Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 658 Die Namenlose Zone
Planetoid des Schreckens von Horst Hoffmann
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 658 Die Namenlose Zone
Planetoid des Schreckens von Horst Hoffmann
Überlebenskampf im Innern einer kleinen Welt
Es geschah im April 3808. Die endgültige Auseinandersetzung zwischen den Kräften des Positiven, hauptsächlich repräsentiert durch Atlan und die Solaner, und zwischen Anti‐ES und seinen unfreiwilligen Helfern, vollzog sich in Bars‐2‐Bars, der künstlich geschaffenen Doppelgalaxis. Dieser Entscheidungskampf geht überraschend aus. Die von den Kosmokraten veranlaßte Verbannung von Anti‐ES wird gegenstandslos, denn aus Wöbbeking und Anti‐ES entsteht ein neues Superwesen, das hinfort auf der Seite des Positiven agiert. Die neue Sachlage ist äußerst tröstlich, zumal die Chance besteht, daß in Bars‐2‐Bars nun endgültig der Friede einkehrt. Für Atlan jedoch ist die Situation alles andere als rosig. Der Besitz der Koordinaten von Varnhagher‐ Ghynnst, ohne die er nicht den Auftrag der Kosmokraten erfüllen kann, wird ihm nun ausgerechnet durch Chybrain vorenthalten. Ob er es will oder nicht, der Arkonide wird verpflichtet, die Namenlose Zone aufzusuchen. Inzwischen schreibt man Anfang Juni 3808, und Atlan macht sich auf den Rückflug zur SOL. Doch beim Versuch, den »Nabel« zu durchdringen, scheitert Atlans Expeditionsraumschiff. Ort der Notlandung ist der PLANETOID DES SCHRECKENS …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide im Planetoiden des Schreckens. Fasto und Donku ‐ Bewohner des Planetoiden »Schwammkartoffel«. Mona Nasch, Gorth Hadagar und Joseph Lindsay ‐ Die Angst treibt sie zu unüberlegten Taten. Brons Thermeck ‐ Ein Bewunderer Atlans. Morbotix ‐ Lenker des Planetoiden des Schreckens.
Prolog Positronik‐Logbuch der MJAILAM, 5.6.3808, Eingabe Kommandant Atlan: »Ich spreche diesen Bericht, weil andere vielleicht nur durch die Speicher der MJAILAM‐Positronik einmal erfahren können, was aus uns wurde – dann nämlich, wenn niemand von uns das bevorstehende Manöver überlebt. Mit diesen anderen meine ich entweder die Besatzung der SOL, falls es ihr gelingt, den Junk‐Nabel von der anderen Seite zu durchstoßen, oder auch Chybrain, der uns auf eine neue Nachricht warten läßt. Ich denke außerdem an positive Kräfte der Namenlosen Zone, in der wir nun, wie es den Anschein hat, gefangen sind. Die Stimmung an Bord ist denkbar schlecht. Alles, was sich in den letzten Wochen an Unsicherheiten und Ängsten aufgestaut hat, droht jetzt in einer Panik seinen gewaltsamen Ausbruch zu finden. Die ersten Anzeichen zeigten sich bereits, als wir den Raumsektor erreichten, in dem der Nabel liegen muß, den wir aber trotz intensiver Suche nicht mehr fanden. Inzwischen hat Nockemann alle Hände voll zu tun, um die Männer und Frauen, die die nervliche Belastung einfach nicht mehr ertragen können, durch Medikamente ruhigzustellen. Es gibt Anfälle von Klaustrophobie. Ganz besonders schlimm ist es um Brons Thermeck bestellt, dessen Frau und Kinder auf der SOL sind. Doch nicht nur unsere Solaner stehen kurz vor dem
Durchdrehen. Auch die elf Brisbee‐Kinder machen mir Sorgen. Die MJAILAM war, nachdem wir sie auf Solist an Bord genommen hatten, zuerst etwas Neues, Aufregendes, das sie kennenlernen und erforschen mußten. Inzwischen ist ihre Neugier gestillt. Sie hocken zusammen und lassen sich kaum noch sehen. Lediglich Lara und Menizza, ihre vierzehnjährigen Sprecherinnen, erscheinen dann und wann in der Zentrale und fragen, wann wir sie denn wieder nach Hause brächten. Sie sind intelligent genug, um zu wissen, daß wir Solist wenigstens vorerst nicht wieder anfliegen. Sie meinen etwas anderes. Sie haben Heimweh nach dem Leben auf einem Planeten – in der freien Natur, in der sie aufgewachsen sind. Ich bezweifle, daß sie selbst auf der SOL das finden würden, was sie nun schon nach relativ kurzer Zeit so vermissen. Ich fühle mich für sie verantwortlich – und das nicht nur, weil sie die Nachfahren von Terranern sind. Doch die SOL ist unerreichbar für uns, falls das Gewaltmanöver keinen Erfolg bringt, das in diesen Augenblicken eingeleitet wird. Ich bin nicht sehr von einem Erfolg überzeugt, doch wir müssen es einfach riskieren. Wir müssen dem stündlich wachsenden Druck der Besatzung nachgeben, oder der Wahnsinn übernimmt an Bord das Kommando. Der Flug hierher verlief zwar äußerlich komplikationslos, abgesehen von den Schwierigkeiten des Manövrierens, weil wir auf den Teppelhoff‐Effekt und damit die Buhrlos angewiesen sind. Solists Stern bietet die erste normale Orientierungshilfe, doch der liegt schon zu weit hinter uns. Wir sind dort, wo der Nabel sein müßte, ein diffuser, stark hyperenergetischer Ring. Er ist jedoch nicht mehr vorhanden. Wir fliegen die Position an. Wir werden sehen, was dann geschieht. Sollte die MJAILAM dabei vernichtet werden, ist alles verloren, was wir an Wissen über die Namenlose Zone, die Emulatoren, die Grenzwächter und jene geheimnisvolle Macht im
Hintergrund inzwischen gesammelt haben. Sollten wir umkommen und die MJAILAM auch nur als Wrack weiterbestehen, so ist diese Eingabe in ihre Speicher das letzte, was ihr von uns hört – Breck oder Chybrain, oder ihr anderen, die ihr uns vielleicht findet. Bist du es, Breck, dann kann ich dir keinen Rat geben, was du weiter zu tun hast. Aber dann bist du in die Namenlose Zone vorgestoßen und wirst mit dem Widerstand gegen dich und die Stabsspezialisten so oder so fertig geworden sein. Ich wollte nie, daß die SOL zu einem bloßen Werkzeug in einem Kräftemessen wird, das ihre Bewohner nicht verstehen. Sie ist eure Welt, eure Heimat. Handle, wie du es für richtig hältst, Breck. Was davon abhängt, daß Chybrain die Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst herausgibt, weißt du. Oh, verdammt, noch leben wir? Wir versuchen den Durchstoß, und wenn uns das Glück nicht ganz verläßt, schaffen wir ihn! Ende der Eingabe!« 1. Uster Brick drückte die Hände gegen das Kontrollpult und sagte: »Wir sind soweit, Atlan.« Der Arkonide blickte auf die Bildschirme, die nur ein undefinierbares Nichts in allen Richtungen zeigten, abgesehen von dem schwachen Funkeln des Solist‐Sterns. Es war ihm immer noch unheimlich zu wissen, daß die Buhrlos mit ihrem besonderen Weltraumgespür die Schockfronten der Sonnen und Planeten durchdringen und diese »sehen« konnten, wo für den Rest der Besatzung nichts existierte. Aufgrund ihrer Angaben hatte die Position des offenbar erloschenen Junk‐Nabels ziemlich exakt ermittelt werden können, und der Kurs der MJAILAM war auf dessen imaginären Mittelpunkt ausgerichtet. Brick brauchte nichts
weiter zu tun, als den Startschub zu geben. Atlan, der eben noch voller Entschlossenheit die Zentrale betreten hatte, zögerte. Tyaris Hand fand die seine und schloß sich um seine Finger. »Ich habe Angst«, gestand die ehemalige Gesandte Tyars. »Niemand von uns ist davon frei, ich spüre sie auch bei dir.« Atlan nickte. »Wir haben keine Ortung in der Nabelrichtung, wir können nichts sehen, und selbst die Buhrlos finden dort nichts.« Atlan drückte die Gefährtin an sich, blickte sich um und sah Joscan Hellmut, Blödel und Eresa Teppelhoff hinter sich stehen, bei ihnen ein halbes Dutzend Solaner, die trotz allem noch ihren klaren Kopf behalten hatten und nur darauf warteten, daß endlich etwas geschah. Alle erwarten es! dachte der Arkonide. »Also gut, Uster«, hörte er sich sagen. »Wir riskieren es.« Brick nickte grimmig und schlug die Faust auf eine Taste. Das Schiff setzte sich in Bewegung. Die Impulstriebwerke brachten es auf ein Zehntel Lichtgeschwindigkeit. Dabei blieb man. Bei der besonderen Struktur dieses so völlig anderen Weltraums und seiner »Grenzen« wäre ein relativistischer Flug oder gar ein versuchter Linearflug eine wahnwitzige Herausforderung des Schicksals gewesen. Atlan hatte mit der Positronik darüber gesprochen und eine fast an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit dafür erhalten, daß die MJAILAM durch Raum und Zeit geschleudert werden und mit viel Glück in einer unbekannten, weit entfernten Region des Universums wieder materialisieren würde. »Acht Minuten«, verkündete Brick. Auf einem der Schirme lief eine Zahlenreihe auf einen leuchtendroten Punkt zu und verdeutlichte die Entfernung bis zum Ziel. Atlan setzte sich. Tyari blieb bei ihm, stellte sich hinter ihn und legte die Hände fest auf seine Schultern. Irgendwo wurde ein Alarm ausgelöst. Blödel schwebte davon und
verschwand aus der Zentrale. Nockemann brauchte ihn. Der Galaktogenetiker operierte mit einer Schar von Robotern, die ihm verzweifelte Menschen vom Leib hielten. Sie wurden paralysiert und dann behandelt. Irgendwann würde auch Nockemann am Ende seiner Kräfte sein. In Gedanken zog Atlan einen Vergleich zur Situation an Bord der SOL, als er sie verlassen hatte. Auch dort hatte ein Chaos gedroht, allerdings nicht hervorgerufen durch die Beklemmung, die auf der MJAILAM herrschte. Die sogenannten Erneuerer scheuten keine Mittel und Wege, um das Schiff zu »befreien«. Es hatte bereits Terroranschläge gegeben, und weitere waren angekündigt. Bitterkeit stieg in dem Arkoniden auf, als er an die Drohungen für den Fall seiner Rückkehr dachte. Eine Opposition gegen ihn und seine Ziele hatte sich schon seit langem geregt. Doch warum war keiner der Unzufriedenen zu ihm gekommen? Waren die Menschen auch an der Schwelle des fünften Jahrtausends noch nicht soweit, daß sie ihre Probleme untereinander besprachen? Oder wollten die Drahtzieher keine Verständigung? So wie es aussieht, korrigierte sich Atlan, gibt es nur einen Drahtzieher – den geheimnisvollen Zelenzo. »Sieben Minuten.« Tyaris Daumen drückten sich in Atlans Nacken. Ihre Hände waren feucht. Weshalb dachte er jetzt an die SOL! Er war hier auf der MJAILAM, und für sie trug er die Verantwortung. War es die Angst, bei einem gelungenen Durchbruch das Riesenschiff überhaupt nicht mehr vorzufinden? Weil Hayes und seine Anhängerschaft inzwischen ausgeschaltet worden waren? Atlan murmelte eine Verwünschung. Seine Gedanken waren Widerspiegelungen der eigenen Unsicherheit. Die Fünfminutengrenze war unterschritten, als das Zentraleschott auffuhr und zwei Männer und eine Frau mit vorgehaltenen Waffen hereinstürmten. »Schluß!« schrie die Frau. Atlan kannte sie gut. Mona Nasch
gehörte zum technischen Personal und war ehrgeizig. Die Dreißigjährige galt unter der Besatzung als Streberin, weil sie fast rund um die Uhr in den Generatorenhallen schuftete und sich emsiger zeigte als die Wartungsroboter, die eigentlich dort den Dienst zu verrichten hätten. Sie war keine Fanatikerin. Sie hatte Atlan schon zweimal Vorschläge zur Verbesserung der Kontrollsysteme gemacht und war immer zur Stelle, wenn irgendwo etwas im argen lag. Jetzt allerdings war sie absolut fehl am Platz. »Schluß damit! Wir lassen nicht zu, daß ihr uns umbringt. Wir meinen es verdammt ernst!« Mona gab einen Schuß ab. Der Desintegratorstrahl ihrer Kombiwaffe fraß sich nur Zentimeter vor Atlans ausgestreckten Füßen in den Boden. »Wir kehren jetzt um, hört ihr? Uster, du bringst uns nach Solist zurück. Wenn wir schon nicht mehr nach Hause kommen, dann wollen wir dennoch leben, und das ist in dieser verfluchten Zone nur auf Solist möglich!« Atlans Füße zuckten unmerklich zurück. Er erkannte, wie es um den Geisteszustand der Technikerin bestellt war. Jede falsche Bewegung konnte den Tod bedeuten. Die Frau litt unter einem Anfall von Verfolgungswahn, ebenso wie ihre beiden Begleiter. Deren Gesichter waren verzerrt. Sie bewegten sich ruckartig, richteten ihre Strahler von einem ihrer vermeintlichen Gegner auf den anderen. Atlan sah auf den Bildschirm. Vier Minuten! Er stand ganz langsam auf und machte zwei Schritte auf die Bewaffnete zu. Das war nichts, das er zum erstenmal erlebt hätte. Doch die Angst machte die Menschen unberechenbar. Und was sollte er sagen, um ihr die Furcht zu nehmen? Der Tod konnte die Männer und Frauen der MJAILAM bald kaum noch schrecken, dazu hatten sie ihn zu oft vor Augen gehabt. Es war dieser Weltraum. Und Monas Begehren, zurück nach Solist zu fliegen, machte ihre ganze Verwirrung und den Widersinn in ihrer Aktion deutlich. »Gib mir die Waffe, Mona«, sagte er leise. Brick hatte sich in
seinem Sessel herumgeschwungen und starrte entgeistert auf die flirrende Abstrahlmündung. Hellmut und die sechs Solaner bewegten sich nicht, und Tyari konnte ihr Temperament gerade noch unter Kontrolle halten. Atlan mußte wenigstens Zeit gewinnen. »Mona, wir versuchen genau das, was ihr von uns wollt und was wir selber wollen. Wir sehen den Junk‐Nabel nicht mehr, er läßt sich nicht orten, aber wenn wir nur den Hauch einer Chance haben, besteht er noch in irgendeiner Form, und wir stoßen zur SOL zurück.« Sie schoß wieder. Der Strahl schnitt den Boden zwischen seinen Füßen in einer haarfeinen Linie auf. Augenblicklich richtete sich die Waffe wieder auf Atlans Brust. »Wir schaffen es nicht.« Sie sah zu Hellmut hinüber. »Joscan, wenn du die Positronik befragt hast, weißt du, wie es um unsere Chancen steht. Gorth hat es getan. Es gibt kein Entkommen mehr. Wir fliegen nach Solist zurück. Dort können wir leben. Uster, hast du verstanden?« Atlan versuchte, seine Chancen gegen die Eindringlinge abzuschätzen. Er verwünschte die Situation, die ihn zwingen sollte, gegen die eigenen Leute vorzugehen. Es gab keine Roboter in der Zentrale, die mit ihren Paralysestrahlen dem Spuk ein schnelles Ende bereitet hätten. Er selbst war unbewaffnet – und wäre auch kaum zum Ziehen gekommen. Drei Minuten! »Verstanden«, sagte da Brick. »Und ich bin vollkommen deiner Meinung, Mona. Was Atlan uns vorschreiben wollte, war Selbstmord. Wir kehren um.« Für einen Moment war der Arkonide irritiert. Dann sah er Bricks Handbewegung, die ihm sagen sollte: keine Bange! Die Bildschirme erloschen. Usters Finger huschten über Tastaturen. Die Schirme wurden wieder hell und zeigten den Solist‐ Stern genau in ihrer Mitte.
Atlan verstand den Wink. Er zählte in seinen Gedanken weiter, während er in die Waffenmündungen blickte. Zwei Minuten! Mona wirkte verunsichert. Glaubte sie Brick? Atlans Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Was beim Aufprall auf den Nabel – oder bei seinem Durchflug – geschehen würde, machte ihm schon mehr als genug zu schaffen. »Du widersprichst Uster nicht, Atlan?« Monas Stimme wurde schrill. »Ihr treibt ein verdammt falsches Spiel mit uns! Ich weiß es! Ihr habt schon immer gegen uns zusammengehalten, aber das nützt euch jetzt nichts mehr. Joseph kann die MJAILAM auch fliegen!« Atlan wußte, daß sie schießen würde. Er sprang zur Seite. Der grüne Strahl fuhr dort in die Wand, wo er eben noch gestanden hatte. Mona fluchte wie ein alter Raumfahrer. Sie zielte schon wieder, doch kam nicht mehr zum Schuß. Ihre beiden Begleiter – Gorth Hadagar war die kybernetische »Doppelbesetzung« Hellmuts, Joseph ein Kreuzerpilot – feuerten noch, aber ihre Hände waren so unsicher, daß sie alles Mögliche trafen, nur nicht das, was sie eigentlich treffen wollten. Wo die Strahlen in die Instrumentenbänke schlugen, schossen Stichflammen in die Zentrale. Dies war der eine Grund, warum sich der Kontrollstand plötzlich in ein Chaos aus Lichtspeeren, Explosionen und Schreien verwandelte. Atlan konnte sich in diesem Augenblick keine Gedanken über die Schwere der Beschädigungen machen. Der Aufprall riß ihm den Boden unter den Füßen weg. Er fiel hart auf die Seite und bekam gerade noch die Verankerung eines Sessels zu fassen, an der er sich festhalten konnte. Joseph und Mona waren auf der Stelle außer Gefecht. Sie wurden gegen Wände geschleudert und verloren die Waffen. Gorth schlug sich den Hinterkopf an und verlor das Bewußtsein. Hellmut und Tyari rutschten am Arkoniden vorbei, und nur Brick schaffte es, sich im Sessel zu halten. Die Schiffszelle ächzte und kreischte, als rissen Urgewalten an ihr. »Wir können noch nicht am Nabel sein!« schrie der Pilot in das
Getöse und die Entsetzensschreie hinein. »Etwas ist zwischen uns und dem Durchgang!« »Gib uns keine schlauen Erklärungen!« rief Tyari. »Bring uns in Sicherheit, ganz gleich, wie und wohin! Nur fort von hier!« Die Beleuchtung fiel aus. Nur die Lichter der Kontrollpulte brannten wie hundert winzige Augen in der Dunkelheit. Atlan spürte, wie er für einen Moment gewichtslos wurde. Gleich darauf setzte die Schwerkraft wieder ein – doch nicht mit Normalwert. Ungeheure Gravitationskräfte wirkten auf die Verzweifelten ein und drohten ihnen die Luft aus den Lungen zu pressen. Atlan sah noch mehr helle Punkte in der Dunkelheit tanzen. Mit aller Kraft brachte er es fertig, sich an dem Sessel heraufzuziehen. »Was ist das, Uster!« »Verdammt, wie soll ich das wissen! Wir kommen nicht los! Etwas hält uns fest und zieht uns noch weiter an sich heran! Wir sind in einem Strudel!« Das Knistern und Kreischen wurde noch heftiger. Die Notbeleuchtung flammte auf. Atlan sah menschliche Körper über‐ und nebeneinander an den Boden gepreßt liegen. Für Momente wurden sie durchsichtig wie auf einem Röntgenbild. Tyari versuchte, auf ihn zuzukriechen. Sie schrie etwas, das er nicht verstand. »Uster, Vollschub!« brüllte er. »Willst du, daß es uns die MJAILAM auseinanderreißt?« »Das geschieht jetzt schon! Tu, was ich dir sage!« Atlan versuchte, eine Erklärung für das Phänomen zu finden, zunächst hart auf ein unbekanntes Hindernis zu treffen, danach jedoch in gleicher Richtung weitergezogen zu werden. Es war, als hätte die MJAILAM eine Schale durchbrochen, hinter der eine ungeheure Schwerkraftquelle wirkte. Es gab keine Hinweise auf deren Natur. Die Orter zeigten nichts, die Taster griffen ins Leere. In das Beben des Schiffes mischte sich das Zittern bis zur Extrembelastung hochgefahrener Aggregate. Aus anderen Stationen
des Schiffes kamen bruchstückhaft viele Interkom‐Anrufe herein. Das Chaos mußte überall sein. Dann erfolgte der zweite Aufprall. Durch die mörderische Gravitation an den Boden gefesselt, ließ er die Solaner wie Flundern gegen die Wände rutschen. Auch Mona Nasch und Joscan Hellmut hatten inzwischen das Bewußtsein verloren. Atlan stöhnte, biß die Zähne zusammen und versuchte etwas von dem zu verstehen, was Brick herüberbrüllte. Der Pilot saß zusammengedrückt in seinem Sitz. Seine Hände kamen kaum noch bis an das Pult »… die Impulstriebwerke auf einen Schlag die volle Energie abgeben! Das zerreißt sie uns, aber …« Die Gravitation setzte aus. Ein dritter Aufprall beutelte die Hilflosen. Und plötzlich schoß die MJAILAM wie von einem Katapult abgefeuert mit wahnwitzigen Werten von der Schwerkraftquelle fort. Atlan erlebte das und das Folgende nur noch wie in einem Alptraum. Er sah alles wie durch Schleier, hörte Stimmen wie aus weiter Ferne und hatte kein richtiges Gefühl mehr für seinen Körper. Es war, als wäre die MJAILAM nur in einen entgegengesetzt wirkenden Strudel hineingeraten. Atlan kämpfte gegen die Woge aus Schmerzen an, die seinen Leib durchflutete. Er rang nach Luft. Die Schwerkraft wechselte von Null auf Werte um die fünf Gravos, und das immer wieder und in Sekundenschnelle. Tyaris Hand schob sich vor dem Arkoniden in die Höhe, doch die Bewegung war auch unter diesen unmöglichen Verhältnissen noch unheimlich. Alle Bewegungen, soweit sie noch möglich waren, liefen viel zu langsam ab. Etwas schien die Raum‐Zeit‐Struktur zu verzerren. Auf den wenigen noch funktionierenden kleinen Bildschirmen drehten sich gleißende Spiralen aus einem farblosen Licht. Sie brannten sich in Atlans Gehirn, und sie waren das letzte, das er noch sah, als ein neuer Schlag ihn vom Sessel schleuderte.
* Dank des Zellaktivators kam der Arkonide als erster wieder zu sich. Er konnte die Augen öffnen und schloß sie gleich wieder, als er das Bild der Verwüstung um sich herum sah. Es war eine rein instinktive Reaktion. Als er sich dann zum zweitenmal umblickte, und wenn er vom Zustand der Zentrale und von den vielen erloschenen Funktionsanzeigern auf den Zustand des ganzen Schiffes schließen konnte, so war die MJAILAM nur ein besseres Wrack. Keine spürbaren Kräfte wirkten mehr auf den Kreuzer ein. Die Notsysteme arbeiteten noch, und in den besonders betroffenen Stationen mochten die Instandhaltungsroboter inzwischen schon bei der Arbeit sein. Die Bordschwerkraft war wieder normal. Atlan wußte, daß er einen Fehler gemacht hatte, doch das blinde Anfliegen der Nabelposition war die einzige Aktion gewesen, die Erfolg versprochen hatte. In ihr hatten alle Hoffnungen auf ein Verlassen der Namenlosen Zone gelegen – und sie war gründlich gescheitert. Er richtete sich auf. Noch immer hatte er Schmerzen. Er fuhr sich über die Stirn und fand eine Schürfwunde, die leicht blutete. Am schlimmsten aber war die fast völlige Stille. Die Antriebe arbeiteten nicht mehr. Atlan hob Tyari auf und setzte sie in einen der Sessel. Sie rührte sich noch nicht. Niemand war da, dessen Stimme das unheimliche Schweigen hätte durchbrechen können. »Positronik!« sagte Atlan. Er atmete auf, als wenigstens sie ihm antwortete. Atlan verlangte eine genaue Übersicht über die entstandenen Schäden und bat, daß Blödel in die Zentrale geschickt würde. Er ließ sich in den freien Sitz neben Brick fallen und starrte für Sekunden nur auf die dunklen Schirme.
