Nr. 432
Piraten zwischen den Sternen Mit der DARIEN auf Kaperfahrt von Hans Kneifel
Nachdem Atlantis-Pthor, der Dimen...
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Nr. 432
Piraten zwischen den Sternen Mit der DARIEN auf Kaperfahrt von Hans Kneifel
Nachdem Atlantis-Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, in der Peripherie der Schwarzen Galaxis zum Stillstand gekommen ist, hat Atlan die Flucht nach vorn ergriffen. Nicht gewillt, untätig auf die Dinge zu warten, die nun zwangsläufig auf Pthor zukommen werden, fliegt er zusammen mit Thalia, der Odinstochter, die Randbezirke der Schwarzen Galaxis an und erreicht das sogenannte MarantronerRevier, das von Chirmor Flog, einem Neffen des Dunklen Oheims, beherrscht wird. Dort, von Planet zu Planet eilend und die Geheimnisse der Schwarzen Galaxis ausspähend, haben Atlan und seine Gefährtin schon so manche tödliche Gefahr gemeinsam bestanden – bis der Planet Dykoor zu Thalias Grab wurde. Doch auch nach Thalias Tod geht für den Arkoniden die kosmische Odyssee weiter – und zwar von Säggallo zum Planeten Ghyx und von dort zum Stern der Läuterung, wo Atlan in eine nahezu ausweglose Situation gerät. Jetzt, als Galionsfigur auf Gedeih und Verderb an ein Organschiff gefesselt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als den neuen Besitzern des Schiffes zu gehorchen, den PIRATEN ZWISCHEN DEN STERNEN …
Piraten zwischen den Sternen
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide als Galionsfigur eines Organschiffs. Gridersold-Herp - Anführer einer Bande von Weltraumpiraten. Gink Nik Meus - Ein Noder. Cembergall-Flyrt - Atlans Freund von Xudon, dem Marktplaneten.
1. Je mehr sich das Organschiff dem Planeten näherte, desto mehr schwand Atlans Hoffnung. Sie war ohnehin nicht groß gewesen. Seit das Extrahirn schwieg und seit er als lebender Toter an die DARIEN gefesselt war, dachte er nur noch an eines: Flucht um jeden Preis. Aber die Chance, zu fliehen, war niemals geringer gewesen. GridersoldHerp, der Anführer der Trimor-Noots, vergrößerte sein Heer und schien das Schiff als sein Reich zu betrachten, wo er nach seinen Launen schalten und walten konnte. Ebenso furchtbar würde es für die Noots-Kolonie werden, die Atlan jetzt ansteuerte, weil er den mehr oder weniger präzisen Befehl dazu erhalten hatte. In den Speichern, die lediglich grobe Informationsblöcke über die einzelnen Welten und Stationen des Marantroner-Reviers enthielten, hatte er Quartu Refeal gefunden, einen Planeten, von dem die Scuddamoren neuen Nachschub an Verformbaren holten. Von diesen Tatsachen wußten die Männer um Gridersold-Herp nichts. Sie genossen jede Stunde ihres neu gewonnenen Lebens voller Qualitäten, von denen sie seit ihrem ersten Kontakt mit den kollektiven Erinnerungen der Trimors nur hatten träumen können. Ihre Körper unterzogen sie, während Atlan die DARIEN auf den Planeten zusteuerte, wahren Reinigungsorgien. Sie kleideten sich ausgesprochen kostbar und behängten sich mit Dingen, die in ihren Augen den Charakter von Schmuck hatten. Ein Lautsprecher knackte, dann ertönte die Stimme des Anführers. »Wie lange dauert es noch, Galionsfigur, bis wir Quartu erreichen?« »Noch einige Stunden«, sagte Atlan. Es entsprach der Wahrheit. Es gab für den
Pthorer so gut wie keine Möglichkeit, in seinem Zustand die Unwahrheit zu sagen oder gar Pläne zu entwickeln, die den Machthabenden an Bord schaden konnten. »Wird es leicht für uns sein, die Siedlung zu überfallen?« wollte Gridersold wissen. Der kleine feuerrote Würfel Gink Nik Meus schien aufzuwachen und schob seine Augen aus dem kurzhaarigen Fell hervor. Sie blinzelten Atlan zu wie organische Scheinwerfer. »Das kann ich nicht sagen. Jedenfalls muß es in äußerster Schnelligkeit vor sich gehen.« »Aus welchem Grund?« »Es kann sein, daß Scuddamoren-Schiffe in der Nähe sind. Sie kommen sofort zur Hilfe, wenn ein Fremder ihr Machtgebiet angreift. Die DARIEN ist schnell, ich bin ein guter Pilot, aber wir können einem Verband schneller Organschiffe nicht ausweichen oder entkommen. Mein Rat: Beschränkt euch auf eine kleine, erfolgreiche Aktion!« Wieder hörte man im gesamten Schiff das übermütige Gelächter aus der Kehle des Reptilienwesens. »Bisher waren alle unsere Aktionen schnell und erfolgreich.« »Richtig. Aber …« »Du widersprichst?« »Nein. Ich gebe nur zu bedenken«, erklärte Atlan müde, »daß in keinem Fall ein Gegner vorhanden war. Jedenfalls kein ernstzunehmender.« »Das ist richtig. Aber mit deiner Hilfe werden wir auch auf Quartu Refeal Erfolg haben.« »Es ist zu vermuten«, schloß Atlan. Seit dem Start von Trimor, wo Cembergall-Flyrt zurückgelassen werden mußte, erlebte Atlan die Ereignisse in einer seltsamen Art aktiver Ohnmacht mit. Sein Leben war
4 abhängig von einer Kette der Anordnungen und Befehle des Anführers. Hilfe oder Erlösung von seinem Zustand waren nicht in Sicht und erschienen ohnehin unmöglich. Er besaß lediglich sein Leben, den Zellschwingungsaktivator und das Goldene Vlies. »Wenn sie uns dieses Mal nicht erwischen«, sagte plötzlich, abermals mit der täuschend nachgeahmten Stimme Cembergall-Flyrts, der Noder, »dann fassen sie uns das nächstemal, die Scuddamoren.« »Das vermute ich auch«, gab Atlan zurück. »Aber was kann ich unternehmen?« »Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden«, sagte Gink. »Ich muß nur noch darüber nachdenken.« Gink Nik Meus war ein höchst merkwürdiger Partner. Die wenigen Speicherinformationen sagten über die sprachbegabten Wesen des Planeten Noderzerf kaum etwas aus. Hin und wieder entwickelte Gink seine langen Gliedmaßen und verließ seinen Stammplatz auf dem breiten Instrumentenpaneel. Dann wuchsen ihm weiche Füße mit Saugnäpfen aus den Endgliedern der Beine, die keine Ähnlichkeit mehr mit seinen ehemaligen Kletterzehen hatten. Gink verschwand für einige Stunden im Innern des Organschiffs. Wahrscheinlich ernährte er sich dann aus dem Bordsystem oder er betrachtete ungesehen die Noots. Jetzt zog er wieder die Augen unter das Fell und wurde scheinbar zu einem Teil der Einrichtung. Kurze Zeit später tauchte die Sonne des Quartu RefealSystems auf. Atlan verglich die Ortungsergebnisse mit den Charakteristika der Informationen und suchte nach dem Echo des kleinen Planeten, auf dem sich die NootKolonie befand. Die DARIEN führte eine Kursänderung durch, dann jagte das hammerförmige Organschiff mit der Sonne im Heck auf Refeal zu. Es war ein unscheinbarer, kleiner Planet. Je mehr Einzelheiten der Oberfläche sichtbar wurden, desto stärker wurde dieser Eindruck. Scharfgezackte Gebirgszüge, in deren Tälern Schnee oder Eis zu liegen schien, warfen spitzige Schatten. Große Savan-
Hans Kneifel nengebiete, von Trockentälern wie von hellen Adern durchfurcht, tauchten auf. Ein flaches Meer schob sich ins Bild. Das Makroskop, auf äußerste Vergrößerung geschaltet, zeigte weder Städte noch irgendwelche bodengebundene Verkehrswege größerer Breite. Atlan kontrollierte kurz die Kabinen der DARIEN. Die Noots bereiteten sich darauf vor, einen neuen Beutezug durchzuführen. Sie zogen die abenteuerlich bemalten und geschmückten Raumanzüge an. In dieser barbarischprunkvollen Verkleidung wirkten sie grotesk, aber gefährlich. Sie starrten förmlich vor Waffen, ebenso die gleiterähnlichen Raumfahrzeuge, von denen einige in der Schleuse festgezurrt waren. Atlan konzentrierte sich darauf, die Siedlung der Noots zu finden. Sie waren, laut der Informationen, nicht hochtechnisiert; die Funkstille, die auf der Oberfläche des Planeten herrschte, unterstrich die Schwierigkeit, jenes winzige Gebiet schnell auszumachen. Ununterbrochen arbeiteten die verschiedenen Meßgeräte. Schließlich, nach mehreren Umkreisungen, jeweils über andere Teile Refeals, erschienen winzige Echos auf den Schirmen. Es mußte sich um Funkverkehr sehr schwacher Leistung handeln. Atlan lokalisierte die wenigen Quellen und rief dann in die Kammern und Korridore der DARIEN: »Ich habe die Siedlung gefunden. In einer halben Stunde können wir landen.« »Ausgezeichnet.« Atlan ließ das Schiff schräg auf die Siedlung herunterschießen, fing es in einigen hundert Metern Höhe wieder ab und schlug einen engen Kreis ein. Unter ihm lagen ausgedehnte Felder und kleine Waldstücke, von Seen und Flußläufen durchschnitten, und die Häuser der Noots versteckten sich auf Inselchen, unter Bäumen und zwischen vereinzelten Felsen. Es gab am Rand der Siedlung eine Zone, die verwildert war oder noch nicht erschlossen, und nach einigen Runden senkte Atlan die DARIEN auf diese Kreisfläche.
Piraten zwischen den Sternen »Wir sind da. Ihr habt die Bilder gesehen. Vermutlich werden die Noots einen Sender haben, mit dem sie nach Hilfe rufen; dann heißt es, sich schnell zurückzuziehen«, sagte Atlan. »Öffne die Schleuse!« kam das Kommando. Die Noots rannten in die Schleusenkammer hinein, besetzten ihre Gefährte und hatten die Raumanzüge nicht geschlossen. Die DARIEN hing bewegungslos fünfzig Meter über dem Boden. Die breite Luke glitt summend auf. Fünf Raumgleiter, die Werkzeugarme weit abgespreizt, schossen aus dem breiter werdenden Spalt. Die Noots schwärmten fächerförmig auseinander. An verschiedenen Stellen kamen jetzt die Bewohner der Siedlung aus ihren Häusern oder von ihren Arbeitsstellen und staunten das Schiff an. Sie ahnten nichts von ihrem Schicksal und tappten verblüfft näher heran. Aber zwischen dem ersten Siedler und dem Organschiff betrug die Distanz mehr als tausend Meter. Wieder hörte Atlan den Sprechfunkverkehr der zwanzig Trimor-Noots mit und wunderte sich, wie geschickt der Anführer vorging. Die Gleiter schwebten geradeaus und verschwanden binnen weniger Sekunden hinter der Kulisse aus Hügeln, Bäumen und Behausungen. Ahnungslos kamen noch mehr Siedler zum Vorschein und näherten sich dem Schiff. Atlan aktivierte die Außenmikrophone und stellte sie auf höchste Empfindlichkeit ein. Sofort hörte er die charakteristischen Geräusche von Lähmstrahlerschüssen. Aber die Linsen erfaßten nichts – derjenige Teil des Überfalls, der gerade stattfand, vollzog sich jenseits der optischen Barriere. Nach einiger Zeit tauchte wieder einer der Raumgleiter zwischen den Baumwipfeln und den Hausdächern auf. Die Maschine bot einen merkwürdigen Anblick. Mit jedem ihrer armförmigen Werkzeugglieder hielt sie den Körper eines Noots umklammert. In rasendem Flug jagte die Maschine auf
5 die offene Schleuse zu. Ein Pirat steuerte, und zwei andere feuerten rechts und links mit den schweren Lähmstrahlern abwärts in die Gruppen der Noots. Die Geschwindigkeit des Gleiters war groß, es befanden sich nur wenige Noots zwischen dem Waldrand und der DARIEN, daher wurden nur wenige der Flüchtenden getroffen. Die Siedler begriffen, daß es sich nicht um einen Freundschaftsbesuch, sondern um einen echten Überfall handelte. Sie rannten in alle Richtungen auseinander. Noch einige wurden getroffen und zu Boden geschleudert, dann bremste der erste Raumgleiter dicht vor der Schleuse ab. Die Noots wurden von den Werkzeugen einfach abgeladen. Sofort drehte der Steuermann das Gerät herum, jagte aus der Schleusenkammer hinaus und auf die Gestalten zu, die vor dem Schiff am Boden lagen. Während die Greifer zupackten und einen Körper nach dem anderen aufhoben, brummte die nächste Maschine heran. Sie schleppte ein Netz hinter sich her, das mit den ineinander verkeilten Körpern von Noot-Frauen gefüllt war. Auf dem Steuersitz thronte GridersoldHerp und feuerte immer wieder seinen Hochenergie-Strahler in die Luft ab. Blitze und röhrende Donnerschläge begleiteten den Weg dieses barbarischen Gespanns ins Schiff. Inzwischen waren alle Noots, die nicht betäubt zwischen dem Schiff und der relativ sicheren Deckung lagen, geflohen und verschwunden. Aber ununterbrochen hörte Atlan das Geräusch von Schüssen. Halb entsetzt, halb von der grausigen Komik des Geschehens gelähmt, beobachtete der Arkonide, wie Herp das Netz einfach öffnete und die Körper rücksichtslos an der hinteren Wand der Schleuse heruntergleiten ließ. Auch dieser Gleiter verließ gerade den Raum, als bereits der dritte mit einer ähnlichen Fracht heranschwebte. Die Galionsfigur hatte keine andere Möglichkeit: sie mußte zusehen und warten, bis ein anderer Befehl eintraf. Die Möglichkeit, die Schleuse zu schließen und zu starten, verbot sich: irgendein geheimnisvoller Vorgang lähmte
6 seinen Willen völlig, solange er im Bann eines Befehls stand. Die fünf Gleiter flogen hin und her, sammelten männliche und weibliche Noots ein und luden sie ab. Die Schüsse wurden seltener. Atlan zuckte trotz der unzähligen Anschlüsse und Sensoren zusammen, als die starke Sendeleistung in die Antennen schlug und durch die Verstärker hochgefahren wurde. Ein Hilferuf in Garva-Guva wurde abgestrahlt. »… Überfall! Ein kleines Organschiff, das DARIEN heißt, terrorisiert unsere Siedlung. Wenn jemand in der Nähe ist, kommt und helft uns. Sie verschleppen unsere Frauen. Sie dringen in unsere Häuser ein. Sie lähmen jeden, der sich ins Freie wagt, und bringen ihn ins Schiff … Achtung, an alle Schiffseinheiten, die unsere Frequenz hören …« Nach den ersten Worten hatte Atlan den Text auf die Funkfrequenz des NootSprechfunks geschaltet. Nach einigen Sekunden meldete sich Gridersold-Herp und donnerte, noch immer im Vollgefühl seines Sieges: »Das Schiff startklar machen! Alle Männer sind in einer Minute in der Luft und auf dem Weg in die DARIEN. Wir haben genug erbeutet.« Die Männer gehorchten augenblicklich. Die Jahrzehnte andauernden Kampfes auf der Vulkanwelt hatten sie zu perfekten Piraten gemacht. Ein Gleiter nach dem anderen schwebte heran, lud die Körper ab und wurde in fieberhafter Eile festgemacht. Bereits als der letzte die Portale der äußeren Schleusenanlage passierte, schrie der Anführer: »Sofort starten. Zurück zum Satelliten Glückliche Lava!« Atlan erwiderte, unruhig geworden: »Ich starte. Aber du solltest mit diesem Namen nicht sorglos umgehen. Vielleicht hört jemand diesen Funkspruch ab.« »Wie auch immer«, gab Gridersold zurück, »machen wir, daß wir wegkommen.« Der Pthorer antwortete bereitwillig:
Hans Kneifel »Die DARIEN ist bereits unterwegs.« Die Schleuse schloß sich. Das startende Schiff schoß mit voller Leistung der Antriebseinheiten schräg aufwärts. Dann verschwand das Organschiff zwischen den treibenden weißgelben Wolken und ging auf direkten Kurs zum Stationsasteroiden der Scuddamoren. Ein wenig später erfuhr Atlan, daß insgesamt siebzig Noots gekidnappt worden waren. Neununddreißig von ihnen waren weibliche Noots. »Falls es nicht ohnehin für eine Galionsfigur selbstverständlich sein sollte«, riet Gridersold-Herp später über die Interkomanlage seinem willenlosen Piloten, »befehle ich es ausdrücklich. Während des gesamten Rückflugs darf kein Scuddamorenschiff unseren Kurs erfahren oder nachrechnen können. Du hast alle entsprechenden Maßnahmen zu treffen.« »Ich werde gehorchen«, versprach Atlan. Die männlichen Gefangenen waren von den Piraten sicher untergebracht worden. Die zwanzig sogenannten Raumfahrer beschäftigten sich während des Fluges ausschließlich mit ihrer weiblichen Beute. Atlan ahnte, daß sich im Innern des Satelliten binnen kurzer Zeit ein gefährliches Piratennest entwickeln würde. Bei jedem Raubzug würde er dabei sein und sich immer größeren Gefahren aussetzen müssen. Seine Ohnmacht war ihm gegenwärtig, aber jetzt begann er, Gridersold-Herp zu hassen. Früher oder später kam für sie alle das Ende, denn die Scuddamoren konnten nicht dulden, daß sich im Zentrum ihres Machtbereichs auch nur die geringste Widerstandsgruppe aktiv ausbreitete.
2. Obwohl Atlan mit Gink Nik Meus allein in der DARIEN wartete, bedeutete es keineswegs die Freiheit für ihn. Der letzte Befehl von Gridersold-Herp band ihn und das Organschiff an den Satelliten. Tagelang blieben die Piraten und ihre Opfer in Glücklicher Lava verschwunden. Nur ein einziger
Piraten zwischen den Sternen Funkkanal war übriggeblieben. Über ihn vergewisserte sich der Anführer in unregelmäßigen Abständen immer wieder, ob die Galionsfigur auch der letzten Anordnung treu blieb. Regungslos schwebte das Organschiff neben dem unregelmäßigen Felsbrocken. Inzwischen bewunderte der Pthorer die Führungsqualitäten des wuchtigen Noots. Noch während des Fluges hatte GridersoldHerp die Gefangenen überzeugt und mit sich gerissen. Selbst die Noot-Frauen, die normalerweise in der Abgeschlossenheit eines Haushalts blieben, verhielten sich geradezu auffordernd schamlos. Cembergall-Flyrt wäre mehr als entsetzt gewesen. Atlans Phantasie schlug wilde Kapriolen. Vermutlich, sagte er sich, entsprachen seine Vorstellungen der Wahrheit. Dort, hinter den massigen Felsschichten, verwandelten sich schrittweise harmlose und fleißige Farmer und Arbeiter in Piraten. Sie wurden vom Luxus geblendet, der aus der Beute vergangener Raubzüge bestand. Gridersold-Herp spiegelte ihnen eine neue und erregende Zukunft vor. Sicherlich glaubte er selbst daran. Atlans stets waches Mißtrauen sagte ihm aber, daß die Zeit eindeutig gegen Gridersolds Piraten arbeitete. Obwohl er nicht den geringsten Grund hatte, ein Scuddamorenschiff herbeizuwünschen, wartete er darauf. Es würde einerseits das Warten beenden, andererseits konnte er vielleicht eine winzige Chance ergreifen und sich retten. Welche wahnwitzige Idee würde der Anführer der Piraten als nächsten Anlaß für einen Überfall oder eine Plünderung vorschieben? Atlan brauchte nicht lange zu warten. Irgendwann in der folgenden Zeitspanne öffnete sich ein kleines Schleusenschott in Glücklicher Lava. Ein scharfer Lichtstrahl zuckte hinüber zum Organschiff. Dann stieß sich Gridersold-Herp, deutlich zu erkennen an seinem phantastischen Aufzug, kraftvoll
7 ab und schwebte hinüber zur Schiffsschleuse. Nur eine dünne Sicherungsleine verband ihn mit dem Satelliten. Kurze Zeit später stand der Noot hinter Atlan in der transparenten Kanzel. »Du schläfst niemals, Galionsfigur?« erkundigte er sich. Atlan hatte zwar die Beleuchtung allgemein gedrosselt, aber er schlief tatsächlich nicht. Er hatte damit zu tun, den Weltraum abzusuchen. »Selten«, entgegnete Atlan. »Im Augenblick versuche ich, euch im Satelliten vor der Entdeckung zu schützen.« »Ungemein lobenswert«, grinste Gridersold. »Wir haben beschlossen, unseren Satelliten wohnlicher zu gestalten.« »Ich erkenne deine Absicht«, sagte Atlan. »Tatsächlich?« spottete dröhnend der Anführer. »Du denkst an einen neuen Überfall?« »Eine andere Möglichkeit kann ich nicht erkennen«, sagte Atlan resignierend. »Du denkst in den richtigen Bahnen«, pflichtete ihm Gridersold bei. »Wir brauchen Möbel und Speisen, Spezereien und Topfpflanzen und derlei Dinge, mit denen wir Schönheit, Kultur und Wohlleben in die Glückliche Lava hineinverpflanzen können. Und viele Lesespulen und ähnliches Anschauungsmaterial.« »Und wie sieht meine Rolle darin aus?« erkundigte sich Atlan, obwohl er ziemlich genau wußte, welche Antworten er bekommen würde. »Du mußt in den Speichern einen Ort finden, auf dem wir länger suchen können, ohne sofort wieder fliehen zu müssen. Zwar war Quartu Refeal eine hervorragende Gelegenheit, Mannschaften zu gewinnen. Aber wir müssen in Ruhe aussuchen und wählen können. Kennst du einen solchen Platz?« Atlan dachte sofort an Xudon, an den offenen Markt, aber er schob diese Überlegung ebenso schnell wieder zur Seite. Es war zu gefährlich; die Piraten würden gegen eine zu große Übermacht kämpfen müssen. Schon suchte er wieder unter verschiedenen Stichworten in den Organschiffspeichern.
