HEINRICH MANN PROFESSOR UNRAT
ROMAN S. FISCHER
Heinrich Mann (um 1903) Ullstein Bilderdienst in Berlin
Heinrich Ma...
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HEINRICH MANN PROFESSOR UNRAT
ROMAN S. FISCHER
Heinrich Mann (um 1903) Ullstein Bilderdienst in Berlin
Heinrich Mann Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen Roman S. Fischer
Heinrich Mann Gesammelte Werke in Einzelbänden Herausgegeben von Peter-Paul Schneider
3. Auflage November 2002 © 1975 Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar © 1994 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Alle Rechte liegen beim S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Satz: Clausen & Bosse, Leck Druck und Bindung: Strauss Offsetdruck, Mörlenbach Printed in Germany isbn 3-10-047808-8
Professor Unrat
I
Da er Raat hieß, nannte die ganze Schule ihn Unrat. Nichts konnte einfacher und natürlicher sein. Der und je- ner Professor wechselten zuweilen ihr Pseudonym. Ein neuer Schub Schüler gelangte in die Klasse, legte mordgie- rig eine vom vorigen Jahrgang noch nicht genug gewür- digte Komik an dem Lehrer bloß und nannte sie scho- nungslos bei Namen. Unrat aber trug den seinigen seit vie- len Generationen, der ganzen Stadt war er geläufig, seine Kollegen benutzten ihn außerhalb des Gymnasiums und auch drinnen, sobald er den Rücken drehte. Die Herren, die in ihrem Hause Schüler verpflegten und sie zur Arbeit anhielten, sprachen vor ihren Pensionären vom Professor Unrat. Der aufgeweckte Kopf, der den Ordinarius der Untersekunda hätte neu beobachten und nochmals ab- stempeln wollen, wäre nie durchgedrungen; schon darum nicht, weil der gewohnte Ruf auf den alten Lehrer noch so gut seine Wirkung übte wie vor sechsundzwanzig Jahren. Man brauchte nur auf dem Schulhof, sobald er vorbeikam, einander zuzuschreien: »Riecht es hier nicht nach Unrat?« Oder: »Oho! Ich wittere Unrat!« Und sofort zuckte der Alte heftig mit der Schulter, im- mer mit der rechten, zu hohen, und sandte schief aus sei- nen Brillengläsern einen grünen Blick, den die Schüler falsch nannten, und der scheu und rachsüchtig war: der Blick eines Tyrannen mit schlechtem Gewissen, der in den Falten der Mäntel nach Dolchen späht. Sein hölzernes Kinn mit dem dünnen, graugelben Bärtchen daran klappte herunter und hinauf. Er konnte dem Schüler, der ge- 9
schrien hatte, »nichts beweisen« und mußte weiterschlei- chen auf seinen magern, eingeknickten Beinen und unter seinem fettigen Maurerhut. Zu seiner Jubelfeier im Vorjahr hatte das Gymnasium ihm einen Fackelzug gebracht. Er war auf seinen Balkon getreten und hatte geredet. Während alle Köpfe, in den Nacken gelegt, zu ihm hinaufsahen, war plötzlich eine unschöne Quetschstimme losgegangen: »Da ist Unrat in der Luft!« Andere hatten wiederholt: »Unrat in der Luft! Unrat in der Luft!« Der Professor dort oben fing an zu stottern, obwohl er den Zwischenfall vorausgesehn hatte, und sah dabei je- dem der Schreier in den geöffneten Mund. Die andern Herren standen in der Nähe; er fühlte, daß er wieder ein- mal »nichts beweisen« könne; aber er merkte sich alle Namen. Schon tags darauf gab der mit der gequetschten Stimme dadurch, daß er das Heimatdorf der Jungfrau von Orleans nicht kannte, dem Professor Gelegenheit zu der Versicherung, er werde ihm im Leben noch oftmals hinderlich sein. Richtig war dieser Kieselack zu Ostern nicht versetzt worden. Mit ihm blieben die meisten in der Klasse zurück von denen, die am Jubiläumsabend ge- schrien hatten, so auch von Ertzum. Lohmann hatte nicht geschrien und blieb dennoch sitzen. Dieser erleich- terte die Absicht Unrats durch seine Trägheit und jener durch seine Unbegabtheit. Nächsten Spätherbst nun, an einem Vormittag um elf, in der Pause vor dem Klassen- aufsatz über die »Jungfrau von Orleans«, geschah es, daß von Ertzum, der der Jungfrau immer noch nicht näherge- treten war und eine Katastrophe voraussah, in einem An- fall schwerfälliger Verzweiflung das Fenster aufriß und aufs Geratewohl mit wüster Stimme in den Nebel hinaus- brüllte: »Unrat!« Es war ihm unbekannt, ob der Professor in der Nähe sei, und es war ihm gleichgültig. Der arme, breite Land- 10
junker war nur von dem Bedürfnis fortgerissen worden, noch einen kurzen Augenblick seinen Organen freies Spiel zu gewähren, bevor er sich für zwei Stunden hinhocken mußte vor ein weißes Blatt, das leer war, und es mit Wor- ten bedecken aus seinem Kopf heraus, der auch leer war. Tatsächlich aber ging Unrat grade über den Hof. Als der Ruf aus dem Fenster ihn traf, machte er einen eckigen Sprung. Im Nebel droben unterschied er von Ertzums knorrigen Umriß. Kein Schüler hielt sich drunten auf, kei- nem konnte von Ertzum das Wort zugerufen haben. ›Die- ses Mal‹, dachte Unrat frohlockend, ›hat er mich gemeint. Diesmal kann ich es ihm beweisen!‹ Er nahm die Treppe in fünf Sätzen, riß die Klassentür auf, hastete zwischen den Bänken hindurch, schwang sich, in das Katheder gekrallt, auf die Stufe. Da blieb er bebend stehn und mußte Atem schöpfen. Die Sekundaner hatten sich zu seiner Begrüßung erhoben, und äußerster Lärm war jäh in ein Schweigen versunken, das förmlich betäubte. Sie sahen ihrem Ordinarius zu wie einem ge- meingefährlichen Vieh, das man leider nicht totschlagen durfte und das augenblicklich sogar einen peinlichen Vor- teil über sie gewonnen hatte. Unrats Brust arbeitete heftig; schließlich sagte er mit seiner begrabenen Stimme: »Es ist mir da vorhin immer mal wieder ein Wort zugerufen wor- den, eine Bezeichnung – ein Name denn also: ich bin nicht gewillt, ihn mir bieten zu lassen. Ich werde diese Schmä- hung durch solche Menschen, als welche ich Sie kennen- zulernen leider Gelegenheit hatte, nie dulden, merken Sie sich das! Ich werde Sie fassen, wo immer ich es vermag. Ihre Verworfenheit, von Ertzum, nicht genug damit, daß sie mir Abscheu einflößt, soll sie an der Festigkeit eines Entschlusses wie Glas zerbrechen, den ich Ihnen hiermit verkünde. Noch heute werde ich von Ihrer Tat dem Herrn Direktor Anzeige erstatten, und was in meiner Macht steht, soll – traun fürwahr – geschehen, damit die Anstalt 11
wenigstens von dem schlimmsten Abschaum der mensch- lichen Gesellschaft befreit werde!« Darauf riß er sich den Mantel von den Schultern und zischte: »Setzen!« Die Klasse setzte sich, nur von Ertzum blieb stehn. Sein dicker, gelb punktierter Kopf war jetzt so feuerrot wie die Borsten oben darauf. Er wollte etwas sagen, setzte mehr- mals an, gab es wieder auf. Schließlich stieß er heraus: »Ich bin es nicht gewesen, Herr Professor!« Mehrere Stimmen unterstützten ihn, opferfreudig und solidarisch: »Er ist es nicht gewesen!« Unrat stampfte auf: »Stille! … Und Sie, von Ertzum, merken Sie sich, daß Sie nicht der erste Ihres Namens sind, den ich in seiner Laufbahn – gewiß nun freilich – beträcht- lich aufgehalten habe, und daß ich Ihnen auch ferner Ihr Fortkommen, wenn nicht gar unmöglich machen, so doch, wie seinerzeit Ihrem Onkel, wesentlich erschweren werde. Sie wollen Offizier werden, nicht wahr, von Ertzum? Das wollte Ihr Onkel auch. Weil er jedoch das Ziel der Klasse nie erreichte und das Reifezeugnis für den Einjährig-Freiwilli- gen-Dienst – aufgemerkt nun also – ihm dauernd versagt werden mußte, kam er auf eine sogenannte Presse, wo er jedoch ebenfalls gescheitert sein mag, so daß er endlich nur infolge eines besonderen Gnadenaktes seines Landesherrn – doch nun immerhin – den Zutritt zur Offizierskarriere erlangte, die er dann aber, scheint es, bald wieder unterbre- chen mußte. Wohlan! Das Schicksal Ihres Onkels, von Ertzum, dürfte auch das Ihre werden oder doch dem jenes sich ähnlich gestalten. Ich wünsche Ihnen Glück dazu, von Ertzum. Mein Urteil über Ihre Familie, von Ertzum, steht seit fünfzehn Jahren fest … Und nun …« Hierbei schwoll Unrats Stimme unterirdisch an. »Sie sind nicht würdig, an der erhabenen Jungfrauen- gestalt, zu der wir jetzt übergehen, Ihre geistlose Feder zu wetzen. Fort mit Ihnen ins Kabuff!« 12
Von Ertzum, langsam von Verständnis, lauschte noch immer. Vor angestrengter Aufmerksamkeit ahmte er un- bewußt mit den Kiefern die Bewegungen nach, die der Professor mit den seinigen vollführte. Unrats Kinn, in dessen oberem Rand mehrere gelbe Gräten staken, rollte, während er sprach, zwischen den hölzernen Mundfalten wie auf Geleisen, und sein Speichel spritzte bis auf die vor- derste Bank. Er schrie auf: »Sie haben die Kühnheit, Bur- sche! … Fort, sage ich, ins Kabuff!« Aufgescheucht drängte von Ertzum sich aus der Bank hervor. Kieselack raunte ihm zu: »Mensch, wehr dich doch!« Lohmann, dahinter, verhieß unterdrückt: »Laß nur, den kriegen wir noch wieder kirre.« Der Verurteilte trollte sich am Katheder vorbei, in das Gelaß, das der Klasse als Garderobe diente und worin es stockfinster war. Unrat stöhnte vor Erleichterung, als hin- ter dem breiten Menschen sich die Tür geschlossen hatte. »Nun wollen wir die Zeit nachholen«, sagte er, »die uns dieser Bursche gestohlen hat. Angst, hier haben Sie das Thema, schreiben Sie es an die Tafel.« Der Primus nahm den Zettel vor seine kurzsichtigen Augen und machte sich langsam ans Schreiben. Alle sahen mit Spannung unter der Kreide die Buchstaben entstehn, von denen so viel abhing. Wenn es nun eine Szene betraf, die man zufällig nie »präpariert« hatte, dann hatte man »keinen Dunst« und »saß drin«. Aus Aberglauben sagte man, noch bevor die Silben an der Tafel einen Sinn annah- men: »O Gott, ich fall rein.« Schließlich stand dort oben zu lesen: »Johanna: Es waren drei Gebete, die du tatst; Gib wohl acht, Dauphin, ob ich sie dir nenne! (›Jungfrau von Orleans‹, I. Aufzug, 10. Auftritt.) Thema: Das dritte Gebet des Dauphins.« Als sie dies gelesen hatten, sahen alle einander an. Denn 13
alle »saßen drin«. Unrat hatte sie »hineingelegt«. Er ließ sich mit einem schiefen Lächeln im Lehnstuhl auf dem Katheder nieder und blätterte in seinem Notizbuch. »Nun?« fragte er, ohne aufzusehn, als sei alles klar, »wollen Sie noch was wissen? … Also los!« Die meisten knickten über ihrem Heft zusammen und taten, als schrieben sie schon. Einige starrten entgeistert vor sich hin. »Sie haben noch fünfviertel Stunden«, bemerkte Unrat gleichmütig, während er innerlich jubelte. Dieses Auf- satzthema hatte noch keiner gefunden von den unbegreif- lich gewissenlosen Schulmännern, die durch gedruckte Leitfäden es der Bande ermöglichten, mühelos und auf Eselsbrücken die Analyse jeder beliebigen Dramenszene herzustellen. Manche in der Klasse erinnerten sich des zehnten Auf- tritts im ersten Aufzug und kannten beiläufig die zwei er- sten Gebete Karls. Vom dritten wußten sie nichts mehr, es war, als hätten sie es nie gelesen. Der Primus und noch zwei oder drei, darunter Lohmann, waren sogar sicher, sie hätten es nie gelesen. Der Dauphin ließ sich ja von der Prophetin nur zwei seiner nächtlichen Bitten wiederho- len; das genügte ihm, um an Johannas Gottgesandtheit zu glauben. Das dritte stand schlechterdings nicht da. Dann stand es gewiß an einer andern Stelle oder ergab sich ir- gendwo mittelbar aus dem Zusammenhang; oder es ging gar ohne weiteres in Erfüllung, ohne daß man wissen konnte, hier ging etwas in Erfüllung? Daß es einen Punkt geben konnte, wo er niemals aufgemerkt hatte, das gab auch der Primus Angst im stillen zu. Auf alle Fälle mußte über dieses dritte Gebet, ja selbst über ein viertes und fünftes, wenn Unrat es verlangt hätte, irgend etwas zu sagen sein. Über Gegenstände, von deren Vorhandensein man nichts weniger als überzeugt war, etwa über die Pflichttreue, den Segen der Schule und die Liebe zum Waf- 15
fendienst, eine gewisse Anzahl Seiten mit Phrasen zu be- decken, dazu war man durch den deutschen Aufsatz seit Jahren erzogen. Das Thema ging einen nichts an; aber man schrieb. Die Dichtung, der es entstammte, war einem, da sie schon seit Monaten dazu diente, einen »hineinzu- legen«, auf das gründlichste verleidet; aber man schrieb mit Schwung. Mit der »Jungfrau von Orleans« beschäftigte die Klasse sich seit Ostern, seit dreiviertel Jahren. Den Sitzengeblie- benen war sie sogar schon aus dem Vorjahr geläufig. Man hatte sie vor- und rückwärts gelesen, Szenen auswendig gelernt, geschichtliche Erläuterungen geliefert, Poetik an ihr getrieben und Grammatik, ihre Verse in Prosa übertra- gen und die Prosa zurück in Verse. Für alle, die beim er- sten Lesen Schmelz und Schimmer auf diesen Versen ge- spürt hatten, waren sie längst erblindet. Man unterschied in der verstimmten Leier, die täglich wieder einsetzte, keine Melodie mehr. Niemand vernahm die eigen weiße Mädchenstimme, in der geisterhafte, strenge Schwerter sich erheben, der Panzer kein Herz mehr deckt und En- gelflügel, weit ausgebreitet, licht und grausam dastehn. Wer von diesen jungen Leuten später einmal unter der fast schwülen Unschuld jener Hirtin gezittert hätte, wer den Triumph der Schwäche in ihr geliebt hätte, wer um die kindliche Hoheit, die, vom Himmel verlassen, zu einem armen, hilflos verliebten kleinen Mädel wird, je geweint hätte, der wird nun das alles nicht so bald erleben. Zwan- zig Jahre vielleicht wird er brauchen, bis Johanna ihm wie- der etwas anderes sein kann als eine staubige Pedantin. Die Federn kritzelten; Professor Unrat lugte, mit nichts weiter beschäftigt, über die gebeugten Nacken hinweg. Es war ein guter Tag, an dem er einen »gefaßt« hatte, beson- ders wenn es einer war, der ihm »seinen Namen« gegeben hatte. Dadurch ward das ganze Jahr gut. Leider hatte er schon seit zwei Jahren keinen der heimtückischen Schreier 16
mehr »fassen« können. Das waren schlechte Jahre gewe- sen. Ein Jahr war gut oder schlecht, je nachdem Unrat einige »faßte« oder ihnen »nichts beweisen« konnte. Unrat, der sich von den Schülern hinterrücks angefein- det, betrogen und gehaßt wußte, behandelte sie seinerseits als Erbfeinde, von denen man nicht genug »hineinlegen« und vom »Ziel der Klasse« zurückhalten konnte. Da er sein Leben ganz in Schulen verbracht hatte, war es ihm versagt geblieben, die Knaben und ihre Dinge in die Per- spektive des Erfahrenen zu schieben. Er sah sie so nah, wie einer aus ihrer Mitte, der unversehens mit Machtbefugnis- sen ausgestattet und aufs Katheder erhoben wäre. Er redete und dachte in ihrer Sprache, gebrauchte ihr Rot- welsch, nannte die Garderobe ein »Kabuff«. Er hielt seine Ansprachen in dem Stil, den auch sie in solchen Fällen angewendet haben würden, nämlich in latinisierenden Pe- rioden und durchwirkt mit »traun fürwahr«, »denn also« und ähnlichen Häufungen alberner kleiner Flickworte, Gewohnheiten seiner Homerstunde in Prima; denn die leichten Umständlichkeiten des Griechen mußten alle recht plump mitübersetzt werden. Da er selber steife Gliedmaßen bekommen hatte, verlangte er das gleiche von den andern Insassen der Anstalt. Das fortwährende Be- dürfnis in jugendlichen Gliedern und in jugendlichen Ge- hirnen, in denen von Knaben, von jungen Hunden – ihr Bedürfnis zu jagen, Lärm zu machen, Püffe auszuteilen, weh zu tun, Streiche zu begehn, überflüssigen Mut und Kraft ohne Verwendung auf nichtsnutzige Weise loszu- werden: Unrat hatte es vergessen und nie begriffen. Wenn er strafte, tat er es nicht mit dem überlegenen Vorbehalt: Ihr seid Rangen, wie’s euch zukommt, aber Zucht muß sein; sondern er strafte im Ernst und mit zusammengebis- senen Zähnen. Was in der Schule vorging, hatte für Unrat Ernst und Wirklichkeit des Lebens. Trägheit kam der Ver- derblichkeit eines unnützen Bürgers gleich, Unachtsam- 16
keit und Lachen waren Widerstand gegen die Staatsge- walt, eine Knallerbse leitete Revolution ein, »versuchter Betrug« entehrte für alle Zukunft. Aus solchen Anlässen erbleichte Unrat. Schickte er einen ins »Kabuff«, war ihm dabei zumute wie dem Selbstherrscher, der wieder einmal einen Haufen Umstürzler in die Strafkolonie versendet und, mit Angst und Triumph, zugleich seine vollste Macht und ein unheimliches Wühlen an ihrer Wurzel fühlt. Und den aus dem »Kabuff« Zurückgekehrten und allen andern, die ihn je angetastet hatten, vergaß Unrat es nie. Da er seit einem Vierteljahrhundert an der Anstalt wirkte, waren Stadt und Umgegend voll von seinen ehemaligen Schü- lern, von solchen, die er bei Nennung seines Namens »ge- faßt« oder denen er es »nicht hatte beweisen« können, und die alle ihn noch jetzt so nannten! Die Schule endete für ihn nicht mit der Hofmauer; sie erstreckte sich über die Häuser ringsumher und auf alle Altersklassen der Ein- wohner. Überall saßen störrische, verworfene Burschen, die »ihrs« nicht »präpariert« hatten und den Lehrer be- feindeten. Ein Neuer, noch ahnungslos, bei dem zu Haus ältere Verwandte über den Professor Unrat gelacht hatten wie über eine Jugenderinnerung von freundlicher Komik, und der nun mit dem Schub zu Ostern in Unrats Klasse gelangt war, konnte sich bei der ersten falschen Antwort anfauchen hören: »Von Ihnen habe ich hier schon drei gehabt. Ich hasse Ihre ganze Familie!« Unrat auf seinem erhabenen Posten über all den Köpfen genoß seine vermeintliche Sicherheit; und inzwischen war neues Unheil am Ausbrechen. Es kam von Lohmann. Lohmann hatte seinen Aufsatz sehr kurz abgetan und dann zu einer Privatbeschäftigung gegriffen. Die wollte aber nicht vorwärtskommen, denn der Fall seines Freun- des von Ertzum wurmte Lohmann. Er hatte sich gewisser- maßen zum moralischen Schutzherrn des kräftigen, jun- 17
gen Edelmanns aufgeworfen und betrachtete es als ein Ge- bot der eigenen Ehre, die geistige Schwäche des Freundes, wo es ging, mit seinem so hoch entwickelten Hirn zu dek- ken. Im Augenblick, wo von Ertzum eine unerhörte Dummheit sagen wollte, räusperte Lohmann sich lärmend und soufflierte ihm darauf das Richtige. Die unbegreif- lichsten Antworten des andern machte er den Mitschülern achtbar durch die Behauptung, von Ertzum habe den Leh- rer nur »wütend ärgern« wollen. Lohmann war ein Mensch mit schwarzen Haaren, die über der Stirn sich bäumten und zu einer schwermütigen Strähne zusammenfielen. Er hatte die Blässe Luzifers und eine talentvolle Mimik. Er machte Heinesche Gedichte und liebte eine dreißigjährige Dame. Durch die Erwer- bung einer literarischen Bildung in Anspruch genommen, konnte er der Schule nur wenig Aufmerksamkeit gewäh- ren. Das Lehrerkollegium, dem es aufgefallen war, daß Lohmann immer erst im letzten Quartal zu arbeiten be- gann, hatte ihn trotz seiner zum Schluß genügenden Lei- stungen sitzenlassen, schon in zwei Klassen. So saß Loh- mann, grade wie sein Freund, mit siebzehn Jahren noch unter lauter Vierzehn- und Fünfzehnjährigen. Und wenn von Ertzum dank seiner körperlichen Entwicklung zwan- zig zu sein schien, so erhöhten sich Lohmanns Jahre da- durch, daß ihn der Geist berührt hatte. Was mußte nun einem Lohmann der hölzerne Hans- wurst dort auf dem Katheder für einen Eindruck machen; dieser an einer fixen Idee leidende Tölpel. Wenn Unrat ihn aufrief, trennte er sich ohne Eile von seiner der Klasse fernstehenden Lektüre, und die breite, gelbblasse Stirn in befremdeten Querfalten, prüfte er aus verächtlich gesenk- ten Lidern die ärmliche Verbissenheit des Fragestellers, den Staub in des Schulmeisters Haut, die Schuppen auf seinem Rockkragen. Schließlich warf er einen Blick auf seine eigenen geschliffenen Fingernägel. Unrat haßte Loh- 18
mann beinahe mehr als die andern, wegen seiner unnah- baren Widersetzlichkeit, und fast auch deshalb, weil Loh- mann ihm nicht seinen Namen gab; denn er fühlte dunkel, das sei noch schlimmer gemeint. Lohmann vermochte den Haß des armen Alten beim besten Willen nicht anders zu erwidern als mit matter Geringschätzung. Ein wenig von Ekel beträufeltes Mitleid kam auch hinzu. Aber durch die Kränkung von Ertzums sah er sich persönlich herausgefor- dert. Er empfand, als der einzige unter dreißig, Unrats öffentliche Lebensbeschreibung des von Ertzumschen Onkels als eine niedrige Handlung. Zuviel durfte man dem Schlucker dort oben nicht erlauben. Lohmann entschloß sich also. Er stand auf, stützte die Hände auf den Tisch- rand, sah dem Professor neugierig beobachtend in die Au- gen, als habe er einen merkwürdigen Versuch vor, und de- klamierte vornehm gelassen: »Ich kann hier nicht mehr arbeiten, Herr Professor. Es riecht auffallend nach Unrat.« Unrat machte einen Sprung im Sessel, spreizte beschwö- rend eine Hand und klappte stumm mit den Kiefern. Hier- auf war er nicht vorbereitet gewesen – nachdem er noch soeben einem Verworfenen die Relegation in Aussicht ge- stellt hatte. Sollte er nun auch diesen Lohmann »fassen«? Nichts wäre ihm erwünschter gekommen. Aber – konnte er es ihm »beweisen«? … In diesem atemlosen Augenblick reckte der kleine Kieselack seine blauen Finger mit den zerbissenen Nägeln in die Höhe, knallte mit ihnen und keifte gequetscht: »Lohmann läßt einen nicht ruhig nach- denken, er sagt immer, hier riecht es nach Unrat.« Es entstand Kichern, und einige scharrten. Da ward Un- rat, der schon den Wind des Aufruhrs im Gesicht spürte, von Panik ergriffen. Er fuhr vom Stuhl auf, machte über das Pult hinweg eckige Stöße nach allen Seiten, wie gegen zahl- lose Anstürmende, und rief: »Ins Kabuff! Alle ins Kabuff!« Es wollte nicht ruhig werden; Unrat glaubte, sich nur noch durch einen Gewaltstreich retten zu können. Er 19
stürzte sich, ehe jener es vermuten konnte, auf Lohmann, packte ihn am Arm, zerrte und schrie erstickt: »Fort mit Ihnen, Sie sind nicht länger würdig, der menschlichen Ge- sellschaft teilhaftig zu sein!« Lohmann folgte, gelangweilt und peinlich berührt. Zum Schluß gab Unrat ihm einen Ruck und versuchte, ihn gegen die Tür des Garderobengelasses zu schleudern; doch dies mißlang. Lohmann staubte sich ab an der Stelle, wo Unrat ihn angefaßt hatte, und verfügte sich besonne- nen Schrittes in das »Kabuff«. Darauf sah der Lehrer sich nach Kieselack um. Der aber hatte sich hinter seinem Rük- ken an ihm vorbeigewunden und drückte sich schon, mit einer Fratze, in das Arrestlokal. Der Primus mußte den Professor darüber aufklären, wo Kieselack sei. Unvermit- telt verlangte nun Unrat, die Klasse solle durch den Zwi- schenfall keinen Augenblick von der Jungfrau abgelenkt worden sein. »Warum schreiben Sie nicht? Fünfzehn Minuten noch! Und die unfertigen Arbeiten werde ich – immer mal wie- der – nicht zensieren!« Infolge dieser Drohung fiel den meisten überhaupt nichts mehr ein, und es entstanden angstvolle Mienen. Unrat war zu erregt, um eine rechte Freude daran zu haben. In ihm war der Drang, jeden je möglichen Wider- stand zu brechen, alle bevorstehenden Attentate zu verei- teln, es ringsumher noch stummer zu machen, Kirchhofs- ruhe herzustellen. Die drei Rebellen waren beseitigt, aber ihre Hefte, aufgeschlagen auf den Bänken, schienen ihm noch immer den Geist der Empörung auszuströmen. Er raffte sie zusammen und begab sich mit ihnen auf das Katheder. Von Ertzums und Kieselacks Arbeiten waren mühselige und ungelenke Satzgefüge, die nur zu sehr von gutem Wil- len zeugten. Bei Lohmann war es sogleich unbegreiflich, daß er keine »Disposition« gemacht hatte, keine Eintei- 20
lung seiner Abhandlung in A, B, C, a, b, c und 1, 2, 3. Auch hatte er nur eine einzige Seite fertiggebracht, die Unrat mit schnell wachsender Entrüstung zur Kenntnis nahm. Es stand dort: »Die dritte Bitte des Dauphins ›Jungfrau von Orleans‹ I, 10). Die junge Johanna führt sich, geschickter als ihre Jahre und ihre bäurische Vergangenheit es vermuten ließen, durch ein Taschenspielerkunststück bei Hofe ein. Sie gibt dem Dauphin einen Inhaltsauszug aus den drei Bitten, die er in der letzten Nacht an den Himmel gerichtet hat, und macht durch ihre Fertigkeit im Gedankenlesen natürlich starken Eindruck auf die unwissenden großen Herren. Ich sagte: aus den drei Bitten; aber tatsächlich wiederholt sie nur zwei: die dritte erläßt ihr der überzeugte Dauphin. Zu ihrem Glück: denn sie würde die dritte schwerlich noch gewußt haben. Sie hat ihm bei den beiden ersten ja schon alles gesagt, worum er seinen Gott gebeten haben kann, nämlich: wenn eine noch ungebüßte Schuld seiner Väter vorhanden sei, ihn selbst als Opfer anzunehmen statt sei- nes Volkes; und wenn er schon Land und Krone verlieren solle, ihm wenigstens Zufriedenheit, seinen Freund und seine Geliebte zu lassen. Auf das Wichtigste, auf die Herr- schaft, hat er somit schon verzichtet. Was soll er also noch erbeten haben? Suchen wir nicht lange: er weiß es selbst nicht. Johanna weiß es auch nicht. Schiller weiß es auch nicht. Der Dichter hat von dem, was er wußte, nichts zu- rückbehalten und dennoch ›und so weiter‹ gesagt. Das ist das ganze Geheimnis, und für den mit der wenig bedenk- lichen Natur des Künstlers einigermaßen Vertrauten gibt es dabei nichts zu verwundern.« Punktum. Das war alles – und Unrat, den ein Zittern beschlich, kam jäh zu der Erkenntnis: diesen Schüler zu beseitigen, vor diesem Ansteckungsstoff die menschliche Gesellschaft zu behüten, das dränge weit mehr als die Ent- 21
fernung des einfältigen von Ertzum. Zugleich warf er einen Blick auf das folgende Blatt, wo noch einiges gekrit- zelt stand und das übrigens halb herausgerissen im Heft hing. Aber plötzlich, in dem Augenblick, als er verstand, überflog etwas wie eine rosa Wolke die gewinkelten Wan- gen des Lehrers. Er schloß das Heft, rasch und verstohlen, als wolle er nichts gesehen haben; öffnete es nochmals, warf es gleich wieder unter die beiden andern, atmete im Kampf. Er empfand zwingend: da wurde es Zeit, der mußte »gefaßt« werden! Ein Mensch, mit dem es dahin gekommen war, daß er diese – gewiß denn freilich – Künstlerin Rosa – Rosa – Er griff zum drittenmal nach Lohmanns Heft. Da klingelte es schon. »Abliefern!« stieß Unrat aus, in der heftigen Besorgnis, ein Schüler, der bisher nicht fertig geworden war, könne vielleicht im letzten Augenblick noch zu einer befriedi- genden Note gelangen. Der Primus sammelte die Aufsätze ein; einige belagerten die Tür nach der Garderobe. »Weg dort! Warten!« rief Unrat, in neuer Angst. Am liebsten hätte er abgeschlossen, die drei Elenden unter Verschluß behalten, so lange, bis er ihren Untergang gesi- chert haben würde. Das ging nicht so rasch, hier mußte logisch nachgedacht werden. Der Fall Lohmann blendete ihn vorläufig noch durch ein Übermaß von Verworfen- heit. Mehrere von den Kleinsten pflanzten sich in beleidig- tem Rechtsgefühl vor das Katheder hin. »Unsere Sachen, Herr Professor!« Unrat mußte das »Kabuff« freigeben. Aus dem Ge- dränge wickelten sich nacheinander die drei Verbannten, schon in ihren Mänteln. Lohmann stellte gleich von der Schwelle her fest, daß sein Heft in den Händen Unrats sei, und bedauerte gelangweilt den Übereifer des alten Töl- pels. Jetzt mußte sich möglichenfalls sein Erzeuger in Be- wegung setzen und mit dem Direktor reden! 22
Von Ertzum zog nur die rotblonden Brauen ein Stück höher in seinem Gesicht, das sein Freund Lohmann den »besoffenen Mond« nannte. Kieselack seinerseits hatte sich im »Kabuff« auf eine Verteidigung vorbereitet. »Herr Professor, es ist nicht wahr, ich hab nicht gesagt, daß es nach Unrat riecht. Ich habe nur gesagt, er sagt im- mer –« »Schweigen Sie!« herrschte Unrat, bebend, ihn an. Er schob den Hals vor und zurück, hatte sich gefaßt und setzte gedämpft hinzu: »Ihr Schicksal hängt jetzt nunmehr immerhin ganz dicht über Ihren Köpfen. Gehen Sie!« Darauf gingen die drei zum Essen, jeder mit seinem Schicksal über sich.
23
II
Auch Unrat aß, und dann legte er sich auf das Sofa. Aber wie es alle Tage ging, warf im rechten Moment, als er ein- nicken wollte, nebenan seine Haushälterin ein Geschirr hin. Unrat fuhr auf und griff sofort wieder nach Loh- manns Aufsatzheft, während er sich rosa färbte, als läse er das die Scham Verletzende, das darin stand, zum ersten- mal. Dabei ließ es sich schon gar nicht mehr schließen, so sehr auseinandergebogen war es an der Stelle, wo die »Huldigung an die hehre Künstlerin Fräulein Rosa Fröh- lich« sich befand. Der Überschrift folgten einige unleser- lich gemachte Zeilen, dann ein freier Raum und dann: Du bist verderbt bis in die Knochen, Doch bist du ’ne große Künstlerin; Und kommst du erst mal in die Wochen – Den Reim hatte der Sekundaner noch zu finden. Aber der Konditionale im dritten Vers sagte viel. Er ließ vermuten, Lohmann sei an ihm persönlich beteiligt. Dies ausdrück- lich zu bestätigen war vielleicht die Aufgabe des vierten Verses gewesen. Unrat machte zur Erratung dieses fehlen- den vierten Verses grade solche verzweifelten Anstren- gungen, wie seine Klasse gemacht hatte zur Auffindung der dritten Bitte des Dauphins. Der Schüler Lohmann schien sich, durch diesen vierten Vers, über Unrat lustig zu machen, und Unrat rang mit dem Schüler Lohmann, in wachsender Leidenschaft, voll des dringenden Bedürfnis- ses, ihm zu zeigen, er selbst sei zuletzt doch der Stärkere. Er wollte ihn schon hineinlegen! 24
Die noch unförmlichen Entwürfe künftiger Handlun- gen bewegten sich in Unrat. Sie ließen ihn nicht mehr still- halten, er mußte seinen alten Radmantel umhängen und ausgehn. Es regnete dünn und kalt. Er schlich, die Hände auf dem Rücken, die Stirn gesenkt und ein giftiges Lächeln in den Mundfalten, um die Lachen der Vorstadtstraße herum. Ein Kohlenwagen und ein paar kleine Kinder, sonst begegnete ihm nichts. Beim Krämer an der Ecke hing hinter der Tür eine Ankündigung des Stadttheaters: »Wilhelm Tell«. Unrat, von einer Idee getroffen, schoß mit eingeknickten Knien darauf zu … Nein, eine Rosa Fröhlich kam auf dem Zettel nicht vor. Trotzdem konnte jene Frauensperson in diesem Kunstinstitut beschäftigt sein. Herr Dröge, der Krämer, der das Programm an sein Fenster hing, war vermutlich in den einschlägigen Dingen bewandert. Unrat hatte schon die Hand auf dem Türgriff; aber er holte sie erschrocken zurück und machte sich da- von. Nach einer Schauspielerin fragen, in seiner eigenen Straße! Er durfte die Klatschsucht solcher tief stehenden, in den humanistischen Wissenschaften unerfahrenen Bür- ger nicht außer acht lassen. Bei der Entlarvung des Schü- lers Lohmann mußte Unrat geheim und geschickt zu Werke gehn … Er bog in die Allee nach der Stadt. Gelang es ihm, dann zog Lohmann im Sturz auch von Ertzum und Kieselack nach sich. Vorher wollte Unrat dem Direktor keine Anzeige erstatten darüber, daß man ihn bei seinem Namen genannt hatte. Es würde sich von selbst zeigen, daß solche, die das taten, auch jeder andern Unsittlichkeit fähig waren. Unrat wußte es; er hatte es an seinem eigenen Sohn erfahren. Diesen hatte Unrat von einer Witwe, die ihn einst als Jüngling mit den Mitteln zu fernerem Studium versehen hatte, die er dafür vertragsmä- ßig, sobald er im Amt war, geheiratet hatte, die knochig und streng gewesen war, und nun tot war. Sein Sohn sah nicht schöner aus als er selbst und war überdies noch ein- 25
äugig. Trotzdem hatte er sich als Student bei Besuchen in der Stadt auf offenem Markt mit zweideutigen Frauenzimmern blicken lassen. Und wenn er einerseits in schlechter Gesellschaft viel Geld vertat, so war er anderer- seits nicht weniger als viermal durch das Examen gefallen, so daß er zwar immer noch ein brauchbarer Beamter hatte werden können: doch nur auf Grund seines Abiturienten- zeugnisses. Ein peinlicher Abstand schied ihn von dem höheren Menschen, der das Staatsexamen bestanden hatte. Unrat, der sich entschlossen von dem Sohn getrennt hatte, begriff alles Geschehene; ja, er hatte es fast voraus- gesehen, seit er einst den Sohn belauscht hatte, wie er im Gespräch mit Kameraden den eigenen Vater bei seinem Namen genannt hatte! Ein ähnliches Geschick durfte er also für Kieselack, von Ertzum und Lohmann erhoffen, besonders aber für Loh- mann, bei dem es ja, dank der Künstlerin Rosa Fröhlich, im Anzuge schien. Mit der Rache an Lohmann eilte es Un- rat. Die beiden andern verschwanden fast neben diesem Menschen und seinen unbeteiligten Manieren und dem neugierigen Bedauern, womit er zusah, wenn der Lehrer zornig war. Was war denn überhaupt das für ein Schüler? … Unrat sann mit grabendem Haß über Lohmann nach. Unter dem spitzbedachten Stadttor blieb er plötzlich stehn und sagte laut: »Das sind die Allerschlimmsten!« Ein Schüler war ein mausgraues, unterworfenes und heimtückisches Wesen, ohne anderes Leben als das der Klasse und immer im unterirdischen Krieg gegen den Ty- rannen: so war Kieselack; oder ein dummer, starker Kerl, den der Tyrann durch seine geistige Vorherrschaft in fort- währender Verstörtheit erhielt – wie von Ertzum. Loh- mann aber, der schien ja den Tyrannen anzuzweifeln! Un- rat kochte allmählich von der Demütigung der schlecht bezahlten Autorität, vor der ein Untergebener sich in gu- ten Kleidern spreizt und mit Geld klimpert. Das waren 26
überhaupt, ward ihm auf einmal klar, alles Unverschämt- heiten und nichts weiter! Daß Lohmann niemals staubig aussah, immer saubere Manschetten trug und solche Ge- sichter machte: Unverschämtheiten. Der Aufsatz von heute, die Kenntnisse, die dieser Schüler sich außerhalb der Schule holte, und von denen die verwerflichste die Künstlerin Rosa Fröhlich war: Unverschämtheiten. Und als Unverschämtheit stellte sich nun mit Sicherheit heraus, daß Lohmann Unrat nicht bei seinem Namen nannte! Darauf erstieg Unrat den Rest der steilen Straße zwischen den Giebelhäusern, gelangte an eine Kirche, wo Sturm herrschte, und, den Mantel um sich her zusammengerafft, wieder ein Stück hinab. Nun kam ein Seitenweg, und vor einem der ersten Gebäude zögerte Unrat. Rechts und links neben der Tür hingen zwei hölzerne Kästen, hinter deren Drahtgittern das Programm stak mit »Wilhelm Tell«. Unrat las es erst in dem einen Kasten, dann in dem andern. Schließlich betrat er, ängstlich umherspähend, den Torweg und den offenen Flur. Hinter einem kleinen Fenster schien bei einer Lampe ein Mann zu sitzen; Unrat konnte ihn in seiner Aufregung schlecht erkennen. An diesem Ort war er seit gewiß zwanzig Jahren nicht mehr gewesen; und er litt unter der Besorgnis des Herrschers, der sein Gebiet verlassen hat: man möchte ihn verkennen, ihm aus Unwissenheit zu nahe treten, ihn nötigen, sich als Mensch zu fühlen. Er stand schon eine Weile vor dem Fensterchen und räusperte sich leise. Als nichts erfolgte, pochte er an, mit der Spitze seines gekrümmten Zeigefingers. Der Kopf da- hinter schrak in die Höhe und streckte sich sogleich aus dem zurückgeschobenen Schalter. »Sie wünschen?« fragte er heiser. Unrat bewegte zuerst nur die Lippen. Sie sahen einan- der an, er und der abgedankte Schauspieler mit den tiefen, 27
blauschwarzen Zügen, der flachen Nasenspitze und dem Klemmer darauf. Unrat brachte hervor: »So? Sie geben denn also den ›Wilhelm Tell‹ Das ist recht von Ihnen.« Der Kassierer sagte: »Wenn Sie meinen, wir tun’s zu unserm Privatvergnügen.« »Das habe ich Ihnen nicht unterstellen wollen«, versi- cherte Unrat, voll Angst vor Verwickelungen. »Man verkauft ja nischt. Bloß, daß die klassischen Vor- stellungen in dem Pachtvertrag drinstehn, den wir mit der Stadt haben.« Unrat fand es geboten, sich bekanntzugeben. »Ich bin nämlich der Professor Un – der Professor Raat, Ordinarius der Untersekunda am hiesigen Gymnasium.« »Sehr angenehm. Mein Name ist Blumenberg.« »Und ich würde recht gern mit meiner Klasse die Auf- führung eines klassischen Dichterwerkes besuchen.« »Ach, das ist aber ganz reizend von Ihnen, Herr Profes- sor. Mit der Nachricht werd ich bei unserm Direktor den größten Erfolg haben, da zweifle ich keinen Augenblick.« »Aber«, und Unrat erhob den Finger, »es müßte – wahrlich doch – dasjenige von den Dramen unseres Schil- ler sein, das wir in der Klasse lesen, nämlich – immer mal wieder – die ›Jungfrau von Orleans‹.« Der Schauspieler ließ die Lippe fallen, senkte den Kopf und sah von unten, mit Trauer und Vorwurf, zu Unrat auf. »Das tut mir aber fabelhaft leid. Weil wir die erst wieder einstudieren müßten, wissen Sie. Ist Ihnen wirklich mit ’m ›Tell‹ nicht gedient? Der ist doch auch ganz hübsch für die Jugend.« »Nein«, entschied Unrat, »das geht auf keinen Fall. Wir brauchen die ›Jungfrau‹. Und zwar käme es – aufgemerkt nun also! –« Unrat schöpfte Atem, sein Herz klopfte. »– ganz besonders auf die Darstellerin der Johanna an. Denn diese soll eine hehre Künstlerin sein, die den Schü- 28
lern die erhabene Gestalt der Jungfrau – immer mal wieder – recht nahebringt.« »Allerdings, allerdings«, sagte der Schauspieler, mit tie- fem Einverständnis. »Da habe ich denn nun an eine Ihrer Damen gedacht, die ich, und hoffentlich nicht mit Unrecht, auf das höchste habe preisen hören.« »Ach nee.« »Nämlich an das Fräulein Rosa Fröhlich.« »Wie bitte?« »Rosa Fröhlich«, und Unrat hielt die Luft an. »Fröhlich? Haben wir ja gar nicht.« »Wissen Sie das auch ganz genau?« fragte Unrat, kopf- los. »Erlauben Sie, ich bin ja nicht meschugge.« Unrat wagte den Mann nicht mehr anzusehn. »Dann kann ich mir das aber gar nicht …« Jener kam ihm zu Hilfe: »Da muß wohl sicher ’ne Ver- wechslung vorliegen.« »Ach ja«, sagte Unrat, kindlich dankbar. »Entschul- digen Sie nur.« Und er dienerte, während er sich zurückzog. Der Kassierer war verblüfft. Schließlich rief er hinter- her: »Aber Herr Professor, über den Fall läßt sich ja trotz- dem reden. Wieviel Billette würden Sie denn nehmen? Herr Pro –« Unrat drehte sich unter der Tür noch einmal um, sein Lächeln war verzerrt vor Angst vor dem Verfolger. »Entschuldigen Sie doch nur.« Und er war geflüchtet. Ohne es zu merken, kam er die Straße hinunter und an den Hafen. Um ihn her waren stampfende Tritte von Män- nern, die Säcke trugen, und breite Rufe von andern, die sie zu Giebelluken hinaufwanden. Es roch nach Fischen, 29
Teer, Öl, Spiritus. Die Masten und Schlote dahinter im Fluß verwickelten sich schon in der Dämmerung. Inmit- ten der Betriebsamkeit, die vor Dunkelwerden noch auf- flackerte, ging Unrat dahin mit seinem bohrenden Gedan- ken: Lohmann »fassen«, den Aufenthalt der Künstlerin Fröhlich nachweisen. Er ward angestoßen von Herren in englischen Anzü- gen, die mit Frachtbriefen umherliefen, und von Arbei- tern, die ihm »Achtung!« zubrüllten. Die allgemeine Hast ergriff ihn; er drückte, ehe er’s sich versah, den Griff einer Tür, über der »Heuerbaas« und irgendeine schwedische oder dänische Inschrift stand. Im Laden lagen gerollte Taue, Schiffszwieback, kleine, scharf riechende Fässer. Ein Papagei schrie: »Dun supen!« Mehrere Matrosen tranken, andere redeten, die Hände in den Hosen, auf einen riesigen, rotbärtigen Mann ein. Der machte sich, es dauerte eine Weile, aus den Tabakswolken des Hinter- grundes los, stellte sich hinter den Ladentisch, so daß der blecherne Reflektor der Wandlaterne seinen Kahlkopf heftig beleuchtete, stemmte die Tatzen auf die Kante und sagte plump: »Wollen Sie was von mich, Herr?« »Geben Sie mir«, verlangte Unrat leichthin, »eine Ein- trittskarte für das Sommertheater.« »Wat sagen Sie?« fragte der Mann. »Nun ja, für das Sommertheater. Da Sie denn nun ein- mal in Ihrem Schaufenster anzeigen, daß Sie Billette zum Sommertheater verkaufen.« »Wat soll ich doorvon denken, Herr«, und der Mann behielt den Mund offen. »Das Sommertheater speelt doch nich in ’n Winter.« Unrat versteifte sich auf sein Recht. »Aber Sie haben es im Fenster, Mann.« »Door kann ’t ja ook bliewen!« Das war herausgeplatzt; aber der Heuerbaas nahm seine Achtung vor dem bebrillten Herrn gleich wieder zusam- 30
men. Er suchte nach Gründen, die den Fremden überzeu- gen konnten, das Sommertheater sei jetzt geschlossen. Um seiner behutsamen Gedankenarbeit körperlich nach- zuhelfen, gab er mit seiner fürchterlichen, rotbehaarten Hand der Tischplatte von der Seite ganz vorsichtige Strei- che. Schließlich hatte er gefunden. »Das weiß ja woll de dümmste Schooljong«, sagte er gutmütig, »daß in ’n Winter kein Sommertheater is.« »Erlauben Sie, Verehrter«, machte Unrat, überlegen ab- wehrend. Der Mann rief zu Hilfe: »Hinnerich! Laurenz!« Die Matrosen kamen näher. »Ich weit nich, wat mit em los is, hei will mit alle Macht in ’n Willemsgoorten.« Die Matrosen rollten Kautabak in den Mündern. Sie und der Heuerbaas starrten angestrengt auf Unrat, als sei er ein sehr weit Hergekommener, etwas wie ein Chinese, den man nun verstehen sollte. Unrat empfand dies; es befiel ihn Hast, hier fertig zu werden. »Dann könnten Sie mir wenigstens sagen, Mann, ob vorigen Sommer in dem bewußten Theater ein gewisses Fräulein Fröhlich mitgespielt hat – Rosa Fröhlich.« »Wo soll ich das woll herwissen, Herr?« Der Mann war vollkommen verblüfft. »Meinen Sie, Herr, ick gew mich mit die Zirkusminscher äff?« »Oder doch«, sagte Unrat Hals über Kopf, »ob die er- wähnte Dame im kommenden Jahr uns – immer mal wie- der – durch ihre Leistungen erfreuen wird.« Der Heuerbaas sah erschreckt aus; er verstand kein Wort mehr. Einer der Matrosen hatte etwas gefunden. »Hei makt sick ’n Jux, Pieter, hei will di uzen!« Darauf legte er den Kopf in den Nacken und lachte, glucksend und dröhnend, aus schwarz geöffnetem Ra- chen. Die andern stießen sich an und machten es dann ebenso. Dem Heuerbaas schien es zwar keineswegs, als ob 31
dieser Fremde sich lustig machte; aber er sah den Respekt in Gefahr, den seine Kunden vor ihm haben mußten: diese Leute, die er verdang, die er den Kapitänen aufs Schiff lud, zusammen mit Zwieback und Genever. Er verfiel unver- mittelt in eine künstliche Wut, färbte sich wild, schlug auf den Tisch und streckte einen gebieterischen Finger aus. »Herr! Ich hab mehr zu tun, ich bün Ihr Aap nich! Sehn Sie sich mal die Tür an, da achter Ihnen is sie!« Und als Unrat noch einen Augenblick betäubt auf sei- nem Platz blieb, traf der Mann Anstalt, hinter seinem Tisch hervorzukommen. Unrat klinkte rasch die Tür auf. Der Papagei schrie ihm nach: »Dun supen!« Die Matrosen brüllten vor Lachen. Unrat schloß die Tür. Er bog scharf um die nächste Ecke und entkam aus der Hafengegend in stille Straßen. Er zensierte das Vorgefal- lene. »Dies war ein Fehler. Dies war – freilich nun wohl – ein Fehler.« Die Künstlerin Fröhlich mußte auf einem andern Wege ausfindig gemacht werden. Unrat sah sich die Begegnen- den daraufhin an, ob sie etwas von ihr wüßten. Es waren Lastträger, Dienstmädchen, der Laternenanzünder, eine Zeitungsfrau. Mit dem Volk war keine Verständigung möglich: er hatte die Erfahrung gemacht. Auch lud ihn sein jüngstes Erlebnis dazu ein, bei der Anknüpfung mit Unbekannten vorsichtig zu sein. Weiser war es, nach einem schon vertrauten Gesicht sich umzusehen. Aus der nächsten »Grube« tauchte eben eines auf, dem Unrat noch voriges Jahr mit wütender Betonung lateinische Verse zu- geschrien hatte. Der Schüler, der »seins« nie »präpariert« hatte, schien jetzt Handlungslehrling zu sein. Er näherte sich mit einem Packen Briefe in der Hand und sah gecken- haft aus. Unrat ging auf ihn zu, machte schon den Mund auf, wartete nur noch auf den Gruß des jungen Menschen. Der aber erfolgte nicht. Der ehemalige Schüler sah dem 32
Professor höhnisch in die Augen und ging dicht an Unrats zu hoher Schulter vorbei, wobei auf seinem blonden Ge- sicht das Grinsen erschrecklich breit ward. Unrat verschwand rasch in die »Grube«, woher der an- dere gekommen war. Es war eine der nach dem Hafen sich senkenden Straßen; und da sie abschüssiger ging als die andern, hatten sich hier zahllose Kinder zusammengefun- den, um in kleinen Wagen mit vollen Rädern, lärmenden »Bullerwagen«, den Berg hinabzufahren. Die Mütter und Mägde standen auf dem Bürgersteig, erhoben die Arme und riefen zum Abendessen; aber die junge Welt stürzte unablässig, kniend in ihren Wagen oder die Beine in der Luft, mit wehenden Halstüchern, über die Ohren ge- klappten Mützen und zum Jubeln offnen Mündern, hol- pernd das Klinkerpflaster hinunter. Unrat mußte, wie er die Straße überschritt, Sprünge machen, sonst geriet er in die Deichsel. Um ihn her spritzten Pfützen auf. Aus einem vorüberrasenden Wagen rief plötzlich eine durchdrin- gende Stimme: »Unrat!« Unrat zuckte zusammen. Sofort wiederholten einige andere das Wort. Diese Bürger- und Volksschüler hatten seinen Namen wohl von den Gymnasiasten erfahren; und andere, die gar nicht wußten, was gemeint war, schrien mit. Durch den Sturm hindurch, der sich gegen ihn erho- ben hatte, mußte Unrat die steile Straße erklimmen. Keu- chend erreichte er einen Kirchplatz. Das war ihm wohl alles geläufig; die ehemaligen Schü- ler, die ihn nicht grüßten, sondern angrinsten, die Straßen- jugend, die ihm seinen Namen nachrief. Nur hatte er heute in seinem Eifer nicht damit gerechnet: denn jetzt schuldeten die Leute ihm eine Antwort. Wenn sie früher ihre Vergilverse nie gekonnt hatten, mußten sie nun we- nigstens über die Künstlerin Fröhlich Bescheid wissen! Unrat kam auf den Markt und an einem Tabakshändler vorbei, einem Schüler von vor zwanzig Jahren, von dem er 33
