Wirkungsverlust nationalstaatlicher Politik. Vgl. U. BECK (1997c), S. 27, 28. Vgl. dazu die umfangreichen Überlegungen ULRICH BECKS in BECK (1997), S. 39 ff. Vgl. BECK, U. (1997), S.42 ff. Für ihn gibt es allerdings einen gemeinsamen Begriffsnenner der verschiedenen Globalisierungsdimensionen, der darin besteht, dass durchgängig eine zentrale Prämisse der Ersten Moderne umgestoßen werde, so BECK, „[…] nämlich die Vorstellung, in geschlossenen und gegeneinander abgrenzbaren Räumen von Nationalstaaten und ihnen entsprechenden Nationalgesellschaften zu leben und zu handeln.“ (vgl. ebd., S. 44. Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.). Vgl. SAFRANSKI (2003), S. 16.
3.4 Phänomene der Globalisierung und Modernisierung in der Nachmoderne
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Die die Weltmärkte beherrschenden Konzerne agieren transnational und global, entmachten die nationalstaatliche Politik1 und führen damit zu einer „Ortlosigkeit“ von Gemeinschaft, Arbeit und Kapital2. Trotz fortbestehender politischer und religiöser Unterschiede vereinheitlichen sich Wissenschafts- und Technikformen rasant, die globale Informationstechnologie ermöglicht weltumspannende Kommunikations- und Informationsflüsse, zu denen mittels der modernen Medien potenziell jeder einzelne Zugang finden kann – inzwischen überwiegend in Echtzeit3. Diese Globalisierung von Wahrnehmungsweisen und Bewusstseinsstrukturen entwickelt eine Tendenz zur Vereinheitlichung von Konsummustern, Lebensstilen und kulturellen Stilen4. In Verbindung mit den wachsenden Möglichkeiten hoher Mobilität, auch weite Entfernungen mit großer Geschwindigkeit in kürzester Zeit überwinden zu können, wird der Globus in der Wahrnehmung des Einzelnen zunehmend kleiner5, es bilden sich globale Kulturindustrien heraus und die Wahrnehmung transkulturell Anderer im eigenen Leben wird zur unausgrenzbaren Realität mit all den sich daraus ergebenden, einander widersprechenden Gewissheiten. Das Phänomen der Entgrenzung als Aspekt der Globalisierung meine, so ULRICH BECK, das erfahrbare Grenzenloswerden alltäglichen Handelns in den verschiedenen Dimensionen der Wirtschaft, der Information, der Ökologie, der Technik, der transkulturellen Konflikte und Zivilgesellschaft, und damit im Grunde genommen etwas zugleich Vertrautes und Unbegriffenes, schwer Begreifbares, das aber mit erfahrbarer Gewalt den Alltag verändere und alle zu Anpassungen und Antworten zwinge6. Auch eine weitere wichtige Dimension der Globalisierung weist diese Merkmale der Verdichtung7 und Entgrenzung8 auf – die globalisierten Risiken, die diese neue „Weltrisikogesellschaft“9 bedrohen. Das betrifft den ökologischen 1 2 3 4 5 6 7 8
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Vgl. dazu die umfangreichen Überlegungen ULRICH BECKS in BECK (1997) und (2002). Vgl. BECK, U. (1997c), S. 31, 33. Damit sind z. B. auch der Abbau einheimischer Arbeitsplätze und ihre Verlagerung in Billiglohnländer trotz steigenden Wirtschaftswachstums und rasant steigender Gewinn der transnationalen Konzerne gemeint. Vgl. dazu z. B. SAFRANSKI (2003), S. 16, 17. Vgl. dazu WULF & MERKEL (2002), S. 13. Dank moderner Kommunikations- und Transportmittel sei Globalisierung, so BECK, U., im Prinzip ohne Anstrengung möglich. Sie werde zur alltäglichen Erfahrung, sozusagen zur provinziellen Haltung (vgl. BECK, U., 1997, S. 45). Vgl. BECK, U. (1997c), S. 44. Das heißt, dass die nationalen Gesellschaften inzwischen so eng miteinander vernetzt sind, dass die globalen Gefährdungen alle Individuen dieser Erde bedrohen. Die gegenwärtigen Bedrohungen haben nicht nur globale Dimensionen angenommen; die Entgrenzung betrifft auch ihre Auswirkungen: Sie können in ihren Folgen zur globalen Verwüstung führen und den Fortbestand der Menschheit bedrohen – z. B. durch eine nukleare Katastrophe. Dieser Begriff wurde von ULRICH BECK (BECK, U., 1997c) geprägt.
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3 Wandlungsprozesse
Raubbau, die Umweltverschmutzungen und die Klimakatastrophe, das Problem wachsender Überbevölkerung und zunehmender sozialer Ungerechtigkeit, die Ausbreitung ansteckender, gefährlicher Krankheiten, die Gefährdungen durch riskante Technologien wie Atom-, Bio- und Gentechnik, die regional beschränkten Kriege, die jederzeit einen Flächenbrand auslösen können, und die längst global operierende organisierte Kriminalität und der internationale Terrorismus. Die krisenhaften Ereignisse der letzten drei Jahre – Lebensmittel-, Rohstoff-, Energie- und Treibstoffkrise im Jahr 2007, die beginnende Krise der Weltfinanzmärkte bis zu ihrem Zusammenbruch im Jahr 2008 und die daraus im Jahr 2009 resultierende Weltwirtschaftskrise haben eindrucksvoll demonstriert, wie abhängig die nationalen Finanz- und Wirtschaftssysteme von internationalen Entwicklungen sind, aber auch wie schnell, massiv und nachhaltig Lebenslagen und Lebensqualität der Individuen durch globale Veränderungen beeinflusst werden können. Die Auswirkungen der Globalisierung, das ist ebenfalls offenkundig geworden, bestimmen längst die Politik der nationalstaatlichen Gesellschaften, ihre Institutionen und Organisationen sowie das Leben ihrer Individuen. Um zu einer ausgewogenen Beurteilung der Folgen der Globalisierung insgesamt zu gelangen, ist diese einseitig negative Sicht durch die Betrachtung der positiven Aspekte der Globalisierung zu ergänzen. Zweifelsohne rechnen dazu u. a.:
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der sich global lebenserleichternd und lebensverlängernd auswirkende wissenschaftlich-technische Fortschritt1 insbesondere in den Bereichen der Medizin, Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion und der Nutzung alternativer Energien, ein global wachsendes Bewusstsein für Klimaschutzmaßnahmen und steigende Sensibilität für globale Umweltzerstörungen, die universell durchgesetzten Ansprüche auf Menschenrechte2, die globale rechtliche Fundierung gleicher Menschen- und Freiheitsrechte für Menschen mit Behinderung, die Ächtung ihrer Diskriminierung und Bestätigung ihres Anspruchs auf gleichberechtigte Teilhabe3, eine international anerkannte Rekonstruktion des Verständnisses von Behinderung im Sinne eines bio-psycho-sozialen Behinderungsbegriffes4,
Vgl. SAFRANSKI (2003), S. 18. Vgl. BECK, U. (1997), S. 29. Das ist der Inhalt der UN-Behindertenrechtskonvention, die inzwischen durch fast 80 Staaten ratifiziert wurde. Das wurde mit der Verabschiedung der „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF) geleistet.
3.4 Phänomene der Globalisierung und Modernisierung in der Nachmoderne
119
eine global langsam wachsende Sensibilität gegenüber Fragen globaler Armut1, sozialer Ungerechtigkeit und der damit zusammenhängenden Migrationsprobleme, eine an Macht und Einfluss zunehmende Zahl transnationaler Akteure, die inzwischen ein dichtes Netz zwischenstaatlicher und überstaatlicher Organisationen zur Eindämmung von Krieg und Gewalt sowie zur Linderung der Not humanitärer Katastrophen durch kriegerische Auseinandersetzungen, Vertreibungen, Naturkatastrophen u. a. bilden2, die Etablierung einer Weltöffentlichkeit, die Menschenrechtsverletzungen beobachtet, dagegen Protest erhebt und damit tyrannische Regime unter Legitimationsdruck setzt3 und die Nutzung der weltumspannenden Informations- und Mobilisierungstechnologien zur Information, zur Bildung, zum kulturellen Austausch sowie zur Pflege persönlicher Kontakte und Beziehungen4.
Zwei weitere wichtige Aspekte der Globalisierung sollen am Ende dieses kurzen Einblicks ohne Erläuterung lediglich erwähnt werden: Das betrifft zum einen die (auch global ausgetragenen) Auseinandersetzungen zwischen Globalisierungsbefürwortern und Globalisierungsgegnern und zum anderen die Etablierung eines damit durchaus zusammenhängenden Globalisierungsdiskurses, der inzwischen selbst zum Phänomen des gesellschaftlichen Wandels wurde5. 3.4.2 Modernisierung Der Wandel der westlichen Gesellschaften der Gegenwart wird nicht nur durch Phänomene der Globalisierung, sondern auch durch Modernisierungsprozesse bestimmt6. 1 2 3 4 5 6
Die erfolgreiche Entwicklung einer transnational arbeitenden Organisation wie „Trans-Fair“ kann als Beispiel dafür herangezogen werden. Dazu können z. B. der Weltsicherheitsrat und die UNO mit ihrer Vielzahl an Unterorganisationen, die unterschiedlichsten Hilfsorganisationen und private Initiativen gerechnet werden. Vgl. SAFRANSKI (2003), S. 18. Organisationen wie Amnesty International, aber auch z. B. der Internationale Gerichtshof in Den Haag spielen dabei eine entscheidende Rolle. SAFRANSKI rechnet dazu auch die Aktivitäten der Globalisierungskritiker, die sich dieser Technologien „virtuos“ zu bedienen wissen (ebd.). Ein Beispiel dafür sind die Weltwirtschaftsgipfel in Davos und dazu die „Gegenveranstaltungen“ der Weltsozialforen. Zwischen beiden besteht allerdings – wie oben bereits angemerkt – ein sehr enger wechselwirkender Zusammenhang.
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3 Wandlungsprozesse
DEDERICH, der sich dabei auf Ansätze der „Postmoderne“ (ZYGMUNT BAUund ULRICH BECKS Theorie der „Reflexiven oder Zweiten Moderne“ bezieht1, beschreibt die durch diese Prozesse gekennzeichnete Gegenwart als eine Zeit z. T. radikaler technologischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Umbrüche, die sich von der negativen Seite her in der Erosion von Ordnungsstrukturen und Regelsystemen zeige2. Zur Einführung in diese komplexe Thematik sollen drei für die Modernisierung westlicher Industriegesellschaften wesentliche Entwicklungsprozesse mit ihren Auswirkungen skizziert werden. Dazu gilt es, die jeweils entsprechende Perspektive einzunehmen. MAN)
3.4.2.1 Funktionale Differenzierung als Strukturmerkmal nachmoderner Gesellschaften Nachmoderne Gesellschaften sind gekennzeichnet von einer zunehmend funktionalen Differenzierung ihrer Teilsysteme. Darin unterscheiden sie sich von stratifikatorisch oder segmentär gegliederten Gesellschaften (z. B. moderne Gesellschaften). In der von NIKLAS LUHMANN entwickelten systemtheoretischen Perspektive wird gesellschaftliche Differenzierung als Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme verstanden, wobei die Teilsysteme jeweils einen in sich geschlossenen Operationszusammenhang bilden und sich in „[…] Form jeweils hochgradig spezialisierter, selbstreferentiell angelegter binärer Codes etabliert haben.“3 Allerdings bedeutet selbstreferentielle Geschlossenheit für LUHMANN nicht Autarkie. Gerade wegen der Fixierung auf eine hochgradig selektive Leitdifferenz könne ein Teilsystem vieles, was es zur eigenen Reproduktion brauche, so SCHIMANK, nicht selbst erzeugen, sondern bleibe auf entsprechende Leistungen anderer Teilsysteme existentiell angewiesen4. Die moderne5 Gesellschaft stelle so für LUHMANN ein Ensemble von Teilsystemen dar, die nicht länger ein einheitliches Ganzes bildeten, aber gleichwohl 1 2
3 4 5
Vgl. DEDERICH (2001), S. 125. Vgl. ebd., S. 129. Stichwörter, die diese Entwicklungstendenzen schlaglichtartig beleuchteten, so DEDERICH, seien Ambivalenz, Unübersichtlichkeit und Verlust von Eindeutigkeit, Deregulierung und Pluralisierung. Religiöse, ideologische, politische, nationalstaatliche Ordnungsstrukturen, Weltbilder und geistige Überbauten würden einerseits in ihrer Zuverlässigkeit und in ihrer Sicherheit gewährenden Ordnungsfunktion, andererseits auch bezüglich ihrer einengenden und normierenden Aspekte zunehmend erschüttert und in Frage gestellt (vgl. ebd). SCHIMANK (1999), S. 50, 51. Ebd., S. 52. Gemeint ist damit allerdings die Epoche der „Nachmoderne“.
3.4 Phänomene der Globalisierung und Modernisierung in der Nachmoderne
121
durch vielfältige wechselseitige Abhängigkeiten zusammengeschweißt seien, führt SCHIMANK weiter aus1. Entsprechend der beiden Arten wechselseitiger Abhängigkeiten könne gesellschaftliche Desintegration hierbei zwei Formen annehmen: eklatante Leistungsverweigerung eines Teilsystems gegenüber einem anderen und Überlastung eines Teilsystems durch negative Externalität eines anderen2. Die Verbindungen zwischen den einzelnen Teilsystemen erfolgt über Formen so genannter „struktureller Kopplung“3, die für eine „gewisse beiderseitige und nicht bloß episodische Berücksichtigung von Belangen des jeweils anderen Teilsystems“4 sorgen. Grundlage struktureller Kopplung können wechselseitige Leistungsbezüge zwischen Teilsystemen, Restriktionen durch Sachzwänge, die ein Teilsystem auf ein anderes ausübt oder auch die Installation interorganisatorischer Verhandlungsnetzwerke bilden5. Ein dichtes Netz derartiger struktureller Kopplung gewährleistet aus LUHMANNS Sicht die gesellschaftliche Systemintegration nachmoderner Gesellschaften. Von der Systemintegration der einzelnen gesellschaftlichen Teilsysteme in die Gesellschaft zu unterscheiden ist die Sozialintegration der einzelnen Gesellschaftsmitglieder: Während die funktionale Differenzierung nachmoderner Gesellschaften im funktionalistisch-systemtheoretischen Verständnis die Erfordernisse der Systemintegration bewältigt, thematisiert sie die Probleme der Sozialintegration nicht, verschärft sie möglicherweise noch6. SCHIMANK führt zwei mögliche sozialintegrative Probleme als Folge der funktionalen Differenzierung auf7: Zum einen werden die Optionssteigerungen der individuellen Lebensführung von einem Verlust an identitätsstiftenden Bindungen begleitet8, zum anderen entstehen soziale Ungleichheiten durch „[…] die dauerhaft ungleiche Ausstattung der Personen mit Optionen“9. Eine besondere Zuspitzung gewinne diese Ungleichheit, so SCHIMANK, wenn sie zur kumulativen Exklusion10 von Personen aus immer mehr gesellschaftlichen Teilsystemen führe. Solchen Personen würden gleichsam ganze Optionspaletten gestrichen11.
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Vgl. SCHIMANK (1999), S. 52. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 55. Vgl. SCHIMANK (1999), S. 61. Vgl. ebd., S. 61, 62. Vgl. die Ausführungen zur Individualisierung unten. SCHIMANK (1999), S. 61. Vgl. auch SCHÄPERS kritische Analyse des Exklusionsbegriffs in SCHÄPER (2006), S. 37 ff. Vgl. SCHIMANK (1999), S. 61. Genau davon ist z. B. der Personenkreis erwachsener Menschen mit geistiger Behinderung betroffen.
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3 Wandlungsprozesse
Für das Individuum ergibt sich aus funktionalistisch-systemtheoretischer Perspektive ein Zusammenhang zwischen der Entstehung von Individualität und der Herausbildung gesellschaftlicher Systemdifferenzierung: Während in segmentären Gesellschaften und in stratifikatorisch gegliederten Gesellschaften der Status einer Person durch die Inklusion unmittelbar in die Gesamtgesellschaft bzw. in einen abgeschlossenen gesellschaftlichen Teilbereich (z. B. Sippe, Stand oder Familie) gesichert sei, so ROHRMANN1, würde diese Ordnung durch die funktionale Systemdifferenzierung zerstört und Individualität nun „[…] zu dem Anspruch der Person, über die Inklusion in unterschiedliche gesellschaftliche Teilsysteme hinaus, die es in verschiedenen Rollen wahrnimmt, eine Identität als einzigartiges Individuum behaupten zu können. Dies äußert sich in Ansprüchen auf Selbstbestimmung und Autonomie im Umgang mit den Anforderungen sich ausdifferenzierender Systeme.“2
Diese Art der Inklusion in Funktionssysteme solle sich als individuelle Herstellungsleistung, als Akt individueller Entscheidung und Ausdruck der Individualität darstellen. Es handele sich hierbei um eine Deutungsleistung der Individuen, so ROHRMANN3, von der die Inklusion in funktionale Systeme selbst unberührt bliebe4. Dagegen hebt ULRICH BECKS Individualisierungsansatz5 im Unterschied zu Theorien funktionaler Differenzierung klar hervor, dass sowohl die Deutung als auch die Gestaltung der Einbindung in gesellschaftliche Funktionssysteme unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung zu einer Aufgabe des Individuums werde. Diese Deutungsleistung und die daraus resultierende selbstgestaltete „Eingliederung“ in bestimmte Funktionssysteme in eigener Verantwortung stellt für den Personenkreis erwachsener Menschen mit geistiger Behinderung eine Herausforderung dar, die sie ohne Unterstützung in beratender, begleitender, advokatorischer oder auch stellvertretender Form nicht bewältigen können. Die funktionale Differenzierung der nachmodernen Gesellschaft bewirkt insofern einen neuen spezifischen Hilfebedarf bei Menschen mit geistiger Behin1 2 3 4
5
Vgl. ROHRMANN (2007), S. 13. Ebd., S. 12. ROHRMANN (2007), S. 12. Individualität, so hebt er hervor, erscheine hier als durch funktionale Differenzierung erzeugter, komplementärer Anspruch, dessen Bedeutung aber für die gesellschaftliche Entwicklung durch funktionale Differenzierung vernachlässigt werden könne. SCHÄPER erläutert dazu: Systemtheoretische Analysen gingen im Anschluss an LUHMANN davon aus, dass soziale Inklusion sich nicht mehr an individuellen Merkmalen und quantitativen Unterschieden (z. B. Einkommenshöhe) orientiere, sondern an funktionsspezifischen Rollen, die jemand in seinem je individuellen Arrangement wahrnehme, vgl. SCHÄPER (2006), S. 41. Vgl. dazu die Ausführungen weiter unten.
3.4 Phänomene der Globalisierung und Modernisierung in der Nachmoderne
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derung, der individuell ganz unterschiedlich ist und abgedeckt werden muss, um ihre Teilhabe an allen Bereichen des Lebens zu ermöglichen. Die Entwicklung entsprechender Leistungsangebote zur Beantwortung dieses Hilfebedarfes bildet deshalb einen wichtigen Schwerpunkt im Rahmen einer Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen und ihrer Re-Institutionalisierung. Nicht weniger wichtig als diese individuellen, personenbezogenen Hilfen sind Strategien zur gezielten Einflussnahme der Wohneinrichtungen auf die Gesellschaft mit dem Ziel ihrer schrittweisen Umgestaltung zu inklusiven Gemeinwesen, um die Einbeziehung aller Menschen ohne Diskriminierung und Ausgrenzung zumindest perspektivisch zu ermöglichen1. 3.4.2.2 Neoliberale Entwicklungen: Ökonomisierung und Marktdominanz Die Betrachtung sozioökonomischer Aspekte nachmoderner westlicher Gesellschaften erfordert einen Perspektivwechsel. In den Fokus der Untersuchungen geraten dabei – nunmehr als herausragendes Merkmal gesellschaftlichen Wandels – die Dominanz und Entgrenzung des Marktes, die einhergehen mit seiner Mystifizierung2. Ideologischer Hintergrund für diese neue Marktorientierung, die inzwischen auch stark in die Soziale Arbeit hineinwirkt, ist der Neoliberalismus3. Der Begriff des Neoliberalismus sei, so SCHÄPER, zur weit verbreiteten Chiffre geworden, um die Tendenz des Marktes, sich von politischer Steuerung zu lösen, zu beschreiben4. Für soziale Bewegungen im Umfeld der Globalisierungskritik sei er zudem der Sammelbegriff für die ungerechten Folgen eines ungezügelten globalen Marktes5. Der Neoliberalismus kennt im Gegensatz zum klassischen Liberalismus keinen Bezug auf die Menschenrechte. Ein Verständnis von Gleichheit im Sinne gerechter Teilhabechancen ist ihm ebenso fremd wie die Vorstellung, sozialstaatliche Interventionen des Wohlfahrtsstaates könnten der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums dienen.
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In diesem Sinne sind auch die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention zu verstehen, die sich als interessanter „Gegenentwurf“ zu den Ansprüchen der nachmodernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft an die „Eigenleistungen“ ihrer individualisierten Subjekte deuten lassen. Ausführlich dazu: SCHÄPER (2006), S. 58 ff. Vgl. ebd., S. 51 ff. SCHÄPER hebt die Komplexität dieses Begriffes hervor (S. 56), gibt einen kurzen Überblick über die unterschiedlichen Ansätze und Facetten des Liberalismus und Neoliberalismus und analysiert neoliberale Ansätze mit ihren Auswirkungen aus kritischer Sicht. Vgl. ebd., S. 52. Vgl. ebd.
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3 Wandlungsprozesse
Das Verhältnis von Staat und Ökonomie formuliert der Neoliberalismus nicht als „Gegenüber“, sondern ganz einseitig „marktdominant“: Der Markt wird als das „organisierende und regulierende Prinzip“1 des Staates verstanden. Die Freiheit und Rationalität der Individuen wird im neoliberalen Denken auf die Vorstellung eines „unternehmerischen und konkurrenziellen Verhaltens der ökonomischrationalen Individuen“2 reduziert. Mit dem zunehmenden Aufschwung des Neoliberalismus lässt sich am Ende des 20. Jahrhunderts „die Entwicklung von einer sozial regulierten Marktwirtschaft zum globalisierten Kapitalismus pur“3 beobachten. Mit der wachsenden Plausibilität neoliberalen Denkens werden gleichzeitig seine Grundannahmen immer weniger hinterfragt. Gleichzeitig ist eine wachsende Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft zu beobachten, die auf die sich verschärfenden Konflikte im Bereich der Ökonomie und des Sozialen4 zurückzuführen sind. Prozesse der Ausgrenzung und Stabilisierung von Ungleichheit würden, so THOLE, W. & AHMED, S. & HÖBLICH, D., durch neoliberale Politikentscheidungen und wirtschaftliche Handlungslogiken gefördert, die sich einzig der Rationalität der Kapitalakkumulation verpflichtet fühlten5. Dadurch wird die Herstellung und Sicherung sozialer Gerechtigkeit für alle, insbesondere für Randgruppen und Benachteiligte – wie z. B. auch für Menschen mit Behinderungen – gefährdet. Die Auswirkungen der genannten sozioökonomischen Veränderungen auf die nachmodernen Gesellschaften sollen im Folgenden in Anlehnung an die kritische Analyse, die SABINE SCHÄPER6 anstellt, überblickartig aufgelistet werden: 1.
Neoliberale Ideologie konstituiere den Markt als nicht mehr hinterfragbaren Mythos zum „totalen Markt“, der für nichts außer sich selbst da sei, so SCHÄPER. Dessen oberste Maxime „Wachstum“ dürfe keine staatliche oder moralische Instanz antasten; eine politische Kontrolle des Marktes gelte mehr und mehr als antiquiert und gemeinwohlschädlich, weil ineffektiv7.
1 2 3 4
Vgl. SCHÄPER (2006), S. 54. Vgl. ebd. SCHÄPER (2006), S. 54. IRIS BECK schreibt dazu: „Hinzugedacht werden müssen die Globalisierung und neoliberalistische Tendenzen, die im Bereich der wohlfahrtsstaatlichen Hilfen als zunehmende Marktorientierung wirksam werden und bisherige gesellschaftliche Steuerungsmechanismen sozialer Problemlagen durch einen deregulierten freien Markt von Anbietern ablösen, der staatlicherseits nur noch durch Standardisierung und Kontrollinstrumentarien gelenkt wird.“ (vgl. BECK, I., 2005, In: DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GESELLSCHAFT; DHG-Schriften 12, S. 13). Vgl. THOLE, W. & AHMED, S. & HÖBLICH, D. (2007), S. 161. Vgl. ebd., S. 51-89. Vgl. ebd., S. 58.
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3.4 Phänomene der Globalisierung und Modernisierung in der Nachmoderne
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3.
Der Markt werde so zum einzig relevanten Orientierungsrahmen und erhielte zugleich Attribute eines aktiven, lenkenden Subjektes1. Diese Vermarktwirtschaftlichung dringe auch „[…] nach innen, in die Refugien des gesellschaftlichen Lebens“2. Sie fordere und fördere die restlose Flexibilität und Verfügbarkeit des Menschen. Diese veränderten Anforderungen der Arbeitswelt gefährdeten dauerhafte soziale Bindungen und verlässliche Lebensverhältnisse. Sie führten, so SCHÄPER, zur Korrosion von Persönlichkeit und Identität3 sowie zu einer „Zersplitterung“ der Lebenswelten mit der Folge einer Zerstörung von SolidaritätsPotenzialen und der Motivation zu politischem Handeln4. Neoliberale Transformationen können auch als „Projekt einer Reformulierung des Verhältnisses von Politik, Ökonomie und Sozialem“ verstanden werden, wobei nicht mehr der Staat im Zentrum stehe, wenn es um die Bewältigung sozialer Probleme und Konflikte gehe, sondern die Selbstverantwortung des Individuums, so SCHÄPER5. Der Markt erhalte „formalisierende Kraft“6, die ihre Wirkung als Prinzip, Form und Vorbild auf Staat, Gesellschaft und selbst das Soziale entfalte. Das Soziale würde auf diese Weise zu einer Form des Ökonomischen, so SCHÄPER, die Regierung „zu einer Art Unternehmen (…), dessen Aufgabe die Universalisierung des Wettbewerbs und die Erfindung marktförmiger Handlungssysteme für Individuen, Gruppen und Institutionen ist“7. Der Markt wandele sich zum Analyseprinzip für soziale Beziehungen und zum ökonomischen Tribunal, vor dem sich Politik zu verantworten habe8. Gleichzeitig verschiebe sich die Rolle des Sozialstaates, so SCHÄPER, weg von der Steuerung gesellschaftlicher Probleme hin zu einer allenfalls noch moderierenden Rolle im „freien“ Wettbewerb9. Emanzipatorische Diskurse von sozialen Bewegungen, die auf Selbstbestimmung ausgerichtet seien – so etwa das Empowerment-Paradigma, das in der Behindertenhilfe seit den 1990er-Jahren diskutiert werde –, würden zwar in neoliberalen Programmen aufgegriffen, aber reformuliert und entkontextualisiert10.
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Vgl. THOLE, W. & AHMED, S. & HÖBLICH, D. (2007), S. 60. Vgl. ebd., S., 58, 59. Vgl. auch KEUPP u. a. mit ihrem Konzept der „Patchwork-Identität“. Vgl. ebd., S. 65 unter Bezugnahme auf SENNET (2002) und BAUMAN (1999). Vgl. ebd., S. 70. SCHÄPER (2006), S. 72 Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. unter Bezugnahme auf SCHULTZ (2003).
2.
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3 Wandlungsprozesse
Weitere Beispiele seien neue Politikformen (wie etwa die Politik der „Neuen Steuerung“), neue Beziehungstypen zwischen Kostenträgern und Leistungsempfängern in der Sozialen Arbeit („Kontraktmanagement“), die Entstehung neuer Identitäten und Subjektivitäten (NGOs, Renaissance lokaler Gemeinschaften u. a.) und im Bereich der Sozialen Arbeit neue Paradigmen wie Sozialraumorientierung, Selbst- und Risikomanagement und, wie bereits erwähnt, Empowerment1. Mit der Vorstellung von der Selbstverantwortung des Subjekts konstruiere der Neoliberalismus eine neue Form „autonomer“ Subjektivität, die das Prinzip kollektiver Verantwortung durch den Doppelmechanismus von Prävention und Selbstmanagement ersetze. Die von Behinderung, Krankheit oder Armut Betroffenen seien nun selbst für ihre Probleme und deren Lösung verantwortlich – als „Manager ihrer selbst“, allerdings um den Preis, „dass sie selbst die Verantwortung für diese Aktivitäten – und für ihr Scheitern – übernehmen müssen“2. Der Sozialen Arbeit werde die „Marktsteuerung“ als entscheidendes Zukunftskonzept für soziale Dienstleistungen anempfohlen – „Kundenorientierung“ werde zur Chiffre, die die größtmögliche Berücksichtigung der Interessen der Betroffenen suggeriere. Dabei erfolge allerdings eine „Umcodierung“ – die „Kunden“ erfahren Anleitung oder Betreuung, ohne dass gleichzeitig Verantwortung für sie übernommen werde3. Neoliberale Ideologie verursache eine Umdeutung und Funktionalisierung ethischer Werte: Die Maximierung des Eigennutzes werde zur ethischen Norm, Konkurrenz und Wettbewerb zum bestmöglichen Weg der Zielerreichung, so SCHÄPER4. Moralisch gut sei, was den eigenen partikularen Interessen diene. Die ethischen Prinzipien und Kulturmuster, die den Sozialstaat legitimiert und geprägt hätten – soziale Verantwortung, Gleichheit, Solidarität, Gerechtigkeit – würden dekonstruiert und funktionalisiert.
Die in Anlehnung an SCHÄPER aus einer sozialen Perspektive vorgenommene und damit sehr kritisch ausgefallene Bewertung der sozioökonomischen Bedingungen nachmoderner Gesellschaften soll mit folgendem Hinweise abgeschlossen werden: Die Erschütterungen des Weltfinanzsystems und der Weltwirtschaft mit ihren z. T. verheerenden globalen, lokalen und regionalen Auswirkungen und den politischen „Rettungsaktionen und -paketen“ auf internationaler und nationaler 1 2 3 4
Vgl. SCHÄPER (2006), S. 70. Ebd., S. 73 unter Bezugnahme auf LEMKE (1997). Vgl. ebd. SCHÄPER (2006), S. 73.
3.4 Phänomene der Globalisierung und Modernisierung in der Nachmoderne
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Ebene in den Jahren 2008 und 2009 haben den Mythos „Markt“ radikal entzaubert und die Fragwürdigkeit neoliberalen Denkens und Handelns öffentlich demonstriert1. Obwohl dadurch eine neue Dynamik des Wandels der sozioökonomischen Grundlagen – sowohl bezüglich der Weltwirtschaft, als auch der einzelnen nationalen Gesellschaften – in Gang gesetzt wurde, ist bei den Akteuren des Finanzund Wirtschaftssystems sowie der nationalen und internationalen Politik bisher kein Umdenken wahrzunehmen2. 3.4.2.3 Individualisierung und Pluralisierung als zentrale Phänomene der Modernisierung Im Zentrum dieser Perspektive auf die fortschreitende Modernisierung stehen Prozesse einer beschleunigten Individualisierung, die ihrerseits – so HERRIGER3 unter Bezug auf ULRICH BECK – durch Veränderungen4 wichtiger gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ausgelöst wurden. Dazu rechnet er vor allem
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die Entwertung kollektiver Formen solidarischer Unterstützung durch den Ausbau der Systeme der sozialen Sicherung des Wohlfahrtsstaates, den Ausbau der formalen Bildung, den Wandel traditionaler Geschlechtsrollenmuster mit der Folge einer Pluralisierung „wählbarer Formen des Zusammenlebens“5, die Veränderung des Arbeitsmarktes mit neuen Anforderungen bezüglich Flexibilität, Veränderungsbereitschaft und bis hin zu den Erfordernissen lebenslangen (beruflichen) Lernens, den aus der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes resultierenden geographischen Mobilitätsanforderungen, verbunden mit dem Zwang zu vielfältigen Arbeitsplatz-, Orts- und Beziehungswechseln mit all ihren Folgen6 und ein Verlust räumlich gebundener, territorialer Identität durch die Modernisierung der Wohnformen, die zu einer „[…] Lockerung der territorial geIn öffentlichen Diskursen werden zur Veranschaulichung dieser Kritik am Neo-Liberalismus semantische Neuschöpfungen geprägt: z. B. die Begriffe „Turbo-Kapitalismus“ oder „Raubtier-Kapitalismus“. Die Entwicklungen der letzten Jahre bestätigen die komplexe, systematische und dabei sehr differenziert vorgetragene Kritik SCHÄPERS am Neoliberalismus und wären als Reflexionsgrundlage für Umdenkprozesse durchaus geeignet. Vgl. HERRIGER (2002), S. 40, 41. Diese Veränderungen setzten in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein. Ebd., S. 41. Vgl. HERRIGER (2002), S. 41.
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3 Wandlungsprozesse
bundenen Sozialbeziehungen und zur Auflösung traditioneller Nachbarschaftsmilieus“1 führen. Das Konzept der Individualisierung2,3, das die Beschreibung, Analyse und Deutung der Prozesse der Individualisierung als zentrale Phänomene der Modernisierung zusammenfasst, bildet einen wichtigen „Baustein“ der soziologischen Gegenwartsdiagnose ULRICH BECKS4. Im Rahmen seines Individualisierungsansatzes unterscheidet er drei Dimensionen der Individualisierung5, „Freisetzungsdimension“ (1) „Entzauberungsdimension (2) „Kontroll- und Reintegrationsdimension“ (3)6. Die als „Freisetzungsdimension“ begriffene Auflösung der tradierten Sozial- und Kontrollbindungen ist charakterisiert durch die Herauslösung aus den historisch gewachsenen Sozialstrukturen, -bindungen und -formen, die die traditionalen Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge von Familie, sozialem Milieu und Klassenkultur bildeten7.
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HERRIGER (2002), S. 41. In einem sehr weitgefassten Verständnis lassen sich 1. diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, 2. die dadurch hervorgerufene Individualisierung der Lebensverläufe (d. h. die neuentstehenden biographischen Modi und Verläufe sowie die Art ihrer Einbindung in institutionelle Muster) und 3. die daraus resultierenden individuellen und gesellschaftlichen Bedeutungen und Folgen dieses Strukturwandels auch als „Individualisierung“ bezeichnen (vgl. BECK & BECK-GERNSHEIM 1994). Eine ausführliche Betrachtung unterschiedlicher Individualisierungstheorien hat SCHROER vorgenommen (vgl. SCHROER, 2004). Wohl kein anderes soziologisches Denkmuster habe in den letzten Jahren, so HERRIGER, über den Rand der Forschergemeinschaft hinaus eine solche Publizität erfahren wie das Individualisierungstheorem ULRICH BECKS (vgl. BECK, U., 1983, 1986; BECK & BECK-GERNSHEIM 1994; BECK & SOPP 1997). Das Heraustreten des Individuums aus seiner traditional vorgegebenen Ordnung, schreibt ROHRMANN, sei eines der grundlegenden Topoi im Diskurs zur Deutung der Entstehung und Entwicklung moderner Gesellschaften (vgl. ROHRMANN, 2007, S. 7 unter Bezugnahme auf DÜLMEN, 1997). Vgl. BECK, U. (1986), S. 206. Die verschiedenen Dimensionen sind allerdings nicht als historische Abfolge, sondern sich gegenseitig überlagernde Entwicklungen zu verstehen (vgl. ROHRMANN, 2007, S. 11). Vgl. HERRIGER (2002), S. 38. BECK & BECK-GERNSHEIM sprechen in diesem Zusammenhang vom „>…@ Brüchigwerden von lebensweltlichen Kategorien wie Klasse und Stand, Geschlechtsrollen, Familie, Nachbarschaft usw.; oder auch, wie im Fall der DDR und anderer Ostblockstaaten, der Zusammenbruch staatlich verordneter NormalBiografien, Orientierungsbilder und Leitrahmen.“ (BECK & BECK-GERNSHEIM 1994, S. 11).
3.4 Phänomene der Globalisierung und Modernisierung in der Nachmoderne
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Die Entzauberungsdimension erfasst den damit verbundenen „[…] Verlust von traditionalen Sicherheiten und festen Wertbindungen im Hinblick auf Handlungswissen, Glaubenssysteme(n) und verpflichtende(n) Normen einer subjektiven Alltagsethik […]“1. Gegenläufig zu den Prozessen, die mit diesen beiden Dimensionen erfasst werden, etablieren sich neue Formen der sozialen (Wieder-)Einbindung, die zu einer Re-Integration, aber auch zu neuen Formen einer Kontrolle der freigesetzten Individuen führen2. ULRICH BECK betont, dass diese drei Dimensionen der Individualisierung weiter zu differenzieren sind nach „(objektiver) Lebenslage“ und „(subjektivem) Bewusstsein (Identität, Personwerdung)“3. Er möchte Individualisierung nicht ausschließlich gleichgesetzt wissen mit „Individuation gleich Personwerdung gleich Einmaligkeit gleich Emanzipation“4, seine Fragestellung lautet darüber hinausweisend: „Wie lässt sich »Individualisierung« als Veränderung von Lebenslagen, Biografiemustern fassen? Welcher Zuschnitt von Lebenslagen, welcher Typus von Biografie setzt sich [...] durch?“5 (Hervorhebung im Original, A. B.).
Das Individualisierungstheorem „verdichtet“ sich damit aus ULRICH BECKS Sicht zur „Zentralthese“6. ULRICH BECK sieht in diesen Veränderungen einen Übergang von der Arbeits- zur Risikogesellschaft7. Wie oben bereits beschrieben, manifestiert sich 1 2
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HERRIGER (2002), S. 38. BECK & BECK-GERNSHEIM beschreiben diese „andere Seite“ der Individualisierung recht anschaulich: „In der modernen (gemeint sind hier natürlich bereits die Gesellschaften der „Nachmoderne“, also der Epoche nach der „Ersten Moderne“, Anm. A. B.) Gesellschaft kommen auf den einzelnen neue institutionelle Anforderungen, Kontrollen und Zwänge zu. Über Arbeitsmarkt, Wohlfahrtsstaat und Bürokratie wird er in ein Netz von Regelungen, Maßgaben, Anspruchsvoraussetzungen eingebunden. Vom Rentenrecht bis zum Versicherungsschutz, vom Erziehungsgeld bis zu den Steuertarifen: all dies sind institutionelle Vorgaben mit dem besonderen Aufforderungscharakter, ein eigenes Leben zu führen.“ (BECK & BECK-GERNSHEIM 1994, S. 12). Vgl. BECK, U. (1986), S. 206. Vgl. ebd., S. 207. Ebd. Vgl. BECK (1986), S. 205. Der beginnende gesellschaftliche Wandel, der sich in den letzten zwei Jahrzehnten abzeichnete, sei nicht mehr im Rahmen bisheriger Begrifflichkeiten immanent als eine Veränderung von Bewusstsein und Lage der Menschen zu begreifen, sondern müsse als Anfang eines neuen Modus der Vergesellschaftung gedacht werden, als eine Art „Gestaltwandel“ oder „kategorialer Wandel“ im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft (vgl. ebd., Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.). Vgl. BECK, U. (1986).
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3 Wandlungsprozesse
dieser Umbruch in den Phänomenen einer Verflüssigung und Individualisierung der gesellschaftlichen Sozialstruktur durch Freisetzungsprozesse1, einer verstärkten Pluralisierung von Lebenslagen und Biografisierung von Lebensverläufen und damit einer Auflösung von Normalbiografien, einer Deregulierung des Arbeitsmarktes, verbunden mit erhöhten Mobilitätsanforderungen, der Erosion sozialer Bindungen, grundlegender Veränderungen der Bildungs-, Gesundheitsund Sozialsysteme und nationalstaatlicher Politik insgesamt2. Im Unterschied zum Forschungsparadigma der „Reflexiven Moderne“ sind unter „postmodernen“ Positionen3 unterschiedlichste Ansätze in verschiedenen Bereichen der Literatur, Bildenden Kunst, Architektur, Philosophie und zunehmend auch der Soziologie und Organisationstheorie zu verstehen, denen eine ganz bestimmte Denkhaltung gemeinsam ist – eine radikale Pluralisierung. Zur Beschreibung des kleinsten gemeinsamen Nenners, auf den die unterschiedlichen „postmodernen“ Ansätze gebracht werden können, lassen sich folgende Positionen anführen:
Universalistische Wahrheitsansprüche erscheinen als nicht mehr akzeptabel – es erfolgt eine radikale Absage an die „Meta-Erzählungen“ der „Moderne“. Den Prämissen der Aufklärung und damit den Basisannahmen der „Ersten Moderne“ wird bescheinigt, durch die gegenwärtigen technologischen, politischen und sozialen Entwicklungen obsolet geworden zu sein. Der Glaube an die Beherrschbarkeit der Welt durch ein autonomes, vernünftig und verantwortlich handelndes menschliches Subjekt ist hinfällig geworden. Das Vertrauen auf einen permanenten wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt kann nicht länger aufrecht erhalten werden. Die Legitimation durch wissenschaftliche Rationalität wird grundsätzlich in Frage gestellt. Die kommunikativen Prozesse sind durch eine sprunghafte Zunahme der Produktion von Zeichen und Symbolen sowie einer Aufwertung ihrer Bedeutung charakterisiert. Die Bedeutung der „Oberfläche“ und der „Form“ (im Gegensatz zum Inhalt), des Ästhetischen und des Events im Alltag nehmen stark zu.
Die unmittelbare Folge ist aus „postmoderner“ Sicht eine im Vergleich zum Ansatz der „Reflexiven Moderne“ wesentlich radikalere Pluralisierung und Fragmen1 2 3
„Entzauberung der Welt“. Vgl. auch THOLE, W. & AHMED, S. & HÖBLICH, D. (2007), S. 159, 160. „Postmoderne“ wird in diesem Zusammenhang natürlich nicht als epochaler, sondern als essenzieller Begriff verwendet.
3.5 Die Umwelten der Wohneinrichtungen im Wandel
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tierung der Lebenskontexte des Individuums einschließlich einer grundlegenden Relativierung aller Norm- und Wertevorstellungen; die Suche nach Konsens tritt zurück und wird zunehmend durch Lebensformen im Dissens ersetzt. Die Ansätze der Reflexiven Moderne und der Postmoderne stimmen darin überein, dass die beschriebenen Aspekte der Globalisierung und Modernisierung als Ausdruck eines grundsätzlichen, radikalen und komplexen Wandels der Gesellschaft gedeutet werden können. Damit soll zunächst diese kurze Darstellung der durch Globalisierungs- und Modernisierungsprozesse ausgelösten gesellschaftlichen Veränderungen abgeschlossen werden. 3.5 Die Umwelten der Wohneinrichtungen im Wandel Die im vorigen Abschnitt dargestellten gesellschaftlichen Umbruchsprozesse haben wichtige Institutionen der nachmodernen Gesellschaft beeinflusst und sie teilweise grundlegend verändert. Aus neo-institutionalistischer Perspektive passen sich Organisationen an die Anforderungen ihrer Umwelten mit dem Ziel ihrer Existenzsicherung an. Dabei erfolgen der Zuspruch und der Erhalt gesellschaftlicher Legitimation nur dann, wenn Organisationen auf die an sie gerichteten Erwartungen mit konformem Verhalten reagieren. Zu diesem Zweck nehmen Organisationen institutionalisierte Elemente in ihre formale Struktur auf1. Deshalb wirken sich Veränderungen der Institutionen, die die Umwelten der Organisationen bilden, immer auch auf diese aus. Für Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung stehen diese institutionellen Veränderungen ihrer Umwelten im Folgenden im Mittelpunkt der Untersuchungen. Sie werden ausführlich beschrieben, um anschließend daraus Schlussfolgerungen für den Wandel und die Umgestaltung dieser Organisationen ableiten zu können2. Die betrachteten Umwelten werden – entsprechend der im Abschn. 2.2 vorgestellten Typisierung – nach technischen und institutionellen Umwelten unterschieden, allerdings nur aus analytischen Gründen3. In der gesellschaftlichen 1 2 3
Vgl. NEUMANN (2005), S. 81. WALGENBACH formuliert dazu: „Organisationen adoptieren institutionalisierte Elemente ihrer Umwelt und entwickeln sich parallel zu dieser.“ (WALGENBACH, 2002, S. 330). Das erfolgt im Abschn. 3.6. Vgl. dazu auch WALGENBACH (2002), S. 328. Allerdings sei, so WALGENBACH, eine scharfe Unterscheidung zwischen technischen Umwelten auf der einen Seite und institutionellen auf der anderen kaum möglich (vgl. WALGENBACH, 2002, S. 330 unter Bezug auf SCOTT, 1992).
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3 Wandlungsprozesse
Wirklichkeit sind die einzelnen Umwelten wechselwirkend untrennbar miteinander verbunden und beeinflussen auf diese Weise gemeinsam die Organisationen. Der Schwerpunkt der Untersuchungen liegt – der Zielstellung der Arbeit entsprechend – auf der Betrachtung der institutionellen Umwelten. Die wesentlichen Veränderungen in der technischen Umwelt beziehen sich auf das System der Finanzierung der Wohneinrichtungen und sollen als erstes untersucht werden. 3.5.1 Technische Umwelten Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung sind vollständig auf die Bereitstellung der notwendigen Ressourcen durch die Gesellschaft angewiesen, um ihren Fortbestand zu sichern und ihre Leistungen erbringen zu können. Grundlage ihrer Refinanzierung sind Leistungen der Eingliederungshilfe, die die jeweils zuständigen Sozialhilfeträger erbringen. Dieses institutionalisierte System ihrer Refinanzierung stellt die wichtigste Institution innerhalb der technischen Umwelten der Wohneinrichtungen dar1 – aufgrund ihrer hohen Abhängigkeiten sind alle institutionellen Veränderungen dieses Systems für die Wohneinrichtungen besonders bedeutungsvoll. Mit der Novellierung des damaligen Bundessozialhilfegesetzes (BSHG)2 erfolgte Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts im Bereich der Eingliederungshilfe die Umstellung des Selbstkostendeckungsprinzips auf eine prospektive Entgeltberechnung. Grundlage der Finanzierung waren nun nicht mehr die tatsächlich anfallenden Kosten der Leistungserbringer, sondern kalkulierte leistungsbezogene Entgelte als maximal erstattungsfähige Kosten, die eine nachträgliche Zahlung, z. B. zum Ausgleich von Defiziten, ausschloss. Damit konnten einerseits die bestehenden Entgelte eingefroren, auf diese Weise die Kostenentwicklung gedeckelt und die öffentlichen Haushalte entlastet werden. Andererseits wurde das Risiko der wirtschaftlichen Betriebsführung in vollem Umfang auf die Träger der Wohlfahrtsorganisationen bzw. die Wohneinrichtungen verlagert. Rechtlich nahm das Verhältnis zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern durch den Abschluss von Leistungsverträgen mit verbindlichen Aussa-
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Auf weitere, ebenfalls wichtige Institutionen der technischen Umwelten der Wohneinrichtungen, wie z. B. Arbeitsrecht, Steuerrecht, Freigemeinnützigkeitsrecht, Stiftungs- und GmbHRecht sowie alle Vorgaben zur ordnungsgemäßen wirtschaftlichen Betriebsführung kann hier nicht eingegangen werden. Das inzwischen in das Sozialgesetzbuch SGB XII überführt wurde.
3.5 Die Umwelten der Wohneinrichtungen im Wandel
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gen zum Umfang und der Qualität der Leistungsangebote sowie zu den dafür zu zahlenden Entgelten1 erstmals die Form eines Kontraktes an. Durch Verfahren, die sich von Bundesland zu Bundesland unterscheiden können, werden die individuellen Hilfebedarfe der BewohnerInnen ermittelt und als Grundlage für die Bemessung der zumeist gruppenbezogenen Personalschlüssel herangezogen2. Die Refinanzierung der Personalkosten wird dann auf diese Personalschlüssel beschränkt, wobei tarifliche Regelungen sowie Tarifsteigerungen zunehmend weniger Berücksichtigung finden bzw. durch die Verbände, Träger oder Einrichtungen gegenüber den Kostenträgern eingeklagt werden müssen. Die Kostenträger sind berechtigt, die Einhaltung der Vereinbarungen zu kontrollieren, können Auskunft über die mit den bereit gestellten Ressourcen erzielten Wirkungen verlangen und die zukünftige Bereitstellung von Ressourcen an bestimmte Bedingungen oder Voraussetzungen knüpfen3. Eine weitere grundlegende Veränderung im Verhältnis zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern im Ergebnis der Novellierung, die durch die faktische Auflösung des Subsidiaritätsprinzips durch die Gleichstellung freigemeinnütziger mit privatgewerblich tätigen Anbietern ausgelöst wurde, bildet durch die Schaffung „marktähnlicher“ Verhältnisse mit der Folge freier, unmittelbarer Konkurrenz zwischen den Trägern4 einen deutlichen Gegensatz dazu. Die institutionellen Veränderungen im untersuchten Bereich der technischen Umwelt der Wohneinrichtungen weisen demnach zwei stark gegenläufige Entwicklungen auf, die mit den Schlagworten „Deregulierung und Liberalisierung“5 einerseits und „verstärkte Regulierung“6 andererseits beschrieben werden können. Ein weiteres Spannungsfeld ergibt sich aus der Verschärfung der ordnungsrechtlichen Bestimmungen bei gleichzeitig wachsenden leistungsrechtlichen Ansprüchen der technischen Umwelten Daraus resultieren sowohl besondere Anforderungen an die Anpassungsleistungen der Wohneinrichtungen als auch an das bewusste, intentionale Handeln der Entscheidungsträger und Akteure innerhalb der Wohneinrichtungen. Dieser Thematik widmet sich der Abschn. 3.6.
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Vgl. MAASER, 2005, S. 67. Vgl. z. B. den Landesrahmenvertrag incl. der Leistungsvereinbarung des Landes Berlin. Die entsprechenden Regelungen dazu enthalten die länderspezifischen Ausführungsbestimmungen der Landesrahmenverträge. Das entspricht auch der durch die EU angestrebten Liberalisierung und Deregulierung der nationalen Märkte, die den Abbau aller protektionistischen Regelungen anstrebt – auch im Bereich sozialer Dienstleistungen (vgl. dazu NEUMANN, 2005, S. 42). Öffnung des sozialen Bereiches für Konkurrenz und „Marktverhalten“ der Träger. Die Sicherung des Ressourcenzuflusses ist abhängig von der Einhaltung staatlicher Vorgaben und Regelungen, die durch die Kostenträger kontrolliert werden.
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3 Wandlungsprozesse
3.5.2 Institutionelle Umwelten Unmittelbar verbunden mit den technischen Umwelten, insbesondere mit dem betrachteten System der Refinanzierung, sind Sozialpolitik und Sozialrecht als wichtige Institutionen des Sozialstaates, die den institutionellen Umwelten zugeordnet werden können. Ihr Wandel in den letzten Jahren fordert von den Wohneinrichtungen ganz unmittelbar neue Anpassungsleistungen. Daneben stellt das System der Sozialen Arbeit eine weitere bedeutungsvolle sozialstaatliche Institution innerhalb der institutionellen Umwelten der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung dar. Die grundlegenden Veränderungen des institutionalisierten Lebenslaufs und der institutionalisierten Form des Verständnisses von geistiger Behinderung1 – ebenfalls wichtige Institutionen der nachmodernen Gesellschaft – üben einen eher mittelbaren, weniger sichtbaren Einfluss auf die Wohneinrichtungen aus. Deshalb wird kaum wahrgenommen, wie notwendig Anpassungsleistungen durch die Wohneinrichtungen gerade in Bezug auf diese Institutionen wären. Der Wandel dieser wichtigen Institutionen der institutionellen Umwelten2 der Wohneinrichtungen steht im Mittelpunkt des folgenden Abschnitts, ehe anschließend die Reaktionen der Wohneinrichtungen auf diese Umweltveränderungen näher untersucht werden. 3.5.2.1 Die Entwicklung von Sozialrecht und Sozialpolitik: Der Umbau des bundesdeutschen Sozialstaates Unter dem Einfluss des gesellschaftlichen Wandels verändern sich die Institutionen des Sozialstaates fortlaufend; sie treiben ihrerseits diesen selbst voran, reagieren immer neu auf die aktuellen sozialen Bedingungen und entwickeln konkrete Unterstützungsangebote für diejenigen Individuen, die an diesen Herausforderungen zu scheitern drohen3. ROHRMANN verweist darauf, dass es die staatlich garantierte soziale Sicherung den Individuen in den vergangenen Jahrzehnten zunächst überhaupt erst ermöglichte, sich aus traditionalen Bindungen zu lösen sowie einen individualisierten Lebenslauf zu konzipieren und umzusetzen. Sozialstaatliche Hilfen er1 2 3
NIEDECKEN spricht von der „Institution Geistige Behinderung“ (vgl. NIEDECKEN, 1989). Die Institution „Familie“ ist ebenfalls dazuzurechnen, allerdings würde es im Rahmen dieser Arbeit zu weit führen, ihren Wandel ausführlich zu betrachten. Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen also die Auswirkungen des globalisierungs- und modernisierungsbedingten Wandels auf diese Bereiche des Systems sozialstaatlicher Hilfen. Dazu sollen zunächst überblicksartig die Veränderungen der Sozialpolitik sowie des Sozialrechtes und anschließend die Entwicklung des Systems der Sozialen Arbeit betrachtet werden.
3.5 Die Umwelten der Wohneinrichtungen im Wandel
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scheinen damit gleichzeitig als Phänomen modernisierungsbedingten Wandels und als Wirkfaktor der gesellschaftlichen Veränderungen. Charakteristisch für die Entwicklung der nachmodernen bundesrepublikanischen Gesellschaft ist die stetige Ausweitung sozialpolitischer Handlungsfelder und ihres Leistungsvolumens – mit der Folge einer Entgrenzung sozialstaatlicher Leistungen1. Dies soll im Folgenden kurz erläutert werden2. Die staatlich organisierten und finanzierten Hilfen sind – vom Grundsatz her – für das Individuum verlässlich erwartbar3 und beantworten seine Ansprüche auf soziale Sicherung und soziale Teilhabe. Während erstere dem Individuum überhaupt erst gestatte, sich auf industriegesellschaftliche Lebensformen einzulassen, stünden die Ansprüche auf soziale Teilhabe, so ROHRMANN4, dazu in einem reflexiven Ergänzungsverhältnis und markierten den Übergang zur reflexiven Modernisierung5: Die Ansprüche begründeten sich nicht mehr in erster Linie sozialpolitisch als Recht auf soziale Absicherung, sondern bürgerrechtlich als Anspruch auf gleiche Teilhabechancen6. Es finde damit eine Entgrenzung des Diskurses über soziale Ungleichheit statt, der sich nicht mehr nur auf Bereiche der Absicherung, sondern umfassend auf die Lebenslagen von sozialen Gruppen beziehe. Damit würden insbesondere auch soziale Ungleichheiten thematisiert, die durch das System der sozialen Sicherung selbst produziert würden7. Das wohlfahrtsstaatliche System der sozialen Hilfen konzentriere sich nun nicht mehr nur auf Problemfälle, sondern in steigendem Maße auf die Lebens-
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Vgl. auch Abschn. 3.2.3, wo dieses Phänomen aus der Perspektive der Sozialen Arbeit bereits thematisiert wurde. In Anlehnung an ROHRMANN, der den Argumentationsgang ausführlicher darstellt (vgl. ROHRMANN, 2007, S. 28 ff.). Unter Verweis auf LUHMANN (1973) hebt ROHRMANN hervor, dass erst die funktionale Differenzierung den Rahmen schaffe, in dem sich organisierte, aufs Helfen spezialisierte Sozialsysteme bilden könnten. Damit würde Hilfe in nie zuvor erreichter Weise eine zuverlässig erwartbare Leistung, gleichsam Sinnhorizont des täglichen Lebens auf unbegrenzte Zeit in den sachlichen Grenzen der Organisationsprogramme (vgl. ROHRMANN 2007, S. 30). Vgl. ebd., S. 29. ROHRMANN bezieht sich in seinen Überlegungen immer wieder auf den Ansatz ULRICH BECKS. Dabei handelt es sich tatsächlich um eine ganz wesentliche Schwerpunktverschiebung mit gravierenden Auswirkungen auf die sozialstaatlichen Institutionen, die als unmittelbare Folge des gesellschaftlichen Wandels und der Dynamisierung von Individualisierungsprozessen verstanden werden kann. Für die Behindertenhilfe findet dieser Tatbestand sozialrechtlich seinen Ausdruck in der Verabschiedung des Sozialgesetzbuches SGB IX mit der ausdrücklichen Zielstellung der Sicherung von Teilhabechancen für Menschen mit Behinderungen. Teilhabe als wesentlicher Aspekt der Eingliederungshilfe, wie sie im Sozialgesetzbuch SGB XII formuliert wird, erfährt dadurch eine Bestätigung und Konkretisierung. Vgl. ROHRMANN (2007), S. 29 unter Bezugnahme auf HRADIL (1987, 2001).
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3 Wandlungsprozesse
wirklichkeit der Gesamtbevölkerung1. Sozialpolitik verliere unter dem Einfluss des gesellschaftlichen Wandels immer mehr die Aufgabe, Problemlagen nachträglich zu kompensieren2 – soziale Unterstützungsleistungen begründeten zunehmend soziale Lebenslagen, so ROHRMANN3. In starkem Kontrast zu dieser Ausweitung und Entgrenzung der sozialstaatlichen Leistungen sind allerdings seit Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wirtschaftsliberale Entwicklungen innerhalb der Sozialpolitik zu beobachten, die eine klar gegenläufige Tendenz aufweisen und als Beginn des Um- oder Abbaus des Sozialstaates gewertet werden können4. Für die Individuen verschärfe sich dadurch die Lage – zusätzlich zur Verlagerung des „Managements“ sozialer Risiken in die Verantwortung des Einzelnen komme die Krise, so SCHÄPER, in der sich die Sicherungssysteme selbst befänden. Der Umbau des Sozialstaates, so SCHÄPER weiter, erreiche mit den umfassenden Sozialrechtsreformen zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine neue Dimension, die ihn endgültig zum „Abbau“ mache: Der Sozialstaat verschwinde immer mehr zugunsten des Wettbewerbsstaates5. Neben den bereits genannten Strategien der Ökonomisierung, der einseitigen Orientierung an volkswirtschaftlicher Rationalität und betriebswirtschaftlicher Effektivität werde vor allem legitimatorisch auf den Grundwert der individuellen Freiheit rekurriert, der durch den sozialstaatlichen Zwang zur Solidarität bedroht sei6. 1 2
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Vgl. ROHRMANN (2007), S.31. Als Beispiel zur Verdeutlichung nennt er die Alterssicherung und die Unterstützungsleistungen für Familien. MERTEN & OLK stellen diese Tendenz auch für die Sozialarbeit als einem speziellen Feld personaler und intervenierender Hilfen fest. Sie sprechen von einer „Normalisierung der Sozialarbeit“, die u. a. daran erkennbar ist, dass Sozialarbeit von Krisenangeboten zu Standardangeboten in der Normalbiografie entwickelt und zugleich in der Methodik die präventiven gegenüber den reaktiven Hilfen in den Vordergrund stellt (vgl. MERTEN & OLK 1999, S. 600). Vgl. ROHRMANN (2007), S. 31. Die UN-Behindertenrechtskonvention belegt diese Entwicklung eindrucksvoll. Vgl. SCHÄPER (2006), S.101. SCHÄPER sieht darin eine unmittelbare Auswirkung der Globalisierung: Vor dem Hintergrund internationaler Konkurrenzen erschiene insbesondere der soziale Sektor als Teil der öffentlichen Dienste zu kostspielig und ineffizient, er geriete unter Legitimationsdruck sowie mehr und mehr in den Sog der „Vermarktwirtschaftlichung“. Es verstärke sich ein Prozess der Umstrukturierung nationaler Sozialpolitik in Form der Delegation öffentlicher Aufgaben an privat gewerbliche Anbieter mit dem Ziel der Kalkulierbarkeit und Begrenzbarkeit von Kosten und Risiken. Dieser Prozess hätte nun aber auch Rückwirkung auf die kommunale Verwaltung selbst, die mit einer Verwaltungsreform outputorientierte neue Steuerungsmodelle einführten, sich vom Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit sozialer Hilfen verabschiedeten und der Logik privatgewerblicher Prinzipien folgten. Sie seien betriebswirtschaftliche, wirkungsorientierte und auf Effizienz fokussierte Systeme (vgl. SCHÄPER, 2006, S. 102). Vgl. SCHÄPER (2006), S. 105. Vgl. SCHÄPER (2006), S. 105. Die daraus unmittelbar resultierenden Folgen stellt SCHÄPER deutlich heraus: Solidarität und Freiheit gerieten zum Gegensatzpaar, während der bundesdeut-
3.5 Die Umwelten der Wohneinrichtungen im Wandel
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Der Sozialpolitik würde nun eine neue Rolle zugedacht1: Sie solle die Selbsthilferessourcen der vom Sozialstaat Versorgten für die Zivilgesellschaft insgesamt „aktivieren“2. GIDDENS3 beschreibt die „fördernde“ Aktivität des Staates als Zurücknahme „passivierender“ Leistungen, um Hemmnisse für gesellschaftliche Eigentätigkeit abzubauen und förderliche Rahmenbedingungen für gesellschaftliche Initiativen zu schaffen4. SCHÄPER kennzeichnet anschaulich die inhärenten Gefahren dieser „Aktivierungspolitik“5. Als zynisch kritisiert sie die Forderung der „Aktivierung“ gegenüber Personen, deren Teilhabechancen strukturell eingeschränkt sind – wie dies z. B noch immer für Menschen mit Behinderungen gilt6. Mit einer Verschiebung von „sozialkonsumtiven“ zu „sozialinvestiven“ Ausgaben, wie sie z. B. der ehemalige Finanzminister Steinbrück forderte, wandelt sich der herkömmliche Sozialstaat zum aktivierenden „investiven“ Sozialstaat, der sein Engagement in ökonomisch lohnenden Bereichen ausbaut und Aktivitäten mit rein kurativem Charakter reduziert7. SCHÄPER zeigt eine weitere Problemstellung auf, die aus ihrer Sicht unmittelbar aus dem Umbau zum aktivierenden Sozialstaat resultiert: Sozialpolitik unterteilt unter der Maxime „Fordern und Fördern“ Hilfebedürftige ein in „zu aktivierende“ und „nicht zu aktivierende“ und wirkt damit verstärkt selektiv8.
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sche Sozialstaat ursprünglich auf der Überzeugung basierte, dass Solidarität gerade Ausdruck der freien Eigenverantwortung miteinander verbundener Menschen sei (vgl. SCHÄPER, 2006, S. 106). Dieser Wechsel der Sozialpolitik lässt sich zeitlich mit dem In-Kraft-Treten der Agenda 2010 in Verbindung bringen. Vgl. SCHÄPER (2006), S. 109. Vgl. GIDDENS (1999), S. 149. Die Strategie des „Fördern und Forderns“ proklamiert GIDDENS als dritten Weg zwischen einseitig marktrationaler Steuerung und traditioneller Wohlfahrtsstaatlichkeit (vgl. SCHÄPER, 2006, S. 109). Vgl. SCHÄPER (2006), S. 110 unter Bezugnahme auf HEINZE & STRÜNCK (2001). Vgl. SCHÄPER (2006), S. 110 ff. Vgl. ebd., S. S. 111. Vgl. ebd., S. 110. SCHÄPER zitiert STEINBRÜCK (vgl. STEINBRÜCK 2003) mit seiner Definition sozialer Gerechtigkeit als einer Politik „für jene, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun, die lernen und sich qualifizieren, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um sie – und nur um sie [sic!] – muss sich Politik kümmern.“ (Hervorhebung im Original, Anm. A. B.). Vgl. SCHÄPER (2006), S. 115. In die Leistungsempfänger des SGB II investiert der „investive“ Sozialstaat mit dem Ziel, sie durch Aktivierung in Arbeitsverhältnisse zu vermitteln und sie damit an der Refinanzierung der sozialstaatlichen Aufwendungen zu beteiligen. Dagegen sehen sich Personen, die in diesem Sinn nicht „aktivierbar“ sind, darauf reduziert, Objekte sozialstaatlicher Versorgung – allerdings auf niedrigem Niveau – zu werden. Sie erhalten eine Grundsicherung nach SGB XII.
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3 Wandlungsprozesse
Menschen mit geistiger Behinderung gehören – von wenigen Ausnahmen abgesehen – zur Gruppe der „nicht zu aktivierenden“ Personen1, die durch den Sozialstaat nur noch versorgt werden und die damit einem zusätzlichen Exklusionsrisiko ausgesetzt sind, denn in dem Maße, wie dadurch die zur Verfügung stehenden eigenen ökonomischen Ressourcen zurückgehen, wächst die Institutionenabhängigkeit dieses Personenkreises, für den eine Reintegration in die Gesellschaft sozialpolitisch – nach der Logik des investiven Sozialstaates – zumindest de facto nicht mehr ernsthaft gewollt zu sein scheint2. Es ist klar, dass diese Entwicklungen zentraler sozialstaatlicher Institutionen – gerade auch aufgrund ihrer Widersprüchlichkeiten – besondere Anpassungsleistungen seitens der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung herausfordern. 3.5.2.2 Die Entgrenzung der Sozialen Arbeit Die Soziale Arbeit mit ihren unterschiedlichen Diensten stellt eine wichtige Institution des Sozialstaates dar, die untrennbar mit der Herausbildung der „Moderne“ verbunden ist und deren Entwicklung beim Übergang der „modernen“ zur „nachmodernen“ Gesellschaft eine Dynamisierung in quantitativer und inhaltlich-qualitativer Beziehung im Wesentlichen aus den im Abschn. 3.5.2.1 genannten Gründen genommen hat3,4. RAUSCHENBACH5 bezeichnet sie als „intermediäre Instanz“, als „Scharnierstelle“ zwischen lebensweltlichen und systemischen Rationalitätserfordernissen.
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Im Sinne einer solchen ökonomischen Logik! Vgl. SCHÄPER (2006), S. 118. Gleichzeitig ändert sich der Charakter des Hilfesystems für Menschen mit Behinderungen: Die Chancen professioneller Inklusionsarbeiter (z. B. Sozialarbeiter, Sozialpädagogen und Heilpädagogen), ihren ursprünglichen Auftrag der Inklusion wahrzunehmen, sinken. An die Stelle der Inklusionsvermittlung und Exklusionsvermeidung tritt die „Exklusionsverwaltung“ (vgl. ebd., S. 118 unter Bezug auf DEDERICH, 2002; GRÖSCHKE, 2002, 2004 und GREVING & ONDRACEK, 2005). Es versteht sich, dass dies im schärfsten Widerspruch zum Wortlaut und Geist der UN-Behindertenrechtskonvention steht. Vgl. dazu auch die Ausführungen THIERSCHS (1992) S. 9ff; RAUSCHENBACHS (1992), S. 25 ff. und RAUSCHENBACHS (1999), S. 231. THIERSCH bescheinigt der Sozialen Arbeit einen „[…] Status von Normalität […] im Wissenschafts- und Ausbildungsbetrieb und, vor allem, im Gefüge sozialer Dienstleistungsangebote.“ (THIERSCH, 2002, S. 5). In dieser Normalität aber, so Thiersch, zeigten sich in den letzten Jahren Brüche und Risse, in denen Soziale Arbeit ihr Selbst- und Arbeitsverständnis neu artikulieren müsse. Allerdings: Soziale Arbeit könne es sich leisten, sich neuen Auseinandersetzungen kritisch-selbstkritisch zu stellen (vgl. ebd.). Zur Definition führt er aus: „»Soziale Arbeit« wird hier nicht in einem disziplinärgeschlossenen Sinne verwendet. Der Begriff soll […] vor allem das vielschichtige und an den
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Sie könne in dieser Funktion die beobachtbaren Schwierigkeiten im Prozess der (Fein-) Abstimmung und Synchronisation zwischen individueller und gesellschaftlicher Gestaltung des Lebens aufnehmen und ein besonders sensibler Seismograph für die auftretenden Verwerfungen und Erosionen sein1. Soziale Arbeit sieht sich daher – abgesehen von Aufgaben der Bildung, Erziehung und Moral – vorrangig mit den Problemen der allgemeinen sozialen Lebensführung und -bewältigung konfrontiert2. Am Beispiel der Reaktion Sozialer Arbeit auf die neuen bzw. anwachsenden sozialen Risiken3 in Folge der Modernisierungsschübe der „nachmodernen“ Gesellschaft lässt sich der enge Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Umbrüchen und der Entwicklung dieser Institution besonders eindrücklich aufzeigen: Sie reagierte mit einer enormen Expansion, einer Ausdifferenzierung ihrer Angebote und einer Erweiterung ihres Aufgabenkreises, einhergehend mit einer Verberuflichung und Akademisierung der MitarbeiterInnen. Die neuen Herausforderungen für die Soziale Arbeit, die unmittelbar aus den zunehmenden sozialen Risiken der „nachmodernen“ Gesellschaft resultieren, bestehen in der
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Rändern wenig konturenhafte Segment der Sozialarbeit und Sozialpädagogik kennzeichnen […].“ (vgl. ebd., S. 231). Vgl. THIERSCH, 2002, S. 232. Vgl. ebd., S. 240. Materielle Versorgungsprobleme würden dagegen, so RAUSCHENBACH, stärker mit Hilfe sozialpolitischer Interventionsformen reguliert. Für THIERSCH will lebensweltorientierte Soziale Arbeit „[…] Menschen in ihrer Lebenswelt zur Selbsthilfe, also zur Selbstständigkeit in ihren Verhältnissen […] verhelfen. Wenn es aber zunehmend schwieriger wird, sich in den Verhältnissen zu behaupten, wird Soziale Arbeit ein Angebot zur Unterstützung in Orientierungsschwierigkeiten und Belastungen auch im normalen Leben. Sie erweitert ihr traditionell in Randund Elendszonen der Gesellschaft angesiedeltes Angebot und wird auch zu einem Leistungsangebot für alle.“ (vgl. THIERSCH, 1992, S. 17; Hervorhebungen A. B.). Diese neuen sozialen Risiken resultieren infolge der Individualisierung aus Freisetzungsprozessen und der Erosion lebensweltlicher Bindungen und der Stabilitäten der Herkunftsfamilie, dem Verlust der ehemals wegweisenden und kollektiv abgesicherten Geländer der Lebensführung bei gleichzeitig beträchtlicher Ausweitung individueller Gestaltungsmöglichkeiten (vgl. ebd., S. 244 und Abschn. 3.4.1). Das Leben und die Lebensmöglichkeiten jedes Einzelnen würden, so RAUSCHENBACH weiter, zu einem Wagnis, zu einem sozialen Risiko, zu einem individualisiertem Projekt mit offenem Ausgang. Mit dem Zuwachs an selbstreferentiellen Handlungsoptionen halte der Zuwachs an den dafür benötigten selbstreferentiellen Entscheidungsressourcen vorerst nicht mit (vgl. ebd., S. 247). Daraus kann sich ein förderlicher Nährboden für psycho-soziale Krisen entwickeln – zumal Gewissheit, Kontinuität und Vertrauen ohne Vorbehalt, so RAUSCHENBACH, als Basis und Bestandteil stabiler Interaktionsbeziehungen verloren gingen. Die erhöhten Anforderungen der psycho-sozialen Lebensbewältigung könnten deshalb zu GefährdungsPotenzialen und Risikolagen auch im Innenleben der Menschen führen und dabei, so RAUSCHENBACH, soziale und psychische Instabilität hervorrufen. Ebenfalls den neuen sozialen Risiken zuordnen lässt sich der Rückgang der naturwüchsigen Organisation der sozialen Hilfen – auf Gegenseitigkeit – im sozialen Nahbereich als Folge der Individualisierung der Lebensformen (vgl. ebd., S. 253).
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„[…] Rekonstruktion der sozialen Seite der Risikogesellschaft, also jener Sorte von Modernisierungsfolgen, die sich unmittelbar auf das soziale Handeln, auf Subjektstrukturen und zwischenmenschliche Interaktionsformen auswirken […] die also direkt auf die gattungsmäßigen Erfordernisse der kulturellen Reproduktion, der sozialen Integration und Sozialisation zielen – und dies unter den Bedingungen eines sozialen Wandels und einer Enttraditionalisierung der industriegesellschaftlichen Lebensformen.“1 (Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.).
Zusammenfassend charakterisiert RAUSCHENBACH die neue Rolle der Institution „Soziale Arbeit“ am Übergang von der „Moderne“ zur „Nachmoderne“ wie folgt2: Zukünftig werde eine durch die Soziale Arbeit noch verstärkt zu bearbeitende Aufgabe darin bestehen, institutionalisierte soziale Hilfen, Beratung, Information und Begleitung anzubieten, um Individuen in unterschiedlichen Situationen und Lebenslagen bei der risikoreichen Bewältigung der eigenen sozialen und symbolischen Reproduktion zu unterstützen. Soziale Arbeit erweitere damit die sozialen Handlungsspielräume der Menschen und intensiviere gleichzeitig Prozesse der Individualisierung, der Ungewissheit und des sozialen Risikos. Das mache ihre Ambivalenz aus: Soziale Arbeit sei mithin nicht nur ein „Produkt der »Moderne«, sondern zugleich auch selbst Produzent von Chancen und Risiken auf dem Weg in eine andere »Moderne«“3. RAU4 SCHENBACH fasst die Entwicklung Sozialer Arbeit wie folgt zusammen :
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Die typischen Adressatengruppen Sozialer Arbeit wandelten sich, da es zu einer Differenzierung und Pluralisierung sozialpädagogisch relevanter Lebenslagen käme, d. h. sie würden vielschichtiger und zugleich weniger offenkundig, sie „individualisierten sich“. Die Entgrenzung der sozialen Risiken führe immer stärker zur Ausweitung der Sozialen Arbeit hinein in die Bereiche durchschnittlicher, privater Lebenslagen, sie veralltäglichten und normalisierten sich. RAUSCHENBACH (1999), S. 244 unter Bezug auf BECK, U. (1986). Die Bewältigung dieser neuen sozialen Risiken erfordere, so RAUSCHENBACH, ein ungleich höheres Maß an (Möglichkeits-) Wissen über soziale Zusammenhänge sowie über mögliche Wirkungen und Folgen psycho-sozial belastender Lebenslagen. Genau in diese Prozesse der sozialen Lebensbewältigung sei Soziale Arbeit und Erziehung, seien pädagogische und soziale Dienste zweifach involviert: zum einen als sekundäre Stabilisatoren in belastenden Lebenslagen und unterstützungsbedürftigen Lebensabschnitten, zum anderen auch als geradezu prototypische Formen eines selbst dauerhaft riskanten, ungewissen, wissensabhängigen und nicht eingrenzbaren sozialen Handelns (vgl. ebd., S. 247). Vgl. RAUSCHENBACH (1999), S. 267, 268. Ebd. Dadurch könne Soziale Arbeit in Form sozialer Dienste und öffentlicher Erziehung infolge der unvermeidlichen sozialen Nebenwirkungen und Begleiterscheinungen auf dem Weg in die zweite Moderne, so RAUSCHENBACH, ungewollt zu einem Nutznießer, gewissermaßen als „Branche“ zu einem Risikogewinner werden (vgl. ebd.). Vgl. RAUSCHENBACH (1999), S. 260 ff.
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Aufgabenverständnis und Leistungserwartungen Sozialer Arbeit verlagerten sich, eine neue Aufgabe trete in den Vordergrund: Die Unterstützung bei der Herstellung und Sicherung der individuellen sozialen Ressourcen1, die zur Lebensbewältigung erforderlich seien. Dazu gehöre auch die Unterstützung bei biografisch relevanten sozialen Fragen der (Lebens-)Planung und Lebensführung im Sinne eines Case-Managements für „intelligentes“, d. h. ressourcengebundenes und risikoverringerndes Entscheidungsverhalten. Soziale Arbeit müsse sich zunehmend mit Risikolagen im Lebenslauf auseinandersetzen, die alle Lebensbereiche betreffen könnten und insbesondere die Übergänge zwischen einzelnen Lebensphasen charakterisierten. Soziale Arbeit übernehme als personenbezogene soziale Dienstleistung – im Sinne einer wohlfahrtsstaatlich inszenierten Solidarität – den sozialen Bedarfsausgleich, um damit den Wegfall privat-lebensweltlicher Formen „informeller“ Solidarität zu ersetzen. Das Individuum werde als konkreter Einzelfall zum Bezugspunkt Sozialer Arbeit – in der Form dieser einseitigen Betonung des Fallbezugs werde es allerdings selbst zu einem typischen Protagonisten einer individualisierten „Zweiten Moderne“. Sozialpädagogisches Handeln müsse nun selbst als ein Gegenstand der sozialen Risikodiagnose, als sozial riskant identifiziert werden – insofern diese Form des sozialen Handelns selbst in hohem Maße ungewissheitsbelastet, wissensabhängig und in seinen Folgen kaum zuverlässig evaluierbar, geschweige denn prognostizierbar sei.
