LUX Weltatlas „Unsere Erde" Länder • Völker • Tiere - Pflanzen Bisherige Gesamtauflage 300000 Exemplare Der Atlas «Unse...
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LUX Weltatlas „Unsere Erde" Länder • Völker • Tiere - Pflanzen Bisherige Gesamtauflage 300000 Exemplare Der Atlas «Unsere Erde" ist in seiner neuartigen Anordnung zum Lesen und zum Nachschlagen bestimmt. Über 70 buntfarbige politische und geographische Karten, moderne Tabellen und Statistiken, ausführliche Länderbeschreibungen, Tier- und Pflanzenbilder machen den Atlas zum Bildungsbuch für Schule und Familie. Hunderttausende nehmen den Weltatlas „Unsere Erde" täglich zur Hand. Er ist eine wertvolle Ergänzung der Lux-Lesebogen.
„Unsere Erde" berichtet übersichtlich und für jeden verständlich über die Welt, ihre Entwicklung, über Gebirge, Inseln und Ströme, Kanäle, Brücken und Talsperren. Alles, was wissenswert erscheint, ist zu finden: Größe, Grenzen, Städte und Bevölkerungszahlen der 87 Länder der Erde, ihre Regierungsformen, Währungen, Haupterzeugnisse, Verkehrsverbältnisse. Zum ersten Male wird in einem Atlas auch die Tier- und Pflanzenwelt aller Kontinente anschaulich in Vierfarbbildern und lehrreichen Textbeiträgen vor Augen geführt und eingehend beschrieben. Und das Wichtigste: LUX Weltatlas „Unsere Erde' (Umfang 200 Selten) kostet nur DM. 2.80 Durch alle Buchhandlungen zu beziehen
VERLAG SEBASTIAN LUX Murnau • München • Innsbruck • Olles (Schwell)
K L E I N E B I B L I O T H E K DES WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
HEINZ SPONSEL
PROFESSOR PICCARD Zwischen Stratosphäre und Meeresgrund
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU-MÜNCHEN-INNSBRUCK-
OLTEN
Gliederung der Tiefenzonen der Weltmeere
Zwischen
Stratosphäre
De' er
und
Meeresgrund
30. September 1953 ist ein Tag wie unzählige andere. Bei der kleinen Insel Ponza im Tyrrhenischen Meer haben die Fischer im Morgengrauen ihre Boote bestiegen, die Dieselmotoren angelassen und nehmen Kurs aufs offene Meer, dorthin, wo sie tags zuvor die Netze ausgeworfen haben. Nach kurzer Fahrt im Verband schwärmen die Boote in alle Richtungen aus, werden kleiner und kleiner, sind nur noch winzige Punkte auf der im Frühlicht dämmernden Flache des Meeres und verschwinden zuletzt unter dem Horizont. Als die Sonne höher gestiegen ist, löst der Hochseeschlepper „Tenace" im Hafen von Ponza die Anker und manövriert vorsichtig auf das weiße Schiff zu, das, fast ein?m U-Boot gleichend, an seinem Turm den Namen „Trieste" erkennen iäßt. Auf der Kommandobrücke 2
der „Tenace" steht neben dem italienischen Admiral Gerosi Auguste Piccard, der schon legendär gewordene, fast siebzigjährige schweizerische Professor der Physik. Gespannt beobachtet er jeden Handgriff der Matrosen, als sie das Tauchschiff „Trieste" ins Schlepptau nehmen. Auguste Piccard ist entschlossen, an diesem Vormittag erneut tief in die Abgrunde des Meeres vorzustoßen, in eine unbekannte Welt, in ein Reich, dessen Lebensgeheimnisse noch kaum erschlossen sind. Auf diesen Tag hat er ein Leben lang gehofft. Rings um den Hochseeschlepper „Tenace" kurven die Motorboote der Journalisten. Sie erwarten, daß der greise Professor einen neuen Weltrekord im Tiefseetauchen aufstellen wird. Diesen Rekord halten seit kurzer Zeit zwei französische Offiziere der UnterwasserVersuchsanstalt Toulon. Am 14. August 1953 sind sie zehn Meilen südöstlich von Toulon mit dem umgebauten Piccardschen Tauchschiff „F. N. R. S. 3" bis in eine Tiefe von 2100 Metern vorgedrungen. Piccard sieht die Boote mit den Journalisten und lächelt. Nein, er fährt zu diesem Abenteuer nicht aus, um Stoff für Schlagzeilen zu liefern. Wenn es nach ihm ginge, wenn er die Macht dazu hatte, er würde die Presseleute veranlassen, ihn nicht zu begleiten. Nur um der Wissenschaft willen nimmt er mit seinen fast siebzig Jahren das gefährliche Abenteuer auf sich. Ein Kommando Admiral Gerosis reißt Piccard aus seinen Gedanken. Den Matrosen ist es gelungen, trotz der unruhigen See von Bord der „Tenace" die Schleppseile zur „Trieste" zu spannen. Der Hochseeschlepper setzt sich gemächlich in Bewegung. Wie mechanisch hebt Piccard die Hände, um den Gruß der Dorfbewohner, die ihm nachwinken, zu erwidern. Sein Blick geht von den Menschen am Strand zurück zu seinem Tauchschiff, das im Kielwasser des Schleppers schwerfällig einherschwankt. Wolken überziehen den Himmel, die Sonne verschwindet, eine steife Brise läuft über das Meer heran. Der Schiffszug kämpft sich durch Wellenberge und -taler. Nach zwei Stunden schweigen die Dieselmotoren. Es ist 7 Uhr morgens. Der für den Tauchversuch genau berechnete Ort, der in allen Seekarten eingezeichnete Tyrrhenische Graben mit einer Tiefe von knapp 3200 Meter, zwanzig Meilen südwestlich von Chebres auf Ponza, ist erreicht. Neben Piccard steht sein einziger Sohn Jacques, schlank, hochaufgeschossen, sechs Zentimeter größer als der baumlange Vater. „Ob wir nicht lieber warten?", fragt er und weist auf die verdächtige Unruhe des Wassers. „Wo wir hinwollen", erwidert Professor Piccard, „in der Tiefe ist die See *uhig! w 3
Dann gibt er ein Zeichen. Die Matrosen beginnen die „ tungen, die sie bis in jede Einzelheit durchexerziert naDe . 8 Uhr setzen Auguste und Jacques Piccard auf einem k l e ' n ® n " bei schwerem Wellengang von der „Tenace" zum Tauchschiit über. Beim Hinaufsteigen gleitet Jacques aus, stürzt ins Wasser, K e tert triefend vor Nässe wieder auf das schmale Deck. Eine Warnung. Der Professor glaubt nicht an ungünstige Vorzeichen. Er vertraut auf sein Geschick und sein Glück. Wenige Wochen vorher, am 26. August, ist er hart neben der steilen, felsigen Südflanke der Trauminsel Capri mit seiner „Trieste" in siebzehn Minuten auf 1050 Meter hinuntergetaucht — ohne Zwischenfall. Er ist seiner Sache sicher, Gefahr ist überall, wo etwas gewagt wird. Ein Schlauchboot wirft von der „Tenace" ab. Piccard grüßt zu den Männern hinüber, die an den Rudern sitzen, zwei Ingenieuren, die auf drahtlosem Wege die einzige Verbindung zwischen der Meerestiefe und der Welt des Lichts aufrechterhalten sollen. Grell hebt sich das gelb-rote Schlauchboot vom Grau des Himmels und des Wassers ab. Noch einmal blickt Piccard übers Meer, schaut in den Himmel, als wolle er alles ganz in sich aufnehmen, dann zwängt er sich hinter seinem Sohn Jacques durch die niedere Einstiegluke im Turm, Die dickwandige Tür wird verschraubt, der Tauchmechanismus beginnt zu arbeiten. Die Zeiger der Uhr zeigen genau 8 Uhr 10 Minuten . ..