zuweilen ein Kistchen bezogen hatte – nur zuweilen: er rauchte nicht stark, er trank selten; er hatte keines der bür- gerlichen Laster … Die Rechnungen dieses Mannes waren regelmäßig überschrieben: Herrn Professor U –, und dann erst war aus dem U ein R gemacht. Ob das böse Absicht oder Gedankenlosigkeit war, hatte Unrat nie feststellen können; aber er verlor auf einmal den Mut, den Laden zu betreten, dessen Schwelle er schon berührt hatte. Der Mann da drinnen war ein widersetzlicher Schüler, der nicht zu »fassen« war. Er schlich eilig weiter. Es regnete nicht mehr; der Wind trieb die Wolken fort. Die Gaslaternen flackerten rot. Schief über einem Giebel lugte manchmal der gelbe, halbe Mond: ein höhnisches Auge, das gleich wieder das Lid einkniff, so daß ihm sein Hohn nicht zu »beweisen« war. Wie er in den »Kohlbuden« trat, flammten die großen Fenster des Café Central lichterloh auf. Unrat spürte Lust, hineinzugehen, ein ungewohntes Getränk zu sich zu nehmen. Er war heute auf merkwürdige Weise aus den Schienen seines Tages herausgeworfen. Da drinnen ließ sich gewiß etwas über die Künstlerin Fröhlich erfahren; dort ward von allem möglichen gesprochen. Unrat wußte dies von früher, denn zu Lebzeiten seiner Frau hatte er sich manchmal – sehr selten – eine Ferienstunde im Café Central gegönnt. Seit sie tot war, hatte er zu Hause so viel Ruhe, wie er wollte, und brauchte das Café nicht mehr. Überdies war ihm der Aufenthalt dort zum Schluß er- schwert worden durch den neuen Besitzer, auch einen frü- hern, nach Jahren in die Stadt zurückgekehrten Schüler. Dieser hatte seinen einstigen Lehrer eigenhändig bedient und ihn mit äußerster Höflichkeit, so daß Unrat es ihm unmöglich »beweisen« konnte, fortwährend als Professor Unrat angeredet. Die Gäste waren sehr angeregt gewesen; Unrat hatte die Empfindung gehabt, wenn er häufiger her- käme, würde er dem Lokal zur Reklame dienen. 34
Also wandte er sich fort und suchte im Geist nach andern Stätten, wo er seine Frage vorbringen konnte. Aber es fie- len ihm keine ein. Die bekannten Köpfe, die sein Gedächt- nis aufrief, trugen alle solche Mienen wie vorhin der Hand- lungslehrling, sein Schüler. Die erleuchteten Geschäfte bargen, wie das des Zigarrenhändlers und das des Cafétiers, lauter aufrührerische Schüler. Unrat geriet in Zorn, er fing an, müde zu werden, und er hatte Durst. Er warf nach den Läden, nach den Haustüren mit Namen ehemaliger Sekun- daner aus den Rändern seiner Brillengläser die grünen Blicke, die seine Klasse giftig nannte. Alle diese Burschen forderten ihn heraus. Auch die Künstlerin Fröhlich, die sich in einem dieser Häuser versteckt hielt, einen seiner Schüler mit Nebendingen beschäftigte und sich Unrats Machtbefugnis entzog, sie forderte ihn heraus! Zuweilen zeigte das Schild an einem Eingang den Oberlehrer Soundso an; dann lenkte Unrat gereizt die Augen weg. Der da hatte vor seiner eigenen Klasse seinen Namen genannt; und daß er sich darauf verbessert hatte, machte nichts gut. Dieser hier hatte Unrats Sohn auf dem Markt mit einem Frauenzimmer gesehen und das Gesehene herumgeredet. Auf allen Seiten bedroht von Feinden, durchmaß Unrat die Straßen. Er schlich an den Häusern hin, mit einem ge- spannten Gefühl oben auf dem Scheitel; denn jeden Augen- blick konnte wie ein Kübel schmutziges Wasser, den je- mand ihm über den Kopf gegossen hätte, aus einem Fenster sein Name fallen! Und da er ihn nicht sah, vermochte er den Schreier nicht zu »fassen«! Eine empörte Klasse von fünf- zigtausend Schülern tobte um Unrat her. So rettete er sich, ehe er’s selber wußte, in die abgelegen- ste, tiefste Gegend, wo am Ende einer langen, stillen Gasse das Stift der alten Fräulein stand. Es war hier ganz dunkel. Ein paar huschende Wesen in halblangen »Mantillen« und mit Tüchern um den Kopf kehrten verspätet heim aus einem Kränzchen, von einem Abendgottesdienst, klingel- 35
ten verstohlen, zergingen in einer Türspalte. Eine Fleder- maus beschrieb Zacken über Unrats Hut. Unrat dachte und schielte nach der Stadt hinauf: ›Dann ist da kein, kein Mensch.‹ Er sagte wohl: »Ich leg euch Bande noch mal hinein!« Aber da er seine Ohnmacht fühlte, kam der Haß in ihm ins Zittern und riß ordentlich an ihm; der Haß auf diese Tausende fauler, boshafter Schüler, die ihm immer die schuldige Arbeit vorenthalten, ihn immer bei seinem Na- men genannt, immer nur auf Unfug gesonnen hatten; die ihn jetzt mit der Künstlerin Fröhlich ärgerten, sie und den Schüler Lohmann nicht angaben, sondern sich benahmen wie eine »gemeine« Klasse, die zusammenhält gegen den Lehrer; die jetzt alle beim Abendessen saßen, ihn aber nö- tigten, hier unten herumzuschleichen; und die überhaupt, es ahnte ihm in dieser Stunde, etwas Übles aus ihm ge- macht, ihn in den langen Jahren, die er bei ihnen war, frag- würdig zugerichtet hatten. Er, der seit sechsundzwanzig Jahren die Klasse vor sich hatte, die Klasse mit immer denselben tückischen Gesich- tern, hatte nie bemerkt, daß die Gesichter hier draußen, und wenn die Zeit hinging, bald ganz gleichgültige Mie- nen behielten beim Gedanken an Professor Unrat, und daß sie später sogar wohlwollende annahmen. Immer in der Anspannung des Kampfes war er nicht dazu ange- tan, es zu würdigen, daß die Älteren in der Stadt seinen Namen, sogar wenn sie ihm das Wort laut an den Kopf sagten, nicht aussprachen, um ihn zu verletzen, son- dern Jugenderinnerungen zuliebe, die ihnen mittlerweile harmlos heiter aussahen; und daß er in der Stadt eine Figur war, die für jeden Komik umhertrug, aber für manchen eine zärtliche Komik. Er hörte nicht den Meinungsaus- tausch zweier Schüler aus der allerersten Generation, die an einer Straßenecke stehenblieben und ihm, er meinte voll Hohn, nachblickten. 36
»Was ist denn mit dem Unrat? Er wird alt.« »Und immer schmutziger.« »Anders als schmutzig hab ich ihn nie gekannt.« »Oh, das wissen Sie wohl nicht mehr. Als Hilfslehrer war er noch ’n ganz adretter Mensch.« »So? Was der Name tut. Ich kann ihn mir überhaupt nicht sauber vorstellen.« »Wissen Sie, was ich glaube? Er sich selber auch nicht. Gegen so ’n Namen kann auf die Dauer keiner an.«
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III
Unrat hastete die stille Gasse wieder hinauf, denn er hatte einen Gedanken gehabt, dessen Richtigkeit er sofort, aber sofort nachprüfen wollte. Er wußte durch plötzliche Er- leuchtung, Rosa Fröhlich sei die Barfußtänzerin, von der man jetzt so viel Aufhebens machte. Sie sollte herkommen und in dem Saal der Gesellschaft für Gemeinsinn ihre Künste sehen lassen. Unrat entsann sich ganz deutlich, wie Oberlehrer Wittkopp, ein Mitglied dieser Gesell- schaft, davon erzählt hatte. Er war im Lehrerzimmer an sein Wandschränkchen getreten, hatte es aufgeschlossen, einen Packen Exerzitienhefte hineingelegt und dazu ge- sagt: »Nun bekommen wir hier also auch die berühmte Rosa Fröhlich, die auf bloßen Füßen griechisch tanzt.« Unrat sah Wittkopp vor sich, wie er sich wichtig machte, eitel um seinen Klemmer herumschielte und die Lippen spitzte, um auszusprechen: »Rosa Fröhlich.« Ganz ohne Zweifel, er hatte gesagt: »Rosa Fröhlich.« Un- rat hörte ja jeden der vier Laute, in Wittkopps gekünstel- ter Sprechweise und mit dem gesäuselten R. Das hätte ihm früher einfallen sollen! Zweifellos war die Barfußtänzerin Fröhlich inzwischen eingetroffen, und der Schüler Loh- mann war mit ihr in Verbindung getreten. Unrat war nun auf dem Wege, beide zu »fassen«. Er erreichte die Siebenbergstraße, er hatte sie halb durcheilt, da ging donnernd ein Rolladen nieder vor einem Schaufenster, und Unrat blieb, einige Schritte davor, ver- nichtet stehn. Denn der Rolladen gehörte dem Musika- lienhändler Kellner, der bei solchen Gelegenheiten die 38
Karten verkaufte und alles Nähere wußte. Es schien, als sollte Unrat die zwei, denen er nachsetzte, heute nicht mehr einholen. Trotzdem konnte er sich nicht denken, daß er jetzt nach Haus gelangen und sein Nachtessen herunterbringen werde. Er war in Jagdleidenschaft geraten. Er gab sich noch ein paar Minuten, machte einen letzten Umweg. Am Rosmarinweg hielt er, ganz erschüttert, vor einem schief- getretenen Holztreppchen den Schritt an. Es klomm steil bis vor eine schmale Ladentür mit der Inschrift: »Johannes Rindfleisch, Schuhmachermeister.« Eine Warenauslage war nicht da; hinter den Spiegelscheiben der zwei kleinen Fenster standen Blumentöpfe. Und Unrat bedauerte, von seinem guten Geschick nicht schon längst hierhergeführt zu sein, zu der Behausung eines rechtschaffenen und harmlosen Mannes, eines Herrnhuters, der kein Schelt- wort in den Mund nahm, niemals kränkend die Miene ver- zog, und der über die Künstlerin Fröhlich anstandslos Auskunft erteilen würde! Er öffnete die Tür. Eine Glocke schlug an, und der Ton schwang freundlich nach. Die Werkstatt lag sauber aufge- räumt im Halbdunkel. Eingefaßt in den Rahmen der Tür zum Nebenzimmer, zeigte sich das mild beleuchtete Bild der Schustersfamilie beim Abendbrot. Der Geselle kaute an der Seite der Haustochter. Den kleinen Kindern gab die Mutter Kartoffeln zur Mettwurst. Der Vater setzte die bauchige Flasche mit Braunbier neben die Lampe, erhob sich und sah nach dem Kunden. »Nabend, Herr Professor.« Er schluckte erst umständ- lich seinen Bissen hinunter. »Und womit kann ich die- nen?« »Ja«, versetzte Unrat, rieb sich unsicher lächelnd die Hände und schluckte auch, mit leerer Kehle. »Entschuldigen Sie man«, setzte der Schuhmacher hinzu, »daß hier schon allens duster is. Hier machen wir 39
um Klock sieben Feierabend. Der Rest des Abendes ge- hört dem Herrn. Wer da noch arbeiten tut, da is doch kein Segen auf.« »Das mag ja denn einerseits – ganz richtig sein«, stot- terte Unrat. Der Schuhmacher war einen Kopf höher. Er hatte kno- chige Schultern und unter seinem Schutzfell einen unver- mittelten Spitzbauch. Ergrauende Löckchen, ein wenig ölig, machten den Bogen um sein langes, bleifarbenes Ge- sicht, dessen Wangen in einen keilförmigen Bart hinein- hingen, und das langsam lächelte. Rindfleisch schob im- merfort über dem Magen die Finger ineinander, löste sie und steckte sie wieder zusammen. »Aber das ist es andererseits freilich nicht, weshalb ich komme«, erklärte Unrat. »Herr Professor, Nabend, Herr Professor«, sagte die Frau von der Schwelle her und knickste. »Was stehst du da in ’n Schummern mit Herrn Professor, Johannes, laß ihm doch rein. Herr Professor, wenn Sie es man nich übelneh- men, daß wir uns’ Mettwuß essen.« »Das liegt mir ganz und gar fern, gute Frau.« Unrat entschloß sich zu einem Opfer. »Meister Rindfleisch, ich unterbreche ungern Ihr Mahl, aber ich ging grade vorbei, und da kam mir der Gedanke, daß Sie mir – aufgemerkt nun also! – ein Paar Stiefel an- messen sollen.« »Zu dienen, Herr Professor«, und die Frau knickste, »zu dienen.« Rindfleisch bedachte sich; dann verlangte er die Lampe. »Denn sitten wi ja all in ’n Dustern bi ’n Eeten«, be- merkte die Frau heiter. »Nöh, Herr Professor, kommen Sie man rein, ich mach Licht für Ihnen in der blauen Stube.« Sie ging voran in einen Raum, wo es kalt war, und zün- dete Unrat zu Ehren die beiden unversehrten rosa Kerzen 40
an, die sich über ihren krausen Manschetten und flankiert von zwei großen Muscheln im Trumeau spiegelten. An den kraßblauen Wänden verweilten in sonntäglicher Hal- tung Großvatermöbel aus Mahagoni. Auf der gehäkelten Decke des Sofatisches breitete ein segnender Christus seine Biskuitarme aus. Unrat wartete, bis Frau Rindfleisch hinaus war. Als er den Schuhmacher hinter geschlossener Tür und recht in seiner Gewalt hatte, setzte er ein. »Vorwärts denn also, Meister, jetzt heißt es zeigen, daß Sie, der Sie einige kleinere Arbeiten zur Zufriedenheit des Leh – zu meiner Zufriedenheit bewerkstelligten, auch ein recht braves Paar Stiefel schaffen können.« »O ja, Herr Professor, 0-0-oh ja«, erwiderte Rind- fleisch demütig und beflissen wie ein Primus. »Mag ich immerhin schon im Besitz zweier Paare sein, so kann bei der jetzt vorwaltenden Nässe doch niemand sich genugtun an guter, warmer Fußbekleidung.« Rindfleisch kniete und maß. Er hatte den Bleistift zwi- schen den Zähnen und grunzte nur. »Andererseits ist dies die Jahreszeit, die gewöhnlich etwas Neues in die Stadt bringt, ein wenig – sicherlich doch – geistige Erholung. Die ist es denn wohl auch, die dem Menschen not tut.« Rindfleisch sah auf. »Sagen Sie das man noch mal, Herr Professor. Jajajah, die tuhet dem Menschen not. Und das weiß unsere Brü- dergemeihende auch.« »Soso«, machte Unrat. »Aber ich denke an den Besuch ausgezeichneter, unter den Menschen hervorragender Persönlichkeiten.« »Da denk ich auch an, Herr Professor, und da denkt auch die Gemeihende an und versammelet uns Brüder am morgigen Abende zum Gebet mit einem berühmten Mis- sionar. Ja, o jah.« 41
Unrat fand es schwierig, zu Künstlerin Fröhlich zu ge- langen. Er suchte eine Weile, und als er keinen Umweg mehr fand, ging er gradaus. »Auch in der Gesellschaft für Gemeinsinn zeigt sich uns nächstens – immer mal wieder – eine Berühmtheit. Eine Künstlerin – Sie werden ja, so gut wie jedermann, von ihr gehört haben, Meister.« Rindfleisch schwieg, und Unrat wartete mit Leiden- schaft. Er war überzeugt, was er brauchte, steckte in dem Menschen zu seinen Füßen, und es liege nur an ihm, es herauszuziehen. Die Künstlerin Fröhlich hatte in der Zei- tung gestanden, war im Lehrerzimmer besprochen wor- den, hing im Fenster bei Kellner. Die ganze Stadt wußte Bescheid über sie, außer Unrat. Jeder andere hatte mehr Weitläufigkeit und Personenkenntnis als Unrat: er lebte, ohne daß er’s selber wußte, tief in dieser Vorstellung; und er wandte sich mit vollem Vertrauen an einen herrnhuti- schen Schuster um Auskunft über eine Tänzerin. »Sie tanzt, Meister. In der Gesellschaft für Gemeinsinn tanzt sie. Ei, da werden nun die Leute hinlaufen.« Rindfleisch nickte. »Die Leute machen es sich woll nich klar, Herr Profes- sor, wo sie hinlaufen«, sagte er gedämpft und bedeutungs- voll. »Sie tanzt ja barfuß, das ist doch eine seltsame Fertig- keit, Meister.« Unrat wußte nicht, wie er den Mann noch anfeuern solle. »Denken Sie nur: barfuß!« »Barfuß«, wiederholte der Schuster. »O-o-oh! Also tanzeten auch die Weiber der Amalekiter, die vor dem Götzen tanzeten.« Und er stieß ein leeres Gelächter aus, nur aus Demut, weil er, der ungelehrte Mann, sich mit Worten der Schrift zu schmücken wagte. 42
Unrat rückte gepeinigt hin und her wie bei der Überset- zung eines Schülers, der stockte und gleich festzusitzen drohte. Er hieb mit den Knöcheln auf die Stuhllehne und sprang auf. »So lassen Sie’s nun gut sein mit dem Maßnehmen, Mei- ster, und sagen Sie mir – vorwärts denn also! –, ob die Barfußtänzerin Fröhlich schon eingetroffen ist! Das soll- ten Sie wohl wissen!« »Ich, Herr Professor?« Und Rindfleisch stand bestürzt, »ich – eine Tänzerin?« »Dadurch werden Sie auch nicht schlechter«, be- hauptete Unrat ungeduldig. »O-o-oh, ferne von mir sei der geistige Hochmut und die Selbstgerechtigkeit. Und Liebe im Herrn, Herr Pro- fessor, will ich denn auch haben für meine barfüßige Schwester, o jah, und will bitten, daß der Herr an ihr tuhe, was er an der Sünderin Magdalena getan hat.« »Sünderin?« fragte Unrat überlegen. »Warum halten Sie denn die Künstlerin Fröhlich für eine Sünderin?« Der Schuhmacher blickte keusch auf den geölten Fuß- boden. »Ei ja«, versetzte Unrat, immer unzufriedener mit dem Meister, »wenn Ihre Frau oder Ihre Tochter einen Lebens- wandel beginnen wollten wie eine Künstlerin, das stände ihnen – freilich denn wohl – nicht an. Hingegen gibt es Lebenskreise und Sittengesetze: – doch mag’s denn genug sein.« Und er machte eine Handbewegung, die sagte, daß hier ein Gegenstand in Tertia berührt ward, der höchstens nach Prima gehörte. »Auch mein Weib ist eine Sünderin«, sagte der Schuster leise, schob die Finger über dem Magen durcheinander und sah auf, mit einem Bekennerblick. »Und ich Selbsten muß sprechen: Herr Herre. Denn Fleischessünder sind wir allzumal.« 43
Nun erstaunte Unrat. »Sie und Ihre Frau? Sie sind doch rechtmäßig verheira- tet?« »O-o-oh jah, das sind wir woll. Aber Fleischessünde, Herr Professor, bleibt es immerdar, und Gott erlaubt es auch nuhr …« Der Herrnhuter richtete sich auf zu etwas Wichtigem. Seine Augen wurden rund und ganz bleich von Ge- heimnis. »Nun?« fragte Unrat nachsichtig. Und jener, flüsternd: »Das wissen die andern Menschen man nich, daß Gott es nuhr darum erlaubt, auf daß er in seinen Himmel oben mehr Engel kriegt.« »Soso«, machte Unrat, »das ist ja denn freilich recht hübsch.« Und er lugte mit einem hinterhältigen Lächeln zu dem verklärten Gesicht des Schuhmachers hinauf. Aber er unterdrückte bald seinen Spott und wandte sich zum Gehen. Er fing an zu glauben, Rindfleisch wisse wirklich nichts über die Künstlerin Fröhlich. Der Schuh- macher besann sich auf diese Welt und fragte, wie hoch denn die Schäfte sein sollten. Unrat antwortete nachlässig, behandelte auch den Abschied von der Familie Rind- fleisch nur mit flüchtiger Leutseligkeit. Dann trat er rasch den Heimweg an. Er verachtete Rindfleisch. Er verachtete die blaue Stube, die Enge dieser Geister, die demütigen Seelen, die pietistischen Überspanntheiten und die sittliche Ver- stocktheit. Auch bei Unrat zu Hause sah es eher dürftig aus; dafür aber hatte er in seinem Kopf die Möglichkeit, sich mit mehreren alten Geistesfürsten, wenn sie zurück- gekehrt wären, in ihrer Sprache über die Grammatik in ihren Werken zu unterhalten. Er war arm, unerkannt; man wußte nicht, welche wichtige Arbeit er seit zwanzig Jahren förderte. Er ging unansehnlich, sogar verlacht 44
unter diesem Volk umher – aber er gehörte, seinem Be- wußtsein nach, zu den Herrschenden. Kein Bankier und kein Monarch war an der Macht stärker beteiligt, an der Erhaltung des Bestehenden mehr interessiert als Unrat. Er ereiferte sich für alle Autoritäten, wütete in der Heimlich- keit seines Studierzimmers gegen die Arbeiter – die, wenn sie ihre Ziele erreicht hätten, wahrscheinlich bewirkt haben würden, daß auch Unrat etwas reichlicher entlohnt wäre. Junge Hilfslehrer, noch schüchterner als er, bei de- nen er sich mit der Sprache herauswagte, warnte er düster vor der unseligen Sucht des modernen Geistes, an den Grundlagen zu rütteln. Er wollte sie stark: eine einflußrei- che Kirche, einen handfesten Säbel, strikten Gehorsam und starre Sitten. Dabei war er durchaus ungläubig und vor sich selbst des weitesten Freisinns fähig. Aber als Ty- rann wußte er, wie man sich Sklaven erhält; wie der Pöbel, der Feind, die fünfzigtausend aufsässigen Schüler, die ihn bedrängten, zu bändigen waren. Lohmann schien in Be- ziehungen zu stehn zur Künstlerin Fröhlich; Unrat errö- tete darüber, weil er nicht anders konnte. Aber zum Ver- brecher ward der Schüler Lohmann erst dadurch, daß er sich bei verbotenen Freuden der harten Zucht des Lehrers entzog. Nicht sittliche Einfalt zwang Unrat zum Zorn … Er gelangte in seine Wohnung und schlich auf den Zehen an der Küche vorbei, wo die Wirtschafterin, über seine Verspätung ungehalten, mit den Töpfen rasselte. Dann be- kam er zu essen, Mettwurst und Kartoffeln. Sie waren zer- kocht und dennoch kalt. Unrat hütete sich, ein Wort dage- gen zu sagen; dieses Mädchen hätte sofort die Hände auf die Hüften gestemmt. Unrat wollte sie davor bewahren, sich gegen ihren Herrn aufzulehnen. Nach der Mahlzeit stellte er sich vor sein Schreibpult. Es war, Unrats kurzsichtigen Augen zuliebe, übermäßig hoch; und die dreißigjährige Anstrengung, den rechten 45
Arm daraufzulegen, hatte ihm die Schulter weit aus der graden Linie gehoben. »Das Wahre ist nur die Freund- schaft und die Literatur«, sagte er dabei wie gewöhnlich. Dies Wort hatte er irgendwo aufgefangen und sich ange- wöhnt und sah sich nun genötigt, es vor sich hin zu den- ken, sooft er an die Arbeit ging. Was er unter Freundschaft zu verstehen habe, erfuhr er nie. Das Wort ging nur zufäl- lig mit. Aber die Literatur! Das war ja sein wichtiges Werk, wovon die Menschen nichts wußten, das hier in der Stille seit langer Zeit gedieh und das vielleicht einmal, Staunen erregend, aus Unrats Gruft hervorblühen sollte. Es handelte von den Partikeln bei Homer! … Aber Loh- manns Aufsatzheft lag daneben und ließ ihn nicht in Stim- mung kommen. Er mußte danach greifen und an die Künstlerin Fröhlich denken. Es gab etwas, das ihn sehr beunruhigte: er war nicht mehr sicher, daß die berühmte Barfußtänzerin sich Rosa Fröhlich nenne. Diese Fröhlich konnte ganz etwas anderes sein. Ja, sie war ganz etwas anderes: es ward Unrat durch Grübeln zur Gewißheit. Er hatte sie immer noch ausfindig zu machen, um sie dem Schüler Lohmann »beweisen« zu können. Er sah sich, im Kampfe mit diesem Elenden, wieder weit zurückgewor- fen und keuchte vor einsamer Erregung. Plötzlich stürzte er sich in seinen Mantel und stürmte hinaus. Vor dem Haustor lag schon die Kette; Unrat zerrte daran wie ein Ausbrecher. Die Wirtschafterin schalt, er hörte sie herbeistampfen. In der Angst der äußersten Mi- nute tat er einen richtigen Griff, die Tür ging auf, er war im Vorgärtchen und auf der Straße. Bis zum Stadttor wechselte er zwischen Trab und Eilschritt; dann mäßigte er sich, aber sein Herz klopfte. Er fühlte sich seltsam, wie auf verbotenen Wegen. Er ging den verödeten Straßenzug, über Berg und Tal, immer gradaus. Er lugte in die Gäßchen und »Gruben«, verweilte vor den Gasthäusern und sah mit gespanntem Mißtrauen zu Fenstern hinauf, zwischen 46
deren geschlossenen Vorhängen ein Lichtstrahl zu liegen schien. Er wanderte auf der dunklen Seite; drüben ver- breitete sich heller Mond. Es war sternenklar, es wehte nicht mehr, und Unrats Schritte hallten. Beim Rathaus lenkte er auf den Markt und machte die Runde unter den Lauben. Bogen, Türme, Brunnen stachen ihre von Ara- besken umrankten Schattenrisse in die gotische Mond- nacht. Eine rätselhafte Aufregung geschah in Unrat; er sagte zu verschiedenen Malen: »Da würde denn wohl … traun …« und »Vorwärts denn also!« Dabei prüfte er eifrig jedes einzelne Fenster der Post und des Polizeiamtes. Da er es unwahrscheinlich fand, daß sich die Künstlerin Fröhlich in diesen Gebäuden ver- steckt halte, kehrte er auf die vorhin verlassene Straße zu- rück. Wenige Schritte weiter glänzte die breite Scheibe eines Lokals, in dem sich viele von Unrats Kollegen all- abendlich um das Bier scharten. Auf der Gardine erschien schwarz abgezeichnet der spitzbärtige, mit dem Munde klappende Kopf eines Oberlehrers, eines ganz schlimmen, der Unrat den Respekt versagte, weil er zur Lockerung der Disziplin in der Schule Anlaß gebe, und der sich über Unrats Sohn sittlich entrüstet hatte. Unrat sah sich diesen Doktor Hübbenett nachdenklich an: wie er redete aus sei- nem Bart heraus, was er für einen Biereifer hatte, welch gewöhnlicher Michel er war! Unrat hatte mit den Leuten da drinnen nichts zu tun, gar nichts; es ward ihm jetzt klar, zu seiner Genugtuung. Da hockten nun die beisammen und waren in der Ordnung: er aber dünkte sich fragwür- dig, gewissermaßen, und ausgestoßen, sozusagen. Und der Gedanke an die dort war ihm kein böser Stachel mehr. Er nickte dem Schatten des Oberlehrers zu, langsam und mit Geringschätzung – und ging weiter. Die Stadt war gleich wieder zu Ende. Er kehrte um, wandte sich in die Kaiserstraße. Bei Konsul Breetpoot mußte Ball sein; das große Haus war ganz erleuchtet, fort- 47
während fuhren Wagen auf. Der Diener und mehrere Auf- wärter sprangen vor, öffneten die Schläge, halfen beim Aussteigen. Seidene Röcke raschelten über die Schwelle. Eine Dame hielt an, sie streckte gütig lächelnd die Hand einem jungen Mann entgegen, der zu Fuß herbeikam. Un- rat erkannte in dem hübschen Menschen mit dem Zylinder den jungen Oberlehrer Richter. Er hatte sagen gehört, Richter sei auf eine reiche Heirat aus, in einer eleganten Familie, zu der sonst Oberlehrer nicht den Blick erhoben. Und Unrat, drüben im Dunkeln, feixte vor sich hin. »Ei, recht strebsam – wahrlich doch«, sagte er. Er machte sich in seinem bespritzten Kragenmantel lu- stig über den wohlaufgenommenen, aussichtsreichen Menschen, wie ein höhnischer Strolch, der unerkannt und drohend aus dem Schatten heraus der schönen Welt zu- sieht und das Ende von alledem in seinem Geist hat, wie eine Bombe. Er fühlte sich Richter weit überlegen, ihm war ganz munter; er schäkerte still und sagte, ohne sich selbst zu verstehn: »Ihnen kann ich auf Ihrem Wege noch recht hinderlich werden. Ich werde Sie – immer mal wie- der – hineinlegen, merken Sie sich das!« Und im Weitergehn unterhielt er sich ausgezeichnet. Wenn er wieder auf ein Türschild mit dem Namen eines Kollegen oder eines alten Schülers stieß, dachte er: ›Sie faß ich auch noch mal‹, und rieb sich die Hände. Zugleich lächelte er in verstohlenem Einverständnis den achtbaren Giebelhäusern zu, weil er versichert war, in einem von ihnen stecke die Künstlerin Fröhlich. Sie hatte ihn merk- würdig angeregt, aufgekratzt, aus dem Häuschen ge- bracht. Zwischen ihr und Unrat, der auf nächtlicher Streife hinter ihr herschlich, war eine Art Verbindung her- gestellt. Der Schüler Lohmann war das zweite Stück Wild: sozusagen Indianer von einem andern Stamm. Wenn Un- rat mit seiner Klasse auf das Schulfest zog, mußte er manchmal Räuber und Soldaten mitspielen. Er stand auf 48
einem Hügel, reckte die Faust gen Himmel und komman- dierte: »Fest drauf, jetzt nunmehr!« und regte sich richtig auf bei dem folgenden Scharmützel. Denn das war Ernst. Schule und Spiel waren das Leben … Und heute nacht spielte Unrat Indianer auf dem Kriegspfad. Er kam in immer lüsternere Spannung. Die unbestimm- ten Formen im Schatten erregten ihm Furcht und Kitzel; jede Straßenecke lockte schauerlich. In enge Nebengassen ließ er sich ein wie in Abenteuer, hielt bei einem Wispern aus einem Fenster unter Herzklopfen den Schritt an. Hier und da ging eine Tür bei seinem Nahen leise auf, einmal streckte sich ein rosa bekleideter Arm nach Unrat aus. Er entfloh, ganz überrieselt, und sah sich unvermittelt am Hafen – zum zweitenmal heut, und er betrat diese Gegend sonst in Jahren nicht. Schiffe türmten sich schwarz, unter Rinnsalen von Mondlicht. Unrat kam auf den Gedanken, die Künstlerin Fröhlich sei darauf, sie schlafe in einer Ka- jüte; vor Morgengrauen werde das Nebelhorn brüllen und die Künstlerin Fröhlich davonfahren in ferne Länder. Bei dieser Vorstellung ward Unrats Drang zu handeln, zuzu- fassen, ganz ungestüm. Zwei Arbeiter stapften herbei, der eine von rechts, der andere von links. Dicht bei Unrat tra- fen sie sich, und der eine sagte: »Na, wo geit hen, Klaas?« Der zweite antwortete düster und im Baß: »Dun su- pen.« Unrat mußte sinnen über das Wort: wo er es heute schon gehört habe und was es besage. Denn er hatte in sechsundzwanzig Jahren die Mundart nicht verstehen ge- lernt. Er folgte den beiden Proletariern und ihrem zu er- schließenden Sprachschatz durch mehrere kotige »Twie- ten«. In einer etwas breiteren steuerten sie im Bogen auf ein weitläufiges Haus zu, mit ungeheurem Scheunentor, worüber vor dem Bilde eines blauen Engels eine Laterne schaukelte. Unrat vernahm Musik. Die Arbeiter ver- schwanden im Flur, der eine sang mit. Unrat bemerkte im 49
Eingang einen bunten Zettel und las ihn. Er zeigte eine »Abendunterhaltung« an. Als Unrat in der Mitte war, stieß er auf etwas, das ihm Keuchen und einen Schweiß- ausbruch verursachte, und fing, in der Furcht und der Hoffnung, sich geirrt zu haben, von vorn an. Auf einmal riß er sich los und stürzte sich in das Haus, wie in einen Abgrund.
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IV
Die »Diele« war ungeheuer breit und lang, die ehrliche Diele eines alten Bürgerhauses, worin nun »Nebendinge« getrieben wurden. Links kam aus einer halboffenen Tür Töpferasseln und ein Feuerschein. Über dem Eingang rechts stand »Saal«; und dahinter war ein dumpfer Wirr- warr von Lauten, woraus manchmal ein sehr schriller her- vorstach. Unrat zauderte, ehe er die Klinke drückte; er spürte darin eine Handlung, schwer von Folgen … Ein sehr dicker, völlig unbehaarter kleiner Mann, der Bier trug, kam ihm entgegen. Er hielt ihn an. »Verzeihen Sie«, stammelte er, »wäre die Künstlerin Fröhlich wohl zu sprechen?« »Was wollen Sie mit die denn sprechen?« fragte der Mann. »Die spricht jetzt nich, die singt. Hören Sie man mal zu.« »Sie sind wohl der Herr Wirt zum Blauen Engel? Nun, das ist wahrlich recht brav. Ich bin nämlich der Professor Raat vom hiesigen Gymnasium und komme wegen eines Schülers, der hier zu finden sein soll. Können Sie mir viel- leicht sagen, wo er ist?« »Tjä, Herr Professor, dann gehn Sie man gleich ’n bischen in das Hinterzimmer zu die Künstlers, da sitzen die schungen Herrn ja immer ein.« »Sehen Sie wohl«, sagte Unrat strafend, »das dachte ich mir. Sie müssen zugeben, Mann, daß das nicht in der Ord- nung ist.« »Tjä« – und der Wirt zog die Brauen hoch –, »mich is das man puttegal, wer für die Mädchen das Abendbrot 51
bezahlt. Die schungen Herrn haben noch eigens Wein be- stellt, mehr kann unsereiner warraffig nich verlangen. Wenn ich meine Kunden vorn Kopp stoßen will, denn muß ich ja woll was hintenvor kriegen.« Unrat lenkte ein. »Drum denn, mag’s gut sein. Aber gehen Sie jetzt nun- mehr hübsch hinein, Mann, und holen Sie mir den Bur- schen heraus.« »Deubel, Herr, gehn Sie selber!« Aber Unrats Abenteuermut war dahin, er wünschte, er hätte den Aufenthalt der Künstlerin Fröhlich nie ent- deckt. »Muß ich denn da durch den Saal?« fragte er mit Ban- gen. »Tjä, das is woll nich anders, un denn in die Stube da achter, wo hier das Fenster von zu sehn is mit die rote Gardine vor.« Er ging einige Schritte mit Unrat gegen den Hinter- grund der Diele und zeigte ihm eine ziemlich große, von innen rot verhängte Scheibe. Unrat wollte hindurchspä- hen; inzwischen kehrte der Wirt mit seinem Bier an die Saaltür zurück und öffnete sie. Unrat eilte herbei, mit aus- gestreckten Armen; er bat, mit dem Ausdruck der Not. »Lieber Mann, so holen Sie mir doch den Schüler her- aus!« Der Wirt, schon drinnen, wendete sich unwirsch um. »Welcher soll es überhaupts sein. Da sitzen ja drei auf einen Hümpel … Oll Dösbattel«, setzte er hinzu und ließ Unrat stehen. Drei? wollte Unrat fragen; aber er befand sich nun auch schon im Saal, betäubt vom Lärm, blind von dem wütend heißen Dampf, der seine Brillengläser beschlug. »Tür zu, hier zucht es!« hörte er neben sich rufen. Er tappte erschreckt nach der Klinke, traf sie nicht und hörte, wie man lachte. 52
»Hei speelt Blindekoh«, sagte dieselbe Stimme. Unrat nahm die Brille ab; er fand die Tür schon geschlos- sen, sah sich gefangen und äugte ratlos umher. »O Minsch, Laurenz, dat is ja de schnakige Kierl von hüt namiddag. Weitst nich miehr, hei wüll den Heuerbaas upp- treggen.« Unrat verstand nicht, er fühlte nur den Aufruhr um sich und gegen sich. Wie schon alles über ihm zusammenschlug, entdeckte er am Tisch gleich neben sich einen freien Stuhl; er brauchte sich nur zu setzen. Er lüftete den Hut und fragte: »Sie erlauben vielleicht?« Eine Weile wartete er auf die Antwort, dann ließ er sich nieder. Sogleich fühlte er sich in der Menge versunken, seiner drückenden Ausnahmestellung enthoben. Niemand achtete im Augenblick auf ihn. Die Musik war wieder los- gegangen; seine Nachbarn sangen mit. Unrat putzte seine Brillengläser und trachtete, sich zurechtzufinden. Durch den Qualm der Pfeifen, der Leiber und der Groggläser sah er zahllose Köpfe, die alle die gleiche dumpfe Seligkeit be- sessen hielt, hin und her schwanken, wie die Musik es wollte. Sie waren von Haar und Gesicht brandrot, gelb, braun, Ziegelfarben, und das Schaukeln dieser von Musik in das Triebleben zurückgebannten Gehirne ging wie ein gro- ßes buntes Tulpenbeet im Winde durch den ganzen Saal, bis es sich, dahinten, im Rauch verfing. Dahinten durchbrach nur etwas Glänzendes den Rauch, ein sehr stark bewegter Gegenstand, etwas, das Arme, Schultern oder Beine, ir- gendein Stück helles Fleisch, bestrahlt von einem hellen Reflektor, umherwarf und einen großen Mund dunkel auf- riß. Was dieses Wesen sang, vernichtete das Klavier, zusam- men mit den Stimmen von Gästen. Aber es dünkte Unrat, als sei die Frauensperson selbst anzusehen wie ein Ge- kreisch. Ein Laut, dünn und von keinem Donner totzuma- chen, ging manchmal von ihr aus. Der Wirt stellte ein Glas vor ihn hin und wollte weiter. 53
Unrat hielt ihn am Rock fest. »Aufgemerkt nun also, Mann! Ist jene Sängerin etwa das Fräulein Rosa Fröh- lich?« »Tjä, das is sie nu woll. Nu genießen Sie es man, daß Sie da sind.« Und der Wirt machte sich los. Unrat hoffte gegen alle Vernunft, sie möchte es nicht sein, der Schüler Lohmann möchte nie den Fuß in dies Haus gesetzt haben, damit Unrat des Handelns überho- ben wäre. Es zeigte sich ihm jäh die Möglichkeit, das Ge- dicht in Lohmanns Aufsatzheft sei reine Poesie, der in der Wirklichkeit nichts entspreche, und die Künstlerin Fröh- lich existiere gar nicht. Unrat klammerte sich an diesen luftigen Glauben, wunderte sich, daß er so spät dazu ge- kommen war. Er nahm einen Schluck Bier. Sein Nachbar sagte prost. Es war ein älterer Bürger mit einem Bauch in einem wollenen Hemd, über dem die We- ste weit offenstand. Unrat betrachtete ihn lange aus dem Winkel. Der Bürger trank und fuhr mit einer biedern Hand über den feuchten, gelblichweißen Schnurrbart. Unrat wagte es: »Das ist denn also nun das Fräulein Rosa Fröhlich, das uns da etwas vorsingt, nicht wahr, guter Mann?« Aber es erhob sich grade Beifall, weil die Sängerin ein Stück beendet hatte. Unrat mußte warten und dann noch einmal fragen. »Fröhlich?« meinte der Bürger. »Ja, wo soll ich das woll herwissen, Herr, wie die Deerns alle heißen. Hier is ja alle Naslang ’n niegen Juchheh.« Unrat wollte tadelnd sagen, es stehe draußen ange- schrieben – aber da begann wieder das Klavier, etwas we- niger laut, und er konnte verstehn: ein paar Worte, bei denen die bunte Frauensperson ihren Kleiderrock aufhob und ihn verschmitzt und schämig gegen ihre Wange drückte. 54
»Wail iesch noch so klain uhnd so uhnschuhldiesch bien.« Unrat erkannte dies als Blödsinn und hielt es zusammen mit der stumpfen Antwort, die sein Nachbar ihm erteilt hatte. Es bildete sich in ihm Unmut: das Gefühl, verschla- gen zu sein in eine Welt, die die Verneinung seiner selbst war, und ein Abscheu, der aus seinem Innersten kam, vor Menschen, die nichts Gedrucktes vor die Augen nahmen, die in einem Konzert saßen und nicht das Programm gele- sen hatten! Es nagte an ihm, daß hier mehrere hundert Personen beisammen sein konnten, die nicht »aufmerk- ten«, nicht »klar dachten«, sich vielmehr berauschten und ohne Scham noch Furcht sich den müßigsten »Nebendin- gen« hingaben. Er tat einen heftigen Zug aus seinem Glase. ›Wenn die wüßten, wer ich bin‹, dachte er darauf, indes sein Selbstgefühl sich des Widerhaarigen entklei- dete, milde und wohlig ward und ein wenig verschwom- men – angeblasen von warmen menschlichen Ausdün- stungen, dieser Dampfheizung mit Blut. Die Welt zog sich in dichteren Qualm zurück, voll ungewisserer Gebär- den … Er fuhr sich über die Stirn; es schien ihm, die Frauensperson dort oben habe schon mehrmals gesungen, sie sei »klain uhnd uhnschuhldiesch«; nun war sie auch damit fertig, und der Saal klatschte, brüllte, jauchzte und trampelte. Unrat schlug plötzlich mehrmals die Hände zusammen, dicht unter seinen Augen, die es mit Staunen ansahen. Es befiel ihn eine große, unbedachte, nur schwer zu bändigende Lust, seine beiden Füße gleichzeitig gegen den Boden zu stoßen. Er war stark genug, es nicht zu tun. Aber die Versuchung erzürnte ihn auch nicht. Er lächelte heiter versonnen vor sich hin und stellte fest, das sei – demnach denn wohl – der Mensch. »Immer mal wieder – Gras fressen«, setzte er hinzu. »Ei freilich.« Die Sängerin kam herab in den Saal. Neben dem Po- dium ging eine Tür auf. Unrat nahm plötzlich wahr, daß 55
jemand von dort ihn ansehe. Ein einziger Mensch hatte sein Gesicht ihm zugekehrt; und dieser Mensch stand auf- recht und lachte; und es war – sicherlich doch –, es war niemand anders als der Schüler Kieselack! Kaum stand dies fest, da fuhr Unrat in die Höhe. Er hatte die Empfindung, sich einen Augenblick vergessen zu haben – und sofort benutzten die Schüler das zu Unfug. Er schob die Schultern zweier Soldaten auseinander, zwängte sich hindurch, brach weiter vor. Mehrere Arbeiter wider- setzten sich ihm, einer schlug ihm ohne weiteres den Hut vom Kopf. Er setzte ihn sich wieder auf, arg beschmutzt; man rief: »Hannes, wat ’n Hoot.« Kieselack dort hinten lachte und fiel dabei mit dem Oberkörper nach vorn, so sehr erschütterte ihn seine Hei- terkeit. Unrat machte noch einen Vorstoß; er klappte mit den Kiefern in überhandnehmender Bedrängnis. Aber er ward von hinten festgehalten. Er hatte einem Matrosen den Grog umgeworfen, er sollte ihn bezahlen. Dies war geschehen. Nun hatte er vor sich einige freie Schritte lie- gen. Er stürmte und hielt seine Augen, verängstet durch das Übermaß der Verworfenheit, die sich hier kundgab, immer auf Kieselack, der lachte – da prallte er gegen etwas Weiches, und eine große, sehr dicke und unter einem braunen Abendmantel, der sich geöffnet hatte, nur unge- nügend bekleidete Frau drehte ihm ein zorniges Gesicht zu. Ein Mann, nicht weniger üppig und bei sorgfältiger Frisur auch nur in Trikot mit einer alten Jacke darüber, kam herzu und schimpfte mit. Unrat hatte gegen den Sam- melteller der Frau gestoßen, es waren Geldstücke fortge- sprungen. Man suchte, auch Unrat bückte sich, verstört, planlos. Neben seinem Kopf, der sich den Boden entlang bewegte, scharrten die Leute mit den Füßen; Anklagen, höhnische Reden, Verwünschungen, dreiste Hände sogar drangen auf ihn ein. Unrat richtete sich auf, gerötet, mit einem Zweipfennigstück zwischen den Fingern. Er atmete 56
kurz, tastete mit blindem Blick auf vielen Mienen umher, die ihm feind waren. Er spürte, heute zum zweitenmal, den Krisenwind des Aufruhrs im Gesicht. Er fing an, ek- kige Stöße zu machen, nach allen Seiten, wie gegen zahl- lose Anstürmende. In diesem Augenblick sah er Kieselack mit den Armen über dem hohen Kasten des Klaviers lie- gen, zuckend am ganzen Körper. Und jetzt hörte er ihn sogar lachen. Da ging Unrat unter in der schwindelnden Panik des Tyrannen, der den Pöbel im Palast und alles ver- loren sieht. In diesem Augenblick war ihm jede Gewalttat recht, er kannte kaum noch Grenzen. Er schrie, und seine Stimme schwoll an im Grabe: »Ins Kabuff! Ins Kabuff!« Kieselack, der ihn schon nahe sah, gehorchte. Er ver- schwand in der Tür, die sich neben dem Podium aufgetan hatte. Ehe Unrat es sich versah, stand auch er drinnen. Er erblickte eine rote Gardine und hinter ihr hervorragend einen Arm. Er wollte darauf zu; da geschah ein Sprung. Wie er hinausspähte, lief Kieselack im kurzen Trab über die Diele. Vorne im Torgang sah Unrat einen zweiten ver- schwinden; er hatte ihn grade noch erkannt: Graf Ertzum. Unrat stieß sich mit den Zehen vom Boden ab; aber das Fenster war zu hoch. Er versuchte, sich hinaufzustem- men. Während er mit gespitzten Ellenbogen schwebte, vernahm er in seinem Rücken eine hohe Stimme: »Nur Mut, Sie sind ja sonst ’n kräftiger junger Mensch!« Er plumpste herab, wandte sich um: – da stand die bunte Frauensperson. Unrat betrachtete sie eine Weile; seine Kiefer bewegten sich lautlos. Schließlich brachte er hervor: »Sind Sie – demnach denn also – die Künstlerin Fröhlich?« »Na ja«, sagte die Frauensperson. Unrat hatte es gewußt. »Und Sie führen Ihre Künste in diesem Gasthause vor?« Auch dies wollte er noch von ihr selbst bestätigt hören. 57
»Originelle Frage«, bemerkte sie. »Drum denn –« Unrat schöpfte Luft; er wies hinter sich, nach dem Fen- ster, durch das Kieselack und von Ertzum entkommen waren. »Sagen Sie mir – nun aber auch: dürfen Sie denn das?« »Was’chen?« fragte sie erstaunt. »Das sind Schüler«, sagte Unrat; und nochmals, mit Be- ben, tief aus der Brust: »Das sind Schüler.« »Meinswegen. Ich hab ja nischt davon.« Sie lachte. Unrat brach schrecklich aus: »Und die ma- chen Sie der Schule und der Pflicht abspenstig! Die verfüh- ren Sie!« Die Künstlerin Fröhlich hörte auf zu lachen; sie richtete den Zeigefinger gegen ihre Brust. »Ich? Also Ihnen fehlt woll was?« »Oder wollen Sie etwa leugnen?« fragte Unrat kampf- fertig. »Vor wem denn? Hab ich Gott sei Dank nicht nötig. Ich bin Künstlerin, nich wahr? Ich wer’ Sie um Erlaubnis fra- gen, ob die Herren mir Bukette verehren dürfen.« Sie wies in einen Winkel, wo an einem nach vorn ge- neigten Toilettenspiegel rechts und links zwei große Sträuße steckten. Die Schultern hebend: »Wenn man das nich mal von haben soll, Sie – wer sind Sie überhaupt?« »Ich – ich bin der Lehrer«, sagte Unrat, als spräche er Sinn und Gesetz der Welt aus. »Na ja«, meinte sie versöhnlich, »denn kann es Ihnen doch genauso pimpe sein wie mir, was die jungen Leute treiben.« Diese Lebensanschauung fand keinen Eingang in Un- rats Verständnis. »Ich rate Ihnen«, sagte er, »verlassen Sie mit Ihrer Ge- sellschaft diese Stadt, ziehen Sie in großen Tagesmärschen davon, denn sonst« – er erhob wieder die Stimme – »werde 58
ich alles daransetzen, Ihnen Ihre Laufbahn zu erschweren, wenn nicht unmöglich zu machen. Ich werde – fürwahr denn – dafür sorgen, daß sich mit Ihrem Treiben die Poli- zei beschäftigt.« Bei diesem Wort erschien prompt die rückhaltloseste Verachtung auf dem Gesicht der Künstlerin Fröhlich. »Wenn Sie mit der man nich selber was zu tun kriegen, Sie kommen mir ganz so vor. Ich bin mit der in Ordnung. Sie tun mir überhaupt leid, Sie!« Aber anstatt Mitleiden gab sie mit wachsender Deut- lichkeit Zorn zu erkennen. »Sie wollen sich noch aufspielen, in dem Aufzug, wo Sie sind? Sie haben sich woll vorhin noch nich lächerlich ge- nug gemacht? Gehn Sie mal hin, auf die Polizei, ja? Sie werden man gleich selber festgehalten. Was der Mensch für Töne am Leib hat. So was kommt einem ganz komisch vor, wo man an den Umgang mit Kavalieren gewöhnt is. Was meinen Sie, wenn ich mal einen von meine bekannten Herrn Offiziere auf Sie loslaß? Sie werden ja einfach ver- keilt.« Hierbei trug sie nun wirklich ein erfreutes Mitleid zur Schau. Unrat hatte, während sie sprach, anfangs noch zu Worte zu kommen versucht. Allmählich wurden von dem Schwung ihres Willens seine fertigen Gedanken, die schon zwischen den Kiefern hervordrängten, zurückgestoßen bis in eine Tiefe, wo sie ihm selbst verlorengingen. Er erstarrte: – sie war kein entlaufener Schüler, der sich wi- dersetzen wollte und sein Leben lang unter die Fuchtel gehörte; so waren alle in der Stadt, alle Bürger. Nein, sie war etwas Neues. Aus allem, was sie seit dem Zusammen- treffen mit ihm gesagt hatte, sammelte sich jetzt nachträg- lich der Geist und wehte ihn an: ein verwirrender Geist. Sie war eine fremde Macht und augenscheinlich fast gleichberechtigt. Er hätte zum Schluß, wenn sie eine Er- 59
widerung verlangt hätte, keine mehr gewußt. Etwas ande- res entstand in ihm: es fühlte sich an wie Achtung. »Ach was – überhaupt«, sagte sie wegwerfend, brach ab und drehte ihm den Rücken. Das Klavier war schon wieder in Tätigkeit. Die Tür öff- nete sich, ließ die dicke Frau, mit der Unrat einen Zusam- menstoß gehabt hatte, samt ihrem Mann ins Zimmer und ging rasch wieder zu. Die Frau setzte, und ihr Abendman- tel wogte in zornigen Falten, den Teller auf den Tisch. »Keine vier Mark«, sagte der Mann. »Schäbige Kanail- len.« Die Künstlerin Fröhlich versetzte kalt und beißend: »Da sehn Sie sich mal ’nen Herrn an, der uns bei der Polizei will verklagen.« Unrat stotterte, erschrocken vor der Übermacht. Die Frau drehte sich um, mit einem Ruck, und maß ihn. Er fand ihren Ausdruck unerträglich abgefeimt, errötete, senkte den Blick, traf mit ihm die fleischfarben eingehäuteten Wa- den der Frau und riß ihn, zusammenfahrend, weiter. In- zwischen sagte der Mann, und er setzte seine Stimme mit hörbarer Mühe auf halbe Kraft: »Radau hat hier doch woll bloß einer gemacht, was? Na, und ich hab der Rosa schon lang prophezeit, wer hier eifersüchtig sein will und die an- dern nichts gönnen, der fliegt raus aus ’n Tempel. Un denn Sie – auf die jungen Leute! Wahrscheinlich sind Sie bei der Polizei schon als Lustgreis angeschrieben.« Aber seine Frau stieß ihn an; sie hatte ein ganz anderes Urteil gewonnen über Unrat. »Sei still, der tut ja keinen was.« Und zu Unrat: »Sie sind woll ’n bißken aus der Puste gekommen? Gott, man kriegt mal ’n Rappel, das kommt vor. Kiepert soll man gar nichts sagen, der macht mir doch die Hölle grad heiß genug, wenn er sich einbild’t, ich bin ihm untreu. Nu setzen Sie sich man und trinken Sie ’n Schluck.« 60
