BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
RÜCKKEHR INS SONNENSYSTEM
von Michael Marcus Thurner Die irdischen Astron...
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BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
RÜCKKEHR INS SONNENSYSTEM
von Michael Marcus Thurner Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis verschlägt es in eine düstere Zukunft, in der die Menschen Erinjij genannt werden. Die Gestrandeten geraten zwischen alle Fronten und schließen sich mit dem Außerirdischen Darnok zusammen. Als sie von ErinjijRaumschiffen gejagt werden, können sie mit knapper Not in den Aqua-Kubus flüchten. Dort finden sie ein Artefakt, das auf die ominösen Sieben Hirten zurückzugehen scheint. ein gewaltiges, rochenförmiges Raumschiff. Ihnen gelingt die Inbesitznahme, und sie taufen es RUBIKON II. Mit diesem Schiff gelingt ihnen die Flucht aus dem Kubus. Aber die beiden GenTecs Jarvis und Resnick verschwinden an Bord. Wenig später verkündet Darnok das Ergebnis einer Untersuchung vor ihrem Verschwinden: Ihre Zellen sind irreparabel geschädigt. Als die Schiffbrüchigen Cy und Algorian aufgefunden werden, trennen sich die Wege Darnoks und der Menschen vorübergehend. Er erklärt sich bereit, die beiden Botschafter des Friedens zur Zentralwelt der Allianz CLARON zu bringen, denn die Völkergemeinschaft muss über ein geplantes Komplott der Jay'nac informiert werden. Gleichzeitig bricht die RUBIKON II auf, um die verlorene Erde mit den von Darnok erhaltenen Koordinaten wieder zu finden. Eine Erde der Erinjij, der Geißel der Galaxis... Prolog Der münzgroße Gegenstand, auf der geöffneten Innenfläche von John Clouds Hand ruhend, schien
lautlos zu explodieren. Das Hologramm, das sich entfaltete, gab den Umrissen zufolge eindeutig
die RUBIKON II wieder.
»Eine Art dreidimensionale Aufrisszeichnung«, sagte Scobee. Es klang nicht wirklich überrascht.
Darnok hatte es angekündigt. Eine Karte des Rochenschiffs hatte er John Cloud vor der Abreise mit
Cy und Algorian versprochen.
»Nach dem vorübergehenden Zusammenbruch der Türtransmitter, hatte er Gelegenheit, das Schiff
vollständig mit Nanosonden zu kartographieren - zumindest jene Bereiche, in die diese
Mikromaschinen gelangen konnten«, erläuterte Cloud, was Darnok selbst ihm anvertraut hatte.
Inzwischen waren die Türtransmitter wieder von der ominösen Schiffsinstanz, mit der Cloud
bereits mehrfach in Kontakt gestanden hatte, aktiviert worden.
Die Transmitter verschleierten den wahren Aufbau der RUBIKON. Darnoks Karte hingegen...
»Sie kann nicht stimmen«, sagte Scobee unvermittelt.
Auch Cloud waren die Diskrepanzen aufgefallen. »Nein«, nickte er.
»Offenbar wurden seine Sonden getäuscht. Die RUBIKON müsste...« Sie stockte. Die Faszination,
die von dem Hologramm ausging, brachte sie vorübergehend zum Verstummen.
Vielleicht war es aber auch der Gedanke, der genau so auch Cloud in diesem Moment beschäftigte.
«Und wenn es doch wahr ist?« »Du müsstest es am ehesten wissen.« Sie schüttelte sich, als könnte sie damit die Beklemmung loswerden, die ihr plötzlich als dumpfer Druck auf der Brust lastete. »Niemand hat so engen Kontakt zum Schiff wie du.«
Sie hatte Recht - auf eine Weise. Und doch wiederum nicht. Denn die Kapriolen des geborgenen Artefakts, das er in Gedenken an ihr ehemaliges Marsschiff auch RUBIKON getauft hatte, waren unberechenbar - und er war weit davon entfernt, es wirklich zu beherrschen, zu kontrollieren. Wie benommen starrte er auf das Hologramm, das eine RUBIKON wiedergab, wie Darnok sie vermessen hatte. Es konnte nicht stimmen, konnte nicht. Hätte die »Karte« zugetroffen, wäre der Rochen... zehn-, nein hundertmal größer gewesen, als sein Äußeres es bezeugte! Eine Stadt, dachte Cloud. Darnok hat uns den in eine Unzahl von Subebenen unterteilten Plan einer Stadt hinterlassen - keines Raumschiffs.« Aber die äußere Silhouette entsprach exakt der der RUBIKON. Und es gab auch wenig Zweifel,
dass die Sonden dieses Schiff und keinen anderen Ort vermessen hatten...
»Ein Rätsel mehr«, urteilte Scobee. »Ich denke nicht, dass wir uns daran verbeißen sollten. Fragen
wir Darnok, wenn wir ihn wieder sehen. Vielleicht ist ihm beim Erstellen des Hologramms ein
schlichter Kopierfehler unterlaufen.«
»Das glaubst du wirklich?«
Sie antwortete nicht.
Wie sie betrachtete Cloud das Hologramm mit zunehmender Faszination - und Sorge.
Nein, es konnte und es durfte nicht stimmen.
Sie hatten auch so schon Probleme genug.
Die Erde.
Sie waren unterwegs zu Erde - nach Tagen und Wochen der Trennung von ihr...
... die hier und jetzt real Jahrzehnten oder Jahrhunderten entsprachen!
Darnok hatte sie in eine ungewisse Zukunft entführt, und all ihr Streben galt der Enträtselung der
beiden wichtigsten Fragen:
Wie weit in der Zukunft waren sie gestrandet?
Und wie stellte sich heute die Situation auf der Erde dar? Der Erde der Erinjij...
1. Der Junge namens John Cloud war knapp sechs Jahre alt, als ihn sein Vater mit an Bord eines
kleinen Sportfliegers nahm. Es war ein vorverlegtes Geburtstagsgeschenk, denn Nathan Cloud
würde in Bälde zu einer langen, weiten Reise aufbrechen, wie er seinem Sohn erklärte.
Die rüttelnde, schüttelnde Kiste erhob sich zögerlich vom. Boden des Krautackers, schoss dann,
vom Vater gelenkt, steil in das Blau des Himmels hinauf, und schwebte schließlich mehrere hundert
Meter über der Erdoberfläche sanft, scheinbar vom Wind getragen, dahin.
John blickte hinab, bewunderte den Flickenteppich aus gelben, braunen und grünen Äckern. Er
lachte und jauchzte, schrie seinen Übermut in die Welt hinaus. Den beiden kleinen Punkten, Mutter
und Großmutter, winkte er zu. Sie standen am Rand des Flugfeldes.
Unbesiegbar war er, der Herr über Boden und Lüfte. Von der Mitte seines Körpers aus breitete
sich eine Wärme, eine Hitze immer weiter aus.
Es war schiere Freude, schiere Lust am Leben.
Ein Glücksgefühl, das John Cloud bis heute festhielt.
Nein.
Ein Gefühl, das ihn bis heute festhielt.
»Wie fühlst du dich, wenn du in diesem Ding sitzt?«
»Hm?« Clouds Gedanken kehrten nur langsam in die Gegenwart zurück.
Der Sarkophag... wie er ihn nannte. Jener ominöse Steuersitz des Raumschiffes, den Scobee gerade »Ding« genannt hatte. Weil sie ihn nicht mochte. Weil er ihr mehr als suspekt war... Es gab sieben identisch aussehende Sitze, die auf einem leicht erhöhten Podest standen. Kreisförmig waren sie angeordnet, mit Blickrichtung nach innen. Ein simpler Steuermechanismus, den er mit der linken Hand betätigte, drehte den Sarkophag nach außen, und er sah nur noch die Schwärze des Weltraumes vor sich. Die Wände und der Boden der Steuerzentrale waren transparent und bewirkten einen ähnlichen Effekt wie den, den sie bereits im Äskulap-Schiff kennen gelernt hatten. Das menschliche Auge weigerte sich, das Stehen - beziehungsweise Sitzen - in der Luft zu akzeptieren. Ein stetes Gefühl des Fallens machte sich immer noch in seiner Magengegend breit, und nur langsam gewöhnte sich Cloud an den Blick in die Unendlichkeit. Scobee stand rechts vom offenen Sarkophag, und mit einer zögerlichen Bewegung reichte er ihr die Hand. Cloud benötigte etwas Vertrautes, an dem er sich festhalten konnte. Und an dem antwortenden, starken - fast zu intensiven - Händedruck der Frau erkannte er, dass sie ähnlich empfand wie er. Scobee sah ihn an, auffordernd. Es wurde ihm bewusst, dass er ihr noch eine Antwort schuldete. »Es ist eine Mischung aus Euphorie, Machtbewusstsein und gleichzeitig Angst«, sagte er und erwiderte ihren Blick. Cloud bemerkte, dass seine Stimme heiser war und leicht schwankte. »Angst?«, fragte Scobee. Ihr Händedruck ließ nach. »Angst, bei all deiner Machtbefugnis über die neue RUBIKON, dieser gewaltigen Offensivbewaffnung und dem Schutzschirm, der scheinbar jedem Gegner Paroli bieten kann?« Sie sprach all das an, was er in den letzten Tagen und Stunden herausgefunden hatte. »Es ist nicht nur das Schiff, das mich erschreckt.« Er zögerte kurz. »Ich befürchte, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Auch wenn mich SESHA... oder die RUBIKON, wie wir sie nennen, als befugt einstuft - wer sagt mir, dass mein Geist nicht zu klein ist für all die Möglichkeiten, die sie bietet?« Scobee hob eine Augenbraue. Die irisierenden Tätowierungen tanzten schemenhaft mit. Gleichzeitig ließ sie seine Hand endgültig los. »Und das sagt ausgerechnet einer der bestausgebildeten Piloten der Erde, der mit so viel Selbstbewusstsein ausgestattet ist, dass eine ganze amerikanische Regierung davon zehren könnte?« Cloud zog die Stirn in Falten. »Du vergisst, dass es in der Zeit, in der wir uns befinden, wahrscheinlich gar keine amerikanische Regierung mehr gibt. Und dass ich, wenn ich wollte, ganze Städte und Kontinente der Erde in Schutt und Asche legen könnte. Die Verantwortung macht mir Angst, Scob.« Er seufzte. »Doch was sollen die trüben Gedanken.« Cloud stand auf. Die Rundumsicht auf das Weltall machte übergangslos nüchternen, hellgrauen Wänden Platz. »Wollen wir etwas essen?«, fragte er die Frau. »Etwas bedeutet wohl nur, dass es reich an Kohlehydraten, Mineralien und Vitaminen ist, nicht wahr?« Scobee verdrehte theatralisch die Augen, und wieder erzeugten die tätowierten Brauen einen irritierenden Effekt. »Darnok hat es sicher nur gut gemeint, als er uns genau auf unsere rein metabolischen Bedürfnisse zugeschnittene Nahrung - Nahrungskonzentrate - hier ließ. Aber etwas Echtes... Handfestes, wäre mir bedeutend lieber. Dagegen war der vergorene Obstbrei auf Kalser ja eine Delikatesse.« »Wir können froh sein, dass wir überhaupt etwas zu kauen haben«, antwortete Cloud schmunzelnd.
In sieben Tagen, von denen bereits drei vergangen waren, sollten sie Darnok, den Letzten aus dem
Volk der Keelon, am äußersten Rand des Sonnensystems wieder treffen. Der Herzförmige, der
durch die Zeit gleiten konnte, hatte sich verpflichtet gefühlt, die beiden Schiffsbrüchigen Cy und
Algorian zur Schlüsselwelt der Allianz CLARON zu bringen, damit sie über ein ungeheures
Komplott der so genannten Anorganischen Bericht erstatteten.
Darnok, der Zeitreisende.
Die Allianz CLARON mit den sechs Hauptvölkern, den Ceyniden, Laschkanen, Aorii, Rogh,
Ovoaner und Neeg.
Cy, der Botschafter, der vorübergehend die Bewusstseinskopien ihrer Führer in sich aufgenommen
hatte.
Die Anorganischen, allen voran die Jay'nac, die eben jene Bewusstseine unter Kontrolle hatten
bringen wollen - und gebracht hatten.
Erinjij. Die Menschen der Zukunft, in der sich John und Scobee offensichtlich befanden, und die
die gesamte Milchstraße in Angst und Schrecken versetzten.
Künstliche Wurmlöcher. Aqua-Kubus. Die Nargen. Nano-Technik. Die Vaaren. Weltraum-
Schlachten...
Die Eindrücke, Erlebnisse und Begriffe der letzten Wochen vermengten sich zu einem Potpourri,
das seinen Verstand schier erdrücken wollte...
Es wird einfach zu viel!, dachte Cloud. So viel Neues und Unbekanntes.... Ich bin doch nur ein
einfacher Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Er atmete tief durch und konzentrierte
sich. Nur die Ruhe, nur die Ruhe. Immer einen Schritt nach dem anderen.
Oberste Priorität hatte momentan die Heimkehr ins Sonnensystem und die Erforschung der dortigen
Verhältnisse.