2 Stunden und 18 Minuten Abwärts in die nachtdunkle Meerestiefe! Um den sinkenden Schwimmkörper gurgelt das Wasser. Schon stehen die Helfer bis zur Brust in den Wogen. Dann hechten sie mit einem mächtigen Sprung von Deck in die Wellen, schwimmen auf die „Tenace" zu. Admiral Gerosi und die Matrosen des Schleppers blicken auf den weißen Körper der „Trieste", der gleichmäßig tiefer und tiefer verschwindet. Nur noch der Turm ragt aus den Wellen. Leer ist der Fahnenmast, an dem bis vor wenigen Minuten die italienische und die schweizerische Fahne geweht haben. Wird der Versuch gelingen? Wird das Boot mit Auguste und Jacques Piccard unversehrt wieder aus dem schwarzen Abgrund ans Licht des Tages kommen?. Das Wasser beruhigt sich, es ist nichts mehr zu sehen als ein großer, hellgrüner Fleck, der sich rasch im Einerlei der Wogen 4
Die .Trieste' ist nach dem Abstieg in 3150 m Tiefe aufgetaucht verliert. Leer liegt die Wasserfläche, .nichts deutet mehr das kühne Unternehmen an, das sich nun im Dunkel des Meeres vollzieht. Admiral Gerosi gibt den Befehl, die Tauchstelle zu verlassen und drei Meilen nach We?ten zu steuern, um beim Wiederaufsteigen der „Trieste" einen Zusammenstoß zu vermeiden. Nur das Schlauchboot mit den Ingenieuren bleibt unmittelbar an der Tauchstelle zurück. Das drahtlose Telephon im Schlauchboot ist die einzige Verbindung, die zu den zwei einsamen Menschen nach unten führt. Die Hilfsmannsehaft zwingt sich zu äußerster Wachsamkeit. In der Kugelgondel, die an der Unterseite des Tauchschiffes fest verankert ist, sitzt in beklemmender Enge Professor Piccard und blickt durch die kreisrunde Scheibe aus dickem Glas in die Wasserwelt, die draußen vorübergleitet. In vieljähriger Forschertätigkeit hat er gelernt, scharf zu beobachten. Jede Einzelheit prägt sich ihm unverlöschbar ein: 5
„Wir sinken, ich bemerke, daß die Empfindungen in diesem Augenblick viel intensiver sind als bei einem Ballonaufstieg. Ein Ballon muß notwendigerweise wieder herunterkommen. Ob ein Tauchschiff wieder heraufkommt, hängt einzig und allein vom richtigen Funktionieren der Apparatur ab. Das Tageslicht wird immer schwächer. Die beiden Manometer registrieren eine gute Tauchgeschwindigkeit. Wir werfen Ballast ab, um die Geschwindigkeit zu vermindern. Nur vier Männer sind bisher aus den Tiefen, in die wir wollen, lebend zurückgekehrt: Professor Beebe und Ingenieur Barton in ihrem Fesselbathyscaph, mit dem sie 1934 eine Tiefe von 908 m erreichten, Kommandant Hotiot und Ingenieur Wilm im „F.N.R.S. 3", in dem sie vor wenigen Wochen 2100 m bezwangen. Meine Vernunft sagt, daß wir alles gut vorbereitet haben. Furchtlos vertraut sich jeder einer Eisenbahnbrücke oder einem Lift an. Wir vertrauen auf die ewigen Gesetze der Physik. Noch scheint das Meer ziemlich leer zu sein. Wir schalten die Scheinwerfer ein und sehen eine Menge kleiner Lebewesen im Wasser herumwimmeln. Wir stellen die Scheinwerfer für Sekunden ab. Von Zeit zu Zeit gleitet ein phosphoreszierender Fisch an den Fenstern vorbei. Er hat ungefähr die Form eines Karpfens, seine Schuppenhaut leuchtet ohne besondere Farbe. Wir sinken weiter. Der Tiefenmesser zeichnet eine schiefe, regelmäßige Linie. Wir geben Ballast ab, wie ein Ballon, der sich der Erde nähert. Wir befinden uns jetzt in der Zone, in der wir die Scheinwerfer dauernd eingeschaltet lassen müssen. Das Wasser ist so klar, daß der Lichtkegel kaum sichtbar ist. Tausende winziger Lebewesen glänzen, als ob sie von einem Ultra-Mikroskop bestrahlt wären. Die Bedingungen der Beobachtung sind ideal. Aber mar müßte sich langsamer bewegen. Ich will nicht zu viel Ballast abgeben, um nicht gezwungen zu sein, vor Erreichung meines Zieles, des Meeresgrundes, wieder aufzusteigen. Die Manometer verzeichnen jetzt einen äußeren Druek von rund hundert Atmosphären, das heißt, 100 kg auf jeden Quadratzentimeter — und die Oberfläche unserer Kugelgondel beträgt 150 000 Quadratzentimeter! . . . Die Scheinwerfer leuchten . . . sie leuchten auf den Meeresboden. Der Tiefenmesser hat die Linie über die Zahl 3000 hinausgezogen. Wenn ich mich nicht irre, ist es das erstemal, daß ein Mensch der Grund des Meeres in dieser Tiefe erblickt, mit Bewußtsein erblickt. Achtung, wir landen! Wir berühren den Boden — ohne Erschütterung. Er besteht aus Schlamm. Unsere Kugelgondel versinkt in diesem Schlamm bis über die Bullaugen. Trotz unserer Schein-
werfer umgibt uns völliges Dunkel. Ich muß die Vorstellungen der Wissenschaft, wie sie bis heute galten, korrigieren. Bis jetzt war es allgemein gültige Ansicht, daß die Ablagerungen des Meeres nur eine dünne Schicht von wenigen Zentimetern bilden. Daß sie zudem noch schnell verhärten. Es ist keine Beobachtung mehr möglich. Der Tiefseeschlamm hält uns fest wie ein Polyp. Die Kabine steckt im Schlamm wie in einem Saugnapf. Wir müssen also das Tauchgerät stark entlasten, um es wieder frei zu bekommen, einige Minuten lang Eisenkorn ausfließen lassen! Die Bullaugen stecken IIOL.I immer im Schlamm. Wir können nicht feststellen, ob der Ballast fließt. Dumpfer Gedanke, daß die Öffnungen der Ballastbehälter vom Schlamm verstopft sind! In diesem Fall kann Jas Eisenkorn nicht ausfließen . . . Endlich, endlich . . . der Schlamm vor den Bullaugen gerät in Bewegung. Wir sind frei und steigen! Wir steigen sehr schnell, schneller, als uns für die Beobachtung lieb ist. Wir löschen alle Lichter aus . . . Schon 400 Meter? Ein leichter Schimmer dringt durch unsere Kugelfenster. Wir grüßen dich. Licht des Tages! Die Sonne sendet ihre Strahlen bis zu uns herab. Wir sind sehr glücklich. Vor 49 Jahren habe ich das Prinzip dieses Tauchboots erdacht. Und in diesem Augenblick steigt die ,Trieste', die mein Sohn und ich gebaut haben, aus der Tiefe. Es ist das erste Tauchboot, das den Meeresgrund berührt hat, den Meeresgrund in 3150 Meter Tiefe . . ."
* Und wieder strudelt das Wasser, rauschen die Wogen. Seit» 8 Uhr 10 haben die Männer der ,Tenace' und der kleineren Begleitboote die Meeresfläche ringsum im Auge behalten. Die Uhren zeigen 10 Uhr 34 Minuten, als der weiße Turm der ,Trieste' ans den Gründen des Tyrrhenischen Grabens .ins Licht des Septembertages emportaucht und der silbrige Leib des Tiefseeschiffes wieder — wie knappe zwei Stunden zuvor — die Wellen durchschneidet. In diesem Augenblick verweht die bange Angst, die über allen gelastet hat. Jacques Piccard zieht am Mast des Turmes die Schweizer Fahne hoch. Evviva la Svizzera! — klingt es aus allen Kehlen. Minuten später hat ein Boot Piccard und seinen Sohn an Bord der ,Tenace' zurückgeholt. Admiral Gerosi hält die Hände des erschöpften Forschers. Er spricht beglückt von dieser großen Leistung, dem neuen Weltrekord, den die ,Trieste' und ihre Besatzung erkämpft haben. 7
Der Funker des Schleppers morst ununterbrochen in den Äther die gleichen Worte: „3150 m tiefe von professor piccard bei ponza erreicht — — 3150 m tiefe von professor piccard bei ponza erreicht 3150 m tiefe ." Auguste Piccard aber liegt im Stuhl, eine kleine Schale Kaffee in der Hand. Die Sonne bricht endlich durch die Wolken. Piccard lehnt sich zurück, spürt die Wärme und lauscht dem Rauschen. In dieser Stunde läuft der Film seines Lebens vor ihm ab. Die Augen bleiben hinter den dicken Brillengläsern geschlossen, das Antlitz entspannt sich nach der unsagbaren Anstrengung der letzten Stunden. Piccard hört nicht den Jubel, der rings um ihn ist. Er träumt den Traum seines Lebens, eines Lebens vieler Umwege, das an diesem 30. September 1953, nach beinahe siebzig Jahren, seine Erfüllung gefunden hat, die Erfüllung in 3150 Meter Meerestiefe. Aber vor diesem Septembertag liegen viele Stationen. Vor der Tiefsee war die Stratosphäre! Piccard ruft die Vergangenheit zurück. Niemand soll ihn stören in dieser Stunde. Und er erinnert sich an jenen Tag im Mai 1931 . ..
