BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 14
RÜCKKEHR INS SONNENSYSTEM von Michael Marcus Thurner
Die irdischen A...
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 14
RÜCKKEHR INS SONNENSYSTEM von Michael Marcus Thurner
Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis verschlägt es in eine düstere Zukunft, in der die Menschen Erinjij genannt werden. Die Gestrandeten geraten zwischen alle Fronten und schließen sich mit dem Außerirdischen Darnok zusammen. Als sie von Erinjij-Raumschiffen gejagt werden, können sie mit knapper Not in den Aqua-Kubus flüchten. Dort finden sie ein Artefakt, das auf die ominösen Sieben Hirten zurückzugehen scheint: ein gewaltiges, rochenförmiges Raumschiff. Ihnen gelingt die Inbesitznahme, und sie taufen es RUBIKON II. Mit diesem Schiff gelingt ihnen die Flucht aus dem Kubus. Aber die beiden GenTecs Jarvis und Resnick verschwinden an Bord. Wenig später verkündet Darnok das Ergebnis einer Untersuchung vor ihrem Verschwinden: Ihre Zellen sind irreparabel geschädigt. Als die Schiffbrüchigen Cy und Algorian aufgefunden werden, trennen sich die Wege Darnoks und der Menschen vorübergehend. Er erklärt sich bereit, die beiden Botschafter des Friedens zur Zentralwelt der Allianz CLARON zu bringen, denn die Völkergemeinschaft muss über ein geplantes Komplott der Jay'nac informiert werden.
Gleichzeitig bricht die RUBIKON II auf, um die verlorene Erde mit den von Darnok erhaltenen Koordinaten wiederzufinden. Eine Erde der Erinjij der Geißel der Galaxis...
Prolog Der münzgroße Gegenstand, auf der geöffneten Innenfläche von John Clouds Hand ruhend, schien lautlos zu explodieren. Das Hologramm, das sich entfaltete, gab den Umrissen zufolge eindeutig die RUBIKON II wieder. »Eine Art dreidimensionale Aufrisszeichnung«, sagte Scobee. Es klang nicht wirklich überrascht. Darnok hatte es angekündigt. Eine Karte des Rochenschiffs hatte er John Cloud vor der Abreise mit Cy und Algorian versprochen. »Nach dem vorübergehenden Zusammenbruch der Türtransmitter hatte er Gelegenheit, das Schiff vollständig mit Nanosonden zu kartographieren – zumindest jene Bereiche, in die diese Mikromaschinen gelangen konnten«, erläuterte Cloud, was Darnok selbst ihm anvertraut hatte. Inzwischen waren die Türtransmitter wieder von der ominösen Schiffsinstanz, mit der Cloud bereits mehrfach in Kontakt gestanden hatte, aktiviert worden. Die Transmitter verschleierten den wahren Aufbau der RUBIKON. Darnoks Karte hingegen... »Sie kann nicht stimmen«, sagte Scobee unvermittelt. Auch Cloud waren die Diskrepanzen aufgefallen. »Nein«, nickte er. »Offenbar wurden seine Sonden getäuscht. Die RUBIKON müsste...« Sie stockte. Die Faszination, die von dem Hologramm ausging, brachte sie vorübergehend zum Verstummen. Vielleicht war es aber auch der Gedanke, der genau so auch Cloud in diesem Moment beschäftigte. »Und wenn es doch wahr ist?« »Du müsstest es am ehesten wissen.« Sie schüttelte sich, als könnte sie damit die Beklemmung loswerden, die ihr plötzlich
als dumpfer Druck auf der Brust lastete. »Niemand hat so engen Kontakt zum Schiff wie du.« Sie hatte Recht – auf eine Weise. Und doch wiederum nicht. Denn die Kapriolen des geborgenen Artefakts, das er in Gedenken an ihr ehemaliges Marsschiff auch RUBIKON getauft hatte, waren unberechenbar – und er war weit davon entfernt, es wirklich zu beherrschen, zu kontrollieren. Wie benommen starrte er auf das Hologramm, das eine RUBIKON wiedergab, wie Darnok sie vermessen hatte. Es konnte nicht stimmen, konnte nicht. Hätte die »Karte« zugetroffen, wäre der Rochen... zehn-, nein hundertmal größer gewesen, als sein Äußeres es bezeugte! Eine Stadt, dachte Cloud. Darnok hat uns den in eine Unzahl von Subebenen unterteilten Plan einer Stadt hinterlassen – keines Raumschiffs. Aber die äußere Silhouette entsprach exakt der der RUBIKON. Und es gab auch wenig Zweifel, dass die Sonden dieses Schiff und keinen anderen Ort vermessen hatten... »Ein Rätsel mehr«, urteilte Scobee. »Ich denke nicht, dass wir uns daran verbeißen sollten. Fragen wir Darnok, wenn wir ihn wiedersehen. Vielleicht ist ihm beim Erstellen des Hologramms ein schlichter Kopierfehler unterlaufen.« »Das glaubst du wirklich?« Sie antwortete nicht. Wie sie betrachtete Cloud das Hologramm mit zunehmender Faszination und Sorge. Nein, es konnte und es durfte nicht stimmen. Sie hatten auch so schon Probleme genug. Die Erde. Sie waren unterwegs zu Erde – nach Tagen und Wochen der Trennung von ihr... ... die hier und jetzt real Jahrzehnten oder Jahrhunderten entsprachen!
Darnok hatte sie in eine ungewisse Zukunft entführt, und all ihr Streben galt der Enträtselung der beiden wichtigsten Fragen: Wie weit in der Zukunft waren sie gestrandet? Und wie stellte sich heute die Situation auf der Erde dar? Der Erde der Erinjij...
1. Der Junge namens John Cloud war knapp sechs Jahre alt, als ihn sein Vater mit an Bord eines kleinen Sportfliegers nahm. Es war ein vorverlegtes Geburtstagsgeschenk, denn Nathan Cloud würde in Bälde zu einer langen, weiten Reise aufbrechen, wie er seinem Sohn erklärte. Die rüttelnde, schüttelnde Kiste erhob sich zögerlich vom Boden des Krautackers, schoss dann, vom Vater gelenkt, steil in das Blau des Himmels hinauf, und schwebte schließlich mehrere hundert Meter über der Erdoberfläche sanft, scheinbar vom Wind getragen, dahin. John blickte hinab, bewunderte den Flickenteppich aus gelben, braunen und grünen Äckern. Er lachte und jauchzte, schrie seinen Übermut in die Welt hinaus. Den beiden kleinen Punkten, Mutter und Großmutter, winkte er zu. Sie standen am Rand des Flugfeldes. Unbesiegbar war er, der Herr über Boden und Lüfte. Von der Mitte seines Körpers aus breitete sich eine Wärme, eine Hitze immer weiter aus. Es war schiere Freude, schiere Lust am Leben. Ein Glücksgefühl, das John Cloud bis heute festhielt. Nein. Ein Gefühl, das ihn bis heute festhielt. *
»Wie fühlst du dich, wenn du in diesem Ding sitzt?« »Hm?« Clouds Gedanken kehrten nur langsam in die Gegenwart zurück. Der Sarkophag... wie er ihn nannte. Jener ominöse Steuersitz des Raumschiffes, den Scobee gerade »Ding« genannt hatte. Weil sie ihn nicht mochte. Weil er ihr mehr als suspekt war. Es gab sieben identisch aussehende Sitze, die auf einem leicht erhöhten Podest standen. Krreisförmig waren sie angeordnet, mit Blickrichtung nach innen. Ein simpler Steuermechanismus, den er mit der linken Hand betätigte, drehte den Sarkophag nach außen, und er sah nur noch die Schwärze des Weltraumes vor sich. Die Wände und der Boden der Steuerzentrale waren transparent und bewirkten einen ähnlichen Effekt wie den, den sie bereits im ÄskulapSchiff kennen gelernt hatten. Das menschliche Auge weigerte sich, das Stehen – beziehungsweise Sitzen – in der Luft zu akzeptieren. Ein stetes Gefühl des Fallens machte sich immer noch in seiner Magengegend breit, und nur langsam gewöhnte sich Cloud an den Blick in die Unendlichkeit. Scobee stand rechts vom offenen Sarkophag, und mit einer zögerlichen Bewegung reichte er ihr die Hand. Cloud benötigte etwas Vertrautes, an dem er sich festhalten konnte. Und an dem antwortenden, starken – fast zu intensiven – Händedruck der Frau erkannte er, dass sie ähnlich empfand wie er. Scobee sah ihn an, auffordernd. Es wurde ihm bewusst, dass er ihr noch eine Antwort schuldete. »Es ist eine Mischung aus Euphorie, Machtbewusstsein und gleichzeitig Angst«, sagte er und erwiderte ihren Blick. Cloud bemerkte, dass seine Stimme heiser war und leicht schwankte. »Angst?«, fragte Scobee. Ihr Händedruck ließ nach. »Angst, bei all deiner Machtbefugnis über die neue RUBIKON, dieser
gewaltigen Offensivbewaffnung und dem Schutzschirm, der scheinbar jedem Gegner Paroli bieten kann?« Sie sprach all das an, was er in den letzten Tagen und Stunden herausgefunden hatte. »Es ist nicht nur das Schiff, das mich erschreckt.« Er zögerte kurz. »Ich befürchte, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Auch wenn mich SESHA... oder die RUBIKON, wie wir sie nennen, als befugt einstuft – wer sagt mir, dass mein Geist nicht zu klein ist für all die Möglichkeiten, die sie bietet?« Scobee hob eine Augenbraue. Die irisierenden Tätowierungen tanzten schemenhaft mit. Gleichzeitig ließ sie seine Hand endgültig los. »Und das sagt ausgerechnet einer der bestausgebildeten Piloten der Erde, der mit so viel Selbstbewusstsein ausgestattet ist, dass eine ganze amerikanische Regierung davon zehren könnte?« Cloud zog die Stirn in Falten. »Du vergisst, dass es in der Zeit, in der wir uns befinden, wahrscheinlich gar keine amerikanische Regierung mehr gibt. Und dass ich, wenn ich wollte, ganze Städte und Kontinente der Erde in Schutt und Asche legen könnte. Die Verantwortung macht mir Angst, Scob.« Er seufzte. »Doch was sollen die trüben Gedanken.« Cloud stand auf. Die Rundumsicht auf das Weltall machte übergangslos nüchternen, hellgrauen Wänden Platz. »Wollen wir etwas essen?«, fragte er die Frau. »Etwas bedeutet wohl nur, dass es reich an Kohlehydraten, Mineralien und Vitaminen ist, nicht wahr?« Scobee verdrehte theatralisch die Augen, und wieder erzeugten die tätowierten Brauen einen irritierenden Effekt. »Darnok hat es sicher nur gut gemeint, als er uns genau auf unsere rein metabolischen Bedürfnisse zugeschnittene Nahrung – Nahrungskonzentrate – hier ließ. Aber etwas Echtes... Handfestes, wäre mir bedeutend
lieber. Dagegen war der vergorene Obstbrei auf Kalser ja eine Delikatesse.« »Wir können froh sein, dass wir überhaupt etwas zu kauen haben«, antwortete Cloud schmunzelnd. * In sieben Tagen, von denen bereits drei vergangen waren, sollten sie Darnok, den Letzten aus dem Volk der Keelon, am äußersten Rand des Sonnensystems wieder treffen. Der Herzförmige, der durch die Zeit gleiten konnte, hatte sich verpflichtet gefühlt, die beiden Schiffsbrüchigen Cy und Algorian zur Schlüsselwelt der Allianz CLARON zu bringen, damit sie über ein ungeheures Komplott der so genannten Anorganischen Bericht erstatteten. Darnok, der Zeitreisende. Die Allianz CLARON mit den sechs Hauptvölkern, den Ceyniden, Laschkanen, Aorii, Rogh, Ovoaner und Neeg. Cy, der Botschafter, der vorübergehend die Bewusstseinskopien ihrer Führer in sich aufgenommen hatte. Die Anorganischen, allen voran die Jay'nac, die eben jene Bewusstseine unter Kontrolle hatten bringen wollen und gebracht hatten. Erinjij. Die Menschen der Zukunft, in der sich John und Scobee offensichtlich befanden, und die die gesamte Milchstraße in Angst und Schrecken versetzten. Künstliche Wurmlöcher. Aqua-Kubus. Die Nargen. NanoTechnik. Die Vaaren. Weltraum-Schlachten... Die Eindrücke, Erlebnisse und Begriffe der letzten Wochen vermengten sich zu einem Potpourri, das seinen Verstand schier erdrücken wollte... Es wird einfach zu viel!, dachte Cloud. So viel Neues und Unbekanntes... Ich bin doch nur ein einfacher Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Er
atmete tief durch und konzentrierte sich. Nur die Ruhe, nur die Ruhe. Immer einen Schritt nach dem anderen. Oberste Priorität hatte momentan die Heimkehr ins Sonnensystem und die Erforschung der dortigen Verhältnisse. In welchem Jahr befanden sie sich? Wie sah die Erde heute aus? Warum trachteten die Menschen der Zukunft danach, die Völker der Milchstraße in einen galaxisumspannenden Krieg hineinzuziehen? Fragen über Fragen. Seufzend schob Cloud die letzten Reste des Nahrungsbreis beiseite. Scobee, die ebenfalls zu Ende gegessen hatte, stand auf und streckte ihren attraktiven Körper. »Ich möchte mich weiter mit dem Schiff beschäftigen und wieder in den Sarkophag steigen«, sagte Cloud zu seiner letzten verbliebenen Schicksalsgefährtin. »Kommst du mit zurück in die Zentrale?« Sie schüttelte heftig den Kopf, so dass die dunklen Haare nach allen Richtungen wehten. »Nein, danke. Ich möchte mich ebenfalls um die Geheimnisse des Schiffes kümmern – indem ich es weiter begehe und untersuche.« »Was glaubst du zu finden?« »Dasselbe wie du. Antworten«, sagte sie lapidar. Cloud zögerte. Sollte er sie bitten, bei ihm zu bleiben? »Ist in Ordnung«, meinte er schließlich. »Ich bitte dich aber, nach spätestens fünf Stunden an den Sarkophag zu klopfen. Zeit bekommt in diesem Steuersitz eine andere Bedeutung.« Sie nickte lächelnd und ging mit geschmeidigen Schritten davon. *
Vorsichtig ließ sich John Cloud in die Mulde des Sarkophags gleiten. Er nahm dabei eine Position zwischen Liegen und Sitzen ein, die er keinesfalls als unangenehm empfand. Er schloss kurz die Augen und spürte, wie sich etwas änderte. Wie sich ein Kontakt schloss, eine Verbindung herstellte – und Halt um ihn herum auf baute. Als säße er in einem Behälter, der mit einer zähen Masse ausgegossen wurde, die rasch härtete. Kopf, Hände und Füße blieben davon jedoch unbetroffen, behielten ihre volle Bewegungsfreiheit. Dann spürte er, wie Elektrizität seine Fingerkuppen umtanzte. Gewöhnt hatte er sich an all dies noch lange nicht. Spielerisch probierte er die unglaubliche Steuerung der RUBIKON aus. (Sesha, hallte es in den tiefsten Winkeln seines Denkens.) Seine Finger berührten »Punkte«, die nur als Projektion zu existieren schienen. Und die dennoch »schaltbar« waren. Als er die Augen öffnete, war er von der »Außenwelt« isoliert. Der Sarkophag hatte sich geschlossen. Seine Sinne schienen auf eine andere Ebene zu wechseln, und gleich würde er sehen. SEHEN. In einer Form, die wenig Menschliches an sich hatte. Jetzt, dachte Cloud, und übergangslos spürte er die unbegreifliche Kälte, die ihn umgab. Ihn, das Schiff. * Im Schmiegschirm, der in Flugrichtung leicht verstärkt war, blitzte permanent vergehende Materie auf und kitzelte seine Bauchmuskeln. Kleine Kometen oder Asteroiden. Tote Gesteinsbrocken, die es nicht wert waren, ihnen auszuweichen. Tausendfache Augen sahen weit voraus; seine Blicke aus grenzenlos scharfen Objektiven durchdrangen Sternennebel,
sondierten vorausschauend kollabierende Sternenhaufen und kannibalisierende Gestirne. Ein leichtes Zucken mit den Fingern, die er als Flügelspitzen empfand und mit majestätischer Erhabenheit glitt er/das Schiff in Respektabstand an einer Supernova vorbei. Er/das Schiff spürte das Ziehen, Brennen, Zerren der Sterne, die ihn aus der Flugbahn reißen wollten. Doch es waren immer nur mühelose Bewegungen, kleine Schlenker, halb unbewusst, mit denen er/das Schiff an möglichen Gefahrenherden vorbeilenkte. Er, John Cloud, empfand es wie Motorradfahren. Leichte Gewichtsverlagerungen reichten vollends, um ihn/das Schiff auf sicherem Kurs zu halten. Kraft, unbändige Macht, niemals versiegend, strömte aus seinem Leib und trieb den Körper/das Schiff an. Schneller, flinker, geschickter, immer waghalsiger, immer mutiger, immer riskanter... »John, es ist Zeit...« Eine weite Schleife noch. Haarscharf, keine zwanzigtausend Kilometer am sterbenden Braunen Zwerg vorbei, eine Schraube hinab ins Leere, sich fallen lassen, mit einer lässigen Korrektur des Fingers/des Flügels den vermeintlichen Sturz abfangen und... »John! Komm zu dir!« Gleich, nur noch das Schwarze Loch umkreisen, seine Anziehung ausnutzen und sich hinausschleudem lassen. Dort unten, das kleine System mit den vier nackten Planeten, es lockte ihn/das Schiff an... Etwas verdeckte seine Sehorgane, etwas erschütterte seinen Leib. Er/das Schiff wurde angegriffen. Er/das Schiff spürte Schmerz. Nein! Nicht das Schiff. Er.
Der Mensch, John Cloud. Er fühlte den Griff des anderen Menschen. Der Frau. Scobee. Sie umklammerte seine rechte Hand und schlug ihm ins Gesicht. Er öffnete die Augen – und spürte die Kraft und die Macht des Schiffskörpers schwinden. Er war wieder alleine. * Scobees Spaziergänge (1) Längst war Scobee klar geworden, dass eine besondere Wechselbeziehung zwischen dem Schiff und John bestand. Ihr ehemaliger Commander konnte dank seiner Willenskraft Teile der RUBIKON umgestalten. Jedes Mal, wenn er in seinem Sarkophag versank und in die Struktur des Schiffes eindrang, veränderte sich etwas. Es war eine besondere Art der Wechselwirkung, die hier stattfand, und möglicherweise war dies auch Ausdruck eines Ringens um die endgü ltige Befehlsherrschaft. Raumanordnungen änderten sich so, dass Scobee zusehen konnte. Ein Flirren schwarzer Partikel lag dann in der Luft, als ob sich Materieteilchen aus der Bausubstanz lösten und woandershin gruppierten. Die Farbgebung der Räume war eine weitere Auswirkung von Johns Gestaltungswillen. War er gut gelaunt und hatte ein einigermaßen akzeptables Auskommen mit dem Schiff, dann herrschten sanfte Pastelltöne vor, die Ruhe und Ausgeglichenheit ausstrahlten. Kehrte er mürrisch und erschöpft aus einer Steuerungssequenz in sein Wachbewusstsein zurück, so konnte Scobee fast sicher sein, dass rot, schwarz oder monochrome Farben vorherrschen würden.
Egal wie – sobald John aus seinem Steuersitz aufstand, musste Scobee auf Überraschungen aller Art gefasst sein. Eine durchaus unangenehme Situation. Denn Cloud nahm die Änderungen wie selbstverständlich hin, während sie sich jedes Mal von Neuem auf die Gegebenheiten einstellen musste. War der Commander überhaupt noch Herr seiner Sinne? Hatte ihn das Schiff nicht schon längst umgedreht? Und wenn ja – welchen Zweck verfolgte die RUBIKON damit? Ein riesiger Berg voller Fragen türmte sich vor der GenTecFrau auf, und kaum einmal erhielt sie eine vernünftige Antwort... * »Acht Stunden, sagst du? Warum hast du dich nicht eher bemerkbar gemacht?« »Das habe ich versucht, John!« »Hmph.« Cloud atmete seufzend aus. Er betrachtete sein Spiegelbild in einem der chrompolierten Kästen, die überall scheinbar sinnlos herumstanden. »Du musst aufpassen, John«, sagte sie sanft. »Wir Menschen sind möglicherweise nicht... reif genug, um dieses Schiff steuern zu können.« »Ich muss vorsichtiger sein, du hast Recht. Ich muss darauf achten, dass ich mein Ego nicht verliere, sobald ich in die Steuerung eintauche. Aber ich glaube, dass mir die RUBIKON helfen will. Ich spüre, dass sie mich lehrt. Sie erkennt, dass ich mit den Bedienungsmechanismen noch nicht gut genug vertraut bin, und lässt mich deswegen Planspiele durchführen.« »Ist da nicht der Wunsch Vater des Gedankens?« Scobee blickte ihn zweifelnd an. »Nein, nein«, antwortete er rasch. Vielleicht ein wenig zu rasch, um aufrichtig zu klingen. Doch Scobee erwiderte nichts darauf.
»Der letzte Gedanke, bevor du mich von der RUBIKON trenntest, war, ein ganz bestimmtes System in der Nähe anzufliegen. Eine sterbende Sonne mit vier kleinen Begleitern. Es scheint so, als ob die RUBIKON dort meine weiteren – ich meine: ihre – weiteren Systeme testen wollte.« »Und du möchtest auf diesen... Wunsch des Schiffes eingehen?« »Ich denke schon. Es kann nur von Vorteil sein, wenn ich alle Funktionen in- und auswendig kenne. Solange du bei mir bist und mich – notfalls mit Gewalt – aus dem Schiffsbewusstsein trennen kannst, sehe ich keine große Gefahr.« »Ist das eine Generalvollmacht?« »Selbst dann.« Er sah ihr lange und tief in die Augen. Ernst. Scheinbar todernst. Dann lachte er schallend.
2. Cloud und Scobee hatten sich eine kurze Ruhepause auferlegt, während sich die RUBIKON selbstständig dem kleinen Sonnensystem näherte. »Marbles«, sagte der Mann leise. »Wie bitte?« »Ich habe das System getauft. Sehen die Planeten denn nicht wie vier bunte Murmeln aus?« Der innerste Planet, eine Gluthölle für menschliche Begriffe, leuchtete hellrot. Die weiter außerhalb stehenden reflektierten das Licht ihrer Sonne gelb, braunrot und schwarz. Wie eine Perlenkette lagen sie, hintereinander aufgereiht, in einer scheinbar zufälligen Konstellation.
Wenn Cloud den Angaben der RUBIKON Glauben schenken durfte, waren dies die Echtfarben. Er saß wieder in seinem Sarkophag, war aber noch nicht vollends in das Bewusstsein des Schiffes eingetaucht. Cloud spürte zwar ein ungeduldiges Ziehen und Zerren, doch empfand er es keinesfalls als unkontrollierbar. »Du weißt, was du zu tun hast?«, fragte er seine Begleiterin. »Nach vier Stunden holst du mich zurück. Komme, was wolle.« »Komme, was wolle«, wiederholte Scobee lapidar. Cloud wurde wiederum zum Schiff. Er streckte seine »verlängerten« Finger aus, ergriff die vier Planeten und deren Sonne und vermaß sie. Für ihn fühlte es sich an, als ob er Äpfel und Birnen wiegen würde, während gleichzeitig endlose Datenberge in seinem unglaublich großen Schiffshirn eintrafen. Nach wenigen Momenten – so erschien es ihm wenigstens – konnte er bereits ein Urteil fällen. Wertlose Gesteinshaufen, ohne einen besonders großen Anteil an Mineralien und Erzen, dachte er. Die Sonne wird in 266.883,44 Erdjahren kollabieren. Kein großer Verlust fürs Universum, wenn ich... War das tatsächlich er, der so urteilte? Oder suggerierte ihm die RUBIKON diese Gedanken? Es war seltsam. Manchmal floss Cloud das Wissen um die Vorgänge im Schiff einfach zu. Ein anderes Mal benötigte er die Dialogform mit der RUBIKON, um mit den Datenmengen zurechtzukommen. Sein Körper, der Schiffskörper, streckte und reckte sich, als ob er nun erst endgültig zum Leben erwachte. Ungeahnte Energien wurden aus unsichtbaren Quellen abgezapft, stauten sich in einem gigantischen Sammelbecken, das sich rasend schnell füllte.