8 Langsam antwortete er: »Ich werde dich benachrichtigen, wenn ich eine Stelle finde, die dir zusagt.« »Wie lange müssen wir warten?« »Einige Stunden. Ich kann mich nicht voll darauf konzentrieren.« »Warum?« »Weil ich ununterbrochen die Ortungsgeräte bedienen muß. Ich sage dir, daß die Scuddamoren uns bereits suchen. Beziehungsweise ein Schiff namens DARIEN. Sie sind schnell und erbarmungslos. In kurzer Zeit werden sie uns gefunden haben. Dann sterben wir alle.« Diesmal klang Gridersolds Lachen etwas nachdenklicher. »Den Tod fürchten wir nicht. Wir haben gelernt, an seiner Seite aufzuwachsen. Bis zu diesem Moment aber werden wir unser Leben so führen, wie es uns einfällt. Und es ist uns jetzt eingefallen, daß wir mehr Luxus brauchen.« »Ich finde schon den einen oder anderen Handelsposten oder eine ähnliche Welt«, versicherte ihm Atlan. »Etwas Geduld.« Der Noot hob seine Krallenhand und ließ sie gegen den Schottrahmen fallen. »Ich bin in meiner Kabine. Muß schlafen und nachdenken. Zuviel Aufregung gehabt im Satelliten«, verkündete er und stapfte davon. Nach drei Stunden hatte die Galionsfigur einen, wie es schien, idealen Platz gefunden. Der Planet war nicht weit entfernt, befand sich nicht in der Nähe einer der größeren Scuddamoren-Stützpunkte und galt als kleiner, aber teurer Treffpunkt der wenigen lizensierten Händler, deren Schiffen man Galionsfiguren zugestand. Die Krieger des Neffen duldeten Petra Manna, weil sie dort geheimnisvolle Waffen und Edelmetalle fanden. Stoppten sie diesen angeblich freien Markt, verloren sie unwiderruflich diese Möglichkeit. Petra Manna war ähnlich geduldet wie beispielsweise Xudon und Danjitter-Tal. Die Bevölkerung, laut Text, war nicht größer als siebentausend Wesen verschiedener Plane-
Hans Kneifel tenvölker und überdies ständige Landungen und Starts von Raumschiffen gewohnt. Ob rund hundert Piraten ausreichten, die Händler eine genügend lange Zeit in Schach zu halten, war fraglich. Aber Atlan gehorchte wie üblich bedingungslos dem Befehl und bereitete sämtliche Auskünfte so auf, daß der Noot-Anführer keinerlei Schwierigkeiten haben würde. Atlan überspielte sämtliche Informationen auf den Bildschirm in Gridersold-Herps Kabine und erntete Zustimmung. »Das ist genau das, was wir suchen. Wir starten in einem Tag – wenn die anderen wieder nüchtern sind!« ordnete der Anführer an.
* Selbst für den Arkoniden, der in seinem langen Leben unzählige Städte und Siedlungen gesehen hatte, war Petra Manna ungewöhnlich. Die Stadt bestand praktisch nur aus einer einzigen Massierung von zylindrischen Teilen unterschiedlicher Höhe. Sie wirkte wie ein dickes Bündel ungleichmäßiger Stäbe. Ausnahmslos auf allen runden Abschlußflächen der Bauwerke befanden sich üppig grüne Gärten. Bäume wuchsen breit in die Höhe, und lange Äste voller Blätter und Blüten hingen über die Flanken der etwa zweieinhalbtausend verschiedenen Röhrenfragmente hinunter. Die Säulen, jeweils rund siebzig Meter dick, erhoben sich, ebenfalls unregelmäßig, am Außenrand eines vollkommenen Kreises. Zum Zentrum der Anlage hin nahmen sie an Höhe ab. Der tiefste Punkt lag in der Mitte, so daß Petra Manna wie eine seltsame Art von Schüssel wirkte. Die äußersten Säulen erreichten die stolze Höhe von nicht weniger als vierhundert Metern. Jede Einheit leuchtete in einer anderen Farbe. Diese verblüffende Stadt erhob sich auf einem Tafelberg, der seinerseits nicht sehr hoch war, aber von gewaltiger Ausdehnung. Rund um Petra Manna waren die Teile des Raumhafens ange-
Piraten zwischen den Sternen ordnet; einzelne Segmente, unterbrochen von dreieckigen Wäldern und halbautomatisch bearbeiteten Feldern und Äckern, in denen zusätzlich Glaskuppel-Gewächshäuser standen. Die DARIEN kam in langsamem Flug dicht über dem Boden des Planeten heran, stieg vor der Kante des Tafelberges hoch und näherte sich einem weitestgehend leeren Teil des Raumhafens. Auf dieser Seite der Siedlung lagen nur sechs kleine Schiffe. Sie waren auf einer Plattform aufgesetzt worden, neben ihren Schleusen gähnten die Schächte der unterirdischen Verladeeinrichtungen. Die Siedlung war mehrfach unterkellert – nicht nur die gesamten Versorgungseinheiten waren unterirdisch eingebaut, sondern auch die reichhaltigen Warenlager. Tonnenweise kamen Handelswaren und Tauschgüter an, ebenso wurden sie wieder umgeladen und verteilt. Nur wenige Waren aus dem reichhaltigen Angebot der Planeten des Marantroner-Reviers waren hier nicht vorhanden. Soweit Atlan dies klar erkennen konnte, befanden sich zur Zeit keine Scuddamoren-Schiffe auf dem Raumhafen. Neben dem Sessel der Galionsfigur stand Gridersold-Herp. Der Noot-Pirat deutete durch die Kuppel auf die Siedlung. Das Rauchhorn hatte wieder das Aussehen angenommen, das einer gänzlich vulkan- und eruptionsfreien Umgebung entsprach. Unsicher murmelte der Anführer: »Ich kann so gut wie keine Bewohner oder Arbeiter sehen.« Atlan wußte es besser und zitierte aus den kärglichen Bordinformationen. »Die Logistiker und Händler von Petra Manna wickeln ihre Geschäfte meist im verborgenen ab. Das soll heißen, daß sie selten ihre geschützten Wohnräume verlassen. Werden sie gezwungen, außerhalb der Säulenstadt zu verhandeln, errichten Roboter vorher zeltähnliche Behausungen oder Konferenzräume.« »Ich sehe.« Atlan hatte mit der Raumhafenzentrale ein langes Gespräch geführt. Die Eigen-
9 schaften einer Galionsfigur waren allgemein bekannt; niemand hatte auch nur eine Spur Argwohn geschöpft. Die DARIEN galt als Spezialschiff des Neffen Chirmor Flog mit einer Mannschaft, die für ihn Luxusgegenstände auszusuchen hatte. Keiner der Leute an den Funkgeräten wagte es, die Erklärung in Zweifel zu ziehen. Petra Manna – sowohl die Stadt als auch der gesamte Planet trugen diesen Namen – war eine normale Sauerstoffwelt, auf der die Piraten ohne die Anzug-Innenversorgung auskamen. Einige schnelle Blicke zeigten Atlan, daß sich Gridersolds Piraten wieder einmal hervorragend ausgerüstet hatten. Sie befanden sich ausnahmslos in der Hangarschleuse und trugen wieder ihre bizarr ausgestatteten Raumanzüge ohne Helme. Atlan sagte: »Ich habe euch die Lagerhallen und deren Position in den unterirdischen Anlagen genau gezeigt. Ihr wißt, was ihr sucht, und wo ihr es findet?« »Wir haben alles genau besprochen. Wir sind bereit.« Auch Gridersold-Herp trug wieder seinen von Farben, Anhängseln und Stacheln oder Bändern und Knotenschnüren strotzenden Raumanzug. Alle Piraten waren bewaffnet, und die meisten von ihnen sprachen das Garva-Guva inzwischen ziemlich einwandfrei. Die äußere Schleusentür glitt auf, die Rampe schob sich zu Boden und berührte den geriffelten Belag des Raumhafens dicht vor einer der Rampen, die in die Unterwelt dieser erstaunlichen Handelsstadt führte. Diesmal schwärmten die Piraten nicht in heilloser Unordnung und mit furchterregender Schnelligkeit aus, sondern verhielten sich wie ein Kommando, das dank des Auftrags des Neffen selbstsicher auftreten konnte. In geordneten Dreierreihen verschwanden sie in dem Schacht. Nicht alle wagten sich in die unterirdischen Magazine des Tafelbergs. Ein Mann blieb im Schiff, ein anderer blieb zwischen dem Schiff und der Weite des Raumhafens stehen und blickte mit seinen großen, vorste-
10 henden Augen hinüber zu der Stadt. Atlan blieb allein, an die Befehle gebunden und voller Zweifel darüber, wie dieser Überfall ausgehen würde. Die Zeit verging in quälender Langsamkeit. Schließlich tauchte aus der dunklen Öffnung der Rampe die erste Plattform auf. Sie vibrierte unter der Last der aufgeladenen Gepäckstücke. Zielbewußt steuerten die beiden Piraten das Gerät auf die Schleuse zu. Hinter dem Lastentransporter kamen drei vielarmige Roboter hinaufgeschwebt und schoben sich gleichzeitig in die Schleuse hinein. Kaum befand sich die Beute im Schiff, entfesselten die Männer eine geradezu hektische Arbeitswut. Blitzschnell stapelten die Roboter die Güter auf den Boden des Hangars, und ebenso schnell transportierten die Noots die Beutestücke in die kleinen Laderäume, die einzelnen Kabinen und an die Wände der Schiffskorridore. Noch während sie wie rasend arbeiteten, schwebte das zweite Warensortiment heran, wieder von Maschinen begleitet. Die Betriebsamkeit im Schiff verstärkte sich. Immer mehr Noots und Roboter, Plattformen und Beutestücke kamen aus den Tiefen der Anlagen herauf und verteilten sich, wie von einer wimmelnden Ameisenmasse transportiert, auf die einzelnen Räume der DARIEN. Die Galionsfigur sagte sich, daß es in diesem Fall – bisher! – nur um Sachen, nicht um das Leben von Wesen ging. Trotzdem hörte der Pthorer immer wieder auf verschiedenen Kanälen die Unterhaltungen zwischen Zentrale, startenden und landenden Händlerschiffen, zwischen den einzelnen Schiffen selbst, und darüber hinaus die knappen Durchsagen von Raumschiffen, die unterwegs waren. Bisher gab es keine Anzeichen dafür, daß sich die Scuddamoren auf die Spuren der DARIEN gesetzt hatten. Noch nicht. Einige Dutzend Tonnen von verpackten Beutestücken befanden sich bereits innerhalb des Organschiffs. Zum erstenmal merkte Atlan, daß das Material dieses Schiffes nicht mit Stahl oder anderen, entsprechen-
Hans Kneifel den Werkstoffen zu vergleichen war. Er wußte, wie diese Schiffe »hergestellt« wurden. Aber mit einem Stich des Entsetzens registrierte die Galionsfigur, daß die Synthese zwischen herkömmlichen Schiffsbaustoffen und organischer Masse nicht für die Ewigkeit entwickelt worden war – das erste und bisher einzige Zeichen dafür war, daß sich eine Wand zwischen zwei Laderäumen aufzulösen begann. Sie schrumpfte zusammen wie lebendes Gewebe und bildete um die stählernen Komponenten herum runzlige Haut, aderähnliche Kontraktionen und hauchdünne Folien, die wie uraltes Bindegewebe aussahen. Der Prozeß der Veränderung erfolgte jäh und hörte auch sofort auf. Aber Atlan definierte ihn als erste Warnung und als deutliches Zeichen des einsetzenden Untergangs oder wenigstens der Auflösung der vorhandenen Werte und Konstanten. Augenblicklich nahm er eine Überprüfung aller Wände, Schotte und der Außenhaut vor. Aber es zeigten sich weder ein Schaden noch die Anzeichen dafür. Die Galionsfigur beruhigte sich wieder. Leere Lastenplattformen verließen das Schiff und jagten wieder hinunter in die Hallen und Lagerstätten der Waren. Innerhalb des Schiffes rasten die Noots und die Laderoboter hin und her und schoben die Beute in jeden nur erdenklichen Hohlraum. Ein Drittel des Schiffes mindestens war schon beladen und teilweise überfüllt. Die Piraten gingen mit den Paketen achtlos um, holten immer neue Plattformen in die Schleuse herein, bildeten Ketten und schichteten die Beutestücke auf. Gridersold-Herp lief hierhin und dorthin, brüllte Befehle, legte mit Hand an, dirigierte die Roboter ebenso überlegt wie seine Piraten und blieb irgendwann mitten in den hastigen Arbeiten vor einem Interkom stehen. »Galionsfigur Atlan?« rief er. Atlan hatte sich bereits auf den betreffenden Raum geschaltet. »Ich sehe und höre dich, Herp.« »Wir sind in einer halben Stunde fertig. Mache das Schiff startklar!«
Piraten zwischen den Sternen »Das Schiff ist startbereit. Ich rechne mit einem Fluchtstart«, antwortete der Arkonide wahrheitsgemäß. »Pessimist. Gibt es Anzeichen dafür?« »Bis jetzt noch nicht. Ich bleibe weiterhin wachsam«, sagte Atlan. »Ihr habt bereits genug geraubt, Herp!« Der Noot lachte laut auf und erwiderte: »Noch fehlen uns einige wichtige Waren. Aber sie werden bereits aufgeladen.« »Trotzdem empfehle ich äußerste Eile, auch außerhalb des Schiffes.« »Wir trafen einige Händler in den Lagerhallen, die nicht von Petra Manna waren. Sie scheinen uns nicht zu glauben und sprachen seltsame Dinge von der Rache der Scuddamoren.« »Dann werden sie sicherlich auch die Schiffe alarmieren. Beeilt euch. Einem starken Suchschiffaufgebot werden wir mit dem kleinen Schiff nicht entkommen.« »Ich weiß, daß du ein guter Pilot bist. Du wirst uns sicher nach Glückliche Lava zurückbringen.« Atlan entgegnete bitter: »Darauf würde ich keine Wetten abschließen.« Gridersold-Herp lachte noch einmal, schwang sich auf eine vorbeischwebende Plattform und steuerte sie aus dem Schiff. Nach fünfzig Metern war er unter der dicken Raumhafendecke im hellerleuchteten Ladeschacht verschwunden. Aber jetzt näherte sich dem einzigen Posten vor dem Schiff eine seltsame Prozession. Von Atlans Platz aus, der sie durch die dunkle Kanzel beobachtete, wirkte sie wie eine Reihe aufrecht gehender Ameisen. Es schienen etwa ein halbes Hundert Roboter zu sein. Ihre Körper schimmerten und schillerten, als wären sie aus Chitin oder dünnem Stahlblech. Sie bewegten sich im Gleichschritt. Die vordersten und hintersten der langen Zweierreihe trugen knallbunte Markierungen auf ihren Körpern. Im Zentrum der Prozession gab es Planetarier, die große Ballen schleppten. Vier der Robots trugen an langen Stangen eine Art würfelförmige Sänfte. Atlan betrachtete
11 die Formation mit starkem Interesse und blitzschnell erwachtem Mißtrauen. Es schienen die Vorboten einer drohenden Gefahr zu sein. Die Mitglieder der Prozession gingen zielbewußt auf den einzelnen Noot-Posten zu. Der Mann schien verwirrt zu sein, trat von einem Fuß auf den anderen und zog seine Strahlenwaffe von den Schultern. »Kannst du mir sagen, Galionsfigur, was dieser Aufzug zu bedeuten hat?« kam seine knarrende Frage über Funk. Atlan brauchte nicht lange nachzudenken und entgegnete: »Vermutlich wollen die Leute von Petra Manna mit dir verhandeln. Sie sorgen sich sicherlich um ihre mühsam eingekauften Vorräte.« »Ich mache sie alle nieder!« rief der Posten in leichter Panik. »Dafür wird dich Gridersold-Herp vierteilen!« versicherte Atlan. »Warte und schweige. Der Start des Schiffes steht unmittelbar bevor. Sie wollen nicht kämpfen, sondern ihre Handelsspannen diskutieren.« »Kann ich mich auf dich verlassen?« rief der Noot unsicher. »Ein Schuß aus meinen Geschützen vernichtet sie alle. Ich habe sie bereits anvisiert«, lautete Atlans Antwort. »Gut.« Die Zweierreihen der Roboter teilten sich. Je eine Reihe marschierte an dem einzelnen Posten vorbei. Die Maschinen führten synchron eine Kehrtwendung durch und begannen in fieberhafter Eile, ein Zelt aufzustellen. Stangen blitzten, lange Bahnen und Zeltteile wurden aufgerollt und mit irgendwelchen Patentverschlüssen aneinander befestigt, und binnen weniger Minuten erhob sich etwa zehn Meter von dem ratlosen Noot entfernt ein pyramidenförmiges Zelt von rund sieben Metern Höhe. Die Sänfte wurde unmittelbar vor dem Eingang abgestellt. Atlan konnte nicht erkennen, ob jemand den chromblitzenden Würfel verließ oder nicht, nahm es aber als gegeben an. Zwei Robots gingen gemessenen Schrittes auf den Noot zu. Im selben Augenblick kamen drei Schwebeplattformen aus den unter-
12 planetarischen Hallen herauf, schwebten in die Schleuse hinein und wurden entladen. Atlan zählte mit; immer mehr Piraten kamen in die DARIEN und blieben darin. Aber er vermißte die farbenprächtige Rüstung des Anführers. Die Robots packten mit festen Griffen beide Arme des Noots und zogen ihn mit sich. Vor dem Zelt blieben sie stehen und schoben ihn in den Eingang hinein. Alles geschah mit sanfter Gewalt. Die Galionsfigur merkte, daß sich inzwischen fast alle Piraten innerhalb des Schiffes befanden. Es fehlten noch drei, mit demjenigen, der hinter sich den schweren, glänzenden Vorhang des Zeltes herunterfallen ließ, waren es vier. »Ich rufe Gridersold!« sagte Atlan in das Mikrophon, das in sein Steuersystem integriert war. Keine Antwort! Die Roboter hatten um das Zelt, das wie ein kleiner, völlig unmotivierter Fremdkörper auf der gewaltigen Fläche des Raumhafens wirkte, einen mathematisch exakten Kreis gebildet. Sie standen regungslos da. Ringsum, so weit Atlan selbst sehen konnte, und so weit seine Geräte reichten, lief der Betrieb des Raumhafens normal und ohne Anzeichen irgendwelcher Aufregung weiter. »Herp! Anführer! Ich warte! Es bahnt sich Unheil an!« rief Atlan, von immer stärkerer Aufregung geschüttelt. Noch immer keine Antwort. Zwei leere Lastenplattformen, von den simplen Stapelrobots gesteuert, flitzten aus dem Hangar heraus und verloren sich in den lichterfüllten Rampen und Gängen neben dem Schiff. Wieder warf die Galionsfigur einen langen Blick in die Richtung des Zeltes. Auch über die Helmfunkanlage dieses Noots waren keine Informationen zu erhalten. Er schien innerhalb des Zeltes in einer Zone des Schweigens zu verharren. »Wie? Was ist los?« dröhnte plötzlich die Stimme Gridersolds in Atlans Ohren. »Wir kommen mit einer ganz besonderen Ladung!« »Es wird Zeit!« drängte der Pthorer und
Hans Kneifel schaltete die Antriebselemente hoch. »Du solltest das Zelt vor dem Schiff stürmen und einen deiner Piraten befreien. Er befindet sich dort und meldet sich nicht mehr.« »Verstanden. Wir kommen sofort.« Wieder einmal wartete Atlan mit steigender Ungeduld. Unbeweglich standen die merkwürdig geformten Robots um das Zelt. Aus dem Schlund der Rampe kam schaukelnd und überladen eine, wie Atlan hoffte, letzte Lastenplattform. Inmitten der bunten Pakete thronte Gridersold-Herp und winkte mit beiden Armen fröhlich in die Richtung der Schleuse. Die Maschine torkelte in den leeren Hangar hinein, die Ladung kippte und polterte auf den Boden. Ein letztes Aufbäumen der Plattform schleuderte Herp, der wieder einmal alles als gigantischen Spaß empfand, zu Boden. Er lachte laut und jagte mit lauten Kommandos die Robots aus der Schleuse hinaus. »Atlan! Galionsfigur!« schrie er. Sofort erwiderte der Arkonide: »Ich höre?« »Nur noch wenige Augenblicke. Ich hole meinen Piraten aus dem Zelt. Dann mußt du starten!« Atlan brannte die Zeit inzwischen auf den Nägeln. Er sah, daß Herp seine Waffe hochriß und schwang, als sei es ein Feldzeichen. Der Anführer rannte mit großen Sprüngen auf das Zelt zu. Die Roboter rührten sich noch immer nicht. Gridersold-Herp erreichte die Kette der Maschinen, schob zwei Robots auseinander und schwenkte schußbereit seine schwere Waffe. Die Robots wichen geschmeidig aus und schlossen wieder ihren Kreis. Mit einem Satz sprang GridersoldHerp durch den auseinanderreißenden Zelteingang. Atlan führte abermals eine Zählung durch. Es fehlten nur noch zwei der Noot-Piraten. Die letzte geleerte Plattform und der letzte Stapelrobot verließen geräuschlos das Schiff. Auf dem Ortungsschirm der Galionsfigur zeichneten sich sechs winzige Punkte ab, die in verdächtig großer Geschwindigkeit genau
Piraten zwischen den Sternen auf den Planeten zusteuerten. Es ging um Minuten oder vielleicht auch nur um Sekunden. Der Zeltvorhang schwang wieder zu, schlagartig wurde auch der Funkkanal zwischen Atlan und den beiden Piraten unterbrochen. Offensichtlich schirmte das Material des Zeltstoffs den normalen Funkverkehr ab. Einige Sekunden vergingen in qualvoller Eintönigkeit. Nichts änderte sich. Nur die Piraten versuchten, innerhalb des Schiffes ihre erbeuteten Schätze zu verstauen. Atlan bewegte einen Kontakt und schob die äußere Schleusentür halb zu. Er starrte nach wie vor das Zelt an. Welche geheimnisvollen Vorgänge liefen hinter den undurchdringlichen Wänden ab? Er vermochte es nicht einmal zu ahnen. Noch während er sich überlegte, ob er ohne Befehl würde starten können, schwang der Zelteingang weit auf. Drei Gestalten erschienen. Atlan erkannte den Noot-Wächter und Gridersold-Herp, aber den dritten kannte er nicht. Es war ein Wesen, sicherlich nicht kleiner als drei Meter. Der Planetarier war spindeldürr und wirkte entfernt humanoid. Seine Gestalt verbarg sich unter weiten, wallenden Gewändern von nie gekannter Farbenpracht. Herp und der andere Noot hatten sich bei dem Planetarier eingehakt und führten ihn, als sei er betrunken. Die drei Wesen schwankten hin und her, wankten durch den Ring der Roboter, und Atlan schaltete die Vergrößerung seiner Nah-Ortungsschirme ein. Aufmerksam studierte er das Aussehen des Fremden. Er sah ein wenig den Krejoden von Xudon ähnlich, aber der Kopf trug verschiedene Kugeln, gedrechselt wirkende Auswüchse und wippende, kurze Antennen. Überlange Finger kamen unter den dünnen, flatternden Stoffen zum Vorschein. Herp meldete sich wieder und sagte leise, fast drängend: »Vor der Schleuse lassen wir unseren neuen Freund los. Wir haben ihn und seinesgleichen überzeugt. Er ist stockbetrunken
13 von unserem Beuteschnaps.« »Verstanden«, sagte Atlan. »Sechs Scuddamorenschiffe rasen auf Petra Manna zu!« »Das klingt nach Eile«, gab Herp seelenruhig zu. »Keine Sorge. Wir schaffen es schon rechtzeitig.« Die Ortungsimpulse auf den Schirmen der Galionsfigur wurden deutlicher. Atlans Sorge wuchs, und jeder Schritt, den die drei schwankenden Gestalten auf die noch immer offene Schleuse zu machten, durchfuhr ihn wie ein Messerstich. Er zählte die Meter der Entfernung, verglich unaufhörlich die sich nähernden Echos mit der verbleibenden Zeit und wußte, daß die DARIEN mit ihrer Piratenbesatzung niemals in einer größeren Gefahr geschwebt war. Zwei große Schritte vor dem Ende der Rampe blieben Herp, der andere Noot und der Planetarier stehen. Fasziniert blickte Atlan die dicken, halbkugeligen Gläser vor den vier Augen des Wesens an, die wippenden Fühler oder Antennen und die knochigen Finger, die mit breiten Ringbändern geschmückt waren. Die Glieder fuhren ziellos durch die Luft, der Petra-Manna-Mann schwankte hilflos zwischen den beiden Noots hin und her. »Los! Bringe das Schiff in den Weltraum!« schrie Gridersold-Herp plötzlich. Er gab dem Planetarier einen leichten Stoß. Der Fremde sank zu Boden. Mit drei Sätzen waren die Noots im Schiff. Hinter ihnen fauchte, während die DARIEN augenblicklich mit der vollen Kraft ihrer Maschinen beschleunigte, die Schleuse zu. Atlan konzentrierte sich voll auf den Start. Für den Weg in den Weltraum wählte er wieder einen Kurs, der ihn relativ dicht über dem Boden dahinführte, zwischen einigen kleinen Tälern hindurch und in eine Richtung, in der ihn die Ortungseinrichtungen der Scuddamorenschiffe nur unter großen Schwierigkeiten erfassen konnten. Die DARIEN wurde schneller und schneller, stieg einige tausend Meter hoch und versuchte, hinter der Krümmung des Planeten
14 zu verschwinden und die Masse dieser Welt zwischen sich und die Verfolger zu bringen, denn Atlan zweifelte nicht einen Augenblick lang daran, daß die Schiffe die Piraten suchten. »Ausgezeichnet!« rief von irgendwoher der Anführer. »Ich merke, daß wir jede Menge Fahrt machen.« Atlan war zu sehr mit dem Versuch beschäftigt, aus den Ortungsantennen der Scuddamorenschiffe zu verschwinden, als daß er sich über die Lässigkeit oder Kühnheit des Anführers hätte Gedanken machen können. Die DARIEN stieg zwar unablässig und wurde schneller, aber noch folgte die Flugbahn einer langgezogenen Krümmung. Schließlich, in der Gegend des südlichen Pols, riß die Galionsfigur das Organschiff hoch und raste ins All hinaus. Atlan schlug einen verwinkelten Kurs nach Glücklicher Lava ein und stellte fest, daß die Scuddamoren auf dem Planeten landeten. Die Echos ihrer Schiffe verschmolzen mit den Echos von der seltsamen Stadt. An dieser Stelle der Flucht hätte das Extrahirn Atlan zweifellos gesagt, daß sich der Kurs zum größten Teil rekonstruieren ließ, selbst wenn er versuchte, den Verfolgern zu entkommen. Atlan erkannte diesen Umstand auch ohne den Logiksektor, aber er hatte weniger Möglichkeiten, selbständig entscheiden zu können. Jedenfalls war er diesmal den Suchschiffen der Wachflotte entkommen. Der Weltraum vor ihm war nicht leer, aber die winzigen und langsamen Echos stammten von Handelsschiffen oder solchen Konstruktionen, die keine Galionsfigur benutzen durften. Atlan schlug sich mit der triumphierenden Mannschaft auf einem abenteuerlichen Kurs zum Satelliten durch. Die Noots verwandelten das Innere der DARIEN in ein Chaos; sie rissen die Verpackungen von ihrer Beute ab und versuchten festzustellen, was sie eigentlich alles geraubt hatten. Es dauerte zwei Tage, bis sie das meiste in den Satelliten hinübergeschafft hatten.