Sie räumte von einem der Stühle die Röcke und bunten Hosen weg, nahm eine Flasche vom Tisch und füllte ihm ein Glas. Unrat trank, um Weitläufigkeiten zu vermeiden. Die Frau fragte: »Seit wann kennen Sie denn die Rosa? Ich hab Sie doch noch nie gesehn?« Unrat sagte etwas, aber das Klavier verschlang es. Die Künstlerin Fröhlich erklärte: »Er ist der Lehrer von den Jungen, die mir hier immer mang die Kleedagen sitzen.« »Ach so, Lehrer sind Sie?« sagte der Artist. Er trank ebenfalls, schnalzte und fand seine natürliche Gemütlich- keit wieder. »Sie, denn sind Sie mein Mann. Sie werden nächstens wohl sicher auch für den Sozialdemokraten stimmen, was? Wissen Sie, wenn wir es nich machen, können Sie auf die Aufbesserung der Lehrergehälter warten, bis Sie Läuse kriegen. Mit der freien Kunst is es grade so: Polizeiliche Belästigung und kein Geld. Die Wissenschaft –« Er zeigte auf Unrat. »– und die Kunst –« Er zeigte auf sich. »– kommen allemal aus demselben Käsegeschäft.« Unrat äußerte: »Dem mag nun sein, wie ihm wolle, so irren Sie doch in Ihrer ersten Voraussetzung, Mann, sinte- mal ich kein Volksschullehrer bin, sondern der Professor Doktor Raat vom hiesigen Gymnasium.« Der Mann sagte bloß: »Na prost.« Man nannte sich doch, wie man wollte, und wenn es irgendeinem gefiel, Professor zu spielen, war das kein Grund zur Feindschaft. »Also Lehrer sind Sie?« meinte die Frau freundlich. »Das is auch woll ’n ruppiges Brot. Wie alt sind Sie denn schon?« Unrat antwortete bereitwillig wie ein Kind: »Sieben- undfünfzig Jahre.« »Schmutzig haben Sie sich aber gemacht! Geben Sie 61
man Ihren Hut her, daß wir man das Ärgste runterkrie- gen.« Sie nahm ihm seinen Maurerhut vom Schoß, reinigte ihn, glättete sogar die Krempe, rückte ihn liebevoll auf Unrats Kopf zurecht. Dann klopfte sie, und prüfte dabei ihr Werk, schalkhaft gegen seine Schulter. Er sagte mit schiefem Lächeln: »Das haben Sie – nun doch immerhin – recht brav gemacht, gute Frau.« Aber er empfand diesmal etwas anderes als die unlustige Anerkennung des Gewalthabers für geleistete Pflichten. Er fühlte sich hier von Leuten, denen er trotz der Nen- nung seines Titels offenbar noch im Inkognito gegenüber- saß, mit eigentümlicher Wärme angefaßt. Ihnen verdachte er ihre Respektlosigkeit nicht. Er entschuldigte sie; es fehle ihnen sichtlich »jeder Maßstab«; und entschuldigte damit auch die Lust, die er selbst spürte, von der Wider- setzlichkeit der Welt einmal abzusehen, in seiner gewöhn- lichen Gespanntheit nachzulassen – abzurüsten, sei es nur auf ein Viertelstündchen. Der dicke Mann holte unter einem Paar Unterhosen zwei deutsche Flaggentücher hervor, schnaufte und blin- zelte dabei Unrat zu, als sei er mit ihm im Einverständnis. Die dicke Frau hatte alle Schrecken verloren; Unrat hatte Muße gehabt zu erkennen, daß die scheinbare Abgefeimt- heit ihres Blickes durch schwarze Malerei künstlich er- zeugt war. Nur zu der Künstlerin Fröhlich fand er kein unbefangenes Verhältnis. Doch stand sie abgewendet und mit sich beschäftigt; sie nähte an ihren aufgerafften Rock ein Gewinde von Stoffblumen. Das Klavierstück endete mit Wucht. Es klingelte. Der Artist sagte: »Wir müssen raus, Guste.« Und zu Unrat, gönnerhaft: »Sehen Sie sich das man mal an, Herr Professor, wie wir arbeiten.« Er warf seine alte Jacke ab, die Frau ihren Abendman- tel. 62
Sie drohte Unrat noch mit dem Finger: »Nur immer hübsch anständig mit der Rosa. Nich wieder so tempera- mentvoll.« Da ward die Tür von draußen halb aufgemacht, und Unrat sah mit Erstaunen die beiden dicken Leute ganz un- vermittelt in ein anmutiges Getänzel verfallen und, die Arme rückwärts gestemmt und den Kopf im Nacken, ein von sich selbst entzücktes Lächeln annehmen, das zu Bei- fall herausforderte. Wirklich ging, kaum daß sie dem Saal zu Gesicht kamen, ein erfreutes Lärmen an. Die Tür hatte sich geschlossen, Unrat war allein mit der Künstlerin Fröhlich. Er war in Unruhe darüber, was nun kommen würde, und schlich mit den Augen durch das Zimmer. Beschmutzte Handtücher trieben sich am Boden umher, auf dem Wege von dem Toilettenspiegel mit den Blumensträußen bis zum Tisch, neben dem er saß. Außer den zwei Weinflaschen trug der Tisch viele Gläser und Büchsen mit allerlei Fetten, nach denen es roch. Die Wein- gläser standen auf Notenblättern. Unrat rückte das seinige ängstlich aus der Nähe eines Korsetts, das die dicke Frau danebengelegt hatte. Auf einen der mit abenteuerlichen Kleidungsstücken bedeckten Stühle stützte die Künstlerin Fröhlich ihren Fuß, indes sie nähte. Unrat sah es nicht selbst: so viel un- ternahm er nicht; er erfuhr es nur durch den Spiegel, dem sie zugekehrt stand. Daraus ging bei Unrats erstem, ge- hetztem Hinsehen hervor, daß auf ihren langen, sehr lan- gen schwarzen Strümpfen veilchenblaue Stickerei war. Eine Weile wagte Unrat nichts mehr. Dann machte er die angstvolle Entdeckung, daß ihr zwischen den Maschen eines schwarzen Netzes blau hervorschimmerndes Sei- denkleid nicht einmal bis unter die Achseln reichte und daß, sooft sie mit Nadel und Faden weit in die Luft fuhr, in der Höhle unter ihrem Arm etwas Blondes erschien. Dar- auf sah Unrat nicht mehr hin … 63
Die Stille bedrückte ihn. Auch draußen ging es viel ru- higer zu als vorher. Nur kurze, gestöhnte Laute, etwas heiser und verfettet, wie von dicken Leuten, die sich abar- beiteten. Nun völliges Schweigen; darin das Ächzen und Klirren von etwas Metallischem, das gebogen ward. Etwas schwer zu Bestimmendes, wie das Atmen einer Menge. Plötzlich das Wort »Ab« und zwei schwere Plumpse, kurz nacheinander. Und aus dem losbrechenden Beifall hervor: »Gottsdunner!« und »Nu soll doch!« »Das war gemacht«, sagte die Künstlerin Fröhlich und hob den Fuß vom Stuhl. Sie war fertig. »Na und Sie? Sie sagen ja gar nischt mehr.« Unrat mußte wohl hinsehen; aber sie verwirrte ihn gleich wieder durch ihre Buntheit. Ihr Haar war rötlich, eigentlich rosig, fast lila, und enthielt mehrere geschlif- fene grüne Glasstücke, in ein verbogenes Diadem gefaßt. Die Brauen über den trockenblauen Augen waren sehr schwarz und kühn. Aber der Glanz der schönen bunten Farben in ihrem Gesicht, rot, bläulich, perlweiß, hatte gelitten vom Staub. Die Frisur sah eingesunken aus, als sei von ihrer Leuchtkraft etwas davongeflogen in den qualmigen Wirtssaal. Die blaue Schleife an ihrem Hals hing welk, die Stoffblumen um ihren Rock nickten mit toten Köpfen. Der Lack blätterte von ihren Schuhen, zwei Flecke waren auf ihren Strümpfen, und die Seide ih- res kurzen Kleides schillerte aus ermatteten Falten. Das schwach gerundete, leichte Fleisch ihrer Arme und ihrer Schultern kam einem abgegriffen vor, trotz seiner Weiße, die bei jeder raschen Bewegung davon abstäubte. Ihr Gesicht kannte Unrat schon sehr hochfahrend, mit feind- seligen Zügen, die noch in der Bildung waren und die die Künstlerin Fröhlich bislang leicht glättete und vergaß. Sie lachte los, über die Welt, über sich selbst. »Und vorhin waren Sie noch so lebhaft«, setzte sie hinzu. 64
Aber Unrat horchte. Plötzlich machte er einen steifen Sprung, wie eine alte Katze. Die Künstlerin Fröhlich ent- wich mit dünnem Aufkreischen. Unrat riß das rote Fen- ster auf … Nein, der Kopf, dessen Umriß er hinter der Gardine bemerkt hatte, war schon wieder weg. Er kam zurück. »Sie erschrecken ja die Leute«, sagte sie. Er, ohne sich zu entschuldigen, ganz bei der Sache: »Sie kennen wohl viele junge Leute aus hiesiger Stadt?« Sie drehte sich leicht in den Hüften hin und her. »Ich bin mit jedem höflich, der anständig zu mir ist.« »Ei freilich. Da würde denn wohl. Und die Schüler vom Gymnasium haben im allgemeinen traun recht zierliche Sitten?« »Ja, glauben Sie denn, ich sitz hier tagtäglich mit Ihrer ganzen Schulstube? Ich bin doch keine Kindergärtnerin.« »Das hinwiederum zwar nicht.« Nachhelfend, in mah- nendem Ton: »Meistens tragen sie Mützen.« »Wenn sie Mützen tragen, kenn ich sie. Überhaupt ist man ja nich ohne Erfahrung.« Er griff zu: »Nein, das sind Sie wohl sicherlich nicht.« Sofort setzte sie sich zur Wehr. »Wie meinen Sie das, bitte?« »Ich meinte Menschenkenntnis –« Er kehrte ihr die Fläche einer erhobenen Hand zu, er- schreckt und um Frieden bittend. »Menschenkenntnis meine ich. Nicht jeder hat die; die ist schwer – und bitter.« Um ihre Gunst nicht zu verlieren, um sich ihr zu nä- hern, weil er sie brauchte, weil sie ihm Furcht machte, gab er etwas von sich preis, mehr als sonst das Volk zu sehen bekam. »Und bitter. Erkannt aber fürwahr muß man sie haben, um sie sich dienstbar zu machen und, sie verachtend, über sie zu herrschen.« 65
Sie hatte verstanden. »Nich wahr? Is das ’ne Kunst, aus dem Pack was raus- zuschlagen!« Sie zog sich einen Stuhl heran. »Haben Sie ’ne Ahnung von dem Dasein. Jeder, der hier reinkommt, meint, man hat bloß auf ihn gewartet. Alle wollen was, und nachher, das glaubt man gar nich, droht einer womöglich mit der Polizei! Sie –« Und sie berührte mit der Fingerspitze sein Knie. »– kommen einem mit der gleich vorher. Das hat was für sich.« »Die einer Dame geschuldete Ehrerbietung wollte ich dadurch keineswegs verletzen«, erklärte er. Ihm war nicht heimlich. Diese bunte Frauensperson sprach von Dingen, in die er nicht mit seiner gewohnten Klarheit eindrang. Überdies befanden sich ihre Knie nun schon zwischen seinen eigenen. Sie merkte, daß sie auf dem Wege ihm zu mißfallen war, und machte auf einmal ein stilles, vernünftiges Gesicht. »Da läßt man lieber den ganzen Dreck und bleibt an- ständig.« Da er nichts einwendete: »Hat der Wein schön ge- schmeckt? Den haben nämlich Ihre Schuljungen gestiftet. Die legen sich mächtig ins Zeug, sag ich Ihnen. Einer is bei, der hat Pinkepinke.« Sie goß ihm sein Glas nochmals voll. Im Wunsch, ihm zu schmeicheln: »Ich lach mir ja ’n Ast, wenn die Bengels nachher wiederkommen, und Sie haben ihnen alles wegge- pichelt. Mich kann es manchmal freuen, wenn einer irgendwie zu Schaden kommt. Man wird allmählich so.« »Wahrlich doch«, stotterte Unrat; und mit dem Glas in der Hand schämte er sich, weil er von Lohmanns Wein getrunken hatte. Denn der Schüler, der ihn bezahlt hatte, war Lohmann. Lohmann war hier gewesen; er war vor den andern entkommen. Vermutlich war er noch in der 66
Nähe. Unrat schielte nach dem Fenster: die Gardine trug immer den etwas formlosen Abdruck eines Gesichts. Er wußte, wenn er darauf lossprang, würde es weg sein. Das war Lohmann: Unrat erfuhr es durch tiefe Ahnung. Loh- mann, der Allerschlimmste, mit seiner unnahbaren Wi- dersetzlichkeit, der ihn nicht einmal bei seinem Namen nannte: der war der unsichtbare Geist, mit dem Unrat kämpfte. Die beiden andern waren keine Geister; und Un- rat fühlte, daß jene ihn schwerlich bis hierher gebracht ha- ben würden, bis zu den ungewöhnlichen Handlungen, die er nun beging, und dahin, daß er in einem Hinterzimmer, wo es nach Schminke und verfänglichen Gewändern roch, bei der Künstlerin Fröhlich saß. Um des Schülers Loh- mann willen aber mußte Unrat bleiben. Ging er, dann saß wieder Lohmann hier und sah der Künstlerin Fröhlich, die ihren Stuhl heranzog, in das bunte Gesicht. Bei dem Gedanken, daß dies nun glücklich ausgeschlossen sei, goß Unrat, ehe er es sich versah, das ganze Glas hinunter. Es brannte wohlig in seinen Gedärmen. Die beiden dicken Leute im Saal hatten eine weitere Nummer ihres Programms unter hörbarem Atmen zu Ende gebracht. Jetzt schmetterte das Klavier etwas Krie- gerisches, und gleich darauf setzten die zwei Stimmen ein, mit überzeugender Wucht, ehrlich dröhnend von vater- ländischer Begeisterung: »Stolz weht die Flagge schwarz-weiß-rot Von unsres Schiffes Mast, Dem Feinde weh, der sie bedroht, Der diese Farben haßt!« Die Künstlerin Fröhlich sagte: »Das is ihre Zugnummer, das müssen Sie sich mal ansehen.« Sie öffnete vorsichtig die Tür, darauf bedacht, sich und Unrat den Blicken der Zuschauer vorzuenthalten, und ließ Unrat zwischen den Angeln durch den Spalt spähen. 67
Er sah die beiden dicken Leute, mit einem schwarz-weiß- roten Flaggentuch um Magen und Bauch, auf der Eisen- stange eines Turnrecks stehen und, jeder kühn auf einen Pfosten gestützt, sieghafte Kiefer aufreißen. »Allüberall, wo auf dem Meer Empor ein Mast sich reckt, Da steht die deutsche Flagge sehr In Achtung und Respekt.« Man fühlte, das Publikum war tief aufgehoben von inner- lichem Drängen. In einer schwindelnden Wallung ließ der und jener seine schwieligen Handflächen aufeinanderkra- chen. Nach jeder Strophe mußte von Besonnenen der Bei- fall mühsam unterdrückt werden. Am Schluß des Gesan- ges sprengte er die Kehlen. Die Künstlerin Fröhlich äußerte, und sie beschrieb hinter der Tür eine umfassende Geste über den Saal hin: »Nu sagen Sie mal selbst, ob das nich Affen mit Eichenlaub sind! Jeder einzelne von der Menschheit kann doch das olle Flottenlied besser singen als wie die gute Guste mit ihren Kiepert. Und zu allermin- dest denkt er sich auch was bei. Kiepert und Guste wissen ja zu genau, daß sie bloß Fisimatenten machen fürs Ge- schäft. Und Stimme haben sie gar keine und Gehör bei- nahe ebensoviel. Aber man die Fahnen um ’n Bauch, und die Leute stellen ein Leben an, daß ein feiner Besaiteter sich platterdings dafür bedanken würde, und die Dicken müssen was zugeben. Nu sagen Sie selbst!« Unrat gab ihr recht. Er und die Künstlerin Fröhlich nickten sich zu, in ebenbürtiger Volksverachtung. »Passen Sie mal auf, was nu los wird«, sagte sie und steckte, bevor die beiden dicken Leute ihre Extranummer anbrachen, plötzlich den Kopf in den Saal. »Hohohohoho!« machte es draußen. Sie zog den Kopf zurück. »Haben Sie gehört?« fragte sie befriedigt. »Die haben 68
mich nu den lieben langen Abend angeglupt, aber zeig ich bloß die Nasenspitze, wo sie nich drauf gefaßt sind, denn muhen sie wie das Vieh!« Unrat dachte an die verwandten Laute, die in der Klasse entstanden, sobald irgend etwas Unerwartetes vorfiel, und er entschied: »So sind sie immer!« Die Künstlerin Fröhlich seufzte. »Nu bin ich gleich wieder dran und muß raus zu der Menagerie.« Unrat ward von Hast gepackt. »Schließen Sie nun denn also die Tür!« Er tat es selbst. »Wir sind von unserem Gegenstande abgekommen. Sie müssen die Wahrheit preisgeben über den Schüler Loh- mann. Ihr Leugnen kann seine Sache nur verschlim- mern.« »Fangen Sie wieder davon an? Das muß ’n sanfter Wahn von Ihnen sein.« »Ich bin der Lehrer! Dieser Schüler ist ein so beschaffe- ner, daß er die höchsten Strafen verdient. Seien Sie einge- denk Ihrer Pflicht, damit kein Verbrecher der Gerechtig- keit entkomme!« »Liebes Gottchen! Sie wollen gewiß Wurst machen aus dem Menschen! Wie heißt er? Überhaupt hab ich für Na- men kein Gedächtnis. Wie sieht er denn aus?« »Er ist gelblich von Gesicht; er hat einerseits eine breite Stirn, welche er auf eine gewisse überhebliche Art in Falten legt, andererseits aber schwarze Haare in der- selben. Von mittelgroßer Gestalt, bewegt er dieselbe mit einer sozusagen nachlässigen Geschmeidigkeit, hier- durch bereits die Zuchtlosigkeit seines Sinnes bekun- dend …« Unrat formte das Bildnis mit den Händen. Der Haß machte ihn zum Porträtisten. »Und?« fragte die Künstlerin Fröhlich, mit zwei Fin- 69
gern am Mundwinkel. Aber sie hatte Lohmann schon wie- dererkannt. »Er ist – traun fürwahr – recht geschniegelt und erachtet es für angemessen, seiner Eleganz durch ein schwermütig- unbeteiligtes Verhalten das Ansehen zu geben, als sei sie von selbst da und nicht vielmehr eine Tochter seiner, der Verachtung des Weisen würdigen Eitelkeit.« Sie stellte fest: »Das genügt. Mit dem kann ich nich die- nen, tut mir leid.« »Nachgedacht! Vorwärts!« »Schade. Der wird nich gereicht«; und sie schnitt eine Clownsfratze. »Ich weiß, daß er hier gewesen ist; ich habe Beweise!« »Denn können Sie ihm die Krawatte ja alleine zuziehn und brauchen mich nich dazu.« »Ich habe da in meiner Tasche das Aufsatzheft des Loh- mann; wenn ich Ihnen dasselbe zeigen würde, dann zweifle ich nicht, daß Sie sofort zugeben würden, ihn zu kennen … Drum denn, soll ich es Ihnen zeigen, Künstle- rin Fröhlich?« »Ich bin ganz närr’sch drauf.« Er griff in seinen Rock, errötete wolkig, zog die Hand leer zurück, wagte es noch einmal … Sie las endlich Loh- manns Verse, angestrengt, wie ein Kind über der Fibel. Dann, aufwallend: »Das is aber wirklich ’ne Niedertracht. ›Und kommst du erst mal in die Wochen.‹ Wer woll eher in die Wochen kommt.« Und nachdenklich: »Aber so dumm, wie ich dachte, is er nich mal.« »Sehen Sie wohl, Sie kennen ihn!« Sie, sehr schnell: »Wer sagt das? Nee, Männeken, fan- gen gibt’s nich.« Unrat sah sie giftig an. Plötzlich stampfte er auf; so viel hartnäckige Verlogenheit nahm ihm die Fassung. Ohne nachzudenken, log er selbst. 70
»Ich weiß es, ich habe ihn ja gesehen!« »Denn is alles in Ordnung«, sagte sie gelassen … »Üb- rigens, jetzt möcht ich ihn wohl kennenlernen.« Sie beugte unerwartet ihre Büste vor, tastete mit ganz leichten Fingern unter Unrats Kinn, auf die kahlen Flek- ken zwischen seinen Barthaaren, und machte einen Mund wie zum Saugen. »Stellen Sie ihn mir vor, ja?« Aber sie mußte lachen; er sah aus, als ob ihre zwei leich- ten Finger ihn erdrosselten. »Ihre Schüler sind überhaupt flotte Jungen. Das kommt gewiß, weil sie so ’nen flotten Lehrer haben.« »Welchen mögen Sie von den jungen Leuten denn nun wohl am liebsten?« fragte Unrat, unerklärlich ge- spannt. Sie ließ ihn los und bekam ohne Übergang wieder ein ganz stilles, vernünftiges Gesicht. »Wer sagt Ihnen, daß ich von den dummen Jungen überhaupt einen mag. Wenn Sie wüßten, unsereiner – all die Windbeutel gab ich mit Freuden hin für einen bessern Mann in reifern Jahren, dem es nich bloß wegen dem Amüsieren is, sondern mehr wegen dem Herzen und we- gen dem Reellen … Das wissen die Männer man nich«, setzte sie hinzu, mit leichter Trauer. Die beiden dicken Leute kamen zurück. Die Frau fragte, noch ehe sie verschnauft hatte: »Nu, wie hat er sich ge- schickt?« Das Klavier machte sich sofort an das Nächste. »Na, rin ins Vergnügen«; und die Künstlerin Fröhlich legte sich einen Shawl über die Schultern und ward da- durch noch bunter. »Sie wollen nu woll nach Haus?« fragte sie. »Das be- greif ich; ’n Paradies is es hier ja nich. Aber Sie müssen morgen wiederkommen, wissen Sie, sonst machen Ihre 71
Schuljungen hier Unfug, das können Sie sich selber sa- gen.« Und sie ging. Unrat war noch verwirrt durch den seltsamen Abschluß ihres Gesprächs, er ließ wortlos über sich bestimmen. Der Artist öffnete die Tür. »Gehen Sie man immer hinter mir her, dann kommen Sie ohne Krawall durch.« Unrat folgte ihm um den Saal herum, durch eine freie Bahn, die er vorhin verfehlt hatte. Ein Stück vorm Aus- gang schwenkte der Artist ab. Unrat sah nochmals dahin- ten ein Paar Arme, eine Schulter, irgendein heftig beleuch- tetes Stück Fleisch inmitten einer Drehung bunter Farben aufglänzen, über dem Rauch, über dem Lärm … Er war draußen. Der Wirt kam eben wieder mit dem Bier; er rief: »Nabend auch, Herr Professer, und beehren Sie mein La- kai bald wieder!« Im Torgang verweilte Unrat noch und suchte sich wie- derzufinden. Er verspürte die Wirkung der kalten Luft auf seinen Kopf und bemerkte, daß ohne Wein und Bier zu der ungewohnten Stunde dieses ganze Erlebnis schwer zu- stande gekommen wäre … Er machte einen Schritt auf das Gäßchen und erschrak: an der Hauswand lungerten drei Gestalten. Er schielte hin aus den Brillenecken; und es wa- ren Kieselack, von Ertzum und Lohmann. Unrat machte eine scharfe Wendung; hinter sich hörte er ein Schnaufen, das aus der breitesten der drei Brüste kommen mußte, aus Ertzums Brust, und das nach Empö- rung klang. Da erscholl Kieselacks Quetschstimme: »In dem Haus, wo eben einer rausgekommen is, soll es aber ’ne ganze Masse sittlichen Unrat geben.« Unrat zuckte empor; vor Wut und Angst fletschte er die Zähne. »Ich werde Sie alle zerschmettern. Morgen bringe ich – wahrlich doch! – das Geschehene zur Anzeige!« 72
Niemand antwortete. Unrat machte nochmals kehrt und schlich zwei, drei Schritte weiter, in einem drohenden Schweigen. Da, ganz langsam, sagte Kieselack, und Unrat zuckte bei jedem der zwei Worte mit dem Nacken: »Wir auch!«
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V
Lohmann, Graf Ertzum und Kieselack spazierten hinter- einander um den Saal. Wie sie unter der Bühne vorbeika- men, stieß Kieselack einen schrillen Pfiff aus. »Ins Kabuff!« kommandierte er; und sie drückten sich in die Künstlergarderobe. Die dicke Frau flickte irgend etwas. »Nu?« fragte sie. »Wo haben Sie denn gesteckt, meine Herren? Ihr Lehrer hat uns Gesellschaft geleistet.« »Mit dem verkehren wir nicht«, erklärte Lohmann. »Er ist aber ein feingebildeter Mann und ganz leicht um den Finger zu wickeln.« »Wickeln Sie!« »Oh, ich nicht, meine Herren, Sie wollen gewiß uzen. Aber ich weiß jemand –« Sie kam nicht weiter, denn Kieselack kitzelte sie unter der Achsel. Er hatte sich überzeugt, daß die andern nicht hinsahen. »Das dürfen Sie nicht, Kleiner«; und sie hob den Klem- mer von der Nasenspitze. »Wenn Sie das öfter tun, kann Kiepert Sie mal anblasen.« »Beißt er?« fragte Kieselack von unten; und die Frau nickte mit geheimnisvollen Falten, als beteuerte sie einem Kinde, der schwarze Mann sei eine Tatsache. Lohmann sagte von hinten, vom Toilettentisch her, ne- ben dem er, die Hände in den Hosentaschen, auf einem Stuhl lag: »Kieselack, du Frechmops, bist entschieden zu weit gegangen mit Unrat. Was brauchtest du ihn noch zu reizen, wie er hier rausgekommen ist. Er ist ja auch nur ein 74
Mensch, und über seine Kräfte muß man ihm keine Ge- meinheiten zumuten. Jetzt kann er uns Stank machen.« »Ich werd ihm!« prahlte Kieselack. Ertzum saß in der Mitte, mit den Ellenbogen auf dem Tisch; er knurrte nur, und sein blondrotes Gesicht unter einer Kuppel roter Borsten, die die Hängelampe be- glänzte, blieb unverrückt nach der Tür gerichtet. Plötzlich schlug er auf den Tisch. »Bloß noch ein einziges Mal soll sich dieses Vieh hier blicken lassen, und ich brech ihm alle Knochen entzwei!« »Fein!« sagte Kieselack. »Dann kann er uns den Klas- senaufsatz nicht wiedergeben. Meiner ist ja doch lauter Unsinn.« Lohmann sah lächelnd zu. »Die Kleine scheint dich wirklich unterzukriegen, Ertzum. Solche Töne findet nur wahre Liebe.« Und da draußen der Applaus verrauschte und die Tür aufging: »Gnädiges Fräulein, man ist bereit, für Sie zum Mörder zu werden.« »Ihre faulen Redensarten können Sie sich sparen«, erwiderte sie ungnädig. »Ich hab mit Ihrem Lehrer über Sie gesprochen, der ist auch nich gerade begeistert von Ihnen.« »Was will denn der alte Hammel?« »Fassen will er Sie und Wurst aus Ihnen machen, sonst nichts!« »Fräulein Rosa«, stammelte Ertzum; er hatte, seit sie im Zimmer war, einen demütigen Rücken und einen Blick, der flehte. »Mit Ihnen is auch nischt los«, erklärte sie ihm. »Das einfachste wär doch wohl gewesen, Sie wären im Saal ge- blieben und hätten anständig geklatscht. Da sind gewisse Rauhbeine, die wollten mich anöden.« Ertzum stürzte vor. »Wo sind die Kerls! Wo sind die Kerls!« 75
Sie holte ihn zurück. »Sein Sie so gut! Machen Sie Krach! Dann flieg ich noch heut abend hier raus. Können Sie mir vielleicht Ihr Palais zur Verfügung stellen, Herr Graf?« »Sie sind ungerecht, gnädiges Fräulein«, sagte Loh- mann. »Er ist erst heute wieder Ihretwegen bei seinem Vor- mund, Konsul Breetpoot, gewesen. Aber dieser Bürger hat keinen Sinn für die große Leidenschaft, er gibt kein Geld her. Ertzum möchte Ihnen, soviel an ihm liegt, alles zu Füßen breiten: seinen Namen, eine glänzende Zukunft, ein Vermögen. Er ist weiß Gott von hinreichend einfachem Geiste, um das zu tun. Darum gerade, gnädiges Fräulein, wäre es unrecht von Ihnen, wenn Sie seine so sympathische Einfachheit mißbrauchen wollten. Schonen Sie ihn!« »Ich werd wohl allein wissen, was ich zu tun hab, Sie Baffze … Und wenn Ihr Freund keine solche Schnauze hat wie Sie, denn hat er darum bloß noch mehr Aussicht, daß er bei mir –« »Das Ziel der Klasse erreicht«, ergänzte Kieselack. »Sie kenn ich, Sie sind einer von den Heimlichen«; und sie trat Lohmann näher. »Hier tun Sie, als ob die Welt Sie kaltließe, und hinterrücks bedichten Sie einen in dreckiger Weise.« Lohmann lachte verlegen. »Sie sind überhaupt der letzte, dem ich ’n irgendwie trif- tigen Grund geben werd zu der Annahme, ich könnt in die Wochen kommen. Verstehn Sie mich? Der letzte.« »Also gut. Der letzte. Ich warte so lange«, sagte Loh- mann gelangweilt; und indes sie ihm den Rücken drehte, streckte er die Beine von sich und richtete das Gesicht gegen die Decke. Er saß hier ja ohne persönliches Interesse und nur als ironischer Zuschauer. Ihm konnte doch die Person gleich sein. Um sein, Lohmanns, Herz stand es wahrhaftig viel zu ernst, viel ernster, als man je erfahren würde … Er machte sich einen Panzer aus Spott … 76
Das Klavier hatte sich ausgeruht. »Rosa, Ihr Lieblingswalzer!« sagte die dicke Frau. »Wer will tanzen?« fragte Rosa. Sie wippte schon, und sie lächelte Ertzum zu. Aber Kieselack kam dem breiten Junker zuvor. Er legte Hand an Rosa, wie zu einem Gas- senjungenstreich, drehte sie heimtückisch sachte herum und schleifte plötzlich ganz weit aus. Sie fiel fast hin. Da- bei streckte er ihr die Zunge aus und kniff sie, von allen ungesehen, auf der Rückseite. Sie erschrak und sagte är- gerlich und zärtlich: »Wenn du Ekel das noch mal tust, sag ich es ihm, und er verhaut dich.« »Das laß bleiben!« riet Kieselack ihr wispernd. »Sonst sag ich ihm auch was.« Sie lachten, ohne die Mienen zu verziehen. Ertzum sah ihnen zu, verstörten Blicks, das blondrote Gesicht voller Schweißtropfen. Inzwischen hatte Lohmann die dicke Frau aufgefor- dert. Rosa ließ Kieselack stehen und sah Lohmann zu, der gut tanzte. Die dicke Frau ward unter seinen Händen ganz leicht. Als es ihm genug schien, verbeugte er sich gnädig und kehrte, ohne Rosa zu bemerken, an seinen Platz zu- rück. Sie folgte ihm. »Tanzen kann man meinswegen mit Ihnen. Wenn Sie auch sonst zu nischt zu brauchen sind.« Er zuckte die Achseln, drückte seine Gleichgültigkeit noch durch einen der schauspielerhaften Faltenwürfe sei- nes Gesichts aus und erhob sich. Sie walzte lange, schwel- gerisch und hingegeben. »Haben Sie genug?« fragte er endlich höflich. Und als sie erwachte: »Nun, dann –« »Hab ich ’nen Durst!« rief sie, außer Atem. »Herr Graf, geben Sie mir was zu trinken, oder ich fall um.« »Er steht selbst nicht sicher«, bemerkte Lohmann. »Er sieht ja aus wie der besoffene Mond.« Ertzum keuchte, als ob die ganze Zeit nur er das Mäd- 77
chen herumgedreht hätte. Er senkte eine Flasche, die ihm in der Hand zitterte und aus der nur noch ein Rest floß. Darauf sah er Rosa ratlos an. Sie lachte. Die dicke Frau sagte: »Ihr Herr Lehrer hat, scheint’s, ’n guten Zug.« Ertzum begriff; ein Schwindeln ging sichtbar durch seine Augen. Er erfaßte plötzlich die leere Flasche am Hals wie eine Keule. »Nanu«, machte Rosa. Und nach einem Augenblick, währenddessen sie ihn beurteilt hatte: »Mein Taschentuch liegt unterm Tisch. Holen Sie’s mal raus, ja?« Ertzum bückte sich, steckte den Kopf unter den Tisch, wollte hingreifen. Aber seine Knie bogen sich; er kroch, und das Mädchen sah ihm zu, auf das Tuch los, nahm es mit den Zähnen vom Boden, kehrte auf den Händen unter den Tischrand zurück. Da blieb er und hielt die Augen geschlossen, erschlafft von dem fettigen, fad parfümierten Geschmack des grauweißen Fetzens, worin Schminke ab- gewischt war. So stand nun, gleich vor seinen geschlosse- nen Lidern und unerreichbar, das Weib, von dem er Tag und Nacht träumte, an das er glaubte, für das er sein Le- ben gelassen hätte! Und weil sie arm war und er sie noch nicht zu sich emporziehen durfte, mußte sie ihre Reinheit Gefahren aussetzen und mit schmutzigen Leuten verkeh- ren, sogar mit Unrat. Es war ein furchtbares, einziges Ge- schick. Nachdem sie ihr Werk bewundert hatte, nahm sie ihm das Tuch aus dem Gebiß und sagte: »So is scheen, mein Hundchen.« »Fabelhaft«, bemerkte Lohmann. Und Kieselack, der einen weit abgenagten Fingernagel an den Mund führte, mit einem Senkblick von einem sei- ner Kameraden zum andern: »Bild’t euch man nix ein. Ihr erreicht ja doch nicht rechtzeitig das Ziel der Klasse.« Dann blinzelte er Rosa Fröhlich zu. Er selbst hatte es schon erreicht. 78
Lohmann sagte: »Zehneinhalb. Ertzum, dein Pastor kommt vom Bier, du mußt in die Klappe.« Kieselack hatte Rosa etwas zugeraunt, schäkerhaft und drohend. Wie die beiden andern aufbrachen, war er ver- schwunden. Die Freunde gingen dem Stadttor zu. »Ich kann dich hinausbegleiten«, erklärte Lohmann. »Meine Alten sind auf dem Ball bei Konsul Breetpoot. Wie findest du das, daß unsereiner nicht eingeladen wird? Da tanzen nun schon die Gänse, mit denen ich Tanzstunde gehabt habe.« Ertzum schüttelte stürmisch den Kopf. »Solch ein Weib ist doch nicht dabei! Letzte Sommerfe- rien war ich auf unserm Familientag mit allen Ertzum- schen Mädschen und soundso vielen angeheirateten Püg- gelkrooks, Ahlefeldts, Katzenellenbogens …« »Und so weiter.« »Aber meinst du, das eine das gehabt hätte?« »Was denn?« »Na das. Du weißt schon. Sie hat auch, was ein Weib ganz besonders haben muß, nämlich sozusagen Seele.« Ertzum sagte »sozusagen«, weil das Wort Seele ihm Scham machte. »Und dann ihr Taschentuch«, ergänzte Lohmann. »So eins hat keine Püggelkrook.« Ertzum begriff langsam die Anspielung. Er trachtete die dumpfen Instinkte, die ihm vorhin einen so sonderbaren Auftritt bereitet hatten, mühselig ans Licht zu ziehen. »Du mußt nicht denken«, sagte er, »daß ich so was ohne Absicht tue. Ich will ihr gradezu zeigen, daß sie trotz ihrer niedrigen Abkunft über mir steht, und daß ich sie ernstlich zu mir emporziehen will.« »Sie steht ja über dir.« Ertzum wunderte sich selbst über diesen Widerspruch. Er stotterte: »Du sollst sehen, was ich tun werde! … Der 79
Hund, der Unrat, kommt mir kein zweites Mal lebendig in ihre Garderobe.« »Ich fürchte, er möchte es uns grade so verleiden, wie wir ihm.« »Er soll es nur wagen.« »Ein feiger Kerl ist er ja nur.« Sie waren dennoch in Sorge; aber sie sprachen nicht mehr davon. Sie gingen zwischen den leeren Wiesen hin, auf denen im Sommer das Volksfest spielte. Ertzum, von weiter Nacht und Sternen leichtergemacht, fand in seinem Sinn glänzende Auswege in die Freiheit, heraus aus diesem Bürgernest und aus der staubigen Anstalt, wo sein großer ländlicher Körper in lächerlichen Fesseln saß. Denn er war dessen jetzt, seit er liebte, gewahr geworden: daß er sich lächerlich ausnahm auf der Schulbank, an einer falschen Antwort stotternd, den Stiernacken geduckt, hilflos, weil der hochschulterige Schwächling auf dem Katheder ihn giftig anschielte und dazu pfauchte. Alle seine Muskeln, von denen man hier Zahmheit verlangte, sehnten sich da- nach, belastet zu werden, drängten ihn, mit einem Schwert und einem Dreschflegel um sich zu hauen, ein Weib über seinen Kopf zu schwingen, einen Bullen am Horn zu packen. Seine Sinne gierten nach riechbaren Bau- ernmeinungen, nach greifbaren Begriffen, auf festem Bo- den tief unter der dünnen klassischen Geistigkeit, worin ihm der Atem ausging; nach der Berührung mit der nack- ten schwarzen Erde, die ein Jäger an seinen Sohlen fort- trägt, und mit der Luft, die einem galoppierenden Reiter ums Gesicht schlägt; nach dem Lärm gefüllter Schenken und zusammengekoppelter Hunde, nach dem Brodem eines herbstlichen Waldes und eines feuchten Pferdes, das Kot fallen läßt … Vor drei Jahren hatte daheim eine Kuh- magd, die er gegen einen starken Viehjungen verteidigt hatte, ihm damit gedankt, daß sie ihn ins Heu geworfen 80
hatte. Durch diese Dirn hindurch fühlte er heute die Chanteuse Rosa Fröhlich. Sie weckte in ihm einen weiten grauen Himmel mit einer Menge heftiger Laute und Gerü- che. Sie weckte alles, was seine eigene Seele war. Darum tat er ihr die Ehre an, dies für ihre Seele zu halten, ihr viel, viel Seele beizulegen und sie sehr hochzustellen. Die beiden Schüler erreichten die Villa des Pastors Thelan- der. Sie hatte zwei Balkons, in der Mitte des ersten und des zweiten Stocks, zwischen Mauerpfeilern mit knorrigen Reben herum. »Dein Pastor ist schon zu Haus«, sagte Lohmann und zeigte auf ein Licht im ersten Stock. Sie kamen näher; das Licht ging aus. Ertzum sah verdrossen und schon wieder besiegt nach dem angelehnten Fenster im obern Stock, zu dem er hin- auf mußte. Dahinter roch es, aus seinen Kleidern und sei- nen Büchern heraus, schon wieder nach der Klasse. Die Luft der Klasse verfolgte ihn Tag und Nacht … Er tat einen Sprung voll plumpen Zorns, kletterte die Reben hin- auf, machte halt auf dem Geländer des ersten Balkons und sah sich noch einmal sein Fenster an. »Lange mach ich das nicht mehr mit«, sagte er hinunter. Dann stieg er weiter, stieß mit dem Fuß das Fenster auf und ließ sich hinein. »Träume sanft«, sagte Lohmann, mit mildem Spott, und kehrte um, ohne das Knirschen seiner Schritte zu ver- tuschen. Pastor Thelander, der sein Licht löschte, um nichts merken zu müssen, war nicht der Mann, Lärm zu schlagen wegen des nächtlichen Ausganges eines Grafen Ertzum, für den jährlich viertausend Mark Pension be- zahlt wurden … Und kaum aus dem Vorgarten heraus, war Lohmann wieder bei Dora. So gab nun Dora ihren großen Ball. Sie lachte in dieser Minute hinter ihrem Fächer ihr fremdes, schmachtend 81
grausames Kreolinnenlachen. Assessor Knust lachte viel- leicht mit; vielleicht entschied es sich heute für Knust. Denn mit Leutnant von Gierschke schien es aus zu sein … Lohmann zog den Hals ein, drückte die Zähne in die Un- terlippe und lauschte drauf, wie er litt … Er liebte Frau Konsul Breetpoot, eine dreißigjährige Frau. Seit vor drei Wintern die Tanzstunde einmal in ih- rem Hause gewesen war, liebte er sie. Sie hatte ihm einen Orden angesteckt – o nur, weil sie seinen Eltern zu schmeicheln wünschte; er wußte es. Er sah sie seither durch Türspalten, bei großen Festen in seinem Eltern- haus, zu denen er keinen Zutritt hatte – sah sie mit ihren Liebhabern: er! Jeden Augenblick konnte die Tür aufge- stoßen werden, dann hätte er dagestanden, zerstört, schmerzzerrissen; alles wäre verraten. Und für diesen Fall war Lohmann fest entschlossen, sein Leben zu beschlie- ßen. Eine alte Flinte, mit der er auf dem Kornspeicher nach Ratten jagte, lag bereit … Er bekundete eine väterliche Freundschaft für ihren jungen Sohn, einen Quartaner, dem er seine alten Aufsätze zum Abschreiben gab. Er liebte ihr Kind! Einmal, als er zugunsten Breetpoots in eine Prügelei der Jungen einge- griffen hatte, war ihm auf mehreren Lippen ein fragwürdi- ges Lächeln begegnet. Der Flintenlauf kehrte sich schon seiner Brust zu … Nein, niemand wußte es; und Loh- mann durfte sie weiter erleben und sich vorspielen, die wilde Keuschheit, die wollüstigen Bitternisse, die schüch- terne, eitle, trostreiche Weltverachtung seiner siebzehn Jahre; und die Verse, die er in Nächten auf die Rückseite eines alten Ballordens kritzelte … Von ihm also, der ganz durchseucht war mit harmvoller Empfindung, verlangte ein Mädchen wie diese Rosa Fröh- lich, er solle sich von ihr zur Liebe angereizt fühlen. Es ließ sich nicht leicht etwas Ironischeres denken. Er machte Verse, auch auf sie – nun ja. Der Gegenstand war doch 82
gleichgültig für die Kunst. Wenn sie meinte, daß das etwas beweise … Sie tat beleidigt, er lachte ihr ins Gesicht, das machte sie natürlich erst recht auf ihn versessen. Er beab- sichtigte das wahrhaftig nicht; er war einigermaßen ent- fernt davon, die Chanteuse des Blauen Engels um ihre Liebe zu bitten. Es mußte dort im Saal Matrosen und Kommis geben, die für eine Summe zwischen drei und zehn Mark von ihr beglückt worden waren … Vielleicht fühlte er sich dennoch geschmeichelt? Warum leugnen. Es gab Stunden, wo er dieses Mädchen zu seinen Füßen zu sehen wünschte, wo er sie begehrte, um sie zu demütigen, um ihren Liebkosungen den Geschmack dü- stern Lasters zu geben – und durch solch Laster seine ei- gene Liebe zu beschmutzen, in der auf den Knien betteln- den Dirne sie, Dora Breetpoot selbst, zu erniedrigen und dann vor ihr hinzusinken und köstlich zu weinen! Von diesen Gedanken durchbebt, ging Lohmann in die Kaiserstraße vor das erleuchtete Haus des Konsuls Breet- poot und erwartete unter den über die Fenster gleitenden Schatten den einen.
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VI
Am Morgen trafen Ertzum, Kieselack und Lohmann ein- ander mit bleichen Gesichtern. Inmitten der lärmenden Klasse kam jeder der drei sich vor wie der Verbrecher, der einen Brief mit seinem Namen unterwegs weiß an den Staatsanwalt, und seine Umgebung ist ahnungslos. Nach Minuten zählt die Frist … Kieselack hatte an der Tür des Direktorzimmers gehorcht und behauptete, Unrats Stimme dann gehört zu haben. Er prahlte nicht mehr, er flüsterte Ertzum hinter der Hand mit schiefem Munde zu: »O weih, Mensch!« Lohmann hätte für die kommende Stunde gern mit einem der Ärmsten im Geist getauscht. Unrat trat hastig ein und machte sich sofort atemlos über seinen Ovid her. Er ließ das auswendig Gelernte her- sagen und fing beim Primus Angst an. Dann kamen die Schüler mit B. Bei E angelangt, sprang er ab, nach M hin. Ertzum stieß einen Seufzer aus. Kieselack und Lohmann stellten befremdet fest, daß K und L verschont blieben. Beim Übersetzen traf keinen von ihnen eine Frage. Sie litten darunter, obwohl sie »ihrs nicht präpariert« hatten. Es ward ihnen zumute, als seien sie ausgestoßen aus der menschlichen Gesellschaft, hätten schon den bürgerlichen Tod erlitten. Was konnte Unrat planen? In der Pause mie- den die drei einander, aus Furcht, man könne ahnen, es verkette sie ein unheilvolles Geheimnis. Drei Stunden bei andern Lehrern verstrichen unter häu- figem Erschrecken. Ein Schritt auf dem Hof, ein Knarren der Treppe: der Direktor! … Aber es kam nichts. Und die griechische Stunde ließ Unrat hingehn wie die lateinische. 84
Kieselack geriet in Galgenstimmung und reckte eine Hand in die Höhe, obwohl er nicht hätte antworten können. Unrat übersah ihn. Darauf schwenkte er seine blaue Pfote bei allen Fragen durch die Luft und knallte mit den Fin- gern. Lohmann gab das Warten auf und öffnete unter dem Tisch die »Götter im Exil«. Ertzum, von der Schule wie- der unterworfen und klein gemacht, war, wie immer, schwitzend bemüht, der Klasse zu folgen, und blieb zu- rück, wie immer. Beim Weggehen waren sie darauf gefaßt, der Kustos werde sie zum Direktor rufen, mit einem Schlimmes ver- sprechenden Lächeln. Nein, der Mann mit der Glocke nahm ganz schlicht die Mütze ab vor den jungen Herren. Draußen sahen sie einander an, mit einem Jubel, der sich fürchtete vorm Ausbrechen. Kieselack war der erste, der ihn steigen ließ. »Seht ihr wohl! Ich hab gleich gesagt, er wagt es nicht!« Lohmann war ärgerlich, weil er sich hatte ängstigen las- sen. »Wenn der Mensch meint, er kann mich an der Nase führen –« Ertzum sagte: »Es kann ja noch kommen.« Und mit jäher Wildheit: »Es soll nur kommen! Ich weiß, was ich tu!« »Ich kann mir denken«, sagte Lohmann. »Du prügelst Unrat durch. Dann koppelst du dich mit der Fröhlich zu- sammen, und ihr springt ins Wasser.« »Nein – das nicht«, sagte Ertzum erstaunt. »Menschenskinder, ihr habt ja ’n Spleen«, sagte Kiese- lack. Und sie trennten sich. Lohmann erklärte noch: »Mir lag eigentlich nichts mehr an dem Blauen Engel. Aber bange machen gilt nicht: jetzt geh ich grade hin.« Am Abend kamen er und Ertzum fast gleichzeitig vor dem Hause an. Sie warteten noch auf Kieselack. Ihn ließen sie immer vorangehen, zuerst in die Garderobe der Kunst- 85
ler treten, den Mund zuerst aufmachen, zuerst gemütlich werden. Ohne Kieselack wäre dies alles nicht gegangen, sie brauchten ihn und seine Frechheit. Er hatte kein Geld, sie mußten für ihn bezahlen, und Kieselack hütete sich, sie merken zu lassen, was sie alles bezahlten, und daß es seine, Kieselacks, geheime Freuden waren, für die Rosa von ihnen Blumen, Wein und Geschenke entgegennahm. Er traf endlich ein, ohne sich ihretwegen zu beeilen, und sie gingen ins Haus. Indessen vom Wirt erfuhren sie, im Künstlerzimmer sitze ihr Lehrer. Darauf sahen sie be- stürzt einander an und drückten sich. Als Unrat gestern nacht glücklich wieder zu Hause ange- langt war, hatte er seine Arbeitslampe angezündet und sich vor sein Schreibpult gestellt. Der Ofen wärmte noch, die Uhr tickte, Unrat blätterte in seinem Manuskript und sagte sich: »Das Wahre ist nur die Freundschaft und die Literatur.« Er fühlte sich der Künstlerin Fröhlich entronnen und fand die »Nebendinge«, mit denen der Schüler Lohmann sich abgab, auf einmal tief gleichgültig. Aber beim Erwachen in dunkler Frühe merkte er, es sei nicht in Ordnung, bevor er nicht den Schüler Lohmann »gefaßt« habe. Er machte sich gleichwohl wieder an die Partikel bei Homer, aber die Freundschaft und die Litera- tur konnten ihn nicht mehr fesseln. Sie konnten ihn nie- mals mehr fesseln, fühlte er, solange Lohmann ungehin- dert bei der Künstlerin Fröhlich saß! Einen Weg, dies zu verhindern, hatte die Künstlerin Fröhlich selbst angegeben; sie hatte gesagt: »Aber Sie müssen morgen wiederkommen, sonst machen Ihre Schuljungen hier Unfug« … Wie ihm die Worte wieder einfielen, errötete Unrat. Denn die Worte brachten auch die Stimme der Künstlerin Fröhlich zurück, ihren kitzeln- den Blick, ihr ganzes buntes Gesicht und die zwei leichten 86
Finger, mit denen sie unter Unrats Kinn getastet hatte … Unrat sah sich scheu nach der Tür um und beugte sich, wie ein Schüler, der »Nebendinge« verbirgt, mit geheucheltem Eifer über seine Arbeit. Das hatten die drei Verworfenen – freilich denn nun – durch die rote Gardine erblickt. Und wenn Unrat es unter- nahm, sie vor dem Tribunal des Herrn Direktors zur Re- chenschaft zu ziehen, dann waren sie, sich verloren sehend und die letzte Scham abwerfend, imstande, das Erblickte öffentlich zu bekunden! In der Liste der Verbrechen des Lohmann stand auch der von ihm bezahlte Wein – von dem Unrat getrunken hatte … Der Schweiß brach ihm aus. Er sah sich gefangen. Die Widersacher würden behaupten, nicht Unrat habe Lohmann »gefaßt«, sondern Lohmann ihn … Und das Bewußtsein, in einem mehr als jemals hit- zigen und völlig einsamen Kampf zu stehen gegen das Heer der empörten Schüler, machte Unrat stark, gab ihm die Gewißheit, er werde noch manchem von ihnen die Lauf- bahn erschweren, wenn nicht unmöglich machen. Mit lei- denschaftlicher Entschlossenheit trat er den Schulweg an. Die drei Verbrecher »hineinzulegen«, fehlte es wahrhaf- tig nicht an Gelegenheit. Was Lohmann anging, so genügte vollauf sein unverschämter Klassenaufsatz. In der Woche vor den Zeugnissen würde Unrat ihnen Fragen stellen, an denen sie scheitern mußten. Er dachte sich schon welche aus … Als er das Stadttor hinter sich hatte, kamen ihm Bedenken; und je mehr er sich dem Schulgebäude näherte, in eine um so drohendere Zukunft blickte er. Die drei Auf- ständischen hatten nun wohl schon die Klasse aufgewie- gelt, indem sie ihr vom Blauen Engel erzählt hatten. Wie würde sie Unrat empfangen. Die Revolution brach aus! … Die Panik des bedrohten Tyrannen durchsprengte ihn schon wieder, kreuz und quer, wie geschlagene Reiter. Er schielte mit giftiger Angst um die Straßenecken, nach Schülern, nach Attentätern. 87
Er war nicht mehr der Angreifer, als er das Klassenzim- mer betrat. Er wartete ab; er trachtete sich dadurch zu retten, daß er die Ereignisse des gestrigen Abends still- schweigend leugnete, die Gefahr verheimlichte, die drei Verbrecher übersah … Unrat bezwang sich, als ein Mann. Er ahnte nicht, was Kieselack, Ertzum und Lohmann für Angst ausstanden; aber auch sie ahnten nichts von seiner. Nach Schulschluß bekam er, gerade wie sie, seinen Mut zurück. Lohmann sollte nicht frohlocken! Er mußte von der Künstlerin Fröhlich ferngehalten werden: es war eine Machtfrage für Unrat und eine Angelegenheit seiner Selbstachtung, dies zu bewirken. Wie? »Sie müssen mor- gen wiederkommen«, hatte sie gesagt. Es blieb nichts an- deres übrig; wie Unrat das erkannte, erschrak er. Und in seinem Erschrecken war etwas Süßes. Er konnte nicht zu Abend essen, so erregt war er, und verließ trotz dem Widerspruch seiner Wirtschafterin so- gleich das Haus, um der erste zu sein im Kabuff – in der Garderobe der Künstlerin Fröhlich. Lohmann durfte nicht bei ihr sitzen und Wein trinken: das war Aufruhr, Unrat ertrug es nicht. Weiter war ihm nichts bewußt. Wie er hastig auf den Blauen Engel zuschlich, bemerkte er nicht gleich den farbigen Zettel im Haustor und suchte ihn einige Sekunden lang, völlig kopflos … Gottlob, da war der Zettel. Die Künstlerin Fröhlich war also nicht, wie Unrat eben gefürchtet hatte, plötzlich abgereist, ge- flüchtet, vom Erdboden verschlungen. Sie sang noch, war noch bunt, kitzelte noch mit ihrem Blick. Und aus seiner Befriedigung hierüber zog Unrat eine kurze Erkenntnis. Nicht nur, daß ihr der Schüler Lohmann fernbleiben sollte: Unrat selbst wollte bei der Künstlerin Fröhlich sitzen … Aber diese Erkenntnis verdunkelte sich sofort wieder.