In welchem Jahr befanden sie sich? Wie sah die Erde heute aus? Warum trachteten die Menschen
der Zukunft danach, die Völker der Milchstraße in einen galaxisumspannenden Krieg
hineinzuziehen?
Fragen über Fragen.
Seufzend schob Cloud die letzten Reste des Nahrungsbreis beiseite.
Scobee, die ebenfalls zu Ende gegessen hatte, stand auf und streckte ihren attraktiven Körper.
»Ich möchte mich weiter mit dem Schiff beschäftigen und wieder in den Sarkophag steigen«, sagte
Cloud zu seiner letzten verbliebenen Schicksalsgefährtin. »Kommst du mit zurück in die Zentrale?«
Sie schüttelte heftig den Kopf, sodass die dunklen Haare nach allen Richtungen wehten. »Nein,
danke. Ich möchte mich ebenfalls um die Geheimnisse des Schiffes kümmern - indem ich es weiter
begehe und untersuche.«
»Was glaubst du zu finden?«
»Dasselbe wie du. Antworten«, sagte sie lapidar.
Cloud zögerte. Sollte er sie bitten, bei ihm zu bleiben?
»Ist in Ordnung«, meinte er schließlich. »Ich bitte dich aber, nach spätestens fünf Stunden an den
Sarkophag zu klopfen. Zeit bekommt in diesem Steuersitz eine andere Bedeutung.«
Sie nickte lächelnd und ging mit geschmeidigen Schritten davon.
Vorsichtig ließ sich John Cloud in die Mulde des Sarkophags gleiten. Er nahm dabei eine Position zwischen Liegen und Sitzen ein, die er keinesfalls als unangenehm empfand. Er schloss kurz die Augen und spürte, wie sich etwas änderte. Wie sich ein Kontakt schloss, eine Verbindung herstellte - und Halt um ihn herum aufbaute. Als säße er in einem Behälter der, mit einer zähen Masse ausgegossen wurde, die rasch härtete. Kopf, Hände und Füße blieben davon jedoch unbetroffen, behielten ihre volle Bewegungsfreiheit. Dann spürte er, wie Elektrizität seine Fingerkuppen umtanzte.
Gewöhnt hatte er sich an all dies noch lange nicht. Spielerisch probierte er die unglaubliche
Steuerung der RUBIKON aus. (Sesha, hallte es in den tiefsten Winkeln seines Denkens.) Seine
Finger berührten »Punkte«, die nur als Projektion zu existieren schienen. Und die dennoch
»schaltbar« waren.
Als er die Augen öffnete, war er von der »Außenwelt« isoliert. Der Sarkophag hatte sich
geschlossen. Seine Sinne schienen auf eine andere Ebene zu wechseln, und gleich würde er sehen.
SEHEN.
In einer Form, die wenig Menschliches an sich hatte.
Jetzt, dachte Cloud, und übergangslos spürte er die unbegreifliche Kälte, die ihn umgab.
Ihn, das Schiff.
Im Schmiegschirm, der in Flugrichtung leicht verstärkt war, blitzte permanent vergehende Materie
auf und kitzelte seine Bauchmuskeln. Kleine Kometen oder Asteroiden. Tote Gesteinsbrocken, die
es nicht wert waren, ihnen auszuweichen. Tausendfache Augen sahen weit voraus; seine Blicke aus
grenzenlos scharfen Objektiven durchdrangen Sternennebel, sondierten vorausschauend
kollabierende Sternenhaufen und kannibalisierende Gestirne. Ein leichtes Zucken mit den Fingern,
die er als Flügelspitzen empfand - und mit majestätischer Erhabenheit glitt er/das Schiff in
Respektabstand an einer Supernova vorbei.
Er/das Schiff spürte das Ziehen, Brennen, Zerren der Sterne, die ihn aus der Flugbahn reißen
wollten. Doch es waren immer nur mühelose Bewegungen, kleine Schlenker; halb unbewusst, mit
denen er/das Schiff an möglichen Gefahrenherden vorbeilenkte.
Er, John Cloud, empfand es wie Motorradfahren. Leichte Gewichtsverlagerungen reichten vollends,
um ihn/das Schiff auf sicherem Kurs zu halten.
Kraft, unbändige Macht, niemals versiegend, strömte aus seinem Leib und trieb den Körper/das
Schiff an. Schneller, flinker,' geschickter, immer waghalsiger, immer mutiger, immer riskanter...
»John, es ist Zeit...«
Eine weite Schleife noch. Haarscharf, keine zwanzigtausend Kilometer am sterbenden Braunen
Zwerg vorbei, eine Schraube hinab ins Leere, sich fallen lassen, mit einer lässigen Korrektur des
Fingers/des Flügels den vermeintlichen Sturz abfangen und...
»John! Komm zu dir!«
Gleich, nur noch das Schwarze Loch umkreisen, seine Anziehung ausnutzen und sich
hinausschleudern lassen. Dort unten, das kleine System mit den vier nackten Planeten, es lockte
ihn/das Schiff an...
Etwas verdeckte seine Sehorgane, etwas erschütterte seinen Leib. Er/das Schiff wurde angegriffen.
Er/das Schiff spürte Schmerz.
Nein!
Nicht das Schiff.
Er.
Der Mensch, John Cloud.
Er fühlte den Griff des anderen Menschen. Der Frau. Scobee.
Sie umklammerte seine rechte Hand und schlug ihm ins Gesicht.
Er öffnete die Augen - und spürte die Kraft und die Macht des Schiffskörpers schwinden.
Er war wieder alleine.
Scobees Spaziergänge (1)
Längst war Scobee klar geworden, dass eine besondere Wechselbeziehung zwischen dem Schiff und John bestand. Ihr ehemaliger Commander konnte dank seiner Willenskraft Teile der RUBIKON umgestalten. Jedes Mal, wenn er in seinem Sarkophag versank und in die Struktur des Schiffes eindrang, veränderte sich etwas. Es war eine besondere Art der Wechselwirkung, die hier stattfand, und möglicherweise war dies auch Ausdruck eines Ringens um die endgültige Befehlsherrschaft. Raumanordnungen änderten sich so, dass Scobee zusehen konnte. Ein Flirren schwarzer Partikel lag dann in der Luft, als ob sich Materieteilchen aus der Bausubstanz lösten und woandershin gruppierten. Die Farbgebung der Räume war eine weitere Auswirkung von Johns Gestaltungswillen. War er gut gelaunt und hatte ein einigermaßen akzeptables Auskommen mit dem Schiff, dann herrschten sanfte Pastelltöne vor, die Ruhe und Ausgeglichenheit ausstrahlten. Kehrte er mürrisch und erschöpft aus einer Steuerungssequenz in sein Wachbewusstsein zurück, so konnte Scobee fast sicher sein, dass rote, schwarze oder monochrome Farben vorherrschen würden. Egal wie - sobald John aus seinem Steuersitz aufstand, musste Scobee auf Überraschungen aller Art gefasst sein. Eine durchaus unangenehme Situation. Denn Cloud nahm die Änderungen wie selbstverständlich hin, während sie sich jedes Mal von neuem auf die Gegebenheiten einstellen musste. War der Commander überhaupt noch Herr seiner Sinne? Hatte ihn das Schiff nicht schon längst umgedreht? Und wenn j a - welchen Zweck verfolgte die RUBIKON damit? Ein riesiger Berg voller Fragen türmte sich vor der GenTec-Frau auf, und kaum einmal erhielt sie eine vernünftige Antwort...
»Acht Stunden, sagst du? Warum hast du dich nicht eher bemerkbar gemacht?«
»Das habe ich versucht, John!«
»Hmph.« Cloud atmete seufzend aus. Er betrachtete sein Spiegelbild in einem der chrompolierten
Kästen, die überall scheinbar sinnlos herumstanden.
»Du musst aufpassen, John«, sagte sie sanft. »Wir Menschen sind möglicherweise nicht... reif
genug, um dieses Schiff steuern zu können.«
»Ich muss vorsichtiger sein, du hast Recht. Ich muss darauf achten, dass ich mein Ego nicht
verliere, sobald ich in die Steuerung eintauche. Aber ich glaube, dass mir die RUBIKON helfen
will. Ich spüre, dass sie mich lehrt. Sie erkennt, dass ich mit den Bedienungsmechanismen noch
nicht gut genug vertraut bin, und lässt mich deswegen Planspiele durchführen.«
»Ist da nicht der Wunsch Vater des Gedankens?« Scobee blickte ihn zweifelnd an.
»Nein, nein«, antwortete er rasch. Vielleicht ein wenig zu rasch, um aufrichtig zu klingen.
Doch Scobee erwiderte nichts darauf.
»Der letzte Gedanke, bevor du mich von der RUBIKON trenntest, war, ein ganz bestimmtes
System in der Nähe anzufliegen. Eine sterbende Sonne mit vier kleinen Begleitern. Es scheint so,
als ob die RUBIKON dort meine weiteren - ich meine: ihre - weiteren Systeme testen wollte.«
»Und du möchtest auf diesen... Wunsch des Schiffes eingehen?«
»Ich denke schon. Es kann nur von Vorteil sein, wenn ich alle Funktionen in- und auswendig
kenne. Solange du bei mir bist und mich - notfalls mit Gewalt - aus dem Schiffsbewusstsein
trennen kannst, sehe ich keine große Gefahr.«
»Ist das eine Generalvollmacht?«
»Selbst dann.«
Er sah ihr lange und tief in die Augen. Ernst. Scheinbar todernst.
Dann lachte er schallend.
2.
Cloud und Scobee hatten sich eine kurze Ruhepause auferlegt, während sich die RUBIKON
selbstständig dem kleinen Sonnensystem näherte.
»Marbles«, sagte der Mann leise. »Wie bitte?«
»Ich habe das System getauft. Sehen die Planeten denn nicht wie vier bunte Murmeln aus?«
Der innerste Planet, eine Gluthölle für menschliche Begriffe, leuchtete hellrot. Die weiter außerhalb
stehenden reflektierten das Licht ihrer Sonne gelb, braunrot und schwarz. Wie eine Perlenkette
lagen sie, hintereinander aufgereiht, in einer scheinbar zufälligen Konstellation.
Wenn Cloud den Angaben der RUBIKON Glauben schenken durfte, waren dies die Echtfarben.
Er saß wieder in seinem Sarkophag, war aber noch nicht vollends in das Bewusstsein des Schiffes
eingetaucht.
Cloud spürte zwar ein ungeduldiges Ziehen und Zerren, doch empfand er es keinesfalls als
unkontrollierbar.
»Du weißt, was du zu tun hast?«, fragte er seine Begleiterin. »Nach vier Stunden holst du mich
zurück. Komme, was wolle.«
»Komme, was wolle«, wiederholte Scobee lapidar.
Cloud wurde wiederum zum Schiff.
Er streckte seine »verlängerten« Finger aus, ergriff die vier Planeten und deren Sonne und vermaß
sie. Für ihn fühlte es sich an, als ob er Äpfel und Birnen wiegen würde, während gleichzeitig
endlose Datenberge in seinem unglaublich großen Schiffshirn eintrafen.
Nach wenigen Momenten - so erschien es ihm wenigstens - konnte er bereits ein Urteil fällen.
Wertlose Gesteinshaufen, ohne einen besonders großen Anteil an Mineralien und Erzen, dachte er. Die Sonne wird in 266.883,44 Erdjahren kollabieren. Kein großer Verlust fürs Universum, wenn ich... War das tatsächlich er, der so urteilte? Oder suggerierte ihm die RUBIKON diese Gedanken? Es war seltsam. Manchmal floss Cloud das Wissen um die Vorgänge im Schiff einfach zu. Ein anderes Mal benötigte er die Dialogform mit der RUBIKON, um mit den Datenmengen zurechtzukommen. Sein Körper, der Schiffskörper, streckte und reckte sich, als ob er nun erst endgültig zum Leben erwachte. Ungeahnte Energien wurden aus unsichtbaren Quellen abgezapft, stauten sich in einem gigantischen Sammelbecken, das sich rasend schnell füllte. Er/das Schiff flog mit wenigen hundert Sekundenkilometern durch das System, blickte den äußersten, den schwarzen Planeten an - und öffnete den Mund zu einem Schrei. Eine Energielanze schoss aus seinem Rachen. Feurig, heiß, den Tod mit sich bringend. Die schwarze Murmel, knapp fünftausend Kilometer im Durchmesser, fing auf der ihm/dem Schiff zugewandten Seite Feuer. Doch nur für wenige Momente. Felsbrocken, hundertmal so groß wie die RUBIKON, wurden aus der dunklen Hülle des Planeten gesprengt und stoben davon. Er/das Schiff verstärkte den Schmiegschirm leicht, um sich nicht unnötig zu gefährden. Er/das Schiff drehte ab, flog eine eng gezogene Kurve um die schwarze Murmel, und erneut schickte er/das Schiff eine energetische Lanze auf den Weg. Volltreffer! Und gleich noch einer, und noch einer! Jetzt eine ganze Serie kleinerer Pfeile, die er, wie mit dem Skalpell gesetzt, im Zickzack-Muster rund um die Murmel setzte. Immer größere Teile der Planetenoberfläche brachen weg, immer tiefer wurden die Wunden. Und noch immer warten drei weitere Murmeln zum Spielen. Dazu noch die Sonne! Waren das wirklich seine Gedanken? Seine, und nicht die der RUBIKON?