Er/das Schiff flog mit wenigen hundert Sekundenkilometern durch das System, blickte den äußersten, den schwarzen Planeten an – und öffnete den Mund zu einem Schrei. Eine Energielanze schoss aus seinem Rachen. Feurig, heiß, den Tod mit sich bringend. Die schwarze Murmel, knapp fünftausend Kilometer im Durchmesser, fing auf der ihm/dem Schiff zugewandten Seite Feuer. Doch nur für wenige Momente. Felsbrocken, hundertmal so groß wie die RUBIKON, wurden aus der dunklen Hülle des Planeten gesprengt und stoben davon. Er/das Schiff verstärkte den Schmiegschirm leicht, um sich nicht unnötig zu gefährden. Er/das Schiff drehte ab, flog eine eng gezogene Kurve um die schwarze Murmel, und erneut schickte er/das Schiff eine energetische Lanze auf den Weg. Volltreffer! Und gleich noch einer, und noch einer! Jetzt eine ganze Serie kleinerer Pfeile, die er, wie mit dem Skalpell gesetzt, im Zickzack-Muster rund um die Murmel setzte. Immer größere Teile der Planetenoberfläche brachen weg, immer tiefer wurden die Wunden. Und noch immer warten drei weitere Murmeln zum Spielen. Dazu noch die Sonne! Waren das wirklich seine Gedanken? Seine, und nicht die der RUBIKON? John Cloud schloss seinen Mund. Spürte, wie das Schiff dagegen ankämpfte, ihn dazu bringen wollte, weiterzumachen. Sich nochmals aufbäumte, dem Menschen seinen Willen aufzwingen wollte. Doch mit all seiner geistigen Kraft blockierte er die Geschütze, reduzierte die Geschwindigkeit auf wenige Sekundenkilometer und beruhigte seinen Kreislauf. Oder den des Schiffes?
Ein letztes Mal öffnete er den Mund, eine letzte Energielohe drang hervor und verpuffte wirkungslos im Weltraum. Du wirst mir folgen lernen, dachte Cloud grimmig. Ich bin dein neuer Herr, von dir selbst akzeptiert. ERINNERE DICH. Und das Schiff – gehorchte. * Die Rückkehr in die Wirklichkeit erfolgte abrupt wie immer. Für wenige Momente überlappten sich die Sinneseindrücke des Schiffes und des Menschen. Dann war Cloud wieder er selbst. »Ich habe die RUBIKON unter Kontrolle«, sagte er triumphierend zu Scobee, die über ihn gebeugt stand. Mit einem weißen Tuch tupfte sie ihm vorsichtig Schweiß von der Stirn und blickte ihn besorgt an, nachdem der Sarkophag sich geöffnet hatte. »Es war grauenvoll, dir zuzusehen«, entgegnete sie. »Dein Körper verkrampfte sich immer mehr und fiel in eine muskuläre Starre, die ich selbst mit aller Gewalt nicht brechen konnte.« »Ach Unsinn, ich fühle mich ausgezeichnet...« Mit einem Ächzen ließ er sich zurück in den Sitz sinken. Weder Beine noch Hände gehorchten ihm, und der Bauch schmerzte wie nach stundenlangen Sit- ups. »Natürlich, ausgezeichnet«, wiederholte Scobee spöttelnd. »Ich würde mal sage n, dass du einen ausgeprägten Muskelkater hast. Kein Wunder, nach dieser Anspannung.« »Hilf mir hoch«, stöhnte Cloud, und mit ihrer Unterstützung gelang es ihm, sich aus dem Steuersitz zu erheben. Seine Beine fühlten sich wie Gelee an und trugen ihn kaum. Ein jeder Schritt schmerzte, selbst an Stellen, von denen er gar nicht wusste, dass dort Muskeln saßen. »Aber ich beherrsche die RUBIKON nun endgültig, Scobee. Sie wollte mich dazu bringen, einen nach den anderen der Planeten mit unseren Waffen zu vernichten. Oh, und glaube
mir, ich hatte die Kraft, es zu schaffen! Ich sog mich voll mit Energie und richtete sie gegen diesen erbärmlichen Klumpen...« »John...« »... öffnete meinen Mund und schoss...« »John!« »... sprengte ganze Gebirge aus der schwarzen Murmel...« »John! Du bist nicht mehr das Schiff!« »Wie bitte?« Er blickte sie verwirrt an. »Du hast der RUBIKON widerstanden. Ist es das, was du sagen willst?« »Ich...« »Du hast ihrem Wunsch, den Planeten zu vernichten, widersprochen und deinen Willen durchgesetzt.« »Nein... ja!« Scobee legte ihn auf eine schmale Liege in einem spartanisch eingerichteten Raum neben der Zentrale, zog ihm die einfache, weiße Kombination vom Leib und deckte ihn zu. »Du bist jetzt endgültig Commander und Besitzer dieses Schiffes, John Cloud von der Erde«, flüsterte sie und strich ihm die schweißverklebten Haare aus der Stirn. Binnen weniger Momente fiel er in einen todesähnlichen, traumlosen Schlaf. * Scobees Spaziergänge (2) Scobee nutzte jede freie Minute, um die RUBIKON auf eigene Faust zu erkunden. Mittlerweile war sie sich sicher, dass der Gestaltungskraft Clouds räumliche Grenzen gesetzt waren. In einem schmalen Streifen von etwa zehn Meter rund um die Zentrale konnte er die Substanz des Schiffes umändern, fast nach Belieben. Im so genannten Niemandsland – jenem Bereich, der daran angrenzte –, waren teilweise abstrakte, fast
absurde Formgebilde zu finden, in sich verbogen und von Schwindel erregendem Aussehen. Als ob zwei verschiedene Wesenheiten darauf Einfluss nehmen wollten. Und so war es wahrscheinlich auch; die RUBIKON weigerte sich ganz offensichtlich, die Oberherrschaft über ihren »Körper« kampflos herzugeben. Scobee nahm an, dass es beim Ringen um die geistige Oberherrschaft ähnlich aussah. Jeder Zentimeter, jede Handbreit musste von John Cloud immer wieder aufs Neue erobert werden. Je weiter sich die Frau von der Zentrale entfernte, desto klarer und nüchterner wurden die Strukturen. Monotonie beherrschte Gänge und Räumlichkeiten. Pure Zweckmäßigkeit stand im Vordergrund. Hier hatte die RUBIKON eindeutig die Obergewalt. Scobee konnte sich nicht helfen: Das Schiff stand ihr nach wie vor feindlich gegenüber. Sie hatte hier an Bord, und vor allem in den unbekannten Bereichen, nicht s zu suchen. Das spürte sie. Die RUBIKON bemühte sich, sie zu verwirren. Raumanordnungen veränderten sich stetig. Sie konnte immer wieder den gleichen Gang als Ausgangspunkt für ihre Erkundungen benutzen – jedes Mal traf sie auf neue Räumlichkeiten, Säle und Laboratorien unbekannter Art oder riesige Hallen... ... ob Darnoks Karte doch stimmte?
3. »Wir haben zwar Zeit verloren, doch wertvolle Erkenntnisse gewonnen«, schloss Cloud seine Ausführungen. Die Erholungsphase hatte nur wenige Stunden gedauert. Für seinen Geschmack war sie zu kurz gewesen.
Er gähnte. »Die Funktionsweise der Technik mag uns zwar für längere Zeit, wenn nicht gar für immer, ein Buch mit sieben Siegeln sein. Aber ich habe mir die Stellung als Befehlshabender erarbeitet. Oder besser gesagt: erkämpft.« Scobee ging nicht näher auf das Thema ein. Sie fragte: »Können wir noch rechtzeitig beim Treffpunkt mit Darnok sein?« »Ohne weiteres. Ich kann die Geschwindigkeit noch erhöhen.« »Bewegen wir uns eigentlich tatsächlich noch durch den Raum, oder durch ein anders gelagertes Kontinuum?« Scobee hüstelte unsicher. »Meinem Gefühl nach... oder dem des Schiffes nach... sind wir eindeutig im Normalraum verankert. Doch der Schmiegschirm hat neben seiner Defensivleistung auch noch eine andere Funktion, die ich, offen gestanden, nicht einmal in Ansätzen begreife.« »Und die wäre?« »Wir nehmen unsere eigene Zeit mit uns. Wir bewegen uns schneller als das Licht, lassen dabei alle physikalischen Gesetze hinter uns, beachten weder die Folgen der Zeitdilatation noch Masse- und Energieträgheit.« »Und du meinst, dafür sorgt der Schmiegschirm?« »Er hüllt uns in eine kleine Schutzblase, auf die die Gesetze und Kräfte des Universums keine Auswirkung haben.« »Und was ist, wenn...« »... wenn der Schutzschirm während der Reise versagt?« Cloud sah Scobee starr in die Augen. »Nun... es kann sein, dass es ganz mächtig ›Bumm‹ macht. Oder es macht nicht ›Bumm‹, und wir verschwinden einfach aus diesem Kontinuum. Der Endeffekt bleibt derselbe.« *
Zwei Tage später erklang der Alarm. Es begann mit einem Vibrieren, das sich in den Ohren unangenehm bemerkbar machte und sich schließlich zu einem diskant-schrillen Ton knapp an der Grenze zur Wahrnehmungsfähigkeit steigerte. John, der gerade lustlos in einem knallgelben Essensbrei herumstocherte, sprang auf und lief in die Zentrale. Scobee erwartete ihn. Verwirrt, doch gefasst. »Was ist los? Hast du etwas gemacht?«, fragte er sie. »Keineswegs. Ich blickte nur nach draußen, als der Piepston losging.« Sie griff sich an die Ohren. »Kannst du das nicht abstellen?« Ohne Antwort ließ er sich in seinen Sarkophag plumpsen und wurde eins mit dem Schiff. Er deaktivierte den Alarm mit einem beiläufigen Gedanken und fokussierte auf die nonverbale Meldung, die damit in Zusammenhang stand. Ein bekanntes Bild entstand. Das Sonnensystem mit seinen Planeten – und dem künstlichen Schwarzen Loch dort, wo einstmals der Jupiter gewesen war. So hatte er es der RUBIKON vor Beginn der Reise vermittelt. Er/das Schiff zoomte weiter nach draußen, wie mit einem Weitwinkel-Objektiv. Uranus, Neptun und schließlich Pluto mit seinem kleinen Betreuer Charon kamen ins Blickfeld. Beide waren unregelmäßig geformt und entsprachen so gar nicht Johns Empfinden vom Aussehen eines Planeten und seines Mondes. Es ging noch weiter hinaus, immer weiter... bis der Auslöser des Alarms in Sicht kam. Besser gesagt: die Auslöser. Routiniert befahl Cloud dem Schiff, die Geschwindigkeit auf Null zu drosseln und auf weitere Anweisungen zu warten. Er löste sich aus der gedanklichen Verbindung, blickte Scobee an und sagte: »Was weißt du von der Oortschen Wolke?«
Die Oortsche Wolke war nach einem niederländischen Astrophysiker benannt, der um die Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts eine plausible Erklärung für regelmäßig wiederkehrende Kometen gesucht – und gefunden hatte. Als vor 4,5 Milliarden Jahren die großen Planeten des Sonnensystems, Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun aus protoplanetaren Gesteinsmassen geformt wurden, nutzten sie bei weitem nicht alles zur Verfügung stehende Material. Viele größere und kleinere Brocken trieben eine schier unermesslich lange Zeitspanne auf den Umlaufbahnen der neuen Planeten, bis sie nach und nach durch deren gravitationalen Schwung aus dem Sonnensystem geschleudert wurden. Die meisten dieser Protomassen, die in ihren Kernen hauptsächlich aus gefrorenem Wasser, Methan und Ammoniak bestanden, verließen das Anziehungsfeld der Sonne endgültig. Lediglich geschätzte fünf bis zehn Prozent trieben von nun an auf extrem weit gestreckten, elliptischen Bahnen um das Muttergestirn. Jahrtausende, ja, Jahrzehntausende, benötigten sie für ihre Rundreise um die Sonne. Dabei beeinflussten sie sich gegenseitig oder kollidierten, formierten sich zu kleinen und größeren Grüppchen oder wurden auf grund der Beeinflussung durch interstellare Gaswolken beziehungsweise Sterne der näheren Umgebung des Sonnensystems in neue Umlaufbahnen gezwungen. Die Gesamtmasse der Objekte der Oortschen Wolke wurde Mitte des 21. Jahrhunderts auf hundert bis zweihundert Erdmassen geschätzt. Ein sehr geringer Wert, wenn man das Ausdehnungsgebiet der kugelförmigen Wolke in Betracht zog, das bis zu einskommafünf Lichtjahre von der Sonne wegreichte. Und doch wiederum ein sehr großer Wert, wenn man sich so wie die RUBIKON auf ungefährer Höhe der Neptun-Bahn dem Sonnensystem annäherte. Denn hier hatte die Oortsche Wolke
ihre stärkste Massekonzentration, die auch Kuiper-Gürtel genannt wurde. »Fünfzehn Milliarden Kometenkerne?« John Cloud war fassungslos. »Und ich rede nur von größeren Objekten. Jenen mit mehr als zwei Metern Durchmesser, bis zu solchen mit mehreren hundert Kilometern«, fuhr Scobee leidenschaftslos fort. »Natürlich sind die Lücken zwischen den einzelnen Objekten riesengroß, so dass unsere RUBIKON tausendfach durchpassen würde. Aber der Flug ist sicherlich unruhig, von endlosen Ausweichmanövern geprägt. Es sind immerhin noch fast zwei Lichtjahre bis zur Sonne, die wir lediglich mit extrem gedrosselter Geschwindigkeit zurücklegen können.« Sie zögerte. »Was hältst du davon, wenn wir den Einflugvektor ändern und eine weniger massive Stelle der Oortschen Wolke durchdringen?« »Hm, was bedeutet denn deiner Meinung nach weniger massiv? Glaubst du, dass wir, wenn wir in unserem Weg nur fünftausend statt fünfzigtausend Kometen und Gesteinsbrocken ausweichen müssten, wesentlich schneller vorankämen?« »Nein. Du hast Recht«, gab Scobee zu. »Was schlägst du also vor?« »Nun«, antwortete Cloud, »es sind noch mehr als sechsunddreißig Stunden Zeit, bis wir den Treffpunkt mit Darnok erreicht haben müssen. Wir haben die Leistungsfähigkeit des Schmiegschirms keineswegs ausgelotet – und, ehrlich gesagt, will ich's keineswegs auf die harte Tour probieren. Noch nicht. Ich meine also, dass wir uns langsam herantasten und sehen, ob wir so eine Art Einflugschneise finden können, die uns das Leben erleichtert.« »Und du willst die RUBIKON dabei steuern?« »Ja, das will ich. Das Schiff muss einen Grund gesehen haben, Alarm zu geben. Es will, dass ich den Flug übernehme.
Ich schätze, dass es mir wieder etwas beibringen möchte. Wahrscheinlich eine feinfühligere Steuerung.« »Kann ich diesmal mit dabei sein? Im Sarkophag neben dir?«, fragte Scobee. Cloud seufzte. »Haben wir das nicht bereits durchgesprochen? Ich benötige dich wach, als Absicherung, sollte etwas Unvorhergesehenes passieren.« »Darf ich dich daran erinnern, dass du noch vor wenigen Stunden behauptetest, du hättest die RUBIKON nun endlich und vollkommen unter Kontrolle?« »Ja, aber...« »Dass das Schiff auf den kleinsten deiner Befehle reagieren würde?« »Mag schon sein, aber...« »Dass es dir – und ich zitiere wörtlich – besser als jeder GenTec der Welt folgen würde?« »Ja... nein... aber... also...« »Dann sind wir uns wohl einig«, sagte sie mit seelenruhiger Stimme. Scobee nahm im Sarkophag neben Cloud Platz. * Scobee versank in Sobeks ehemaligem Sitz. Sobek. Ein Name, eine Vorstellung, die ihr ein Schaudern durch den Körper trieb. Cloud hatte ihr kürzlich eröffnet, dass dies Sobeks Platz sei – und sich danach nicht mehr an seine Äußerung erinnern können... wollen... wie auch immer! Sobek war laut Vaaren-Legende einer der ominösen Sieben Hirten gewesen, die von den Beherrschern des Kubus als QuasiGottheiten verehrt wurden.
Das Frösteln wich einem Hauch von Panik. Binnen zweier Atemzüge regulierte sie jedoch ihren Adrenalinhaushalt, so dass der Kreislauf wieder ruhig und stabil wurde. Scobee schloss die Augen. Konzentrierte sich, so wie es John empfohlen hatte, auf ihr Ich. Ein leises, feines Tasten war an ihrem Hinterkopf zu spüren. Etwas strich, weich wie ein Windhauch, die feinen Haare im Nacken hoch. Eine Gänsehaut bildete sich unvermittelt an ihren Armen. Sie spürte es, öffnete aber nicht die Augen. Kalibrierung abgeschlossen, flüsterte eine helle Stimme in irgendeiner Sprache, die sie rein instinktiv erfasste und verstand. Benutzer von Sitz vier passiv legitimiert. Beobachtungs- und Fühlstatus in drei, zwei, eins, null Zeiteinheiten aktiviert, Bedienungsstatus aufgrund mangelnder Voraussetzungen verweigert. Scobee versuchte, Ordnung in ihr Gedankenwirrwarr zu bringen und eine klare Frage zu formulieren. Verstehst du mich... Schiff?, dachte sie schließlich. Ich bin auf verbale und gedankliche Dialogsequenzen vorbereitet, kam die Replik. Warum habe ich nur eine... passive Nutzungs-Legitimation für das Schiff... für dich? Antwort verweigert. Es ist für mich wichtig, eine Antwort zu erhalten. Schweigen. Ablehnendes Schweigen. Dann plötzlich... ein Kontakt. * Scobee konnte Cloud nicht sehen, lediglich seine Präsenz spüren. Instinktiv verwandelte sie die Eindrücke, die sie von ihm vermittelt bekam, in ein Bild.
Es war das einer knorrigen Eiche mit frischen, kräftiggrünen Blättern, die sich in nahezu perfekter Form nach allen Himmelsrichtungen hin ausbreitete. Ein jeder Ast, den sie in ihren Gedanken berührte, stand für eine andere Eigenschaft, die der Mensch Cloud in sich trug. Sie spürte Zähigkeit. Mut. Kraft, die in sich selbst ruhte. Selbstvertrauen. Humor. Ein besonders kräftiger Ast mit Zärtlichkeit und... Liebe. Aber auch Misstrauen, Ängste, Hass, Vorurteile, Zynismus waren vertreten. Zwar in dünneren, teilweise kraftlosen Astarmen – doch sie waren da. So wie bei jedem Menschen. Sie erschrak vor diesem intimen Einblick, den der Sarkophag ihr ermöglichte. Und gleichzeitig verkrampfte sie, weil ihr klar wurde, dass auch sie zu einem aufgeschlagenen Buch geworden war, in dem lesen konnte, wer des Lesens mächtig war. Hörst du mich, John?, dachte sie. Und wenn ja? Stimmt mein Verdacht? Siehst du mich? Wie siehst du mich, John?, fragte sie. Sie hatte sich noch niemals jemandem so nahe gefühlt wie John Cloud in diesem Moment. Und dennoch schwieg er. Tat er, als hörte, fühlte und lese er sie nicht. Aus Rücksichtnahme ihr gegenüber? Oder weil ihm ihre Seiten tatsächlich verborgen blieben? Aber ergab das Sinn? War es glaubwürdig, dass sie, die nicht Legitimierte, mehr Einblick in seine Psyche erhielt als er in ihre? Ein Gedanke, der dies – vielleicht erklärt hätte, kam ihr. Spielte das Schiff? Mit ihr und ihren Gefühlen. Scob? Plötzlich war er da. *
Cloud nahm sie an den virtuellen Händen und bereiste mit ihr das Schiff. Sie glitten gemeinsam an unerfindlichen Energieströmen entlang, durch Metalle und Bioplaste, in Regionen und Räume, die so unglaublich groß waren, dass sie nicht in die RUBIKON hineinpassten, die sie von Darnoks Karnut aus vermessen hatten – dafür umso mehr in die RUBIKON, die der Keelon mit Hilfe seiner Nanosonden erkundet und von der er eine mehr als grobe Karte erstellt hatte. Gab es hier ein eigenes Kontinuum mit gänzlich anderen physikalischen Grundgrößen? Ich weiß es nicht, antwortete Cloud. Scobee erschrak. Sie hatte die Frage für sich selbst formuliert. Nicht, um mit ihm darüber zu diskutieren. Das Gefühl der Beklemmung wuchs schlagartig. Nichts, auch nicht der geheimste Gedanke, würde vor ihm verborgen bleiben. Und ebenso wenig das, was John dachte? Für einen kurzen Moment verschwand er aus ihrer Wahrnehmung. Als sie sein Bewusstsein wieder spürte, sagte er: Du irrst. Es gibt Grenzen. Alles andere wäre... unerträglich. Ja. Scobee dachte erleichtert. Ihre Wünsche und Sehnsüchte gingen niemanden etwas an. Sie spürte nach wie vor seine unheimliche Präsenz, doch sie waren immer noch zwei voneinander getrennte Individuen. Weiter ging die Reise. Hinaus, in den offenen Raum. Unheimliche Kälte umfing sie, machte sie schaudern. Es dauerte, bis sich Scobee wieder »rühren« konnte. Cloud wartete geduldig. Anfangs war es für mich auch ein gewaltiger Schock, dachte er. Das Schiff spürt über Milliarden Sensoren, die in seiner Hülle eingearbeitet sind, sein Umfeld, und überträgt die angemessenen Daten auf uns. Aber keine Angst, es ist nur eine Sache der Umstellung.