Wohin trieb die MJAILAM? Oder bewegte sie sich überhaupt nicht von der Stelle – gefangen in einem Stasisfeld oder einer anderen Falle? Eine Falle! dachte er. Der Effekt, wäre das Schiff »nur« an die Grenze zwischen Namenloser Zone und Normaluniversum gestoßen, wäre anders gewesen. Also gab es den Nabel noch in irgendeiner Form, oder etwas in ihm, das den Durchgang versperrte. »Jemand hat ihn manipuliert«, murmelte der Arkonide. Und weshalb? Es gab nur einen einzigen einleuchtenden Grund dafür. Atlan war sich darüber im Klaren, daß er im Moment nur spekulieren konnte. Doch irgend jemand schien nicht zu wollen, daß die MJAILAM und ihre Besatzung die Namenlose Zone verließen. »Wer seid ihr?« flüsterte Atlan, als könnten die dunklen Schirme ihm eine Antwort geben. »Wer ist die Macht, die die Namenlose Zone beherrscht – oder zumindest diesen Teil von ihr?« Die Positronik gab ihren Bericht. Atlan hörte ihn sich an. Seine Finger krampften sich in die Lehnen des Sessels. In seinem Gesicht zuckte es. Von allen Hiobsbotschaften trafen ihn die vom totalen Ausfall der Steuerung und des Impulsantriebs am härtesten. Die meisten Waffensysteme waren nicht mehr zu gebrauchen. An einen Aufbau der Schutzschirme war vorerst nicht mehr zu denken, obwohl die Roboter an den Generatoren arbeiteten. Was überhaupt noch funktionierte, waren der Normal‐ und Hyperfunk und das Landesystem. Es kam Atlan wie ein Hohn vor. Wen sollte er anfunken? Wo sollte er landen? Von den beiden Space‐Jets des Schiffes mußte die MJAI‐A wegen irreparabler Schäden abgeschrieben werden. Die MJAI‐B konnte möglicherweise wieder einsatzfähig gemacht werden, doch auch das würde viel Zeit in Anspruch nehmen. Aus! dachte der Arkonide. Wir haben alles riskiert und alles
verloren! Endlich öffnete sich ein Schott, und Blödel und Nockemann kamen herein. Der Galaktogenetiker war leichenblaß im Gesicht. Er humpelte und hielt sich die Seite. Als er sich umblickte, schüttelte er nur den Kopf. »Was war das, Atlan?« fragte er. »Welcher Rammbock hat uns getroffen?« »Verrate mir lieber, was es war, das wir getroffen haben«, antwortete Atlan. Er nickte in Richtung von Brick. »Versuche, sie alle wieder zu sich zu bringen, Hage. Wie sieht es auf den anderen Decks aus?« »Schlimm. Wir haben Verletzte. Einige hat es sehr böse erwischt. Blödel gab mir eine Injektion, und genau das können wir jetzt hier tun. Alles andere …« Er machte eine hilflose Geste und winkte seinem Scientologen‐Partner. In Blödels Zylinderleib öffneten sich Klappen, und kleine Magazine schoben sich heraus, aus denen der Spezialroboter sich die benötigten Ampullen nahm. Der Injektionsmechanismus befand sich am Ende eines der tentakelförmigen Vielzweckarme. Atlan kam die Zeit des untätigen Wartens wie eine Ewigkeit vor. Dann rührte Brick sich als erster, nach ihm einige der Solaner, Mona, Tyari, Hellmut … Sie waren alle erschüttert, obwohl die Injektionen eine Stimulans enthielten, das auf den Körper aktivierend, auf den Geist beruhigend wirkte. Atlan sammelte die Waffen ein, die auf dem Boden herumlagen, und legte sie Blödel in eine einladend auffahrende Klappe. Atlan mußte sich mit einigen harten Worten Ruhe verschaffen, als nun alle anderen wie auf ein geheimes Kommando mit ihren Fragen auf ihn eindrangen. Mona Nasch und ihre beiden Begleiter schoben sich in den Hintergrund und beobachteten unsicher. So ruhig wie möglich informierte der Arkonide die Gefährten über das, was er inzwischen von der Positronik und Nockemann erfahren
hatte. Wie wenig das war und wie unbefriedigend, wurde ihm dabei noch krasser klar als vorhin, als er mit seinen Gedanken allein war. »Ich prüfe das nach«, verkündete Brick. »Macht ihr euch inzwischen klar, was überhaupt geschehen ist.« »Wir sind gegen etwas geprallt, dann von etwas angezogen worden, dann wieder gegen etwas gestoßen und von diesem Etwas fortkatapultiert worden«, sagte Tyari heftig. »Oder dieses Etwas hat uns genau in dem Augenblick aus seinem Bann entlassen, als Uster Vollschub gab. Die Schirme zeigten uns nichts davon, aber wir spürten es doch einfach alle, oder? Die Frage ist, wer oder was ist dieses Etwas?« »Es verstopft den Nabel, sozusagen«, meinte Hellmut. »Oder der Nabel selbst hat sich verwandelt!« »Wie kann das sein, wenn wir seine Position noch nicht erreicht hatten?« »Jemand will uns hier festhalten! Und dieser Jemand ist vielleicht der, der die Grenzwächter mißbrauchte! Wer sagt uns, daß er nicht auch die SOL schon angegriffen hat?« Stimmen und Fragen, die Atlans eigene Befürchtungen reflektierten. Manche verrieten aufkommende Hysterie. Die Stille im Schiff war schon gespenstisch gewesen. Nun kam dem Arkoniden das Durcheinandergerede in einem schweigenden Wrack noch bedrückender vor. Die Solaner waren in einer Hülle aus Terkonitstahl eingeschlossen, die im Nichts trieb und ohne funktionierende Waffen‐ und Steuer‐Systeme, ohne Eigenantrieb und Schutzschirme jedem Gegner schutzlos ausgeliefert war. Zwei Bildschirme erhellten sich gleichzeitig. Atlan hoffte, daß es noch mehr werden würden, und daß auch verschiedene »tote« Funktionsanzeigen wieder aufleuchten würden und den Erfolg der Instandsetzungsbemühungen bestätigen. Die Schirme zeigten nur die Schwärze dieses Weltraumes, und in weiter Ferne das schwache Funkeln des Solist‐Sterns. Eresa Teppelhoff schüttelte nur den Kopf, als er sie fragend
anblickte. »Wohin fliegen wir?« fragte Tyari. »Fliegen wir überhaupt, Uster?« »Mir fehlen die Bezugspunkte, um das festzustellen«, knurrte Brick. »Ich weiß nur, daß die Positronik recht hatte und wir keine Möglichkeit haben, auf Flug oder Nichtflug noch irgendeinen Einfluß zu nehmen. Atlan, hat sie es dir nicht gesagt?« »Ich habe sie nicht danach gefragt«, mußte der Arkonide zugeben. Er holte es jetzt nach. Die Positronik erklärte, daß die MJAILAM nach dem Totalausfall der Triebwerke und einem Effekt, den sie nicht analysieren konnte, mit einer Restgeschwindigkeit von nullkommaneun Prozent Licht in die Namenlose Zone zurücktrieb, und zwar in die Solist fast genau entgegengesetzt liegende Richtung. Chybrain! dachte Atlan. Falls du uns von irgendwoher beobachtest und noch Einfluß nehmen kannst, dann melde dich jetzt! Die Gruppe von Solanern, die in der Zentrale ausgeharrt hatten, zog sich zurück. Mona Nasch kam auf den Arkoniden zu. Die blinkenden Lichter warfen farbige Schatten über ihr Gesicht. Es war etwas zu rund und zu breit, mit einer kleinen Nase und großen Augen. Das silberblau gefärbte Haar war zu lauter kleinen Zöpfen geflochten, die bis auf die schmalen Schultern reichten. Mona rang mit sich, bevor sie fragte: »Waren wir es? Hätte das Unglück verhindert werden können, wenn wir nicht geschossen und dabei wertvolle Instrumente zerstört hätten?« »Vielleicht zum Teil«, sagte Atlan. Sie fuhr sich durch die Zöpfe und holte tief Luft. Joseph und Gorth stellten sich wie schutzsuchend hinter sie. »Atlan, wir haben einen Fehler gemacht. Aber wir sind nur Menschen! Wir waren vor Angst wie von Sinnen. Jetzt ist das anders. Die Angst ist zwar noch größer, aber wir wissen jetzt, daß
wir nur überleben können, wenn wir den Kampf annehmen, den irgend etwas oder jemand gegen uns führt. Ich bin immer noch dafür, auf Solist ein neues Leben zu versuchen, und jetzt ist Solist doch wirklich unsere einzige Hoffnung, oder?« Sie nickte, als beantwortete sie sich die Frage selbst, während Atlan abwartete. »Du magst andere Ziele haben, aber wenn wir nach Solist wollen, müssen wir die nächsten Stunden überleben und eine Möglichkeit finden, die MJAILAM oder wenigstens die MJAI‐B zu reparieren. Wir stecken in der gleichen Klemme, und darum werden wir tun, was ihr für richtig haltet.« Atlan verstand den Sinneswechsel. Die Vorwürfe, die er noch auf der Zunge gehabt hatte, ließ er unausgesprochen. Er legte eine Hand auf Monas Arm und drückte ihn leicht. »Geht mit Hage und Blödel und kümmert euch um die Verletzten«, sagte er leise. »Das ist alles, was ihr jetzt tun könnt.« »Es tut mir leid«, flüsterte sie noch unter Tyaris strengem Blick, der weit mehr sagte als Atlans Worte. Sie winkte Joseph und Gorth, und gemeinsam folgten die drei den Scientologen. Hellmut sah ihnen nach. Er lächelte gequält. »Also richten wir uns darauf ein, in tausend Jahren einen Planeten zu erreichen und dann das Positive in der Namenlosen Zone so zu stärken, daß wir mit ihm zusammen in vielleicht noch einmal tausend Jahren in unser Universum zurückkehren dürfen«, sagte er sarkastisch. Wie viele von uns, fragte sich Atlan, haben in der MJAI‐B Platz, einem zwölf Meter großen Beiboot? »Ich sehe mich auf den anderen Decks um«, verkündete er. Mit einem Positronik‐Abruf stellte er fest, daß das Interkom‐System der MJAILAM inzwischen auch wieder funktionierte. »Wir halten Verbindung, falls sich etwas Neues ergibt, Uster.« Brick knurrte etwas Unverständliches. Tyari schickte sich an, den Arkoniden zu begleiten, als Eresa Teppelhoff überraschend ausrief:
»Ich sehe etwas! Es liegt genau in unserer Flugrichtung! Die Schockfront, hinter der es verborgen ist, ist nur sehr dünn! Und das Objekt ist auch nur klein – fast wie …« Atlan, schon am Ausgang der Zentrale, drehte sich zu ihr um. »Was, Eresa?« »Warte. Es ist klein, und es bleibt in der Flugrichtung. Es muß aber groß genug sein, um uns darauf zerschellen zu lassen. Ich kann die Entfernung nur ungefähr schätzen, aber in spätestens fünf Stunden müßten wir aufprallen! Wir werden kollidieren!« Atlan fing Tyaris Blick auf und wußte, was sie dachte. Ein relativ winziges Objekt noch unbekannter Natur und hinter einer Schockfront verborgen genau in der Flug‐, vielmehr Abtreiberichtung der MJAILAM; etwas, das weniger als ein Staubkorn in der Unendlichkeit dieses Weltraums war. Konnte dies noch ein Zufall sein? Atlan vernahm nur ein einziges Wort seines Extrasinns, und das lautete: Nein! Anscheinend reichte es dem unbekannten Gegner nicht, der MJAILAM den Weg zurück ins Normaluniversum und zur SOL zu versperren. Er schien vielmehr ihre völlige Vernichtung beschlossen zu haben. 2. Gorth Hadagar war hager, knapp zwei Meter groß und kahlköpfig. Sein Gesicht erinnerte an das eines Adlers. Die Augen waren klein und standen ungewöhnlich eng beieinander, die Nase war scharf nach unten gebogen, der Mund schmal und das Kinn klein und spitz. Deshalb und weil seine Schultern zu einem kleinen Buckel verwachsen waren, was seinen Hals und den Kopf schräg nach vorne abstehen ließ, nannte ihn auch jedermann Adler – jeder, der ihn kannte. Das waren nicht viele, denn Hadagar war nicht leutselig.
Er hielt sich stets zurück, und die wenigen Freunde und Bekannten ließen sich an den Fingern abzählen. Hadagar lebte vor allem für seinen Beruf. Zu wem er aber einmal Vertrauen gefaßt hatte, von dem erwartete er auch, daß er sich mit ihm gegen die Umwelt verschwor. Aus dieser Geisteshaltung heraus war er Mona gefolgt, als sie die Übernahme der MJAILAM beschloß. Hadagar war nicht die treibende Kraft gewesen, doch schließlich derjenige, der ihr und Joseph Lindsay einreden konnte, daß nur der hier und jetzt überlebte, der auf eigene Faust handelte. Zu Lindsay war weniger zu sagen. Er war der unauffällige Solanertyp, den man überall auf der SOL hatte finden können – ruhig, normales Aussehen, leicht introvertiert. Er besaß mehr Bekannte als Hadagar. Er war Pilot mit Leib und Seele und wegen seiner Kritiklosigkeit einmal williger Anhänger der SOLAG gewesen, wo er es als Pyrride in kurzer Zeit zum Kommandanten eines eigenen Versorgungsschiffes gebracht hatte. Nach Deccons Tod hatte Joseph sein Fähnchen schnell in den Wind gedreht, was er selbst nie als Opportunismus gesehen hatte. Was die jeweiligen Führer getan und beschlossen hatten, war für ihn einfach richtig gewesen. Das galt, bis er Mona und Gorth kennengelernt hatte. Inzwischen war er über beide Ohren in die Technikerin verliebt, und so gedankenlos, wie er Chart Deccon gefolgt war, war für ihn alles richtig, was Mona auch als richtig erachtete. Eine halbe Stunde, nachdem sie die Zentrale verlassen hatten, mußte der Pilot zusehen, wie Hadagar die Frau plötzlich am Arm festhielt und an eine Korridorwand drückte. Die drei hatten sich auf zwei Decks der Verletzten angenommen und kleinere Schäden behoben, soweit sie es konnten. Nun stand Hadagar vor Mona und hielt ihr den Zeigefinger vor die Nase. »Bist du verrückt geworden?« entfuhr es ihr. Er zog eine Grimasse. »Das könnte ich dich fragen. Ich meine, das Spielchen hat jetzt
lange genug gedauert. Oder hast du noch länger vor, die Samariterin zu spielen? Ich kann mir kaum vorstellen, daß Atlan und seine Vasallen uns beobachten, dazu haben sie selbst zu viele Sorgen.« Die Solanerin drückte die ausgestreckte Hand zurück. Sie holte tief Luft. Der Korridor, der zwei Abteilungen des Unterdecks miteinander verband, war bis auf die drei verlassen. »Was willst du, Gorth?« »Was ich will? Ich dachte, wir hätten alle das gleiche Ziel. Solist! Die MJAILAM schafft es nicht mehr bis dorthin. Ihr habt es gehört. Nur die MJAI‐B läßt sich wohl noch reparieren. Also warten wir ab, bis sie wieder einsatzfähig ist, und dann schnappen wir sie uns. Du kennst dich mit dem Schiff aus, Joseph kann es fliegen, und ich weiß, wie wir die Hangarkontrolle überrumpeln.« Hadagar kniff die Augen zusammen. »Oder solltest du uns getäuscht haben? Gehörst du noch zu uns, oder nicht?« »Gorth, wir sind kein Geheimbund!« »Unser Leben steht auf dem Spiel! Wenn wir nichts tun, gehen wir mit der MJAILAM unter. Wenn wir es nicht schnell genug tun, schnappen Atlan und seine Freunde sich die Jet und lassen uns sterben. Wir brauchen sie, wir! Sie wird uns nach Solist bringen.« »Äh, Gorth …«, wollte Joseph beginnen. Hadagar brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Also? Deine Reue vor Atlan war doch gespielt – oder?« Mona lachte trocken. »Und wenn nicht?« »War sie gespielt, um uns aus der Schußlinie zu bringen, oder echt?« Sie stieß sich von der Wand ab und ging weiter. Hadagar wollte sie nochmals zurückhalten, doch dann war Lindsay da und drehte ihm den Arm auf den Rücken. »Das reicht jetzt, Adler! Fasse sie noch einmal an, und ich …!« »Was?« Der Kybernetiker riß sich los. »Was dann, wie? Spiele hier
nicht den Helden, wenn es um unser aller Leben geht.« Mona blieb stehen und drehte sich zu den Männern um, die Hände provozierend auf den Hüften. »Helden! Das ist genau das richtige Wort, Gorth! Helden, die sich in der Zentrale hinter mir verstecken.« »Mona!« Lindsay wurde rot im Gesicht. »Wir haben alles riskiert!« »Richtig.« Ihr Lächeln war kühl. »Und warum? Du, Joseph, würdest ohne Schutzanzug ins Vakuum gehen, wenn ich es dir vormachte. Und dir, Gorth, würde es nicht viel ausmachen, unsere Kameraden in den Tod fliegen zu lassen, wenn du dich dafür an einem eingebildeten Gegner rächen könntest. Du witterst überall eine Verschwörung gegen deine kostbare Person.« »Das ist eine Lüge!« »Kann schon sein, solange wir in Ruhe und Frieden leben. Aber eine extreme Situation genügt schon, um dich jede Besonnenheit vergessen zu lassen. Seid ihr beide denn Kinder?« Lindsay schloß die Augen. »Mona, du hattest die Idee, Atlan zum Flug nach Solist zu zwingen.« »Und ich habe vorhin gesagt, daß ich das immer noch für unsere einzige Chance halte. Daran hat sich auch nichts geändert. Wir brauchen Zeit, bis die MJAI‐B instand gesetzt ist. Wir werden mit ihr nach dem Planeten fliegen – aber jeder, der das gleiche Ziel hat, kann mitkommen. Ganz gleich, wie er heißt, und welche Stellung er innehat. Ist das verstanden?« »Verstanden«, flüsterte Lindsay. »Gorth?« »Ja!« sagte der Kybernetiker zerknirscht. »Aber wenn du schon andere mitnehmen willst, dann sollten wir sie jetzt informieren. Wir müssen fragen, wer zu uns hält, damit wir am Ende auch wissen, auf wen wir uns verlassen können.« »Wir sind alle freiwillig mit Atlan geflogen«, sagte Lindsay leise, wie zu sich selbst.