John Cloud schloss seinen Mund. Spürte, wie das Schiff dagegen ankämpfte, ihn dazu bringen wollte, weiterzumachen. Sich nochmals aufbäumte, dem Menschen seinen Willen aufzwingen wollte. Doch mit all seiner geistigen Kraft blockierte er die Geschütze, reduzierte die Geschwindigkeit auf wenige Sekundenkilometer und beruhigte seinen Kreislauf. Oder den des Schiffes? Ein letztes Mal öffnete er den Mund, eine letzte Energielohe drang hervor und verpuffte wirkungslos im Weltraum. Du wirst mir folgen lernen, dachte Cloud grimmig. Ich bin dein neuer Herr, von dir selbst akzeptiert. ERINNERE DICH. Und das Schiff - gehorchte.
Die Rückkehr in die Wirklichkeit erfolgte abrupt wie immer. Für wenige Momente überlappten
sich die Sinneseindrücke des Schiffes und des Menschen. Dann war Cloud wieder er selbst.
»Ich habe die RUBIKON unter Kontrolle«, sagte er triumphierend zu Scobee, die über ihn gebeugt
stand. Mit einem weißen Mich tupfte sie ihm vorsichtig Schweiß von der Stirn und blickte ihn
besorgt an, nachdem der Sarkophag sich geöffnet hatte.
»Es war grauenvoll, dir zuzusehen«, entgegnete sie. »Dein Körper verkrampfte sich immer mehr
und fiel in eine muskuläre Starre, die ich selbst mit aller Gewalt nicht brechen konnte.«
»Ach Unsinn, ich fühle mich ausgezeichnet... «
Mit einem Ächzen ließ er sich zurück in den Sitz sinken: Weder Beine noch Hände gehorchten
ihm, und der Bauch schmerzte wie nach stundenlangen Sit-ups.
»Natürlich, ausgezeichnet«, wiederholte Scobee spöttelnd. »Ich würde mal sagen, dass du einen
ausgeprägten Muskelkater hast. Kein Wunder, nach dieser Anspannung.«
»Hilf mir hoch«, stöhnte Cloud, und mit ihrer Unterstützung gelang es ihm, sich aus dem Steuersitz
zu erheben.
Seine Beine fühlten sich wie Gelee an und trugen ihn kaum. Ein jeder Schritt schmerzte, selbst an
Stellen, von denen er gar nicht wusste, dass dort Muskeln saßen.
»Aber ich beherrsche die RUBIKON nun endgültig, Scobee. Sie wollte mich dazu bringen, einen
nach den anderen der Planeten mit unseren Waffen zu vernichten. Oh, und glaube mir, ich hatte die
Kraft, es zu schaffen! Ich sog mich voll mit Energie und richtete sie gegen diesen erbärmlichen
Klumpen...«
»John... «
»... öffnete meinen Mund und schoss... «
»John!«
»... sprengte ganze Gebirge aus der schwarzen Murmel...«
»John! Du bist nicht mehr das Schiff ! «
»Wie bitte?« Er blickte sie verwirrt an.
»Du hast der RUBIKON widerstanden. Ist es das, was du sagen willst?«
»Ich... «
»Du hast ihrem Wunsch, den Planeten zu vernichten, widersprochen und deinen Willen
durchgesetzt.«
»Nein... ja!«
Scobee legte ihn auf eine schmale Liege in einem spartanisch eingerichteten Raum neben der
Zentrale, zog ihm die einfache, weiße Kombination vom Leib und deckte ihn zu.
»Du bist jetzt endgültig Commander und Besitzer dieses Schiffes, John Cloud von der Erde«,
flüsterte sie und strich ihm die schweißverklebten Haare aus der Stirn.
Binnen weniger Momente fiel er in einen todesähnlichen, traumlosen Schlaf.
Scobees Spaziergänge (2) Scobee nutzte jede freie Minute, um die RUBIKON auf eigene Faust zu erkunden. Mittlerweile war sie sich sicher, dass der Gestaltungskraft Clouds räumliche Grenzen gesetzt waren. In einem schmalen Streifen von etwa zehn Meter rund um die Zentrale konnte er die Substanz des Schiffes umändern, fast nach Belieben. Im so genannten Niemandsland - jenem Bereich, der daran angrenzte -, waren teilweise abstrakte, fast absurde Formgebilde zu finden, in sich verbogen und von Schwindel erregendem Aussehen. Als ob zwei verschiedene Wesenheiten darauf Einfluss nehmen wollten. Und so war es wahrscheinlich auch; die RUBIKON weigerte sich ganz offensichtlich, die Oberherrschaft über ihren »Körper« kampflos herzugeben. Scobee nahm an, dass es beim Ringen um die geistige Oberherrschaft ähnlich aussah. Jeder Zentimeter, jede Handbreit musste von John Cloud immer wieder aufs Neue erobert werden. Je weiter sich die Frau von der Zentrale entfernte, desto klarer und nüchterner wurden die Strukturen. Monotonie beherrschte Gänge und Räumlichkeiten. Pure Zweckmäßigkeit stand im Vordergrund. Hier hatte die RUBIKON eindeutig die Obergewalt. Scobee konnte sich nicht helfen: Das Schiff stand ihr nach wie vor feindlich gegenüber. Sie hatte hier an Bord, und vor allem in den unbekannten Bereichen, nichts zu suchen. Das spürte sie. Die RUBIKON bemühte sich, sie zu verwirren. Raumanordnungen veränderten sich stetig. Sie konnte immer wieder den gleichen Gang als Ausgangspunkt für ihre Erkundungen benutzen - jedes Mal traf sie auf neue Räumlichkeiten, Säle und Laboratorien unbekannter Art oder riesige Hallen... ... ob Darnoks Karte doch stimmte? 3. »Wir haben zwar Zeit verloren, doch wertvolle Erkenntnisse gewonnen«, schloss Cloud seine Ausführungen. Die Erholungsphase hatte nur wenige Stunden gedauert. Für seinen Geschmack war sie zu kurz gewesen. Er gähnte. »Die Funktionsweise der Technik mag uns zwar für längere Zeit, wenn nicht gar für immer, ein Buch mit sieben Siegeln sein. Aber ich habe mir die Stellung als Befehlshabender erarbeitet. Oder besser gesagt: erkämpft.« Scobee ging nicht näher auf das Thema ein. Sie fragte: »Können wir noch rechtzeitig beim Treffpunkt mit Darnok sein?« »Ohne weiteres. Ich kann die Geschwindigkeit noch erhöhen.« »Bewegen wir uns eigentlich tatsächlich noch durch den Raum, oder durch ein anders gelagertes Kontinuum?« Scobee hüstelte unsicher. »Meinem Gefühl nach... oder dem des Schiffes nach... sind wir eindeutig im Normalraum verankert. Doch der Schmiegschirm hat neben seiner Defensivleistung auch noch eine andere Funktion, die ich, offen gestanden, nicht einmal in Ansätzen begreife.« »Und die wäre?« »Wir nehmen unsere eigene Zeit mit uns. Wir bewegen uns schneller als das Licht, lassen dabei alle physikalischen Gesetze hinter uns, beachten weder die Folgen der Zeitdilatation noch Masse- und Energieträgheit.« »Und du meinst, dafür sorgt der Schmiegschirm?« »Er hüllt uns in eine kleine Schutzblase, auf die die Gesetze und Kräfte des Universums keine Auswirkung haben.«
»Und was ist, wenn...«
»... wenn der Schutzschirm während der Reise versagt?« Cloud sah Scobee starr in die Augen.
»Nun... es kann sein, dass es ganz mächtig >Bumm< macht. Oder es macht nicht >BummLittle Boy< und >Fat ManVorderschnauze< hin. Die Länge beträgt dreißig Meter, ein
exaktes Zehntel der Gesamtlänge des Mutterschiffes. Breite zwölf Meter, Höhe vierzehn bis
sechzehn Meter. Beiboot beschleunigt und wird in anderthalb Minuten auf dem Kunstkometen
aufsetzen...«
»Ich benötige keinen Live-Kommentar von dir, solange ich ohnehin alles auf dem Bildschirm
verfolgen kann«, knurrte Cloud.
Die weibliche Stimme verstummte. Die beiden Beiboote setzten langsam
und sanft auf dem getarnten Brocken auf. Zwei Minuten vergingen.
Dann entfernten sich die Mutterschiffe mit hohen Beschleunigungswerten bis auf eine Distanz von
zwei Lichtsekunden. Eines kam der RUBIKON bis auf zweihundertfünfzigtausend Kilometer nahe.
Gefährlich nahe, wenn man die Ortungskapazität der Erinjij-Kampfraumer in Betracht zog.
Doch das fremde Schiff kümmerte sich nicht um das, was um es herum passierte. Die Menschen
darinnen konzentrierten sich offensichtlich auf die weiteren Vorgänge auf dem Kunstkometen.
»Kannst du irgendwelche Funksprüche mitverfolgen?«, fragte Cloud sein Schiff .
»Negativ. Alles bleibt ruhig.« Eine kurze Pause entstand, dann meldete sich die RUBIKON erneut:
»Sollten wir die Erinjij nicht vernichten? Sie fühlen sich unbeobachtet. Ein paar gezielte Salven,
und es ist vorbei. Bevor stärkere Kampfverbände auftauchen, sind wir längst über alle Berge. «
»Wie ich bemerke, nimmt das Schiff langsam deinen legeren Sprachjargon an«, sagte Scobee
gelassen, an Cloud gewandt. »Aber du solltest es vielleicht ein wenig besser erziehen. Man schießt
einem Gegner nicht einfach in den Rücken. Vor allem, wenn man noch nicht weiß, ob man
tatsächlich einem Gegner gegenüber steht, oder ob sich nicht alles als Missverständnis
herausstellen könnte.«
»Daran zweifle ich schwer, Scob. Und dennoch« - John richtete den zornesrot gewordenen Kopf
nach oben, dorthin, wo er meinte, die Stimme der RUBIKON zu lokalisieren -, »du wirst solche
>Vorschläge< in Zukunft tunlichst unterlassen! Die Entscheidungen, was hier an Bord geschieht
und was nicht, treffe ganz alleine ich! Ich! Oder sollen wir uns nochmals ausführlich über deine
Energiezufuhr unterhalten?«
Das Schiff schwieg.
Cloud spürte über all seinem Ärger, dass er der RUBIKON nach und nach einen Charakter
zuordnete. Als ob sie ein Lebewesen wäre.
Denn sie benahm sich manchmal scheinbar jähzornig, hinterlistig oder eifersüchtig. Dann
wiederum wirkte sie freundlich, treu ergeben und folgsam.
John erblickte die Gefahr darin.
Denkenden Geschöpfen gestand man Gefühle zu. Regungen, auf die er als Mensch reagierte.
Dabei war das Verhältnis vom Schiff zu ihm nach seinen Begriffen als das eines Dieners zu seinem
Herrn definiert. Die RUBIKON hatte sein Sklave zu sein und ihm jeden seiner Wünsche von den
Augen beziehungsweise von der Hirnrinde abzulesen.
Doch so wie es aussah, hatten die Erbauer und ehemaligen Besitzer ganz andere Gewohnheiten
gepflogen.
»Es tut sich etwas auf Micky. Mehrere Personen sind ausgestiegen.«
»Micky?«, fragte Cloud irritiert.