Tatsächlich! Sobald sie die Idee, das Weltall zu spüren, akzeptierte, war sie unempfindlich ge gen seine Kälte. Öffne dich jetzt, sagte Cloud. Wie meinst du das? Konzentriere dich auf deine Sinne. Auf alle. Aber wie...? Frag nicht – tu es einfach. Scobee bemühte sich. Sie sah hinaus. Eine Sonne, scheinbar etwas dichter an ihnen als die anderen, rückte langsam in ihr Blickfeld. Näher, dachte sie konzentriert – und von einem Moment zum nächsten füllte die Glutkugel ihren Gesichtshorizont aus. Gefahrlos, über die Mechanismen der RUBIKON, konnte sie in das Weiß-Gelb des kochenden Sternes blicken. Gleichzeitig fühlte sie das Prickeln des Sonnenwindes, schmeckte das Wehen mächtiger Protuberanzen, roch die kräftige Anziehungskraft... Scobees Sinne verloren sich in einem Wirrwarr an Wahrnehmungen, die die Rezeptoren des Schiffes an sie ausstrahlten. So stark waren die Gefühle, dass sie schließlich schrie/dachte: Genug! Ruhe. Dunkelheit. War es zu viel?, fragte Cloud in die Schwärze. Wie erträgst du das nur alles?, stellte Scobee die Gegenfrage. All diese Eindrücke, die mit so plötzlicher Gewalt deinen Kopf und dein Denken ausfüllen? Übungssache?, erwiderte er verhalten. Und viel Konzentration. Man muss das Unwichtige ausschließen können und sich auf die essentiellen Eindrücke fokussieren. Du wirst dich daran gewöhnen. Kein Bedarf, John. Vorerst reicht es mir, wenn ich dir sozusagen über die Schulter schauen darf. Vielleicht hat mir die
RUBIKON auch deswegen nur einen passiven BeobachterStatus zuerkannt, weil ich nicht in der Lage bin, all diese Eindrücke schnell genug zu verarbeiten. Hat sie das?, fragte Cloud ein wenig erstaunt. Pause. Nun, fuhr er schließlich fort, wir sollten uns erst einmal um das vordringlichste Problem kümmern. Das sieht solchermaßen aus:... Vor ihren Augen erschien das Bild einer riesigen Kugel. Deren Hülle bestand aus unzähligen Objekten, die dicht an dicht standen. Nur im Kern der Kugel, vielleicht ein Zwanzigstel des Gesamtdurchmessers ausmachend, war freier Raum zu erahnen. Dort müssen wir hinein. Dort liegt unser Zuhause. Die Erde, sagte Cloud lapidar. Angesichts dieses Größenverhältnisses wurde Scobee erstmals die Schwierigkeit ihrer Aufgabe richtig bewusst. Sie stöhnte. * Cloud vermaß die Oortsche Wolke, während er tastend an der Peripherie entlang flog. Beiläufig lagerte er alle gewonnenen Erkenntnisse und Messergebnisse in den schier unerschöpflichen Datenplätzen der RUBIKON ab. Er spürte Scobees Präsenz nach wie vor. Doch er ließ sich nicht von seiner Arbeit ablenken. Cloud sondierte und untersuchte, untersuchte und sondierte. Er nahm Proben von mehreren Brocken – in seiner Vorstellung fuhr er mit der Zunge über das Gestein und kostete es. Er rammte ein mittleres Objekt, vielleicht zwanzig Meter im Durchmesser, und registrierte die Anstrengung, die der rätselhafte Schmiegschirm der RUBIKON aufbrachte, um das
Schiff vor Schäden zu schützen. Es war, als ob eine Fliege gegen seinen Leib geprallt wäre. Versuchshalber drückte er den Schmiegschirm weiter nach außen, weg von der Hülle des Raumschiffes, den Kometen entgegen. Er empfand es, als würde er einem riesigen Insektenschwarm mit einer kleinen Fliegenklatsche zu Leibe rücken. Und er schoss, aus seinem Rachen, ein paar gezielte Salven gegen die Gesteinsbrocken. Das Schiff ließ ihm völlig freie Hand. Es unterstützte ihn in jeder Beziehung, was Cloud mit großer Befriedigung zur Kenntnis nahm. Ich habe vorerst alles gesehen, Scobee, dachte er schlussendlich. Wir können aussteigen. Die Frau blieb ruhig und sandte ihm lediglich einen Impuls der Zustimmung. Cloud meinte, auch einen Hauch der Erleichterung zu spüren. Er verschloss sich den mannigfaltigen Eindrücken des Schiffes und öffnete die Augen. Seine Augen – die des Menschen. Und übergangslos erwachte er in seinem Sarkophag. * Der Sarkophag öffnete sich und gab ihn frei. Cloud stand auf. Seine Glieder schmerzten, noch immer geplagt vom Muskelkater. Er zog Scobee aus ihrem Sitz. Sie lächelte ihm dankbar zu. »Hunger?«, fragte er. »Und wie! Ich könnte einen Bären vertilgen!« »Das Eintauchen ins Schiff kostet enorm viel Substanz, habe ich festgestellt. Wir waren genau« – er blickte auf seinen Zeitmesser – »hundert Minuten mit der RUBIKON verbunden.«
»Nicht länger? Ich habe es wie einen ganzen Tag empfunden.« »Unser Gefühl trügt. Manchmal scheint die Zeitspanne länger, manchmal kürzer zu sein. Ich muss es mir endlich angewöhnen, zwischendurch einen Blick auf das Taktwerk des Schiffes zu werfen.« »Das Taktwerk?« »Ja. Das genormte Zählwerk der RUBIKON, sozusagen ihr Herzschlag.« »Hat dir das Schiff eigentlich schon einen Orientierungsplan zur Verfügung gestellt? Ich empfinde es als äußerst mühsam, jeden einzelnen Raum erforschen zu müssen.« John lächelte traurig. »Ich befürchte, das wird für immer Wunschdenken bleiben. Die RUBIKON ist lediglich eine Hülle mit dem erforderlichen Anteil an Steueraggregaten. Den Rest gestaltet sie nach den Anforderungen der Besitzer. Mittlerweile kontrolliere ich die Zentrale und eine kugelförmige Nutzfläche mit einem Radius von zwanzig Metern. Alles, was darüber hinausreicht, beruht auf der Gestaltung meiner – unserer – Vorgänger... und bleibt mir in vielem noch völlig verborgen.« »Vorgänger«, echote Scobee. »Wir wissen nicht wirklich etwas über sie – oder?« »Korrekt. Deswegen scheue ich auch davor zurück, eine Planformung in größerem Aus maß vorzunehmen. Ich denke, dass wir alleine anhand der Gestaltung und Bauart des Schiffes wertvolle Rückschlüsse auf diese Wesen ziehen können.« »Das ist doch lächerlich, John! Es wäre wesentlich wichtiger, die gänzliche Kontrolle über die RUBIKON zu gewinnen.« »Es geht nicht um Kontrolle, Scob. Ich möchte lernen! Wie sahen sie aus, welche Beweggründe hatten sie, dieses mächtige Schiff im Aqua-Kubus zu verstecken?« »Du glaubst, dass sie es verborgen haben? Vor wem? Den Vaaren vielleicht?«
»Die Vaaren sind letztendlich nur kleine, unbedeutende Wächter. Wer weiß – möglicherweise diente der Aqua-Kubus einzig und allein als Versteck für dieses eine Schiff?« »Das wäre ein bisschen viel Aufwand, findest du nicht?« »Mag schon sein. Aber wenn dir scheinbar unbegrenzte technische Ressourcen zur Verfügung stehen und du ein Wissen besitzt, das dem der meisten anderen Lebewesen des Universums augenscheinlich haushoch überlegen ist – macht es dann Sinn, kleine Brötchen zu backen? Think big, sagte schon meine Großmutter selig, wenn sie Apfelkuchen buk und die gesamte Familie mit ihren berühmt-berüchtigten Kalorienbomben niederstreckte. Und die Nachbarschaft noch dazu.« Sie verließen die kreisrunde Zentrale und betraten einen Nebenraum, den sie zumeist für Besprechungen und zum Essen nutzten. Mehrere weitere kleine Kabinen mit Schlaf- und Waschgelegenheiten waren dahinter angeordnet. Cloud hatte sich diese Zimmerflucht gewünscht, und das Schiff hatte sie ihm exakt nach seinen Vorstellungen geschaffen.
4. »Es ist keine besondere Überraschung bei der chemischen Analyse der Kometenkerne zutage getreten«, fasste John Cloud wenig später seine Untersuchungsergebnisse zusammen. »Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Sauerstoff sind die häufigsten Elemente. Aber auch Radikale in Form von Eis oder anderen komplexen und sehr kalten Verbindungen sind von relativ stabilen Molekülen aus Methan, Ammoniak und Wasser abgespalten und existieren im Kometeninneren.« »Dann hat sich die moderne Astronomie dieses Mal nicht geirrt«, sagte Scobee.
»Sehr wohl geirrt hat sie sich aber bei der Gesamtmasse der Oortschen Wolke. Sie liegt um einiges höher als angenommen, wahrscheinlich um das Dreißigfache! Man ging davon aus, dass die Kometen einen durchschnittlichen Abstand von bis zu zehn Millionen Kilometern zueinander hätten. In Wirklichkeit schweben zwischen den von irdischen Teleskopen aus sichtbaren Objekten Milliarden, ja, Billionen kleinere und daher unsichtbare. Vom Staubkörnchen bis zum faustgroßen Brocken. Sie sind von den geringfügigen gravitationalen Wirkungen der größeren Kometen beeinflusst, schießen hin und her, prallen gegeneinander und sorgen für ein unberechenbares Durcheinander.« »Können uns diese kleinen Körper bei einem Durchflug denn gefährlich werden?« »Natürlich nicht«, antwortete Cloud. »Im Schmiegschirm zerschmelzen sie und sorgen lediglich für ein kurzes Aufleuchten, wenn sie vergehen. Was mir wesentlich mehr Sorgen bereitet, sind die Dinge, die ich und das Schiff nur indirekt anmessen konnten.« »Als da wären?« »Kleine, aber heftige Implosionen, die möglicherweise auf die Existenz von Antimaterie hinweisen. Gravitationslöcher. Strahlungsfelder unbekannter Bandbreite. ›Wärmeflächen‹, in denen die Temperatur zehn bis zwanzig Grad über dem absoluten Nullpunkt liegen. Und, was besonders interessant erscheint: Etwa zwei Lichtmonate in die Oortsche Wolke hinein gesehen, konnte ich zwei größere, kugelförmige Löcher anmessen, die vollkommen frei von jeglicher Materie sind.« »Ein Zufall? Eine Laune der Natur vielleicht?« »Glaube ich nicht, Scobee. Wenn ich ›vollkommen frei von Materie‹ sage, meine ich es auch so. Nicht einmal ein Staubkörnchen konnten die RUBIKON und ich erkennen.« »Du meinst, dass diese... Enklaven... künstlichen Ursprungs sind?«
»Nun, es gibt auch in der irdischen Natur unglaublich perfekte Formen. Ausschließen kann man weder das Eine noch das Andere. Mein Gefühl sagt mir aber, dass hier eine Intelligenz am Werk war.« John stand vom Stuhl auf und begann einen unruhigen Rundgang durch den Gemeinschaftsraum. Ab und zu blickte er hinaus ins Weltall, durch große Fensterflächen, die er sich von der Schiffsintelligenz hatte schaffen lassen. Auch wenn sie der Oortschen Wolke noch so nahe waren – von hier aus war nichts von der geballten Massierung des Kometengesteins zu sehen. Lediglich ab und zu glaubte John, ein Aufblitzen in der Dunkelheit zu erkennen, wenn zwei oder mehrere der Gesteinsbrocken auf einander prallten und kurzlebige chemische Reaktionen stattfanden. Doch diese Bilder entsprangen wohl eher seiner aufgestachelten Phantasie als der Realität. Welche Geheimnisse, welche Rätsel verbargen sich im Inneren der Wolke? Hatten sie die Zeit, sich darum zu kümmern? Oder sollten sie die Versuchung ignorieren und das Hindernis sozusagen mit der Brechstange überwinden? Scobee sah ihn amüsiert an. »Findest du die Situation lustig?«, fauchte er, und bereute im selben Moment seine übertriebene Reaktion. »Keineswegs, John.« Scobee ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Mir ist schon längst klar, was du tun möchtest. Dass du dieses Rätsel der materiefreien Enklave unbedingt ergründen willst. Amüsant finde ich lediglich, dass du dich selbst noch zu überreden suchst.« Sie lachte kurz auf. »Gib endlich zu, dass du neugierig bist!« »Natürlich bin ich neugierig, Scob. Aber soll ich deswegen Darnok warten lassen?« »Wir haben immer noch dreißig Stunden, um die Wolke zu durchdringen. Wenn es mehrere dieser Leerräume gibt, wie du
gesagt hast – vielleicht können wir uns von einer zur nächsten durch die Oortsche Wolke hanteln und so Zeit sparen?« »Sie sind zu klein dafür, Scob. Diese Enklaven sind wie Luftblasen in einem Ozean. Außerdem habe ich bislang lediglich zwei entdeckt.« »Dann denke ich, dass du dich wieder ins Schiff einklinken solltest, um deinen Ortungsradius zu erweitern. Und wenn du noch mehrere der Enklaven entdeckst, werden wir die Nächstgelegene anfliegen. Punktum.« Diese plötzliche Entscheidungsfreudigkeit der GenTecMatrix überraschte Cloud völlig. Während des Fluges hatte sie bislang weitestgehend hingenommen, was er vorgeschlagen hatte. Und nun entschied sie einfach über ihn hinweg? »Ich... ja, du hast Recht«, antwortete er verwirrt. Und auch ein wenig froh darüber. Sie begann, Verantwortung mit ihm zu teilen. Diese Idee gefiel ihm. * Scobees Spaziergänge (3) Darnok, das mit der Fähigkeit zur Zeitreise ausgestattete Fremdwesen, hatte behauptet, dass die beiden GenTecs, Jarvis und Resnick, die RUBIKON mit Hilfe einer Rettungskugel verlassen hätten. Ob gewollt oder ungewollt, hatte auch er nicht eindeutig klären könne n. Scobee tendierte heute mehr denn je zu der Ansicht, dass sie das Gehirn des Schiffes vertrieben hatte. Wenn schon nicht mit Gewalt, dann doch auf äußerst hintertriebene Art und Weise. Nur zu gut erinnerte sie sich an den ersten Erforschungsgang, den sie gemeinsam mit Resnick und Jarvis in Angriff genommen hatte.
An jenen Vorhang aus schwerem Brokatstoff, gefüttert mit kleinen Diamanten; den sie gemeinsam durchschritten und der an einem unheimlichen, unbegreiflichen Raum abseits des Hier und Jetzt ihr Innerstes abgetastet hatte. Das Glücksgefühl hinter diesem Gefühlsvorhang war unbeschreiblich gewesen. Pure Lus t und Freude hatten sie empfunden, einer wie der andere. Wünsche und Sehnsüchte waren durchleuchtet und in ihren Vorstellungen erfüllt worden, bevor sie sich in der Realität wiederfanden. Doch nur ein einziges Mal hatte der Vorhang funktioniert. Als sie ihn wenige Zeit später in einer riesigen Halle wiederfanden und erneut ausprobierten, war nichts passiert. Aber Jarvis und Resnick waren verschwunden gewesen. Es war ihr gelungen, nochmals bis in jene große Lagerhalle vorzudringen. Nach wie vor standen eine Unmenge von quaderförmigen Objekten in der Halle, die einen Durchmesser von einhundertfünfzig Metern hatte. Doch alles war umgruppiert. Scobee wusste, dass sie sich nicht täuschte. Sie konnte sich auf ihr Gedächtnis verlassen, das nahezu fotografisch war. Die Waren priesen ihre Qualitäten auch nicht mehr lautstark an, so wie es bei ihrem ersten Besuch geschehen war. In der Mitte des riesigen Raumes wartete die Verwaltungseinheit auf sie. Ein zylindrisches, glattes Etwas, das bis an die Decke, etwa fünfzig Meter oberhalb von ihr, hochstrebte. Einzelne, wenige Tropfen schwebten an der Außenseite des Zylinders nach oben. Dies war kein Vergleich zum ersten Mal, als sie einen richtiggehenden Vorhang gebildet hatten und in einem bunten Funkenregen an der Decke zerstoben waren. Doch immerhin – der Verwalter hatte seinen Betrieb nach dem Verschwinden der beiden GenTecs wieder aufgenommen. »Hörst du mich?«, fragte sie vorsichtig.
»Ja.« Die Stimme in ihrem Kopf war schwach und wirkte abweisend. »Kannst du mir Auskünfte geben?« »Bedingt. Du besitzt lediglich Beobachter-Status, hat mir das Schiffsgehirn mitgeteilt.« Scobee riss erstaunt die Augen auf. »Heißt das, dass du dich nicht mit dem Gehirn identifizierst?« »Ich bin eine ausgelagerte, autark agierende Einheit mit klar definiertem Aufgabengebiet. Ich empfange Befehle von der RUBIKON.« Möglicherweise bot sich hier für sie eine Möglichkeit, an zusätzliches Wissen heranzukommen! Wenn sie es geschickt anstellte... »Du meinst, du erhältst deine Order vom Kommandanten. Von John Cloud.« »Beide werden über kurz oder lang dasselbe sein. Sie werden das Schiff sein.« Irgendwie hatte diese Aussage einen äußerst unangenehmen Beigeschmack. »Wenn aber John Cloud das Schiff ist – oder sein wird –«, fuhr sie mühsam beherrscht fort, »so musst du auch mir bedingungslos gehorchen. John will, dass die RUBIKON auch mir folgt.« »Negativ. Du bist nicht autorisiert.« »Was soll das heißen?«, sagte sie schroff. »Cloud wird mich autorisieren.« »Negativ. Er hat kein Recht dazu.« Die schwarzen Tropfen wurden immer weniger und flossen nur noch ganz zäh nach oben. Und dennoch erhöhte sie den Druck auf den Verwalter weiter: »Er ist der Kommandant und besitzt damit volle Befehlsgewalt! Es gibt keine Autorität, die über ihm steht. Du wirst seine Order anerkennen müssen!«
»Positiv. John Cloud ist/wird/ist das Schiff sein und ist die oberste Autorität. Negativ. John Cloud hat kein Recht, dich zu autorisieren. Positiv. Negativ. Positiv...« Stille. Der letzte ölige Tropfen zerplatzte an der Decke. Hatte sie gewonnen? Würde sich der Verwalter erneut ›hochladen‹ und anschließend ihren Befehlen und Wünschen beugen? Trotz der hoch gestochenen Technik, der sie hier auf Schritt und Tritt begegneten, schien ihr diese Sekundäreinheit ein rechter Simpel zu sein. Sie besaß zwar eine gewisse Selbstständigkeit und eingeschränktes Denkvermögen, doch beim geringsten Ansatz eines Widerspruchs in sich selbst versagte sie. Da! Es tat sich etwas! Der Ölfluss begann von neuem, und diesmal stärker als zuvor. »GenTec Scobee, ich fordere dich auf, in Zukunft von solchen Aktionen abzulassen.« Sie erschrak. Die Stimmlage hatte sich geändert. War schroffer geworden und hatte diesen Ton angenommen, den sie... vom Bordgehirn her kannte. »Was ist mit der Verwaltereinhe it passiert?«, fragte Scobee mit zusammengepressten Lippen. »Sie war mit der Situation überfordert. Ein Alarmmechanismus hat mich, die Muttereinheit, auf den Plan gerufen. Der Verwalter wird in meinem Sinne rekonfiguriert.« Eine kleine Pause entstand, dann fuhr die Stimme fort: »Ich muss dir übrigens danken, dass du eine mögliche Schwachstelle in meinen externen Systemen entdeckt hast. Solch eine Situation wie jene, die du heraufbeschwören wolltest, wird nun in Zukunft nicht mehr entstehen können.« Die Tropfen strömten nun in raschem Fluss nach oben. Sie bildeten einen Vorhang, der plötzlich knallrot leuchtete und in einer stetigen Funkenkaskade an der Decke zerplatzte. Scobee empfand dies als höhnisches, bösartiges Gelächter.
* Anfänglich kamen sie rasch voran. John Cloud hielt es nicht für notwendig, vollends in die RUBIKON einzutauchen. Er saß in seinem Sarkophag und lauschte lediglich, wie sich das Schiff immer tiefer in die Randbereiche der Oortschen Wolke vortastete. Mit rasender Geschwindigkeit übermittelte ihm die Schiffsintelligenz die Flugdaten. Hundert Meter großes Objekt, zweitausend Kilometer voraus, gefahrlos passiert; dreißig Meter großes Objekt, fünfzehnhundert Kilometer voraus, mit Schmiegschirm abgewehrt; Hochgravitationszone über dreitausend Kilometer, soeben passiert; Wärmefeldfläche... Kleinstobjektschauer... aufeinanderprallende Objekte... Wie Rauschen im Äther glitt der Informationsfluss an ihm vorbei. Kaum einmal, dass ihn die RUBIKON um Entscheidungshilfe bat. Cloud beließ es vorerst dabei, lediglich zu beobachten. »Annäherung an Enklave. Entfernung drei Lichtminuten.« »Abbremsen. Verharren in Entfernung von einer Lichtminute.« Scobee, die neben ihm stand und konzentriert mehrere Holos betrachtete, schreckte hoch. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er laut gesprochen hatte, wo ein gedachter Befehl ebenso ausreichte. Entschuldigend zuckte Cloud die Schultern. So weit, wie er es sich gerne gewünscht hätte, war die Arbeitssymbiose mit der RUBIKON noch nicht gediehen. Zielgebiet erreicht. Energievektoren auf Standby, vermittelte ihm das Schiff. Cloud zwinkerte Scobee kurz zu und tauchte in die fantastische Welt des Schiffsgehirns ein.
Die milliardenfach gefächerten Augen und Rezeptoren folgten seinen gedanklichen Befehlen. Sie vermaßen den fünfzigtausend Kilometer großen, völlig materiefreien Hohlraum aus sicherer Entfernung. Aus einem ihm unbekannten Grund vermied es John, näher an das Phänomen heranzufliegen. Es war keine Angst, es war... Instinkt. Tatsächlich. Kein einziges Staubkörnchen, dachte er. Als ob eine unsichtbare Grenze jegliche Materie vom Hohlraum abhielte. Er wandte sich an das Schiffsgehirn: Spürst du eine Energieentfaltung? Eine Art Energievorhang, die diesen Hohlraum in Form hält? Ich bin du, antwortete die RUBIKON. Was ich spüre, gebe ich weiter. Täuschte sich John, oder war da ein kleines Verharren, ein kurzes Zögern zu spüren? Als ob ihm die Schiffsintelligenz etwas vorenthalten wollte! Die Wahrheit über das, was tief in ihrem Inneren, weitab jeder Auffindbarkeit, gelagert war und wartete? Bestimmt, er irrte sich nicht! Die RUBIKON verheimlichte ihm etwas! Was ist dort unten gelagert, dort, wo... In diesem Moment schlugen alle Messgeräte gleichzeitig an. Energieortung im Sektor Zentrum Neun!, meldete die Intelligenz mit ruhiger Stimme. Eine Explosion. Sprengkraft zwischen hundert und hundertzehn Megatonnen TNT. Kurzfristiger Aufriss des Kontinuums, dann gleichmäßige, gezielte Ausbreitung des Explosionsdruckes auf beschränktem Raum. Wenige Momente später spürte John die Messergebnisse. Die Wucht war schlichtweg atemberaubend. Sie fegte alles beiseite, was sich innerhalb eines bestimmten räumlichen Bereiches befand und ebbte schließlich abrupt ab.
