Phantom der Tiefe � von Adrian Doyle
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Phantom der Tiefe � von Adrian Doyle
Weihnachten 1997, östliches Anatolien Die Zelte standen einsam in sternklarer, frostiger Nacht zu Füßen des biblischen Berges. Die nächste Siedlung lag Meilen entfernt. Jedes Jahr zur selben Zeit zog es Pilger dorthin, wo das Menschengeschlecht dereinst seine zweite Chance erhalten hatte. Irgendwo hier an den verschneiten Hängen des Ararat, daran gab es für die versammelten Gläubigen keinen Zweifel, war einst Noahs Arche vor Anker gegangen. Von dem zweiten Schiff aber, in dem das Verderben selbst überdauert hatte, wußten sie nichts. Bis auf einen vielleicht, aber dieser hatte keinem anderen je etwas davon verraten …
Was bisher geschah … � Als durch eine Seuche die meisten Vampire sterben und sich das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse verschiebt, wird Gabriel geboren, eine Inkarnation Satans. Seine Aufgabe: ein Tor zur Hölle zu öffnen, das von der Bruderschaft der Illuminati in einem Kloster bei Rom bewacht wird. Letztlich scheitert das Vorhaben, nicht zuletzt durch Lilith Eden, Tochter eines Menschen und einer Vampirin. Gemeinsam mit ihrem ärgsten Feind Landru wird sie durch das Tor in die Hölle gerissen – eine Dimension, die durch den Fall des Engels Luzifer entstand. Bei der Flucht aus den Gefilden der Hölle werden ihre Persönlichkeiten gelöscht, während Salvat, Führer der Illuminati und in Wahrheit der Erzengel Michael, den Klosterberg sprengt und das Tor somit versiegelt. Lilith und Landru wissen nichts mehr über ihr früheres Leben; nicht einmal, daß sie Vampire sind! Über Landrus Tarnidentität finden sie erste Spuren. In Australien sucht Lilith den Ort ihrer Geburt auf, während es in Paris zur Begegnung zwischen der Werwölfin Nona und Landru kommt. Beinahe tötet Landru seine langjährige Geliebte – doch da taucht Gabriel auf und gibt Landru die verlorene Erinnerung zurück. Von Nona erfährt Landru, daß der Dunkle Dom, die Heimstatt der Hüter, wo einst die Dunkle Arche nach der Sintflut strandete, zerstört ist! Er muß in Erfahrung bringen, was dort geschah – schließlich war er selbst einer jener Hüter, die mit dem Lilienkelch das Geschlecht der Vampire über die Erde verbreitet haben. Zuvor aber kümmert er sich um die immer noch identitätslose Lilith, denn mit ihr hat er besondere Pläne … Derweil erwacht im Dunklen Dom der letzte der Kelchhüter – Anum, der damals auch der erste Hüter war. Zugleich taucht in Indien der Lilienkelch wieder auf, und in Nepal endet die dunkle Geschichtsschreibung der Blutbibel. Sie wurde überwacht von sieben Kindern, die damals in der Dunklen Arche mitreisten; nun kehren
die Sieben zurück und geben Anum all ihre Kraft. Landru offenbart Lilith, daß sein Gedächtnis zurückgekehrt ist. Er gibt vor, sich auch an ihre Identität zu erinnern: Im Urwald Mittelamerikas gäbe es eine Stadt, in der ihre gemeinsamen Kinder auf sie warteten. Kinder, die Lilith geboren habe! Diese Stadt – Mayab – ist mit Kelchmagie von der Umwelt abgeschirmt. In ihr leben Maya noch so wie vor einem halben Jahrtausend. Die Vampire dort sind Landru treu ergeben und wissen, was von ihnen erwartet wird; Nona reiste voraus und weihte sie in Landrus Pläne ein. Doch etwas in Lilith wehrt sich gegen die von ihr verlangten Grausamkeiten, und so zieht sie sich gleichermaßen den Zorn Landrus, den Unmut ihrer »Kinder« … und die Sympathien der Maya zu, für die sie zum Hoffnungsträger wird, die jahrhundertelange Tyrannei abschütteln zu können. Landru erfährt unterdessen von der Kelchmagie, die Mayab von der Außenwelt abschirmt, daß im Dunklen Dom ein Bruder erwacht ist – ein neuer Hüter? Zu lange schon hat er sich mit seiner Erzfeindin aufgehalten; nun bricht er zum Ararat auf, Lilith in Nonas Obhut zurücklassend …
Der alte Mann hustete so heftig, daß sich sein Körper vom Lager aufbäumte. Die Augen blieben geschlossen, aber das runzlige Gesicht leuchtete in solch gespenstischem Blau, daß Kemer sich fragte, ob sein Großvater noch ausreichend Luft bekäme … Unwillkürlich drückte er die schwielige Hand des Schläfers, bei dem er Nachtwache hielt, fester. Der Hustenanfall hörte auf. Milas sank zurück. Eine Windböe fauchte draußen über die kahle Ebene, stieß auch gegen die dünne Wand aus Ziegenhaar und blähte sie nach innen. Sie hielt stand, und von drüben, aus dem Hauptzelt, drangen weiterhin die Stimmen derer an Kemers Ohr, die den Gottesdienst abhielten. »Ganz ruhig«, flüsterte Kemer seinem Großvater zu, der ihn nach dem Tod seiner Eltern bei sich an Vater statt aufgenommen hatte. »Schlaf weiter. Ruh dich aus. Du hast dir zuviel zugemutet. Du hättest auf den Arzt hören sollen …« Er verstummte. Die Sorge schnürte ihm den Hals eng. Noch zärtlicher streichelten seine Blicke über die Züge des Mannes, der ihm näherstand als jeder andere. Milas, so hieß sein Großvater, galt auch in der eigenen Familie als unbequemer Sonderling. Aber Kemer hatte ihn, bei aller Verrücktheit, die ihm nachgesagt wurde, stets als warmherzig und liebevoll kennengelernt. Er liebte ihn – auch wenn er jetzt den Starrsinn seines Großvaters verfluchte, der darauf bestanden hatte, diese Wallfahrt mitzumachen, obwohl sie ihn vermutlich umbringen würde. Milas war im Sommer dreiundneunzig Jahre alt geworden, und er hatte diesen Geburtstag noch rüstig im Kreise seiner Familie gefeiert. Jetzt aber war Winter, und schon zu Beginn der kalten Jahreszeit hatte der alte Mann an einer Lungenentzündung laboriert, von der nur er selbst behauptete, sie längst überstanden zu haben. Sein Arzt war anderer Meinung. Milas hatte die Reise zum Ararat auf eigene Verantwortung angetreten.
Kemer war wütend, daß der alte Mann das getan hatte – – und zornig auf sich selbst, weil er es zugelassen hatte! Den anderen Familienangehörigen schien gleichgültiger zu sein, was mit Milas passierte. Dreiundneunzig Jahre … nun, niemand lebte ewig. Milas hatte ein Alter erreicht, wie es den wenigsten vergönnt war. Kemer wußte das auch. Aber etwas in ihm trotzte der Gleichgültigkeit, die mit der Erkenntnis um die schlußendliche Sterblichkeit eines jeden Menschen verknüpft schien … Plötzlich – nur ein paar Momente lang – schwankte der Boden. Die Erschütterung veränderte die Stimmkulisse aus dem Nachbarzelt jäh. Kemer hörte furchtsame, fast entsetzte Aufschreie, die aus Frauenmündern kamen. Aber auch Männer verliehen ihrer Überraschung lautstark Ausdruck. Nach der ersten Schrecksekunde wollte sich Kemer erheben und zu den anderen eilen, um herauszufinden, was geschehen war. Ein – Erdbeben …? Auszuschließen war es nicht, auch wenn der riesige Vulkankegel, an dessen Fuß sie ihre Zelte aufgeschlagen hatten, letztmals im vorigen Jahrhundert ausgebrochen war … Noch mitten in der Bewegung, mit der Kemer sich aufrichtete, bemerkte er, daß die Augen seines Großvaters nicht länger geschlossen waren. Unverwandt, aber in fiebrigem Glanz starrte Milas seinen Enkel an. Kemer hatte das Gefühl, direkt in zwei eitrige Entzündungsherde zu blicken. Nicht mehr weiß, sondern fast gelb sahen die Pupillen des alten Mannes im trüben Schein der Karbidlampe aus. »Kemer?« »Ja, Großvater?« Kemer hielt inne, obwohl in diesem Augenblick ein weiterer kurzer Erdstoß erfolgte. Auch sein Großvater mußte spüren, daß etwas vorging. Er stöhnte leise. Dann sagte er, Schweiß auf der Stirn: »Was – geht da vor?«
»Ich weiß es nicht, Großvater. Ich wollte gerade nachsehen …« »Sieh nach!« Kemer hatte das Gefühl, daß der alte, allgemein als versponnen geltende Mann noch nie eindringlicher zu ihm gesprochen hatte. Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, drehte Kemer sich um, öffnete die Verschlüsse des Zelteingangs und huschte hinaus in die klirrende Kälte, die sich augenblicklich wie kristallene Hagelkörner durch seine Kleidung fraß. Die Zeit, sich den Mantel überzustreifen, hatte er sich nicht genommen. Nur im Pullover eilte er auf das Hauptzelt zu, um das blakende Fackeln ihren unruhigen Schein in die Nacht streuten. In diesem Licht herrschte ein groteskes Durcheinander. Kaum jemanden schien es noch in den Zelten zu halten. Überall hasteten die Pilger durcheinander. In dem Stimmengewirr waren die Rufe einzelner nicht zu verstehen. Kemer entdeckte Akhan, der die Reise organisiert hatte. Akhan war ledig und von stämmiger Statur. Er versuchte die Menschen zu beruhigen, fand aber kaum Gehör, zumal schon das nächste Beben den Boden, auf dem die Pilger standen, erschütterte. Es fing fast sacht an, steigerte sich aber so gewaltig, daß die Tragkonstruktion eines der kleineren Zelte einknickte und es in sich zusammensank. Chaos und Panik schienen nicht mehr aufzuhalten. Kemer erreichte Akhan und rüttelte ihn am Arm. »Akhan …« Der Organisator der Wallfahrt drehte sich um, erkannte Kemer und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Geh wieder zu deinem Großvater – paß auf ihn auf! Hier kannst du nichts tun!« »Ein Erdbeben?« Akhan lachte heiser und reckte die Faust in Richtung des schneegekrönten Großen Ararat. In der mondhellen Nacht nahm sich das Gebirge majestätisch gegen das samtschwarze Firmament aus. Sommers war der fünftausend Meter aufragende Berg nur in seinem
oberen Drittel schneebedeckt. Jetzt aber, im Winter, reichte die Schneegrenze bis auf etwa 1800 Meter hinab und spiegelte den Glanz des prachtvoll funkelnden Himmeldiadems wider. Aber – nicht nur die unzähligen Sterne schienen die Kuppe des uralten Vulkankegels zu erhellen. Es war, als würde die darauf liegende Decke auch … von innen heraus erstrahlen – und als wäre dieses Licht sogar sehr viel intensiver als das der Sterne …! »Ich – verstehe nicht …« Akhan lachte noch rauher, fast ein wenig verächtlich. »Gratuliere«, keuchte er. »Damit bist du in unseren Klub aufgenommen!« Kemer kannte Akhan als besonnenen, erzfrommen Mann. Um so stärker verunsicherte ihn dessen ungewohnter Ton. Er warf einen letzten langen Blick zum Gipfel des Ararat – das Glosen sah nun aus, als hätte sich eine Eiskruste um ein rotglühendes Eisen geschlossen – und als höhlte dessen Hitze den gletscherkalten Panzer nun von innen heraus aus. Die Vorstellung war so aberwitzig, daß Kemer wie Espenlaub zu zittern begann. Ein Vulkanausbruch, dachte er. Der Berg wird Tod und Vernichtung speien. Ströme kochender Lava werden uns – Er brach den Gedanken ab und eilte ins Zelt zurück, wo sein Großvater seiner Rückkehr schon entgegenfieberte. »Kemer …?« »Der Berg … Du hast mir erzählt, er sei ein erloschener Vulkan, aber …« Kemer stürzte fast neben Milas auf die Knie und legte eine Hand auf den Bauch des alten Mannes. »Aber?« krächzte Milas. »… er ist nicht erloschen. Er ist aktiv. Diese Erdstöße … sie kommen aus ihm! Er bricht aus!« »Dann würde alles zerstört werden …« In Milas’ Augen standen Tränen.
»Es ist besser, wir brechen sofort auf«, nickte Kemer. »Die anderen werden uns helfen –« Er stockte. Plötzlich hatte er das überdeutliche Gefühl, daß sein Großvater an ganz andere Dinge dachte als daran, sein Leben zu retten. »Das … darf nicht geschehen! Kemer … Du hättest es sehen sollen, damals … Wenn es zerstört würde … Es wäre Sünde!« »Wovon redest du?« »Wovon?« Milas’ Blick flackerte noch stärker. Plötzlich preßte er hervor, und seine Hand schloß sich so hart um Kemers Arm, als bestünde sie nur noch aus blanken Knochen: »Ich bin nicht verrückt! Glaub nicht, was man sich über mich erzählt! Ich habe vor vielen Jahren den Verstand verloren, weil dieser Verstand nicht fassen konnte, was meine Augen sahen … aber ich bin nicht verrückt!« Kemer versuchte sich von dem schmerzenden Griff zu befreien. »Das weiß ich, Großvater … Glaub mir, das weiß ich …!« Er sagte es, ohne zu wissen, worauf sein Großvater hinaus wollte. Warum es ihm gerade jetzt so wichtig schien, für voll genommen zu werden. »Hilf mir!« keuchte Milas im nächsten Augenblick, während draußen die Schreie lauter und der Tumult größer zu werden schienen. »Ich will aufstehen.« Kemer zog seinen Großvater von dessen Lager. Er hatte keinen Zweifel, daß der alte Mann den Ernst der Lage vollends begriffen hatte und ihm nach draußen zu den Wagen folgen wollte. »Warte, du mußt erst deinen Mantel überziehen …« Milas gehorchte – auch wenn er den Anschein erweckte, als täte er es nur, um mit seiner Widerspenstigkeit nicht mehr Zeit zu verlieren als das Anziehen erforderte. Auf Kemer gestützt, verließ er das Zelt. Aus allen Richtungen klang Motorengeheul; die Luft stank vor Abgasen. Von den anderen Angehörigen ihrer Familie hatte sich noch niemand sehen lassen. Kemer unterdrückte den Verdacht, daß sie vielleicht schon in ihren
klapprigen Bus gestiegen waren und – Er wollte es sich nicht ausmalen. Sie waren keine Tiere. Sie hatten einen Glauben, der ihnen gebot, ihrer Nächsten zu gedenken. Ganz besonders der schwächsten … »Das ist kein Vulkanausbruch.« Milas’ Stimme platzte in Kemers Gedanken – wie ein Eimer Wasser, der auf eine heiße Herdplatte geschüttet wurde. »Aber …« »Nein! Mach doch die Augen auf, dann siehst du selbst, daß … daß es ein Zeichen ist!« Trotz der Kälte hatte Kemer das Gefühl, sich seiner Kleidung entledigen zu müssen, um den Wärmestau in seinem Körper zu lindern. Er starrte das Profil seines Großvaters an, der den Blick nicht vom Ararat lassen wollte, und schauderte in der Erkenntnis, daß dieser gebrechliche Greis mehr Vitalität, mehr Entschlossenheit ausstrahlte als er selbst. »Großvater …« »Sieh hin!« Kemer gehorchte. Und – ob es nun an der bloßen Intensität lag, mit der Milas seine Behauptung ausgestoßen hatte, oder nicht – plötzlich kamen auch ihm Zweifel, daß sie lediglich Zeugen einer sich anbahnenden Naturkatastrophe waren. Das Leuchten des Ararat-Gipfels wirkte in der Tat … unnatürlich. Außerdem hatten die Erdstöße nachgelassen, nein, aufgehört, und nicht nur unter der Schnee- und Eisdecke schien es zu glimmen. Der ganze Berg schien von einer Aura umhüllt zu sein, die nicht rötlich, sondern purpurfarben war und deren Licht bis auf den tiefsten Seelengrund der Betrachter zu fallen schien. Kemer löste den Blick gewaltsam von dem Schauspiel. »Großvater …« »Ein Zeichen!« wiederholte dieser – und statt mit Kemer den Weg
zu den Autos einzuschlagen, machte er kehrt und schleppte sich ins Zelt zurück. Kemer folgte ihm wie in Trance. Erst im Innern des Zeltes wurde ihm bewußt, wie gefährlich es war, sich von den anderen abzusondern. Wenn wirklich alle flohen, dann … Milas sank auf die Knie. Im ersten Moment glaubte Kemer, es geschähe aus Schwäche. Dann sah er im Schein der schaukelnden Karbidlampe, daß sein Großvater vor einer kleinen, eisenbeschlagenen Truhe kniete, deren Schlüssel er aus einer Tasche seines Mantels gezogen hatte und den er nun fahrig im Schloß umdrehte. »Sei vernünftig!« rief Kemer. »Ich trage die Truhe, wenn etwas Wichtiges darin ist – aber laß uns zu den anderen gehen!« Milas winkte ihn wortlos zu sich. Kemer konnte nicht anders. Er setzte sich neben seinen Großvater auf die Fersen und sah zu, wie dieser den Deckel der Truhe anhob. Mit zittrigen Händen holte er etwas hervor, das in ein dunkles Tuch eingeschlagen war. Ohne es auszupacken, reichte er es an Kemer weiter. »Das«, sagte er beinahe ehrfürchtig, »schenke ich dir. Verwahre es. Vielleicht wird kein Mensch je mehr davon sehen …« »Wovon?« Das Gewicht des Gegenstands irritierte Kemer. Obwohl er noch nicht wußte, was es war, schien es ihm … nicht passend für das, was in dem Tuch verborgen war … Grotesk. »Von dem, was ich gesehen habe. Damals.« »Da-?« Kemer verschluckte den Rest des Wortes. Draußen vor dem Zelt schrie jemand gellend auf, und dieser Schrei unterschied sich in Ausdruck und Intensität völlig von dem Tumult, der die Pilger erfaßt hatte.