Hans Kneifel Atlan war inzwischen vor Sorge halb krank. Er war seinen düsteren Gedanken hoffnungslos ausgeliefert.
3. Glückliche Lava drehte sich unmerklich langsam durch den lichtlosen Raum. Mit zwei Trossen war das leere Organschiff an den Felsen befestigt. Die Taue spannten sich zu einer vollkommenen Geraden, und das Schiff wirkte wie ein Mond, der den Planeten umkreiste. Es gab kein Licht, das aus dem Innern des Satelliten nach außen drang. Atlan war in einen leichten, von Alpträumen durchzitterten Schlaf gefallen und lag verkrampft in dem schmiegsamen Material des Galionsfigur Sessels. Der erste Alarm traf ihn wie ein starker Stromstoß. Er schreckte entsetzt hoch. Gleichzeitig vollführte Gink einen Satz, der ihn fast quer durch Atlans durchsichtige Kanzel schleuderte. Auf den Monitoren war in erschreckender Deutlichkeit zu sehen, daß fast gleichzeitig aus allen Richtungen schwere Schiffe der Wachflotte heranrasten und ihre Fahrt abbremsten. Jetzt, dachte Atlan mit einer Ruhe und Gelassenheit, die ihn selbst verblüffte, ist genau das eingetreten, worauf ich seit dem Start von Trimor gewartet habe. Sekunden später dröhnten auf sämtlichen Funkkanälen die Aufforderungen und Warnungen der Scuddamoren. Sie sprachen direkt die Piraten an. Innerhalb kürzester Zeit würde mit konzentriertem Beschuß begonnen werden, wenn sich die Noots nicht ergäben. Einzeln in Raumanzügen den Satelliten verlassen! Unbewaffnet! Auf den Befehl Chirmor Flogs, des Neffen! Atlan zählte die riesigen, die Sterne verdeckenden Echos auf den Monitoren und kam auf eine Zahl, die höher lag als zwei Dutzend. Einige Projektoren feuerten und brannten tiefe Krater in den Fels des Satelliten. Eine Glutbahn trennte eine Trosse der DARIEN
Piraten zwischen den Sternen ab. Die Scuddamoren verschwendeten nicht einen einzigen Anruf an die Galionsfigur des Schiffes. Sie schienen zu wissen, daß ein nicht vorhandener Befehlsgeber das Schiff förmlich in Bewegungslosigkeit verharren ließ. Der akustische Wirrwarr auf den Funkkanälen und den Bildfunkverbindungen legte sich für eine kurze Zeit. Gridersold-Herp antwortete in hartem Garva-Guva: »Niemand ergibt sich. Wir haben mit euch gerechnet, Scuddamoren! Wir sind die Piraten des Marantroner-Reviers, und als solche werden wir euch einen Kampf liefern, den ihr niemals vergessen werdet!« Gleichzeitig öffneten sich an vielen Stellen des Satelliten felsverkleidete Luken. Projektoren schwangen heraus und eröffneten augenblicklich das gezielte Feuer auf die Schiffe der Wachflotte. Neben Atlans Ohren erklang ein zweitesmal die Stimme des Anführers. »Galionsfigur Atlan! Kappe die Trossen. Verlasse ohne Fahrt den Asteroiden und fliege zurück nach Trimor. Dies wird mein letzter Befehl sein. Rette deinen Freund, wenn er die Natur des Vulkanplaneten überlebt hat. Wir waren ein gutes Team, ich als Kapitän des Piratenschiffs und du als mein Steuermann! Lebe wohl!« Das ausklingende Gelächter war so wie immer. Atlan bewunderte diesen Noot in jenen Augenblicken. Gleichzeitig löste er die Trosse, schaltete für zwei Sekunden ein Triebwerk ein und versetzte das Schiff in geringfügige Bewegung. Die DARIEN trieb zwischen zwei der mächtigen Schatten hindurch. Atlan entging es, daß der kleine rote Würfel die Kanzel verlassen hatte; vermutlich verkroch sich Gink Nik Meus irgendwo im Zentrum des Schiffes. Der Kampf wurde lautlos geführt. Es war ein entsetzliches, wildes Schauspiel. Immer wieder blitzten aus allen Richtungen kreideweiß blendende Lichtstrahlen
15 auf und verschmolzen mit dem Fels des Satelliten. Dort, wo die Glutbündel einschlugen, sprengten die Trümmer zur Seite, hinterließen sie tiefe Krater und verwandelten den Fels und die metallenen Hüllen und Verstrebungen in aufleuchtendes Gas und fetten, schwarzen Qualm, der die Lichtstrahlen aufsog. Und zwischen den Rauchwolken und den Schauern herumsurrender Splitter in allen Größen blitzten ebenso lange und gleich dicke Glutstrahlen auf und zerfetzten Teile der Organschiffe. Unmerklich langsam trieb das kleine, hammerförmige Organschiff aus dem Geschehen hinaus. Einmal registrierte Atlan einen Streifschuß, aber nicht einmal Luft entwich aus dem Schiff. Ein Treffer aus dem Satelliten durchschlug ein Organschiff der Länge nach. Der Projektorstrahl zerfraß die durchsichtige Kuppel, tötete augenblicklich die Galionsfigur und fuhr inmitten von Flammen und Trümmern am Heck des Schiffes wieder hinaus. Scuddamoren wurden zwischen den glühenden Trümmern herumgeschleudert wie lebende Meteore. Abermals hatte sich die DARIEN einige tausend Meter aus dem Hexenkessel entfernt. Der Anführer der Noots schien mit allen seinen Leuten genau zu wissen, daß sie nichts mehr zu gewinnen hatten. Sie alle wählten den Kampf und den Tod. Jetzt hatten sich sämtliche Projektoren der Flotte auf den Satelliten eingeschossen. Ununterbrochen hämmerten die lautlosen Blitze in den langsam zerberstenden Körper hinein. Die schrecklichen Bilder auf den Monitoren wurden kleiner und bedeutungsloser. Atlan hatte einen Befehl erhalten. Er gehorchte diesem Befehl und schaltete die Antriebseinheiten wieder auf volle Leistung. Die DARIEN nahm schnell Fahrt auf. Zehn Sekunden vergingen. Atlan rechnete fest damit, daß eine der Galionsfiguren sein Schiff und den verstärkten Energieausstoß registrieren würde. Nichts geschah. Geschwindigkeit und Abstand wuchsen, die DARIEN schien tatsäch-
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Hans Kneifel
lich frei zu sein. Weiter … Die Bilder waren jetzt fast nicht mehr genau zu erkennen, trotz der eingeschalteten Vergrößerungen. Atlan richtete den Kurs aus und gab volle Kraft auf den Antrieb. Niemand schoß hinter ihm her. Sein Verschwinden war in dem allgemeinen Durcheinander tatsächlich nicht bemerkt worden! Die DARIEN nahm Kurs auf Trimor.
* Die Zeit verstrich ereignislos. Der Arkonide war mit sich und seinen dunklen, von Sorge und Qualen geprägten Gedanken wieder einmal völlig allein. Gink Nik Meus trieb sich irgendwo im Schiff herum. Atlan schaffte es ohne jede Mühe, die DARIEN auf derselben Route nach Trimor, dem berstenden Planeten der Vulkane und Erdspalten, zurückzubringen. Nur selten begegnete ihm ein anderes Schiff, das in ungefährlicher Entfernung vorbeizog. Niemand sprach mit ihm. Er hörte einige nichtssagende Funksprüche mit. Einmal fingen seine Geräte die Vollzugsmeldung auf, die von einer Einheit der Wachflotte stammte. Glückliche Lava, der Satellit der Piraten, war vernichtet worden. Es gab keine Überlebenden. Lebte Cembergall-Flyrt noch? Atlan führte leise Selbstgespräche. Der Noot war der einzige, der ihm in diesem Bezirk des Marantroner-Reviers helfen konnte und zweifellos auch helfen würde. Die Erde lag auch in Atlans Gedanken in unermeßlich weiter, geschichtlicher Ferne. Pthor steckte irgendwo in dieser Sterneninsel fest. Thalia – tot. Verschwunden aus seinem Leben, aber nicht aus seinen qualvollen Erinnerungen. Razamon … wo war er in diesen Momenten? Lebte er noch, der einzige Mitkämpfer, auf den sich Atlan mit großer, fast nie gekannter Unbedingtheit verlassen konnte? Aber alles, Personen und Gegenstände, Überlegungen und selbst der Umstand, daß
der König von Atlantis sein Dasein ohne Extrahirn fristete, verblaßte vor einem einzigen Gedanken: Wie schaffe ich es, mich von diesem Organschiff zu lösen? Es muß eine Möglichkeit geben! Nur ist niemand mehr am Leben, der mir dieses Wissen vermitteln könnte. Atlan bemerkte irgendwann in der langen, niederdrückenden Prozession seiner Überlegungen, daß weit vor ihm eine Sonne und die winzigen Echos eines Planetensystems sich aus der anonymen Vielfalt der Sterne und Ortungspunkte hervorschoben und deutlicher wurden. Endlich war es soweit: Der Planet Trimor hing wie ein dunkler, von feurigen Adern durchzogener, in vielfarbige Wolken eingehüllter Ball vor der DARIEN im Raum. »Und nur ich bin es, der für die Lage von Cembergall-Flyrt verantwortlich ist«, sagte Atlan laut. Vergeblich hoffte er, daß der kleine Fremde irgendwelche neue Proben seiner Fähigkeit, Stimmen perfekt zu imitieren, ablegen würde – Gink Nik blieb unauffindbar. Atlan suchte zuerst die unmittelbare Umgebung von Trimor nach Echos ab. Er fand nur die Schemen, die jene zerstörten Organschiffe im Orbit des Planeten kennzeichneten. »Nichts!« Atlan brauchte nicht zu überlegen, was er zu tun hatte. Während des langen und einsamen Fluges hatte er jede einzelne Szene mehrmals durchgearbeitet. Er wußte, auf welcher Frequenz das Funkgerät arbeitete, mit dem Cembergall-Flyrt, der Objektive von Danjitter-Tal, ausgerüstet gewesen war. Damals, als ihn Atlan zum letztenmal blutend und bewegungslos, aber unzweifelhaft lebend gesehen hatte. »Ich brauche ihn!« stöhnte er. Mühelos fand die Galionsfigur die Koordinaten wieder, die derjenigen Zone des Planeten entsprachen, von der die DARIEN zum letztenmal gestartet war. Atlan steuerte das kleine Organschiff in die entsprechende Position, richtete eine der vielen Sendeantennen auf den Boden aus und aktivierte die normalen Funkgeräte. Auf den
Piraten zwischen den Sternen Monitoren sah er, daß sich seit den verstrichenen Tagen und Wochen dort »unten« nichts geändert hatte. Unverändert war dieser Planet eine Zone des Todes und des unablässigen Überlebenskampfes aller gegen alle. Atlan begann zu funken. Er horchte, während er immer wieder den Namen Cembergalls rief, nach jedem nur möglichen Funkimpuls, der von Trimor kommen konnte. Wenn schon Cembergall tot war, würde es vielleicht jemanden geben, der das Gerät erbeutet hatte und es auch benutzen konnte. Nichts. Die Besatzungen der Bunker schienen die Sender des Organschiffes nicht zu hören. Oder falls etwa die Rufe gehört wurden, so gab es niemanden, der antwortete. »Ich rufe Cembergall-Flyrt!« wiederholte der Pthorer abermals. Er wußte nicht mehr, wie oft er schon die Worte in das Mikrophon gerufen hatte. »Hier ist dein Freund Atlan. Bitte, melde dich! Ich brauche dich. Wenn jemand Cembergall-Flyrt kennt und eine Auskunft geben kann, so soll er bitte dringend zurückfunken …« Seine Verzweiflung stieg von Stunde zu Stunde. Abermals schwang eines der toten Organschiffe im Orbit an der DARIEN vorbei. Aus der tiefen Nacht über dem ausgesuchten Gebiet wurde früher Morgen. Schließlich strahlte die Sonne senkrecht herunter; ihre Strahlen nahmen denselben Weg wie die Funkwellen. »Hier ist Cembergall«, sagte eine Stimme. »Bist du wirklich Atlan, die Galionsfigur?« Als Atlan vor Freude aufspringen wollte, schnitten die zahllosen Verbindungen und Sensoren wie scharfe Fesseln in seine Haut. Er schrie voller Begeisterung: »Ja! Ich bin wieder hier, allein mit der DARIEN! Antworte! Wo bist du? Geht es dir gut?« In den Empfängern rauschte und zischte es. Aber trotzdem blieb die Stimme des jungen Noots klar verständlich, als er erwiderte: »Ich hatte Glück und überlebte.«
17 »Sage mir, wie es vor sich ging? Ich sah dich zum letztenmal, wie sie dich wegschleppten!« »Sie brachten mich als billige Arbeitskraft in den Bunker Tote Caldera. Jemand hatte meinen Raumanzug. Ich wachte auf und fing an zu kämpfen. Zuerst erwischte ich das Sauerstoffgerät, dann die Funkausrüstung. Und schließlich brach während des Kampfes der Boden durch und bescherte der Bunkergemeinschaft eine komplette, funktionsfähige Lufterneuerungsanlage – uralt.« Atlan-DARIEN fühlte, wie seine Stimmung stieg. Aus düsterer Verzweiflung wurde wieder Hoffnung. »Ja? Und du hast dieses Gerät in Tätigkeit gesetzt?« »Nicht direkt«, erklärte Cembergall-Flyrt zufrieden. »Ich brachte einer kleinen Gruppe junger, vergleichsweise gebildeter Bunkerinsassen bei, wie man Werkzeug richtig benutzt. Und binnen weniger Tage hatten wir in der Toten Caldera einwandfreie, fast geruchlose Atemluft. Zudem war sie frei von Giftstoffen. Damit fing meine neue Karriere an.« »Es geht dir also gut?« fragte Atlan besorgt. »Auf Trimor könnte es mir nicht besser gehen. Kannst du landen? Ich sehne mich natürlich zurück in mein altes Leben.« »Ich kann landen. Aber du weißt, was während der ersten Landung passierte. Ich brauche zehn entschlossene Raumfahrer, die mir helfen, selbständig zu werden.« »Diesmal werden wir klüger vorgehen«, versicherte der Noot. »Ich kann ungehindert sprechen. Niemand hört zu. Ich bewohne eine eigene Felsspalte.« »Ausgezeichnet. Kennst du den alten Platz noch? Ich meine die Schneefläche und das Versteck zwischen den Berghängen.« »Ich erinnere mich perfekt. Ich bin der Chef einer Bunkergemeinschaft. Mein Vorgänger hieß Gridersold-Herp. Weißt du, was aus ihm geworden ist?« »Er ist jetzt tot«, erklärte Atlan. »Aber seine letzten Wochen waren angefüllt mit den fragwürdigen Vergnügungen eines skru-
18 pellosen Piraten.« Atlan schwieg und verarbeitete das Gehörte. Dadurch, daß Cembergall-Flyrt den letzten Stand der Technik kannte und sich zu helfen wußte, war er vom Gefangenen zum Boß einer Bunkergemeinschaft geworden. Sicherlich lagen ebenso harte Tage hinter ihm wie hinter Atlan. Die Galionsfigur fuhr fort: »Ich brauche zehn entschlossene, kluge Männer. Ich schlage vor, du betäubst sie einzeln und bringst sie in die Nähe des Schiffes. Natürlich kann ich auch an anderer Stelle landen.« »Für mich keine große Schwierigkeit. Ich werde eine Expedition zu den Beerenfeldern zusammenstellen. Du entsinnst dich?« »Perfekt.« »Und zwar schon heute. Kannst du es einrichten, uns beim Anbruch der Dunkelheit zu erwarten?« Atlans freudige Stimmung stieg. Gleichzeitig wußte er, daß er gerettet war, weil es wieder einen Freund an Bord gab, der klare Befehle geben und ihn aus der Lähmung erlösen konnte. Er antwortete fast fröhlich: »Ohne Schwierigkeit.« Die Landschaft, auf die Cembergall-Flyrt anspielte, stand in allen Einzelheiten deutlich vor seinem inneren Auge. »Wir werden kommen. Ich bringe neun oder mehr Männer mit und werde mit ihnen das Schiff entern. Für alles andere kannst du, denke ich, ohne Schwierigkeiten sorgen. Das ist übrigens der erste Funkkontakt, seit ich wieder mein Gerät in den Klauen habe.« »Verständlich. Ich fand auf dem Weg hierher auch kaum ein Schiff, das sich so weit an Trimor heranwagte«, sagte Atlan. »Ich werde jetzt landen und das Schiff nördlich des riesigen Beerenstrauch-Feldes anhalten. Du kannst es nicht verfehlen. Sollte es zu dunkel werden, lasse ich mir einige Lichteffekte einfallen.« »Ausgezeichnet«, erwiderte der Noot. »Und du bringst mich zurück nach DanjitterTal?« »Erst dann, wenn ich meine eigene Frei-
Hans Kneifel heit und Unabhängigkeit wieder gewonnen habe, was mit deiner Hilfe und mit derjenigen unserer Mannschaft vielleicht möglich sein wird.« »Ich tue alles für dich, was in meiner Macht steht«, versicherte Cembergall. »Und jetzt muß ich abschalten, denn es kommt jemand …« »Verstanden.« Atlan unterbrach den Kontakt. Die Bunkergemeinschaft würde niemals zulassen, daß zehn ihrer Mitglieder verschwanden, an Bord eines Schiffes gingen und den Planeten verließen. Es würde derselbe erbarmungslose und gnadenlose Kampf ausbrechen wie bei dem ersten Start von Trimor. Und wieder würde sich jemand zum Kommandanten der DARIEN aufschwingen, der Atlans Schicksal ungünstig beeinflussen würde. Zwangsläufig würde diese Entwicklung eintreten, wenn nicht Cembergall und er richtig zusammenarbeiteten. Die Galionsfigur vermißte noch immer Gink Nik Meus als passiven Gesprächspartner. Trotzdem steuerte Atlan das Schiff aus dem Orbit heraus, schlug eine Landeparabel ein und suchte das Gelände unter dem Schiff genau ab. Neue Vulkanteile waren entstanden, breite Erdspalten hatten das ehemalige Bild verändert, und ein Ascheregen hatte die dunkelgrüne Vegetationszone zu einem Viertel bedeckt. Trotzdem schaffte es Atlan ohne sonderliche Mühen, das Schiff auf einer ebenen Fläche zu landen. Hinter der DARIEN schleuderte ein stumpfkegeliger Vulkan Asche und Feuer in die tieftreibenden Wolken. Geradeaus südlich lag die Zone, in der es die dichteste Konzentration von unterirdischen Überlebenspunkten gab. Dort kämpften die Mitglieder der Bunkergemeinschaften ihren täglichen, verlustreichen Kampf gegen die Natur Trimors und gegeneinander um winziger Vorteile willen. Atlans einzige Hoffnung mußte in diesen Stunden sein, daß nicht ein anderer Bunker das Funkgespräch mitgehört hatte. In diesem Fall würde der Kampf noch erbitterter und
Piraten zwischen den Sternen tödlicher sein. Das Organschiff lag schweigend, dunkel und mit geschlossenen Luken auf dem vibrierenden Boden des Planeten. Die durchsichtige Kanzel war dorthin ausgerichtet, wo Atlan den unterirdischen Bunker wußte. Aus dieser Richtung mußten Cembergall-Flyrt und seine Männer kommen. Inzwischen hatte der Pthorer die einzelnen Räume des Schiffes einer gewissenhaften optischen Kontrolle unterzogen und festgestellt, daß die Piraten eine große Menge ihrer Beute hatten stehenlassen. Die halbautomatische Reinigungseinrichtung des Schiffes hatte eine Unmenge von Abfall und Verpackungsmaterial beseitigt, trotzdem wirkte das Innere nach wie vor wie ein Schlachtfeld. Aber vielleicht, meinte Atlan, konnte die eine oder andere Maschine, richtig angewandt, ihn zu befreien helfen. Wieder einmal wartete Atlan Stunden um Stunden. Seine Ortungsantennen würden jedes Echo im Weltraum über Trimor registrieren. Wenn es auf dem Boden des Planeten, irgendwo rund um das Schiff, auch nur einen winzigen Funkimpuls gab, so würde ihn Atlan auffangen. Auch jede andere Energieemission konnte mühelos registriert werden. Aber bisher zeigte sich nicht die geringste Spur. Die Sonne tauchte hinter den dunklen Wolken auf, verschwand wieder, neuer Rauch und dichte Gasschleier und Staubwolken trieben vorbei und tauchten die gräßliche Landschaft in ein ständig wechselndes Licht. Atlan wartete geduldig. Irgendwann, es schien eine kleine Ewigkeit vergangen zu sein, sagte Cembergalls Stimme leise und angespannt: »Wir kommen. Achte auf uns, Atlan.« Sofort wurde das Gerät wieder abgeschaltet. Atlan sah plötzlich, daß Gink Nik Meus würdevoll auf seinen langen Beinen in die Kuppel stolzierte, sich mit einem Satz auf seinen Platz hinaufschwang und Atlan mit den großen Augen anblinzelte.