THIERSCH2 sieht die Entwicklung Sozialer Arbeit im Ergebnis gesellschaftlicher Wandlungen und Verschiebungen ähnlich wie RAUSCHENBACH, arbeitet aber einen Aspekt, der auch bei RAUSCHENBACH anklingt, deutlicher als dieser heraus und eröffnet damit Möglichkeiten zur Herstellung von Anschlüssen an die Sozial- und Sonderpädagogik. Für ihn führen die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse unmittelbar zu einer Neuformierung der Sozialen Arbeit mit einer Akzentverschiebung in Richtung Sozialpädagogik3, denn „[…] im Zeichen der zunehmenden Vergesellschaftung von 1
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Darunter versteht RAUSCHENBACH „[…] die Stärkung derjenigen Basiskomponenten, die notwendig sind, um als je einzelner im Prozess der Individualisierung zu bestehen, um die individuell zugemuteten sozialen Risiken der eigenen Lebensführung und der eigenen permanenten Entscheidung unter Ungewissheitsbedingungen handhabbar zu machen.“ (ebd., S. 262). Vgl. THIERSCH (1992), S. 9 ff. Unter Bezugnahme auf GERTRUD BÄUMER (1929) ordnet THIERSCH Sozialpädagogik alle Erziehung zu, „die nicht in Familie, Schule und Ausbildung geleistet wird“ (vgl. THIERSCH, 1992, S. 18).
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3 Wandlungsprozesse
Lebensaufgaben angesichts einer Pluralisierung und Individualisierung der Lebensverhältnisse […]“1 kommt es zu einer Verkomplizierung des Lebens, so dass Hilfen zur Bewältigung der Normalität nötig werden2. Diese „Hilfen zur Lebensbewältigung“ sind durch eine lebensweltorientierte Soziale Arbeit zu leisten, deren Kernstück zukünftig eine lebensweltorientierte Sozialpädagogik sein wird3. Die beschriebenen Veränderungen der Institution „Soziale Arbeit“ sind für Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung von beträchtlicher Relevanz, da ihre Leistungsangebote für die BewohnerInnen zukünftig ganz ähnliche Schwerpunktsetzungen beinhalten werden wie die Aufgabenstellungen der „entgrenzten“ Sozialen Arbeit – wenngleich auch unter Berücksichtigung der behinderungsbedingten besonderen Hilfebedarfe dieser Zielgruppe. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass der grundlegende Wandel dieser Institution als wichtiger Bestandteil der institutionellen Umwelten der Wohneinrichtungen eine Fülle von Anregungen und Impulsen für die zukünftige Entwicklung der Wohneinrichtungen freisetzt und zu deren Veränderung beitragen wird. Einen weiteren interessanten Aspekt stellt die Frage nach einer engen Zusammenarbeit, Kooperation oder gar Vernetzung zwischen Sozialer Arbeit und Sonderpädagogik dar, der im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht weiter nachgegangen werden kann4. 3.5.2.3 Der Wandel institutionalisierter Lebenslaufmuster Während in den beiden vorangegangenen Abschnitten die Veränderungen wichtiger Institutionen des Sozialstaates thematisiert wurden, gilt es nun, zwei Phänomene näher zu betrachten, deren institutionalisierte Formen ebenfalls Wandlungsprozessen bei der Entwicklung der modernen zur nachmodernen Gesellschaft unterworfen waren und die eine bedeutungsvolle Rolle innerhalb der institutionel-
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THIERSCH (1992), S. 16. Vgl. THIERSCH (1992), S. 16. Vgl. THIERSCH (1992), S. 16. Aus und neben sozialen Problemen entwickelten sich innerhalb des modernen Sozialstaates, so THIERSCH, die sozialpädagogischen Aufgaben in Form der Hilfe und Unterstützung in sozialen und psychisch-individuellen Problemen, in der aufklärenden und unterstützenden Bearbeitung sozialer und individueller Alltags- und Lebensprobleme, in Unterstützung, Erziehung, Bildung, Beratung und in der Organisation von Ressourcen (unterschiedlichster Art, Anm. A. B.) (vgl. ebd.). Dabei müsse Soziale Arbeit im Rahmen der Veränderung ihres Aufgabenspektrums zukünftig stärker auf die Klärung und Veränderung von Einstellungen und die Eröffnung von Handlungsmöglichkeiten abzielen (vgl. ebd., S. 12). SPECK & MARTIN setzen sich mit dieser Frage auseinander (vgl. SPECK & MARTIN, 1990).
3.5 Die Umwelten der Wohneinrichtungen im Wandel
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len Umwelten der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung spielen. Es handelt sich dabei zum einen um die Institutionalisierung charakteristischer Lebenslaufmuster und zum anderen um die Herausbildung einer Institution „Geistige Behinderung“ innerhalb nachmoderner Gesellschaften. Die Herausbildung institutionalisierter Lebenslaufmuster ist ein typisches Merkmal moderner Gesellschaften, während ihr grundlegender Wandel durch die in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts begonnenen und seither unaufhaltsam fortschreitenden Individualisierungsprozesse ausgelöst wurden. Inzwischen ermöglichen die fortschreitende Individualisierung und Diversifizierung sozialer Milieus den Individuen kaum noch eine Orientierung an biografischen Standardverläufen1; sie müssen sich alle wesentlichen Aspekte ihrer Lebensgestaltung eigenständig – teilweise immer wieder neu – selbst erarbeiten. Die Verantwortung für das Gelingen oder Misslingen dieser Aufgabe wird ihnen in jedem Fall durch die „nachmoderne“ Gesellschaft individuell zugeschrieben. Für den Einzelnen haben diese Individualisierungsprozesse weitreichende Konsequenzen – im Sinne neuer Chancen einerseits und bisher nicht existierender Risiken andererseits2: 1.
2. 3.
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Die Herauslösung aus den traditionalen Mustern der Abhängigkeit, den traditionsbestimmten Lebensformen, vorgegebenen Rollenmustern und Milieubindungen in Verbindung mit der Modernisierung aller Lebensbereiche führt zu einer völlig neuen Offenheit der Lebensgestaltung, des eigenen Lebensstils und der Konstruktion einer eigenen, selbst gewählten und selbst verantworteten Biografie3. Der Preis dafür besteht allerdings im Verlust der „[…] Sicherheiten verlässlicher Sinnprovinzen von Glauben, Werten, gemeinschaftlichen Lebensorientierungen […]“4. Die vielfältigen neuen Optionen der Lebensgestaltung eröffnen den Individuen (im Idealfall) nicht nur eine Vielzahl an Wahlmöglichkeiten, sondern bedeuten auch eine ultimative Verpflichtung und Aufgabenstellung für den
Wie z. B. dem Modell lebenslanger Normalarbeit, dem Muster der Kleinfamilie und traditionellen Geschlechterrollen (vgl. auch SPECK & MARTIN, 1990, S. 160). Die Individuen können sich diesen Individualisierungsprozessen nicht entziehen, da – wie BECK & BECK-GERNSHEIM hervorheben – Individualisierung eine gesellschaftliche Dynamik sei, die nicht auf einer freien Entscheidung der Individuen beruhe; im Sinne JEAN-PAUL SARTRES sei die Menschheit zur „Individualisierung verdammt“ (ebd., S. 14). Vgl. dazu auch HERRIGER (2002), S. 38, 39. Ebd., S. 38.
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4.
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3 Wandlungsprozesse
Einzelnen – das „Wählen-Können“ ist untrennbar mit dem „Wählen-Müssen“ verbunden1. Die aktive Eigenleistung des Einzelnen wird deshalb zwingend erforderlich: In erweiterten Optionsspielräumen und Entscheidungszwängen wachse der individuell abzuarbeitende Handlungsbedarf, so BECK & BECK-GERNSHEIM, es würden Abstimmungs-, Koordinations- und Integrationsleistungen nötig. Die Individuen müssten, um nicht zu scheitern, langfristig planen und sich den Umständen anpassen können, müssten organisieren und improvisieren, Ziele entwerfen, Hindernisse erkennen, Niederlagen einstecken und neue Anfänge versuchen. Sie brauchten Initiative, Zähigkeit, Flexibilität und Frustrationstoleranz2,3. Mit den neuen „Entfaltungsmöglichkeiten für Lebenssouveränität“ etablieren sich gleichzeitig allerdings auch „[…] neue Rigiditäten und Identitätszwänge […]“4. Es kommt zu einer Ambivalenz dieser Lebensform – die Befreiung von Zwängen und die Einrichtung neuer Abhängigkeiten griffen ineinander, so KEUPP, und vermischten sich zu einem „Selbstzwang zur Standardisierung der eigenen Existenz“5. Aus der NormalBiografie wird dadurch eine „WahlBiografie“6, eine „reflexive Biografie“7. Diese „BastelBiografie“, wie BECK & BECK-GERNSHEIM sie bezeichnen, sei immer zugleich auch „RisikoBiografie“8. Schließlich wird für den Entwurf und das Gelingen dieser eigenen, selbst hergestellten Biografie, für das Bewältigen des Scheiterns, der Nutzung der Chancen und der Umgang mit den Gefährdungen dem Einzelnen, dem Individuum, die volle Verantwortung zugewiesen. Vgl. HERRIGER (2002), S. 39. Vgl. BECK & BECK-GERNSHEIM 1994, S. 14, 15. KEUPP weist darauf hin, dass eine veränderte innere Ausstattung der Individuen erforderlich sei, um durch eine sich partikularisierende Welt und die ständig geforderten situativen Umstellungen ohne Zerfall der Person durchzukommen (vgl. HERRIGER, 2002, S. 39 unter Bezug auf KEUPP, 1987). KEUPP (1994b), S. 336. Vgl. KEUPP (1994b). Die Ausdifferenzierung der Individuallagen, so BECK, U., gehe gleichzeitig mit einer hochgradigen Standardisierung einher, die durch genau die Medien bewirkt würde, die auch zur Individualisierung führten. Dies gelte für Markt, Geld, Recht, Mobilität, Bildung usw. in jeweils unterschiedlicher Weise. Die entstehenden Individuallagen seien durch und durch marktabhängig (und damit letztlich auch ressourcenabhängig, Anm. A. B.) (vgl. BECK, U., 1986, S. 210). BECK, U., 1986, S. 15. Ebd. Ebd. Das müsse nicht gewollt sein und müsse auch nicht gelingen, so BECK & BECKGERNSHEIM. Die BastelBiografie als „DrahtseilBiografie“ stelle einen Zustand der (teils offenen, teils verdeckten) Dauergefährdung dar und könne schnell zur „BruchBiografie“ werden (vgl. ebd.).
3.5 Die Umwelten der Wohneinrichtungen im Wandel
145
Ein charakteristisches Merkmal nachmoderner Gesellschaften besteht deshalb darin, dass dem Individuum selbst die Gestaltung seiner individuellen Lebenslage als Aufgabe übertragen wird. Daraus folgt auch, dass die Individuen die Art und Weise ihrer Inklusion in Funktionssysteme nach individuell strategischen Gesichtspunkten selbst veranlassen (müssen)1. Mit der beginnenden funktionalen Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft kam es auch zu einer Institutionalisierung des Lebenslaufs der Individuen. Die Einbindung in eine dauerhafte Standesposition wurde dabei ersetzt durch einen Lebenslauf, der sich vorrangig an Inklusionen in unterschiedliche Funktionssysteme orientiert2. Gesellschaftliche Ausdifferenzierungsprozesse, institutionelle Erwartungen und individuelle Ansprüche, so RAUSCHENBACH3, würden sich in Lebensverläufen niederschlagen. Diese könnten aus der Perspektive des Individuums sozialpsychologisch unter dem Aspekt der Identitätsbildung und aus soziologischer Sicht als Lebenslaufmuster und einen darauf gründenden Stil der Lebensführung beschrieben werden. Dieses Vergesellschaftungsprogramm, so fährt RAUSCHENBACH erläuternd fort, könne als eine vorgegebene Struktur mit funktionalen Zugehörigkeits- und Übergangsregelungen beschrieben werden, die somit zu einer Standardisierung individueller Lebensläufe führe4. „Verzeitlichung“ sei hier einerseits ein funktionales Ordnungskriterium und könne andererseits aus der Perspektive des Individuums als Ermöglichung und Verpflichtung zur Gestaltung der eigenen Biografie angesehen werden5. Es ergäben sich neue Handlungsspielräume und -zwänge für die aus lokalen Bindungen freigesetzten, durch gesellschaftliche Institutionen abgesicherten Individuen. Insofern enthielte, so RAUSCHENBACH6, die Institutionalisierung des Lebenslaufes immer auch die Institutionalisierung von Individualität. 1
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SCHÄPER verweist in diesem Zusammenhang auf einen weiteren Aspekt funktionaler Differenzierung: Das individuelle „Management“ von Chancen und Risiken durch den Einzelnen trete an die Stelle eines Anspruchs des Individuums gegenüber der Gesellschaft mit der Zielperspektive der „Vollinklusion“. Diese Logik funktionaler Differenzierung schließe Exklusion zunächst zwar aus, es komme innerhalb der Funktionssysteme aber zu Differenzierungen nach systemeigenen Kriterien: Exklusion würde „gleichsam in die Form von Inklusion gekleidet“, und damit eine „Sonderbehandlung zum Zwecke der Inklusion“ (vgl. SCHÄPER, 2006, S. 42 unter Bezugnahme auf LUHMANN, 1995). Dieser Aspekt wird im Kap. III ausführlicher dargestellt. Vgl. RAUSCHENBACH (2007), S. 22. Vgl. ebd. Vgl. RAUSCHENBACH (2007), S. 22. Zur Erklärung schreibt RAUSCHENBACH: „Wichtige Einschnitte im Lebenslauf, wie Beginn des formalen Bildungsprozesses, Geschäftsfähigkeit oder Ruhestandwerden durch das Erreichen eines Lebensalters markiert, andere, wie Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder familiale Reproduktion durch Normierung einer Altersspanne. Gleichzeitig werden bestimmte Abläufe für die Lebensführung vorgegeben, beispielsweise eine Reihenfolge für Ausbildung, Partnerwahl und Familiengründung.“ (ebd.). Vgl. ebd.
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3 Wandlungsprozesse
Für die Epoche der „Moderne“ ist mit der Institutionalisierung des Lebenslaufes ein „verbindliches Muster zur Lebenslaufgestaltung entstanden“1. Dieses Muster stellte sich als Normalbiografie dar, legte normativ die lebenslaufbezogenen Übergänge fest und gab den Individuen damit eine Orientierungsgrundlage. Die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse der „Nachmoderne“ haben dieses institutionalisierte Lebenslaufmuster nachhaltig beeinflusst: Es wird an vielen Stellen brüchig2 und verändert sich durch zunehmende Individualisierung und Pluralisierung. Das bedeutet, dass
sich die Übergänge zwischen einzelnen Lebensphasen individueller gestalten, es zur individuellen Verknüpfung einzelner Phasen des Lebenslaufes kommt, die Altersnormierung von Übergängen schwächer wird und es damit zu einer Flexibilisierung der Sequenzierung der einzelnen Lebensphasen kommt3.
RAUSCHENBACH verweist auf die Spannung, die „zwischen institutionellen Vorgaben und individuellen Ansprüchen, zwischen Standardisierung und Individualisierung […]“4 erzeugt wird. Diese verstärkt sich durch die fortschreitenden Individualisierungsprozesse – mit dem Zuwachs an Wahlmöglichkeiten, Entscheidungs- und Handlungsspielräumen bezüglich der eigenen Lebensgestaltung wächst auch der standardisierende und kontrollierende Einfluss gesellschaftlicher „Medien“5, die ULRICH BECK als „sekundäre Institutionen“ bezeichnet6. 1 2
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RAUSCHENBACH (2007), S. 24. Instabile, befristete Arbeitsverhältnisse lösen das dauerhafte Normalarbeitsverhältnis mit seinen Aufstiegsregeln ab; wechselnde Qualifikationsanforderungen führen zu Prozessen lebenslangen Lernens, die Erfordernisse des Arbeitsmarktes führen zu häufigen Ortswechseln und Wochenendpartnerschaften und die geschlechtsspezifische Rollenverteilung der traditionellen Normalbiografie löst sich zusehends auf. Vgl. auch RAUSCHENBACH (2007), S. 26. Er verweist auf die Spannung, die „zwischen institutionellen Vorgaben und individuellen Ansprüchen, zwischen Standardisierung und Individualisierung […]“ erzeugt wird (vgl. ebd., S. 22). Diese verstärkt sich durch die fortschreitenden Individualisierungsprozesse – mit dem Zuwachs an Wahlmöglichkeiten, Entscheidungs- und Handlungsspielräumen bezüglich der eigenen Lebensgestaltung wächst auch der standardisierende und kontrollierende Einfluss gesellschaftlicher „Medien“, die ULRICH BECK als sekundäre Institutionen bezeichnet (vgl. BECK, U., 1986, S. 211). Ebd., S. 22. Vgl. BECK, U. (1986). Als Beispiel führt er die Zwänge des Arbeitsmarktes und der „Konsumexistenz“ an. (vgl. ebd., S. 211 ff.). Vgl. ebd., S. 211. BECK schreibt: „An die Stelle traditionaler Bindungen und Sozialformen (soziale Klasse, Kleinfamilie) treten sekundäre Instanzen und Institutionen, die den Lebenslauf des einzelnen prägen und ihn gegenläufig zu der individuellen Verfügung, die sich als Bewusstseinsform durchsetzt, zum Spielball von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und Märkten machen. So wird gerade die individualisierte Privatexistenz immer nachdrücklicher und offensichtlicher von Verhältnissen und Bedingungen abhängig, die sich ihrem Zugriff vollständig
3.5 Die Umwelten der Wohneinrichtungen im Wandel
147
Die Bewältigung dieser mit dem Wandel der Institution Lebenslauf verbundenen (anwachsenden) Spannung wird dem Individuum zugemutet – der oder die Einzelne selbst wird zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen, d. h. sie müssen als Akteure ihre marktvermittelte Existenzsicherung und ihre Biografieplanung und -organisation selbst verantworten1. Damit kristallisiert sich eine charakteristische Form selbstverantworteter Gestaltung des eigenen biografischen Lebensentwurfs im Zuge von Individualisierungsprozessen heraus2. Da aber mit dieser Ausdifferenzierung der Individuallagen gleichzeitig eine hochgradige Standardisierung verbunden ist, wird gerade die individualisierte Privatexistenz immer nachdrücklicher und offensichtlicher von Verhältnissen und Bedingungen abhängig, die sich ihrem Zugriff vollständig entziehen. Parallel dazu entstehen Konflikt-, Risiko- und Problemlagen, die sich ihrem Ursprung und Zuschnitt nach gegen jede individuelle Bearbeitung sperren3. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Wandel der Institution Lebenslauf in der „Nachmoderne“ neue, hohe Anforderungen an alle Individuen bezüglich der selbstverantworteten Gestaltung ihres Lebensverlaufs stellt, wobei allerdings das „industriegesellschaftliche Lebenslaufregime“4 – ungeachtet aller stattfindenden Veränderungen, Erosionen, Differenzierungen und Segmentierungen – seine zentrale Bedeutung als gesellschaftliche Institution in der Nachmoderne noch nicht eingebüßt hat und bisher auch kein neues Muster an seine Stelle getreten ist5.
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entziehen. Parallel entstehen Konflikt-, Risiko- und Problemlagen, die sich ihrem Ursprung und Zuschnitt nach gegen jede individuelle Bearbeitung sperren.“ (ebd., Hervorhebungen im Original, A. B.). Beispiele dafür sind die Ablösung der dauerhaften Normalarbeitsverhältnisse mit ihren Aufstiegsregeln durch instabile, befristete Arbeitsverhältnisse; die wechselnden Qualifikationsanforderungen, die zu Prozessen lebenslangen Lernens führen; die Erfordernisse des Arbeitsmarktes, die häufige Ortswechseln und Wochenendpartnerschaften erzwingen und die sich auflösende geschlechtsspezifische Rollenverteilung der traditionellen Normalbiografie. In der oben dargestellten postfamilialen Familie können die Individuen dafür nur begrenzt Unterstützung finden, wie ULRICH BECK aufzeigt, da die Familie in der Bundesrepublik als „vorletzte“ Synthese generations- und geschlechtsübergreifender Lebenslagen und Lebensverläufe zerbreche (vgl. BECK, U., 1986, S. 209). Die Individuen müssen die Entscheidungen für ihr Leben selbst treffen und die Konsequenzen aus den getroffenen und im übrigen auch aus den nicht getroffenen Entscheidungen selbst tragen, sie werden ihnen zudem in jedem Fall gesellschaftlich zugeschrieben. Ihre eigene Biografie wird zur von ihnen selbst zu verantwortenden „WahlBiografie“, die sie aus „Bausätzen biographischer Kombinationsmöglichkeiten“ zusammenstellen müssen und die wohl oft die Gestalt einer „Bastel-“ oder „PatchworkBiografie“ annehmen (vgl. BECK, U., 1986, S. 217. Diese „Bausätze“ ergeben sich aus institutionellen und lebensgeschichtlichen Vorgaben.). Vgl. BECK, U. (1986), S. 211. Für ULRICH BECK weisen diese neu entstandenen Individuallagen deshalb das „widersprüchliche Doppelgesicht institutionenabhängiger Individuallagen“ (ebd., Hervorhebung im Original, Anm. A. B.) auf. Vgl. RAUSCHENBACH (2007), S. 26. Vgl. ebd.
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3 Wandlungsprozesse
Für Menschen mit geistiger Behinderung resultiert daraus eine bisher ungewohnte, ganz besonders schwer zu meisternde Herausforderung. Ihre institutionalisierten Lebenslaufmuster sind durch spezifische Merkmale charakterisiert, die ihre Lebenswirklichkeit bestimmen und die – im Vergleich zur Lebenssituation von Menschen ohne Behinderungen – eine zusätzliche Erschwernis der Lebens-gestaltung und -bewältigung bedeuten. Dazu rechnet RAUSCHENBACH1
eine besondere Abhängigkeit von familiären Bindungen2, sozialpolitischen Maßnahmen sowie die Behinderung als zentralen Bezugspunkt der Lebenslaufgestaltung.
Hinzu kommen mögliche Einschränkungen, die aus Abhängigkeiten bei Angewiesensein auf Leistungsangebote des Systems der Behindertenhilfe resultieren. Der Wandel der Institution Lebenslauf in der „Nachmoderne“ stellt deshalb auch an die Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung neue Anforderungen. Sie müssen sich bei der Entwicklung ihrer Leistungsangebote verstärkt darauf konzentrieren, ihren BewohnerInnen die für eine eigenständige, selbstbestimmte Lebensgestaltung unter den nachmodernen Bedingungen des Wandels der Normalbiografien notwendige Unterstützung anzubieten. Diese Fragestellung wird im Abschn. 3.6 aufgegriffen und im Kapitel 4 weiter untersucht. 3.5.2.4 Die Institution „Geistige Behinderung“ im Wandel Das Phänomen „Geistige Behinderung“ lässt sich im Horizont neo-institutionalistischer Theorieansätze als Institution deuten. Wenn im Folgenden von der Institution „Geistige Behinderung“ die Rede sein wird, dann soll damit neben dem (gesellschaftlichen) Verständnis von geistiger Behinderung, seiner Auswirkung auf die Lebenslagen der Betroffenen auch der institutionalisierte Umgang mit Behinderung einschließlich der professionellen Unterstützungsangebote erfasst werden3. 1 2 3
Vgl. RAUSCHENBACH (2007), S. 60-63. Siehe die Ausführungen oben. Der Begriff der „Institution Geistigbehindertsein“ wurde als Terminus 1989 von DIETMUT NIEDECKEN geprägt und in die sonderpädagogische Diskussion eingeführt (vgl. NIEDECKEN, 1989 und 2009). Sie führt dazu aus: „Als ein umfassender Begriff mit psychoanalytischem Hintergrund fasst er all jene Umstände zusammen, die das Leben und Erleben von Menschen mit geistiger Behinderung in Kultur und Gesellschaft bestimmen.[…]. Er beschreibt ein vorgegebenes Regelwerk von diagnostischen Festlegungen, Rollenklischees und Verhaltensanweisungen, innerhalb dessen ein je individuelles Geschick als Naturkatastrophe definiert wird. Auf
3.5 Die Umwelten der Wohneinrichtungen im Wandel
149
Diese Institution „Geistige Behinderung“ entstand im Zuge der Herausbildung moderner industrieller Gesellschaften, nachdem die im Rahmen ständischer Lebensformen durch Herkunft und Zugehörigkeit gesicherte soziale Einbindung von Menschen mit geistiger Behinderung zunehmend brüchig wurde. Mit der beginnenden funktionalen Ausdifferenzierung reagierte die Gesellschaft auf die mit der Behinderung verbundenen Funktionseinschränkungen dieser Personengruppe im Rahmen ihrer Funktionslogik einerseits mit Ausgrenzung1, andererseits auch mit Einbindung, und zwar in das neu entstehende System sozialer Hilfen. Allerdings werden Menschen mit geistiger Behinderung erst dann zur Zielgruppe von Sozialpolitik (und erfahren damit eine Inklusion in das System sozialer Hilfen), wenn die Berechtigung ihrer Ansprüche legitimiert ist2. Die Feststellung einer geistigen Behinderung erfolgt auf Antrag, wobei der Kern dieser Feststellung ein versorgungsärztliches Gutachten3 bildet, auf dessen Basis die sozialrechtliche Anerkennung der Behinderung – und damit auch ihre „Zuschreibung“ – erfolgt. ROHRMANN hebt hervor, dass durch das Anerkennungsverfahren nicht nur amtlich festgestellt würde, dass es sich bei der Behinderung um eine Eigenschaft der Person handele, sondern zugleich auch, welche Auswirkungen diese auf die
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diese Weise wird es in einer dem Denken undurchdringlichen Normalität des „Geistigbehindertseins“ sowie des Umgangs damit institutionell abgesichert.“ NIEDECKEN betrachtet die Institution Geistigbehindertsein aus psychoanalytischer Perspektive und deckt ihre Zwänge auf, die als gesellschaftlich-kulturell institutionalisierte Muster außerhalb subjektiver Verfügung stehen. In dieser gesellschaftlichen Unbewusstheit, so NIEDECKEN, würden die Affekte destruktiv, gerade auch da, wo sie sich als Fürsorge verkleideten. Nur dann könne es gelingen, so sieht es NIEDECKEN, die Zwänge der Institution Geistigbehindertsein – und auch nur punktuell – aufzulösen, wenn das Subjekt seine eigene Beteiligung am destruktiven Geschehen der Institution, seine institutionelle Gegenübertragung anerkennen und Verantwortung dafür übernehmen würde (vgl. NIEDECKEN, 2009, S. 212, 219). Durch das Kriterium der industriellen Arbeitsfähigkeit entsteht ein einfacher und höchstwirksamer Ausgrenzungsmechanismus, so ROHRMANN, der sich als mangelnde Bildungsfähigkeit, mangelnde Rechtsfähigkeit usw. auch auf andere Bereiche übertragen lässt (vgl. ROHRMANN, 2007, S. 35). Um dies durch die entsprechenden Anerkennungs- und Begutachtungsverfahren klären zu können, ist eine sozialrechtliche Definition von Behinderung notwendig, die dem Anspruch genügt, gerichtsfest operationalisierbar zu sein. Die derzeit gültige Definition lautet: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ (vgl. § 2 Abs. 1 SGB IX). Mit einer solch zwingend vorgeschriebenen Verfahrensweise wird der Zusammenhang zwischen Behinderung und medizinischer Diagnose hergestellt. Hieraus resultiert ein Behinderungsbegriff, der auf diejenigen Abweichungen festgelegt ist, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit gesundheitlichen Problemen stehen (vgl. ROHRMANN, 2007, S. 40).
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3 Wandlungsprozesse
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben habe1. Damit würden, so ROHRMANN, die an die Behinderung anknüpfenden Regeln zur Inklusion in Systeme und Organisationen in sehr nachhaltiger Weise legitimiert – leider in einer Weise, die im klaren Gegensatz zur Zielsetzung des Sozialrechtes stehe2,3. Das in modernen Gesellschaften aus sozialpolitischer Sicht entwickelte Verständnis von Behinderung (und damit auch von geistiger Behinderung) lässt sich in Anlehnung an ROHRMANN anhand folgender Merkmale charakterisieren4: 1. 2. 3.
Behinderung wird durch das sozialrechtliche Zuschreibungsverfahren als medizinisch feststellbarer Zustand konstruiert, so dass Behinderung als individuelles und persönliches Attribut erscheint, welches die Individualität der Merkmalsträger konstitutiv begründet und die Zuweisung bestimmter Rollen und Positionen im Ergebnis des Zuschreibungsprozesses legitimiert.
Diese „Konstruktion“ von Behinderung wirkt sich nunmehr unmittelbar auf Inklusions- und Exklusionsvorgänge aus. Im Ergebnis der Modernisierungsprozesse, insbesondere auch verursacht durch die aktuellen Individualisierungsschübe, verändert sich das Verständnis von Behinderung beim Übergang zur nachmodernen Gesellschaft: Die aus der Zuschreibung von Behinderung resultierende Diskrepanz zwischen sozialer Absicherung einerseits und der damit verbundenen Diskriminierung und Stigmatisierung andererseits wird als zunehmend problematisch empfunden. Diese Veränderung im Verständnis von Behinderung als „nachmoderner“ Ausdruck einer neuen, reflexiven Auseinandersetzung mit dem Phänomen Behinderung führt auch zu einem Wandel der Institution „Geistige Behinderung“, die – in Anlehnung an ROHRMANN – durch folgende Entwicklungen charakterisiert sind:
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Vgl. ROHRMANN (2007), S. 39, 40. Vgl. ebd., S. 40. Als Beispiel führt ROHRMANN die Tatsache an, dass eine Person, die in einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung betreut wird, durch das Anerkennungsverfahren zur geistig behinderten Person wird. Als sehr problematisch für die Betroffenen erweist sich eine weitere Auswirkung des sozialrechtlichen Anerkennungsverfahrens: das Kriterium für die Zuschreibung der Behinderung ist seine „Feststellbarkeit“, das von der konkreten Situation abstrahiert, der Behinderung damit einen objektivierenden und generalisierenden Charakter verleiht und auf diese Weise zu einer Verfestigung des Stigmas „Behinderung“ beiträgt. ROHRMANN erörtert diesen Zusammenhang ausführlich unter Bezug auf GOFFMAN (1994) und CLOERKES (2001). (vgl. ROHRMANN, 2007, S. 51). Vgl. ebd. S. 51, 52.
3.5 Die Umwelten der Wohneinrichtungen im Wandel
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die kritische Hinterfragung der Art und Weise der Institutionalisierung der sozialen Unterstützung für Menschen mit Behinderungen, die sich in der modernen Gesellschaft herausgebildet hat1, die Problematisierung des Behinderungsbegriffes in seiner substantivierten Form, die zu einer Änderung der sozialrechtlichen Bezeichnung führte2, die sozialrechtliche Aufnahme eines neuen Ansatzes zum Verständnis von Behinderung als „Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“, die Bemühungen um eine Veränderung der Gesetzgebung mit dem Ziel, nicht nur die Unterstützung und materielle Absicherung von Menschen mit Behinderung zu begründen, sondern auch ihren Anspruch auf grundlegende Anerkennung ihrer Bürgerrechte und ein Verbot ihrer Diskriminierung, ein Diskurs, der darauf abzielt, Behinderung als übergreifendes Merkmal einer Person vollständig aufzugeben und stattdessen den Blick auf ihre individuellen Bedürfnisse zu lenken und die zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz der Forderung nach Selbstbestimmung als grundlegendem Anspruch von Menschen mit Behinderung.
Die beschriebenen Veränderungen der Institution „Geistige Behinderung“, die zu einer Rekonstruktion des Verständnisses von Behinderung und der Stärkung der Rechte der Betroffenen führten, sind Folge gewandelter gesellschaftlich-kultureller Einflüsse. Dabei spielen neben der von NIEDECKEN eingebrachten Sichtweise und den Ergebnissen der Disability Studies im Zeitalter der Globalisierung natürlich auch internationale Einflüsse eine Rolle, auf die im nächsten Abschnitt eingegangen wird. 3.5.2.5 Internationale Entwicklungen: ICF und UN-Behindertenrechtskonvention Es sind insbesondere zwei grundlegende internationale Regelungswerke mit wachsender Bedeutung für die Wohneinrichtungen, die durch die Weltgesundheitsorganisation bzw. die Vereinten Nationen im ersten Jahrzehnt dieses Jahr-
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Die institutionelle Struktur verbleibe allerdings noch in einem Verweisungszusammenhang, in dem Behinderung als ein individuelles, quasi-natürliches Merkmal konstruiert werde, so ROHRMANN (vgl. ebd. S. 85). Mit der Einführung des Sozialgesetzbuches SGB IX wurde die Bezeichnung „Behinderte“ durch die Bezeichnung „behinderte Menschen“ ersetzt. Aus ROHRMANNS Sicht solle damit signalisiert werden, dass es sich bei der festgestellten Behinderung nur um eine im Zusammenhang des Sozialrechts relevante Eigenschaft der Person handele, mit der die Persönlichkeit der anspruchsberechtigten Person jedoch nicht vollständig beschrieben sei (vgl. ROHRMANN, 2007, S. 85).
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3 Wandlungsprozesse
hunderts erarbeitet und verabschiedet wurden: die ICF und die UN-Behindertenrechtskonvention. Sie haben inzwischen längst den Charakter von Institutionen angenommen und gewinnen innerhalb der institutionellen Umwelten der Wohneinrichtungen zunehmend an Einfluss. Die ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit)1 ist ein Klassifikationsinstrumentarium zur Erfassung und Einordnung der funktionalen Gesundheit und ihrer Beeinträchtigungen2. Sie wurde als Nachfolgerin der ICDI (Internationalen Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen von 1980) von der 54. Vollversammlung der WHO im Mai 2001 verabschiedet3. Als Weiterentwickelung von einer „Klassifikation der Krankheitsfolgen“ (wie sie ihre „Vorgängerin“, die ICIDH, darstellte4) zu einer „Klassifikation der Komponenten der Gesundheit“ trägt die ICF bezüglich Aufbau, Inhalt und Intentionen den veränderten Realitäten nachmoderner Gesellschaften angemessen Rechnung5 und ist gleichzeitig bemerkenswerter Ausdruck des Wertewandels im Zuge der Individualisierung. Sie kann weltweit Geltung beanspruchen und ist damit selbst als eindrucksvolles „Produkt“ der Globalisierung zu würdigen. In der Einführung zur ICF wird ein knapper Überblick über dieses Instrumentarium gegeben. Dort heißt es: „Allgemeines Ziel der ICF-Klassifikation ist es, in einheitlicher und standardisierter Form eine Sprache und einen Rahmen zur Beschreibung von Gesundheits- und mit Gesundheit zusammenhängenden Zuständen zur Verfügung zu stellen: Sie definiert Komponenten von Gesundheit und mit Gesundheit zusammenhängende Komponenten von Wohlbefinden (wie Erziehung / Bildung und Arbeit). Deshalb können
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Vgl. DEUTSCHES INSTITUT FÜR MEDIZINISCHE DOKUMENTATION UND INFORMATION, DIMDI (Hrsg.) (2004). Vgl. SCHUNTERMANN (2005), S. 11. Sie gehöre, so SCHUNTERMANN, zu der von der WHO entwickelten „Familie“ von Klassifikationen für die Anwendung auf verschiedene Bereiche der Gesundheit und ergänze insbesondere die Klassifikationen der Krankheiten (ICD). Vgl. SCHUNTERMANN (2005). Die ICIDH basiert auf dem heuristischen Krankheitsfolgemodell von WOOD (vgl. auch LINDMEIER 2002/2003, S. 420). Als Beispiel dafür kann der hohe Stellenwert genannt werden, der den Aktivitäten und der Partizipation [Teilhabe] Betroffener (z. B. Menschen mit Behinderungen) am Leben in der Gesellschaft eingeräumt wird – in „nachmodernen“ Gesellschaften Ansprüche von und gesellschaftliche Anforderungen an Individuen gleichermaßen, die angesichts der Individualisierung der Lebenslagen ein hohes Maß an Eigenaktivität des Individuums erfordern.
3.5 Die Umwelten der Wohneinrichtungen im Wandel
153
die in der ICF enthaltenen Domänen1 als Gesundheitsdomänen und mit Gesundheit zusammenhängende Domänen2 betrachtet werden. Diese Domänen werden unter den Gesichtpunkten des Körpers, des Individuums und der Gesellschaft in zwei Hauptlisten beschrieben: (1) Körperfunktionen und Körperstrukturen sowie (2) Aktivitäten und Partizipation [Teilhabe]3. Als Klassifikation gruppiert die ICF systematisch unterschiedliche Domänen für einen Menschen mit einem bestimmten Gesundheitsproblem (z. B. was ein Mensch mit einer Krankheit oder einer Gesundheitsstörung tatsächlich tut oder tun kann). Funktionsfähigkeit ist ein Oberbegriff, der alle Körperfunktionen und Aktivitäten sowie Partizipation [Teilhabe] umfasst; entsprechend dient Behinderung als Oberbegriff für Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivität und Beeinträchtigung der Partizipation [Teilhabe]. Die ICF listet darüber hinaus Umweltfaktoren auf, die mit den genannten Konstrukten in Wechselwirkung stehen. Auf diese Weise wird es den BenutzerInnen ermöglicht, nützliche Profile der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit eines Menschen für unterschiedliche Domänen darzustellen.“4 (Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.).
Wichtige Termini der ICF sind Funktionsfähigkeit, Behinderung und Wohlbefinden: Während „Funktionsfähigkeit“ als Oberbegriff alle Körperfunktionen und Aktivitäten sowie Partizipation (Teilhabe) umfasst, beschreibt nun „Behinderung“ im Sinne der ICF als Oberbegriff Schädigungen, Beeinträchtigungen der
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Eine Domäne, so die Autoren der ICF, sei eine praktikable und sinnvolle Menge von miteinander im Zusammenhang stehenden physiologischen Funktionen, anatomischen Strukturen, Handlungen, Aufgaben oder Lebensbereichen (vgl. ebd., S. 9). Beispiele für Gesundheitsdomänen sind Sehen, Hören, Gehen, Lernen und sich Erinnern. Beispiele für mit Gesundheit zusammenhängende Domänen sind Transport, Bildung / Ausbildung und soziale Interaktionen. Die Autoren erläutern weiter: „Die Klassifikation bleibt im Kontext der Gesundheit und deckt keine Umstände ab, die nicht mit der Gesundheit im Zusammenhang stehen, wie solche, die von sozioökonomischen Faktoren verursacht werden. Zum Beispiel können Menschen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihres Geschlechtes, ihrer Religion oder anderer sozioökonomischer Sachverhalte an der Ausführung von Aufgaben in ihrer gegenwärtigen, tatsächlichen Umwelt beeinträchtigt werden, aber dies sind keine mit der Gesundheit im Zusammenhang stehenden Beeinträchtigungen der Partizipation [Teilhabe] im Sinne der ICF.“ (ebd., S. 13). In den Erläuterungen zum Hintergrund der ICF wird darauf hingewiesen, dass diese Fachbegriffe, welche die früher verwendeten Begriffe „Schädigung“, „Fähigkeitsstörung“ und „soziale Beeinträchtigung“ ersetzen, die Reichweite der Klassifikation erweiterten und damit auch die Beschreibung positiver Erfahrungen ermöglichen (vgl. DEUTSCHES INSTITUT FÜR MEDIZINISCHE DOKUMENTATION UND INFORMATION, DIMDI, Hrsg., 2004, S. 9.). Ebd.
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3 Wandlungsprozesse
Aktivität und Beeinträchtigung der Partizipation (Teilhabe)1. Wohlbefinden wird dagegen als allgemeiner Begriff verwendet, der die Gesamtheit menschlicher Lebensbereiche, einschließlich physischer, mentaler und sozialer Aspekte umfasst, „[…] die das ausmachen, was ein »gutes Leben« genannt werden kann!“2. Die Klassifikation der ICF ist in zwei Teile gegliedert. Während der eine Teil sich mit Funktionsfähigkeit und Behinderung befasst, bezieht sich der andere Teil auf die so genannten Kontextfaktoren. Dabei hat jeder Teil zwei Komponenten:
Zu der Komponente der Funktionsfähigkeit gehören die Funktionen von Körpersystemen und Körperstrukturen; zur Komponente der Behinderung Aktivitäten und Partizipation [Teilhabe]3, während die Kontextfaktoren einerseits die Komponente der Umweltfaktoren4, andererseits personenbezogene Faktoren5 umfassen.
Zur Veranschaulichung ist in Abb.1 die Wechselwirkung zwischen den einzelnen Komponenten der ICF dargestellt, während Abb. 2 die gesamte Struktur der ICF aufzeigt.
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Im Anhang 1 zur ICF wird definiert: „Funktionsfähigkeit ist ein Oberbegriff für Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten und Partizipation. Sie bezeichnet die positiven Aspekte der Interaktion zwischen einer Person (mit einem Gesundheitsproblem) und ihren Kontextfaktoren (Umwelt- und personbezogenen Faktoren). Behinderung ist ein Oberbegriff für Schädigungen (Funktionsstörungen, Strukturschäden, d. Übers.) Aktivitätseinschränkungen und Beeinträchtigungen der Partizipation [Teilhabe]. Er bezeichnet die negativen Aspekte der Interaktion zwischen einer Person (mit einem Gesundheitsproblem) und ihren Kontextfaktoren (Umwelt- und personbezogenen Faktoren).“ (vgl. DEUTSCHES INSTITUT FÜR MEDIZINISCHE DOKUMENTATION UND INFORMATION, DIMDI, Hrsg., 2004, S. 144, 145.) (Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.). Ebd., S. 143. Als allgemeine Domänen des Wohlbefindens werden z. B. genannt: Erziehung, Bildung, Ausbildung, Beschäftigung, Umwelt. Gesundheitsdomänen des Wohlbefindens sind dagegen Sehen, Sprechen, Sich erinnern usw. (vgl. ebd., S. 144). Diese Komponente umfasst die gesamte Bandbreite von Domänen, die Aspekte der Funktionsfähigkeit aus individueller und gesellschaftlicher Perspektive beschreiben. Diese haben Einfluss auf alle Komponenten der Funktionsfähigkeit und Behinderung und seien, so die Autoren, in der Reihenfolge von der für den Menschen nächsten Umwelt bis zur allgemeinen Umwelt angeordnet (vgl. DEUTSCHES INSTITUT FÜR MEDIZINISCHE DOKUMENTATION UND INFORMATION, DIMDI, Hrsg., 2004, S. 14). Die personenbezogenen Faktoren konnten wegen der mit ihnen einhergehenden großen soziokulturellen Unterschiedlichkeit bisher mittels der ICF nicht klassifiziert werden.
155
3.5 Die Umwelten der Wohneinrichtungen im Wandel
Abbildung 1:
Wechselwirkung zwischen den einzelnen Komponenten der ICF (Quelle: DIMDI1) Gesundheitsproblem (Gesundheitsstörung oder Krankheit)
Körperfunktionen und -strukturen
Umweltfaktoren
Abbildung 2:
Partizipation (Teilhabe)
Aktivitäten
personenbezogene Faktoren
Struktur der ICF (Quelle: DIMDI2) Klassifikation
ICF
Teil 1: Funktionsfähigkeit und Behinderung
Körperfunktionen und -strukturen
Teil 2: Kontextfaktoren
Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe)
Umweltfaktoren
Änderung der Körperfunktionen
Änderung der Körperstrukturen
Leistungs-fähigkeit
Leistung
Förderfaktoren Barrieren
Item-Ebenen 1. 2. 3. & 4.
Item-Ebenen 1. 2. 3. & 4.
Item-Ebenen 1. 2. 3. & 4.
Item-Ebenen 1. 2. 3. & 4.
Item-Ebenen 1. 2. 3. & 4.
Teile
personenbezogene Faktoren Komponenten
Konstrukte/ Beurteilungsmerkmale
Domänen und Kategorien auf den unterschiedlichen Ebenen
Eine nähere Betrachtung der ICF verdeutlicht sofort die Stärken dieses Klassifikationsinstrumentariums:
Es ist außerordentlich differenziert aufgebaut und ermöglicht damit, die unterschiedlichsten Formen und Arten von Behinderungen zu erfassen und zu klassifizieren1,
1
Vgl. DEUTSCHES INSTITUT FÜR MEDIZINISCHE DOKUMENTATION UND INFORMATION, DIMDI (Hrsg.) (2004), S. 23. Vgl. ebd., S. 146.
2
156
3 Wandlungsprozesse
es basiert auf einem modernen, zeitgemäßen „bio-psycho-sozialen“ Verständnis von Behinderung2 und es ist als international gültiges Dokument legitimiert, weltweit Akzeptanz durch unterschiedlichste Interessensgruppen zu beanspruchen3.
Ausschlaggebend für die besondere Bedeutung der ICF ist zweifelsohne das biopsycho-soziale Modell der Funktionsfähigkeit und Behinderung, das ihre Grundlage bildet4. Allerdings ist die ICF auch mit einem entscheidenden Mangel behaftet: Sie kann die personenbezogenen Kontextfaktoren aufgrund der großen sozialen und kulturellen Streuung nicht näher definieren und klassifizieren. Damit lassen sich 1 2 3 4
Nach GERDES & WEIS entfaltet die ICF „>...@ ein riesiges Feld sehr differenziert beschriebener Aktivitäten und ihrer Störungen und damit auch ein gut strukturiertes Feld gezielter therapeutischer Ansatzpunkte in der Rehabilitation.“ (vgl. GERDES & WEIS, 2000, S. 49 ff.). Dieses bio-psycho-soziale Modell, das in Ansätzen bereits der ICIDH zugrunde lag, wurde durch die ICF erheblich erweitert. Dieser Anspruch resultiert aus der Tatsache, dass die ICF in einem mehrjährigen Entwicklungsprozess als internationales Dokument erarbeitet und anschließend von der 54. Vollversammlung der WHO im Mai 2001 verabschiedet und in Kraft gesetzt wurde. Dazu erläutern die Autoren der ICF: „Es wurde eine Vielfalt von Konzepten und Modellen zum Verständnis und zur Erklärung von Funktionsfähigkeit und Behinderung vorgeschlagen. Diese können in einer Dialektik von medizinischem Modell und sozialem Modell ausgedrückt werden Das medizinische Modell betrachtet „Behinderung“ als ein Problem einer Person, welches unmittelbar von einer Krankheit, einem Trauma oder einem anderen Gesundheitsproblem verursacht wird, das der medizinischen Versorgung bedarf, etwa in Form individueller Behandlung durch Fachleute. Das Management von Behinderung zielt auf Heilung, Anpassung oder Verhaltensänderung des Menschen ab. Der zentrale Anknüpfungspunkt ist die medizinische Versorgung und vom politischen Standpunkt aus gesehen, geht es grundsätzlich darum, die Gesundheitspolitik zu ändern oder zu reformieren. Das soziale Modell der Behinderung hingegen betrachtet Behinderung hauptsächlich als ein gesellschaftlich verursachtes Problem und im Wesentlichen als eine Frage der vollen Integration Betroffener in die Gesellschaft. Hierbei ist „Behinderung“ kein Merkmal einer Person, sondern ein komplexes Geflecht von Bedingungen, von denen viele vom gesellschaftlichen Umfeld geschaffen werden. Daher erfordert die Handhabung dieses Problems soziales Handeln, und es gehört zu der gemeinschaftlichen Verantwortung der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, die Umwelt so zu gestalten, wie es für eine volle Partizipation [Teilhabe] der Menschen mit Behinderung an allen Bereichen des sozialen Lebens erforderlich ist. Das zentrale Thema ist daher ein einstellungsbezogenes oder weltanschauliches, welches soziale Veränderungen erfordert. Vom politischen Standpunkt aus gesehen wird dieses Thema zu einer Frage der Menschenrechte. Für dieses Modell ist Behinderung ein politisches Thema. Das Konzept der ICF basiert auf einer Integration dieser beiden gegensätzlichen Modelle. Um die verschiedenen Perspektiven der Funktionsfähigkeit zu integrieren, wird ein „biopsychosozialer“ Ansatz verwendet. Die ICF versucht eine Synthese zu erreichen, die eine kohärente Sicht der verschiedenen Perspektiven von Gesundheit auf biologischer, individueller und sozialer Ebene ermöglicht.“ (DEUTSCHES INSTITUT FÜR MEDIZINISCHE DOKUMENTATION UND INFORMATION, DIMDI, Hrsg., 2004, S. 25. Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.).
3.5 Die Umwelten der Wohneinrichtungen im Wandel
157
mit der ICF die personalen psychischen Ressourcen, die das bedeutendste RehabilitationsPotenzial der Betroffenen darstellen, nicht erfassen1. Die Bedeutung der ICF für die Wohneinrichtungen weist einen funktionalen und einen normativen Aspekt auf: 1.
2.
Sie kann als Klassifikationsinstrument die Vielzahl der bundesweit zum Einsatz gelangenden unterschiedlichen Erfassungsverfahren für den individuellen Hilfebedarf ersetzen, damit eine Vereinheitlichung des Hilfeplanverfahrens ermöglichen und mit ihrem modernen bio-psycho-sozialen Behinderungsbegriff im Rahmen der Neubestimmung der konzeptionellen Arbeit eine handlungsorientierende Funktion übernehmen. Sie verkörpert mit genau diesem Verständnis von Behinderung einen klaren normativen gesellschaftlichen Anspruch – auch gegenüber den Wohneinrichtungen. Dieser Anspruch mit weltweiter Geltung findet seinen Niederschlag ebenfalls in nationalen rechtlichen Regelungen – in der Bundesrepublik z. B. im Sozialgesetzbuch SGB IX und dem Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen BGG2.
Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (im Folgenden UN-Behindertenrechtskonvention genannt) wurde am 13.12.2006 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und zur Ratifizierung freigegeben3. Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates am 21.12.2008 dieses Übereinkommen ratifiziert und als Gesetz verabschiedet4. Die Konvention definiert das Ziel der Rehabilitation völlig neu: Menschen mit Behinderung sollen in die Lage versetzt werden, ein Höchstmaß an Unab1
2 3 4
Vgl. LINDMEIER (2002/2003), S. 223. Da die ICF hauptsächlich für die bessere Einschätzung des Rehabilitationsbedarfes entwickelt worden sei, so LINDMEIER, müsse hier ein Defizit konstatiert werden, das in der Rehabilitationspraxis zu einer geringeren Gewichtung oder gänzlichen Vernachlässigung der in ihrer Bedeutung gar nicht zu überschätzenden personenbezogenen Einflussfaktoren führen könne. Wenn seelisches Gleichgewicht, Motivation und Qualifikation der Rehabilitanden und ihrer Angehörigen, so LINDMEIER weiter, von so entscheidender Bedeutung für den Eigenbeitrag zum Erfolg des Rehabilitationsgeschehens seien, wenn die Mobilisierung der personalen GesundheitsPotenziale von Menschen mit Behinderungen entscheidend zur Effektivität der Rehabilitation beitrügen, dann sollte der personalen Identität und Integrität und der Wiederherstellung der physischen, psychischen und sozialen Selbstregulierungsfähigkeiten geschädigter und in Aktivitäts- und Partizipationssituationen eingeschränkter Personen zukünftig bei allen Rehabilitationsmaßnahmen wesentlich mehr Bedeutung beigemessen werden (vgl. LINDMEIER, 2002/2003, S. 3). Vgl. SCHUNTERMANN (2005), S. 11. Vgl. BIELEFELDT (2009), S. 4. Vgl. BUNDESGESETZBLATT Jg. 2008 Teil II Nr. 35, ausgegeben zu Bonn am 31.12.2008, S. 1419 ff.
158
3 Wandlungsprozesse
hängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren1. BIELEFELDT setzt sich in seinem Essay mit der UN-Behindertenrechtskonvention intensiv auseinander und würdigt insbesondere folgende Aspekte der Konvention:
1 2 3 4 5 6
7
Sie signalisiere die Abkehr von einer Behindertenpolitik, die primär auf Fürsorge und Ausgleich vermeintlicher Defizite abziele, so BIELEFELDT, und mache deutlich, dass die Anerkennung von Behinderung als Bestandteil menschlichen Lebens und Zusammenlebens zu einer Humanisierung der Gesellschaft beitrage2. Sie bekräftige den inneren Zusammenhang zwischen der „Anerkennung der inhärenten Würde“ und den „gleichen und unveräußerlichen Rechten aller Mitglieder der menschlichen Familie“3. Sie orientiere darauf, gesellschaftliche Strukturen, die es Menschen mit Behinderungen erschwerten, ein Bewusstsein eigener Würde zu entwickeln und aufrechtzuerhalten, mit rechtlichen Mitteln systematisch zu überwinden und eine gleichberechtigte Teilhabe der Betroffenen an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu gewährleisten4. Ihr liege ein Verständnis von Behinderung zugrunde, „[…] in dem diese keineswegs von vornherein negativ gesehen, sondern als normaler Bestandteil menschlichen Lebens und menschlicher Gesellschaft ausdrücklich bejaht und darüber hinaus als Quelle möglicher kultureller Bereicherung wertgeschätzt wird (»diversity-Ansatz«).“5 Komplementär dazu fließe in die Konvention allerdings ein soziales Verständnis ein, das Behinderung als gesellschaftliche Konstruktion verstehe6,7.
Vgl. Art. 26 der UN-Behindertenrechtskonvention (vgl. BUNDESGESETZBLATT Jg. 2008 Teil II Nr. 35, S. 1439). Vgl. BIELEFELDT (2009), S. 4. Vgl. ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 6. Ebd. BIELEFELDT schreibt dazu: „Ausdrücklich problemorientiert ist bereits die Definition von Behinderung in der Präambel. Das Problem – oder, wenn man so will: das »Defizit« – wird dabei allerdings nicht in den betroffenen Menschen verortet, sondern im ausgrenzenden und diskriminierenden gesellschaftlichen Umgang gesehen, den diese Menschen vielfach erleben.“ (ebd., S. 8. Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.). Zwischen diesen beiden Aspekten des Verständnisses von Behinderung, wie es in der Konvention formuliert sei – der positiv konnotierten diversity-Komponente und der kritischen Aufdeckung gesellschaftlicher Konstruktion von Behinderung – bestehe, so BIELEFELDT, eine gewis-
3.5 Die Umwelten der Wohneinrichtungen im Wandel
159
Sie verbindet Würde, Autonomie, Unabhängigkeit und Zugehörigkeitsgefühl des Menschen miteinander und vertritt die Konzeption einer freiheitlichen sozialen Inklusion – für sie gehören „[…] individuelle Autonomie und soziale Inklusion unauflöslich zusammen“1.
Die UN-Behindertenrechtskonvention anerkennt und würdigt ausdrücklich den „wertvollen Beitrag“2, den Menschen mit Behinderungen „zum allgemeinen Wohl und zur Vielfalt ihrer Gemeinschaften leisten und leisten können“3, hebt die Bedeutung uneingeschränkter Teilhabe für die Verstärkung ihres Zugehörigkeitsgefühls hervor und sieht darin eine Voraussetzung, die „[…] zu erheblichen Fortschritten in der menschlichen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft und bei der Beseitigung der Armut führen wird.“4
Damit wird das „Anderssein“ von Behinderung durch die UN-Behindertenrechts- konvention als Ausdruck und Teil der Vielfalt menschlichen Lebens gewertet und dadurch gleichzeitig wertgeschätzt. Sie regelt eine Reihe wichtiger Rechte für Menschen mit Behinderungen und stellt Forderungen zu ihrer Durchsetzung auf. Die der Konvention zugrunde liegende zentrale Leitidee ist die Vision einer inklusiven Gesellschaft, die die Individualität und Vielfalt der Menschen anerkennt und wertschätzt, sich ihnen mit ihren Strukturen anpasst und behinderte Menschen mit ihren Bedürfnissen ohne Ausgrenzung einbezieht5. So verstanden, wird Inklusion zu einer Zielperspektive, die nicht vorrangig die Selbstbestimmung und Teilhabe einzelner Personen, sondern die Gesellschaft insgesamt im Blick hat und sich mit der Fragestellung auseinandersetzt, wie die Gemeinwesen der Zukunft zu gestalten sind, damit sie die Einbeziehung aller in ihnen lebenden Menschen leisten können6.
1
2 3 4 5 6
se Spannung. Für das menschenrechtliche Empowerment der Betroffenen seien jedoch beide Aspekte unverzichtbar (vgl. ebd., S. 9). Ebd., S. 10, 11. Erst in der wechselseitigen Verwiesenheit werde klar, so BIELEFELDT, dass Autonomie gerade nicht die Selbstmächtigkeit des ganz auf sich gestellten Einzelnen meine, sondern auf selbstbestimmtes Leben in sozialen Bezügen ziele; und im Gegenzug werde deutlich, dass soziale Inklusion ihre Qualität gerade dadurch gewinne, dass sie Raum und Rückhalt für persönliche Lebensgestaltung biete (vgl. ebd., S. 11. Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.). Präambel m (BUNDESGESETZBLATT Jg. 2008 Teil II Nr. 35 vom 31.12.2008, S. 1421). Ebd. Ebd. vgl. auch BIELEFELDT (2009), S. 11. Vgl. auch Sozialbericht März 2009 des SoVD. Vgl. Positionspapier der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (2009), S. 3.
160
3 Wandlungsprozesse
3.6 Neubestimmung: Struktur- und Funktionswandel von Wohneinrichtungen In den vorangegangenen Abschnitten wurde dargestellt, in welcher Weise die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte zu einem Wandel der institutionellen Umwelten der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung geführt haben und welche neuen Anforderungen und Erwartungen damit verbunden sind. Neo-institutionalistische Ansätze zeigen, dass sich Organisationen in gewissem Umfang an Umweltveränderungen anpassen und dabei Gemeinsamkeiten entwickeln. Auch bei Wohneinrichtungen lassen sich Übereinstimmungen zwischen ihren Anpassungsreaktionen beobachten, die zu identischen Strukturen der Wohneinrichtungen im organisationalen Streben nach Kompatibilität mit der Umwelt führen. Neo-institutionalistische Ansätze sprechen in solchen Fällen von Homogenisierung oder Isomorphismus1. Andererseits sind aber auch Heterogenitäten feststellbar, die auf Handlungsoptionen der Akteure zurückzuführen sind, die neo-institutionalistische Ansätze als „Entkopplung“ beschreiben. Dabei handelt es sich um Reaktionen auf institutionellen Druck, die nur vorspiegeln, dass die von außen an die Organisation herangetragenen Erwartungen erfüllt werden2. Allerdings können die Wohneinrichtungen weder durch die Mechanismen der Isomorphie noch durch die von ihren Akteuren eingesetzten Entkoppelungsstrategien dem rasanten gesellschaftlichen Wandel und den daraus resultierenden grundlegenden Veränderungen der Umweltanforderungen gerecht werden. In der Folge kommt es zu Nicht-Kompatibilitäten zwischen den Wohneinrichtungen und ihren Umwelten, die dadurch verschärft werden, dass sich die Wohneinrichtungen stets gleichzeitig zwischen Umwelten bewegen müssen, deren Dimensionen (technische, institutionell-regulative, institutionell-normative) unterschiedliche, teilweise differente und konfliktäre Anforderungen aufweisen. Da Wohneinrichtungen in ihren herkömmlichen Formen diesen neuen, miteinander konfligierenden Umweltanforderungen nicht entsprechen können, geraten sie in eine Legitimationskrise.
1
2
Vgl. NEUMANN (2005), S. 85. Isomorphismus, so NEUMANN, charakterisiere die Anpassung spezifischer organisationaler Strukturen in Richtung einer zunehmenden Kompatibilität mit charakteristischen Merkmalen oder Anforderungen der Umwelt. Im Kontext der neoinstitutionalistischen Forschungsperspektive würden die drei isomorphistischen Mechanismen Zwang, Imitation und gemeinsame Normen unterschieden (vgl. ebd.). In der Folge obliege den Organisationen in diesen Fällen, so NEUMANN, die kontinuierliche Aufrechterhaltung einer Illusion, da ansonsten das Legitimitätsgebäude nicht gewahrt werden könne (vgl. NEUMANN, 2005, S. 104).
3.6 Neubestimmung: Struktur- und Funktionswandel von Wohneinrichtungen
161
Um diese Legitimationskrise überwinden zu können, ist eine umfassende Neubestimmung der Funktion von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und ihrer strukturellen Faktoren im Sinne einer grundlegenden Re-Institutionalisierung dieser Organisationen unumgänglich. Ausgehend von der makro- und mikrosoziologischen Perspektive neo-institutionalistischer Ansätze sollen im Folgenden die Möglichkeiten untersucht werden, welche sich diesen Organisationen durch eine funktionale und strukturelle Umgestaltung sowie eine grundlegende Veränderung der Ausrichtung ihrer fachlich-inhaltlichen Arbeit eröffnen, um auf die veränderten Anforderungen durch ihre technischen und institutionellen Umwelten positiv reagieren und dadurch ihre Legitimationskrise überwinden zu können. Dabei geht es einerseits um eine institutionelle Anpassung der Wohneinrichtungen als organisationale Reaktion auf Kontextveränderungen an die sich wandelnden Normen, Werte und Regeln ihrer Umwelten im Sinn der erneuten Aneignung konformer Verhaltensweisen mit dem Ziel der Wiedererlangung des Legitimitätszuspruchs für ihre Existenz. Andrerseits gilt es, auch die Rolle der internen Leistungsträger bei der aktiven Umgestaltung der Organisationen in Abhängigkeit von ihrer Beeinflussung durch den gesellschaftlichen Wandel zu berücksichtigen. Dabei kommt vor allem ihren kognitiven Prozessen der Wahrnehmung, Deutung und Bewertung vor dem Hintergrund der organisationsintern wirksamen Sozial- und Wertestrukturen eine herausragende Bedeutung zu. Die Veränderungen der Strukturen und Prozesse durch die internen Akteure der Organisationen weisen dann im Gegensatz zu den Aspekten der Anpassung eher Strategien der Transformation und Entkopplung sowie der bewussten Einflussnahme auf die Umwelten durch die Wohneinrichtungen auf. Ein erfolgreicher Vermittlungsprozess zwischen beiden Einflussfaktoren einerseits sowie die Bewältigung der durch widersprüchliche Umweltanforderungen erzeugten Spannungsfelder andererseits bildet die Grundlage einer gelingenden Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen, die dem Wandel der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gerecht wird und die Zukunftsfähigkeit dieser Organisationen sichert. 3.6.1 Organisationale Reaktionen der Wohneinrichtungen auf den Wandel der technischen Umwelten Der Wandel der technischen Umwelten mit der Folge zunehmender De-regulierung und Liberalisierung1 löste in der Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts einen erheblichen Veränderungsdruck auf die Strukturen und Pro1
Vgl. dazu Abschn. 3.5.1.
162
3 Wandlungsprozesse
zessabläufe der Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung aus. Im Mittelpunkt standen dabei
die stetige Erhöhung der Effektivität der Leistungserbringung und die Sicherung ihre Konkurrenzfähigkeit
auf dem sich herausbildenden sozialen Markt. Die Wohneinrichtungen, die sich aufgrund ihrer völligen Abhängigkeit von den finanziellen Transferzahlungen durch die Kostenträger dieser massiven Ökonomisierung nicht entziehen konnten, reagierten darauf mit einer entsprechenden organisationalen Anpassung1 – sowohl mit Mechanismen der Isomorphie als auch der Entkopplung. Zur ersteren rechnen
die Übernahme von Managementinstrumentarien aus dem Bereich der Wirtschaft (z. B. Balance Scorecard, TQM, Durchführung von Benchmarks u. a.), die Einführung von Qualitätsmanagementsystemen und -instrumentarien, die teilweise ebenfalls aus Wirtschaft und Industrie übernommen wurden (z. B. DIN ISO 9001-2000, EFQM, Strukturierte Qualitätsberichte, LEWO II u. a.), die Optimierung betriebswirtschaftlicher Abläufe durch Einführung spezieller EDV-Programme für die Finanzbuchhaltung und Personalkostenrechnung sowie des Controllings als Steuerungsinstrumentarium, eine Schwerpunktverschiebung innerhalb der Öffentlichkeitsarbeit in Richtung Marketing und die Pflege eines offensiven Fundraisingstils zur Steigerung der Einnahmen aus Spendenmitteln.
Die von den Leistungsträgern der Organisationen in Abhängigkeit von den jeweils geltenden normativen Grundlagen und Präferenzen entwickelten Entkoppelungsstrategien unterscheiden sich bezüglich ihrer Schwerpunktsetzungen und ihrer Zielrichtung z. T. deutlich. Dazu gehören z. B. 1
die systematische Erhöhung der Platzkapazitäten der Wohneinrichtungen, die „Verdichtung“ der Anzahl der Wohnplätze innerhalb der Wohnstätten, insbesondere bei Neubauten bzw. der Entwicklung neuer Wohnprojekte, die Umorientierung auf finanziell „lukrative“ Zielgruppen und Vgl. dazu die Begriffsbestimmung im Abschn. 2.2. Um den Fortbestand ihrer Existenz zu sichern, mussten die Wohneinrichtungen die (überdies im damaligen § 75 BSHG gesetzlich geregelten) neuen Modalitäten ihrer Finanzierung akzeptieren und sich diesen affirmativ anpassen.
3.6 Neubestimmung: Struktur- und Funktionswandel von Wohneinrichtungen
163
die aggressive Akquise von BewohnerInnen zur möglichst hundertprozentigen Auslastung der Platzkapazitäten.
Weitere Strategien zielen auf die Beschränkung bzw. Reduzierung der laufenden Ausgaben, wobei den Personalkosten als größtem Posten mit einem Anteil von etwa 70 – 95 % eine besondere Bedeutung zukommt. Kostensenkungen in diesem Bereich werden vor allem über das systematische Nichtbesetzen verhandelter Personalstellen, eine verzögerte Nachbesetzung freigewordener Personalstellen, Ausstieg aus Tarifen bzw. verzögerte Weitergabe tariflich vereinbarter Gehaltssteigerungen und die Absenkung der Fachkraftquote durch Einstellung gering vergüteter Hilfskräfte erzielt. Mit diesen Entkoppelungsstrategien reagieren die Wohneinrichtungen auf die zunehmenden Spannungsfelder, die sich durch Formen der „verstärkten Regulierung“ zu ihren technischen Umwelten aufbauen. Um ihren Ressourcenzufluss zu sichern, müssen die Wohneinrichtungen die staatlichen Vorgaben und Regelungen sowie die abgeschlossenen Leistungsverträge einhalten, die durch die Kostenträger und andere aufsichtsführende Behörden (z. B. Heimaufsicht) kontrolliert werden. Das bezieht sich nicht nur auf die Umsetzung der in den Leistungsvereinbarungen dargestellten Leistungsangebote, sondern auch auf die Stellenpläne und die Gestaltung der Dienstpläne der Wohneinrichtungen. Auch die Erweiterung der Platzkapazitäten, die Entwicklung von Leistungsangeboten für neue Zielgruppen1 und die Schaffung neuer Wohnangebote werden z. T. außerordentlich restriktiv reguliert2. Außerdem verknüpfen Kostenträger ihre (zeitlich befristeten) Kostenzusagen zunehmend mit Erfolgs- und Ergebniskontrollen. Damit werden die Hilfeplanung, die Dokumentation der durchgeführten Fördermaßnahmen und das Berichtswesen zunehmend verfremdet und ökonomisch instrumentalisiert. Für die Akteure und Leistungsträger der Wohneinrichtungen stellen diese gegenläufigen Anforderungen ein derzeit nicht bewältigtes, einrichtungsgefährdendes Legitimationsrisiko dar.
1 2
Z. B. Menschen mit geistiger Behinderung und Suchtproblemen. Dabei stellt sich die Situation von Bundesland zu Bundesland allerdings ganz unterschiedlich dar.
164
3 Wandlungsprozesse
3.6.2 Organisationale Reaktionen der Wohneinrichtungen auf den Wandel der institutionellen Umwelten Während die Anpassungsreaktionen der Wohneinrichtungen an die veränderten technischen Umwelten aufgrund der unmittelbaren finanziellen Abhängigkeit von deren Institutionen inzwischen weiter fortgeschritten sind, lässt sich dies in Bezug auf die institutionellen Umwelten in gleicher Weise nicht feststellen – sieht man von den sozialrechtlichen Regelungen ab, die sich unmittelbar auf den Bereich der Refinanzierung beziehen, direkt mit den technischen Umwelten verbunden sind und sich dem institutionell-regulativen Bereich1 institutioneller Umwelten zuordnen lassen. Anpassungsleistungen der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung als Reaktion auf den Wandel des normativ-kulturellen Bereichs der institutionellen Umwelten stehen dagegen noch weitgehendst aus; sie sind allenfalls punktuell und in ersten Ansätzen beobachtbar. Gerade dieser Bereich ist aber von hoher Relevanz für die Legitimation der Organisationen durch die institutionellen Umwelten. Eine Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen, ihrer Strukturen und Verfahrensweisen muss deshalb insbesondere diesen Aspekt aufgreifen, sich mit den erforderlichen Anpassungsreaktionen und aktiven Umgestaltungsleistungen auseinandersetzen und Strategien zur Wiedererlangung des Legitimitätszuspruchs durch die institutionellen Umwelten aufzeigen. Im Folgenden sollen anhand des im Abschn. 3.6 dargestellten Wandels der Institutionen „Lebenslauf“, „Geistige Behinderung“ und „Soziale Arbeit“ Schwerpunkte einer Neubestimmung der Funktion von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung skizziert werden. 3.6.2.1 Lebenslauf In der Vergangenheit bestand die Funktion der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung im Wesentlichen in der Unterbringung, Versorgung, Förderung und im Bedarfsfall auch Pflege (insbesondere bei hohem Hilfebedarf), in der Bereitstellung eines therapeutischen Settings (bei ausgeprägten Formen abweichenden Verhaltens) und in assistierender Unterstützung beim Wohnen (bei geringem Hilfebedarf und ambulanten Wohnformen). Die Leistungen wurden – abgesehen von einzelnen individuellen Fördermaßnahmen – überwiegend institutionszentriert und kaum personorientiert erbracht. 1
Siehe Abschn.2.2.
3.6 Neubestimmung: Struktur- und Funktionswandel von Wohneinrichtungen
165
Inzwischen ist im Zuge der Individualisierung auch der Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung von der Herausbildung institutionalisierter Lebenslaufmuster unmittelbar betroffen. Unter diesem Aspekt ist deshalb eine Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen erforderlich, die ihren BewohnerInnen die notwendige Unterstützung zur Bewältigung der völlig neuen Offenheit der Lebensgestaltung, der Entwicklung eines individuellen Lebensstils und der Konstruktion einer eigenen, selbst gewählten und selbst verantworteten Biografie anbieten müssen. Daraus resultierend sind ganz neue Leistungsangebote für die BewohnerInnen mit folgenden Schwerpunktsetzungen zu entwickeln:
Hilfestellung bei der Herauslösung aus den traditionalen Mustern der Abhängigkeit, den traditionsbestimmten Lebensformen und den vorgegebenen Rollenmustern sowohl im familiären Bereich als auch im Setting der Wohneinrichtung selbst, Hilfestellung beim Entwurf, der Planung und Umsetzung der eigenen Wahlbiografie (weitgehendst ohne die Möglichkeit einer Orientierung an biografischen Standardverläufen) sowie der eigenständigen und teilweise immer wieder erneuten Erarbeitung aller wesentlichen Aspekte ihrer Lebensgestaltung (wie z. B. des Wohnens nach eigenen Vorstellungen, der Teilhabe am Arbeitsleben, der Freizeitgestaltung, der Nutzung von Bildungsangeboten, der Gestaltung von Freundschaften und Partnerbeziehungen und der Pflege familiärer Beziehungen), Hilfestellung beim bisher ungewohnten „Wählen-Können“ (erfolgreiche Bewältigung der erweiterten Optionsspielräume) und „Wählen-Müssen“ (Entwicklung aktiver Eigenleistungen im Umgang mit Entscheidungszwängen) aus dem Angebot der vielen neuen Optionen der Lebensgestaltung, Hilfestellung bei der individuellen Planung und Umsetzung bezüglich der Deutung und der Art und Weise der Gestaltung ihrer Inklusion in Funktionssysteme (unter Berücksichtigung persönlicher Präferenzen sowie strategischer Gesichtspunkte), Hilfestellung bei der Auseinandersetzung mit den neuen Rigiditäten und Identitätszwängen, die sich gleichzeitig mit den Entfaltungsmöglichkeiten für Lebenssouveränität etabliert haben (z. B. der Geltendmachung von Leistungsansprüchen gegenüber Kostenträgern und bei der Gestaltung lebensphasenspezifischer Übergänge) und Hilfestellung bei der Gewinnung sinnstiftender und haltgebender Inhalte, Normen, Werte und gemeinschaftlich geteilter Lebensorientierungen.
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3 Wandlungsprozesse
Zusammenfassend kann die aus dem Wandel der institutionalisierten Lebensverläufe in der Nachmoderne resultierende neue Funktion der Wohneinrichtungen als Form institutioneller Unterstützung für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung bei der selbstverantworteten Gestaltung des eigenen biografischen Lebensentwurfs unter Berücksichtigung der aktuellen Individualisierungsprozesse bezeichnet werden. Im Mittelpunkt dieser Gestaltungsaufgabe stehen lebenslange Bildungsprozesse zur Entwicklung der eigenen Identität. Dabei gilt es insbesondere, die zusätzlichen Erschwernisse, denen dieser Personenkreis bei der Lebensgestaltung und -bewältigung ausgesetzt ist, sowie ihre eingeschränkte Ressourcenlage ausreichend zu berücksichtigen. 3.6.2.2 Geistige Behinderung Ausgangspunkt einer Neubestimmung der Funktion von Wohneinrichtungen als notwendige Reaktion auf den beschriebenen Wandel der Institution „Geistige Behinderung“ ist die grundlegende Rekonstruktion des Verständnisses von geistiger Behinderung. Diese muss vor allem
dem neuen Verständnis von Behinderung in Übereinstimmung mit der ICF als bio-psycho-sozialem Phänomen sowie dem Anspruch von Menschen mit Behinderungen auf grundlegende Anerkennung ihrer Freiheits- und Bürgerrechte im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention
Rechnung tragen. Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung haben diese beiden Aspekten bisher bestenfalls in ihrer Programmatik gewürdigt, sind aber im Alltag zumeist weit davon entfernt, ihre Leistungsangebote konsequent daraufhin auszurichten. Dies wäre allerdings notwendig und würde z. B. bedeuten, die bisherigen Förderangebote, die sich einseitig auf den Erwerb bestimmter Fertigkeiten und Fähigkeiten beziehen, durch Bildungsangebote zu ergänzen bzw. sogar teilweise zu ersetzen, die konsequent auf die Verbesserung der Teilhabechancen der BewohnerInnen ausgerichtet sind. Dazu müssten die Konzeptionen der bisherigen Leistungsangebote inhaltlich und methodisch-didaktisch völlig überarbeitet und neu formuliert werden. Voraussetzung für eine praktische Anerkennung der Bürgerrechte der BewohnerInnen der Wohneinrichtungen mit all ihren daraus resultierenden Konsequenzen wäre zudem eine kritische Neubestimmung des professionellen Selbst-
3.6 Neubestimmung: Struktur- und Funktionswandel von Wohneinrichtungen
167
verständnisses der Akteure und Leistungsträger der Wohneinrichtungen und daran anschließend eine grundlegende Veränderung des Rollenverständnisses und verhaltens der MitarbeiterInnen und BewohnerInnen. Die beiden Personengruppen müssten dazu allerdings zunächst befähigt werden. Innerhalb der Wohneinrichtungen sollten Räume für Diskurse geschaffen werden, in deren Rahmen die Art und Weise der Institutionalisierung1 der sozialen Unterstützung für Menschen mit Behinderungen kritisch thematisiert und das Einüben des o. g. Rollenverhaltens gemeinsam geübt wird. Ein Ernstnehmen der Zielperspektive der Teilhabe und der Rechte-Perspektive von Menschen mit geistiger Behinderung bedeutet allerdings auch, die bestehenden Wohnangebote und geplanten Wohnkonzeptionen kritisch zu hinterfragen. Standorte und Lage von Wohnstätten, ihre Zugänglichkeit, Größe, Architektur, ihre räumlichen Strukturen sowie die infrastrukturelle und verkehrstechnische Anbindung sind konsequent unter dem Gesichtspunkt der Gemeinwesen- und Sozialraumorientierung zu beurteilen und so zu entwickeln, dass sie ihren BewohnerInnen die Zugänglichkeit zum umgebenden kommunalen Umfeld nicht nur ermöglichen, sondern leicht machen. Gleiches gilt selbstverständlich auch für alle Formen von Außenwohngruppen sowie des ambulant unterstützten, begleiteten und betreuten Wohnens in Gruppen, Partnerschaften oder auch als Single. Damit geben Wohneinrichtungen ihren räumlich-institutionellen Charakter als Schon- und Schutzräume für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung in der herkömmlichen Form ganz bewusst auf, verändern sich zu „EnablingRäumen“, schaffen Anerkennungsverhältnisse2 und die erforderlichen „Wohnvoraussetzungen“, um ihren BewohnerInnen den selbstbestimmten und selbstgestalteten, entsprechend den individuellen Voraussetzungen selbständigen Zugang hinein in das umgebende kommunale Gemeinwesen zu ermöglichen. Damit sind allerdings auch Fragen
1 2
der Inklusion und Exklusion der BewohnerInnen der Wohnstätten in die Funktionalsysteme des umgebenden Sozialraumes, des Umgangs der Gesellschaft mit der Andersartigkeit von Menschen und ihren Hilfe- und Unterstützungsbedarfen einschließlich der noch immer (zumindest rudimentär) vorhandenen Hilflosigkeit, Hemmnisse, Ängste und Abwehrreaktionen gegenüber Behinderung sowie
Dabei sollten vor allem die Interessenslagen, Wertevorstellungen und Präferenzen der Betroffenen ganz offen thematisiert werden. Vgl. dazu Abschn. 4.1.