»Er hat ja die Wahl. Er kann mit uns gehen. Und du, Gorth, vergißt besser ganz schnell, was du eben sagtest. Oder willst du, daß wir Leute einweihen, die die erste Gelegenheit nutzen und Atlan verraten, daß wir die Space‐Jet kapern wollen?« * Die Uhren an Bord der MJAILAM zeigten das Datum 3808:6:5, 22:31 Standardzeit, als der Spezialkreuzer die Schockfront um das geheimnisvolle, kleine Objekt unangefochten durchstieß. »Klein« war es nur, wenn man bei den Schockfronten unwillkürlich an Planeten oder an Sonnen dachte. Diese Einschätzung war bereits korrigiert worden, als Befürchtungen über ein Raumschiff aufkamen, das sich möglicherweise wie die Himmelskörper der Namenlosen Zone hinter solchen Barrieren verbarg. Inzwischen schossen die Spekulationen ins Uferlose, und kaum jemand wollte noch ausschließen, daß ein Raumer oder eine Raumstation des unbekannten Gegners dort in der Schwärze auf die MJAILAM wartete – vielleicht eine Station, die die verhängnisvolle Veränderung oder Blockierung des Junk‐Nabels verursacht hatte. Es war kein Raumschiff und keine Station – es sei denn, eine sehr gut getarnte. Atlan hatte in seiner langen Tätigkeit als USO‐Admiral und Chef der Galaktischen Feuerwehr selbst oft genug Geheimanlagen als Asteroiden oder Planetoiden tarnen lassen. Das mysteriöse Objekt, auf das die MJAILAM steuerlos zustürzte, war ein solcher Planetoid. Es war auf den beiden funktionierenden Schirmen der Außenbeobachtung als ein Gebilde zu sehen, das vollkommen unregelmäßig geformt war und an der dicksten Stelle einen Durchmesser von ca. zehn Kilometern besaß. Die Oberfläche war graubraun und von zahllosen Kratern, Rillen und Mulden durchbrochen. Daneben wurden von den notdürftig arbeitenden Tastern der MJAILAM mehrere tief in sein Inneres reichende Löcher
festgestellt. Das ganze Etwas wirkte so wie ein Schwamm aus kosmischem Gestein, und Uster Brick hatte es aufgrund seines Aussehens in einem ersten, überraschten Ausruf spontan als »Schwammkartoffel« bezeichnet. Damit hatte der Kleinplanetoid seinen Namen, doch das war für Atlan in diesen Momenten nach dem Durchfliegen der Schockfront, als das Gebilde klar auf den Schirmen abgebildet war, etwas Nebensächliches. Die MJAILAM schoß darauf zu. Es gab keinerlei Ortungen. Nichts sprach dafür, daß in der Tiefe des Brockens energetische Prozesse abliefen. Ob getarnte Station eines unbekannten Gegners oder nicht – das Schiff raste darauf zu und mußte bei dem zu erwartenden Aufprall zerschellen. »Wir können noch eine Chance haben!« rief Brick. »Wenn die Landesysteme tatsächlich noch so intakt sind, wie es unsere schlaue Positronik sagt und meine Instrumente zeigen, kann ich zwar kein Ausweichmanöver fliegen, aber versuchen, den Aufprall so gut wie möglich abzumildern!« Das erschien bei der wahnwitzigen Annäherung der MJAILAM wie ein Anflug von Galgenhumor. Der Planetoid wurde auf den Schirmen immer größer. Er schien auf das Schiff zuzustürzen, nicht umgekehrt. Er wirkte wie ein Geschoß, das auf die scheinbar fahrtlose im All stehende MJAILAM abgefeuert worden war. »Wie groß sind die Chancen?« fragte Atlan. »Frag lieber nicht!« »Versuche es, Uster!« sagte Tyari heftig. Brick war schon in seinem Element. Seine Finger huschten wie spielerisch über Tastaturen. Er gab akustische Befehle an die Positronik. Die Zahlenketten der Entfernungsmessung jagten viel zu schnell niedrigeren Werten entgegen. Noch einhundert Kilometer, las Atlan ab, und schon war die Angabe wieder überholt. Es konnte nach menschlichem Dafürhalten keine Rettung mehr geben. Zu groß war die Geschwindigkeit des Schiffes, und auch wenn Brick die Traktorstrahler und
Antigravvorrichtungen des Landesystems gezielt einsetzte – es würde nicht ausreichen, um das Schiff weit genug abzubremsen. Niemand sagte mehr etwas. Die Interkomanschlüsse schwiegen. Überall im Schiff saßen die von Blödel und Nockemann wiederhergestellten Solaner nun vor ihren Schirmen und warteten auf das Ende. Sechzig Kilometer! Tyari klammerte sich an Atlan fest. Sie sah ihn nicht an. Niemand suchte den Blick eines anderen. Jeder schien jetzt mit sich allein sein zu wollen. »Aufbau der Prallschirme wieder möglich!« meldete die Positronik in die Totenstille. »Geschwindigkeit nimmt jetzt ab!« Es folgten Zahlenwerte, die auch auf den Bildschirmen sichtbar waren. Unsichtbar griffen die Antigravfelder nach dem Planetoiden. Unterstützt von den negativ gepolten Traktorstrahlen bildeten sie so eine Art Polster zwischen Schwammkartoffel und der MJAILAM, das sich um so mehr verdichtete, je näher die beiden Körper einander kamen. Brick aktivierte die Prallschirme. Atlan hielt den Atem an. Er zählte die Sekunden und verfolgte die Zahlenangaben. »Das verstehe ich nicht«, murmelte Hellmut. »Der Planetoid müßte doch … weggedrückt werden. Doch er scheint seine Position nicht zu verändern.« »Zwanzig Kilometer!« rief Brick. »Ich würde euch raten, euch jetzt langsam anzuschnallen!« Die Geschwindigkeit des Schiffes verringerte sich weiter, und zwar überproportional zur Entfernungsabnahme. Atlan hatte plötzlich wieder Hoffnung. Schwammkartoffel füllte die Bildschirme jetzt ganz aus. Die zernarbte und zerfurchte Oberfläche des atmosphärelosen Himmelskörpers wuchs, als wollte sie die Bildflächen sprengen. Drei Kilometer über ihr betrug die Geschwindigkeit der MJAILAM nur noch rund hundert Stundenkilometer. Brick
schwitzte. Er wußte, daß er so gut wie gewonnen hatte. Die Antigravfelder wirkten weiter als Bremse, während der Pilot die Traktorstrahlen nun dazu einsetzte, den Kreuzer seitlich in eine Bahn mit niedrigerem Aufprallwinkel zu bringen. Außerdem versuchte er in den wenigen noch verbleibenden Sekunden, einen bestmöglichen Landeplatz zwischen den scharfzackigen Erhebungen, Kraterrändern und Spalten zu finden. »Festhalten!« Atlan, angeschnallt wie die anderen, sah zum letztenmal die graubraune Felseneinöde auf den Schirmen dahinziehen. Er hatte das Gefühl, nur eine Hand ausstrecken zu müssen, um Schwammkartoffel zu berühren. Dann erfolgte der Aufschlag. Die MJAILAM wäre ohne die Prallschirme verloren gewesen. So hüpfte sie wie ein Tennisball in die Höhe, landete wieder, hüpfte und zog eine metertiefe Rille in das Gestein. Es kam zu energetischen Entladungen. Der Planetoid besaß keine nennenswerte Schwerkraft, um das Schiff an sich zu fesseln. Brick mußte die Traktorstrahlen abermals anders einsetzten, um das zerstörerische Auf und Ab zu beenden. Wieder in den Weltraum geschleudert, hätte man nichts gewonnen. Brick schaffte es, die MJAILAM durch den geschickten Einsatz des Landesystems an den Himmelskörper zu fesseln. Sie rutschte weiter und verlor an Geschwindigkeit. Der Reibungswiderstand und die Traktorstrahlen arbeiteten gegen den Schub der gewaltigen Masse. Jemand rief: »Wir schaffen es! Wir kommen zum Stehen!« Doch im gleichen Moment tauchte voraus eine der Felsbarrieren auf, mehrere Dutzend Meter hoch und fast senkrecht. Der Aufprall war unausweichlich, und auch Bricks ganze Kunst nützte den Raumfahrern nun nichts mehr. Die Schiffszelle schien bersten zu müssen, als der Kreuzer hart gegen die Barriere schlug. Atlan wurde nach vorne in die Haltegurte gerissen. Menschen schrien und stöhnten. Die MJAILAM überstand auch dies, aber das war noch nicht das
Ende. Unter ihrem Gewicht gab der Untergrund nach. Der Fels brach auseinander und gab einen der angemessenen Stollen frei. Das Schiff rollte hinein und schien endlos zu fallen. Brick fluchte, als die Traktorstrahlprojektoren und die Antigravsysteme gleichzeitig ausfielen. Mit ihnen hätte er den Fall leicht stoppen können. So jedoch zog die geringe Massenanziehung den Kreuzer immer tiefer in Schwammkartoffel hinein. Als die MJAILAM endlich zur Ruhe kam, lag sie rund dreitausend Meter unter der Oberfläche in einem dunklen Hohlraum. Gelöste Steinbrocken stürzten auf sie herab und blockierten Teile des Stollens, wenn sie sich verkanteten. Die Prallschirme schützten das Schiff auch vor ihnen. Doch das war auch alles, was die MJAILAM noch für sich selbst tun konnte. Sie lag still in ihrem dunklen und schweigenden Gefängnis. Atlan schnallte sich los und sah, daß wenigstens in der Zentrale niemand ums Leben gekommen war. Wie es in den anderen Teilen des Schiffes aussah, mußte sich noch zeigen. Doch was nützte ihnen das letztlich, wenn die MJAILAM aus eigener Kraft nicht mehr von hier entkommen konnte? Sie war gefangen. Ohne die nun auch ausgefallenen Landesysteme gab es keine Hoffnung mehr, das Schiff aus dem Planetoiden hinauszumanövrieren. Und wenn noch weitere Teile des Schachtes einstürzten, würde auch eine vielleicht zu reparierende Space‐Jet nicht mehr ins Freie entkommen. Atlan ballte die Fäuste. Noch funktionierten einige wenige Waffensysteme. Notfalls mußte der Weg freigeschossen werden. Vorerst aber galt es, eine endgültige Bestandsaufnahme zu machen. »Wir sind nicht allein«, sagte da Tyari. Sie nickte bekräftigend, als der Arkonide sie anstarrte. »Etwas oder jemand ist in unserer Nähe, und er denkt. Was ich von ihm empfange, ist allerdings zu fremdartig, um etwas zu verstehen.« »Also doch eine Station!« knurrte Brick. »Und ich gehe jede Wette ein, daß sie genau in den Kurs gesteuert wurde. Um wen kümmern
wir uns also zuerst – um die MJAILAM und die MJAI‐B oder um diejenigen, die diese Falle für uns gestellt haben?« 3. Wie durch ein Wunder war auch in den anderen Teilen des Kreuzers kein einziges Todesopfer zu beklagen. Es hatte zwar weitere Verletzte gegeben, doch diese befanden sich inzwischen bei Nockemann und Blödel in guter Obhut. Um 03:11 Uhr Standardzeit, 3808:6:6, war es den Mitgliedern des Atlan‐Teams gelungen, rund zwei Drittel der solanischen Besatzung in der Messe zu versammeln. Seit knapp viereinhalb Stunden lag die MJAILAM in Schwammkartoffel fest, und in dieser Zeit hatte sich bereits mehr getan, als allen Beteiligten lieb sein konnte. Atlan stand mit Tyari und Brick vor den Männern und Frauen, die ihn aus leeren Augen ansahen oder demonstrativ die Köpfe zur Seite drehten. Er hörte Flüche und spürte Angst, die zur Aggression gegen diejenigen wurde, denen man die Schuld an der Katastrophe gab. Nockemann hatte von zwei Selbstmordversuchen berichtet, die er im allerletzten Moment verhindern konnte. Solaner hatten sich untereinander aus nichtigen Anlässen geprügelt, und beim Zusammentrommeln der Mannschaft hatten der Arkonide und seine Gefährten mehr als einmal von ihren Waffen Gebrauch machen und Angreifer paralysieren müssen. Er stand auf einem kleinen Podest und konnte auf die Verzweifelten hinabsehen. Er sah, wie sie sich aneinanderdrängten, als könnte ihnen die Nähe von anderen Schutz vor dem verleihen, was sie von allen Seiten bedrohte. Tyari spürte die fremden Impulse immer noch – einmal näher, einmal wieder fern. Sie hatte nichts ausgeplaudert. Es waren Solaner gewesen, die das Wirken des Fremden beobachtet hatten. Was soll ich ihnen sagen? fragte sich Atlan. Was werden, was
wollen sie mir glauben? Dieser Haufen völlig eingeschüchterter Menschen, die Blicke und die leise geflüsterten Worte, die drohend geschüttelten Fäuste – die Solaner taten Atlan leid, doch Mitleid wäre das letzte, was sie von ihm akzeptieren würden. Er hob eine Hand. Kurz sah er Mona Nasch und ihre Freunde zwischen den anderen Versammelten stehen, und auch Brons Thermeck, der einen relativ gefaßten Eindruck machte. Das Gemurmel verstummte. »Ich weiß«, begann er, »daß einige von euch mich nicht anhören wollen. Ich bitte euch dennoch, es zu tun. Wir leben, und das ist zunächst einmal das Allerwichtigste. Die MJAILAM ist antriebslos, und alle wichtigen Systeme sind ebenfalls ausgefallen. Jeder von euch hat die Informationen der Positronik erhalten. Einzig die MJAI‐ B ist noch zu retten.« »Niemand von uns ist zu retten!« schrie eine Frau. »Also spare dir dein Geschwätz! Ich war dabei, als wir sahen, wie der Stollen von Nebengängen aus weiter verstopft wurde. Die Spionsonden zeigten uns genug. Wir haben über sie nur etwas Dunkles gesehen, das sich in den Schatten bewegte und die Felsbrocken in den Schacht bugsierte. Aber es war riesig und lebte! Etwas lebt hier im Vakuum und arbeitet gezielt daran, daß alle Ausgänge verstopft werden. Willst du wissen, warum?« »Weil sie uns ersticken wollen!« schrie der Mann neben ihr. Atlan holte tief Luft. Es stimmte, daß es mehrere Aus‐ oder Zugänge zu dem Hohlraum gab, der etwa zweihundert Meter hoch und etwas breiter war. Die noch funktionierenden Scheinwerfer der MJAILAM hatten die Umgebung abgeleuchtet. Mehrere Spionsonden waren in den nach oben führenden Schacht vorgedrungen und hatten die genannten Beobachtungen gemacht. Sie hatten auch festgestellt, daß der Stollen nicht künstlich geschaffen worden war, sondern mit vielen Knicken und Vorsprüngen unregelmäßig in die Tiefe führte. Atlan hatte die Aufzeichnungen und den Schatten gesehen. Tyari
konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob die Impulse von dort
gekommen waren oder nicht. Etwas im Innern von Schwammkartoffel schien psionische Ausstrahlungen zu reflektieren. Tyari war sich auch nicht mehr sicher, ob es nur ein lebendes Fremdwesen im Planetoiden gab. »Wir sind noch nicht angegriffen worden«, sagte er laut, als die wütenden Rufe wieder verstummten. »Wir verschließen aber die Augen nicht vor der Realität. Also haben wir einen Gegner.« Er kniff die Augen zusammen und sprach beschwörend weiter. »Und anstatt uns gegenseitig für etwas verantwortlich zu machen, was nun einmal geschehen ist, sollten wir alles daransetzen, diesen Gegner abzuwehren. Zweitens: Ist Schwammkartoffel eine Station, die sich uns in den unfreiwilligen Kurs schieben konnte, dann muß es Energiestationen geben – und Wesen oder Roboter, die sie bedienen. Das heißt, wir können versuchen, sie zu finden und uns nutzbar zu machen. Und drittens: Eine Gruppe soll, während die andere den Planetoiden erkundet, die MJAI‐B zu reparieren versuchen. Es sei denn«, fügte er provozierend hinzu, »ihr habt tatsächlich euren Selbsterhaltungswillen schon verloren.« »Es gab keine Energiemessungen!« rief jemand. »Und es gibt sie auch jetzt nicht.« »Die entsprechenden Sektoren des Planetoiden können durch Sperren geschützt sein, die eine Ortung verhindern«, meldete sich Brons Thermeck zu Wort. »Das wäre nur logisch, wenn Schwammkartoffel als Falle ausgebaut worden ist.« Atlan nickte ihm dankbar zu. »Ich finde«, kam es von Mona Nasch, »daß Brons recht hat. Ich gehe freiwillig in die MJAI‐B. Wir erreichen nur etwas, wenn wir endlich wieder zusammenhalten.« Atlan war überrascht. Soviel Wiedergutmachungswillen hatte er von der Technikerin gar nicht erwartet. Doch sie schien es sehr ernst zu meinen. Hadagar und Lindsay wollten mit ihr gehen. Dann meldeten sich weitere Solaner. Die aus der Angst geborene Front gegen Atlan und sein Team geriet ins Bröckeln. Die eben noch
zornig verzogenen Gesichter der Schreier wurden unsicher. Brons Thermeck kam auf das Podest und verkündete laut: »Ich gehe mit in den Planetoiden!« Atlan konnte nicht entgehen, daß er dabei zitterte. Dieser Mann litt immer noch, stärker vielleicht als alle anderen. Doch er nahm die Herausforderung des Schicksals an und wollte mit seinem Beispiel ein Signal geben. Zögernd folgten ihm andere. »Ich danke euch«, sagte Atlan. »Wer sich Mona noch anschließen möchte, geht mit ihr in die Jet. Für die Erkundung von Schwammkartoffel haben wir genug Leute. Der Rest von euch bleibt in der MJAILAM und beobachtet. Uster Brick wird versuchen, mit dem einzigen noch funktionierenden Desintegratorgeschütz den Schacht wieder zu öffnen und zu verbreitern. Helft ihm. Helft uns allen und damit euch selbst. Denn in der SOL warten doch Menschen auf euch, zu denen ihr zurückkehren möchtet.« Das war hart an der Grenze dessen, was er den Männern und Frauen zumuten konnte, im Grunde ein Hohn auf die Ereignisse der letzten Stunden. Doch schweigend gingen sie auseinander, und für den Augenblick war der Friede an Bord wiederhergestellt. * Als Atlan sich für das erste Aussteigen bereitgemacht hatte, war er um eine Hoffnung ärmer. Brick und einige Spezialisten hatten versucht, den Desintegrator probeweise in Betrieb zu nehmen. Schon beim ersten Versuch, zuerst einmal einige der abzweigenden Gänge zu verbreitern, kam es zu einer kleineren Explosion im Projektor. Sie richtete nach außen nicht viel Schaden an, beraubte die MJAILAM aber der einzigen Waffe, die sie hier einsetzen konnte. So blieb nur noch die Aussicht auf den Gebrauch von Handfeuerwaffen. Das hieß, daß Solaner sich
in den Schacht würden begeben müssen, um in Feinarbeit die Felsen zu zerschneiden oder atomisieren, die ihn immer mehr versperrten. Die Erschütterung, wenn von irgendwoher neue Riesenbrocken in die Öffnung geschoben wurden und sich mit anderen verkanteten, durchliefen den ganzen Planetoiden. »Irgendwer arbeitet dort oben«, knurrte Brick. »Irgend jemand legt uns im wahrsten Sinn des Wortes Steine in den Weg.« Der Pilot ließ zum dutzendstenmal die Aufzeichnungen der Spionsonden abfahren. Inzwischen war der Schatten ein zweitesmal gefilmt worden. Er zuckte blitzschnell zur Seite, sobald die hochleistungsfähigen Miniaturscheinwerferzellen der Sonden in die Gänge des Schwammplanetoiden leuchteten. Nur die Infrarotoptiken gaben ein Bild von einem Etwas, das keine feste Form zu haben schien. Es sah – soweit man überhaupt etwas von ihm sehen konnte – eher aus wie ein unförmiger Klumpen mit Auswüchsen, die sich einmal ruckartig ausstreckten, um dann scheinbar wieder in der Körpermasse zu verschwinden. »Beobachtet weiter und helft den Leuten in der MJAI‐B«, sagte Atlan zu Brick und Hellmut. »Der Schacht ist jetzt an seiner engsten Stelle knapp fünfzig Meter breit. Es darf auf keinen Fall soweit kommen, daß er zu eng für die Space‐Jet wird.« Das bedeutete: zwölf Meter plus einem Toleranzspielraum, um das Beiboot manövrieren zu können. Diese Grenze durfte nicht unterschritten werden. Atlan gab Tyari ein Zeichen. Wie die vier Solaner, die mit ihnen hinausgingen, trugen sie leichte Raumanzüge mit Antigravaggregaten. Wo es keine merkliche Schwerkraft gab, mußten sie sich bewegen wie im freien Weltraum. Fugen in den Wänden und andere Unregelmäßigkeiten, an denen man sich festhalten konnte, mochten eine Hilfe sein. Wieweit die Haftschuhe mit ihren Vakuumnoppen von Nutzen waren, mußte sich bei dem porösen Gestein noch erweisen. Jeder der sechs nahm sowohl eine Kombiwaffe als auch einen
Handdesintegrator mit, außerdem einen kleinen Translator. Eine Verständigung der Gruppe untereinander war nun nur noch per Helmfunk und mittels Gesten möglich. In der Schleusenkammer, durch die sie das Schiff verließen, standen zwei Antigravscheiben bereit, von denen jede mit ihren zwei Metern Durchmesser drei Personen tragen konnte. Als das äußere Schott sich öffnete, zögerte Atlan. Er sah sich um und erblickte nur das, was er auf den Schirmen ohnehin schon gesehen hatte. Doch diese nur von den Scheinwerfern durchbrochene Trostlosigkeit nun direkt zu erleben, war etwas ganz anderes. Atlan mußte sich die Größenverhältnisse klarmachen. Schwammkartoffel war ein rund zehn Kilometer großer, von Schächten und Gängen zerfressener Planetoid. Die MJAILAM mit ihren hundert Metern Durchmesser war ein tief in ihm liegender Fremdkörper von einem Hundertstel seiner Größe. Und ein Solaner, ein Mensch? Er war ein Zwerg, ein Insekt, eine Bakterie – etwas, das bei einer einzigen Bewegung des Giganten zu einem Nichts zermalmt werden konnte. Es war kalt. Die Kälte entstand in den Bewußtseinen der Solaner, Tyaris und Atlans. Hier schien alles tot zu sein – die Wände, die schwach leuchteten, wenn sie angestrahlt wurden, und ansonsten an einigen Stellen leicht fluoreszierten. Flechten? Winzige Pilzkolonien, die im Vakuum existieren konnten? Algen? Ob auf unglaubliche Weise bewachsen oder überwuchert, die Felsen wirkten tot. Die Gangmündungen waren düstere, klaffende Löcher, in denen sich alles mögliche verbergen konnte. Doch nichts rührte sich dort. Gegner – falls es Gegner waren – zeigten sich nicht. Und dennoch konnte der Arkonide sich des beklemmenden Gefühls nicht erwehren, daß er beobachtet wurde. Daß jeder der toten Steine eine Geschichte zu erzählen hatte. War das, was auf ihnen haftete, ein Überbleibsel von einer kosmischen Katastrophe? War dieser kleine Planetoid einmal Teil einer Welt gewesen, in der es ein
anderes Leben gegeben hatte – und das sich in Teilen und mutierter Form dem Vakuum hatte anpassen können? Tyari stieß ihn an. Er nickte. Es war schon abgesprochen worden, daß Atlan und Tyari je eine Gruppe führen sollten. Die ehemalige Gesandte Tyars konnte durch Telepathiekontakt auch dann Atlans Aufenthaltsort kennen, wenn die Funkverbindung gestört werden sollte. Atlan legte sich auf eine der Antigravscheiben und wartete, bis Thermeck und Sister Shuisa bei ihm waren. Ihr seltsamer Name kam daher, daß sie eine Zwillingsschwester hatte, die Sister Phoebe hieß. Phoebe war bei Tyari, als die Scheiben die Schleuse verließen und durch eine Strukturlücke die Prallschirme durchdrangen. Der dritte Mann in Tyaris Gruppe war Ögy Ghurtalamoon, wegen seiner Buhrlo‐Narbe auf der Stirn einfach »Longhorn« genannt. Die Narbe des Halbbuhrlos sah tatsächlich aus wie ein Stirnhorn. Atlan steuerte seine Scheibe auf eine Stollenmündung in halber Höhe der MJAILAM zu, Tyari die ihre auf eine Öffnung nahe der Hohlraumdecke. Alles war gesagt. Von der MJAILAM, die den halben Hohlraum ausfüllte, über dem der Schacht klaffte, kam die Meldung, daß im Augenblick keinerlei Aktivitäten der oder des Unbekannten registriert würden. Brick wünschte noch einmal Hals‐ und Beinbruch und sagte, daß in der MJAI‐B bereits eifrig gearbeitet würde. Atlan dankte und bat ihn darum, jetzt nur noch in besonderen Fällen Kontakt aufzunehmen. Er brachte die Antigravscheibe in den Stollen und hielt sie so knapp wie möglich über dem Boden. Scheinwerfer leuchteten den Gang aus, bis er seine erste Biegung nahm. Auch hier war nichts von einer Bearbeitung oder von künstlich in die Wände eingesetzten Elementen zu sehen. »Du hast doch einen Grund dafür, oder?« fragte Thermeck. »Wofür, Brons?« »Für die Kontaktbeschränkung. Du hast von möglicherweise abgeschirmten Energieanlagen gesprochen, und das leuchtet auch
mir ein. Du glaubst nicht daran, daß dieser Unförmige allein gegen uns arbeitet. Was er macht, ist etwa so, als ob ein Tier oder ein halbintelligenter Steinzeitwilder in einer primitiven Falle etwas gefangen hätte und es zuschütten wollte, damit es ihm nur nicht wieder aus der Falle herausspringt.« »Besser hätte ich es auch nicht formulieren können, Brons«, gab der Arkonide zu, während er die Scheibe vorsichtig um die erste Gangbiegung steuerte. Die lichte Weite des Stollens betrug hier noch rund fünf Meter. Überall leuchteten die Wände schimmrig. »Du glaubst also an getarnte Stationen, vielleicht eine Zentrale, die Schwammkartoffel lenkt. Dann gäbe es natürlich Ortungen von dort aus. Und um als Falle nicht ohne jeden Sinn zu sein, mußte es ausführende Organe dieser Hauptzentrale geben – Roboter?« Thermeck schien ein schon recht konkret vorgefaßtes Bild von den Geheimnissen des Planetoiden zu haben. Atlan ließ sich mit der Antwort Zeit. Er versuchte, jede noch so kleine Einzelheit der Umgebung in sich aufzunehmen. Alles, schien es auch noch so unbedeutend, konnte jetzt oder später von Nutzen sein. Redete Thermeck, um sich von seinen Ängsten und Nöten abzulenken? Der Mann war 48 Jahre alt, 1,92 Meter groß und kräftig. Er hatte dichtes schwarzes Haar. Thermeck war ein eher unauffälliger Mensch, von Beruf Antigrav‐Traktorstrahl‐Spezialist und in dieser Funktion Mitglied des technischen Personals der MJAILAM – auch als sie noch CHYBRAIN hieß. Er hatte Brick bei dem versuchten Notlandungsmanöver von seiner Station aus kräftig unterstützt. Überhaupt war Brons Thermeck eher ein Mann, der lieber im Hintergrund blieb und nicht viel Aufhebens um seine Leistungen machte. Doch dafür redete er, was Atlan anging, zuviel von der Mission des Arkoniden. Er stand absolut zu Atlans Plänen und Vorhaben und beschäftigte sich wirklich intensiv mit den damit zusammenhängenden Fragen. Sonst immer tolerant anderen
Meinungen gegenüber, vertrat er in diesbezüglichen Streitgesprächen immer wieder und für Atlans Geschmack viel zu eifrig den Standpunkt: »Was Atlan tut, muß immer richtig sein.« Zweifelte er jetzt? Atlan wußte inzwischen einiges über ihn und seine Familie. Da war Eldar, sein ältester Sohn, der genau das Gegenteil von dem für richtig hielt, was sein Vater ununterbrochen propagierte. Für Eldar war Atlan ein Fluch für die SOL, und er würde ein diktatorisches Regime vom Schlage der SOLAG jederzeit der ständigen Gefährdung der SOL wieder vorziehen. Die SOL war für ihn seine ganze Welt. Gegner und Feinde existieren für ihn einfach nicht – eine Meinung, die im Grunde Respekt verdiente. Niemand wollte Auseinandersetzung und Krieg. Nur bestand Eldars Auffassung von Pazifismus darin, lieber die SOL jedem auftauchenden Aggressor zu überlassen, als sich zu wehren. Die beiden anderen Kinder von Brons Thermeck und seiner Frau Thala Sonnersy, das Mädchen Vilar und der zehnjährige Chart, waren ganz einfach noch Kinder, mit allen charakteristischen Merkmalen ihrer Altersstufen behaftet. Der springende Punkt war Thala Sonnersy. Sie hatte Brons von Anfang an davon abhalten wollen, mit Atlan in die Namenlose Zone zu fliegen. Sie hatte ihn gewarnt und bekniet, doch gegen Thermecks Einstellung zum Arkoniden war auch sie machtlos gewesen. Brons liebte seine Familie. Jetzt mochte er es bereuen, nicht auf Thala gehört zu haben. Er engagierte sich noch, doch jedes nervöse Zucken der Augenlider verriet mehr über seinen wahren Seelenzustand, als er wahrhaben wollte. Vielleicht suchte er den Nervenkitzel der Gefahr, um sich selbst zu beweisen, daß er immer recht gehabt hatte. »Atlan?« Der Arkonide zuckte die Schultern. »Wir werden es sehen.«
Es ging um weitere Gangbiegungen herum. Hinter jeder konnte alles und jedes lauern. Es war nur ein eher zufälliger Blick auf die Armbanddetektoren, der Atlan eine gehörige Überraschung bescherte. »Es gibt doch eine Atmosphäre«, sagte er ungläubig. Die Anzeigen waren unbestechlich. »Zumindest Reste davon. Es existieren Spuren von Sauerstoff und anderen gasförmigen Elementen.« »Das ist eine physikalische Unmöglichkeit«, sagte Sister Shuisa. »In diesen durchlöcherten Brocken kann nichts mehr vorhanden sein.« »Tyari?« Sofort kam ihre Stimme über den Helmfunk. Atlan setzte sie von seiner Beobachtung in Kenntnis, und sie erwiderte, daß ihre Detektoren nichts anzeigten. Aber dafür, so sagte sie, waren die Impulse des fremden Lebens jetzt stärker geworden. Sie war sich nicht sicher, vermutete aber, daß sie aus der Richtung kamen, in die Atlan flog. »Paß auf dich auf!« warnte sie ihn. »Es kann überall sein.« Also mußte es Bereiche innerhalb von Schwammkartoffel geben, in denen noch Sauerstoff vorhanden war – und vielleicht auch solche, in denen er so dicht war, daß ein Mensch darin würde atmen können. Atlan drang weiter in den Gang ein. Das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde immer stärker. Und dann brach eine Wand des Stollens auseinander. Steine wurden regelrecht herausgesprengt, und aus der entstehenden Öffnung schoben sich drei widerhakenbewehrte Tentakel auf die Antigravscheibe zu. * Mona Nasch wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die
Bordkombination klebte an ihr. Sie sah kaum, was um sie herum vorging. Sie lebte wie in einem Traum, in dem sie ein integraler Bestandteil des Impulstriebwerks der MJAI‐B war und die Schäden sah, als wären sie Ausschläge an ihrem eigenen Körper. Sie wurde aus diesem Traum jäh herausgerissen, als sich eine Hand um ihren Arm legte und sie in die Höhe zog. Groth Hadagar drehte sie unsanft zu sich herum. Joseph Lindsay stand dabei und ballte die Fäuste. »Wie lange noch, Mona?« fragte Hadagar. Er konnte laut reden. Die drei befanden sich auf einem niedrigen Zwischendeck unterhalb der Generatorenkammern. Bevor Mona sich an die Arbeit an den Impulsleitern gemacht hatte, waren von ihr und Joseph alle Systeme desaktiviert worden, über die ein Belauschen möglich gewesen wäre. Die Zugänge zu diesem Bereich waren verriegelt. Niemand schöpfte Verdacht, weil die Arbeit hier gefährlich war und keine anderen Solaner unnötig in Gefahr gebracht werden sollten. »Wie lange, bis die Jet endlich einsatzfähig ist?« Sie schüttelte seine Hand ab und sagte wütend: »Niemand von uns kann zaubern. Reicht es dir nicht, zu wissen, daß die MJAI‐B tatsächlich bald wieder starten kann? Aber das kriege ich nicht allein hin. Zwanzig Leute und halb so viele Roboter arbeiten daran. Erst wenn der letzte Spezialist mit seinem Bericht fertig ist, können wir an das Weitere denken.« Sie blickte Lindsay an. »Es ginge schneller, wenn du dich in der Zentrale nützlich machen würdest. Brick wird sich sowieso fragen, was du hier zu suchen hast.« »Er bleibt bei uns!« sagte Hadagar hart. »Genug Leute wissen, daß er dir nachläuft, und das sollte für sie reichen. Uns jetzt zu trennen, wäre der größte Fehler, den wir überhaupt machen können.« »Warum, Gorth? Hast du Angst, einer von uns könnte dich verraten?« Er ging nicht auf den Spott ein, sondern fragte weiter: »Wie sieht es mit der Bewaffnung der MJAI‐B aus?«
»Du bist der Kybernetiker, Adler. Geh und frage die Positronik.« »Das habe ich getan! Wir haben inzwischen wieder zwei funktionsfähige Thermo‐ und Impulsgeschütze. Mona, ich will wissen, ob wir die anderen bis zum voraussichtlichen Start reparieren können.« »Nein.« »Laß sie in Ruhe, Gorth«, sagte Lindsay. »Sie hat recht. Wir gehören beide in die Zentrale. Nur dort bekommen wir mit, wie schnell die Instandsetzungsarbeiten vorankommen. Außerdem müssen wir wissen, ob der Schacht noch weiter zugeschüttet wird.« Gorth blickte ihn abschätzend an. »Also Verschwörer habe ich mir immer ganz anders vorgestellt«, sagte Mona. »Solange ihr euch uneinig seid, laßt mich in Ruhe weiterarbeiten. Tut, was Joseph sagt. Es ist besser, wenn ihr schon einige Zeit in der Zentrale seid, wenn die Jet einsatzbereit ist. Wir werden sofort handeln müssen. Hört euch vorsichtig um, wer für uns ist, und wer nicht. Ich meine, sondiert die Stimmung für und gegen Atlan, aber verratet noch nichts.« Sie drehte sich um und ging wieder in die Hocke. Hadagar nickte langsam. »Also schön. Du kommst nach, sobald du hier fertig bist. Und über die anderen mache dir keine Sorgen. Notfalls fliegen wir drei allein.« »Und die Männer und Frauen, die in der MJAI‐B sind?« Hadagar lachte düster und schlug sich mit der flachen Hand dorthin, wo er den Strahler unter der Kombination trug. Die beiden Solaner verschwanden und verriegelten das Schott wieder von außen. Mona stand auf und ging zu einem Interkom‐ Anschluß. Das Gesicht einer älteren Frau erschien auf dem kleinen Schirm. Sie hatte dichtes, ungekämmtes Kraushaar und blickte stechend. »Wie weit seid ihr in der MJAILAM, Kathy?« fragte die Technikerin.
