W.J. Maryson
Der Herr der Tiefe Inhaltsangabe Auf der Magier-Insel Loh wird erstmals seit Jahrhunderten ein Kind ohne jedes magische Talent geboren – der Unmagier Lethe. Gemeinsam mit seinen Gefährten nimmt er den Kampf gegen die Farbenlose Magie auf, die seine Welt bedroht. In den mysteriösen Schluchten der Insel Lan-Gyt erkennt er den wahren Wert seiner Unmagie. Die Abwendung der Gefahr scheint zum Greifen nahe. Doch unversehens taucht eine neue Bedrohung auf: Der Düstere Herrscher der Nachtsee überfällt das Reich, und Lethe muss feststellen, dass das Schicksal schier Unglaubliches für ihn bereit hält …
Der Unmagier 4
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 20.558 1. Auflage: Februar 2007 Vollständige Taschenbuchausgabe
Bastei Lübbe Taschenbücher in der Verlagsgruppe Lübbe Deutsche Erstveröffentlichung Originaltitel: Onmagier, derde boek; De Heer van de Diepten © 2004 by W.J. Maryson © für die deutschsprachige Ausgabe 2007 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Lektorat: Wolfgang Neuhaus/Ruggero Leo Titelillustration: Geoff Taylor Umschlaggestaltung: Wilhelm/Tanja Øsdyngen Satz: Satzkonzept, Düsseldorf Druck und Verarbeitung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN-13: 978-3-404-20.558-5 Sie finden uns im Internet unter www.luebbe.de www.bastei.de Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Für kleine Sofie, frühe Weisheit. Thus let me live, unknown; Thus unlamented let me die, Steal from the world, and not a stone Tell where I lie … Aus: Alexander Pope, Solitude God moves in a mysterious way, His wonders to perform; He plants his footsteps in the sea, And rides upon the storm Aus: William Cowper, Light Shining out of Darkness
Was in den Ersten beiden Bänden geschah Auf Loh, der Zauberinsel, wird Lethe Welmsson geboren. Es stellt sich heraus, dass er über keinerlei magische Fähigkeiten verfügt, und so wird er des Instiriums verwiesen, des Ausbildungsinstituts für Magier. Doch Matei, einer der Hochmeister – die sieben mächtigsten Zauberer des Reichs von Romander –, nimmt den Jungen mit auf seine Suche nach der Ursache der so genannten farblosen Magie. Matei ist überzeugt, dass dieses Phänomen, das Felsen, Bäume, Pflanzen, selbst ganze Inseln pulverisiert und im Meer verschwinden lässt, eine schreckliche Bedrohung für das Reich darstellt. Er verfügt über Hinweise, dass der ›Unmagier‹, wie Lethe auch genannt wird, weniger anfällig für den Zorn des Düsteren des Nachtmeers ist, jene Kreatur, die die farblose Magie hervorbringt. Matei nimmt Lethe mit auf den Kühnen Furcher der Neun Meere, die Karavelle des berühmten Kapitäns Wigbolt. Sie begeben sich auf die Suche nach Zeichen, die sie zum Ursprung farbloser Magie und zum Versteck des Düsteren führen sollen. Lethe bekommt von seiner Mutter ein Schwert mit auf die Reise, das sie einst von dessen Vater, Welm, erhalten hat. Schon bald zeigt sich, dass weitere Menschen von Lethes besonderen Eigenschaften wissen. Sogar in Kryst Valdare, im Palast von Xarden Lay Ypergion, des über Romander herrschenden Desran, entsteht Unruhe, als Mateis Entschluss bekannt wird. Der Erste Regulator Dotar wird beauftragt, den Jungen zu ermorden. Kapitän Wigbolt nimmt drei Schiffbrüchige an Bord. Unter ihnen befindet sich Gyndwane, eine junge Hirtin von den Spiegelinseln. In Ostander-Hafen begegnen sie Gaithnard, einem Waffenmeister aus Kurm, der sie zu den Spiegelinseln begleitet. Im Golf von Agbayar wer1
den sie von einem Seeungeheuer attackiert. Der Kühne Furcher droht zu kentern, und nur mit Hilfe eines magischen Spruches kann Matei die Katastrophe abwenden. Auf Mateis Bitte schließt sich Halbmeister Llanfereit mit seinem Lehrmädchen Pit der Gruppe an. Das Schiff ist schwer beschädigt und muss auf der Insel Kurm einen Zwischenstopp einlegen. Inzwischen hat der Erste Regulator Dotar ein Treffen mit dem jungen Kronprinzen Marakis, dem Sohn des Desran. Marakis versucht Dotar davon zu überzeugen, dass er den Unmagier nicht töten darf. Dotar jedoch hält an seinem Auftrag fest und nimmt die Verfolgung auf. Auf Kurm wird Gaithnard von Bein herausgefordert, einem jungen Waffenmeister aus der Familie Vartyan. Der Zweikampf wird nach den Riten und Regeln des Och Pandaktera ausgetragen, der Blutrache. Das Gefecht verläuft ausgeglichen, bis Bein seinen Gegner durch unerlaubte Mittel in die Knie zwingt. Im letzten Moment rettet Gaithnard sich durch eine List. Lethe wird im Traum von jemandem angesprochen, der ihn fragt, ob er die Kraft besitze. In einem anderen Traum wird er von einem Mann von einem Turm gestoßen. Der Desran erhält in seinem Kristallturm Besuch von seinem Sohn Marakis, der ihn über anstehende Probleme und Machenschaften im Umfeld des Hofes unterrichtet. Der Desran entschließt sich, seinem Sohn Glauben zu schenken. Marakis reist dem Regulator nach, um zu versuchen, den Anschlag auf den Unmagier zu vereiteln. Er erleidet jedoch Schiffbruch und kann sich nur mit knapper Not retten. Die Gefährten erreichen Haramat, die Hauptstadt der Spiegelinseln. Sie heuern einen zusätzlichen Waffenmeister an, einen gewissen Artod aus Wintergang. Zusammen mit einem Führer machen sie sich auf den Weg zu den Tempelruinen von Ak Romat. Unterwegs begegnet Lethe dem Kaiseradler Scharfblick, der die Gedankensprache beherrscht. Kurz vor Ak Romat trifft die Gruppe auf den Propheten Gall Rybonder, der Gyndwane nach Yle em Avrilux mitnimmt, dem Hauptstift der Solitäre, der größten religiösen Gemeinschaft von Romander. 2
In Ak Romat gelingt es Lethe, alte Inschriften zu entziffern. Diese verweisen auf einen Windturm auf der westlichen Spiegelinsel. Auch die Schriften aus der Kaiserlichen Bibliothek, von denen Llanfereit heimlich eine Kopie angefertigt hat, vermitteln Lethe einen Einblick in das Mysterium, das Randoël vor neuntausend Jahren geschaffen hat. Nach einer abenteuerlichen Fahrt übers Meer erreichen die Gefährten Westinsel. Im Windturm wird Lethe von Artod angegriffen, doch Scharfblick verhindert im letzten Augenblick, dass Lethe aus dem Turm in die Tiefe stürzt. Artod erweist sich als niemand anders als Dotar, der Erste Regulator. Scharfblick verabschiedet sich von Lethe mit dem Versprechen, dass sie einander irgendwann wiedersehen, denn ihrer beider Schicksal sei eng miteinander verknüpft.
In Nardelos Grotte, dem kleinen Dorf in der Nähe des Windturms, kommt Lethe zu dem Schluss, Dotar solle für seinen Mordanschlag nicht bestraft werden, da er durch sein Gelübde gegenüber dem Desran an dessen Befehl gebunden gewesen sei. Erneut wird Lethe in seinem Geist von jemandem angesprochen und gefragt, ob er die Kraft besitze. Mit Hilfe eines alten Mannes entdecken sie unter dem Windturm eine Grotte. Dotar, Pit und Lethe untersuchen sie und irren durch ein Labyrinth von Gängen. Sie werden vom Regulator-Lehrling Steyn überfallen, der sie aufgespürt hat. Nur dank des schnellen Handelns von Dotar überleben sie. Während einer der Rastpausen träumt Lethe vom Drachen Iarmongud'hn. Als Lethe seinen eigenen Namen nennt, verschwindet der Drache augenblicklich. Die Gefährten gelangen in einen geheimnisvollen Raum mit einer Kuppel, an dessen Wänden Runen sichtbar werden. In einem weiteren visionären Traum strandet Lethe auf einer Insel und hat zunächst sein Gedächtnis verloren. Er glaubt, Lajte aus Span zu sein, doch schon bald erkennt er, dass ihm sein Verstand einen 3
Streich spielt. Ein Kaiseradler führt ihn in ein Tal, wo er einem Mann namens Dyvoce begegnet. Dieser vermittelt ihm, dass das Nachtmeer nicht das Ende der Welt ist, sondern nur die Grenze zwischen dem Reich und anderen Ländern. Als Lethe erwacht, kann er sich nicht mehr an den Traum erinnern. Ohne weitere Probleme kehren die drei Gefährten nach Nardelos Grotte zurück. Sie beherzigen die Hinweise und reisen zurück nach Haramat. Im Kristallturm von Romander-Stadt liest der Desran ein Manuskript von Gurfandre. Dieser entwickelte eine äußerst eigenwillige Interpretation der Vorgänge um den Tod seines Meisters, des Hochmeisters Raielf, und der Rolle, die die farblose Magie dabei gespielt hatte. Gurfandre war der Überzeugung, dass der Pfeifton, der immer dann erklang, wenn der Düstere sich in der Nähe befand, wichtige Hinweise über die Beschaffenheit farbloser Magie liefern könne. Im Palast Kryst Valdare kommen zur gleichen Zeit fünf Menschen zu einem Geheimtreffen zusammen: Der Ratsherr Danker, die Ratsfrau Hylmedera, Edelfrau Isper, die Gattin des Desran, sowie zwei mysteriöse Gestalten, die ihre Identität geheim halten. Sicher ist nur, dass einer der beiden ein Hochmeister ist und der andere einen hohen Rang bei den Solitären bekleidet. Die Fünf treffen ein Abkommen mit dem Ziel, die Macht an sich zu reißen. Der Kühne Furcher gerät auf dem Weg zu den Äußeren Riffen mit den sieben Reisegefährten an Bord in völlige Windstille. Sie verlieren kostbare Tage. Lethe, Matei, Llanfereit und Pit versuchen herauszufinden, was Unmagie eigentlich wirklich ist. Eine Stimme vermittelt Lethe, er sei ein Paladinmeister und müsse auf Iarmongud'hn reiten, dem Drachen. In Sturmburg versammeln sich sechs Hochmeister. Als herauskommt, dass einer von ihnen ein Verräter sein muss, einigen sie sich auf eine Willenskonzentration. Zum allgemeinen Erstaunen gelingt es ihnen jedoch nicht, auf diese Weise den Schuldigen zu ermitteln. Unverrichteter Dinge schwärmen sie im gesamten Reich aus, um die Menschen vor der heranrückenden Gefahr der farblosen Magie zu warnen. 4
Aernold aus Sey Hirin, der Dulce von Yle em Avrilux, nimmt Asayinda, die sich als die seit langem erwartete Herrin der Morgenröte erweist, mit zur Säule der Wahrhaftigkeit, die sich einige Tagereisen nördlich von Yle em Avrilux befindet. Er lässt sie alleine bei der Säule zurück. Als Asayinda diese berührt, erlebt sie eine Vision. Ihr wird mitgeteilt, was es mit der Wahrhaftigkeit auf sich hat, einem der Schritte zur Reinheit. Sie erkennt, dass die Säule von unendlich vielen Geistern bewohnt wird – Wesen, die diese Säule einst angebetet haben. Asayinda macht sich auf die Suche und stellt fest, dass sie sich an der Küste einer großen Insel befindet. Sie wird von jemandem angesprochen, der sie auf eine Reihe alter Grabsteine hinweist. Auf einem dieser Steine entdeckt sie den Familiennamen ihrer Mutter, Cesyph. Jetzt weiß Asayinda, dass sie eine Halb-Nibuüm ist. Ratsherr Danker segelt nach Lan-Gyt und schüttelt dort seine Begleiter ab, Edelfrau Hylmedera und Regulator Tracter aus Wechsel, wobei Tracter sein Leben lässt. Beim Waffenschmied Anvoulis beschafft Danker sich eine Streitaxt, eine edle Waffe namens Spaltbock. Dann begibt er sich zu den Schluchten von Lan-Gyt, auf dem Weg nach Welden Taylerch, dem Ort, wo die mysteriösen Spieler sich treffen werden. Auf dem Kühnen Furcher wird Lethe von einem bösartigen Vogel angegriffen. Kurz darauf stellt sich heraus, dass das Tier ihn vergiftet hat. Er überlebt nur dank Dotars besonderer Kenntnisse über das Gift. In einem Traum werden Lethe Informationen über die Kraft zuteil. Am fünften Tag der Flaute erscheint unter dem Kiel des Schiffes der Schatten eines riesigen Tieres. Lethe gelingt es, das Wesen daran zu hindern, in seiner Wut den Kühnen Furcher kurz und klein zu schlagen. Lethe entdeckt, dass es Pit war, die ihn mehrfach gefragt hat, ob er die Kraft besitze. Am elften Tag endet die Flaute, und ein schwerer Sturm zieht auf. Lethes Schwert Rax, eine Waffe magischen Ursprungs, beginnt zu singen und zu glühen. Dies ist das Zeichen, dass in der Nähe eine Gefahr lauert. Der Düstere greift das Schiff an. Mittels einer List, dem Zauber des Spaltenden Doppelflugs, gelingt es Matei und Llanfereit, den Düsteren fortzulocken und das Schiff und die Besatzung zu retten. 5
Rayn, der zusammen mit seiner Frau Elin immer noch Ausschau nach der farblosen Magie auf Nord-V'ryn hält, wird während einer Erkundungsfahrt mit einem kleinen Boot vom Düsteren überrascht. Zu seiner eigenen Überraschung wird er an einer ihm unbekannten Küste angespült. Ein großer Kaiseradler hat ihn von der Flutlinie höher auf den Strand gezogen und Nahrung gebracht. Inzwischen verschwindet Matei. Er schaut sich auf Mittel-V'ryn um, das vom Düsteren angegriffen wird. Es gelingt ihm, Elin und einigen anderen zur Flucht zu verhelfen, und er selbst kann dem Zorn des Düsteren mit Müh und Not entkommen. An der fernen Küste, an der Rayn angespült wurde, glaubt dieser, der Adler sei zurückgekehrt, doch in Wirklichkeit ist es diesmal Matei in Vogelgestalt. Gemeinsam finden sie in einem der Gräber, die Asayinda zuvor entdeckt hatte, eine Schatulle mit einer vergilbten Schriftrolle. In Vogelgestalt, Rayn auf dem Rücken, fliegt Matei zu den Äußeren Riffen. In der Zwischenzeit liest Lethe eine Erzählung, der er etliche Weisheiten entnehmen kann. Der Kühne Furcher nimmt Kurs auf Serth-Hafen. In Romander-Stadt findet der junge Hochmeister Harkyn zufällig heraus, wer von den Hochmeistern vermutlich der Verräter ist. Aernold aus Sey Hirin verschwindet spurlos aus Yle em Avrilux. Er befindet sich auf dem Weg nach Welden Taylerch, einem geheimnisvollen Ort mit einer Kuppel tief im Herzen der Schluchten von LanGyt. Dort werden sich die Spieler des Pakts der Zehn treffen, mächtige Wesen, die ein unfassbares Spiel mit und in der Welt des Reichs von Romander spielen. Aernold ist einer von ihnen. Andere Spieler erscheinen. Hjert, der auch Imfarse genannt wird, vertritt die Ayinti, die Götter. Dann ist da noch die mysteriöse Vogelfrau. Der Drache Iarmongud'hn erscheint. Auch Danker ist als Spieler gekommen, genauso wie ein Angst einflößendes Wesen, das den Düsteren vertreten wird. Der Kaiseradler Scharfblick meldet sich ebenfalls; darüber hinaus ist die Rede von einem ›Führer der Nibuüm‹. Alles scheint nur noch auf den Unmagier zu warten. 6
In Serth-Hafen zeigt sich erstmals, dass in der Bevölkerung des Reiches die Angst vor dem Düsteren wächst. Dessen Attacke auf die nördlichsten Inseln bewegt viele Menschen zu dem Entschluss, Orte aufzusuchen, die als weniger gefährdet erachtet werden. Als Pit und Lethe durch die Stadt streunen, werden sie von mehreren Kerlen verfolgt, in denen sie Regulatoren erkennen. Mit knapper Not können sie sich retten. Der Kühne Furcher verlässt überhastet den Hafen. In der Schleuse von Lundyker kommt es beinahe zu einem Zusammenstoß mit den Regulatoren, doch Llanfereit vermag dies durch geschickte Zauber zu verhindern. Auf Mateis Geheiß segeln die Gefährten über das Weißmeer nach Lan-Gyt. Sie werden von drei Sologaleeren des Desran verfolgt. Pit führt die Verfolger durch eine List in die Irre. In dem kleinen Küstenhafen Kasbyrion gehen sie an Land. Mit Hilfe von Hoorn, ihrem Bergführer, bezwingen sie die Teufelsklamm und den Pass am Morangelgipfel, um schließlich auf der Hochebene von Stylanger zu landen. In Taskers Herberge nehmen sie Abschied von Hoorn und ziehen, den Wegbeschreibungen des Wirtes folgend, weiter zu den Schluchten von Lan-Gyt. In Romander-Stadt findet zu dieser Zeit die Parade der Siebenhundert Schritte statt. Der Desran hält im Sferium seine jährliche Ansprache an das Volk. Mitten in der Rede, in der er als erster Desran überhaupt auf die Bedrohung durch farblose Magie eingeht, wird er von einer geheimnisvollen Person getötet. Im anschließenden Tumult gelingt es Edelfrau Tulsie mit Hilfe von Hochmeister Harkyn, den Wächtern zu entkommen, die Tulsie für die Mörderin halten. Sie können ihre Verfolger abschütteln, gelangen an Bord der Herz von Handera und verlassen den Hafen. Die Reisegefährten betreten nördlich von Hochlan-Pforte die mittlere der drei Schluchten von Lan-Gyt. Lethe erkennt nach einem Gespräch mit Matei, dass er den Rest seines Schicksalsweges alleine zurücklegen muss. Er trifft auf einen Zauberer namens Dargill. In dessen Höhlenwohnung kommen sie ins Gespräch. Der Zauberer vermittelt Lethe viel Wissen und gibt ihm einen Stein. Zudem sagt er ihm, wel7
chen Weg er einschlagen muss. Erst nach ihrem Abschied wird Lethe klar, dass Dargill niemand anders ist als Welm, sein Vater. Lethe folgt dem Pfad nach Welden Taylerch und steht schon bald vor den Spielern des Pakts der Zehn. Er springt in ein rundes Becken mit schwarzem Wasser und verliert das Bewusstsein, doch Augenblicke zuvor setzt sich etwas in seinem Geist fest. Es ist Pit, die mittels der Kraft in seinen Gedanken zugegen bleibt. In den Erinnerungen eines Wesens, das ihn verschluckt hat, kann er zwei Bezeichnungen aufschnappen: Lethe, Quell der Vergessenheit. Lethe, Herr der Tiefe.
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Ein Wort vorweg Es fällt mir schwer, über diesen Abschnitt der Geschichte des Unmagiers zu schreiben. Immer häufiger schwebt die Schreibfeder in meiner Hand zögerlich über dem Papier, bis der Krampf in meinen alten Muskeln mich wachrüttelt. Manchmal zweifle ich, ob ich imstande sein werde, alle Ereignisse nach dem Tag von Welden Taylerch aufzuzeichnen. Meine Schreibfeder ist getaucht in Bitterkeit, Enttäuschung und mitunter blutrote Tinte, wobei ich das Gefühl habe, um jedes Wort ringen zu müssen.
Die Geschichte von Lethe, dem Unmagier, hat einen dramatischen Wendepunkt erreicht. Das Undenkbare ist geschehen: Lethe hat eine Metamorphose erlebt – auf eine Art und Weise, die jede Loher Magie verblassen lässt. Die Unmagie entfaltet ihr Wesen mehr und mehr, hüllt sich aber gleichzeitig in einen Mantel neuer Mysterien. Keiner der Reisegefährten bleibt unberührt von der Änderung der Gestalt des Zauberlosen. Ich habe die großen Legenden des Reiches darauf hin durchforstet: Die Hauptpersonen sind nur zu oft ihrer schicksalhaften Bestimmung ausgeliefert. Der Zeitgeist und die Überzeugung, dass ›etwas vollbracht werden muss‹, sind stärker als ihre individuellen Bedürfnisse, Sehnsüchte und Wünsche. Die Vorbestimmung liegt wie eine bleierne Last auf ihren Schultern. Sie drückt ihrem Leben einen unverhältnismäßig großen Stempel auf, und dies gilt ganz gewiss für meinen Lethe. Mein Lethe. Während ich dies schreibe, weint mein Herz. Meine Schreibfeder zö9
gert. Warum muss ich das alles festhalten? Für wen? Ich weiß es nicht. Vielleicht dient es nur dazu, sämtlichen Schrecken einen Platz in meinem Verstand zuzuweisen und mein Herz zu befreien. Vielleicht liest dies ja später einmal jemand und schöpft Mut aus dem, was Lethe alles durchgestanden hat. Es ist aber auch durchaus möglich, dass ich in dem Moment, wo ich das letzte Wort geschrieben habe, zu dem Entschluss komme, das Manuskript zu verbergen. Obgleich sich in meinem Innern immer häufiger der Gedanke festsetzt, dass die Menschen der kommenden Jahrhunderte und Jahrtausende erfahren müssen, was sich hier, im Reich von Romander, abgespielt hat. Warum eine neue Zeitrechnung eingeführt wurde, welche Kämpfe bei RomanderStadt, an den Küsten mancher Inseln und anderen Orten stattgefunden haben. Die Menschen müssen sich ihr Bewusstsein dafür erhalten, dass es Leute gab, die versucht haben, die unabwendbaren Ereignisse einer fernen Zukunft, weit jenseits ihrer eigenen Lebensspanne, zu verhindern. Ob ihnen dies gelungen ist, wird sich im letzten Teil meiner Geschichte erweisen. Wenn ich die Schreibfeder zur Seite legen kann, wird nicht nur klar sein, ob Lethe die ihm übertragene Aufgabe erfolgreich beenden konnte, sondern auch, ob er selbst den schweren Gang durch die Tiefen überstanden hat. Erst dann ist die mir selbst auferlegte Pflicht erfüllt, und erst dann kann ich auf den Moment warten, in dem der Fährmann des Nachtmeers mich auf den Weg an eine ferne Küste der anderen Welt mitnimmt. Dann endlich werde ich wissen, ob dieser Ort auch für meinen Lethe bestimmt ist. Lethe. In einer alten, nahezu vergessenen Sprache einer anderen Welt hat sein Name eine besondere Bedeutung: ›Fluss der Vergessenheit‹. Was bleibt mir anderes übrig, als den Versuch zu unternehmen, seinen Namen der Vergessenheit zu entreißen. Wie bereits an anderer Stelle gesagt – in jenen denkwürdigen Tagen wurden viele Mysterien an die Oberfläche des Nachtmeers gespült, doch genauso viele Geheimnisse ruhen weiterhin in ihren dunklen Tiefen, in denen Vergessenheit herrscht. Was mich betrifft, sind etliche neue Rätsel hinzugekommen. Ferne Länder, vergessene Völker, Jahr10
tausende, die dem Gedächtnis der Menschheit entrückt sind. Und ein Blick über das Reich der Götter hinaus. In ihrem Widerhall vernehme ich das Geflüster von heldenhaften Taten. Vielleicht können andere irgendwann einmal Licht in diese Mysterien bringen. Dann werden auch – viele Jahrhunderte und Jahrtausende später, und gestützt auf die Vorbilder der Vergangenheit – einsame Streiter erneut versuchen, die Welt vor nahendem Unheil zu warnen. Jetzt aber lasse ich Sie wieder alleine mit Lethe und den anderen Mitspielern – bedeutenden wie den Reisegefährten, den Zehn des Pakts und den Verschwörern des Abkommens, und weniger wichtigen wie den Namenlosen, die die Reisegefährten in diesen turbulenten Tagen des Unmagiers unterstützten.
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Prolog Es war ein trüber Morgen. Am Waldrand stand eine Hütte. Die Krone eines großen Sandweidenbaums ragte hoch über das Spitzdach aus Mangitholz hinaus; drei dicke Äste beugten sich schützend über das Gebäude. Hier hatte sich schon seit langem kein Mensch mehr aufgehalten. Und sollte jemand versuchen, diesen Ort zu finden – es würde ihm nicht gelingen. Der Eigentümer hatte die Hütte an den Rand eines Zeitflimmerns gesetzt. Dieser Eigentümer war denn auch nicht irgendein Mensch, sondern ein Zauberer, wie das Reich von Romander ihn seit Äonen nicht gesehen hatte. Seit zwanzig Jahren schon herrschte tiefe Stille um die Hütte, doch an diesem Tag sollte sich das ändern. Das Rauschen von Flügelschlägen drang in das Zeitflimmern. Ein mattgrauer Schatten huschte über die Baumwipfel. Ein großer, grauer Vogel glitt herab. Geschuppte Klauen krallten sich um einen Ast, der unter dem schweren Körper federte. Das Tier hüpfte sofort vom Ast herunter und landete auf einer kleinen freien Stelle vor der Hütte. Staub wirbelte auf, und das Federkleid verwandelte sich in einen grauen Mantel. Eine riesige Männergestalt, unverkennbar ein Magier, schaute unter einer schwarzen Forma hervor zum Waldrand und dann zur Hütte. Neben dem Stamm der Sandweide flimmerte für einen Moment die Luft. Der Kopf des Magiers fuhr herum, doch der Vorgang wiederholte sich nicht. Der Zauberer betrat die Hütte. Er hatte sich an seine unterschiedlichen Gestalten gewöhnt. Dies war die einzige Möglichkeit, neuntausend Jahre zu überstehen, denn selbst ein mächtiger Magier wie Randoël von Cerin vermochte sein Leben um nicht viel mehr als hundert, höchstens hundertzwanzig Jahre zu verlängern. Zwar kannte er Mittel und Wege, 12
das Leben auf mehrere Jahrtausende auszudehnen, doch die Ayinti würden ihm nie erlauben, seine theoretischen Kenntnisse in die Praxis umzusetzen. Daher folgte er der Geschlechterfolge der Nibuüm. Er wählte sorgfältig eine Person aus und ließ diesem Nibuüm seiner Wahl ausreichend Spielraum, um noch ein vernünftiges Privatleben führen zu können. Mit Hilfe der Illusion Vorgeburtlicher Einprägung vermittelte er dem auserkorenen Nibuüm dann so viel von seinem Geist, seinen Erinnerungen und seinen Fähigkeiten wie irgend möglich. Dabei unterstützte ihn sein Stab, der neuntausend Jahre überspringen konnte und randvoll gefüllt war mit Beschwörungen, Zaubersprüchen und Illusionen. Diese Methode wurde von den Ayinti geduldet. Da er das Machtspiel im Umfeld des Palasts und in Yle em Avrilux im Griff behalten musste, sah er sich gezwungen, seine Identität als Nibuüm zu verschleiern. Lange genug vor jedem Übergang pflanzte er Spuren seiner neuen Identität in den Geist einiger Personen in der Umgebung des Menschen seiner Wahl; Erinnerungen, Erfahrungen und Eigenschaften. Randoël nannte es selbst eine kleine Verflechtung und benutzte eine Variante der Unfokalen Trübung, um seine verräterischen hellen Augen vor jedermann zu verbergen, der ihn anschaute. Doch die jahrelangen Dialoge mit seinem anderen Ich und die mit äußerster Sorgfalt gelegten Spuren hatten ihn nicht auf die Monotonie einer Aneinanderreihung von Jahrzehnten, Jahrhunderten, Jahrtausenden vorbereitet. Das stumpfsinnige Warten und ewige Nichtstun hatten ihm noch am meisten zu schaffen gemacht. Dabei war er sich schon früh bewusst geworden, dass das Wissen um die Endlichkeit eines Lebens den Menschen zu herausragenden Leistungen zwang, während ewiges Leben den Elan und Tatendrang eher einschläferte. Er streichelte das geflochtene Weidenholz seines Stabes. Der Zeigefinger strich über den goldenen Drachenkopf. Irgendetwas kratzte außen an der Tür. Randoël murmelte rasch einen Zauberspruch. Mit leisem Knistern glühte der Stab auf und verschwand im Dämmerlicht der Hütte. »Herein«, flüsterte er. Die Tür glitt auf. Randoël zwinkerte der Person zu, die sich hinter wild 13
tanzenden Flammen zeigte. Das Feuer zischte und loderte, doch gleichzeitig wehte ein eiskalter Wind in die Hütte. Randoël trat zurück, um die Person einzulassen. Diese jedoch schwebte weiter in der Türöffnung. »Imfarse«, brummte Randoël. Die Spur eines Lächelns spielte um seine Lippen. »Welch unerwartetes Vergnügen.« Er sah, wie die züngelnden Flammen verblichen, und das Zischen erstarb. Die Eiform von Imfarses kahlem Schädel wurde sichtbar, und das Antlitz nahm Farbe an. Die kleinen Falten um die Augen wurden tiefer. Die schmalen Lippen öffneten sich. »Wir müssen reden, Zauberer«, lispelte Imfarse mit seiner heiseren Stimme. »Ihr habt Dinge ins Rollen gebracht, die selbst für die Ayinti nicht mehr völlig zu überschauen sind. Die Ayinti beherrschen gern das Heute und die Zukunft. Beide lassen sich derzeit nicht in den Griff bekommen, und das ist Eurem Geflecht zu verdanken. Ihr kennt die Wünsche der Ayinti: unveränderliche Veränderlichkeit. Alles bleibt, wie es ist, während sich alles ändert. Ihr versteht die Wünsche der Ayinti sehr wohl, dafür langt Eure Intelligenz allemal.« Das ferne Tosen der Flammen unterstrich die Stille, die für einen kurzen Moment eintrat. Randoël wartete ab. Imfarse kam zu dem Schluss, der gleichbedeutend mit der Meinung der Ayinti war. »Wenn die Unsicherheit weiter zunimmt, werden sie in die Vergangenheit eingreifen müssen.« Randoël holte tief Luft und unterdrückte die Wut, die in ihm aufstieg. Die Spuren waren gelegt. Seine Aufgabe war vielleicht in Kürze erfüllt. Und jetzt kam Imfarse daher, um ihm zu erzählen, dies alles sei vielleicht vergeblich gewesen. Sein Verstand huschte von Möglichkeit zu Möglichkeit. Was war klüger? Schweigen oder eine abgewogene Erwiderung? Bevor er sich hätte entscheiden können, fuhr Imfarse bereits fort: »Damit das klar ist: Die Ayinti sind fasziniert, sie amüsieren sich sogar über Eure Taten. Aber einige Eurer Spuren verästeln sich in Tausende Möglichkeiten. Und Möglichkeiten sind gleichbedeutend mit Unwägbarkeiten und Unsicherheiten. Ihr habt etwas Wichtiges übersehen. Geht Eure Spuren noch einmal einzeln durch, Zauberer. Alles steht im Zusammenhang mit dem Zauberlosen. Mehr darf ich Euch nicht sagen.« 14
Das Feuer loderte wieder auf, heftiger als zuvor. Die Flammenzungen leckten am Türpfosten, fraßen sich zischend und knisternd in das harte alte Holz. Randoël sprang zurück, als die Hitze sein Gesicht erreichte. Imfarses Gestalt verschmolz mit dem Flammenmeer. Sein Lachen wuchs mit der Feuersäule. Das Knistern wurde zu wüstem Toben, das schmerzhaft auf Randoëls Trommelfell einhämmerte. Dann zogen sich das Feuer und die Gestalt dahinter mit einem eigenartig zischenden Geräusch zurück. Für einen Moment waren rauschende Flügelschläge zu hören; dann trat eine Stille ein, die selbst den Wind und die Tiere im angrenzenden Wald erfasste und für lange Zeit unruhig machte. Randoël starrte auf den Fleck, wo Imfarse sich aufgelöst hatte. Er atmete tief durch, befahl seinen Stab mit einem einzigen gemurmelten Wort zu sich und fing das Weidenholz, das immer noch wie ein junger Sprössling roch, geschickt auf. Um seine Augen und Mundwinkel erschien ein störrischer Zug. »Ilure Imfarse«, murmelte er, »ich lasse mich nicht von meinem Geflecht und meinen Plänen abbringen. Nicht von Euch, nicht vom Düsteren des Nachtmeers, und nicht einmal vom Pakt der Zehn. Wenn das zu einer Krise führen sollte, zu einem Zerwürfnis mit Euren Ayinti, dann sei es so. Dann werde ich auch sie mit allen Mitteln bekämpfen.«
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1 Der Zorn des Düsteren (1) »Wer die Mythen und Legenden sowie die Botschaften, die deren Worte verkörpern, nicht ernst nimmt, wird dereinst im Sumpf seines eigenen Unglaubens jämmerlich zugrunde gehen. Wer nicht auf das Echo der Geschichte lauscht, wird auf der dunklen Seite der neuen Geschichte stehen.« – Aus ›Die Fußspuren der Geschichte‹, von Edelfrau Drea aus Lon »Das Echo der Großen Legende bleibt ewig hörbar.« – Aus ›Die großen Erzählungen des ältesten Volkes‹, von Uzark aus Tille Die umgepflügten Felder direkt hinter den Westdünen auf Katzinsel boten einen trostlosen Anblick. Die Kanterbäume, die makellos aufgereiht das Ackerbaugebiet landeinwärts von den Balvenderhügeln trennten, waren vom Herbstwind leergefegt worden. Ihre Äste reckten sich wie die Arme Verzweifelter gen Himmel. Der Winter hatte das Land und die verstreut liegenden Bauerngehöfte schon mit seinen kalten Fingern berührt, doch der Schnee kam spät, später als in früheren Jahren. Es war der dreizehnte Tag des Tarvander, des Mittwintermonats. Aus der gefrorenen Erde kroch die schwarze Schlange einer vorzeitigen Nacht hervor. Bleierne Stille legte sich über das Land. So schien die Welt endlich ihren Augenblick der vollkommenen Ruhe gefunden 16
zu haben, getragen vom kalten Hauch des Winters. Es war, als halte das ganze Land, Mensch und Tier, den Atem an. Dann ertönte ein Pfeifen, kaum hörbar, doch so intensiv, dass es den Menschen wie eine frisch geschliffene Messerklinge durchs Gehör fuhr. Über dem Horizont hing ein gelber Schleier und tauchte das schwarze Wasser des Südlichen Nachtmeers in gespenstisches Dämmerlicht. Jetzt kamen die Vögel, große, dunkelgraue Geschöpfe. Selbst in der zunehmenden Dunkelheit war zu sehen, wie auf ihren Köpfen irgendetwas schillerte und glänzte. Mit dem Flügelschlag der Vögel flatterte Todesangst über das glühende Land hinweg. Die Bauern schlossen die Fensterläden ihrer Häuser und verrammelten die Türen, denn sie fürchteten sich vor dem, was auf sie zukam. Sie flüsterten sich untereinander jene uralten Legenden zu, die Jahrtausende überdauert hatten, und warnten einander vor dem heraufziehenden Zorn des Erbfeindes des Reiches. Unter den Bewohnern von Katzinsel waren die Legenden lebendiger als irgendwo sonst im Reich, insbesondere die Große Legende. »Bringt euch im Keller in Sicherheit«, sagten die Bauern zu ihren Frauen und Kindern. »Schnell, denn die neuntausend Jahre sind wieder verstrichen, und der Düstere kommt!« Die Bauern waren erst einige Tage zuvor von Hochmeister Berre über die verheerenden Folgen der farblosen Magie informiert worden, die mit dem möglichen Erscheinen des Düsteren einherging. Sie selbst verschanzten sich hinter den Türen, die sie mit Schränken, Tischen und Stühlen verbarrikadiert hatten, und warteten ab. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Sogar Berre hatte zugeben müssen, dass nichts und niemand gegen farblose Magie etwas ausrichten konnte. Die Vögel flogen tief über die Häuser hinweg und verschwanden am Horizont. Dann wurde es still. Für einen Moment schien es, als wäre die Gefahr vorüber. Die Inselbewohner lauschten gespannt, spähten durch Schlitze in Luken und Türen und beteten inbrünstig, dass die dunklen Schicksalswolken sich verziehen mögen. Doch was sie sahen, nährte nur die Angst in ihren Herzen. Der gelbe Himmel verfärbte sich in ein Schwarz wie Ebenholz. Dunkelheit, tiefer als in einer mondlosen Nacht, senkte sich über die Insel wie ein Nachtadler, der sich sei17
ner vor Angst erstarrten Beute nähert. Ein fernes Brüllen rollte vor der Düsternis her. Im Zentrum der Dunkelheit erschien ein gelbes Licht, das sich ständig vergrößerte. Eine Kakophonie falscher Pfeiftöne verdrängte das Getöse. Die Düsternis begann um das Auge herum zu rotieren und schoss plötzlich nach vorne, auf Katzinsel zu. Gleichzeitig berührten die Wolken das Meer, und das schwarze Wasser begann wild zu brodeln. Der salzige Schaum der Brandung wirbelte um das Auge, wurde angesogen, wieder herausgeschleudert und fiel Kilometer weiter landeinwärts als Schnee. Die Bauern schlossen die Augen und ergaben sich in das Unvermeidliche. Der Düstere kannte keine Gnade. Die Legenden beschrieben den Schrecken als unmenschlich, gnadenlos, grausam. In allen Geschichten war der Düstere das Synonym für Angst und Tod. In Erwartung des sicheren Endes riefen viele Inselbewohner den Herrn der Tiefe an, doch niemand glaubte wirklich, dass das göttliche Geschöpf ihnen zu Hilfe eilen würde. »Mathathruin über uns!«, riefen sie schrill. »Herr der Tiefe, steht uns bei!« Kurze Zeit später fegte ein rasender Sturm über die Insel und zerrte das Winseln des Düsteren hinter sich her. Wolken, gewaltig wie Gebirge und durchzogen von schmutzigen gelben Streifen, senkten sich auf die Insel und nahmen sie in Besitz. Die Sicht betrug nur noch wenige Meter. Das ohrenbetäubende Pfeifen schwoll zu einem Chor hoher Töne an. Es begann zu knirschen und knacken. Die Menschen hörten und spürten ein unterirdisches Poltern. »Wir sind verloren!«, riefen sie. »Himmel und Erde haben sich gegen uns verschworen!« Hagelschauer prasselten auf das Land nieder. Die Bäume neigten sich tief unter dieser Gewalt, wurden entwurzelt und wirbelten hilflos im Sturmwind davon. Der Orkan hämmerte auf die Türen, Fenster und Dächer der Bauernhöfe ein. Scheiben gingen zu Bruch, Türen wurden aus den Angeln gehoben und mitgerissen wie die Blätter eines Weidenbaums. Die Wände begannen zu wackeln. Angstschreie mischten sich in das wüste Getöse. Sie wurden zu Todesschreien, die 18
plötzlich abbrachen oder sich im Höllenlärm des wild rasenden Wirbelsturms verloren. Irgendwann erreichte die Dunkelheit ihren Höhepunkt. Und im Herzen dieser Nacht ertönte eine Reihe unbeschreiblicher Donnerschläge, als stießen Berge aufeinander. Das Mordsgetöse vermischte sich mit dem Krachen einstürzender Bauerngehöfte. Gelbe Nebelschwaden krochen langsam durch die Ruinen. Ein letzter Schrei war zu hören und flatterte wie ein verspäteter Zugvogel hinter den Wolken her, die die sterbende Insel verließen. Unmittelbar nach dem Sturm erhob sich das Meer und raste in einer plötzlichen Flutwelle brausend landeinwärts. Genüsslich fiel das Wasser über die Küste her, warf sich wie ein blindes Ungeheuer auf die verbliebenen Reste der Gehöfte, überspülte die Keller und zog sich dann schweigend zur Küste zurück. Dann legte sich Stille übers Land. Wo der Sturm gewütet hatte, bedeckten gelber Staub und feines, weißliches Steingeröll die Äcker und die Ruinen der Bauernhöfe. Hier und da stand noch der Rest eines Lattenzauns oder ein zerborstener Schornstein; Teile eines Fensterrahmens lagen herum, ein halbes Wagenrad und andere Trümmer. Die zerrissene Flagge von Katzinsel, eine springende schwarze Zibetkatze auf grün-weiß kariertem Untergrund, wehte wie eine flackernde Flamme an einem halb umgestürzten Pfahl. Es blieb auch weiterhin still nach dem Sturm. Doch die Stille war erfüllt von Flüsterstimmen, Atemzügen und Seufzern, die sich im Grenzbereich des menschlichen Gehörs bewegten. Und dennoch waren da keine Männer, die die Lage begutachteten, und es gab auch keine Frauen oder Kinder, die aus den zerstörten Kellern kletterten. Das Schweigen des Todes hing wie ein dunkles Tuch über der Insel. Ein schwarzer Rabe hüpfte bei den Überbleibseln eines Gehöftes empor und schwang sich in nördliche Richtung davon. Jeder seiner Flügelschläge klang wie grollender Donner.
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Binnen weniger Tage hatte sich die Nachricht von den Ereignissen auf Katzinsel und deren katastrophalen Folgen über alle Inseln verbreitet. Zwei Fischer aus Ostander hatten es aus der Ferne beobachtet und berichteten am folgenden Tag im kleinen Hafen von Südfeder darüber. Das Reich wurde von Angst erfasst. Die schlummernde Unzufriedenheit auf Romander, Lan-Gyt, Ostander und anderen Inseln wurde zu einem hörbaren Ruf nach Aktivitäten der Regierung in Romander-Stadt. In Feder, auf Ostander, jener Insel, die nicht weit von Katzinsel entfernt lag, belagerte eine erzürnte Menschenmenge unter der Führung einer charismatischen Person in einem schwarzen Mantel das Haus des Vizestatthalters Spandirek. Lediglich die Argumente der Schwerter seiner Wachen bewahrten den Vizestatthalter vor einem ruhmlosen Ende, obwohl mehrere Augenzeugen behaupteten, der Anführer der Aufständischen habe diese im letzten Moment von Missetaten zurückgehalten. Gleichzeitig trafen auf den Nachbarinseln erste Berichte über Unregelmäßigkeiten in Romander-Stadt ein. Niemand wusste, wer nun eigentlich die Macht besaß. Es ging das Gerücht, Marakis habe sich aufgemacht, um sich in Romander-Stadt zum Desran krönen zu lassen; andere Nachrichten besagten, der Kronprinz sei spurlos verschwunden. Chaos lauerte wie der Morgennebel am Horizont. An vielen Orten erhob sich das Volk, getrieben von der Angst vor dieser unbekannten Gefahr farbloser Magie; einer Gefahr, die immer näher rückte. Vor allem aber trieb die Menschen der Unmut über das Ausbleiben tatkräftiger Maßnahmen. Die Bürger bildeten eigene Kampfgruppen, die sich jedoch sehr bald auch untereinander befehdeten, als einige die Situation für ihre eigenen Ziele zu nutzen versuchten. Abgelegene Bauernhöfe und Dörfer auf Ostander und Ribbe wurden von Banden mit roten Masken geplündert. Meist kannten sie keine Gnade gegenüber den Bewohnern; es wurde getuschelt, die Maskierten seien Trabanten vom Düsteren des Nachtmeers. Vielleicht war es nicht mehr als ein hartnäckiges Gerücht, doch der in einen schwarzen Mantel gehüllte Fremde, der in Feder den Aufstand geführt hatte, vereinigte mehrere der 20
maskierten Banden unter seinem Befehl und ließ sie einen heiligen Treueschwur auf ihr Leben ablegen. Die roten Masken wurden innerhalb weniger Tage zum Synonym für Angst, Schmerz und Tod. Unerbittlich säten sie Tod und Verderben unter den Bewohnern von Dersden, Nayar, im südlichen Teil Ostanders, auf Ribbe und Weit. So wurden die Engel des Antas geboren.
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2 Vorspiel in Sturmburg »Die Herrin der Weisheit und Eingebung war mit ihrer Schülerin Schade auf dem Weg zu ihrem endgültigen Ziel, das die Herrin stets als ›die Quelle‹ bezeichnete. Seit Tagen schon regnete es, die Erde war durchweicht, und der Pfad bestand fast nur noch aus Schlamm und Pfützen. Sie kamen an einem Nyntheon vorbei, einem kleinen Tempel, der von neun uneinheitlichen Säulen gestützt wurde. Schade hatte sich in ihrem Geist eine Frage zurechtgelegt. Sie hatte einen ganzen Nachmittag darauf verwendet, die Worte zu wägen, und endlich war es ihr gelungen, die Frage auf einen einzigen kurzen Satz zu bringen, so als beherrsche sie die komplizierte Kunst des Beschneidens der blaugrünen Lazulibäume. ›Herrin‹, fragte sie, ›was ist das Wesen des Bösen?‹ Schade hatte sich daran gewöhnt, dass die Herrin auf ihre Fragen nicht direkt reagierte, doch diesmal blieb ihre Meisterin wie angewurzelt stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Abrupt drehte sie den Kopf zur Seite und schaute Schade zornig an. ›Die verkehrte Frage, Schade‹, brachte sie zwischen aufeinander gepressten Lippen hervor. Die Herrin schaute Schade unverwandt an. Erwartete sie von ihrer Schülerin eine Korrektur? Schade war völlig verwirrt. ›Schau dir diesen Tempel an‹, flüsterte die Herrin schließlich. ›Ist er dem Bösen gewidmet? Wird hier der Düstere des Nachtmeers angebetet? Werden hier nachts grausige Rituale abgehalten?‹ Schade hörte sich selbst antworten, gegen ihren Willen. ›Aber soll ich denn fragen, was das Gute ist, Herrin? Die Frage brennt mir nicht auf der Seele, denn es ist das Böse, das mir keine Ruhe lässt.‹ 22
Es hatte gereizt geklungen, und Schade spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Es regnete in Strömen, doch Schade wusste, dass die Herrin so etwas für völlig unwichtig hielt. Geduldig wartete sie, bis die Herrin soweit war. Der Regen setzte plötzlich aus, und zu Schades Erstaunen stahlen sich vereinzelte Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke und ließen den Tempel in weichem, gelbem Abendlicht leuchten. Die Herrin zeigte auf die Sonnenstrahlen. ›Hier ist deine Antwort, Schade. Das Wesentliche des Bösen besteht darin, dass es der Erde näher ist als das Gute, so wie die Wolken näher sind als die Sonne. Das Böse kann sich auf lange Sicht nicht halten, auch wenn es scheint, als beherrsche es die Welt. Aus unserer Warte erkennen wir das Gute bloß weniger deutlich als das Böse. Das heißt aber noch lange nicht, dass das Gute kleiner ist. Das Böse ist uns auf den Fersen, versucht, uns für sich einzunehmen. Es verstellt uns die Sicht auf das Gute.‹ Sie seufzte. ›Das Gute schaut in seiner Allumfassendheit von weitem zu und wartet. Worauf wartet es? Nun, es wartet, bis wir begriffen haben, dass unsere menschliche Sichtweise uns zu täuschen versucht. Natürlich ist das nur eine von vielen möglichen Antworten, aber es ist sicher nicht die Schlechteste.‹ Sie wandte sich von Schade ab und wollte weitergehen, zögerte dann aber. ›Eine zweite Antwort könnte sein‹, sagte sie wie beiläufig über die Schulter, ›dass Gut und Böse einander brauchen. Ohne einen dunklen Rahmen kannst du das Licht nicht deuten.‹« – Aus ›Eine Wallfahrt in die Seele‹, von Edelfrau Asrath aus Dunkel
Nach der Willenskonzentration auf Lohgipfel waren die Hochmeister mit der Faenich von Hemgara, der schwarzen Sologaleere von Kapi23
tän Richter aus Loh, nach Loh-Hafen gefahren. Von dort sollten sie mit den Hochkaravellen des Instiriums in alle Winkel des Reiches ausschwärmen, um die Magistrate und Regierenden zu motivieren und zu unterstützen. »Eine Mission ohne Gepäck«, hatte Harkyn es genannt. »Wir versuchen jeden dazu zu bewegen, sich gegen die farblose Magie zu wehren, aber wir geben ihnen keine Waffen an die Hand, mit denen sie sich verteidigen könnten.« »Wenn wir nichts unternehmen, gerät das Volk in Aufruhr«, hatte Karn dagegengehalten. »Dann regiert das Chaos, und keine der drei Mächte hat die Lage noch unter Kontrolle. Reist auf die Inseln, um dies zu verhindern, um die Moral zu stärken. Macht notfalls Gebrauch von Illusionen. Informiert über das Erscheinungsbild farbloser Magie, sodass die Menschen sie erkennen können, sobald sie sich zeigt.« »Wären die Hochmeister nicht nützlicher, wenn sie gemeinsam auftreten können?«, hatte Berre gefragt. »Vielleicht«, hatte Karn geantwortet, »aber dann sind sie auch angreifbarer und verletzlicher – ganz gewiss, wenn es um den Düsteren geht. Ich mag gar nicht daran denken, dass es ihm gelingen könnte, mehrere Hochmeister auf einen Schlag auszuschalten.« Dem mussten die anderen Hochmeister vorbehaltlos zustimmen. »Wir halten untereinander mit unseren Tauben Kontakt«, hatte Karn ermutigend hinzugefügt. »In Notfällen können wir immer noch Halders Spur Der Unaufhaltsamen Schrift einsetzen.« Balmir erschrak. »Unser Freund des Nachtmeers ist doch hoffentlich nicht in der Lage, uns über diese Spur zu orten?« Karn schüttelte energisch den Kopf. »Nein, da könnt ihr mir fest vertrauen. Wenn das Volk seinen Gemeinschaftssinn und dann auch noch den Mut verliert, wird alles noch viel schwieriger. Ich übernehme die beiden Marwin-Inseln, Ostander und Dersden. So, und jetzt macht euch auf!« Die Hochmeister hatten sich auf den Weg gemacht, doch durchaus nicht alle waren begeistert. Jeder spürte den Druck der drohenden At24
tacken durch farblose Magie, und die Tatsache, dass sich unter ihnen ein Verräter befand, hatte die Stimmung nicht gerade gehoben.
Im nächtlichen Lohgipfel war nur das Tosen des Sturms zu hören. Die Schaumkronen auf den meterhohen Wellen erreichten mittlerweile die massiven Mauern der Festung. Der schwerste Sturm der Jahreszeit der Winde wurde stets ›das schwarze Herz des Winters‹ genannt, und zweifellos konnte der gegenwärtige Sturm in diesem Jahr den Titel für sich in Anspruch nehmen. Drinnen, in der Feuerstelle, tanzten unruhige Flammen als Beleg dafür, dass die Festung nicht verlassen war. Karn war zwei Wochen nach der Willenskonzentration in das uneinnehmbare Fort auf Lohgipfel zurückgekehrt. Der älteste Hochmeister saß vornübergebeugt am Herd und starrte in die Flammen. Er hatte sein Feld Unfokaler Trübung teilweise fallen lassen; die Falten und die beinahe schon durchsichtigen blauen Ringe unter den Augen unterstrichen die bleiche Hautfarbe. Er erinnerte schon mehr an eine alte Frau. Selbst über seinen sonst stets lebendigen Augen lag ein glanzloser Schleier. Karn war müde. Die Konzentration hatte ihm viel abverlangt, mehr als allen anderen Hochmeistern. Das hatte nur zum Teil mit seinem Alter zu tun. Doch seine Bitterkeit war nicht alleine auf dieses Ereignis zurückzuführen. »Das Jahr des Steindrachen«, flüsterte er in einem merkwürdigen Selbstgespräch. »Das Herz des Winters rückt näher, und die größten Sterne bewegen sich in einer höchst ungewöhnlichen Konjunktion aufeinander zu. Alle Zeichen deuten auf ein Ende des Neuntausendjahreszyklus hin, das aus dem Rahmen fällt. Sogar der Tod des Desran reicht nicht. Ich weiß, was ich zu tun hätte, doch es fällt mir schwer.« Wehmut schlich sich in seine Gedanken und ließ die Gesichtszüge weich erscheinen. »All diese Jahre, und dann sehe ich mich schließlich dieser Nacht gegenüber«, murmelte er rätselhaft. 25
Er war nicht einmal wirklich überrascht, als er hinter sich das leise Geräusch eines über den Boden schleifenden Mantelsaums hörte. »Seid Ihr es, Wyl?«, fragte er verhalten. Er drehte sich halb um und stellte fest, dass seine Intuition ihn nicht betrogen hatte. Wyl griff nach der Rückenlehne von Karns Sessel. Seine Finger krümmten sich zitternd, und die Nägel bohrten sich ins Holz, als er sich räusperte. »Ja, ich bin es, Karn. Nach unserem letzten Treffen sind bei mir noch ein paar Fragen offengeblieben.« Karn wendete sich wieder zum Kamin um und strich bedächtig über seinen Mantel aus exquisitem rotem Pelzsamt. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er antwortete. »Fragen.« Karn dehnte das Wort, als habe er es noch nie gehört. »Und deshalb trotzt Ihr diesem Sturm? Wie seid Ihr hierhergekommen?« »In Notsituationen greift man mitunter auf besondere Hilfsmaßnahmen zurück. Ich habe mich der Magie Der Doppelten Zeit bedient.« Karn zuckte die Achseln. »Ihr riskiert also Euer Leben. Das ist Eure eigene Entscheidung. Eure Fragen scheinen Euch überaus wichtig zu sein, Wyl. So wie Ihr meine Antworten vielleicht kennt, kenne ich Eure Fragen. Aber stellt sie dennoch.« »Eigentlich ist es nur eine einzige Frage.« Wyl schob sich in Karns Blickfeld. »Eine Frage, die mir auf der Seele brennt, seit ich weiß, dass der Verräter unter uns sich Zaylaot nennt. Dieses Wissen habe ich mir in Romander-Stadt besorgt. In Romander-Stadt, Karn, wo ich auch Euch gesehen habe.« Wyl bückte sich und brachte sein Gesicht ganz dicht an das Karns heran. Seine Augen funkelten. »Ich bin Gedächtnismeister, wie Ihr wissen dürftet. Neben etlichen magischen Zaubern beherrsche ich die Struktur und den Lauf meines Erinnerungsapparates wie kein anderer. Der Name Zaylaot ist Bestandteil Eures Wahren Namens. Ich hörte, wie Ihr ihn während der Willenskonzentration genannt habt. Wenn ich richtig kombiniert habe, ist es sogar einer Eurer Geburtsnamen. Meine einfache Frage lautet also: Seid Ihr es?« 26
Ohne Wyl anzuschauen antworte Karn: »Wie ich bereits sagte: Ihr kennt die Antwort.« Nach kurzem Schweigen fragte Wyl mit erstickter Stimme: »Warum?« Es klang wie ein Schmerzensschrei. Karn hatte dieses Wort als ›die stets schlummernde Frage‹, bezeichnet – jene Frage, die jeden Moment nach einer Erklärung und Rechtfertigung verlangen konnte. Derselbe Karn nahm jetzt den Samt seines Mantels in die Hand und schien ihn glattstreichen zu wollen. »Ihr werdet es nie erfahren.« Die unausgesprochenen Andeutungen dieser Antwort beunruhigten Wyl sichtlich. Er trat rasch einen Schritt zurück und zog mit einer Reihe geübter Fingerbewegungen und mehrerer gemurmelter Worte einen rötlichen Schirm um seinen Körper. Doch Karn schien keinerlei Anstalten zu unternehmen, ihn mit einer Zeitbeschwörung oder einer anderen Zauberattacke anzugehen. Der alte Zauberer hob lediglich den Kopf und starrte ins Kaminfeuer. »Das werdet Ihr nie erfahren, Wyl«, wiederholte er, während er sich stöhnend und mühsam erhob. Außerhalb der Mauern von Sturmburg schwoll der Sturm an. Die Tür ächzte in ihrer unerschütterlichen Abwehr der Elemente. Das Kaminfeuer loderte wild auf. Karn spreizte die Finger der rechten Hand, krümmte sie und vollführte eine ziehende Bewegung. Gleichzeitig machte er zischende Geräusche. Wyl sah seinen Schirm Der Dreifachen Verteidigung flackern und verschwinden. Dann spürte er, wie seine Füße den Halt verloren. Langsam wurde er in Karns Richtung gezogen. Eine Gegenbeschwörung gab es nicht, stellte er verzweifelt fest. Plötzlich ließ Karn seine Hand fallen. Der Sturm über Sturmburg legte sich. Die Festung schien in einer Blase der Stille eingeschlossen zu sein. Ganz kurz zitterte der Boden unter Wyls Füßen. Der Zauberer glaubte, in weiter Ferne ein unterirdisches Grummeln zu vernehmen. »Ich kann Euch mit einem Fingerschnippen zermalmen, Wyl«, flüsterte Karn mit aufeinander gebissenen Kiefern. »Meine Kraft beziehe 27
ich aus der Erde, und die wird zusammengehalten durch Gestein und durch …« Karn kam ganz dicht an Wyl heran. »… Worte.« Wyl spürte die Kraft, von der Kara sprach, wie eine massive Mauer über sich hinauswachsen. Er wurde leichenblass, stolperte rückwärts und versuchte, sich an einen schützenden Zauberspruch zu erinnern. Doch an der Stelle seines Geistes, an der sich all seine Zauber und Beschwörungen befanden, breitete sich ein dunkler Fleck aus. »Kitzgaiae …« Karn flüsterte das Wort bedächtig, mit einem Bass, der aus dem Innern der Erde selbst zu kommen schien. Er schloss den Mund nicht ganz, als wolle er noch etwas sagen. Gleichzeitig bewegte er Daumen und Zeigefinger der rechten Hand aufeinander zu. Es dauerte fast eine Ewigkeit, bis sie sich berührten. In demselben Moment spürte Wyl kalte Nadeln durch seinen Körper schießen und stellte fest, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Nicht einmal mit den Wimpern zucken konnte er. Karn ging zu ihm und legte ihm die rechte Hand auf die Schulter. »Die Loher Magie hat enge Grenzen im Vergleich zu dieser Zauberei. Macht Euch keine Sorgen, ich tue Euch nichts. Ich schließe Euch in den Gewölben unter diesem Raum ein, bis alles vorbei ist. Die Zeit ist noch nicht reif. Niemand braucht zu wissen, dass ich … jemand anders bin.« »Jemand anders, Karn? Wer seid Ihr denn?« Karn lächelte schwermütig. »Wer ich bin? Wie ich bereits sagte: Es ist noch zu früh. Ich habe zwar keinerlei Bedenken, dass es Euch vielleicht doch gelingen könnte, aus Sturmburgs Gewölben zu entkommen, doch in all meinen Leben habe ich gelernt, jedes Risiko zu vermeiden.« Er drehte sich um. »Angst, Karn?«, flüsterte Wyl, der die Worte ›in all meinen Leben‹ sorgfältig in seinem Gedächtnis unterbrachte. 28
Der älteste Hochmeister erstarrte. Dann schoss er wie der Blitz auf Wyl zu und bohrte ihm fast die Nase ins Gesicht. Das Feld Unfokaler Trübung flackerte kurz und verschwand. Plötzlich war da eine scheußliche Fratze – bleiche Haut mit grauen Flecken; Wangenknochen, die beinahe die Haut durchstießen; Augen, in denen sich die Düsternis in zwei pechschwarzen Punkten konzentrierte. So muss der Tod aussehen, dachte Wyl, dem das Herz bis zum Hals schlug. »Narr!« Karn spie das Wort mit schriller Stimme aus. »Ihr wisst nicht, was Ihr sagt. Passt auf, dass Ihr Eure Worte nicht auf ewig bereut. Angst ist etwas für einen Sterblichen.« Das letzte Wort stieß er voller Abscheu hervor. Sein Kopf wich einige Zentimeter zurück. In den schwarzen Augenhöhlen glühte jetzt rotes Feuer. Karn drückte seine beringte linke Faust unter Wyls Kinn. Ein roter Mangitstein glänzte in seiner goldenen Fassung. Wyl wusste, dass zwischen dem Stein und der Fassung einige in tödliches Gift getauchte Nadeln eingelassen waren. Absolut tödlich, selbst für einen Hochmeister. »Vielleicht sollte ich Euch Bekanntschaft mit der überraschenden Wirkung dieses Cuayrimide machen lassen. Oder sollte ich Euch lieber für ewige Zeiten zwischen Leben und Tod zappeln lassen, in der Dämmerwelt des Kahest?« Karn ließ den anderen Hochmeister unvermutet los und ging zum Kamin. Vor Wyls Augen verwandelte sich der alte Hochmeister erneut. Sein Mantel verfärbte sich in dunkles Grau, die Haut wurde kalkweiß, und in seinen Augenhöhlen funkelten jetzt grüne Lichter. Ein leichtes Grinsen entblößte die großen Zähne seines unregelmäßigen Gebisses. Eiskalte Finger tasteten nach Wyls Rückgrat. Wie hatte er jemals glauben können, diesem Karn sei zu trauen? Der Geruch von Angst und der Gestank von Verderben und dunkler Magie kroch aus dem Jahrtausende alten Gemäuer der Sturmburg hervor. Alles an dieser abscheulichen Erscheinung, die er bislang als Karn gekannt hatte, sagte ihm jetzt, dass der Hochmeister imstande war, ihn für immer zum Schweigen zu bringen. Verzweifelt suchte Wyl nach 29
einem Ausweg, musste aber bald erkennen, dass ihm nur eine einzige Waffe blieb. »Also doch Angst, Karn? Warum wagt Ihr es nicht, mir zu sagen, wer Ihr wirklich seid? Ist die Wahrheit so schrecklich? Auch für Euch selbst? Habt Ihr …« Karn schoss erneut auf Wyl zu. Der linke Arm des Hochmeisters schwang wie der Flügel eines Vogels durch den Raum, und ein einzelnes Wort prallte Wyl wie ein Mangitblock an den Kopf. »Kchuiemahoram! « Wyl sank wie eine leblose Puppe in sich zusammen und verlor das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam und die Augen aufschlug, zerrte Karn ihn hoch und drückte ihm mit dem Unterarm die Kehle zu. Das Gesicht näherte sich ihm wieder bis auf wenige Zentimeter. »Unverbesserlicher Narr!«, zischte Karn. Die Stimme war noch eine Oktave höher geklettert. »Möge Euch As nach dem Tode holen! Ihr wisst nicht, was Ihr sagt.« Dann ließ er Wyl los, und dieser spürte, wie er seine Handlungsfreiheit zurückgewann. Trotz Karns heftiger Reaktion besaß Wyl immer noch genügend Kaltblütigkeit, um den Namen As in seinem Gedächtnis zu speichern. Er kannte diesen Namen. Doch vorerst befand er sich in einer hoffnungslosen Lage. Er schaute auf. Das Feld Unfokaler Trübung verdeckte wieder die Angst einflößende Erscheinung, und Karn war wieder der, als den er ihn immer gekannt hatte. Noch immer gähnte an jener Stelle seines Geistes, an der normalerweise die magischen Fähigkeiten angesiedelt waren, ein schwarzes Loch. Doch der Rest seines Verstandes arbeitete fieberhaft. Ein fürchterlicher Gedanke kam in ihm auf. Er musste sich am Tischrand abstützen. Mit weit aufgerissenen Augen stammelte er: »Seid Ihr der Düstere, Karn?« Eine Zeit lang war es still, und Wyl sah, wie sich auf Karns Gesicht Fassungslosigkeit ausbreitete. Dann warf der alte Hochmeister den 30
Kopf in den Nacken und brach in ein hohes, schrilles Lachen aus. Es dauerte eine ganze Zeit, ehe er sich wieder beruhigt hatte. »Wie ich schon mehrfach bemerkt habe«, wieherte er mit einem breiten Grinsen, »Ihr wisst nicht, was Ihr sagt. Mein Vorhaben zieht eine völlig andere Spur durch die Jahrtausende hindurch. Mein altes Blut ist diese Spur. Kommt, es wird Zeit, Euch einzuschließen. Der Tag bricht an, und meine Anwesenheit ist an mehreren Orten gefragt. Ich habe Euch Eurer besonderen Fähigkeiten beraubt, Ihr werdet also all Eure normale menschliche Vernunft gebrauchen müssen, um Euch aus dieser Lage zu befreien. Aber ich bin kein Ungeheuer. Ich werde Euch genügend Nahrung, Wasser und sogar Holz hier lassen, damit Ihr Euch wärmen könnt.« Karn drehte sich um und ging Wyl voraus in die Gewölbe der Sturmburg. Wyl folgte ihm willenlos. Als Karn sich umschaute, um zu sehen, ob der andere hinter ihm war, bemerkte Wyl für einen Moment eine andere Gestalt unter den vielen Schirmen, die Karn um seinen Körper herum errichtet hatte. Zu seiner Verwirrung schienen es die Umrisse einer großen, schlanken Frau zu sein. Schwarze Stecknadelknöpfe glühten in den grimmig zusammengekniffenen Augen. Karn eine Frau? Bestürzt versuchte er das Bild festzuhalten, doch fast schien es, als werde auch sein Gedächtnis von Karns unvorstellbaren magischen Kräften beherrscht, denn nur Sekundenbruchteile später sah er Karn wieder als den ihm vertrauten alten Hochmeister. Wie zuvor umflackerte dessen Gesicht ein Feld Unfokaler Trübung.
Kurze Zeit später saß Wyl auf den kalten, feuchten Steinen des einzigen Kerkers, den es auf Sturmburg gab. Wasser tröpfelte in die Rinne entlang der Mauer, und an der anderen Seite stand eine Tonne mit nahrhafter Küstenweide und ungesäuertem Brot. In einer Nische war ein Loch in den Boden eingelassen, wo Wyl seine Notdurft verrichten konnte. Eine Zeit lang würde er es hier so aushalten können. Und bis dahin würde wohl einer der anderen Hochmeister auftauchen. 31
Er versuchte, die in seinem Kopf umherwirbelnden Gedanken zu ordnen. Die zerstörerische Kraft von Karns Magie hatte ihn bis ins Mark getroffen. Karn war um ein Vielfaches mächtiger, als er es sich je hätte träumen lassen, mächtiger sogar, als sich überhaupt jemand vorstellen konnte. Was Karn mit ihm angestellt hatte, war der Beweis, dass hier Zauberei im Spiel war, die die Loher Magie bei weitem in den Schatten stellte – genau wie Karn gesagt hatte. Es war kaum denkbar, dass der Zauberlose dem gewachsen sein sollte, wenn es darauf ankäme. Er hatte sogar Zweifel, ob die vereinten Zauberkräfte der übrigen Hochmeister Karn in die Schranken verweisen könnten. Langsam kam er wieder zur Ruhe und überdachte seine Lage. Seine Magie stand ihm nicht mehr zur Verfügung; daher war ein Entkommen aus dem Kerker unmöglich. Auf jeden Fall hatte er aber genug Zeit, um Pläne zu schmieden. Ein schmales Fenster gewährte den Blick auf einen grauen Morgenhimmel. Die ersten Schneeflocken des Winters schwebten auf Sturmburg herab. Ein Schatten glitt durch das fahle Licht; ein großer, grauer Vogel schraubte sich in die Höhe und flog dann einen weiten Bogen – in westliche Richtung, glaubte Wyl, war sich aber nicht sicher. Zu seiner Überraschung meinte er kurz darauf ein Lärmen und Poltern über sich zu hören. Er begann zu rufen; vielleicht hatte sich ja einer der Hochmeister unerwartet nach Sturmburg begeben. Doch alles blieb still.
Die Tage reihten sich aneinander wie eine weiße Perlenkette. Draußen überzog der Schnee Sturmburg mit einer dicken, weichen Decke. Winterliche Kälte drang in den Kerker, und Wyl gelang es nur mühsam, sich warm zu halten. Karn hatte Feuersteine zurückgelassen, und es war ausreichend Holz vorhanden, doch es war feucht geworden und wollte nicht recht brennen. Wyls Mantel und eine Decke, die Karn ihm gegeben hatte, boten ihm zwar Schutz vor den ärgsten Unbilden des Winters, doch die Kälte in seinem Herzen konnte dadurch nicht besei32
tigt werden. Eine Flucht war schlichtweg unmöglich. Er war bloß eine machtlose Figur in einem Schachspiel. Dennoch hatte er alle Zeit der Welt, um nachzudenken, und dies nutzte er in vollem Umfang. Er kam zu dem Schluss, dass er als Hochmeister sehr viel über die Loher Magie wusste, ansonsten aber wenig informiert war. Er vermutete, dass hinter dem Machtkampf, der sich unter den Hochmeistern, den Solitären und im Palast Kryst Valdare abzeichnete, noch eine ganz andere Auseinandersetzung abspielte. Ein Kampf auf Leben und Tod. Es ging um unvorstellbar lange Leben, doch das Ergebnis war ein Tod, der ebenso endgültig war wie bei jedem normalen Sterblichen. Irgendwo in der Geschichte, wahrscheinlich noch in den Tagen vor dem Neuntausendjahreszyklus, wurzelten Intrigen, die Wyl ein Rätsel waren. Intrigen unter Menschen, ihm unbekannten Wesen, über deren Kräfte er nichts wusste. Karn war nicht der Karn, der das Konklave der Hochmeister leitete. Immerhin war es ihm gelungen, Karn zu erzürnen. In seiner Wut hatte er Worte gesprochen, die er normalerweise wohl nie preisgegeben hätte. Wyl war noch nicht dahinter gestiegen, ob Karn ein vollkommen verderbtes Wesen sei, oder ob in ihm noch etwas Gutes steckte. Er wusste nur, dass Karn sehr viel älter war, als alle annahmen. Der alte Hochmeister hatte As erwähnt. Da Wyl Studien in dieser Richtung betrieben hatte, kannte er den Namen As zufällig. Die Existenz dieser Kreatur, eines unheilvollen Wesens, eines jettschwarzen Zauberers, halb Mensch, halb Tier, wurde immer wieder in Zweifel gezogen. Doch wenn As gelebt hatte, lag dies annähernd achtzehntausend Jahre zurück. Zweimal neuntausend Jahre. Es gab zu viele halb entschleierte Mysterien und zu wenig Antworten. »Möge Euch As nach dem Tode holen!« Karn hatte diesen Satz Wort für Wort ausgespuckt, doch wie jemand, der ihn schon häufiger benutzt hatte. As wurde zuweilen auch als der Mann mit tausend Namen bezeichnet. Tausend Namen, da jedes Zeitalter andere Ausdrücke für das Übel benutzte, das As verkörperte. Begriffe mit dunkler Bedeutung, einem Klang, der die Nerven oft an empfindlicher Stelle traf. Einige kannte Wyl auswendig: Gorokh Uymandyl, Mythroyn, Sothogdor, Maylek, Ayes um Ovyrondek und natürlich auch Mathathruin. 33
Außerdem hatte Karn von ›all meinen Leben‹ gesprochen. Demnach war er möglicherweise achtzehntausend Jahre alt. Vielleicht sogar noch älter. Wyl fragte sich, ob Karn womöglich so alt war wie der gesamte Zyklus farbloser Magie: hundertdreizehn mal neuntausend Jahre. Wyl versuchte sich dies vorzustellen, doch es gelang ihm nicht. Und trotz allem war Karn, soweit Wyl wusste, in dem kleinen Dorf Altstock geboren, einen Steinwurf von Ost-Loh entfernt. Schon früh hatten sich seine außerordentlichen magischen Gaben gezeigt. Karn, der Meister des Kompromisses, der unangefochtene Führer der Hochmeister, größter Magier auf Loh und demzufolge des gesamten Reiches. Karn, Lohs spezieller Abgesandter und Ratsherr des Desran. Und er, Wyl, Hochmeister des Konklave von Loh, hatte ebendiesen Karn des Verrats überführt. Doch handelte es sich wirklich um denselben Karn? Wyl erinnerte sich der unterschiedlichen Gesichter, mit denen Karn aufgetreten war. Rätsel, Mysterien, doch keine Lösungen, keine Antworten. Langsam sog Wyl die kalte, feuchte Kerkerluft ein. Karn hatte gesagt, er sei mit einem anderen Vorhaben beschäftigt als der Düstere. Wyl hatte ihm geglaubt. Wahrscheinlich machte Karn sich die Verwirrung im Reich zunutze, um seine eigenen Ziele zu verfolgen. Und dann noch die andere Frage: Warum hatte Karn ihn nicht getötet? Karn tat nichts ohne Berechnung; darum konnte Wyl nicht begreifen, weshalb er noch lebte. Er seufzte tief. Eines war sicher: Er hatte Zeit genug, um sich auch darüber den Kopf zu zerbrechen.
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3 Verfolgung (1) »Gemeinsame Interessen machen den Feind zum Freund.« – Sprichwort auf Gyt Der junge Mann, blond wie der Mond und mit eingefallenen Wangen, deren Haut sich über den vorstehenden Wangenknochen spannte, ging mit dem selbstsicheren Schritt eines Knaben an Land, der keinen Rückschlag fürchtet. Die Art und Weise, wie er sein langes Schwert an der Hüfte trug, sprach für erheblich größere Fertigkeiten, als man ihm aufgrund seiner Jugend zugetraut hätte. Das Schiff, das er verließ, eine flachbodige Winterfeder mit zusätzlichen Treibern an Bord, kam aus Groß-Marvin und war über Nayar, Ostander-Hafen, Gynt auf Dersden, Kurm, Tarfandel und Speet in Meda-Tal gelandet. Der Knabe reiste alleine, begleitet nur von seinem Schwert, einem Rucksack mit Kleidung und Nahrung darin sowie einem gut gefüllten Beutel mit Speilstücken. Gerüchte hatten ihn nach Meda-Tal geführt. Die wichtigste Stadt auf Areges besaß einen ansehnlichen Hafen, der als Platz zum Überwintern sehr beliebt war. Das Ziel des jungen Mannes war so klar, wie die Gerüchte vage gewesen waren. Da er den Aufenthaltsort einer bestimmten Person in Erfahrung bringen wollte, ohne dabei seine Anonymität aufgeben zu müssen, bezog er unter dem Namen Amertin Dinkersson aus Feder ein Zimmer in einer kleinen Herberge von Alt-Meda-Tal. Als er dies geregelt hatte, begab er sich zum Büro des Hafenmeisters. »Ich suche ein Schiff«, sagte er dem Hafenmeister, einem knorrig 35
aussehenden Mann mittleren Alters, der ihn zurückhaltend musterte. »Es heißt Herz von Handera. Angeblich ist es hier vor einigen Tagen vor Anker gegangen.« »An Landratten erteile ich keine Auskünfte über Schiffsbewegungen«, brummte der Mann. Amertin fragte sich, woher der Hafenmeister so genau wissen wollte, dass er eine Landratte sei. Der Mann kehrte ihm ostentativ den Rücken zu, beugte sich über den Papierkram, der vor ihm auf dem Tisch lag, und setzte seine Schreibfeder auf ein teilweise beschriebenes Blatt. Amertin starrte eine Weile auf den Rücken des Mannes. Er holte tief Luft, blies die Wangen auf und nahm fünf Silberstücke aus seinem Beutel. Dann trat er ein paar Schritte vor und ließ die Münzen deutlich hörbar auf den Tisch fallen. Der Mann spähte zu den Speilstücken hinüber und blickte anschließend auf Amertin. »Ihr versucht mich zu bestechen?« Amertin grinste breit. »Mein Herr, ich möchte nur deutlich machen, dass die erwünschte Information für mich einen gewissen Gegenwert in Speilstücken darstellt. Ist das Bestechung oder ein fairer Handel?« Der Mann kratzte sich am Kinn und schaute weiter auf das Geld. »Vielleicht ist der Preis für die von Euch erwünschten Auskünfte höher …« Amertin legte mit Leichenbittermiene fünf silberne Speilstücke dazu. Der Hafenmeister stand auf und holte einen dickleibigen Folianten aus dem Schrank, ließ ihn auf den Tisch fallen und strich mit einer flinken Handbewegung die Münzen ein. »Wie hieß das Schiff, sagtet Ihr?« »Herz von Handera.« Der Mann beugte sich über die Papiere und ließ den Zeigefinger über eine Reihe von Schiffsnamen gleiten. »Ah, hier«, brummte er zufrieden. »Das Schiff liegt noch immer im Hafen. Bei dem Sturm letzte Woche wurde es beschädigt.« Er stand auf, holte ein dünnes Heft aus dem Schrank und überflog den Inhalt. Plötzlich zog er die dunklen Augenbrauen hoch. 36
»Was für ein Zufall! Der Kapitän, ein gewisser Fexe aus Sommerfreuden, teilte gestern Abend mit, er wolle heute kurz vor Sonnenuntergang den Hafen verlassen. Das Hafengeld hat er bereits bezahlt.« »Das trifft sich gut«, sagte Amertin. »Gibt es noch weitere Schiffe, die heute Abend auslaufen wollen?« Der Hafenmeister schielte auf Amertins Geldbeutel. Er schien zu überlegen, ob er für die zusätzlichen Informationen auch ein zusätzliches Honorar einfordern solle, doch schließlich beugte er sich erneut über seine Aufzeichnungen. »Hier steht nur, dass die drei Schiffe vom Hof des Desran morgen oder übermorgen die Überfahrt zur Insel Romander wagen wollen, je nach Wetterlage. Es sind Sologaleeren. Sie haben am Ende der Stadt angelegt, am Winterkai. Ansonsten liegen keine Meldungen vor.« »Kennt Ihr den Namen eines der Kapitäne der Hof-Galeeren?« »Tyrandel aus Beilgang führt den Befehl über alle drei Schiffe. Ihr findet ihn auf der größten der drei Galeeren, dem Steindrachen von Südwelle.« »Herzlichen Dank«, sagte Amertin und ging zur Tür. Dann erschien ein harter Zug um seinen Mund. Er drehte sich um, ging zurück zum Hafenmeister und bewegte den kleinen Finger der rechten Hand. Mit trockenem Klicken schoss ein Handgelenkdolch hervor. Amertin hielt dem Mann die Klinge unter die Nase. »Falls nach mir gefragt werden sollte: Ich bin hier nie gewesen!« Der Hafenmeister schaute mit ungerührtem Blick vom Messer auf Amertin und zuckte mit den Achseln. Dann beugte er sich wieder über seine Arbeit und brummte ungehalten: »Wie der junge Herr wünschen.« Amertin verließ das Büro und schlug den Weg zum Winterkai ein. Die drei Hof-Galeeren waren schon von weitem zu sehen. Die Flagge mit dem roten kaiserlichen Wappen flatterte an allen drei Masten des Großsegels. Amertin betrat die Laufplanke des Steindrachen von Südwelle und fragte einen jungen Matrosen, der mit dem Rücken an der Reling lehnte, wo er Kapitän Tyrandel finden könne. Der Junge wies auf den Aufbau am Achtersteven. 37
Kapitän Tyrandel war ein baumlanger Mann mit einem Kranz grauer Haare und struppigen grauen Brauen über den stechenden dunkelbraunen Augen. Er trug die Uniform des Hofes mit ihren goldenen Stickereien, zierlichen Tressen und den kunstvoll geflochtenen Epauletten auf den Schultern. »Kapitän«, begann Amertin wenig beeindruckt, »mir wäre sehr daran gelegen, eines Eurer Schiffe für einen wichtigen Auftrag zu chartern.« Tyrandel schaute ihn kühl an. »Mit wem habe ich die Ehre?« »Nennt mich Amertin aus Feder. Wer genau ich bin, ist an sich unerheblich. Ich hege einen Groll gegen eine bestimmte Person. Schon seit geraumer Zeit versuche ich herauszufinden, wo dieser Mensch sich aufhält. Mir wurde zugetragen, einige der Passagiere jenes Schiffes, das Herz von Handera genannt wird, befänden sich auf dem Weg zu besagter Person.« »Und?«, fragte Tyrandel desinteressiert. »Unsere Interessen scheinen sich zu decken, denn mir geht es um jemanden, in dessen Gesellschaft sich ein Junge befindet, der ›Unmagier‹ genannt wird.« Tyrandel erstarrte, schaute sich um, winkte den jungen Matrosen heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann geleitete er Amertin mit einer einladenden Geste in die Kapitänskajüte. Amertin öffnete den Mund, doch Tyrandel hob die Hand und sagte: »Wartet bitte, es kommt noch jemand hinzu.« Wenig später betrat ein Mann federnden Schrittes die Kajüte, nickte Tyrandel kurz zu und begutachtete Amertin mit kühlem, neugierigem Blick. Ein Berufskämpfer, dachte Amertin. Das eng anliegende Wams aus Leder und die bis über die Knie geflochtenen Sandalen wiesen auf einen Mann von der Insel Romander hin. Amertin konnte keinerlei Waffen an ihm entdecken. Die weißen, stilisierten Brauen des Mannes hoben sich, und schwarze Augen taxierten Amertin. »Er ist jung«, sagte der Mann heiser, »und neben dem langen Schwert 38
an der Hüfte hat er zwei Handgelenkdolche. Zwischen den Schulterblättern trägt er eine Rückenscheide. Darin befindet sich wahrscheinlich ein kleines Kampfschwert, wenig beindruckend, aber in seiner geübten Hand eine tödliche Waffe.« Amertin zuckte zusammen. Tyrandel schaute amüsiert zu. »Die Schwielen an den Knöcheln und am Handballen weisen daraufhin, dass er ein guter Kämpfer ist«, fuhr der Mann fort. »Seine Haut ist gegerbt, trotz seiner Jugend. Ich sehe hellblaue, tiefliegende Augen, vorstehende Wangenknochen, dünnes, blondes Haar und eine aufrechte Haltung. Ich rieche den leichten Duft von Salz und Dünenkirsche, aber keinen Angstschweiß. Ich sehe den einfachen und dennoch ehrlichen Schnitt seiner Tunika. Außerdem den schlichten Gürtel aus der Haut eines Dünenotters. Ich spüre seinen Wunsch zu schweigen und fühle seinen eigenwilligen Stolz, der an Halsstarrigkeit grenzt.« Der Mann wandte sich Tyrandel zu. »Kurm, würde ich sagen.« Ein Ausdruck ungläubigen Staunens huschte über Amertins Gesicht. »Dies ist Cughlyn aus Falm«, sagte Tyrandel, der zum ersten Mal lächelte. »Er ist ein Regulator des Desran. Sein Auftrag ähnelt sehr dem Euren, auch wenn der Eure auf anderen Pflichten beruht als der seine. Sein Auftrag gilt dem Unmagier. Euer Ziel ist mit Sicherheit der Mann aus Kurm, der mit der Gruppe des Unmagiers unterwegs ist. Ich stelle fest, dass unsere Zielsetzungen vorläufig noch demselben Kurs folgen. Ihr und Cughlyn arbeitet von nun an zusammen.« Amertin nickte dem Regulator zu und bestätigte dadurch mit gebührendem Respekt die Richtigkeit seiner Beobachtungen. Dann wandte er sich Tyrandel zu. »Ich sehe, dass ich es mit erfahrenen Menschen zu tun habe. Einverstanden, lassen wir uns unsere Interessen miteinander verknüpfen.« Tyrandel nickte. »Es reist noch jemand mit«, sagte er leichthin. »Diese Person wird in Kürze in Meda-Tal eintreffen und sich zu uns gesellen.« Über Amertins Gesicht glitt ein Hauch von Überraschung, doch er nahm die Mitteilung ohne ein Wort der Widerrede zur Kenntnis. 39
Sie begaben sich an Deck. Amertins Interesse galt einem großen grauen Vogel, der dicht über dem Wasser direkt auf das Schiff zugeflogen kam. »Ein Kaiseradler«, murmelte er. »Hier? Und zu dieser Jahreszeit?« Tyrandel hörte ihn, lächelte und schwieg. Der Vogel schwang sich höher in die Luft, flog mit ruhigem Flügelschlag über das Schiff hinweg und verschwand hinter der Fassade der Giebelhäuser am Kai. Nach weniger als einer Minute erschien dort eine Gestalt in grünem Mantel, das Gesicht im Schatten eines roten Kapult verborgen. Es überraschte Amertin keineswegs, dass die Person schnurstracks auf den Steindrachen von Südwelle zusteuerte, die Laufplanke hinaufstieg und sich ohne aufzuschauen zum Aufbau am Achterdeck begab. »Ein Magier«, murmelte er. »Ausgezeichnet.« Erneut lächelte Tyrandel. Kurz darauf überraschte der Kapitän die Mannschaft mit dem Auftrag, trotz der hereinbrechenden Dunkelheit und der Warnung vor dichtem Nebel und Winterstürmen sofort abzulegen. »Wohin, Käpt'n?«, fragte sein Steuermann. Tyrandel zeigte auf einen eleganten grauen Schatten, der oberhalb einer dünnen Nebeldecke langsam aus dem Hafen glitt. »Dem Schiff hinterher«, sagte er, wobei er den jungen Mann, der unbeweglich neben ihm stand, aus den Augenwinkeln beobachtete.
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4 Vorspiel in Romander-Stadt »Weder Desran noch Hochmeister oder Dulce sehen ein, dass es nicht ihre großen Widersacher sind, die ihre Macht ins Wanken bringen, sondern dem Anschein nach unwichtige Individuen.« – Aus ›Die Wirklichkeit ist eine Unwahrheit‹, von Karambul aus Feder Der Weg von Beilgang nach Romander-Stadt, eigentlich nur eine Wagenspur, die kaum genügend Platz für einen Ochsenkarren bot, schlängelte sich links und rechts um die Hügel des Avron und führte hier und da tief in die Nadelwälder hinein. Eine Kutsche, die von einem Fuchsstutengespann gezogen wurde, schaukelte über den trockenen Sand und zog hohe Staubwolken hinter sich her. Der Kutscher, ein großer, bärtiger Mann unbestimmten Alters, stemmte sich gegen das Stoßen und Schlingern des Fahrzeugs. Er hatte sich in eine Decke gehüllt, denn die kalten Tage waren angebrochen. Von Zeit zu Zeit beugte er sich nach vorne und zischte den Pferden etwas zu, woraufhin sie anhielten oder schneller liefen. »Grend«, rief er über das Rattern der Räder und Knarren der Kutsche hinweg, »seid Ihr Euch sicher, dass wir das Richtige tun?« Ein junger Mann mit schlichtem dunkelblondem Haar streckte den Kopf aus dem Fenster. »Dies sind die Tage der farblosen Magie, Veder aus Umkap. Wenn wir jetzt nichts unternehmen, handeln wir nicht im Geiste des Marakis. Prinzessin Darle und Prinzessin Quantiqa sind einer Meinung mit mir. Ihr seid der Einzige, der noch Bedenken hat.« 41
Veder beugte sich wieder vor und schnalzte mit der Zunge, sodass die Pferde in einen ruhigen Galopp verfielen. Zweimaliges Ziehen an den Zügeln ließ die Tiere kurz darauf im Schritt gehen. Der Kutscher biss sich einige Male überlegend auf die Unterlippe, ehe er wieder zu sprechen begann. »Solange diese farblose Magie sich mir nicht auf einen Bogenschuss Abstand zeigt, glaube ich nicht, dass es sie überhaupt gibt«, rief er schließlich nach hinten. »Und solange ich die Ränke im Palast nicht riechen kann, werdet Ihr mich von Edelfrau Ispers Verrat nicht überzeugen können. Ich glaube nur, was ich mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört habe.« Der junge Mann lehnte sich weiter aus dem Fenster und lächelte. »Aber, mein bester Veder, warum beeilen wir uns dann so sehr, möglichst schnell nach Kryst Valdare zu kommen?« »Weil Ihr es so wollt, Grend. Weil Ihr es wollt«, antwortete der Kutscher mit gespielter Unterwürfigkeit in der Stimme. Grend schwieg wohlweislich dazu. Noch immer spielte das Lächeln um seine Mundwinkel. Veder ließ die Pferde wieder schneller laufen. Der Tag neigte sich dem Ende zu, und am orangefarbenen Himmel zogen Wolken auf. Die Sonne stand tief über dem Horizont und blendete die beiden Männer, als sie eine Zeit lang in westlicher Richtung fuhren. Einige Kilometer weiter verliefen sich die Hügel allmählich in der Bucht von Westbeil, die im Süden Romander-Stadt berührte. Grend schnüffelte und sog die salzige Luft des Avron ein. Er schaute zum bewölkten Horizont. Schlechtes Wetter war im Anmarsch. Seine Gedanken wanderten zum Desran, den er nur aus der Ferne als Vater seines Freundes Marakis, des Kronprinzen, gekannt hatte. »Edelfrau Romander beweint den Heimgang ihres geliebten Heldensohns«, murmelte er. »Was sagt Ihr?«, fragte Veder. »Dichterisches Gefasel, mein Bester«, sagte Grend, wobei er Worte gebrauchte, derer sich sonst Veder ihm gegenüber gerne bediente. Veder wusste, wann er zu schweigen hatte. 42
Je näher sie Romander-Stadt kamen, desto mehr veränderte sich die Landschaft. Statt des waldreichen Hügellandes des Avron bestimmten hier kahle Felsen das Bild. Dies war altes Land, voller Risse und Runzeln. Die Kutsche rumpelte über unebenes graues Gestein, kämpfte sich ächzend bergauf und bergab durch schmale Hohlwege und erreichte schließlich nach Überwindung des Engpasses von Halderstafel, wo dem Wagen zu beiden Seiten weniger als eine Handbreit Platz blieb, die Anhöhe von Yndak. Die Grasebene markierte die nördliche Begrenzung der Stadt und war mit Bauernhöfen übersät. Als die Kutsche zwischen den ersten Häusern außerhalb der Stadtmauern hindurch mit der kurvigen und steilen Abfahrt begann, ging es plötzlich über Kopfsteinpflaster. Mittlerweile war es dunkel geworden; eine Lichterkette aus Fackeln zeigte schon von weitem die Straßen und Plätze der Stadt.
Als sie dann schließlich durch die Yndakpforte nach Romander-Stadt hineinfuhren, platschten dicke Regentropfen aufs Pflaster. Veder blieb kerzengerade auf dem Bock sitzen, als könne ihn der strömende Regen, der kurz darauf auf die Kutsche herabprasselte, nicht sonderlich beeindrucken. »Kryst Valdare«, meldete er eine halbe Stunde später über das Rattern der Räder und das Rauschen des Regens hinweg, nachdem sie sich durch das Gewirr verwinkelter Gassen, von Bäumen umsäumter Plätze, breiter Alleen und gradlinig verlaufender Prunkstraßen gekämpft hatten. Der Palast des Desran ragte hoch über ihnen in den Himmel. Wieder streckte Grend den Kopf aus dem Fenster. Er beugte sich weit vor und klopfte Veder freundschaftlich auf die Schulter. »Ihr könnt mich hier absetzen«, sagte er. »Ich muss versuchen, Marten noch zu erwischen. Mal sehen, was er von meinem Plan hält. Auf ihn kommt dabei die schwerste Aufgabe zu.« »Aber nur, wenn alles gut läuft«, brummte Veder. Er ließ die Pferde halten. »Ihr redet darüber, als wäre das Ganze ein Kinderspiel – dabei 43
ist es möglicherweise nichts weniger als eine Revolution. Es kann Euren Tod bedeuten! Wie könnt Ihr nur so ungerührt tun?« Grend zuckte mit den Achseln, legte sich den Mantel um und sprang leichtfüßig aus der Kutsche. »Das ist immer noch die sicherste Methode, sich zu beruhigen, mein bester Veder«, rief er über die Schulter, als er zum Palast eilte. »Wir übernachten in der Herberge Zum Gefallenen Waldraben in der Willmutsgasse. Meister Perk hat seine besten Zimmer für uns reserviert. Prinzessin Quantiqa ist ebenfalls dort. Wir sehen uns gleich.« Veder starrte dem Freund eine Weile kopfschüttelnd hinterher. Dann schnalzte er mit der Zunge, zog an den Zügeln und lenkte die ermüdeten Fuchsstuten in eine kleine Straße hinter dem Palast, wobei die Hufe der Pferde das Regenwasser aufspritzen ließen.
Das Kopfsteinpflaster glänzte. Bleischwere Wolken hingen über der Stadt. Ein kalter Wind pfiff über die Plätze und riss die letzten Blätter von den Turmlinden und Kanterbäumen. Nässe und Kälte drang einem durch Mark und Bein. Es war wirklich kein Tag, um sich draußen aufzuhalten. Dennoch säumten Zehntausende die Straße der Siebenhundert Schritte. Eine schweigende Menge, eine Mauer undurchdringlicher Masken. Romander-Stadt war in Trauer gehüllt. Die Bewohner beklagten den Tod ihres Desran, der am Tag der Parade der Siebenhundert Schritte so feige ermordet worden war. Zwischen den kahlen Ästen der Turmlinden waren dunkelgraue Girlanden gespannt, und vom Kristallturm hing ein mehrere hundert Meter langes Seidenbanner herab, auf dem sämtliche Tugenden und Leistungen des Desran in den eckigen Buchstaben der alten Sprache aufgeführt wurden. Sämtliche Händler und Ladenbesitzer hatten ihre Geschäfte geschlossen; das öffentliche Leben ruhte. Es war der Tag, an dem Xarden Lay Ypergion III. Desran des Inselreichs von Romander, zu Grabe getragen wurde. Die gedrückte Stimmung entsprach dem Wetter. Insgeheim verband die Menschen in der Menge vor dem Pa44
last ein tiefes Misstrauen, das jeden Moment in Volkszorn umschlagen konnte.
Edelfrau Isper, verschleiert und der Tradition entsprechend in ein Trauergewand aus dunkelgrauer Brokatseide und Jettsatin gekleidet, wartete unter dem dunklen Tor des Palasts Kryst Valdare auf den Beginn der Feierlichkeiten. Ihre Hände waren goldberingt, und auf ihren Busen hing an einer Kette aus Steinsilber ein großer schwarzer Edelstein mit einer Fassung in der Form einer Hand. Sie beobachtete die kaum verhohlene Feindseligkeit der Menge. Im Volk rumorte es vor Gerüchten, wie die Ratsmitglieder ihr berichtet hatten; Gerüchte über die Ermordung des Desran und die Rolle, die einige Mitglieder des Rates möglicherweise dabei gespielt hatten. Dankers Name wurde genannt, ebenso wie Tardel, und manche sagten auch der Edelfrau Hylmedera nichts Gutes nach. Nur ein einziges Mal fiel der Name von Edelfrau Isper selbst. Wer die Gerüchte in Umlauf gebracht hatte, war ihr ein Rätsel. Die fünf Personen, die den genauen Hergang der Tat kannten, hätten es sich bestimmt dreimal überlegt, bevor sie auch nur ein Wort darüber in die Welt gesetzt hätten, es sei denn, sie wären lebensmüde. Zu diesem schwelenden Unfrieden kamen die Gerüchte über die Attacken des Düsteren des Nachtmeers hinzu. Die Angst vor dem Unbekannten und Ungewissen steigerte die Wut. »Sind wir da sicher, Eure Erhabenheit?«, flüsterte Edelfrau Hylmedera, die neben Isper stand. Isper schaute Hylmedera spöttisch an. »Angst, mein Kind? Dann solltet Ihr lieber hierbleiben.« Hylmedera presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht, Erhabenheit. Ich mache mir nur Sorgen um Euch.« »Nicht nötig. Ich denke, Ihr solltet jetzt lieber schweigen.« Edelfrau Isper konnte sich kaum vorstellen, dass das Volk zu einem Todfeind würde. Sie hielt die Menschen für eine gesichtslose Masse, für 45
Material. Es gab sie nun einmal. In ihrem Spiel um die Macht waren sie höchstens lästige Elemente. Sie hatte nie verstanden, warum Xarden sich immer so eingehend um das gewöhnliche Volk gekümmert hatte. Für sie war dies auch im nachhinein ein Zeichen seiner Weichlichkeit.