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Der Saal war noch leer, fast finster, unheimlich weit; und die zahllosen schmutzigweißen Stühle und Tische stan- den durcheinandergeschoben wie eine Hammelherde auf der Heide. Neben dem Ofen und bei einer kleinen ble- chernen Lampe saß der Wirt mit zwei andern Männern; sie spielten Karten. Unrat drückte sich, im Wunsch, nicht gesehen zu wer- den, wie eine Fledermaus die schattige Wand entlang. Wie er schon ins Künstlerzimmer entwischen wollte, rief der Wirt, daß es schauerlich hallte: »Nabend Herr Pro- fesser, das freut mich, daß es Ihnen in mein’ Lakal gefal- len hat.« »Ich wollte nur … ich meinte nur … die Künstlerin Fröhlich …« »Gehn Sie man rein und warten auf ihr, es is ja man eben sieben. Ich bring Sie auch ’n Bier.« »Danke«, rief Unrat zurück, »ich bin nicht gesonnen zu trinken … Aber –«, und er streckte den Kopf aus der Tür, »späterhin werde ich wahrscheinlich eine größere Bestellung machen.« Darauf zog er die Tür zu und tappte in die Nacht der Garderobe hinein. Als es ihm gelungen war, Licht zu ma- chen, räumte er Korsetts und Strümpfe von einem Stuhl, setzte sich an den Tisch, auf dem es noch wie gestern aus- sah, nahm seine Lehrer-Agenda aus der Rocktasche und begann, aus den Nummern hinter jedem Schülernamen die vorläufige Bewertung der Leistungen zu bilden. Bei E angelangt, sprang er eilig zu M über, gerade wie am Mor- gen in der Klasse. Hinterher besann er sich, schlug zu- rück und versah Ertzums Namen mit einem wütenden Ungenügend. Kieselack kam an die Reihe, dann Loh- mann. Das Zimmer war lautlos und sicher und Unrats Mund gekrümmt von Rachsucht. Nach einer Weile schienen sich im Saal die ersten Gäste niederzulassen. Er geriet in Unruhe. Die dicke Frau von 89
gestern trat ein, unter einem schwarzen Hut mit wilder Krempe, und sagte: »Ja was denn, Sie, Herr Professor? Das sieht ja aus, als ob Sie hier übernachtet hätten!« »Liebe Frau, ich komme wegen gewisser Geschäfte«, belehrte Unrat sie. Aber sie drohte mit dem Finger: »Ihre Geschäfte kann ich mir lebhaft vorstellen.« Sie hatte Boa und Jacke abgelegt. »Nu müssen Sie aber erlauben, daß ich mir die Tallje auszieh.« Unrat stammelte etwas und sah weg. Sie kam in einem stark ergrauten Frisiermantel und klopfte ihn auf die Schulter. »Daß ich es man sage, Herr Professor, ich wundere mich nicht ’n bißchen, daß Sie schon wieder hier sitzen. Das sind wir bei Rosa nicht anders gewöhnt. Wer die mal richtig kennenlernt, der muß sie liebhaben, da gibt’s nischt. Und mit Recht, denn es is doch ’n reizendschönes Mädchen.« »Das mag ja denn – immer mal wieder – ganz richtig sein, liebe Frau, aber – nicht darum …« »Nee. Auch wegen dem Herzen, was das Mädchen hat. Das is sogar die Hauptsache. Gott ich sage –!« Sie legte die Hand auf ihr eigenes Herz, unter dem klaf- fenden Frisiermantel. Dabei himmelte sie, und ihr Dop- pelkinn schwankte vor Rührung. »Die schneid’t sich ja oft genug selbst in ’n Finger, aus purer Menschenliebe! Es muß davon kommen, weil ihr Vater Krankenpfleger war. Ob Sie es nu glauben oder nicht, Rosa hat immer ’ne Schwäche für die älteren Herren gehabt. Und nich bloß wegen dem …« Sie rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Sondern weil ihr Herz mal so is. Denn die älteren Her- ren haben ’ne liebevolle Behandlung am nötigsten … Manchmal is sie wirklich gutmütiger, als von der Polizei erlaubt is. Sehn Sie, ich kenn sie ja von Kindesbeinen. Von mir haben Sie alles aus erster Hand.« 90
Sie setzte sich auf die Tischkante, engte Unrat ein zwi- schen ihrer mächtigen Person und der Lehne seines Stuh- les, schien ihn ganz in Beschlag zu nehmen und zu um- hüllen mit der Atmosphäre dessen, was sie erzählte. »Wie das Mädchen noch nich sechzehn war, ging sie schon egal ins Panoptikum und zu den Artisten, die da arbeiten. Sie begreifen, was mal von Hause aus Künstle- rin is … Na, da war ’n alter Herr, der wollte sie ausbilden lassen. Die Ausbildung kennt man ja, die fängt ganz von vorn an bei Adam und Eva und bei dem sauern Apfel. Als sie den intus hatte, kommt sie zu mir und heult. Ich sag natürlich, du, dem Ollen ziehen wir die Kandare an, du bist ja erst in zwei ’ner halben Woche sechzehn, der muß blechen, bis ihm die Luft ausgeht. Aber sie will nicht! Hat man von so was ’n Begriff. Sie hat zuviel Mit- leid gehabt mit dem Greis, ich hab sie nicht rumkriegen können. Im Gegenteil, sie is von selber wieder zu ihm hingegangen; das läßt doch tief blicken. Auf der Straße hat sie ’n mir gezeigt: ’n richtiger Krippensetzer. Aber kein Vergleich, nich die Bohne von Vergleich mit Ihnen, Herr Professor!« Sie tippte ihn mit zwei Fingern gerade ins Gesicht. Da er ihr noch nicht genügend angeregt schien, bestand sie auf dem Gesagten. »Nich die Bohne, behaupt ich! Und überhaupt war das ’n Ekel. Bald drauf ist er gestorben, und was meinen Sie, was er Rosa vermacht hat? Seine Photographie, unter dis- kretem Verschluß. Nu platz vor Glück! Nee, da muß doch ’n genereeser Mann, der noch gut erhalten is und auch wirklich Herz hat für so ’n Mächen, der muß doch noch ’n bedeutend tiefern Eindruck machen, sag ich.« »Freilich denn wohl –«, aber Unrat suchte nach einem schwierigen Übergang. »Sei dem nun aber wie immer ihm wolle, so ist doch dies –« Sein Lächeln sah vor Verlegenheit giftig aus. 91
»– kein Einwand dagegen, daß ihr ein junger Bursch, welcher des Geistes einerseits und des Gemütes anderer- seits nicht völlig ermangelt, immerhin noch mehr zusage.« Die Frau fiel lebhaft ein: »Wenn Sie sonst keine Schmer- zen haben, denn macht es nischt. Die Jungen, die hat un- sere Rosa bis hier raus, das glauben Sie mir!« Sie schüttelte Unrat stark an der Schulter, um ihm die Wahrheit körperlich fühlbar zu machen. Dann ließ sie sich vom Tisch auf den Boden plumpsen und sagte: »Da ver- plaudert man sich. Jetzt muß ich aber an die Arbeit, Herr Professor, ein andermal widme ich mich wieder Ihnen.« Sie setzte sich vor den Toilettenspiegel und rieb sich das Gesicht mit Fett ein. »Nu sehn Sie lieber woanders hin, scheen is es nicht.« Unrat sah gehorsam weg. Er hörte auf dem Klavier einige Töne anschlagen. Der Saal rauschte dumpf, als sei er halb gefüllt. »Und Ihre Schuljungen«, warf die Frau hin, mit einem Gegenstand zwischen den Zähnen, »die können über- haupt die Hälse lang machen und jiepern!« Unrat folgte dem Trieb, sich nach dem Fenster umzuse- hen. Hinter der roten Gardine reckte wirklich ein Schat- ten den Hals aus. Im Saal geschah ein langes Hohohoho. Die Künstlerin Fröhlich stand auf der Schwelle, und die Türöffnung hin- ter ihr ward sogleich versperrt durch die breite Gestalt des Artisten Kiepert. Als sie beide drinnen waren, rief er: »Sehr schmeichelhaft, Herr Professor, daß Sie auch wieder da sind!« Die Künstlerin Fröhlich bemerkte: »Da is er ja! Na also.« »Sie wundern sich vielleicht –«, stottert Unrat. »Aber kein Bein«, erklärte sie. »Helfen Sie mir man aus dem Mantel raus.« »– daß ich meinen Besuch so schnell wiederhole –« 92
»Wo wer’ ich denn!« Sie hatte die Arme, wie Henkel, an ihrem großen roten Federhut, zog Nadeln heraus und lächelte von unten die- bisch nach Unrat. »Aber –«, und er war in Not, »Sie meinten selbst, ich müßte wiederkommen.« »Nu woll!« – und sie schwenkte den Hut wie ein Feuer- rad. Ausplatzend: »Er ist zum Schreien! … Ich wer’ Sie doch nich laufen lassen – Alterchen!« Dabei beugte sie, die Hände auf den Hüften, ihr Ge- sicht ganz dicht vor seines. Unrat sah aus wie ein Kind, das heftig erschrickt, weil die Fee auf dem Theater plötzlich einen falschen Zopf ver- liert. Die Künstlerin Fröhlich bemerkte es und holte sich sofort aus ihrem Heiterkeitsanfall zurück. Sie seufzte, den Kopf auf der Schulter. »Aber Sie müssen man nich glauben, daß ich gemeint hab, es könnt mir gar nich fehlen. Da wären Sie falsch unterrichtet. Ich hab im Gegenteil immer zu Guste gesagt: Er ist doch ’n Doktor und ’n Professor, und ich bin ’n armes unwissendes Mädchen, was hab ich so ’nem Mann denn zu bieten … Frau Kiepert, is es vielleicht nich wahr, daß ich das zu Ihnen gesagt hab?« Die dicke Frau bekräftigte es. »Aber sie«, sagte die Künstlerin Fröhlich und zuckte unschuldig die Achseln, »sie wollte ja immer wissen, Sie würden wohl wiederkommen … Na, also doch!« Der Artist gab in dem Winkel, wo er sich umkleidete, unförmliche Laute von sich. Seine Frau machte Zeichen, die ihn beschwichtigen sollten. »Wer sagt mir aber«, fuhr die Künstlerin Fröhlich fort, »daß Sie überhaupt wegen meiner kommen … Sie helfen mir ja nich mal aus meinem Paletot raus … Vielleicht kommen Sie nur wegen den ekligen Bengels, aus die Sie Wurst machen wollen?« 93
Und Unrat, errötend, nach Hilfe suchend: »In erster Linie – eigentlich nun wohl zwar – ursprünglich …« Sie bewegte schmerzlich den Kopf. Die dicke Frau erhob sich vom Toilettentisch, um ihnen beizustehen. Sie zog eine ausgeschnittene rote Bluse an. Sie war gerüstet und hatte ihren glänzenden Teint von ge- stern zurück. »Warum helfen Sie dem Fräulein denn nicht aus ihrem Paletot raus«, sagte sie. »Is das ’ne Art und Weise, wenn ’ne Dame Sie um was bittet?« Unrat begann, an einem ihrer Ärmel zu zerren. Der ließ nicht los, und die Künstlerin Fröhlich taumelte in Unrats Arme; worauf er ratlos innehielt. »So müssen Sie es machen« – und die dicke Frau unter- wies ihn. Ihr Gatte trat lautlos dazwischen, schon in Tri- kots, mit einem schlangenhaften Fleischwulst von einer Hüfte zur andern und einer behaarten Warze am Hals. Er hielt ein ganz kleines Zeitungsblatt Unrat vor die Augen. »Das müssen Sie lesen, Herr Professor, der gibt es der Bande.« Unrat bekam sofort die Sachverständigenmiene, zu der alles Gedruckte ihn nötigte. Er erkannte das sozialdemo- kratische Lokalblatt. »Sehen wir denn also«, versetzte er, »wie es – immer mal wieder – mit dieser Leistung bestellt ist.« »Ausgerechnet die Lehrergehälter«, sagte der Artist. »Wenn ich nicht grade gestern von gered’t hätt.« »Ach was«, entschied die Frau und nahm Unrat das Blatt weg. »Gehalt hat er genug, er braucht ganz was an- ders. Das ist nicht deine Sache, nu geh du man raus zu ’s liebe Vieh.« Im Saal grunzte, brüllte und pfiff es durch den Donner des Klaviers hindurch. Kiepert gehorchte. Er gab sich un- vermittelt das von sich selbst entzückte Ansehen, das Un- rat schon gestern in Staunen versetzt hatte, und tänzelte 94
über die Schwelle hinaus in den Saal, der ihn lärmend ver- schlang. »Den haben sie weg«, sagte die dicke Frau. »Bis sie ihn verknust haben, wolln mir mal der Rosa in die Kleider helfen, Herr Professor.« »Ja darf er das auch?« fragte die Künstlerin Fröhlich. »Er wird doch wissen dürfen, wie eine Frau aus- und angezogen wird. Wer weiß, wozu er das noch mal brau- chen kann im Leben.« »Also wenn Sie nichts dagegen haben –«, und die Künstlerin Fröhlich streifte ihren Rock hinunter. Ihre Korsage stand schon offen, und Unrat bemerkte mit einer Art Schreck, daß sie unter den Kleidern überall schwarz war und glänzte. Aber noch seltsamer war für ihn die Er- kenntnis, daß sie keinen Unterrock anhatte, sondern ein Paar weite schwarze Kniehosen. Sie schien sich nichts dar- aus zu machen, sie sah ganz harmlos aus. Unrat aber war es, als flüstere an seinem Ohr eine erste Offenbarung von Mysterien, bedenklichen Sachlagen unter der Oberfläche, unter der gut bürgerlichen Oberfläche, die sich vor den Augen der Polizei auf der Straße zeigt. Und er fühlte einen Stolz, der Angst enthielt. Draußen hatte Kiepert großen Erfolg und begann etwas Neues. »Jetzt muß er sich doch lieber rumdrehn«, meinte die Künstlerin Fröhlich. »Jetzt kommt alles runter.« »Gott, Kind, er is ja ’n vernünftiger, solider Mann, was kann es ihm schaden.« Aber Unrat hatte sich sofort hastig umgewendet. Er hörte gespannt zu, wie es raschelte. Die dicke Frau reichte ihm, in großer Eile, etwas hin, um die Ecke. »Da, halten Sie mal das.« Unrat nahm es, ohne zu wissen, was es war. Es war schwarz, ließ sich ganz klein zusammendrücken und fühlte sich merkwürdig warm an, warm wie ein Tier. 95
Plötzlich entwischte es seinen Händen, denn er hatte durchschaut, warum es so warm war, es war die schwarze Hose! Indes sammelte er sie wieder auf und verhielt sich ganz still. Guste und die Künstlerin Fröhlich wechselten eilig einige technische Urteile, während sie arbeiteten. Kiepert war schon wieder fertig. »Ich muß raus«, sagte seine Gattin, »ziehn Sie mal mit an.« Und da Unrat sich nicht rührte: »Stehn Sie auf den Ohren?« Unrat fuhr herum; er hatte »geschlafen«, wie seine Schüler, wenn ihnen die Stunde zu lange währte. Er er- faßte geduldig die Korsettbänder. Die Künstlerin Fröhlich lächelte ihm über ihre Schulter zu. »Warum haben Sie mir die ganze Zeit den Rücken zuge- kehrt? Ich bin ja schon längst wieder anständig angezo- gen.« Sie hatte jetzt einen orangefarbenen Unterrock an. »Überhaupt«, fuhr sie fort, »ich hab das ja man wegen Guste gesagt, vom Rumdrehn. Wegen meiner: – ich möcht wohl wissen, wie Sie mich gebaut finden?« Unrat sagte nichts, und sie rückte ungeduldig den Kopf von ihm weg. »Ziehn Sie man fest an! … Gott, ich sage! Geben Sie man her, Sie müssen noch viel lernen.« Sie schnürte sich selbst. Und da er seine unbeschäftigten Hände noch immer hilflos vor sich hinhielt: »Wollen Sie denn gar nich nett zu mir sein?« »Freilich wohl«, stotterte er bestürzt. Er suchte und sagte schließlich, er habe sie in dem schwarzen – in dem schwarzen Gewand noch hübscher gefunden. »Sie kleines Ferkel«, sagte die Künstlerin Fröhlich. Das Korsett war in Ordnung … Auch Guste hatte Er- folg, gemeinsam mit Kiepert. »Nu komm aber ich«, sagte die Künstlerin Fröhlich wieder. »Bloß’s Gesicht mach ich mir noch zurecht.« 96
Sie setzte sich vor den Spiegel, fingerte behende mit Do- sen, Fläschchen, farbigen Stangen. Unrat sah nichts, als daß ihre dünnen Arme immerfort durch die Luft streiften, und vor seinen verwirrten Augen bildete sich ein ver- schlungenes Spiel rosa-blaßgelber Linien, die entstanden, wechselten, und deren jede, ehe sie ganz zerging, durch eine neue ersetzt war. Er mußte unbekannte Gegenstände vom Tisch nehmen und ihr bringen. Sie fand, inmitten ih- rer fieberhaften Tätigkeit, noch die Muße, mit dem Fuß zu stampfen, wenn er etwas Falsches aufhob, und ihn mit dem Blick zu kitzeln, wenn es recht war. Es war sogar unleugbar, daß ihre Augen die Fähigkeit zu kitzeln in im- mer höherem Grade erlangten. Unrat konnte endlich kei- nen Zweifel mehr zulassen darüber, daß es von den Stiften kam, die er ihr gereicht hatte, mit denen sie um das Auge herumstrich; von den roten Flecken in den Winkeln, den roten Strichen über den Brauen und von dem Schwarzen, Fettigen, das sie sich in die Wimpern schmierte. »Nu noch den Mund klein machen«, verhieß sie. Und auf einmal sah er ihr Gesicht von gestern wieder, das ganz bunte. Die Künstlerin Fröhlich saß erst jetzt vor ihm, die eigentliche. Er hatte sie entstehen sehen und merkte es erst jetzt. Ein flüchtiger Blick eröffnete sich ihm auf die Küche, in der Schönheit, Lust, Seele gemacht wird. Er war enttäuscht und eingeweiht. Er dachte gleich hinter- einander: ›Weiter ist es nichts?‹ und ›Das ist aber großar- tig!‹ Das Herz klopfte ihm – und inzwischen neb die Künstlerin Fröhlich sich die farbigen Fette, die es ins Klopfen gebracht hatten, mit einem Tuch von den Hän- den. Darauf befestigte sie das verbogene Diadem von gestern in ihrem Haar … Der Saal war im Toben begriffen. Sie zuckte mit der Schulter dorthinaus und fragte, die Brauen gerunzelt: »Haben Sie das vielleicht schön gefunden?« Unrat hatte nichts gehört. 97
»Nu solln Sie aber sehn, was ’ne Harke ist. Ich singe nämlich heut was Todernstes, drum zieh ich auch lange Röcke an … Geben Sie mir man den grünen herüber.« Unrat mußte erst nach rechts und nach links über Klei- dungsstücke wegsteigen, daß seine Rockschöße flogen. Schließlich hatte er das grüne gefunden; und im Nu stand sie da, märchenhaft umflossen, ohne Taillenbuchtung, nur um Schoß und Schenkel ein wenig eingeengt von einer Ro- sengirlande … Sie sah ihn an, er sagte nichts; aber mit sei- nem Gesicht war sie zufrieden. Sie schritt in großem Stil auf die Tür zu. Kurz davor wandte sie sich um, denn sie erinnerte sich des weiten Fettflecks auf ihrer Rückseite, den Unrat jetzt betrachtete. »Den brauch ich den Affen ja nicht zu zeigen, nicht wahr?« erklärte sie, mit grenzenloser Verachtung. Dann erschien sie gnädig in der weit aufgerissenen Tür. Unrat sprang zurück, man konnte ihn sehn. Die Tür blieb halb geöffnet. Draußen hieß es: »Gotts Düwel!« und »’n grönsieden Kleed!« und »Wer lang hett, lett lang hängen!« Auch wurde gelacht. Das Klavier hatte angefangen, Tränen zu vergießen. Im Diskant war es feucht vom Schluchzen, im Baß schnupfte es sich aus. Unrat hörte die Künstlerin Fröhlich anstimmen: »Der Mond ist rund, und alle Sterne scheinen, Und wenn du lauschest, an dem Silbersee Steht deine Liebe, und du hörst sie weinen …« Die Töne tauchten, gleich matten Perlen auf schwarzer Flut, aus der schwermütigen Seele der Sängerin. Unrat dachte: ›Immerhin nun zwar –‹ Es war ihm lau und traurig zu Sinn. Er schlich sich an den Spalt und sah zwischen den Angeln die grünen Falten der Künstlerin Fröhlich langsam sich bilden und wieder vergehn … Sie 98
neigte den Kopf nach hinten; in Unrats Gesichtsfeld er- schien das verbogene Diadem auf ihrer rötlichen Frisur und eine bunte Wange unter einer hohen schwarzen Braue. An einem der vorderen Tische sagte eine hingeris- sene Stimme, die Stimme eines breiten Landmanns in blauer Wolljacke: »Nee, is dat Minsch schöen! Wenn ick nu na Hus kam, mach ick ja mien Fru gor nich miehr he- den.« Unrat sah sich den Mann mit geringschätzigem Wohl- wollen an; er dachte: ›Ei freilich nun wohl, Mann.‹ Der war nicht dabeigewesen, als die Künstlerin Fröh- lich entstanden war! Er wußte nicht, was das Schöne war, war nicht berufen, darüber zu entscheiden, hatte es hinzu- nehmen, wie’s ihm geboten ward, und mußte noch froh sein, wenn es ihm den Geschmack an seiner Frau verdarb. Die Strophe endete klagend: »Im Takte deines Herzens schwankt mein Nachen, Mein Herze weint, und alle Sterne lachen.« Aber auch unter den Hörern lachte wieder einer, mit fet- tem Prusten. Unrat, aus seiner Stimmung gerissen, suchte vergebens unter den Köpfen. Die Künstlerin Fröhlich be- gann die zweite Strophe wieder mit »Der Mond ist ruhnd« … Beim Refrain: »Und alle Sterne lachen –«, lach- ten nun schon sechs oder sieben Leute. Einer in der Mitte gluckste wie ein Neger. Unrat entdeckte ihn: es war ein Neger! Dieser Farbige steckte seine Umgebung an, Unrat sah andere Gesichter sich in heitere Falten legen. Der Drang erhob sich in ihm, jene Muskeln aus ihren Verzer- rungen zurückzureißen. Er trat von einem Fuß auf den andern, eine Art Qual durchlief ihn … Die Künstlerin Fröhlich verkündete zum drittenmal: »Der Mond ist ruhnd.« »Dat weit wi nu«, sagte jemand, breit und entschieden. Einige Gutgesinnte erhoben Einspruch gegen die zuneh- 99
mende Unruhe. Aber das Gelächter des Schwarzen griff verheerend um sich. Unrat sah ganze Reihen von aufgeris- senen Mündern, schwarz, mit ein paar gelben Hauern aus Lücken hervor oder mit Halbmonden weißen Beins von einem Ohr zum andern; mit kranzförmigen Schifferbär- ten unter dem Kinn oder hinaufgebundenen Borsten auf der Oberlippe. Unrat erkannte den Handlungslehrling, seinen ehemaligen Sekundaner, der ihm gestern am Rande der steilen »Grube« ins Gesicht gefeixt hatte, und der nun die Kiefer aufriß, so weit er konnte, zu Ehren der Künstle- rin Fröhlich. Und Unrat fühlte, wie ihm schwindelnd seine Wut zu Kopf schoß, seine von Angst durchjagte Ty- rannenwut. Die Künstlerin Fröhlich war seine eigene An- gelegenheit! Er hatte sie genehmigt, folgte aus den Kulis- sen ihren Leistungen, war mit ihr verknüpft und führte sie gewissermaßen selber vor! Man vergriff sich an ihm selbst, wenn man sich unterstand, sie nicht gelten zu lassen! Er hielt sich am Pfosten, sonst meinte er hinausstürzen zu müssen, um mittels Drohungen, Handgriffen und Strafen die empörte Schar der entlaufenen Schüler zu Gehorsam zurückzuzwingen. Allmählich hatte er fünf, sechs von ihnen herausgefun- den. Der Saal war durchspickt mit den Widerspenstigen aus alten Jahrgängen! Der dicke Kiepert und die dicke Gu- ste gingen umher, tranken aus den Gläsern, machten sich volkstümlich. Unrat verachtete sie, sie stiegen in die Gosse. Auf hehrer Höhe stand in ihrem grünseidenen Kleid, mit ihrem verbogenen Diadem, die Künstlerin Fröhlich; aber man wollte sie nicht, man rief: »Dor heft wi nu nooch von!« Und Unrat konnte das nicht ändern! Es war schreck- lich! Er konnte die Schüler ins Kabuff sperren, sie über nicht vorhandene Gegenstände Aufsätze verfassen lassen, ihre Handlungen seinem Dienst unterwerfen, ihre Gesin- nungen drillen, und wenn einer etwas zu denken wagte, 100
ihn anheischen: »Sie sollen nicht denken!« Aber er konnte sie nicht zwingen, schön zu finden, was nach seinem Ermessen und Gebot schön war. Hier war vielleicht die letzte Zuflucht ihrer Widersetzlichkeit. Unrats des- potischer Trieb stieß hier auf die äußerste Grenze mensch- licher Beugungsfähigkeit … Er ertrug es kaum. Er schnappte nach Luft, sah sich um nach einem Ausweg aus seiner Ohnmacht, wand sich unter der Begierde, so einen Schädel einmal aufzuschlagen und den Schönheitssinn darin mit krummen Fingern zurechtzurücken. Daß die Künstlerin Fröhlich so zuversichtlich und hei- ter bleiben und den Schreiern und Zischern noch Hand- küßchen zuwerfen mochte! Sie war eigentümlich groß in der Niederlage … Nun wendete sie sich halb um, vom Pu- blikum weg, und sagte etwas zum Klavier hinunter. Und jetzt geschah es allerdings, daß ihre wohlaufgelegte, dienstfertige Miene ganz unvorbereitet in eine bittere und böse hinüberglitt, mit einem kleinen Ruck, wie beim Kinematographen. Es schien Unrat, daß sie die Unterre- dung mit dem Klavier nach Möglichkeit in die Länge ziehe, sich tunlichst weit wegwende. Noch weiter ging es nicht; der Fettfleck auf ihrer Rückseite wäre zur Geltung gekommen … auf einmal schnellte sie ganz munter wieder in die Höhe, raffte ihr grünseidenes Kleid, schwenkte den orangefarbenen Unterrock hoch auf von den Füßen und brach in herzhaftes Trällern aus: »Wail iesch noch so klain uhnd so uhnschuhldiesch bien.« Ihr guter Mut ward belohnt, man klatschte, verlangte das Lied von vorn. Als sie türenklappend zurück war in der Garderobe, fragte sie mit kurzem Atem: »Na, was sagen Sie nu? Fein raus, was?« Der Schaden war gutgemacht, alle Welt war befriedigt! – nur ganz hinten im Saal, an der Wand neben dem Aus- gang, lehnte Lohmann, senkte bleich und fern den Blick auf seine verschränkten Arme und bedachte, daß seine 101
Verse, seine unter dem Lachen von Gemeinen in die dunk- len Straßen entflohenen Verse, nun zittertnd auf nächt- lichen Luftwellen unterwegs seien zum Fenster eines Schlafzimmers, daß sie ganz schwach dagegenpochen würden, und daß drinnen niemand es hören würde … Die dicke Guste kam mit Kiepert in die Garderobe. Die Künstlerin Fröhlich legte den Kopf in den Nacken und sagte beleidigt: »Reden Sie mir noch mal zu, ich soll den Stuß singen von dem dummen Jungen!« Unrat hörte es, dachte sich aber nichts dabei. »Kindchen«, erklärte die Frau, »auf die Leute ist eben kein Verlaß, das weiß man doch. Wenn da nich der Neger gewesen war, hätten sie geweint, statts daß sie nu gelacht haben.« »Natürlich pfeif ich drauf«, sagte die Künstlerin Fröh- lich. »Wenn der Professor uns doch natürlich was zu trin- ken gibt. Was gibt er uns woll zu trinken?« Und sie legte, wie gestern, zwei ganz leichte Finger un- ter sein Kinn. »Wein?« riet Unrat. »Gut!« sagte sie mit Anerkennung. »Aber was für einen?« Unrat war unbewandert in der Weinkarte. Er suchte mit den Augen nach Hilfe, wie ein steckengebliebener Schü- ler. Kiepert und seine Frau sahen ihn gespannt an. »Mit S fängt es an«, sagte aufmunternd die Künstlerin Fröhlich. »Schâteau –«, meinte Unrat und schwitzte. Er war nicht Neuphilologe und brauchte nicht zu wissen, wie so ein Kellerausdruck buchstabiert ward. Er wiederholte: »Schâteau –« »I wo«, reimte sie … »Nach S kommt e.« Unrat fand nicht weiter. »Und dann k… Nee, Sie kommen aber auch auf nischt. Das is wirklich auffallend, daß er auf gar nichts kommt.« 102
Unrats Miene leuchtete auf einmal von naivem Glück. Er hatte es heraus. »Sekt!« »Na gottlob!« sagte die Künsterlin Fröhlich. Auch Gu- ste und Kiepert erklärten die Lösung für richtig. Der Ar- tist ging und machte die Bestellung. Wie er durch den Saal zurückkehrte, trug ihm der Wirt eigenhändig einen gro- ßen Kübel voran, woraus zwei Hälse starrten. Kiepert, in Trikot, blies die Backen auf, indes ringsumher Aaah! und Hohoho! gemacht ward. Nun ward es heiter in der Künstlergarderobe. Unrat dachte bei jedem Glas, was eingeschenkt ward: dies sei sein Wein, in diesen habe Lohmann nichts dreinzureden. Und plötzlich sagte auch die Künstlerin Fröhlich: »Sekt haben Ihre dummen Jungen hier noch nie geschmissen.« Ihre Augen kitzelten heftiger. »Ich wer’ sie auch nich drum angehn.« Da Unrats Ausdruck harmlos blieb, seufzte sie. Kiepert erhob sein Glas. »Herr Professor! Denen, die wir lieben!« Und er schmunzelte von Unrat zur Künstlerin Fröh- lich. Sie murmelte verdrießlich: »Kuchen! Er kommt ja auf nichts.« Die dicke Frau mußte sich für ihre nächste Nummer umkleiden; denn dem Gesang folgte nun wieder die Gym- nastik. Sie bemerkte: »Das kriegt Herr Professor nu doch nicht vorgeführt, wie ich in den Trikot kriech. Nee, so weit geht die Freundschaft nicht.« Sie stellte drei Stühle übereinander, verhängte die Leh- nen mit Röcken und begab sich dahinter. In der Höhe ge- nügte die Wand, aber ihre Breite ward überschritten von Gustes Körper. Die andern ertappten jeden Augenblick ein Stück von ihr, das hervorquoll, und erhoben Geschrei. Die Künstlerin Fröhlich lachte, die Arme über den ganzen Tisch hingeworfen, und riß Unrat so weit mit fort zur Ausgelassenheit, daß er mehrmals mit gestrecktem Hals in 103
Gustes Versteck schielte. Sie machte Huch! und Kiek! Un- rat zuckte zurück, und dann unternahm er den schüchter- nen Spaß von neuem. Aber die Künstlerin Fröhlich richtete sich mühsam auf. Sie hielt die Luft an, um sagen zu können: »Mit mir würd er das nich machen, da nehm ich Gift drauf.« Dann pruschte sie aus. Der Saal schrie nach Kunst, das Klavier war unfähig, ihn länger im Zaum zu halten. Die beiden dicken Leute mußten hinaus. Mit Unrat allein geblieben, sammelte sich die Künstle- rin Fröhlich. Er war auf einmal ganz befangen. Eine Weile war es still bei ihnen, und draußen sang es. Sie wehrte ab: »Schon wieder das dämliche Flottenlied auf der Reck- stange. Das verekel ich ihnen noch mal! … Aber Sie, Sie haben ja überhaupt noch gar nicht die Augen aufgemacht, was hier anders geworden ist.« »Hier im Ka –? Hier?« stotterte Unrat. »Lassen Sie man, Sie kommen auf nichts … Hat da am Spiegel gestern vielleicht nich was gesteckt? Rechts was un links was?« »Ach ja – freilich wohl … Zwei Blumensträuße?« »Und Sie undankbarer Mensch sehn das gar nich, wenn ich Ihnen zu Ehren das Grünzeug in ’n Ofen steck.« Sie schmollte, von unten herauf. Unrat lugte nach dem Ofen und errötete vor Befriedigung; denn die Künstlerin Fröhlich hatte Lohmanns Sträuße verbrannt. Plötzlich ge- riet er in heftige Unruhe; der Gedanke war in ihm ent- sprungen, Lohmanns Sträuße durch zwei andere zu erset- zen, die er selbst der Künstlerin Fröhlich brachte! … Er stellte fest, daß die rote Gardine leer von Gesichtern sei. Und aufgeregt vom Drang, sich mit Lohmann zu messen: »Mein liebes – nun doch immerhin – Fräulein, Sie haben gewiß gestern abend noch mit den jungen Leuten ver- kehrt?« 104
»Warum sind Sie auch so früh weggegangen? Was soll ich denn machen, wenn die andern reingetrippelt kom- men … Aber ich hab ihnen mal die Wahrheit gesagt, be- sonders dem einen …« »Nun, das ist brav … Und am heutigen Abend sind Sie, bei Ihrer Ankunft hier im Gasthause, gewiß draußen – immer mal wieder – den drei Schülern begegnet?« »Wie mich das wohl glücklich macht.« »Liebes Fräulein, falls Sie der Blumensträuße und des Sektes nicht entraten mögen, sollen Sie sie von mir be- kommen. Es ist nicht zulässig, daß Sie dieser Dinge durch Schüler teilhaftig werden.« Und wolkig gerötet, belebt, alle Gaben rätselhaft ge- schärft, erkannte Unrat ganz unvermittelt, daß mit dem »Stuß von dem dummen Jungen«, den die Künstlerin Fröhlich nicht noch einmal singen wollte, ihr Lied vom runden Mond gemeint sei, und daß dieses Lied eine Lei- stung Lohmanns sei! Er äußerte: »Nicht nur das Lied vom runden Mond sollen Sie nicht wieder singen. Sie sol- len gar keine Lieder des Schülers Lohmann mehr sin- gen!« »Und wenn ich derselben nicht entraten mag«, fragte sie, immer lächelnd von unten, »wollen denn Sie mir wel- che machen?« Hierauf war Unrat nicht gefaßt. Gleichwohl ver- sicherte er: »Ich werde sehen, was sich tun läßt.« »Ja, sehn Sie mal zu. Und auch sonst – es läßt sich so manches tun. Bloß drauf kommen muß man.« Und sie führte ihm ihr Gesicht zu mit gespitztem Mund. Aber Unrat kam nicht drauf. Er sah sie hilflos und mit unbestimmtem Mißtrauen an. Sie erkundigte sich: »Wozu sind Sie denn eigentlich hier?« »Die Schüler dürfen nicht –«, begann er. »Na, is gut …« Und sie nestelte an sich. »Ich muß mir 105
nu was Kurzes anziehn. Sie können sich mal nützlich machen.« Unrat tat es. Die dicken Leute kehrten durstig von ihren Triumphen zurück. Nur noch eine der Flaschen enthielt ein halbes Spitzglas. Kiepert erklärte sich bereit, neuen Stoff herbeizuschaffen. Unrat bat ihn darum. Die Künst- lerin Fröhlich bekam rasch noch eingeschenkt, dann mußte sie singen. Sie bedeckte sich mit Ruhm. Der Sekt ward süßer, Unrat immer glücklicher. Zu seiner nächsten Nummer schritt der Artist auf den Händen hinaus und erwarb ungemessenen Beifall. Er benutzte diese Art, sich fortzubewegen, von nun ab jedesmal. Das Temperament der Künstlerin Fröhlich steigerte sich bei jedem neuen Auftreten und ward immer stürmischer anerkannt. Unrat konnte sich nicht mehr denken, daß er einmal vom Stuhl werde aufstehen müssen. Die letzten Gäste gingen schon. Die Künstlerin Fröhlich sagte noch, strahlend von Le- benslust: »So leben wir für alltags, Professorchen. Sonn- tags machen wir es noch viel schneidiger.« Und gleich darauf brach sie in Schluchzen aus. Unrat sah erstaunt und durch einen Schleier, wie sie die Nase zwischen ihre beiden auf dem Tisch liegenden Hände drückte, und wie ihr verbogenes Diadem auf und nieder flog. »Das is ja man die glänzende Außenseite«, brachte sie hervor. »Drinnen gibt’s nichts als graues Elend …« Sie jammerte noch weiter. Unrat suchte peinlich nach etwas, das er ihr sagen könne. Indem kam Kiepert von draußen, hob Unrat vom Stuhl und erklärte, ihn hinausge- leiten zu wollen. Unter der Tür hatte Unrat etwas gefun- den. Er wendete sich, und seine Hand tastete durch die Luft, mit Anstrengung zurück nach der Künstlerin Fröh- lich, die schon schlief, und versprach ihr: »Ich werde ver- suchen, Sie durchzubringen.« Dies konnte ein Lehrer vor der Versetzung zu einem 106
Schüler sagen, dem er wohlwollte, oder er konnte es über ihn denken. Aber Unrat hatte es noch zu keinem gesagt und von keinem gedacht.
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VII
Es war achteinviertel und Unrat noch immer nicht da. In der Gier, ihre Freiheit auszunutzen, lärmte die Klasse bis zur Selbstbetäubung, bis zur Verblödung. Alles schrie, ohne noch darum zu wissen: »Unrat! Unrat!« Die einen waren davon unterrichtet, er sei tot. Die andern schwu- ren, er habe seine Wirtschafterin zu Haus ins Kabuff ge- sperrt und sie verhungern lassen und befinde sich zu dieser Stunde im Zuchthaus. Lohmann, Ertzum und Kieselack schwiegen dazu. Unversehens schlich Unrat langen Schrittes auf das Ka- theder zu und ließ sich mit Vorsicht, als schmerzten ihn seine Knochen, in den Sessel hinein. Viele hatten seine Ge- genwart noch nicht bemerkt und brüllten weiter: »Un- rat!« Aber es schien Unrat nichts daran zu liegen, ob er es ihnen »beweisen« könne. Er sah sehr grau aus, wartete geduldig, bis man ihn reden ließ, und betrug sich bei der Beurteilung der Antworten mit geradezu kränklicher Grillenhaftigkeit. Einen, dem er sonst leidenschaftlich nachzustellen pflegte, ließ er zehn Minuten lang die fal- scheste Übersetzung liefern. Einem andern fiel er gift- sprühend ins erste Wort. An Ertzum, Kieselack und Loh- mann sah er wieder standhaft vorbei – aber er dachte nur an sie. Er fragte sich, ob sie gestern nacht auf seinem müh- seligen Heimwege nicht an einer Hausecke gestanden hät- ten, an der er sich, beide Hände auf der Mauer und grade sehr üblen Mutes, vorbeigetastet hatte. Er meinte sogar, sie angestoßen und Pardon gesagt zu haben … Aber sein Denken war auch noch damals unverwüstlich 108
klar geblieben, und er hatte keinen Augenblick das Ver- ständnis dafür eingebüßt, daß nicht alles, was er in jener Verfassung sah und spürte, der Außenwelt anzugehören brauchte. Er litt großes Bangen, weil er über diese Sache nicht im reinen war. Was wußten die drei Verworfenen? … Und was mochte gestern noch geschehen sein, nachdem Unrat selbst aus den Vorgängen ausgeschieden war? Waren sie zurückgekehrt in den Blauen Engel? War Lohmann in das Kabuff zurückgekehrt? … Die Künstlerin Fröhlich hatte geweint; es war möglich, daß sie sogar schon geschlafen hatte. Aber Lohmann hatte sie vielleicht aufgeweckt? … Unrat schmachtete danach, Lohmann die allerschwierig- ste Stelle zu erklären zu geben. Aber er wagte es nicht. Lohmann, Graf Ertzum und Kieselack betrachteten ihn unablässig. Kieselack hatte dabei sehr wohl ein Gefühl für das Spaßige, Ertzum für das Erniedrigende, Lohmann für das Armselige in alledem; aber davon unabhängig berührte alle drei eine Art Grauen, eine gewisse schreckliche Weihe durch ihr dunkles Einverständnis mit dem Tyrannen. Im Schulhof, während der Pause, lehnte sich Lohmann gegen die sonnige Mauer, verschränkte die Arme und hörte innerlich, wie gestern an der rauchigen Saalwand, sein Unglück erklingen in seinen Versen. Ertzum trat wie von ungefähr heran und fragte unterdrückt: »Auf dem Tisch lag sie und schlief? Das kann doch nicht sein, Loh- mann.« »Wenn ich dir sage, daß sie schnarchte. Er hat sie be- trunken gemacht.« »Der Gauner! Sobald ich ihn noch mal –!« Ertzum schämte sich, seine Prahlerei zu beenden. Er knirschte stumm im Joch der Schule. Mehr Abscheu als Unrat machte ihm seine eigene Ohnmacht. Er war Rosas nicht würdig! … Kieselack drückte sich, im Hin und Her der Schüler, an 109
den zwei Mitwissern vorbei und wisperte hinter der Hand, schiefen Mundes und heimlich geschüttelt von grauenvollem Jubel: »O Mensch, er fliegt ja rein, sag ich euch, er fliegt ja mächtig rein!« Er fragte, ehe er vorüber war, noch rasch: »Kommt ihr wieder hin?« Die beiden hoben die Schultern. Das war wohl eine ver- ächtliche Selbstverständlichkeit. Für Unrat war es Pflicht, und sie ward täglich erfreulicher, je mehr er sich einlebte bei der Künstlerin Fröhlich. Er war, damit Lohmann ihm nicht zuvorkäme, immer der er- ste im Blauen Engel. Dann ordnete er die Toilettengegen- stände, suchte die saubersten Unterröcke und Höschen hervor, legte, was zu flicken war, auf einen Stuhl abseits. Die Künstlerin Fröhlich erschien spät, denn sie fing an, sich auf Unrat zu verlassen. Er verstand bald, seine grauen Finger ganz spitz zu machen und die Knoten an ihr damit aufzulösen, ihre Schleifen geradezuziehen, die Nadeln aus den Verstecken an ihrem Körper hervorzuholen. Wenn sie sich schminkte, löste sich ihm das rosablaßgelbe Spiel ihrer eiligen Arme allmählich in sinnreiche Griffe auf. Er fand sich auf der Palette ihres Gesichts zurecht, erlernte Namen und Nutzen der farbigen Stangen und Fläschchen, der stäubenden Säckchen und Schachteln, der fettigen Büchsen und Töpfe; übte sich still und eifrig in ihrer An- wendung. Die Künstlerin Fröhlich bemerkte seine Fort- schritte. Eines Abends lehnte sie sich vor dem Spiegel auf ihrem Stuhl zurück und sagte: »Nu los.« Und er richtete ihren Kopf so vollkommen her, daß sie den Finger in keine Salbe mehr zu tauchen brauchte. Sie wunderte sich über seine Fertigkeit und verlangte zu wis- sen, wie er sie so rasch erworben habe. Er errötete wolkig und stotterte irgend etwas; aber ihre Neugier blieb unge- stillt. 111
Unrat erfreute sich der Bedeutung, die er in der Garde- robe erobert hatte. Lohmann durfte nicht mehr hoffen, ihn zu ersetzen. Würde Lohmann etwa behalten haben, daß der rosa Bolero dort zum Färber sollte? Ja, wenn Loh- mann durch eifrigeres Memorieren der aufgegebenen Ho- merverse sein Gedächtnis geübt hätte! Nun stellten sich die Folgen des Müßigganges heraus! … Und zwischen den weißen Wäschestücken am Boden und auf den Mö- beln schlich Unrat umher wie eine große schwarze Spinne, behende ausgreifend mit dünnen, gekrümmten Gliedma- ßen. Unter seinen grauen, eckigen Händen glätteten sich mürbe Stoffe, raschelnd und knisternd. Andere glitten un- versehens zu Formen auseinander, die sie im Verschwiege- nen bewahrt hatten – zu einem Arm, einem Bern, das Un- rat befangen anschielte, mit dem Gedanken: ›Freilich nun wohl – immerhin.‹ Dann stahl er sich an den Türspalt und lugte nach ihr aus, deren Stimme pfiff und kreischte unter dem Donnern des Klaviers, deren Glieder Würfe machten durch den Rauch, und nach den dummen Köpfen, wie geblähte Tul- pen in einem Beet, die sie begafften. Er war stolz auf sie, verachtete den Saal, wenn er klatschte, spritzte auf in Haß gegen ihn, wenn er schwieg – und ein ganz eigenes Gefühl widmete er ihm, wenn er vor Vergnügen gluckste, weil die Künstlerin Fröhlich sich tief gegen ihn verneigt und ihm die Öffnung ihrer Korsage freigebig zugewendet hatte. Dann stand Unrat eine kribbelnde Angst aus … Nun wehte sie, in einem Windstoß von Beifall, zur Tür herein, und Unrat durfte ihr einen Abendmantel umlegen und ihr den Hals ein wenig pudern. Dabei bekam er ihre Launen zu spüren. Je nachdem sie ihm gnädig die Schultern hinhielt oder ihm den Puder- quast gegen das Gesicht schlug, daß er nichts mehr sah, brach eine gute Stunde an für Unrat oder eine schlechte. Seine Blicke unter die weibliche Oberfläche führten tiefer 112
als nur bis dort, wo die Kleider aufhörten. Er bekam her- aus, daß sich mit den Stoffen und Pudern beinahe auch die Seele handhaben und riechen lasse; daß Puder und Stoffe schon nicht viel weniger seien als die Seele … Die Künstlerin Fröhlich zeigte sich ihm bald ungedul- dig und bald freundlich. Und es brachte ihn aus dem Ge- leise, wenn sie sich mit unvorhergesehenem Ruck auf ihre Freundlichkeit besann. Ihm war viel unbefangener zu- mute, wenn sie schalt … Sie besann sich aber von Zeit zu Zeit auf einen Plan in seiner Behandlung, dessen Durch- führung sie erheblich langweilte; auf Verhaltungsmaß- regeln, die sie empfangen hatte und denen sie sich fügte, aber ohne rechte Überzeugung. Dann ward sie auf einmal gesetzt, mit einem kleinen Stich ins Gefühlvolle und einer Miene, als säße sie zu seinen Füßen; der Miene, die man aufsetzen muß, wenn man bei einem ernsten Mann was machen will … Aber bald, und das erleichterte Unrat, ohne daß er sich klar ward weshalb – schob sie ihn wieder vom Stuhl fort, wie einen Packen Unterröcke. Einmal gab sie ihm sogar einen Backenstreich. Darauf zog sie hastig ihre Hand zurück, betrachtete sie, roch daran und versetzte starr: »Sie sind ja fettig.« Er errötete, hilflos. Und sie brach aus: »Er schminkt sich! Nu schlag einer lang hin! Darum hat er es so rasch herausgehabt. Er lernt es heimlich an sich selber! O Sie – Unrat!« Unrat machte ein entsetztes Gesicht. »Jawoll: Unrat!« Sie tanzte um ihn her. Und darauf lächelte er glücklich … Sie wußte seinen Namen, sie wußte ihn von Lohmann und den andern und wahrscheinlich schon die ganze Zeit: es schüttelte ihn hef- tig um, aber nicht peinlich, sondern zu Lustgefühl. Dies gab ihm einen kurzen Verdacht und eine schwache Scham ein, wieso es ihn glücklich machen könne, daß die Künst- lerin Fröhlich ihn bei seinem nichtswürdigen Namen 112
nenne. Aber, er war nun einmal glücklich. Außerdem durfte er nicht nachdenken, sondern sie schickte ihn nach Bier. Unrat bestellte es nicht nur; er ließ den Wirt, der die Gläser trug, durch den Saal vor sich hergehen; und da- durch, daß er den Transport des Getränkes von hinten deckte, ward verhindert, daß andere es unterwegs wegfin- gen. Einmal mutete der Besitzer des Blauen Engels es Un- rat zu, das Bier gleich selber mitzunehmen. Die befrem- dete Würde, womit Unrat ablehnte, hinderte den Mann, seinen Irrtum zu wiederholen. Bevor die Künstlerin Fröhlich trank, sagte sie: »Prost, Unrat.« Dann, innehaltend: »Komisch, was, daß ich Sie Unrat nenne? Ja, eigentlich ist es komisch. Wir haben doch gar nischt miteinander. Wie lange kennen wir uns nu schon? Was die Gewohnheit alles macht … Aber nee, ich will Ihnen was sagen: Kiepert und Frau, die können mir alle Tage gestohlen werden, denen wein ich keine Träne nach. Mit Ihnen is es was anderes …« Ihre Augen waren allmählich sinnlich und starr gewor- den. Sie fragte ganz vertieft: »Aber was soll es, was wollen Sie?«
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VIII Darüber dachte Unrat selber nie nach, und nur eines beunruhigte ihn, wenn er sich spät am Abend von der Künstlerin Fröhlich trennte: die Ungewißheit über Kiese- lack, von Ertzum und Lohmann. Die Furcht vor ihrem Treiben im verborgenen ließ ihm allmählich das Äußerste tunlich und alle zwischen den Menschen gesetzten Gren- zen überschreitbar erscheinen. Draußen im Gäßchen vor dem Blauen Engel hörte er einmal ihre Schritte hinter sich. Er machte den seinigen ganz leicht, damit es ihnen nicht auffiel, wenn er stehenblieb. Hinter der Ecke lauerte er und trat unversehens mit schiefem Kopf auf sie zu. Sie prallten zurück; aber Unrat sagte ermunternd und mit gif- tigem Blinzeln: »Nun denn, ich sehe, daß Sie sich – immer mal wieder – einen Kunstgenuß verschafft haben. Das ist ja denn auch recht von Ihnen. Kommen Sie, wir wollen das Gehörte einmal zusammen durchgehen, dabei werde ich dann Gelegenheit haben, mich darüber zu unterrich- ten, wie weit Sie es in diesen Gegenständen schon gebracht haben.« Da die drei stehenblieben und sich in diese erschrek- kende Vertraulichkeit mit dem Tyrannen sichtlich nicht hineinfanden, setzte er hinzu: »Mein hierdurch über den Stand Ihrer allgemeinen Bildung gewonnenes Urteil kann auf Ihr nächstes Zeugnis – wahrlich doch – einigen Einfluß ausüben.« Darauf nahm er Lohmann an seine Seite und ließ die beiden andern vorangehen. Lohmann kam sehr unlustig mit; aber Unrat begann ohne weiteres von des Sekunda- ners Lied vom runden Mond. 114
»Steht deine Liebe und du hörst sie weinen«, sagte er. »Die Liebe, als ein Abstraktum, möchte nun zwar nicht weinen können. Da Sie indessen ›die Liebe‹ als eine Perso- nifikation Ihres Seelenzustandes angesehen wissen wollen und nunmehr dies poetische Wesen aus Ihnen heraustritt, um an dem Ufer eines von Ihnen angenommenen Sees zu weinen, so mag’s denn sein. Hinzufügen aber muß der Lehrer, daß besagter Seelenzustand einem Sekundaner und noch dazu einem solchen mit ungewisser Aussicht, das Ziel der Klasse zu erreichen, keineswegs wohl an- steht.« Lohmann, erschreckt und erbittert, weil Unrat ein Stück von seiner Seele zwischen seinen dürren Fingern umwendete: »Das alles ist poetische Lizenz, Herr Profes- sor, von Anfang bis zu Ende. Ein ganz frivoles Machwerk, l’art pour l’art, wenn Sie den Ausdruck kennen. Hat mit Seele absolut nichts zu tun.« »Drum denn – mag’s denn sein«, wiederholte Unrat. »Das Verdienst an der gemütvollen Wirkung des Liedes gebührt mithin – traun fürwahr – der vortragenden Künst- lerin ganz allein.« Die Nennung der Künstlerin Fröhlich bewirkte in ihm einen Stolz, den er zurückdrängte, indem er den Atem an- hielt. Er lenkte gleich wieder von ihr ab. Er warf Lohmann seine romantische Dichtungsart vor und verlangte eifrige- res Studium des Homer von ihm. Lohmann behauptete, die wenigen, wirklich poetischen Stellen bei Homer seien längst überboten. Der sterbende Hund, bei Odysseus’ Heimkehr, befinde sich viel wirksamer in »La Joie de vivre«, von Zola. »Wenn Sie davon gehört haben, Herr Professor«, setzte er hinzu. Schließlich gerieten sie auf das Heinedenkmal, und Un- rat rief befehlshaberisch und mit Rachedrang gegen Loh- mann in die Nacht hinaus: »Nie! Niemals!« 115
Sie waren beim Stadttor; Unrat hätte nun gleich abbie- gen müssen. Statt dessen beschied er, zwischen den dun- keln Wiesen, Kieselack zu sich her. »Gehen Sie nun denn also mit Ihrem Freunde von Ertzum«, sagte er zu Lohmann. Im Augenblick warf sich all seine Besorgnis auf Kieselack. Die Familienverhältnisse dieses Schülers leisteten keine Bürgschaft für ihn. Sein Va- ter war ein des Nachts beschäftigter Hafenbeamter. Kiese- lack gab an, er teile sein Heim nur mit einer Großmutter. Unrat bedachte, daß durch solche Greisin Kieselacks nächtliche Bewegungsfreiheit gewiß wenig beschränkt werde. Und das Tor des Blauen Engels stand noch lange offen … Kieselack witterte, worauf es Unrat ankomme. Er ver- sicherte: »Großmutter haut mich.« Unter Unrats wachsamen Blicken, ein Stück vor ihm auf, ließ von Ertzum seine krampfig geballten Fäuste hän- gen und sagte dumpf zu Lohmann: »Er soll es nicht zu weit treiben, das rat ich ihm bloß. Alles hat ’n Ende!« »Hoffentlich noch nicht«, erwiderte Lohmann. »Ich finde die Geschichte immer fragwürdiger.« Ertzum, von neuem: »Ich will dir was gestehen, Loh- mann … Wir sind hier ziemlich allein, die nächste Laterne und der nächste Schutzmann kommen beide erst bei Witwe Bloß. Wenn ich mich umdreh und den Menschen niederschlage – ihr werdet mich ja hoffentlich nicht abhal- ten … Dies Weib – dies Weib in den Pfoten eines solchen Elenden, einer solchen Krabbe! Ihre Reinheit! … Kerl, du, es geschieht was!« Von Ertzums Heftigkeit stieg, weil er fühlte, daß er be- fremde. Aber das machte ihm nichts, und er schämte sich seiner Drohungen nicht mehr, denn heute wußte er sich fähig, sie alle zu vertreten. Lohmann zögerte. »Ein Geschehnis wäre es, wenn du ihn totschlügest, das 116
läßt sich allerdings nicht leugnen«, bemerkte er schließ- lich, müden Tonfalls. »Es hätte doch mal einer eine Geste gewagt – eine Tür aufgerissen – statt daß unsereiner immer nur dahintersteht, mit Angst, ertappt zu werden, wenn sie plötzlich von innen geöffnet würde.« Lohmann schwieg und wartete gespannt darauf, daß der andere ihm ins Gesicht sage, er liebe Frau Dora Breet- poot. Er spielte in seinem Sinn mit der Flinte, die für sol- chen Fall bereitlag … Aber sein Gedächtnis zerging unge- hört in der Luft. »Eine andere Frage«, und Lohmann verzog den Mund, »ist allerdings, ob du’s tust … Du tust ja auch nichts.« Von Ertzum machte eine wilde Bewegung rückwärts. Lohmann sah, denn die Laterne der Witwe Bloß war nicht mehr fern, ganz gut einen Schwindel durch seines Freun- des Blick streichen. Er packte ihn am Arm. »Keine Dummheiten, Ertzum!« Darauf stellte er sich ungläubig. »So was gibt’s doch nicht, das faßt man doch nicht ernstlich ins Auge. Sieh dir den Menschen an, bitte. Ist das einer, den man mordet? Das ist einer, über den man die Achseln zuckt. Hast du Lust, nach geschehener Tat mit dem alten Unrat zusammen in der Zeitung zu stehn? Wie kompromittierend!« Ertzums schwerblütige Wallung legte sich allmählich. Lohmann verachtete ihn ein wenig, weil er wieder unge- fährlich war. »Noch dazu«, bemerkte er, »hättest du etwas nicht ganz so Unsinniges tun können und hast es nicht getan. Hast du von Breetpoot Geld verlangt?« »N-ein.« »Siehst du. Du wolltest vor deinen Vormund hintreten, ihn deine Leidenschaft wissen lassen und deine Entschlos- senheit, ihr nachzugehn. Daß du ein Mann seist, und daß du lieber zweijährig dienen wolltest als zusehn, wie die 117
Geliebte an einen Schubjack verlorengehe. Du wolltest dich um ihretwillen befreien: das wolltest du!« Ertzum murmelte: »Was hätte ich davon gehabt.« »Wieso?« »Geld hätte er mir keins gegeben. Er hätte mir die Kan- dare fester angezogen. Ich könnte Rosa jetzt nicht mal mehr sehn.« Auch Lohmann hielt ein derartiges Verhalten des Vor- munds für wahrscheinlich. »Ich kann dir dreihundert Mark pumpen«, sagte er nachlässig. »Wenn du also mit ihr durchgehen willst –« Ertzum antwortete zwischen den Zähnen hervor: »Danke.« Lohmann schlug ein schwaches und böses Gelächter auf. »Aber du hast ganz recht. Bevor man eine zur Gräfin macht, besinnt man sich doch. Und anders tut sie es wohl nicht.« »Ich selbst würde es nicht anders gewollt haben«, sagte von Ertzum, gebrochen und schlicht. »Sie aber will nicht … Ach, das weißt du nicht. Niemand weiß, daß ich seit Sonntag ein verzweifelter Mensch bin. Es ist eigentlich zum Lachen, daß ihr mich behandelt, als war ich noch derselbe – und daß ich mich auch so benehme.« Sie schwiegen. Lohmann war sehr unzufrieden; er fühlte sich geschädigt, in seiner Leidenschaft um Dora Breetpoot verletzt, weil nun auch Ertzum dank dieser lä- cherlichen Fröhlich in eine tragische Rolle geriet. Ertzum und diese Fröhlich rückten ihm zu nahe. »Also?« fragte er stirnrunzelnd. »Ja. Sonntag, auf dem Ausflug nach dem Hünengrab, mit dir, Kieselack und – Rosa … Rosa ganz für mich zu haben, mal ausnahmsweise ohne Unrat: ich war so froh. Ich war meiner Sache überhaupt ganz sicher!« »Richtig. Du warst zu Anfang in vorzüglicher Laune. 118
Du hast das Hünengrab sogar nach Möglichkeit kaputtge- macht.« »Ach ja. Wenn ich daran denke – als ich das Hünengrab kaputtmachte, das war vorher, da war ich noch ein ande- rer Mensch … Nach dem Frühstück waren wir so gut wie allein im Wald, Rosa und ich; denn du und Kieselack, ihr schlieft. Ich faßte mir ein Herz: im letzten Moment hatte ich doch Angst gekriegt. Aber sie hatte mich ja immer gut behandelt, ganz anders als dich … nicht wahr? … und wartete sichtlich bloß auf meine Erklärung. Ich hatte mein bißchen Geld eingesteckt und glaubte bestimmt, wir wür- den gar nicht mehr nach der Stadt zurückkommen, son- dern gleich durch den Wald an die Station laufen.« Er verstummte. Lohmann mußte ihn anstoßen. »Sie liebt dich nicht – genügend?« »Sie sagte, sie kenne mich nicht hinlänglich. Hältst du das für einen falschen Vorwand? … Sie meinte auch, wir würden ja doch gefaßt; und dann käme sie wegen Verfüh- rung eines – Minderjährigen ins – Loch.« Lohmann kämpfte ingrimmig mit seiner Lachlust. »So viel kalte Überlegung«, sagte er mit Anstrengung, »das ist nicht das Wahre. Mindestens ist ihre Liebe nicht auf der Höhe der deinigen. Du solltest dir deinerseits überlegen, ob du von den auf sie gesetzten Gefühlswerten nicht lieber einige zurückziehst … Hast du nicht die Emp- findung, daß sie nach eurer Unterredung beim Hünengrab nicht mehr deine ganze Zukunft wert ist?« »Nein, die Empfindung hab ich nicht«, sagte von Ertzum ernst. »Dann ist nichts zu machen«, entschied Lohmann. Sie waren am Hause des Pastors Thelander. Ertzum kletterte den Pfeiler hinauf zum Balkon. Unrat stand zwi- schen Kieselack und Lohmann und sah ihm nach. Als Ertzum in sein Fenster gestiegen war, wandte Unrat sich nachdenklich zum Gehen. Er sagte sich, daß von Ertzum, 119
sobald es ihm einfiele, wieder hinabklettern könne … Aber er fürchtete von Ertzum wenig; er verachtete seine Einfalt. Er führte die beiden andern Schüler zur Stadt zurück und brachte Kieselack bis in den Machtbereich seiner Großmutter. Dann ging er mit Lohmann vor sein väterliches Haus, hörte das Tor sich schließen, sah droben Licht entstehen, wartete peinlich, bis es wieder verlosch, und ließ noch eine Weile verstreichen. Es folgte nichts mehr. Da fand Unrat endlich den Mut, sich schlafen zu legen.