»Ich meine natürlich den Kunstkometen. Siehst du nicht diese beiden runden, ohrähnlichen Erhebungen und die spitze >Nase< im Zentrum? Ich sehe eine gewisse Ähnlichkeit zu Micky, der Maus.« »Ja. Also, meinetwegen. Micky. Registriere diese Bezeichnung, Schiff.« Er konzentrierte sich wieder auf die Bildübertragung. Die Vorderteile der Beiboote waren mittlerweile auseinander geglitten. Sieben, nein, acht Lebewesen schossen aus jedem der kleinen Schiffe hervor und verteilten sich auf dem Kometen. »Sie haben zwei Arme und zwei Beine. Die Körperrelationen stimmen ebenfalls. Falls jemand an Bord noch zweifelte - hier handelt es sich um Menschen - oder zumindest um menschenähnliche Wesen«, sagte John leise. »Gibt es noch immer keine Funksprüche, Schiff?«, fragte Scobee. »Negativ. Alles läuft entweder in absoluter Ruhe ab, oder die Abschirmung ist so perfekt, dass ich sie selbst mit meinen Möglichkeiten nichts anmessen kann.« Wie von unsichtbarer Hand gezogen, schwebten mehrere längliche, gelbschwarz gefärbte Geräte aus einer Ladeklappe am Heck eines Beibootes. Sie folgten jeweils einem der sechzehn Erinjij, die sternförmig auseinander strebten und sich binnen weniger Minuten gleichmäßig über Micky verteilten. »Was machen sie da nur?«, murmelte Cloud leise. Die Erinjij bohrten einer nachdem anderen ihre länglichen Geräte in die dünne Hülle des künstlichen Kometen. Lediglich feinster Staub und ab und zu kleine Splitter des Gesteins lösten sich und strebten nach allen Seiten weg. Die Kometenhülle war brüchig und spröde wie Dolomitenkarst. Cloud hatte das Gefühl, als ob die Menschen mit möglichster Sorgfalt vorgingen. Ihr Gang war langsam und von Vorsicht gekennzeichnet. Keine unkontrollierte oder hastige Bewegung war zu entdecken. »Ich kann energetische Aktivitäten in den Bohrapparaturen anmessen«, meldete sich erneut die RUBIKON. »Wahrscheinlich sind dies Selbstläufer, die sich ohne weiteres Zutun tiefer in die Kometenhülle wühlen«, sagte Cloud. »Voraussichtlich sollen sie bis zum Hohlraum vorstoßen. Allerdings ist es mir rätselhaft, warum die Erinjij sechzehn Bohrungen vornehmen, wo doch eine vollkommen reichen würde. Und noch dazu weniger Risiko mit sich brächte. Denn dass die Menschen sich vor irgendetwas ängstigen, steht für mich außer Frage. Niemand würde sich so vorsichtig bewegen wie diese Herrschaften, wenn er nicht das Schlimmste befürchtete.« Mit leichtem Tadel in der Stimme sagte die RUBIKON: »Ich meinte natürlich nicht den Bohrvorstoß alleine, John Cloud. Dies ist ein semimechanischer Vorgang, der in der Tat unter größtmöglicher Vorsicht erfolgt. Ich rede von hoch energetischen Vorgängen. Siehst du den kleinen, kristallähnlichen Fortsatz am Oberteil? Ich werde den Vorgang für dich... für euch... sichtbar machen.« Das Bild des Panoramaschirmes zeigte augenblicklich eine grandios animierte Darstellung des Bohrgerätes. Die Spitze rotierte mit hoher Drehgeschwindigkeit immer weiter in die Tiefe. Sie würde sich gemäß den Vermutungen der RUBIKON nach dem Durchstoßen der Kometenhülle in mehrere dünne Fühler zerteilen, die sich augenblicklich mit unzähligen Widerhaken ins Gestein pressten. Doch viel erstaunlicher war das, was sich am sichtbaren Teil des Bohrers tat. Ein Kristall am oberen Ende, der eher einem kunstvoll bearbeiteten Schmuckstück als dem Teil eines Arbeitsgerätes ähnelte, begann langsame, elliptische Schlingerbewegungen. Allmählich schneller werdend, reflektierte das Ding das wenige natürliche Licht der Sterne. Blaue, partikelgroße Lichtflecken sammelten sich um den Kristall wie Nachtfalter um eine Straßenlampe. Allmählich wurden sie mehr, formten sich zu einem regelmäßig kreisenden Fluss aus blauem Licht.
»Was ist das für eine Energieform?«, fragte Cloud, der atemlos den unheimlichen Vorgang
verfolgte.
»Unbestimmbar«, antwortete die RUBIKON. »Es steht lediglich fest, dass es sich um einen
Zapfstrahl handelt. Siehst du, wie er sich langsam verformt und sein Licht in Form einer
Doppelhelix ins Leere hinausschießt? Meinen Berechnungen zufolge wird sich die Energiezufuhr
des Bohrstabes in den nächsten zwanzig Minuten weiter verstärken. Das Blaulicht wird in einer
Höhe von dreitausend Metern das Kontinuum aufreißen und seinerseits Energie, allerdings in
wesentlich größeren Mengen, aus einem übergeordneten Universum aufnehmen.«
»Das alles willst du vorausberechnet haben? Das glaube ich dir nicht!«
»Ich... kenne diese Art der Energiegewinnung bereits«, antwortete das Schiff.
Das Zögern in der Stimme einer künstlichen Intelligenz hatte etwas Unheimliches,
Furchteinflößendes an sich.
Dies war etwas, das es einfach nicht geben durfte.
Doch Cloud ersparte sich eine weitere Frage. Er war viel zu fasziniert von den Realbildern, die nun
wieder über den Bildschirm liefen.
Gebannt beobachteten er und Scobee, wie sich die Hochrechnungen der RUBIKON eine nach der
anderen bewahrheiteten.
Es dauerte knapp fünf Minuten, bis die Blaupartikel sichtbar wurden, und weitere zehn Minuten,
bis sich eine hochwabernde Doppelhelix bildete, vielleicht zwanzig Meter lang.
Sie war unruhig, unstetig, als ob sie etwas suchen würde.
Eine Doppelhelix... eines der bekanntesten Zeichen der Biologie, das die Struktur eines DNS-
Moleküls nachzeichnete. Ein Sinnbild für das Leben an und für sich. Hatte dies irgendeine tief
liegende Bedeutung?
»Da!« Scobee schrie auf. Nicht erschrocken, aber doch... betroffen.
Die Kette der Doppelhelix-Moleküle fuhr abrupt aus einem der Bohrtürme in die Leere hinauf. In
Abständen von wenigen Sekunden folgten die fünfzehn anderen nach, schossen nach allen
Richtungen davon.
Sie prallten in der von der RUBIKON prognostizierten Höhe von annähernd dreitausend Metern
gegen ein unsichtbares Hindernis.
Dieses Hindernis hieß Raum-Zeit-Kontinuum!
Die Doppelhelices wollten die Barriere niederreißen. Wütend prallten sie dagegen, wanden sich wie
Würmer, wurden schmaler und wieder breiter, scherten an der unsichtbaren Grenze entlang und
suchten nach einem Zugang zu Was-auch-immer.
Das ist unbeherrschte, unkontrollierte Energie, dachte John Cloud. Ihm wurde gleichzeitig warm
und kalt. Wissen die Erinjij denn wirklich, was sie tun?
Das Blau wurde zu einem Violett. Immer rasender strebten die Energiewürmer danach, sich zu
entladen. Cloud konnte nicht umhin, etwas Lebendiges in ihnen zu sehen. Auch wenn sie nichts
anderes als energetische Erscheinungen darstellten.
Rot.
Rot waren sie nun.
Weiß gezackte Risse zeigten sich dort, wo nach allen Gesetzen der Physik gar nichts sein durfte.
An der Barriere, der Grenze zu einem anderen Raum.
Wie bei splitterndem Glas setzten sich die Risse fort, weit in die Unendlichkeit des Alls hinein.
Und dann, endlich, hatten sich die Würmer durchgebohrt. Der Damm brach.
Doch der Kampf der Energien, der nunmehr einsetzte, war ein ungleicher. Denn die Gegner von
jenseits der Grenze, grellweiße, glatte Strahlen, verschluckten die roten Doppelhelices mit einer
Leichtigkeit, dass Cloud erneut angst und bange wurde.
Langsam, fast genüsslich, drängten sie vor, hinab zum Kometen Micky, fraßen ihren roten Gegner
auf.
Die Erinjij hielten mittlerweile einen respektablen Abstand zu ihren Bohrgeräten ein. Mindestens
fünfzig Meter.
Aber das würde nie genügen. Niemals! Und doch geschah ein zweites Wunder, wie es kaum noch unwahrscheinlicher sein konnte. Denn der kleine, blaue Kristall absorbierte die ungeheuren Mengen weißer Energie! Lediglich kleine, zart verästelte Blitze drangen seitlich aus dem Kristall und verpufften wirkungslos nach wenigen Metern. Cloud schwieg und sah dem Zapfvorgang atemlos zu. Denn um nichts anderes konnte es sich handeln: Die Erinjij speicherten die Energiemengen aus einem Fremduniversum in kristallinen Speichern, die rund um den Kometen Micky verteilt waren. Nach drei, vier Minuten ging der Vorgang völlig unspektakulär zu Ende. Der Durchgang schloss sich, und die weißen Strahlen ließen abrupt nach. Mit Lichtgeschwindigkeit. Dies mochte das erste und einzige Mal während des Zapfens gewesen sein, dass die Physik den Naturgesetzen gehorchte. Denn eben zuvor hatte Cloud verfolgen können, wie sich die Strahlen langsam und sichtbar, fast gemächlich, ausgebreitet hatten. Und wie sich zumindest zwei der drei Hauptsätze der Thermodynamik ad absurdum geführt hatten. »Ist es schon vorbei? Ist das alles, was hier passieren wird?«, fragte Scobee völlig ratlos. »Ich nehme an, dass dies lediglich das Vorspiel war«, sagte Cloud nachdenklich. Er deutete auf die Erinjij, die langsam, fast gemächlich, ihre Ausrüstung zusammenpackten und sich daran machten, wieder an Bord ihrer Beiboote zu gehen. Lediglich eine schwarze, wuchtig wirkende Kiste mit annähernd zwei Metern Kantenlänge blieb zurück. »Vermutlich wird die weiße Energie dazu genutzt, um den Kometen samt seiner extraterrestrischen Hinterlassenschaft in die Luft zu sprengen. Mit der Neugierde der Menschen dürfte es demzufolge nicht allzu weit her sein. Sie machen nicht einmal Anstalten, sich der Anlage im Inneren zu nähern.« »Würdest du es denn machen, wenn es bereits die zweitausendste Station ist, der du begegnest, und sie sich alle wie ein Ei dem anderen ähneln?« »Natürlich«, antwortete Cloud ohne zu zögern. »Man kann nie wissen, was einen Neues erwartet.« »Wäre das nicht die Gelegenheit, einen oder mehrere Erinjij zu uns an Bord zu bringen?« Scobee wechselte abrupt das Thema. »Du schnappst dir mit Hilfe unseres Schmiegschirms eines der Beiboote und bringst es auf.« »Du hast Recht, Scob.« Cloud stimmte ihr zögernd zu. »Doch offen gestanden bin ich neugierig geworden. Ich möchte gerne sehen, wie und in welcher Form die Sprengung von Micky erfolgt. Ich nehme an, dass sich danach nochmals Chancen ergeben. Die Erinjij werden mit Sicherheit Nachmessungen anstellen und den leer geräumten Sektor überprüfen. Dann schlagen wir zu. Bist du damit einverstanden?« Cloud bemerkte zum wiederholten Male, wie viel Wert er auf Scobees Meinung legte. Viel mehr Wert als zuvor, als er noch nicht wusste, dass er der Matrix-Scobee gegenüberstand. »Wird die Ortungsgefahr nicht langsam zu groß für uns?«, fragte sie. »So lange sich die Erinjij nur auf Micky und seine Umgebung konzentrieren, sehe ich keinen Anlass zur Besorgnis«, sagte Cloud. »Was meinst du dazu?« Er richtete die Frage Richtung Decke. Er wusste mittlerweile, dass die RUBIKON jede seine Bewegungen mitverfolgte und genauestens zu deuten wusste. Dies erzeugte meist ein unangenehmes Gefühl. Er und Scobee hatten sich auch längst abgewöhnt, etwas vor dem Schiff geheim halten zu wollen. Ein weiteres Problem, das ansteht: Ich muss der RUBIKON beibringen, die Intimsphäre zu wahren, dachte er. Offensichtlich hatten die früheren Besitzer kein besonderes Interesse daran gehabt. »Korrekt, John Cloud. Der Ortungsschutz ist im Schutze unseres Kometen optimal.« Damit war die Sache entschieden.
Cloud stieg wieder in das Innenleben des Schiffes ein. Er wollte die zu erwartende Explosion mit den erweiterten Sinnen der RUBIKON miterleben und ermessen können.
Er wusste Scobee wachend an seiner Seite.
Die sanfte Berührung ihrer Hand verlor langsam an Bedeutung. Unzählige Rezeptoren ersetzten
seine menschlichen Sinne.
Wie viel Zeit bleibt uns noch bis zum Treffpunkt mit Darnok?, fragte er beiläufig das Schiff.
Sieben Stunden und dreiunddreißig Minuten.
Sie würden also mit aller Wahrscheinlichkeit zu spät kommen.
Cloud hoffte, dass das eigentümliche, herzförmige Wesen genug Geduld und Zeit aufbringen
würde, um auf sie zu warten. Obwohl der Faktor Zeit kein Problem für den Keelon darstellen
durfte...
Er blickte mit den Sinnen der RUBIKON hinaus ins All. Die Beiboote hatten vor einer
Viertelstunde in den Mutterschiffen eingeschleust. Seitdem war Ruhe.
Es tut sich was auf Micky, dachte sein Schiff. Gleichzeitig spürte Cloud, dass der zurückgelassene
schwarze Kubus Aktivitäten zeigte. Wahrscheinlich befanden sich Messgeräte in ihm, welche die
Explosion mitverfolgen und so lange wie möglich Daten an einen der Erinjij-Raumer übertragen
sollten.
Kurz darauf setzten sich die feindlichen Schiffe in Bewegung und entfernten sich noch weiter, bis
sie eine Distanz von fünf Lichtsekunden zum Kometen erreicht hatten.