Für Sekunden – oder waren es Stunden? – ließ er die sinnesbetäubenden Eindrücke auf sich wirken. Cloud nahm die Werte und Daten, die in einem nicht mehr messbar kurzen Takt auf ihn/das Schiff einprasselten, in sich auf und ordnete sie. Die RUBIKON stellte ihm wiederum leere Datenspeicher zur Verfügung, die er selektierte, segmentierte und systematisch belegte. Instinktiv schaffte er eine Ordnung, die seinem Denken entgegenkam. Fuzzy Logic in Reinkultur, dachte er mit jenem Teil seines Verstandes, der den großen Überblick über ihn/das Schiff bewahrte. Ein Ordnungssystem, so verquer und irrational, dass wirklich nur ich den Inhalt verstehen und verarbeiten kann. Und eigentlich hinterlasse ich damit in der RUBIKON einen höchst individuellen Imprint. Denn die Denkweise, mit der ein Lebewesen an eine Aufgabe herangeht, ist einzigartiger als jeder Fingerabdruck. John hatte genug erfahren und, vor allem, gefühlt. Hastig löste er sich aus dem Schiff, kehrte in seinen Körper zurück. Der Sitz gab ihn frei. Die RUBIKON hatte erkannt, dass er so rasch wie möglich aus der Steuerung entlassen werden wollte. »Was ist los? Wieso bist du so erschrocken?« Scobee blickte ihn besorgt an. John beutelte zweimal kurz den Kopf, um das Gefühl, Sprengung und Energieentladung am eigenen Leib gespürt zu haben, aus seinen Gedanken zu vertreiben. »Ich habe soeben die Geburt einer Enklave miterlebt«, sagte er. Seine Hände zitterten. Die Arbeit im Inneren des Schiffes nahm ihn mehr mit, als er sich selbst gegenüber zugeben wollte. »Es handelte sich um eine absichtlich herbeigeführte Vernicht ung aller Materie. Und wenn ich die Daten, die mir dabei zugeflossen sind, richtig deute, wurde sie von einem Raumschiff der Erinjij herbeigeführt.« *
Scobee stand ruhig da und betrachtete ihn. Sie hatte einen durchdringenden, sezierenden Blick, bei dem er manchmal leichtes Unbehagen spürte. »Erzähl mir zuerst von den Messergebnissen«, forderte sie ihn auf. Mit keinem Wort ging sie auf die Anwesenheit anderer Menschen in der Oortschen Wolke ein. Vorerst. »Diese Enklaven sind tatsächlich künstlichen Ursprungs. Ich konnte Energiewerte anmessen, die eindeutig eine Sprengung gewaltigen Ausmaßes beweisen. Eine kontrollierte Sprengung, muss ich hinzufügen, denn die Ausdehnung der Vernichtung wurde auf ziemlich genau fünfzigtausend Kilometer im Durchmesser beschränkt.« »Wie kommst du nun drauf, dass es Erinjij sind, die die Materiesäuberung durchgeführt haben?« Nur nebenbei registrierte Cloud, dass Scobee bewusst das Wort ›Mensch‹ vermied. Wahrscheinlich fiel es ihr solchermaßen leichter, nüchtern und objektiv urteilen zu können. »Hast du ihre Raumschiffe orten können? Hast du Schriftzeichen erkannt?«, fuhr Scobee mit ihren Fragen fort. »Weder – noch«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Es liegt an dem, was ich gefühlt habe, als ich in der RUBIKON war. Die Form der Ene rgieentladung, die kontrollierte Wucht, das nüchtern geplante Vorgehen – dies alles spricht für die... ähm... Erinjij.« »Glaubst du das, oder will dich das Schiff glauben machen, dass es so ist? Ohne Darnok und seinem Karnut haben wir keinerlei Vergleichswerte. Wie ich vorher deutlich spüren konnte, besitzt die RUBIKON ein äußerst ausgeprägten Individualismus. Und einen Willen, den sie immer wieder durchzusetzen versucht.« Ihre prüfenden Blicke konnten wirklich äußerst unangenehm werden. »Bist du sicher, dass du unbeeinflusst urteilen kannst?«
»Verdammt, wie soll ich mir nur sicher sein?«, brach es frustriert aus ihm heraus. »Ich – wir – stecken in einer Situation, die einzigartig in der Menschheitsgeschichte ist.« Er sprang aus dem Sitz hoch und begann eine nervöse Wanderung durch die Zentrale. »Wenn du es genau wissen willst: Ich vertraue der RUBIKON in ihrer jetzigen Lagebeurteilung. Ich glaube, dass sie jederzeit die typischen Energieemissionen der Erinjij anmessen und analysieren kann.« Cloud zögerte, blieb stehen und drehte sich schließlich zu Scobee. »Ich bringe der RUBIKON aber auch ein gerütteltes Maß an Skepsis entgegen. Denn sie... sie hasst die Erinjij.« * Das Schweigen dauerte nur wenige Momente. Scobee wirkte kaum überrascht, verarbeitete rasch die für sie völlig neue Information. »Müsste sie dann nicht auch uns... hassen?«, fragte sie. »Ich habe bereits darüber gegrübelt und mir eine vorsichtige Theorie zurecht gelegt.« »Und die wäre?« »Einerseits mag es sein, dass sich unsere Genstruktur, unser Verhalten oder unser Auftreten von dem unserer... Nachkommen weitgehend unterscheidet. Wir wissen noch nicht einmal, in welcher Zeit oder in welchem Jahr wir uns befinden! Die Evolution kann in den vergangenen Jahrhunderten oder Jahrtausenden neue, selbstständige Wege beschritten haben, so dass die Erinjij mit uns weniger gemeinsam haben als, sagen wir mal, die Vaaren.« Frustriert hieb Cloud auf einen der sieben Steuersitze. »Andererseits kann die Akzeptanz auch etwas mit den Protomaschinen zu tun haben, die höchstwahrscheinlich nach wie vor in meinem Körper abgelagert sind.«
»Eine kühne Theorie, findest du nicht? Die RUBIKON hätte dann mich, im Umkehrschluss, schon längst ablehnen und aus ihrem Körper... entfernen müssen.« »Ist die Idee denn so abwegig, Scob? Denke daran, dass dir das Schiff lediglich einen beschränkten Beobachter-Status zugesteht. Möglicherweise auch nur deshalb, weil es spürt, dass mir... dass mir viel an deiner Gegenwart hegt.« Hastig sprach er weiter, bevor die Frau reagieren konnte. »Fasse das bitte nicht falsch auf. Wir sind hier ganz alleine auf uns gestellt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich die momentane Situation durchstehen könnte, wenn ich nicht einen anderen Menschen um mich hätte.« Täuschte er sich, oder war da ein kurzes Zucken, ein leichtes Zeichen der Enttäuschung, um ihre Mundwinkel zu sehen? »Das ehrt mich, John Cloud«, sagte sie förmlich, »aber ich halte deine Idee dennoch für hanebüchen. Ich meine, du solltest der RUBIKON gegenüber alles Misstrauen der Welt aufbringen. Wenn ich daran denke, dass sie möglicherweise Schuld daran trägt, dass Resnick und Jarvis nicht mehr bei uns sind, dass sie möglicherweise...« Sie stockte. »... dass sie möglicherweise bereits tot sind?« John nahm seine Wanderung rund um die sieben Steuersitze wieder auf. »Würde denn nicht gerade das meine Theorie bestätigen? Vielleicht waren sie der RUBIKON den Erinjij zu ähnlich? Und vielleicht waren sie darüber hinaus... entbehrlich?« * Scobees Gesicht wurde binnen weniger Momente blass. Ihre beiden Hände krampften sich mit aller Gewalt in die Polsterung ihres Steuersitzes. Als sie endlich losließ, blieben tiefe Abdrücke ihrer Finger darin zurück.
»Du wirst nie mehr von Jarvis und Resnick in der Vergangenheitsform sprechen«, sagte die Frau mit gefährlicher Ruhe in ihrer Stimme. »Du wirst in diesem Zusammenhang nie mehr das Wort ›Tod‹ verwenden, hast du mich gehört?« John kannte diese Seite Scobees bereits. Er wusste, dass es nicht ratsam war, es auf eine weitere Eskalation oder gar eine Konfrontation anzulegen. Behutsam erwiderte er: »Du hast ja Recht, Scob. Ich bitte um Entschuldigung, sollte ich dich verletzt haben. Aber dennoch musst du dich mit dem Gedanken anfreunden, was passiert sein könnte.« »Nein«, sagte sie. »Aber...« »Nein, habe ich gesagt.« War das Band, das die drei GenTecs aneinander fesselte, denn tatsächlich so stark? War sie, die Gen-Matrix, nicht mehr als die beiden Männer, die wahrscheinlich lediglich zwei besonders gut gelungene Exemplare einer Zuchtreihe darstellten? Zugleich verabscheute sich Cloud für seinen Gedanken. Hatte er sich nicht vorgenommen, die geklonten Männer als das zu sehen, was sie waren? Lebewesen mit Gefühlen, Stärken und Schwächen, so wie er auch? Wahrscheinlich empfanden sie die besonderen Gaben, die in ihrem Genmaterial verankert waren, sogar als Fluch. Was nützten ihnen besondere physische Fähigkeiten, Regenerationskraft und so genannte Verbesserungen in der Psyche bei der Suche nach ihrem inneren Selbst? Plötzlich dämmerte es ihm, dass auch er die beiden GenTecs noch keineswegs abgeschrieben hatte. Für ihn waren sie nach wie vor lebendig. Jarvis und Resnick waren noch immer in seinem Gegenwartsdenken vorhanden. Sie waren nur momentan... einfach nicht anwesend.
Langsam ging Cloud auf Scobee zu und legte behutsam beide Arme auf ihre Schultern. »Du hast Recht«, sagte er sanft. »Die beiden sind nicht tot. Ganz sicher nicht.« Die Verkrampfung in Scobees Körper löste sich. Sie sah ihn an. Die rätselhaften, dunklen Augen wurden feucht. Langsam, wie in Zeitlupe ließ sie sich nach vorne sinken und verbarg ihren Kopf schließlich an seiner Halsbeuge. »John, ich... es tut mir Leid, ich...« Ein enervierender Heulton erklang, und die bereits sattsam bekannte Stimme des Schiffes sagte seelenruhig: »Wir werden angegriffen.« * Geistesgegenwärtig ließ sich John Cloud in seinen Sitz fallen und tauchte übergangslos in die RUBIKON ein. Status?, fragte er das Schiff. Energieschirm mit zwölf Prozent belastet, derzeit keine Gefährdung meiner Hülle abzusehen. Beschuss erfolgt von einem scheinbaren Blindläufer aus, der sich im Laufe der letzten halben Stunde immer weiter angenähert hat. Blindläufer? Du meinst ein Objekt, einen Kometen, auf einer unberechenbaren Schlingerfahrt? Korrekt. John fluchte unbeherrscht. Hättest du diesen Kometen nicht schon eher anmessen müssen? Wer auch immer uns gerade entdeckt hat, ist unter Garantie nicht alleine in diesem Sektor unterwegs. Wahrscheinlich sind bereits weitere Raumschiffe auf dem Weg hierher. Die Zahl der Objekte in dieser Kometenwolke ist selbst für mich zu groß, als dass ich alle im unmittelbaren Umkreis zugleich beobachten könnte. Bis vor wenigen Sekunden waren
zudem keine Emissionen zu bemerken. Schirmbelastung mittlerweile auf vierzehn Prozent gestiegen. Einerlei, dachte John in Richtung der RUBIKON. Langsam Fahrt aufnehmen. Such dir einen Vektor aus, der in spitzem Winkel aus der Oortschen Wolke hinausführt. Gleichzeitig Ortungsradius auf Maximum erweitern und möglichst viel Daten über den Schlingerkometen sammeln. Verschaffe mir vor allem optische Eindrücke. Der Energiehaushalt des Schiffes veränderte sich merkbar. Tausende winzig kleine Vorgänge wurden in Gang gesetzt, die scheinbar keiner Ordnung gehorchten – und dennoch genau das erbringen würden, was sich Cloud wünschte. Daten. Er benötigte Informationen. Er spürte die fremdartigen Strahlen des feindlichen Beschusses wie ein unangenehmes Jucken in seiner Leibesmitte. Es war nicht bedrohlich, aber auch nicht so schwach, als dass man es einfach ignorieren konnte. Endlich, während sich die RUBIKON langsam, fast schwerfällig, aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich entfernte, rieselten die ersten Datenströme in unbeschreiblich tiefe Sammelbecken. Neuerlicher Feindkontakt, meldete das Schiff. Zwei Schiffe, offensichtlich schwer bewaffnet, nähern sich in Zangenbewegung. Kampfschiffe. Erinjij. Wieder klang tiefer, mühselig unterdrückter Hass in der gedanklichen Übermittlung der RUBIKON durch. Sofort eröffneten die beiden Kampfeinheiten das Feuer. Vorerst noch ungezielt und mit fächernder Breitenstrahlung. Sie brauchten eine Besorgnis erregend kurze Zeitspanne, um sich zu orientieren. John übernahm die Steuerung vollends. Er flog ein paar waghalsige Zick-Zack-Manöver, achtete aber dabei darauf, weiter an Geschwindigkeit zu gewinnen.
Wir sind in der Lage, die beiden Kampfeinheiten zu vernichten, vermittelte ihm die RUBIKON. Mag sein, dachte Cloud, doch ich möchte gerne zuerst über meinen Gegner Bescheid wissen, bevor ich den Revolver durchlade und feuere. Ohne weiteren Kommentar ging die RUBIKON über seinen Einwurf hinweg. Sie hatte ihre Lektion offensichtlich gelernt. Zwanzig Prozent Licht, vermittelte sie ihm nach wenigen Sekunden. Beschleunigungsfaktor doppelt so hoch wie der des Gegners. Wie sieht es mit den Messdaten über den Schlingerkometen aus? Maximale Auswertung abgeschlossen. Abruf der Ergebnisse jederzeit möglich. Hast du auch die Kampfschiffe vermessen? Selbstverständlich, antwortete das Schiffsgehirn. Es klang nahezu beleidigt. Gut. Dann machen wir uns endgültig aus dem Staub. Mit einem einzigen klaren Gedanken erhob John Cloud das Schiff in jenen merkwürdigen, nahezu transzendentalen Zustand der Überlichtgeschwindigkeit. Mit einer unglaublichen Leichtigkeit begann die RUBIKON ihre weiten Schwingen im luftleeren Raum zu schlagen, tauchte in ein übergeordnetes Kontinuum ein, ohne die Verbindung zum Einstein-Universum je gänzlich zu verlieren. Binnen weniger Momente hatten sie die Randgebiete der Oortschen Wolke hinter sich gelassen und waren den gegnerischen Kampfschiffen endgültig entkommen.
5.
Cloud hatte die ermittelten Messergebnisse in einem Heft aus echtem Papier zusammengefasst. Gut gelaunt legte er es vor Scobee auf den Tisch des Versammlungsraumes. Auf 64 Seiten waren die trockenen Daten in endlosen Statistiken, Tabellen und Graphiken dargestellt. Auf dem Außenumschlag hingegen prangte eine gestochen scharfe Aufnahme des so genannten Blindläufers, jenes getarnten Kometen, der die RUBIKON entdeckt und beschossen hatte. In einem Anfall von skurrilem Humor hatte der ehemalige Commander eine Überschrift eingefügt: ›Rückkehr ins Sonnensystem‹ stand da in dicken, fetten Lettern, und darunter, etwas kleiner: ›Die Schranke im All – in der Oortschen Wolke lauert der Tod‹. »Ein bisschen reißerisch der Titel, findest du nicht auch?«, sagte Scobee müde. »Abgesehen davon: Wer würde dir so etwas schon abkaufen?« »Leute mit mehr Sinn für Humor als du allemal«, erwiderte Cloud. Er nahm ihr das Heft aus der Hand und zeigte mit den Fingern auf deutlich sichtbare Geschütztürme, die dem Kometen angeflanscht schienen. »Ich denke, dass kein weiterer Beweis mehr nötig ist. Es handelt sich eindeutig um ErinjijTechnik. Es sind dieselben schwenkbaren Doppelpaare an Geschützlafetten, die wir bereits bei der PEKING und den anderen Schiffen nach unserer Reise durch das JupiterWurmloch gesehen haben. Auch das gelbe Phasenfeuer, das trotz seiner überlichtschnellen Wirksamkeit im Normaluniversum sichtbar bleibt, kennen wir bereits. Und sieh mal auf die runden, dem Kometen aufgepfropften Zubauten? Die Vielzahl an Antennen? Die große, kreisrunde Aufenthaltsplattform? Kannst du dich nicht mehr an den Anblick der irdischen Raumer erinnern?« »Nur zu gut«, sagte Scobee und seufzte laut, »nur zu gut. Doch was ist mit den beiden Schiffen, die uns verfolgt haben?«
»Ebenfalls aus Erinjij-Fertigung stammend, allerdings etwas kleiner als das, was wir bislang kennen gelernt haben.« »Waren irgend welche Schriftzeichen zu erkennen? Etwas, das uns einen Hinweis geben könnte, wie die politische Situation auf der Erde derzeit aussieht?« »Leider sind die Aufnahmen in der Hitze des Gefechts bei weitem nicht so gut gelungen wie beim Blindläufer.« John legte der Frau eine Reihe von Aufnahmen vor, die unscharf und verwaschen, aber dennoch erkennbar, auf die bereits bekannte Bauweise der Erinjij-Schiffe hinwiesen. Konzentriert betrachtete Scobee die Bilder und deutete auf eines, das lediglich einen Ausschnitt des Kampfraumers zeigte. Wild wuchernde Aufbauten und stachelig, aggressiv nach außen stehende Masten gaben dem Schiff einen düsteren, martialisch wirkenden Anstrich. Sie deutete auf eine Reihe von kleinen, roten Flecken. »Was ist das hier?« John zögerte. »Es mag sein, dass es sich hier um eine Aufschrift oder Nummerierung handelt.« »Was sagt die RUBIKON? Kann sie die vorhandenen Daten hochrechnen?« »Dies ist bereits eine hoch gerechnete Darstellung. Wir... ich meine, das Schiff, hat die Aufnahmen schließlich aus einer Entfernung von mehreren Lichtminuten geschossen, während sowohl wir als auch der Feind sich mit mehreren tausend Sekundenkilometern bewegten.« Bevor die Frau den Mund zu einer weiteren Frage öffnen konnte, sagte Cloud: »Frag mich bitte ja nicht, wie die Fertigung der Aufnahmen technisch und physikalisch während der kurzen Zeitspanne unserer Konfrontation möglich war.« John grinste. »Für Beschwerden aller Art habe ich im Heft auf Seite 59 ein Impressum eingefügt.«
Scobee blätterte tatsächlich nach. »Salzamt, Himmelpfortgasse 4. Soso. Immer zu Scherzen aufgelegt, nicht wahr?« Hatte diese Frau keinen Sinn für Humor? Ein wenig verärgert kehrte Cloud mit seinen Gedanken zum Thema zurück. »Mit viel Fantasie und Willen kann ich ein paar lateinische Buchstaben erkennen. Drehe die Aufnahme um 180 Grad und halte sie mit gestreckten Armen von dir weg. Vielleicht erkennst du dasselbe wie ich.« Scobee stand auf und folgte seinem Rat. Sie bewegte das Bild ein wenig hin und her und murmelte schließlich: »O – R – O -D, das könnte es zumindest bedeuten. Die vier Zeichen davor kann ich beim besten Willen nicht entziffern. Doch – warte! Der erste Buchstabe ist ein N, dann kommt möglicherweise noch ein O.« Sie hatte mehr Buchstaben als er entziffern können. John wurde blass und sagte mit zitternder Stimme: »Was hältst du von – NOWGOROD?« * Nowgorod. Eigentlich Welikij Nowgorod genannt. Die älteste Stadt Russlands, wahrscheinlich im neunten Jahrhundert gegründet. Knapp zweihundert Kilometer südlich von Sankt Petersburg gelegen. Mitglied der mittelalterlichen Hanse und zugleich Heimatstätte für das wichtigste nördliche Kontor dieser Vereinigung niederdeutscher Kaufleute. Das waren die Stichworte, die John Cloud zur Stadt Nowgorod einfielen. Wesentlich erschien einzig und allein, dass es sich um eine Stadt im Herzen der russischen Föderation handelte – beziehungsweise gehandelt hatte, als der Flug der ›alten‹ RUBIKON begonnen hatte.
Bislang hatten John und die anderen lediglich den Namen eines einzigen Erinjij-Schiffes in Erfahrung bringen können, und der war PEKING gewesen. Wenn sie es auch nicht ausgesprochen hatten, so war es doch immer im Raum gestanden, dass möglicherweise Hu Sadako, Gottkaiser des Neochinesischen Reiches, hinter der brutalen Expansionspolitik der Menschheit im Weltall stand. Aber nun sprachen wohl alle Wahrscheinlichkeiten dafür, dass der Begriff Erinjij für die Invasoren einer geeinten Menschheit stand. Scobee und John Cloud blickten aneinander vorbei. Ihr Stolz auf die amerikanische Nation hatte sie nicht glauben lassen, dass die USA in der Jetztzeit an den unzähligen Gräueltaten und Verbrechen an anderen Lebewesen mit beteiligt waren. Mit Schaudern dachte John an die Erzählungen Darnoks zurück. An dessen Schilderung der Vernichtung seiner Heimat, eines ganzen Sonnensystems. Erbarmungslos waren die Erinjij über das friedliche Volk der Keelon gekommen und hatten es ausgerottet... »Wir müssen es akzeptieren. Jetzt und für immer, John«, sagte Scobee. »Wir können die USA nicht von der Schuld an all diesen Verbrechen ausnehmen.« Mit der ihr eigenen Härte akzeptierte sie die Wahrheit wesentlich rascher als er. »Dies ist ein Grund mehr, möglichst rasch ins Sonnensystem durchzubrechen. Wir müssen endlich die Wahrheit herausfinden. Abgesehen davon, dass die Zeit nun schon sehr knapp wird, um den Treffpunkt mit Darnok fristgerecht zu erreichen.« »Kehren wir zu unserem aktuellen Problem zurück, John. Diese kugelförmigen Hohlräume in der Oortschen Wolke haben einen Durchmesser von jeweils fünfzigtausend Kilometern. Sie werden und wurden mit kontrollierten Explosionen künstlich geschaffen, von jeglicher Materie befreit und schließlich von
getarnten Raumforts verteidigt, die an Kometen angedockt sind.« »Ganz richtig, Scob.« John räusperte sich und bemühte sich, möglichst unbeteiligte Sachlichkeit in seine Stimme zu legen. »Diese Raumforts, so hat das Schiff herausgefunden, umkreisen die Enklaven. Sie verfügen offensichtlich über bedingte Manövrierfähigkeit, um anderen Kometen ausweichen zu können. Sie schützen die Enklaven erstens gegen mögliche Eindringlinge und sorgen zweitens dafür, dass keine neuen Kometen oder Protomassen einfliegen.« »Und wozu ist der ganze Aufwand gut?« »Ich bin, ehrlich gestanden, auf vage Vermutungen angewiesen. Eine Möglichkeit, die ich für die wahrscheinlichste halte, wäre die Installation eines äußeren Verteidigungsringes. Vielleicht sehen wir lediglich den Beginn einer groß angelegten, konzertierten Aktion, an deren Ende ein ganzes Netz gewaltiger Verteidigungsforts steht, die jeden Besucher am Eindringen in das Sonnensystem hindert.« »Moment mal!«, warf Scobee ein. »Würde es nicht strategischem Denken entsprechen, diese... Forts oder Stützpunkte in möglichst regelmäßiger Netzform aufzubauen? So, dass sie in etwa in gleichem Abstand zueinander stehen und die Oortsche Wolke möglichst lückenlos abdecken können?« John kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf und biss sich gedankenlos in die Unterlippe. »Mein Gott, du könntest Recht haben, Scob! Mein Gefühl sagt mir, dass du einer heißen Sache auf der Spur bist. Das muss ich sofort überprüfen.« Ohne ein Wort zu sagen oder die Frau auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, eilte er in die Zentrale. Scobee entspannte sich, nahm das Heft mit dem gestochen scharfen Foto eines Erinjij-Raumforts auf dem Umschlag in die Hand und blätterte darin herum. »Die Schranke im All – in der Oortschen Wolke lauert der Tod! Pah!«
* Analyse und Hochrechnung beendet, dachte die RUBIKON. Und? Mach's nicht so spannend! Ich kann deine Vermutung bestätigen. Mit einem Wahrscheinlichkeitsgrad von vierundneunzig Prozent bauen die Erinjij ein weitmaschiges, aber nahezu regelmäßiges Netz an Enklaven auf. Es gibt eine Staffelung dieser freigesprengten Räume in vier Schichten, mit einer immer stärker zunehmenden Dichte hin zum Zentrum, dem tatsächlichen Heimatsystem der Menschen. Mittlerweile konnte ich achthundert Enklaven anmessen. Mit jeder Minute werden es zwei bis drei mehr. Sobald ich wusste, nach welchem Raster ich zu arbeiten hatte, zeigte die gezielte Suche Erfolg. Spürst du die Daten? Ich übermittle sie dir soeben. Ja, danke. John erfasste ein dreidimensionales Bild. So groß, wie es sein Bewusstsein nur ertragen konnten. Eine schematisierte Darstellung der Oortschen Wolke, in der Mitte entzwei geschnitten. Zwischen den dicht an dicht stehenden Kometenmassen waren stecknadelgroße Leerräume zu erkennen. Manche in rot, doch weitaus mehr in blau gekennzeichnet. Die roten sind diejenigen, die ich bereits orten konnte; die blauen sind jene, die dem kompletten Raster entsprechen. Wie viele potenzielle Enklaven vermutest du insgesamt? Über einhunderttausend. Einhundert... Dein Puls steigt rasant an, John Cloud. Soll ich mit einem leichten Sedativum entgegenwirken? Nein, auf gar keinen Fall! Ich bin nur über diese Größenordnung erschrocken.