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IX
Jeden Neugierigen scheuchte Unrat strenge fort von der Tür zur Künstlergarderobe. Die fremden Matrosen glaub- ten, er sei der »Heuerbaas«, der die Artisten gemietet habe. Wer in ihm nicht den Direktor der Truppe sah, hielt ihn für einen Vater. Dazwischen saßen die, die ihn kann- ten, und grinsten unsicher. Die ersten Abende hatten sie laut gehöhnt. Unrat sah dann überlegen und unberührt über sie hinweg. Er hatte hier zuviel vor ihnen voraus. Sie fühlten das bald. Sie ka- men sich bald selbst gedemütigt vor, sie, die für ihre Nik- kel dabeisaßen und glotzten – und Unrat machte, mit einer Miene des Einverständnisses, die Tür auf vor der Künstle- rin Fröhlich, zu der sie alle die größte Lust hatten. Wider ihren Willen faßten sie Achtung vor Unrat, und ihre Be- mühungen, ihn noch lächerlich zu finden, wurden täglich verlegener. Dafür rächten sie sich durch Wispern in den hinteren Kontoren der Großhandlungen. Die ersten Ge- rüchte über Unrats Lebenswandel fanden dort eine Tür geöffnet nach der Stadt. Die Stadt glaubte ihnen nicht so- gleich. Die Schüler des alten Unrat behaupteten heute, er habe seine Wirtschafterin ins Kabuff gesperrt, und mor- gen etwas anderes. Das war herkömmlich, die Stadt lächelte darüber. Ein junger Oberlehrer besuchte, unter dem Schutze des ältesten Professors, eines halbtauben Greises, den Blauen Engel und gewann Einblicke in die Wahrheit. Am näch- sten Morgen im Lehrerzimmer sprach der taube Professor zu Unrat einige beschwörende Worte über die Würde des 121
Erzieherstandes. Der junge Oberlehrer lächelte skep- tisch. Die andern Herren sahen weg; mehrere zuckten die Achseln. Unrat erschrak: er sah sich vor einem schlechthin unglaublichen Eingriff in seine Machtvoll- kommenheit. Sein Kinn klappte; er brachte hervor: »Das ist – traun fürwahr – nicht Ihre Sache.« Er wendete sich nochmals um. »Meine Würde – aufgemerkt nun also! – gehört mir selbst ganz allein.« Er schnappte mehrmals und schlich bebend davon. Auf halber Straße zog es ihn noch immer zurück. Es er- bitterte ihn tagelang, daß er es bei unklaren Worten gelas- sen hatte. Er hätte bekennen sollen, die Künstlerin Fröh- lich sei würdiger als alle Oberlehrer, schöner als der taube Professor und höher als der Direktor. Sie sei einzig und gehöre an Unrats Seite, hoch über der Menschheit, die gleich sehr frevle, ob sie sich an ihr vergreife oder ihn an- zweifle. Aber die Gänge dieser Meinungen waren noch zu we- nig ausgegraben, zu dumpf und zu tief, als daß Unrat die Leute hätte hineinführen können. Diese Meinungen reiz- ten ihn unterirdisch; er hatte in der Stille seines Zimmers Ausbrüche, in denen er knirschte und die Fäuste schüt- telte. Und am Sonntag ging er mit dem Artisten Kiepert zur politischen Wahl, an den Kohlmarkt, ins sozialdemo- kratische Hauptquartier. Es war die Ausführung eines jähen Entschlusses. Die Macht der Kaste, der Lohmann angehörte, war, so entdeckte er, eine zu brechende. Bis dahin hatte er allen Werbungen des Artisten sein höh- nisch überlegenes Lächeln entgegengehalten: das Lächeln des aufgeklärten Despoten, der Kirche, Säbel, Unwissen- heit und starre Sitte unterstützt und sich über seine Be- weggründe lieber nicht äußert. Heute war er auf einmal entschlossen, das alles über den Haufen werfen zu lassen, gemeinsame Sache zu machen mit dem Pöbel gegen die 122
dünkelhaften Oberen, den Pöbel in den Palast zu rufen und den Widerstand einiger in allgemeiner Anarchie zu begraben. Im Dunst des Volksgemüts, der schwer unter der Decke des Wahllokals hing, verfing sich Unrats Besin- nung; und er entbrannte in hektischer Zerstörungssucht. Er schlug mit geröteten Knöcheln zwischen die Biergläser und verlangte: »Vorwärts nun also! Ich bin nicht gewillt, dies alles noch länger zu dulden! …« Es war ein Rausch; tags darauf bereute er ihn. Überdies erfuhr er, alle die Stunden hindurch, die er beim Umsturz verbracht hatte, sei die Künstlerin Fröhlich aus der Stadt verschwunden gewesen. Augenblicklich dachte Unrat, angstgelähmt, an Lohmann. Lohmann fehlte seit heute in der Klasse! Welche Ver- ruchtheiten beging er inzwischen? Er verbrachte jeden Augenblick, den Unrat sich abwandte, bei der Künstlerin Fröhlich! Er war endgültig zu ihr entlaufen! Er stak in ihrem Zimmer! Unrat ward von dem Drang ergriffen, ihr Zimmer zu sehen, es zu untersuchen … Diese Tage verbrachte Unrat zitternd vor Argwohn. In der Schule wütete er mörderisch in den Laufbahnen von Sekundanern. In der Künstlergarderobe beschuldigte er die dicke Frau eines unheilvollen Einflusses auf die Künst- lerin Fröhlich. Die Frau lachte nachsichtig. Die Künstle- rin Fröhlich selber antwortete: »Wenn ich mit Ihre drei Schuljungens ’ne Landpartie sollt machen – lieber laß ich mich gleich auf ’n Kopf schlagen, als daß ich mich mit Ihre Schuljungens totmopse.« Er musterte sie entsetzt. Dann, im Drang, sie als unver- antwortlich zu behandeln, sie rein zu finden, stürzte er sich zurück auf die Frau. »Verantworten Sie sich! Was haben Sie mit der Ihnen anbefohlenen Künstlerin Fröhlich gemacht!« Die Frau sagte, ohne sich aufzuregen: »Sie werden jetzt überhaupt so komisch.« 123
Sie machte die Tür auf, kehrte sich nochmals um: »Von Ihnen wird doch keiner satt.« Und im Abgehen: »Und glücklich auch nicht.« Darauf errötete Unrat wolkig. Die Künstlerin Fröhlich lachte. »Er kommt nu mal nich drauf«, erklärte sie, obwohl sie mit ihm ganz allein war. Und weiter teilten sie sich nichts mit. Sooft aber die dicken Leute sich zeigten, schwoll Unrat von Streitsucht. Er behandelte sie schon längst mit Strenge. Je wichtiger sich die Künstlerin Fröhlich in sei- nem Bewußtsein ausbreitete, je stärker er seinen Schutz um sie legte, und je einsamer er sie der Menschheit entge- genstellte: desto weniger Platz war auf den Stühlen der Garderobe für die Röcke der dicken Frau und für Kieperts Trikots. Er verdachte ihnen den Beifall, den sie ernteten, und ihre lärmende gute Laune. Er verwies den Artisten nach einer turnerischen Produktion aus der Garderobe, weil er zu sehr schwitze und dies in Gegenwart einer Dame, wie der Künstlerin Fröhlich, sich nicht zieme. Kie- pert trollte sich gutmütig, indes er vermutete: »Sie is woll von Butter, daß die Gerüche in sie einziehn?« Seine Frau war leicht verletzt, aber sie lachte und stieß Unrat an. Er wischte sich den Ärmel ab. Darauf war sie wirklich beleidigt. Die Künstlerin Fröhlich kicherte dazu. Sie konnte un- möglich anders, als sich geschmeichelt fühlen. Die beiden Dicken ärgerten sie ohnehin mit ihrem immer erfolgrei- chen Flottenlied. Unrat behauptete wiederholt, eine Künstlerin sei nur sie. Er reizte, ein naiver Intrigant, ihre Eifersucht und zog sie näher an sich, dadurch, daß er sie dazu verführte, aller Welt Geringschätzung zu zeigen; da- durch, daß er sie nötigte, sich auf ihn zu stützen, als ihren unbedingten Ritter. Die allertiefste Verachtung verlangte er von ihr für den Saal voll Menschen, um deren Beifall sie 124
sich abarbeitete, und für jeden einzelnen Zuschauer, dem sie gefallen hatte. Er haßte die dicke Frau besonders des- halb, weil sie immer Nachrichten aus dem Saal mitbrachte von Eindrücken, die die Künstlerin Fröhlich darin hinter- lassen hatte. »Wie! Wäre es möglich!« rief er aus. »Jener Mensch also nun erkühnt sich, den Mund zu öffnen? Derselbe Meyer, der mit neunzehn Jahren das Ziel der Klasse noch nicht erreicht hatte und endlich sich genötigt sah, dreijährig zu dienen!« Die Künstlerin Fröhlich verbarg unter einem Lächeln ihre Verlegenheit darüber, daß ihr der untergeordnete Meyer nicht mißfiel. Sie wünschte sich, er möge ihr miß- fallen. Sie war gelehrig von Natur und empfänglich dafür, daß ein Mann vom geistigen Stande Unrats sie erziehe- rischer Eingriffe würdigte. Es geschah ihr zum erstenmal. Der dicken Frau, die noch ein Wort zugunsten Meyers versuchte, fuhr sie aufgebracht über den Mund. Andere Male kitzelte sie Unrat mit Blumen unter der Nase. »Die angefressene Rose ist von dem kleinen Dicken da gleich hinterm Klavier.« »Kindchen«, versetzte die Frau, »das ist ja der Zigarren- fritze vom Markt, ’n feiner Mann. Kiepert kauft bei ihm. ’n großartiges Geschäft.« »Was sagt Unrat nu?« fragte die Künstlerin Fröhlich. Unrat sagte, dieser Schüler sei einer der Schlimmsten gewesen, und als Geschäftsmann könne er auch nicht viel taugen; denn er stelle ihm keine Rechnung aus, ohne sei- nen Namen das erste Mal mit einem falschen Buchstaben anzufangen. Die Frau meinte, das machte nichts. Unrat log, der Mann gelte für geschäftlich unsicher. Die Künstle- rin Fröhlich, die ihn Feuer spritzen sah, drehte sich in den Hüften und roch an der angefressenen Rose. »Sie haben auch an all und jedem was auszusetzen«, be- 125
merkte die Frau. »Was wollen Sie da eigentlich mit, kön- nen Sie uns das woll erzählen?« Und da Unrat schwieg: »Sie selber stellen hier doch weiter nischt an.« »Nee, er kommt auf nischt«, und die Künstlerin Fröh- lich schlug sich aufs Knie, indes Unrat sich rosig be- wölkte. »Dann müssen Sie ihn alleine klugreden lassen«, ver- langte die Frau, »und sich mit die Dümmern begnügen, die sind auch was wert, und wenigstens das Einfachste fällt ihnen manchmal ein. Sie verstehn, Rosachen. Ich hab doch meine Gründe, nicht wahr, daß ich Ihnen so ’n Rat gebe, und ewig kann ich auch nich warten.« Darauf ging sie, um mit Kiepert das Flottenlied zu sin- gen. Die Künstlerin Fröhlich blieb in weinerlicher Erbit- terung zurück. »Herrgott, die piesackt einen, daß man blaue Flecke kriegt!« Sie hielt sich die Arme. »In der Tat«, setzte sie, sich fassend, hinzu, »die Person fällt mir greulich auf die Nerven.« Stehenbleibend, in Verzweiflung: »Daß Sie auch gar kein Mitleid kennen!« Und Unrat fühlte auf einmal die Last einer täglich und fast unbemerkt gewachsenen Schuld auf sich und gar keine Kraft, sie loszuwerden. Solange das Flottenlied stieg, bewegte sich die Künstlerin Fröhlich stöhnend durch die Garderobe. »Gleich hat’s geschnappt! … Ich hab doch immer ge- sagt, ich verekel es den Dicken noch mal. Hab ich das nich gesagt? Nu hat’s geschnappt.« Und kaum hatte das Ehepaar Kiepert den Gesang der deutschen Seehelden geendet, da schritt sie stürmisch hin- aus und kreischte in den noch ganz von Patriotismus er- schütterten Saal: 126
»Mein Mann, der is ’n Schiffskaptän Woll auf die deutsche Flott’, Un wenn er dun nach Hause kommt, Dann haut er mir die –« Erst waren alle starr; dann entrüsteten sie sich geräusch- voll; endlich ging das Vergnügen am Kontrast ihnen auf. Die Künstlerin Fröhlich war durchgedrungen mit ihrem Wagnis, sie kehrte frohlockend zurück. Die dicke Frau war diesmal ernstlich aufgebracht. »Wir zwei stellen uns auf’n Kopp, damit daß die Leute ’n Begriff vons Höhere kriegen. Un denn kommen Sie un verulken uns die heiligsten Güter. Wenn das nicht ’ne Ge- meinheit is!« Unrat leugnete dies, im Bunde mit der Künstlerin Fröh- lich. Er behauptete, jede Richtung sei in der Kunst berech- tigt; Kunst sei, was die großen Künstler machten; und das heiligste der Güter sei das Talent der Künstlerin Fröhlich. Sie ergänzte seine Ausführungen durch wenige Worte an die dicke Frau. »Sie können mir überhaupt –« Da trat Kiepert ein und schob vor sich her einen unter- setzten Mann mit einem rötlichen Haarband rund um das rotfleischige Gesicht. Der zog die Brauen in die Höhe und sagte: »Gottsdunner, Fräulein, Sie sind ja ’n dolle Deern, sind Sie ja. Huhu! Denn haut er mich auf ’n – Ich bin näm- lich auch ’n Kaptän, und wenn Sie was mit mich trinken wollen –« Schon griff Unrat ein. »Die Künstlerin Fröhlich trinkt – traun fürwahr – mit niemand. Da irren Sie, Mann. Überdies verkennen Sie sichtlich den privaten Charakter dieses Kab –, dieser Gar- derobe.« »Herr, Sie spaßen woll«, und der Kapitän zog die Brauen noch höher. »Mitnichten«, erklärte Unrat. »Vielmehr belehre ich Sie darüber, daß Sie hinausgehen müssen.« 127
Dem Ehepaar Kiepert ward es zuviel. »Herr Professor«, sagte der Artist, gekränkt und pol- ternd: »Wenn ich mir ’n Freund mit reinbring, mit dem ich eben Brüderschaft getrunken hab, das is woll meine Sache.« Seine Frau brach endlich los: »Ob ich mir Sie nu nich bald kaufe! Keinen gibt er hier was zu verdienen, un nischt als Stank macht er un grault uns die Leute weg. Rosa, gehn Sie mal mit ’n Kapitän!« Unrat war fahl, er zitterte. »Die Künstlerin Fröhlich«, rief er mit einer Stimme aus der Tiefe und schielte giftig vor Angst nach ihr hin, »ist nicht eine Sobeschaffene, daß es ihr anstehen würde, Ihr Bier zu trinken, Mann!« Sein Blick stach sie; sie seufzte. »Gehn Sie man wieder weg«, versetzte sie, »da is ja nischt zu machen.« Und Unrat im Triumph, plötzlich rot auf den Backen- knochen, und mit einem Sprung: »Hören Sie es, Mann? Sie sagt es Ihnen selbst. Die Künstlerin Fröhlich verweist Sie ins Exil. Gehorchen Sie! Vorwärts nun also!« Er hatte den Kapitän schon gepackt, sich in ihn einge- krallt, ihn zum Ausgang gezerrt. Der starke Mensch ließ den hektischen Ansturm ohne Widerstand über sich gehn. Er schüttelte sich nur, wie Unrat ihn losließ. Aber das war schon jenseits der Schwelle, und die Tür schloß sich heftig vor seinen erstaunten Brauen. Der Artist schlug gewaltig auf den Tisch. »Menschenskind, Sie sind woll –« »Und Sie, Mann –« Unrat kam pfauchend auf ihn zu. Kiepert bekam Furcht. »– merken Sie sich – denn also –, daß die Künstlerin Fröhlich unter meinem Schutze steht, und daß ich nicht gesonnen bin, sie beleidigen, noch auch das Heft mir ent- 128
winden zu lassen. Wiederholen Sie sich dies des öftern! Schreiben Sie es sich auf!« Der Artist brummte etwas, aber er sah bezähmt aus. Allmählich machte er sich davon. Die Künstlerin Fröhlich sah Unrat an und lachte laut auf; dann kam ein viel leiseres Lachen, spöttisch und zärtlich, und so, als dächte sie über ihn nach und über sich selbst: warum sie sich stolz fühlte auf ihn, den sie lächerlich fand. Die dicke Frau überwand ihr Übelwollen und legte Un- rat die Hand auf die Schulter. »Nu hören Sie mal zu«, sagte sie. Unrat wischte sich die Stirn, halb abgewendet und völ- lig besänftigt. Die Panik des Tyrannen, der einer Wider- setzlichkeit durch kopfloses Wüten begegnet, sie ließ ihn wieder einmal ziemlich erschöpft zurück. »Also da aus der Tür geht Kiepert, und da is die Rosa, und da sind Sie, und hier bin ich …« Mit eindringlicher Stimme hielt sie ihm die Wirklichkeit vor. »Und denn war da noch der Schiffskapitän, den Sie rausgesetzt haben. Der kommt nämlich aus Finnland und hat ’n glänzendes Geschäft gemacht, weil ihm nämlich sein Schiff untergegangen is, und es war versichert … Sie haben woll kein Schiff versichert? Nu, das muß ja auch nich sein. Dafür haben Sie andere Geistesgaben. Sie müs- sen sie bloß mal sehen lassen, das is allens, was ich sag … Da is also nu die Rosa. Sie verstehn? Der Kapitän hat Geld, is ’n ansehnlicher Mann und gefällt dem Mädchen.« Unrat blickte verstört auf die Künstlerin Fröhlich. »Is ja gar nich wahr«, machte sie. »Sie haben es doch selbst gesagt.« »Gott, kann sie lügen.« »Leugnen Sie doch mal, daß Ihnen der eine Schüler von Herrn Professor, der mit der schwarzen Locke auf die Au- gen, daß der Ihnen ’n ganz ernsten Antrag gemacht hat.« 129
Unrat fuhr wild auf. Die Künstlerin Fröhlich be- schwichtigte ihn. »Das is ja ’n böswilliger Irrtum. Heiraten will mich bloß der Rote, der aussieht wie ’n besoffener Mond, ’n Graf is er, aber was hab ich davon, ich mag ihn doch nich …« Sie lächelte Unrat zu, kindlich. »Na meinswegen hab ich gelogen«, sagte die Frau. »Aber das stimmt doch woll, daß Sie mir zweihundert- siebzig Mark schulden, was’chen, Rosachen? Sehn Sie, Herr Professor, man is sonst nich so, und ich beiß mir lieber ’n Finger ab, als daß ich das in Ihrer Gegenwart zur Sprache bring. Aber schließlich is man sich selbst der Nächste, is doch wahr. Und dafür, daß Sie hier alle andern rausschmeißen, Herr Professor, sein Sie man nich böse, dafür bieten Sie nich genug. Von ’s Geld will ich nich mal reden; aber so ’n junges Ding will auch Liebe und kann sie woll beanspruchen. Da merkt man bei Ihnen gar nichts von, Sie kommen einfach nich drauf. Ich weiß nicht mal, ob ich das peinlich finden soll oder lachhaft.« Die Künstlerin Fröhlich rief: »Wenn ich selber nischt sage, kann es Ihnen auch recht sein, Frau Kiepert.« Aber die dicke Frau wehrte ab; sie hatte das Bewußt- sein, für Moral und Sitte ein vernünftiges Wort eingelegt zu haben; und sie schritt erhobenen Hauptes hinaus. Die Künstlerin Fröhlich rückte die Schultern. »Sie is ja nur ungebildet, aber gutmütig. Na laß ihr. Wenn Sie nu man nich glauben, daß ich mit ihr unter einer Decke steck und Sie bloß rankriegen will.« Unrat sah vom Boden auf. Nein, diese Vermutung hatte ihm ferngelegen. »Überhaupt steck ich mit keinem unter einer Decke …« Sie lächelte von unten, spöttisch und schüchtern. »Nich mal mit Ihnen …« Nach einer Pause: »Das is doch wahr?« Sie mußte mehrmals fragen. Unrat merkte nichts von 130
der Brücke, die ihre Worte ihm bauten. Nur von der ent- standenen Stimmung fühlte er sich umfangen, daß ihm schwül ward. »Mag’s denn sein …«, versetzte er und streckte zit- ternde Hände aus nach der Künstlerin Fröhlich. Sie über- ließ ihm die ihrigen. Ihre kleinen Finger, ein wenig grau und fettig, schlüpften weich zwischen seine Knöchel. Ihr Haar, ihre Stoffblumen, ihr buntes Gesicht drehten sich ihm als ein farbiges Rad vor den Augen. Er kämpfte sich durch. »Sie sollen der Frau kein Geld schulden. Ich bin ent- schlossen –« Er schluckte hinunter. Es fiel ihm mit Schrecken ein, der Schüler Lohmann möchte ihm in seinem Entschluß zu- vorgekommen sein: der Schüler Lohmann, der in der Klasse fehlte und sich vielleicht im Zimmer der Künstlerin Fröhlich verborgen hielt. »Ich will Ihnen – traun fürwahr – Ihre Wohnung bezah- len.« »Davon reden wir mal gar nich«, erwiderte sie leise. »Das is bei uns Nebensache … Übrigens kost mein Zim- mer nich viel …« In Pausen: »Es is hier oben im Haus … Es is ganz schön … Wollen Sie es mal sehn?« Sie hielt die Lider gesenkt und sah bestürzt aus, wie man bei der Erklärung eines ernsten Mannes aussehen mußte. Und sie wunderte sich, weil sie gar keine Lachlust ver- spürte, und weil eine kleine feierliche Wallung ihr Herz aufhob. Sie erschloß einen ungewöhnlich dunklen Blick und sagte: »Na, nu gehn Sie man voraus. Die Affen im Saal brauchen es ja nich gleich zu merken.«
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X
Kieselack öffnete von außen die Saaltür, führte seine blaue Pfote an den Mund und stieß einen gedämpften Pfiff aus. Sofort kamen Ertzum und Lohmann heraus. »O Mensch, lauf!« rief Kieselack jedem zu und tanzte rückwärts, mit anfeuernden Gesten, vor ihnen her, bis ans Ende des Hausflurs und der Treppe zu. »Nu is es soweit!« »Was ist soweit?« fragte Lohmann gleichgültig – ob- wohl er es genau wußte und darauf gespannt war. »Sie sind schon oben«, raunte Kieselack, mit ganz ver- renktem Mund. Er zog sich die Schuhe aus und schlich die flache, gelbgeländerte Holztreppe hinan, die knarrte. Gleich auf dem ersten, niederen Absatz war die Tür: Kie- selack kannte sie. Er duckte sich vors Schlüsselloch. Nach einer Weile winkte er, stumm und leidenschaftlich, ohne sich vom Schlüsselloch zu trennen. Lohmann zuckte die Achseln und blieb am Fuß der Treppe stehn neben Ertzum, der mit offenem Mund hin- aufstarrte. »Nun, wie ist dir?« fragte Lohmann verständnisvoll. »Ich weiß bei Gott nicht mehr, was los ist«, sagte von Ertzum. »Du glaubst doch nicht, daß da was passiert? Dieser Kieselack ulkt natürlich.« »Natürlich«, bestätigte Lohmann mitleidig. Kieselack winkte immer wilder. Er kicherte lautlos in das Schlüsselloch hinein. »Sie muß sich doch sagen«, bemerkte Ertzum, »daß ich diesen Menschen niederschlagen kann.« 132
»Schon wieder? … Übrigens, das macht ihr die Sache vielleicht reizvoller.« Von Ertzum kam nicht mehr mit. Sein Begriff von Liebe war ein für allemal geprägt durch die Kuhmagd, die ihn vor drei Jahren daheim ins Gras geworfen hatte, nachdem er über einen starken Viehjungen Sieger geblieben war … Hier war nun ein hochschulteriger Schwächling; und Rosa Fröhlich glaubte doch wohl nicht, daß Ertzum ihn fürch- tete? »Sie glaubt doch wohl nicht, daß ich ihn fürchte?« fragte er Lohmann. »Fürchtest du ihn etwa nicht?« fragte Lohmann. »Das sollst du sehn!« Und Ertzum, aufgereckt, tat zwei Sätze, über sechs Stufen. Aber Kieselack, der das Schlüsselloch losgelassen hatte, vollführte auf Socken einen Triumphtanz. Plötzlich anhal- tend: »O Mensch!« wisperte er, und seine Augen funkel- ten in seinem käseblassen Gesicht. Ertzum war feuerrot und keuchte. Ihre Blicke maßen sich, kämpften. Ertzum verlangte mit seinem: dies sollte nicht wahr sein. Kieselack antwortete mit dem dünnen Hohn eines Lidwinkels, der ein bißchen zuckte … Und auf einmal sank Ertzum in ebensolche Blässe wie der andere, beugte sich über sich selbst, als habe er einen Stoß vor den Magen bekommen, und stöhnte auf vor Schmerz. Er tastete sich wankend die sechs Stufen wieder hinunter. Lohmann empfing ihn mit verschränkten Armen, den Mund in lebensfeindlichen Falten. Ertzum ließ sich wie einen Sack auf die unterste Stufe fallen und nahm den Kopf in die Hände. Nach einem Schweigen, dumpf, von unten: »Lohmann, faßt du das? Ein Weib, das ich so hochgestellt habe! Ich glaub noch immer, der Ekel, der Kieselack, macht faule Witze. Dann gnad ihm Gott! … Ein Weib, das so, so viel Seele hat!« »Auf Seele kommt es bei dem, was sie momentan be- treibt, nicht eben an. Sie handelt schlicht weiblich.« 133
Lohmann lächelte grausam. Er zog durch dieses Wort Dora Breetpoot in den Schmutz neben die andere – Dora Breetpoot, die erste der Frauen. Wie er das genoß! »Aber Kieselack ist wieder am Schlüsselloch …« Lohmann erhielt Ertzum, der den Kopf wegdrückte, auf dem laufenden. »Kieselack winkt schon ziemlich heftig … Dieser Unrat ist – Ertzum, wir gehen vielleicht weiter?« Er raffte seinen Freund vom Boden und zog ihn nach dem Haustor. Draußen wollte Ertzum nicht mehr vom Fleck; er lehnte sich, schwer und stumpf, an das Haus sei- ner Enttäuschungen. Lohmann redete eine Zeitlang ver- geblich. Er drohte mit Weggehn; da erschien Kieselack. »Ihr seid auch öde Kerls. Was kommt ihr denn nich rein. Unrat is schon drin mit seiner Braut. Ich hab im Saal Bescheid gesagt, wo sie herkommen, da sind sie mit ’n großen Juchhe empfangen. Du, so was lebt nicht mehr: sie sitzen im Kabuff und sind zärtlich. Ich lach mich tot! Komm, nu ziehn wir drei Mann hoch ins Kabuff.« »Du bist wohl –«, machte Lohmann. Aber Kieselack meinte seinen Vorschlag ernst. »Ihr habt doch hoffentlich keine Angst vor Unrat!« ver- langte er empört. »Unrat liegt ja viel zu sehr drin, was will er denn gegen uns noch machen. Wir können jetzt Schind- luder mit ihm treiben.« »Es reizt mich nicht. Unrat ist unter allem Schindlu- der«, erklärte Lohmann. Kieselack flehte stürmisch: »Sei doch kein Frosch. Du hast bloß Angst.« Ertzum entschied plötzlich: »Also los! Ins Kabuff!« Eine wilde Neugier hatte ihn gepackt. Er wollte diesem Weib gegenübertreten, das aus solcher Höhe gestürzt war! Er wollte von ganz oben einen Blick über sie und ihren elenden Verführer hinwerfen und sehen, ob sie den Blick aushielt. Lohmann erklärte: »Ihr seid geschmacklos.« Aber er ging mit. 134
In der Garderobe empfing sie Gläserklirren. Der Wirt ent- korkte gleich die zweite Flasche Sekt. Das Ehepaar Kie- pert neigte sich mit strahlenden Gesichtern über Unrat und die Künstlerin Fröhlich, die in eins verschmolzen hin- ter dem Tisch thronten. Die drei Schüler gingen zuerst einmal um den Tisch herum. Dann pflanzten sie sich vor Unrat und seine Dame hin und wünschten einen guten Abend. Nur die beiden Kiepert antworteten und schüttelten ihnen die Hände. Darauf wiederholte Ertzum allein und mit rauher Stimme seinen Gruß. Rosa Fröhlich blickte verwundert auf und sagte unbefangen, mit einem zwitschernden, girrenden Stimmchen, das er noch gar nicht kannte: »Na, da seid ihr ja. Sieh mal, Schatz, da sind sie. Setzt euch man hin un prost.« Damit war sie fertig, und ihr Blick ließ Ertzum fahren, so teilnahmslos, daß er ins Zittern geriet. Unrat hob gnädig die Hand auf. »Freilich nun wohl – setzen Sie sich und trinken Sie eins. Heute sind Sie meine Gäste.« Er schielte nach Lohmann, der schon Platz genommen hatte und sich eine Zigarette drehte … Lohmann, der Schlimmste, dessen Eleganz eine Demütigung war für die schlecht bezahlte Autorität; Lohmann, der die Unver- schämtheit hatte, Unrat nicht bei seinem Namen zu nen- nen; Lohmann, der kein mausgrauer, unterworfener Schüler und kein dummer Kerl war, sondern mit seinen unbeteiligten Manieren, seinem neugierigen Bedauern beim Zorn des Lehrers, den Tyrannen anzweifelte: – zu allen den Nebendingen, mit denen dieser Lohmann sich abgab, hatte er auch die Künstlerin Fröhlich hinzuzu- fügen versucht. Hierbei aber war er gescheitert an Unrats ehernem Willen. Er sollte nicht im Kabuff bei der Künst- lerin Fröhlich sitzen: Unrat hatte es geschworen. Er sollte der Künstlerin Fröhlich nicht teilhaftig werden: er war es 135
nicht geworden. Und nicht nur, daß nicht Lohmann im Kabuff bei der Künstlerin Fröhlich saß, saß vielmehr Un- rat darin … Dies Ergebnis ging hinaus über Unrats erstes Ziel. Er stutzte; und fühlte auf einmal eine heißere Genug- tuung. Er hatte Lohmann samt seinen zwei Genossen, er hatte den entlaufenen Schülern draußen im Saal, er hatte der Stadt von fünfzigtausend widerspenstigen Schülern die Künstlerin Fröhlich entzogen, und er war Alleinherr- scher im Kabuff! Sie fanden ihn förmlich verjüngt. Mit der Krawatte hinterm Ohr, einigen offenen Knöpfen und den verwirr- ten Resten seiner Frisur, hatte er etwas aus dem Geleise Geratenes, verkommen Sieghaftes, ungeschickt Trunke- nes. Rosa Fröhlich hatte etwas Aufgeweichtes, Müdwar- mes, Verkindlichtes, wie sie, an ihn geschmiegt, über den Tisch hing. Ihr Aussehen war eine Kränkung für jeden unbeteiligten Mann, weil es ein allzu entschiedener Triumph Unrats war. Die drei merkten dies ganz gut; Kieselack begann sogar an den Nägeln zu kauen. Kiepert, der sich weniger klar darüber war, ward mit seinem Unbehagen fertig dadurch, daß er allen geräuschvoll zutrank. Die dicke Frau ent- zückte sich fortwährend über Rosas glückliche Verände- rung und über das allgemeine Versöhnungsfest. »Und Ihre Schüler, Herr Professor, die freuen sich auch mit. Was die jungen Herren anhänglich sind an Sie, da is das Ende von weg.« »Immerhin denn wohl«, sagte Unrat. »Sie scheinen ja wirklich des Sinnes für das Schöne und Gute nicht völlig zu ermangeln.« Und er lächelte höhnisch. »Nun, Kieselack, immer mal wieder auch da? Es wun- dert mich nur, daß Sie der Möglichkeit, das Haus zu ver- lassen, nicht durch die Wachsamkeit Ihrer Großmutter 136
verlustig gegangen sind … Dieser Schüler besitzt nämlich eine Großmutter, welche keinen Anstand nimmt, ihn mit Prügeln zu versehen«, sagte er zu der Künstlerin Fröhlich, in der Absicht, Kieselack in seiner Manneswürde zu be- einträchtigen. Kieselack war sich aber bewußt, durch ganz andere Mittel als Manneswürde seinerzeit bei der Künstlerin Fröhlich das Ziel der Klasse erreicht zu haben. Er rieb sich das Gesäß und plärrte, während er heftig nach seiner Na- senspitze schielte: »Großmutter haut mich, wenn ich mein Thèmeheft nicht wiederfind. Es is mir so gewiß hier in ’n Kabuff untern Tisch gefallen.« Und erließ sich ganz plötzlich daruntergleiten, griff der Künstlerin Fröhlich an die Beine, raunte ihr in dem Ge- schrei, das die Kieperts unterhielten, aus der Tiefe seine Forderungen zu. Widrigenfalls verrate er alles an Unrat. »Kleine Rotztulpe«, sagte sie bloß hinab und stieß ihn mit dem Fuß beiseite. Zugleich redete Unrat den zweiten Schüler an. »Nun also, von Ertzum – immer mal wieder. Sie erwek- ken durch Ihren Gesichtsausdruck den Anschein, als be- währe sich Ihre Fassungsgabe hier ebenso mangelhaft wie in der Klasse. Sind nicht Sie es, der – aufgemerkt nun also! – der Künstlerin Fröhlich einen Heiratsantrag zu machen sich unterfangen hat? … Ihrem einfältigen Glotzen ent- nehme ich bereits die Antwort. Drum denn, von Ertzum, die Künstlerin Fröhlich hat Sie über die einem Schüler ge- setzten Grenzen belehrt. Ich brauche dem nichts hinzuzu- fügen. Stehen Sie einmal auf –« Ertzum stand gehorsam auf. Denn Rosa lachte; und ihr Lachen nahm ihm die letzte Kraft, sich zu empören, und den Rest seines Selbstbewußtseins; es lähmte ihn. »– und lassen Sie einmal sehen, ob Ihr vertrauter Ver- kehr im Blauen Engel Sie, der Sie bekanntlich zu den Schlechtesten gehören, etwa dahin bringt, daß Sie die von 137
der Schule an Sie gestellten Anforderungen nicht nur nicht befriedigen, sondern dieselben leichten Herzens in den Wind schlagen. Sagen Sie die für morgen aufgegebe- nen Gesangbuchverse her!« Ertzums Augen irrten aufgerissen durchs Zimmer. Seine Stirn war naß. Er fühlte sich im Joch, senkte den Kopf, zog an: »Sollt ich meinem Gott nicht singen? Sollt ich ihm nicht fröhlich sein? Denn ich seh in allen Dingen, Wie so gut er’s mit mir mein’.« Hier begann Rosa zu kreischen. Auch Frau Kiepert gluckste, gutmütig. Rosa aber kreischte, mit der Absicht, Ertzum zu beleidigen; und sie kreischte weich, aus Zärt- lichkeit für Unrat, dessen Arm sie drückte, und um ihm zu schmeicheln, ihn zu belohnen für seine Herrschaft über den vierschrötigen, roten Menschen, der in unge- lenkem und untertänigem Ton seine frommen Reime her- sagte. Von Ertzum versetzte noch: »Ist doch nichts als lauter Lieben, Das sein treues Herze hegt …« Da ward ihm das Betragen des Artisten zu toll. Kiepert hatte die Situation erst eben zu schmecken begonnen. Jetzt aber brüllte er Ertzum ins Gesicht und schlug sich dabei aufs Knie. »Nee Sie, aber Sie! Was reden Sie denn? Ihnen is woll schlecht geworden?« Er zwinkerte Unrat zu, gab zu verstehen, daß er den Grafen Ertzum, der im Hinterzimmer des Blauen Engels Gesangbuchverse hersagte, zu schätzen wisse und sich diesem Witz auf Adel und Religion mit Überzeugung an- schließe. Er öffnete die Tür und tat, als bestellte er bei 138
dem Klavierspieler einen Choral. Schließlich stimmte er selbst ihn an … Doch Ertzum hörte auf. Zwar hätte er gar nicht weitergewußt. Davon aber abge- sehen, würgte ihn plötzlich eine maßlose Wut auf den dik- ken, lachenden, singenden Mann. Es verschwamm ihm vor den Augen. Er meinte nicht mehr leben zu können, außer mit seinen beiden Fäusten an diesem Menschen, mit seinen beiden Knien auf Kieperts Brust. Er zuckte ein paarmal auf seinem Platze; er hob die geballten Hände vor die Schultern … Er stürzte los. Der Athlet war atemlos vom Lachen und auf nichts ge- faßt: das setzte ihn in Nachteil gegen den tiefernsten Ertzum, der aufblühte, während er seinen Muskelhunger stillte. Sie rollten von einem Winkel in den andern. Ertzum vernahm inmitten des Gepolters einen leisen Aus- ruf Rosas. Er wußte, sie sah auf ihn; und darum atmete er mächtiger; preßte die Gliedmaßen seines Gegners härter zwischen den seinigen; fühlte sich glücklich erlöst und an seinem richtigen Platz, da er unter ihren Augen kämpfen konnte, wie damals mit dem Viehjungen um die Kuh- magd. Inzwischen hatte Unrat, ohne dem Ringkampf ein mehr als flüchtiges Interesse zuzugestehen, sich an Lohmann gewandt. »Was ist denn nun aber mit Ihnen, Lohmann? Da sitzen Sie und rauchen – immer mal wieder – eine Zigarette; und heute morgen in der Klasse haben Sie gefehlt.« »Ich war nicht disponiert, Herr Professor.« »Aber zum Besuch des Blauen Engels sind Sie – traun fürwahr – stets disponiert.« »Das ist etwas anderes, Herr Professor. Ich hatte heute morgen Migräne. Der Arzt hat mir geistige Anstrengung verboten und mir Zerstreuung verordnet.« »So. Sei dem, wie ihm wolle …« Unrat schnappte erst ein paarmal. Dann hatte er’s. 139
»Da sitzen Sie und rauchen«, wiederholte er. »Schickt sich das denn nun für den Schüler in Gegenwart des Leh- rers?« Und da Lohmann nichts tat, als ihn hinter halb gesenk- ten Lidern hervor mit müder Neugier ansehn, brauste Un- rat auf: »Werfen Sie die Zigarette weg!« schrie er dumpf. Lohmann ließ eine Weile verstreichen. Unterdessen taumelten Kiepert und Ertzum gegen den Tisch; Unrat mußte sich selbst, die Künstlerin Fröhlich und mehrere Gläser und Flaschen in Sicherheit bringen. Als dies geschehen war: »Wie denn! Vorwärts nun also!« »Die Zigarette«, versetzte Lohmann, »gehört zur Situa- tion. Die Situation ist ungewöhnlich – für uns beide, Herr Professor.« Unrat, erschrocken über den Widerstand, mit unterir- dischem Beben: »Die Zigarette wegwerfen, sage ich!« »Bedaure«, sagte Lohmann. »Sie sollten es wagen! … Bursche! …« Lohmann machte nur noch eine vornehm ablehnende Bewegung mit seiner spitzen Hand. Da fuhr Unrat, gepackt vom Schwindel des bedrohten Tyrannen, vom Stuhl auf. »Sie werfen sie weg, oder ich hemme Sie in Ihrer Lauf- bahn! Ich zerschmettere Sie! Ich bin nicht gesonnen –!« Lohmann hob die Schultern. »Wie bedauerlich, Herr Professor. Das alles ist ja vor- über. Daß Sie die Umstände so mißverstehen können.« Unrat pfauchte. Er hatte die Augen einer wütenden Katze. Sein Hals war vorgestreckt mit höckrigen Sehnen; vor seinen Zahnlücken erschien Geifer; sein Zeigefinger drang, am Ende des im Winkel ausgelegten Armes, mit gelbem Nagel auf den Feind ein. Die Künstlerin Fröhlich klammerte sich an ihn, aus der Verdauung der gehabten Genüsse jäh aufgeschreckt, noch 140
etwas wirklichkeitsfremd, blind loskeifend gegen Loh- mann. »Was wollen Sie denn? Beruhigen Sie ihn lieber«, meinte Lohmann. Da fielen Ertzum und Kiepert, über zwei krachende Stühle hinweg, dem umschlungenen Paar in den Rücken und warfen es mit den Nasen auf den Tisch. Aus dem ziemlich stillen Winkel hinter Rosa Fröhlichs Toilet- tentisch ertönte Kieselacks heller Jubel. Er tröstete sich ungestört mit Frau Kiepert. Als Unrat und seine Freundin sich wieder aufgerafft hatten, schalten sie weiter. »Sie kommen bei mir immer zuletzt«, schrie sie Loh- mann zu. »Ich erinnere mich, gnädiges Fräulein, daß Sie mir das bereits verheißen haben, und ich sehe dem gern entge- gen.« Und er bekam, da sie verzottelt, halb aufgeknöpft, mit zerlaufener Schminke, wüst und heiser sich vor ihm abar- beitete, plötzlich eine ungestüme Lust auf sie: wieder diese Lust, seine grausame Liebe zu demütigen durch die düstern Liebkosungen des Lasters! Das ging aber gleich vorbei. Unrat, in seinem Angst- krampf, ließ es sich nämlich einfallen zu drohen: »Wenn Sie nicht augenblicklich die Zigarette fortwerfen, begleite ich Sie stehenden Fußes zu Ihrem Vater!« Nun enthielt das Lohmannsche Haus an diesem Abend einige Gäste, darunter auch Konsul Breetpoot mit seiner Frau. Lohmann stellte sich vor, wie Unrat in den Salon einbräche … Er konnte Dora Breetpoot um so weniger diesen Auftritt zumuten, als er seit gestern wußte, daß sie in andern Umständen sei. Seine Mutter hatte es herausge- bracht … Und das war auch der Grund, weshalb Loh- mann heute in der Klasse gefehlt hatte. Den Kopf auf den Fäusten, in den Versgestalt annehmenden Martern des Ge- 141
dankens an dieses Kind, das sie von Assessor Knust, viel- leicht noch von Leutnant von Gierschke, möglichenfalls aber auch von Konsul Breetpoot hatte, saß Lohmann nun tagelang in seinem verschlossenen Zimmer … »Kommen Sie mit!« rief Unrat. »Ich befehle Ihnen, Se- kundaner Lohmann, mit mir zu kommen!« Lohmann ließ ungeduldig die Zigarette fallen. Darauf sank Unrat befriedigt auf seinen Sitz. »Sehen Sie! Freilich nun wohl. So ziemt es sich für einen Schüler, der sich um den Lehrer wohlverdient machen möchte … Sie, Lohmann, entschuldigt der Lehrer, denn Sie sind – immer mal wieder – als mente captus zu bezeich- nen. Haben Sie doch eine unglückliche Liebe.« Lohmann ließ die Arme sinken. Er war geisterblaß, und seine Augen glühten so schwarz, daß die Künstlerin Fröh- lich ihn mit Bewunderung anstarrte. »Haben Sie etwa keine?« fragte Unrat, giftig frohlok- kend. »Sie machen Verse – ohne darum doch –« »– das Ziel der Klasse zu erreichen?« ergänzte zaghaft die Künstlerin Fröhlich, denn sie kannte diese Wendung durch Kieselack. Lohmann sagte sich: ›Der Elende weiß es. Jetzt drehe ich mich um, gehe nach Haus, ersteige den Speicher, richte die Flinte gegen mein Herz. Und drunten am Klavier sitzt Dora. Das kleine Lied, das Dora singt, flattert herauf, und sein Flügelstaub schimmert bis in meinen Tod …‹ Die Künstlerin Fröhlich äußerte: »Wissen Sie woll noch, wie Sie mich angedichtet haben?« Sie fragte sehr sanft, mit einem Seufzer. Sie wünschte sich mehr von ihm. Sie hatte sich eigentlich immer viel mehr von ihm gewünscht, erinnerte sie sich jetzt; und fand ihn grausam; und auch ziemlich dumm. »Und kommst du erst mal in die Wochen … Na, wer is nu in den Wochen?« Auch das. Sie wußten auch das. Lohmann wandte sich 142
ab und ging zur Tür, verurteilt. Wie er den Griff in der Hand hatte, hörte er Unrat sagen: »Freilich nun wohl. Sie haben eine unglückliche Liebe zu der Künstlerin Fröhlich, welche sich jedoch entschlossen hat, Ihrer zu entraten, und darum auch dem in jenem schamlosen Gedicht von Ihnen geäußerten Wunsche nicht entsprochen hat. Sie sit- zen nun nicht bei der Künstlerin Fröhlich im Kabuff, Lohmann. Sie sind der Künstlerin Fröhlich nicht teilhaftig geworden, Lohmann. Sie können nun zu Ihren Penaten zurückkehren, Lohmann.« Mit einem Ruck drehte Lohmann sich wieder um. Wei- ter war’s nichts? »Jawoll«, sagte auch Rosa. »Es stimmt, und jedes Wort sitzt.« Der alte Dummkopf floß über von greisenhafter Eitel- keit. Das andere Geschöpf war ein unappetitliches Mädel, nichts weiter. Beide ganz harmlos, beide ganz unwissend. Die Tragik seiner vergangenen Minuten, Lohmann hatte sie irrtümlich erlebt und ohne Recht. Er ging nicht mehr, sich zu erschießen. Er fand sich enttäuscht, beinahe al- bern, durch die Komödie der Dinge wieder einmal ent- würdigt, noch immer im Leben vor, und in diesem Ka- buff. »So, von Ertzum«, versetzte Unrat. »Nun räumen auch Sie – immer mal wieder – das Feld. Und weil Sie sich er- dreistet haben, in Anwesenheit des Lehrers eine Prügelei vom Zaun zu brechen, schreiben Sie die Gesangbuch- verse, die Sie nicht gekonnt haben, sechsmal ab.« Ertzum blieb stehen, ernüchtert, belastet mit der Er- kenntnis, daß die soeben genossene Muskelfreude nur Selbsttäuschung gewesen sei, daß sein Sieg über den Ath- leten ihm nichts genützt habe, daß hier nur ein Sieger sei: Unrat; und sah schreckensvoll in das gleichgültige Gesicht der Künstlerin Fröhlich. 143
»Fort mit Ihnen!« rief Unrat. Kieselack wollte hinterher. »Wohin? Ohne vom Lehrer entlassen zu sein! … Sie werden mir vierzig Vergilverse memorieren!« »Warum?« machte Kieselack, empörerisch. »Weil der Lehrer es so will!« Kieselack überflog ihn mit einem Senkblick; und verlor alle Lust, es mit ihm aufzunehmen. Er machte sich still davon. Die beiden andern waren ein Stück voraus. Ertzum, in dem Bedürfnis, Rosa samt ihrem Galan zu verachten und zu verwerfen: »Das Mädchen muß man also als verloren ansehn. Ich gewöhne mich schon an den Gedanken. Ich versichere dich, Lohmann, ich sterbe nicht dran … Aber was sagst du zu diesem Unrat? Ist dir so eine Schamlosigkeit schon mal vorgekommen?« Lohmann lächelte bitter. Er verstand: von Ertzum war geschlagen und zog sich klagend auf die angestammte Mo- ral zurück: auf die ewige Zuflucht der Geschlagenen. Lohmann verschmähte sie, so schlecht er heute wegge- kommen war, auch er. Er sagte: »Es war verkehrt von uns, dahinein zu gehn und zu glauben, wir könnten ihn in Verlegenheit setzen. Wir mußten bedenken, er war darüber hinaus. Zu Mitwis- sern hat er uns längst. Zusammengeplatzt sind wir hier schon oft mit ihm. Er hat uns schon nach Haus ge- schleppt, damit wir ihm bei der Fröhlich nicht gefährlich würden. Hielt er es übrigens für ausgeschlossen, daß ihm inzwischen irgendein anderer bei ihr gefährlich ward?« Ertzum stöhnte verwundert auf. »Denn es wäre ungesund für dich, Ertzum, wenn man dir hierüber noch Illusionen ließe. Sei ein Mann!« Ertzum versicherte mit schlecht gefesteter Stimme, Rosa sei ihm gleichgültig, er frage nicht, ob sie rein sei. Nur Unrat empöre ihn in seinem sittlichen Bewußtsein. 144
»Mich nicht«, gab Lohmann an. »Dieser Unrat fängt an, mich zu beschäftigen: er ist eigentlich eine interessante Ausnahme. Bedenke, unter welchen Umständen er han- delt, was er alles gegen sich auf die Beine bringt. Dazu muß man ein Selbstbewußtsein haben, scheint mir – ich für meine Person brächte so eines nicht auf. Es muß in einem ein Stück Anarchist stecken …« Dies alles reichte weiter, als von Ertzum reichte. Er brummte etwas. »Wie?« machte Lohmann. »Nun ja. Die Szene im Ka- buff war widerlich. Aber sie hatte etwas widerlich Groß- artiges. Oder, wenn du lieber willst, etwas großartig Wi- derliches. Aber großartig war dabei.« Ertzum hielt sich nicht mehr. »Lohmann, war sie wirklich nicht rein?« »Nun, jetzt ist sie jedenfalls bedeckt mit Unrat. Da siehst du auch von ihrem Vorleben besser ab.« »Ich hielt sie für rein. Mir ist überhaupt wie im Traum. Du wirst lachen, Lohmann, aber ich könnte mich erschie- ßen.« »Wenn du es wünschest, lache ich.« »Wie soll ich darüber hinwegkommen. Hat schon mal einer das erlebt? Sie stand mir so hoch, ich habe eigentlich, wenn ich es genau bedenke, nie gehofft, sie zu erlangen. Du erinnerst, in welcher Aufregung ich neulich war, als ich das Hünengrab kaputtmachte. Übermut war das nicht; ich will nur ganz aufrichtig sein. Es war bloße Angst vor der Entscheidung. Ich hätte mich, Gott weiß es, ge- wundert, wenn sie mit mir gekommen wäre. Wie konnte ich mir das einbilden: sie hat ja viel zuviel Seele für mich … Und als dann der Würfel gefallen war –« Lohmann musterte ihn von der Seite. Ertzum mußte in einem unerhörten Zustand sein, um von gefallenen Wür- feln zu sprechen. »– da war ich allerdings ein verzweifelter Mensch, das 145
darf ich wohl sagen. Aber das war ’ne Wohltat, verglichen mit heute. Verstehst du denn überhaupt, Lohmann, wie tief sie jetzt gefallen ist?« »Bis zu Unrat!« »Denke nur! Da gehört sie doch nicht hin. Sie ist doch rein. Oder aber sie wäre das Letzte der Weiber.« Lohmann gab es auf. Ertzum war nun einmal viel daran gelegen, daß die Rosa Fröhlich auf einem unzugänglichen Wolkenthron sitze. Offenbar brauchte er es so. Er machte seinem dümmeren Selbst weis, daß er sich auf die Rosa Fröhlich niemals wirkliche Hoffnung angemaßt habe. Zweck des Selbstbetrugs war, daß um so weniger Unrat aus seinem Pfuhl heraus nach ihr gelangt haben könne. Die Lebenserfahrung, die das Gesicht einer Kuhmagd trug, blieb dahinten; und ein hochgespannter Träumer entstieg dem roten Landjunker: denn es brachte Vorteil für Ertzums Eigenliebe … So war der Mensch, meinte Lohmann. »Und wenn ich mich nun frage, warum«, sagte Ertzum noch, »da find ich wirklich keine Erklärung. Ich hab ihr alles geboten, was ihr ein Mensch nur bieten kann … Daß sie mich liebte, das konnte ich, ehrlich gesagt, allerdings kaum hoffen. Sie hat mich ja nicht besser behandelt als dich! Warum wohl auch grade mich! … Aber statt dessen Unrat? Glaubst du das, Mensch? Unrat?!« »Die Frauen sind unfaßbar«, erklärte Lohmann und versank in Sinnen. »Ich kann es nicht glauben. Ich glaube, er hat ihr schwindelhafte Vorspielungen gemacht; er wird sie noch ins Unglück bringen.« Und Ertzum dachte hinzu: ›Vielleicht … dann …‹ Da überholte Kieselack die beiden. Er schlich schon seit einer Weile hinter ihnen her. Er verkündete gellend: »So blau. Unrat hat zehn Mark geblecht, ich hab es ja durchs Schlüsselloch gesehn.« 146
»Du lügst – Schwein!« brüllte Ertzum und brach los gegen den Kleinen. Aber Kieselack hatte dies vorausgesehen und war im Nu über alle Berge.