Flug in
die Stratosphäre
Professor Auguste Piccard, der seit Jahren den Lehrstuhl für Physik an der Universität Brüssel innehat, ist Schweizer Staatsbürger. Seitdem Viktor Geß im Jahre 1912 die „kosmische Strahlung", die „Höhenstrahlung", entdeckt hat, gilt das Interesse des eigenwilligen Gelehrten dieser mächtigen Energiequelle, die aus den magnetischen Feldern vieler Sterne hervorbricht. Wie ein Regen stürzen unablässig au« dem Weltall schnelle, elektrisch geladene Atomkerne auf das Luftpolster der Erdatmosphäre und werden bei dem Zusammenstoß mit den Atomkernen der Luft zertrümmert. Aus den Kernexplosionen treffen abgesprengte Teilchen als immer noch kräftige Geschosse auf die Erde und dringen tief in den Boden und die Meere ein. Aber es sind nur Ableger der Sternatomkerne, was im Meer und auch in der Erde zu beobachten ist. Erst in Höhen über 12 Kilometer, in der „Stratosphäre", wo der Luftwiderstand weitgehend ausfällt, kann die kosmische Strahlung in ihrer Ursprünglicheren Energiefülle gemessen und mit Geräten und in Experimenten untersucht werden. Professor Piccard gibt sich mit seinen Vorlesungen nicht zufrieden, und auch das Laboratorium und die stille Gelehrtenstube 8
seine* Hauses genügen ihm nicht. So erwacht in ihm der Gedanke, sich mit einem Ballon in die Stratosphäre hinauftragen zu lassen, um die Höhenstrahlung sozusagen an Ort und Stelle zu studieren. Kein Mensch ist bis dahin über die „Troposphäre", die erdnähere Schicht der Lufthülle, in jene gefürchteten Höhenbereiche hinausgekommen. Der Direktor des „Institut National de la Recherche Scientifique" zu Brüssel, dem Piccard als erstem seine Pläne anvertraut, schüttelt den Kopf über den seltsamen Professor. Doch je länger er Piccard zuhört, desto klarer wird ihm: Hier redet kein Phantast, hier ist alles klar durchdacht. Er läßt sich überzeugen, Verfällt dem Banne dieses Gelehrten, der kühn wie Kolumbus sich ins Unbekannte wagen will. Monate später, im Morgengrauen des 27. Mai 1931, 22 Jahre vor dem Ereignis von Ponza, schaukelt der nach Piccards Plänen gebaute Ballon über dem Flugplatz von Augsburg. Unter der langgestreckten Hülle hängt die Gondel aus Aluminium mit der kleinen Einsteigluke, die hermetisch verschlossen werden kann. Als erster steigt Professor Kipfer durch das Schlupfloch, dann folgt Auguste Piccard. Noch sind die letzten Handgriffe nicht getan, als eine Windbö über den Flugplatz weht, den Ballon erfaßt und die Gondel gegen den Boden schlägt. Trotz der Beule in der Aluminiumkugel, trotz einer gebrochenen Röhre des Sauerstoffapparats entschließt sich Piccard zum Aufstieg. Vergebens sind die Warnungen. Die Halteseile werden ausgeklinkt, wie ein Pfeil schießt der Stratosphärenballon senkrecht in die Höhe, wird zum winzigen Punkt in der Unendlichkeit des Himmels, schwebt in südlicher Richtung. Piccard hat das Logbuch vor sich ausgebreitet und schreibt, was geschieht. Er schreibt es mit nüchternen, knappen Sätzen, nicht anders, als säße er in der sicheren Geborgenheit seines Heims am Schreibtisch. Und doch ist jede Sekunde dieses Fluges voll unbekannter Gefahren. In seiner zügigen Handschrift füllen sich die Blätter mit den Notizen: „Start um 3 Uhr 57. Kaum hatte der Ballon den Boden verlassen, sank der Luftdruck in der Gondel wegen des Schadens am Lotungsgerät vor dem Start . . . In 6000 Meter Höhe: Luftdruck entspricht nur einer Höhe von 4000 Meter. Wir müßten das Leck in der Gondel reparieren. Mit eine Mischung aus Vaseline und Rupfen, die wir in der Gondel haben, müßte der Schaden auszubessern sein . . . Die Wirkung bleibt nicht aus. Das Leck ist dicht. 9
Wir sprengen in die Gondel flüssigen Sauerstoff, der sich sofort in Gas verwandelt . . ,"• Drunten auf dem Flugplatzgelände und weithin in der Umgebung spähen die Menschen nach Süden. Aber der Himmelsraum ist leer. Die Entfernung und die erreichte Höhe haben Ballon und Gondel ins* Nichts zerfließen lassen. „4 Uhr 25: Wir haben 15 000 Meter Höhe erreicht. Gondeltemperatur + 7 Grad." „5 Uhr 11: Wir halten die Höhe. Durch das obere Fenster sehen wir. daß der Ballon prall rund geworden ist." „5 Uhr 57: Wir wollen höher und werfen Ballast ab . . . 6 Uhr 15: Die Sonne kommt und erleichtert die Arbeit. Wasser sammelt sich an den Wänden der Gondel. Temperatur + 16 Grad . . . 6 Uhr 35: Eine gefährliche Feststellung: Das Ventilseil funktioniert nicht. Wenn wir es nicht reparieren, werden wir nicht vor Einbruch der Nacht landen können. Es ist besser, wir sparen jetzt den Ballast für diese Landung auf." „7 Uhr 5: Ein zischendes Geräusch, ein neues Luftleck. Wir können es nicht finden . . . 8 Uhr 25: Waagerechte Geschwindigkeit das Ballons 2 m 50 in der Sekunde. Wir finden das Leck — im Ballastabwurfgerät . . . 8 Uhr 30: Wir müssen feststellen, daß sich das Ventilseil außerhalb der Gondel verfangen hat. Beparatur also unmöglich... 8 Uhr 42: Wir müssen den Apparat, der die Ionisierung der Atmosphäre aufzeichnet, einpacken, damit im Falle der Landung das große Gerät nicht auf uns fällt. So müssen wir den wichtigsten Teil unserer Forscherarbeit einstellen . . . 9 Uhr 30: Das Gerät ist verpackt. Temperatur + 34 G r a d . . . 9 Uhr 46: Wir versuchen, das Ventilseil zu ziehen. Es reißt ab!" Piccard und sein Begleiter, Professor Kipfer, wissen, was dieses Mißgeschick bedeutet, wissen, daß sie nun wie ein steuerloses Schiff auf dem Meer hilflos im Ozean der Luft schweben: „10 Uhr 10: Wir sind Gefangene der Luft. Wir müssen warten. 14, 15 oder 16 Stunden. Wird der Vorrat an Sauerstoff in der Gondel so lange reichen? Wir versuchen noch einmal, das Ventil zu reparieren. Umsonst, aber dafür haben wir ein Quecksilberthermometer zerbrochen. Es wird wärmer. Ich ziehe das Hemd aus." ,.10 Uhr 40: Wir spüren an den Ohren, daß wir Luftdruck verloren haben Das Loch am Lotungsgerät beginnt wieder undicht zu werden. Wir reparieren es. Temperatur + 41 Grad! Die Zeit schleppt sich hin. Der schreckliche Durst wird immer quälender. Wir lecken die Wassertropfen ab, die sich an der Wand der Aluminiumgondel bilden" 10
"Nüchterne Sätze! Der Ballon schwebt noch immer in Höhen, die ihn jedem menschlichen Augs entziehen. Niemand dort drunten ahnt die Tragödie, die sich in mehr als 15 000 Meter Höhe abspielt. Sie atmen langsam, vermeiden jede Bewegung, Die Sekunden erscheinen wie Stunden. Kaum hat Piccard noch die Kraft, den Schreibstift zu führen. Aber er rafft sich auf: „17 Uhr 45: Wir haben noch Sauerstoff für vier Stunden. Das Quecksilber aus dem zerbrochenen Thermometer fließt noch immer über die Wände der Gondel. Hoffentlich zerfrißt es das Aluminium nicht! 18 Uhr: Unbegreiflich, daß der Ballon noch immer nicht sinkt. Die Sonne wird noch zwei Stunden scheinen. Wenn sie untergeht, müssen wir landen. Aber wie? Ohne Ventil! Aber wenn die Sonne untergeht, wenn es wieder kühl wird, müssen wir ja sinken . . . 20 Uhr 22: Nein, wir werden nicht ersticken! Der Luftdruck draußen an der Gondel steigt auf 201 mm. Wir werden im Hochgebirge landen. Unsere Höhe noch immer 9000 Meter. .. 20 Uhr 52: Höhe 2500 Meter. Wir können die Luke öffnen . . . 21 Uhr: Wir sind in 2600 m Höhe auf dem Obergurgl-Gletscher in Tirol gelandet!" In beißender Kälte verbringen Piccard und Kipfer die Nacht auf dem Gletscher. Am anderen Tage weiß die Welt, daß die beiden Forscher 15 281 Meter bezwungen haben. Dem Namen Piccard verbindet sich der Ruhm, vom ersten 1 age an sucht er ihm zu entrinnen. Aber Klang and Rang bleibt dieEem Namen bis heute und in der Zukunft. Für die Welt ist der Stratosphärenflug Sensation und Erfolg. Für Piccard gelten andere Maßstäbe. Die Aufgabe, die er sich gestellt hat, ist die Durchforschung der Höhenstrahlen. Der Ausfall der Geräte hat diesen Plan zunichte gemacht. So wertet er den Flug nur als Teilerfolg, und sein Entschluß steht fest, den Aufbruch in die Stratosphäre zum zweitenmal zu wagen. Nicht, um den Rekord von 15 281 m zu überbieten. Nur um des Zieles willen: Fm srroßes physikalisches Rätsel zu entschleiern.