Der Leichnam von Xarden Lay Ypergion III. Desran des Reichs von Romander, lag aufgebahrt im Sferium, der goldenen Kuppel, die am Ende der Straße der Siebenhundert Schritte gegenüber dem Palast stand. Der Sarg aus Kanterholz, am oberen Rand mit siebenundfünfzig Perlen und Rubinen verziert, stand an genau der Stelle, wo der Desran ermordet worden war. Der Sarg war verschlossen; die traditionelle Totenmaske aus ockergelbem Kyrit lag darauf. Vom Sferium aus würde sich der Trauerzug nach Ler Garmynt bewegen, zu jenem Hügel neben dem Sferium, auf dem alle Desrane begraben lagen. Der graue Leichenzug setzte sich in Bewegung. Vorneweg Oberhofmeister Tardak Sendiel in vollem Ornat, mit dem goldenen Stab aus Gold und Perlmutt. Dann Edelfrau Isper. Hinter ihr die Mitglieder des Rates und der Hofverwaltung, flankiert von Nayarener Palastgardisten, die zu diesem Anlass ihre bunte Zeremonienuniform gegen einen grauen Waffenrock mit roter Tunika eingetauscht hatten. Ihre stumpfen Paradeschwerter hatten sie gegen gefährlich aussehende krumme Kampfschwerter mit breiter Klinge gewechselt. Alle bewegten sich im traditionellen Schiebeschritt, bei dem zunächst der linke Fuß nach vorne geschoben und anschließend der rechte Fuß auf gleicher Höhe abgesetzt wurde. Die Menschenmenge ließ den Trauerzug als eine Mauer grimmiger Gesichter an sich vorüberziehen. Edelfrau Isper schien es nicht einmal zu bemerken. Auf halbem Wege zwischen Palast und Sferium ertönte plötzlich eine Frauenstimme in der Menge. »Wo ist Marakis? Wo ist unser neuer Desran?« Die Palastwachen versuchten herauszufinden, wer da gerufen hatte, doch sie standen nur verschlossenen Gesichtern gegenüber. 46
»Wo ist unser neuer Desran?«, erklang es aufs Neue. Und eine andere Stimme rief: »Wer hat Ypergion ermordet?« Edelfrau Isper schaute entgeistert auf und blieb stehen. »Wer hat das gerufen?«, fragte sie in einer Lautstärke, aus der ihr ganzer Zorn sprach. »Wer zieht die Totenruhe meines geliebten Xarden in den Schmutz?« Die Gesichter ihr gegenüber starrten unversöhnlich zurück. »Haltet den Mund, ihr Narren!« Die Edelfrau blickte hochherzig in die Menge. »Bezeugt dem Desran gefälligst Ehrerbietung und den Respekt, den er verdient, statt hier aufs Geratewohl mit Verdächtigungen um euch zuwerfen.« »Aufs Geratewohl?« Es war dieselbe Stimme, die gefragt hatte, wer Ypergion ermordet habe. Die Palastgarden drangen vor und versuchten, den Rufer auszumachen. Die Gesichter schlossen sich zusammen, nahmen ihnen die Sicht. Die Stimme rief spöttisch: »Ist es wahr, dass Edelfrau Isper beim Tod ihres ›geliebten Gatten‹ ihre Hand im Spiel hatte?« Edelfrau Isper schob die sie beschützenden Gardisten beiseite und stürmte mit ihrem massigen Körper auf die Menge zu. Was den Palastgardisten nicht gelungen war, erreichte sie spielend: Die erste Reihe riss auf, die Menschen wichen zur Seite. »Der Feigling soll sich endlich zeigen!«, schnaubte Isper. Sogar sie selbst erschrak, als sich ein junger Mann durch die Menge hindurchwurstelte und vortrat. Einen Meter vor Isper blieb er stehen. Es war ein dunkelblonder Junge von höchstens zwanzig Jahren, stolz, mit arrogantem Ausdruck in den braunen Augen. Die Palastgardisten stürmten auf ihn zu, doch Isper hob eine Hand, ging ihm entgegen und fixierte ihn aus nächster Nähe. »Wartet«, sagte sie stirnrunzelnd. »Ich kenne diesen jungen Mann. Ihr seid …« »Grend aus Pier, zu Befehl. Ihr kennt mich aus dem Palast. Ich wurde unlängst als Haushofmeister entlassen.« Er lächelte. Die Ruhe, die er ausstrahlte, verwirrte die Gardisten. Ihr 47
Kapitän machte keine Anstalten, Grend aus Pier festnehmen zu lassen. Stattdessen stellte er sich neben Grend. Seine graubraunen Augen blickten ohne jede Spur von Ehrerbietung auf Edelfrau Ispers füllige Figur, während er an seinem kurzen blonden Bart zupfte. »Eure Erhabenheit, was ist an den Gerüchten dran?« Eine Welle der Verwunderung wogte durch die Menge. Stellte sich ihre eigene Garde gegen die Edelfrau? Unangenehm berührt trat Edelfrau Isper einen Schritt zurück. »Kapitän!«, stieß sie hervor. »Nehmt Euch in Acht. Eure Fürstin gebietet Euch, diesen Grend aus Pier gefangen zu nehmen.« Der Kapitän dachte nicht daran, den Befehl auszuführen. Stattdessen schüttelte er den blonden Kopf, legte seine Hand an den Griff seines Schwertes und sagte: »Edelfrau, bei allem Respekt, aber Ihr seid nicht meine Fürstin. Nach dem Hinscheiden von Xarden Lay Ypergion ist Marakis der rechtmäßige Thronfolger. Ihr seid nicht mehr als eine selbsternannte Vertreterin in einem Machtvakuum. Das ist eine gefährliche Situation. Dass Ihr als Ypergions Erste Ehefrau diese Lücke zeitweise ausfüllt, kann ich noch akzeptieren. Aber ich kann nicht hinnehmen, dass Ihr Euch nicht unverzüglich auf die Suche nach Marakis, Eurem Sohn, gemacht habt.« Die Menge hielt den Atem an und drängte vor. Edelfrau Isper warf mit einer wütenden Gebärde den Schleier zurück. Auf ihrem Hals zeigten sich rote Flecken, und ihre Augen funkelten. Der schwarze Edelstein auf der Brust tanzte bei jedem ihrer schnellen Atemzüge auf und ab. Zweimal versuchte sie etwas zu sagen, doch vor lauter Wut brachte sie kein Wort heraus. Edelfrau Hylmedera schlich sich unauffällig in Richtung Palast davon. Mehrere Ratsmitglieder folgten ihr zögernd. »Euer Name, Kapitän«, stieß Isper schließlich hervor. »Marten aus Yr Dant«, antwortete der Kapitän selbstbewusst. »Ich bin seit langem mit Eurem Sohn Marakis befreundet. Dasselbe gilt für Grend, der hier neben mir steht, genauso wie für Halbprinzessin Quantiqa und eine Gruppe aus ihrer Umgebung. Wir sind besorgt wegen der Entwicklungen rund um den Palast. Ganz abgesehen von der Frage, wer den Desran ermordet hat, wüssten wir gerne, wo sich 48
Kronprinz Marakis momentan befindet. Könnt Ihr uns das sagen, Isper?« Isper starrte ihn offenen Mundes an. Das waren Fragen, an die sie nicht gewöhnt war. »Was soll dieser ganze Unsinn?«, brachte sie schließlich hervor. »Ihr versteht mich offenbar nicht. Meine Gardisten folgen einzig meinem Befehl. Euer Volk hegt tiefen Groll gegenüber dem Hof. Vielleicht bin ich sogar Eure einzige Chance.« Ispers Blick wurde glasig. »Meine einzige Chance?« »Ja, Edelfrau. Eure einzige Chance, diesen Tag oder diese Stunde zu überleben.« Zunächst weigerte sich Isper, die Bedeutung dieser Bemerkung zu sich durchdringen zu lassen. Sie suchte nach Worten, nach Befehlen, fand aber keine. Mit wildem Blick drehte sie sich schließlich zur Menge um. Sie fragte sich, ob die Leute über sie herfallen würden. Die Antwort konnte sie in den Augen der Umstehenden lesen. Sie brauchte die Unterstützung der Ratsmitglieder und der Hofverwaltung, doch sie fand nur noch den Ratsherrn Tardel, der die Entwicklung des Geschehens aus sicherer Entfernung verfolgte. Die anderen waren in den Palast geflohen. »Edelfrau, ich verhafte Euch wegen des Verdachts der Verschwörung gegen den Desran und das Reich, außerdem wegen der Beihilfe zum Mord«, sagte Marten laut. Isper wankte zurück, suchte mit beiden Händen nach Halt. Grend sprang zur Seite, um nicht von ihr umgestoßen zu werden. Marten gab seinen Gardisten ein Zeichen, und so wurde eine fassungslose Isper als Gefangene ihrer eigenen Garde in den Palast geführt. Martens entschlossenes Auftreten verfehlte anfangs nicht seine Wirkung. Der Ruf nach Gerechtigkeit wurde laut. Manche forderten auf der Stelle die Köpfe von Edelfrau Isper und den Ratsmitgliedern. Das Volk kam in Bewegung und drängte nach vorn. Der Garde gelang es gerade noch, die schweren Riegel aus Kanterholz in die schmiedeeisernen Halterungen des Palasttors von Kryst Valdare fallen zu lassen. 49
Den Menschen auf der Straße waren die vielen Fluchtwege bekannt, die unter der Stadt aus dem Palast herausführten. Ihnen war klar, dass sie Isper und die Ratsmitglieder nicht erwischen würden. Daher brauchte ihr Zorn ein neues Ziel, ein Ventil. Grend sprang auf ein Podest neben einer der fünfzig Meter hohen Turmlinden, die die Straße der Siebenhundert Schritte säumten. »Leute, hört mir zu!« Anfangs blieb nur eine Hand voll Menschen stehen. Doch Veder und Prinzessin Quantiqa konnten immer mehr davon überzeugen, dass Grend etwas Wichtiges zu sagen habe. »Leute, die Mörder des Desran werden ihrer gerechten Strafe nicht entgehen.« Als Antwort ertönten Jubel und Jauchzen, was bewirkte, dass sich noch mehr Menschen für den jungen Mann interessierten, von dem es hieß, er habe Edelfrau Isper zur Rede gestellt. »Ich verstehe Euren Zorn, und den will ich Euch auch gar nicht nehmen.« Immer mehr Zuhörer kamen herbeigeströmt. »Aber lasst uns uns jetzt dem Andenken an Xarden Lay Ypergion III. zuwenden. Das Gesetz besagt, dass er heute bestattet werden muss. Wer soll das tun? Wer bringt den Desran zu seiner letzten Ruhestätte? In der Satzung steht, dass der Desran ein Diener seines Volkes ist. Also lasst uns ihm unseren tiefen Respekt erweisen. Lasst uns, sein Volk, ihn mit allen Ehren bei seinen Vorgängern beisetzen.« Grends Vorschlag wurde weitergegeben. Überall erklangen zustimmende Rufe. Kurz darauf zogen Tausende Menschen hinter Grend her zum Sferium. »Ihr wisst, dass Ihr auf des Messers Schneide balanciert seid«, fuhr Veder Grend an, als er ihn endlich erreicht hatte. »Aber ich muss gestehen, dass es Euch gelungen ist, ein Chaos zu verhindern.« Grend zeigte ein liebenswürdiges Lächeln und schlug Veder auf die Schulter. »Glaubt nur ruhig weiter, dass ich weiß, was ich da angefangen habe«, flüsterte er. 50
Beim Begräbnis ging es drunter und drüber. Der Regen verwandelte sich langsam in Schneeregen. Hunderte Hände wurden ausgestreckt, um den Sarg noch einmal berühren zu können; dazwischen ertönten immer noch Rufe, die die Köpfe von Edelfrau Isper und den Ratsmitgliedern forderten. Doch der Respekt vor dem Desran gewann letztlich die Oberhand. Grend wies acht Männer an, den Sarg ins Grab hinunterzulassen. Ein Halbpriester der Solitäre trat vor und begann spontan, die Litanei der Ewigen Düsternis zu singen. Tausende Stimmen fielen in den Gesang ein. Nach dem dreimaligen »Wasser ist Leben, Leben ist Wasser« trat eine beeindruckende Stille ein, die minutenlang anhielt. Dann rief jemand: »Wo ist der Mann, der Edelfrau Isper zur Rede gestellt hat?« Grend wurde von Umstehenden nach vorne geschoben.
Veder blieb bei ihm und nahm Grend auf die Schultern, sodass jeder ihn sehen konnte. Er hatte die Stadt vor dem Volkszorn geschützt, hatte Gewalt und Plünderungen verhindert. Bis jetzt war alles ungefähr so verlaufen, wie er es sich erhofft hatte, doch die Aufgabe, die ihm jetzt aufgezwungen wurde, hielt er für zu schwer. Zum ersten Mal nahm er den Geruch seines Angstschweißes wahr. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Veder spürte Grends Zweifel. »Fangt einfach an zu reden, Mensch, die Worte kommen schon von selbst. So war es immer.« Er hob den Kopf und rief: »Grend aus Pier wird zu euch sprechen.« Grend fühlte sich immer noch lächerlich, wie er da auf Veders Schulter saß. Er wusste nicht, wohin mit seinen Händen, legte sie schließlich auf die Knie und ermannte sich. Er brauchte wirklich nicht nach Worten zu suchen. Sie waren in seinem Kopf. »Volk von Romander-Stadt«, begann er. »Dies ist ein denkwürdiger Tag. Wir haben Abschied von unserem Desran genommen. Er hinterlässt eine Lücke. Nicht Edelfrau Isper und ihre Gefolgsleute werden 51
diese Lücke schließen, nein, das kann nur Marakis. Doch er ist nicht hier, sondern irgendwo im Reich unterwegs, um dem Unmagier bei der Suche nach dem Versteck des Düsteren des Nachtmeers zu helfen. Ich bin sicher, dass sie ihr Unterfangen, das verhängnisvolle Vordringen der farblosen Magie aufzuhalten, erfolgreich beenden werden.« Er schwieg. Niemand sagte ein Wort. Tausende Augen hingen an seinen Lippen, warteten darauf, dass er fortfuhr. Er holte tief Luft. »Marten aus Yr Dant, der Kapitän der Palastwache, der soeben Edelfrau Isper hat abführen lassen, genießt das Vertrauen von Marakis. Das kann ich euch aus erster Hand bestätigen. Er sollte so lange die Macht verwalten, bis unser Kronprinz zurückgekehrt ist.« Prinzessin Quantiqa, in einen unauffälligen grauen Mantel gekleidet, begann zu applaudieren. Die Umstehenden schlossen sich ihr an. Grend hob beide Hände. »Wenn es etwas gibt, das Marakis auf keinen Fall haben möchte, ist es Aufruhr in der Stadt – seiner Stadt. Er verabscheut Gewalt. Lasst uns unsere Würde bewahren und ruhig nach Hause gehen. Wer dazu beitragen möchte, dass Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten werden und an der rechtmäßigen Thronbesteigung von Marakis in geregelten Bahnen interessiert ist, kann sich gleich bei mir melden.« Und so laut er konnte, setzte er hinzu: »Volk von Romander-Stadt, Xarden Lay Ypergion III. ist verschieden, doch sein Thronfolger wird bald schon erscheinen. Hoch lebe Marakis!« Die Menge jubelte. Grend ließ sich von Veders Schulter gleiten. Die Leute um ihn herum klopften ihm auf den Rücken, berührten ihn ehrfürchtig oder murmelten anerkennende Worte. Kurz darauf zerstreute sich die Menge, und die meisten taten, worum Grend sie gebeten hatte: Sie gingen nach Hause. Ein paar hundert Männer und Frauen, die sich als Freiwillige gemeldet hatten, blieben zurück.
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5 In den Schluchten »Wie der Rauch, der aufsteigt, nachdem die Flamme gelöscht ist, so fühlten wir uns, nachdem er uns verlassen hatte.« – Aus der anonymen Schrift ›Die Tage des Zauberlosen‹, das im Jahr des Steindrachen gefunden wurde, im alten und neuen Jahr Lan-Gyt schien im Zentrum einer Windstille zu liegen. Nachdem Lethe vom Wasser verschluckt worden war, war dichter Nebel vom Meer heraufgezogen und hatte sich über das Land gelegt. Mit dem Nebel war die Kälte gekommen. Um den westlichen Teil der Insel herum tobten sich in einigem Abstand heftige Winde, Unwetter und Stürme aus. Man konnte meinen, die Welt der Schluchten verschaffe sich Raum für ihre stille Trauer. Die Reisegefährten schlugen ihr Lager in einem als Sackgasse endenden Seitenarm der Hauptschlucht auf, einem unwegsamen Tal voller Tuffsteinformationen, die an die phantastischsten Kreaturen und Gebilde erinnerten. Der schmale Zugang zum Seitenarm wurde in der Schlucht durch eine Reihe von Felsbrocken und stachelige Sträucher geschützt. Lethes Verschwinden hatte für ein Gefühl der Niedergeschlagenheit gesorgt. Auch wenn es immer so ausgesehen hatte, als hätten Hochmeister Matei und Meister Llanfereit aus Wering die Leitung innegehabt – ohne Lethe war die Gruppe jetzt führungslos. »Das Herz unserer Mission hat uns verlassen«, hatte Matei selbst gesagt. 53
»Worauf warten wir?«, fragte Marakis, Kronprinz des Reichs von Romander, am Morgen des dritten Tages, als sie um ein Feuer herumsaßen. Matei, der schon eine ganze Weile in Gedanken versunken in die Flammen gestarrt hatte, schaute auf. Marakis erschrak ein wenig über den leeren Blick des Hochmeisters. Als müsse der Zauberer eine schwere Last mit sich herumschleppen. »Wir warten nicht«, brummte Matei. Auf seiner Stirn bildete sich ein Netz von Falten. »Lethe kommt auf keinen Fall zurück.« Fünf Augenpaare starrten ihn an. Er strich sich über den dunkelblonden Bart, der mittlerweile über den Kragen seines Mantels hinabfiel. In den letzten Wochen hatte er sich wenig um sein Äußeres gekümmert, und schon gar nicht um das Stutzen seines Bartes. Marakis' braune Augen blitzten auf. Er war nahe daran, etwas zu sagen, überlegte es sich im letzten Moment aber anders. Pit starrte zu Boden und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ehrlich gesagt bin ich derzeit mit nichts anderem beschäftigt, als Mut zu sammeln«, sagte Matei leise. Er zupfte an seinem Bart, streckte den Rücken und kniff die Augen einige Male kräftig zu, als könne er so seine Müdigkeit vertreiben. »Wir machen weiter. Wir suchen weiterhin nach Hinweisen, die uns auf die Spur des Düsteren bringen können. Lethe haben wir verloren, doch wir können immer noch von Llanfereits Fähigkeiten und dem scharfen Verstand seiner Schülerin profitieren. Außerdem stehen uns die Stärke und Schwertkunst eines Gaithnard, die Schlauheit und die Kenntnisse eines Dotar sowie Eure Intelligenz zur Verfügung, Marakis.« Es schien, als schöpfe Matei aus seinen Worten selbst neuen Mut. Er stand auf und schlug sich mit der Faust in die offene Handfläche. »Also los, Leute! Nachdem Lethe nicht mehr da ist, ruht eine umso größere Verantwortung auf unseren Schultern. Einige von Randoëls Spuren haben wir bereits gefunden, jetzt müssen wir versuchen, den Rest zu schaffen. Wenn wir …« »Wo ist Lethe?« Die Worte des Waffenmeisters Gaithnard fielen wie Felsbrocken in 54
die Runde. Jeder von ihnen war zu ängstlich gewesen, die Frage zu stellen. Und sowohl Matei als auch Llanfereit, die vielleicht beide die Antwort kannten, hatten bislang geschwiegen. Matei starrte auf die Wand der Schlucht und kaute auf der Unterlippe. Er suchte nach Worten, doch es war Llanfereit, der antwortete. »Wo genau Lethe sich aufhält, weiß ich nicht. Ich habe ihm versprochen, bei ihm zu sein, wenn sich das ereignet, was soeben geschehen ist. Nun, ich habe versagt. Das ist eine schwere Niederlage für mich. Trotz all meiner Fähigkeiten war ich nicht imstande, Lethe in seiner dunkelsten Stunde beizustehen. Ich weiß nur, dass er sich mit seinem Schicksal abgefunden hat.« »Lebt er noch?« »Er lebt. Aber er hat sich auf eine Art und Weise verändert, die unser Begriffsvermögen übersteigt. Ich kann euch nichts darüber sagen. Glaubt mir, ihr würdet kaum wollen, dass ich euch mehr darüber berichte. Außerdem ist mir selbst ja auch nicht alles bekannt. Vielleicht später einmal.« Die Reisegefährten versuchten, die Worte zu verarbeiten. Dotar, der frühere Regulator des Desran, der bislang ziemlich schweigsam geblieben war, fragte: »Werden wir Lethe jemals wiedersehen?« Matei seufzte und kratzte sich am Ohr. »Wenn ich diese Frage beantworten könnte, wäre ich ein ganzes Stück weiter. Derzeit sehe ich es so, dass die Wahrscheinlichkeit, ihm noch einmal zu begegnen, äußerst gering ist. Die früheren Unmagier kamen nach ihrer Veränderung, ihrer Metamorphose aus ihrem neuen … äh, Zustand nicht mehr heraus und wurden später nie mehr in ihrer ursprünglichen Gestalt gesehen.« Zwischen Gaithnards Augen bildeten sich zwei tiefe Zornesfalten. »Die Zauberer wissen mehr darüber«, sagte er spitz. »Warum wird uns dieses Wissen vorenthalten? Vertraut man uns nicht?« Matei und Llanfereit wechselten einen kurzen Blick. Llanfereit zuckte die Achseln und nickte. »Es gibt alte Schriften«, sagte er zögernd. »Sie wurden lange Zeit als Volksmärchen und normale Erzählungen betrachtet. Vor ungefähr zehn 55
Jahren kam ich zu der Überzeugung, dass in diesen Erzählung sehr viele Verweise auf den Unmagier stecken. Indirekte Hinweise, verborgen, verschlüsselt in einer Flut seltsamer Vokabeln und rätselhafter Geschichten. Es ist nicht zu hoch gegriffen, wenn ich die Arbeit daran als mein Lebenswerk bezeichne. Zusammen mit Pit habe ich in den letzten Jahren versucht, so viele Erzählungen wie möglich zu sammeln. Wir waren bemüht, all diese Hinweise zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, zu einer eigenständigen Geschichte. Manchmal half Matei uns dabei.« »Und woher wusstet Ihr, dass eine bestimmte Erzählung Hinweise beinhalten könnte?«, fragte Marakis. Llanfereit nickte, als wollte er der Frage seinen Segen erteilen. »Das wusste ich nicht. Anfangs haben wir auch gar nicht danach gesucht. Bei einer Inventur meiner gesamten Schriften und Bücher über Randoëls Zeit entdeckte ich durch Zufall, dass bestimmte Werke und Schriftrollen auffällige kryptische Verweise auf Randoëls Schriften enthielten. Wir machten den Fehler« – bei diesen Worten schaute er mit hochgezogenen Mundwinkeln zu Pit hinüber –, »in diesen Geschichten selbst nach weiteren und neuen Hinweisen und Erklärungen für die Rätsel zu suchen. Darüber haben wir viel Zeit verloren. Pit, meine über alles Lob erhabene Pit, rüttelte wie gewöhnlich meinen eingerosteten Gedankenapparat wach. Sie fand heraus, dass der rote Faden nicht so sehr in den Geschichten zu finden war.« Llanfereit machte eine Pause und stand auf, strich die Falten seines grauen Mantels glatt und lächelte. »Könnt ihr euch das vorstellen? Da zerpflückt man ein Werk Wort für Wort und Buchstabe für Buchstabe, erstellt Listen über mögliche Verweise, Hinweise oder neue Rätsel, die gelöst werden wollen. Da versucht man, Zusammenhänge zwischen Dingen herzustellen, die anscheinend wenig miteinander zu tun haben. Da ist man sich die ganze Zeit nicht sicher, ob diese Geschichten überhaupt in Verbindung mit farbloser Magie und dem Düsteren zu betrachten sind. Und dann, wenn man schon aufstecken will, weil man keinen Millimeter vorankommt, stellt sich die Schülerin vor einen hin und meint, die Namen mancher Autoren seien bemerkenswert.« 56
Pit hatte bei diesem Erguss ihres Lehrmeisters einen hochroten Kopf bekommen. Llanfereit bückte sich, hob einen Zweig auf und warf ihn ins Feuer. »Edelfrau Drea aus Lon, Elondar der Weiße, Adernol aus Dunkel, Aernold aus Sey Hirin und Onder aus Al«, zählte er auf, als wäre damit alles gesagt. Dotar, Marakis und Gaithnard schauten ihn verständnislos an. »Diese fünf Autoren blieben übrig«, fuhr der Meister fort. Er schaute seine Zuhörer an, doch noch immer schien keiner der drei Männer zu begreifen, auf was Llanfereit hinauswollte. »Fünf Namen, die man nur genau lesen muss, um zu erkennen, dass sie aus denselben Buchstaben bestehen«, sagte er. »Sieben Buchstaben, aus denen sich noch ein anderer Name bilden lässt. Und diesen Namen kennen wir.« Marakis warf den Kopf hoch. Mit ungläubigem Unterton in der Stimme flüsterte er: »Randoël.« Dotar setzte sich aufrecht, Gaithnard schaute Marakis mit großen Augen an. Marakis schüttelte immer noch ungläubig den Kopf. »Lebt Randoël denn?« »Das ist eine der Fragen, die uns nach wie vor zu schaffen machen«, sagte Llanfereit und setzte sich wieder. »Im übrigen verfügen wir bislang noch über keinen schlagenden Beweis für unsere Annahme, dass diese fünf Autoren ein und dieselbe Person sind. Wir müssen uns fragen, warum dem so ist. Und weshalb dieses Spiel mit den Buchstaben? Handelt es sich um eine der verborgenen Spuren, die Randoël vor neuntausend Jahren gelegt hat? Das ist gar nicht so unwahrscheinlich, denn der Düstere kann genauso wie seine Vertrauten mit derartigen Wortspielereien nichts anfangen.« Llanfereit schaute die Reisegefährten einen nach dem anderen an. »Pit beschäftigte sich mit dem persönlichen Hintergrund dieser fünf Personen und stieß auf noch etwas. Alle fünf besaßen ursprünglich einen anderen Namen. Erst als sie erwachsen waren, entschieden sie sich für jenen Namen, unter dem wir sie kennen. Was das zu bedeuten hat? 57
Wir wissen es nicht. Und dann gibt es die knifflige Frage, ob Randoël noch lebt. Matei meint, dass jener Randoël, der vor neuntausend Jahren existierte und als mächtigster Zauberer seiner Zeit betrachtet wurde, nicht mehr unter den Lebenden ist.« »Nicht mehr als der Randoël von damals«, warf Matei rätselhaft ein. Er stand seinerseits auf, ging zum Eingang ihres Verstecks, bog ein paar Sträucher zur Seite und spähte in die Schlucht. Als er sich wieder umdrehte, seufzte er. »Nach meiner festen Überzeugung lebt etwas von ihm fort. Wie? Keine Ahnung. In seinen Erzählungen klingt manchmal ein melancholischer Unterton an, als sehne er oder ein Teil von ihm sich nach den Jahren der farblosen Magie zurück. Das könnte man als Anhaltspunkt dafür nehmen, dass er auf die eine oder andere Art noch weiterlebt.« »Edelfrau Drea aus Lon!«, sagte Gaithnard. »Und in dieser Frau soll sich etwas von dem alten Randoël verbergen?« »Verborgen haben«, stellte Matei richtig. »Edelfrau Drea ist schon vor Jahren gestorben. Täuscht Euch übrigens nicht: Es hat eine ganze Reihe von Geschlechtswechseln gegeben, vor allem unter Magiern, die sich für die dunklere Seite der Wirklichkeit entschieden haben.« Die Hände auf dem Rücken, schob er sich zwischen den Reisegefährten hindurch. »Noch einmal – wirkliche Beweise für meine Vermutungen habe ich nicht, doch all diese Geschichten, Abhandlungen, Gedichte und Märchen atmen für mich den Geist ein und derselben Person.« »Randoëls Geist«, sagte Marakis. Matei klopfte auf seinen Rucksack und sagte: »Ich habe zwei dieser Geschichten mitgenommen. Lethe las eine davon, ein Märchen mit verschlüsseltem Sinn, vielleicht auch einigen Hinweisen. Die andere Geschichte handelt von der Großen Legende. Es ist eine mythische Erzählung über einen Magier aus der Zeit vor dem Zyklus. Nach flüchtiger Lektüre bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die Große Legende der eigentliche Grund für den Zyklus war. Es geht darin um einen Zauberer, wie die Welt ihn nie zuvor gesehen hat, und es ist die 58
Rede von nicht-menschlichen Völkern. Vor allem die Sage vom ältesten Volk hat tiefen Eindruck auf mich gemacht. Das Original dieser Geschichte befindet sich in Yle em Avrilux. Ich vermute, dass sowohl farblose Magie als auch ihr Pendant, die Unmagie, im Zusammenhang mit der Großen Legende betrachtet werden müssen. Randoël hat diesen Zusammenhang wahrscheinlich entdeckt und dann unter Verwendung einer mythischen Erzählung verschlüsselt.« Er seufzte tief und ließ das Kinn auf die Brust sinken. »Ich hätte Lethe die Geschichte selbst erzählen sollen. Gerade in dieser Erzählung offenbart sich vieles von ihm, seinem Schicksal und Unmagie. Aber ich schwieg, weil das darin beschriebene Schicksal mir unerträglich erschien.« Er schaute auf. Die Tränen in Pits Augen beachtete er nicht. »Wie soll man jemandem klarmachen, dass er wahrscheinlich für die gute Sache sterben wird?« Die Stille lastete mangitschwer auf allen. Was jeder für sich bereits vermutet hatte, war nun mit deutlichen Worten gesagt. Nach einer ganzen Weile räusperte sich Gaithnard und sagte bedächtig: »Matei sprach über die Große Legende. Bei uns auf Kurm sagten wir immer, dass diese Legende eine unentwirrbare Mischung aus Wahrheiten und Lügen ist.« Matei zuckte mit den Achseln. »Vielleicht hat auch diese Legende eine Art Abnutzung erfahren. Andererseits hat die Große Legende so viele Jahrtausende überdauert, dass niemand weiß, wie alt sie eigentlich ist. Es muss doch etwas zu bedeuten haben, dass sie unsere Phantasie immer noch anregt. Wenn Llanfereit und ich alle Berichte und Ereignisse richtig gedeutet haben, spricht für mich vieles dafür, dass die Große Legende über die Jahrtausende hinweg von Menschen oder Wesen weitergereicht wurde, denen daran gelegen war, dass die Wahrheit die Oberhand behält.« »Menschen, die auch immer mit dem Zyklus zu tun hatten«, ergänzte Llanfereit und fügte seufzend hinzu: »Doch es sind nur Hinweise, Ansätze von Tatsachen, die wir, Matei, Pit und ich in eine logische Reihe zu bringen versuchten. Zum Gesamtbild fehlen uns noch viele kleine Teile.« 59
Eine Zeit lang beschäftigte sich jeder mit seinen eigenen Gedanken. »Stimmt es, dass nur noch ein einziger dieser fünf Randoëls lebt?« Wieder war es Gaithnard, der gefragt hatte. »Ja«, antwortete Matei sichtlich erleichtert, das Thema wechseln zu können. »Aernold aus Sey Hirin, der Dulce von Yle em Avrilux. Ich habe es vor kurzem noch einmal überprüft. Er ist jetzt achtundsiebzig und seit siebenundfünfzig Jahren Dulce.« »So alt?«, fragte Dotar überrascht. »Ich habe ihn vor ein paar Jahren getroffen und hätte ihn auf höchstens fünfzig geschätzt.« Wieder wurde es still. Schließlich beendete Marakis das Schweigen mit der einen Frage, die sie alle seit langem beschäftigte. »Was sollen wir jetzt unternehmen? Sollen oder müssen wir uns auf die Suche nach dem Versteck des Düsteren begeben?« Matei zog die Finger wie einen Kamm durch den Bart und starrte in die Ferne. »Es ist ja nicht so, als warteten keine Aufgaben auf uns«, sagte er. »Ich kann euch gleich drei oder vier nennen. So könnten wir den Dulce mit einem Besuch beehren, um ihm mal kräftig auf den Zahn zu fühlen. Vielleicht finden wir heraus, ob er Randoël ist, teilweise oder zur Gänze. Und wer weiß, welches Wissen wir aus ihm herausquetschen könnten. Wir können aber auch unsere Suche nach den Botschaften desselben Randoël fortsetzen und zu ergründen versuchen, wo der Düstere sich versteckt. Eine der Schlussfolgerungen unserer Studien war, dass dies der Schlüssel für den Erfolg im Kampf gegen die farblose Magie ist.« Er biss sich auf die Unterlippe. »In denselben Schriften wird aber immer wieder betont, dass nur der Zauberlose dem Düsteren widerstehen kann, falls man dessen Versteck finden sollte. Wie auch immer, wir haben mit der Suche begonnen, warum sollten wir sie nicht zu einem Ende bringen? Andererseits könnten wir auch all unsere Energie darauf verwenden, die Bevölkerung zu warnen, denn eines ist sicher: Der Düstere des Nachtmeers wird erneut zuschlagen. Ich glaube sogar, dass er in naher Zukunft seine Angriffe verstärken wird. Bis jetzt hat er nur spärlich bewohnte Gebiete gewählt, doch dabei wird er es nicht belassen.« 60
Dotar stand auf. »Meines Erachtens macht es wenig Sinn, die Leute zu warnen. Gegen den Düsteren und dessen Magie kann man sich nicht wappnen.« Matei schüttelte den Kopf. »An sich habt Ihr durchaus Recht, Regulator, aber ich habe trotzdem eine Schwachstelle im Verhalten und den Taten des Düsteren entdeckt. Auf den Äußeren Riffen habe ich beobachten können, dass er zu Lande die Orientierung verliert. Für mich kam das völlig überraschend. In den Schriften über den Düsteren wird es mit keinem Wort erwähnt. Wenn die Menschen darüber informiert wären, besäßen sie vielleicht größere Chancen, eine Attacke des Düsteren zu überleben. Übrigens, wenn es wirklich darauf ankommt, will ich gerne einen Versuch unternehmen, ihn an dieser Schwachstelle anzugreifen. Aber ich weiß noch nicht genau, wie ich das anstellen müsste.« »Darüber sollten wir uns noch mal unterhalten«, sagte Llanfereit. »Ich hätte da schon ein paar Ideen, mit denen es vielleicht klappen könnte. Aber zuerst«, der Zauberer stand auf und schaute zum Ausgang des Tales, »müssen wir uns entscheiden: Welche Aufgabe übernehmen wir?« Keiner sagte etwas. Das Feuer erlosch allmählich. Gleichzeitig kroch gelblicher Nebel über den Boden der Schlucht auf sie zu. Dotar bemerkte es, runzelte die Stirn und zeigte auf die Nebelschwaden. »Seit wann steigt Nebel am späten Morgen plötzlich vom Meer auf? Was ist hier los? Ich kenne Lan-Gyt seit Jahren, und Festungsmeister Kamp hat mich ausführlich über die klimatischen Bedingungen und Wetterkapriolen der Insel instruiert, aber das hier passt in kein Schema.« Alarmiert schaute Matei hoch, riss die Augen auf und erhob sich. »Weg hier!«, rief er. »Weiter ins Tal! Ich spüre starke Magie.« »Der Düstere?«, fragte Marakis ängstlich. »Vielleicht«, antwortete Matei, während er den anderen zum höher gelegenen Ende des Tals vorausging, »doch der bedient sich eigentlich nicht der Magie, wie wir sie kennen. Außerdem kündet sich dessen Erscheinen immer durch Vorboten wie Pfeiftöne und heftigen Sturm an.« 61
Mehr zu sich selbst als zu den anderen sagte er leise: »Sollte es einer der Spieler sein?« »Ein Spieler?«, fragte Gaithnard. Matei machte eine beschwörende Geste und starrte auf den Nebel. Irgendetwas regte sich. Hinter den sich langsam auflösenden Nebelschwaden zeichnete sich eine Gestalt ab. Ein Grummeln ertönte, wurde zu Gebrüll und ließ die Erde beben. »Ein Drache!«, rief Llanfereit. »Schnell weg von hier!« Keiner der Reisegefährten brauchte eine besondere Aufforderung. Wie der geölte Blitz kletterten sie zum äußersten Ende des Tals. »Wir sitzen in der Falle!«, rief Marakis. Dotar, der als Letzter kam, drehte sich um, als das tiefe Grummeln wieder zu hören war. Aus dem Nebel ragte ein Kopf empor, so groß wie ein Felsbrocken. Mitten auf dem Kopf funkelte ein riesiger Edelstein. Die Facetten überschütteten Dotar mit einem Gewitter bunter Farbblitze. Geblendet drehte Dotar sich um und hielt sich die Hände vor die Augen. Zwei gewaltige Flügel vertrieben den Nebel. Ein groteskes Geschöpf landete mit wüstem Getöse auf dem Boden des Tales und faltete die Flügel auf dem schuppigen Rücken. Saurer Gestank schlug Dotar entgegen. Der Regulator blieb stehen, nahm langsam die Hände vom Gesicht und starrte hypnotisiert in zwei runde Augen von der Größe eines menschlichen Kopfes. Trotz des verzaubernden Blickes krümmte Dotar den kleinen Finger der linken Hand. Er brauchte die Bewegung nur zu Ende zu führen, dann würde sein langer Handgelenkdolch hervorschießen. Der war zwar kaum mehr als eine zu dick geratene Nadel, doch eine schmale, tiefe Wunde an der richtigen Stelle konnte auch für dieses Tier leicht den Tod bedeuten. Gleichzeitig dachte Dotar an das Schwert, das in einer verborgenen Scheide auf seinem Rücken steckte. Hinter ihm rief Gaithnard atemlos: »Kommt endlich, Dotar! Hier ist eine Höhle.« Dotars Augenbrauen hoben sich, und er schüttelte kurz, aber bestimmt den Kopf. »Mischt Euch nicht ein!«, rief er über die Schulter. Gleich darauf fügte er kühl hinzu: »Und schweigt!« 62
6 Zeitspuren (5) »Eure Erhabenheit, Ihr habt mich um meine Meinung mit Blick auf die Zukunft gebeten, da diese nach Eurem Gefühl zu viele Rätsel und Unsicherheiten birgt. Meine Voraussagen für die kommenden Jahre pflege ich auf meine Kenntnis der Vergangenheit zu stützen, denn durch die Taten unserer Ahnen werden die Schablonen für die Zukunft entworfen. Doch leider besteht das Gedächtnis des Reiches aus Papier, und so klaffen zahllose Lücken darin. Diese entstehen durch das Verschwinden bedeutender Schriftrollen und wichtiger Bücher. Dies macht aus der Deutung der Geschichte eine beschwerliche Reise über einen gewundenen Pfad voller Löcher der Vergessenheit und an einem Abgrund tiefster Unwissenheit entlang. Meine Schlussfolgerung lautet denn auch: Die Zukunft unsicher? Ein Mysterium? Das wahre Mysterium ist die Vergangenheit.« – Aus einem Brief des Ratsherrn Metten der Kurze an Desran Ervenal Gyn Dayreit Die helle Stimme erklang an jenem stillen Ort, an dem sich die beiden Stimmen zu treffen pflegten. »Der Zauberlose hat die Oberfläche durchbrochen«, wiederholte die Stimme, als habe ihr letztes Gespräch erst vor wenigen Sekunden stattgefunden. »Der Düstere schleudert jetzt überall seinen Zorn umher. Angst und Chaos verbreiten sich vom Südwesten immer mehr in Richtung Hauptinsel.« Die dunkle Stimme antwortete nicht. 63
»Der alte Zauberer«, fuhr die helle Stimme fort, plötzlich das Thema wechselnd. Es klang nachdenklich, als überlege der Sprecher laut. »Wer ist der alte Zauberer?« »Wer das ist?«, fragte die dunkle Stimme unerwartet heftig. »Willst du damit etwa andeuten, wir hätten ihn kennen müssen? Soll das heißen, dass wir seinen Namen in den Geschichten, Mythen und Legenden dieser Welt hätten aufstöbern können, und dass wir es vernachlässigt haben?« Die helle Stimme antwortete nicht sofort. Wie so oft schwiegen sie sich lange an. Schließlich hatten sie Zeit. Im Reich verstrichen zwei Tage und Nächte. »Vielleicht haben wir es an Aufmerksamkeit fehlen lassen. Der alte Zauberer spielt eine ganz besondere Rolle, die bislang ohne Beispiel ist. Ich habe untersucht, woher er gekommen ist.« Diesmal währte die Stille nicht lange. »Und?« In der dunklen Stimme schwang ungewöhnliche Ungeduld mit. »Ich habe nichts gefunden.« »Nichts? Überhaupt nichts, meinst du?« »Absolut nichts.« Stille. »Ist das nicht eigenartig?« »Ja, es beunruhigt mich. Schon wieder ein neuer Unsicherheitsfaktor im Zyklus. Der Zauberlose fällt aus dem Rahmen, er besitzt die Kraft, und jetzt stellt sich heraus, dass der alte Zauberer sich verdächtig in alles einzumischen beginnt.« »Aber warum sollte uns das beunruhigen?«, drängte die dunkle Stimme. »Vielleicht erfüllt sich ja die Weissagung. Vielleicht ist dies der Zauberlose, der den Zyklus beendet.« »Vielleicht. Aber es gibt noch sehr viele weitere Spuren, die zu anderen Schlussfolgerungen führen. Zu viele Wahlmöglichkeiten, zu wenig Sicherheiten. Ach, wäre die Weisheit doch hier. Wenn die gelegten Spuren nicht zum Ziel führen und der Zauberlose mit der Kraft nicht richtig umzugehen versteht …« 64
»Unsinn!«, blaffte die dunkle Stimme. »In keiner der uns bekannten Schriften wird von solch einer Möglichkeit gesprochen.« »Oh doch«, flüsterte die helle Stimme. »Als ich in der Geschichte nach Spuren suchte, die zum alten Zauberer führen könnten, stieß ich zufällig auf etwas anderes.« Stille. »In Gedankensprache, Randoël«, lispelte die helle Stille dann, »denn wenn der Düstere hierüber etwas erfahren sollte, wäre unser gesamtes Geflecht gefährdet.« Die Stimmen schwiegen, doch ihre Anwesenheit blieb spürbar wie dichter, kalter Nebel.
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7 Der Tag von Melden Taylerch (4) »Was wissen wir eigentlich über den Pakt der Zehn, die mythische Gesellschaft jener Wesen, denen unbegrenzte Fähigkeiten angedichtet werden? Die Antwortet lautet: So gut wie nichts. Wir müssen vorliebnehmen mit vagen Andeutungen, bruchstückhafter Kenntnis und den Heldenliedern der Barden von Romander. Und dann gibt es die nicht verstummenden Gerüchte, nicht der Desran oder der Dulce bestimmten das Geschehen im Reich, sondern faktisch besitze der Pakt die Macht. Ob das wahr ist, darf bezweifelt werden. Wenn jemand mich fragen sollte, wie ich über die Spieler denke, würde ich antworten, dass sie einen gewissen Handlungsspielraum in unserer Welt haben, und dass sie diese Freiheit über die Jahrtausende hinweg maßlos missbrauchten. Ich würde in dieser Einschätzung sogar so weit gehen, dass es meines Erachtens durchaus denkbar ist, dass der Handlungsspielraum für das Entstehen farbloser Magie verantwortlich ist. So weit würde ich in meiner Aussage gehen – vielleicht sogar noch viel weiter, doch bis heute hat mir noch niemand die Frage gestellt.« – Aus ›Enzyklopädie der Mächte des Reiches‹ von Mystiker Charibald aus Tassender Das Treffen des Pakts der Zehn wurde seit dem ersten Mal – vor einhundertdreizehn mal neuntausend Jahren – in allen während dieser Jahrtausende benutzten Sprachen ›Der Tag von Welden Taylerch‹ genannt, obgleich die Dauer zwischen einigen Tagen und gut einer Woche variierte. Diesmal, beim einhundertvierzehnten ›Tag‹, blie66
ben die zehn Mächte nur kurz beieinander. Der Vertreter des Düsteren des Nachtmeers setzte sich als Erster ab, zur Mitte des dritten Tages. Der Donner rollte, als er mit kräftigen Schlägen seiner vier schuppigen Flügel die Schlucht verließ. Für Sekunden verdunkelte sein riesiger Körper Welden Taylerch. Den Zorn, der unaufhörlich um das Geschöpf herumwirbelte, schleppte er mit Wahnsinnsgetöse wie einen ausgefransten Mantel hinter sich her. Sein langgezogener Schrei mündete in hohem Pfeifen. Die übrigen Mitglieder des Pakts hätten trotz ihrer unterschiedlichen Fähigkeiten niemals zugegeben, dass sie erleichtert waren, als der Schwärzeste der Spieler verschwunden war. Als der dritte Tag sich dem Ende zuneigte und die Sonne sich hinter den Horizont zurückzog, unbeeindruckt von den Geschehnissen in der Schlucht, verließen die anderen Mitglieder des Pakts die Kuppel. Jeder gestaltete seinen Abgang auf ganz persönliche Art und Weise. Imfarse hüllte sich in eine blendende Feuersglut, rauschte wie ein Blatt in der Sommerbrise aus der Schlucht davon, schlug einen südlichen Kurs ein und verschmolz mit den gelb und rot leuchtenden Strahlen der untergehenden Sonne. Die Geräusche der Schluchtenwelt stellten sich wieder ein, nachdem Iarmongud'hn mühsam aufgestiegen und der Schlucht in nördlicher Richtung gefolgt war, um sich dann außer Sichtweite der verbliebenen Mitglieder des Pakts in den Himmel zu schrauben. Die Vogelfrau verließ, heimlich von Schatten zu Schatten huschend, die Schlucht auf demselben Weg, den Lethe tags zuvor in umgekehrter Richtung gegangen war. Die anderen wunderten sich, dass sie nicht wie üblich die Gestalt des grauen Vogels angenommen hatte. Ein anderer Vogel ließ einen schrillen Schrei vernehmen, flatterte in die Höhe und entfernte sich mit schnellen Flügelschlägen gen Süden. Von anderen Wesen war nur ein vorsichtiger Schritt oder das leise Rauschen der Flügel zu hören. Es waren jene Geschöpfe, die sich kaum in den Vordergrund geschoben hatten, obwohl sie deshalb bei weitem nicht weniger wichtig waren. Die letzten beiden, der Dulce und Danker, machten sich gemein67
sam auf den Weg, als die Abenddämmerung die Schlucht bereits völlig in Beschlag genommen hatte. Als hätten sie sich vorher abgesprochen, blieben sie am zweiten Tor unter dem goldenen Mangit stehen, aus dem die beiden schmalen Säulen in die Höhe ragten. Sie schauten hoch und spürten, wie ein Flimmern ihre Körper erfasste. Einige Sekunden lang umgab sie der bittere Odem der Vergänglichkeit. Danker begann leicht zu zittern und setzte seine Streitaxt auf dem Boden ab. Der Dulce begutachtete die Waffe und spitzte die Lippen. »Neu?« »Neu«, bestätigte Danker. »Meine beste Waffe seit Jahrtausenden. Ich denke, dass ich sie in den nächsten Tagen gut gebrauchen kann. Ich habe sie ein wenig verstärkt.« Danker schaute sich neugierig das Schwert an, das an Aernolds Hüfte baumelte. Doch die Tatsache, dass der Dulce Rax mitgenommen hatte, war ihm offenkundig keinen Kommentar wert. Sie gingen weiter bis zur ersten Pforte. Hier trennten sich ihre Wege. Danker wollte grußlos verschwinden, doch Aernold hielt den Ratsherrn zurück. »Ein paar Sekunden Eurer kostbaren Zeit noch, Danker.« Er machte eine kurze Pause. »Oder sollte ich besser S'oncenrun sagen?« Er begleitete seine Worte mit einem breiten Lächeln, doch seine Augen lachten nicht mit. Danker krümmte den Rücken, antwortete aber nicht. »Wir sind Spieler«, fuhr Aernold fort. »Unsere Macht kennt nur eine Grenze. Eine Einschränkung, die sich Ayinti nennt.« »Ayinti, ein anderes Wort für Tod«, murmelte Danker tonlos. Verächtlich setzte er hinzu: »Götter mit göttlichem Ego. Schlussendlich verfallen auch sie dem Zerfall und verschwinden.« »Nicht immer, Danker. Es gibt Götter, die sich selbst übertreffen. Meine Eingebung sagt mir, dass die Ayinti zu Letzteren gehören.« Danker reagierte nicht. In der Ferne rollte gedämpfter Donner. Ob es sich um ein heraufziehendes Unwetter handelte, oder ob eines der Mitglieder des Pakts dafür verantwortlich war, schien fraglich. Doch Danker wusste offenbar mehr. Mit einem leichten Lächeln murmelte 68
er leise vor sich hin: »Wo wir schon vom Tod reden – Mearigain, die Rabenfrau, lässt von sich hören.« »Eure Ziele decken sich nicht gerade mit den meinen«, nahm der Dulce das Gespräch wieder auf und negierte nun seinerseits, was Danker gesagt hatte. »Auch Eure Methoden unterscheiden sich von meinen. Meistens sind sie meinen Auffassungen entgegengesetzt, vor allem, wenn es darum geht, wie Ihr mit lebenden Wesen umspringt.« Ein Schauer prickelnder Funken auf der Haut machte Aernold deutlich, dass Dankers kalter Blick prüfend über sein Gesicht strich. Dennoch schaute der Dulce stur vor sich hin. »Trotz allem möchte ich Euch bitten«, fuhr er fort, »umsichtig mit dem Jungen umzugehen, falls es darauf ankommen sollte.« Danker sah ihn unverwandt an. Der Ratsherr schien noch mehr zu erwarten, doch nun war es der Dulce, der beharrlich schwieg. »War es das?«, fragte Danker knapp. Aernold nickte. Danker hob die Axt auf, legte sich die schwere Waffe ohne sichtbare Kraftanstrengung auf die Schulter, drehte sich um und ließ Aernold einfach stehen. Dieser schaute ihm mit finsterem Blick unter den dunklen Augenbrauen hinterher. »Falls es darauf ankommen sollte«, wiederholte er heiser. Zum x-ten Male in seinem langen Leben wurde der Dulce von einem der Spieler enttäuscht. Der Tag von Welden Taylerch schien die wenigen Regeln, vor allem die der Ayinti, stets aufs Neue zu bestätigen und zu erhärten, doch in den dazwischenliegenden Jahrtausenden leisteten sich manche Spieler Dinge, die den Regeln vollkommen zuwiderliefen. Die verantwortlichen Spieler konnten nicht bestraft werden, dafür waren sie zu mächtig. Aernold hegte die Befürchtung, dass eines Tages einer von ihnen die anderen an Fähigkeiten und Macht weit übertreffen könnte. An die Folgen mochte er gar nicht erst denken. Mit dem Düsteren des Nachtmeers hatten sie schon alle Hände voll zu tun. Ein zweiter Düsterer wäre eine Katastrophe für das Reich. Als er mit dem Anstieg begann und der Schlucht in nördlicher Richtung folgte, umwölkten dunkle Gedanken seinen Geist. Die Aussichten, dass der Zyklus beendet werden könnte, standen schlecht. Die Plä69
ne des Düsteren würden Hunderttausende Menschen das Leben kosten und die Welt unwiderruflich verändern. Er blieb stehen, da er hinter sich ein Geräusch zu hören glaubte. »Aernold aus Sey Hirin«, flüsterte eine Stimme in seinem Rücken.
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8 Wiedersehen »Die Herrin der Weisheit und Eingebung starrte schon seit Stunden vor sich hin. Schade hatte es geschafft, die ganze Zeit mucksmäuschenstill neben ihr auszuharren. Das war ihr nicht leichtgefallen, denn sie saßen auf einem umgestürzten Baum an einem Waldrand. Schließlich stand Schade langsam auf. Die Herrin reagierte unverzüglich, doch anders, als Schade erwartet hatte. ›Geh, Schade.‹ Die Schülerin schaute ihre Lehrmeisterin verständnislos an. In den Augen der Herrin bemerkte sie eine tiefe Leere. ›Geh‹, wiederholte diese. ›Mach dich auf, ohne Abschied zu nehmen. Wähle deinen eigenen Weg. Jetzt.‹ Schade war konsterniert. In ihrem Innern stritten Zorn, Verwunderung und Schmerz. Sie wollte etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders, machte kehrt und ging. Zunächst hoffte sie noch, es handle sich um einen Scherz, obwohl sie bei der Herrin noch nie dergleichen Scherze erlebt hatte. Je weiter Schade sich von ihr entfernte, desto größer wurden ihr Zorn und ihr Kummer. Als es Abend wurde, fand sie in einem verlassenen Heuschober einen Platz zum Schlafen. Sie lag lange wach, und als sie gegen Mitternacht endlich einschlief, träumte sie unruhig, ohne sich am nächsten Morgen daran erinnern zu können, was sie geträumt hatte. Missmutig zog Schade weiter. In der Ferne erschien ein kleines Dorf. Wie vom Blitz getroffen blieb Schade stehen. Auf einer Bank unter einer Eiche saß die Herrin. Wie war es möglich, dass sie vor ihr hier angekommen war? Die Herrin lächelte. 71
›Ein Wiedersehen, Schade, ist einer der schönsten und reinsten Momente im Leben eines Menschen. Besonders, wenn man den Menschen trifft, den man von allen am liebsten hat, und wenn dieses Wiedersehen dann auch noch gänzlich unerwartet kommt.‹ Die Herrin stand auf. ›Komm, wir müssen weiter.‹ Sprachlos, hin- und hergerissen zwischen Zorn und Freude, folgte Schade ihrer Lehrmeisterin ins Dorf.« – Aus ›Eine Wallfahrt in die Seele‹, von Edelfrau Asrath aus Dunkel Blitzschnell drehte der Dulce sich um und stand Auge in Auge einem grinsenden Dargill gegenüber. Der Zauberer machte eine beruhigende Geste mit der rechten Hand. Die Linke umfasste einen kunstvoll gearbeiteten Stab aus geflochtenem Weidenholz. »Erschrocken?«, fragte er und strich mit genau ausgezirkelten Fingerbewegungen über den goldenen Knauf des Stabes. »Ihr wisst doch, dass ich mich hier seit Jahren herumtreibe?« Er reichte dem Dulce den Stab. Beide spürten das Zögern, den Druck auf dem warmen Holz. Dargill wollte sich nicht von dem Stab verabschieden, zu sehr hatte er sich an das Artefakt gewöhnt, das so viel Kraft in sich barg. Mit einem heftigen, entschlossenen Ruck drückte er schließlich Aernold den Stab in die Hand. »Ihr benötigt ihn bald mehr als ich. Ich vertraue in den nächsten Tagen auf meine eigene Kraft.« Der Dulce nahm den Stab schweigend in Empfang. In der Schlucht trat tiefe Stille ein. »Vertrauen ist ein risikoreiches Wort«, flüsterte der Dulce in Dargills Geist. »Vertrauen stützt sich in unseren Kreisen auf eingehende Prüfung, und diese wiederum basiert auf größtmöglichem Misstrauen.« »Aha, Gedankensprache«, sagte Dargill. »Werden wir denn belauscht?« »Wir sind nur wenige Flügelschläge von Welden Taylerch entfernt, 72
Dargill. Die Hälfte der Spieler treibt sich noch irgendwo hier in der Gegend herum, und wir beide kennen ihre Kräfte. Warum also sollten wir ein Risiko eingehen?« »Ihr habt wieder einmal Recht, Aernold. Ich habe allerdings wenig Zeit, und das Reich ebenfalls. Alles wartet auf die nächste Attacke des Düsteren. Er ist unberechenbar, wie immer schon. Und wer weiß, vielleicht schlägt die farblose Magie eine Bresche in die Schluchten.« »Das bezweifle ich. Die Nachrichten, die ich mit Hilfe meiner Kalktauben erhalte, besagen jedenfalls etwas anderes. Im Südwesten, auf den Marwin-Inseln und Ostander, tut sich etwas. Irgendjemand, der große Macht besitzt, schart dort Plünderer und Räuber um sich und vereint all diese zersplitterten Elemente zu einer schlagkräftigen Armee. Ich habe einen Verdacht, um wen es sich bei diesem mächtigen Anführer handeln könnte.« Dargill schien nicht zuzuhören. »Wie auch immer«, unterbrach er die Überlegungen des Dulce. »Ich habe eine wichtige Nachricht für Euch: Mein Sohn besitzt die Kraft.« Der Dulce zuckte zusammen. Die Knöchel seiner Hand, die den Stab umklammerte, wurden weiß, und seine Gesichtszüge erstarrten. Bleiches Feuer loderte in seinen Augen auf. »Die Kraft«, flüsterte er ehrfurchtsvoll. »Die Kunst des alten Blutes. Die Rune. Aber das bedeutet doch, dass …« »Das könnte bedeuten, dass mein Sohn den Zyklus zu einem Ende führen kann. Vielleicht könnte er sogar seinem Schicksal entrinnen.« »Aber nur, wenn er den Stein besitzt!« Der Dulce hatte sich halb von Dargill abgewendet, doch jetzt drehte er sich mit einem Ruck zu dem Zauberer um. »Habt Ihr ihm den Stein gegeben?« Dargill grinste breit. »Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ich den Stein vergessen haben könnte, Aernold. Oder meint Ihr vielleicht, ich würde meinen eigenen Sohn ohne einen möglichen letzten Rettungsanker seinem ungewissen Schicksal entgegengehen lassen?« »Die Kraft und der Stein … Sollte es letztlich doch so weit kommen?« 73
»Auch wenn der Stein schon Tausende von Jahren alt ist, von seinen Fähigkeiten hat er nichts eingebüßt. Im Gegenteil, er ist noch stärker geworden. Ich würde seine Möglichkeiten als unbegrenzt bezeichnen. Im gesamten Reich gibt es kein machtvolleres Artefakt, mit Ausnahme vielleicht des Knochenthrons …« »Das ist wahr«, unterbrach ihn der Dulce und setzte hoffnungsvoll hinzu: »Es ist doch wirklich möglich, Dargill?« »Ich hatte ihm noch alles Mögliche erzählen wollen, aber die Ayinti haben mich zurückgepfiffen. Auch diesmal werde ich alles ganz aus der Nähe verfolgen, genau wie die sechsunddreißig Male zuvor. Damals war ich dort, weil immer die Aussicht bestand, dass der Zyklus beendet würde. Wenn Lethe von selbst dahinterkommt, was er tun kann, wenn er begreift, was er da in Händen hält, wenn er herausfindet, was er damit bewirken kann, und wenn es ihm gelingt, die Oberhand zu gewinnen, nur dann könnte es diesmal möglich sein.« »Wenn«, seufzte der Dulce. »Aber ist es nicht so, dass seine andere Hälfte sein hal…« »Aber die ist doch da«, rief Dargill und setzte hinzu: »Mehr kann ich nicht sagen.« »Und dann ist da natürlich noch die Schwertrune«, fuhr der Dulce fort. »Ah, Rax. Aber darauf haben wir keinen Einfluss, Aernold. Obwohl einige Zukunftszeichen mir sagen, dass Ihr noch damit zu tun haben könntet.« Der Dulce schwieg. Dann nickte er bedächtig. Er ging langsam weiter. Dargill blieb stehen. »Die Herrin«, rief er laut, »vergesst die Herrin nicht. Das Geflecht ist sehr verworren. Die Herrin muss pünktlich sein und das Richtige tun. Die Aussichten, dass dies geschieht, sind gering …« Der Dulce schien Dargill nicht zu hören. Mit federnden Schritten und einem Leuchten in den Augen lief er in nördlicher Richtung davon. »… überlasst das ruhig mir«, sagte Dargill lachend. »Lebe wohl, Aernold!« 74
Er hatte nicht einmal laut gesprochen, doch der Dulce drehte sich abrupt um. »Lebe wohl, habt Ihr gesagt? Glaubt Ihr wirklich, dass wir einander nicht mehr wiedersehen werden? Glaubt Ihr, dass Euer Sohn jener Zauberlose ist, von dem in den Apodikten die Rede ist?« Dargill lachte breit und machte eine schwungvolle Geste mit dem Arm. »Mein bester Aernold, wenn überhaupt ein Unmagier dazu in der Lage ist, dann dieser. Er wurde aus Liebe gezeugt.« Der Dulce kam zurück, schaute Dargill tief in die Augen und las darin die Wahrheit. »Ja, Aernold«, sagte Dargill, »ich habe Janila geliebt, und ich liebe sie noch immer. Ich wünschte, ich könnte zu ihr zurück. Am liebsten würde ich meine Tage auf Loh beenden. Ja, wenn es sein müsste, würde ich sogar meine langen Leben dafür opfern.« Dargills Stimme war belegt. Als er weiterging, hatte er seine Gefühle wieder im Griff. »Übrigens, Aernold, hier ist meine Antwort«, begann er mit fester Stimme. »Ihr wisst viel, aber bestimmt nicht alles. Ich habe soeben beschlossen, Euch ein Geheimnis anzuvertrauen. Ein Geheimnis, das sehr schwer wiegt, weil es viele Jahrtausende überdauert hat. Es ist eines der wenigen Mysterien, von dem Ihr keine Kenntnis habt. Habt Ihr Euch jemals gefragt, wer von uns der Ältere ist?« Ein Ausdruck aufrichtigen Erstaunens glitt über Aernolds Gesicht. »Der Ältere? Wollt Ihr damit sagen, Ihr seid älter als ich, Dargill? Kenne ich Euch so wenig?« Mit wenigen Schritten war Dargill beim Dulce und ergriff mit beiden Händen dessen linkes Handgelenk. »Ich habe Jahrtausende dahinfließen sehen, und es schien, als habe ich nur mit den Augen gezwinkert. Jahre waren wie Tage. Ich weiß genau, wie alt Ihr seid, Aernold. Ich habe Euch heranwachsen sehen. Ich habe Euch in Eurer Jugend im Auge behalten, denn ich wusste – ich wusste und vermutete nicht nur –, dass Ihr eine wichtige Rolle im Jahrtausende überspannenden Bauwerk des Zyklus spielen würdet. In Eurer Gegenwart knisterte es schon damals vor Magie.« 75
»In diesem Moment, in diesem Körper bin ich kein Magier, Dargill. Für mich ist das ein beruhigender Gedanke. Magie, das Beherrschen der Zauberkunst, hat mich immer sehr belastet.« »Wie dem auch sei«, unterbrach ihn Dargill, »Ihr habt das Recht, es zu wissen, Aernold. Ihr habt das Recht, denn Ihr habt Euer ganzes Leben in den Dienst des Volkes dieser Welt gestellt.« Dargills gedrechselte Formulierung ließ den Dulce die Stirn runzeln, und sein Gesicht wurde zu einem einzigen Fragezeichen. Dargill breitete lachend die Hände aus. »Ich bin alt, Aernold. Auch ich habe das Leben mit vielen Wesen geteilt. Und ich bin eines jener Wesen auf dieser Welt, die älter sind als der Zyklus.« Der Dulce hielt Dargill am Mantel fest und flüsterte, die Augen weit aufgerissen: »Dargill! Das ist doch nicht wahr! Ich dachte, mich könnte nichts mehr überraschen, aber da lag ich wohl falsch. Welche Rolle spielt Ihr denn nun innerhalb des Zyklus?« »Eine Hauptrolle«, sagte Dargill. »Ich habe die Notwendigkeit des Zyklus vorausgesehen.« Der Dulce rang nach Luft. »Eine Hauptrolle? In der Großen Legende? Das meinte Imfarse also, als er sagte: ›Ihr habt etwas Wichtiges übersehen.‹« »Jetzt ist es aber langsam genug«, fuhr Dargill flüsternd fort. »Ich habe den Göttern getrotzt, ich habe bei blutigen kriegerischen Auseinandersetzungen weggeschaut, weil sie für den Zyklus bedeutungslos waren, ich habe die große Katastrophe mitgemacht, auch wenn ich versucht habe, die Folgen so weit als möglich zu beschränken. Ich habe schweigend zugesehen, wie Könige, Kaiser und Desrane ermordet wurden oder selbst zu morden begannen. Ich habe nicht eingegriffen, als sich Dramen abspielten, die ganze Völker oder einzelne Individuen ins Unglück stürzten. Ich habe jemanden mit großer Machtfülle aus der Vergangenheit in die jetzige Zeitspanne entkommen lassen, obwohl alles in mir diese Flucht notfalls sogar mit tödlicher magischer Gewalt verhindern wollte. Und das alles für das große Geflecht! Über all diese Jahrtausende hinweg habe ich auch dieses Geheimnis 76
mit mir herumgetragen. Nie habe ich jemanden ins Vertrauen gezogen, bis heute. Und Euch habe ich es auch nur anvertraut, weil wir uns wahrscheinlich nicht mehr wiedersehen werden.« »Glaubt Ihr das wirklich? Glaubt Ihr wirklich, wir sehen einander nicht mehr?« Aernold stellte sich dicht vor Dargill und schaute ihn mit einem Blick voller Wehmut an. Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Auch ich habe eine Überraschung für Euch, Dargill. Bevor ich Randoël hieß, nannte man mich anders.« Jetzt war es an Dargill, Fassungslosigkeit zu zeigen. »Bevor Ihr Randoël hießet?« »Später, auf der Insel der Nibuüm, werde ich Euch gerne erzählen, wie das alles vonstatten gegangen ist. Mein am häufigsten benutzter Name war Jaendel, eine Verballhornung von …« Dargill wurde blass. Mit starrem Blick schaute er auf eine Stelle hinter Aernold. Dieser drehte sich um. Gelber Nebel schlängelte sich durch die Schlucht, kam auf sie zugekrochen. Mit zwei Schritten war Dargill beim Dulce und zog ihn am Kragen seines Mantels mit sich mit, außer Reichweite des Nebels. »Schnell«, zischte er. Aernold dachte nicht daran, noch irgendwelche Fragen zu stellen. So schnell sie konnten, liefen sie davon. Als sie glaubten, sich weit genug aus der Gefahrenzone zurückgezogen zu haben, blieb Dargill stehen. »Der Düstere sucht uns überall, Aernold«, sagte er. »Wir dürfen es nicht zu früh auf eine Konfrontation ankommen lassen. Deshalb habe ich Euch da weggerissen.« Der Dulce nickte. »Es ist genug gesagt, Aernold«, fuhr Dargill fort. »Vielleicht habe ich sogar schon zu viel gesagt. Hier trennen sich unsere Wege. Der Eure führt Euch zu Eurem Zuhause, meiner führt mich zur Insel der Nibuüm. Dort muss noch das eine oder andere vorbereitet werden.« »Vielleicht sehen wir uns dort doch noch«, sagte der Dulce nachdenklich. Er schien Dargills plötzliche Eile und dessen Weigerung, weiter über die Vergangenheit zu sprechen, zu akzeptieren. »In einer 77
der Zukunftsspuren segle ich mit mehreren tapferen Leuten zu ebendieser Insel. Ansonsten … lebe wohl, Dargill!« Dargill machte eine beschwörende Geste. Sein Blick wanderte unruhig zwischen dem Dulce und dem Horizont hin und her. »Wartet!« Von einem Moment auf den nächsten schossen ihm die Tränen in die Augen. »Warum habt Ihr nichts gesagt?«, fragte er mit erstickter Stimme. »Nach all den Jahrtausenden?« Aernold lächelte und klopfte ihm verlegen auf die Schulter. »Warum habt Ihr nichts gesagt? All die Jahrtausende lang habe ich nach dem Wesen gesucht, das dieses Geflecht entworfen und erstellt hat. Mit Mustern, die die meine an Komplexität und Farbenreichtum weit übertrafen, aber auch in ihrer Zielgerichtetheit. Ich hätte darin Eure Hand wiedererkennen müssen, doch ich habe die Zeichen nicht richtig deuten wollen.« »Keiner von uns hatte einen Grund, seine wahre Identität zu lüften«, stellte Dargill fest. »Deshalb brauchen wir uns auch nichts vorzuwerfen.« Der Dulce lächelte wehmütig. »Ihr habt Recht, aber schade ist es trotzdem.« Er schaute über Dargills Schulter hinweg in die Ferne. »Ich habe Weisheit losgeschickt, um den Zauberlosen zu unterstützen.« Dargill schien erleichtert. »Ich habe bemerkt, dass da irgendetwas oder jemand seine Hand im Spiel hatte, aber ich kam nicht dahinter, wer das gewesen sein könnte. Jetzt wird mir alles klar. Ach, Weisheit …« Aernolds Blick verdüsterte sich. »Euch ist doch wohl auch klar, gegen wen wir kämpfen, Dargill? Und Ihr wisst doch wohl, warum wir an dieses Leben gebunden sind, an die Ketten dieser vielen Leben?« »Ich weiß es, Aernold. Wenn es nur um den Kampf gegen den Düsteren ginge, hätten wir es bedeutend einfacher. Erinnert Ihr Euch noch an ihren Namen?« 78
Aernold nickte und lächelte freudlos. »Nur allzu gut, Dargill. Auch wenn sie hier meistens als Mann auftritt. Im Pakt wird sie ›der solitäre Spieler‹ genannt. Ist es wahr, dass sie nur noch über zwei Leben verfügt?« Dargill nickte. Der Dulce ließ den Kopf auf die Brust sinken. »Mit fällt es in den letzten Jahrtausenden immer schwerer, an diesem langen Leben festzuhalten. Die Ayinti machen es mir wirklich nicht leicht, aber das ist nicht das Einzige.« »Ach, die Ayinti«, murmelte Dargill. »Wie hat man Ayintan früher noch genannt?« Auf seiner Stirn zeichnete sich eine tiefe Falte ab. »Whedeyard«, sagte er plötzlich. »Es hieß Whedeyard, wisst Ihr noch? Meine Mutter …« Er schwieg und starrte in die Ferne. Der Dulce konnte nachvollziehen, dass er von Erinnerungen, Kummer und Schmerz übermannt wurde. Er wusste es, denn ihm widerfuhr regelmäßig dasselbe. Wie lange man auch lebte, gegen wirklichen Kummer und echten Schmerz konnte man sich nicht wappnen. »Die Zeit spielt bisweilen seltsame Spiele mit unserem Geist«, fuhr Dargill schließlich fort. »Die Welt verändert sich, und die Sprachen ändern sich mit ihr. Mir fallen gewiss zehn andere Namen für Whedeyard ein. Wir ändern uns ja auch; dennoch greift irgendetwas in uns immer wieder nach dem Fleckchen Erde, wo wir geboren wurden, nach der Zeit, als wir noch Kinder waren.« Eine ganze Weile standen sie unbeweglich. Dargill mit gesenktem Haupt, der Dulce mit geschlossenen Augen. Eine kalte Brise streifte ihre Gesichter, wie die flüchtige Berührung einer Hand. Vergangenheit, Heute, Erinnerungen und die Sorge um eine unsichere Zukunft füllten ihrer beider Gedanken. »Es liegt so unendlich lange zurück«, seufzte Dargill in Gedankensprache. Aernold nickte nur und antwortete laut: »Ja, Dargill, so viele Menschen, Wesen, die wir gekannt haben, und die jetzt …« 79
Der Dulce biss sich auf die Unterlippe und nickte langsam. Dann wiederholte er: »Aber das ist nicht das Einzige. Je länger sich das Leben hinzieht, sich reckt, desto dünner wird der Faden. Ich spüre, dass es mich nach dem Tod verlangt.« Er hatte eine heftige Reaktion erwartet, doch in Dargills Blick fand er nur Verständnis. »Ich weiß, was Ihr meint, Aernold«, flüsterte Dargill in Gedankensprache. Eine Zeit lang starrten sie schweigend vor sich hin. »Hoffentlich kein endgültiges ›Lebe wohl‹ dann«, flüsterte Dargill, »denn wir haben einander noch viel, sehr viel zu erzählen. Auf Wiedersehen. Die Insel der Nibuüm. Auf Wiedersehen, Aernold, Randoël, Jaendel.« Er schwieg einige Sekunden und fixierte den Blick des Dulce. Ein Strom geteilter Liebe und geteilten Leids floss zwischen ihnen hin und her. Zwei lange Leben hatten sich wieder gefunden. »Endil«, flüsterte Dargill schließlich kaum hörbar. »D'Anjal«, antwortete Aernold gerührt in Gedankensprache. Und nach einer kurzen Pause: »Jyll.« Sie umarmten sich lange; keiner schien gewillt zu sein, den anderen loszulassen. Erinnerungen sprangen hin und her, und der eine füllte die Gedächtnislücken des anderen auf. Und nicht einmal gelang es einem von ihnen, den anderen zu überraschen. Vieles von dem, was der eine vermutete, wusste der andere. Schließlich traten sie wie auf ein unhörbares Wort jeder einen Schritt zurück. Der Dulce drehte sich um und ging, ohne noch einmal zurückzuschauen, in nördlicher Richtung davon. Dargill wartete, bis er nicht mehr zu sehen war. »All die Jahre«, murmelte er vor sich hin. Anscheinend war es zur Gedankensprache durchgedrungen, denn der Dulce reagierte. »All die Jahre sind wir einander aus dem Weg gegangen, ohne es zu wissen. Ich habe mich über das Zustandekommen eines Geflechts gewundert, das meines in jeder Hinsicht zur Pfuscharbeit degradierte. Ich beschloss, das weitere Geschehen zu verfolgen, zuzuschauen, wie es einst die Erdwesen taten. Zu guter Letzt beschloss ich, an seiner Vollendung 80
mitzuwirken, ohne den Weber zu kennen. Und jetzt bin ich ein wesentliches Element in Eurer Großen Legende. Ach …« Der Dulce schwieg. Dargill schluckte den Kloß in seiner Kehle herunter und kämpfte die Melancholie nieder. Er schüttelte den Kopf, schaute sich suchend um und murmelte Worte, die in der Luft zu gefrieren schienen. Sofort veränderte sich seine Gestalt. Der Mantel wurde zu einem Federkleid. Nach einigen Sekunden erhob sich ein grauer Kaiseradler in die Luft und flog mit ruhigem, wohlüberlegtem Flügelschlag in südlicher Richtung davon.
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9 Im Sferium »Sind die großen Zauberer aus Loh denn wirklich so mächtig? Können sie Berge versetzen, wie behauptet wird? Mit eigenen Augen habe ich sie es noch nie tun sehen. Ich halte sie auch für nicht mehr als Schachfiguren in einem kosmischen Spiel. Und die Große Legende? Selbst hinter ihren Worten verbirgt sich noch eine Perspektive unermesslichen Ausmaßes. Gibt es da mehr? Gibt es wirklich mehr, als ich weiß, mehr als ich vermute? Sind denn die Spieler allmächtig? Sie sind gebunden an Regeln und Reglementierungen, die sie sich auf Geheiß der Götter auferlegt haben. Könnte es vielleicht sogar so sein, dass selbst die Götter Grenzen kennen? Ist die Behauptung blasphemisch, dass nicht sie, die Götter, sondern andere Lebensformen über diese unendliche Kathedrale aus Träumen und vermeintlicher Wirklichkeit, über dieses Universum walten? Es ist doch keine Gotteslästerung, wenn wir unterstellen, dass das kleinste uns bekannte Element vielleicht aus noch kleineren Teilen bestehen kann? Oder dass die Sonne wahrhaftig großen Einfluss auf unser Leben ausübt, doch dass sie innerhalb eines unermesslich großen Ganzen nur ein Staubkorn ist, und dass dieses Ganze wiederum nur ein Staubkorn innerhalb eines unermesslich großen Ganzen sein kann?« – Aus ›Die Illusion der Realität‹ von Edelfrau Dermiune Arthak aus Klein-Marwin
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Im Sferium, dem kuppelförmigen Gebäude am Ende der Straße der Siebenhundert Schritte, stand Aynirlaeth, der Knochenthron, von dem behauptet wurde, er sei älter als jedes andere Artefakt des Reiches. Darüber hing an einem acht Meter hohen Pfeiler eine Fahne mit dem Wappen der Krone, dem Steinfisch und dem Seeadler auf blauem Grund. Der Thron leuchtete in der sanften Glut des beinahe vollen Mondes, der durch eines der schmalen Fenster schien. In dem riesigen Kuppelsaal war niemand zu sehen. Kein Wunder, denn es war Mitternacht. Leises Zischen und Knattern mischten sich in die Stille. Neben dem Thron begann die Luft zu schwingen, dann baute sich eine Gestalt auf, erst grau wie der Staub, der durch die Vibration aufgewirbelt wurde, doch allmählich erhielt die Form mehr Kontur und Tiefe, bis eine dunkelbraune Gestalt sichtbar wurde. Schließlich stand dort eine gesetzte, leicht vornübergebeugte Person, die sich schwer auf einen Stab aus Waschholz stützte. Ihr kahler Schädel glänzte im Mondlicht. Viele hätten in dieser Gestalt Balmir erkannt, den unauffälligsten aller Hochmeister. Den Magier, der von den anderen Hochmeistern eigentlich kaum noch für voll genommen wurde. Sein gemeinhin liebenswürdiger Gesichtsausdruck wirkte jetzt äußerst angestrengt, was ein vollkommen verändertes Wesen aus ihm machte. Eine königliche Aura umgab ihn, eine Ausstrahlung, die Balmir vorher nie besessen hatte. Seine ganze Gestalt glänzte, und das war nicht nur auf das Licht des Vollmonds zurückzuführen. Sein Blick heftete sich an den Knochenthron. »Dies ist der Ort«, murmelte er leise vor sich hin. »Hier thront bald der Fürst der neuen Zeit. Die Vergänglichkeit von Ruhm und Ehre wird wieder über die Welt hinwegwehen und die Asche von Kriegern und Königen mit sich forttragen. Und erneut wird das Blut des Zeitenstroms mit vollem Ungemach die Sterblichen treffen. Die neue Zeit, ohne das älteste Volk, ohne ihren Nachklang, die Nibuüm, stattdessen mit den Menschen und ihrer Glorie. Und mit der neuen Magie.« Seine Stimme trug weit, drang bis in die alten Mangitsteine des Sferiums ein und kletterte hinauf bis zum Mittelpunkt der Kuppel. Bal83
mir bewegte sich langsam auf den Thron zu und streckte die Hand aus. Seine Fingerspitzen strichen über die weißen, noch immer nicht angegriffenen Knochen. »Ach, Aynirlaeih, Ianiarled, Enerlad, Thron der Throne, mein Gebein.« Ein Seufzer glitt durch den Raum, ließ die Luft vibrieren. Draußen schlüpfte ein Wolkenfetzen vor dem Mond vorbei. Ohne erkennbaren Befehl seines Besitzers begann der Stab eine violette Glut im Sferium zu verbreiten. »Die neue Zeit. Die erste Begrenzung einer weiteren Ära. Das große Geflecht erhält neue Muster. Die Spieler wissen es nicht, das alte Blut ist nicht darüber informiert, und selbst die Ayinti können lediglich vermuten, dass Ayintan nicht der einzige Aufenthaltsort ätherischer Geschöpfe ist. Und dabei können sie noch nicht einmal ihren göttlichen Finger auf das Loch in ihrem Gedankengebäude legen. Nur der Dulce hegt eine Vermutung. Doch der ist ja auch … außergewöhnlich.« Ein Ausdruck der Melancholie erschien auf seinem Gesicht. Seine Blicke suchten den Mond, doch der versteckte sich wieder hinter einer Wolke. Er neigte den Kopf. »Erleyim soigaerne.« Er hatte die beiden Wörter lediglich geflüstert, doch sie bauschten sich auf, so wie auch eine leichte Brise zuweilen unerwartet zu einer Sturmbö wird, und füllten die gesamte Kuppel. Sie zogen die Stille der Nacht wieder hinter sich her, gaben ihr ihren rechtmäßigen Platz zurück. Die Gestalt gefror zu einem Standbild. Dann pulsierte ein brausendes Geräusch über das Podium, als schleppe jemand seinen Mantel hinter sich her. Im Rücken des Throns begann die Fahne mit dem Wappen der Krone leicht zu wehen. Die Gestalt verfärbte sich grau, verschwamm immer mehr. Die Luft fing an zu schwingen und zitterte nach. Dann war kein Lebewesen mehr im Sferium. Aynirlaeth, die kunstfertige Konstruktion aus den unversehrten Knochen eines längst vergessenen Königs, glänzte wie vordem im Mondlicht. 84
10 Verfolgung (2) »Alte Zaubersprüche und Beschwörungen setzen alte Kräfte frei. Überlegt es Euch dreimal, bevor Ihr Euch an die großmeisterlichen Werke der Magier von einst heranwagt.« – Aus ›Zaubersprüche, Beschwörungen, Flüche, Rezitative, Schutzschilde und Verteidigung aus der alten Zeit‹, von Meister Kataglim aus Ziel Die Nacht kroch aus dem kalten Wasser empor. Bleigraue Wolken hingen brütend über dem Meer, das schwer um das Schiff herum lag. In den seltenen Momenten, in denen es dem Licht gelang, die Wolken zu durchbrechen, war es von schmutzigem Gelb. »Flieht man vor dem einen Problem, gerät man prompt ins nächste«, brummte Kapitän Fexe aus Sommerfreuden von der Herz von Handera. Damit zielte er auf die drei Galeeren ab, die sie schon seit Meda-Tal beschattet hatten, manchmal wie Gespenster im Nebel, dann wieder als Silhouetten am Rand des Horizonts und einige Male so nahe, dass man die roten Segel erkennen konnte. »Rote Segel«, hatte Fexe zu Edelfrau Tulsie gesagt, der Geschichtsgelehrten am kaiserlichen Hof. »Die schnellen Sologaleeren des Desran. Was wollen die von uns?« Edelfrau Tulsie war zusammengezuckt. Dank Hochmeister Harkyn, ihrem Retter nach der Ermordung des Desran, hatte sie sich eingebildet, für Edelfrau Isper und deren Umfeld unauffindbar zu sein. Diese Illusion war jetzt zerstört. Sie musste unter allen Umständen Ma85
tei und die anderen Reisegefährten erreichen. Was sie in einem der Bücher herausgefunden hatte, das ihr zufällig in die Hände gefallen war, hatte sie noch nicht einmal einer Kalktaube anzuvertrauen gewagt. Niemand außer Matei durfte es erfahren. Und der durfte es nur unter vier Augen und aus ihrem Mund vernehmen. Selbst Harkyn hatte sie nicht darüber informiert. Von trüben Gedanken erfüllt, war sie in ihre Kajüte zurückgeschlichen. Die Herz von Handera war weit von ihrer Route abgekommen, da ein Sturm das Schiff seitlich am Vordersteven getroffen und aus dem ursprünglich westlichen Kurs geworfen hatte. Sogar Fexes beträchtliche Seefahrerkünste hatten da nichts ausrichten können. Die stattliche Mittelkaravelle war bis zum Abend gefährlich dicht unter die südliche Klippenküste von Areges abgetrieben worden. Der einzige Lichtblick war, dass das Unwetter auch ihre Verfolger zurückgeworfen hatte; von ihnen war weit und breit nichts mehr zu sehen. Im letzten Moment hatte Fexe Hochmeister Harkyn um Hilfe gebeten. »Wenn Ihr die Äußeren Riffe in dieser verdammten Saison unbedingt erreichen wollt«, hatte er gesagt, »müsst Ihr Euch schon der Zauberei bedienen. Der Sturm will uns an den Klippen zerschmettern, und er steht kurz vor dem Erfolg.« Harkyn war an Deck gegangen, um sich ein Bild von der Situation zu machen. »Nur wenn Ihr ganz sicher seid, dass Ihr es nicht schafft«, rief er über den heulenden Sturm hinweg, während er sich an die Reling in der Nähe des Bugstuhls klammerte. »Ich müsste mich schon arg täuschen, wenn dies nicht das Werk des Düsteren ist. Und Ihr wisst ja, was Magie bei ihm auslöst.« »Ich weiß es nicht.« »Magie verstärkt den Zorn des Düsteren, Fexe, und genau das wollen wir ja wohl nicht.« Die Herz von Handera tauchte in ein tiefes Wellental ein. Wasser und Schaum spritzten über den Vordersteven. Harkyn und Fexe gelang es, sich aufrecht zu halten, doch sie wurden völlig durchnässt. Fexe hielt 86
den nach Luft schnappenden Harkyn mit einer Hand am Kragen seines Mantels fest. »Das ist mir alles scheißegal!«, brüllte er, während er Harkyn durchschüttelte. »Entweder Tod durch Ertrinken oder ein möglicher Tod durch die Hand des Düsteren. Ich wähle Letzteres.« Harkyn brauchte keine weitere Aufforderung. Er ließ die Reling los, trat zurück und breitete die Arme weit auseinander. Der Sturm zerrte an seinem Mantel. Mit einem eilig gemurmelten Zauberwort nagelte er sich auf den Planken des Decks fest. Er starrte zu den Wolken hinauf, dachte kurz nach. Dann begann er, dunkle Worte, die wie mit trägem Flügelschlag der aufgewühlten See entgegenflogen, in einer alten Beschwörungsformel zu rezitieren. Vor gar nicht langer Zeit hatte er Die Unverzügliche Eliminierung Des Sturmwinds Und Aufpralls in einem alten Buch aufgestöbert, doch der Zauber war wirkungsvoller, als er vermutet hatte. Die Luft fühlte sich irgendwie dick an. Von einer Sekunde zur nächsten war das Schiff in ein Vakuum gehüllt. Die Schaumkronen lösten sich auf, und die Wellen fügten sich plötzlich willig in die Wasseroberfläche, die rund um die Herz von Handera zur Ruhe gekommen war. Ein Stückchen weiter, wohin Harkyns Worte nicht gereicht hatten, sah man das Meer unter dem Ansturm des Unwetters noch immer schäumen, brodeln und strudeln. Harkyn war ehrlich überrascht. Für so wirkungsvoll hatte er den Zauber nicht gehalten, hatte es noch nicht einmal erhofft! Das hieß zugleich, dass der Düstere des Nachtmeers nicht in der Nähe war. Erstaunlich, denn allem Anschein nach war dies hier kein gewöhnlicher Sturm. Die möglichen Schlussfolgerungen zogen in einer langen Reihe an der Netzhaut seines geistigen Auges vorbei. Noch war die Zeit für ein Ergebnis nicht gekommen. Mit einem Umkehrungszauber löste er die Füße vom Deck und lief zur Reling. Das Schiff schrammte mit einer Mastlänge Abstand an einem Riff vorbei, das sein Gebiss mit den tödlichen Zähnen dicht über dem Wasser entblößt hatte. Fexe verfolgte mit vor Grauen weit aufgerissenen Augen, wie sie gerade noch einem sicheren Schiffbruch entgingen. Kreidebleich drehte 87
er sich um und wankte auf Harkyn zu. Doch ehe er seinen Gefühlen freien Lauf lassen konnte, ertönte ein Schrei des Entsetzens. »Galeeren!« Der Ausguck hing halb aus der Want heraus und deutete nach hinten. Die drei Sologaleeren preschten mit nur wenigen hundert Metern Abstand durch den Sturm und glitten aus dem Wind in die magische Flaute rund um die Herz von Handera hinein. Sie fuhren direkt auf die Mittelkaravelle zu. »Unglaublich«, rief Fexe. »Wie haben sie uns in diesem Unwetter finden können?« »Darauf gibt es nur eine Antwort«, sagte Harkyn und blickte finster drein. »Magie. Machtvolle Magie! Denn mit der Beschwörung habe ich einen starken Schutzschirm errichtet. Doch sie haben diesen Schirm durchstoßen, als wäre es der wackelige Zauber eines Schülers. Es dauert nicht lange, dann hängen wir wieder mitten im Sturm.« Er lehnte sich gegen die Reling und beobachtete die Verfolger. »Die Frage ist nur, wie wir sie abschütteln können«, brummte er besorgt. Gleichzeitig spürte er, wie die Kälte eines nicht existierenden Winters an seinen Knochen nagte. Er erschrak. War hier etwa dunkle Magie im Spiel? Eine Kraft, der er nicht gewachsen war, sog ihn leer – so selbstverständlich, als wäre Harkyn nur ein stümperhafter Halbmeister. Er wankte, tastete hastig nach der Reling. »Wie sollen wir sie von uns abschütteln?«, wiederholte er zitternd. Er fühlte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. Die Beine waren nur noch Wachs und konnten das Gewicht seines Körpers plötzlich nicht mehr tragen. Fexe betrachtete ihn mit großen Augen. »Beeilt Euch!«, fuhr Harkyn den Kapitän an, als er auf dem schaukelnden Deck niedersank. »Auf mich könnt Ihr nicht mehr zählen. Mir hat man die ganze Zauberkraft genommen. Auf einer der Galeeren befindet sich ein mächtiger Magier!« Fexe rief dem Rudergänger und den Männern in den Wanten Befehle zu. Die Segel wurden gehisst, und die Herz von Handera schoss in östlicher Richtung davon. Es schien wie ein Zeichen: Der Sturm flaute 88
ab und wurde zu einer unruhigen Brise. Die Galeeren machten keinen Hehl aus ihrer Absicht, wendeten den Steven ebenfalls nach Osten und folgten mit vollen Segeln im Kielsog von Fexes Schiff. Fexe stellte sich neben Harkyn, der am Besanmast lehnte, und schaute durch die Gischt, die am Bug hochgewirbelt wurde. Anschließend drehte er sich um und kniff die Augen halb zu. Die drei Verfolger verloren immer mehr an Terrain, da die Herz von Handera den Leewind besser nutzen konnte. »Wir müssen uns nach Osten absetzen, sonst holen sie uns ein«, sagte er. »Nur wenn ich alle Segel setzen kann, haben wir eine Chance. Wir sollten es als Wettfahrt betrachten. Jedenfalls werde ich alles tun, um sie abzuschütteln.« »Das dürfte auch bitter nötig sein«, stöhnte Harkyn. »Ich müsste mich schon sehr täuschen, wenn unser Leben nicht in höchster Gefahr ist.« Fexe zeigte sich durch diese Bemerkung keineswegs überrascht. Er schlug Harkyn auf die Schulter. »Lasst nur sein, Hochmeister, ohne Eure Zauberkünste sind wir eben auf meine Steuermannskünste angewiesen. Und die sind nicht empfänglich für magische Kniffe. Jetzt werde ich Creder aus Dalm und dem hochgelobten Wigbolt mal zeigen, wer der beste Segler der neun Meere ist!«
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11 Der Zorn des Düsteren (2) »Nördlich der Insel Falm liegen die drei Kaperinseln, an allen Seiten den Launen des Schwarzwassers ausgeliefert. Dort leben kaum mehr als zweitausend Menschen, in erster Linie Hirten, Holzfäller und Fischer mit ihren Familien. Die Kaperer – sie werden noch immer so genannt, auch wenn die Tage ihrer Freibeuterzüge schon längst Vergangenheit sind – gelten als einsilbige Genossen, stolz und leicht reizbar. Mit der Wichtigtuerei der Bewohner aller größeren Inseln des Reiches haben sie wenig am Hut. Die Hälfte von ihnen wohnt in oder in der Nähe von Athelgang, einem kleinen Hafenstädtchen auf der mittleren Insel Sporint, dem Zentrum des Woll-, Holz- und Fischhandels. Die Bewohner der großen Inseln jagen den Kindern gerne einen Schrecken ein mit der Drohung, sie auf die Kaperinseln zu schicken, wenn sie ihren Eltern nicht gehorchen. Auf Tar, Sporint und Dalm wird die Ruhe selten gestört. Zum letzten Mal wurden die Inseln im Jahre 4123 in den Geschichtsbüchern erwähnt. Damals wurden die Kaperer von der Flotte des Desran besiegt und dem Reich einverleibt.« – Aus ›Der Reichatlas in Wort und Bild‹, von Edelfrau Eryn Faida Nichts deutete darauf hin, dass dieser Morgen anders sein würde. Die Einwohner von Athelgang, dem armseligen Hafenstädtchen auf der Insel Sporint, wurden durch Donner, Blitz und heulenden Wind wachgerüttelt. Doch daran war wenig ungewöhnlich oder gar verdächtig. Das Klima in der Gegend der Kaperinseln, von denen Sporint die 90
größte war, wurde an Launenhaftigkeit nur noch von dem um Yr Dant und Sey Dant übertroffen, im nördlichsten Abschnitt der Äußeren Riffe. Und natürlich vom dünn besiedelten Dunkel, dem früheren Vulkan am äußersten Südostrand des Reiches. Die Schafhirten von Sporint bemerkten als Erste, dass mit dem heraufziehenden Unwetter etwas nicht stimmte. Bei Anbruch des Tages entdeckten sie nördlich der Insel eine apokalyptisch anmutende dunkelgraue und gelbe Wolkenmauer. Die Brandung brodelte und schäumte. Ein anhaltender Pfeifton hing in der Luft. Die Wolken dehnten sich aus und fielen wieder in sich zusammen, bewegten sich aber nicht vom Fleck. Auf der Insel selbst herrschte zu diesem Zeitpunkt seltsamerweise völlige Windstille. Im Athelwald, südlich des Städtchens, regte sich kein Zweig. Die Natur hielt den Atem an. Dann kam ein eigentümliches Geräusch auf: dumpfes Dröhnen, in dem sich eine verzweifelte Stimme zu verbergen schien. Gestein knarrte, Felsen rieben aneinander. Die Insel bebte. Eine Kaskade zischender Blitze riss die Wolkendecke auf. »Lauf, warne die Dorfbewohner!«, rief ein Schafhirte seinem Sohn zu. »Weck sie auf und sag ihnen, sie sollen fliehen! Es ist der Düstere!« Der Knabe rannte den Hügel hinab, so schnell er konnte, doch es war schon zu spät. Grollender Donner begleitete die bleigrauen Wolken, als diese in alle Richtungen auseinander zu platzen schienen. Ein blendender Blitzstrahl schoss senkrecht herab und traf Athelgang in seinem Herzen. Ein Geräusch wie zerberstender Fels raste durch das Städtchen. Faustgroße Hagelkörner schlugen Wunden in die Oberfläche der Insel. Gleich darauf stürzte sich der erste orkanartige Windstoß wie ein Raubvogel im freien Fall auf die Felsen, wirbelte durch die Straßen von Athelgang und zerrte an den Giebeln. Dann brach der Sturm von allen Seiten über das Städtchen herein. Die meisten Einwohner wurden im Schlaf überrascht und erfuhren nie, wem sie ihren Tod zu verdanken hatten. Ähnlich wie schon auf Katzinsel erreichte die Dunkelheit zur Mitte des Orkans ihren Höhepunkt. Aus dem Herzen der von gelben Streifen unterbrochenen Schwärze ertönte eine Reihe ohrenbetäubender Schlä91
ge und Erschütterungen, als stürze der Himmel auf die Erde. Ein eigenartiges Durcheinander wild kreischender Stimmen aus Tausenden Kehlen erfüllte die Luft. Die Erde bewegte sich, hob sich plötzlich meterhoch. Häuser stürzten ein, Mauern wurden bis auf die Fundamente zermalmt. Aus den Trümmern stiegen Todesschreie zum Himmel, die plötzlich abbrachen, als die gelben Streifen durch die Steinwüste schlichen. Dem wütenden Orkan folgte eine Flutwelle, die sich wie ein Raubtier auf das Land warf. Wenn jemand den Sturm bis jetzt überlebt hatte – in dieser Riesenwelle musste er jämmerlich ertrinken. Tausendfacher Donner rollte über den Horizont, als das Wasser sich auf breiter Front zurückzog. Die wenigen Glücklichen, die sich nicht im Dorf befunden hatten, wie der Hirte und sein Sohn, konnten im Schutz des Waldes entkommen und retteten sich in den Weiler Simansgang an der Südküste. Die Ruinen von Athelgang verfärbten sich binnen weniger Stunden in helles Gelb. Das Gestein wurde pulverisiert, das Holz verschwand, und wo früher das Städtchen gewesen war, gähnte jetzt ein weißes Loch von einem Kilometer Durchmesser.