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XI
Kieselack hatte gelogen. Unrat war weit entfernt, der Künstlerin Fröhlich Geld anzubieten: nicht aus Feinge- fühl; auch nicht aus Geiz; sondern – sie durchschaute dies – weil er nicht darauf kam. Es kostete sie viele Andeutun- gen, bis er sich wieder der Wohnung erinnerte, die er ihr hatte nehmen wollen. Als er dann davon sprach, sie in ein möbliertes Zimmer zu stecken, verlor sie die Geduld und verlangte bündig eine eigene Einrichtung. Unrat war tief erstaunt. »Da du jedoch mit dem Ehepaare Kiepert zusammen zu wohnen pflegst …« Sein Geist war auf Erhaltung gerichtet; in so durchgrei- fende Umwälzungen mußte er sich erst hineindenken. Er arbeitete angestrengt. »Wenn aber – aufgemerkt nun also! – das Ehepaar Kie- pert die Stadt verläßt?« »Un wenn ich nich mitwill?« ergänzte sie. »Was tu ich denn woll?« Er war ratlos. »Nu? Unratchen? Nu?« Sie hüpfte ihm vor den Füßen umher; und triumphie- rend: »Denn bleib ich hier!« Ein Glänzen brach aus seinem Gesicht. Solch eine Neu- igkeit wäre ihm niemals eingefallen. »Dann bleibst du – hier«, wiederholte er mehrmals, um sich daran zu gewöh- nen. »Das ist denn freilich recht brav«, setzte er anerkennend hinzu. Er war beglückt; und trotzdem bedurfte sie einige Tage später wieder ihrer ganzen Kunst des Einflüsterns, 148
bis er es heraus hatte, daß er sie nicht mehr im Blauen Engel essen lassen, sondern ihr die Mahlzeiten in einem guten Hotel bezahlen sollte. Als er es heraus hatte, wollte er sogar mit ihr zusammen essen. Dies lehnte sie ab, und er war enttäuscht. Dafür erlaubte sie ihm, ihr im Schwedischen Hof nicht nur die Mahlzeiten, sondern auch ein Zimmer zu bezahlen, bis ihre eigene Wohnung fertiggestellt sein würde. Auf jede Möglichkeit, sie aus ihrer Umgebung noch weiter heraus und fester an sich zu ziehen, der Weh die Künstlerin Fröhlich entgegenzuhalten, stürzte er sich mit knabenhaftem Eifer. Nur erkannt haben mußte er die Möglichkeit. Er trieb den Tapezierer zur Eile, handele es sich doch um die Künstlerin Fröhlich. Er drohte dem Mö- belhändler mit der Unzufriedenheit der Künstlerin Fröh- lich, erinnerte in dem Porzellan- und dem Wäschegeschäft an den verwöhnten Geschmack der Künstlerin Fröhlich. Die Stadt gehörte der Künstlerin Fröhlich; überall nahm Unrat ihr, was für sie paßte, überall ließ er, unberührt von mißbilligenden Blicken, ihren Namen ertönen. Immer war er, beladen mit Paketen, auf dem Wege von ihr, auf dem Wege zu ihr. Immer stak er voller Dinge von drängen- der Wichtigkeit, die für die Künstlerin Fröhlich grade so wichtig und gemeinsam mit ihr zu bedenken und zu bere- den waren. Auf seine grauen Wangen kamen, von beglük- kender Tätigkeit, jetzt meistens rote Flecken. Er schlief des Nachts gut und lebte gefüllte Tage. Sein einziger Kummer war, daß sie niemals mit ihm aus- ging. Er hätte sie in der Stadt umherführen wollen, sie mit ihrem Reich bekannt machen, sie den Untertanen vorstel- len, sie gegen Aufrührer verteidigen: denn Unrat fürchtete sich in dieser Zeit vor keiner Erhebung, er forderte sie her- aus. Sie aber hatte grade eine Probe, oder sie war müde oder unwohl, oder die dicke Frau hatte sie geärgert. Dar- aufhin machte er einmal der Kiepert eine Szene; wobei 149
sich herausstellte, daß sie die Künstlerin Fröhlich den gan- zen Tag noch nicht gesehen hatte. Unrat begriff das nicht. Sie lächelte vielsagend. Ratlos kehrte er zurück zur Künst- lerin Fröhlich, und sie mußte ihn wieder hinhalten. Ihr wahrer Beweggrund war einfach, daß sie es für ver- früht erachtete, sich mit ihm zu zeigen. Wenn man sie öf- fentlich an seiner Seite erblickte, würde man, das sah sie voraus, ihn gegen sie einzunehmen versuchen. Sie war sich noch keines so großen Einflusses auf ihn bewußt, um all die Geschichten zuschanden zu machen, die er über sie zu hören bekommen konnte. Sie hielt sich wahrhaftig nicht für eine unanständige Person; aber tatsächlich hatte doch jede allerlei Sachen hinter sich – sie waren ja eigentlich nicht der Rede wert, aber ein Mann, der es ernst meinte, durfte sie nun mal nicht wissen. Wenn die Männer ver- nünftiger gewesen wären, wieviel leichter hätte man es ge- habt. Man hätte seinen kleinen Unrat unters Kinn gefaßt und ihm einfach erzählt: So und so. Nun aber hieß es schwindeln. Und das Schlimmste war, daß er hierbei auf dumme Gedanken verfallen und sich einbilden konnte, sie suche nur allein zu Hause zu bleiben, um sich ohne ihn zu amüsieren. Und das stimmte weiß Gott nicht. Davon hatte sie doch genug und war froh, ein wenig Ruhe zu haben, zusammen mit ihrem komischen alten Unrat, der sich so viel mit ihr befaßte wie sonst noch nie im Leben einer, und der wirklich – sie betrachtete ihn manchmal lange und sinnend – ein feiner Kerl war. Der Verdacht, den sie fürchtete, war Unrat fremd; er kam nicht darauf. Andererseits hätte sie dem Gerede der Leute ruhig an seiner Seite trotzen dürfen. Er war stärker, als sie meinte. Es traten an ihn Anfechtungen heran, die er überwand, ohne ihr auch nur davon zu reden. Das meiste geschah in der Schule. 150
Hier wußte, dank Kieselack, jedermann Bescheid über Unrats außeramtlichen Lebenswandel. Einige jüngere Oberlehrer, noch im Zweifel, welche Gesinnung ihre Kar- riere mehr befördern könne, wichen ihm aus, um ihn nicht grüßen zu müssen. Der junge Oberlehrer Richter, der seine Augen zu einem Mädchen aus reicher, Oberlehrern sonst unzugänglicher Familie erhob, grüßte ihn mit mo- kantem Lächeln. Andere aber verleugneten ausdrücklich jede Gemeinschaft. Einer sprach vor Unrats eigener Klasse von »sittlichem Un-, vielmehr Kot«, von dem die Schüler sich nicht ergreifen lassen sollten. Es war derselbe Oberlehrer Hübbenett, der sich seinerzeit über Unrats Sohn und seine sittlichen Verfehlungen abfällig geäußert hatte: auch damals vor des Vaters Klasse. Wenn jetzt Unrat den Schulhof betrat, schrie, während der beaufsichtigende Lehrer angewidert wegsah, alles drauflos: »Oho! Hier riecht es nach sittlichem Unrat!« Der alte Professor näherte sich, der Lärm schwoll, un- ter Unrats giftigem Schielen, allmählich ab; dann stellte an seinem Wege sich Kieselack auf und versetzte mit einem Senkblick, langsam und nachdrücklich: »Vielmehr Kot.« Und Unrat schlich zusammenzuckend weiter; er konnte es Kieselack nicht beweisen. Er konnte ihm nichts mehr beweisen, ihn, das fühlte er wohl, niemals wieder fassen: so wenig wie von Ertzum und Lohmann. Er und seine drei Schüler lebten hier auf Grund gegenseitiger Duldung. So besaß Unrat keine Macht dagegen, daß Lohmann sich am Unterricht über- haupt nicht mehr beteiligte und auf einen Aufruf mit sei- nem schauspielerischen Tonfall entgegnete, er sei beschäf- tigt. Unrat vermochte wenig gegen von Ertzum, der, er- bittert über sein langes fruchtloses Dahocken, seinem Nachbarn das Extemporale aus den Händen riß, um es abzuschreiben. Unrat mußte zusehn, wie Kieselack bei al- len Fragen seine Mitschüler durch Dazwischenwerfen un- 151
sinniger Antworten verwirrte; wie er laute Reden führte, ohne Veranlassung durch die Klasse spazierenging, ja, mitten in der Stunde eine Prügelei anzettelte. Ließ Unrat sich einmal von der Panik des bedrohten Tyrannen hinreißen und steckte die Aufrührer ins Kabuff, dann ergab sich noch Schlimmeres. Die Klasse vernahm dann das Knallen und Glucksen geöffneter Flaschen, lau- tes Prostrufen, verdächtiges Kichern, den Schall von Küs- sen … Hals über Kopf stürzte Unrat zur Tür und ließ Kie- selack wieder herein. Die beiden andern kamen mit, unge- beten, mit drohenden, verachtungsvollen Mienen … Für den Augenblick erlitt Unrat zweifellos viel Ver- druß. Aber was half ihnen das. Schließlich waren doch sie die Besiegten, der Künstlerin Fröhlich nicht teilhaftig Ge- wordenen. Nicht Lohmann saß bei der Künstlerin Fröh- lich im Kabuff … Unrat schüttelte, kaum daß das Tor der Schule durchschritten war, seinen Unmut ab und lenkte seine Gedanken auf den grauen Rock der Künstlerin Fröhlich, den er von der Waschanstalt abholen sollte, und auf die Bonbons, womit er vorhatte, sie zu überraschen. Dagegen konnte der Direktor des Gymnasiums nicht länger umhin, einzugreifen in die Zustände der Unterse- kunda. Er entbot Unrat zu sich ins Amtszimmer und hielt ihm die sittliche Auflösung vor, der seine Klasse sichtlich entgegengehe. Er wolle nicht untersuchen, woher der An- steckungsstoff komme. Bei einem jüngeren Lehrer würde er dies allerdings untersuchen. Der Herr Kollege aber sei in Ehren ergraut, er möge daher einerseits seiner selbst gedenken, andererseits aber auch des Beispiels nicht ver- gessen, das er der Klasse schulde. Unrat sagte darauf: »Herr Direktor: der Athenienser Perikles hatte – traun fürwahr – die Aspasia zur Gelieb- ten.« Dies passe hier wohl nicht, meinte der Direktor. Und Unrat: »Ich würde mein Leben – immer mal wieder – für 152
nichts erachten, wenn ich den Schülern die klassischen Ideale nur vorerzählte wie müßige Märchen. Der humani- stisch Gebildete darf des sittlichen Aberglaubens der nie- deren Stände billig entraten.« Der Direktor, der nicht weiterwußte, entließ Unrat und dachte noch lange nach. Zuletzt beschloß er, das Gehörte für sich zu behalten, aus Furcht, der Laie möchte es in einem für Schule und Lehrerstand unvorteilhaften Sinne auslegen. Seine Wirtschafterin – sie hatte an Besuchen der Künst- lerin Fröhlich Anstoß genommen – nötigte Unrat mit triumphierender Ruhe, gegen die ihr Toben sich machtlos brach, zum Verlassen des Hauses. Statt ihrer zog eine Magd aus dem Blauen Engel ein. Sie sah aus wie ein Kehr- lappen und empfing den Fleischerburschen, den Schorn- steinfeger, den Gasmenschen und die ganze Straße in ih- rem Zimmer. Eine Schneiderin, gelblich von Gesicht, der Unrat im Auftrag der Künstlerin Fröhlich oft Besuche machte, hatte sich immer kalt und zurechtweisend verhalten. Eines Tages, als Unrat die Rechnung über einen größeren Auf- trag eben beglichen hatte, öffnete sie die Lippen. Der Herr Professor solle sich doch man umhören, was die Leute sagten. Wenn das nicht ’ne Schande wäre. In seinen Jahren – und überhaupt. Unrat schob ohne Erwiderung das kleine Geld ins Portemonnaie und ging. Zur halb zugezo- genen Tür lächelte er nochmals hinein und sagte nachsich- tig: »Aus dem für Ihre Worte von Ihnen gewählten Au- genblick, gute Frau, ersehe ich, daß Sie die Besorgnis heg- ten, die allzugroße Offenheit Ihrer Rede möchte Ihnen zu pekuniärem Nachteile gereichen. Indessen, fürchten Sie nichts! Sie sollen auch fernerhin für die Künstlerin Fröh- lich arbeiten dürfen.« Und er zog sich zurück. An einem Sonntagmorgen endlich, während Unrat die 153
Rückseite eines Blattes aus seinen »Partikeln bei Homer« mit dem Konzept eines Briefes an die Künstlerin Fröhlich bedeckte, ward geklopft, und in schwarzem, faltigem Rock und hohem Hut trat Schuhmachermeister Rind- fleisch ein. Er machte einen Kratzfuß und sagte befangen, über seinen Spitzbauch weg: »Herr Professer, Morgen, Herr Professer, ich möcht man bloß gebeten haben, daß ich an Herrn Professer darf ’ne Frage richten.« »Nur zu, Meister«, sagte Unrat. »Ich hab es mir all lange überlegt, und leicht wird es mir ja auch nich. Bloß daß Gott es nu mal will.« »Vorwärts denn also, Mann!« »Besonders, weil ich so was von Herrn Professer doch überhaupt nich glauben kann. Die Leute reden viel über Herrn Professer, das wird Herr Professer woll selbst am besten wissen. Aber glauben soll der Christenmensch es nich. Nöh. Wahrlich nich.« »Wenn dem so ist«, bemerkte Unrat und winkte Schluß, »so mag’s denn gut sein.« Rindfleisch drehte seinen Zylinder, sah zur Erde. »Ja. Aber Gott will man, daß ich Herrn Professer da an erinner, daß er es nich will.« »Was will er nicht?« fragte Unrat und lächelte von un- ten. »Die Künstlerin Fröhlich etwa?« Der Schuhmacher atmete schwer unter dem Druck sei- ner Sendung. Seine langen, hängenden Wangen schwank- ten in seinem Keilbart. »Ich hab Sie all mal darin eingeweiht, Herr Professer«, und seine Stimme verdunkelte sich vor Geheimnis – »daß Gott es nur darum erlaubt, auf daß er –« »Mehr Engel kriegt. Recht so, Meister. Drum will ich denn sehn, was sich tun läßt.« Und ohne sein hinterhältiges Lächeln abzulegen, drängte Unrat den Herrnhuter aus der Tür. 154
So unbefangen und ganz auf der Höhe lebte Unrat dahin – da platzten schreckliche Ereignisse. Ein Flurhüter hatte die Anzeige erstattet, daß das Hü- nengrab im Walde mutwillig beschädigt worden sei. An dem Sonntag, der seiner Schätzung nach der Zeitpunkt des Frevels gewesen war, hatte er eine Gesellschaft von jungen Leuten auf der Landstraße getroffen. Nachdem die Staats- anwaltschaft längere Zeit hindurch vergebliche Erhebun- gen angestellt hatte, erschien eines Montagmorgens der Flurhüter zur Seite des Direktors in der Aula des Gymna- siums. Solange die Andacht währte – mochte nun der Di- rektor das Kapitel aus der Bibel verlesen oder die Schule einen Choral singen –, musterte der Mann aus dem Volk von der Höhe des direktorialen Podiums die Versamm- lung. Er wischte sich dabei oft mit dem Handrücken die Stirn, und ihm schien nicht wohl zu sein. Schließlich mußte er noch hinabsteigen und, geführt vom Direktor, durch die Reihen der Schüler gehn. Er benahm sich dabei als Mensch, der in zu hohe Gesellschaft geraten ist, sah niemand und verbeugte sich vor Ertzum, der ihn auf den Fuß getreten hatte. Als jede Hoffnung, die Verbrecher im Bereich des Gym- nasiums zu entdecken, vorbei schien, machte der Direktor einen äußersten Versuch. Er las erst noch ein Extrakapitel aus der Bibel; dann sprach er die Zuversicht aus, dies werde wenigstens einen der Schuldigen gerührt und zur Reue erweicht haben, und er werde sich in seinem Gewissen gedrängt fühlen, in das Sprechzimmer des Direktors zu kommen und seine Mitübeltäter anzuzeigen und der Ge- rechtigkeit zu überliefern. Zum Lohn für sein aufrichtiges Geständnis solle ihm selbst dann nicht nur die Strafe erlas- sen, sondern auch ein Geldgeschenk zugeteilt werden … Hiermit war die Andacht zu Ende. Schon drei Tage später geschah es, daß Unrat in einer Titus-Livius-Stunde, die die verwahrloste Klasse mit Lärm 155
und Nebendingen ausfüllte, jäh vom Katheder empor- schnellte und zu schreien anfing: »Lohmann, Ihre Privat- lektüre werden Sie demnächst an einem andern Ort fort- setzen dürfen. Kieselack, Sie haben hier die längste Zeit auf dem Schlüssel gepfiffen. Sie können nun bald daheim – immer mal wieder – Ihren Mist fahren, von Ertzum. Weit entfernt, diese drei Verruchten in das Kabuff zu verban- nen, das für ihre Verworfenheit einen zu edlen Aufenthalt darstellen würde, will ich vielmehr alles daransetzen, da- mit ihre Laufbahn den wohlverdienten Abschluß in Ge- sellschaft gemeiner Diebe und Einbrecher finde. Der Ge- meinschaft der Anständigen werden sie nicht mehr lange teilhaftig bleiben, ihre Atemzüge unter uns sind gezählt!« Zwar erhob sich Lohmann und bat, die Stirne gerun- zelt, um eine Erklärung; aber Unrats begrabene Stimme war so voll gewesen von sich sättigendem Haß, seine Miene triumphierte so schaurig, daß alle sich geschlagen fühlten. Lohmann setzte sich wieder, mit bedauerndem Achselzucken. In der nächsten Pause ward er, zusammen mit Kieselack und von Ertzum, zum Direktor beschieden. Bei ihrer Rückkehr erklärten sie mit scheinbarer Geringschätzung, es sei wegen des albernen Hünengrabs. Aber sofort bildete sich ein freier Kreis um sie. Kieselack raunte: »O Mensch, wer mag uns woll bloß angesagt haben?« Die beiden andern sahen sich angewidert in die Augen und drehten Kieselack den Rücken zu. An einem Vormittag fuhren die drei, vom Unterricht befreit, im Gefolge einer Gerichtskommission in den Wald und wurden vor das Hünengrab, den Gegenstand ihrer Gewaltakte, gestellt. Hier erkannte sie der Flurhü- ter. Die Untersuchung der Angelegenheit trug ihnen noch mehrere schulfreie Tage ein. Endlich betraten sie als Ange- klagte das Sitzungszimmer des Landgerichts. Von der Zeugenbank empfing sie Unrats giftiges Lächeln. 156
Im Saal befanden sich auch Konsul Breetpoot und Konsul Lohmann, und der Staatsanwaltssubstitut konnte nicht umhin, den beiden einflußreichen Herren eine Ver- beugung zu widmen. Er rang innerlich die Hände über die Torheit des jungen Lohmann und seines Freundes, daß sie sich nicht längst gemeldet hatten. Die Anklagebe- hörde würde es vermieden haben, an die große Glocke zu rühren. Natürlich hatte man geglaubt, es handele sich um lauter Burschen vom Schlage des Kieselack. Nachdem in die Verhandlung eingetreten war, fragte der Vorsitzende die drei Angeklagten, ob sie sich schul- dig bekennten. Kieselack fing sofort an zu leugnen. Aber er habe es ja selbst seinem Direktor gestanden und auch im Lauf der Voruntersuchung alles zugegeben. Der Di- rektor trat vor und bestätigte dies ausführlich. Er ward vereidigt. »Der Herr Direktor hat gelogen«, behauptete darauf Kieselack. »Der Herr Direktor hat es aber beschworen.« »O weih«, machte Kieselack, »denn hat er erst recht gelogen.« Er hatte die Zügel abgestreift. Davongejagt ward er doch. Und überdies war er erbittert und in seinem Glau- ben an die Menschen erschüttert, weil er, anstatt die ver- sprochene Belohnung zu erhalten, vor Gericht gestellt worden war. Lohmann und Graf Ertzum gaben die Tat zu. »Ich bin es nich gewesen«, quäkte Kieselack dazwi- schen. »Aber wir!« entschied Lohmann, peinlich berührt durch diese Kameradschaft. »Pardon«, bemerkte Ertzum. »Ich hab es alleine ge- tan.« »Bitte sehr«, und Lohmann machte ein Gesicht von müder Strenge. »Meinen Anteil an dieser Beschädigung 157
eines öffentlichen Besitztums oder wie man das nennt, muß ich mit aller Entschiedenheit in Anspruch nehmen.« Von Ertzum wiederholte: »Ich hab es ganz alleine ka- puttgemacht. Das ist wahr.« »Mein Lieber, rede keinen Kohl«, bat Lohmann. Und der andere: »Zum – noch mal. Du warst ja ein ganzes Stück davon weg. Du saßest ja mit –« »Mit wem?« fragte der Vorsitzende. »Mit niemand – glaube ich«; und von Ertzum war sehr rot. »Mit Kieselack, wahrscheinlich«, meinte Lohmann. Der Staatsanwaltssubstitut fand es angezeigt, die Schuld auf möglichst viele Köpfe zu verteilen, damit für den Sohn des Konsuls Lohmann und das Mündel des Konsuls Breetpoot wenig davon übrigbleibe. Er machte von Ertzum auf die Schwierigkeit seiner vorgeblichen Tat auf- merksam. »So viel Unfug, wie Sie alleine verübt haben wollen, bringt ja der stärkste Mann nicht fertig.« »Doch«, entgegnete Ertzum, stolz und bescheiden. Der Vorsitzende forderte ihn und Lohmann zur Nen- nung der übrigen auf. »Sie müssen wohl eine größere vergnügte Gesellschaft gewesen sein«, vermutete er wohlwollend. »Sagen Sie uns nur die Teilnehmer, Sie tun sich und uns einen Gefallen damit.« Die Angeklagten schwiegen. Die Verteidigung gab zu bedenken, welche vornehme Gesinnung hieraus spreche. Schon während der ganzen Voruntersuchung seien die zwei jungen Leute standhaft geblieben in ihrem Vorhaben, niemand weiter zu kompromittieren. Auch Kieselack war standhaft geblieben; aber ihm ward es nicht angerechnet. Übrigens hatte er sich seinen Streich nur aufgespart. »Es war also sonst keiner dabei?« wiederholte der Vor- sitzende. 158
»Nein«, sagte Ertzum. »Nein«, sagte Lohmann. »Doch!« rief Kieselack im Quetschdiskant des beflisse- nen Schülers, der »seins« weiß. »Die Künstlerin Fröhlich war auch noch mit!« Und da alles lauschte: »Die hat es ja überhaupt bloß haben wollen, daß wir das Hünengrab ruinieren sollten.« »Er lügt«, sagte Ertzum und knirschte. »Er lügt bei jedem Wort«, ergänzte Lohmann. »Es is so gewiß wahr!« beteuerte Kieselack. »Fragen Sie man Herrn Professor! Der kennt sie am besten.« Er grinste nach der Zeugenbank. »Is es vielleicht nich wahr, daß Ihnen die Künstlerin Fröhlich an dem Sonntag durchgegangen is, Herr Profes- sor? Da hat sie mit uns beim Hünengrab Frühstück geges- sen.« Alles blickte auf Unrat, der zerstört aussah und dessen Kiefer klappten. »War die Dame dabei?« fragte einer der Richter über- rascht und im Tone rein menschlicher Neugier die beiden andern Angeklagten. Sie hoben die Schultern. Aber Unrat brachte hervor, fast erstickt: »Das ist Ihr Ende, Sie Elen- der! Rechnen Sie sich – immer mal wieder – zu den Toten!« »Wer ist denn die Dame?« fragte der Staatsanwaltssub- stitut, der Form wegen. Denn jeder Anwesende wußte von ihr und Unrat. »Herr Professor Raat wird uns Auskunft erteilen kön- nen«, vermutete der Vorsitzende. Unrat gab nur an, sie sei eine Künstlerin. Darauf beantragte der Substitut die so- fortige Vorladung der betreffenden Frauensperson, da ein Interesse bestehe, zu ermitteln, inwiefern sie als intellek- tuelle Urheberin des fraglichen Delikts für dasselbe mit- verantwortlich zu machen sei. Der Gerichtshof beschloß demgemäß, und der Gerichtsdiener ward auf den Weg ge- schickt. 159
Inzwischen begutachtete der junge Rechtsanwalt, der Lohmann und von Ertzum zu verteidigen hatte, schwei- gend Unrats Gemütszustand. Er kam zu dem Ergebnis, daß dies der Zeitpunkt sei, ihn sich aussprechen zu lassen; und er beantragte die Vernehmung des Professors Raat über den allgemeinen, geistigen und sittlichen Zustand der drei Angeklagten, seiner Schüler. Das Gericht gab dem Antrag Folge. Der Staatsanwaltssubstitut, der eine für Konsul Breetpoots Schützling und den Sohn des Konsuls Lohmann unangenehme Aussage befürchtete, hatte ver- gebens versucht, es zu verhindern. Wie Unrat vor die Schranken trat, ward gelacht. Er war in beängstigender Aufregung, leidende Wut verzerrte ihn, und er sah feucht aus. »Es ist kein Zweifel erlaubt«, so begann er sofort, »daran, daß die Künstlerin Fröhlich weder bei jener ver- worfenen Freveltat noch auch überhaupt bei der ganzen verruchten Landpartie beteiligt gewesen sei.« Er mußte sich erst vereidigen lassen. Dann wollte er gleich dasselbe noch einmal beteuern. Der Vorsitzende unterbrach ihn wieder; man verlange sein Zeugnis über seine drei Schüler. Da fing Unrat unvermittelt zu schreien an, die Arme aufhebend, und die tiefste Not in seiner be- grabenen Stimme, als sei er gegen eine Wand getrieben, finde keinen Ausweg mehr. »Diese Burschen sind die Letzten des Menschenge- schlechtes! Seht sie euch an; so sieht der Nachwuchs des Zuchthauses aus! Von jeher waren es Sobeschaffene, daß sie, die Herrschaft des Lehrers nur widerwillig ertragend, Auflehnung gegen dieselbe nicht allein übten, sondern so- gar predigten. Dank ihrer Agitation besteht die Klasse zu einem erheblichen Teile aus Elenden. Sie haben alles darangesetzt, um, sei es durch revolutionäre Machen- schaften, sei es durch versuchten Betrug und jede andere Betätigung gemeinster Gesinnung, sich der Zukunft wür- 160
dig zu erweisen, die sich ihnen hier – traun fürwahr – er- schließt. Dies ist der Ort, wo ich Sie im voraus erwartet habe! …« Und er wandte sich mit dem Racheschrei eines furcht- bar Getroffenen den drei Verführern der Künstlerin Fröh- lich zu. »Von Angesicht zu Angesicht, Lohmann –« Er begann jeden der drei vor versammeltem Gericht und Publikum zu entblößen. Lohmanns Liebesgedichte, von Ertzums nächtliche Ausflüge über die Balkonpfeiler des Pastors Thelander, Kieselacks freches Auftreten in einem den Schülern untersagten Lokal; alles brach hervor, zitternd vor Gewaltsamkeit. Der Ertzumsche mißratene Onkel ward ausgespien, nebst dem ideallosen Gelddünkel der städtischen Patrizier und dem der Trunksucht verfalle- nen Hafenbeamten, der Kieselacks Vater war. Das Gericht war peinlich berührt durch all dies fana- tisch Überkochende. Der Staatsanwaltssubstitut richtete höflich entschuldigende Blicke an Konsul Lohmann und Konsul Breetpoot. Der junge Verteidiger beobachtete spöttisch und befriedigt die Stimmung im Saal. Unrat be- lustigte und empörte. Endlich bedeutete ihm der Vorsitzende, der Gerichts- hof sei zur Genüge aufgeklärt über des Professors Verhält- nis zu seinen Schülern. Unrat pfauchte, ohne zu hören: »Wie lange noch werden diese katilinarischen Existenzen durch die Last ihrer Schändlichkeit den Erdboden, den sie drücken, beleidigen! Diese nun behaupten, die Künstlerin Fröhlich habe an ihren verbrecherischen Orgien teilge- habt. Wahrhaftig: es hat diesen nichts weiter gefehlt, als daß sie die Künstlerin Fröhlich antasteten in ihrer Ehre!« Inmitten der Heiterkeit, die seine Worte bewirkten, brach Unrat fast zusammen. Denn was er sagte, entsprach nicht seinem Innersten. Dort war er versichert, die Künst- lerin Fröhlich, die er an jenem Wahlsonntag aus den Au- 161
gen verloren hatte, sei beim Hünengrab gewesen. Noch mehr. Ein fliegender Überblick über bisher nicht gewür- digte Umstände machte ihn atemlos. Die Künstlerin Fröhlich hatte sich immer geweigert, mit ihm auszugehen. All ihre Vorwände, um allein zu Hause zu bleiben, was verbargen sie? … Lohmann …? Er stürzte sich von neuem auf Lohmann und rief ihm zu, daß die Macht seiner Kaste eine zu brechende sei! Aber der Vorsitzende forderte ihn auf, an seinen Platz zurück- zukehren, und befahl, die Zeugin Fröhlich hereinzurufen. Ihr Erscheinen erregte Gemurmel; der Vorsitzende drohte, den Saal räumen zu lassen. Man beruhigte sich; denn sie gefiel. Sie war in ihrem grauen Tuchkostüm von sympathisch-ruhiger Eleganz, hatte sich schlicht frisiert, einen Hut von mäßigem Umfang und mit einer einzigen Straußenfeder aufgesetzt und nur ganz wenig Rot im Ge- sicht. Ein junges Mädchen äußerte sich zu ihrer Mutter laut darüber, wie das Fräulein schön sei. Sie trat unbefangen vor die Richter hin; der Vorsitzende empfing sie mit einer leichten Verbeugung. Auf Antrag des Staatsanwaltssubstituts ward sie unbeeidigt vernom- men und erklärte freimütig, mit einnehmendem Lächeln, daß sie allerdings an jener Landpartie teilgenommen habe. Kieselacks Verteidiger glaubte endlich auftrumpfen zu können. »Ich mache darauf aufmerksam, daß unter den drei An- geklagten nur mein Klient es war, der der Wahrheit die Ehre gegeben hat.« Aber niemand interessierte sich für Kieselack. Der Substitut meinte, nun sei die Beeinflussung erwie- sen, und für das Delikt, das die beiden jungen Leute aus bloßer, begreiflicher Galanterie auf sich zu nehmen ver- sucht hätten, entfalle die intellektuelle Urheberschaft voll und ganz auf die Zeugin Fröhlich. Kieselacks Verteidiger benutzte die Gelegenheit, um zu bedenken zu geben, wie 162
sehr auch das, er müsse es gestehen, unsympathische Auf- treten seines Klienten begründet sei in der Korruption, die der Verkehr mit einer der Klasse der Zeugin angehörigen Frauensperson bei jungen Leuten hervorzubringen wohl geeignet sei. »Was sie mit den ollen Hünengrab gemacht haben«, sagte darauf leichthin die Zeugin Fröhlich, »das is mir dunkel und kann es auch bleiben. Ich weiß nur – was näm- lich die Korruption betrifft, wovon der Herr gered’t hat-, daß an dem bewußten Sonntagnachmittag einer von den jungen Herrn mir ’n regelrechten Heiratsantrag gemacht hat, und daß ich bedauert hab, nich Folge geben zu kön- nen.« Man lachte und schüttelte die Köpfe. Die Zeugin Fröh- lich hob die Schultern, sah aber keinen der drei Angeklag- ten an. Auf einmal sagte Ertzum, rot Übergossen: »Die Dame hat wahr gesprochen.« »Natürlich«, setzte sie hinzu, »war es zwischen mir und den drei Schülern immer streng anständig und be- schränkte sich das Ganze, wenn ich so sagen darf, auf Dal- berei.« Diese Erklärung hatte sie für Unrat bestimmt und suchte ihn, mit einem raschen Seitenblick. Aber er hielt den Kopf gesenkt. »Will die Zeugin«, fragte der Substitut, »damit behaup- ten, daß ihr Verkehr mit den Angeklagten die Grenzen des moralisch Zulässigen in keiner Weise überschritten hat?« »In keiner is zuviel gesagt« – und sie faßte den Ent- schluß, ihrem alten Unrat auf dem Umwege über den Ge- richtshof hinweg, die Wahrheit zu gestehen. Das viele Schwindeln führte zu immer mehr Weitläufigkeiten. »In keiner Weise nich grade. Aber doch man in sehr neben- sächlicher.« »Was nennt die Zeugin nebensächlich?« fragte der Vor- sitzende. 163
»Den da«, versetzte sie und zeigte auf Kieselack, der unter der Aufmerksamkeit des ganzen Saales auf seine Nase zu schielen begann. Er erregte immer mehr Übel- wollen: jetzt auch noch durch das Glück, das er gehabt hatte. Nachträglich versuchte er zwar zu behaupten: »Sie lügt ja.« Aber der Vorsitzende wendete sich ab von ihm. Er war, wie alle Anwesenden, in angeregter und frei menschlicher Stimmung. Lohmann, den Rosas Enthüllung über den un- glücklichen Antrag seines Freundes von Ertzum bitter kränkte, benutzte den Moment, um im Ton einer welt- männischen Anekdote hinzuwerfen: »Was will man, die Dame hat ihre Geschmacksrichtung. Den Kieselack er- hört sie – ich erfahre das übrigens erst jetzt. Über einen andern Gegenstand ihrer Gunst sind wir besser unterrich- tet … Dagegen, Gräfin zu werden, weigert sie sich stand- haft. Und mir, der ich niemals irgendwelche Ansprüche erhoben habe, erklärt sie unablässig, ich werde ihr immer der Letzte sein.« »Stimmt«, sagte die Zeugin Fröhlich, und hoffte, Unrat werde es hören und beherzigen. Es ward gelacht. Der Vor- sitzende schüttelte sich diesmal heftiger, einer der Richter trompetete durch die Nase und hielt sich den Bauch. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft krümmte böse die Lip- pen, der Verteidiger schlängelte sie skeptisch. Ertzum flü- sterte Lohmann zu: »Auch noch mit Kieselack – das war der Schluß. Für mich ist sie nun erledigt.« »Na endlich … Übrigens sind wir fein raus. Wer rein- fällt, ist Unrat.« »Red mir doch bloß nicht dazwischen«, raunte Ertzum noch rasch, »wenn ich das Hünengrab auf mich allein nehme. Ich muß ja ohnehin weg und auf die Presse.« Da stellte der Vorsitzende, ziemlich erholt, mit väter- licher Stimme nochmals die Räumung in Aussicht. Dann erklärte er die Vernehmung der Zeugin Fröhlich für been- 164
det, sie könne gehen. Statt dessen begab sie sich in den Zuschauerraum. Sie begriff nicht, wo Unrat hingekom- men sei. Unrat hatte sich während der allgemeinen Heiterkeit mit langen Schritten davongeschlichen. Er floh wie über ein- sinkende Dämme, unter Wolkenbrüchen, an speienden Vulkanen hin. Alles um ihn her fiel auseinander und riß ihn in Abgründe – denn die Künstlerin Fröhlich trieb Ne- bendinge! Lohmann und die andern, die Unrat für immer besiegt und darniedergeworfen glaubte, sie tauchten auf aus ihrem Nichts, sobald er nicht hinsah. Die Künstlerin Fröhlich nahm keinen Anstand, jene ihrer teilhaftig wer- den zu lassen. Von Kieselack gestand sie es ein, von Loh- mann leugnete sie es noch. Aber Unrat glaubte ihr nicht mehr! Und er war hilflos erstaunt hierüber: daß die Künstlerin Fröhlich sich als unglaubwürdig herausstellte. Bis heute, bis zu diesem schrecklichen Augenblick, war sie ein Stück von ihm gewesen; und unversehens riß sie sich los: Unrat sah zu, wie das blutete, und begriff es nicht. Da er nie mit Menschen Gemeinschaft gehabt hatte, war er nie verraten worden. Nun litt er wie ein Knabe – wie sein Schüler Ertzum gelitten hatte an ganz derselben Frau. Er litt ungeschickt, ungebärdig und mit Staunen. Er ging nach Haus. Beim ersten Wort, das seine Diene- rin an ihn richtete, fuhr er auf und jagte sie auf die Straße. Dann floh er in sein Zimmer, schloß ab, drückte sich ins Sofa und wimmerte. Von Scham ergriffen, raffte er sich auf und nahm das Manuskript der Partikel bei Homer vor. Er lehnte wieder an dem Schreibpult, das seit dreißig Jahren seine rechte Schulter in die Höhe gedrängt hatte. Aber diese und jene Rückseite war mit Zeilen an die Künstlerin Fröhlich beschrieben, manchmal nur mit einer Notiz, die sie anging. Es fehlten sogar Blätter: die hatte er achtlos an sie abgeschickt. Er sah auf einmal seine Arbeitskraft ganz 165
ihr untergeordnet, seinen Willen schon längst nur noch auf sie gerichtet, und alle Lebensziele zusammenfallen in ihr. Nach dieser Entdeckung kehrte er zurück in seine Sofaecke. Es ward Nacht, und auf der Dunkelheit erschien ihm ihr leichtes, launisches, buntes Gesicht; und er blickte mit Angst hinein. Denn er erkannte, daß darin für jeden Ver- dacht, für jeden, ein Anhalt sei. Die Künstlerin Fröhlich gehörte jedem. Unrat klammerte die Hände vor sein von Blut gepeitschtes Gesicht. Seine späte Sinnlichkeit – diese einem vertrockneten Körper kraft langsamer unterirdi- scher Verführung entrungene Sinnlichkeit, die, gewaltsam und unnatürlich flackernd, sein Leben verändert, seinen Geist zu Extremen getrieben hatte, sie quälte ihn jetzt mit Bildern. Er sah die Künstlerin Fröhlich in ihrem kleinen Zimmer im Blauen Engel und ihre enthüllenden Gesten, die Erstlingsgesten von damals und ihren kitzelnden Blick. Jetzt richtete sie Blick und Gesten an Unrat vorbei, auf einen andern – auf Lohmann … Unrat sah die Szene zu Ende, ganz zu Ende, und sie tanzte auf und nieder, weil er schluchzte.
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XII
Er ging noch ins Amt, kraft eines Restes von staatserhal- tender Gewohnheit und obwohl er voraussah, daß einer dieser Schulgänge sein letzter sein werde. Die Oberlehrer hatten sich jetzt ausnahmslos dafür entschieden, ihn zu übersehn. Im Lehrerzimmer versteckte sich alles hinter Zeitungen, floh den Tisch, spie in die Ecken, sobald Unrat mit seinen zu korrigierenden Heften sich niederließ. In der Klasse fehlten Lohmann, von Ertzum und Kieselack, alle drei. Die übrigen verachtete Unrat und ließ sie gewäh- ren. Manchmal bedachte er, aufzischend, irgendeinen mit halbtagelangem Karzer. Später vergaß er aber, den Pedell mit der Ausführung des Urteils zu beauftragen. Draußen schlich er dahin, ohne jemand zu sehen, hörte weder Schmähungen noch Ruhmeserhebungen, merkte es auch nicht, wenn die Lohnkutscher ihre Pferde anhielten, um ihre Fremden auf Unrat als eine städtische Sehenswür- digkeit aufmerksam zu machen. Wo er vorüberkam, ward von seinem Prozeß gesprochen. Für die Leute war eigent- lich Unrat der Angeklagte, und sein Auftreten vor Gericht erregte Bedauern und Zorn. Ältere Herren, Schüler aus den ersten Jahrgängen, für die Unrat heitere, von der Zeit zärtlich vergoldete Jugenderinnerungen umhertrug, blie- ben bei seinem Anblick stehn und schüttelten die Köpfe. »Was is denn aus unserm alten Unrat bloß geworden. Das is ja ’n Jammer, is es ja, was er neuerdings für Ge- schichten macht.« »So tritt ’n Lehrer doch nich auf gegen so ’ne Jungens. Soll das ’n Jugenderzieher sein? Und denn seine Ausfälle 167
gegen die Kaufmannschaft und gegen die ersten Familien. Vor Gericht, bitte.« »Wer sich selber in seinen Jahren noch pikante Seiten- sprünge vorzuwerfen hat und öffentlich damit reinfällt. Er sitzt doch überhaupt in ’n Glashaus. In der Bürgerschaft soll die Geschichte zur Sprache kommen, und daß sie ihn nich mehr haben wollen bei der Schule, das weiß ich von Breetpoot. Er kann man wegziehn mit seiner Freundin.« »Aber ’ne feine Deern is es.« »Das is es.« Und die Herren lachten sich an, jeder mit einem kleinen Gefunkel im Blick. »Wie Unrat da bloß auf gekommen is.« »Tjä, hab ich es Ihnen nich schon immer gesagt? Gegen so ’n Namen kann auf die Dauer keiner an: er is nu mal ’n rechter alter Unrat.« Andere erinnerten an Unrats Sohn, der sich einst mit einem anrüchigen Frauenzimmer auf offenem Markt hatte blicken lassen. Sie beriefen sich auf den Apfel, der nicht weit vom Stamm falle, und behaupteten nach dem Vor- gang des Oberlehrers Hübbenett, der sittliche Zusam- menbruch des Vaters sei bestimmt vorherzusagen gewe- sen. Man wollte auch von jeher etwas Menschenscheues, Unheimliches, gründlich Verdächtiges an Unrat wahrge- nommen haben und erklärte, sich über seine vor Gericht geführten, gegen die Angesehensten der Stadt gerichteten Reden keinen Augenblick zu wundern. »So ’n altes Ekel hätt man schon lange totschlagen sol- len«, äußerte bei Unrats Nahen, in seine Ladentür ge- lehnt, der Zigarrenhändler Meyer, dessen Rechnungen für Professor Raat immer mit einem durchgestrichenen U be- gonnen hatten. Der Pächter des Café Central sagte in der Frühe, wenn Unrat die Hausfront entlangschlich, zu seinen das Lokal säubernden Kellern: »Sittlicher Unrat muß egal raus.« 168
Andererseits gab es unzufriedene Bürger, die Unrats Emanzipation mit Freuden begrüßten, ihn für ihre dem Bestehenden feindlichen Werbungen als Bundesgenossen beanspruchten und Versammlungen einberiefen, wo über sein mutiges Auftreten gegen die Privilegierten der Stadt debattiert ward, und wo er reden sollte. In ihren öffent- lichen Aufrufen hieß es: »Hut ab vor solchem Manne!« Unrat ließ ihre schriftlichen Einladungen unerwidert. Ihre Abordnungen verabschiedete er durch die verschlos- sene Tür. Er saß und gedachte mit Haß, Sehnsucht und Grausamkeit der Künstlerin Fröhlich und daran, wie er sie nötigen könne, die Stadt zu verlassen und in großen Tage- märschen davonzuziehen. Es fiel ihm wieder ein, daß er dies bei ihrem allerersten Zusammentreffen ihr strenge ge- boten hatte. Wenn sie damals sich nicht dem Lehrer wider- setzt hätte! Jetzt hatte sie eine Masse Unfug getrieben, Unheil angestiftet, und Unrat konnte sich, in fassungslo- ser, martervoller Rachgier, nichts Ersehnenswerteres mehr vorstellen, als daß die Künstlerin Fröhlich in einem tiefen und finstern Kabuff ihr Leben enden möge. Er vermied tagsüber peinlich die Straßen, in denen er ihr begegnen konnte. Des Nachts nur geschah es, daß er in jene Stadtgegend schlich, zu einer Stunde, wo hinter der verhängten Scheibe keines Lokals mehr die Schatten von Oberlehrerköpfen mit den Gebissen klappten. Dann machte Unrat, scheu, feindselig und voll bittern Verlan- gens, eine weite Runde um das Hotel zum Schwedischen Hof. Einmal trat ihm dabei aus dem Dunkel ein Mensch ent- gegen und grüßte: es war Lohmann. Unrat prallte zuerst zurück und rang nach Luft. Dann spreizte er die Hände und griff, mit beiden zugleich, nach Lohmann, der höflich auswich. Als Unrat wieder fest auf den Beinen stand, be- gann er zu pfauchen: »So wagen Sie Elender es denn also, mir noch unter die Augen zu treten! Dicht bei der Woh- 169
nung der Künstlerin Fröhlich muß ich Sie fassen! Sie ha- ben schon wieder Nebendinge getrieben!« »Ich versichere Sie«, erwiderte Lohmann sanft, »Sie ir- ren sich, Herr Professor. Sie irren sich von vorn bis hin- ten.« »Was haben Sie hier etwa sonst angefangen, verruchter Bube!« »Ich bedauere, mich darüber nicht äußern zu können. Nur so viel, daß es Sie, Herr Professor, in keiner Weise berührt.« »Ich werde Sie vollends zerschmettern!« verhieß Unrat, mit den Augen einer wütenden Katze. »Seien Sie gewärtig, mit Schmach und Schande von der Schule gejagt zu wer- den …« »Es sollte mich freuen, wenn Ihnen die Genugtuung würde, Herr Professor«, sagte Lohmann, ohne die Ab- sicht zu spotten, eher wehmütig, und ging langsam weiter, verfolgt von Unrats Drohungen. Er war nicht mehr aufgelegt, Unrat zu kränken. Heute, wo alles über ihn herfiel, hätte Lohmann sich dessen ge- schämt. Er fühlte Mitleid mit dem Alten, der noch davon sprach, ihn von der Schule zu jagen, in dem Augenblick, wo Unrats eigene Entlassung schon beschlossen war – Mitleid und auch eine Art von zurückhaltender Sympathie für diesen einsamen Allerweltsfeind, der unbedenklich so viel gegen sich auf die Beine brachte; für den interessanten Anarchisten, der hier im Ausbrechen war … Sein ewiger Verdacht auf Lohmann wegen dieser Fröh- lich war kläglich und rührend; er war sogar voll tragischer Ironie, wenn man ihn zusammenhielt mit dem, was Loh- mann in Wirklichkeit in diese Nacht hinausgeführt hatte. Lohmann kam aus der Kaiserstraße. Frau Dora Breetpoot war heute abend entbunden. Und Lohmanns unbekannte Zärtlichkeit neigte sich über ihr Schmerzensbett. Sein Herz, ein fruchtlos und demütig schwelendes Feuerchen, 170
sehnte sich, den kleinen, zitternden Kinderkörper zu er- wärmen, dessen Entstehung vielleicht Assessor Knust, vielleicht Leutnant von Gierschke, vielleicht auch Konsul Breetpoot bewirkt hatte … Lohmann war heute nacht vor das Breetpootsche Haus gegangen und hatte die verschlos- sene Tür geküßt. Wenige Tage später hatten die schwebenden Schicksale sich gesenkt. Lohmann, dem nichts daran lag, durfte, bis er nach England ging, auf der Schule verbleiben; seine Ver- wandten waren zu mächtig, als daß an seine Entfernung zu denken gewesen wäre. Kieselack verdankte seinen Ab- schied nicht dem Vorfall mit dem Hünengrab; eher seiner ungebührlichen Aufführung vor Gericht; vor allem aber seinen zur Künstlerin Fröhlich unterhaltenen und von ihr bekanntgegebenen Beziehungen, die unzulässig erschie- nen für einen Sekundaner. Von Ertzum ging freiwillig und überantwortete sich einer Presse. Unrat ward entlassen. Er behielt das Recht, seine Lehrtätigkeit bis zum Herbst fortzusetzen. Er brach sie aber, im Einvernehmen mit der vorgesetzten Behörde, sofort ab. An einem von Unrats ersten schulfreien Vormittagen, wie er, unbeschäftigt und planlos für immer, im Sofa saß, kam Pastor Quittjens. Er hatte zugesehen, wie hier jemand immer tiefer in Sünde und Verlegenheiten hineinritt. Jetzt, da der Mann am Bo- den lag, war er der Meinung, daß für das Christentum etwas zu machen sei. Er begann sofort, und rauchte dabei eine Zigarre wie jeder andere Mensch, sich über Unrats traurige Sachen zu erbarmen, über seine Vereinsamung, über die Anfeindun- gen, denen er sich gerade von Seiten der Besseren ausge- setzt habe. So etwas habe doch niemand gern, dagegen müsse man was tun. Wenn Unrat wenigstens noch seine gewohnte Tätigkeit besäße. Seine Entlassung mache das Unglück voll, indem sie ihn seinen bittern Gedanken ret- 171
tungslos ausliefere … Nun, rettungslos sei zuviel gesagt. Pastor Quittjens machte sich anheischig, für Unrats Wie- deraufnahme bei den Besseren zu sorgen, ihn in einen po- litischen Verein, in einen Kegelklub hineinzulotsen. Be- dingung sei allerdings – dies schien der Pastor zu bedauern und als unvermeidliches Übel anzusehn –, daß Unrat vor Gott und den Menschen seine Verirrungen bereuen und ihnen ein Ende machen müsse. Unrat antwortete hierauf so gut wie nichts. Der Vor- schlag interessierte ihn nicht. Wenn er schon der Künstle- rin Fröhlich verlustig ging, fand er es zwecklos, eine Kegelpartie dafür einzutauschen. Darauf griff Pastor Quittjens zu größeren Gesichts- punkten. Er beklagte die Schüler, denen ein zu ihrer Hut Berufener die Schwelle des Jünglingsalters durch solch ein Beispiel vergifte. Und nicht nur die Schüler der Unterse- kunda, nein, alle andern ebenso; und nicht nur alle andern innerhalb des Gymnasiums, sondern, über die Mauern des Gymnasiums hinaus, alle die ehemaligen Schüler – also die Stadt in ihrer Gesamtheit. Alle diese, und Pastor Quittjens ließ seine Zigarre ausgehn, müßten an den Leh- ren ihrer Jugend Zweifel empfangen und in ihrem schlich- ten Glauben wankend werden. Ob denn Unrat so schwere Dinge auf sein Gewissen nehmen wolle. Schon sei der Knabe Kieselack ins Unglück geraten, und Unrat werde wohl nicht verkennen, daß für den Fall dieses Kindes ihm selbst eine Mitverantwortlichkeit zukomme. Das sei aber sicher nicht der einzige Schade, den der Abfall eines Man- nes wie Unrat von Glaube und Sitte zu stiften bestimmt sei … Unrat ward stutzig. Von Kieselacks Vernichtung erfuhr er erst jetzt; und er brannte von jäher Freude darüber, sie bewirkt zu haben. Daß sein Beispiel andern gefährlich werden, in der Stadt Verderben aussäen könne, darauf war er noch nicht verfallen. Hier öffneten sich Aussichten auf 172
Rache und erregten ihn. Er bekam rote Flecke und zupfte, atemlos in sich selbst vertieft, an seinen spärlichen Ge- sichtshaaren. Pastor Quittjens mißverstand ihn und sagte, das habe er gewußt, daß Unrat sich das nahegehen lassen werde. Be- sonders, wenn man das Geschöpf in Betracht ziehe, we- gen dessen er sich und andere den größten Unannehmlich- keiten aussetze, dann trete ja der Fauxpas ohne weiteres zutage. Unrat fragte, ob der Pastor von der Künstlerin Fröhlich rede. Natürlich. Jetzt, seit ihren in öffentlicher Gerichtsver- handlung abgelegten Geständnissen, seien Unrat ja wohl die Augen geöffnet. Liebe mache blind, dies sei – und Pa- stor Quittjens zündete seine Zigarre wieder an – zuzuge- stehen. Andererseits möge Unrat sich doch nur seiner Stu- dienjahre erinnern und des Mannigfachen, das man da- mals in Berlin erfahren habe. Man sei ja auch kein Frosch gewesen, huhu, und wisse über solche Dämchen ziemlich Bescheid. Die seien es denn doch nicht wert, daß man seine Existenz und die von andern Leuten auf den Kopf stelle. Ja, wenn er an Berlin denke – Pastor Quittjens lächelte selig und schickte sich an, ver- traulich zu werden. Unrat benahm sich immer unruhiger, und plötzlich unterbrach er. Ob dies alles sich etwa auf die Künstlerin Fröhlich beziehe. Der Pastor war verwundert und bejahte. Darauf schnellte Unrat vom Sofa, pfauchte und stieß dumpf und bedrohlich, während der Saft seines Mundes über Pastor Quittjens hinspritzte, die Worte aus: »Sie haben die Künstlerin Fröhlich beleidigt. Die Dame steht unter meinem Schutz. Verlassen Sie – vorwärts nun also! – mein Haus!« Der Pastor rückte erschrocken in seinem Stuhl weit fort. Unrat hastete zur Tür und öffnete sie. Als er dann nochmals, zornbebend, auf Pastor Quittjens losfuhr, 173
rutschte der Pastor in einem feigen Bogen mitsamt seinem Stuhl aus der Tür hinaus. Unrat schloß sie. Er keuchte noch lange durch das Zimmer. Er mußte sich gestehn, der Künstlerin Fröhlich erst vor kurzem sehr Übles gewünscht zu haben. Die schlimmsten Gedanken hatte er sich gemacht über sie. Aber was Unrats Recht war, dazu besaß Pastor Quittjens noch lange nicht die Erlaub- nis. Die Künstlerin Fröhlich stand über Pastor Quittjens. Sie stand über allen – allein und heilig im Angesicht der Menschheit. Es war gut, daß auf solche Weise Unrat wie- der zum wahren Bewußtsein der Dinge kam. Die Künstle- rin Fröhlich war ja seine Angelegenheit! Man vergriff sich an ihm selbst, wenn man sich unterstand, sie nicht gelten zu lassen! Seine von Angst durchjagte Tyrannenwut packte ihn, und er mußte sich stützen: wie damals, als das Publikum des Blauen Engels sie ausgelacht hatte. Sie aus- zulachen, die er eigenhändig geschminkt hatte! Ihre Lei- stungen zu beanstanden, die er gewissermaßen selber vor- führte! Es waren – gewiß nun freilich – keine erfreulichen Leistungen, deren sie sich beim Hünengrab beflissen hatte, und sie hatten Unrat Schmerz gekostet. Das aber hatten nur sie selbst miteinander auszumachen, Unrat und die Künstlerin Fröhlich. Er wollte zu ihr hingehen, er war nicht gesonnen, dies länger zu unterlassen! Er griff zum Hut und hängte ihn wieder hin. Sie hatte ihn verraten – immerhin denn wohl. Anderer- seits war sie so der Weg geworden, der zum Verderben des Schülers Kieselack geführt hatte. Ward sie hierdurch nicht gerechtfertigt? Noch nicht? Wenn sie aber noch andern Schülern – zum Verderben gereichte? Unrat blieb stehen, mit gesenktem Kopf, über den eine rote Wolke zog. Seine Rachgier und seine Eifersucht kämpften, indes er sich nicht regte. Endlich hatte die Rachgier gesiegt. Die Künstlerin Fröhlich war gerechtfer- tigt. 174
Und Unrat begann zu träumen von Schülern, denen sie zum Verderben hätte gereichen sollen. Wie schade, daß der Zigarrenhändler vom Markt nicht mehr auf der Schule war; und jener Lehrling, der nicht grüßte, sondern feixte; und alle andern in der Stadt. Ihnen allen hätte die Künstle- rin Fröhlich zum Verderben gereichen sollen. Sie alle hät- ten ihretwegen mit Schimpf und Schande aus der Schule vertrieben werden sollen. Ein andersgeartetes Verderben konnte Unrat sich nicht vorstellen. Auf einen Zusammen- bruch, der nicht darin bestand, daß einer aus der Schule vertrieben ward, verfiel er nicht … Als er bei der Künstlerin Fröhlich anklopfte, trat sie grade selbst, zum Ausgehen fertig, in die Tür. »Hu! Da is er! Wenn ich nu nich eben zu dir wollte! Du glaubst es natürlich nich, aber ich will dot hinschlagen, wenn es nich wahr is.« »Mag’s denn sein«, sagte Unrat. Und es war die Wahr- heit. Die Künstlerin Fröhlich hatte, als Unrat sich durchaus nicht mehr blicken ließ, zuerst einfach gesagt: »Na denn nich«, und hatte sich darauf gefaßt gemacht, ihre eigene Wohnung nicht mehr zu beziehen, sondern vom Erlös der geschenkten Möbel noch eine Zeitlang zu privatisieren, um dann, weil das Ehepaar Kiepert anderweitig versorgt und schon abgereist war, ein neues Engagement zu su- chen. Sie hatte ihrem alten Unrat weiß Gott die freund- schaftlichsten Gefühle entgegengebracht; aber die konnte man einem Menschen ja nicht am Reck vorturnen, und wenn er’s nicht glauben wollte, mußte er’s lassen. Sie hatte ihre Philosophie. Es war viel leichter, einen zu beschwin- deln, nachdem man was angestellt hatte, als es einem zu beweisen, wenn man grade mal wirklich unschuldig war. Überhaupt kam man aus dem Versteckenspielen mit gewe- senen Dingen nie mehr heraus, wenn ein Mann schon in 175
solchen offenbaren Kindereien wie der Hünengrabge- schichte ein Haar fand und sich einbildete, sie ginge auch nach ihrer Bekanntschaft mit ihm mit all und jedem. Dann war der Alte eben doch ihr Genre nicht. Es kam ja vor, daß einer sich irrte; darein ergab man sich denn. Auf der Straße lief einem manchmal einer nach, halbe Stunden lang, bis er es schließlich riskierte, überholte einen und glupte einen von der Seite an. Da schwenkte er auf einmal ab und tat, als war er’s nicht gewesen. Unrat hatte sie bisher auch wohl bloß von hinten gekannt, und sobald er sie ins Gesicht zu sehen kriegte, war’s alle. Na laß ihn. Wie sie dann die Zeit hingehn sah, sich langweilte und das bare Geld vermißte, überlegte sie, daß es doch zu dumm sei, die Sache einfach so in die Brüche gehn zu lassen. Der Alte schämte sich am Ende bloß, schmollte und wartete, daß sie ihm ’n kleinen Finger hinhielt. Konnte gemacht werden. Er war ja ’n altes Kind, ’n bißchen komisch eigen- sinnig. Sie dachte daran, wie er den Kapitän aus der Garde- robe hinausgesetzt hatte und es deswegen sogar mit Kiepert aufgenommen hatte; und sie lachte. Gleich nachher aber bekam sie wieder die starren, sinnenden Augen, mit denen sie Unrat manchmal betrachtet hatte. Eifersüchtig war er, das mußte wahr sein; und es gab ihr Hochachtung ein. Vielleicht saß er nun und giftete sich und war ihr spinneböse und konnte vor Galle nicht Mittag essen. So was war ja schrecklich. Ihr gutes Herz bewegte sich. Und nicht nur ihres Vorteils wegen, nein, auch aus Mitleid und auch aus Hochachtung machte sie sich auf den Weg. »Wir haben uns ja lange nich gesehn«, sagte sie, schüch- tern und spöttisch. »Das hat denn auch seine Gründe«, brachte Unrat her- vor. »Ich war – immer mal wieder – beschäftigt.« »Ach so. Und womit denn?« »Mit meiner Entlassung aus dem Lehrkörper des hiesi- gen Gymnasiums.« 176
»Ich verstehe. Das hab ich als Vorwurf aufzufassen.« »Du bist gerechtfertigt. Ist doch auch der Schüler Kie- selack entfernt worden und der dem Gebildeten offenste- henden Laufbahnen für immer verlustig gegangen.« »Der Ekel, dem gönn ich es.« »Von diesem Geschick ist es nun freilich zu wünschen, daß es zahlreiche andere Schüler ereile.« »Ja wie sollen wir das bloß anstellen«, und sie lächelte von unten. Unrat ward rot. Es entstand eine Pause, wäh- rend deren sie ihn hineinführte und hinsetzte. Sie glitt auf seine Knie, versteckte das Gesicht hinter seiner Schulter und fragte demütig scherzend: »Ist Unratchen seiner klei- nen Künstlerin Fröhlich nu auch gewiß nich mehr böse? Weißt du, was ich vor Gericht erzählt hab, das war ja tat- sächlich alles. Gott is mein Zeuge, hätt ich fast gesagt, ob- schon das einem auch nischt hilft. Du kannst mir aber glauben.« »Mag’s denn sein«, wiederholte er. Und in dem Bedürf- nis, sich ihr näherzubringen durch Klärung und Zusam- menfassung der Vorgänge: »Es ist mir – traun fürwahr – recht wohl bekannt, daß die sogenannte Sittlichkeit in den meisten Fällen auf das innigste mit Dummheit verknüpft ist. Hieran kann höchstens der nicht humanistisch Gebil- dete zweifeln. Immerhin ist die Sittlichkeit von Vorteil für den, der, sie nicht besitzend, über die, welche ihrer nicht entraten können, leicht die Herrschaft erlangt. Es ließe sich sogar behaupten und nachweisen, daß von den Unter- tanenseelen die sogenannte Sittlichkeit strenge zu fordern sei. Diese Forderung hat mich indes – aufgemerkt nun also! – niemals dazu verleitet, zu verkennen, daß es andere Lebenskreise geben mag mit Sittengeboten, die von denen des gemeinen Philisters sich wesentlich unterscheiden.« Sie lauschte angestrengt und verwundert. »Ach nee. Wo sind denn die. Is das kein Schwindel?« »Ich selbst«, fuhr Unrat fort, »habe mich persönlich 177
stets an den sittlichen Gepflogenheiten des Philisters be- teiligt: nicht, weil ich ihnen Wert beigemessen oder mich an sie gebunden erachtet hätte, sondern weil ich – vor- wärts, immer mal wieder! – keinen Anlaß traf, mich von ihnen zu trennen.« Er mußte sich im Sprechen selber anfeuern, so stockend und von Farbe und Kraftlosigkeit des heftigsten Schamge- fühls befallen, brachte er seine kühne Lebensauffassung zum Vorschein. Sie bewunderte seine Rede und fühlte sich geschmei- chelt, weil er sie ihr, nur ihr zum besten gab. Als er noch hinzusetzte: »Von dir dagegen habe ich, ich kann nicht umhin, dies festzustellen, zu keiner Zeit einen dem meini- gen verwandten Lebenswandel erwartet« – da schnitt sie ihm vor Überraschung und Rührung eine Fratze und küßte ihn. Sie ließ kaum seinen Mund los, und er erläu- terte schon wieder: »Was jedoch nicht verhinderte –« »Na was denn? Was verhinderte es denn nich, Unrat- chen?« »– daß meine zu dir gefaßte Zuneigung mir das Ertragen der dem Grundsatze nach zu billigenden Dinge in diesem konkreten Falle erheblich erschwert hat, ja, daß diese Dinge mir zum Schmerze gereicht haben.« Sie erriet ungefähr und hielt ihm ein schmeichlerisch- schiefes Köpfchen hin. »Denn ich erachte dich für eine solche, deren teilhaftig zu werden nicht so leicht einer verdient.« Sie ward ernst und nachdenklich. Unrat beschied sich. »Mag’s denn sein.« Aber dann, hervorgestoßen, unter dem Ansturm einer schrecklichen Erinnerung: »Nur einen gibt es, den könnte ich dir nie verzeihn, dessen mußt du dich – traun fürwahr – enthalten, den darfst du niemals wiedersehen. Das ist Lohmann!« 178
Sie sah ihn erschöpft, voller Schweißtropfen, und be- griff es nicht, weil sie nichts wußte von dem quälerischen Bilde, das ihn einmal überwältigt hatte – Lohmanns Bild mit ihrem. »Ach ja«, äußerte sie. »Auf den bist du immer so wild gewesen. Du wolltest doch Wurst aus ihm machen. Sollst du auch, mein Unratchen, sei man wieder gut. Mir sagt so ’n dummer Junge gottlob gar nischt. Wenn ich dir das bloß klarmachen könnte. Aber da gibt’s auch nischt, was hilft. Man möchte weinen.« Und sie hatte in Wahrheit Lust dazu: weil sie durchaus keinen Glauben fand in betreff ihrer Herzenskühle gegen Lohmann; und weil sie ganz im Hintergrunde ihres Her- zens etwas Lohmann Angehendes ahnte, das ihr die Glaubwürdigkeit eigentlich genommen hätte; und weil Unrat, das dumme alte Kind, so oft und so ungeschickt daran rührte; und weil es im Leben sichtlich den Frieden nicht gab, den sie sich sehnlich wünschte. Aber weil Unrat die Herkunft ihrer Tränen nicht ver- standen haben würde, und weil sie die Lage nicht unnötig verwickeln wollte, versagte sie sich das Weinen. Übrigens kam jetzt eine schöne Zeit. Sie gingen zusam- men aus und vervollständigten Einrichtung und Ausstat- tung der Künstlerin Fröhlich. In Toiletten aus Hamburg saß sie fast jeden Abend in einer Loge im Stadttheater, und Unrat, an ihrer Seite, empfing mit einer hinterhältigen Ge- nugtuung alle die neidisch-entrüsteten und übelwollend- begehrlichen Blicke, die herüberkamen. Nun ward auch das Sommertheater eröffnet, und man konnte sich, mitten unter die wohlhabende und ehrbare Gesellschaft, in den Garten setzen, Butterbrot mit Lachs essen und sich freuen, daß es einem nicht gegönnt ward. Die Künstlerin Fröhlich trug kein Bedenken mehr, Un- rat den feindseligen Einflüssen auszusetzen. Die Gefahr 179
war überstanden, er hatte ihretwegen seine Entlassung auf sich genommen samt der allgemeinen Ächtung. Es war ihr anfangs ein wenig unheimlich dabei zumute gewesen. Wie grade sie dazu käme, meinte sie im stillen, daß einer sich ihretwegen so viel auf den Hals lüde. Zu- nächst zuckte sie die Achseln: »Die Männer sind nu mal so.« Allmählich sah sie ein, daß er recht gehabt hatte, und daß sie dies und noch mehr wert sei. Unrat wiederholte ihr so standhaft, wie hoch sie stehe und wie wenig die Menschheit ihren Anblick verdiene, daß sie endlich an- fing, sich selbst sehr ernst zu nehmen. Es hatte sie noch niemand so ernst genommen, und darum auch sie selbst sich nicht. Sie war dem dankbar, der es sie lehrte. Sie fühlte, daß sie sich bemühen müsse, ihrerseits den Mann recht hochzuschätzen, der ihr eine solche Stellung anwies. Sie tat mehr: sie strengte sich an, ihn zu lieben. Plötzlich erklärte sie ihm, sie wolle Lateinisch lernen. Er willfahrte ihr sofort. Sie ließ ihn dann reden, antwor- tete falsch oder überhörte die Frage und sah ihn nur immer an, voll anderer Fragen an sich selbst. In der dritten Un- terrichtsstunde erkundigte sie sich: »Nu sag mal, Unrat- chen, was is denn eigentlich schwerer zu kapieren, Latein oder Griechisch?« »Meistens wohl das Griechische«, entschied er, und darauf sie: »Denn will ich Griechisch lernen.« Er war entzückt; er fragte: »Warum jedoch?« »Darum, mein Unratchen.« Sie küßte ihn, und es sah aus wie die Parodie einer Zärt- lichkeit. Und doch war es eine echt gemeinte. Er hatte sie ehrgeizig gemacht; und sie verlangte, ihm zu Ehren, statt des Lateinischen das Griechische, weil es schwerer war. Ihr Verlangen war eine Liebeserklärung – die vorwegge- nommene Erklärung einer Liebe, zu der sie sich nötigen wollte. 180
Schwer genug fand sie’s ja, ihr altes Unratchen zu lie- ben. Griechisch war auch nicht schwerer. Sie strich im- mer, als wollte sie ihn sich recht zu eigen machen, mit den Fingern um den Umriß seiner hölzernen Maske, um die klappenden Kiefer, die eckigen Höhlen, aus deren Win- keln seine Augen hervorschielten, giftig nach allen andern und nach ihr voll kindlicher Dienstfertigkeit. Das gab ihr Mitleid ein und leichte Zärtlichkeit. Seine Gebärden und seine Worte, die hilflose Komik der einen und die um- ständliche Geistigkeit der andern: alles rührte sie. Auch an die Hochachtung, die er verdiente, erinnerte sie sich oft. Aber weiter kam sie nun einmal nicht. Um den Mißerfolg ihres Gefühls zu vergüten, nahm sie einige Male beim Griechischen allen ihren Verstand zu- sammen. Unrat rötete sich fleckig und eilte wonnebebend den Partikeln entgegen. Als er den Homer aufschlug und sie zum erstenmal ein μέν … δέ νὔν herauslesen ließ – als diese geliebten Laute nun wirklich aus dem bunten Ge- sicht der Künstlerin Fröhlich und von ihren anmutig be- malten Lippen fielen: da klopfte sein Herz. Er mußte das Buch weglegen und sich sammeln. Seine Atmung war noch sehr in Unruhe; er nahm auf dem Tisch die kleine weiche und immer etwas fettige Hand der Künstlerin Fröhlich und sagte, er sei nicht gesonnen, sich auch nur für eine Stunde des ihm erübrigenden Lebens von ihr zu trennen. Er wolle sie heiraten. Erst verzog sie den Mund zum Weinen. Darauf lächelte sie bewegt, lehnte ihre Wange an seine Schulter und wiegte sich darauf. Das Wiegen ward zum Zucken; ihr Jubel brach aus, sie riß Unrat vom Stuhl, schwenkte ihn umher. »Nu wer’ ich Frau Unrat! Ich lach mir ja ’n Ast! Frau Professor Unrat – nee, Raat, bitte, meine Herrschaften.« Und sie spielte sofort eine würdige Dame, die sich im Sessel niederläßt. Einen Augenblick redete sie vernünftig: Nun wolle sie gar nicht mehr ihre neue Wohnung; das 181
meiste sei doch schon verkauft. Nun wolle sie mit in Un- rats Villa vorm Tor und sie ganz neu einrichten! Dann platzte sie wieder aus. Schließlich beruhigte sie sich, ward nachdenklich aussehnd und äußerte nur noch: »Was aus ’n Menschen werden kann.« Als er fragte, ob sie sich freue, und die Dinge sollten doch wohl recht bald vonstatten gehen, lächelte sie nur noch zerstreut. Sie schien ihm die folgenden Tage niemals ganz bei der Sache. Zuweilen sah sie geradezu sorgenvoll aus, leugnete es aber standhaft. Sie ging oft aus und ward ungeduldig, wenn er mitwollte. Er war betroffen und empfand dunkel ein peinliches Rätsel. Eines Tages kam er darüber zu, wie sie aus einem niederen Gasthaus trat. Nach einer Weile schweigsamen Nebeneinandergehens versetzte sie ge- heimnisvoll: »Es is nich immer alles so, wie mancher woll meint.« Dies beunruhigte ihn vollends, aber sie wollte sich nicht erklären. Eines weiteren Tages endlich trippelte, wie Unrat allein und betrübt durch die mittäglich leere Siebenbergstraße ging, ein kleines weißgekleidetes Kind auf ihn zu und sagte mit einem einfältigen Plärrstimmchen: »Komm nach Haus, Papa.« Unrat blieb erstaunt stehen und sah auf die kleine, weißbehandschuhte Hand, die das Kind ihm hinstreckte. »Komm nach Haus, Papa«, wiederholte es. »Was heißt nun das?« fragte Unrat. »Wo wohnst du denn?« »Da«, und es zeigte hinter sich. Unrat sah auf, und da erblickte er an der nächsten Ecke die Künstlerin Fröhlich, mit schmeichlerisch-schiefem Köpfchen und mit einer halben Gebärde der Hand, die sich schüchtern ein Stückchen von der Hüfte weg be- wegte, als entschuldigte sie, und als bäte sie. 182
Unrat klappte ratlos mit den Kiefern. Auf einmal hatte er begriffen; und das weißbekleidete Händchen, das ihm noch immer hingehalten ward, er nahm es einfach.