Wenn du willst, kann ich mit einer kleinen Operation diese ungewöhnlichen und unergiebigen Gemütszustände... beseitigen. Die Botschaften der RUBIKON kamen nun verlockend und einschmeichelnd, fast einlullend. Was hatte das Schiff vor? Wollte es ihn nach seinen Vorstellungen formen? Sich vom Diener zum Herren emporschwingen? Cloud musste sich in Acht nehmen. Mit aller Kraft seiner Gedanken strahlte er die Antwort aus: Wage es nicht auch nur im Entferntesten, irgendwelche Veränderungen an meinem Bewusstsein oder meinem Körper vornehmen zu wollen. Sollte ich versuchte Manipulationen spüren – und verlasse dich darauf, ich würde sie spüren –, schraube ich dein Bewusstsein auf rein mechanische Handlangerdienste zurück. Kurzfristig, kaum wahrnehmbar, schwappte Hass über die Synapsen des Schiffes auf Clouds Denken über. Dann schwieg die RUBIKON, zog sich etwas zurück. Er hatte sich einmal mehr der Herausforderung gestellt und seine Autorität behaupten können. Doch wenn es hart auf hart kam würde er sich gegen das Schiff wirklich durchsetzen können? * »Die Erinjij bauen demzufolge vier kugelförmige Verteidigungsschichten auf, die konzentrisch angeordnet sind. In einer Entfernung von annähernd einem, fünf, neun und dreizehn Lichtmonaten zu den äußersten Systemplaneten.« Scobee wühlte sich durch die Unterlagen, die er vor ihr ausgebreitet hatte. Aus einem Grund, den er sich selbst nicht erklären konnte, wollte Cloud die Fakten schwarz auf weiß vorliegen haben und
nicht in Form von dreidimensionalen Hologrammen. In mancher Beziehung war er wohl hoffnungslos altmodisch. »Jede Schicht besteht aus sechsundzwanzigtausend möglichen Enklaven«, fuhr Scobee fort, »das ergibt insgesamt einhundertviertausend. Davon wurden bislang erst knapp zweitausend von den Erinjij geschaffen. Das Modell der vier Schichten ist also weitgehend unfertig. Von Flächendeckung keine Spur.« »Das ist richtig.« »Wie lange wird es bis zur Fertigstellung der vier Schichten dauern?« »Die RUBIKON geht von nicht mehr als zwanzig Räumkommandos der Erinjij aus, die die Enklaven schaffen. Bei diesem Tempo wird der Ausbau des Netzwerkes zweiundvierzig Jahre dauern.« »Zweiundvierzig Jahre? Das ist ja...« »Warte, das ist noch längst nicht alles! Wenn man berücksichtigt, dass ein jeder Hohlraum von mehreren stationären Wachkommandos, wie wir sie kennen gelernt haben, und fliegenden Einsatztruppen geschützt wird, handelt es sich um einen gar nicht abschätzbaren Aufwand. Sowohl im Zeitrahmen als auch logistisch und finanziell.« »Gut. Die Erinjij bereiten sich also langfristig auf eine mögliche oder wahrscheinliche Bedrohung vor. Bislang haben wir allerdings nur festgestellt, dass die Enklaven geräumt und geschützt werden. Doch was, in Dreiteufelsnamen, soll im Inneren der Leerräume passieren? Werden hier größere Abwehrforts stationiert, die noch mehr Aufwand bedeuten?« »Das wäre eine Möglichkeit«, antwortete Cloud. »Für meine Vorstellung sogar eine ziemlich wahrscheinliche. Andererseits... wir wissen beide nur zu gut, dass die Äskulapschiffe durch die Erzeugung eines künstlichen Wurmloches ohne Probleme direkt in das Sonnensystem
vorgedrungen sind. Eine Abschirmung hätte gegen solch einen Gegner keinerlei Schutzwirkung.« »Hm... ich glaube, wir gehen von völlig falschen Voraussetzungen aus. Es gibt einen Faktor, den wir schlicht und einfach übersehen.« »Lassen wir vorerst das Rätselraten, Scob. Es gibt noch weitere Daten, um die wir uns kümmern sollten. Sieh mal hier, die Endauswertung der RUBIKON über die Sprengungen an und für sich. Die Enklaven werden mit einer Wucht von einhundertzehn Megatonnen TNT freigeräumt. Das entspricht in etwa der siebeneinhalbtausendfachen Sprengkraft jener Atombombe, die 1945 über Hiroshima explodiert ist.« Clouds Gedanken schweiften ab. ›Little Boy‹ und ›Fat Man‹. So die Bezeichnungen für jene Bomben, die über Hiroshima und Nagasaki zum Einsatz gekommen waren. Sie waren selbst einhundert Jahre nach ihrem Einsatz als warnendes Beispiel für Kräfte gestanden, die der Mensch kaum oder nur mühsam zu beherrschen vermochte. John hatte Filme und Aufnahmen zu Gesicht bekommen, die mit zu dem Schrecklichsten gehörten, das er sich vorstellen konnte. Zerschmolzener Granitstein. Lavaartig verbackene, unkenntlich gemachte Häuser. Ein Ozean aus Asche. Schatten verbrannter Menschen. Schrecklich verstrahlte Kinder, kaum noch als Lebewesen erkennbar. Opfer der vierten und fünften Generation, an Leukämie und Schilddrüsenkrebs erkrankt. War dieser heiße Augusttag des Jahres 1945 denn nicht ein erstes, deutliches Ausrufezeichen dafür gewesen, dass die Menschheit auf Dinge Zugriff nahm, die sie nicht beherrschte, nicht beherrschen konnte? War der Abwurf der beiden Bomben über Hiroshima und Nagasaki vielleicht gar die Geburtsstunde
eines neuen Menschenschlages gewesen, der Unglück und Vernichtung lediglich als Ergebnis kühler, erfolgreicher Taktik sah? Die Geburtsstunde der... Erinjij? Mühsam nur kehrte er in die Gegenwart zurück. »Die RUBIKON konnte extrem kurzwellige Strahlung, weit unterhalb des Röntgenbereiches und ungeheuer energiereich, anmessen. Seltsamerweise reduziert sich der Strahlungswert nach knapp nullkommaeins Sekunden der Ausdehnung, also bei ziemlich genau fünfundzwanzigtausend Kilometern, auf ein Tausendstel des ursprünglichen Wertes und verpufft schließlich relativ harmlos in der Oortschen Wolke.« »Du meinst: Als ob jemand oder etwas die weitere Ausdehnung verhinderte?« »Exakt. Die Kugelform ist schlichtweg perfekt. Größere Kometen, die im Grenzbereich der Außenhülle treiben, werden regelrecht zertrennt. Der Teil innerhalb der FünfzigtausendKilometer-Grenze wird vernichtet, der Teil außerhalb bleibt bestehen.« Scobee, die stets ruhige und besonnene Frau, fuhr sich durch ihr Haar. »Was schlägst du vor, John? Alles, was wir bislang erfahren haben, hat nur noch mehr Fragen aufgeworfen. Das ergibt doch alles keinen Sinn!« »Zumindest wir können keinen erkennen, Scob. Wir müssen uns ohnehin auf den Weg machen, um den Termin mit Darnok einzuhalten. Ich denke, wir sollten das Risiko eingehen und uns einen raschen Weg durch das Kometen-Gewirr bahnen. Rasch ist natürlich relativ. Zwanzig Stunden wird die Reise schon dauern, wenn wir den großen Brocken ausweichen wollen. Wir müssen jedenfalls darauf verzichten, alles zu zerstrahlen, was uns in die Quere kommt. Dann hätten wir sicherlich bald wieder die Kampfschiffe der Erinjij auf dem Hals. Was die anderen möglichen Gefahren wie Wärmezonen, Antimaterie-Wolken oder Schwerkraftlöcher betrifft, bin ich mir mittlerweile sicher, dass uns der Schmiegschirm ausreichend schützen wird.« Er
zögerte. »Wir suchen uns aber eine Route, auf der wir eine mögliche zukünftige Enklave kreuzen. Die RUBIKON hat einen sorgfältig kalkulierten Flugvektor errechnet. Wir werden einen Sektor durchkreuzen, in dem mit allergrößter Wahrscheinlichkeit in den nächsten Stunden und Tagen ein Räum- und Sprengkommando der Erinjij tätig wird.« »Und warum willst du das tun? Wieder beobachten, wieder vermessen und nochmals die Gefahr einer bewaffneten Konfrontation heraufbeschwören? Die Kampfeinheiten stehen nun sicherlich rund um das Sonnensystem Gewehr bei Fuß und warten nur auf einen Ton von uns.« »Das bezweifle ich. Überlichtschneller Funkverkehr ist in der Oortschen Wolke aufgrund der physikalischen Gegebenheiten nahezu ausgeschlossen. Nachrichten reisen langsam hier.« Er grinste Scobee verwegen an. »Was hältst du davon, wenn wir uns alle Informationen aus erster Hand holen?« »Wie soll ich das verstehen, John?« »Wir krallen uns einen Erinjij.«
6. Einskommafünf Lichtjahre bis ins Innere des Sonnensystems waren etwas mehr als vierzehn Billionen Kilometer. Dies war eine Zahl mit zwölf Nullen. Eigentlich ein Klacks für die RUBIKON, dachte John Cloud. Das ist gerade so, als ob ich in Los Angeles mit dem Auto zum nächstgelegenen Supermarkt fahren würde. Die Signale, die er über die Rezeptoren des Schiffes empfing, sprachen eine ganz andere Sprache. Schlaglöcher, wie er die Hindernisse mittlerweile nannte, säumten ihren Weg. Kilometerbreite Gesteinsbrocken zwangen ihn immer wieder zum Ausweichen.
Einskommafünf Lichtjahre bis ins Innere des Sonnensystems in knapp vierundzwanzig Stunden bedeuteten aber auf der anderen Seite einen vierhundertvierzigfachen Überlicht-Faktor! Das Zusammenspiel von Flugund Reaktionsgeschwindigkeit war Cloud völlig unklar. Wie konnte er bei Überlichtgeschwindigkeit Kometen sehen, wie konnte er ihnen ausweichen? Was war dies für ein Kontinuum, in dem er sich bewegte? Vor den Sensoren und Rezeptoren der RUBIKON verhielten sich die Kometen wie Punkte in der Landschaft, die langsam näher kamen und denen er ausweichen musste. Manchmal meinte er, wieder in einem Flugsimulator der NASA zu sitzen und Reaktionstests zu absolvieren. Was war Zeit? Was hatte sie für eine Bedeutung in jener Gedankenwelt, in der er das Schiff steuerte? Nicht nachdenken, John Cloud, sagte ihm das Schiff. Lass es einfach passieren. Irgendwann wirst du mir Antworten geben müssen. Nicht jetzt. Konzentriere dich... Er hatte den fahlgelb leuchtenden Schmiegschirm auf lediglich fünfzig Prozent der Leistung hochgefahren, um die Gefahr einer Passivortung durch die Erinjij ebenfalls zu minimieren. Bei der Ausdehnung der Oortschen Wolke war die Gefahr einer zufälligen Entdeckung auf der gewählten Route gleich Null, aber Cloud wollte jegliches Risiko von vorneherein ausschließen. Wärmezone voraus, annähernd eine Lichtwoche tief, vermittelte ihm die RUBIKON. Und schon waren sie drinnen. 16,47 Grad Kelvin, Temperatur leicht steigend, meldete ein Sensor. Ein Ding der Unmöglichkeit.
Und dennoch... John spürte die geänderten Verhä ltnisse. Es war wie... wie der Hauch eines lauwarmen Windes, der ihm/dem Schiff leichten Widerstand entgegen brachte. Myriaden feiner, feinster Berührungen, kaum voneinander zu unterscheiden, nicht viel gewichtiger und bedeutsamer als die einzelner Moleküle. 17,22 Grad Kelvin, sagte das Schiff. Wir werden langsamer. Etwas bremst uns. Was war es, das sie aufhielt? Unsichtbare, schwarze Materie? Die große Unbekannte der modernen Astronomie? Ein dichtes Feld feinsten Kometenstaubs, so winzig, dass selbst die feinfühligen Sensoren nichts mehr ausmachen konnten? Oder... Leben? Rätselhaft, unbeschreiblich und unbegreiflich? Überlichtfaktor auf vierhundertzwanzig abgebremst. Temperatur bei 18,18 Grad Kelvin. Widerstand wird linear stärker. Was ist es?, fragte John die RUBIKON. Das Phänomen ist meinen Datenblöcken von früheren Reisen her bekannt. Doch es wurde nie erforscht, da es meinen Erbauern und Besitzern als zu unwichtig erschien. Du hast eine Erinnerung an frühere Besitzer? Du weißt also über sie Bescheid? John war verblüfft und vergaß vollständig, in welcher Situation er sich momentan befand. Du kennst ihr Aussehen, woher sie stammen, wer sie waren? Ich weiß, dass ich frühere Besitzer hatte. Manchmal wurde ich SESHA, das Seelenschiff, genannt. 20,56 Grad Kelvin. Vierhundertfache Lichtgeschwindigkeit. SESHA, das Seelenschiff... Wieso habe ich das Gefühl, dass du ablenkst? Dass du mir nicht die Wahrheit sagst? John wandte alle Kraft auf, um die gedanklich übertragenen Worte zu verstärken.
Bist nicht du jetzt mein Besitzer? Mein Lenker? John irrte sich nicht – es war tatsächlich Hohn in der gedanklichen Übertragung des Schiffes zu spüren. Es machte sich über ihn lustig! Wütend drosselte er die Energiezufuhr zu jenen zylindrischen Aggregaten, die in seinen Augen den Motor, das Herz, der RUBIKON darstellten. Gleichzeitig schlüpfte er ein klein wenig aus seiner tiefen Verbundenheit mit dem Schiff und entging so dem Schmerz, der den metallenen Leib augenblicklich durchfuhr. John verengte die lebensnotwendigen Arterien. Er schwächte den Energiefluss. Das Schiff würde das Äquivalent zu einem leichten Herzflattern empfinden. Nein... bitte! Du tust mir weh, kam der Ruf der RUBIKON. Ich will Antworten von dir. Und Folgsamkeit. Ja. Ja! Wer waren deine Erbauer? Waren es die Hirten? Wann wurdest du konstruiert? Warum versteckten sie dich im AquaKubus? Wo sind deine ehemaligen Besitzer hin verschwunden? Ich... weiß es nicht. Ich kann mich nur erinnern, dass es sie gab. Dass sie um mich und in mir waren. Sie waren anders als du. Kräftiger. Energischer. Zielgerichteter. Sie erfüllten ihre Aufgaben mit aller Hingabe und Leidenschaft. Sie hatten einen Plan. Einen großen, fantastischen Plan. John überzeugte sich mit einem Teil seines Bewusstseins davon, dass das Wärmefeld keine Gefahr darstellte. Es bremste sie zwar, konnte jedoch nach menschlichem Ermessen für keine Gefahr sorgen. In zehn Minuten würden sie diese Zone ohnehin wieder verlassen haben. Erzähl mir mehr von diesem Plan. Sag mir alles, was du davon weißt. Nichts, brüllte die RUBIKON auf, als er die Energieströme noch ein wenig mehr drosselte. Die Erinnerung an meine Erbauer wurde mir gestohlen.
Du meinst, die Daten wurden gelöscht? Ja. Es blieben lediglich Schatten. Ahnungen. Kleine Ablagerungen da und dort, ohne jeglichen Zusammenhalt. Die Temperatur fiel nun leicht ab, und die Fluggeschwindigkeit erhöhte sich wieder. Sie hatten die innerste Zone des Wärmefeldes durchstoßen. Meinst du, dass man diese zusammenhanglosen Daten rekonstruieren kann? Ich bin nicht in der Lage, selbstständig die notwendigen Querverbindungen zu schaffen. Und wenn dir jemand dabei... hilft? Ich, zum Beispiel? Mag sein, ich weiß es nicht. Lass mich los, bitte! Mach, dass es aufhört zu schmerzen! Ja, es könnte dir gelingen! John lockerte den Griff. Die Energieflüsse beruhigten sich. Das Herz des Schiffes begann wieder ruhig und regelmäßig zu schlagen. Minuten vergingen. Schließlich meldete die RUBIKON: Temperatur wieder auf 2,70 Grad Kelvin. Geschwindigkeit normalisiert. Sie ›sprach‹, als ob nichts geschehen wäre. Was auch immer dieser Wärmezone innegewohnt hatte – John Cloud war dankbar für die Gelegenheit, die es ihm gegeben hatte, das Schiff aus der Reserve zu locken. Eine Durchforstung der virtuellen Datenbänke würde sicherlich einiges Interessantes ans Tageslicht bringen. Er nahm sich vor, schnellstens mit dieser neuen Aufgabe zu beginnen. Sobald sie das Rätsel der Enklaven geklärt, die Oortsche Wolke durchstoßen und das Geheimnis der Erinjij gelöst hatten.
7.
Zehn Stunden dauerte es, bis John Cloud die RUBIKON zur zweitinnersten Enklavenschicht brachte. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde in unmittelbarer Umgebung das nächste Sprengkommando der Erinjij auftauchen. Es waren noch fünf Lichtmonate oder etwas über vier Billionen Kilometer bis zur Grenze des Sonnensystems. Nachdem von den Menschen der Zukunft noch nichts zu sehen gewesen war, hatte er sich aus dem Schiff ausgeklinkt. Er lümmelte sich erschöpft in das karmesinrote Sofa des Gemeinschaftsraumes, das er sich kurz vor dem Verlassen des Steuersitzes erdacht hatte. Seine Hände zitterten unkontrolliert. Nur mit allergrößter Mühe konnte Cloud die Gewalt über seine körperlichen Reaktionen behalten. Müde schloss er die Augen. Die Arbeit im Verbund mit dem Schiff strengte ihn an. Mehr, als er jemals erahnt hatte. Achtzigtausend Ausweichmanöver, hatte die RUBIKON vermerkt, war er in dieser Zeit geflogen. Das waren zwei pro Sekunde! John spürte angenehme Kühle auf seiner Stirn. Die Frau – wie hieß sie gleich noch ma l? Scobee, genau! – hielt ihm ein in Wasser getränktes Tuch an die Schläfen. »Besser?«, fragte sie mit besorgter Stimme. »Ja. Essen, bitte«, krächzte er mit trockenem Mund. Leise, fast schleichende Schritte entfernten sich. Endlose Reihen an schroffen Kometen tauchten plötzlich wieder vor seinem geistigen Auge auf. Sie drehten sich wirr und blinkten in fahlem Licht. Halblinks nach unten wegtauchen, die Flügel einziehen, eine halbe Schraubendrehung, Geschwindigkeit abrupt halbieren, Andruckabsorber verstärken, punktuelle Verstärkung des Schmiegschirms gegen zwei aufprallende Kometen von jeweils zwanzig Meter Stärke, zwischen zwei aufeinander zustrebenden
Großobjekten durchflitzen, Beschleunigung, routinemäßig alle zwei Zehntelsekunden die Schiffsfunktionen checken... »John!« Er erschrak. Sprang hoch, riss die Augen auf und hätte Scobee beinahe das Tablett mit dem Speisebrei aus den Händen geschlagen. »Du solltest rasch essen und dich dann für ein, zwei Stunden ausruhen«, sagte sie ruhig. »Keine Zeit. Erinjij können jederzeit kommen. Muss wach bleiben«, antwortete er kurz angebunden. Hastig schaufelte er die Nahrungspaste – diesmal in dezentem kupferrot gehalten – in sich hinein. »Mehr, Scobee. Viel mehr. Bin hungrig und durstig.« Cloud setzte das Halbliterglas mit Wasser an und trank es in einem Zug leer. Die Frau entfernte sich schweigend und kam gleich darauf mit einer zweiten Portion wieder. Wiederum löffelte er in sich hinein, so schnell er konnte. Er benötigte rasche Kalorienzufuhr für das, was er offensichtlich während des Fluges im Schiff verbraucht hatte. Endlich spürte er ein Gefühl der Sättigung. Er gähnte. Dann fielen ihm die Augen zu. * »John, aufwachen! Los, komm zu dir!« »Was... was ist los? Bin ich etwa weggenickt?« Mühsam rappelte er sich hoch. »Du hast wie ein Stein geschlafen, John. Zwei Stunden lang.« Zornig fuhr er sie an: »Wie konntest du das zulassen, Scobee? Die Erinjij hätten jederzeit auftauchen können.« »Das Schiff kann solche Aufgaben auch im Alleingang meistern. Hast du das schon vergessen?«
»Keineswegs. Aber es entwickelt immer wieder einen Eigensinn, den ich kontrollieren muss.« »Hattest du etwa Probleme während des Fluges? Ich habe dich die meiste Zeit beobachtet, und für kurze Zeit bist du in eine derartige Verkrampfung verfallen, dass mir Angst und Bange wurde. Als ob du mit inneren Dämonen kämpftest.« Cloud lächelte schwach. »So ähnlich war es auch. Ich musste der RUBIKON mal wieder zeigen, wer der Herr im Hause ist.« Scobee blickte ihn mit sorgenvo ll verzogener Miene an. »Du merkst es vielleicht nicht, John, aber dieser stetige Machtkampf mit dem Schiff nimmt dich mehr her, als du wahrnimmst. Oder zuzugeben bereit bist.« Sie reichte ihm eine Tasse, die mit kaffeeähnlicher Flüssigkeit gefüllt war. »Bist du sicher, dass du diesen Kampf auch gewinnen kannst?« »Danke«, sagte er, und nahm einen kräftigen Schluck von der heißen Brühe. »Ja, ich bin mir sicher. Ich habe eine Möglichkeit gefunden, die RUBIKON unter Druck zu setzen. Sie zu einer Kooperation zu zwingen.« Er stand auf und reckte die müden Glieder. »Wie ich annehme, ist es in der Zwischenzeit ruhig geblieben? Es sind nur noch zwölf Stunden hin zum vereinbarten Treffe n mit Darnok, beziehungsweise fünf Lichtmonate mühsamster Manöver, bis wir die Oortsche Wolke durchquert haben. Wenn nichts dazwischen kommt, benötige ich für die Restetappe wiederum zehn Stunden. Denn je weiter wir uns dem Sonnensystem annähern, desto dichter wird das Kometenfeld. Was bedeutet, dass wir nur noch zwei, maximal drei Stunden auf die Erinjij warten können.« Er seufzte. »Irgendwie rechne ich nicht mehr mit einer Begegnung. Es wäre auch zu schön gewesen...« In diesem Moment ging der Ortungsalarm los. *
Der erste Eindruck für Cloud war der einer unheimlichen, immensen Bedrohung. Als ob eine Schwefelwolke des Teufels über den Erdschiffen schwebte. Und dennoch... »Das sind keine Kampfraumer, Scob. Dessen bin ich mir sicher.« Cloud flüsterte unwillkürlich, als ob man ihn sonst hören würde, und kam sich im nächsten Moment lächerlich vor. »Die Angriffsschiffe, die wir bislang kennen gelernt haben, sind wesentlich länger und voluminöser, und die sichtbaren Geschütztürme wuchtiger. Bei diesen Einheiten handelt es sich wahrscheinlich um die Räumkommandos.« »Da hast du möglicherweise Recht, John. Aber wir sollten sie keinesfalls unterschätzen.« Sie hatten sich in den Schutz eines acht Kilometer langen und extrem flachen Kometen begeben, der soeben sein Aphelion, den fernsten Punkt seiner elliptischen Bahn um die Sonne, erreichte. In den nächsten vierzigtausend Jahren würde er zurück ins Innere des Sonnensystems fliegen. Die Flügel der RUBIKON hatten sich um das brüchige Gestein des Kometen geklammert und hielten das Schiff auf dem Untergrund fest. Alle energetischen Aktivitäten waren minimiert. Lediglich die Aktivortungs- und Bildaufbereitungsanlagen liefen auf Hochtouren. Die Farbe der beiden Schiffe der Erinjij war hellgrau, die Form kastenähnlich. Eine Vielzahl von spitzen Aufbauten stand wie Stacheln nach allen Richtungen weg. Funk- und Ortungsantennen. Rezeptoren, welcher Art auch immer. Zarte, fast filigrane Waffentürme, die beständig nach allen Richtungen suchten... Eine besondere Form der Aufgeräumthe it lag den beiden Schiffen inne. Gefühle von Nüchternheit und Kühle breiteten sich in John Cloud aus. Diese spürbare Bedrohung, sie schien so kalt und glatt, so seelenlos...