16770 Meter über der Erde Wieder ein Jahr pausenloser Arbeit. Die Vorlesungen an der Universität zu Brüssel sind überfüllt, Studenten aus aller Welt wollen den Wissenschaftler hören, der die unter Professoren so seltene Verbindung von gelehrsamer Forschung und wagemutiger 11
persönlicher Kühnheit besitzt. Vor dem Hörsaal und dem Labor drängen sich die Journalisten aus aller Welt, die für ihre Zeitungen ein Interview von ihm erbitten. Noch Wochen und Monate nach dem Stratosphärenflug tauchen sie auf. Aber enttäuscht müssen sie feststellen, daß es Auguste Piccard kaum daran liegt, seinen Namen allzuoft in den Spalten der Zeitungen zu finden. Zwei, Welten stehen sich gegenüber. Wissenschaft und Sensation sind unvereinbar wie Feuer und Wasser. Wenn die Hörsäle längst leer und verlassen liegen, brennt im Physikalischen Institut das Licht noch bis tief in die Nacht. Piccard überdenkt die Verbesserungen an seinem Ballon, um auf künftigen Fahrten gegen Zwischenfälle gesichert zu sein. Seine Hauptsorge gilt dem Ventil und der Ventilleine, den wohl lebenswichtigsten Vorrichtungen eines Ballons. Auch die Bauart und das Material der Kugelgondel beschäftigen ihn, damit die unerträgliche Hitze im Innern nicht mehr zur Last wird. Neben Piccard sitzt sein Assistent Max Cosnys, ein junger Gelehrter von etwa 25 Jahren. Wenn der Professor ein zweites Mal in die Stratosphäre starten wird, will Cosnys dabei sein. Er trägt Piccard sein Anliegen vor. Doch erst nach Wochen und Monaten gibt der Professor dem ungestümen Drängen des Assistenten nach. Das Jahr 1931, Jahr des ersten großen Erfolgs, neigt sich dem Ende zu. Der neue Ballon und die umkonstruierte Kugelgondel gehen in der Werkstatt ihrer Vollendung entgegen. Lange Zeit verzögert der Forscher den zweiten Aufstieg. Wieder und wieder überrechnet Piccard die Druckverhältnisse, die in den erstrebten Höhen auf Ballonhülle und Gondel einwirken werden. „Wann steigen Sie endlich auf, Piccard?" — so hört er es oft von Kollegen, so liest er es in den Zeitungen aller Sprachen. Die Ungeduld der Welt darf ihn nicht drängen. Jahrhunderte hat es gedauert, bis Schritt um Schritt die Natur ihre Geheimnisse preisgab — was bedeuten da für die wissenschaftliche Erkenntnis ein paar Jahre früher oder später! Erst als er es verantworten zu können glaubt, legt Professor Piccard den Zeitpunkt des zweiten Fluges fest Es ist der 18. August 1932. Der Start in die Stratosphäre soll diesmal vom Flugplatz Dubendorf in der Nähe von Zürich erfolgen. Die belgischen Behörden sind enttäuscht. Gewiß, Piccard weiß, was er ihnen an Dank schuldet, Dank für finanzielle und materielle Unterstützung. Aber die Flugplätze Belgiens sind für den Ballonaufstieg allzu ungünstig gelegen. Das Meer ist zu nahe und ein treibender Ballon ist nicht zu steuern. 12
Kernexplosion eines Höhenstrahlteilchens, auf der photographischen Platte sichtbar gemacht; dieser Strahlung dienten Professor Piccards Untersuchungen
Mehr als vierzigtausend Menschen sind in der Frühe des 18. August I auf dem Flugplatz Dubendorf versammelt. Keine Zeitung von Rangij und Namen, die nicht ihren besten Reporter in die Schweiz ent- \ sandt hätte. Die Vorberichte, die sie über Telefon, Funk und Fern- 3 Schreiber ihren Redaktionen übermitteln, enthalten — wie könnte es auch anders sein — wieder das leidige Wort vom Weltrekord, kreisen fast nur um die Frage: Wird es Piccard gelingen, die 15 281 Meter Höhe vom Mai 1931 zu überbieten? Kaum ein Wort davon, daß Piccard nicht die geringste Absicht hat. einen neuen Höhenweltrekord aufzustellen, daß er in der Gondel nur ein Laboratorium emportragen lassen will, in dem er ungestört von den Filterschichten der erdnahen Atmosphäre die Herkunft und die Energien der aus dem Weltall einfallenden kosmischen Strahlen studieren kann. Kein Wunder, daß Piccard vor den aufdringlichen Reportern flieht! So erhalten sie ihre Informationen aus „zweiter Hand". Nur die technischen Angaben vom Ballon und der Gondel stammen aus Auskünften, die Piccard ihnen gegeben hat. „Der Ballon hat ein Fassungsvermögen von etwa 14 000 Kubikmeter. Die Wasserstoffüllung beträgt 3000 Kubikmeter, um dem Gas in den riesigen Höhen der Stratosphäre genügend Raum zum Ausdehnen zu lassen und um der Gefahr zu entgehen, daß die Hülle zerplatzt. 32 Seile halten den Ballon während der Füllung am Bod^n. Der. Durchmesser der Kugel beträgt zwei Meter, derjenige der beiden Einsteigluken einen halben Meter. Die Kugel ist nach unten abgeflacht und ähnelt in etwa einer Birne. Neun kreisrunde Fenster verteilen sich so auf der Außenfläche der Gond»l, daß Piccard und Cosnys nach allen Richtungen hin gute Sicht haben. Ein Antennendraht von 50 Meter Länge kann in der Luft ausgerollt werden, um die Funkverbindung während des Fluges zu den verschiedenen Bodenstationen aller Flugpätze zu sichern. Die Gondel selbst ist weiß gestrichen, um die Temperatur im Innern erträglich zu halten." In der ersten Morgendämmerung des 18. August lösen die Haltemannschaften die 32 Se'le, ein letztes Winken des Forschers durch die offene Luke, Rufe der Vierzigtausend, Tücherschwenken und viel gute Wünsche für die beiden Männer, die der Ballon steil und senkrecht in die Luft entführt. Wie hoch? Wie weit? Wohin? Niemand weiß es Nur die Windrichtung liegt fest, sie zeigt nach Südost. Im Südosten aber liegt die weite oberitalienische Tiefebene. Die fixesten Reporter springen zu ihren Wagen, lassen die Motoren an und nehmen Kurs auf die italienische Grenze, 14