19 »Gut überstanden, das Abenteuer – wie?« fragte er mit der Stimme Gridersold-Herps. »Leidlich. Deine Mitwirkung an dem Rettungsversuch war denkbar gering«, kommentierte Atlan. »Oder irre ich mich?« Noch immer imitierte der Würfel die Stimme des Piratenanführers, als er antwortete. Verblüfft hörte Atlan die Antwort: »Du wärest nicht hier, ich natürlich auch nicht, wenn ich nicht mit Erfolg nachgedacht und lange gegrübelt hätte. Der Befehl, hierher zu starten … woher, meinst du, kam er?« Atlans Antwort klang sicher. »Von Gridersold-Herp, als er einsehen mußte, daß sein Piratenleben beendet war. Er zeigte sich großmütig und entschlossen und schickte mich mit einem Befehl hierher. Er wußte genau, daß …« »Unsinn!« unterbrach Gink Nik. »Galionsfigur Atlan! Kappe die Trossen. Verlasse ohne Fahrt den Asteroiden und fliege zurück nach Trimor! Dies wird mein letzter Befehl sein. Das und ähnlichen Unsinn sagte ich! Ich wußte, daß du unbeweglich gewartet und mich und das Schiff in ärgste Gefahr gebracht hättest. Deswegen verwendete ich Gridersold-Herps Stimme und auch sein verdammtes Gelächter!« Er gab das bekannte, schauerliche Lachen von sich, das das Letzte gewesen war, das Atlan von Herp gehört hatte. Die Imitation war absolut perfekt. Atlan schwieg und sagte schließlich erschüttert und voller ehrlicher Bewunderung: »Ich sehe ein, daß du uns gerettet hast. Du hast im richtigen Moment genau das Richtige getan. Vermutlich dachte Gridersold an seinen letzten Kampf und nicht mehr an eine wertlose Galionsfigur. Ich habe ihm fälschlich Edelmut unterstellt. Nimmst du meine Entschuldigung an?« »Schon vergessen, Atlan. Ich brauchte lange, bis ich auf diese Lösung kam. Beinahe hätte ich den Angriff verschlafen.« »Du hast unser Leben gerettet«, bekannte Atlan. »Ohne jeden Zweifel.« »Das ist sicher. Immerhin, vielleicht nützt
20 mein Talent uns noch einmal. Ich hoffe, daß ich irgendwann wieder einmal meinen Heimatplaneten sehen werde, und zwar als Passagier einer besseren DARIEN-Besatzung.« Atlan mußte lächeln und erwiderte: »Was an mir liegt, werde ich tun. Noderzerf ist nicht so weit entfernt, als daß dies außerhalb der Möglichkeiten läge.« Mit einem langen Arm, den er aus der Seitenfläche des Würfels entwickelte, winkte der Noder großzügig ab. »Wie auch immer, es wird wohl noch eine Weile dauern bis dorthin. Aber jetzt hast du erlebt, was wir Noder können. Toll, nicht wahr?« »Ich bin nicht nur beeindruckt, sondern tatsächlich tief gerührt«, bekannte der Pthorer wahrheitsgemäß. Die Sonne schob sich hinter einen Vulkan und verschwand in einem auflodernden Feuerwerk aus Blitzen, Asche und Feuersäulen. Dunkelheit legte sich über die zerrissene Landschaft, die Schatten verschwanden. Atlans Wachsamkeit ließ keine Sekunde lang nach. Auf den Bildschirmen zeichnete sich jeder größere Steinsplitter genau ab, und falls irgendwo ein Noot auftauchte, würde ihn Atlan bemerken. Der Weg hierher war sicherlich beschwerlich, denn sonst müßten Cembergall und seine Mannschaft zumindest schon sichtbar sein. Atlan zwang sich zu Ruhe und Besonnenheit. Er selbst war nicht gefährdet, trotz der vielen Erdstöße, von denen die Kruste Trimors erschüttert wurde. Es schien auch nicht denkbar, daß die verschiedenen Bunkergemeinschaften ausgerechnet jetzt in der Dunkelheit wieder einen ihrer zahllosen Kleinkriege ausfochten und Cembergalls Gruppe in eine Auseinandersetzung geraten war. In seinem langen Leben hatte der Arkonide das Warten gelernt. Also wartete er weiter. Als auch der letzte Rest Zwielicht verschwunden war und nur noch die Flammen der Vulkane und die häufigen Blitzentladungen der aufgewühlten Atmosphäre die Um-
Hans Kneifel gebung schwach beleuchteten, zeichneten sich genau in dem Einschnitt des Geländes vor ihm schwache Bewegungen ab. Kurze Zeit später richtete sich eine der Gestalten auf. Atlan erkannte die vertrauten Umrisse eines erwachsenen Noots. Natürlich wußte er nicht, ob es sich bei dem Anführer jener Gruppe auch tatsächlich um Cembergall handelte, aber er vermutete es. Langsam zählte er mit. Die Gruppe bewegte sich vorsichtig und langsam. Er zählte tatsächlich zwanzig Noots in zwei Gruppen, zwischen denen es einen großen Abstand gab. Die erste Gruppe bewegte sich schneller und erreichte das einigermaßen ebene Gelände vor den niedrigen Pflanzen. Atlan riskierte noch nicht, einen Scheinwerfer einzuschalten. Er rechnete damit, daß jeder Noot augenblicklich ein Organschiff erkennen würde, wenn er eines sah. Es mußte genügend Zeit für die ersten zehn Flüchtenden geben, um das Schiff zu entern. Nur einer von ihnen, Flyrt, würde wirklich wissen, was gespielt wurde. Atlan schaltete die Antriebsmaschinen auf Leerlauf und öffnete die nächstgelegene Schleuse, aber er ließ den Hangar völlig unbeleuchtet. Die Schlange der Noots rückte auf, drängte sich zusammen und kam näher. Gegen den Widerschein vulkanischer Flammen mußte sich jetzt für sie das Schiff wie ein Koloß abzeichnen. Vielleicht riskierte Cembergall es noch einmal, die Galionsfigur anzufunken? Abermals zählte Atlan. Die erste Gruppe bestand aus elf Mann. Der Anführer umrundete jetzt einige Lavahügel und deutete auf das Schiff. Augenblicklich reagierten er und seine Leute. Sie kümmerten sich nicht um die andere Gruppe und rannten sofort los. Atlan schaltete eine schwache Notbeleuchtung in der Schleuse ein. Jetzt hob sich der Spalt deutlicher gegen den dunklen Schiffsrumpf ab. Der Anführer rannte die Rampe hoch und schrie, kaum daß er die Schotte hinter sich gelassen hatte, aus Leibeskräften. »Los! Starten, sobald der letzte in der Schleuse ist.«
Piraten zwischen den Sternen Die Trimor-Noots rannten ihm nach. Als der elfte den Boden des Hangar betreten hatte, ließ Atlan die DARIEN einige hundert Meter senkrecht steigen. Er hatte Cembergalls Stimme sofort erkannt. Dann erst schlossen sich die Schleusentore, die Scheinwerfer sprangen an, das Schiff entpuppte sich als eine Art lebender Organismus. Auf Atlans Monitor stand das Bild des Schleusenhangars. Dort drängten sich die Noots zunächst zu einer engen Gruppe zusammen, die sich aber sofort auflöste und in alle Richtungen auseinanderstrebte. Cembergall-Flyrt rannte in den Korridor hinein und befand sich wenige Minuten neben Atlan in der Kanzel der Galionsfigur. »Diesmal hat es geklappt, mein Freund«, sagte er schwer atmend. Sein Rauchhorn vibrierte und zeigte die Erscheinungen, die es auf einer Vulkanwelt annahm. »Wir sind wieder beieinander.« Atlan blickte ihn an und verfolgte teilweise mit, wie die Noots reagierten. Sie nahmen das Schiff auf ihre radikale, von keinerlei Angst oder Scheu geprägte Weise in Besitz. »Ja. Wir befinden uns wieder in der DARIEN. Diesmal gibt es wohl einen verständnisvollen Kommandanten.« Cembergall-Flyrt seufzte und legte seine hornige Klaue auf Atlans Schulter. Von dem Noot ging ein durchdringender Geruch nach Schwefel und vulkanischen Gasen aus. »Ich habe viel über dich nachgedacht«, sagte Flyrt. »Mit welchem Erfolg?« »Ich glaube zu wissen, wie wir dir helfen können.« »Ja?« Atlan steuerte das Schiff in den Orbit über Trimor zurück. Er wollte eine ähnliche Bahn einschlagen wie eines der treibenden Wracks dort oben. »Du bist an eine Anlage gefesselt. Wenn wir es schaffen, Teile dieser Anlage vom Schiff zu trennen, dann dürfte es nicht schwer sein, diese Teile auch früher oder später von dir zu trennen. Oder sie fallen von selbst ab. So wie ein Baum abstirbt, des-
21 sen Wurzeln abgesägt werden.« Atlan nickte schwach und dachte an den Zorn und die Enttäuschung der Noots, die den schnellen Start mitangesehen hatten und zurückgeblieben waren. »Solange ich nicht der sterbende Baum bin, soll es mir recht sein. Wie sind deine Leute?« Der Noot bog seine kräftigen Schultern nach vorn. Cembergall trug, wie alle anderen, nur die Teile einer improvisierten Kleidung aus allen denkbaren Resten. »Sie sind jung und wißbegierig. Ich sagte ihnen nichts. Erst, als sie das Schiff direkt vor sich hatten, zwang ich sie zu einem schnellen Entschluß. Jeder von ihnen reagierte so, wie ich es mir gewünscht hatte. Allerdings werden sie noch gehörig geschult werden müssen.« »Diejenigen, die wir zurückgelassen haben …« Cembergall-Flyrt sagte voller Bitterkeit: »Diejenigen, die zurückblieben, werden sterben müssen, weil kein anderes Schiff mehr landen wird. Vielleicht kann ich, wenn ich wieder in Danjitter-Tal bin, etwas für sie tun. Ich brauche nur das Gerücht auszustreuen, daß man auf Trimor wertvolle Metalle findet. Ich weiß, was ich sage – ich war lange genug hier gefangen.« Das Organschiff hatte die Umlaufbahn erreicht. Atlan schlug einen regelmäßigen Kurs ein und schaltete den Antrieb, nicht aber die künstliche Schwerkraft ab. Die DARIEN bewegte sich nahe einem der größten Schiffe in einer parallelen Bahn dahin und raste im Augenblick direkt in die Strahlen der Sonne hinein. Das Fell des Noderzerfs leuchtete glühend auf. »Zuerst müssen wir es schaffen, mich zu befreien«, sagte Atlan beharrlich. »Dann sehen wir weiter. Solange wir das Schiff unter Kontrolle haben, steht uns mehr oder weniger das gesamte Marantroner-Revier offen.« Der Noot erkundigte sich: »Gibt es irgendwelche Befehle, die du dir wünschst? Brauchst du ein neues Ziel oder einen Impuls, der dir hilft, die nächste Zeit
22 durchzustehen? Ich kenne deine einschlägigen Probleme als Galionsfigur.« »Nein. Noch nicht«, sagte Atlan einigermaßen zufrieden für den Augenblick. »Sorge nur dafür, daß deine Männer unser Vorhaben nicht sabotieren.« »Ich denke, sie werden mir gehorchen, sofern ich sie nicht überfordere«, antwortete Cembergall-Flyrt. »Ich gehe nach hinten und kümmere mich um sie.« »Richtig. Tue dies.« Diese zehn Noots verhielten sich ganz anders als die wilde Horde, die zusammen mit Gridersold-Herp ins Schiff gestürmt war. Die Männer suchten zuerst einzelne Kabinen auf. Noch waren sie unsicher und wußten nicht, was sie lieber zuerst unternehmen sollten: zuerst versuchen, sich aus der gewohnten Gruppenbindung zu lösen oder zusammenzubleiben. Sie lösten das Problem, indem sie sämtliche Kabinentüren und schotte geöffnet ließen und möglichst oft in den Korridor hinausgingen. Dort begannen sie, die herumliegenden Materialien einer strengen Prüfung zu unterziehen. Sie entdeckten die einfachen Duschen und die Vorräte an verschiedenen Kleidungsstücken. Mit schweigendem Interesse untersuchten sie so simple Dinge wie Schalter und Hähne, Regler und Klinken. Alles Dinge, die sie kannten, aber so gut wie niemals benutzt hatten. Cembergall-Flyrt tauchte zwischen ihnen auf und half ihnen, wo immer ein Problem auftauchte. Atlan hörte Fetzen der Unterhaltungen mit. Die Noots konnten es noch immer nicht begreifen, daß es ausgerechnet ihnen geglückt war, die teuflische Welt ihrer Ahnen zu verlassen. Binnen eines Tages, an dem das Schiff elfmal den Planeten umrundete, hatten sie die meisten Einrichtungen begriffen. Sie halfen sich gegenseitig in die Raumanzüge, von denen einige noch die unverkennbaren Zeichen der Piraten trugen. Atlan dachte, als er die neue Mannschaft betrachtete:
Hans Kneifel Hätte ich noch meinen Extrasinn, würde ich schneller und besser wissen, wie sie richtig zu motivieren und einzusetzen sind. Schließlich geht es zuerst um meine Freiheit. Atlan schaltete eine Sprechverbindung in Flyrts Kabine, wartete, bis der Noot aufwachte und erkundigte sich dann: »Meinst du nicht, daß wir die Wracks im Orbit untersuchen sollten? An ihnen können wir ohne Gefahr studieren, welche Teile der Galionsfiguranlage zu demontieren sind.« »Ich halte das für eine vorzügliche Idee. Wir sollten sofort damit anfangen. Meine Leute werden nur in den ersten Stunden Schwierigkeiten haben, sich ohne Schwerkraft zu bewegen.« »Bringe sie nacheinander in meine Kanzel und zeige ihnen das Problem einer Galionsfigur namens Atlan«, sagte der Pthorer ruhig. »Vielleicht begreifen sie dann, worum es geht.« »Einverstanden.« Sie kamen nacheinander durch den Hauptkorridor zu Atlan. Atlan und Cembergall erklärten ihnen, wie die Scuddamoren die Galionsfiguren versklavten, wie deren Lebensumstände waren und wie stark die Freiheit eigener Gedanken eingeengt wurde. Die Noots waren nicht dumm, aber es gab einige Verständigungsschwierigkeiten. Schließlich erkannten sie fast den gesamten Umfang der Problematik und antworteten übereinstimmend, daß sie Atlan helfen würden. Man konnte daran denken, einen Arbeitsplan aufzustellen.
* Zunächst steuerte Atlan die DARIEN in die Nähe des größten der Wracks, die im Orbit kreisten – offensichtlich seit sehr langer Zeit. Die Hülle des anderen Schiffes, wie eine Walze mit unregelmäßigen kugeligen Ausbuchtungen geformt, kam näher. Sie wirkte alt und blatternarbig; überall gab es Spuren von kosmischen Partikeln und vom Zerfall der organischen Masse.
Piraten zwischen den Sternen Taue wurden ausgeworfen und von Cembergall-Flyrt, der in einem Panzeranzug von Gridersold-Herp steckte, an Bügeln und in Löchern befestigt. Dann zog Atlan langsam mit den schweren Winden des Organschiffs die beiden Körper aneinander. Zwischen den Bordwänden klaffte eine Entfernung von nicht mehr als zehn Metern. Die Schiffe bewegten sich nur unmerklich, der Vorgang lief noch immer im vollen Licht der Sonne ab. »Es müßte möglich sein, mit kabelbetriebenen Geräten Teile der Überlebensanlage abzutrennen«, sagte Flyrt, der neben Atlan stand und die Manöver kritisch beobachtete. Eine Gruppe von fünf Noots versuchte bereits im Schutz der Schiffsatmosphäre und eines Bereichs reduzierter Schwerkraft, sich im Gebrauch der Raumanzüge zu üben. »Wenn wir sie vielleicht in den Laderaum oder den Hangar unseres Schiffes bringen, dann ist es wahrscheinlich daß wir mehr vom Funktionieren verstehen«, bekräftigte Atlan. »Einverstanden. Wir versuchen es.« Das kleine Organschiff war überraschend gut ausgerüstet. Sechs Noots schwebten, an langen dünnen Sicherheitsleinen mit der offenen Schleuse verbunden, hinüber zum Wrack. Strahler und Geräte, die wie Kreissägen funktionierten, dienten als Werkzeuge zur Demontage. Atlan unterdrückte seine Ungeduld. Er wußte, daß das Unternehmen eine Menge Zeit kosten würde. Außerdem hatte er alles andere als ausgebildete Raumschiffsfachleute zur Verfügung. Die durchsichtige Kanzel des Wracks schien unversehrt zu sein. Die Noots tasteten sich durch einen Teil des Schiffes. Schon auf dem Weg zur Kanzel untersuchten sie, wie die Leitungen und die Steuerhilfen verliefen oder eingebaut waren. Atlan, der die wichtigsten Momente mit Hilfe eines tragbaren Aufnahmegeräts miterlebte, konnte erkennen, daß die klassischen Elemente der Mechanik mit einer unbekannten Art von Impulsleitungen ver-
23 knüpft waren. Teilweise erinnerten die Fasern und Drähte an die feinen, bleichen Wurzeln von Pflanzen. Jetzt allerdings zerfielen sie bei der geringsten Berührung. An anderen Stellen verliefen dicke, schwer isolierte Kabel in verschiedenen Farben. Auch hier war das unorganische Material relativ gut erhalten, die organischen Isolierstoffe lösten sich auf und zeigten die blanken Metalleiter. Je näher die Noots der Galionsfigurkanzel kamen, desto mehr von jenen »wurzelartigen« Fasern zeigten sich. Eine Stunde später entdeckten sie ein Schaltelement. Es übertrug – eine andere Deutung schien ausgeschlossen – die Impulse der Galionsfigur in direkte Befehle, die wiederum Motoren und Servoeinrichtungen ein und ausschalteten. Ratlos schwebten die Noots um den Gegenstand. Sonnenstrahlen schlugen durch ein Loch der Außenhülle herein und badeten alles in grellem Licht. Das Element war groß wie ein Sarg mit gerundeten Ecken. An einem Ende verließen Hunderte verschieden dicker Kabel und Leitungen das glasartig durchschneidende Ding. Im Innern waren Fäden und winzige Kugeln von verschiedenen Farben zu erkennen, die ein optisch kaum zu entwirrendes Netz darstellten. Von den Energiebatterien des Wracks – auch sie waren jetzt ausgebrannt und halb zerfressen – führten schenkeldicke Leitungen hinein und hinaus. Sie verzweigten sich ebenfalls und führten mit ihren Ausläufern zu den Kügelchen. Und am anderen Ende, demjenigen, das der Kanzel am nächsten lag, führten nur einige fingerdicke Adern weiter. Sie verliefen hier allerdings in Röhren, die den Krümmungen und Aussparungen der metallischen Elemente folgten und aussahen, als wären sie aus kristallklarem Glas. »Folgt bitte dieser Leitung«, schlug Atlan vor. Beim Anblick dieses Schaltelementes waren ihm abermals starke Zweifel gekommen, ob sie wenigstens die groben Geheimnisse seiner jetzigen Zwangsexistenz lösen
24 konnten. »Vielleicht gibt es noch Hoffnungen!« »Wir kennen erst einen winzigen Teil der Anlage«, erwiderte Flyrt über Helmfunk. »Es ist durchaus wahrscheinlich, daß wir irgendeinen Trick herausfinden.« Der Pthorer hatte niemals an einen schnellen Erfolg geglaubt. Je mehr er sah, desto schwieriger erschien die Aufgabe. Aber in einem winzigen, weit entfernten Winkel seines Verstandes kauerte förmlich die Überzeugung, daß selbst so schwerwiegende Veränderungen rückgängig gemacht werden konnten – Veränderungen, wie es das Einpflanzen eines lebenden Wesens in das System der Galionsfiguren war. Die Noots arbeiteten sich, indem sie Trennwände und Kammern zerstörten, schrittweise durch das Wrack in Richtung auf die verwaiste Galionsfigur-Kanzel vor. Sie hatten bisher nicht einmal Gerippe gefunden oder irgendwelche Reste, die auf die einstige Besatzung schließen ließen. Konzentriert arbeiteten sie und diskutierten ihre Funde. Immer wieder sah Atlan die übermittelten Bilder und die Noots selbst, wenn sie an einer offenstehenden Luke vorbeischwebten oder an großen Löchern vorbeikamen, die in der Außenhaut klafften. »Etwas Neues?« fragte er nach einer Weile. In den letzten Stunden, in denen er sich wenigstens andeutungsweise hatte entspannen können, glaubte er einen seltsamen Effekt wahrgenommen zu haben. Immer wieder, wenn er voller Skepsis seine eigenen Gedanken kontrollierte und auf ihren Erlebnisinhalt hin abklopfte, glaubte er eine innere Stimme zu hören. Ein Traum? Oder mehr? Oder der Ausdruck seiner unbewußten Wünsche? Er wußte es nicht. Er konnte es nicht sagen. Die innere Stimme, oder der Traum, oder seine eigene Sehnsucht, was auch immer – sie suggerierten ihm oder versuchten es wenigstens, daß er mit der DARIEN und der kleinen Besatzung die Suche nach seinem verlorenen Extrasinn aufnehmen sollte.