183
XIII
Die Familie besuchte das nah gelegene Seebad. Sie wohnte im Kurhotel und hatte am Strande eines der hölzernen Chalets inne. Die Künstlerin Fröhlich trug weiße Schuhe und weiße Federboas zu weißen Voilekleidern. Sie sah frisch und luftig aus mit dem flatternden weißen Schleier an ihrem Crêpelisse-Hut und mit ihrem weißen Kind an der Hand. Auch Unrat bekam einen weißen Strandanzug. Auf der Bretterpromenade, an den langen Dünen hin, ward ihnen aus allen Holzhütten mit den Operngläsern nachgesehen; und jemand aus der Stadt erzählte Fremden ihre Geschichte. Wenn das Kind der Künstlerin Fröhlich mit feuchtem Sande buk, mußte es seine Kuchenformen ganz festhalten; denn kaum lief es die unbestimmteste Gefahr, eine davon in Sand oder Wasser zu verlieren, stürzte sich schon ir- gendein eleganter Herr darüber her und brachte sie – nicht dem Kinde, sondern der Künstlerin Fröhlich. Dann nannte er mit einer Verbeugung vor Unrat seinen Namen. Infolgedessen saß die Familie in ihrem Strandhäuschen beim Kaffee nun schon mit zwei Hamburger Kaufleuten, einem jungen Brasilianer und einem sächsischen Fa- brikanten. Die zusammengewürfelte Gesellschaft machte Segel- partien, bei denen allen Herren übel ward, nur Unrat nicht. Er und die Künstlerin Fröhlich lachten einander zu. Das Kind erhielt täglich Pfunde Pralines, nebst aufgeta- kelten Schiffchen, hölzernen Schaufeln und Badepuppen. Immer war man guter Dinge. Man ritt auf Eseln, Unrat 184
mit verlorengegangenen Steigbügeln und an die Mähne ge- klammert, im Galopp bei der Kurmusik vorbei, grade zur Stunde des Konzerts. Die Künstlerin Fröhlich kreischte, das Kind jauchzte, und an den Tischen fielen saure Bemer- kungen. Als noch ein Berliner Bankier mitsamt einer ungari- schen Tänzerin dazukam, nahm die »Rotte Unrat« allen Raum ein, lärmte an der Table d’hôte, verlangte vom Ka- pellmeister die Musikstücke, mit denen die Künstlerin Fröhlich in ihrer Laufbahn zu tun gehabt hatte, ließ auf eigene Faust Feuerwerke abbrennen, stellte alles auf den Kopf und stiftete Vergnügen und Empörung. Unrat war denen, die um seiner Frau willen mit ihm lebten, ein Rätsel. Er gab sich Blößen beim Verzehren mancher Gerichte, fiel auf einer Reunion lang hin, trug seine englischen Anzüge wie eine Verkleidung und schien, wenn man ihn so ansah, kein ernstes Hindernis bedeuten und keine andere Wirkung hervorbringen zu können als eine durch Kläglichkeit belustigende. Er dünkte einem von Natur immer im Verlieren. Dabei fing man aber, wäh- rend man mit seiner Frau im besten Flirten war, unverse- hens einen trocken spöttischen Blick auf, den er einem von hinten widmete. Wenn er das Armband bewunderte, das man seiner Frau schenkte, hatte man auf einmal die Emp- findung, man sei hineingefallen. Und noch nach Erlan- gung nahezu entscheidender Vorteile – auf einem späten Spaziergang an die See hinunter, allein mit der Frau, wäh- rend der Gatte mit den andern bei der Bowle saß – kam man sich bei seinem Gutenachthändedruck wie der Aus- gelachte vor und zweifelte nachdrücklich, ob man je ans Ziel kommen werde. Und man kam nie hin. Denn Unrat verstand es viel zu gut, einen bei der Künstlerin Fröhlich zurückzuwerfen und abzutun. Er verspottete, sobald er mit ihr allein war, die englischen Redensarten der beiden Hamburger, zuckte 185
die Achseln über den Brasilianer, der, anstatt flache Kiesel über das glatte Wasser springen zu lassen, Markstücke dazu nahm, und ahmte die feudalen Kopf- und Handbe- wegungen des Leipzigers nach, beim Anzünden einer Zi- garette und beim Öffnen einer Flasche. Dann lachte die Künstlerin Fröhlich. Sie lachte, ohne daß Unrats Gründe für die Verächtlichkeit von alledem sie recht überzeugt hätten. Auch brachte er eigentlich nichts vor, als daß die Griechen das nicht so gemacht haben würden. Aber wer sie zu einem Gelächter aufforderte, dem war sie immer dankbar. Und überdies ward sie bezwungen von Unrats hartnäckiger und in ihrer Unangreifbarkeit beinahe maje- stätischer Überzeugung, daß kein menschliches Wesen in Frage komme neben ihm und ihr. Im Bann eines Starken, gewann auch sie an Selbstgefühl und Haltung. Zu dem Brasilianer, der an einer einsamen Klippe vor ihr im Sande kniete und die Hände rang, sagte sie, als gingen ihr nun wirklich die Augen auf, im Ton unmittelbarer Anschau- ung: »Sie sind doch ’n Baffze.« Dabei hatte es ihr geschmeichelt, daß dieser junge Mensch, der bei einer Familie aus der Stadt zu Gast war, alle seine Bekannten liegenließ, um mit ihr zu zigeunern und sein Geld auszugeben. Aber er war ein Baffze, kraft Unrats Verfügung. Er fragte sie nach solchen Abwesenheiten niemals aus. Er zeigte sich nicht beunruhigt, wenn sie zu vorteilhaft angezogen war, wenn ihre Sommerkleider aus Spitzen und leichtem Leinen die Bewerber zu schlau in Atem hielten. Im Gegenteil, indes die Herren draußen warteten, half Unrat der Künstlerin Fröhlich, sich schön zu machen und schminkte sie, wie früher in der Garderobe. Er bemerkte mit seinem giftigen Lächeln: »Das Volk wird ungeduldig. Man müßte Klavier spielen lassen, damit es aushält.« Oder: »Wenn du jetzt, halb geschminkt und ihnen unerwartet, 186
den Kopf durch die Tür stecken würdest, ei, da riefen sie denn wohl wieder hohohoho.« Die Abreise aus dem Seebad erfolgte nicht ohne einen leb- haften Zwischenfall. Am Bahnhof war die ganze »Rotte Unrat«, und der Brasilianer hatte grade erst einige Worte mit der Künstlerin Fröhlich beiseite sprechen können, da keuchte hinkend ein alter Herr herbei, der Makler Ver- möhlen, zu dessen Familie der junge Fremde zählte, und versuchte, seine Hand auf das Etui in den Händen der Künstlerin Fröhlich zu legen. Sie hatte es soeben in aller Form von dem Brasilianer geschenkt bekommen. Unrat mußte herzueilen und die Rechte seiner Frau wahrnehmen. Während der junge Mann, voll Scham, seine ganze Verwandtschaft verleug- nete, hielt der alte Vermöhlen in großer Erregung dem Ehe- paar Unrat vor, daß sein Neffe in ihrer Gesellschaft schon längst seine Mittel überschritten habe. Diese Brosche habe er nicht mehr kaufen können; leider habe seine schwache Tante ihm das Geld dazu gegeben; es sei aber Vermöhlens Geld gewesen, und darum gelte der Handel nicht. Unrat versetzte dagegen mit zurechtweisender Ruhe, daß das Geld des Herrn und der Frau Vermöhlen wohl sicher eins und dasselbe sei; daß er auf solche inneren An- gelegenheiten der Familie Vermöhlen Rücksicht zu neh- men nicht gesonnen sei; und daß übrigens zum drittenmal geläutet werde. Und seine grauen Finger fest um das Etui, schob er die Künstlerin Fröhlich in den Wagen. Alle schwenkten die Hüte, bis auf Vermöhlen, der mit dem Stock drohte. Die Künstlerin Fröhlich machte zuerst eine verzagte Bemerkung über das Peinliche und über die möglichen Folgen. Unrat klärte sie über die Grundlosigkeit ihrer Be- fürchtungen auf. Er setzte hinzu, der Makler Vermöhlen habe Söhne, diese seien ehemalige Schüler, und Unrat 187
habe sie nie »fassen« können. Vermöhlens seien verwandt mit vielen Familien der Stadt. Die Künstlerin Fröhlich hatte sich beruhigt. Sie zeigte die kleinen Brillanten ihrem Kinde, lachte mit ihm und verhieß: »Die ollen Anhängsel und Feststecksel sind alle für Mimi, wenn Mimi mal erst ’ne Mitgift braucht.« Unrat frohlockte, weil die Schüler Vermöhlen nun »ge- faßt« waren. Allmählich ward er nachdenklich darüber, daß hier Schülern samt ihrer weitverzweigten Familie ein Schaden erwachsen war, der nicht aus Einsperrung ins Ka- buff und nicht aus Vertreibung von der Schule hervorging. Schaden und – traun fürwahr – äußerstes Verderben ließen sich also auf andere Weise bewirken als durch Vertreibung von der Schule. Auf neue, unvorhergesehene Weise … In der Stadt und in ihrer Villa begann wieder das vorige Leben. Es fehlte an Verkehr. Bis zum Abend, wo man im- mer ins Theater und ins Restaurant mußte, lag die Künst- lerin Fröhlich im Frisiermantel auf allen Möbeln umher. Unrat schlug vor, sie durch Unterricht im Griechischen ein wenig zu zerstreuen. Sie lehnte unbehaglich ab. Eines Abends, in einem Lustspiel, entdeckte sie in der auftreten- den Köchin eine alte Bekannte. »Das is weiß Gott Hedwig Pielemann, daß sie die hier überhaupt nehmen, die konnte doch nie was.« Darauf berichtete sie sofort eine Menge Anzügliches aus dem Leben der ehemaligen Kameradin. Und zum Schluß: »Du, die muß uns besuchen.« Die Pielemann kam, und die Künstlerin Fröhlich setzte ihr, um sie zu blenden, kleine feine Frühstücke und Sou- pers vor. Nun lagen auf den Möbeln zwei Damen statt einer, rauchten und erinnerten einander an schon bespro- chene Erlebnisse. Unrat sah mit schlechtem Gewissen zu, wie sie sich langweilten. Er fühlte die Verpflichtung, ein- zugreifen, und blieb doch ratlos, bedrängt wie er war von 188
geheimen Sorgen. Sooft es läutete, fuhr er vom Sitz auf und schlich ganz eilig an die Flurtür. Den Damen fiel es auf, daß er niemals dem Dienstmädchen erlaubte, die Tür zu öffnen. »Entweder«, sagte die Künstlerin Fröhlich, »er will mich überraschen, oder er betrügt mich. Mein alter Unrat hat es überhaupt faustdick hinter ’n Ohren.« Eines Tages kam ein Brief aus Hamburg, von den beiden guten Freunden. Sie wollten eine Herbstreise machen, zu Schiff an die spanische Küste und bis nach Tunis. Sie ver- langten, daß Unrat und Frau mitkämen. »Na also!« versetzte die Künstlerin Fröhlich. »Das is doch mal was. Wir reisen zu die Wilden. Du mußt mit, Pielemann, schind Urlaub raus. Wir schminken uns alle braun, nehmen Bettlaken um, un ich setz mir mein Dia- dem auf, was ich noch hab von der Zeit her, wie ich Künst- lerin war.« Die Pielemann war bald gewonnen. Unrat ward nicht gefragt. Man wunderte sich nur, daß er so wenig Begeiste- rung verriet. Er zog es hin, bis die Pielemann gegangen war; dann kam es endlich zu befreienden Geständnissen. Es war kein Geld mehr da. »Is nich die Möglichkeit! ’n Professor muß doch Geld haben!« rief sie aus. Unrat lächelte verlegen. Er hatte ja auch dreißigtausend Mark Ersparnisse gehabt. Sie waren dahin; Einrichtung, Toiletten, Vergnügungen. Die laufenden Ausgaben hiel- ten nicht Schritt mit Unrats Pension; sie waren ihr weit voraus. Unrat kramte Mahnbriefe aus, die er an der Tür abgefangen hatte, von Lieferanten aller Art, Restaurateu- ren, Schneiderinnen. Er erzählte gedemütigt und haßer- füllt von den Schlichen, die er hatte lernen müssen, um das Auftreten des Gerichtsvollziehers hintanzuhalten: nicht mehr für lange. Die Künstlerin Fröhlich verhielt sich erschreckt und 189
reumütig. Sie habe sich ganz gewiß nichts dabei gedacht. Jetzt habe es aber auch geschnappt, und die beiden Fatz- ken könnten allein zu den Wilden. Heute mittag solle es bloß Suppenfleisch geben, obwohl allerdings ’ne Gans schon überm Feuer sei; und zu Abend Schlackwurst, und sie wolle nun auch wieder Griechisch lernen, weil das noch das Billigste sei. Unrat war gerührt, er versicherte, er kenne – freilich denn nun – seine Pflicht, der Künstlerin Fröhlich alles zu beschaffen, dessen sie benötige. »Ach ja«, sagte sie, »die Goldkäferstiefel für sechzig.« Sie teilte sogleich der Pielemann schriftlich mit: »Wir haben kein Geld.« Der Umstand brachte immerhin Bewe- gung in ihr Dasein. Die Pielemann entschied, Unrat müsse Stunden geben. »Wenn mein Mann hier nur nicht so gräßlich unbeliebt wäre«, meinte die Künstlerin Fröhlich. Die Pielemann, stolz darauf, einen Dienst leisten zu können: »Ich schick ihm meinen Freund. Den kann er meinswegen rupfen, ich drück ’n Auge zu.« »Lorenzen, den Weinhändler? Hände weg, das is ’n frü- herer Schüler von Unrat, er hat mich schon mit angeödet. Du seist ihm recht, sagt er, aber dein Freund käme ihm nich ins Haus … Un wenn ich ihn auch rumkrieg, Loren- zen wird sich hüten und ihm in die Fänge laufen.« »Du kennst mich schlecht«, entgegnete die Pielemann. »Ich stelle die Vertrauensfrage: entweder–oder.« Es ward Unrat mitgeteilt, der Weinhändler Lorenzen müsse Griechisch lernen, weil er griechische Weine ver- kaufe, und Unrat solle ihm Stunden geben. Unrat geriet zunächst in fliegende Unruhe, aber er brachte keine Wei- gerung vor. Er sprach erregt und mit tückischem Lächeln von den zahlreichen Vergehungen und Auflehnungsversu- chen des Schülers Lorenzen, von den Gelegenheiten, wo- bei Lorenzen ihm seinen Namen gegeben hatte, ohne daß Unrat ihn jemals hatte »fassen« können. 190
»Ei, ei«, bemerkte er dazwischen, »noch ist nichts ver- loren.« Darauf: »Du erinnerst dich wohl, meine Liebe, des bei unserer Eheschließung herrschenden Lärmes, des Haufens, der unsern Wagen begleitete –« »Jaja, laß man«, machte die Künstlerin Fröhlich, denn die Erwähnung dieser Vorgänge im Beisein der Pielemann beschämte sie. Unrat, ohne sich stören zu lassen: »– der Rotte, die vor dem Standesamte – immer mal wieder – johlte und Neben- dinge trieb, und insbesondere des Kiesels, der beim Ein- steigen deine weiße Atlasrobe beschmutzte. Nun wohl! Es steht unerschütterlich fest, daß, unter die jugendlichen Attentäter gemischt und meinen Namen in die Lüfte hin- ausschmetternd, auch der Schüler Lorenzen sich damals mit Schmach bedeckt hat!« »Dem werd ich es mal zu verstehen geben!« erklärte die Pielemann. »Ich habe ihn leider nicht fassen können«, fuhr Unrat fort. »Ich vermochte nicht, es ihm zu beweisen. Jetzt aber soll er Griechisch lernen. Gar manchen konnte ich nicht fassen. Daß sie doch alle Griechisch lernten!« Darauf stellte Lorenzen sich ein und ward milde behan- delt. Wegen jedes fehlenden Heftes oder Bleistifts rief Un- rat die Künstlerin Fröhlich herein und verwickelte sie in eine Unterhaltung. Zuerst mußte sie dem Schüler Loren- zen ihre Kenntnisse im Griechischen vorführen, dann glitt das Gespräch zu modernen Dingen. Der Schüler Loren- zen war eingetreten mit dem Anspruch auf überlegene Ironie. Er ließ ihn ruckweise fallen, als er die Künstlerin Fröhlich in so freier und maßvoller Anmut sich zwischen ihren Möbeln bürgerlichen Stils bewegen sah; als er sie besser gekleidet fand als seine eigene Frau, die sich im Theater jedesmal entrüstet hatte über die Künstlerin Fröh- lich; als es ihm aufging, daß eine leichte Schminke, ein Anflug von Dirnenjargon und mehrere Messerspitzen 191
Komödianterei das Familiesimpeln eigentümlich würz- ten. Dieser Schlaumops von Unrat! Auf diese Weise brauchte man allerdings weder in den Klub noch sonstwo- hin. Und statt seiner anfänglichen Hoffart bekam Loren- zen vor dem Ehepaar Unrat etwas Klebrig-Bittstellen- sches. Er erlangte die Erlaubnis, das nächste Mal etwas von seinem Wein mitzubringen. Er brachte außerdem eine Pa- stete, und ein kleines Frühstück ersetzte die griechische Stunde. Wenn draußen etwas zu besorgen war, ging jedes- mal Unrat. Er ging zuerst nach einem Pfropfenzieher und später, als man getrunken hatte und der Schüler Lorenzen angeheitert war, nach vielen andern Dingen. Wie diese Zusammenkunft sich wiederholte, äußerte die Künstlerin Fröhlich die Ansicht, es wäre noch viel net- ter mit mehreren Personen. Der Schüler Lorenzen war mehr für das Intime; aber Unrat gab seiner Gattin recht. Lorenzen mußte Freunde bitten. Die Pielemann führte eine Kollegin ein. Es war Sache der Herren, Kuchen, Auf- schnitt, Früchte zu beschaffen. Den Tee lieferte dafür die Hausfrau. Regelmäßig stellte sich Appetit auf Sekt ein, und regelmäßig bemerkte Unrat dazu, mit seinem hinter- hältigen Lächeln: »Es ist Ihnen bekannt, meine Damen und Herren, daß ich meiner Zugehörigkeit zum Lehrkör- per des hiesigen Gymnasiums – mag es dahingestellt blei- ben, ob verdienter- oder unverdientermaßen – verlustig gegangen bin.« Man ließ ihn jedesmal zu Ende reden und freute sich. Dann legten die Herren zusammen, und es ward nach Sekt geschickt. Manchmal ging Unrat selbst und machte die Bestellung. Man sah ihn die Straße wieder heraufkom- men, mit dem Korbträger vor sich, streng darauf bedacht, den Transport des Getränkes zu decken, wie er ihn ehe- mals im Blauen Engel gedeckt hatte. Wenn die Laune hoch genug gestiegen war, willfahrte 192
die Künstlerin Fröhlich den Bitten und trug ihre beliebten Lieder vor: einmal, als sie im Trinken unvorsichtig gewe- sen war, auch das vom runden Mond. Sofort unterbrach Unrat sie und schickte alle nach Haus. Sie wunderten sich, erhoben Widerspruch, begingen Dreistigkeiten. Aber als sie Unrat pfauchen und nicht gesonnen sahen, dies zu dul- den, verzogen sie sich. Die Künstlerin Fröhlich bat ihren Mann kleinlaut um Verzeihung. Sie wisse wahrhaftig nicht, was ihr angeflogen sei. Es waren alles jüngere Leute, und die meisten hatten zum Stammpublikum im Blauen Engel gehört. Solange sie in geringer Zahl waren, betrugen sie sich, unfähig, in einen rein menschlichen Verkehr mit Unrat hineinzufinden, scheu und frech; ulkten hinter seinem Rücken und fielen, wenn sie für ihre Witze einstehen sollten, in schülerhafte Demut zurück. Dann vermehrten sie sich, und der ein- zelne ward zum unverantwortlichen Zuschauer. Keine Vertraulichkeit fälschte mehr die Stimmung. Es war, als sei Unrat mit seiner Truppe einfach in ein kleineres Lokal übergesiedelt, wo man mit den Damen bequemer verkeh- ren konnte. Dazu ward hier später geschlossen, und im- mer erst, wenn man freiwillig wegging. Einmal, als nur noch wenige da waren, bestimmte Lorenzen sie zu einem Baccara. Unrat bekundete Neugier, ließ sich das Spiel er- klären und übernahm, als er es begriffen hatte, die Bank. Er gewann. Sobald dies aufhörte, gab er die Bank ab. Lo- renzen fühlte sich, als Anreger der Partie, dazu gedrängt, Leben hineinzubringen. Er entnahm seiner Brieftasche Hundertmarkscheine in rascher Folge. Mehrere bekamen rote Köpfe und bedauerten einmal über das andere, nicht mehr Geld zu sich gesteckt zu haben. Der Bankier war wieder im Glück. Die Künstlerin Fröhlich glitt hinter ih- ren Mann und raunte: »Siehste woll? Was hast du denn die Bank nich behalten, oller Dussel.« Unrat erwiderte: »Der Hut im Preise von achtzig Mark 193
ist dein, meine Liebe. Auch bin ich in der Lage, dem Re- staurateur Zebbelin vorläufig den Mund zu stopfen. Mag’s damit genug sein.« Er sah gelassen den Lorenzenschen Banknoten nach, die nicht er selbst einsteckte. Worauf es ankam: der Schü- ler Lorenzen verlor sie; und Unrat, rascheren Atems, fühlte sich auf dem von unterirdischem Beben leise er- schütterten Weg zum Triumph. Wie Lorenzen schließlich ernüchtert und mit einfältigem Gesicht in seine leere Brieftasche glotzte, ging Unrat auf ihn zu und versetzte: »Mag’s denn genug sein für heute, Lorenzen, mit unserer griechischen Stunde.« Bald sickerte durch die Stadt die Kunde, daß bei Unrats Orgien gefeiert würden. Die Herren an der Börse und im Klub, an den Stammtischen, in den Kontoren erhielten durch einige Unverheiratete saftig übertriebene Schilde- rungen. Leichte Echos davon trugen sie in ihre Familien, und die Ehefrauen wisperten und wollten mehr wissen. Was denn der Cancan sei, den die Unrat getanzt haben sollte. Der Gatte vermochte es nicht hinlänglich zu erklä- ren; und so stellten sie sich darunter irgendeine alle menschlichen Kräfte übersteigende Unzucht vor. Und dann das Spiel, das bei Unrats üblich sein sollte: ein Pfän- derspiel. Mehrere Paare mußten sich auf den Fußboden legen unter eine große Decke, alle in einer Reihe, und im- mer ein Herr neben eine Dame. Sie lagen bis an den Hals zugedeckt, und solange die Decke sich nicht bewegte, ging es niemand etwas an, was darunter geschah. Bewegte sie sich aber, mußte derjenige ein Pfand geben, oder dieje- nigen. Dieses Spiel übte in der Stadt einen sagenhaften Reiz. Dunkle Berichte davon drangen in die Kreise der jungen Mädchen; und stundenlang sannen sie miteinander darüber nach, die Augen voll erschrockener Neugier. Au- ßerdem wollten sie wissen, daß bei Unrats die Damen zu- 194
weilen mit ganz entblößtem Oberkörper erschienen. »Wie unglaublich unpassend!« Aber komisch mußte es sein. Lorenzen brachte einige Offiziere mit, die den Wein für ihre Messe bei ihm kauften; darunter Leutnant von Gierschke. Assessor Knust war einer der ersten aus der feinen bürgerlichen Gesellschaft, die sich einstellten. Er trat in nachdrücklichen Wettbewerb mit dem jungen Oberlehrer Richter bei der Künstlerin Fröhlich. Richter war endlich verlobt mit dem Mädchen aus reicher, Ober- lehrern sonst unzugänglicher Familie; und der Bräuti- gamsstand bekam ihm schlecht. Er ward reizbar, genuß- süchtig, verlor leicht seinen sonst so gesetzten Beamten- kopf. Er verspielte, hingerissen durch das Beispiel Loren- zens, im Hause Unrat mehrere seiner Monatsgehälter an einem Abend, ging blöde Wetten ein, vergaß in der Hitze seiner Werbungen um die Hausfrau alle Zurückhaltung. Im Lehrerzimmer fielen böse Andeutungen über seinen Verkehr bei dem einen Schandfleck des Standes darstellen- den Unrat. Unrat hatte, wie das Spielglück es brachte, Höhen oder Tiefen. Einmal erhielt die Künstlerin Fröhlich einen Chinchillapelz für tausend Mark, und ihr bunter Kopf kam prickelnd heraus aus dem grauen, langhaarigen Fell. Dann wieder mußte Unrat, wenn die Gäste eintrafen, sich ins Bett stecken und krank sagen lassen, weil kein einziger Restaurateur mehr etwas zu essen schicken wollte. Tags darauf ging er hin und hielt den Leuten vor, daß sie von einer Katastrophe keinesfalls etwas zu hoffen hätten. Sie konnten sich der Einsicht nicht entziehen und verlänger- ten den Kredit, bis Unrat wieder gewonnen haben würde. Die Künstlerin Fröhlich pointierte nur selten, und dann hörte sie nicht früher auf, als bis alles dahin war. Eines Abends aber suchte ein so wolkenloses Glück sie heim, daß ihr Gegner, Lorenzen, sich zurückziehen mußte … 195
Er war sehr blaß und verschwand, indem er Drohungen ausstieß. Die Künstlerin Fröhlich saß da, überwältigt wie ein Kind nach der Bescherung, und hielt in kraftlosen Händen Papier und Gold. Man erbot sich, plötzlich sehr achtungsvoll, es ihr zusammenzuzählen; und es waren mehr als zwölftausend Mark. Sie sagte nur, sie wolle schla- fen gehn. Und mit Unrat allein geblieben, die Augen voll Fieber, und mit einem süßen, halb versagenden Stimm- chen: »Nu hat Mimi wieder ’ne Mitgift. Die Anhängsel und Feststecksel haben wir alle drangeben müssen, aber nu hat sie doch wieder eine und braucht es nich so zu ma- chen als wie ich.« Aber schon am frühen Morgen ward das Haus gestürmt von Gläubigern, die Geld witterten; und ob die Künstle- rin Fröhlich die Mitgift ihres Kindes auch mit ihrem Leibe deckte, sie entrissen sie ihr. Andererseits verbreitete sich das Gerücht, der Wein- händler Lorenzen stelle seine Zahlungen ein. Unrat lief sofort nach Erkundigungen, und wie er zurückkam, war er bleich, feucht, und konnte kein Wort hervorbringen. Schließlich, schnappend, mit klappenden Kiefern: »Er macht Bankrott. Der Schüler Lorenzen macht Bankrott!« »Was ich mir dafür kaufe«, erwiderte die Künstlerin Fröhlich, auf der Ottomane zusammengesunken und mit den Händen schaukelnd zwischen den Knien. »Der Schüler Lorenzen macht Bankrott«, wiederholte Unrat. »Der Schüler Lorenzen liegt zerschmettert am Erdboden und wird sich nicht wieder erheben. Seine Laufbahn ist – traun fürwahr – jäh beendet.« Er redete ganz leise, als fürchtete er, vom eigenen Jubel gesprengt zu werden. »Was hast du davon. Mimi ihre Mitgift sind wir los.« »Der Schüler Lorenzen ist nun gefaßt worden. Diesmal ist es mir gelungen, ihn zu fassen und ihn seinem wohlver- dienten Schicksal auszuliefern.« 196
Sie sah ihn umherstreichen, als sei er verwirrt. Seine Hände zitterten an Gegenständen, die zu berühren er sich nicht bewußt war. Sie äußerte noch mehreres und hörte ihn immer nur bebend hinhauchen: »Der Schüler Loren- zen liegt zerschmettert am Erdboden.« Allmählich zog sein Benehmen sie an. Seine viel stär- kere Seelenbewegung fuhr über ihre hin und löschte sie aus. Sie verlor ihren Kummer aus dem Sinn, sah ihrem Mann starr nach, undeutlich erschrocken über diese Lei- denschaft, als sei sie ein auf Unrats Grunde immer sprung- bereiter Wahnsinn; und dabei bezwungen und ihrem alten Unrat mit einem süßen Schaudern fester verbunden grade durch sie, durch diese Leidenschaft, durch diese gewalttä- tige und gefährliche Sache.
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XIV
Sogar einige noch in der Zucht der Schule lebende Schüler mischten sich unter die Unratschen Gäste. Einer von ih- nen, ein langer, semmelblonder, verlor auffallende Sum- men. Ende der Saison, an einem Sonnabend, schon im Frühling, sah Unrat auf der Schwelle den Oberlehrer Hübbenett stehn, seinen Feind, der sich über Unrats Sohn gehässig ausgelassen und vor Unrats eigener Klasse von »sittlichem Unrat, vielmehr Kot« gesprochen hatte. Nun stand er da, mannhaft aufgereckt, und Unrat lächelte ihm giftig entgegen. Er hatte den Kollegen erwartet; denn der Schüler Hübbenett spielte viel zu hoch; es mußte in die- sem Oberlehrerhause etwas nicht sein, wie es sollte. Hübbenett schritt krebsrot auf seinen Sohn los und for- derte den ganz Zusammengesunkenen auf, ihm zu folgen. Er fügte laut und an niemand gerichtet hinzu, daß er Schritte tun werde zur Beseitigung von Zuständen, wie die hier von gewissenlosen Abenteurern ins Leben gerufenen; Zuständen, die auf die Versuchung und Verführung schwacher junger Menschen berechnet seien; Zuständen, die vermittelst beraubter väterlicher Kassen und durch an- dere, aus Blut und Kot zusammengeknetete Mittel auf- rechterhalten würden. Ein Offizier drückte sich eilig hinaus. Ein sehr beunru- higter Festteilnehmer machte sich an den erbitterten Oberlehrer heran und stellte ihm eindringlich vor, wie un- klug es sein würde, Lärm zu schlagen. Er halte die Ver- sammlung hier für unlauter? Er solle sich doch erst ihre Zusammensetzung ansehn. Er wisse wohl gar nicht, wer 198
der melierte Herr am Spieltisch gleich beim Fenster sei? Das sei nämlich Konsul Breetpoot. Und wer wende sich dort stirnrunzelnd nach Hübbenett um? Kein anderer als Polizeirat Flad. Ob Hübbenett wirklich gut abzuschnei- den hoffe bei einem Ansturm gegen bestehende Dinge, an denen solche Herren interessiert seien. Hübbenett hoffte es nicht: man sah es ihm an. Er redete zwar noch einiges Catonische, aber mit abschwellender Stimme; und dann trat er den Rückzug an. Es achtete schon niemand mehr auf ihn. Nur Unrat, siegstrahlend, schlich behende hinterher, bot dem Kollegen eine Erfri- schung an und rief, als der andere durch einen Ruck mit den Schultern sittlichen Abstand feststellte, ihm herzlich nach, sein Haus bleibe Hübbenett Vater und Sohn stets weit geöffnet. Dann kam wieder die Badezeit. Diesmal ging ein ganzer Wirbelwind von Lebewelt im Gefolge Unrats über den kleinen Küstenort hin. Unrats nahmen eine möblierte Villa. Auf demütig biedere Sofas legten sie gestickte japa- nische Seidendecken, dem Tisch davor gaben sie eine Rou- lette zu tragen, in Gläser mit »Gruß von der Wasserkante« gossen sie Sekt. Nachdem die neue »Rotte Unrat« die Nacht hindurch gespielt und allen Ausgelassenheiten sich ergeben hatte, verfügte sie sich an den Strand, um die Sonne aufgehen zu sehen; oder, wenn es Sonntag war, frühstückte sie zum Morgenchoral der Kurkapelle. An- dere Nächte wurden außer Hause verbracht. Kraft des Ansehens ihrer zahlungsfähigen Begleiter erzwang die Künstlerin Fröhlich es, daß die Strandrestauration und das Café, die längst geschlossen waren, sich ihr zu jeder beliebigen Stunde wieder öffneten. Sie war unerschöpflich. Sie trieb Tag und Nacht das Ru- del ihrer Verehrer in allen Richtungen umher, warf dem einen Stock zum Wiederholen dorthin und jenem nach der 199
andern Seite einen verheißungsvollen Knochen: alles un- ter listigem Geblinzel auf Unrat, der sich die Hände rieb. Sie verlangte jeden auf die Probe zu stellen. Einem – es war ein rosiger, fetter Mensch – legte sie auf, er solle gleich nach dem Diner – es umfaßte sechs Gänge – hinüber- schwimmen bis zur Sandbank. »Menschenskind, Sie kriegen ja ’n Schlag«, sagte ein ziemlich Nüchterner. Und die Künstlerin Fröhlich: »Wer hier ’n Schlag kriegen will, den kann ich überhaupt nich brauchen, der soll sich nur dünnmachen. Was meinst du, Unratchen?« »Ei freilich«, sagte Unrat, »der soll sich dünnmachen.« Er setzte hinzu: »Der Schüler Jakobi war ja von jeher recht gewandt in den Leibesübungen. So ist er noch nach seinem Abgang von der Schule über die Hofmauer geklet- tert, um in das Fenster eines Klassenzimmers im untern Stockwerk, wo ich eben Unterricht erteilte, mittels eines Schlauches den Gestank saurer Schafsmilch zu leiten. Mehrere Tage lang war die Luft des Raumes nicht davon zu säubern. Von einem solchen nun ist es wahrlich zu hof- fen, daß er auch ein braver Schwimmer sei.« Diese Rede erhielt viel Beifall, und der junge Mann ent- schloß sich, inmitten eines Gelächters. Alle waren am Strande, wie er aus seiner Kabine trat, und wetteten auf ihn. Wie war er rosig und fett! Auf hal- bem Wege mußte er in das begleitende Boot gefischt wer- den und lag am Lande noch immer bewußtlos. Die Wiederbelebungsversuche erregten große Teil- nahme. Einige, die ihre erste Wette verloren hatten, woll- ten durch eine zweite, auf Jakobis Wiedererwachen oder Tod, den Verlust wiedergutmachen. Die Damen wurden von der Spannung arg mitgenommen; es erfolgte ein hy- sterischer Anfall. Als der Verunglückte sich nach fünfzehn Minuten noch nicht regte, wurden manche still und ent- fernten sich. Unrat blieb. 200
Er sah in das schlaffe, blutleere Gesicht des Schülers Jakobi und rief es sich zurück, wenn es höhnisch und aufrührerisch gewesen war. Das waren die. Da lagen sie und waren besiegt: gründlich besiegt. Darüber hin- aus gab es keinen Sieg mehr und keine Züchtigung. Eine leichte Bauchbeklemmung empfand er dabei. Der Triumphweg unter ihm geriet wieder etwas ins Schwan- ken. Dem Tyrannen schwindelte es auf seinem wahnsin- nigen Gipfel … Aber Jakobi öffnete die Augen. Sehr ungehalten äußerten sich über den Vorgang die bei- den Hamburger, der Brasilianer und der Leipziger. Bei ihnen war es zwar persönliches Gekränktsein, denn sie bedeuteten nichts mehr. Sie begriffen nicht, was gesche- hen war. Statt des immerhin gutmütigen Mädels vom Vorjahr fanden sie nun eine Künstlerin Fröhlich, die das frech Gebieterische einer wirklichen Schönheit angenom- men hatte, und der, ganz als sei sie es, von allen Seiten gefrondet ward. Und dabei war sie’s doch nicht: die Freunde vom vergangenen Sommer fanden den Schwin- del lächerlich. Aber täglich erlagen sie ihm selbst ein we- nig mehr. Der Brasilianer versuchte die ersten Tage noch, bei den Vertraulichkeiten von früher wieder anzuknüp- fen; dann lernte er ein mutloses Schmachten von fern. Die Nächsten am Ziel waren Assessor Knust und Oberlehrer Richter; denn sie hatten am meisten zu bie- ten. Der eine war der gesuchteste Junggeselle der Stadt; der andere war verlobt. Die Künstlerin Fröhlich blieb lange unschlüssig. Knust war der ansehnlichere, aber bei Richter wäre die Tragweite des Geschehnisses bedeuten- der gewesen. Seine Braut reizte sie, denn einzig diese kleine Person hatte es unternommen, hier im Seebad die Toiletten der großen Künstlerin Fröhlich zu besiegen. Von Knust verlangte sie, er solle auf den ersten Herrn, 201
dessen Namen sie am nächsten Mittwoch zufällig ausspre- chen werde, losgehn und ihn ohrfeigen. Knusts behäbiges Weingesicht schmunzelte, und er sagte, er sei ja nicht ver- rückt. Mit ihm sei sie fertig, erklärte sie darauf; und einer, der an sie gewisse Ansprüche stelle, der müsse für sie zu allem imstande sein, aber auch zu allem. Richter war es: so sehr hatte ihn sein Bräutigamsstand schon angegriffen. Eines Nachmittags während der Kur- musik erlebte man es, daß er inmitten einer lärmenden Ka- valkade auf einem Esel gemeinsam mit der Künstlerin Fröhlich, hinter ihr auf dem Sattel und betrunken an sie geklammert, vorbeigaloppierte, die Reihen der Kaffee- trinker entlang, in deren vorderster seine Braut saß. Gleich nach dem Abendessen erhob sich die Künstlerin Fröhlich, nahm Unrat und Richter an ihre beiden Seiten und verkündete mit einem kleinen süßen Stimmchen, heute wolle sie früh schlafen gehn. Man geleitete sie in Prozession, mit bunten Papierlaternen, an ihr Haus; und einige Herren stimmten unter dem Balkon ein Ständchen an. Als alles still war, rief Unrat, schon halb entkleidet, nach seiner Frau. Er meinte, sie sei auf dem Balkon. Nein. Er suchte und rief; er wollte mit ihr frohlocken, weil nun auch des Kollegen Richter Geschick sich erfüllt hatte und seine fernere Laufbahn in der erfreulichsten Weise bedroht war. Aber in den leeren Zimmern verpuffte sein Jubel. Es ward ihm beklommen. Ihre Launen kannte er doch, und sie war natürlich noch an die See gegangen. Unrat setzte sich an das vergitterte Bettchen des Kindes und vertrieb die Mücken. Wieder so ein einfältiger Mensch, der sich zu dieser Stunde von der Künstlerin Fröhlich zum Narren machen ließ; der ein wenig Mondschein eintauschte gegen seine Bracelets und silbernen Necessaires. Unrat ging inzwi- schen zu Bett … Aber in Tiefen seines Denkens, die er lieber unergründet ließ, war es schon bekannt, der Beglei- 202
ter der Künstlerin Fröhlich sei Richter; und Richter sei zu dieser Stunde kein Narr. Unrat wendete sich umher, bis es Mitternacht war. Dann raffte er sich aus den Decken, fuhr in die Kleider und sagte sich laut vor, man müsse das Dienstmädchen wecken, nach Leuten mit Laternen schicken; der Künstlerin Fröhlich könne etwas zugestoßen sein. Er ergriff sogar eine Kerze und machte sich auf nach der Kammer des Mädchens. Erst oben an der Treppe zum Boden riß er sich aus seinem Selbst- betrug, löschte angstvoll das Licht, damit es nichts verrate, und tappte sich zurück ins Schlafzimmer. Der Mond enthüllte ihm bleich das leere Bett der Künst- lerin Fröhlich. Unrat mußte beständig hinsehn; er atmete immer hastiger. Schließlich krümmte er sich und begann zu wimmern. Er erschrak vor seiner Stimme und rutschte un- ter die Decke. Nach einer Weile beschloß er, ein Mann zu sein; kleidete sich Hals über Kopf noch einmal an und über- legte, wie er die Künstlerin Fröhlich empfangen wollte. Er wollte sagen: Nun? Ein kleiner Spaziergang, immer mal wieder? Recht so. Trifft es sich doch, daß auch ich nicht müde war und soeben erst wieder heimkehre. Eine Stunde lang übte er, rastlos durch das Zimmer schleichend, diese Rede. Da geschah an der Haustür ein leichtes Geräusch; und mit einem wilden Griff warf Unrat die Kleider ab und schwang sich ins Bett. Er lauschte, die Lider heftig zuge- drückt, auf das gedämpfte Nahen der Künstlerin Fröhlich, auf das verstohlene Rascheln ihrer sinkenden Röcke, auf das behutsame Krachen, wie sie sich ausstreckte; dann auf ein schwaches Seufzen; und endlich auf das vertraute und liebe Schnarchen. Am Morgen stellten sie beide sich schlafend. Die Künst- lerin Fröhlich entschloß sich zuerst, zu gähnen. Wie Unrat sich ihr zuwandte, fand er ein leidendes Gesicht, das sich zum Weinen verzog. Sie drückte sich an seine Schulter und schluchzte: »Ach, wenn Unratchen wüßte. Es geht nich 203
alles so, wie man möchte, und für das meiste kann man selber nischt.« »Mag’s denn sein«, sagte Unrat trostreich; und sie weinte noch heftiger, weil er so schrecklich milde war und ihre faule Ausrede einsteckte. Tagsüber blieben sie eingeschlossen; und die Künstlerin Fröhlich, träge und ungeschickt bei allem, was sie anfaßte, hatte große, mit weichen, süßen, sich dehnenden Erinne- rungen angefüllte Blicke, von denen Unrat schamhaft wegsah. Gegen Abend kamen einige von ihren Leuten und fragten, ob sie die Neuigkeit wüßten. Woher denn, sie seien nicht ausgegangen. »Richters Verlobung ist auseinander.« Die Künstlerin Fröhlich sprang sofort mit dem Blick zu Unrat. »Der Mann ist hin«, hieß es weiter. »Er ist über und über kompromittiert. Was die Familie seiner Exbraut ist, da kann er sich drauf verlassen, daß die ihn aus seiner Stel- lung weggrault. Die will ihn in der Stadt nicht mehr ha- ben, weil es für sie ’ne Blamage wäre. Er kann zusehen, wo er bleibt.« Die Künstlerin Fröhlich sah Unrat sich rosig überziehn und wieder erblassen, sie sah ihn von einem Fuß auf den andern treten, die Finger ineinanderschlingen und wieder trennen; sie sah ihn in die Luft schnappen, als schnappte er die Süßigkeit der gesprochenen Worte heraus, als schnappte er Glück heraus. Er genoß, und er quälte sich dabei. Diesmal mußte er seinen Triumph bezahlen; sie las ihm, mit schlechtem Gewissen, die Gefühle vom Gesicht, womit er ihn bezahlte. Schließlich ging er hinaus, und sie erfand einen Vor- wand, um die Gäste allein zu lassen. »Du freust dich woll?« sagte sie draußen mit verstellter Unzufriedenheit. »Das is aber gemein, wenn man sich über anderer Leute ihren Reinfall freut.« 204
Unrat auf seinem Balkon saß da, hielt sich die Handge- lenke und schaute abwesend zwischen den Buchenkronen auf das Meer, mit einer Miene, als prüfte er unendliche Horizonte, die nur über qualvolle Abgründe hinweg zu erreichen wären. Die Künstlerin Fröhlich fühlte etwas da- von; und jetzt war die Trostreiche sie. Sie sagte: »Es is ja nischt los, Unratchen. Hauptsache is, daß der Mensch um die Ecke is. Das hast du doch davon.« Sie mußte seufzen; denn wenn sie nur einige Stunden zurückdachte, dann fand sie sich recht undankbar gegen den armen Richter. Zwar, wie war es eigentlich gekom- men? Er war ja ’n netter, flotter Kerl, aber wenn nicht Knust gewesen wäre, den sie hatte ärgern wollen, dann war nie was draus geworden. Nu man weg mit Schaden. An Unrat war doch ganz was andres dran. Es ward einem manchmal ganz schwiemelig. Wie er nu wieder dasaß! »Na wir zwei«, sagte sie und streckte die Hand aus. Er nahm sie wohl, aber er sagte: »Es steht unter allen Dingen eines fest: daß jemand, dem die hellsten Gipfel zu erklimmen gelang – daß ein solcher auch mit den undurch- dringlichen Schlünden wohlvertraut ist.«
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XV
Als sie in die Stadt zurückkehrten, wurden sie schon er- wartet. Im Klub sagten die Junggesellen: »Na nu hört die Langeweile, Gott sei Dank, bald auf.« Am Tage nach ihrem Wiedereinzuge gaben sie die erste Gesellschaft, und die ganze Stadt bekümmerte sich darum, wer hinging, was gegessen ward, was die Künstle- rin Fröhlich Neues anzuziehen hatte. In der folgenden Zeit bekamen verheiratete Kaufleute noch spät am Abend ungewöhnliche Nachrichten: es sei etwas vorgefallen am Hafen, auf dem Kontor gebe es Unerwartetes zu tun; und verschwanden eilig. Immerhin hielten manche sich fern, vermöge ihrer sitt- lichen Grundsätze, oder dank einem kühlen Tempera- ment, oder aus Sparsamkeit. Diese gähnten zwischen lee- ren Sesseln im Kasino und der Gesellschaft für Gemein- sinn; entrüsteten sich zunächst, wurden dann stutzig, weil ihre Zahl sich immer verringerte; und die letzten fanden sich schlecht weggekommen und ungerecht benachteiligt. Das Dasein des Stadttheaters ward durch Unterstüt- zungen gefristet. Es gab kein ansehnliches Varieté. Die fünf oder sechs für den Gebrauch besserer Herren abge- richteten Halbweltdamen waren zum Überdruß bekannt, und die Freuden, die sie bieten konnten, wurden einem schal gemacht durch den Gedanken an Haus Unrat und seine Hausfrau. In dieser altertümlichen Stadt, die einem aus der Lan- genweile der Familienehrbarkeit keinen Ausweg ließ als in ein rohes und langweiliges Laster, umkleidete sich die 206
Villa vorm Tor, wo hoch gespielt, teuer getrunken wurde, wo man mit weiblichen Wesen zusammentraf, die nicht ganz Dirnen und auch keine Damen waren; wo die Haus- frau, eine verheiratete Frau, die Frau des Professors Un- rat, prickelnd sang, unpassend tanzte und, wenn man es richtig anstellte, sogar für Dummheiten zu haben sein sollte – diese erstaunliche Villa vorm Tor umkleidete sich mit Fabelschimmer, mit der silberig zitternden Luft, die um Feenpaläste fließt. Daß es so etwas gab! Man konnte nicht anders, man ließ keinen Abend verstreichen ohne mehrere Gedanken an das Haus Unrat. Man sah einen Be- kannten um eine Ecke schlüpfen, man hörte eine Uhr schlagen, man sagte sich: ›Jetzt geht es da draußen los.‹ Man ging zu Bett, müde, ohne zu wissen, was einen müde gemacht hatte, und seufzte: ›Da draußen ist es im besten Gange.‹ Zwar gab es Herren, ganz wenige, wie Konsul Loh- mann, die ihre Jugend im Ausland verbracht hatten, in Hamburg so gut wie heimisch waren, hie und da nach Pa- ris und London fuhren, und die nicht einmal die flüchtig- ste Neugier hinzog zu den Empfängen des alten, aus dem Häuschen geratenen Schulmeisters und seiner jungen Frau. Aber vermögende Pfahlbürger, die beim Handel mit Fischen und Butter dreißig Jahre lang durch dieselben fünf Straßen getrabt waren, diese ahnten auf einmal eine unver- hofft genußreiche Verwendung für ihr Geld. Blendend zeigte sich ihnen der Lohn ihrer Mühen, und sie wußten nun, wofür sie gelebt hatten. Andere, die ehemals die Großstadt gekannt hatten und sich ein wenig eingerostet fühlten, so Konsul Breetpoot, beschlossen anfangs vor- liebzunehmen, und schließlich unterhielten sie sich schlechthin, ohne Vergleiche. Wieder andere, Studierte, kamen in sentimentaler Erinnerung an die Damenkneipen ihrer schönsten Jahre; zum Beispiel die Richter aus dem Hünengrabprozeß samt Pastor Quittjens. Denn auch Pa- 207
stor Quittjens war dabei, ganz wie jeder andere Mensch. Sodann fanden kleinere Mitbürger, wie der Pächter des Café Central und der Zigarrenhändler vom Markt, sich geschmeichelt und sozial befördert durch den allein bei Unrats möglichen Verkehr mit den Spitzen. Notwendi- gerweise waren sie, die Kleinen, in der Mehrheit und be- stimmten den Ton. Dieser Ton war ungeschickt. Er war nur darum schlecht, weil er ungeschickt war. Alle diese Leute waren da in der Erwartung besonderer, zweideutiger Verfeine- rungen, eines unerhörten Mittelzustandes, wo die Liebe nicht gleich bar beglichen wurde und man sich trotzdem nicht langweilte. Nur daß eben ihre Anwesenheit die Ge- selligkeit ohne weiteres eindeutig machte. Waren sie nicht bieder wie in den Familien, mußten sie gemein sein wie im öffentlichen Haus. Es ging nicht anders. Wenn sich einer anfangs wohl bemühte – bald, nachdem er getrunken, etwas verloren, sich heimisch gemacht hatte, glitt das Ge- spräch ihm aus, er sagte unverschleierte Sachen, nannte eine Dame du, fing Streit an. Der guten Haltung der Da- men wurde dies alles verderblich. Sie gewöhnten sich an Formlosigkeit im Vergnügen. Die Pielemann war nicht wiederzuerkennen; sie brachte es fertig, sich aus einem verschlossenen Zimmer, wo sie eine halbe Stunde mit einem der Gäste verbracht hatte, heraustrommeln zu las- sen und mit dem angeheiterten Trupp anstandslos ins Spielzimmer zurückzukehren. Die Künstlerin Fröhlich mußte zugeben, daß die Pielemann in der vorigen Saison das noch nicht fertiggebracht hätte. Sie selbst, die Künstlerin Fröhlich, blieb dabei, die For- men ziemlich zu wahren. Es verstand sich, daß sie es nur mit peinlich Auserlesenen zu tun hatte, mit Konsul Breet- poot möglichenfalls, vielleicht mit Assessor Knust: etwas Unzweifelhaftes wußte man nicht. Bei ihr im Hause fiel nie etwas vor. Die Künstlerin Fröhlich betrieb den Ehe- 208
bruch mit all der Umsicht und dem ganzen Zeremoniell der im Ernst verheirateten Frau; mit doppelten Schleiern, verhängten Wagenfenstern, Stelldicheins auf dem Lande. Soviel Etikette erhöhte sie im Rang, und niemand hätte sie mit den andern Damen zu verwechseln gewagt. Dies ver- mied man schon darum, weil zu keiner Zeit genau fest- stand, wer gerade ihr Beschützer war, und wieviel er ge- duldet hätte. Auch kam sehr in Betracht, daß Unrat selber gar nichts duldete. Man hatte erlebt, daß er mitten aus be- ster Gemütlichkeit heraus über einen Herrn hergefallen war, der zufällig gleich hinter ihm eine Bemerkung über die Hausfrau gemacht hatte. Unrat hatte gezischt und ge- pfaucht, war keinen Vorstellungen zugänglich gewesen, hatte am Schluß eines hitzigen Ringkampfes den großen, dicken Menschen aus der Tür gestoßen; und der Unglück- liche war auf immer verbannt geblieben. Dabei war es ein hoher Pointierer gewesen, und was er über die Künstlerin Fröhlich gesagt hatte, war bestimmt das Harmloseste ge- wesen von allem, was sich über sie sagen ließ. Man wußte also, woran man bei Unrat war, sobald es die Künstlerin Fröhlich anging; und hütete sich. Im übrigen durfte alles drunter und drüber gehen; Un- rat war einverstanden. Er rieb sich die Hände, wenn je- mand, der keineswegs er selbst war, die Bank sprengte und betroffene, von Gier abgemattete, nasse und fassungslose Gesichter umherfuhren und vor sich hinstierten. Er be- gutachtete wohlgefällig den Zustand eines sinnlos Betrun- kenen, gab einem gänzlich Ausgeleerten Wünsche mit von undurchdringlichem Hohn, feixte flüchtig, wenn ir- gendwo ein Liebespaar auf frischer Tat ertappt ward; und er hatte seine belebtesten Augenblicke, wenn sich jemand als entehrt herausstellte. Ein junger Mann aus guter Fami- lie spielte falsch. Unrat bestand darauf, daß er dableibe. Die Wogen der sittlichen Empörung gingen hoch, einige entfernten sich protestierend. Zwei oder drei Abende dar- 209
auf waren sie wieder da, und Unrat schlug ihnen, giftig lächelnd, eine Partie mit dem jungen Falschspieler vor. Ein anderer Fall entspann sich noch dramatischer. Es war einem der Spieler ein Paket Banknoten, das er vor sich hingelegt hatte, abhanden gekommen. Er erhob ein Ge- schrei, verlangte, daß die Ausgänge gesperrt und alle An- wesenden durchsucht würden. Die Menge widersetzte sich, man beschimpfte einander, drohte dem Bestohlenen mit Prügeln und verdächtigte innerhalb fünf Minuten je- den ohne Ausnahme. Unrats Stimme drang, man wußte nicht wie, aus einem Grabe herauf, durch allen Lärm. Er erklärte, die angeben zu wollen, die untersucht werden müßten; ob man sich ihm fügen wolle. Man war neugierig, fühlte sich gedrängt, über allem Verdacht zu erscheinen; man rief ja. Darauf nannte Unrat, den Hals vor- und zu- rückschiebend, Leutnant von Gierschke, den Schüler Kie- selack und Konsul Breetpoot. »Breetpoot? Breetpoot?« Jawohl, Breetpoot. Unrat blieb dabei, ohne sich weiter zu äußern über das, was er wußte … Und Gierschke, ein Of- fizier? Das habe nichts zu sagen, behauptete Unrat. Und dem Leutnant, der sich wütend zur Wehr setzte, gab er zu bedenken: »Die Menge ist gegen Sie und wird Sie entwaff- nen. Des Säbels beraubt, möchten Sie denn wohl Ihrer Ehre verlustig gegangen sein und nichts mehr besitzen als eine Pistole, vermittelst deren Sie sich – immer mal wieder – entleiben werden. Da ist’s, traun fürwahr, lustiger, Sie lassen sich untersuchen.« Vor diese Wahl gestellt, ergab sich von Gierschke. Un- rat hegte nicht den geringsten Verdacht gegen ihn; er hatte ihn nur bezwingen wollen, seinen Stolz in den Staub bie- gen. Übrigens ward im selben Augenblick Kieselack an einem Fenster festgenommen, wie er das Paket Banknoten eben hinauswerfen wollte. Sogleich verlangte Konsul Breetpoot nachdrücklich Rechenschaft von Unrat. Aber Unrat sagte dem Konsul ganz dicht ins Gesicht und für 210
alle übrigen unhörbar einen Namen, nur einen Namen; und Breetpoot ward dadurch besänftigt … Er kam wieder, gleich nächsten Tages, und setzte atemlos. Von Gierschke ließ acht Tage verstreichen. Kieselack zeigte sich noch ein einziges Mal und verspielte einiges. Darauf erschien seine Großmutter bei der Steuerbehörde, wo Kieselack einen kleinen Posten bekleidete, und zeigte an, daß ihr Enkel sie bestohlen habe. Endlich hatte man einen Vorwand, ihn zu entlassen. Wegen des Spielskandals hatte man es nicht ge- wagt. Der Schüler Kieselack versank auf den Grund. Un- rat beging dies festlich, ganz für sich allein. Er benahm sich im Genuß mit tückischer Trockenheit. Im Gewühl der um die Wette nach dem Bankrott, der Äch- tung, dem Galgen Laufenden schien Unrat, mit einge- knickten Knien und unerschütterlich, ein alter Schulmei- ster, dessen Klasse in wüstes Toben verfallen ist, und der sich hinter seinen Brillengläsern sämtliche Empörernamen merkt, um später die Zeugnisse zu verderben. Sie hatten der Herrschergewalt sich zu widersetzen gewagt; nun mochten sie, losgelassen, sich gegenseitig die Rippen ein- schlagen und das Genick umdrehn. Aus dem Tyrannen war endgültig der Anarchist herausgebrochen. Und er schien eitel auf seinen neuen Zustand, hatte eine offenkundige Vorliebe für sein eigenes Gesicht in seiner jetzigen jugendlichen Färbung. Zwanzigmal am Abend holte er einen Taschenspiegel hervor: der war in eine kleine Büchse eingelassen, mit der Inschrift »bellet«. Oft gedachte er in dem nächtlichen Lärm, Flitter und Halsbrechen gewisser ehemaliger Nächte. Er war im Café Central verhöhnt worden und schlich nach Haus. Von irgendeiner finstern Ecke ward ihm sein Name zugewor- fen wie ein Stück Schmutz … Eine einzige Nacht war’s, da hatte er von den Menschen etwas gewollt. Sie sollten ihm sagen, wer die Künstlerin Fröhlich sei, wo sie zu finden, 211
wie es – dies war von höchster Wichtigkeit – zu verhindern sei, daß drei Schüler und unter ihnen der allerschlimmste, Lohmann, ihrer teilhaftig würden. Niemand hatte ihm Rede gestanden. Nichts war ihm begegnet als breites Grinsen an Köpfen, auf denen der Hut fest sitzenblieb. Zwischen den kleinen »Bullerwagen«, die eine steile »Grube« hinunterrasselten, hatte er umherhüpfen müssen und von lauter hellen Kinderstimmen seinen Namen um die Ohren geschlagen bekommen. Keinen Empörer mehr hatte er, an den erleuchteten Läden hinschleichend, anzu- sprechen unternommen; er hatte sich die Häuser – die Häuser von fünfzigtausend in Aufruhr begriffenen Schü- lern – entlanggedrückt, mit einem gespannten Gefühl auf dem Scheitel, weil jeden Augenblick, wie ein Kübel Spü- licht, aus einem Fenster sein Name kommen konnte! An das Ende der stillsten Straße, tief hinunter zum Stift der alten Fräulein, hatte er sich gerettet vor der nervenzerstö- renden Verfolgung, Anzweiflung, Verhöhnung; hatte die Fledermäuse um seinen Hut streichen lassen und noch hier, noch hier auf seinen Namen gewartet. Sein Name! Jetzt gab er ihn sich selbst; setzte ihn sich auf wie einen Siegerkranz. Einem Ausgeplünderten klopfte er auf die Schulter und sagte: »Jaja, ich bin ein rechter Unrat.« Seine Nächte! So sahen sie nun aus. Sein Haus war das hellste in der Stadt, es war das am wichtigsten genom- mene, schicksalerfüllteste. Wieviel Angst, wieviel Gier, wieviel Unterwürfigkeit, wieviel fanatische Selbstvernich- tungswut ließ er nun um sich her dampfen! Alles Opfer, die ihm brannten! Alle drängten sich, sie ihm anzuzün- den, sich selbst ihm anzuzünden. Was sie hertrieb, war die Leere ihrer Gehirne, der Stumpfsinn der humanistisch nicht Gebildeten, ihre dumme Neugier, ihre mit Sittlich- keit schlecht zugedeckten Lüsternheiten, ihre Habgier, Brunst, Eitelkeit und zu alledem hundert verquickte 212
Interessen. Waren es nicht Unrats Gläubiger, die ihre Ver- wandten, Freunde, Kunden herschleppten, in der Ab- sicht, Unrat, ihrem Schuldner, zu Gelde zu verhelfen? Waren es nicht beutelustige Ehefrauen, die ihre Männer schickten, damit sie von dem durch die Luft fliegenden Gelde ihren Anteil herausgriffen? Andere kamen selbst. Unter den Masken, im Karneval, sollten anständige Frauen gewesen sein. Man hatte mißtrauische Männerge- sichter bemerkt, die nach Gattinnen ausspähten. Die jun- gen Mädchen wisperten daheim von einem späten Aus- gang ihrer Mutter: »nach dem Haus vorm Tor«. Sie träller- ten halblaut Bruchstücke aus Liedern der Künstlerin Fröhlich. Die Lieder schwirrten verdeckt durch die Stadt. Das geheimnisvolle Pfänderspiel, bei dem Paare sich auf den Boden und unter eine Decke legten, es machte seinen Weg durch die Familien; es ward gespielt, wenn den mannbaren Töchtern junge Tänzer eingeladen waren; und ein Gekicher ging umher von dem »Haus vorm Tor«. Bevor der Sommer anbrach, zogen drei Frauen der gu- ten Gesellschaft und zwei junge Mädchen sich plötzlich zurück, zu einem, wie man fand, verfrühten Landaufent- halt. Drei neue geschäftliche Zusammenbrüche erfolgten. Der Zigarrenhändler Meyer am Markt beging Wechselfäl- schungen und erhängte sich. Über Konsul Breetpoot ward gemunkelt … Und diese Entsittlichung einer Stadt, von keinem zu unterbrechen, weil zu viele darin verwickelt waren: sie ge- schah durch Unrat und zu seinem Triumph. Seiner insge- heim ihn schüttelnden Leidenschaft – dieser Leidenschaft, von der sein trockner Körper nichts als hie und da ein gif- tig grünes Augenfunkeln, ein blasses Feixen entließ –, ihr frondete und unterlag eine Stadt. Er war stark; er mochte glücklich sein.