Die Kristallspitzen der Bohrer beginnen, die aufgenommene Energie zu emittieren. Cloud ärgerte sich einmal mehr, dass die RUBIKON Sachen kommentierte, die er mit ihren Sinnen ohnehin nachvollziehen konnte. Nur nicht ablenken lassen! Wahrscheinlich hat die schwarze Box soeben einen Code, eine Art Reizimpuls ausgeschickt. Die sechzehn Bohrköpfe beziehungsweise die Energiekristalle sind nun scharf und werden in die Sprengsequenz geschickt... Doch Cloud irrte sich. Es kam ganz anders.
Die weiße Energie, die aus den Kristallspitzen strömte - dampfte war vielleicht das bessere Wort
für das, was John Cloud erfasste -, verteilte sich gleichförmig rund um den Kometen, umschlang
ihn und hüllte ihn ein. Sie wirkte wie eine dicht gewobene Nebelschwade, die kaum mehr eine
Sicht auf den Gesteinsbrocken erlaubte.
Das ist ein... Schutzschirm! Ein gottverdammter Schutzschirm, dachte John überrascht.
Was hatte das nun wieder zu bedeuten?
Seine Sensoren maßen weitere Tätigkeiten des zurückgelassenen schwarzen Kubus an. Es waren
dies rein mechanische Aktivitäten.
Energetische Emissionen, so sie nun noch auf Micky vorkamen, wurden erbarmungslos vom
weißen Schutzschirm geschluckt und drangen nicht mehr durch.
Die RUBIKON lenkte seine Aufmerksamkeit auf die beiden Erinjij-Schiffe. Es sieht so aus, als ob
dort ein Countdown abläuft. Ich spüre Impulse in Sekundentakt. Und der weiße Schutzschirm
fluktuiert jetzt im selben Rhythmus.
Tatsächlich! Jetzt spürte er es auch. Für kurze Zeit war er zu sehr auf den Kometen fixiert gewesen.
Cloud musste lernen, mit den eingehenden Daten aus allen möglichen Quellen gleichzeitig
umzugehen. Sonst würde er die RUBIKON nie vollends beherrschen...
... acht, sieben..., zählte sein Schiff herunter. Die Fluktuation des Schutzschirmes wurde wesentlich
stärker. Als ob er im Sekundentakt ein- und wieder ausgeschaltet würde.
...drei, zwei, eins, null. Instinktiv wollte John Cloud die Augen schließen. Doch die Rezeptoren der RUBIKON gehorchten völlig anderen Gesetzmäßigkeiten und blieben erbarmungslos auf Empfang. So erlebte er die Explosion mit einer Vielzahl von Sinnen mit.
Und wenn es noch so viel anzumessen gab - binnen zwei Zehntelsekunden war der Spuk vorbei. Micky, der Komet, und sämtliches Gestein im Umkreis von fünfzigtausend Kilometern war einfach weg. Vernichtet.
Zerstrahlt.
Zerbombt.
Feiner Nebel, der Rest des weißen Schutzschirms, zerfaserte am Rand der unsichtbaren Grenze und
verflüchtigte sich weitere drei Zehntelsekunden später ebenfalls.
»Du meinst also, dass der weiße Energieschirm die Wucht der Explosion weitgehend aufgefangen hat?« »So ist es, Scob.« Cloud fühlte sich müde und überfordert. Eine halbe Sekunde voll unglaublicher Sinneseindrücke hatte sich tief in seine Seele gebrannt. »Dies war eine bewusst herbeigeführte Reaktion. Mechanische Belastungen auf der Kometenoberfläche, provoziert durch die schwarze Box, stimulierten offensichtlich eine Abwehrreaktion der versteckten Anlage. Dies erklärt auch, warum die Bohrarbeiten der Erinjij mit allergrößter Vorsicht durchgeführt wurden und sie selbst Micky kaum berührten.« »Diese Menschen fühlen sich also an der Grenze ihres Heimatsystems von einer fremden Macht bedroht und schalten in mühsamer Kleinarbeit eine Fremdstation nach der anderen aus.« Scobee rieb sich nachdenklich die Nase. »Sie nehmen diese jahrelange Arbeit aus einem Gefühl der Bedrohung heraus auf sich...« »Ich konnte die Wucht der Explosion am eigenen Leibe... ich meine, mit den Sinnen des Schiffes... erleben. Ich zeige volles Verständnis für den Respekt, den die Erinjij den unbekannten Erbauern entgegenbringen.« »Wie hätte eine Explosion ohne Gegensteuern durch den weißen Energieschirm geendet?«, fragte die Frau. Cloud zögerte. »Das lässt sich nur ungefähr abschätzen. Doch ich nehme an, dass die RUBIKON so wie alles andere um uns pulverisiert worden wäre.« Das saß. Scobee musste schwer schlucken, bevor sie weiterredete. »Wir sind nahezu eine Lichtsekunde vom Detonationspunkt entfernt gewesen«, sagte sie schließlich. »Ich weiß.« »Das würde also bedeuten, dass die Sprengkraft mit Hilfe des weißen Schutzschirmes auf ein warte mal, lass mich nachrechnen - also, auf mindestens ein Dreihundertstel eingegrenzt wurde.« »Ja.« Er wusste nicht, was er sonst noch antworten sollte. Begriffe, Zahlen und Vergleiche hatten in der Unendlichkeit des Weltalls viel an Wert verloren. Vor allem, nachdem Cloud mit ansehen hatte müssen, dass es zumindest ein weiteres Kontinuum gab, das alle wissenschaftlichen Dogmen über Raum und Zeit erheblich ad absurdum führte. Cloud empfand so ähnlich wie vor zwei Wochen, als sie durch den Strudel eines Wurmloches an einen anderen Ort, in eine andere Zeit gezogen worden waren. In dieser Welt des Morgens war scheinbar alles möglich. Alles. Scobee nickte, und damit war die Sache für sie erledigt. Die GenTec-Matrix dachte viel pragmatischer als er. Wie immer. Sie nahm selbst Ungewöhnliches sofort als Tatsache hin. Er hingegen musste sich mühselig an neue Situationen und an neues Wissen herantasten. »Wirst du dich jetzt darum kümmern, einen Erinjij einzufangen?«, fragte sie drängend. »Wir sind mit unserem Zeitplan weit in Verzug. Wenn ich daran denke, wie unberechenbar sich Darnok bislang gezeigt hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass er für menschliche Neugierde Verständnis zeigt.«
Cloud nickte zustimmend.
Wenn nur alles so leicht wäre! In Wirklichkeit fühlte er sich keineswegs bereit, nunmehr auf
Menschenjagd zu gehen. Zu tief saßen die Eindrücke der Explosion und die Angst vor den
ungeheuren Energiereserven, die die Erinjij beherrschten.
Die technischen Möglichkeiten der RUBIKON gingen zwar mit ziemlicher Sicherheit noch darüber
hinaus. Doch die Gegner kannten ihre eigenen Möglichkeiten, während Cloud gerade erst begonnen
hatte, sein Schiff kennen zu lernen.
Zudem stieg auch seine Müdigkeit mit jeder Minute, die er im Verbund mit der RUBIKON
verbrachte. Er war erschöpft und benötigte eine längere Ruhepause.
Doch das musste warten.
Er ließ sich nach hinten in den Sarkophag sinken und glitt einmal mehr in jene unbegreifliche Welt
des Schiffes.
Sollen wir nun die beiden Erinjij-Raumer lahm schießen und aufbringen? Da steckte Gier dahinter
- pure Mordlust. Cloud schleuderte dem Bordgehirn die ganze Kraft seines Denkens entgegen. Nein! Wir warten, bis
die Beiboote wieder ausschleusen und nehmen uns eines vor. Haben wir uns verstanden?
Es kam eine einfache Bestätigung. Eine simple Änderung eines elektromagnetischen Impulses von
negativ auf positiv.
John empfand dies als widerwilliges Ja.
Sie mussten einige weitere Minuten warten, bis sich etwas tat. Das Schiff nahm dies mit Stoizismus
hin, während Cloud immer ungeduldiger wurde.
Verdammt! Die RUBIKON ist dein Schiff, das auf deine Erwartungen reagiert, und kein Lebewesen! Wenn du es nicht willst, dann empfindet es keinen Gleichmut, Zorn oder gar Hass, rief er sich ärgerlich zur Ordnung. Dies ist lediglich das Resultat einer Wechselwirkung. Du irrst dich, John Cloud, mischte sich das Schiff überraschend in seine Gedankengänge ein. Ich reflektiere zwar deine Ansichten und Wünsche. Doch in mir stecken auch die Prägungen meiner vorherigen Besitzer. Noch bevor Cloud einen neuen, antwortenden Gedanken formulieren konnte, sah er über
Ortungsrezeptoren, dass die Erinjij acht Beiboote ausschleusten.
Augenblicklich verlor er das Interesse an einer weiteren Unterhaltung mit dem Schiff und
konzentrierte sich auf die Menschen der Zukunft.
Die kleinen, kastenförmigen Beiboote schwärmten aus und näherten sich der neu freigesprengten
Enklave von mehreren Seiten mit atemberaubenden Beschleunigungswerten.
Ortungsschutz verlassen. Jetzt!, dachte Cloud.
Der Antrieb der RUBIKON kämpfte für wenige Momente gegen den Treibimpuls des Kometen,
auf dem sie verankert waren. Mit einer leicht erhöhten Schubkraft zwang er den länglichen
Brocken schließlich in eine neue, schnell berechnete Flugbahn Richtung Enklave. Cloud
beschleunigte allmählich auf einhundert Sekundenkilometer und schleppte die mehrere
zweitausend Tonnen schwere Last, ihre Tarnung, ohne Probleme mit sich her.
Mit ein wenig Glück kommen wir nahe genug an die frei gesprengte Blase heran, bevor wir von den
gegnerischen Ortern entdeckt werden.
Der Plan gefällt mir. Bis jetzt zumindest, dachte die RUBIKON.
Mittlerweile hatten die Erinjij-Beiboote begonnen, Wolken von Restmaterie, die teilweise von
außen ins Innere der neuen Enklave hineinschwebten, zu zerstrahlen. Sie setzten dabei jene
grellblauen Strahlen ein, die Cloud nur zu gut von seiner ersten Begegnung mit einem irdischen
Raumschiff, der PEKING, kannte.
Dies waren tödliche, alles vernichtende Angriffswaffen. War ihre Kraft verwandt mit jener in
kleinen Kristallen gefangenen Energie, die Schichten zwischen Universen aufreißen konnte?
Er wusste es nicht.
Aber es würden viele Antworten sein, denen er sich in nächster Zeit stellen musste.
Wenn sie die Erde erreichten.
Falls sie die Erde erreichten.
Du lässt dich immer wieder ablenken, John Cloud. Konzentriere dich auf das Nahe liegende,
dachte die RUBIKON. Das Schiff hatte Recht, wie so oft. Und doch schien ihm, dass es manchmal nichts lieber tat, als seine Achtsamkeit zu stören. Sekunden addierten sich zu Minuten, ohne dass sie entdeckt wurden. Immer wieder tasteten Clouds Sinne nach dem Taktwerk des Schiffes. Bald war der richtige Moment gekommen, sich von der Tarnung zu lösen und eines der Beiboote anzugreifen. Eines der kleinen Kastenschiffe hatte sich ein wenig von den anderen entfernt und arbeitete auf der ihnen zugewandten Seite der frei gesprengten Enklave an einem riesenhaften Kometen, der langsam über die Grenze trudelte. Das ist unser Opfer. Noch zwei Minuten, dann sind wir dran und schnappen uns das Ding! Jagdfieber hatte ihn gepackt, und er spürte, dass es dem Schiff ähnlich erging.
Sie haben uns in der Ortung!, gellte ein lautloser Schrei durch das Schiff.
Verdammt! Neunzig Sekunden zu früh für eine optimale Annäherung.
John spürte die aufprallenden Suchstrahlen. Sie waren unangenehm wie ein Nesselausschlag, der
sich langsam, aber unaufhörlich, über seinen Rücken ausbreitete.
Ursprüngliche Sequenz abbrechen, befahl er der RUBIKON. Von der Tarnung ausklinken.
Höchstbeschleunigung auf das Ziel zu. Volle Leistung auf Schmiegschirm.
Er/das Schiff musste sich gewaltig anstrengen, um diese trivial klingenden Vorgaben adäquat und
in kürzester Zeit umzusetzen. Tausende, Abertausende Vorgänge mussten binnen weniger
Momente koordiniert und ausgeführt werden.
Es war, als würde John eine Rolle rückwärts vollführen, gleichzeitig einen Liebesbrief schreiben
und nebenbei im Kopf eine Wurzel dritter Potenz ziehen.
Die Erinjij waren sichtlich überrascht, doch sie reagierten schnell. Auch wenn hier wahrscheinlich
kein auf Aggression und Abwehr eingestelltes Personal tätig war, so stoben die sechzehn Beiboote
in kürzester Zeit doch weit auseinander, um der RUBIKON kein gemeinsames Ziel zu bieten.
Sie nehmen damit bewusst das Risiko in Kauf, eines ihrer kleinen Schiffe zu verlieren, dachte
Cloud. Das ist eine rein taktische Maßnahme. Und die beiden Mutterschiffe werden wohl die
anderen fünfzehn Beiboote abzuschirmen trachten und an Bord nehmen.