Hans Kneifel Aber … es gab nicht einmal eine Spur! Nicht einmal einen Verdacht gab es, was damit geschehen sein konnte. Trotzdem hielt sich dieser Gedankensplitter mit seltsamer Hartnäckigkeit und folgte auch nicht der Gesetzmäßigkeit von neunundneunzig Prozent aller Träume. Sie waren am Morgen, beim hellen Licht des Tages, verschwunden, verdrängt und vergessen. Nicht so dieses unentwegte Bohren in seinen Überlegungen. Atlan wiederholte, eine Spur gereizter, seine Frage. »Etwas Neues, Cembergall? Habt ihr eine Idee?« Der Teil des Wracks zwischen dem letzten Loch und der Organkuppel war unversehrt. Atlan konnte also nicht sehen, wo sich die kleine Gruppe im Moment befand. Gewohnt, mehrere Dinge gleichzeitig mit fast derselben Effizienz zu betreiben, schaltete er seine Monitoren nacheinander in die Räume, die von den übriggebliebenen Noots bewohnt waren. Die jungen Echsenwesen waren noch immer nicht auf die neue Umgebung eingestimmt. Zwar hatten sie inzwischen die Funktionen der meisten Geräte und Schalter klar erkannt. Darüber hinaus war ihnen deutlich anzusehen, daß sie sich als gerettet ansahen und versuchten, die ausgestandenen Schrecken des Planeten Trimor zu vergessen oder wenigstens von sich abzuschütteln. Trotz der Ruhe im Schiff, trotz der Position weit oberhalb der zitternden Planetenkruste mit ihren Flammen, Dämpfen und Lavaströmen, konnten sie ihr Glück noch nicht begreifen. Sie hatten ihre eigenen Kabinen und die unmittelbare Umgebung der Korridore peinlich sauber aufgeräumt. Jeder von ihnen beschäftigte sich mit den Raumanzügen und den Hinterlassenschaften der vernichteten Piraten. Aber immer, wenn sie miteinander sprachen, steckten sie ihre runden Echsenköpfe zusammen und versuchten, den Inhalt ihrer Unterhaltungen geheim zu halten. Atlan mußte bisweilen schmunzeln; ihn interessierten diese Scheingeheimnisse
Piraten zwischen den Sternen nicht sonderlich. Wieder einmal schaltete er sich in die Diskussion ein, die über die Helmfunkanlagen des kleinen Stoßtrupps geführt wurde. »Es scheint schwieriger zu sein, als wir angenommen haben, Cembergall. Ich habe zweimal gefragt, ob bei euch neue Erkenntnisse vorliegen.« Nach einigen Minuten erwiderte der Noot: »Einige Meter trennen uns nur noch von der Kanzel. Wir haben viele interessante Teile gesehen und einige von ihnen ausgebaut. Ich bin sicher, daß wir dir wenigstens in einigen entscheidenden Teilen helfen können. Was immer geschieht – du wirst freier sein nach unseren Eingriffen.« »Das höre ich gern, kann es aber nicht ganz glauben«, erwiderte Atlan. Voller Spannung, die er nur mühsam unterdrücken konnte, betrachtete Atlan die Bilder aus dem Wrack. Die Noots hinterließen eine breite Bahn der Zerstörung. Sie brauchten keinerlei Rücksicht zu nehmen und gingen dementsprechend vor. Zwar entdeckten sie unzählige Leistungssysteme, aber sie kamen dem wirklichen Geheimnis, nämlich dem Funktionieren des gesamten, integrierten Systems, kaum eine Spur näher. Atlan sah abermals Leitungen und Knotenpunkte, undurchsichtige oder teilweise transparente Kapseln und Anlagen, aber alle jene Geräte, die anscheinend organisch gewachsen waren, entzogen sich der Erforschung. Nach einigen Stunden schwebten die ersten Fundstücke zwischen den Schiffen heran und wurden in der Hangarschleuse abgesetzt. Einige der Noots, die nicht im Wrack gewesen waren, kümmerten sich darum. Sie arbeiteten in Raumanzügen und schienen immer sicherer zu werden. Atlan wartete, bis auch der letzte Angehörige des kleinen Teams wieder an Bord der DARIEN war und rief dann Cembergall-Flyrt zu sich in die Kuppel. Er blickte ihn voller Hoffnung an. »Wie beurteilst du die Lage?« »Ich würde sie als hervorragend einschät-
25 zen«, begann Flyrt vorsichtig, »wenn es sich bei der Einrichtung um bekannte Werte handeln würde. Leitungen und Schalter – keine Probleme!« »Aber …?« Jene Verbindungselemente oder Schaltzentralen, eine Art organisch gewachsener Mikrochips oder integrierter Schaltungen, waren der einzige Grund, meinte Atlan bei sich. Die nächste Antwort des Noot bestätigte seine Befürchtungen. »Wir werden in der DARIEN so vorgehen, daß wir alle Leitungen kappen, die sowohl durch die Galionsfigur als auch durch manuelle Betätigung funktionieren. Das wird das Potential deiner zu versorgenden Bezirke mindern.« »Aber das sind doch nur winzige Teile!« rief Atlan aufgeregt. »Richtig. Innerhalb eines Tages haben wir immerhin diese Sicherheit. Vielleicht finden wir morgen etwas, das dich noch unabhängiger macht. Übrigens fanden wir auch das Versorgungssystem für Galionsfiguren. Es zerfiel, als wir es öffneten. Die Scuddamoren oder deren Raumschiffstechniker haben hinterlistige Systeme entwickelt.« Atlan erwiderte dumpf: »Letzten Endes heißt das, daß ich sterben muß, falls von euch jemand den Schneidbrenner an einer falschen Stelle ansetzt.« »Niemand wird dieses Risiko heraufbeschwören!« beschwichtigte ihn Flyrt. »Wir werden, nachdem wir uns umgezogen und ausgeruht haben, die Teile untersuchen, die im Schleusenhangar liegen.« Je fortgeschrittener die Experimente sein würden, sagte sich der Arkonide, desto gefährlicher würden sie werden. Gefährlich für ihn. Er war festgeklebt und festgeschmiedet in ein außerordentlich wirkungsvolles System, das im Grund niemand verstand. Vermutlich wußten neunhundertneunundneunzig von tausend Scuddamoren nicht, welche Techniken verwendet wurden. Sie verließen sich, wie jeder andere, bedingungslos auf das Funktionieren der Galionsfiguren. Und in mehr als diesem Prozentsatz funk-
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tionierten die Steuermänner auch problemlos. »Untersucht die Teile«, sagte Atlan und zwang sich wieder zur Besonnenheit. »Dann sehen wir weiter.« »Genau das habe ich vorzuschlagen«, entgegnete der Noot und verließ Atlans Kanzel. Der Pthorer kontrollierte die Anzeigen der Ortung und erlebte einige Sonnenauf und untergänge im Orbit um Trimor mit. Die Hälfte der Noots schlief und ruhte sich aus, die andere Hälfte versuchte, den Funktionsprinzipien der ausgebauten Teile auf die Spur zu kommen. Auch Atlan versank wieder in einen unruhigen Halbschlaf, in dem, wie erwartet, die bekannten Träume wieder auftauchten. Irgendwo im Zentrum, jenseits des Marantrone-rReviers, lagen die Lösung aller seiner Probleme und die Rettung für Pthor. Stundenlang hing Atlan wieder in dem Geflecht dieser unwirklichen Träume oder Gedanken. Oder war es eine ferne Stimme, die ihm dieses Wissen einflüsterte? Er wußte es nicht, konnte sich auch nichts vorstellen. Er hatte nur, als er wieder erwachte, Todesangst. Er wußte jetzt, daß es der größte Fehler seines bisherigen Lebens gewesen war, sich in den Sitz der Galionsfigur zu setzen.
4. Die elf Noots brauchten etwa zwei Tage, um die organische Verkleidung entlang eines Haupt-Kommandostranges zu öffnen und die dahinterliegenden Leitungen zu erkennen. Hunderte von Kabeln und Verbindungen versorgten so simple Dinge wie KabinenLichtschalter, die Blenden von Lufterneuerungsschächten und die Bildschirme und Lautsprecher der Interkome. Systematisch wurde eines dieser Elemente nach dem anderen abgeschaltet oder abgeklemmt. Nach einer langen Zeit mühevoller Arbeit – sie sparten nur den Bereich des Schiffes aus, in dem sie sich selbst aufhielten – gab es für Atlan keine Möglichkeit mehr, einige hun-
dert einzelne Geräte zu bedienen oder zu beeinflussen. Cembergall-Flyrt trat in Atlans Kanzel und setzte sich vorsichtig auf den Rand einer Schaltbank. »Fühlst du irgendwelche Veränderungen? Wir haben fast alles abgeschaltet, was wir verantworten konnten, ohne die Sicherheit des Schiffes zu gefährden.« Atlan war seit dem Augenblick, in dem er sich in den Sessel der Galionsfigur gesetzt hatte, zum Sklaven seiner unkontrollierbaren Stimmungen geworden. Er fühlte, wie seine Hoffnungen abermals zerstört wurden. Er sagte traurig: »Ich fühle nichts. Oder so gut wie nichts. Vermutlich ist es so, als würdest du mir ein einzelnes Haar ausreißen. Ich habe versucht, etwas zu erkennen, während ihr an der Arbeit wart.« »Bist du sicher?« Atlan hatte die Diskussionen der Noots mitangehört. Sie waren auf dem richtigen Weg – von ihrer Warte aus. Die Reduzierung der Leistung sollte eigentlich die Galionsfigur erleichtern. Aber dies war definitiv nicht der Fall. Steuerung und Antrieb waren im Gegensatz zu diesen Knöpfen und Reglern nicht anders zu schalten und zu kontrollieren als durch die unbewußt ablaufenden Impulse des Steuermanns. Atlan entgegnete: »Ich bin leider hundertprozentig sicher. Ihr könnt einen anderen Versuch wagen.« »Eines der Schaltelemente freilegen und untersuchen?« »Richtig. Selbst auf die Gefahr hin, daß ihr mich umbringt, solltet ihr die Elemente testen. Aber richtet keinen Schaden an, der nicht wiedergutzumachen wäre.« »Du willst es wirklich riskieren?« fragte Cembergall-Flyrt erschrocken. »Ich brauche Gewißheit. So oder so«, sagte Atlan. »Wenn dieser Versuch auch fehlschlägt, und wenn ich eure Arbeit überlebe, dann verlassen wir den Orbit um Trimor und suchen uns ein anderes Ziel.« »Etwa Xudon?« »Warum nicht? Die Marktsumme wartet
Piraten zwischen den Sternen sicher auf dich. So lange ist es seit deinem Verschwinden auch nicht her.« Der Noot straffte seine muskulösen Schultern. Seine Schuppenhaut wurde stumpf und rauh. Das Rauchhorn zitterte einen Moment lang aufgeregt, bevor Flyrt meinte: »Das soll unser letzter Versuch sein. Wir alle sind zu der Überzeugung gekommen, daß der Neffe und seine Scuddamoren nicht wert sind, daß man ihnen gehorcht. Es sind Bestien ohne jedes Mitgefühl.« Zur Hälfte mußte ihm Atlan beipflichten, was Chirmor Flog betraf, herrschten etwas differenziertere Ansichten. »Wir allein können daran nichts ändern, Flyrt. Unternehmt euren letzten Test.« »Einverstanden.« Einige Stunden lang schnitten, schweißten und sägten die Noots die harte Masse der organischen Substanz zwischen zwei metallenen Trägern auseinander. Dann hoben sie eine große, gewölbte Platte weg und richteten das Licht mehrerer Scheinwerfer in den Hohlraum dahinter. Diesmal verfolgte Atlan zitternd und voller Spannung die Aktion über die Linsen eines fest eingebauten Aufnahmegeräts mit. Die grellen Lichtstrahlen zeigten wieder die gläsernen Röhren, in denen die Nervenfasern ruhten und in einer Kugel verschwanden, die etwa einen halben Meter Durchmesser aufwies. Die Bedeutung von Kabeln gewisser Farben und bestimmter Dicke war klar. Als der Energiestrahl das erste Kabel durchschnitt, spürte Atlan nicht mehr als einen winzigen, zuckenden Kopfschmerz, der nicht länger als zwei Sekunden dauerte. »Macht weiter!« sagte er gepreßt. Einer der Noots legte versuchsweise die Mündung eines Strahlers an die Außenwand der Kugel. Im selben Moment durchtobten rasende Schmerzen Atlans Körper. Er wurde hin und hergeschüttelt, hochgeworfen und in wilde Zuckungen versetzt. Schmerzerfüllt stöhnte er auf. Sein Schrei hallte durch die meisten Räume des Schiffes. Durch alle, in denen
27 die Lautsprecher und Mikrophone nicht abgeschaltet waren. »Aufhören!« donnerte Cembergall-Flyrt. Sein Kamerad gehorchte augenblicklich. Atlan brauchte mehrere Minuten, um sich wieder zu erholen. Tränen des Schmerzes liefen aus seinen Augen, und er konnte nicht einmal die Hand heben, um sie wegzuwischen. »Hast du den Schmerz überstanden? Geht es dir wieder gut?« fragte der Noot laut. Die anderen umstanden ihn und wagten nicht, sich zu rühren. Sie hatten spätestens jetzt die volle Tragweite des Problems erkannt. Es war mechanisch und mit ihren geringen Hilfsmitteln nicht zu lösen. »Es geht schon wieder. Aber … es war furchtbar«, gab Atlan stöhnend zu. Seine Stimme hatte sich in ein undeutliches Krächzen verwandelt. Vom Zellaktivator gingen Wellen von beruhigenden Strahlen aus. Das bedeutete nichts anderes, als daß jeder Versuch, eine solche Verteilerstation halborganischer Herkunft zu öffnen oder zu untersuchen, zum Tod der Galionsfigur führte. Ebenso würde der Treffer aus einem Projektorgeschütz wirken. Atlan ließ sauerstoffreichere Luft in seine Lungen strömen und atmete tief ein und aus. Schließlich konnte er erschöpft sagen: »Ein Schmerz, der mich fast besinnungslos machte. Vielleicht überstehe ich noch einen zweiten Versuch, aber keinen dritten mehr.« Einer der Noots gab zurück: »Wir haben deinen Schrei gehört. Ich weigere mich, dich einer noch größeren Gefahr auszusetzen.« »Ich bin derselben Auffassung«, sagte Cembergall-Flyrt hart. »Kein weiterer Versuch mehr. Wir bringen dich auf diese Weise um.« »Das wäre vielleicht die beste Lösung«, sagte Atlan. »Wir verlassen diesen schrecklichen Planeten.« »Möglicherweise gibt es an anderer Stelle für dich schnellere Hilfe. Diejenigen, die Or-
28 ganschiffe bauen, müssen doch wissen, wie Galionsfiguren lebend aus ihrem System befreit werden können.« »Wenn du wüßtest!« stöhnte Atlan. Er setzte das Vorhaben, das seit geraumer Zeit in ihm schlummerte, sofort in die Tat um. Die DARIEN kappte die Verbindungstaue und zog die Trossen ein. Dann sprangen die Maschinen des Antriebs an und rissen das Organschiff aus der orbitalen Bahn um Trimor heraus und in eine Gerade, die zu den fernen Lichtpunkten führte. Die Sonne des Systems glitt seitlich zurück, das Schiff wurde schneller. Atlan sagte knurrend: »Werft noch einen letzten Blick auf die Bildschirme. Ihr seht den sterbenden Planeten vielleicht nicht wieder.« »Danke.« Atlan handelte und schaltete automatisch. Während der Planet unter ihnen zu schrumpfen begann, überfiel ihn eine neue, starke Welle von Verzweiflung und Selbstmitleid. Er korrigierte den Kurs des Schiffes und raste auf die Sonne zu. Die psychische Krise packte ihn. Während die letzten Schmerzen verebbten, sah er ein, daß er verloren war. Eine unendlich lange Zeit körperlicher und seelischer Qualen lag ohne Zweifel vor ihm. Er wollte so nicht mehr weiter existieren. Das Leuchten der Sonne blendete ihn – er würde das Schiff und alles in die Sonne steuern und seinem Zustand ein Ende bereiten. Je greller die Strahlen wurden, desto mehr wuchs seine Überzeugung, daß dieser Freitod seine Sorgen ein für allemal beenden würde. Er ersparte ihm, ein beklagenswertes Leben in Sklaverei und Abhängigkeit von Zufällen führen zu müssen. Die Sonne wuchs direkt voraus. Die Noots würden es nicht merken. Sie waren dabei, die Verkleidung wieder halb provisorisch anzubringen. Plötzlich spürte Atlan hinter sich undeutliche Bewegungen. Der würfelförmige Kobold von Noder sprang aufgeregt von seinem Paneel und begann zu schreien.
Hans Kneifel »Dieser Verrückte im goldenen Anzug! Er will uns umbringen. Tue etwas, Cembergall, und steh hier nicht so schweigend und gebannt herum!« Wieder stimmte das rote Wesen das Gelächter an, das in Atlans Ohren zu widerhallen schien: das donnernde Lachen Gridersold-Herps. Die Lautsprecher im Schiff begannen zu klirren. Die Noots flüchteten erschreckt in ihre Kabinen und glaubten sich für kurze Zeit in ihr Bunkersystem versetzt. Cembergall-Flyrt sagte laut: »Du gibst auf, Atlan?« Für einen Moment öffnete Atlan seine Augen. Das Gelächter hatte ihn aus seiner Versunkenheit gerissen. Das Licht war zu grell. Er änderte den Kurs des Organschiffs, bis die Sonne seitlich stand. »Ich war nahe daran«, gab er zu. Ruhig sprach der Noot weiter. »Vielleicht gelingt es mir, dich ein wenig aufzumuntern. Oder dir wenigstens zu sagen, daß diese Lösung dir auch die letzten Chancen verdirbt. Du selbst hast zu mir gesagt, daß das Leben eine ständig steigende und fallende Kurve beschreibt. Im Moment bist du ganz unten. Vielleicht ändert sich alles schon bald zu unserem Vorteil – so lange solltest du warten.« »Vermutlich hast du recht«, murmelte der Arkonide. »Jedenfalls führt uns unser Flug jetzt in ganz andere, nie gesehene Bereiche des Marantroner-Reviers. Es ist mein Ziel, mich entweder umzubringen oder aus meiner Lage das Beste zu machen. Jedenfalls es zu versuchen.« »Ich freue mich, daß du so sprichst«, meinte Cembergall. »Du willst zum Rand der Sterne?« »Etwas scheint mich dorthin zu ziehen«, bekannte die Galionsfigur. »Ich weiß nicht genau, was es ist. Ein Gedanke, ein Traum oder eine Botschaft aus der Ferne.« Nach einer Weile, in der er die neu entstandene Situation überdachte, richtete der junge Noot wieder das Wort an Atlan. »Die anderen Noots kosten jede Minute ihres neu geschenkten Lebens voll aus. Sie
Piraten zwischen den Sternen werden jeden Befehl ihres Retters befolgen. Du bist ihr Retter, und etwas davon fällt auch auf mich zurück. Ich selbst weiß nicht recht, was ich davon halten soll. Einerseits sehne ich mich in die Ruhe von DanjitterTal zurück, andererseits habe ich das freie Leben zwischen den Planeten, Monden und Sternen auch schätzen gelernt.« »Wähle dein eigenes Ziel, Freund Atlan. Wir fliegen mit dir, wo es auch immer liegen mag.« »Er spricht würdevoll und voller Verständnis«, schrie der Kleine. »Jetzt ist das Schiff schon zweimal von uns gerettet worden, Flyrt!« Atlan führte alle nötigen Schaltungen durch, die das Schiff aus diesem Bereich des Reviers zu einem Punkt bringen würden, der zwischen den letzten Randsonnen der Sterneninsel und dem anscheinend weitestgehend leeren Raum vor der Kernmasse der Schwarzen Galaxis lag. Seit dem Moment, an dem dieser sein Entschluß feststand, wurde seine »innere Stimme« deutlicher. Er ahnte, daß sie ihn führen konnte. Jedenfalls klammerte er sich an diese Idee. Diese Stimme war nicht zu vergleichen mit den präzisen Aussagen seines Extrasinns. Aber vielleicht hatte er einen Planeten gefunden, wenn sie endlich nicht mehr flüsterte und drängte. »Und vielleicht entdecke ich etwas, das nicht nur uns, sondern auch Pthor hilft«, meinte Atlan. »Beinahe wäre es ein Totenschiff geworden.« »Noch lange nicht, glaube mir!« tröstete ihn Cembergall-Flyrt. Atlan hatte aus den Speichern der DARIEN einen Planeten herausgesucht, der zwar von Scuddamoren besucht wurde, aber keinen ihrer Stützpunkte beherbergte. Andererseits sagte er sich, daß diese Information keineswegs richtig zu sein brauchte, denn inzwischen gab es nichts Negatives, das er den Scuddamoren nicht zutraute. Wieder schaltete Atlan Ortung und Funkempfänger auf größte Empfangsempfindlichkeit und versuchte, innerlich zur Ruhe zu kommen.