»Wir kommen besser voran als erwartet. Auch hier wird gearbeitet. Inzwischen sieht es so aus, als könnte das Schiff ebenfalls wieder manövrierfähig gemacht werden. Aber das wird Tage dauern. Ihr seid auf alle Fälle viel früher im Weltraum.« Die Solanerin kniff die Augen zusammen. »Und?« Mona Nasch berichtete über ihr eigenes Vorankommen und Hadagars Absichten. »Haltet euch in der MJAILAM bereit, Kathy«, schloß sie. »Es wird auf jede Sekunde ankommen.« * Tyari zuckte leicht zusammen und vernachlässigte für einen Moment die Steuerung der Scheibe. Im letzten Augenblick konnte sie verhindern, daß sie gegen eine Felswand prallte. »Was hast du?« fragte Longhorn. »Spürst du es wieder?« »Atlans Gruppe ist in Gefahr«, sagte sie schnell. »Eines der Wesen greift sie an! Wir müssen zu ihnen und Brick informieren. Übernimm du das, Phoebe!« Schon drehte sie die Antigravscheibe um 180 Grad und ließ sie in Richtung der MJAILAM zurückgleiten. »Wieso eines der Wesen?« wollte Longhorn wissen. »Bisher warst du nicht sicher, ob …« »Es sind mindestens zwei, vielleicht mehr. Eines greift Atlan an, ich spüre seine Impulse schwach. Aber eine stärkere Quelle ist direkt in unserer Nähe!« »Was heißt das? Wie nahe?« »Zu nahe schon. Paß gut auf, Longhom. Es ist sicher der Verfremdungseffekt, aber es scheint in den Felsen zu sein.« Tyari beschleunigte die Scheibe und riskierte in den Gangwindungen einen Aufprall. Phoebe sprach über den Helmfunk mit der MJAILAM‐Zentrale, als Tyari rief: »Es ist vor uns! Es kommt
tatsächlich durch das Gestein!« »Tyari, der Stollen!« Longhorns Warnung kam schon zu spät. Zwanzig Meter voraus stürzten die Wände und die Decke ein. Auch von hinten war Gepolter zu hören, ganz schwach nur, aber der Schall war da. Tyari konnte die Scheibe nicht mehr abbremsen. Sie stieß die neben ihr liegenden Solaner herunter und sprang selbst im allerletzten Augenblick. Die Scheibe prallte hart gegen die neue Mauer aus Geröll und Staub und blieb beschädigt davor liegen. »Ist einer von euch verletzt?« fragte die Telepathin. »Schutzanzüge in Ordnung?« Sie sah sich mit beiden Waffen in den Händen um. Longhorn und Sister Phoebe kamen vor ihr auf die Beine und rieben sich die beim Sturz aus anderthalb Meter Höhe angeschlagenen Körperstellen. Tyari konnte sich nicht um sie kümmern, denn das andere verlangte ihre ganze Aufmerksamkeit – das, was sie psionisch wahrnahm und sich nun in den Felswänden um die drei Eingeschlossenen bewegte. Auch der Rückweg war versperrt. In dem eingestürzten Gestein gab es allenfalls noch Ritzen, die eine Fliege hindurchlassen würden. Es sah so aus, als hätte jemand oder etwas diese Falle ganz gezielt aufgebaut und die Brocken »paßgerecht« zugeschnitten. Es ist unmöglich! sagte sich Tyari. Unmöglich wie die plötzliche Schwerkraft, denn die Telepathin stand auf ihren zwei Beinen so fest wie in der MJAILAM. Und Phoebe und Longhorn waren gefallen, nicht nur von Tyaris Stoß gegen die Wände geschleudert worden. Und die Felsen waren heruntergekommen. Und sie hatte sie herabpoltern gehört. Das Vakuum transportierte keine Schallwellen, also … »Sich auf deine Armbandanzeige, Longhorn«, sagte sie. »Und du, Phoebe, hältst weiter Kontakt mit der MJAILAM. Ich versuche, Atlan zu erreichen.« »Sauerstoff!« brachte Ghurtalamoon ungläubig hervor. »In
geringer Konzentration, aber vorhanden. Er muß aus der Decke gekommen sein, als das Gestein sich löste und vorübergehend eine Verbindung zu anderen Bereichen des Planetoiden vorhanden war.« Sauerstoffkammern? dachte Tyari. Und Schwerkraftfelder, die sich urplötzlich aufbauten? Wer steuerte das? Auf jeden Fall konnte es kein natürlicher Vorgang sein, und es war die letzte Bestätigung dafür, daß Atlan mit seiner Vermutung über mindestens eine Energiestation in Schwammkartoffel recht gehabt hatte. Tyari wollte nach dem Arkoniden rufen, als das geschah, was sie befürchtet hatte. Sie empfing die plötzlich viel deutlicheren Impulse im gleichen Augenblick, in dem sie das Geräusch hinter sich hörte. Sie drehte sich ganz langsam um, die Finger auf den Auslösern ihrer Waffen – und sah, wie die Stollenwand sich öffnete. Phoebes Schrei war in ihrem Helmempfänger, er tat den Ohren weh. Bricks Stimme mischte sich plötzlich hinein. Longhorn wich vor dem 35 Zentimeter dicken Kopf zurück, der sich aus dem Gestein schob. Seine Hände zitterten. Tyari schlug ihm die Strahler herunter. »Nichts unternehmen!« warnte sie. »Nicht, bevor es uns angreift.« Die drei Menschen wichen weiter zurück. Der abgeriegelte Teil des Stollens war etwa vierzig Meter lang. Ein vierzig Meter langes und fünf Meter breites Gefängnis. »Atlan, Brons, Shuisa«, sagte Tyari ins Helmmikro, fast flüsternd. »Könnt ihr mich hören? Bitte, antwortet!« Sie hoffte vergeblich. Nur einmal glaubte sie ganz kurz eine Stimme zu empfangen, die einem der drei gehören konnte und sagte: »Jetzt nicht!« Sie versuchte, nach Atlan und seinen Begleitern zu espern, doch die jetzt ungeheuer starken Impulse des Wesens, das sich aus dem Felsgestein schob, machten es unmöglich. Sie überlagerten auf psionischer Ebene alles andere.
So groß Tyaris Sorge um Atlans Schicksal war – jetzt ging es darum, die eigene Haut zu retten. Der Kopf war wie der einer großen Schlange. Aus einem handbreiten Mund züngelte eine gespaltene Zunge. Ihm folgte ohne erkennbaren Hals ein ebensodicker Schlangenkörper, grün und von mehreren schwarzen Zickzacklinien überzogen. Drei Helmscheinwerfer waren auf das Wesen gerichtet, als es zwei Meter aus dem Gestein herausragte und sich schlenkernd hin und her bewegte. Die beiden Schlangenaugen schienen dabei jeden einzelnen Raumfahrer so zu mustern, als wollten sie feststellen, wer sich am besten als erste Beute eignete. »Wir paralysieren sie«, wies Tyari ihre Begleiter an, nicht sicher, ob die vor Angst halb Gelähmten sie überhaupt hörten. »Wir warten, bis ihr ganzer Körper sich durch …« Tyari verstummte jäh, als sie die zischenden Töne hörte. Es war nicht das Zischen eines Tieres. Es waren unterschiedlich modulierte Laute. Es war eine Sprache, deren fremdartiger Klang von den arteigenen Sprechwerkzeugen des Wesens herrührte. Tyari zog Longhorn weiter in den Stollen zurück. Phoebe folgte wie eine Schlafwandlerin, den Blick wie hypnotisiert auf das Wesen gerichtet. Es schob sich weiter vor. Der Schlangenleib war jetzt schon drei Meter lang. Tyari dachte nicht mehr über Mögliches und Unmögliches nach. Sie empfing die Flut von Gedanken, die aber so fremdartig waren, daß sie auch bei dieser Intensität keinen Sinn herauslesen konnte. Doch es gab eine andere Möglichkeit: die Kleintranslatoren. Sie aktivierte ihr Gerät. Bevor sie schoß, wollte sie diesen Versuch wagen. Und tatsächlich war der Translator schon nach zehn Sekunden gesättigt genug, um erste klare verständliche Übersetzungen zu liefern. Als Tyari noch darum bemüht war, einen Sinn in den verwirrenden Worten zu erkennen, verlor Longhorn die Nerven.
Er feuerte mit beiden Waffen zugleich. Der Desintegratorstrahl schnitt tiefe Rillen in die Wand. Longhorns Hand zitterte jedoch zu sehr, um die Schlange damit zu treffen. Dafür kamen die Paralysestrahlen an ihr Ziel. Der Schlangenkörper bäumte sich auf, wand sich und zuckte. Longhorn feuerte wie besessen weiter und schrie dabei. Bevor Tyari ihn zur Vernunft bringen konnte, verschwand die Schlange so, wie sie gekommen war. Die Strahlen wirkten nicht lähmend auf sie, doch sie mußten ihr Schmerzen bereiten. Sie zog sich blitzschnell in das Gestein zurück, und hinter ihrem Kopf schloß sich die Stollenwand wieder. Tyari starrte darauf. Nichts verriet mehr, daß es eine 35 Zentimeter große Öffnung gegeben hatte. »Tyari! Longhorn! Phoebe! Bei allen Planeten, hört ihr nicht!« Das war Bricks Stimme. Tyari antwortete geistesabwesend: »Wir empfangen dich, Uster. Wir sind in einem der Stollen gefangen.« Sie berichtete knapp über das Erscheinen der Schlange und hatte am Ende einen Namen für das Wesen, das sich anscheinend durch Stein schieben konnte wie durch Sirup: Materietaucher. »Wenn es geht, schickt uns Hilfe. Wir versuchen, mit den Desintegratoren das heruntergekommene Gestein zu zerstrahlen, aber der Materietaucher ist immer noch in der Nähe.« »Verstanden, Tyari. Schon unterwegs. Kannst du etwas von Atlan empfangen?« »Nichts. Die Impulse der Schlange überlagern immer noch alles, was von weiter herkommt! Aber auch er wurde angegriffen!« »Wir schicken zwei Trupps hinaus! Haltet euch so lange!« Brick unterbrach die Verbindung. Dabei hatte Tyari ihm noch nicht sagen können, daß es in diesem Bereich des Planetoiden plötzlich eine Schwerkraft und Sauerstoff gab. Der erste Teil der unterlassenen Meldung hätte auch schon nicht mehr gegolten. Die drei Eingeschlossenen verloren den Halt, als die Gravitation
übergangslos wieder aussetzte. Tyari schwebte zur Decke, stieß sich heftig ab und preßte die Noppenstiefel gegen das Bodengestein, als sie aufkam. Sie hielten sie. Die beiden anderen drehten sich noch in einer Schräglage mitten im Gang um die eigene Achse. Tyari achtete jetzt nicht auf sie. Immer noch wachsam, ließ sie die aufgefangenen übersetzten Worte vom Speicher des Mini‐ Translators noch einmal auswerfen: »Ich … Fasto … euch nicht weh tun«, hörte sie wieder bruchstückhaft, »… werdet schnell … sterben. Ich … Nahrung, um … leben. Ihr Nahrung für … Zeit …« Longhorn schaffte es, sein Antigravaggregat so zu vektorieren, daß es ihn zu Boden sinken ließ und wie ein Schwerkraftersatz gegen die Unterfläche drückte. Umständlich kam er auf die Telepathin zu. »Es tut mir leid«, beteuerte er. »Ich wußte nicht mehr, was ich tat. Ich hätte nicht schießen dürfen, oder?« Sie blickte ihm in die dunklen Augen, dann wieder an ihm vorbei. Auch mit gefächertem Strahl erleuchteten die Helmscheinwerfer immer nur einen Teil des Ganges. Der Rest blieb finster, kalt, drohend. Wo begann sich die Wand ganz langsam und fast lautlos zu teilen? Wirklich laut waren auch die vorhin vernommenen Geräusche nicht gewesen. Wenn Tyari sie so wahrgenommen hatte, dann nur infolge ihres eigenen, alarmierten Zustands und durch das gleichzeitige Espern. In dieser dünnen Atmosphäre konnte es keine lauten Geräusche geben. Für den Translator spielte das keine Rolle. Er besaß einen selbstregulierenden Verstärker. »Den Fehler habe ich gemacht, Longhorn«, sagte Tyari. »Ich hätte nicht warten dürfen. Wir alle hätten sofort schießen sollen – und zwar scharf.« »Was hast du aus dem Translator gehört?« Sie zuckte die Schultern. »Ganz einfach gesagt, Longhorn, scheinen wir hier eingemauert
worden zu sein, um Fasto als Nahrungsreservoir zu dienen. Fasto ist das Schlangenwesen.« 4. Atlan, Thermeck und Sister Shuisa klammerten sich auf ihrer Scheibe fest, als der Arkonide sie langsam zurückgleiten ließ. Der erste Schreck war überstanden. Die Tentakel, die sich in den Gang schoben, waren immer mehr geworden und bis zu zwanzig Meter lang. Dann war ihnen ein vier Meter dicker Hauptkörper gefolgt, quallenförmig, pulsierend und aus sich heraus leuchtend. Das Monstrum war seine eigene Lichtquelle. In der Mitte des Gallertkörpers befand sich ein zwei Meter hoher, turmförmiger Aufsatz, um den in einer Spirale handbreite Augenbänder liefen. Der Turm konnte ein Stück eingefahren oder zurückgelegt werden, wenn es für das Wesen zu eng wurde. Was sich unter dem Riesenleib befand, ließ sich leicht ahnen. An seiner Seite, zwischen den Tentakelansätzen, saß so etwas wie ein durchsichtiger Sack, in dem etwas schwappte und Blasen warf. »Um Himmels willen«, entfuhr es Brons Thermeck, »das darf es nicht geben! Wie kann dieses Etwas im Vakuum existieren, Atlan? Auch wenn wir Sauerstoffreste festgestellt haben – das kann ihm nie und nimmer reichen!« Atlan zog die Scheibe weiter zurück. Der Weg zur MJAILAM war durch den Quallenleib und die Fangarme versperrt, also mußte er die Scheibe immer tiefer in den Planetoiden hineinbewegen. »Es reicht ihm anscheinend aber doch«, flüsterte Shuisa in ihr Helmmikro. »Du weißt nicht, ob es überhaupt atmet wie wir. Vielleicht ist es dem Leben im Vakuum angepaßt. Ich halte das auch für unmöglich, aber wir sehen ja, daß es lebt. Und daß es auf uns zukommt.« Das Monstrum bewegte sich dabei halb in der Luft. Es schob sich
nicht auf dem Boden vorwärts, sondern benutzte seine zwölf Arme, um sich an jedem sich bietenden Vorsprung festzuklammern und sich so von Halt zu Halt weiterzutasten. »Wir paralysieren es und bringen es auf der Scheibe zur MJAILAM«, sagte Atlan. »Dieses Wesen muß jenes sein, das die Ausgänge an der Oberfläche versperrt, in erster Linie unseren Schacht. Wenn wir es außer Gefecht setzen können, dürften wir wenigstens von dieser Seite aus Ruhe haben.« Doch dann zögerte er. Etwas war zu hören, ein seltsamer Laut, der auf‐ und abschwoll und in seltsamem Einklang mit den Bewegungen des Wesens zu stehen schien. Atlan warf noch einmal einen Blick auf die Sauerstoffdetektoren. Der Luftgehalt im Stollen konnte theoretisch für den Schalltransport ausreichen – wenn auch nur in geringem Umfang. Dann verharrte das Etwas in seiner Bewegung. Die Tentakel, die nicht zum Festhalten dienten, rollten sich ein. Ihre graublaue Haut verfärbte sich schnell, bis sie in einem hellen Smaragdgrün leuchtete. Winzige Pünktchen glitzerten darin wie Gold. Ist das seine Atmung? dachte der Arkonide, gegen seinen Willen von diesem unglaublichen Leben fasziniert. Ernährt es sich von Licht? Und von den Mineralien des Planetoiden? Findet in ihm eine phantastische Form der Photosynthese statt? Er hatte das nicht zu Ende gedacht, als der Angriff erfolgte. Die Fangarme spannten sich. Atlans Translator lief, als das Wesen wieder die unheimlichen Laute von sich gab – und sich auf die Antigravscheibe zuschnellte. Es kam so schnell heran, daß Sister Shuisa sich nicht mehr rechtzeitig flach auf das Metall drücken konnte. Der Alptraum aus Kugelleib, Kopfturm und Fleischtentakeln schoß über die Entsetzten hinweg und riß die Solanerin mit sich. Atlan hielt sich mit der linken Hand fest, warf sich auf der Scheibe herum und feuerte mit der rechten. Seine Schüsse zerschnitten nur
Stein. Was der Arkonide dort noch zu sehen geglaubt hatte, waren lediglich noch die Schatten gewesen, die im Eigenlicht des Quallenkörpers von den Tentakeln geworfen worden waren. Shuisas Schreie erstarben abrupt. »Das Ding hat sie umgebracht!« rief Thermeck entsetzt. »Wir müssen ihm nach!« Er schien über seinen eigenen Vorschlag zu erschrecken. »Oder nicht?« fügte er leiser hinzu. Es knackte in Atlans Helmempfänger. Er hörte Tyaris Stimme, wie sie nach ihm und seinen Begleitern rief. Natürlich esperte sie, was er dachte und sah. Er sagte nur: »Jetzt nicht!« Und dann zu Thermeck: »Festhalten, Brons! Shuisa kann noch leben!« Er ließ die Scheibe um die Gangbiegungen gleiten, immer weiter ins Unbekannte hinein, bis er in eine Höhle gelangte, aus der ein halbes Dutzend anderer Gänge hinausführten. Nirgendwo gab es eine Spur des Monstrums. »Es hat so keinen Sinn«, sagte Thermeck. »Wenn wir sechs Mann wären, könnten wir uns teilen, und jeder nähme sich einen der Stollen vor. Wir müssen Hilfe von der MJAILAM holen, Atlan.« Der Arkonide zögerte noch. Er sah sich genauer um. An den Wänden schimmerten die schon vertrauten Flechten, nur waren sie hier dicker als anderswo. Der Sauerstoffgehalt war ebenfalls viel höher als in den bisher durchquerten Teilen des Planetoiden. Atlan ließ die Scheibe über eine Mulde schweben, deren Grund von den Scheinwerfern noch nicht ausgeleuchtet worden war – und glaubte, nicht richtig zu; sehen. In der vier mal zwei Meter großen Felsenvertiefung wuchsen Pilze! Atlan ließ sich von der Antigravscheibe gleiten und bewegte sich mit Hilfe des Rückenaggregats. Hatte er beim ersten Hinsehen noch an bizarr geformte Steinstrukturen gedacht, so waren alle Zweifel beseitigt, als er eines der Pilzgewächse abbrach und aufhob. Sie besaßen eine feste Hülle wie Korallen, einen durchschnittlich zwanzig Zentimeter hohen und zehn Zentimeter dicken Stiel und
einen breiten Lamellenhut. Atlan scharrte im Boden der Mulde und konnte die Finger bis zum Ende in nachgiebigen Grund stoßen. Er fand das Pilzgeflecht, das sich unter dieser dünnen Schicht farblos und in dichten Fadensträngen ausbreitete und in winzige Felsspalten hineinwuchs. Es war ein Beet! Er filmte den Fund mit der Mikrokamera in seinem Helm. Thermeck ließ die Scheibe fast bis auf den Boden sinken. »Es ist nicht zu fassen«, flüsterte er. »Da sind halbverfaulte Stummeln von Stielen. Jemand erntet die Pilze ab, Atlan!« Und an einer anderen Stelle waren Gewächse mit dem Geflecht teilweise aus der Mulde gerissen oder zermalmt, als ob hier ein Kampf stattgefunden hätte. Die Verwüstungen waren nicht frisch. Wer also hatte sich hier gestritten? Atlan schwang sich neben Thermeck zurück auf die Scheibe und wurde sich erst jetzt der Rufe aus der MJAILAM bewußt. Was er von Brick zu hören bekam, ließ ihn auf der Stelle zum Schiff umkehren. Während es um eine Biegung nach der anderen ging, ließ Atlan den Translator die Aufzeichnung von den Lauten des Wesens und der ersten bruchstückhaften Übersetzung abfahren: »… doch näher zu Donku«, hörten er und Thermeck, »kommt näher, wie … sonst spielen? Wollt, daß … mit … spielt? Donku … zu euch!« Atlan hatte in seinem jahrtausendelangen Leben viel gesehen, gehört und mitgemacht. Doch das grenzte nun wirklich an Wahnsinn. Der von Brick angekündigte Trupp tauchte im Stollen auf, als Atlan und Thermeck schon zwei Drittel des Weges zurückgelegt hatten. Die zehn Solaner in Raumanzügen waren bereits informiert und drangen in Richtung der Höhle vor. Thermeck löste sich von der Scheibe und schloß sich ihnen an. Weshalb? fragte sich Atlan. Will er den Helden spielen? Glaubt er,
wenn er schon keine Hoffnung auf eine Rückkehr zur SOL hat, so seinem Leben noch einen Sinn geben zu können? Er hatte keine Zeit für solche Gedanken. Er erreichte die MJAILAM und schleuste sich ein. Minuten später stand er in der Zentrale und erhielt nicht nur die Hiobsbotschaft, daß Tyari, Longhorn und Phoebe inzwischen eingeschlossen seien und einem Wesen, das sich selbst Fasto nannte, offenbar als Nahrungsreserve dienen sollten. Der dorthin entsandte Trupp war schon dabei, die Felssperren zu zerstrahlen. Ebenso niederschmetternd war die Nachricht, daß die Orter einige Male ganz kurz eine Energieentfaltung angemessen hatten, und daß sich zur gleichen Zeit Ausgänge an der Oberfläche von Schwammkartoffel geschlossen hatten. Eine Sonde hatte zwei zylinderförmige Roboter dabei beobachten können, wie sie mit Hilfe von Antischwerkraft riesige Felsbrocken in die Stollen geschoben und dort verankert hatten. Andere Felsmassen fielen in den Hohlraum herunter auf die MJAILAM. Der Schacht über der MJAILAM besaß nur noch eine lichte Weite von knapp 25 Metern. »Und um das Maß voll zu machen«, sagte Brick, »ist unser Gegner inzwischen auch auf der Oberfläche des Planetoiden aktiv geworden. Eine Spionsonde, die wir hinaufgeschickt haben, hat uns Bilder von Maschinen übertragen, die die kleineren Löcher mit einer Betonmasse verstopfen. Willst du sie sehen?« Es waren zehn Meter große Metallungetüme mit vielen Stacheln und Projektoren, Antennen und Fortbewegungssystemen. Atlan sah kaum, was die Roboter taten, er sah nur ihre Form. Sie glichen fast bis ins kleinste Detail jenen Weltraumzecken, die die FARTULOON nach dem Entkommen aus der Namenlosen Zone vor knapp sechs Wochen so in Bedrängnis gebracht hatten. »Dann haben wir es hier mit mehreren Gegnern zu tun«, sagte der Arkonide leise. »Einmal mit zwei Wesen, die sich Fasto und Donku nennen und dem Leben im Vakuum oder in sehr dünner Sauerstoffatmosphäre angepaßt sind. Das ist schon schlimm genug.