168
3 Wandlungsprozesse
der berechtigten Schutzbedürfnisse der Menschen mit geistiger Behinderung neu zu formulieren und – gemeinsam mit den Betroffenen – zu beantworten.
Die Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen mit dieser Schwerpunktsetzung führt unausweichlich zu einer Erweiterung und Veränderung des bisherigen Aufgabenspektrums. In diesem Zusammenhang gelangt mit der Sozialen Arbeit eine weitere wichtige Institution institutioneller Umwelten von Wohneinrichtungen in den Blick, deren beeindruckende Entwicklung in den letzten Jahrzehnten im Sinne einer Entgrenzung im Abschn. 3.5 dargestellt wurde. 3.6.2.3 Soziale Arbeit Als wichtiger Bestandteil der institutionellen Umwelten der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung hat Soziale Arbeit diese bereits in der Vergangenheit in gewisser, allerdings eher nachrangiger Weise beeinflusst. Mit dem Wandel der Rahmenbedingungen nachmoderner Gesellschaften und der Veränderung des Aufgabenprofils Sozialer Arbeit im Sinne einer Entgrenzung kommt es auch zu einer schrittweisen Annäherung an den Bereich der Behindertenhilfe1. Die Bedeutung dieser Institution für die Wohneinrichtungen nimmt dadurch deutlich zu und erfährt eine zusätzliche Verstärkung durch die Wandlungsprozesse der oben beschriebenen Institutionen der institutionellen Umwelten der Wohneinrichtungen2. Eine Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen im dargestellten Sinne einer grundsätzlichen Öffnung in Richtung Gesellschaft führt darüber hinaus geradezu zwangsläufig zu einer weiteren Annäherung und Anpassung: Diese Auflösung des herkömmlichen „Schutz- und Schonraumsettings“ der Wohneinrichtungen bedeutet in letzter Konsequenz ein (wenn auch behutsames, schrittweises, in besonderen Fällen zunächst nur teilweises) „Entlassen“ der BewohnerInnen in die Gesellschaft – auch wenn sie dabei BewohnerInnen der Wohneinrichtungen bleiben3. 1 2
3
Vgl. z. B. SPECK & MARTIN (1990). Die Anerkennung von Personalstellen für SozialarbeiterInnen in Wohnstätten für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung durch den Berliner Senat (siehe Beschluss der Kommission 93 sowie Berliner Rahmenvertrag gem. § 79 Abs.1 SGB XII vom 01.01.2005) kann dafür als Indiz gewertet werden. Die damit verbundene Öffnung der Wohneinrichtungen gegenüber ihrer Umwelt führt auch zu einer Erweiterung ihres Verantwortungsbereichs im Sinne einer Mitgestaltung des Gemeinwesens, dem sie angehören.
3.6 Neubestimmung: Struktur- und Funktionswandel von Wohneinrichtungen
169
Das macht es gleichzeitig erforderlich – ähnlich wie dies Soziale Arbeit inzwischen für breite Bevölkerungsschichten leistet – verstärkt auf die Belange dieses Personenkreises speziell abgestimmte institutionalisierte soziale Hilfen, Beratung, Information und Begleitung in das Gemeinwesen hinein zu entwickeln, um den Betroffenen damit bei der risikoreichen Bewältigung der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung in den unterschiedlichen Situationen und Lebenslagen die notwendige Unterstützung anbieten zu können. Das heißt insbesondere, die betroffenen erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung dabei zu unterstützen, ihre sozialen Handlungsspielräume zu erweitern, die zur Lebensbewältigung erforderlichen individuellen sozialen und psychosozialen Ressourcen zu entwickeln sowie die für eine eigenständige Lebensgestaltung notwendigen Kompetenzen zu erwerben. Gleichzeitig sind gemeinsam mit ihnen verstärkt die unterschiedlichsten, ihnen entsprechenden Teilhabemöglichkeiten zu erschließen und Angebote zu entwickeln, die sie zu ihrer Nutzung befähigen. In Anlehnung an THIERSCH1 ließe sich zusammenfassend postulieren, dass die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse zu einer Neuformierung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung durch eine Akzentverschiebung in Richtung Sozialpädagogik herausfordern. Diese „lebensweltorientierten“ sozialpädagogischen Leistungen sollten angesichts einer Verkomplizierung des Lebens in Folge von Pluralisierung und Individualisierung der Lebensverhältnisse „Hilfen zur Bewältigung der Normalität“2 für diesen Personenkreis bieten. Dazu gehörten – THIERSCH weiter folgend –
die Hilfe und Unterstützung in sozialen und psychisch-individuellen Problemen, die aufklärende und unterstützende Bearbeitung sozialer und individueller Alltags- und Lebensprobleme sowie die Organisation von Ressourcen unterschiedlichster Art.
Diese Aufnahme sozialpädagogischer Leistungen stellt eine Erweiterung der Angebote der Wohneinrichtungen dar und verändert sowohl ihr Leistungsspektrum als auch ihr Leistungsprofil. Sie erfordert eine konzeptionelle Einordnung in die Arbeit der Wohneinrichtungen im Sinne der Gemeinsamkeiten mit und der Abgrenzung zu den anderen Angeboten der Bildung, Versorgung, Betreuung und Pflege. 1 2
Vgl. THIERSCH (2002), S. 127 ff. THIERSCH (2002), S. 134 ff.
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3 Wandlungsprozesse
3.7 Fazit In Folge der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse beim Übergang von der Moderne zur Nachmoderne verändern sich auch die technischen und institutionellen Umwelten der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung nachhaltig. Um die dadurch ausgelöste Legitimationskrise dieser Organisationen zu überwinden und sich erneut den gesellschaftlichen Legitimationszuspruch zu sichern, müssen die Wohneinrichtungen mit umfassenden Anpassungsleistungen reagieren. Im Verständnis neo-institutioneller Theorieansätze bestehen diese Anpassungsleistungen in Prozessen der Übernahme und Implementation der neuen Normen, Werte und Regeln aus den sich verändernden Umwelten in die eigenen Strukturen und Verfahrensweisen der Organisation, die durch die kognitiven Prozesse des Wahrnehmens, Deutens und Bewertens der Akteure entscheidend beeinflusst werden. Bezogen auf die relevanten (Umwelt-)Institutionen Lebenslauf, Geistige Behinderung und Soziale Arbeit wurde dies in den vorangegangenen Abschnitten beispielhaft veranschaulicht. Die Akteure orientieren sich bei ihren Entscheidungen bezüglich der beabsichtigten Anpassungsreaktionen ihrer Organisation in der Regel an deren internen Traditionen und Gepflogenheiten, Normen, Werten, Interessen, Kalkülen und den eigenen konzeptionellen Strategievorstellungen. Die bewusste Gestaltung des notwendigen Wandels der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung mit dem Ziel der Zurückgewinnung ihrer Legitimation erfordert vor diesem Hintergrund die Verknüpfung konformer organisationaler Verhaltensweisen mit den aktiven Strategien zur Überlebenssicherung und Fortentwicklung durch die Akteure der Organisation. Eine in diesem Sinne grundlegende Umgestaltung stellt als Re-Institutionalisierung einen völlig offenen Prozess dar, bei dem es nicht um eine „Optimierung“ der Organisation durch Maßnahmen der Organisationsentwicklung geht, sondern im Gegensatz dazu um einen fundamentalen Umbau dieser Organisation. Ausschlaggebend für das Gelingen dieses Prozesses ist eine grundlegende Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen, die ihre internen Ressourcen, Strukturen, Kulturen, Wertevorstellungen, Interessen und konzeptionellen Vorstellungen einbezieht und handlungsorientierend für die Akteure und Leistungsträger der Wohneinrichtungen wirkt. Im Rahmen dieser Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen müssten auch die Legitimationsrisiken identifiziert und analysiert werden, die sich aus den miteinander konfligierenden Ansprüchen innerhalb und zwischen technischen und institutionellen Umwelten, aber auch zwischen Umwelten und den internen Zielsetzungen der Wohneinrichtungen ergeben, und Möglichkeiten zu ihrer Überwindung aufgezeigt werden.
3.7 Fazit
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Wichtige, daraus unmittelbar resultierende Schwerpunktsetzungen einer Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen sind die Entwicklung von Strategien
zur Bewältigung der Spannung zwischen Anforderungen der technischen Umwelten mit deregulierendem und liberalisierendem Anspruch einerseits und den neuen Zwängen im Zuge verstärkter Regulierung andererseits, zur Bewältigung der Spannung zwischen Anforderungen der technischen Umwelten bezüglich des Nachweises der Effizienz und Effektivität, der Ziel- und Ergebnisorientiertheit der Leistungsangebote sowie einer umfassenden Ökonomisierung der Arbeit einerseits und den gewandelten normativen Ansprüchen der Gesellschaft an die Wohneinrichtungen andererseits, die ihren Ausdruck in den Veränderungen wichtiger Institutionen ihrer institutionellen Umwelten finden, die das herkömmliche Selbstverständnis der Wohneinrichtungen als abgegrenzte Schutz- und Schonräume für Menschen mit geistiger Behinderung überwinden und Wohneinrichtungen zu flexiblen „Enabling-Räumen“ umgestalten, die jederzeit den ungehinderten Zugang zur Umwelt gestatten und gleichzeitig die Schutz- und Sicherheitsbedürfnisse ihrer BewohnerInnen erfüllen, die auf die Klärung und Veränderung der Einstellungen aller Betroffenen (einschließlich der MitarbeiterInnen, Angehörigen, Freunde, Betreuer, der sozialen Netzwerke und des unmittelbaren regionalen Gemeinwesens) und die Eröffnung von Handlungsmöglichkeiten für die BewohnerInnen abzielen, die die Wohneinrichtungen und ihre Leistungsangebote so umstrukturieren, dass erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung bei Sicherung einer hohen Wohn- und Lebensqualität die individuell notwendige Hilfe und Unterstützung erhalten, die die Voraussetzung für eine möglichst selbstständige Bewältigung eines Lebens in eigener Verantwortung unter den Bedingungen der Pluralisierung und Individualisierung nachmoderner Gesellschaften bildet. Das beinhaltet auch die Entwicklung neuer Angebote der Beratung, Begleitung und Erschließung sozialer Handlungsspielräume für die BewohnerInnen, ihre Unterstützung bei der Beschaffung notwendiger psychosozialer Ressourcen, bei der Schaffung, Gestaltung und Pflege sozialer Netzwerke und Beziehungen und schließlich die Konzipierung individueller Bildungsangebote zum Erwerb der für eine selbstständige Lebensgestaltung notwendigen Kompetenzen.
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
173
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung 4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen 4.1.1 Wohneinrichtungen als Lebensräume für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung 4.1.1.1 Ethische Aspekte In die Überlegungen zur Re-Institutionalisierung von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung spielen sehr stark ethische Fragestellungen hinein – weit über die Ethik der Anerkennung hinausreichend. Allerdings würde eine Einführung in die gegenwärtige „Diskussionslandschaft“1 um den Themenkreis „Ethik und Behinderung“ den Rahmen der Arbeit sprengen, deshalb soll nur kurz auf wichtige Schwerpunktsetzungen verwiesen werden. DEDERICH & SCHNELL vertreten die Meinung, dass die wichtigste Funktion der Ethik für die Behindertenpädagogik im Zusammenhang mit dem Legitimationsproblem stehen würde2. Dieses habe drei Seiten: Erstens habe sich pädagogisches Handeln gegenüber den Betroffenen zu legitimieren3, zweitens müsse pädagogisches Handeln gegenüber Staat und Gesellschaft legitimiert werden4 und drittens gehe es um die Selbstlegitimation und die Klärung des Selbstverständnisses der Behindertenpädagogik5. Die beiden Autoren verweisen auf ANTOR und BLEIDICK, die herausstellen, dass die individualethische und die sozialethische Perspektive zwei Aspekte ethischer Fragen der Behindertenpädagogik thematisieren, die eng miteinander verbunden sind und sich teilweise überschneiden6. 1 2 3 4 5 6
Vgl. DEDERICH (2007), S. 212. Vgl. DEDERICH & SCHNELL (2009), S. 68. Diese Seite des Legitimationsproblems stehe in engem Zusammenhang mit den Problemen der advokatorischen Ethik und Fragen von „Selbstbestimmung“ und „Empowerment“, so DEDERICH & SCHNELL (vgl. ebd.). Auf dieser Ebene, so DEDERICH & SCHNELL, gehe es häufig um die Sicherung grundlegender Rechte sowie notwendiger Ressourcen, aber auch um die gesellschaftliche Bedeutung und Funktion der Behindertenpädagogik und Behindertenhilfe (vgl. ebd.). Vgl. ebd. Vgl. DEDERICH & SCHNELL (2009), S. 68 unter Bezugnahme auf ANTOR & BLEIDICK (2001), S. 158. Im Spannungsfeld von Individual- und Sozialethik kämen, so DEDERICH & SCHNELL,
A. Brachmann, Re-Institutionalisierung statt De-Institutionalisierung in der Behindertenhilfe, DOI 10.1007/978-3-531-93205-7_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Trotz der Vielfältigkeit der Positionen und Zugänge zu Fragen der Ethik in der Behindertenpädagogik stellt DEDERICH einen gewissen Grundkonsens in Bezug auf folgende Funktionen der Ethik fest: 1. 2.
Ethik als Schutzbereich Ethik als Anerkennung von Vielfalt und Differenz1.
Zu (1): In dieser Funktion ist Ethik eine Antwort auf Gefährdungen im Hinblick auf Kultur und Gesellschaft, z. B. dann, wenn ein gesellschaftlicher Kampf um knappe Ressourcen und Privilegien entbrennt und es um die Sicherung einer Verteilungsgerechtigkeit geht, die behinderungsbedingte Nachteile ausgleicht2. Aber auch innerhalb der Ethik selbst gilt es, fragwürdige Entwicklungen3 zu reflektieren und alternativ eine „[…] anders gelagerte Ethik auszuarbeiten […]“4. Zu (2): Im Gegensatz zur abwehrenden Schutzfunktion habe Ethik in der Behindertenpädagogik auch eine „konstruktive“ Funktion, so DEDERICH5. Diesen notwendigen positiven Pol der Ethik bilde die Anerkennung von Vielfalt und Differenz6. Dazu käme als zentrales Motiv die Verantwortung für den Anderen. Aus dem Zusammenhang von Verletzbarkeit, Differenz und Verantwortung, so DEDERICH, resultiere ein weiteres Motiv der Ethik: Die Begründung des Schutzes, der Bewahrung und Förderung der Integrität des anderen Menschen7. Die Anerkennung von Differenz in diesem Sinne stelle einen Perspektivwechsel dar, der auch eine Berücksichtigung von Fragen der Gerechtigkeit erfordere, die gerade angesichts gesellschaftlicher Umverteilungsprozesse und Ressourcen-Knappheit unverzichtbar seien, so DEDERICH8. Und schließlich gelte es, die Sichtweise der Betroffenen viel stärker als bisher in ihrer Relevanz für den Ethikdiskurs zu beachten9.
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verschiedene Fragen und Problembereiche in den Blick, die – da es sich um gesellschaftliche Themen handelte – im Kern politisch seien. Vgl. DEDERICH (2007), S. 216. Vgl. ebd. Als Beispiel nennt DEDERICH die „[…] Abwehr fragwürdiger oder sogar gefährlicher gesellschaftlicher und philosophisch-theoretischer Exklusionsprozesse, durch die als »geschädigt« geltendes Leben selektiert und Behinderte entwertet, marginalisiert und ausgegrenzt werden.“ (ebd., Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.). Ebd. Vgl. ebd., S. 217. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. DEDERICH (2007), S. 217. Vgl. ebd.
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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4.1.1.2 Funktionen des Wohnens Das Wohnen hat sich innerhalb nachmoderner, funktional differenzierter Gesellschaften neben Arbeit, Bildung und Freizeit zu einem zentralen eigenständigen Lebensbereich mit wichtigen Funktionen entwickelt – als Ort des „[…] privaten und sozialintimen Lebensvollzugs“1, der Erfüllung psycho-sozialer Bedürfnisse2 sowie der vielfältigen Möglichkeiten individueller Lebensgestaltung und persönlicher Lebensführung3,4. Dieser eigenständige Lebensbereich Wohnen ist eng mit anderen Lebensbereichen wie z. B. Arbeit, Bildung, Freizeit und Kultur verbunden; Grundfunktionen eines erfüllten menschlichen Lebens wie Kommunikation, Gestaltung sozialer Beziehungen und Teilhabe an den Aktivitäten der engeren und weiteren sozialräumlichen Umwelt sind wesentlicher Bestandteil dieses Lebensbereiches. Eine wichtige Rolle bei der erfolgreichen Realisierung der genannten Funktionen des Wohnens spielen die Wohnbedingungen, die die Wohnqualität beeinflussen und sich auf die Wohnzufriedenheit auswirken – und in enger Beziehung zu Lebensqualität, Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden stehen5. Als Mindestanforderungen an die objektiven Wohnbedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Wohnfunktionen erfüllt werden können, lässt sich in Anlehnung an PIEDA & SCHULZ „[…] das Verfügen über einen eigenen Wohnraum sowie einen Sanitär- und Küchenbereich, welche eindeutig von der Wohnumwelt als autonomer Lebensbereich abgegrenzt sind“6 definieren. Für die Wohnzufriedenheit sind neben diesen objektiven Bedingungen ebenso bestimmte subjektive Faktoren wie individuelle Ansprüche, Wünsche, Vorstellungen, aber auch die Wahrnehmung und Bewertung der Wohnsituation ausschlaggebend. IRIS BECK verweist in diesem Zusammenhang auf OTTO SPECK, der als elementar für Wohnzufriedenheit die Möglichkeit der eigenen Gestaltung und der 1 2 3
4
5 6
SPECK, OTTO (1998), S. 19. Vgl. BECK, IRIS (2007), S. 334. Die Lebenswirklichkeit des Menschen, so MARTIN HAHN, sei weitgehend seine WohnWirklichkeit. Es dürfe angenommen werden, dass sich das durchschnittliche Menschenleben zu 80-90 % auf die Wohnung bzw. auf von der Wohnung ausgehende Aktivitäten bezögen (vgl. HAHN, M., 1998, S. 11). IRIS BECK führt dazu aus: „Das Wohnen weist ein hohes Maß an Möglichkeiten zur freien Gestaltung und zur Erfüllung individueller Ansprüche auf, sei es nach Privatheit und Intimität oder nach sozialen Bindungen und Geselligkeit, nach ländlicher Beheimatung ebenso wie nach urbanem Lebensgefühl, die sich in vielfältigen Wohnformen und Wohngestaltungen niederschlagen.“ (BECK, I., 2007, S. 337). Gute Lebensbedingungen, so BECK, I., könnten ebenso entlastende und stützende Funktionen für den Einzelnen entfalten, wie schlechte Verhältnisse sich deutlich negativ niederschlagen könnten (vgl. ebd., S. 338). PIEDA & SCHULZ (1990), vgl. dazu die Ausführungen von IRIS BECK (ebd.).
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Veränderung der Wohnbedingungen benennt, da diese Handlungsspielräume Ausdruck der eigenen Kontrolle über einen wichtigen Lebensbereich seien1. Die Qualität der sozialen Beziehungen und der stattfindenden Interaktionen, das Erleben von Wertschätzung, Akzeptanz und Achtung der eigenen Persönlichkeit und das Gewähren von Freiräumen zur Entwicklung und Umsetzung eigener Lebensentwürfe und selbstverantworteter Lebensgestaltung sind weitere entscheidende Faktoren, die bestimmenden Einfluss auf die Funktionen des Wohnens ausüben2. Neben den objektiven Wohnbedingungen und ihrer subjektiven Bewertung spielt das Wohnumfeld eine wichtige Rolle für die Funktionen des Wohnens. PIEDA & SCHULZ nehmen eine Strukturierung der Wohnumwelt auf der räumlichen, der funktionalen und der psychosozialen Ebene vor3. In psychosozialer Hinsicht, so IRIS BECK, spielten vor allem die sozialen Bindungen und das „Beheimatetsein“, die Zugehörigkeit in kognitiver, handlungsbezogener und kultureller Hinsicht eine wichtige Rolle4. Die aufgeführten Bestimmungsmerkmale und Grundfunktionen des Wohnens, die trotz kultureller Unterschiede charakteristisch für alle nachmodernen westlichen Gesellschaften sind, gelten grundsätzlich auch für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung. 4.1.1.3 Lebensräume mit „Enabling-Charakter“ Im Widerspruch dazu ist der Lebensbereich Wohnen für diesen Personenkreis allerdings noch immer durch vielfältige Einschränkungen charakterisiert, die Realisierung des Wohnens als eigenständiger und persönlicher Lebensraum scheitert oftmals. Teilweise trifft dies auf das Wohnen in der Herkunftsfamilie, das eigenständige Wohnen sowie die unterschiedlichsten Formen ambulant betreuten bzw. unterstützten Wohnens zu, in nahezu jedem Fall auf die zahlenmäßig dominierenden stationären Wohnangebote, insbesondere bei schwerer oder Komplexer Behinderung5. 1 2
3 4 5
Vgl. BECK, IRIS (2007), S. 338 unter Bezug auf SPECK (1998). Darüber würden, so SPECK, die symbolischen Bedeutungen gegenüber anderen Personen sowie Orientierung und Identität für sich selbst entwickelt. Daraus lässt sich aus Sicht der BewohnerInnen unmittelbar die Begründung der Forderung nach einer Umgestaltung der Wohneinrichtungen zu Enabling-Räumen und die Schaffung von Anerkennungsverhältnissen innerhalb dieser Institutionalformen des Wohnens ableiten (vgl. die Ausführungen in den folgenden Abschnitten). Vgl. BECK, I. (2007), S. 339 unter Bezug auf PIEDA & SCHULZ (1990), S. 20. Vgl. ebd. unter Bezug auf SPECK (1998). Zur Begründung ausführlich siehe IRIS BECK (2007), S. 340.
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
177
Letztere wurden bisher allerdings auch mit einer völlig anderen Zielsetzung konzipiert – in der Regel spielten dabei nicht die nachmodernen Wohnfunktionen und Ansprüche an Wohnqualität eine Rolle, sondern vorrangig die Unterbringung und Versorgung, Aspekte des Schutzes1 und der Betreuung sowie institutionelle Gegebenheiten und Zwänge. Zudem traten die für die BewohnerInnen wichtigen Aspekte der Sicherung der Privatsphäre und der Ermöglichung individueller Frei- und Gestaltungsräume oftmals hinter der Priorisierung der Gruppenidentität, der Realisierung von Dienstabläufen und einer zufriedenstellenden „Rund-Um-Versorgung“ zurück. Darin ist einer der Gründe für die in den vorherigen Kapiteln beschriebene Legitimationskrise der Wohneinrichtungen zu sehen – insbesondere die vollstationären Wohnangebote und die Strukturen der Wohnstätten für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung können ihren BewohnerInnen die für nachmoderne Gesellschaften charakteristischen Wohnfunktionen nicht gewährleisten2. Zur Sicherung dieser Wohnfunktionen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung – und zwar unabhängig von der Form des jeweiligen Wohnangebotes3 und der Art und Schwere ihrer Behinderungen – reicht eine Erweiterung der bestehenden Leistungsangebote allein nicht aus. Erforderlich ist eine grundlegende Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen und darauf aufbauend eine völlige Re-Institutionalisierung dieser Organisationen. Das gilt grundsätzlich für alle Formen des professionell organisierten institutionellen Wohnens, wenngleich sich die Konzepte der Re-Institutionalisierung der stationären von denen der ambulanten Institutionalformen unterscheiden. Gemeinsam ist ihnen, Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung von Orten institutioneller Verwahrung zu institutionell organisierten Lebensräumen umzugestalten, in denen die Funktionen des Wohnens weitgehendst realisiert und das Leben der BewohnerInnen ausbalanciert wird „[…] zwischen institutionellem und persönlichem Anspruch, zwischen or-
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„Schutz“ hat in diesem Zusammenhang eine doppelte Bedeutung: Schutz der BewohnerInnen vor der Gesellschaft und gleichzeitig Schutz der Gesellschaft vor Menschen mit geistiger Behinderung. IRIS BECK gelangt zur gleichen Einschätzung. Sie schreibt: „Die objektiven Standards der Mehrheit der Wohnplätze lassen es nicht zu, vom Wohnen im Sinn der Definition von PIEDA & SCHULZ (1990) zu sprechen, wenn dem Bewohner kein autonom gestaltbarer, selbst gewählter und abgegrenzter persönlicher Lebensbereich zur Verfügung steht, der ihm Intimität und Rückzug ebenso ermöglicht wie Begegnung und der in seiner Funktion von anderen Lebensbereichen und dem Wohnumfeld nicht abgrenzbar ist.“ (BECK, I., 2007, S. 342). Das bezieht stationäre Angebote in gleicher Weise wie die unterschiedlichen ambulanten Angebote ein.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
ganisatorischen Erfordernissen der Institution und dem Individualbedarf der Bewohner“1. Im Rahmen der Re-Institutionalisierung müssen die institutionellen Faktoren mit restriktiven Wirkungen von den Faktoren unterschieden werden, die eine unterstützende, entlastende, stabilisierende, stützende und identitätsstärkende Funktion ausüben. Aus dieser Sicht gilt es, Fragen der zunehmenden Ökonomisierung und der bestehenden Machtverhältnisse, tradierter Rollen und Selbstverständnisse, Formen offener und subtiler Fremdbestimmung, Asymmetrien der bestehenden sozialen Verhältnisse, institutionelle und interaktionale Missachtungs- und Demütigungserfahrungen, Werte und Zielvorstellungen, handlungsleitende pädagogische Theorien, Menschenbilder und Verständnisse von Behinderung kritisch zu thematisieren und im Prozess der Re-Institutionaliserung offensiv zu bearbeiten. Innerhalb dieser „institutionell organisierten Lebensräume“ erfordert die Sicherung der Wohnfunktionen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung die Bereitstellung der speziell notwendigen, personzentrierten und am individuellen Bedarf differenziert ausgerichteten Hilfen, da in der Regel dieser Personenkreis dann professionelle Leistungsangebote im Bereich des Wohnens nutzen muss, wenn die eigenen Ressourcen bzw. unterstützenden Netzwerke „[…] nicht oder nicht mehr ausreichen zur Alltags- und Behinderungsbewältigung 2 . der Neukonzipierung der Angebote für den Lebensbereich Wohnen […]“Bei durch die Wohneinrichtungen im Rahmen ihrer Re-Institutionalisierung sind sowohl die im Vordergrund stehenden Aspekte der eigenen, persönlichen Kultur der jeweiligen BewohnerInnen als auch die grundlegenden Einflüsse der sich schnell wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen aufgrund globalisierungsund modernisierungsbedingter Prozesse zu berücksichtigen. Die oftmals unzureichenden Vernetzungen mit der engeren und weiteren Wohnumwelt mit der Folge eingeschränkter umfeldbezogener Teilhabechancen und erschwerter Möglichkeiten des Aufbaus, der Gestaltung und Pflege sozialer Beziehungen3 erfordern außerdem den Auf- und Ausbau gezielter Aktivitäten der Sozialraumarbeit4 durch die Wohneinrichtungen. 1
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FORNEFELD (2008), S. 164 und 165. IRIS BECK postuliert eine „Ambivalenz des institutionellen Wohnens“, die darin bestehe, zugleich Ort privaten Lebensvollzuges der einen und Arbeitsplatz der anderen zu sein und die sich unter den Bedingungen bezahlter und zeitlicher sowie inhaltlich begrenzter professioneller Dienstleistung allerdings nicht vollständig auflösen lasse. Sie führe in der Regel, so BECK, zu andauernden Spannungsfeldern und Asymmetrien in den Beziehungen, die durch ihre bewusste Wahrnehmung und Bearbeitung verbessert, aber nie ganz aufgehoben werden könnten (vgl. BECK, I., 2007, S. 342). BECK, I. (2007), S. 339. Dies gilt allerdings auch für alle ambulanten Formen des professionell unterstützten Wohnens und das eigenständige Wohnen, vgl. dazu auch ebd., S. 342 und 343. Vgl. z. B. BECK, I. (2009), SEIFERT & STEFFENS (2009), kritisch: WEISSER (2010).
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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Allerdings konzentriert sich die Arbeit von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung bisher vor allem auf die alltagspraktische Unterstützung der BewohnerInnen z. B. in den Bereichen Körperpflege, Ernährung, Bekleidung, Wohnen, Kommunikation und Mobilität, die Hilfen zur Gestaltung sozialer Beziehungen, die Begleitung der psychosozialen Entwicklung, die Gesundheitsvorsorge und Pflege (Grund- und Behandlungspflege – falls erforderlich) sowie die Unterstützung und Begleitung bei einer aktiven Freizeitgestaltung. Diese Leistungsangebote, denen neben den Aspekten der Betreuung, Förderung und Begleitung oftmals noch immer Eigenschaften des „Aufbewahrens“ und der „Versorgung“ anhaften, werden – von diesen Merkmalen befreit und in stark veränderter Form – auch zukünftig eine Rolle im Angebotsprofil der Wohneinrichtungen spielen1. Das reicht allerdings in Zukunft nicht aus, um die BewohnerInnen der Wohneinrichtungen zu befähigen, die neuen Herausforderungen durch Globalisierung und Modernisierung in der nachmodernen Gesellschaft erfolgreich zu bewältigen. Sie müssen durch Bildungsangebote2 ergänzt werden, die den BewohnerInnen den dazu notwendigen Kompetenzerwerb ermöglichen. Diese werden zunehmend an Bedeutung gewinnen und die bisherigen Angebote des „Förderns“ im Bereich des Wohnens ergänzen und teilweise ganz ersetzen, wobei Wohneinrichtungen auch in Zukunft nicht den Charakter reiner Bildungseinrichtungen tragen sollten – ihre personellen und institutionellen Rahmenbedingungen sind
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Durch die Fortentwicklung der Angebote zur Erfüllung der Wohnbedürfnisse der BewohnerInnen, die Bereitstellung der notwendigen individuellen Hilfen zur möglichst eigenständigen, praktischen Lebensbewältigung und -gestaltung und die Realisierung der Wohnfunktionen kommt es zur Ablösung letzter Reste dieser Prägungen durch die in der Vergangenheit dominierenden Aspekte des „Aufbewahrens“ und der „Versorgung“. Diese Bildungsangebote basieren auf einem Bildungsverständnis, das BECK, I., FEUSER, JANTZEN und WACHTEL wie folgt beschreiben: „[…] ein Bildungsverständnis […], das Bildung als Möglichkeit zur selbst bestimmten Lebensführung, zur umfassenden Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftlichen Teilhabe betrachtet; mit Wolfgang Klafki: Entwicklungen der Fähigkeiten zur Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität, entwicklungspsychologisch mit Wolfgang Stegemann als Entwicklung auf höheres und auf höherem Niveau. Die erziehungswissenschaftliche Begründung von Bildungs- und Erziehungszielen muss über gesellschaftliche Erwartungen, wie sie sich in Forderungen nach einem Wissenskanon als Zurüstung auf die berufliche Eingliederung niederschlagen können, notwendigerweise hinausreichen und die Lebensbewältigung insgesamt umfassen. Bildung und Erziehung eröffnen Optionen für die Lebensgestaltung, und das bedeutet, die eigene Identität nicht nur schicksalhaft oder einzig von außen determiniert zu erleben, sondern auch über Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und der Auswahl von Handlungsmöglichkeiten zu verfügen, Zwänge und Grenzen ebenso wie Handlungs- und Veränderungsmöglichkeiten erkennen und nutzen zu können.“ (BECK, I. u. a., 2009, S. 5, 6).
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
vielmehr so umzugestalten, dass sich die für lebensweltbezogene Bildungsprozesse notwendigen Handlungs- und Ermöglichungsräume entwickeln können. Darin unterscheiden sie sich von sonderpädagogischen bzw. integrativen vorschulischen und schulischen Bildungseinrichtungen sowie den Werk- und Tagesstätten1 der Behindertenhilfe, deren Merkmal die Institutionalisierung pädagogisch funktionalisierter Erziehungs-, Förder- und Bildungsprozesse in den Bereichen Vorschule / Schule bzw. Arbeit / Beschäftigung / Förderung / Tagesstrukturierung ist. Dagegen müssen Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung zukünftig Grundstrukturen entwickeln, die ihren BewohnerInnen lernförderliche, pädagogische Settings zur Ermöglichung lebenslaufbezogener Bildungsprozesse in konkret lebensweltbezogener Form bieten und ihnen die individuell erforderliche Initiierung, Unterstützung und Begleitung dieser Prozesse sichern2. Der Vorteil der Wohneinrichtungen liegt zudem darin, dass diese keine Bildungseinrichtungen mit lebensphasenbezogenen institutionellen Altersgrenzen sind, deshalb kontinuierliches lebenslanges Lernen ohne zeitliche Beschränkung stattfinden kann und gerade der Bereich Wohnen / Freizeit über die vielfältigsten Möglichkeiten zur lebensweltbezogenen Vermittlung und Aneignung der o. g. Kompetenzen verfügt. Zusammenfassend lassen sich aus dem Gesagten folgende Schlussfolgerungen ziehen: 1.
Zur Überwindung der Legitimationskrise ist eine funktionale Neubestimmung und grundlegende Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung erforderlich. Dabei besteht eine zentrale Zielstellung darin, für die BewohnerInnen einen Lebensraum zu schaffen, in dem die für nachmoderne Gesellschaften charakteristischen Wohnfunktionen3 einschließlich der Deckung des jeweiligen individuellen Hilfebedarfes weitgehendst sichergestellt werden können.
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Neben dem Bildungsaspekt spielt in diesen Einrichtungen allerdings auch der Aspekt der Arbeit eine herausragende Rolle. Dabei geht es ausdrücklich nicht um eine einseitige Vermittlung lebenspraktischer Fähigkeiten und Fertigkeiten! Zur Erinnerung: Die Grundfunktionen des Wohnens in nachmodernen Gesellschaften bestehen vor allem darin, einen Ort des personalen und sozialintimen Lebensvollzugs zur Verfügung zu haben, der weitgehendste Autonomie in der Selbstversorgung, eine individuelle Lebensführung nach eigenen Vorstellungen, die Erfüllung psycho-sozialer Bedürfnisse, die Entwicklung eigener Vorlieben und Freizeitbeschäftigungen sowie die Gestaltung der unmittelbaren räumlichen Umwelt nach eigenen Vorstellungen und Präferenzen ermöglicht (vgl. auch ebd., S. 334). Wohnen als privater Raum sollte nicht nur physiologische Grundbedürfnisse, sondern auch die psycho-sozialen Bedürfnisse nach Schutz, Sicherheit, Geborgenheit, Erholung und Ruhe erfül-
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4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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Das Grundprinzip, an dem sich die Konzeptionierung und Realisierung dieser institutionell gestalteten Lebensräume bei aller Unterschiedlichkeit auszurichten haben, lässt sich mit dem Begriff „Enabling“1 charakterisieren. „Enabling“ bedeutet in der Konkretisierung der Alltagswirklichkeit des Wohnens für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung die Schaffung und der Schutz eines privaten Raumes zur Wahrung ihrer Intimsphäre und der Gestaltung sozial-intimer Beziehungen, die Ermöglichung einer ganz individuellen biografischen Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung einer eigenen Identität, ein Verständnis und die gelebte Anerkennung von Behinderung als wertgeschätzte Differenz einschließlich der Unterstützung zur Entfaltung der jeweils individuellen Einzigartigkeit und Originalität, eine konsequent kompetenzorientierte2 Ausrichtung und personzentrierte3 Umsetzung aller Leistungsangebote des Wohnens zur Unterstützung und Begleitung bei der Alltagsbewältigung, der Freizeitgestaltung, der Erschließung von Teilhabechancen, der Entwicklung der Kommunikation und Mobilität, der Bewältigung psycho-sozialer Probleme und der Gestaltung sozialer Beziehungen sowie die Schaffung bildender Bedingungen4 und adäquater Bildungsangebote1 mit dem Ziel der Kompetenzaneignung und -entwicklung als wichlen und die „Ausgangsbasis“ für die unterschiedlichsten Aktivitäten im Bereich der Natur, der Gesellschaft, der Politik, der Freizeit, der Bildung, der Kultur oder des Sports einschließlich der Pflege sozialer Beziehungen in der Nachbarschaft, im Verwandtschafts- und Freundeskreis und innerhalb sozialer Netzwerke bilden können. Mit dem englischen Begriff „Enabling“ sollen im Folgenden die Inhalte der Begriffe „erlaubend“, „befähigend“, „ermöglichend“, „ermächtigend“ und „freigebend“ erfasst und ausgedrückt werden. FORNEFELD schlägt vor, dazu das Fähigkeiten-Konzept („capabilities approach“) der amerikanischen Ethikerin MARTHA NUSSBAUM, welches diese im Zusammenhang mit einer Tugendethik des „guten Lebens“ und der Gerechtigkeit entwickelt hat, als Grundlage zu nutzen. NUSSBAUM versteht unter Kompetenz im Sinn von „zu etwas fähig zu sein“ eine konstitutive Bedingung des Menschseins (vgl. FORNEFELD, 2008, S.170 ff.). Die Anwendung dieses Ansatzes ist besonders für den Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung geeignet, zumal sich (nach entsprechender Ergänzung) auch Menschen mit Komplexer Behinderung einbeziehen lassen, die „[…] als Menschen mit Befähigungen (capabilities) […]“ anerkannt werden (vgl. ebd., S. 170. Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.). Damit soll zunächst – im Gegensatz zu der herkömmlichen, zumeist stark „institutionsorientiert“ konzipierten Art der Angebote im Bereich des Wohnens – der Charakter der Hilfen als klar auf den jeweils individuellen Bedarf bezogen zum Ausdruck gebracht werden. Zudem beschreibt der Begriff „personzentriert“ auch eine bestimmte Art und Qualität der personalen Dienstleistungen. Ausführlich dazu: ONDRACEK (2007), S.155 – 164. STINNKES setzt sich im Zusammenhang mit Komplexer Behinderung ausführlich mit der Thematik „bildender Verhältnisse“ auseinander. Aus ihrer Sicht schaffen bildende Verhältnisse Men-
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
tiger Voraussetzung einer Befähigung zur Lebensbewältigung sowie der Ermöglichung von Selbstbestimmung und Teilhabe. Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung als institutionell organisierte und gestaltete Lebensräume würden damit „Ermöglichungsräume“ bilden, die ihre BewohnerInnen nicht mehr einschränken, disziplinieren, uniformieren, entidividualisieren, hospitalisieren, deprivieren und stigmatisieren, sondern zur eigenen selbstbestimmten Lebensführung und -gestaltung ermutigen, ermächtigen und befähigen, ihnen Entwicklung und Bildung ermöglichen, ihre Unterschiedlichkeiten und Andersartigkeit akzeptieren und sie freigeben für Mobilität, Aktivitäten und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft2. „Enabling“ als Grundprinzip dieser neu zu bestimmenden und zu gestaltenden Lebensräume schließt die Entwicklung einer Kultur gegenseitigen Respekts, der Anerkennung und Wertschätzung ohne institutionelle und personale Demütigungen und Missachtungserfahrungen wesentlich ein3. Wohneinrichtungen, die zu Lebensräumen in der beschriebenen Art umgestaltet werden, bilden als Ermöglichungsräume gleichzeitig Schutz- und Schonräume einer ganz neuen Art: Um diese Zielstellung einer Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung realisieren zu können, ist ihre grundlegende und umfassende Umgestaltung – sowohl in Bezug auf Strukturen, bauliche Ausführungen und räumliche Ausstattungen, die jeweiligen Standorte, die konzeptionellen Ausrichtungen und Schwerpunktsetzung ihrer Leistungsangebote, ihre Unternehmenskultur, Dienstroutinen, administrativen Regelwerke und ihre institutionalisierten Hierarchien – unerlässlich. Zudem erfordert eine solche Re-Institutionalisierung eine Veränderung der Art und Qualität der Interaktionen zwischen BewohnerInnen und MitarbeiterInnen sowie des Rollenverhaltens der MitarbeiterInnen, ihrer Grundhaltungen und ihres professionellen Selbstverständnisses. In diesem Sinne sind Wohneinrich-
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schen die Möglichkeit, „[…] sich zu sich und den Verhältnissen, in denen sie leben, kritisch verhalten zu können.“ (STINNKES, 2008, S. 102). Es ginge dabei darum, Verhältnisse zu schaffen und zu erhalten, in denen der Andere ob seiner Andersheit nicht ausgegrenzt, abgestoßen oder gar verletzt werde, in denen Ressourcen und UnterstützungsPotenziale offen stünden und niemand aufgrund gewaltförmiger Beziehungen verletzt würde (vgl. ebd., S. 102 und 103). STINNKES unterstreicht den Anspruch auf lebenslange Bildung auch für Menschen mit Komplexer Behinderung, denn Bildung ist für sie die „[…] Antwort auf die Not und Nötigung, sein Leben zu führen.“ (ebd., S. 82). Derart gestaltete Wohneinrichtungen würden dann auch den Anforderungen der UNBehindertenkonvention entsprechen. Die Schaffung von Anerkennungsverhältnissen ist Voraussetzung, um Lebensräume in diesem Sinne gestalten zu können (vgl. Abschn. 4.1.2 und 4.1.3).
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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tungen nicht nur für ihre BewohnerInnen, sondern vor allem auch für die MitarbeiterInnen zu „Lernräumen“ umzugestalten. Die Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen und die Bemühungen um ihre Re-Institutionalisierung können nur gelingen, wenn sich das praktische Handeln an grundlegenden theoretischen Überlegungen ausrichtet. Neben neo-institutionalistischen Ansätzen, die im Abschn. 4.2 im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen, spielen ethische und bildungstheoretische Implikationen dabei eine besondere Rolle, auf die im folgenden Abschnitt eingegangen werden soll. 4.1.2 „Anerkennung“ als zentrales Leitprinzip der Behindertenhilfe 4.1.2.1 Die Institutionalisierung des Begriffs der „Anerkennung“ zum gesellschaftstheoretischen Grundbegriff Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung, so lässt sich in Anlehnung an FORNEFELD formulieren, „[…] können sich zu Lebens- und Bildungsräumen wandeln, weil in ihnen die Fähigkeiten der Menschen geachtet und anerkannt werden und ihnen damit Gerechtigkeit widerfährt.“1 Die Re-Institutionalisierung von Wohneinrichtungen im Sinne einer Umgestaltung zu Lebens-, Bildungs- und Ermöglichungsräumen mit „Enabling“ – Charakter für BewohnerInnen, MitarbeiterInnen und Leitende setzt eine entsprechende ethisch-normative Basis voraus, die – wie die weiteren Ausführungen zeigen – im Rahmen einer Ethik der Anerkennung konzipiert werden kann. Die besondere Bedeutung, die dem Anerkennungsbegriff damit zukommt, lässt es notwendig erscheinen, ihn etwas näher zu betrachten. Der Begriff der „Anerkennung“2 nimmt derzeit bereits einen zentralen Platz innerhalb der politischen Philosophie ein3, obwohl seine Karriere erst Anfang der
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FORNEFELD (2008), S. 180. NULLMEIER verweist auf die „[…] zentrale Ambivalenz im Sprachgebrauch des Begriffs der »Anerkennung«: […] das horizontale Verständnis einer wechselseitigen Anerkennung von Personen und die vertikale Bedeutung der Anerkennung als der Bestätigung einer übergeordneten Instanz oder Größe […].“ (NULLMEIER, 2003, S. 399, Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.). Der Anerkennungsbegriff, so NULLMEIER weiter, ist in der heutigen Debatte nur in der Fassung eines wechselseitigen, horizontalen Verhältnisses zwischen Personen von theoretischem Belang (vgl. NULLMEIER, 2003, S. 399). Vgl. RÖSNER (2006), S. 136.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
1990er Jahre begann und er damit als noch recht „[…] junger Begriff in der Sozialstaatsdebatte […]“1 gelten kann. Die Anstöße zur Verwendung des Begriffs „Anerkennung“ in Kontexten der politischen Theorie, so NULLMEIER, seien auf die internationale Diskussion zu Liberalismus und Kommunitarismus gegen Ende der 1980er Jahre zurückzuführen2. Dazu kam das Bemühen, „[…] für die neuen sozialen Bewegungen und die von ihnen […] hervorgehobenen Themen von Identität und Differenz ein theoretisches Fundament zu schaffen und Fragen kultureller Identität damit auch sozialpolitisch zu wenden.“3
Mit dem Begriff der Anerkennung, fährt NULLMEIER fort, verbinde sich im heutigen (sozial-)philosophischen Kontext der Übergang 1. 2.
vom Bewusstseins- zum Intersubjektivitätsparadigma sowie vom Begriff der „Arbeit“ zu dem der „Interaktion“.
Zu (1): Nicht mehr der „Bewusstseinsstrom“, d. h. das Subjekt, stehe am Ausgangspunkt philosophischer Bemühungen, so NULLMEIER, sondern die Grundüberlegung, dass alle Subjektivität, alle individuelle Identitätsbildung auf Intersubjektivität, d. h. auf sozialen Interaktionen im umfassenden Sinn, beruhten4. Zu (2): Damit sei auch die Abkehr von der Ökonomie als Zentraldisziplin kritischer Gesellschaftsanalyse eingeleitet, denn nicht mehr Produktion und Verteilung, sondern Interaktion und soziales Handeln bildeten den Fokus der Theorie, so NULLMEIER5. Trotz kontroverser Diskussionen, so ist festzuhalten, etablierte sich „Anerkennung“ schnell als Grundlagenbegriff der Gesellschaftstheorie und fand Eingang in die Themenfelder Wohlfahrtsstaatlichkeit und Sozialpolitik. Damit konnte die 1
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NULLMEIER (2003), S. 395. Themenfelder, die den Anstoß zu einer Konjunktur des Anerkennungsbegriffs gaben (wie z. B. Multikulturalismus, Migration, kulturelle Autonomie ethnischer und kultureller Minderheiten sowie Forderungen der Frauen, Schwulen- und Lesbenbewegung), so NULLMEIER, waren zunächst vom Feld der Sozialpolitik weit entfernt. Vgl. ebd., S. 397. Ebd., S. 396. Vgl. NULLMEIER (2003), S. 397. Damit könnten, so NULLMEIER, die alten Gegensätze von Individualismus und Kollektivismus als überholt gelten und die ökonomischen Theorien des „Nutzen maximierenden »rational man«“, die die liberalen Konzeptionen stützen, seien zurückgewiesen (ebd., S. 398). Vgl. NULLMEIER (2003), S. 398. Bereits durch HABERMAS‘ Neuinterpretation des Hegelschen Kampfes um Anerkennung (HABERMAS, 1968, S. 9-47) wären, so NULLMEIER, an die Stelle von Arbeit und Ökonomie als Grundthematiken der Gesellschaftstheorie Interaktion, Sprache und kommunikatives Handeln gerückt (vgl. ebd., S. 397).
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
185
auf ökonomische Auseinandersetzungen und Verteilungskämpfe fokussierte Sozialstaatsdebatte erweitert werden – der Sozialstaat geriet nicht mehr nur als Verteilungsmaschinerie, sondern nunmehr auch als – wenn gleich umstrittene – Anerkennungsordnung in den Blick1. NOTHDURFT, aus dessen Sicht der Begriff der Anerkennung „[…] gegenwärtig in unterschiedlichen, aber aufeinander bezogenen Wissenschaftsdiskursen einen Schlüsselbegriff zur Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft […]“2 bildet, nennt folgende „wesentliche Linien“3 des aktuellen Anerkennungsdiskurses:
Anerkennung als sozialphilosophischer Begriff4 Anerkennung als soziologischer Begriff5 Anerkennung als zentraler Bestandteil entwicklungspsychologischer Ansätze6
Anerkennung als anthropologischer Schlüsselbegriff7 sowie Anerkennung als wesentliche Forderung im Rahmen politischer Diskurse8,1.
1
Vgl. NULLMEIER (2003), S. 398. NULLMEIER führt dazu aus: „Trotz dieser […] Zuwendung zu sozialpolitischen Themen ist »Anerkennung« weiterhin eher in Theoriediskussionen und in politiknahen Debatten zwischen Sozialwissenschaftlern und Sozialphilosophen denn in aktuellen parteipolitischen Kontroversen prominent. Jüngst finden sich allerdings auch in der Entwicklung neuer sozialpolitischer Konzepte erste Anleihen bei der Anerkennungssemantik.“ (ebd.). NOTHDURFT (2007), S. 110. Ebd. Dabei würde Anerkennung als sozialer Begriff verstanden, in dem sowohl die Entwicklung von Identität und gesellschaftlichem Bewusstsein als auch die gesellschaftliche Integration von Individuen entschieden werde, so NOTHDURFT unter Bezug auf HONNETHS „Kampf um Anerkennung“ (vgl. HONNETH, 1992). Auch in anderen sozialphilosophischen Konzepten spiele der Anerkennungsbegriff eine zentrale Rolle, so z. B. bei G. H. MEAD (vgl. MEAD, 1995) und J. P. SARTRE (vgl. SARTRE, 1966) (vgl. ebd.). Soziologisch werde Anerkennung im Rückgriff auf o. g. Ansätze (gemeint sind die erwähnten sozialphilosophischen Ansätze, Anm. A. B.), so NOTHDURFT, als wesentliches Medium gesellschaftlicher Integration betrachtet und in seinen unterschiedlichen Formen und Modi differenziert (z. B. VOSWINKEL, 2001 und WAGNER, 2004) (vgl. ebd.). NOTHDURFT verweist auf ALFRED ADLER (vgl. ADLER, 1966), für den das Moment sozialer Anerkennung eine zentrale Triebfeder der ontogenetischen Entwicklung darstellte und JESSICA BENJAMIN (BENJAMIN, 1990, 1993), die mit Rückgriff auf Studien zur frühen Kindheit zeigte, dass von Anbeginn der kindlichen Entwicklung an Momente wechselseitiger Anerkennung die Interaktionen mitbestimmen. Anerkennung stelle für TODOROV (vgl. TODOROV, 1996), so NOTHDURFT, einen anthropologischen Schlüsselbegriff zur Definition des Humanen und zur Bestimmung des Menschen als Gesellschaftswesen dar, denn Ausgangspunkt sozialer Handlungen des Individuums sei der Wunsch nach Anerkennung durch die Anderen (vgl. NOTHDURFT, 2007, S. 110). Dabei stelle Anerkennung eine zentrale Forderung gesellschaftlicher Minderheiten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft dar, so NOTHDURFT, insbesondere im Bereich der Migrationspolitik (vgl. ebd.).
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Bei aller Unterschiedlichkeit der Akzente, so NOTHDURFT, verbinde diese Ansätze die Auffassung, dass das Streben nach Anerkennung als wesentliche Orientierung bzw. als Grundbedürfnis des Menschen zu betrachten sei2. Der Aufschwung des Anerkennungsbegriffs und seine Institutionalisierung zu einem gesellschaftstheoretischen Grundbegriff seit Anfang der 1990er Jahre ist insbesondere mit den Namen CHARLES TAYLOR, AXEL HONNETH, NANCY FRASER, JUDITH BUTLER und AVISHAI MARGALIT verbunden. TAYLOR3 entwickelte Anfang der 1990er Jahre in den USA den Anerkennungsbegriff im Kontext der Multikulturalismusdebatte und verknüpfte dabei den in dieser Debatte prominenten Identitätsbegriff mit dem der Anerkennung4: Die individuelle Identitätsbildung der Mitglieder kultureller Minderheiten ist auch abhängig von der Anerkennung ihrer kulturellen Gemeinschaft durch die Gesamtgesellschaft5. Allerdings führte diese Diskussion, so die Einschätzung NULLMEIERS, noch nicht zu Einflussnahmen auf dem Gebiet der Sozialstaatssemantik – und auch nicht zu einer Anerkennungstheorie als Zentrum einer Gesellschaftstheorie6. Dies sei erst mit AXEL HONNETHS Habilitationsschrift „Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte“ geschehen7. Er konzipiert Gesellschaft als Gefüge von Anerkennungsordnungen und Anerkennungsverhältnissen und deutet die kapitalistische Gesellschaft als „[…] in sich differenzierte Anerkennungsordnung […]“8. Dabei erkenne HONNETH, so NULLMEIER9, in modernen Gesellschaften die folgenden drei sozialen Anerkennungssphären: Liebe, Recht und Solidarität. Diese Differenzierung stelle gegenüber vormodernen, über ständische Formen der Anerkennung integrierten Gesellschaften einen entscheidenden Gewinn an individueller Selbstbestimmung dar10. 1 2 3 4
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RÖSNER führt dazu aus: „Der Begriff der Anerkennung ist heute zu einem zentralen Begriff der politischen Philosophie geworden. Er bildet eine normative Richtschnur, um politische Ansprüche von marginalisierten Gruppen zu charakterisieren.“ (RÖSNER, 2006, S. 136). Vgl. RÖSNER, 2006, S. 136. Vgl. z. B. TAYLOR (1993) und (1995). Vgl. ebd., S. 399. Nur wer Anerkennung erfahre, so NULLMEIER erläuternd zu den Überlegungen TAYLORS, könne auch Identität ausbilden. Identitätsbildung erfolge aber nicht gänzlich individualisiert, sondern sei auf die Zugehörigkeit des Einzelnen zu kulturellen und sozialen Gemeinschaften bezogen. Vgl. ebd., S. 400. Vgl. ebd. Vgl. NULLMEIER (2003), S. 400. Ebd., S. 401 unter Verweis auf HONNETH (2001), S. 123. Vgl. ebd. NULLMEIER führt dazu erläuternd aus: „Mit der Moderne und der Herausbildung des liberalen Rechtsstaates ist vor allem die Differenzierung zwischen rechtlicher Anerkennung (Achtung) und sozialer Wertschätzung – der Sphäre der Solidarität – verbunden (HONNETH 1992, S. 179ff).“ (ebd., S. 401).
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
187
Der entscheidende Anstoß zu einer sozialstaatsrelevanten Verwendung des Anerkennungsbegriffs, so NULLMEIER, erfolgte allerdings erst durch die Interventionen der amerikanischen Theoretikerin NANCY FRASER1. Sie entfaltete ein Umverteilungs-Anerkennungs-Dilemma, indem sie die Politik der Identität, Differenz und Anerkennung im Namen von Gender / Geschlecht / Sexualität, Nationalität, Ethnizität und Rasse mit einer Politik der Klassen konfrontierte2. Eine andere Richtung schlug JUDITH BUTLER mit der anerkennungstheoretischen Fortführung feministisch-poststrukturalistischer Theorie ein. Ihre Interventionen, so NULLMEIER, ziele im politischen Raum auf Verwandtschafts-, Geschlechter- und Familienpolitik3. Folge man BUTLER auf der konkreteren Ebene sozialpolitisch-konzeptionellen Handelns, so NULLMEIER weiter, dann seien Modelle für eine soziale Sicherung gefragt, die eine Vielzahl von Verwandtschafts- und Familienverhältnissen, z. B. solche mit Vater- / Mutter-Doppelbesetzung, aber auch komplexe Verwandtschaftspassagen zulasse, unterstütze, sozial absichere und damit auch legitimiere4. Der israelische Philosoph AVISHAI MARGALIT nähert sich dem Anerkennungsbegriff von einer ganz anderen Seite. Er setzt sich mit der Organisation von Gesellschaften auseinander und orientiert sich dabei nicht an einem Ideal gesellschaftlicher Gerechtigkeit, sondern an der Vorstellung von einer „anständigen“ Gesellschaft, d. h. einer Gesellschaft, deren Institutionen die Menschen nicht demütigen5. MARGALIT plädiert für eine Politik der Würde, die verlangt, dass „[…] die gesellschaftlichen Institutionen die Selbstachtung der Menschen nicht verletzen, d. h. dass sie die Menschen vor der schrecklichen Erfahrung der Erniedrigung bewahren.“6 Er erschließt die Potenziale und Bedeutung von Kategorien wie Würde sowie Achtung für die politische Theorie und untersucht die unterschiedlichsten Beispiele institutioneller Demütigung. Bereits dieser knapp skizzierte Abriss der „Karriere“ des Anerkennungsbegriffes lässt den Schluss zu, dass die Anerkennungsdiskurse inzwischen zu seiner Institutionalisierung als gesellschaftstheoretischem Grundbegriff geführt haben und dies als unmittelbare Folge der Globalisierung und Modernisierung der letzten zwanzig Jahre gedeutet werden kann. Als Beleg dafür lassen sich die sozialphilosophischen, soziologischen und (migrations)politischen Diskurse zur Anerkennung heranziehen, in denen unmittelbare Bezüge zu sozialen Bewegungen, den Auswirkungen fortschreitender Individualisierung und Pluralisierung, den 1 2 3 4 5 6
Vgl. HONNETH (1992), S. 404. NULLMEIER beschreibt ausführlich die Auseinandersetzung zwischen HONNETH und FRASER (siehe ebd., S. 407-413). Vgl. NULLMEIER (2003), S. 400. Vgl. ebd., S. 406. Vgl. ebd. Vgl. MARGALIT (1999). Ebd., S. 7.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
mit ihnen einhergehenden gesellschaftlichen Erosionsprozessen sowie den Veränderungen der Institutionen des Sozialstaates hergestellt und Antworten auf Fragen, die der gesellschaftliche Wandel aufwirft, entwickelt werden. Diese Institutionalisierung des Anerkennungsbegriffes ist einer der Gründe, die ihn interessant für eine Einbeziehung in die Überlegungen zur Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung erscheinen lässt. Weitere gewichtige Gründe resultieren aus den ethischen, anthropologischen bildungstheoretischen, soziologischen und politischen Perspektiven, die sich durch den Anerkennungsbegriff erschließen lassen: 1.
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Für die Überlegungen im Rahmen vorliegender Arbeit spielen die Entwicklung von Identitäten und die Herausbildung gesellschaftlichen Bewusstseins unter den erschwerten Bedingungen einer geistigen Behinderung eine gleichermaßen herausragende Rolle wie die Nutzung des Anerkennungsbegriffes als „[…] wesentliches Medium gesellschaftlicher Integration“1. Da eine Neubestimmung der Funktion von Wohnstätten nur aus dem sich verändernden gesellschaftlichen Kontext abzuleiten und zu begründen ist, kommt der gesellschaftspolitischen Sicht eine besondere Bedeutung zu. Anerkennung als zentrale Forderung umfasst aus dieser Perspektive die Entwicklung von Akzeptanz und Wertschätzung der Andersartigkeit von Menschen mit geistiger Behinderung innerhalb der Gesellschaft und die Umsetzung ihrer vollen Gleichstellung im Sinne der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Weiterhin wird zur notwendigen Neuorientierung der fachlich-inhaltlichen Arbeit der Wohneinrichtungen auf den Anerkennungsbegriff zurückgegriffen, indem im Rahmen einer „Pädagogik der Anerkennung“ das von STOJANOV auf HONNETHS Theorie der Anerkennung basierende Bildungsverständnis und das Konzept der Anerkennung als neue zentrale Leitidee eingeführt werden. Schließlich bietet sich im Rahmen der Nutzung des Anerkennungsbegriffs die besondere Berücksichtigung des von MARGALIT entwickelten Konzeptes institutioneller Demütigung bei der Entwicklung konkreter Vorschläge zur Umgestaltung von Wohneinrichtungen an2.
NOTHDURFT (2007), S. 110. Vgl. MARGALIT (1999).
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
189
Auf der Grundlage des Konzepts der Anerkennung1 lässt sich unter Einbeziehung der gesellschaftstheoretischen Perspektive ein Lösungsansatz entwickeln, der es ermöglicht, die im Kapitel 2 dargestellten Diskurse mit dem Ziel einer Überwindung der Legitimationskrise der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung fortzuführen und eine Neubestimmung ihrer Funktion abzuleiten und zu begründen. 4.1.2.2 AXEL HONNETHS Theorie der Anerkennung HONNETH wolle, so NULLMEIER, in der Tradition des Linkshegelianismus einen einheitlichen Rahmen, ein konsistentes kategoriales Gebäude zur zeitgemäßen Fortbildung der Kritischen Theorie entwickeln und sehe die dafür angemessene Theoriesprache in der Anerkennungsbegrifflichkeit2. Soziale Konflikte und Proteste, das Aufbegehren gegen ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse und die Missachtung einzelner Gruppen in ihrer je konkreten historischen Gestalt seien die Antriebskräfte gesellschaftlichen und moralischen Fortschritts3. Gesellschaft werde daher aus HONNETHS Sicht, so NULLMEIER weiter, als Gefüge von Anerkennungsordnungen und Anerkennungsverhältnissen konzipiert4. RÖSNER merkt zur Theorie HONNETHS Folgendes an5: Nach HONNETH ließen sich die normativen Kriterien für Anerkennung „im Maß sowohl der sozialen Inklusion als auch der Individualisierung“6 erkennen. In der modernen Gesellschaft, so HONNETH, wurde „die soziale Anerkennungsordnung von Hierarchie auf Gleichheit, von Exklusivität auf Inklusion umgestellt.“7 1
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NOTHDURFT untersucht die mit den gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der Herausbildung der Moderne verbundene „[…] Ausbildung einer besonders prekären gesellschaftlichen Logik von Anerkennung, die durch ihre paradoxe Grundstruktur eine besondere Dynamik und »Rationalität« erhalten hat.“ (NOTHDURFT, 2007, S. 110 ff.; Hervorhebung im Original, Anm. A. B.). Auf dieses konzeptionelle Paradox soll im Abschn. 4.2 im Zusammenhang mit Formen institutioneller Demütigung näher eingegangen werden. Vgl. NULLMEIER (2003), S. 400. Vgl. ebd. Derartige soziale Bewegungen seien, so HONNETH, aber nur dann zureichend als normativ gehaltvolle Bestrebungen zu verstehen, wenn zugleich Gesellschaft in all ihrer Machtdurchwirktheit auch als normative Ordnung begriffen würde, weil sonst die Herkunft der moralischen Ansprüche auf Beseitigung von Ungerechtigkeiten und Anerkennung völlig unzugänglich bliebe. Ebd., S. 401. Um die Forderung nach Anerkennung sozialtheoretisch zu rekonstruieren und nicht als faktische Selbstbehauptung, sondern als normativ bedeutsame, moralische Handlungsweise zu deuten, müsse die Gesellschaft insgesamt als Anerkennungsgefüge gedeutet werden, so NULLMEIER. Vgl. RÖSNER (2006), S. 136. FRASER & HONNETH (2003), S. 299. FRASER & HONNETH (2003), S. 298 ff.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Eine durch den Gleichheitsgrundsatz geprägte Form der Sozialintegration mache es möglich, „dass alle Gesellschaftsmitglieder von nun an in gleichem Maße in das Netzwerk von Anerkennungsbeziehungen einbezogen werden, durch das die Gesellschaft im Ganzen sozial integriert wird“1. Sozialintegration werde um so eher den normativen Erwartungen der Gesellschaftsmitglieder gerecht, „je stärker sie jeden Einzelnen in die Anerkennungsbeziehungen einbezieht und ihm zur Artikulation seiner Persönlichkeit verhilft.“2 HONNETHS Vorstellung, so RÖSNER zusammenfassend3, laufe im Kern „auf die Hypothese hinaus, dass jede soziale Integration von Gesellschaft auf geregelte Formen der wechselseitigen Anerkennung angewiesen ist, an deren Unzulänglichkeiten und Defiziten sich stets wieder Empfindungen der Missachtung festmachen, die als Antriebsquelle gesellschaftlicher Veränderungen gelten können“4. HONNETH gehe im Rückgriff auf Hegel und Mead, so FORNEFELD, von einer internen Verschränkung von Identitätsbildung und Anerkennung aus und unterscheide dabei drei sich im Verlauf der Geschichte ausdifferenzierte Grundformen gesellschaftlicher Anerkennung, nämlich Liebe, Recht und Wertschätzung5. Die Erfahrungen aller drei Formen dieser Anerkennung würden konstituierende Aspekte der personalen Identität darstellen. Die erste komme durch „emotionale Zuwendung“ in persönlichen Nahbeziehungen, so FORNEFELD weiter, die zweite durch „Zuerkennung von Rechten“ im gesellschaftlichen Leben und die dritte durch die „gemeinsame Orientierung an Werten“ in der kulturellen Sphäre zu Stande6. Diese drei Formen führten zu Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung: Im persönlichen Nahbereich, so die Erläuterung von GRAUMANN, erwerbe der Mensch durch die Anerkennung seiner Bedürfnisse Selbstvertrauen, im gesellschaftlichen Leben durch die gegenseitige Anerkennung von Rechten Selbstachtung, während sich das Selbstwertgefühl durch die kulturelle Anerken-
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Ebd., FRASER & HONNETH (2003), S. 299. Ebd., S. 302. In einer Sozialordnung, „in der die Individuen die Möglichkeit einer intakten Identität der affektiven Fürsorge, der rechtlichen Gleichstellung und der sozialen Wertschätzung verdanken“ (ebd., S. 210), seien für HONNETH die Voraussetzungen dafür gegeben, so NULLMEIER (NULLMEIER; 2006, S. 136). Vgl. NULLMEIER (2006), S. 137. FRASER & HONNETH (2003), S. 282. Durch einen unentwegten Kampf um Anerkennung solle es dazu gekommen sein, dass „mit der Ausdifferenzierung der drei Anerkennungssphären der Liebe, der Rechtsgleichheit und des Leistungsprinzips zugleich eine Steigerung an sozialen Individualisierungsmöglichkeiten als auch ein Wachstum an sozialer Einbeziehung einhergeht“ (ebd., S. 219). Vgl. FORNEFELD (2008), S. 134 unter Bezug auf GRAUMANN (2006, S. 148). FORNEFELD (2008), S. 134, 135.
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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nung als Mensch mit besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten, d. h. durch die Erfahrung sozialer Wertschätzung, entwickelt1. Diesen drei Stufen der Anerkennung stelle HONNETH, so RÖSNER, drei Formen der Missachtung gegenüber: Vergewaltigung, Entrechtung, Entwürdigung2. Auf der ersten Stufe der Missachtung werde dem Individuum, so RÖSSNER, die Sicherheit bezüglich seines eigenen Wohlergehens geraubt. Es verliere das Vertrauen in den Wert, den die eigene Verletzlichkeit in den Augen aller anderen genießt3. Auf der zweiten Stufe, so RÖSNER weiter, werde das Individuum in seiner Integrität als zurechungs- und vertragsfähiges Wesen missachtet. Es verliere das Vertrauen in die eigene Verlässlichkeit und Achtungsfähigkeit4. Schließlich werde auf der dritten Stufe moralischer Verletzung, so RÖSNER, dem Individuum durch Demütigung und Respektlosigkeit veranschaulicht, dass seinen Fähigkeiten kein Wert beigemessen werde. Es verliere den Glauben an die Achtungswürdigkeit innerhalb einer sozialen Gemeinschaft5. NULLMEIER eröffnet eine gesellschaftstheoretische Sicht und unterstreicht, dass soziale Rechte in HONNETHS Konzeption „abgeleitete“ Rechte seien, die sich aus ihrem Wert für die Wahrnehmung politischer Rechte erklärten6. Jenseits des Rechts, so NULLMEIER, sehe HONNETH als dritte Sphäre der Anerkennung die Stufe der Solidarität vor – als Stufe der wechselseitigen sozialen Wertschätzung. Diese Solidarität verlange nun, dass der Einzelne Leistungen erbringe oder Fähigkeiten besitze, „die von den übrigen Gesellschaftsmitgliedern als »wertvoll« anerkannt werden“7 (Hervorhebung im Original, Anm. A. B.). HONNETH entwickele damit die Konzeption einer „leistungsbasierten Kooperationsgemeinschaft“ als Wertgemeinschaft, so NULLMEIER, innerhalb derer die Wertschätzung des Einzelnen, seinem Beitrag, seiner Leistung für die wertfundierte Kooperationsgemeinschaft korrespondiere8. Diese Kooperations-, Leistungs- und Wertschätzungsbeziehungen herzustellen, sei nach Anlage der drei Anerkennungssphären nicht Sache des Sozialstaa1 2 3 4 5 6
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Vgl. GRAUMANN (2006), S. 148 f. RÖSNER betrachtet diesen Zusammenhang zwischen den Formen der Anerkennung und der Entwicklung von Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstwertgefühl ganz ähnlich (vgl. dazu RÖSNER, 2002, S. 120, 121). Vgl. RÖSNER (2002), S. 121. Vgl. RÖSNER (2002), S. 121. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. NULLMEIER (2006), S. 402. So „bedarf der Einzelne nicht nur des rechtlichen Schutzes vor Eingriffen in seine Freiheitssphäre, sondern auch der rechtlich gesicherten Chance zur Partizipation am öffentlichen Willenbildungsprozess, von der er faktisch aber nur Gebrauch machen kann, wenn ihm zugleich ein gewisses Maß an sozialem Lebensstandard zusteht.“ (HONNETH, 1992, S. 190). HONNETH (1992), S. 205. Vgl. NULLMEIER (2006), S. 403.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
tes: Zentrale Aufgaben gesellschaftlicher Integration würden der Politik, auf jeden Fall aber der Staatlichkeit entzogen. Nicht-staatliche und nicht-rechtsförmige Integration stünden im Vordergrund der gesellschaftstheoretischen Vision HONNETHS, so NULLMEIER1. Genau diese beiden Aspekte der Anerkennungstheorie HONNETHS sind kritisch zu bewerten: Zum einen die Tatsache, dass soziale Anerkennung abhängig ist von der Wertschätzung für die erbrachte Leistung des Einzelnen zur Realisierung der gemeinsamen Werte, zum anderen die Zuordnung individueller Bedürftigkeit zur Anerkennungsform der Liebe und damit in den personalen sozialen Nahraum mit der Folge einer völligen Entlastung des Sozialstaates von den Anforderungen der Solidarität2. Damit stößt das Anerkennungskonzept HONNETHS an Grenzen, die es gilt, bei den nachfolgenden Überlegungen immer im Blick zu behalten. Im Rahmen vorliegender Arbeit werden im Zusammenhang damit folgende Positionen vertreten: 1.
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Gerade für den Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung (insbesondere bei Komplexer Behinderung) muss es ausgeschlossen werden, soziale Anerkennung in Form von Wertschätzung von der Erfüllung normativer Leistungsansprüche abhängig zu machen. Gegenüber HONNETHS Vision einer sozialen Wertgemeinschaft wird eine „sozialstaatszentrierte Konzeption“ priorisiert, wie sie NULLMEIER entwirft3. In dieser Konzeption sichert der Sozialstaat „[…] die Bedingungen der allseitigen Kompatibilität von Bestrebungen, die auf soziale Positionierung gerichtet sind“4. Dieser weite Sozialstaatsbegriff „weist über die klassischen Felder der sozialen Sicherung hinaus“5 und schafft die „rechtlichinstitutionellen und diskursiven Bedingungen“6, die „das weitestmögliche Spektrum freier Entfaltung der eigenen (komparativen) Handlungsorientierungen bei gleichzeitig wechselseitiger Wertschätzung sichern“7. Vgl. NULLMEIER (2006), S. 403. Vgl. ausführlicher zur Kritik an HONNETHS Anerkennungskonzeption: RÖSNER (2006), S. 136 ff. und NULLMEIER (2006), S. 402 ff. Kritische Hinweise zur Einseitigkeit des Anerkennungsdiskurses liefert auch NOTHDURFT (vgl. NOTHDURFT, 2007, S. 120). Vgl. NULLMEIER (2006), S. 413. NULLMEIER (2006), S. 414. Zugrunde liegt ein freiheitsbezogenes Sozialstaatsmodell: Der Sozialstaat sei danach ein institutioneller Mechanismus, so NULLMEIER, der auch der subjektiven Freiheit zur Verfolgung von sozialkomparativen Orientierungen aller Art Spielraum verschaffe, aber so, dass die Verfolgung der je individuellen sozialkomparativen Lebensentwürfe und Handlungen mit der Verfolgung eben solcher Handlungen durch alle anderen zusammen bestehen könne. Ebd., S. 415. Ebd. Ebd.
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4.1.2.3 KRASSIMIR STOJANOVS Bildungsverständnis im Rahmen einer „Pädagogik der Anerkennung“ Der Anerkennungsbegriff hat sich nicht nur zu einem gesellschaftstheoretischen Grundbegriff entwickelt, er fand auch Aufnahme innerhalb der Pädagogik. Eine „Pädagogik der Anerkennung“1 setzt sich z. B. zum Ziel, „[…] Anerkennung als »zentrale Dimension pädagogischer Theorie und Praxis« für einen kritischen Bildungsbegriff stark zu machen“2 (Hervorhebung im Original, Anm. A. B.). Zahlreiche Veröffentlichungen3 lassen erkennen, dass inzwischen im Bereich der Sonderpädagogik ebenfalls eine Öffnung für den Anerkennungsbegriff zu verzeichnen ist, wobei dieser sowohl aus ethischer als auch aus pädagogischer Sicht diskutiert wird. Eine pädagogische Perspektive entwickelt auch KRASSIMIR STOJANOVin seiner Studie „Bildung und Anerkennung – Soziale Voraussetzungen von SelbstEntwicklung und Welt-Erschließung“4. Seine Überlegungen basieren auf einem Ansatz des intersubjektivitätstheoretischen Paradigmas, der „[…] als die neueste Ausprägung intersubjektivitätstheoretischen Denkens gelten kann […]“5: Er strebt eine bildungstheoretische Umsetzung und Erweiterung des von AXEL HONNETH entwickelten anerkennungstheoretischen Konzeptes an6. STOJANOVleitet daraus ein Bildungsverständnis ab, welches aus den folgenden Gründen als Ausgangspunkt und Grundlage für die weiteren Überlegungen bezüglich einer Gestaltung der erforderlichen Bildungsprozesse für Menschen mit geistiger Behinderung besonders geeignet erscheint: 1.
Bildung umfasst in diesem Verständnis parallel verlaufende Prozesse der Subjektivitätskonstitution in Form der Selbst-Entwicklung und der WeltErschließung durch das Individuum. Dabei geht es nun allerdings nicht mehr darum, sich einen „gemeinsamen und übergreifenden Überlieferungskom-
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RÖSNER (2006), S. 136. Ebd. Z. B. DEDERICH (2001, 2009), FORNEFELD (2008), HORSTER (2009), KATZENBACH (2004), KUHLMANN (2005), RÖSNER (2002, 2006), Sasse und STINKES (2002). Im Vorwort des Bands 2 „Behinderung und Anerkennung“ des Enzyklopädischen Handbuches der Behindertenpädagogik (vgl. BECK, IRIS u. a.) betrachten DEDERICH und JANTZEN z. B. die Kategorie Behinderung durchgängig „[…] in der Perspektive von Anerkennung und Partizipation unter sozialund kulturwissenschaftlichen, ethischen und rechtlichen Aspekten […].“ (DEDERICH & JANTZEN, 2009, S. 9). Vgl. STOJANOV (2006). Ebd., S. 13. Vgl. STOJANOV (2006), S. 13.
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2.
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4. 5.
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plex“1 anzueignen, Bildung wird vielmehr als eine den pluralisierten sozialen Verhältnissen innewohnende Dimension verstanden und „rekonstruiert“2. Bildung ist in diesem Verständnis der Subjektkonstitution ein lebenslanger Prozess, der biographisch ständig vollzogen werden und intersubjektivitätstheoretisch gedeutet werden muss: Dabei geraten die sozialen Voraussetzungen als Grundlage für Selbstverwirklichungsprozesse in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit3. Durch die intersubjektivitätstheoretische Erfassung der Subjektkonstitution avanciert der Begriff der „Identität“ zu einem Schlüsselbegriff – Bildungsprozesse werden zu Identitätsentwicklungsprozessen. Bildung kann dann durch die Verletzung legitimer Identitätsansprüche beeinträchtigt werden, die durch praktische soziale Kritik zu identifizieren sind4. Bildung als Entwicklung individueller Autonomie ist abhängig von einer bestimmten Qualität der Sozialbeziehungen und lässt sich deshalb durch Arbeit an dieser Qualität fördern5. Im Gegensatz zu der sprachpragmatischen Intersubjektivitätstheorie JÜRGEN HABERMAS‘, in der es vor allem um die Beherrschung von Regeln verständigungsorientierter Kommunikation gehe, so STOJANOV, gebe es in HONNETHS Anerkennungstheoretischem Konzept einen unmittelbaren und zugleich theoriebildenden Zusammenhang zwischen Selbst-Entwicklung und intersubjektiven Verhältnissen. Damit könne die „kognitivistische Verengung“6 klassischer Intersubjektivitätstheorie, so STOJANOV, überwunden und auf der Ebene von „[…] basalen und präreflexiven interpersonalen Verflechtungen des Individuums […]“7 ein viel tiefer greifender Zugang zu den Prozessen der Formung und Entwicklung von Subjektivität geschaffen werden8.
Zu (1): STOJANOVentwickelt einen Bildungsbegriff, der den Veränderungen innerhalb nachmoderner Gesellschaften gerecht wird und damit für die Überlegungen zur Gestaltung von Bildungsprozessen innerhalb von Wohneinrichtungen
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Vgl. STOJANOV (2006), S. 11. Ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 116. Vgl. ebd., S. 118. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. STOJANOV (2006), S. 14. Ebd. Vgl. ebd.