29 Es gelang ihm nur sehr unvollkommen.
* Unbestimmte Zeit und eine Reihe Lichtjahre nach dem Beginn des neuen Flugabschnittes weckte ein Noot, dessen Namen Atlan nicht kannte, ihn auf. Der junge Echsenabkömmling blieb zögernd im Schott zwischen Kanzel und Schiff stehen und sagte leise, fast stockend: »Ich komme aus dem Kielraum des Schiffes.« Sein Tonfall alarmierte Atlan augenblicklich. Die Galionsfigur schreckte auf und empfand sofort, daß etwas in diesem Schiff nicht stimmte. Schnelle Blicke auf die Instrumente ergaben keinerlei aufregende Werte. »Ja? Du scheinst etwas gesehen oder erlebt zu haben, das sich nicht erklären läßt?« erkundigte sich Atlan. Noch identifizierte er den Zwischenfall nicht mit Gefahr. »Die Wand und der Boden, Galionsfigur«, sagte der Noot mit rauher Stimme. »Sie bewegten sich.« »Welcher Raum – genau?« fragte Atlan und versuchte, das betreffende Linsensystem einzuschalten. Aber es gehörte zu jenen Teilen, die von den Noots beim ersten Rettungsversuch abgeklemmt oder zerschnitten worden waren. Der Noot schilderte ihm, daß es ein langgestreckter Raum voller zylindrischer Tanks war, in dessen Boden und Decke sich die Befestigungen für Teile der Energieerzeuger befanden. Dann sagte er, daß plötzlich Teile der glatten Masse sich bewegt hätten. Die Organmasse schrumpfte, sagte sich Atlan und war bemüht, sowohl seine eigene Panik zu unterdrücken als auch den Noot zu beschwichtigen. Ausgerechnet jetzt, da er sich entschlossen hatte, die DARIEN als Instrument für sein Weiterleben zu verwenden! »Du mußt wissen«, begann er, »daß zwischen dem Metallgerüst des Schiffes und den meisten anderen Teilen eine Art Sym-
30 biose besteht. Vermutlich ist das, was du gesehen hast, ein Alterungsprozeß. An wieviel Stellen schrumpften die Flächen um die Verstrebungen?« »Ich habe zwei Stellen sehen können. Aber als ich wegging, war die Bewegung vorbei. Nur die Wände … sie sind dünn geworden wie Glas oder ein Gespinst.« »Auch eine Außenwand?« »Nein. Nur zwischen einzelnen Kammern des Schiffes.« »Es gibt ein paar solcher Stellen im Schiff. Sie haben nichts zu tun mit der Sicherheit an Bord«, antwortete Atlan und wünschte sich, er selbst könnte glauben, was er sagte. Die Symbiose oder die seltsamen Beziehungen zwischen Steuermann und Organschiff schienen noch intensiver zu sein, noch enger, als Atlan je bewußt gedacht hatte. Der Noot war noch immer nicht beruhigt; seine Nervosität würde die anderen anstecken. »Können wir also beruhigt leben? Oder müssen wir alle immer die Raumanzüge tragen? Bist du sicher, daß sich das Schiff nicht aufzulösen beginnt?« Atlan hob, so weit es ihm die Sensoren erlaubten, die Schultern. Die Stacheln des Goldenen Vlieses bewegten sich. »Ich bin mit jeder Faser des Schiffes verbunden. Ich würde es merken, wenn sich das Schiff auflösen würde«, log er. »Das ist nicht der Fall. Falls es geschehen sollte, woran ich zweifle, können wir auf jeden Fall noch einen Planeten anfliegen und landen. Und, falls das Schiff zerfällt, ist es vielleicht die Lösung meiner eigenen Probleme.« »Du hast recht. Weil wir dir vertrauen, kam ich zuerst zu dir«, sagte der Noot. »Danke.« »Für Dank gibt es wenige Ursachen!« schloß Atlan und sah in der reflektierenden Fläche eines ausgeschalteten Bildschirms, daß der Noot die Kanzel verließ. Schlagartig kamen alle Zweifel und Ängste zurück. Fiel das Schiff auseinander, verschlimmerte sich sein Befinden. Griffen ihn Depressionen an, so lockerte sich die Kraft,
Hans Kneifel die Metall und Organmasse scheinbar unauflöslich zusammenhielt. »Das bedeutet«, flüsterte er in panischem Schrecken, »daß ich es schaffen muß, bis zum Ende dieses Schiffes gute Laune zu behalten. Keine Krise, kein Anfall von Niedergeschlagenheit, stets ruhig, souverän und ausgeglichen. Das schaffe ich nicht.« »In dem Moment«, sagte plötzlich Gink Nik Meus von seinem Paneel aus, »in dem du einen intensiven Gedanken an Untergang hast, lockert sich irgendwo der Organverband. So ist es und nicht anders.« Atlan vergewisserte sich, daß die Lautsprecher und Mikrophone nicht eingeschaltet waren und fragte zurück: »Wie kann ich meine ureigenen Gedanken vor dem Schiff verbergen?« »Da das unmöglich sein dürfte, armer Mann im Goldenen Vlies«, lautete die Erwiderung, »schlage ich vor, keine Gedanken zu haben.« »Das wiederum bedeutet, daß ich mich ununterbrochen beschäftigen muß und keine Sekunde lang wirklich nachdenken darf.« »Ich fürchte, genau das bedeutet es für dich. Ich werde versuchen, dir zu helfen. Du weißt, daß diese Erkenntnis für Schiff und Mannschaft nur eine einzige Bedeutung haben kann?« Niemals hatte Atlan Grund gehabt, an der Intelligenz des passiv lebenden Noders zu zweifeln. Auch jetzt mußte er merken, daß Gink genau die richtigen Schlußfolgerungen gezogen hatte. »Unser Flug endet früher, als wir es uns vorgestellt haben«, antwortete die Galionsfigur und schaltete augenblicklich die Speicherinformationen über Sterne und Planeten ein. Sofort erhellten sich drei Bildschirme und gaben verschiedenartige Sammlungen von Texten, Formeln und Bildern frei. Das war nicht nur ein Mittel zur Information. Es war für Atlan eine der wenigen Möglichkeiten, die er noch hatte. Er mußte versuchen, die Auflösungserscheinungen der DARIEN so lange wie nur irgend möglich hinauszuzö-
Piraten zwischen den Sternen gern. Jetzt rächte sich der Umstand, den er bisher stets als persönlichen Vorteil betrachtet hatte: Der Zellschwingungsaktivator und das Goldene Vlies machten ihn weitaus unabhängiger und auf makabre Art »freier«, als es je eine andere Galionsfigur gewesen war. Aber was war dann aus jenen Galionsfiguren und Schiffen geworden, die mit der Großen Plejade der Krejoden von Xudon zu tun gehabt hatten? Wie hatten sie trotz ihrer »Freiheit« weiter existieren können?
* Gedanken an Terra, an Rhodan und die Freunde. Erinnerungen an die Abenteuer auf Pthor-Atlantis. Die toten und lebenden Gefährten zahlloser Kämpfe und Abenteuer. Bizarre Landschaften, exotische Wesen, eine Kette von Gestalten in allen Formen und Farben. Abenteuer der Sinne, der Erinnerungen und der Imaginationskraft. Hoffnungen und Pläne, Sehnsüchte und Träume. Und immer wieder der archaische Drang, alle Fesseln zu zerreißen und zu flüchten. Es hätte der kämpferischen Wut und des Einfallsreichtums eines Razamon bedurft, um Atlan zu helfen. Wo war Razamon? Wo waren alle anderen Gestalten aus der Vergangenheit … Dutzende, Hunderte oder Tausende? Die Galionsfigur erwachte. Es war nur ein kurzer, tiefer Schlaf gewesen. Sekundenlang wirbelten noch die Fetzen des schweißtreibenden Alptraums durch Atlans Gedanken. Dann begriff er, daß zwei verschiedene Umstände ihn geweckt hatten. Der Funkverkehr nahm zu, einige Schiffe funkten überaus deutlich auf den stehenden Trägerwellen. Und das Schiff war in einer Zone voller Sonnen; unweit des von Atlan gewählten Zieles am Rand des Sternenhaufens. Während Atlan aus Überlebensnotwendigkeit heraus die Funktionen des Schiffes
31 kontrollierte, hörte er mit halbem Ohr einen Namen. Es schien der Name eines Organschiffs zu sein. WARQUIENT. Atlan registrierte in dem seinen Instrumenten und Sensoren zugänglichen Teil des Schiffes, daß andere Teile der DARIEN sich zu verändern begannen. Eine Blase hier, ein Riß dort, und an vier weiteren Stellen die typischen Schrumpfprozesse der Organmasse in der Nähe von sich kreuzenden Trägern, Spanten und Stringern. Irgendwo vor ihnen schien ein Raumschiff in Gefahr zu sein. Denn jetzt hörte Atlan deutlich: »Ich rufe die Wachflotte!« Derjenige, der funkte, schien unter außergewöhnlicher Nervenanspannung zu stehen. Vielleicht war es auch eine Galionsfigur, die Schwierigkeiten hatte. Atlan kontrollierte die DARIEN weiter und hörte zu. »Hier spricht Peleff, der Valvke. Ich war ein Vertrauter des Neffen Duuhl Larx und wurde von diesem zum Tode verurteilt.« Atlan war wie elektrisiert. Zunächst glaubte er nicht, was er einwandfrei hören und verstehen konnte. Aber der Fremde – was war ein Valvke? – klang überzeugend. Noch ein neuer, rätselhafter Mosaikstein in einem unbekannten Bild. Die Problematik zwischen den Neffen, besonders zwischen Chirmor Flog und Duuhl Larx, war ihm bekannt; einst sollte er zum Spion gegen Larx ausgebildet werden … vergeblich. Die nächsten Worte der ausgestrahlten Funkbotschaft trafen ihn noch stärker. »… aber es gelang mir, zu fliehen. Ich bringe wichtige Nachrichten für Chirmor Flog. Aber ich habe nicht mehr viel Zeit. Gebt diese Botschaft sofort an euren Herrn weiter. Er wird wissen, wie dringend ich seine Hilfe brauche.« Atlans wirbelnde Gedanken wurden noch einmal geschockt, als er den unmittelbar auf die letzten Worte folgenden lauten Aufruf hörte. Die Stimme erkannte er sofort. »Ausschalten!« schrie jemand. »Dlallau! Unterbrich diese Verbindung.« Diese Stimme gehörte unzweifelhaft dem
32 Berserker Razamon! Die andere Stimme erwiderte nach einer kurzen Weile: »Zu spät.« Pause. »Chirmor Flog wird nicht zögern, seine beste Flotte herzuschicken. Du hast das Spiel verloren, Pthorer.« »Warten wir ab«, antwortete Razamon kühl. »Noch ist nichts entschieden.« Das Funkgespräch riß ab. »Razamon!« stöhnte Atlan auf. »In erreichbarer Nähe.« Ohne zu zögern, riß er das Organschiff in eine Kurve und nahm eine noch genauere Funkpeilung vor. Die Werte des ersten Rufes waren gespeichert worden. Sicher war das Schiff aus einem Revier ins andere geflogen, befand sich also im Einflug ins Marantroner-Revier und somit in den Einflußbereich Chirmor Flogs und seiner Scuddamoren. Razamon, der Berserker! Er kam von Duuhl Larx! Unfaßbar! Die DARIEN gehorchte noch immer ihrem Steuermann. Ihre wichtigen Systeme hatten sich nicht aus der Symbiose gelöst. Sofort nahm das Organschiff Kurs auf die Stelle, an der sich die WARQUIENT befand. Natürlich würden auch die Schiffe der Wachflotte heranrasen, so schnell sie konnten. Ein Schiff, das, aus welchen Umständen auch immer, aus dem RghulRevier kam, war wichtiger als die Verfolgung von Piraten oder deren verschwundenem Schiff. Atlan weckte Cembergall-Flyrt und bat ihn in die Kanzel. Augenblicke später erschien der Noot, diesmal ohne Raumanzug. »Es scheint dringend zu sein, Atlan?« fragte er ohne Umschweife. Atlan berichtete ihm so kurz wie möglich, was es mit Razamon auf sich hatte, und daß dieser Freund, wenn sie ihm aus der WARQUIENT heraushelfen konnten, die einzige Rettungsmöglichkeit bedeutete. Sofort stimmte Cembergall zu; es tat Atlan wohl, eine solch spontane Hilfsbereitschaft zu erleben. Aber schon zeigten sich auf den Schirmen der Fernortung die ersten Echos. Mindestens drei Schiffe, die sich auf den
Hans Kneifel Punkt zubewegten, der die WARQUIENT darstellte, konnte Atlan identifizieren. »Wir werden das Rennen verlieren!« sagte Flyrt matt. »Außerdem haben wir mit unseren elf Männern und den paar Strahlern wirklich keine Chance gegen Riesenschiffe der Wachflotte.« »Ich versuche es trotzdem.« »Funke nicht. Hör zu«, schrie aufgeregt der Noder und sprang auf blitzschnell ausgefahrenen Beinen auf und nieder wie eine Spiralfeder. »Sie werden den Fremden erwischen und dann Jagd auf uns machen. Hast du dich dafür so gequält, Atlan?« Atlan murmelte düster und resignierend: »Der einzige, der in diesem verdammten Organschiff nicht recht hat, bin seit geraumer Zeit ich. Abermals eine niederdrückende Einsicht. Aber eure Argumente sind richtig.« Atlan hörte den Funkverkehr zwischen den Schiffen der Wachflotte und anderen Einheiten, die sich in diese Auseinandersetzung einschalteten. Die Kommandos der Verständigung zwischen mindestens sieben Scuddamorenschiffen waren knapp und von militärischer Präzision, in verschiedenen Sequenzen sogar verschlüsselt. Atlan forschte in einer Informationsspeicher-Unterabteilung nach, fand aber keine Möglichkeit, die chiffrierten oder verzerrten Botschaften zu dekodieren. Dieses Intermezzo hielt ihn nur wenige Sekunden auf. »Wie sieht es aus?« wollte Flyrt wissen. »Wie lange kennst du Razamon?« »Eine Ewigkeit. Ich machte, ohne es jemals zu wissen, seine Bekanntschaft wohl schon in einer Zeit und an einem Ort, der so weit in der Vergangenheit liegt, daß es mehr eine Sage als eine Tatsache ist. Wir haben uns gegenseitig Dutzende Male das Leben gerettet. Dies geschah auf Pthor, einer Welt, die auch von den Herrschern der Schwarzen Galaxis versklavt war und abermals versklavt werden soll.« »Ich kenne dies alles nicht. Meine Erfahrung ist eingeschränkt, wie du weißt. Aber ich kann dich hundertprozentig verstehen«,
Piraten zwischen den Sternen gab Cembergall zurück. Der Noder rief dazwischen: »Aber nur dann, wenn sich unsere Galionsfigur klug zurückhält und nicht mehr riskiert, als das Schiff aushält. Viel wird es nicht mehr sein, meine ich.« »Ich bin nicht mehr lebensmüde!« versicherte ihm Atlan. »Ich greife nur ein, wenn es eine reelle Chance gibt.« Wieder meldete sich jemand aus der WARQUIENT. Mehrere Echos waren dem fremden Schiff so nahe gekommen, daß es schon einer Umzingelung gleichkam. Wieder fühlte Atlan einen fast körperlichen Schmerz, als er Razamons Stimme hörte. »Mein Name ist Razamon«, sagte er, wohl als Antwort auf eine Frage, die auf einer anderen Frequenz gesendet worden war. »Gemeinsam mit dem Valvken konnte ich von Cagendar entkommen.« Atlan speicherte auch diese Information in seinem Gedächtnis und hörte gebannt zu. Razamon ahnte nicht einmal, wie nahe sie einander waren. »Auch ich war ein Vertrauter des Neffen Duuhl Larx. Peleff, der Valvke, ist tot. Die Rache des Neffen traf ihn, obwohl wir uns bereits sicher vor ihm glaubten.« Sekundenlang schwieg er, dann schloß er den Funkspruch ab. »Ich bitte euch, mich zu Chirmor Flog zu bringen.« Diesmal sendete eines der ScuddamorenSchiffe im Klartext, verständlich für alle Schiffe in weitem Umkreis. »Ergebt euch. Beim ersten Zeichen von Gegenwehr werden wir die WARQUIENT vernichten. Bereitet euch darauf vor, ein Scuddamoren-Kommando an Bord zu nehmen.« Dann: Stille. Atlan änderte den Kurs des Organschiffs nicht. Er war zu weit entfernt, um etwas für Razamon tun zu können. Er hielt es für wahrscheinlich, daß nicht nur Razamon, sondern auch die gesamte Besatzung der WARQUIENT und auch das Schiff nach Säggallo gebracht werden würden.
33 Chirmor Flog konnte gar nicht anders handeln. Vielleicht erfolgte dieser Transport auf Umwegen, damit die Besatzung gebührend getestet und ihre Aussagen auf Wahrheitsgehalt überprüft werden konnten. Aber Chirmor würde es sich nicht nehmen lassen, direkte Informationen über seinen unmittelbaren Konkurrenten zu erhalten. »Ich habe Säggallo zu früh verlassen«, sagte Atlan laut. »Wenn ich gewußt hätte, daß ich dort mit Razamon … aber das ist alles Unsinn. Was jetzt?« Razamon war verschwunden gewesen. Jetzt tauchte er, aus dem Rghul-Revier kommend, hier auf. Und die Art und Weise, wie dies vor sich ging, konnte nur als geheimnisvoll bezeichnet werden. Atlan kannte den Berserker. Zweifellos verfolgte Razamon seine eigenen Pläne. In Unternehmungen dieser Art war er geschult. Ahnte Razamon etwas? Ahnte er, daß sich Atlan hier aufhielt? Durchaus möglich, sogar sehr wahrscheinlich. Sonst würde er nicht im Marantroner-Revier auftauchen. Atlans Hoffnungen waren neu erwacht. Gleichzeitig fürchtete er, daß dieser Stimmungsumschwung sich negativ auf die Organmasse auswirken konnte. Zuerst war er der inneren Stimme gefolgt. Sie hatte ihn hierher gelotst, bildete er sich jedenfalls ein. Hier erfuhr er von der Ankunft des Freundes. Und jetzt? Wie konnte er an Razamon herankommen? Ganz sicher, indem er das Schiff nach Säggallo zurücksteuerte. Oder er folgte der WARQUIENT mit ihrem Scuddamoren-Prisenkommando. Zuvor aber schwor er sich – bevor er sich anschickte, wieder ins Zentrum der Macht vorzudringen –, Cembergall-Flyrt und seine Kameraden an einem Ort abzusetzen, der ihnen alle Chancen bot. »Ja, was jetzt?« fragte auch Flyrt ratlos. »Es stehen verschiedene Möglichkeiten zur Debatte«, erklärte Atlan und zählte sie auf. »Welche ziehst du vor?« Ohne zu zögern, entgegnete der Noot:
34
Hans Kneifel
»Ich möchte zurück nach Xudon.« »Und deine Kameraden von Trimor?« »Ich werde sie befragen. Was hast du unmittelbar vor? Willst du noch immer gegen die Schiffe der Wachflotte kämpfen?« Obwohl sich das Geschehen in weiter Entfernung abspielte, war zu sehen, daß eine ziemlich große Flotte die WARQUIENT umgab. Alle anderen Schiffe schienen diesen Teil des Reviers zu meiden. Auch Atlan änderte wieder den Kurs des eigenen Schiffes. »Ich folge zunächst dem fremden Schiff. Vielleicht ergibt sich eine Gelegenheit. Dann arbeite ich einen Kurs nach Xudon aus, Cembergall!« »Darauf freue ich mich am meisten.« Die Zeit verging jetzt schneller. Atlans depressive Grundstimmung war wie weggewischt. Mißtrauisch kontrollierte er den Zerfall des Schiffes. Aber noch zeigten sich keine dramatischen Veränderungen. Es war wie ein Seeschiff, das vom Rost zerfressen wurde; ein Zustand, der sich nur langsam verschlimmerte und das Schiff noch lange Jahre gebrauchsfähig beließ. Drei Tage lang folgte Atlan dem Schiffsverband, aber es gab keine noch so geringe Chance, sich Razamon zu nähern. Und aus Angst vor Entdeckung wagte er auch nicht, eine Funkbotschaft abzustrahlen. Die Scuddamoren würden ohnehin dafür sorgen, daß Razamon und seine Crew sie nicht hören konnten.