Am Nachmittag des zweiten Tages nach dem Sturm tauchte an der Reede von Athelgang der dunkle Schatten eines namenlosen schwarzen Schiffes auf, mit der Loher Flagge im Topp. Es handelte sich um eine Karavelle der Hochmeister. Alle Luken waren geschlossen. Der dreizackige Anker rasselte in die Tiefe und biss sich zwischen den Felsen fest, nur einen Steinwurf von der Stelle entfernt, wo sich vorher die Hafeneinfahrt befunden hatte. An Deck, direkt neben dem Aufbau, erschien eine Person, die ihren dunkelgrünen Mantel eng um den Körper geschlungen hatte: Hochmeister Gesyrah. Mit Hilfe von Halders Spur Der Unaufhaltsamen Schrift hatte er eine Nachricht erhalten, dass sich auf Sporint etwas ereignet habe, das mit dem Düsteren zusammenhing. Die Botschaft, die 92
ansonsten keine Einzelheiten beinhaltet hatte, war von irgendwo aus dem Süden gekommen. Wer von den anderen Hochmeistern ihm sie geschickt hatte, hatte er nicht feststellen können. Mit beiden Händen hielt er sich an der Reling fest und warf einen Blick auf die in ihrem Niedergang erstarrte Szene vor sich. Er schloss die Augen, drehte sich um und ging. Außer einem gähnenden Loch, angefüllt mit weißgelbem Pulver, war nicht mehr viel zu sehen. Lediglich die Stakete einiger Gebäude reckten sich an manchen Stellen des ehemaligen Athelgang wie hilflose Stümpfe in die Luft. Es war still. Der Tod hatte von dem Städtchen bis in den letzten Winkel Besitz ergriffen. Eiseskälte packte mit winterlichen Fingern nach Gesyrah. Der Düstere war nicht mehr in der Nähe, doch überall spürte man noch seinen frostigen Atem. Instinktiv wob der Hochmeister einen Schirm Verschließender Hitze Aus Schwertfeuer um die Karavelle. »Oh je, der große Kampf hat begonnen«, flüsterte er, ballte die Faust und setzte hinzu: »Ein ungleiches Gefecht, denn wir verfügen über keine Waffen.« Weiter im Süden war die Insel weitgehend unversehrt geblieben. Der bösartige Schrei eines Vogels zerriss die Stille. Ein großer schwarzer Rabe flatterte am Bug der Hochkaravelle vorbei. Gesyrah schaute dem Tier hinterher. »Mearigain«, murmelte er. »Botschafter des Todes. Überall wo du erscheinst, fließt das Blut der Unschuldigen.« Der Vogel kreischte höhnisch und schraubte sich höher in den Himmel. Das Schiff blieb mehrere Stunden vor Anker liegen. Noch zweimal ließ Gesyrah sich an Deck blicken. Die ganze Zeit erzeugte das sich auf der trägen Dünung des Schwarzwassers hebende und senkende Schiff die einzige wahrnehmbare Bewegung. Es begann zu schneien. Als sich später die Sonne unter den gelbgrauen Wolken hervorwagte und den Horizont berührte, erschienen einige in graue Mäntel gehüllte Männer an Deck, die den Anker lichteten, in die Want kletterten und das Großsegel setzten. Das Schiff wendete mit 93
dem Steven nach Süden und glitt im Schutz des Abends an der Ostküste der Insel entlang.
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12 Iarmongud'hn (2) »Die Herrin der Nacht hat schwarze Augen, und aus fett ist auch ihr Kleid. Doch hinter dem, Rand der Welt wartet die Herrin des weißen Tages mit ihren unvergleichlichen Edelsteinaugen und ihrem rauschenden Farbenmantel.« – Aus ›Ein Wort ist ein Zauberwort; Poetische Gedanken und philosophische Betrachtungen‹, von Planxius Hort aus Klein-Marwin Der Kopf des Drachen schoss nach vorn und verharrte drei Meter vor Dotar. Langsam wiegte er sich von einer Seite zur anderen. Schleimfäden, so dick wie Schiffstaue, hingen dem Geschöpf aus dem Maul, und unerträglicher Gestank nahm dem Regulator fast den Atem. Dennoch blieb er unbeweglich stehen. »Größe ist nur ein Wort«, hörte er Festungsmeister Kamp in Gedanken sagen. »Es ist die Angst vor dem Klang des Wortes, die uns zu willenlosen Opfern macht. Ein großes Geschöpf hat viele Schwachpunkte. Zwar ist es in der Regel stark, doch es bewegt sich langsamer als du, und es ist meistens nicht in der Lage, jeden Bereich seines massigen Körpers zu schützen.« Dotar spreizte die Finger der rechten Hand und überbrückte in Gedanken den Abstand zu seinem Schwert. Er genoss die verlangsamten Bewegungen, die sich vor seinem geistigen Auge abspielten. Er zügelte jeden Anflug von Angst und tankte Geist und Muskeln mit Selbstvertrauen auf. Er analysierte den Körper des Drachen, wie er es auf Geheiß seines Festungsmeisters zuvor Hunderte Male mit den Körpern von Menschen und Tieren getan hatte. Er versuchte, den Ver95
lauf der Muskeln zu verfolgen. Er schätzte die Stärke der Reptilienhaut ab, prägte sich die Form der Schuppen ein. Sein scharfer Blick taxierte den Rückenkamm, den das Auge blendenden Edelstein, die Flügel, die wie die Blätter eines Riesenkanterbaums am Leib herabhingen, den Schwanz und die Beine. Er suchte nach den schwächsten Stellen des Monsters und entdeckte gleich mehrere. Er entschied sich für einen Punkt, einen Fleck direkt hinter dem Edelstein, von dem er vermutete, dass dort mehrere Muskeln zusammenliefen. Zunächst aber wartete er, was das Tier tun würde. Hinter sich hörte er ein Rascheln. »Wer ist da?« »Ich bin es«, flüsterte Pit, wobei sie sich neben Dotar stellte, breitbeinig, die Hand auf dem Hüftdolch, der an ihrem Gürtel baumelte. Sie zeigte auf den Drachen. »Soviel wir wissen, ist das Iarmongud'hn. Mein Meister meint, er sei einer der Spieler, ein mächtiges Wesen, nicht aus dieser Zeit, nicht von dieser Welt. Ihn zu töten ist unmöglich«, sie beobachtete Dotar von der Seite, »selbst für einen Regulator. Außerdem haben wir von ihm kaum etwas zu befürchten.« Sie machte drei vorsichtige Schritte in Richtung des Geschöpfes. Dotar schaute sie stirnrunzelnd an. »Warum erzählt Ihr das erst jetzt?« Pit seufzte und sagte über die Schulter: »Weil ich es jetzt erst weiß.« Dotar schluckte die Antwort herunter. Vielleicht hatte Matei sie informiert, vielleicht auch ihr Lehrmeister. Er schob sich etwas nach rechts, sodass er den Schwachpunkt des Drachens besser im Auge behalten konnte. Der Drache hatte während der ganzen Zeit den Kopf hin und her bewegt. »Woher wollt Ihr so genau wissen, dass er ungefährlich ist?«, fragte Dotar, der sich Pit ein wenig näherte, ohne den Drachen aus den Augen zu lassen. Pit zuckte nur mit den Achseln. Andächtig betrachtete sie das Ungetüm. Dotar sah, wie sie plötzlich den Kopf schief legte, als lausche sie auf etwas, das er nicht hören konnte. Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Im nächsten Moment trat sie ent96
schlossen fünf Schritte vor. Dotar hatte gelernt, seine Reflexe im Zaum zu halten, doch es hatte nicht viel gefehlt, und er hätte Pit zurückgehalten. Doch sie handelte energisch und schien zu wissen, was sie tat. Das Mädchen setzte sich unter den Kopf des Drachen, der noch eine Weile hin und her wiegte. Dann zog das Haupt sich ein paar Meter zurück und senkte sich zu Boden, wobei der Drache ächzte und seufzte. Der Blick der riesigen Augen war starr auf Pit gerichtet. Eine lange Stille trat ein. Hinter Dotar erschien ein Reisegefährte nach dem anderen. Abgesehen von den Meistern hatten sie die Drachen bis vor kurzem für mythische Wesen gehalten. »Wie heißt Ihr?« Pits Stimme klang freundlich, aber fest. Der Kopf kam zur Ruhe, und ein wimmerndes Geräusch ertönte, doch eine Antwort war nicht zu vernehmen. Pit schaute sich kurz um und suchte die Augen ihres Lehrmeisters. Ob sie nun darin las, was sie zu tun habe, oder nicht, jedenfalls bediente sie sich plötzlich einer anderen Sprache. »Eyr Launernyn? Ayi tuhe?« Der Kopf schnellte hoch, der lange, geschuppte Nacken bog sich, und das Geschöpf schleuderte ein lautes Brüllen gen Himmel. »IARMONGUD'HN!« Die Erde bebte, und wie ein lang gezogener Donner rollte das Echo durch das Tal. Pit erbleichte und taumelte zurück. »Lethe ist diesem Wesen in einer Vision begegnet«, flüsterte sie Dotar zu. »Er behauptete, es sei ein bösartiges Geschöpf. Seltsam. Meiner Meinung nach stimmt das nicht. Wenn wir Rax noch bei uns hätten, hätte das Schwert uns Auskunft geben können.« Sie hob den Blick. »Wir werden ja sehen.« Sie öffnete die Hände und hielt sie dem Wesen entgegen. Ich habe nichts Böses im Sinn, sagten die Hände, ich bin wehrlos. Hinter ihr starrte Dotar fasziniert auf den Drachen. Mit heiserer Stimme flüsterte er: »Iarmongud'hn, der Drache, der die Welt umfasst. Und meine Lehrmeister wollten mir weismachen, er sei ein Fabeltier. 97
Leben wir in einem Zeitalter, in dem die alten Mythen und Legenden zum Leben erwachen?« Pit hörte es nicht. Dotar kam es für Sekunden so vor, als habe er eine eingefrorene Szene vor sich: Pit, die unbeweglich hochschaute, und Iarmongud'hn, dessen Haupt sekundenlang über ihr schwebte. Dann bewegten beide sich wie auf ein unsichtbares Zeichen. Pit trat etwas zurück, und Iarmongud'hn stemmte ächzend und stöhnend seinen Leib hoch. Er wandte sich von Pit ab und bewegte sich in Richtung Talausgang. »Wartet.« Matei hatte es geflüstert, doch sowohl Pit als auch Iarmongud'hn blieben stehen. »Ich habe einige Fragen an den Drachen«, sagte Matei mit lauter Stimme. Iarmongud'hn schaute mit einem Auge zum Hochmeister hinüber. Pit hob die rechte Hand. »Iarmongud'hn verlässt uns noch nicht, Matei. Und ich weiß, welche Fragen Ihr stellen wollt. Die Antworten habe ich bereits.« Matei starrte das Mädchen sekundenlang verständnislos an; dann rollte er plötzlich mit den Augen. »Gedankensprache«, stieß er hervor, sichtlich überrascht. »Ihr habt euch in Gedankensprache ausgetauscht!« »Fast richtig«, sagte Pit. Sie zögerte und presste die Lippen aufeinander. Ein paar Mal öffnete sie den Mund. Dann wurde sie plötzlich rot und murmelte: »Wir haben uns der Kraft bedient.« Iarmongud'hns Haupt schwenkte zurück und blieb dicht über Matei stehen. Matei drehte den Kopf zur Seite, um dem furchtbaren Gestank und den Schleimfäden zu entgehen, die gefährlich nahe an ihm entlangschlingerten. Im Hintergrund hatte Llanfereit nach Pits Geständnis die Hand vor den Mund geschlagen. Mateis Augen weiteten sich. »Die Kraft?«, rief er in einer Mischung aus Erstaunen und aufkeimendem Zorn. »Du besitzt die Kraft? Warum hast du mir das nicht früher erzählt?« Er schaute sich nach Llanfereit um. 98
»Habt Ihr davon gewusst?« Llanfereit schüttelte den Kopf, die Lippen zusammengepresst. Iarmongud'hn schnaubte drohend. Pit machte besänftigende Geräusche und sprach kurz auf den Drachen ein – in der Sprache, die sie zuvor schon benutzt hatte. Das Tier beruhigte sich rasch. Dann drehte Pit sich wieder zu Matei um. »Verzeiht, Hochmeister.« Sie senkte den Kopf. »Es erschien mir richtiger, wenn vorerst niemand davon Kenntnis hat.« »Ich wusste es auch nicht«, sagte Llanfereit mit vorwurfsvoller Stimme. »Verzeiht mir bitte«, wiederholte Pit. »Nun wisst Ihr es.« Sie streckte den Rücken. »Darüber werden wir wohl später noch reden müssen. Aber jetzt zu Iarmongud'hn. Er war früher Anführer der Llyme Yonch Grandhsen. Wörtlich übersetzt bedeutet das ›die Drachen, die mit den Menschen reden‹. Einige von uns kennen sie als die mythischen H'ranz. Lange Zeit wurden sie von den Menschen als Feinde betrachtet. Doch Iarmongud'hn weist darauf hin, dass dies auf die Suikhants zurückzuführen ist, die schwarzen Drachen. Er sagt, dass die große Schlacht der Drachen vor neuntausend Jahren stattgefunden hat. Die H'ranz unterlagen damals, und die Entscheidung fiel durch den Düsteren, der zu der Zeit über die Suikhants herrschte. Einigen Überlebenden gelang die Flucht. Deren Nachfahren leben in dem Land auf der anderen Seite des Schwarzwassers. Iarmongud'hn wiederum gelang es, einer der Spieler zu werden. Dadurch konnte er verhindern, dass der Düstere sie erneut angriff, denn die Regularien des Pakts der Zehn erlauben nicht, dass die Spieler sich untereinander offen bekämpfen. Allerdings macht der Drache darauf aufmerksam, dass die Regularien offene Auseinandersetzungen zwar verbieten, die Spieler dieses Gesetz aber regelmäßig mit Füßen treten.« Pit machte eine Pause, damit die Informationen sich bei ihren Zuhörern erst einmal setzen konnten. Der Drache stieß einen ungeduldigen Schrei aus. Die Reisegefährten hielten sich die Ohren zu. Erneut sprach das Geschöpf sehr lange. Schließlich begann Pit mit der Übersetzung. 99
»Iarmongud'hn hat wichtige Nachrichten für uns. Zunächst einmal erwähnt er eine spürbare Bedrohung aus dem Südwesten. Dort sammelt ein Geschöpf mit großer Macht ein Heer um sich. Schon bald wird diese Armee gegen das Herrscherhaus zu Felde ziehen. Er glaubt, dass wir gegen diese Gefahr wenig ausrichten können. Wir müssen darauf vertrauen, dass Romander-Stadt auf einen solchen Angriff vorbereitet ist. Die andere Nachricht berührt uns alle unmittelbar. Jemand ist auf der Suche nach uns. Iarmongud'hn nennt ihn den Gehörnten. Er ist einer der Spieler des Pakts der Zehn. Der Drache hält ihn momentan für den Gefährlichsten und Mächtigsten. Soweit Iarmongud'hn weiß, will dieser Gehörnte uns töten. Die Aussagen und Ausdrücke des Drachen sind ein wenig verwirrend, doch er meint, dass wir mindestens ebenso wichtig wären wie der Unmagier, und dass dieser Gehörnte es deshalb auf uns abgesehen hat. Ich habe Iarmongud'hn gefragt, warum wir denn so wichtig sind, aber er kann oder will keine Antwort darauf geben.« Der Zorn war längst aus Mateis Gesicht verschwunden und hatte einem Ausdruck tiefer Verwunderung Platz gemacht. »Und wir sollen ebenso wichtig sein wie der Unmagier?« Er versank in tiefes Nachdenken. »Dieser Gehörnte«, begann Gaithnard, »dieser gefährliche und mächtige Spieler, ist uns nach Meinung des Drachen überlegen? Selbst wenn wir einen Hochmeister und einen Halbmeister auf unserer Seite haben?« Pit sprach mit Iarmongud'hn. Der Drache ließ den Kopf mehrere Male hin und her pendeln. Dann antwortete er ausführlich. »Wir haben nicht die geringste Chance«, fasste Pit zusammen. »Wir müssen fliehen. Er ist uns schon auf den Fersen. Wenn er uns einholt und seine Pläne in die Tat umsetzen kann, sind nicht nur wir zum Tode verurteilt, dann ist auch das Reich verloren.« Die Reisegefährten mussten diese Worte erst einmal verdauen. »Dadurch, dass Iarmongud'hn mit uns redet, übertritt er die Vierzehn Regularien des Pakts der Zehn«, sagte Pit mit ernster Miene. »Er hat mir klargemacht, dass ihnen nicht erlaubt ist, mit Sterblichen über 100
die Pläne der Spieler zu sprechen. Kein einziger Spieler hat dies je zuvor getan.« »Sterbliche«, wiederholte Marakis. »Demnach ist Iarmongud'hn kein Sterblicher?« Niemand sagte etwas. Der Drache brummte erneut. Pit übersetzte und legte dabei die Stirn in Falten. »Iarmongud'hn fragt nach einem Wesen, das er den Paladinmeister nennt. Er sagt, dass dieser Paladinmeister anders ist. Ich verstehe nicht …« Plötzlich riss sie die Augen auf. »Er meint Lethe!« Sie drehte sich zu Llanfereit um. »Wir wussten zwar schon sehr viel über den Unmagier, aber das ist neu!« »Paladinmeister …«, murmelte Llanfereit. »Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Ich muss darüber nachdenken. Ich habe etwas darüber gelesen. Aber wann? Und in welchem Buch?« Matei schob sich in den Vordergrund. Er ging auf den Drachen zu, bis dessen Augäpfel sich ihm zuwandten. Matei kaute eine Zeit lang auf der Unterlippe; dann sagte er: »Bitte sag Iarmongud'hn, dass er sich in den Augen der Sterblichen heldenhaft verhalten hat. Wenn wir jemals in die Lage versetzt werden sollten, dies auf angemessene Weise auszugleichen, werden wir es tun. Bitte sag ihm, dass er einen Ehrenplatz in unserer Geschichte erhält, wenn es uns gelingt, am Leben zu bleiben.« Pit übersetzte. Iarmongud'hns Augen musterten Matei. Der Drache grummelte, dass die Erde zu zittern begann. Dann wuchtete er sich stöhnend empor. »Wartet«, rief Gaithnard. »Warum erzählt uns der Drache das alles? Warum hilft er uns?« Die Reisegefährten waren völlig überrascht, und auch Pit zeigte sich verwundert, als Iarmongud'hn zu sprechen begann, als hätte er die Frage verstanden. »Iarmongud'hn sagt, dass der Waffenmeister eine bedeutende Rolle in den Tagen der Erweckung spielen wird. Seine Antwort auf die Frage des Waffenmeisters ist, dass Iarmongud'hn eine Jahrtausende alte 101
Schuld einlöst. Er sagt, dass ihm einer der alten Paladinmeister in alten Zeiten einmal das Leben gerettet hat. Sein Name war Jaendel, doch man kennt ihn auch unter dem Namen Randoël.« Der Name löste fassungsloses Schweigen aus. »Randoël«, flüsterte Llanfereit schließlich ehrfurchtsvoll. »Erneut stolpern wir über eine Spur dieses alten Fuchses.« Der Drache stieß einen weiteren Schrei aus und setzte sich in Bewegung. Die Reisegefährten traten zurück. Das riesige Wesen breitete die Schwingen aus und erhob sich mit schwerfälligem Flügelschlag in die Luft. Wie verzaubert betrachteten die Reisegefährten das Schauspiel, bis Iarmongud'hn im Nebel verschwunden war. Nur der drückende Gestank lastete weiter auf der Schlucht. Matei starrte dem Drachen noch immer hinterher. »Ich hätte ihn gern noch viel mehr gefragt«, sagte er und zupfte aus reiner Gewohnheit an seinem Bart. »Zum Beispiel über die Edelsteine und über die anderen Spieler.« Er drehte sich zu seinen Reisegefährten um. »Diese letzte Stunde hat mich neue Hoffnung schöpfen lassen«, sagte er und warf Pit einen kurzen Blick zu. »Obwohl wir von einem der Spieler verfolgt werden, glaube ich, dass sich etwas geändert hat. Das hängt mit Pit zusammen.« Pit erschrak. »Warum? Was meint Ihr damit?« »Nicht jetzt«, sagte Matei mit Nachdruck. »Ich hoffe, später darauf zurückkommen zu können. Jetzt müssen wir erst mal unsere Flucht organisieren.« Pit nickte. Doch niemand machte Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. »Wohin denn?« Marakis stellte die Frage, die allen auf der Zunge lag. »S'oncenrun kommt aus dem Süden«, murmelte Pit und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Wo wir uns jetzt befinden, ist die Halbinsel Yle ungefähr am schmalsten. Die Klippenküste ist tödlich. Ich würde sagen, uns bleibt nur eine einzige Richtung.« »Nach Norden«, brummte Gaithnard. 102
»Yle em Avrilux«, ergänzte Llanfereit nach kurzem Nachdenken. »Und das ist vielleicht nicht einmal das schlechteste Reiseziel.« Er ließ dem keine nähere Erläuterung folgen, sondern meinte nur: »Also los. Auf nach Norden!«
Als sie eine Zeit lang im Gänsemarsch auf dem schmalen Pfad durch die Hauptschlucht in nördlicher Richtung gelaufen waren, fragte Pit ihren Lehrmeister: »Warum ist das Heiligtum der Solitäre denn eigentlich so ein gutes Reiseziel?« Llanfereit strich sich mit der rechten Hand über den grauen Bart und lächelte. Bei seinen langen Beinen fiel es ihm nicht schwer, Pits energischem Schritt zu folgen. »Das hat praktische Gründe, Pit. Yle em Avrilux verfügt über einen Hafen.« Das Mädchen wendete den Kopf um eine Vierteldrehung und schaute ihren Lehrmeister aus den Augenwinkeln prüfend an. »Benötigen wir einen Hafen?« »Ich denke schon«, antwortete Llanfereit. »Ich mache mir keine Hoffnung, dass unsere Gegner still sitzen und Däumchen drehen. Die sind alles andere als dumm. Die wissen, dass wir auch ohne Lethe eine Bedrohung für ihre Machtspiele darstellen. Ich fürchte, dass sie uns schon sehr bald über den Weg laufen werden, und das nicht mit nur ein paar Mann oder einem einzelnen Regulator. Wenn das passiert, gibt es keinen besseren Fluchtweg als einen Hafen.« Pit blieb stehen und starrte nachdenklich vor sich hin. »Ein Hafen kann natürlich auch die genau entgegengesetzte Wirkung haben.« »Entgegengesetzt?« Llanfereit, der weitergelaufen war, blieb jetzt ebenfalls stehen. »Ja. Stellt Euch nur einmal vor, unsere Feinde befinden sich noch nicht auf Lan-Gyt. Sie wissen ungefähr, wo wir sind. Irgendwo in den Schluchten. Dann wollen sie natürlich möglichst ganz in der Nähe der 103
Schluchten an Land gehen, und da stehen ihnen eigentlich nur zwei Häfen zur Verfügung, wenn sie uns einholen wollen: Kasbyrion und der Hafen von Yle em Avrilux. Angenommen, sie wissen, dass durch das Erdbeben der Weg von Kasbyrion nur durch die Teufelsklamm, über den Morangelgipfel und durch Stylender führt – eine äußerst mühsame Reise. Und wahrscheinlich sind sie auch noch ziemlich genau darüber informiert, wo wir uns gerade befinden.« Die Schlussfolgerung überließ sie ihrem Meister. Die anderen Reisegenossen hatten angehalten und winkten ihnen ungeduldig zu, sie sollten endlich nachkommen. Pit machte eine beruhigende Geste mit der Hand. »Also«, sagte Llanfereit gedehnt, nachdem er eine Zeit lang zum Himmel hinaufgestarrt hatte, »du meinst also, dass wir gute Aussichten haben, den Verschwörern in die Arme zu laufen. Und dann glaubst du, dass ich das nicht schon lange bedacht habe?« Es klang wie eine freundliche Zurechtweisung. Pit errötete. »Entschuldigt bitte, Meister«, murmelte sie. Llanfereit konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Es kann mich doch nur angenehm berühren, dich so logisch argumentieren zu hören, Pit.« Pit errötete erneut. »Ich fühle mich hier äußerst unwohl«, sagte sie, schnell das Thema wechselnd. »Es gibt nur diesen einen Pfad. Die Schlucht hält uns gefangen, und seit einer Stunde habe ich keinen einzigen Seitenpfad mehr gesehen.« Sie schaute sich um. »Hinter uns versucht ein Spieler, uns einzuholen, Meister. Der Name, den der Drache für ihn benutzte, jagte mir Angst ein. ›Der Gehörnte‹. Ich dachte, er sei ein mythisches Wesen, der Phantasie eines einfallsreichen Erzählers entsprungen. Ich habe über ihn gelesen, erinnere mich aber nicht mehr an alles. Jedenfalls, wenn ich Iarmongud'hn glauben darf, tun wir gut daran, uns diesen Verfolger vom Hals zu halten, koste es, was es wolle. Wir können weder nach 104
links noch nach rechts ausweichen, wir können immer nur diesem einen Pfad folgen.« Llanfereit blickte sie nachdenklich an und legte einen Arm um ihre Schulter. »Wir können nur hoffen, dass dein Pessimismus unbegründet ist, Mädel.« »Hoffentlich«, stimmte Pit zu. »Außerdem können wir nur hoffen, dass Wigbolt meinen Vorschlag in die Tat umgesetzt hat.« Sie ließ es wie eine nebensächliche Bemerkung klingen. Llanfereit fiel trotzdem die Kinnlade herunter. »Du willst mir doch nicht etwa erzählen, du hast das alles vorausgesehen, Pit? Oder soll das etwa heißen, dass du Wigbolt beauftragt hast, nach Yle em Avrilux zu segeln?« Pit ging wieder weiter. Ihrer Miene war nichts zu entnehmen. »Ich habe ihn nur damit konfrontiert, dass es an der Westküste von Lan-Gyt zwei Häfen gibt, und dass demzufolge auch zwei Orte existieren, an denen wir uns wiedertreffen könnten. Welche Schlussfolgerung Wigbolt daraus gezogen hat, weiß ich nicht.« Es war schon ein herrliches Bild, wie der baumlange Zauberer mit Ehrfurcht und vor allem mit Liebe auf seine winzige Schülerin hinunterblickte. In seinen Augen brannten kleine Lichter. »Pit«, sagte er schließlich und fuhr ihr mit der Hand durch das dunkelblonde Stachelhaar. »Unbezahlbare Pit. Ich preise noch immer den Tag, an dem ich dich in den Wäldern von Ribbe gefunden habe.«
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13 Vorspiel in Yle em Avrilux »Die Bezeichnung ›Neuntausend Worte‹ kann leicht missverstanden verstanden werden. Jedes Wort, wir würden jeder Vers sagen, umfasst nämlich durchschnittlich etwa siebzig einzelne Wörter. Insgesamt beinhalten die Neuntausend Worte sechshundertvierunddreißigtausendvierzehn Wörter.« – Trygbald aus Groß-Marvin in seinen ›Repliken und Prämissen zur Geschichte des Reichs von Romander‹ Der Himmel über Yle em Avrilux hatte die Farbe von Blei. Die zehn Türme des Heiligtums der Solitäre streckten sich ihm entgegen wie große Vögel, die vergeblich versuchen, sich aus der verschwenderischen architektonischen Vielfalt des Bauwerks zu lösen. Das verwitterte Gestein atmete vergessene Geschichte und verdrängte Mysterien aus. Wer ein Gespür dafür hatte, konnte fühlen, wie der Wind Fetzen von Legenden mit auf die Reise nahm. Uchate, der zweite Priester von Yle em Avrilux, hatte heute allerdings keinen Sinn für die Schönheiten dieses Zusammenspiels zwischen Natur und erhabener Baukunst. Er lief mit gesenktem Kopf zur nördlichsten Klippe, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Sein lila Wintergewand aus bestem doppeltgewebtem Leinenbrokat aus Fernion tanzte in den Scheinbewegungen des starken Nordostwindes unruhig umher. Der salzige Geruch des Meeres stieg ihm in die Nase und setzte sich am Horizont seiner Gedanken fest. Uchate hatte über vieles nachzudenken. Sein Meister, der Dulce, war vor einigen Tagen ver106
schwunden. Es gab keinerlei Anzeichen, dass er noch am Leben war. Doch Uchate hütete sich, die Möglichkeit vom Tod des Dulce in Erwägung zu ziehen. Er wäre auch der Letzte gewesen, der sich darüber öffentlich ausgelassen hätte. Die Gedanken des zweiten Priesters kreisten um ein Dilemma. Einerseits konnte er Yle em Avrilux nicht verlassen, solange der Dulce nicht zurückgekehrt war; andererseits warteten dringende solitäre und weltliche Verpflichtungen auf der Insel Romander auf ihn. Wie immer er sich entscheiden würde, einige Leute würden seinen Beschluss voller Unverständnis verurteilen. Er wog die beiden Interessen gegeneinander ab, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Seufzend blieb er stehen und hob den Blick. Keine zwanzig Meter vor ihm stand die Herrin der Morgenröte. Vor Schreck wich er einen Schritt zurück. Wie war das möglich? Kurz zuvor war sie noch nirgends zu sehen gewesen. Bediente die Herrin sich womöglich doch der Zauberei, wie Priester Dark aus Ynystel behauptet hatte? Mit ruhigen Schritten kam sie auf ihn zu, die Hände vor dem Schoß gefaltet. Für eine junge Frau von siebzehn Jahren strahlte sie eine ungewöhnliche körperliche und geistige Reife aus. Das heitere Lächeln, das sie seit ihrer Rückkehr von der Säule wie ein vertrautes Kleidungsstück mit sich trug, zierte auch jetzt wieder ihr Gesicht. »Uchate«, sagte sie sanft, als sie kurz vor ihm stehen blieb, »Ihr seht ein wenig bedrückt aus. Hat das möglicherweise mit dem Verschwinden des Dulce zu tun?« »Ja, Herrin«, antwortete Uchate. »Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Dringende Angelegenheiten erfordern meine Anwesenheit in Noctar, Dym und Romander-Stadt, doch ich kann nicht abreisen, bevor der Dulce nicht zurückgekehrt ist.« Asayinda fing seinen scheuen Blick mit ihren dunklen Augen auf. »Könnt Ihr denn keinen Vertreter auf die Insel Romander schicken? Brevander vielleicht, oder einen anderen Unterpriester?« Uchate schüttelte heftig den Kopf. »Nein, auf keinen Fall. Der Status eines Unterpriesters hätte bei den Gesprächen, die geführt werden müssen, viel zu wenig Gewicht. Es geht um Einsprüche bei den Litaneien bezüglich der Vorgänge auf den 107
Äußeren Riffen. Meine persönliche Anwesenheit ist unbedingt erforderlich.« Es kam zu schrill, klang unglaubwürdig. Asayindas Pupillen zogen sich zu Stecknadelköpfen zusammen. Sie beugte sich zu Uchate hinüber. »Aber die Litaneien sind doch das wichtigste Wissensgebiet der Unterpriester.« Uchate schlug die Augen nieder und befeuchtete seine Lippen mit der Zunge. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Die Herrin verfügte über eine außergewöhnliche Geisteskraft, die die Wahrheit aus ihm herauszusaugen schien. Und genau das durfte er auf keinen Fall zulassen. »Diese Fragen berühren die Grundfesten unseres Glaubens, Herrin. Ich kann jetzt nicht näher darauf eingehen, denn es handelt sich um eine außerordentlich komplizierte Materie, aber ganz gewiss sind es Glaubensfragen, die ich keinem Unterpriester überlassen darf.« Es klang unwirsch. »Außerdem muss ich mit Hochpriester Basra aus Areges und mit Ozar aus Ak Romat, dem Halbdulce, Gespräche führen.« Asayinda legte die Stirn in Falten. »Die Nibuüm erzählten mir, Ozar werde den Rest des Winters auf den Äußeren Riffen verbringen.« »Er hat seine Pläne geändert«, antwortete Uchate flink. »Die farblose Magie ist ihm zu nahe herangerückt. Er hat die V'ryn-Inseln verlassen und segelt über Romander-Stadt zurück nach Haramat.« Asayinda nickte, schien aber keineswegs überzeugt zu sein. Uchate schüttelte sich, zog den Mantel enger um den Körper und schnitt ein anderes Thema an. »Habt Ihr eine Ahnung, Herrin, wo unser Dulce sich aufhalten könnte? Ob er noch lebt? Was meint Ihr?« Asayinda zuckte mit den Achseln. Sie öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, schwieg jedoch. Ihr Blick wanderte zum Schwarzwasser hinüber. Sie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und suchte den Horizont ab, über dem gelblicher Nebel flimmerte. Uchate folgte ihrem Blick. 108
Das ewige Rauschen der Wellen schien für einen Moment zu ersterben. Der Wind hielt sekundenlang den Atem an. Das Herz der Welt setzte ein paar Schläge aus. Eine einsame Nebelmöwe flog vor ihnen entlang und sandte einen trockenen Schrei zum Himmel. Uchate glaubte, in der Ferne ein Donnern zu hören, doch das Geräusch ging im wieder einsetzenden Rauschen des Meeres unter. »Oh nein«, flüsterte Asayinda. Sie erbleichte und starrte ins Nichts. Uchate runzelte die Stirn. Asayindas Augen wurden in den Winkeln verdächtig feucht, ihr Blick wurde glasig. Sie ballte die Fäuste, bis die Knöchel kalkweiß wurden. »Herrin?« Asayinda schüttelte den Kopf. »Es ist Lethe. Oh nein, es ist soweit.« Sie sagte es mehr zu sich selbst als zu Uchate. »Ruft die Solitäre zusammen«, setzte sie hinzu. »Sollten wir nicht warten, bis der Dulce wieder da ist?« Asayinda schüttelte entschlossen den Kopf und wandte sich brüsk ab. Im Eilschritt kehrte sie nach Yle em Avrilux zurück. Uchate beobachtete die weichen Bewegungen ihres schlanken Körpers. Selbst ihre Körpersprache war seit ihrem Aufenthalt bei der Säule sicherer geworden. Sie vergeudete keinerlei Energie, und es gab nicht die geringste Fingerbewegung, die nicht einem bestimmten Zweck diente. Das plötzliche, beinahe explosive Wachsen ihrer Persönlichkeit spiegelte sich in ihren Augen, in denen unablässig Funken zu glimmen schienen. Erstaunlich! »Ihr wisst viel, Herrin«, murmelte er. »Ihr wisst viel, und Ihr vermutet noch mehr. Aber zum Glück wisst Ihr noch nicht alles.« Dann folgte er Asayinda, um zu erledigen, was sie ihm aufgetragen hatte.
Asayinda, die Herrin der Morgenröte, schob den Vorhang zum Podium zur Seite und betrat den Bogensaal von Yle em Avrilux. Sie ließ die 109
brodelnde Stille auf sich einwirken und sog den vertrauten, durchdringenden Duft des Wairyu ein, der wie ein nahezu greifbares Gebet aus den neun goldenen Gefäßen aufstieg und sich immer weiter nach oben verbreitete. Der zwölfköpfige Chor der Reinen Stimmen sang die Lieder der Tiefe. Die gebündelten Obertöne kletterten mit lautem Schall zum Dachgewölbe hinauf, berührten das Jahrtausende alte Mangitholz der Krummbalken und zerplatzten über den Häuptern der neuntausend Solitäre. Tausende Augenpaare hefteten sich an Asayindas Körper, als diese das Podium betrat. Sie verfolgten jede ihrer Bewegungen, wie gering sie auch sein mochten, denn sie wollten nichts von jener Herrin verpassen, die ihre Hoffnung auf eine glorreiche Zukunft verkörperte. Doch wenige unter den Neuntausend waren sich darüber im Klaren, dass sie zu einer gerade mal siebzehnjährigen Frau aufschauten. »Yle em Avrilux ist der einzige Ort.« Ihre sanfte Stimme füllte die Stille wie das Rauschen des Schilfrohrs im Wind, während sie die Worte rezitierte, mit denen der Dulce stets sein Frühbrevier einleitete: »Hier wacht die Zeit. Hier erhält der Raum seine letztendliche Bedeutung. Hier fallen Raum und Zeit zusammen, da sie eins sind.« Neuntausend Köpfe richteten sich zu ihr auf, neuntausend Augenpaare schauten hinauf zum Dachgewölbe. Sie starrten in Ekstase auf das singende Blau des Fensterschlitzes, der das Auge von Avrilux genannt wurde. »Herrin!«, ertönte es aus neuntausend Kehlen. »Yle em Avrilux ist der einzige Ort.« »Der Dulce ist sein Hüter«, kam die Antwort aus dem Saal. »Wasser ist Leben.« »Leben ist Wasser.« »In seiner unendlichen Düsternis wohnt unser Gebieter.« »Herr der Tiefe.« Wie immer gab der Sturm der neuntausendfach herausgeschleuderten Antworten auf die Fragen der Herrin dem Herz jedes einzelnen Solitärs Kraft. Abwartende Stille senkte sich über die Menge. Asayinda spürte die 110
Spannung. Die Solitäre wussten, dass der Dulce verschwunden war, und sie erwarteten Aufklärung von ihr. Sie lächelte. Sie würde sie nicht enttäuschen. Gemessenen Schrittes ging sie zur Mitte des Podiums und nahm ihren Platz hinter dem Altar aus schwarzem Samtgranit ein. Unwillkürlich glitt ihr Blick über die Statuen von Atai Wericylem, Dai, Sombor und Tervylex, den Göttern der Windrichtungen. Nur für Sekundenbruchteile streifte ihr Blick die undurchdringliche, spiegelglatte Oberfläche des Wassers im Becken. Ihr Blick erfasste im Vorbeigleiten Uchate und sein violettes Gewand, das Wasser der Morgenröte genannt wurde. Sie besaß das Recht, den Mantel für sich zu beanspruchen, doch sie wusste, dass dieser Augenblick noch nicht gekommen war. Asayinda senkte den Kopf und schaute auf den Text, den sie aus den Neuntausend Worten vorlesen wollte. Jenen Text, den sie stets als den Dreh- und Angelpunkt, als Kern ihres Glaubens betrachtet hatte – ohne dass sie bis vor kurzem gewusst hatte, dass sie selbst eine entscheidende Rolle darin spielen würde. »Das zweite Buch der Apodikten, dritter Teil, Wort sechs und sieben«, flüsterte sie, doch die unfassbare Akustik dieses grandiosen Saals trug ihre Stimme bis über die goldene Bogenpforte hinaus, zweihundertfünfzig Meter weit entfernt. »Wort sechs: Und wenn der Tag des Herrn gekommen ist, da der Herr der Tiefe aufgeweckt ist, wird jeder der Neuntausend ihn im Geiste mit den Worten Des Geheimen Apodikt anrufen. Und zusammen mit den Neuntausend werden neuntausend mal neuntausend mal neuntausend tote und lebende Seelen rufen. Denn er ruht, verwoben mit der Erde, auf dem Grund des Meeres, an jenem Ort, der in der Sprache der alten Welt über dem Wasser Hertel Rawelcynd genannt wird. Wort sieben: Doch im Jahre des Steindrachen, in den Tagen nach der Verflechtung des Erben der Vergessenheit, wird die Herrin den Herrn der Tiefe mit jenen Kräften wecken, die in ihrem Körper und Geist vereint sind. Und sie wird getrieben sein von der Stimme ihres Herrn und den Stimmen ihrer Getreuen, neuntausend an der Zahl. Und sie wird die Verflechtung vornehmen und so den Herrn der Tiefe dem Schlaf der Toten entreißen.« 111
Sie legte die Finger auf den Text, schaute auf und lächelte. »Die Worte, meine Solitäre, werden in genau einer Woche bei Anbruch des Tages besiegelt.« Mit der rechten Hand wies sie auf das Becken. »Hier.« Die Aufregung war groß. Triumphgeschrei und Rufe der Verwunderung erhoben sich im Saal. Solitäre umarmten einander. Einige sanken in fassungsloser Freude auf die Knie. Ein Solitär rief: »Herr der Tiefe! Dass ich Euer Erwachen noch erleben darf!« Andere stimmten ein. Es wurde gejubelt. Aus den Augenwinkeln sah Asayinda, wie Uchate erschrocken zurückwich. Er wollte sich umdrehen und davonstehlen. »Unser zweiter Priester, Uchate, wird nun ein Spätbrevier mit Euch feiern und alle Gebete der Begierde mit Euch durchgehen«, rief sie über den Tumult hinweg. »Dies wird er ein letztes Mal im heiligen Gewand als Umhüllung seiner Sterblichkeit tun. Denn nächste Woche werde ich es tragen. Ich suche jetzt die Anwesenheit des Herrn der Tiefe und bereite mich auf die Erweckung vor.« Ihre messerscharfen Worte flogen wie große Vögel über die Köpfe der Solitäre hinweg und zogen einen Trichter der Stille hinter sich her. Eine Decke atemlosen Schweigens legte sich über die Solitäre. Mit großen Augen starrten sie die Herrin an. Asayinda sah es und spürte ihre Bewunderung, die sich am Rand der Ekstase bewegte. Sie ließ den Blick durch den Saal schweifen. Ihr Geist berührte jeden der Solitäre, und das Schweigen wurde zu unendlicher Ruhe. »Bereitet euch vor.« Es klang wie ein Seufzer. »Wasser ist Leben.« »Leben ist Wasser«, war die neuntausendfache Antwort. »In seiner unendlichen Düsternis wohnt unser Gebieter.« »Herr der Tiefe.« Asayinda verließ das Podium, nickte Uchate zu, der ihrem Blick mit zusammengepressten Lippen auswich, und verschwand hinter dem Vorhang. 112
11 Herr der Tiefe (1) »Wer war ich wohl, bevor dies Sein, dies sinnestäuschende Bestehen, das Reich der Schmerzen ließ erstehen? War es nur andrer, süßer Wein? Oder war ich Gast der Götterwelt, Herr meines Seins und meiner Zeiten, konnt' wie ein Fürst durchs Leben schreiten, dem es am Festbankett gefällt? Glitt ich leicht bei jeder Flut durch die Dünung der neun Seen? Oder war's der Schmerz der Wehen, den erzeugt hat Teufelsbrut?« – Aus ›Unbeantwortete Trinette, Klangdichtungen und Quinttrinen‹, ein Gedichtband von Solo Rabather aus Oplan Wer war er? Wo war er? Als er zu sich kam, lag er auf der unendlichen Sandwüste, die den Boden des Meeres bildete, und atmete. Dem Meerwasser, das in ihn hereinfloss und wie ein geschmeidiger Fischleib wieder hinausschwamm, entnahm er alles, was sein Körper benötigte. Er war nicht einmal überrascht; beinahe schien es, als habe er im hintersten Winkel seines Geistes schon immer gewusst, dass dies geschehen würde. 113
Zeit bedeutete nichts in seiner neuen Existenz, denn ihm war klar, dass er hierfür gelebt hatte. Auf andere Weise. Doch wer er gewesen war, woher er gekommen war, konnte er nicht sagen. Sein Geist war zu sehr aus den Fugen geraten, und sein Verständnis dessen, was er dachte, entglitt ihm immer wieder. Kleine Ereignisse und Gedankenfetzen streckten sich wie abgetrennte Streifen Mantelstoff neben seinem Bewusstsein aus, ohne die Oberfläche seines Wesens, das Vorstellungsvermögen, zu berühren. Dadurch entstand ein wirres Gefüge loser Eindrücke, die jede Form eines Zusammenhangs vermissen ließen. Lediglich die Erinnerung an jene Augenblicke, da er keine Luft mehr bekommen hatte, verband ihn mit seinem vorherigen Leben. Die Angst, die Panik, die jedes andere Gefühl ausgeschaltet hatte, war greifbar gewesen. In seiner Gedankenwelt spürte er noch immer den Geruch des Todes, bitter und beißend. Lebte er überhaupt noch? Es schien so, denn seine Sinnesorgane arbeiteten weiterhin, obgleich sein Geruchs- und Geschmackssinn auf verwirrende Weise ineinander verschmolzen waren. Er empfand etwas Herbes, Säuerliches, das stärker war als das überall vorhandene Salz. Die beklemmende Angst, als er keine Luft mehr holen konnte, hatte ihn berauscht und in Ohnmacht fallen lassen. Die See hatte sich über ihm geschlossen. Der zunehmende Druck auf Ohren und Organe hatte ihm das Eis der Panik durch die Adern gejagt, unmittelbar gefolgt von der sengenden Hitze seiner Todesangst. Die Sinne waren in Aufruhr geraten. Ihm war nichts anderes geblieben als die Flucht in eine Bewusstlosigkeit, von der er zu wissen glaubte, dass er nie mehr daraus erwachen würde. Nachdem er das Bewusstsein verloren hatte, wurde sein langsam zum Meeresboden hinabsinkender Körper von kleinen Meerestieren berührt, die an seiner Tunika knabberten. Doch als die Tiere bis zu seinem Fleisch vorstießen, wendeten sie sich ab. Ohne darüber nachdenken zu können, begann er, Wasser einzuatmen, als wäre es normale Luft, und als wäre es schon immer so gewesen. Nachdem er zu sich gekommen war, hatte es noch eine ganze Weile gedauert, bevor zu ihm durchgedrungen war, dass er noch lebte. 114
Und jetzt lag er auf dem Meeresboden. Bewusst nahm er wahr, wie um ihn herum eine Welt aus Jade wogte. Alles tanzte im Takt dieser Bewegung mit, leicht verzögert, als reagiere alles, was eine festere Form besaß, entsprechend träger. Irgendwo spürte er, dass sich etwas von ihm zurückzog. Es war, als sage dieser Teil von ihm: »Wir warten, bis sich wieder etwas verändert. Hier können und wollen wir in deinem Leben keine Rolle spielen, in deinem neuen Leben.« Er erinnerte sich auch daran, dass er jenseits der Wasseroberfläche schlagfertiger, weniger abwartend gewesen war, doch hier war ihm der Tatendrang abhanden gekommen. Sein Geist war in eine Decke der Passivität gehüllt. Was blieb ihm anderes als warten? Sein Körper war nicht mehr als eine Erinnerung an dessen Gewicht. Die Impulse, die sein Geist normalerweise an seine Gliedmaße aussandte, waren unauffindbar. Das bisschen Bewusstsein, das ihn ab und zu erreichte, gab ihm zu verstehen, dass er hilflos in einer unbekannten Welt schwebte, einem von Kelp, Seegras und Sand überwucherten Wald. Er fragte sich erneut, ob er tot sei, und ob dies das Totenreich sei, über das so viele Mythen und Legenden die Runde machten. Die Glut von Emeralt erreichte wieder den Höhepunkt ihrer gleißenden Intensität. Mehr sah er nicht, denn die Veränderung hatte ihn beinahe mit Blindheit geschlagen. »Name.« Das Wort wurde von einer tonlosen Stimme gesprochen, kaum mehr als ein heiserer Gedanke, der bis in die letzten Winkel seines Wesens vordrang. Er wunderte sich nicht über die Anwesenheit der Stimme. Er betrachtete sie als Teil seiner selbst. Eigentlich wunderte er sich über nichts. Die ersten echten Erinnerungen, die seine Mauer aus geistraubender Fassungslosigkeit und Passivität durchbrachen, waren jene Momente, als er im Labyrinth von der übernatürlichen Präsenz angesprochen worden war. Er versuchte sich zu entsinnen, welche Worte ihm das Wesen in den Geist gehämmert hatte. Das Wort ›Verflechtung‹ blieb hängen, doch seine Gedanken konnten ihm keine Bedeutung zuordnen. 115
Name, hatte die Stimme gesagt. Er hatte einen Namen besessen, eine deutbare Identität. Plötzlich schien es von lebenswichtiger Notwendigkeit zu sein, sich an die Identität, den Namen zu erinnern. Er begann sich zu bewegen, schwamm und wälzte sich durch Gegenden, die er für seinen Geist hielt, immer auf der Suche nach seinem Namen. Er fand mehrere tausend, einer wie der andere bedeutungslos. Woher sollte er wissen, welcher Name ihm gehörte? Als er ihn in einer neuerlichen Anstrengung auszugraben versuchte, stieß er auf Namen, die ihn stutzen ließen: Janila, Myrde, Pit, Lethe, Welm, Matei. Es waren nicht so sehr Erinnerungen, als vielmehr abwechselnde Gefühle der Trauer und der Freude. Der ganze Gedankenstrom wirkte wie ein Traum, obwohl er sich bewusst war, dass diese Gedanken wirklicher waren als der flüssige Traum, in dem er sich jetzt wälzte. Er suchte in allen Ecken und Nischen seines allmählich zurückkehrenden Bewusstseins, doch er fand den Namen nicht. Stattdessen tauchten am Rand seiner Netzhaut Gesichter auf. Zum Beispiel das zarte Antlitz einer Frau mit dünnem grauem Haar. Feuchte Augen, die seinen Blick suchten. Ein Mädchen von schlanker Gestalt, mit langer blonder Mähne und Grübchen, die ein Lächeln versprachen. Er roch den Duft der Waldkräuter: Elfenthymian, Raschmais, Farnkelch und Salbeizahn. Ein Gefühl der Wehmut streifte seine Gedanken.
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15 Asayinda und der Dulce »Lehrling des Lebens: Bezieht Eure Weisheit aus Worten. Schöpft aus dem Brunnen des gesprochenen und des geschriebenen Wortes. In dem einen begegnet Euch das geballte Herz, in dem anderen vereint sich die Seele mit dem Diskurs. Bezieht Eure Weisheit auch aus den Handlungen Eurer Mitmenschen. Schaut, lauscht, und schweigt. Schaut genau hin und stellt fest, welche Taten von Habsucht, Lust und Machtstreben beherrscht werden. Sondert dieses Tun aus, denn es beinhaltet die dunkle Seite Eurer Seele, in der Weisheit kein Zuhause findet. Was dann zurückbleibt, wird von Weisheit geleitet. Bezieht Eure Weisheit auch aus Euch selbst. Was seid Ihr anderes als die Summe jener Menschen, die Euch umgeben, unter Hinzufügung des kleinen Kerns Eurer Persönlichkeit?« – Aus ›Auszüge aus den Schriften des Cuensin, siebtes Kapitel: Wert und Wesen der Weisheit‹, von Wirter Gylf aus Demster, datiert 6108 Während Uchate, der zweite Priester, zum Abhalten des ihm auferlegten Spätbreviers schritt, hastete Asayinda durch die verlassenen Gänge von Yle em Avrilux. Ihre Tritte hallten hohl in den hohen Galerien wider. Sie hatte ein klares Ziel: die Bibliothek in der Konsistorei. »Alles Wissen befindet sich in unserer Nähe, alle Worte der Weisheit sind vorhanden«, hörte sie den Dulce in Gedanken sagen. Dieses Wissen und die Weisheit brauchte sie jetzt. Nachdem sie den Solitären mitgeteilt hatte, dass die Erweckung des Herrn der Tiefe bevorstand, wollte sie al117
les zu diesem Thema in Erfahrung bringen. Sie spürte, dass sie in der Lage dazu war, auch wenn sie noch nicht genau wusste, wie sie es anstellen sollte. Seit dem Verschwinden des Dulce konnte sie nicht mehr aus ihrer inneren Stimme schöpfen; daher musste es anders gehen. Sie betrat die Konsistorei und las halblaut die Titel der Bücher auf einem Bord in Augenhöhe. Ihre Hand griff nach einem ziemlich dünnen Werk, das zwischen all den dicken Standardwerken, Manuskripten, Folianten, Pergamenten, Schriften und Buchrollen in keiner Hinsicht auffiel. Es gehörte zu einer Reihe von zwölf Bänden. Sie zog es heraus und tastete nach dem goldenen Schloss. Das Buch hatte einen braunen Umschlag. Asayinda flüsterte den Titel: »Eine Reise durch die Geschichte der Magie von Romander, Band acht: ›Wassermagie‹, von Harp aus R'Kaerge.« Sie legte das Buch auf den Konsistoreitisch, als handle es sich um eine Kostbarkeit aus Knochenporzellan. Anschließend suchte sie weiter. Zwischen zwei Exemplaren der Neuntausend Worte fischte sie ein kleines Buch heraus und legte es auf das Werk über Wassermagie. ›Die Geheimen Notizen und das Geheime Apodikt‹ stand da in altmodischen Kringeln auf dem Umschlag. Sie setzte ihre Suche fort. Ihre Finger glitten über die Buchrücken, bis ihre Hand verharrte. Zwischen zwei Büchern über alte, verbotene und unbekannte Magie gähnte ein Loch. Asayinda legte die Stirn in Falten. Das Buch, das sie suchte, hatte hier gestern noch gestanden. Sie überlegte, wer Zugang zur Konsistorei hatte. Außer ihr und dem Dulce waren das nur Uchate und Brevander. Hatte Uchate das Buch an sich genommen? In ihrem Geist meldete sich eine Wesenheit. »Asayinda.« Gedankensprache, in einer ihr vertrauten Stimme: der Dulce! Freude und eine Spur Unruhe kräuselten das glatte Wasser ihres Innern. »Dulce, wo seid Ihr?« »Ganz in der Nähe, Asayinda. Aber das braucht niemand zu wissen. Es ist besser, wenn ich in den kommenden Stunden, vielleicht auch Tagen, die Schritte einiger Leute aus sicherer Entfernung beobachten kann. Ihr wart gerade dabei, ein Buch zu suchen?« 118
»Über die Kraft. Mir ist klar geworden …« »Ich weiß. Die Kraft könnte zur Folge haben, dass dieser Unmagier anders ist und auch ganz anders handelt als seine Vorgänger.« Ein Hauch von Verdruss löste sich aus Asayindas Geist. »Ach, Lethe. Ihr müsst wissen …« »Ich weiß es.« Die Stimme des Dulce klang beinahe gereizt in ihren Gedanken. »Natürlich weiß ich, dass er sich zum Herrn der Tiefe begeben hat. Ich war dabei, als es geschah; in den Schluchten. Schließlich bin ich einer der Spieler.« Diese Mitteilung rief eine rauschende Stille in Asayindas Kopf hervor. Sie spürte, wie ihre Sinne sich schärften. Jetzt eine weitere Frage zu stellen, wäre falsch. Sie schwieg. Ein langer, tiefer Seufzer füllte ihren Geist. »In Eurem Schweigen lauert die Frage, die ich beantworten will. Ihr dürft mich einen Spieler nennen, ja. Jedenfalls gehöre ich zum Pakt der Zehn.« Ein neuerlicher Seufzer. »Ich bin ein Spieler, und ich bin nicht stolz darauf. Einige Spieler haben auf Romander großen Schaden angerichtet. Dennoch habe ich mich dafür entschieden, als sich mir die Gelegenheit bot. Es ist die einzige Möglichkeit, das zu tun, was getan werden muss.« Stille. »Es würde zu weit führen, Euch jetzt alles erklären zu wollen. Für die Ereignisse im Zusammenhang mit der farblosen Magie ist es ohnehin von untergeordneter Bedeutung. Es muss genügen, wenn ich Euch sage, dass ich zwar nicht das ewige Leben besitze, aber schon sehr lange lebe. Worum es jetzt vor allem geht, sind zwei Dinge. Erstens die Erweckung des Herrn der Tiefe.« »Ich habe sie soeben im Bogensaal angekündigt. Nächste Woche ist es so weit.« »Gut. Ihr habt die Zeichen richtig gedeutet. Das heißt aber auch, dass Ihr noch viel vorzubereiten habt. Ich werde Euch dabei helfen, und diese Hilfe wird Euch sicher überraschen. Der zweite wichtige Punkt betrifft die Tatsache, dass sich irgendwo in der Hierarchie der Priesterschaft je119
mand befindet, der mit den Wölfen heult, mit dem Feind zusammenarbeitet.« Asayinda nickte in Gedanken. »Das habe ich bereits vermutet. Ich glaube auch zu wissen, um wen es sich handelt.« »Gut, dann lasst uns jetzt mit den Vorbereitungen für die Erweckung beginnen.« »Wollt Ihr denn nicht wissen, wen ich verdächtige?«, fragte Asayinda verwundert. »Seit Eurem Kommen bin ich in erster Linie wieder Spieler. Es ist nicht an mir, den Gegner der Solitäre zu entdecken, und mir steht es nicht zu, entsprechende Maßnahmen zu treffen. Folgt Eurem Herzen, doch lasst Euch in Eurem Handeln von dem Wissen leiten, das Ihr in den letzten Wochen gesammelt habt. So wie Ihr es bislang auch schon getan habt.« Nach einer kurzen Pause sagte der Dulce: »Doch noch etwas zu dem Verräter. Kennt Ihr die Weissagung?« »Die Weissagung? Welche?« »Gut, belassen wir es dabei«, flüsterte der Dulce. Asayindas Verwunderung wurde dadurch nicht geringer, doch sie stellte keine Fragen mehr. »Nehmt Eure Bücher mit und kommt zum kleinen Remter neben dem großen Speisesaal. Dort sehen wir weiter.« Asayinda eilte zum kleinen Remter. Die Tür war nur angelehnt. Drinnen wartete der Dulce, der die Tür hinter Asayinda schloss. Der Raum nannte sich zwar kleiner Remter, doch die langen Tische und Bänke boten Platz für mindestens zweitausend Solitäre. »Gedankensprache ermüdet mich nach einer gewissen Zeit«, sagte der Dulce, nachdem sie sich herzlich umarmt hatten. Er setzte sich seitlich auf den Rand eines Tisches und schnitt übergangslos ein neues Thema an. »Soweit ich weiß, ist der Körper des Herrn der Tiefe größer als das Becken im Bogensaal.« Es klang wie eine schlichte Feststellung, der Mystik jenes Glaubens entledigt, dessen Oberhäupter sie beide waren. Asayinda legte die Bücher auf den Tisch und schaute den Dulce erschrocken an. 120
»Aber das … wie …« Verwirrt verstummte sie. »Dennoch wird geschehen, was geschehen muss«, flüsterte der Dulce. »Ich glaube zu wissen, wie es gelingen wird, aber es erscheint mir besser, Euch nicht im vorhinein darüber zu informieren.« Er stand auf und starrte über Asayindas Kopf hinweg in die Ferne. »Kennt Ihr die Geschichte von Yle em Avrilux?« »Nicht richtig«, gab Asayinda zu. »Ich bin einfach noch nicht dazu gekommen.« Der Duke setzte sich wieder, bückte sich und fegte Staub und Sand vom Saum seines Mantels. »Vor langer, langer Zeit standen hier zwei Kathedralen, ganz dicht nebeneinander. Die Solitäre, die damals noch nicht Solitäre genannt wurden, waren zu jener Zeit in zwei Lager gespalten, wobei jede Seite die Neuntausend Worte auf ihre eigene Weise auslegte: die Nostalgisten und die Progressisten. Die Nostalgisten hielten, wie der Name besagt, an den alten Riten und der bestehenden Liturgie fest. Sie behaupteten, über Manuskripte von Deiar zu verfügen, dem Ersten Dulce, durch die ihre Glaubenshaltung bestätigt werde. Niemand hat diese Schriften jemals sehen dürfen, da sie nach dem Bekunden der Nostalgisten nur für ihre eigenen Augen bestimmt waren. Die Progressisten machten sich weniger Gedanken über Abweichungen von der Liturgie. Sie warfen den Nostalgisten vor, es gehe schließlich um ein Erleben mit Herz und Seele, und da gebe es viele Möglichkeiten, dies zu erreichen. Sie hielten ihre Glaubensdienste in der Kathedrale von Yle ab. Die Nostalgisten sahen ihr Zuhause in Avrilux. Es fehlte nur wenig, und zwischen den beiden Glaubensrichtungen wäre es zum Krieg gekommen.« »Krieg? Aber das ist doch nicht möglich. Krieg zwischen den Solitären?« »Glücklicherweise kam es nicht dazu. Letztendlich beschlossen die Solitäre 6398 auf Andringen des Dulce Feiral aus Tarfandel, den Streit um die Worte zu beenden und sich zu einem gemeinsamen Glauben zu bekennen. Als sichtbares Zeichen dieses Zusammenschlusses ver121
banden sie die beiden Kathedralen miteinander und bekrönten die Einigung mit den Türmen der Zehnfaltigkeit.« Der Dulce zog die Nase hoch und sagte: »Das Verrückte daran ist, das niemand weiß, warum sie so genannt wurden, und weshalb man sie bis heute so nennt.« »Zehnfaltigkeit«, überlegte Asayinda laut. »Könnte das zu tun haben mit... « Der Dulce hob plötzlich den Kopf und gab Asayinda ein Zeichen zu schweigen. »Kommt mit«, flüsterte er dann hastig und war mit wenigen Schritten an einer kleinen Tür neben einem Kamin. »Niemand braucht zu wissen, dass ich schon zurück bin.« Asayinda löste ihre Gedanken von dem, was Aernold soeben gesagt hatte. Eine Geschichte mit einer Bedeutung hinter der Bedeutung, wie sie vermutete. Hinter der Tür, durch die sie gekommen war, hörte sie Stimmengewirr. Hastig schnappte sie sich die Bücher und folgte dem Dulce aus dem Zimmer. Als dieser die Tür leise schloss, hörte sie die andere Tür quietschen. Sie standen in einem breiten Gang, der die Gemächer des Dulce, den großen Speisesaal und den kleinen Remter miteinander verband. Die mit verschlissenen Gobelins verkleideten Wände stiegen zu einer Decke empor, die sich in den tanzenden Flammen der in Schilföl getränkten Wandfackeln verlor. Es roch muffig. Asayinda war hier noch nie zuvor gewesen. »Wir können nicht in meine Zimmer«, flüsterte der Dulce. »Sie werden überwacht.« Eine erstaunliche Neuigkeit. Der Dulce ging Asayinda voraus, machte einen großen Bogen um seine Gemächer, und stieg durch lange, von Fackeln beleuchtete Gänge und Treppen aus schwarzem Mangit hinab. Anfangs waren die Mauern noch mit Wandteppichen verkleidet, doch als sie tiefer in die Gewölbe von Yle em Avrilux vordrangen, kamen sie an grauen Mauern vorbei, auf denen seltsame, eckige Motive angebracht waren. Der Geruch von Feuchtigkeit und Erde lastete schwer in diesen Gängen. Schließ122
lich bog der Dulce in einen Seitengang ab und blieb vor einem mannshohen Gemälde aus Kanterholz stehen, dessen Rahmen aus kunstvoll bearbeitetem Gold bestand und in den nackten Felsen eingelassen war. Auf dem Bild war eine Jagdszene dargestellt. Darüber hing eine Fackel in einem schmiedeeisernen Halter. Aernold griff nach der Fackel. Seine Lippen öffneten sich einige Male, und mit einem seufzenden Geräusch kam Leben in die Flamme. Anschließend drückte der Dulce auf die Klammer, mit der die Fackel an der Mauer befestigt war. Das Gemälde kippte nach hinten und gab den Blick in einen mit schwarzen Kacheln ausgekleideten Gang frei. »Wir sind hier schon ziemlich tief unter Yle em Avrilux«, sagte der Dulce, als sie den gewundenen Gang betraten. »Aber dieser Stollen führt zu einem Keller, der noch viel weiter hinuntergeht, bis tief unter den Bogensaal. Die Nibuüm warten dort auf uns.« Asayinda zog die Stirn kraus, doch sie folgte dem Dulce schweigend. Sie kamen durch ein Gewirr langsam abfallender, gewundener Tunnel, durch niedrige Seitengänge, an Nischen und runden Räumen vorbei, in die wieder andere Gänge mündeten. Schnell und zielsicher eilte der Dulce von einem Gang zum nächsten, immer tiefer in die Erde. Asayinda hatte Mühe, die lotsende Fackel im Auge zu behalten. »Still«, flüsterte der Dulce in Gedankensprache, als sie etwas darüber sagen wollte. »Versucht, so dicht wie möglich hinter mir zu bleiben.« Mittlerweile überraschte es sie schon nicht mehr, dass er gewusst hatte, dass sie ihn beinahe angesprochen hätte. Ihrer Meinung nach mussten sie sich längst unter dem Bogensaal befinden, doch der Dulce bog in einen weiteren Gang ein. »Ich mache einen Umweg. Ich spüre die Anwesenheit eines Wesens im Hauptgang, der auf direktem Weg ins Kellergewölbe führt. Das ist nicht so absonderlich, denn hier tummeln sich Geister, die älter sind als die meisten Mitglieder des Pakts der Zehn. Bestimmte Schwerter, die ich kenne, würden hier singen und blaues Licht ausstrahlen. Nennt es einfach mein inneres Schwert, das mich davor warnt, dass uns jenes Wesen nicht freundlich gesonnen ist.« Unwillkürlich strich er in Höhe der rechten Hüfte über seinen Mantel. 123
Sie tauchten noch tiefer in die Erde ein und betraten in schwarzes Felsgestein gehauene Tunnel, klamm, gelb bemoost und in ein Schweigen getaucht, das tausend Augen besaß. Asayinda spürte, wie sich ihr regelmäßig die Nackenhaare sträubten. Einmal wehte ein tiefer Seufzer durch die Gänge, der sie wie eine winterlich kalte Bö streifte. Es klang, als ob jemand ein Wort seufze. Die Flamme der Fackel sank zu einem kleinen Punkt zusammen. Der Dulce grummelte etwas, wodurch die Flamme wieder emporstieg, bog wie der Blitz in einen Seitengang ab und zischte: »Schnell!« Asayinda eilte hinter ihm her. Der Dulce schlängelte sich durch ein Tunnelsystem, in dem sich Seitengänge und kaum mannshohe Querstollen immer wieder abwechselten. Asayinda spürte, dass der Boden allmählich wieder anstieg. Sie erreichten einen Gang mit dunklen Kacheln, der keine Seitengänge besaß. Schließlich betraten sie durch eine kaum erkennbare Tür ein Kellergewölbe. Als der Dulce vorsichtig um die Ecke schaute, sah er den Fackelschein. Erleichtert ging er weiter über den mit leuchtenden schwarzen Kacheln bedeckten Fußboden, bis er die drei Nibuüm entdeckte. Er begrüßte sie kurz und drehte sich dann so langsam um, als widerstrebe es ihm. »Asayinda, wir reisen ab.« Bestürzt reckte sie das Kinn vor. »Wir reisen ab? Wohin? Warum?« »Wir folgen dem Weg der Säule«, antwortete der Dulce leise, »wie es im Geheimen Apodikt geschrieben steht.« Asayinda griff nach dem Buch, das sie erst vor kurzem aus der Konsistorei mitgenommen hatte, und starrte auf den Titel: ›Die Geheimen Notizen und das Geheime Apodikt‹. »Ich habe es noch nicht gelesen«, murmelte sie mehr zu sich als zum Dulce. »Ich wusste nicht …« Sie starrte blicklos in die Ferne. »Heißt das, dass ich die Riten der Erweckung nicht leiten werde? Der Weg der Säule … ist das der Weg, den ich gehen muss?« Der Dulce rührte sich nicht. Die Nibuüm traten zurück, als wollten sie ihr Raum für eine eigene Entscheidung verschaffen. 124
Allmählich hatte Asayinda verstanden. Ihre Augen weiteten sich, und sie suchte nach einem Halt. Der Dulce sprang hinzu und griff nach ihrer Hand. »Demnach …«, stieß sie benommen hervor. Fetzen eines früheren Traums in einer Nacht voller Angst bestürmten sie. Einsetzende Panik ließ ihren Körper zittern. Plötzlich war sie wieder die Tochter des Morek, das Hirtenmädchen Gyndwane aus Rynzeltal auf der östlichen der Spiegelinseln, unsicher und ängstlich. Der Dulce legte den Zeigefinger auf die Lippen. Asayinda schwieg. »Lest das Geheime Apodikt«, sagte der Dulce ruhig. »Ihr werdet ausreichend Zeit dafür haben. Alles, was Ihr braucht, befindet sich im Boot. In einer Stunde segeln wir ab. Kommt!« Asayinda folgte ihm fast willenlos und mit starrem Blick. Plötzlich wurde ihr alles klar und führte zu einem logischen Schluss – so wie Lethe vielleicht auch erst in seinen letzten Momenten in Welden Taylerch begriffen hatte, was ihn erwartete. Nur hatte sie jetzt ein paar Tage Zeit, sich an den neuen Gedanken zu gewöhnen. Ob sie dies als Vorteil betrachten sollte, erschien ihr zweifelhaft. Ihre Stimmung sank. Warum musste ausgerechnet sie es sein? Warum in des Schöpfers Namen war sie für ein solches Schicksal geboren worden? Doch sie erlebte eine angenehmere Überraschung, als sie während eines heftigen Schneegestöbers an Bord des Solitär von Avrilux gingen. In der Kajüte wartete eine zusammengekauerte Gestalt in einem dunkelbraunen Mantel aus Fuchspelz auf sie. »Gall!«, rief Asayinda. »Fahrt Ihr mit uns?« Der Prophet lächelte und nickte. »Mehr als das«, sagte er rätselhaft. »Mehr als das.«
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16 Der Herr der Tiefe (2) »Über die Verknüpfung von Geist und Körper haben die Denker und Philosophen des Reichs von Romander schon viele Worte verloren. Aber erst wenn das Band zwischen beiden zu zerreißen droht, wird deutlich, wie sehr die physische und psychische Entität ineinander verwoben sind. Vielleicht ist es sogar die körperliche Quintessenz des Lebens, dass zwei in ihrer Bedeutung, aber auch im Gewicht so unterschiedliche Phänomene wie Körper und Geist oder Gehirn sich dermaßen aneinander gewöhnen, dass sie glauben, nicht mehr auf den anderen verzichten zu können. Möglicherweise macht gerade dies das Sterben so schwer.« – Aus ›Trübe und klar, wie Wasser‹, ein Essay der Edelfrau Aldayrin aus Nayar Manchmal wurde das sanft wogende Jadelicht schwächer und blieb schließlich nur noch als ein vager Schimmer auf seiner halbblinden Netzhaut zurück. Dann spürte er, wie alles still wurde und sich in Muschelgehäusen und kleinen Höhlen voller Kelp und Seegrashalme verkroch. Die dunklen Geschöpfe in die dunklen Ecken, die transparenten und heller gefärbten in die letzten verbliebenen smaragdgrünen Flächen der sterbenden Glut. »Unmagie.« Das Wort, das mit derselben flachen Stimme in seine Gedanken gedrungen war, die ihn auch schon auf die Spur seines Namens gebracht hatte, ließ alles erstarren. In seinem Innern breitete sich ein Fleck ohne den geringsten Gedanken aus. Dahinter fing er einen Schimmer von 126
Bedeutungen auf. Er sah, wie die Zeit zu einer Säule von Dimensionen erfror, die sein Fassungsvermögen überstiegen. Wesen aus den Verstecken sämtlicher Jahrtausende ließen sich blicken. In ihrer Zeit hatten sie eine wichtige Rolle gespielt. In der Erinnerung der Menschen, Wesen und Völker hatten sie weitergelebt. Ihr Name hatte einen mythischen Klang erworben, und letztlich war ein Gerippe aus Fakten und Fiktion übrig geblieben, das zur Legende wurde. Manch eines dieser Wesen hatte noch lange nach seiner Zeit die Gedanken der Völker beherrscht. Unmagie! Stück für Stück tröpfelten die Erinnerungen an seine frühere Existenz durch den seifigen Geist herein. Und durch die Erinnerungen fand er im Strom der Namen auch seinen eigenen: Lethe. Er war Lethe. Er hatte graue Augen und dunkles Haar. Er prüfte seinen Namen, als höre er ihn zum ersten Mal. Der Klang gefiel ihm, doch im Hintergrund schwang ein trister Ton mit. Er war Lethe. Oder musste er sagen: Er war Lethe gewesen? Er hatte den Namen ausgegraben, und die dazugehörigen Beweise für seine frühere Existenz drangen wie feine Spuren in seinen Geist. Andere Namen tauchten auf, aber von wem und was? Draht, Myrde. Langsam begann alles seinen Platz, seine Bedeutung zu erhalten. Sein Geist berichtete ihm, welches Gesicht zu wem gehörte. Er wusste, wer er selbst war, woher er kam. Aber wo war er jetzt? Und vielleicht auch: Wer war er jetzt? Die Veränderungen waren zu groß, zu grundlegend für sein Fassungsvermögen. Seltsamerweise drang jedoch die Erkenntnis, welche Bedeutung Unmagie für ihn hatte, in vollem Maße zu ihm durch. Ihm wurde schwindlig davon. Die Unmagie raste durch seine Adern, nahm Besitz von jeder Faser seines Körpers. Sie ermöglichte ihm das Überleben, hier, unter Wasser. Sie war unendlich viel mächtiger und umfassender, als er geglaubt hatte. Er war der Unmagier. Wie war er Unmagier geworden? Wie kam es, dass er als Sohn von Janila und Welm – er fand die beiden Namen mühelos in seinem Gedächtnis – zu dieser einzigartigen Person seiner Zeit geworden war? Wie kam es, dass es nur alle neuntausend Jahre einen Unmagier gab? 127
Unmagie war der Spiegel, die Kehrseite von Magie, hatte er vor kurzem irgendwo gelernt. Und plötzlich wusste er auch, warum er – aus der Vermutung heraus, was Unmagie sein könnte – solche Angst gehabt hatte. Er wusste, welches Wesen jener andere Besitzer der Fähigkeit zur Unmagie war – eigentlich der Fähigkeit, Unmagie zu ermöglichen. Es war kein ermutigender Gedanke. Eine unbestimmte Vermutung, was ihn erwartete, nämlich ein gänzlich anderer Kampf als der, auf den er sich einzustellen versucht hatte, sorgte für wachsende Unruhe. Er verknüpfte Ereignisse und Fakten, die zuvor zusammenhanglos gewesen waren. Er erinnerte sich an die Stimme in seiner Vision, die ihm die ersten Einblicke in Unmagie vermittelt hatte. »… denn sie ist der Rahmen. Jede Form von Zauberei ist darin gefangen. Doch nur wer mit Magie aufgewachsen ist, diese aber nicht beherrscht, hat die Möglichkeit, sie zu entwickeln.« War Unmagie der Rahmen für Magie? War er in der Lage, Magie zu fesseln, in den Rahmen seiner Unmagie einzusperren? Das hörte sich fast an, als wäre er der Düstere. Auch der verstand es, Magie zu fesseln und unwirksam zu machen. Woraus bestand Unmagie aber nun? War es nur Geisteskraft, oder waren auch noch Gegenstände und Werkzeuge vonnöten? So etwas wie unmagische Artefakte? Er fühlte sich zunehmend unzufrieden. Immer neue Fragen, und nichts oder niemand, der die Antworten mit ihm teilen wollte. Erneut wurde ihm schwindlig von der Flut der Ereignisse, die ihn hier hatten landen lassen. Unwillkürlich suchte er nach einem Gegengewicht in seinem Geist, nach etwas Kleinem, etwas von ihm selbst. Eine Korallenkette von Erinnerungen führte ihn zum Spiel des Verstummens, an dem er im Helmwald teilgenommen hatte. Dort hatte er unversehens die Fähigkeit bei sich entdeckt, die Gedanken anderer zu ›sehen‹. Später hatte er noch einmal über die Ereignisse jenes Tages nachgedacht. Er hatte festgestellt, dass seine Fähigkeit auf einer ganzen Reihe von Fertigkeiten beruhte. Alkyns Gestalt vor seinem geistigen Auge, hatte er damals an dessen Körpersprache, der Haltung, dem Klimpern mit den Augen und den Bewegungen von Fingern und Hän128
den teilweise ablesen können, welche Geschichte von ihm stammte. Er erkannte Details, die die anderen Teilnehmer an dem Spiel nicht sahen, obwohl doch gerade sie magische Fähigkeiten besaßen. Damals aber hatte er noch nicht gewusst, dass er aus der Kraft schöpfen konnte. Was nun Unmagie genannt wurde, würde in einer anderen Zivilisation wahrscheinlich ebenso gut wirkende Magie heißen können. Die Stimme seines alten Lehrmeisters Jen ertönte in seinem Verstand: »Magie ist die Kunst des Geistes.« Wenn das stimmte, konnte man Unmagie die Kunst des Körpers nennen. Doch eine derartige physische ›Kunst‹ benötigte auch einen mächtigen Körper, und den besaß er nicht. Die Loher Magie ging davon aus, dass derjenige, der den Geist beherrschte, manipulierte, seinem Willen unterwarf, das ganze Wesen des anderen in Besitz nahm. Also auch den Körper. Und Lethe erfasste allmählich, dass Unmagie auf der Tatsache fußte, dass derjenige, der den Körper unter Kontrolle hatte, auch den Geist beherrschte, ihn notfalls sogar brechen konnte. Wer oder was die Quelle der Unmagie sein könnte, war ihm noch unklar. Er begann ansatzweise nachzuvollziehen, warum die Loher Magie den Zorn des Düsteren weckte, warum die Magie in dessen Gegenwart entgegengesetzt wirkte. Hierüber wollte er jetzt nicht weiter nachdenken. Noch nicht. Er suchte nach anderen, kleineren Gedanken und fragte sich, was der Ursprung der Stimme sei. »Nennt mich einfach Weisheit«, sagte die Stimme in einer eigenartigen Flüstersprache und fuhr fort: »Nicht Eure.« Lethe wurde plötzlich zornig. Er suchte nach Antworten und stolperte ständig über Fragen. Er wollte sich bewegen, aufstehen, mit den Fäusten drohen, doch sein Körper reagierte nicht. »Warum weiß ich nichts?«, begann er hitzig. »Wenn ich so wichtig bin, warum weiß ich dann nicht mehr über Unmagie und die Ereignisse, die mich erwarten?« Eine Zeit lang blieb es still. Lethe wurde sich wieder des leichten Schaukelns seines Körpers bewusst. »Was Euch erwartet? Das wollt Ihr doch gar nicht wissen. Ihr solltet Euch lieber erst einmal fragen, wo Ihr seid und wer Ihr seid.« 129
Es klang eigenartig verbittert. Er spürte, wie die Stimme sich rücksichtslos ausklinkte und davonmachte. Ein Gefühl der Enttäuschung wirkte nach, so als habe Lethe nicht den Vorstellungen des Besitzers der Stimme entsprochen. »Wartet!«, rief Lethe, doch es blieb still und leer in seinem Geist. Ihr solltet Euch lieber erst einmal fragen, wo Ihr seid und wer Ihr seid, hatte die Stimme gesagt. Er konnte seine Gedanken nicht auf das Wesentliche konzentrieren. Er wusste nicht einmal, worum es wirklich ging – so wie ein Meisterschüler jenen Zauberspruch, der gerade etwas zu schwer für ihn ist, jedes Mal falsch zitiert. Da war nicht einmal der Ansatz von Verstehen. Lethe schob die Gedanken entschlossen beiseite. Langsam wurde er ruhiger. Bis er schließlich den wiegenden Rhythmus der ihn umgebenden Welt aufnahm. Er dachte an die Stimme. Weisheit. Im Instirium hatte er mal etwas darüber gelesen. Es hatte mit der frühesten Geschichte zu tun, mit einem Wesen, das eigentlich zwei Wesen in einem darstellte. Es war ein Kapitel aus der Großen Legende gewesen. Doch wahrscheinlich hatte er damals nicht richtig aufgepasst, denn er kam nicht auf die Details. Die Zeit verging. Wenn die erlöschende und wieder auflodernde Glut etwas mit Tag und Nacht zu tun hatte, waren sechs Tage verstrichen. Lethes Gedanken schliefen nicht. Er versuchte, nicht zu viel nachzudenken. Das war auch nötig, denn manchmal hatte er das Gefühl, dass die Ereignisse um ihn herum seinen Geist zu sehr unter Druck setzten und dass er allmählich verrückt wurde, weil er nicht wusste, was ihm bevorstand.
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17 Pit (1) »… doch der Feind ist unsichtbar, denn das so umsichtig errichtete Bauwerk des Reiches wird nicht durch die Horden der Nacht zum Einsturz gebracht, und auch nicht von einer Schiffsarmada in die Knie gezwungen, angeführt von düsteren Gesellen und den Gefolgsleuten des Bösen, welchen Namen wir ihm auch geben wollen. Nein, das Reich, dieser komplizierte Organismus von Menschen und Mächten, wird von Ratten zerstört werden, die sich unbemerkt in den Fundamenten einnisten. Die Ratten werden das Reich ungehindert anfressen, und erst wenn die Gipfel des Bauwerks zu wanken und in die Tiefe zu stürzen drohen, werden die Machthaber und die Bewohner begreifen, dass der Feind aus dem Innern heraus operiert. Doch dann ist es zu spät. Ich sehe eine Kraft, schwarz und nicht wahrnehmbar, die wie eine Horde Ratten an den Rändern und Küsten von Romander nagt. Diese Kraft hat einen Namen, doch der Name wird nicht laut ausgesprochen. Aber ich weiß, dass auch die Hoffnung sich als unsichtbare Kraft zeigt.« – Fragment aus ›Die Visionen des Geistmeisters Damphier aus Demster‹ Pit saß aufrecht am Eingang einer Grotte, die die Reisegefährten als Schlafplatz für die Nacht gewählt hatten. Sie hatte von Dotar die Wache übernommen. Die Fackel, die Dotar mit viel Mühe am Brennen gehalten hatte, hatte Pit ausgemacht, da sie bei ihrem nächtlichen Vorhaben die Dunkelheit brauchte. Nur das kleine Feuerchen vor dem Höhleneingang verströmte noch ein wenig Wärme. Pit zitterte und zog sich 131
den Mantel enger um die Schultern. Kalter Nebel glitt schlangengleich durch die Schlucht. Pits Gedanken schlugen schon seit geraumer Zeit Purzelbäume. Sie war mit einer Idee erwacht, doch irgendetwas in ihrem Geist schreckte davor zurück, diese in die Tat umzusetzen. Mach dich nicht alleine auf die Suche, hörte sie ihren Lehrmeister eindringlich sagen. Tu es nicht, denn die Kräfte, mit denen du dann spielst, sind anderer Natur. Sie sind dergestalt, dass sogar ich mich nicht darauf einlasse. Und doch wusste sie, dass nur sie in der Lage war, das zu tun, was ihrer Meinung nach getan werden musste. Irgendwann einmal musste es geschehen, warum also nicht jetzt? Dies war einer der wenigen Augenblicke, in denen sie unbeobachtet war. Sie presste die Lippen aufeinander und schaute sich um. Die fünf Männer schienen alle fest zu schlafen. Gaithnard schnarchte leise. Pit schlich nach draußen und setzte sich so, dass sie für ihre Reisegefährten nicht zu sehen war, falls einer von ihnen aufwachen sollte. Noch immer ein wenig unsicher, fuhr sie sich mit den Fingern durch das Stachelhaar. Dann schloss sie die Augen und legte die Hände auf die Knie. Um ihren Mund erschien ein entschlossener Zug. Der Sturm in ihrem Kopf legte sich, wurde verdrängt vom immer wiederkehrenden Gedanken an ihre Kindheit. Sie hegte die wenigen Erinnerungen an ihre ersten Lebensjahre. Es waren Bilder hinter einem Nebel aus Zeit. Ein Gesicht mit vorstehenden Wangenknochen und dunklen Augen. Eine Frau. Ihre Mutter? Und eine Gestalt, halb von ihr abgewandt. Sie lag auf der Erde. Die Person sprach, jedoch unverständliche, fremdartige Wörter. Die Bilder endeten in einer grellen Feuersäule. Funken spritzten in sämtliche Richtungen. Pits Augen erfassten einen Schatten, der zurücksprang. Die Erinnerung an einen unangenehmen Brandgeruch stieg ihr in die Nase. War das ihr Vater gewesen? War er ein Magier? Noch ein anderes Bild hatte sich auf ihrer inneren Netzhaut eingebrannt. Ein alter Mann, der sich über sie beugte. Augen, die sie an ihrem Platz festnagelten. 132
Sie wusste noch, was er mit seiner krächzenden Stimme gesagt hatte: »Dieses Mädchen wird für das Reich von großer Bedeutung sein.« Diese dürftigen Erinnerungen verschafften ihr seltsamerweise stets tiefe innere Ruhe. Sie besaß doch eine Vergangenheit, und sie war sich dessen bewusst. Ihr Geist wurde gelassen, leer, empfänglich.
Dunkelheit senkte sich wie ein sternloses Nachtgewand auf sie herab und drang in jede ihrer Poren. Mit der Dunkelheit kam eine tiefe Stille. Nur der dumpfe Geruch der Höhle, eine Mischung aus feuchtem Stein, verwesendem Moos und Tierkot, erinnerte sie daran, dass ihre Sinnesorgane noch arbeiteten. Sie wartete in dem Wissen, dass ihr vorerst die höchste Konzentration fehlte, ohne die sie die Kraft nicht anrufen konnte. Langsam verschwand jeder Reiz, der ihre Sinne angesprochen hatte, aus ihren Gedanken. Als es in ihrem Innern völlig still und leer geworden war, begann sie mit ihren geistigen Fingern um sich herum zu tasten. Sie fühlte, wie sich der unsichtbare Körper ihres Geistes aufrichtete. Sie verließ ihre physische Hülle und wurde vom Wind fortgetragen, bis sie nach einiger Zeit über dem Meer schwebte. Frostiger Winter umgab sie; die Kälte war sogar in ihrem Geist spürbar. Sie ließ sich wie ein Vogel von der Thermik über der Küste von Lan-Gyt treiben und glitt dann nach Südwesten. Sie wunderte sich, wie zielbewusst ihr Geist arbeitete, denn sie war auf der Suche nach dem anderen Besitzer der Kraft: Lethe. In erster Linie wollte sie fühlen, genau wissen, dass er noch lebte. Sie wollte mit ihm reden. Sie wusste, dass sie als Einzige dazu in der Lage war. Aber dazu musste sie ihn finden. Bewusst steuerte ihr Geist durch die winterliche Kälte in Richtung der Küste bei Welden Taylerch. Nebel schlängelte sich wie eine Kletterpflanze vom Fuß der Felsen empor, kroch weiter an den Leibern der Klippen hinauf, die wie breite Schwerter in der See steckten. Pit tauchte in den Nebel ein und durchstieß zusammen mit den 133
Tausenden Splittern der Kraft die Wasseroberfläche. Es ging abwärts, durch die oberen Schichten der Wasserwelt. Ihr wurde beinahe schwindlig von den unzähligen Lebensformen, die an ihr vorbeischossen. Sie bemerkte kleine Geschöpfe, die nichts spürten vom Bombardement durch die Kraft, die da herangejagt kam; sie sah kilometerlange Steinfischschwärme, die sich zu ihrem Erstaunen wie ein einziger Geist verhielten; sie huschte an kleineren und größeren Fischsorten vorbei, an Schollen und Tarbinthen, an Krabben und Krebsen in den unterschiedlichsten Formen und Größen. Sie tauchte weiter, in die tieferen Schichten des Wassers, wohin die grüne Glut der Oberfläche kaum noch reichte. Je tiefer sie in das Reich des Meeres eindrang, desto stiller wurde es, als ob hier jedes Leben erstarre. Anfangs führte sie das Ausbleiben von Geräuschen auf das Fehlen geistiger Aktivität zurück. Erst als die Stille wie eine undurchdringliche Mauer vor ihr erschien, kamen ihr Zweifel. Plötzlich, als hätte sie mit ihren geistigen Augen gezwinkert, sah und fühlte sie es: Die Mauer war erfüllt von einem Geist … nein, die Mauer selbst war ein Geist, ein Moloch, der sie von einer Sekunde zur anderen zerschmettern konnte. Gleichzeitig bekam sie eine Vorstellung vom unfassbaren Umfang dieses Wesens. Ein lebendes Bauwerk, dachte sie, eine unüberschaubare Reihe leuchtender Tunnel, Galerien mit wogenden Girlanden und kuppelförmigen Räumen, gestützt von grün und braun abgesetzten Säulen, die gemächlich pulsierten. Im Vergleich zu diesem Bauwerk war selbst Yle em Avrilux winzig. Eine lebende Kathedrale, dachte Pit. Wohnte hier der Herr der Tiefe? Diese Frage, vermutete sie, würde vorerst wohl unbeantwortet bleiben. Im nächsten Moment schob sie all diese Fragen und Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf die Suche nach Lethe. »Bist du hier, Lethe?«, flüsterte sie mit der Kraft. Es blieb still, wenngleich das Wesen in der Stille und um diese herum schwer auf Pits Gedanken drückte. Im nächsten Augenblick drang etwas Raues in ihren Geist ein. Sie war darauf vorbereitet und zog sich mit dem Kern ihres Ichs in die winzigen Splitter der Kraft zurück, unsichtbar und nicht zu greifen für jene Kreatur, die in der Kathedrale ihr Zuhause hatte. 134
Es war ein eigenartiges Gefühl, sich so gespalten zu bewegen, als wäre ihr fortwährend schwindlig. Doch nach einiger Zeit gewöhnte sie sich daran. Es gelang ihr sogar, verstreute Teile ihres Ichs zusammenzuhalten. Zugleich aber war ihr klar, dass sie viel Energie dafür aufwenden musste und nicht sehr lange durchhalten würde. Soweit Pit dies bei all dem verwirrenden Geschehen beurteilen konnte, war das Wesen verschwunden. Jedenfalls hatte sich der Geist, der in sie eingedrungen war, plötzlich aufgelöst. Pit glitt tiefer in die märchenhafte Unterwasserwelt der Gänge, Galerien und Kuppeln hinein. Ab und zu sandte sie die stets gleiche Frage aus: »Bist du hier, Lethe?« Doch es kam keine Antwort. Sie war der festen Überzeugung gewesen, dass er noch lebte und irgendwo sein musste, nun aber beschlichen sie erste Zweifel. Vielleicht war Lethe doch nicht hier. Möglicherweise hatte sie zu sehr ihrer Intuition vertraut, diesem ahnenden Erfassen, das sie bisher noch nie betrogen hatte. Sie schwamm weiter. In der Ferne bemerkte sie ein blaugrünes Glimmen. Sie wiederholte ihre Frage: »Bist du hier, Lethe?« Zwei Sekunden lang spürte sie etwas, das dem Geist eines anderen Geschöpfes glich und sich innerhalb des Wesens zu bewegen schien. Sie fing den Schimmer eines kleinen Lichts auf, nicht mehr als ein winziger Funke in einem Meer der Dunkelheit. »Lethe?« Im nächsten Moment wurde sie mit einer solchen Gewalt zur Seite gedrückt, dass ihr längere Zeit die Luft wegblieb. Eiseskälte stieß sie an, prallte an ihr ab und drang schließlich wie die Klinge eines Handgelenkdolchs in ihr Wesen. Ein Meer von Schwertern schien ihr nicht vorhandenes Fleisch aufzureißen. Schmerz! Unerträglicher Schmerz! Wie sollte ein Mensch das aushalten? Würde sie sterben? Fetzen undeutlicher Bilder schossen an ihren flatternden Augen vorbei: glänzende Wände unendlicher Gänge, glatte dunkle Kuppeln, jadegrüne Schuppen, so groß wie Bergflanken, etwas, das wie eine grelle Sommersonne funkelte, ein unermesslich großer Leib, der pulsier135
te und ständig die Farbe wechselte, und schließlich ein kilometerlanger schuppiger Schwanz. Das letzte Bild wurde schnell kleiner, als entferne sie sich mit rasender Geschwindigkeit von ihm. Erst als sie einen Wimpernschlag machte, wurde sie sich der unfassbaren Ausmaße des Wesens bewusst. Von den vielen Eindrücken wurde ihr schwindlig. Verzweifelt versuchte sie, nicht ohnmächtig zu werden, doch mit zerstörerischer Kraft wurde sie in eine tiefe Nacht gesogen. Glühende Messer des Schmerzes schnitten ihre Gedanken in unterschiedlich große Stücke. Dunkelheit.
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18 Körper und Geist »Die Herrin der Weisheit und Eingebung sprach über den Geist und den Körper. Als sie den Geist erwähnte, der losgelöst vom Körper lebt, fragte Schade erstaunt: ›Wenn Körper und Geist sich trennen? Heißt das dann nicht sterben, Herrin?‹ Doch die Herrin der Weisheit und Eingebung schüttelte den Kopf. ›Nicht immer, Schade.‹« – Aus ›Eine Wallfahrt in die Seele‹, von Edelfrau Asrath aus Dunkel Sechs Tage, nachdem er zu sich gekommen war, trat eine Veränderung ein. Bereits von dem Moment an, da der Jadeschimmer heller wurde, war Lethe sich der Anwesenheit eines Wesens bewusst. Er versuchte festzustellen, wo genau sich die Kreatur befand, doch welche Seite er auch untersuchte, es war überall, deutlich spürbar. Zur Mitte des Tages schoss irgendetwas durch seine Gedanken. Es tat weh. Er erkannte undeutlich einen Raum, der so groß war, dass ihm davon schwindlig wurde. Am ehesten erinnerte ihn der Raum an eine Kathedrale, zusammengesetzt aus einem komplexen Geflecht körniger Fäden oder Drähte in allen erdenklichen Farben, die in meergrünem Licht, das abwechselnd tanzte und wogte, glänzten und glitzerten. Er fragte sich, ob es sich wirklich um einen Raum handelte; nirgends war eine Mauer oder eine andere Begrenzung zu erkennen. Das Wesen zog sich zurück, sobald es Lethe bemerkt hatte. Die Intelligenz – und als solche musste das Wesen ganz sicher betrachtet werden – blieb für den Rest des Tages in seiner Nähe. Lethe hatte das Gefühl, das andere Et137
was kreise in großen Bögen um ihn herum, wobei es sich ständig fragte, was für ein Geschöpf Lethe sei. Am siebten Tag änderte sich wieder etwas. Lethe spürte, wie sein Körper und sein Geist sich voneinander trennten. Anfänglich glaubte er an einen vorsichtig gesteuerten Vorgang, doch nach einiger Zeit spürte er Schmerzen. Der Schmerz nahm zu, bis Lethe völlig von ihm beherrscht wurde. Er hatte nicht gedacht, dass es solch intensive Schmerzen gab. Panik überfiel ihn wie ein Rudel hungriger Wölfe. Denken wurde unmöglich. Er versuchte, mit seinen Gliedmaßen um sich zu schlagen und zu treten, schwebte jedoch weiterhin dicht über dem Meeresboden. Er wollte schreien, aber ihm fehlten die Stimmbänder. Für Augenblicke wich der Schmerz in den Hintergrund. Um die Mittagsstunde drängte sich seinem schmerzerfüllten Sein eine Erinnerung auf, wie ein Sonnenstrahl an einem regnerischen Tag. Der Stein! Jemand, ein wichtiges Wesen, hatte ihm einen Stein gegeben. Der Name dieser Person blieb an der Schwelle seines Bewusstseins hängen. Er wusste, dass er den Stein festgehalten hatte, als er in die Tiefe gesunken war. Er suchte, noch immer fast blind, in seiner Kleidung und fand den Stein in einer Tasche seiner Tunika. Er nahm ihn fest in die Hand. Heiße Glut fuhr ihm in die Finger, in die Hand, pulsierte in seinem Arm, verteilte sich im ganzen Körper. Im nächsten Moment war der Stein verschwunden, doch Lethe spürte, wie sich in seinem Geist plötzlich etwas Warmes ausbreitete, etwas Leichtes, Helles, das sich nur ungern in den Mahlstrom seiner Gedanken fügte. Doch als es einmal dort war, wusste er, dass es sich in der Nähe des Zentrums seines Wesens und des Kerns seiner künftigen Taten eingenistet hatte. Gleichzeitig fühlte er, trotz seiner unangenehmen und unbegreiflichen Situation, wie ein heißer Strom neuen Selbstvertrauens ihn aufbaute. Danach vollzog sich der Prozess der Trennung von Körper und Geist unvermindert weiter. Der Schmerz nahm langsam ab. Als die letzten imaginären Fäden rissen, erlebte Lethe dies als seltsame Mischung aus Entsetzen und Erleichterung. Ihm war klar, dass sein Körper sich von ihm entfernte und einen unvermeidlich wachsen138
den Abstand schuf. Im selben Moment setzte das Wesen sich in Bewegung und ergriff – als hätte es abgewartet, was mit Lethe geschehen würde – von diesem Besitz. Doch an der Stelle, wo der Stein sich in seinem Geist befand, verbreitete ein winziger Funke ein kleines, aber helles Licht. Dieser Funke ließ sich nicht verdrängen. Die Überwältigung und Inbesitznahme des übrigen Teils seines Seins, seines Ichs durch das andere Wesen vollzog sich mit zerstörerischer Kraft, die ihm den Atem raubte und ihn mit all seinen Gedanken und Erinnerungen in ein dunkles Loch sinken ließ. »Verflechtung«, donnerte eine Stimme wie ein Erdbeben. Der Schmerz in Lethes Gedanken verhinderte, dass er die Bedeutung des Wortes erfassen konnte.