Ein riesiger, zweidimensionaler Bildschirm, den sich der Commander gewünscht hatte, lieferte gestochen scharfe Aufnahmen. Mehr als drei Lichtsekunden entfernt flogen die Erinjij einen Zick-Zack-Kurs, als ob sie etwas suchten. Mannigfaltige Ortungsimpulse, zumeist im Ultrakurzwellen-Bereich, trafen immer wieder die Abwehrschinne der RUBIKON. »Nehmen sie's wirklich so genau? Wollen sie die Anfertigung ihres geometrischen Musters an Enklaven derart auf die Spitze treiben?« »Anscheinend, Scobee. Bislang gab es lediglich Abweichungen im Kilometer-Bereich. Du kannst dir wohl vorstellen, was fü r eine logistische Vorbereitung das voraussetzt bei der riesigen Ausdehnung der Oortschen Wolke.« »Ich habe eine Anomalität entdeckt«, meldete sich die RUBIKON mit ihrer weiblichen Stimme zu Wort. »Was meinst du damit?«, fragte Scobee. »Einen Kometen, der keinen Drehimpuls besitzt und wie verankert auf seiner Position verharrt. Er ist nahezu rund, mit einem Durchmesser von fünf Kilometern.« Die Darstellung auf dem Bildschirm zoomte langsam auf einen einsam dastehenden Gesteinsbrocken, der hell glitzerte. »Ich messe einen hohen Metallgehalt, mit Anteilen an Blei, Eisen, Kupfer, Aluminium, Zinn und Zink, darüber hinaus Uran, Quecksilber, radioaktives Jod 129, Hafnium, Tantal, große Mengen an Polymerketten und - verbindungen...« »Jaja... aber was heißt das alles?«, fuhr Cloud dazwischen. »Die RUBIKON will vermutlich sagen, dass sich im Inneren dieses... Dings eine getarnte Station der Erinjij befindet, nicht wahr?« »So weit würde ich nicht gehen, GenTec Scobee.« Die Häme in der Stimme war nicht zu überhören, als die RUBIKON die genetische Herkunft der Frau ansprach. »Keine Station, sondern
eine Art Anlage. Und ein Vergleich zu der Materialmischung, die ich in den Schiffen der Erinjij anmessen kann, lässt mich sicher sein, dass es sich um ein anderes Volk handelt, das für die Herstellung sorgte. Diese getarnte Anlage befindet sich übrigens in einem Hohlraum, der mehr als siebzig Prozent des Kometen ausmacht. Der Komet wurde wohl ausgehöhlt und adaptiert.« Nach einer kurzen Pause fuhr das Schiff fort: »Soeben haben auch die Menschen in den feindlichen Raumern das künstliche Objekt entdeckt.« Das Panoramabild schwenkte zurück auf die beiden Schiffe, auf deren Flanken eindeutig irdische Zahlen- und Buchstabenkombinationen sichtbar wurden. »RTR73A12«, murmelte Cloud. Sein militärisch gedrilltes Auffassungsvermögen verglich die Kombination mit dem, was er während seiner Ausbildung bei der NASA so an Abkürzungen gelernt hatte. Vergeblich. »Mir sagt das auch nichts«, beantwortete Scobee die unausgesprochene Frage. »Das ist kein Code, wie wir oder die Europäer ihn seinerzeit benutzt hätten. Die Chinesen oder Russen kommen wegen der lateinisch geschriebenen Buchstaben ohnehin nicht in Frage.« Seinerzeit, sagte sie. Im Jahr 2041, als sie die Erde verlassen hatten. Vor wenigen Monaten. Die möglicherweise zu Tausenden Jahren geworden waren... »Die Schiffe nähern sich dem künstlichen Kometen in einer Zangenbewegung«, meldete sich die RUBIKON wieder zu Wort. »Annäherung auf sechzigtausend, vierzigtausend, zwanzigtausend Kilometer... Stillstand bei fünftausend Kilometern.« Pause. Längere Zeit sagte niemand etwas, weder die beiden Menschen, noch die RUBIKON.
Eine ganze Latte an georteten Messergebnissen ratterte über den Panorama-Bildschirm. Zahlen und Daten, die Cloud und Scobee vielleicht später einmal wertvolle Hinweise über die Technik und vielleicht sogar die Lebensumstände der Erinjij geben konnten. Doch dies war lediglich ein unbedeutender Nebeneffekt ihrer Beobachtung, denn wirkliche Aufschlüsse über ihre Nachfahren wollten sich die beiden Menschen direkt vor Ort holen. Auf der Erde. »Beide Schiffe schleusen jeweils ein Beiboot aus. Es hat eine ähnliche Form, also kastenähnlich, mit einer leichten Verjüngung zur ›Vorderschnauze‹ hin. Die Länge beträgt dreißig Meter, ein exaktes Zehntel der Gesamtlänge des Mutterschiffes. Breite zwölf Meter, Höhe vierzehn bis sechzehn Meter. Beiboot beschleunigt und wird in anderthalb Minuten auf dem Kunstkometen aufsetzen...« »Ich benötige keinen Live-Kommentar von dir, solange ich ohnehin alles auf dem Bildschirm verfolgen kann«, knurrte Cloud. Die weibliche Stimme verstummte. Die beiden Beiboote setzten langsam und sanft auf dem getarnten Brocken auf. Zwei Minuten vergingen. Dann entfernten sich die Mutterschiffe mit hohen Beschleunigungswerten bis auf eine Distanz von zwei Lichtsekunden. Eines kam der RUBIKON bis auf zweihundertfünfzigtausend Kilometer nahe. Gefährlich nahe, wenn man die Ortungskapazität der ErinjijKampfraumer in Betracht zog. Doch das fremde Schiff kümmerte sich nicht um das, was um es herum passierte. Die Menschen darinnen konzentrierten sich offensichtlich auf die weiteren Vorgänge auf dem Kunstkometen.
»Kannst du irgendwelche Funksprüche mitverfolgen?«, fragte Cloud sein Schiff. »Negativ. Alles bleibt ruhig.« Eine kurze Pause entstand, dann meldete sich die RUBIKON erneut: »Sollten wir die Erinjij nicht vernichten? Sie fühlen sich unbeobachtet. Ein paar gezielte Salven, und es ist vorbei. Bevor stärkere Kampfverbände auftauchen, sind wir längst über alle Berge.« »Wie ich bemerke, nimmt das Schiff langsam deinen legeren Sprachjargon an«, sagte Scobee gelassen, an Cloud gewandt. »Aber du solltest es vielleicht ein wenig besser erziehen. Man schießt einem Gegner nicht einfach in den Rücken. Vor allem, wenn man noch nicht weiß, ob man tatsächlich einem Gegner gegenüber steht, oder ob sich nicht alles als Missverständnis herausstellen könnte.« »Daran zweifle ich schwer, Scob. Und dennoch« – John richtete den zornesrot gewordenen Kopf nach oben, dorthin, wo er meinte, die Stimme der RUBIKON zu lokalisieren –, »du wirst solche ›Vorschläge‹ in Zukunft tunlichst unterlassen! Die Entscheidungen, was hier an Bord geschieht und was nicht, treffe ganz alleine ich! Ich! Oder sollen wir uns nochmals ausführlich über deine Energiezufuhr unterhalten?« Das Schiff schwieg. Cloud spürte über all seinem Ärger, dass er der RUBIKON nach und nach einen Charakter zuordnete. Als ob sie ein Lebewesen wäre. Denn sie benahm sich manchmal scheinbar jähzornig, hinterlistig oder eifersüchtig. Dann wiederum wirkte sie freundlich, treu ergeben und folgsam. John erblickte die Gefahr darin. Denkenden Geschöpfen gestand man Gefühle zu. Regungen, auf die er als Mensch reagierte. Dabei war das Verhä ltnis vom Schiff zu ihm nach seinen Begriffen als das eines Dieners zu seinem Herrn definiert. Die RUBIKON hatte sein Sklave zu sein und ihm jeden seiner
Wünsche von den Augen beziehungsweise von der Hirnrinde abzulesen. Doch so wie es aussah, hatten die Erbauer und ehemaligen Besitzer ganz andere Gewohnheiten gepflogen. »Es tut sich etwas auf Micky. Mehrere Personen sind ausgestiegen.« »Micky?«, fragte Cloud irritiert. »Ich meine natürlich den Kunstkometen. Siehst du nicht diese beiden runden, ohrähnlichen Erhebungen und die spitze ›Nase‹ im Zentrum? Ich sehe eine gewisse Ähnlichkeit zu Micky, der Maus.« »Ja. Also meinetwegen. Micky. Registriere diese Bezeichnung, Schiff.« Er konzentrierte sich wieder auf die Bildübertragung. Die Vorderteile der Beiboote waren mittlerweile auseinander geglitten. Sieben, nein, acht Lebewesen schossen aus jedem der kleinen Schiffe hervor und verteilten sich auf dem Kometen. »Sie haben zwei Anne und zwei Beine. Die Körperrelationen stimmen ebenfalls. Falls jemand an Bord noch zweifelt – hier handelt es sich um Menschen – oder zumindest um menschenähnliche Wesen«, sagte John leise. »Gibt es noch immer keine Funksprüche, Schiff?«, fragte Scobee. »Negativ. Alles läuft entweder in absoluter Ruhe ab, oder die Abschirmung ist so perfekt, dass ich sie selbst mit meinen Möglichkeiten nichts anmessen kann.« Wie von unsichtbarer Hand gezogen, schwebten mehrere längliche, gelbschwarz gefärbte Geräte aus einer Ladeklappe am Heck eines Beibootes. Sie folgten jeweils einem der sechzehn Erinjij, die sternförmig auseinander strebten und sich binnen weniger Minuten gleichmäßig über Micky verteilten. »Was machen sie da nur?«, murmelte Cloud leise. Die Erinjij bohrten einer nach dem anderen ihre länglichen Geräte in die dünne Hülle des künstlichen Kometen. Lediglich
feinster Staub und ab und zu kleine Splitter des Gesteins lösten sich und strebten nach allen Seiten weg. Die Kometenhülle war brüchig und spröde wie Dolomitenkarst. Cloud hatte das Gefühl, als ob die Menschen mit möglichster Sorgfalt vorgingen. Ihr Gang war langsam und von Vorsicht gekennzeichnet. Keine unkontrollierte oder hastige Bewegung war zu entdecken. »Ich kann energetische Aktivitäten in den Bohrapparaturen anmessen«, meldete sich erneut die RUBIKON. »Wahrscheinlich sind dies Selbstläufer, die sich ohne weiteres Zutun tiefer in die Kometenhülle wühlen«, sagte Cloud. »Voraussichtlich sollen sie bis zum Hohlraum vorstoßen. Allerdings ist es mir rätselhaft, warum die Erinjij sechzehn Bohrungen vornehmen, wo doch eine vollkommen reiche n würde. Und noch dazu weniger Risiko mit sich brächte. Denn dass die Menschen sich vor irgend etwas ängstigen, steht für mich außer Frage. Niemand würde sich so vorsichtig bewegen wie diese Herrschaften, wenn er nicht das Schlimmste befürchtete.« Mit leichtem Tadel in der Stimme sagte die RUBIKON: »Ich meinte natürlich nicht den Bohrvorstoß alleine, John Cloud. Dies ist ein semimechanischer Vorgang, der in der Tat unter größtmöglicher Vorsicht erfolgt. Ich rede von hoch energetischen Vorgängen. Siehst du den kleinen, kristallähnlichen Fortsatz am Oberteil? Ich werde den Vorgang für dich... für euch... sichtbar machen.« Das Bild des Panoramaschirmes zeigte augenblicklich eine grandios animierte Darstellung des Bohrgerätes. Die Spitze rotierte mit hoher Drehgeschwindigkeit immer weiter in die Tiefe. Sie würde sich gemäß der Vermutungen der RUBIKON nach dem Durchstoßen der Kometenhülle in mehrere dünne Fühler zerteilen, die sich augenblicklich mit unzähligen Widerhaken ins Gestein pressten.
Doch viel erstaunlicher war das, was sich am sichtbaren Teil des Bohrers tat. Ein Kristall am oberen Ende, der eher einem kunstvoll bearbeiteten Schmuckstück als dem Teil eines Arbeitsgerätes ähnelte, begann langsame, elliptische Schlingerbewegungen. Allmählich schneller werdend, reflektierte das Ding das wenige natürliche Licht der Sterne. Blaue, partikelgroße Lichtflecken sammelten sich um den Kristall wie Nachtfalter um eine Straßenlampe. Allmählich wurden sie mehr, formten sich zu einem regelmäßig kreisenden Fluss aus blauem Licht. »Was ist das für eine Energieform?«, fragte Cloud, der atemlos den unheimlichen Vorgang verfolgte. »Unbestimmbar«, antwortete die RUBIKON. »Es steht lediglich fest, dass es sich um einen Zapfstrahl handelt. Siehst du, wie er sich langsam verformt und sein Licht in Form einer Doppelhelix ins Leere hinausschießt? Meinen Berechnungen zufolge wird sich die Energiezufuhr des Bohrstabes in den nächsten zwanzig Minuten weiter verstärken. Das Blaulicht wird in einer Höhe von dreitausend Metern das Kontinuum aufreißen und seinerseits Energie, allerdings in wesentlich größeren Mengen, aus einem übergeordneten Universum aufnehmen.« »Das alles willst du vorausberechnet haben? Das glaube ich dir nicht!« »Ich... kenne diese Art der Energiegewinnung bereits«, antwortete das Schiff. Das Zögern in der Stimme einer künstlichen Intelligenz hatte etwas Unheimliches, Furchteinflößendes an sich. Dies war etwas, das es einfach nicht geben durfte. Doch Cloud ersparte sich eine weitere Frage. Er war viel zu fasziniert von den Realbildern, die nun wieder über den Bildschirm liefen.
Gebannt beobachteten er und Scobee, wie sich die Hochrechnungen der RUBIKON eine nach der anderen bewahrheiteten. Es dauerte knapp fünf Minuten, bis die Blaupartikel sichtbar wurden, und weitere zehn Minuten, bis sich eine hochwabernde Doppelhelix bildete, vielleicht zwanzig Meter lang. Sie war unruhig, unstetig, als ob sie etwas suchen würde. Eine Doppelhelix... eines der bekanntesten Zeichen der Biologie, das die Struktur eines DNS-Moleküls nachzeichnete. Ein Sinnbild für das Leben an und für sich. Hatte dies irgendeine tiefliegende Bedeutung? »Da!« Scobee schrie auf. Nicht erschrocken, aber doch... betroffen. Die Kette der Doppelhelix-Moleküle fuhr abrupt aus einem der Bohrtürme in die Leere hinauf. In Abständen von wenigen Sekunden folgten die fünfzehn anderen nach, schossen nach allen Richtungen davon. Sie prallten in der von der RUBIKON prognostizierten Höhe von annähernd dreitausend Metern gegen ein unsichtbares Hindernis. Dieses Hindernis hieß Raum-Zeit-Kontinuum! Die Doppelhelices wollten die Barriere niederreißen. Wütend prallten sie dagegen, wanden sich wie Würmer, wurden schmaler und wieder breiter, scherten an der unsichtbaren Grenze entlang und suchten nach einem Zugang zu was-auchimmer. Das ist unbeherrschte, unkontrollierte Energie, dachte John Cloud. Ihm wurde gleichzeitig warm und kalt. Wissen die Erinjij denn wirklich, was sie tun? Das Blau wurde zu einem Violett. Immer rasender strebten die Energiewürmer danach, sich zu entladen. Cloud konnte nicht umhin, etwas Lebendiges in ihnen zu sehen. Auch wenn sie nichts anderes als energetische Erscheinungen darstellten. Rot.
Rot waren sie nun. Weiß gezackte Risse zeigten sich dort, wo nach allen Gesetzen der Physik gar nichts sein durfte. An der Barriere, der Grenze zu einem anderen Raum. Wie bei splitterndem Glas setzten sich die Risse fort, weit in die Unendlichkeit des Alls hinein. Und dann, endlich, hatten sich die Würmer durchgebohrt. Der Damm brach. Doch der Kampf der Energien, der nunmehr einsetzte, war ein ungleicher. Denn die Gegner von jenseits der Grenze, grellweiße, glatte Strahlen, verschluckten die roten Doppelhelices mit einer Leichtigkeit, dass Cloud erneut Angst und Bange wurde. Langsam, fast genüsslich, drängten sie vor, hinab zum Kometen Micky, fraßen ihren roten Gegner auf. Die Erinjij hielten mittlerweile einen respektablen Abstand zu ihren Bohrgeräten ein. Mindestens fünfzig Meter. Aber das würde nie genügen. Niemals! Und doch geschah ein zweites Wunder, wie es kaum noch unwahrscheinlicher sein konnte. Denn der kleine, blaue Kristall absorbierte die ungeheuren Mengen weißer Energie! Lediglich kleine, zart verästelte Blitze drangen seitlich aus dem Kristall und verpufften wirkungslos nach wenigen Metern. Cloud schwieg und sah dem Zapfvorgang atemlos zu. Denn um nichts anderes konnte es sich handeln: Die Erinjij speicherten die Energiemengen aus einem Fremduniversum in kristallinen Speichern, die rund um den Kometen Micky verteilt waren. Nach drei, vier Minuten ging der Vorgang völlig unspektakulär zu Ende. Der Durchgang schloss sich, und die weißen Strahlen ließen abrupt nach. Mit Lichtgeschwindigkeit. Dies mochte das erste und einzige Mal während des Zapfens gewesen sein, dass die Physik den Naturgesetzen gehorchte. Denn eben zuvor hatte Cloud verfolgen können, wie sich die
Strahlen langsam und sichtbar, fast gemächlich, ausgebreitet hatten. Und wie sich zumindest zwei der drei Hauptsätze der Thermodynamik ad absurdum geführt hatten. »Ist es schon vorbei? Ist das alles, was hier passieren wird?«, fragte Scobee völlig ratlos. »Ich nehme an, dass dies lediglich das Vorspiel war«, sagte Cloud nachdenklich. Er deutete auf die Erinjij, die langsam, fast gemächlich, ihre Ausrüstung zusammenpackten und sich daran machten, wieder an Bord ihrer Beiboote zu gehen. Lediglich eine schwarze, wuchtig wirkende Kiste mit annähernd zwei Metern Kantenlänge blieb zurück. »Vermutlich wird die weiße Energie dazu genutzt, um den Kometen samt seiner extraterrestrischen Hinterlassenschaft in die Luft zu sprengen. Mit der Neugierde der Menschen dürfte es demzufolge nicht allzu weit her sein. Sie machen nicht einmal Anstalten, sich der Anlage im Inneren zu nähern.« »Würdest du es denn machen, wenn es bereits die zweitausendste Station ist, der du begegnest, und sie sich alle wie ein Ei dem anderen ähneln?« »Natürlich«, antwortete Cloud ohne zu zögern. »Man kann nie wissen, was einen Neues erwartet.« »Wäre das nicht die Gelegenheit, einen oder mehrere Erinjij zu uns an Bord zu bringen?« Scobee wechselte abrupt das Thema. »Du schnappst dir mit Hilfe unseres Schmiegschirms eines der Beiboote und bringst es auf.« »Du hast Recht, Scob.« Cloud stimmte ihr zögernd zu. »Doch offen gestanden bin ich neugierig geworden. Ich möchte gerne sehen, wie und in welcher Form die Sprengung von Micky erfolgt. Ich nehme an, dass sich danach nochmals Chancen ergeben. Die Erinjij werden mit Sicherheit Nachmessungen anstellen und den leer geräumten Sektor überprüfen. Dann schlagen wir zu. Bist du damit einverstanden?«
Cloud bemerkte zum wiederholten Male, wie viel Wert er auf Scobees Meinung legte. Viel mehr Wert als zuvor, als er noch nicht wusste, dass er der Matrix-Scobee gegenüberstand. »Wird die Ortungsgefahr nicht langsam zu groß für uns?«, fragte sie. »So lange sich die Erinjij nur auf Micky und seine Umgebung konzentrieren, sehe ich keinen Anlass zur Besorgnis«, sagte Cloud. »Was meinst du dazu?« Er richtete die Frage Richtung Decke. Er wusste mittlerweile, dass die RUBIKON jede seine Bewegungen mitverfolgte und genauestens zu deuten wusste. Dies erzeugte meist ein unangenehmes Gefühl. Er und Scobee hatten sich auch längst abgewöhnt, etwas vor dem Schiff geheim halten zu wollen. Ein weiteres Problem, das ansteht: Ich muss der RUBIKON beibringen, die Intimsphäre zu wahren, dachte er. Offensichtlich hatten die früheren Besitzer kein besonderes Interesse daran gehabt. »Korrekt, John Cloud. Der Ortungsschutz ist im Schutze unseres Kometen optimal.« Damit war die Sache entschieden. * Cloud stieg wieder in das Innenleben des Schiffes ein. Er wollte die zu erwartende Explosion mit den erweiterten Sinnen der RUBIKON miterleben und ermessen können. Er wusste Scobee wachend an seiner Seite. Die sanfte Berührung ihrer Hand verlor langsam an Bedeutung. Unzählige Rezeptoren ersetzten seine menschlichen Sinne. Wie viel Zeit bleibt uns noch bis zum Treffpunkt mit Darnok?, fragte er beiläufig das Schiff. Sieben Stunden und dreiunddreißig Minuten.
Sie würden also mit aller Wahrscheinlichkeit zu spät kommen. Cloud hoffte, dass das eigentümliche, herzförmige Wesen genug Geduld und Zeit aufbringen würde, um auf sie zu warten. Obwohl der Faktor Zeit kein Problem für den Keelon darstellen durfte... Er blickte mit den Sinnen der RUBIKON hinaus ins All. Die Beiboote hatten vor einer Viertelstunde in den Mutterschiffen eingeschleust. Seitdem war Ruhe. Es tut sich was auf Micky, dachte sein Schiff. Gleichzeitig spürte Cloud, dass der zurückgelassene schwarze Kubus Aktivitäten zeigte. Wahrscheinlich befanden sich Messgeräte in ihm, welche die Explosion mitverfolgen und so lange wie möglich Daten an einen der Erinjij-Raumer übertragen sollten. Kurz darauf setzten sich die feindlichen Schiffe in Bewegung und entfernten sich noch weiter, bis sie eine Distanz von fünf Lichtsekunden zum Kometen erreicht hatten. Die Kristallspitzen der Bohrer beginnen, die aufgenommene Energie zu emittieren. Cloud ärgerte sich einmal mehr, dass die RUBIKON Sachen kommentierte, die er mit ihren Sinnen ohnehin nachvollziehen konnte. Nur nicht ablenken lassen! Wahrscheinlich hat die schwarze Box soeben einen Code, eine Art Reizimpuls ausgeschickt. Die sechzehn Bohrköpfe beziehungsweise die Energiekristalle sind nun scharf und werden in die Sprengsequenz geschickt... Doch Cloud irrte sich. Es kam ganz anders. * Die weiße Energie, die aus den Kristallspitzen strömte – dampfte war vielleicht das bessere Wort für das, was John Cloud erfasste –, verteilte sich gleichförmig rund um den Kometen, umschlang ihn und hüllte ihn ein. Sie wirkte wie eine
dicht gewobene Nebelschwade, die kaum mehr eine Sicht auf den Gesteinsbrocken erlaubte. Das ist ein... Schutzschirm! Ein gottverdammter Schutzschirm, dachte John überrascht. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Seine Sensoren maßen weitere Tätigkeiten des zurückgelassenen schwarzen Kubus an. Es waren dies rein mechanische Aktivitäten. Energetische Emissionen, so sie nun noch auf Micky vorkamen, wurden erbarmungslos vom weißen Schutzschirm geschluckt und drangen nicht mehr durch. Die RUBIKON lenkte seine Aufmerksamkeit auf die beiden Erinjij-Schiffe. Es sieht so aus, als ob dort ein Countdown abläuft. Ich spüre Impulse in Sekundentakt. Und der weiße Schutzschirm fluktuiert jetzt im selben Rhythmus. Tatsächlich! Jetzt spürte er es auch. Für kurze Zeit war er zu sehr auf den Kometen fixiert gewesen. Cloud musste lernen, mit den eingehenden Daten aus allen möglichen Quellen gleichzeitig umzugehen. Sonst würde er die RUBIKON nie vollends beherrschen... ... acht, sieben... zählte sein Schiff herunter. Die Fluktuation des Schutzschirmes wurde wesentlich stärker. Als ob er im Sekundentakt ein- und wieder ausgeschaltet würde. ... drei, zwei, eins, null. Instinktiv wollte John Cloud die Augen schließen. Doch die Rezeptoren der RUBIKON gehorchten völlig anderen Gesetzmäßigkeiten und blieben erbarmungslos auf Empfang. So erlebte er die Explosion mit einer Vielzahl von Sinnen mit. Und wenn es noch so viel anzumessen gab – binnen zwei Zehntelsekunden war der Spuk vorbei. Micky, der Komet, und sämtliches Gestein im Umkreis von fünfzigtausend Kilometern war einfach weg. Vernichtet. Zerstrahlt.