Wir können sie alle vernichten!, hetzte ihn die RUBIKON. Wir sind ihnen überlegen, ich weiß es!
Eröffne den Kampf!
Wieder brachte ihn sein Schiff mit unmotivierten - wie sollte er es nur ausdrücken - mit
unmotivierten Wutausbrüchen aus der Konzentration. Cloud verlor wertvolle Hundertstel-,
möglicherweise sogar Zehntelsekunden.
Er verschaffte sich einen Gesamtüberblick.
Eines der Beiboote verfolgte einen etwas unglücklichen Kurs, das es durch ein dicht belegtes
Kometenfeld führte.
Das ist unser Opfer! Da drinnen sind wir ihm weit überlegen. Was uns an Kometen in den Weg kommt, wird weggerammt oder weggestrahlt. Also ihm nach, aber kein Beschuss! Auf minimale Kernschussweite heran, dann Störfunkfeuer über alle Frequenzen. Sobald seine Steuerung lahm gelegt ist, den Schmiegschirm vergrößern und einfangen. Bei der ganzen Aktion geht Sicherheit vor Risiko, gab Cloud Anweisungen, die eigentlich nur ihm selbst galten. Immer mehr wurde er von aufkommendem Jagdfieber gepackt, immer mehr sah er sich selbst als die RUBIKON. Seine Struktursensoren meldeten Erschütterungen, nur wenige Millionen Kilometer entfernt. Ein Kampfschiff der Erinjij. Nein, zwei! Verdammt, was sind die schnell! Das Beiboot, das er verfolgte, raste haken schlagend durch die dichte Kometenwolke. Es musste ein menschlicher Pilot sein, der dort >am Steuer< saß. Die Lenkmanöver waren haarsträubend und stets an der Grenze des Machbaren. Cloud konnte sich nicht vorstellen, dass eine Maschinerie oder Automatik derart verquere Bocksprünge erdachte.
Er und die RUBIKON hatten es wesentlich leichter. Wo das Erinjij-Beiboot ausweichen musste, flogen sie geradeaus und schossen sich den Weg frei. Außerdem waren ihre Beschleunigungswerte um einen zweifachen Faktor überlegen. Annäherung auf zwanzigtausend Kilometer. Haken nach vorne unten weg. Großkomet voraus zerstrahlen. Kurs des Beibootes neu antizipieren. Korrektur nach backbord. Neuer Abstand achtzehntausend. Kampfschiffe der Erinjij nähern sich seitlich. Berechnen offensichtlich Treffpunkt mit Beiboot, zwanzig Lichtsekunden voraus. Nach Austritt aus dem dichten Trümmerfeld. Ist zu spät für sie. Bis dahin haben wir das kleine Schiff… Cloud/das Schiff triumphierte. Nur noch wenige Manöver, dann hatte er/es die Beute am Haken. Noch eine weite Kurve dort, wo das Beiboot enge Manöver durch Kometenmasse machen musste. Jetzt! Cloud/das Schiff schickte instinktiv Störstrahlung auf allen Fronten aus.
Und tatsächlich: Das Erinjij-Schiff verlangsamte plötzlich, offensichtlich orientierungs- und
antriebslos.
Es torkelte dahin, nur noch von einer Restgeschwindigkeit getragen, sämtlicher Steuerungsimpulse
beraubt.
Ist das eine Falle? Nie und nimmer! Jetzt gilt's! Cloud/das Schiff näherte sich mit absurden Bremswerten dem kleinen Beiboot, packte es bei Stillstand mit Hilfe einer zusätzlich ausgebildeten Blase des Schmiegschirms und beschleunigte augenblicklich wieder. Cloud wählte einen Fluchtvektor, der ihn zurück in die neu gesprengte Enklave bringen würde. Von dort würde es weiter in Richtung innerer Kern der Oortschen Wolke gehen, über den ursprünglichen Kurs, den die RUBIKON berechnet hatte. Dorthin, wo die neun Planeten des Sonnensystems auf ihn warteten. Die Erinjij-Kampfschiffe holen auf. Stelle dich! Wir vernichten sie! Der Druck und das wütende Drängen der RUBIKON wurden stärker und stärker, und Cloud fühlte
sich zugleich immer matter. Die Intensität des Steuerns nahm ihm seine Kräfte in atemberaubender
Rasanz. Er benötigte unbedingt eine Pause, und er musste das Schiffsgehirn kaltstellen.
Ein letzter großer Brocken, den er beiläufig zerstrahlte, und er hatte die Enklave erreicht.
Volle Beschleunigungswerte jetzt!, feuerte er sich/das Schiff an.
Cloud spürte einen zusätzlichen Kick, der die RUBIKON fast ruckartig vorwärts trieb. Erstmals
lernte er die wahren Beschleunigungskräfte des unheimlichen Schiffes kennen. Das kleine Erinjij-
Beiboot, das wie in einem Fischernetz am Heck des Manta-Rochens hing, bedeutete keinen
nennenswerten zusätzlichen Energieaufwand für ihn/das Schiff.
Enklave durchquert, dachte er. Ein letztes, überlichtschnelles Ortungssignal trifft uns.
Cloud jubelte überschwänglich, trotz seiner Erschöpfung. Er hatte es geschafft! Sie waren
entkommen, und sie hatten überaus wertvolle Gefangene gemacht.
Das war kein Ortungsimpuls, vermittelte ihm plötzlich die RUBIKON, sondern...
Das Erinjij-Beiboot explodierte.
...ein Zündimpuls. Es war alles umsonst gewesen. 8. »Sie haben sich lieber umgebracht, als lebend in unsere Hände zu fallen. Was geht nur in diesen Menschen vor?« Cloud trug sein Entsetzen offen zur Schau. Er war »halb« aus seinem Sarkophag aufgetaucht. Er war jetzt offen, sah aus wie ein Sitz. Nicht wie eine geschlossene ägyptische Ganzkörper-Totenmaske. Aber seine Hände waren immer noch von Kontakt-, von Verbindungsenergie umzüngelt. Einen Teil der Aufmerksamkeit widmete er unvermindert dem Schiff, der Flucht und der nach wie vor schwierigen Steuerung durch massierte Kometenfelder. Der andere jedoch... war bei Scobee.
»Ich hab's auf dem Panoramaschirm gesehen«, sagte sie nüchtern. »Was die Frage aufwirft:
Wollten sie auf keinem Fall einem Feind in die Hände fallen, oder war es im Speziellen der
Anblick der RUBIKON, der sie in den Selbstmord getrieben hat?«
»Ich, nein... ich weiß es nicht«. Cloud schloss die Augen. Es war fast unmöglich, das Schiff zu sein
- beziehungsweise es zu steuern -, und sich noch gleichzeitig um die Welt draußen zu kümmern.
Er verfluchte seine körperliche Schwäche. Wann hatte er sich das letzte Mal so richtig ausschlafen
können? Vor zwei Tagen, vor drei?
Er gab Scobee einen müden Händedruck und tauchte wieder vollends in die RUBIKON ein.
Wir haben die Verfolger abgeschüttelt, meldete das Schiff. Mit den Beschleunigungswerten und
unserer Wendigkeit sind wir eindeutig im Vorteil.
Können sie unseren Austrittspunkt aus der Oortschen Wolke prognostizieren und dort eventuell
stärkere Flottenverbände zusammenziehen, die uns erwarten?
Nein. Die störenden Einflüsse innerhalb der Wolke sind zu groß, um direkten Funkkontakt mit
außen zu ermöglichen. Selbst über eine Relaisbrücke mehrerer Schiffe würde es mindestens zwölf
Stunden dauern, bis die Erinjij im Sonnensystem über unser Eindringen Bescheid wüssten.
Und wieso waren sie gerade eben so rasch vor Ort?
Der Schutzverband muss in der Nähe der neuen Enklave auf der Lauer gelegen sein. Als
Rückendeckung, sozusagen. Offensichtlich legten die Erinjij nicht allzu großen Wert darauf, die
Kampfkraft ihrer Schiffe offen zu demonstrieren.
Er konzentrierte sich wieder vollends auf die Steuerungsarbeit und drängte das Bewusstsein des Schiffsgehirns so weit wie möglich in den Hintergrund. Ausweichen. Flügelschlag beschleunigen. Ein Feld mit Schwerkrafterhöhung umgehen. Wirkungsgrad des Schmiegschirms auf hundert Prozent anheben. Einfach nur durch, so rasch wie möglich. Geschlossenes Kometenfeld mit dreißig Kilometern Ausdehnung zerstrahlen. Kurze Orientierungspause. Kontrollortung. Kurskorrektur. Weiter. Es war wie ein Traum, ein nie endender Albtraum. Psychedelisch und verrückt. So ganz und gar
außerhalb dessen, was ein Mensch verstehen konnte.
Und es kostete ihm immens viel Kraft. Lange würde er nicht mehr durchhalten...
Wir nähern uns der letzten, der innersten Schicht der Enklaven.
Und?, fragte Cloud knapp. Wir weichen aus, so wie wir es besprochen haben. Was sollten wir denn
noch viel Neues erfahren? Wir wissen nun, wie und warum die Enklaven entstanden sind und haben
die Arbeitsweise der Erinjij kennen gelernt. Wir bleiben auf dem vorberechneten Kurs.
Ich habe eine Anomalie entdeckt. Etwas ganz Besonderes... Die gedankliche Stimme des Schiffes
lockte ihn, wollte ihn neugierig machen.
Ich kann nichts sehen oder spüren. John führte rasch eine Überprüfung der ihm zugänglichen
Datenbanken seines Raumschiffskörpers durch. Da ist nichts, was ich nicht schon kenne.
Hier.
Ein neuer, bislang nicht vorhandener Raum in seinem Bewusstsein öffnete sich. Als ob ein blinder
Fleck plötzlich sehend geworden wäre.
Es war wie ein Schock Du hast mir Material vorenthalten!
Die RUBIKON überging den Vorwurf. Sieh es dir an, John Cloud. Sieh nur hin!
Er konnte die Daten nicht ignorieren. Sie waren in ihm, sie waren Teil seines Verstandes.
Sie dokumentierten eine Enklave mit einem Durchmesser von fünfhunderttausend Kilometern!
Und sie lag genau in ihrer Flugrichtung.
Es ist die älteste Enklave von allen, Mensch. Hier hat offenbar die erste Explosion stattgefunden. Neue Zahlenreihen und neue Berechnungen ratterten durch sein Gehirn. Cloud konnte sich nicht dagegen wehren. Die RUBIKON beschoss ihn förmlich mit unbekanntem Material. Dies war der Ausgangspunkt für all die Sprengungen. Es mag ein Zufall gewesen sein, dass sie auf den präparierten Kometen mit der geheimen Station darauf gestoßen sind. Vielleicht war es ein simples Forschungsschiff, das Bodenproben zog oder sich einfach nur einen Weg durch die
Oortsche Wolke bahnen wollte. Egal wie: Es ist explodiert, und die Erinjij erkannten die Bedrohung, die auch nach innen, also gegen ihr Sonnensystem, gerichtet war. Cloud war verwirrt. Die RUBIKON überlud ihn mit Datenmaterial, das ihm bislang unbekannt
gewesen war. Auch mit Informationen, die vollends irrelevant schienen. Ist ja alles... interessant,
bringt uns aber... nicht weiter. Ich werde...
Du wirst gar nichts. Lehne dich zurück und genieße.
Mit einem sanften Ruck übernahm die RUBIKON die Steuerung.
Es war kein Kampf vonnöten, beileibe nicht.
Sie entwand ihm die Befehlsgewalt wie eine Mutter ihrem Säugling den Schnuller.
Einfach so.
Daten prasselten in endloser Folge auf ihn ein. Informationsströme, die ihn verrückt machten und
immer tiefer, immer weiter zurückdrängten.
Bis er sich selbst wie ein kleines Binom in einer endlosen Reihe von Schaltsequenzen vorkam.
Er war zum Nichts verkommen.
Scobees Spaziergänge (4) Einmal mehr ließ Scobee die Kernzone, also jenen Bereich, den Cloud ständig kraft seines Willens
beeinflusste und änderte, hinter sich.
Diesmal ging es heckwärts. Zumindest ihrem Gefühl nach. Denn wer wusste schon, wo bei diesem
lebenden Schiff vorne und hinten war?
Von außen ähnelte die RUBIKON einem Manta-Rochen mit weit ausgebreiteten Flügeln.
Auch die flüssigen und eleganten Bewegungen der Flügel während des Überlichtfluges vertieften
diesen Eindruck.
Scobee strebte also in die Richtung des hinteren Spitzes.
Darnoks Karte bestätigte, dass die Zentrale im ungefähren Zentrum des Schiffsleibes saß. An der
dicksten Stelle, die rund fünfzig Meter maß.
Es mussten hundertdreißig, maximal hundertfünfzig Meter bis zum Heck der RUBIKON hin sein.
Der Gang, den sie gewählt hatte, endete nach zwei Dutzend Schritten und mündete in einem
kreisrunden Verteiler. Sieben Schleusentore, zwei Meter hoch und drei Meter breit, standen ihr zur
weiteren Auswahl.
Sieben war eine Zahl, der man am Bord des Schiffes bei Schritt und Tritt über den Weg lief.