Lethes vom Geist getrennter Körper wurde von einem starken Strom aufgesogen und mitgerissen – ein Strom, der einmal im Jahr aus dem Norden kommend zur Küste von Lan-Gyt abbog und dann wieder dorthin zurückfloss, woher er gekommen war. Einmal im Jahr, als vollführe der Strom diese jährliche Bewegung nur, um einen Körper wie den Lethes mit sich zu nehmen. Seltsamerweise trieb Lethes Körper an der Wasseroberfläche. Hätte jemand es sehen können, wäre dieser Person aufgefallen, dass der Körper nicht angeschwollen war wie der eines Ertrunkenen. Der Körper war Platzregen, Hagelschauern und Schneestürmen ausgesetzt. Er überstand einen Sturm, der Schiffe kentern und versinken ließ. In der Nähe der Steilfelsen einer eigenwillig geformten Inselküste hätte Rax jenes Schwert, das Lethe von seiner Mutter mit auf den Weg bekommen hatte und das inzwischen unter dem Mantel des Dulce verborgen war – ein kurzes Lied voller schriller und falscher Töne gesungen. Ein fernes Pfeifen erfüllte die Luft, doch da war niemand in der Nähe, der hätte erkennen können, dass eine tödliche und düstere Gefahr anrückte. Als der Körper zehn Tage von dem Strom fortgetragen worden war, waren immer noch keine Auflösungserscheinungen zu sehen. 139
Wochen später, nachdem er einen großen Umweg gemacht hatte, spülte der Körper an der Küste einer Insel an. Menschen in langen grauen Gewändern fanden ihn schnell. Sie schleppten den Körper vorsichtig, beinahe schon ehrfürchtig aus dem Bereich der Flutlinie. Hundert Meter landeinwärts stand auf einer Düne ein niedriges Gebäude. Dorthin trugen sie den Körper und ließen ihn behutsam auf ein Bett nieder. In den Taschen der Tunika suchten sie nach Gegenständen, fanden aber nichts, was sie zu überraschen schien. Abwechselnd wachten sie bei dem Körper, als erwarteten sie, dass er irgendwann zum Leben erwachte.
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19 Nach Yle em Avrilux »Natürlich kommt der Tag, an dem der Schüler der Stimme seiner eigenen Vorstellungen gehorcht und die klugen Worte seines Meisters nicht länger als die einzig richtigen akzeptiert. Ein schlechter Meister widerspricht heftig und wird versuchen, den Schüler von seinen eigensinnigen Vorstellungen abzubringen. Ein guter Meister bedauert die Entwicklung nicht, sondern wird sie im Gegenteil gelassen unterstützen.« – Aus ›Ausbildung zum Meister‹, von Edelfrau Drea aus Lon »Wie kannst du dich unterstehen!«, rief eine wütende Stimme. Die Worte drangen wie Hammerschläge in Pits Geist. Llanfereits rot angelaufenes Gesicht hing über ihr. So wütend hatte sie ihren Meister noch nie gesehen. Die Forma war ihm vom Kopf gefallen, die Augen traten ihm fast aus den Höhlen, und er schüttelte und rüttelte Pit brutal durch, wobei seine grauen Haare und sein Bart wild hin und her wogten. »Dein Leben«, schnauzte er, »du setzt dein Leben aufs Spiel! Unwissende, dumme Pit! Du bist um Haaresbreite am Tod vorbeigeschrammt!« Pit wusste nicht, was sie antworten sollte und ließ sich widerstandslos durchrütteln. Sie fühlte sich müde und leer. Der Schmerz des plötzlichen Rückzugs hatte sie tief im Innern getroffen, und die überaus heftige Reaktion ihres Meisters hatte ihr einen Schock versetzt. Es war kurz vor Tagesanbruch. Hinter Llanfereit erschienen die verschlafenen Gesichter von Matei, Gaithnard, Marakis und Dotar. 141
»Was ist denn hier los?«, fragte Matei. Llanfereit ließ Pit los, sodass sie hintenüberfiel. Er drehte sich zum Hochmeister um, noch immer wütend. »Ich dachte, ich hätte eine junge, aber ungewöhnlich kluge Schülerin«, sagte er zähneknirschend. »Ich dachte, sie würde es sich dreimal überlegen, bevor sie sich auf unbekannte Kräfte einlässt. Doch da habe ich mich getäuscht. Sie taucht in die zerstörerische Welt der Kraft ein und riskiert ihr Leben.« Pit fragte sich, woher ihr Meister das wissen konnte. Und jetzt schien es fast, als habe Llanfereit diesen Gedanken gehört. »Nach Lethes Verschwinden habe ich mit Hilfe eines alten Zaubers von Karn einen Unfühlbar Flimmernden Schirm Abwehrender Kondensation um die Gruppe gezogen. Vorher war das unmöglich, wahrscheinlich weil Lethe ohne sein Wissen so viel Kraft ausstrahlte, dass jeder Versuch, einen magischen Schutzschild zu errichten, von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Mit diesem Schirm wollte ich magische Attacken anderer Kräfte frühzeitig erkennen und abwehren. Eine zusätzliche Wirkung ist die, dass es auch in umgekehrter Richtung arbeitet und mir ein Zeichen gibt. Dieses Zeichen empfing ich eben. Es dauerte eine ganze Weile, bevor ich es gedeutet hatte, denn ich war müde. Ich weiß nicht, wo Pit gewesen ist, aber ich sah ihren Geist flimmern, und das heißt, dass sie sich in großer Gefahr befand. Sie schwebte am Abgrund des Todes. Außerdem macht die Kraft süchtig. Man kann unheilbare geistige Schäden erleiden.« Er drehte sich wieder zu Pit um, die sich inzwischen aufrecht hingesetzt hatte. »Wo warst du?«, fragte Llanfereit, jetzt nicht mehr ganz so heftig. Pit presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Sie hatte gerade festgestellt, dass Llanfereit sie genau in dem Moment zurückgeholt hatte, als sie kurz davor gewesen war, Kontakt mit Lethe aufzunehmen. Dieser Umstand und die unangemessene Wut ihres Meisters brachten sie zu dem Entschluss, den Mund zu halten. Sie spürte, wie ihr die Augen brannten und zu tränen anfingen. Llanfereit sah es. Sofort wurde sein Blick wieder weich. 142
Er ging in die Knie und fasste sie an der Schulter. »Liebe Pit, meine Wut ist nichts anderes als Angst und Sorge um dich. Ich weiß nicht, ob du die Gefahr bewusst gesucht hast, auf jeden Fall weiß ich, dass du in der Nähe eines Geschöpfes warst, das dich mit dem kleinen Finger hätte zermalmen können. Dadurch, dass ich dich zurückgeholt habe, bin ich große Risiken eingegangen. Wenn wir es mit einer düsteren Kreatur zu tun haben, weiß dieses Geschöpf jetzt möglicherweise, wo es uns finden kann. Dagegen hilft auch kein Unfühlbar Flimmernder Schirm Abwehrender Kondensation.« Er streichelte ihr Stachelhaar. »Einige der Feinde, denen wir gegenüberstehen, können über Loher Magie nur lachen.« Pit schaute ihren Meister von unten herauf an und fragte mit bebender Stimme: »Lachen diese Feinde auch über die Kraft?« »Niemand lacht über die Kraft, weil niemand die wahre Natur dieses Phänomens kennt.« Es war Dotar, der dies sagte. Die anderen schauten ihn erstaunt an. Um seine Mundwinkel lag ein verstohlenes Lächeln. »Aus dem Wissensschatz meines Festungsmeisters Kamp«, sagte er leise. »Er behauptete immer, die Kraft sei eine größere Bedrohung als jede bekannte Magie, da niemand genau wisse, warum und wie sie wirkt.« »Ist die Kraft vielleicht dasselbe wie Unmagie?«, fragte Gaithnard. Llanfereit schüttelte heftig den Kopf und stand auf. »Ich glaube nicht. Beides verbindet allein die Tatsache, dass wir über diese Fähigkeiten wenig wissen. Und der einzige Mensch, der mir je mehr über Unmagie berichten konnte, behauptete überdies, die Bezeichnung sei vollkommen falsch. Dabei beließ er es allerdings.« Er wandte sich wieder an Pit. »Um auf meine Frage von eben zurückzukommen: Die war überflüssig. Ich habe nämlich eine starke Vermutung, wo du gewesen bist, Pit. Ich hätte mir eigentlich denken können, wonach du auf die Suche gehen würdest … oder sollte ich besser sagen, nach wem du suchen wolltest? Auf jeden Fall habe ich die Spur verfolgen können. Auf dieser Welt wirst du keinen Fleck finden, der gefährlicher ist. Aber darüber werden wir uns gleich noch unterhalten können.« 143
Pit schaute ihn mit großen Augen an. Llanfereit klopfte den Schmutz von seinem Mantel und schnappte sich die Forma. »Wir sind alle wach«, stellte er fest, setzte die Forma auf und schaute Matei entschlossen an: »Wahrscheinlich ist unser Verfolger bereits wieder unterwegs. Was hindert uns daran, ebenfalls aufzubrechen?« »Nichts«, antwortete Matei. »Außer der Hunger vielleicht. Wir haben kaum noch etwas an Wegzehrung.« Er schaute zu dem Streifen grauen Himmels über der Schlucht hinauf. »Da ist Schnee im Anzug. Lasst uns schnell versuchen, etwas Essbares zu finden, bevor sich alle Tiere in ihren Höhlen verkriechen.« Eine Kalktaube flatterte herab und setzte sich auf Mateis Schulter. Als habe dieser den Vogel schon erwartet, griff er sich das Tier, öffnete das am Fuß befestigte Briefröhrchen und las die Nachricht. Überrascht zog er die Stirn in Falten. »Oh …« Ein rascher Blick traf Marakis. Nach einigem Zögern ging er auf den Kronprinzen zu, fasste ihn an der Schulter und führte ihn von den anderen fort. Die Reisegefährten sahen, wie er sich vornüberbeugte und leise etwas zu Marakis sagte. Dessen Kopf ruckte hoch. Dann sank er in die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Matei strich dem Knaben über die dunkelbraunen Locken. Der Hochmeister stand langsam auf und kam zu den anderen zurück. »Bericht von Harkyn«, sagte er leise. »Der Desran wurde ermordet.« Schweigend verarbeiteten sie den Schock. Marakis gesellte sich wieder zu ihnen. Seine Augen waren verweint. Matei berichtete über die Einzelheiten, unter denen Xarden Lay Ypergion sein Leben gelassen hatte. »Ich bin froh«, sagte Marakis, »dass mein Vater mir kurz vor meiner Abreise noch sein Herz und seine wahre Natur offenbart hat. So kann ich stolz auf ihn sein, und in Zukunft werde ich voller Überzeugung in seinem Namen handeln können.« 144
Sie zogen los. Der kalte Wind zerrte an ihren Mänteln, doch der Schnee hielt sich vorerst noch in den Wolken zurück. Dotar gelang es, einen ausgewachsenen Steinfuchs in einen Seitenarm der Schlucht zu treiben, aus dem es keinen Ausweg gab. Mit Gaithnards Hilfe konnte er das Tier schließlich durch einen gezielten Wurf seines Handgelenkdolches erlegen. Matei erhob Einwände, als die beiden Holz aufsammelten. »Wir müssen weiter. Bestimmt ist uns der Gehörnte auf den Fersen«, sagte er, doch dann siegte auch bei ihm der Hunger. »Wenn wir uns gleich wieder aufmachen«, meinte er nach kurzem Überlegen, »werde ich eine Spur Dauerhaft Meldender Präsenz hinter uns legen. Sobald jemand diese Spur betritt, werde ich es erfahren. Dann wissen wir auch, wie dicht der Spieler bereits herangekommen ist.« Llanfereit schaute skeptisch drein. »Der Nachteil ist …« »… dass der Gehörnte diese Spur erkennen wird und damit weiß, dass wir uns seiner Nähe bewusst sind«, ergänzte Matei. »Mir leuchtet aber nicht ein, welchen Unterschied das machen soll. Für uns bleibt alles, wie es ist: Wir sind auf der Flucht vor ihm, und er versucht uns einzuholen. Wenn er irgendwelche magischen Mittel einsetzen wollte, hätte er es längst tun können.« »Vielleicht«, brummte Llanfereit. Er starrte eine Zeit lang in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Dann klopfte er Matei auf die Schulter und sagte: »Ihr werdet wohl Recht haben.« Das Fleisch war zäh, doch keiner der Reisegefährten beklagte sich darüber. Als jeder sein Stück verzehrt hatte, traten sie das Feuer aus und zogen weiter. Die Schlucht wurde breiter, und auf den bisher kahlen Felsen zeigte sich jetzt mehr und mehr spärlicher Bewuchs in Gestalt stacheliger Sträucher. Pit lief neben Marakis. Unmerklich betrachtete sie den jungen Prinzen mit seinen braunen Augen und Locken. Seltsamerweise hatte sie kaum ein Wort mit ihm gewechselt, seit er auf den Spiegelinseln zu ihnen gestoßen war. In seinem Blick entdeckte sie eine gewisse Zurück145
haltung und Vorsicht, doch auch mehr Erfahrung und Weisheit, als man bei seinem Alter hätte erwarten dürfen. Pit beschloss, den Tod seines Vaters nicht anzusprechen. »Findet Ihr es nicht auch seltsam, dass unser Verfolger, der Gehörnte, wie Iarmongud'hn ihn nannte, uns noch immer nicht eingeholt hat?«, fragte Marakis. »Ein Spieler verfügt doch über sehr viele Fähigkeiten, auch über Magie. Er müsste sich so schnell fortbewegen können, wie er will.« »Das ist nicht gesagt«, entgegnete Pit. »Sie müssen sich an die Regularien halten, und die schreiben ihnen vor, innerhalb des Reiches von ihren Fähigkeiten nur beschränkt Gebrauch zu machen. Egal, um welche Fähigkeiten es sich handelt.« Marakis schauderte, als ihn die Kälte eines heftigen Windstoßes traf. »Hoffentlich habt Ihr Recht. Soweit ich weiß, scheren die Spieler sich wenig um die Regularien und übertreten die ungeschriebenen Gesetze in steter Regelmäßigkeit.« Pit zuckte die Achseln und wechselte das Thema: »Ist es für Euch nicht auch ein seltsames Gefühl, bloß eine Figur in einem Schachspiel zu sein?« Marakis hob den Kopf. Er schaute in die Höhe, ins Licht, das die unsichtbare Sonne zwischen Flecken weißer Wolken hindurch in die Schlucht sandte. »Ich bin mir nicht sicher, ob die Spieler des Pakts der Zehn dieses Spiel wirklich fest in der Hand haben«, sagte er bedächtig. »Ich habe viel gelesen und so manchem Mitglied des Hofes sowie Festungsmeister Kamp gut zugehört. Ich glaube, dass da auch noch andere Mächte mitwirken.« »Mächte, die dem Pakt überlegen sind?« Marakis nickte, bückte sich und hob einen Kieselstein auf. »Festungsmeister Kamp ist überzeugt davon. Er meint, wenn dieser Stein hier die Macht eines Spielers darstellt, sind die anderen Mächte im Vergleich dazu riesige Berge.« Pit war nicht überrascht. Auch sie hatte schon Vermutungen in dieser Richtung angestellt. Sie wollte weitere Fragen stellen, doch in der 146
Ferne war ein pfeifender Ton zu hören. Im nächsten Moment erfasste Kälte ihr Herz. Sie schaute auf. »Was war das?« Niemand antwortete. Die Kälte erreichte einen Punkt, wo sie unangenehm wurde. Sie kamen um eine Kurve. Gaithnard, der vorausgegangen war, stieß einen Schrei aus und wies nach vorne. Die Schlucht wurde breiter, und der Pfad gabelte sich. Was wie der Hauptpfad aussah, verlief direkt entlang eines tiefen, ausgedehnten Einschnitts und verlor sich in der Ferne hinter einer weiteren Kurve. Die kleine Abzweigung mäanderte steil nach unten, in den Einschnitt hinein. »Eine Schlucht in der Schlucht«, sagte Marakis. Llanfereit trat vor und warf einen Blick in die Tiefe. Er schnüffelte. »Schwefel. Seltsam.« Er kniff die Augen zusammen und musterte die Umgebung. »Dies muss das Herrschaftsgebiet des Baums aus dem Baum sein«, sagte er. »Der Baum aus dem Baum?«, fragte Marakis. »Ein Baum, der aus einem anderen Baum hervorkommt? Unser Weg ist mit Überraschungen gepflastert, wie mir scheint. Steckt dahinter auch wieder eine Geschichte?« Llanfereit beachtete die Frage nicht und versank in Grübelei. Aus der Tiefe wehte ein trauriger Pfeifton herauf, wie der Ruf eines einsamen Vogels. »Den Erzählungen zufolge handelt es sich um einen versteinerten Baum, der aus bislang unerforschten Gründen der Baum aus dem Baum genannt wird. Angeblich soll er älter sein als der Zyklus der farblosen Magie. Und sehr groß soll er sein, über fünfzig Meter hoch, und sein Stamm soll einen Durchmesser von gut zwanzig Metern haben. Diese Geschichte ist Tausende Jahre alt, deshalb ist der Baum mittlerweile vielleicht noch weiter gewachsen.« Die Reisegefährten warfen einen ehrfurchtsvollen Blick in die Tiefe, doch das Sonnenlicht reichte nicht weit genug, und so war nichts zu erkennen. 147
»Ich bin hier schon mal gewesen«, brummte Matei. »Damals war es … anders. Jetzt hängt hier Schwefelgeruch in der Luft. Ich sehe Spuren von Lava und Risse, die vorher nicht da waren. Hier muss etwas passiert sein. Aber was?« »Spielt der Baum vielleicht eine Rolle innerhalb des Zyklus?«, fragte Marakis. »Ich würde eher sagen, dass er Teil der Großen Legende ist«, meinte Llanfereit. »In den Schriften, die ich darüber gelesen habe, wird nirgends auf einen Zusammenhang zwischen dem Baum und dem Düsteren des Nachtmeers oder der farblosen Magie hingewiesen.« »Ich hätte nicht übel Lust, mir den Baum näher anzuschauen«, sagte Matei. Ein wenig enttäuscht setzte er hinzu: »Außerdem hätte ich zu gerne gewusst, was hier vorgefallen ist, aber damit würden wir nur unserem Verfolger in die Hand spielen. Irgendjemand ist in diesem Augenblick mit der Spur Dauerhaft Meldender Präsenz in Berührung gekommen. Das heißt, dass unser Vorsprung weniger als einen halben Tag beträgt.« »Also los, schnell weiter«, sagte Llanfereit, und mit eiligem Schritt wählten sie den Weg entlang des Bergeinschnitts. Matei erneuerte regelmäßig die Spur Dauerhaft Meldender Präsenz, und schon bald zeigte sich, dass ihr Verfolger langsam aufholte. Sie kamen in einen Abschnitt der Schlucht, in dem kaum Leben zu sehen war. Zweimal lieferte ein dürrer Beerenstrauch ein wenig Nahrung, doch der Hunger wurde dadurch nicht gestillt. Gegen Mittag fielen die ersten Schneeflocken. Der Pfad stieg langsam und in Windungen an. Die Schlucht wurde enger. An manchen Stellen konnte man nicht zu zweit nebeneinander laufen, und der Schnee erschwerte das Gehen zusätzlich. Als der Tag sich dem Ende zuneigte und die Nacht in seinem Gefolge in die Schlucht einzog, holte Matei ein Fläschchen mit gelber Flüssigkeit hervor und murmelte einen Zauberspruch. Der Inhalt des Flakons leuchtete auf und verbreitete gespenstisches Licht. »Erstarrtes Licht«, sagte der Hochmeister, als wäre damit alles erklärt. »Ich weiß, wir alle sind schrecklich müde und hungrig, aber die148
se Nacht müssen wir durchhalten und weiterlaufen. Der Gehörnte sitzt uns im Nacken. Die letzte Meldung besagt, dass wir nicht mehr als eine Stunde Vorsprung haben. Ich fürchte, bis Yle em Avrilux werden wir keine Pause mehr einlegen können. Und vor uns liegen noch mindestens anderthalb Tagesmärsche.« Sie hatten es alle sechs vermutet, doch nun war es ausgesprochen. Tiefe Müdigkeit und ein Hauch von Unruhe, sogar Angst überkamen sie. »Wer in unserer Gruppe ist so bedeutend, dass ein Spieler uns derart hartnäckig verfolgt?«, stieß Marakis hervor, als sie sich keuchend und dicht hintereinander einen steilen Abschnitt der Schlucht hinaufquälten. »Vielleicht bin ich es«, sagte Matei gepresst. Sein Blick blieb für Sekunden an Pit haften. »Doch eigentlich bezweifle ich es. Die Spieler sind uns Hochmeistern immer aus dem Weg gegangen. Um es mit Karns Worten zu sagen: ›Sie lassen die Loher Magie links liegen, weil sie ihnen nichts bedeutet.‹« Als der Schein eines neuen Tages den Himmel gelb färbte, begann die Erde zu schwanken. Sekunden später erklang in der Ferne, irgendwo hinter ihnen, ein seltsam schnaubendes Geräusch. »Schnell«, zischte Matei, der das Fläschchen mit dem Erstarrten Licht durch einige gemurmelte Worte entzauberte und in die Tasche steckte. »Das kann nur unser Verfolger sein.« Gehetzt stolperten sie weiter. Als sie ein tiefer gelegenes Stück erreicht hatten, legte Llanfereit eine Hand auf Mateis Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: »Das schaffen wir nie.« Matei marschierte weiter und schaute stur nach vorne. »Das weiß ich auch.« »Und was sollen wir tun?« »Mit dieser Frage zermartere ich mir das Hirn, seitdem ich weiß, dass dieser Gehörnte hinter uns her ist. Aber die Frage ist nicht, was wir tun sollen, sondern was wir tun können.« »Beherrscht ein Spieler die Kraft?« Es war Pits sanfte Stimme, direkt hinter ihnen. Sie hatte den beiden Männern zugehört. 149
Matei lief weiter und sagte über die Schulter: »Die Kraft ist äußerst selten. Ich kenne nur vier oder fünf Menschen, von denen ich weiß, dass sie diese mysteriöse Fähigkeit besitzen.« Sie kamen zum nächsten schmalen, steilen Streckenteil. Der Hochmeister zog sich an einem Spalt zwischen zwei Felsen hoch, hinter Marakis, Dotar und Gaithnard. »Ich habe immer schon vermutet, dass die Kraft eine sehr alte Fähigkeit ist. Das eine oder andere habe ich darüber gelesen.« Er zog sich erneut hoch und schaute über die Schulter zu Pit hinunter. »Wenn ich mein gesamtes Wissen über die Kraft zusammenwerfe, ordne und miteinander verbinde, und wenn ich hinzufüge, was ich über jene Wesen weiß, die sich der Kraft bedienen, dann würde ich sagen, dass nur altes Blut die Kraft besitzen kann.« Er kletterte weiter. Bewusst ließ er die Worte erst einmal wirken. Llanfereit kraxelte mit düsterem Blick hinter Matei her, während Pit regungslos innegehalten hatte, wie vom Blitz getroffen. »Altes Blut …?«, stammelte sie. Das Bild jener Person, die sich über sie gebeugt hatte, als sie ein Säugling gewesen war, tauchte in ihrem Geist auf. War es ihr Vater gewesen? Strömte in ihren Adern altes Blut? Stammte sie von einem alten Geschlecht ab? Was war eigentlich ›altes Blut‹? Oder sollte die Kraft mit der Beendigung des Zyklus, mit dessen endgültigem Ende zu tun haben? Erneut bebte die Erde, diesmal gleich mehrere Male hintereinander. Pit kam wieder zu sich und kletterte schnell hinter den Zauberern her. »Kann ich nicht mit Hilfe der Kraft …« »Nein«, fuhr Llanfereit sie an. »Du riskierst nicht noch einmal dein Leben. Und ganz bestimmt nicht, wenn wir uns einem Spieler gegenübersehen.« Es hatte bissig und entschlossen geklungen. Ihr Meister war imstande gewesen, ihre Gedanken zu lesen. Er hatte begriffen, was sie wollte. Doch seine Reaktion war überdeutlich. Er duldete keine Widerrede. Eine Zeit lang wurde kein Wort gesprochen. Pit holte die Zauberer 150
ein, und zusammen schlossen sie zu Marakis, Gaithnard und Dotar auf. »Was unternehmen wir, wenn wir eingeholt werden und der Gehörnte uns angreift?«, fragte Pit schließlich. »Das weiß ich nicht«, sagte Matei. »Ich bin zu müde, um noch klar denken zu können. Hat jemand eine Idee?« Ein heiserer Schrei drang durch die Schlucht und zog ein seltsames Echo nach sich. Nicht weit von ihnen entfernt hörten die Gefährten ein regelmäßiges Dröhnen und Stampfen, als käme ein riesenhaftes Wesen langsam näher.
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20 Verfolgung (3) »Wie anders wäre wohl alles verlaufen, wäre der schwarze Magier nicht gezwungen gewesen, nach Romander-Stadt zurückzukehren?« – Aus ›Betrachtungen eines Reisegefährten‹, von Dotar aus Wintergang Die Herz von Handera schoss über das Weißmeer wie eine Nebelmöwe, die sich dicht oberhalb der Wasseroberfläche hält. Schaum spritzte vom Bug auf, der das Wasser durchschnitt wie ein riesiger Fisch. Die roten Segel der Sologaleeren waren zurückgeblieben. Fexe wusste, dass seine Aufmerksamkeit und sein scharfes Auge für die Launen des Windes und der See keinen Moment nachlassen durfte. Unentwegt brüllte er seinen Männern in der Want und dem Rudergänger Befehle zu, um den idealen Kurs und die einmal erreichte Geschwindigkeit beizubehalten. An diesem Morgen war Harkyn, der sich von seinem Zusammenbruch einigermaßen erholt hatte, mit einer Antwort Mateis zu Fexe gekommen. »Unglaublich«, hatte Harkyn zu Fexe gesagt, nachdem er sich diesem gegenüber in einen Stuhl hatte fallen lassen. Er hielt das Papier hoch. »Da müssen die Götter ihre Hand im Spiel haben, dass wir nach Osten fliehen. Diese Nachricht ist ein Hilferuf von Matei. Die Gruppe befindet sich auf Lan-Gyt in großer Not. Sie sind derzeit in den Schluchten, in der Nähe des Heiligtums der Solitäre, und werden von einem feindlichen Wesen bedroht. Ohne es zu wollen, sind wir in die richtige Richtung gesegelt!« 152
Mit einer Sorgenfalte auf der Stirn starrte er auf einen Punkt hinter Fexes Kopf. »Allerdings stehen die Chancen schlecht, dass wir es schnell genug schaffen.« Fexe hatte überrascht und reserviert zugleich reagiert. »Ein bemerkenswerter Zufall«, hatte er gesagt. »Doch auf diese Weise werden wir unsere Verfolger wohl mit zur Gruppe des Unmagiers schleppen.« »Der Unmagier ist nicht mehr bei ihnen«, hatte Harkyn geantwortet. »Aber Ihr habt Recht. Besteht eine Möglichkeit, sie abzuschütteln?« Fexe hatte nachdenklich dreingeschaut. »Die Chance ist gering. Sie haben einen Magier an Bord, und der wird sich selbst nachts nicht überraschen lassen.« Harkyn bestätigte dies. »Bei allem Respekt vor Euren Fähigkeiten als Seefahrer bin sogar ich der Meinung, dass dieser Zauberer uns einholen könnte, wenn er wollte. Demnach können wir davon ausgehen, dass sie uns nur folgen.« Fexe starrte vor sich hin. »Wer befindet sich sonst noch in der Gruppe des Hochmeisters?« »Matei, Llanfereit und dessen Schülerin Pit, dann Dotar, der Regulator des Desran, Kronprinz Marakis und ein Kurmer Waffenmeister, Gaithnard. Ich denke, dass sie hinter dem Hochmeister her sind, doch von hier aus können wir das nicht mit Sicherheit sagen.« Fexe nickte, schien aber mehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt zu sein. »Wir können zweierlei unternehmen«, sagte er. »Wir segeln direkt zum Hafen von Yle em Avrilux, oder wir fahren nach Kasbyrion. In ersterem Fall ziehen wir unsere Verfolger mit uns zu Matei und seiner Gruppe. In letzterem Fall haben wir die besten Aussichten, dort festzusitzen. Um diese Jahreszeit ist Kasbyrion eigentlich ein Gefängnis. Die einzige Route ins Hinterland, die Teufelsklamm, ist so gut wie unpassierbar – ganz sicher für ungeübte Kletterer wie Edelfrau Tulsie.« »Yle em Avrilux, würde ich sagen«, meinte Harkyn. Er öffnete die 153
Kajütentür. »Eine List würde uns sehr zupass kommen, Fexe. Wir sollten unsere Gehirnzellen mal ordentlich arbeiten lassen.«
Drei Tage lang holte Fexe alles aus seinem Schiff und der Besatzung heraus. Die Herz von Handera krachte in sämtlichen Fugen; der Wind sang in der Want und ließ die Segel sich blähen. Das Schiff glitt über das Weißmeer wie noch kein Schiff zuvor. Die Verfolger verloren Terrain, blieben aber in Sichtweite. Der Wind schwächte zu einer leichten Brise ab, und die Herz von Handera wie die Sologaleeren wurden gleichzeitig zu einem Schneckentempo verurteilt. »Nur dank ihres Zauberers haben sie mithalten können«, sagte Fexe missmutig, als Harkyn sich am frühen Nachmittag wieder an Deck blicken ließ. »Was die Seefahrerkunst angeht, habe ich sie zu jeder Stunde des Tages und der Nacht übertrumpft.« Harkyn sah den Berufsstolz in Fexes Augen glänzen und musste lächeln. Zusammen mit Bootsmann Nyrgal war Fexe dabei, in der Nähe des Bugstuhls die Kette des Sandschlosses, des großen Ankers, um das Spill zu legen. »Meine Idee wäre«, sagte Harkyn ohne jede weitere Vorrede, »dass wir unsere Verfolger in dem Wahn lassen, dass wir Kasbyrion ansteuern. Wenn sie sich ganz sicher sind, dass wir dort landen wollen, müssen wir sie auf irgendeine Weise abzuschütteln versuchen. Und dann schießen wir an den Krageninseln vorbei nach Norden und segeln zwischen den Inseln bei West-Gyt und Lan-Gyt hindurch nach Yle em Avrilux.« Fexe betrachtete den Hochmeister mit skeptischem Blick. »Das ›auf irgendeine Weise abzuschütteln versuchen‹ ist dann sicher meine Aufgabe«, sagte er stirnrunzelnd. Harkyn grinste und sagte: »Das ›Kasbyrion ansteuern‹ auch. Von mir könnt Ihr dabei kaum Hilfe erwarten.« Fexe untersuchte den Kettenring, mit dem der Anker an der Kette befestigt war. 154
»Bei Euch klingt das so, als säßen wir alle in einem kleinen Ruderboot«, brummte er. »Vielleicht habe ich sogar eine zusätzliche Idee, zauberloser Hochmeister, doch auch deren Gelingen steht und fällt mit der Frage, ob wir uns eine Stunde aus ihrer Sicht entfernen können.« Er hob den Kopf, richtete den Blick zum östlichen Horizont. »Wir könnten Nebel gebrauchen.« Seine Miene hellte sich auf. Er ließ die Kette los, sodass sie ratternd zu Boden fiel. »Wenn der Nebel nicht kommen will, müssen wir ihn uns eben selbst machen«, sagte er. Harkyn schaute ihn schmunzelnd an. »Nebel selbst machen?« »Dampf, mein Freund. Der ist ebenso undurchsichtig wie Nebel. Der Wind kommt von Osten. Wenn es uns gelingt, ordentlich Dampf zu machen, segeln unsere Verfolger direkt in unseren selbst gemachten Nebel.« »Und der Zauberer?«, fragte Harkyn zögerlich. »Der wird doch sicher eingreifen.« Fexe zuckte die Achseln. »Wir können auch die Hände in den Schoß legen.« Er drehte sich zum Bootsmann um. »Nyrgal, ich brauche Holz, Holzkohle, eine Zündeldose und jede Menge Tonnen. Eine füllst du mit Wasser.« Der Bootsmann beeilte sich, Fexes Befehle auszuführen. Kurz darauf schleppten zehn Leute alles Erforderliche heran. Sie entfachten Feuer in den Tonnen, schöpften anschließend Wasser aus dem bereitgestellten Bottich und sprenkelten es über die Flammen. Zischend schoss der Dampf zum Achtersteven und entzog schon bald die Herz von Handera der Sicht ihrer Verfolger. »Schau«, sagte Fexe zu Harkyn und wies auf einige kleine Felseninseln nordöstlich des Schiffes. »Wenn wir diese Inseln als Deckung nutzen können, wird es eine Zeit lang dauern, bis die auf den Sologaleeren kapiert haben, was da gelaufen ist.« 155
Als sie für ihre Verfolger gerade noch sichtbar waren, schrie Fexe zu seinen Rudergängern hinüber: »Voller Kurs Süd! Jetzt!« Während das Schiff die Bewegung des Ruders aufnahm, ließ er das Großsegel reffen. Durch die Dampfwolken war die Herz von Handera nun endgültig der Sicht entzogen. »Warum nach Süden?«, fragte Harkyn. »Wenn wir weiter geradeaus gesegelt wären, hätten unsere Verfolger vermutet, dass wir diesen Qualm als Deckung benötigten, um heimlich eine Kursänderung vorzunehmen«, sagte Fexe, während er dem Rudergänger ein Handzeichen gab, er brauche nicht mehr am Steuerrad zu drehen. »Jetzt haben sie gerade noch gesehen, dass wir südlichen Kurs genommen haben. Ich an ihrer Stelle würde vermuten, dass wir in der Tat Kurs nach Süden nehmen, vielleicht auf dem Weg nach Lan oder Hemgara, und dass wir diesen Kurswechsel zu früh vorgenommen haben. Denn solange sie uns noch beobachten konnten, wäre er natürlich nicht gerade sinnvoll gewesen.« Harkyn betrachtete ihn spöttisch. »Naja«, meinte Fexe achselzuckend. »Einen Versuch ist es immerhin wert.« Er verfolgte die Richtung des Qualms sowie die Position des Schiffes und wartete einige Sekunden. »Hundertachtzig Grad und volle Segel«, brüllte er dann. »Rasch!« Der Rudergänger drehte wie ein Besessener an seinem Steuerrad, und die Mannschaften in der Want tanzten entlang der Takelage und über das Holz der Querrahe, um Fexes Befehle auszuführen. »Löscht das Feuer!«, brüllte der Kapitän. Als die stärker werdende Brise die Segel voll erfasste, schoss die Karavelle im Schutz des Qualms in nördliche Richtung davon. Als der Rauch sich verzog, schob sich eine der kleinen Inseln zwischen sie und ihre Verfolger. Unmittelbar bevor sie ganz außer Sicht waren, sah Harkyn noch den Schimmer einer der Galeeren. »Die haben uns bestimmt entdeckt«, sagte er. »Das bezweifle ich«, antwortete Fexe mit einer Selbstsicherheit, die Harkyn gleichzeitig amüsierte und irritierte. »Das Schiff lag halb auf 156
südöstlichem Kurs. Sie haben uns nach Süden abdrehen sehen. Da haben sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Süden konzentriert, vielleicht noch auf den Osten. Und wenn sie uns nicht gesehen haben, dann haben wir uns jetzt mindestens eine Stunde Vorsprung verschafft.« Sie segelten zwischen den kleinen Inseln hindurch und passierten Kap Paryndik, den südlichen Zipfel der gleichnamigen Halbinsel. »Wenn wir die Inseln zwischen West-Gyt und Lan-Gyt erreichen, bevor sie uns wieder auf den Fersen sind …«, begann Fexe. »… dann ist da immer noch der Zauberer, wie ich bereits sagte«, beendete Harkyn den Satz lakonisch. Es schien wie ein Zeichen. Ein so eisiger Schrei rollte über die Wellen, dass ihnen die Haare zu Berge standen. Ein großer Vogel löste sich aus dem davonwehenden Rauch und kam mit mächtigen Flügelschlägen direkt auf die Herz von Handera zu. Als das Tier nahe genug war, erkannte Harkyn, dass es ein Kaiseradler war. »Wir werden angegriffen!«, schrie er und rannte zum Aufbau, während er den anderen aufgeregt winkte. »In Deckung! Gegen dieses Tier könnt ihr euch nicht verteidigen.« Erneut stieß der Vogel einen Schrei aus. Zur Überraschung der gesamten Besatzung setzte das Biest zu einem weiten Bogen an, weg vom Schiff, stieg höher in den Himmel hinauf und flog mit ruhigem Flügelschlag in westlicher Richtung davon. Fexe holte tief Luft. »Da fehlte nicht viel.« Harkyn starrte dem Vogel hinterher. »Wir sollten uns lieber nicht fragen, warum wir nicht angegriffen wurden. Auf jeden Fall können wir von Glück sagen, dass es nicht dazu gekommen ist«, murmelte er. In seinen Zügen spiegelte sich Erstaunen. »Ich brauche mich auch nicht mehr zu fragen, ob dieser Vogel wirklich der Magier war. Meine magischen Fähigkeiten sind soeben zurückgekehrt.« »Auf denn nach Yle em Avrilux!«, rief Fexe begeistert. »Unsere Verfolger können uns vielleicht finden, aber vor den Fahrgästen und der 157
Besatzung von drei Palastgaleeren ohne den Magier habe ich keine so große Angst.«
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21 Der Weg der Säule (1) »Die Schwüle hing wie Blei in der Luft. Sie saßen im spärlichen Schatten eines Kanterbaums, der die meisten Blätter bereits an den Spätsommer abgegeben hatte, und warteten darauf, dass die Hitze des Tages erträglicher würde. ›Wer von uns beiden ist wichtiger?‹ Die Frage der Herrin der Weisheit und Eingebung, die ein wenig schroff gestellt worden war, überraschte Schade. Sie schluckte und sagte rasch: ›Seid Ihr das nicht, Herrin?‹ Die Augen der Herrin sprühten. ›Eine Frage als Antwort, Schade?‹ Schade hörte den Vorwurf in der Stimme ihrer Lehrmeisterin. Haben wir das nicht schon oft genug gehabt, Schade?, schien die Stimme zu sagen. Eine Frage als Antwort auf eine Frage ist keine Antwort. Schade dachte nach. Sie kombinierte den Unterricht mit ihren Gedanken und formulierte eine Antwort. Mit wachsendem Selbstvertrauen sagte sie: ›Wichtig ist die Bedeutung eines Wortes. Euer Rahmen um dieses Wort unterscheidet sich von meinem. Wenn wir das jedoch außer Acht lassen …‹ Sie sah die Herrin lächeln. ›Wenn wir das außer Acht lassen, kommen wir zu dem Ergebnis, dass die Frage unvollständig ist.‹ ›Also?‹ ›Also kann auch meine Antwort nur unvollständig sein.‹ Sie atmete einige Male ruhig ein und aus. ›Ich könnte sagen: Ich bin wichtiger, denn ich habe wahrscheinlich noch ein längeres Leben vor mir als Ihr, Herrin.‹ Das Lächeln der Herrin wurde breiter. 159
›Ich könnte auch sagen‹, fuhr Schade fort, ›dass Ihr wichtiger seid, weil Euer Wissen größer, tiefer und vollendeter ist als meines.‹ Wieder wartete sie einen Moment. ›Ich sage jedoch, dass wir gleich wichtig sind in unserer Ungleichheit.‹ In den Augenwinkeln der Herrin erschienen kleine Fältchen. Sie stand auf. ›Ein göttlicher Gedanke, Schade‹, sagte sie sanft. Ihre Augen glänzten.« – Aus ›Eine Wallfahrt in die Seele‹, von Edelfrau Asrath aus Dunkel Die drei Nibuüm boten all ihre Segelkünste auf, um die Reise zur Säule zu verkürzen, doch zu Beginn brachte starker Gegenwind den Solitär von Avrilux vom Kurs ab. Auch die Schneegestöber und Platzregen, die sich im einen Fall als weiße Gardine und im anderen Fall als grauer Schleier über das kleine Schiff legten, waren alles andere als hilfreich. Sie machten die Segel schwer und schwierig zu handhaben und die Taue glitschig. Erst zur Mitte des dritten Tages hörten die Niederschläge auf, und ein kräftiger kalter Westwind erfasste den Solitär von Avrilux. Die Segel blähten sich, die Want krachte, der Vorsteven hob sich aus dem Wasser, und der schmale Kiel des Schiffes glitt wie ein frisch geschliffenes Messer durch die langen Wellenberge des Schwarzwassers. Gall blieb in seinem Teil der Kajüte und las in Büchern, Schriftrollen und Folianten. Sie waren in Sprachen geschrieben, die Asayinda nicht beherrschte. Wenn Asayinda in sein Blickfeld geriet, schaute er mit glasigem Blick auf, um gleich darauf weiterzulesen. Er aß nicht gemeinsam mit den anderen und zog sich früh in seine Koje zurück. Wenn Asayinda aufwachte, war er schon wieder von seinen Büchern in Beschlag genommen. Die ganze Zeit waren sich der Dulce und Asayinda mit Schweigen begegnet. Auch in ihrem Geist war Asayinda nicht angesprochen worden. Die ersten zwei Tage hatte sie in einer Art Schockzustand ver160
bracht. Vorher war ihr nicht ein einziges Mal der Gedanke gekommen, ihre Aufgabe könne diese dramatische Wende nehmen, die sich jetzt vollzog. Sie hatte versucht, den Strudel von Unruhe und Angst in ihrem Geist zu besänftigen, doch anfangs war es ihr nicht gelungen. Seltsamerweise hatte die Unrast sich erst gelegt, nachdem sie die Aufzeichnungen über das Geheime Apodikt gelesen hatte. Ihre Unwissenheit hatte sich in Wissen verwandelt. Statt quälender Ungewissheit schwebte jetzt der bleierne Schleier des Schicksals über ihrem Geist. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie hatte Angst, Todesangst sogar, doch ihr Weg in die unmittelbare Zukunft war nicht mehr ausschließlich mit Zweifeln gepflastert, auch wenn das Geheime Apodikt keine Informationen über den Ablauf der kommenden Tage lieferte. Als am späten Vormittag des vierten Tages die Umrisse der Säule am Horizont sichtbar wurden, brach der Dulce sein Schweigen. Er setzte sich neben Asayinda auf die Bank an Deck. Mit einer genau festgelegten Geste legte er seinen Volut, den Stab mit dem goldenen geflügelten Wesen, neben sich. »Kennt Ihr den Ursprung der Säule, Asayinda?«, fragte er leise. Asayinda faltete die Hände im Schoß und schüttelte den Kopf. »Nein, Dulce. In den letzten Tagen habe ich festgestellt, dass ich viel zu wenig Kenntnisse besitze. Jetzt frage ich mich sogar, ob ich genug weiß, um die Erweckung zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen.« »Darüber ist in den Geheimen Notizen das eine oder andere aufgezeichnet, doch Euch bleibt nicht die Zeit, das alles vor der Erweckung zu lesen«, erwiderte der Dulce. Beruhigend setzte er hinzu: »Macht Euch keine Sorgen. Bevor es so weit ist, werdet Ihr die erforderlichen Kenntnisse gesammelt haben.« In schon fast schulmeisterlichem Ton fuhr er fort: »Auf, in und unter der Haut dieser Welt befinden sich Spuren einer fernen Vergangenheit. Deren wichtigster Exponent ist die Säule. Doch nur wenige Einwohner von Romander wissen um ihre Existenz. Selbst die besten Seefahrer meiden dieses Gebiet. Nicht zu Unrecht, denn die Kräfte rund um die Säule sorgen für unberechenbare Stürme, plötzliche Windstille und todbringende Strudel.« 161
Mit der rechten Hand beschrieb er einen weiten Bogen. »Früher war hier Land.« »Hier?«, fragte Asayinda ungläubig. »Ihr meint, um die Säule herum? War das eine Insel? Ich dachte, das Meer sei hier unermesslich tief.« »Insel? So wurde das Land nicht genannt. Dafür war es zu groß. Es war eine Wüstenlandschaft, wie die Eridanerfläche auf dem südlichen Ostander, nur eben Hunderte Male größer. Man kann davon ausgehen, dass das Land ungefähr der Größe der gesamten bekannten Welt des Reiches entsprach.« Asayinda versuchte sich unter den Worten etwas vorzustellen, doch sie war zu sehr Kind eines Inselreichs. Land ging im Laufe der Zeit irgendwann einmal im Wasser unter. Immer. Selbst Lan-Gyt, Ostander oder die Insel Romander existierten nur auf begrenzte Dauer. So war die Welt nun einmal. Daher nannte sie das Land, über das der Dulce sprach, in Gedanken der Einfachheit halber ›eine riesengroße Insel‹. »In der Mitte dieses Landes«, fuhr der Dulce fort, »dieser Wüste, besser gesagt, befand sich ein Gebirge, und in dessen Herz sandte die Erde eine Feuersäule in den Himmel.« Asayindas Blick wanderte zu dem schlanken Schatten am Horizont. »Der Legende zufolge verband die Säule das Innere der Erde mit dem Himmel. Sie wurde von den Anhängern des Deiar, des ersten Dulce, verehrt. Doch auch bekannte Dulce wie Dinser, Udenes und Raheem führten die Anhänger ihres Glaubens in die Säule. Wir sind die späten Nachfahren dieser Gläubigen. Als der Düstere sich vor Hunderttausenden von Jahren zum ersten Mal aus seinem steinernen Gefängnis im Innern der Erde befreite, entstand Chaos auf der Welt. Erst wenn jemand, wahrscheinlich Euer zauberloser Freund, den Ort entdeckt, wo der Düstere trotz aller Vorsichtsmaßnahmen von, äh … bestimmten Mächten durch die Erdkruste hat entkommen können, besteht die Chance, dass wir ihn zurückzwingen können. Erst dann kann der Zyklus unterbrochen werden. Möglicherweise. Denn der Düstere ist mächtig, und er hat viele Mitstreiter. Außerdem hat sein Versteck sich bislang als unauffindbar erwiesen.« Mit geschlossenen Augen streichelte er den Knauf seines Volut. 162
»Den Düsteren kenne ich übrigens als eines der Mitglieder des Pakts der Zehn unter dem Namen Mathathruin. Gesehen habe ich ihn nie. Selbst am Tag von Welden Taylerch wird er von einem seiner Diener vertreten. Der Düstere rächt sich für seine äonenlange Gefangenschaft, indem er auf der Welt verheerende Veränderungen vornimmt.« Der Dulce stand auf und holte die Geheimen Notizen und das Geheime Apodikt unter seinem Mantel hervor. Er schlug das dünne Buch auf. »In den Geheimen Notizen heißt es über diese Periode wörtlich: ›Die zügellose Wut von Mathathruin, der in jenen Tagen Ailaedmenderii oder Mailek genannt wurde, wirbelte über das Urgestein der Berge des allen Meyr Ukanth, die gewaltige Bergkette von Ai Orgiis, und über Ec'Saaüd hinweg. Erdbeben und Vulkanausbrüchen folgten Erdverschiebungen. Die Gipfel der höchsten Berge zitterten und brachen auseinander. Die Steine stürzten in die Täler und bedeckten alle dort lebenden Völker. Die Poren der Welt spien Feuer und Wasser. Das Wasser setzte sich schließlich durch und strömte weiter, Jahr um Jahr. Ungeheure Stürme und Erdbeben versetzten ganze Bergrücken, verwüsteten alle Städte und Dörfer. Zu guter Letzt wandte Mathathruin sich von der Haut der Welt ab und kehrte in sein Reich im Innern der Erde zurück. Doch sein zügelloser Zorn war noch nicht gestillt. Er veränderte den Lauf der Magma- und Lavaströme, die direkt mit dem brodelnden Kern der Erde verbunden waren. An der Oberfläche entstand unvorstellbare Kälte. Wasser wurde zu Hunderte Meter dickem Eis. Feuer erstarrte zu Stein, härter als Mangit. Binnen weniger Stunden wurde Deiars Feuersäule zur erstarrten Säule von Ec'Saaüd Muyin. Nur eine Hand voll Menschen, einige Drachen, kleine Gruppen von Ermonderianern und Wesen des ältesten Volkes konnten ihr Leben retten. Die Menschen, vor allem die Hr'muyin aus der Stadt Daie und die Säulenanbeter, die in ihren Schriften vor diesen Tagen gewarnt worden waren, hatten Flotten von der Größe ganzer Städte gebaut. Die Ermonderianer, eine starke Rasse, die schon bald eine führende Rolle in den frühesten Zeiten des Reichs einnahmen und später Romandianer genannt wurden, ließen sich bereits nach kurzer Zeit auf einer der größe163
ren Inseln nieder, die dann Romander hieß. Die Drachen suchten in den Grotten und Höhlen von Llerfeyan auf Skher Zuflucht. Unter Leitung des unsterblichen Drachen Jo'armonguan Um D'ae siedelten sie später, als Skher im Meer zu versinken drohte, auf die Nachbarinsel Hay Ranse um. Die Wesen des ältesten Volkes segelten mit ihren schlanken Booten zur ältesten Insel und bauten dort ihre mit den Bäumen verwobenen Unterkünfte sowie ihre legendären singenden Türme. Mathathruin schickte in dem Versuch, die Welt und seine Bewohner endgültig zu vernichten, ein Geschöpf auf die Haut der Welt. Doch das Wesen, das noch immer in der großen Säule wohnte, widersetzte sich dem Geschöpf mit Hilfe eines weißen Magiers, der ‚der Weber‘ genannt wurde. Sie sorgten dafür, dass auf der Insel Dyn Eseyliun Nuve eine Rasse von Magistern entstand. Deren Aufgabe bestand darin, die wachsende Zahl der Bewohner der Inseln zusammenzuhalten und zu beschützen. So wurden die Taten des Webers in der Zeit verankert.‹ Es steht noch sehr viel mehr in den Notizen, doch vorerst ist dies das Wichtigste.« Asayinda starrte zur Säule hinüber, die ihren Nebelmantel langsam ablegte. Es war, als täten sich in ihrem Kopf neue Horizonte auf. Die Drachen hatte es also wirklich gegeben! Vielleicht existierten sie noch immer. Und auf welche Wesen verwiesen die Anmerkungen zum ältesten Volk? Satzteile wie ›die älteste Insel‹ und ›singende Türme‹, hallten in ihren Gedanken nach. In ihren Augen leuchteten orangene Lichter, als sie eine Frage stellte: »Ist eigentlich bekannt, wer die Geheimen Notizen geschrieben hat?« Der Dulce lachte und griff nach seinem Volut. »Dies ist die einzig richtige Frage. Die Geheimen Notizen sind Auszüge aus einem Buch, das hundertdreizehn mal neuntausend Jahre überlebt hat. Das ist für sich genommen fast schon ein Ding der Unmöglichkeit. So wie die Nibuüm sich dem Anpassen der Sprache wichtiger Schriften an die heutige Zeit widmen, so haben es andere, ihnen verwandte Geschlechter vor ihnen getan. Sie, die Nibuüm und ihre Vorgänger, erfüllen zwei große Aufgaben. Sie sorgen dafür, dass die Sprache von vor neuntausend Jahren noch immer verstanden wird, und sie 164
erhalten das viele Jahrtausende alte Buch am Leben. So zieht sich ein Faden lebendiger Worte durch all die Jahrtausende hindurch. Dieser Faden verbindet uns mit den frühesten Geschlechtern und Völkern.« Asayinda schaute den Dulce mit skeptischen Blicken an. »Wie heißt der Autor des Buches?«, wiederholte sie. »Das wissen wir nicht«, gab der Dulce schnell zurück. Zu schnell, wie Asayinda fand. Zum ersten Mal hatte sie den Eindruck, dass er nicht die Wahrheit sagte. »Wir wissen es nicht, aber wir haben eine Vermutung«, betonte er. »Wir?« Der Dulce presste die Lippen zusammen. »Der Pakt. Genauer gesagt, die etwas wohlwollender gesinnten Mitglieder der Gesellschaft. Vor wenigen Tagen haben wir noch darüber gesprochen. Ich sagte eben, Ihr hättet die einzig richtige Frage gestellt. Doch das bedeutet noch nicht, dass wir auf dieses Frage auch die einzig richtige Antwort bekommen. Diese Antwort kennen wir daher nicht.« Erneut hatte Asayinda ihre Zweifel, ob das so stimmte. Gemeinsam mit dem Dulce schaute sie eine Zeit lang schweigend den Nibuüm zu, wie sie den Solitär von Avrilux in Richtung der kleinen Insel zu Füßen der Säule steuerten. »Es ist nicht sicher«, sagte der Dulce schließlich, »aber es könnte sein, dass der Vorgang, der sich alle neuntausend Jahre vollzieht, und von dem Ihr ein wesentlicher Teil seid, dieses Mal anders verlaufen wird. Das beinhaltet, dass sich unvorhergesehene Dinge ereignen können, die in den Neuntausend Worten keine Erwähnung finden. Im Appendix des Geheimen Apodikts wird auf diese Möglichkeit hingewiesen, auch auf die Folgen, die sich daraus für das Reich ergeben können.« »Geht es dabei um Lethe?« »Sie heißen alle gleich, in allen Sprachen.« Der Dulce starrte träumerisch vor sich hin und sagte sanft: »Was für ein melancholischer Name: Lethe. Es bedeutet ›Quelle‹ oder ›Strom der Vergessenheit‹. Der Name hat seinen Ursprung in der Welt der großen Mythen. In einer Welt, die sich über viele Welten erstreckt. Doch überall steht der Knochenthron, der einen geheimen Namen trägt, derselbe wie der Zauberlose.« 165
Das waren rätselhafte Worte, fand Asayinda. Der Dulce hatte sie vorgetragen, als habe er sie auswendig gelernt, aus einem alten Buch. Gab es einen Thron? Und hieß der auch Lethe? Bevor sie etwas dazu sagen konnte, stieß einer der Nibuüm einen Schrei aus. Gleich würden sie neben der Säule anlegen. Der Dulce begab sich zur Vorplicht, um sich mit den Nibuüm zu beraten. Asayinda spürte, dass jemand hinter ihr stand. Sie drehte sich um und stand Auge in Auge mit Gall Rybonder, der sich sorgfältig in seinen braunen Mantel gewickelt hatte. »Es ist soweit«, murmelte er mit diesem fanatischen Ausdruck in den Augen, an den Asayinda sich von ihrer ersten Begegnung auf dem Marktplatz in Haramat erinnerte. Für ihr Gefühl lag das bereits Jahre zurück. »Die Edelfrau wird den Weg des Propheten gehen. Sie wird die Ränder der Zeit befahren.« Sein Blick wurde härter, bohrte sich gnadenlos in ihren. Sie spürte, wie ihr kalte Schauer den Rücken hinunterliefen. »Der Weg des Propheten der neuntausend Wenden. Die älteste Insel«, sagte er mit Nachdruck. Buchstäblich dieselben Worte hatte er Asayinda bei ihrem ersten Treffen auf den Spiegelinseln zugeflüstert. War sie diesen Weg nicht schon gegangen? War nicht die westliche der Spiegelinseln die älteste Insel? Warum wiederholte Gall die Worte? »Die älteste Insel«, sagte Gall erneut, als habe er ihre Gedanken gehört. Mit einer langsamen, fast feierlichen Armbewegung zeigte er nach Norden. »Dort, hinter der blinden Düsternis.« Dann drehte er sich um und verschwand in der Kajüte. Als habe er nur auf dieses Zeichen gewartet, setzte der Schneefall ein. Asayinda starrte auf die Stelle, wo Gall verschwunden war. »Gall, Ihr seid ein Mysterium«, murmelte sie. »Aber ein Mysterium, das einmal entschleiert werden wird«, flüsterte der Dulce in Gedankensprache. »Heute ist er hier, um Euch zu helfen, den Weg der Säule zu finden.« »Mir wäre es lieber, wenn Ihr mir helft«, rutschte ihr heraus. »Das wird nicht möglich sein, Asayinda«, antwortete der Dulce. »Meine Anwesenheit ist an einem anderen Ort erforderlich.« 166
Er achtete nicht auf den Schnee, der jetzt in dicken Flocken rieselte, und kam auf Asayinda zu, den Stab fest zwischen beide Hände geklemmt. Ein mattes Lächeln lag auf seinem Gesicht, und seine Augen wirkten traurig. »Tatsächlich«, sagte er, jetzt plötzlich laut, »ist meine Anwesenheit sogar an drei Orten gleichzeitig erforderlich.« »Fahrt Ihr zurück?«, fragte Asayinda enttäuscht. Der Dulce senkte den Kopf. »Das Schiff bleibt hier.« »Wartet es auf mich?« »Nein, auf Gall.« Es klang kurz angebunden, als habe der Dulce es lieber nicht sagen wollen. Er mied Asayindas Blick. Zunächst schwieg sie bedrückt. Dann erst drang die Bedeutung dessen, was der Dulce gesagt hatte, wirklich zu ihr durch. Eiszapfen stachen ihr ins Herz, das Blut schien in den Adern zu gerinnen, und plötzlich bekam sie kaum noch Luft. »Ich mache mich auf«, fuhr der Dulce fort, ohne Asayinda anzuschauen. »Einem unserer Gegner, und ganz bestimmt nicht dem Geringsten, ist es gelungen, dem Unfrieden im Reich ein Ziel zu weisen, ein lebensgefährliches Ziel. Dieser Gegner hat eine Gruppe um sich geschart, die sich Engel des Antas nennen. Sie ziehen gegen die Macht des Hofs von Romander zu Felde. Vor zehn Tagen waren diese Engel noch einzelne Banden von Räubern und Plünderern auf den südwestlichen Inseln, zusammen höchstens vierhundert Mann. Jetzt sind die Engel des Antas mit ihren roten Masken eine gut geführte und hervorragend ausgerüstete Streitmacht von ungefähr dreißigtausend Kriegern. Was sagt Euch das?« Asayinda wusste nicht, welche Antwort der Dulce von ihr erwartete. Sie war noch immer geschockt, eingeschlossen von einem Winter der Angst. »Magie, Herrin. Da ist Magie im Spiel. Zauberei von einer Art, die kräftiger, auf jeden Fall zielgerichteter ist als jede Loher Magie. Die Menschen stehen unter einem bösen Einfluss. Das bedeutet, dass mein altes Blut und das einiger anderer Wesen, die ich kenne, nicht das ein167
zige alte Blut auf dieser Erde ist. Und ich glaube zu wissen, wer dahinter steckt.« Asayinda hatte Mühe, die Bedeutung dieser Worte zu erfassen, und der Dulce wusste es. »Es ist wichtig, dass Ihr informiert seid«, sagte er. »Aber widmet jetzt all Eure Kräfte den Vorbereitungen für die Erweckung. Gall wird Euch zur Seite stehen. Mir selbst ist es verboten, Euren Aufgang in der Säule zu begleiten. Ich darf es nicht einmal aus der Ferne verfolgen.« »Verboten? Von wem?« Sie schrie es fast heraus. Der melancholische Blick des Dulce schockierte sie. In seinen goldenen Augen schimmerte plötzlich unendlicher Kummer. Er machte einen Schritt auf sie zu und legte ihr mit einer zärtlichen Gebärde die rechte Hand auf den Kopf. Als er antwortete, flüsterte er so leise, dass sie es gerade noch verstehen konnte: »Ihr werdet es erfahren. Ihr werdet viel mehr erfahren, als Eure siebzehnjährige Seele wünscht.« Seine Augen glänzten. »Ich bin bereits viel zu lange geblieben«, fuhr er fort. »Ich liebe Euch, Asayinda. Mehr als ich für möglich gehalten hätte. Das macht den Abschied für mich mindestens so schwierig wie für Euch. Es wird sein, als müsste ich auf eine Melodie verzichten, die die wahre Form der Existenz verkörpert.« Er drückte ihr den Volut in die Hand. »Hier, das werdet Ihr brauchen. Früher war es der Stab eines Geschöpfs, das länger lebte als jedes andere Wesen. Auch einige meiner Vorgänger und etliche Hochmeister sowie andere, noch viel ältere Geschöpfe benutzten ihn – nicht zu vergessen Lethes Vater. Dieser Stab gehört nun Euch, ebenso wie das Wasser der Morgenröte, der Mantel, der sich in meiner Kajüte befindet. Nehmt beides mit. Die Säule, der Volut und der Mantel werden den Verlust aufwiegen.« Verlust?, wollte Asayinda fragen. Welcher Verlust? Doch sie brachte kein Wort heraus. Als sie den Stab an sich nahm, spürte sie, wie ihr die Tränen kamen. Der Schnee wurde zu einer weißen Gardine und entzog die Insel rund um die Säule ihrem Blick. Der Dulce streichelte ihre kalten, nassen Finger. Dann drehte er sich um und ging zur Vorplicht, wo er sich zu ihr umwandte. 168
»Bedenkt, dass ein Opfer zwar einen großen Verlust beinhaltet, dass dem aber auch etwas gegenübersteht, Asayinda.« Für Sekunden schloss er die Augen. »Das alte Blut singt in meinen Adern«, murmelte er in ihrem Geist, intim, ganz dicht bei ihren tiefsten Gedanken. »Die Visionen der letzten Zeit haben mich ungeheuer viel Kraft gekostet. Ich bin erschöpft. Dennoch werde ich versuchen, den Prozess, von dem Ihr ein so überaus wichtiger Teil seid, positiv zu beeinflussen. Lebt wohl, Herrin!« Der Dulce verstummte. Mit rasender Geschwindigkeit vollführte er eine Reihe komplizierter Fingerbewegungen. Der Schnee um ihn herum stob in alle Richtungen davon, wirbelte hoch. An der Stelle, wo er eben noch gestanden hatte, erhob sich ein silbergrauer Kaiseradler trotz des massigen Körpers und der enormen Spannweite seiner Flügel federleicht in die Luft. Das Tier erinnerte Asayinda an den Vogel, der Dotar am Korpass auf der Ostinsel der Spiegelinseln hatte angreifen wollen. Mit einem zischenden Geräusch verschwand er auch aus Asayindas Gedanken. »Magie!«, hauchte Asayinda. Sie lief zur Reling und verfolgte den Flug des Vogels. Es schien, als habe der Schneefall eine Pause eingelegt, um ihr den Anblick des Schattens, der rasch kleiner wurde, möglichst lange zu gönnen. Sie verwahrte die Trauer über das Verschwinden des Dulce in ihrem tiefsten Inneren, denn sie wusste, dass sie auf einer anderen Ebene ihres Geistes hellwach bleiben musste. Die Knöchel ihrer Hand, die den Stab umklammerte, waren schneeweiß. »Keine Magie, wie wir sie kennen«, ließ sich Galls Stimme in der Türöffnung der Kajüte vernehmen. Er hielt den violetten Mantel, den die Solitäre Wasser der Morgenröte nannten, in seinen Händen. »Aernold aus Sey Hirin ist weg«, fuhr er mit schlichten Worten fort. »Jetzt wird es Zeit für uns, für den Weg der Säule.« »Gall«, begann Asayinda mit vor Angst zittriger Stimme, »werde ich nicht dort sein, im Bogensaal, wenn sich der Herr der Tiefe den Solitären zeigt?« Gall starrte auf einen Punkt über ihrem Kopf. 169
»Die Herrin wird dort sein«, sagte er tonlos, »doch nicht so, wie sie es sich vorgestellt hat.« »Aber …« Asayinda verstummte. Mit vor Angst geweiteten Rehaugen schaute sie durch den Propheten hindurch in eine schwarze Zukunft. »Der Weg der Säule«, wiederholte Gall. Die Herrin der Morgenröte schluckte schwer und nickte tapfer, doch kalte Schauer liefen ihr über den Rücken, und das Herz schlug ihr im Halse, als sie dem Propheten durch den Schneeschleier folgte, auf dem Weg zur Säule.
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22 Kahest »Flimmerland, Euer Licht so schal, die Farben fad, Euer Lachen verblasst. Zögernd nur nehm ich das Mahl zum Ausklang dieses Tages Rast.« – Aus ›Vierreimer auf die geheimen Orte des Reiches‹, von Edelfrau Drea aus Lon Die Reisegefährten sputeten sich. Hinter ihnen in der Schlucht leuchtete braungelbes Licht auf. Die Wände schienen sich zu bewegen, wie große, von Unruhe getriebene Silhouetten, tanzend im Rhythmus der dröhnenden Fußtritte. Gaithnard schaute sich um. »Feuer«, flüsterte er. »Der Gehörnte ist ein Feuerwesen.« Dotar war vorausgelaufen und wartete nun an einer leichten Biegung des Weges. Er winkte und zeigte nach vorn. »Kommt, beeilt euch! Da hinten wird die Schlucht wieder enger. Wenn wir eine Chance haben wollen, müssen wir versuchen, uns dort gegen ihn zu verteidigen.« Dotar rannte voraus. Die anderen folgten ihm, so schnell sie konnten. Vor sich sahen sie, dass die Wände der Schlucht wirklich eine schmale Passage bildeten und dahinter wieder auseinander liefen. Hinter sich hörten sie, dass die dröhnenden Fußtritte schneller wurden. Ein seltsam hohes Schnauben hallte in der Schlucht wider, als loderten die Flammen eines riesigen Herdfeuers hoch auf. Pit schaute nach hinten und erhaschte einen Blick auf ein Wesen, das 171
mindestens vier Meter maß, wie es um die Kurve bog und sich ihrer Sicht entzog. Der Gehörnte!, schoss es ihr durch den Kopf, denn aus dem Schädel des Geschöpfes ragten zwei geweihartige Verzweigungen heraus. Als sie wieder nach vorn schaute, bemerkte sie plötzlich etwas über sich. Ein Schatten, eine graue Silhouette. Ein Vogel, glaubte sie, doch der Schatten war bereits wieder verschwunden, noch ehe sie genau hinsehen konnte. Sie liefen durch die enge Passage und drehten sich um, mit ängstlich pochenden Herzen. Gaithnard und Marakis zogen ihre Schwerter, während Matei und Llanfereit im Flüsterton beratschlagten, welche Abwehrschilde in diesem Fall am ehesten helfen könnten. Dotar wartete breitbeinig ab, hinter Gaithnard und Marakis. Pit zog sich geschwind zurück. Doch etwas Störrisches flüsterte ihr ein, sie müsse auf jeden Fall tun, was sie sich die ganze Zeit vorgenommen hatte. Sie versteckte sich hinter einem Felsen. Matei, Llanfereit und die anderen achteten nicht auf sie, denn an der anderen Seite des Durchgangs war der Gehörnte erschienen, in einen Mantel aus orangefarbenen, ohrenbetäubend brausenden Flammen gehüllt. Wo er entlanggelaufen war, hinterließ er glühende schwarze Brandflecken im Felsgestein. Die beiden Magier hatten sich für den Zauber des Schutzschild Spaltenden Und Zerreißenden Steinfeuers entschieden und gerade das Rezitieren ihrer Zaubersprüche beendet, als die flammende Gestalt zu schrumpfen begann. Die Feuerzungen fielen in sich zusammen und erloschen. Vor den Reisegefährten stand, in einem Abstand von weniger als zehn Metern, ein normaler Mensch. In der linken Hand hielt er eine große Streitaxt. »Danker!«, rief Marakis ungläubig. »Es ist Ratsherr Danker!« Als Pit den Mann sah, überkam sie eine Furcht, die an Todesangst grenzte. Dieses mächtige Wesen hatte es auf sie abgesehen. Woher sie das wusste, war ihr ein Rätsel, doch sie war sich dessen ganz sicher. Sie kauerte sich hinter den Felsen und kehrte wie selbstverständlich ihren geistigen Blick nach innen. In ihren Gedanken und ihrem gesamten Wesen wurde es dunkel. Die Dunkelheit zog jene Stille nach sich, die ihrer Fähigkeit vorausging, mit der Kraft zu reisen. All ihre Sin172
ne waren geschärft. Danach fiel die Leere wie ein unsichtbarer, nicht greifbarer Schleier über sie. Sie tastete mit dem ätherischen Körper ihres Geistes die Gegend um sich her ab, verließ ihren eigenen Leib und ließ sich vom Geisteswind forttreiben, zielgerichtet, auf ihren Angreifer zu.
Der Spieler ging selbstbewusst weiter, ein Lächeln auf den Lippen. Sein Blick glitt abschätzend über die Gegner hinweg. Ein Stirnrunzeln, ein leichtes Zögern. Dann sprach er, leise, heiser, doch wie jemand, der keine Widerrede kennt. »Wo ist das Mädchen?« Gaithnard und Marakis hielten ihm ihre Schwerter entgegen. Danker murmelte etwas; sein rechter Zeigefinger machte eine kleine Bewegung, und die beiden Schwerter wurden Gaithnard und Marakis aus der Hand gerissen, beschrieben einen Bogen über Danker hinweg und prallten klirrend auf die Felsen. »Das Mädchen«, wiederholte Danker. »Wo ist es?« Matei brummelte den Anfang eines machtvollen Zaubers, der die Magie des Schutzschild Spaltenden Und Zerreißenden Steinfeuers aktivieren sollte. »Terluü!« Danker spuckte das Wort wie eine bittere Wachsbeere aus. Matei wurde gegen die Felswand geschleudert. Llanfereit schaute nach hinten, um zu sehen, wo Pit abgeblieben war. Er entdeckte den Saum ihres Mantels hinter dem Felsen. »Flieh!«, zischte er. Als sich daraufhin nichts regte, machte er schnell drei Schritte in ihre Richtung. »Pit, du musst fliehen! Rasch!« Ungeduldig griff er hinter dem Felsen nach ihrem Körper. Das Mädchen glitt zur Seite. Llanfereit wusste sofort, was geschehen war. Wut, Verzweiflung und Hoffnung bekämpften sich in seinen Gedanken. Dann kam er zu einem Entschluss. Ihm blieb nichts anderes übrig; es blieb keine Zeit. 173
Danker ging voller Selbstvertrauen auf Dotar zu, der sich scheinbar unbewaffnet im Durchgang aufgestellt hatte. »Matei!«, rief Llanfereit dem Hochmeister zu, der sich gerade mühsam aufrappelte und stöhnend die Rippen rieb. »Unverdes Unverzüglicher Flug Nach Kahest! Jetzt!« Er hob Pits Körper auf, rannte zu Gaithnard und Marakis, die dicht nebeneinander bewusstlos an der Felswand lagen. Er schleppte den Kronprinzen zu Gaithnard und hielt sie beide mit einer Hand fest. Matei zögerte nur einen Moment, dann erhellte sich seine Miene, und er setzte sich in Bewegung. Mit vier, fünf langen Schritten war er bei Dotar, fasste diesen an der Schulter und nickte Llanfereit zu. Danker blieb kurz stehen und schaute mit einem freundlichen Lächeln zu, eher amüsiert als verwundert. »Sekyrret Arhim Deivu!«, riefen die Zauberer gleichzeitig. Lautes Zischen erklang, gefolgt von einem brausenden Geräusch, das abrupt abbrach. Die Reisegefährten waren verschwunden. Danker zog eine Augenbraue hoch. Dann verfiel er in höhnisches Gelächter und brüllte: »Deivu Aumarat Iom! Arhim Gaest.« Auch er verschwand aus der Schlucht, ohne sich bewusst zu sein, dass Pits Geist mit ihm auf die Reise ging. Direkt bevor er sich völlig auflöste, glitt ein schlanker Schatten über den Boden der Schlucht und folgte unbeobachtet Dankers davonschwebendem Schemen.
Die Ebene, auf der sie gelandet waren, lag wie ein ausgebreiteter farbloser Teppich vor ihnen. Dies war eine Welt ohne Sonne, matt und grau. Eine Nebeldecke schien sich wie eine unentschlossen zuschauende Göttergestalt über die Reisegefährten zu beugen. Der Sand war schmutzig gelb und in seiner Struktur unglaublich fein, wie Asche. Llanfereit trug Pit. Zusammen mit Matei ging er den Reisegefährten voraus. Dieses Land ohne Erkennungsmerkmale verriet nicht, ob sie geradeaus oder in einem großen Kreis liefen. 174
»Wo sind wir?«, fragte Marakis. Seine Stimme klang eigenartig leblos und flach, ohne jede Spur eines Widerhalls. »Dies ist Kahest«, sagte Matei. »Die Welt am Rande von Tag und Nacht. Eine Schemenwelt, die die Magie der Doppelten Zeit wie ein Kinderspiel erscheinen lässt. Sie ist ein Überbleibsel aus der Zeit vor dem Zyklus. Ich bin zum ersten Mal hier.« »Und ich bin nur ein einziges Mal hier gewesen«, meldete sich Llanfereit. »An diesem Ort verliert unser Leben mit jeder Stunde mindestens einen Tag und eine Nacht. Unter den Magiern gilt Kahest als die letzte Rückzugsmöglichkeit auf der Flucht. Nur im äußersten Notfall machen Hochmeister und einige Halbmeister von dieser Gelegenheit Gebrauch. Aber dies war wohl eine derartige Situation.« »Unsere Schwerter«, sagte Marakis. »Gaithnard und ich haben unsere Schwerter verloren.« »Nichts zu machen«, sagte Llanfereit. »Wenn wir dort eine Sekunde länger geblieben wären …« Er ließ den Gedanken offen. »Was ist mit Pit?«, wollte Gaithnard wissen. Llanfereit zögerte kurz. »Pit hat sich in die Kraft geflüchtet. Wenn wir Glück haben, kann sie Danker das Leben schwer machen. Wenn wir Pech haben …« Auch diesen Satz vollendete er nicht, doch sein besorgter Blick sprach Bände. Dotar fragte: »Kann Danker uns hierhin folgen?« »Ich glaube schon«, sagte Matei. »Ein Spieler kennt die meisten Fluchtmöglichkeiten, die einem Magier zur Verfügung stehen. Doch vielleicht dauert es eine Weile, bis er begriffen hat, was wir getan haben.« Ein Zischen irgendwo hinter ihnen strafte die letzte Bemerkung Lügen. Matei schaute sich um. »Pech.« »Jetzt haben wir wirklich ein Problem«, sagte Llanfereit. »In Kahest wirkt die Loher Magie nicht. Hier wirkt überhaupt keine Magie.« »Also auch Dankers Magie nicht?«, fragte Marakis mit hoffnungsvollem Blick. 175
»Auch dessen Magie ist hier wirkungslos«, sagte Llanfereit und fügte nachdenklich hinzu: »Jedenfalls, soweit ich weiß. Aber er bleibt ein Spieler, und er verfügt über Kräfte, die auch in dieser Welt tödlich sind. Habt Ihr seine Streitaxt gesehen? Diese Waffe und seine verbliebenen Fähigkeiten machen ihn zur Ein-Mann-Armee.« »Ein Stück weiter gibt es Hügel, eine Art Freizone, wo Magie dennoch wirkt«, sagte Matei. »Wenn Danker die erreicht, sind wir verloren.« Sie erhöhten die Geschwindigkeit, bis sie fast rannten. Pit blinzelte und kam zu sich. Aus dem linken Augenwinkel sah sie in dem Grau über sich den Fetzen eines leichten Schimmers. Ein Vogel? Hatten die anderen es auch gesehen? Offensichtlich nicht, denn sie rannten weiter, stur geradeaus. Wieder verlor sie das Bewusstsein. Vor den fliehenden Reisegefährten tauchte der Umriss einer Gestalt auf: Danker. Er lehnte sich auf den Stiel seiner Axt. »Er ist also doch zu mehr imstande als wir, auch in dieser Welt«, keuchte Gaithnard irritiert und blieb stehen. »Wir verteilen uns«, rief Llanfereit. »Dann kann er uns nicht alle gleichzeitig angreifen.« Dies schien ein guter Gedanke zu sein, doch Dankers Absichten zeigten sich schon bald. Mit selbstsicherem Schritt ging er geradenwegs auf Pit zu, die wieder zu sich gekommen war, nachdem Llanfereit sie vorsichtig auf den Sand hatte gleiten lassen. Als die Reisegefährten das sahen, stellten sie sich wie in geheimer Absprache vor das Mädchen. Dotar zog sein Kampfschwert aus der Rückenscheide, Matei und Llanfereit legten eine Hand auf ihre Waffe. Marakis und Gaithnard bedauerten den Verlust ihrer Schwerter, doch ihnen war gleichzeitig klar, dass sie gegen Danker ohnehin kaum etwas hätten ausrichten können. »Es geht mir einzig um das Mädchen«, sagte Danker leise. »Gebt es mir, dann lasse ich euch in Frieden.« »Niemals«, fasste Matei die Entschlossenheit der Reisegefährten in Worte. Danker vergeudete keine Zeit. Er hob Spaltbock hoch über seinen Kopf und mähte Dotar mit einem unglaublichen, blitzschnellen Hieb 176
das Schwert aus den Fingern, als wäre seine mächtige Streitaxt ein kleines Handgelenkschwert. Matei zog sein Schwert, doch in der nächsten Sekunde flog auch dieses durch die graue Luft und landete mit einem dumpfen Schlag im Sand. Die flache Seite von Dankers Axt zischte nur um Haaresbreite an Marakis' Gesicht vorbei. Marakis, Dotar und Gaithnard wichen hastig zurück. »Ich habe euch die Chance gegeben, mir das Mädchen freiwillig auszuhändigen und es am Leben zu lassen«, zischte Danker böse, während er auf Matei und Llanfereit zuging. »Jetzt muss ich es töten.« Danker spie er hervor. »Zur Seite!« Mit einem gewaltigen Hieb ließ er Spaltbock auf Matei fallen. Der versuchte zur Seite zu springen, schaffte es aber nicht ganz. Die Axt schrammte an seiner Schulter entlang. Die Schneide fuhr dem Hochmeister in den Oberarm und riss eine tiefe Fleischwunde. In ohnmächtiger Wut brüllte Llanfereit auf und stürzte sich auf Danker. Mit einer kaum erkennbaren Armbewegung landete dessen Ellenbogen in der Magengrube des Halbmeisters, der dumpf stöhnend rückwärts stolperte. Jetzt stand Danker nichts mehr im Weg. Mit zwei Schritten war er bei Pit, die zitternd auf die Knie gefallen war, auf den harten Felsboden, der sich durch den Sand gebohrt hatte.
Zum ersten Mal machte Pit die Erfahrung, dass ihr Körper und die Kraft zwei voneinander unabhängige Phänomene waren. Während sie den Tod auf sich zukommen sah, bohrten sich die Scherben der Kraft in Dankers Leib, schossen zum Kern seines Wesens und … prallten auf eine Mauer aus Mangit. Es schmerzte so brutal, dass auch ihr zersplitterter Geist beinahe in Ohnmacht fiel. Dankers Geist besaß einen Schutz gegen die Kraft! Die Tausende Pfeilspitzen zogen sich zurück, machten sich auf die Rückreise in ihren Körper. Alles war verloren. Sie sah Danker die Axt heben. Das Blut pochte in ihrem Schädel. In Gedanken spürte sie die Schneide in ihren Körper eindringen. Sie versuchte sich mit diesem unvermeidbaren Tod 177
abzufinden, doch ihr Geist klammerte sich an das Leben. Sie kroch zurück und versuchte aufzustehen, während die Axt sich schon bewegte. Danker bemerkte nicht, wie sich der Vogel mit dem violetten Kamm und dem langen dunkelgrünen Schwanz näherte. Er hatte sich voll auf den letzten tödlichen Schlag mit Spaltbock konzentriert, seiner von Magie unterstützten Waffe. »Liviutmersygaen!«, rief eine gellende Stimme. »Leuituit!« Danker hatte Spaltbock bereits in Bewegung gesetzt. Gleichzeitig schaute er sich um und sah, wie Krallen, groß wie Handgelenkdolche, sich in sein Gesicht zu bohren drohten. Das Tier legte mit einem hohen Schrei sein ganzes Gewicht in diesen Angriff. Den Bruchteil einer Sekunde, bevor die Axt Pit berühren konnte, brach die Erde auf, und ein Feuerschwert schoss auf das Blatt der Waffe zu. Spaltbock, das Meisterwerk des Meisterschmieds Anvoulis, zerbarst zischend und krachend in tausend Splitter. Wie ein Insektenschwarm stürzten sich die Scherben in eine Richtung, auf Danker zu, wo sie sich in das weiche Fleisch gruben. Dankers von den Vogelkrallen zerfetztes Gesicht war nur noch ein einziges Schlachtfeld, umgepflügt zu einer Reihe tiefer roter Furchen. Ein Splitter bohrte sich in sein linkes Auge, das weit offen stand und sich nicht mehr schließen ließ. Danker sank auf die Knie. Auf seinem blutüberströmten Gesicht zeichnete sich Erstaunen ab – die Verwunderung eines Menschen, der es nicht für möglich gehalten hatte, dass der Tod ihn so unvermutet holen könnte. Langsam kippte Ratsherr Danker, S'oncenrun, der Gehörnte, Besitzer von noch ungefähr zwanzig anderen Namen und Spieler des Pakts der Zehn, nach vorn und schlug mit einem hässlichen Geräusch und dem Krachen berstender Knochen auf dem Felsboden auf.
Staub wirbelte in alle Richtungen und hüllte Dankers Körper in ein graues Kleid. Der Vogel landete neben Danker und verwandelte sich geräuschlos 178
in eine Frau, die einen dunkelgrünen Mantel trug. Ein violettes Haarband hielt die halblangen, grauschwarzen Locken zusammen. »Die Frau vom Windturm«, sagte Gaithnard mit heiserer Stimme. Die Vogelfrau schien es nicht zu hören. Sie starrte auf Dankers entseelten Körper, der in grotesker Haltung zu ihren Füßen lag. Kleine Bäche dunklen Blutes krochen unter der Leiche hervor. »Ich habe eingegriffen«, flüsterte sie. Es klang überrascht, als könne sie es selbst noch nicht glauben. »Ich habe die zweite Kraft gerettet. Die erste Kraft, der Junge, hat den Stein. Der Zyklus neigt sich dem bösen Ende zu – vielleicht aber auch dem guten, denn alle Voraussetzungen sind erfüllt.« Sie schob sich näher an Dankers Körper heran und schaute auf ihn hinunter. »Er glaubte, das ewige Leben zu besitzen. Er ging davon aus, ihn könne nichts aufhalten. Die Zeit spielt ein seltsames Spiel mit uns. Hochmut ist schließlich ein Fehler, der ein Leben lang ungestraft überdauern kann – und dann, von einer Sekunde zur anderen, stürzt das ganze Gebäude aus Einbildung und unangebrachter Arroganz in sich zusammen.« Sie wandte den Kopf um und starrte mit wässrigen Augen auf die Reisegefährten, die ihrerseits immer noch verstört zurückstarrten. Matei brach das Schweigen. »Wer seid Ihr?« Ihr Blick richtete sich auf ihn, doch es dauerte eine Weile, bevor sie den Hochmeister wahrzunehmen schien. »Wer ich bin?« Es klang überrascht. »Mein Name ist für Euch bedeutungslos, er stammt aus einer anderen Zeit. Damals gab es Romander noch nicht. Die neun Meere waren Sandflächen, über die Karawanen zogen. Die Welt war mit Erzwesen bevölkert. Jedes Volk hatte seinen eigenen Ort. Das älteste Volk wohnte in den Wäldern, die anderen Völker hausten in Höhlen unter der Erde, in den Schluchten und Tälern alter Berge, in den kalten Ländern des Nordens und am Ostrand der Welt, hinter den Nesthäusern.« Die Reisegefährten schauten sie verständnislos an. 179
»Ihr sprecht über eine andere Welt?«, fragte Llanfereit. »Nein«, antwortete die Frau. »Ich spreche über eine andere Zeit. Aber das spielt keine Rolle. Ich werde euch erzählen, wer ich bin, auch wenn ich nur noch ein Schatten jener Person bin, die ich einst war. Denn mein Spiegelbild hat sich verflüchtigt. Die Liebe, die meine Seele besaß, weil ich es wünschte, ist mir an einem schwarzen Tag entglitten, als der Stein der Letzten Berührung zersprang. So büßte mein Geliebter seine Unsterblichkeit ein. Der in tausend Teile zersplitterte Stein fügte sich wieder zusammen, dazu befähigt vom größten Magier jener Tage. Dieser Magier weissagte in seinen Schriften auch die Unvermeidlichkeit des Zyklus. Es war ihm gelungen, die Wege des Düsteren nachzuvollziehen. Der Magier begann, ein großartiges Flechtwerk zu knüpfen. Dazu gehörte, dass er den wieder erstandenen Stein freiließ. Das Artefakt machte sich auf und vollzog eine endlose Wanderung über die Haut dieser Welt. Seit jenem Tag wächst die Macht des Steins. Das erscheint eigenartig, denn für den oberflächlichen Betrachter ist er nicht mehr als eine verblasste Perle, die nicht einmal echt ist, denn das Material besteht teilweise aus Bernstein. Im Zentrum des Steins ist der Ursprung der Kraft angesiedelt, jener Kraft, die es ermöglicht, so klein wie ein Gedankensplitter zu sein. So klein, dass niemand – auch nicht der Mächtigste unter den Mächtigen – in der Lage ist, den Besitzer der Kraft in sich wahrzunehmen, weder körperlich noch geistig. Diese Fähigkeit, die Kraft, wird nur von wenigen beherrscht. Sie alle stammen von dem Mann ab, der der Erbe genannt wurde. Und so, wie auf der Haut der Erde alles Leiden eingegraben ist, so sind der Haut des Steins die letzten Worte meiner Liebe eingebrannt. Manchmal, in Zeiten größter Turbulenz, glühen diese Worte auf. Dies sagt der Stein: ›Leyexem armahod negritu synoörei llumeyen. Nube um diya wheade. Der Helix, der in der Dunkelheit wurzelt, geht auf im Licht. Nacht und Tag verschmelzen miteinander.‹ Rätselhafte Worte, selbst für mich, doch die Legende seiner Zeit verstand sie.« Die Frau starrte vor sich hin, ihre Augen waren feucht. Ein trauriger Zug lag um ihre Mundwinkel. »Ich habe eine Tochter. Sie spielt eine entscheidende Rolle in die180
sem Zyklus. Mein Name ist heute der, den mein Liebster am schönsten fand. Damals war ich – und bin ab jetzt wieder – Uvrege Nei, die Gattin des Hofmagiers des Hochkönigs. Doch der Hochkönig weilt schon lange nicht mehr …« Schweigen legte sich über Kahest, eine Stille, die niemand zu stören wagte. Wie ein unerwarteter warmer Windstoß wehte ein langer Seufzer über die Ebene. »… genauso wenig wie sein Hofmagier, mein Liebster. Die Tage verloren für mich ihre Bedeutung. Sie verwandelten sich zur Rückseite der Nacht. Mich verlangte es nach dem Tod, doch er wurde mir von den Göttern verwehrt. Ich wurde zur Spielerin, weil sie es wünschten, doch ich verlor mich in Untätigkeit. Ich schaute nur zu, so wie es früher die mächtigen Erzwesen taten. Ich schaute zu und deutete, griff jedoch nicht ein. Nie. Bis heute. Denn die Zahl der Opfer jener Erscheinung, die viele ›farblose Magie‹ nennen, hat mittlerweile sämtliche Grenzen überschritten. Ich habe eingegriffen und einen Spieler getötet. Seltsamerweise findet sich in den Regularien kein Verbot, welches das gegenseitige Töten untersagt, doch einige Spieler werden mich wegen meiner Tat bis ans Ende aller Welten verfolgen.« Sie lächelte, doch ein lange gehegter und vergrabener Kummer war in ihren Augen erschienen. »Sie werden mich nicht bekommen. Ich werde zu schnell für sie sein. Ich habe eingegriffen und die Reise der Großen Legende wieder auf den einzig rechten Pfad zurückgeführt. Jetzt ist es mir vergönnt, den so lange ersehnten Abschied von dieser Welt zu nehmen. Die Götter lassen mich frei. In meinem Herzen war ich nie ein Spieler. Zu viele schlechte Gefühle waren damit verbunden. Es war auch nie meine Art, Menschenleben einer Sache zu opfern, die letztlich nicht mehr als ein kompliziertes Spiel ist. Ich habe versucht, mich herauszuhalten.« Die ganze Zeit hatte sie in die Ferne gestarrt, doch jetzt lächelte sie den Reisegefährten kurz zu. 181
»Ich begebe mich zu meiner einzigen Liebe«, flüsterte sie, und nach einer Pause setzte sie noch leiser hinzu: »Ich gehe nach Rymlen.« Ihre Miene hellte sich auf. Sie wies nach vorne. »Lauft weiter geradeaus, zu den Hügeln. Dort könnt ihr eure Magie einsetzen, um Kahest zu verlassen.« Plötzlich leckten Flammen an ihren Füßen, schossen lodernd empor. Das Feuer schien an ihr zu kleben, als gehöre es zu ihr. Orangefarbene Lohen schlugen von ihren Schultern wie die Flügel eines Engels dem Himmel entgegen. Mit einem heiteren Lächeln starrten die verblassenden Augen in dem zu Marmor erstarrten Gesicht in die Ferne. Ein Seufzer wehte über das Land. Die Flammen ließen sich von dem unerwarteten Windstoß davontragen, erloschen zischend. Die Frau war verschwunden.
Die Reisegefährten starrten noch eine ganze Weile auf den Fleck, wo die Frau gestanden hatte. Pit unterdrückte ihre Angstgefühle, die sie die ganze Zeit empfunden hatte, und machte sich daran, Mateis Oberarm zu versorgen, der eine blutende Fleischwunde aufwies. Dann begaben sie sich auf die Suche nach den Hügeln, schweigend, ausgelaugt von all den Anstrengungen und Ereignissen. Es dauerte Stunden, bis sie die Hügel erreichten und Matei sie mit einem Umkehrzauber von Unverdes Unverzüglichem Flug Nach Kahest in die Schluchten zurückbringen konnte. Sie landeten ganz in der Nähe der Stelle, wo sie Lan-Gyt verlassen hatten. Marakis und Gaithnard suchten ihre Schwerter. Marakis fand seines sehr schnell, doch Präter, Gaithnards Schwert, blieb trotz einer intensiven Suchaktion des Waffenmeisters und der anderen Reisegefährten spurlos verschwunden. »Ohne Präter bin ich wie ein Arm ohne Schwerthand«, sagte Gaithnard mit düsterer Miene. »Vielleicht kehren wir ja eines Tages an diesen Ort zurück«, sag182
te Llanfereit tröstend. »Und wer weiß, möglicherweise finden wir es dann.« Schweigend setzten sie ihren Marsch nach Yle em Avrilux fort. Llanfereit und Pit gingen sich aus dem Weg. Pit wusste, dass ihr Lehrmeister ihre Flucht in die Kraft abgelehnt hatte, doch Llanfereit hielt dies nicht für den geeigneten Zeitpunkt, darüber zu reden. Pit auch nicht. Außerdem hatte die Vogelfrau Dinge gesagt, über die sie nachdenken musste. »Diese Fähigkeit, die Kraft, wird nur von wenigen beherrscht«, hatte die Frau gesagt. »Sie alle stammen von dem Mann ab, der der Erbe genannt wurde.« Das hieß, dass Lethe und sie von demselben Mann abstammten. Das Gefühl, das dadurch in ihr ausgelöst wurde, war eine Mischung aus Erregung und Angst. Die Frau hatte noch etwas gesagt, das sie berührt hatte, doch Pit war offenbar so übermüdet durch all die Ereignisse, dass ihr Gedächtnis sie im Stich ließ.