5. Cembergall-Flyrt, zwei andere Noots und Atlan blickten auf den Ortungsschirm direkt vor ihnen. Die Wiedergabe des hochempfindlichen Instruments war auf schärfste Vergrößerung geschaltet. Trotzdem waren die Echos kaum mehr zu erkennen und wurden von Sekunde zu Sekunde schwächer. »Es ist sinnlos geworden«, meinte Atlan. »Die Scuddamoren lassen kein Schiff an die WARQUIENT heran. Wir müßten sie durch das gesamte Marantroner-Revier verfolgen.«
»Es tut mir leid um Razamon«, erklärte Cembergall und legte seine Hand auf Atlans Schulter. Die scharfen Krallen kratzten über die Glieder des Goldenen Vlieses. »Ich hätte uns gewünscht, ihn zu treffen. Fliegst du jetzt in Richtung auf Xudon?« Atlan nickte schwach. »Ich habe es euch versprochen. Aber ich werde euch vermissen. Niemand ist da, der mir sagt, was zu tun ist.« »Du hast zumindest noch Gink. Falls wir jemals dieses Ziel erreichen«, meinte einer der Noots. Atlan hatte die Koordinaten von Xudon bereits herausgesucht und schlug jetzt den direkten Kurs dorthin ein. Das Organschiff wurde wieder schneller und verließ diesen Teil einer viel beflogenen Route. Die Einsamkeit des offenen Weltraums umgab sie binnen kurzer Zeit. Das Leben an Bord verlor auch den letzten interessanten Impuls und wurde ein wenig langweilig. Niemand dachte mehr daran, einen Versuch zu unternehmen, der die Galionsfigur befreien konnte. Die Erfahrungen hatten ihnen genügt. Atlan glaubte, in der errechneten Zeit von einigen Tagen Xudon erreichen zu können. Die innere Stimme schwieg meistens, und wenn sie ihn ansprach, zog sie ihn wieder hinaus zum Rand des Reviers. Er würde der Stimme folgen, wenn er die Noots abgesetzt hatte und das Schiff noch gebrauchsfähig war. Seltsam, dachte er bei sich, daß ich keine Angst mehr habe. Seit ich von Razamon gehört habe, bin ich wieder voller Entschlußkraft. Trotzdem traf ihn die Einsicht, dem Freund nicht helfen zu können, schwer. Seine Enttäuschung war abgrundtief gewesen, als die letzten Spuren der Ortungsechos endgültig von den Schirmen verschwunden waren. »Wir werden jedes Ziel erreichen«, versuchte Cembergall ihn zu motivieren, »das wir wirklich erreichen wollen.« »An mir liegt es nicht«, schränkte Atlan
Piraten zwischen den Sternen ein. »Aber ich habe ein Gefühl, das nichts Gutes verheißt.« »Wieviel Tage, schätzt du, brauchen wir bis Xudon?« wollte Cembergall wissen. »Etwa sieben Tage, wenn nichts dazwischenkommt«, erklärte die Galionsfigur. »Und auch auf Xudon kann ich nicht bleiben, denn auch dort wird mich niemand aus dem Schiff befreien können.« »Vielleicht kommt alles anders, als wir glauben«, sagte der andere Noot. »Ich überlege mir, ob ich an Bord bleiben soll. Soviel Abenteuer kann ich an anderer Stelle nicht erleben.« »Du weißt nicht, wovon du redest«, wies ihn Atlan zurecht. Dreimal binnen weniger Stunden hatte er einen Schaden im Schiff registriert. Ganze Wände waren verschwunden und hatten sich in Form von dünnen, weißen Gespinstfäden um die stählernen Träger gelegt. In einigen Teilen höhlte sich die DARIEN selbst förmlich aus. Noch waren keine wirklich entscheidenden Teile betroffen, aber schon die nächste Störung konnte die Steuerung, die Maschinen oder die Energieerzeugung lahmlegen und das Schiff zum Tod verurteilen wie jene Wracks im Orbit um Trimor. »Ich bin müde«, sagte Cembergall. »Du wirst mich wecken, wenn es etwas Neues gibt, Atlan?« »Darauf kannst du dich verlassen. Kurs nach Xudon, Kapitän?« »Wie wir es diskutiert haben. Kurs auf DanjitterTal, auf den offenen Markt zwischen den Marmorbergen.« »Wird ausgeführt.« Atlan blieb allein zurück. Um nicht wieder in trübsinnige Gedanken zu verfallen, beschäftigte er sich erneut mit dem Inhalt der Informationsspeicher. Er versuchte, Informationen über Haltbarkeit, Reparaturmöglichkeiten und redundante Systeme von Organschiffen zu finden. Es gab keinerlei Hinweise, wo immer er suchte. Die Galionsfigur war Teil einer Maschine, und als solcher standen ihr nur beschränkt Kenntnisse und Wissen zu. Eben nur die Menge, die
35 ausreichte, das Schiff nach Befehlen perfekt zu steuern. Er konnte es nicht verhindern, daß seine Gedanken und seine Stimmung immer wieder dem Tiefpunkt zufielen. Er bemühte sich wirklich, innerlich ausgeglichen zu sein. Aber je mehr er abzuschalten und sich abzulenken versuchte, desto häufiger wurden die Momente der Traurigkeit und der Verzweiflung. Jedesmal reagierte das Schiff! Hier riß ein Schott auseinander. Nur die metallischen Teile blieben erhalten und sahen wie groteske Spinnennetze aus. Ein Deck brach herunter. Die Abfälle und die Beutestücke der toten Piraten hagelten sieben Meter tiefer auf den Boden und zertrümmerten andere, wertvolle Einrichtungen. Die Zerstörungen traten nicht gezielt oder errechenbar auf, sondern zufällig, keinem festen Schema folgend. Es war ein tödlicher Kreis. Je mehr die Adhäsion zwischen organischer Masse und Metall schwand, desto aufgeregter und panischer reagierte Atlan in seinen Versuchen, sich abzulenken. Er zog alle Register seiner Möglichkeiten. Aber sie schienen keinen Einfluß auf die fortschreitende Auflösung zu haben. Schließlich lag Atlan nach knapp drei Tagen Flugzeit zitternd und voller nackter Furcht in seinem Sitz und stöhnte auf. »Gink Nik. Ich kann nicht mehr!« In aufreizend langsamen Bewegungen entwickelte der Noder vier lange Gliedmaßen und schob seine Augen aus dem Fell hervor. Er musterte Atlan schweigend und sagte dann: »Ich sehe ein, daß deine Lage schwierig ist. Dadurch wird auch unser Zustand mehr als bedenklich.« »Soll ich den Noots die Wahrheit sagen? Ich weiß nicht, wie lange wir uns noch im Raum bewegen können!« »Wie weit ist Xudon entfernt? Es verspräche eine sichere Landung und angenehme Umstände danach.« »Wir brauchen noch dreieinhalb Tage. Ich
36 habe zehnmal nachgerechnet. Das ist der günstigste Wert.« Wieder begannen die Speicher auf Kommando Daten und Informationen zu liefern. Die Beschreibungen der nächstgelegenen Sonnensysteme tauchten auf. Es gab nur wenige Planeten, auf denen eine Landung für Schiff und Mannschaft Überlebensmöglichkeiten versprach. Auch konnte Atlan keine Siedlungen zivilisierter Mitglieder der Völkerfamilie des Reviers in den Verzeichnissen finden. »Schaffen wir die dreieinhalb Tage noch?« fragte Gink Nik aufgeregt. »Ich weiß es nicht.« Atlan fror plötzlich. Seit einiger Zeit plagte ihn ein starkes Hungergefühl. Auch der Durst nahm zu. Er vermochte das Lebenserhaltungssystem nicht zu beeinflussen. Die Sensoren ermittelten, was er zum Wohlbefinden brauchte, und dies wurde ihm geliefert, ohne daß er zu kauen oder zu schlucken brauchte. Es gab weder Beruhigungsmittel für seinen Kreislauf noch jenes Mittel, das den Juckreiz auf seiner Haut unterdrückte. »Rufe Cembergall, wenn du einen Planeten gefunden hast«, schlug der Noder vor. »Keiner von uns kennt diesen Teil des Weltraums. Aber wenn du das Schiff solange halten könntest, daß wir einen Stützpunkt erreichen, überleben wir alle.« »Ich versuche es auf alle Fälle!« murmelte Atlan und durchforschte die Kartei der möglichen Welten. »Es muß ein Sauerstoffplanet sein.« »Ich kann keinen finden.« Atlan konstruierte einen theoretischen Kurs, der ohne große Verzögerung an Welten beziehungsweise Sonnensystemen vorbeiführte, die als Rettungsmöglichkeit dienen konnten. Aber keiner der ermittelten Punkte entsprach den Erfordernissen. Es gab weder Scuddamorenstützpunkte noch Handelswelten, weder irgendwelche Kolonien oder Plätze, auf denen ein Raumschiff versorgt werden konnte. Eiswelten, Wüstenplaneten, Körper mit Giftatmosphären … das gesamte Spektrum aller denkbaren Planeten lag auf dem neuen Kurs, nur kein Sauer-
Hans Kneifel stoffplanet mit einer Siedlung. Schließlich fand Atlan den Planeten D'sarc III. Es war ein Sauerstoffplanet. Vor vielen Jahrzehnten, lautete die Beschreibung, hatte es drei Städte gegeben. Die Lage der aufgegebenen Siedlungen war angegeben. Den Grund, weswegen sich die gemischten Populationen zurückgezogen hatten, erfuhr die Galionsfigur nicht. Aber es führte an diesem Planeten eine Handelsroute vorbei, und er war reichlich zwei Tage entfernt. Atlan steigerte die Geschwindigkeit des Schiffes um einige Prozent und rief Cembergall-Flyrt in die Kanzel. Während er wartete, untersuchte er das Schiff von vorn bis hinten. Die Zerstörungen schritten unaufhaltsam fort. Eine Wand des Hauptkorridors schrumpfte. Das Organmaterial schmolz dahin wie Fett in vulkanischer Hitze. Leitungen verloren ihre Isolierung. Die hintere Schleuse war wertlos geworden und ließ sich nicht mehr öffnen oder schließen. »Ich sehe an deinem Gesicht, daß wir ein Wettrennen mit der Zerstörung eingehen werden«, fragte der Noder. Atlan rechnete mehrmals den Kurs nach D'sarc III nach und richtete die Kanzel der DARIEN genau auf das betreffende Sonnensystem. Die Geschwindigkeit ließ sich noch um drei Prozent steigern. Er holte die letzten Reserven aus den Antriebsmaschinen heraus und hoffte, daß wenigstens diese Blöcke und Aggregate sich in den stählernen Verstrebungen halten würden. »Es wird ein Wettlauf mit dem Tod!« erwiderte Atlan. »Ich weiß es, weil ich es fühle. Flyrt! Ich habe dir und deinen Kameraden eine gräßliche Mitteilung zu machen.« Der Noot setzte sich neben Atlan auf den Boden, zog die stämmigen Knie an und stützte sich auf seinen Schwanzrest. Sein Echsenmund verzog sich zu einem resignierenden Lächeln. Inzwischen hatte Atlan die Mimik der Echsenwesen deuten gelernt. Das Rauchhorn begann zu zittern. »Zieht die Raumanzüge an«, sagte Atlan
Piraten zwischen den Sternen ohne Umschweife. »Ich bin eine schlechte, unausgeglichene Galionsfigur, deren seelischer Zustand das Schiff zerstört.« Das Lebenserhaltungssystem lieferte plötzlich eine Menge überflüssiger Hitze. Sekunden später war Atlan schweißgebadet und hatte keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. Gleichzeitig wurde sein Organismus mit Nährflüssigkeit förmlich überschwemmt. »Wir sind also in Gefahr?« fragte der Noot überraschend ruhig. »Ich habe einige der Zerstörungen gesehen.« Atlan sagte: »Ich berichte die Wahrheit. Außerdem kann eine Galionsfigur den Kommandierenden nicht belügen. D'sarc III ist zwei Tage entfernt. Nach Xudon sind es eineinhalb Tage länger. Ich werde den kleinen Sauerstoffplaneten mit den drei verlassenen Städten ansteuern. Wenn wir unmittelbar vor der Landung stehen und die Zeit noch reichen sollte, fliegen wir weiter und landen auf Xudon. Aber ebenso kann schon in der nächsten Stunde der Ernstfall eintreten. Deshalb meine Aufforderung. Zieht die Anzüge an. Rüstet euch aus und denkt daran, daß plötzlich das Schiff ohne Luft sein kann. Selbst mitten im Raum. Sucht Nahrungsmittel und Dinge, mit denen ihr überleben könnt. Nehmt die Funkgeräte an euch, sie sind fast ausschließlich aus Metall angefertigt. Oder schweißt ein leistungsstarkes Funkgerät in einen Metallcontainer ein.« »Was hat den Zustand des Schiffes verschuldet?« Der Noot bemühte sich, sachlich zu fragen. Schuld wurde hier nicht diskutiert. »Mit größter Sicherheit mangelt es mir an der nötigen Ausgeglichenheit. Meine individuelle Freiheit ist noch zu groß.« »Gibt es für uns eine Möglichkeit, den Verfall aufzuhalten?« »Ich kenne keine«, sagte Atlan ebenso ehrlich. »Wie stehen die Chancen?« »Schlecht für Xudon. Besser für D'sarc
37 III. Vermutlich schaffen wir es bis dorthin. Wenn wir funken können, wird früher oder später ein Händlerschiff landen, das nur kurze Entfernungen fliegen kann. Oder, im ungünstigen Fall, ein Scuddamorenschiff. In diesem Fall werde ich angeben – falls ich noch lebe –, daß ich euch gekidnappt habe.« »Wie sieht es mit Schutzmaßnahmen innerhalb des Schiffes aus?« »Wenn die Zone, in der ihr euch jetzt aufhaltet, von der Auflösung betroffen wird, wechselt ihr den Standort. Die Nähe der Kanzel hier verspricht mehr Schutz.« »Ich habe begriffen. Wir treffen uns in kurzer Zeit hier wieder. Ich erkläre es den Kameraden«, sagte der Noot und rannte mit langen Sprüngen davon. Als er um die erste Biegung verschwand, floß ein Kessel auseinander, der eine grünliche Flüssigkeit enthalten hatte. Der Schaden trat auf der Steuerbordseite mittschiffs auf. Atlan spürte, wie kleine, schockartige Wellen seinen Körper durchschauerten. Aber sofort begann der Zellaktivator mit seiner Tätigkeit und versuchte, das Leben des Arkoniden zu retten. Vermutlich hatten die Zerstörungen, zunächst unsichtbar, bereits vom ersten Moment an angefangen. Das Goldene Vlies und der Zellschwingungsaktivator, gekoppelt mit dem andersartigen Metabolismus von Atlan, hatten in Wechselbeziehungen die Situation laufend verschlechtert. Aber die Folgen traten erst viel später auf, nämlich jetzt. Die anderen Noots wurden wach und ließen sich von Cembergall berichten, wie die Lage stand. Ohne viele Fragen und ohne Panik gehorchten sie den Anordnungen. Ohne Verzögerungen schlüpften sie in die Raumanzüge. Sie rüsteten sich mit Reserven aller Art aus. Gepäckstücke wurden zusammengestellt. Tatsächlich wurde ein getestetes Funkgerät ausgebaut und in einen Metallbehälter verschweißt, der vorher mit federnder Schaummasse ausgespritzt wurde. Alles ging ohne viele Fragen vor sich. Nahrungsmittel, Werkzeuge und Waffen wurden bereitgelegt. Die lange Schulung in Belan-
38 gen des nackten Überlebens machte sich auch jetzt und hier wieder bemerkbar. Mitten in den Vorbereitungen zerflossen drei Wände und der Boden der am weitesten hinten liegenden Kabinen. Die Wohneinrichtungen der DARIEN wurden angegriffen und aufgelöst. Aber noch immer arbeiteten die Maschinen. Sämtliche Kontrollen zeigten beruhigende Werte. Atlan setzte abermals die Geschwindigkeit herauf. Dann war das absolute Maximum erreicht. Vierundzwanzig Stunden tröpfelten dahin. Die Noots kampierten jetzt im Korridor unmittelbar hinter der durchsichtigen Kanzel. Die Synthese zwischen organischer Masse und metallenen Elementen war in voller Auflösung begriffen. Drei Noots stellten für das Wesen von Noder ebenfalls einen Metallkasten her, der luftdicht verschließbar und von innen zu öffnen war. Gink Nik Meus verließ seinen alten Platz auf dem Paneel und stolzierte hinaus zu den Echsenwesen. Atlan fühlte sich noch um eine weitere Spur verlassener. Ein Wassertank zerstörte sich selbst. Die Flüssigkeit lief dorthin, wohin sie die künstliche Schwerkraft zog. Die entstehenden Kurzschlüsse setzten die Sekundärräume eines Viertels des Schiffes lahm. In diesem Bereich verschwand innerhalb von vier Stunden jegliche Organmasse und schmiegte sich, als sei sie schmorendes Plastik, an die Träger und Traversen. Zwölf Stunden nach dem berstenden Tank fiel für achtzig Prozent des Schiffes die künstliche Schwerkraft aus. Die Gegenstände entwickelten ein Eigenleben, das sie schweben ließ. Sie schlugen gegeneinander und trieben durch die großen, gähnenden Löcher in den Querwänden. Es war wie ein Wunder, daß die Außenwandung noch raumfest war. Atlan schaltete eine der wenigen funktionierenden Leitungen ein und sagte: »Noch rund zwölf Stunden bis D'sarc III.« Ich glaube«, rief der Noot-Anführer von draußen herein, »wir müssen Xudon vergessen.«
Hans Kneifel »Ich glaube nicht, daß wir es riskieren können. Zuviel ist aufgelöst. Es kann ganz schnell gehen. Und ich vermag nicht mehr Leistung aus den Maschinen herauszuholen.« Die Aufgabe für Atlan war zu groß. Er hatte überhaupt keine Zeit mehr, sich seinen trüben Gedanken hinzugeben. Trotzdem reagierte das Schiff, als befände sich sein Verstand ebenso in Auflösung. »Ich bin sicher«, sagte Cembergall, »daß wir es bis D'sarc III schaffen. Wir sind bereit. Noch höre ich keine Unregelmäßigkeiten im Geräusch der Maschinen.« Jedes Geräusch, nicht nur das des Antriebs, hallte innerhalb des Schiffes gespenstisch wider. Die DARIEN bestand praktisch nur noch aus einem Gitterwerk. Die einzelnen Elemente hatten unterschiedliche Stärken und waren auch keineswegs regelmäßig angeordnet. In diesen Rastern befanden sich die Blöcke der Maschinen. Hin und wieder gab es noch einen funktionierenden Scheinwerfer. Auch die Fassungen der Leuchtkörper bestanden aus Organmasse – oder besser: hatten aus Organmasse bestanden. Die wenigen Lichter ließen die ganze Trostlosigkeit erst voll erkennen. Um den dreidimensionalen Raster spannte sich die Außenhaut, die noch immer die Form eines Hammers oder einer Tabakspfeife hatte. Die Notlandung stand unmittelbar bevor. Atlan rechnete und rechnete. Es blieben noch acht Stunden. Es ging nicht schneller. Zum erstenmal hörte er bewußt das Geräusch, mit dem sich eine Decke zusammenzog, wie unter stärkster Hitzeeinwirkung zu schrumpfen begann und Löcher zeigte. Es war eine Mischung zwischen Zerren und Reißen von Stoff und dem Geräusch, das entsteht, wenn Metallfolie langsam zerfetzt wird. Das alles hundertmal so stark und mit einigem Nachhall im Schiff. Unmittelbar hinter dem Korridor, auf den sich die Noots gerettet hatten, verschwand die Decke vollständig. Die Löcher vergrößerten sich, bis sich zwischen ihnen nur
Piraten zwischen den Sternen noch dünne Verbindungen spannten. Aus der vielfarbigen Organmasse wurde ein aschegraues Gespinst, das schließlich in Fäden auslief und einige Sekunden erhalten blieb. Dann rissen die Fäden, und die Enden wickelten sich wie Gummi um die Verstrebungen. Atlan rief den Noots eine Warnung zu. »Spannt die eisernen Ketten und die Stahltaue zwischen den Trägern. Klinkt eure Raumanzüge darin ein.« Noch sechs Stunden. Die Noots versuchten sich zu retten. Während ein Teil des Bodens sich auflöste, fesselten sie sich gleichsam an die Streben zwischen Kanzel und Schiff. Einige von ihnen lagen flach auf den breiten Stahlplatten. Ihre Kameraden standen da und hatten sich mit Armen und Beinen in Schlingen und Griffen festgeklinkt. Das Gepäck war auf abenteuerliche Weise an Metallteilen befestigt. Drei Stunden vor der Landung bestand die DARIEN praktisch nur noch aus Außenhülle, einem Wirrwarr von Blechen aller Formen, Farben und Stärken, aus den Maschinen und der Steueranlage, der Kanzel und einem Netzwerk von Drähten und Kabeln, die völlig ohne Isolierung zwischen den Trägern hingen und lange Funken sprühten, wenn sie sich berührten. Auch der letzte Lautsprecher fiel aus. Die Sonne tauchte auf. Der Kurs lag exakt an. Atlan beobachtete ununterbrochen die zitternden Markierungen der Instrumente. Einige von ihnen wurden nur noch von den Kabeln festgehalten, weil sich die Paneele aufgelöst hatten. Mehr und mehr Geräte fielen aus. Im gesamten Innenraum der DARIEN gab es keine künstliche Schwerkraft mehr. Der Hohlraum war angefüllt mit allem, was sich im Schiff befand: Wassertropfen, Ausrüstungsgegenstände, der Abfall der Piraten, alle nur denkbare, noch nicht aufgelöste Materie schwebte langsam umher. Es war ein trostloser Anblick, bis auch der letzte Scheinwerfer seinen Dienst einstellte. Jetzt fielen nur noch
39 die Strahlen der Sonne durch die Kanzel, die wie ein Nest vor den Gerüsten klebte. Auf dem Ortungsschirm tauchte das Bild des Planeten auf. Nach Atlans Berechnung hatte er noch neunzig Minuten reine Flugzeit. Am Ende dieser Frist würde er den Boden des Planeten erreicht haben. Wunderbarerweise funktionierten die Maschinen noch. Es gab serienweise Kurzschlüsse. Das treibende und schwebende Gut in den Hohlräumen berührte immer wieder bloßliegende Leitungen. Kleine Brände entstanden. Das Schiff füllte sich mit Rauch. Es gab keinerlei Möglichkeiten mehr, die Feuer zu ersticken. Atlan sagte sich, daß der nächste Schadensfall sicher ein Loch in der Außenhülle oder ein Aussetzen der Maschinen sein würde. Vor ihm verschwanden schon wieder zwei Instrumente, sie lösten sich fast spurlos auf. »Solange es noch Luft im Schiff gibt, können wir noch miteinander sprechen«, rief Atlan den Noots zu. Cembergall-Flyrt hatte sich an einem Loch des ehemaligen Schottrahmens unmittelbar hinter Atlans Sessel angeschnallt und festgehakt. Er hob die Klaue, die bereits im Handschuh des Raumanzugs steckte. »Wie willst du die Landung durchführen?« »Ich suche gerade nach den Resten einer Siedlung. Vielleicht kann ich das Schiff dort direkt absetzen. Ich kämpfe mit allem, was noch geblieben ist.« Die Luft roch intensiv nach dem brennenden und schmorenden Material. Die Rauchhörner der Noots vibrierten und verfärbten sich, als wären sie wieder auf Trimor. Genau in dem Moment, da der Planet so groß geworden war, daß ihn Atlan mit seinen Augen erkennen konnte, versagte die Nahortung. Nur noch zwei kleine Hilfsgeräte blieben intakt. Atlan änderte den Kurs um einen winzigen Betrag und steuerte direkt auf D'sarc III zu. »Sollen wir die Raumanzüge schließen?« wollte ein anderer Noot wissen. »Es ist sicherer«, gab Atlan zurück. »Ich habe kein Mittel, um vorherzusagen, wann
40 die Luft aus dem Schiff hinausschießt.« »Verstanden.« Ohne Hast schlossen die elf Noots die Helme. Sie kontrollierten sorgfältig die Anzugversorgung und halfen sich gegenseitig, wo es möglich war. Das Schiff stürzte weiter auf den Planeten zu. Die Sonne stand rechts von Atlan. Er selbst war durch das Goldene Vlies geschützt wie immer, dachte er. Und gleichzeitig traf ihn eine neue Erkenntnis: Die Galionsfigur war ihrer Möglichkeiten fast völlig beraubt. Das, was die Noots versucht hatten, nämlich Atlans Einfluß zu verringern und ihm mehr Freiheit zu verschaffen, war eingetreten. Das Schiff selbst hatte Atlan nur noch die Kontrolle über die Maschinen, die Steuerung und wenige Instrumente überlassen. Alles andere, um dessen Abschaltung sie so gefährlich gekämpft hatten, war verschwunden. Trotzdem hatte sich an Atlans Situation nichts geändert. Er fühlte nicht die geringste Erleichterung! Die Überlebensanlage arbeitete noch. Ihre Störungen waren in den letzten Stunden weniger häufig und nicht so schmerzhaft gewesen wie am Anfang des Zusammenbruchs. Atlan fühlte in seiner Lage nur wenig von wechselnden Temperaturen oder falscher Dosierung der Ernährung. Er konzentrierte sich allein auf die bevorstehende Landung beziehungsweise den Versuch, zu landen, ohne abzustürzen. Es erfolgte auch kein Ausstoß von Beruhigungsmitteln oder irgendwelchen Galionsfigur-Drogen. Er war voller Anspannung und Konzentration. Gleichzeitig half ihm diese Stimmung über seinen Zustand hinweg. Atlan versuchte sich zu erinnern, mit wie vielen havarierten Schiffen er bereits Notlandungen durchgeführt und überlebt hatte. Er suggerierte sich, daß dies nur ein Versuch von vielen war. Trotzdem wußte er, daß es noch nie so gefährlich gewesen war. Der Planet hing vor der Kanzel im Raum. Die Sonne stand rechts des Schiffes und leuchtete mehr als die Hälfte der Kugel aus. D'sarc III war, von hier aus gesehen, ein freundlich wirkender Planet; viel Wasser, ei-
Hans Kneifel nige schneebedeckte Gebirge und dazwischen endlose Wälder. Atlan begann, nach den Spuren der Siedlungen zu suchen. Die Geschwindigkeit behielt er noch unvermindert bei. Er wollte erst im letzten Moment bremsen, weil er damit rechnete, daß die starke Belastung das Schiff schädigen würde. Wie ein Geschoß näherte sich die todwunde DARIEN dem Rettungsplaneten. Als Atlan die beiden kleinen Monitoren an den Schwenkarmen zu sich herandirigierte und die Feineinstellungen vornahm, ertönte hinter ihm ein Kreischen und Jaulen, das sich binnen einer Sekunde zu einem unerträglichen Geräusch steigerte und dann plötzlich abriß. Die Heckschleuse hatte sich aufgelöst. Der gesamte Luftvorrat des Organschiffs entwich. Zunächst durch die kleinen Löcher, dann durch die sich rasend schnell vergrößernden Öffnungen. Atlan sah, wie der tobende Luftstrom die Feuer und Schwelbrände löschte, wie er die Masse der treibenden Gegenstände mit sich riß und aus dem Schiff hinauskatapultierte. Es mußte, aus einiger Entfernung gesehen, ein Bild von grandiosem Schrecken sein. Das stürzende Schiff zog eine lange Schleppe von Abfällen und Geräten mit sich, von Wasser, das sich in Gas verwandelte und von Tropfen anderer Flüssigkeiten, die Atlan nicht einmal dem Namen nach kannte. Einige Wolken zogen vor dem ständig wachsenden Bild vorbei. Atlan hob den Bug des Wracks an. Noch immer gehorchte die DARIEN dem Steuer. Ein Horizont erschien, von Wäldern und Bergen gebildet. Die Noots hockten in den Verstrebungen und versuchten, an Atlan vorbei, zu sehen, was vor dem Schiff geschah. Schemenhaft erschienen in einem riesigen Talkessel die Linien und Quadrate einer Siedlungsanlage. Atlan hatte gefunden, was er suchte. Er fühlte die Kälte auf seinem Gesicht, aber die Belästigung war gering. Trotz der Sensoren versuchte er, sich die Fäustlinge des Goldenen Vlieses überzustreifen. Dann zwang er das Schiff hinunter. Die DARIEN flog mit aller Kraft eine
Piraten zwischen den Sternen weite Kurve und sank schnell tiefer. In einer Seitenwand erschienen zunächst kleine, dann große Löcher, schließlich löste sich ein Segment auf. Die Sonne strahlte unbarmherzig herein und zeigte glühende Maschinenteile und Rauch, der aus Knotenpunkten aufstieg und von dem jaulenden Fahrtwind davongerissen wurde. Die Atmosphäre heulte um das Schiff und innerhalb der Konstruktion. Der Boden kam rasend schnell näher. Atlan bremste noch stärker. Vibrationen erschütterten das Gefüge des Schiffes. Die DARIEN schwankte und federte um sämtliche Achsen. Innerhalb des Stadtgebiets floß ein breiter Fluß mit smaragdfarbenem Wasser, dort gab es eine Vertiefung, die der Wald ausgefüllt hatte, und entlang des Flusses eine schmale Sandfläche. Atlan versuchte, das Wrack dort zu landen. Wieder bremste er. Ein paar Maschinen rissen sich los und rasten, gegen die Metallverstrebungen schlagend, im Zickzack durch das Schiffsinnere. Eines dieser Geschosse durchschlug dicht neben der Kanzel die Bordwand und schlug wie ein Meteorit in den Wald. Das Organschiff rasierte eine breite Schneise in die Wipfel der Bäume. Unbeschreibliche Geräusche ertönten und hallten weit über das unbewohnte Land. Donnerschläge erschütterten die Luft. Riesige Vogelschwärme erhoben sich und flüchteten nach allen Richtungen. »Ich habe es fast geschafft.« Atlan sah Stämme und Blätter auf sich zukommen. Die Kanzel barst vor ihm, und die einzelnen Teile lösten sich ebenso auf wie alle andere Organmasse bisher. Dann brachen die letzten Bäume zu Boden, der Sandstreifen tauchte auf, und das Schiff schlug in den Boden. Ein grauenhaftes Knirschen ertönte, als sich die Träger verbogen, verformten und aus den Verstrebungen rissen. Das Wrack kam auf einer Strecke von zweihundert Metern in einer riesigen Sandwolke zum Stehen.