Kemers Herz übersprang einen Takt, und als er hoch in das Gesicht seines Großvaters sah, bemerkte er auch darin ein erstes Schwanken. Milas schien bislang eine ureigene Meinung über die Ursachen des Phänomens zu besitzen, das sie beobachtet hatten. Er hielt es für eine Art Zeichen. Ein … Gotteszeichen. Doch dieser Schrei eben … Kemer wollte wieder aufstehen. »Bleib!« Milas’ Hand zielte, wie schon einmal, nach dem Arm seines Enkels – wollte sich wie eine Klammer darum schließen. Aber Kemer reagierte gedankenschnell und wich aus. Den noch immer in das Tuch eingeschlagenen Gegenstand hielt er fest und huschte damit zum Ausgang des Zeltes. Weiße Atemfahnen trieben hinaus in die Nacht. Er trat einen Schritt vor das Zelt und – – traute seinen Augen noch weniger als zuvor! »Was ist?« rief Milas hinter seinem Rücken. Der alte Mann schien immer noch am Boden neben der offenen Truhe zu kauern. »Hat sich etwas … verändert?« Ja, dachte Kemer klamm. JA! Aber seine Lippen blieben versiegelt, als wären es zwei miteinander verschweißte Metallhälften und seine Zunge ein Klöppel aus Blei … Der Bann wich erst, als Kemer eine Art elektrischen Schlag spürte. So heftig, daß er das Ding, das ihn verursacht hatte, im ersten Reflex fast fallenließ. Fassungslos löste er seinen Blick von den Pilgern und starrte auf das, was er in Händen hielt. Einen Moment lang hätte er geschworen, zu wissen, was sich unter dem dunklen, fein gewebten Tuch verbarg. Glaubte er es unter der Haut aus Stoff wie ein lebendiges Herz pochen zu sehen … sogar zu fühlen …
… dann zerstörte Milas’ abermaliger Ruf den Zauber. »Kemer!« Kemer wandte sich hölzern um und stakste ins Zelt zurück. Der Lärm der Motoren hatte vollständig aufgehört, aber keines der Fahrzeuge war davongefahren. »Kemer … Junge … Setz dich. Du siehst aus, als hättest du –« »Großvater …« Kemer kämpfte gegen die Versuchung an, auf der Stelle aus dem Zelt zu stürmen und sich den anderen anzuschließen. Das Ding in seiner Hand pulsierte nun heftiger. Lautlose Glockenschläge hallten durch seinen Körper. Milas schien zu begreifen, daß er seinen Enkel hoffnungslos überforderte, wenn er von ihm eine Antwort verlangte, die die Vorgänge draußen erklärte. Schweratmend kam er auf die Beine. Er hustete, bis ihm die Tränen über die eingefallenen Wangen liefen, aber irgendwie schaffte er es aus eigener Kraft zum Ausgang. Später, als er zu seinem Lager und zu Kemer, der sich hingesetzt hatte, zurückkehrte, irrlichterte es in seinen Augen, als wären sie ein Teil des Berges, der draußen die Nacht entflammte. »Ich verstehe …«, hauchte der alte Mann. »Sie – folgen dem Zeichen. Du …«, er schöpfte Atem wie ein Ertrinkender, »… du, Kemer, mein Junge, mußt mit ihnen gehen! Es ist eine einmalige Chance … Anders kann ich es nicht deuten! – Ich selbst bin zu schwach. Ich könnte den Weg kein zweites Mal gehen. Aber du …« »Kein – zweites Mal?« Kemer versuchte das Bild aus seinem Kopf zu vertreiben, das Bild, das er gerade gesehen hatte: Dutzende Menschen, die ihre ursprüngliche Absicht, zu fliehen, einfach fallengelassen und statt dessen begonnen hatten, in das Gebirge vorzustoßen, das zum Symbol ihrer alljährlichen Zusammenkunft und ihres Glaubens geworden war. Aber sie waren für einen Aufstieg gar nicht gerüstet! Und – was wollten sie überhaupt dort oben? Hatte Akhan sie dazu
überredet? Unsinn, dachte Kemer, der sich seine erst Minuten zurückliegende Begegnung mit Akhan in Erinnerung rief. Der Organisator der Reise war ebenso von den Ereignissen dieser Nacht überrollt worden wie jeder andere auch. Das, was hier geschah, war nicht Teil irgendeines Programms. »Ich war als junger Mann dort oben«, schnitt Milas’ heisere Stimme in Kemers Gedanken. »Damals war ich etwas älter als du – und das, was du in der Hand hältst, brachte ich von dort oben mit …« Irgendwo in Kemers Brust war ein kleiner kalter Knoten, der Kemer unvermittelt an den Tod erinnerte. An seinen Tod. Daran, daß auch er sterben mußte – nicht irgendwann in noch ferner Zukunft, sondern vielleicht schon in dieser Nacht … »Großvater, wovon redest du?« »Mach es auf und schau es dir an – und dann geh! Folge ihnen! Wer anders als Er könnte sie rufen – wessen Ruf sonst als dem Seinen würden sie folgen …?« Kemer lauschte ein letztes Mal in sich hinein. Auch er spürte … die Lockung. Den verführerischen Drang, alles stehen und liegen zu lassen und dem Magneten nachzugeben, der ihn zu sich zog … Kemer schlug die erste Lage Tuch zurück – dann die zweite. Immer fahriger wickelte er den Gegenstand aus dem Stoff, bis er endlich unverhüllt vor ihm lag. Karbidlicht streichelte darüber. Eine Sekunde lang war Kemer maßlos enttäuscht. Er hatte anderes erwartet als ein einfaches Stück Fels. Doch dann bemerkte er die Maserung des Steins – und machte sich bewußt, was er längst unbewußt registriert hatte: daß das Gewicht dieses Dings ungewöhnlich war. »Sieh genau hin«, riet Milas, als könnte er die Gedanken hinter der Stirn seines Enkels lesen. »Es ist kein Stein. – Zumindest war es das
nicht immer …« Kein Stein. Tatsächlich, es sah eher aus wie … »Holz?« Seine eigene Stimme kam ihm fremd und brüchig vor, als sie die Frage formulierte. »Holz, ja«, bestätigte Milas. Und fügte mit Grabesstimme hinzu: »Aber ein ganz besonderes Stück Holz …!« Und dann begann er Kemer mit hastig hervorgestoßenen Worten – als wüßte er, daß Zeit das rarste Gut auf Erden für ihn geworden war – zu erzählen, was er siebzig Jahre zuvor, im Sommer 1927, dort oben im Berg entdeckt hatte. Und daß ihn diese Entdeckung nicht wieder losgelassen hatte, obwohl – oder gerade weil – er das, was seine Augen gesehen und seine Finger gefühlt hatten, nie einer Menschenseele anvertraut hatte …
* Zur gleichen Zeit Der Hohe Mann starrte auf den Grund des Kelchs, wo schwarzes Blut in Jahrtausenden eine einzigartige Patina hinterlassen hatte. Eine hauchdünne Schicht, in der sich jetzt die Züge eines Mächtigen spiegelten – des Ersten Hüters, der das Geschlecht der Vampire vor mehr als viertausend Jahren gegründet hatte: die Alte Rasse … Sie war in ihrer Art nicht identisch mit den Vampiren, die heute aus dem Geheimen über die Menschheit herrschten. Die Kelchkinder, das war nichts anderes als die Armee, die mit Anbruch der Hohen Zeit an jedem Punkt der Erde dafür sorgen sollte, daß der Widerstand der Menschen im Keim erstickt wurde – oder bereits erstickt worden war. Im Keim … Anums Gesicht blieb unbewegt, als er des Plans der
Mutter gedachte. Liliths* Plan, die ihren Kindern nicht nur Opferschlange und Agrippa vermacht hatte, sondern auch ein Instrument, um eine schlagkräftige, eine unbesiegbare Armee aus schwachem Menschengeblüt zu formen: den Lilienkelch. Jenes Unheiligtum, mit dem nicht allein Anums Geist und Verstand, sondern auch die Hände, die ihn hielten, die Augen, die ihn sahen, Zwiesprache hielten. Und sich empörten! Der Gral der Hüter war entweiht, war vergiftet worden von … Anum suchte nach Worten, die ihm angemessen erschienen für das, was dem magischen Gefäß angetan worden war. Angetan von wem …? Kalter Zorn waberte in Augen, die älter waren als die Pyramiden von Gizeh – und die für so viele Zeitalter von wimpernlosen Lidern bedeckt gehalten worden waren. Blind und wie tot, aber in Wahrheit nur schlafend, träumend, hatte fleischgewordene Macht indes dem harten Puls der Zeit widerstanden. Um schließlich zu erwachen. Um die Ernte einzuholen, deren Saat zwanzig Hüter in zwanzig verflossenen Jahrtausenden ausgebracht hatten – – – FALSCH! Ebenso grausam wie unabänderlich war die WAHRHEIT in Anums noch schlaftrunkenen Geist gesickert: Die Wahrheit, daß erst ein winziger Bruchteil der Zeit, die ihnen einst für die Aussaat zugebilligt worden war, verstrichen war – und daß doch die Welt bereits in Scherben lag! Seine und die Welt der anderen Auserwählten. Die Hohe Zeit, so schien es, war verronnen, noch ehe sie überhaupt hatte beginnen können. WER HAT UNS DAS ANGETAN? Durch Anums Hirn tanzten Gespenster, krochen die Schattengesichter der anderen Hohen Männer und Frauen … Er löste den Blick vom Grund des Kelchs. Die Szenen, die sich dort *gemeint ist die Ur-Lilith, auf die alle Hüter zurückgehen
spiegelten, entrückten ihm für die Dauer tiefer Atemzüge. Endlos scheinende Momente hielt er Umschau – Ausschau – nach den Seinen, um schließlich, von Scham schier zermalmt, den Blick wieder zurück in den Kelch kehren zu lassen. In die Bilder, die über den uralten Bodensatz geisterten. Was war aus der Heimstatt geworden? Wie hatte Landru es zulassen können, daß dieses wichtigste aller Bollwerke, diese Bastion zerstört worden war von – Anum ballte die Fäuste. Wenn er die Augen schloß, sah er die Schuldige, als würde sie hier vor ihm stehen – die Vernichterin, die in den Dunklen Dom eingedrungen war und sich die Agrippa angeeignet hatte, eines von drei Vermächtnissen der Urmutter … * Der Dom, in dem ein jeder Hüter nach getanem Werk seinen Ritterschlag erhalten sollte, existierte nicht mehr, und sämtliche Schläfer, die noch in ihren Kammern gelegen hatten, waren tot – bis auf ihn selbst! War es pures Glück gewesen, das ihn gerettet hatte, oder Vorsehung? Anum wußte es nicht. Er wälzte bittere Gedanken hinter seiner Stirn; Gedanken, die um die Katastrophe kreisten, die er bis ins Detail nacherlebt hatte. Dank des Buches, in dem alles aufgeschrieben stand. Eines Buches aus Menschenhaut und Menschenblut, das in den bereits eingestürzten Dom gebracht worden war, und das zu ihm gesprochen hatte, nachdem die Lebenskraft von Ninmahs Kindern ihn aus seinem Jahrtausendschlaf geweckt hatte …** Er wußte also, wer verhindert hatte, daß sich die Prophezeiung ihrer Mutter erfüllen konnte. Aber er wußte nicht, wie es weitergegangen war! Was der Zerstörung der Heimstatt folgte! Ninmahs Kinder waren von der Magie dieses Ortes gerufen worden, um zu retten, was noch zu retten war: *Lilith Eden im VAMPIRA Heft 44: »Das Strafgericht« � **siehe VAMPIRA 29: »Die Wölfin« �
IHN! Ihr Odem war in ihn gefahren – aber dafür hatten sie die Fortführung der CHRONIK aufgeben müssen. Die SCHRIFT endete zu jener Stunde, als die Schreine von Artor, Onan, Sem, Isis, Neel, Kaila und Narasin, die Jungbrunnen der Wächter und Bewahrer der BLUTBIBEL, von diesen selbst zerstört worden waren. Sie hatten alle Spuren des jahrtausendealten Kults in den schwer zugänglichen Höhen des Himalaja beseitigt, um zum Ararat zu ziehen. Sie waren dem Ruf gefolgt – dem Drängen einer Macht, die ihnen einst ewige Jugend geschenkt und nun wieder genommen hatte. Artor und die anderen waren nie etwas anderes als Diener gewesen – besondere Diener zwar, aber doch bis hin zur Selbstaufgabe dem unbedingten Gehorsam verpflichtet. In ferner Zukunft hatten einmal alle Hüter zur gleichen Zeit in der CHRONIK lesen und erfahren sollen, was sich während ihres Schlafs auf Erden getan und verändert hatte. Einen anderen Zweck hatte die SCHRIFT nie gehabt. Aber auch das war … hinfällig geworden. Hinter Anums Augen brodelte ein lautloses Gewitter. Der Hohe Mann bebte immer noch unter dem Gelesenen nach. Bevor er sich in die Aufzeichnung der dunklen Geschichtsschreibung vertieft hatte, war er nach Indien gereist, um den Lilienkelch in seinen Besitz zu bringen, das Zeugnis des Versagens eines seiner Brüder. Landru. Warum hast du ihn nicht vor Mißbrauch geschützt? dachte Anum grollend. Du hättest ihn mit deinem LEBEN verteidigen müssen. Statt dessen hast du ihn dir stehlen und entweihen lassen …! Das dem Blütenkelch einer Lilie nachempfundene Gefäß mochte immer noch eine schreckliche Waffe sein – – aber es würde nie mehr Leben geben, nur noch nehmen! Anum schälte sich aus den düsteren Gedanken wie aus einem Ko-
kon, der sich während des langen Schlafs um ihn geschlossen hatte. Die Realität, in der er erwacht war, ekelte ihn. Sie war nicht das, was ihm verheißen worden war! Nicht die … Hohe Zeit … Gewaltsam konzentrierte er sich wieder auf die Bilder, die der Kelch ihm zur Verfügung stellte. Ja, kommt nur, dachte er. KOMMT! Er war entschlossen, die Wiege seines verfrüht beendeten Schlafs aufzugeben. Aber zuvor mußte er verhindern, daß irgend jemand diesen Ort jemals wieder besudelte – oder noch schlimmer entweihte als bereits geschehen. Danach … … würde er aufbrechen, um die Schuldigen am Niedergang des Großen Traums ausfindig zu machen. Und in Erfahrung bringen, was alles nach der Zerstörung des Doms, nach dem überstürzten Schlußkapitel der SCHRIFT geschehen war. Draußen. In einer Welt, die von der strengen Hand ihrer heimlichen Herrscher entblößt worden war …
* Der ihn umtosende Wind war so kalt, daß Kemer fürchtete, der dünne Tränenfilm, der seine Augen sonst schützte, könnte zu Eis gefrieren und ihn für immer erblinden lassen. Benommen schleppte er sich durch die Nacht. Jeder Atemzug tat weh. Jeder Atemzug spülte Frost in die hintersten Winkel seiner Lungen und verwandelte den Brustkorb in ein maschinenhaftes Ding, das nicht mehr für, sondern gegen den Rest des Körpers arbeitete! Wo seid ihr hingegangen? dachte Kemer. Von keinem der Freunde, Bekannten und Verwandten, in deren Fußstapfen er sich bewegte, war noch etwas zu sehen. Trotz ihres
klaren Vorsprungs hatte Kemer gehofft, sie noch einholen und sich ihnen anschließen zu können. Der Aufstieg, völlig auf sich gestellt, behagte ihm nicht. Nichts behagte ihm mehr. Er brachte sein Leben eines Hirngespinsts wegen in Gefahr! Es war die pure Unvernunft, den Heiligen Berg um diese Jahreszeit – noch dazu bei Dunkelheit, ohne entsprechende Ausrüstung und ohne erprobten Bergführer – ersteigen zu wollen! Warum tue ich mir das an? Er wußte es nicht. Er konnte nicht einmal vor sich selbst rechtfertigen, was ihn dazu trieb, den frommen Wahn seines Großvaters zu teilen, der an ein Gotteszeichen glaubte; an die einmalige Chance, Gott dem Herrn ganz, ganz nahe zu kommen … Kemer verlor den Halt unter den Schuhen. Als er stürzte, schürfte er sich die durchfrorenen Hände auf dem schroffen, felsigen Untergrund blutig – und kurz sah es so aus, als würde ihn der Schreck ernüchtern. Stöhnend kam er wieder auf die Beine, blickte hinter sich und suchte die Lichter des Lagers. Sie waren so weit von ihm abgerückt, daß er bezweifelte, je wieder dorthin gelangen zu können. Eine Befürchtung, die bei allem Grauen auch eine fast unheimliche Ruhe in ihm hinterließ. Unbewußt tastete er nach dem Gegenstand, den ihm sein Großvater mit auf den Weg gegeben hatte. Das Stück Holz, das aussah und sich anfühlte wie Stein – aber federleicht war. Das weder die Kälte der Nacht noch die Wärme des Körpers, gegen den es gepreßt war, annahm, sondern einfach es selbst blieb … Kemer krümmte sich. Sein Großvater hatte ihm erzählt, wie er in den Besitz dieses Fundes gelangt war. Es war eine unglaubliche Geschichte gewesen. Und Kemer war gewiß auch nicht aufgebrochen, weil er sie für bare Münze nahm, sondern weil ihn … etwas anzog – regelrecht
zwang! Er war nicht mehr er selbst. Etwas unsagbar Fremdes, Dominantes hatte sich in ihm eingenistet, und ein paarmal, seit er die Zelte hinter sich gelassen hatte, hatte er Blicke auf sich gespürt. Brennende, sengende, begierige Blicke, die sein Intimstes nach außen kehrten, es betrachteten und abwogen … »Nein«, rann es über Kemers Lippen, die spröde geworden waren wie Glas. Dann setzte er seinen Aufstieg fort. Die Kälte betäubte jeden Quadratzoll bloßliegender Haut. Er trug eine wollene Mütze, die bis über die Ohren reichte, aber Wimpern und Brauen waren mit Rauhreif überkrustet. Kemer wußte nicht, wie lange er so schon unterwegs war. Sein Zeitgefühl blieb wie fast jedes andere Gefühl auch auf der Strecke. Es schien irgendwo zwischen den Klüften und Abgründen, zwischen den Geröllfeldern oder im tiefen Schnee, den er schließlich durchwatete, gestorben zu sein. Dieser Schnee erschien Kemer nicht einmal gewohnt hell, sondern dunkel und schmutzig, dennoch zeichneten sich die Fährten der vorausgeeilten Männer und Frauen deutlich darin ab. Angestrengt spähte der Nachzügler nach oben. Einmal glaubte er Stimmen zu hören, ein andermal schemenhafte Bewegungen zu sehen. Er brüllte sich heiser, erhielt aber keine Antwort. Der Berg bebte während des Aufstiegs kein einziges Mal, aber das absonderliche Glühen unter der eisigen Decke des Gipfelbereichs bestand fort. Manchmal schien es das Licht der Sterne und der Mondsichel zu verschlingen. Mit jedem Höhenmeter, den er überwand, merkte Kemer deutlicher, wie die Temperatur in seinem Körper anstieg. Wie die fiebrige Hitze seine Gedanken verdampfte und am Ende nur noch übrigließ, was keine Fragen stellte und die Notwendigkeit dieses Irrsinns nicht anzweifelte …
Stundenlang torkelte Kemer wie ein trunken gemachtes, gehetztes Wild durch die Nacht. Wäre er noch zu klarem Denken fähig gewesen, hätte er vielleicht durchschaut, daß er einem Seelenfänger – keinesfalls dem Gott, an den er glaubte – auf den Leim ging. Irgendwann tauchte vor ihm ein Körper auf, dunkler als der Schnee, auf dem er lag, und Kemer zuckte zusammen, als sein Name gerufen wurde. Schauderte rief er zurück: »Akhan …?« Es war tatsächlich Akhan. Kemer kniete neben ihm nieder. »Was – ist passiert?« »Ich – weiß nicht. Mir wurde – übel. Speiübel, und als ich wieder zu mir kam, lag ich hier …« »Allein?« Akhan nickte mit blutunterlaufenen Augen. »Wo sind die anderen?« Kemer versuchte dem Mann aufzuhelfen. Aber Akhan ließ jede Unterstützung missen. Es war, als würde er an dem Boden, auf dem er lag, festkleben. Kemer war nicht in der Lage, ihn auf die Beine zu stellen. »Die anderen?« Akhan schüttelte den Kopf. »Fort …« »Sie haben dich einfach – liegenlassen?« »Ich weiß nicht, ob es ›einfach‹ war … Aber das ist jetzt auch egal. Für mich ist hier der Weg zu Ende. Ich werde nie erfahren, was dort oben vorgeht …« Akhan preßte seine Faust gegen die Brust. Sein Gesicht verzerrte sich. »Was hast du?« Akhan schien durch Kemer hindurch zu sehen, obwohl er ihn direkt anstarrte. »Die Batterie da drin will nicht mehr. Sie ist leer. Und das Verrückte ist« – seine Augen stierten fast unerträglich auf Kemer –, »daß ich daheim immer auf mich aufgepaßt habe. Mein Herz will schon seit Jahren nicht mehr, wie es sollte … Aber als es dann losging, vorhin, dort unten, als Er nach uns rief, da habe ich all das einfach ignoriert.
Da bin ich einfach losmarschiert wie alle anderen …« Akhan verstummte, und Kemer wurde an seinen Großvater erinnert, der einsam und verlassen in seinem Zelt lag und auf sein Ende wartete. Daß er sich noch einmal erholen würde, war kaum zu erwarten. Wie konnte ich ihn sich selbst überlassen – in seiner allerschwersten Stunde? Er wischte den Gedanken beiseite. »Ich helfe Ihnen!« Akhan winkte ab. »Mir kann niemand mehr helfen. Ich –« »Wir schaffen es – gemeinsam schaffen wir es!« fiel Kemer dem doppelt so alten Mann ins Wort. Akhan sah zu ihm empor, als wollte er fragen: Was schaffen wir? Wohin sind wir überhaupt unterwegs, und wohin sollten wir uns wenden? Aber er schien zu wissen, daß Kemer, was das anging, so unwissend war wie er selbst. »Ja«, murmelte er. »Vielleicht schaffe ich es tatsächlich, wenn du –« Sie hatten das Grollen, als es noch weit weg war, nicht beachtet. Aber plötzlich war es nicht mehr fern, sondern brauste nah über ihre Köpfe hinweg! Für Sekunden vergaß Kemer den im Schnee liegenden Mann. »Ein Flugzeug«, rann es über seine Lippen. »Eines …?« Akhan schüttelte den Kopf. Der Triebwerkslärm des am Himmel vorbeiziehenden Geschwaders übertönte, was er sonst noch sagte – oder hatte sagen wollen. Kemer bog den Kopf weit in den Nacken. Ihre Positionslichter ließen die modernen Kampfjets wie über das Firmament ziehende Sternschnuppen erscheinen. »Wir sind offenbar nicht die einzigen, die das Zeichen bemerkt haben«, hörte Kemer Akhan seufzen, als sich das Geschwader mit aberwitziger Geschwindigkeit weit genug entfernt hatte und das
Grollen der Strahlmotoren abgeebbt war. Aber noch während er redete, schwoll der Lärm bereits wieder an. Die Jets kehrten in einer engen Schleife zurück. Zu zwei Salzsäulen erstarrt, eine liegend, eine stehend, wurden Kemer und Akhan Zeugen, wie das Verhängnis aus dem Berg nach den mattglänzenden Boliden technischen Fortschritts griff …
* Das Geschwader, bestehend aus fünf Mig-Jägern sowjetischer Bauart, war kurz nach Mitternacht von einem Militärflughafen hundertfünfzig Kilometer südwestlich des Ararat-Gebirges aufgestiegen. Kommandant war ein erfahrener Pilot namens Edir Birecik, und er war es auch, der permanenten Funkkontakt zur Basis am Van-See hielt. Die dortige Luftüberwachung hatte via Satellit unerklärliche Lichterscheinungen im Gipfelbereich des Großen Ararat – von den Einheimischen Büyükagri Dagi genannt – ausgemacht. Zeitgleich hatten die Bewohner der nahegelegenen Siedlung Dogubeyazit bei der zuständigen Polizeistation Sturm geläutet. Die Polizei hatte das beobachtete Phänomen bestätigt und unverzüglich an ihre Präfektur weitergeleitet. Am Ende der Kette war das ohnehin in Bereitschaft befindliche Militär eingeschaltet worden … »Basis an Geschwaderführer. Beschreiben Sie, was Sie sehen!« Lieutenant Birecik räusperte sich. Dann sprach er in das Mikrofon, das in die Sauerstoffversorgung seines Helmvisiers eingebaut war: »Der Gipfel scheint – zu brennen! Oder besser: zu glühen! Die Kameras haben es im ersten Vorbeiflug aufgezeichnet. Trotzdem sieht es nicht nach einem Vulkanausbruch aus …« »Wonach dann?« drängte die Stimme aus dem Funk, als Birecik eine Pause machte, die dem Sprecher im Stützpunkt zu lang wurde. »Ich – weiß es nicht!« »Was ist mit den anderen?«
Die Frage, die in jeder Mig gehört wurde, war ein Schlag ins Gesicht des Geschwaderführers. Aber darauf schien in der Basis niemand mehr Rücksicht nehmen zu wollen. Erst nach der direkten Ansprache jedes einzelnen Piloten erfolgte die Antwort. Sie lautete einhellig: Nein! Auch keiner der anderen Kampfpiloten hatte auch nur eine Idee, was die Ursache dieses glutroten Schimmers sein mochte, der die Kuppe des Großen Ararat wie eine Sonnenkorona umwaberte! »Gehen Sie bei Ihrem nächsten Anflug noch näher heran!« befahl die übergeordnete Stelle am Van-See. »Wir erwarten eine konkrete Analyse des gesichteten Phänomens – ich muß Ihnen nicht erklären, in welch sensibler Grenznähe sie sich bewegen! Die Ursache der Vorkommnisse muß restlos aufgeklärt werden, sonst …« Schlimmer als eine ausgesprochene blieb die unausgesprochene Drohung in der dünnen Luft der Mig-Kanzel hängen. Edir Birecik meinte einen Eiszapfen über sein Rückgrat streichen zu fühlen. »Verstanden!« bellte er ins Mikro. Dann erteilte er die nötigen Befehle, um die Formation zu verändern. V-förmig, die Spitze nach hinten gerichtet, als wollten sie den gewaltigen Berg in die Zange nehmen, jagte das Geschwader in viereinhalbtausend Metern Höhe auf die größte der beiden Bergkuppen zu. Und dieses Mal griff das düstere Glühen mit hypnotischer Kraft nach den Gehirnen der Piloten. »Geschwaderführer melden! Geschwaderführer, wo bleibt der Bericht? Warum melden Sie sich –?« Die Stimme aus dem Stützpunkt stockte, als sich zwei der fünf beweglichen Punkte berührten und vom grün schimmernden Radarschirm verschwanden – dann überschlug sie sich: »Leutnant Birecik …!« Keine Antwort. Die letzten drei Markierungen strebten nun auch aufeinander zu und – »Bei Allah und dem Propheten!«
Dann gab es auch die letzten drei Migs und ihre Insassen nicht mehr …
* Anum hielt den Lilienkelch felsenfest in seinen Händen – auch wenn die Bilder, die er im Bodensatz des magischen Gefäßes sah, seinem Zorn neue Nahrung verliehen. Was für eine entartete Welt! dachte er angewidert und sah zu, wie die stählernen, von Menschenhand erbauten Vögel auf sein Betreiben hin miteinander kollidierten. Ein glühender Trümmerregen ergoß sich über die Ebene. Nach dem Aufschlag kam es zu weiteren Explosionen, deren Natur Anum nicht gleich durchschaute: Waffen! Waffen von gewaltiger Zerstörungskraft, mit denen diese »Metallvögel« bestückt gewesen waren, explodierten dort unten, und Anum fragte sich – mußte sich fragen –, was geschehen wäre, wenn diese Waffen den Dunklen Dom ins Visier genommen hätten. Hätte er noch schlafend in seiner Kammer gelegen, wäre dies nicht nur der endgültige Untergang der Dunklen Arche gewesen, sondern auch sein Tod! Menschenhände hätten ausradiert, was die Urmutter einst ersonnen und geplant hatte … … bevor sie sich von uns abwandte, dachte Anum. Es berührte ihn wie das Vakuum des Weltenraums. Auch wer ursächlich hinter Lilith Eden, hinter Felidaes* Kelchdiebstahl und dem Niedergang der Alten Rasse allgemein steckte, hatte er aus der EWIGEN CHRONIK erfahren … Ewig … dachte er. Nichts ist wirklich ewig! *die er als Ea kannte
Die Erkenntnis tat weh. Weil sie alles in Frage stellte. Er war stets der Liebling seiner Mutter gewesen. Schon zu Zeiten Uruks, als er mit seinen Geschwistern vom Weißen Tempel aus über Sumer geherrscht hatte. Um so schlimmer traf ihn ihre Abkehr, ihr … VERRAT! Zugleich aber war er überzeugter denn je, daß er, wäre er zur fraglichen Zeit der Hüter gewesen, ihren perfiden Plan – anders als Landru – durchschaut und vereitelt hätte! Ein Hüter war er nun nicht mehr. Er war zum GOTT geworden! Zu einem dunklen, hungrigen, im tiefsten Herzen heillos verwundeten und schrecklichen Gott! Nicht vergleichbar mit dem, dessen Platz er einnehmen wollte – und würde …
* Kemer stand noch immer ganz unter dem Eindruck der Zerstörungsorgie, die sich in seiner unmittelbaren Sichtweite abgespielt hatte. Das Jet-Geschwader der türkischen Armee hatte sich in einen Trümmerregen aufgespalten, war in sich kollidiert und abgestürzt! Kemer hatte Ähnliches in einigen Kinofilmen gesehen – aber das war nur eine künstliche Realität gewesen, zu der ein Menschenverstand automatisch Distanz aufbaute. Hier hingegen war die Katastrophe absolut wirklich. Hier hatten lebendige Menschen in den Cockpits der Unglücksmaschinen gesessen, deren zerrissene Gliedmaßen nun ebenso über die winterstarre Ebene verstreut lagen wie die Wracks der Düsenjäger, die den Ararat umflogen hatten! Am schlimmsten und nachhaltigsten aber wirkte die Erkenntnis in Kemer nach, die er in schleppenden Worten an Akhan zu richten
versuchte: »Sie … sie haben sich gegenseitig umgebracht! Ich verstehe nicht …« Akhan antwortete nicht. Sein Gesicht ruhte still und stumm und gespenstisch hell im sonst so schmutzigen Schnee. Die Augen standen offen – weit offen wie der Mund, und Kemer brauchte nur eine einzige Sekunde, um zu begreifen, daß Akhan tot war. Sein ohnehin angeschlagenes Herz hatte aufgehört zu schlagen. Kemer wandte sich mit Grausen ab. Aber der lautlosen, in ihm rumorenden Stimme konnte er damit nicht entkommen. Eine Stimme, deren unentwegte Versprechungen weiter lockten, weiter zogen und zerrten – auch wenn tief in Kemer, vielleicht in dem harten, kalten Knoten, der sich noch fester zusammengezogen hatte, kaum noch eine Hoffnung nistete, daß dieser fromme Wahn letztlich etwas Gutem weichen konnte. Dennoch folgte er dem verheißungsvollen Sog, der ihn näher und näher in Gipfelhöhen brachte. Wieder – wie vor seinem Zusammentreffen mit Akhan – verwandelte er sich in ein stur-gehorsames Tier, vor dem ihm selbst gegraut hätte. Und nach einer weiteren halben Stunde, in der sich die Kälte in sein Fleisch und Skelett gefressen hatte, erreichte er jäh das Ende der Spur im Schnee. Das Loch im Berg. Aus dem heraus es so abseitig wie verführerisch glomm …
* Es war kein zufällig entstandener Höhlengang, der sich vor Kemer auftat – aber er sah auch nicht aus wie von Menschenhand erschaffen. Unvorstellbare Hitzegrade mußten sich durch das Gestein gebohrt haben, so wie Wände, Boden und Decke des steil abwärts füh-
renden Stollens aussahen. Das Material erinnerte an wiedererstarrte, wiedererkaltete Schmelze und sonderte dabei einen Glanz ab, in dem dieselbe Lockung schwang, die die Pilger schon unten im Lager aller Vernunft beraubt hatte. Die Länge des Stollens war schwer zu bestimmen, vielleicht fünfzig, vielleicht sechzig oder siebzig Meter … Kemer, der sich mit den Händen rechts und links an den glatten Wänden abstützte, wurde abwechselnd heiß und kalt. Aber er war bereits zu erschöpft, zu eingeengt in seinem Denken, um mehr als den flüchtigen Wunsch zu verspüren, die glasharte Substanz näher in Augenschein zu nehmen. Der extrem geneigte, schnurgerade verlaufenden Stollen erlaubte ein langsames Vorantasten nur unter enormem Kraftaufwand. Aber gerade an Kraft mangelte es Kemer, und so rannte er den Schacht buchstäblich mit fliegendem Atem hinab. Wie lange würde er sich noch aufrecht halten können? Immer näher rückte das Ende des Tunnels. Dort atmete Düsternis. Düsternis und – – ja, was? � Das, wovon Milas erzählt hatte? � Eine halbe Minute später erfuhr Kemer, was es war. � Ein – Abgrund! � Der Stollen hörte einfach auf, und dahinter ging es senkrecht in die � Tiefe! Scheinbar bodenlos! Der Schwung hatte Kemer bereits mit einem Bein über den Rand des Schachtendes hinausgetrieben, als er dies erkannte – und im Reflex reagierte. Wie er den Sturz in den Abgrund tatsächlich vereitelte, das vermochte er später selbst nicht mehr zu sagen. Auch nicht, woher er plötzlich genügend Willen nahm, um sich erfolgreich gegen dieses
von einem anderen Willen gewollte Schicksal aufzubäumen … Irgendwo fanden seine steifen Finger Halt. Der folgende Ruck war so schmerzhaft, daß Kemer fast ohnmächtig wurde. Beine und Unterleib schlugen gegen Fels, der nicht annähernd so glatt war wie die Wände des Schachtes. Etwas bohrte sich in Kemers Bauch. Seine Kleidung riß an mehreren Stellen. Aus den Schürfwunden quoll Blut, dessen Wärme er nicht fühlte, obwohl es über seine kalte Haut rann. Eine Weile hing er nur da und machte sich bewußt, daß er endgültig dem Tod geweiht war, wenn seine Hände jetzt losließen, weil sie das Gewicht nicht länger zu tragen vermochten. Und mit jeder verstreichenden Sekunde wurde es unmöglicher, dem Sog aus der Tiefe zu widerstehen … Auf Kemers Netzhäuten irrlichterte noch der Schimmer des Stollens. Die Düsternis blendete ihn regelrecht. Aber das Fremde war jäh aus ihm verschwunden, hatte sich zurückgezogen! Kemer kämpfte nun beherzt ums Überleben. Von weither glaubte er etwas zu hören, das ein erneutes Beben ankündigte. Dumpf und bedrohlich stieg es aus der Tiefe. Wenn jetzt der Berg zu schwanken begann … Kemer spannte seine Muskeln an, spannte seinen ganzen Körper zu einer einzigen, letzten Aktion. Wenn sie fehlschlug, würde ihn nichts mehr retten, davon war er überzeugt. Ich MUSS es schaffen! dachte er in der einen Sekunde. In der anderen –
* O Gott, ich danke dir! Bäuchlings lag er da. Die Lippen auf den glatten Fels gedrückt, ragten Nase, Augen und Stirn über den Rand hinaus, unter sich den gähnenden Abgrund.