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23 Bei Hofe »Die Engel des Antas verwandelten sich binnen einer Woche von einer disziplinlosen Gruppe von Räubern und Plünderern in eine gut organisierte Armee. Unmöglich, hörte ich damals viele sagen. Die Realität aber machte deutlich, dass es geschehen war. Und warum? Weil ein einziges Individuum sich zum Ziel gesetzt hatte, das Unmögliche möglich zu machen. Ich weiß, dieses Individuum war schwärzer als schwarz, und es verfügte über Fähigkeiten, die uns bis auf den heutigen Tag in Staunen versetzen, doch das schmälert meine Ehrfurcht, meinen Respekt vor dieser Leistung keineswegs.« – Hanzer Kraibald aus Weit in seiner historischen Betrachtung ›Die Tage des Zauberlosen‹ Es war der Abend nach dem Begräbnis des Desran und der Verhaftung von Edelfrau Isper. In der Hauptgalerie des Palasts, die zum Thronsaal führte, verbreiteten Wandfackeln helles Licht. Trotz der späten Stunde ging es hier hoch her. Bedienstete, Palastwachen, Ratsmitglieder, Hofjunker und Hofdamen liefen aufgeregt durcheinander oder führten in kleinen Gruppen leise Gespräche. Kurz zuvor hatte Marten aus Yr Dant, der Kapitän der Nayarener Garde, sie vom Thronpodest aus über die Gefangennahme von Edelfrau Isper und einiger ihrer Ratsmitglieder informiert. Seine Zuhörer hatten die Nachricht schweigend aufgenommen. Auch die Mitteilung über seine vorläufige Machtübernahme hatten sie still über sich ergehen lassen. Durchaus nicht verwunderlich, dachte Marten. Eigentlich kannte der gesamte Hof nichts 184
anderes als Schweigen und Gehorsam. Sie hatten ihn als den blonden, bärtigen Kapitän der Nayarener Garde gekannt, und nun besaß er die Macht. Der Desran war tot, die Edelfrau verhaftet, und Kronprinz Marakis war weit weg, wenn er denn noch lebte. Also sahen sie in Marten aus Yr Dant ihren Herrn, hörten auf das, was er sagte, und führten seine Befehle aus. Marten wusste wie kein anderer, dass er plötzlich in eine schwierige Lage geraten war. Er balancierte auf des Messers Schneide, die da Macht hieß. Es brauchte nur irgendetwas Unvorhergesehenes zu geschehen, und er wäre seine selbst ernannte Machtstellung wieder los. Nur seine eigenen Worte und die Treue seiner Gardisten verliehen ihm diesen zeitweiligen Status. Marten hatte der gesamten Hofverwaltung versichert, sie würden alle im Dienst bleiben, bis Kronprinz Marakis zum Desran gekrönt worden sei. »Ich hoffe aufrichtig, dass diese Zeitspanne, die ich als ›Wahrung der Macht‹ bezeichnen möchte, von kurzer Dauer ist«, hatte er zum Schluss gesagt. Die Tür zum Thronsaal stand weit offen. Dennoch ließen seine Gardisten nicht jeden in den Saal. Nur Angehörige des Hohen Hofes, Ratsmitglieder und deren Sekundanten, die Familienangehörigen des Desran bis ins vierte Glied, einige von Martens Offizieren und die von ihm angewiesenen nächsten Mitarbeiter hatten freien Zugang. Marten hatte beschlossen, den Thronsaal künftig zu meiden, um deutlich zu machen, dass er auf keinen Fall die absolute Macht eines Desran anstrebte. Er sprach mit dem Ratsherrn Hanno Eydants, der im Namen der Ratsmitglieder auftrat. »Es ist von allergrößter Wichtigkeit, dass Edelfrau Hylmedera gefunden wird«, betonte Marten. »Ich gehe davon aus, dass sie Danker die Treue geschworen hat. Wenn ihm frühzeitig zu Ohren kommen sollte, was sich hier abgespielt hat …« Was dann geschehen würde, ließ er als stille Warnung im Raum stehen. »Es wird schon fleißig gesucht, Kapitän«, antwortete Eydants ruhig. 185
»Gut«, brummte Marten. Er beugte sich vor und wechselte das Thema. »Wisst Ihr, Hanno, Macht ängstigt mich. Ich hoffe aufrichtig, dass der Kronprinz hier bald erscheint.« »Warum solltet Ihr Angst vor der Macht haben, Kapitän? Ich finde, Ihr macht Eure Sache ausgezeichnet.« »Die Macht an sich ist nicht das Problem. Mir geht es mehr um die Frage, ob ich auf lange Sicht den Verlockungen der Macht gewachsen bin.« Ein Gardist kam eilig auf sie zugelaufen. »Kapitän«, flüsterte er und warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter, »es gibt Probleme. Vor dem Hafen liegen Schiffe.« Marten schüttelte verständnislos den Kopf. »Schiffe? Was für Schiffe? Drückt Euch deutlicher aus, Mann.« »Feindliche Schiffe, Kapitän. Dutzende, vielleicht sogar Hunderte, voll besetzt mit gut bewaffneten Leuten von den Melissen, aus Ostander, Dersden, Ribbe und Weit. Es sind Unmengen, soviel ich gehört habe. Sie tragen rote Masken und nennen sich die Engel des Antas.« Marten schaute sich wieder um. »Sie haben jemanden geschickt.« Er zeigte zum südlichen Schiff der Galerie hinüber. Dort wartete im Schatten einer Säule eine Person in einem dunkelblauen Mantel. Das Gesicht wurde von einer großen Kapult verdeckt. Marten musste die Nachricht, die der Gardist überbracht hatte, erst einmal verdauen. Seine Augen blieben auf die Person an der Säule geheftet. Um ihn herum hatte sich alles zurückgezogen, als wünsche niemand in seiner Nähe zu verkehren. »Führt den Abgesandten zu mir.« Wenig später stand der Mann vor ihm. Die Aura von Autorität und verborgener Kraft umgab ihn. Die Umstehenden hatten gemerkt, dass etwas Außergewöhnliches geschehen würde. Sie schoben sich wieder dichter heran, wahrten aber auch jetzt noch einen Sicherheitsabstand. Marten überlegte für einen Moment, den Mann in ein Seitenzimmer zu bitten, doch was ihn selbst anbelangte, gab es nichts, was andere nicht hören durften. 186
»Wer seid Ihr?« Die Kapult bewegte sich, ohne dass das Gesicht zum Vorschein kam. »Das spielt keine Rolle.« Es klang bestimmt. Eine krächzende Stimme. Marten hatte angenommen, es handele sich um einen Mann, doch nun kamen ihm Zweifel. »Spielt keine Rolle«, wiederholte die Stimme. Marten zuckte mit den Achseln. »Wie Ihr wünscht. Sagt, was Ihr zu sagen habt.« »Euer Desran hat versagt, und auch nach seinem Tod wurde nichts für das Zurückschlagen des Herrschers des Nachtmeers getan. Romander hat versagt, deshalb übernimmt das Volk die Macht.« Er machte ein weit ausholende Gebärde mit dem Arm. »Die Engel des Antas stehen vor den Toren der Stadt.« »Und Ihr und Eure Engel des Antas, Ihr seid das Volk?«, fragte Marten spöttisch. »Das Volk hat nicht nur ein Gesicht. Eure Engel sind bloß ein bescheidener Holzsplitter in dem Baum, den das gesamte Volk des Reiches ausmacht. Warum sollte ich Euch nicht gefangen nehmen und die Euren von der Küste der Insel Romander vertreiben?« »Weil Ihr in beiden Fällen scheitern würdet.« Die Person sagte es ruhig, mit großem Selbstvertrauen, doch das beunruhigte Marten nicht. Zu oft schon hatte er Menschen erlebt, die zu sehr an die eigenen Fähigkeiten geglaubt hatten. Er schaute sich um und winkte einige Gardisten heran, die in der Nähe standen. Sie kamen vorsichtig zu ihm. Die Person machte einen schnellen Schritt in Martens Richtung. Eine knochige Hand, auf der ein Netz purpurner Adern lag, nahm den Arm des Kapitäns in einen schmerzhaften Griff. »Lasst Eure Männer nicht in Eure Nähe kommen«, zischte die Stimme ihm beißend zu. »Es ist niemandem gedient, wenn es jetzt schon Tote gibt!« Plötzlich war die Person von gelber Glut umgeben. Die Hitze glühender Kohlen schoss Marten durch den Arm. Erschrocken versuchte er, zurückzuweichen, doch die Person ließ es nicht zu. Mühelos hielt sie Martens Arm mit eisernem Griff. Die Finger gruben sich immer schmerzhafter ins Fleisch. Das Wesen verfügte über unglaubliche Kraft. Der Kapult war durch die heftige Bewegung nach hinten ge187
rutscht. Für einen kurzen Moment sah Marten das Gesicht. Eingefallene Wangen, bleiche Haut und ein durchdringender Blick. Seltsamerweise glaubte Marten, diesen Blick zu kennen. Fieberhaft suchte er in seinem Gedächtnis, doch er wurde nicht fündig. Noch immer war er sich nicht schlüssig, ob er es mit einem Mann oder einer Frau zu tun hatte. Eine Frau, dachte er jetzt. Er gab den Gardisten ein Zeichen, sich fernzuhalten. »Das Volk«, zischte die Person dicht an seinem Ohr, »weiß noch nicht, was gut für es ist. Das weiß das Volk nie. Aber schon bald werden die Leute merken, dass die Engel des Antas mit ihrer Leidenschaft, ihrem Herzen sprechen. Ganz sicher wird Blut fließen. Und ebenso sicher wird sich das Volk in großer Zahl hinter uns scharen.« Der Griff der Person tat noch immer weh, doch Marten wollte sich dadurch nicht unterkriegen lassen. »Das bezweifle ich. Ich weigere mich, Euch als Vertreter des Volkes anzuerkennen«, entgegnete er mit aufeinander gepressten Kinnladen. Er versuchte sich loszureißen, doch die Person hielt ihn noch sekundenlang mühelos fest. Dann zog sie die Hand zurück. Marten rieb sich die schmerzende Stelle. »Was wollt Ihr denn nun eigentlich? Wer seid Ihr? Warum nennen sich Eure Gefolgsleute die Engel des Antas, und was sollen die roten Masken?« Die Person lachte heiser und schlug mit einer schnellen Handbewegung die Kapult zurück. Es war eine Frau. Halblanges, schwarzes Haar mit grauen Strähnen, totenbleiche Haut voller Altersflecken, ein ausgemergeltes Gesicht und eingefallene, fiebrige Augen, die Marten auf der Stelle bannten. Er wusste genug über Magie, um zu begreifen, dass er nicht jedes Detail des Gesichts wahrnehmen konnte, doch die ungeheure Kraft, die sich hinter dem Blick der Frau verbarg, ließ ihm kalte Schauer über den Rücken laufen. Ihr Alter konnte er nur raten. »Was ich von Euch will?«, fragte sie ironisch. Ihre Stimme änderte die Tonlage, wurde fast männlich tief. »Was Ihr tut, ist völlig bedeutungslos. Ihr könnt uns nicht widerstehen. Ihr könnt nur die Entscheidung darüber treffen, wie viel Blut durch die Straßen von Romander188
Stadt fließen wird. Entscheidet Euch für Übergabe der Macht oder den Tod. Ich gebe Euch bis Mitternacht Zeit. Wenn bis dahin kein Licht auf den Treppen von Valk Eander brennt, gehen wir zum Angriff über.« Die Frau drehte sich um und ging davon. Die Umstehenden wichen rasch zurück. Marten schaute ihr nachdenklich nach. Sollte er sie einfach so laufen lassen? »Packt Sie!«, rief er kurz entschlossen. Vier oder fünf Gardisten sprangen auf die Frau zu. Diese stieß einen rauen Schrei aus und drehte sich blitzschnell um. Sie bewegte die Hand, als streue sie etwas in die Runde und zischte einige Wörter, die in der Luft zu Eis zu erstarren schienen. Aus dem Nichts erhob sich ein brausender Wirbelwind, der die Gardisten und Umstehenden mehrere Meter zurückschleuderte. Angstschreie erklangen; die Leute fluchten; Körper prallten schmerzhaft auf Körper, wurden gegen die Wände geschleudert oder machten unsanfte Bekanntschaft mit den Säulen. Schließlich erloschen sämtliche Fackeln. Nur der fast volle Mond beleuchtete durch die hohen Fenster der Galerie die Szene. Eine zweite Armbewegung, und die Frau hatte freie Bahn. Jetzt wandte sie sich noch einmal Marten zu, der sich als einer der wenigen auf den Beinen hatte halten können. Ihr rechter Zeigefinger war auf ihn gerichtet. Violette Funken schossen auf Marten zu. Es war, als habe ihn ein Baumstamm getroffen. Nach Luft schnappend, stolperte er rückwärts. Irgendwie schaffte er es dennoch, nicht zu Boden zu gehen. »Äußerst unklug, Kapitän!«, sagte die Frau, als sie sich in den Mantel wickelte und die Kapult wieder über den Kopf stülpte. »Eine wenig ehrenhafte Tat. Ihr werdet sie noch bereuen.« Sie wollte sich umdrehen, überlegte es sich jedoch anders. »Und um eine andere Frage zu beantworten, Kapitän: Ich bin Antas.« Sie kehrte Marten den Rücken zu und verschwand geräuschlos, ungewöhnlich schnell, wie ein Schemen. Marten starrte ihr mit halb zugekniffenen Augen nach, bis ihr Schatten sich im Dunkel des unbeleuchteten Gangs in der Verlängerung der 189
Galerie auflöste. Die Frau hatte sich selbst Antas genannt – aber es war natürlich unmöglich, dass sie der berüchtigte Feldherr von vor einigen tausend Jahren sein sollte. Den Namen hatte sie sich vermutlich nur zugelegt. Doch irgendetwas in ihren Zügen kam Marten bekannt vor … Wie auch immer, auf jeden Fall war ihm klar, dass gegen diese Frau kein Kraut gewachsen war. Er musste sich sogar fragen, weshalb sie ihn am Leben gelassen hatte. Sie musste doch auch wissen, dass er derjenige war, der die Verteidigung organisieren würde. Außerdem hatte er sich dumm verhalten. Er hätte wissen müssen, dass diese Frau sich nicht einfach so gefangen nehmen ließe. Wütend riss er eine Fackel von der Mauer. Seine Gedanken rasten. Das Undenkbare geschah: Romander-Stadt wurde angegriffen! Hätte jemand dies vor ein paar Tagen behauptet, hätte Marten ihn für verrückt erklärt. Die Stadt wurde angegriffen – und Marten war sich gar nicht sicher, ob dieser Angriff abgewehrt werden konnte. Die Frau war eine mächtige Magierin und obendrein eine erstaunliche Führungspersönlichkeit, wenn man die geringe Zeitspanne zwischen den ersten Plünderungen und der Ankunft dieser hervorragend organisierten Flotte in Betracht zog. »Alle Gardisten vor dem Palast antreten!«, rief Marten. Er wandte sich Hanno Eydants zu, der sich gerade wieder erhob. »Wo ist Grend?« »Soweit ich weiß, befindet er sich mit Veder in der Waffenkammer«, antwortete der Ratsherr und betastete mit schmerzverzogener Miene seinen rechten Arm. »Soll ich ihn holen lassen?« Marten nickte. »Er soll seine Freiwilligen mitnehmen und zum Haupteingang des Palasts kommen. Wenn wir heute Nacht genug Kämpfer mobilisieren können, haben wir vielleicht noch eine Chance.« Eydants schaute ihn erschrocken an. »Die Übermacht erscheint mir zu groß.« Marten antwortete ihm mit grimmiger Miene: »Die Übermacht wäre auch vorher schon und fast zu allen Zeiten groß gewesen, Hanno. Worauf beruht denn die Macht des Hofes? Die herrschende Macht ist 190
de facto den Kapitänen und Mannschaften der Sologaleeren des Desran in die Hand gelegt, dreißig an der Zahl. Die Macht des Hofes beruht indirekt – im Geheimen, jedoch meist sehr effektiv – auf dem Eingreifen der Regulatoren, vor allem aber auf deren Festungsmeistern. Sie infiltrieren heimlich den Körper des Reiches und schneiden die eiternden Wunden heraus. Die Macht des Hofes beruht aber auch auf uns, der Nayarener Garde. Wir sind ungefähr fünfhundert Mann. Unsere Schwerter waren bis vor wenigen Jahren bloße Zier, doch Dank Marakis, Grend, Prinzessin Quantiqa und deren Gruppe haben wir in aller Stille begonnen, Kampfschwerter zu schmieden und Schilde anzufertigen. Wer ist bereit, gemeinsam mit uns zu kämpfen? Das Reich benötigte nie eine große Armee, schließlich gab es nie einen Feind. Das letzte Eingreifen der Garde war die Unterwerfung der Piraten auf den Kaperinseln. Das war im Jahre 4123. Deshalb sind wir jetzt auf Freiwillige ohne jede Erfahrung im Kampf Mann gegen Mann angewiesen. Sowohl der Hof als auch das Volk waren blind. Sie haben versäumt, die Geschichte als Warnung zu nehmen. Heute bekommen wir die Quittung!« Er ballte die Faust. »Geht jetzt, schnell! Holt Grend und Veder. Ich brauche sie.« Eydants sprach einige Mitglieder der Hofverwaltung an und verschwand mit ihnen eiligen Schrittes in Richtung Waffenkammer. Marten schickte Gardisten in die Stadt, um zum Kampf bereite Männer zu suchen. Er selbst scharte Männer sowie einige Frauen aus dem Palast um sich und führte sie zum Palasteingang, wo der Rest seiner Gardisten sich bereits eingefunden hatte.
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24 Die Kuppel »Wer zieht Gezeiten hinter sich wohl her? Wer nimmt das warme Blut von Mensch und Tier? Wer ist der stille Herr zu Land und Meer, der unbemerkte Schatten, der Vampir? Ist's ein Spieler, schwirrt sein Schatten rund an des Desran Hof, in Avrilux, Instirium? Oder stammt die Macht aus andrem, ältrem Mund? Entspringt sein Quell der Tiefe des Elysium? Wer zwingt ans Land die lange Flut? Wer blüht wie eine schwarze Winterros wenn Dunkelheit vertreibt die letzte Sonnenglut, das Wort in Leere stumm ertrinkt, wortlos?« – Aus ›Unbeantwortete Trinette, Klangdichtungen und Quinttrinen‹, ein Gedichtband von Solo Rabather aus Oplan Lethe hatte mit jeder Faser erlebt, dass sein Körper sich vom Geist trennte. Immer dünner wurde der Faden, der ihn noch mit dem vertrauten Gewicht seines Fleisches und der Knochen verband. Ein geistiges Band, dennoch unmittelbar zu spüren und derart von Schmerzen gepeinigt, dass Lethe mehrere Male das Bewusstsein verlor. Es war kein physischer Schmerz; es war eher so, als würden dünne, scharfe Gedankenkrallen sich in seinen Geist graben. Schließlich hörte das 192
Zerren auf. Lethe begriff, dass sein Körper sich nicht mehr bewegte. Wahrscheinlich war er irgendwo angespült worden oder auf den Meeresboden gesunken. Es wunderte ihn, dass das Band zwischen Körper und Geist bestehen blieb.
Es dauerte etliche Tage, bevor Lethe sich an die Welt gewöhnte, in der er gelandet war. Mittlerweile schickte er seinen Geist mühelos in jede gewünschte Richtung, als wäre er ein eigenständiger Körper. In den ersten Tagen war dies sein größtes Problem gewesen: Sein Leben lang hatte er mit größter Selbstverständlichkeit Impulse an seine Arme ausgesandt, was stets zu den beabsichtigten Bewegungen geführt hatte. Auch jetzt noch erteilte sein Geist unwillkürlich diese Befehle, doch da war kein Körper, da waren weder Arme noch Beine. Er war lahm und blind. Mehrere Male war die Panik in diesen letzten Tagen durch die Oberfläche seines Bewusstseins gedrungen, doch unter Aufbietung seiner gesamten Geisteskraft war es ihm gelungen, seine Todesangst zu bändigen. Langsam aber sicher erinnerte er sich wieder an alles. Das war kein ungetrübtes Vergnügen, doch seine Freude über das wiedergewonnene Erinnerungsvermögen setzte sich schließlich gegen den Schmerz und die stets vorhandene Angst vor seiner Schicksalsbestimmung durch. Nachdem das Wissen ihn überwältigt hatte, war Lethes Geist in einer unüberschaubaren Reihe gleißender, feuchter Gänge gelandet, die untereinander durch Seitengänge verbunden waren. Bis jetzt hatte das Wesen ihn in Ruhe gelassen, auch wenn Lethe sich des Drucks durch dessen Aufmerksamkeit bewusst war. Vielleicht erlaubte es ihm, erst einmal die Umgebung zu erkunden. Das tat Lethe denn auch, doch das System der Gänge war so riesig, dass er sich kein zusammenhängendes Bild von der Gestalt seiner momentanen Welt machen konnte. Am dritten Tag machte er eine Entdeckung, die seine Gedanken vollkommen durcheinander brachte. Er trieb in einen Seitengang. Am Ende dieses Ganges warfen blaue und grüne Lichtpunkte ein wogen193
des Mosaik an die Wand: einen Zugang zu einem anderen Raum. Dieser war dunkler, als Lethe es bisher gewohnt war. Er bewegte sich darauf zu und glitt in einen kuppelförmigen Saal. Die Wand war schwarz poliert, und in der Mitte befand sich ein großes rundes Loch mit einem Durchmesser von ungefähr fünfundzwanzig Metern, das von einem erhöhten Rand umgeben war. Er musste sofort an den Tag im Tunnelsystem von Nardelos Grotte zurückdenken, als er zusammen mit Dotar und Pit eine Kuppel entdeckt hatte. Diese Kuppel war identisch! Gab es einen Zusammenhang zwischen der Welt da oben und dieser? Er wühlte in seinen Erinnerungen. Eigentlich war ihm das gesamte System dieser Gänge von Anfang an bekannt vorgekommen. Der Unterschied war, dass diese Welt lebte, während jene bei Nardelos Grotte ihm eher tot und verlassen erschienen war. Damals hatte ihn Rax, das Schwert, das ihm seine Mutter mit auf die Reise gegeben hatte, vor einer drohenden Gefahr gewarnt. Den Grund dafür hatten sie nicht entdecken können. Er erinnerte sich daran, dass ein ohrenbetäubender Gongschlag ertönt war, und dass an der Wand Runen erschienen waren. Er schaute sich die Wand genau an, doch sie blieb schwarz. Enttäuscht wandte er sich ab und wollte die Kuppel wieder verlassen. »Seid Ihr hier, Lethe?« Die Frage, die wie ein Schwarm transparenter Fischleiber in sein Bewusstsein schwamm, traf ihn völlig unvorbereitet. Er wurde von jemandem angesprochen, der die Kraft besaß! Das konnte nur Pit sein. Lethe machte sich auf die Suche nach einer anderen Präsenz als dem ständig anwesenden Geist, der in diesen Gängen hauste. Für einen Moment flackerte ein Anzeichen für ein intelligentes Wesen am Rande seines Bewusstseins auf, doch in der nächsten Sekunde verschwand es so plötzlich, als wäre es weggezerrt worden. Was blieb, war das unendliche Rauschen der Wasserwelt um ihn her. Lethe fragte sich, ob sein Geist ihm einen Streich gespielt hatte. Hatte er wirklich Pits Stimme gehört? Oder war er das Opfer seiner Einsamkeit geworden, Opfer des Verlangens nach Kontakt mit jenen Menschen, die er liebte: seine Mutter und Myrde, Ervin und Pit. Eine Welle des Selbstmitleids 194
überschwemmte ihn. Er war schrecklich einsam in dieser unbekannten Welt voller Geheimnisse und Mysterien. Jene Präsenz oder jenes Wesen, das ihn von allen Seiten umgab, empfand er als eine unüberwindbare Gefängnismauer. Er war ein Einzelkämpfer, der von einer unüberschaubaren Streitmacht umzingelt war, und nirgends gab es ein Entkommen. Enttäuscht und betrübt glitt er aus der Kuppel, tauchte in einen der endlosen Gänge ein und stöberte in einem verlassenen Teil des Systems herum. Der Tag ging vorüber. Als der Abend das wogende Grün mit Grau bedeckte, zeigte ihm ein seltsames Prickeln in seinem Geist an, dass die Präsenz erneut eindrang. Diesmal vollzog es sich vorsichtiger. Seltsamerweise schuf das Wesen Raum, der auf Lethe wie Befreiung wirkte. »Lethe.« Die Stimme umgab ihn von allen Seiten, durchfuhr ihn wie ein nicht enden wollendes Donnerwetter und rollte durch die Gänge davon. Schon aus diesem einen Wort, seinem Namen, sprach die Größe des Wesens, das sich der Stimme bediente. Lethe wusste, dass er nicht imstande war, eine Antwort zu geben. Die Stimme sprach, Lethe hörte zu. Es erschien ihm durchaus logisch. Soviel ihm bekannt war, war dieses Wesen auch viele Male älter, mächtiger und größer als er. Er übernahm die ihm zugewiesene Rolle, wie er es immer getan hatte. »Lethe, endlich ist es soweit. Wir haben wieder lange auf Euch warten müssen.« Die Stimme bekam einen milden Klang. »Die Werke des Schöpfers sind wunderbar in ihrer Komplexität. Ein unentwirrbares Knäuel verschiedenster Vorgänge. Sie überdauern Jahrtausende um Jahrtausende und behaupten sich inmitten all der Veränderungen. Manchmal drohen Muster ihre Bedeutung zu verlieren, doch dann erscheinen die Nibuüm und bessern das Flechtwerk nach. Und schließlich werden die Werke des Schöpfers klar und rein sein in ihrer ganzen Einfachheit.« Verwirrende Worte. Lethe gelang es nicht, den Aussagen der Stimme einen Sinn zu entnehmen. Er starrte in die Ferne, durch den Gang, 195
der sich endlos vor ihm erstreckte. Sollte dieser Gang auch schon seit Jahrtausenden bestehen? »Wer ist der Schöpfer?«, fragte Lethe heiser. Im nächsten Augenblick tat es ihm Leid. Er hatte ehrerbietig zu schweigen. »Das wird von selbst zur Sprache kommen, mein Lethe«, sagte die Stimme freundlich, aber bestimmt. Dann fuhr sie fort: »Neuntausend Jahre sind vorübergezogen. Ach, wollte die Zeit doch nicht stillstehen.« Ein geistiger Seufzer durchwehte Lethe. Er war nicht in der Lage, eine Frage zu stellen, wenngleich vor allem die letzte Bemerkung eine Lawine von Fragen auslöste. Stillstehende Zeit? Er hatte schon früher jemanden darüber reden hören, doch er hatte vergessen, wer es gewesen sein könnte. »Das erste Wunder ist erneut geschehen. Wieder ist Lethe in die Tiefe hinabgesunken. Wieder ist Lethe zu mir gekommen.« Die Stimme wurde drängender. »Lethe, es geht um Euch, um mich und die Herrin, so wie es in jedem Zyklus gewesen ist. Bevor wir gemeinsam den Kampf aufnehmen, müsst Ihr die höchste Form der Reinheit erlangen. Während des Ritus werden all Eure Erinnerungen zurückkehren. Vielleicht sollte ich besser sagen, unsere Erinnerungen. Und schon bald ist es Zeit für das zweite Wunder. Dann begeben wir uns zur Kuppel von Ayintan. Wir werden uns an den Runen der Ayinti laben.« Ayintan, Ayinti. Am Rand von Lethes Bewusstsein tauchte eine Erinnerung auf. Der Schimmer einer Landschaft von unfassbarer Schönheit berührte seine Gedanken. Eine ewig wogende Welt. Stille und Ruhe bekamen neue Bedeutung; der Frühlingswind trug den Duft frischer Kräuter und süßer Blüten heran. Warme Sonnenstrahlen streichelten ihn, und er drehte sich auf die andere Seite. Im gleichen Moment verflüchtigte sich das Bild. »Was Ihr seht, fühlt, hört, schmeckt und riecht, ist eine Erinnerung aus der Zukunft«, flüsterte die Stimme. Der Gedanke an ein Lächeln strich wie eine kühle Frühlingsbrise an Lethe vorbei. »Nicht wirklich aus der Zukunft. Es gibt zwar einige Wesen, die in die Zukunft schauen könnten, doch zu jenen gehört Ihr nicht …«, ein kurzes Zögern, »soweit 196
ich weiß. Es ist eher eine Erinnerung an eine nahezu endlos wiederholte Vergangenheit. Wir können uns jedoch nicht sicher sein, ob dieser Blick in die Vergangenheit auch ein Blick in die Zukunft ist. Einhundertdreizehn Mal waren Vergangenheit und Zukunft das Gleiche.« Noch mehr rätselhafte Worte, doch Lethe nahm sie in sich auf. Vielleicht würde er ja einmal verstehen, was die Stimme gesagt hatte. Das Wesen schwieg. Zeit rann dahin, das Licht wurde schwächer. »Vor langen Zeiten erschien der Erste«, fuhr die Stimme endlich fort. »Sein Name überstand die Jahrtausende praktisch ungeschoren, denn er hieß Iin Lajte, was genau wie Lethe ›Quell der Vergessenheit‹ bedeutet. In der Parallelwelt der Ayinti, der Götter, bedeutete es jedoch auch ›Strom durch die stillstehende Zeit‹. Sprache ist nicht nur eine Kette von Vereinbarungen unter den Wesen, die es ihnen ermöglichen, Gedanken auszutauschen, es ist auch der Mensch selber, die Menschheit.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Lethe geradeheraus. Erneut wehte das Lächeln durch seinen Geist. »Das versteht Ihr nicht? Das ist komisch, denn nichts ist Eurem Wesen näher, Eurem Schicksal, wenn man so will, als dieses Verständnis. Für Euch sprechen die Leute, bevor sie den Mund aufgemacht haben, Lethe. Bevor sie die Wörter formuliert und zu Sätzen geordnet haben, habt Ihr bereits an ihren Augen, an ihrer Körperhaltung und den Bewegungen ihrer Finger gesehen, was sie denken. In diesem Sinne ist auch das, was Ihr hört, seht, riecht, schmeckt und fühlt, reiner als das, was die Menschen sagen. Denn zwischen ihren Gedanken und dem, was sie sagen, ist eine Schicht, die die Gedanken des Menschen von allem säubert, was ihm schaden oder unwillkommen sein könnte. Und daher gibt es ein Ungleichgewicht zwischen dem, was die Menschen denken und was sie sagen. Der Körper verrät dies, doch kaum jemand ist imstande, diese Signale richtig zu deuten, Ihr seid es. Deshalb wart Ihr so stark beim Spiel des Verstummens, damals, im Helmwald.« Lethe war überrascht, dass das Wesen dies wusste. War es in der Lage, in seinem Gedächtnis zu graben? »Unveränderliche Veränderlichkeit, Lethe. Ich beziehe mein Wissen aus einer endlos wiederholten Vergangenheit.« 197
Lethe verarbeitete auch dies und wartete ab. »Der Schöpfer suchte in seiner Welt, seinem Geist, nach einer Waffe gegen die Magie desjenigen, dessen Name nicht genannt wird«, fuhr das Wesen fort. »Er durchstöberte seine gesamte Welt, entdeckte aber nur, dass es keine Waffe gab. Dann erschien die Herrin und erzählte ihm, ohne dass sie sich bewusst war, dass auch ein Mensch eine Waffe sein könne. Eine tödliche Waffe, weil er die Reinheit besitzt, die Kehrseite der Magie des Düsteren. Reinheit ist dabei von entscheidender Bedeutung. Und seltsamerweise ist diese absolute Reinheit nur möglich, wenn sich das älteste Volk mit Loh vereint und vermischt. Warum das so ist, weiß ich nicht, wissen wir nicht. Wir fragen uns sogar, ob der Schöpfer darüber im Bilde ist. Um Reinheit zu erlangen, benötigen wir vollkommene Vergessenheit. Ihr müsst Euren Geist völlig leeren, von allem befreien. Ihr müsst vergessen können, wer Ihr wart. In menschlichen Vorstellungen gesprochen kommt das dem Prozess des Sterbens gleich.« »Aber was ist denn nun Unmagie?« Lethes Frage gellte ihm verzweifelt in den Ohren. Er war in seinem Innern und außerhalb von sich selbst auf der Suche nach der Bedeutung, der wahren Art von Unmagie gewesen. Manchmal hatte er geglaubt, die Antwort gefunden zu haben, doch immer wieder musste er erkennen, dass die Antwort falsch oder nur ein kleiner Teil der Wahrheit war. »Unmagie.« Die Stimme prüfte, schmeckte das Wort geradezu, bedächtig, als wäre es ganz neu für sie. »Eine eigenartige Bezeichnung für ungefähr das gesamte Spektrum aller Fähigkeiten außer jener Kunst, die in diesem Zeitalter Magie genannt wird.« »Was? Was meint Ihr?« »Lethe, mein Junge, ewiger Strom der Vergessenheit, einhundertvierzehnter Lethe, Träger des Schicksals dieser Welt, Unmagie ist wörtlich genommen alles außer Magie. Ihr seid einzigartig, einmalig, Euer unnachahmlicher Geist ist die Zusammenballung einer Kette von Fähig198
keiten. Und alle diese Kräfte zusammengenommen – das ist Unmagie! Es ist das Erbe eines sehr alten Volkes. Es ist der Geheime Weg, den der Düstere nicht kennt, nicht kennen kann, da er das älteste Volk nie durchschauen oder verstehen konnte. Dazu war es zu rein.« In Lethes Geist wurde es totenstill. Ohne es zu wissen, hatte er das Wesen ausgeschlossen, mit einer achtlosen Geste. Er hatte akzeptiert, dass er etwas Besonderes sein sollte, und er hatte auch sein Schicksal ohne großes Murren hingenommen. Er war im Meer untergegangen und hatte sich in die Tiefe führen lassen; er hatte vieles von dem, was ihm widerfuhr, mit stoischer Ruhe und Gelassenheit über sich ergehen lassen. Doch erst jetzt, da er auf geistiger Ebene mit einem unbegreiflichen Geschöpf sprach, begann er zu verstehen. Er hielt sich die Ereignisse vor Augen, die nach seinem Rauswurf aus dem Instirium sein Leben bestimmt hatten, und kam nach einigem Überlegen zu dem Ergebnis, dass die Stimme die Wahrheit gesagt hatte. Plötzlich bemerkte er, dass er das Wesen ausgeschlossen hatte. Verlegen öffnete er wieder seinen Geist, und das Wesen floss hinein. Es ließ durch nichts erkennen, dass es erschrocken war über die Kraft, mit der Lethe es aus seinen Gedanken geschleudert hatte. »Lethe, Unmagie ist alles außer Magie, das wisst Ihr nun. Aber Unmagie, auch wenn sie eigentlich einen anderen Namen trägt, ist vor allem eine einzige wirklich wichtige Sache. Und dafür brauchen wir einander, wir uns beide – und dazu die Herrin.« »Fahrt fort, jetzt möchte ich alles wissen.« »In früher Zeit, vor mehr als einhundertdreizehn Mal neuntausend Jahren, schuf ein mächtiges Geschöpf, Jaendel genannt, die Voraussetzungen für eine Legende. Er bereitete den Weg für einen Zauberer, der von all jenen, die die Geschichte kennen, noch immer als der Erbe bezeichnet wird. Dieser Zauberer bekämpfte das Böse seiner Welt, das durch Mathathruin schier unüberwindlich gemacht worden war, und er besiegte das Böse. Durch eine komplexe Kombination unterschiedlichster Fähigkeiten und ein sorgfältig konstruiertes Geflecht von Ereignissen hatte er die Möglichkeit geschaffen, in die Zukunft zu schauen. Dadurch erlangte er den Sieg. Er schlug sogar Mathathruin selbst und glaubte eine ganze 199
Weile, ihn getötet zu haben. Doch das Böse lässt sich nur schwer ausrotten. Nach seinem Sieg befasste sich der Zauberer mit den guten, vor allem aber mit den bösen Kräften, die die Welt beherrschten und sah den Zornesausbruch von Mathathruin, dem Düsteren, voraus. Bevor er mit dem ältesten Volk vom Erdboden verschwand, schrieb er die Geheimen Notizen und, zusammen mit dem Dulce Dinser, das Geheime Apodikt. Darin prophezeite er nicht nur die Zukunft, sondern lieferte auch eine mögliche Lösung für eine Überwindung des Düsteren, der viele Male mächtiger ist als das Böse, das der Zauberer besiegt hatte. Die Lösung war im Besitz eines Volkes, das nicht aus Menschen bestand, sondern anderen Wesen. Sie hatten aus ihrem ganz eigenen Blick auf die Welt besondere Kräfte entwickelt. Sie besaßen die Fähigkeit, sich mit den Schatten der Bäume zu verbinden, zu verflechten. Doch sie konnten sich auch mit anderen Wesen verflechten. In unserer Sprache würden wir sagen: Sie waren in der Lage, zu einem gemeinsamen Wesen zu verschmelzen. Die Lösung, die Magie, die diese Wesen nie als Magie bezeichnet haben, hatte damals einen anderen Namen. Sie wurde Fyogre Neri genannt, verfeinerte oder ausgeklügelte Kunst des Geistes, nicht fassbar für die Menschenmagie. Fyogre Neri, der reine Rahmen, der dunkle Magie gefangen hält. Dabei handelt es sich um Wahrheit, Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit, und jeder dieser drei Werte ist eigentlich stärker als jede Magie. Wir nennen es Unmagie. Und Ihr, Sohn der Insel Loh und des ältesten Volkes, Bastardsohn, seid deren Verkörperung.« Die Stimme machte eine Pause. Lethe versuchte, alles zu verarbeiten. Bastardsohn, hallte es in seinem Geist nach. »Es gibt Hinweise«, fuhr die Stimme bedächtig fort, »dass einige der Wesen aus jener Zeit das Geheimnis des ewigen Lebens entschleiert haben. Soviel ich weiß, ist es ein schwieriger und schmerzhafter Prozess, der ihnen nur wenig Freude bereitet. Früher kannte ich jemanden, der sagte: ›Das ewige Leben existiert nicht, denn derjenige, der es in Händen hält, vernichtet es selbst.‹« Lethe schwieg. Während er der Stimme zugehört hatte, war ein Gedanke in ihm aufgekommen. »Spreche ich mit dem Herrn der Tiefe?«, fuhr es ihm heraus. 200
Unglaubliche Stille breitete sich aus. Lethe wusste, dass er eine Frage von größter Bedeutung gestellt hatte. Ein Tag verging, dann zwei. Zunächst zeigte Lethe sich von der Stille verwirrt, doch später verlor sich dieses Gefühl und wandelte sich in Geduld und wachsende Neugier. »Warte auf die Antwort, die der Frage vorausgeht«, flüsterte die Stimme zu Beginn des dritten Tages rätselhaft. »Alles, was ich Euch erzähle, bleibt unter uns. Dies sind die geheimen Spuren, die der Erbe in früher Zeit mit seinem mächtigen Schwert Aerleander, jenem Schwert, das aus fünf magischen Schwertern geschmiedet wurde, in den Boden der Welt gezeichnet hat. Der Erbe, Träger und Sinnbild der Großen Legende, ist unter vielen Namen bekannt. Die Nibuüm, die ihre älteste Geschichte besser kennen als die Hochmeister, die Solitäre oder die Wissenschaftler des Desran, bezeichnen ihn als Jael, De Angele oder Phashkan Dyr, doch in letzter Zeit geben sie ihm einen Namen, der in einer alten Sprache so etwas bedeutet wie der stille Weber. Sie nennen ihn De Argil.« »Dargill? Mein Vater?« Lethes geistige Stimme schrie es heraus. Das Wesen schwieg, gab dem aufziehenden Sturm in Lethes Gedanken Zeit und Raum. Als Lethe sich halbwegs beruhigt hatte, wehte ein langer, schwerer Seufzer durch die Gänge. »Ich bin der Herr der Tiefe«, sagte die Stimme, »ich bin es aber auch nicht.« Lethe wollte zornig herausschreien, dass er kein Bedürfnis nach noch mehr Rätseln habe, doch die Stimme kam ihm zuvor. »Ihr, Lethe, seid der Herr der Tiefe, seid es aber auch nicht.« Die Worte ließen Lethes Gedächtnis aufbrechen. Er spürte, wie das vertraute Gewicht seines Körpers zurückkehrte; die wohltuende Wärme des Blutes durchströmte seinen Körper. Im nächsten Moment fiel er und erlebte das schwindelerregende Gefühl, dass er wie ein Fisch durchs Wasser glitt. Er hörte Scharfblick rufen: »Komm zurück! Es war zu früh!« Er hörte Worte, die wie hinabstürzende Klippen ins Wasser donnerten: »GEHANDYR! DIE AYINTI WÜNSCHEN, DASS IHR ZURÜCKKOMMT!« 201
Er hörte, wie ihn eine andere Stimme fragte: »Warum sträubt Ihr Euch? Ihr seid der Zauberlose. Ihr besitzt Unmagie, die Fähigkeit, Euch mit einem anderen Wesen zu verflechten.« »Ja, Lethe«, ertönte die Stimme in seiner Vision, »Fyogre Neri, Unmagie, ist neben manchen anderen Fähigkeiten, die nichts mit Loher Magie oder anderen Formen der Zauberei zu tun haben, unter den Beteiligten vor allem als die Verflechtung des ältesten Volkes bekannt.« Die Vision endete. Lethe fühlte sich taub und blind. Die Wahrheit hatte in seinen eigenen Gedanken gewartet, und jetzt wusste er es endlich: Er selbst war der Herr der Tiefe, zusammen mit jenem Geschöpf, das in den Gängen dieses Labyrinths wohnte. »Unmagie ist die Verflechtung zweier Wesen.« Das Geschöpf stieß einen langen, tiefen Seufzer aus. »Anschließend verschmelzen wir, und dann ist der Herr der Tiefe wieder zum Leben erweckt. Danach heißt es auf die Herrin warten.« Lethe hatte seine Antwort. Die letzten Worte hatten so simpel geklungen, als wäre das, was geschehen sollte, ein Kinderspiel. Doch Lethe spürte, dass dem nicht so war. »Bereits seit einhundertdreizehn Mal neuntausend Jahren hoffen wir, dass auch Eure andere Hälfte Teil dieser Verschmelzung oder Verflechtung, wie Jaendel es selbst nennt, werden könnte. Dies – und das Auffinden des Verstecks des Düsteren – würden dessen Ende und damit auch das Ende des Zyklus einläuten.« »Meine andere Hälfte?« Lethe war zu erschöpft durch die ständigen Überraschungen, als dass er noch zornig hätte reagieren können. Die letzte Bemerkung hatte ihn erneut an jener Stelle seiner Seele getroffen, an der er seine Schicksalsbestimmung verborgen hatte. Das Blut rauschte in seinem Geist, obwohl er keinen Körper besaß und es weder Blut noch Adern gab. »Ja, Ihr habt eine andere Hälfte«, murmelte die Stimme. »Doch darüber werde ich Euch später mehr erzählen. Wenn die Zeit reif ist.« Lethe stieß einen tiefen geistigen Seufzer aus und fand sich mit dieser Antwort ab. Erst eine ganze Weile später tauchte eine neue Frage in ihm auf. 202
»Wer seid Ihr eigentlich?« Während Lethe dies fragte, wurde ihm klar, dass er die Frage reichlich spät stellte. Er hatte die Stimme in seinem Geist, die überwältigende Anwesenheit des Wesens, als etwas Selbstverständliches betrachtet. In der Rückschau wunderte er sich darüber. Die Kette der Ereignisse während der letzten Tage konnte nicht als normal abgetan werden. Er war Teil einer erstaunlichen Geschichte. Und dennoch hatte er vieles als gegeben akzeptiert, ohne groß darüber nachzudenken. »Wer bin ich? Wer sind wir?« Das Wesen verfiel in tiefes Schweigen. Intuitiv wusste Lethe, dass die nächsten Worte von großer Bedeutung sein würden. Die Stimme meldete sich wieder. »Ich bin der Sohn des Erben, ich bin Lethe. Wir sind einhundertdreizehn Mal Lethe.« Die Antwort traf Lethe wie ein Fausthieb. Er hatte es gewusst! Irgendwo, am Rande seines Bewusstseins, hatte sich dieses Wissen angeboten, und dennoch war Lethes Bestürzung unermesslich. Schmerz traf sein Inneres wie ein soeben aus dem Schmiedefeuer gezogenes Schwert. Unerträgliche Hitze flammte in seinem Verstand auf, und der nicht existierende Körper krümmte sich. »Vorbote des Schmerzes der Verflechtung«, sagte die Stimme. Eine Vision flackerte an Lethes innerem Auge vorbei. Eine Kathedrale von schwindelerregender Größe. Ein Becken, das bis zum Rand mit schwarzem Wasser gefüllt war, rückte in sein Blickfeld. Eine Frau stand am Rand des Beckens und winkte ihm zu. Er kannte sie, auch wenn sie jetzt älter, erwachsener wirkte. »Gyndwane«, flüsterte er. Sie zeigte zu einem schmalen Fenster im Dachgewölbe der Kathedrale hinauf, hinter dem eine pechschwarze Nacht schimmerte. Die Vision löste sich auf. »Lethe, Paladinmeister.« Die Stimme war näher denn je, intim, dicht an jener Stelle seines Geistes, die ganz allein ihm gehörte. »Niemand wird vernehmen, was hier gesagt wurde.« Das Wesen ließ ihn allein, trieb von ihm weg, rückwärts, in Gänge 203
und Galerien hinein, in denen Lethe nie gewesen war und die er nie kennen lernen wollte.
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25 Die Spieler »Die Welt ist an Euch vorübergeglitten! Alles unterliegt der Veränderung. Selbst was auf ewige Zeiten eingeschmolzen zu sein scheint, entgeht nicht jener Metamorphose, die die Natur bewerkstelligt. Schließlich ist die Natur selbst nichts anderes als eine immerwährende Verwandlung und zugleich eine Konstante. Die Zyklen stehen fest, doch ihre Form ist jedes Mal unterschiedlich. Unveränderliche Veränderlichkeit. Dies ist das Gesetz der Ayinti. An Euch aber ist die Welt vorübergeglitten. Ihr habt versäumt, die Natur zu betrachten und zu beachten. Ihr habt versäumt, ihre Gesetzmäßigkeiten zu untersuchen und deren Bedeutung zu ergründen. Ihr wart zu nachlässig, um das Leben als eine Fußspur, einen Abdruck im Sandstrand von Katzinsel oder Loh zu sehen. Nein, Ihr glaubtet, dass Eure schwankende Schöpfung, Euer mit selbst erdachten Werten ausgestatteter Stillstand die ewige Wahrheit beinhalte. Dass Eure Fußstapfen sich nicht verwischen ließen, dass sie selbst der großen Flut widerstehen würden. Aber was ist schon ewig? Und was ist Wahrheit? Die Welt ist an Euch vorübergeglitten. Und doch habt Ihr Euch über all die Jahrtausende hinweg zu behaupten verstanden. Das ist eine Schande, für die ich keine Worte finde. Eure Entscheidungen sind nie logisch, selten an menschlichen Werten ausgerichtet. Ihr habt Euch einen Dreck um die Regularien geschert, wenn es Euch gerade persönlich in den Kram passte. Ihr habt Eure Missetaten verübt, ohne bestraft zu werden. Ihr habt uns durch Eure Taten glauben lassen, Ihr wäret den Göttern gleich, und dabei seid Ihr geringer als der Mensch. 205
Ihr glaubtet das Reich zu sein, und dabei wart Ihr das Geringste des Reiches. Ihr glaubtet diese Welt zu verkörpern, und dabei verkörpert diese Welt nur sich selbst. Ihr glaubtet wichtig zu sein, doch die Zeit kehrt sogar Eure Macht unter den Teppich der Ewigkeit, auch wenn es viele Zeitalter gedauert hat, bis es so weit war. Die Welt ist an Euch vorübergeglitten, all Euren gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz. Und einmal wird der Tag kommen, an dem die Wahrheit, die ganze Wahrheit über Euren Selbstbetrug Euch einholen wird. Bis zu jenem Tag aber bleibt es eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass Ihr noch so viel unerwünschtes Leiden verursachen könnt.« – Aus ›Die Wahrheit ist eine Lüge‹, dem berühmten Offenen Brief von Elondar dem Weißen an den Pakt der Zehn Der Ort ähnelte jenem, an dem Randoëls beide Stimmen von Zeit zu Zeit ihre kurzen Gespräche führten. Im weiten Umkreis gab es keinen Berg, und von Wäldern konnte keine Rede sein. Auch für Fluss oder See war kein Platz vorhanden. Einer derjenigen, die einmal hier gewesen waren, beschrieb diesen Ort als eine Welt, die aus Düften und Sphären zusammengesetzt sei. Hier hielten sich auch keine gewöhnlichen Sterblichen auf. Doch selbst die Wesen, die diesen Ort aufzusuchen pflegten, hatten sich im Laufe der letzten Jahrtausende nur selten blicken lassen. Die wenigen, die diesen Ort nutzten, nannten ihn meist ›die Welt zwischen Welten‹, obwohl er auch unter mindestens einem Dutzend anderer Namen bekannt war. Es war lange her, dass sich hier jemand gezeigt hatte, doch nun meldete sich unerwartet eine Präsenz. Es handelte sich um einen Spieler des Pakts der Zehn. Hier trafen sich die Spieler, beziehungsweise deren ätherische Körper, in Notfällen. Mit seinem Erscheinen in der ›Welt zwischen Welten‹ machte der 206
Spieler deutlich, dass die unverzügliche Anwesenheit der anderen erwünscht war. Schon bald erschienen sieben Spieler bei ihm. Sie hatten sich die Gestalt großer Vögel gegeben, wie man sie in Romander noch nie gesehen hatte, bis hin zu drachenähnlichen Geschöpfen. Zwei unter ihnen, der Dulce und die Herrin des ältesten Volkes, traten in ihrer gebräuchlichsten Gestalt auf. »Warum habt Ihr uns gerufen, Reyus?«, fragte Aernold aus Sey Hirin nach einer unbestimmten Zeit des Wartens den Spieler, der als Erster erschienenen war. »Acht Spieler haben auf meinen Ruf reagiert«, flüsterte der Angesprochene, der sich in die Gestalt eines Vogels hüllte. Für die anderen Spieler war dies ein historischer Augenblick. Nie zuvor hatten sie die Stimme des unbekannten Mitspielers hören dürfen, den sie Reyus nannten. Einzig Aernold kannte ihn auch noch unter einem anderen Namen: Eyvram. »Und?« »S'oncenrun ist tot.« Die Stille, die diesen Worten folgte, hing wie eine kalte Wolke über ihnen. Sogar der Dulce, gemeinhin ein Muster an Gleichmut, schaute den ersten Sprecher mit großen Augen an. »Tot?« Die raspelnde Stimme des Vertreters des Düsteren durchbrach das lange Schweigen, das von Unglauben und einer Fassungslosigkeit erfüllt war, wie es bei den Spielern nur selten vorkam. »S'oncenrun ist tot?«, empörte sich auch die Rabenfrau, die Mearigain genannt wurde. »Das können nur die Ayinti getan haben. Sie stehen als Einzige außerhalb der Regularien.« »Oder einer der anderen Spieler«, widersprach der erste Sprecher. »Wie Ihr wissen solltet, besagen die Regularien nichts über das Töten eines Spielers, weder durch die Ayinti, noch durch einen anderen Spieler oder sonst jemanden.« Nach einer kurzen Pause setzte er flüsternd hinzu: »In den Regularien findet sich daher auch nichts über Strafen.« Wieder gesellte sich die kalte Stille wie ein neunter Spieler zu ihnen. 207
»Wo ist die Vogelfrau?«, fragte der erste Sprecher langsam. »Wollt Ihr behaupten, die Vogelfrau habe S'oncenrun getötet?«, fragte die Rabenfrau. »Möglich. War sie je eine vollwertige Spielerin? War sie eine von uns?« »Eine von uns?«, wiederholte der Vertreter des Düsteren sarkastisch. »Mein Meister ist wohl kaum Teil von irgendetwas oder irgendwem. Er gehört einzig und allein sich selbst.« Der Spieler, den man den ›Unbekannten‹ nannte, drehte sich bedächtig zum Gefolgsmann des Düsteren um. Seine Geiststimme war leise und heiser. »Der Pakt ist gestorben. Zusammen mit S'oncenrun. Ich bezweifle, dass dies auf das Konto der Ayinti geht. Dann hätte Imfarse uns doch wohl darüber informiert. Aber Imfarse schweigt, denn auch er wusste nichts über diese perverse Tat.« »So wie die meisten Taten der Spieler pervers sind«, flüsterte der Vertreter des ältesten Volkes. Reyus überhörte die Bemerkung. »Die neue Zeit bricht an«, fuhr er fort. »Eigentlich ist sie schon lange angebrochen, doch die Spieler wollen es noch immer nicht wahrhaben. Diese Tat ist der Auftakt zur Auflösung des Pakts. Hat die Vogelfrau es getan? War noch ein anderer Spieler daran beteiligt? Diese Fragen sind von untergeordneter Bedeutung. Irgendwann musste dergleichen ja geschehen. Seit Jahrtausenden schon leben wir an der Schwelle zur Neuen Zeit. In diesen Tagen ist kein Platz mehr für das älteste Volk. Das wussten wir bereits, auch wenn es für Aysilendil schmerzlich ist.« Sein Geist ließ eine Pause entstehen, um dem Vertreter des ältesten Volkes Gelegenheit zur Antwort zu bieten. Doch dieser schwieg, und so setzte Reyus hinzu: »Aber auch unsere Tage sind vorüber.« »Der weiße Zauberer wusste es«, bestätigte Imfarse mit flacher Stimme. »Er schrieb es bereits …« »Unsere Zeit vorüber?«, fuhr der Vertreter des Düsteren Imfarse wütend über den Mund. »Das ist völliger Unsinn! Das würde ja bedeuten, dass auch der Zyklus zu Ende geht!« 208
Reyus antwortete nicht, niemand antwortete. Man ließ eine Decke des Schweigens herabsinken, die genügend Raum für eigene Schlussfolgerungen bot. »Glaubt ihr … glaubt ihr etwa …«, begann der Vertreter des Düsteren verwirrt. »Ich glaube, dass Reyus Recht hat«, meldete sich Aernold. »Unsere Zeit ist seit langem abgelaufen, doch erst wenn der Zyklus beendet ist, wird formell vollbracht sein, was Elondar der Weiße voraussagte.« »Und worüber wir herzhaft gelacht haben«, ergänzte die schwere Stimme von Iarmongud'hn. »Elondar«, überlegte Reyus mit leichter Ironie in der Stimme. »Habt Ihr nicht mal mit ihm zu tun gehabt, Aernold?« »Ja und nein«, sagte der Dulce freundlich. »Es ist Teil meines Spiels, und dieses Spiel ist noch nicht zu Ende.« »Immer diese Nebensächlichkeiten!«, brummte der Vertreter des Düsteren ärgerlich. »Wir sind hier, weil es um lebenswichtige Fragen geht, und auf die sollten wir uns beschränken.« Die Rabenfrau reagierte. »Zum Beispiel, welche Bedeutung hat der Tod von S'oncenrun?« »Eine gute Frage«, sagte Reyus nachdenklich. »Wahrscheinlich bedeutet es, dass die Vogelfrau, wenn sie es denn wirklich war, unsere ungeschriebenen Gesetze mit Füßen getreten hat.« »So wie wir alle es hin und wieder tun«, sagte Aernold zynisch. »Aber keiner von uns hat einem anderen nach dem Leben getrachtet, geschweige denn ihn oder sie umgebracht«, sagte die Rabenfrau. Erneut trat langes Schweigen ein. »Wo ist es geschehen?«, fragte der Vertreter des Düsteren ängstlich. »S'oncenrun verfolgte die Gefährten des Zauberlosen«, antwortete Reyus direkt, als habe er nur auf die Frage gewartet. »Soviel ich weiß, hatte er es auf das Mädchen abgesehen. Es ist schließlich …« »Das Mädchen?«, blökte der Vertreter des Düsteren ungläubig dazwischen. »Das Mädchen, das Pit genannt wird, und das bei seiner Geburt den Namen Llimyntera Aeslid erhielt? Was ist an dem so Besonderes?« 209
»Das wiederum ist Teil meines Spiels«, flüsterte eine Frauenstimme. Es war die Herrin des ältesten Volkes, Aysilendil. »Darüber werden wir also schweigen.« Sie wandte sich direkt an den Vertreter des Düsteren. »Das gilt ganz besonders für Euch. Der Düstere wird nichts über dieses Mädchen erfahren. Da ich Euch nicht traue, lege ich hier und jetzt das Runenschloss von Behemergroth auf Eure Lippen.« Sie murmelte machtvolle Worte, die in der Luft zu Eis erstarrten. Ein stumpfes Knirschen hallte durch die Welt zwischen Welten. Der Vertreter des Düsteren starrte Aysilendil mit funkelnden Drachenaugen an. Dampf und Rauch stiegen aus seinem glimmenden Leib empor, ein Zeichen schwelender Wut. Er schien nicht sprechen zu können. Die Spieler zeigten ihre Fähigkeiten selten, und Aysilendil hatte nie zuvor Gebrauch davon gemacht. Jedem Spieler war klar, dass sie es jetzt getan hatte, weil ihr Spiel rund um Pit von großer Bedeutung für sie war. »Das Ergebnis«, sagte Reyus schließlich. »Ich komme zu dem Ergebnis, dass S'oncenrun tot ist, und dass die Vogelfrau sich nicht gemeldet hat«, sagte Gehandyr, der bis dahin geschwiegen hatte. »Wahrscheinlich hat sie diese Tat begangen. Ich verfüge jedoch über Hinweise, dass auch ein anderer Spieler in diese Sache verwickelt ist. Dieser Spieler ist einer von uns. Wie auch immer, der Pakt der Zehn besteht nicht mehr. Hier sind acht Spieler versammelt. Sie wissen, dass ihre jahrtausendelangen Beeinflussungen keinen Zweck mehr haben. Einige Spielelemente haben noch eine Bedeutung, wie die von Aysilendil und Aernold. Ich bleibe vorläufig hier, auf Romander, denn auch ich habe mein Schicksal mit dem des Zauberlosen verknüpft. Schließlich ist es nicht sicher, dass der Zyklus so abläuft, wie wir – jedenfalls die meisten von uns – es wünschen.« »Und bei all dem ist das Spiel meines Herrn unvermeidlich von großer Bedeutung«, brummte der Vertreter des Düsteren, »wie immer.« »Möglich«, sagte Reyus freundlich, »doch ich stelle fest, dass der hinter uns liegende Tag von Welden Taylerch, der einhundertvierzehnte im Neuntausendjahreszyklus, der letzte war. Wir sind dazu verdammt, einsame Spieler zu werden, wie die schwarze Herrin mit ihren uner210
gründlichen Taten. Den Pakt gibt es nicht mehr, wie Gehandyr schon sagte. Jeder geht seines Weges und sorgt auf eigene Weise für seinen Ruf.« Zustimmendes Schweigen. Schließlich war alles gesagt. Einer nach dem anderen verließen die Spieler den Raum. Mit dem Tod von S'oncenrun, den man in Romander als Ratsherr Danker gekannt hatte, war der Pakt der Zehn endgültig der Vergessenheit übereignet, wie der Rauch einer gelöschten Kerze, der sich in die Allumfassendheit des Himmels begibt.
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26 Die Belagerung von Romander-Stadt »Sie war schlau, sie war die unbestrittene Meisterin der Irreführung. Ihre Gegner durften sich keinen Moment sicher fühlen, denn sie wussten, dass praktisch nichts von dem, was sie sagte, der Wahrheit entsprach. Und wenig von dem, was zu sehen oder zu hören war, geschah wirklich.« – Aus ›Die schwarze Frau‹, von Redeker aus Hangweg Der Morgen entfaltete seinen Glanz in dem Maße, wie die Sonne sich vom Horizont löste und goldene Strahlen auf Romander-Stadt warf. Wie ein Regiment schwer bewaffneter Reiter lagen die Schiffe der Engel des Antas auf Reede, im Rücken unterstützt von einer dichten Wolkenbank mit der Farbe von Mangit aus den Bergwerken von West-Gyt. Marten und Grend bestiegen die oberste der fünf Zinnen der alten Festungsmauer, die seit Menschengedenken ausschließlich das Meer vor sich gesehen hatte. Die weiße Festungsmauer war eine der beeindruckendsten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Sie überragte die Kaimauer um fünfundsechzig Meter und war aus großen polierten Halbmangitblöcken erbaut. Die stabilen, aus unverwüstlichem Mangitholz errichteten Zinnen hingen wie Balkone von unglaublichen Ausmaßen an den meterdicken Mauern und wurden von kunstvollen Statuen gestützt, die aus der Geschichte Romanders erzählten, und von denen jede fünf Meter dick war. Vom Meer aus sah die Festungsmauer wie ein kilometerbreites Fort aus. Uneinnehmbar – dieses Wort musste die Gedanken jedes Angrei212
fers beherrschen. Sollte es dem Feind gelingen, die ersten Zinnen zu erobern, zehn Meter oberhalb des Kais, warteten noch vier weitere, fast senkrecht darüber liegende Anlagen auf ihn. Doch seit Jahrtausenden hatte sich kein Feind mehr gezeigt, und so waren Teile der Mauern von Moos und Unkraut überwuchert und mancherorts auch in Verfall geraten. An einer Stelle war die Mauer kurz nach dem Bau des Kristallturms sogar abgerissen worden, um der Treppengalerie von Valk Eander Platz zu machen, einem Bauwerk, das im gesamten Reich Berühmtheit erlangt hatte. Über die dahinter langsam ansteigende Mardaäk Esplanade, an der die kaiserlichen Stallungen lagen, stand die Galerie in direkter Verbindung mit der Straße der Siebenhundert Schritte. Die Esplanade wurde über ihre gesamte Länge von fünfzig Meter hohen Standbildern aus dunkelgrauem Halbmangit flankiert, den Statuen sämtlicher Desrane. Bei weitem nicht alle Inschriften auf den Sockeln der Monumente waren noch lesbar, und die Köpfe von fünf Desranen, deren Namen längst im Nebel der Vergessenheit versunken waren, lagen neben dem Sockel. Sie waren stille Zeugen der Unruhen vor mehr als zweitausend Jahren, als Antas Tod und Verderben über die Stadt und das Inselreich gebracht hatte. Über eine Breite von hundert Metern führten die Treppen zum Wasser hinunter. Dort streckte sich – auf dem wie ein halbrunder Balkon ins Meer ragenden Lymionplatz, der von Seidenbäumen und Jasminsträuchern gesäumt wurde – das Standbild des ersten Desran hundertfünfzig Meter hoch. Dessen mit mannshohen Buchstaben in den Marmorsockel gemeißelter Name würde nie der Vergessenheit anheimfallen: Iargenis Hainer Lymion. Grend sog den muffigen Gestank des alten Gesteins ein, der sich mit dem Geruch von Salz und Teer vermischte, ein wenig abgemildert durch einen süßen Hauch Jasmin. Die unabsehbare Reihe von Barken, Galeeren, Schonern, Karavellen und Flachschiffen verwandelte den Horizont in eine mit Zähnen bewehrte Silhouette. Grend warf einen Blick auf die Wolken, die schwer über den Schiffen hingen. »Es wird schneien«, sagte er zu Marten. »Was glaubt Ihr, ist das eher ein Vorteil für uns?« 213
Marten zuckte mit den Achseln. Veder erschien. Er überragte die beiden um mehr als eine Haupteslänge. »Wo, in des Schöpfers Namen, kommt unser Feind so plötzlich her?«, fragte er leise und kratzte sich das bärtige Kinn. »Vor einer Woche gab es noch nicht mal einen Feind.« Marten antwortete mit einem grimmigen Zug um die Lippen: »Oh doch, Veder. Dieser Feind besaß sogar Namen und Gesichter: Edelfrau Isper, wahrscheinlich Ratsherr Danker, Edelfrau Hylmedera, möglicherweise auch Ratsherr Tardel und noch etliche andere Namen, die wir nicht kennen. Noch nicht. Es wird gemunkelt, an dieser Verschwörung gegen das Reich seien sämtliche Mächte beteiligt. Das Gerücht, ein Hochmeister aus Loh und einer der führenden Solitäre befänden sich unter den Verschwörern, macht hartnäckig die Runde. Sie alle sind dafür verantwortlich, dass nun helle Aufregung herrscht. Wahrscheinlich haben wir es ihnen zu verdanken, dass die Stadt belagert wird und das Reich in seinen Fundamenten wankt. Indem sie sich der Angst vor farbloser Magie bedienten, haben sie Romander ins Verderben gestürzt. Falls ich die Gelegenheit bekomme, werde ich sie zur Verantwortung ziehen!« »Und trotzdem«, brummte Veder. »Woher kommt denn nun dieser Feind da hinten auf dem Meer?« Marten überging die Frage. Lässig sprang er auf eine der Zinnen und wies nach Westen. »Auf dieser Seite sind viele kleine Karavellen«, sagte er und beschrieb mit dem Arm einen Halbkreis vor der Schiffsarmada. »Die Schoner und großen Galeeren befinden sich in der Richtung Feld, die Flachschiffe liegen davor. Man könnte annehmen, dass sie dort eine Landung vorbereiten.« Er rieb sich nachdenklich das Kinn. »Das ist eigenartig.« Warum das eigenartig sein sollte, sagte er nicht. Eine Zeit lang starrte er noch auf die Mauer aus Schiffen. Dann drehte er sich um, sprang von der Zinne herunter und rief einen seiner Nayarener Leutnants herbei. »Chilver, die halbe Mannschaft im Westen zusammenziehen. Passt 214
auf, dass Ihr von den Ausgucken und Krähennestern der Schoner aus nicht gesehen werden könnt. Sammelt alle Freiwilligen hinter der Front und teilt die Schilde, Schwerter und Lanzen aus der zweiten Waffenkammer aus. Nehmt Bogen für alle mit, die damit umgehen können. Überlasst die Treppengalerie ruhig mir. Und wartet, bis ich ein Feuerzeichen gebe.« Der Leutnant nickte und eilte davon, um Martens Befehle auszuführen. Marten rief einen zweiten Leutnant zu sich und erteilte ihm den Auftrag, sich mit einer großen Gruppe von Freiwilligen und einigen Gardisten deutlich sichtbar nach Osten zu bewegen, in die Richtung von Feld. »Lasst sie so geordnet wie möglich marschieren«, legte er dem Leutnant ans Herz. »Die Angreifer müssen fest davon überzeugt sein, dass unsere Hauptstreitmacht sich nach Osten begibt. Und schickt Ugerdin mit mindestens zwanzig Kalktauben zu mir.« Grend aus Pier hatte sich neben den Kapitän gestellt. »Warum diese Truppenbewegungen, Marten?« »Aus mehreren Gründen, Grend. Vor allem aber will ich Zeit gewinnen. Solange bei uns Bewegungen im Gange sind, beobachtet der Feind und wartet ab – hoffe ich jedenfalls. Ich habe Reiter nach Feld und in die Kleinstädte und Dörfer rund um Romander-Stadt geschickt. Wir benötigen dringend zusätzliche Leute.« Er lief weiter und zeigte zu den feindlichen Schiffen hinüber. »Habt Ihr gesehen, zu wie vielen die da sind? Was glaubt Ihr? Schätzt mal.« Grend kratzte sich am Kinn und ließ seinen Blick noch einmal über die Mauer aus Schiffen gleiten. »Ich sehe mehr als zweihundert Schiffe. Auf jedem befinden sich durchschnittlich etwa hundert Mann, insgesamt also ungefähr zwanzigtausend, wahrscheinlich mehr, denn auch die Ruderer der Galeeren können als Kämpfer eingesetzt werden. Wenn sie alle so gut organisiert sind, werden sie wohl auch entsprechend gut bewaffnet sein. Und dabei habe ich noch nicht die magischen Kräfte der Frau berück215
sichtigt. Wobei wir nur hoffen können, dass sie die einzige Magierin ist. Mehr weiß ich nicht, denn auch für mich sind die Engel des Antas ein Mysterium.« »An der ganzen Sache ist etwas äußerst ungewöhnlich«, sagte Marten leise und nachdenklich. Er begann an den Zinnen auf und ab zu schreiten, die Hände auf dem Rücken. Grend und Veder gingen hinter ihm her. »Die Frau kommt zu uns und warnt uns …« »… aber warum hat sie die verteidigungslose Stadt nicht direkt angegriffen und eingenommen?«, vervollständigte Grend den Satz. Marten schaute mit zufriedener Miene zur Seite. »Genau. Warum wartet sie, bis wir uns einigermaßen organisiert haben? Vielleicht wollte sie nicht das Risiko eingehen, in der Abenddämmerung unbekanntes Terrain zu betreten, doch das bezweifle ich. Dann hätte ihre Flotte auch erst im Laufe des heutigen Morgens vor Romander-Stadt aufkreuzen können. Je länger sie warten, desto schwieriger wird die Aufgabe für die Engel des Antas. Nachdem wir jetzt organisiert sind, brauchen wir sie nur vom Kai oder der Festungsmauer zu werfen und dafür zu sorgen, dass die Treppengalerie nicht gestürmt wird. Das ist nicht allzu schwierig. Ein Angriff wird sie erheblich mehr Leben kosten als uns.« Er machte eine kurze Pause und schaute Grend erneut nachdenklich an. »Es sei denn …« Veder schüttelte verständnislos den Kopf, doch auf Grends Gesicht zeichnete sich ein erster Hauch der Verwunderung ab, gefolgt von plötzlichem Begreifen. Er blieb so abrupt stehen, dass Veder gegen ihn lief. »Es sei denn, der Angriff findet gar nicht hier statt!«, rief er. »Mit Eurem Hirn scheint alles in Ordnung zu sein, Grend aus Pier«, sagte Marten. Er blieb ebenfalls stehen und lehnte sich zwischen zwei Zinnen hindurch nach vorn. »Ich fürchte, dass Grend auf der richtigen Spur ist, Veder«, sagte er, halb in Gedanken, und starrte auf die äußerste westliche Flanke der 216
Schiffsarmada. »Ich sehe es so: Wir haben den Palast verlassen und konzentrieren unser Augenmerk einzig auf die Seeseite, weil wir damit rechnen, dass der Angriff von dort kommt. Schließlich liegen dort sämtliche Schiffe. Wo sind wir in diesem Moment am verwundbarsten? Und auf welche Art und Weise kann man Romander-Stadt jetzt am einfachsten überrumpeln und den praktisch verlassenen Palast erobern?« Marten ließ seine Stimme zu einem Flüstern herabsinken und näherte sich dem Gesicht von Grend aus Pier bis auf wenige Zentimeter. »Wir sehen hier zweihundert Schiffe. Aber wer sagt mir denn, dass das alle sind? Wer sagt mir, dass die Frau nicht noch mehr Schiffe in den Häfen der Marvin-Inseln, auf Dersden und Ostander, hat auftreiben können?« Jetzt schien auch Veder zu verstehen. Grend presste die Lippen aufeinander. »Es ist nicht allzu schwierig, im Golf von Handergang, in der Bucht von Westbeil oder an der flachen Felsenküste südlich von Feld an Land zu gehen«, fuhr Marten fort. »Binnen eines halben Tages könnten wir vollständig eingeschlossen werden.« Grend ballte die rechte Faust. »Der Pessimist würde sagen: Dann sind wir aufgeschmissen.« Sie wurden von der Ankunft des Vogelmeisters Ugerdin unterbrochen. Der große, hagere Mann zog einen Wagen mit Käfigen voller Kalktauben hinter sich her. Die Vögel gurrten unruhig, als wüssten sie, dass sie in Kürze auf die Reise geschickt werden sollten. »Papier und Schreibfeder«, befahl Marten hastig. Ugerdin händigte ihm kleine Papierrollen von der Größe eines Taubenfußes und eine Schreibfeder aus. Rasch kritzelte der Kapitän ungefähr zwanzig Nachrichten auf die Papierrollen und reichte sie Ugerdin, der sie in die winzigen Behälter stopfte. Dann flüsterte Marten dem Vogelmeister etwas ins Ohr, woraufhin dieser sich von ihnen entfernte und die geflügelten Nachrichtenboten in einiger Entfernung in die Luft aufsteigen ließ. Vorher aber hatte auch er den Tauben etwas ins Ohr geflüstert. Hinter dem Vogelmeister erschienen die ersten Einwohner von Ro217
mander-Stadt, die sich mit eigenen Augen vergewissern wollten, ob die Gerüchte über die fremde Flotte der Wirklichkeit entsprachen. Es war eine Mauer bleicher Gesichter in den unterschiedlichsten Stadien von Fassungslosigkeit und Angst. Marten wandte sich an Grend. »Welchen Ort würdet Ihr für die Landung wählen, wenn Ihr Antas wärt?« Grend spitzte die Lippen und kratzte sich am Hinterkopf. »Die Bucht von Beilgang«, sagte er schließlich, »weil dort niemand wohnt, und weil Romander-Stadt hinter dem Engpass praktisch nach vielen Seiten hin offen vor ihnen liegt. Von der Anhöhe von Yndak aus können sie jedes Stadttor unter Beschuss nehmen, mit Ausnahme des Osttors in Richtung Feld.« »Ihr habt schon wieder Recht, glaube ich. Doch wenn dem so ist, müssen sie unweigerlich durch den Engpass von Halderstafel zur Anhöhe von Yndak.« Sie schauten sich an. »Der Engpass«, brummte Grend. »Genau. Wir dürfen keine Zeit verlieren.« Marten winkte den nächstbesten Gardisten heran. »Grend, Veder, Ihr bekommt sechzig …«, er zögerte und verbesserte sich dann, »nein, achtzig meiner besten Gardisten zu Pferde mit. Ihr werdet mit den besten Schilden und Schwertern ausgerüstet. Nehmt Eure eigenen Kutschpferde, es sind auch gute Reittiere. Und nehmt ein paar Kalktauben mit. Schickt eine Nachricht, sobald es wichtig erscheint. Durch den Engpass kommen höchstens fünf Mann auf einmal. Achtzig Mann müssten sich dort gegen die Engel des Antas einen Tag, vielleicht sogar zwei Tage lang halten können. Natürlich können die Engel sich wieder zurückziehen, können weitersegeln und am Strand des Golfs von Handergang an Land gehen, aber das würde sie mindestens anderthalb Tage kosten.« »Und wir würden es beobachten und entsprechende neue Pläne schmieden können«, ergänzte Grend. Das Feuer der Begeisterung und Erregung angesichts des bevorstehenden Kampfes loderte in seinen Augen auf. 218
»Gut«, fuhr Grend fort. »Wir haben also durchaus noch Chancen. Und wir sind uns einig, dass dies die beste denkbare Art der Verteidigung ist. Was aber, wenn auch Antas dort ist?« »Hoffentlich nicht, sonst stehen wir wirklich auf verlorenem Posten«, grummelte Marten. »Früher oder später wird die Frau dort bestimmt aufkreuzen, wenn deutlich wird, dass es ihren Engeln nicht gelingt, die Stadt zu erreichen. Was sollen wir dann unternehmen?« »Zeit«, sagte Marten verdrießlich, »wir brauchen mehr Zeit. Ich habe Nachrichten in alle Himmelsrichtungen und sämtliche Winkel des Reiches geschickt, auch an die Hochmeister. Wir können nur zum Herrn der Tiefe beten, dass einer von ihnen früh genug hier erscheint und den Kampf mit der Frau auf sich nimmt.« »Ich habe meine Zweifel, dass einer der Hochmeister gegen diese Frau bestehen kann«, warf Veder mürrisch ein. »Ihr solltet die Loher Magie auf keinen Fall unterschätzen, mein Bester«, sagte Grend. »Ein bisschen mehr Respekt gegenüber unseren Hochmeistern, wenn ich bitten darf. Und etwas mehr Optimismus würde Euch vielleicht auch ganz gut zu Gesichte stehen.« Marten winkte ungeduldig. »Los, macht endlich, dass Ihr wegkommt! Das Schicksal von Romander-Stadt und des ganzen Reiches liegt in Euren Händen.« Schweigend umarmten Grend und Veder ihren Kapitän, im vollen Bewusstsein, dass sie einander vielleicht nicht mehr wiedersehen würden. Als sie sich umdrehten und schnellen Schrittes zu ihren Pferden eilten, taumelten die ersten Schneeflocken aus einer dichten grauen Wolkendecke zur Erde. Marten starrte ihnen hinterher. Ein ganzes Bündel an Gedanken, vor allem unheilvoller Natur, lastete auf seinem Geist. Er sah, wie ein großer Rabe, schwarz wie eine sternlose Nacht, hinter Grend, Veder und den Gardisten herflatterte. »Oh weh, der Mearigain aus den Legenden lässt sich blicken«, flüsterte er vor sich hin. »Auf den Schlachtfeldern wird das Blut fließen.« Er drehte sich um und erteilte neue Befehle. 219
27 Auf Sturmburg »Der Tod ist eine Schlange, die von Schatten zu Schatten gleitet. Er kommt wie ein Dieb in der Nacht. Als einziges Licht erträgt er den Widerschein des Mondes. Doch wenn die Sonne direkt hinter dem Horizont dem, Morgen entgegenklettert, erheben sich die geflügelten Herolde der Morgenröte in die Lüfte, um die Rettung der Welt aus den Klauen der Nacht zu besingen.« – Aus ›Ein Wort ist ein Zauberwort; Poetische Gedanken und philosophische Betrachtungen‹, von Planxius Hort aus Klein-Marwin Tag und Nacht wechselten sich in träger Folge auf Sturmburg ab. Eine Horde wilder Winterstürme jagte einer nach dem anderen über die Festung hinweg und rüttelte wütend, jedoch vergeblich an Mauern, Giebeln und Zinnen. Danach fiel tagelang feiner Schnee wie Götterpuder aus einem marmorgrauen Himmel. Wyl war es gelungen, einige weichere Steinbrocken aus der beschädigten Nut der Kerkertür herauszubrechen. Damit konnte er an der Mauer eine Strichliste für jene Tage führen, die er auf Sturmburg festsaß. Und dann hatte er sich daran gemacht, neben dieser Liste von nunmehr vierunddreißig Tagen Aufzeichnungen zu machen. Seine gesamten Kenntnisse der Geschichte des Reiches, alle Vorgänge im Zusammenhang mit farbloser Magie versuchte er auf eine Weise zu ordnen, dass er einen besseren Überblick gewinnen konnte. Am frühen Vormittag dieses vierunddreißigsten Tages seiner Gefangenschaft landete vor dem schmalen Fenster, das die einzige Aussicht 220
auf die Welt außerhalb der Mauern bot, eine Kalktaube. An einem Fuß des Vogels war ein kleiner Köcher befestigt. Wyl sprang auf. Die Erregung ließ das Blut in seinen Adern pochen. Er zögerte keinen Moment, griff nach einem Stück Brennholz und schleuderte es mit einem gezielten Wurf in das Fenster, sodass es zu Bruch ging. Die Taube flatterte erschrocken davon, kam jedoch nach kurzer Zeit zurück, flog durch das Loch herein und setzte sich auf Wyls Schulter. Es war die Nachricht von Marten aus Yr Dant. Wyl las, dass der Kapitän um Hilfe bat, da eine Magierin mit ihren Engeln des Antas auf der Reede von Romander-Stadt erschienen sei. Wyl suchte nach einem kleinen Stückchen Holzkohle und konnte mit etwas Mühe und einigermaßen leserlich auf die Rückseite des Papiers kritzeln: »Hilfe! Hochmeister Wyl gefangen. Kerker Sturmburg. Magie abhanden. Karn ist der Verräter!« Er stopfte die Nachricht in den Köcher und gab der Taube eine Hand voll Brotkrümel zu essen. Danach setzte er das Tier auf seinen Handrücken und flüsterte ihm zu: »Zurück nach Romander-Stadt zu Meister Ugerdin. Und beeil dich! Vaere cuim vaenle.« Die Taube hüpfte von Wyls Hand, flatterte ein paar Runden durch das Kerkerverlies und verschwand dann durchs Fenster. »Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass Romander-Stadt in den nächsten Tagen nicht in die Hände der Engel fällt«, brummte Wyl vor sich hin.
Der Vogel wurde einen halben Tag später trotz der hereinbrechenden Nacht – und obwohl ein heftiger Schneesturm vollends die Sicht nahm – von Hochmeister Berre bemerkt. Er war mit einer Loher Karavelle von Sey Hirin nach Weid unterwegs, um die beunruhigenden Nachrichten über den dortigen Aufstand mit eigenen Augen zu überprüfen. Nicht sein scharfer Blick, sondern der Gefühllos Funkelnde Schirm Abwehrender Verdichtung machte ihn auf den vorbeifliegenden Vogel aufmerksam. »Eine Taube des Palasts, von Ugerdin«, murmelte der Hochmeister, 221
als er die Umrisse des Tieres mit Hilfe der Fäden Umfassender Und Ausschwärmender Sicht erfasste. »Was macht die denn hier? Neugierde kann in diesen Tagen wohl kaum schaden.« Er öffnete die rechte Hand, die Handfläche zum Vogel gerichtet, und flüsterte den Maßlos Lieblichen Wink Von Lerfai. Der regelmäßige Flügelschlag der Taube geriet ins Stocken, und in einem eleganten Bogen näherte sich das Tier dem Schiff. Berre fing die Taube auf und löste mit wenigen geschickten Handgriffen den Köcher vom Fuß des Vogels. Zuerst las er Martens Nachricht, dann die Antwort von Wyl. »Karn?«, flüsterte er fassungslos. Er bemühte sich, sein vor Aufregung plötzlich ungestüm klopfendes Herz zu beruhigen. Dann rief er laut nach dem Kapitän des Schiffes. »Nehmt unverzüglich Kurs auf Sturmburg und befreit dort Hochmeister Wyl aus dem Kerker. Ich muss nach Romander-Stadt. Kommt dann zusammen mit Wyl ebenfalls dorthin. Aber seid vorsichtig, die Stadt wird von der Seeseite aus belagert.« Der Kapitän starrte ihn an, regungslos vor Schreck. Berre drückte ihm das Papier in die Hand und schnauzte: »Lest die Botschaften, vielleicht kapiert Ihr es dann!« Er wollte sich gerade umdrehen, überlegte es sich aber doch anders. »Ich habe jetzt keine Zeit mehr für Halders Spur Der Unaufhaltsamen Schrift. Verschickt sofort Kalktauben an die anderen Hochmeister. Teilt ihnen mit, sie sollen so schnell wie möglich nach RomanderStadt kommen. Die Stadt darf unter keinen Umständen in die Hände der Engel des Antas fallen.« Es dauerte nur wenige Sekunden, dann durchschnitt ein großer Kaiseradler wie ein graues Schwert den immer heftigeren Schneesturm, geradenwegs in nordwestlicher Richtung.