Zerbombt. Feiner Nebel, der Rest des weißen Schutzschirms, zerfaserte am Rand der unsichtbaren Grenze und verflüchtigte sich weitere drei Zehntelsekunden später ebenfalls. * »Du meinst also, dass der weiße Energieschirm die Wucht der Explosion weitgehend aufgefangen hat?« »So ist es, Scob.« Cloud fühlte sich müde und überfordert. Eine halbe Sekunde voll unglaublicher Sinneseindrücke hatte sich tief in seine Seele gebrannt. »Dies war eine bewusst herbeigeführte Reaktion. Mechanische Belastungen auf der Kometenoberfläche, provoziert durch die schwarze Box, stimulierten offensichtlich eine Abwehrreaktion der versteckten Anlage. Dies erklärt auch, warum die Bohrarbeiten der Erinjij mit allergrößter Vorsicht durchgeführt wurden und sie selbst Micky kaum berührten.« »Diese Menschen fühlen sich also an der Grenze ihres Heimatsystems von einer fremden Macht bedroht und schalten in mühsamer Kleinarbeit eine Fremdstation nach der anderen aus.« Scobee rieb sich nachdenklich die Nase. »Sie nehmen diese jahrelange Arbeit aus einem Gefühl der Bedrohung heraus auf sich...« »Ich konnte die Wucht der Explosion am eigenen Leibe... ich meine, mit den Sinnen des Schiffes... erleben. Ich zeige volles Verständnis für den Respekt, den die Erinjij den unbekannten Erbauern entgegenbringen.« »Wie hätte eine Explosion ohne Gegensteuern durch den weißen Energieschirm geendet?«, fragte die Frau. Cloud zögerte. »Das lässt sich nur ungefähr abschätzen. Doch ich nehme an, dass die RUBIKON so wie alles andere um uns pulverisiert worden wäre.«
Das saß. Scobee musste schwer schlucken, bevor sie weiterredete. »Wir sind nahezu eine Lichtsekunde vom Detonationspunkt entfernt gewesen«, sagte sie schließlich. »Ich weiß.« »Das würde also bedeuten, dass die Sprengkraft mit Hilfe des weißen Schutzschirmes auf ein – warte mal, lass mich nachrechnen – also, auf mindestens ein Dreihundertstel eingegrenzt wurde.« »Ja.« Er wusste nicht, was er sonst noch antworten sollte. Begriffe, Zahlen und Vergleiche hatten in der Unendlichkeit des Weltalls viel an Wert verloren. Vor allem, nachdem Cloud mit ansehen hatte müssen, dass es zumindest ein weiteres Kontinuum gab, das alle wissenschaftlichen Dogmen über Raum und Zeit erheblich ad absurdum führte. Cloud empfand so ähnlich wie vor zwei Wochen, als sie durch den Strudel eines Wurmloches an einen anderen Ort, in eine andere Zeit gezogen worden waren. In dieser Welt des Morgen war scheinbar alles möglich. Alles. Scobee nickte, und damit war die Sache für sie erledigt. Die GenTec-Matrix dachte viel pragmatischer als er. Wie immer. Sie nahm selbst Ungewöhnliches sofort als Tatsache hin. Er hingegen musste sich mühselig an neue Situationen und an neues Wissen herantasten. »Wirst du dich jetzt darum kümmern, einen Erinjij einzufangen?«, fragte sie drängend. »Wir sind mit unserem Zeitplan weit in Verzug. Wenn ich daran denke, wie unberechenbar sich Darnok bislang gezeigt hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass er für menschliche Neugierde Verständnis zeigt.« Cloud nickte zustimmend. Wenn nur alles so leicht wäre! In Wirklichkeit fühlte er sich keineswegs bereit, nunmehr auf Menschenjagd zu gehen. Zu
tief saßen die Eindrücke der Explosion und die Angst vor den ungeheuren Energiereserven, die die Erinjij beherrschten. Die technischen Möglichkeiten der RUBIKON gingen zwar mit ziemlicher Sicherheit noch darüber hinaus. Doch die Gegner kannten ihre eigenen Möglichkeiten, während Cloud gerade erst begonnen hatte, sein Schiff kennen zu lernen. Zudem stieg auch seine Müdigkeit mit jeder Minute, die er im Verbund mit der RUBIKON verbrachte. Er war erschöpft und benötigte eine längere Ruhepause. Doch das musste warten. Er ließ sich nach hinten in den Sarkophag sinken und glitt einmal mehr in jene unbegreifliche Welt des Schiffes. Sollen wir nun die beiden Erinjij-Raumer lahm schießen und aufbringen? Da steckte Gier dahinter – pure Mordlust. Cloud schleuderte dem Bordgehirn die ganze Kraft seines Denkens entgegen. Nein! Wir warten, bis die Beiboote wieder ausschleusen und nehmen uns eines vor. Haben wir uns verstanden? Es kam eine einfache Bestätigung. Eine simple Änderung eines elektromagnetischen Impulses von negativ auf positiv. John empfand dies als widerwilliges Ja. Sie mussten einige weitere Minuten warten, bis sich etwas tat. Das Schiff nahm dies mit Stoizismus hin, während Cloud immer ungeduldiger wurde. Verdammt! Die RUBIKON ist dein Schiff, das auf deine Erwartungen reagiert, und kein Lebewesen! Wenn du es nicht willst, dann empfindet es keinen Gleichmut, Zorn oder gar Hass, rief er sich ärgerlich zur Ordnung. Dies ist lediglich das Resultat einer Wechselwirkung. Du irrst dich, John Cloud, mischte sich das Schiff überraschend in seine Gedankengänge ein. Ich reflektiere zwar deine Ansichten und Wünsche. Doch in mir stecken auch die Prägungen meiner vorherigen Besitzer.
Noch bevor Cloud einen neuen, antwortenden Gedanken formulieren konnte, sah er über Ortungsrezeptoren, dass die Erinjij acht Beiboote ausschleusten. Augenblicklich verlor er das Interesse an einer weiteren Unterhaltung mit dem Schiff und konzentrierte sich auf die Menschen der Zukunft. Die kleinen, kastenförmigen Beiboote schwärmten aus und näherten sich der neu freigesprengten Enklave von mehreren Seiten mit atemberaubenden Beschleunigungswerten. Ortungsschutz verlassen. Jetzt!, dachte Cloud. Der Antrieb der RUBIKON kämpfte fü r wenige Momente gegen den Treibimpuls des Kometen, auf dem sie verankert waren. Mit einer leicht erhöhten Schubkraft zwang er den länglichen Brocken schließlich in eine neue, schnell berechnete Flugbahn Richtung Enklave. Cloud beschleunigte allmählich auf einhundert Sekundenkilometer und schleppte die mehrere zweitausendtonnen schwere Last, ihre Tarnung, ohne Probleme mit sich her. Mit ein wenig Glück kommen wir nahe genug an die frei gesprengte Blase heran, bevor wir von den gegnerischen Ortern entdeckt werden. Der Plan gefällt mir. Bis jetzt zumindest, dachte die RUBIKON. Mittlerweile hatten die Erinjij-Beiboote begonnen, Wolken von Restmaterie, die teilweise von außen ins Innere der neuen Enklave hineinschwebten, zu zerstrahlen. Sie setzten dabei jene grellblauen Strahlen ein, die Cloud nur zu gut von seiner ersten Begegnung mit einem irdischen Raumschiff, der PEKING, kannte. Dies waren tödliche, alles vernichtende Angriffswaffen. War ihre Kraft verwandt mit jener in kleinen Kristallen gefangenen Energie, die Schichten zwischen Universen aufreißen konnte? Er wusste es nicht.
Aber es würden viele Antworten sein, denen er sich in nächster Zeit stellen musste. Wenn sie die Erde erreichten. Falls sie die Erde erreichten. Du lässt dich immer wieder ablenken, John Cloud. Konzentriere dich auf das Naheliegende, dachte die RUBIKON. Das Schiff hatte Recht, wie so oft. Und doch schien ihm, dass es manchmal nichts lieber tat, als seine Achtsamkeit zu stören. Sekunden addierten sich zu Minuten, ohne dass sie entdeckt wurden. Immer wieder tasteten Clouds Sinne nach dem Taktwerk des Schiffes. Bald war der richtige Moment gekommen, sich von der Tarnung zu lösen und eines der Beiboote anzugreifen. Eines der kleinen Kastenschiffe hatte sich ein wenig von den anderen entfernt und arbeitete auf der ihnen zugewandten Seite der frei gesprengten Enklave an einem riesenhaften Kometen, der langsam über die Grenze trudelte. Das ist unser Opfer. Noch zwei Minuten, dann sind wir dran und schnappen uns das Ding! Jagdfieber hatte ihn gepackt, und er spürte, dass es dem Schiff ähnlich erging. Sie haben uns in der Ortung!, gellte ein lautloser Schrei durch das Schiff. Verdammt! Neunzig Sekunden zu früh für eine optimale Annäherung. John spürte die aufprallenden Suchstrahlen. Sie waren unangenehm wie ein Nesselausschlag, der sich langsam, aber unaufhörlich, über seinen Rücken ausbreitete. Ursprüngliche Sequenz abbrechen, befahl er der RUBIKON. Von der Tarnung ausklinken. Höchstbeschleunigung auf das Ziel zu. Volle Leistung auf Schmiegschirm. Er/das Schiff musste sich gewaltig anstrengen, um diese trivial klingenden Vorgaben adäquat und in kürzester Zeit
umzusetzen. Tausende, Abertausende Vorgänge mussten binnen weniger Momente koordiniert und ausgeführt werden. Es war, als würde John eine Rolle rückwärts vollführen, gleichzeitig einen Liebesbrief schreiben und nebenbei im Kopf eine Wurzel dritter Potenz ziehen. Die Erinjij waren sichtlich überrascht, doch sie reagierten schnell. Auch wenn hier wahrscheinlich kein auf Aggression und Abwehr eingestelltes Personal tätig war, so stoben die sechzehn Beiboote in kürzester Zeit doch weit auseinander, um der RUBIKON kein gemeinsames Ziel zu bieten. Sie nehmen damit bewusst das Risiko in Kauf, eines ihrer kleinen Schiffe zu verlieren, dachte Cloud. Das ist eine rein taktische Maßnahme. Und die beiden Mutterschiffe werden wohl die anderen fünfzehn Beiboote abzuschirmen trachten und an Bord nehmen. Wir können sie alle vernichten!, hetzte ihn die RUBIKON. Wir sind ihnen überlegen, ich weiß es! Eröffne den Kampf! Wieder brachte ihn sein Schiff mit unmotivierten – wie sollte er es nur ausdrücken – mit unmotivierten Wutausbrüchen aus der Konzentration. Cloud verlor wertvolle Hundertstel-, möglicherweise sogar Ze hntelsekunden. Er verschaffte sich einen Gesamtüberblick. Eines der Beiboote verfolgte einen etwas unglücklichen Kurs, das es durch ein dicht belegtes Kometenfeld führte. Das ist unser Opfer! Da drinnen sind wir ihm weit überlegen. Was uns an Kometen in den Weg kommt, wird weggerammt oder weggestrahlt. Also ihm nach, aber kein Beschuss! Auf minimale Kernschussweite heran, dann Störfunkfeuer über alle Frequenzen. Sobald seine Steuerung lahmgelegt ist, den Schmiegschirm vergrößern und einfangen. Bei der ganzen Aktion geht Sicherheit vor Risiko, gab Cloud Anweisungen, die eigentlich nur ihm selbst galten. Immer mehr wurde er von aufkommendem Jagdfieber gepackt, immer mehr sah er sich selbst als die RUBIKON.
Seine Struktursensoren meldeten Erschü tterungen, nur wenige Millionen Kilometer entfernt. Ein Kampfschiff der Erinjij. Nein, zwei! Verdammt, was sind die schnell! Das Beiboot, das er verfolgte, raste hakenschlagend durch die dichte Kometenwolke. Es musste ein menschlicher Pilot sein, der dort ›am Steuer‹ saß. Die Lenkmanöver waren haarsträubend und stets an der Grenze des Machbaren. Cloud konnte sich nicht vorstellen, dass eine Maschinerie oder Automatik derart verquere Bocksprünge erdachte. Er und die RUBIKON hatten es wesentlich leichter. Wo das Erinjij-Beiboot ausweichen musste, flogen sie geradeaus und schossen sich den Weg frei. Außerdem waren ihre Beschleunigungswerte um einen zweifachen Faktor überlegen. Annäherung auf zwanzigtausend Kilometer. Haken nach vorne unten weg. Großkomet voraus zerstrahlen. Kurs des Beibootes neu antizipieren. Korrektur nach backbord. Neuer Abstand achtzehntausend. Kampfschiffe der Erinjij nähern sich seitlich. Berechnen offensichtlich Treffpunkt mit Beiboot, zwanzig Lichtsekunden voraus. Nach Austritt aus dem dichten Trümmerfeld. Ist zu spät für sie. Bis dahin haben wir das kleine Schiff... Cloud/das Schiff triumphierte. Nur noch wenige Manöver, dann hatte er/es die Beute am Haken. Noch eine weite Kurve dort, wo das Beiboot enge Manöver durch Kometenmasse machen musste. Jetzt! Cloud/das Schiff schickte instinktiv Störstrahlung auf allen Fronten aus. Und tatsächlich: Das Erinjij-Schiff verlangsamte plötzlich, offensichtlich orientierungs- und antriebslos. Es torkelte dahin, nur noch von einer Restgeschwindigkeit getragen, sämtlicher Steuerungsimpulse beraubt. Ist das eine Falle? Nie und nimmer! Jetzt gilt's!
Cloud/das Schiff näherte sich mit absurden Bremsweiten dem kleinen Beiboot, packte es bei Stillstand mit Hilfe einer zusätzlich ausgebildeten Blase des Schmiegschirms und beschleunigte augenblicklich wieder. Cloud wählte einen Fluchtvektor, der ihn zurück in die neu gesprengte Enklave bringen würde. Von dort würde es weiter in Richtung innerer Kern der Oortschen Wolke gehen, über den ursprünglichen Kurs, den die RUBIKON berechnet hatte. Dorthin, wo die neun Planeten des Sonnensystem auf ihn warteten. Die Erinjij-Kampfschiffe holen auf. Stelle dich! Wir vernichten sie! Der Druck und das wütende Drängen der RUBIKON wurden stärker und stärker, und Cloud fühlte sich zugleich immer matter. Die Intensität des Steuerns nahm ihm seine Kräfte in atemberaubender Rasanz. Er benötigte unbedingt eine Pause, und er musste das Schiffsgehirn kaltstellen. Ein letzter großer Brocken, den er beiläufig zerstrahlte, und er hatte die Enklave erreicht. Volle Beschleunigungswerte jetzt!, feuerte er sich/das Schiff an. Cloud spürte einen zusätzlichen Kick, der die RUBIKON fast ruckartig vorwärts trieb. Erstmals lernte er die wahren Beschleunigungskräfte des unheimlichen Schiffes kennen. Das kleine Erinjij-Beiboot, das wie in einem Fischernetz am Heck des Manta-Rochens hing, bedeutete keinen nennenswerten zusätzlichen Energieaufwand für ihn/das Schiff. Enklave durchquert, dachte er. Ein letztes, überlichtschnelles Ortungssignal trifft uns. Cloud jubelte überschwänglich, trotz seiner Erschöpfung. Er hatte es geschafft! Sie waren entkommen, und sie hatten überaus wertvolle Gefangene gemacht. Das war kein Ortungsimpuls, vermittelte ihm plötzlich die RUBIKON, sondern...
Das Erinjij-Beiboot explodierte. ... ein Zündimpuls. Es war alles umsonst gewesen.
8. »Sie haben sich lieber umgebracht, als lebend in unsere Hände zu fallen. Was geht nur in diesen Menschen vor?« Cloud trug sein Entsetzen offen zur Schau. Er war »halb« aus seinem Sarkophag aufgetaucht. Er war jetzt offen, sah aus wie ein Sitz. Nicht wie eine geschlossene ägyptische Ganzkörper-Totenmaske. Aber seine Hände waren immer noch von Kontakt-, von Verbindungsenergie umzüngelt. Einen Teil der Aufmerksamkeit widmete er unvermindert dem Schiff, der Flucht und der nach wie vor schwierigen Steuerung durch massierte Kometenfelder. Der andere jedoch... war bei Scobee. »Ich hab's auf dem Panoramaschirm gesehen«, sagte sie nüchtern. »Was die Frage aufwirft: Wollten sie auf keinem Fall einem Feind in die Hände fallen, oder war es im Speziellen der Anblick der RUBIKON, der sie in den Selbstmord getrieben hat?« »Ich, nein... ich weiß es nicht«. Cloud schloss die Augen. Es war fast unmöglich, das Schiff zu sein – beziehungsweise es zu steuern –, und sich noch gleichzeitig um die Welt draußen zu kümmern. Er verfluchte seine körperliche Schwäche. Wann hatte er sich das letzte Mal so richtig ausschlafen können? Vor zwei Tagen, vor drei? Er gab Scobee einen müden Händedruck und tauchte wieder vollends in die RUBIKON ein.
Wir haben die Verfolger abgeschüttelt, meldete das Schiff. Mit den Beschleunigungswerten und unserer Wendigkeit sind wir eindeutig im Vorteil. Können sie unseren Austrittspunkt aus der Oortschen Wolke prognostizieren und dort eventuell stärkere Flottenverbände zusammenziehen, die uns erwarten? Nein. Die störenden Einflüsse innerhalb der Wolke sind zu groß, um direkten Funkkontakt mit außen zu ermöglichen. Selbst über eine Relaisbrücke mehrerer Schiffe würde es mindestens zwölf Stunden dauern, bis die Erinjij im Sonnensystem über unser Eindringen Bescheid wüssten. Und wieso waren sie gerade eben so rasch vor Ort? Der Schutzverband muss in der Nähe der neuen Enklave auf der Lauer gelegen sein. Als Rückendeckung, sozusagen. Offensichtlich legten die Erinjij nicht allzu großen Wert darauf, die Kampfkraft ihrer Schiffe offen zu demonstrieren. Er konzentrierte sich wieder vollends auf die Steuerungsarbeit und drängte das Bewusstsein des Schiffsgehirns so weit wie möglich in den Hintergrund. Ausweichen. Flügelschlag beschleunigen. Ein Feld mit Schwerkrafterhöhung umgehen. Wirkungsgrad des Schmiegschirms auf hundert Prozent anheben. Einfach nur durch, so rasch wie möglich. Geschlossenes Kometenfeld mit dreißig Kilometern Ausdehnung zerstrahlen. Kurze Orientierungspause. Kontrollortung. Kurskorrektur. Weiter. Es war wie ein Traum, ein nie endender Albtraum. Psychedelisch und verrückt. So ganz und gar außerhalb dessen, was ein Mensch verstehen konnte. Und es kostete ihm immens viel Kraft. Lange würde er nicht mehr durchhalten... Wir nähern, uns der letzten, der innersten Schicht der Enklaven. Und?, fragte Cloud knapp. Wir weichen aus, so wie wir es besprochen haben. Was sollten wir denn noch viel Neues
erfahren? Wir wissen nun, wie und warum die Enklaven entstanden sind und haben die Arbeitsweise der Erinjij kennen gelernt. Wir bleiben auf dem vorberechneten Kurs. Ich habe eine Anomalie entdeckt. Etwas ganz Besonderes... Die gedankliche Stimme des Schiffes lockte ihn, wollte ihn neugierig machen. Ich kann nichts sehen oder spüren. John führte rasch eine Überprüfung der ihm zugänglichen Datenbanken seines Raumschiffskörpers durch. Da ist nichts, was ich nicht schon kenne. Hier. Ein neuer, bislang nicht vorhandener Raum in seinem Bewusstsein öffnete sich. Als ob ein blinder Fleck plötzlich sehend geworden wäre. Es war wie ein Schock. Du hast mir Material vorenthalten! Die RUBIKON überging den Vorwurf. Sieh es dir an, John Cloud. Sieh nur hin! Er konnte die Daten nicht ignorieren. Sie waren in ihm, sie waren Teil seines Verstandes. Sie dokumentierten eine Enklave mit einem Durchmesser von fünfhunderttausend Kilometern! Und sie lag genau in ihrer Flugrichtung. Es ist die älteste Enklave von allen, Mensch. Hier hat offenbar die erste Explosion stattgefunden. Neue Zahlenreihen und neue Berechnungen ratterten durch sein Gehirn. Cloud konnte sich nicht dagegen wehren. Die RUBIKON beschoss ihn förmlich mit unbekanntem Material. Dies war der Ausgangspunkt für all die Sprengungen. Es mag ein Zufall gewesen sein, dass sie auf den präparierten Kometen mit der geheimen Station darauf gestoßen sind. Vielleicht war es ein simples Forschungsschiff, das Bodenproben zog oder sich einfach nur einen Weg durch die Oortsche Wolke bahnen wollte. Egal wie: Es ist explodiert, und
die Erinjij erkannten die Bedrohung, die auch nach innen, also gegen ihr Sonnensystem, gerichtet war. Cloud war verwirrt. Die RUBIKON überlud ihn mit Datenmaterial, das ihm bislang unbekannt gewesen war. Auch mit Informationen, die vollends irrelevant schienen. Ist ja alles... interessant, bringt uns aber... nicht weiter. Ich werde... Du wirst gar nichts. Lehne dich zurück und genieße. Mit einem sanften Ruck übernahm die RUBIKON die Steuerung. Es war kein Kampf vonnöten, beileibe nicht. Sie entwand ihm die Befehlsgewalt wie eine Mutter ihrem Säugling den Schnuller. Einfach so. Daten prasselten in endloser Folge auf ihn ein. Informationsströme, die ihn verrückt machten und immer tiefer, immer weiter zurückdrängten. Bis er sich selbst wie ein kleines Binom in einer endlosen Reihe von Schaltsequenzen vorkam. Er war zum Nichts verkommen. * Scobees Spaziergänge (4) Einmal mehr ließ Scobee die Kernzone, also jenen Bereich, den Cloud ständig kraft seines Willens beeinflusste und änderte, hinter sich. Diesmal ging es heckwärts. Zumindest ihrem Gefühl nach. Denn wer wusste schon, wo bei diesem lebenden Schiff vorne und hinten war? Von außen ähnelte die RUBIKON einem Manta-Rochen mit weit ausgebreiteten Flügeln. Auch die flüssigen und eleganten Bewegungen der Flügel während des Überlichtfluges vertieften diesen Eindruck. Scobee strebte also in die Richtung des hinteren Spitzes.
Darnoks Karte bestätigte, dass die Zentrale im ungefähren Zentrum des Schiffsleibes saß. An der dicksten Stelle, die rund fünfzig Meter maß. Es mussten hundertdreißig, maximal hundertfünfzig Meter bis zum Heck der RUBIKON hin sein. Der Gang, den sie gewählt hatte, endete nach zwei Dutzend Schritten und mündete in einem kreisrunden Verteiler. Sieben Schleusentore, zwei Meter hoch und drei Meter breit, standen ihr zur weiteren Auswahl. Sieben war eine Zahl, der man am Bord des Schiffes bei Schritt und Tritt über den Weg lief. Im Besonderen dachte sie an den Begriff der Sieben Hirten, dem sie, mythologisch verbrämt, im Aqua-Kubus erstmals begegnet waren. Auf den Heiligen Tafeln, die tausendfach im grünen Wasser trieben, waren Namen gestanden. Sobek, Mont, Mecchit, Sarac, Ogminos, Epoona und Siroona. Waren sie die Erbauer und ersten Besitzer der RUBIKON gewesen? Scobee war sich fast sicher. Doch was war von ihnen übrig geblieben? Nichts – außer der Erinnerung an Namen. Es gab sieben Steuersitze respektive Sarkophage. Immer wieder waren es sieben Tastelemente zur Bedienung einfacher Gerätschaften. Und zumeist, so wie hier, standen Knotenpunkte mit sieben Gängen zur Auswahl. Einerlei. Sie durfte sich nicht ablenken lassen und jene Zeitspanne nutzen, die ihr verblieb, während John Teil des Schiffes war. Scobee wählte den vierten, also den mittleren Gang. Sie tat dies rein aus ihrem Gefühl heraus, denn es gab keinerlei Anhaltspunkte für eine logisch bestimmte Entscheidung. Zu
sehen war vom Verteiler aus nichts. Alle sieben Abzweigungen krümmten sich nach wenigen Metern rechts weg. Seltsam. Dass gerade sie, die wegen ihrer kühlen und stets von der Ratio beherrschten Entscheidungen berüchtigte Frau, sich auf ihren Instinkt verlassen musste. Scobee fühlte sich keineswegs wohl dabei. Langsam, vorsichtig, ging sie den hell ausgeleuchteten Gang entlang. Dabei blieb sie stets an der rechten Seite und hielt eine Hand, wie fühlend, an der Wand. Der Kunststoff fühlte sich angenehm temperiert an, fast warm. »Dieser Bereich ist für dich nicht sicher«, ertönte die Stimme des Bordgehirns. »Ich kann auf mich ganz gut alleine aufpassen. Trotzdem danke für den guten Rat«, entgegnete Scobee, »Ich muss darauf bestehen, dass du umkehrst«, fuhr die RUBIKON fort. »Ich denke nicht daran. Hast du vielleicht etwas zu verbergen? Ein schmutziges, kleines Gehe imnis? Etwas, das nicht für unsere Augen bestimmt ist?« »Es besteht ein deutlicher Unterschied zwischen dem, das du tun und wissen beziehungsweise dem, das der Kommandant tun und wissen darf.« »John Cloud hat ohnehin keine Geheimnisse vor mir, wie du sicherlich schon bemerkt hast.« Ungerührt ging sie weiter. Schweigen. Hatte sich das Schiffsgehirn tatsächlich überzeugen lassen? Einfach so? Fast hatte es den Anschein. Die unsichtbare Lichtquelle versiegte allmählich, während es nunmehr kerzengerade vorwärts ging. Das Restlicht reichte bald nicht mehr für normalmenschliches Sehen, also schaltete Scobee mit einem bewussten Nicken auf Infrarot um.