Auch sie versperren uns den Weg zurück in den freien Raum, aber tatsächlich nach der Art von Tieren, die eine Beute nicht mehr davonkommen lassen wollen.« Er holte tief Luft. »Uster, der andere Gegner ist der üblere. Die Übereinstimmung der Formen dieser Roboter und der Weltraumzecken kann nie und nimmer Zufall sein – ebensowenig wie das Auftauchen Schwammkartoffels in der Abtreibebahn der MJAILAM. Der wirkliche Gegner sitzt in einer verborgenen Zentrale, die gegen Entdeckungen von hier aus geschützt ist. Die Roboter werden von irgendwoher gesteuert, und dieser Ort liegt im Planetoiden. Und wer sie steuert, hat mit jener Macht zu tun, die auch die Grenz Wächter mißbrauchte und den Junk‐Nabel manipulierte. Ihn müssen wir finden, wenn wir jemals wieder freikommen wollen.« Die schnell von Hellmut gegebenen Berichte über die Fortschritte der Instandsetzungsarbeiten in der MJAI‐B und der MJAILAM selbst waren in diesem Moment wie ein bitterer Hohn auf das, was sich nun langsam herauskristallisierte. Der unbekannte Gegner im Hintergrund schien die MJAILAM regelrecht zuschütten zu wollen. Mit den Prallschirmen würden sie sich davor schützen können, zermalmt zu werden. Doch damit konnte sie keine Schale von kilometerdickem Gestein um sich herum aufsprengen. »Die kurz angemessenen Energieentfaltungen kamen nicht von den Robotern her«, sagte Brick. »Wir konnten die Quelle einigermaßen gut lokalisieren. Hier.« Auf einem Bildschirm erschien ein von der Positronik aufgrund der Sondenmessungen erstelltes Rasterbild des Kleinplanetoiden. Ein roter Punkt bezeichnete die Energiequelle. Atlan nickte grimmig. »Wir versuchen, dorthin vorzustoßen, Uster, sobald Tyari und ihre Begleiter frei sind. Inzwischen setzt ihr alles daran, den Weg für die MJAI‐B freizuhalten. Trupps müssen in den Schacht und jeden Zylinderroboter ausschalten, der sich blicken läßt.« Brick schüttelte den Kopf. Atlan runzelte die Stirn.
»Uster?« Der Pilot breitete die Arme aus. »Atlan, du machst dir keine Vorstellung von der Verfassung unserer Besatzung. Die beiden Trupps, die ich nach dir und Tyari schickte, konnten wir nur mit Mühe noch zusammenstellen. Sie waren sozusagen das letzte Aufgebot – die letzten, die sich noch dazu breitschlagen ließen, überhaupt etwas zu tun. Alle anderen sind, mit Ausnahme der an der Instandsetzung arbeitenden Spezialisten, apathisch oder in Panik. Hage und Blödel hetzen von einem Fall zum anderen. Es ist ein Wunder, daß sich nicht wieder Verrückte zusammengeschlossen haben, um die Zentrale zu stürmen.« »Menschen, die vor Angst nicht mehr aus noch ein wissen, sind keine Verrückten«, sagte Atlan tadelnd. »Nimm nicht alles so wörtlich. Ich sage nur, wie es ist. Wir haben noch zwanzig Mann, die kämpfen wollen – und zehn von ihnen sind vielleicht jetzt in größter Gefahr.« Elf, wenn man Thermeck mitrechnete. »Ich gehe und versuche, Tyari herauszuhauen«, sagte der Arkonide. »Danach …« Es war nicht mehr nötig. Atlan wurde durch den Funkanruf unterbrochen, der die Befreiung der drei Eingeschlossenen bekanntgab. Tyari, Phoebe und Longhorn waren auf dem Weg zurück in die MJAILAM. Eine halbe Stunde später stiegen der Arkonide und die Telepathin erneut aus, begleitet von Thermeck und den zehn Solanern des Suchtrupps. Sie hatten Shuisas Leichnam in einem der vielen Stollen gefunden, doch keine Spur mehr von Donku. Phoebe schloß sich ihnen an, als sie in der Schleuse standen. Die Männer und Frauen, die Tyaris Gruppe befreit hatten, wollten die Sicherung des Schachtes übernehmen, der mittlerweile nur noch zwanzig Meter breit war. Noch weitere fünf Meter weniger, und die MJAI‐B würde kaum
noch aus Schwammkartoffel ausbrechen können. * Donku steckte mit eingerollten Tentakelarmen in einer Felsennische und wußte nicht, was er jetzt denken sollte. Er war halbintelligent und kannte keine weiterführenden Gedanken. Er lebte nur nach seinen Gefühlen und Instinkten. Und diese Gefühle waren nicht in Ordnung. Eines der Spielzeuge war einfach kaputtgegangen. Es lebte nicht mehr. Donku hatte beobachtet, wie die anderen Spielzeuge es fanden und abholten. Seltsamerweise sprachen sie nicht, obwohl sie hinter den durchsichtigen Hautstellen ganz oben auf ihren furchtbar dünnen Körpern kleine Münder hatten. Donku hielt die Schlitze jedenfalls für Münder. Er hatte doch nur spielen wollen. Er hatte so lange gewartet, und immer war nur Fasto dagewesen, dessen Spiele aber nicht sehr schön waren. Fasto war immer nur darauf aus, Donku den Organsack zwischen den Armen wegzureißen, in dem die halbverdaute Nahrung schwamm – Flechten und die Pilze. Das haßte Donku! Fasto verstand die Spiele anders als er. Fasto war gierig und konnte nie genug zu fressen kriegen. Darum bekämpften sie sich. Donku sah es immer noch als ein besonders böses Spiel an, in dem es um Gewinnen und um Verlieren ging. Und er wußte, daß Fasto ihn auch umbringen würde, wenn er nur einmal die Gelegenheit dazu bekam. Donku gab sie ihm nicht. Auch wenn Fasto die Fähigkeit besaß, durch den Stein zu schwimmen, so war Donku ihm doch kräftemäßig überlegen.
Fasto konnte keine Nahrung speichern und vor allem nicht durch sein eigenes Licht oder das der fernen Sterne eigene Kräfte aufbauen. Natürlich gab es kein Sternenlicht, wie Donku es vor langer Zeit einmal gesehen hatte. Hier, in diesem Universum, gab es nur Sterne, die von Barrieren umgeben waren, welche alles Licht verschluckten. Aber die unsichtbare Strahlung reichte Donku vollauf. Er saß manchmal für Ewigkeiten auf der Oberfläche der Stollenwelt und ließ sie auf sich wirken. Wenn er genug gespeichert hatte, kehrte er in seine Gänge und Höhlen zurück und nahm mit den Saugstellen seiner Tentakel Stoffe aus dem Gestein auf, die zusammen mit dem gespeicherten Licht und dem wenigen noch vorhandenem Atembaren das in Gang setzten, was ihm immer wieder neue Kraft spendete. Vor langer, langer Zeit einmal war das wohl anders gewesen. Donku hatte manchmal Bilder vor Augen, die ihm andere Donkus zeigten, und sie lebten nicht in finsteren Stollen und Hohlräumen. Sie leuchteten nicht, und sie ernährten sich ähnlich wie Fasto. Sie mußten ganz anders gewesen sein, auch wenn sie so aussahen wie der Verspielte. Der Verspielte – so wurde Donku von Fasto genannt. Fasto meinte, daß Donku nur Unsinn im Kopf habe. Er sprach verächtlich davon. Donku habe nichts anderes zu tun, als immer nur Schabernack zu treiben, das sei sein ganzer Lebenssinn. Aber was sollte er hier denn sonst tun? Donku nannte Fasto dafür den Hungrigen, weil er immer ans Fressen dachte. Fasto ließ die Pilze wachsen, die Donku manchmal ausriß, nur um Fasto einen Streich zu spielen. Dann ärgerte dieser sich fast zu Tode, und Donku hatte seinen Spaß daran, wenn der Hungrige tobte und ihm bittere Rache schwor. Manchmal kam es vor, daß etwas mit der Stollenwelt geschah, was beide Bewohner nicht verstanden – selbst Fasto nicht, der schlauer und neugieriger war als der Verspielte. Dann wurde Donku
plötzlich schwer und fest an den Boden gedrückt. Oder das Atembare war auf einmal viel dichter als vorher. Aber das änderte sich schnell wieder. Einmal hatte Fasto gesagt, es müßte noch einen Bewohner geben, der sich dauernd versteckt hielt. Jetzt jedoch waren andere gekommen. Doch warum bewegten sie sich so umständlich und so scheu? Warum hatten sie Angst vor Donku? Natürlich, soviel verstand er auch, daß sie vor Fasto Furcht bekommen mußten, weil Fasto sie schon als Nahrung in seinem Magen sah. Donku und Fasto hatten sich gerade wieder einmal hart bekämpft, als die große Kugel in die Stollenwelt fiel. Das war gewesen, nachdem der Verspielte wieder einmal ein Pilzbeet verwüstet hatte. Die beiden Bewohner sprachen die gleiche Sprache, wenn sie sich in solchen Bereichen begegneten, in denen Atembares vorhanden war. Sie brauchten nicht zu atmen, doch sie suchten diese Zonen, um miteinander zu reden und sich zu beschimpfen. Auch das mußte früher anders gewesen sein. Da hatten sie geatmet und verschiedene Sprachen gekannt. Aber wie lange schon lebten sie allein hier und konnten sich aneinander gewöhnen! Jetzt waren sie nicht mehr allein. Sollte Fasto versuchen, die Spielzeuge zu fangen und zu fressen. Es waren so viele von ihnen da, daß Donku immer noch genug für seine Scherze blieben. Er hatte schon einige Ausgänge an der Oberfläche mit Felsen versperrt, um die Spielzeuge nicht wieder fortgehen zu lassen. Auch Fasto hatte das getan. Und jetzt geschahen wieder diese seltsamen Dinge. Ausgänge wurden zugeschüttet, ohne daß Donku oder Fasto dafür verantwortlich gewesen wären. Donku schob sich aus der Nische und zog sich an den Vorsprüngen der Stollenwände vorsichtig wieder in die Richtung der großen Höhle, in der die Kugel lag. Warum war das Spielzeug gestorben? Was hatte er falsch gemacht?
Donku nahm sich vor, jetzt etwas behutsamer mit diesen zerbrechlichen Spielzeugwesen umzugehen. Er hatte den Hohlraum fast erreicht, als sich Fastos Kopf aus einer Wand schob. Hier gab es gerade genug Atembares, um zu sprechen. »Ich habe beobachtet, wie die kleinen Wesen jenes abgeholt haben, das du beim Spielen getötet hast, Donku«, sagte der Hungrige. »Ich mache dir einen Vorschlag. Du kannst mit ihnen so lange spielen, bis sie sterben. Danach sind sie für dich wertlos, und du überläßt sie mir.« Donku zögerte. Mit der Hälfte seiner Tentakel hielt er sich an Felsvorsprüngen fest, mit der anderen bereitete er sich darauf vor, einen Angriff des Hungrigen abzuwehren. Fasto war zwar schlauer als er, aber ganz dumm war Donku auch nicht. Wenn Fasto so sprach, dann hatte er Hintergedanken. »Warum sollte ich dir dein Fressen besorgen?« fragte der Verspielte. »Überlege doch. Wenn jeder von uns Jagd auf die Wesen macht, bekommt jeder auch höchstens die Hälfte. Außerdem bewegt sich die Stollenwelt. Ich habe andere Wesen gesehen, die nicht so leben wie wir und die Ankömmlinge. Sie sind fast wie aus Stein, aber doch anders. Sie glänzen und haben Lichter. Willst du, daß sie uns die Beute wegschnappen, Donku?« »Nein!« »Dann tu dich mit mir zusammen.« Das klang verlockend. Im Grunde fand Donku es gar nicht schlimm, ein Spielzeugwesen kaputtzumachen. Er, der den Tod nicht kannte, wußte auch nicht, was er für andere bedeuten konnte. Doch Fasto war hinterhältig! »Du hast Angst vor ihnen«, sagte Donku ihm auf den Kopf zu. »Angst? Ich soll vor jemandem Angst haben?« »Dann kannst du dir deine Nahrung ja auch selbst holen.« Donku wollte sich weiterbewegen. Fasto schob sich quer durch den Gang und versperrte ihm mit seinem langen Körper den Weg.
»Also gut, Donku, ich will ehrlich sein. Die Wesen können mir Schmerzen zufügen, wenn sie einen ihrer Arme auf mich richten. Ich kann sie zwar ertragen, aber sie stören mich dennoch.« Wenn er das schon zugab, meinte er, daß die Schmerzen so groß waren, um ihn am Einfangen der Spielzeuge zu hindern. »Paß auf, Verspielter«, fügte Fasto noch schnell hinzu, als Donku sich unter ihm durchwinden wollte. »Ich bringe die Gänge zum Einsturz, in denen sich Wesen befinden. Du brauchst nur in der Nähe zu sein. Wenn sie nicht zu ihrer Kugel zurückkönnen, hast du sie als Spielzeuge ganz für dich. Und wenn du genug gespielt hast, komme ich und hole sie mir.« Donku dachte nach. Schließlich willigte er ein – doch nur, um seine Ruhe vor dem Plagegeist zu haben. Einen Versuch wollte er wagen. Wenn Fasto sein Wort dann nicht hielt, konnte er sich immer noch seine Spielzeuge aus der Kugel holen. »Das ist klug von dir«, sagte der Hungrige. »Einige Wesen sind schon wieder unterwegs. Sie gehören bald uns.« * Atlan verzichtete diesmal auf Antigravscheiben. Er und seine dreizehn Begleiter bewegten sich mit Hilfe der Gravoaggregate durch die Stollen oder marschierten, wenn der Boden es zuließ. Als sie die beiden Stimmen hörten, die durch die Helmmikros verstärkt wurden, blieben sie stehen. Sie konnten das ganze Gespräch zwischen Donku und Fasto belauschen. Die Translatoren übersetzten nun einwandfrei, und so wußten die Raumfahrer bald mit Gewißheit, daß das Quallenwesen und der Materietaucher in keiner direkten Verbindung mit den Robotern und ihrer Zentrale standen. Es mochte sein, daß die Zentrale sie gewähren ließ, weil sie mit ihren Aktionen gegen die MJAILAM ihre eigenen Ziele unterstützten.
Tyari schüttelte den Kopf. »Es ist so unglaublich. Nicht nur, daß sie in diesem Felsbrocken leben und sogar Nahrung finden, sie sprechen sogar miteinander. Sie unterhalten sich in der gleichen Sprache, obgleich sie grundverschieden voneinander sind. Wie viele Jahrtausende mögen sie hier schon zugebracht haben? Und wie kamen sie hierher?« Es war nicht auszuschließen, daß Donku und Fasto sogar von den unbekannten Lenkern des Planetoiden hier angesiedelt worden waren. Oder der Brocken war tatsächlich ein Überrest eines Planeten, der vor Jahrzehntausenden explodiert war. »Es ist im Augenblick unwichtig für uns«, sagte der Arkonide. »Wir wissen, woran wir mit ihnen sind. Fasto verträgt die Paralysestrahlen nicht und wird nicht direkt angreifen. Donku scheint weniger aggressiv als vielmehr verspielt zu sein. Er wollte Shuisa also nicht töten.« »Aber er hat es getan!« rief Sister Phoebe heftig. »Ob er es wollte oder nicht, das ist mir gleich. Sobald ich ihn vor den Lauf bekomme, werde ich meine Schwester rächen. Das schwöre ich, und niemand soll versuchen, mich daran zu hindern!« »Wir verstehen dich ja, Phoebe«, sagte Tyari sanft. »Aber Donkus Tod macht Shuisa nicht wieder lebendig. Vielleicht können wir ihn paralysieren und zu einer beiderseitigen Verständigung kommen. Möglicherweise hat er Beobachtungen gemacht, die uns weiterhelfen, was die Robotzentrale angeht. Ich halte euch jedenfalls auf dem Laufenden über seine und Fastos Bewegungen. Inzwischen kann ich sie schon viel besser lokalisieren. Sie sind irgendwo vor uns, aber nicht direkt in dem Stollen, den wir nehmen müssen.« Atlan winkte. Die Gruppe bewegte sich weiter auf die angepeilte Energiequelle zu. Es war ein Irrweg durch das Labyrinth von vielen Verzweigungen, toten Gängen und steil aufwärts und in die Tiefe führenden Schächten. Einmal herrschte plötzlich eine künstliche Schwerkraft, um im nächsten Moment wieder zu erlöschen. Der Sinn dieser Phänomene war nicht erkennbar.
So kamen die Menschen nur langsam voran. Immer wieder nahm Atlan Kontakt mit der MJAILAM auf und ließ sich über die Aktivitäten der Roboter in und auf Schwammkartoffel informieren. Noch konnte der große Schacht über dem Schiff freigehalten werden, doch immer mehr Zylinderroboter sammelten sich in seinen Nebenstollen. Außerdem kehrten einige der Zeckenrobots in den Planetoiden zurück. Eine kleine Streitmacht schien sich zu sammeln, um auf ein Kommando gemeinsam gegen die Solaner vorzugehen. Brick berichtete von immer mehr Fällen von Verfolgungswahn und Nervenzusammenbrüchen auch unter den Instandsetzungsmannschaften. Nockemann und Blödel waren jetzt hoffnungslos überfordert. Der Zeitpunkt war abzusehen, an dem die MJAILAM nach innen und außen verteidigt werden mußte. Ohne wirksame Waffen! dachte der Arkonide. Der Trupp kam an Pilzbeeten vorbei und sah Flechtenkulturen, die schon wieder den Nährboden für andere, bizarr geformte Gewächse bildeten. An einigen Stellen waren die Wände regelrecht aufgebauscht. Narben in dem Bewuchs zeugten davon, daß Fasto sich hier Nahrung holte. Die Pilze erreichten Höhen von einem halben Meter. »Ich frage mich, ob diese Schwämme durch natürliche Mutation entstanden oder Produkt einer gezielten genetischen Manipulation sind«, kam es von Thermeck, als man wieder vor einem Beet stand, größer als alle bisher gesehenen. Atlan ließ sich von Brick sagen, wie nahe sie der Energiequelle inzwischen gekommen waren. Abermals mußte kehrtgemacht werden, denn ein Stollen endete vor einer Wand. Es ging zurück zur nächsten Abzweigung, dann durch einen senkrechten Schacht in die Höhe, danach wieder nach unten. Einige der Solaner zeigten immer größere Unsicherheiten. Dann teilte Brick mit, daß die Energiequelle jetzt fast erreicht war. Es schien den Leuten noch einmal Auftrieb zu geben. Tyari
versuchte, sie zusätzlich dadurch zu beruhigen, daß sie versicherte, Donku und Fasto hätten sich weiter entfernt. Es waren nicht nur die unheimlichen Wesen, die dafür sorgten, daß die Nerven der Männer und Frauen zum Zerreißen gespannt waren. Es war der ganze Planetoid, das Wissen um den Feind im Dunkeln. Atlan spürte diese Beklemmung selbst. Um so froher war er, als er die Höhle betrat. Er sah im ersten Augenblick, daß sie anders war als die anderen. Hier wuchs nichts, es gab kein fluoreszierendes Leuchten der Wände. »Ihr seid jetzt ganz nahe«, meldete Brick. »Es können nur noch Meter zwischen euch und der Quelle sein.« Tyari hob einen Arm und deutete nur auf eine quadratische Fläche in der Wand, die dem Eingang genau gegenüberlag. Sie war vollkommen glatt und groß genug, um ein Auslaßtor für die Zylinderroboter sein zu können. »Wir versuchen, die Wand zu desintegrieren«, sagte der Arkonide. »Wir schießen alle auf die Mitte.« Die grünen Strahlen waren gefächert und fraßen sich mühelos in das Gestein. Atlan war erleichtert, überrascht und gespannt zugleich. Er hatte nach den Schwierigkeiten, die erwartete Station überhaupt zu finden, mit mehr Widerstand gerechnet. Ein Loch entstand und verbreitete sich, bis es groß genug für einen Menschen war. Atlan ließ das Feuer einstellen. Hinter der Öffnung war es stockdunkel. »Ich gehe zuerst allein«, sagte der Arkonide. »Ihr kommt nach, wenn ich mich umgesehen habe.« »Das gilt doch wohl nicht für mich«, protestierte Tyari. Sie kletterte durch die Öffnung, ehe Atlan es verhindern konnte. Als er sich ebenfalls hindurchgeschoben hatte, sah er sie im Scheinwerferlicht in einem rund dreißig Meter großen und ebenso hohen Hohlraum stehen. Sie drehte ihm die Seite zu. Ihre Augen waren weit aufgerissen.
Dann sah Atlan es selbst. Das Ding stand in der Mitte des Gewölbes und glich haargenau den auf der Oberfläche arbeitenden Robotern und damit den Weltraumzecken. Allerdings war dieses Objekt fast zwanzig Meter lang und entsprechend breit und hoch. Atlan hatte die Waffe schußbereit. Der Lichtkegel des Helmscheinwerfers wanderte über die bläulich schimmernde Metallhülle und die Extremitäten, von denen sich nur ahnen ließ, was sie darstellten. »Es ist doppelt so groß wie die Zeckenroboter, die uns zuschütten wollen, Atlan«, flüsterte Tyari. »Aber was ist es? Ihr Befehlegeber? Lenkt es sie?« Atlan sah, daß in die Wände des Raumes Instrumentenbänke eingelassen waren, doch nirgendwo leuchteten Lichter. Alles war so still wie der ganze Planetoid. Es war irgendwie widersinnig. Hier lag etwas, das eine Funktion haben mußte – desaktiviert? Schlummerte es nur und wartete auch seinerseits auf Befehle? War dies dann doch noch nicht die eigentliche Zentrale? »Vielleicht dient dieses Ding als Relais für Impulse, die von außerhalb Schwammkartoffels kommen«, vermutete er. »Dann müssen wir es ebenfalls ausschalten.« Tyaris Stimme war unsicher. »Atlan, ich habe Angst. Es ist, als könnte hier jeden Moment eine unheimliche Macht zum Leben erwachen.« Er spürte es auch, und noch bevor er eine Entscheidung treffen konnte, geschah das Befürchtete. Plötzlich erfüllte ein Summen den Hohlraum, das von überallher zu kommen schien. Kleine Lichter flammten zuerst in den Schaltbänken auf, dann überall in der Hülle des robotischen Monstrums – falls es überhaupt ein Roboter war. »Es bewegt sich, Atlan!« schrie Tyari. Sie schoß. Bricks Stimme drang aufgeregt aus den Helmempfängern. Atlan verstand nur etwas von geheimnisvollen Funkbefehlen und daß er sich mit seinem Trupp schnellstens zurückziehen sollte.