rasen Stunden später über die Spitzkehren des Passes, der über den St. Gotthard führt, und vertrauen auf ihr Glück, daß sie den richtigen Weg gewählt haben. In 1500 Meter Höhe schließt Piccard die Lukentür. Die Sauerstoff-Apparate treten in Tätigkeit; die Beobachtung der Instrumente, die den größten Raum des Gondelinneren einnehmen, beginnt. „Unter uns die Berner Alpen", schreibt Piccard ins Bordbuch. „Wir erreichen die Grenzschicht zwischen Troposphäre und Stratosphäre. Die Luft hat eine seltsame Farbe, ein Gemisch von Rot und Blau. Cosnys antwortet auf meine Frage nach der Farbe: Die Luft sehe violett aus. Doch meiner Ansicht nach ähnelt die Farbe mehr einem dunklen Blau . . . Nun hat sich die Farbe der Luft geändert, seitdem wir die Grenze der Stratosphäre erreicht haben. Der Himmel ist fast schwarz, obwohl die Sonne sichtbar vind es heller Tag ist . . . Merkwürdig, wir haben diesmal im Innern der Gondel eine Temperatur unter Null . . . der weiße Anstrich der Aluminiumgondel scheint sich zu bewähren, er hebt die Wirkung der Sonnenstrahlen auf. Aber lieber Kälte als 40 Grad Wärme." In regelmäßigen Abständen wirft Piccard Ballast ab, nach genau berechnetem Plan. Stille, atemberaubende Stille umgibt die beiden Männer. Der Ballon treibt 'mit der Geschwindigkeit' des Windes durch die Lüfte, gleichgültig ob Sturm oder Flaute herrschen, gleichgültig aus welcher Richtung er weht, in welche Richtung er strömt. „Wir haben eine Höhe von 15 281 Metern. Der Ballon steigt noch immer. Das Quecksilber-Thermometer funktioniert nicht mehr. Der Luftdruck wird wohl zu gering sein." Piccard weiß in diesem Augenblick, daß er diesmal noch größeren Höhen zustrebt und alles bisher Erreichte unter sich läßt. Aber kein Wort über diesen neuen Rekordsieg. Die Zeit muß für wichtigere Dinge genützt werden: für Temperatur- und Luftströmungsmessungen, für Aufzeichnungen über die Stärke der Strahlung in dieser luftarmen und staubfreien Schicht hoch über der Erde. Tief unter dem Stratosphärenballon breitet sich die Schweiz, Seen und Berge, Dörfer und Städte, winzige Spielzeugdinge, endlos fern, wie einem anderen Planeten zugehörig. Was sind schon die Viertausender mit ihren Gletschern und Steilwänden? Was die Seen und Siedlungen der Menschen? Die umfassende Vogelschau führt alles in ein anderes Maß, in ein Maß, das auf Erden nur zu oft verlorengeht. Wie unwichtig wird vieles aus diesem neu gewonnenen, weit ausgreifenden Blickwinkel! Wie bescheiden wird der Mensch in diesen Regionen! „Auf dem Höhenmesser lese ich die Zahl 16 770", verzeichnet Auguste Piccard. 15
Ein Satz wie viele in Piccards Aufzeichnungen von diesem Flug. Ein Satz mit einer Zahl, aber diese Zahl gibt zu denken. „Die Ballonhülle faßt 14 000 Kubikmeter. Obwohl wir nur 3000 Kubikmeter Wasserstoff eingefüllt haben, ist die Hülle in dieser Höhe bis zum Zerreißen gespannt. Wir dürfen nicht höher. Wir müssen wieder herab. Es ist höchste Zeit." Piccard greift nach der Leine, die das Ventil öffnen soll, um gleichmäßig und wohl abgewogen das Gas abzulassen. Wird sich das Ventil öffnen? Es scheint, als zögere der Forscher einen Augenblick. Für den Bruchteil einer Sekunde denkt er an den ersten Höhenflug, an das Unglück mit dem Ventil und mit der Reißschnur. Cosnys und Piccard sehen sich an. Dann zerrt Piccard an der Leine. Es ist nicht zu hören, ob das Gas entweicht. Einzige Kontrolle ist der Höhenmesser. Wird der Zeiger reagieren? Sekunden höchster Spannung, und endlich ein Aufatmen! „Der Ballon fällt. Das Ventil funktioniert. Ein See unter uns. Cosnys stellt an Hand der Karte fest, daß es der Gardasee sein müsse . . . Noch ist der Himmel dunkelblau oder violett, wie Cosnys m e i n t . . . 12 000 Meter weist der Höhenmesser aus. 12 000 Meter — das ist die Grenze zwischen Stratosphäre und Troposphäre. Wieder verfärbt sich der Himmel- geht in ein Gemisch von Blau und Rot über. Wir sind genau zwölf Stunden in der Luft. Um vier Uhr morgens erfolgte der Start. Nun zeigt die Uhr vier Uhr nachmittags . . . 5000 Meter . . . Ich öffne ein kleines Ventil in der Gondel, um den Ausgleich des Luftdrucks zwischen draußen und drinnen allmählich herzustellen." Bei 4000 Meter klinkt Piccard eine Luke der Gondel auf. Tief atmen die beiden Forscher die Luft, die hereinströmt. Nie zuvor noch haben sie den Unterschied zwischen Luft und Luft so deutlich gespürt. Es ist ein Unterschied wie zwischen abgestandenem Wasser und Quellwasser. Unter ihnen schimmert zauberhaft der See. Der Ballon wird in Richtung des südlichen Ufers getragen. Als der Höhenmesser die Zahl 50 anzeigt, schneidet Cosnys das fast zehn Zentimeter dicke Landeseil durch, der Fall des Ballons wird langsamer, wird zum Gleiten. Menschen jagen über die Wiese, greifen nach den Tauen. Minuten später schleift die Gondel über die Erde, verfängt sich die Hülle in den Obstbäumen. Einen letzten Satz schreibt Piccard am 18. August 1932 kurz nach vier Uhr nachmittags in das Fahrtenbuch: „Der Flug ist vorbei. Aber die Lockung der Stratosphäre bleibt." Der Ort in der Nähe der Wiese, auf der Professor Piccard niedergeht, trägt den Namen Desenzano. Zwischen Zürich und 16
Professor Piccard bei der Prüfung und Vermessung des 45 cm dicken PlexiglasFensters für die Tauchkugel Desenzano liegt irgendwo im All der Höhenpunkt 16 770 Meter! Nie zuvor sind Menschen fast 17 Kilometer in die Stratosphäre emporgestiegen. Gleichmäßig schäumen die Wellen an die Schiffswand. An Bord des Schleppers „Tenace" ist es still. Admiral Gerosi, seine Offiziere 17
und die Matrosen blicken ab und zu auf den greisen Professor, der noch immer regungslos im Liegestuhl verharrt. „Er schläft", denken sie. „Wir müssen leise sein, um seinen Schlaf nicht zu stören." Sie wissen nicht, daß Piccard nur die Augen geschlossen hält, daß er weiter über sein Leben nachdenkt in dieser Stunde. Schatten scheinen über Piccards Stirne zu ziehen. Unwillkürlich fährt er mit der Hand über die geschlossenen Augen, um von den erneut herandrängenden Erinnerungen loszukommen, den bösen Erinnerungen an die Jahre nach seinem großen Flug in kosmische Höhen.