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für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung besonders interessant ist1. Das betrifft vor allem
die Aufnahme der Spannungen zwischen einer Vorstellung von Bildung als Initiation in einen kulturellen Kanon einerseits und der Tatsache der nichthintergehbaren soziokulturellen Pluralität andererseits sowie das Ausbalancieren der Widersprüchlichkeiten zwischen einem Verständnis von Bildung als Vorgang autonomer Selbstentwicklung im Gegensatz zu einer Auffassung, die Bildung mit der Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten in vorstrukturierten pädagogischen Interaktionen gleichsetzt2.
Ein solches Bildungsverständnis eröffnet gerade Menschen mit geistiger Behinderung, für die sich Bildung unter erschwerten Bedingungen vollzieht, Perspektiven, die die Beschränkung auf eine Weitergabe und Aneignung vorgegebener Wissensinhalte mit einseitiger, gesellschaftlich normierter Leistungsorientiertheit überwinden helfen und den individuellen Andersartigkeiten und Besonderheiten dieses Personenkreises eher gerecht werden können3. Zu (2): Die Beziehungen innerhalb der sozialen Nahräume der Familie, Verwandtschaft und der unmittelbaren Sozialräume (d. h. des Stadtteils, der Ortschaft bzw. des Wohnquartiers oder „Kiez“) sind in der Nachmoderne Wandlungs- und Erosionsprozessen mit teilweise gravierenden Veränderungen unterworfen – mit nachhaltigen (positiven und negativen) Auswirkungen auf die Selbstverwirklichungsprozesse der Individuen. Die Aufgabe und besondere Chance der Wohneinrichtungen besteht darin, unter Bildungsaspekten die sozialen Verhältnisse innerhalb der Einrichtungen so zu gestalten, dass sie erfolgreiche Selbstverwirklichungsprozesse ihrer BewohnerInnen ermöglichen, initiieren und unterstützen. Sie 1
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Die Anerkennungskategorie, die die Grundlage für die Entwicklung autonomer Handlungsfähigkeit des Subjektes bildet, wird, so STOJANOV; „tendenziell zu einer der zentralen Signaturen der Moderne“, da „autonomiestiftende Intersubjektivität“ zum zentralen Integrationsmuster nachmoderner Gesellschaften werde. Diesen Gedanken begründet er ausführlich und stellt damit – neben einem anthropologischen – auch den gesellschaftstheoretischen Bezug her (vgl. ebd., S. 110-115, siehe auch Abschn. 3.2). Vgl. ebd., S. 15. Mit dem Moment der Welterschließung erfasst er die „[…] pädagogisch immens wichtige Dimension der Generierung und Konstitution von Wissen für und durch den Einzelnen […]“ und stellt sie in einen unmittelbaren Bezug zur Entstehung und Entwicklung von Subjektivität: Welterschließung und Wissensgenerierung sind für STOJANOV ein Medium zur „[…] Erweiterung und Anreicherung der Verhältnisse intersubjektiver Anerkennung, an denen das Individuum partizipiert […]“ und ist untrennbar mit der Selbst-Entwicklung des Individuums verbunden (ebd., S. 14). Zudem stimmt es in hohem Maß mit den Vorstellungen und Forderungen der UNBehindertenrechtskonvention überein.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
konstituieren in diesem Sinne – gemeinsam mit den entsprechenden institutionellen Strukturen – den „Kern“ von Anerkennungsverhältnissen. Zu (3): Durch die intersubjektivitätstheoretische Erfassung der Subjektkonstitution avanciert der Begriff der „Identität“ zu einem Schlüsselbegriff – Bildungsprozesse werden zu Identitätsentwicklungsprozessen. Bildung kann dann durch die Verletzung legitimer Identitätsansprüche beeinträchtigt werden, die durch praktische soziale Kritik zu identifizieren sind. Wohneinrichtungen, die ihrer Bildungsarbeit ein Verständnis von Bildung im Sinne der Identitätsentwicklung ihrer BewohnerInnen zugrunde legen, respektieren diese Identitätsansprüche und berücksichtigen die veränderten Bedingungen individueller Identitätsentwicklung in der Nachmoderne, um ihren BewohnerInnen die notwendige Unterstützung für eine „gelingende Identitätsentwicklung“1 gewähren zu können. Zu (4): STOJANOV wendet sich mit seinem Bildungsverständnis gegen pädagogische Vorstellungen, „[…] welche die Tatsache der »post-traditionellen« oder »post-modernen« Pluralisierung und Individualisierung der Selbst- und Weltbezüge der Einzelnen und ihrer Entwicklungswege als Postulat der Nicht-Beeinflussbarkeit von individuellen Lernund Bildungsprozessen auslegen.“2 (Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.).
Das entspricht einem wichtigen Grundansatz dieser Arbeit, die gerade von der Gestalt- und Beeinflussbarkeit von Lern- und Bildungsprozessen ausgeht. Dabei spielen für STOJANOV die alltagsweltlichen Sozialbeziehungen eine ausschlaggebende Rolle: Er greift auf das anerkennungstheoretische Konzept HONNETHS zurück, das die Anerkennungsformen der Liebe (bzw. der Empathie), des Rechts (bzw. des moralischen Respekts) und der sozialen Wertschätzung als Grundlage für Selbst-Entwicklung und Selbst-Beziehung ausweist, setzt es bildungstheoretisch um und erweitert es3. Der dabei über das Konzept HONNETHS hinausreichende Schritt besteht darin, „[…] die Erkenntnis der Vermittlung und der Ermöglichung der Subjektkonstitution durch die erwähnten Anerkennungsformen auf die Genese und die Entwicklung nicht nur von Selbst-, sondern auch von Weltreferenzen des Einzelnen auszudehnen.“4 1
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Vgl. KEUPP & HÖFER (1997). HEINER KEUPP hat sich intensiv der Erforschung von Prozessen der Identitätsentwicklung unter den sich wandelnden Bedingungen der Nachmoderne gewidmet (vgl. z. B. KEUPP 1997 und 2004 sowie KEUPP u. a. 1999) und dabei auch ULRICH BECKS Ansatz der Reflexiven bzw. Zweiten Moderne einbezogen (vgl. z. B. KEUPP 1994a, 1994b). STOJANOV (2006), S. 12. Er bezieht das auf systemtheoretisch und / oder radikal konstruktivistisch inspirierte pädagogische Vorstellungen (vgl. ebd.). Vgl. STOJANOV (2006), S. 16. STOJANOV (2006), S. 16.
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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Für STOJANOVist der unmittelbare Zusammenhang von Selbst- und Welterschließung – ihre wechselseitige Durchdringung – als „tragende Komponente“1 innerhalb des Bildungsbegriffes angelegt. Auf beides – sowohl Selbst- als auch Welterschließung – beziehen sich die oben erwähnten Anerkennungsformen2. Dieses Bildungsverständnis ist besonders geeignet für die Konzipierung der Bildungsaspekte im Rahmen der zukünftigen Arbeit der Wohneinrichtungen: Es ermöglicht die Grundlegung von Bildungsprozessen zur Herausbildung individueller Identität einerseits und zum Kompetenzerwerb zur Bewältigung der mit dem gesellschaftlichen Wandel verbundenen Herausforderungen andererseits, da es dabei gerade um das Wechselspiel von Selbstentwicklung im Zusammenhang mit Welterschließung und -aneignung geht. Zu (5): Bildungsprozesse für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung setzen ein Verständnis von Bildung voraus, welches sich an basalen sinnlichen Zugängen zum Individuum orientiert und den speziellen kognitiven Möglichkeiten dieses Personenkreises Rechnung trägt. STOJANOVS Bildungsverständnis – basierend auf seinen Vorstellungen über die Prozesse der Formung und Entwicklung von Subjektivität – entspricht diesem Gesichtspunkt in besonderer Weise. Im Abschn. 4.1.3 werden die Konsequenzen, die sich aus dem von STOJANOV entwickelten Bildungsverständnis für Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung unter dem Aspekt der Schaffung geeigneter Bedingungen zur Ermöglichung von Bildungsprozessen ergeben, näher betrachtet. 4.1.2.4 Das Prinzip „Anerkennung“ als neue zentrale Leitidee der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen Im Kapitel 2 wurde im Rahmen der Untersuchung der beiden sonderpädagogischen Diskurse der De-Institutionalisierung gezeigt, dass die institutionalisierten zentralen Leitkonzeptionen der Sonderpädagogik, die bisher die Grundlage der pädagogischen Arbeit der Wohneinrichtungen bildeten, nicht mehr den aktuellen Erfordernissen, Anforderungen und Erwartungen ihrer Umwelten entsprechen – weder aus gesellschaftlicher, noch aus individueller Sicht3. Im Rahmen der Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen ist deshalb auch eine Re-Institutionalisierung dieser institutionalisierten handlungsleitenden 1 2 3
STOJANOV (2006), S. 17. Vgl. ebd. FORNEFELD geht noch einen Schritt weiter: Für den Personenkreis der Menschen mit Komplexer Behinderung weist sie nach, dass die sonderpädagogischen Leitprinzipien in ihrer aktuellen Form sogar zu Ausschlusskriterien werden. Deshalb sei ein „[…] Umdenken unaufschiebbar.“ (FORNEFELD, 2008, S. 164).
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
sonderpädagogischen Leitkonzeptionen im Sinne ihrer Neubestimmung und Fortentwicklung unumgänglich. Diese Re-Institutionalisierung der Leitkonzeptionen ist allerdings nicht mit einer De-Institutionalisierung gleichzusetzen – ebenso wenig, wie es um eine De-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen insgesamt geht1. Die sonderpädagogischen Leitkonzeptionen sind im Rahmen einer kritischen Reflexion, die insbesondere die sich schnell wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen und die daraus resultierenden veränderten Lebenslagen der Individuen berücksichtigt, zu hinterfragen und fortzuentwickeln. Das Ziel dieser Re-Institutionalsierung besteht darin, den Wohneinrichtungen für die neu zu bestimmende Ausrichtung ihrer Arbeit Grundorientierungen zur Verfügung zu stellen, die sowohl den veränderten gesellschaftlichen Erwartungen und Forderungen als auch den neuen Hilfebedarfen, Wünschen und Bedürfnissen der BewohnerInnen entsprechen2. Dazu ist es allerdings unumgänglich, dass die sonderpädagogischen Leitkonzeptionen im Zuge ihrer Re-Institutionalisierung zunächst selbst eine Neubestimmung und Neuausrichtung erfahren. Das könnte mit der Einführung einer zentralen Leitidee erreicht werden: Diese müsste ihrerseits geeignet sein, eine derart orientierende Funktion wahrzunehmen. Sie würde den Leitkonzeptionen übergeordnet und wäre zudem in der Lage, eine einheitliche Ausrichtung der Arbeit der Wohneinrichtungen zu ermöglichen. Dafür bietet sich – alternativlos – das Prinzip „Anerkennung“ an, zumal es – wie oben gezeigt – sowohl die ethische, die anthropologische, die gesellschaftstheoretische, die sozialpolitische und die pädagogische Dimension abbildet. FORNEFELD, die gleichfalls von der Notwendigkeit einer „Neupositionierung“ der Behindertenpädagogik ausgeht, entwickelt eine ähnliche Sicht3. Sie formuliert unter besonderer Berücksichtigung der Situation von Menschen mit Komplexer Behinderung ein Plädoyer für das „Prinzip Anerkennung“, wobei sie von einer „Ergänzungsbedürftigkeit“ der gängigen Leitprinzipien durch dieses Prinzip ausgeht4.
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Das bedeutet, dass diese sonderpädagogischen Leitgedanken keinesfalls überholt sind, sondern im Gegenteil ihre Bedeutung behalten, aber nur dann ihrer orientierenden Funktion als Leitprinzipien gerecht werden können, wenn sie aus Sicht der grundlegend gewandelten gesellschaftlichen Anforderungen, Ansprüche und Gegebenheiten ganz neu bestimmt werden. Dieser Aspekt der Neuausrichtung der professionellen Arbeit der Wohneinrichtungen spielt eine wichtige Rolle im Rahmen einer Neubestimmung ihrer Funktion und damit der Überwindung ihrer Legitimationskrise durch positive Beantwortung der gewandelten Anforderungen ihrer technischen und institutionellen Umwelten. Vgl. FORNEFELD (2008), S. 161 ff. Vgl. ebd., S. 128-147.
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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Ihre Grundgedanken, die sich auch auf den gesamten Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung übertragen lassen, eignen sich zur Veranschaulichung einer am „Prinzip Anerkennung“ orientierten Re-Institutionalisierung der sonderpädagogischen Leitkonzeptionen. Deshalb werden im Folgenden immer wieder ihre Überlegungen herangezogen. Die Schwerpunkte der notwendigen Re-Institutionalisierung der sonderpädago- gischen Leitprinzipien sollen im Folgenden zunächst knapp angerissen und im weiteren Verlauf der Arbeit weiter vertieft werden, wobei sich allerdings noch nicht alle im Abschn. 2.4. aufgeworfenen Fragen endgültig beantworten lassen. FORNEFELD stellt den sonderpädagogischen Leitideen, die den Charakter von Prinzipien haben, ethische1,2 Überlegungen voran3 und greift dabei das Anerkennungskonzept auf, wobei sie in Anlehnung an STINKES zwischen „ethischer“ und „rechtlicher“ Anerkennung unterscheidet – erstere gehe letzterer immer voraus, da sie die ursprünglichere sei4. Eben diese Ebene der ethischen Anerkennung liege vor den Prinzipien und wurde bislang zu wenig berücksichtigt. Übertragen auf die sonderpädagogischen Leitprinzipien bedeutet dies: 1
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FORNEFELD geht unter Bezug auf MACINTYRE (vgl. MACINTYRE, 2001, S. 151 f.) von einer grundlegenden Abhängigkeit der Menschen voneinander aus („Abhängigkeit vom Anderen“, ebd.), die sich in reziproken und responsiven Verhältnissen äußert, die Entwicklung ihrer Identität prägt, die Grundlage der Achtung und Anerkennung des Anderen bildet und dadurch ein moralisches Verhältnis zum Anderen konstituiert (vgl. ebd., S. 138 unter Verweis auf STINKES [2003, S. 63], die sich dabei auf LÉVINAS „Ethik der Verantwortung“ [vgl. LÉVINAS 1998] bezieht). Aus diesem anthropologischen Tatbestand resultiert im sozialen Nahbereich ethische Anerkennung und Verantwortung, die aufeinander verweisen. Verantwortung ist dabei als Verpflichtung zu verstehen, „[…] das Sein des Anderen zu schützen und zu wahren.“ (FORNEFELD, 2008, S. 138 unter Verweis auf STINKES, 2003, S. 63). Da Anerkennung gerade auch aus asymmetrischen Verhältnissen hervorgehe (vgl. ebd.), könne die Verantwortung, zu welcher der Mensch verpflichtet sei, im umgekehrten Fall nicht eingeklagt werden (vgl. ebd., S. 138 unter Verweis auf STINKES [2003, S. 64]). Eine weitere ethische Begründung der Behindertenpädagogik, die „[…] in ihrer Umsetzung in die Praxis Institutionen zu Lebens- und Bildungsräumen wandelt“ sieht FORNEFELD in der „Achtung des Menschen als Menschen“ (MARGALIT 1997) und die Anerkennung der „Befähigung“ (NUSSBAUM 1999) (vgl. FORNEFELD, 2008, S. 164). MARTIN W. SCHNELL entwickelt unter Einbeziehung des Prinzips Anerkennung eine ethische Grundlegung, in deren Mitte der „bedürftige“ Mensch steht (vgl. SCHNELL, 2008, S. 148-160). Diese Leitideen zielten auf einen Sollenszustand ab, so FORNEFELD. Davor gebe es eine unmittelbarere Ebene, nämlich die der Lebenswelt, in der sich Menschen aufeinander bezögen und sich in ummittelbaren Begegnungen moralisch verhielten. Im Verhalten zu Anderen, so FORNEFELD weiter, seien Wert-Entscheidungen zu treffen, die allen Soll-Entscheidungen vorausgingen (vgl. ebd., S. 131). Vgl. ebd., S. 136. Die ethische Dimension von Anerkennung meine, so FORNEFELD, die existentielle Verwobenheit der Menschen; eine Abhängigkeit, die sich aus dem Menschsein und nicht aus Krankheit oder Behinderung ergebe. Im konkreten Leben wären beide, die rechtliche und die ethische Anerkennung, von Bedeutung, weil beide zueinander gehörten und miteinander verwoben seien (vgl. ebd., S. 136, 137).
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
„Wenn Selbstbestimmung, Integration oder Teilhabe gefordert werden, geschieht dies im Sinne von Postulaten oder Rechten. Doch zur Einlösung in der Alltagswirklichkeit ist die moralische Wertung unverzichtbar, wie die anerkennungstheoretischen Analysen gezeigt haben. Die Anerkennung geht den Forderungen der Leitprinzipien immer voraus.“1
Dieser ethische Aspekt des Anerkennungsprinzips, der die für das Menschsein wesensmäßige Abhängigkeit und Verantwortung füreinander hervorhebt2, erfährt durch die Betonung der Achtung und Wertschätzung der Andersheit eines jeden Menschen eine wichtige Ergänzung3. Damit wird Behinderung zur Erscheinungsform des Menschlichen und Wohneinrichtungen können sich auf der Grundlage einer solchen Ethik der Anerkennung zu „Schutzbereichen des Ethischen“4 entwickeln, in denen Menschen sich in ihrer Vielfalt, Unterschiedlichkeit, Originalität und Einmaligkeit anerkennen und achten, insbesondere aber auch den Wert ihrer Andersartigkeit hoch schätzen und niemanden ausschließen5. Werden die sonderpädagogischen Leitkonzeptionen im Zusammenhang mit dem Prinzip „Anerkennung“ betrachtet, dann führt dieses als übergeordnete Leitidee zu deutlichen Korrekturen, Ergänzungen, Erweiterungen und Fortentwicklungen dieser Leitvorstellungen.
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Vgl. FORNEFELD (2008, S. 136, 137) schreibt weiter: „Selbstbestimmung wird für den Menschen nicht möglich sein, wenn er in seiner unmittelbaren Umgebung keine Wertschätzung für das erfährt, was er ist. Die Inklusion aller ist leicht zu fordern, aber nur einzulösen, wenn man die Eigenheit von Menschen mit Behinderung schätzt und anerkennt. Teilhabe von Menschen mit Behinderung kann nur gelingen, wenn der Teilzuhabende als Mensch gewollt ist. Im unmittelbaren Bezug der Menschen zueinander, in der Alltags- oder Lebenswirklichkeit, kommt die ethische Anerkennung durch die moralischen Wertungen des Einzelnen zum Tragen.“ (ebd.). Anerkennung bedeute, so SCHNELL, dass dem Anderen zu geben sei. Der Andere sei damit grundsätzlich ein bedürftiger Anderer (vgl. SCHNELL, 2008, S. 156). Das gilt uneingeschränkt zunächst für alle Menschen und nicht etwa nur für Menschen mit Behinderungen. Diese ethische Sicht bestätigt nachdrücklich, das Menschen mit Behinderungen Menschen sind und nicht nur „[…] Abweichungen von einer Normalität.“ (ebd., S. 148). Für die professionelle Arbeit der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung (und die Behindertenhilfe insgesamt) zieht dies wesentliche Konsequenzen nach sich: Maßstab ist dann nicht mehr die Normalität des „normalen“ Menschen, sondern die Andersheit eines jeden Menschen – an die Stelle des „normalen“ tritt dann der „andere“ Mensch (vgl. dazu auch die Ausführungen SCHNELLS, 2008, S. 148). Diese Art Schutzbereich unterscheidet sich grundlegend von den bisherigen Schutz- und Schonwelten der Wohneinrichtungen mit ihrem oftmals exkludierenden, separierenden und stigmatisierenden Charakter, der ihren BewohnerInnen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zumeist verunmöglichte. Vgl. dazu auch die Ausführungen von SCHNELL (2008), S. 148 ff.
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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Für das Normalisierungsprinzips bedeutet dies: Die „problematische Kehrseite“, wie SCHNELL die exklusive Funktion der Normalität nennt1, wird überwunden, indem „[...] die Subsumtion des Individuums unter das Allgemeine der Normalisierungstypik [...]“2 aufgehoben wird, „[...] so dass das Individuelle die Typik regiert.“3 Damit wird es möglich, der individuellen Vielfalt, Unterschiedlichkeit und Andersheit der biografischen Prägungen, Erfahrungen, Wertehorizonte, Lebensstile und Präferenzen der Lebensgestaltung gerecht zu werden, die für die pluralen nachmodernen Gesellschaften kennzeichnend sind. Durch diese Korrektur des Normalisierungsprinzips erhalten Menschen mit geistiger Behinderung die ihnen zustehende Anerkennung ihrer Andersheit – und die für ihre ganz eigene Entwicklung erforderlichen Freiräume. Im Abschn. 2.4 wurde darauf verwiesen, dass die Kritik an den Leitkonzeptionen Integration und Inklusion sich nicht vorrangig gegen ihren normativen Gehalt, sondern gegen die praktische Wirkungslosigkeit ihres Anspruchs richtet4. FORNEFELD zeigt auf, dass – zumindest für den Personenkreis der Menschen mit Komplexer Behinderung – diese Leitkonzeptionen sogar ausgrenzenden Charakter haben. Eine Re-Institutionalisierung der Leitideen Integration und Inklusion, die sich am Prinzip „Anerkennung“ orientiert, muss deshalb von folgender Grundüberlegung ausgehen: Alle Angebote der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung, die konkret auf ihre Integration bzw. Inklusion in das gesellschaftliche Umfeld abzielen, können nur in dem Maße gelingen und erfolgreich sein, wie die Andersheit der Menschen mit geistiger Behinderung durch die Mitbürger der Region toleriert, akzeptiert sowie möglichst wertgeschätzt werden und die Betroffenen in der Begegnung mit Anderen Anerkennung erfahren. Der zentrale Aspekt der sich am Prinzip „Anerkennung“ orientierenden ReInstitutionalisierung der Leitkonzeption Integration / Inklusion besteht deshalb in der Schaffung von Anerkennungsverhältnissen.
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SCHNELL schreibt dazu: „Seit Emile Durkheims Analyse der Normalität als Durchschnittstypus wird Normalität tendenziell zur Gleichmacherei, und werden Individualität und Andersheit daraufhin zu problematischen Größen gestempelt.“ (SCHNELL, 2008, S. 150, 151; Hervorhebung im Original, Anm. A. B.). Ebd., S. 151. Ebd. Als wesentlicher Grund dafür wurde die fehlende Einbeziehung soziologischer und gesellschaftstheoretischer Ansätze zur Deutung der aktuellen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse mit ihren Konsequenzen für die Individuen genannt.
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Die Rückschläge in Bezug auf Integration / Inklusion lassen sich überwiegend daraus erklären, dass eine solche Kultur der Anerkennung in vielen gesellschaftlichen Bereichen eben gerade (noch) nicht existiert1. Wird das Anerkennungskonzept mit seinen gesellschaftstheoretischen Aussagen zugrunde gelegt, können die Leitkonzeptionen Integration / Inklusion darauf zurückgreifen, Erklärungen für ihre Umsetzungsprobleme ableiten und konkrete Lösungsstrategien entwickeln2,3. Diesen Überlegungen entspricht auch das Verständnis von einer „freiheitlich sozialen Inklusion“4, wie es der UN-Behindertenrechtskonvention zugrunde liegt, die eine zentrale Zielstellung der Rehabilitation behinderter Menschen in einer Veränderung der Gesellschaft hin zu inklusiven Gemeinwesen sieht, und eine entsprechende gesellschaftliche Umgestaltung fordert. Die Abhängigkeit vom Anderen und die Notwendigkeit der Anerkennung durch den Anderen als Konstitutivum des Menschseins wird in anthropologischer Perspektive durch die Theorie der „Anerkennung“ hervorgehoben5. Damit wird deutlich, dass Selbstbestimmung und Fremdbestimmung untrennbar miteinander verbunden sind. Die Kritik der „Selbstbestimmungs-Diskussion“ an einem selbst-
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Wie oben bereits aufgeführt, zitiert RÖSNER zur Problematik der Integration innerhalb nachmoderner Gesellschaften HONNETHS Hypothese, „[…] dass jede soziale Integration von Gesellschaften auf geregelte Formen der wechselseitigen Anerkennung angewiesen ist, an deren Unzulänglichkeiten und Defiziten sich stets wieder Empfindungen der Missachtung festmachen, die als Antriebsquelle gesellschaftlicher Veränderungen gelten können.“ (RÖSNER, 2006, S. 137 unter Bezug auf HONNETH [FRASER & HONNETH, 2003, S. 282]). Durch einen unentwegten Kampf um Anerkennung, so RÖSNER, solle es dazu gekommen sein, dass „[…] mit der Ausdifferenzierung der drei Anerkennungssphären […] zugleich eine Steigerung an sozialen Individualisierungsmöglichkeiten als auch ein Wachstum an sozialer Einbeziehung einhergeht.“ (RÖSNER, 2006, S. 139). Alle Anstrengungen der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung um die Integration und Inklusion ihrer BewohnerInnen müssen somit von Bemühungen begleitet werden, die sich auf die Entwicklung einer Kultur der Anerkennung richten, die zunächst in ihren Innenverhältnissen im Alltag gelebt und auch in ihre Außenverhältnisse „exportiert“ wird, damit diese sich schrittweise zunächst in der Nachbarschaft, im Freundeskreis, im kommunalen Umfeld und nach und nach auch im öffentlichen gesellschaftlichen Bewusstsein etablieren kann. Auch die neuen Ansätze der Gemeinwesen- und Sozialraumarbeit sowie der Erschließung und Förderung von Teilhabechancen für Menschen mit geistiger Behinderung sollten an dem Konzept der Anerkennung ausgerichtet werden – seine gesellschaftstheoretischen Aussagen haben für diese die gleiche Bedeutung wie für die Leitideen Integration / Inklusion. Vgl. BIELEFELDT (2009). Vgl. auch MOOSECKER (2004), S. 104. Daraus resultieren die Angreifbarkeit und Verletzlichkeit des Menschen sowie seine Beeinflussbarkeit durch die soziale Umwelt durch Sozialisation, Kultur, Erziehung und verschiedene Formen der Fremdbestimmung.
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bezüglich überhöhten Selbstbestimmungsbegriff1 wird durch die Einführung des Anerkennungsbegriffs aufgegriffen: Selbstbestimmung entwickelt sich nur in Rückbindung innerhalb sozialer Beziehungen, erfordert die Anerkennung durch den Anderen und muss letztlich auch durch den Anderen zuerkannt werden2,3. Nur durch Anerkennung können sich Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl herausbilden – als grundlegende Voraussetzungen für die Entwicklung von Selbstbestimmung im Rahmen von Selbstgestaltungsprozessen4. Die Re-Institutionalisierung der sonderpädagogischen Leitideen spielt eine wichtige Rolle im Rahmen der Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung: Sie stellt einen zentralen Aspekt der Re-Institutionalsierung der Wohneinrichtungen dar und wirkt sich auf die Standortwahl, die baulichen Gestaltungen und Rahmenbedingungen, die Strukturen, Prozesse, Dienstabläufe, Unternehmenskulturen und die Konzeptionierung der Öffentlichkeitsarbeit dieser Einrichtungen aus. Besonders nachhaltig beeinflusst sie das neu zu entwickelnde Profil der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen und die Neukonzeptionierung der pädagogischen Arbeit, die auf den aus der Theorie der Anerkennung resultierenden bildungstheoretischen Konsequenzen aufbaut. Diese bildungstheoretischen Konsequenzen sollen im nächsten Abschnitt näher untersucht werden.
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Vgl. z. B. THIMM (1997), S. 222. Er beklagt in diesem Zusammenhang eine Philosophie der Selbstverwirklichung mit dem Leitbild des eigenen Lebens als höchster Autorität (vgl. ebd., S. 226). In diesem Sinn spricht MOOSECKER davon, dass Anerkennung eine Bedingung der Möglichkeit von Selbstbestimmung sei (vgl. MOOSECKER, 2004, S. 114). Diese anthropologische Perspektive des Prinzips „Anerkennung“ ermöglicht es, ihm auch das von RALF DAHRENDORF entwickelte Modell der Optionen und Ligaturen als Grundlage von Lebenschancen zuzuordnen (vgl. DAHRENDORF, 1979, sowie die Ausführungen von WALTER TIMM, 1997, zur Rezeption dieser soziologischen Konzeption durch die Behindertenpädagogik). MOOSECKER hebt diesen Aspekt des Prinzips „Anerkennung“ im Rahmen einer Betrachtung der Selbstbestimmung in pädagogischer Perspektive hervor: Die Zielperspektive der Selbstbestimmung in pädagogischer Hinsicht sei klar, so MOOSECKER unter Bezug auf BIEWER (2000, S. 243), es gehe um eine pädagogische Subjektbeziehung mit dem Ziel, den Menschen mit geistiger Beziehung zum Akteur seiner eigenen Entwicklung werden zu lassen (vgl. ebd.).
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4.1.3 Bildungsräume und Bildungsangebote: „Selbst-Entwicklung“ und „WeltErschließung“ durch die Schaffung von „Anerkennungsverhältnissen“ 4.1.3.1 Gestaltung von Anerkennungsverhältnissen Ein typisches Merkmal der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung, das verdeutlicht die De-Institutionalisierungsdebatte, sind die Asymmetrien der sozialen Beziehungen zwischen BewohnerInnen und MitarbeiterInnen, die auch die Strukturen und Inhalte ihrer Interaktionen bestimmen. Diese Form der institutionalisierten Hierarchisierung resultiert aus den noch immer bestehenden einseitig ausgerichteten Machtverhältnissen. Betroffen davon sind allerdings nicht nur Wohneinrichtungen mit stationären Wohnangeboten, sondern auch die unterschiedlichsten ambulanten Wohnformen1. Diese Art der Asymmetrie sozialer Beziehungen ist offenkundig unabhängig von den konkreten Institutionalformen der Wohnangebote existent. Deshalb wird dieser Problematik auch mit der De-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen nicht beizukommen sein; zumal Menschen mit geistiger Behinderung dadurch in andere, möglicherweise nur subtiler wirkende Machtfelder der nachmodernen Gesellschaft entlassen werden2. Die Anerkennung der bestehenden Asymmetrien, die eingeschränkt, aber niemals völlig aufgelöst werden können, ist Voraussetzung für die notwendige Neubestimmung ihrer Funktion mit advokatorischer Zielsetzung im Interesse der betroffenen Menschen mit geistiger Behinderung. Um diese Asymmetrien der sozialen Beziehungen in diesem Sinn umfunktionieren zu können, ist die Schaffung ethischer Schonräume für Menschen mit geistiger Behinderung notwendig, in denen sie in ihrem Sosein und ihrer Besonders- und Andersheit als schutzwürdig angenommen und als Bereicherung anerkannt werden, für sie (ausschließlich in diesem Sinne) Verantwortung3 übernommen, ihnen (begrenzt auf das notwendige Maß und ohne Einengung) Fürsorge4 zuteil wird und sie (weitmöglichst) soziale Gerechtigkeit1 erfahren2. 1 2 3
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Vgl. dazu z. B. SCHÄDLER (2002b). Vgl. dazu die Überlegungen ULRICH BECKS zur Wirkungsweise sekundärer Institutionen. Natürlich kann es nicht darum gehen, erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung die Verantwortung für eine möglichst eigenständige Lebensgestaltung und -führung nach eigenen Wünschen und Vorstellungen abzunehmen. Allerdings ist dies derzeit oft noch der Fall und hier ausdrücklich nicht gemeint. Die Notwendigkeit der Fürsorge folgt aus der grundsätzlichen Abhängigkeit des Menschen vom Anderen als Konstitivum des Menschlichen, die auch Menschen ohne Behinderungen kennzeichnet. Diese auf den anderen als Subjekt bezogene Fürsorge, die ihn nicht einengt, sondern in einem advokatorischen Sinn zur Seite steht, ist als Ausdruck der Verantwortung des Einen für den Anderen zu verstehen.
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Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung lassen sich zu solchen ethischen Schonräumen umgestalten. Der Weg dahin führt über die radikale Neubestimmung ihrer Funktion hin zu einer umfassenden und grundlegenden Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen. Der zentrale Schwerpunkt der Re-Institutionalisierung besteht in der Schaffung von Anerkennungsverhältnissen innerhalb der Wohneinrichtungen: Diese bilden die Voraussetzung für eine erfolgreiche Selbstfindung und Identitätsentwicklung der BewohnerInnen und damit für eine gelingende Individualgenese3. Anerkennungsverhältnisse umfassen sowohl die institutionellen Strukturen als auch die Gestaltung der sozialen Interaktionen – erst die Wechselwirkung beider Aspekte kann zu erlebter Anerkennung, erfahrener Wertschätzung und Respektierung der eigenen Individualität und Integrität führen. Für DEDERICH sind Anerkennungsverhältnisse „[…] der Ermöglichungsrahmen individuell gelingenden Lebens“4. Den Maßstab für dieses gelingende Leben könnte das „gute Leben“ bilden. Dieses „[…] höchste Strebensziel, auf das alle Handlungen des Menschen ausgerichtet sind […]“5, bestimmt FORNEFELD unter Bezug auf GRÖSCHKE als „[…] ein sinnerfülltes, menschenwürdiges Leben, das – bei allem Wissen um existentielle Aporien von Schmerz, Leid und Tod – sehr wohl ein Optimum an Wohlbefinden, Wohlergehen und Glück anstrebt, für sich und andere“6. Die Realisierung von Anerkennungsverhältnissen bedeutet einerseits, dass sich die BewohnerInnen in den Wohneinrichtungen bejaht, angenommen und wohlfühlen, die Wahrung ihrer Intimsphäre und die Erfüllung ihrer Bedürfnisse erleben, eigenständig soziale Beziehungen aufbauen und gestalten, in ihrer individuellen Entwicklung Fortschritte machen, fähig werden, ihre Probleme in An1 2 3
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Damit ist vor allem die gerechtere Verteilung der Ressourcen, die für eine selbstbestimmte Lebensführung und möglichst umfassende Teilhabe am Leben der Gesellschaft notwendig sind, gemeint. Diesen Gedanken entwickeln z. B. auch DEDERICH (2002c), S. und FORNEFELD (2008). Mit der Vorstellung von sozialer Identität seien, so NOTHDURFT in Bezug auf nachmoderne Gesellschaften, Momente wie individuelle Einzigartigkeit, Originalität und Authentizität verbunden. Diese seien gerade nicht gesellschaftlich vorgegeben, sondern müssten von jedem Einzelnen in einem Prozess der Selbstfindung bzw. Selbstverwirklichung geschaffen werden. Die soziale Geltung der Einzigartigkeit einer Person, so NOTHDURFT weiter, müsse in Prozessen der sozialen Anerkennung errungen werden (vgl. NOTHDURFT, 2006, S. 111. Vgl. DEDERICH (2002c), S. 30. Vgl. FORNEFELD (2008), S. 170. Vgl. ebd., S. 171 unter Bezug auf GRÖSCHKE (2000), S. 137. Sie stellt folgenden Zusammenhang her: Mit der Tugendethik des »guten Lebens«, so FORNEFELD, ließe sich die behindertenpolitische Leitkategorie »Lebensqualität« ethisch als Streben nach einem »sinnerfüllten und menschenwürdigen Leben« bestimmen (ebd.). Dazu sei es allerdings notwendig, Menschen mit Behinderung (FORNEFELD bezieht sich dabei auf Komplexe Behinderung) als Menschen mit Fähigkeiten zu erkennen und anzuerkennen (vgl. ebd.).
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
griff zu nehmen und die Kompetenzen entwickeln, die notwendig sind, um das eigene Leben unter den konkreten Bedingungen der nachmodernen Gesellschaft möglichst selbstbestimmt zu gestalten1. Andererseits geht es auch um eine neue Qualität der Interaktionen innerhalb der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung, da gerade die Interaktionen Anerkennungsprozesse wesentlich bestimmen. Zudem erfordert Anerkennung als Bedingung von Individualität eine neue Art des Umgehens miteinander2. NOTHDURFT beschreibt ein „Idealmodell von Interaktion“, das mit den Momenten von Gleichheit und Wechselseitigkeit die Rahmenbedingungen liefere, unter denen Anerkennung von Individualität gewährt werden könne: dem Anderen „soll Raum zur Entfaltung seiner Individualität gewährt werden, und diese soll gewürdigt bzw. anerkannt werden.“3 Wie oben bereits erwähnt, unterscheidet HONNETH, drei Interaktionssphären, die den Ermöglichungsrahmen, so DEDERICH, für die Herausbildung bzw. Wahrung personaler Integrität darstellten: 1. 2. 3.
die emotionale Zuwendung die rechtliche Anerkennung sowie die solidarische Zuwendung4 und gemeinsame Orientierung an Werten5.
Zu (1): Emotionale Zuwendung Voraussetzung für die positive Beantwortung menschlicher Bedürfnisse nach emotionaler Zuwendung und Fürsorge sind in der Regel tragfähige soziale Beziehungen im sozialen Nahbereich. Stabile emotionale Beziehungen zu Bezugspersonen, ein warmherziges, akzeptierendes Klima im Umgang miteinander und soziale Unterstützung sind wichtige Faktoren, die eine positive individuelle Ent-
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Wie bereits angemerkt, liegen ausführliche Untersuchungen KEUPPS zu den Problemen der Identitätsentwicklung unter den Bedingungen der nachmodernen Gesellschaft vor, auf die allerdings im Rahmen dieser Arbeit nicht ausführlicher eingegangen werden kann. Vgl. NOTHDURFT (2007), S. 111. Die Momente individueller Einzigartigkeit, Originalität und Authentizität seien gesellschaftlich nicht vorgegeben, so NOTHDURFT, sondern müssten von jedem Einzelnen in einem Prozess der Selbstfindung bzw. Selbstverwirklichung geschaffen werden. Die soziale Geltung der Einzigartigkeit einer Person müsse in Prozessen sozialer Anerkennung errungen werden. […]. Das Subjekt bedürfe der Achtung durch Andere, um sich als Subjekt erleben zu können (vgl. ebd.). Ebd. Als weitere charakteristische Momente dieses Idealmodells führt NOTHDURFT an: wechselseitige Rücksichtnahme, Symmetrie im Umgang miteinander, Takt, Schonung des Gegenübers, wohlwollende Sensibilität, das Übersehen von „Entgleisungen“ und „[…] das Gewähren von Spielraum, in dem der Andere sein Verhalten selbst bestimmen kann.“ (ebd.). Ein anderer Sprachgebrauch: Solidarische Wertschätzung. DEDERICH (2002c), S. 32.
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wicklung und die Herausbildung von Selbstvertrauen und Daseinsbestätigung – auch unter erschwerten Lebensbedingungen – ermöglichen1. Damit kommt im Rahmen einer Gestaltung der Anerkennungsverhältnisse den Interaktionen zwischen den MitarbeiterInnen und BewohnerInnen der Wohneinrichtungen und der Qualität ihrer sozialen Beziehungsgestaltung untereinander eine ganz besondere Bedeutung zu. Dieser muss bei der Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen besondere Beachtung geschenkt werden, zumal die dieser Anerkennungsform korrelierenden Missachtungsformen Isolation, Deprivation, emotionale Kälte und Gleichgültigkeit, z. T. auch subtile Erfahrungen psychischer Gewalt und Misshandlung noch immer zum Alltag der Wohneinrichtungen gehören. Hierdurch würden die Persönlichkeitskomponenten der Leiblichkeit und Psyche in ihrer Integrität bedroht, so DEDERICH. Auf dieser Ebene werde das Gelingen der Aneignung und Integration leiblicher und psychischer Erlebensund Verhaltensdispositionen gestört oder stark beschädigt2. Für Wohneinrichtungen stellt die Gestaltung dieser Anerkennungsform eine besondere Herausforderung dar, da sie ganz unmittelbar den Prozess der personenbezogenen sozialen Dienstleistung bestimmt und eine Reihe von Spannungsund Problemfeldern eröffnet. Dazu sind z. B. Fragen von professioneller Nähe und Distanz zu rechnen, eine weitmögliche Neubestimmung und Umfunktionalisierung der Asymmetrien der sozialen Beziehungen zwischen MitarbeiterInnen und BewohnerInnen einschließlich des herkömmlichen professionellen Selbstund Rollenverständnisses, das Erlernen der Akzeptanz und Wertschätzung von Verschieden- und Andersheit. Zu (2): Rechtliche Anerkennung Auf der Ebene der Gewährung von Grundrechten und der moralischen Zurechnungsfähigkeit erfahren die BewohnerInnen der Wohneinrichtungen die Möglichkeit, als sinnvoll und legitim anerkannte Rechte für sich persönlich beanspruchen zu können3. Das „[…] eröffnet [ihnen, Anm. A. B.] ein Ausmaß an
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Vgl. auch DEDERICH (2001), S. 211 unter Bezugnahme auf Ergebnisse der neueren Resilienzforschung (vgl. OPP u. a., 1999). Missachtung auf dieser Ebene führe, so DEDERICH AXEL HONNETH zitierend, zu einem „[…] Verlust an Selbst- und Weltvertrauen, der bis in die leiblichen Schichten des praktischen Umgangs mit anderen Subjekten hineinreicht. Was hier also der Person durch Missachtung an Anerkennung entzogen wird, ist die selbstverständliche Respektierung jener autonomen Verfügung über den eigenen Leib, die ihrerseits durch Erfahrungen der emotionalen Zuwendung in der Sozialisation überhaupt erst erworben worden ist.“ (DEDERICH, 2002c, S. 33 unter Bezug auf HONNETH, 1999, S. 275). Vgl. DEDERICH, 2002c, S. 34. unter Bezug auf HONNETH (1999), S. 275.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Chancen, Freiheitsgraden und Autonomie, die unter den Bedingungen von deren Vorenthaltung nicht gegeben sind.“1 Diese Anerkennungsform ist demnach ebenfalls bedeutungsvoll für die Integrität der BewohnerInnen der Wohneinrichtungen. Wird ihnen die Inanspruchnahme legitimer Rechte verwehrt und sie damit strukturell nicht als Träger von Rechten anerkannt, dann ist ihre soziale Integrität und Selbstachtung bedroht; Scham und psychische Lähmung bei den Betroffenen sind weitere Folgen2. Deshalb ist es als sehr problematisch zu bewerten, dass die Anerkennung und Umsetzung der Menschen-, Freiheits- und Bürgerrechte für Menschen mit geistiger Behinderung oftmals noch längst nicht selbstverständlich ist – auch nicht innerhalb von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung. Umso wichtiger ist es, dass im Zuge der Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen diese zu Lebensräumen mit einem institutionellen Rahmen umgestaltet werden, in dem die Beachtung dieser Rechte anerkannt, die Qualität der Interaktionen den Schutz dieser elementaren Bedingungen der Menschenwürde sichern und damit auch den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention entsprochen wird3. Diese Form des moralischen Respekts kann als weiterer wichtiger Faktor gelingender Bildungsprozesse betrachtet werden, der im Alltag der Wohneinrichtung vorrangige Beachtung verdient. Zu (3): Solidarische Zuwendung Während die rechtliche Anerkennung universalistisch die Gleichheit der Menschen betone, so DEDERICH, würden hier individuelle, kulturelle und gruppenbezogene Differenzen ins Spiel kommen: Auf der Ebene seiner Fähigkeiten und Eigenschaften erfahre der Mensch soziale Wertschätzung, eine wertschätzende Integration und Bejahung seiner Person, durch die er in seiner Selbstschätzung unterstützt und gefördert werde4. DEDERICH betont die Bedeutung dieser Anerkennungsform der solidarischen Zustimmung: Die rechtliche Anerkennung ermögliche zwar die Einklagbarkeit von Rechten und gewähre eine Mindestsicherung, führe aber nicht automatisch zu einer Bejahung und wertschätzenden Integration von Personen5. Diese solidarische Zustimmung eröffnet für die BewohnerInnen der Wohneinrichtungen die Chance, „[…] ohne kollektive Abstufungen [...] sich in seinen 1 2 3 4 5
DEDERICH (2002c), S. 33. Vgl. ebd. Vgl. auch DEDERICH (2001), S. 213 unter Bezugnahme auf GRÖSCHKE (1993). Vgl. DEDERICH (2001), S. 214. Vgl. DEDERICH (2002c), S. 34.
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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eigenen Leistungen und Fähigkeiten als wertvoll für die Gemeinschaft zu erfahren.“1 Es erscheint unmittelbar einleuchtend, wie wichtig diese Anerkennungsform für jede Art von Bildungs- und Lernprozessen ist. Das gilt insbesondere dann, wenn es um Lernen unter erschwerten Bedingungen – wie beim Vorliegen einer geistigen Behinderung – geht. Im Kern geht es um die Entwicklung eines Settings innerhalb der Wohneinrichtungen, welches den BewohnerInnen das Erleben der oben genannten Anerkennungsformen ermöglicht und die Voraussetzung für das Absolvieren von Bildungsprozessen schafft. Auf die Ausprägung dieser Anerkennungsformen wird im Verlauf der Arbeit näher einzugehen sein, an dieser Stelle soll zunächst nur ein kurzer Überblick gegeben werden: Um ein tragfähiges Fundament für gelingende Bildungsprozesse zu schaffen, muss auf die Herausbildung dieser Form der Anerkennung besonders geachtet werden. Angesichts des Dienstleistungscharakters der Arbeit der Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung und der bestehenden Asymmetrien sozialer Beziehungen zwischen MitarbeiterInnen und BewohnerInnen stellt dies eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. 4.1.3.2 „Selbst-Entwicklung“ und „Welt-Erschließung“ Die drei Formen der Anerkennung, die HONNETH beschreibt, führen zu Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstwertgefühl – drei Formen des Selbstbezugs, die „[…] konstitutive Aspekte der personalen Identität von Menschen […]“2 darstellen. Ihr Gelingen sei notwendig, so GRAUMANN, damit ein Mensch eine unbeschädigte personale Identität entwickeln und bewahren könne3. In dem Maß, in dem es gelingt, innerhalb der Wohneinrichtungen Anerkennungs-verhältnisse zu schaffen, kann sich auch die personale Identität4 der BewohnerInnen entfalten5, die die Grundlage individueller Autonomie bildet. STOJANOV erfasst die interaktive Vermittlung der Formung und Entfaltung eines autonomen Individuums in Gestalt einer Initiierung und Ermöglichung seiner individuellen Entwicklung mit dem Begriff der „Bildung“1. 1 2 3 4 5
HONNETH (1992), S. 210. GRAUMANN (2006), S.149. Vgl. ebd. Ausführliche Überlegungen zur Entwicklung von Identität stellen u. a. DEDERICH (2001, S. 149 ff.), KEUPP (1994b, 2004, 2007) und STOJANOV (2006) an. Werden andererseits eine oder mehrere der drei Formen von intersubjektiver Anerkennung gestört, führt das zur Bedrohung der psychischen Integrität der BewohnerInnen mit der Folge eines möglichen Identitätsverlustes (vgl. ebd.).
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Um es den BewohnerInnen von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung zu ermöglichen, Bildungsprozesse im eben genannten Sinn erfolgreich vollziehen zu können, ist die Schaffung intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse eine entscheidende Voraussetzung. Im Rahmen der Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen kommt der Schaffung von Anerkennungsverhältnissen ein hoher Stellenwert zu, da Bildungsangebote zukünftig einen zentralen Platz innerhalb des Leistungsprofils der Wohneinrichtungen einnehmen werden2. Das bezieht sich zum einen auf die Konzipierung und Umsetzung konkreter Bildungsangebote durch die Einrichtungen, zum anderen auf die Gestaltung bildungsförderlicher Interaktionsbeziehungen und Rahmenbedingungen. In diesem Sinne besteht ein wichtiges Ziel der Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen darin, sie zu Lern- und Bildungsräumen umzugestalten: Wohneinrichtungen wandeln sich zu Lebensräumen, die den BewohnerInnen die modernen Funktionen des Wohnens erschließen, eine hohe Wohn- und Lebensqualität ermöglichen und darüber hinaus die Qualität von Lern- und Bildungsräumen mit „Enabling-Charakter“ aufweisen. Dazu können Wohneinrichtungen im Rahmen ihrer Re-Institutionalisierung auf den von STOJANOV auf Grundlage des HONNETHSCHEN Anerkennungskonzepts entwickelten Bildungsbegriff zurückgreifen: Bildung wird dabei als paralleler Vorgang der Entwicklung von Selbstbeziehung und der Erschließung von Welt verstanden, ermöglicht und eingebettet in Verhältnisse intersubjektiver Anerkennung und notwendigerweise miteinander verschränkt3. Der Bildungsbegriff umfasst in diesem Verständnis die folgenden drei zentralen Bedeutungskomponenten: 1. 2. 3.
Bildung als Vorgang der Selbstentwicklung, Bildung als Prozess der Welterschließung und Bildung als Medium, in dem sich Selbstentwicklung und Welterschließung vollziehen4.
1
Vgl. STOJANOV (2006), S. 26. Dazu gehöre auch der Vorgang der Wissensgenerierung durch den Einzelnen, so STOJANOV. DEDERICH führt zum aktuellen Bildungsbegriff der Behindertenpädagogik aus: „Bildung wird vorwiegend […] als Selbstbildung, d. h. als eigenaktiver, selbstgesteuerter Prozess aufgefasst, als aktives und reflexives Geschehen, das von außen zwar angeregt werden kann (und insofern immer im Kontext eines Beziehungsprozesses verläuft), sich jedoch der Außensteuerung und Determination entzieht.“ (DEDERICH, 2001, S. 19.) Vgl. auch Abschn. 4.1.1.3. Vgl. STOJANOV (2006), S. 14 und 33. Vgl. STOJANOV (2006), S. 33-35.
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4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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Zu (1): Diese Komponente umfasse den Vorgang der Selbst-Entwicklung, so STOJANOV, in der Doppelbedeutung als Entwicklung eines eigenständigen Selbst und als eigenlogischen Prozess der Selbstentwicklung, der sich von außen nicht bestimmen und nur begrenzt steuern lasse1. Zu (2): Der Vorgang der Welterschließung beziehe sich nicht auf Bestandteile von „Welt“ als Tatsachen im Sinne von quasi „natürlich“ gegebenen Elementardaten, sondern auf konzeptionelle Inhalte, die auf Gründe und Normen verwiesen und eine universelle bzw. transkontextuelle Gültigkeit beanspruchten2. Zu (3): STOJANOV schlägt im Anschluss an DEWEY vor, als Medium des parallelen Vorgangs der Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung alternativ die Sphäre der alltäglichen pluralen und interaktiv strukturierten sozialen Erfahrungen des Einzelnen anzuvisieren3. Für Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung ist es von besonderem Interesse, den Aspekt der Bildung speziell unter dem Gesichtspunkt der Befähigung ihrer BewohnerInnen zu einer möglichst eigenständigen Lebensgestaltung unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Wandels nachmoderner Gesellschaften zu betrachten4. Daraus ergeben sich konkrete Anfragen, die sich im Rahmen der von STOJANOV entwickelten bildungstheoretischen Überlegungen reflektieren lassen, beispielsweise:
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Wie gestaltet sich die Selbst-Entwicklung von Menschen mit geistiger Behinderung innerhalb eines nachmodernen gesellschaftlichen Kontextes, in dem an die Stelle von „Normalbiografien“ zunehmend „Risikobiografien“ mit Patchwork-Charakter treten? Welche unterstützenden Bildungsangebote benötigen sie für eine erfolgreiche Selbst-Entwicklung? Was bedeutet Welterschließung für Menschen mit geistiger Behinderung unter den gesellschaftlichen Bedingungen funktional differenzierter nachmoderner Gesellschaften mit ihren ganz neuen Chancen und Risiken für die Lebensgestaltung und -bewältigung ihrer Individuen? Wie lässt sich dieser ProVgl. STOJANOV (2006), S. 33. Vgl. ebd., S. 34. STOJANOV verweist in diesem Zusammenhang auf die Differenzierung von Welt und Umwelt – Begegnung mit der Welt beinhalte, so STOJANOV, eine Überschreitung der jeweils gegebenen Umweltgrenzen (vgl. ebd.). Vgl. STOJANOV (2006), S. 35. Die Welt als der „objektive Pol“ der Bildung käme, so STOJANOV, demnach nicht in der Form eines überindividuellen Kontinuums geistig-kultureller Objektivationen vor, sondern als eine dynamische Umwelt, die im Rahmen von Kommunikationen sozial hergestellt und durch die ständige Erweiterung dieser pluralistisch verfassten Kommunikationen permanent erneuert werde (vgl. ebd. unter Verweis auf DEWEY, 1916, S. 12 ff.). Es wäre zu diskutieren, ob diese Perspektive notwendig zu einer Engführung oder Instrumentalisierung des Bildungsbegriffs führt.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
zess so gestalten, dass es gelingt, die „riskanten Chancen“, die diese Gesellschaft bietet, zu nutzen – auch für Menschen mit Komplexer Behinderung? Wie sollte das „Medium“, in dem sich die Prozesse der Selbst-Entwicklung und Welterschließung für Menschen mit geistiger Behinderung vollziehen, lebensweltlich gestaltet werden? Was bedeutet dies für die Wohneinrichtungen?
Mit den im Folgenden dargestellten Überlegungen soll die Reflexion dieser eng miteinander verbundenen Fragestellungen eröffnet werden – an dieser Stelle zunächst nur als erste knappe Skizze. Die Bildungsangebote der Wohneinrichtungen, die auf die Unterstützung ihrer BewohnerInnen bei dem Prozess ihrer Identitätskonstitution als SelbstEntwicklung und Welt-Erschließung abzielen, müssen vor allem den im Kap. 3 dargestellten globalisierungs- und modernisierungsbedingten Veränderungen mit ihren nachhaltigen Auswirkungen für die Individuen gerecht werden. Die von STOJANOV herausgearbeitete Verschränkung der Selbst-Entwicklung mit Weltbezug und Welt-Erschließung öffnet den Blick für die neuen Herausforderungen, denen sich nun die Individuen im Rahmen ihrer Identitätsarbeit stellen müssen, um die oben beschriebenen Individualisierungsprozesse erfolgreich bewältigen zu können. Dabei geht es vor allem um die Befähigung der BewohnerInnen der Wohneinrichtungen zur Konstituierung einer eigenen „reflexiven“ Identität1 und zum erfolgreichen Umgang mit der Fragmentierung und Pluralisierung ihrer Lebenskontexte – selbstverständlich in Abhängigkeit von der Art und Schwere ihrer Behinderung2. Diese reflexive Identität umfasst eine kognitive, eine affektive und eine ästhetische Komponente, wobei jeweils jede einzelne dieser drei dem Individuum wichtige Eigenleistungen abverlangt3: Kognitiv geht es um die Auseinanderset1
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DEDERICH fasst die Identitätsentwicklung als einen lebenslangen Prozess auf, der „[…] sich als zirkuläre Wechselwirkung von Innen und Außen vollzieht, als Zusammenspiel von äußeren Wahrnehmungen, Bewertungen, Zuschreibungen und Handlungserwartungen einerseits und Selbstwahrnehmung, Selbstbewertung und Anforderungen unterschiedlichster Art andererseits.“ (DEDERICH, 2001, S. 153). Die Verkörperung gesellschaftlicher Verhaltenserwartungen bzw. sozialer Attributionen bilden für ihn einen zentralen Aspekt von Identität (vgl. ebd. unter Bezug auf PETZOLD, 1993, S. 369). Grundsätzlich trifft dieser Aspekt von Bildung für alle Menschen mit geistiger Behinderung zu – die daraus resultierenden praktischen Konsequenzen werden sich aber deutlich voneinander unterscheiden und z. B. auch Formen basaler, stark körperorientierter Angebote für Menschen mit Komplexer Behinderung und speziell verhaltenstherapeutisch ausgerichtete Hilfen bei abweichenden Verhaltensmustern umfassen. DEDERICH weist darauf hin, dass es sich bei der Identitätsarbeit um ein Zusammenspiel innerer und äußerer Faktoren handele, da es nicht nur um einen intrapsychischen Vorgang gehe, son-
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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zung mit der Vielfalt an Normen und Werten, mit denen die plurale, nachmoderne Gesellschaft ihre Individuen konfrontiert, die Erarbeitung eines eigenen Normen- und Wertehorizontes und die freie Entscheidung für dessen Aneignung. Diese kognitive Komponente der Reflexivität muss durch ein emotionales Phänomen der Persönlichkeit ergänzt werden, das GIDDENS „ontologische Sicherheit“ nennt1. Er führt diese ontologische Sicherheit unter Bezugnahme auf ERIKSON auf das sich in der frühen Kindheit entwickelnde „Urvertrauen“ zurück, das zum innersten Wesen einer dauerhaften Ich-Identität führt. Vertrauen, ontologische Sicherheit und das Gefühl der Kontinuität von Dingen und Personen, so GIDDENS, blieben auch in der Persönlichkeit des Erwachsenen eng miteinander verknüpft2. Selbst unter günstigen Bedingungen müsse diese ontologische Sicherheit stets verteidigt werden, um emotionale Störungen in Form von Existenzängsten, von Argwohn und Feindseligkeit abzuwehren. Die Erschütterungen und grundlegenden Verunsicherungen im Gefolge der Globalisierung und Individualisierung können durch das Individuum nur dann bewältigt werden, wenn sich diese emotionale Dimension seiner Identität besonders widerstandsfähig und stabil konstituiert. Schließlich gehört zur Entwicklung der Identität noch der Aspekt der ästhetischen Reflexivität3. Ästhetisch reflexive Individuen können aktiv und selbstbestimmt die wachsende Reizüberflutung durch ihre Umwelt verarbeiten, sie füh-
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dern um einen intersubjektiven Prozess, in dem auch kulturelle (und milieuspezifische) Deutungsmuster relevant würden;(?), etwa solche, die Vorstellungen darüber transportierten, wodurch sich eine gelingende Individuation und ein „erfolgreich“ verlaufender Prozess der Identitätsbildung auszeichneten (vgl. DEDERICH, 2001, S. 155). Diese Überlegung stimmt mit STOJANOVS Vorstellung einer Verschränkung zwischen Selbst-Entwicklung und Welterschließung überein. GIDDENS führt dazu aus: „Die ontologische Sicherheit ist eine – allerdings überaus wichtige – Form von Sicherheit >...@. Der Ausdruck »ontologische Sicherheit« bezieht sich auf das Zutrauen der meisten Menschen zur Kontinuität ihrer Selbstidentität und zur Konstanz der sie umgebenden sozialen und materialen Handlungsumwelt. Grundlegend für die Empfindungen der ontologischen Sicherheit ist ein Gefühl der Zuverlässigkeit von Personen und Dingen, wie es auch für den Vertrauensbegriff maßgeblich ist; daher sind die beiden in psychologischer Hinsicht miteinander verwandt.“ (Hervorhebung im Original, A. B.) (GIDDENS, 1996, S. 118). GIDDENS (1996), S. 124. Darauf verweisen besonders die Vertreter einer positiven Variante der Postmoderne. Aus postmoderner Sicht gilt es zum Schluss, bei der Konstitution der eigenen Identität die „Abkehr vom anthropozentrischen Weltbild“ zu verarbeiten, mit der „Dezentrierung des Subjekts“ (FOUCAULT) die Hinfälligkeit aller Ansprüche einer universalen Ethik anzuerkennen und zur „Ästhetik der eigenen Existenz“ zu gelangen, wobei an die Stelle der aufklärerischen Vision des „Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ damit die „Sorge um sich“ und das „Recht auf Andersheit“ (FOUCAULT) treten. Es wäre zu untersuchen, welche speziellen Bildungsaufgaben aus postmoderner Perspektive daraus für Menschen mit geistiger Behinderung resultieren würden.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
len sich ihr nicht hilflos ausgeliefert, sondern lernen souverän mit Symbolen und Zeichen umzugehen und sie für den Aufbau ihrer Individualität fruchtbar zu machen. Das Erlernen der Handhabung von Fragmentierung und Pluralität im Rahmen der Identitätsarbeit stehe in der Gegenwart unter dem ambivalenten Motto der „riskanten Freiheiten“, so DEDERICH1. Die Pluralität der Lebensformen äußere sich „in der dramatischen Freisetzung aus orts- und sozialstabilen Bindungen, der Entfaltungsmöglichkeiten für Lebenssouveränität im Ergebnis der Erosion rigider Identitätsformen und historisch beispiellosen Möglichkeiten der Selbst-Organisation“ einerseits, so KEUPP2, und andererseits der Verstärkung des „Wunsches nach Klarheit, Überschaubarkeit und Einfachheit“, um mit diesen neuen Formen der Freiheit umzugehen. DEDERICH beschäftigt sich mit den Zwängen der Flexibilisierung3 als Merkmal nachmoderner Gesellschaften und den Folgen für ihre Individuen sowie die Herausbildung ihrer individuellen Identität4. Er entwickelt interessante Überlegungen zur Identitätsarbeit, die er unter dem Begriff der „narrativen Identität“ zusammenfasst5. Auf weitere wichtige Aspekte in diesem Zusammenhang verweisen HITZLER & HONER, die nicht nur die ständige Bewältigung eigener Wahl- und Entscheidungssituationen durch den individualisierten Menschen benennen, sondern auch die Folgen der Heterogenität hervorheben, mit der er sich ständig konfrontiert sieht6. Mit dem Gewinn an Entscheidungschancen und individuell wählbaren Stilisierungsoptionen gehe ein Verlust einher, so die Autoren, und zwar der „Verlust eines schützenden, das Dasein überwölbenden, kollektiv und individuell verbind-
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Vgl. DEDERICH (2001), S. 159. Für ihn verweist der Risikopol „[...] auf die Gefahr der Fragmentierung, Zersplitterung, den Zerfall in nicht integrierte parallelexistierende Teilidentitäten.“ (ebd.). Vgl. KEUPP „Ambivalenz postmoderner Identität“ in BECK & BECK-GERNSHEIM (1994), S. 336, 337. Vgl. dazu auch SENNETH (2000). Vgl. DEDERICH (2001), S. 149 ff. Vgl. ebd., S. 153 ff. Sie betonen die Tatsache, dass er „>...@ mit immer neuen Plänen, Entwürfen und Entscheidungen anderer Menschen konfrontiert (ist; Anm. A. B.), welche seine Biografie mehr oder weniger nachhaltig tangieren. Die »zersprungene Einheit der Welt« bewirkt darüber hinaus, dass der moderne Mensch in eine Vielzahl von disparaten Beziehungen, Orientierungen und Einstellungen verstrickt ist, dass er mit ungemein heterogenen Situationen, Begegnungen, Gruppierungen, Milieus und Teilkulturen konfrontiert ist und dass er folglich (sozusagen ständig) mit mannigfaltigen, nicht aufeinander abgestimmten Deutungsmustern und Handlungsschemata umgehen muss.“ (Hervorhebung im Original, A. B.) (HITZLER & HONER, 1994, S. 307).
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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lichen Sinn-Daches“1. An dessen Stelle sei ein Sinn-Markt getreten, eine Art kultureller Supermarkt für Weltdeutungsangebote aller Art, wobei diese Sinnangebote, so HITZLER & HONER, zu immer kurzlebigeren Modephänomenen würden2. Der individualisierte Mensch werde so (zwangsläufig) zum „Sinnbastler“ für sein Leben3. KEUPP ergänzt diese Sicht, indem er den Blick auf die Konstitution und Funktion sozialer Netzwerke lenkt. Gegenläufig zum Prozess der Auflösung fester sozialer Einbindungen müsse das „Subjekt zunehmend und notwendigerweise zum Baumeister des Sozialen, seiner eigenen Gemeinde oder Lebenswelt“ werden4. Diese kurze Auflistung, die die Thematik keinesfalls erschöpfend skizziert, zeigt, wie umfassend sich die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen auf die Entwicklung individueller Identität auswirken und welche komplexen, neuartigen Anforderungen die Individuen nachmoderner Gesellschaften im Rahmen ihrer Identitätsarbeit bewältigen müssen. Die neue Funktion der Wohneinrichtungen besteht darin, ihren BewohnerInnen die dazu notwendige Unterstützung anzubieten. 1
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HITZLER & HONER (1994), S. 308, 309. Die Fragmentierung der alltäglichen Lebenswelt werde gerade darin deutlich, dass sie „>...@ zersplittert ist in nicht mehr zusammenhängende TeilOrientierungen, dass Sinngebung zu einer privaten Angelegenheit jedes einzelnen geworden ist. Sinn steht >...@ zwar durchaus bereit, aber die in vormodernen Gesellschaften normale, umgreifende kulturelle Dauerorientierung, die verbindliche, alternativlose Festlegung, was wann wie warum zu tun und zu lassen ist, ist zerbrochen. Das bedeutet: Das Individuum muss sich typischerweise zwischen konkurrierenden Sinnsystemen entscheiden – ohne sich damit zwangsläufig längerfristig zu binden. In jeder dieser Sinnprovinzen herrschen zwar eigene Relevanzen, Regeln und Routinen – mit prinzipiell auf die jeweiligen Belange beschränkter Geltung. Gleichwohl können diese heterogenen Orientierungen zu so etwas wie einer (ästhetischen) Gesamtfigur arrangiert werden zu einem spezifischen Lebensstil.“ (Hervorhebung im Original, A. B.). Vgl. ebd., S. 308. Vgl. ebd., S. 310. Vgl. KEUPP (1994), S. 342-344. Er betont, dass es nicht mehr um die „Einpassung von Subjekten in vorhandene soziale Zusammenhänge“ gehe, sondern Menschen vielmehr „die Fähigkeiten entwickeln müssten, sich selbst solche Zusammenhänge zu schaffen“. Daraus resultiere für den Einzelnen allerdings die Forderung, selbst „Initiator und Manager des eigenen Beziehungsnetzes“ zu werden. Merkmale der neuen Beziehungsmuster dieser Netzwerke seien ihre „strukturelle Offenheit“, die „lockere Verknüpfung“, ihre „Wahlfreiheit“ und die Tatsache, dass „für sie ständig etwas getan werden muss, da sie sonst zerfasern und sich schnell auflösen“. – KEUPP weist darauf hin, welch enorme Rolle die psychosozialen Ressourcen dieser Netzwerke „für die produktive Bewältigung von Krisen und Belastungen haben: Hier wird emotionale Unterstützung geleistet, hier gewinne ich mein Selbstwertgefühl, hier beziehe ich praktische Alltagshilfe“. Andererseits seien sie kein „sicherer Bestand, auf den wir uns verlassen könnten. Sie sind deshalb stets defizitär für die Vermittlung von Sicherheit, Geborgenheit und Vertrauen.“ (vgl. ebd.).
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Diese besteht vor allem in einer entsprechenden Gestaltung des „Mediums“, in dem sich die Prozesse parallel verlaufender Selbst-Entwicklung und Welterschließung für Menschen mit geistiger Behinderung vollziehen, d. h. die Sphäre der unmittelbar „sozial hergestellten“1 Umwelt, die für die BewohnerInnen „Welt“ in Form „alltäglicher pluraler und interaktiv strukturierter sozialer Erfahrungen“2 als „objektiven Pol“ der Bildung3 repräsentiert. Wenn diese sozial hergestellten Umwelten sich zu Bildungs- und Lernräumen mit Enabling-Charakter wandeln, bieten sie günstige Voraussetzung zur Bildung ihrer BewohnerInnen im Sinne des STOJANOVSCHEN Bildungsverständnisses als Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung. Die Bildungsangebote der Wohneinrichtungen können dann innerhalb dieser neu geschaffenen institutionellen Strukturen so konzeptualisiert werden, dass sie die BewohnerInnen zur Herausbildung ihrer individuellen Identität und zur erfolgreichen Bewältigung der Folgen von Fragmentierung und Pluralisierung ihrer Lebensformen und -kontexte befähigen. Die mögliche „Palette“ dieser Angebote sollte dabei von der Unterstützung zur Aneignung von Kompetenzen zum „Aushandeln von Regeln, Normen, Zielen und Wegen zur individuellen Lebensgestaltungskompetenz“, zur „selbständigen Verknüpfung und Kombination multipler Realitäten“ über die Orientierungshilfe bei der individuellen Sinnsuche, der Bewältigung und dem Aushalten von Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten bis zum Ertragen modernitätsbedingter Verunsicherungen reichen4. Zur Unterstützung von Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung der BewohnerInnen – eingebettet in Anerkennungsverhältnisse und umgesetzt durch anerkennende soziale Interaktionen – gehören z. B.:
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die Vermittlung von Selbstachtung, Selbstschätzung, Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein, die Anleitung zur Entwicklung eines Körperbewusstseins und der Selbstwahrnehmung, Annahme und Wertschätzung der eigenen Person in ihrem STOJANOV (2006), S. 35. Ebd. Ebd. Vgl. KEUPP „Ambivalenz postmoderner Identität“ in BECK & BECK-GERNSHEIM (1994), S. 345, 346. KEUPP plädiert für das Erlernen eines positiven Umgangs mit Verunsicherung im Sinne einer Ambiguitätstoleranz („Freude aus Verunsicherung ziehen“, CH. WOLF). Er meint damit die Fähigkeit, „>…@ sich auf Menschen und Situationen offen einzulassen, sie zu erkunden, sie nicht nach einem »Alles-oder-nichts-Prinzip« als nur gut oder nur böse zu beurteilen. Es geht also um die Überwindung des »Eindeutigkeitszwanges« und die Ermöglichung von neugieriger Exploration von Realitätsschichten, die einer verkürzenden instrumentellen Logik unzugänglich sind.“ (Hervorhebungen im Original, A. B.).
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Sosein, ihrer Andersartigkeit und Differenz, in ihrer Besonderheit und Einmaligkeit, die Anleitung zur individuellen Erarbeitung eines eigenen handlungsleitenden Normen- und Wertesystem als wichtige Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben, die Motivation zur Entwicklung individueller Flexibilität und Mobilität als entscheidende Voraussetzung für den Zugang zu den sich ständig erweiternden Erfahrungs-, Handlungs- und Bildungsräumen, Hilfen zur Entwicklung individueller Selbststeuerungsfähigkeit (einschließlich der Befähigung zur intrinsischen Motivation, zum begründeten Auswählen von Favoriten aus unterschiedlichen Handlungsoptionen und verantwortbaren Treffen von Entscheidungen) als Grundlage zur Konzipierung, Strukturierung und Umsetzung des eigenen „Biografieentwurfs“1, Hilfen zur Herausbildung der Fähigkeit, die Vielzahl neuer Optionen und Chancen für die individuelle Lebensgestaltung zu nutzen, die Befähigung zur praktischen Welt-Erschließung in den unterschiedlichsten Bereichen des Alltags2 und die Befähigung zum erfolgreichen Umgang mit den vielfältigen Verunsicherungen, Reizüberflutungen, ungeklärten Sinnfragen, mit den Ambivalenzen3, Spannungsfeldern und dem Verlust an Sicherheiten und stabilisierenden Faktoren4 im Ergebnis der Individualisierungsschübe. Deshalb ist die Biografiearbeit ein wichtiger Bestandteil der Bildungsangebote der Wohneinrichtungen. Für DEDERICH ist Identitätsarbeit immer auch Biografiearbeit: Sie umfasse das Erinnern, die Entdeckung oder Stiftung von Sinn und Vorausentwürfen des Kommenden, die auf das gegenwärtige Erleben, Handeln und dessen Interpretation zurückwirkten. Pädagogische Identitätsarbeit, so DEDERICH weiter, sollte alle drei Zeitdimensionen umfassen. Dann könne es gelingen, durch eine veränderte Sicht auf die Gegenwart den Blick auf Vergangenheit und Zukunft zu verändern; es könne gelingen, durch Veränderung von Antizipationen die Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung in der Gegenwart zu ändern und durch eine Neuinterpretation oder ein tieferes Verstehen der Vergangenheit die Gegenwart und über sie die Zukunft zu verändern (vgl. DEDERICH, 2001, S. 156, 157). Dazu sind Bildungsprozesse beispielsweise in den Bereichen Medien und Kommunikation (wie z. B. Handhabung von Internet, Handy, Fernsehen mit einer Vielzahl an Programmangeboten u. a.), Politik (Entwicklung von Demokratieverständnis, Engagement für Frieden und Verständigung), Kultur (Entwicklung einer eigenen kulturellen Identität, Verständnis und Akzeptanz für multikulturelle Zusammenhänge, Umgang mit fremden Kulturen u. a.) und Ökologie (Sensibilisierung für Umweltprobleme, bewusster, schonender und bewahrender Umgang mit der Natur) zu rechnen. Vgl. die Ausführungen auf S. 45-52; insbesondere die Widersprüchlichkeit der neuen Formen der Standardisierung und Institutionalisierung der Individuallagen. Vgl. die Ausführungen auf S. 53-57; insbesondere die Folgen einer radikalen Pluralisierung, der Verlust des Glaubens an die großen Meta-Erzählungen und die Beherrschbarkeit der Welt sowie den gesellschaftlichen Fortschritt und die Legitimation wissenschaftlicher Rationalität.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Bei der Umgestaltung der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung zu Lebens-, Bildungs- und Lernräumen mit EnablingCharakter gilt es, einen anderen, genauso wichtigen Aspekt zu berücksichtigen, der ebenfalls aus Anerkennungsverhältnissen resultiert: Es geht dabei um den Schutz der BewohnerInnen vor Überlastung durch die Ansprüche und Anforderungen der nachmodernen Gesellschaft – den Zwängen der Flexibilisierung1, der Beschleunigung, der Fragmentierungen und Partikularisierungen2. Dieser zunehmenden generellen Überforderung sind Menschen mit geistiger Behinderung in besonderem Maß ausgesetzt. Deshalb sollten Wohneinrichtungen für ihre BewohnerInnen auch psychosoziale Moratorien im Rahmen von „Modernisierungsfreiräumen“ schaffen, um für sie die Beschleunigung innerhalb der nachmodernen Gesellschaft durch Verlangsamung und Distanznahme erträglicher zu machen, ihnen Möglichkeiten der „Entschleunigung“ und „Phasen der Orientierung“ zu ermöglichen und als Gegengewicht zur uneingeschränkten Flexibilisierung Stabilität, Kontinuität und Konstanz zu bieten3. 1
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Vgl. dazu auch die Ausführungen DEDERICHS zu den Problemen im Zusammenhang mit den nachmodernen Flexibilisierungsanforderungen. Für die Behindertenpädagogik kämen, so DEDERICH, wichtige Fragen hinzu: „Wie kann sie ihre Klientel auf die Flexibilisierung vorbereiten? Ist Flexibilität lehrbar? Was ist hierbei ethisch, psychologisch und methodisch unter individuellen Ausgangsbedingungen wie kognitiven oder körperlichen Einschränkungen oder starken Tendenzen zu abweichendem bzw. erwartungswidrigem Verhalten zu bedenken? Wie kann der Prozess der Identitätsbildung so unterstützt werden, dass die bevorstehenden Anforderungen durch die Flexibilisierung gemeistert werden können?“ (DEDERICH, 2001, S. 150) Diese Auswirkungen der nachmodernen Gesellschaftsform werden immer stärker von immer mehr Individuen als generelle Überforderung wahrgenommen und mit einer Vielzahl unterschiedlicher somatischer, psychischer und sozialer Belastungsreaktionen beantwortet. Damit würde das „retardierende, abbremsende Element“ von Bildung wirksam. SCHÄFFTER begründet die Notwendigkeit dieser – an Bedeutung stark zunehmenden Funktion von Bildung in der Epoche der Nachmoderne – mit der Expansion der „Möglichkeitsräume“, die die „Verarbeitungskapazität der Betroffenen deutlich überfordern“. Diese Überfülle an Möglichkeiten rufe, so SCHÄFFTER, einen „Realisierungsdruck“ hervor, durch den analog einer optischen Täuschung der angewachsene Möglichkeitsraum als zunehmende Einschränkung an Realisierungsund Beteiligungschancen erfahren werde (vgl. SCHÄFFTER, 2001, S. 5, 6). Er sieht die Möglichkeit eines Funktionsverständnisses, wonach sich Bildung „[…] weniger dem Schritthalten bei gesellschaftlichen Veränderungen verpflichtet sieht, sondern der Ermöglichung von Distanzierungsfähigkeit und Entschleunigung, weil dies gegenwärtig zu einer wichtigen Voraussetzung für mehr Lebensqualität und rationale Lebensführung wird.“ (ebd.). Die Bewältigung von strukturellen Veränderungsprozessen, so SCHÄFFTER weiter, erweise sich in hohem Maße abhängig von der Fähigkeit, ambivalente und offene Situationen auszuhalten (vgl. ebd., S. 6, 7). Die Bewältigung von Transformationsprozessen erfordere neben Engagement und zupackender Aktivität auch die Fähigkeit zum Disengagement, zur Kontemplation und zur produktiven Distanzierung, die produktive Realitätsverarbeitung ermögliche. Diese Kompetenzen des „LassenKönnens“, so SCHÄFFTER, müssten Erziehung und Bildung ebenfalls vermitteln (SCHÄFFTER listet eine ganze Reihe konkreter Kompetenzen des „Lassen-Könnens“ auf, vgl. ebd., S. 8.).