Und jetzt endlich sah Kemer. Sah, was schon Milas gesehen haben mußte und was ihn siebzig Jahre lang beeindruckt hatte! Aber war es wirklich dasselbe? Kemers Atem ging rasselnd. Er achtete nicht darauf. Die Tiefe und das, was sie beherbergte, bannte ihn, wie noch nie etwas in seinem Leben ihn fasziniert hatte. Keinen einzigen Gedanken verschwendete er mehr an den Tod, dem er gerade noch von der Schippe gesprungen war. Dort unten ruhte etwas so Unglaubliches, daß das eigene Leben in seiner Bedeutung zum Staubkorn degradiert wurde! Ohne dies, spann Kemer seinen Irrtum weiter, wäre das Land entvölkert, gäbe es nicht Mensch noch Tier … Nur für einen Wimpernschlag schloß er die Augen. Und als er sie wieder öffnete, blickte er noch wißbegieriger als zuvor auf das gewaltige Schiff in der Tiefe. Die Arche, wisperte es in ihm. Noahs Arche – zu Stein geworden wie … … das Stück in seinem Gürtel, das Milas ihm gezeigt und überlassen hatte und das vorhin, als er gegen den Fels schmetterte, zerbrochen war! Kemer hielt einen Rest davon mit der Faust umschlossen und überschaute, was ebenfalls in weiten Teilen der Vernichtung anheimgefallen war. Nicht erst heute; das biblische Gefährt dort unten mochte schon vor undenklicher Zeit zerstört worden sein. Tektonische Erschütterungen hatten in diesem Gebiet keinen Seltenheitswert. Der Berg selbst war einst durch heftige Vulkanausbrüche entstanden … Kemer hielt inne. Nicht nur, was jede noch so unmerklichen Bewegung anging – auch seine Gedanken stockten, weil er in diesem Moment die anderen erblickte. Jene, die ihm vorausgeeilt waren und Akhan einfach im Stich gelassen hatten! Sie lagen gräßlich deformiert und offenbar nur noch von ihren blu-
tigen Kleidern zusammengehalten auf den Planken der steinernen – WAS WAR DAS? Was trat dort aus den Schatten …? Wäre es möglich gewesen, Kemer hätte sich in sich selbst, in dem Gehäuse aus Fleisch und Blut verkrochen! Unter ihm erschien eine Gestalt, die eines nicht sein konnte – der, den Großvater Milas hier vermutet hatte. Eher wirkte sie wie Gottes Antipode. WER –? Die Frage gerann in Kemer, als wäre sie Blut in seinen Adern. Nicht nur die Gestalt, die sich auf die toten Pilger zubewegte – dort unten schien plötzlich alles nicht länger nur von Düsternis umgeben, sondern Düsternis zu sein! Und was Kemer dann sah – mitansehen mußte – traf ihn wie ein Messer ins Hirn. O Gott, was TUT er? Mit aus den Höhlen quellenden Augen lag Kemer da. Und unter ihm … unter ihm WAS …??? Andere Dunkelheit als die Düsternis, die das Schiff aus Stein dort am Boden des Abgrunds seit einer Ewigkeit umspülen mochte, senkte sich über seinen Geist. Und verheerte ihn mit ihrem Atem …
* Der Hohe Mann ging auf diejenigen zu, die seinem Ruf gefolgt waren und die er im Lilienkelch hatte kommen sehen. Bei einer Frau, die trotz ihres Sturzes aus großer Höhe noch immer lebte und atmete, wenngleich bewußtlos, hielt er inne und begann sein Werk. Magie schälte die Sterbende aus ihrer Kleidung. Dabei weckte das aus Mund, Nase und offenen Verletzungen rinnende Blut jedoch keinerlei Begehren in Anum. Er war auf lange
Zeit gesättigt. Während des Abstechers nach Indien hatte er sich an beseeltem Nektar schier betrunken. Nein, hier und jetzt stand anderes auf dem Spiel. Er mußte dafür Sorge tragen, daß niemand diese Stätte, wenn er fortgegangen war, je wieder ungestraft betreten konnte. Niemand durfte auch noch den Rest von Zauber stehlen, der hier in den Trümmern fortlebte – oder die Blutbibel, die Dunkle Chronik zu Gesicht bekommen, die Ninmahs Kinder von Berg zu Berg hierher geschleppt hatten … Lautlose Blitze umzuckten Anums Hände, die fast widerstandslos in die Brust der Frau glitten, dort das Herz umschlossen und es anhielten. In Sekundenschnelle kühlte der Körper ab. Die Energie, die aus ihm floß, weichte das tote Fleisch, weichte Knochen und Knorpel auf und wandelte es in eine knet- und formbare Masse um, deren Anblick kein Mensch ertragen hätte. Den anderen Leichen widmete er sich in gleicher Weise. Und am Ende vermählte er die einzelnen Klumpen zu einem Ganzen, das er nicht mehr mit seinen Händen, sondern mit seinen Gedanken formte. Und belebte. Stunden und Stunden verweilte der Hohe Mann in diesem Schöpfungsakt. Als der Homunkulus vollendet war, schuf Anum den Lebensraum, in dem seine Kreatur atmen und existieren konnte. In dem sie wachen und richten sollte über jeden, der es künftig wagte, diesem Ort und seinem Geheimnis nahe zu kommen. Überzeugt, alle Eventualitäten berücksichtigt zu haben, verließ der Hohe Mann schließlich die Stätte seines Erwachens. Den Lilienkelch nahm er mit. Mit dorthin, wo das Alte Reich dereinst vergangen war und das neue nicht entstehen konnte – – durch eines Bruders Schuld! Aber ich werde ihn und jeden anderen Schuldigen zur Rechenschaft zie-
hen, dachte Anum. Ich werde sie finden, wo immer sie sich auch verkrochen haben! Ich gebe die Hohe Zeit nicht verloren und auch nicht den Kelch, den ich zwingen muß, mir zu gehorchen und zu dienen! – Ich hoffe, der Verdacht, der mir beim Lesen der CHRONIK kam, wird sich bestätigen und du, Ea, die sich in dieser Epoche Felidae nannte, bist nicht wahrhaftig und völlig tot. Ich hoffe, ich finde das, was von dir in jenem … Korridor der Zeit übrig geblieben ist. Und dann – dann … … zu DIR, Landru!
* Der Schleier zerriß. »Willkommen«, sagte der Mund. Kemer lauschte in sich und fand Hinweise, die es ratsam erscheinen ließen, der freundlichen Begrüßung zu mißtrauen. »Wo – bin ich?« »In guten Händen.« Der Mund formte etwas wie ein Lächeln. Dann sagte er: »Ich betreue Sie, seit Sie eingeliefert wurden. Die ganzen Tage gab Ihr Zustand wenig Anlaß zur Hoffnung. Aber seit vergangener Nacht …« Kemer wollte etwas erwidern. Im selben Moment zogen Bilder wie sturmgetriebene Wolken am Horizont seines Bewußtseins vorbei. Gesichter. »Akhan …«, krächzte er. Der Mund fragte: »Wer ist das? Ein Freund?« Kemer schwieg. Sein Körper tat an so vielen Stellen weh, aber als er nach den Ursachen der Schmerzen fragte, wich der Mund aus: »Ihr Erwachen gleicht wirklich einem Wunder.« Der Horizont und die Bilder rückten näher. Kemer achtete nicht mehr auf den Mund des Mannes, der ihn begrüßt hatte. Sein einzige Neugier galt den Abläufen in seinem Kopf.
Waren die Bilder Erinnerungen? Es mußte so sein, denn er sah – Allmächtiger, er sah … … das Zeltlager am Fuß des Heiligen Berges … Es war Nacht, und das Zeichen prangte über den schnee- und eisbedeckten Klüften des Gebirges … Stöhnend preßte er hervor: »Großvater …?« Der Mann schwieg. »Sie sagten: die ganzen Tage.« Kemer versuchte sein geistiges Auge vor den einströmenden Erinnerungsfetzen zu verschließen. Es gelang ihm nicht. Die Bilder waren von einer berauschenden Kraft, aber auch Bedrohlichkeit. »Wie lange habe ich geschlafen?« »Sie haben nicht geschlafen.« Der Mund klang sehr entschieden. »Sie haben geredet. Manchmal geschrien. Oft standen Ihre Augen dabei offen – aber wahrgenommen haben sie nichts. Nichts, was außerhalb ihres Kopfes ablief.« Kemer spürte, wie das Zittern, das irgendwo tief in ihm an einem verborgenen Punkt begonnen hatte, sich explosionsartig ausweitete und seinen ganzen Körper erfaßte. »Seit wann bin ich hier – und wo sind die anderen?« »Es gibt keine anderen«, sagte der Mann. »Vor fast einem Monat wurden Sie hier eingeliefert. Seither hat die Suche nach den Vermißten noch nichts ergeben. Die ermittelnden Behörden erhoffen sich von Ihnen Auskünfte. Sie sind bereits über ihr … Erwachen informiert.« Kemer schloß die Augen – – riß sie aber sofort wieder auf, weil die Bilder sofort erdrückend naherückten, ohne daß er in der Lage war, ihre Inhalte zu verstehen, ihre wahre Bedeutung zu erfassen. »Es fällt mir schwer, mich zu erinnern. Die Ereignisse … liegen mir auf der Zunge. Aber ich kann sie nicht – aussprechen …!« »Nach dem, was Sie mitgemacht mußten, würde mich alles andere überraschen«, sagte der Mann. »Sie sind durch klirrende Kälte ge-
irrt, und als man Sie fand, waren Sie nicht ansprechbar. Ich injiziere Ihnen jetzt etwas, das helfen wird, Ihre Psyche zu stabilisieren …« Kemer spürte einen kurzen Schmerz. Beim nächsten Augenschließen hielten die Bilder tatsächlich schon etwas Distanz. »Ich bin so müde«, seufzte Kemer. »Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich erinnere mich an – gar nichts …« »Haben Sie Vertrauen«, sagte der Mann. »Vielleicht wird es ein bißchen wehtun, aber am Ende …« Am Ende, dachte Kemer noch abstrakt. Dann entfaltete die Spritze ihre volle Wirkung.
* Noch am selben Tag � Ankara, Sitz der Militärverwaltung � Kaya Beishir klopfte gegen die schnörkellose Tür, in deren Lackschicht sie sich spiegelte. Ihr wallend schwarzes Haar wurde von der Dienstmütze im Zaum gehalten. Auf Schmuck verzichtete sie gänzlich. Nicht einmal Ohrringe oder eine Halskette, die unter der Jacke mit dem hochgeschlossenen Kragen verborgen geblieben wäre, erlaubte sie sich. Sie wußte, daß sie ein Fremdkörper war – und bleiben würde. Immer. Was sie auch anstellen mochte. Die Welt, in der sie sich bewegte, war eine Männerdomäne, und die geringste Blöße, die sich eine Frau darin gab, konnte tödlich sein – tödlich für die Karriere. Kaya wartete die Aufforderung von drinnen, einzutreten, gar nicht erst ab. Schnell tauchte sie in den von vielen Fenstern erhellten Raum, in den ein strahlender Sonnenschein fiel, der darüber hinwegtäuschte, wie lausig kalt es jenseits der Scheiben war. Der Mann hinter dem wuchtigen Schreibtisch war allein. Er sah
aus, als wäre er auf ihr Kommen vorbereitet, und obwohl er keine Miene verzog, las Kaya in seinen rauchfarbenen Augen, was sie erwartet hatte: Ablehnung. Oberst Nemrud Sardre war um die sechzig und erfahren. Deshalb gab auch er sich keine Blöße. Was im Hintergrund seiner Augen glomm, war nur die Spitze des Eisbergs. Ein Bruchteil der Gefühle, die Kayas Anblick in ihm bewegte. Kaya salutierte. Sardre grüßte lässig zurück. »Ich freue mich, Sie persönlich kennenzulernen. Ich habe viel von Ihren Fähigkeiten gehört …« Du hast gehört, daß ich mit einem hohen Regierungsbeamten schlafe und deshalb den Rang erreicht habe, der meine Uniform ziert, dachte Kaya, ohne eine Miene zu verziehen. Sie folgte der Hand, die ihr Platz gegenüber von Sardre anbot. Der breitlehnige Stuhl, in den sie sank, war ungepolstert, aber das war in Ordnung. Sie mochte es, wenn sie sich selbst noch spürte. Ecken und Kanten waren ehrlich. Der Mann vor ihr nicht, auch wenn er sich Mühe gab, diesen Eindruck zu vermitteln. So ruhig seine Augen auf ihr ruhten, Kaya fühlte genau, daß er sich gerade vorstellte, wie sie unter der Uniform, die ihn auch aus anderen Gründen störte, aussah. Umgekehrt verspürte sie keinerlei Drang, sich dies auszumalen. »Danke«, sagte sie in reserviertem Ton. »Wenn wir dann gleich zur Sache kommen könnten?« »Zur Sache, ja.« Er nickte. »Natürlich.« Die graumelierten Schläfen wirkten unecht, als hätte er sie färben lassen. Sardre war von untersetzter Statur. Sein Gesicht war aufgedunsen und gerötet. Vielleicht hatte er Alkoholprobleme. Der energische, fast brutale Zug um seinen Mund jedenfalls zeichnete in Kaya das Bild eines Mannes, der enthemmt genug war, eine Frau in bestimmten Situationen auch zu schlagen. Sympathischer wurde er
ihr dadurch nicht, denn was das anging, hatte sie eigene Erfahrungen gesammelt, und wenn sie heute daran zurückdachte, wünschte sie sich, damals einen Revolver zur Hand gehabt zu haben. Dreck, beendete sie ihren gedanklichen Exkurs in die Vergangenheit. Männer, die ihre Faust gegen eine Frau erheben, sind nichts als Dreck. »Sie sind mir von höchster Stelle empfohlen worden«, behielt Sardre seinen Kurs bei, unehrliche Komplimente einzustreuen. »In Ihrer Personalakte steht, daß Sie, bevor Sie sich entschieden, zur Armee zu gehen, einige Semester Psychologie und … Archäologie studiert haben. Unter anderem haben Sie bei Ausgrabungen in Ephesus assistiert …« »Ich durfte bei der Rekonstruktion der Bibliothek von Celsus helfen.« Kaya nickte, gab sich aber nicht der Illusion hin, daß der schwergewichtige Oberst eine Vorstellung hatte, wovon sie sprach. »Schön.« Er klatschte in die Hände. »Dann können Sie mir vielleicht sagen, was das hier ist …« Er neigte sich ein wenig seitwärts, öffnete eine Schublade und legte etwas auf die Tischplatte, das in einfaches Zeitungspapier gewickelt war. Sardre entfernte die Verpackung und überreichte Kaya einen faustgroßen, grauen Stein, der keiner war. »Wofür halten Sie das?« Auch jetzt, da Kaya den Fund in der Hand wog, wußte sie noch nicht, warum genau Sardre Wert auf ihre Meinung legte. »Uraltes Holz, das durch Wasserentzug versteinert ist … Woher stammt es?« Sardre lächelte dünn. Er öffnete eine andere Schublade. Diesmal waren es großformatige Bilder, die er herauszog und vor Kaya ausbreitete. »Der Ararat«, sagte sie. Und fügte hinzu, als auf einem Bild Panzerfahrzeuge und Geschütze auftauchten: »Ich wußte nicht, daß wir dort Manöver durchführen.« »Es sind auch keine Manöver«, sagte Sardre. Kaya blickte fragend von den Fotografien auf.