Von der Stratosphäre zur Tiefsee Enttäuschung über Enttäuschung in den Jahren nach 1932! Nein, nicht deswegen, weil sein Zwillingsbruder Jean Piccard am 24. Oktober 1934 bei einem Aufstieg vom Fordflugplatz Dearborn in den Vereinigten Staaten mit einem Stratosphärenballon eine Höhe von fast 18 000 Meter gewinnt! — Es ist Auguste Piccard nach wie vor gleichgültig, wer den Höhenweltrekord hält, ob er selber oder sein Bruder Jean, oder irgendein anderer. Wenn nur jeder Flug dazu beiträgt, den Weg in die aufschlußreichen Schieb.. ten der Stratosphäre sicherer zu machen und jenen ungeheuren Energien des Weltalls näher zu kommen. In den zwei Jahren zwischen 1932 und 1934 — zwischen seinem und seines Bruders Höhenflug —- hat Auguste Piccard in seinem Brüsseler Laboratorium an einer Verbesserung des Ballons und der Gondel gearbeitet und die Frage geprüft, ob statt Aluminium für die Gondel Stahl zu verwenden ist. Stahl scheint ihm in verschiedenen Punkten vorteilhafter und widerstandsfähiger zu sein. Das größere Gewicht einer Stahlgondel spielt bei den Maßen eines Stratosphärenballons keine allzu entscheidende Rolle. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände ereignet sich im gleichen Jahre, in dem sein Bruder Jean die 18 Kilometer-Grenze übersteigt, im Institut Piccards eine Explosion. Die Stahlgondel wird völlig zerstört. Piccard kommt — mit Ausnahme kleinerer Verletzungen und Verbrennungen — mit dem Schrecken davon. Seine Frau beschwört ihn, die gefährlichen Versuche aufzugeben. Aber da sind die Gelder, die ihm Belgien und das Ausland zur Verfügung gestellt haben, um seine Forschungen zu unterstützen. Er kann sein Vorhaben nicht aufgeben und erklärt, daß es immer Menschen geben müsse, die das Wagnis, Pioniere zu sein, auf sich nehmen. 18
Er setzt seine Versuchsreihe fort: Neue Ballonkoustruktionen, neue Gondelentwürfe . . . Und wieder ein Rückschlag! Bei einer Probefüllung geht der neu entwickelte Ballon in Flammen auf. Nichts bleibt übrig als ein Häufchen Asche. Die Geldmittel sind fast erschöpft. Und die. Weltpresse scheint die Piccards, Auguste und Jean, schon fast vergessen zu haben. Man nennt statt ihrer die Namen der Forscher Steve und Anderson, die mit einem von der ,American National Geographical Society' finanzierten Riesen-Stratosphärenballon, dem „Explorer II", im Jahre 1935 eine Höhe von fast 22 000 Meter ersteigen. Es ist kein Zweifel: die Stratosphäre ist dem Menschen gewonnen. Niemand außer Piccards Frau Marianne weiß, was in dieser Zeit und angesichts dieses Fortschritts in des Professors Inneren vor sich geht. Es ist keiner von denen, die sich zeit ihres Lebens auf ein ganz bestimmtes Gebiet des wissenschaftlichen Arbeitens festlegen. Er ist wendig, allem Neuen aufgeschlossen. Die Stratosphäre ist dem Menschengeiste erkämpft. Was aber weiß man von den Tiefen der Meere? Ist nicht auch dort ein Revier für physikalisches Forschen? Oft genug ist diese Frage an Auguste Piccard herangetreten, zu einer Zeit schon, als er als „Stratosphärenflieger" abgestempelt war, als man sich einen Piccard nur in einem Ballon hoch über der Erde vorstellen konnte. Jetzt aber träumt Piccard in seinem grau und rosa gestrichenen Hause am Rande des Bois de la Cambre zu Brüssel von einem Vorstoß in die Tiefsee. Interessiert wie kaum ein anderer Mensch liest er an einem Sommertag des Jahres 1934 die Nachricht, daß die beiden Amerikaner Beebe und Barton in einer Tauchkugel bis in eine Meerestiefe von 923 Metern herabgelassen worden seien. Während die Zeitungen diesen Tiefenrekord ausgiebig feiern, besorgt sich Piccard von den beiden Amerikanern alles wichtige Material und studiert ee gründlich durch. Eine neue Welt ersteht vor seinen Augen. Die Zeichnungen von der technischen Anlage der Tiefseekugel prüft er kritisch wie ein Ingenieur. Nicht lange dauert es, bis er auch hier Grenzen und neue Möglichkeiten erfaßt hat. Wenn man tiefer tauchen und dadurch umfassender beobachten will, als es Beebe und Barton konnten, müßte man auch unter Wasser frei beweglich sein. Die Tauchkugel der Amerikaner hat nach seiner Überzeugung den großen und vielleicht entscheidenden Nachteil, daß sie durch eine Stahltrosse mit dem Begleitschiff verbunden ist. Man müßte . . . ja, man müßte die Tauchkugel an eine Art Unterwasserballon hängen . .. 19
Ein flüchtiger Gedanke nur, der Piccard in den Sinn kommt. Aber ein Gedanke, der ihn nicht mehr verläßt. Außer Frau Marianne ahnt niemand, mit welch neuen Absichten sich der Forscher trägt. Denn in seinem Labor arbeitet er mit Max Cosnys nach wie vor an Modellen zu Stratosphärenflügen. Die Monate vergehen und die Jahre; seit langem gibt es über Professor Auguste Piccard nichts mehr zu berichten. In diesen ungestörten Jahren reift immer klarer der Plan für ein lenkbares Tauchschiff, mit dem man 2000, 4000, ja sogar 10 000 Meter Meerestiefe erreichen müsse. In den Regalen eines Schrankes, der in Abwesenheit des Forschers immer sorgsam verschlossen ist, ruhen die Entwürfe für dieses „Tiefseeschiff". Noch stehen sie nur auf dem Papier, noch sind die Zahlen und Maße nur rechnerisch ermittelt. Wenn aber die physikalischen Grundgesetze stimmen, warum sollte dann die Theorie nicht eines Tages zur Wirklichkeit werden? „Ich bin überzeugt, daß man mit einer Tauchkugel, die an Stahlseilen hängt, nicht tiefer als 1000 Meter tauchen kann. Die Seile werden bei größerer Länge zu schwer, sie können sich leicht verwickeln oder sogar abreißen. Außerdem ist eine Kugel an Seilen viel zu unbeweglich. Mein Tauchschiff wird daher nach ganz anderen Grundsätzen gebaut werden müssen als die Tauchkugel, die ,Bathysphere' Dr. Beebes und Dr. Bartons. Ich habe die Absicht, das Prinzip des Ballons mit dem Prinzip des Unterseebootes zu verbinden. Im einzelnen ergeben sich aus diesem Plan folgende wichtige Schlußfolgerungen: Ein Tiefseeballon muß Ballast mit sich führen. Dieser Ballast muß insgesamt schwerer sein als das Wasser, das das Tauchschiff verdrängt. Unter diesen Voraussetzungen sinkt das Schiff in die Tiefen des Meeres. Will man wieder aufsteigen, wirft man Ballast ab, damit das Tauchschiff leichter als das von ihm verdrängte Wasser wird. Das Tauchschiff müßte aus zwei Teilen bestehen: dem eigentlichen Tiefseeballon und der Tauchkugel. Mit Hilfe kleiner Motoren könnte man sich sogar unter Wasser langsam fortbewegen, um den Verlauf der unterseeischen Landschaften zu studieren." Sorgsam und geduldig überdenkt Piccard diesen Einfall, überprüft, ob in seinen Gedankengängen nicht irgendwo ein Trugschluß Torfiegt. Als er keine Fehlerquelle entdeckt, stellt er seine ganzen Arbeiten auf das neue Vorhaben um. Der zweite Abschnitt in «einem Leben hebt an. Die Periode des Stratosphärenforschers ist abgeschlossen, so mag denn die Periode des Tiefseeforschers beginnen! Mit dem unzertrennlichen Gefährten Dr. Max Cosnys fertigt er die ersten Modelle, nachdem es ihm gelungen ist, das 20
,Institut National' von seinem Plan zu überzeugen und sich seine finanzielle Unterstützung zu sichern. In einem hydraulischen Zylinder setzt er die Versuchsstücke dem ungeheuren Druck aus, wie er in Meerestiefen von 2000 bis 5000 Meter anzutreffen sein wird, ein Druck, der etwa einem Gewicht von 290 Kilogramm auf jeden Quadratzentimeter entspricht! Die Modelle werden unter dieser ungeheuren Belastung zerdrückt. Da Piccard weiß, was dies in Wirklichkeit bedeuten würde, sucht er nach besserem Material, grübelt und entwirft weiter. Zäh und verbissen arbeitet er mit Max Cosnys an dem ,Bathyscaphe' wie er das in Aussicht genommene Tauchschiff nach dem griechischen bathy = tief und scapha = Schiff benennt. Langsam spricht es sich herum, was Piccard plant. Und es fehlt nicht an Stimmen, die den Professor für tollkühn und leichtsinnig halten. Da er die Warnungen nicht beachtet, geht man mit einem Achselzucken zu anderen Ereignissen über. Piccard verbleibt auch diesmal wieder bei dem für richtig Erkannten, sieht seine Aufgabe, seinen Weg und sein Ziel. Das Ziel liegt drunten im Weltmeer, dessen Lebewesen, physikalischen Verhältnisse, Böden und Bodenschätze der Untersuchung harren. Auf dem Weg des Forschers öffnet sich plötzlich der Abgrund des zweiten Weltkrieges, der Piccard zwingt, Belgien zu verlassen und in die Heimat, in die neutrale Schweiz, zurückzukehren. Dr. Max Cosnys aber ist einer jener Unglücklichen, die Jahre hinter den Stacheldrähten der Konzentrationslager verbringen müssen. Es gibt kein Geld für Forschungszwecke mehr, es sei denn, sie dienten der Rüstung. Es gibt nur die Stimme der Kanonen und Bomben überall in der Welt. Aber den Geist kann der Krieg nicht töten, den Gedanken kann er nicht das Kommando geben, stumpfsinnig zu werden. Auch in diesen Jahren der erzwungenen Pause verliert Piccard das Ziel nicht aus den Augen. Er glaubt an eine bessere Zukunft, er glaubt an eine Zeit, in der die unterbrochene Arbeit wieder aufgenommen werden kann. Auf diesen Augenblick bereitet er sich vor . ..