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28 Der Engpass von Halderstafel »Romander-Stadt liegt teilweise auf der Anhöhe von Yndak, einer Hochebene, die an der Nordseite so gut wie unbezwingbar an den felsigen Südrand der Hügel des Avron stößt. Von Norden her führt der Zugang zu dieser Hochebene über den Pfad durch den Avron, wobei der Engpass von Halderstafel den einzigen Durchlass in Richtung RomanderStadt bietet.« – Aus ›Der Reichatlas in Wort und Bild‹, von Edelfrau Eryn Faida Es hatte aufgehört zu schneien. Die kalte Luft war blitzsauber, und die Sicht betrug viele Kilometer. Auf der Anhöhe von Yndak war kein Mensch zu sehen. Praktisch alle Einwohner von Romander-Stadt und Umgebung waren zum Hafen und dem Kai gezogen. Als der Trupp um Grend und Veder am Ende der gepflasterten Straße den abfallenden Sandweg in Richtung des Avron einschlug, sah man in der Ferne eine lange Schlange von Leuten auf dem Pfad durch die Ausläufer des Avron auf Romander-Stadt zu kriechen. Selbst auf diese große Entfernung konnte man noch die unheilverkündenden roten Masken erkennen. »Na bitte«, brummte Grend leise. »Wir müssen uns beeilen«, rief er über die Schulter und stieß seiner Fuchsstute die Fersen in die Seiten, gefolgt von Veder und den Gardisten. Kurz darauf fiel der Weg steil ab, und so verloren sie die Angreifer aus den Augen. Bis zum Engpass würde sich daran nichts mehr ändern. Veder tauchte neben seinem Vorgesetzten auf. 223
»Ob sie uns wohl gesehen haben?«, rief er hinüber. »Ich hoffe nicht«, antwortete Grend. »Wenn wir sie am Engpass überraschen können, macht das glatt zwanzig Feinde weniger aus.« »Es sind viele«, rief Veder jetzt, »sehr viele.« Grend reagierte nicht. Als er die unendlich lange Schlange gesehen hatte, war ihm ein Heidenschreck in die Glieder gefahren. Es waren bedeutend mehr, als er gehofft hatte. Sie kamen vielleicht gerade noch rechtzeitig, doch die Frage war dennoch, wie lange sie sich behaupten konnten. Es schien fast, als könnte Veder Gedanken lesen. »Wenn wir keine Unterstützung bekommen, halten wir bestenfalls einen Tag durch«, sagte der riesige Mann. Dann flüsterte er seinem Pferd etwas ins Ohr und galoppierte den anderen davon. Grend versuchte Veder einzuholen. Es gelang ihm nur mit größter Mühe. Die anderen Gardisten blieben weit zurück. »Unterstützung und List«, rief Grend über das Pochen der Pferdehufe hinweg. »Was?«, fragte Veder. »Was meint Ihr damit?« »Nur eine List und unerwartete Unterstützung können uns noch helfen. Wir müssen uns darauf einstellen, hier den Tod zu finden.« Veder blickte erstaunt zu Grend hinüber. »Ich hätte nie geglaubt, dass Ihr einmal verzweifeln könntet.« »Das ist keine Verzweiflung, Veder. So etwas nennt man Wirklichkeitssinn.« Sie erreichten den Engpass, eine zehn Meter lange Passage durch eine bizarre, unüberwindliche Felsenkette. Auf beiden Seiten stiegen die Felswände mehr als fünfzehn Meter senkrecht in die Höhe. Von Norden her war dies der einzige Zugang zur Stadt. Die ersten Engel hatten bereits damit begonnen, zum Engpass hinaufzuklettern. Grend suchte die Gegend ab. Sein Blick blieb an einem großen Berg Fels und Stein direkt vor dem Engpass haften. Er drehte sich zu seinen Gardisten um. »Unsere erste List«, sagte er grinsend, stieg ab und ließ auch seine Männer absitzen. Zwei Gardisten führten die Pferde vom Engpass 224
fort. Auf Befehl ihres Kapitäns machten die Übrigen sich daran, die Felsbrocken durch den Eingang des Engpasses zu rollen. Bis auf eine schmale Öffnung war die Passage binnen kürzester Zeit durch eine dicke Gesteinsmauer versperrt. Danach sammelten die Gardisten eilig kleinere Steine auf, die sie sorgfältig zu beiden Seiten des Durchgangs ablegten. Die ersten Engel hatten sich dem Engpass bis auf zweihundert Meter genähert. »Auf mein Zeichen«, sagte Grend. Vorsichtig lugte er nach unten und wartete, bis die Vorhut der Engel nur noch zwanzig Meter vom Eingang entfernt war. Dort war der Pfad bereits sehr schmal und an beiden Seiten durch Felsen begrenzt. Grend fiel besonders der starre Blick hinter den Masken und das hohe Marschtempo der Männer auf. Und kein Anführer, dachte er erstaunt. »Jetzt«, zischte er. Veder und acht der stärksten Gardisten setzten die Felsbrocken am Ende des Durchgangs in Bewegung. Diese begannen langsam bergab zu rollen, nahmen Fahrt auf und donnerten den ahnungslosen Engeln entgegen. Als diese die Gefahr erkannten, war es bereits zu spät. Die Vorhut, mindestens fünfundzwanzig Mann stark, wurde voll getroffen oder kam zu Fall. Blut floss. Es gab die ersten Toten und Verwundeten. Doch weder Todesschreie noch Jammern der Verletzten waren zu hören. Zehn Gardisten eilten mit ihren Bögen durch den Engpass und nahmen die Männer hinter der Vorhut mit ihren Pfeilen unter Beschuss. So sanken noch einmal sieben Engel zu Boden und starben, ohne auch nur den geringsten Laut von sich zu geben. Als die Bogenschützen der Engel endlich ausreichend Übersicht hatten, um einen Gegenangriff zu unternehmen, hatten die Gardisten sich längst zurückgezogen. »Ungefähr fünfzehn Mann wären ausgeschaltet«, brummte Veder zufrieden. »Unser erster Schlag ist glatt einen Silberling wert.« Grend und zehn Gardisten drückten sich an beiden Seiten gegen die Wand des Engpasses, um den Bogenschützen Platz zu machen, die die mühsam hinauf kletternden Engel erneut unter Beschuss nahmen. Die 225
meisten Pfeile trafen. Zehn oder fünfzehn Feinde wurden ausgeschaltet, doch die Nachrückenden kletterten unbeeindruckt weiter, ohne auch nur die Spur eines Gefühls zu zeigen. »Die können ja nicht mal vor Schmerz schreien«, meinte Veder, der mit dem Schwert in der Hand darauf wartete, dass der Kampf Mann gegen Mann entbrannte. »Da dürfte machtvolle Magie im Spiel sein.« »Na klar«, sagte Grend, »aber die Frau selbst ist nicht hier.« Jetzt hörten sie doch, wie eine Männerstimme aus der Nachhut Befehle erteilte. Daraufhin kletterten die nächsten Angreifer jeweils zu zweit nebeneinander, dicht hintereinander und erheblich schneller nach oben. Wieder erwischten die Bogenschützen mindestens zehn der Engel, doch sie konnten nicht verhindern, dass ebenso viele bis zum Engpass vordrangen. Grend und seine Gardisten preschten vor, und es gelang ihnen, die Eindringlinge zu überraschen. Aber auch auf Seiten der Gardisten gab es die ersten Opfer: Einer von ihnen lief in ein schnell hochgerissenes Schwert und hauchte sein Leben aus. Zwei andere erlitten Wunden am Arm und der Hüfte. Grend konnte einen Blick auf die feindliche Streitmacht werfen. Hunderte von rot Maskierten marschierten mit starrem Blick auf sie zu. Er drehte sich um und befahl: »Zurück und dieselbe Position einnehmen!« Die Bogenschützen schickten den nächsten Pfeilhagel durch den Engpass, und erneut kamen die Engel des Antas nicht ohne Opfer davon. Doch ein unablässiger Strom von Angreifern stieg über den wachsenden Berg aus Fleisch und Blut hinweg, den Blick starr auf den Engpass gerichtet, und drang in die Schlucht ein. Das Gefecht wurde immer verbissener. Veder mischte sich in das Kampfgetümmel im Engpass selbst. Innerhalb kurzer Zeit hatte er mit seinem kurzen, breiten Schwert fünf der Engel niedergestochen. Mit äußerstem Heldenmut und unter Aufopferung von noch einmal vierzehn Männern sicherten die Gardisten die Herrschaft über den Engpass. Als es dunkel wurde, endeten die Angriffe. Die Engel zogen sich hundert Meter zurück. Grend befürchtete, dass der Feind die Dunkelheit für überraschende Überfälle nutzen würde, aber es blieb die ganze Nacht ruhig. Ringsum herrschte Totenstille. Sogar die nachtaktiven 226
Tiere ließen nichts von sich hören. Dennoch wagte Grend es nicht, sich aufs Ohr zu legen. Veder und die meisten Gardisten hingegen gönnten sich eine erholsame Mütze Schlaf. Sobald es hell wurde, nahmen die Engel ihre Angriffe in unverändert scharfem Tempo wieder auf. Nach einer Stunde war der Engpass übersät mit ihren Leichen. Doch auch mehrere Gardisten fielen. Für die Bogenschützen gab es jetzt weniger Platz. Die Angreifer erhöhten das Tempo. Ihre Überzahl sorgte dafür, dass immer mehr bis zum Engpass vordringen konnten. Als Grend einem eingeschlossenen Gardisten zu Hilfe eilen wollte, wurde sein Arm von einem Schwerthieb getroffen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog er sich zurück, während Veder dem Mann, der die Wunde verursacht hatte, den Schädel spaltete. Der Hüne trat einen heranstürmenden Angreifer so wuchtig mit dem Fuß, dass man den Brustkorb des Mannes zerbrechen hörte. Leblos sank er zu Boden. Schließlich gelang es Veder, den Gardisten aus dem Kessel zu befreien. Aus Grends Wunde spritzte Blut. Er stieß sein Schwert mit der Spitze in eine Felsspalte, ließ sich gegen die Felswand fallen und riss Streifen von seiner Tunika ab. Mehr schlecht als recht verband er die Wunde, indem er die Hand des unverwundeten Arms und die Zähne benutzte. Zum Glück hatte es nicht seinen Schwertarm getroffen. Veder tauchte keuchend und vor Schweiß triefend neben ihm auf, offensichtlich immer noch unverletzt. Mit sorgenvoller Miene untersuchte er die Wunde und legte Grend einen neuen Verband an. »Geht es?« »Mein Schwertarm ist heil«, grummelte Grend. Er kniff die Augen fest zusammen, schluckte die Schmerzen herunter und versuchte einen aufkommenden Schwindelanfall zu verhindern. »Der Arm, der für dein Gleichgewicht sorgen muss, ist es aber nicht«, sagte Veder bestimmt. »So kriegt Ihr innerhalb von Sekunden ein Engelschwert zwischen die Rippen. Mit einem toten Grend ist uns nicht gedient. Bleibt hier. Nur im äußersten Notfall werde ich Eure Unterstützung anfordern.« Er stürzte zum Engpass zurück, wo eine neuerliche Woge von En227
geln heranrollte. Während Veder sich zwischen den Gardisten hindurchschlängelte, rief er über die Schulter: »Lasst Euch neue Listen einfallen, Grend! So halten wir nicht mehr lange durch!« Grend nickte mit einer Grimasse, die seine Schmerzen verriet. »Ja, oder macht Euch Gedanken darüber, wie wir hier so schnell wie möglich fliehen können«, murmelte er, eine tiefe Sorgenfalte auf der Stirn. Er richtete sich auf. Jetzt erst spürte er seine Müdigkeit. Auf Seiten der Gardisten gab es immer mehr Opfer. Die ersten Engel schlugen sich mit hölzern wirkenden, jedoch vernichtenden Schwerthieben einen Weg durch den Engpass. Der Nachhut der Gardisten gelang es vorläufig noch, diese zu töten oder zurückzudrängen. Der grauenvoll anmutende Leichenstapel von Engeln, direkt hinter dem Engpass, wuchs ständig an. Doch auch die Zahl der Angreifer, die ungerührt über den Berg aus Menschenleibern hinwegstiegen und auf die Gardisten zumarschierten, schien noch zuzunehmen. Die Gardisten machten sich die Mühe, ihre gefallenen Kameraden aus dem Kampfgebiet herauszuschleppen. Nicht nur aus Gründen der Pietät, sondern auch, weil sie dadurch mehr Platz zum Kämpfen hatten. Grend kam eine Idee. »Veder!«, rief er. Der große Mann hörte ihn nicht. Grend schnappte sich einen Gardisten mit einem Verband um den Kopf. »Holt Veder zu mir. Oder nein … es muss auch so gehen.« Er schüttelte den Kopf. »Organisiert einen Ausfall mit dreißig Mann und versucht, so viele Leichen der Engel wie möglich zum Engpass zu schleppen. Wie Ihr das macht, ist mir egal. Notfalls setzt Ihr die Pferde ein. Hauptsache, es gelingt.« Der Gardist drehte sich um und beeilte sich, den Befehl auszuführen. Dreißig Gardisten hauten, schlugen und stachen sich kurz darauf einen mit Blut gepflasterten Weg zu den Leichen der Engel frei. Sieben Gardisten kostete es das Leben, doch mit der Entschlossenheit eines Mannes, der weiß, dass sein todesmutiger Einsatz das Blatt wenden kann, entledigten sich die Übrigen ihrer Aufgabe. Fünfzehn Gardisten 228
hackten und stießen auf die heranstürmenden Engel ein. Die anderen acht zerrten die Leichen zum Engpass, wo sie diese zusammen mit einigen Felsbrocken zu einer Mauer aus Fleisch aufstapelten. Nachdem Veder begriffen hatte, was da vor sich ging, übernahm er die Organisation des Ausfalls und gesellte sich zu den fünfzehn Kämpfern. Grend half mit einer Hand beim Aufstapeln der Leichen. Als nur noch eine Öffnung übrig war, durch die gerade ein Mann passte, wurden Veder und seine fünfzehn Mitstreiter zurückgerufen. Da die Engel das Manöver immer noch nicht durchschaut hatten, gelang es allen sechzehn, sich mit heiler Haut zu retten. Veder sprang als Letzter durch die Öffnung, von drei Engeln verfolgt. Die Gardisten beeilten sich, den Engpass mit einem Damm aus Felsbrocken und Leichen zu schließen. Sie hatten mit wütendem Geheul gerechnet, ganz gewiss von Seiten der drei heranstürmenden Männer, doch auch jetzt herrschte jenseits der Mauer tödliche Stille. So blieb ihnen zumindest für kurze Zeit die Gelegenheit, ihre Verwundeten zu versorgen und sich neu zu organisieren. Veder riss den Ärmel seines Wamses in Streifen und legte damit einen neuen Verband um Grends Wunde. »Die Engel sind nichts weiter als Marionetten«, brummte Grend. Zähneknirschend schluckte er den Schmerz herunter. »Das wird allein schon dadurch deutlich, dass sie ohne ihre Masken mindestens die Hälfte ihrer Kraft einbüßen.« Er unterdrückte einen Schrei, als Veder ihm nicht gerade feinfühlig die alten Stoffstreifen seiner Tunika aus der Wunde riss. »Da drüben gibt es ganz sicher einen Anführer, wenn nicht sogar mehrere. Vorhin haben wir ja gehört, wie Befehle erteilt wurden«, sagte Veder. »Das heißt, dass wir nicht allzu lange auf deren Gegenmaßnahmen zu warten brauchen.« Grend biss sich auf die Unterlippe. »Hoffentlich bedeutet das nicht, dass die Frau sich darum kümmern wird«, sagte er und deutete auf die Gardisten. Die Erschöpfung war ihren Augen abzulesen. »Dann ist es schnell um uns geschehen.« »Was könnten wir denn jetzt anderes tun als warten?«, fragte Veder missmutig. 229
Die Stille auf der anderen Seite schien noch zuzunehmen. Von Nordwesten her näherte sich die Dämmerung. Ein Donnerschlag ließ die Erde erbeben. Im nächsten Moment ertönte ein wütendes Schnauben. »Die Frau?« Grend wich unwillkürlich zurück. In einiger Entfernung war der Ruf eines Adlers zu hören: »Ork, ork.« Nur Grend schien es zu bemerken. »Hilfe?«, murmelte er. Er suchte den Himmel ab, doch es gelang ihm nicht, den Vogel zu entdecken. Erneut erzitterte die Erde unter einem Schlag, der unmöglich von einem normalen menschlichen Wesen herrühren konnte. Die Mauer aus Menschenleibern wankte. Gardisten stemmten sich dagegen und versuchten, die Mauer zu halten, doch nach einem dritten ohrenbetäubenden Schlag wurden sie unter der zusammenstürzenden Wand aus Fleisch und Steinen begraben. Ein Vogel erschien über dem Engpass und landete direkt vor den Leichen. Staub wirbelte auf, um anschließend langsam auf den felsigen Boden zu sinken. Eine Gestalt in einem schwarzen Mantel wurde sichtbar. Grends größte Befürchtung bewahrheitete sich: Es war die Frau! Zwei gelbe Augen schauten sich zornentbrannt um; ihr Blick blieb auf Grend haften. Veder gab den Gardisten, die in der Nähe der Frau standen, ein Zeichen. Doch eine schnelle Armbewegung der Frau reichte, um jede Bewegung einzufrieren. Auch Grend merkte, dass er sich nicht bewegen konnte. Als Einziger stand er so, dass er einen großen grauen Vogel geräuschlos von Südosten her mit der Thermik auf sie zu gleiten sehen konnte. Der Adler. Sollte doch noch Hilfe kommen, im letzten Moment? Die Frau sprang vom Leichenberg herab und stellte sich vor Grend. »Ihr habt mich viel Zeit gekostet, Knabe«, zischte sie. Ihre Augen glühten. »Zeit, die ich lieber für wichtigere Dinge eingesetzt hätte. Jetzt reicht es.« Sie zeigte auf die toten Körper hinter sich. Ihre Stimme wurde tiefer, fast männlich. »Da ist noch Platz für ein paar mehr Leichen.« Sie streckte die Hand aus und öffnete den Mund. Ein Schatten glitt über die Gardisten hinweg. Ein langgezogener Schrei ertönte über der 230
Anhöhe von Yndak. Der graue Vogel stürzte sich auf die Frau. Staub und Federn wirbelten durch die Luft. Die Frau stieß einen schrillen Schrei aus, der sofort abbrach, als die messerscharfen Vogelkrallen sie mit einem Hieb enthaupteten. Ihr Kopf, in dem die weit aufgerissenen, staunenden Augen noch zu leben schienen, fiel mit einem Übelkeit erregenden Geräusch auf den Felsboden und rollte den Weg hinunter in Richtung Yndak. Der Körper blieb wundersamerweise einige Sekunden schwankend stehen und sank dann erst langsam in sich zusammen. Einige Engel, die gerade dabei gewesen waren, hinter ihr her über den Leichenberg zu klettern, krümmten sich und sanken zu Boden. Andere zogen sich mit starrem Blick zurück. Gleich darauf hörte man die Geräusche eines ungeordneten Rückzugs. Die Gardisten, Grend und Veder konnten sich wieder normal bewegen. Der Vogel erhob sich in die Luft, beschrieb einen halben Bogen und landete neben Grend und Veder. Nach allen Seiten hin stieg der Staub auf. Das Tier änderte seine Gestalt. Grend hatte die Person im grauen Mantel früher bereits gesehen, als er noch im Palast Kryst Valdare Dienst getan hatte. »Berre!«, rief er heiser. »Hochmeister Berre, unser Retter in der Not!« Er lief auf den Hochmeister zu und legte ihm den gesunden Arm auf die Schulter. Berres Augen glänzten. Er grinste und klopfte Grend auf den Rücken. »Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, gerade noch rechtzeitig gekommen zu sein. Und erst recht könnt Ihr Euch nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass ich diese Frau töten konnte. Ich glaube zu wissen, wer sie ist. Ihre Kräfte sind … waren unfassbar groß. Ich konnte sie überraschen.« Es hörte sich an, als könne er es selbst noch nicht glauben. Lächelnd nickte er Veder und den Gardisten zu. »Dieser Versuch, Romander-Stadt einzunehmen, ist vereitelt. Das ist vor allem Euch zu verdanken. Ich werde Euch auf dem Rückweg begleiten, doch zunächst …« Berre ging auf den Rumpf der Frau zu und wollte sie offenbar auf Be231
weise nach ihrer Identität hin untersuchen. Grend beschlich ein unangenehmes Gefühl, als er den Körper der Frau zittern zu sehen glaubte. Berre bückte sich und berührte den schwarzen Mantel. Ein gelbes Schwert, aus purem Licht geschmiedet, zuckte zischend hoch und ließ den Hochmeister sekundenschnell zu einer brennenden Fackel werden. Die Klinge bohrte sich mit einem saugenden Geräusch in den nach vorn gebeugten Körper. Die Schwertspitze ragte aus dem Rücken. Durch die jetzt mehrere Meter auflodernden Flammen hindurch sah Grend den konsternierten Blick des Hochmeisters. Im nächsten Moment brachen die Augen des Zauberers. Langsam sank er zusammen und fiel vornüber auf den Rumpf der Frau. Das Lichtschwert verschwand. Dünner grauer Rauch stieg auf, löste sich von den beiden Körpern und stieg himmelwärts, ohne seine Form merklich zu verlieren. Grend glaubte, in der Ferne ein Lachen zu hören. Schließlich wurde der Rauch hoch in der Luft auseinander geweht, und eine unglaubliche Stille völliger Fassungslosigkeit legte sich über die Szene. Veder bewegte sich als Erster, ging zur Leiche des Hochmeisters und untersuchte sie vorsichtig, ohne dabei den Körper der Frau zu berühren. »Berre ist tot«, erklärte er. »Wie konnte das geschehen?« »Habt Ihr das Lachen auch gehört?«, fragte Grend. Die überlebenden Gardisten nickten. Grend fuhr mit einem ungläubigen Unterton fort: »Könnte das heißen, dass sie auf die eine oder andere Weise noch lebt?« Veder zuckte die Achseln. »Wenn dem wirklich so sein sollte, ist auf jeden Fall mehr als eigenartige Magie im Spiel. Den eigenen Körper als Mordwaffe einsetzen! Wir wissen zwar nicht, ob sie noch lebt, aber wir werden es wahrscheinlich bald erfahren. Wir sollten Marten eine Nachricht schicken.« Als die Taube aufgestiegen war, ging Grend den Gardisten auf dem Weg zum anderen Kampf in Romander-Stadt voraus. Entlang des Pfades suchte er überall nach dem Kopf der Frau, doch der war nirgends zu finden. Seine bösen Vermutungen wurden dadurch bestätigt. Veder blieb zusammen mit einer Hand voll Gardisten beim Engpass, um diesen zu bewachen. 232
29 Gespräch mit einem Gott »Schade fragte: ›Aber was unterscheidet Götter so sehr von den Menschen, Herrin?‹ Die Herrin seufzte tief und antwortete nach einiger Zeit: ›Du hättest besser fragen sollen, worin sie uns gleichen, Schade. Götter sind in vieler Hinsicht anders. So stellen sie beispielsweise Fragen, ohne eine Antwort zu erwarten. Ob sie die Antwort bereits aus unseren Gedanken abgelesen haben, oder ob sie sich nicht für die Antwort interessieren, weiß ich nicht.‹« – Aus ›Dialoge zwischen der Herrin der Weisheit und Eingebung und Schade‹, von Edelfrau Asrath aus Dunkel Lethe wusste. Er wusste, wer er war und wo er war. Er wusste, was von ihm erwartet wurde, und er wusste, dass er es tun würde. Er wusste nur nicht, wie sich alles abspielen und wie es enden würde. Das Wesen war davongetrieben und hatte ihn mit seinen durcheinander wirbelnden Gedanken allein gelassen. Doch es würde zurückkehren, und dann würde es zur Verflechtung kommen. Dann würde er im Herrn der Tiefe aufgehen und sich mit all den anderen Lethes vereinen. »Aufgehen in Vergessenheit«, sagte eine geräuschlose Stimme. »Weisheit!«, antwortete Lethe. Wenngleich die Stimme schwieg, wusste Lethe, dass Weisheit noch 233
da war. Sie gab seinem durch einen Sturm von Angst und Unsicherheit übermannten Geist das beruhigende Gefühl, nicht alleine zu sein. »Heute ist der Tag. Vergesst das nicht«, sagte Weisheit. Ihre Stimme füllte Lethes gesamtes Wesen, drang bis in seinen innersten Kern vor. »Es gibt einen Weg zurück. Es gibt den Stein, es gibt die Herrin, und es gibt die Kraft. Und mit der Kraft kommt …« Von einem auf den anderen Moment war Weisheit verschwunden, als habe irgendetwas sie von Lethe weggerissen. »Weisheit?« Lethes Flüstern war vergeblich. Stattdessen entstand kurze Zeit darauf in seinem Geist jener Druck, den er als Nähe des Herrn der Tiefe erkannte. Lethe rechnete damit, gleich angesprochen zu werden, doch nichts geschah. Der Geist der einhundertdreizehn Lethes wahrte einen gewissen Abstand. Nach einiger Zeit beschloss Lethe, nicht länger selbst zu warten. Er wandte seinen Geist von dem Wesen ab und schwebte zur Kuppel im Labyrinth. Als er in den Raum hineinglitt, wurde er von einem Knattern überrascht. Gelbe und orangefarbene Funken sprühten umher. Er zuckte zurück und wollte die Kuppel wieder verlassen. »Bleibt!« Lethe hatte schon eine ganze Reihe beeindruckender Stimmen in seinem Geist vernommen, doch diese setzte allem die Krone auf. Die einem Sturm gleichkommende Kraft dieses einen Wortes ließ ihn zittern. »Heute ist der Tag«, sagte die Stimme, plötzlich weich wie ein Meer bei Windstille. »Heute wird, der einhundertvierzehnte Lethe mit dem Herrn der Tiefe verflochten. Wir, die Ayinti, werden dies durchführen, wie bereits einhundertdreizehn Mal zuvor.« »Die Ayinti? Die Götter?«, fragte Lethe mit dünner Geiststimme. »Wir sind die Götter des Ayintan«, bestätigte die Stimme. »Ich bin Ghormard, Sprecher der Götter. Ich habe Fragen an Euch.« Lethe wartete ab, doch Ghormard schwieg. Lethe unterdrückte das Verlangen, selbst etwas zu sagen, bis der Gott schließlich doch sein Schweigen brach. 234
»Habt Ihr den Stein?« »Ich habe den Stein«, antwortete Lethe. »Er ist irgendwo in meinem Hirn angesiedelt, ganz in der Nähe des Kerns all meiner Gedanken.« »Wohin er auch gehört«, sagte Ghormard freundlich. »Wisst Ihr, was geschehen wird?« »Verflechtung. Ich habe nur eine Vermutung. Ich glaube …« »Gut, das reicht. Wisst Ihr von der Herrin?« »Gyndwane? Asayinda?« »Gut. Seid Ihr Euch bewusst, dass Ihr Teil des Herrn der Tiefe werdet und gleichzeitig der Herr der Tiefe seid?« »Das habe ich verstanden.« »Gut. Habt Ihr selbst noch Fragen, Lethe?« Lethe dachte nach. »Wer seid Ihr, Ghormard? Was seid Ihr?« »Ich bin ein Gott«, antwortete Ghormard freundlich. »Die Stärke – und zugleich Schwäche – der Götter besteht darin, dass sie unveränderlich sind. Genauso unveränderlich wie ihr Name. Wir sind die Götter der Stillstehenden Zeit.« Lethe hatte das Gefühl, Ghormard habe eine andere Frage beantwortet als die, die er gestellt hatte. Er beschloss jedoch, es dabei bewenden zu lassen und überlegte sich eine weitere Frage. »Könnt Ihr in die Zukunft schauen?« »Ja.« »Könnt Ihr mir auch etwas über meine Zukunft sagen?« »Ich kann in die Zukunft schauen, da sie die Kehrseite der Vergangenheit ist. Doch über Eure Zukunft kann ich nichts sagen. Es ist ein menschliches Missverständnis, dass es nur einen einzigen Weg gibt, der in die Zukunft führt. Das Leben eines Sterblichen besitzt zwei feste Größen: den unvermeidlichen Tod und das Mysterium der Stillstehenden Zeit. Entlang dieser Werte bewegt sich das Leben eines Menschen. Doch seltsamerweise – und auch für mich überraschend, – scheint keiner dieser beiden Werte auf Euch zuzutreffen.« Lethe fragte sich, wohin dieses Frage- und Antwortspiel führen sollte. Ghormards Antworten sagten ihm so gut wie nichts. 235
»Die Kraft«, sagte er schließlich. »Könnt Ihr mir mehr über die Kraft berichten?« »Ah, die Kraft. Eine gute Frage. Ein Wesen, das mir sehr am Herzen liegt, würde es Loum'ad nennen, eine gewaltige Gemeinschaftsleistung von Menschen und anderen Wesen. Die Welt verfügt seit frühesten Zeiten über Runen, die so stark sind, dass man sie als magisch bezeichnen könnte. Eine dieser Runen, Kaharr, war einst in ein Schwert der Macht eingekerbt. Es ging in dem Schwert namens Aerleander auf das mitunter auch C'hart genannt wurde. Später, nach einer Veränderung seiner Gestalt, hieß es Ra Echs. Die Rune blieb erhalten, auch wenn sie nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen sichtbar wird. Es gelang einem Zauberer, jene Macht, die Kaharr darstellte, von Materie in Geist umzuwandeln. Eine unglaubliche Leistung. Dabei bediente er sich eines Steins.« Ein Stein! Sollte es sich dabei um denselben Stein handeln, der in seinem Geist ruhte? »Euch bleibt noch eine einzige Frage, Lethe.« Lethe versuchte, klaren Kopf zu bewahren. Wie lautete die beste oder wichtigste Frage? Plötzlich erinnerte er sich an etwas. »Ich war vorher schon einmal in einem Labyrinth. Das war in der Nähe des Windturms auf den Spiegelinseln. Handelte es sich um dasselbe Labyrinth wie jenes, in dem ich mich jetzt befinde!« Ghormard schwieg wieder lange. »Eine bemerkenswerte Frage«, sagte er dann mit einem Unterton echten Erstaunens, fast schon Bewunderung. »Sehr bemerkenswert sogar. Nie zuvor hat ein Lethe dies angesprochen.« Nach einer erneuten Pause, die wie ein tiefer Seufzer wirkte, sagte Ghormard: »Die Antwort auf Eure Frage. Vor dem Zyklus der einhundertdreizehn, jetzt fast schon hundertvierzehn mal neuntausend Jahre gab es bereits einen sehr ähnlichen Zyklus. Der endete abrupt, als der Düstere den Herrn der Tiefe besiegte. Das war jener Herr der Tiefe, der vom Paladinmeister geführt wurde, von dem jedermann erwartete, dass er derjenige sei, der den Zyklus beenden würde. Doch alle hatten sich getäuscht, sogar wir. Das Labyrinth, in dem Ihr umhergeschwebt seid, stammt noch aus jener alten Zeit. Es ist der Ort, an dem der Geist 236
des ersten Herrn der Tiefe ruhte, bevor die Katastrophe sich ereignete. Wenn der Düstere im Reich von Romander herumschwirrt, suchen seine Trabanten regelmäßig dieses Labyrinth auf.« Lethe erinnerte sich daran, wie Rax ihn in den Gängen des Labyrinths vor etwas Bösem gewarnt hatte. Damit war schon wieder ein Rätsel gelöst. Ghormard fuhr fort: »Das Labyrinth löste sich vom Meeresboden und strandete an jener Stelle, wo sich jetzt die westliche der beiden Spiegelinseln befindet. Die Ayinti waren darauf eingestellt, dass irgendwann doch wieder ein Lethe wie Ihr in Erscheinung treten würde. Wir haben … ich habe daher die Kuppel benutzt, um eine Botschaft in Runenschrift in die Mauer zu brennen.« Lethe wollte noch rasch eine Frage stellen, doch Ghormards Stimme kam ihm zuvor. »Bemerkenswert. Wirklich sehr erstaunlich. Wir vermuteten, dass nur jener Lethe, der den Zyklus beenden kann …« Als Ghormard verstummte, fragte Lethe rasch: »Wovon redet Ihr?« Als hätte er die Frage nicht gehört, antwortete Ghormard: »Seid Ihr Euch darüber im Klaren, dass Ihr der Paladinmeister seid?« »Was bedeutet das? Was ist der Paladinmeister?« »Gut«, sagte Ghormard. »Damit habt Ihr alles erfragt. Was sonst noch von Wichtigkeit ist, habe ich bereits vorbereitet, in Euch und in anderen Menschen. Richtet Euch jetzt auf Eure Aufgabe ein, obwohl ich feststellen musste, dass das für einen Sterblichen so gut wie unmöglich ist.« Lethe spürte, wie Ghormards Geist sich von ihm entfernte. Er dachte über die Fragen und Antworten nach. »Ein Lethe wie ich …«, murmelte er. »Ich wollte noch so viele Fragen stellen … Ich hätte fragen wollen, wo die Verflechtung stattfinden soll …« »Hier.« Es war Ghormards Stimme, die den gesamten Horizont seines Geistes abdeckte und sich dann sofort wieder zurückzog.
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30 Verfolgung (4) »Nibuüm verhalten sich wie Wesen, die sich mit den Schatten verflechten. Die wenigen, die sich in deren Geschichte auskennen, wird das nicht verwundern. Ihre außerordentliche geistige und physische Kraft zeigen die Nibuüm nur, wenn es gar nicht anders geht.« – Aus ›Hatters Enzyklopädie der Randvölker‹ Wie ein Steinfisch, der auf dem Weg zu jener Stelle ist, an dem sein Weibchen den Rogen ablässt, schlängelte sich die Herz von Handera zwischen den kleinen Felseninseln der Narvaten westlich von Yle em Avrilux hindurch. Fexe ging ganz bewusst Risiken ein. Ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, segelte er in die Splitter aus Gottes Hand hinein, ein Gebiet zwischen den beiden größten Inseln der Narvaten, das mit verräterischen Felsspitzen direkt unter der Wasseroberfläche übersät war. Er hatte zwei Männer in das Krähennest beordert, die bislang jedes Mal vor den Hindernissen hatten warnen können. Die drei Sologaleeren des Desran waren nirgends zu sehen. »Da wäre ich nicht so sicher«, hatte Fexe erwidert, als Edelfrau Tulsie jubiliert hatte, jetzt wären sie ihre Verfolger endgültig los. »Ich glaube, ich kenne den Kapitän dieser Galeeren. Er heißt Tyrandel und ist einer der besseren Schiffsführer auf den kaiserlichen Schiffen. Er ist ziemlich gewitzt. Zweifellos ist er zu dem Schluss gekommen, dass wir nach Norden geflüchtet sind, weil wir uns zwischen diesen Inseln viel besser verstecken können. Und warum sollten wir in nördlicher Richtung segeln? Um uns zu verbergen, bis die Galeeren verschwinden, sodass wir 238
danach einen südlichen Kurs einschlagen können, in Richtung Kasbyrion? Nein, wenn ich Tyrandel wäre, würde ich davon ausgehen, dass wir uns auf dem Weg nach Yle em Avrilux befinden.« »Aber Ihr seid nun mal nicht Tyrandel«, sagte Edelfrau Tulsie hoffnungsvoll. Fexe schaute sie beinahe schon ein wenig mitleidig an. »Nein, und trotzdem wäre es naiv, wenn wir uns darauf verlassen würden, dass Tyrandel sich so leicht ins Bockshorn jagen lässt.« Edelfrau Tulsie presste die Lippen aufeinander. Fexe hatte Recht. Ihr wurde klar, dass sie nur ihre Angst zu unterdrücken versucht hatte. Sie wurde noch immer als die Mörderin des Desran gesucht. Wie ungerechtfertigt diese Anschuldigung auch sein mochte – falls es ihren Verfolgern gelingen sollte, sie gefangen zu nehmen, würde das ihren Tod bedeuten. »Schnee!«, rief einer der Ausgucke und wies auf eine dunkelgraue Wolkenfront, auf die sie direkt zuhielten. Kurz darauf gerieten sie in ein Schneetreiben, das die Sicht auf höchstens hundert Meter verringerte. Fexe ließ sofort die Segel streichen. »Ist das nicht günstig für uns?«, fragte Edelfrau Tulsie. Fexe schüttelte den Kopf, erklärte jedoch nicht, warum er anderer Meinung war als sie. Stattdessen befahl er: »Anker!« Der Kapitän ließ Harkyn rufen. »Es ist möglich, dass ich Eure Hilfe benötige«, sagte er zum Zauberer. »Auf jeden Fall, wenn meine Intuition mich nicht trügt.« »Nur wenn es sich nicht vermeiden lässt, Fexe. Das wisst Ihr.« Als der Schneefall nach einiger Zeit schwächer wurde und schließlich ganz aufhörte, kam Nebel auf. In der dumpfen Stille, die mit dem Nebel einherging, hörten sie in weiter Entfernung eine Stimme, die einen Befehl erteilte. »Die Sologaleeren«, zischte Fexe. »Unglaublich«, entfuhr es Edelfrau Tulsie. »In Zukunft werde ich Fexes Vermutungen ernster nehmen.« Der Kapitän lächelte. »Ich habe noch eine Vermutung«, sagte er wie beiläufig und zeigte 239
auf die Stelle, aus der die Stimme gekommen sein musste. Tulsie war ziemlich sicher, dass die Galeeren in genau dieser Richtung fuhren. »Die Galeeren gehen nicht vor Anker. Kapitän Tyrandel glaubt, einen großen Vorsprung aufholen zu müssen.« Er schaute zunächst Harkyn und dann Tulsie an. »Und das kann ich mir nur so erklären, dass sich etwas oder jemand von großer Wichtigkeit an Bord meiner Mittelkaravelle befindet.« Er grinste. »Ich halte mich selbst nicht gerade für einen schlechten Seemann, aber auf mich können sie es wohl kaum abgesehen haben.« Harkyn verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und schaute erst Fexe abschätzend an, um sich danach Edelfrau Tulsie zuzuwenden. Er fasste sie an ihren schmalen Schultern. »Edelfrau, was wisst Ihr? Was ist so wichtig, dass dafür das Leben der Besatzungen von drei Sologaleeren aufs Spiel gesetzt wird?« Tulsie schaute ihn verwirrt an. Sie überdachte ihr Wissen und stellte fest, dass es tatsächlich von Wichtigkeit war, doch sie erkannte außerdem, dass eigentlich niemand vermuten konnte, was sie wusste, und vor allem, dass sie es überhaupt wusste. »Ich …«, begann sie stammelnd. »Ich verfüge über Wissen, ja. Aber … niemand weiß …« Sie starrte in die Ferne. »Wäre es nicht denkbar, dass ich noch immer wegen des Mordes am Desran gesucht werde? Ist es nicht …« Erneut hörten sie weit entfernt einen Ruf, dumpf, gedämpft. »Das war noch weiter weg«, sagte Fexe. »Wir sollten noch ein bisschen warten.« Sie gingen in Fexes Kajüte und unterhielten sich dort. Tulsie erklärte, sie sei fest davon überzeugt, dass niemand ihr Geheimnis kenne oder auch nur vermuten könne, welches Wissen sie da erlangt hatte. Es blieb ein Rätsel, warum die Verfolger so hartnäckig waren. »Haben wir die Galeeren abgeschüttelt?«, fragte Harkyn, als er aufstand und sich in seine eigene Kajüte begeben wollte. Fexe schob den Stuhl zurück und stand ebenfalls auf. 240
»Denkt doch mal nach, Harkyn«, sagte er. »Ihr seid doch nicht umsonst Hochmeister geworden. Tyrandel weiß oder vermutet zumindest stark, dass wir nach Yle em Avrilux wollen. Also, wo wird er uns dann wohl auflauern?« »Bei Yle em Avrilux«, antwortete Harkyn. Er lächelte, ohne dass seine Augen davon berührt wurden. »Verbirgt sich da noch irgendwo eine List in dem alten Seemannshirn?« Fexe lächelte ebenfalls. In seinen Augen funkelten kleine Lichter. »Vielleicht«, sagte er. »Ich denke, dass die Herz von Handera morgen früh deutlich sichtbar auf den Hafen zulaufen wird.« Edelfrau Tulsie und Harkyn schauten ihn an und verstanden gar nichts.
Am nächsten Morgen war die Luft hell und klar und von einem Indigoblau, das zum Horizont hin immer zarter wurde. Der Meeresrand wurde durch Schneegestöber verdeckt, das die Küste aber wahrscheinlich erst gegen Abend erreichen würde. Eine leichte Brise strich zwischen den zahlreichen kleinen Inseln hindurch. Die Herz von Handera fuhr unter vollen Segeln und jeden kleinen Windhauch nutzend direkt auf den Hafen von Yle em Avrilux zu. Hinter einer kleinen Landzunge, dicht unterhalb der Küste, lagen halb verborgen die drei Sologaleeren. Es sah so aus, als habe auf der Herz von Handera niemand die Belagerer bemerkt. Diese segelten langsam, mit halb gehissten Segeln, hinter der Mittelkaravelle her, als diese den Steven in Richtung des Hafens wendete. Weit hinter den drei Galeeren war für einen Moment eine Schaluppe zu sehen, die in eine kleine Seitenbucht gerudert wurde. In dem Beiboot saßen Harkyn, Tulsie und Bootsmann Nyrgal. Als die Nussschale außer Sicht war, änderte die Herz von Handera plötzlich den Kurs, schoss an der Hafeneinfahrt vorbei und segelte in nördlicher Richtung auf das Schwarzwasser zu. Es dauerte eine ganze Weile, bevor die Galeeren die Verfolgung aufnahmen. Was Harkyn, Edelfrau Tulsie und Bootsmann Nyrgal nicht sahen, war, dass der Steindra241
che von Südwelle bald darauf beidrehte und nach einem Wendemanöver in den Hafen von Yle em Avrilux einlief.
Amertins Faust landete krachend auf Tyrandels Schreibpult. Der junge Mann hatte sich weit vornübergebeugt. Der eiskalte Blick seiner hellblauen Augen bohrte sich in die Pupillen des Kapitäns, der sich bequem im Sessel zurücklehnte und mit zwei Fingern auf das dunkle Kirschholz trommelte. »Wo ist der Magier abgeblieben?«, zischte der Junge. »Warum wurde mir nicht mitgeteilt, dass er das Schiff verlassen hat?« »Sie«, antwortete Tyrandel seelenruhig. »Was soll das heißen?« »Der Magier ist eine Frau.« Amertin richtete sich kerzengerade auf und zog die Stirn in Falten. Das musste er erst einmal verdauen. Seine Wut verrauchte. »Eine Frau?« Tyrandel nickte freundlich und spreizte die Finger seiner rechten Hand auf der Schreibtischplatte. »Tröstet Euch, fast niemand ist darüber informiert. Selbst die Hochmeister wissen es nicht. Und das ist eigentlich ein gelungener Scherz, wenn man bedenkt, wer sie in Wirklichkeit ist.« Er wedelte mit der Hand. »Auf jeden Fall musste sie überraschend woanders hin. Ihre Wege sind auch für mich unergründlich.« Amertin beugte sich wieder vor und fragte: »Warum sind wir in den Hafen eingelaufen?« Tyrandel lächelte. »Nennt es Intuition. Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir es auf der anderen Seite mit Kapitän Fexe zu tun. Ein schlauer Bursche, der davon träumt, irgendwann den berühmten Wigbolt zu beerben. Fexe versucht stets, die Gedankengänge seines Gegners auszuloten. Doch diesmal habe ich ihn wohl zu einem Fehler verleiten können, vor allem dank Cughlyn.« 242
Er stand auf, ging um das Schreibpult herum und fasste Amertin an der Schulter. »Nehmt Euren Rucksack und kommt mit. Wenn Ihr Euren Feind finden wollt, müsst Ihr den beiden Leuten folgen, die an Land gegangen sind. Es hätte nicht viel gefehlt, und uns wäre das entgangen. Nur dem scharfen Auge von Cughlyn haben wir es zu verdanken, dass wir es mitbekamen, als sie in einem kleinen Boot zur Küste gerudert wurden.« Amertin verließ mit Tyrandel die Kapitänskajüte. Der Steindrache von Südwelle war in dem unscheinbaren Hafen vor Anker gegangen, und ein Beiboot wurde zu Wasser gelassen. Cughlyn stand an der Reling und wartete. Über seiner Schulter hing ein kleiner Rucksack. Die schwarzen Augen funkelten. »Wir lassen sie nicht entkommen, Kurmer«, sagte er. »Nur wir zwei.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um, stieg über die Reling und kletterte die Strickleiter hinunter. Amertin betrachtete die Ehrfurcht gebietenden Umrisse von Yle em Avrilux in der Ferne, nickte Tyrandel zu und verschwand ebenfalls über die Reling. Das Beiboot wurde vom Steindrachen von Südwelle weggestoßen. Am Kai standen drei Nibuüm und schauten zu den beiden sich nähernden Männern hinüber. Als diese dicht herangekommen waren, drehten sich zwei der Nibuüm plötzlich um und verschwanden in Richtung Yle em Avrilux. »Wir sind nur auf der Durchreise nach Süden«, rief Cughlyn dem zurückgebliebenen Nibuüm zu. Der Mann blieb unbeweglich stehen. Erst als die beiden einen Meter von ihm entfernt an Land gingen, sagte er mit seiner sanften Stimme: »Es ist nicht üblich, dass der Hafen der Solitäre für andere als heilige Zwecke in Anspruch genommen wird.« Er deutete auf den Solitär von Avrilux. »Eigentlich ist der Hafen nur für unser eigenes Fahrzeug bestimmt. Manchmal kann hier auch ein anderes Schiff anlegen oder vor Anker gehen, doch das setzt voraus, dass der Dulce zuvor seine offizielle Zustimmung erteilt hat.« Cughlyn sprang aus dem Boot und blieb direkt vor dem Nibuüm stehen. Doch nicht er, sondern Amertin ergriff das Wort. 243
»Was wollt Ihr damit sagen? Wollt Ihr uns davonjagen, sodass wir bis nach Hemgara fahren müssen?« Der drohende Unterton schien bei dem Nibuüm seine Wirkung zu verfehlen. »Ihr wartet hier. Der Dulce wird geholt.« »Aus dem Weg«, brummte Amertin und wollte den Nibuüm zur Seite schieben. Dieser jedoch wich keinen Zentimeter von der Stelle. Auch sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht. »Vielleicht sollten wir doch auf den Dulce warten«, schlug Cughlyn vorsichtig vor. »Unsinn!«, sagte Amertin. Er legte sein ganzes Gewicht in den Stoß, doch der Nibuüm schien sich in eine Statue verwandelt zu haben; er bewegte sich immer noch nicht. Verwundert stellte Amertin seine Bemühungen ein, zuckte die Achseln und wollte weitergehen. »Ihr wartet hier«, sagte der Nibuüm, streckte eine Hand aus und hielt Amertins Tunika fest. Dem Kurmer gelang es nicht, sich aus dem Griff des Mannes zu befreien. Cughlyn legte Amertin eine Hand auf die Schulter. »Wir warten«, sagte er. Der Nibuüm ließ sofort die Tunika los und trat einen Schritt zurück. Es dauerte lange, bevor die beiden anderen Nibuüm mit einem dritten Mann den Weg herunterkamen, der zum Hafen führte. Der Mann, der folglich der Dulce sein musste, blieb zwei Meter von Amertin und Cughlyn entfernt stehen. Sein Blick, in dem goldene Lichter funkelten, schuf einen noch größeren Abstand. Er nickte zunächst Cughlyn zu. »Willkommen, Cughlyn, Regulator des Desran. Auch wenn es derzeit keinen Desran gibt, der Euch Aufträge erteilen könnte.« Cughlyn nahm die Worte regungslos entgegen. »Und wen haben wir hier?«, sagte der Dulce und wandte sich Amertin zu. »Roga aus Vartyan, Bruder des unglücklichen Bein, auf der Suche nach Blutrache, durch und durch Kurmer.« Amertin erbleichte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Ihr täuscht Euch, mein Herr«, sagte er heiser. »Mein Name ist Amertin aus Feder.« 244
Der Dulce schüttelte den Kopf. »Nein, Roga, ich täusche mich nicht. Doch was geschehen muss, das soll geschehen.« Nach diesen rätselhaften Worten trat er zurück und machte eine einladende Geste in Richtung der zehn Türme. »Willkommen in Yle em Avrilux. Unser Haus ist Euer Haus, wie das Sprichwort der Solitäre es so gastfreundlich verkündet. Es gibt noch andere Gäste, und wenn ich gut unterrichtet bin, werden in Kürze noch weitere vor der Tür stehen.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, betrat er den Weg nach Yle em Avrilux, gefolgt von den drei Nibuüm, Cughlyn und Amertin.
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31 Der Fischer von Ribbe »Sein Gedächtnis! Ich habe noch nie ein derartiges Gedächtnis erlebt. Faszinierend, als würde man in einen Spiegel blicken. Scharf wie ein frisch gewetzter Handgelenkdolch und hell wie das Wasser der Bucht von Tayrin. Ich wusste nie, ob es Teil seiner Unmagie war, doch die Genauigkeit, mit der er ein lang zurückliegendes Ereignis beschreiben konnte, war beängstigend. Er erinnerte sich an alles, bis ins kleinste Detail. Er beschrieb Bewegungen und Gebärden, die nicht seine waren, und konnte Gespräche, die Jahre zuvor stattgefunden hatten, wortwörtlich wiederholen, mit genau demselben Tonfall und der Intonation der anderen Menschen. Ach, hätte ich diese Fähigkeiten doch auch besessen, dann hätte ich meine Aufgaben sehr viel leichter erfüllen können.« – Aus ›Meine Tage mit dem Zauberlosen‹, Manuskript eines namenlosen Reisegefährten Die Reisegefährten waren nur noch einen halben Tag von Yle em Avrilux entfernt, doch sie waren hundemüde. Sie hatten mehrere Schneegestöber überstanden, die das Passieren des Pfades immer schwieriger gemacht hatten. Als sie ein Gebiet mit vielen Bäumen, flachen Seitenschluchten und vereinzelten Höhlen erreichten, beschlossen sie, sich erst einmal etwas Schlaf zu gönnen. Sie richteten sich in einer niedrigen Höhle ein, die nur über einen rutschigen Sims von weniger als zwei Metern Breite zu erreichen war. Zunächst wurde Holz für ein Feuer gesammelt. Pit erbot sich, die erste Wache zu übernehmen. 246
Es dauerte nicht lange, da waren alle in Schlaf gesunken. Pit vergeudete keine Zeit und sorgte dafür, dass sie von der Höhle aus nicht direkt gesehen werden konnte. Das nasskalte Streicheln der Schneeflocken ließ Pit unbeeindruckt. Über ihren Mantel hatte sie eine Decke geschlagen. Sie versuchte sich Klarheit zu verschaffen, ob sie mittlerweile süchtig nach der Kraft war, oder einfach nur ein Dickkopf. Natürlich spürte sie Verlangen nach der Kraft. Dieses prickelnde Gefühl, das damit verbunden war, verschaffte ihr Glücksmomente. Sie versuchte sich einzureden, sie setze die Kraft nur ein, um Lethe zu finden und mit ihm zu reden, falls das möglich war. Und dennoch, wenn sie an die Kraft dachte, zitterten ihre Hände, und ihr lief ein angenehmer Schauer über den Rücken. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf und schob alle Bedenken beiseite. Sie wusste, dass sie auf jeden Fall tun würde, was getan werden musste. Irgendetwas in ihrem Innern trieb sie voran und wischte jeden Widerstand beiseite, selbst die zu erwartenden Einwände und den Zorn ihres Lehrmeisters. Sie schloss die Augen und legte die Hände auf die Knie. In ihrem Kopf wurde es dunkel. Die Nacht und die Stille nahmen Besitz von Pit. Ihr Geruchssinn schien wieder ausgeprägter zu werden. Ein intensiver Duft von Kräutern stieg ihr in die Nase. Mit ihren geistigen Fingern begann sie alles um sich herum abzutasten. Sie spürte, wie sich der unsichtbare Körper ihres Geistes aufrichtete. Sie verließ ihre physische Hülle und ließ sich vom Nachtwind davontragen. Kurze Zeit später schwebte sie zwischen dicken Schneeflocken über dem schwarzen Wasserspiegel des Meeres, das bald vom Weißmeer ins Schwarzwasser überging. Ein Mantel der Kälte begleitete sie. An derselben Stelle wie einen Tag zuvor schoss sie durch die Wasseroberfläche und begab sich auf die Suche nach Lethe. Sie war sich ganz sicher, dass es dieselbe Stelle war; dennoch hatte sich irgendetwas geändert. Es schien, als befände sich die Unterwasserwelt in unruhiger Erwartung. Irgendetwas würde geschehen, und diese Welt wusste es. Riesige Steinfischschwärme schwammen alle in derselben Richtung, größere Fische folgten. Eilten sie etwas entgegen oder waren sie auf der Flucht? 247
Als Pit sich dem Ort näherte, wo sie beim letzten Mal die Anwesenheit eines Wesens erlebt hatte, hielt sie an und schaute sich um. Es war noch immer eine verwirrende Erfahrung, als könne sie mit tausend Augen, jedes mit anderem Blickwinkel, die wogende grüne Welt betrachten. Nachdem sie ihre Umgebung auf diese Weise eine Zeit lang untersucht hatte, zeichnete sich wenige Meter oberhalb des Sandbodens ein undeutlicher Schatten ab. Pit versuchte die Form zu erfassen und einzuordnen. War es ein Fisch von ungeheuren Ausmaßen? Sie bemühte sich, die Größe zu schätzen. In der Breite mussten es etliche hundert Meter sein, vielleicht sogar ein Kilometer. Dann wurde ihr klar, dass sie nicht wusste, wie weit die Gestalt von ihr entfernt war. Sie zögerte. Eine innere Stimme warnte sie, sich nicht von der Stelle zu rühren. Ihre Zweifel schwanden, als die Gestalt an Deutlichkeit gewann und gegen den Hintergrund aus Jade dunkler wurde. Der Schatten bewegte sich! Die Erinnerung an einen Tag am Strand von Wering schlüpfte über die Schwelle ihres in tausend Teile zersplitterten Bewusstseins. An der Flutlinie hatte ein großer, grau und braun gemusterter Plattfisch mit dem Schwanz eines Skorpions gelegen. Ein fast viereckiges Geschöpf mit weit hervorstehenden Augäpfeln. Der Rücken war mit Knubbeln bedeckt, und in der Mitte zog sich ein Band spitzer Stacheln bis zum Schwanzende hinab. Einen ähnlichen Fisch hatte sie noch nie gesehen, und später fragte sie Llanfereit, wie dieses Tier heißen könne, denn damals schon hatte sie das unwiderstehliche Verlangen, allen Dingen einen Namen zu geben. Llanfereit hatte ihr Abbildungen von mindestens zwanzig verschiedenen Plattfischarten gezeigt. Schließlich hatten sie sich geeinigt, dass es sich um einen Stachelrochen gehandelt haben musste. Mit einer unglaublich langsamen Wellenbewegung kam der Fischkörper – Pit war jetzt überzeugt, dass sie trotz der unfassbaren Ausmaße der Kreatur einen Fisch vor sich hatte – auf sie zu. Die Wellenbewegungen wurden von langgezogenen dröhnenden Schlägen begleitet, die Pit erzittern ließen. Der Sand wurde in großen Wolken zur Seite weggeschleudert, und lange Streifen von Seegras und braunem Kelp 248
schlingerten wie zerfranste Taue hinter dem Körper her. Die Unterseite war weiß, die Oberseite dunkelgrau mit gelben Flecken. Pit drängte sich der Vergleich mit einem großen, auf riesigen Schwingen schwebenden Vogel auf. Um den monströsen Körper schwirrte und wirbelte ein Chaos von Tausenden Fischen in allen erdenklichen Formen und Größen. Sie passten sich den Bewegungen des Wesens an, wogten mit ihm mit, als wären sie Teil dieses Geschöpfes. Sie mieden die mannshohen Stachel, die wie lange Schwerter über die Mitte des Körpers liefen, und wimmelten umeinander her, auf dem Weg zu einer unbekannten Bestimmung, mit unbegreiflichen Aufgaben beschäftigt. Als das Wesen näher kam, entdeckte Pit Hunderte von Fischen und Meerestieren, die auf dem Körper mitreisten, buchstäblich festgesaugt auf der blatternarbigen Fischhaut. Langsam öffnete sich ein Spalt von mindestens fünfhundert Metern. Seeschnecken, Krebse, Würmer und andere kleine Meerestiere glitten in das Maul des Fisches, das sich danach gemächlich wieder schloss. Und dann sah Pit die Augen. Zwei riesige gelbe Halbkugeln an der Vorderseite des Kopfes; darüber glitten mit unwahrscheinlicher Trägheit zwei braune Lider. Als diese Lider wieder verschwunden waren, glaubte Pit, das Geschöpf schaue sie direkt an, doch kurz darauf stellte sie fest, dass dies nicht der Fall war. Das Tier starrte an ihr vorbei und durch ihren zersplitterten Kraftkörper hindurch, wesenlos, als stecke hinter dem uninteressierten Blick kein Fünkchen Intelligenz. Der Fisch schwamm dicht über Pit hinweg. Er war noch erheblich größer, als sie gedacht hatte. Sie stieß einen tiefen geistigen Seufzer der Bewunderung aus, als der Körper mit kaum erkennbaren Flügelschlägen über sie hinwegglitt, wogend wie das Meer selbst. Als das Wesen schließlich an ihr vorüber war, sah sie den mit Stacheln bewehrten Schwanz, der sich wie eine Riesenschlange hinter dem Körper kringelte. Erst als das ferne grüne Licht wieder zu ihr durchdrang, bemerkte sie, dass da etwas auf geistiger Ebene bei ihr war. Ein Geist von der Größe einer Kathedrale. Ein dunkles Bewusstsein. Nicht weil es sich um ein düsteres Wesen handelte, stellte Pit fest, sondern weil es sich in einer selbst geschaffenen Nacht befand, in einem System aus Gän249
gen, die sich bewegten, glühten, pulsierten. Ein lebender Irrgarten. Ihr messerscharfer Geist kombinierte Wissen mit Intuition und löste innerhalb einer Sekunde das Rätsel, das ihre Tausende Augen sahen. Sie schnappte nach geistiger Luft. Innerhalb des dunklen Wesens bewegte sich etwas. In einem kuppelförmigen Raum leuchtete ein schwacher gelber Funken auf. Langsam bewegte Pit sich darauf zu. »Bist du das, Lethe?« Die Frage rutschte ihr heraus, bevor sie darüber hatte nachdenken können. Die Antwort kam, getragen von einer Geiststimme, in der sich Erstaunen und Freude mischten. »Pit? Bist du das? Bist du es wirklich?« Pit führte die Splitter ihres Wesens dichter an den kleinen Funken heran. Der winzige Lichtpunkt wuchs zu einer Flamme. Als Pit sich noch näher wagte, in die Aura des Wesens, wurde die Flamme zu einem lodernden Feuer. Sie zögerte. »Komm«, lispelte Lethes Stimme ganz in der Nähe. Pit glitt weiter, in das Feuer hinein. Wärme umschmeichelte sie. »Pit.« Sie hörte das Schluchzen in der Stimme. Einsamkeit, Todesangst, Erleichterung, Freude und noch ein weiteres halbes Dutzend Gefühle lagen in dem einen kleinen Wörtchen, ihrem Namen. Sie wollte Lethe um den Hals fallen, doch da war kein Körper, und sie besaß auch keine Arme. Ihr standen lediglich Worte zu Verfügung, die Gedankensprache. »Lethe, ich habe dich tatsächlich gefunden! Du lebst!« »Ja, ich lebe«, bestätigte Lethe. »Aber mein Körper ist … woanders.« Pit hörte es nicht, wollte es vielleicht nicht hören. Sie genoss seine Nähe, wie sie es immer getan hatte, und kuschelte sich mit ihrem Geist in seine Wärme. »Heute ist der Tag«, sagte Lethe. »Heute gehe ich im Herrn der Tiefe auf. Dann werde ich …« Er hielt abrupt inne. Wollte er ihr etwas verheimlichen? 250
»Vorher würde ich gerne noch schlafen«, fuhr er leise fort. Zum ersten Mal hörte sie so etwas wie Verzweiflung. Und dabei wusste sie nicht, wie sie ihn hätte trösten können. Das Verlangen nach anderen Zeiten, einem anderen Leben stürmte auf sie ein. Wie hatte es sie hierher verschlagen? Ihr Herz wünschte ein ganz gewöhnliches Leben für sich selbst und für Lethe. Doch ihr Name war mit einem anderen Schicksal verknüpft. »Kein Schlaf und keine Ruhe für uns«, sagte Lethe. Es klang, als habe er sich vorbehaltlos mit seinem Schicksal abgefunden. Da wusste Pit es plötzlich. »Ich komme mit dir!« Sie schrie es fast. »Ich bleibe bei dir, verborgen in der Kraft.« Lethe schwieg konsterniert. Pit spürte fast, wie er die Möglichkeit dessen, was sie gesagt hatte, von allen Seiten untersuchte. »Heute vollzieht sich die Verflechtung zwischen mir und der Herrin der Morgenröte«, begann er schließlich vorsichtig. »Ich vermute, dass sich ihr Geist und der meine auf die eine oder andere Art und Weise vereinen. Sie ist die Einzige, die den Herrn der Tiefe zu wecken vermag. Ich weiß nicht, ob dieser Vorgang gefährdet wird, wenn du bleibst …« Pit dachte darüber nach. »Ich bleibe«, sagte sie schließlich. »Wenn Gyndwane, wenn Asayinda mich entdeckt, können wir immer noch sehen, ob ich verschwinden muss.« »Und die Reisegefährten?«, fragte Lethe. Pit berichtete ihm, was alles geschehen war, seit er gegangen und ins Wasser gesprungen war. »Die Vogelfrau!«, rief Lethe aus, als Pit von Dankers Tod erzählte. »Ich habe sie in einem Traum gesehen und hatte den Eindruck, als wollte sie mich vor irgendetwas warnen.« Als Pit ihren Bericht beendet hatte, spürten sie beide den wachsenden Druck eines Wesens, das sich der Kuppel näherte. »Die anderen Lethes aus dem Labyrinth«, murmelte Lethe. Pit verhielt sich still und machte sich in Lethes Gedanken so unsichtbar wie irgend möglich. Plötzlich erinnerte sie sich an den riesi251
gen Stachelrochen. Sie wollte gerade etwas dazu sagen, als eine Stimme schmerzlich durch ihren Geist schnitt. »Lethe, seid Ihr vorbereitet?« »Nein«, antwortete Lethe wahrheitsgemäß. »Wie sollte ich für etwas bereit sein, das ich nicht kenne, von dem ich nicht weiß, wie es sich vollzieht, und vor dem ich eine Heidenangst habe?« »Das hätte auch von uns kommen können«, antwortete die Stimme. Seltsamerweise empfand Lethe bei dieser Bemerkung einen kleinen Trost. Er war schließlich nicht der Einzige, dem dies widerfuhr. Einhundertdreizehn Menschen aus Fleisch und Blut waren ihm vorausgegangen und lebten noch, wenn auch unter mehr als mysteriösen Umständen. Barg das einigen Trost? »Es ist Zeit. Die Herrin hat ihre Hand an die Säule gelegt. In Kürze wird sie sich zu uns gesellen. Wir werden das Labyrinth verlassen und uns ins Herrschaftsgebiet des Herrn der Tiefe begeben.« Lethe fragte überrascht: »Sind wir denn nicht der Herr der Tiefe?« Die Stimme antwortete: »Wir sind Teil des Herrn der Tiefe. Doch seine wahre Gestalt befindet sich nicht im Labyrinth. Wartet ab, lasst geschehen, was geschehen muss, und lasst Leere in euren Geist einkehren, macht ihn so frei es nur geht.« Das erschien Lethe als ein Ding der Unmöglichkeit. Fragen verdrängten sich gegenseitig aus seinem Bewusstsein, Bilder brannten sich auf seiner Netzhaut ein, und sämtliche Ängste, die ein Mensch sich überhaupt einfallen lassen kann, lauerten in den Winkeln seines Geistes. Wie sollte er unter diesen Umständen seinen Geist leeren? »Ich werde versuchen, dir dabei zu helfen«, flüsterte Pit in seinem Innern. Er war nicht allein. Ein zusätzlicher Trost, doch was bedeutete schon Trost, wenn man an der Schwelle zu einem Vorgang stand, der dem Sterben gleichkam? »Bleibt hier, in der Kuppel«, sagte die Stimme. »Verlasst diesen Raum erst, wenn Ihr gerufen werdet.« Die Stimme verschwand zusammen mit dem Wesen aus der Kuppel. Es wurde still. 252
»Lethe«, flüsterte Pit nach einiger Zeit. »Wohin gehst … gehen wir gleich?« »Wohin? Wie meinst du das?« »Gleich, wenn die Verflechtung vollzogen ist, wenn der Herr der Tiefe geweckt ist.« Lethe verfiel in tiefes Nachdenken. »Das weiß ich nicht«, sagte er dann schlicht. »Wir müssen das Versteck des Düsteren finden, aber ich habe keine Ahnung, wo es ist.« Pit überlegte. »Haben wir keinen einzigen Hinweis?« Lethe seufzte. »Ich habe wirklich nicht die geringste …« Er schwieg so plötzlich, dass Pit schon Angst hatte, ihm könnte etwas zugestoßen sein. »Lethe?« »Ich weiß es!«, stieß Lethe hervor. Sofort präzisierte er: »Ich glaube zu wissen, wo der Düstere gesucht werden muss. Als ich damals mit Matei Loh verließ, passierte mir in der Nähe von Ribbe etwas Seltsames. An der südlichen Klippenküste sah ich, wie ein Fischer sein dreieckiges Netz auswarf. Irgendetwas in meinem Innern nahm dieses Bild auf und ordnete es als wichtiges Ereignis ein. Damals habe ich mich darüber gewundert, denn warum sollte eine derart alltägliche Handlung von besonderer Bedeutung sein? Jetzt weiß ich, warum. Der Düstere warf sein Netz der farblosen Magie aus und ließ es als erstes über die Äußeren Riffe fallen. Matei glaubte daher auch lange Zeit, dass der Düstere dort sein Versteck haben müsste. Er schickte sogar ein Ehepaar nach Nord-V'ryn, das nach Spuren der Pulverisierung suchen sollte, aber auch nach dem Versteck des Düsteren.« Er machte eine kurze Pause und suchte nach den richtigen Worten. »Er hatte Unrecht! In der Nähe der Äußeren Riffe zu suchen, ist falsch. Wenn der Düstere sein Netz der farblosen Magie auf den Äußeren Riffen oder in deren Umgebung ausgeworfen hätte, wie ein bösartiger Fischer, der das gesamte Reich bedecken will, wäre der entfernteste Teil dieses Netzes an der gegenüberliegenden Seite des Reiches gelandet.« 253
Pit holte hörbar tief Luft. »Soll das etwa heißen, das Versteck des Düsteren befindet sich nicht bei den Äußeren Riffen, sondern auf der anderen Seite des Reiches?« »Ja. Je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich davon. Wo hält sich der Düstere auf, wenn er sein Netz auswirft und dieses auf den Äußeren Riffen landet? Er befindet sich an der am weitesten entfernten Stelle der gegenüberliegenden Seite. Das Versteck des Düsteren muss in der Nähe von Dunkel gesucht werden!« »Dunkel? Der trostloseste Flecken Erde des ganzen Reiches!« Noch während sie dies sagte, wurde Pit klar, dass die Einsamkeit für den Düsteren vorteilhaft sein musste. An keinem Ort des Reiches war es so still wie in der Gegend von Dunkel, dem erloschenen Vulkan, der nicht umsonst als Ende der Welt bezeichnet wurde. »Weißt du was?«, sagte sie nach einer kurzen Pause überrascht. »Mein Meister Llanfereit hat das vor einiger Zeit auch behauptet. Er kam auf ganz anderen Wegen als du zu diesem Schluss. Er hatte in Geschichten über das älteste Volk und in einigen Schriften der Nibuüm Hinweise gefunden, die ihn darauf brachten.« Lethe wollte sich dazu äußern, unterließ es jedoch, als das Wesen sich wieder ankündigte.
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32 Aernold und Matei »Mein Meister wird bereits jetzt, kurz nach seinem viel betrauerten Tod, als einer der wertvollsten Zauberer aller Zeiten eingestuft. Dieser Rang steht ihm durchaus zu. Nicht dass er unter allen Magiern die meisten Verteidigungsformeln beherrschte, nicht dass er tagein, tagaus unter Beweis stellte, was er konnte – es war vielmehr die Leidenschaft, mit der er Zauberer war, und die vollständige Hingabe, mit der er seine ›Kunst‹ – wie er die Magie bezeichnete – ausübte, die ihn so beeindruckend machten. Vor allem aber war er ein Forscher, ein Suchender nach den Hintergründen der Loher Magie, nach deren Spuren in der Geschichte, doch auch nach den Hintergründen der älteren Magie sowie nach deren Randerscheinungen, die von seinen Fachkollegen nur sehr selten in Angriff genommen wurden. Mein Meister wuchs mit jedem Tag, als Mensch wie in seinem Wissen und Wirken. Ich kenne Zauberer, die mit ihren Fähigkeiten umgingen, als wären sie ihnen zufällig gewährt worden. Sie alle entwickelten sich in ihrem ganzen Leben keinen Schritt weiter. Ich kenne Zauberer, die ihre Taten in völliger Abgeschiedenheit verrichteten. Doch Raielf besaß das außergewöhnliche Verlangen, immer noch mehr in Erfahrung zu bringen, noch mehr zu beherrschen, noch besser zu sein. Er war die Zauberei selbst. Seine gesamte Persönlichkeit war durchtränkt davon.« – Aus ›Die Hinterlassenschaft des Raielf, seine handschriftlichen Aufzeichnungen, die Werke aus seiner persönlichen Bibliothek‹, von Halbmagier Gurfandre aus Alt Thybwi 255
Llanfereit erwachte als Erster. Wie von selbst suchte sein Blick nach Pit. Als er sie nirgends entdecken konnte, wusste er eigentlich schon, was geschehen war. Er eilte aus der Höhle und sah ihren Körper auf der Erde liegen. Er hielt sein Ohr an ihr Herz, das langsam schlug. »Dumme Pit«, grummelte er, doch er schien eher beunruhigt denn erbost zu sein. In Wirklichkeit hatte er gewusst, dass Pit ihren eigenen Weg gehen, dem unwiderstehlichen Ruf der Kraft folgen würde. Vielleicht war dies ja auch Teil des unüberschaubaren Gewebes der Großen Legende. Llanfereit weckte die anderen und berichtete ihnen, wie es um Pit stand. »Vielleicht muss es ja so sein«, bekräftigte Matei Llanfereits Auffassung. Gaithnard hob Pits Körper hoch und legte ihn sich über die Schulter. Sie alle waren völlig übermüdet. Das letzte Wegstück nach Yle em Avrilux hätten sie unter normalen Umständen leicht innerhalb eines halben Tages zurücklegen können, doch sie erreichten das Heiligtum erst bei Einbruch der Dämmerung. Matei kannte die Örtlichkeiten von früheren Besuchen, doch die anderen standen staunend und ehrfurchtsvoll vor der Größe von Yle em Avrilux. Llanfereit stellte mit einigem Bedauern fest, dass der Kühne Furcher nicht in dem kleinen Hafen angelegt hatte. Pit hatte also doch nicht Recht behalten. Die Reisegefährten wurden von Dulce Aernold aus Sey Hirin herzlich empfangen. Pits Körper wurde in dem Zimmer gebettet, das für Llanfereit hergerichtet worden war. Der Dulce ging über ihre Bewusstlosigkeit hinweg, als wüsste er, was es damit auf sich hatte. Alle Reisegefährten konnten endlich wieder ein Bad nehmen und wurden mit passenden neuen Kleidern versehen. »Es werden noch mehr Leute kommen«, sagte der Dulce, als sie bei einem nach den Maßstäben der Solitäre üppigen Mahl im kleinen Remter saßen, zusammen mit einigen Hilfspriestern und dem zweiten Priester Uchate. »Wichtige Leute, diesen aufregenden Zeiten angemessen.« 256
Als sie das Mahl beendet hatten, stand der Dulce auf und gab seinem zweiten Priester ein Zeichen. »Uchate führt Euch zu Euren Zimmern. Ruht Euch gut aus. Uns bleiben noch ein oder zwei Tage.« Was er damit meinte, erklärte er nicht.
Die parkähnlichen inneren Gärten von Yle em Avrilux erstreckten sich zwischen den zehn Türmen wie ein Irrgarten aus Terrassen, die mit gelbem und grünem Krauchmoos bedeckt waren, und mit kleinen Pfaden, die sich zwischen hoch wachsendem Turmkraut, in gerader Linie angeordneten Blutrosen und weit ausladenden Schmetterlingssträuchern hindurchschlängelten, mit von Kanterbäumen und Seidenweiden eingesäumten breiten Wegen, mit schmalen Treppen, die zu erhöhten Flächen führten, wo Blumen in allen erdenklichen Farben blühten, mit von mannshohen Grünhecken und Rosenbögen eingeschlossenen Ruheplätzen und mit Springbrunnen, deren Wasserspender die Gestalt kupferfarbener Greifvögel und abstoßender Zwergdrachen mit abscheulichen Fratzen besaßen. Für die Reisegefährten bedeutete dieser Irrgarten eine andere Welt; hier konnten sie nach all den turbulenten Ereignissen der vergangenen Wochen erst einmal entspannt Atem holen. Eigentlich war die Gartenanlage ein regelrechtes Wunder. Schließlich war jetzt Winter. Außerhalb der Mauern von Yle em Avrilux herrschte bittere Kälte. Der Dulce hatte ihnen die Rohre unter den Türmen gezeigt. Aus dreißig Meter Entfernung schon hatten sie die Wärme gespürt. »In den Kellergewölben aller zehn Türme befinden sich Heizungsräume mit großen Öfen«, hatte er erklärt. »Die meisten Solitäre arbeiten in den Gärten, doch direkt danach kommt schon die Gruppe der Heizer. Sie sorgen für ein Klima, in dem alle Blumen, Sträucher und Bäume gedeihen können. Wenn es mitten im Winter doch einmal zu kalt zu werden droht, bedecken die Solitäre die Gärten mit Glasdächern.« »Woher holt Ihr denn das viele Holz?«, hatte Dotar gefragt. »Abgese257
hen von einigen Sträuchern und hier und da ein paar Sandweiden sind wir nichts begegnet, was man als Brennholz benutzen könnte.« Der Dulce hatte anerkennend zu der Frage genickt. »Unser Schiff, der Solitär von Avrilux, segelt regelmäßig zu anderen Inseln, auf denen mehr Holz zur Verfügung steht«, hatte er erläutert. Dotar hatte kurz seine weißen Augenbrauen hochgezogen. Die nächsten Inseln, die von Wäldern bedeckt waren, lagen mindestens fünf Schiffstage von Yle em Avrilux entfernt. Er hatte seine Zweifel, ob das kleine Fahrzeug in der Lage war, die Tag und Nacht arbeitenden Heizungsanlagen mit genügend Holz zu versorgen. Er fragte jedoch nicht weiter nach.
Am zweiten Morgen nach ihrer Ankunft trafen sich die Reisegefährten an der versteinerten Seidenweide, das Herz der Gärten. ›Aeternes‹ nannte der Dulce diesen Baum. Er hatte ihm wie einem alten Freund auf die Rinde geklopft. »Dieser Riese unter den Bäumen hat den Zyklus schon etliche Male mitgemacht«, hatte er gesagt. Matei, in einen dunkelgrünen, vom Dulce geliehenen Mantel gekleidet, legte seine Hand ehrfurchtsvoll auf die kalte Oberfläche des Baums. Die anderen erwarteten, dass er seine Bewunderung in Worte fassen würde, doch der Hochmeister drehte sich nur zu ihnen um, ließ sich mit einem Seufzer auf den Boden gleiten, zupfte an seinem Bart und strich sich über ein Ohr. Auf seiner Stirn erschien ein asymmetrisches Muster von Denkfalten. »Der Dulce teilte mir mit, dass wir heute Beschlüsse fassen werden«, sagte er. Diese Information wurde ruhig aufgenommen. »Er wird gleich zu uns stoßen. Er hat ein Geschenk für Euch, Gaithnard.« Gaithnard, der mit dem Handgelenkdolch spielte, den Dotar ihm gegeben hatte, schaute auf. »Für mich?«, fragte er. »Ich bin doch wohl der Letzte, der für ein Geschenk des Dulce in Frage kommen könnte.« 258
Matei zuckte mit den Achseln. Der Dulce kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Er trug einen langen Gegenstand, in ein Tuch aus grüner Taftseide gewickelt. »Guten Morgen, ihr Tapferen«, sagte er jovial. »Dies ist ein besonderer Tag, deren es in dieser Zeitenwende allerdings viele gibt.« Er ging geradewegs auf Gaithnard zu, nahm den Gegenstand feierlich in beide Hände und bot ihn dem Waffenmeister dar. »Ich habe etwas für Euch, Mann aus Kurm. Etwas, das den Verlust von Präter vollständig aufwiegen dürfte.« Gaithnard nahm den Gegenstand ein wenig verwirrt in Empfang und entfernte das Tuch. Er machte große Augen. »Rax, es ist … Rax!«, stammelte er. Der Dulce schaute erheitert zu. »Ich habe das Schwert aus Welden Taylerch mitgenommen. Lethe hat keine Verwendung mehr dafür. Ihr hingegen benötigt es wohl noch.« Die Erwähnung von Lethes Namen brachte sie auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Gaithnard packte Rax mit Ehrfurcht am Griff und prüfte durch eine Reihe von Arm- und Handgelenkbewegungen die Ausgewogenheit. Schließlich schüttelte er den Kopf und wickelte das Schwert wieder in das Seidentuch. »Bei allem Respekt, Herr, diese Waffe gehört nicht zu mir. Sie verlangt nach einer anderen Hand. Sie ist sehr eigenwillig, führt nicht aus, was ich will, und passt sich nicht meinen Bewegungen an. Müsste ich dieses Schwert in einem Duell benutzen, würde ich unterliegen.« Der Dulce wies die Waffe freundlich zurück. »Ihr täuscht Euch, Gaithnard. Es ist ganz gewiss Euer Schwert, in viel stärkerem Maße, als es Lethes Waffe war. Nur handelt es sich eben um ein ganz besonderes Stück. Es wurde aus fünf Schwertern geschmiedet. Diese Rune«, erwies auf das Zeichen am Griff, »heißt Kaharr. Dieses Schwert ist fast so alt wie ich, doch die Rune ist sehr viel älter. In diesem Zeichen ruht unendliche Stärke. Dagegen verblasst jede uns bekannte Magie. Eine Stärke, die nur durch hemmungslose Wut ausgelöst wird.« Ein Geräusch weckte ihre Aufmerksamkeit. Auf dem gewundenen 259
Pfad, der zur Seidenweide führte, näherten sich zwei Männer. Ihr federnder Gang verriet gestählte Körper. »Diese Wut werdet Ihr brauchen, Kurmer«, sagte der Dulce und trat zurück. Dotar war der Erste, der einen der beiden Männer erkannte. »Cughlyn!«, stieß er hervor und zog mit einer fließenden Bewegung sein Kampfschwert aus der Rückenscheide. »Der Regulator trifft auf den Regulator«, kommentierte der Dulce freundlich. Cughlyn zog ein kurzes Schwert unter seiner Tunika hervor und rief: »Der Regulator trifft auf den Verräter, meint Ihr wohl! Dotar aus Wintergang, Ihr habt die Ehre unserer Zunft mit Füßen getreten. Bereitet Euch auf den Tod vor.« »In diesen heiligen Gärten wird nicht gefochten«, sagte der Dulce ruhig und ergriff mit zwei blitzschnellen Bewegungen sowohl Dotars als auch Cughlyns Schwertarm. Cughlyn versuchte sich loszureißen, doch es gelang ihm nicht. »Hört gut zu, Regulator«, sagte der Dulce, immer noch in freundlichem Ton. »Ihr seid zu Gast im Heiligtum der Solitäre. Ein Gast unterwirft sich den geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen seines Gastherrn. Später werdet Ihr alle Zeit der Welt haben, Eure Meinungsverschiedenheit auszutragen, doch jetzt gibt es eine andere Kontroverse, die unsere Aufmerksamkeit erfordert.« Er ließ die beiden Männer los und trat zurück, sodass der zweite Mann sichtbar wurde. Gaithnard stieß einen leisen Pfiff aus. »Roga!« Der blonde Knabe trat feierlich vor und stellte sich direkt vor Gaithnard. Er legte seine rechte Hand in Höhe des Herzens auf den Wams. Langsam, mit ausgewogenen und genauen Bewegungen, zog er ein langes Schwert mit schwarzem Griff aus der Scheide, bückte sich und legte es vor sich auf die Erde, die Spitze auf Gaithnard gerichtet. »Roga aus Vartyan präsentiert Stachel, das Erste Schwert von Kurm.« Dotar fluchte leise vor sich hin und wollte zwischen die beiden ge260
hen, doch mit einer kurzen, unmissverständlichen Handbewegung hielt der Dulce ihn zurück. »Wo ist Präter, das verräterische Blutschwert der Erzyriem?«, fragte Roga. Der Blick seiner dunklen Augen glitt verächtlich über das Blatt von Rax und bohrte sich dann in Gaithnards Augen. »Ihr werdet es mit einem anderen Schwert aufnehmen müssen«, lautete Gaithnards lakonische Antwort. Der Waffenmeister schien sich vom ersten Schrecken erholt zu haben. Er trat vor und blickte Roga fest an. »Was das Blut betrifft, dafür kann ich, wenn es sein muss, höchstpersönlich sorgen. Ich ziehe jedoch ein Leben ohne den Och Pandaktera vor.« Roga drehte sich mit einer heftigen Bewegung zum Dulce um. »Ich fordere ein Herausforderungsgefecht.« »Was? Ein Herausforderungsgefecht?«, fragte Llanfereit. Gaithnard antwortete: »Außerhalb von Kurm kann jemand, der die Blutrache sucht, jederzeit den Och Pandaktera fordern, vorausgesetzt, dass die Umstände dies rechtfertigen.« »Und sind diese Umstände hier schwerwiegend genug?«, fragte Llanfereit. Roga drehte sich wütend um. »Der Erzyriem entzieht sich der Och Pandaktera. Er flieht von Insel zu Insel, um sich meinem Schwert zu entziehen.« Er ignorierte Gaithnards Wiehern. »Wer sich so feige verhält, muss in jeder Minute seines Lebens damit rechnen, dass er zum Herausforderungsgefecht gezwungen wird.« Er wandte sich wieder an den Dulce. »Ich ersuche Euch als Gastherrn, uns Gelegenheit zu geben, unsere Blutfehde in einem Herausforderungsgefecht auszutragen.« »Was für ein Unsinn …«, begann Llanfereit, doch der Dulce gab ihm ein Zeichen zu schweigen. »Roga, der also nicht Amertin ist«, der Dulce lächelte und schaute den Knaben mit leisem Vorwurf an, »hat meine Zustimmung.« Dotar und Marakis wollten protestieren, und auch Matei hob die Hand, aber der Dulce fuhr unbeirrbar fort. »Es gibt zwei Bedingun261
gen. Zum einen, dass dieses Herausforderungsgefecht sich nicht innerhalb der Mauern von Yle em Avrilux abspielt. In unserem Heiligtum fließt einzig das Blut der Solitäre, die sich selbst geißeln. Die zweite Bedingung ist ebenso einfach wie bindend: Ich werde als Blutrichter fungieren.« Matei schaute den Dulce verblüfft an. Roga trat einen Schritt zurück und fragte mit einem Unterton, in dem sich Unglaube und Misstrauen mischten: »Was versteht denn der Dulce von unserem Och Pandaktera? Warum sollte ich ausgerechnet ihn als Blutrichter akzeptieren?« Er wies mit dem Daumen hinter sich. »Ich hatte eher an Cughlyn gedacht. Er ist ein Regulator und weiß, was Ehre bedeutet.« Der Dulce schaute Roga nur weiterhin an, ohne einen Ton zu sagen. »Also gut«, sagte dieser schließlich zögernd. »Der Dulce ist Blutrichter und Cughlyn mein Sekundant.« Gaithnard stieß Rax vor sich in die Erde, legte die Arme über Kreuz auf den Griff und sagte mit einem tiefen Seufzer: »Ich sehe ein, dass dieses Herausforderungsgefecht unvermeidlich ist, auch wenn ich die Gesetze des Och Pandaktera seit langem nicht mehr unterschreibe. Das Kurmer Blut wird erneut fließen. Ich werde gegen Roga kämpfen. Dass der Dulce die Funktion des Blutrichters übernimmt, betrachte ich als Ehre. Mein Sekundant ist, wenn er zustimmt, Dotar aus Wintergang.« Dotar nickte. »Gut«, sagte Gaithnard. »Ich werde mich an die Rituale der Blutrache halten, aber unter einer Voraussetzung.« Er drehte sich zu Cughlyn um. »Wie der Ausgang des Kampfes auch sein mag, ich wünsche, dass Cughlyn von der Erledigung seines Auftrags Abstand nimmt, egal wie dieser zustande kam. Wie wir alle wissen, ist der Desran tot. Und unabhängig davon, wer in Romander-Stadt derzeit das Heft in der Hand hat, ist er nicht zu derartigen Aufträgen berechtigt, denn der Thronfolger nach dem Gesetz steht hier.« Er fasste Marakis an der Schulter. »Ich weiß, dass Marakis als Euer Gebieter keinesfalls will, dass Dotar ums Leben gebracht wird.« 262
»Das kann ich voll und ganz bestätigen«, sagte der Kronprinz. Cughlyn schaute unschlüssig von Gaithnard zu Marakis und dann zu Dotar. »Für Regulatoren, wirkliche Regulatoren, ist das Leben eine glasklare Angelegenheit. Dotar hat die Ehre der Regulatoren in den Schmutz gezogen. Er war beauftragt, den Zauberlosen zu töten. Er hat versagt. Er hat sich sogar den Verrätern angeschlossen. Warum also sollte ich von meinem Vorhaben abrücken?« »Dotar hat versucht, Lethe zu töten«, entgegnete Marakis. »Der Versuch scheiterte. Gleich darauf konnte ich ihn darüber informieren, dass der Auftrag des Desran, meines Vaters, widerrufen war. Diese Menschen hier sind alles andere als Verräter. Im Gegenteil, sie sind Retter des Reiches. Demnach gibt es nur einen Schluss: Dotar hat keinen Verrat begangen!« Der Dulce nickte zustimmend. Cughlyn blinzelte. »Ich wusste nicht …« Er schaute zu Boden. »Wenn Marakis der Desran ist …«, begann er. Dann hob er den Kopf. »Ein Regulator weiht sein ganzes Leben dem Schutz seines Desran und verspricht, ihm ewig zu dienen. Ich werde Marakis beschützen und dienen.« Der Dulce zeigte Zeichen von Ungeduld. »Morgen in aller Frühe wird auf dem Platz vor dem Haupteingang der Och Pandaktera mittels eines Herausforderungsgefechts ausgetragen. Zu einem späteren Zeitpunkt kann das Herausforderungsgefecht nicht mehr stattfinden, denn übermorgen schon wird im Bogensaal eine wichtige Feierlichkeit abgehalten. Bis morgen früh wird es auf diesem heiligen Grund keinerlei Gewalttat geben. Jeder von Euch besitzt genügend Ehrgefühl, um dies zu respektieren.« Er schaute sie einen nach dem anderen eindringlich an, winkte Roga und Cughlyn herbei und entfernte sich zusammen mit ihnen.
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An diesem Abend suchte Matei den Dulce auf. Dazu musste er in Begleitung eines Solitärs halb Yle em Avrilux durchqueren. Seine Ehrfurcht vor diesem gewaltigen Bauwerk wuchs mit jedem der vielen hundert Schritte. Nachdem sie eine ganze Reihe von Gängen passiert hatten, niedriger gelegene Seitenstollen betreten hatten und Treppen hinauf und hinunter gestiegen waren, blieb der Solitär endlich am Ende eines Ganges, in dem es nicht mehr weiterging, vor einer Tür stehen, die mit einem kompliziert konstruierten Mosaik eingelegt war. Er drückte die Klinke herunter und machte eine einladende Geste. »Der Dulce erwartet Euch.« Er trat zur Seite und ließ Matei vorbei. Der Hochmeister betrat einen kleinen Raum. Dieser war einfach, aber geschmackvoll eingerichtet. An einer Seite stand ein Tisch, der als Schreibtisch diente, mit einem Sessel aus Hartholz davor. Auf der anderen Seite flackerte ein Feuer in einem kleinen, roh gemauerten Kamin. In einem tiefen Sessel saß der Dulce, der von einem Folianten hochschaute, in dem er gelesen hatte, und dann auf den neben ihm stehenden Sessel wies. »Tee für uns, Difter«, rief er dem Solitär zu, der in der Tür stehen geblieben war. Der Mann nickte und verschwand. »Was habt Ihr auf dem Herzen, Matei?«, fragte der Dulce. Matei lächelte, zupfte an seinem Bart und beugte sich vor. »Wollt Ihr wirklich alles hören, Aernold? Dann dürfte eine Nacht nicht ausreichen.« Der Dulce klopfte dem Hochmeister lächelnd auf den Unterarm. »Ich registriere mit Zufriedenheit, dass Ihr auf der Reise Euren Sinn für Humor nicht verloren habt. Humor ist jene Waffe, die dem Düsteren fehlt. Zumindest eine dieser Waffen.« »Das ist eines der Dinge, die ich mit Euch besprechen möchte.« »Doch zuerst der Och Pandaktera«, sagte der Dulce vorsichtig. Matei ließ sich im Sessel zurückfallen und schaute den Führer der Solitäre von der Seite an. »Warum?« 264
Der Dulce starrte eine Zeit lang in die Flammen, strich seinen dunkelblauen Mantel glatt und räusperte sich schließlich. »Wir kennen einander schon länger als erst seit heute, Matei. Ich denke mit Freuden an unsere Treffen auf Kryst Valdare zurück. Wir waren zwar nicht immer einer Meinung, zeigten aber stets Respekt für den Standpunkt des anderen. Dennoch werdet Ihr heute Abend nur wenig befriedigende Antworten von mir bekommen. Was die Blutrache des Kurmers betrifft: Sie spielt eine Rolle in all den Dingen, die sich um Lethe herum abspielen, den Unmagier. Ich würde das Risiko, das Gaithnard eingeht, lieber vermeiden, genau wie Ihr. Doch dieses Herausforderungsgefecht muss stattfinden.« »Aber …«, Matei verstand nur zu gut die Trivialität der stets wiederholten Frage, »aber warum?« Der Dulce blickte zur Decke. »Die Frage müsste wohl lauten: Mit was?« Als Matei noch eine Frage stellen wollte, hob der Dulce die Hand. »Mehr kann ich wirklich nicht sagen. Aber jetzt habe auch ich noch etwas auf dem Herzen.« Die Stille, die nun eintrat, schuf Raum für die besondere Bedeutung dessen, was der Dulce sagen würde. »Matei, Hochmeister.« Es klang wie eine überflüssige Feststellung. »Ein junger, genialer Zauberer begibt sich ohne ersichtlichen Grund auf die Suche nach Spuren des größten Tabus, das das Reich kennt.« Er drehte sich zu Matei um und blickte ihm tief in die Augen. Matei blinzelte, bevor er den Dulce direkt anschauen konnte. »Es sind etliche Mächte am Werk«, sagte der Dulce. »Neben den Spielern auch die letzten Vertreter des ältesten Volkes. Aysilendil ist … war sogar beides. Und dann gibt es noch einige Geschöpfe, die mühelos durch die zahllosen Jahrtausende zu gleiten scheinen, wie Wolken am Firmament der Ewigkeit. Zu diesen Wesen gehöre auch ich.« Er hielt Mateis Blick gefangen. »Ihr habt es bereits vermutet«, fuhr der Dulce flüsternd fort. Matei nickte, ohne den Blick abzuwenden. »Gut. Eure Vermutung ist hiermit bestätigt. Ich spiele eine Rolle in 265
einer Erzählung, die Zeitalter überspannt. Eine selbstgewählte Rolle. Ich bin älter als jeder andere in diesem Reich.« Der Blick, der Matei immer noch festhielt, verschwamm für einen Moment. »Jedenfalls soweit mir bekannt ist.« Es wurde still. Difter kam mit dem Tee. Als der Solitär wieder gegangen war, sagte der Dulce: »Über all die Jahre hinweg entwickelt man auch eine gewisse Intuition für das Erkennen von anderen Langlebenden.« Tief in Mateis hellen Augen flammte ein goldenes Feuer auf. »Ein sehr abrupter Themenwechsel«, sagte er vorsichtig. Der Dulce nickte, lieferte jedoch keine direkte Erläuterung. »Wisst Ihr«, fuhr er ungerührt fort, »Langlebende besitzen bestimmte … Gemütsverfassungen, die normale Sterbliche aufgrund ihres unwiderstehlichen Verlangens, alles in ihr kurzes Leben zu pressen, entbehren. Damit meine ich ihre Wehmut, immer dicht unter der Oberfläche, aber auch die unendliche Geduld, mit der sie zu Werke gehen. Der sorgfältige Beobachter entdeckt, dass Langlebende unter einer unterschwelligen Traurigkeit leiden, einer kaum wahrnehmbaren Trägheit und manchmal einem Mangel an Tatkraft. Ich bin einer dieser sorgfältigen Beobachter; schließlich verfüge ich über mehr als ausreichend Zeit dafür. Schon seit einer ganzen Weile habe ich eine Vermutung.« Er klopfte auf den Folianten auf seinen Knien. »Als meine Vermutung wie eine Vogelkirsche im Frühling zu wachsen begann, habe ich mich in einige Schriften vertieft, zum Beispiel diese hier.« Er hielt das Buch hoch, sodass der Titel zu lesen war: Die Hinterlassenschaft des Raielf, seine handschriftlichen Aufzeichnungen, die Werke aus seiner persönlichen Bibliothek. Matei erbleichte, doch der Dulce schien es nicht zu bemerken. »Das ist ein einzigartiges Buch, Matei. Fidal, der Archivar der Kaiserlichen Bibliothek in Romander-Stadt, sucht immer noch danach«, fuhr er mit einer Stimme fort, die vermuten lassen konnte, es handele sich um eine Kleinigkeit. »Ich habe das einzige existierende Exemplar entwendet. Für einen Dulce eine ziemlich bemerkenswerte Tat, nicht wahr? Vielleicht ahnt Fidal sogar, dass ich es war, doch wer glaubt 266
schon einem Archivar, wenn der behauptet, der höchste Geistliche im Reich von Romander sei ein gewöhnlicher Dieb?« Seine Finger glitten über das Titelblatt. »Der Autor ist ein gewisser Gurfandre, einer von Raielfs Schülern, der es später als Halbmagier sogar zu einiger Berühmtheit brachte. Kennt Ihr den Namen?« Matei machte eine Geste, die alles und nichts bedeuten konnte. Dem Dulce schien das als Antwort zu genügen, denn er fuhr fort: »Gurfandre war ebenfalls ein Genie. Seine intuitiven Fähigkeiten waren so ausgeprägt, dass er ein Unmagier hätte sein können. Auf einer der letzten Seiten dieses Werkes äußert er den Verdacht – wahrscheinlich eher als Wunschtraum denn aus innerer Überzeugung –, sein Meister, den er sehr geliebt hatte, habe vielleicht doch dem Tode entrinnen können, der jammervollen und völligen Vernichtung durch die farblose Magie, wie er es nennt.« Der Dulce erhob sich und legte den Folianten auf Mateis Schoß. Sein Zeigefinger stieß wie ein treffsicherer Zeigestock auf einen bestimmten Absatz. »Lest das bitte laut vor.« Matei kratzte sich am Ohr und klimperte dreimal hintereinander mit den Wimpern. »Wenn Ihr darauf besteht«, sagte er heiser. Er beugte sich über den Absatz und las: »Dem Leser möge deutlich sein: Mich verlangt es noch täglich nach einem Wiedersehen mit meinem Meister. Ich vermisse seine zur Kunst entwickelten magischen Fähigkeiten, sein unendliches Wissen. Ich vermisse die Falten, die auf seiner Stirn erschienen, wenn sich ein Problem abzeichnete. Ich vermisse seine gewohnheitsmäßigen Gesten, das Zupfen an seinem Bart, das Kratzen am Ohr und das Beißen auf die Unterlippe. Ich vermisse das dreimalige Klimpern mit den Wimpern, wenn er seine Unsicherheit oder Überraschung überspielen wollte. Ja, lieber Leser, ich vermisse ihn.« Matei schaute auf und schwieg abwartend. Aus seiner Haltung sprach Gelassenheit. Der Dulce schaute erneut zur Decke. 267
»Die kleinen Dinge …«, sagte er leise. Er blickte auf Matei. »Bester Hochmeister, während Eures kurzen Verbleibs hier habt Ihr schon so oft an Eurem Bart gezupft, an Eurem Ohr gekratzt und Euch auf die Unterlippe gebissen, dass ich manchmal beinahe laut hätte loslachen müssen. Und dabei haben wir noch nicht die asymmetrischen Falten auf der Stirn und das dreimalige Klimpern mit den Wimpern erwähnt. All diese gewohnheitsmäßigen Gesten für sich genommen besagen noch nichts, doch wenn es gleich so viele auf einmal sind …« Matei schien in sich zusammenzusinken. »Gut«, seufzte er schließlich. »Reden wir nicht länger um den heißen Brei herum. Vor Euch sitzt Raielf, auch wenn es mir lieber wäre, wenn Ihr mich weiterhin Matei nennt. An diesen Namen habe ich mich nun einmal gewöhnt. Die legendäre Geschichte meines Todes dürft Ihr getrost als Märchen betrachten. Ich habe die Gefahr der farblosen Magie entdeckt und entdeckte Hinweise über den Neuntausendjahreszyklus, den ich als entscheidend für den Fortbestand des Reiches erachtete. Zur selben Zeit stieß ich in einer alten Schrift auf die Ingredienzien für ein langes Leben. Nach erheblichem Zweifeln und jeder Menge Kauen auf der Unterlippe«, er lächelte schalkhaft, »beschloss ich dann, meinen eigenen Tod zu inszenieren. Das war die einzige Möglichkeit, ungestört in dem herumzustöbern, was damals bereits tabuisiert war: der farblosen Magie. Was hätte den Stoff für ein schöneres Trauerspiel liefern können, als den großen Forscher nach farbloser Magie durch ebendiese farblose Magie umkommen zu lassen? Niemand wäre jemals auf den Gedanken gekommen, dass die neue Küchenhilfe, die kurz nach den dramatischen Ereignissen auf Loh seine Arbeit am Hof des Desran aufnahm – ein gewisser Kammer aus West-Gyt –, niemand anders war als Raielf. Das war vor achthundert Jahren. Nach einiger Zeit zog ich nach Sey Dant, wo ich den größten Teil meines Lebens verbrachte. Auch dort setzte ich meine Forschungsarbeiten über farblose Magie fort. Als die Zykluswende immer näher rückte, habe ich mich unter Zuhilfenahme von Nicht-Loher Magie und der ebenso altmodischen wie effektiven Bindung Verstreuender Gedächtniszerstäubung als Sohn eines Loher Vaters auf der Zaubererinsel niedergelassen. 268
Ich absolvierte das Instirium mit glänzenden Ergebnissen und wurde Hochmeister. Der Rest dürfte Euch bekannt sein.« Der Dulce beugte sich vor und klopfte Matei auf die Schulter. »Ihr tut im Grunde dasselbe wie ich, Matei: Ihr versucht, diese Zyklenwende sich so vollziehen zu lassen, dass die Chance, dem Zyklus ein Ende zu setzen, vergrößert wird. Für mich ist es ein Trost, dass ich nicht der Einzige bin, der ungebeten an der Beendigung des Zyklus arbeitet.« Matei presste für einen Moment die Lippen aufeinander. »Ich habe über die Opfer gelesen, Ihr habt sie offenkundig selbst mit ansehen müssen. Tausende. Wenn der Zyklus wirklich abläuft, kommt es zu einer neuen Zeit voller Unsicherheiten, aber alles ist besser als die vielen Toten. Ich kann mir kein schrecklicheres Ende vorstellen als die Pulverisierung.« Der Dulce nickte und lächelte leicht. Er wies auf den Folianten. »Schlagt einmal die letzte Seite auf. Ich hatte auch nach der Lektüre des Abschnitts über Eure Gewohnheiten noch immer Zweifel. Ich war mir erst sicher, dass Ihr es seid, nachdem ich das gelesen hatte.« Er zeigte auf den letzten Abschnitt. Matei hob das Buch hoch und las: »Und so gelange ich zum Schluss meiner Überlegungen. Mit all den von Wehmut getrübten Gedanken bekomme ich meinen Meister nicht zurück. Vor einigen Tagen entdeckte ich zufällig seinen Geburtsnamen. Er stand in seiner beinahe unleserlichen Schnörkelschrift auf der Rückseite eines unscheinbaren Büchleins mit dem Titel ›Auf der anderen Seite des Nachtmeers‹. Warum mein Meister das getan hat, wird wohl für immer ein Rätsel bleiben. Es steht im krassen Widerspruch zu seiner von mir so bewunderten Sorgfalt bei all seinen Handlungen. Sein geheimer Name war Matei, was in der Sprache des alten Volkes ›Sucher nach der Wahrheit‹ bedeutet. Ein sehr treffender Name, denn das war er durch und durch. Ich kann nur hoffen, dass sein Wirken dazu beitragen wird, die farblose Magie irgendwann zu bändigen.« Matei ließ das Buch in seinen Schoß fallen und senkte den Kopf. »Von der Existenz dieses Werkes habe ich nie etwas erfahren«, stam269
melte er. »Ach, Gurfandre …« Er starrte eine ganze Weile mit feuchten Augen auf den Saum seines Mantels. Dann schaute er auf, suchte den Blick des Dulce. »Nostalgie ließ mich zu dem Entschluss kommen, mich selbst Matei zu nennen, als ich mich auf Loh niederließ. Die Wehmut des Langlebenden.« Der Dulce nahm ihn in den Arm und sagte: »Kommt, macht Euch nichts draus. Ich allein weiß es, und ich sehe nicht, was andere damit anfangen könnten, wenn sie es wüssten.« Er ließ Matei los und setzt sich wieder in seinen Sessel. »Es kam Euch sicher gelegen, dass Ihr nicht bei der Willenskonzentration mitmachen musstet, oder?« »Ich hätte die Spuren meiner Vergangenheit nicht verborgen halten können«, bestätigte der Hochmeister. »Und seid Ihr Euch darüber im Klaren, dass unter den sieben Hochmeistern drei sind, die eine andere Identität besitzen? Drei Magier, die nicht der sind, der sie zu sein scheinen?« »Drei?«, flüsterte Matei. Er beugte sich vor. »Ich kenne den Verräter, aber wer sonst noch? Ein weiterer Verräter?« »Alles andere als ein Verräter«, antwortete der Dulce. »Vielleicht kommt Ihr noch dahinter. Ehrlich gesagt weiß ich selbst nicht, um wen es sich handelt.« Matei musste die rätselhaften Andeutungen erst einmal verarbeiten. Eine Zeit lang versank er in Gedanken. Dann hob er den Kopf. »Aber Ihr wisst, wer der Verräter ist?« »Ja.« Matei wartete. Beinahe rechnete er damit, dass der Dulce einen Namen nennen würde, doch dieser blickte nur mit halb geschlossenen Augen ins Kaminfeuer. Matei öffnete den Mund, zögerte, sagte schließlich aber doch, was ihn die ganze Zeit beschäftigte. »Und Randoël?« Der Dulce erstarrte in seinem Sessel. »Was soll mit Randoël sein?« »Aernold?« Matei flüsterte es fast. 270
Randoël neigte sein Haupt und seufzte. »Gute Arbeit, Matei«, sagte er. Es klang müde. »In Aernold aus Sey Hirin, dem Dulce von Yle em Avrilux, schlummert einiges vom alten Zauberer. Randoël hat sich eine Möglichkeit erdacht, die Jahrtausende zu überdauern.« Matei wunderte sich darüber, dass der Dulce über Randoël in der dritten Person sprach, wagte es aber nicht, ihm eine diesbezügliche Frage zu stellen. »Der Prozess, den ich durchmache, hat nichts damit zu tun, wie Ihr die Jahre hinter Euch bringt«, sagte der Dulce. »Ich kann und darf Euch auch nichts über die Jahre berichten, bevor ich Randoël war. Ich bin ein Langlebender, Matei. Jahrtausendelang glaubte ich sogar, ich sei der älteste auf der Erde lebende Mensch. Doch seit kurzem habe ich meine Zweifel, da sich in meiner Umgebung seltsame Dinge abgespielt haben. Ihr wisst mehr als fast jeder andere über mich. Behaltet es für Euch.« Er stand plötzlich auf. »Wir müssen noch sehr viel miteinander bereden«, sagte er und legte Matei die Hand auf den Arm. »In den nächsten Tagen muss es geschehen.«
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33 Herausforderungsgefecht »Die höchste Stufe der Waffenmeisterschaft? Schwert und Waffenmeister sind eins. Der Zuschauer wird nicht feststellen können, ob die überraschende Bewegung von der Waffe oder vom Schwertarm, dem Handgelenk oder der Hand eingeleitet wird. Wenn Waffenmeister und Waffe eine perfekte Einheit bilden, hat der Waffenmeister die höchste Stufe erklommen. Es ist jedoch ein Irrtum, wenn man davon ausgeht, dass ein Waffenmeister dann unbesiegbar ist.« – Fragment aus ›Festungsmeister Tharlens Universalhandbuch für den Waffenmeister‹ Der Morgen des Herausforderungsgefechts brach an. Es war ein grauer Tag, doch der drohende Schnee blieb, was er war: Ein nicht eingelöstes Versprechen. Das unbehagliche Schweigen beim Frühstück wurde nur von Cughlyn unterbrochen, der trocken mitteilte, er sei mit Gaithnards Wunsch einverstanden. Bevor sie sich zum Platz vor dem Haupteingang von Yle em Avrilux begaben, wo das Herausforderungsgefecht ausgetragen werden sollte, zog der Dulce Dotar kurz zur Seite und gab ihm einige Informationen. Dotar nahm sie unbewegt zur Kenntnis. Die Reisegefährten sowie Roga, Cughlyn und fünf Solitäre in hellgrauen Gewändern gingen unter Führung des Dulce zum Haupteingang und betraten den Vorplatz. Der Dulce trug bei dieser Gelegenheit 272
einen leuchtend goldenen Mantel. Roga marschierte selbstsicher direkt hinter ihm, in einen dicken blauen Mantel gekleidet, den der Dulce ihm zur Verfügung gestellt hatte. Es war kalt, was man an den Atemwolken sehen konnte, die jeder in die Luft stieß. Llanfereit stellte fest, dass Matei an diesem Morgen in düsterer Stimmung war. Gebeugt, als müsse er eine unsichtbare Last schleppen, schlurfte der Hochmeister neben dem Halbmeister her. Mitten auf den grauen Pflastersteinen des runden Platzes zog Roga den Mantel aus und legte sein Schwert nieder. Gaithnard bückte sich und tat dasselbe mit Rax. Beide Waffenmeister traten zurück. Die Reisegefährten und die Solitäre bildeten einen weiten Kreis um sie herum. »Blut um Blut«, sagte der Dulce. Seine goldenen Augen glänzten. Genoss er den Kampf? Llanfereit konnte es sich kaum vorstellen. Mit einer Stimme, als trüge er ein Glaubensritual vor, fuhr er fort: »Im Verfolg der Blutsverbundenheit, die jede Kurmer Familie mit ihrem eigenen Blut unterschreibt, unterbreite ich heute als Blutrichter die Riten des Och Pandaktera der Familie der Vartyaner, vertreten durch Roga. Desgleichen der Familie Erzyriem, vertreten durch Gaithnard.« Roga hatte die Augen vor Staunen weit aufgerissen. »Ihr kennt die Riten?« Der Dulce fuhr ungerührt fort. »Das letzte Glied der Kette des Och Pandaktera war Bein, zu seinen Lebzeiten Rogas ältester Bruder, welcher der Rache des Gaithnard zum Opfer fiel. Gaithnard trägt die Schuld seines Blutes.« Der Dulce schaute über die Häupter der Anwesenden hinweg. »Wer fungiert als Rogas Sekundant?« »Ich«, antwortete Cughlyn. »Cughlyn aus Falm, Regulator im Dienste des Desran. Hat jemand Einwände gegen ihn als Sekundanten?« Es blieb still. »Der Sekundant von Gaithnard?« »Ich«, sagte Dotar. »Dotar aus Wintergang, Regulator im Dienste des Desran. Hat jemand Einwände gegen ihn als Sekundanten?« 273
Wieder blieb es still. »Dies ist ein Herausforderungsgefecht, ein Blutracheduell außerhalb der Insel Kurm mit eingeschränkten Riten und einem verkürzten Waffengang«, sagte der Dulce. »Nichtsdestoweniger gelten die Riten, die Gesetze und die durch Tradition vorgegebene Aufrichtigkeit jedes einzelnen Teilnehmers, so als befänden wir uns auf Kurm. So mögen denn die Sekundanten ihre Aufgaben gemäß den Gesetzen des Och Pandaktera ausführen. Sie mögen jetzt ihren Platz einnehmen. Die Riten mögen beginnen.« Cughlyn und Dotar gingen jeder zum Schwert ihres Waffenmeisters und nahmen hinter dem Griff Aufstellung. »Diese Blutrache wird nach den Gesetzen des Och Pandaktera durchgeführt«, fuhr der Dulce unerschütterlich fort, »in diesem Fall mittels eines Herausforderungsgefechtes. Wer diese Gesetze während der Riten bricht, dessen Blut kann von jedem Kurmer, ob Mann oder Frau, genommen werden. Auch die Sekundanten der beiden Waffenmeister sind dazu ermächtigt.« Die Spannung war mit Händen zu greifen. »Och Pandaktera!«, rief der Dulce mit einer Intonation, als wäre er ein geborener Kurmer. »Och Pandaktera!«, antworteten Roga und Gaithnard gleichzeitig. Sie gingen zu ihren Sekundanten, die sich bückten und den Griff des jeweiligen Schwertes umfassten. Der Dulce nahm an jenem Punkt Aufstellung, wo die beiden Schwerter sich berührten. »Das Erste Schwert Stachel«, sagte Cughlyn, »geschmiedet von Tirdel Vyktelsson aus Ober-Tinandel im Jahre 8334. Das Zweitälteste Schwert von Kurm.« Cughlyn hob das Schwert mit einer feierlichen Geste am Griff empor. »Stachel für das Blut und die Ehre«, fuhr er fort und setzte die Waffe auf ihrer Spitze ab. »In der Hand von Roga aus Vartyan. Schwert und Hand sind eins in den Riten des Och Pandaktera.« Er ging auf Roga zu und reichte ihm das Schwert. Jetzt war Dotar an der Reihe. 274
»Das Schwert Rax, laut Aussage von Dulce Aernold aus Sey Hirin geschmiedet von Lankel aus Dart und D'Anjal Veskander Rai aus fünf anderen Schwertern. Das Schwert besaß bereits viele Namen, doch Rax ist der Name, den es jetzt trägt. Das Geburtsjahr dieses Schwertes ist für das Reich von Romander bedeutungslos.« Dotar schluckte kurz und sagte dann leise: »Das älteste Schwert dieser Welt.« Marakis stieß einen Ruf der Verwunderung aus. Llanfereit holte vor Überraschung tief Luft. Rogas Blick heftete sich mit Verwirrung und einer Spur von Angst an die Klinge von Rax. Doch auch Gaithnard konnte seine aufrichtige Verblüffung nicht verbergen. Sein Blick glitt über das Blatt und den Griff. Wenn ein Schwert so alt war, überlegte er, wie war es dann möglich, dass auf der Klinge nicht der geringste Flecken oder Kratzer zu sehen war? Wie konnte es dann sein, dass der Griff den Eindruck machte, als wäre er erst einen Tag zuvor hergestellt worden? »Rax für das Blut und die Ehre«, sagte Dotar mit flacher Stimme. Auch er setzte die Waffe auf der Spitze ab. »In der Hand von Gaithnard aus Erzyriem. Schwert und Hand sind eins in den Riten des Och Pandaktera.« Er ging auf Gaithnard zu und reichte ihm das Schwert. Ihre Blicke trafen sich. Wie auf Vereinbarung zwinkerten sie sich zu. Die beiden Waffenmeister stellten sich einander gegenüber auf. Gaithnard wurde hin und her gerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Hoffnung, da Rax mehr, sehr viel mehr zu sein schien als nur ein gutes Schwert. Verzweiflung, da es ihm sperrig in der Hand lag, nicht dazu bereit, das Geheimnis seines Gleichgewichts preiszugeben. Wie sollte er den geübten Roga mit einem unwilligen Schwert besiegen? Seine Gedanken wanderten zurück zu der Zeit, als er Präter zum ersten Mal in der Hand gehalten hatte. War ihm diese prächtige Waffe damals nicht auch steif und schwer erschienen? Vielleicht würde Rax sich wie damals Präter in dem Moment seinem Willen unterwerfen, wenn der Kampf begonnen hatte. Doch ein solch mächtiges Schwert würde sich niemals beherrschen lassen. Das Schwert war ihm überlegen – und so etwas hatte er noch nie erlebt. 275
Der Dulce gab den Solitären ein Zeichen, woraufhin diese in einem monotonen Rhythmus zu klatschen begannen. »Die vier Windrichtungen«, rief der Dulce. Im Takt des Händeklatschens hoben Roga und Gaithnard ihre Schwerter gleichzeitig gerade in die Höhe, dann nach Norden, wieder in die Höhe, danach nach Osten, Süden und Westen. »Nord zu Nord«, sagte der Dulce, und zwei Schwertspitzen beschrieben einen exakten Kreis. »Pfriem und Schlag.« Wie schon damals auf Kurm geriet Matei in den Bann der Riten. Gaithnard und Roga streckten ihr Schwerter nach vorne, während sie das rechte Knie leicht beugten, den linken Fuß nach hinten schoben und die linke Hand an die Hüfte legten. Dann wechselten sie die Schwerthand und nahmen Haltung an, die Schwertklinge vor dem Gesicht erhoben. »Krana!«, schrien sie gleichzeitig. Sie machten eine Vierteldrehung, und ihre Schwerter führten blitzschnelle Schläge gegen einen imaginären Gegner. Gaithnard glaubte, eine leichte Verbesserung im Zusammenspiel zwischen Schwerthand und Schwert zu spüren. Doch er hatte noch immer mit der Balance von Rax zu kämpfen. Neun weitere rituelle Schläge und Pfriemen wurden ausgeführt. Der Dulce machte eine Handbewegung, und das rhythmische Klatschen endete. Erneut konnte Matei sich nur mit Schwierigkeiten vorstellen, dass einer der beiden Waffenmeister, die sich vollkommen beherrscht, wie bei einem Tanz umeinander her bewegt hatten, das bevorstehende Duell nicht überleben sollte. Der Dulce trat vor, ergriff Gaithnard und Roga an deren schwertfreier Hand und hob diese hoch. »Och Pandaktera ist wieder über uns gekommen«, rief er laut, als spräche er zu einer großen Menschenmenge. »Die Kraft der Ehre ist unwiderlegbar. Der Ausgang des Blutracheduells ist unumstößlich. Das Blut wird fließen. Zwei Waffenmeister beginnen, zwei Waffenmei276
ster werden enden – einer lebend, einer tot. Denn es gilt eine Ehre zu rächen. Blut um Blut.« »Blut um Blut!«, riefen Gaithnard und Roga. Der Dulce ließ beide Hände los und stellte sich zwischen die beiden Waffenmeister. »Nur das Schwert, Gaithnard aus Erzyriem. Keine anderen Waffen.« »Nur das Schwert«, bestätigte Gaithnard. Der Dulce wandte sich an Roga. »Nur das Schwert, Roga aus Vartyan. Keine anderen Waffen.« »Nur das Schwert«, sagte Roga, den Blick fest auf Rax gerichtet. Der Dulce trat zur Seite. »Die ersten fünf Schwertbewegungen. Das Duell beginnt.« Roga und Gaithnard umkreisten einander, lauernd, abwartend. Jeder Schritt war durchdacht, jede noch so kleine Bewegung des einen wurde sofort durch eine Gegenbewegung des anderen beantwortet. Die Spannung wuchs. Roga bewegte das Handgelenk; es sah nach einer Zweiten Schwertbewegung aus, doch noch bevor er zum Schlag angesetzt hatte, ließ er die Schwertbewegung fließend in die Vierte übergehen. Gaithnard hatte es gesehen und wollte den Schlag abwehren, doch Rax lag wie ein Stück Blei in seiner Hand, sodass er den Bruchteil einer Sekunde zu spät kam. Stachel drang ihm in die Hüfte. Nur ein schneller Sprung zurück bewahrte ihn vor einem tieferen Stich. Gaithnard spürte, wie ihm das warme Blut aus der Wunde floss, und er fühlte die ersten Schweißtropfen über die Stirn laufen. Abwartend umkreiste er Roga, nur darauf bedacht, sich von Stachel fernzuhalten. Einmal wäre es Roga fast gelungen, Gaithnards Verteidigung zu überwinden, doch reflexartig riss dieser Rax hoch. Stahl klirrte auf Stahl, und die Funken sprühten. Schließlich verließ Roga den imaginären Kreis und gab so zu verstehen, dass er die erste Runde als beendet betrachtete. Gaithnard schloss sich ihm mit einiger Erleichterung an. »Wir überspringen sechs bis zehn«, sagte der Dulce kurz darauf, viel schneller, als Gaithnard lieb war. »Eine kurze Runde elf bis fünfzehn, danach alle Schwertbewegungen bis zum Ende.« 277
Roga war durch Gaithnards defensives Verhalten sichtlich irritiert. Diesem war klar, dass dies seine letzte Chance war, ein einigermaßen harmonisches Verhältnis zu der alten Waffe in seiner Hand zu finden. Gleich würden sämtliche Schwertbewegungen erlaubt sein, und dann musste er seine abwartende Taktik aufgeben. Sein Blick suchte den Mateis. Der Blick des Hochmeisters aber ruhte auf Rax. Zu Beginn der freien Runde stürzte Roga seinem Gegner entschlossen entgegen. Unbelastet von Einschränkungen durch die rituellen Schwertbewegungen, die ihn in seiner Schnelligkeit behinderten, unternahm er zunächst einige Scheinangriffe. Gaithnard durchschaute die Absicht, hegte jedoch arge Zweifel, ob er die Pfriem von rechts oder links früh genug würde parieren können. Roga kam mit der Pfriem von links. Zielgerichtet sauste die Schwertspitze auf Gaithnards Herz zu. Gaithnard spürte, fühlte und wusste, dass es spät für ihn war. Irgendetwas in ihm zerriss. Wut loderte in ihm auf. Er würde sein Leben lassen, nur weil dieses eigensinnige alte Schwert sich ihm nicht unterordnen wollte. Er würde ausgerechnet jenen Tod sterben müssen, den er sich als allerletzten wünschte: durch das Schwert eines Waffenmeisters, den es nach Blutrache dürstete. Die Wut schuf sich Raum, sprengte die Oberfläche seines Bewusstseins und ergriff Besitz von seinem Geist. Nur der Dulce und Matei sahen, wie die Rune auf dem Schwertgriff für einen Moment aufleuchtete. Hitze erfasste Gaithnards Fingerspitzen, breitete sich in der Hand aus, strömte wie glühende Lava in den Schwertarm und ließ schließlich den gesamten Körper in Feuer und Flammen stehen. Sein Geist wurde von durcheinander wirbelnden Bildfetzen bestürmt – zu viele und zu schnell aufeinander folgende Bilder, als dass er sie hätte wahrnehmen, geschweige denn im Gedächtnis speichern können. Irgendetwas stimmte nicht mehr mit der Zeit. Roga verharrte vor ihm, eingefroren in der Pfriembewegung, sein triumphierendes Grinsen erstarrt. Der Schmerz wurde unerträglich. Gaithnard riss die Augen auf. Seine Lippen lösten sich, doch bevor sein Schmerzensschrei sich Bahn brechen konnte, verwandelte sich von einem Augenblick zum anderen der 278
alles verzehrende Schmerz in ein Wohlgefühl, in barmherzige Wärme. Das alles vollzog sich schneller als das Zucken eines Blitzes. Gaithnards Schmerzensschrei wurde zu einem Wort, das ihm wie die Konzentration geballter purer Kraft über die Lippen kam. »Kaharr!« Das Wort wurde zu einem Gefühl, das aus allen Winkeln seines Körpers und Geistes durch seinen Schwertarm strömte und in seiner Hand zu explodieren schien. Gaithnard erlebte das Wunder, ein wütend flammendes Schwert zu führen, ohne dass ihn der dazugehörige Schmerz berührt hätte. Die Zeit setzte wieder ein. Im gleichen Moment wehrte Rax die Pfriem von Roga mit einem perfekten Diagonalschlag ab – den Bruchteil einer Sekunde, bevor Stachel sich in Gaithnards Herz bohren konnte. Während ein Teil von Gaithnards Geist noch mit dem Versuch beschäftigt war, die auf ihn einstürmenden Bilder zu verarbeiten, erlaubte es ihm seine durch viel Übung erworbene Bewegungsintuition, genau das zu tun, was getan werden musste. Plötzlich empfand er sich als eine einzige Zusammenballung von Reflexen. Er stampfte mit dem linken Fuß auf und startete einen Angriff über rechts. Rax flog auf Rogas Herz zu. Der Kurmer erkannte die Gefahr und wich zur Seite, während sich um seine Mundwinkel ein leichtes Lächeln abzuzeichnen begann. Mit unnachahmlicher Geschicklichkeit wechselte Gaithnard die Schwerthand und stieß Rax fast weich und scheinbar langsam in Rogas Leib. Stachel entglitt der Hand des Knaben und schlug in einem Funkenregen auf dem Pflaster auf. Mit weit aufgerissenen Augen und voller Unverständnis starrte Roga Gaithnard an. Dann senkte er den Kopf und sah, wie sein Blut über Rax' stahlharte Klinge strömte. Gaithnard zog Rax vorsichtig zurück. Roga sank auf die Knie, kippte vornüber und schlug mit einem Übelkeit erregenden Geräusch auf die Steine. Dies alles hatte sich in einer Art luftleerem Moment der Zeit ereignet. Die darauffolgende schockartige Stille dehnte sich über mehrere Sekunden. Dann kam Bewegung in den Dulce. Er näherte sich dem Knaben und beugte sich über ihn; dann drehte er sich um und schaute Gaithnard an. 279
»Och Pandaktera, das Blutgericht hat gesprochen«, flüsterte der Waffenmeister kaum hörbar. Der Dulce nickte. »Blut um Blut. Wie das Gesetz es vorschreibt. Wieder hat das Blutgericht gesprochen. Die Ehre des Gaithnard aus Erzyriem bleibt erhalten. Vartyan steht das Recht zu einem neuen Och Pandaktera zu. So geht der Zyklus von Leben und Tod weiter, wie ein unaufhaltsames Rad.« Cughlyn nahm sich des Körpers von Roga an. Zusammen mit einigen Solitären trug er ihn in Richtung des Haupteingangs. Zögernd näherten sich die Reisegefährten Gaithnard, der dumpf vor sich hin starrte, während er Rax locker in der Hand hielt. Einer der Solitäre kümmerte sich um die Wunde an seiner Hüfte. »Was ist da passiert?«, begann Marakis. »Warum hatte ich anfangs das Gefühl, Ihr hättet nicht die geringste Chance, und wir würden Euch verlieren?« Gaithnard schaute ihn mit leerem Blick an. Der Solitär hatte die Wunde inzwischen versorgt. Matei legte dem Kurmer einen Arm um die Schulter und führte ihn weg. Der Dulce schaute ihnen nach. »Kaharr. Reimme en Vlochse. Leidenschaft und Zorn«, sagte er ernst. »Das Schwert saugt alles aus einem heraus, doch das war es auch diesmal wert. Die zügellose Wut, vor der sogar der Düstere zittert, wurde nach all den Jahrtausenden wieder im Schwert der Schwerter erweckt. Daher musste dieses Herausforderungsgefecht stattfinden, ungeachtet seines Ausgangs. Denn diesen Zorn werden wir bitter nötig haben.« »Gaithnard hätte also durchaus sein Leben verlieren können?«, fragte Marakis mit belegter Stimme. Der Dulce spitzte die Lippen. »Der Zyklus ist grausam. Er fordert viele unschuldige Opfer.« »Aber warum …«, setzte Marakis nach. Doch der Dulce schnitt ihm das Wort ab. »Andererseits hindert der Zyklus den Düsteren daran, das Heft in die Hand zu nehmen. Unangenehme Alternativen. Herzzerreißende Entscheidungen.« 280
Er schüttelte den Kopf, drehte sich um und eilte ohne jede weitere Erklärung zurück nach Yle em Avrilux.