»In den letzten vier Wochen ist dort, wo diese Aufnahmen gemacht wurden, einiges passiert«, sagte der Oberst. »Dinge, die sich niemand erklären kann und die wir – bislang erfolgreich – vor der Öffentlichkeit vertuscht haben.« »Dinge, die …«, Kaya zögerte, vollendete ihre Frage dann aber doch, »… damit zu tun haben?« Sie legte den Klumpen versteinertes Holz auf eines der Bilder. Vermutlich wußte Sardre gar nicht, wie man ein Lächeln mit Wärme füllte. Mit maskenhafter Miene antwortete er: »Wir wissen es nicht – aber wir würden es gerne herausfinden.« »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz …« »Ich werde versuchen, Ihnen einen Eindruck von dem zu vermitteln, was sich dort –«, er beugte sich vor und tippte mit dem Zeigefinger auf eines der Bilder, die die Gipfelregion des Araratgebirges wiedergaben,»– wo diese Fotos gemacht wurden, abspielt – oder abgespielt hat. Momentan ist es ruhig. Zu ruhig für meinen Geschmack …« Kayas Finger strichen über die fühlbare Maserung des Brockens. Plötzlich, noch bevor Sardre überhaupt mit seiner Schilderung begonnen hatte, bekam sie eine Gänsehaut. »Stammt dieses Stück etwa …?« setzte sie an. Sardre Geste brachte sie zum Schweigen. »Der Reihe nach«, sagte er. »Es macht wenig Sinn, sich nur über die mögliche Tragweite dieses Fundes zu unterhalten. Er ist nur ein Stück in dem Puzzle, das mich allmählich in Erklärungsnot bringt.« Kaya sparte sich die Frage, wem gegenüber Sardre sich verpflichtet sah, mit Antworten aufzuwarten. Sie lehnte sich zurück und signalisierte, daß sie bereit war, zuzuhören. Sardre imitierte ihre Haltung wahrscheinlich unbewußt. Mit einer Stimme, deren Ruhe erzwungen wirkte, begann er zu sprechen: »Weihnachten letzten Jahres, also beinahe auf den Tag genau vor einem Monat, startete von einer dem Ararat nahegelegenen Basis ein
Aufklärungsgeschwader. Es sollte Lichterscheinungen auf den Grund gehen, die uns von einem Wettersatelliten und den Bewohnern des Städtchens Dogubeyazit gemeldet worden waren. Hier ein – von der Qualität allerdings zugegebenermaßen miserables – Funkbild, das der Satellit übertrug …« Sardre schob Kaya die Aufnahme zu. Sie war schwarzweiß, zeigte den größeren der beiden Ararat-Kegel und wirkte einfach nur überbelichtet. Kaya warf einen kurzen, unkommentierten Blick darauf. »Auch die Aufklärer, die den Ararat erreichten, machten Aufnahmen – leider konnte später keine davon ausgewertet werden. Sie wurden Opfer der Flammen, als …«, Sardre stockte fast unmerklich, »… die Maschinen abstürzten.« Kaya wollte etwas einwerfen, aber der Oberst überging es, indem er weiterredete: »Bis heute wurde die Ursache, die zum Zusammenstoß der fünf Migs führte, nicht geklärt. Die Wrackteile der Maschinen wurden geborgen, ebenso ihre Flugschreiber, die technisches Versagen ausschließen. Einzig menschliche Fehler kommen in Frage – aber das beantwortet nicht, warum erst zwei Jäger aufeinander zuflogen – und wenig später auch die übrigen drei vorsätzlich auf Kollisionskurs gingen …« Sardre schien in den unteren Schichten seiner Haut zu erblassen, ohne daß die äußere Röte wich. Sie wurde nur eine Spur wächserner. »Die Radaraufzeichnungen lassen keinen anderen Schluß zu als den, daß die Piloten diese Katastrophe selbst verschuldet und sogar vorsätzlich herbeigeführt haben … Erfahrene Piloten, die bis dahin nicht den kleinsten dunklen Fleck auf ihrer Weste hatten!« Kaya schürzte die Lippen, nachdem Sardre regelrecht darauf zu warten schien, daß sie an diesem Punkt das Wort ergriff. »Ich gebe mir Mühe, aber ich sehe keinerlei Zusammenhang zu diesem … Holzstück …« Sardre nickte. »Auch ich bin auf der Suche nach dem Bindeglied, das dieses Ereignis und drei andere verkettet. Möglicherweise habe
ich mich in etwas verrannt, aber …« »Von welchen anderen Ereignissen sprechen Sie?« Sardre räusperte sich und griff nach einer Zigarettenpackung, die neben dem Telefon lag. Er fragte nicht, ob es Kaya störte, wenn er rauchte – er tat es einfach. »In derselben Nacht, in der wir fünf hervorragende Piloten und fünf wertvolle Maschinen verloren, kam es noch zu einem zweiten, kaum weniger mysteriösen Vorfall, der uns bis heute beschäftigt, denn auch hier verliefen bislang alle Nachforschungen im Sand.« Sardre blies blaugrauen Rauch nach oben und sog noch einmal gierig an dem filterlosen Stäbchen, ehe er fortfuhr: »Türkische Pilger hatten ihre Zelte am Fuß des Gebirges aufgeschlagen – keine Muslime, sondern Christen. Es war eine behördlich genehmigte Zusammenkunft, die nicht zum ersten Mal stattfand, sondern in ihrer Tradition weit zurückreicht – das zumindest konnte man ermitteln. Offenbar fanden sich die Andersgläubigen jedes Jahr zur Weihnachtszeit am Ararat ein, um Gottesdienste zu feiern, gemeinsam zu beten und was sonst noch dazugehört. Als man bei der Bergung der Wrackteile auf die Zelte aufmerksam wurde und sie fast verlassen vorfand, glaubte man zunächst, daß die Menschen, die darin gewohnt hatte, Zeuge des Unglücks geworden und in Panik geflohen waren …« »Fast?« warf Kaya ein. »Sie sagten fast verlassen?« Sardre nickte in einer Weise, als wollte er schon dadurch zu verstehen geben, daß er seine folgende Bemerkung nicht für bedeutungsvoll hielt. »Ein alter Mann wurde tot zwischen den Zelten gefunden. Er starb ohne äußere Gewalteinwirkung. Wie die Autopsie ergab, an Herzversagen. Warum er im Freien lag, wissen wir nicht – sein Kopf zeigte aber in Richtung Gebirge, und die, die ihn fanden, schworen, daß er dagelegen habe, als hätte er bis zuletzt versucht, auf den Berg zuzukriechen …« Sardre drückte die nur halb gerauchte Zigarette in einem Aschenbecher aus und griff nach der nächsten. »Unsere Nachforschungen ergaben, daß siebenunddreißig Menschen am Fuß
des Ararat campierten – und davon gelten bis heute immer noch fünfunddreißig als vermißt.« »Sie haben noch einen zweiten Pilger gefunden? Auch tot?« Sardre zündete die Zigarette an und inhalierte so begierig, als entströme ihr purer Sauerstoff. »Nein«, sagte er. »Lebendig. Aber das brachte uns auch nicht viel weiter. Der zweite irrte durch die unteren Bergregionen und wurde gegen Mittag des nächsten Tages von einem Hubschrauber entdeckt …« Sardres Augen schienen von innen heraus zu beschlagen, als er kaum hörbar hinzufügte: »Zu diesem Zeitpunkt flogen die Dinger noch.« Kaya wußte nicht, was genau sie am Tonfall des Oberst erschreckte. Sie empfand beinahe einen Zwang zu fragen: »Wie meinen Sie das? Machen Sie doch nicht ständig Andeutungen, die –« »Es ist nicht so einfach!« fiel Sardre ihr scharf ins Wort. Ohne sich in seiner Unbeherrschtheit zu mäßigen, sagte er: »Wir wissen nicht, was dort im Gebirge wirklich vorgeht! Fakt ist nur – und damit wären wir beim dritten Ereignis, über dem wir seit jener Nacht und den Tagen danach rätseln –, daß wir natürlich nicht nur ein Kommando zur Bergung der Leichen und Maschinentrümmer entsandten, sondern auch weitere Aufklärungseinheiten. Luftwaffe und Bodentruppen arbeiteten eng zusammen. Ein größeres Armee-Kontingent, das sonst zur Sicherung der Grenzlinie nach Armenien abgestellt ist, wurde zum Absturzort verlagert, und mit ihm schwerstes Gerät, Panzer und die bereits erwähnten Hubschrauber …« Sardre legte die Zigarette auf den Rand des Aschers und knetete, zunehmend nervöser werdend, seine Finger. »Die Wracktrümmer konnten wir noch problemlos bergen – aber schon wenige Tage später ging gar nichts mehr!« Kaya sparte sich den erneuten Hinweis, daß sie noch immer nicht erkennen könne, worauf der Oberst eigentlich hinauswollte. Sardre fuhr von sich aus fort: »Bis heute versagt jede – ich betone
jede – Technik, die dem Berg näher als einen halben Kilometer kommt!« »Versagt?« echote Kaya. »Was meinen Sie damit?« »Was ich sage: Jede Maschine, ob benzin-, diesel- oder strombetrieben, stellt ihre Funktion ein, sobald die eben erwähnte Distanz unterschritten wird! Wir hatten zwei weitere Abstürze, die wie durch ein Wunder glimpflich verliefen. In beiden Fällen waren es Helikopter, die im Gebirge nach dem Verbleib der vermißten Wallfahrer forschen sollten.« Kayas Gedanken kreisten immer noch um Sardres vorherige Aussage. »Wieso funktionieren die Maschinen nicht mehr?« Der Oberst lachte verächtlich auf. »Wenn wir den Grund wüßten, hätten wir ihn schon abgestellt! Aber die ebenso schlichte wie beängstigende Wahrheit ist: Wir kennen ihn nicht!« Kayas Blick schweifte zu dem Klumpen auf dem Tisch. »Und das? Was hat dieser Brocken mit all dem zu tun?« Sardre schüttelte den Kopf. »Es gibt noch etwas, was sich niemand erklären kann – obwohl es dort draußen mittlerweile von Armeesachverständigen nur so wimmelt.« Er griff wieder nach der glosenden Zigarette, als könnte sie ihm den Halt bieten, den er nötig brauchte. »Was?« »Die Schmelze.« »Die Schmelze?« »Ja.« Sardre fuhr sich mit der Hand, in der die Zigarette klemmte, übers Gesicht. Asche fiel auf seine Uniform. Er achtete nicht darauf. »In der Nacht, als sich das Geschwader gegenseitig auslöschte, wurden, wie schon angesprochen, seltsame Lichterscheinungen in Gipfelnähe beobachtet. Neuere Satellitenfotos haben nun gezeigt, daß die Eisdecke, die den Ararat in fünf- bis dreitausend Meter Höhe umgibt, geschrumpft ist. Sie ist heute im Schnitt zwei bis drei Meter dünner, als sie es noch vor einem Monat war – und niemand weiß,
wie das bei den herrschenden Temperaturen möglich sein sollte, zumal sich keine Anzeichen vulkanischer Aktivität entdecken lassen! Dort draußen und in dieser Höhe schwanken die Temperaturen zwischen minus zwanzig und minus zehn Grad. Kein einziges Mal in den letzten Wochen näherte sich die Thermometersäule auch nur der Null-Grad-Grenze!« Sardre nickte in Richtung des versteinerten Holzstücks. »Und was das angeht: Er trug es bei sich, als wir ihn fanden.« »Er?« »Das einzige Mitglied der Wallfahrergruppe, das uns vielleicht sagen könnte, was aus den anderen geworden ist – wenn er nicht seinen Verstand dort oben im Gebirge gelassen hätte.«
* »Wir wissen bis heute nicht«, fuhr Oberst Sardre nach einer kurzen Pause fort, »ob der Überlebende, den wir fanden, möglicherweise sogar etwas mit dem Verschwinden der anderen zu tun hat. Nicht einmal das können wir ausschließen.« »Sie sprachen von mehr als dreißig Leuten.« »Sie sind wie von der Bildfläche verschwunden. Wahrscheinlich stecken sie irgendwo im Gebirge. Aber die Hoffnung, einen von ihnen lebend aufzuspüren, haben wir inzwischen aufgegeben.« »Gab es keine organisierte Suche? Warum wurden keine Spürhunde eingesetzt? Selbst wenn rätselhafterweise alle Technik versagt, gibt es doch noch genügend Alternativen, so viele Menschen ausfindig zu machen!« »Das würde ich sofort unterschreiben – wenn ich es nicht besser wüßte. Wir haben Spürhunde eingesetzt. Auch ganze Bataillone von Soldaten. Sie alle durchkämmten die bei diesen Witterungsverhältnissen zugänglichen Bereiche des Ararat … vergeblich. Ganz zu Beginn der Schneegrenze waren noch Fußabdrücke im Schnee zu er-
kennen. Aber in den höheren Lagen ist der Schnee zu einer krustenartigen Masse geworden, als hätte auch dort Hitze eingewirkt. Die Fährte ist dort verwischt. Selbst für die besten Spürhunde. Wir haben es wieder und wieder versucht.« »Gibt es vielleicht eine Höhle, in der die Wallfahrer Zuflucht gesucht haben könnten?« »Eine paar kleinere Felsklüfte, die allesamt durchsucht wurden. Ohne Ergebnis.« Kaya wußte nicht, was sie zu dem Gehörten sagen sollte. Aber ihr wurde bewußt, daß der Oberst noch immer nicht erklärt hatte, was er sich in dieser Sache von ihr erhoffte – sah man von seiner Andeutung ab, daß er auf der Suche nach dem gemeinsamen Nenner sei. Sie schob Sardre das zu Stein gewordene Holz entgegen. »Sagen Sie mir, was es damit auf sich hat. Und wie ich Ihnen helfen soll.« »Das da?« Der Oberst griff nach dem Brocken und hielt ihn unmittelbar vor seine Augen. »Haben Sie es nicht auch gespürt, als sie es anfaßten?« fragte er Kaya, ohne den Blick von dem Fund zu lassen. »Es hat etwas – ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll – Erhabenes … Ich brauche Ihnen doch nicht wirklich zu sagen, worum es sich handeln könnte, oder …?« Bislang hatte sich Kaya geweigert, das, was kurz als Vermutung in ihr aufgeblitzt war, tatsächlich als Möglichkeit anzunehmen. Sardres Worte änderten dies. »Viele haben danach gesucht«, sagte sie leise. »Auch ausländische Expeditionen, die mit modernstem Gerät ausgerüstet waren. Aber sie alle scheiterten. Bis heute ist strittig, ob der Ararat wirklich die Adresse ist, wo nach der Sintflut Noahs Arche vor Anker ging!« »Und das hier?« fragte Sardre. »Es kann alles mögliche sein.« Er verneinte. »Das kann es nicht. Wir haben es analysieren lassen. Es … ist uralt.«
»Wie alt?« »Ein paar tausend Jahre. Genauer wollte sich kein Wissenschaftler festlegen.« »Das übliche Spiel …« »Sie haben immer noch keine Ahnung, was ich von Ihnen will?« Kaya schüttelte den Kopf. »Sagen Sie es mir.« »Ich bin angehalten worden, die Ursache des Phänomens, das unsere Waffen und Geräte im Araratgebiet lahmlegt, herauszufinden, und zwar schnell. Wahrscheinlich erhofft man sich von Regierungsseite, in den Besitz dieser Kraft zu kommen – sie nutzbar zu machen.« »Für Kriegszwecke.« »Wozu sonst?« Kaya lächelte kühl. »Ja, wozu sonst? Aber was hat das mit diesem Fund zu tun, selbst wenn er ein Teil der Arche wäre?« »Ich hätte es nicht so weit gebracht, wenn ich nicht auch Phantasie besäße. Das Talent, mir Dinge vorzustellen – seien sie noch so abwegig.« Kaya gestand sich ein, daß ihr erster Eindruck von Sardre sich gewandelt hatte. Der Oberst wirkte plötzlich noch gefährlicher auf sie. »Und?« fragte sie. »Auf meine Art bin ich ein sehr gläubiger Mann«, sagte er. »Ich wäre ein Narr, würde ich ausschließen, daß unter Umständen auch die Arche hinter dem Ausfall unserer Technik stecken könnte.« Kaya dachte über das Gehörte nach. »Welche Aussicht hätte ich, etwas zu finden, was ganze Bataillone vergeblich gesucht haben?« Sardres ins Nichts gerichteter Blick kehrte in die Wirklichkeit zurück. »Sie sollen es nicht allein suchen.« »Nicht allein? Wer wird mir helfen?« »Ich hoffe, der Überlebende, den wir aufgelesen haben.« Kaya legte die Stirn in Falten. »Sagten Sie nicht, er habe – den Verstand verloren?«
Sardre nickte. »Das hatte er – bis gestern. Aber ich schlage vor, Sie machen sich selbst ein Bild davon. Wollen Sie?« Kaya brauchte keine Sekunde, um sich zu entscheiden.
* Acht Stunden später � Koza-Han-Klinikum für Psychohygiene, Istanbul � Ein kleiner Helikopter setzte Kaya Beishir auf dem Dach des riesigen Gebäudekomplexes am Westrand der Stadt ab. Aus der Luft betrachtet, wirkte die umgebende Grünfläche wie ein ganz normaler, rege besuchter Park. Bei genauerem Hinsehen aber, spätestens aus der Nähe, fiel das exaltierte Verhalten der Spaziergänger auf. Und ihre Einheitskleidung. Während des Fluges hatte Kaya kaum ein Wort mit dem Piloten gewechselt. Sie war viel zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt gewesen; damit, das aufzuarbeiten, was Oberst Sardre ihr von den Vorkommnissen am Araratgebirge erzählt hatte. Und von seinen Erwartungen, die er in Kaya setzte – und den Mann, den sie erst noch kennenlernen mußte. Mit einem flauen Gefühl klopfte sie dem Piloten zum Abschied und Dank auf die Schulter, dann stieg sie aus dem Kopter auf das mit rutschhemmenden Kautschukplatten ausgelegte Flachdach des Klinikums. Schnelle Schritte brachten sie aus dem Bereich der Rotorblätter. Sie wurde bereits erwartet. Ein frierender Mann in weißem Kittel schüttelte ihr die Hand und sagte: »Ich bin Dr. Finik, Leiter der psychiatrischen Station. Oberst Sardre hat mich über Ihr Kommen verständigt. Es ist bereits alles vorbereitet.« »Vorbereitet?« fragte Kaya, während sie sich von dem Arzt durch eine Tür ins Treppenhaus lotsen ließ.
»Ihr Gespräch mit dem Patienten.« Wie er »dem Patienten« sagte, jagte Kaya einen kalten Schauer den Rücken hinunter. Auf dem Weg zu dem Raum, in dem Kemer Tersane untergebracht war, ergaben sich noch etliche Gelegenheiten, diesen Schauder zu vertiefen. Kaya wurde zum ersten Mal bewußt, wie viele Spielarten psychischer Defekte es gab. Geistige Behinderungen, die sich nicht nur im Gebaren der Betroffenen widerspiegelten, sondern auch das äußere Erscheinungsbild der Kranken prägten. Es war, als gelänge es dem Leiden ihrer Seelen, auch auf die Physis überzugreifen. Dr. Finik bemerkte, wie ihr die Verhältnisse innerhalb der Station zu schaffen machten. Er sagte: »Sie brauchen keine Übergriffe zu fürchten. Die Medikation unserer Patienten ist individuell optimal abgestimmt.« Da begriff sie. Nicht die Krankheit an sich stempelte die Leute, die sie auf ihrem Weg sah, zu körperlichen Wracks – sie waren ganz einfach bis unter die Halskrause mit Tabletten abgefüllt. Ruhig gestellt! »Wie hoch …«, Kaya räusperte, um den Belag von ihrer Stimme zu entfernen, »… wie hoch ist Ihre Erfolgsquote?« Dr. Finik blickte fragend, ohne das Tempo seines Schrittes zu mindern. »Wie viele von denen, die hier eingewiesen werden, werden irgendwann auch wieder als geheilt entlassen?« fragte Kaya. In Dr. Finiks Augen trat ein arroganter Zug. »Sie verkennen offenbar Sinn und Zweck unserer Klinik. Wir protzen nicht mit prozentualen Erfolgen. Wir sind eine Einrichtung des Allgemeinwohls. Jeder, dem wir hier unsere Pflege angedeihen lassen, fällt der Öffentlichkeit nicht mehr zur Last. Viele sind bis an ihr Lebensende bei uns. Sie sind unheilbar geschädigt, aber wir wahren Ihnen den Rest von Würde, den sie noch besitzen. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen …«
»Nein.« Kaya schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht. – Ist es noch weit?« »Da vorne.« Dr. Finik zeigte auf eine Tür, die in einen Nebenkorridor führte. Wenig später standen sie in Kemer Tersanes Zimmer. Er war gerade dabei, sich die Glatze einzucremen. Kaya prallte innerlich zurück, als sie die rot und blau schimmernden Druckpunkte auf seiner Kopfhaut entdeckte – und noch mehr, als sie in seine wäßrigen, wie entleert wirkenden Augen blickte und der Mund des auf der Bettkante sitzenden Mannes ein so abseitiges Lächeln gebar, daß es ihr beinahe den Magen umdrehte. Ab diesem Moment konnte sie sich nicht mehr vorstellen, daß Sardres Auftrag zu erfüllen war. Sie wünschte sich weit weg von diesem Ort – und diesen Augen. »Was ist mit seinem Kopf passiert?« wandte sie sich an Finik. Leise. Der Patient sollte sie nicht hören. Nur ihr Herz schlug überlaut. »Seine – Haare …« »… wachsen wieder nach«, schnarrte der Arzt. »Die Therapie erforderte eine Rasur.« »Therapie?« Kaya verkniff sich die Kommentare, die ihr auf der Zunge lagen, nur, weil Tersanes Augen immer noch auf ihr ruhten. Und plötzlich gar nicht mehr so leer und apathisch wirkten. »Wer immer Sie sein mögen, ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind«, sagte der Kahlköpfige mit einer so verblüffend geschliffenen Stimme, daß es Kaya völlig überraschte. »Ich werde Ihre Fragen beantworten, so gut ich es kann, und auch alles tun, was Sie verlangen, wenn Sie mich nur … nur von hier wegbringen. Ich will nie wieder so eingesperrt sein. Wenigstens nicht … hier …!« Kayas angewiderter Blick ruhte auf dem Arzt, nicht auf Tersane, den sie dennoch ansprach: »Kommen Sie, Kemer Tersane. Erzählen Sie mir, was sie am Ararat gesehen haben. Erzählen Sie es mir in aller Ruhe. Sie haben alle Zeit, die Sie brauchen …« Letzteres war eine Lüge. Aber eine barmherzige.
Kemer Tersane saß noch eine Weile auf der Bettkante, die kleine Tube mit Creme in der Hand, der zwei Finger fehlten. Schließlich stand er auf. Finik meidend, schloß er sich wortlos und unsicheren Schrittes der Frau an, die er nicht kannte. Vielleicht hielt er sie einfach nur für das etwas kleinere von zwei Übeln …
* Zurück in Ankara … Als sich die Tür des Quartiers schloß, das man dem Überlebenden bereitgestellt hatte, überkam Kaya Beishir, die sich allein mit ihm hineinbegeben hatte, das überfallartige Gefühl, es nicht zu ertragen. Ihn nicht zu ertragen. »Starren Sie mich nicht so an!« Kemer Tersane zuckte zusammen. In seinem Gesicht, das mehr als nur eine erlittene Hölle widerspiegelte, formierte sich der nackte Schrecken. »Es tut –« Kaya unterbrach ihn blaß: »Mir tut es leid – entschuldigen Sie den scharfen Ton.« Sie ging auf ihren jungen Landsmann zu und berührte ihn sacht am Arm. »Kommen Sie, ruhen Sie sich jetzt erst etwas aus. Legen Sie sich hin oder nehmen Sie ein heißes Bad, danach können wir immer noch reden Ich komme in zwei Stunden wieder. Dann allerdings müssen wir uns unterhalten. Der Oberst erwartet meinen Bericht und die Antwort, ob ich die Aufgabe übernehme, bis spätestens heute Abend …« »Die – Aufgabe?« »Später!« Der körperlich völlig heruntergekommene Mann schüttelte den Kopf. »Nein! Jetzt! Wir können sofort reden! Ich will nicht allein sein
…« Kaya kniff die Lippen zusammen. Dann fragte sie: »Man hat Ihnen übel mitgespielt …?« Schulterzuckend erwiderte er: »Ich … nehme es an. Ich bin noch nicht lange wieder … bei mir.« Er ballte die Fäuste. »Aber seit ich … zu mir gekommen bin, ging es mir nicht gut. Der Professor sagte, es gehöre zur Therapie, damit ich wieder ganz gesund werde, aber …« »Was gehöre zur Therapie?« Er muß sich umziehen, dachte Kaya unzusammenhängend. Die Kleidung, die er trug, war noch dieselbe wie in der Klinik. »Das kalte Gerüst auf meinem Kopf … Der Strom, der in mein Hirn gejagt wurde …« Kemer spreizte urplötzlich die Hände und starrte die Fingerspitzen an, als hätte er sie sich verbrannt. Kaya spürte wieder dasselbe würgende Unbehagen wie in Professor Finiks Nähe. »Das ist vorbei«, sagte sie. »Niemand wird Ihnen je wieder so etwas antun!« Er sah sie an, als suchte er die Signale, die ihm helfen sollten, ihr zu vertrauen. Sein Gesicht war so nahe, daß Kaya innerlich erneut schauderte. Selten hatte sie einen so ausgemergelten Menschen gesehen. Und doch schimmerte bei allen Entbehrungen noch der Kemer Tersane durch, der er vor der Nacht am Ararat gewesen sein mußte. Obwohl sie es eigentlich nicht zulassen wollte, fand sie selbst das, was von Tersane übriggeblieben war, noch überaus wertvoll … Sie wich weiteren damit verknüpften Gedanken aus und sagte: »Wenn Sie wirklich glauben, bereit zu sein, in Ordnung. Unterhalten wir uns sofort.« Sie blickte kurz hinter sich zur Tür. Draußen auf dem Korridor standen zwei Soldaten, die sie hierher begleitet hatten und auch weiterhin auf Tersane achten sollten. Ein Fenster, aus dem er hätte fliehen können, gab es nicht. Nur diese Tür. Daß ein Fluchtrisiko bestand, hatte Sardre nicht ausschließen wollen, der sich auf Finiks Gutachten verließ.
Finik … Kaya schluckte. Dann folgte sie Tersane zu dem kleinen Kartentisch, an dem der Mann sich inzwischen niedergelassen hatte. »Möchten Sie etwas trinken oder essen?« Tersane verneinte. Kaya nahm ihm gegenüber Platz. Vorübergehend wußte sie nicht, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Schließlich holte sie den Brocken aus der Tasche, den man bei Tersane gefunden hatte, legte ihn auf den Tisch und fragte: »Woher stammt das? Haben Sie es gefunden? Und wenn ja: Könnten Sie mich dorthin führen, wo Sie es fanden …?« Tersanes Augen schienen sekundenlang an dem versteinerten Holzstück festzukleben. Dann brach übergangslos ein Laut über seine Lippen, den Kaya nicht zu deuten vermochte, bis ihr Gegenüber ausstieß: »Großvater! Wie habe ich dich vergessen können …? Was – was ist mit … Großvater?« Kaya begriff, daß ihre Aufgabe noch viel schwerer werden würde, als sie geglaubt hatte. »Er ist tot. Man fand ihn zwischen den Zelten. Er muß an Herzversagen gestorben sein …« Nach dieser Eröffnung war mit Tersane nicht mehr zu reden. Irgendwann ließ Kaya ihn allein. Sie verließ das Quartier, kehrte aber noch vor dem Abend wieder zurück – und fand einen völlig veränderten Tersane vor. »Helfen Sie mir – dann helfe ich Ihnen«, begrüßte er sie. »Wobei soll ich Ihnen helfen?« »Ich will noch einmal zum Ararat! Ich will herausfinden, was dort oben in der Höhle geschah! Ich … ich erinnere mich nicht mehr, aber es war schrecklich … und es ist schuld an dem, was uns dort widerfuhr. Das weiß ich, weil ich es fühle. – Bitte, versprechen Sie mir, daß Sie mir helfen werden, es herauszufinden!« Kaya konnte ihn eine Weile nur anstarren. Sie hatte einiges erwar-
tet, sogar daß Tersane sich plötzlich jedem Anliegen, das an ihn herangetragen wurde, versperren würde. Aber ganz gewiß nicht, daß seine Forderungen sich mit ihren völlig deckten … »Höhle?« fragte sie. »Sie waren in einer Höhle?« »Etwas … ähnliches. Ein Stollen, ein Schacht … das ist doch egal, oder? Lassen Sie uns gemeinsam dorthin gehen! Lassen sie uns nachsehen, was dort … lebt!« »Lebt?« Tersane schwieg. »Was ist das letzte, woran Sie sich erinnern?« »An diesen Stollen. Und daß ich fast in einen Abgrund gestürzt wäre. Im Berg. Daß in diesem Abgrund etwas war, das … das …« Auf seiner Stirn standen plötzlich Schweißperlen. Er schwitzte, daß er fast dampfte. »Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich dort wieder herausgekommen bin!« »Und dieses versteinerte Holzstück?« fragte sie. »Können Sie sich erinnern, wo sie es gefunden haben? Und was dort noch war?« »Das Stück habe ich nicht gefunden. Großvater schenkte es mir …« Ehe sich Enttäuschung in Kaya ausbreiten konnte, sprach Tersane bereits weiter: »Aber er, er hat etwas gesehen, von dem er überzeugt war, es müßte das sein, was von der biblischen Arche übriggeblieben ist!« »Und Sie? Sie haben nichts dergleichen gesehen?« Der Schweiß lief jetzt in Strömen über Tersanes Gesicht. »Ich weiß es nicht – nicht mehr! Aber da war etwas … Irgend etwas … Und die anderen müssen es auch gesehen haben. Sie gingen denselben Weg …« »Die Vermißten?« Tersanes Augen flackerten. Ratlosigkeit legte sich wie ein Schatten über seine Züge und ließ die Spuren der Erschöpfung noch stärker hervortreten. Kaya glaubte zu begreifen, daß er so wenig über das Schicksal der Vermißten zu sagen vermochte, wie er vom Tod seines Großvaters
gewußt hatte. »Würden Sie diesen Schacht, von dem Sie sprachen, wiederfinden?« fragte sie. Von Oberst Sardre wußte sie, daß dergleichen von den Suchmannschaften nicht entdeckt worden war. Tersane zögerte kurz – dann nickte er. »Werden Sie mir helfen?« fragte er. »Ich werde es versuchen«, erwiderte sie.
* Drei Tage später setzte sich vom Luftwaffenstützpunkt Van-See aus ein kleiner Militär-Konvoi mit Ziel Großer Ararat in Bewegung. Kaya Beishir und Kemer Tersane waren am Vortag aus Ankara eingetroffen und dazu gestoßen. Die Vorbereitungen hatten jede verfügbare Minute Kayas verschlungen, und erst jetzt, auf holpriger Fahrt über Straßen in desolatem Zustand, ergab sich die Gelegenheit, an das Gespräch anzuknüpfen, das sie zuletzt mit Tersane geführt hatte. Sie saßen nebeneinander im Führerhaus eines mit Ausrüstung voll beladenen Transporters. Um die von Tersane beschriebene Ararat-Region zu erreichen, erhielten sie die Unterstützung eines Bergführers, der ebenfalls der Armee angehörte. Er kannte sich in der Bergwelt des Ararat aus und gewährleistete, daß nichts von der Aktion an die Öffentlichkeit drang. Hatte sich Kaya anfänglich noch gefragt, warum Sardre ausgerechnet auf sie als Expeditionsleiterin verfallen war, so durchschaute sie dessen Politik inzwischen besser. Innerhalb seines Stabs verfügte sie vermutlich über die größte Erfahrung in archäologischen Fragen, wenngleich sie keine Koryphäe war. Um echte Experten zu gewinnen, hätte Sardre im zivilen Bereich Ausschau halten müssen, und das war ihm angesichts der selbst ausgegebenen Geheimhaltungsorder schlicht zu heikel.