Solche kleinen Tricks erleichterten den Umgang mit ihren übermenschlichen Fähigkeiten. Sie hatte sich diese Bewegung und noch einige andere während langer Trainingseinheiten angewöhnt. Doch diese Übungsstunden waren tiefe Vergangenheit. Es ging leicht aufwärts, dann allmählich steiler, und schließlich musste sie sich mit der rechten Hand an der Wand abstützen, um weiter vorwärts zu gelangen. Was war das bloß? Ein fieser, kleiner Trick des Schiffsgehirns, um sie daran zu hindern, etwas Bedeutsames zu entdecken? Die Sicht war nun gleich Null. Lediglich Arme und Beine, die Wärme ausstrahlten, waren in der allgegenwärtigen Dunkelheit noch zu erkennen. Es war absurd! Dies alles ähnelte eher einem psychedelischen Albtraum als einem Spaziergang durch ein hypertechnisiertes Raumschiff. Die Steigung musste bereits mehr als sechzig Grad betragen. Nur dank ihrer Zähigkeit und der Kraft, die ihren Fingern innewohnte, konnte sie sich noch halten und langsam, Stück für Stück, vorwärts hangeln. Sollte sie aufgeben und umkehren? Niemals! Die RUBIKON verheimlichte etwas vor ihr, das war klar. Und sie musste wissen, was es war. Da! Ein leichter Luftzug von links, der ihr Gesicht streichelte. Wahrscheinlich aus einem Quergang. Vielleicht noch ein paar Meter, dann konnte sie sich emporschwingen und verschnaufen. Scobee krallte die Finger in Boden und Seitenwand, verspreizte die Beine, so gut es ging, und schnellte sich mit aller Explosivität ihres gentechnisch verbesserten Körpers vorwärts. In der Hoffnung, eine Kante oder Winkel des Querganges zu erreichen.
Doch sie landete im – Nichts. * Da war nichts. Kein Widerstand. Nur große Leere. Sie fiel. In Bruchteilen einer Sekunde drehte sie sich um die eigene Achse, streckte alle Glieder so weit wie möglich aus und tastete während des Fallens nach etwas – irgend etwas! –, an dem sie sich festhalten konnte. Da! Ein Vorsprung oder eine Kante unter ihrer linken Hand. Scharfkantig und glatt. Der Ruck war mörderisch, als sich ihr ganzes Gewicht auf lediglich drei Fingerkuppen verteilte. Scobee ächzte. Sie verbannte jeden Gedanken an Schmerz aus ihrem Kopf. Ihr Körper schwang unkontrolliert hin und her. Die rechte Hand zuziehen. Rasch! Ja, so hab ich mir das gedacht. Es war tatsächlich eine Kante, an der sie hing. Eine Kante, über die sie wahrscheinlich hoch hinaus gesprungen war. Was für ein Glück, dass sie nicht kopfüber voraus gefallen war. Glück, pah! Sie fluchte unhörbar. Scobee setzte das Pendeln ihres Körpers ein, um sich mit einem Schwung vollends zur Kante hochzuziehen. Beinahe wäre sie auf der anderen Seite, von der sie gekommen war, wieder nach unten gerutscht. So saß sie, wie auf dem Vorderteil einer steil hoch gezogenen Zugbrücke, und keuchte schwer. »Verdammt, warum gibt es hier nur kein Licht?«, murmelte sie.
»Ich wusste nicht, dass du Licht haben wolltest«, dröhnte die nüchterne Stimme der RUBIKON von oben. Schlagartig wurde es hell um sie. So hell, dass sie geblendet die Augen schließen musste und beinahe nochmals das Gleichgewicht verloren hätte. Binnen weniger Sekunden gewöhnte sich Scobee an die geänderten Verhältnisse. Sie saß tatsächlich am Ende eines langen, weit ausladenden Steges, der wie eine Zugbrücke steil nach oben ragte. Vor, unter- und oberhalb von ihr war nichts. Nada. Niente. Nur Leere und Dunkelheit, die sich in der Ewigkeit verloren. Dies war mit Sicherheit kein Innenraum der RUBIKON, denn ihre Sicht reichte kilometerweit nach unten und oben. Zumindest, wenn sie sich auf ihr Augenmaß verlassen konnte. Das Faszinierendste war das völlige Fehlen jeglichen Luftwirbels, wie man ihn an einem Ort dieser Größenordnung erwarten musste. Nur ein ganz leichter, sanfter Zug war zu spüren. Scobee nahm eine Rolle mit Vitaminpillen aus der Brusttasche des Overalls, den Darnok ihr gefertigt hatte. Sie ließ das Röllchen einfach fallen. Langsam, wie unter etwas verminderter Schwerkraft, flatterte es nach unten. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig... Nach fünfzehn Sekunden verlor sie den kleinen Gegenstand aus den Augen. Der Abgrund war echt. Ein eiskaltes Kribbeln kletterte ihr Rückgrat hinauf, und sie ließ es geschehen. *
»Warum hast du mich nicht gewarnt, du verdammtes Monstrum?«, schrie sie ihren Zorn hinaus. »Das habe ich, Scobee. Ich wollte dich daran hindern, weiterzugehen.« »Du hättest mich auf die Natur dieser Gefahr vorbereiten müssen.« »Mein internes Protokoll würde jedem Beobachter beweisen, dass ich dich zweimal nachhaltig gebeten habe, nicht weiterzugehen. Soll ich es dir vorspielen?« »Ich weiß sehr gut, was ich gesagt habe! Aber es besteht ein bedeutsamer Unterschied zwischen dem, was du gewusst hast und dem, wie du es sagtest!« »Der Unterschied scheint mir nicht klar. Kann es sein, dass eure Sprache mehr Facetten zu bieten hat, als ich bislang glaubte?« Das Bordgehirn veräppelte sie und spielte zugleich mit ihren Emotionen. Sie beruhigte Kreislauf und Atmung. »Na schön. Was war es, was ich da gesehen habe? Wirst du mir wenigstens diese Frage beantworten?« »Negativ. Dein einfacher Beobachterstatus erlaubt es nicht, über solche Dinge Bescheid zu wissen.« »Na schön. Dann hole ich mir die Informationen eben von John.« Die RUBIKON schwieg. Fluchend rutschte Scobee vom Steg hinab und machte sich auf den Weg zurück zur Zentrale.
9. Glaubtest du denn wirklich, dass ich ein bloßes Spielzeug bin, John Cloud? Ein einfaches Fahrzeug, in dem man es sich bequem macht und durch die Gegend fliegt? Das Äquivalent
eines Lachens hallte durch das Schiff. Nein! Derjenige, der mein Herr sein will, der muss mich erobern. Er muss Meiner wert sein und mehr mentale Stärke aufbringen, als du es bislang vermochtest. Scobee. Wo war die Frau? Vielleicht konnte sie ihm beistehen. Wenn er doch nur ein klein wenig Handlungsfreiheit gewinnen könnte. Ein kurzes Zucken mit der Hand würde vielleicht genügen, um sie die Gefahr erkennen zu lassen... Mach dich nicht lächerlich, Kommandant. Scobee ist irgendwo in mir unterwegs, um kleine Geheimnisse zu entdecken, die ich ihr vorspiegle. Was für ein amüsantes Spiel! Wenn du ihr etwas antust, dann... Ich würde von Drohungen absehen, die du nicht erfüllen kannst, mein Lieber. Wieder ertönte homerisches Lachen. Mach dir keine Sorgen. Sie hat eine faire Chance, ihr kleines Abenteuer zu überleben. Zorn und Hass steigerten Clouds Willen, den Kampf gegen das Schiffsbewusstsein nochmals aufzunehmen. Aber bevor er an eine Angriffsbewegung denken konnte, drückte ihn die RUBIKON nochmals ein wenig tiefer in die Bedeutungslosigkeit. In eine endlose Schwärze. Kontakt!, dachte das Schiff plötzlich. Sie waren in die riesige Enklave vorgedrungen. John Cloud konnte spüren, wie das Schiff die Defensiv- und Offensivbewaffnung gleichermaßen hochfuhr. Sechs Kampfeinheiten der Erinjij standen im Zentrum des materielosen Raumes. Sie waren ahnungslos. Komm, mein tapferer Kommandant. Du darfst mitspielen. Unter keinen Umständen! Spürst du, wie sich die Energien aufbauen? Wie sie darauf warten, von uns, von mir und von dir, entlassen zu werden? Um den Feind zu töten? Spürst du es? Komm, sag es mir!
Die RUBIKON umschmeichelte ihn. Sie verwirrte weiterhin seine Sinne, streichelte über seinen Geist. Fuhr mit sanften Bewegungen punktgenau über Lust- und Schmerzzentrum in seinem virtuellen Körper, stachelte seine Wut an. Du willst es doch selbst, mein Kommandant. Zeige dich meiner würdig. Öffne deinen Mund und lass es geschehen. Erst wenige Hundertstelsekunden waren seit ihrer punktgenauen Ankunft in der Enk lave vergangen. Eine Sekunde. Wenn er den Verlockungen der RUBIKON eine winzige Sekunde lang widerstehen konnte, würden die Erinjij eine Chance haben, ihre Schutzsysteme hochzufahren. Egal, welcher Verbrechen sich die Erinjij schuldig gemacht hatten – er war nicht bereit, an einem Massenmord teilzuhaben. Das ist der Feind, John Cloud. Das Böse an sich. Gib ihnen, was sie verdienen. Das Schiff gängelte ihn, spielte mit seinen Empfindungen. Cloud war sich sicher, dass die RUBIKON den Kampf ohne seine Unterstützung führen konnte. Doch sie wollte ihn demütigen. Nein!, brüllte er mit aller Kraft. Es ist ganz einfach. Eine simple Bewegung. Du musst nur den Mund, meinen Mund, öffnen. Dir Erleichterung verschaffen. Deinen Zorn hinausschreien und in Energie verwandeln. Ich spüre, wie sehr du das willst. Er spürte Tausende Hände über seinen Leib fahren. Sie berührten ihn. Unermesslich glücklich machende Stimmen verlockten ihn mit Sirenengesang. Alle anderen Empfindungen als die, den Gegner zu hassen, wurden abgeschnitten. Die Hände zupften mit spitzen Nägeln an seiner Widerstandskraft, einem dünnen, spröden Faden. Lass es raus. Denke an nichts anderes. Öffne dich. Lass es fließen. Mach dich glücklich, mach mich glücklich.
Weiche Federn glitten über seinen Hals, so leicht, dass er sie kaum spürte. Der Reiz, die Reize, waren kaum mehr auszuhalten. Eine dreiviertel Sekunde war vergangen. Er schaffte es! NEIN! Neineineinein... John Cloud zapfte alles an, was ihm an Energiereserven und Willenskraft geblieben war. Er würde diesem verfluchten Schiff auf keinen Fall die Genugtuung geben, im Kampf der Bewusstseine zu unterliegen. Niemals! Und er öffnete den Mund, und Energiestrahlen schossen eruptiv daraus hervor, und sie trafen das Schiff, und er hatte verloren. * Es war entsetzlich. Einer der fünf Erinjij-Kampfraumer zerplatzte wie eine reife Frucht. Noch bevor die Menschen dort an Bord auf irgend eine Art und Weise reagieren konnten, starben sie. Dann war die RUBIKON unter den verbliebenen vier Gegnern und schoss aus allen Rohren. Ein weiterer Raumer, mindestens einhundert Meter lang, verging in einer gewaltigen Feuerlohe. Längst schon hatte die RUBIKON John Cloud in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins verbannt und die Initiative übernommen. Sie hatte ihn demütigen, ihre Überlegenheit dokumentieren wollen. Es war ihr gelungen. Die beiden vernichteten Schiffe hießen NEWCASTLE und ORLANDO. Sind das Namen, die dir etwas sagen, John Cloud? Sind dies Städte, in denen du schon einmal warst? Verbinden dich besondere Erinnerungen damit? Schöne Erinnerungen?
Die RUBIKON war rasend geworden. Irrwitzige Manöver ließen sie hin und her springen und immer wieder gezielte Salven auf die Erinjij abfeuern. Doch die waren mittlerweile gewarnt. Ihre Schutzschirme standen und erlaubten keine direkten Treffer mehr. Auch ein Trommelfeuer energetischer Störimpulse schien ihnen nichts auszumachen. Und ihrerseits eröffneten sie nun das Feuer von drei Seiten. Auch von mehreren Abwehrforts, die rings um die Grenze der Enklave auf größeren Kometen angeordnet waren, dröhnte der RUBIKON nun Offensivfeuer entgegen. Trotz des Schocks hatten die Erinjij blitzschnell von Verteidigung auf Angriff umgeschalten. Der Schmiegschirm stöhnte unter der Belastung von vier grellblauen Strahlenlanzen, die das Schiff gleichzeitig trafen; doch er hielt. Ein leichter Missklang, eine leichte Unsicherheit mischte sich unter die zornig vorgetragenen Attacken der RUBIKON. Sie schien überrascht von der heftigen Gegenwehr. Hatte sie den Gegner tatsächlich unterschätzt? Hatte sie ihr Zorn blind werden lassen? Ging der Einfluss ihrer emotionellen Komponente tatsächlich so weit, dass sie Informationen und Fakten beiseite ließ und... Fehler machte? John Cloud wusste aus den unzähligen mittlerweile zusammengetragenen Datenblöcken, dass ein massierter Angriff der Erinjij der RUBIKON mehr als gefährlich werden konnte. Der Schmiegschirm, diese scheinbar dünne Haut, war ihr größter Trumpf. Auch die Beschleunigungswerte und ihre Wendigkeit waren höher als jene der Erinjij-Schiffe einzuschätzen. Doch bei der Offensivbewaffnung hatte die RUBIKON gegen mehrere Gegner eindeutig das Nachsehen. Es würde ihr schwer fallen, die Erinjij weiter zu dezimieren. Du unterschätzt mich noch immer, John Cloud! Das Schiffsbewusstsein war ruhiger, überlegter geworden.
Es hatte etwas vor! Es griff nach einer Karte in der Hinterhand, nach einem Joker. John erhielt einen Blick nach draußen. Er sah den anthrazitfarbenen Leib des Rochens um sich, wie er grazil mit den Flügeln schlug und eine Ausweichbewegung nach der anderen flog. Da! Am Heck des Schiffes passierte etwas. Ein energetisches Feld bildete sich. Rot und bedrohlich strahlte es, wurde lang und länger... Eine zusätzliche Offensivwaffe? Noch etwas, das ihm die RUBIKON bislang verschwiegen hatte...? Der Schwanz begann zu leuchten und zu pulsieren, zog sich noch weiter in die Länge und bewegte sich, den Flugmanövern des Schiffes folgend, hinter ihm her. Als ob er sich in einem nicht vorha ndenen Luftzug wiegte und nur darauf wartete, zuzustechen... Das Schiffsbewusstsein wirkte außerordentlich konzentriert. Die Ausweichbewegungen gegen den Strahlenbeschuss durch die Erinjij-Schiffe und -Abwehrforts kamen fast reflexartig. Mehr als neunzig Prozent seiner geistigen Kapazität richtete die RUBIKON währenddessen auf den Schwanz. Cloud spürte plötzlich Oberwasser. Er dachte tunlichst an alles Mögliche, was nichts mit der Sache selbst zu tun hatte. Er tat alles, nur um nicht an Widerstand zu denken und die RUBIKON zu warnen... Eine weitere Empfindung drang zu ihm durch. Eine, auf die er nicht mehr gehofft hätte... Scobees Händedruck! Die Frau schien zu wissen, dass er sie brauchte. Sie wollte ihm Energie geben, Kraft für den einen, den entscheidenden Moment geben. Cloud konzentrierte sich auf das Fühlen der weichen, schmiegsamen Hand, auf die gerundeten Fingerkuppen, auf die schlanken, sehnigen Gelenke.
Auf seine Verbindung in die reale Welt. Und dann schlug er zu. * Was... nein! Die RUBIKON schrie auf. Cloud hatte sie erwischt. Sie war bei weitem nicht so stark, wie sie vorgegeben hatte, das fühlte er mit einem Mal. Alles nur Lug und Trug. Es ist wie beim Armdrücken: Wenn man den Gegner tief genug hinabgedrückt hat, kommt er nicht mehr hoch. Egal, wie groß sein Kraftaufwand dann noch ist. So war es ihm vor einiger Zeit ergangen, und so erging es nun der RUBIKON. Mit unerwarteter Leichtigkeit schob er jene sinnlosen Zahlenketten beiseite, die bislang auf ihn herabgeprasselt waren. Cloud packte das Schiffsbewusstsein von allen Seiten. Er verwirrte es anfänglich mit assoziativ erdachten Algorithmen. Er griff zurück auf sein Wissen um Paradoxa, zitierte altgriechische Philosophen wie Zenon und Epimenides, dann Bertrand Russell und schließlich Erwin Schrödinger und dessen weltberühmt gewordene Katze. Der Widerstand war marginal. Wie ein Rinnsal in der Wüste versickerte das Eigenbewusstsein des Schiffes. Es endete dort, wo noch vor wenigen Augenblicken John Cloud gefangen gehalten worden war. Im hintersten, unbedeutendsten Winkel, ohne jegliche Möglichkeit auf Einflussnahme, unter dem stetigen Beschuss durch endlose, sinnentleerte Datenketten. Ihm hatte Scobee aus der Misere geholfen. Doch die RUBIKON würde keinen Verbündeten finden. *
Cloud stoppte sofort und intuitiv die Bildung des rötlich pulsierenden Schwanzes. Was auch immer man sich darunter vorstellen musste – er hatte kein Interesse an einer Fortsetzung des Kampfes. Mit welchen Waffen auch immer. Im Gegenteil: Er setzte die RUBIKON – zumindest das leblose Gebilde aus Plaststoffen und Metallen, über das er nunmehr gebot – auf einen Fluchtkurs in Richtung Sonnensystem. Mindestens sieben Zehntel Sekunden lang hatte Cloud um die Vorherrschaft im und um das Schiff gerungen. Noch immer spürte er die Hand Scobees auf seiner. Die Übernahme der Befehlsgewalt war reibungslos über die Bühne gegangen. Lediglich ein kurzer Schlenker war für Cloud zu spüren gewesen, dann hatte er die Steuerung sicher unter Kontrolle. Zwei mächtige Strahlen, abgeschossen von Abwehrforts, zwischen denen er sich auf einem neu berechneten Fluchtkurs durchbewegte, zerfaserten wirkungslos im Schmiegschirm. Die drei Schiffe, die ihn aus der Enklave hinaus verfolgten, trugen die Namen ÖSTERSÜND, TBILISI und DUBLIN. In punkto Beschleunigung hatten sie ihm und der RUBIKON nichts entgegenzusetzen. Genau so wenig bei Wendigkeit und Reaktionsschnelligkeit. Hast du's bequem in deinem Loch? Cloud konnte einfach nicht umhin, dem Schiffsbewusstsein einen Teil der Häme zurückzuzahlen. Achilles versucht eine Schildkröte einzuholen, die allerdings einen Vorsprung hat. Wenn er die ursprüngliche Distanz zurücklegt, ist sie schon ein Stück weitergegangen... Epimenides der Kreter sagte, dass alle Kreter lügen. Also muss er gelogen haben, als er das behauptete. Dann aber gibt es mindestens einen Kreter, der nicht lügt... Ein Mann geht zu seinem Barbier und wettet, dass er es nicht fertig bringen könne, genau jenen Männern im Dorf den Bart zu rasieren, die
sich ihren Bart nicht selbst rasieren... Eine Katze ist zusammen mit einer Gift-Ampulle und einem radioaktiven Atom in eine geschlossene Kiste gesperrt. Zerfällt das Atom, löst ein Detektor einen Hammer aus, der die Ampulle zerbricht, und die Katze wird getötet... Die Gedanken des Schiffshirnes drehten sich im Kreis, immer und immer wieder. John Cloud kümmerte sich wieder hoch konzentriert um die Schiffssteuerung. Noch zwei Lichtmonate, und er hatte die Oortsche Wolke hinter sich gelassen. Die Oortsche Wolke und zwei zerstörte Raumschiffe, in denen wahrscheinlich Hunderte oder Tausende Erinjij ihr Leben gelassen hatten. Die Oortsche Wolke, die zusätzliche Rätsel aufgeworfen hatte. Waren die Erbauer der RUBIKON und der getarnten Kometenstationen tatsächlich identisch, und welchen Zweck hatte dieses unbekannte Volk in der Nähe des Sonnensystems verfolgt? Warum wandten die Erinjij unbotmäßig viel Kraft und Substanz auf, um die Oortsche Wolke von diesen Hinterlassenschaften zu räumen? Hätte nicht ein Markierungssystem vollkommen gereicht, um Reisende auf die Gefahr aufmerksam zu machen? Hatte er das Schiffsbewusstsein nun kraft seines Willens besiegt? War er nun endgültig Besitzer der RUBIKON? Welche Geheimnisse verbargen sich noch in den Rechnern, welche Schätze verbargen sich noch in den wandelbaren Räumlichkeiten des Manta-Rochens? Was war dies für eine geheimnisvolle Erscheinung gewesen, die sich am Höhepunkt der Schlacht gegen die Erinjij aufgebaut hatte? Eine Waffe? Ein zusätzlicher Abwehrmechanismus? Warum hatte ihm die einfache Berührung durch Scobees Hand so viel Kraft und Energie zurückgegeben, dass er das Schiffsgehirn hatte besiegen können?
Epilog Drei Stunden nach der ausgemachten Zeit erreichte die RUBIKON die mit Darnok ausgemachten RendezvousKoordinaten. Irgendwo auf Höhe der Pluto-Bahn. Sie waren wieder »zu Hause«. Aber von Darnok... von Darnok gab es weit und breit keine Spur. John Cloud stie g aus dem Sarkophag, taumelte in seine Kabine und fiel augenblicklich in einen tiefen Erschöpfungsschlaf. Das Schiffsbewusstsein lag mittlerweile in schweren Ketten, zu Boden gepresst von der Tücke menschlicher, allzu menschlicher Denkweise. Wirklich? ENDE
BAD EARTH Ein unbekannter Mechanismus entführte die beiden GenTecs Resnick und Jarvis von der RUBIKON II – doch wohin? Trotz intensiver Bemühungen gelang es Darnok nicht, eine schlüssige Antwort auf diese Frage zu finden. Resnick und Jarvis gelten weiterhin als verschollen. Im nächsten Bad Earth Roman
Die Dschungelwelt dreht sich alles um die beiden Klone. Sie finden sich in einer völlig fremden Umgebung wieder, auf einer völlig fremden Weit. Und sie lernen, an Geister zu glauben... Horst Hoffmann hat das kommende Abenteuer atmosphärisch dicht und spannend in Szene gesetzt – ihr erhaltet es in 14 Tagen bei eurem Zeitschriften- und Bahnhofsbuchhändler!