Das
Tauchschiff
wird
Wirklichkeit
Die Kanonen sind endlich verstummt. Europa ist ausgeblutet. Städte liegen in Trümmern. In Brüssel begegnen sich nach Jahren der Trennung zwei Menschen: Auguste Piccard und Max Cosnys. Die Schatten der Vergangenheit schwinden vor den Aufgaben der Zukunft. In der Arbeit, der allzu lange unterbrochenen Arbeit liegt 21
das Vergessen. Im Hafen von Antwerpen gehen Ingenieure und Arbeiter daran, das Tauchschiff zu bauen. Zwar sind die Voraussetzungen denkbar ungünstig, es fehlt oft an den notwendigsten Geräten und Rohstoffen; aber die belgische Regierung scheut weder Kosten noch Mühen, um das große Vorhaben voranzubringen. Im Jahre 1947 stellt sich Piccard, an seiner Seite Max Cosnys, den Journalisten. Zum ersten Male gibt er Einzelheiten über den Abstieg in die Meerestiefe bekannt. „Vorsichtig wird der Unterwasserballon mit vollem Ballast ins Meer gelassen. Wir tauchen langsam, etwa 3000 Meter pro Stunde. Schon bald kommen wir in dunkles Wasser, wenn das Tageslicht verschluckt ist. Dann leuchten phosphoreszierende Seetiere in wunderbaren Farben. In einer bestimmten Tiefe werden zwei Drahtseile ausgeworfen, damit wir besseren Halt über dem Boden des Meeres haben. Sie schleifen hinter uns her. Sie werden durch Elektromagnete an der Gondelwand festgehalten. Im Notfall können wir sie durch Unterbrechung des Stroms abwerfen. Die Versorgung mit Sauerstoff geschieht wie in einem Unterseeboot. Mit Hilfe eines automatischen Steuergerätes erreichen wir die Tiefe, auf der ersten Fahrt bis 1600 Meter, auf der zweiten bis 2500 und schließlich bis zu 4000 oder 7000 Meter. Automatische Kameras machen während der Tauchfahrt Filmaufnahmen •— mit Hilfe von Lampen, die eine Stärke von 3000 Kerzen haben. Die längste Tauchfahrt wird 12 Stunden dauern und eine horizontale Entfernung von 23 Kilometer vom Ausgangspunkt anstreben. Die Vorwärtsbewegung geschieht durch zwei elektrisch angetriebene Schiffsschrauben. Im Falle irgendeines Fehlers im Tauchgerät wird die Tiefenfahrt automatisch unterbrochen, ein Notsignal geht nach oben." Es ist eine Vision im Geiste Jules Vernes, die Piccard hier entwirft. Man nimmt seine Worte mit Zurückhaltung auf, da man auf Tatsachen wartet. Aber der bereits bekanntgegebene Termin zur Tauchfahrt im Jahre 1947 kann nicht eingehalten werden. Zwischenfälle beim Bau verzögern die Fertigstellung des ,Bathyscaphes'. Piccard bleibt zuversichtlich! Vielleicht ist die Verzögerung gut, um die Konstruktion des ,Bathyscaphes' zu verbessern, doch es gibt nichts mehr zu verbessern? An alles ist längst gedacht! Da ist die Gondel aus widerstandsfähigem Nickel-Chrom-MolybdänStahl, gerade groß genug, um drei Menschen Platz zu bieten, mit Wänden, die neun Zentimeter stark sind. Sie haben den ungeheuren Druck von 40 000 Tonnen auszuhalten, berechnet für eine Tiefe von 4000 Metern. Leuchtraketen können ausgelöst werden, um die 22
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Lage des Tauthschiffes anzuzeigen. Die Männer in der Tauchkugel haben Magnetophonapparate, man wird die Beobachtungen während der Tauchfahrt diktieren Farbstofftanks spritzen im Augenblick des Auftauchens eine leuchtende Flüssigkeit ins Meer, damit das Tauchschiff, sollte es zu weit vom Tauchort abgetrieben werden, von Schiffen und Flugzeugen leicht gesichtet werden kann. Das Ganze ist ein technisches Meisterstück, von Piccard erdacht und unter Max Cosnys Leitung von fähigen Ingenieuren und Arbeitern in Antwerpen verwirklicht. Erst im Herbst 1948 kommt die entscheidende Stunde. Das Tauchschiff Hegt im offenen Laderaum der ,Scaldis', eines früheren deutschen Schiffes, und wird zunächst nach Dakar an der nordafrikanischen Küste gebracht. Dort soll das Versuchstauchen erfolgen. Ein Stab von Wissenschaftlern und Gelehrten begleitet Piccard und Cosnys. Auch diesmal läßt Piccard keinen Zweifel darüber aufkommen, worum es ihm geht: ausschließlich um eine Forscher- und keine Tauchsportaufgabe, und nicht um einen Wettbewerb mit Dr. Beebe und Dr. Barton, die seit 1934 den Rekord von etwa 900 Meter halten. Der Golf von Guinea wird zum Schauplatz eines Ereignisses, das im Oktober 1948 vielleicht eine neue Epoche in der Geschichte der Tiefseeforschung einleitet. Zu wenig weiß man von dem, was die Tiefsee birgt, vom Verlauf der unterseeischen Landschaften, vom Tier- und Pflanzenleben am Grund des Meeres. Die Wissenschaft steht hier noch — im Vergleich zu anderen Gebieten der Forschung —• am Anfang. Bisher sind ihre Hilfsmittel das Echolot und Ultraschallgeräte gewesen, Elektronen-Zeitmesser, Geräte zur Entnahme von Bodenproben und Fangvorrichtungen, um Fische aus größeren Tiefen heraufzuholen. Die Ergebnisse sind trotzdem nur Bruchstücke geblieben. Fernsehgeräte, die man hinuntertauchen lassen kann, werden erst entwickelt. So ist vieles nach wie vor nur Vermutung. Man weiß kaum etwas über die Rohstoffe — öle, Kohle, Mangan, Gold, Brom, Magnesium —, die vielleicht im Grunde des Meeres gehortet sind. Eröffnen sich hier der Welt neue Quellen des Reichtums? Ehe es nicht gelingt, selber in die Seetiefen zu gelangen und mit eigenen oder Fernsehaugen zu sehen, was noch niemand erblickt hat, gibt es keine Gewißheit. Am 26. November ist erstes Probetauchen. Rings um den ,Bathyscaphe' wimmelt es von Schiffen. Neben der ,Scaldis' schaukeln drei Fregatten, die die französische Unterwasser-Forschungsanstalt heranbefohlen hat. Am Himmel kreisen Erkundungs- und Rettungsflugzeuge. Nach menschlichem Ermessen ist alles getan, um ein Un23
glück auszuschalten. Eine Ultraschall-Ausrüstung soll für dauernde Verbindung zwischen-dem Tauchschiff und den Wissenschaftlern an Bord der Schiffe und Flugzeuge sorgen. In der Gondel befinden sich Dutzende von Skalen und geeichten Meßinstrumenten, darunter ein Geigerzähler zum Messen kosmischer Strahlungen, die auch unter Wasser Piccards Gedanken beschäftigen. Eine moderne Luftanlage ermöglicht den zwei Männern in der Gondel einen Aufenthalt von 24 Stunden Dauer. Nach den Berechnungen ist die Metallwand des Tiefseeballons so stark, daß sie einem Druck widerstehen kann, wie er in 15 000 Meter Tiefe herrscht, obwohl die bis dahin bekannte größte Meerestiefe nur knapp 11 000 Meter beträgt und Piccard als Tauchgrenze nur an 2000 bis 3000 Meter denkt. Wenn er sie erreicht, ist ein erster Schritt getan, dem weitere folgen können. Lange hat Piccard überlegt, wer beim ersten Tauchversuch sein Begleiter in der Metallkugel sein soll. Cosnys? Gewiß, er hätte es am ehesten verdient. Aber ist er nicht moralisch verpflichtet, einen französischen Gelehrten auszuwählen? Was wäre dieses Unternehmen im Golf von Guinea ohne die Fregatten der französischen Forschungsstelle? Cosnys versteht, daß Piccards Wahl auf den französischen Gelehrten Monod fällt. Persönlicher Ehrgeiz darf in dieser Stunde keine Rolle spielen. Um 