»Wie fühlen Sie sich?« fragte Kaya. Sie saß zwischen Tersane und dem Fahrer, und wem ihre Frage galt, war nicht mißzuverstehen. Sie blickte Tersane an und stellte erfreut fest, daß er in den wenigen Tagen an Gewicht gewonnen hatte. Nicht mehr ganz so hager und fiebrig wirkte sein Gesicht. Die Bartstoppeln, für die sich in Finiks Klinik offenbar niemand als zuständig betrachtet hatte, waren verschwunden. Dafür war das Haar auf Stoppelgröße nachgewachsen und umgab seinen Schädel wie eine Art dunkle Kappe. Kaya sah ihren ersten Eindruck bestätigt: Kemer Tersane war einmal hübsch gewesen – und ganz allmählich erinnerte sich auch sein eigener Körper wieder daran. »Danke.« Tersanes aschgraue Augen funkelten. Aber nicht mehr so abseitig wie bei ihrer ersten Begegnung, sondern gemäßigter. Dabei konnte sich Kaya allerdings des Eindrucks nicht erwehren, daß Tersane nur gelernt hatte, seine Gefühle, die nach wie vor unter der Oberfläche tobten, besser im Griff zu halten. »Und Ihnen?« »Mir?« »Sie sehen aus, als würden gewaltigere Erwartungen auf Ihnen lasten. Was macht Ihnen Angst?« Obwohl sie sich durchschaut fühlte, verneinte sie. »Angst? Sie irren sich. Und was die Erwartungen angeht: Ich mag es, unter Strom zu stehen …« Noch während sie sprach, begriff sie, was sie gesagt hatte. Tersane drehte das Gesicht weg. Seine Stimme schwankte, als er fragte: »Wie lange werden wir brauchen, bis wir den Ort erreichen, an dem das Camp stand?« »Wir werden noch heute ankommen«, sagte sie mit belegter Stimme. »Morgen in aller Frühe soll bereits der Aufstieg beginnen.« »Gut.« Das war für lange Zeit das letzte, was sie von Tersane zu hören bekam. Draußen begann es zu schneien. Ab und zu fluchte einer der Fahrer aus dem Funkgerät, mit dem der Konvoi Verbindung hielt …
* � »Was mag aus den Wassermassen geworden sein?« wandte sich Kaya an den Offizier, von dem sie das Nachtsichtgerät erhalten hatte, das sie gegen ihre Augen gepreßt hielt und mit dem sie sich die Gipfelregion des Ararat trotz Dunkelheit und leichtem Schneetreiben näherholte. Der Berg sah aus wie mit einer grauglänzenden Glasur überzogen, doch das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß der eisige Mantel mehr als einen Meter dünner geworden war. Die Satellitenvermessung ließ daran keine Zweifel. Etwas, von dem sie nicht wußten, was es war, hatte die nötige Wärme erzeugt, um den Schnee und das Eis zu schmelzen – gleichzeitig war das Schmelzwasser verschwunden, ohne Spuren zu hinterlassen. »Theoretisch«, sagte der ranggleiche Offizier, »können sie nur im Berg versickert sein. Aber Vergleichbares ist in dieser Gegend noch nie beobachtet worden. Zumindest nicht, seit solche Beobachtungen schriftlich festgehalten werden …« Kaya nickte, gab das schwere Fernglas mit eingebautem Restlichtverstärker zurück und wandte sich den Zelten zu, bei denen sich Tersane herumtrieb. Die Zelte, die er und die anderen Pilger zu Weihnachten hier errichtet hatten und die immer noch standen. Die meisten zumindest. Als sie die Markierung überschritt, meinte Kaya etwas zu fühlen. Aber es konnte auch Einbildung sein. Ein kniehoch gespanntes Seil kennzeichnete den Verlauf der Grenze, hinter der nichts mehr funktionierte, was von Strom oder einer anderen Energiequelle gespeist werden mußte. Das Phänomen, von dem Sardre erzählt hatte. Seit sie vor einer Stunde am Fuß des Ararat angekommen waren, wußte Kaya, daß der Oberst ihr kein Märchen aufgetischt hatte. Mit
einem der Lastwagen hatte sie die Probe aufs Exempel gemacht. Er hatte die Markierung einfach niedergewalzt und war dann ausgerollt – weil sein Motor augenblicklich ausgefallen war! Außer diesem Beweis für die Existenz des unsichtbaren Feldes gab es noch andere, eindrucksvollere Beweise: In zweihundert Metern Entfernung standen mehrere Panzer herum. Sie hatten sich dem Berg vor Entstehen des Phänomens genähert. Um sie aus der betroffenen Zone herauszubefördern, hätte man sich mit menschlicher oder tierischer Zugkraft bescheiden müssen, aber selbst dann hätte der Aufwand in keiner Relation zum Nutzen gestanden. Lieber hoffte man auf den Tag, da die Technik wieder ebenso abrupt funktionierte, wie sie versagt hatte … Kayas gefütterte Stiefel versanken knöcheltief im Pulverschnee. Laut Wetterbericht sollte es bis zum Morgen aufgehört haben zu schneien. Dem Aufstieg stand nichts im Wege. Kaya hatte diesbezüglich schon mit dem vierschrötigen Selim Zeytan, ihrem ortskundigen Führer, gesprochen und es sich bestätigen lassen. Allmählich fieberte sie den Dingen, die sie vielleicht entdecken würden, entgegen. Beim Camp brannten Petroleumlampen. Den Widerspruch, daß sie funktionierten, benzinbetriebene Motoren aber nicht, konnte sich Kaya so wenig erklären wie jeder andere, dem diese Diskrepanz bislang bewußt geworden war. Sie rief nach Tersane, erhielt aber zunächst keine Antwort. Als sie an einem der kleineren Zelte vorbeikam, hörte sie jedoch Geräusch darin und sah Licht aus den Nähten dringen. Sie schlug die Plane vor dem Eingang zurück. »Hier sind Sie also«, sagte sie, als sie den Mann am Boden kniend erkannte. »Haben Sie mich nicht rufen hören?« »Doch.« »Aber …?« »Ich dachte, ich könnte wenigstens hier ein paar Minuten allein
sein.« »Ist das Ihr Zelt?« »Das meines Großvaters.« Kaya senkte die Stimme. »Sie haben ihn sehr gemocht, nicht wahr?« Tersane schwieg. »In Ordnung, ich gehe wieder.« Sie zog den Kopf zurück, ohne das Zelt betreten zu haben, und ließ die Plane wieder fallen. »Ich wollte Ihnen nur raten, früh schlafen zu gehen«, sagte sie noch. »Sofort nach Sonnenaufgang brechen wir auf.« Kaya wollte sich schon abwenden, als sie bemerkte, wie drinnen das Licht erlosch. Sie hörte Schritte und Tersane rufen: »Warten Sie, ich komme mit. Hier bin ich fertig.« Er tauchte aus dem Zelt. »Haben Sie etwas Bestimmtes gesucht?« fragte Kaya. »Soviel ich weiß, wurden die Zelte ausgeräumt. Alle Gegenstände befinden sich in Verwahrung des Militärs.« »Ich habe gebetet«, sagte Tersane. »Nur gebetet.« Langsam kehrten sie zu den Wagen zurück, um sich in der beheizten Koje schlafenzulegen. Kaya hatte mehrmals das Gefühl, etwas Bedeutungsvolles sagen zu müssen. Am Ende beließ sie es jedoch bei ein paar Floskeln, die sie sich auch hätte sparen können. Kemer Tersane schien ihr gar nicht zuzuhören. Er war tief in Gedanken versunken. Vielleicht dachte er gerade an seinen Großvater. Kaya schlief schlecht in dieser Nacht. Und als der Morgen graute, war sie als eine der Ersten wieder auf den Beinen. Es geht los, dachte sie beinahe erleichtert. Endlich geht es los. Noch heute würde sich herausstellen, ob es den Höhlenschacht, von dem Tersane gesprochen hatte, wirklich gab. Und ob er zum Grab für die vermißten Pilger geworden war …
*
Die Grimasse des Toten schimmerte kobaltblau durch eine zentimeterdicke Eisschicht zu ihnen herauf. Kemer war fassungslos, als er Akhan erkannte. Akhan, der ihn anstarrte, als wäre immer noch ein grausiger Hauch von Leben in ihm – und als gäbe er ihm die Schuld daran, hier lebendig begraben zu sein bis zum nächsten Tauwetter … »Ich verstehe das nicht«, hörte Kemer die Stimme Selim Zeytans, der darauf achtete, daß sie einander gegenseitig sicherten und keine unnötigen Risiken eingingen. »Was meinen Sie?« fragte Kaya. »Warum man ihn nicht schon früher gefunden hat«, entgegnete Zeytan, »trotz der Hunde und Suchmannschaften, die hier unterwegs waren …« Zeytan verstummte, und keiner aus dem halben Dutzend, das am frühen Morgen vom Basislager aus aufgebrochen war, erwiderte etwas. Alle starrten nur geschockt auf das in Eis gefaßte Gesicht. Seit Stunden waren sie schon unterwegs, und Kemer kam es vor, als hätte er bei seinem einen Monat zurückliegenden Alleingang viel weniger Zeit gebraucht, um diese Höhe zu erreichen. Aber das mochte einer Fehleinschätzung entspringen. Die ganze Wahrheit war, daß er kaum noch eine Erinnerungen hatte, was die Dauer seines damaligen Aufstiegs betraf. Und der Aufstieg selbst … nun, Kemer wußte noch von Akhan – und daß er den Verstorbenen liegengelassen hatte, um weiter der Spur der anderen Pilger zu folgen. Bis zu dem Loch im Berg, das auch ein Loch in seine Erinnerung gebrannt zu haben schien! Von den damaligen, gutleserlichen Fährten war nichts mehr zu erkennen, und der Boden unter der dünnen Schicht Neuschnee war gefährlich rutschig geworden. Geschmolzen und wiedererstarrt. Aber die speziellen Sohlen und Handschuhe fanden ausreichenden Halt …
»Es ist nicht mehr weit«, rann es rauh über Kemers Lippen. Sein Blick suchte und fand den Engel, der ein paar Schritte entfernt stand. Natürlich war es kein richtiger Engel – aber das machte für Kemer keinen Unterschied. Das Gesicht der Frau war unter Kapuze und Schal kaum zu erkennen, dennoch glaubte er es klar vor sich zu sehen. Es war wunderschön, und irgendwie erinnerte es ihn an seine verstorbene Mutter … »Sind Sie sicher?« fragte sie. »Ja.« Er erzählte, wie er gemeinsam mit Akhan Zeuge der Selbstzerstörung des Geschwaders geworden war. Wenig später setzten sie ihren Weg fort, ohne auch nur versucht zu haben, Akhan aus seiner eisigen Gruft zu befreien. Dafür würde später noch Zeit sein. Andere konnten sich darum kümmern. Und dann erreichten sie die Stelle, von der Kemer Tersane geschworen hätte, daß sie vor einem Monat noch ganz anders ausgesehen hatte. Daß er hier den Berg betreten hatte. Die Merkmale der übrigen umgebenden Gebirgslandschaft stimmten noch genau mit den Eindrücken von damals überein – nur dort, wo sich ihm der Stollen geöffnet hatte … … schimmerte nun die weiße Schneedecke ohne die geringste Unterbrechung! Kemer war stehengeblieben. »Wo ist es?« fragte Kaya Beishir keineswegs mit Engelsgeduld – und auch nicht mit Engelszunge. Kemers Reaktion, seine ganze Haltung schien ihr zu verraten, daß sich seine erst kürzlich noch demonstrierte Zuversicht nun als Luftschloß entpuppte. »Es war hier – ich schwöre es bei meinem Leben!« Er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Stelle, die er meinte. Zeytan löste sich von der Gruppe und befreite die Fläche, auf die
Kemer wies, vom Schnee. Alles, was darunter zum Vorschein kam, war der übliche, allgegenwärtige Fels. »Sie gehen sehr leichtfertig mit dem einzigen Leben um, das Sie haben, junger Freund«, sagte er, nachdem er selbst seine Bemühungen eingestellt hatte. Andere aus der Gruppe setzten sein Tun fort. Niemand wollte akzeptieren, daß sie den beschwerlichen Aufstieg umsonst absolviert hatten. »Sehen Sie sich noch einmal ganz genau um. Vielleicht haben Sie sich nur um ein paar Meter geirrt«, sagte die Leiterin der Expedition. Auch ihr war die Enttäuschung anzumerken. Kemer schüttelte den Kopf. In diesem Moment ertönte ein Aufschrei, der jäh wieder endete. »Zeytan!« rief jemand. Kemers Blicke suchten vergebens nach dem Bergführer. »Er ist verschwunden!« fuhr der Soldat in seiner Nähe fort. »Da – vor meinen Augen …!« Im nächsten Moment entdeckte Kemer das Sicherungsseil, das ihn während des ganzen Aufstiegs mit Zeytan verbunden hatte. Es lag auf dem Schnee, als wäre es abgeschnitten worden. Von Zeytan fehlte jede Spur.
* Es dauerte lange Sekunden, bis Kemer begriff, daß das Seil nicht durchschnitten worden und auch nicht gerissen war, sondern … »Schnell! Helft mir!« Er bückte sich und hob das Seil auf. Er verstand nicht, warum er keinen Ruck verspürt hatte, aber das geriet zur Nebensache. Kaya Beishir tauchte neben ihm auf. »Was ist?« »Helfen Sie mir, ihn herauszuziehen!« »Herauszuziehen?« Kemer antwortete nicht mehr. Er spürte bereits Widerstand –
wenn auch viel geringeren, als normal gewesen wäre. Und auch die Expeditionsleiterin sah jetzt, daß dort, wo das Seil scheinbar endete, es sich plötzlich fortsetzte, weil Kemer daran zog … Sie griff zu, stellte keine weiteren Fragen, sondern half. Es wäre nicht nötig gewesen. Das Gewicht am anderen Ende des Seiles war so gering, daß Kemer es mühelos allein bewältigt hätte. Und dann sahen sie, warum. Sahen es in dem Augenblick, als Zeytans Anzug aus der Schneedecke hervorglitt, ohne diese auch nur geringfügig in Mitleidenschaft zu ziehen! Nur Zeytans Anzug! Als Kaya Beishir auf ihn zueilen wollte, hielt Kemer sie zurück. Seine behandschuhten Finger krallten sich in den Ärmel ihrer Thermokleidung. »Nein! Keinen Schritt in diese Richtung! Wir wissen nicht, wo es beginnt …!« »Was meinen Sie?« Statt zu antworten, zog Kemer den leeren Anzug weiter auf sich zu, bis er vor seinen Füßen lag. Auch die anderen aus der Gruppe umringten ihn. Und dann sahen sie es. Daß die Kleidung nicht ganz leer war. Daß noch etwas darin gärte und faulte … etwas, das wie schwarzer Schleim aussah, aber keiner war. Kaya Beishir bückte sich und zog Kemer, der sie immer noch festhielt, mit sich hinab. Der Gestank war kaum zu ertragen. »Sehen Sie sich das an«, flüsterte die Frau hinter ihrem Schal. »Seine Kleidung ist naß, als hätte sie in Wasser gelegen. Aber es ist kein Wasser – es ist … Allmächtiger, es ist …« Säure, vollendete Kemer in Gedanken. Und alles, was sie von einem Menschen übriggelassen hat, ist dieser … Schleim! Sein Blick wanderte zu der Stelle, wo Zeytan ohne einen Ruck
weggetaucht war. Er begriff nicht, was hier passiert war. Warum dort, wo das Unglück geschehen war, immer noch Schnee zu liegen schien – unversehrter Schnee … Und selbst wenn dort der gesuchte Stollen begonnen hätte – was hatte dann Zeytan gefressen? Und warum hatte es ihn, Kemer, vor Monatsfrist verschmäht …? Als er das nächste Mal den Augen Kaya Beishirs begegnete, las er darin dieselben Fragen. Aber keine Antworten. »Wir kehren um«, hörte er sie sagen. »Aber wir kommen zurück – das schwöre ich!« Einen beinahe leeren Anzug im Schlepp, machten sie sich an den Abstieg.
* Wiederum einige Zeit nach diesen Ereignissen � Gegenwart � Das Bild der kargen Landschaft wirkte seit Landrus letztem, nun schon Jahre zurückliegenden Besuch völlig unverändert. Verändert habe nur ich selbst mich, dachte er, und für einen bizarren Moment schien es ihm vorstellbar, daß die dunkle Kraft in ihm auch auf seine Umgebung ausstrahlte – daß er ein noch perfekterer Unheilsbote geworden war als damals nach seiner Rückkehr aus dem Zeittunnel bei Uruk, als er unwissentlich das Verderben für alle von ihm getauften »Kelchkinder« mitgebracht hatte. Seufzend löste er die Lippen von der weichen Haut und dem warm daraus hervorsprudelnden Quell, der ihm wohlgetan hatte nach der hektischen Reise von einem Ende der Welt zum anderen. Starr-gläsern und doch auch erregend in ihrer Einfalt stierte ihn
die Seele seines Opfers aus dessen Augen an. Eine Seele, die bang fragte: Wirst du mich nun töten oder schonen? Er beendete die allzu berechtigte Furcht, indem er den Kopf der jungen Frau, die er vor dem kleinen Flughafen von Ani – auch ihres sehr robust wirkenden Autos wegen – ausgesucht hatte, einmal vollständig um seine Achse drehte. Landru plazierte die Tote hinter dem Steuer des Geländewagens, als würde sie schlafen, obwohl er zunächst versucht gewesen war, den faszinierenden Ausdruck ihrer Augen zu erhalten, indem er die Lider nicht verschloß. Letztlich war dies aber eine Lappalie gegen den Widerstreit von Gefühlen, die seit vorgestern in ihm tobten. Seit er in Mayabs Weltenpfeiler – jener rotierenden Ballung von Kelchmagie, die eine ganze Stadt und ihre Bewohner seit fünfhundert Jahren von der Außenwelt abschottete – verweilt hatte!* Dort im Bad aus Magie hatte er neue, beunruhigende Erkenntnisse gewonnen, die ihn zur überstürzten Abreise veranlaßt hatten. Und das, obwohl ihm bis dahin kaum Gelegenheit geblieben war, Lilith auf ihre neue Rolle als »Mutter« von acht vampirischen Tyrannen einzuschwören. Seine Erzfeindin hatte – anders als er – keinen Pakt mit dem Satan geschlossen und deshalb auch nicht ihre verlorene Erinnerung zurückerhalten. Bevor er sie und den Ort eines Jahrhunderte zurückliegenden, unerlaubten Kelchrituals verlassen hatte, war Landru hingegangen und hatte Lilith wieder die Kraft entzogen, die sie zuvor befähigt hatte, die Hermetische Stadt zu betreten. Nona jedoch, seiner wiedergefundenen Geliebten, die sich ebenfalls in Mayab aufhielt, hatte er diese Fähigkeit belassen. Nun also war Lilith genauso Gefangene des magischen Walls, der die alte Maya-Stadt umgab, wie die darin seit zwanzig Generationen *siehe VAMPIRA T31/32
eingekerkerten Mayas und ihre unsterblichen Gebiete. Ob Lilith dies in der Zwischenzeit bereits herausgefunden hatte, wußte Landru nicht. Er hatte Nona gebeten, die Erzfeindin im Auge zu behalten. Der Werwölfin konnte er vertrauen – eigentlich nur ihr. Sie war es auch gewesen, die ihn als erste auf die rätselhaften Vorgänge im Dunklen Dom aufmerksam gemacht hatte. Im nachhinein verstand Landru selbst nicht mehr, warum er nicht sofort auf Nonas Bericht reagiert hatte. War ihm die Rache an Lilith Eden denn wichtiger als seine eigene Zukunft? Warum hatte er Lilith erst nach Mayab gebracht, anstatt sich unverzüglich in den Osten Anatoliens zu begeben, dorthin, wo jene mystische Stätte lag, in der er einst zum Hüter erkoren worden war? Er hegte einen Verdacht, der diese Fragen beantwortet hätte. Aber es würde ein Verdacht bleiben – bis zu jenem Moment, da sich Gabriel, Satans Inkarnation auf Erden, erneut bei ihm melden würde, um ihn wissen zu lassen, welche Gefälligkeit er von Landru erwartete – dafür, daß er ihm sein verlorenes Ich zurückgegeben hatte … Landru löste die Verriegelung der Beifahrertür und stieß sie mit einem wuchtigen Tritt nach außen. Der beißend kalte Wind, der ihm entgegenschlug, zerzauste auch das lockige Haar der Toten. Landru stieg aus und schloß die Tür wieder sorgsam, als wollte er nicht, daß ihre Schönheit mehr litt als bereits geschehen. Linkerhand, in Sichtweite, lag die armenische Grenze. Geradeaus das Bergmassiv, das sich in das erlöschende Licht des Abends bohrte und dessen Geheimnis kein Mensch kannte – und je lüften durfte. Auch nicht, nachdem es geschehen war. Das, wovon Nona berichtet hatte – und was im Weltenpfeiler Mayabs in einer Vision von niederschmetternder Macht bestätigt worden war! In Landrus persönlicher, wiedergefundener Erinnerung war der Dom immer noch unzerstört. Tatsächlich aber lag er in Trümmern, von ungekannter Macht niedergerissen.
Wehmut verdunkelte das Bewußtsein des Vampirs. Danach hielt ihn nichts mehr auf dem Boden, den seine Füße berührten. Die Hülle, in der er geboren war, wich der zweiten Gestalt, derer sich die Vampire seit jeher bedienten. Ledrige Schwingen zerteilten die Lüfte und trugen Landru dem Berg entgegen, von dessen sonderbarer Belagerung er noch nichts wußte. Lange jedoch blieb sie ihm nicht verborgen …
* Am Horizont versank die Sonne wie eine Fata Morgana. Fast schlagartig nahm der Wind zu und blies Bebek so schmerzhaft ins Gesicht, als wäre die Luft voller Rasierklingen. Der Soldat fluchte. Er fluchte, seit er die Wache übernahmen hatte, und immer wieder wanderte sein Blick sehnsüchtig zu dem aus Plastikelementen zusammengesetzten Iglubau, in dem seine Kameraden sich bei Kerzenschein die Zeit vertrieben. Sie waren zu viert hier stationiert, schon seit zwei Wochen. Alle sechs Stunden wechselten sie einander im Wacheschieben ab. Dann mußte ein anderer hinaus in die grimmige Kälte. Obwohl keiner von ihnen verstand, was er eigentlich bewachen sollte. Selbst wenn es jemanden gegeben hätte, der etwas hätte stehlen wollen – er hätte es niemals gekonnt. Bebeks Blick löste sich vom Mannschaftsiglu. Er lehnte gegen einen der Panzer, die in der zunehmenden Dämmerung mehr denn je wie bizarre Riesenkäfer erschienen. Tote, erlegte Käfer. Nicht nur ihre Elektronik, auch die ehemals leistungsstarken Motoren, die den Kettenantrieb in Gang gesetzt hatten, hatten ihren Herzschlag eingestellt!
Verrückt, dachte Bebek nervös. Seine Kameraden und er hatten oft über die unerklärlichen Vorkommnisse diskutiert – zu oft vielleicht. Was von vorgesetzter Stelle an Ursachenforschung betrieben wurde und was dabei herauskam, erfuhren einfache Soldaten nicht. Dennoch hegte Bebek den Verdacht, daß ihnen schon allein deshalb nichts mitgeteilt wurde, weil die Armeeführung selbst im dunkeln tappte. Immer noch, obwohl man inzwischen – Sein Gedankenflug geriet jäh ins Stocken, und er vergaß sogar, weiter mechanisch an der Zigarette zu ziehen, mit der er seine Lunge wärmte. Aus schmalen Augen visierte er die Nebelbank an, die gerade hinter einem der in der Nähe stehenden Panzer hervorgetreten war und nun auf ihn zuschwebte. Nebel? Bei dieser Kälte? Bebek hatte in der Schule nicht immer genau aufgepaßt, aber daß das, was da auf ihn zukam, völlig unmöglich war, sagte ihm schon sein gesunder Menschenverstand. »Ich kenne jemanden«, sagte eine Stimme aus der Nebelbank heraus, »dem das Rauchen schlecht bekommen ist. Auch du gefährdest deine Gesundheit. Hör auf damit!« Bebeks Körper verselbständigte sich. Antrainierte Reflexe ließen ihn nach der MPi greifen, die an einem schmalen Lederriemen vor seiner Brust hing. Er brachte sie in Anschlag und richtete den kurzen Lauf auf das Nebelgebilde, das nur noch Zentimeter von ihm entfernt schwebte, ihm die Sicht raubte und – aus dem eine fremde Hand hervortauchte! Sie berührte den stählernen Lauf – und Bebek mußte erkennen, daß er gar keine Waffe, sondern etwas höchst Lebendiges und dabei so Gräßliches umklammert hielt, wie er noch nichts auch nur Vergleichbares gesehen hatte! So rasch er konnte, zerrte er das Band über seinen Kopf und
schleuderte das damit verknüpfte Monstrum von sich. Die MPi fiel in den Schnee. Die – MPi …? Dann sank der Nebel, und die Gestalt, die sich hervorschälte, fragte: »Was geht hier vor? Was bedeutet dieser Aufmarsch? Rede!« Bebeks Blick irrte noch einmal zu der Waffe, die kein Ungeheuer war, und er begriff nicht, wie er sie hatte wegwerfen können. Er begriff nicht, was dieser Fremde von ihm wollte und wie es ihm gelungen war, hierher zu kommen! Seine Zunge zuckte wie ein rebellischer Muskel in seinem Mund, und er hörte sich sagen: »Ich weiß es nicht. Wir wurden nach den Abstürzen und nachdem die Panzer lahmgelegt waren hier stationiert.« »Abstürze?« Bebek erklärte es. Gleichzeitig dachte er: Warum tue ich das? Der Fremde hörte geduldig zu, denn Bebek plauderte bereitwillig jedes noch so geheime Detail aus, das er kannte. Als Bebek auf die neuerliche Expedition zu sprechen kam, die gegenwärtig im Gebirge unterwegs war, blitzte es in den Augen des Unbekannten auf. »Sie haben was dabei?« fragte er. »Tauchausrüstungen. Nichts Modernes, sondern uralter Kram, der ganz ohne technischen Schnickschnack auskommt … Mehr weiß ich nicht. Nur noch, daß die Expedition von einer Frau angeführt wird – und daß dies bereits der zweite Anlauf ist, den sie unternehmen …« Der Fremde legte den Kopf schief. Seine Blicke schienen sich ohne Umwege in Bebeks Schädel zu bohren. »Du weißt wirklich nicht mehr«, sagte er schließlich. »Du bist auch nur einer der üblichen nützlichen Idioten …« Dann hob er die Hand, die schon nach der MPi gegriffen hatte, öffnete ohne Hast Bebeks Mantelkragen und strich behutsam mit der Kuppe seines Zeigefingers – nicht einmal mit dem Nagel – über den Hals des Soldaten.