Doch dazu war es zu spät. Die ganze Riesenkammer war von einer Sekunde auf die andere in gleißend helles Licht getaucht. Brons Thermeck drang mit Phoebe und sieben Solanern in den Hohlraum ein. Sie aktivierten ihre Körperschutzschirme. Atlan und Tyari holten das Versäumte nach. Die Energieschüsse der Telepathin fuhren in eine Schutzglocke, die sich ebenfalls in Sekundenbruchteilen um die Riesenzecke herum aufgebaut hatte. Das Objekt schimmerte darin in allen Farben, schwebte zwei Meter in die Höhe und griff an. Stachelprojektoren richteten sich auf die Solaner, deren IV‐Schirme dem ersten Energieschwall gerade noch standhielten. Instrumente wurden getroffen, als ein regelrechtes Netz aus Strahlen das Vakuum durchschnitt. Fels verwandelte sich in flüssige Glut, Stichflammen schossen in das plötzliche Chaos hinein. »Zurück!« schrie Atlan den Solanern zu. »Mit unseren Handfeuerwaffen haben wir keine Chance! Es ist uns haushoch überlegen!« Niemand hörte ihn. In den Helmempfängern krachte und knisterte es ohrenbetäubend. Die Zecke schoß zum zweitenmal. Vier Solaner versuchten mit Punktfeuer und Impulsstrahlern, die Schutzglocke zu durchschlagen. Zwei von ihnen starben, als ein Rohr an der Unterseite der Zecke sich auf sie richtete und fingerdicke Energiebahnen auf sie zujagte, die ihre IV‐Schirme zusammenbrechen ließen. »Raus!« Atlan riß Tyari an sich und winkte verzweifelt den anderen. Jeder versuchte, seine eigene Haut zu retten, indem er blind feuerte oder sich in die Wandöffnung warf. Sie behinderten sich gegenseitig. Atlan wußte, daß der nächste Angriff der Zecke das Ende für sie alle bedeuten würde und sah nur noch eine letzte Möglichkeit, die Katastrophe abzuwenden. Er zerstrahlte so viele Schaltbänke wie möglich. In den aus den Wänden quellenden Dämpfen war die Riesenzecke für Augenblicke
nur noch als ein irritierendes Lichtergesprenkel zu sehen. Dann drehte das Monstrum sich halb um die eigene Achse. Ein breit gefächerter Desintegratorstrahl fraß sich in die Gewölbedecke und schuf innerhalb von Sekunden eine runde Öffnung von gut zwanzig Metern Durchmesser. Der Rauch zog nach oben ab – und zwar mit dem Metallungetüm in einen Schacht hinein, der nicht von dem Desintegrator gefressen worden war. Die Decke der Kammer war dünn und nur dazu da, den nach oben führenden Schacht zu tarnen. Die Riesenzecke verschwand darin. Nur ihre Lichter, von den ebenen Schachtwänden zurückgeworfen, zeigten noch an, daß sie da war und weiterstieg. Das Knistern in den Helmempfängern wurde schwächer. Die Explosionen in den Schaltbänken hörten auf. Atlan sah nur noch Tyari, Thermeck und Phoebe bei sich. Die anderen fünf Überlebenden des so kurzen und heftigen Kampfes waren durch die Wandöffnung verschwunden. Plötzlich schrie die Telepathin auf. Eben noch wie Atlan ganz im Bann des unheimlichen Geschehens, kam Leben in sie. Sie riß am Ärmel des Arkoniden. »Atlan, wir dürfen uns nicht weiter um das Ding kümmern! Donku und Fasto! Ich hatte sie für Augenblicke völlig vergessen. Jetzt sind sie im Gang und … und Fasto greift an!« Atlan ahnte, daß er, wenn er diesen Raum jetzt verließ, ihn kein zweites Mal würde betreten können. Nicht alle Bänke waren zerstört worden. In ihnen mochten sich Informationen über den Gegner finden lassen. Von ihnen konnte das Leben aller Gestrandeten abhängen. »Das darfst du nicht denken!« appellierte Tyari an ihn. »Im Augenblick geht es um die Leben von einigen Menschen, denen wir vielleicht noch helfen können!« Sie konnten es nicht mehr. Atlan brachte die Gefährten in den Stollen zurück, der zu dem
Gewölbe und der davor liegenden kleinen Höhle führte. Als er sich an einem Vorsprung festhielt, spürte er die Erschütterung, die durch den Fels ging. Zu hören war nichts, hier gab es keine Sauerstoffreste. Tyari, Thermeck, Phoebe und zwei der geflüchteten Solaner waren bei ihm. Drei weitere fanden sie, als sie den Berg aus herabgekommenen Steinen sahen. Die Frau und die beiden Männer waren nicht mehr sie selbst. In ihrer Panik schossen sie wild um sich, und nur wie ein Wunder töteten sie sich dabei nicht gegenseitig. Atlan paralysierte sie. Für die Menschen, die unter der von Fasto ausgelösten Steinlawine ums Leben gekommen waren, konnte er nichts mehr tun. Tyari klammerte sich an Atlan und schloß die Augen. »Das ist furchtbar«, flüsterte sie. »Wir waren vierzehn, jetzt sind wir nur noch neun. Sollen die drei, die uns nicht in die Kammer folgten, dort begraben worden sein?« »Wo sind die Ungeheuer?« schrie Sister Phoebe. »Verdammt, zeigt euch! Kommt her, ihr feigen Mörder!« Sie begann, wahllos in die Wände zu schießen. Thermeck ließ sich von ihrer Hysterie anstecken, dann auch die beiden anderen Solaner. Sie schwebten haltlos im Gang, als ihre Noppenstiefel sich vom Untergrund lösten. »Wir müssen sie alle lähmen«, sagte Atlan. Noch während er sprach, bildete sich vor ihm aus dem Nichts heraus ein hominides Wesen, gerade ein Meter zwanzig groß, überschlank und mit gelbweißer Haut. Über dem ausdruckslosen, unscheinbaren Kindergesicht bedeckten kurze blonde Haare den Schädel. Das Wesen trug keinen Schutzanzug, sondern nur eine einteilige Kombination, die sich eng an den Körper anschmiegte und bis auf wenige Stellen durchsichtig war. Parzelle! durchfuhr es Atlan. Der Arkonide stand wie gelähmt da. Das unerwartete Auftauchen Parzelles, der sich selbst »der Unscheinbare« nannte und nicht viel
mehr zu wissen gegeben hatte, als daß er »im Auftrag Termentiers« handelte, berührte ihn tiefer als die Entdeckung in der Höhlenkammer. Die Rasenden beruhigten sich schlagartig. Wer stand, drehte sich ungläubig um. Die Schwebenden fanden einen Halt und kehrten mit zitternden Gliedern zum Boden zurück, als wirkte eine Magie auf sie. Hier im Vakuum gab es keine Möglichkeit, den Rätselhaften anzusprechen. Atlan machte einen Schritt auf ihn zu und versuchte, sich ihm durch Zeichen verständlich zu machen. Parzelle drehte sich einmal um sich selbst, und der Arkonide glaubte, er würde die Wände und alles andere regelrecht röntgen, was in sein Sichtfeld kam. Auf jeden Fall prägte er sich jede Einzelheit haargenau ein. Dann nickte er, als ob er etwas Bestimmtes bestätigt bekommen hätte. Er erwiderte Atlans Blick. Seine Lippen bewegten sich. Vergeblich versuchte der Arkonide, die Worte von ihnen abzulesen, die geformt wurden. Dann war der Gang dort, wo Parzelle gestanden hatte, wieder leer. Tyari schüttelte den Kopf. Auch diesmal hatte sie keine Gedanken des Geheimnisvollen empfangen können. Atlan fragte sich noch beklommen, was diese kurze Vorstellung zu bedeuten gehabt haben mochte, als Thermeck schrie und an ihm vorbeideutete. Atlan drehte sich um und sah, wie die Steine sich auflösten. Die grünen Desintegratorstrahlen fuhren an den Seiten aus dem Haufen heraus. Öffnungen entstanden und vergrößerten sich, bis die ersten Kampfroboter von der MJAILAM hindurchschwebten. 5. Uster Brick, Hage Nockemann und Joscan Hellmut hörten sich
Atlans Bericht schweigend an. Thermeck und Phoebe, sowie die übrigen Solaner des Trupps, wurden unterdessen von Blödel behandelt und mit Stärkungsmitteln versehen. Nicht alle drei, die sich in den Gang abgesetzt hatten, waren bei seinem teilweisen Einsturz erschlagen worden, sondern nur einer. Die beiden anderen waren von den Kampfrobotern aufgefangen worden, als sie, dem Wahnsinn nahe, durch Gänge schwebten und krochen. Insgesamt hatten Schwammkartoffel und seine Bewohner nun also schon vier Menschenleben ausgelöscht. Je länger Atlan erzählte, desto mehr steigerte er sich in eine dumpfe Wut hinein und war entschlossen, daß es bei diesen vieren bleiben sollte. Gleichzeitig mußte er sich zugeben, daß dies kaum mehr war als ein frommer Wunsch. Der Aufmarsch der Zylinder‐ und Zeckenroboter am großen Stollen hatte sich fortgesetzt. Mindestens dreißig Maschinen warteten dort jetzt auf das Signal zum Angriff. Noch betrug die Weite des Stollens zwanzig Meter. Das erste, was Brick den Zurückgekommenen in der MJAILAM gesagt hatte, war jedoch die Nachricht, daß sich die Riesenzecke über der Planetoidenoberfläche befand und dort Kreise zog wie ein stummer Wächter. Atlan beendete den Bericht mit der Schilderung von Parzelles Auftauchen, ließ sich dann in einen Sessel fallen und ein Getränk bringen. »Das warʹs«, sagte er. »Wir müssen jetzt wieder damit rechnen, daß Donku und Fasto getrennt gegen uns vorgehen, denn anscheinend hat Fastos Taktik versagt. Er hat unsere Leute umgebracht, anstatt sie zwischen zwei Einstürzen zu fangen. Donku wird sich seine Spielzeuge nun hier suchen.« »Er soll kommen«, sagte Phoebe. »Darauf warte ich nur.« Niemand ging darauf ein. Brick faßte das zusammen, was sich aus dem Gehörten und seinen eigenen Nachrichten nun ergab. »Wir konnten von euch nicht gehört werden, Atlan«, begann er, »und wissen jetzt auch, warum nicht. Sekundenbruchteile, bevor in
dieser Höhlenkammer der Tanz losging, konnten wir Funksignale auffangen, die aus einem anderen Teil des Planetoiden kamen. Wir können als gesichert voraussetzen, daß durch sie der riesige Zeckenrobot aktiviert wurde und Befehle erhielt.« Er deutete auf einen Bildschirm, auf dem das Metallmonstrum zu sehen war. Eine Sonde übertrug das Bild. Die Zecke bewegte sich langsam in Kreisen über der Oberfläche, und der Eindruck wurde noch stärker, daß sie dort jetzt eine Wächterfunktion ausübte. Sollte sie eingreifen, falls es der MJAILAM doch noch gelang, sich zu befreien? Oder der MJAI‐B, dachte Atlan. Sie war so gut wie fertig. Es gab nur noch einige Feinheiten zu erledigen. In etwa einer Stunde sollte die Space‐Jet versuchen können, durch den Schacht ins Freie zu fliegen. »Es gibt eine Zentralstation«, fuhr Brick fort. »Wir haben sie anhand der Funksignale lokalisiert. Die Zecke war tatsächlich nur ein Relais – oder meinetwegen eine Art Einsatzleiter für die anderen Roboter ihres Typs. Die Positronik bestätigt mit einer Wahrscheinlichkeit von 88,9 Prozent, daß alle anderen Funktionen von Schwammkartoffel von der eigentlichen Zentrale aus gesteuert werden. Das heißt, die Bewegung im Raum, der Aufbau von Schwerkraftfeldern, der Einsatz der Zylinderroboter. Welche Möglichkeiten sie noch besitzt, wissen wir nicht. Vielleicht erhält auch sie Befehle einer noch höheren Instanz aus der Namenlosen Zone, aber nicht aus dem Planetoiden. Wenn sie ausgeschaltet werden kann, liegen die Zylinderroboter und auch die Zecken lahm.« »Das hat dir auch die Positronik bestätigt?« fragte Tyari sarkastisch. »Das sagt mir mein gesunder Menschenverstand«, konterte Brick. Atlan nickte. »Wo liegt diese Zentrale, Uster?« »Hier.« Der Pilot deutete auf einen anderen Schirm. Atlan sah ein dreidimensionales Rasterbild des ganzen Planetoiden. Sämtliche
Gänge, Höhlen und Schächte waren inzwischen von den Sonden erkundet worden, deren gefunkte Informationen die Positronik in dieses Hologramm aus gebogenen und geraden Linien und aus Knoten umgesetzt hatte. Nur ein Abschnitt war dunkel. »Diese Zone, Atlan. Sie ist ungefähr kugelförmig und liegt rund vier Kilometer von uns entfernt. Ihr Durchmesser beträgt etwa achthundert Meter. Die Funkimpulse kamen aus dem exakten Mittelpunkt der gedachten Kugel.« Tyari verschränkte die Arme vor der Brust. Sie wirkte trotzig. »Sollen wir das Ganze noch einmal erleben? Wir hätten noch nicht einmal gegen die Zecke bestehen können, wenn sie nicht plötzlich verschwunden wäre. Und da sollen wir etwas eliminieren können, was zweifellos noch stärker als sie ist?« Atlan blickte sie an. Machten sich etwa auch bei ihr schon die ersten Anzeichen der Hysterie bemerkbar? »Die Roboter warten auf das Signal zum Angriff«, sagte er. »Wir müssen wenigstens die MJAI‐B aus Schwammkartoffel hinausbringen, bevor sie uns ganz zuschütten. Das Zögern der Zentrale kann unsere Chance sein – und zwar die allerletzte.« Er fügte hinzu, als Tyari ihn immer noch skeptisch ansah: »Und die Zentrale wird sich nicht nur auf das Verschließen der Gänge beschränken. Die MJAILAM soll vernichtet werden, und wie lange, glaubt ihr, wird der Prallschirm einem konzentrierten Beschuß der Roboter standhalten?« Er stand auf und machte sich bereit. Natürlich belastete es ihn, schon einmal geglaubt zu haben, den wirklichen Gegner stellen zu können – und dann nur ein Relais zu finden. Irgendwie wußte er ganz einfach, daß der Weg, den er jetzt zu gehen hatte, eine Entscheidung bringen würde. Und er wußte, wie knapp die Zeit geworden war. »Die MJAI‐B versucht die Flucht, sobald sie voll einsatzbereit ist«, sagte er. »Sie soll versuchen, die Planetoidenkruste zu zerstrahlen
und die MJAILAM zu befreien. Gelingt das nicht, soll sie sich beim Junk‐Nabel umsehen und, falls möglich, zur SOL zurückkehren. Vielleicht hat sich der Nabel inzwischen wieder normalisiert, denn die Manipulation hat ja ihren Zweck erfüllt: wir sitzen in der Falle des Gegners fest.« »Du hoffst doch im stillen, in der Zentrale mehr über ihn zu erfahren, oder?« fragte Hellmut. Der Arkonide zuckte nur die Schultern. Fünfzehn Minuten später war er wieder auf dem Weg, diesmal nur begleitet von Tyari, Joscan Hellmut und einer Solanerin, die zu seinem vorigen Trupp gehört und sich wieder freiwillig gemeldet hatte. Sie hieß Mary Bryll und war Fremdvölkerpsychologin. Tyari warnte Brick noch vor Donku, der sich der MJAILAM näherte. Fasto schien noch auf etwas zu warten. Atlan nahm ein kleines Bildschirmgerät mit, auf das vom Schiff aus das 3‐D‐Rasterbild von Schwammkartoffel mit dem »blinden Fleck« übertragen wurde. Es wies ihm den Weg diesmal leichter und verhinderte, daß er sich wieder in tote Stollen verirrte. * Als Mona Nasch die Zentrale der Space‐Jet betrat, wußte sie, daß sie hier nichts mehr tun konnte. Hadagar und Lindsay hatten in dem Augenblick gehandelt, als die MJAILAM‐Positronik die volle Einsatzbereitschaft des Beiboots feststellte. Das war eine halbe Stunde, nachdem Atlan mit seinen drei Begleitern die MJAILAM erneut verlassen hatte. Die Techniker, die sich gegen Ende der Arbeiten zu allen in der Zentrale eingefunden hatten, lagen paralysiert am Boden. Hadagar hatte die Waffe noch in der Hand, jetzt allerdings auf Lindsay gerichtet. »Fein, daß du kommst, Mona«, sagte der Kybernetiker. »Das wird
Joseph wohl endlich auch zur Vernunft bringen. Er ist zarter besaitet, als ich dachte, und wollte mir einen Strich durch die Rechnung machen. Sag ihm, daß wir keinen Ballast brauchen. Wir drei fliegen allein, und zwar nicht zum Nabel, sondern nach Paradise. Wir gründen ein neues Menschengeschlecht.« Jetzt wußte sie, daß er den Verstand verloren hatte. »Gorth, hör zu«, sagte sie. »Diese Männer und Frauen hier – wie willst du sie aus der Jet schaffen? In der MJAILAM wissen sie spätestens jetzt, was wir vorhaben. Gleich werden Kampfroboter im Hangar erscheinen. Wir …« Er wischte den Einwand mit einer Handbewegung zur Seite. »Wir stoßen sie aus der Schleuse, wenn wir im Raum sind. Sie sind Atlan hörig. Sie würden nur Unfrieden auf unserer neuen Welt stiften.« Mona schwieg betroffen. Das hatte sie nicht erwartet. Dennoch trug sie ein gehöriges Maß Mitschuld an dem Drama, das sich hier abzuzeichnen begann. Was sich aus nackter Angst heraus entwickelt hatte, wurde unkontrollierbar. Sie hatte von Paradise geredet, als es Hadagar nur darum ging, die eigene Haut zu retten. Sie hatte in Paradise eine Chance gesehen – doch für die MJAILAM und alle ihre Besatzungsmitglieder! Sie hätte wissen müssen, was Hadagar für sich daraus machte. »Wir dürfen das nicht tun, Adler«, sagte sie unsicher. »Es wäre dutzendfacher Mord. Und du, Joseph?« Lindsay drehte sich noch nicht einmal zu ihr um. Er saß vor den Kontrollen, vollkommen eingeschüchtert, ein kleines Häufchen Elend. »Er ist ein Feigling und wird tun, was ich ihm sage.« »Nein, Adler. Mit wem willst du dein neues Menschengeschlecht gründen, außer mit mir? Willst du auch mich dazu zwingen, dir Kinder zu gebären?« Hadagar kniff die Augen zusammen. Sein Gesicht wirkte noch mehr wie das eines beutesuchenden Raubvogels.
»Wenn es sein muß, ja. Jetzt halte mich nicht auf. Wir zerschießen das Hangarschott und verlassen Schwammkartoffel. Brick kann uns …« Sie stürzte sich auf ihn und lief voll in den Paralysestrahl. Hadagar zielte auf Lindsay, als dieser aufsprang und einen Meter vor der angebeteten Frau stehenblieb, die Hände zu Fäusten geballt. »Was ist, Joseph?« keifte der Kybernetiker. »Plötzlich mutig geworden? Setz dich wieder hin! Ich kann dich nicht auch lähmen, weil ich dich als Piloten brauche. Aber ich kann dir Löcher ins Fleisch brennen, wenn du nicht spurst! Halte dich zum Start bereit! Das Schott übernehme ich. Der Hangar ist nach innen offen, aber die MJAI‐B hat ihre Schutzschirme. Brick soll sich die Zähne daran ausbeißen, bis wir draußen sind!« Lindsays Schultern sanken herab. Er drehte sich um und ging langsam zu seinem Platz zurück. Er brauchte diesen Narren noch bis nach Paradise. Lindsays Finger schoben sich über die Tastaturen und drückten. Hadagar nickte zufrieden. * Atlan war auf Roboterangriffe vorbereitet gewesen, auf Fallen oder Schwerkraftmanipulationen des Gegners. Nichts geschah. An Donku und Fasto verschwendete er keinen Gedanken, solange Tyari ihm sagte, daß sie sich weiter der MJAILAM näherten – und Prallschirme konnte auch der Materietaucher kaum durchdringen, geschweige denn Donku. Inzwischen mit den Schwierigkeiten bei der Bewegung in Schwammkartoffel vertraut, legte die Vierergruppe die vier Kilometer bis zu der unausforschbaren Zone in weniger als einer halben Stunde zurück. Der letzte Stollen endete vor einer massiven Wand. Atlan brauchte nicht nach Spuren einer Bearbeitung zu
suchen. Sein Bildschirmgerät verriet ihm genug. Bis hierher waren die Sonden vorgedrungen, und hinter der Wand war entweder nur Fels, oder dort begann das Reich des Befehlegebers. Es wurden nicht mehr viele Worte gewechselt, mit Brick nur die nötigsten. Uster hatte inzwischen vier Solaner bestimmt, die mit der MJAI‐B den Ausbruch versuchen sollten, und noch war der Schacht offen. Drei der Auserwählten gehörten zum technischen Personal, einer von ihnen war als Pilot ausgebildet. Der vierte war Brons Thermeck. Atlan hieß diese Wahl gut. Wenn Thermeck seine Loyalität ihm gegenüber auch übertrieb – er konnte sich keinen anderen vorstellen, der wie Brons alles daransetzen würde, die SOL zu erreichen. Denn zusätzlich war Thermeck von dem quälenden Wunsch motiviert, seine Familie wiederzusehen. »Wir schießen mit gefächertem Strahl«, sagte der Arkonide. Jeder wußte, daß auf ihnen die Hoffnungen ihrer Kameraden ruhten. Sie eröffneten das Desintegratorfeuer. Wo die Strahlkegel auftrafen, löste sich das Gestein in weitem Kreis auf. Immer tiefer drangen die Energien vor, doch auch nach zehn Metern entstand keine Öffnung. »Wir versuchen es weiter links«, sagte Atlan. Sie mußten noch insgesamt drei verschiedene Stellen unter Beschuß nehmen, bis endlich hinter der schwinden; den Felskruste ein rundes Loch entstand. Licht schlug den Raumfahrern entgegen. Atlan ließ das Feuer sofort einstellen. Das Licht war farblos und nicht so grell wie in der Zeckenkammer. Atlan nickte grimmig und rief die MJAILAM: »Wir dringen jetzt in die Außenbereiche der Station ein, Uster«, verkündete er. »Noch kein Widerstand. Wie sieht es bei euch aus?« Alle vier hörten die neue Schreckensnachricht. Die MJAI‐B hatte sich in ihre Schutzschirme gehüllt und das Feuer auf das Hangarschott eröffnet. Brick konnte weiter nichts sagen, weil er jetzt dringend gebraucht wurde. Er meinte nur rätselhaft, daß er noch einen Trumpf gegen die Wahnsinnigen in der Jet in der Hand hatte
– und mit den Wahnsinnigen meinte er Mona Nasch und ihre beiden Spießgesellen. Atlan fluchte in sich hinein. Also doch! Sie hatte ihn mit ihren reumütigen Worten nur täuschen wollen – und das auch geschafft. Er konnte nur hoffen, daß Uster nicht falsche Hoffnungen weckte. Er schwebte durch die Wandöffnung – und wurde von der dahinter wirksamen Schwerkraft auf die Füße geholt. Nacheinander folgten ihm Hellmut, Mary und Tyari. Sie kamen relativ sanft auf. Die Schwerkraft betrug ungefähr drei Viertel des gewohnten SOL‐ Wertes. »Das dürfte bestätigen, daß wir auf der richtigen Spur sind«, sagte Hellmut, als sie hundert Meter zurückgelegt hatten und immer noch keine Schwankungen feststellen konnten. Die künstliche Gravitation verschwand nicht nach kurzer Zeit wieder, wie es in den Stollen der Fall gewesen war. »Und dort vorne! Seht euch die Wände an! Und den Boden, die Decke!« Sie waren glatt und fugenlos und bestanden nicht mehr aus Felsgestein, sondern aus künstlichem Material, das weiß schimmerte. In der gewölbten Decke befanden sich Leuchtkörper. Irgendwo summten Maschinen. Mit einem Blick auf sein Armbandgerät stellte Atlan fest, daß der Sauerstoffgehalt hier fast Normalwerten entsprach. Er fuhr herum. Hinter ihnen, dort, wo sie die Öffnung in die Wand geschossen hatten, flimmerte etwas. Deshalb war keine Luft entwichen, hatte es keinen Sturm des ins Vakuum schießenden Sauerstoffs gegeben. Der geheimnisvolle Gegner schützte sein Machtzentrum durch Energieschirme. Dennoch blieb auch hier wieder ein Widerspruch. Wie hatten Atlan und seine Begleiter eindringen können, ohne daß der Sauerstoff in die Stollen strömte? Hatte der Schirm schon vorhin existiert? Hatte jemand eine Art Strukturlücke geschaffen? War auch dies
eine neue Falle? Atlan verscheuchte die Gedanken daran. »Weiter!« sagte er ins Helmmikrofon. Die Noppensohlen waren jetzt hinderlich. Atlan zog sie von den Stiefeln ab und wartete, bis die Gefährten es ihm gleichgetan hatten. Er spürte, daß etwas Fremdes in der Nähe war. Tyari bestätigte es ihm, als sie neben ihm stand. »Es ist etwas vor uns«, flüsterte sie. »Es ist noch fremdartiger als das, was ich von Donku und Fasto empfing. Aber es ist da, und es denkt und – lebt!« Atlan hatte Hellmut keine Antwort gegeben, als der Kybernetiker ihn danach fragte, ob er sich mehr erhoffte, als nur die MJAILAM zu retten. Immer war nur von einer robotischen Station die Rede gewesen, einem weiteren Werkzeug der wirklichen Macht im Hintergrund, die den Solanern den Krieg erklärt hatte. Ein Werkzeug von vielen. Und nun? Der Gedanke daran, daß er hier auf einen Angehörigen der mysteriösen Macht stoßen konnte, ließ Atlan die konkreten Bedrohungen für sich und die ihm anvertrauten Menschen für einen Moment fast vergessen. Er ging weiter. Sauerstoffwerte und Schwerkraft veränderten sich nicht. Das Summen wurde kaum merklich stärker, doch sonst war absolut nichts zu hören. Der leere Gang gähnte ihm entgegen. Dann gelangte er an einen Verteilerpunkt, eine gewölbte Halle, von der sechs Korridore abzweigten, und in deren Mitte ein Sockel mit einem doppelt kopfgroßen Ball ruhte, dessen Oberfläche in allen Farben schimmerte und leuchtete. »Warum zeigt sich niemand?« kam es von Mary Bryll. »Das ist doch nicht mehr der Planetoid! Ein Transmitter muß uns in eine andere Welt versetzt haben.« Das gleiche empfanden sie alle. Hier wirkte alles vollkommen steril. Die Felskorridore und die Schächte und Höhlen, das alles schien unendlich weit fort zu sein.