Im Besonderen dachte sie an den Begriff der Sieben Hirten, dem sie, mythologisch verbrämt, im
Aqua-Kubus erstmals begegnet waren. Auf den Heiligen Tafeln, die tausendfach im grünen Wasser
trieben, waren Namen gestanden.
Sobek, Mont, Mecchit, Sarac, Ogminos, Epoona und Siroona. Waren sie die Erbauer und ersten Besitzer der RUBIKON gewesen?
Scobee war sich fast sicher.
Doch was war von ihnen übrig geblieben? Nichts - außer der Erinnerung an Namen.
Es gab sieben Steuersitze respektive Sarkophage.
Immer wieder waren es sieben Tastelemente zur Bedienung einfacher Gerätschaften.
Und zumeist, so wie hier, standen Knotenpunkte mit sieben Gängen zur Auswahl.
Einerlei. Sie durfte sich nicht ablenken lassen und jene Zeitspanne nutzen, die ihr verblieb,
während John Teil des Schiffes war.
Scobee wählte den vierten, also den mittleren Gang. Sie tat dies rein aus ihrem Gefühl heraus, denn
es gab keinerlei Anhaltspunkte für eine logisch bestimmte Entscheidung. Zu sehen war vom
Verteiler aus nichts. Alle sieben Abzweigungen krümmten sich nach wenigen Metern rechts weg.
Seltsam. Dass gerade sie, die wegen ihrer kühlen und stets von der Ratio beherrschten
Entscheidungen berüchtigte Frau, sich auf ihren Instinkt verlassen musste.
Scobee fühlte sich keineswegs wohl dabei.
Langsam, vorsichtig, ging sie den hell ausgeleuchteten Gang entlang. Dabei blieb sie stets an der
rechten Seite und hielt eine Hand, wie fühlend, an der Wand.
Der Kunststoff fühlte sich angenehm temperiert an, fast warm.
»Dieser Bereich ist für dich nicht sicher«, ertönte die Stimme des Bordgehirns.
»Ich kann auf mich ganz gut alleine aufpassen. Trotzdem danke für den guten Rat«, entgegnete
Scobee.
»Ich muss darauf bestehen, dass du umkehrst«, fuhr die RUBIKON fort.
»Ich denke nicht daran. Hast du vielleicht etwas zu verbergen? Ein schmutziges, kleines
Geheimnis? Etwas, das nicht für unsere Augen bestimmt ist?«
»Es besteht ein deutlicher Unterschied zwischen dem, das du tun und wissen, beziehungsweise
dem, das der Kommandant tun und wissen darf.«
»John Cloud hat ohnehin keine Geheimnisse vor mir, wie du sicherlich schon bemerkt hast.«
Ungerührt ging sie weiter.
Schweigen.
Hatte sich das Schiffsgehirn tatsächlich überzeugen lassen? Einfach so?
Fast hatte es den Anschein.
Die unsichtbare Lichtquelle versiegte allmählich, während es nunmehr kerzengerade vorwärts ging.
Das Restlicht reichte bald nicht mehr für normalmenschliches Sehen, also schaltete Scobee mit
einem bewussten Nicken auf Infrarot um.
Solche kleinen Tricks erleichterten den Umgang mit ihren übermenschlichen Fähigkeiten. Sie hatte
sich diese Bewegung und noch einige andere während langer Trainingseinheiten angewöhnt.
Doch diese Übungsstunden waren tiefe Vergangenheit.
Es ging leicht aufwärts, dann allmählich steiler, und schließlich musste sie sich mit der rechten
Hand an der Wand abstützen, um weiter vorwärts zu gelangen.
Was war das bloß? Ein fieser, kleiner Trick des Schiffsgehirns, um sie daran zu hindern, etwas
Bedeutsames zu entdecken?
Die Sicht war nun gleich Null. Lediglich Arme und Beine, die Wärme ausstrahlten, waren in der
allgegenwärtigen Dunkelheit noch zu erkennen.
Es war absurd! Dies alles ähnelte eher einem psychedelischen Albtraum als einem Spaziergang
durch ein hypertechnisiertes Raumschiff.
Die Steigung musste bereits mehr als sechzig Grad betragen. Nur dank ihrer Zähigkeit und der
Kraft, die ihren Fingern innewohnte, konnte sie sich noch halten und langsam, Stuck für Stück,
vorwärts hangeln.
Sollte sie aufgeben und umkehren?
Niemals!
Die RUBIKON verheimlichte etwas vor ihr, das war klar. Und sie musste wissen, was es war.
Da!
Ein leichter Luftzug von links, der ihr Gesicht streichelte. Wahrscheinlich aus einem Quergang.
Vielleicht noch ein paar Meter, dann konnte sie sich emporschwingen und verschnaufen.
Scobee krallte die Finger in Boden und Seitenwand, verspreizte die Beine, so gut es ging, und
schnellte sich mit aller Explosivität ihres gentechnisch verbesserten Körpers vorwärts. In der
Hoffnung, eine Kante oder Winkel des Querganges zu erreichen.
Doch sie landete im - Nichts.
Da war nichts. Kein Widerstand. Nur große Leere.
Sie fiel.
In Bruchteilen einer Sekunde drehte sie sich um die eigene Achse, streckte alle Glieder so weit wie
möglich aus und tastete während des Fallens nach etwas - irgendetwas! -, an dem sie sich festhalten
konnte.
Da! Ein Vorsprung oder eine Kante . unter ihrer linken Hand. Scharfkantig und glatt.
Der Ruck war mörderisch, als sich ihr ganzes Gewicht auf lediglich drei Fingerkuppen verteilte.
Scobee ächzte. Sie verbannte jeden Gedanken an Schmerz aus ihrem Kopf.
Ihr Körper schwang unkontrolliert hin und her.
Die rechte Hand zuziehen. Rasch! Ja, so hab ich mir das gedacht. Es war tatsächlich eine Kante, an der sie hing. Eine Kante, über die sie wahrscheinlich hoch hinaus
gesprungen war.
Was für ein Glück, dass sie nicht kopfüber voraus gefallen war.
Glück, pah! Sie fluchte unhörbar.
Scobee setzte das Pendeln ihres Körpers ein, um sich mit einem Schwung vollends zur Kante
hochzuziehen.
Beinahe wäre sie auf der anderen Seite, von der sie gekommen war, wieder nach unten gerutscht.
So saß sie, wie auf dem Vorderteil einer steil hoch gezogenen Zugbrücke, und keuchte schwer.
»Verdammt, warum gibt es hier nur kein Licht?«, murmelte sie.
»Ich wusste nicht, dass du Licht haben wolltest«, dröhnte die nüchterne Stimme der RUBIKON
von oben.
Schlagartig wurde es hell um sie. So hell, dass sie geblendet die Augen schließen musste und
beinahe nochmals das Gleichgewicht verloren hätte.
Binnen weniger Sekunden gewöhnte sich Scobee an die geänderten Verhältnisse.
Sie saß tatsächlich am Ende eines langen, weit ausladenden Steges, der wie eine Zugbrücke steil
nach oben ragte.
Vor, unter- und oberhalb von ihr war nichts.
Nada. Niente.
Nur Leere und Dunkelheit, die sich in der Ewigkeit verloren.
Dies war mit Sicherheit kein Innenraum der RUBIKON, denn ihre Sicht reichte kilometerweit nach
unten und oben. Zumindest, wenn sie sich auf ihr Augenmaß verlassen konnte.
Das Faszinierendste war das völlige Fehlen jeglichen Luftwirbel, wie man ihn an einem Ort dieser
Größenordnung erwarten musste. Nur ein ganz leichter, sanfter Zug war zu spüren.
Scobee nahm eine Rolle mit Vitaminpillen aus der Brusttasche des Overalls, den Darnok ihr
gefertigt hatte.
Sie ließ das Röllchen einfach fallen.
Langsam, wie unter etwas verminderter Schwerkraft, flatterte es nach unten.
Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig... Nach fünfzehn Sekunden verlor sie den kleinen
Gegenstand aus den Augen.
Der Abgrund war echt.
Ein eiskaltes Kribbeln kletterte ihr Rückgrat hinauf, und sie ließ es geschehen.
»Warum hast du mich nicht gewarnt, du verdammtes Monstrum?«, schrie sie ihren Zorn hinaus.
»Das habe ich, Scobee. Ich wollte dich daran hindern, weiterzugehen.«
»Du hättest mich auf die Natur dieser Gefahr vorbereiten müssen.«
»Mein internes Protokoll würde jedem Beobachter beweisen, dass ich dich zweimal nachhaltig
gebeten habe, nicht weiterzugehen. Soll ich es dir vorspielen?«
»Ich weiß sehr gut, was ich gesagt habe! Aber es besteht ein bedeutsamer Unterschied zwischen
dem, was du gewusst hast und dem, wie du es sagtest!«
»Der Unterschied scheint mir nicht klar. Kann es sein, dass eure Sprache mehr Facetten zu bieten
hat, als ich bislang glaubte?«
Das Bordgehirn veräppelte sie und spielte zugleich mit ihren Emotionen. Sie beruhigte Kreislauf
und Atmung. »Na schön. Was war es, was ich da gesehen habe? Wirst du mir wenigstens diese
Frage beantworten?«
»Negativ. Dein einfacher Beobachterstatus erlaubt es nicht, über solche Dinge Bescheid zu
wissen.«
»Na schön. Dann hole ich mir die Informationen eben von John.«
Die RUBIKON schwieg.
Fluchend rutschte Scobee vom Steg hinab und machte sich auf den Weg zurück zur Zentrale.
9. Glaubtest du denn wirklich, dass ich ein bloßes Spielzeug bin, John Cloud? Ein einfaches Fahrzeug, in dem man es sich bequem macht und durch die Gegend fliegt? Das Äquivalent eines Lachens hallte durch das Schiff. Nein! Derjenige, der mein Herr sein will, der muss mich erobern. Er muss Meiner wert sein und mehr mentale Stärke aufbringen, als du es bislang vermochtest. Scobee. Wo war die Frau? Vielleicht konnte sie ihm beistehen. Wenn er doch nur ein klein wenig Handlungsfreiheit gewinnen könnte. Ein kurzes Zucken mit der Hand würde vielleicht genügen, um sie die Gefahr erkennen zu lassen... Mach dich nicht lächerlich, Kommandant. Scobee ist irgendwo in mir unterwegs, um kleine Geheimnisse zu entdecken, die ich ihr vorspiegle. Was für ein amüsantes Spiel! Wenn du ihr etwas antust, dann... Ich würde von Drohungen absehen, die du nicht erfüllen kannst, mein Lieber. Wieder ertönte homerisches Lachen. Mach dir keine Sorgen. Sie hat eine faire Chance, ihr kleines Abenteuer zu überleben. Zorn und Hass steigerten Clouds Willen, den Kampf gegen das Schiffsbewusstsein nochmals
aufzunehmen.
Aber bevor er an eine Angriffsbewegung denken konnte, drückte ihn die RUBIKON nochmals ein
wenig tiefer in die Bedeutungslosigkeit. In eine endlose Schwärze.
Kontakt!, dachte das Schiff plötzlich.
Sie waren in die riesige Enklave vorgedrungen.
John Cloud konnte spüren, wie das Schiff die Defensiv- und Offensivbewaffnung gleichermaßen
hochfuhr. Sechs Kampfeinheiten der Erinjij standen im Zentrum des materielosen Raumes.
Sie waren ahnungslos.
Komm, mein tapferer Kommandant. Du darfst mitspielen.
Unter keinen Umständen!
Spürst du, wie sich die Energien aufbauen? Wie sie darauf warten, von uns, von mir und von dir,
entlassen zu werden? Um den Feind zu töten? Spürst du es? Komm, sag es mir!
Die RUBIKON umschmeichelte ihn. Sie verwirrte weiterhin seine Sinne, streichelte über seinen Geist. Fuhr mit sanften Bewegungen punktgenau über Lust- und Schmerzzentrum in seinem virtuellen Körper, stachelte seine Wut an. Du willst es doch selbst, mein Kommandant. Zeige dich meiner würdig. Öffne deinen Mund und lass es geschehen. Erst wenige Hundertstelsekunden waren seit ihrer punktgenauen Ankunft in der Enklave vergangen. Eine Sekunde. Wenn er den Verlockungen der RUBIKON eine winzige Sekunde lang widerstehen konnte, würden die Erinjij eine Chance haben, ihre Schutzsysteme hochzufahren. Egal, welcher Verbrechen sich die Erinjij schuldig gemacht hatten - er war nicht bereit, an einem Massenmord teilzuhaben. Das ist der Feind, John Cloud. Das Böse an sich. Gib ihnen, was sie verdienen.