Von einem Ohr zum anderen. »Du bist tot«, sagte der Fremde und zog seine Hand zurück. Sie war leer. Kein Messer lag darin. Und doch fühlte Bebek im selben Augenblick die klaffende Wunde – sah, wie sein Blut hervorschoß und seine Uniform näßte. Erst spät sickerten die Worte des Fremden vollends in sein Bewußtsein. Das letzte, was Bebek sah, war, daß der Fremde auf das Iglu mit seinen Kameraden zuging. Dann stockte im Aderwerk seiner Augen das erkaltende Blut …
* Einen Moment lang glaubte Kaya Beishir, es nicht tun zu können. Sie warf Kemer Tersane einen Blick zu, als wollte sie ihn anflehen, die ganze Sache wieder abzublasen. Dabei war es ihre alleinige Entscheidung, denn auch diese zweite, größere Expedition wurde von ihr geleitet! Als ihr dies bewußt wurde, ließ sie das straffe Seil, dessen Ende ihr vorausgeeilt war, durch ihre Handschuhe gleiten und rutschte auf das Nichts zu, das vor Tagen Zeytan verschlungen hatte, ehe es ihn, zur Unkenntlichkeit verformt, wieder ausgespien hatte … Kaya schauderte bei der bloßen Erinnerung an jene Masse, die sie mit ins Tal hinabgenommen hatten und die danach in einem Armeelabor untersucht worden war. Die DNA-Analyse hatte jeden Zweifel ausgeräumt, ob es sich bei der stinkenden, schleimigen Substanz tatsächlich um vergorene Reste menschlichen Gewebes handelte. Daneben waren Spuren der Säure, die Zeytan zerfressen hatte, sichergestellt und analysiert worden. Kaya war mitgeteilt worden, daß dieses Säuregemisch ausschließlich organische Stoffe angriff, daß Herkunft und Zusammensetzung des zersetzenden Stoffes aber nicht exakt geklärt werden konnten.
Offenbar wurden die Wissenschaftler mit einer solchen Mixtur zum ersten Mal konfrontiert! Einmal ist immer das erste Mal, dachte Kaya. Das galt auch für sie selbst. Für das, was sie vorhatte … nein, tat! Ich muß wahnsinnig sein … Sie versuchte sich das Bild einzuprägen, den Anblick ihrer Begleiter, von denen sie sich rückwärts wegbewegte, auf dem Bauch liegend, schweres Atemgerät auf dem Rücken. Drei von Oberst Sardre bestimmte »Freiwillige« würden sie begleiten – aber sie hatte darauf bestanden, vorauszugehen, ein Beispiel zu geben, Zuversicht zu verströmen … Was für Zuversicht? Kemer Tersane gehörte nicht zu den Tauchern. Die Ärzte hatten es mit der Begründung abgelehnt, er sei körperlich noch zu schwach. Kaya wußte nicht, ob sie es bedauern oder ihn beglückwünschen sollte. Dafür, daß er hierbleiben durfte, während sie selbst … Genug! Es war tatsächlich an der Zeit, das Denken um andere Dinge kreisen zu lassen. »Ihre Füße!« hörte sie jemanden rufen. Aber sie gestattete sich nicht, nach hinten zu blicken, obwohl ihre Sicht von der Rundumverglasung des Helmes kaum beeinträchtigt wurde. Sie steckte in einem höchst sonderbaren Textil, das eigens für diese Unternehmung zusammengestellt worden war. Das zentimeterdicke Material des Anzugs war hochflexibel und hielt der bei Zeytans gefundenen Säure stand. Ein sehr leichtgewichtiger Plexiglashelm war fest mit dem Kragen verschraubt. In ihn liefen zwei Schläuche aus dem Rückentornister. Einer war mit einem Mundstück verbunden, durch das Kaya und die anderen Taucher ein ideales Atemgemisch zogen; der andere mündete offen in die Helmkugel und leitete die verbrauchte Luft ab. Das größte Problem hatte dabei die Forderung bereitet, auf jegli-
che Technik zu verzichten. Man hatte die Funktionsfähigkeit der Anzugelemente mit einfachsten Mechanismen sicherstellen müssen. Letztlich war es gelungen – aber in einem Zeitalter, in dem der Mensch gewöhnt war, sich stets nur mit dem aktuellsten Stand der Technik zufriedenzugeben, fiel es auch Kaya schwer, ihrer Ausrüstung das rechte Vertrauen entgegenzubringen. Daß sie den schwersten Gang ihres Lebens dennoch wagte, hatte einen einzigen Grund: Die Gespräche mit Tersane hatten die Zuversicht in ihr vertieft, daß dort im Berg, eingebettet in ein Bad aus Säure, eine grandiosere und folgenschwerere Entdeckung auf sie wartete als alles, was die Menschen der Neuzeit je zu Gesicht bekommen hatten: die Arche Noah. Die Reste des Schiffes, das in der Bibel beschrieben wurde! Auch das versteinerte Holzstück, das bei Tersane gefunden worden war – und das dieser von seinem Großvater erhalten hatte – war von den Experten mit der tückischen Säure in Berührung gebracht worden. Folgenlos. Die sonst allem Organischen gegenüber höchst aggressive Mixtur hatte das versteinerte Holz nicht einmal andeutungsweise beschädigt! Seither war Kaya der Überzeugung, daß die Säure letztlich dafür da war, um die Arche menschlichem Zugriff zu entziehen. Das setzte gleichzeitig voraus, daß es jemanden gab, der diese Vorkehrung getroffen hatte – aber erst seit kurzem, sonst wäre auch Kemer Tersane, der den Schacht zu Weihnachten noch betreten hatte, ein Opfer dieser Vorkehrung geworden! Kaya versuchte die Antwort nach der Frage, wer derjenige sein könnte, zu umgehen, versuchte sich ausschließlich auf ihren nächsten Schritt zu konzentrieren. Insgeheim aber wußte sie, wem allein sie die Macht zubilligte, solche »Wunder« zu wirken. Das Unerklärliche beschränkte sich ja
nicht allein auf die Säure. Es war sehr viel weitreichenderer Natur. Sämtliche Vorkommnisse seit Ende letzten Jahres zählten dazu: das Versagen der Technik, die Schneeschmelze, die vermißten Pilger – und letztlich auch dieser Stollen im Berg, der vom bloßen Auge nicht wahrgenommen werden konnte. Aber Kaya selbst lieferte gerade den Beweis, daß es ihn gab. Mehr und mehr von ihrem Körper verschwand. Es sah aus, als versinke er in pulvrigem Schnee. Tatsächlich aber tauchte er in etwas Zähflüssiges, Träges, dessen wahre Kälte der Anzug aber fernhielt. Sekunden später ragten nur noch der Helm und die Arme aus der geschlossenen Schneedecke heraus. Kayas Blick traf Tersanes zusammengekniffene Augen. Sie glaubte Zuspruch darin zu lesen. Sei vorsichtig! Dann wurde sie von einer Finsternis verschlungen, die sie nicht länger als für die Dauer eines tiefen Atemzugs ertrug. Mit klammen Fingern zündete sie die erste der mitgeführten chemischen Fackeln und wartete darauf, daß die anderen Taucher sich ihr anschlossen. Sie schwamm in einem Schacht, wie Tersane ihn – sah man von der Flutung ab – beschrieben hatte. Bis zu seinem Ende konnte Kaya selbst im wabernden Schein der Fackel nicht blicken. Aber – sie krümmte sich zusammen wie ein verschreckter Embryo – sie hatte plötzlich das untrügliche Gefühl, von irgendwo dort hinten, irgendwo aus der Dunkelheit heraus angestarrt zu werden!
* Landru hatte nur wenig mehr über die Geschehnisse am Ararat erfahren, als er auch diese Männer mit durchschnittenen Kehlen in ihrer provisorischen Behausung zurückließ. Nachdenklich spähte er zum Gipfel des Großen Ararat. Es war jetzt völlig dunkel, aber das beeinträchtigte das Sehen eines Geschöpfs, wie er es war, nicht im geringsten.
Landru versuchte Instinkte zu entsenden, über die kein Mensch verfügte; unsichtbare Fühler, die sich in den Berg vorzutasten versuchten. Anfänglich hatte er geglaubt, es handele sich um die Hütermagie, über die er seit mehr als einem Jahrtausend gebot. Aber spätestens seit er Nona damit von ihren tödlichen Verletzungen geheilt hatte, mißtraute er seinen Fähigkeiten, die ihm mächtiger – viel mächtiger – erschienen als in der Vergangenheit. Er betrachtete sie nicht deshalb mit Skepsis, weil er fürchtete, sie könnten ihn im Stich lassen, sondern weil er argwöhnte, daß sich etwas hinter der Hütermagie verschanzte, das einer anderen Natur entsprang. Etwas, dessen wahres Potential hinter einem Tor lauerte und darauf wartete, herüberzuströmen auf diese Seite der Realität … Gabriel, dachte Landru dumpf. Und dann geschah etwas, was in tausend Jahren nicht geschehen war: Ihn fröstelte, schauderte beim bloßen Gedanken an den Pakt, den der leibhaftige Teufel mit ihm geschlossen hatte … Er schloß kurz die Augen und zwang sein Denken auf einen anderen Punkt. Als er die Lider wieder hob, dachte er: Schlägt dort oben wirklich noch dein Herz? Ist es möglich, daß du immer noch lebst, Anum, Liebling unserer verfluchten Mutter …? Er erwartete keine Antwort. Und auch der Weltenpfeiler der Hermetischen Stadt hatte keine umfassenden Antworten bereitgehalten, was im zerstörten Dom vorging. Landrus beschleunigter Puls half ihm, die kurzzeitige Desorientierung wieder abzustreifen. Einen halben Kilometer vom Berg entfernt hatte ein größeres Armeekontingent sein Lager aufgeschlagen – dort, wo auf die Technik, an die der Mensch sich so gerne klammerte, noch Verlaß war. Landru überlegte kurz, ob er dem Camp einen Besuch abstatten und weitere Fakten über die ominösen Vorfälle in diesem Gebiet sammeln sollte.
Doch er entschied dagegen. Die wahren Antworten würde er nur an einem Ort finden. Und um den zu erreichen, brauchte er keine technische Krücke. Ich bin unterwegs, dachte er, während er in die Metamorphose zur Fledermaus glitt. Ich komme, mein Bruder! Wie lange ist es her, daß wir uns nahe waren …? Er ahnte nicht, wie grausam er sich irrte. Und daß sein Irrtum schon damit begann, anzunehmen, sein Bruder wäre immer noch ein Freund …
* Kaya hatte einen Expreß-Tauchlehrgang absolviert. Wirklich sicher fühlte sie sich dadurch trotzdem nicht in diesem absurden Medium, das vom Fackelschein flackernd erhellt wurde. Mit den drei anderen Tauchern, die inzwischen nachgekommen waren, verständigte sie sich mittels Handzeichen. Funk versagte am Ararat ebenso wie jedes andere Gerät. Seit ihre Begleiter bei ihr waren, war das Gefühl, beobachtet zu werden, schwächer und damit erträglich geworden. Gefolgt von drei Soldaten in identischer Ausrüstung wie der ihren, übernahm Kaya die Spitze und strebte dem Ende des Stollens entgegen. Es kam ihr vor, als würde sie nicht nur durch meterdicken Felsen von der Außenwelt getrennt, sondern von etwas noch beträchtlich Massiverem. Leise fauchend strömte Sauerstoff in ihren Mund. Ihr verbrauchter Atem wurde mit einem ähnlich Geräusch abgesaugt. Sonst war es still. Unheimlich still. Die zähe Flüssigkeit leistete ihren Schwimmbewegungen keinen nennenswerten Widerstand, schien aber jeden Laut zu ersticken. Ab und zu meinte Kaya auch, das Gewicht der Säure auf sich zu spüren, und irgendwann sogar … etwas zu riechen. Wäre es der faulige Gestank gewesen, der ihnen aus Zeytans Klei-
dung entgegengeschlagen war, hätte sie ein Leck in ihrem Anzug befürchtet. Aber es war ein sehr angenehmer Duft, dessen Herkunft unbestimmbar blieb, vielleicht auch nur Einbildung war … Dann tauchte das Ende des Stollens im Chemo-Licht auf. Kaya erhöhte das Tempo. Die ganze Zeit über hatten die ungewohnten Sinneseindrücke den eigentlichen Grund ihres waghalsigen Unternehmens ein wenig in Vergessenheit geraten lassen. Jetzt rückte er wieder in den Vordergrund … Unvermittelt wurde Kayas Hüfte von einem Tritt getroffen. Vor Schreck verlor sie fast die Fackel. Als sie den Kopf drehte, sah sie, wie einer der Taucher dabei war, sie zu überholen. Der Tunneldurchmesser erlaubte dies, aber es verstieß gegen die zuvor getroffene Abmachung. Bei dem völlig unmotivierten Manöver war Kaya von einer Schwimmflosse getroffen worden. Da keine verbale Verständigung möglich war, versuchte sie nach dem Mann zu greifen. Sie bekam ihn auch am Bein zu fassen, aber er schüttelte sie ohne die geringste Rücksichtnahme wieder ab. Und dann war er tatsächlich an ihr vorbei. Kaya vermutete übertriebenen Ehrgeiz hinter der Aktion. Offenbar wollte der Mann – obwohl es sehr schnell gegangen war, glaubte sie Han Takim erkannt zu haben, der während des gemeinsamen Lehrgangs nie über die Stränge geschlagen war – als erster einen Blick auf das werfen, was sich jenseits des Schachtes befand. Vielleicht haben Kemer und ich zuviel von dm Erwartungen gesprochen, die wir mit der Expedition verbinden, dachte Kaya selbstkritisch und durchaus versöhnlich. Sie war nicht so ehrgeizzerfressen, daß sie unbedingt die erste sein mußte, die das sah, was Tersane wieder vergessen hatte – warum, wußte niemand. Während sie Takim folgte, irrten ihre Gedanken kurz zu den vermißten Pilgern. Was war aus ihnen geworden? Waren sie, wie Zeytan, der Säure zum Opfer gefallen? Oder befanden sie sich ganz woanders? Es mochte noch andere Stollen geben, höhergelegene, und
die mußten nicht unbedingt geflutet sein … Takim war jetzt am Ende des Schachtes angelangt und schwamm in jenen Bereich, der sich dahinter öffnete. Kaya setzte nach und fühlte, wie auch die beiden anderen Soldaten hinter ihr das Tempo forcierten – so sehr, als wollten auch sie noch an ihr vorbei. Takim entschwand ihrer Sicht. Erst jetzt fiel Kaya auf, daß sie die einzige war, die eine Fackel entzündet hatte. Im Stollen hatte das ausgereicht, aber dort vorne schien sich ein sehr viel größeres Gewölbe zu erstrecken. Finster und bedrohlich gähnte es ihnen entgegen. Kaya begann sich Sorgen um ihren Begleiter zu machen. Gleichzeitig nahm sie wieder den Duft wahr – noch intensiver als vorhin. Sie blinzelte. Rechts und links versuchten Cadir und Baraz zu überholen. Nein, dachte sie. NEIN! Und was sie dann tat, war ebenso unverzeihlich wie unerklärlich. Sie rastete völlig aus! Von einem Moment zum anderen sank ihre Hemmschwelle, wie sie es noch nie bei sich erlebt hatte. Die Folgen waren katastrophal. Kaya stieß ihre Fackel erst in Cadirs Richtung und brannte ein Loch in dessen Anzug – dann schwenkte sie zu Baraz, der ihre Tat noch nicht bemerkt hatte. Alles ging blitzschnell. Auch die zweite Anzughülle riß unter der Glut, die Kaya wie eine Waffe benutzte! Und die Säure fand ihren Weg …
* Kaya hörte keine Schreie. Nur die Ausläufer der qualvollen Zuckungen, mit denen Cadir und Baraz starben, erreichten ihre Sinne durch die Haut des Tauchanzugs.
Ihr Denken erreichten sie nicht. Da war … dieser Duft, dieser unglaubliche, betörende, regelrecht berauschende Duft, der vom Ende des Stollens zu kommen schien. Von dort, wo Takim bereits war … Plötzlich bedauerte Kaya doch, ihn vorbeigelassen zu haben. Die Fackel in ihrer Faust erlosch genau in dem Moment, als sie aus dem Schacht heraus in die unterirdische Kaverne schwamm. Finsternis schloß sich wie eine Schale um Kaya, aber ohne die geringste Verunsicherung ließ sie die nutzlos gewordene Fackel fallen, löste eine neue von ihrem Gürtel und entzündete diese. Verwundert sah sie in … Kemers, nicht in Takims Gesicht! Kemer trug keinen Helm. Er trug nicht einmal Kleidung. »Ich wollte es dir schon früher gestehen«, sagte er weich. »Seit ich dich gesehen habe, kann ich an nichts anderes mehr denken als an dich!« Er schwieg. Der Duft dieses trunken machenden Parfums, erkannte Kaya in plötzlicher Erkenntnis, kommt aus seinem Mund! Er war auch nicht mehr so mager, nicht mehr so gezeichnet von Strapazen. Und die Finger an seinen Händen waren auch wieder vollzählig. Sie seufzte. Nein, dachte sie. Ich darf nicht … Er löste sich von ihr, entfernte sich den Korridor hinunter. »Bleib …« Mehr als ein Hauch verließ ihren Mund nicht. Eine einzige Kerze brannte in dem Gang, in dem sie stand. Barfüßig. Und nackt. Sie blickte an sich herab. Ihre Brüste waren, wie sie es sich immer gewünscht hatte: voll und fest … Ein Stückweit den Korridor voraus stand eine Tür offen. Im Zimmer dahinter erblickte sie ein mit Blüten geschmücktes Bett. Sie blieb nicht länger stehen, sondern eilte Kemer hinterher.
Kemer. Er hatte sie von Anfang an fasziniert. Der Glanz seiner Augen. Die Art, wie er sie angeschaut hatte … Der Boden flog förmlich unter Kaya hinweg. An den Wänden hingen Bilder, die ihr vorher nicht aufgefallen waren. Sie erhaschte Blicke darauf und erkannte auf einem Sardre, dessen Mund sich bewegte, was eigentlich unmöglich war. Aber zu Kayas Erleichterung blieb er stumm. Sie verstand nicht, was er sagte, aber es war sicher nichts Freundliches. Auf einem anderen Bild lächelte Finik. Kaya riß es im Vorbeilaufen zu Boden. Es zerbrach. Blut quoll heraus und bildete eine Lache. Ihr wurde warm. Hitze wallte in ihren Lenden. Die Bilder zu beiden Seiten des Ganges verschwammen. Nur noch geradeaus hatte sie einen klaren Blick. Geradeaus endete der Korridor. Kaya taumelte in den dahinterliegenden Raum. Er war stockfinster. Bis Kemer ein Streichholz anriß und an einen Kerzendocht hielt. Kemer war jetzt muskulös und braungebrannt. Seine schwarzen Augen leuchteten vor Begehren, beinahe heller als das Licht, in dem das Bett ruhte. »Ich …«, setzte Kaya an. Dann wußte sie nicht mehr, was sie hatte sagen wollen. Kemer ließ sich rückwärts auf die Blüten sinken, die das Laken bedeckten. Er breitete die Arme aus. »Ich habe solche Sehnsucht«, flüsterte er. Seine Worte formten Bilder in Kayas Kopf. Bilder, die vorwegnahmen, was erst noch geschehen mußte: Leidenschaftliche Küsse. Zungen, die das Salz des anderen schmeckten. Streichelnde Hände, die gaben und nahmen. Sein schwellendes Geschlecht … Ihr brennender Schoß … Die Kerze erlosch, als würde ein Wind sie ausblasen. Aber es wur-
de nicht dunkel, es blieb hell, nur auf andere Weise und – unerträglich … Kaya schwamm in der tödlichen Brühe. Unter ihr – fast wie die Gräten eine skelettierten Fischs – glomm das Wrack der Arche zu ihr empor. Das – Wrack – der – In ihrem Kopf schien sich etwas zusammenzuziehen, als ertrüge es den Anblick nicht. Kaya mußte an Tersane denken und an dessen verwirrten Zustand, in dem er aufgegriffen worden war. Aber sie konnte den Blick weder lösen, noch das uralte steinerne Schiff in seiner Gesamtheit überschauen. Sie merkte, wie nahe sie ihm während ihres Blackouts gekommen war. Und dachte: Es sieht aus wie ein Gewächs. Als hätte das Holz, ehe es versteinerte, Triebe und Wurzeln gebildet, die sich im umgebenden Gestein verankerten, eins wurden mit dem Berg … … und irgendwann haben sich die Unterschiede verwischt. Wurde Holz selbst zu Stein. Wurde die Arche zu … zu … Sie merkte, daß ihr Wissen fehlte, unabdingbares Wissen, um die Schlußfolgerungen zu Ende zu führen. Das Wrack unter ihr wirkte so gewaltig, daß ihr der Verdacht kam, niemand könne es überblicken. Niemand könne es überhaupt als Schiff erkennen. Die Fläche, die unter ihr lag, war rund, wenngleich zerklüftet. Sie berührte zu allen Seiten den Fels. Der erste Eindruck – der eines von seinen Planken entblößten Wracks – war völlig dahin. Und in der Mitte der Fläche erblickte Kaya ein Phänomen, das sie im ersten Moment an eine überdimensionale Schneekugel erinnerte: eine bauchige, gläserne Halbkugel, die sich über etwas wölbte, das wie ein … Buch aussah; ein gewaltiges, aufgeschlagenes Buch auf einer niedrigen Säule. Das unwirkliche Leuchten, das die Höhle erfüllte, schien von dieser Halbkugel auszugehen. Ringsum der kreisrunden Fläche führten Gänge in den Fels. Man-
che standen offen, andere waren noch mit etwas verschlossen, das wie geronnene Schwärze aussah. Und in einem der offenen entstand jetzt Bewegung. Löste sich ein Schatten … Kaya sah Takim. Sah ihn … … sterben!
* Landru zählte mehr als zwei Dutzend Gestalten, die sich in etwa dreieinhalbtausend Metern Höhe an der östlichen Bergflanke versammelt hatten. Es mußte sich um die Expedition handeln, von der er erfahren hatte. Tatsächlich sah er ausnahmslos Männer in den Umformen der türkischen Armee. Was sie dort unten inmitten eines Schneefeldes taten und warum sie Tauchausrüstungen den Berg hinaufgeschleppt hatten, war nicht auszumachen. Landru beschloß, sich später darum zu kümmern. Vielleicht. Es hing ganz vom Ausgang seines Besuchs im Domgewölbe ab … Spielerisch schraubte er den verwandelten Körper weiter in Gipfelnähe. Dorthin, wo er den kaminartigen Einstieg in die einstige Heimstatt wußte. Den fast senkrechten Schacht, den sich nur Geschöpfe nutzbar machen konnten, die des Fliegens mächtig waren. So war es zumindest einmal gewesen. Heute nicht mehr. Nonas Bericht hatte ein anderes Bild des Doms gezeichnet. Unbekannte Gewalten hatten die Zuflucht der Hüter in Trümmer gelegt und tiefe Klüfte in den Resten der Dunklen Arche hinterlassen. Landru wußte nicht, wie es sein würde, wenn er diese Zerstörung mit eigenen Augen sah. Aber er wollte sich der Wahrheit stellen. Unablässig kreisten seine Gedanken um Anum, der einst die Geschenke der Urmutter aus den Katakomben des Weißen Tempels
von Uruk geborgen und seinen Geschwistern überbracht hatte: Lilienkelch, Opferschlange und Agrippa. Von diesen Geschenken war keines mehr verfügbar. Selbst den Kelch hatte Landru beim Versuch, ihn von der fremden Macht zu reinigen, verloren geben müssen. Die Zukunft der Alten Rasse – ihres kläglichen Rests – war damit Ungewisser denn je. Aber vielleicht konnten zwei Brüder gemeinsam einen Neubeginn auch ohne den Lilienkelch schaffen! Vielleicht gelingt es uns, Heraks Weg weiterzuverfolgen, dachte Landru in einem Anflug durch nichts begründeter Euphorie, und in naher Zukunft vampirischen Nachwuchs klonen. Herak war eitel und selbstverliebt – aber er war kein Narr. Was er seinerzeit versuchte, hatte Hand und Fuß. Und …. Landru lächelte innerlich, Zähne … Die Physiognomie seiner geflügelten Tarngestalt blieb von Heiterkeit verschont. Sekundenlang schwebte Landru über dem in Mitleidenschaft gezogenen Zugang zum Dom. Seine ledrigen Schwingen schlugen kolibrischnell, mit dem bloßen Auge kaum noch zu verfolgen. Dann stürzte er sich in halsbrecherischem Tempo in die Tiefe. Von der Überflutung der Heimstatt ahnte er nichts – bis seine Krallen ins Säurebad tauchten!