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31 Richtung Dunkel »Und wohinter verbergen sich nun die alten Mächte? In was verwandeln sie ihre Stärke, wenn diese die Jahrtausende überdauern soll? Verstecken sie die Stärke in Worten, in Inschriften? Meißeln sie die Stärke in Bauwerke, die den Jahrtausenden trotzen? Sichern sie die Stärke vielleicht in Geschlechtern ab? Möglicherweise. Auf jeden Fall ist ein Großteil dieser Macht in dem Schwert versammelt.« – Fragment aus ›Die gesammelten und gebündelten Weisheiten des Quenten Tatsins‹, von Geistmeister Damphier aus Demster An diesem Abend trafen sie sich auf Ersuchen des Dulce alle im kleinen Remter. Neben den Reisegefährten und Cughlyn waren noch der Dulce und der zweite Priester Uchate anwesend. Sie setzten sich an einen der langen Tische. Der Dulce, zu Mateis Erstaunen in einen grünen Reisemantel gekleidet, hatte ein paar Flaschen Wein kommen lassen. Er setzte sich ans Kopfende und schenkte den Wein eigenhändig in die großen Krüge ein. Danach schaute er die anderen einen nach dem anderen an. Gaithnard sah grau aus, als habe er wochenlang durchkämpfen müssen, doch sein Blick hatte sich mittlerweile ein wenig aufgehellt. Marakis schaute an die Decke des Remter. Matei starrte gleichmütig zurück, und Dotar fummelte an seinem Handgelenk, vielleicht um zu prüfen, ob der Dolch dort noch richtig saß. Cughlyn, der neben Dotar saß, hatte die Hände vor sich auf den Tisch gelegt, und Llanfereit schaute ins Leere. Uchate schließlich saß ein wenig zusammengesunken neben seinem Herrn. 282
»Rax hat nicht gesungen«, begann der Dulce lächelnd. Das war ein überraschender Einstieg. »Für jeden, der es noch nicht wissen sollte: Dies alte Schwert platzt fast vor Magie. Magie aus einer anderen Zeit. Rax beginnt zu singen, zu leuchten und zu glühen, wenn das Böse in der Nähe ist. Doch in unserer Gegenwart hat Rax die ganze Zeit geschwiegen. Wir sind hier demnach als Menschen versammelt, die das Gute repräsentieren.« »Der zweite Priester war nicht anwesend«, stellte Cughlyn fest. Das Lächeln des Dulce wurde breiter. »Er war nicht dabei, daher hat Rax ihn nicht beurteilt. Doch ich kenne Uchate. Ich weiß, was ich an ihm habe. Ihn brauche ich keiner derartigen Prüfung zu unterziehen. Oder doch, Uchate?« Er betrachtete den zweiten Priester von der Seite. Der verschränkte die Finger ineinander, als wollte ein Gebet sprechen. Dann antwortete er leise, ohne Aernold dabei anzuschauen: »Wie Ihr meint, Dulce.« Das Lächeln des Dulce blieb, doch Matei sah, dass die Augen nicht mitlachten. »Warum also sind wir hier?«, setzte der Dulce erneut an. »Wir alle haben erlebt, was heute Morgen geschah. Es war ein Och Pandaktera, wie es schon sehr viele gegeben hat.« »Zu viele«, murmelte Gaithnard. »Ja, zu viele«, bestätigte der Dulce. »Doch dieses Herausforderungsgefecht war mehr. Es war vorausgesagt. Rogas Tod war nicht der Sinn und Zweck. Daher bedaure ich, dass der Och Pandaktera wieder ein Opfer gefordert hat. Nein, es ging um das Erwecken von magischer Leidenschaft und magischem Zorn, die sich in diesem Schwert aller Schwerter befinden. Die ungehemmte Kraft war in der Rune am Griff verborgen, in Kaharr. In der Weissagung hieß es, nur ein Waffenmeister von einer der Inseln, auf denen die Blutrache noch immer üblich ist, sei in der Lage, die Kraft nach den vielen Jahrtausenden aus der Rune hervorzulocken. Gaithnard hat dies vollbracht.« »Vielleicht ist es mir nur geglückt, weil mir dieses Blut um Blut aus tiefstem Herzen verhasst ist«, sagte Gaithnard. »Das ist gut möglich«, meinte der Dulce. »Morgen ist der große Tag 283
für alle Solitäre. Der Tag der Erweckung des Herrn der Tiefe. Wie es geschrieben steht, wird die Herrin der Morgenröte die Erweckung selbst vornehmen, mit den vier Worten, die dafür in die Zeit gebrannt wurden. Doch sie ist nicht hier. Sie wird erscheinen, und zwar in dem Moment, in dem die Erweckung es erfordert. Auch wenn sie sich anders zeigen wird, als meine Gläubigen es erwarten. Wer also wird für die vorbereitenden Riten der Erweckung sorgen, da die Herrin nicht hier ist?« Zum ersten Mal zeigte Uchate eine Gefühlsregung. Er starrte den Dulce entgeistert an und flüsterte: »Aber Dulce, das macht doch Ihr!« Der Dulce schüttelte den Kopf. »Nein, Uchate. Wenn der Morgen der Erweckung anbricht, werde ich nicht mehr hier sein. Ich verreise zusammen mit diesen Herrschaften. Wir brechen noch in dieser Nacht auf.« Allgemeines Erstaunen. Uchate sprang fast von der Sitzbank auf. »Aber Dulce, wer soll dann hier die Riten durchführen?« Der Dulce schaute zur Decke. Ein leichtes Lächeln zeichnete sich in seinen Mundwinkeln ab. »Ihr, Uchate. Wer sonst?« »Aber …« Fassungslos ließ der zweite Priester sich wieder auf die Bank fallen. »Aber Herr, ich kann nicht … die Herrin … Ich bin nicht …« Der Dulce hob die Hand. »Ihr seid es, Uchate. Ihr tragt die ehrenvolle Aufgabe auf den Schultern, am großen Tag unseres Glaubens voranzuschreiten. Neuntausend Gläubige, die Eure Worte wie Lebenswasser in sich aufnehmen werden. Der Herr der Tiefe, der sich zeigen wird. Was wollt Ihr mehr? Und vor was oder wem solltet Ihr Angst haben? Ein reines Herz wie das Eure braucht nichts zu fürchten. Außerdem werden die Worte der Erweckung selbst von der Herrin gesprochen, wie auch immer das geschehen mag. Lasst dies auch für Euch ein Mysterium bleiben, bis es so weit ist.« Uchate rutschte auf der Bank nach hinten, kroch in sich zusammen und starrte auf seine gefalteten Hände, die er zwischen die Knie geklemmt hatte. Der Dulce wandte sich an die anderen. 284
»Wir machen uns jetzt auf, denn wir haben keine Zeit zu verlieren. Unser Schiff liegt im Hafen und wartet auf uns. Wir fahren nach Dunkel.« »Nach Dunkel? Mit dieser kleinen Nussschale der Solitäre?«, fragte Cughlyn ungläubig. Der Dulce erhob sich. »Im Hafen liegt noch ein anderes Schiff. Ein Schiff, das sich ein paar Tage in der Bucht östlich von Yle em Avrilux versteckt gehalten hat, auf der anderen Seite der Halbinsel. Der Kapitän und ich wollten nicht, dass die Karavelle in die möglichen Auseinandersetzungen mit den Galeeren des Desran hineingezogen werden könnte.« Der Dulce ging zu einer Tür an der anderen Seite des Remter, öffnete sie und rief einem Solitär etwas zu. Dieser eilte davon und kam kurze Zeit später zusammen mit einer wohlbekannten bärtigen Erscheinung zurück. »Ich scheine an Euch festgekettet zu sein«, grinste Wigbolt, der Kapitän des Kühnen Furcher der Neun Meere.
An Bord des Kühnen Furcher erwartete sie die nächste Überraschung in Gestalt eines Mannes und einer Frau. »Harkyn«, rief Matei. Marakis schaute nicht minder erstaunt auf die Frau. »Edelfrau Tulsie! Was macht Ihr denn hier?« »Das ist eine lange Geschichte, Prinz«, antwortete sie. »Doch wenn ich es richtig verstanden habe, bleibt in den nächsten Tagen genügend Zeit, Euch alles zu erzählen.« Für die Reisegefährten und die Besatzungsmitglieder war es ein fröhliches Wiedersehen. Schon bald wurde der Anker gelichtet, und der Kühne Furcher wendete den Steven in südwestliche Richtung.
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Es war eine helle Winternacht. Während die anderen schon schliefen, unterhielten sich Matei, Aernold und Wigbolt noch in der Nähe des Bugstuhls. Matei hatte kurz zuvor mit Edelfrau Tulsie geredet, die ihm berichtet hatte, was sie in einem alten Buch entdeckt hatte. Matei hatte sich über diese Mitteilung verwundert gezeigt, sie jedoch kommentarlos zu Kenntnis genommen. Jetzt fragte Matei: »Sollten wir nicht lieber oben herum segeln und dann zwischen Falt und Ost-Gyt hindurch? Meines Wissens ist das eine etwas längere, dafür aber ruhigere Route. Wer möchte zu dieser Jahreszeit schon durch das Standmeer fahren?« »Wir haben doch wohl alle keine Lust, den Galeeren zu begegnen, und ich habe sie nach Nordwesten verschwinden sehen, als sie die Herz von Handera verfolgten«, erklärte Wigbolt. »Auch der Steindrache von Südwelle, die Galeere, die den Regulator und den Kurmer im Hafen ablieferte, ist danach in die gleiche Richtung gesegelt. Hoffentlich kann Fexe sie noch eine Zeit lang beschäftigen. Wir halten uns zunächst unterhalb von West-Gyt, segeln danach nördlich von Boret über das Standmeer nach Ynystel, fahren dann zu den beiden Dant-Inseln und erreichen schließlich Dunkel.« Mit einem schiefen Blick auf Matei fügte er hinzu: »Sollte es auf dem Standmeer wirklich ungemütlich werden, zähle ich auf die Hilfe von zwei Hochmeistern und einem Halbmagier.« Matei konnte sich ein Kichern nicht verkneifen und deutete auf den Dulce. »Ich denke mal, dass wir mit Aernold noch einen erheblich mächtigeren Mann an Bord haben.« »Der seine Fähigkeiten jedoch nur einsetzen wird, wenn es gar nicht anders geht«, ergänzte dieser mit einem freundlichen Lächeln. Wigbolt brummte: »Nichts Neues unter der Sonne. Diese Ergänzung scheint wohl jedem Magier auf der Zunge zu brennen.«
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35 Die Vögel »Hunderttausend Flügel, schwarz wie mondlose Nacht. Der Tod fliegt ohne Zügel: Eine dunkle Wolkenjagd.« – Fragment aus ›Zwanzig Gedichte anlässlich der Belagerung von Romander-Stadt‹, von Stadtdichter Erdeviel Gyriem Marten stand mit seinem Leutnant Chilver und dem Ratsherrn Hanno Eydants unterhalb der Treppengalerie von Valk Eander. Über die Seidenbäume des Lymionplatzes hinweg warfen sie besorgte Blicke auf das Meer von Segeln vor ihnen. Ein paar vereinzelte Schneeflocken torkelten zu Boden. Auf dem obersten Umgang der Festungsmauer hatten sich Tausende Einwohner der Stadt versammelt – alles Freiwillige, bewaffnet mit Schwertern, Messern, selbst gefertigten hölzernen Lanzen und Stöcken. Unter ihnen befanden sich sogar Frauen und Jugendliche. Marten betrachtete sie als seine letzte Verteidigungslinie. Auf den anderen Umgängen hatte er die Bogenschützen postiert. Am Kai harrten seine Gardisten und die besten Freiwilligen der Dinge, die da kommen würden. Die Angst der Bevölkerung war einer Mischung aus abwartender Ruhe und Entschlossenheit gewichen. Die große Anzahl Freiwilliger und Martens straffe Organisation flößten den Leuten Mut ein. Dies war der zweite Tag der Belagerung. Marten hatte wirklich nicht gerade still gesessen. Neben dem Anwerben von möglichst vielen Frei287
willigen hatte er binnen eines Tages eine ganze Reihe von Plänen in die Tat umsetzen können. Das Ergebnis dieser Arbeit wartete, für die Engel des Antas unsichtbar, auf jenen Moment, in dem sein Einsatz wünschenswert würde. Eine Kalktaube hatte am Morgen die Nachricht von der Niederlage der Engel am Engpass von Halderstafel gebracht. Grend war mit dem größten Teil der überlebenden Gardisten auf dem Weg in die Stadt. Veder war dort mit einigen anderen geblieben, um den Engpass und das Hinterland zu bewachen. Über den Tod von Hochmeister Berre und dessen Rolle in dem Kampf hatte Grend in der Nachricht nichts geschrieben, wohl aber ein paar Zeilen über das Erscheinen der Frau. Deren mysteriöses Abtauchen beschrieb er mit undeutlichen Ausdrücken. Eydants und Chilver reagierten begeistert auf die Nachricht. Marten hingegen schaute sorgenvoll drein. »Ich fürchte, diese Frau wird es nicht dabei bewenden lassen«, sagte er. Er las die Nachricht noch einmal sorgfältig durch. Nach einigem Nachdenken setzte er hinzu: »Grend berichtet uns nicht alles. Da ist noch mehr vorgefallen.« Es hatte zu schneien aufgehört, doch die dunkle Wolkenwand am Horizont verhieß für die nächsten Stunden wenig Gutes. Kurz darauf ruderten acht Galeeren an der Seite von Feld bis auf hundert Meter an den Kai heran, in ihrem Kielsog fünf Schoner mit halb gerefftem Segel. Eine Flotte aus Barken und Flachbooten segelte langsam westwärts. Die übrigen Galeeren und Schoner wendeten den Steven und verschwanden aus der Sicht. Lediglich der größte Schoner blieb direkt vor der Stadt liegen. Ein Wimpel mit einem gelben, geflügelten Geschöpf auf blauem Grund flatterte in der Topp. »Die Frau möchte uns glauben lassen, sie befände sich auf dem Schoner«, sagte Marten. »Aber ich bin erst davon überzeugt, wenn ich sie mit eigenen Augen sehe.« Er schaute zur Seite, zum Hafenpier, wo vierzig Schiffe unterschiedlichster Bauart und Größe für ihren Einsatz bereitlagen. Es war ein Sammelsurium alter Barken, kleiner Küstensegler mit flachem Kiel und anderer, kaum zuzuordnender kleiner Schiffe, die 288
auf dem unruhigen Wasser neben der Palastgaleere dümpelten, vollgestopft mit Freiwilligen. Möglicherweise, überlegte Marten, könnte er die Galeeren und die dahinter befindlichen Schoner mit einem Angriff überraschen. Dann aber sagte er sich, dass es dafür noch zu früh sei. Es war sicher besser, erst einmal abzuwarten, was als Nächstes geschah. Am Rand des Horizonts glitten Masten nach Osten und Westen. »Vielleicht greifen sie an«, sagte Chilver. Er zeigte auf die maskierten Bogenschützen auf der Vorplicht der ersten Galeere: »Skorpione!« »Was?«, fragte Eydants. »Skorpione sind doppelte Kreuzbögen auf einem Fuß, der auf dem Schiffsdeck festgenagelt wird.« »Und was ist das?«, fragte Eydants und deutete auf eine eigenartige Konstruktion auf der Vorplicht eines der Schoner. Marten bekam einen gehörigen Schrecken. »Das sieht wie eine Schleuder aus«, sagte er. »Was immer sie damit zu uns rüberschießen, es wird erheblichen Schaden anrichten. Trotzdem sind dies hier viel zu wenig Schiffe und zu wenig Waffen für den großen Angriff.« Marten suchte den Horizont ab und sah gerade noch, wie etliche Mastspitzen plötzlich den Kurs änderten und in Richtung von Feld davonglitten. »Vierhundert Mann nach Feld!«, brüllte er. »Sorgt dafür, dass man euch deutlich sieht.« So begann ein Morgen der Schiffsmanöver und der schnellen Reaktionen der Garde sowie der Bewohner von Romander-Stadt. Marten postierte einen Ausguck im Kristallturm, der von der Plattform der Tausend Aussichten aus alles übersehen und die Bodentruppen mittels Spiegelsignale über die Bewegungen der feindlichen Schiffe unterrichten konnte. Die ganze Zeit über fuhren die acht Galeeren und fünf Schoner drohend hin und her, dicht unterhalb des Kais. Marten wusste, dass seine Konzentration keine Sekunde nachlassen durfte. Glücklicherweise erwies sich Eydants als hervorragender Sekundant mit scharfem Auge 289
und überraschendem Durchblick bei diesen wechselnden Manövern mit Schiffen und Mannschaften. »Sie spielt ein Spiel mit uns«, sagte der Ratsherr zähneknirschend. »Vielleicht«, sagte Marten, während er aufmerksam nach Osten spähte. »Bis jetzt ähnelt es einem Spiel. Der Rhythmus der Schiffsbewegungen hält uns in ständiger Beschäftigung. Hoffentlich lässt er uns nicht einschlafen.« Chilver meldete, dass der Ausguck im Kristallturm wieder etwas zu berichten hatte. Marten drehte sich um und entzifferte die Signale: »Flotte von Süden. Entfernung zehn Kilometer. Mindestens hundertfünfzig Schiffe.« Er erbleichte. »Deshalb hat sie noch nicht angegriffen.« Er blickte sich zu seinen Gardisten und den Freiwilligen um und kniff die Lippen dicht zusammen. Auf seiner Stirn erschienen tiefe Falten. Die Verantwortung für die Stadt lastete schwer auf seinen Schultern. Chilver zeigte auf die dunklen Wolken, die sich über der See zusammenzogen. »Ich mache mir auch Sorgen wegen des Schneesturms, der uns gleich die Sicht auf die Manöver der Schiffe und auf unseren Ausguck im Kristallturm nehmen wird.« Eine Viertelstunde später rieselten die ersten Schneeflocken herab. »Vielleicht gibt es da etwas, mit dem sie nicht rechnen …«, sagte Marten, kam zu einem Entschluss und drehte sich zu Chilver um. »Wir greifen an!« Chilver schaute ihn offenen Mundes an. Eydants erstarrte. »Wir greifen an«, wiederholte Marten. »Eydants kommt mit mir. Chilver übernimmt hier das Kommando. Grend wird jeden Augenblick zurückkehren, dann übergebt ihr ihm den Befehl. So, und jetzt schnell, bevor der Schneesturm losbricht und wir einer Übermacht von vierhundert Schiffen gegenüberstehen.« Zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte er die Treppe hinauf, Eydants im Schlepptau. Plötzlich blieb er stehen, drehte sich um und rief: »Chilver, behaltet 290
die Palastgaleere im Auge. Wenn ich das Feuerzeichen gebe, setzt Ihr unsere Waffen ein. Wie abgesprochen.« Chilver hob die Hand, um deutlich zu machen, dass er verstanden hatte.
Das Schneegestöber ließ die Sicht auf kaum mehr als hundert Meter schrumpfen. Die Galeeren und Schoner wurden zu grauen Schemen, die Schiffe der feindlichen Flotte dahinter waren überhaupt nicht mehr zu sehen. Vom Kai lösten sich kleine und größere Boote und glitten wie schleichende Wölfe aus dem Hafen. Wenn von den verschiedenen Kapitänen bereits Befehle erteilt wurden, waren sie von Land aus nicht mehr zu hören. Vorneweg schwebte die Palastgaleere mit Marten an Bord westwärts. Hinter der Galeere segelten mit Mannschaften vollgestopfte Barken und Flachboote mit Bugkanonen. Der Schneesturm brach jetzt mit voller Gewalt los. Marten ging davon aus, dass die Schoner und die Galeeren der Engel ihr Manöver in westlicher Richtung abschließen, wenden und zum x-ten Male ihren weiten Bogen Richtung Feld in Angriff nehmen würden. Der Schneefall wurde schwächer, die Flocken kleiner. Die Schiffe der Feinde boten der angreifenden Flotte von Romander-Stadt ihre Flanken dar. Es waren verwundbare, nicht zu verfehlende Ziele. Ein Schrei aus der Want eines der Schoner machte klar, dass Martens Flotte gesichtet worden war. Auf beiden Seiten erschallten die Befehle. Die Schoner und Galeeren versuchten, so schnell wie möglich ihren Bug auf die angreifenden Romander-Schiffe zu richten, um die Trefferfläche zu verringern. Natürlich waren die Galeeren dabei sehr viel schneller. Marten konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die Schoner und dort vornehmlich auf das Schiff mit der Wurfanlage. Die ersten Schüsse fielen. Der Schoner wurde getroffen und torkelte wie ein angeschossenes Tier in eine Position, in der er erneut seine Breitseite zeigte. Im Lager der Angreifer erklang lauter Jubel. Ein zweiter Schuss traf den Schoner mit einem dumpfen Schlag mittschiffs. Eine Wolke aus Rauch und Wasserdampf entzog das Schiff zeitweise 291
der Sicht. Dann sah man schemenhaft Dutzende Wesen ins Wasser taumeln, von denen man nur annehmen konnte, dass es sich um Krieger handelte. Der Schoner neigte sich langsam zu der Seite, in der das Loch im Rumpf klaffte. Der Mast des Großsegels stürzte krachend herab und zerbrach auf der Reling wie ein trockener Zweig in zwei Teile. Auch die Takelage war getroffen und stürzte ein. Immer mehr Männer fielen oder sprangen ins Wasser, ohne einen Laut von sich zu geben. Keine der Galeeren und keiner der anderen Schoner kam ihnen zu Hilfe. Inzwischen war es einigen schnellen Flachbooten gelungen, sich den Galeeren zu nähern. Doch die Engel hatten sich vom ersten Schrecken erholt. Ein Pfeilregen rauschte auf die Flachboote herab. Dies läutete den Beginn eines verbissenen Kampfes ein. Galeeren, Schoner, Barken und Flachboote manövrierten umeinander her und stießen bei dem Versuch zusammen, in Schussnähe zum Gegner zu kommen. Martens Flotte war wendiger. Seine Palastgaleere rammte einen Schoner direkt neben dem Bug. Seine Männer enterten das Schiff. Die Kreuzbögen der Engel waren auf diese kurze Entfernung nahezu wertlos. Martens Gardisten und die Bewohner von Romander-Stadt kämpften mit der Verzweiflung derjenigen, die wussten, dass dies ihre letzte Chance war. Mit starrem Blick hinter ihren roten Masken verteidigten sich die Engel. Ihre eiskalte Verbissenheit machte sie zu Gegnern, die nur schwer auszuschalten waren. Doch mit der Zeit wurde immer deutlicher, dass Martens Flotte und Mannschaften diese erste Schlacht gewinnen würden. Und dies – das wusste Marten – hatten sie einzig und allein dem Überraschungsmoment zu verdanken. Ein Ruf des Ausgucks ließ Marten aufschrecken. Zwanzig oder dreißig Schiffe hatten sich vom Horizont gelöst und kamen unter vollen Segeln auf sie zugerauscht. Marten brüllte seinem Steuermann zu: »Rechtsum kehrt! Zurück in den Hafen!« Er winkte einen Knaben herbei, der in der Nähe stand, und befahl ihm, die Fackel in den mit Kanterholz gefüllten Eisentopf zu werfen. Dann rannte er zur Reling und gab den anderen Schiffen Zeichen, sie sollten der Palastgaleere folgen. Nicht jeder Kapitän verstand sofort, doch nach und nach befanden sich alle Boote auf dem Rückzug. 292
Die Schiffe der feindlichen Hauptflotte behielten ihren Kurs bei in dem Versuch, sie abzufangen. Das Feuer im Topf auf der Palastgaleere loderte auf. Sofort wurden aus dem Hintergrund des höchsten Verteidigungswalls fünf riesige Steinesel herangerollt und in Stellung gebracht, hölzerne Katapulte mit Zugmechanismen, die aus dreifach geflochtenen Schiffstauen gefertigt waren. In den Wurfbehältern lagen nicht wie üblich Steinkugeln, sondern die bleischweren Köpfe der Statuen der ältesten Desrane. Kommandos ertönten, Taue wurden gekappt, und fünf Köpfe segelten in Richtung der Schiffe der Engel des Antas davon. Drei trafen ihr Ziel. Einen Schoner erwischte es direkt oberhalb der Wasserlinie, und es dauerte nicht lange, bis er starke Schlagseite bekam. »Selbst die namenlosen Desrane beteiligen sich an der Verteidigung der Stadt«, murmelte Marten. Seine Galeere glitt in den Hafen; die Barken und Flachboote folgten. Hier und da flatterte ein Segel lose herum, und mehrere Schiffe hatten Treffer einstecken müssen, doch nicht ein einziges war verloren gegangen. In der Ferne waren Befehle zu hören. Die Schiffe der Engel wendeten den Steven und fuhren mit gerefften Segeln davon. »Sie warten auf die neuen Schiffe«, sagte Marten zu Eydants und Chilver, als er wieder bei ihnen war. »Die erste Schlacht haben wir gewonnen. Aber der Ausgang der großen Schlacht, die uns bald bevorsteht, dürfte auf einem anderen Blatt stehen.« Jubelrufe ertönten. Grend erschien mit seinen Gardisten. Was die anderen offenbar nicht sehen wollten, registrierte Marten sehr wohl: Es waren kaum mehr als zwanzig erschöpfte Krieger, die vorläufig kaum eine Hilfe darstellen würden. Die Verteidigung des Engpasses hatte fast sechzig wertvolle Kämpfer das Leben gekostet! Grend wurde umarmt, zuletzt von Marten, der ihn gar nicht mehr loslassen wollte. »Ich war mir nicht sicher, ob ich Euch wiedersehen würde«, sagte der Kapitän mit belegter Stimme. Vorsichtig betastete er den Verband an Grends Arm. Grend lächelte matt. 293
»Ich bin einer von der Sorte, die sich nicht so leicht ausrotten lässt.« Dann verdüsterte sich seine Miene. »Ich muss mit Euch reden. Alleine.« Sie entfernten sich von Chilver und Eydants. Grend sprach, Marten hörte zu. Plötzlich erstarrte der Kapitän der Nayarener Garde. Sein Blick richtete sich zum Horizont, wo der größte Schoner sich gerade aus dem Verband der anderen Schiffe löste. Hinter der Armada wurde der Himmel schwarz. Noch weiter hinten tanzte gelbe Glut. Eydants wies Chilver daraufhin. »Wenn das ein Schneesturm ist, dann ist er mehr als heftig.« Grend und Marten gesellten sich wieder zu Chilver und Eydants. Ihren Gesichtern war die Verbitterung anzusehen. Doch ohne etwas zu sagen, wandten sie sich der Flotte auf der Reede zu. »Worauf warten sie noch?«, fragte Chilver. Marten wollte etwas sagen, aber in diesem Moment rief ein Gardist: »Nachricht vom Ausguck! Da sind Vögel!« Marten konnte sein Erstaunen nicht verbergen. »Vögel? Ist das die Nachricht?« »Jawohl, Kapitän«, rief der Gardist und zeigte aufs Meer. »Es sind Tausende. Sie sammeln sich hinter den Schiffen.« Marten schaute in die gewiesene Richtung. Der Schneesturm war gar kein Schneesturm. Die Wolke war zu einem schwarzen, von gelben Schleiern durchzogenen Bild gewachsen, das den halben Horizont bedeckte. An allen Seiten war Bewegung. Riesige Schwärme schwarzer Vögel lösten sich wie sichtbare Windstöße aus der Wolke, um sich nach plötzlichen Richtungsänderungen wieder in die einheitliche Dunkelheit ihrer Artgenossen zu fügen. Eine Dunkelheit, die auf eigentümliche Weise von einem vielfarbigen Glitzern erfüllt war. Doch das Gelb herrschte vor. Grend starrte mit offenem Mund auf die Erscheinung. »Vögel«, sagte er fassungslos. »Das müssen Tausende sein …« Die Wolke wuchs immer weiter an, bis sich schließlich eine geflügelte Dunkelheit über Romander-Stadt legte. »Hunderttausende«, stammelte Eydants. 294
Schrille Schreie ertönten. In weiter Ferne schnitt ein hoher Pfeifton durch die Luft. Unter den Romandern auf den Festungswällen zeigten sich erste Anzeichen von Panik. Rufe wurden laut: »Der Düstere ist da!«, und: »Es ist so weit, unser letztes Stündlein hat geschlagen!« Doch abgesehen von einigen Leuten, die in die Stadt flüchteten, verließ niemand seinen Posten. Mit bangem Herzen, doch voller Entschlossenheit warteten die Einwohner von Romander-Stadt ab. Die Vorhut der Vögel schoss mit beunruhigender Geschwindigkeit auf die Stadt zu. Ein langgezogener Schrei schallte über das Wasser, ein schauderhaftes Geräusch, bei dem sich jedem die Nackenhaare sträubten. Unter dem Ansturm der Vögel setzte sich die Mauer aus Schiffen in Bewegung, vorneweg der große Schoner. Die Vorhut der Vögel schwenkte nach Norden ab und fügte sich wieder in die horizontbreite Front ein. Marten ballte die Fäuste und drehte sich um. »Schilde!«, rief er. »Sorgt dafür, dass sich jeder verteidigen kann. Das sind keine gewöhnlichen Vögel. Die Frau hat sie geschickt.« Er wandte sich an Grend. »Das hier geht schief«, zischte er. »Wir müssen uns etwas einfallen lassen!« »Etwas einfallen lassen? Wer rechnet denn damit, dass wir aus der Luft angegriffen werden?« Er zeigte auf die heranrückende Flotte. »Mit ihren Schiffen haben wir schon alle Hände voll zu tun.« »Es ist nun mal so«, brummte Marten. »Weitschweifige Betrachtungen bringen uns nicht weiter. Ich kümmere mich um die Flotte, Ihr übernehmt die Vögel!« Er winkte Chilver heran und rannte zusammen mit ihm zum Hafen. »Woher wollt Ihr denn so genau wissen, dass die Vögel uns ausgerechnet hier angreifen werden?«, rief Grend ihm hinterher. Marten drehte sich halb um, ohne seine Schritte zu verlangsamen, und rief zurück: »Das weiß ich nicht, Grend. Ich hoffe es nur.« Grend starrte zu der Wolke aus Vögeln hinüber. Er fühlte sich ausgelaugt und im Stich gelassen. Doch dieses Gefühl wurde von einem anderen Gedanken weggefegt, der ihn für Augenblicke vergessen ließ, 295
wie ausgepumpt er war. Er schaute sich nach den fünf Steineseln um. Ungeduldig winkte er Eydants heran. »Stroh, Holz und Stricke«, rief er ihm zu. »Schickt Leute los, die alles heranschaffen, was sie finden können. Und lasst sie Stroh aus den Ställen an der Mardaäk Esplanade holen. Macht große Ballen aus Stroh und Holz und bindet sie mit den Stricken zusammen.« Er zeigte von den Katapulten auf die näher kommenden Vögel. Eydants starrte ihn einige Sekunden an. Dann murmelte er: »Natürlich, Feuerbälle!«, und eilte davon.
Unter Anführung der Palastgaleere verließ alles, was sich auf dem Wasser bewegen konnte, den Hafen von Romander-Stadt und hielt in einer Dreiecksformation auf die breite Front der feindlichen Schiffe zu, als wären sie zahlenmäßig überlegen. Doch die Herzen der Besatzungen waren schwer, denn jeder wusste, dass sie gegen die fünffache Übermacht der Engelflotte keine Chance hatten. Und dabei machten sie in ihrer Angst die Rechnung noch ohne die Frau. Marten und Chilver standen auf dem Vorsteven der Palastgaleere. »Wie ist es um Euren Heldenmut bestellt?«, fragte Marten seinen Leutnant leise. Chilver grinste. »Mein Heldenmut steht auf Abruf bereit. Ich glaube nicht, dass ich diesen Tag überleben werde, aber ich habe mir vorgenommen, möglichst viele Feinde mit in den Tod zu nehmen.« Marten nickte. »Für einen Tag wie diesen die einzig richtige Einstellung.« Sein Blick wanderte über das Meer und glitt dann nach Osten. »Normalerweise dürften wir uns nicht bis zum Abend halten können. Wir müssten davon ausgehen, dass die Festungswälle innerhalb weniger Stunden mit den Leichen der Bewohner von Romander-Stadt übersät sind …« Er runzelte die Stirn. Ein kurzes Lachen entrang sich seiner Kehle. »Ha, wer weiß, vielleicht taucht ja doch noch Hilfe auf.« 296
Chilver schaute ihn zweifelnd von der Seite an. »Ist das keine unangebrachte Hoffnung, Kapitän?« Marten schüttelte energisch den Kopf. »Eher ein Vorgefühl, Chilver. Kennt Ihr die Große Legende?« Chilver geriet ins Stottern. »Nun, ja … ich habe davon gehört, aber …« »Ihr spielt darin eine Hauptrolle, Mann! Hier sind Kräfte am Werk, die wir nicht verstehen. Marakis wusste das.« »Der Kronprinz?« Marten antwortete nicht, starrte nur weiter in die Ferne. »Kämpft mit dem Mut der Verzweiflung, Chilver«, sagte er schließlich, »aber verzweifelt selbst nicht dabei.« Er wandte sich um und befahl dem Kapitän der Galeere in barschem Ton: »Mit vollen Segeln voraus! Die Fahrt wird unter keinen Bedingungen gemindert.« In diesem Moment dröhnte ein wütendes Schnauben über das Wasser. Die Vögel setzten sich erneut in Bewegung. Schon bald erreichte die Vorhut die Schiffe der Romander. Weder Kreischen noch Pfeiftöne waren zu hören, nur das Rauschen und Klappern der knochigen Flügelschläge. Auf dem Kopf jedes Vogels sah man etwas funkeln. »Edelsteine«, murmelte Marten. »Magie flimmert in der Luft.« Ohne ihren Flug zu unterbrechen, ohne die Schiffe und deren Besatzung eines Blickes zu würdigen, flatterten die Vögel in Richtung der Festung vorüber. »Die Stadt bekommt offenbar die volle Ladung ab«, sagte Chilver. Doch Martens Aufmerksamkeit wurde von einem Vogel angezogen, der von dem großen Schoner aufstieg. Es war ein schwarzes Geschöpf, das Marten auf die dreifache Größe des größten Vogels schätzte, den er jemals gesehen hatte. Das Tier erinnerte am ehesten an jene legendären Riesenhabichte aus den alten Erzählungen. Selbst auf diese weite Entfernung waren die riesigen, Krummschwertern gleichenden Krallen zu erkennen. Auf dem Kopf glänzte etwas. Ein Schnauben strich über die Wasseroberfläche, wie ein flacher Stein. »Die Frau«, sagte Marten in einer Mischung aus kaum zu bezwin297
gender Angst und Entschlossenheit. »Endlich zeigt sie sich. Jetzt geht es ums Ganze, Chilver!«
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36 Die schwarze Frau »Schade fragte: ›Herrin, gibt es denn überhaupt nichts Bleibendes?‹ Die Herrin der Weisheit und Eingebung antwortete leise: ›Alles geht vorbei, doch manche Dinge beginnen aufs Neue. Das ist das Geheimnis des Kryptus, Schade.‹ Schade schwieg, denn sie wusste, dass man nicht nach dem Kryptus fragen durfte.« – Aus ›Dialoge zwischen der Herrin der Weisheit und Eingebung und Schade‹, von Edelfrau Asrath aus Dunkel Gegen einen Hintergrund pechschwarzer Wolken mit gelben Rändern jagten die Vögel mit ihre Krone aus Edelstein wie dunkle Pfeile, deren Spitze beständig funkelte, der Festung von Romander-Stadt entgegen. Wie schlachtreifes Vieh warteten Tausende Romander auf den Umgängen der berühmten Festung ab, was geschehen würde. Hinter der Vorhut des riesigen Schwarms hing der schwarze Vogel wie ein dunkler Fleck in der zunehmenden Dunkelheit. Mit langsamem Flügelschlag, vollkommenes Selbstvertrauen ausstrahlend, bewegte das gewaltige Tier sich in Richtung der Stadt. Die Bewohner von Romander-Stadt verfielen in panische Lähmung. Mit großen Augen starrten sie auf das nahende Unheil. Wie ein Mann schauten sie gebannt und voller Grauen auf die Vögel, vor allem auf das eine riesige geflügelte Wesen. Allen war klar, dass ihr Ende bevorstand. Und was die Frau in Vogelgestalt betraf: Die Vielzahl der Menschen auf dem Festungswall bedeutete nichts gegenüber einem derart mächtigen 299
Wesen. Das mehr als mannshohe Geschöpf stieß einen Schrei aus, der jedem Romander wie ein geschliffenes Messer durch die Seele fuhr. Erste Anzeichen von Panik waren auf den Zinnen zu hören und zu sehen. Einige versuchten zu fliehen, wurden jedoch zurückgehalten. Plötzlich gellte ein Befehl. Die Steinesel knarrten und schleuderten die ersten Feuerbälle über die Köpfe der Romander hinweg den Vögeln entgegen. Mit wütendem Kreischen spritzte deren Formation auseinander. Sämtliche Feuerbälle erreichten ihr Ziel. Mindestens zwanzig Vögel wurden getroffen und fielen brennend und schreiend zu Boden. Auf den Zinnen erklang vorsichtiger Jubel. Wieder segelten Feuerbälle den Vögeln entgegen. Doch jetzt waren die gewitzten Tiere darauf vorbereitet und wichen geschickt aus. Sie formierten sich zu drei Gruppen, die breit gefächert auf die Stadt zuflogen. Die Umrisse des großen Vogels näherten sich unbeirrt und zielgerichtet wie eine drohende Unwetterwolke hinter den Schwärmen der Treppengalerie. Grend hatte den Eindruck, als flöge das Tier direkt auf ihn zu. Niemand war Zeuge der sanften Landung von zwei anderen Vögeln, grauen Adlern, am Ende der Mardaäk Esplanade zur Seeseite hin. Ein Kanterbaum entzog sie den Blicken der Leute. So sah auch niemand, wie die beiden Vögel sich in zwei Menschen verwandelten, die in graue Mäntel gehüllt waren. Sie verknüpften sich mit den Schatten und begaben sich unauffällig zu der Stelle, wo Grend und Eydants schicksalsergeben auf das Eintreffen der Vögel warteten. »Nun, das war es dann wohl«, brummte Eydants. »Wir haben sie zwar kurz aufhalten können, aber gegen so viel dunkle Gewalt ist kein Kraut gewachsen.« Die Vorhut der Vögel war jetzt ganz dicht herangekommen. Grend und Hanno erkannten, dass sie tatsächlich deren erstes Ziel waren. Eine merkwürdige Lethargie erfasste Grend. Er hatte sich den Mächten in den Weg gestellt, die den Desran ermordet hatten. Es war ihm gelungen, in Romander-Stadt das Chaos zu verhindern. Zusammen mit Marten hatte er die Verteidigung der Stadt geführt, und zusammen mit achtzig Gardisten war es ihm gelungen, die Engel des Antas am Engpass zu schlagen. Jetzt aber zeigte sich, dass alles vergebene 300
Liebesmüh gewesen war. Wie hatten er und die anderen nur glauben können, sie könnten die mächtige Frau bezwingen? Wie hypnotisiert starrte Grend auf die funkelnden Edelsteine auf den Köpfen der Vögel, die er gleich ganz aus der Nähe würde betrachten können. Er hoffte auf einen schnellen Tod. Eine Stimme direkt hinter ihm murmelte fremdartige Wörter. »Sekyur arethim ye fferoghen.« Grend und Eydants drehten sich gleichzeitig um. Blitzschnell zog Grend sein Schwert, in dem Glauben, sie würden im Rücken angegriffen. Hinter ihnen standen zwei Männer, einer mit normaler Figur, der andere ein wenig fülliger. Eine seltsame Aura umgab sie, als wären sie nur Schemen. Sie schauten hoch. Der dickere Mann machte eine Handbewegung und murmelte ein paar Worte. Ein Zischen erklang. Langsam senkte sich Zwielicht herab. Ein grauer Schirm oder Schild bog sich wie eine schützende Kuppel über die Stadt. Überall auf den Zinnen ertönten Rufe der Verwunderung, die sich in einem eigenartig trockenen Echo verloren. Die ersten fünf, sechs Vögel durchbrachen den Schild, doch die ihnen nachfolgenden Tiere prallten daran ab. Die sechs Vögel, die durchgekommen waren, starteten ihren Angriff und stießen direkt auf Grend und Hanno herab. »Aispharaede im«, brummte der dickere Mann, wobei er den rechten Zeigefinger auf die Vögel richtete. Diese zerplatzten einer nach dem anderen, wie bei einem Waldfeuerwerk. Schwarze Federn rieselten auf Grend herab, der sich verdutzt umschaute. »Magier«, murmelte Eydants. »Hochmeister«, verbesserte ihn der dickere Mann. Er lächelte. »Der Kapitän der Palastgarde erbat unsere Hilfe, und so sind wir denn hier. Dies hier«, er zeigte in die Höhe, »ist ein Grauschild Dual Abweisender Multiplität.« Er schien ziemlich stolz darauf zu sein. »Eine eigene Erfindung, eigentlich aber auch nur die Verstärkung eines älteren Zaubers. Doch ohne Gesyrah hier wäre es mir nie geglückt, die ganze Stadt abzudecken.« 301
Er schaute Grend und Eydants an. »Oh, Entschuldigung, ich bin Hochmeister Balmir. Und dies ist Gesyrah.« »Grend aus Pier und Hanno Eydants«, sagte Grend, nachdem er sich vom ersten Schreck erholt hatte. »Ich bin der Adjutant von Kapitän Marten aus Yr Dant. Hanno ist Ratsherr.« Sein Blick schoss zu der sich rasch nähernden geflügelten Form der Frau hinüber. »Müssen wir uns nicht auf den Angriff der Frau vorbereiten?« Balmir schien sich köstlich zu amüsieren. Gesyrah antwortete: »Wir freuen uns auf den Kampf mit ihr. In unserem magischen Ranzen haben wir ein paar schöne Überraschungen für sie parat.« Balmir trat vor und ließ sein Handgelenk mit ausgestrecktem Ringfinger kreisen. Glühende silberne Pfeile bewegten sich auf den Schild zu, in Richtung des sich nähernden Vogels. »Die erste Überraschung«, murmelte er zufrieden. »Die Fugenlose Feuerverstreuung von Raielf. Wirklich eine seiner allerbesten Erfindungen.« Ferne Schreie ertönten. »Schaut«, rief Grend, »die Vögel greifen unsere Flotte an!« Balmir blickte in die gewiesene Richtung. »Eure Aufgabe, Gesyrah«, sagte er ruhig. »Ich kümmere mich um die Frau.« Gesyrah schaute Balmir erstaunt an und wollte etwas erwidern, überlegte es sich dann anders und nahm wieder die Gestalt des grauen Vogels an. Kurz darauf flog er dicht über dem Kai in nördlicher Richtung davon, bis er weit außerhalb der Fluglinie der Frau den Schild durchbrach.
»Die Vögel greifen uns an!«, rief der Ausguck im Krähennest der Palastgaleere. »Das war zu erwarten«, murmelte Marten, der erfreut festgestellt hatte, dass über der Festung ein Schutzschild errichtet worden war. 302
Das konnte nur ein magischer Schirm sein. Demnach hatte zumindest einer der Zauberer auf seinen Hilferuf reagiert. Er stiefelte zu der Treppe, die zum Galeerendeck führte. »Rudert immer weiter, egal was passiert!«, rief er durch die Luke. Er schloss die Öffnung und rief dem Steuermann zu: »Setzt das Steuerrad fest und kommt mit uns mit. Schnell!« Er schaute hoch. »Ausguck! Schützt Euer Krähennest, wie abgesprochen!« Der Ausguck ging in die Knie und stellte um sich herum mehrere Schilde auf. Marten winkte Chilver heran. Zu dritt rannten sie zum hinteren Aufbau. Aus dem Augenwinkel sah Marten, dass die feindliche Flotte sich in Bewegung gesetzt hatte. Unter vollen Segeln, den Rückenwind nutzend, schossen die Schiffe direkt auf Romander-Stadt zu. Der große Angriff hatte begonnen. Zentimeter vor dem ersten heranstürmenden Vogel flog die Tür der Kapitänskajüte zu. Niemand war an Deck. Zorn bebend und wild schnaubend schwenkten die Tiere ab und stürzten sich auf die anderen Schiffe. Doch auch dort hatte man die Decks geräumt. Hinter den Vögeln erschien ein grauer Adler. Das Tier stieß einen schrillen Schrei aus. Ein Schwarm silberner Dolche erschien aus dem Nichts, schoss auf die Nachhut der Vögel zu und säte Tod und Verderben. Der Adler schickte Feuerbälle hinterher, die für noch mehr Opfer sorgten. Plötzlich waren die Angreifer zum gejagten Wild geworden. Orientierungslos flohen die Vögel in sämtliche Richtungen, doch Gesyrah warf unverwandt Dolche und schoss mit Feuerbällen.
Balmir beobachtete, wie der schwarze Vogel seinen Schild durchbrach – mit einem Getöse, als wären hundert Fensterscheiben auf einmal zerborsten. Die silbernen Dolche schienen dem Tier nichts ausgemacht zu haben, was Balmir jedoch nicht mehr als ein Stirnrunzeln entlockte. Er sah das bösartige Funkeln in den gelben Augen des Vogels und stellte 303
fest, dass die Krallen noch größer waren, als er gedacht hatte. Von den Zinnen ertönte ein tausendfacher Angstschrei, doch das Tier schien sich nur für Balmir, Grend und Eydants zu interessieren. »Verschwindet von hier!«, rief Balmir Grend und Hanno über die Schulter zu. Die beiden Männer machten sich schleunigst in Richtung der Esplanade davon. Balmir blieb unbeweglich stehen. Der Vogel stieß einen triumphierenden Schrei aus und stürzte sich mit ausgestreckten tödlichen Krallen auf den Hochmeister. »Woöreth asusand«, murmelte Balmir, kurz bevor der Vogel ihn berührte. Seine Aura glühte auf. Die Gestalt wurde grau. Die Krallen, die Balmirs Körper aufschlitzen sollten, schossen durch eine Wolke, die vom Sog des Vogels mitgerissen wurde. Die Kreatur schien für einen Moment das Gleichgewicht zu verlieren, fing sich jedoch schnell wieder und flog einen scharfen Bogen. Balmirs Gestalt erschien wieder, an derselben Stelle wie zuvor. Flügelschlagend landete der Vogel ungefähr zehn Schritte von Balmir entfernt und veränderte seine Gestalt. Die gelben Augen der in einen langen schwarzen Mantel gehüllten Frau sprühten Feuer. »Narr!«, zischte sie. »Plappernder Halbmeister, das kostet Euch das Leben!« Balmir blieb ruhig stehen. »Gleich drei Irrtümer auf einmal, Karn.« Grend, der aus sicherer Entfernung zuschaute, holte hörbar tief Luft. »Karn? Der erste Hochmeister?« Seine Stimme zitterte vor Aufregung. »Ist also Karn der Verräter, ist … sie etwa Karn?« Die Frau fuhr zurück. »Wie …« Dann hatte sie verstanden. »Wyl ist entkommen!«, stellte sie fest. »Das auch«, antwortete Balmir. »Aber den brauchte ich nicht, um herauszufinden, dass Ihr Karn seid. Das wusste ich schon seit längerer Zeit. Seit jenem Moment, als es Euch gelang, der Gefangenschaft zu entrinnen.« 304
»Was?« Die Fassungslosigkeit der Frau war nicht gespielt. »Aber das heißt dann ja, dass Ihr … Seid Ihr ein Langlebender, Balmir?« Balmir senkte den Kopf. »Das hättet Ihr nicht erwartet, wie, Karn? Der dumme Schwätzer Balmir, mit seinen ständig nervenden Geschichten. Der harmloseste unter den Hochmeistern. Nun, diese Dumpfbacke weiß und kann einiges mehr, als Ihr Euch je hättet träumen lassen. Er kennt seine alten Sprachen und weiß, dass Karn in einer längst toten Sprache die männliche Version von Kartha ist.« Balmir drehte den Kopf nach links und nach rechts, als wäre er auf der Suche nach irgendetwas. Die Augen der Frau brannten feurig, spähten nach einem Ausweg. »Kartha, die mächtige Zauberin«, fuhr der Hochmeister ungerührt fort. »Die Frau, die damals vom Erben innerhalb der Grenzen eines dunklen Landes eingeschlossen wurde. Doch darüber weiß heutzutage kaum noch jemand etwas, nach so vielen tausend Jahren.« Balmir schob sich ein wenig zurück und erreichte den Sand neben den Pflastersteinen. Sein rechter Fuß glitt unauffällig nach vorn. Als Kartha sich umschaute, um zu sehen, wo Grend und Eydants abgeblieben waren, zeichnete Balmir blitzschnell mit der Spitze seiner Sandale ein eckiges Zeichen in den Sand und bedeckte es schnell wieder. Als die schwarze Frau, Karn, Kartha, ihn erneut anschaute, erwiderte er den Blick unschuldig, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Kartha starrte Balmir mit großen gelben Augen an. Balmir hob den Kopf. »Die Jahrtausende sind Euch nicht gut bekommen, Kartha. Euer Körper liegt fast schon im Sterben. Euer Gesicht gleicht mit jedem Jahr mehr einer Totenmaske, da hilft auch kein Dreifaches Feld Unfokaler Trübung.« Die Frau war nur noch rasende Wut. Sie wollte sich auf Balmir stürzen. Der trat drei Schritte zurück und hob ganz leicht den rechten Zeigefinger. Eine Feuersäule schoss aus der Erde. Karn, Kartha wurde ge305
nau an der Stelle, wo Balmir das Zeichen in den Sand gemalt hatte, in völliger Stille von einem Flammenmeer verschlungen. Balmir sprach zu den Flammen, als stünde die Frau noch vor ihm. »Euer Spiel war für die anderen Hochmeister nicht nachzuvollziehen. Selbst die Spieler konnten Euch nicht in den Griff bekommen und die Bewohner dieses Reiches hätten sowieso nichts davon verstanden. Manchmal sah es jahrelang so aus, als hättet Ihr Euch der guten Sache verschrieben. Ihr seid in Eurer Rolle als erster Hochmeister so sehr aufgegangen, dass sogar ich zu zweifeln begann. Schließlich: Irgendwann sagte der Erbe zu Euch, er glaube, in Euch wohne doch noch etwas Gutes. Vielleicht hat Euch das noch schneller aufgerieben – dieses Wissen, dass er Recht hatte, aber dass Ihr letztendlich doch nicht in der Lage wart, über Euren dunklen Schatten zu springen.« Er ging in die Knie und zeichnete mit dem Zeigefinger eine Rune über das andere Zeichen. Kardias Gesicht glühte auf, direkt vor seinem. In ihrem Antlitz vermischten sich Zorn und Todesangst.
Grend und Eydants hatten sich hinter den Stützpfeiler am oberen Ende der Treppengalerie verkrochen. »Was geschieht da?«, fragte Eydants. Grend lugte um die Ecke. »Balmir spricht zum Kopf der Frau.« Eydants schaute Grend ungläubig an. Der zuckte mit den Achseln. »Offensichtlich ist Balmir mächtiger als sie.«
Balmir lächelte, stand auf und trat einen Schritt zurück. »Ich glaube, inzwischen kenne ich all Eure Geheimnisse«, sagte er. »Auch Eure Fähigkeit, Euch aufzuteilen, die Ihr einem Besucher Eures 306
Landes gestohlen habt. Diese Fähigkeit zur Teilung verschaffte Euch viele Körper, wodurch Ihr auch der Gefangenschaft entkommen konntet. Doch diese Körper habt Ihr im Laufe der Zeit fast alle aufgebraucht oder verspielt. Und jetzt dürfte es wohl von größter Wichtigkeit sein, dass dies Euer letzter Körper ist. Den vorletzten habt Ihr dank Berre am Engpass verloren.« Im flackernden Antlitz der Frau malte sich Entsetzen ab. Für einen Moment glitt ein verbissener Zug über Balmirs Gesicht. »Ach, Berre, ein großer Verlust. Aber nicht so groß wie der bevorstehende.« Er berührte ihre Wange mit den Fingern. »Ihr habt viele Leben gelebt, Kartha, Kara, Antas.« Dann atmete er tief durch und sagte: »Es ist Zeit. Die Summe Eurer Verbrechen ist zu groß. Ihr habt länger gelebt, als beabsichtigt war.« »Wer entscheidet darüber? Die Ayinti?«, keifte Kartha. Ihre Stimme flackerte mit den Flammen. Ihre Augen suchten verzweifelt nach einem Ausweg. Balmir schüttelte ruhig den Kopf. »Nein, nicht die Ayinti. Sie sind nicht die Einzigen in den Sphären, und ganz sicher sind sie nicht die Mächtigsten. Wie ich bereits sagte, es ist Zeit. Ich weiß, es ist schon für einen Normalsterblichen schwer, Abschied vom Leben nehmen zu müssen. Für einen Langlebenden jedoch – zumindest für einen, der noch Jahrtausende weiterleben wollte –, ist es unfassbar, unmöglich, unbegreiflich.« Er trat zurück. »Einen Trost gibt es«, flüsterte er. »Es geht schnell und schmerzlos.« Er streckte die rechte Hand mit gespreizten Fingern aus und murmelte: »Aspher marlochod.« Die Wörter schienen zu Stein zu erstarren. Feuerzungen sprangen aus seinen Fingerspitzen hervor. Die Flammen loderten mehrere Meter hoch auf. Der Mund der Frau verzog sich zu einer Grimasse, öffnete sich. Der Todesschrei von Kartha, Karn ging einher mit einem plötzlichen Wandel ihres Antlitzes. Für eine Sekunde war Karn zu sehen; dann bebte das Gesicht und wurde zur Fratze einer Frau, deren Wangenknochen die graue Haut durchbohrten. Anstelle der gelben Augen 307
klafften nur noch zwei Höhlen, Abgründe aus geschmolzenem Jett, und der Mund war ein schwarzer Höhleneingang. Der Schrei brach abrupt ab. Ein prasselndes Geräusch ertönte. Das Feuer stieg zischend und raschelnd zum Himmel empor und verschwand. Balmir schaute auf. »Alles geht vorbei«, murmelte er. »Sogar ein Leben, das sich über viele hunderttausend Jahre erstreckt.« Er drehte sich um und hielt durch den Schild hindurch Ausschau nach den Vögeln. Gesyrah hatte sie bereits hinter die Flotte verjagt, doch jetzt erloschen plötzlich die Edelsteine; die Tiere prallten zusammen, stürzten ins Meer oder konnten sich über den Rand des Horizonts hinaus retten. Balmir deutete auf die näher kommende Flotte. Viele Schiffe verließen plötzlich und ohne ersichtlichen Grund den direkten Kurs auf die Festung. »Sie sind führungslos«, sagte der Hochmeister zu Grend und Eydants, die sich vorsichtig näherten. »Die Engel des Antas ohne Antas. Sie werden begreifen, dass sie unter dem Einfluss von Antas, Karn, Kartha oder wie immer sie während der vergangenen Jahrtausende geheißen haben mag, furchtbare Taten begangen haben. Behandelt sie mit diesem Wissen im Hinterkopf. Der Kampf um Romander-Stadt ist beendet. Doch der Kampf des Unmagiers gegen den Düsteren steht kurz vor dem Beginn. Und ob dieser Kampf genauso glücklich ausgehen wird, ist noch sehr fraglich.« Er beobachtete den Flug eines grauen Adlers, der mit kräftigem Flügelschlag näher kam. Dann drehte er sich zu Grend um. »Da ist Gesyrah. Meine Anwesenheit ist andernorts erwünscht. Sorgt gut für die Stadt. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt dieser Welt. Wie ich es mir von ganzem Herzen erhoffe, wird der neue Desran bald hier erscheinen.« Er nahm die andere Gestalt an, schwang sich in die Luft und gesellte sich zu Gesyrah.
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37 Der zweite Weber »Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass es im Reich mindestens drei Langlebende gibt. Warum existieren sie noch? Das kann doch nur bedeuten, dass denkwürdige Ereignisse bevorstehen.« – Aus ›Auf der Suche nach Spuren aus der Vorgeschichte des Reiches‹, von Hochmeister Raielf Schnee wirbelte um den Turm herum, als könne sich der Wind, der die Flocken vor sich her trieb, für keine Richtung entscheiden. Asayinda zitterte. Gall drehte sich um und hielt ihr den Mantel hin. »Das Wasser der Morgenröte.« Er grinste, sodass sein unregelmäßiges Gebiss zu sehen war. »Viele kennen dieses Kleidungsstück, aber niemand hat sich je gefragt, warum es so heißt. Niemand weiß, aus welchem Material es gewebt wurde. Niemand, außer Aernold natürlich. Zieht es an, Asayinda, denn Ihr werdet es noch brauchen.« Wie ein braves Mädchen tat Asayinda, was der Prophet ihr geheißen hatte. Als der Mantel über ihre Schuler fiel, verschwand die Kälte. Schneeflocken schmolzen. Sie hatte den Eindruck, als gebe ihr der Mantel sehr viel mehr Wärme, als das Aussehen des Stoffes vermuten ließ. »Ihr nehmt Kontakt mit der Säule auf«, sagte Gall. Er kam näher, beugte sich an Asayindas Ohr und flüsterte: »Ich bleibe bei Euch, während der ganzen Reise. Ruft mich, und ich werde antworten. Erst wenn Ihr verflochten seid, kehre ich zurück. Dann werdet Ihr mich auch nicht mehr benötigen.« 309
Asayinda schaute ihn dankbar an. Ihre Angst wich. Stattdessen wuchs in ihr Neugierde, was geschehen würde. Sie stand neben der Säule, den Volut des Dulce in der linken Hand. Sie roch das Meer, sog den Gestank des Jahrtausende alten Gesteins auf und nahm noch einen anderen Geruch wahr, für den sie keine Bezeichnung fand. Es war nur ein Hauch, am Rande ihres Geruchssinns, doch er schien mit dem Leben selbst zusammenzuhängen, sprühend wie unzählige kleine Funken, prickelnd wie ein Schmerz, der sich über ebenso unzählige winzige Splitter verteilt, sodass der Schmerz die Schmerzgrenze überschreitet. Es hing mit dem Leben zusammen, ihrem Leben, von dem sie nicht wusste, ob es noch lange dauern würde. Was der Dulce ihr erzählt hatte, hatte ihr ein Bild davon vermittelt, welcher Art ihr Schicksal war, doch wie sich das alles abspielen würde, lastete wie ein tiefes und schweres Mysterium auf ihrer Seele. Sie legte den Kopf in den Nacken, und ihre Blicke suchten das Ende der Säule, fanden es aber nicht. Reichte die Säule endlos in die Höhe? Ging sie immer und immer weiter? Sie schüttelte sich. Irgendwo zwischen Galls Worten hatte sie die Andeutungen von Schmerz, Leiden und Angst herausgehört, die ihr bevorstanden. Dennoch tat sie, was getan werden musste: Sie legte die rechte Hand auf die kühle Oberfläche der Säule. Irgendetwas versuchte sie gegen ihren Willen davon abzuhalten, leitete eine Gegenbewegung ein, wollte ihre Hand von der Säule wegdrücken. Sie bündelte die Fäden ihres Willens, bis die Hand sich wieder langsam der Säule näherte. In einer Mischung aus Angst und Erleichterung seufzte sie leise, als ihre Finger die raue Oberfläche berührten. Wie schon damals beim ersten Mal spürte sie die winzigen Rillen ihrer eigenen Fingerabdrücke. Für einen Moment flackerte zwischen ihrer Haut und dem Gestein die Hitze eines Feuers auf. Sie roch den Duft von Moschus. Diesmal würde es anders sein, wusste sie. Darauf konnte sie sich nicht vorbereiten. Gall hatte eine Reise erwähnt. Ob sie in unbekannte Länder gebracht würde, an ferne Küsten? Würde sie Schmerzen erleiden? Würde man sie wirklich zum Herrn der Tiefe bringen? Gall schaute zu, im Schneidersitz, den Kopf ruhig ihr zugewandt, so als sei das, was hier geschah, die normalste Sache der Welt. 310
Anfangs schien nichts zu passieren. Asayinda stand wie eine Statue im Schnee; ihre warme Hand ruhte auf der kalten, rauen Oberfläche der Säule. Die Veränderung vollzog sich ganz plötzlich, von innen. Aus dem Kern ihres Wesens heraus breitete sich nahezu unmerklich ein dunkler Fleck, kalt und leer, in ihrem Geist aus. Asayinda seufzte zitternd, als ihr Blut sich unaufhaltsam in Eis verwandelte. Ein Schauder schüttelte ihren Körper und setzte sich fort bis in ihren Geist hinein. Ihr normales menschliches Bewusstsein floss in ein geschärftes Wissen, das seine Kenntnisse aus mehr als nur ihrem eigenen Hirn schöpfte. Sie entdeckte weitere Geister, Zehntausende, Hunderttausende, unzählige, deren Stimmen ihr eine Schwindel erregende Perspektive eröffneten. Ihre Sinnesorgane reagierten extrem sensibel; sie hörte jede Nuance, die kleinste Betonung jeder einzelnen Stimme, spürte jede noch so kleine Gefühlsregung dahinter. Es war eine unüberschaubare Menge von Solitären, die sich wie Silhouetten vor dem Hintergrund einer Traumwelt bewegten, in die sie geraten war. »Wir sind die Mon, die Muyin, die Quisitoren, die Ar Rayands, die Solitäre. Wir starben mit dem Glauben an die Säule auf den Lippen, wir gingen in der Säule auf, unserer Säule.« Asayinda ließ die Worte durch ihren Geist strömen. »Wir sind die Säule. Unser Glaube ist wie ein Felsen. Er bereitet stets aufs Neue den Weg für den Herrn der Tiefe. Unser unerschütterliches Vertrauen in ihn verleiht uns die Kraft, alle neuntausend Menschenjahre unsere Aufgabe zu erfüllen.« Eine kurze Stille trat ein; dann hörte Asayinda: »Obgleich es eine unmenschliche Aufgabe ist, die jeder Beschreibung spottet.« Dieser letzte Satz klang unglaublich traurig. Asayinda hatte das Gefühl, als berührten die Stimmen ihren Körper wie Windstöße, als zwängten sie sich in ihn hinein und verließen ihn wieder als kühler Seufzer. Tausende Tote, die in sie eindrangen – es war ein unfassbar intimes Gefühl. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich vollständig zu öffnen. Ein Empfinden von Reinheit, Klarheit und Helligkeit nahm von ihr Besitz. 311
»Herrin der Morgenröte.« Es war eine neue Stimme, die sie als die flüsternde Stimme vom ersten Mal wiedererkannte, als die Säule sie in eine Vision hineingezogen hatte. Vor ihrem geistigen Auge erschien eine Person in einem rauhaarigen, dunkelbraunen Mantel. Das Gesicht blieb hinter einer weiten, faltigen Kapult verborgen. Asayinda konnte dem Verlangen zu sprechen nicht widerstehen. »Wer seid Ihr?« Sie wurde von Milde umfangen. »Euer Opfer verleiht Euch das Recht, es zu wissen. Ich entsinne mich meines Namens, auch wenn er so alt ist, dass mir seine wahre Bedeutung entfallen ist. Ich hieß Imerith Dunser, und ich spiele eine Rolle in der Großen Legende, in der ich Dinser genannt werde. Doch nennt mich bitte Dunser. Ich bin der zweite Weber – allerdings wird Euch das nichts sagen, da Ihr nicht einmal den ersten Weber kennt. In alten Zeiten war ich so etwas wie ein Dulce, auch wenn meine Solitäre anders hießen. Wir beteten die Säule an, diese Säule, die damals noch ein Schwert aus Feuer war. Die Quelle der Säule lag im Herzen der Erde, wo unvorstellbare Hitze herrscht. Zusammen mit dem stillen Weber und mit Hilfe anderer Geschöpfe schufen wir die Voraussetzungen für den Zyklus.« Er lachte. Längst vergessene Erregung klang durch, als er dann fortfuhr: »Was waren das für Zeiten! Wir spielten mit Kräften kosmischen Ursprungs, die wir gerade noch im Zaum halten konnten. Doch was blieb uns anderes übrig? Wir hatten es mit dem Zorn von Mathathruin zu tun, der im Reich auch als der Düstere des Nachtmeers bezeichnet wird. Seine Wut und deren Folgen haben wir in den Geheimen Notizen und im Geheimen Apodikt beschrieben. Der Zyklus zügelte die Wutausbrüche des Düsteren, doch alle neuntausend Jahre geriet er außer Kontrolle.« Er machte eine Pause und schien einen Einwand, eine Bemerkung oder eine Frage von Asayinda zu erwarten. Doch diese wusste nicht, was sie hätte fragen sollen. Was Dunser ihr erzählte, war so ziemlich dasselbe, das ihr auch schon der Dulce mitgeteilt hatte. 312
Dunser seufzte und fuhr fort. »Warum es dem Düsteren alle neuntausend Jahre gelingen konnte, die Ketten seiner irdischen Tiefen abzuschütteln, ist ein Mysterium, auf das möglicherweise nur der stille Weber eine Antwort geben kann.« Nach einem nachdenklichen Schweigen setzte er hinzu: »Wenn er wollte, heißt das.« Zu spät bemerkte Asayinda, dass sie aufmerksamer hätte sein müssen, dass sie diese Frage hätte stellen müssen. Sie konzentrierte sich noch mehr auf das, was Dunser sagte. »Dem Zauberlosen, Lethe, muss aus der Stärke unseres Glaubens herausgeholfen werden. Denn nur diese Stärke vermag zu verbinden, was nicht verbunden werden kann.« »Das verstehe ich nicht.« »Alles wird sich klären, alles wird deutlich, auch das Wesen, die tiefste Form unseres Glaubens.« Diesmal schien Asayinda zu schnell gehandelt zu haben. Sie fühlte sich klein und unsicher gegenüber Dunser, der in allem, was er sagte, die Weisheit von Jahrtausenden mitschwingen ließ. »Asayinda, Herrin der Morgenröte, Ihr seid in diesem Zeitalter der einzige Mensch, der rückwärts in der Zeit, hinter seine eigene Geburt, hat schauen können. Ihr habt wieder gefunden, was Ihr vergessen hattet. Ihr habt den Kryptus passiert, den Eid des Lebens, auf dem Weg zu den Leben, die Ihr zuvor geführt habt. Nur Ihr könnt diesen Weg umkehren. Nur Ihr seid in der Lage, den Herrn der Tiefe zu wecken. Dazu müsst Ihr …« In der Stille, die daraufhin einsetzte, floss ein unaufhaltsamer Strom von Begriffen und Bildern durch den Volut hindurch in ihren Geist. Was unumstößlich auf sie zukam, wurde ihrem Wesen eingegeben. Erneut erlebte sie ihre Geburt, doch diesmal war sie sich voll und ganz dessen bewusst, was geschah. Etwas Eigenartiges begleitete diesen Vorgang, aber erst, als das in weiße Flammen gehüllte Gesicht der gleichermaßen weißen Person vor ihrem geistigen Auge erschien und sie spürte, wie das Wesen den Finger wegnahm, der vorher ihre Lippen berührt hatte, wurde ihr klar, 313
dass sie die Geburt diesmal in umgekehrter Reihenfolge mitgemacht hatte. Das Wesen drehte sich um und schwebte davon. Ganz langsam, dass jede Sekunde sich auf ihrer Netzhaut einbrannte, wurde das Licht schwächer, und tiefe Dunkelheit, wie im Innern eines Berges, senkte sich über sie. Kälte umgab sie, drang in sie ein, füllte ihr gesamtes Wesen. Einen Augenblick lang fühlte sie sich von allem und jedem verlassen, bis die Stimme ihr Bewusstsein wie eine Wunde aufriss. »Doch Ihr werdet nicht allein sein. Die Solitäre werden um Euer Opfer wissen. Der Dulce kennt es, und in jedem Augenblick Eures verbleibenden Lebens wird der Vertreter der Ayinti bei Euch sein.« Weit, sehr weit von ihrem Geist entfernt berührte Gall ganz sanft ihren Arm. Es war, als setzte er ihren Körper in Flammen; doch sie und ihr Körper waren zwei Identitäten, die nur noch durch einen hauchdünnen Faden miteinander verbunden waren. Dennoch drang ein Teil der Hitze zu ihr durch und bewirkte, dass die Kälte wich. Es schien sich kaum etwas zu bewegen; dennoch hatte sie jetzt mehr Raum zum Atmen. »Die Götter wissen nun, dass diese Aufgabe unmenschlich schwierig ist. Beim letzten Mal, als wir alle überzeugt waren, der Zyklus würde beendet, haben wir versagt, weil die Herrin versagte. Daher beschlossen die Ayinti, den Propheten zu schicken.« In Gedanken nickte Asayinda. Sie spürte, dass es zu schneien aufgehört hatte. Hier und da brach die Wolkendecke auf. Um die Säule herum präsentierte sich eine Insel von wolkenlosem Blau. Es war windstill. »Ihr seid die Stimme von Millionen Solitären«, sagte Dunser. »Eure Gesten sind die Gesten all jener, die an den Herrn der Tiefe glauben. In erster Linie aber gehört Ihr den Göttern, und diese bitten Euch, das zu tun, was getan werden muss.« Etwas in ihr erkannte die Worte als das, was sie waren: ein Ersuchen, ein Flehen der Götter. Endlich wusste sie mehr. Wenn es ihr gelingen sollte, sich selbst zu opfern, würde sie etwas tun, wozu die Götter selbst nicht imstande waren. »Kommt«, flüsterte Dunser, jetzt ganz in ihrer Nähe. 314
Asayinda spürte, wie ihre Füße sich von der Insel lösten. Sie akzeptierte es, als wäre es völlig normal. Ohne ihre Hand von der Oberfläche zu entfernen, glitt sie an der Säule in die Höhe; in einem fernen Hintergrund nahm sie wahr, wie Gall mit ihr schwebte. Ihre linke Hand umklammerte den Volut. Eine ganz leichte Brise strich an ihr vorbei. Erregung rauschte durch ihre Gedanken, Tausende Geiststimmen murmelten durcheinander. Als sie nach unten schaute, sah sie, dass sie sich bereits Hunderte von Metern über dem Meer befand, und nach oben konnte sie durch die dünnen Wolkenfetzen hindurch erkennen, wie die Säule sich in der unendlichen Weite des Himmels verlor. Wie hoch war dieses Monument? Sie stieg jetzt immer schneller, und ihre Hand scheuerte schmerzhaft über den Stein. Es gelang ihr nicht, sie von der Säule zu lösen. Die Hitze brannte ihr ins Fleisch; der Schmerz wurde unerträglich. Asayinda öffnete den Mund, wollte ihre Verzweiflung herausschreien, brachte aber keinen Laut hervor. Sie verlor das Bewusstsein.
Als sie wieder zu sich kam, schwebte sie ruhig in der Luft, die Hand noch immer fest an der Säule. Tödliche Kälte versuchte sie zu erreichen, doch ihr Mantel schützte sie. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie nahm all ihren Mut zusammen, schaute nach unten und stieß einen Schrei aus. Sie kniff die Augen fest zusammen, bis sie ihren Schwindelanfall überstanden und sich wieder unter Kontrolle hatte. Die Welt war ungewöhnlich hell. Nirgends war eine Wolke zu sehen. Das Schwarzwasser erschien Asayinda wie ein kleiner Tümpel, nicht größer als ihr kleiner Zeh. Tief unter ihr löste die Säule sich in ihrem eigenen Fluchtpunkt auf, noch bevor sie das Meer erreichte. Die Säule schien endlos … nein, sie war endlos, von welcher Seite man es auch betrachtete. Am nördlichen Horizont entdeckte Asayinda eine Küste. Von LanGyt oder einer anderen Insel war nichts zu sehen. 315
Sie war allein. Selbst Gall war nicht da. »Ich bin hier, bei Euch«, flüsterte der Prophet aus dem Nichts, »doch in Wirklichkeit seid Ihr allein. Ich begleite Euch nur. Der Weg der Säule ist der einzige Weg.« »Was wird mit mir geschehen?« Asayindas Stimme zitterte. Angst kroch ihr in Körper und Geist. Eine Veränderung trat ein. Die Geister von Millionen Toten versammelten sich in ihrem Verstand. Auch sie schwiegen, doch in der Stille hörte Asayinda, was nicht gesagt wurde: »Wir kommen mit. Ohne uns geht es nicht.« Mit? Wohin? Weiter hinauf? Die Antwort auf die unausgesprochenen Fragen kam unverzüglich. Langsam glitt sie hinab. »Ihr könnt die Säule jetzt loslassen.« Es war Galls Stimme. »Was diese Säule lebendig macht, ist nach außen getreten und umgibt Euch wie ein zweiter schützender Mantel.« Asayinda bewegte die Hand, die sich sofort von der Säule löste. Als wäre dies ein Zeichen gewesen, beschleunigte sich ihr Fall. Sie öffnete den Mund und kreischte, bis die Kälte ihr den Atem nahm. Wenngleich sie mit ihrem ganzen Wesen dagegen ankämpfte, verlor sie erneut das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kam, fiel sie noch immer. Sie sah den Wasserspiegel auf sich zu rasen und öffnete erneut den Mund, um vor Kälte und Angst zu schreien. Andere Stimmen fielen in ihren Schrei mit ein. Das Pandämonium der Jammerlaute und verzweifelten Hilferufe brach abrupt ab, als Asayinda auf das Wasser aufschlug. Die Kälte, die sie soeben noch als unerträglich empfunden hatte, war nichts im Vergleich zu den Eiszapfen, die ihr wie gezackte Messer in den Leib fuhren, als sie ins Wasser schoss. Todesangst blockierte ihren Verstand; wild um sich tretend und mit den Armen rudernd versuchte sie die Wasseroberfläche zu erreichen. Schließlich kam der Moment, wo ihre Lungen nach Atem schrien, und instinktiv, getrieben von einem Leichtsinn, der aus dem Bewusstsein geboren war, sowieso sterben zu müssen, öffnete sie den Mund. Und bemerkte, dass sie atmen konnte. 316
»Ich lebe!«, flüsterte sie in Gedanken fassungslos. Die unbeschreibliche Erleichterung, die sie durchströmte, als sie erkannte, dass sie nicht ertrinken würde, ließ sie für Augenblicke alles andere vergessen. Ein schmerzhafter Stich, der ihren ganzen Körper erfasste, beendete ihre Euphorie von einer Sekunde auf die andere. Während sie hilflos in die Tiefe sank, löste sich ihr Körper vom Geist. Der Schmerz wurde unerträglich, und so flüchtete sie sich in Bewusstlosigkeit. Als sie wieder zu sich kam – sie hatte keine Ahnung, wie lange sie ohnmächtig gewesen war –, war ihr Körper verschwunden. Trotzdem spürte sie noch ihre Hände, die Füße und den Rumpf. Das Wasser der Morgenröte, dieser mysteriöse Mantel, hatte sich wie ein beschützender Kokon um ihren Geist gelegt. Sie erreichte den Meeresboden. Ich bin allein, körperlos, einsam, dachte Asayinda. »Ihr seid allein, das ist wahr«, flüsterte Galls Stimme in ihren Gedanken. »Doch ich bin dennoch hier. Und über die Einsamkeit werdet Ihr noch sehr viel mehr erfahren, wenn der Zyklus beendet ist …«
Ihr Körper trieb – wie der von Lethe einige Wochen zuvor – an der Wasseroberfläche. Die linke Hand umklammerte noch immer krampfhaft den Volut. Die See trug den Körper nach Norden, wo er eine Woche später an einer sandigen, von kleinen Flüssen unterbrochenen Küste angespült wurde. Kurze Zeit später tauchten aus den Dünen fünf in graue Mäntel gekleidete Wesen auf. Sie hoben den Körper vorsichtig hoch und nahmen ihn mit landeinwärts.
Als Asayinda schon glaubte, nichts könne sie mehr überraschen, begegnete sie dem Stachelrochen. Das Geschöpf starrte mit naivem Blick direkt durch sie hindurch. Noch gänzlich unter dem Eindruck dieser 317
Begegnung, bemerkte Asayinda das andere Wesen und fand das Labyrinth. Irgendetwas in ihrem Innern bewirkte, dass sie sich zielstrebig durch die Gänge bewegte und schließlich die Kuppel erreichte. Schon lange bevor sie Lethe gefunden hatte, spürte sie seine Anwesenheit und versuchte Kontakt mit ihm aufzunehmen, doch er schien sie nicht wahrzunehmen. Sie glitt in die Kuppel. »Asayinda, Herrin der Morgenröte.« Die Stimme, die sie willkommen hieß, füllte ihr ganzes Wesen aus. »Ich bin Ghormard. Die Sterblichen nennen uns heutzutage Ayinti, die Götter der zeitlosen Welt von Ayintan.« Die bisherigen Ereignisse hatten Asayinda beinahe der Fähigkeit beraubt, sich noch über irgendetwas zu wundern. Sie wartete ab, wobei sie sich der Anwesenheit Lethes bewusst war. Er hatte sie bestimmt erkannt, doch aus Gründen, die sich Asayinda nicht erschlossen, hielt er Abstand zu ihr. »Ich habe eine Frage an Euch«, sagte Ghormard. Er machte eine Pause, wodurch die Frage des Gottes plötzlich spürbar an Gewicht gewann. »Wer ist Eure Mutter, Gyndwane?« Die Frage überraschte Asayinda. Es schien ihr die einzige Frage zu sein, auf die sie keine Antwort hatte. Ihr blieb auch keine Zeit, sich darüber zu wundern, dass Ghormard ihren alten Namen benutzte, denn Ghormard flüsterte Wörter, die wie Runen aus uralter Zeit in ihre Gedanken gemeißelt wurden. »Souinomus levituim cryptus tiampaere.« Die Wörter rauschten ihr wie aufeinander folgende Windstöße durch den Kopf. Ein Wesen in flammendem Mantel erschien vor ihrem geistigen Auge, eine männliche Person mit kahlem Schädel. Er begrüßte sie mit einem Handzeichen und flüsterte: »Ilure Imfarse führt Asayinda, die Herrin der Morgenröte, an ihrem eigenen Tagesanbruch vorbei. Ilure Imfarse führt sie am Kryptus vorbei.« Das also bedeutete ihr Name. Sie war die Herrin ihres eigenen Tagesanbruchs! Es schien, als reiße der Mann einen Vorhang zur Seite. Ein Strudel von Bildern wirbelte um sie herum und schwebte durch ihr 318
Bewusstsein. Es dauerte eine ganze Zeit, ehe sie begriffen hatte, dass sie rückwärts durch ihr eigenes Leben gezogen wurde. Bruchstücke verschiedener Ereignissen blieben für Sekundenbruchteile hängen, um gleich darauf von neuen Bildern verdrängt zu werden. Sie erkannte jedes Einzelne, denn es war die Abfolge von Erinnerungen, sogar an ihre eigene Geburt, ja noch weiter zurück in der Zeit. Wie ein Blitz tauchte noch das Bild des flammenden Wesens auf, das einen Finger von ihren Lippen nahm, und verschwand gleich darauf wieder. »Sey donium tel cryptus«, flüsterte Ilure Imfarses Stimme, die so schwer war, dass Ghormards Stimme dagegen wie ein dünnes Piepsen erschien. Danach war Asayinda ein anderes Wesen – der Geist eines Menschen, ohne Körper, wie zuvor. Und durch das geistige Auge dieses Menschen sah sie, wer sie gewesen war, bevor sie Gyndwane wurde, und sie erkannte, wer ihre Mutter war. Sie sah es nicht nur – sie erfasste auch die unglaubliche Ironie. Aus dem tiefsten Innern ihres Wesens löste sich ein herzzerreißender Schrei. Asayinda versank in der Finsternis einer neuerlichen Bewusstlosigkeit, während sie in die Kuppel, in das Heute und in die Nähe Ghormards zurückgerissen wurde. Als sie wieder zu sich kam, hörte sie die Stimme des Gottes. »Jetzt wisst Ihr. Und weil Ihr jetzt wissend seid, brauche ich Euch nicht jene Fragen zu stellen, die ich dem Zauberlosen stellen musste.« Asayinda spürte, wie Ghormard sich aus ihrem Geist zurückzog. »Verflechtung«, flüsterte er noch, dann war er verschwunden.
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38 Das Versteck des Düsteren »Wenn die Erde aufreißt und der Dämon aus Nacht und Nebel sich wie ein schwarzer Greif auf die Welt stürzt, sind wieder die Stunden der Düsternis angebrochen; dann wird ein Schleier den Tag der Sicht entziehen. Flieht dann in ferne Länder, Sterblicher, denn es gibt keine Stätte, die Euch sichere Zuflucht gewährt, und Ihr habt keine Waffe gegen die Macht des Schwarzen. Flieht, wehrloses Geschöpf, denn der Zorn des Dämons ist grenzenlos. Flieht, zerbrechlicher Mensch, denn der Dämon wiegt und misst tausendmal mehr als Euer Leib. Flieht, denn der Morgen wartet nicht auf Euch. Von jenen, die nicht die Flucht ergriffen, sah ich in meinen Träumen nur zerschmettertes Gebein und die bleiche Asche der Vergänglichkeit.« – Fragment aus ›Die Visionen des Geistmeisters Damphier aus Demster‹ Die Insel wurde zu einem Großteil von einem Wald versteinerter Küstenweiden bedeckt: kuriose tote Pilaster, grau, ohne Äste und Blätter, dreißig und mehr Meter hoch. Über der Insel lag schon seit Monaten eine Nebel- und Wolkendecke, so unermesslich wie das Meer, das einem schlafenden Ungeheuer gleich das Eiland umgab und die Weidenstämme fest im Griff hielt. Sobald sich ein Segel am Horizont zeigte, quollen die Wolken auf und packten mit tastenden Nebelfingern nach dem Schiff. Die Seeleute wurden unruhig und sahen undeutlich etwas Schwarzes, die Umrisse 320
von etwas undefinierbar Beängstigendem. Niemand hielt es dort lange aus; noch jedes Schiff hatte schließlich Hals über Kopf gewendet und mit vollen Segeln Reißaus genommen. Das Herz des Waldes war eine klaffende Wunde, ein über drei Kilometer langer und hundert Meter breiter Spalt, umgeben von übereinander liegenden erstarrten Lavazungen, Felsbrocken und achtlos geknickten, von kalter Götterhand zur Seite geschobenen Waldriesen. Sogar der Nebel hielt sich mit ehrfürchtigem Respekt von diesem Ort fern. Um die Öffnung herum war die Erde bleich und gelb. Hier wog das Schweigen so schwer wie ein Berg. Die dunklen Wände der senkrecht in der Tiefe verschwindenden Schlucht glühten. An mehreren Stellen kringelte schwarzer Rauch aus dem Riss empor und verbreitete den unerträglichen Gestank von Schwefel und anderen giftigen Dämpfen aus der tiefen Düsternis der Erde.