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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An dieser Stelle sollen diese ersten Überlegungen zur Unterstützung der BewohnerInnen der Wohneinrichtungen bei ihrer Selbst-Entwicklung und WeltErschließung durch die Schaffung bildender Verhältnisse und konkreter Bildungsangebote zunächst beendet werden. Im kommenden Abschnitt stehen methodisch-didaktische Fragestellungen im Mittelpunkt der Betrachtungen. 4.1.3.3 Methodisch-Didaktische Überlegungen: SCHÄFFTERS Ansatz des institutionalisierten Lernens Das von STOJANOV entwickelte Bildungsverständnis, wonach Bildung als lebenslanger Prozess der Herausbildung von Identität als Selbst-Entwicklung und Welterschließung zu verstehen ist, kann durch SCHÄFFTERS Überlegungen zum institutionalisierten Lernen methodisch-didaktisch umgesetzt werden1. SCHÄFFTER geht von ULRICH BECKS Ansatz der Reflexiven Moderne und seinem Konzept der Individualisierung aus und kommt zu dem Schluss, dass die Ablösung der Reproduktion vorgegebener Strukturen durch die Notwendigkeit der Konstruktion der individuellen Lebensgestalt durch die Individuen auch zu strukturellen Veränderungen des Lernens im Lebenslauf mit Konsequenzen für das Bildungssystem führt. Das bedeute, so SCHÄFFTER: „>…@ institutionalisiertes Lernen im Lebenslauf übernimmt >…@ eine konstituierende Funktion für eine rationale Lebensführung in einem weitgehendst orientierungsarmen gesellschaftlichen Umfeld. Aus diesem Funktionswandel erklären sich Veränderungsbewegungen in Richtung auf neuartige Varianten institutionalisierten Lernens.“2
Ausgehend von einem Konzept lebenslangen Lernens unterscheidet SCHÄFFTER zwischen der Reproduktions- und Reflexionsfunktion von Bildung, wobei zukünftig die Reflexionsfunktion gegenüber der Reproduktionsfunktion eine deutlich stärkere Betonung erfahren wird. Dadurch werden interessante neue methodisch-didaktische Perspektiven für die Bildungsarbeit der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung eröffnet:
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Vgl. SCHÄFFTER (2001). Er entwickelt einen Ansatz neuer institutionalisierter Erwachsenenbildung, die den veränderten Bedingungen der nachmodernen Gesellschaft, die er als „Transformationsgesellschaft“ versteht, gerecht wird. SCHÄFFTER (2001), S. 104, 105. Institutionalisiertes Lernen, so SCHÄFFTER, erhalte damit den Charakter einer entwicklungsbegleitenden Unterstützung zur produktiven Lebensgestaltung und rationalen Lebensführung.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Die für diesen Personenkreis oftmals mühsame und nur begrenzt mögliche Aneignung gesellschaftlich gesicherter Wissensbestände und Sinnstrukturen könnte hinterfragt, auf ihre lebensweltliche Relevanz überprüft und im Rahmen von Reflexionsprozessen relativiert und inhaltlich individuell lebensweltbezogen und lebenslaufbegleitend angepasst werden1, Lernprozesse könnten für sie noch wesentlich individueller als bisher auf ihre spezifischen Stärken und Begabungen, Kompetenzen, Ressourcen, biografischen Erfahrungen und ihre jeweilige aktuelle Situation abgestimmt werden und Differenz, Besonderheit, Andersartigkeit und erwartungsabweichende Formen des Verhaltens wären innerhalb von Bildungsprozessen viel leichter subjektbezogen zu handhaben2, da sie nun nicht mehr als durch Lernen zu behebende „Funktionsstörungen“ zu betrachten, sondern als Anlass zur Reflexion gewertet werden könnten3.
Die Betonung der Reflexionsfunktion der Bildung entspricht dem STOJANOVSCHEN Bildungsverständnis, da es das Zugeständnis an die Individuen impliziert, in ihrer eigenen Lebenswelt, mit ihren eigenen Lebensrealitäten und Lebensentwürfen zu leben, denn Bildung bezieht sich nun auf die Struktur eines prinzipiell offenen, als individuell gestaltbar definierten Lebenslaufs. Methodisch-didaktisch lässt sich damit die Anerkennung der Differenz und Andersartigkeit von Menschen mit geistiger Behinderung umsetzen, die die Entwicklung eines subjektiv geprägten Umgangs mit Lernanregungen bis hin
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Das hätte zur Konsequenz, dass zumindest die Hilfen, die auf die Initiierung, Begleitung und Unterstützung von Lernprozessen von Menschen mit geistiger Behinderung ausgerichtet sind, in diesem Sinn tatsächlich personzentriert erbracht werden könnten und damit die längst überfällige Einlösung einer diesbezüglichen Forderung möglich würde. Menschen mit geistiger Behinderung wären bei Lernprozessen dann tatsächlich nicht mehr „Objekte“ des Handelns anderer (der Lehrenden und Erziehenden), sondern Subjekte, d. h. selbst Akteure ihres Handelns. Ziel der Bildungsprozesse wäre nicht länger die „Anpassung“ und „Einpassung“ in eine – wie auch immer geartete – gesellschaftliche „Normalität“, sondern die Entwicklung und Herausbildung subjektspezifischer Individualität einschließlich der Akzeptanz von Differenz, d. h. der individuellen Andersartigkeit und Besonderheit behinderter Menschen. Mit dem damit verbundenen Respekt vor der Einmaligkeit der Person – gerade auch angesichts ihrer Beeinträchtigungen – wäre eine wichtige Voraussetzung für gelingende Lernprozesse zum Erwerb von Selbstbestimmung und Teilhabe durch Menschen mit geistiger Behinderung geschaffen.
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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zum Entstehen einer Vielzahl individueller, ganz eigener „Sonderwelten“1 ermöglicht2. Im Folgenden soll noch ein weiterer wichtiger Aspekt der Überlegungen SCHÄFFTERS zum institutionalisierten Lernen im Lebenslauf dargestellt werden, der für die Bildungsarbeit der Wohneinrichtungen und ihre Umgestaltung zu lernförderlichen Lebensräumen von außerordentlichem Interesse ist. Es geht dabei um die Unterscheidung zwischen „alltäglich strukturierten“ und „funktional ausdifferenzierten“ Lernkontexten und der Differenz zwischen ihnen3. SCHÄFFTER hebt zunächst die Gemeinsamkeiten zwischen Lernen in alltäglich strukturierten Zusammenhängen einerseits und in didaktisierten Kontexten andererseits hervor4: In beiden könne gelernt werden – und würde es auch. Dies geschehe intendiert wie auch „en passant“, selbstorganisiert wie fremdorganisiert, freiwillig wie unfreiwillig, extrinsisch wie intrinsisch motiviert – aber jeweils doch auf andere Weise. Dieser Unterschied, der die entscheidende Sinngrenze zwischen beiden Relevanzstrukturen bildete, so SCHÄFFTER, ließe sich folgendermaßen charakterisieren:
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Funktional strukturierte Kontexte der Weiterbildung bezögen ihr produktives Spannungsverhältnis zum Alltag daraus, dass sie Lernprozesse ermöglichten und zu optimieren vermögen. Dies und nur dies sei ihre Funktion. Der Alltagskontext hingegen verfüge über keine derartige Präferenz. Dies bedeutete nun nicht, dass er notwendigerweise oder definitionsgemäß lernhinderlich sei. Vielmehr sei in alltäglichen Kontexten grundsätzlich immer alles möglich. Entscheidend für sie sei, dass die Möglichkeit, „lernförderlich“ oder „lernhinderlich“ zu sein, von ihrer pragmatischen Struktur und somit von der je vorherrschenden Handlungslogik abhänge, aber nicht systematisch gewährleistet würde. Entscheidungen für oder gegen Lernen im Diese „Eigenwelten“ müssen zwar über eine prinzipielle Durchlässigkeit zur „Lebenswelt der Anderen“ verfügen, sind aber nicht mehr von „außen“ bestimmt, sondern folgen ihrem eigenen Sinn, ihrer eigenen Logik und Rationalität. Die Respektierung einer solch eigenen Sinnhaftigkeit der individuellen Lebenswelten behinderter Menschen durch die soziale Umwelt stellt ganz neue Anforderungen an die Gesellschaft. Sie wird damit konfrontiert, dass das Prinzip der Normalisierung von Menschen mit geistiger Behinderung nicht mehr wie bisher als „Nachäffen“ der Hegemonialgesellschaft verstanden wird, sondern ganz neu als Ausdruck einer Individualisierung und Pluralisierung der Soziallagen im Rahmen aktueller Vergesellschaftungsprozesse, an der auch Menschen mit geistiger Behinderung teilhaben. Vgl. SCHÄFFTER (2001), Kap. 6 und 7 (S. 201-312). Vgl. SCHÄFFTER (2001), S. 212.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Alltag müssten daher aus einer „pädagogischen Perspektive“ weitgehend zufällig, „wildwüchsig“ oder zumindest „willkürlich“ erscheinen. Einer wechselseitigen Bestimmung des Pädagogischen müsse es nun, so SCHÄFFTER1
einerseits um die pädagogische Strukturierung „alltagsgebundenen Lernens“ (ein Terminus, mit dem sich auch weitgehend gefestigte „alltagsdidaktische“ Kontexte und deren spezifische Kompetenzen bestimmen Iießen) und andererseits um die Förderung von Lernprozessen in funktional spezialisierten Strukturierungen, die als Antwort auf Wirksamkeitsgrenzen alltagsgebundenen Lernens zu verstehen seien, gehen.
Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung weisen einerseits Strukturierungen auf, die die Kontexte für alltagsgebundene Lernprozesse bilden. Andererseits verfügen sie über unterschiedlichste Möglichkeiten, pädagogische Handlungsfelder als funktional strukturierte, didaktisierte Lernkontextierungen zu gestalten. Beide können als institutionell-funktionalisierte Bereiche der Wohneinrichtungen bezeichnet werden und beide stehen im Mittelpunkt einer Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen und ihrer Umgestaltung zu Lern-, Bildungs- und Ermöglichungsräumen, in denen den BewohnerInnen konkrete Bildungsangebote individuell ausgerichtet unterbreitet werden. Eine wechselseitige Bestimmung des Pädagogischen, die – wie SCHÄFFTER es vorschlägt – den Gegensatz zwischen pädagogischen und „nicht-pädagogischen“ Relevanzmustern aufhebt, wäre innerhalb der Wohneinrichtungen möglich, indem
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einerseits die pädagogischen Strukturierungen „alltagsgebundenen Lernens“ innerhalb der Wohneinrichtungen erarbeitet und andererseits Lernprozesse in funktional spezialisierten Strukturierungen so konzipiert werden, dass damit auf Wirksamkeitsgrenzen alltagsgebundenen Lernens reagiert werden kann2. Vgl. SCHÄFFTER (2001), S. 213. Allerdings setzt die Ermöglichung von Selbstbestimmung, Teilhabe und einer hohen Lebensqualität auch „entpädagogisierte Freiräume“ in ausreichendem Maße voraus, innerhalb derer die BewohnerInnen auch innerhalb der Wohneinrichtungen ihre eigene Lebenswelt individuell gestalten können. Diese „Ermöglichungsräume“ sind zwar eingebettet in die stützende, sicherheitsgebende Funktionalität der jeweiligen sonderpädagogischen Organisation, aber ohne funktionalisiert und damit institutionalisiert zu sein. Sie ersetzen nicht die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben der gesellschaftlichen Umwelt, aber sie können Ausgangspunkt zur Erschließung des Umfeldes werden. Im Rahmen dieser Freiräume können die MitarbeiterInnen
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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Das bedeutet, dass Wohneinrichtungen bei der Konzipierung ihrer Bildungsarbeit mit dem „Strukturbruch“ zwischen „lebensweltlichen Relevanzen und alltäglicher Kontextierung des Lernens“1 einerseits und „funktional strukturierter, didaktisierter Lernkontextierung“2 andererseits konfrontiert werden und diesen bearbeiten müssen. Im Rahmen methodisch-didaktischer Überlegungen gilt es deshalb,
zunächst die „entpädagogisierten Freiräume“ und institutionell-funktionalisierte Bereiche zu bestimmen, voneinander abzugrenzen und ausreichend zu kontrastieren und anschließend beide auch innerhalb des institutionellen Kontextes der Wohneinrichtung zusammenzuführen3.
Daraus resultiert unmittelbar die Frage, welche der gesellschaftlichen Wissensbestände und welche Bereiche des Erfahrens und Erlebens sich die BewohnerInnen der Wohneinrichtungen in welchem der Kontexte adäquat aneignen können4. SCHÄFFTER beschreibt die Struktur alltagsgebundenen Lernens (vgl. Abb. 3) und arbeitet ihre wichtigsten Merkmale heraus, die auch auf die Situation der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung übertragbar sind5.
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der Wohneinrichtung weitestgehend von ihrer Rolle als professionelle Helfer entlastet werden, da es hier vielmehr darum geht, dass sie sich in die individuellen Lebenswelten der BewohnerInnen hineinfühlen und -denken, um deren lebensweltliche Realitäten mit ihren jeweils eigenen Sinnhaftigkeiten und Rationalitäten zu begreifen. SCHÄFFTER (2001), S. 226. Ebd. Vgl. SCHÄFFTER (2001), S. 226. Vgl. ebd., S. 226. Was geschähe z. B., so formuliert SCHÄFFTER aus ungewohnter Perspektive die interessante Frage, wenn Alltagswissen über didaktisierte Kontexte erworben würde? Welche Folgen hätte es, wenn systematische Wissensstrukturen im Rahmen alltagsgebundenen Lernens aufgebaut würden (vgl. SCHÄFFTER 2001, S. 226)? Die sechs wichtigsten allgemeinen Merkmale der Struktur alltagsgebundenen Lernens beschreibt SCHÄFFTER wie folgt: „1. Alltagsweltliche Lernanlässe bauen ihr spezifisches Spannungsgefälle innerhalb einer pragmatischen Sinnstruktur auf: sie beziehen sich auf Lernen im Tätigsein. Lernen erfolgt im Prozess der Arbeit, im Prozess der täglichen Lebensführung, im tätigen Verfolgen von Aktivitäten und Vorhaben. 2. Lernen folgt den Relevanzstrukturen von Alltagswissen. Diese Einsicht verlangt einen wissenssoziologischen Zugang, mit dem die Rekonstruktion alltäglicher Wissensbestände theoretisch möglich wird. 3. Lernprozesse schmiegen sich »beiläufig« der Sach- und Handlungslogik alltäglicher Aktivitäten und Vorhaben an. 4. Das Lernen verläuft in seiner Normalform latent und wird erst in Problemfällen reflexionsbedürftig; alltägliches Lernen ist daher erst sekundär bewusstseinsfähig, thematisierbar und steuerbar. 5. Alltägliche Lernprozesse finden ihren organisatorischen Ausdruck in »fluiden« zielhervorbringenden Strukturen und verfestigen sich erst sekundär in »kristallinen« aufgabenbezogenen Organisationsformen. 6. Alltagsgebundenes Lernen ist aufgrund der Kontextabhän-
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Abbildung 3:
Alltägliche Lernsituationen als „pädagogische“ Situation (nach SCHÄFFTER1)
SCHÄFFTER untersucht die Bedingungen2 alltagsgebundenen Lernens, um Wirksamkeitschancen und Wirksamkeitsgrenzen zu bestimmen. Bei wenig lernförderlichen kontextuellen Rahmenbedingungen ließe sich Wirkungsverlust bis hin zu Wirkungsumkehr beobachten, was gleichzeitig den Bedarf an Möglichkeiten institutionalisierten Lernens hervorrufe, das nun vor allem kompensatorische Funktionen zu übernehmen habe3. Führten nun die alltagsweltlich entstandenen Lernanlässe zur Überforderung, Ineffektivität oder Wirkungsverlust, so SCHÄFFTER, dann entstünde ein Bedarf an besonderen lernförderlichen Strukturierungen, an einer „Didaktisierung“ des Lernprozesses im Rahmen einer „Lernsituation“. In Abb. 4 ist die Struktur eines derartigen „institutionalisierten“ Lernkontextes dargestellt.
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gigkeit und Latenz von seiner Ausgangsbewegung her zunächst strukturell fremdbestimmt und weist erst sekundär selbstbestimmte Freiräume des Lernens auf.“ (SCHÄFFTER 2001, S. 227) (Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.). Vgl. ebd., S. 251. Vgl. ebd., S. 262-267. Er unterscheidet dabei zwischen thematisch-inhaltlichen, sozialen und zeitlichen Bedingungen. Seine Ausführungen sind von unmittelbarer praktischer Relevanz für die Bearbeitung methodisch-didaktischer Fragestellungen im Rahmen der Konzeptionierung der Bildungsarbeit in Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung. Vgl. ebd., S. 261.
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
Abbildung 4:
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Die Didaktisierung der pädagogischen Situation (nach SCHÄFFTER1)
Kennzeichnend für die „Ausdifferenzierung“ solcher institutionalisierter Lernkontexte, so SCHÄFFTER, seien u. a. die nachstehenden Charakteristika: 1.
Es würden besondere Arrangements geschaffen, die nicht mehr den alltäglichen Relevanzen unterworfen seien, sondern den Spielregeln des pädagogischen Funktionssystems gehorchten. Funktionale Ausdifferenzierung könne, müsse aber nicht notwendigerweise eine räumlich-zeitliche Auslagerung aus Alltagszusammenhängen bedeuten, so SCHÄFFTER. Sie könne auch durch situative Einlagerungen von pädagogisch strukturierten Lernsituationen in Alltagskontexte organisiert werden. Eine weitere Möglichkeit sei die pädagogische Überlagerung alltäglicher Situationen durch pädagogische Relevanzen. In diesem Fall müsse die Situation allerdings den „pädagogischen Relevanzmustern“ folgen. Zusammenfassend gelte: Die Ausdifferenzierung institutionalisierter Lernkontexte werde an einem strukturellen Wechsel der Situationsdefinition deutlich – die jeweilige alltägliche Handlungslogik werde verlassen und würde durch einen pädagogischen Sinnkontext ersetzt.
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Vgl. SCHÄFFTER (2001), S. 273.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Funktional strukturierte Lernsituationen bezögen sich auf einen explizierten Lerngegenstand, der meist als Thema, als Lehrstoff oder als Inhalt beschrieben würde und der im Zuge der Themenkonstitution selbst bereits zum Zielbereich einer lernenden Aneignung erklärt werden könne1. Das beträfe allerdings nicht nur fachlich-systematisch ausgeformte Wissensbereiche, sondern auch die Reflexion alltäglicher Erfahrungen, die dadurch in explizierbare Wissensstrukturen transformiert würden2. Die Aneignung alltagsweltlicher Aneignungsbewegungen in didaktisierte Arrangements habe neben ihrer sachlich-inhaltlichen Dimension auch Konsequenzen für die Art der sozialen Beziehung3. Die Interaktion würde einer funktionalen Strukturierung unterworfen, die in den komplementären Rollen Lehrender-Lernender4 und in daran anschließenden Differenzierungen auf den verschiedenen Planungsstufen zum Ausdruck kämen. Elementare Institutionalisierungen auf der Ebene sozialer Rollen beruhten auf gesellschaftlich hochgradig standardisierten Erwartungsmustern, die an spezifische Positionen gerichtet würden. Selbst wenn sich die wechselseitigen Erwartungen im konkreten Fall erheblich unterscheiden mögen, bliebe das komplementäre Grundmuster aufgrund der Funktionalisierung der Beziehungsstruktur gesichert – wenn nicht, verlöre der Kontext seine Grenzen zum Alltag und löse sich auf5,6. Die funktionale Strukturierung institutionalisierter Lernsituationen schaffe einen abgrenzbaren Sinnkontext, der von Lern- und Entwicklungszeiten bestimmt würde7. Innerhalb dieser Temporalstruktur könne das lernmotivierende Spannungsgefälle in die zeitlich artikulierbare Struktur eines EntVgl. SCHÄFFTER (2001), S. 277. Vgl. SCHÄFFTER (2001), S. 281. Vgl. ebd., S. 282. Dabei sei der „Lehrende“ für die lernförderliche Strukturierung des Aneignungsprozesses verantwortlich, während der „Lernende“ das didaktische Arrangement als Möglichkeit zum intensivierten Lernen erkennen und diese Chance auch praktisch wahrnehmen würde (vgl. SCHÄFFTER 2001, S. 283). Vgl. ebd., S. 283. SCHÄFFTER betont, dass diese komplementäre Rollenstruktur in ihrem weiteren (horizontalen) Ausdifferenzierungsprozess einer sehr breiten Ausgestaltung unterliege, „die von machtvoller Einflussnahme im Rahmen von Erziehungs- und Ausbildungsverhältnissen bis hin zu partnerschaftlicher Zusammenarbeit reicht.“ (ebd.). Genau dieses Grundmuster, so SCHÄFFTER, begründe den strukturellen Vorteil, durch den sich Lernsituationen in institutionalisierten Kontexten von alltagsgebundenen Lerngelegenheiten unterscheiden würden. Funktionale Rollen böten beiden Seiten eine Entlastung von sozialen Folgeverpflichtungen; sie würden die Beziehungen auf eine abgrenzbare, immer wieder neu bestimmbare und revidierbare Aufgabe beschränken. Sie böten daher auch Schutz vor den Konsequenzen, die Fehler und Lernmisserfolge nach sich ziehen könnten (vgl. SCHÄFFTER 2001, S. 284). Vgl. ebd., S. 287.
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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wicklungsverlaufs umgesetzt und organisch ausgearbeitet werden. Diese funktional strukturierten Lernkontexte böten etwas Wertvolles: einen zeitlichen Rahmen zum Lernen – „Lernzeit“. Über diese grenzensetzende, schützende Bedeutung hinaus erfülle diese Lernkontextierung eine weitere temporale Funktion: sie ermögliche die Strukturierung des Lebenslaufes durch intermittierende Lernphasen1. Die ausführliche Darstellung des SCHÄFFTERSCHEN Ansatzes lässt erkennen, welch zentrale Bedeutung der Beachtung der eigenständigen Entwicklung beider Lernkontextierungen mit ihren jeweiligen Besonderheiten2 sowie der Berücksichtigung des zwischen ihnen bestehenden Strukturbruchs im Rahmen der Konzipierung der Bildungsarbeit der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung aus methodisch-didaktischer Sicht zukommt3. Bei einer Umgestaltung der Wohneinrichtungen zu entwicklungsförderlichen Lern- und Bildungsräumen mit „Enabling-Charakter“, die auch die Neukonzipierung konkreter Bildungsangebote für ihre BewohnerInnen umfasst, ergeben sich aus diesen Überlegungen eine Vielzahl weiterer Fragestellungen. Das betrifft sowohl die allgemeinen Zielstellungen der Lernprozesse (Herausbildung eigener Identität durch Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung, Zuwachs an Selbstbestimmung, Unterstützung konkreter Maßnahmen zur Integration / Inklusion, Erschließung von Teilhabemöglichkeiten, Befähigung zur eigenständigen Lebensgestaltung bei möglichst hoher Lebensqualität), die konkret lebensweltbezogenen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen (z. B. die Auseinandersetzung mit den Anforderungen und Herausforderungen der nachmodernen Gesellschaft in den unterschiedlichen Lebensbereichen und -phasen) und die 1
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Vgl. SCHÄFFTER (2001), S. 288. SCHÄFFTER verweist darauf, dass der temporale Aspekt auf doppelte Weise wirksam würde: durch zeitliche Knotenpunkte im Leben, an denen sich einerseits alltäglich-beiläufiges Lernen intensivieren und auf einer höheren Reflexionsstufe systematisiert weiterführen ließe und andererseits das Leben als LernBiografie relevante Interpunktionen und Markierungen erhielte und dadurch in seinem Entwicklungsverlauf reflexionsfähig würde. Dabei geht es auch um die jeweilige Angemessenheit der Lernkontexte und ihrer Strukturen für ausgewählte Lernanforderungen. Vgl. SCHÄFFTER (2001), S. 269, 270. Grundlegend für alle Überlegungen sollte ein solches Verständnis beider Lernkontexte sein, welches SCHÄFFTER als „Zusammenspiel“ alltagsgebundenen und funktional strukturierten Lernens bezeichnet und wie folgt beschreibt: Die Akzeptanz ihrer jeweiligen Unabhängigkeit voneinander, bilde, so SCHÄFFTER, die Voraussetzung für ein produktives Verhältnis zwischen beiden Kontextierungen. Der Zusammenhang beider Lernkontextierungen beruhe dabei weder auf der Dominanz einer der beiden Seiten, noch in einem unmittelbaren Verknüpfen, es gehe vielmehr um die Akzeptanz der gegenseitigen Kontrastierung und einer bewussten Inszenierung der strukturellen Differenz zwischen beiden. Auf diese Weise könne produktiv berücksichtigt werden, dass in der jeweiligen Lernstruktur nicht nur auf eine andere Weise, sondern auch substantiell etwas anderes gelernt würde (vgl. ebd.).
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Beachtung der recht grundlegenden Unterschiede zwischen den verschiedenen Arten der Wohneinrichtungen1, die jeweils unterschiedlichen Konzipierungen der beiden Lernkontexte erfordern. Dabei gilt es, auch die benötigten „entpädagogisierten“ Freiräume zu beschreiben, festzulegen und zu sichern. Damit sollen die Ausführungen zu den methodisch-didaktischen Fragestellungen zunächst abgeschlossen werden. 4.1.4 Praxisbeispiele: Hilfeplanung und Persönliches Budget 4.1.4.1 Die individuelle Hilfeplanung Bildung als lebenslanger Prozess des Konstituierens individueller Identität durch Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung erfordert von den Individuen auch die Entwicklung persönlicher Vorstellungen zu Lebenszielen und -inhalten sowie zu Fragen des Lebensstils und der Lebensgestaltung, die in eine persönliche Zukunftsplanung münden. Menschen mit geistiger Behinderung, die Leistungen der Eingliederungshilfe beanspruchen können, werden in der Regel mit einem Planungsprozess konfrontiert, der die Koordinierung der notwendigen Hilfen zur Deckung des individuellen Hilfebedarfs im Rahmen einer so genannten Gesamtplanung nach § 58 des Sozialgesetzbuches SGB XII aus sozialrechtlicher Sicht ziel- und ergebnisorientiert sichern soll2. Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung sind einerseits mit ihren Leistungsangeboten in diesen sozialrechtlichen Planungsprozess eingebunden, andererseits ergibt sich für sie auch eine davon zu unterscheidende Notwendigkeit professioneller Planung3, die der Erbringung von personenbezogenen Dienstleistungs- und Bildungsangeboten immanent ist4. Die Bedeutung dieser professionellen Planung nimmt stark zu, wenn die Leistungen nicht mehr wie bisher institutionenzentriert, sondern – entsprechend
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Z. B. Wohnstätten mit vollstationärem Charakter, Außen und Trainingswohngruppen, unterschiedliche Formen des Betreuten oder Begleiteten Wohnens. Vgl. dazu auch KRONENBERGER (2002). Der Begriff „Individueller Hilfebedarf“ ist, so wie er im SGB XII benutzt wird, eine verwaltungstechnische Kategorie zu verteilungspolitischen Zwecken; sie rekurriert auf die Identifikation von Anspruchsberechtigungen auf einen vorab definierten behinderungsbedingten Bedarf und dessen finanzielle Steuerung. Professionelles pädagogisches Handeln beinhaltet immer auch Planung in Form der Festlegung abgestimmter Ziele, methodisch-didaktischer Verfahrensweisen und letztlich auch der Überprüfung der Wirkungen dieses Handelns innerhalb bestimmter Zeiträume.
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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einer zentralen Zielsetzung der Neubestimmung der Funktion und Angebote der Wohneinrichtungen – personorientiert konzipiert und erbracht werden1. Im Rahmen der sonderpädagogischen Fachdiskussion werden anspruchsvolle Erwartungen formuliert, die sich an diese Planungsverfahren richten: JOHANNES SCHÄDLER verbindet damit die Hoffnung auf eine Modernisierung der Behindertenhilfe2; ELISABETH WACKER spricht von einem Steuerungsinstrument, mit dem Menschen mit Behinderungen den notwendigen Angebotswandel der Behindertenhilfe selbst mitbestimmen können3 und IRIS BECK stellt einen direkten Zusammenhang zwischen Hilfeplanungsverfahren und der Qualitätsentwicklung der Einrichtungen her4. Dazu gibt es derzeit eine Vielzahl von Hilfeplanungsverfahren, die sich unterschiedlicher Instrumentarien bedienen, nicht ausschließlich auf die Betroffenen selbst und die interaktionalen Aspekte der Leistungserbringung ausgerichtet
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In dem von GREVING herausgegebenen Sammelband „Hilfeplanung und Controlling in der Heilpädagogik“ wird die wachsende Bedeutung der Hilfeplanung durch eine Reihe prominenter Autoren (neben GREVING u. a. BECK, I., PANKOKE, SCHÄDLER, SPECK und WACKER) aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet (vgl. GREVING, 2002). Vgl. SCHÄDLER (2002a). Vgl. WACKER (2002a, 2002b). WACKER sieht die Aufgaben der Behindertenhilfe in der nahen Zukunft in einer weiteren inhaltlichen Ausgestaltung, der praktischen Umsetzung und der allgemeine Verbreitung der Leitideen der Selbstbestimmung und Partizipation „hinein in den Alltag der traditionellen Settings der Behindertenhilfe“ (2002b, S. 275). Der notwendige Wandel von der derzeit quantitativ überwiegenden Orientierung an den Prinzipien der Fürsorge und Betreuung, so WACKER, hin zu einer fachlich bereits entfalteten Konzeption der individuellen Unterstützung und Teilhabe bedürfe noch großer Anstrengungen. Dabei gehe es nun aber gerade nicht darum, „[...] fertige neu definierte Modelle der Behindertenhilfe zu entwerfen und deren Realisierung schnell anzugehen, sondern darum, die Menschen mit Behinderung so in den Wandlungsprozess der Angebote einzubeziehen, dass sie selbst »Koproduzenten« der neuen Angebote werden können. Hierzu müssen sie befähigt werden, indem sie über Steuerungsinstrumente eines Angebotswandels selbst verfügen.“ (2002b, S.275; Hervorhebung im Original, Anm. A. B.). Ein derartiges „Steuerungsinstrument“ könnte nach WACKER die individuelle Hilfeplanung sein, wenn sie so gestaltet wird, dass sie die betroffenen Menschen mit geistiger Behinderung dazu befähigt, über die eigenen Kompetenzen mehr und mehr selbst zu verfügen und sie gleichzeitig auch berechtigt, sie tatsächlich zum Einsatz zu bringen. Vgl. BECK, I. (2002). Sie verweist zudem auf eine weitere wichtige Problematik: Diese bestehe in der widersprüchlichen Situation der Entwicklung und Sicherung von Bildungs- und Eingliederungszielen, die „zwischen Anpassungsdruck und Veränderungszwängen eingespannt“ sei. Die fachliche Notwendigkeit einer leitzielkonformen, individuellen Bedürfnissen Rechnung tragenden Planung und Umsetzung von Assistenzleistungen träfe auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen der Ökonomisierung und „Taylorisierung von Sozialbeziehungen“ (BLANDOW 1996) mit reduktionistischen und desintegrativen Tendenzen. Zugleich müsse sie mit sozialrechtlich gesteuerten Definitionen und Erhebungen individueller (§ 46 BSHG) und gruppenspezifischer (§ 93 BSHG) Bedarfslagen vermittelt werden, die administrative Interessen transportieren (vgl. ebd., S. 33).
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
sind, sondern auch die Kontextbedingungen einbeziehen und in der Praxis der Dienste und Wohneinrichtungen bereits seit längerem zum Einsatz gelangen. ANDREA LÜBBE und IRIS BECK haben im Auftrag der Deutschen Heilpädagogischen Gesellschaft im Jahr 2002 eine Expertise zum Stand der „Individuellen Hilfeplanung“ innerhalb und außerhalb von Einrichtungen und den daraus resultierenden Anforderungen an die Behindertenhilfe erarbeitet, in denen die Autorinnen anhand ausgewählter Beispiele in die Thematik einführen, einen guten Überblick über die eingesetzten Konzepte geben sowie die Leistungsfähigkeit, Planungslücken und Grenzen dieser Instrumentarien darstellen1. Damit erübrigt sich an dieser Stelle eine ausführliche Beschreibung derartiger Planungsverfahren, stattdessen sollen ihre Potenziale für die Umgestaltung der Wohneinrichtungen und die Neukonzeptionierung ihrer Angebote betrachtet werden. Diese Potenziale sind in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen – insbesondere bezüglich folgender Aspekte2:
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Hilfeplanungsverfahren können sich als geeignete Reflexionsinstrumentarien erweisen, mit deren Hilfe kritische, systematische Reflexionsprozesse unter Wahrnehmung der Perspektive der betroffenen BewohnerInnen und ihrer Lebenswelt institutionalisiert werden können3. Im Fokus des Hinterfragens stehen dabei vor allem die aktuellen Rahmenbedingungen und Alltagsroutinen, mit denen sich die Betroffenen innerhalb der Wohneinrichtung konfrontiert sehen und die weitgehendst ihren Alltag bestimmen4. Gleichermaßen sind Stärken, Potenziale, Begabungen, Wünsche Vorlieben und Interessen der Betroffenen, ihre jeweilige biografische Entwicklung und Prägung, ihre Andersartigkeit, ihre Deutungs- und Verhaltensmuster, ihre Präferenzen und Handlungsroutinen, ihre psychosozialen Probleme, die besonderen Erschwernisse ihrer Lebenslagen, die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen und sozialen Netzwerkbeziehungen sowie die regionalen Angebote wichtige Schwerpunkte der Reflexion im Rahmen der Hilfeplanungsverfahren. Das institutionalisierte Verfahren der Hilfeplanung bildet den Rahmen für Aushandelungsprozesse aller Beteiligten, die unmittelbar oder mittelbar Vgl. LÜBBE, ANDREA & BECK, IRIS (2002). Vorausgesetzt wird dabei, dass geeignete Verfahren zum Einsatz kommen (das belegt die Expertise von LÜBBE & BECK z. B. für die ausgewählten Einrichtungen) und darüber hinaus auch richtig angewandt werden. Letzteres wird in der Praxis wohl nur dann gelingen, wenn alle Beteiligten bereit sind, sich auf einen – immer auch ergebnisoffenen – Reflexionsprozess mit allen daraus resultierenden Konsequenzen einzulassen. Damit lässt sich auch die unerlässliche Kontinuität dieser Prozesse sicherstellen. Vgl. dazu auch LÜBBE & BECK (2002), S. 28.
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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Einfluss auf die Lebensplanung und -gestaltung der Betroffenen nehmen1 und dabei unterschiedlichste Interessen verfolgen: Sozialhilfeträger2, Träger der Einrichtung, Leitung und MitarbeiterInnen unterschiedlicher Profession der Wohneinrichtung3, Angehörige und gesetzliche Betreuer und natürlich vor allem die Betroffenen4 selbst. Damit ist eine wichtige Grundlage für einen fairen, gelingenden Interessensausgleich gegeben, der den Betroffenen Chancen für die Herausbildung ihrer individuellen Identität eröffnet, ihre Andersartigkeit anerkennt, reale Spiel- und Handlungsräume für eine eigenständige Entwicklung schafft und eine weitgehendst selbständige Lebensgestaltung nach eigenen Vorstellungen unterstützt5. Im Rahmen einer Neubestimmung der Funktion und der daraus resultierenden Umgestaltung der Wohneinrichtungen im Rahmen ihrer Re-Institutionalisierung nehmen Hilfeplanverfahren eine exponierte Stellung ein, da erst mit ihrer Hilfe die Entwicklung und das Angebot personzentrierter, individuell zugeschnittener „Hilfen nach Maß“ für die BewohnerInnen der Wohneinrichtungen möglich werden6. Neben den Maßnahmen, die auf die Umgestaltung der institutionellen Strukturen, Prozessabläufe, Kulturen und Rahmenbedingungen der Wohneinrichtungen abzielen, und der Neukonzeptionalisierung der Bildungsangebote stellt die Fortentwicklung der Hilfeplanungsverfahren einen wichtigen dritten Schwerpunkt der Re-Institutionalsierung der Wohneinrichtungen dar. Mit der Umgestaltung der Wohneinrichtungen zu Entwicklungsräumen, die durch Anerkennungsverhältnisse charakterisiert werden und die BewohnerInnen bei der Herausbildung einer eigenen Identität durch die Ermöglichung von Bildung7 unterstützen, werden gleichzeitig die erforderlichen Voraussetzungen für 1 2 3
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BRADL (2002). Wichtig für die Sozialhilfeträger ist eine nachweisfähige Zielvereinbarung, die Sicherstellung der Leistungserbringung einschließlich ihrer Dokumentation bei Minimierung der aufzuwendenden Kosten. Die Vertreter der Träger werden vorrangig institutionelle Interessen der Wohneinrichtungen im Blick haben (wie z. B. die Auslastung der Platzkapazitäten), Leitungen und MitarbeiterInnen eher die für sie lebensweltlich relevanten Aspekte (Auswirkungen auf das Dienstregime, die Dienstplangestaltung, die Bewältigung zusätzlicher Aufgaben u. a.). Angehörige und gesetzliche Betreuer können durchaus andere Vorstellungen entwickeln, als die Betroffenen selbst – die oftmals schon viel mutiger, risikofreudiger und (in einem positiven Sinn) unbekümmerter an ihre Lebensgestaltung herangehen. Im Rahmen dieser Planungsprozesse geht es letztlich immer um Fragen der Anerkennung – das Engagement für die Rechte und Interessen der betroffenen Menschen mit geistiger Behinderung kann im Rahmen kontroverser Diskurse durchaus Züge eines Kampfes um Anerkennung annehmen. BRADL (2002). Bildung verstanden als Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung im Sinne STOJANOVS.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
eine Neuausrichtung und -strukturierung der Konzepte der zum Einsatz gelangenden Hilfeplanverfahren geschaffen. Dabei geht es zwar vorrangig um die Entwicklung und Bereitstellung bedarfsorientierter Hilfen für den Betroffenen im Einzelfall; es besteht aber auch ein großes gesellschaftliches Interesse an der Ausrichtung, Planung und Überprüfung der Hilfen. Das bedeutet, dass die Verfahren der Hilfeplanung auch eine wichtige Rolle bei der Rückgewinnung der gesellschaftlichen Legitimation der Wohneinrichtungen spielen1. Die aufgeführten Gründe verdeutlichen nicht nur die gewachsene Bedeutung individueller Hilfeplanung, sondern auch die Notwendigkeit der Neustrukturierung und Neukonzipierung der Planungsverfahren: Neben der Neubestimmung der inhaltlichen Schwerpunktsetzung geht es vor allem um eine grundlegende Veränderung des Charakters der Verfahren und der Qualität der Interaktionen im Prozess der Hilfeplanung2. Als Ausdruck der neu geschaffenen Anerkennungsverhältnisse und gewandelten Grundhaltungen kommen in den Interaktionen Sensibilität, Empathie und Wertschätzung sowie Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Einmaligkeit und Originalität, des So-Seins und der Andersartigkeit des betroffenen Menschen in hohem Maße zum Ausdruck. Besondere Aufmerksamkeit ist dabei der diesem Planungsprozess immanenten Asymmetrie3 zu widmen, die sich zwar nicht völlig auflösen, aber durch kritische Reflexion thematisieren und reduzieren lässt. Im Folgenden werden die Schwerpunkte systematischer und strukturierter kritischer Reflexion, die im Prozess einer auf der Ethik der Anerkennung basierenden Hilfeplanung zukünftig im Mittelpunkt stehen sollten, knapp umrissen. 1. Die Person des betroffenen Menschen Die Hilfeplanung wird eröffnet, indem der / die Betroffene zunächst als Mensch – und nicht als Behinderter und Hilfeempfänger – bewusst wahrgenommen wird, seine biografische Entwicklung einschließlich seiner Erfahrungen, Erlebnisse, prägender Ereignisse und seines Lebensalters gewürdigt sowie seine Ressourcen, 1
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URBAN führt dazu aus: „Hilfeplanung hat im Zusammenhang mit dem wachsenden kritischen Blick auf die Angebote zur Unterstützung behinderter Menschen einen Bedeutungsschub erhalten: Die Hilfe für behinderte Menschen soll unter Aspekten wie Transparenz, Nachvollziehbarkeit, Überprüfung auf Verlässlichkeit, Sinnfälligkeit und Effektivität zugänglich gemacht werden.“ (URBAN, 2002, S. 137). Die notwendige Umgestaltung der Hilfeplanung aus Nutzerperspektive beschreibt URBAN sehr zutreffend, kritisch und konkret. (vgl. URBAN; 2002). Diese resultiert aus den teilweise gegensätzlichen Interessen und grundsätzlich ungleich verteilten Kompetenzen und Machtpositionen der am Planungsprozess Beteiligten sowie ihren Verfügungsmöglichkeiten über Ressourcen der am Planungsprozess Beteiligten.
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Stärken, Potenziale und Fähigkeiten einerseits, Blockaden, Hemmnisse, Probleme andererseits erfasst und schließlich charakteristische Verhaltensweisen und Handlungsmuster beschrieben werden. Dabei kommt dem Betroffenen eine Schlüsselfunktion zu; es versteht sich von selbst, dass er in geeigneter Weise einzubeziehen ist. 2. Die persönliche Zukunftsplanung Da nicht alle Menschen mit geistiger Behinderung bereits klare Vorstellungen davon haben, wie ihr Leben in Zukunft aussehen soll, benötigen sie Unterstützung, um ihre Bedürfnisse, Wünsche und Gedanken bezüglich ihrer Lebensziele, Lebensplanung, Lebensgestaltung und ihres Lebensstils herauszufinden. Das kann im Kreis der Familie, gemeinsam mit Freunden und Angehörigen, aber auch mit gesetzlichen Betreuern und den professionellen MitarbeiterInnen der Wohneinrichtungen erfolgen. Dabei ist dem Wandel der Institutionen „Lebenslauf“ und „Familie“ mit ihren ganz praktischen Auswirkungen im Alltag ausreichend Rechnung zu tragen1. In diese Entfaltung der Lebensperspektive sollte auch die Auseinandersetzung mit den konkreten Aspekten der Erschwernisse und Risiken der Lebenslage des betroffenen Menschen realitätsnah aufgenommen, unterschiedlichen Sichtweisen Raum gegeben und Expertendominanz nur zugelassen werden, wenn sie sich legitimieren kann und begrenzt wird. Wichtig ist dabei die anerkennende und advokatorische Interessenswahrnehmung im Sinne der jeweils Betroffenen2. 3. Die Erfassung des Hilfebedarfs Die Erfassung des Hilfebedarfs ist stark abhängig vom zugrunde liegenden Verständnis von Behinderung. Im Rahmen von Anerkennungsverhältnissen wird dem Wandel der Institution „Behinderung“3 Rechnung getragen – entsprechend wäre z. B. das bio-psycho-soziale Modell der Behinderung der ICF und ihr Klassifikationsschema4 geeignet als Ausgangspunkt für die Bestimmung des Hilfebedarfs. Weitere Aspekte, die diesen Bedarf beeinflussen, ergeben sich aus den aktuellen Anforderungen, die konkret aus der gewandelten Lebenssituation und dem Lebensumfeld resultieren, und den Problemlagen, Erschwernissen und Bar1 2
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Vgl. Abschn. 3.6. Eine solche stellvertretende Interessenswahrnehmung kann bei schwerer oder Komplexer Behinderung notwendig werden. In diesen Fällen ist sie mit dem Ziel der Herausbildung individueller Identität unter Berücksichtigung ethischer Kriterien verantwortlich und behutsam auszuüben. Dabei bietet sich der Rückgriff auf BRUMLIKS Überlegungen zur Legitimation pädagogischer Eingriffe im Rahmen seiner Advokatorischen Ethik an (vgl. BRUMLIK, 1992). Vgl. Abschn. 3.6. Vgl. DEUTSCHES INSTITUT FÜR MEDIZINISCHE DOKUMENTATION UND INFORMATION, DIMDI (Hrsg.) (2004).
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
rieren, die die Wahrnehmung der Verantwortung für das eigene Leben sowie die Entwicklung von Selbstbestimmung und Teilhabemöglichkeit einschränken und behindern. Dabei rückt die Betrachtung der Ressourcen, die zur Bewältigung der neuen Anforderungen, die die nachmoderne Gesellschaft ihren Individuen zumutet, erforderlich sind – einschließlich ihrer Verfügbarkeit – in den Mittelpunkt der Überlegungen1. Diese ressourcenorientierte Sichtweise ergänzt die bedürfnisund kompetenzorientierte Reflexion, die den Prozess der Erfassung des individuellen Hilfebedarfs kennzeichnet. Schließlich sind die erforderlichen Hilfen unter dem Gesichtspunkt der zur erfolgreichen Herausbildung der eigenen Identität im Sinn von Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung notwendigen Unterstützung zu systematisieren. 4. Die Umfeld- und Rahmenbedingungen Im Mittelpunkt dieses Reflexionsschwerpunktes stehen nicht nur der unmittelbare soziale Nahbereich, d. h. Setting, Strukturen und Gegebenheiten der betreffenden Wohneinrichtung, sondern auch das regionale Umfeld der Umgebung und die zur Verfügung stehenden sozialen Netzwerke mit ihren konkreten Unterstützungsmöglichkeiten. Vorrangig geht es dabei nicht um eine einfache Erfassung dieser Umfeld- und Rahmenbedingungen, die z. T. nachhaltig Einfluss auf die Lebenssituation und die Entwicklung des betroffenen Menschen nehmen, sondern vor allem um ihre kritische Bewertung sowie die daraus resultierenden Schlussfolgerungen und Maßnahmen. Konkret sind strukturelle und interaktional begründete Formen des Machtmissbrauchs sowie entsprechende Missachtungsund Demütigungserfahrungen kritisch aufzuspüren, bewusst zu machen und zu reflektieren. Hierarchien, Strukturen und Interaktionen sind in Bezug auf mögliches Erschweren oder Verhindern der Verwirklichung der Anerkennungsdimensionen im Alltag kritisch zu hinterfragen2. Dabei wird diese kritische Reflexion notwendigerweise auch immer wieder das professionelle Selbstverständnis, die impliziten Menschenbilder, die Möglichkeiten, Probleme und Grenzen advokatorischen Handelns sowie das institutionalisierte Rollenverhalten von BewohnerInnen und MitarbeiterInnen in Frage stellen. Im Rahmen der Bearbeitung dieses Schwerpunktes ist die verbindliche Festlegung konkreter Maßnahmen zur Umgestaltung der Rahmenbedingungen mit dem Ziel der Schaffung anerkennender,
1 2
Weiterführende Untersuchungen dieser Zusammenhänge mit differenzierten Ergebnissen haben z. B. DEDERICH, KEUPP und SCHÄDLER durchgeführt. Grundlage dieser Überprüfung ist die Ethik der Anerkennung; vgl. auch die Überlegungen MARGALITS zur Demütigung durch Institutionen (MARGALIT, 1999).
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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entwicklungs- und bildungsförderlicher Kontexte für den jeweils betroffenen Menschen unverzichtbar1. 5. Inhalt und Umfang der Leistungs- und Bildungsangebote Dieser Schwerpunkt der Hilfeplanung baut auf den Ergebnissen der Bearbeitung der vorherigen auf, die die Grundlage für die Festlegung des Leistungsumfangs der benötigten Hilfen bilden. Berücksichtigung müssen die unterschiedlichen Lebensbereiche Wohnen, Bildung, Teilhabe am Arbeitsleben und Freizeit finden, wobei dem Wohnen besondere Aufmerksamkeit zukommt2. Im Mittelpunkt steht hierbei der Ausgleich der unterschiedlichen Interessen von Sozialhilfeträger, Träger der Wohneinrichtung und Hilfeempfänger3. Auch im Rahmen dieses – oftmals nicht einfachen – Aushandlungsprozesses gilt es, die Anerkennungsdimensionen zur Geltung kommen zu lassen: Gerade bei der Klärung konkreter Rechtsansprüche, finanzieller Refinanzierungsforderungen und ökonomischer Quantifizierungen wird ihre Wirksamkeit relevant. Gemeinsames „Kernstück“ sowohl des durch den Sozialhilfeträger zu erstellenden Gesamtplans als auch der individuellen Hilfeplanung der Wohneinrichtung bilden einerseits die notwendigen Maßnahmen zur Schaffung bildender, entwicklungsfördernder Verhältnisse für den jeweils betroffenen Menschen und andererseits die nach Inhalt und Umfang konkret festgelegten Leistungen der Wohneinrichtung, wobei zwischen allgemeinen und personzentrierten Leistungsangeboten sowie personzentrierten speziellen Bildungsangeboten zu differenzieren ist4. 6. Methodisch-Didaktische Überlegungen und Umsetzung Im Mittelpunkt der methodisch-didaktischen Überlegungen und Planungen stehen die konkrete Gestaltung und Umsetzung der personzentrierten Bildungsangebote. Dabei sind drei Aspekte besonders hervorzuheben: Die sonderpädagogischen Leitkonzeptionen haben orientierende Funktion, sie dienen als Maßstab und Korrektiv5, das zugrunde liegende Bildungsverständnis verweist auf die Bedeutung von Identitätsarbeit als Kernstück von Bildung und schließlich erfor1 2 3 4 5
In die Überlegungen sind die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention einzubeziehen und Schritte zu ihrer Umsetzung für den Betroffenen festzulegen. Neben den bereits genannten Wohnfunktionen umfasst der Lebensbereich Wohnen weitere wichtige Aspekte wie z. B. Mobilität, Kommunikation, Partnerschaft und Sexualität, soziale Kompetenz, Sozialverhalten und psychosoziale Problembewältigung. Dieser „Interessensausgleich“ kann zu einem „Kampf um Anerkennung“ werden. Dabei kommt den sonderpädagogischen Leitkonzeptionen eine hohe handlungsorientierende Bedeutung zu. Im Ergebnis der Untersuchungen von Hilfeplanverfahren merken LÜBBE & BECK z. B. kritisch an, dass die Orientierung am Ziel der Teilhabe in vielen Hilfeplänen keine Rolle spielt – obwohl es sich dabei um einen zentralen Aspekt der Rehabilitation handelt. Derartige Planungen bedürfen dringend der Korrektur durch die sonderpädagogischen Leitvorstellungen.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
dert die Umsetzung des SCHÄFFTERSCHEN Modells des institutionalisierten Lernens die Reflexion der notwendigen Bildungsinhalte und ihre Zuordnung zu Bereichen des alltagsgebundenen Lernens einerseits und funktional-didaktischen Lernens andererseits1. 7. Ergebnisse – Reflexion und Überprüfung des Verfahrens Am Ende eines reflexiven Hilfeplanprozesses muss die Reflexion dieses Prozesses selbst stehen: Dabei geht es um die Klärung der Frage, ob in diesem Prozess die Interaktionen, die Aushandlungsprozesse, die festgelegten Zielsetzungen und Festlegungen anerkennend und wertschätzend unter weitmöglichster Einbeziehung des betroffenen Menschen und der Vertretung und Wahrung seiner Interessen erfolgten. 4.1.4.2 Das Persönliche Budget Der Wandel der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen führt, wie im Abschn. 3.5 dargestellt, auch zu Fortentwicklungen und Umgestaltungen der Institutionen des Sozialstaates, d. h. zu Veränderungen der institutionellen Umwelten der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung. Einen signifikanten Ausdruck dieses Wandels stellt die Verabschiedung des SGB IX – Sozialgesetzbuch Neuntes Buch „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“2 durch die Bundesregierung im Frühjahr 2001 dar. Durch diese einschneidende Änderung des Sozialrechts wurde das Rehabilitationsrecht mit Auswirkungen auf das gesamte System der Rehabilitation neu geregelt3. Zielstellung ist nicht mehr vorrangig die Sicherung der Versorgung behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen, sondern die Förderung ihrer Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft4. Dabei legt der Gesetzgeber besonderen Wert auf die Stärkung des individuellen Wunsch- und Wahlrechtes durch die Leistungsberechtigten: 1 2 3
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Vgl. SCHÄFFTER (2001), S. 201 ff. In der Fassung des Gesetzes zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen vom 23. April 2004 (BGBl. I S. 606). Zwar ist die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach §§ 53 ff. SGB XII unverändert die wichtigste Rechtsgrundlage für Menschen mit geistiger Behinderung. Da sie jedoch die wichtigsten Leistungen zur Teilhabe umfasst und vom Träger der Sozialhilfe gewährt wird, der einer der in § 6 5GB IX genannten Rehabilitationsträger ist, ergibt sich ein enger Bezug zum SGB IX (vergleiche § 54 5GB XII, die auf die §§ 26 ff., 33 ff., 55 ff. SGB IX verweisen). Vgl. § 1 SGB IX (ebd.). WACKER u. a. (2005) führen dazu aus: „Das im Jahr 2001 in Kraft getretene Sozialgesetzbuch IX […] fasst die bislang in verschiedenen Gesetzbüchern enthaltenen Vorschriften zur Rehabilitation zusammen und integrieren das Schwerbehindertengesetz. Neben diese ordnungsrechtliche Funktion tritt die Zielsetzung, die Qualität von Rehabilitation
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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Bei der Entscheidung über die Leistungen und bei der Ausführung der Leistungen zur Teilhabe ist den berechtigten Wünschen der Leistungsberechtigten zu entsprechen und dabei auch auf die persönliche Lebenssituation, das Alter, das Geschlecht, die Familie sowie die religiösen und weltanschaulichen Bedürfnisse der Leistungsberechtigten Rücksicht zu nehmen1. Leistungen, Dienste und Einrichtungen sollten den Leistungsberechtigten möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände lassen und ihre Selbstbestimmung fördern2. Zur Wahrnehmung des individuellen Wunsch- und Wahlrechtes durch die Leistungsberechtigten führt der Gesetzgeber außerdem eine ganz neue Leistungsform ein, die selbst allerdings keine neue Leistung neben bereits bestehenden darstellt, sondern die Ausführung der Leistungen zur Teilhabe betrifft: Auf Antrag der Leistungsberechtigten wird es zukünftig möglich sein, Sachleistungen zur Teilhabe, die nicht in Rehabilitationseinrichtungen auszuführen sind, auch als Geldleistungen zu erbringen, wenn die Leistungen hierdurch voraussichtlich bei gleicher Wirksamkeit wirtschaftlich zumindest gleichwertig ausgeführt werden können. Diese neue Form der Leistungsgewährung wird als „Trägerübergreifendes Persönliches Budget“3 bezeichnet1.
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zu verbessern; dazu sollen Abläufe von Rehabilitationsverfahren besser koordiniert und beschleunigt werden. Veränderte Beziehungsstrukturen zwischen Leistungsträgern, Leistungserbringern und Leistungsempfängern sollen insbesondere die Position der Adressaten stärken. Gleichzeitig werden die gesamten Ziele der Rehabilitation neu definiert und präzisiert: Alle Rehabilitationsleistungen verfolgen hiernach das generelle Ziel, die Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken.“ Vgl. § 9 (1) SGB IX (ebd.). Vgl. § 9 (3) SGB IX (ebd.). LACHWITZ führt im Rechtsratgeber der Bundesvereinigung Lebenshilfe 2004 einleitend zum Persönlichen Budget aus: „Das Persönliche Budget ist in § 17 des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch (SGB IX) geregelt, das im Frühjahr 2001 vom Bundestag beschlossen wurde und in seinen wesentlichen Teilen am 1. Juli 2001 in Kraft getreten ist. […] Dabei ist zu beachten, dass der Gesetzgeber den Anwendungsbereich des Persönlichen Budgets im Zuge der im Dezember 2003 beschlossenen Reform der Sozialhilfe, die ab 1. 1. 2005 nicht mehr im Bundessozialhilfegesetz (BSHG), sondern im Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) geregelt ist, wesentlich erweitert hat. Die entsprechenden Änderungen des § 17 SGB IX sind bereits am 1. 7. 2004 in Kraft getreten. Außerdem hat der Gesetzgeber eine Budget-Verordnung erlassen, die ebenfalls bereits ab 1. 7. 2004 gilt und im Wesentlichen das Verfahren regelt, das bei der Gewährung eines Persönlichen Budgets zu beachten ist. [… ]. Das Persönliche Budget ist keine neue Leistung, die neben bereits bestehende Leistungen tritt. Es betrifft vielmehr die Ausführung von Leistungen zur Teilhabe, die der Gesetzgeber in insgesamt vier Kapiteln des SGB IX zusammengefasst hat: Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (§§ 26 ff. SGB IX), Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§§ 33 ff. SGB IX), Unterhaltsichernde und andere ergänzende Leistungen (§§ 44 ff. SGB IX), Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§§ 55 ff. SGB IX). […] Nach § 17 Abs. 1 SGB IX kann der Rehabilitationsträger, also z. B. auch der für die Eingliederungshilfe zuständige Träger der Sozialhilfe, Leistungen zur Teilhabe
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Die mit dieser Leistungsart eingeführte „Neuerung“ besteht darin, dass das herkömmliche „sozialhilferechtliche Leistungsdreiecksverhältnis“2 durch das Persönliche Budget abgelöst und durch eine direkte Leistungsvereinbarung zwischen Budgetnehmer3 und Leistungserbringer ersetzt wird. Dieser erhält vom Träger der Sozialhilfe bzw. anderen Rehabilitationsträgern keine Vergütungen mehr, sondern wird für seine Leistungen direkt vom leistungsberechtigten Menschen mit Behinderung (Budgetnehmer) bezahlt4. Der Leistungserbringer muss als Träger des Dienstes, den der behinderte Mensch in Anspruch nehmen möchte, mit diesem vereinbaren, welche Leistun1. 2. 3.
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allein oder gemeinsam mit anderen Leistungsträgern, durch andere Leistungsträger, unter Inanspruchnahme geeigneter, insbesondere auch freier und gemeinnütziger oder privater Rehabilitationsdienste und –einrichtungen ausführen. In den meisten Fällen erhalten geistig behinderte Menschen die Leistungen zur Teilhabe nicht direkt von dem in der Praxis häufig auch Leistungs- oder Kostenträger genannten Rehabilitationsträger, sondern von einem ambulanten Dienst oder einer stationären Einrichtung (Leistungserbringer) nach Maßgabe des § 17 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX.“ (LACHWITZ, 2004, S. 5, 6 und 11). Vgl. § 9 (2) SGB IX (ebd.). KLIE äußert dazu: „Budgets sind im Trend: In vielen Ländern Europas, aber auch darüber hinaus, sammelt man bereits seit 10 Jahren systematisch Erfahrungen mit neuen Leistungserbringungsformen in der Behindertenhilfe und der Pflege. Die Zielsetzungen, die mit Budgetansätzen verfolgt werden, sie ähneln sich: es geht um die Unterstützung der Autonomie und der Selbstbestimmung, um eine höhere Effizienz in der Leistungserbringung aber auch um Kosteneinsparungen. Die Diskussion hat seit längerem auch Deutschland erreicht und im Jahre 2004 in besonderer Weise an Relevanz gewonnen. Das 5GB IX eröffnet nun bis zum Jahre 2007 die Möglichkeit, Erfahrungen mit dem trägerübergreifenden persönlichen Budget in der Behindertenhilfe und Rehabilitation zu sammeln […].“ (KLIE & SPERMANN, 2004, S. 2). Bei der bisherigen Verfahrensweise handele es sich aus rechtlicher Sicht, so LACHWITZ, um ein so genanntes Dreiecksverhältnis, in dem die zur Deckung des Bedarfs des behinderten Menschen benötigten finanziellen Mittel (Gelder) dem Leistungserbringer direkt vom Rehabilitationsträger (Kostenträger) zur Verfügung gestellt würden und der Leistungsberechtigte dafür die zu seiner Förderung und Betreuung notwendigen Sachleistungen vom Leistungserbringer erhielte. Dieses Dreiecksverhältnis würde deshalb auch oft als „Sachleistungsmodell“ bezeichnet. Die Ausführung der Leistung durch ein Persönliches Budget (vergleiche § 17 Abs. 2 Satz 1 5GB IX) verändere nun, so LACHWITZ, die Zahlungswege zwischen dem leistungsberechtigten behinderten Menschen, dem Rehabilitationsträger (Kostenträger) und dem Leistungserbringer (Träger der Einrichtung bzw. des Ambulanten Dienstes). (vgl. LACHWITZ, 2004, S. 7). LACHWITZ erläutert die verwendeten Begriffe unter Bezugnahme auf das Sozialrecht: „Terminologisch spricht der Gesetzgeber vom Leistungsberechtigten, während in der Praxis häufig auch die Begriffe »Budgetnehmer«, »Nutzer«, »Kunde« oder »Klient« Anwendung finden. In der BudgetVerordnung, aber auch in § 17 Abs. 4 SGB IX verwendet der Gesetz- beziehungsweise Verordnungsgeber statt des Begriffs »Rehabilitationsträger« den umfassenderen Begriff »Leistungsträger«, weil ein Persönliches Budget auch von den Pflegekassen und den Integrationsämtem, die keine Rehabilitationsträger sind, erbracht werden kann.“ (LACHWITZ, 2004, S. 11). Die Hilfen können allerdings auch weiterhin wie bisher in Form von Sachleistungen in Anspruch genommen werden, auch Teilbudgets für einzelne Leistungen in Kombination mit Sachleistungen sind möglich (vgl. DER PARITÄTISCHE, 2009, S. 8).
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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gen er für das Persönliche Budget zu erbringen bereit ist. Inhalt, Qualität und Umfang der Leistungen hängen von der Höhe des Persönlichen Budgets ab, das der behinderte Mensch vom Sozialhilfe- bzw. Rehabilitationsträger erhält und das er für den Einkauf der von ihm benötigten Teilhabeleistungen (z. B. Betreuung und Förderung in einer Wohngruppe) einsetzen kann. Mit dem Persönlichen Budget soll nun der Leistungsberechtigte in die Lage versetzt werden, die von ihm gewünschte und benötigte Leistung des Leistungserbringers (»Einkauf« der Leistung) selbst zu bezahlen bzw. durch Einlösung eines Gutscheins abzugelten. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers wird es damit Menschen mit Behinderungen ermöglicht, unter verschiedenen Leistungserbringern und Leistungsangeboten auszuwählen1. Inzwischen liegen zum Persönlichen Budget eine Vielzahl an Veröffentlichungen und Auswertungen zu Modellversuchen, an Publikationen und Arbeitshilfen unterschiedlichster Art vor2, so dass sich eine ausführlichere Beschreibung an dieser Stelle erübrigt. Dagegen soll die besondere Bedeutung dieser neuen Leistungsart für Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit Behinderung und ihre BewohnerInnen näher betrachtet und gewürdigt werden. Am Anfang dieser Betrachtung richtet sich der Blick zunächst auf die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse innerhalb der nachmodernen Gesellschaft, als deren Ausdruck die Entwicklung dieser neuen Leistungsart gedeutet werden kann: 1.
Dem Individuum – d. h. in diesem Fall den erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung – wird im Zuge zunehmender Individualisierung die Verantwortung für die selbständige Gestaltung und das Gelingen seines Lebens selbst zugeordnet. Dem entspricht unmittelbar die Ablösung des herkömmlichen sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses durch das Persönliche Budget3.
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Vgl. DER PARITÄTISCHE, 2009, S. 8. Für den Bereich der geistigen Behinderung gibt es unterschiedliche Einschätzungen – Übereinstimmung besteht allerdings darin, dass der „Durchbruch“ des Persönlichen Budgets für den Personenkreis mit dieser Form der Behinderung noch aussteht – einerseits aufgrund seiner quantitativen Beschränkung, andererseits aufgrund anderer Erschwernisse wie z. B. der fehlenden Budgetassistenz. Mit der Einführung des Persönlichen Budgets verfolge der Gesetzgeber den Zweck, so LACHWITZ, den „Leistungsberechtigten in eigener Verantwortung“ ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Er wendet sich gegen die Rechtsauffassung „[…] der Begriff »in eigener Verantwortung« sei dahingehend auszulegen, dass der Leistungsberechtigte geschäftsfähig sein müsse. Denn eigenverantwortlich handeln könne nur eine Person, die geschäftsfähig sei. Wäre dies richtig, so wäre in vielen Fällen zweifelhaft, ob der Leistungsträger die von einem Leistungsberechtigten mit geistiger Behinderung begehrte Leistung in der Form eines Persönli-
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3.
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Die Position und die Rechte des Individuums werden durch die Gesellschaft gestärkt – ein insbesondere für Menschen mit geistiger Behinderung außerordentlich wichtiger Fortschritt, der durch die Ratifizierung der UNBehindertenrechtskonvention durch die Bundesregierung eine weitere Dynamisierung erfahren hat und sich im Persönlichen Budget in einer deutlichen Erhöhung der Definitionsmacht der Leistungsberechtigten1 äußert. Die Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts der Betroffenen sowie der strukturelle Übergang von der herkömmlichen einrichtungszentrierten zu einer personenbezogenen Ausgestaltung der Leistungen2, die eine adäquatere Deckung des individuellen Hilfebedarfes ermöglicht, ist nicht nur Folge einer verbesserten Rechtsposition von Menschen mit geistiger Behinderung, sondern auch Ausdruck zunehmender Pluralisierung und Individualisierung als wesentliches Merkmal der nachmodernen Gesellschaft.
Mit dem Persönlichen Budget verbinden sich vielfältige Hoffnungen im Hinblick auf neue Chancen für die Betroffenen bezüglich einer selbständigeren, selbstbestimmten Lebensführung und ihrer Teilhabemöglichkeiten am Leben in der Gesellschaft3.
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chen Budgets ausführen darf. Ausgeschlossen von der Leistungsform »Persönliches Budget« wären dann z. B. Menschen, deren geistige oder seelische Behinderung einen solchen Schweregrad erreicht, dass sie nach Maßgabe der Vorschrift der § 104 Nr. 2, 105 BGB nicht zur eigenen Willensbildung und -bestimmung in der Lage sind. Die Auffassung, den Begriff »in eigener Verantwortung« dahin auszulegen, dass damit die Gewährung eines Persönlichen Budgets von der Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln abhängig ist und diese Verantwortungsfähigkeit wiederum mit den Kriterien übereinstimmt, die zum Begriff der Geschäftsfähigkeit entwickelt worden sind, ist jedoch abzulehnen! Es ist nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber mit dem Begriff »in eigener Verantwortung« ein Kriterium in § 17 SGB IX einführen wollte, das dazu dienen soll, einen Teil der behinderten Menschen von der Ausführung von Teilhabeleistungen und anderen Leistungen im Sinne des § 2 Budget-Verordnung in der Form Persönlicher Budgets auszuschließen, nämlich die Personengruppe, die aufgrund einer geistigen oder seelischen Behinderung nicht oder nur begrenzt eigenverantwortlich handeln kann. Wäre dies so, und hätte der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 17 Abs. 2 Satz (1) SGB IX tatsächlich das Ziel verfolgt, bestimmten Personengruppen behinderter Menschen den Weg zum Persönlichen Budget und damit zu einem Mehr an Selbstbestimmung zu verschließen, so käme dies einer Diskriminierung geistig und seelisch behinderter Menschen gleich.“ (LACHWITZ, 2004, S.20, 21. Hervorhebungen im Original, Anm. A. B). Vgl. DER PARITÄTISCHE (2009), S. 7. Vgl. ebd., S. 6. Sehr zuversichtlich erwarten z. B. WACKER u. a. einen Wechsel des gesamten Rehabilitationsmodells von der angebots- zur personenbezogenen Unterstützung, wobei durch Partizipation und Ressourcenorientierung Menschen mit Unterstützungsbedarfen selbst zu „Koproduzenten“ einer für sie passenden Dienstleistung nach Maß würden (vgl. WACKER u. a., 2006, S. 25). WACKER ist Projektleiterin des von 2001 – 2008 durchgeführten Modellprojektes „PerLe“ [Personenbezogene Unterstützung und Lebensqualität – Aktuelle Standards der Hilfen und notwendige Ressourcen für eine selbstbestimmte Lebensführung von geistig behinderten Men-
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Allerdings wird für Menschen mit mittelgradiger, schwerer geistiger bzw. Komplexer Behinderung die Attraktivität dieser neue Leistungsform durch die erheblichen Hürden und Hemmnisse, die ihre Nutzung erschweren, stark beeinträchtigt1. Das beginnt mit der Bewältigung des (nicht einfachen) Entscheidungsprozesses für oder gegen das Persönliche Budget, dem Absolvieren des aufwendigen Antragsverfahrens, der eigenen Interessensvertretung im Rahmen der Planung der Zielvereinbarung (Bestimmung des Hilfebedarfs, der Budgetfähigkeit, des Inhalts und Umfangs der Leistungen2) und schließlich mit den Regelungen der Modalitäten der Nachweisführung über die in Anspruch genommenen Leistungen sowie die in der Zielvereinbarung festgelegten Maßnahmen der Qualitätssicherung. Menschen mit geistiger Behinderung benötigen deshalb umfangreiche Beratung und Unterstützung bei der Entscheidungsfindung für das Persönliche Budget und anschließend beim Prozess der Beantragung und Bewilligung. Während diese Leistungen zeitlich befristet sind, benötigen sie in der Regel eine ständige
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schen – ], an dem sich die Universitäten Tübingen und Dortmund beteiligten. Neben der Analyse und Evaluationen im Kontext Persönlicher Budgets wurde eine eigene exemplarische Modellerprobung initiiert, um insbesondere den Aspekt der teilhaberelevanten Wirkung auf Menschen mit geistiger Behinderung, die z. Z. in Einrichtungen der Behindertenhilfe leben, untersuchen zu können (vgl. ebd., S. 5). Vgl. dazu auch LACHWITZ kritische Anmerkungen in LACHWITZ (2004). Für die Leistungsberechtigten ist es von entscheidender Bedeutung, ob das Persönliche Budget ihren jeweiligen individuellen Bedarf deckt, wie das Persönliche Budget bemessen wird und wovon die Festsetzung der »Höhe« des Persönlichen Budgets abhängt. LACHWITZ betont, dass der Maßstab für das persönliche Budget der individuelle Bedarf des jeweiligen Leistungsberechtigten sei. (vgl. LACHWITZ, 2004, S. 39. In § 17 Abs. 3 Satz 2 ist geregelt, dass Persönliche Budgets im Verfahren nach § 10 SGB IX so bemessen werden, „dass der individuell festgestellte Bedarf gedeckt wird und die erforderliche Beratung und Unterstützung erfolgen kann“). Wie der individuelle Bedarf festgestellt werde, sei im Einzelnen in der Budget-Verordnung vom 27. Mai 2004 geregelt. Die Ermittlung des Bedarfs erfolge zunächst separat durch jeden beteiligten Leistungsträger (vergleiche § 3 Abs. 1 Nr. 1 Budget-Verordnung). Sei der Bedarf ermittelt, stelle sich die Frage nach der Bemessung des persönlichen Budgets. § 17 Abs. 3 Satz 2 verweist in diesem Zusammenhang auf die Vorschrift des § 10 SGB IX (vgl. ebd., S. 39). Diese Regelung enthalte die Aussage, dass „die beteiligten Rehabilitationsträger im Benehmen miteinander und in Abstimmung mit den Leistungsberechtigten die nach dem individuellen Bedarf voraussichtlich erforderlichen Leistungen funktionsbezogen feststellen und schriftlich so zusammenstellen, dass sie nahtlos ineinander greifen.“ Dies besage nur, dass die beteiligten Rehabilitationsträger sowohl bei der Bedarfsermittlung als auch bei der Festsetzung der Höhe des Persönlichen Budgets zusammenzuarbeiten hätten und ihre Ermittlungsergebnisse und Vorstellungen gemeinsam mit dem Leistungsberechtigten beraten und anschließend schriftlich zusammenfassen müssten. Zur „Bemessung“ beziehungsweise „Kalkulation“ des Persönlichen Budgets enthielte der § 10 SGB IX keine hilfreichen Hinweise, so LACHWITZ. Angesichts dieser Problematik dürfte es den Rehabilitationsträgern in zahlreichen Fällen schwer fallen, Persönliche Budgets bedarfsdeckend zu bemessen (vgl. ebd., S. 40).
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Hilfe, falls sie auf die Mitwirkung Dritter angewiesen sind, um das Budget nach Maßgabe der Zielvereinbarung sinnvoll verwalten und einsetzen zu können1. Im Zusammenhang mit den dadurch entstehenden zusätzlichen Kosten wird die entscheidende Schwachstelle des Konzepts des Persönlichen Budgets für Menschen mit geistiger Behinderung deutlich: Das Persönliche Budget ist grundsätzlich durch die Höhe der bisher individuell festgestellten bzw. geleisteten Sachkosten gedeckelt. Das könnte im Einzelfall durchaus bedeuten, dass die benötigten Leistungen mit Hilfe des Budgets nicht bedarfsdeckend finanziert und aus diesem Grund diese Leistungsform mit all ihren Chancen und Optionen durch den Betroffenen nicht genutzt werden kann. Neben den genannten Hemmnissen und Hürden muss schließlich noch auf ein Risiko aufmerksam gemacht werden, das mit der Nutzung des Persönlichen Budgets unmittelbar verbunden ist: Es wird dem Budgetnehmer – trotz behinderungsbedingter erschwerter Bedingungen – die individuelle Verantwortung für die Bewältigung und Gestaltung des eigenen Lebens weitgehendst selbst zugewiesen2. Als erstes Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass die neue Leistungsform des Persönlichen Budgets Menschen mit geistiger Behinderung nicht zwangsläufig zu einem höheren Maß an Selbstbestimmung und Teilhabe verhelfen wird. Allerdings führt ihre neue Finanzierungslogik zu einem bisher nicht dagewesenem, weitreichenden institutionellen Strukturbruch innerhalb des Rehabilitationssystems, der die rechtliche Position behinderter Menschen als Nutzer bestimmter Leistungsangebote außerordentlich stärkt. Diese gestärkte rechtliche Position wird für den betroffenen Budgetnehmer im konkreten Einzelfall nur dann im Rahmen der selbstverantworteten Lebensführung und -gestaltung zu einem höheren Maß an Eigenständigkeit und zu erweiterten Teilhabemöglichkeiten führen, wenn er in seiner lebensweltlichen 1
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Es könne allerdings nicht erwartet werden, so LACHWITZ, dass entsprechende Assistenzleistungen unentgeltlich erbracht würden und es könne ebenfalls nicht erwartet werden, dass der behinderte Mensch den entsprechenden Aufwand aus seinem Persönlichen Budget finanziere. Denn dies hätte zur Folge, dass ihm der entsprechende – für die Assistenz benötigte – Geldbetrag fehle, um seinen Bedarf an Teilhabeleistungen zu decken. Die Einzelfallprüfung könne deshalb zu dem Ergebnis führen, dass insbesondere für die Unterstützung von geistig behinderten Menschen zusätzliche Geldbeträge zu gewähren seien, um den Unterstützungsbedarf zu decken. Das Gesamtbudget einschließlich des Aufwands zur Finanzierung einer Budgetassistenz darf allerdings die festgelegte Obergrenze (siehe oben) nicht überschreiten (vgl. LACHWITZ, 2004, S. 48, 49). Dazu kommt ein weiterer Aspekt, auf den LACHWITZ verweist: Mit der Auszahlung des Persönlichen Budgets gehe die Verantwortung für die Ausführung der Leistung, so LACHWITZ, vom Rehabilitationsträger in die Eigenverantwortung des behinderten Menschen über. Dies bedeute: Der Rehabilitationsträger ist bei der Ausführung der Leistungen durch Persönliche Budgets nicht mehr dafür verantwortlich, dass der Leistungsberechtigte die ihm zustehende Leistung auch tatsächlich erhält (vgl. ebd., S. 22-24).
4.1 Neubestimmung der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen
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weiterten Teilhabemöglichkeiten führen, wenn er in seiner lebensweltlichen Wirklichkeit auf Anerkennungsverhältnisse trifft. Das lässt sich leicht veranschaulichen, wenn die Rolle der drei Anerkennungsdimensionen beim Antrags-, Bewilligungs- und Umsetzungsprozess des Persönlichen Budgets verdeutlicht wird: Empathie und emotionale Zuwendung, rechtliche Anerkennung und solidarische Wertschätzung sind unverzichtbar bei der erforderlichen Beratung, bei den Verhandlungen zur Festlegung der Zielvereinbarung, bei den Verhandlungen mit dem Leistungserbringer und schließlich auch bei der Nutzung der Leistungsangebote. Alle diese Aspekte verdeutlichen – ungeachtet der gestärkten Rechtsposition der Leistungsempfänger – die besondere Abhängigkeit von Menschen mit geistiger Behinderung. Der Gesamtprozess der Festlegung der Leistungen und der Erbringung der Leistungen im Rahmen des Persönlichen Budgets kann auch als „Kampf um Anerkennung“ durch die Betroffenen im Sinn HONNETHS gedeutet werden und fordert zu besonderer Unterstützung heraus. Dies bedeutet auch eine Anfrage an Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung. Zudem eröffnet die neue Leistungsform selbst für die Neubestimmung ihrer Funktion, ihre Umgestaltung und die Neukonzipierung ihrer Leistungsangebote unter dem handlungsleitenden Gesichtspunkt der Wiedergewinnung ihrer gesellschaftlichen Legitimation enorme Chancen, vorausgesetzt, die mit dem Persönliche Budget für die Institution verbundenen Herausforderungen werden angenommen:
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Das Persönliche Budget fordert eine ganz neue Struktur der Leistungserbringung, die geradezu konträr zur bisherigen „Logik“ der Hilfeerbringung steht und die Wohneinrichtungen zu Umgestaltungs- und Umstellungsprozessen zwingt. Das betrifft vordergründig die Neuentwicklung budgetfähiger Leistungsangebote und die Neukonzipierung der Leistungserbringung und erfordert darüber hinaus eine völlige Neustrukturierung und Veränderung bestimmter Prozessabläufe und die Gestaltung von bisher ungewohnten Aushandlungsprozessen unter Maßgabe der Definitionsmacht der BewohnerInnen als „BudgetnehmerInnen“. Die gestärkte Rechtsposition der BudgetnehmerInnen als NutzerInnen und die veränderte Rechtssituation der Wohneinrichtungen1 stellen die bisher bestehenden „Machtverhältnisse“ zwischen Leistungserbringern (Wohneinrichtungen) und Leistungsberechtigten (Nutzern der Leistungen, d. h. BewohnerInnen der Einrichtungen) stark in Frage, relativieren sie und kehren sie bis zu einem gewissen Grad völlig um. Das wird sich unmittelbar auf das jahrzehnLACHWITZ (2004), S. 9.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
telang institutionalisierte Rollenverhalten und -verständnis von BewohnerInnen, MitarbeiterInnen und Leitungen auswirken – und Leitungen und MitarbeiterInnen veranlassen, einerseits zu einem veränderten professionellen Selbstverständnis zu finden, anderseits die Funktion und Leistungsangebote der Wohneinrichtungen, d. h. ihr institutionelles Selbstverständnis, zu reflektieren und neu zu bestimmen1. Die Definitionsmacht der BudgetnehmerInnen im Rahmen ihres Wunschund Wahlrechts in Bezug auf Inhalt, Umfang und Qualität der gewünschten Leistungen und des Leistungserbringers führt zwangsläufig zu einem Wechsel von den bisherigen einrichtungszentrierten zu personbezogenen Leistungsangeboten und damit zu einer wichtigen inhaltlichen Voraussetzung für die Wiedergewinnung gesellschaftlicher Legitimität.