Und die MJAILAM … Die SOL … Atlans Blick war von dem Ball gefangen, der sich jetzt leicht zu drehen begann. Die Farben vermischten sich zu phantastischen Mustern. Psychische Beeinflussung! meldete sich Atlans Extrasinn. Wehre dich! Du hast Kampfroboter der Fremden erwartet! Sie wissen sich ihre Gegner auf ganz andere Weise fernzuhalten! Der Arkonide riß sich mit einer Willensanstrengung vom Anblick der Kugel los. Er packte Hellmut und Mary und zog sie fort. Tyari stand immer noch mit geweiteten Augen vor dem Sockel. Sie wollte Atlans Hände wegdrücken, bis er sie in einen der sechs Gänge gebracht hatte, wo sie die Farben nicht mehr sah. »Aber das Fremde sieht uns noch«, sagte sie, als sie seine Gedanken las. »Ich hatte das Gefühl, in dem Ball steckte ein riesiges Auge. Es war mehr als ein Gefühl. Was immer hier lebt, es beobachtet jeden unserer Schritte.« »Darauf mußten wir vorbereitet sein«, entgegnete Atlan. Jetzt, im Nachhinein, hatte er fast den Eindruck, etwas hätte nach seinem Geist getastet, forschend und vorsichtig. Er biß die Zähne zusammen. Es war kein Spaziergang! Weiter! »Welche Richtung müssen wir nehmen, Tyari?« fragte er. »Nur einer der sechs Korridore kann uns zum Ziel führen.« Sie drehte sich unsicher einmal um sich selbst. »Es ist schwer zu bestimmen. Die Kugel irritierte mich. Sie scheint auch eine Art Relais zu sein, aber …« Sie schloß die Augen, senkte den Kopf etwas und drückte zwei Fingerspitzen gegen die Nasenwurzel. »Wir könnten mit diesem Gang Glück haben. Wenn ich versuche, den störenden Einfluß auszuklammern, wartet das Fremde dort vor uns.« Atlan nickte und setzte sich wieder in Bewegung. Er atmete flach, die Augen überall und die Ohren gespitzt. Die Waffe in seiner Hand kam ihm plötzlich überflüssig vor. Was hier
herrschte, konnte wohl kaum mit den bekannten Energien besiegt werden. Atlan verwünschte diese Gedanken. Wieweit waren es noch seine eigenen? »Das ist lustig«, sagte Mary plötzlich, als sie zweihundert Schritte stur geradeaus gegangen waren, ohne auf Widerstand zu stoßen. »Da quälen sich unsere Kameraden in dem Felsenlabyrinth herum, und dabei gibt es hier diese wunderbare Station mit Schwerkraft, Sauerstoff und Wärme.« Atlan blieb abrupt stehen. Er fühlte das seltsame Prickeln im Hinterkopf. Tyari starrte ihn an. Der Extrasinn warnte: Beeinflussung! Du mußt dagegen kämpfen! Du bist mentalstabilisiert, aber spürst es doch! Die anderen werden ihr erliegen! Joscan Hellmut lachte. »Ja, warum tragen wir eigentlich noch die Helme? Sie sind doch nur hinderlich und …« Atlan paralysierte ihn und die Solanerin, als sie nach den Verschlüssen griffen. Sie fielen mit einem dumpfen Laut um und blieben reglos am Boden liegen. Der Arkonide richtete die Waffe auf Tyari. »Nicht nötig«, sagte sie schnell. »Es ist nicht gerade leicht, aber ich kann gegen den Einfluß ankämpfen. Jetzt sind wir nur noch zu zweit. Du hättest sie nicht gleich zu lähmen brauchen.« »Doch.« Atlan nahm sie bei der Hand und zog sie mit sich. »Sie hätten sich dem Fremden ausgeliefert. Auch wenn es genug Sauerstoff gäbe, wäre das Abnehmen der Helme eine Einladung an den Gegner, ihn schlagartig abpumpen zu lassen.« Tyari riß sich los, kehrte zurück und aktivierte die IV‐ Schutzschirme der Paralysierten. »Jetzt ist mir wohler. Sie sind nicht ganz schutzlos.« Atlan wartete auf sie. Seite an Seite wagten sie sich immer weiter in die Anlage vor, bis sie glaubten, jetzt jeden Moment vor der Zentrale stehen zu müssen.
Die Intensität der Psycho‐Angriffe steigerte sich. Atlan mußte einmal dem Wunsch widerstehen, die Waffe fortzuwerfen. Dann wurde er von Todessehnsucht ergriffen und sollte sich und Tyari umbringen. Sie kämpfte wie er. Noch hielten beide dem Fremdeinfluß stand, aber wie lange reichte ihre Kraft noch? Der Gang schien sich immer noch endlos dahinzuziehen, ohne Abzweigung, ohne Nischen oder sonstige Unregelmäßigkeiten. Dann endlich teilte er sich zu einem Ringkorridor, der um einen exakt kreisförmigen Komplex herumführte. »Es ist jetzt direkt vor uns«, flüsterte die Telepathin. »Hinter diesen Wänden.« Noch während sie das sagte, entstand eine Öffnung. Die weiße Wand löste sich einfach auf. Gleichzeitig erlosch der Einfluß. Atlan machte einige Schritte vorwärts, ohne sich dessen bewußt zu sein. Er starrte in das rote Halbdunkel eines großen Domes, dessen kreisförmige Grundfläche einen Durchmesser von gut hundert Metern haben mochte. Die gewölbte Decke war in der Mitte mindestens ebenso hoch. Das jedoch registrierte der Arkonide nur am Rand. Vor ihm breitete sich ein Alptraum von einer Maschine aus, ein technisches Monstrum, das mit seinen zahlreichen Verästelungen bis in die Wände reichte. Der »Hauptkörper« war ein diskusförmiges Gebilde mit Tausenden von leuchtenden Punkten auf der rotblau schimmernden Hülle. Tyari brauchte Atlan nicht zu sagen, daß er dort den Herrscher des Planetoiden vor sich sah. Und wenn in diesem Diskus und seinen Außenverbindungen etwas lebte und von Tyari ausspähbar war, konnte es sich nur um eine biologische Komponente handeln. Eine Biopositronik? »Atlan«, flüsterte Tyari. »Da!« Er drehte den Kopf in die Richtung, in die sie zeigte, und sah die Zylinderroboter. Auch von der anderen Seite kamen sie und von hinten.
Aus ihren Körpern hatten sich Waffenmündungen geschoben. 6. Im Hangar, in dem die MJAI‐B noch stand, herrschte das Chaos. Energiestrahlen fraßen sich in das Außenschott und durchschlugen es. Die Space‐Jet war in ihre Schutzschirme gehüllt und unangreifbar, solange sie standen. Sie brachen nur einige Sekunden zu spät zusammen. Im gleichen Moment versagten die Bordwaffen. Uster Brick zögerte nicht noch einmal. Mit zwei Solanern schob er das mobile Paralysegeschütz in den Hangareingang und nahm die Jet unter Beschuß. »Das sollte reichen«, sagte er nach zehn Sekunden. »Dort drinnen rührt sich keiner mehr.« Kathy Ponartel kam zu ihm, die Stirn in Falten gelegt. »Es tut mir leid, Uster. Wir hatten uns auf Mona verlassen. Entweder bekam sie keine Gelegenheit mehr, Hadagar aufzuhalten oder uns das Signal zu geben, oder sie hat uns doch getäuscht.« Die MJAILAM‐Positronik, die über ihr kleines Pendant in der MJAI‐B für den Totalausfall der Systeme gesorgt hatte, öffnete für die Solaner die Luken. Männer und Frauen stiegen ein. Brick und Kathy folgten ihnen. In der Zentrale der Jet sahen sie Mona Nasch vor Hadagar am Boden liegen. Hadagars Strahler war noch auf die Technikerin gerichtet. Lindsay lag mit dem Oberkörper über dem Kontrollpult. Und über den ganzen Zentraleboden verteilt befanden sich die paralysierten Körper der Instandsetzungsspezialisten. »Verdammt«, knurrte Brick. »Mona war keine Verräterin«, sagte Kathy erleichtert. »Sie hatte im Gegenteil offenbar großes Glück. Als die Positronik den Systemen die Energie entzog und Hadagars Wahnsinnstreiben beendete, muß er erkannt haben, daß sie uns gewarnt hatte. Wahrscheinlich hoffte sie bis zuletzt, ihn auch ohne unser Eingreifen
zur Vernunft bringen zu können. Sie schaffte es nicht. Er muß sie gelähmt und dann in seiner Besessenheit noch versucht haben, sie zu töten.« »Bringt sie in die MJAILAM«, wies der Pilot die Solaner an. »In zehn Minuten startet die MJAI‐B mit Thermeck und den anderen dreien.« »Und die Schäden im Außenschott?« fragte Kathy. »Notfalls zerstrahlen wir es ganz.« Zurück in der Zentrale der MJAILAM, konnte Brick diese Absicht vergessen. Die Positronik meldete, daß durch Hadagars Gewaltakt die Waffensysteme der MJAI‐B wieder ausgefallen seien und erst nach Stunden wieder repariert werden könnten. Gleichzeitig aber versicherte sie, daß das Hangarschott trotz des Loches normal aufgefahren werden könne. Weitere Schäden waren am Beiboot nicht entstanden. Auch die Energieschirme konnten wieder aufgebaut werden. Brick ließ sich in seinen Sitz fallen und schüttelte den Kopf. »Daß Mona uns über dich vor Hadagar warnte, Kathy, habe ich vor Atlan und Tyari geheimgehalten, um sie nicht auch damit noch zu belasten. Besser hätte ich auch über Hadagars Amoklauf den Mund gehalten.« »Du meinst, weil wir keine Funkverbindung mit Atlan mehr haben, seitdem er in die Station eingedrungen ist? Uster, ganz gleich, welchen Erfolg sie dort haben, die MJAI‐B muß hinaus! Die Roboter werden immer noch mehr. Der Schacht ist von ihnen eingeschlossen. Du darfst nicht mehr zögern.« »Nein.« Die Space‐Jet mußte ohne funktionierende Waffensysteme versuchen, den freien Raum zu erreichen. Über Schwammkartoffel lauerte die Riesenzecke, der Wächter. Opferte Brick vier Menschenleben, als er Brons Thermeck und seinen Begleitern die Hände schüttelte und sie in die MJAI‐B entließ? Das Hangarschott öffnete sich. Die Jet schwebte hinaus und durch
eine Strukturlücke im Prallschirm zum Schacht hinauf. Wenn die Roboter jetzt das Feuer auf sie eröffnen! dachte Brick. Waffenlos – das bedeutete auch, daß die MJAI‐B nicht versuchen konnte, den Planetoiden zu zerstören und der MJAILAM damit die Freiheit zu geben. Der neueste Bericht der Positronik lief darauf hinaus, daß der Kreuzer in rund vier Tagen selbst wieder einsatzfähig sein würde. Brick trat weiter vor, bis er die Space‐Jet langsam im Schacht verschwinden sehen konnte. Thermeck hielt über Funk Verbindung mit dem Mutterschiff, Lautsprecher übertrugen seine Worte von der Zentrale in den Hangar. Plötzlich erklang ein Schrei. Brick wirbelte herum und sah ein Quallenwesen mit zwanzig Meter langen Tentakeln von der Außenhülle in die MJAILAM kriechen. Es mußte blitzschnell die Strukturlücke ausgenutzt haben. Die drei Solaner, die dort standen, eröffneten in panischer Angst das Feuer auf Donku. Der Verspielte starb in der energetischen Glut. Als die Strahlen erloschen, rollten sich seine Fangarme zusammen. Brick fühlte, wie es ihm kalt über den Rücken lief, als Donkus letzte Laute von den Translatoren übersetzt wurden: »Ich wollte doch nur mit euch spielen! Warum habt ihr das getan?« Schwammkartoffel war grausam. Donku hatte nie feindliche Absichten gehabt. Er war einfach ein Wesen mit einer ganz andersartigen Mentalität gewesen – trotz der Bedrohung, die er objektiv darstellte, etwas Friedliches. Brick ballte die Fäuste und ging zu dem reglosen Klumpen. Einer der Schüsse hatte den Organsack mit der vorverdauten Nahrung zerstört. Eine übelriechende Flüssigkeit rann aus den Fetzen und bildete eine Lache. Sister Phoebe kam aus der MJAI‐LAM gelaufen und blieb stehen, als sie Donkus Leichnam erblickte. Sie fluchte. »Wer von euch Narren war das? Nur mir stand es zu, meine
Schwester zu rächen!« Brick fuhr sie an und sagte Dinge, die er hinterher bereute. Doch jetzt war er es, der nahe daran war, den Verstand zu verlieren. Das Warten machte ihn verrückt. Er war ein Mensch wie alle anderen. Die MJAI‐B, die MJAILAM, selbst Atlan, dieser unnötige Tod des vielleicht letzten Wesens eines längst untergegangenen Volkes – es war zuviel. Eine Injektionspistole drückte sich in seinen Arm und zischte. Nockemann hatte den Hangar unbemerkt betreten. Jetzt nickte er ernst. »Niemand von uns kann das auf die Dauer ertragen, Uster«, sagte er sanft. »Ich wage nicht vorauszusagen, wie es um uns steht, sollten wir noch länger als die vier Tage hier gefangen bleiben. Aber mit Sicherheit brauchen wir dann keinen äußeren Gegner mehr, der uns zur Strecke bringt.« Als wären seine Worte ein Signal gewesen, rief Thermecks Stimme in diesem Augenblick aus den Lautsprechern: »Achtung, MJAILAM! Hört ihr mich? Wir sind fast oben, und jetzt greifen die Roboter an! Unsere Schirme halten noch stand, aber …« Der Rest ging in dem Knistern unter, das schlagartig einsetzte. Brick und Nockemann sahen sich betroffen an. »Was wird aus uns, Hage?« fragte der Pilot mit gesenkter Stimme. »Sag mir, was wird aus uns?« Die MJAILAM bot absolut keine Möglichkeit, den Bedrängten in der Space‐Jet zu helfen, und wie es schien, wurde der Gegner nun auch gegen den Kreuzer aktiv. Brick warf einen Blick auf seine Uhr. Der 7.Juni 3808 war vor einer Minute angebrochen. Fast schien es so, als hätte der Gegner nur auf dieses neue Datum gewartet. Der Pilot kehrte mit Nockemann und einigen Leuten zur Zentrale zurück, während Roboter mit der Reparatur des Hangarschotts begannen. Die Bildschirme zeigten nicht nur die anrückenden Feindroboter.
Felsen stürzten von der Hohlraumdecke herab. Überall schien Schwammkartoffel in Bewegung zu geraten. Die MJAI‐B meldete sich nicht mehr. Dafür übertrugen die Sonden im Schacht Bilder von näherrückenden Wänden, was so aussah, als schöben sich Schraubstockbacken aufeinander zu. Als das Gestein wieder zur Ruhe kam, betrug die lichte Weite des Schachtes gerade noch neun Meter. Brick schlug mit einer Faust auf sein Pult. »Atlan!« schrie er. »Verdammt, Atlan, Tyari! Hört ihr mich?« * Die Robotzentrale besaß genügend Außenstellen zur Überwachung des Planetoiden – empfindlichste Sensoren, die im Felsgestein steckten und ihr jede Bewegung der Gefangenen meldeten. Dazu kamen die Roboter beider Typen, deren Beobachtungen alle hier im Zentrum zusammenliefen und ausgewertet, beziehungsweise mit angemessenen Reaktionen beantwortet wurden. Die Maschinen, allesamt in ihrer Funktion nichts anderes als mobile Ableger der Zentrale, hatten ihre Plätze längst eingenommen. 1‐MORB, die größte und mächtigste von allen, hatte auftragsgemäß ihre Basis verlassen und sicherte den Himmelskörper von außen ab. Daß sie kurz zuvor von den Gefangenen entdeckt worden war, hatte mit der Terminierung nichts zu tun. Es hatte den Wesen lediglich das Leben gerettet. 1‐MORB‐l bis l‐MORB‐50 hatten sich indessen von der Oberfläche zurückgezogen und um das Raumschiff herum verteilt. Einige der fünfzig über 1‐MORB gelenkte Maschinen waren von den Gefangenen entdeckt worden, ebenso wie die MORB‐Arbeiter, die die Ausgänge versperrten. Soweit es die Robotzentrale betraf, hatte sie ihre Werkzeuge optimal in Stellung gebracht.
Und dennoch hatten sich einige der Wesen mit einem Beiboot aus dem Planetoiden retten können! Die Arbeiter und noch im Schacht stationierten l‐MORB‐51 bis l‐ MORB‐60 hatten es nicht aufhalten können. Trotz des konzentrierten Beschusses war es in den freien Raum entkommen. Wie, so fragte sich Morbotix, hatte das geschehen können, wo doch alles von ihm so genau geplant gewesen war? Eine Fehleinschätzung – oder eine Fehlfunktion in der Impulsübermittlung zum positronischen Teil von MORB, die Folge des Auftauchens der Wesen? Die beiden, die von den Psycho‐Abwehrvorrichtungen nicht hatten aufgehalten werden können, standen vor ihm. Er sah sie durch die elektronischen Augen des Technikteils. Entkommen konnten sie ihm nicht mehr. Die Roboter hatten sie eingekreist und warteten nur auf den Schießbefehl. Gegen dieses konzentrierte Feuer schützten auch ihre Körperschirme die Wesen nicht mehr. Was hatte gestört, was die Impulsübermittlung beeinträchtigt? Morbotix hatte sich auf die neue Situation eingestellt und entsprechende Anweisungen gegeben. In diesen Momenten griff 1‐ MORB das Beiboot an. Die MORB‐Arbeiter schütteten weitere Ausgänge zu und verengten den Schacht. Das endgültige Kontraktionsprogramm, an dessen Ende bei gleichzeitigem Beschuß des Raumschiffs dessen Vernichtung stehen mußte, konnte jederzeit, anlaufen. Doch Morbotix zögerte. Er betrachtete die beiden Eindringlinge, die sich nicht rührten. Er hatte keine Angst vor ihnen, sondern sogar die Öffnung geschaffen, durch die sie die Innere Zelle betreten konnten. Er hatte sie nicht nur über die Sensoren sehen wollen. War dies sein Fehler gewesen? Konnte ein Gefühl die Impulsübermittlung beeinträchtigen und Befehle verzögern – den Befehl, das Beiboot rechtzeitig unter Feuer zu nehmen? Ich beherrsche MORB noch immer nicht hundertprozentig! mußte
Morbotix zugeben. Morbotix war der Eigenname des Lebens, das den organisch‐ seelischen Teil der Robotzentrale bildete. Früher einmal hatte Morbotix einen eigenen Körper gehabt und auch eine andere Bezeichnung. Da hatte er 225‐Page geheißen. Oder war das nur eine Art Rangbezeichnung gewesen? Es lag alles so weit zurück. Als Morbotix die Wesen sah, fühlte er sich schmerzlich an seine eigene körperliche Existenz erinnert. Das war es gewesen! Er spürte die Feedback‐Impulse des Positronikteils, doch er bestimmte, was zu geschehen hatte. Er gab die Befehle; das andere hatte sie nur umzuwandeln, und für die Ausführung zu sorgen. Nur funktionierte die Zusammenarbeit nicht mehr so richtig. Es war noch zuviel Leben in MORB, wie Morbotix die Steuerzentrale nach sich benannt hatte, und viel zuviel Erinnerung. Allerdings gab es noch mehr, an das Morbotix sich nicht zu erinnern vermochte. Das quälte ihn. Das hemmte ihn jetzt, als er die Körperlichen studierte. Er machte sich immer wieder aufs neue klar, daß ein gedachter Befehl, ein einziger Impuls genügte, um sie zu Asche zerstrahlen zu lassen. Er tat es, um sich zu beruhigen. Die Falle war perfekt. Er brauchte sich trotz aller Probleme keine Vorwürfe zu machen. Das Morbotix‐Gehirn oder das Morbotix‐Bewußtsein, eben das, was in der Robotzentrale als seelischer Bestandteil lebte, hatte einmal ein anderes Leben geführt. Wie lange ist es nun her, daß ich nicht mehr mit Lebenden reden konnte? Wie lange bin ich hier eingesperrt, um Befehle von weither zu empfangen und Befehle an die Umgebung zu erteilen? Symboltransformer ein! Ich will, daß die Wesen mich hören! Morbotix oder 225‐Page war am Ende dieses anderen, eigentlichen Lebens für diese Station konserviert und erst vor kurzer Zeit wieder erweckt worden. Das war gewesen, als der Auftrag an die Station einging, das fremde Schiff einzufangen – und zu zerstören.