* Es blieb nicht bei den Krallen – der kleine bepelzte Körper klatschte vollständig in die Substanz, mit dem die Heimstatt geflutet war. Und sofort begann der Angriff auf seine Körperzellen! Die Gefahr umklammerte Landru mit solch brachialer Gewalt, daß er kostbare Sekunden verlor, weil er einfach nicht fähig war zu begreifen, was hier geschah. Der schrille, ultrahohe Schrei, der das Maul der Fledermaus verließ, verpuffte in der Flüssigkeit, die sofort in den aufgerissenen Kie-
fer drang. Dort wütete die Säure so unbarmherzig wie außerhalb des Tierkörpers. Landru begriff, daß er dem Untergang geweiht war, wenn er nicht unverzüglich seine Gestalt wandelte und der vernichtenden Substanz eine größere Angriffsfläche bot! Der eben noch vergleichsweise winzige Leib vergrößerte sich explosionsartig. Die ledrigen Schwingen wichen Armen, die Klauen Beinen, die sich sofort vehement dem Sog aus der Tiefe entgegenstemmten. Die Säure fraß indes beharrlich weiter. Weichte das Gewebe des Körpers auf. Landru hielt die Augen geschlossen. Aber die Häute, mit denen er seine Pupillen zu schützen versuchte, waren erschreckend dünn und schwanden so rasch, als würden sie abgeschliffen! Letztlich verdankte Landru sein untotes Leben der Tatsache, daß der leichtgewichtige Fledermauskörper nur einen knappen Meter unter die Oberfläche des Säurebassins getrieben worden war und die Wände des zerstörten Kamins mit wenigen Schwimmstößen erreichbar waren – selbst für einen blinden Schwimmer, der sich nur auf seine Intuition und sein Orientierungsgefühl verließ. Landrus aufquellende Finger schlugen gegen etwas Hartes und bekamen es zu fassen. Die andere Hand, von der sich triefend das Gewebe löste, als wäre es schmelzendes Wachs, setzte nach und fand ebenfalls Halt. Landru spannte die Sehnen und Muskeln, von denen bereits Strang um Strang riß. Die auch gefressen wurden. Mit letzter Kraft und verätzten Atemwegen, röchelnd wie ein krebszerfressener Todeskandidat, mehr blutender, schwammiger Klumpen Fleisch als der Mächtige, der er eine Minute zuvor noch gewesen war, zog er sich auf einen Felsvorsprung. Dort sank er förmlich in sich zusammen. Die Luft, die er einsog, schien unterwegs zu seinen Lungen aus unzähligen Löchern zu entweichen. Mit Blindheit geschlagen waren
seine Augen, deren Gallertmasse blasenwerfend auf die Säure reagierte. Seine Schleimhäute existierten de facto nicht mehr, und so vermochte Landru auch nicht den Duft aufzufangen, welcher der Säure anhaftete. Jenen aberwitzigen Lockstoff, den kein noch so vermeintlich dichtes Material auszusperren vermochte …
* … und der schon Kaya Beishir betört hatte. Bis zu dem Moment, als sie mitansehen mußte, wie Takim starb – und was ihn umbrachte! Seither war sie auf der Flucht! Seither schwamm sie um ihr Leben! Sie hatte völlig die Orientierung verloren, wußte nicht mehr, wo der Schacht lag, durch den sie gekommen war. Aber dieser unterirdische Säuresee mußte irgendwo enden, irgendwo über ihr! Kaya hatte die Fackel, in deren Licht sie Takim sterben sah, fallen gelassen. Sie war hinab zum Boden des absurden Gewölbes gesunken, wo sie weiterbrannte. Aber ihr Schein reichte nicht bis dorthin, wo sich Kaya bewegte. Kaya, die nicht wagte, eine neue Fackel zu entzünden, um das, was sie gesehen hatte, nicht auf ihre Spur zu bringen. Als Kaya unter sich blickte, verdeckte etwas für Sekunden den Schein der chemischen Fackel. Die Frau wußte sofort, was das bedeutete. Es kam! Es folgte ihr, gab sich nicht mit Takim zufrieden! Kaya war unfähig, die Erinnerung daran zu verdrängen, wie Takims Kopf zwischen den häßlichen Zähnen des Ungeheuers verschwunden war – und wie sich dessen Gebiß geschlossen hatte. Schneller!
Um sie herum und über ihr war vollkommene Schwärze. Adrenalinstöße peitschten Kaya unkontrolliert voran. Ließen ihr keine Zeit mehr zum Nachdenken. Sie spürte es nahen! Es war schnell, viel schneller als sie, und gleich … In dem Tauchkurs war ihr beigebracht worden, wie gefährlich es war, zu rasch aus großer Tiefe an die Wasseroberfläche zurückzukehren. Aber darüber machte sie sich, den Tod vor Augen, keine Gedanken. Sie hatte vergessen, daß auch sie getötet hatte: Cadir und Baraz. Etwas Fremdes hatte ihre Hand geführt. Ein Wahn, der sich als verführerischer Duft tarnte … Kaya spürte kaum noch ihre Glieder. Die Anstrengung machte sie taub. Höher und höher trieb ihr Körper, aber auch das, was ihr folgte, gewann an Höhe. Ihr Vorsprung schrumpfte stetig … Kaya brauchte nicht mehr zurückzublicken, um zu wissen, was die Stunde geschlagen hatte. Der mächtige Körper des Verfolgers verdrängte die zähe Säure, als wäre er ein Geschoß, das von einem Katapult abgefeuert worden war. Kaya fühlte etwas an ihrem linken Bein. Im selben Moment durchstieß ihr rechter Arm die Oberfläche. Ihr Helm tauchte aus der Flüssigkeit. Von einer Dunkelheit in die andere. Kaya war nicht in der Lage zu sehen, wo sie sich befand. Sie sah auch keinen Halt, spürte nur, wie ihr Anzuggummi im Bereich der linken Wade riß und die Säure … »Neeeiiinn!« Mit dem Schrei spie sie das Mundstück ihres Atemschlauchs aus. Der Schmerz, der in sie floß, löschte fast ihr Bewußtsein aus. Sie schlug um sich, wühlte die Oberfläche des Säuresees auf. Krallen zogen eine Spur das Bein entlang bis zu den Knöcheln. Fast schon bewußtlos riß Kaya ein letztes Mal die Arme hoch. Die Masse, die sich um ihr Handgelenk schloß, nahm sie schon
nicht mehr wahr. Auch nicht den Ruck, mit dem sie aus dem Element der Vernichtung gezerrt wurde …
* Kemer Tersane nahm die Kälte, die sich zentimetertief in die freiliegenden Bereiche seines Gesichts verbissen hatte, kaum wahr. Wie hypnotisiert starrte er auf die Stelle, an der Kaya Beishir verschwunden war – und mit ihr drei weitere Personen. Er nicht. Ihm hatten sie es nicht gestattet. Unbewußt ballte er die Hände zu Fäusten. Dem Mut der Frau, die ihr Versprechen gehalten und ihn aus der Hölle der Psychiatrie herausgeholt hatte, zollte er größte Bewunderung – und mehr. Nun war sie weg, und ein gräßliches Gefühl in Kemers Bauch gab vor zu wissen, daß er seinen Schutzengel nie mehr wiedersehen würde. Höchstens noch als schleimige Masse, wie sie von Zeytan übriggeblieben war. Wie ein dunkler Strich lag das an einem Pflock gefestigte Seil auf dem Schnee. Die Taucher waren nicht damit verbunden. An seinem Ende war lediglich ein Gewicht befestigt, das ein Stück weit in die Säure hineinragte. So hatten sich Kaya und die anderen am Seil den abschüssigen Hang bis zum Stolleneingang hinablassen können. Den Stollen, den Kemer Weihnachten noch ungetarnt gesehen hatte. Nun wurde er verborgen – aber wovon? Etwas gaukelte ihnen dort, keinen Steinwurf entfernt, lediglich verschneiten felsigen Untergrund vor. Zunehmende Unruhe unter den anderen Expeditionsteilnehmern – ausnahmslos Männer, ausnahmslos Soldaten – lenkte auch Kemers Aufmerksamkeit auf ein langsam anschwellendes Geräusch. Als er den Blicken der anderen folgte, bemerkte er einen riesigen
Hubschrauber, der sich aus dem Landesinnern näherte, zunächst genau auf das Gebirge zuhielt, dann jedoch vorzeitig zur Landung ansetzte. »Was bedeutet das?« wandte sich Kemer an einen der Soldaten. Der Mann zuckte abweisend die Achseln. Auch andere, an die sich Kemer wandte, hielten sich bedeckt; dabei hatte er das ungute Gefühl, daß sie genau wußten, was die Ankunft des Hubschraubers zu bedeuten hatte. An der Reaktion seiner Begleiter fand Kemer einmal mehr bestätigt, daß die einzige Person, die ihn wie ein Mensch behandelte, dort in dem unsichtbaren Loch verschwunden war. Vielleicht auf Nimmerwiedersehen. Sein Magen krampfte sich zusammen, als wollte er das »Vielleicht« ersatzlos streichen, und für einen Moment überkam Kemer das selbstmörderische Verlangen, ohne Schutzanzug zu der Stelle zu rennen, an der das Seil verschwand. Die Anwandlung ging vorbei. Spürbar besser fühlte er sich danach nicht.
* Der Hubschrauber landete am Rand des Lagers, das in den letzten Wochen von der Armee eingerichtet worden war, und Oberst Nemrud Sardre wechselte mit energischen Schritten – ohne sich vom Tosen der Rotorblätter bremsen zu lassen – in den Kommandowagen, der von einer dünnen Schneekruste überdacht im Zentrum des Lagers stand. Hundert Meter entfernt begann jene Grenze, die Sardre bislang nur aus den Berichten seiner Offiziere kannte. Jene unsichtbare Schwelle, hinter der rein gar nichts mehr funktionierte, was auf moderner Technik basierte, schon gar kein High-Tech, wie es geballt in diesem Spezialfahrzeug zu finden war … »Lagebericht!« verlangte der Oberst, nachdem er salutierend begrüßt worden war.
»Die zweite Expedition ist planmäßig heute früh aufgebrochen«, erfuhr er. »Sie hat das Zielgebiet vor knapp zwei Stunden erreicht. Beishir, Takim, Cadir und Baraz befinden sich bereits auf dem Weg ins Berginnere …« Der Rapport gebende Offizier wies einen Untergebenen mit einem kurzen Nicken an, den unmittelbar vor Sardre befindlichen Monitor einzuschalten. Sofort baute sich das Bild auf, und der Oberst wurde mit einer Nahaufnahme der Araratregion bedient, in der die Expedition ihren Stopp eingelegt hatte. Eine Kamera auf dem Dach des Wagens zoomte die Gegend so klar heran, daß Sardre zwar nicht in den Gesichtern der Männer lesen konnte, aber einen brauchbaren Überblick über die dort herrschenden Verhältnisse gewann. »Wir haben keinerlei Kontakt zu dem Trupp?« »Nein. Aber die Männer sind klar instruiert.« Sardre nickte. »Wo soll sich dieser ominöse Eingang befinden?« fragte er. Sein Gesprächspartner zeigte mit dem Finger auf eine Stelle im Schnee, zu der ein dunkle Linie führte. »Unglaublich«, murmelte Sardre. »Haben Sie eine Aufzeichnung vom Aufbruch der Beishir und ihrer Begleiter?« Ein neuer Wink. Die Szene auf dem Monitor wechselte, und Sardre vertiefte sich in die zwei Stunden zurückliegenden Ereignisse. Er ahnte nicht, daß von den vier Gestalten, die nacheinander in der unsichtbaren Bergöffnung verschwanden, inzwischen drei schon nicht mehr lebten. Ein unbeherrschter Fluch lenkte Sardre ab. »Was ist?« bellte er. Die unflätigen Worte kamen von einem Soldaten, der im Hintergrund des Wagens vor einer ganzen Wand aus kleinen Bildschirmen saß, die verschiedene Abschnitte der Umgebung nicht nur über die Fahrzeugkameras, sondern auch via Satellit wiedergaben. Jetzt wirkte der Mann, als wäre er am liebsten in seinem Sitz versunken.
Er streckte den Arm aus und zeigte auf ein Bild, das einen Kameraden zeigte, der wie von Furien gehetzt durch die winterliche Landschaft rannte. Sein Gesicht war zur Grimasse verzerrt. »Wer ist das?« Sardre bewahrte auch jetzt Ruhe. Er war viel zu abgeklärt, um sich von der offensichtlichen Panik eines gemeinen Soldaten anstecken zu lassen. »Lieutenant Patara. Er ist der Verbindungsoffizier zwischen hier und der Wachmannschaft, die wir in der Zone stationiert haben …« Sardre fragte nicht nach. Ihm war klar, was mit der »Zone« gemeint war. »Und wohin rennt er?« »Auf uns zu.« Sardre nickte. »Gut. Schaffen Sie ihn her! Sofort!« Minuten später erfuhr er aus dem Mund Pataras, was solches Entsetzen in ihm ausgelöst hatte. »Tot?« echote der Oberst. »Allen vier wurden die Kehlen durchgeschnitten?« Sein Blick irrte eine Weile ähnlich ziellos wie der Pataras durch das Innere des Wagens. Dann versetzte er das Lager in höchste Alarmbereitschaft.
* Landru trank gierig das warme Blut der Frau. Er hatte sie gerettet, um sich zu retten. Noch fast blind war er gewesen, als sie in unmittelbarer Nähe die Oberfläche des schweren, zähen Wassers durchbrochen hatte. Und reflexartig hatte er reagiert. Sein Selbsterhaltungstrieb hatte die Regie übernommen. Wie besessen hatte Landru die Unbekannte im Taucheranzug auf den Felsvorsprung gezerrt, ihr den Helm vom Kopf gerissen und … … seither trank er. Tankte Kraft. Energien, die die Selbstheilungskräfte seines geschundenen Körpers fast schneller verzehrten, als er sie sich über das Blut der Ohnmächtigen zuführen konnte! Und noch während er trank, während er Schicht um Schicht der
neuen Haut aufbaute, sich das Augenlicht zurückgab und die Funktionsfähigkeit der übrigen Sinne wiederherstellte, fühlte er sich … belauert. Irgendwann konnte er dieses Gefühl nicht länger ignorierte, und er hielt in seinem gierigen Schmatzen inne. Durch die Schleier, die seine Sehkraft immer noch trübten, betrachtete er sein Opfer erstmals vollständig. Von Kopf bis Fuß. Und entdeckte, was ihm auf unbewußter Ebene schon vorher aufgefallen sein mußte. Eine Wunde. Eine fürchterliche Verletzung, auch wenn sie lächerlich anmutete im Vergleich zu dem, was Landru selbst widerfahren war. Säure war durch einen gezackten Riß im Tauchanzug gedrungen und hatte einen ihrer Unterschenkel zerfressen. Es mußte passiert sein, kurz bevor Landru sie an Land gezogen hatte. Nach einer zufälligen Verletzung sah es nicht aus. Landru hatte – speziell im Verlauf seiner Indienreisen – Dörfer besucht, die von ausgehungerten Tigern heimgesucht worden waren. Und er hatte die Opfer der Raubtiere gesehen, die oft bis zur Unkenntlichkeit zerfleischt gewesen waren. Das, was das Bein der Frau halb zerfetzt und der Säure preisgegeben hatte, erinnerte ihn an diese Bilder. Aberwitzigerweise hatte die Säure die offene Wunde noch einmal notdürftig verschweißt, sonst wäre die Frau vielleicht schon tot gewesen. Landru ließ seinen langsam schärfer werdenden Blick zur Oberfläche des Säuresees wandern. Ein Blick voller Mißtrauen … Für einen Moment glaubte er dort, im trüben Wasser, Konturen zu erkennen, doch als er genauer hinsah, fand er den Spiegel des Sees unbewegt. Er wandte sich wieder der Frau zu, überlegte kurz, ob er sein unterbrochenes Mahl fortsetzen sollte. Noch war sein eigener Körper
längst nicht genesen. Schließlich weckte er, statt weiterzutrinken, die Frau. Für sie war es hier stockfinster, so daß ihr Herz bei seinem Anblick nicht augenblicklich aussetzte. Dann brachte sie auch schon der hypnotische Klang seiner Stimme in seine Gewalt. »Wer bist du?« Sie nannte ihm ihren Namen. Danach erfuhr er in wenigen Worten, was sie hier im Berg zu finden gehofft hatte – sie und die anderen Teilnehmer der armeeunterstützten Expedition. Er lachte heiser, als er hörte, auf welche Arche sie es abgesehen hatten – und welche sie statt dessen gefunden hatten. Dann aber wurde er hellhörig, als sie zunächst von dem Buch berichtete, das sie dort unten in der lichtlosen Tiefe gesehen hatte – und dann von dem Ungeheuer, vor dem sie geflohen war. »Ein Ungeheuer?« echote er. Sie konnte es nicht beschreiben, aber sie konnte auch nicht lügen. Die Wunde an ihrem Bein mußte von diesem … Monster stammen! Die junge Frau sank wimmernd in sich zusammen, als Landru sie losließ und sich, noch längst nicht wieder im Vollbesitz seiner Kräfte, zum dunklen Spiegel der Säure hinschleppte. Sein größtes Organ, die Haut, war in einer Weise verätzt worden, die kein Mensch überlebt hätte. Und unablässig mühte sich seine Magie, die erlittenen Verstümmelungen rückgängig zu machen. Insgeheim hegte Landru jedoch Zweifel daran, daß ihm dies in letzter Konsequenz auch gelingen mochte. Aus diesem Abenteuer würde er nicht mit heiler Haut hervorgehen. Vielleicht würde er für den Rest seines Lebens verunstaltet bleiben. Der Gedanke schreckte ihn nicht wirklich. Vielleicht, dachte er in einem Anflug von Galgenhumor, werde ich mir eine neue Maske basteln, wie einst, als ich ein Hüter war. Eine lebendige, blutdurchströmte Maske. Vorsichtig schob er den Kopf über den Rand des Felsens, der Teil
des eingestürzten Kamins war. Er spähte in das Wasser, das ein tödliches Gift war. Vergiftet von dir, mein Bruder! Landru glaubte nicht mehr, Anum hier zu finden. Anum, von dessen Erwachen er im Weltenpfeiler Mayabs erfahren und das er mit jeder Faser seines Seins geglaubt hatte. Ich bin zu spät gekommen. Er ist schon gegangen. Das Bild der Verwüstung muß ihn hart getroffen haben – härter noch als mich, weil sehr viel unerwarteter! Tatsächlich hatte er selbst auch noch keine Zeit gehabt, sich mit dem deprimierenden Anblick, den der Dom bot, in gebührender Weise auseinanderzusetzen. Nonas Bericht über die hiesigen Zustände mochte schon schockierend gewesen sein, aber ihre Schilderung verblaßte gegen die Gefühle, wenn man es mit eigenen Augen bestätigt fand. War das der Grund? Der Grund, warum Anum aus geschmolzenem Eis und seiner Magie eine vernichtende Mixtur gebraut hatte, um die Ruinen der Heimstatt zu füllen? Hatte er sie für alle Zeit dem Zugriff der Menschen entziehen wollen? Weiß er nicht, daß außer ihm noch ein anderer Hüter überlebte … ich? Unter Landru glitt etwas Schattenhaftes dahin. Ein Fisch, dessen gewaltige Ausmaße zwar zu erahnen waren, sein Aussehen aber nicht, obwohl er dicht unter der Oberfläche schwamm. Trotz der offenbar abnormen Größe wurde das Wasser kaum bewegt. Eigentlich gar nicht. Ein Phantom, dachte Landru. Aber ein Phantom, das in dieser Brühe zu existieren vermag …? Es konnte sich nur um etwas handeln, das Anum ebenfalls hinterlassen hatte. Als Wächter? Wenn ja, hatte diese … Kreatur womöglich eine Nachricht für ihn! Landru beugte sich weiter vor, um vielleicht doch Einzelheiten des schwimmenden Schemens zu erhaschen.
Wenn ich mich legitimieren kann, spann er seinen Gedanken weiter. Wenn ich diesem Ding begreiflich machen kann, daß ich – Genau unter der Stelle, über der sein immer noch verbrannt wirkendes Gesicht hing, zeichneten sich im Säuresee urplötzlich die Züge eines Wesens ab, dessen Kopf dreimal so groß war wie der Landrus! Die glosenden Augen schienen neue Löcher in Landrus Pupillen brennen zu wollen. Abseitiger hatte noch nie etwas auf ihn geblickt … ihn taxiert! Dann schien die Musterung auch schon beendet zu sein, denn das breite Maul öffnete sich. Das ganze Gesicht schloß plan von unten mit der Oberfläche des Sees ab, als wäre die Fläche tatsächlich ein Spiegel aus Glas, gegen den es sich pressen konnte. Es hatte den Anschein, als trennte nur eine Millimeterschicht die blauschimmernde Haut, die den knöchernen Schädel umspannte, von der Luft, die Landru atmete. Das Geschöpf selbst schien damit nichts anfangen zu können. An den Seiten seines Schädels bewegten sich lamellenartige Gebilde, die an Kiemen erinnerten. Vom übrigen Körper war absurderweise immer noch nichts zu sehen. In dem Moment aber, in dem sich die wulstigen Lippen der Kreatur teilten und ein fürchterliches Gebiß zum Vorschein kam, zerriß die Membran aus Säure, und eine Stimme, die wie ein ganzer Chor klang, gurgelte: »Ich erkenne dich!« Landru prallte zurück, als hätte ihn Faustschlag getroffen. »Du bist der, der sein Leben verwirkt hat!« Er fing sich und sagte mit noch von der Säure angegriffener Reibeisenstimme: »Ich bin keinesfalls der, den du meinst! Ich bin –« »Landru!« gurgelte das Wesen, dem die Säure nichts anhaben konnte. Es schien in Gegenteil sein Lebensraum zu sein. Landru versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn die Nennung seines Namens irritierte.