Eine weitere Chance des Persönlichen Budgets bietet Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung die personzentrierte Hilfesystematik dieser Leistungsform, die erstmalig eine einheitliche, durchgängige Logik für alle Hilfeformen entwickelt – für vollstationäre, teilstationäre und ambulante Leistungen gelten die gleichen rechtlichen Grundlagen, Verfahren und Vorschriften2. Damit wird es möglich, einfache Übergänge z. B. zwischen einzelnen Wohnformen zu ermöglichen und Angebote nicht voneinander abzugrenzen, sondern sie gegenseitig zu ergänzen. Schließlich eröffnet die Entwicklung von Angeboten im Rahmen des Persönlichen Budgets3 den Wohneinrichtungen vielfältige Möglichkeiten der Geschäftsfelderweiterung, z. B. im Bereich der Beratung und Vermittlung sowie neuer, bisher im Sachleistungssystem nicht finanzierter Unterstützungs- und Therapieformen4. Auch die Bereiche der Außendarstellung und des Marketings der Wohneinrichtung profitieren von einer Öffnung für das Persönliche Budget: Die Einrichtungen können lernen, ihre Angebote so zu präsentieren, dass ihre Leistungen auch nachgefragt werden, sich dabei von anderen Anbietern deutlicher abzugrenzen und ein eigenes, möglichst unverwechselbares Profil und Image zu entwickeln5. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass durch die neue Leistungsform des Persönlichen Budgets erhebliches Potenzial für den Prozess der Neubestim1 2 3 4 5
Dadurch erfährt der notwendige Prozess der Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen eine Dynamisierung mit unterstützender Wirkung. LACHWITZ (2004), S. 9. Das können Teilleistungen, Gesamtleistungen, Komplexleistungen oder auch Spezialleistungen sein (vgl. DER PARITÄTISCHE, 2009, S. 19). Vgl. DER PARITÄTISCHE (2009), S. 21. Vgl. ebd., S. 21, 22.
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
245
mung der Funktion der Wohneinrichtungen und die daraus resultierenden Umgestaltungen freigesetzt und genutzt werden kann. In Bezug auf die Schaffung von Anerkennungsverhältnissen innerhalb der Wohneinrichtungen wird mit der Entwicklung von Angeboten im Rahmen des Persönlichen Budgets ein Doppelaspekt wirksam: Zum einen können die mit dieser neuen Leistungsform intendierten Zielstellungen der Erschließung von Teilhabemöglichkeiten und der Stärkung des Selbstbestimmungsrechtes der BudgetnehmerInnen letztlich nur erreicht werden, wenn sie in strukturellen und interaktionalen Verhältnissen der Anerkennung zur Umsetzung gelangen. Zum anderen verhilft gerade die Öffnung für das Persönliche Budget der Durchsetzung von Anerkennungsverhältnissen und dem Wirksamwerden der drei Anerkennungsdimensionen – in Bezug auf die strukturellen Rahmenbedingungen der Wohneinrichtungen, die Qualität der Interaktionen und die Herausbildung einer die BewohnerInnen als eigenständige, eigenwillige und eigenverantwortliche Subjekte anerkennenden, wertschätzenden Grundhaltung der Leitungen und MitarbeiterInnen. Diese Thematik wird im Kap. 5 noch einmal aufgegriffen. 4.2 Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung im Prozess der Veränderung 4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung 4.2.1 Vorbemerkung Die bisherigen Ausführungen haben die Notwendigkeit einer grundlegenden ReInstitutionalisierung der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung verdeutlicht. Diese Re-Institutionalisierung muss sowohl die Institutionalformen der Wohnangebote als auch die für ihre pädagogische Arbeit grundlegenden Leitideen umfassen. Im folgenden Abschnitt sollen nun mittels neo-institutionalistischer Ansätze Erklärungen für die Persistenz der Wohneinrichtungen und Möglichkeiten zu ihrer Überwindung aufgezeigt und Schritte zur Umgestaltung der Wohneinrichtungen beschrieben werden. Das anspruchsvolle Ziel, die institutionell gestalteten Wirklichkeiten der Wohneinrichtungen zu Lebensräumen mit „Enabling-Charakter“1 für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung umzugestalten, ist nur durch einen grundlegender Veränderungsprozess zu erreichen. Dieser Prozess muss zu einer weitreichenden Auflösung der bestehenden und zum Aufbau flexibilisierter neuer Strukturen, einer Neubestimmung des 1
Vgl. Abschn. 4.1.1.3.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Leistungsprofils, der kritischen Reflexion des professionellen Selbstverständnisses der MitarbeiterInnen und der Herausbildung einer anerkennenden Kultur des Miteinanders1 führen. Er unterscheidet sich deutlich von allen Formen herkömmlicher Organisationsentwicklung, da es nicht mehr um eher geringfügige Veränderungen im geschützten Rahmen einer bestehenden Institutionalform geht, sondern um die grundlegende Veränderung dieser Institutionalform. Im Unterschied zu den Verfahren der Organisationsentwicklung mit ihren klaren Zielsetzungen und Methoden ist dieser Veränderungsprozess als offene Zielbewegung zu gestalten; als Übergang in ein noch unbekanntes, unerschlossenes Terrain. Der Prozess der Entwicklung von Lebensräumen mit „EnablingCharakter“ kann nur gelingen, wenn den beteiligten Akteuren selbst offene Gestaltungs- und Handlungsspielräume zur Verfügung stehen, in denen sie diesen neuen, noch nicht vorhandenen Horizontentwurf durch reflexives Lernen2 zunächst erkunden und erschließen können3. Allerdings benötigen sie – um diesen offenen Veränderungsprozess wirkungsvoll gestalten zu können – handlungsleitende Orientierung durch geeignete institutionstheoretische Ansätze. Dafür bietet sich der Rückgriff auf die theoretischen Analyse- und Bezugsrahmen, die aus neo-institutionalistischen Perspektiven entwickelt wurden, besonders an. Um dies zu veranschaulichen, sollen nun – ergänzend zu den Ausführungen im Abschn. 2.2 – die für den Veränderungsprozess der Wohneinrichtungen zentralen Aspekte neo-institutionalistischer Ansätze kurz dargestellt werden. Ausgangspunkt der Betrachtungen bildet die Konkretisierung der Inhaltsbestimmung der Begriffe Institution und Organisation. Danach werden neoinstitutiona-listische Überlegungen zum Zusammenwirken von Institution einerseits und Akteurshandeln andererseits skizziert. Schließlich geht es um Ansätze,
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3
Damit diese neuen institutionellen Lebenswelten tatsächlich zu „Enabling-Räumen“ für Menschen mit geistiger Behinderung werden, müssen Anerkennungsverhältnissen ihren kulturellen Kern bilden. „Reflexives Lernen“ ist dabei in der von SCHÄFFTER verwendeten Bedeutung zu verstehen (vgl. SCHÄFFTER, 2001, S. 156 ff.). Für SCHÄFFTER ist Lernen „kognitiv strukturierende Umweltaneignung“ im Sinne eines Prozesses der „Wahrnehmung, Aneignung, Verarbeitung und Entäußerung gesellschaftlicher Herausforderungen“ (ebd., S. 161). Im Gegensatz zu subsumierender Aneignung bei Lernprozessen, bei denen es um ein assimilierendes Ergänzen von Wissen in einem vorgegebenen (normativen) Rahmen gehe, beziehe sich reflexives Lernen, so SCHÄFFTER, auf das Erschließen und Explizieren neuer Wissensstrukturen und stelle auch die Wissensstruktur selbst in Frage (vgl. ebd., Hervorhebung im Original, Anm. A. B.). Neben der Leitung der betreffenden Wohneinrichtung, ihren professionellen und ehrenamtlichen MitarbeiterInnen sind auf jeden Fall auch die BewohnerInnen, ihre Angehörigen und ggf. gesetzlichen Betreuer zu den Akteuren zu rechnen.
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
247
die das Beharren und den Wandel von Institutionen und die Funktion der Akteure bei diesen Prozessen analysieren und abbilden. Da institutionelles Lernen eine maßgebliche Rolle im Rahmen des Veränderungsprozesses der Wohneinrichtungen spielt, wird die neo-institutionalistische Perspektive durch lerntheoretische Überlegungen ergänzt1. 4.2.2 Prozesse institutioneller Veränderung aus neo-institutionalistischer Sicht 4.2.2.1 Begriffsbestimmung: Institution und Organisation Auf die Schwierigkeit, den Begriff der Organisation inhaltlich konkret zu bestimmen, wurde bereits im Abschn. 2.2 hingewiesen. Für die präzise Definition des Begriffs der Institution ergeben sich ähnliche Probleme, da sich die verschiedenen neo-institutionalistischen Ansätze gerade bezüglich ihres jeweiligen Institutionsbegriffs z. T. deutlich voneinander unterscheiden2. Allerdings gibt es auch Übereinstimmungen zwischen den unterschiedlichen neo-institutionalistischen Theorien bezüglich der maßgeblichen Charakteristika, die kennzeichnend für Institutionen sind. Dazu rechnet CSIGÓ unter Bezugnahme auf PETERS3, dass
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2 3 4
Institutionen als strukturierendes Merkmal der Gesellschaft begriffen werden, Institutionen eine gewisse zeitliche Stabilität aufweisen, Institutionen individuelles Verhalten beeinflussen, in dem sie individuelle Handlungsoptionen einschränken, diese aber auch erst ermöglichen und Institutionen gemeinsame Werte und Deutungsmuster repräsentieren4.
CSIGÓ entwickelt ein Modell institutionellen Wandels (schwerpunktmäßig für politische Institutionen), in dem sie unterschiedliche neo-institutionelle Konzepte mit Ansätzen institutionellen Lernens verbindet (vgl. CSIGÓ, 2006). Dabei geht sie davon aus, dass Lernprozesse eine zusätzliche Erklärungsweise für institutionellen Wandel darstellen. Durch die Integration und Erweiterung der beiden Theoriebereiche (neo-institutionalistische und lerntheoretische Ansätze) werde, so CSIGÓ, deren jeweilige Reichweite und Erklärungskraft erheblich vergrößert (vgl. CSIGÓ, 2006, S. 22). Da ihre Überlegungen grundsätzlich auch für Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung zutreffen und sich mit den Intentionen vorliegender Arbeit weitgehendst decken, soll im Folgenden darauf Bezug genommen werden. Vgl. CSIGÓ (2006), S. 62. Vgl. PETERS (1999). Vgl. CSIGÓ (2006), S. 34. Einschränkend führt sie dazu aus: „Wie die einzelnen Merkmale interpretiert und gewichtet werden, variiert innerhalb der neo-institutionalistischen Ansätze jedoch erheblich.“ (CSIGÓ, 2006, S. 34).
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
CSIGÓ selbst stellt folgende Anforderungen an einen Institutionenbegriff: Er müsse berücksichtigen, dass Institutionen auf Dauer angelegt und Wegweiser für Ordnung und Regelung sozialer Beziehungen seien, sie den Handlungsrahmen für die Akteure konstruierten, angemessenes Verhalten definierten und als allgemein legitim akzeptiert würden, individuelle Präferenzen in kollektive Entscheidungen übersetzten und in hierarchische Systeme integriert, mittels Sanktionen durchsetzbar und durch die Geschichte geprägt seien1. Die Entstehung von Institutionen versteht sie als „Verdichtung protoinstitutioneller Formen zu nachhaltig stabilen und notwendigerweise formalisierten Institutionen“2. Institutionalisierung markiere somit den Moment, in dem sich bestimmte (kollektive) Ideen zu formalen Strukturen verfestigten3. Die Abgrenzung zwischen Organisation und Institution erweist sich ebenfalls als nicht ganz einfach, zumal beide Begriffe im Rahmen neo-institutionalistischer Ansätze oft synonym gebraucht werden. Allerdings sind präzise Begriffsbestimmungen von Institution und Organisation für die Überlegungen zur Neubestimmung der Funktion und der Gestaltung des notwendigen Veränderungsprozesses der Wohneinrichtungen gerade aus der Perspektive des institutionellen Lernens wichtig. CSIGÓ, die die prominentesten neo-institutionalistischen Ansätze4 bezüglich der Unterscheidung zwischen den Begriffen der Organisation und der Institution untersucht hat, kommt zu folgenden Schlussfolgerungen5:
Institutionen wird im allgemeinen Regelungscharakter zugeschrieben, sie strukturieren als Regelsysteme die den Akteuren offen stehenden Handlungsverläufe und werden in ihrer Wirkung oftmals als restriktiv und die Handlungsspielräume der Akteure beschränkend erlebt.
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Vgl. CSIGÓ (2006), S. 65. CSIGÓ (2006), S. 66 unter Bezug auf SEIBEL (1997), S. 363. Vgl. CSIGÓ (2006), S. 66. Die Überlegungen CSIGÓS stimmen mit dem von SCHÄFFTER entwickelten Institutionenverständnis überein (vgl. Abschn. 2.2). Sie setzt sich im Rahmen ihrer Untersuchungen mit den drei Hauptströmungen des NeoInstitutionalismus auseinander, die alle drei, so CSIGÓ, mit sehr wertvollen Erkenntnissen zur sozialwissenschaftlichen Forschung beigetragen hätten: mit dem Rational Choice NeoInstitutionalismus, dem historischen Neo-Institutionalismus und dem soziologischen NeoInstitutionalismus. Vgl. ebd., S. 68 ff. CSIGÓ führt dazu aus: „Fasst man die derzeitigen Ergebnisse zusammen, so kann man festhalten, das alle dargestellten Konzeptionen die begriffliche Problematik zwar aufgreifen, jedoch nicht überzeugend lösen. Die einzelnen Konzepte mögen für das jeweils spezifische Analysevorhaben eine hinreichende begriffliche Schärfe besitzen, für eine breitere theoretische Anwendung müssen jedoch weitere Präzisierungen vorgenommen werden.“ (CSIGÓ, 2006, S. 72).
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5
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
249
Organisationen weisen dagegen einen dualen Charakter auf – sie konstituieren einerseits einen eigenen Akteurskreis, andererseits aber auch ein eigenes System von formellen und informellen Regeln und Normen, „[…] welche die Struktur der Organisation und das Verhalten ihrer Mitglieder festlegen“1. Diese normative Ordnung ist auf Dauer angelegt, hierarchisch aufgebaut und wird mittels Sanktionen durchgesetzt – und zeigt damit typische Eigenschaften einer Institution.
Für CSIGÓ stellen sich Organisationen deshalb als eine „spezifische institutionelle Form“2 dar – sie trennt zwar einerseits die beiden Begriffe Institution und Organisation, betrachtet Organisationen andererseits aber als einen bestimmten Typus von Institution3. SCHÄFFTER setzt mit seinem Definitionsvorschlag4 einen etwas anderen Schwerpunkt – für ihn stellt die Institution einen übergeordneten strukturbildenden Sinnzusammenhang dar, „[…] in dem einerseits interne Routinisierungen formaler Organisation oder auch informeller Organisationskulturen ihren Ursprung haben, der darüber hinaus aber auch organisationsübergreifende makrosoziale Phänomene mit einschließt. Institution wird in diesem Verständnis als Scharnierstelle zwischen Gesellschaft und Organisation konzipiert […].“5
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Diese Regeln, so CSIGÓ, bestimmten im Wesentlichen die Fähigkeiten, Präferenzen und Wahrnehmungen einer Organisation und würden über die Modalitäten sowie die Logik ihres Handelns entscheiden. Es seien diese spezifischen Regeln, die bewirkten, dass die Organisation als korporativer Akteur andere Fähigkeiten, Präferenzen und Wahrnehmungen habe, als jedes einzelne Individuum in der Organisation (vgl. CSIGÓ, 2006, S. 72; Hervorhebung im Original, Anm. A. B.). CSIGÓ, 2006, S. 72. Vgl. CSIGÓ, 2006, S. 73. Wohneinrichtungen, die aus neo-institutionalistischer Sicht als ein spezieller Typus von Institutionen im Sinne CSIGÓS verstanden werden, ermöglichen bestimmtes individuelles Verhalten überhaupt erst. Dazu können z. B. das Absolvieren individueller Bildungsprozesse im Sinne von Selbstentwicklung und Welterschließung gerechnet werden, aber auch das individuelle Handeln der Akteure bei der Umgestaltung der Wohneinrichtungen zu „Enabling-Räumen“, um dadurch die Möglichkeiten individueller Entfaltung und Entwicklung zu vergrößern. SCHÄFFTERS Definitionsvorschlag lautet: „Institution bezieht sich auf einen gesellschaftlich verfestigten, handlungsleitenden Sinn- und Deutungszusammenhang, der mögliche Spielarten von Organisation übergreift. Institutionelle Strukturen liegen daher auf einer höheren Ebene als Organisationsstrukturen: sie konstituieren verfestigte Erwartungsstrukturen zwischen Organisationen, aber auch zwischen Handlungskontexten innerhalb von Organisationen.“ (SCHÄFFTER, 2001, S. 40. Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.). Ebd., S. 44.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Er hebt noch einen weiteren Aspekt hervor: Der Begriff der Institution beschreibe, so SCHÄFFTER, relativ verfestigte, in Routinen zugeschliffene soziale Erwartungsstrukturen, die individuelles wie auch kollektives Handeln nicht nur begrenze, sondern die als „Möglichkeitsraum“ wirkten, in dem sich überhaupt erst Kontexte für sinnvolles Handeln konstitutiv herausbilden könnten. Institutionen fungierten somit als „Enabling structures“, sie machten den Akteuren spezifische handlungssteuernde „performance scripts“ überhaupt erst verfügbar, so SCHÄFFTER. 4.2.2.2 Institutionen und Akteure Die Einbeziehung lerntheoretischer Überlegungen zur Erklärung institutionellen Wandels erfordert zunächst die Klärung des Verhältnisses zwischen Institutionen und Individuen. Übertragen auf die Institutionalform der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung bedeutet dies, die Wechselwirkungen zwischen diesen Organisationen und dem Handeln der Akteure zu betrachten. Die verschiedenen neo-institutionalistischen Ansätze konzeptualisieren auch die Akteur-Institutionen-Beziehung in ganz unterschiedlicher Weise und mit voneinander abweichenden Schwerpunktsetzungen. Die wichtigsten Positionen sind: (1) Die Annahme nutzenmaximierenden Verhaltens von Individuen1 Individuen entwickeln fixe Präferenzen und verhalten sich strategisch, um diese durchzusetzen. Da ihnen der Nutzen, den sie durch Institutionen erzielen können, größer erscheint als ohne Institution, sind sie bereit, sich den institutionellen Regeln unterzuordnen und ihre Präferenzen anzupassen. Ihre „egoistischen“ Handlungsweisen werden durch die Institutionen gelenkt, begrenzt und somit gesellschaftlich konsensfähig gemacht. Institutionen sind auf diese Weise ausschlaggebend für das Verhalten der Akteure, sie schränken zwar durch Restriktionen einerseits die Handlungsoptionen der Individuen ein, sind andererseits aber auch Garanten für die Berechenbarkeit der Handlungen anderer Akteure in einer insgesamt instabilen Umwelt. Diese neo-institutionalistische Perspektive thematisiert das Verhalten von Akteuren innerhalb gegebener institutioneller Kontexte, die geschaffen wurden, um dadurch bestimmte gesellschaftliche Probleme zu lösen2. 1 2
Diese Sichtweise vertritt der Rational Choice Neo-Institutionalismus, vgl. CSIGÓ, 2006, S. 37 ff. Vgl. CSIGÓ, 2006, S. 39 ff. Die Institutionalformen der Behindertenhilfe – und damit auch die Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung – wären damit als Ausdruck einer gesellschaftlichen Problemlösung der modernen bzw. nachmodernen Gesellschaft zu verstehen, die im Zuge ihrer zunehmenden funktionalen Ausdifferenzierung Indivi-
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
251
Im Rahmen der De-Institutionalisierungsdebatte erfuhr dieser Zusammenhang bisher wenig Berücksichtigung. Die Kritik richtet sich zumeist ohne Einbeziehung des gesellschaftlichen Kontextes an die Adresse der Träger von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung, denen selbstbezogenes, nutzenmaximierendes Verhalten und daraus resultierend ein eigennütziges Interesse am unveränderten Fortbestand dieser Institutionen vorgeworfen wird. Diese Kritik ließe sich unter Einbeziehung der Sicht des Rational Choice Neo-Institutionalismus theoretisch fundieren, allerdings auch der unbestreitbare Nutzen für die BewohnerInnen verdeutlichen, der darin besteht, dass ihnen die zur Deckung ihres individuellen Hilfebedarfs notwendigen Unterstützungsleistungen in professioneller Form qualifiziert, dauerhaft, zuverlässig, kontinuierlich und jederzeit abrufbar zur Verfügung stehen1. (2) Die Annahme wertorientierten Verhaltens von Individuen2 Aus dieser Perspektive beschränken Institutionen nicht nur die Handlungsspielräume der Individuen, sie werden auch als „[…] Determinanten für Präferenzbildung und somit wesentlich für die Entscheidungen der Akteure verstanden.“3 Dabei spielen der organisationale Aspekt von Institutionen und ihre strukturierende Funktion für die Interaktionen zwischen den Akteuren eine besondere Rolle. Die Beeinflussung des individuellen Verhaltens durch Institutionen konzeptualisieren die verschiedenen Ansätze unterschiedlich4 – Normen, Werte und weltanschauliche Überzeugungen leiten neben rationaler Nutzenmaximierung situationsabhängig das Verhalten der Akteure. Deshalb lassen sich die Präferenzen der Akteure nur bezogen auf den jeweiligen institutionellen Kontext analysieren. Diese Überlegungen lassen sich durchaus auf Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung übertragen, sie liefern Erklärungen für
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duen mit bestimmten Leistungseinschränkungen nicht mehr vollständig in ihre Funktionalsysteme integrieren kann und für diese deshalb Sonderinstitutionen mit ihrerseits segregierendem, ausgrenzendem Charakter schafft. Die Form und Funktionsweise dieser Sonderinstitutionen sind das Ergebnis bewusster Entwürfe zielgerichtet handelnder Individuen, die damit gesellschaftlichen Erwartungen entsprochen haben. Obwohl sich inzwischen ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel vollzogen hat, sind die Präferenzen der Akteure davon oftmals weitgehend unberührt geblieben. Ansätze des Rational Choice Neo-Institutionalismus können Wandel nur begrenzt erklären, da sie ihn sehr einseitig konzeptualisieren: Akteure und ihre Einstellungen spielen keine Rolle, sie verändern sich kaum, die Institutionen werden lediglich an neue Gegebenheiten angepasst (vgl. CSIGÓ, 2006, S. 40). Diese Auffassung vertreten Ansätze des historischen Neo-Institutionalismus. CSIGÓ, 2006, S. 44. Vgl. ebd.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Beharrlichkeit und Wandel dieser Organisationen1, aber auch für die Verhaltensweisen und Interaktionen der Akteure. Dabei lassen sich Entwicklung und Wirkung professionellen Selbstverständnisses, handlungsleitender sonderpädagogischer Leitkonzeptionen sowie die Gestaltung und die Folgen der bestehenden asymmetrischen Strukturen und der daraus resultierenden einseitig ausgerichteten Machtverhältnisse, die im Rahmen der De-Institutionalisierungsdebatte besonders kritisiert werden, beschreiben und deuten2. (3) Die Annahme sozialreflexiven Verhaltens von Individuen3 Das Verhalten von Individuen wird zwar auch rational und zielorientiert verstanden; Grundlage dafür ist allerdings die Reflexion der Werte und Normen der Institutionen und Organisationen des jeweiligen gesellschaftlichen Kontextes. Dabei spielen Routinen als stabile Verhaltensmuster, die das rationale Verhalten einer Organisation vorhersehbar machen, sowie Werte und Normen als Formalisierung „angemessener“ Verhaltensweisen4 eine besondere Rolle. Die Beziehungen zwischen Individuen und Institutionen weisen in dieser Perspektive eine duale Struktur auf: „Institutionen beeinflussen individuelles Verhalten; Individuen wirken aber auch auf Institutionen ein.“5 1 2
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Institutioneller Wandel wird im Rahmen des historischen Neo-Institutionalismus mit dem Konzept der Pfadabhängigkeit beschrieben, siehe unten. Zentrale Aspekte der Ansätze des historischen Neo-Institutionalismus sind die Kontextgebundenheit von Kausalitäten, die maßgebliche Rolle der Ideen (Institutionen werden als Verfestigung der Ideen in formale Strukturen verstanden) und Macht (Institutionen verteilen Macht unterschiedlich auf soziale Gruppen, begünstigen bzw. benachteiligen diese systematisch oder verkörpern sogar die gesellschaftliche Machtverteilung zwischen Gruppen) (vgl. CSIGÓ, 2006, S. 45). Davon gehen Ansätze des soziologischen Neo-Institutionalismus aus, die ihre Aufmerksamkeit auf die nichtrationalen und symbolischen Aspekte von Institutionen richten (vgl. CSIGÓ, 2006, S. 51). Es werde, so CSIGÓ, von einem sehr weiten Institutionenbegriff ausgegangen, der nicht nur formale Regeln, Normen und Prozeduren, sondern ebenso Symbole und Moralvorstellungen einer Gesellschaft umfasse (vgl. ebd.). CSIGÓ merkt dazu an, dass sich individuelles Verhalten nach einer „Logik der Angemessenheit“ richte, d. h. institutionelle Normen würden nicht aus rein rationalem Kalkül befolgt, sondern wären vielmehr durch Erwartungen bestimmt, die an die Individuen in dem spezifischen sozioökonomischen, politischen und kulturellen Kontext gestellt würden. Solche Verhaltenserwartungen seien zweifach bestimmt, so CSIGÓ weiter, zum einen durch die Institution selbst, zum anderen durch die spezifische Rolle bzw. Position des Individuums innerhalb der Institution. Die den Institutionen inhärente Legitimität bewirke, dass sich Akteure auch entgegen ihrer individuellen (nutzenmaximierenden) Interessen regelkonform verhielten, da ein nicht „angemessenes“ Verhalten seitens der Institution mittels entsprechender Mechanismen sanktioniert werde (vgl. CSIGÓ, 2006, S. 51). CSIGÓ (2006), S. 52. Der soziologische Neo-Institutionalismus betone diese Wechselseitigkeit, so CSIGÓ. Institutionen bestimmten das Verhalten von Individuen durch das Bereitstellen spezifischer Deutungsmuster, die die Interpretation der jeweiligen Situation ermöglichten und die Voraussetzung individueller Handlungen bildeten. Auf der anderen Seite seien es die Akteure,
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
253
Da die Präferenzen der Akteure im institutionellen Kontext entstehen und sich durch institutionelle Vermittlung verändern können, ergibt sich der Schluss, dass Institutionen nicht nur die „passenden“ Verhaltensweisen definieren, sondern auch die Identitäten der Akteure konstruieren1. Dieses Verständnis eines wechselwirkenden Zusammenhangs zwischen Institution und Akteuren ermöglicht die Entwicklung von Deutungsmodellen zur Erklärung bestimmter Prägungen der Akteure durch den Einfluss der Wohneinrichtungen in Bezug auf Normen, Werte, Zielsetzungen sowie ihrer Rollenverständnisse und ihres daraus folgenden professionellen Verhaltens. Dazu kommt die große Bedeutung, die die Ansätze des soziologischen NeoInstitutionalismus dem Streben der Akteure nach Legitimität beimisst und sie für die Überlegungen der Arbeit besonders interessant erscheinen lässt. Andererseits erscheinen die Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung nicht länger als starre, unveränderliche „übermächtige“ Institutionen, deren regressive Auswirkungen auf alle Betroffenen nur hingenommen werden kann, sondern soziale Konstrukte, deren Persistenz zu erklären ist und für deren mögliche Veränderung und Umgestaltung durch ihre Akteure handlungsorientierende Modelle bereit stehen2. Abschließend lässt sich festhalten, dass die verschiedenen neo-institutionalistischen Ansätze ein sehr facettenreiches Bild der Akteur-Institutionen-Beziehung entwerfen. Zur Untersuchung der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung können sie aussagekräftige Erklärungsansätze zum Verständnis der institutionellen Auswirkungen der Wohneinrichtungen auf das Verhalten der Akteure, den vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Institution und Individuum sowie den Möglichkeiten ihrer Umgestaltung durch zielgerichtetes Handeln der Akteure beisteuern. In den folgenden beiden Abschnitten werden Erklärungen für die Phänomene institutioneller Beharrlichkeit und institutionellen Wandels aus neo-institutionalistischer Sicht überblicksartig dargestellt, ohne auf die bereits im Abschn. 3.6 beschriebenen institutionellen Anpassungsreaktionen des Isomorphismus und der Entkopplung erneut einzugehen3.
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die die Institutionen stärkten, indem sie diese akzeptierten und ihr Verhalten der institutionellen Konvention entsprechend ausrichteten (vgl. ebd.). Vgl. CSIGÓ (2006), S. 52. Vgl. ebd., S. 53 ff. Die in den letzten Jahren beobachtbaren Veränderungen der Wohneinrichtungen lassen sich damit zwar weitgehendst erklären; allerdings handelt es sich lediglich um institutionelle Reaktionen auf unmittelbare Einflussnahmen der Umwelten. Sie lösen den auf den Wohneinrichtungen ruhenden Veränderungsdruck auf und stabilisieren dadurch die institutionelle Beharrlichkeit der Wohneinrichtungen. Prozesse der Re-Institutionalisierung werden deshalb durch sie
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
4.2.2.3 Institutionelle Beharrlichkeit Innerhalb des Neo-Institutionalismus gibt es unterschiedliche Ansätze, die die Persistenz institutioneller Arrangements erklären. Das Konzept der Pfadabhängigkeit des historischen Neo-Institutionalismus geht davon aus, dass „[…] frühere Perioden historischer Entwicklung für spätere Perioden entscheidend sind.“1 Pfadabhängigkeit impliziere, so CSIGÓ, dass die anfänglichen institutionellen Entscheidungen einen bestimmten Entwicklungspfad kreierten, der später nur äußerst schwer wieder verlassen werden könne2. Dieses Konzept beinhalte auch den Aspekt kognitiver Pfadabhängigkeit, d. h. die institutionellen Entscheidungen, die Individuen in der Vergangenheit getroffen hätten, so CSIGÓ weiter, wirke sich auf die späteren institutionellen Entscheidungen nachfolgender Individuen (determinierend) aus3. Allerdings bedeute dies keinen völligen Stillstand institutioneller Entwicklungsprozesse, fährt CSIGÓ relativierend fort, eingeschlagene Entwicklungspfade könnten auch später noch korrigiert werden, indes mit einer deutlichen Einschränkung der Entscheidungsoptionen und Wahlmöglichkeiten. Ein genereller Pfadwechsel sei zwar möglich, erfordere aber das Vorhandensein ausreichend starker Impulse4. Zusammenfassend stellt CSIGÓ fest, dass das Konzept der Pfadabhängigkeit ein zentrales Konzept sei, da es eine plausible und konzeptionell konsistente Erklärung sowohl für die empirisch beobachtbaren institutionellen Entwicklungspfade, als auch für die institutionelle Reformträgheit liefere5,6. Auch im Rahmen des soziologischen Neo-Institutionalismus lassen sich Erklärungen für institutionelles Beharrungsvermögen finden: Da Institutionen sehr stark in kognitiven Dimensionen begriffen würden, so CSIGÓ, seien sie an der Herausbildung, Definition und Artikulation individueller Präferenzen maßgeblich beteiligt7. Daher sei eine Quelle institutioneller Persistenz darin zu sehen, dass
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7
kaum unterstützt, so dass die weitere Beschäftigung mit diesen für die Wohneinrichtungen durchaus bedeutungsvollen Reaktionsweisen an dieser Stelle zurückgestellt wird. CSIGÓ, 2006, S. 44. Vgl. ebd., S. 45. Vgl. CSIGÓ (2006), S. 48. Vgl. ebd., S. 45, 46. Die Idee der institutionellen Persistenz und das Konzept der institutionellen Sedimentation sind Ansätze, die der Theorie der Pfadabhängigkeit sehr ähnlich sind (vgl. ebd., S. 54). CSIGÓ nennt allerdings auch die Kritikpunkte am historischen Institutionalismus: Es fehle eine genaue Definition von Wandel, eine eindeutige Konzeption bezüglich grundlegender Fragen sowie die klare Unterscheidung zwischen inkrementellen und umbruchsartigen Prozessen. Zudem seien Kriterien, die Prozesse des Wandels charakterisierten, nicht entwickelt (vgl. ebd., S. 48, 49). Ebd, S. 55.
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
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Individuen nicht in der Lage seien, passende Alternativen zu entwerfen bzw. ihnen alle denkbaren Alternativen als nicht realisierbar erschienen. Sie seien daher, so CSIGÓ weiter, eher passiv bezüglich der Gestaltung von Institutionen. Damit reproduzierten sich diese, solange die Routine nicht durchbrochen werde1. Schließlich können selbst Lernprozesse für institutionelle Persistenz verantwortlich gemacht werden: Dabei werde davon ausgegangen, so CSIGÓ, dass Akteure in der Lage seien, ineffektive Institutionen kontinuierlich anzupassen, so dass ein (möglicherweise notwendiger) grundlegender institutioneller Wandel verhindert werde2. Die institutionelle Persistenz von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung bildet einen zentralen Kritikpunkt innerhalb der De-Institutionalisierungsdebatte, lässt sich als generelles Phänomen bezeichnen und praktisch immer wieder nachweisen. SCHÄDLER3, der diese Kritik ebenfalls vertritt, begründet die Unfähigkeit institutionellen Wandels der Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe unter Bezugnahme auf das Konzept der Pfadabhängigkeit des historischen Neo-Institutionalismus4. Er unterzieht das Hilfesystem für Menschen mit geistiger Behinderung einer sorgfältigen historisch-systematischen Betrachtung, bescheinigt den stationären Angeboten institutionelle Veränderungen in begrenztem Umfang, sieht den eigentlichen Wandel des institutionellen Arrangements der Behindertenhilfe allerdings vorrangig in der Entwicklung Offener Hilfen, d. h. ambulanter Leistungen. Seine Analyse beschreibt die derzeitige Situation der Institutionalformen der Wohnangebote für Menschen mit geistiger Behinderung als „»andauernde Beharrlichkeit« des stationären Versorgungskonzeptes“5 recht zutreffend, er bezieht die Veränderungen des gesellschaftlichen Kontextes in seine Überlegungen mit ein, gelangt allerdings zu einer recht einseitigen und wenig optimistischen Einschätzung der zukünftigen Möglichkeiten eines grundlegenden institutionellen Wandels stationärer Wohnformen. Abschließend bleibt festzuhalten, dass zur Beschreibung und Erklärung der zweifelsohne immer wieder feststellbaren institutionellen Beharrlichkeit der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung Ansätze aller drei Hauptströmungen des Neo-Institutionalismus Deutungen beisteuern, die wesentlich zum tieferen Verständnis der Persistenz dieser Einrichtungen beitragen. 1 2 3 4 5
Vgl. CSIGÓ (2006), S. 55, 56. Vgl. ebd., S. 22. Vgl. SCHÄDLER (2002). SCHÄDLER kommt das Verdienst zu, als Erster die Bedingungen und Muster des institutionellen Wandels in der Behindertenhilfe unter Einbeziehung neo-institutionalistischer Überlegungen systematisch untersucht zu haben. Vgl. SCHÄDLER (2002), S. 10. (Hervorhebung im Original, Anm. A. B.).
256
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
4.2.2.4 Institutioneller Wandel Allerdings gibt es im Bereich der Behindertenhilfe längst auch konkrete Beispiele institutionellen Wandels. Dafür liefern neo-institutionalistische Ansätze ebenfalls überzeugende Erklärungsmodelle1, wie CSIGÓ unter Bezug auf Ansätze des historischen und des sozialen Neo-Institutionalismus aufzeigt2. Kennzeichnend für institutionelle Entwicklungen sind im Rahmen des Konzepts der Pfadabhängigkeit des historisch-institutionalistischen Ansatzes bestimmte Perioden der Kontinuität (entlang eines Pfades) einerseits, Momente des Umbruchs andererseits. Die stattfindenden Entwicklungsprozesse werden danach unterschieden, ob es sich
um „[…] inkrementelle Veränderungen über lange Zeiträume hinweg […]“3 oder um plötzlich auftretende Umbruchsprozesse und um geringe Korrekturen des eingeschlagenen Entwicklungspfades oder einen grundlegenden Pfadwechsel durch fundamentalen Wandel der institutionellen Form
handelt4. In jedem Fall werde Wandel, so CSIGÓ, durch Veränderungen in der sozioökonomischen und / oder politischen Umwelt ausgelöst5. Dabei werde davon ausgegangen, dass das jeweilige System im Kontext der neuen Umstände nicht mehr erwartungsgemäß funktioniere. Dies bedeute, so CSIGÓ weiter, dass das institutionelle Gleichgewicht durch externe oder interne Veränderungen gestört werde und Systeminputs nicht mehr die erwarteten Outputs erzeugten6. Je größer der daraus entstehende (gesellschaftliche und politische) Druck zur Anpassung auf die bestehenden Strukturen wird, umso stärker werden die Veränderungen der Funktionsweisen und Merkmale der institutionellen Arrangements ausfallen, um dadurch die verlorene Legitimität zurückgewinnen zu können7. Zusammenfassend stellt CSIGÓ fest, dass der historische Institutionalismus wichtige Konzepte8 für einen umfassenden Ansatz institutionellen Wandels 1 2 3 4 5 6 7 8
Vgl. CSIGÓ (2006), S. 46. Vgl. ebd., S. 42 ff. CSIGÓ (2006), S. 46. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 47. Vgl. ebd. Vgl. CSIGÓ (2006), S. 47. Das gilt trotz der vorgebrachten Kritikpunkte am historischen Institutionalismus. Eine besondere Rolle spielt dabei die große Bedeutung, die den Ideen (als Verfestigung bestimmter Vorstel-
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
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beinhalte, der die Erklärung und das Verständnis institutionellen Wandels – einschließlich der dabei auftretenden Schwierigkeiten – ermögliche1. Dagegen betrachte der soziologische Neo-Institutionalismus, so CSIGÓ, die Entstehung und den Wandel von Institutionen unter dem Aspekt der Legitimität – institutioneller Wandel resultiere daher aus dem Streben der Akteure nach Legitimität2. Institutioneller Wandel könne durch Nicht-Konformität (d. h. Abweichung von den Regeln der Institution) durch einige ihrer Mitglieder, durch die Führung der Institution selbst oder aber durch neu hinzukommende Mitglieder mit einem abweichenden Wertesystem herbeigeführt werden3. Wandel könne jedoch, so fährt CSIGÓ fort, ebenso durch Veränderungen in der institutionellen Umwelt induziert werden4. Innerhalb des sozialen Neo-Institutionalismus spielen im Zusammenhang mit Fragen des institutionellen Wandels die Ideen der institutionellen Persistenz5 und der institutionellen Isomorphie1 eine wichtige Rolle.
1
2 3 4 5
lungen, die weit verbreitete Akzeptanz erlangen) als Grundlagen jeder Institution innerhalb des historischen Neo-Institutionalismus zukommt. Ideen fungierten als Bindeglied zwischen Strukturen und Akteuren, so CSIGÓ, institutioneller Wandel hänge deshalb eng mit dem Wandel von Ideen zusammen: Institutionen könnten folglich nur dann verändert werden, wenn sich zunächst die ihnen innewohnenden Ideen änderten (vgl. ebd., S. 49). Sehr hilfreich sei zudem das Konzept der kognitiven Pfadabhängigkeit, mit dem sich die nur schwer auflösbare Dialektik zwischen Wandel und Kontinuität und die Schwierigkeiten und Barrieren institutioneller Lernprozesse erklären ließen, so CSIGÓ (vgl. ebd., S. 50). Vgl. CSIGÓ (2006), S. 49, 50. Im Rahmen der Umgestaltung der Wohneinrichtungen ist die Einflussnahme auf die tragenden Ideen als Bindeglieder zwischen Strukturen und Akteuren mit dem Ziel ihrer Veränderung als Grundlage für den notwendigen institutionellen Wandel von besonderem Interesse. Vgl. CSIGÓ (2006), S. 53. Vgl. ebd., S. 54 Vgl. ebd. Dazu führt CSIGÓ aus. „Diese eher funktionalistische Sichtweise […] nimmt an, dass veränderte Herausforderungen gegenüber institutionalistischen Strukturen erkannt und Wege zur Anpassung gefunden werden.“ (ebd., S. 54). Vgl. CSIGÓ (2006), S. 54. Die Idee der institutionellen Persistenz ist dem Konzept der Pfadabhängigkeit des historischen Neo-Institutionalismus ähnlich, allerdings werden Institutionen und Organisationen nicht vollständig durch ihre Vergangenheit definiert. CSIGÓ schreibt dazu: „Die gegenwärtige Struktur und aktuellen Entscheidungs- bzw. Problemlösungsmechanismen einer Institution reflektieren also nicht nur ihre Geschichte, sondern sind ebenso in der Gegenwart verankert. Konsequenz für die Konzeptualisierung institutionellen Wandels ist, dass eine Veränderung notwendigerweise die Entwicklung neuer Verständnisse und Symbole voraussetzt, die jedoch auch mit den alten kompatibel sein können. Diese Art von institutionellem Wandel ist ein langsamerer, jedoch wahrscheinlicherer Prozess als die ›radikale‹ Version des Pfadabhängigkeitskonzepts.“ (ebd., S. 55 unter Bezug auf PETERS, 1999, S. 104). Interessant ist das Konzept der institutionellen Sedimentation von TOLBERT & ZUCKER, das davon ausgeht, „[…] dass gegenwärtige institutionelle Praktiken auf Verfahrens- und Herangehensweisen der Vergangenheit aufbauen. Das Problemlösungsverständnis der Institution ist jedoch in der Vergangenheit verwurzelt und sein Wertesystem besteht aus ›Schichten‹ bzw. Sedimenten, die im Laufe der Zeit entstanden sind.
258
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Ähnlich wie für den historischen Institutionalismus stellt CSIGÓ auch für den sozialen Neo-Institutionalismus fest, dass seine Konzepte wichtige Beiträge für einen Ansatz institutionellen Wandels durch Lernen – einen „integrativen Ansatz“, wie CSIGÓ ihn nennt – liefern. Dies führt sie vor allem auf die Tatsache zurück, dass institutioneller Wandel ein Kernelement des soziologischen NeoInstitutionalismus bildet. Als vorläufiges Fazit ist festzuhalten, dass sich sowohl die beobachtbare institutionelle Persistenz als auch der bereits begonnene institutionelle Wandel von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung mit Hilfe neo-institutionalistischer Ansätze analysieren, beschreiben, verstehen und deuten lässt. Der von CSIGÓ entwickelte integrative Ansatz, der neo-institutionalistische Perspektiven mit Konzepten des institutionellen Lernens zusammenführt, ermöglicht darüber hinaus nun auch die Konzeptualisierung einer grundlegenden, ergebnisoffenen Umgestaltung mit dem Charakter einer Re-Institutionalisierung dieser Wohneinrichtungen. In diesen integrativen Ansatz bezieht CSIGÓ die folgenden wichtigen Aussagen neo-institutionalistischer Konzeptionen ein2:
1
2 3
Entstehung und Veränderung von Präferenzen der Akteure der Institutionen werden durch Wahrnehmung und Interpretation bestimmt und sind kontextgebunden, d. h. geprägt durch die betreffende Institution. Die Untersuchung institutionellen Wandels erfordert eine historische Betrachtungsweise, die das institutionelle Beharrungsvermögen und die Dynamik institutioneller Prozesse gleichermaßen berücksichtigt3. Institutionen sind somit als eine Kumulation von Werten, Erfahrungen und kognitiven Mustern der Vergangenheit zu verstehen.“ (ebd., Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.). Vgl. CSIGÓ (2006), S. 55. Das Konzept der institutionellen Isomorphie wurde von POWELL & DIMAGGIO (vgl. POWELL & DIMAGGIO 1991) entwickelt. Sie schlussfolgern aus der Tendenz zur Angleichung ihrer Grundstrukturen, die Organisationen im selben institutionellen Kontext aufwiesen, dass Organisationen generell zur Konvergenz ihrer Grundstrukturen tendieren. Unterschiedliche Gründe für diese Konvergenz sind, so POWELL & DIMAGGIO, Zwang, Imitation und normativer Druck. Dazu führt CSIGÓ aus: „Zwang entsteht, so POWELL & DIMAGGIO, vor allem von Seiten anderer Organisationen, mit denen die Organisation Austauschbeziehungen unterhält. Ferner generieren aber auch Gesetze einen solchen Zwang. Imitation als Grund für institutionelle Isomorphie ist hingegen auf die Unsicherheit der Akteure bei vollkommen neuen institutionellen Formen zurückzuführen. Diese Unsicherheit soll nach Meinung der Autoren durch die Übernahme erfolgreicher Organisationsformen reduziert werden. Schließlich entsteht auf diese Weise Konvergenz durch normativen Druck, da die Mitglieder einer Organisation versuchen, die Bedingungen ihrer Tätigkeit zu definieren und zu kontrollieren.“ (ebd.). Vgl. ebd., S. 59, 60. Das bedeutet die Relativierung eines starren Determinismus, der, so CSIGÓ, aufgeweicht werden müsse (vgl. ebd., S. 59).
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
259
„Macht“ ist als wesentlicher Faktor institutionellen Wandels zu begreifen – und zwar als „Motor bzw. Hindernis“1. „Legitimität“ ist ein weiterer „fundamentaler Beweggrund“2 für das Handeln der Akteure im Rahmen institutioneller Veränderungen – eng mit Fragen der „Angemessenheit“ verbunden3. Das Konzept der Isomorphie kann zur Erklärung der Motivation bei Lernprozessen herangezogen werden.
Die Grundideen einer solchen Konzeptualisierung institutionellen Wandels durch Lernen sollen in Anlehnung an CSIGÓ übersichtsartig in knapper Form im folgenden Abschn. 4.2.3 dargestellt werden. 4.2.3 Wandel durch institutionelles Lernen 4.2.3.1 CSIGÓS Grundmodell des institutionellen Wandels CSIGÓ geht bei ihren Überlegungen zum institutionellen Wandel von einem einfachen Grundmodell4 aus, dem so genannten „Drei-Ebenen-Modell“5 (siehe Abb.5). Ausgangspunkt für die Entwicklung dieses Modells sind die folgenden Überlegungen CSIGÓS: 1
2 3
4
5
CSIGÓ (2006), S. 59. Da Macht die Wahrnehmung und Situationsdeutung der jeweiligen Akteure forme, so CSIGÓ, liege der Schluss nahe, dass Machtstrukturen des institutionellen Systems bis in die kognitive Ebene hineinwirkten. Institutioneller Wandel erfasse deshalb nicht nur die existierenden Machtstrukturen, sondern sei darüber hinaus auch in kognitiven Strukturen zu denken. Daher spiele Macht auch für institutionelle Lernprozesse eine gewichtige Rolle, so CSIGÓ: Lerninhalte würden immer auch von der jeweiligen Machtverteilung geprägt (ebd., S. 59, 60). Ebd., S. 60. Institutioneller Wandel müsse, so CSIGÓ, der „Logik der Angemessenheit“ folgen. Daraus ergäbe sich eine große Bedeutung der Quellen von „Angemessenheit“, ihre Definition im politisch-sozialen System sowie ihre Vermittlung durch Prozesse der Sozialisation (vgl. ebd., Hervorhebung im Original, Anm. A. B.). Vgl. CSIGÓ (2006), S. 108 ff. Zum Begriff „Grundmodell“ fügt sie folgende Erläuterungen an: „Institutioneller Wandel ist ein Prozess, der aufgrund seiner Komplexität nur in seinen Grundzügen beschrieben werden kann und für dessen Wirkungsweise kognitive, geschichtliche, prozessuale, kulturelle und sozioökonomische Größen verantwortlich sind. All diese Variablen in einem einzigen Modell zu erfassen, ist nicht möglich. Wie bei der Erstellung einer Landkarte nicht alle Eigenschaften der Landschaft wiedergegeben werden können, so muss auch ein Modell institutionellen Wandels darauf beschränkt bleiben, einen als Orientierungshilfe gedachten Überblick zu geben.“ (ebd., S. 108). CSIGÓ entwickelt ihr Modell für die Gesamtheit der politischen Institutionen einer nationalen Gesellschaft, zu denen auch die Institutionen der sozialen Sicherungssysteme einschließlich ihrer Organisationen rechnen. Deshalb kann es auch für die Beschreibung des Wandels von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung herangezogen werden.
260 1.
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Es gibt exogene Herausforderungen, die durch institutionelle Strukturen bewältigt werden müssen, ohne dass die betroffenen Institutionen direkten Einfluss auf Entstehung und Beschaffenheit der jeweiligen Herausforderungen haben – sie liegen außerhalb ihrer „Steuerungsreichweite“1.
Abbildung 5:
Drei-Ebenen-Modell des institutionellen Wandels nach CSIGÓ2
1. Ebene:
Exogene Herausforderungen
2. Ebene:
Institutionelle Struktur
3. Ebene:
2. 3.
1 2 3 4
Akteur(e)
Damit wird die institutionelle Problemlösungskapzität zu einem zentralen Kriterium, welches die Legitimität einer Institution begründet und damit ausschlaggebend für ihren Fortbestand und Erhalt ist. Eine effektive Problemlösung wird nicht nur durch die institutionellen Strukturen einer Institution, sondern auch durch nicht-institutionelle Faktoren bestimmt: Die „Charakteristika des zu bewältigenden Problems“3 sowie „die normative und kognitive Orientierung der für die Entscheidungen relevanten Akteure“4 der Institution.
CSIGÓ (2006), S. 108. Vgl. CSIGÓ (2006), S. 109. Ebd., S. 108. Ebd.
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
261
Das Zusammenwirken dieser drei Faktoren – Problembeschaffenheit der exogenen Herausforderungen, Institutionen sowie Akteursorientierung – verdeutliche, so CSIGÓ, das von ihr entwickelte Drei-Ebenen-Modell1: Die auf der ersten Ebene dargestellten (unterschiedlich gearteten) Herausforderungen wirkten auf die zweite Ebene – die jeweilige institutionelle Struktur – ein. Ob diese erfolgreich bewältigt werden könnten oder dies eine Überforderung der gegebenen Strukturen darstelle, so CSIGÓ, hänge von der Beschaffenheit der institutionellen Struktur ab2. Die dritte Ebene umfasse die Akteure, die bei der Bewältigung der Herausforderungen sowohl unmittelbar als auch mittelbar eine Rolle spielten3: Kurz- bis mittelfristig könnten Akteure nur indirekt auf die externen Herausforderungen reagieren, weil ihnen der Handlungsrahmen durch die institutionellen Strukturen vorgegeben sei, so CSIGÓ4. Da Institutionen also die Handlungen der Akteure einschränkten und formten, könnten die Akteure nur in seltenen Konstellationen eine effektive Problemlösung bewirken. Daher müssten die Akteure mittel- und langfristig reagieren, so CSIGÓ weiter, indem sie die Institutionen veränderten und deren institutionelle Strukturen den exogenen Herausforderungen entsprechend anpassten5. Dieser institutionelle Wandel umfasst nach CSIGÓ die „Veränderung einer Institution hinsichtlich eines oder mehrer der folgenden institutionellen Faktoren: 1. Leitideen bzw. Ziele 2. Funktionen 3. Funktionsmechanismen 4. Funktionslogik und Status“6
1 2 3
4 5 6
Vgl. CSIGÓ (2006), S. 108. Vgl. ebd., S. 109. Dies sei jedoch kontextspezifisch zu sehen, so CSIGÓ: Bestimmte Herausforderungen könnten im Rahmen des jeweiligen Institutionensystems gut bewältigt werden, anders gelagerte Herausforderungen erwiesen sich dagegen als Probleme (vgl. ebd.). Vgl. ebd., S. 110. Es seien jedoch nicht nur die institutionellen Schranken, so CSIGÓ, sondern auch kognitive Barrieren (Kognitive Pfadabhängigkeit) zu berücksichtigen. Denn die Präferenzen der Akteure würden im Wesentlichen von institutionellen Normen und Anreizen bestimmt. Institutionen formten die (selektiven) Wahrnehmungen der Akteure sowie den Inhalt ihrer rollenspezifischen Denkmuster. Diese Denk- und Deutungsmuster legten wiederum die Kriterien fest, anhand derer ihre Handlungen evaluiert würden (vgl. ebd. unter Bezug auf SCHARPF, 2000). Vgl. ebd., S. 111. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Bezogen auf den institutionellen Wandel von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung bedeutet das nicht nur die Einbeziehung der Organisationsformen, der Strukturen und Prozesse dieser Organisationen, sondern vor allem auch ihrer handlungsleitenden Leitideen und die Neubestimmung ihrer Funktionen und Aufgabenstellungen.
262
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Auf der Grundlage des Drei-Ebenen-Modells entwickelt CSIGÓ nun ein für die Erklärung institutionellen Wandels zentrales Modell (siehe Abb. 6). Abbildung 6:
Grundmodell institutionellen Wandels nach CSIGÓ 1
Herausforderungen
Institution
Akteur(e)
Kollektive Ideen
Institutionelle Umwelt
Dieses „Grundmodell zur Erklärung institutionellen Wandels“2 beinhaltet die fünf grundlegenden Variablen 1. 2. 3. 4. 5.
sozioökonomische Herausforderungen, kollektive Ideen, institutionelle Umwelt, Akteure sowie die jeweilige Institution“3.
und eine Reihe wesentlicher Modellannahmen.
1 2 3
Vgl. CSIGÓ (2006), S. 127. Ebd., S. 119. CSIGÓ (2006), S. 119. Mit diesem Grundmodell institutionellen Wandels lassen sich die Auswirkungen der gesellschaftlichen Veränderungen und Umbrüche auf Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung sowie die Verhaltensweisen der Akteure und der Wandel der Institutionalformen des Wohnens in ihrer Wechselwirkung veranschaulichen und erklären.
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
263
Es wird z. B. davon ausgegangen, dass jeglicher institutioneller Wandel durch exogene Herausforderungen verursacht wird, die endogene Herausforderungen1 auslösen, die ihrerseits zu institutionellem Wandel führen2. Eine weitere Annahme ist, dass Kontextveränderungen, so CSIGÓ, im System rezipiert und reflektiert würden – dass das politische System auf Veränderungen reagiere3. Dadurch wird Einfluss auf die Institutionen genommen, andererseits wirken die Institutionen in ihrer Funktion als Problemlösungskonzepte auf das System verändernd zurück, dies ist eine dritte Annahme des Modells. CSIGÓ, die die Verlaufsformen institutionellen Wandels untersucht, identifiziert „drei wesentliche Mechanismen“4, die die „routinierten Problemlösungsstrategien“5 der Institution durchbrechen und damit zu institutionellem Wandel führen können6. Dabei handelt es sich um
eine durch die Umwelt beeinflusste und dadurch veränderte Problemlösefähigkeit der Institution, eine zu geringe Anpassungsfähigkeit der Institution bzw. das Fehlen wichtiger Handlungsoptionen für die Akteure sowie das Auftreten neuer Akteure7.
Schließlich unterscheidet CSIGÓ – geordnet auf einem Kontinuum von geringer Veränderung bis zu umfassenden institutionellen Umbrüchen – mit „Anpas-
1 2
3 4 5 6
7
Dabei handelt es sich um Veränderungen, die im Institutionensystem selbst generiert werden (vgl. CSIGÓ 2006, S. 128). Wandel stelle somit keinen autonomen Vorgang dar, so CSIGÓ, sondern eine Situation, in der aufgrund einer veränderten Konstellation der Status Quo nicht mehr aufrechterhalten werden könne. Die Praxis bestätige, so CSIGÓ weiter, dass wesentliche institutionelle Veränderungen erst dann zustande kämen, wenn bereits eine Krise ausgebrochen, es also zu einer erheblichen Funktionsstörung gekommen sei (vgl. CSIGÓ, 2006, S. 128). Vgl. ebd. Für die Überlegungen zur Umgestaltung der Wohneinrichtungen bedeutet das, dass der gesellschaftliche Wandel als Reaktion bestimmte Veränderungen der technischen und institutionellen Umwelten verursacht, wie im Abschn. 3.5 bereits aufgezeigt. CSIGÓ (2006), S. 129. Ebd. Herausforderungen wirkten in diesem Fall dadurch, so CSIGÓ, dass sie die Institution mit veränderten Problemkonstellationen konfrontierten, die möglicherweise nicht in die institutionelle Routine passten und somit andere als die gewohnten Ergebnisse hervorriefen. Solange die routinierten Problemlösungsstrategien nicht durchbrochen würden, werde die Institution reproduziert (vgl. ebd., S. 129). Diese drei Mechanismen sind auch beim institutionellen Wandel von Wohneinrichtungen zu beobachten.
264
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
sung“, „Reform“, „Neuausrichtung“, „Transformation“ und „Revolution“ fünf Formen des institutionellen Wandels1. 4.2.3.2 Aspekte institutionellen Lernens CSIGÓ definiert institutionelles Lernen als „[…] eine bewusst von den Akteuren angestrebte Einführung neuer institutioneller Verfahrensweisen oder einer neuen institutionellen Form […], die durch Zugewinn an Wissen oder durch die (institutionelle) Verarbeitung von Erfahrungen aus der Vergangenheit oder von anderen Organisationen (bzw. anderen Systemen) zustande kommt.“2
Sie verbindet in ihrem integrativen Ansatz folgende drei Grundtypen institutionellen Lernens miteinander, die unterschiedliche Lernprozesse hinsichtlich ihrer Strategien und Ziele beschreiben3,4: 1. 2. 3.
„Einfaches Lernen“ „Komplexes Lernen“ „Reflexives Lernen“
1
Veränderungs- und Wandlungsprozesse von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung sind nach dieser von CSIGÓ entwickelten Klassifikation der Regel in den Formen „Anpassung“ und „Reform“ zu beobachten, als „Neuausrichtung“ dagegen eher selten. Prozesse der Re-Institutionali-sierung der Wohneinrichtungen würden in Form einer Transformation verlaufen, während sich ihre radikale De-Institutionalisierung als „Revolution“ darstellen würde. Vgl. CSIGÓ (2006), S. 166. Für die Überlegungen zum Wandel und zur Umgestaltung der Wohneinrichtungen spielt besonders die Form institutionellen Lernens als Verarbeitung der Einflüsse der technischen und institutionellen Umwelten auf die Organisation durch die Akteure eine Rolle. Dabei bezieht sie sich auf Überlegungen von K. W. DEUTSCH, der zwei Arten von Rückkopplungsprozessen identifiziert: „Zum einen Prozesse, die im bestehenden System eine bessere Erreichung der gegebenen Ziele bewirken“, zum anderen Mechanismen, bei denen die Ziele des Systems selbst verändert werden.“ (vgl. ebd., S. 155 unter Bezug auf DEUTSCH, 1969). In Bezug auf diese qualitativen Dimensionen unterscheide DEUTSCH, so CSIGÓ, zwei Grundformen des Lernens: einfaches und komplexes Lernen (vgl. ebd.). SCHÄFFTER unterscheidet in ähnlicher Weise zwischen Lernen im normativen und interpretativen Paradigma, wobei aus seiner Sicht Lernen als kognitiv strukturierende Umweltaneignung eine aktive Auseinandersetzung mit der Widerständigkeit der Welt darstellt, die notwendigerweise in einem Wechsel zwischen normativem („assimilatives Bestätigungslernen“, entspricht dem Verbesserungslernen) und interpretativem Paradigma („reflexives Lernen“, entspricht dem Veränderungslernen) verläuft (vgl. SCHÄFFTER, 2001, S.197, 198).
2
3
4
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
265
Zu (1): Durch dieses „Verbesserungslernen“1 werde ein Prozess des Wissensund Ideenwandels bezeichnet, so CSIGÓ, durch den Wege zur Erreichung eines bereits vorhandenen Ziels verändert und die durch Lernen besser, d. h. effektiver und effizienter, erreicht werden sollten2. Charakteristisch für diese Lernform ist, dass es um einen Informationsgewinn, d. h. um die Erweiterung von Wissen, geht und Veränderungen nur innerhalb der bestehenden Wertevorstellungen vollzogen werden3. Zu (2): Dieses Konzept gehe davon aus, so CSIGÓ, dass sich Interessenlagen, Werte, Ziele und Handlungen der Akteure durch zusätzliche Informationen veränderten und daher eine Veränderung der bisher verfolgten Ziele angestrebt werde. Deshalb spreche man auch von „Veränderungslernen“4. Merkmal dieser Lernform ist eine Veränderung der handlungsleitenden Theorien sowie der Wahrnehmung, Präferenzen, Strategien und Annahmen der Akteure. Zu (3): Reflexives Lernen schließlich bezeichne den Vorgang, in dem die Fähigkeit, „das Lernen zu lernen“ von Individuen, Institutionen und Organisationen erworben werde, so CSIGÓ5. Es gehe hierbei um den Prozess des Lernens mit der Fragestellung, wie Lernfähigkeit verbessert werden könne6. Im Rahmen ihres integrativen Ansatzes versteht CSIGÓ reflexives Lernen nicht als eine eigenständige Form des Lernens, sondern stellt es immer in den Zusammenhang mit Verbesserungs- und Veränderungslernen. Während es bei diesen um die inhaltlichen Aspekte von Lernprozessen geht, richtet sich der Fokus des reflexiven Lernens auf die prozedurale Dimension des Lernens7. In Tabelle 1 sind die Merkmale drei verschiedener Lerntypen in Übersichtsform gegenübergestellt.
1 2 3
4 5 6 7
CSIGÓ (2006) S. 155. Vgl. ebd. Verbesserungslernen beziehe sich, so CSIGÓ, auf einen Lernprozess, bei dem es darum gehe, dass Akteure lernten, besser mit den Problemen ihrer Umwelt umgehen zu können, sei es durch eine differenziertere Wahrnehmung der Umweltsituation oder durch andere Verhaltensweisen (vgl. ebd.). CSIGÓ (2006) S. 155. Vgl. ebd., S. 156. Vgl. ebd. Vgl. CSIGÓ (2006), S. 165.
266
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Tabelle 1: Typen institutionellen Lernens nach CSIGÓ1
Lerntyp
Einfaches Lernen Verbesserungslernen
Komplexes Lernen Veränderungslernen
Reflexives Lernen
Lernziel
Bessere Erreichung bestehender Ziele innerhalb der existierenden Wertvorstellungen und den Leistungswerten. Rein instrumental.
Bestehende Ziele und handlungsleitende Annahmen werden in Frage gestellt und verändert. Qualitativ.
Lernfähigkeiten werden verbessert.
Bedeutung
Anpassung von Strategien zur besseren Erreichung bestehender Ziele.
Änderung grundlegender Überzeugungen und Ziele.
Lernen zu lernen.
Neben den verschiedenen Lerntypen nimmt CSIGÓ in ihr integratives Modell die folgenden fünf für institutionelles Lernen relevanten Aspekte auf: 1. 2. 3. 4. 5.
Lernsubjekte Lernimpulse / Lernmotive Lernmodalitäten Lerninhalte Umsetzung des Gelernten2
Damit soll die kurze Überblicksdarstellung des von CSIGÓ entwickelten integrativen Modells institutionellen Wandels, das neo-institutionalistische Elemente mit Ansätzen des institutionellen Lernens miteinander verbindet, abgeschlossen werden. 4.2.3.3 Fazit: Institutioneller Wandel durch institutionelles Lernen CSIGÓ entwickelt ihr Modell institutionellen Wandels durch institutionelles Lernen für die Gesamtheit nationaler politischer, administrativer und wohlfahrtsstaatlicher Institutionen aus einer politikwissenschaftlichen Interessenlage her1 2
Vgl. CSIGÓ (2006), S. 156. Vgl. ebd., S. 166.
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
267
aus. Dieser Ansatz bezieht auch das System der Sozialen Sicherung mit den Institutionen und Organisationen der Behindertenhilfe ein. Um ihre Überlegungen auch für einzelne Einrichtungen des institutionellen Arrangements der Wohnangebote für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung fruchtbar machen zu können und damit sowohl ein tieferes Verständnis der beobachtbaren Phänomene institutioneller Beharrlichkeit dieser Organisationen der Behindertenhilfe als auch eine theoretische Grundlegung ihres Wandels und ihrer Umgestaltung zu ermöglichen, sind nur geringe Modifikationen erforderlich. Mit dem von ihr entwickelten integrativen Modell lassen sich mit den Ansätzen der Isomorphie und der Pfadabhängigkeit einerseits differenziert die unterschiedlichen Mechanismen des Wandels der Organisationen aufgrund der Einflüsse der durch die gesellschaftlichen Umbrüche veränderten technischen und institutionellen Umwelten beschreiben. Andererseits verdeutlichen diese neo-institutionalistischen Konzeptionen auch die Rolle der Akteure, die institutionell bestimmten Prägungen ihrer Wahrnehmung, Wertevorstellungen und Präferenzen. Die Einbeziehung der Ansätze des institutionellen Lernens gestattet darüber hinaus die Darstellung der Wechselwirkung zwischen exogenen Herausforderungen, institutionellen Strukturen und den Intentionen und Handlungen der Akteure und ermöglicht es, unterschiedliche Formen institutionellen Wandels im Zusammenhang mit dem Zusammenspiel verschiedener Lernformen unter Berücksichtigung der für die Lernprozesse relevanten Aspekte zu erfassen. Abschließend ist festzustellen, dass aus den konzeptionellen Ansätzen CSIGÓS und dem von ihr entwickelten Modell wesentliche Erkenntnisse für die Fragestellungen im Zusammenhang mit der Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen gewonnen werden können. Das betrifft insbesondere folgende Aspekte: 1.
Auslöser des institutionellen Wandels von Wohneinrichtungen sind grundsätzlich Veränderungen des gesellschaftlichen Kontextes (Auswirkungen der Globalisierungsprozesse, Modernisierungs- und Individualisierungsschübe, Erosion sozialer Bezüge, zunehmende Wertepluralisierung, wachsender sozioökonomischer Druck) bzw. Systemveränderungen („Umbau“ der technischen und institutionellen Umwelten im Ergebnis der gesellschaftlichen Umbrüche). Diese führen zu einer grundlegenden In-Frage-Stellung der Wohneinrichtungen – in Bezug auf die Effektivität und Effizienz ihrer Funktionalität und ihres Problemlösevermögen einerseits, bezüglich ihrer Angemessenheit, d. h. ihrer gesellschaftlichen Legitimität andererseits.
268 2. 3.
4.
5.
6.
1
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Die dadurch in Gang gesetzten Wandlungsprozesse stoßen auf die institutionelle Beharrlichkeit der Wohneinrichtungen und führen zu neuen Problemen, Spannungen und Verwerfungen1. Die Veränderungen des institutionellen Arrangements der Wohnangebote für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und der Wohneinrichtungen für diesen Personenkreis sind stark abhängig von den konkreten Herausforderungen der jeweiligen Umwelten, den vorhandenen institutionellen Strukturen und den Präferenzen der Akteure. Dadurch können sich die Prozesse des Wandels in Bezug auf ihre zeitlichen Verläufe, ihre spezifischen Charaktere, ihre relevanten Aspekte und ihre „Ergebnisse“ z. T. deutlich voneinander unterscheiden. Die Akteure der Wohneinrichtungen, denen eine zentrale Rolle bei diesen Veränderungsprozessen zukommt, sind mit Wandlungsprozessen in mehrfacher Art konfrontiert und müssen diese bewältigen: Zunächst sind ihre Präferenzen, Wahrnehmungen, Deutungen, fachliche Überzeugungen, Rollen- und Selbstverständnisse aber auch ihre Problemlösungsstrategien und Handlungsweisen durch die institutionellen Bedingungen ihrer jeweiligen Organisation geprägt. Die institutionellen Veränderungen wirken nun auf die Akteure zurück und können Ängste, Verunsicherungen und Irritationen auslösen. Des Weiteren wirken sich die Prozesse des gesellschaftlichen Wandels nachhaltig auf ihre Lebenskonzepte, ihre Wertevorstellungen, Lebensziele, Bedürfnisse und ihre Lebensgestaltung aus und verändern diese. Die Akteure ihrerseits sind den Wandlungsprozessen keinesfalls hilflos ausgesetzt. Sie verfügen im Gegenteil über beträchtliche Handlungsspielräume, die sie nutzen können, um die institutionelle Beharrlichkeit ihrer Wohneinrichtung zu verstärken bzw. nur geringe oder auf bestimmte Bereiche beschränkte Veränderungen zuzulassen und diesen eine bestimmte Richtung zu geben. Andererseits können sie sich auch aktiv für eine grundlegende Umgestaltung im Sinne einer Re-Institutionalisierung einsetzen, um damit den Fortbestand ihrer Einrichtung und die Wiedergewinnung ihrer gesellschaftlichen Legitimität zu sichern. Handlungsorientierungen für die durch die Akteure zielorientiert angestrebte Umgestaltung von Wohneinrichtungen im Sinne einer Re-InstitutionalisieDas Verhältnis zwischen Beharrlichkeit und Wandel ist ambivalent – einerseits ist Wandel unverzichtbar und notwendig für den Erhalt der Wohneinrichtungen, andererseits ist auch institutionelle Stabilität wichtig: Gerade die positiven Leistungen von Institutionen und Organisationen (Gewähren von Berechenbarkeit, Kontinuität, Sicherheit und Entlastung durch handlungsleitende Regeln, anerkanntes Rollenverhalten und stabile Alltagsroutinen) gründen wesentlich in der institutionellen Beharrlichkeit.
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
269
rung lassen sich in Ergänzung zur neo-institutionalistischen Perspektive aus Ansätzen des institutionellen Lernens gewinnen. Im anschließenden Abschn. 4.2.4 erfolgen weitere Konkretisierungen, die zeigen, wie auf der Grundlage der Ansätze CSIGÓS Grundzüge einer Konzeptualisierung des Wandels und der Umgestaltung von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung entworfen werden können. 4.2.4 Die institutionelle Umgestaltung der Wohneinrichtungen 4.2.4.1 Zielbestimmung Es wurde im Rahmen der Arbeit bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die Notwendigkeit einer Re-Institutionalisierung von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung aus dem sich in den letzten drei Jahrzehnten schnell und umfassend verändernden gesellschaftlichen Kontext resultiert, der zu völlig neuen, in sich durchaus widersprüchlichen Herausforderungen führt, mit denen sich die Wohneinrichtungen in Form des Wandels ihrer technischen und institutionellen Umwelten konfrontiert sehen. Re-Institutionalisierungsprozesse dieser Art sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bisher allerdings kaum zu beobachten. Das liegt zum einen an der bereits dargestellten institutionellen Beharrlichkeit, den eher wertkonservativen, machtorientierten1, am Bestehenden festhalten wollenden und Neues meidenden Präferenzen der Entscheidungsträger2, zum anderen daran, dass durch die veränderten Kontextbedingungen bereits bestimmte Anpassungsleistungen der Wohneinrichtungen ausgelöst wurden3, insbesondere als Reaktionen auf (sozial)rechtliche Vorgaben, administrative Regulierungen und Kontrollen sowie auf ökonomischen Druck. Darüber hinaus entscheiden sich die Akteure oftmals für die Umsetzung von Entkoppelungsstrategien4, die den Anpassungsdruck seitens der technischen und institutionellen Umwelten verrin1 2 3
4
Vgl. dazu z. B. die Ausführungen DEDERICHS, JANTZENS und SCHÄDLERS (siehe auch Abschn. 2.3). Mit Hilfe des Ansatzes der kognitiven Pfadabhängigkeit lassen sich die bei Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung beobachtbaren Phänomene deuten und erklären. Diese durch die Umwelten der Wohneinrichtungen verursachten Veränderungen resultieren z. B. aus bestimmten Prozessen der Isomorphie (vgl. Abschn. 3.6) und beschränken sich auf partielle, lediglich geringfügige Umgestaltungen. Damit wird der auf den Wohneinrichtungen lastende „Anpassungsdruck“ stark verringert, ihre institutionelle Persistenz gestärkt und ein grundlegender Wandel verhindert. Vgl. Abschn. 3.6.
270
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
gern, den Umgang mit Ambivalenzen der Erwartungen und Anforderungen ermöglichen, den Legitimitätsverlust abbremsen und letztlich eine grundlegende institutionelle Umgestaltung zu vermeiden helfen. Dadurch entsteht das Gesamtbild eines sich zwar schrittweise wandelnden institutionellen Arrangements der Hilfen im Bereich des Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung, das aber lediglich die notwendigsten Anpassungsleistungen vollzieht1. Damit ist die Legitimationskrise der Wohneinrichtungen mittelfristig nicht zu lösen, langfristig resultiert daraus die akute Gefährdung ihres Fortbestandes. Zudem werden die Leistungsangebote der Wohneinrichtungen derzeit den neuen Hilfebedarfen und den veränderten Lebenslagen ihrer BewohnerInnen immer weniger gerecht – ihre Neubestimmung und Neukonzeptionalisierung ist dringend erforderlich und verträgt keinen Aufschub. Eine grundlegende Re-Institutionalisierung erfordert neben dem institutionellen Wandel in Form von Anpassungsleistungen der Wohneinrichtungen zusätzlich die durch die Akteure bewusst intendierte, initiierte und zielorientiert realisierte Umgestaltung dieser Organisationen. Dazu sind Prozesse individuellen und institutionellen Lernens unabdingbar. Im Folgenden werden die Phänomene und Folgen institutioneller Beharrlichkeit aus den Betrachtungen ausgeklammert2, es geht vorrangig um die Untersuchung der Re-Institutionalisierung von Wohneinrichtungen, deren Grundzüge skizziert und Möglichkeiten ihrer praktischen Umsetzung mithilfe des EFQMModells dargestellt werden3. Zur Konzipierung der Zielbestimmung einer Re-Institutionalisierung von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung kann an die Ausführungen in den Abschn. 3.6, 4.1 und 4.2 angeknüpft werden. Die Überlegungen zu einer Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen richteten sich im Abschn. 4.1 zunächst auf die Neubestimmung ihrer Leistungsangebote für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung. Dabei wurde verdeutlicht, dass im Rahmen einer Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen das Profil ihrer Leistungsangebote neu konzeptualisiert werden muss: Die Leistungsangebote sind zukünftig konsequent personzentriert zu erbringen, Bildungsarbeit und Bildungsangebote werden zu zentralen Schwerpunkten der inhaltlichen Arbeit der Wohneinrichtungen. 1 2 3
Diese Bestandsaufnahme wird auch im Rahmen der aktuellen De-Institutionalisierungsdebatte erhoben und kritisch als unzureichend bewertet. Eine ausführliche Darstellung erübrigt sich an dieser Stelle, da SCHÄDLER auf diese Thematik bereits sehr ausführlich eingegangen ist (vgl. SCHÄDLER, 2002b). Bei diesen Überlegungen wird allerdings vorausgesetzt, dass die verantwortlichen Entscheidungsträger und die mit der Umsetzung betrauten Akteure mehrheitlich diesem Prozess zustimmen und bereit sind, sich mit dem notwendigen Engagement einzubringen.