Was lag dazwischen, wie viele Jahre, Jahrhunderte, Jahrtausende? Hört ihr mich? Ich hatte einmal einen Körper, der starb und dem das Gehirn entnommen wurde, um als integraler und seelischer Bestandteil der MORB‐Station zu fungieren! Und täuscht euch nicht! Ich lasse euch meine Gedanken hören, weil ich so lange zu niemandem mehr sprechen konnte. Das ändert nichts daran, daß ihr sterben werdet! Euer Schiff geht unter, wenn der Planetoid seine Aufgabe erfüllt und sich bis auf den Zehnteldurchmesser verdichtet! Auch die Schutzschirme nützen ihn dann nichts mehr! Die molekular verdichteten Felsmassen werden es zermalmen! Ich kämpfe immer noch für die Ziele, die ich als körperliches Wesen verfolgt habe! Daß ihr überhaupt noch existiert, liegt … Besinnung. Symboltransformer aus! Es ging sie nichts an. Morbotix hätte ihnen ohne weiteres verraten können, daß er Schwierigkeiten hatte, den reinen Positronikteil der Steuerzentrale zu lenken, weil er diese Aufgabe noch nie zuvor in dieser Form gestellt bekommen hatte und nach dem jähen Erwachen unvorbereitet gewesen war. Zu vieles war auf ihn eingeströmt. Man hatte ihn integriert und alle wichtigen Voraussetzungen zum Funktionieren des Verbunds geschaffen. Wo lag der Fehler? Bei den Konstrukteuren, oder bei einem noch zu sensiblen Bewußtsein‐in‐ der‐Maschine? Wer hatte ihn integriert? Davon wußte er nichts mehr. Die Erinnerung hätte da sein müssen. Er wußte, daß er einmal anders gelebt hatte, aber in welcher Form? Wer waren seine Artgenossen gewesen? Wie hatten sie ausgesehen? Neid ergriff das Bewußtsein, Neid auf die beiden Wesen, die sich diese Fragen nicht zu stellen brauchten. Umdenken. Auf die Aufgabe konzentrieren. Bei allen Anfangsschwierigkeiten waren die Vorbereitungen zur Masseverdichtung jetzt abgeschlossen. Morbotix hatte etwas zu
lange gebraucht, um sich in seiner neuen Existenz zurechtzufinden, doch nicht zu lange. Symboltransformer ein! Die beiden Wesen hörten ihn. Er sah es wieder an ihren Reaktionen. Sie hatten ihn die ganze Zeit über gehört! Symboltransformerkontrolle! Die Transformer hatten ihren Dienst überhaupt nicht eingestellt. Dies war wieder ein Übermittlungsfehler an den Positronikteil. Morbotix erkannte, daß er sich zu weit vorgewagt hatte. Die Wesen wußten zuviel. Sie mußten sterben, bevor sie ihre Artgenossen warnen konnten. Auch den Eliminierungsbefehl an die Roboter hörten sie mit – und handelten blitzschnell aus ihrer Starre heraus. * Irgendein überragender Mechanismus formte verständliche Worte aus den Gedanken des lebenden Etwas, das in der Maschine war. Er ließ sie akustisch hörbar werden und in den Köpfen von Atlan und Tyari entstehen. Von mehr als nur einem Begriff wie gefesselt, hatten die beiden gelauscht, sich fast von der Faszination des Gehörten einlullen und von der spürbaren Tragik des Morbotix‐ Bewußtseins lähmen lassen. Die Veränderung bekamen sie dennoch schnell genug mit, als aus Mitteilungssehnsucht Aggression wurde. Atlan war gewarnt, bevor der Eliminierungsbefehl an die Roboter erging. Er riß Tyari mit sich zu Boden. Die Energiestrahlen schossen über sie hinweg und fuhren in die sich gegenüberstehenden Roboterkolonnen. Maschinen explodierten. Ein Feuersturm raste über die beiden Menschen hinweg. Atlan ließ sich jetzt nicht mehr beirren. Sein Ziel war vorgefaßt
gewesen, als er die Halle betrat. Er sprang auf die Beine und rannte geduckt auf den Diskus in der Mitte des Raumes zu, Tyari hinter sich herziehend. Drei, vier Roboter zerstrahlte er noch im Laufen. Dann stand er mit dem Rücken gegen die Diskusverkleidung. »Morbotix!« rief er. »Jetzt hörst du mich an! Laß deine Roboter weiterschießen, und sie zerstören nicht uns, sondern dich!« »Atlan«, flüsterte Tyari an seiner Stelle, »die Roboter verteilen sich unter den Verästelungen. Sie wollen uns von den Seiten unter Feuer nehmen. Sie werden uns regelrecht von dem Zentralgehirn fortwischen.« Er sah es. Seine Gedanken jagten sich. Wie konnte er das Gehirn dazu bringen, von seinem Wahnsinnsplan gegen die MJAILAM abzulassen? Wo gab es die verwundbare Stelle? Das Morbotix‐Bewußtsein befand sich in einer Spaltung. »Hör genau zu!« Atlan setzte alles auf einen wahnwitzigen Bluff. »Du glaubst, uns gefangen zu haben. Das ist das, was dir deine Sensoren zeigen. Du meinst, daß unser Schiff im Innern des Planetoiden begraben liegt, Morbotix oder 225‐Page! Du irrst! Überprüfe deine Systeme! Der positronische Teil dieser Anlage gaukelt dir Dinge vor, die nicht existieren! Er betrügt dich, weil du für ihn ein Fremdkörper bist! Verlange Auskunft von ihm! Im Innern des Planetoiden ist gar nichts! Auch wir sind nur Projektionen! Bevor unser Schiff versuchen wollte, auf dem Planetoiden notzulanden, erkannten wir die Falle! Wir strahlten lediglich eine Projektion unserer selbst ins Innere, konnten jedoch gleichzeitig in den Raum entkommen.« »Atlan …«, flüsterte Tyari. Er brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Was er da erzählte, wirkte noch nicht glaubhaft genug. »Morbotix, ich bin eine Projektion, und deine Sensoren sind darauf hereingefallen. Lasse den Weltraum absuchen, und du wirst unser echtes Schiff finden.« Das konnte der MJAILAM wertvollen Aufschub verschaffen. »Du warst einmal wirkliches Leben, also
verstehst du, daß wir als perfekte Projektionen des Lebens auch als solche gegen den Tod kämpfen. Uns kannst du durch deine Roboter umbringen lassen, doch du gewinnst dadurch nichts. Die Positronik betrügt dich. Sie ist auf unsere Täuschung hereingefallen. Sie betrügt dich. Sie betrügt dich und ist hereingefallen und weiß es nicht besser!« »Bei allen Planeten!« flüstere Tyari. »Atlan, glaubst du wirklich, das Robotgehirn so verwirren zu können?« Sie ergriff ihn am Arm, als er wie in einem Rausch weitersprechen wollte. »Atlan, was ich vorhin sagen wollte: Ich habe Gedanken von Brons Thermeck aufgefangen. Er ist mit der MJAI‐B aus Schwammkartoffel entkommen und hat die Riesenzecke vernichtet, als sie ihn abschießen wollte.« Atlan konnte nichts davon wissen, daß die MJAI‐B inzwischen waffenlos gestartet war. Er überlegte nicht lange. »Hast du gehört, Morbotix? Wenn dein Positronik‐Partner dich nicht wieder belügt, weißt du es schon. Dein Oberrobot ist vernichtet, und können Projektionen das tun? Die echte MJAILAM ist zurückgekehrt und hat es getan. Erkenne endlich, daß Leben sich immer nur mit Leben verbinden kann, und daß es verloren ist, wenn es sich auf einen Pakt mit Maschinen einläßt!« »Du lügst! Schweige!« Endlich hatte die Robotzentrale eine Reaktion gezeigt. Atlan schwitzte hinter der Helmscheibe. Sein Mund war trocken. Gegen MORB und seine Machtmittel richteten weder er noch die MJAILAM und ihre Besatzung etwas aus. Lief das Verdichtungsprogramm schon an? Atlan mußte wenigstens versuchen, Morbotix zu beschäftigen. Er mußte Morbotix beschäftigen und in die Enge drängen. »Ich kann jetzt auch Impulse aus dem Schiff empfangen«, flüsterte Tyari schnell. »Dort scheinen sich inzwischen alle Roboter zusammengezogen zu haben, auch die aus dem Schacht.« »Und die Felsen?«
»Sie haben sich nur etwas zusammengeschoben. Offenbar experimentiert das Robotgehirn noch. Es ist doch noch nicht ganz Herr dieser Anlage.« »Hörst du das, Morbotix?« rief der Arkonide. Die Zylinderroboter veränderten ihre Positionen nicht. Ein Befehl genügte, und die Eingeschlossenen würden erst gar nicht merken, wie sie starben. »Du versagst, weil dein Positronikteil dich betrügt und im Stich läßt. Wen werden deine Herren wohl dafür zur Rechenschaft ziehen? Töte uns, 225‐Page, und du eliminierst Projektionen!« »Du sollst schweigen!« klang es dumpf aus den Wänden. Tyaris Finger krampften sich in Atlans Arm. »In der MJAILAM wird jetzt beobachtet, wie sich die Wände wieder zu bewegen beginnen«, sagte sie heftig. »Sie schieben sich auf das Schiff zu und scheinen ineinander zu wachsen! Das Verdichtungsprogamm ist angelaufen, Atlan!« Ruhig bleiben! dachte der Arkonide, als alles in ihm nach Aktion schrie. Er konnte nichts anderes tun, als das Psychospiel fortzusetzen. »Morbotix, wir wissen mehr über dich als du selbst. Du erinnerst dich an deine Existenz als 225‐Page, aber nicht, wie diese Existenz beschaffen war. Ich sage es dir. Du gehörtest zum Rat der Pagen, der diesen Teil der Namenlosen Zone beherrscht. Die MJAILAM sollte vernichtet werden, weil sie dem Rat der Pagen ein Dorn im Auge war und zu einer Gefahr für ihn wurde. Du hast versagt, 225‐Page! Du hast eine Projektion eingefangen. Die echte MJAILAM wird den Planetoiden jetzt vernichten – bis auf diese Anlage. Dich und die gesamte Robotzentrale wird sie desaktivieren, und in deinem Bewußtsein werden wir alle Informationen finden, die dir selbst nicht mehr zugänglich sind. Mit diesem Wissen, Morbotix, besiegen wir deine Herren!« »Nein!« Die Lautsprecherstimme war dumpfer geworden. »Es gibt keine zweite MJAILAM im Weltraum. Außerdem könntest du nichts von ihren Aktionen wissen.«
»Ich bin die Projektion ihres Kommandanten, und als solche kenne ich jeden seiner Gedanken, als dächte ich ihn selbst.« »Es … gibt … keine zweite … MJAILAM!« Wieder veränderte sich die Stimme. Lichter flammten auf, flackerten oder erloschen. Die künstliche Schwerkraft schwankte plötzlich. Atlan hielt Tyari ganz fest. Etwas geschah innerhalb der Robotzentrale. Sie war verunsichert, aber noch nicht geschlagen. In dieser Situation platzte Tyari mit einer neuen Nachricht heraus: »Morbotix!« wandte sie sich direkt an das Gehirn. »Ich liefere dir den Beweis! Wenn du nicht nur Sensoren zur Beobachtung des Planetoideninnern hast, mußt du vor fünf Sekunden den Hyperfunkspruch registriert haben, der aus dem Weltraum kam und von der echten MJAILAM an ihre Projektion erging! Das war das Signal! Die Projektion wird sich auflösen, sie wird nicht mehr benötigt. Jetzt greift die MJAILAM an!« Atlan reimte sich seinen Teil zusammen. Der Spruch konnte nur von der MJAI‐B gekommen sein. »Ich … habe … es registriert«, kam es verzerrt aus den Wänden. »Ich bin … getäuscht worden. Ihr … werdet … mich nicht …!« Die Stimme brach ab. Tyari schrie auf. »Die Anlage zerstört sich, Atlan! Ich kann Morbotixʹ Gedanken auch jetzt nur spüren, aber nicht verstehen. Doch sie drücken Endzeitstimmung aus!« Noch mehr Lichter flackerten scheinbar unkontrolliert. Die Roboter drehten sich um ihre Achsen und vollführten sinnlose Bewegungen. Drei Maschinen glühten auf und schmolzen innerhalb von Sekunden zusammen. Die Druckwellen der Explosionen warf Atlan und Tyari zu Boden. »Raus hier!« brüllte der Arkonide ins Mikro. »So schnell wir können, Tyari!« Explosionen ereigneten sich jetzt auch in den Wänden. Die ersten Verbindungsleitungen zwischen dem Diskus und dort zerschmolzen. Es wurde glühend heiß. Atlan kam auf die Beine und
zog die Telepathin mit sich. »Er stirbt« rief Tyari. »Ich kann seine Impulse nicht mehr spüren! Morbotix lebt nicht mehr!« Und mit seinem selbst herbeigeführten Tod begann ein Weltuntergang. Atlan sah sich nicht mehr um. Die beiden Gefährten rannten um ihr nacktes Leben. Was sie erwartete, falls sie aus der brennenden Station entkamen, sagte Tyari lieber erst gar nicht. Sie verdrängte, was sie von Brick empfangen hatte. Die künstliche Schwerkraft setzte schlagartig aus, aber da befanden die Fliehenden sich schon auf dem Korridor und hatten ihre Rückenaggregate eingeschaltet. Wie zwei Pfeile schossen sie davon, gefolgt von Flammenlohen und Glutstürmen. Überall barsten die Wände jetzt, schossen Stichflammen in die Flugbahn. Noch schützten die IV‐Schirme Atlan und Tyari, obwohl sie fast schon überlastet waren. Eine Funkverständigung war nicht mehr möglich. Atlan fragte sich bange, ob es überhaupt noch einen Ausgang aus der Station gab, deren Robotzentrum explodierte, als die gewölbte Verteilerhalle gerade erreicht war. Der Ball aus verlaufenden Farben zersplitterte auf seinem Sockel. Atlan gab nicht auf. Er und Tyari jagten weiter auf den Ausgang zu. Die Druckwelle der Explosion von MORB traf ihn wie eine Titanenfaust und schleuderte ihn aus der Flugbahn. Er glaubte, Tyaris Schrei im Knistern des Helmempfängers zu hören, und es war das letzte, was er noch wahrnahm. Die Druckwelle warf ihn gegen eine Wand. Bewußtlos schwebte er in der Schwerelosigkeit, ein Spielball elementarer Energien. 7.
Uster Brick trommelte nervös mit den Fingern auf ein Pult. Die Worte einer Technikerin, die ihm über den Zustand der MJAILAM Bericht erstattet hatte, hallten in seinem Bewußtsein nach: »Man kann es auf zwei Arten sehen, Uster. Nach der offenbar von ihr selbst herbeigeführten Vernichtung der Robotzentrale hat die Kontraktion des Planetoiden aufgehört. Hier bewegt sich nichts mehr, und außer Fasto haben wir momentan keinen Gegner mehr. Andererseits sitzen wir so fest wie das Ei in der Schale. Die MJAILAM kommt ohne Hilfe nie mehr aus Schwammkartoffel heraus.« Der Kreuzer war nur durch die Prallschirme vor dem Zerdrücktwerden bewahrt worden. Auch jetzt stabilisierten nur sie den Raum um sie herum. Der Vergleich mit dem Ei stimmte. Das Schiff war rundherum von den Felsmassen eingeschlossen. Es gab noch einige wenige Gänge, doch keine mit einem Durchmesser von mehr als zwei oder drei Metern. Was brauchen wir jetzt noch Gegner! dachte Brick. Diese verdammte Robotzentrale hat alles erreicht, was sie wollte! Wir sind erledigt! Natürlich gab es noch einen Hoffnungsschimmer, doch der Pilot hatte zu viele Enttäuschungen erlebt, um sich an diese einzige, vage Hoffnung zu klammern. Soweit erkennbar, waren unmittelbar nach der Explosion der Robotzentrale auch alle Zylinder‐ und Zeckenroboter einfach zusammengeschmolzen. Keine Spionsonde hatte noch eine intakte Maschine gefunden. Es gab keine künstliche Schwerkraft mehr, und der nicht entwichene Sauerstoff war in kleinen Kammern komprimiert, die völlig von der Außenwelt abgeriegelt waren. Die Solaner befanden sich nun fast alle im Zustand der Apathie. Es hatte wieder Selbstmordversuche gegeben. Nockemann war zu erschöpft, um weiter Hilfe leisten zu können. Auf Bricks Anweisung hin hatte Blödel ihm ein starkes Schlafmittel injiziert. Der
Spezialroboter war der einzige, der jetzt noch von Deck zu Deck huschte und die aus ihrer Trance erwachenden Männer und Frauen mit Drogen regelrecht vollpumpte. Bald würde sein Vorrat erschöpft sein. Mona Nasch versuchte, sich so gut wie möglich nützlich zu machen. Außer ihr gab es noch höchstens zehn Menschen, die dem psychischen Druck standhielten. Groth Hadagar befand sich in einer von außen verriegelten Kabine. Joseph Lindsay half Mona. Diese beiden hatten endgültig die Nase von Extratouren voll. Und mit Hadagar sollte sich Atlan beschäftigen, sobald er wieder auf dem Damm war. Brick wartete auf ihn, um nicht mehr allein die Verantwortung tragen zu müssen. Die Positronik antwortete auf seine Fragen entweder gar nicht mehr, oder ihre Auskünfte waren wirr. Vor allem über ihren eigenen Schaden konnte oder wollte sie nichts sagen. Brick wußte nur, daß es einen Zusammenhang zwischen den plötzlichen Fehlfunktionen und dem Ende der Robotzentrale geben mußte. Etwas war von dort ausgegangen und hatte ganz offensichtlich auf die Positronik übergeschlagen. Zum Glück gab es noch keine Anzeichen dafür, daß die Schäden sich auf die Schiffssysteme auswirkten. Es kam Brick wie eine Ewigkeit vor, bis Atlan und Tyari endlich in der Zentrale erschienen. Dann folgten ihnen auch Hellmut und Mary Bryll. Alle außer Atlan standen unter dem Einfluß starker Stimulantien. Sie sprachen kein Wort, setzten sich und blickten den Piloten nur fragend an. Allerdings konnten ihre starren Mienen etwas von dem erzählen, was sie durchgemacht hatten. »Ich nehme an, Blödel hat euch schon gesagt, wie wir euch aus der zusammenstürzenden Station herausgeholt haben«, begann der Pilot. »Unsere Kampfroboter schossen sich mit ihren Desintegratoren den Weg frei. Sie loszuschicken, um nach euch zu suchen, war das erste, was ich nach der Selbstzerstörung der gegnerischen Maschinen tat. Wenn ich ehrlich bin, glaubte hier niemand mehr daran, daß auch nur einer von euch noch am Leben
wäre. Die Roboter schufen einen neuen Zugang in die Station, nachdem sich die Wände vor ihr ebenfalls verdichtet hatten. Als dann die neue Öffnung entstand, schoß der Sauerstoff explosionsartig aus dem Korridor. Du, Atlan wurdest mit herausgespült, Mary ebenfalls. Nach dem Entweichen der Luft erloschen die Brände von selbst. Tyari und Joscan wurden später gefunden.« Atlan nickte. Brick berichtete weiter von der plötzlich einsetzenden Kontraktion der Felsmassen. Der Arkonide hob müde eine Hand, als er seine Meinung vortrug, das Robotgehirn hätte also sein Ziel erreicht. »Nicht ganz, Uster«, sagte er. »Dann gäbe es keinen einzigen Stollen mehr. Schwammkartoffel sollte um das Zehnfache verdichtet werden. Diesem Druck hätten auch unsere Prallschirme nicht standgehalten. Das Programm lief, bis sich Morbotix selbst aufgab. Mit seinem Tod und der Zerstörung der Anlage endete es. Der Planetoid hat sich so, wie er jetzt ist, wieder stabilisiert.« Er berichtet knapp von Morbotix und den Umständen, die ihn von einer »echten« MJAILAM im Weltraum überzeugt hatten. »Ohne den Hyperfunkspruch hätte ich es nicht geschafft«, gab der Arkonide zu. »Uster, was ist aus der MJAI‐B geworden?« Brick stand auf und ging in der Zentrale auf und ab, die Arme hinter dem Rücken. Endlich blieb er vor den Geretteten stehen. »Die Jet wurde angegriffen, kurz bevor sie die Oberfläche erreichte. Ihre Schutzschirme hielten stand. Sie kam aus dem Schacht und sah sich der riesigen Raumzecke gegenüber. Waffenlos schien sie keine Chance zu haben.« Brick knallte die Faust auf seine Sitzlehne. »Sonst hätte sie uns ja auch hier herausschweißen können! Daß die Waffensysteme wieder ausfielen, haben wir nur diesem Fanatiker Hadagar zu verdanken! Du wirst dir diesen Kerl vornehmen müssen, Atlan.« Der Arkonide nickte flüchtig. »Weiter, Uster.«
Brick holte tief Luft. »Ich weiß nicht, welcher Teufelskerl auf die Idee kam, die Raumzecke einfach zu rammen. Wenn man verzweifelt genug ist, versucht man auch das Verrückteste – und sie hatten Erfolg. Die MJAI‐B spielte eine Zeitlang Katz und Maus mit der Zecke, und als deren Schüsse die Energieschirme zu durchschlagen drohten, flog sie einen Kollisionskurs. Die Zecke konnte nicht mehr schnell genug ausweichen und verging in den Schirmen der Jet. Thermeck berichtete uns das über Hyperfunk. Das war dieser Impuls, den die Robotzentrale auffing.« »Und ich las davon in deinen Gedanken, Uster«, sagte Tyari. »Ich weiß selbst nicht, wie ich plötzlich sowohl dich als auch Brons espern konnte. Vielleicht war es auch bei mir die Verzweiflung, die zusätzliche Kräfte freisetzte. Ja, sicher war es so.« Brick brummte etwas vor sich hin, bevor er fortfuhr: »Jedenfalls hielten sich Thermeck und seine drei Begleiter danach genau an deine Anweisungen, Atlan. Sie konnten für uns nichts mehr tun und flogen also die Position des Junk‐Nabels an. Sie fanden ihn auch, und zwar so, wie er vor der Blockade gewesen war. Wir hielten noch immer Hyperfunkkontakt. Thermeck …« »Augenblick.« Atlan streckte eine Hand aus. »Uster, der Nabel war wieder frei? Und was meinst du konkret mit der Blockade?« »Das wollte ich ja gerade sagen. Thermeck berichtete von heftigen Strahlenschauern in die Namenlose Zone. Das andere sind Vermutungen, aber meiner Meinung nach ziemlich gesicherte. Die MJAI‐B flog nicht direkt durch den wieder passierbaren Nabel, sondern ortete und wertete zuerst einmal aus. Aufgrund der Messungen kam Thermeck zu dem Schluß, daß das, was den Nabel verstopft hatte, ein Himmelskörper von beträchtlichen Ausmaßen, extrem hoher Dichte und Gravitation gewesen sein muß. Er sprach von der Möglichkeit, daß es sich um eine weiße Zwergsonne gehandelt haben konnte, die nun aber zum Normaluniversum hin ganz anders wirkte als in die Namenlose Zone. Andernfalls wären
wir ihrem Sog nicht entkommen, und auch die Begleitphänomene wären ganz anders gewesen.« »Wenn das stimmt«, kam es von Hellmut, »galt diese Maßnahme des Gegners nicht nur uns. Er wollte nicht nur verhindern, daß wir der Namenlosen Zone und seiner Falle entkommen. Es war gleichzeitig ein Schlag gegen die SOL, die auf ihrer Warteposition in den Gravitationssog gerissen werden sollte.« »Oder tatsächlich gerissen wurde«, flüsterte Tyari erschüttert. Brick setzte sich wieder, beugte sich vor und legte den Kopf in die Hände. »Das ist es ja«, sagte er. »Das ist unsere verdammte Unsicherheit! Der Hyperfunkkontakt zur MJAI‐B riß ab, als die Jet durch den Nabel flog. Was Thermeck und seine Leute dort dann gesehen haben, wissen wir nicht. Vielleicht gibt es keine SOL mehr – und damit keine Hoffnung für uns auf Rettung. Es ist noch nichts aus dem Nabel zu uns zurückgekommen, weder die MJAI‐B noch die SOL. Und seit Thermecks Verschwinden aus der Namenlosen Zone sind inzwischen fast zehn Stunden vergangen, kaum eine halbe Stunde mehr, als wir brauchten, um euch zu finden, zurückzutransportieren und wieder auf die Beine zu bringen.« Damit war im Grunde alles gesagt, und Bricks Worte waren wie ein Urteilsspruch. War es ein weiteres Omen, daß nur Sekunden später gemeldet wurde, Hadagar habe sich in seiner Kabine das Leben genommen? Atlan starrte lange auf die Schirme, die nichts zeigten außer der Felsenschale um die MJAILAM herum. Ihm war danach, etwas zu sagen. Doch alles, was ihm einfiel, wären letzten Endes nur Phrasen gewesen. War die Selbstvernichtung der Robotzentrale von der fremden Macht registriert worden, die diese Falle aufgebaut hatte? »Der Rat der Pagen«, murmelte der Arkonide. »Morbotix bezeichnete sich als 225‐Page. Wenn er sich nicht umgebracht hätte, hätte er uns vielleicht wirklich zeigen können, wie unser Feind
aussieht.« »Wenn er sich nicht umgebracht hätte«, hielt Brick ihm entgegen, »gäbe es uns nicht mehr.« Alle Gedankengänge endeten in einer Sackgasse. Atlan dachte an Chybrain. Draußen aber, in den Gesteinsmassen des Planetoiden, hatte Fasto das Chaos überlebt. Die Kontraktion hatte seine Pilzkulturen vernichtet. Das zum Leben im Vakuum mutierte Wesen, wie Donku vielleicht letzter Angehöriger eines untergegangenen Volkes, schob sich wieder durch das Gestein und auf die MJAILAM zu. Ihre Schutzschirme vermochte er nicht zu durchdringen, doch irgendwann würden wieder Wesen aussteigen. Sie hatten Donku getötet, vor allem aber dessen Nahrungssack vernichtet, auf den Fasto immer so gierig gewesen war. In seinem Magen wütete der Hunger. Die Wesen hatten ihm alles genommen. Dafür wollte er sich nun sie nehmen. Er hegte keine Feindschaft gegen sie. Sie waren nur das einzige, das er noch fressen konnte. Und fressen mußte er, um zu überleben. Epilog Ein Impuls durcheilte mit Hypergeschwindigkeit die Namenlose Zone. Sein Absender verstand sich als »Überwachungssonde HAP‐ 5X.« Mit dem Impuls meldete er an jemand, den er als »4053‐Page« bezeichnete, daß die MJAILAM untergegangen und der Junk‐Nabel nun wieder offen sei. Er fügte den Zusatz hinzu, daß wegen des Nabels wohl weitere Maßnahmen erforderlich seien. ENDE
Da die erhoffte Hilfe von der SOL ausbleibt, müssen Atlan und seine Gefährten alles tun, um sich aus dem Innern des Planetoiden des Schreckens zu befreien, den man ursprünglich mit dem so harmlosen Namen »Schwammkartoffel« bezeichnet hatte. Wie es weitergeht mit Atlan und seiner Crew, das berichtet Peter Griese in Atlan Band 659. Der Roman trägt den Titel: BIO‐IMITATOREN