213
XVI
Er wäre glücklich gewesen, wenn er noch stärker gewesen wäre; wenn er nicht in einer Krise seines Geschicks, das der Menschenhaß war, sich der Künstlerin Fröhlich ausge- liefert hätte. Sie war die Kehrseite seiner Leidenschaft: sie mußte alles bekommen, in dem Maße, wie die andern alles verloren. Sie war um so pflegebedürftiger, je mehr alle an- dern es verdienten, zerschmettert zu werden. Auf sie hatte sich der überreizte Zärtlichkeitstrieb des Menschenfein- des geworfen. Das war schlimm für Unrat: er sagte es sich selbst. Er sagte sich, daß die Künstlerin Fröhlich nichts hätte sein dürfen als ein Instrument, die Schüler zu »fas- sen« und hineinzulegen. Statt dessen stand sie nun gleich neben Unrat selbst, hoch und heilig im Angesicht der Menschheit, und er war genötigt, sie zu lieben und zu lei- den unter seiner Liebe, die sich auflehnte gegen den Dienst seines Hasses. Unrats Liebe war dem Schutz der Künstle- rin Fröhlich geweiht und ging für sie auf Raub aus: es war eine ganz männliche Liebe. Dennoch führte auch diese Liebe zuletzt zur Schwächung … Es kam vor, daß er sich bei ihrer Heimkehr versteckte und bis abends nicht mehr zum Vorschein kam. Sie verhan- delte durch die Tür, mit ihrem leichten, ein bißchen mitlei- digen Stimmchen. Aber er wollte nicht einmal essen. Er habe wissenschaftlich zu arbeiten. Sie warnte ihn freund- schaftlich, er werde sich krank machen; und entschloß sich mit einem Seufzer, seinen Anfall vorübergehn zu las- sen. Er hatte wahrscheinlich wieder ihre Garderobe unter- 214
sucht und in ihrer schmutzigen Wäsche herumgesto- chert. Vielleicht hatte er heute morgen das Billett gelesen. Plötzlich kriegte er dann ’nen Rappel, konnte sie, wenn sie so zerknüllt nach Haus kam, nicht mehr ansehn, drehte sich, ganz schamrot, nach allen Ecken und verduf- tete. Es war ordentlich aufregend. Das heißt, ganz ernst, na also wirklich im tiefsten Grunde ernst, konnte man es doch nicht nehmen. Dafür spielte man selbst zu viel. Er- stens spielte sie verheiratet: es war ihr unmöglich, es an- ders aufzufassen. Wie sie ihrem alten Unrat damals mit- ten auf der Straße ihre Mimi zugeschickt hatte – das war fein gewesen, dabei hatte man ordentlich was gefühlt. Und dann das Getue jetzt mit den Männern, die Fatzke- reien, bis es zu was Richtigem kam, und die Masse Lügen die ganze Zeit über, daß einem bloß nichts entwischte im Beisein von Unrat – der doch natürlich ganz genau Be- scheid wußte. Sie war ihm geradezu dankbar, daß er die Komödie mitspielte und von ihren täglichen kleinen Sei- tensprüngen noch so viel Wesens machte. Das brachte doch Leben in die Bude! Komisch, daß er sich nie daran gewöhnte. Und dabei lag an dem Ganzen doch ihm viel mehr als ihr selbst. Manchmal führte er sich auf wie überge- schnappt und wollte von heute auf morgen irgendeinen Gewissen totmachen. Er konnte es gar nicht mehr aus- halten. »Ich empfehle dir den Schüler Vermöhlen. Richte dein Augenmerk – immer mal wieder – auf den Schüler Vermöhlen.« Was hieß denn das, bitte? Brauchte man da- nach noch einen Menschen zu fragen? Und wenn er so darauf brannte, daß sie mit Konsul Breetpoot fertig würde? Die Künstlerin Fröhlich zuckte die Achseln. Unrat, den sie nicht begriff, war zuckend entrückt in wahre Sternenstürze von Leidenschaft. Seine Liebe, die er täglich verwunden mußte, um seinen Haß zu füttern, 215
reizte diesen Haß zu immer tollerem Fieber. Haß und Liebe machten einander irr, brünstig und schreckenvoll. Unrat hatte die lechzende Vision der ausgepreßten, um Gnade flehenden Menschheit; dieser Stadt, die zerbrach und öde stand; eines Haufens von Gold und Blut, der zer- rann ins Aschgrau des Untergangs der Dinge. Dann wieder erlitt er die Halluzination der von andern geliebten Künstlerin Fröhlich. Die Bilder der fremden Umarmungen erstickten ihn: aber alle geschahen mit dem Gesicht von Lohmann! Das Schlimmste, Hassenswerte- ste, was Unrat erleben konnte, war für immer zusammen- gedrängt in die Züge von Lohmann – dieses Schülers, der auf keine Art zu »fassen«, der nicht einmal mehr in der Stadt war. Nach solchem Zustand ohnmächtiger Bedrängtheit übermannte ihn Mitleid mit sich und mit der Künstlerin Fröhlich. Er verhieß ihr tröstend, daß es nun bald genug sei, und daß sie sich zurückziehen wollten, den Ort verlas- sen und das genießen, »was sie dir schuldigermaßen haben abtreten müssen«. »Wieviel meinst du woll, daß es is?« fragte sie abwei- send. »Du merkst dir egal bloß, was wir kriegen. Aber was sie uns wieder wegnehmen, is auch nich übel. Unsere Mö- bel haben sie uns gepfändet, nich? Glaubst du, daß wir für die, die wir jetzt haben, auch bloß eine Rate bezahlt ha- ben? Du schneidst dich eklig, wenn du das glaubst. Uns gehört das Sofakissen da und dann noch der Rahmen von dem ollen Bild: sonst gehört uns nischt.« Sie war in grausamer Stimmung, überanstrengt durch die Hetzjagd mit Männern; hatte das Amüsante ihres Daseins grade ganz aus den Augen verloren und rächte sich an dem, der der Nächste dazu war. Unrat nahm dies erschütternd wichtig. »Es ist meine Pflicht, deinem Wohle vorzustehen. Ich bin nicht gesonnen, mich dieser Pflicht nicht gewachsen 216
zu zeigen … Sie sollen es mir büßen!« setzte er zischend hinzu. Sie hörte gar nicht, sie ging gereizt umher und preßte sich die Hände. »Du bildst dir woll hoffentlich nich ein, ich mach dies blödsinnige Leben dir zu Gefallen mit, und damit du deine Männekens klein kriegst. Nee, wenn nich Mimi wäre – aber für Mimi muß ich verdienen. Daß Mimi mal anders wird als ihre Mama. Ach Gott …« Dann ward das Kind hereingeholt in seinem weißen Nachthemdchen; und dann kam eine Tränenkrise. Unrat ließ Arme und Kopf hängen. Er mußte ausgehen, die Künstlerin Fröhlich legte sich zu Bett. Aber bis zur Stunde der Gäste war sie wieder auf der Höhe; und an Unrat machte sie alles wieder gut, sie war zart und freund- schaftlich, flüsterte ihm häufig abseits etwas Vertrauliches zu, daß alle sahen, er blieb ihr die Hauptperson; machte sich lustig mit ihm, grade über die Herren, mit denen er sie im Verdacht haben konnte; schmeichelte ihn in die Täu- schung hinein, als sei nie etwas Ernsthaftes vorgefallen. Ja, er war, solch ein Stündchen lang, nicht weit von dem Wahn, als habe er alle seine Erfolge ohne Gegenleistung eingeheimst. Er glaubte es ja nicht; aber er hielt sich vor, was ihn denn hindere, es zu glauben, und wo die Gegen- beweise seien. So beglückend war der Rückschlag nach seinen vorigen Qualen. Eines heitern Tages im Frühling, des ersten heitern nach vielen Seelenkrisen, lustwandelten Unrat und die Künstle- rin Fröhlich miteinander zur Stadt. Unrat ruhte sich ge- rade auf dem Bewußtsein aus, daß sie am Ende doch Ver- bündete waren: die besten, die einzigen. Die Künstlerin Fröhlich, die mit den griechischen Stunden auch ihren Ehrgeiz, Unrat zu lieben, aufgegeben hatte, schöpfte ihre Selbstachtung und ihren guten Mut aus ihrem ehrlichen Freundschaftsgefühl für Unrat. Darum lächelten sie beide 217
auch nur über Herrn Dröge, den Krämer an der Ecke ihrer Straße, der bei ihrem Vorübergehn seine Ladentür aufriß, mit den Fäusten drohte und etwas Schimpfliches nach- schrie. Auch die Obstfrau konnte bei ihrem Anblick nicht ruhig bleiben. Sie hatte Herrn Dröge sogar schon dazu angestachelt, die Mündung seines Wasserschlauches auf den vorübergehenden Unrat zu richten. Solche Zwischen- fälle ließen sich bei keinem Ausgang des Ehepaars Unrat mehr vermeiden. Sie schuldeten aller Welt, obwohl sie kreuz und quer mit Geld umherwarfen; und die Lieferan- ten, die ihnen Kredit nicht gewährt, sondern aufgedrängt hatten, machten den meisten Lärm. Es war die Regel, daß im voraus bezahlte Toiletten aus Paris eintrafen, und daß die im vorigen Monat gegessenen Frühstückssemmeln noch immer nicht ihnen gehörten. Dabei glaubte die Künstlerin Fröhlich zu sparen für ihr Kind, und Unrat für die Künstlerin Fröhlich zu rauben. Sooft der Gerichts- vollzieher kam – vergebens kam –, herrschten Bestür- zung, Wut und Niedergeschlagenheit. Wie hätte man ihn schon wieder voraussehen sollen. Die Künstlerin Fröhlich fand sich längst nicht mehr zurecht in Rechnungen und Schuldscheinen. Unrats beständiger Trieb galt den Verlu- sten der andern und nicht der Pflege des eigenen Wohl- stands. Von der Fäulnis, die sie ringsumher in den Verhält- nissen anstifteten, schillerten auch ihre eigenen. Betrogen und ins Dickicht gehetzt, schwindelten sie sich durch, an der Hand der unbestimmten Hoffnung auf einen unwahr- scheinlich großen Spielgewinn und auf das endliche Aus- sterben der Gläubiger. Sie spürten heimlich wohl den Bo- den wanken und richteten im Davongerissenwerden noch soviel Schaden an wie möglich. In der Siebenbergstraße war eine Begegnung mit dem Möbelhändler auszuhalten, der behauptete, sie hätten von den noch nicht bezahlten Möbeln mehrere weiterver- kauft, und mit dem Gericht drohte. Unrat forderte ihn 218
giftig lächelnd auf, er möge doch nachsehn. Die Künstle- rin Fröhlich äußerte: »Da machen Sie sich man weiter keine Hoffnung drauf. So klug sind wir allein, daß da nischt Gutes bei zu holen is.« In diesem Augenblick geschah neben ihr ein Säbelklir- ren. Sie sah hin und rasch wieder weg. Eine Stimme sagte rauh: »Donnerwetter!« Und eine andere, gelassen verwunderte: »Sieh mal an.« Die Künstlerin Fröhlich hörte nicht mehr, was der Möbelhändler redete. Nach einer Weile ließ sie ihn ste- hen. Sie ging weiter in einer leichten Betäubung. Erst gegenüber dem Konditor Mumm fiel ihr auf, daß auch Unrat nichts mehr sagte. Sie fühlte etwas wie schlechtes Gewissen und fing harmlos zu sprechen an, im Drang, ihn nach dem, was sie soeben erblickt hatten, wieder zu versöhnen. Auch er war plötzlich von erregter Herz- lichkeit und lud sie zum Konditor ein. Während er am Büfett bestellte, ging sie schon ins Nebenzimmer. Da ward an die Scheibe geklopft. Sie hütete sich hinzusehn; sie wußte auch so, das waren wieder Ertzum und Loh- mann. Noch am Abend war Unrat nicht beruhigt. Er schlich hastend zwischen den Gästen umher, machte Bemerkun- gen von trockner und wilder Ironie, wiederholte: »Ich bin ein rechter Unrat«, und erklärte: »Mir gehört hier – wahr- lich doch – nichts weiter als ein Sofakissen und der Rah- men jenes Bildes dort.« Als die Künstlerin Fröhlich einmal ins Schlafzimmer lief, folgte er ihr und verkündete: »Der Schüler Breetpoot wird nun endlich in naher Zukunft das Ziel der Klasse er- reicht haben.« »Kaputt?« fragte sie. »Is nich, Unratchen. Er is wieder ganz ausgestopft mit braunen Lappen.« »Mag dem sein, wie du sagst. Der eifrigsten Vertiefung 219
wert ist indessen die Frage: Woher kommen diese Lap- pen.« »Na?« Er kam näher, mit einem Lächeln, das geronnen und wie unter der Decke bebend aussah. »Ich weiß es; ich habe seinen Kassierer bestochen. Es ist das von Ertzumsche Mündelgeld, welches der Vormund beraubt.« Und da er die Künstlerin Fröhlich starr vor Staunen sah: »Nicht wahr? Da lohnt sich’s zu leben? Das ist denn also der zweite der drei. Der Schüler Kieselack liegt zerschmettert am Erdboden. Der Schüler von Ertzum wird sogleich mit Rasseln zusammenbrechen. Da erübrigt denn nur noch der dritte.« Sie ertrug seinen Blick nicht. »Ja von wem redst du bloß?« fragte sie wirr. »Der dritte ist ein noch zu Fassender. Er soll und muß gefaßt werden.« »Wieso«, machte sie und blickte unsicher auf. Plötz- lich, herausfordernd: »Ich denke, das is der, den du nich verknusen kannst, und ich soll ihn nich mal ansehn, wenn er die Straße lang kommt. Nich mal das kannst du verknu- sen.« Er senkte den Kopf, atmete kämpfend. »Zwar bin ich nicht gesonnen –«, sagte er dumpf. »Und doch muß – muß dieser Schüler gefaßt werden. Er ist ein zu Fassender.« Sie hob die Schultern. »Was machst du denn für Augen? Du hast ja überhaupt Fieber. Unratchen, ich sag dir was, geh zu Bett und schwitz es aus. Ich schick dir Kamillentee. So ’ne blödsin- nige Aufregung, als wie du im Leib hast, die legt sich auf ’n Magen, un denn prost Mahlzeit … Hörst du mich? … Ich glaub wahrhaftig, es gibt noch ’n Unglück.« Unrat hörte nicht. Er sagte: »Aber nicht du – nicht du sollst ihn fassen!« 220
Er sagte es mit einer Art fürchterlichen Flehens, das sie noch nicht kannte, das sie grausig kitzelte, sie erwartungs- voll ängstete, wie ein wildes Klopfen, bei Nacht an ihrer Tür.
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XVII
Die Künstlerin Fröhlich dachte am folgenden Morgen lange nach, was sie in der Stadt zu besorgen haben könne, und als sie es gefunden hatte, ging sie. Sie schielte nach ihrem Spiegelbild in jedem Schaufenster; sie hatte für ihre Toilette zweiundeinehalbe Stunde gebraucht. In ihrem Pulsschlag war ein bißchen Erwartungsfieber. Am Anfang der Siebenbergstraße, vor der Buchhandlung von Redlien, blieb sie stehen – sie war noch nie vor der Buch- handlung stehengeblieben –, senkte den Kopf über die Auslage und spürte im Nacken einen angstvollen Kitzel, als sollte sogleich jemand hineingreifen. Da sprach es ihr in den Nacken: »Gnädige Frau? Sieht man sich mal wie- der?« Sie zwang sich, indem sie sich wendete, zu anmutiger Langsamkeit in der Bewegung. »Ach? Herr Lohmann? Sind Sie auch wieder im Lande?« »Wenn ich dadurch nicht Ihr Mißfallen errege, gnädige Frau?« »Wieso denn. Aber wo haben Sie bloß Ihren Freund gelassen?« »Sprechen Sie vom Grafen Ertzum? Nun, der hat seine eigenen Wege … Aber gehn wir nicht weiter, gnädige Frau?« »So? Und was macht er denn für gewöhnlich, Ihr Freund?« »Er dient als Avantageur, gnädige Frau. Augenblick- lich weilt er auf Urlaub hier.« 222
»Ach nee, was Sie sagen. Is er denn noch so nett wie früher?« Daß Lohmann auch gar nicht aus seiner Ruhe kam, ob- wohl sie sich immer nur nach seinem Freund erkundigte. Sie hatte sogar das Gefühl, als machte er sich lustig. Das Gefühl hatte sie auch damals im Blauen Engel meistens gehabt bei Lohmann, und sonst bei niemand. Ihr ward ganz heiß. Er forderte sie auf, in die Konditorei einzutre- ten. Sie erwiderte ärgerlich: »Gehn Sie man alleine. Ich muß weiter.« »Wir stehen schon etwas zu lange an dieser Ecke, gnä- dige Frau, für die scharfen Augen der Kleinstädter.« Er machte die Tür vor ihr auf. Sie seufzte und ging ra- schelnd hinein. Er blieb auf dem Wege ins Nebenzimmer ein Stück hinter ihr und wunderte sich nochmals darüber, wie vorteilhaft ihre lange Taille zur Geltung kam; wie sie gut frisiert war; wie damenhaft sie ihren Rock schleppen ließ; was seither aus ihr geworden war. Dann bestellte er Schokolade. »Sie sind ja inzwischen eine bekannte Persönlichkeit hier geworden?« »Es geht«, sagte sie; und ablenkend: »Aber Sie? Was haben Sie eigentlich gemacht? Wo haben Sie gesteckt?« Er berichtete bereitwillig. Er war ein wenig auf der Handelsschule gewesen in Brüssel und darauf in England als Volontär bei einem Geschäftsfreund seines Vaters. »Sie haben sich gewiß mächtig amüsiert«, meinte sie. »Nein. Nicht mein Fall«, sagte er dürr, sogar verächt- lich, und mit dem bekannten schauspielerischen Falten- wurf im Gesicht. Sie betrachtete ihn von der Seite mit scheuer Achtung. Er war ganz schwarz angezogen und hatte den schwarzen runden Hut auf dem Kopf behalten. Sein Gesicht war noch etwas gelber und schärfer gewor- den; es war glattrasiert; und es richtete sich mit halbge- senkten Lidern, dunkeln und merkwürdig dreieckigen, ir- 223
gendwohin, wo nichts los war. Sie wollte ihn nötigen, sie anzusehen. Auch drängte es sie, sich zu überzeugen, ob er noch seinen Schopf habe. »Warum nehmen Sie denn Ihren Hut nich ab?« fragte sie. »Gnädige Frau haben recht«, und er gehorchte. Jawohl; sein Haar stieg noch als Wirbel in die Höhe und fiel als Locke auf die Stirn zurück. Er betrachtete sie endlich mit ganzem Blick. »Im Blauen Engel legten gnädige Frau noch nicht soviel Wert auf die Formen. Wie man sich verändert. Wie wir alle uns verändern. Und in der lächerlichen Zeit von zwei Jah- ren.« Er sah wieder weg und dachte so sichtlich an etwas an- deres, daß sie gar nichts mehr zu sagen wagte, obwohl seine Äußerung sie ein wenig gestochen hatte. Aber er hatte dabei vielleicht nicht mal sie gemeint! So hatte es ge- klungen. Lohmann hatte Frau Dora Breetpoot gemeint, und daß er sie so anders wiedergefunden hatte, so anders als das Bild von ihr, das seine Seele mit fortgenommen hatte. Er hatte sie als große Dame geliebt. Sie war die große Dame der Stadt gewesen. Einmal in der Schweiz hatte sie die Be- kanntschaft einer englischen Herzogin gemacht, und etwas rituelle Weihe war von dieser Berührung an ihr haf- tengeblieben. Sie vertrat in der Stadt eigentlich die Herzo- gin. Daß der englische Adel der erste der Welt sei, daran durfte hier niemand zweifeln. Später auf einer Reise nach Süddeutschland war ihr von einem Rittmeister aus Prag der Hof gemacht worden; damals trat die österreichische Aristokratie gleichberechtigt neben die englische … Wie Lohmann von dem allen sich hatte einschüchtern lassen, es gutgläubig mitgemacht hatte: es war erstaunlich. Es war vor allem erstaunlich, daß das keine zwei Jahre her war. Jetzt kehrte er in die Stadt zurück – sie hatte sich zusam- 224
mengezogen, als sei sie aus Gummi. Das Breetpootsche Haus war nur noch halb so groß – und drinnen saß eine kleine Provinzdame. Nicht viel mehr als Provinzdame. Gewiß, sie hatte immer noch den Medaillenkopf der Kreolin; aber im Munde der Medaille die Dialektaus- drücke! Die Mode vom Vorjahr, und nicht ganz richtig verstanden. Schlimmer noch, Abstecher ins Persönlich- Künstlerische, die mißlangen. Und der Empfang des aus fernen Gesellschaften Wiedergekehrten, als habe er ihr Grüße zu bringen; und der irritierende Anspruch, nicht hier hineinzupassen. Ja, daß ihn das früher nicht irritiert hatte? Zwar hatte er damals kaum ein Wort von ihr erhal- ten, war kaum bemerkt worden. Er war ein Schüler gewe- sen. Jetzt war er ein Herr, man kokettierte, man trachtete ihn zu fesseln in dem »Kreis« um die eigene kleine Person herum … Er war mit Bitterkeit erfüllt worden bis an den Hals. Er dachte an die alte Flinte, die damals immer bereit- gelegen hatte, ernsthaft bereit für den Fall, daß er entdeckt ward. Er empfand noch heute melancholischen Stolz auf die Knabenleidenschaft, die bis an die Schwelle seiner er- wachsenen Jahre gedauert hatte, durch Scham, Lächer- lichkeit, ja ein wenig Ekel hindurch immer noch gedauert. Trotz Knust, von Gierschke und den andern. Trotz der zahlreichen Nachkommenschaft der geliebten Frau. Wie er in der Nacht nach ihrer letzten Entbindung das Tor ih- res Hauses geküßt hatte! Das war noch etwas gewesen, davon mußte man zehren. Er erkannte, daß er damals so viel besser gewesen war, so viel reicher. (Wie hatte er sich damals müde vorkommen können. Jetzt war er’s.) Das Beste, was er in seinem Leben zu verschenken gehabt hatte, die Frau da hatte es ahnungslos bekommen. Nun, da er leer war, warb sie um ihn … Lohmann liebte die Dinge vor allem um ihres Nachklangs willen, die Liebe der Frauen nur wegen der ihr nachfolgenden bitteren Ein- samkeit, das Glück höchstens der würgenden Sehnsucht 225
zuliebe, die es in der Kehle zurückläßt. Diese kleine schat- tenlos gegenwärtige Snobdame war ihm schwer erträglich, denn sie entstellte ihm die Wehmut des einst Gefühlten. Er nahm ihr alles übel, auch die Spuren des Verfalls, die sich in ihrem Salon – noch nicht an ihrer Person – verrieten. Er wußte von Breetpoots schlechtem Stande. Welche Lasten von Zärtlichkeit würde ihr das ehemals eingetragen haben von ihm. Nun sah er bloß, wie ihre Bemühungen um Gra- zie von der um sie her einreißenden Knappheit anspruchs- voll abstachen, und schämte sich im voraus für sie, wegen der etwas würdelosen Gespreiztheit, mit der sie die Armut hinhalten und verleugnen würde. Er war beleidigt, wenn er sie ansah; beleidigt und gedemütigt, wenn er sich klar- machte, wie er selbst sich nun innerlich aufführte. Was das Leben aus einem machte. Gesunken war er. Sie war gesun- ken. Als er ging, fühlte er mit ängstlicher Genauigkeit das Entweichen von Lebensjahren, und daß hier die Tür sich schloß hinter einer Liebe, die so viel gewesen war wie eine Jugend. Dies war ihm am Morgen nach seiner Ankunft gesche- hen. Gleich darauf traf er mit Ertzum zusammen und dann sie beide in der Siebenbergstraße mit den Unrats. In dieser Enge konnte das nicht lange ausbleiben. So kurz Lohmann auch in der Stadt war, er hatte doch schon von ihnen sprechen gehört; und des alten Unrat Taten hatten seine Liebhaberei für menschliche Seltsamkeiten lebhaft angesprochen. Er stellte fest, daß Unrat alles erfüllt habe, was sich vor zwei Jahren in ihm angekündet hatte; eher mehr als weniger. Aber noch großartiger fast erschien ihm die Entwicklung der Künstlerin Fröhlich. Von der Chan- teuse des Blauen Engels zur Demi-Mondaine hohen Stils! Denn schließlich, auf den ersten Anblick war sie’s. Bei näherem Hinsehn drang dann das Kleinbürgerliche durch. Immerhin, es war alles mögliche, was hier geleistet war. Und die vielen gezogenen Hüte auf dem Wege des Ehe- 226
paars! Und all die demütige Begehrlichkeit, wo immer die Künstlerin Fröhlich ihr Parfüm hinwehte! Zwischen ihr und ihrem Publikum, der Stadt, hatte augenscheinlich eine Art von gegenseitiger Beschwindelung stattgefunden. Sie hatte sich als repräsentative Schönheit gebärdet, war allmählich dafür angesprochen worden und hatte es selbst wieder den Leuten geglaubt. So ähnlich mußte es wohl seinerzeit mit Dora Breetpoot zugegangen sein und ihrem Anspruch auf mondänen Schick? Lohmann fand es von prickelnder Ironie, wenn er sich jetzt mit der Fröhlich be- faßte. Er konnte ja der Zeit gedenken, wo er Verse ge- macht hatte auf beide; wo er, in der Rachsucht seines Lei- dens, Dora Breetpoot hatte beschmutzen wollen dadurch, daß er, mit ihr im Herzen, den Liebkosungen der andern den Geschmack düstern Lasters zu geben sich vornahm. Laster? Jetzt, da er keine Liebe mehr hatte, begriff er auch kein Laster mehr. Keine Bitterkeit seines Herzens gegen Frau Breetpoot kam Frau Unrat zugute. Nichts würde sich in ihm regen, wenn er mit ihr am Breetpootschen Haus vorbeiging. Er führte einfach eine elegante Kokotte durch die entgötterte Stadt. Ertzum nahm er dabei lieber nicht mit. Ertzum hatte, sobald er das gute Mädchen zu sehen kriegte, kopflos mit dem Säbel zu rasseln angefangen und eine ganz rauhe Stimme bekommen. Ertzum war imstande, gleich wieder mit schweren Gefühlen loszulegen. Für Ertzum war im- mer alles Gegenwart – wohingegen Lohmann in der vor- mittäglich leeren Konditorei, an der Seite der Künstlerin Fröhlich, aus seinem Gläschen, das nie leer ward, nichts anderes nippte als den nebelhaften Nachgeschmack der Stimmungen von einst. »Soll ich Ihnen etwas Kognak in die Schokolade gie- ßen?« fragte er. »Das ist nämlich sehr gut.« Dann: »Was man von Ihnen aber alles hört, gnädige Frau!« »Wieso?« fragte sie wachsam. 227
»Nun, Sie und unser alter Unrat sollen ja die Stadt auf den Kopf stellen und massenhaftes Unheil anrichten.« »Ach das meinen Sie. Na ja, man tut, was man kann. Die Leute amüsieren sich bei uns – obschon ich mich als Hausfrau nich selber loben will.« »Das sagt man. Auch ist über Unrats eigentliche Be- weggründe wohl niemand im klaren. Man denkt, er be- nutze das Spiel für den Lebensunterhalt. Ich glaube ande- res. Wir zwei, gnädige Frau, kennen ihn ja besser.« Die Künstlerin Fröhlich war bestürzt und schwieg. »Er ist der Tyrann, der lieber untergeht, als eine Be- schränkung duldet. Ein Spottruf – und der dringt noch nachts durch die Purpurvorhänge seines Bettes und in sei- nen Traum – verursacht ihm blaue Flecke auf der Haut, und er braucht, um sich davon zu heilen, ein Blutbad. Er ist der Erfinder der Majestätsbeleidigung: er würde sie er- finden, wenn es noch zu tun wäre. Es kann kein Mensch sich ihm mit so wahnsinniger Selbstentäußerung hinwer- fen, daß er ihn nicht noch als Empörer haßte. Der Men- schenhaß wird in ihm zur zehrenden Qual. Daß die Lun- gen ringsumher einen Atem einziehn und ausstoßen, den nicht er selber regelt, durchgällt ihn mit Rachsucht, spannt seine Nerven bis zum Zerreißen. Es braucht nur noch einen Anstoß, eine zufällige Widersetzlichkeit von Umständen – ein beschädigtes Hünengrab und alles, was damit zusammenhängt; es braucht nur noch die Überrei- zung seiner Anlagen und Triebe, zum Beispiel durch eine Frau –, und der Tyrann, von Panik erfaßt, ruft den Pöbel in den Palast, führt ihn zum Mordbrennen an, verkündet die Anarchie!« Die Künstlerin Fröhlich hatte den Mund offen; was Lohmann zufriedenstellte. Er unterhielt solche Damen immer in einer Weise, daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als den Mund offenzubehalten. Übrigens lächelte er zweiflerisch. Er glaubte ja nur eine abstrakte Möglichkeit 228
auf die Spitze zu stellen. Die Geschichte des alten lächerli- chen Unrat zu erzählen, glaubte er denn doch nicht. Dazu sah er ihn noch zu sehr aus der Perspektive von unterhalb des Katheders; hatte es zu schwer, sich Ungeheuerlichkei- ten als ganz wirklich vorzustellen, geschehen an dem, der ihm blöde Pfuschereien über die »Jungfrau von Orleans« zudiktiert hatte. »Ich habe die größte Sympathie für Ihren Gemahl«, setzte Lohmann mit Lächeln hinzu und vervollständigte dadurch die Verblüffung der Künstlerin Fröhlich. »Ihre Häuslichkeit wird wirklich überall gerühmt«, sagte er darauf. »Naja, wir sind nämlich ganz himmlisch eingerichtet. Und auch sonst –« Sie belebte sich von Ehrgeiz. »Für unsere Gäste is uns nischt zu viel. Die Leute stehn manchmal kopp bei uns, Sie würden lachen. Ach, wenn Sie kämen, Ihnen zu Ehren sing ich überhaupt das ›Affen- weib‹, das tu ich sonst nich, weil es doch ’n bißchen zu sehr rausfällt.« »Gnädige Frau sind unwiderstehlich.« »Sie wollen woll wieder ulken?« »Sie überschätzen mich. Das Scherzen ist mir vergan- gen, als ich Sie wiedergesehen habe. Gnädige Frau müssen ja wissen, daß Sie das einzige sind, was hier am Orte in Betracht kommt.« »Na und?« machte sie befriedigt, aber ohne sich zu wundern. »Allein schon Ihr Anzug. Das resedagrüne Tuchkleid ist selbstverständlich durchaus auf der Höhe. Den schwarzen Hut haben Sie sehr mit Recht dazu gewählt. Wenn ich einen einzigen Einwand vorbringen darf: die Stola aus point-lacé wird dies Jahr nicht mehr getragen.« »Ach nee.« Sie rückte näher. 229
»Wissen Sie das auch sicher? Denn hat der Ekel mich doch mit angeschmiert. Ein Glück, daß sie nich bezahlt is.« Sie errötete; und rasch: »Bezahlen will ich sie meinswe- gen. Aber tragen, nee. Heut zuletzt, verlassen Sie sich drauf.« Sie war glücklich, ihm recht geben, sich ihm unterwer- fen zu können. Seine Beschlagenheit in betreff Unrats er- höhte ihre Achtung vor Lohmann bis zur Fassungslosig- keit. Nun wußte er auch noch in der Mode Bescheid. Er redete wieder so fein: »Was Sie, gnädige Frau, diesen Kleinstädtern geworden sein müssen! Eine Herrscherin über Gut und Blut, eine angebetete Verderberin. Eine Se- miramis, was weiß ich. Alles stürzt sich, von Taumel ge- packt, ungebeten in den Abgrund, nicht wahr?« Und da sie sichtlich zu weit zurückblieb: »Ich meine, die Männer lassen sich nicht lange bitten, und Sie haben von ihnen mehr, als Sie brauchen können, von allen ohne Ausnahme, wenn ich mich nicht irre, gnädige Frau.« »Nu übertreiben Sie aber bedeutend. Daß ich hier Glück habe und ziemlich viel geliebt werde, na ja.« Sie trank erst; das mußte er wissen. »Aber wie Sie sich einbilden, daß ich hier losgehn soll – nee … Glauben Sie man nich«, und sie sah ihm in die Au- gen, »es geht jedermann so gut, daß er mit mir alleine bei Schokolade und Kuchen sitzen darf.« »Aber ich darf das? Dann bin wohl ich jetzt daran?« Er legte den Kopf zurück und bekam Falten. Sie konnte, betreten, nur noch auf seine niederhängenden Li- der blicken. »Aber«, fuhr er fort, »ich sollte bei Ihnen, wenn ich mich recht erinnere, der Letzte sein? Haben Sie mir das seinerzeit nicht des öftern in Aussicht gestellt, gnädige Frau? Dann sind also –«, und er öffnete ganz unverschämt die Augen, »alle andern bereits abgemacht?« 230
Sie war nicht gekränkt, nur gequält. »Ach Mumpitz, Sie haben ganz falsche Begriffe, die Leute quasseln. Zum Beispiel, mit Breetpoot. Den soll ich weiß Gott wie ausgelutscht haben. Jetzt heißt es, er hat auch noch dem Ertzum sein Geld – ach Gott.« Sie merkte zu spät, was sie gesagt hatte, und sah er- schrocken in ihre Tasse. »Das ist allerdings das Schlimmste«, versetzte Loh- mann hart und düster. Er wandte sich halb weg, und es entstand Schweigen. Die Künstlerin Fröhlich wagte endlich schüchtern zu bedenken zu geben: »Ich bin es doch nich alleine gewesen. Wenn Sie wüßten, wie der gebettelt hat. Wie ’n Kind, sag ich Ihnen. Die olle Zahnlücke. Der ganze Kerl is eine Zahnlücke. Sie werden es nich glauben, aber durchgehn wollt er mit mir. Der mit seiner Zuckerkrankheit, danke.« Lohmann bedauerte es schon, eine moralische An- wandlung gehabt zu haben, bei einem so unterhaltenden Theater. Er sagte darum: »Ihre Soireen möchte ich mir tat- sächlich einmal ansehen.« »Also Sie sind eingeladen!« sagte sie rasch und freudig. »Kommen Sie man, ich rechne bestimmtest drauf. So nu muß ich aber weiter, bleiben Sie man sitzen. Ach Gott nee!« Sie wandte sich klagend hin und her, faltete die Hände. »Es geht ja nich, weil Unrat gesagt hat, nu sind wir komplett, un neue will er nich. Das vorige Mal hat er mir schon Krach gemacht. Darum, Sie verstehn –« »Vollkommen, gnädige Frau.« »I wo, markieren Sie nu man nich gleich die gekränkte Leberwurscht, darum können Sie mich ja doch besuchen, wenn niemand da is. Zum Beispiel heut nachmittag um fünf. Nu aber raus.« Und sie rauschte, mit allen Zeichen höchster Eile, durch die Portiere. 231
Lohmann wußte gar nicht, wie das gekommen war; wie es gekommen war, daß er sogar Lust hatte. Er vermutete dabei die Anziehung, die das Verderben ausübt. Grade weil Ertzum nun eigentlich durch diese spaßige kleine Kypris mit dem gutmütigen Zynismus ihres Volkstons seinem Ver- derben nahe gebracht war. Und Ertzum liebte sie noch immer. Ertzum konnte für sein Geld wenigstens glücklich werden. Lohmann ging ganz kahl hin, ohne einen Funken. Er ging an Stelle seines Freundes, der sie sich durch langes Leiden verdient hatte. Wie unmöglich das vor zwei Jahren gewesen wäre. Er erinnerte sich, daß er damals mit Unrat – der Alte, selber schon ganz verloren, wollte ihn noch von der Schule jagen – Mitleid empfunden hatte, aufrichtiges, gar nicht boshaftes Mitleid. Jetzt dagegen ging er zu seiner Frau. Was das Leben aus einem machte, meinte Lohmann nochmals, melancholisch und stolz. Es empfing ihn, aus dem Innern der Wohnung, ein lautes Schelten. Das Mädchen öffnete ihm verlegen die Tür zum Salon. Lohmann erblickte der Künstlerin Fröhlich gegen- über, die sehr erregt war, einen schwitzenden Mann mit einem Blatt Papier in der Hand. »Was wollen Sie denn?« fragte er den Mann. »Ach so. Wieviel ist es. Fünfzig Mark! Und darum das Geschrei.« »Tjä, Herr«, erwiderte der Gläubiger, »ich bin man schon fumzigmal gekommen, wegen jede Mark einmal.« Lohmann bezahlte und entließ ihn. »Gnädige Frau mögen mir meinen Übergriff nicht ver- übeln«, äußerte er, nicht mehr ganz frei. Er fand sich in falscher Lage; was er jetzt etwa bekam, war ein Entgelt für das Geleistete. Wenigstens durfte es dann nicht bei fünfzig Mark bleiben; hiergegen wehrte sich Lohmanns Eitelkeit. »Da ich einmal begonnen habe, dreist zu sein – gnädige Frau, man schildert Sie mir, ich weiß nicht, ob mit Recht, als in einige peinliche Geldfragen verwickelt.« 232
Die Künstlerin Fröhlich schlang krampfhaft die Finger ineinander und löste sie wieder. Sie wendete den Kopf rat- los hin und her auf dem steifen Kragen ihres tea-gown. Die tausend Plackereien ihrer von Lieferanten, Liebha- bern und Wucherern gehetzten Tage stürzten ihr alle auf einmal durch den Sinn – und dort, in der ihr hingehaltenen Brieftasche, war ein dicker Packen brauner Scheine. »Wieviel?« fragte Lohmann ruhig; und immerhin vor- sichtig: »Ich würde so weit gehen, wie ich kann.« Sie hatte ausgekämpft. Sie wollte nicht gekauft sein, von Lohmann nun mal grade nicht. »Nee, es is überhaupt nich wahr«, sagte sie. »Ich brauche nischt.« »Um so besser. Andernfalls hätte ich mich geschmei- chelt gefühlt, gnädige Frau –« Er dachte flüchtig an Dora Breetpoot, und daß nun auch sie geldbedürftig und, wer weiß, für Geld zu haben sei? … Um der Künstlerin Fröhlich noch die Wahl zu las- sen, legte er die Brieftasche geöffnet auf den Tisch. »Platzen wir uns man endlich«, sagte sie, und heiter ab- lenkend: »Haben Sie aber ’n gespicktes Portefölch!« Da er in kühlem Schweigen blieb: »Wie Sie all das Pinke-Pinke bloß loswerden. Sie tragen ja nich mal Ringe an den Fin- gern.« »Ich werde es auch niemals los.« Und er erklärte, unbesorgt, ob sie verstehe: »Ich be- zahle keine Frauen, weil ich mich nicht selber demütigen möchte. Übrigens ist es unnötig. Es geht wie mit den Kunstwerken, für die ich Gott weiß was hingeben würde. Aber kann man die eigentlich besitzen? Man sieht eines im Laden, man trägt einen Traum fort. Dann kehrt man viel- leicht um und kauft? Was kauft man? Die Sehnsucht be- darf keines Geldes, die Erfüllung ist es nicht wert.« Und er drehte sich von seiner Brieftasche schmollend weg. Zugleich übersetzte er ins Populäre: »Ich will sagen, daß ich schon tags darauf genug davon habe.« 233
Die Künstlerin Fröhlich, von Ehrfurcht berührt und zugleich ein ganz wenig spottsüchtig im Angesicht ihres Idols, bemerkte: »Denn kaufen Sie sich woll nischt wie Essen und Trinken.« »Können Sie mir etwas anderes anraten?« Und er sah ihr auf einmal mit gefalteter Stirn so unverschämt in die Au- gen, als fragte er: Soll ich Sie kaufen, Sie? Achselzuckend, als Antwort auf das Unausgesprochene: »Die körperliche Liebe ist schlechthin widerlich.« Sie war ganz betreten. Dann wagte sie schüchtern, es komisch zu finden und sagte: »Ach nee.« »Man muß sich herausheben«, bestimmte Lohmann, »sich rein und hoch machen. Reiten, wie Parsifal. Ich werde wahrscheinlich bei der Kavallerie dienen und gleichzeitig die Hohe Schule erlernen. Es gibt, von den Zirkusleuten abgesehn, in ganz Deutschland keine hun- dert Personen, die Hohe Schule reiten können.« Nun lachte sie ganz offen. »Aber denn werden Sie ja selber ’n Zirkusfritze, ’ne Art entfernter Kollege von mir. Wie ich das finde.« Seufzend: »Wissen Sie noch, der Blaue Engel? Das war doch das Beste.« Lohmann stutzte. »Es kann sein«, versetzte er mit Überlegung, »daß das das Beste war. Die Epoche im ganzen.« »Zu der Zeit konnte man woll lachen, man brauchte sich noch nich rumzuschlagen mit der ganzen Bande. Wenn ich denke, wie wir zwei beide zusammen getanzt haben, un denn kam Unrat, und Sie mußten durch das rote Fenster … Wissen Sie woll, daß er noch immer mächtig scharf is auf Sie« – sie lachte erregt – »und Wurst von Ihnen machen möcht?« Sie horchte immer mit einem Ohr nach der Tür – und dabei sah sie Lohmann vorwurfsvoll an, weil er alles ihr überließ. Nun, dann wollte sie die Sache alleine machen. 234
Sie hatte sich Lohmann in den Kopf gesetzt: vor allem, weil alle ihr erlaubt waren, und dieser einzige nicht. Das war ja nicht auszuhalten. Dann, weil ein bißchen trotzige Begierde noch aus den einfacheren Zeiten, deren sie jetzt mit Seufzen gedachte, dank Unrats Mißtrauen und seinem gräßlichen Haß wachgeblieben war und nun durch Loh- manns erhöhte Überlegenheit und seine fremdartige Di- stinktion gereizt ward bis zum Schwindel. Schließlich: weil es gefährlich war. Weil die Luft um sie her mit Kata- strophen geladen war und die Herbeiführung ihres Plat- zens ein Kitzel war für die Künstlerin Fröhlich. »Un wie Sie damals gefühlvoll gedichtet haben!« sagte sie. »Das tun Sie gewiß gar nich mehr. Wissen Sie noch, Ihr Lied vom runden Mond, was ich mal gesungen hab, und die Leute lachten so dämlich?« Sie bog sich schwärmerisch über die Seitenlehne ihres Sessels, setzte die Finger ihrer Rechten auf die Brust und stimmte an, hoch und schwach: »Der Mond ist ruhnd, und alle Sterne scheinen –« Sie sang die ganze Strophe und dachte sich dabei, daß dies das einzige Lied auf der Welt sei, das sie nicht singen dürfe; und hatte dabei fortwährend Unrats Gesicht vor Augen. Es war fürchterlich; aber es war ein bißchen ko- misch geschminkt, und die Büchse »bellet« mit dem Spie- gel hielt Unrat in der Hand. »Mein Herze weint, und alle Sterne lachen.« Lohmann, peinlich berührt, versuchte ihr zu steuern. Aber sie brach unaufhaltsam die zweite Strophe an. »Der Mond ist ruhnd …« Da krachte die aufgestoßene Tür, und Unrat stand, mit einem langen Schleichsatz, im Zimmer. Die Künstlerin Fröhlich kreischte hoch auf und flog in den Winkel, hinter Lohmanns Sitz. Unrat keuchte wortlos; und sie fand ihn genau so aussehnd, wie sie ihn sich beim Singen vorgestellt hatte. Er machte wieder die scheußlichen Augen von ge- 235
stern. Warum hatte er auch keinen Kamillentee gewollt, dachte sie in ihrer Angst. Unrat dachte: nun sei es aus. Sein ganzes Werk, sein ganzes strafendes Vernichtungswerk sei umsonst, da zum Schlusse nun doch Lohmann bei der Künstlerin Fröhlich sitze. Er hatte sie ins Angesicht der ganzen Menschheit gestellt, daran gearbeitet, daß alles den andern Entrissene ihres werde – und inzwischen machte sie seine qualvoll- sten Gesichte zu Wahrheit, seine Gesichte von ihr und Lohmann, in dessen Zügen alles Schlimmste, Hassens- werteste sich zusammengedrängt hatte. Was blieb da noch? Es war aus mit der Künstlerin Fröhlich, und also aus mit Unrat. Er mußte sie zum Tode verurteilen, und damit sich selbst. Er hatte nichts gesprochen – und plötzlich saß er ihr an der Kehle. Er gurgelte dabei, als sei er selbst der Ge- würgte. Eine Sekunde hielt er inne, und schöpfte selber Atem. Sie benutzte die Sekunde, um zu schreien: »Ihm is die körperliche Liebe widerlich, hat er so gewiß gesagt.« Unrat packte von neuem zu. Aber da zerrte es heftig an seinen beiden Schultern. Lohmann tat dies nur versuchsweise. Er wußte nicht, ob ihm hier tatsächlich eine Rolle zufiel; ihm war, als träumte ihm. So etwas gab es ja eigentlich nicht. In seiner klugen Vorstellung ging Unrats absonderliche Entwick- lung glatt vonstatten und gewissermaßen entrückt, wie in einem Buch. Etwas so Handgreifliches kam darin nicht vor. Lohmann hatte sich aus Anlaß seines alten Professors eine interessante Theorie zurechtgemacht; aber vor Augen hatte er Unrats Seele kaum – kaum ihre Abgrundflüge, ihr fürchterliches Auskohlen, ihr über alles hinaus zu sich sel- ber Verdammtsein. Die Anschauung der Dinge, die Loh- mann gefehlt hatte, nun kam sie zu jäh, und er hatte Furcht – die Furcht vor dem Wirklichen. Unrat wendete sich nach ihm um. Inzwischen ent- 236
wischte die Künstlerin Fröhlich, floh kreischend ins Ne- benzimmer und schloß geräuschvoll ab. Einen Augen- blick sah Unrat wie betäubt aus; dann raffte er sich auf und fing an, Schleichsätze um Lohmann herum zu machen. Lohmann war, um sich eine Haltung zu geben, an den Tisch zurückgetreten, nahm seine Brieftasche und strich darüber hin. Er dachte verschwommen darüber nach, was sich etwa sagen ließe. Wie dieses Wesen dort aussah! Etwas zwischen Spinne und Katze, mit wahnsinnigen Au- gen, über die farbige Schweißtropfen rannen, und mit Schaum auf dem klappenden Kiefer. Es war keine ange- nehme Lage, es mit gekrümmten Fangarmen überall um sich her zu haben. Was keuchte es? Unrat keuchte unverständlich: »Elender – wagen es – Fassen – endlich fassen – Hergeben, alles herausgeben!« Und da entriß er Lohmann die Brieftasche und stürzte mit ihr hinaus. Lohmann stand noch da, voll eines großen Schreckens: denn hier wurden Verbrechen begangen. Unrat, der inter- essante Anarchist, beging ausgemachte Verbrechen. Nun war der Anarchist eine moralische Seltsamkeit und ein wohlverständliches Extrem; das Verbrechen eine Steige- rung allgemein menschlicher Neigungen und Affekte, die nichts Auffallendes hatte. Unrat aber hatte bei Lohmanns körperlicher Gegenwart seine Frau zu erwürgen versucht, und er hatte an Lohmann selbst einen Raub begangen. Da geriet denn der Kommentator ins Stocken, dem Zu- schauer versagte das wohlwollende Lächeln. Lohmanns Geist, der durch so unglaubwürdige Erlebnisse noch nie erprobt worden war, warf alle Eigenart ab und antwortete auf »Verbrechen« ganz bürgerlich mit »Polizei«. Wohl be- wahrte er das Bewußtsein, dies sei kein besonders seltener Einfall, aber er sagte sich: ›Da hört’s auf‹ und schritt stramm über das Bedenken hinweg. Ja, Lohmanns Schritt ward stramm, als er sich an die Tür zum Nebenzimmer 237
begab, um daran zu rütteln. Er hatte deutlich gehört, wie die Künstlerin Fröhlich sich eingesperrt hatte; aber es war seine Pflicht, sich vollends zu überzeugen, daß sie nach seinem Weggang nicht in die Gewalt ihres mörderischen Gatten fallen könne … Darauf verließ Lohmann das Haus. Ein Stündchen verrann; dann wälzte sich ein immer noch anschwellender Haufe um die Straßenecke. Die Stadt war in Jubel, weil Unrats Verhaftung beschlossen war. End- lich! Der Druck ihres eigenen Lasters ward von ihr ge- nommen, da die Gelegenheit dazu entfernt ward. Man warf, zu sich kommend, einen Blick auf die Leichen rings- umher und entdeckte, daß es höchste Zeit sei. Warum man eigentlich so lange gewartet hatte. Ein Bierwagen, hoch voll Fässern, versperrte schon die halbe Straße, da mußte noch eine Droschke hindurch; und darin kamen die Beamten. Die Obstfrau von der Ecke lief mit; Herr Dröge, der Krämer, schleppte den Gummi- schlauch herbei. Vor Unrats Hause johlte das Gedränge. Endlich er- schien er, inmitten der Beamten. Die Künstlerin Fröhlich, wirr, zerzaust, ganz in Tränen, zuckendem Jammer, Reue und unerhörter Unterworfenheit, klammerte sich an ihn, lag über ihn hingehängt, löste sich auf in ihn. Sie war mit- verhaftet worden, was Lohmann nicht vorausgesehen hatte. Unrat hob sie in den geschlossenen Wagen, der ganz verfinstert war mit Gardinen; und er suchte zerfahren um- her im Geheul. Einer hinterm Lederschurz, der Bierkut- scher, reckte seinen bleichen Schlingelkopf heraus und quäkte: »’ne Fuhre Unrat!« Unrat warf sich herum, nach dem Wort, das nun kein Siegeskranz mehr war, sondern wieder ein ihm nachflie- gendes Stück Schmutz – und erkannte Kieselack. Er schüttelte die Faust, er schnappte, den Hals vorgestreckt, 238
in die Luft: aber Herrn Dröges Strahl prallte ihm grade in den Mund. Er sprudelte Wasser, empfing von hinten einen Stoß, stolperte das Trittbrett hinan und gelangte kopfüber auf das Polster neben der Künstlerin Fröhlich und ins Dunkel.
Editorische Notiz
Heinrich Mann schrieb seinen Roman Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen in »wenigen Monaten, Florenz Ende 1903 bis Ulten (Südtyrol) Aug. 1904« nie- der. Zur Idee und zum unmittelbaren Anlaß des Romans hat sich Heinrich Mann in einem Brief an Paul Hatvani vom 2. April 1922 geäußert: »Durchweg sind meine Romane soziologisch. Den menschlichen Verhältnissen, die sie darstellen, liegen überall zu Grunde die Macht- verhältnisse der Gesellschaft. Die am häufigsten von mir durchgeführte Idee ist eben die der Macht. Einfälle, denen Niemand es angesehen haben würde, führten sich mir, je länger je deutlicher, auf jene Idee zurück. So saß ich ahnungslos im Teatro Alfieri zu Florenz, die Pause kam, ich kaufte eine Zeitung und las, aus Berlin berich- tet, von einem Professor X, der im trauten Verein mit einer Chanteuse auf die traurigsten Abwege gerathen war. Ein Moment der selbstvergessenen Empfängniß, und Professor Unrat lebte. Sein Vorbild aus der Zeitung stellte sich später als Börsenredakteur heraus. Für mich aber war das Phänomen vom ersten Augenblick an ein Gymnasialprofessor, der Mann der Ordnung und des festen Befehls, der fallen, sich in Anarchie auflösen und den Tyrannen von seiner Kehrseite zeigen mußte …« Aus der Niederschriftsphase des Buches ist dagegen bis- her kaum etwas bekannt; nicht einmal Manuskripte, Ent- würfe oder Notizen sind zu diesem Roman in Heinrich Manns Nachlaß (Stiftung Archiv der Akademie der Kün- ste zu Berlin) erhalten geblieben, die nähere Aufschlüsse 240
darüber erlauben würden. Lediglich dem Lübecker Schulfreund Ludwig Ewers berichtet der Autor am 23. Dezember 1904: »Jetzt soll eine höchst ausfallende Geschichte in Druck gehen; weniger erotisch als geistig ausfallend. Ich hoffe sie Dir im März schicken zu können. Sie spielt übrigens in Lübeck, und Du wirst ›den Lehrer‹, zu meinen Zwecken verarbeitet, darin wieder- finden. Das war die Arbeit des Sommers.« Die Erstausgabe erschien mit der Frühjahrsproduktion 1905 im Albert-Langen-Verlag, München, in einer Auf- lage von 2 000 Exemplaren und wurde dort bereits 1906 in weiteren 2 000 Exemplaren als zweite Auflage nachge- druckt. Mehr als ein Jahrzehnt stagnierte der Absatz des Romans. Erst ab 1916 mit Übernahme der Werke Hein- rich Manns durch den Kurt-Wolff-Verlag stiegen die Auflagenziffern bis zum 32. Tausend im Jahre 1917 ste- tig an. 1925 kam es zu einer preiswerten Ausgabe des Berliner Ullstein-Verlages in der Reihe ›Die gelben Ull- stein-Bücher‹ mit 10 000 Exemplaren (1930 nochmals die gleiche Anzahl). Im selben Jahr erreichte Professor Unrat mit der Ausgabe im Paul-Zsolnay-Verlag das 47. Tau- send. Weltberühmt jedoch wurden Roman und Autor durch die Verfilmung unter dem Titel Der Blaue Engel (1930) mit Marlene Dietrich und Emil Jannings in den Hauptrollen. Obwohl nur wenige Rezensionen erschienen, war der Autor höchst zufrieden mit der Aufnahme seines Romans, wie er Ludwig Ewers am 15. September 1905 berichtet: »Mein Professor Unrat hat wider mein Erwar- ten einigen Erfolg; er scheint stofflich einigermaßen auf der Höhe des öffentlichen Intellekts zu stehen.« Die vorliegende Ausgabe des Romans ist seiteniden- tisch mit der innerhalb der Heinrich-Mann-Studienausgabe in Einzelbänden des Fischer Taschenbuch Verlages, die ihrerseits als Textgrundlage Band 4 der Gesammelten 242
Werke (Akademie-Ausgabe des Aufbau-Verlages; Re- daktion: Sigrid Anger) hat. Folgende Entscheidungen haben die Konstitution dieses Textes bestimmt: Die Erstausgabe des Albert-Langen-Verlages bildet den Ausgangstext. Die späteren Ausgaben druckten die- sen Text unverändert nach, lediglich die Ausgabe des Paul-Zsolnay-Verlages modernisierte die Orthographie und nahm – ob mit Wissen und Autorisation durch den Autor, ist nicht festzustellen – geringfügige stilistische Änderungen vor. In Heinrich Manns Nachlaß ist sein Handexemplar der Erstausgabe mit neun handschrift- lichen Korrekturen erhalten, die in der vorliegenden Ausgabe berücksichtigt sind. Darüber hinaus sind Orthographie und Interpunktion dem heutigen Sprach- gebrauch angeglichen worden, wobei Lautstand und Eigenheiten Heinrich Manns bei der Zeichensetzung unberührt bleiben. Marbach am Neckar, 1. Juni 1994
Peter-Paul Schneider