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
271
Diese Neukonzeptualisierung bezieht sich, wie gezeigt wurde, auch auf eine grundlegende Veränderung der institutionellen Rahmenbedingungen – aus Sicht des zugrunde liegenden Bildungsverständnisses einer Pädagogik der Anerkennung eine wesentliche Voraussetzung für die BewohnerInnen der Wohneinrichtungen, Lernprozesse erfolgreich zu absolvieren und eine eigene „gelingende Identität“1 herauszubilden. Die im Rahmen des Abschn. 4.1 entwickelte Sichtweise zielte auf die BewohnerInnen der Wohneinrichtungen als NutzerInnen der Leistungsangebote für den Lebensbereich Wohnen. Im Abschn. 4.2 erfolgte anschließend mit der Entfaltung einer Perspektive, die wesentliche Aspekte institutioneller Beharrlichkeit und institutionellen Wandels aufgreift, die dazu notwendige Ergänzung – in den Mittelpunkt der Betrachtungen rücken dabei die Akteure2 und ihre Handlungsoptionen innerhalb der institutionellen Strukturen. Für eine Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen ist die Zusammenführung und Verbindung beider Sichtweisen erforderlich, denn Inhalte und Ausrichtung der Arbeit, die institutionellen Gegebenheiten sowie die Wahrnehmungen, Präferenzen, Wertevorstellungen, Selbstverständnisse und Handlungsoptionen der Akteure der Wohneinrichtungen sind untrennbar miteinander verbunden, bedingen sich gegenseitig und müssen bei der grundlegenden Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen immer gemeinsam und in ihren vielseitigen Wechselwirkungen berücksichtigt werden. Ziel einer solchen Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen ist die Behebung ihrer Funktionseinbußen unter den Gesichtspunkten der Effektivität und Effizienz und gleichzeitig die Rückgewinnung ihrer Problemlösefähigkeiten sowie die Erneuerung ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz und Anerkennung als unumgängliche Voraussetzung für die Wiedergewinnung ihrer Legitimation aus gesellschaftlicher Sicht. 4.2.4.2 Konzeptionalisierung der Umgestaltung Eine Re-Institutionalisierung stellt eine grundlegende Umgestaltung der betreffenden Wohneinrichtung bzw. des in Frage kommenden institutionellen Arrangements dar, die nicht nur sorgfältig und umfassend konzeptualisiert, sondern notwendigerweise auch theoretisch begründet werden muss3. 1 2 3
Im Sinne HEINER KEUPPS, vgl. KEUPP (1999), S. 272 ff. Dazu können im konkreten Fall durchaus auch BewohnerInnen zählen, z. B. in ihrer Funktion als Heimbeiräte. Nur durch eine theoretisch geleitete, kritisch-reflexive Auseinandersetzung lassen sich die Wahrnehmungen, Präferenzen, professionellen Rollenverständnisse, Erfahrungen und implizi-
272
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Das von CSIGÓ entwickelte integrative Modell bietet sich für eine solche theoretische Grundlegung besonders an, da es völlig offen für erforderliche Konkretisierungen ist und sich leicht auf die für die Wohneinrichtungen relevante praktische Handlungsebene übertragen lässt. Die wesentlichen Aspekte der Konzeptualisierung einer Re-Institutionalisierung von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung – orientiert an CSIGÓS Modell – sollen im Folgenden in Form eines Überblicks dargestellt werden. Wesentliche Kernelemente sind dabei 1. 2. 3. 4. 5.
die umfassende Analyse des IST-Zustandes, die differenzierte Beschreibung des angestrebten SOLL-Zustandes, die Auseinandersetzung mit den Mechanismen des Wandels und die Beschreibung der geplanten Maßnahmen der Umgestaltung, die Charakterisierung der Anforderungen an die Akteure sowie die Evaluation der erzielten Ergebnisse.
Zu (1): Eine umfassende Analyse des IST-Zustandes sollte mit einer sorgfältigen Re-Historisierung der Geschichte der Wohneinrichtung beginnen, die die Situation zur Gründungs- bzw. Entstehungszeit erfasst1 und ihre anschließende Entwicklung aufzeigt2. Die Ergebnisse dieser Betrachtungen sind dann mittels neo-institutionalistischer Ansätze (z. B. der Pfadabhängigkeit und der institutionellen Persistenz bzw. der Modelle institutionellen Wandels) zu deuten und zu bewerten3 – insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung ihrer Ergebnisse bezüglich des aktuellen Zustands der Wohneinrichtung. Die möglichst detaillierte Erhebung, Beschreibung und Bewertung aller relevanten Aspekte, die die gegenwärtige Situation der Wohneinrichtung charakte-
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ten Theorieansätze der Akteure bewusstmachen, deuten, fortentwickeln bzw. überwinden. Die Notwenigkeit, die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen einer solchen Verfahrensweise verdeutlicht der Ansatz der kognitiven Pfadabhängigkeit. Einzubeziehen sind dabei zumindest der ursprüngliche historische gesellschaftliche Kontext, die Beschreibung der damaligen Zielgruppen und ihrer Bedarfe, die Leitideen und handlungsleitenden Konzepte, die institutionellen Strukturen, Rahmenbedingungen, die Organisationskulturen, die Präferenzen, Wertevorstellungen, Rollenverständnisse und das Rollenverhalten aller Akteure sowie die gesellschaftliche Akzeptanz und Legitimität der Organisation einschließlich ihrer Positionierung in ihrem näheren regionalen bzw. territorialen Umfeld. (Von hohem Interesse sind dabei die Erinnerungen von Zeitzeugen und die Aussagen historischer Dokumente, Schriftstücke, Unterlagen.) Das betrifft ebenfalls alle unter der vorhergehenden Fußnote genannten Aspekte. Für die zukünftigen Bemühungen um eine Umgestaltung der Wohneinrichtung sind die Klärungen der Gründe für institutionelle Beharrlichkeit und des Verlaufs der Prozesse des Wandels, die in der Vergangenheit der Wohneinrichtung stattfanden, von großer Bedeutung.
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
273
risieren, ist unmittelbar an die Re-Historisierung anzuschließen1. Unter Berücksichtigung der Erkenntnisse soziologischer Deutungstheorien2 sind die Phänomene der Globalisierung und des gesellschaftlichen Wandels innerhalb der Nachmoderne mit ihren Auswirkungen auf die Lebenslagen von Menschen mit geistiger Behinderung zu erfassen und aus dieser Perspektive die charakteristischen Merkmale der Wohneinrichtung erneut kritisch zu betrachten3. Allerdings geht es nicht nur um die Klärung der Frage, inwieweit die Wohneinrichtung mit ihren Strukturen, ihrem Setting und ihren Leistungsangeboten auf die veränderte Lebenssituation von Menschen mit geistiger Behinderung und ihren daraus resultierenden ganz neuen Hilfebedarfen zu reagieren in der Lage ist, um adäquate und zufriedenstellende Antworten geben zu können. Es geht auch ganz konkret um die Klärung der aktuellen Wechselwirkungsprozesse zwischen der Wohneinrichtung und ihrer sich schnell wandelnden gesellschaftlichen Umwelt4 und um die Handlungsspielräume der Akteure im Rahmen der institutionellen Strukturen der Wohneinrichtung5. Die Einbeziehung neo-institutionalistischer Ansätze erweist sich als unverzichtbar, um diese Frage-
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Dabei geht es sowohl um quantitative (wie z. B. sämtliche betriebswirtschaftliche Kennzahlen, Platzkapazitäten, Auslastungen, absehbare Entwicklungen der Zielgruppen, Standort- und Sozialraumsituation der Wohneinrichtung, relevante bauliche Parameter einschließlich der Investitions- und Instandhaltungsbedarfe, Ausstattungsmerkmale) als auch qualitative (wie z. B. die individuellen Bedarfe der unterschiedlichen Zielgruppen, die Leitideen und aktuellen Konzepte, die Charakteristika der Unternehmenskultur einschließlich der prägenden Erfahrungen und des Rollenverhaltens der BewohnerInnen und MitarbeiterInnen, der professionellen Selbstverständnisse, Präferenzen und Wertevorstellungen der Akteure, die eingesetzten Managementinstrumentarien, Verfahren zur Personalentwicklung und die angewandten QMSysteme, die Aktivitäten im Bereich Öffentlichkeitsarbeit / Marketing / Fundraising, in der Einbeziehung ehrenamtlich Tätiger sowie der Einbindung und dem Engagement der Wohneinrichtung im umgebenden Sozialraum) Faktoren als auch eine kritische Stärken-SchwächenAnalyse und eine Risiko-Bewertung der Wohneinrichtung. Vgl. dazu auch Abschn.3.2. Sinnvollerweise sollte dabei zwischen globalen, für die gesamte Gesellschaft typischen Veränderungen (vgl. Abschn. 3.4) und ihren konkreten Äußerungen im unmittelbaren regionalen und kommunalen Kontext der Wohneinrichtung unterschieden werden. Dabei geht es zunächst darum, den Charakter der durch technische und institutionelle Umwelten dual strukturierten Wirklichkeit des gesellschaftlichen Kontextes der Wohneinrichtung mit den Effizienzanforderungen der technischen Umwelten und den Anerkennungsbedingungen der institutionellen Umwelten in den institutionell-regulativen und institutionell-normativen Dimensionen zu erfassen. Danach gilt es, diese Wechselwirkungen in ihren konkreten Formen als Regulationen im Rahmen von Ergebnis- und Prozesskontrollen sowie als Adaptionen institutionalisierter Strukturelemente durch die Wohneinrichtungen (als Prozesse der Isomorphie) und die dadurch ausgelösten Wandlungsprozesse näher zu bestimmen. Diese werden stark von den eigenen subjektiven Wahrnehmungen, Deutungen, Interpretationen und Wertungen der Akteure bestimmt, die schließlich die Entscheidungen innerhalb der Organisationen treffen, kommunizieren und umsetzen müssen.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
stellungen nicht nur phänomenologisch zu bearbeiten, sondern auch theoretisch zu deuten. Schließlich wird diese besondere Form der Berücksichtigung des gesellschaftlichen Kontextes als wesentliches Merkmal der IST-Analyse – die Bereitschaft und Fähigkeit der Akteure zu kritischer Selbstreflexivität vorausgesetzt – zu der Erkenntnis führen, dass sich eine Legitimationskrise der Wohneinrichtung anbahnt bzw. der Verlust gesellschaftlicher Legitimität bereits eingetreten ist. Mit einer differenzierten Analyse der genauen Gründe dieser Legitimationskrise der betreffenden Wohneinrichtung in ihrem aktuellen gesellschaftlichen Kontext im Deutungshorizont neo-institutionalistischer Ansätze ist die Erfassung des IST-Zustandes abgeschlossen. Zu (2): Voraussetzung für die Konzeptualisierung eines SOLL-Zustandes, der mit der Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtung erreicht werden soll, ist eine umfassende Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtung. Unter Rückgriff auf die Ethik der Anerkennung, des daraus abgeleiteten Bildungsverständnisses und den Aussagen neo-institutionalistischer Ansätze lässt sich die dafür notwendige theoretische Grundlage erstellen. In einem zweiten Schritt sind – aus der Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtung abgeleitet – sowohl grundlegende allgemeine Zielvorstellungen als auch spezielle zielgruppen- und kontextbezogene, sozialraumorientierte Zielformulierungen zu beschreiben. Diese von den Akteuren gemeinsam zu entwickelnden Zielvorstellungen können in Form eines Modells dargestellt werden, das die theoretisch begründeten Modellannahmen und ihre praktischen Realisierungsmöglichkeiten abbildet. Für eine Re-Institutionalisierung von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung erscheinen folgende grundlegenden allgemeinen Zielvorgaben unabdingbar:
Die betreffende Wohneinrichtung ist so umzugestalten, dass ihre Problemlösekapazität den neuen, sich permanent wandelnden Herausforderungen in Gestalt ganz unterschiedlicher und zumeist miteinander konfligierender Erwartungen ihrer gesellschaftlichen Umwelt gerecht werden und sie ihre gesellschaftliche Legitimität zurückgewinnen kann. Die Basis der institutionell-normativen Dimension der Wohneinrichtung bildet die Ethik der Anerkennung – daran orientieren sich die Gestaltung der Strukturen, die Inhalte der Leistungsangebote, die Konzeptionen, das Bildungsverständnis und die Bildungsangebote, die Unternehmenskultur und die Präferenzen der Akteure. Die institutionellen Strukturen und Rahmenbedingungen der Wohneinrichtung sind so gestaltet, dass sie ein Setting mit „Enabling-Charakter“ bilden,
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
275
welches den BewohnerInnen die für die Entwicklung ihrer Identität notwendigen Freiräume, Handlungsspielräume und durchlässig geöffneten Rückzugs- und Schutzräume bietet und den Akteuren die für eine kontinuierliche Fortentwicklung der Wohneinrichtung erforderlichen Handlungsoptionen eröffnet. Die speziellen Zielformulierungen leisten die notwendigen Ergänzungen und Konkretisierungen der allgemeinen Zielstellungen. Dabei stehen die unterschiedlichen Zielgruppen, die die Leistungsangebote der Wohneinrichtung nutzen, mit ihren individuellen Hilfebedarfen im Mittelpunkt der Überlegungen. Zudem sind alle relevanten kontext- und sozialraumbezogenen Faktoren einschließlich des gesamten regionalen institutionellen Arrangements der Wohnangebote für Menschen mit geistiger Behinderung zu berücksichtigen. Die Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen führt zu konkreten Veränderungsanforderungen bezüglich wesentlicher institutioneller Faktoren. In Anlehnung an CSIGÓ1 lassen sich für a. b. c.
die Leitideen, die Funktionen und die Funktionsmechanismen
der Wohneinrichtungen ganz bestimmte Veränderungszielstellungen ableiten. Zu a.: Die institutionellen Leitideen als die der Wohneinrichtung zugrunde liegenden Wertevorstellungen sind im Rahmen der IST-Analyse kritisch zu reflektieren und in der Auseinandersetzung mit den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen neu zu fassen und festzusetzen. Dabei ist es notwendig, zwischen fachlichen und organisationsbezogenen Leitideen zu unterscheiden. Zu ersteren zählen die in Abschn. 2.4 ausführlich diskutierten sonderpädagogischen Leitkonzeptionen, die Orientierung am bio-psycho-sozialen Behinderungsbegriff der ICF mit den Perspektiven der Aktivität und der Teilhabe sowie die Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und die Ethik der Anerkennung. Die zur Kategorie zwei zählenden Leitideen wie die Effizienz und Effektivität der Wohneinrichtung bei der Erbringung ihrer Leistungsangebote, die Transparenz der Kosten ihrer Leistungen sowie die Angemessenheit und Nachvollziehbarkeit ihrer Preis-Leistungs-Verhältnisse beziehen sich auf die Ressourcenlage, die Administration, die Strukturen und Prozesse der Wohneinrichtung.
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CSIGÓ (2006), S. 111.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Die Neubestimmung der Ziele der Wohneinrichtung, die durch die Leitideen repräsentiert werden1, erfordert die Festlegung einer klaren hierarchischen Strukturierung der Beziehungen zwischen den Leitideen, um die Spannungsfelder und Zielkonflikte zwischen ihnen bearbeiten zu können2. An die Spitze dieser Hierarchie ist die Ethik der Anerkennung zu stellen, die damit oberste handlungsleitende Priorität sowohl für die Neu-Konzeptualisierung der Leistungsangebote mit besonderer Schwerpunktsetzung auf die Bildungsarbeit im Rahmen einer Pädagogik der Anerkennung als auch für die Umgestaltung der Strukturen, Prozesse, Rahmenbedingungen, der Finanzierungsmodalitäten sowie wesentlicher Elemente der Unternehmenskultur der Wohneinrichtung erhält. Damit sind die Voraussetzungen für die Schaffung von Anerkennungsverhältnissen innerhalb der Wohneinrichtung gegeben, die ein zentrales Element der Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen bilden3. Zu b.: Aus den neu konzeptualisierten institutionellen Leitideen ergeben sich die neu zu bestimmenden institutionellen Funktionen der Wohneinrichtung4, denen sie gerecht werden muss, um ihre institutionelle Problemlösungsfähigkeit zurückzugewinnen5. Prozesse der Individualisierung, Pluralisierung und Fragmentierung verändern die nachmoderne Gesellschaft und mit ihr die Institutionen des Sozialstaates, aber auch die Institutionen „Familie“ und „Lebenslauf“; Auswirkungen der Globalisierung nehmen unmittelbar Einfluss auf den Alltag und die Lebenssitua1 2 3
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Vgl. CSIGÓ (2006), S. 112. Es ist nahe liegend, dass diese Konfliktlinien in besonderer Weise zwischen den fachlichen und den organisationsbezogenen Leitideen aufbrechen werden. Mit der Entfaltung der institutionell-normativen Dimension im Rahmen der Anerkennungskonzeption könnten die grundlegenden organisationalen Umgestaltungen der Wohneinrichtungen initiiert werden, die zur Schaffung der institutionellen Voraussetzungen für eine Etablierung von Anerkennungsverhältnissen notwendig sind. Gleichzeitig würden Prozesse der Reflexion und Neubestimmung des professionellen Selbstverständnisses, einer Veränderung der Unternehmenskultur der Wohneinrichtungen und der nachhaltigen Veränderung des herkömmlichen Rollenverhaltens der MitarbeiterInnen und der BewohnerInnen sowie die Implementierung einer Pädagogik der Anerkennung als neue Leitkonzeption der Bildungsarbeit ihren Anfang nehmen. Zur Erinnerung (vgl. Abschn. 4.2.3): Institutionelle Funktionen, so CSIGÓ, repräsentierten stabile Austauschbeziehungen zwischen Institutionen, ihrer Umwelt sowie den handelnden Akteuren. Sie bezögen sich sowohl auf institutionelle Problemlösungs- als auch Vermittlungsfunktionen, als auf instrumentelle wie symbolische Dimensionen. Institutionen, so CSIGÓ weiter, seien auf die konkrete Lösung spezifischer, gesellschaftlich relevanter Probleme gerichtet, ihre symbolische Funktion bestehe hingegen jeweils darin, dass sie Vertrauen in eine wirksame Erfüllung ihrer Problemlösungsfunktion stifteten (vgl. CSIGÓ, 2006, S. 112. Hervorhebung im Original, Anm. A. B.). Die in der Vergangenheit „problemlösenden Funktionen“ der Wohneinrichtungen, die im Wesentlichen auf die Unterbringung, Versorgung, Verwahrung, Pflege und Förderung ihrer BewohnerInnen in einem vom gesellschaftlichen Leben separierten Schonraum bestanden, versagen angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen.
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
277
tion der Individualisierung1. Diese veränderten Verhältnisse der nachmodernen Gesellschaft stellen ganz neue Anforderungen an die institutionellen Funktionen der Wohneinrichtungen: Im Kern geht es nun um die Organisation einer institutionellen Lebenswelt für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung, die ihnen eine selbstbestimmte, teilhabeorientierte und sinnerfüllte Gestaltung ihres Lebens nach ihren eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Präferenzen im Bereich Wohnen unter den realen Bedingungen der sich im Wandel befindlichen nachmodernen Gesellschaft ermöglicht. Diese Lebenswelt muss all die Voraussetzungen bieten, die notwendig sind, um Menschen mit geistiger Behinderung individuelle Bildungsprozesse zur Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung, die aktive Teilhabe am Leben der Gesellschaft nach eigenen Vorstellungen, die Verwirklichung ihrer Bürgerrechte und eine selbstverantwortete Lebensgestaltung zu ermöglichen2. Gleichzeitig haben sich die Finanzierungsgrundlagen geändert, an die Stelle von Pauschalfinanzierungen sind Kontraktvereinbarungen getreten. Diese neue Finanzierungslogik, die auf den individuellen Hilfebedarf des einzelnen Nutzers zielt, fordert die Entwicklung neuer Funktionen im betriebswirtschaftlichen und administrativen Bereich der Wohneinrichtung3. Zu c.: Die Neubestimmung der Funktionen der Wohneinrichtung bedeutet konsequenterweise auch eine Veränderung der institutionellen Funktionsmechanismen der Wohneinrichtung, d. h. der „durch den institutionellen Rahmen geprägten festen Muster institutionsbezogenen Akteurshandelns und der Interaktionen der Institution mit ihrer Umwelt“4. Die zielorientiert angestrebten Veränderungen der institutionellen Funktionsmechanismen sollten auf
die innerhalb der Wohneinrichtungen bestehenden, stark einseitig ausgerichteten Machtverhältnisse sowie auf die damit in engem Zusammenhang stehende Funktionalisierung der institutionalisierten Asymmetrien,
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Verdeutlicht wird das durch die gegenwärtige internationale Finanz- und Wirtschaftskrise, den international agierenden Terror, sich global schnell ausbreitende Pandemien wie die H1N1Grippe, aber auch – weniger spektakulär – die sich stürmisch entwickelnde Informations- und Kommunikationstechnologie und Medien wie das Internet. KEUPP hat sich ausführlich mit den Bedingungen für eine gelingende Identitätsentwicklung beschäftigt (vgl. z. B. KEUPP 1994a, 1994b, 1997, 2004 sowie KEUPP u. a. 1999). Seine Überlegungen lassen sich mit entsprechenden Modifikationen unmittelbar auf die Bildungsarbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung übertragen. Das betrifft z. B. den Aufbau einer tief gestaffelten Kostenstellenrechnung, eines modernen Controllings und den umfassenden Einsatz moderner EDV-Technik (hard- und softwareseitig) zur Vernetzung von Kostenrechnung, Finanz- und Personalverwaltung, Dienstplanprogrammen und der Leistungsdokumentation. CSIGÓ, 2006, S. 112.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
die Qualität der Interaktionen, Selbstverständnisse und Rollenverhalten von BewohnerInnen und MitarbeiterInnen der Wohneinrichtung, den Wechsel von einer institutions- zur individuell personbezogenen Leistungserbringung unter Berücksichtigung der Leistungsart des Persönlichen Budgets und das Prinzip der strukturellen Offenheit, Durchlässigkeit und Flexibilität der Wohnangebote einschließlich der Vernetzung unterschiedlicher Wohnformen
ausgerichtet werden. Zu (3): Nach der Analyse des IST-Zustandes und der Bestimmung des SOLL-Zustandes besteht der nächstfolgende Schritt der Konzeptualisierung einer Re-Institutionalisierung von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung – wiederum orientiert an CSIGÓS Modell – in
der Auseinandersetzung mit den Mechanismen des Wandels und den Prozessen institutionellen Lernens, der Übertragung der gewonnenen Erkenntnisse auf die konkrete Situation der Wohneinrichtung und der Planung der einzelnen Maßnahmen zur Umgestaltung der Wohneinrichtung.
Das von CSIGÓ entwickelte Grundmodell des Wandels, dessen zentrale Aspekte und Grundannahmen im Abschn. 4.2.3.1 beschrieben wurden, ermöglicht den Akteuren der Wohneinrichtung, die Prozesse des Wandels im neo-institutionalistischen Deutungshorizont theoretisch zu erfassen, um die gewonnenen Einsichten anschließend in der konkreten gesellschaftlichen Situation auf die institutionelle Realität der betroffenen Wohneinrichtung zu übertragen. Für die Konzeptualisierung der Umgestaltung der Wohneinrichtung bieten sich darüber hinaus CSIGÓS Überlegungen zum institutionellen Lernen als theoretische Orientierung einerseits und praktische Handlungsanleitung zur Umsetzung andererseits an. Wichtige Schwerpunkte dieses Reflexionsprozesses sind:
eine möglichst differenzierte Beschreibung der aktuellen sozioökonomischen Herausforderungen einschließlich ihrer Auswirkungen auf die Wohneinrichtung, die inhaltliche Bestimmung der für die Arbeit der Wohneinrichtung maßgeblichen kollektiven Ideen als „[…] kollektiv geteilte Einschätzungen und
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
1 2 3 4 5 6
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somit Erwartungen […]“1 der Gesellschaft in den Bereichen Ethik2, Anthropologie3, Sonderpädagogik4, Soziologie5 sowie Sozialpolitik und -recht6, eine genaue Erfassung der institutionellen Umwelt mit dem Institutionensystem, in welches die Wohneinrichtung „eingebettet“ ist, einschließlich der Prozesse ihres Wandels, der sozialen Beziehungen der Akteure zur Umwelt und der „Ressourcenströme“ zwischen Wohneinrichtung und Umwelt7, eine offene und klare Diskussion8, die die – sich mit Sicherheit unterscheidenden – Werte und Normen, Wahrnehmungen, Präferenzen, Strategievorstellungen und Interessen der verschiedenen Akteure9 transparent macht und eine anschließende Konsensfindung ermöglicht, die Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der IST-Analyse, soweit sie die institutionellen Aspekte der Wohneinrichtung betreffen, ihre kritische Bewertung, der Abgleich mit den Festsetzungen der SOLL-Bestimmung und den Konsequenzen für die Konzeptualisierung und Umsetzung der Umgestaltung der Wohneinrichtung, die Auseinandersetzung mit Lernformen und relevanten Aspekten institutionellen Lernens10 und ihre Übertragung auf die konkrete Situation der Wohneinrichtung und schließlich die Entwicklung eines konkreten Maßnahmeplans zur Umgestaltung der Wohneinrichtung.
CSIGÓ, 2006, S. 120. Dazu gehören auch die grundlegenden Vorstellungen von einer „gerechten“ Gesellschaft – insbesondere in Bezug auf den Zugang zu und die Verfügung über finanzielle, materielle und soziale Ressourcen. Wichtige anthropologische Schwerpunktthemen sind in diesem Zusammenhang z. B. die Ideen zur Selbstbestimmung, Autonomie und zu den Freiheits- und Bürgerrechten. Aus dem Bereich der Sonderpädagogik gehören dazu z. B. die aktuellen Vorstellungen zum Behinderungsbegriff und die Diskurse zum Lebensrecht behinderter Menschen. Wachsende Bedeutung gewinnen z. B. Erwartungen und Forderungen bezüglich der Teilhabemöglichkeiten und der Lebensqualität unterschiedlichster Zielgruppen. Dazu können z. B. die Neubestimmung der Eingliederungshilfe, die aktuelle Diskussion um den investiven Sozialstaat (im Zusammenhang mit der Neubestimmung der Harz IV-Sätze für Kinder) und die Auseinandersetzungen um Dämpfung der expansiven Kostenentwicklung im Sozialbereich gerechnet werden. Diese „Ressourcenströme“ stellen einen wechselseitigen Austausch dar und sind keinesfalls nur auf einen einseitigen Finanztransfer beschränkt. Idealerweise sollten diese Diskussionen den Charakter eines „Herrschaftsfreien Diskurses“ im HABERMASschen Sinne tragen – oder diesem zumindest nahe kommen. Zu bedenken ist dabei stets, dass diese Vorstellungen und Interessen der Akteure entscheidend durch die Institution bestimmt und geprägt sind. Vgl. Abschn. 4.2.3.2.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Abschließend soll ein grundlegender Aspekt, der die gesamte Konzeptionalisierung bestimmt, besonders hervorgehoben werden: Die Re-Institutionalisierung einer Wohneinrichtung für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung in der hier beschriebenen Form wird immer nur in der Gestaltung als offener Prozess möglich sein, d. h.
Prozesse des Wandels und der Umgestaltung werden zum konstitutiven Merkmal der re-institutionalisierten Wohneinrichtung, sie vollziehen sich permanent – Anpassung und Veränderung können nie als abgeschlossen betrachtet werden und das Ziel des Wandels und der Umgestaltung kann nicht detailliert organisational festgeschrieben, sondern lediglich sehr offen mit Hilfe grundsätzlicher Kriterien als „fluider Zukunftsentwurf“ mit vielen Optionen beschrieben werden.
Die Offenheit in dieser doppelten Bedeutung resultiert zum einen aus der Notwendigkeit der kontinuierlichen Anpassung an die sich in schnellem Wandel befindlichen Umwelten mit hoch differenzierten, oftmals in sich widersprüchlichen Anforderungen an die Wohneinrichtung und die Zielbestimmung als Wohn, Lebens- und Lernräume für ihre BewohnerInnen mit „Enabling-Charakter“ mit institutionellen Strukturen, die Anerkennungsverhältnisse ermöglichen. Zu (4): Grundvoraussetzung für eine Re-Institutionalisierung der infrage kommenden Wohneinrichtung ist die Einsicht der Akteure dieser Organisation in ihre Notwendigkeit, die relevanten Charakteristika einer solchen Umgestaltung, die damit verbundenen individuellen und institutionellen Kosten und schließlich die Bereitschaft, sich einer solchen Herausforderung mit allen Konsequenzen zu stellen. Im Abschn. 4.2.4.2 werden die Anforderungen an die Akteure, die mit der Re-Institutionalisierung einer Wohneinrichtung für erwachsene Menschen geistiger Behinderung verbunden sind, differenziert beschrieben. Zu (5): Um den Prozess der Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtung steuern zu können, ist eine kontinuierliche Evaluation der Prozessverläufe und der erzielten (Zwischen)Ergebnisse durch Audits und ihre zeitnahe Kommunikation im Rahmen von Reviews notwendig. Schwerpunkte dabei sind das Zusammenwirken aller Akteure der Wohneinrichtung im Rahmen der Umgestaltung, die stattfindenden Prozesse individuellen und institutionellen Lernens, die Veränderungen der Grundhaltungen, Selbstverständnisse und Interaktionen innerhalb der Wohneinrichtung, die Veränderungen der Unternehmenskultur sowie der institutionellen Strukturen und Gegebenheiten der Wohneinrichtung, die wechselseitigen Prozesse zwischen Wohneinrichtung
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
281
und ihren Umwelten mit Austausch- und Anpassungsphänomenen sowie die Entwicklung neuer fachlicher Konzepte und die Erhöhung von Effektivität und Effizienz. 4.2.4.3 Anforderungen an die Akteure Zur Sicherung des eigenen Fortbestehens und der Rückgewinnung der gesellschaftlichen Legitimation sind, so wurde gezeigt, Anpassungsleistungen seitens der Wohneinrichtungen erforderlich, die im Rahmen neo-institutionalistischer Ansätze als Zusammenspiel des
Wandels durch Wechselwirkungsprozesse mit anderen Institutionen der gesellschaftlichen Umwelt und der Umgestaltung durch aktives Handeln der Akteure1
beschrieben werden. Ausgangspunkt der Umgestaltungsprozesse im Zuge der Re-Institutionalisierung bildet, wie weiter aufgezeigt wurde, die Neubestimmung der Funktionen der Wohneinrichtungen mit nachhaltigen Konsequenzen für ihr Leistungsprofil, ihre Strukturen und institutionalisierten Abläufe, ihre internen Kulturen sowie das Rollenverhalten und das professionelle Selbstverständnis der MitarbeiterInnen. Eine solche grundlegende Neubestimmung stellt hohe Anforderungen an die Akteure, d. h. an MitarbeiterInnen und Leitende der Wohneinrichtungen sowie die Vertreter des Managements der Träger. Um diesen gerecht werden zu können, müssen sich alle Akteure – unabhängig von der jeweiligen Hierarchieebene, auf der sie tätig sind – wichtige Kompetenzen aneignen. Dazu gehören2
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Im Folgenden werden die Betrachtungen auf die professionell Tätigen innerhalb der Wohneinrichtungen beschränkt. In die Umgestaltungsprozesse sind natürlich immer auch die BewohnerInnen selbst, ihre Angehörigen, gesetzlichen Betreuer, ehrenamtliche MitarbeiterInnen und die Akteure des unmittelbaren Sozialraums einzubeziehen, die z. T. diese Prozesse aktiv mitgestalten und damit ebenfalls zu Akteuren des Wandels werden. Dagegen werden die Aktivitäten der Akteure der Institutionen, die zur gesellschaftlichen Umwelt der Wohneinrichtungen gehören, den Wechselwirkungsprozessen zwischen Wohneinrichtungen und Umwelt zugeordnet und nicht näher untersucht. Die folgende Aufzählung beschreibt diese Kompetenzen als letztlich kontrafaktische Ideale mit dem Ziel, den notwendigen Lernprozessen, denen sich die Akteure stellen müssen, eine Orientierung zu geben.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
ein hohes Maß an kritischer Selbstreflexivität1, die Fähigkeit, das Bestehende unvoreingenommen wahrzunehmen2, differenziert zu bewerten3, kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls gänzlich in Frage zu stellen4 sowie eine grundsätzliche Offenheit für Neues und die Bereitschaft zu kontinuierlichem Lernen und zur Veränderung5.
Schließlich müssen die mit diesen Kompetenzen ausgestatteten Akteure auch die Bereitschaft entwickeln, selbst Verantwortung für den Wandel und die Umgestaltung „ihrer“ Wohneinrichtungen zu übernehmen, die notwendigen Veränderungen mit Engagement gegen alle Widerständigkeiten zu initiieren und ihre Umsetzung zu bewirken bzw. daran mitzuwirken. Die durch die Akteure zu bewältigenden Aufgaben im Rahmen einer Umgestaltung der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung sind je nach Hierarchieebene unterschiedlich und lassen sich wie folgt charakterisieren:
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Diese professionelle Selbstreflexivität als Grundhaltung ermöglicht eine differenzierte Würdigung und kritische Bewertung des Bestehenden, der eigenen Beiträge und des professionellen Selbstverständnisses durch den Einzelnen, führt zur Erkenntnis der Notwendigkeit eines grundlegenden Wandels der Wohneinrichtungen und bildet damit eine Grundvoraussetzung für die Neubestimmung ihrer Funktion. Dazu hilft die Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven und Positionen, die z. B. durch die verschiedenen Interessengruppen (BewohnerInnen, Angehörige, Kooperanten, AnwohnerInnen, Freunde, aber auch VertreterInnen der Kommunalpolitik und -verwaltung sowie der Kostenträger) entwickelt werden und eine „Systematisierung“ der Wahrnehmung, die die Berücksichtigung aller wichtigen Dimensionen der Wohneinrichtungen ermöglicht (das Managementinstrumentarium der Balance Scorecard institutionalisiert diese Form der Wahrnehmung). Bezogen auf die Wohneinrichtungen bedeutet dies, ihre jeweilige historische Entwicklung, Potenziale und Stärken sowie ihre Defizite (Standort, Größe, Strukturen, Kulturen, personelle und finanzielle Ressourcen u. a.) und Dysfunktionalitäten (begrenzte und einseitige Leistungsangebote, Restriktionen, institutionelle Demütigungen und Missachtungserfahrungen u. a.) zu benennen und möglichst objektiv (!) einzuschätzen. Dies fällt natürlich besonders schwer und ist in hohem Maß affektiv aufgeladen, wenn es um den eigenen Verantwortungsbereich, eigene Leistungen, eigene Grundüberzeugungen, eigene berufliche Praxis und eigenes Verhalten sowie Tabubereiche („Heilige Kühe“) geht. Die Einbeziehung eines externen Moderators (Coach, Supervisor, Organisationsentwicklers) erweist sich dabei in der Regel als sehr hilfreich. Die Schwerpunktsetzung zwischen „Bewahren“ und „Verändern“ verschiebt sich damit ganz wesentlich hin zu Letzterem; Lernen wird als ständiger, lebenslanger Prozess bejaht und praktiziert und Veränderung bezieht sich dabei sowohl auf die Entwicklung der eigenen Person als auch auf alle relevanten Aspekte der „eigenen“ Wohneinrichtungen.
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
283
(1) Management des Trägers der Wohneinrichtung Die Aufgabenstellung im Rahmen des normativen, strategischen und operativen Managements bezieht sich auf die Sicherung des Bestehens und die Fortentwicklung der Wohneinrichtung und damit auf die dauerhafte Wiedergewinnung ihrer gesellschaftlichen Legitimation. Dazu gehören
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die aufmerksame Wahrnehmung, Deutung und Bewertung aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen im regionalen, nationalen und globalen Raum1, die Beeinflussung gesellschaftlicher Entwicklungen durch Engagement im sozialpolitischen2 und sozialrechtlichen3 Bereich (z. B. im Rahmen von Gremien- und Verbandsarbeit, Mitwirkung in Ausschüssen und Parlamenten u. a. m.), der Entwurf von Visionen, die diesen gesellschaftlichen Kontext berücksichtigen und, darauf aufbauend, die Erarbeitung konkreter Zielvorstellungen bezüglich der Neukonzipierung und weiteren Entwicklung der Wohneinrichtungen4, die Wahrnehmung und Deutung der Spannungsfelder der technischen und institutionellen Umwelten der Wohneinrichtungen und die Entwicklung verbindlicher Positionierungen zur Umweltanpassung5 der Wohneinrichtungen, die Entwicklung von Vorgaben zur Fortentwicklung und Gestaltung der institutionell-rechtlichen und institutionell-normativen Dimension der Wohneinrichtungen sowie zur Sicherung der Effektivität und Effizienz ihrer Arbeit6, Das schließt ein, dass das Management des Trägers der Wohneinrichtung ein tieferes Verständnis für die Ursachen und Gründe der Legitimationskrise der Wohneinrichtungen entwickelt und daraus die notwendigen Maßnahmen zu ihrer Überwindung ableitet. Grundvoraussetzung ist allerdings die Bereitschaft und Offenheit, zunächst wahrzunehmen (und einzugestehen), dass sich die Wohneinrichtungen in einer gesellschaftlichen Legitimationskrise befinden. Als Beispiel dafür können politische Aktivitäten zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen angeführt werden. Aktuell wären in diesem Zusammenhang die sozialpolitischen Diskurse zur Neufassung der Eingliederungshilfe und die Kontroversen zur Abgrenzung zwischen Eingliederungshilfe und Pflege zu nennen. Die zielorientierte Neukonzipierung und Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen sowie die daraus abgeleitete Schwerpunktsetzung der weiteren Entwicklung sind wesentliche Bestandteile des Re-Institutionalisierungsprozesses. Dabei gilt es, stets die oben dargestellte doppelte Offenheit dieses Prozesses – bezüglich des zeitlichen und des inhaltlichen Verlaufs – zu beachten. Zur Erinnerung: Das bedeutet keinesfalls eine Beschränkung auf rein affirmative Reaktionen; es geht vielmehr um die ganze Bandbreite möglicher Anpassungsleistungen einschließlich verweigernder und umweltbeeinflussender Aktivitäten. Das betrifft die Modalitäten der Leistungserbringung und Finanzierung, den Einsatz moderner Managementinstrumentarien und vor allem die Schaffung institutioneller und interaktionaler Voraussetzungen für Anerkennungsverhältnisse auf Grundlage einer Ethik der Anerkennung.
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4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
das Treffen von Grundsatzentscheidungen bezüglich notwendiger Maßnahmen zur Entkoppelung und zum institutionellen Lernen1 und die Steuerung und Überwachung der Prozesse des Wandels und der Umgestaltung im Rahmen der Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen.
(2) Leitungen der Wohneinrichtungen Die Aufgabenstellungen beziehen sich vor allem auf den Bereich des operativen Managements und die Bewältigung des Spannungsfeldes, welches sich zwischen den Vorgaben des Trägers und ihrer Umsetzung einerseits und der widerständigen Realität der Praxis der Wohneinrichtung andererseits entwickelt. Die besonderen Herausforderungen, mit denen diese „Sandwichpositionen“ im Rahmen der Re-Institutionalisierungsprozesse konfrontiert werden, sind z. B.:
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das Initiieren, Umsetzen und „In-Gang-Halten“ der Veränderungsprozesse auf der Ebene der Wohneinrichtung, die Anleitung der MitarbeiterInnen zur Auseinandersetzung mit aktuellen sozialrechtlichen2, sonderpädagogischen3 und berufsethischen Fragestellungen4, zur Aneignung einer anerkennenden Grundhaltung und eines neuen professionellen Selbstverständnisses5 sowie der Entwicklung der eigenen Fachlichkeit, die Schaffung der Voraussetzung für die Entwicklung von Anerkennungsverhältnissen – institutionell und interaktional, die Einführung des Paradigmas der Anerkennung als neue zentrale Leitidee der pädagogischen Arbeit und die Ausrichtung der einzelnen sonderpädagogischen Leitkonzeptionen der Wohneinrichtung an dieser Leitvorstellung, die Gestaltung und Sicherung einer anerkennenden, wertschätzenden Unternehmenskultur innerhalb der Wohneinrichtung, die Umstellung des Leistungsprofils der Wohneinrichtungen, die Fortentwicklung bestehender und die Schaffung neuer Leistungs-, Wohn- und Bildungsangebote6, Vgl. Abschn. 4.2.2.2. Das schließt z. B. die Beschäftigung mit der ICF und der UN-Behindertenrechtskonvention und den daraus resultierenden Konsequenzen für die Arbeit der Wohneinrichtungen ein. Das betrifft z. B. die aktuellen Diskurse zum Behinderungsbegriff und zur Fortentwicklung der Eingliederungshilfe sowie ihre Abgrenzung zur Pflege. Dazu gehört auch das Nachdenken über die bestehenden Machtverhältnisse und Asymmetrien sowie die Ethik der Anerkennung. Das traditionelle professionelle Selbstverständnis und Rollenverhalten ist anhand der Ethik der Anerkennung zu überprüfen und neu zu bestimmen, um damit die Grundlage für anerkennende interaktionale Verhältnisse zu schaffen. Das kann beispielsweise auch die Umgestaltung einer komplexen (Groß-)Wohneinrichtung mit ausschließlich vollstationären Wohnangeboten zu einem dezentralen gemeindenah angesiedel-
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
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die Einführung des Paradigmas der Anerkennung als neue zentrale Leitidee der pädagogischen Arbeit und die Ausrichtung der einzelnen sonderpädagogischen Leitkonzeptionen der Wohneinrichtung an dieser Leitvorstellung, die praktische Bewältigung der widersprüchlichen Anforderungen der technischen und institutionellen Umwelten im Alltag der Wohneinrichtung, die Einführung, Nutzung und Fortentwicklung der für die Umgestaltung der Wohneinrichtungen notwendigen Instrumentarien des Managements, der Qualitätsentwicklung und der Mitwirkung der BewohnerInnen und ihrer Angehörigen, die Verbesserung der Instrumentarien zur Steuerung, Nutzung und Fortentwicklung materieller, finanzieller und personeller Ressourcen und die Sicherung der Ziel- und Ergebnisorientierung der Prozessabläufe im Rahmen der Umgestaltung der Wohneinrichtungen entsprechend der Trägervorgaben.
(3) MitarbeiterInnen der Wohneinrichtungen Die neuen, herausfordernden Aufgabenstellungen beziehen sich unmittelbar auf die Erbringung der Dienstleistung im Rahmen der Wohn- und Bildungsangebote im Alltag der Wohneinrichtungen. Dazu gehören z. B.:
die Mitwirkung an der Entwicklung und Gestaltung anerkennender Interaktionsformen und -strukturen, die personzentrierte Gestaltung aller Angebote in den Bereichen der Unterstützung zur Alltagsbewältigung, bei der Pflege, der eigenverantwortlichen Lebensführung und Freizeitgestaltung, die Mitwirkung an der Entwicklung und praktischen Umsetzung der erforderlichen Bildungsangebote, die Unterstützung und Begleitung der BewohnerInnen bei ihrer individuellen Zukunftsplanung und deren anschließender Realisierung und die Übernahme der Verantwortung für eine kontinuierliche Erweiterung der Handlungs- und Freiheitsräume der BewohnerInnen und ihrer Selbstbestimmungs- und Teilhabemöglichkeiten sowie für die Leistung der erforderlichen Unterstützung zur systematischen Steigerung ihrer Wohn- und Lebensqualität.
Damit soll die knappe Skizze der mit einer Neubestimmung der Funktion und die daraus resultierenden Maßnahmen zur Umgestaltung der Wohneinrichtungen ten Wohnverbund mit vollstationären und unterschiedlichsten ambulanten Wohnformen beinhalten.
286
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
verbundenen Herausforderungen und neuen Aufgabenstellungen abgeschlossen werden. Für das Gelingen der notwendigen Veränderungsprozesse in Form eines Wechselspiels von Wandel und Umgestaltung der Wohneinrichtungen bildet ein enges, vertrauensvolles Zusammenwirken aller Hierarchieebenen eine wichtige Grundlage – auch da spielen die gegenseitige Wertschätzung und Anerkennung im Rahmen von Anerkennungsverhältnissen eine herausragende Rolle. 4.2.5 Praxisbeispiel: Nutzung des EFQM-Modells Um den Prozess der Re-Institutionalisierung einer Wohneinrichtung für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung erfolgreich zu initiieren, zu konzeptionalisieren und schließlich auch zu realisieren, sollte dieser selbst institutionalisiert werden. Dazu bietet sich die Nutzung des EFQM-MODELLs an – im Folgenden soll es deshalb kurz vorgestellt und anschließend seine Potenziale für die Durchführung einer Re-Institutionalisierung veranschaulicht werden. 4.2.5.1 Das EFQM-Modells for Excellence Die Grundlagen des EFQM – Modells1 können an dieser Stelle nur knapp skizziert werden, wobei auf einen Übersichtsartikel zurückgegriffen wird, der vom TÜV Rheinland veröffentlicht wurde2 und einen guten Überblick gibt. 1
2
Im Jahr 1988 wurde die EFQM (European Foundation for Quality Management) von 14 Konzernen gegründet, um die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Organisationen zu verbessern. Gründungsmitglieder waren u. a. die Robert Bosch GmbH, Philipps Electronics, die Nestlé AG, Fiat, Renault und die Volkswagen AG. Dabei handelte es sich zunächst um einen Europäischen Qualitätspreis, der mit dem Malcolm Baldrige Award in den USA und dem Deming Prize in Japan vergleichbar sein sollte (vgl. EFQM Publication 2001, S. 13). 1989 wurde mit der Entwicklung eines Modells als Grundlage für den Preis begonnen, der europäische Kultur und europäisches Denken widerspiegeln sollte. 1991 konnte das EFQM-Modell für Excellence vorgestellt werden, das seit 1992 zunächst als Bewertungsmodell für den European Quality Award (EQA) und später für den „Ludwig-Erhard-Preis“ (LEP) Verwendung findet. Es wird im Übrigen seitdem regelmäßig überarbeitet und modifiziert – letztmalig im Jahr 2004. Allerdings zeigte sich bald, dass das Modell auch einen beträchtlichen Nutzen jenseits dieses Preises hat (z. B. um Leistungen zu messen und zu bewerten, um daraus die notwendigen Verbesserungsmaßnahmen ableiten zu können), so dass es in kurzer Zeit in immer mehr Unternehmen zur Anwendung gelangte. Vgl. EBERHARD (2005). Es gibt inzwischen eine Vielzahl an Veröffentlichungen, in denen das EFQM-Modell umfassend vorgestellt wird.
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
287
Bei dem EFQM-Modell handelt es sich um ein Total Quality Management Modell, das alle Managementbereiche abdeckt und als „Werkzeug“ zu verstehen ist, das zur kontinuierlichen Weiterentwicklung des gesamten Managements mit dem Ziel, ein „exzellentes“ Management aufzubauen und (damit) „exzellente“ Geschäftsergebnissen zu erzielen, eingesetzt werden kann1. Das Prinzip „Excellence“ ist grundlegend für das EFQM-Modell und soll deshalb zunächst erläutert werden, ehe das Modell selbst überblicksartig vorgestellt wird. Die EFQM definiert „Excellence“ als überragende Praktiken in der Führung der Organisation und beim Erzielen von Ergebnissen mit Hilfe bestimmter Grundkonzepte2. Diese Grundkonzepte werden im Folgenden ausführlicher vorgestellt. 1. Prämisse von Excellence Das Modell deckt alle Managementbereiche einer Organisation ab. Es folgt der Prämisse „Exzellente Ergebnisse im Hinblick auf Leistung, Kunden, Mitarbeiter und Gesellschaften werden durch eine Führung erzielt, die Politik und Strategie mit Hilfe der Mitarbeiter, Partnerschaften, Ressourcen und Prozesse umsetzt.“3
2. Geeignete Kenngrößen Exzellente Organisationen zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass sie die Zufriedenheit ihrer KundInnen, ihrer MitarbeiterInnen und der Gesellschaft durch Kenngrößen messen, sondern beziehen auch den Weg, wie sie es erreichen und was sie wahrscheinlich in Zukunft erreichen werden, mit ein. 3. Prinzip der Nachhaltigkeit Mit der aktuellen Überarbeitung des Modells hat die EFQM die Nachhaltigkeit als Prinzip in das Modell integriert. Damit ist gemeint, dass die exzellenten Ergebnisse einer Organisation auf einer systematischen und fundierten Grundlage basieren, die es erlaubt, die Organisation nachhaltig, d. h. kontinuierlich und auf die Zukunft gerichtet zu bewerten und zu verbessern. 1
2 3
Im deutschsprachigen Bereich hat sich deshalb die Bezeichnung „EFQM-Modell für Excellence“ durchgesetzt. Nach einer umfangreicheren Überarbeitung im Jahre 2000 wurde das Modell im Jahre 2003 erneut aktualisiert. Da das neue Modell im Jahre 2004 erstmalig für den EQA sowie den LEP und andere europäische Preise Anwendung findet, wird das Modell auch als EFQM-Modell 2004 bezeichnet. „Die Benennung Excellence ist als Lehnwort aus dem Englischen für den oben beschriebenen Begriffsinhalt festgelegt worden.“ (Quelle: DGQ-Band 11-04, Managementsysteme – Begriffe, 2002). EBERHARD (2005), S. 2.
288
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Abbildung 7:
Grundkonzepte des EFQM-Modells nach EBERHARD1
Ergebnisorientierung Soziale Verantwortung
Ausrichtung auf den Kunden
Entwicklung von Partnerschaften
Führung und Zielkonsequenz
Kontinuierliches Lernen, Innovation & Verbesserung
Management mittels Prozessen & Fakten Mitarbeiterentwicklung & -beteiligung
4. Grundkonzepte von Excellence Es gibt acht Grundkonzepte der Excellence (siehe Abb. 7). Ergebnisorientierung Ergebnisse, die alle Interessengruppen zufrieden stellen Organisationen registrieren und messen die Erwartungen ihrer Interessengruppen2, überwachen die Wahrnehmungen und bewerten die Leistungen anderer Organisationen, diese Informationen werden zur Festlegung der eigenen Strategien und Ziele genutzt, um für die Interessengruppen optimale Ergebnisse zu erzielen, exzellente Organisationen besitzen transparente Vorgehensweisen, um die Erwartungen der Interessengruppen mit der eigenen Strategie in Einklang zu bringen.
1 2
Vgl. EBERHARD (2005), S. 3. Interessengruppen stellen Individuen oder Gruppen dar, die von innen oder außen Einfluss auf die Organisation haben, wie z. B. KundInnen, PatientInnen, MitarbeiterInnen, Lieferanten, die Gesellschaft, in deren Umfeld die Organisation tätig ist, und solche mit einer finanziellen Beteiligung an der Organisation.
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
289
Erfolgsmerkmale dieses Konzepts Wertschöpfung für die Organisation und alle Interessengruppen, nachhaltiger Erfolg für die Organisation und alle Interessengruppen, Verständnis der aktuell und zukünftig erforderlichen Erfolgsparameter, um Ziele abzuleiten, übergreifendes Verständnis für das Wesentliche in der Organisation, Zufriedenheit aller Interessengruppen. Ausrichtung auf den Kunden Nachhaltiger Kundennutzen Organisationen orientieren sich an den Bedürfnissen und Erwartungen der Kunden, sehen diese voraus, gehen auf die Kundenwünsche ein und übertreffen diese, wenn möglich, die Unternehmen schaffen exzellente Kundenbeziehungen und erreichen einen nachhaltigen Kundennutzen, exzellente Organisationen verstehen und messen die Bedürfnisse ihrer Kunden und das Ausmaß der Kundentreue. Die Ergebnisse lösen Maßnahmen aus, weiterhin verfolgen sie die Aktivitäten ihrer Wettbewerber und ermitteln deren Wettbewerbsvorteil. Erfolgsmerkmale dieses Konzepts Kundenloyalität und Kundenbindung, hohe Zufriedenheit der KundInnen, nachhaltiger Erfolg der Organisation, Verständnis der Wettbewerber und des Wettbewerbsvorteils, steigender Marktanteil. Führung und Zielkonsequenz Visionäre und begeisterte Führung Führungskräfte aller Ebenen verfolgen kontinuierlich Excellence und motivieren MitarbeiterInnen, an der klaren Ausrichtung der Ziele mitzuarbeiten, durch vorbildliches Verhalten und ein glaubhaft vorgelebtes Vorbild führen sie die Organisation, auf das sich schnell verändernde Umfeld passen Führungskräfte die Ausrichtung der Organisation neu an und motivieren MitarbeiterInnen, der neuen Ausrichtung zu folgen, in exzellenten Organisationen gibt es auf allen Ebenen gemeinsame Werte und ethische Vorbilder.
290
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Erfolgsmerkmale dieses Konzepts Klare Zielsetzung und Ausrichtung der Organisation, klare Identität der Organisation nach außen und innen, vorbildhaftes Verhalten in der gesamten Organisation, MitarbeiterInnen, die sich der Organisation verpflichtet fühlen, motiviert sind und effektiv arbeiten, Vertrauen in die Organisation und innerhalb der Organisation. Management mittels Prozessen und Fakten Netzwerk von Prozessen Organisationen besitzen ein Netzwerk von Prozessen, das auf die Bedürfnisse und Erwartungen aller Interessengruppen ausgerichtet ist, die Prozesse werden umgesetzt und kontinuierlich verbessert, durch Erhebung und Auswertung von Kennzahlen werden mögliche Risiken erfasst und die Prozesse gesteuert, in exzellenten Organisationen wird die eigene Prozessfähigkeit voll verstanden und angewandt, um Leistungsverbesserungen voranzutreiben. Erfolgsmerkmale dieses Konzepts Hohe Effektivität und Effizienz bei der Umsetzung der Ziele der Organisation und ihrer Produkte oder Dienstleistungen, Schaffung eines effektiven Risikomanagements, gesteigertes Vertrauen aller Interessengruppen, realistische und korrekte Entscheidungsfindung. Mitarbeiterentwicklung und -beteiligung Beteiligung und Weiterentwicklung der MitarbeiterInnen Exzellente Kompetenzen werden in einer Organisation geschaffen, indem die Entwicklung und Weiterbildung der MitarbeiterInnen aktiv unterstützt wird, die persönliche Entwicklung jedes Einzelnen wird gefördert und so die Möglichkeit geschaffen, das persönliche Potenzial einzubringen, das Wissen der MitarbeiterInnen wird zum Vorteil der Organisation genutzt. Sie teilen Wissen und Erfahrungen miteinander, In exzellenten Organisationen sind MitarbeiterInnen ermächtigt, selbständig zu handeln. Gleichzeitig bemüht sich die Organisation um Absicherung, Belohnung und Anerkennung der Leistung ihrer MitarbeiterInnen.
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
291
Erfolgsmerkmale dieses Konzepts Gemeinsame Verantwortung der Organisation und ihrer MitarbeiterInnen für die Ziele der Organisation, der Organisation sich verpflichtend fühlende und motivierte MitarbeiterInnen, ausgezeichnetes intellektuelles Kapital, kontinuierliche Verbesserung der Fähigkeiten und Leistungen der MitarbeiterInnen. Kontinuierliches Lernen, Innovation und Verbesserung Innovation und Verbesserungen Organisationen lernen kontinuierlich von ihren eigenen Aktivitäten, aber auch von den Aktivitäten und Leistungen anderer, sie vergleichen sich sowohl intern als auch extern, das Wissen der MitarbeiterInnen wird innerhalb der Organisation weitergegeben und die Fähigkeiten der MitarbeiterInnen ständig verbessert, in exzellenten Organisationen sind Innovationen und Verbesserungen weit verbreitet und in die Organisation integriert. Erfolgsmerkmale dieses Konzepts Gemeinsame Nutzung von Wissen, verbesserte Wertschöpfung durch Weitergabe von Wissen, verbesserte Effektivität und Effizienz, Innovation bei Produkten und Dienstleistungen, organisatorische Beweglichkeit. Entwicklung von Partnerschaften Wertschöpfende Partnerschaften Organisationen suchen andere Organisationen zum Aufbau von Partnerschaften, um ihre eigenen Kernkompetenzen zu optimieren und damit eine hohe Wertschöpfung für alle Interessengruppen zu erzielen, Partnerschaften können mit KundenInnen, Lieferanten, Gesellschaften oder Wettbewerbern eingegangen werden, in exzellenten Organisationen sind diese und ihre PartnerInnen voneinander abhängig. Politik und Ziele werden gemeinsam entwickelt und beruhen auf dem gegenseitigen Austausch von Wissen. Erfolgsmerkmale dieses Konzepts Hohe Wertschöpfung für alle Interessengruppen, optimierte Kernkompetenzen, verbesserte Effektivität und Effizienz,
292
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
geteilte Risiken und Kosten. verbesserte Wettbewerbsfähigkeit.
Soziale Verantwortung Einhaltung von Gesetzen und Regeln Organisationen legen gegenüber ihren Interessengruppen ihr Handeln und ihre Tätigkeiten offen, exzellente Organisationen messen die Erwartungen der Gesellschaft. Daraus werden Maßnahmen abgeleitet, soziale Verantwortung bedeutet für die Organisationen, die Bestimmungen und Erwartungen der Gemeinschaft zu erfüllen oder zu übertreffen, sie sind sich des Einflusses ihrer Organisation auf die Gemeinschaft bewusst und bemühen sich um Minimierung negativer Einflüsse. Erfolgsmerkmale dieses Konzepts Besserer Zugang zu öffentlichen Mitteln, verstärktes Risikomanagement und bessere organisatorische Kontrolle, motivierte MitarbeiterInnen, loyale KundenInnen, Erhöhung von Zuversicht und Vertrauen der Interessengruppen. Die beschriebenen acht Grundkonzepte von Excellence stellen die Basis für das EFQM-Modell dar und finden ihren Ausdruck in den Kriterien bzw. Teilkriterien dieses Modells, das in Abb. 8 dargestellt ist1.
1
Eine ausführliche Beschreibung findet sich bei EBERHARD (2005), S.7 ff.
293
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
Abbildung 8:
Inhaltlicher Aufbau des EFQM-Modells 2004 nach EBERHARD1
Ergebnisse
Befähiger
Mitarbeiterbezogene Ergebnisse
Mitarbeiter
Führung
Politik und Strategie
Prozesse
Partnerschaften und Ressourcen
Kundenbezogene Ergebnisse
Schlüsselergebnisse
Gesellschaftsbezogene Ergebnisse
Innovation und Lernen
Zur Erläuterung der Begriffe: Kriterien Das EFQM-Modell stellt eine Rahmenstruktur dar, die aus neun Kriterien besteht, davon sind fünf so genannte „Befähiger-Kriterien“ und vier so genannte „Ergebnis-Kriterien“. Befähiger-Kriterien: Die Befähiger-Kriterien umfassen alle Faktoren, die für eine Organisation auf ihrem Weg zu Excellence bedeutungsvoll sind. Ergebnis-Kriterien: Die Pfeile, die in der Abb. 8 dargestellt sind, zeigen die Dynamik des Modells. Durch „Innovation und Lernen“ werden die „Befähiger“ und damit auch die Ergebnisse verbessert. Teilkriterien: Jedem der neun Kriterien des EFQM-Modells sind Teilkriterien zugeordnet, die die Kriterien näher beschreiben. Auf dem Weg zu Excellence muss eine Organi1
Vgl. EBERHARD (2005), S. 7.
294
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
sation die Inhalte der Teilkriterien erfüllen. Um die Bedeutung der Teilkriterien zu verdeutlichen, gibt die EFQM als Hilfe bestimmte Orientierungspunkte vor. „Werkzeuge“ für die Bewertung der EFQM-Kriterien Die EFQM hat Bewertungsmuster und Fallbeispiele entwickelt, die den Unternehmen hilfreiche Anhaltspunkte zu einer Bewertung liefern. Dazu gehören z. B. Selbstbewertung, Bewertung durch Dritte, Benchmarking und als Grundlage für eine Bewertung um den Europäischen Qualitätspreis (European Quality Award EQA) auch die Antragsunterlagen (Beschreibung des TQM-Konzeptes). Mit Hilfe des EFQM-Modells lassen sich der IST-Zustand einer Organisation umfassend erheben und bewerten, der angestrebte SOLL-Zustand beschreiben, die notwendigen Maßnahmen planen, ihre Umsetzung überwachen und ihre Ergebnisse kontinuierlich erfassen. Dazu bietet sich die Nutzung der „RADARSystematik“1 (siehe Abb. 9) an. RADAR RADAR steht für Results (Ergebnisse), Approach (Vorgehen), Deployment (Umsetzung), Assessment and Reviews (Bewertung und Überprüfung). Im Einzelnen sind beim RADAR-Bewertungsschema folgende Schritte zu durchlaufen:
1
Die Organisation muss die Ergebnisse definieren, die sie mit ihrer Politik und Strategie erreichen möchte. Diese Ergebnisse enthalten die Leistung der Organisation in finanzieller und operationeller Sicht sowie Aussagen, wie die Ergebnisse von ihren Interessengruppen wahrgenommen werden. Die Organisation muss auf der Grundlage der ermittelten Ergebnisse ein Konzept und die weiteren Vorgehensweisen planen und erarbeiten, um jetzt und zukünftig die geforderten Ergebnisse zu erbringen. Die Organisation muss die geplante Vorgehensweise auf systematische Art und Weise vollständig umsetzen.
Die RADAR-Themen „Vorgehen, Umsetzung, Bewertung und Überprüfung“ werden auf alle Kriterien angewendet, bei der Bewertung wird jedes der neun Kriterien gewichtet, um die entsprechende Punktzahl zu berechnen. Dabei hat grundsätzlich jedes Teilkriterium innerhalb eines Kriteriums dieselbe Gewichtung (Zum Beispiel hat das Befähiger-Kriterium „Prozesse“ (Nr. 5) fünf Teilkriterien, die jeweils zu 1/5 gewichtet werden. Bei den Ergebnis-Kriterien „Mitarbeiterbezogene Ergebnisse“ (Nr. 6), „Kundenbezogene Ergebnisse“ (Nr. 7) und „Gesellschaftsbezogene Ergebnisse“ (Nr. 8) gibt es folgende Ausnahmen: Teilkriterium 6a und 7a erhalten 75 %, Teilkriterium 6b und 7b somit 25 %. Auf Teilkriterium 8a entfallen 25 % der Punkte, auf Teilkriterium 8b 75 %.).
295
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
Die verwendeten Vorgehensweisen und deren Umsetzung sind durch Überwachung, durch Auswertung der erzielten Ergebnisse und durch Maßnahmen zu überprüfen und zu bewerten. Bei Bedarf sind Verbesserungen zu identifizieren, zu planen und einzuführen.
Abbildung 9:
RADAR-Bewertungsschema nach EBERHARD1
RADAR Bewertungsschema
R Results (Ergebnisse)
A Approach (Vorgehen)
D Deployment (Umsetzen)
0%
keine
keine
keine
AR Assessment & Review (Bewertung & Überprüfung) keine
0–25 %
einige
einige
einige
einige
25–50 %
für viele
vorhanden
vorhanden
vorhanden
50–75 %
für die meisten
klare
klare
klare
umfangreiche
umfangreiche
75–100 %
für alle Best-in-class umfangreiche
4.2.5.2 Potenziale und Grenzen des EFQM-Modell for Excellence Bereits diese kurze Einführung zeigt, dass das EFQM-Modell for Excellence bedeutende Potenziale beinhaltet, die es für einen Einsatz als Instrumentarium zur Re-Institutionalisierung von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung sehr empfehlenswert erscheinen lassen. Allerdings sind bei einer solchen Anwendung auch die Grenzen dieses komplexen Managementmodells zu berücksichtigen. Beide – Potenziale und Grenzen des Modells – sollen deshalb im Folgenden dargestellt werden. Potenziale des EFQM-Modells Stichpunktartig lassen sich insbesondere folgende Aspekte des EFQM-Modells mit seinen Grundkonzepten von Excellence hervorheben, die für die Konzeptualisierung und Durchführung eines Re-Institutionalisierungsprozesses einer Wohn-einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung förderlich sind und eine Anwendung dieses Modells nahe legen:
1
Vgl. EBERHARD (2005), S. 15. Die RADAR-Bewertungsmatrix ist die Beurteilungsmethode, die bei der Punktevergabe für den European Quality Award (EQA) verwendet wird. Sie kann auch von Organisationen eingesetzt werden, die lediglich eine Punktzahl für den Zweck des Benchmarks verwenden wollen.
296 1.
2.
3.
4.
5.
6.
1 2 3
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Das EFQM-Modell veranlasst die Akteure, eine kritische Bestandsaufnahme vorzunehmen, den IST-Zustand ihrer Wohneinrichtung anhand objektiver Kriterien zu bewerten und zu reflektieren sowie im Rahmen dieses Prozesses weitmögliche Transparenz herzustellen. Das EFQM-Modell veranlasst die Akteure weiterhin, Visionen zu erarbeiten, die den angestrebten SOLL-Zustand ihrer Wohneinrichtung unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren und Aspekte detailliert abbilden. Dadurch werden die Akteure auch in die Lage versetzt, wesentliche Phänomene eigener institutioneller kognitiver Pfadabhängigkeit mit ihren Auswirkungen wahrzunehmen, sich bewusst damit auseinanderzusetzen und diese – als Voraussetzung für eine intentionale, zielorientierte Umgestaltung der Wohneinrichtung – zu überwinden1. Das EFQM-Modell strukturiert die Umgestaltung der Wohneinrichtung als lang andauernden, kontinuierlichen Veränderungsprozess, der ziel- und ergebnisorientiert ausgerichtet, stringent überwacht, kontrolliert und gesteuert wird. Dabei wirkt das EFQM-Modell als ein institutionelles Entwicklungsmodell des kontinuierlichen Lernens, der ständigen Innovation und Verbesserung, welches innerhalb der Wohneinrichtung alle Formen des institutionellen, aber auch individuellen Lernens ermöglicht2. Das EFQM-Modell ermöglicht als komplexes Managementmodell die Erfassung und Bearbeitung aller für die Wohneinrichtung relevanten Dimensionen3. Diese Vieldimensionalität gestattet eine ausgewogene Berücksichtigung und die notwendige Integration der unterschiedlichen, im Rahmen einer Umgestaltung zu berücksichtigenden Perspektiven. Das EFQM-Modell weist einen ausgeprägten Kontextbezug auf, indem es einen besonderen Schwerpunkt auf die gesellschaftlichen Erwartungen setzt und die Verpflichtung der jeweils betroffenen Organisation hervorhebt, diese zu erfüllen. Dadurch gewinnen die unterschiedlichen, in sich widersprüchlichen Anforderungen ihrer technischen und institutionellen Umwelten einen zentralen Stellenwert im Rahmen der Überlegungen und Bemühungen um eine Umgestaltung der Wohneinrichtung.
Das betrifft insbesondere ihre institutionell geprägten Erfahrungen, Wahrnehmungen, Wertevorstellungen und Präferenzen! Allerdings werden durch die besondere Rationalität des EFQM-Modells vorrangig die Formen des komplexen („Veränderungslernen“) und des reflexiven („Lernen lernen“) Lernens (vgl. Abschn. 4.2.3.2) unterstützt und gefördert. Dazu sind institutionelle Strukturen, Rahmenbedingungen, bauliche Aspekte, Ausstattungsaspekte, Standortfragen, konzeptionelle und kulturelle Aspekte, Prozessabläufe, Ressourcen, Netzwerke u. v. a. zu rechnen.
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
297
7.
Zudem werden durch das EFQM-Modell alle Interessengruppen identifiziert, die legitime Erwartungen an die Wohneinrichtung richten. In die Konzeptionalisierung ihrer Umgestaltung fließen diese unterschiedlichen Interessen ein – vorrangiges Ziel ist dabei ein Abgleich der eigenen Strategien, um für die Interessengruppen optimale Ergebnisse zu erzielen. Auf dieser Grundlage kann mit einer Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtung begonnen werden. 8. Das EFQM-Modell setzt weiterhin die folgenden, für eine Umgestaltung der Wohneinrichtung im Sinne einer Re-Institutionalisierung wichtigen Schwerpunkte: Konsequente Neuausrichtung der Wohneinrichtung unter Berücksichtigung der Vorstellungen, Wünsche, Erwartungen, Bedürfnisse und Hilfebedarfe der BewohnerInnen, konsequente Mitarbeiterorientierung, die die Einbeziehung in wichtige Prozesse, die Mitwirkung und Übernahme von Verantwortung ebenso wie die kontinuierliche Förderung der MitarbeiterInnen, die Nutzung ihrer Potenziale und die Anerkennung ihrer Leistungen umfasst und Aufbau und Entwicklung von Partnerschaften mit Kooperanten zur Optimierung der eigenen Kernkompetenzen1. 9. Das EFQM-Modell zielt auf eine Veränderung institutioneller Strukturen und Prozesse, aber auch aller Aspekte der Unternehmenskultur der Wohneinrichtung. Damit wird die Schaffung von Anerkennungsverhältnissen möglich. 10. Das EFQM-Modell befördert die notwendige Fortentwicklung und Veränderung ethischer und fachlicher Leitideen sowie die Implementation neuer Leitideen2. 11. Das EFQM-Modell orientiert auf eine möglichst enge Vernetzung der Wohneinrichtung mit anderen Institutionen, Organisationen, Initiativen, Netzwerken und Akteuren in ihrem regionalen kommunalen Umfeld. 12. Das EFQM-Modell verdeutlicht den Einfluss, den die Wohneinrichtung auf ihre Umwelt ausübt und unterstreicht damit ihre Verantwortung für eine aktive Mitwirkung an der Gestaltung dieser Umwelt.
1
2
Diese Strategie zur Optimierung der eigenen Kernkompetenzen unterstützt die Wohneinrichtungen dabei, sich gegenüber ihren Umwelten zu öffnen, die angebotenen Leistungen transparenter darzustellen und auf diese Weise Legitimation zurückzugewinnen. Die BewohnerInnen profitieren von der Vernetzung mit anderen Leistungsanbietern durch verbesserte oder zusätzliche Angebote, die Wohneinrichtungen können in ihrem regionalen Bereich auf die Politik, die infrastrukturellen Angebote und die Entwicklung der Zivilgesellschaft positiv Einfluss nehmen. Z. B. Sozialraumorientierung.
298
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Grenzen des EFQM-Modells Neben den beschriebenen Potenzialen des EFQM-Modells sind auch seine Grenzen bei einer Nutzung zur Re-Institutionalisierung einer Wohneinrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung zu beachten. Dazu sind zu rechnen: 1.
2.
3. 4.
1
2
Die Stärke des EFQM-Modells – seine konsequent ziel- und ergebnisorientierte Stringenz – kann für eine Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtung gerade zu nachteiligen Wirkungen führen, da diese als „offener Veränderungsprozess“ zu gestalten ist, d. h. das Ergebnis der Umgestaltung kann nicht bereits am Anfang festgeschrieben werden. Die Logik des stark technokratisch konzipierten EFQM-Modells basiert dagegen auf einer exakten Ergebnisbeschreibung und -bewertung und lässt offene Prozesse nicht zu. Das EFQM-Modell ist ein Managementinstrumentarium, das aus dem Bereich der Wirtschaft kommt, vor allem auf eine Erhöhung der Effektivität und Effizienz der Organisation abzielt und letztlich in einem gewissen Sinn alle anderen Aspekte diesen Zielstellungen unterordnet. Im Unterschied dazu hat eine Umgestaltung der Wohneinrichtung und die Neubestimmung ihrer Funktion neben diesen allerdings noch andere, gleichrangige und wichtigere Zielstellungen1. Das EFQM-Modell kann nicht nur zu einer Dominanz der Ökonomie führen, auf Grund seiner hohen formalen Anforderungen besteht auch die Gefahr, dass es die schon vorhandene Dominanz der Professionellen weiter verstärkt. Dieser hohe Formalisierungsgrad des EFQM-Modells kann zu einer einseitigen Priorisierung des Formalen gegenüber dem Inhaltlichen verführen2. Ob die nachhaltige Beeinflussung „weicher“ institutioneller Faktoren, wie sie z. B. eine Besinnung auf die notwendige Weiterentwicklung ethischer Grundlagen, die grundlegende Umgestaltung der Unternehmenskultur und eine Neubestimmung des professionellen Selbstverständnisses und RollenNatürlich spielt der Aspekt der Wirtschaftlichkeit und damit verbunden die Steigerung der Effektivität und Effizienz der Arbeit der Wohneinrichtungen z. B. durch ein gut funktionierendes (finanzielles, soziales und strategisches) Controlling und durch den Einsatz geeigneter Managementinstrumentarien (wie Balance Scorecard und die Durchführung von Benchmarks) eine große Rolle für die Rückgewinnung der gesellschaftlichen Legitimation der Wohneinrichtungen. Entscheidend für die Zukunftssicherung der Wohneinrichtungen ist (auf dieser Basis) allerdings die Neubestimmung ihrer Funktion und daraus resultierend die Umgestaltung ihrer Strukturen und Leistungsangebote entsprechend den gewandelten normativen Erwartungen der Gesellschaft und den neuen Hilfebedarfen der BewohnerInnen, die aus deren veränderten Lebenslagen folgen. Damit verbunden ist das Risiko, mit dem Einsatz des EFQM-Modells das Ziel einer grundlegenden Re-Institutionalisierung zu verfehlen und lediglich marginale Veränderungen zu bewirken, die eher den Charakter einer „Entkoppelung“ aufweisen.
4.2 Wohneinrichtungen im Prozess der Veränderung
5.
299
verhaltens darstellen, durch ein derart formales Modell möglich sind, kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Trotz der unbestrittenen Ausrichtung des EFQM-Modells auf einen nachhaltigen Interessensausgleich zwischen den verschiedenen Stakeholdern ist bei seiner Anwendung mit einer (subtilen) Stabilisierung bestehender Machtverhältnisse innerhalb der Wohneinrichtung zu rechnen. Dies wäre für eine ReInstitutionalisierung der Wohneinrichtung allerdings kontraproduktiv.
Fazit Die Bewertung der Potenziale und Grenzen des EFQM-Modells führt bezüglich seiner Nutzung für die Re-Institutionalisierung von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung zu folgenden Schlussfolgerungen: 1.
2. 3.
Der Prozess der Re-Institutionalisierung lässt sich mit Hilfe des EFQMModells dann erfolgreich institutionalisieren, wenn er zunächst gründlich theoretisch fundiert und auf der Handlungsebene sorgfältig konzeptionalisiert wird. Das EFQM-Modell sollte als Instrumentarium mit hoher Leistungsfähigkeit und bestimmten Grenzen reflexiv-kritisch eingesetzt werden. Die Umgestaltung der Wohneinrichtung und die Neubestimmung ihrer Funktion sind deutlich von Maßnahmen der Organisationsentwicklung oder Qualitätssicherung zu unterscheiden. Deshalb ist eine Zertifizierung mittels des EFQM-Modells in diesem Zusammenhang auch nicht von ausschlaggebender Bedeutung.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine grundlegende Umgestaltung von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung im Sinn einer umfassenden Re-Institutionalisierung sowohl theoretisch konzeptualisierbar als auch praktisch-lebensweltlich umsetzbar erscheint. Ob der Prozess einer solchen Re-Institutionalisierung in Gang gesetzt wird und zum angestrebten Erfolg führt, entscheidet sich letztlich an den Akteuren der Wohneinrichtungen. Voraussetzung für eine derartig grundlegende Umgestaltung ist ihre Bereitschaft und Fähigkeit, die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wahrzunehmen und zu erkennen, dass ihre Wohneinrichtungen nicht mehr den veränderten gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen entsprechen und sie deshalb dabei sind, ihre gesellschaftliche Legitimation zu verlieren.
300
4 Lösungsansätze zur Re-Institutionalisierung
Die Sicherung der Zukunftsfähigkeit der Wohneinrichtungen durch die Zurückgewinnung ihrer Legitimation erfordert die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, den daraus resultierenden veränderten Lebenslagen der Individuen und den neuen Erfordernissen, denen die institutionell gestalteten Wohn- und Lebensräume zukünftig zu genügen haben. Davon ausgehend lassen sich die Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen vornehmen, die notwendigen Maßnahmen konzeptualisieren und der Prozess der Re-Institutionalisierung eröffnen.