»Hat … Anum dich erschaffen?« »Ich wurde nicht erschaffen«, sagte das gräßliche Maul. »Ich bin! Und ich wache!« »Worüber?« »Du bist nicht befugt, es zu erfahren. Komm zu mir, und ich werde den Auftrag meines Herrn erfüllen und dich töten. Und dereinst meine Belohnung erhalten.« Etwas in Landru weigerte sich immer noch zu akzeptieren, daß Anum Maßnahmen ergriffen hatte, die den Dom nicht nur ganz allgemein, sondern speziell gegen ihn, Landru, schützen sollten. Aber es gab auch schon eine andere Stimme, die dies begriffen hatte. Und die schlußfolgerte: Anum ist also nicht bar jeder Erinnerung erwacht, sondern im Vollbesitz seiner Persönlichkeit! »Was für einen Lohn erwartest du?« fragte er die Kreatur. Wider Erwarten erhielt er Antwort: »Erlösung.« »Wenn das alles ist, laß mich dich erlösen. Zum Dank kannst du mir geben, was mir ohnehin gehört – mit demselben Recht, wie es Anum offenbar beansprucht!« Das Maul schwieg. Die Augen glühten wie Kohlen unter dem Säurespiegel. Landru versuchte etwas anderes: »Wo ist dein Herr? Er kann den Irrtum aufklären …« »Es ist kein Irrtum.« In diesem Moment empfing Landru erstmals den Duft. Die Regeneration seiner Schleimhäute war offenbar abgeschlossen. Sein Geruchssinn funktionierte wieder. »Was … ist das?« Er erzitterte. Das Maul schwieg. Der absonderliche – nicht unangenehme – Duft erinnerte an ein starkes Aphrodisiakum. Er weckte Erinnerungen an wilde, leidenschaftliche Nächte mit Nona, an fast schon vergessene Zärtlichkeiten mit Celeste und an flüchtige Begegnungen mit vielen anderen Frauen …
Er fühlte die Versuchung, sich in diesen Schwelgereien zu verlieren – aber er widerstand. Gänzlich andere Gründe hatten ihn zum Ararat geführt. »Ein Bruder ist erwacht«, hatte er Nona wissen lassen. Und selbst daran geglaubt. Nun aber … »Anum hat dich …«, seine Stimme, obwohl immer noch heiser und rauh, troff plötzlich vor Sarkasmus, »… auf mich abgerichtet?« Die Kreatur, deren Leib Landru immer noch in einer Weise verborgen blieb, daß er kurz sogar den Verdacht hegte, es stecke vielleicht gar nicht mehr dahinter als dieser häßliche, raubfischartige Schädel, blieb ihm auch darauf die Antwort schuldig. Daraufhin zog Landru sich vom Rand des Säuresees zurück. Der Schmerz, der jetzt noch in ihm wühlte, war erträglich, unterstützte sogar die Klarheit seines Denkens. Und das war wichtig. Denn Landru hatte nicht vor zu kapitulieren. Nicht vor einer Kreatur wie dieser. Keinen Moment zog er in Betracht, sie könnte ihn belogen haben. Sie konnte noch nicht lange existieren, und doch hatte sie ihn erkannt. Wer anders als Anum sollte sie in die Lage versetzt haben, ihn zu identifizieren und zu attackieren, sobald er versuchte, den gefluteten Dom zu betreten? Landru sank neben der Taucherin zu Boden und lehnte mit dem Rücken gegen die Wand aus kaltem Fels. Die Frau lebte noch immer, war lediglich bewußtlos. Er zerrte sie über sich und plazierte sie so, daß er einigermaßen bequem dort weitermachen konnte, wo er sich selbst unterbrochen hatte. Vom Wasser her kam kein Laut. Die Stille im Berg war vollkommen. Während Landru sein Opfer bis auf einen kümmerlichen Rest aussaugte und die Energie des beseelten Blutes der Regenerierung seines Körpers zugute kommen ließ, schweiften seine Gedanken zur CHRONIK. Dem Buch, das aus dem Himalaja hierher geschafft worden war, weil – so hatte Nona es erfahren – die einstigen Bewahrer
des KULTS ein Ruf ereilt hatte. Von Ninmahs Kindern und dem BUCH, an dem auserwählte Menschen unter ihrer Aufsicht seit dem Ende der Sintflut schrieben, wußte Landru erst wieder, seit er der Ur-Lilith gegenübergestanden hatte – an einem Ort, an den er durch den Zeittunnel von Uruk gelangt war. Mit visionärer Kraft war ihm bewußt geworden, wer er wirklich war: nicht nur ein Vampir wie jene, die er mit dem Lilienkelch gezeugt hatte, sondern eines von zwanzig Geschwistern, die schon vor Jahrtausenden, vor der Sintflut im Zweistromland des Euphrat und Tigris über die Menschen geherrscht hatten. Als Hohe Männer und Frauen, denen sogar die Zeit in begrenztem Umfang Untertan gewesen war … Vielleicht stimulierte der verlockende Duft der Säure nicht nur seine Erinnerungen, sondern regte auch seinen Verstand zu Höchstleistungen an. Plötzlich jedenfalls glaubte er zu durchschauen, warum Anum ihm feindselig gegenüberstand! Er hat in der CHRONIK gelesen. Er weiß, was aus dem Kelch wurde – aus der Alten Rasse. Offenbar gibt er mir die Schuld daran …! Landru wußte nicht, was in der CHRONIK stand. Mit welchen Worten die Schreiber sein Verhalten seit dem Diebstahl des Kelchs vor über zweieinhalb Jahrhunderten kommentiert hatten … Aber er wollte es herausfinden! Er würde nicht eher von hier weichen, bis er das Buch aus Menschenhaut und Blut in seinen Besitz gebracht hatte – um selbst darin zu lesen. Um selbst Antworten zu finden auf Fragen, die ihn immer noch bewegten! Zum Beispiel diese: War auch etwas über jene andere Macht in dem Buch vermerkt? Jene Macht in Gestalt des Knaben Gabriel, an die ihn seit geraumer Zeit ein Pakt kettete …? Und während ganz nah bei ihm ein Herz aufhörte zu schlagen, schlug Landrus eigenes fast so kraftvoll wie ehedem …
* � Die Lage am Berg war unverändert. Unverändert schlecht. Sardre hatte einen Happen gegessen, aber seine Befindlichkeit und Laune hob dies in keiner Weise. Er war ins Araratgebiet gekommen, um sich einen persönlichen Eindruck der Lage zu verschaffen. Und nun wurde seine Ankunft von der Ermordung einer kleinen Gruppe Soldaten überschattet. Ganz zu schweigen von dem, was sonst noch hier vorging … Der Druck auf ihn wurde stündlich größer. Nicht nur die eigenen Satelliten schwirrten in einer geostationären Umlaufbahn herum und spionierten fremde Staatsterritorien aus. Die »anderen« standen dem in nichts nach. Die Amerikaner … »Vorsicht …!« Der Warnruf holte ihn brutal in die Wirklichkeit zurück. Sardre wirbelte herum. Er befand sich außerhalb des Kommandowagens, um eine Zigarette zu rauchen und die nächsten Schritte abzuwägen. Doch nun – Er folgte dem ausgestreckten Arm eines in der Nähe stehenden Soldaten, der selbst völlig überrascht wirkte. Dann sah Sardre, warum. Etwas kam auf ihn zu. Wie ein Geschoß! Der Anblick löste keine Furcht bei ihm aus, nur Verwirrung. Es war noch heller Tag, aber das, was anderthalb Meter über dem verschneiten Boden auf ihn zustob, war ein typisches Nachttier: eine Fledermaus. Die eine Sekunde später ungebremst mit ihm zusammenprallte und ihn von den Beinen riß!
Sardre schlug rücklings mit dem Kopf auf den Boden und verlor für einige Momente die Besinnung. Als er die Augen wieder aufschlug, war die Fledermaus verschwunden. Der Soldat, durch dessen Warnruf er aufmerksam geworden war, stand neben ihm, half ihm aber nicht einmal beim Aufstehen. »Wo ist dieses verdammte Vieh hin?« Sardre kämpfte sich in die Höhe und nestelte an seinem Waffenfutteral. Er war entschlossen, das Biest, das ihn angefallen hatte, zu erschießen. Der Soldat antwortete nicht, starrte ihn nur glasig an. Sardre blickte sich selbst um. Aber statt der Fledermaus fand er etwas anderes, was nicht ins Bild paßte, nicht hierher gehörte. Ein dunkel gekleideter Mann, offenbar ein Zivilist! »Wer sind Sie?« »Sie können mich nicht kennen, aber ich habe mir erlaubt, ein paar Ihrer Männer aus ihrem sinnlosem Wachdienst zu … entfernen …« Sardre schaltete ungewöhnlich schnell, fast, als würde die Bedeutung der Worte von außen in seinen Schädel projiziert. Hastig versuchte er den Revolver in die Hand zu bekommen. »… und nun bitte ich«, vollendete der Fremde seinen Begrüßungssatz, »um einen kleinen Gefallen Ihrerseits …«
* Sie kommt nicht mehr. Sie muß … tot sein. Ihr Vorrat an Sauerstoff ist längst erschöpft … Kemers behandschuhte Finger bohrten sich in den Schnee neben dem Stein, auf dem er Platz genommen hatte. Rings um ihn hatten sich Grüppchen gebildet. Auch die Soldaten unterhielten sich über das Schicksal der Taucher. Überwiegend über das der Männer. Bei Kemer war es umgekehrt. Kaya Beishirs Begleiter interessierten ihn kaum. Er dachte nur unentwegt an die Frau, die ihn aus Finiks experimentierfreudigen Fingern befreit hatte. Die Frau, die ihm
in vielen Gesprächen nahegekommen war. Er ertrug den Gedanken nicht, nach seinem Großvater nun auch noch sie verloren zu haben. Was würde aus ihm werden, wenn sie nicht zurückkehrte? Würden andere sich an Kayas Versprechen gebunden fühlen, oder würde er wieder in die Psychiatrie abgeschoben werden? Die Vorstellung knebelte ihn regelrecht. Er war nicht fähig, mit irgend jemandem darüber zu sprechen. Mit wem auch? Erneut spielte er mit Selbstmordgedanken. Hier und jetzt mochte er die Möglichkeit noch haben, den Freitod zu wählen. Später aber, unter der nicht zu ertragenden »Fürsorge« von Menschen wie Finik, würde dies sehr viel schwerer, wenn nicht unmöglich werden … Kemer erhob sich. Er hoffte, es würde schnell gehen. In diesem Moment geschah unten am Fuß des Berges wiederum etwas – das erste Mal war es die Ankunft des Hubschraubers gewesen –, was ihn zunächst nur halbherzig, dann aber doch nachhaltig von seinem verzweifelten Vorhaben abhielt. Die Aufmerksamkeit aller richtete sich ins Tal, wo sich das Armeelager leerte, wo alles auf den Ararat zustrebte. Die Unruhe um Kemer wuchs schlagartig. Entsetzt merkte er, daß es die anderen Expeditionsteilnehmer nicht mehr an Ort und Stelle hielt. Es drängte sie hinab. Zu ihren Kameraden, die es umgekehrt den Berg hinauf drängte. Mit den Ferngläsern war zu sehen, daß sie Kisten schleppten. Und auch, um was für Behälter es sich handelte … »Wir dürfen nicht weggehen!« versuchte Kemer in die erregt geführte Diskussion einzugreifen. Es gelang ihm nicht. Einstimmig wurde der Abstieg beschlossen. Man wollte den Kameraden entgegengehen und herausfinden, was sie vorhatten. Irgend etwas schien die ins Stocken geratenen Dinge wieder in Fluß gebracht zu haben. Im Grunde war es nur allzu ver-
ständlich, daß die Expeditionsteilnehmer erfahren wollten, was es war. »Du kannst ja hierbleiben und die Stellung halten, blöder Spinner!« Einer rief es, und alle stimmten höhnisch lachend zu. Kemer lauschte in sich. Eine Antwort, warum er plötzlich wieder an die Notwendigkeit glaubte, auszuharren, fand er aber nicht. Kurz zuvor hätte er selbst noch geschworen, daß es keine Hoffnung mehr gab, Kaya lebend wiederzusehen. Die Soldaten nahmen nicht einmal ihre Ausrüstung mit. Ohne zu zögern machten sie sich an den Abstieg.
* Landru kehrte auf das säureumspülte Eiland zurück. Früher hatte es nur diesen einen Zugang zum Dom gegeben. Inzwischen existierte noch ein zweiter, den nur Anum geschaffen haben konnte. Aber der war ohne entsprechenden Schutz nicht nutzbar … … und hätte überdies genau ins Reich der Wächterkreatur gemündet! Landru achtete die Gesellschaft der Toten nicht, sondern begab sich geradewegs zum »Ufer«. Die Rückverwandlung in seine noch lange nicht wiederhergestellte humanoide Gestalt fiel ihm fast schwerer als das vorausgegangene Morphing zur Fledermaus. Dann aber hatte er es geschafft. Aus Augen, in die er seine ganze Kunstfertigkeit investiert hatte, um sie perfekt zu regenerieren, starrte er in die Tiefe. Er brauchte nicht lange zu suchen. Genau unter ihm entstand die drohende Grimasse, die er schon kannte. »Du bist zurückgekehrt …« »Natürlich.« »Warum?« Landru überlegte, ob der Duft, den er augenblicklich wieder regis-
trierte, ein Parfum war, das der Säure von Anum beigemischt worden war – oder ob es ein Merkmal des Wächters war. Ein Stoff, den er ausschied, um seine Opfer in Träume und Sehnsüchte zu verstricken, die ihre Wehrhaftigkeit einschränkte … »Vielleicht habe ich etwas – vergessen?« Das Maul schwieg. Die Kiemen aber schwollen wie Nüstern. »Du wüßtest gerne, was ich vergessen habe? Du wirst es erfahren. Hab Geduld …« Landru wandte sich ab. »Warte!« Er setzte seinen Weg fort. »Warte! Komm zurück!« »Warum?« Er hielt inne, demonstrierte Selbstsicherheit, indem er der Kreatur den Rücken kehrte, obwohl er nur vermutete, daß sie an die Flüssigkeit, in der sie schwamm, gebunden war. »Ich kann meine Erlösung nur finden, wenn ich meine Aufgabe erfülle …« Landru lachte hämisch. »Was schert mich deine Erlösung?« »Ich … weiß, was du vergessen hast«, sagte die Kreatur. Jedes Wort hörte sich an, als versuchte ein Vampir mit dem Mund voller Blut zu sprechen. »Das Buch! Du begehrst das Buch … Auch das sagte mein Herr voraus.« »Dein Herr ist sehr klug.« Klug und gerissen, ja! Aber wie konntest du dich so erniedrigen, Anum, mein Bruder? Wie konntest du – In diesem Augenblick geschah es. Die Erschütterung riß Landru fast von den Beinen. Aber er wahrte sein Gleichgewicht. Vermied einen Sturz in die Säure, wo Anums Werkzeug nur darauf wartete, ein Leben auszulöschen, das nach Jahrtausenden zählte. »Was – war das?« grollte das Fischmaul. Landru ging in die Hocke und stützte sich mit den Handflächen
ab, um die Erschütterungen des Untergrunds besser ausgleichen zu können. Er fragte sich, ob er nicht zuviel riskierte. Der Fels, auf dem er stand, war schon einmal in Mitleidenschaft gezogen worden, als er sich vom Senkrechtstollen abspaltete. Wenn er nun abermals unter den tektonischen Beben nachgab … »Sag, was da vorgeht …!« brüllte das Maul, über dem die Augen jetzt fiebrig glommen, die Kiemen flatterten … Landrus Lächeln war eine Grimasse. Weil sein Gesicht immer noch wie nach einer Hauttransplantation aussah. Nur die sichtbaren Nähte fehlten. Von einem Moment zum anderen verschwand die Fratze unter dem Wasserspiegel. Eine huschende Bewegung deutete darauf hin, daß der Wächter selbst nachsah, was in der Tiefe vorging, von wo immer neue Erschütterungen in immer rascherer Folge herankamen. Landru harrte bewegungslos in seiner Pose aus. Aufmerksam blickte er unter sich. Vielleicht täuschte er sich, aber er hatte den Eindruck, als hätte es schon begonnen. Als wäre der Spiegel der Säure bereits erkennbar ein kleines Stück gefallen …
* Sardre führte seine Männer persönlich an. »Vorwärts!« bellten seine Befehle, die weder auf andere noch auf ihn selbst Rücksicht nahmen. »Weiter! Los, schneller! Keine Müdigkeit …« Draußen wurden die Schatten länger, sank die Sonne. Noch aber fiel genügend Helligkeit in den freigesprengten Durchgang, an dessen Rändern Reste der Flüssigkeit schillerten. Sardres Männer wußten Bescheid und mieden die feuchten Stellen. Als einer von ihnen dennoch ausglitt und mit dem nackten Gesicht auf die Nässe stürzte, die augenblicklich seine Haut zerfraß,
kümmerte sich niemand um ihn. Sie hatten andere Befehle. Vor ihnen öffnete sich ein Gewölbe …
* Landru kauerte auch Stunden nach der ersten Sprengung noch auf demselben Felsvorsprung, obwohl dieser nicht mehr in den Säuresee hineinragte, sondern über einem Abgrund hing. Stunden hatte es gedauert, bis die aggressive Flüssigkeit soweit abgelaufen war, daß sie nur noch zwei, drei Meter über der Bodenplatte des Doms stand. Die Blase aus Magie, in der Anum die CHRONIK geschützt vor der Säure gelagert hatte, ragte bereits daraus hervor. Von seiner Position aus konnte Landru das Buch sehen, das unzählige Menschenleben gekostet hatte – und ein jedes war es wert gewesen! Von dem Phantom, dem Wächter hatte Landru nichts mehr zu Gesicht bekommen, seit die Erschütterungen Anums Kreatur fortgelockt hatten. Aber er rechnete immer noch mit ihr. Dann geriet der Abfluß der Säure ins Stocken. Der Grund war offensichtlich: Die Soldaten hatten ihr Möglichstes getan, aber es reichte nicht. Tiefer am Berg hatten sie ihre Sprengladungen nicht zünden können, weil dort der Fels wieder zu dick war. Die Säure würde sich also nicht völlig entfernen lassen … Landru hatte gehofft, mit der Beseitigung des Sees auch das Wächter-Problem zu eliminieren. Nun wich seine Hoffnung enttäuschendem Realismus. Er begriff, daß er nicht darum herumkommen würde, selbst noch einmal alles zu riskieren, um Anums Kreatur den Todesstoß zu versetzen … Der Plan war einfach – seine Ausführung jedoch stellte den Vampir vor erhebliche Probleme, denn unter keinen Umständen wollte
er die Vernichtung der CHRONIK verschulden. Von Seiten der Soldaten, die unter der Führung von Oberst Sardre am Ende des Sprengschachtes aufgetaucht waren, in diesem Moment staunend stehenblieben und in das für sie düstere Gewölbe starrten, hatte Landru nichts zu befürchten. Sie waren von ihm konditioniert worden. Die eigentliche Gefahr war und blieb das Phantom in der Säure! Landru traute sich zu, die Abschirmung aus Magie, die Anum um das uralte Buch gelegt hatte, entfernen zu können. Aber sobald dies geschah, würde der zersetzende Sud hereinschwappen und die Seiten der CHRONIK benetzen. Würde Haut und Blut in einen Brei verwandeln, dessen Inhalt nichts und niemand mehr zu rekonstruieren vermochte! Alles hing davon ab, in welcher Verfassung Landru nach dem Absorbieren der magischen Abschirmung war und wie schnell er sich dem BUCH zuwenden konnte … Landru wog Für und Wider sorgfältig gegeneinander ab. Und gelangte zu der Überzeugung, daß ihm gar kein anderen Weg als dieser offenstand. Also leitete er ohne weiteres Zögern seine Metamorphose ein, schwang sich in die Lüfte und stieß dann todesverachtend auf die höchste Stelle der magischen Abschirmung hinab. Aber noch bevor er sie berührte, schnellte etwas aus dem Säuresee heraus. Etwas, das den Soldaten am Ufer das Blut in den Adern erstarren ließ.
* Das zähe, schwere Wasser brodelte, als würde das, was ihm entstieg, es zum Sieden bringen. Ein leibhaftiger Alptraum tauchte aus dem fast trockengelegten See aus Säure – ein Wächter, der sich nicht geschlagen geben wollte, obwohl die Luft, die ihn nach dem Durch-
brechen der Oberfläche berührte, seine zersetzende Säure war! Landru nahm das Ungeheuer mit den Sinnen einer Fledermaus wahr. Sah die Fänge der Wächterkreatur als Echolot-Bild auf sich zuschießen. Im letzten Moment korrigierte er seine Flugbahn und entging den zustoßenden Klauen. Eine Bö, von den rochenartigen Schwingen des Wächters entfacht, erfaßte ihn und trieb ihn beinahe doch noch in die Säure. Torkelnd gewann er wieder an Höhe. Im selben Moment schlug der blasenwerfenden Kreatur vom Ufer her ein Bleigewitter entgegen, hackten Salven aus Schnellfeuergewehren in seinen Leib. Doch diese Attacken verpufften ohne merklichen Erfolg. Nur die Luft selbst behinderte den Wächter. Bevor sie ihm aber den Garaus machte, sank die Kreatur wieder in ihren Lebensraum zurück und verschmolz augenblicklich unsichtbar mit der Säure. Nicht einmal mehr ein Schemen war von ihr auszumachen … … bis sie eine Sekunde später direkt vor den Soldaten, die sich allesamt am Ufer des Säuresees versammelt hatten, wieder auftauchte! Die Männer kamen nicht einmal mehr dazu, ihre Waffen auszurichten. Das Wächtergeschöpf riß seine Schwingen empor – und ließ einen Schwall der todbringenden Substanz auf die Truppe niederregnen! Furchtbare Schreie klangen auf und hallten schaurig von den Wänden des Doms wider. Aber nicht für lange … Landru rührte das Schicksal der Soldaten nicht. Er setzte alles auf eine Karte. Seine zweite Annäherung an die magische Abschirmung der CHRONIK unterlag anderen Kriterien als die erste. Sie zu neutralisieren, war nun zweitrangig. Diesmal wollte er die Wächterkreatur bewußt ködern, sie in die Luft hinauslocken, die ihr zum Verhäng-
nis werden konnte. Und er wollte den Vorgang solange wiederholen, bis das, was von Anums Kreatur übrig war, keine Gefahr mehr darstellte … Es gelang. Sogar weit besser, als Landru es geplant hatte. Denn er hatte Anums Ideenreichtum unterschätzt. Wieder schnellte das Phantom aus der Tiefe empor – wieder schnappten Fänge nach der Fledermaus und verfehlten sie. Doch mit seiner Attacke war der Wächter der magischen Abschirmung ungewollt so nahe gekommen, daß er sie im Zurückfallen berührte – und wie in einem klebrigen Spinnennetz darin hängen blieb! Mit der Erkenntnis, daß dieses Schicksal auch ihm geblüht hätte, wäre er dem Wächter zuvorgekommen, überflog Landru die Stelle, wo das Geschöpf blitzumwabert verbrannte. Im gleichen Augenblick brach die Abschirmung zusammen! Als er das erkannte, blieb Landru wenig mehr als eine Sekunde, bevor die Säure das Buch erreichte! Er stieß hinab, bohrte die Klauen in das Pergament aus Menschenhaut und kämpfte sich in unmenschlicher Anstrengung mit dem Gewicht wieder in die Lüfte.
* Er hätte es wissen müssen. Schon einmal war er gescheitert, aber das lag Jahre zurück. Damals, in einem verborgenen Kloster im Himalaya, hatte er schon einmal die Chance gehabt, die Blutbibel an sich zu nehmen – wenn auch nur für kurze Zeit. Damals war ihm die Bedeutung der fremden Schriftzeichen verborgen geblieben. Wie hatte er darauf hoffen können, dies hätte sich nach seinem Besuch am Anfang der Zeit und dem dabei gewonnenen Wissen geändert …? Umsonst, dachte Landru, als er, wieder in seiner vampirischen Gestalt, das Buch auf sicherem Boden aufblätterte und in Augenschein
nahm. Noch immer konnte er die Schrift darin nicht lesen. Aber noch war nicht alles verloren! Ebenso wie Landru sich daran erinnerte, im Himalaya gescheitert zu sein, entsann er sich der einzigen Person, die bereits damals die fremde, uralte und vielleicht gar verschlüsselte Sprache hatte entziffern können. Weil sie befähigt war, jede Schrift auf Erden zu lesen. Lilith Eden …
* Kemer Tersane hinkte durch den Stollen. Sein rechter Fuß war gebrochen oder verstaucht, auch seine Schulter war geprellt, und dort, wo seine Haut mit der tückischen Nässe in Berührung gekommen war, brannte sie wie Feuer! Er hatte es nicht länger ausgehalten. Nach weiteren Stunden des vergeblichen Wartens auf Kayas Rückkehr hatte er sich endgültig dazu durchgerungen, auch seinem Leben ein Ende zu setzen. Den Explosionen und Erschütterungen, die er wahrgenommen hatte, war er nicht auf den Grund gegangen. Völlig apathisch hatte er sich schließlich auf die Stelle zubewegt, die ihn töten würde, wie sie Zeytan getötet hatte. Und – Beinahe so geistesumnachtet, wie er zu Weihnachten aufgegriffen worden war, hatte er den entscheidenden Schritt getan, hatte er sich von dem unsichtbaren Loch verschlingen lassen und darauf gewartet, daß die Säure über ihm zusammenschlagen würde … Statt dessen war er in den hohlen, fast trockenen Stollen gestürzt und hatte sich wehgetan. Wehgetan … Er verzog das Gesicht. Vor ihm öffnete sich der Stollen, endete in den Abgrund, an den sich Kemer jetzt wieder erinnerte. Auch daran,
was er am Grund der Tiefe gesehen hatte, bevor er geflohen war. Dieses … Wesen, das aus den Leichen der Pilger ein furchtbares Frankensteingeschöpf zusammengesetzt und ihm seinen Odem eingeblasen hatte … Nun gut, ein Tod war ihm so gleich wie der andere. Sollte also diese Alptraumkreatur seinem Leben ein Ende setzen. Kemer stolperte weiter. Doch bevor er das sonderbar erhellte Ende des Stollens erreichte – kam ihm von dort jemand entgegen! Kemer blieb stehen. Blinzelte ungläubig. Dann – rannte er. Denn er hatte sie erkannt. »Kaya …?« Er konnte es nicht glauben. Bis zuletzt konnte er nicht glauben, daß sie lebte. Daß sie ihn anlächelte und in ihre Arme schloß. Und überglücklich starb er, als sich die Zähne der Dienerkreatur in seinen Nacken bohrten … ENDE
Liliths Kinder � von Timothy Stahl Von Landru alleingelassen, lebt Lilith in einer fremden Welt, von der sie glaubt, es wäre ihre Heimat. Sie weiß nicht, daß Todfeinde sie umgeben, jeden ihrer Schritte überwachen. Daß sie nicht die Herrscherin über dieses Land ist, sondern Gefangene in einer goldenen Todesfalle. Das vergessene Volk der Maya jedoch, von den Vampiren seit Jahrhunderten grausam unterdrückt, schöpft Vertrauen zu Lilith – und neuen Mut, sich gegen die Tyrannei aufzulehnen. Damit geraten Dinge in Bewegung, die eine ganze Welt verändern können. Oder ins Verderben stürzen …