41 Nachdem das Echo des Lärms verklungen war, als sich der Sand prasselnd wieder gesetzt hatte und sich einige Bäume wieder aufgerichtet hatten, knackte und ächzte nur noch das Metall der Konstruktion. Die Berührung auf dem Boden des Planeten bedeutete für das Schiff das Ende. Die letzten Reste der organischen Masse schmolzen förmlich dahin. Selbst Teile des Sessels, in dem die Galionsfigur lag, verschwanden und ließen Atlan auf den metallenen Komponenten der Konstruktion zurück. Die Noots hatten die Landung lebend überstanden. Offensichtlich zeigten die Geräte ihrer Raumanzüge an, daß die Luft für sie gut atembar war. Sie verließen ihre Plätze und turnten schwerfällig an den Verstrebungen hinunter. An dünnen Seilen ließen sie ihr Gepäck und die Ausrüstung in den Sand und schleppten sie neben das Schiff, das von Minute zu Minute immer erbärmlicher aussah. Atlans letzte Maßnahme war, den Antrieb auszuschalten und zu warten, wann sich die Steuerung selbst zerstören würde. Sie hatten überlebt. Cembergall-Flyrt war Xudon bis auf geringe Entfernung näher gekommen. Atlans Dasein als Galionsfigur der DARIEN war beendet; das Schiffswrack würde sich niemals wieder erheben, sondern hier verrosten wie die niedrigen Türme der aufgegebenen Siedlung dort drüben. Aber noch immer besaß er ein Funkgerät und eine eingekapselte Energieerzeugungsanlage.
6. Die Vogelschwärme kamen zurück. Die Tiere, die auffallend lange Körper und schmale Schwingen hatten, kreisten zunächst in großer Höhe und bildeten flache, scheibenförmige Wolken. Atlan hing in den Resten der Kanzel zwischen den Verstrebungen und überblickte aus einer Höhe von etwa vierzig Meter die Sandfläche, einen Teil des Flusses und die Ränder des Waldes. Jetzt lösten sich die allerletzten Reste des
42 organischen Gewebes auf. Die reißenden Geräusche marterten Atlans Ohren. Als er abwärts blickte und einen Entsetzensschrei hörte, erkannte er den Grund. Auch die Raumanzüge bestanden aus organischem Material! Zehn Noots mußten hilflos mitansehen, wie sich die Schutzanzüge in rasender Schnelligkeit auflösten. Der Prozeß verlief ebenso wie bei den Teilen des Schiffes. Die Metallteile fielen in den Sand oder blieben, seltsam verloren baumelnd, an den Drähten oder Kabeln hängen. Es dauerte keine neunzig Sekunden, und die Noots standen so gut wie nackt im Sand. Der Anblick und die Zeichen der Verblüffung und des Schreckens waren mehr komisch als tragisch. Trotzdem konnte Atlan nicht einmal lächeln. Dieser Umstand bedeutete gleichzeitig die Unbrauchbarkeit vieler Ausrüstungsgegenstände. Atlan rief, so laut er konnte: »Keine Angst. Ihr werdet trotzdem überleben!« Cembergall-Flyrt stand abseits der Gruppe, hatte den Oberkörper vorgebeugt und betrachtete sich ebenfalls voller Verblüffung. Der Raumanzug Gridersold-Herps löste sich nicht auf. Er bestand entweder nur aus Metall oder aus einem ganz anderen Gewebe, das die Scuddamoren nicht hatten wachsen lassen können. Der Noot hob den Arm, klappte den Helm wieder zurück und schrie zurück: »Dieser Gridersold-Herp! Er beweist noch weit über sein Ende hinaus, daß er klüger als alle anderen war. Fand er den Anzug in der DARIEN?« »Ja!« rief Atlan. »Ich schlage vor, ihr versucht, euch in einem alten Gebäude der Stadt einzurichten. Bringt erst einmal alles aus dem Wrack, was brauchbar ist.« »In Ordnung!« Die Vogelschwärme teilten sich jetzt, sehr viel niedriger fliegend, in kleinere Gruppen und näherten sich den Waldrändern und einzeln stehenden Bäumen. Im Gegensatz zu der Farbenpracht des umliegenden Landes
Hans Kneifel und dieses fast wolkenlosen Tages mit seinem blauen, fast terranischen Himmels, waren die Vögel dunkel, fast schwarz. Ihr Gefieder glänzte wie geölt. Atlan ließ seinen Blick umherschweifen. Die Anspannung der letzten Tage machte sich bemerkbar. Die Umgebung beruhigte ihn, gleichzeitig kam der Schock in langen Wellen über ihn. Wieder rasten die wildesten Erinnerungen durch seine Gedanken. Er hätte viel darum gegeben, gerade jetzt Razamon bei sich zu wissen. So aber sah er zu, wie die seltsamen Vögel zurückkehrten, wie kleine Wolken vor der Sonne vorbeitrieben und sich in den Wellen des träge fließenden Flusses spiegelten, und wie die Noots mit professioneller Tüchtigkeit daran gingen, die letzten verwertbaren Reste des Schiffes über den Sandstreifen zum Waldrand zu schleppen. Die Sonne stieg höher. Wenn er jetzt um Hilfe funkte, sagte sich Atlan, konnte jedermann den Funkspruch empfangen, also auch ein Scuddamorenschiff. Genau das lag nicht im Interesse der Überlebenden. Gerade eben öffnete einer der Noots den raumfesten Kasten, in dem sich Gink Nik Meus aufgehalten hatte. Der Kleine stolzierte hervor und nahm seine neue Umgebung in Augenschein. Atlan wußte, daß er die erste Zeit als Galionsfigur nicht ohne die Hilfe dieses Gesprächspartners überlebt hätte. Er bedauerte, daß er Gink nicht nach Noderzerf hatte zurückbringen können. Fragen bedrängten ihn plötzlich. Was geschah, wenn auch die automatisch arbeitende Versorgungseinheit endgültig versagte? Konnte man ihn mitsamt den verkapselten Geräten aus dem Trägergerüst schweißen und vom Schiff wegtransportieren? Soweit er es erkennen konnte, war die Einheit nicht sonderlich groß. Konnten ihn elf Noots von der Stelle bewegen und aus dem Gerüst zu Boden lassen? Es bestand offensichtlich keine unmittelbare Gefahr. Aber in einiger Zeit würden es diese Probleme sein, die lebensentscheidend waren. Als die Sonne ihren höchsten Stand
Piraten zwischen den Sternen erreicht hatte, übermannte die Müdigkeit den Pthorer, und er schlief ein.
* Es mußte eine winzige Veränderung gewesen sein, die ihn nach etwa einer Stunde wieder weckte. Eine Veränderung der Umgebung. Er hob den Kopf und blinzelte. Die Luft war voller Vögel, die aus allen Richtungen kamen und kreuz und quer durcheinander flogen. Sie füllten den Raum zwischen den Waldrändern aus, und zwischen den Zweigen schossen immer neue Gruppen hervor. Einige Exemplare flogen vor Atlan hin und her, und jetzt sah er, daß es keine Vögel, sondern gefiederte Tiere mit Schlangenleibern waren. Sie waren erregt und stießen fortwährend fauchende Schreie aus. Es waren Zehntausende, und irgend etwas hatte sie rasend gemacht. Eine der fliegenden Schlangen raste auf Atlan zu, klammerte sich einen Moment lang an sein Handgelenk und biß zu. Ein rasender Schmerz durchfuhr ihn, trotzdem schrie er zu den nur undeutlich zu erkennenden Noots hinunter: »Vorsicht! Die geflügelten Schlangen greifen euch an!« Das Tier biß zu und ließ sofort wieder von ihm ab. Als es sich mit schnellen Flügelschlägen von der Armlehne erhob, schien alle Feindseligkeit und Wut verraucht zu sein. Langsam flatterte die Schlange durch den Schwarm und verlor sich in dem Gewimmel der schwarzen, glänzenden Leiber. Vom Handgelenk aus breitete sich der Schmerz durch Atlans Körper aus. Es gab kein Mittel, den Schmerz zu unterdrücken. Atlan wimmerte und ächzte unter dem Ansturm der Giftstoffe. Vor seinen Augen begannen sich schwarze Kreise zu drehen, die Umgebung kippte in die Senkrechte, und dann wurde er besinnungslos.
* Atlan konnte nicht sehen, was zwischen
43 Wrack und Waldrand passierte. Die geflügelten Schlangen stürzten sich schrill fauchend in großen Rudeln auf die Noots. Die Echsenwesen wehrten sich bereits beim ersten Zeichen eines Angriffs mit allem, was sie gerade zur Hand hatten. Strahlerschüsse fauchten auf, Glutbahnen dröhnten durch die Luft. Stangen und Seilenden wirbelten und zerschmetterten die angriffswütigen Tiere. Aber die Zahl war zu groß, die Tiere waren zu schnell und griffen von allen Seiten an. Die Schuppenkörper der zehn ungeschützten Noots wurden von Tausenden Bissen getroffen. Gellende Schreie ertönten. Die Überlebenden der DARIEN waren binnen weniger Sekunden tot. Die Schlangenvögel schienen mit jeweils einem Angriff und einem Biß ihre plötzlich entfachte Aggression erschöpft zu haben, denn keine Schlange griff zweimal an. Auch Cembergall-Flyrt befand sich, wild um sich feuernd, sofort im Zentrum von Hunderten aufgeregter Tiere. Sie schlugen ihre Giftzähne in die Teile seines gepanzerten Raumanzugs. Geistesgegenwärtig hatte er, als er den ersten Schlangenvogel auf seinen Kameraden herunterjagen gesehen hatte, seinen Helm nach vorn geklappt. Flügel peitschten gegen das durchsichtige Material. Tiere prallten wie geschleuderte Steine gegen ihn und ließen ihn stolpern. Er versuchte, zu der Gruppe seiner Kameraden zu kommen. Ununterbrochen dröhnte seine Waffe auf. Ein Schwarm Schlangen erhob sich von einer Stelle, und er sah den buchstäblich zerfetzenden Körper des würfelförmigen Noders. Nach zehn Schritten stolperte er schwer und schlug in den Sand. Er rollte sich auf den Rücken, packte die Waffe mit beiden Händen und feuerte in die unabsehbar großen Schwärme hinein. Viele Schlangen flatterten auf und schraubten sich hoch, dann flogen sie in den Wald zurück. Die zehn Körper lagen verkrümmt im Sand. Der Sand um sie herum war von den Klauenfüßen zerwühlt und von den Schwingen und Krallen der Schlangen aufgerissen. Als
44 Cembergall-Flyrt aufsprang und sich den Körpern näherte, flogen die Schlangen, die sich wie eine wimmelnde Masse bedeckt hatten, in die Höhe und schwirrten dicht über dem Boden davon. Cembergall senkte die Waffe und untersuchte flüchtig die Körper seiner Kameraden. Die Noots lagen bewegungslos da. Sie waren mit Sicherheit tot. Jede einzelne Schuppe ihrer Haut war von mehreren winzigen Einstichen gezeichnet. Die fliegenden Schlangen schlugen ebenso schnell und tief zu wie ihre echten Artverwandten. Die toten Augen der Echsenwesen starrten anklagend hinauf in die grelle Sonne. Cembergall drehte sich um und schirmte die Augen mit der Klaue ab. Atlan war von hier aus nur undeutlich zu erkennen. Flyrt schob die Waffe in den Gürtel, ging langsam zum Wrack zurück und begann, die Verstrebungen hinaufzuklettern. Er balancierte auf den Rosten des Bodens und beugte sich über die starr daliegende Galionsfigur. Atlans Augen waren geschlossen. Der Körper unter dem goldenen Anzug bewegte sich nicht, der Brustkorb hob und senkte sich nicht. Als Cembergall die Haut der Wange berührte, fühlte er kaum noch Wärme. Schnell untersuchte er die freiliegende Haut neben den Sensoren und Fühlern. Sie wies zwei kleine Einstiche auf. »Also ist auch mein letzter Freund von den Bestien getötet worden«, stöhnte der Noot und war ratlos, als er daran dachte, wie er Atlans Körper begraben konnte. Er gab es auf; niemals würde er es übers Herz bringen, den Körper förmlich zu zerfleischen, um ihn aus der Umklammerung des Versorgungssystems herauszuschneiden. Er warf einen letzten Blick auf Atlan und kletterte schweigend wieder hinunter. Einige Stunden später hatte er die Körper der Kameraden nebeneinander im Sand vergraben. Die kleinste Grube bekam Gink Nik Meus, der wie ein zerbrochenes Spielzeug aussah. In der Abenddämmerung sammelte Cembergall-Flyrt die Waffen ein, warf sich das
Hans Kneifel Bündel über die Schultern und stemmte den Kasten mit dem Funkgerät hoch. Er schleppte alles zum Rand des Waldes, wo er Stunden vorher die Reste einer Straße entdeckt hatte. Bevor er den Wald zwischen der verlassenen Siedlung und dem Fluß betrat, schloß er wieder den Raumanzugshelm. Er blieb lange stehen und blickte zum Skelett des Wracks hinüber. Letzte Sonnenstrahlen riefen den flüchtigen Eindruck einer schimmernden, fremdartigen Konstruktion hervor. Flyrt wußte es besser. Jetzt war er so allein wie Atlan bisher. Er hob das Funkgerät auf und drang in den Wald ein. Cembergall-Flyrt wußte noch nicht, was er tun sollte. Vielleicht überlebte er auf D'sarc III die Wartezeit, bis ihn ein mehr oder weniger befreundetes Schiff abholte. Oder die Flügelschlangen töteten ihn in einem unbewachten Augenblick. Die Wahrscheinlichkeit, daß er hier starb, sagte sich der Noot, war sehr hoch. Es gab keinen Grund für Optimismus. Hinter ihm blieb das Wrack mit der leblosen Galionsfigur zurück.
* Seine Adern schienen mit flüssigem Feuer gefüllt zu sein. Jeder Herzschlag erzeugte einen anderen Schmerz in einem Teil seines Körpers. Nur die wellenförmigen Ausstrahlungen des Zellschwingungsaktivators erzeugten auf der Brust einen großen Fleck von lindernder Kühle. Atlan öffnete die Augen und war überrascht, daß er noch immer lebte. Der Zellaktivator hatte das Gift der geflügelten Schlangen neutralisiert. Trotzdem fühlte sich Atlan schwach und zu Tode erschöpft. Müde drehte er den Kopf und sah hinunter auf den Sand. Es war früher Morgen. Die waagrecht einfallenden Sonnenstrahlen erzeugten viele Schatten; zehn, nein, elf davon gehörten zweifellos zu Gräbern. Die toten Noots! Und vermutlich dieses kleine Grab daneben … es gehörte Gink Nik Meus. Atlan brauchte lange, bis er er-
Piraten zwischen den Sternen faßte, was geschehen sein mußte. Cembergall hatte überlebt. Der Raumanzug Gridersolds hatte ihn geschützt. Der letzte Noot hatte seine Kameraden begraben und ihn, Atlan, für tot gehalten. Lag der Kasten mit dem eingesiegelten Funkgerät noch im Sand? Atlans Augen irrten umher und entdeckten ihn nicht. Mühsam formten seine Lippen undeutliche Worte. »Er hat meinem Rat gehorcht. Flyrt ist mit dem Funkgerät auf dem Weg zur Stadt. Er kann überleben, wenn es ihm gelingt, ein Schiff zu finden.« Sollte ein Handelsschiff das Notsignal eines Mitglieds der Marktsumme von Xudon auffangen, würde es zweifellos ein Beiboot ausschicken. »Mir bleibt nur noch eine einzige Möglichkeit«, sagte er und versuchte mühsam, sein eigenes Funkgerät einzuschalten. Es sprang an, der Funktionstest verlief positiv. Atlan konnte mit dem folgenden Funknotruf sein eigenes Schicksal auf verschiedene Weisen beenden. Die Scuddamoren beachteten ihn nicht. Oder sie holten ihn und töteten ihn binnen kurzer Zeit. Oder sie brachten ihn zu Chirmor Flog, also dorthin, wohin vielleicht auch Razamon gebracht werden würde. Die letzte Möglichkeit war die wahrscheinlichste; es würde ihm helfen, als Kuriosität zu gelten: als Galionsfigur, die die Vernichtung des Symbiosepartners Organschiff überlebt hatte. Er fuhr das Mikrophon in die Richtung seines Mundes und sagte: »Hier spricht die Galionsfigur des Organschiffs DARIEN. Das Schiff ist auf dem Planeten D'sarc III zerschellt, die Organmasse hat sich aufgelöst. Ich habe wichtige Erkenntnisse an den Neffen weiterzugeben. Ich bin Atlan und lebe. Holt mich ab. Ich rufe die Scuddamoren-Wachflotte. Dies ist ein offizieller Notruf …« Es gab genügend Energie. Er wiederholte den Ruf in unterschiedlichem Wortlaut. Dann wartete er.
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* Er hörte keine Antwort. Drei Tage später, als sich sein Körper von der Wirkung des Giftbisses langsam zu erholen begann, erschienen lautlos drei riesige Schatten am Himmel. Sie schienen das Wrack genau geortet zu haben. Atlan sah zu, wie ein Schiff über dem Sandstreifen heranschwebte, genau auf den elf Gräbern landete und die Luken öffnete. Roboter und Scuddamoren schwebten heraus und begannen schweigend und schnell, das Wrack zu untersuchen. Ein Kommando näherte sich mit riesigen Werkzeugen. Die Geräte zerschnitten die Träger und Verbindungen, als bestünden sie aus dünnem Holz. Über Atlans Sitz und den Resten der Kanzel bugsierte sich eine Art Schwebeplattform heran. Greifer und Zangen packten Teile der Konstruktion. Schnell und schweigend, ohne daß jemand ihn ansprach, wurden sämtliche Teile des Systems aus dem Wrack herausgeschweißt und abgeschnitten. Das Bruchstück mit Atlan im Zentrum schwebte nach vorn, dann in die Höhe und nach einer scharfen Wendung auf das längsseits liegende Schiff zu. Ein riesiger Hangar öffnete sich. Die Plattform senkte Atlan auf den Boden des Hangars. Scuddamoren kamen heran und klinkten die Reste der Träger fest. Die Kommandos kamen mit Materialproben der DARIEN zurück, dann schlossen sich die Außenschleusen. Kurze Zeit später fühlte er, wie das Organschiff aufstieg und den Flug in den Weltraum begann. Er konnte gewiß sein, daß er früher oder später wieder vor Chirmor Flog stehen würde. Nun, »stehen« war nicht das richtige Wort dafür. Man würde ihn wohl vorführen. Falls bis dahin der Neffe Chirmor Flog überhaupt noch lebt! Während der ersten Zeit des Fluges war er wieder einmal von allen Informationen abgeschnitten. Jetzt hatte er nicht einmal mehr den Schiffsspeicher, um sich ablenken zu können. Er fühlte sich sterbenselend, aber es
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Hans Kneifel
gab zwei Hoffnungsschimmer. Die innere Stimme und Razamon. ENDE
Weiter geht es in Atlan Band 433 von König von Atlantis mit: Die Körperlose und der Molg von Horst Hoffmann