Das Schiff gängelte ihn, spielte mit seinen Empfindungen. Cloud war sich sicher, dass die RUBIKON den Kampf ohne seine Unterstützung führen konnte. Doch sie wollte ihn demütigen. Nein!, brüllte er mit aller Kraft. Es ist ganz einfach. Eine simple Bewegung. Du musst nur den Mund, meinen Mund, öffnen. Dir Erleichterung verschaffen. Deinen Zorn hinausschreien und in Energie verwandeln. Ich spüre, wie sehr du das willst. Er spürte Tausende Hände über seinen Leib fahren. Sie berührten ihn. Unermesslich glücklich machende Stimmen verlockten ihn mit Sirenengesang. Alle anderen Empfindungen als die, den Gegner zu hassen, wurden abgeschnitten. Die Hände zupften mit spitzen Nägeln an seiner Widerstandskraft, einem dünnen, spröden Faden. Lass es raus. Denke an nichts anderes.. Öffne dich. Lass es fließen. Mach dich glücklich, mach mich glücklich. Weiche Federn glitten über seinen Hals, so leicht, dass er sie kaum spürte. Der Reiz, die Reize, waren kaum mehr auszuhalten.
Eine dreiviertel Sekunde war vergangen.
Er schaffte es!
NEIN! Neineineinein... John Cloud zapfte alles an, was ihm an Energiereserven und Willenskraft geblieben war. Er würde diesem verfluchten Schiff auf keinen Fall die Genugtuung geben, im Kampf der Bewusstseine zu unterliegen.
Niemals!
Und er öffnete den Mund, und Energiestrahlen schossen eruptiv daraus hervor, und sie trafen das Schiff, und er hatte verloren.
Es war entsetzlich.
Einer der fünf Erinjij-Kampfraumer zerplatzte wie eine reife Frucht. Noch bevor die Menschen dort
an Bord auf irgendeine Art und Weise reagieren konnten, starben sie.
Dann war die RUBIKON unter den verbliebenen vier Gegnern und schoss aus allen Rohren.
Ein weiterer Raumer, mindestens einhundert Meter lang, verging in einer gewaltigen Feuerlohe.
Längst schon hatte die RUBIKON John Cloud in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins
verbannt und die Initiative übernommen.
Sie hatte ihn demütigen, ihre Überlegenheit dokumentieren wollen.
Es war ihr gelungen.
Die beiden vernichteten Schiffe hießen NEWCASTLE und ORLANDO. Sind das Namen, die dir etwas sagen, John Cloud? Sind dies Städte, in denen du schon einmal warst? Verbinden dich besondere Erinnerungen damit? Schöne Erinnerungen? Die RUBIKON war rasend geworden. Irrwitzige Manöver ließen sie hin und her springen und immer wieder gezielte Salven auf die Erinjij abfeuern. Doch die waren mittlerweile gewarnt. Ihre Schutzschirme standen und erlaubten keine direkten Treffer mehr. Auch ein Trommelfeuer energetischer Störimpulse schien ihnen nichts auszumachen. Und ihrerseits eröffneten sie nun das Feuer von drei Seiten. Auch von mehreren Abwehrforts, die rings um die Grenze der Enklave auf größeren Kometen angeordnet waren, dröhnte der RUBIKON nun Offensivfeuer entgegen. Trotz des Schocks hatten die Erinjij blitzschnell von Verteidigung auf Angriff umgeschalten. Der Schmiegschirm stöhnte unter der Belastung von vier grellblauen Strahlenlanzen, die das Schiff gleichzeitig trafen, doch er hielt. Ein leichter Missklang, eine leichte Unsicherheit mischte sich unter die zornig vorgetragenen Attacken der RUBIKON. Sie schien überrascht von der heftigen Gegenwehr.
Hatte sie den Gegner tatsächlich unterschätzt? Hatte sie ihr Zorn blind werden lassen? Ging der Einfluss ihrer emotionellen Komponente tatsächlich so weit, dass sie Informationen und Fakten beiseite ließ und... Fehler machte? John Cloud wusste aus den unzähligen mittlerweile zusammengetragenen Datenblöcken, dass ein massierter Angriff der Erinjij der RUBIKON mehr als gefährlich werden konnte. Der Schmiegschirm, diese scheinbar dünne Haut, war ihr größter Trumpf. Auch die Beschleunigungswerte und ihre Wendigkeit waren höher als jene der Erinjij-Schiffe einzuschätzen. Doch bei der Offensivbewaffnung hatte die RUBIKON gegen mehrere Gegner eindeutig das Nachsehen. Es würde ihr schwer fallen, die Erinjij weiter zu dezimieren. Du unterschätzt mich noch immer, John Cloud! Das Schiffsbewusstsein war ruhiger, überlegter. geworden.
Es hatte etwas vor!
Es griff nach einer Karte in der Hinterhand, nach einem Joker.
John erhielt einen Blick nach draußen. Er sah den anthrazitfarbenen Leib des Rochens um sich, wie
er grazil mit den Flügeln schlug und eine Ausweichbewegung nach der anderen flog.
Da! Am Heck des Schiffes passierte etwas. Ein energetisches Feld bildete sich. Rot und bedrohlich
strahlte es, wurde lang und länger...
Eine zusätzliche Offensivwaffe? Noch etwas, das ihm die RUBIKON bislang verschwiegen
hatte...?
Der Schwanz begann zu leuchten und zu pulsieren, zog sich noch weiter in die Länge und bewegte
sich, den Flugmanövern des Schiffes folgend, hinter ihm her. Als ob er sich in einem nicht
vorhandenen Luftzug wiegte und nur darauf wartete, zu zustechen...
Das Schiffsbewusstsein wirkte außerordentlich konzentriert. Die Ausweichbewegungen gegen den
Strahlenbeschuss durch die Erinjij-Schiffe und -Abwehrforts kamen fast reflexartig. Mehr als
neunzig Prozent seiner geistigen Kapazität richtete die RUBIKON währenddessen auf den
Schwanz.
Cloud spürte plötzlich Oberwasser.
Er dachte tunlichst an alles Mögliche, was nichts mit der Sache selbst zu tun hatte. Er tat alles, nur
um nicht an Widerstand zu denken und die RUBIKON zu warnen...
Eine weitere Empfindung drang zu ihm durch. Eine, auf die er nicht mehr gehofft hätte... Scobees
Händedruck!
Die Frau schien zu wissen, dass er sie brauchte. Sie wollte ihm Energie geben, Kraft für den einen,
den entscheidenden Moment geben.
Cloud konzentrierte sich auf das Fühlen der weichen, schmiegsamen Hand, auf die gerundeten
Fingerkuppen, auf die schlanken, sehnigen Gelenke.
Auf seine Verbindung in die reale Welt.
Und dann schlug er zu.
Was... nein! Die RUBIKON schrie auf. Cloud hatte sie erwischt. Sie war bei weitem nicht so stark, wie sie vorgegeben hatte, das fühlte er mit einem Mal. Alles nur Lug und Trug. Es ist wie beim Armdrücken: Wenn man den Gegner tief genug hinabgedrückt hat, kommt er nicht mehr hoch. Egal, wie groß sein Kraftaufwand dann noch ist. So war es ihm vor einiger Zeit ergangen, und so erging es nun der RUBIKON.
Mit unerwarteter Leichtigkeit schob er jene sinnlosen Zahlenketten beiseite, die bislang auf ihn
herabgeprasselt waren.
Cloud packte das Schiffsbewusstsein von allen Seiten. Er verwirrte es anfänglich mit assoziativ
erdachten Algorithmen. Er griff zurück auf sein Wissen um Paradoxa, zitierte altgriechische
Philosophen wie Zenon und Epimenides, dann Bertrand Russell und schließlich Erwin Schrödinger
und dessen weltberühmt gewordene Katze.
Der Widerstand war marginal. Wie ein Rinnsal in der Wüste versickerte das Eigenbewusstsein des
Schiffes.
Es endete dort, wo noch vor wenigen Augenblicken John Cloud gefangen gehalten worden war. Im
hintersten, unbedeutendsten Winkel, ohne jegliche Möglichkeit auf Einflussnahme, unter dem
stetigen Beschuss durch endlose, sinnentleerte Datenketten.
Ihm hatte Scobee aus der Misere geholfen.
Doch die RUBIKON würde keinen Verbündeten finden.
Cloud stoppte sofort und intuitiv die Bildung des rötlich pulsierenden Schwanzes. Was auch immer
man sich darunter vorstellen musste - er hatte kein Interesse an einer Fortsetzung des Kampfes. Mit
welchen Waffen auch immer.
Im Gegenteil: Er setzte die RUBIKON - zumindest das leblose Gebilde aus Plaststoffen und
Metallen, über das er nunmehr gebot - auf einen Fluchtkurs in Richtung Sonnensystem.
Mindestens sieben Zehntel Sekunden lang hatte Cloud um die Vorherrschaft im und um das Schiff
gerungen. Noch immer spürte er die Hand Scobees auf seiner.
Die Übernahme der Befehlsgewalt war reibungslos über die Bühne gegangen. Lediglich ein kurzer
Schlenker war für Cloud zu spüren gewesen, dann hatte er die Steuerung sicher unter Kontrolle.
Zwei mächtige Strahlen, abgeschossen von Abwehrforts, zwischen denen er sich auf einem neu
berechneten Fluchtkurs durch bewegte, zerfaserten wirkungslos im Schmiegschirm.
Die drei Schiffe, die ihn aus der Enklave hinaus verfolgten, trugen die Namen OSTERSUND,
TBILISI und DUBLIN.
In punkto Beschleunigung hatten sie ihm und der RUBIKON nichts entgegenzusetzen. Genau so
wenig bei Wendigkeit und Reaktionsschnelligkeit.
Hast du's bequem in deinem Loch? Cloud konnte einfach nicht umhin, dem Schiffsbewusstsein
einen Teil der Häme zurückzuzahlen.
Achilles versucht eine Schildkröte einzuholen, die allerdings einen Vorsprung hat. Wenn er die
ursprüngliche Distanz zurücklegt, ist sie schon ein Stück weiter gegangen... Epimenides der Kreter
sagte, dass alle Kreter lügen. Also muss er gelogen haben, als er das behauptete. Dann aber gibt es
mindestens einen Kreter, der nicht lügt... Ein Mann geht zu seinem Barbier und wettet, dass er es
nicht fertig bringen könne, genau jenen Männern im Dorf den Bart zu rasieren, die sich ihren Bart
nicht selbst rasieren... Eine Katze ist zusammen mit einer Gift-Ampulle und einem radioaktiven
Atom in eine geschlossene Kiste gesperrt. Zerfällt das Atom, löst ein Detektor einen Hammer aus,
der die Ampulle zerbricht, und die Katze wird getötet... Die Gedanken des Schiffshirnes drehten
sich im Kreis, immer und immer wieder.
John Cloud kümmerte sich wieder hoch konzentriert um die Schiffssteuerung. Noch zwei
Lichtmonate, und er hatte die Oortsche Wolke hinter sich gelassen.
Die Oortsche Wolke und zwei zerstörte Raumschiffe, in denen wahrscheinlich Hunderte oder
Tausende Erinjij ihr Leben gelassen hatten.
Die Oortsche Wolke, die zusätzliche Rätsel aufgeworfen hatte.
Waren die Erbauer der RUBIKON und der getarnten Kometenstationen tatsächlich identisch, und
welchen Zweck hatte dieses unbekannte Volk in der Nähe des Sonnensystems verfolgt?
Warum wandten die Erinjij unbotmäßig viel Kraft und Substanz auf, um die Oortsche Wolke von
diesen Hinterlassenschaften zu räumen? Hätte nicht ein Markierungssystem vollkommen gereicht,
um Reisende auf die Gefahr aufmerksam zu machen?
Hatte er das Schiffsbewusstsein nun kraft seines Willens besiegt? War er nun endgültig Besitzer der
RUBIKON?
Welche Geheimnisse verbargen sich noch in den Rechnern, welche Schätze verbargen sich noch in den wandelbaren Räumlichkeiten des Manta-Rochens? Was war dies für eine geheimnisvolle Erscheinung gewesen, die sich am Höhepunkt der Schlacht gegen die Erinjij aufgebaut hatte? Eine Waffe? Ein zusätzlicher Abwehrmechanismus? Warum hatte ihm die einfache Berührung durch Scobees Hand so viel Kraft und Energie zurückgegeben, dass er das Schiffsgehirn hatte besiegen können? Epilog Drei Stunden nach der ausgemachten Zeit erreichte die RUBIKON die mit Darnok ausgemachten
Rendezvous-Koordinaten. Irgendwo auf Höhe der Pluto-Bahn.
Sie waren wieder »zu Hause«.
Aber von Darnok... von Darnok gab es weit und breit keine Spur.
John Cloud stieg aus dem Sarkophag, taumelte in seine Kabine und fiel augenblicklich in einen
tiefen Erschöpfungsschlaf.
Das Schiffsbewusstsein lag mittlerweile in schweren Ketten, zu Boden gepresst von der Tücke
menschlicher, allzu menschlicher Denkweise.
Wirklich? ENDE Sie lasen einen Roman mit der Bastei Zinne Wo gute Unterhaltung zu Hause ist. Sie finden uns im Internet: unter http://www.bastei.de. Hier können Sie aktuelle Informationen zu unseren Serien und Reihen abrufen, mit anderen Lesern in Kontakt treten, an Preisausschreiben und Wettbewerben `teilnehmen oder in Fan-Shops stöbern. Schauen Sie mal rein - es lohnt sich!