5.1 Zusammenfassung
301
5 Zusammenfassung und Ausblick
5.1 Zusammenfassung Zum Ausgangspunkt vorliegender Arbeit wurde die Betrachtung der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse westlicher Industriegesellschaften in der Epoche der Nachmoderne mit den Phänomenen der Globalisierung, der Individualisierung, Pluralisierung und Fragmentierung als Ausdruck sich dynamisierender Modernisierungsprozesse gewählt. Infolge dieser gesellschaftlichen Umbrüche der letzten zwanzig Jahre, so wurde gezeigt, verändern sich auch wesentliche Institutionen des bundesdeutschen Sozialstaates wie z. B. die Systeme der Sozialen Sicherung1 und die Soziale Arbeit, aber auch Institutionen wie die Familie und der Lebenslauf sowie die für die Themenstellung der Arbeit bedeutsame Institution „Geistige Behinderung“. Für die Individuen führen diese Umwälzungen zu einer Fülle neuer Optionen im Ergebnis von Freisetzungs- und Pluralisierungsprozessen, die sich in der Stärkung ihrer Bürgerrechte, einer Vielzahl stark erweiterter Handlungs- und Entwicklungsspielräume sowie neuen Formen der Unabhängigkeit und Eigenständigkeit einer selbstverantworteten Lebensgestaltung konkretisieren. Damit sind besondere Chancen für eine sinnvolle, befriedigende und erfolgreiche individuelle Lebensführung, die Entwicklung und Akzeptanz unterschiedlicher Lebensstile sowie die Bereicherung der Lebenswelt durch die Entfaltung verschiedenster kultureller Stile verbunden. Andererseits ergeben sich für den Einzelnen aus diesen Entwicklungen auch ganz neue Risiken und Problemlagen – durch die Erosion sozialer Beziehungen, den Wandel wichtiger Institutionen, verbunden mit einem Rückgang ihrer orientierenden, entlastenden und stabilisierenden Funktionen, den Verlust eines allgemeinverbindlichen Normen- und Wertesystems und der zunehmenden gesellschaftlichen Delegation der Verantwortung für alle Lebensrisiken2 an den 1 2
Zu diesen Systemen der Sozialen Sicherung sollen alle sozialpolitischen und sozialrechtlichen Institutionen des Sozialstaates gerechnet werden. Diesen Lebensrisiken begegnen die Subjekte der nachmodernen Gesellschaft in allen Lebensbereichen – an ihrem vom Verlust bedrohten Arbeitsplatz, als Erfordernis lebenslangen Lernens zur beruflichen Qualifikation, beim Umgang mit ihren finanziellen, materiellen und sozialen Ressourcen (z.B. bei privater Geldlage, beim Aufbau und der Gestaltung sozialer Beziehungen) und ihrer Altersvorsorge, bei der sinnvollen und ausgewogenen Freizeitgestaltung (z. B. in Form gelingender Work-Life-Balance), bei der eigenverantwortlichen Gesundheitsfürsorge (z. B. beim Auftreten psychosomatischer Beschwerden mit unterschiedlichsten
A. Brachmann, Re-Institutionalisierung statt De-Institutionalisierung in der Behindertenhilfe, DOI 10.1007/978-3-531-93205-7_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
302
5 Zusammenfassung und Ausblick
Einzelnen, dem Eigenverantwortung, Autonomie und Selbstbestimmung einerseits ermöglicht, andererseits gleichzeitig auch zwingend abgefordert werden. Menschen in ohnehin erschwerten Lebenslagen – beispielsweise aufgrund prekärer biografischer Karrieren, eingeschränkter personaler, sozialer und materieller Ressourcen, kultureller Andersartigkeit, chronischer Krankheiten oder Behinderungen, multipler Stigmatisierungs- und Exklusionserfahrungen bzw. bestimmter Devianzprobleme – erfahren diese gesellschaftlichen Veränderungen vor allem als Gefährdung, teilweise bis hin zur existenziellen Bedrohung1. Das gilt auch für die im Mittelpunkt der Betrachtungen dieser Arbeit stehende Personengruppe der Menschen mit geistiger Behinderung, insbesondere bei schwerer oder Komplexer Behinderung. Erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung sind besonderer sozialer Abhängigkeit ausgesetzt, verfügen in der Regel nur über sehr eingeschränkte Ressourcen und müssen sich mit besonderen Erschwernissen beim Erwerb von Kompetenzen auseinandersetzen. Für sie sind deshalb auch besondere Hilfen und Unterstützungsangebote erforderlich, um diese Nachteile in den verschiedenen Lebensbereichen ausgleichen zu können. Die Untersuchung der Institutionen des professionellen Hilfesystems mit ihren Leistungsangeboten für den Bereich Wohnen unter Einbeziehung der Resultate der De-Institutionalisierungsdebatte führte zu dem Ergebnis, dass sie diesem neuen Anspruch bisher kaum gerecht werden und durch den gesellschaftlichen Wandel in eine Legitimationskrise geraten sind: In ihrer bisherigen Form genügen sie – von Ausnahmen abgesehen – den widersprüchlichen Anforderungen, die die Gesellschaft an sie richtet, nicht mehr. Das verdeutlicht insbesondere die De-Institutionalisierungsdebatte. Die Erwartungen der technischen Umwelt der Wohneinrichtungen nach Effektivität und Effizienz erhalten angesichts zunehmender Verknappung finanzieller Ressourcen der öffentlichen Hand und der Verschärfung der Verteilungskämpfe um diese Mittel wachsende Bedeutung – sie stehen allerdings in einem
1
Ursachen), beim Durchsetzen eigener Rechtsansprüche, bei der Bewältigung der verschiedensten Konflikte und bei der Suche nach Konsens bei strittigen Fragen. ULRICH BECK beschreibt die schwierige Lage der Individuen, die die Verantwortung für ihr Leben gesellschaftlich zugewiesen bekommen und gleichzeitig selbst auf viele (gesellschaftlich bedingte) Lebensrisiken nur wenig Einfluss nehmen können (vgl. BECK, U., 1986, S. 211 ff.). HEINER KEUPP u. a. setzen sich mit Fragestellungen dieser Art ebenfalls auseinander – sie untersuchen die Faktoren, die zu einem Misslingen individueller Identitätsentwicklung in der Nachmoderne führen, und zeigen Möglichkeiten gelingender Identitätsarbeit auf. Die Erschwernis für diese Minderheiten, die aus dem eingeschränkten Zugang zu den notwendigen finanziellen, materiellen und sozialen Ressourcen resultiert und der die meisten Mitglieder der „Mehrheitsgesellschaft“ in dieser Form nicht ausgesetzt sind, verweist auf eine gravierende Problematik sozialer Gerechtigkeit, der sich auch Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung zukünftig verstärkt widmen sollten.
5.1 Zusammenfassung
303
Spannungsverhältnis zu den normativen Ansprüchen der institutionellen Umwelten an die Flexibilität, Bedarfsgerechtigkeit, Transparenz, Nachvollziehbarkeit, Durchlässigkeit, Zielstellung und Wirksamkeit der Hilfeangebote. In die Kritik geraten sind auch die Institutionalformen der Wohneinrichtungen, insbesondere der stationären Wohnangebote. Als Ausdruck der Globalisierung kann die Tatsache gedeutet werden, dass diese normativen Ansprüche sich nicht auf Nationalgesellschaften beschränken, sondern längst eine weltumspannende Dimension erreicht haben, wie die ICF mit ihrem modernen Behinderungsbegriff und die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen eindrucksvoll belegen. Diese internationalen Entwicklungen wirken nachhaltig in nationalstaatliche Gesellschaften hinein – in der Bundesrepublik Deutschland haben sie das Verständnis von Behinderung verändert, die rechtliche Position von Menschen mit Behinderungen gestärkt1 und nehmen über die Veränderung ordnungsrechtlicher Vorgaben unmittelbar Einfluss auf Institutionen und Organisationen der Behindertenhilfe, insbesondere auch auf Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung2. Als wichtiges Ergebnis bleibt festzuhalten, dass sich in Folge dieser – uneingeschränkt und nachdrücklich zu begrüßenden – Entwicklungen für die Wohneinrichtungen eine zunehmende Divergenz zwischen steigendem regulativem ordnungsrechtlichen Druck und den gleichzeitig wachsenden leistungsrechtlichen Anforderungen ergibt. Das bedeutet, dass die gesellschaftlichen Erwartungen auch innerhalb der institutionellen Umwelten zunehmend zu gegensätzlichen Ansprüchen an die Wohneinrichtungen führen3. Damit lässt sich die aktuelle Legitimationskrise der Wohneinrichtungen zusammenfassend wie folgt charakterisieren4: Sie werden in ihrer gegenwärtigen Form und mit ihren Leistungsangeboten weder dem gewandelten Selbstver1
2
3
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Beispiele dafür sind die Verabschiedung der Behindertengleichstellungsgesetze (Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen – Behindertengleichstellungsgesetz [BGG] des Bundes und der entsprechenden Gleichstellungsgesetze der Bundesländer) und des Sozialgesetzbuches SGB IX. Beispiele dafür sind die Verabschiedung des Wohnbetreuungsvertragsgesetzes (WBVG) und der Novellierung der Heimgesetze im Rahmen der Förderalismusreform (in Berlin Wohnteilhabegesetz – WTHG – genannt), durch die die Rechtspositionen der „Verbraucher“ (also der BewohnerInnen der Wohneinrichtungen) rechtlich deutlich gestärkt werden. Ausdruck dieser Gegensätzlichkeit sind z. B. die zunehmende Bürokratisierung, die wachsenden Anforderungen an die Dokumentationssysteme und ein perfektionierter QM-Formalismus einerseits und die wachsenden Ansprüche an die Leistungserbringung der Wohneinrichtungen seitens der Kostenträger und – berechtigterweise – der BewohnerInnen, ihrer Angehörigen und gesetzlichen Betreuer. Das gilt zunächst uneingeschränkt für die überwiegende Mehrzahl der stationären Angebote, bei kritischer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass vieles auch für die ambulanten Wohnformen zutrifft, so dass generell durchaus von einer Legitimationskrise der Wohneinrichtungen gesprochen werden kann.
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5 Zusammenfassung und Ausblick
ständnis, dem veränderten Status und den neuen Hilfebedarfen von Menschen mit geistiger Behinderung gerecht, noch können sie die veränderten gesellschaftlichen Erwartungen weiterhin erfüllen. Das lässt sich daran erkennen, dass die Wohneinrichtungen immer weniger in der Lage sind, die zunehmend widersprüchlichen Anforderungen ihrer technischen und institutionellen Umwelten adäquat zu beantworten. Als Gegenentwurf zu der innerhalb der De-Institutionalisierungsdebatte vorgetragenen Forderung nach radikaler De-Institutionalisierung im Sinne einer Auflösung der Institutionalformen des Wohnens für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit mit der Umgestaltung der Wohneinrichtungen durch eine grundlegende Re-Institutionalisierung ein alternativer Lösungsansatz entwickelt. Dieser gründet auf der durch die Erkenntnisse soziologischer Deutungstheorien1 bestärkten Überzeugung, dass die Individuen in der nachmodernen Gesellschaft verstärkt den fremdbestimmenden Einflüssen der unterschiedlichsten Institutionen des Nationalstaates ausgesetzt sein werden, so dass gerade Menschen mit geistiger Behinderung auch zukünftig auf professionelle, institutionalisierte Hilfeangebote angewiesen sein werden, die
sie dabei unterstützen, selbstbestimmt und eigenverantwortlich ihr Leben selbst zu gestalten und alle damit verbundenen Herausforderungen zu bewältigen sowie ihre Bürgerrechte und Grundfreiheiten auszuüben und an allen Bereichen des Lebens der nachmodernen, funktional differenzierten Gesellschaft in möglichst vollem Umfang teilzunehmen.
Dieser Ansatz reicht deutlich weiter als die Forderung nach einer De-Institutionalisierung der Wohnangebote, die den gesellschaftlichen Kontext weitgehendst ausblendet, den Fokus fast ausschließlich auf die regressiven, einengenden, entindividualisierenden und fremdbestimmenden Wirkungen derzeitiger Institutionalformen professioneller Wohnangebote richtet und deshalb konsequenterweise als Voraussetzung für die Ermöglichung von Selbstbestimmung und Teilhabe die DeInstitutionalisierung der Wohneinrichtungen postuliert. Der Lösungsvorschlag einer Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen geht dagegen von den gesellschaftlichen Veränderungen der Nachmoderne aus, untersucht ihre Auswirkungen auf die Lebenslagen von Menschen mit geistiger Behinderung und gelangt dabei zu dem Schluss, dass die Institutionen des Systems der Behindertenhilfe auch zukünftig unentbehrlich für die Fortentwicke1
Zur Beschreibung der Wirkungen „Sekundärer Institutionen“ im Rahmen des Individualisierungskonzepts ULRICH BECKS vgl. auch die Ausführungen von ROHRMANN (2007), S. 18-21.
5.1 Zusammenfassung
305
lung der perspektivisch (noch dringender als heute) benötigten professionellen Hilfeangebote für diesen Personenkreis sein werden. Allerdings verdeutlicht der Fokus der kritischen Betrachtungen auf die institutionellen Arrangements der Hilfen im Bereich des Wohnens aus der Perspektive des gesellschaftlichen Kontextes auch, dass sich zukünftig ihre Funktionen und Institutionalformen verändern müssen, damit sie als Wohneinrichtungen zu offenen, durchlässigen und flexiblen Lebens-, Lern- und Rückszugsräumen, zu Ermöglichungs- und Handlungsspielräumen, zu Enabling-Räumen und schließlich auch zu aktiv Mitwirkenden an der Umgestaltung der regionalen Gemeinwesen zu „Enabling-Communities“1.werden können. Es geht also keinesfalls um eine „Renaissance“ der Heime – eher um das Gegenteil: Die Wohneinrichtungen der Zukunft werden kaum noch Gemeinsamkeiten mit den klassischen Heimen der Gegenwart aufweisen. Als Voraussetzung für eine zukunftsfähige Entwicklung dieser Art ist eine konsequente Re-Institutionalsierung der Wohneinrichtungen in Form einer grundlegenden Um- und Neustrukturierung unumgänglich. Allerdings sind solche Prozesse bestimmt von der Ambivalenz institutioneller Beharrlichkeit und institutionellen Wandels, sie können nur zum Erfolg führen, wenn die Akteure der Wohneinrichtungen und ihrer Träger tatsächlich bereit sind, sich den neuen Anforderungen zu stellen und den notwendigen Funktionswandel durch entsprechende Umgestaltungen auch tatsächlich zu realisieren. Zudem erfordert eine solch fundamentale institutionelle Umgestaltung der Wohneinrichtungen zu ihrer Konzeptionalisierung und Umsetzung eine fundierte theoretische Grundlegung. Die Einbeziehung neo-institutionalistischer Ansätze erweist sich dafür als besonders geeignet, da sich mit ihrer Hilfe sowohl die Phänomene institutioneller Persistenz als auch institutioneller Veränderungen erfassen lassen. Um Prozesse bewusster Umgestaltung beschreiben, konzipieren und initiieren zu können, ist ergänzend dazu die Berücksichtigung konzeptioneller Aspekte institutionellen Lernens hilfreich. Mit Hilfe dieser theoretischen Konzeptionen lässt sich verdeutlichen, dass selbst eine völlige Umgestaltung von Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung, wie sie eine Re-Institutionalisierung darstellt, möglich ist, wenn die Akteure ihre institutionell geprägten Wahrnehmungen, Wertevorstellungen und Präferenzen bereit und fähig sind, aufzugeben und Prozesse individuellen und institutionellen Lernens in Gang zu setzen. Sie liefern den Akteuren die erforderliche Handlungsorientierung, die notwendig ist, um den institutionellen Wandel planen, konzeptualisieren und gezielt realisieren zu können. Dabei muss ihnen allerdings immer bewusst sein, 1
Vgl. auch Abschn. 5.2.
306
5 Zusammenfassung und Ausblick
dass erfolgreiche Prozesse des Wandels und der Veränderung immer auch die Wahrnehmung, Würdigung und Akzeptanz des Bestehenden und seiner Widerständigkeit als wichtige Voraussetzung für seine Umgestaltung umfassen, dass für Gelingen der Umgestaltungsprozesse zwar ihre Ausrichtung an einer klaren Zielbestimmung1 notwendig ist, dass es sich bei einer Re-Institutionalisierung aber grundsätzlich um einen offen zu gestaltenden Prozess2 handelt – sowohl bezüglich seines Verlaufs, als auch des anzustrebenden Ergebnisses, welches sich unter Einbeziehung aller Beteiligten erst im Verlauf der Entwicklung klarer konturieren lässt.
Die Bewältigung dieser Ambivalenzen – Persistenz versus Wandel, Zielorientiertheit versus Offenheit – stellt die eigentliche Herausforderung einer Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung dar. Eine Re-Institutionalisierung kann dann als erfolgreich bezeichnet werden, wenn die umgestaltete Wohneinrichtung dadurch wieder in die Lage versetzt wird, den unterschiedlichen, widersprüchlichen Anforderungen und Erwartungen ihrer Umwelten gerecht zu werden und damit ihre Legitimationskrise zu überwinden. Wichtige Voraussetzungen dafür sind, wie im Kap. 4 gezeigt wurde,
1 2
eine konsequente sozialräumliche und gemeinwesenorientierte Ausrichtung der Wohneinrichtung, die die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen der Arbeit prägt und bestimmend ist für Standortwahl, Architektur, Raumgestaltung und Ausstattung sowie für die Öffnung der Wohneinrichtung und ihre Vernetzungen innerhalb des Gemeinwesens am Standort, die Schaffung regionaler Wohnverbundsysteme mit einer breiten Palette unterschiedlicher Wohnangebote, völlig neue, hochflexible Strukturen, die die stützende, entlastende, stabilisierende und schützende Funktion der Institutionen des Wohnens stärken und regressive, einengende, entmündigende und entindividualisierende Wirkungen weitgehendst reduzieren, die Schaffung von Anerkennungsverhältnissen und anerkennenden Interaktionsformen innerhalb der Wohneinrichtungen, die nicht mehr den Charakter von Sondereinrichtungen haben und die Unterstützung lebenslanger Bildungsprozesse zur Kompetenzvermittlung und Identitätsentwicklung als Schwerpunkt der Arbeit der Wohneinrichtungen. Grundlage dieser Zielbestimmung ist die Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen. Darin besteht der Unterschied zu Maßnahmen der Organisationsentwicklung.
5.1 Zusammenfassung
307
Zur weiteren Veranschaulichung des Prozesses der Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen und ihrer Re-Institutionalisierung sollen die Aspekte, denen eine besondere Bedeutung zukommt, im Folgenden etwas ausführlicher dargestellt werden. 1.
2.
3.
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4
Zur Wiedererlangung ihrer gesellschaftlichen Legitimation müssen die Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung gegenüber der Öffentlichkeit glaubhaft und transparent darstellen können, dass durch den Prozess einer Re-Institutionalisierung die für ihre Arbeit benötigten Kosten zielgenau, effizient, wirtschaftlich und sparsam eingesetzt und Synergien umfassend genutzt werden, ihre Funktionsfähigkeit in funktionaler1 wie normativer2 Hinsicht wiederhergestellt ist und ihre Leistungsangebote personzentriert und flexibel auf die individuellen Hilfebedarfe, Wünsche und Präferenzen der NutzerInnen unter Berücksichtigung der besonderen Bedingungen des Lebens in der nachmodernen bundesdeutschen Gesellschaft abgestimmt sind. Das Erreichen dieser Zielstellungen würde durch eine möglichst umfassende Nutzung der Leistungsart des Persönlichen Budgets für alle Wohnangebote erheblich erleichtert. Die Wohneinrichtungen sollten sich deshalb nachdrücklich um die Schaffung der dazu notwendigen internen und externen Voraussetzungen bemühen3. Die dargestellte positive Beantwortung der leistungsrechtlichen Anforderungen der Gesellschaft ist durch eine intelligente, flexible, entgegenkommende Akzeptanz der ordnungsrechtlichen Regulationen, denen die Wohneinrichtungen ausgesetzt sind, zu ergänzen4. Erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung sind mit ihren bürgerlichen Rechten zuallerst als gleichwertige und gleichrangige Mitglieder des Gemeinwesens wahrzunehmen und zu akzeptieren. Die Anforderungen der nachmodernen Gesellschaft an ihre Individuen richten sich auch an sie – Das betrifft z. B. die Umstellung der Leistungsangebote von der Institutionszentriertheit hin zur Personzentriertheit. Dabei geht es um die Herstellung von Anerkennungsverhältnissen, ein neues professionelles Selbstverständnis und die Umgestaltung der Institutionalformen des Wohnens zu EnablingRäumen. Dazu gehören z. B. die Entwicklung spezieller Leistungskataloge für Angebote im Rahmen des Persönlichen Budgets, die Schaffung der notwendigen strukturellen, räumlichen und materiellen Voraussetzungen für die Angebote sowie der politische Kampf um die Finanzierung der Budgetassistenz, falls diese erforderlich sein sollte. Damit ist nicht die Entwicklung und Umsetzung von Entkoppelungsstrategien gemeint, sondern eine positive Grundeinstellung und kooperative Zusammenarbeit mit allen aufsichtführenden Behörden und Ämtern.
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4.
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5 Zusammenfassung und Ausblick
insbesondere im Zusammenhang mit der Übernahme der Verantwortung für die Gestaltung ihres eigenen Lebens. Aufgrund ihrer erschwerten Lebenslagen, ihrer besonderen sozialen Abhängigkeit, ihrer durch die Behinderung betroffenen Kompetenzen und dem für sie in der Regel eingeschränkten Zugang zu sozialen und materiellen Ressourcen benötigen sie – zusätzlich zu ihrem durch ihre Behinderung bedingten individuellen Hilfebedarfen – geeignete Hilfen und Unterstützungsangebote, um die ihnen gesellschaftlich abverlangte Eigenverantwortung für ihr Leben unter nachmodernen gesellschaftlichen Bedingungen Schritt für Schritt übernehmen zu können. Dem Lebensbereich Wohnen kommt dabei neben dem Lebensbereich Arbeit eine ganz entscheidende Bedeutung zu. Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung müssen ihre Funktion neu bestimmen und die Leistungsangebote für ihre BewohnerInnen unter Berücksichtigung des jeweiligen individuellen Hilfebedarfs auf ihre Befähigung und Stärkung zur Übernahme von Eigenverantwortung ausrichten. Im Rahmen dieser Neubestimmung wird die Hilfeplanung mit den BewohnerInnen einen völlig anderen Stellenwert erhalten: Sie wird zukünftig eine zentrale Rolle bei der Konzeptualisierung der Leistungsangebote einnehmen1, viel stärker die Betroffenen einbeziehen, ihr Wunsch- und Wahlrecht berücksichtigen und mit ihnen gemeinsam ihren zukünftigen Lebensentwurf nach ihren Vorstellungen entwickeln. Die Hilfeplanung wird dabei den Charakter eines Diskurses zwischen den Betroffenen und allen Beteiligten2 annehmen, der die unterschiedlichsten Perspektiven3 mit dem Ziel der Erarbeitung konsensueller Lösungen zusammenführt, die der Lebenswirklichkeit und den Wünschen der Betroffenen gerecht werden. Die Wohneinrichtungen sind so umzugestalten, dass sie ihren BewohnerInnen unter möglichst optimalen Bedingungen die Erfüllung der Grundfunktionen des Wohnens bieten und ihnen damit eine hohe Wohnzufrie-
Das gilt auch für die Leistungsart des Persönlichen Budgets. Angehörigen, gesetzlichen Betreuern, Freunden, MitarbeiterInnen, Vertretern des Kostenträgers u. a. Zu berücksichtigen sind die Bürgerrechte, Grundfreiheiten, Kompetenzen und Ressourcen der jeweils Betroffenen, ihr individueller Unterstützungsbedarf zur Teilhabe an allen Bereichen des Lebens in der Gesellschaft und die daraus resultierenden notwendigen Leistungsangebote (einschließlich der Wahl der geeigneten Wohnform), Aspekte der Gestaltung sozialer Beziehungen, der Nutzung sozialer Netzwerke, der Einbeziehung in das umgebende Gemeinwesen, des Kennenlernens und der Aneignung des kommunalen Umfeldes aber auch sozialrechtliche Fragestellungen und die Modalitäten im Zusammenhang mit der Finanzierung der Leistungen (als Sachleistung oder in Form eines Persönlichen Budgets).
5.1 Zusammenfassung
5.
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309
denheit als wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von Lebensqualität ermöglichen1. Dabei spielt das Wohnumfeld der Wohneinrichtungen eine wichtige Rolle, das die Beheimatung der BewohnerInnen unterstützen und ihre Zugehörigkeit, ihr Einbezogensein, ihre Teilhabe und Formen der „Teilgabe“ ermöglichen sollte. Deshalb bedeutet jede Re-Institutionalisierung, unabhängig von der Art der jeweils davon betroffenen Wohneinrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung, grundsätzlich die Realisierung eines gemeindenahen Standortes dieser Wohneinrichtung innerhalb eines „normalen“ kommunalen (dörflichen, klein- oder großstädtischen) Kontextes2. Allerdings ist die (notwendige) gemeindezentrierte räumliche Lage einer Wohneinrichtung allein nicht ausreichend, um diese Zielstellung zu erreichen. Neben der aktiven Unterstützung der BewohnerInnen zur Teilnahme am Leben im kommunalen Umfeld gehört auch eine intensive, stringent ausgerichtete gemeinwesenorientierte Sozialraumarbeit der Wohneinrichtung in der eigenen Ortschaft bzw. im Stadtteil. Diese sozialräumliche Ausrichtung der Wohneinrichtungen bildet einen wesentlichen Schwerpunkt der Neubestimmung ihrer Funktion. Für eine grundsätzlich gemeindezentrierte Standortwahl der Wohneinrichtungen und ihre infrastrukturelle Einbindung gibt es zudem noch einen weiteren wichtigen Grund: Die Arbeit der Wohneinrichtungen wird mittel- und langfristig nicht mehr ausschließlich mit professionellen MitarbeiterInnen zu leisten sein – die notwendigerweise viel anspruchsvolleren Leistungsangebote verlangen nach einer Ergänzung der professionellen Tätigkeit durch freiwillige ehrenamtliche MitarbeiterInnen, Angehörige, Freunde, Nachbarn und engagierte Mitbürger, Selbsthilfegruppen und soziale Netzwerke, die sich einbinden lassen. Die Funktionsfähigkeit eines derartigen „Hilfe-Mix-Systems“ ist weitgehendst vom Grad der Zugehörigkeit der Wohneinrichtung und ihrer BewohnerInnen in das kommunale Gemeinwesen abhängig. Im Ergebnis einer Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen sollten Standorte, räumliche Bedingungen, Strukturen und Leistungsangebote so ausgerichtet sein, dass sie ihren BewohnerInnen nicht nur die Voraussetzungen zur Entwicklung einer möglichst hohen Lebensqualität bieten, sondern sie in gleicher Weise bei der Entfaltung ihrer ganz eigenen, individuellen Identität unterstützen. Damit untrennbar verbunden sind die Befähigung der BewohnerInnen zum selbstbestimmten Denken und Handeln, zur Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang sowohl objektive als auch subjektive Faktoren (vgl. Abschn. 4.1.1.2). Das schließt große Komplexeinrichtungen und dezentrale, gemeindeferne Standorte ohne Ausnahmen aus.
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5 Zusammenfassung und Ausblick
Herstellung, Pflege und Gestaltung sozialer Beziehungen sowie die Ermächtigung zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft mit ihren Funktionalsystemen, aber auch die Erschließung konkreter Formen der „Teilgabe“, die es den BewohnerInnen ermöglichen, einen aktiven, unverwechselbaren Beitrag zur Gestaltung des Gemeinwesens in ihrer Region zu leisten. Voraussetzung für eine gelingende Identitätsentwicklung, die Übernahme von Eigenverantwortung sowie die Verwirklichung von Selbstbestimmung und Teilhabe sind lebenslange Bildungsprozesse im Kindes-, Jugend,- Erwachsenen- und Seniorenalter. Das gilt zwar grundsätzlich für alle Menschen – für Menschen mit geistiger Behinderung allerdings, die das Absolvieren von Lernprozessen aufgrund ihrer Behinderung als besonders erschwert erleben, haben Bildungsangebote einen besonders hohen Stellenwert für die Identitätsentwicklung und den Kompetenzerwerb. Im Zuge der Re-Institutionalisierung müssen die Wohneinrichtungen den Schwerpunkt ihrer Leistungen neu bestimmen und die Bildungsarbeit mit diesem Personenkreis in den Mittelpunkt stellen. Dabei ist ein Bildungsverständnis im Rahmen einer Pädagogik der Anerkennung zugrunde zu legen, das Bildung als lebenslangen Prozess der Herausbildung von Identität durch wechselseitig miteinander verschränkte Selbst-Entwicklung und Welterschließung auffasst1. Bei der methodisch-didaktischen Konzeptualisierung ihrer Bildungsarbeit müssen die Wohneinrichtungen einerseits den Strukturbruch zwischen lebensweltlich-alltagsgebundenem und funktional strukturiertem Lernen2 bearbeiten, die Settings der Wohneinrichtungen und ihre Lernangebote entsprechend gestalten und andererseits auch für ausreichende, offene entpädagogisierte Freiräume sorgen. Eine zentrale Zielstellung der Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung muss die Schaffung von Anerkennungsverhältnissen innerhalb der Wohneinrichtungen als Voraussetzung für die Lebensqualität der BewohnerInnen, ihrer erfolgreichen Bildung im Sinne der Entwicklung einer eigenen unverwechselbaren Identität, einer eigenverantworteten selbstbestimmten Lebensgestaltung und der Nutzung von Teilhabemöglichkeiten sein. Die De-Institutionalisierungsdebatte hat gerade in dieser Beziehung eine Vielzahl kritischer Hinweise geliefert, die es gilt, bei der Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen zu berücksichtigen. Im Mittelpunkt der unter diesem Aspekt zu realisierenden Umgestaltungen müssen die Strukturen und Settings der Wohneinrichtungen sowie die Qualität der Interaktionen, das institutionalisierte Rollenverhalten und die Funktionalisierung der bestehenden Asymmetrien zwischen BewohnerVgl. Abschn. 4.1.2 und 4.1.3. Vgl. Abschn. 4.1.3.3.
5.1 Zusammenfassung
9.
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Innen und MitarbeiterInnen einschließlich der damit zusammenhängenden Machtkonstellationen stehen. Das Ziel besteht darin, im Blick auf die BewohnerInnen alle Formen institutioneller und interaktionaler Demütigung1 und Missachtung2 konsequent abzubauen und ihnen das Erleben uneingeschränkter Anerkennung im sozialen Nahraum zu sichern. Damit wäre eine der wichtigsten Voraussetzungen geschaffen, damit Wohneinrichtungen zu Lern-, Ermöglichungs-, Entwicklungs- und Lebensräumen werden können, die im umfassenden Sinn „Enabling-Räume“ für ihre BewohnerInnen, aber auch für MitarbeiterInnen und Leitende der Einrichtung sind. Die Re-Institutionalisierung der institutionalisierten sonderpädagogischen Leitvorstellungen, die bisher die fachliche Arbeit der Wohneinrichtungen bestimmten, spielt eine wesentliche Rolle bei der Schaffung von Anerkennungsverhältnissen. Grundlage der notwendigen Neubestimmung und Neuausrichtung dieser Leitideen ist das Prinzip „Anerkennung“, das als neues zentrales Leitkonzept der Arbeit der Wohneinrichtungen zu implementieren ist. Die Umgestaltung der Wohneinrichtungen zu „Enabling-Räumen“ bedeutet konsequenterweise auch den Aufbau eines regionalen sozialräumlichen Verbundsystems unterschiedlicher Wohnangebote3 innerhalb kommunaler Kontexte4, welches entsprechend der jeweiligen individuellen Hilfebedarfe, der Berücksichtigung der Präferenzen der NutzerInnen, ihrer Biografien und gewachsenen sozialen Bezügen eine breite Palette verschiedener Leistungsangebote gemeindezentriert zur Verfügung stellt. Handlungsleitende Prinzipien beim Aufbau eines solchen Wohnverbundsystems sollten die ausschließliche Orientierung an NutzerInnen einschließlich ihres sozialen Kontextes bei der personzentrierten Auswahl eines geeigneten Wohnangebotes sein, weiterhin die Angemessenheit, hohe Flexibilität, Transparenz und Wirksamkeit der erbrachten Leistungen sowie die strukturelle Durchlässigkeit zwischen unterschiedlichen Wohnangeboten, die einen Wechsel der NutzerInnen in jeder Richtung zeitnah unkompliziert ermöglicht. Vgl. dazu z. B. MARGALIT (1999). Isolation, Deprivation, emotionale Kälte und Gleichgültigkeit, z. T. Erfahrungen subtiler psychischer Gewalt und Misshandlung sind Missachtungsformen, die noch immer auch innerhalb von Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung anzutreffen sind. Diese Wohnverbundsysteme können von einem einzigen Träger vorgehalten oder als Kooperationsangebot verschiedener Träger konzipiert werden. Diese kommunalen Kontexte können unterschiedlichste städtische oder dörfliche Strukturen aufweisen.
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5 Zusammenfassung und Ausblick
Der Grundsatz „Ambulant vor Stationär“ verliert im Rahmen eines solchen Wohnverbundsystems seinen Sinn, da es keine Priorisierung der unterschiedlichen Angebote mehr gibt – Wohnstätten mit stationären Angeboten, ambulant betreute Wohngemeinschaften aller Art sowie die unterschiedlichsten Formen des Betreuten Einzel- und Paarwohnens sind als gleichrangige Angebote zu bewerten, da ausschließlich die o. g. Auswahlkriterien zur Geltung kommen. Um eine hohe Nutzerfreundlichkeit eines solchen Wohnverbundsystems zu erreichen, wären die Einrichtung von Regionalkonferenzen unter Einbeziehung aller Beteiligten1, der Übergang zu einer möglichst umfassenden Nutzung der Leistungsart des persönlichen Budgets für alle Wohnangebote durch Schaffung der entsprechenden Voraussetzungen, die Neugestaltung der Refinanzierung der Wohnangebote mit dem Ziel einer Vereinheitlichung und sozialräumlich orientierten Steuerung durch (idealerweise) nur noch einen Kostenträger und die regelmäßige gegenseitige Durchführung von Audits zwischen den Wohneinrichtungen durch die MitarbeiterInnen sowie parallel dazu Befragungen der BewohnerInnen durch ebenfalls Betroffene2 – beides mit der Zielstellung, den Stand der Entwicklung der Wohneinrichtungen zu „Enabling-Räumen“ zu kontrollieren – wichtige Voraussetzungen. 10. Im Mittelpunkt des Qualitätsmanagements sollten die Lebensqualität der BewohnerInnen, die Schaffung von Anerkennungsverhältnissen und die Qualität der Interaktionen, die Umgestaltung der Wohneinrichtungen zu Lebens-, Lern-, Erfahrungs- und Entwicklungsräumen mit dem Charakter von „Enabling-Räumen“ und ihre konsequent sozialraumbezogene Ausrichtung stehen. Wie gezeigt, bietet sich dafür der Einsatz des EFQM-Modells besonders an, welches die individuelle mit der institutionellen Perspektive sowie die interne Umgestaltung der Wohneinrichtung mit der aktiven Mitwirkung an der Gestaltung ihrer Umwelt verbindet und in der Lage ist, die unterschiedlichsten QM-Instrumentarien zu integrieren. 11. Besonderes Augenmerk ist dem Personenkreis erwachsener Menschen mit Komplexer Behinderung zu widmen, die aufgrund ihres ausgeprägten Hil1 2
Dazu gehören die Betroffenen mit Angehörigen und gesetzlichen Betreuern, die Träger von Wohneinrichtungen und die Vertreter der Wohneinrichtungen sowie die zuständigen Kostenträger. BewohnerInnen-Befragungen durch Menschen, die selbst behindert sind, werden z. B. von NUEVA, einer österreichischen Initiative, durchgeführt.
5.1 Zusammenfassung
313
febedarfs in hohem Maß sozial abhängig sind, die Entwicklung von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung für ihr Leben als sehr erschwert und zunächst auf basale Formen beschränkt erleben, zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auf umfangreiche Hilfe und Unterstützung angewiesen sind und die durch das Hilfesystem in seiner bisherigen Form eher ausgegrenzt statt einbezogen wurden1. Letztlich ist es gerade diese Gruppe der BewohnerInnen, die den Testfall für die Qualität institutioneller Anerkennungsverhältnisse, die Strukturen der „Enabling-Räume“, die Wirksamkeit der Leistungsangebote und das anerkennende, wertschätzende, ermöglichende Potenzial der Interaktionen bildet. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Re-Institutionalisierung zu „Enabling-Räumen“ einerseits die entlastende, stützende, stabilisierende und vor Überforderungen aller Art schützende Funktion dieser Institutionen stärkt2 und andererseits ihre regressiven, isolierenden, stigmatisierenden, integritätsverletzenden, rechtebeschränkenden und entfremdenden Faktoren systematisch abbaut. Die dadurch entstehenden neuen Freiräume bieten Schutz, sind gleichzeitig gegenüber dem umgebenden Gemeinwesen geöffnet und bieten damit die notwendigen Voraussetzungen für die Akzeptanz und Würdigung der Besonderheit und Andersartigkeit ihrer BewohnerInnen sowie für ihre gelingende individuelle Identitätsentwicklung, die eine zunehmende Selbstbestimmung, die Einbindung in soziale Bezüge und ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft einschließen3. Die re-institutionalisierten Wohneinrichtungen können ihre Leistungsangebote unter der Prämisse des Prinzips „Anerkennung“ zu einer neuen Unterstützungsform fortentwickeln, die Bildung und Fürsorge miteinander zu verbinden in der Lage ist: Bildung zur Identitätsentwicklung und zum Kompetenzerwerb, Fürsorge mit „Enabling-Charakter“ als anerkennender Ausdruck von Empathie, Rechtswahrung und Solidarität – ohne einzuengen, zu entmündigen, überzuversorgen, überzubehüten. Die Umgestaltung der Wohneinrichtungen zu „Enabling-Räumen“ und die Schaffung von Anerkennungsverhältnissen sind allerdings auch untrennbar mit der Verpflichtung zu advokatorischem Einsatz für ihre BewohnerInnen im Sinne
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Vgl. FORNEFELD (2008). Das schließt die Schaffung von Moratorien zur Entschleunigung ein. Damit werden auch die Grundlagen für eine hohe Lebensqualität der BewohnerInnen gelegt und ihnen Lebenschancen im Sinne DAHRENDORFS (vgl. DAHRENDORF, 1979) eröffnet.
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5 Zusammenfassung und Ausblick
eines gesellschaftlichen Kampfes um Anerkennung dieser MitbürgerInnen des Gemeinwesens verbunden1. Das bedeutet für die Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung, sich aktiv in die Umgestaltung des Gemeinwesens einzubringen und möglichst einen Platz in seiner Mitte zu finden. Das kann gelingen, wenn Wohneinrichtungen über die Anforderungen und Erwartungen der Gesellschaft hinaus einen Beitrag für das Gemeinwesen leisten – z. B. durch Gestaltung und Bereicherung des sozialen und kulturellen Lebens der Region, Entwicklung der Infrastruktur, Bereitstellung kostengünstiger Angebote für alle Mitglieder des Gemeinwesens in den Bereichen gesundheitliche Prävention, Vorsorge und Betreuung, Selbsthilfe und Beratung, Sport, Freizeit und Kultur sowie die Mitwirkung in und Unterstützung von Bürgervereinen und -initiativen. Bemühungen dieser Art müssen ein fester Bestandteil des Leistungsangebotes der Wohneinrichtungen werden, durch sie eine hohe Priorisierung erhalten und sich in Bezug auf den Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung an den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention ausrichten. Wichtige Schwerpunkte im Rahmen einer solchen aktiven Mitwirkung an der Gestaltung des Gemeinwesens wären dann z. B.:
1
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die Einflussnahme auf politische Konzepte, Pläne, Programme und Maßnahmen zur Verbesserung der Chancengleichheit für Menschen mit geistiger Behinderung auf kommunaler und regionaler Ebene unter aktiver Einbeziehung der Betroffenen2, die Erschließung konkreter Formen von „Teilgabe“, um es Menschen mit geistiger Behinderung zu ermöglichen, ihren Beitrag zum allgemeinen Wohl und zur Vielfalt der Gemeinschaft leisten zu können3, die Einflussnahme auf die Ermöglichung des vollen Zugangs zur physischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwelt für Menschen mit geistiger Behinderung sowie zu Gesundheit, Bildung, Informationen und Kommunikation innerhalb des Gemeinwesens4,
Vgl. auch Abschn. 4.1.3.1. Die Unterstützung der BewohnerInnen bei ihrem Kampf um Anerkennung beginnt mit der (Um)Gestaltung der Interaktionsbedingungen im lebensweltlichen Alltag der Wohneinrichtungen mit dem Ziel, den BewohnerInnen soziale Anerkennung zu gewähren: Sie mit der Einzigartigkeit ihrer Person sozial zur Geltung kommen zu lassen, ihnen Raum zur Entfaltung ihrer Individualität zu gewähren und diese zu würdigen (vgl. auch NOTHDURFT, 2007, S. 111). Vgl. Präambel f und o der UN-Behindertenrechtskonvention (BUNDESGESETZBLATT Jg. 2008 Teil II Nr. 35 vom 31.12.2008, S. 1421). Vgl. Präambel m der UN-Behindertenrechtskonvention (ebd.). Vgl. Präambel v der UN-Behindertenrechtskonvention (ebd., S. 1422).
5.2 Konsequenzen für das System der Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung
315
die Umsetzung konkreter Maßnahmen zur Schärfung und Bildung des Bewusstseins für die Rechte und Würde der Menschen mit Behinderungen in der gesamten Gesellschaft, der Öffentlichkeit und den Medien1, die Einflussnahme auf gemeindenahe Dienstleistungen und Einrichtungen für die Allgemeinheit mit dem Ziel, sie auch für Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung zugänglich zu machen2 und schließlich die Einflussnahme auf das Gemeinwesen mit dem Ziel der Sicherstellung der vollen und uneingeschränkten Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung am politischen, öffentlichen und kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport3.
Der Aspekt der aktiven Mitwirkung der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen an der Gestaltung des Gemeinwesens als Ausdruck advokatorischer Verantwortungsübernahme für die Entwicklung von Teilhabe und Teilgabemöglichkeiten ihrer BewohnerInnen verweist auf ein neues Aufgabengebiet als wichtigen zukünftigen Bestandteil der Leistungsangebote der Wohneinrichtungen, unterstreicht die wachsende Bedeutung dieser Institutionen für Menschen mit geistiger Behinderung und bestätigt den Trend einer Entgrenzung der Aufgabenbereiche Sozialer Arbeit4 innerhalb der nachmodernen Gesellschaft für den Bereich institutioneller Wohnangebote für Menschen mit geistiger Behinderung. Durch die Erweiterung der Perspektive auf den Sozialraum wird der Blick auf weitere wichtige Lebensbereiche der BewohnerInnen und damit auf das gesamte System der Behindertenhilfe gelenkt, welches – in vergleichbarer Weise wie die Wohneinrichtungen – durch Prozesse der Re-Institutionalisierung grundlegend umgestaltet werden muss. Darauf soll im folgenden Abschnitt kurz eingegangen werden. 5.2 Konsequenzen für das System der Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung Im Verlauf der Arbeit wurde die Aufmerksamkeit immer wieder auf die Identitätsentwicklung der Individuen innerhalb nachmoderner Gesellschaften gerichtet, 1 2 3 4
Vgl. Art. 8 der UN-Behindertenrechtskonvention (ebd., S. 1427). Vgl. Art. 19 der UN-Behindertenrechtskonvention (ebd., S. 1433). Vgl. Art. 29 und 30 der UN-Behindertenrechtskonvention (ebd., S. 1441-1443). „Soziale Arbeit“ wird hier (im Unterschied zur Begriffsverwendung im Abschn. 3.6.2.3) als Oberbegriff in einem sehr weiten Sinn gebraucht, der auch die Leistungsangebote der Eingliederungshilfe umfasst.
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5 Zusammenfassung und Ausblick
der sich unter den die Bedingungen der Globalisierung, der Individualisierung und Pluralisierung sowie des Wandels wichtiger Institutionen wie z. B. der Familie, des Lebenslaufes und des Arbeitsmarktes einerseits bisher kaum vorstellbare Chancen und Freiräume eröffnen, die andererseits in ihrem Gelingen gleichzeitig durch neue Risiken in besonderer Weise bedroht und gefährdet ist. Wird sie als Prozess lebenslanger Bildung in der Form miteinander wechselwirkend verbundener Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung verstanden, dann kommt angesichts dieser Sachlage sowohl dem unmittelbaren Einbezogensein des Individuums in alle wichtigen gesellschaftlichen Lebensbereiche1 als auch seiner Bestätigung durch die Erfahrung anerkennender Verhältnisse2 eine herausragende Bedeutung zu. Wie im Verlauf der Arbeit gezeigt wurde, gilt dies besonders für Menschen mit geistiger Behinderung, die in der Regel zusätzliche Hilfen und Unterstützung benötigen, damit ihnen – in gleicher Weise wie allen anderen Menschen auch – der Zugang zu Bildungsangeboten, zur Arbeitswelt und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben3 insgesamt ermöglicht wird, um Prozesse der SelbstEntwicklung und Welt-Erschließung erfolgreich absolvieren zu können. Zu einer gelingenden Identitätsentwicklung sind sie in besonderer Weise auf Anerkennung, Wertschätzung und Respektierung ihres „Anderssein“ in ihrem persönlichen Nahraum sowie auf strukturelle und institutionelle Anerkennungsverhältnisse in ihrer sozialen Umwelt angewiesen4. Auch die UN-Behindertenrechtskonvention lenkt aus der Perspektive der Rechte von Menschen mit Behinderungen die Aufmerksamkeit auf diese beiden wesentlichen Aspekte gelingender Identitätsentwicklung – und zwar aus der Perspektive der Rechte von Menschen mit Behinderungen5. 1
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5
Solche wichtigen Lebensbereiche im Erwachsenenalter sind neben Wohnen und Freizeit z. B. die Arbeit, Gesundheit und Rehabilitation, die außerschulische Erwachsenenbildung und das ehrenamtliche Engagement in Vereinen, Selbsthilfegruppen, Kirchgemeinden und Bürgerinitiativen. Menschen- und Bürgerrechtsperspektive! Einschließlich des politischen, öffentlichen, sozialen und kulturellen Lebens sowie der Bereiche Gesundheit, Erholung, Freizeit und Sport. FORNEFELD beschreibt in Bezug auf Menschen mit Komplexer Behinderung (aus Sicht eines kompetenzorientierten Ansatzes) die mit der Gewährung von Anerkennung verbundenen Schwierigkeiten: „Damit Menschen mit Komplexer Behinderung ein »gutes«, ein »sinnerfülltes und menschenwürdiges Leben« führen können, ist es notwendig, sie als Menschen mit Fähigkeiten zu erkennen und anzuerkennen. Aber genau das fällt bei dieser Personengruppe so schwer, weil sie sich anders verhalten, nicht ausreichend kommunizieren und so geschädigt scheinen, das ihnen ein »vernünftig-selbstbestimmtes« bzw. sinnerfülltes Leben nicht möglich erscheint.“ (FORNEFELD, 2008, S. 171. Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.). Die UN-Behindertenrechtskonvention betont, „[…] dass alle Menschenrechte und Grundfreiheiten allgemein gültig und unteilbar sind, einander bedingen und miteinander verknüpft sind und dass Menschen mit Behinderungen der volle Genuss dieser Rechte und Freiheiten ohne
5.2 Konsequenzen für das System der Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung
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Sie anerkennt und würdigt ausdrücklich den „wertvollen Beitrag“, den Menschen mit Behinderungen „zum allgemeinen Wohl und zur Vielfalt ihrer Gemeinschaften leisten und leisten können“, hebt die Bedeutung uneingeschränkter Teilhabe für die Verstärkung ihres Zugehörigkeitsgefühls hervor und sieht darin eine Voraussetzung, die „[…] zu erheblichen Fortschritten in der menschlichen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft und bei der Beseitigung der Armut führen wird“1. Damit wird das „Anderssein“ von Behinderung durch die UN-Behindertenrechtskonvention als Ausdruck und Teil der Vielfalt menschlichen Lebens gewertet und dadurch gleichzeitig wertgeschätzt. Die der Konvention zugrunde liegende zen-trale Leitidee ist die Vision einer inklusiven Gesellschaft, die die Individualität und Vielfalt der Menschen anerkennt und wertschätzt, sich ihnen mit ihren Strukturen anpasst und behinderte Menschen mit ihren Bedürfnissen ohne Ausgrenzung einbezieht2. So verstanden, wird Inklusion zu einer Zielperspektive, die nicht vorrangig die Selbstbestimmung und Teilhabe einzelner Personen, sondern die Gesellschaft insgesamt im Blick hat und sich mit der Fragestellung auseinandersetzt, wie die Gemeinwesen der Zukunft zu gestalten sind, damit sie die Einbeziehung aller in ihnen lebenden Menschen leisten können3. Im Gegensatz dazu stellt die nachmoderne, funktional differenzierte bundesdeutsche Gesellschaft derzeit keine inklusive Gesellschaft dar. Auch das System der Behindertenhilfe trägt in seiner jetzigen Form wenig dazu bei, Entwicklungen in dieser Richtung anzustoßen. Dazu müsste das System der Behindertenhilfe mit seinen einzelnen Institutionen und Organisationen grundlegend reformiert und im Sinne einer umfassenden Re-Institutionalisierung – wie am Beispiel der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung aufgezeigt – umgestaltet werden. Orientiert an den Vorgaben4 der UN-Behindertenrechtskonvention sollte sich eine derartige Re-Institutionalisierung des Systems der Behindertenhilfe an folgenden grundlegenden Überlegungen ausrichten:
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Diskriminierung garantiert werden muss.“ (vgl. UN-Behindertenrechtskonvention Präambel c, BUNDESGESETZBLATT Jg. 2008 Teil II Nr. 35 vom 31.12.2008, S. 1420). Ebd., Präambel m (BUNDESGESETZBLATT Jg. 2008 Teil II Nr. 35 vom 31.12.2008, S. 1421). Vgl. auch Sozialbericht März 2009 des SoVD. Der Anspruch der Konvention und die Lebenswirklichkeit von Menschen mit geistiger Behinderung klaffen allerdings noch weit auseinander. Vgl. Positionspapier der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (2009), S. 3. Diese Vorgaben werden von der Bundesregierung als weltweit gültige „Standards für ein menschliches und würdevolles Dasein von Menschen mit Behinderungen“ bezeichnet (BUNDESMINISTERIUM FÜR ARBEIT UND SOZIALES, 2009, S. 7).
318 1.
2.
3.
1
5 Zusammenfassung und Ausblick
Das Verständnis von Behinderung als bio-psycho-soziales Phänomen, wie von der ICF formuliert und der UN-Behindertenrechtskonvention bestätigt, ist Ausgangspunkt einer Neubestimmung der Funktion des Systems der Behindertenhilfe und Grundlage der daraus resultierenden Umgestaltung seiner Institutionen und der Neukonzeptionalisierung seiner Leistungsangebote1. Deshalb müssen innerhalb des Systems der Behindertenhilfe – wie für die Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung bereits gezeigt – die Konsequenzen aus einem neuen Verständnis von Behinderung gezogen und stringent umgesetzt werden: Anerkennung von Behinderung als vollwertigem Ausdruck und Bestandteil menschlichen Lebens, Akzeptanz des „Andersseins“ und seine Wertschätzung als Ressource sowie ein Verständnis als „So-Sein“. Basierend auf dieser Grundlage setzen die Institutionen der Behindertenhilfe in ihrer Arbeit folgende Schwerpunkte: Förderung und Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten von Menschen mit Behinderungen, Förderung der vollen und wirksamen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft und ihrer Einbeziehung in das gesellschaftliche Leben auch im Sinn von Teilgabe, Achtung der Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen und ihres Rechtes auf Wahrung ihrer Identität. Dazu müssen die Institutionen der Behindertenhilfe einerseits Menschen mit Behinderungen die notwendigen Kompetenzen – z. B. durch Bildung – vermitteln und andererseits konsequent auf die Umgestaltung der gesellschaftlichen Bedingungen im Sinn eines Abbaus von Barrieren, Hindernissen und Hemmnissen, eines Bewusstseinswandels sowie der Ermöglichung von Teilhabe an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens hinwirken. Das erfordert eine klare gemeinwesenorientierte Ausrichtung der Institutionen und eine vorrangige Nutzung sozialräumlicher Ansätze im Rahmen der Neukonzeptionierung ihrer Leistungsangebote.
Im Konventionstext der UN-Behindertenrechtskonvention wird der Begriff der Behinderung zwar nicht definiert, aber in der Präambel wird verdeutlicht, dass der Konvention ein Verständnis von Behinderung als sozialer Konstruktion zugrunde liegt und sie damit den Anschluss an den bio-psycho-sozialen Behinderungsbegriff der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) herstellt (vgl. KURTH, 2009, S. 8. mit Kommentar). Das System der Behindertenhilfe hat programmatisch das medizinische Modell von Behinderung zwar längst überwunden, in den Zielstellungen der praktischen Arbeit seiner Institutionen spielt es faktisch aber noch immer eine dominierende Rolle – nicht zuletzt entsprechend der normativen Vorgaben einer defizitorientierten Logik der sozialpolitischen und sozialrechtlichen Institutionen des bundesdeutschen Sozialstaates (vgl. ebd., S. 10 mit Kommentar).
5.2 Konsequenzen für das System der Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung
4.
5.
319
Das bedeutet vor allem, zunächst Barrieren und Hemmnisse innerhalb der eigenen Institutionen abzubauen, für anerkennende Interaktionen zu sorgen, Anerkennungsverhältnisse zu schaffen und die Institutionen zu „EnablingRäumen“ umzugestalten. Damit würden diese Institutionen ihren Charakter als separierende Sonderwelten verlieren und zu Bestandteilen des Gemeinwesens werden. Das System der Behindertenhilfe dürfte nach seiner ReInstitutionalisierung keinerlei Personen mehr – insbesondere nicht die Menschen mit Komplexem Hilfebedarf – bevormunden, ein- und ausgrenzen oder stigmatisieren. Ein weiterer Schwerpunkt der Re-Institutionalisierung des Systems der Behindertenhilfe und seiner Institutionen muss in seiner Befähigung bestehen, Menschen mit Behinderung dabei zu unterstützen, ihre Rechte ohne Diskriminierung auch tatsächlich einzufordern und auszuüben. Das setzt allerdings – wie in der UN-Behindertenrechtskonvention verankert – eine Verbindung zwischen Freiheitsrechten und sozialen Rechten als Anspruchsrechte auf soziale Leistungen voraus1, die im Einzelfall oftmals erst erkämpft werden müssen. An dieser Stelle müssen die Institutionen der Behindertenhilfe bereit sein, sich für die Betroffenen advokatorisch zu engagieren.
Ein derart re-institutionalisiertes System der Behindertenhilfe wäre dann auch in der Lage, die von seiner Seite aus möglichen „besonderen Maßnahmen zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderung“2 zu veranlassen. Das allein reicht aber nicht aus, um die Selbstbestimmungs- und Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderung tatsächlich zu gewährleisten, die Inanspruchnahme ihrer Rechte und Grundfreiheiten ohne Diskriminierung zu sichern und die Wahrnehmung ihrer sozialen Anspruchsrechte zu ermöglichen. Dazu muss sich das System der Behindertenhilfe mit seinen Institutionen von seiner gesellschaftlichen Randständigkeit weg in die Mitte der Gesellschaft begeben, um von dort aus verändernd auf die Gesellschaft einzuwirken – mit
1
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Zur Wahrnehmung ihrer Freiheitsrechte sind Menschen mit Behinderung in der Regel auf Unterstützung angewiesen – wird sie ihnen verweigert, können sie diese nur eingeschränkt oder gar nicht wahrnehmen. Das gilt nicht nur für ihre Unabhängigkeit, sondern auch für ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe generell. GRAUMANN verweist darauf, dass dafür das Recht auf einen „angemessenen Lebensstandard“ nach Art. 28 der UN-Behindertenrechtskonvention wesentlich ist, das damit deutlich über das „soziokulturelle Minimum“ im deutschen Sozialrecht hinausgehe (vgl. GRAUMANN, 2009, S. 18; Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.). Vgl. Art. 5, Satz 4 der UN-Behindertenrechtskonvention.
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5 Zusammenfassung und Ausblick
dem Ziel, die Menschenrechte als die zentralen Fundamente gesellschaftlicher Ordnung weiter zu verankern und umzusetzen1. Orientierung für diesen Prozess könnte aus der Idee einer „Enabling Community“ gewonnen werden2, die als „Gegenentwurf“ zur gegenwärtigen nachmodernen bundesdeutschen Gesellschaft aufgefasst werden kann und durch folgende Merkmale charakterisiert ist:
1 2
3 4 5
Eine „Enabling Community“ ist ein Gemeinwesen mit dem Charakter einer inklusiven Bürgergesellschaft, das Raum für die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Prozesse bietet und durch das Engagement seiner Bürger gestaltet und fortentwickelt wird3. Die gesellschaftlichen, sozialpolitischen, sozialrechtlichen und sozialprofessionellen Strukturen eines solch inklusiven Gemeinwesens ermöglichen kulturelle Vielfalt (anstelle der Dominanzkultur einer Mehrheitsgesellschaft) und die Unterschiedlichkeit von Lebensentwürfen und Lebensbewältigungsmustern (statt der erzwungenen Einpassung marginalisierter Gruppen in vorgegebene Strukturen) als qualitatives Merkmal der „Enabling-Community“4. Alle in diesem Gemeinwesen lebenden Menschen sind sich ihrer kollektiven Verantwortung für das Vorantreiben sozialer Inklusion bewusst, verfügen über Teilhabe- und Teilgabemöglichkeiten und fühlen sich als BürgerInnen geachtet, weil ihnen in den relevanten Lebensbereichen weitestgehend individuelle Autonomie, das Recht auf Selbstbestimmung sowie das Recht auf Einbeziehung in die Gemeinschaft zugestanden wird. Die Beteiligung der BürgerInnen an der Gestaltung der Zivilgesellschaft erfordert ihre Befähigung zu einer aktiven und informierten Teilhabe und Teilgabe durch Bildung. Deshalb spielt die kommunale Bildung bei der Entwicklung regionaler Sozialräume zu einem inklusiven Gemeinwesen eine herausragende Rolle5. Vgl. Positionspapier der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, 2009, S. 14. Dieser Begriff wurde von ANDREAS LOB-HÜDEPOHL und LEO J. PENTA eingeführt und im Rahmen der Forschungsarbeit am Berliner Institut für christliche Ethik und Politik (ICEP) und dem Deutschen Institut für Community Organizing (DICO) an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen (KHSB) vertieft. Die KHSB veranstaltete dazu mit der Evangelischen Stiftung Alsterdorf vom 18. - 20.05.2009 den Fachkongress „Enabling Community – Gemeinsame Sache machen“ (vgl. Positionspapier der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, 2009, S. 17). Vgl. Positionspapier der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, 2009. Vgl. Positionspapier der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, 2009, S. 5. Vgl. ebd. S. 10, 11.
5.2 Konsequenzen für das System der Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung
321
Kommunale Politik und öffentliche Verwaltung verstehen sich im Rahmen einer „Enabling Community“ als „Enabling agency“1 – also als Agentin, „[…] die der zivilen Öffentlichkeit effektive Handlungs(spiel)räume zur politischen Gestaltung des öffentlichen Raumes eröffnet und sicherstellt.“2 Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der „Enabling Community“ spielen „Community Organizing-Prozesse“3, die darauf abzielen, „[…] die Beteiligung von Bürgern/-innen an der Gestaltung ihrer Sozialräume zu fördern“4 Dabei geht es darum, „[…] die Vielseitigkeit der lokalen Zivilgesellschaft in einem kooperativen, handlungsfähigen Miteinander zu verbinden.“5 Inklusion innerhalb der „Enabling Community“ durch Community Organizing-Prozesse bedeutet, „[…] ausgegrenzte oder von Exklusion bedrohte Menschen in eine kooperative zivilgesellschaftliche Praxis gezielt einzubeziehen und sie mit ihren Ressourcen und Fähigkeiten als Teil des Selbstorganisationsprozesses wertzuschätzen.“6
Eine „Enabling Community“ stellt also ein auf der Grundlage der Menschenrechte basierendes, zur sozialen Inklusion befähigendes Gemeinwesen dar, welches für diese Aufgabe allerdings zunächst erst selbst befähigt werden muss. Die Herausforderung für das re-institutionalisierte System der Behindertenhilfe, die mit der Idee einer „Enabling Community“ verbunden ist, geht weit über die Befähigung einzelner Personen zur Selbstbestimmung und Teilhabe hinaus: Es geht um die Entwicklung einer „Doppelperspektive“, die Person und Sozialraum gleichermaßen umfasst und zur Übernahme von Verantwortung für die Umgestaltung des Gemeinwesens zu einer inklusiven Gesellschaft übernimmt7,1.
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Positionspapier der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (2009), S. 12 unter Verweis auf LOB-HÜDEPOHL (2008), S. 13. Ebd., S. 12 unter Verweis auf LOB-HÜDEPOHL (2008), S. 13. Ebd., S. 12. Ebd.. Die Autoren führen aus: „Die verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteure eines Sozialraumes sollen gemeinsam die Verbesserung ihres Lebensumfeldes gestalten. Am Beginn eines solchen Prozesses steht der Aufbau eines tragfähigen Beziehungsnetzwerkes, einer sogenannten Bürgerplattform. Die Akteure eines solchen Netzwerkes bilden gemeinsam ein »handlungsfähiges Wir« und sind durch solidarische Beziehungen miteinander verbunden. Ein solches Beziehungsnetzwerk ist bewusst »grenzüberschreitend« konzipiert: Respektierte und kreative Vielfalt wird zum normativen Kennzeichen kooperativen Handelns.“ (ebd., S. 12, 13; Hervorhebungen im Original, Anm. A. B.). Ebd., S. 13. Gemeinsamkeiten und Gemeinschaft gelte es in einer pluralistischen Moderne, so die Autoren, erst über religiöse, ethnische und soziale Grenzen hinweg mühsam aufzubauen (vgl. ebd.). Positionspapier der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, 2009, S. 13. Vgl. ebd., S. 14, 15.
322
5 Zusammenfassung und Ausblick
Darin eingeschlossen sind alle Maßnahmen, die zur Bildung des gesellschaftlichen Bewusstseins im Sinn der UN-Behindertenrechtskonvention führen2, die Gestaltung inkludierender sozialpolitischer, sozialrechtlicher und sozialprofessioneller Strukturen, die Initiierung von „Community OrganizingProzessen“, die Schaffung von Netzwerken, die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen und zivilgesellschaftlich engagierten Bürgern sowie die Hinwirkung auf eine sozialraumorientierte Umstellung der Finanzierungs- und Steuerungssysteme der Öffentlichen Hand. Schließlich bedeutet die Mitwirkung an der Gestaltung eines Gemeinwesens zur „Enabling Community“ für das System der Behindertenhilfe auch, den Anschluss an die anderen Dienste der Sozialen Arbeit zu suchen, um gemeinsam für die soziale Inklusion aller marginalisierten, randständigen und benachteiligten Gruppen eintreten zu können. 5.3 Fazit und Perspektiven Die Ergebnisse vorliegender Arbeit ermöglichen es, die im ersten Kapitel aufgeworfenen Fragestellungen zu beantworten und die aufgestellten Thesen zu begründen. Sie lassen sich im Überblick zu folgendem Fazit zusammenfassen: Menschen mit geistiger Behinderung sind aufgrund ihrer erschwerten Lebenslagen mehr denn je auf institutionalisierte professionelle Hilfen angewiesen, damit sie inmitten der nachmodernen funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, die durch Phänomene der Globalisierung, Individualisierung, Pluralisierung, Fragmentierung und Desintegration geprägt ist, ihr Leben möglichst erfolgreich eigenverantwortlich gestalten können und ihre Identitätsentwicklung gelingt. Um ihnen realistische Chancen zu weitgehender Teilhabe und Teilgabe an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu erschließen, müssen die Gemeinwesen der Sozialräume zu „Enabling-Communities“ – im Sinne der UNBehindertenrechtskonvention – nachhaltig umgestaltet werden. Dazu sind die Kompetenzen und professionellen Leistungen der Institutionen des Systems der Behindertenhilfe und ihr advokatorisches Engagement im Kampf um die Anerkennung der Rechte und der Würde der Menschen mit Behinderungen notwendig und unverzichtbar.
1
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Genau diese Überlegungen wurden zur Fachtagung „Unterstützes Wohnen im Gemeinwesen der Zukunft“ am 8. Oktober 2009 in Berlin als Ergebnis eines interdisziplinären Diskurses formuliert und vertieft (Dokumentation der Fachtagung vgl. VEREIN FÜR REHABILITATION BEHINDERTER E.V. DIE REHA – WOHNEN UND FREIZEIT, 2009). Vgl. Art. 8 der UN-BRK.
5.3 Fazit und Perspektiven
323
Als Gegenentwurf zur Forderung nach Auflösung der Institutionen des Wohnens durch radikale De-Institutionalisierungsmaßnahmen wird ein Lösungsansatz entwickelt, der eine grundlegende Umgestaltung der Wohneinrichtungen durch ReInstitutionalisierung vorsieht, um sie dadurch erneut in die Lage zu versetzen, den veränderten gesellschaftlichen Herausforderungen und den daraus resultierenden neuen Anforderungen seitens ihrer BewohnerInnen gerecht zu werden. Die von ULRICH BECK entwickelte soziologische Deutungstheorie der „Zweiten oder Reflexiven Moderne“, neo-institutionalistische Ansätze und Aspekte des institutionellen Lernens werden im Rahmen der Arbeit herangezogen, um dadurch analytische Perspektiven zum besseren Verständnis des gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandels und seine Auswirkungen auf die Lebenslagen der Individuen und auf Phänomene sowohl institutioneller Persistenz als auch institutionellen Wandels und deren für die Prozesse der Umgestaltung einer Institution charakteristischen Ambivalenz zu eröffnen. Grundzüge einer theoretischen Fundierung und Konzeptualisierung der ReInstitutionalisierung der Wohneinrichtungen werden unter Einbeziehung des von MONIKA CSIGÓ entwickelten Modells institutionellen Wandels entworfen, welches sich dafür besonders eignet, da es Aspekte institutionellen Lernens mit Erkenntnissen neo-institutionalistischer Ansätze verbindet. Dabei wird Re-Institutionalisierung als offener Lern- und Umgestaltungsprozess verstanden, dessen Intention auf die Schaffung von Anerkennungsverhältnissen innerhalb der Wohneinrichtungen und ihre Umgestaltung zu „Enabling-Räumen“ abzielt. Ausgangspunkt der Re-Institutionalisierung ist eine Neubestimmung der Funktion der Wohneinrichtungen aus gesellschaftlicher Perspektive unter besonderer Berücksichtigung des aktuellen gesellschaftlichen Wandels, die zu einer grundlegenden Veränderung ihres Aufgabenprofils führt: Im Mittelpunkt stehen zukünftig zum einen die Bildungsarbeit zum Kompetenzerwerb und zur Identitätsentwicklung der BewohnerInnen, zum anderen die sozialräumlich orientierte Gemeinwesenarbeit, um Möglichkeiten der Teilhabe und Teilgabe der BewohnerInnen im regionalen Sozialraum zu erschließen und an seiner Gestaltung zu einer „Enabling-Community“ aktiv mitzuwirken. Wie im Verlauf der Arbeit gezeigt wird, erfordert diese neue Aufgabenstellung auch eine Re-Institutionalisierung der sonderpädagogischen Leitvorstellungen, die als Institutionen aufgefasst und am Prinzip „Anerkennung“ als neuer zentraler Leitidee ausgerichtet werden. Zur Grundlage der Bildungsarbeit der Wohneinrichtungen wird eine Pädagogik der Anerkennung, die auf ein von KRASSIMIR STOJANOV entwickeltes Bildungsverständnis als wechselseitig verschränkte SelbstEntwicklung und Welt-Erschließung zurückgreift und methodische Aspekte aus ORTFRIED SCHÄFFTERS Ansatz institutionellen Lernens einbezieht.
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5 Zusammenfassung und Ausblick
Den neuen Hilfebedarfen, Ansprüchen und Erwartungen der BewohnerInnen, die aus den veränderten Lebenslagen der Individuen in der nachmodernen Gesellschaft resultieren, können – das lässt sich als weiteres Ergebnis der Arbeit festhalten – Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung nach den strukturellen und inhaltlichen Umgestaltungen im Rahmen einer erfolgreichen Re-Institutionalisierung gerecht werden. Sie bieten dann ihren BewohnerInnen innerhalb des Lebensbereichs Wohnen die notwendigen Voraussetzungen für eine gelingende eigenverantwortliche Lebensgestaltung unter den Bedingungen der nachmodernen Gesellschaft, zur Wahrnehmung ihrer Bürgerrechte und Grundfreiheiten und zur Ermöglichung möglichst umfassender Teilhabe und der ihnen gemäßen Formen der Teilgabe am Gemeinwesen. Gelingt es, durch sich entwickelnde Anerkennungsverhältnisse im institutionellen Raum der Wohneinrichtungen die Andersheit von Menschen mit geistiger Behinderung in ihrer Einmaligkeit und Besonderheit als Bereicherung und besondere Ressource und gleichwertige, eigenständige Lebensform anzuerkennen und wertzuschätzen, dann scheint die Hoffnung begründet, dass die Wohneinrichtungen diese Sicht auch in die Umgestaltung der Gemeinwesen zur „EnablingCommunity“ einbringen und damit einen wichtigen Schritt zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention tun können. Die postulierte Offenheit dieses Prozesses bedeutet aber auch, dass er nie abgeschlossen werden kann – das ergibt sich schon aus der Tatsache, dass das Prinzip „Anerkennung“ den Charakter eines kontrafaktischen Ideals trägt, das es anzustreben gilt, obwohl es nie vollständig zu erreichen ist. Im lebensweltlichen Alltag der Wohneinrichtungen wird die Ausrichtung am Prinzip „Anerkennung“ deshalb immer auch „Kampf um Anerkennung“ bedeuten – sowohl strukturell als Fortentwicklung der Anerkennungsverhältnisse als auch interaktional als anerkennendes Verhalten im sozialen Nahraum. Auf diese dynamische, prozesshafte Weise können die Wohneinrichtungen den Erwartungen ihrer institutionellen Umwelten gerecht werden, wobei als ständige Herausforderung die Bewältigung der Ansprüche der technischen Umwelt nach Effizienz und Effektivität bleiben wird. Das daraus resultierende Spannungsfeld wird sich angesichts der hohen Neuverschuldung des Bundes, der Länder und Kommunen als Folge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise und den damit verbundenen Sparzwängen in den nächsten Jahren weiter verstärken und Lösungsstrategien der Wohneinrichtungen erfordern. Der kategoriale Zugang der Arbeit zu der gewählten Thematik führte zu einem beachtlichen heuristischen Gewinn. Mit Hilfe der Modelle und Kategorien lassen sich die überaus komplexen gesellschaftlichen und institutionellen Prozesse, Widersprüchlichkeiten und Zusammenhänge auf einer höheren Abstraktions-
5.3 Fazit und Perspektiven
325
ebene erfassen und in ihren Wirkungsweisen besser verstehen. Daraus können grundsätzliche Aussagen bezüglich der Möglichkeiten, Voraussetzungen und Verläufe institutionellen Wandels der Wohneinrichtungen abgeleitet und plausible Annahmen begründet werden1. Es ist jedoch nicht möglich und auch nicht anzustreben, damit exakte Prognosen für künftige Entwicklungen – z. B. bezüglich der Zeitpunkte, Verläufe und Ergebnisse institutionellen Wandels – zu erstellen. Allerdings sollten die in der Arbeit eröffneten analytischen Perspektiven in der lebensweltlichen Wirklichkeit der Wohneinrichtungen mit ihren BewohnerInnen notwendigerweise eine weitere Präzisierung erfahren und durch empirische Forschungen bestätigt werden. Durch die Einbeziehung soziologischer Deutungstheorien und neoinstitutionali- stischer Ansätze in die Bearbeitung einer sonderpädagogischen Thematik wurde im Rahmen vorliegender Arbeit – erstmalig in dieser Form – der Anschluss zwischen Soziologie, Organisationstheorie und Sonderpädagogik hergestellt. Damit soll einerseits ein Anstoß für die Aufnahme und Fortführung notwendiger Fachdiskurse zwischen diesen Professionen gegeben, andererseits der Weg für weiterführende interdisziplinäre Forschungen eröffnet werden2. Sonderpädagogik würde ihrer Doppelfunktion als Reflexions- und Handlungswissenschaft gerecht, wenn sie einen gemeinsamen sonderpädagogischen Diskurs mit Soziologie, Organisationstheorie und Sozialpsychologie zur gegenseitigen Anregung, Korrektur und Ergänzung eröffnen würde, um der Komplexität der Problemlagen, in die die Arbeit unter Einbeziehung dieser Professionen einführt, entsprechen zu können. Schwerpunkte eines solch weiterführenden interdisziplinären Diskurses mit den daraus resultierenden Forschungsprojekten wären
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Konkrete Untersuchungen zu den Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels auf die Lebenslagen, die Lebenschancen3 und die Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung und die daraus resultierenden neuen Hilfebedarfe dieses Personenkreises4, Untersuchung der Identitätsentwicklung erwachsener Menschen mit geistiger Behinderung unter den Bedingungen nachmoderner westlicher GesellVgl. CSIGÒ (2006). Sinnvoll wäre es, in die erforderlichen weiterführenden theoretischen und empirischen Forschungen das gesamte System der Behindertenhilfe einzubeziehen. Vgl. dazu den von RALF DAHRENDORF entwickelten Ansatz (DAHRENDORF, 1979). Im Rahmen der Arbeit wurde der gesellschaftliche Wandel nur aus Sicht einer einzigen soziologischen Deutungstheorie diskutiert, ein interdisziplinärer Diskurs sollte dagegen möglichst alle relevanten soziologischen Deutungstheorien einbeziehen, um sich dadurch der gesellschaftlichen Wirklichkeit weiter anzunähern.
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1 2 3
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5 Zusammenfassung und Ausblick
schaften; Folgerungen für die Konzipierung notwendiger Leistungsangebote zur Unterstützung ihrer Identitätsarbeit, Adaption der bildungstheoretischen Überlegungen STOJANOVS im Rahmen einer Pädagogik der Anerkennung für die Konzeptionierung von Bildungsangeboten für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung, Untersuchung des Zusammenhangs zwischen lebenslanger Bildung als Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung im Sinne STOJANOVS einerseits und individueller Identitätsentwicklung und Identitätsarbeit andererseits, Weiterführung der Auseinandersetzung mit dem Prinzip „Anerkennung“ aus sonderpädagogischer Perspektive; Reflexion der mit einem „Kampf um Anerkennung“ (HONNETH), mit Fragen der „Umverteilung“ (FRASER) und der „Gesellschaftlichen Gerechtigkeit“ (MARGALIT) verbundenen Folgerungen für Menschen mit geistiger Behinderung, Fortentwicklung der zentralen sonderpädagogischen Leitkonzeptionen1 unter der Prämisse des Prinzips „Anerkennung“ und der Berücksichtigung der sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen2, Entwicklung neuer sonderpädagogischer Leistungs- und Bildungsangebote entsprechend der veränderten Hilfebedarfe und Ansprüche Erwachsener mit geistiger Behinderung in der Nachmoderne unter besonderer Berücksichtigung Komplexer Behinderungen3, Untersuchung der verschiedenen Institutionalformen professioneller Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung unter besonderer Berücksichtigung der Überlegungen MARGALITS zur institutionellen Demütigung; Ableiten entsprechender Schlussfolgerungen zur Schaffung struktureller und interaktionaler Anerkennungsverhältnisse innerhalb dieser Institutionen, Weiterführung der Untersuchungen des Wandels der Institutionen der technischen und institutionellen Umwelten der Wohneinrichtungen bzw. der Institutionen des Systems der Behindertenhilfe insgesamt4; Ableiten entsprechender Schlussfolgerungen für die Fortentwicklung der Organisationen und Institutionen der Behindertenhilfe und Besondere Beachtung sollten dabei Lebensqualitätskonzeptionen und Konzepte der Sozialraumorientierung finden. Besondere Bedeutung haben dabei kompetenzorientierte Ansätze, Lebensqualitätsansätze, Ansätze der Gemeinwesen- und Sozialraumarbeit sowie Konzepte inklusiver Gesellschaften. Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag FORNEFELDS, mit dem Fähigkeiten-Konzept NUSSBAUMS („capabilities approach“, NUSSBAUM, 1999), ergänzt durch die phänomenologische Bildungstheorie STINKES (vgl. STINKES, 2008) die Bildungs- und Unterstützungsansprüche von Menschen mit Komplexer Behinderung zur Geltung zu bringen (vgl. FORNEFELD, 2008, S. 170-183). Vgl. auch die Kritik GRÖSCHKES an NUSSBAUMS Ansatz (GRÖSCHKE, 2000, S. 138). Dabei könnte z. B. an die Untersuchungen NEUMANNS (2005) angeknüpft werden.
5.3 Fazit und Perspektiven
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Weiterführung der Untersuchungen zur Persistenz und zum Wandel von Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung auf Grundlage neo-institutionalistischer Ansätze; Ableiten entsprechender Schlussfolgerungen für die Konzipierung und Realisierung von Re-Institutionalisierungsprozessen dieser Einrichtungen1.
Für empirische Untersuchungen sollten geeignete regionale Wohneinrichtungsverbünde mit stationären und ambulanten Wohnangeboten ausgewählt werden. Zu hohem Erkenntnisgewinn würden dabei z. B. Forschungen mit folgenden Schwerpunkten führen:
die Untersuchung der konkreten Gestaltung institutioneller Strukturen unter der Maßgabe des Abbaus institutioneller Demütigungen, der Schaffung von Anerkennungsverhältnissen und der Entwicklung der Einrichtungen zu „Enabling-Räumen“, Untersuchungen zur Konzeptualisierung und Realisierung institutioneller Lernprozesse mit dem Ziel einer Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtung und Untersuchungen zur Entwicklung und Umsetzung von Strategien der Wohneinrichtung zur Mitwirkung an der Umgestaltung des umgebenden regionalen Gemeinwesens zu einer inklusiven Gesellschaft.
Mit dem Konzept der Re-Institutionalisierung der Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung als Gegenentwurf zur Auflösung der Institutionen des Wohnens durch radikale De-Institutionalisierungsmaßnahmen kann die De-Institutionalisierungsdebatte der Sonderpädagogik in ihrer bisherigen Form beendet und durch den mit vorliegender Arbeit angestoßenen interdisziplinären Diskurs in völlig neuer Weite, Offenheit und Qualität fortgeführt werden.
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Die Besonderheiten der verschiedenen Institutionalformen des Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung mit ihren unterschiedlichen Strukturen, ihren stationären und ambulanten Angeboten sollten dabei aus neo-institutionalistischer Sicht zunächst differenziert untersucht und beurteilt werden, um daraus die notwendigen Empfehlungen für Re-Institutionalisierungen ableiten zu können.
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