3 Uhr nachmittags versinkt die Metallkugel mit Piccard und Monod im Wasser. Der ,Bathyscaphe' selbst schwimmt noch an der Oberfläche. Es kommt Piccard zunächst nur darauf an, die Dichte der Gondel zu erproben und die Genauigkeit der Instrumente bei jeder, selbst der kleinsten Bewegung zu überprüfen. So vergehen die Stunden, es wird Nacht. Piccard schaltet die Unterwasserscheinwerfer ein, die Wellen glühen im silbrigen Licht. Dann werden die Ballastgewichte am ,Bathyscaphe' angebracht, der um 22 Uhr zu sinken beginnt. Auf den Fregatten, der ,Ellie Monnier', dem ,Le Verrier' und der ,Croix de Lorraine', verfolgen Wissenschaftler und Matrosen jede Einzelheit des denkwürdigen Schauspiels, das von den Scheinwerfern angestrahlt wird. Genau nach 16 Minuten, um 22 Uhr 16, kommt der Signalturm des ,Bathyscaphes' wieder aus den Wellen hoch, rauscht das Tauchschiff durch die Wogen und wird in fünfstündiger mühsamer Arbeit in die Seile gehängt und wieder an Deck der ,Scaldis' gehievt. Er hat seine erste Bewährungsprobe bestanden. Die Tauchtiefe beträgt zwar nur knapp 100 Meter. Doch darauf kommt es vorläufig nicht an. Es galt einzig und allein, zu beweisen, daß der Grundgedanke Piccards, das Prinzip des Luftballons auch auf einen Tiefseeballon 24
Schema des Piccardschen Tieftauchbootes mit Schwimmkörper, Gondel, Antriebsschrauben und Ballastgewichten zu übertragen, keine Utopie ist, kein Hirngespinst eines mehr oder weniger ,verrückten' Gelehrten. Doch wer nun glaubt, Piccard werde bei seinem nächsten Niederbringen des ,Bathyscaphes' den Ehrgeiz haben, den nun vlerzehn-
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jährigen Rekord von Beebe und Barton zu überbieten und mindestens 1000 Meter Tiefe anzusteuern, sieht sich getäuscht. „Beim nächsten Versuch", erklärt Professor Piccard nach der wohlgelungenen ersten Probe, „wird der ,Bathyscaphe' unbemannt bleiben. Sein Mechanismus wird so eingestellt, daß er auf etwa 1500 Meter Tiefe kommen soll. Man muß Schritt für Schritt vorgehen. Wir wissen nun, daß das Prinzip stimmt. Jetzt muß sich zeigen, ob Ballon und Kugel auch dem ungeheuren Wasserdruck in diesen Tiefen gewachsen sind." Viele verstehen das Zögern des Forschers nicht. „Er läßt sich Zeit, als wäre er erst dreißig Jahre. Und er ist doch fast schon 65", denken die Ungeduldigen. Andere meinen, er habe den rechten Mut nicht mehr, sich seinem eigenen Fahrzeug anzuvertrauen. Piccard erfährt von diesem Gerede, liest Ähnliches in den Zeitungen. Aber er verteidigt sich nicht. All das ist ihm zu dumm, als daß er seine Zeit mit Dementis und Erwiderungen verschwenden könnte. Wer bis heute seine Methode der Forschung noch nicht begriffen hat, wird sie überhaupt nicht verstehen. Seine Methode heißt nach wie vor: Alles ohne Zeitdruck erproben . . . ohne Angst vor einem Unfall, aber doch ohne ein leichtsinniges Risiko einzugehen. Wenige Tage später fahren die Fregatten und die Begleitschiffe mit dem Tragschiff ,Seäldis' in der Santa-Clara-Bucht bei der Insel Sao Tiago auf. Die Echolotkarten geben die Tiefe des Meeres in dieser Bucht mit 1700 Meter an. Einen ganzen Tag dauern die Vorbereitungen für die unbemannte Alleinfahrt des .Bathyscaphes'. Max Cosnys stellt die Uhr des Tauchs-chiffes so ein, daß sie nach vierzig Minuten den Eisenballast löst und das Schiff dann automatisch wieder zur Oberfläche emporsteigen muß. Vierzig Minuten müßten nach den Berechnungen für den Abstieg in 1700 Meter Tiefe ausreichen. Voraussetzung ist. daß die Echolotkarten stimmen. Genau um 16 Uhr unternimmt an diesem Novembersonntag der ,Bathyscaphe' seine Tiefenfahrt. Von diesem zweiten Versuch hängt alles ab. Gelingt er, so könnte ein alter Traum der Menschheit bald in Erfüllung gehen und die untersten Regionen der Ozeane dem gelenkten „Zutritt" der Wissenschaft zugänglich werden. Wieder dieses erregende Abwarten! Lichtkegel tasten Fläche um Fläche das Meer ab, um den Zeitpunkt der Rückkehr von der Unterwasserreise und die Auftauchstelle rechtzeitig zu erfassen. Tauchschwimmer verschwinden in den Wogen. Bis auf fünfundvierzig Meter können sie dem ,Bathyscaphe' hinunter folgen, dann müssen sie an die Oberfläche zurück. Die Männer berichten, daß das 26
Tiefseeschiff gleichmäßig sinke, daß alles in Ordnung zu sein scheine. Aber bis zum Grund des Meeres in der Santa-Clara-Bucht sind es noch mehr als eineinhalb Kilometer, viel kann auf diesem langen und gefährlichen Weg geschehen. Von den Decks der Begleitdampfer streifen unablässig die Scheinwerfer in alle Richtungen. In den Mastbäumen sitzen die Matrosen und schauen in das Zwielicht von Nacht und Tag und Scheinwerferhelle. Neunundzwanzig Minuten später geht der Ruf des Matrosen Dudbout durch die Stille: „Er ist aufgetaucht!" Etwa zweihundert Meter entfernt, kämpft sich der ,Bathyscaphe' nach oben, angestrahlt von gleißendem Licht. Man ist überglücklich; aber Piccard und Cosnys sind überzeugt, daß der Tauchapparat in neunundzwanzig M : nuten nicht den Grund des Meeres erreicht haben kann. Vielleicht ein Defekt an der Uhr, die den Ballast zu früh ausgelöst hat? Man muß abwarten, bis der ,Bathyscaphe' an Deck der .Scaldis' gehoben ist und der Tiefenmesser in der Metallkugel kontrolliert werden kann. Die Geduld wird auf eine harte Probe gestellt. Die Tauchschwimmer, die sofort nach dem Sichtbarwerden des Ballons ins Wasser gesprungen sind, berichten, daß nichts auf eine Beschädigung hinweise. Nur die dünnen Platten haben sich an jenen Stellen gekrümmt, an denen sie über den Wasserspiegel emporragen. Bei dem hohen Wellengang ist es eine fast übermenschliche Arbeit, das Taxichschiff in Sicherheit zu bringen. Mit eisenharten Schlägen treffen die aufgewühlten Wogen gegen die leichte Hülle. Fast wehrlos ist der .Bathyscaphe' dem Toben der Elemente preisgegeben. Jeder, der die Hände frei hat, schafft bis zur Erschöpfung, Mechaniker versuchen unter Lebensgefahr mit komprimiertem Kohlendioxyd die Gastanks des Ballons aufzuschweißen. Endlich, bei Sonnenaufgang, liegt der ,Bathyscaphe' an Deck der ,Scaldis', aber die Hülle ist durchlöchert wie ein Sieb. Tief enttäuscht klettert Professor Piccard in die Kugel und steht vor den Instrumenten. Der automatische Tiefenmesser zeigt auf die Zahl 1400. Eine nie zuvor erreichte Tiefe—- und trotzdem bleibt alles rätselhaft, steht alles im Widerspruch zu den unverrückbaren Gesetzen der Physik. Zwei Tatsachen sind nicht zu leugnen. Es kann keinen Zweifel geben, daß der .Bathyscaphe' dem gewaltigen Druck ohne jede Beschädigung standgehalten hat. Das Tauchen hat in dieser Hinsicht seinen Zweck erfüllt. Ebenso gewiß steht fest, daß die Hülle nach dem Auftauchen in der Dünung betriebsunfähig geworden ist. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Max Cosnys tritt neben den Forscher. Eine Weile herrscht bedrückendes Schweigen. Die beiden Freunde denken am di