Die steinerne Stille veränderte sich. Eine Brise lispelnder Flüsterstimmen schlüpfte zwischen den Nebelschwaden hindurch und strich über die tote Oberfläche der Insel, eine Aschespur hinter sich herziehend. Die Stimmen erzählten in alten, in Mangit gemeißelten Sprachen vom Versagen der Welt und ihrer Bewohner. Schatten fiel über Schatten, flocht dunkle Flecken auf die Weiden. Der Hauch einer Wolke kroch dicht über dem Boden auf den Erdriss zu. Grau wurde schwarz, Schwarz wurde noch schwärzer, wie das Herz einer mondlosen Nacht. Die Erde begann zu zittern, zunächst langsam, dann immer heftiger, wilder, schneller, unregelmäßiger. Staub wirbelte auf, Steinsplitter und Ruß wurden in alle Richtungen geschleudert. Das Wolkenkleid änderte seine Farbe binnen weniger Sekunden von Umber zu Jettschwarz. Neben dem dichter werdenden Rauch stiegen gelbe Schleier aus der Spalte hervor. Aus den tiefsten Tiefen zwängte sich ein lang gezogener Schrei empor, schoss in die Luft und explodierte klirrend mit einem tausendfachen Echo. 321
Zorn, unerträglicher Schmerz und unermessliche Melancholie waren die Rohstoffe und Triebfeder des Jammers. Das Geräusch schwoll zu einem beißenden Kreischen an, dem kein menschliches Trommelfell hätte widerstehen können. Zischend und heulend spritzte eine Feuersäule aus dem Riss, zerfetzte die Wolkendecke über sich und schoss wie ein gelber Raubvogel kilometerweit in den Himmel hinauf. Der Spalt schleuderte noch mehr Feuer, Schwefel, Asche, Rauch und schwarz gebrannte Felsbrocken hinterher. Dunkelgraue Dampf- und Rauchschwaden wurden mit unglaublicher Gewalt in die Luft gepresst und dort von den dunklen Wolken aufgesogen, die ihrerseits auf den Riss hinabzusinken begannen. Ein neuerlicher Schrei quälte sich aus der Erde empor, änderte seine Tonlage, wurde zu einem vielstimmigen Kreischen an der Grenze des menschlichen Gehörs und löste sich schließlich in einem Pandämonium von Pfeiftönen auf, die sich schmerzhaft aneinander rieben. Am Rand des Spalts entstanden neue Risse. Wilde dröhnende Schläge ließen die Erde wie ein riesenhaftes Monster nach allen Seiten springen und rütteln. Unter dem Nachhall des Dröhnens rezitierte eine hysterisch klingende Stimme Worte, grau wie Asche, gespickt mit liederlichen Ausdrücken. Das Brüllen der Welt wehte davon. Die herabsinkenden Wolkenmassen verdeckten das Schreckensgebilde, das aus dem Riss herausplatzte. Lava ergoss sich über die Ränder, und im Herzen dieses Höllenfeuers zeigte sich etwas Düsteres. Wäre jemand Augenzeuge gewesen, hätte er den Schatten eines glänzenden schwarzen Leibes sehen können. Der Körper war viele hundert Meter breit und etliche Kilometer lang. Das Wesen stieß ohrenbetäubende Wutschreie aus und kletterte dem Himmel entgegen, gehüllt in seinen Mantel aus schwarzen, mit glühenden gelben Fäden durchzogenen Wolken, die sich sputeten, dem Schreckensgebilde zu folgen. Ein Zuschauer hätte auch den langen, rot und schwarz geränderten Schwanz sehen können, der im Rhythmus der grellen Wut, die das Ungeheuer in Gestalt gelber Funken versprühte, von einer Seite zur anderen schlug. Die Funken stürzten zischend auf die Insel und bissen gelbe Flecken ins Grau. 322
Der Zuschauer hätte überdies sehen können, wie die Säule aus Rauch und Asche, einem rasenden Raubtier gleich, in einem Pandämonium rollenden Donners, schrillen Kreischens und pfeifenden Zischens viele Kilometer in den Himmel hinaufschoss. Die Wolken schwollen zu einem Sturm solchen Ausmaßes und solcher Stärke an, wie das Reich ihn nie zuvor erlebt hatte. Hunderte gelbe Blitze verwandelten die Welt in ein Lichtermeer. Donner rollte in alle Himmelsrichtungen davon. Der Augenzeuge hätte miterleben können, wie der Sturm zielbewusst, einem unvorstellbar großen Vogel gleich, mit eckigem Flügelschlag davonflog, zunächst nach Westen, später nach Norden. Doch diesen Augenzeugen gab es nicht, denn im weiten Umkreis der Insel waren weder Fisch noch irgendein anderes Meerestier oder Landlebewesen, kein Vogel oder sonstiges Wesen zu sehen.
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39 Verflechtung »Dieses fand ich zwischen all den Schriften, die mein Meister in einer Schatulle aufbewahrte, die er in einer verschlossenen Kiste versteckt hatte. Ich glaubte die Bedeutung oder Wichtigkeit des Inhalts sofort der ganzen Reihe schwerer Vorhängeschlösser entnehmen zu können, mit denen sowohl die Kiste als auch die Schatulle verriegelt waren. Ich war fast einen halben Tag damit beschäftigt, bis zum Inhalt des Behälters vorzudringen. Schon die erste Zeile, die ich las, machte mich neugierig. Warum? Weil ich vor einem Rätsel stehe und gleichzeitig glaube, einen Hauch von Entschleierung dieses Rätsels vor Augen zu haben. Doch ich kann meinen Finger nicht auf die definitive Bedeutung der Worte legen. Oder, um es anders auszudrücken: Für mich ist das, was dort geschrieben steht, genauso unverständlich wie verständlich, so ungewöhnlich das auch klingen mag. Ich könnte all meine Gedanken und Fragen bezüglich dieses Schriftstücks ausführlich beschreiben; ich kann es aber auch dem Leser überlassen. Letzteres erscheint mir nicht nur sinnvoll, es soll auch Ausdruck meines Respekts vor dem Leser sein. Hier nun der Text: ›Wo befinden sich die Zufluchtsorte, die sich in einer anderen Dimension verbergen? Tunnel bahnen sich durch die Maschen von Raum und Zeit einen Weg zu jenen Orten. Tunnel, die weder der uns vertrauten Welt, noch jener anderen Welt zugehören. Jene, die zum ältesten Volk zählen, sind grün, und ihr Pfad ist übersät mit nie entdeckten Mysterien. Verstohlene Blicke folgen den Sterblichen aus Nischen in dunklem Emerald. Gestalten zeigen sich hinter den Hecken aus Grün und winken. Ihre Identität bleibt meist im Verborgenen. Wer für Sphären empfänglich ist, tastet um sich herum und stößt auf Eigentümlichkeiten, auf 324
unbekannte Gerüche und unergründlich tiefe Stille. Wehmut erfasst jenen, der diese Gänge des Nichts betritt.‹ Ein sonderbarer Text, von meinem Meister einer gewissen Ayra zugeschrieben, einer Frau. Über sie ist nichts bekannt. Hat sie in Raielfs Leben vielleicht eine Rolle gespielt? War sie eine Mystikerin früherer Zeiten? Wahrscheinlich hat mein Meister die Antwort darauf mit ins Grab genommen.« – Aus ›Die Hinterlassenschaft des Raielf, seine handschriftlichen Aufzeichnungen, die Werke aus seiner persönlichen Bibliothek‹, von Halbmagier Gurfandre aus Alt Thybwi Grün. Langsam, unmerklich musste sich in der Kuppel etwas verändert haben. Erst als die wogende Welt um ihn herum sämtliche Farbschattierungen zwischen Jade und Emerald angenommen hatte, wurde er sich dessen bewusst. Er wusste nicht, ob es die Farbe oder das abwartende Schweigen war, doch in seiner Vorstellung füllte die Kuppel sich mit der Stille, wie sie oft einem Sturm vorausgeht – eine Ehrfurcht heischende Stille; daher war sicher auch ein Ehrfurcht gebietender Sturm zu erwarten. Lethe wusste, dass Asayinda sich in der Nähe befand. Ihr Geist war wie eine Wolke, die am Horizont verharrt, weil kein Wind geht, der sie zur Küste tragen könnte. Pit schwieg, verbarg sich tief und tausendfach in ihm, warm wie ein schwelendes Feuer in einer Winterlandschaft. Sie hielt ihre Gedanken zurück, vielleicht weil sie ihm nicht im Wege stehen wollte. Von Ghormard oder einem anderen Wesen gab es keine Spur. Genauso wie er nicht bemerkt hatte, dass die Kuppel von Götterhand grün getüncht wurde, entging ihm zunächst auch, dass es dunkler wurde. Erst als der Schatten sich über ihm bewegte, blickte er überrascht auf. Die Begrenzung der Kuppel war verschwunden. Ohne dass er etwas gesehen oder gespürt hatte, war er an einen anderen Ort verlagert worden. 325
Er befand sich jetzt hoch oben im Labyrinth und konnte in sämtliche Richtungen schauen, in das Herrschaftsgebiet des Herrn der Tiefe. Doch über ihm und dem endlosen Irrgarten der Gänge war eine Wolke erschienen, ein Schemen, dessen Ausmaße er nicht einordnen konnte. »Es ist ein Fisch«, meldeten sich Pits Gedanken, leiser als ein Flüstern. »Ein Stachelrochen. Es ist …« Lethe hörte, wie sie zögerte. Er wartete ab, doch Pit schwieg weiter. Auch diesmal wurde er sich erst spät der Veränderung bewusst, als Asayindas Geist sich plötzlich direkt neben seinem befand. »Lethe, hier bin ich.« »Asayinda«, sagte er wie selbstverständlich. »Als wir uns voneinander verabschiedeten, sagtest du es bereits: ›Wenn alles gut geht, werden wir uns wiedersehen.‹ Keiner von uns beiden hat damals vermuten können, unter welch außergewöhnlichen Umständen es sich abspielen würde.« Die Wahrnehmung eines Lächelns erschien auf seinem Geist. »Ja, Lethe. Hier sind wir nun, im Reich des Herrn der Tiefe.« Lethe wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch ohne jede Ankündigung drang etwas in seinen Geist ein. Verschwommen nahm er wahr, dass Pit erschreckt zurückwich, während sein Geist gegen seinen Willen mit unglaublicher Geschwindigkeit auf Asayinda zuraste. Schmerz war für das, was er empfand, nur ein lächerlicher Begriff. Er überstieg alles, was er sich jemals hätte ausmalen können. Er hätte alles, wirklich alles dafür gegeben, wenn er in diesem Moment hätte loslassen und sterben dürfen, statt dieser Folter ausgesetzt zu sein, die er über sich ergehen lassen musste. Eine nicht enden wollende Reihe von Schwertern bohrte sich in jenen Teil seines Geistes, den er als den Kern seines Wesens betrachtete. Die Möglichkeit, sich mit einem Schrei Luft zu verschaffen, bestand für ihn nicht mehr. Stattdessen gelang es ihm nur, wimmernd einige zittrige Seufzer von sich zu geben. »Das geht vorüber.« Die ferne Flüsterstimme des Propheten nahm ihm etwas von seinem Entsetzen. 326
Gleichzeitig wurde er sich einer zweiten Geiststimme bewusst, die ebenfalls wimmerte und zitternd stöhnte. Asayinda. Er sah und spürte, wie seine Gedanken vor dem Druck ihres Geistes zurückweichen mussten. Erinnerungen, Bilder, Panoramen, Menschen und Bewegungen, die nicht zu ihm gehörten, wimmelten in ihm umher. Selbst Asayindas dunkelste, intimste Gedanken drangen in sein Wesen ein. Dasselbe musste ihr widerfahren, machte er sich mit dem letzten Funken Bewusstsein klar, bevor sie beide in die Vergessenheit des Nicht-Denkens abtauchten. Ein letzter logischer Gedanke ließ beide erkennen, dass sie in diesem Moment starben. Der Urschrei ihrer Angst vermischte sich, ballte sich zu einem einzigen Schrei, der als riesige Luftblase vom Meeresboden emporstieg. Teile ihres Wesens, ihre Eigenheiten entglitten ihnen. Die Dunkelheit, in der sie sich verborgen hielten, war grün.
Als sie wieder zu sich kamen, schien sich irgendetwas geändert zu haben. Das Zeitempfinden hatten sie wie einen unbequemen Mantel abgeworfen. Jeder Gedanke, der Lethe durchzuckte, verursachte ein seltsames Echo, als habe er ihn zweimal gedacht. Bei Asayinda war es nicht anders. Kurze Zeit darauf spürten sie, wie ihre Geister sich noch mehr annäherten. Der Schmerz war vergangen; sie hatten nur noch ein träges, angenehmes Gefühl. Sie waren eins, miteinander verflochten, gleichzeitig jedoch immer noch Lethe und Asayinda. Es war ein eigenartiger, Schwindel erregender Zustand. Alles, was Lethe war, war auch Asayinda. Es schien, als habe er ihre Erinnerungen schon immer mit sich getragen. Daneben spürte Lethe im Hintergrund weiterhin Pits Anwesenheit.
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Später. Asayinda begann, die Geistfäden sämtlicher vorhandenen Lethes mit selbstverständlichen Bewegungen einzusammeln, als hätte sie nie etwas anderes getan. Sie flocht aus dem Bündel zwei starke Seile und reichte sie an Lethe weiter. »Hier, Paladinmeister«, ertönte es in dessen Geist. Endlich wusste Lethe, was von ihm erwartet wurde. Er setzte sich in Bewegung, fortgetrieben vom Meer, das ihn umgab, und zog Asayinda und die Lethes mit sich mit. Wie Stränge frei schwebenden Seegrases oder Kelps, die von einer langsamen und dennoch starken Strömung mitgerissen werden, trieben sie im Rhythmus eines verlangsamten Tanzes in Richtung jenes Schattens, der ihren Horizont bedeckte. Sie spürten ein kaltes Prickeln, als sie in den Körper des riesigen Stachelrochens eindrangen. Sie nahmen Räume in Besitz, die Jahrtausende lang leer und frei von jedem Gedanken gewesen waren. Sie hauchten den Gängen neues Leben ein. Sie näherten sich jener Stelle, wo die Augäpfel des Wesens aus dem Körper hervortraten. Asayinda zog sich in den Hintergrund zurück. Lethe wusste, dass sie so handeln musste. Sie war weiterhin vollständig anwesend, doch sein Geist war jetzt tonangebend. Während sich dies vollzog, glaubte Lethe zu bemerken, dass noch etwas anderes mit in das Bewusstsein des Stachelrochen hineinschlüpfte. War es Ghormard? Schließlich fand Lethe sich im Nervenzentrum des Stachelrochens wieder und ergriff wie von selbst – zusammen mit den von Asayinda geflochtenen Seilen seiner Fähigkeiten – die Zügel des unfassbar leeren und ahnungslosen Geistes, der in dem Fisch wohnte. Wie ein geistiger Paladinmeister thronte Lethe im Kern des Herrn der Tiefe. Paladinmeister. Dieses Wort schlich sich in seine Gedanken, achtlos, als habe er dessen Bedeutung vollständig ergründet. Vor seinem geistigen Auge entstanden die Bilder von Drachen. Auf diesen saßen Reiter, stolz und aufrecht direkt hinter dem Kopf der Tiere. Und auf dem Haupt jedes Drachen glitzerte ein Edelstein, der seine Funken in alle Richtungen versprühte. 328
Die Drachenreiter waren Paladinmeister, und er, Lethe, war einer von ihnen. Er, der als Letzter hinzugetretene Lethe, hielt als Paladinmeister die Zügel des Herrn der Tiefe in Händen! Auch die anderen Lethes machten sich in dem ungeheuer großen, doch praktisch ungenutzten Geist breit. Nur Asayinda, die Spinne im Netz der Geistfäden, schlich sich in Lethes Nähe. »Der eine Moment kommt auf uns zu, wo ich eine Lenkung dieses Geistes brauche«, sagte sie vorsichtig. »Auf dass die Große Legende, der Fortgang des Zyklus, erfüllt werde. Auf dass das Gift des Verrats nicht straflos davonkommt.« »Ich habe so etwas bereits vermutet«, sagte Lethe. »Lass uns aufbrechen.« Während er sich den Bewegungen des Körpers des Herrn der Tiefe anpasste, als habe er dies schon hundertmal getan, wurde er sich der Anwesenheit einer weiteren Kreatur bewusst. Eine Geistbewegung an der Schwelle des Wahrnehmbaren war zu spüren. Erstaunt untersuchte Lethe den Ort, wo das Wesen sich ganz kurz geregt hatte. Er fand nichts, doch er schaute weiterhin aufmerksam um sich. Kurz darauf fühlte er es wieder: Irgendetwas glitt durch ihn hindurch, übervorsichtig, wie eine Schlange, die den spähenden Blick des Raubvogels spürt. Und wie der Vogel die Nähe seiner Beute erahnt, so glaubte Lethe, dass das unerwartete Wesen von eben noch immer herumschlich. Für einen kurzen Moment wurde ihm schwindlig. Die Erinnerung an das Wesen wurde aus seinen Gedanken gerissen und verwehte wie ein dünner Rauchschwaden im Wind.
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40 Erweckung »… und so ist die Helix der Ereignisse eingeleitet. Um die Ziele des ersten Webers zu erreichen, werden viele Wanderungen durch die Zeit stattfinden müssen. Der Geist des Menschen muss wachsen. Erst wenn das eine Individuum geboren wird, erst wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, wird der Kreislauf beendet werden. Erst dann wird die neue Zeit anbrechen. Zum Ende des Zyklus der neuntausend Jahre wird der Ungläubige den Herrn der Tiefe erwecken. Und durch die Dunkelheit seines Unglaubens wird er die Düsternis des Nichts betreten. Und der Ungläubige wird nicht sehen, was die Neuntausend sehen. Schließlich bedeutet Unglaube Blindheit, und so wird er es mit dem Tode bezahlen.« – Aus ›Die Worte des ersten Webers‹, von Quenten Tatsins An jenem Tag, den Asayinda, die Herrin der Morgenröte, als Tag der Erweckung bestimmt hatte, betrat Uchate im Angesicht von neuntausend Solitären das Podium des Bogensaals. Seine Lippen waren zu dünnen Strichen zusammengepresst. Die Hände zitterten, und sein linkes Augenlid zuckte alle paar Sekunden. Er stellte sich neben dem Altar auf und starrte in den Saal. Schweißtropfen perlten auf seiner Haut. Sogar der Wairyu, der süße Weihrauch, duftete säuerlich. Der Chor der Reinen Stimmen sang die häufig geprobten, doch noch nie im Bogensaal vorgetragenen Lieder der Erweckung. Lange Reihen von Obertönen stiegen zum Dachgewölbe empor und tanzten wie Adlerfedern um das Auge von Avrilux herum. Uchate neigte sein Haupt und starrte auf die massiven Blöcke aus Sil330
bermarmor, auf denen seine Sandalen ruhten. Er befand sich in einer unmöglichen Situation. Wegen der Abwesenheit sowohl der Herrin als auch des Dulce war er als zweiter Priester dazu verdammt, die Zeremonie der Erweckung zu leiten. Die Erweckung eines Gottes, an den er nicht glaubte, der seiner Vorstellung nach bestenfalls eine Halluzination war, das undeutliche Echo einer Legende, die mit der Zeit ihren Sinn verloren hatte. Ein Mythos, der aufrechterhalten wurde von Menschen, die sich in ihrer Macht über die Solitäre suhlten. Und er, der Ungläubige unter den Gläubigen, sollte jetzt mit Herz und Seele die Riten der Erweckung leiten, jede seiner Bewegungen von neuntausend Augenpaaren beobachtet, jedes seiner Worte von ihnen gewogen. Für die Solitäre waren die Welt und ihr Glaube so unerschütterlich wie die Klippen, welche die Nordküste von Yle bildeten. Wie konnte er ihnen nach all den Jahren gespielten Glaubens noch sagen, dass er das gesamte Gerüst ihres felsenfesten Vertrauens nicht akzeptierte? Und vor allem: Wie konnte er ihnen erklären, dass er mit bestem Wissen und Gewissen beschlossen hatte, ihren Glauben, die Basis ihres Lebens, mit Feuer und Schwert zu bekämpfen? Wie konnte er deutlich machen, dass das Leben seiner Meinung nach tot war? Wie konnte er darlegen, dass diese Welt nach seinem Dafürhalten überhaupt nicht existierte? Die Solitäre würden ihn mit völligem Unverständnis anstarren. Sie würden denken, er sei wahnsinnig geworden. Und anschließend würden sie wahrscheinlich ganz normal in ihren Übungen von Geduld, Reue und Selbstkasteiung fortfahren. Und dann gab es da noch diese Weissagung, die der berühmte Quenten Tatsins früher einmal gemacht hatte. Tatsins hatte behauptet, die Weissagung beruhe auf einem alten Text, den er in einer der verborgenen Grotten auf Fernion entdeckt habe. Er hatte sie einem Langlebenden zugeschrieben, einem Magier aus alten Zeiten. Ach, redete er sich selbst ein, dies war nur eine Weissagung, ein Text aus dem Geheimsten Apodikt, von der Wahrheit und Wirklichkeit so weit entfernt wie diese ganze Maskerade. Doch die verdammte Weissagung ließ sich nicht aus seinen Gedanken verdrängen. Er hatte den Text im Kopf. Dies sagte die Weissagung: »Zum Ende des Zyklus der 331
neuntausend Jahre wird der Ungläubige den Herrn der Tiefe erwecken. Und durch die Dunkelheit seines Unglaubens wird er die Düsternis des Nichts betreten. Und der Ungläubige wird nicht sehen, was die Neuntausend sehen. Schließlich bedeutet Unglaube Blindheit, und so wird er es mit dem Tode bezahlen.« In seinem Herzen herrschte Winter. Die Eiskristalle seines Unglaubens, die letzten Überbleibsel des Lebens, das er all die Jahre zu leben vorgegeben hatte, zerplatzten mit Donnerschlägen, die ihm unerträgliche Kopfschmerzen bereiteten und die niemand hören konnte außer er selbst. Er hob den Kopf und räusperte sich; dennoch klang seine Stimme heiser. »Yle em Avrilux ist der einzige Ort. Hier wacht die Zeit. Hier erhält der Raum seine letztendliche Bedeutung. Hier fallen Raum und Zeit zusammen, da sie eins sind.« Als mache es ihnen gar nichts aus, dass nicht die Herrin oder der Dulce die Feierlichkeit leiteten, sondern nur der zweite Priester, antworteten alle Neuntausend gemeinsam: »Uchate!« Er blinzelte. Dieser Sturm der Stimmen machte noch immer Eindruck auf ihn. »Yle em Avrilux ist der einzige Ort.« »Der Dulce ist sein Hüter«, ertönte es aus dem Saal. »Wasser ist Leben.« »Leben ist Wasser.« »In seiner unendlichen Düsternis wohnt unser Gebieter.« »Herr der Tiefe.« Ein Teil von Uchates unangenehmen Empfindungen verschwand. Auch er fühlte sich gestärkt durch dieses sich täglich wiederholende Ritual im Wechselgespräch. Die Spannung im Saal war mit Händen zu greifen. Was sich gleich vollziehen würde, war die Vervollkommnung des Glaubens der Neuntausend. Doch Uchate spürte auch so etwas wie Angst. Vielleicht meldeten sich gerade an diesem Tag die zweifellos vorhandenen Spuren eines Zweifels stärker als sonst. Spekulationen hingen in der Luft. 332
Feierlichen Schrittes trat Uchate an den Altar aus schwarzem Samtgranit. Sein Blick glitt kurz über die schwarze Oberfläche des Wassers in dem Becken. Sein Herz pochte, und rasch richtete er den Blick auf das Buch, das vor ihm lag. »Viele von uns haben geglaubt, dass die Herrin selbst, und zwar hier, die Erweckung leiten würde«, sagte er. Die Stille nahm andere Formen an, schuf eine Leere um ihn herum, die einen größeren Abstand zwischen ihm und den Solitären bewirkte. »Die Wahrheit jedoch ist, dass die Herrin in der Säule der Wahrhaftigkeit aufgegangen ist und sich über den Weg der Säule mit dem Zauberlosen in einer Verflechtung vereinigt hat. Und so, nicht hier, sondern dort, dem Herrn der Tiefe näher, als wir alle für möglich hielten, wird sie uns bei der Erweckung leiten. Meine Stimme ist nicht mehr als ein Werkzeug. Die Herrin wird sich zeigen, ebenso wie der Herr der Tiefe. Dies ist der Tag.« »Dies ist der Tag«, erklang das neuntausendfache Echo gleich einem Sturmesbrausen aus dem Bogensaal. »Die Worte der Erweckung, wie sie in den letzten der Neuntausend Worte niedergeschrieben sind«, begann er und beugte sich über den Text. Auf dem Wasser des Beckens entstanden kleine Wellen. Uchate bemerkte es. Das Pochen seines Herzens wurde unangenehm. »Doch im Jahr des Steindrachen, in den Tagen nach der Verflechtung des Erben der Vergessenheit, wird die Herrin mit den Kräften, die in ihrem Körper und ihrem Geist gesammelt sind, den Herrn der Tiefe wecken, angetrieben durch die Stimme ihres Herrn selbst und durch ihre Getreuen, neuntausend an der Zahl. Sie wird die Verflechtung vollziehen und so den Herrn der Tiefe aus dem Schlaf der Toten erwecken.« Ein kleiner Teil von Uchates Geist war mit der Frage beschäftigt, wie in des Schöpfers Namen die neuntausend Menschenkinder dies alles glauben konnten. »Die Riten der Erweckung werden im Geheimen Apodikt beschrieben, das ich jetzt öffnen werde – mit der Autorität, die mir vom Dulce verliehen ward.« 333
Er tastete nach dem kleinen grauen Buch und suchte mit zittrigen Fingern die richtige Seite. Das Pochen des Herzens schien sich in seinen Schädel zu verlagern. Schmerzhafte Stiche erschwerten ihm das Lesen. Oh, wenn er jetzt doch nur irgendwo anders sein könnte! Er strich die Seite glatt und nahm den Text in sich auf, so gut und schlecht es eben ging, bevor er ihn vorlas. »In dem schier endlosen Zyklus der neuntausend Jahre, der durch den Bund des Einen der Welt gegeben wurde, stehen wir an der Schwelle der Erweckung dessen, der das Wasser beherrscht. Wasser, Erde, Luft und Feuer sind sein, auch wenn es den Anschein haben mag, als habe der Düstere die Erde, die Luft und das Feuer erobert. Der solitäre Glaube, der uns verbindet, ist unteilbar. Neuntausend sind eins, und gegen sie ist selbst der Düstere machtlos. Diese Worte beinhalten die Riten der Erweckung. Die Herrin ist in der Welt des Herrn der Tiefe untergegangen. Schon bald wird sie sich mit ihm verflechten. Um dies zu können, wird sie ihren Kryptus passieren. Der Herr der Tiefe wird sich zeigen, hier, an jenem Ort, der seit Menschengedenken dafür bestimmt ist. Lasst die Riten ihren Anfang nehmen.« Uchate wunderte sich, dass er den Text fehlerlos und ohne zu stottern hatte vortragen können. Vier Hilfspriester betraten das Podium. Jeder trug eine tiefe Silberschüssel mit Wasser. Vorsichtig näherten sie sich Uchate und stellten sich jeweils zu zweit an beiden Seiten von ihm auf. Dann erschien ein fünfter Priester auf dem Podium; er trug einen Stab aus geflochtenem Weidenholz vor sich her. »Ich lasse die Worte des ältesten Volkes aufleben«, las Uchate, »denn es ist deren Fähigkeit zur Unmagie, die die Verflechtung ermöglicht. Nur auf den Ruf des Wassers, aus allen Windrichtungen erhoben, hört unser Retter, der Herr der Tiefe. Wasser ist Leben.« »Leben ist Wasser«, antworteten neuntausend Stimmen. Uchate blätterte die Seite um, beugte sich über den Text der Riten und betrachtete die seltsamen Wörter. Fünf Zeilen. Fünfundzwanzig Wörter, an denen dieser ganze verfluchte Glaube festgemacht war. Und ausgerechnet er musste nun dieses Joch tragen. Ausgerechnet er musste diese fünf Sätze, diese fünfundzwanzig Wörter vortragen. 334
Uchate seufzte und griff nach dem kleinen Stab, einem vergoldeten Zepter von einem halben Meter Länge, das auf dem Altar lag. Dann wandte er sich an die Hilfspriester zu seiner Linken. Mit einer langsamen, feierlichen Gebärde tauchte er den hohlen, mit kleinen Löchern versehenen Kopf des Stabes ins Wasser. Er trat vor zum Rand des Beckens, sprengte einige Tropfen in das schwarze Wasser und sagte mit getragener Stimme: »Ataiam Wericylemae zairaed um vidianis therem.« Ein tiefes, unterirdisches Grummeln ertönte von der Stelle, an der die Statue von Atai Wericylem stand, dem Gott der Nordwinde. Steinsplitter spritzten von dem Monument in den Raum. Dann trat Totenstille ein. Uchate starrte mit großen Augen auf das Becken. Das Wasser schlug leichte Wellen. War dies auf das unterirdische Grollen zurückzuführen? Er war hin und her gerissen, und sein Unglaube geriet ins Wanken. »Auch Unglaube ist ein Glaube«, hatte der Dulce einmal gesagt. Uchate hatte damals nicht verstanden, was sein Herr damit meinte, doch jetzt dämmerte ihm, was der Dulce gemeint haben könnte. Sein benebelter Blick suchte den nachfolgenden Text. Er trat auf den zweiten Hilfspriester zu, tauchte den Stab ins Wasser, ohne dabei hinzuschauen, ging zurück zum Becken und besprengte die schwarze Oberfläche mit den Wassertropfen des Stabes. »Daiaem zairaed um vidianis therem«, sagte er heiser. Dai, der Gott des Ostwindes, ließ von sich hören. Tierisches Rumpeln, Knurren und Grollen krochen wie Schlangen durch den Bogensaal, der in seinen Grundfesten erschüttert wurde. In den Sockeln zeigten sich erste Risse. Atemlose Stille folgte. Neuntausend Solitäre gaben sich jeder Sekunde, jeder Bewegung und jedem Wort des Wunders der Erweckung hin. Uchates Schädeldecke war dem Platzen nahe. Sollte doch etwas dran sein an diesem lächerlichen Glauben an ein Geschöpf unter dem Meeresspiegel, in den wogenden Katakomben der Tiefsee? Seine Gedanken bewegten sich am Abgrund des Wahnsinns. Er fragte sich, ob er überhaupt noch imstande sei, die Riten zu Ende zu führen. Doch ihm blieb keine Wahl. Als er zum dritten Male das Wasser des 335
Stabes über dem Becken ausschüttete, gelang es ihm kaum noch, die Buchstaben des dritten rituellen Satzes zu erkennen; dennoch sprach er die Wörter fehlerlos aus, als wären sie ihm schon mit der Geburt in die Seele gebrannt worden. »Somboreim zairaed um vidianis therem.« Eine dunkle Wolke legte sich vor das hohe Fenster im Dach von Yle em Avrilux. Donner rollte, die Erde bebte. Mit einem scharfen Knall entstand ein Sprung im Fensterglas. Die Wolke löste sich auf, das Schweigen der Solitäre beherrschte wieder den Bogensaal. Uchates Knie knickten ein, als er zum vierten Hilfspriester stolperte. Er war nicht mehr in der Lage, einen zusammenhängenden Gedanken zu entwickeln. Wie eine Marionette vollführte er ein viertes Mal das Ritual mit dem vergoldeten Stab und sprach den vierten Text, ohne in das Geheime Apodikt zu schauen. »Tervylexum zairaed um vidianis therem.« Aus dem Nichts brach ein Wirbelsturm los, der wie eine Götterfaust auf die Außenmauern des Bogensaals einhämmerte. Die kleinen Wellen im Becken warfen sich auf. Wasser klatschte über den Rand hinweg auf den Boden. Zum ersten Mal sprengten die Solitäre die Stille. Stimmengewirr und Rufe der Bewunderung und Ekstase wurden laut. Uchate war völlig durcheinander. Sein Herz setzte ein paar Schläge aus, und sein Kopf schien zu platzen. Blicklos starrte er auf den letzten Satz der Riten. Er legte den Stab auf den Altar und wankte auf den fünften Priester zu. Als dieser ihm den Weidenstab mit dem goldenen Knauf reichen wollte, wurde Uchate schwindlig, und einen Moment sah es so aus, als würde er zusammenbrechen. Die freie Hand des Hilfspriester schoss vor. Mit deren Hilfe konnte Uchate sich gerade noch auf den Beinen halten. »Geht es?«, fragte der Hilfspriester. Uchate fing sich wieder, nickte und antwortete: »Es ist nichts.« Er tastete nach dem Stab, der sich seltsam klamm anfühlte, und schleppte sich zum Becken. Zitternd hielt er mit einer Hand den zweiten Stab des Dulce hoch über das Wasser. Er starrte auf die Wörter, die gesprochen werden mussten, geriet erneut ins Wanken, ließ das Gehei336
me Apodikt aus den Händen gleiten und öffnete den Mund, während er krampfhaft versuchte, nicht zusammenzusinken. Doch es war nicht seine, sondern eine Flüsterstimme, die von allen als Stimme der Herrin der Morgenröte erkannt wurde, als Asayindas Stimme, und die den Bogensaal bis in den entferntesten Winkel füllte. »Ayraenleoc'h dermio sor levituit!« Es waren Wörter, die älter waren als Yle em Avrilux, älter sogar als das gesamte Reich. Die Vielfältigkeit hat sich heute erhoben. Die Wörter hallten wider, schienen sich im Bogensaal festsetzen zu wollen. Der Moment der Verzauberung zersprang in einem Scherbenmeer, zusammen mit der Schale, die einer der Hilfspriester auf dem Marmorboden zersplittern ließ. Vor den Augen des fassungslosen Uchate, der noch immer offenen Mundes vor sich hin starrte, begann das Wasser im Becken ohne ersichtlichen Grund wild zu plätschern und spritzte an allen Seiten über den Rand. Doch neuntausend Solitäre und fünf Hilfspriester durchlebten eine für den menschlichen Verstand unfassbare Vision. Aus dem brodelnden Wasser des Beckens erhob sich ein ungeheures graues Geschöpf mit gelben Flecken und Stacheln auf dem Rücken, so groß wie die Hellebarden von Riesen. Der massige Fischkörper hob und senkte sich unter schweren Atemzügen. Als das Geschöpf sich über das Wasser erhob, begann es sich auszubreiten und war schon bald mindestens viermal so groß wie das Becken. Der Blick aus zwei riesigen gelben Augäpfeln richtete sich auf Uchates schwankende Gestalt. Das Monster ließ sich nach vorne fallen und stürzte sich auf den zweiten Priester, kurz bevor dieser hätte sehen können, was jeder im Bogensaal miterlebte. Blitzartig wurde ihm klar, dass die Weissagung der Wirklichkeit entsprach: »Und der Ungläubige wird nicht sehen, was die Neuntausend sehen. Schließlich bedeutet Unglaube Blindheit, und so wird er mit dem Tod bezahlen.« »Aber ich glaube!«, wollte er rufen, doch seine Stimme versagte ihm den Dienst. Der von ihm stets geschmähte Glaube beruhte offensichtlich doch 337
auf ganzer oder halber Wahrheit. Er hatte sein Leben lang stets die falsche Wahl getroffen. Im allerletzten Moment öffnete er den Mund und presste seinen Geburtsnamen wie einen umgekehrten Todesschrei heraus. Diesmal gab die Kehle Uchates letztes Wort frei, das letztendliche Eingeständnis seines Verrats. »Hertas!« Der Schrei ging im Donnerschlag unter, der das gesamte Gebäude erschütterte, als der Herr der Tiefe auf das Podium knallte. Wasser spritzte nach allen Seiten; Schleimfäden zogen bizarre gelbe und grüne Spuren auf den Marmorboden. Die fünf Hilfspriester stolperten rückwärts davon, zu entsetzt, um noch einen Laut von sich geben zu können. Dem Übelkeit erregenden Krachen und Knacken von Knochen folgte ein saugendes Geräusch. Das Geschöpf glitt vom Podium herunter, eine Bahn aus Schleim, Blut und Wasser hinter sich herziehend. Es begann wieder zu schrumpfen, kroch zurück ins Becken und verschwand beinahe umsichtig unter Wasser. Von Uchate war keine Spur mehr zu sehen. Im Bogensaal war die Hölle los. »Herr der Tiefe!«, kreischten Tausende von Solitären. Andere ergingen sich in ekstatisch hinausgebrüllten Gebeten, während wieder andere sich auf die Erde warfen und den Kopf unter den Händen begruben. Für sie stand die Zeit still, denn sie erlebten die rauschhafte Wirklichkeit der größten Stunde ihres Glaubens. Die Erweckung des Herrn der Tiefe war vollbracht, letztlich durch die Worte der Herrin der Morgenröte, wie die Große Legende es wollte. So wie auch in den scheinbar einfachen Worten der Großen Legende festgehalten war, dass der Ungläubige um seiner Blindheit willen sterben würde, und dass auch dadurch der Weg freigemacht würde für die Beendigung des Zyklus.
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41 Zeitspuren (6) »War er wirklich dort? Ist er nicht dort gewesen? Noch immer wird bezweifelt, dass Randoël leibhaftig die Jahrtausende auf eine Art und Weise überlebt hat, die wir kaum nachvollziehen können. Es gibt keinen sichtbaren oder greifbaren Beweis dafür, doch die berühmten Reisegefährten teilen die Zweifel nicht.« – Aus ›Enzyklopädie des Neuntausendjahreszyklus‹, von Iagin Veroul aus Boret »Was berichtet uns das Geheime Apodikt?«, fragte die helle Stimme mit einem Unterton der Zufriedenheit. »Fragst du mich das ernsthaft, Randoël?«, erwiderte die dunklere Stimme. »Nicht wirklich«, antwortete die helle Stimme, »aber es verschafft mir Genugtuung, dass alle Voraussetzungen für das Ende des Zyklus erfüllt sind. Ich bin müde. Dieses lange Leben, wenn man es denn Leben nennen kann, ist mir eine bleierne Last.« Zustimmendes Brummen war zu hören. »Das Geheime Apodikt erwähnt die Letzte Voraussetzung«, sagte die dunkle Stimme. »Ich zitiere wörtlich: ›Zum Ende des Zyklus der neuntausend Jahre wird der Ungläubige den Herrn der Tiefe erwecken. Und durch die Dunkelheit seines Unglaubens wird er die Düsternis des Nichts betreten. Und der Ungläubige wird nicht sehen, was die Neuntausend sehen. Schließlich bedeutet Unglaube Blindheit, und so wird er es mit dem Tod bezahlen.‹ So steht es hier geschrieben.« 339
»Also …« »Also ist auch die letzte Voraussetzung erfüllt.« Stille. Im Reich verstrich ein Tag. »Einen Moment noch, Randoël«, meldete sich die helle Stimme. »Ja, nur noch einen Moment. Seltsamerweise scheint es jetzt bereits länger zu dauern als sonst.« »Stillstehende Zeit, Randoël. Und wir bewegen uns nicht.« »Du hast Recht«, erwiderte die dunkle Stimme und lachte lauthals. »Wir sollten uns bewegen, fort von hier, auf dass wir nie mehr hierher zurückkehren.« »Nur wenn der Zyklus beendet wird, Randoël.« Die Antwort blieb aus. Die Stille wurde zur Leere.
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42 Paladinmeister »Die Zügel liegen warm und wehrlos in der Hand, zwei Fäden zu der Macht, zu Zaum und Steuern. Ihr scheinbares Schweigen und unbewegtes Scheuern verhelfen mir zu unbegrenzter Aussicht auf dies Land. Die Zügel zittern, und meine Finger ziehen krumm und bändigen das Wesen, das meinen Wunsch erfüllt, in Schuppen und scharfe Rückentracht gehüllt, im Kleid sprachloser Stille und in Gedanken stumm. Nie werde ich fliegen, erdgebunden wie ich bin. Throne nur als Paladin im Schatten seiner Stirn, gekoppelt an dies riesige und unergründliche Hirn des Ungeheuers, das mir folgt nach meinem Sinn. Ich meistre es mit dem Griff auf Stein und Zaum. Ich werde geflogen, kann mit der Hand es führen. Der Zügel Zug werde ich noch Tage später spüren, lang noch nach diesem sagenhaften Flug im Traum.« – ›Das Lied des Paladinmeisters‹, von Spielmann Edmar Buirendel aus Tarfandel Der Morgen verbreitete unangenehme Kälte und Nebel über dem Meer. Das Wasser an der Grenze zwischen dem Weißmeer und dem Schwarzwasser, das in der vergangenen Nacht noch ruhig wie ein schlummerndes Ungeheuer gewesen war, kam in Bewegung. Zunächst senkte sich seine Oberfläche über mehrere Kilometer hinweg merklich 341
ab, um dann wieder langsam zu steigen und sich zu wölben, als wolle sich unvermutet ein Unterwasserberg seinen Platz als Insel erobern. Doch es waren keine Felsen, die die Oberfläche durchbrachen, es war ein glänzender Körper von der Größe einer Insel. Der Herr der Tiefe verließ seinen Herrschaftsbereich unter Wasser, zum ersten Mal seit neuntausend Jahren.
Als der Wasserspiegel aus Jade vor ihm zerplatzte, wurde ihm schwindlig. Die weiße Kugel einer Wintersonne hing im Osten, dicht über dem Horizont. Im Süden jedoch, wohin der Herr der Tiefe sich letztlich begeben musste, zogen sich über dem Meer pechschwarze Wolken zusammen, durchsetzt mit einem gelben Schleier. Lethe verweigerte der Angst, die irgendwo in fernen Nischen seines Geistes nistete, den Zugang zu seinem Bewusstsein. Er konzentrierte sich auf seine Aufgabe als Paladinmeister. Im Hintergrund spürte er, wie ihm der vielfältige Geist der anderen Lethes zuschaute. Vorerst blieb dieser noch passiv, schien jedoch bereit, ihm zur Hand zu gehen, sobald es erforderlich werden sollte. Die stets vorhandene Ebbe und Flut seiner gewaltigen Atemzüge hallte mit lang gezogenen Schlägen in Lethe wider. In seiner Nähe befand sich Asayinda, mit seinem Geist verflochten, jedoch abwartend. Und tief in seinem Wesen, für alles und jeden verborgen, selbst für Asayinda, reiste Pit mit. Irgendwo im Innersten seiner Gedanken, unter unergründeten Schichten, streifte ein Gefühl sein Bewusstsein. Er konnte sich nicht entscheiden, ob es angenehm oder unangenehm war. Reiste noch etwas, noch jemand mit ihm mit? Er fand keinerlei Beleg dafür. Er selbst thronte vorne im Hirn des Herrn der Tiefe, dicht unterhalb von dessen Augäpfeln, zügelte dessen wilden Geist und schaute sich mit den Augen um. Der massige Körper sandte dem von Lethe beherrschten Geist Signale der Desorientierung, sogar einer Spur von Angst zu. Lethe seinerseits sandte aus seinem Gedächtnis Bilder von Romander zurück. 342
»Das ist ganz normal«, signalisierte er. »Euer Körper ist ebenfalls mit dieser Umgebung vertraut, doch es ist schon lange her. Verlasst Euch ganz auf mich!« Erst der letzte Satz verscheuchte die wahnsinnige Panik, die sich ihren Weg zur Oberfläche des Bewusstseins des Herrn der Tiefe bahnen wollte. »Ich werde aus Eurem Geist die Fähigkeit zu fliegen hervorholen«, fuhr Lethe mit leiser, sanfter Geiststimme fort. Wie von selbst begannen sich die Flügel zu beiden Seiten der Augäpfel auf und nieder zu bewegen. Als sich der richtige Rhythmus eingestellt hatte, ertönte bei jedem Wechsel von der Aufwärtsbewegung zum Senken der Flügel ein dröhnender Donnerschlag. Mit diesen trägen, ohrenbetäubenden Schwingungen wuchtete der Herr der Tiefe seinen Körper in die Lüfte, dem Himmel entgegen, mit einer Leichtigkeit, als habe er dies erst gestern noch getan. Als er sich mehrere hundert Meter über das Meer erhoben hatte, begann er mit dem Vorwärtsflug. Die Donnerschläge wurden zu Sturmesbrausen. Er suchte sich geeignete Luftschichten, sodass er mehr schwebte als flog. So trieb er von der Düsternis weg, nicht nach Süden, sondern nach Norden, erneut der fernen Küste entgegen.
Die Macht der unsichtbaren Zügel machte ihn trunken, genauso wie das unbeschreibliche Gefühl des Fliegens. Die Euphorie seines ersten Flugs dauerte einen Tag, eine Nacht und noch einen halben Tag. Dann erschienen die Umrisse einer Küste am Horizont. Landeinwärts schimmerte ein Gebirge von solch gewaltiger Höhe, wie das Reich sie nicht kannte. Lethe ließ den Herrn der Tiefe nach Westen abbiegen und folgte der Küste. Erst als die flachen Sandstrände sich zu einem von kleinen Flüssen durchzogenen Gestade mit hohen Dünen und einem Hinterland mit seltsamen, pockennarbigen Bergen in ein Gebiet voller Schluchten veränderte, lenkte er das Wesen landeinwärts. Langsam glitt es der Erde entgegen und landete mit einem trockenen 343
Schlag, ganz in der Nähe einer Reihe von Grabmonumenten. Der Körper des Herrn der Tiefe hob und senkte sich im Rhythmus seiner gewaltigen Atemzüge. Hatten sie gewusst, dass dies jener Tag war, an dem der Herr der Tiefe sich hier zeigen würde? Unter Führung eines Mannes in einer rauhaarigen braunen Kutte löste sich ein ganzer Zug von Nibuüm aus den Dünen. Sie bildeten einen Halbkreis um den Kopf, in dem Lethes Geist thronte. »Herr der Tiefe«, begann der Mann in der braunen Kutte. »Sohn der Söhne, Sohn des Erben, Paladinmeister, Erbe der neuen Zeit. Neuntausend Jahre haben wir gewartet. Neuntausend Wenden ist es her, dass sich der letzte Sohn des Erben sehen ließ. Alle Kräfte eilen dieser Zeitenwende entgegen, diesem Moment und diesem Ort. Alle Kräfte werden sich in Eurem Geist sammeln. In Eurem Geist, der aus einhundertvierzehn Geistern besteht. Aus den Einhundertvierzehn, aus dem Stein, der Herrin und den Kräften.« Dem letzten Wort folgte ein leichtes Zögern. Dann fuhr der Mann fort: »Nehmt also die letzten Kräfte des ältesten Volkes in Empfang von mir, Dyvoce, den man auch als Dinser bezeichnet. Nehmt die Kräfte in Euch auf, Herr der Tiefe. Aus ihrer letzten Ruhestätte rufen Euch die Nibuüm der vergangenen neuntausend Jahre zu und bitten Euch: ›Lasst uns ein Kleid des Wissens weben. Lasst Kenntnis eine Kraft sein. Lasst dieses Wissen das letzte Muster eines gewaltigen Webwerkes des ersten Webers sein. Lasst den Nibuüm nach dem Zyklus den Raum, um ihren Nachklang zu vollenden.‹ Die Namen der Nibuüm lauten …« Der Mann begann eine ganze Reihe von Namen zu nennen. Seltsame Namen, die kaum zu Lethe durchdrangen. Dieses ganze Ritual der Worte erschien ihm unverständlich. Bisweilen blieb ein Name für einen Moment in seinem Geist haften, doch er kannte den Grund nicht. »… und Eclesiant aus Dunkel, Schreiber der Nibuüm, und Edelfrau Verlant aus Dunkel, Schreiberin der Nibuüm …« Dunkel. Der Klang löste heftige Gefühle in ihm aus. Die Insel, wo der Fischer sein Netz auswarf, nannte er es in Gedanken. »… und Edelfrau Asrath aus Dunkel, Schreiberin der Nibuüm …« 344
Der Name kam ihm bekannt vor, doch seine Erinnerungen gaben nichts preis. »… und Imray aus Avron, Schreiber der Nibuüm …« Hatte er nicht irgendetwas über diesen Imray gelesen? »… und Marling aus Rak, Schreiber der Nibuüm …« Die Litanei der Namen endete mit »… und Pender aus Lan-Gyt, Vater des Parnalek, des lebenden Schreibers der Nibuüm. Sie alle sind jene Nibuüm, die als Vertreter ihres Volkes, des ältesten Volkes, im Herrn der Tiefe aufgehen.« Der Mann holte tief Luft und schrie so laut, dass Lethe erschrak: »Stillstehende Zeit!« Lethe erlebte auf eindrucksvolle Weise, wie Wörter von ihrem eigenen Echo eingeholt wurden. Die Welt um ihn her fror ein, die Nibuüm verwandelten sich in Standbilder. Eine unbestimmte Zeit lang starrte er auf diese Szene. Dann bewegte sich etwas am Rande seines Blickfelds. Er schaute hinüber, doch die Bewegung ließ sich nicht einfangen. Sekunden später schlüpfte geballte Eiseskälte in den Herrn der Tiefe, danach noch eine, und noch eine. Es waren Dutzende, vielleicht hundert. Genauso viele wie die Namen, die genannt worden waren, begriff Lethe. Die Geister der Nibuüm gesellten sich zu ihnen. Noch mehr Kraft, noch mehr Erinnerungen. Lethe erfasste einen Schimmer von dem Volk, das sie vertraten. Die Nibuüm waren die Nachfahren des ältesten Volkes. »Die Tide steigt, die Tide sinkt, doch das Meer bleibt das Meer«, hörte Lethe den Mann sagen. Die Zeit nahm wieder ihren gewohnten Lauf. Neben dem Mann war eine Frau erschienen, doch die Nibuüm, die ihn vorher begleitet hatten, waren verschwunden, aufgegangen im Herrn der Tiefe. »Ich bin Aysilendil«, sagte die Frau leise und mit heiserer Stimme. »Mein Name bedeutet in der Sprache meines Volkes Die Allerletzte. Mein Volk ist das Eure. Möge die Fyogre Neri, die durch Euer Blut rauscht, dafür sorgen, dass der Düstere seine Pläne letzten Endes nicht verwirklichen kann. Alle Voraussetzungen sind erfüllt. Lasst ihn nicht noch einmal in seine unterirdischen Katakomben entkommen. Sorgt 345
dafür, dass ich mich zu meinem Volk begeben kann. Sorgt dafür, dass wir, das älteste Volk, endlich unsere letzte Reise antreten können. Sorgt dafür, dass wir von dieser Welt verschwinden dürfen.« Ihre Gestalt leuchtete kurz auf, verschwamm, wurde zu einem Schemen und löste sich auf. »Herr der Tiefe«, sagte der Mann in der Kutte. »Auch mich verlangt es nach dem Ende des Zyklus.« Er drehte sich um und schritt davon. Lethe blieb, wo er war. Seine Gedanken wurden durch die Phantasiegespinste der anderen Lethes angeregt. Später gesellten sich auch die wehmütigen Überlegungen der Nibuüm hinzu. Ihre Denkweise unterschied sich ganz wesentlich von Lethes Denkstruktur. Ihre Beurteilung des Lebens stand stets im Zusammenhang mit einem vollkommenen Respekt vor der Welt und der Natur, in der sie gelebt hatten. Nur indem sie sich auf unterschiedlichste Weise mit der Welt verflochten, fanden sie eine Rechtfertigung für ihre Existenz. Ihr Hang zur Reinheit hatte ihnen zu einem langen Leben verholfen, auch als Volk, doch schließlich war ihre Zeit abgelaufen. Aber selbst über diese Grenzen hinaus versuchten sie noch zu verhindern, dass die Welt dem Düsteren des Nachtmeers in die Hände fiel. Unmagie hatte ihren Ursprung in ihrer Denkweise, auch wenn ein anderes Wesen, der Erbe, sie im Zyklus angewendet hatte. Lethe lernte in diesen Stunden so unglaublich viel, dass es den Anschein hatte, als habe er innerhalb eines einzigen Tages seine Jugend für immer hinter sich gelassen. »Manchmal würdest du dir wünschen, nicht so viel zu wissen«, flüsterte Pit aus der Tiefe ihres Verstecks zwischen der Vielfalt der Lethes heraus. Lethe antwortete nicht. Er tauchte wieder ein in den unendlichen Reichtum seiner Gedankenwelt. Ein Satzteil des Mannes in der Kutte blieb wie eine Wolke über ihm hängen: »Erbe der neuen Zeit.« Eine vage Vermutung setzte sich in ihm fest. Wie Pit, als sie den Stachelrochen zum ersten Mal gesehen hatte, fasste Lethe blitzschnell einen Entschluss. Die Aussichten, die vor seinem geistigen Auge erschienen, erfüllten ihn gleichermaßen mit Angst und Hoffnung. 346
Einige Stunden später umspülte eine unvermutet aufkommende Flut den Leib des Herrn der Tiefe und grub den Sand unter ihm weg. Es entstanden Mulden, und nach einer Weile begann der Körper sich zögernd hin und her zu bewegen. »Die lange Flut«, murmelte Lethe überrascht. »Sollte es deshalb …« In einem Reflex sandte er eine Reihe von Impulsen durch den Körper und ließ ihn seine Bewegungen verstärken. Jeder Geist im Herrn der Tiefe genoss die Zusammenarbeit und das Zusammenspiel mit dem Leib. Die Lethes und die Nibuüm erkannten die Spuren in der Zeit, verstanden einander und ergänzten sich mühelos. Und dies alles hatten sie Asayinda zu verdanken, die wie eine Spinne in ihrem Netz alle Geistfäden der Nibuüm bündelte und einen dicken Strang von Fähigkeiten als mächtigen dritten Zügel an Lethe, den Paladinmeister, weiterreichte. Denn nur sie hatte den Kryptus, das Gelübde der Vergessenheit, vorwärts und rückwärts passiert. Sie wusste von der Existenz des Kryptus, des Engelkusses, wie Ghormard ihn nannte. Sie sah noch deutlich vor ihrem geistigen Auge, wie sie sich rückwärts in der Zeit bewegt hatte, an ihrer Geburt vorbei. Sie wusste, wer sie zuvor gewesen war, und diese Erkenntnis war ein Schock gewesen, denn ihr früheres Leben hatte sie lange Zeit mit Lethes Vater geteilt. Wenn sie den Grenzübergang des Kryptus in Gedanken beiseite schob, dann war sie ihre eigene Mutter. Nur sie war in der Lage, die früheren Leben all dieser Wesen mit dem noch aktiven Leben des Lethe Welmsson zu verknüpfen, des Paladinmeisters der einhundertvierzehnten Wende des Zyklus. Kurze Zeit später bewegte sich der Herr der Tiefe mit weit ausholendem, ohrenbetäubendem Flügelschlag in südliche Richtung, der Düsternis der Nacht und eines nie gekannten Sturms entgegen. Und vielleicht war auch er auf dem Weg zum Düsteren des Nachtmeers.
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43 Richtung Dunkel »… und dann scheint sich alles schneller abzuspielen, der Auseinandersetzung entgegenzueilen, die ausgefochten werden muss.« – Aus ›Der Lebensrhythmus‹, vom Asketen und Dichter N'hammat Oul aus Speet Das Geschöpf, das einige Tage zuvor von der Insel aufgestiegen war, kehrte zurück. Es kündigte seine Ankunft lange vorher an: Der nördliche Himmel ebnete einen Weg der Düsternis. Jenseits des Horizonts ertönten lang gezogene Schreie, die jedes Lebewesen schaudern ließen. Der Düstere des Nachtmeers brach aus der vorzeitigen Nacht hervor und schleppte diese wie die Reste eines zerfetzten Kleides hinter sich her. Doch auch jetzt noch blieb die Erscheinung in Nebelfetzen und Wolkenverwerfungen verborgen, veränderte sich von einer Gestalt in die nächste, voller Ausbuchtungen und mit vereinzelten abgetrennten Fetzen seines schwarzen Kleides. Nicht weit von der Küste entfernt hielt das Geschöpf an. Lange Zeit war nur ein Geräusch zu hören, das wie das undeutliche Knurren eines Raubtiers von unbeschreiblichen Ausmaßen klang. Ein gewaltiger Donnerschlag ließ die Erde erzittern. Plötzlich, mit einer Geschwindigkeit, zu der kein Sterblicher imstande war, schoss das Geschöpf auf die Insel zu. Im nächsten Moment hing eine undurchdringliche Dunkelheit über der Stelle, wo die bleiche Wunde den Zugang zum Innersten der Erde markierte. Gelbe Wolkenschleier krochen wie Schlangen um das Zentrum der Düsternis herum. Erneut 348
stieß das Wesen einen wütenden Schrei aus und erschütterte die Welt in ihren Grundfesten. Noch heftiger begann die Insel zu beben, als die Schwärze sich in Bewegung setzte, durch den Spalt in die Erde drang und mit Höllenlärm in die Tiefe schoss, wobei es zu einem Sturm kam, der die Insel noch lange in Mitleidenschaft zog.
Wigbolt holte das Letzte aus seiner Mannschaft und dem Kühnen Furcher heraus. Der Dulce hatte ihm ein Wort zugeflüstert – »schnell« –, und Wigbolt wusste, dass der Dulce die höchste Autorität besaß. Sie schossen mit dem Nordwind in südlicher Richtung an der bizarren Ostküste von Lan-Gyt entlang und hielten am Kap Gara vorbei auf den Golf von Lan zu. Wigbolt wies den Dulce auf einen großen Vogel hin, der sie zu beschatten schien, doch seltsamerweise zeigte sich der Dulce dadurch keineswegs beunruhigt. Als sie mit unverminderter Geschwindigkeit zwischen Ost-Gyt und Boret hindurchsegelten, drehte der Wind plötzlich nach Osten. Schnee kündigte sich an. Wigbolt ließ fast alle Segel streichen. Nur die bewegliche Vorfock war noch in der Lage, den kräftigen Ostwind zu nutzen. Doch bei dieser Geschwindigkeit würden sie mehr als eine Woche brauchen, um das Standmeer zu überqueren. »Zeit für Magie«, flüsterte der Dulce Matei und Harkyn zu. Die beiden Hochmeister benutzten – unter Mithilfe von Llanfereit – die alte, komplizierte Spiegelbeschwörung eines Zauberers, dessen Name sich in den Nebeln der Zeit aufgelöst hatte. Für den Kühnen Furcher aber bedeutete dies, dass der Ostwind jetzt, aufgrund einer für jeden gewöhnlichen Sterblichen unfassbaren Umkehrung, aus dem Westen blies. Sämtliche Segel wurden wieder gehisst. Quer vor dem Wind, stark nach Backbord überhängend, schoss die Karavelle durch dichtes Schneegestöber hindurch ins Standmeer. Drei Tage später, als der Schnee von den Vorboten eines schweren Wintersturms vertrieben wurde, kam Ynystel in Sicht. Wigbolt lotste sein Schiff mit den ersten Windstößen in direkter Linie auf das Nord349
kap zu und manövrierte es so dicht wie möglich an die Leeseite der Insel heran, unterhalb der Felsenküste entlang. Dann brach der Sturm los, als habe er auf diesen Moment gewartet, geißelte die Ostflanke der Küste und pfiff mit schrillem Heulen durch die Want des Kühnen Furcher. Wigbolt brachte sein Schiff noch näher an die Felsen heran, doch die Sturmböen stießen die Klippen hinab und warfen die Karavelle zur Seite. »Dieses Unwetter überlebt selbst mein Kühner Furcher nicht«, brüllte der Kapitän, während der Dulce und Matei neben ihm in der Türöffnung der Kapitänskajüte standen. »Es sei denn, die Herren haben die Güte, einmal mehr ihre Zauberkünste zu zeigen.« Matei grinste breit. »Eure Vorlieben für das Zauberervolk sind so legendär wie Euer Schiff und Eure Steuerkünste, Wigbolt.« Dann schlang er die Arme um den wehenden Mantel und rief den Dulce. »Es gibt ein Problem. Hört Ihr den Wind? Und vor allem, hört Ihr das Pfeifen?« Wigbolt schaute hoch, in Richtung der schwarzen Wolkendecke, die über sie hinwegfegte. Jetzt hörte er es auch. »In diesem Augenblick singt Rax und leuchtet das Schwert an Gaithnards Seite auf«, brüllte der Dulce über das Tosen des Sturms hinweg. »Diesen Sturm hat der Düstere geschickt, wie er es alle neuntausend Jahre tut. Kein Hochmeister ist imstande. Euren Kühnen Furcher sicher nach Yr Dant zu bringen.« Er drehte sich um, nach Westen. »Ich kenne aber doch jemanden, der …« »Da ist der Vogel wieder«, unterbrach ihn Wigbolt. Ein großer grauer Adler flog dicht über dem tobenden Wasser auf das Schiff zu, offensichtlich unbeeindruckt von den Sturmböen. »Ja«, murmelte der Dulce. »Aysilendil! Eben noch habe ich von ihr gesprochen. Zeit für einen Hauch altmodische Fyogre Neri. Wartet hier!« Der Dulce verwandelte sich in Sekundenschnelle in einen Adler. Matei und Wigbolt machten ihm Platz, sodass er aufsteigen konnte. Kurz 350
darauf schwebten zwei Vögel nebeneinander an der Steuerbordseite des Kühnen Furcher vorbei. Der Sturm schien ihnen nichts anhaben zu können. »Sie unterhalten sich in Gedankensprache«, murmelte Matei. »Um wen könnte es sich handeln?« Gleichzeitig schwenkten die Vögel nach Osten ab und wurden von der dunklen Wolkendecke geschluckt. »Wenn das nur gut geht«, brummte Wigbolt und umklammerte die Reling. »Ich habe volles Vertrauen in den Dulce«, sagte Matei, »und der Dulce hat volles Vertrauen in den Vogel. Ich glaube schon, dass es gut gehen wird.« Der Donner rumpelte wie ein unsichtbares Götterrad über die Wellen heran. Am Rand des Horizonts zuckten hunderte von Blitzen. Einem ohrenbetäubenden Donnerschlag folgte schrilles Kreischen, dessen Tonlage sich änderte, bis es Matei und Wigbolt wie Steinsplitter ins Trommelfell schnitt. Sie hielten sich die Ohren zu. Im selben Moment brach die Wolkendecke auf, und das Schwarz verschwand. Der Sturm ließ nach. Ein erneuter Donnerschlag ertönte, gefolgt von einem wütenden Schnauben. Aus den jetzt grauen Wolken tauchten zwei Schemen auf. Sie flatterten wild; dann legten sie die Flügel an den Körper und ließen sich fallen, um direkt über der See wieder in Gleitflug überzugehen. Wigbolt nickte. »So habe ich es gern«, murmelte er. »Schließlich bezahlen sie nichts für ihre Überfahrt. Da dürfen sie auch mal kräftig anpacken.« Matei lächelte. Wigbolt drehte sich um und ließ alle Segel hissen.
Lethe, Paladinmeister des Herrn der Tiefe, steuerte das Wesen nach Südosten. Sie flogen über Sey Hirin, die verlassene Felseninsel, die Klein-Gyt genannt wurde, die westlichste Insel des Standmeers und 351
Fernion. Einen Tag lang flog ihnen ein Vogelschwarm voraus, schwarze Tiere mit einem funkelnden Edelstein auf dem Kopf. Am nächsten Morgen waren die Vögel nirgends mehr zu sehen. Wäre Lethe noch der normale Mensch Lethe gewesen, hätte er sich wegen der Tiere Sorgen gemacht, doch der Paladinmeister Lethe spürte seine eigene Stärke, die mit der Kraft der anderen Lethes und der Nibuüm verquickt war. Und dies gab ihm Selbstvertrauen. In der Ferne sah er Lohgipfel. Dahinter winkte Loh, die Insel der Magie. Dort war er als ein unbekanntes Kind zur Welt gekommen, das noch unbedeutender geworden war, nachdem sich sein Mangel an magischen Fähigkeiten gezeigt hatte. Er dachte über die Hochmeister nach. Die Kenntnisse und Gedanken der einhundertdreizehn anderen Lethes schlossen sich seinen Gedankengängen wie selbstverständlich an, und plötzlich wusste er, dass drei der sieben Hochmeister nicht die waren, als die sie sich ausgaben. Nachdem er mehrere Ereignisse miteinander verknüpft hatte, wurde ihm mit einem Mal klar, wer Karn wirklich war, was ihm einen Schock versetzte. Mindestens ebenso groß war seine Fassungslosigkeit, als ihm Mateis wahre Identität bewusst wurde. Und schließlich spürte er, dass der dritte Hochmeister Geheimnisse mit sich trug, die wahrscheinlich nur von einem großen Rätselmeister aufgedeckt werden konnten. Während der Herr der Tiefe mit ruhigem Flügelschlag über die Weite des Standmeeres glitt, entdeckte Lethe, welche Elemente für die Beendigung des Zyklus unabdingbar waren und stellte dabei fest, dass noch etwas anderes erforderlich war – etwas, das sich seiner Wahrnehmung entzog. Von Süden her krochen dunkle Wolken auf sie zu. Zwischen der Wolkendecke und dem Meer gab es keine Öffnung, abgesehen von einem schmalen gelben Spalt, der ihnen wie ein zu einem Schlitz geöffnetes bösartiges Auge auflauerte. Ein fernes Pfeifen war zu hören, und über den Wolken hing ein gelber Schleier. Eisige Kälte erfasste Lethe. Dies hier hatte er bereits einhundertdreizehn Mal gesehen, und dennoch war es neu für ihn. Die Nibuüm baten um seine Aufmerksamkeit. Sie sprachen mit einer einzigen Stimme. 352
»Um den Zyklus zu beenden, wonach es sogar den Weber selbst in starkem Maße verlangt, muss vieles zusammenkommen. Das meiste ist vorhanden. Wir nehmen an, dass der Paladinmeister weiß, worüber wir reden.« Die Nibuüm warteten keine Antwort ab. »Doch es gibt da noch etwas. Die Zeit …« Mit einem Schlag waren die Nibuüm aus seinem Gedankenstrom verschwunden. War das alles? Hatten sie zu viel gesagt, und hatte eine Götterhand sie daraufhin verjagt? Während die Nibuüm noch sprachen, hatte Lethe sofort erkannt, wer sie waren. »Demnach sind Nibuüm also keine Menschen«, flüsterte er vor sich hin. »Sie sind nicht einmal …« Dann tauchte das letzte Wort, das die Nibuüm eben gesagt hatten, wie etwas Greifbares in seinen Gedanken auf, wie ein Felsblock. Zeit. Wenn er jener Lethe sein wollte, der den Zyklus beendete, musste er sich den Kopf über die Zeit zerbrechen. Er dachte an Dinser, der die Zeit hatte stillstehen lassen. Doch es gab noch mehr Hinweise, die die Zeit betrafen. Er begann alle verfügbaren Erinnerungen danach abzusuchen, während das Standmeer unter ihm dahinglitt. Als er sich der noch immer wachsenden Düsternis bis auf etwa zehn Kilometer genähert hatte, entwickelte sich aus den vielen Gedanken allmählich eine zusammenhängende Idee. »Ja«, flüsterte Pit in einem stillen Winkel seines Geistes, »der Gedanke ist mir auch gekommen.« Lethe brummte etwas Zustimmendes und konzentrierte sich dann auf das, was um ihn herum geschah.
Die Wolken zogen sich bis hinter die Klippenküste von Ynystel zurück. Nicht nur der Dulce, auch der andere Vogel landete mit einem leichten Schlag auf dem Deck des Kühnen Furcher. Sekunden später stand 353
eine Frau von unglaublicher Schönheit neben Aernold. Sie war fast so groß wie der Dulce und in ein Gewand aus grauer Taftseide gekleidet. Ihr Mund war ein leicht nach oben gebogener Strich, die Augen grüne Weiher, melancholisch und voller Geheimnisse. Über den Pupillen lag ein grauer Schleier. Das lange silberblonde Haar fiel lockig über die schmalen Schultern. Als sie ihren Kopf kurz schüttelte, gewahrte Matei ein kleines Ohr, das oben in einer Spitze endete. Ihr Alter zu schätzen schien unmöglich. Sie konnte Ende Dreißig sein, doch irgendetwas in ihrem Blick widersprach dem. »Dies ist Aysilendil«, sagte der Dulce. Matei nickte, während Wigbolt sie verständnislos anstarrte. »Aysilendil ist die Letzte ihres Volkes«, fuhr der Dulce fort, als wäre damit alles gesagt. »Daneben ist … war sie eine der Spielerinnen im Pakt der Zehn. Ich kenne sie schon sehr lange.« Die Art und Weise, wie er ›schon sehr lange‹, sagte, sprach eher für viele Jahrtausende als für ein paar Jahre. »Eigentlich waren wir keine echten Spieler, denn wir waren – zusammen mit der anderen Vogelfrau – die Einzigen, die nicht für ihre eigenen Interessen spielten.« Matei lachte. »Seltsam, aber Eure Erklärung bringt mehr Fragen als Antworten hervor. Um welches Volk handelt es sich? Wie alt ist die Frau? Für wen hat sie gespielt?« »Die Antworten gibt es heute Abend«, sagte Aernold. »Lange Geschichten brauchen ihre Zeit.«
An diesem Abend erhielt Matei seine Antworten, zusammen mit sämtlichen Reisegefährten. Neue Horizonte, tief vergraben in der Vergangenheit, wurden vor ihnen ausgebreitet. Erstaunliche, bisweilen unfassbare Kenntnisse wurden ihnen zuteil. Aysilendil verwandelte sich in ihren Augen von einer schönen Frau zu einem unbegreiflichen Rätsel. 354
Ausgestattet mit diesem neuen Wissen gingen sie einige Tage später, an einem Nachmittag, in der Nähe des kleinen Dorfes Dunkel auf der gleichnamigen Insel an Land. Ein rauer Ostwind jagte über die mit Felsen übersäte Bucht zwischen zwei Ausläufern des Dunkelgipfels, einem nicht mehr aktiven Vulkan, der praktisch die gesamte Insel ausmachte. Der Dunkelgipfel war ein gewaltiges Monster mit kilometerlanger Flanke, die immer steiler wurde, je näher man dem Gipfel kam. Die Ansammlung von fünfzehn verfallenen Hütten am nordöstlichen Ausläufer des Vulkans verdiente die Bezeichnung Dorf eigentlich gar nicht. Am südlichen Horizont hing eine schwarze Wolkenwand, die schwere Stürme verhieß. »Sind wir hier richtig?«, fragte Gaithnard ungläubig. »Hier soll alles geschehen?« »Hier sind wir genau richtig«, antwortete der Dulce freundlich. »Doch der Kampf mit dem Düsteren findet woanders statt. Glückerweise spielen wir dabei auch nur eine Nebenrolle, sonst würde es keiner von uns überleben, außer vielleicht Aysilendil.« Gaithnard und Dotar hoben Pits Körper aus dem Boot. Der Dulce drehte sich zu Wigbolt um, der sie höchstpersönlich mit einem kleinen Beiboot an Land gerudert hatte. »Segelt bitte zurück nach Sey Dant, wie ich es Euch zuvor schon ans Herz gelegt habe. Hier seid weder Ihr noch Eure Besatzung sicher, nicht einmal Euer lobenswerter Kühner Furcher.« Wigbolt nickte. »Wir sehen uns ja alle bald wieder. Abschied nehmen ist deshalb überflüssig«, sagte er heiser und sprang in seine Schaluppe. »Ich wäre auch gern so überzeugt, dass wir überleben«, brummte Gaithnard, während er Wigbolt hinterher starrte. Ein Mann in grauer Kleidung näherte sich ihnen. Der Ausdruck seiner Augen vermittelte dieselbe Wehmut wie bei Aysilendil. »Nibuüm«, murmelte Matei. »Nur Nibuüm«, meinte der Dulce. »Die paar Bewohner, die keine Nibuüm waren, haben sich unlängst nach Yr Dant abgesetzt.« »Sie sind geflüchtet? Warum?« 355
»Seit einigen Monaten spukt es in der Gegend um Dunkel, mein Bester. Seitdem der Düstere sich hier gezeigt hat.« Aysilendil und der Mann berührten die Wange des anderen kurz mit dem Handrücken. Der Mann begrüßte den Dulce, indem er ehrerbietig das Haupt neigte. »Uns steht der Sinn nach einem warmen Bad und einem bequemen Bett, Eynardil, Sohn des Parnalek«, sagte Aernold freundlich. Der Angesprochene wies auf das größte Haus des Dorfes, ein braun geteertes Holzhaus mit zwei Etagen, das Matei an die Herberge in Kasbyrion erinnerte. »Die einzige Unterkunft, die als Herberge dienen kann«, sagte der Dulce. »Sie hat nicht mal einen Namen.« Sie folgten dem Nibuüm ins Dorf, vorangetrieben vom Wind, der an Türen und Fenstern rüttelte. Niemand ließ sich sehen. Dunkel war ein trauriger Fleck, und manch einer der Reisegefährten fragte sich, was sie hier sollten.
Ein halber Tag und eine halbe Nacht zogen auf der in Wolken gehüllten Insel vorüber. Mitten in der Nacht bebte die Erde erneut. Aus der Tiefe brauste ein rasendes Brüllen an die Oberfläche, und nicht viel später brach der Düstere des Nachtmeers aus der Öffnung hervor, in grauen Rauch und Nebel gehüllt. Er drehte und schlängelte sich oberhalb des Spalts, als hätte er Mühe, sich zu orientieren. Das Geschöpf war an Land fast blind, und es besaß auch keinen Instinkt, der ihm hätte sagen können, wohin es sich wenden sollte. Über dem Meer konnte es den Spuren der Kraftlinien folgen, die unter dem Meeresboden verliefen wie die Fäden eines Netzes, das so groß war wie die Welt. Das Wesen erkannte diese Linien, denn es hatte an deren Entstehung mitgewirkt, bevor es sich abgewendet hatte und in der Erde eingeschlossen worden war. Die Erinnerung an diese Zeit wurde von schummrigem Nebel verhüllt, der jedes Detail undeutlich erscheinen ließ. Manchmal wirbelte 356
ein Satz durch die Gedankenwelt des Wesens. »Sualvei morod ghor, Ailaedmenderii«, Wörter wie Sturmböen, die für seine weitere Existenz entscheidend gewesen waren und dafür gesorgt hatten, dass er unter der Erde eingeschlossen worden war; Wörter aber auch, deren Bedeutung er seltsamerweise nicht mehr kannte. Der Instinkt flüsterte dem Wesen ein, dass es Magier gewesen waren, die ihn eingeschlossen hatten; deshalb richtete sich seine Raserei gegen jedes Anzeichen von Magie. Die Vergangenheit war nur noch ein schemenhaftes Etwas, doch der grenzenlose Zorn des Wesens war gewachsen, bis er sein ganzes Inneres ausgefüllt und jeden Gedanken beherrscht hatte. Diese Raserei machte sich auch jetzt wieder Luft. Bleiche Funken sprühten in alle Richtungen und landeten zischend auf der gelb und grau gewordenen Insel, die längst hätte pulverisiert sein müssen, doch offensichtlich schuf die Anwesenheit des Wesens einen dauerhaften Zusammenhalt zwischen Felsen und versteinerten Bäumen. Mit mehreren unkontrollierten Bewegungen wand das Wesen sich davon, bis es außer Sichtweite der Insel war. Der bleiche Funkenregen endete abrupt. Das Wesen suchte und fand die Kraftlinie, die es zum ungezählten Male zur großen Auseinandersetzung leiten würde, auch wenn die Erinnerung an das letzte Mal in einem Ozean aus siedendem Zorn versunken war. Lediglich ein unbestimmtes Triumphgefühl war als ein fernes Echo im Chaos seiner Gedanken hängen geblieben. Ein disharmonischer Pfeifton brach aus ihm hervor und wurde vom auffrischenden Ostwind über das Meer getragen. Jetzt setzte sich dieses Geschöpf aus dem Innersten der Erde in Bewegung. Die Unsicherheit und die Desorientierung waren verschwunden. Zielbewusst schwenkte es nach Norden, zu jener Insel, die wie eine dunkle Nebelbank am Rand des Horizonts lag. Und wie zuvor schon zog das ungeheure Wesen Fetzen einer unnatürlichen Dunkelheit wie die ausgefranste Schleppe eines Mantels hinter sich her.
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Lethe musste eingeschlafen sein. Er erinnerte sich an einen Albtraum, in dem er blutig und vor Kälte erstarrt, mehr tot als lebendig den Strand einer unbekannten Küste hinaufgekrochen war, als gewöhnlicher Mensch, mit dem lastenden Gewicht und der Erschöpfung eines Körpers aus Fleisch und Blut. Einerseits war dies beruhigend und vertraut, andererseits gingen ihm – nach der befreienden Euphorie als Geistwesen – die Trägheit und Umständlichkeit seiner fleischlichen Hülle gehörig gegen den Strich. Mit jedem Flügelschlag, der ihn näher an die Auseinandersetzung mit dem Düsteren brachte, wuchs dicht unter der Oberfläche seines Bewusstseins das Verlangen, einfach wieder nur Lethe zu sein, der Knabe auf West-Loh. Er öffnete die Augen. Die Dunkelheit war keine latente Bedrohung am Horizont mehr, sondern umschloss ihn von allen Seiten. Die See spiegelte die Düsternis wider, in die er hineingeflogen war. »Das Herrschaftsgebiet des Herrn der Tiefe ist das Meer.« Die Flüsterstimme zwängte sich zwischen Lethes Gedanken, doch wer diese Worte gesagt hatte, blieb undeutlich. Lethe richtete den Blick auf das Zentrum des Sturms direkt vor sich. Dort versammelte sich Düsternis, abwartend, selbstsicher, als wüsste dieser schwarze Kern etwas, das Lethe unmöglich wissen konnte. Angst erfasste ihn. Auch die anderen Lethes zitterten. Er wurde von Zweifeln gepackt. Warum war er ohne nachzudenken in diese Nacht hineingeflogen? Hatte er etwas verpasst, war ihm etwas entgangen? Ein Zeichen? Reichte seine Unmagie nicht aus? Und der Stein? Was sollte er mit dem Stein anfangen, der wie ein zweiter Kern in seinem Geist schlummerte? »Lethe, vergiss mich nicht, wenn es so weit ist.« Das war Pit. Sie hatte so leise geflüstert, dass es einem Gedanken glich. Er wagte es nicht, ihr zu antworten, denn er spürte, dass Asayinda auf der Hut war. »Wo mag der Düstere sein?«, überlegte sie laut in seinem Geist. »Dort, im Zentrum der Finsternis«, sagte Lethe, doch noch während er es sagte, bestürmten ihn Zweifel. »Nimm nichts als gegeben«, war 358
eine der Weisheiten seines Lehrmeisters Jen gewesen, und: »Vermute deinen Gegner selbst an der unwahrscheinlichsten Stelle.« Was war die unwahrscheinlichste Stelle? Er schaute sich um. Wenn der Düstere sich nicht in der Dunkelheit vor ihm verbarg, wo konnte er dann sein? Über oder unter ihm? Links, rechts? Hinter ihm! Mit einer überraschend schnellen Bewegung drehte sich der Herr der Tiefe um die eigene Achse. Nichts! Er war ratlos. »Und das Meer?« Pit. »Das Meer?«, stieß er hervor. Lethe, der Paladinmeister, handelte in einem Reflex. Er zog die Zügel an und ließ den Herrn der Tiefe schräg nach oben abdrehen. Für Lethes Gefühl ging es viel zu langsam. Er zwang den plumpen Körper zu völligem Gehorsam gegenüber seinen Anweisungen. Das Bewusstsein von Macht stürzte sich wie heiße Lava in sein Inneres. Macht! Mit jeder Faser spürte er die Verführung, diese Macht seinen eigenen Bedürfnissen unterzuordnen, dem bevorstehenden Schicksal zu entrinnen. Den Bruchteil einer Sekunde lang sah er sein eigenes Leben gegenüber dem der Tausenden von Menschen, die Opfer seines Entschlusses sein würden. Der Gedanke verflog. Im selben Moment brach mit einem Schrei, in dem sich alle Wut und Raserei der Welt zusammengeballt zu haben schien, eine riesige schwarze Masse durch die Wasseroberfläche. Der Schlag, mit dem die glühende Riesenschlange den Unterkörper des Herrn der Tiefe traf, ließ Chaos und Panik ausbrechen. Überall waren Schreie und Kreischen. »Ruhe!«, donnerte Lethe. Wenn er jemals Zweifel gehabt hatte, wer er war und wofür das Schicksal ihn auserkoren hatte, waren diese Zweifel jetzt endgültig beseitigt. Er war der Paladinmeister. Er lenkte den Körper des Herrn der Tiefe. Er, die anderen Lethes und die Nibuüm waren der Geist dieses Geschöpfs. Mehr noch als alle anderen war er der wirkliche Herr der Tiefe. 359
»Weg!«, schrien Asayinda, Pit und eine dritte Stimme gleichzeitig. Durch den Schlag wären die Zügel beinahe Lethes Hand entglitten. Erneut tat er das einzig Richtige: Er erwischte die davonschießenden Zügel gerade noch rechtzeitig, zog sie zu sich heran und führte den plumpen Körper in einer fließenden Bewegung von der schwarzen Gestalt weg. Diese schrammte die Flanke des Stachelrochens, doch Lethe gelang die Flucht aus der Düsternis, dicht über dem Wasser, in einer Richtung, von der er nur hoffen konnte, das es die richtige sei. Der Zorn des Düsteren äußerte sich in einer Kanonade schwerer Donnerschläge.
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41 Dunkel (1) »Erst kommt das Schweigen, dann der Tumult.« – Sprichwort auf Gyt Sie saßen an einem langen Tisch in der kärglich eingerichteten Herberge. Aernold aus Sey Hirin hatte am Kopfende Platz genommen. »Kann mir jemand erklären, was jetzt eigentlich geschieht?«, fragte Gaithnard. Der Blick Aernolds glitt an ihm vorbei. »Ich könnte darauf antworten«, begann er behutsam, »dass die Zeit Aufklärung bringen wird. Doch vielleicht ist es besser, euch ein wenig vorzubereiten.« Er schob seinen Stuhl zurück und bedeutete den anderen, ihm zu folgen. Sie verließen das Haus. Das Dorf befand sich im Halbschlaf. Nirgends regte sich etwas. Es war ein grauer Morgen. Nebel verhüllte den Berggipfel. In der Ferne rollte Donner. »Hört Ihr das?« Der Dulce wies nach Südosten, von wo das Geräusch gekommen war. »Ein Gewitter zu dieser Jahreszeit, während es kalt und neblig ist. Das ist kein gewöhnliches Gewitter. Da kämpfen zwei Geschöpfe – ein Wesen, von dem wir sagen würden, dass es das Böse ist, und ein anderes, das wir als gut bezeichnen würden.« »Der Düstere des Nachtmeers und der Herr der Tiefe«, sagte Harkyn. »Genau«, sagte der Dulce. »An diesem Tag, in den kommenden 361
Stunden entscheidet sich, ob der Zyklus beendet wird oder nicht. An diesem Tag wird sich herausstellen, ob unsere Vorstellung von Gut und Böse die richtige ist.« Er machte eine Pause und starrte zum südöstlichen Himmel. »Nicht weit von Dunkel entfernt liegt eine kleine, namenlose Insel, kaum mehr als ein im Sand erstickter Felsklotz mit ein paar Bäumen darauf. Seit einiger Zeit traut sich kein Fischer mehr in die Nähe dieser Insel. Dort spukt es, behaupten sie. Ihren Berichten zufolge geht dort ein böser Geist um, der Feuer und Asche um sich schleudert.« »Der Düstere«, sagte Llanfereit. »Alles deutet darauf hin«, sagte der Dulce. »Der erste Anhaltspunkt, dass es diesmal anders läuft als die vorhergehenden Male, ist der Umstand, dass der Kampf nicht dort stattfinden wird.« Matei machte ein erstauntes Gesicht. »Hier?«, fragte er. Plötzlich betrachtete er die verschlafene kleine Insel mit ganz anderen Augen. »Hier, auf Dunkel«, bestätigte der Dulce. »Vergesst nicht, dass Dunkel schon immer eine bedeutende Rolle im Zyklus gespielt hat. Hier haben die Nibuüm sich stets vor dem Düsteren verborgen halten können. Wer würde auch auf die Idee kommen, dass man sich ganz in der Nähe seines Feindes vor diesem versteckt, wenn einem das ganze Reich dafür offen steht? Hier haben sie Randoëls Werke«, um seine Mundwinkel spielte ein leichtes Lächeln, »und die des Erben immer wieder der Sprache ihrer Zeit angepasst. Hier haben sie ihr Netz stiller Intrigen geflochten, wodurch das Reich eine ungewöhnlich friedliche Geschichte erlebt hat. Nur Antas gelang es, diesen Zyklus zu durchbrechen. Doch Antas lebt nicht mehr.« Diese Nachricht schien selbst Matei und Harkyn zu überraschen. »Antas ist tot«, fuhr der Dulce fort. »Der Bericht hat mich gestern erreicht. Der Führer der Engel war den vereinten Kräften von Gesyrah und Balmir nicht gewachsen.« Er schaute die Gefährten nacheinander an – erheitert, wie es schien. »Antas war Karn.« Die Bestürzung war groß. Nur Aysilendil und Eynardil schienen es 362
gewusst zu haben. Matei schaute derart verblüfft drein, dass der Dulce unwillkürlich lachen musste. »Antas war Karn, aber eigentlich war Karn nicht Karn. Das Reich wurde Jahrtausende lang von einer Plage dunkler Magie heimgesucht. Jetzt wissen wir, dass diese Plage das Werk einer Magierin gewesen ist. Einer Frau, die einer anderen Zeit entronnen ist. Sie wurde der stille Spieler genannt. Doch jetzt ist sie tot. In vergangenen Zeiten besaß sie viele Leben, aber nun hat sie ihr letztes Leben verspielt.« »Karn …«, flüsterte Matei. »Alter, weiser Karn.« Erneut rollte der Donner, länger diesmal und sehr viel näher. Ein singendes Geräusch ertönte. Der Dulce holte Rax unter seinem Mantel hervor. Das Schwert leuchtete glühend in einem grellen Blau auf. In Aernolds Augen erschien Wehmut, als sein Blick über die Konturen von Dunkel glitt. »In zwei Stunden wird dieser stille Ort sich in eine Hölle verwandelt haben«, sagte der Dulce. »Wenn ihr dieser Hölle lebend entkommen wollt, müsst ihr dafür sorgen, dass euer Geist hellwach ist.«
Nebel zog auf. Ein ungewöhnlich heller Himmel spannte sich bis zum Horizont, wo im Süden die Vorboten der Hölle kauerten, bereit für den Sprung nach Dunkel. Mindestens vierzig Nibuüm waren aus ihren ärmlichen kleinen Häusern zum Vorschein gekommen. Still und ohne eine Gefühlsregung starrten sie zum südöstlichen Himmel, wo die ersten schwarzen Finger nach der Insel griffen. Sämtliche Nibuüm versammelten sich auf den Pflastersteinen des Dorfplatzes. Der Dulce hatte Dotar und Cughlyn losgeschickt, um Pits Körper zu holen. Vorsichtig legten die beiden den Leib auf einer Decke nieder. Der Dulce hob beide Hände und sagte: »Nibuüm! Wieder einmal stehen wir am Rande des Abgrunds. Wieder einmal rückt die Stunde der Wende näher.« Er zeigte in südöstliche Richtung. »Die Insel ohne Na363
men hat zum einhundertvierzehnten Male ihr Geheimnis der Nacht preisgegeben. Wenn wir unsere Kräfte bündeln, können wir den Angriff abwehren.« »Warum müssen wir unser Leben denn wissentlich aufs Spiel setzen?«, fragte Gaithnard. »Dafür wird es schon sehr bald eine Erklärung geben, Kurmer«, antwortete der Dulce. »Ihr habt Matei die ganze Zeit vertraut, jetzt schenkt bitte mir für einen Tag euer Vertrauen. Bildet einen Kreis und gebt einander die Hand.« Während sie sich noch gemeinsam in Konzentration und Abschirmung des Geistes übten, brach aus der wachsenden Dunkelheit eine Schattengestalt von unglaublichen Ausmaßen hervor. Den gekrümmten Fingern der Wolken voraus flog der Schemen direkt auf Dunkel zu.
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45 Rax »Groß ist nur ein Wort. Ist ein Berg groß? Der Himmel wird es bestreiten.« – Aus ›Reflexionen über die Zeit‹, von dem Asketen und Dichter N'hammat Oul Lethe hatte gewusst, dass er Paladinmeister werden würde, doch erst jetzt, während er als der Herr der Tiefe vor dem Düsteren floh, war er es wirklich. Er fühlte sich wie ein Pferdebändiger, der mit beiden Füßen auf wilden Hengsten stand und deren Galopp mit mächtigen Zügeln unter Kontrolle hielt. Obgleich er auf der Flucht war, verspürte er eine beinahe freudige Erregung. Sein Geist arbeitete messerscharf, seine Hände waren eins mit den Zügeln, seine Finger sandten subtile Signale an jenen Koloss, welcher der Herr der Tiefe war. Lethe war nicht der Einzige, der vom Rausch der Verfolgungsjagd erfasst wurde. Im Hintergrund teilten sämtliche anderen Lethes und auch die Nibuüm seine Euphorie. Zeit verlor für Lethe jede Bedeutung. Die mächtigen Flügelschläge des Herrn der Tiefe schufen einen hypnotisierenden Rhythmus, der sein eigenes Zeitschema entwickelte. Kraft und Geschwindigkeit waren jetzt der Maßstab in Lethes Leben. Dann und wann blickte er nach hinten. Ein dunkler Schleier folgte ihnen. Er kam zwar nicht näher, verlor aber auch nicht an Boden. Er war einfach da. Manchmal konnte Lethe beobachten, wie gelbe Schlangen sich von dem dunklen Fleck lösten und in ihre Richtung schossen. Noch landeten sie alle zischend im Wasser, ohne ihre Beute zu erreichen. 365
Doch das Wort Angst existierte nicht: Es gab nur Bewegung, den Fluss der Flügelschläge und das Meer, über das sie hinwegrauschten. Als die Umrisse der Insel erschienen, änderte sich alles. »Dunkel«, flüsterten ihm einhundertdreizehn Stimmen und ebenso viele Erinnerungen zu. Ihm fiel ein, dass jede Insel des Reiches im Laufe der Geschichte unterschiedliche Namen gehabt hatte, nur Dunkel hatte stets den gleichen Namen getragen. »Was lässt Dunkel so anders sein?«, fragte sich Lethe. Aus den Erinnerungen des ältesten Nibuüm stieg die Antwort wie eine Luftblase empor. So waren sie, die Nibuüm; das wusste Lethe inzwischen. Von sich aus gaben sie nichts preis, doch wenn man sie etwas fragte, bekam man eine ausführliche Antwort. Dunkel war ein Vulkan gewesen. Vor Urzeiten war an diesem Ort jenes Geschöpf, das Lethe als den Düsteren des Nachtmeers kannte, von mehreren Magiern in die Kerker der Erde verbannt worden. Der Düstere geriet in Rage, und die Wut über seine Verbannung sorgte für Erdbeben und Vulkanausbrüche. Die Schockwellen waren so gewaltig, dass sich die ganze Welt veränderte. Lethe sah Bilder von Wüstenlandschaften, die vom heranstürmenden Meer verschlungen wurden; er sah Gebirge, über die Flutwellen tosten, bis nur noch die höchsten Gipfel aus dem Wasser ragten. Kontinente wurden auseinander gerissen; Inseln veränderten ihre Form oder verschwanden völlig. Neue Inseln tauchten auf. Nur Dunkel blieb unverändert. Das Ausmaß der Verwüstung, die Lethe in der Erinnerung des ersten Nibuüm gesehen hatte, war selbst für ihn, den Paladinmeister, unfassbar. Wie von selbst richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf die Insel, die nun mit jedem dröhnenden Flügelschlag größer wurde. Die Antwort des Nibuüm war alles andere als erschöpfend gewesen. Das Mysterium um Dunkel blieb weiterhin bestehen, doch vielleicht würden die kommenden Stunden Aufschluss geben. »Alle Lethes stellen dieselben Fragen«, sagte der erste Nibuüm. Lethe war überrascht. Warum sagte der erste Nibuüm das? Hoffte er womöglich, Lethe könne von diesem Muster abweichen? 366
Plötzlich stieg eine Frage in ihm auf. »Was ist erforderlich, um den Neuntausendjahreszyklus zu beenden?« »Die vollständige Antwort kenne ich auch nicht«, sagte der erste Nibuüm. »Das weiß nur der erste Weber. Allerdings sind mir einige Voraussetzungen bekannt.« Der erste Nibuüm schwieg für einen Moment. Lethe versuchte sich an dessen Namen zu erinnern; der Mann in der braunen Kutte hatte schließlich sämtliche Namen genannt. »Unmagie, die erste Voraussetzung. Diese Fähigkeit – die Magie, die keine ist – besitzt Ihr. Durch das Blut Eures Vaters seid Ihr zum Teil ein Nibuüm.« Dies war für Lethe nur eine Bestätigung dessen, was er bereits geahnt hatte. »Der Stein der letzten Berührung. Ein greifbarer Stein, der seine wahre Stärke allerdings erst auf geistiger Ebene entfaltet.« »Der Stein hat sich in meinem Geist festgesetzt«, sagte Lethe. »Das Opfer der Herrin der Morgenröte.« »Es wird dargebracht«, sagte er, ohne zu überlegen. »Der Stab«, fuhr der erste Nibuüm fort. »Er wird da sein.« »Das Schwert.« Lethe zögerte kurz. »Es wird ebenfalls da sein.« »Die Kraft.« »Ist da.« Im Hintergrund entstand Unruhe. »Und dann gibt es noch etwas«, sagte der erste Nibuüm und zögerte nun seinerseits. »Es hat mit einer Blutsverwandtschaft zu tun, doch hierüber weiß ich zu wenig. Sagt dies dem Paladinmeister etwas?« Lethe schwieg verwirrt. Blutsverwandtschaft? Hatte das ebenfalls mit seinem Vater zu tun? Er fand keine befriedigende Antwort. »Ich weiß es nicht«, sagte er leise. Dann: »Wer seid Ihr?« Der erste Nibuüm machte ein Geräusch, das Lethe wie ein wieherndes Lachen erschien. 367
»Mein Name ist inzwischen bedeutungslos geworden, Paladinmeister. Wenn ich Euch erzählen würde, dass ich Hunderte Namen besessen habe, und dass mir jeder dieser Namen gleich lieb war, wärt Ihr keinen Deut schlauer. Ich könnte Euch erzählen, dass ich in früheren Tagen am Hofe eines Königs als eine Art Hochmeister gedient habe, dass einer meiner Namen Magus Lermyn war und dass ich älter bin als jeder andere auf dieser Welt. In meinem vorletzten Leben hieß ich Scharde aus Fernion. Ich habe Euch gesehen, als Ihr zusammen mit dem Hochmeister und dem Kapitän die Herberge am Bulvertkai in Loh-Hafen verlassen habt. Ich wusste, wer Ihr seid und wer Ihr werden würdet. Ich war auch Hoorn, der Einsilbige, der Euch und Eure Reisegefährten durch die Teufelsklamm lotste. Meine Bedeutung als erster Nibuüm ist lediglich das Echo eines Echos. Ich gleiche einem Stein, der nach einem gewaltigen Wurf über die Wasseroberfläche springt, schon Dutzende Male gehüpft ist und jetzt seinen letzten Sprung macht, um dann für immer zu versinken.« Lethe nahm diese verblüffenden Äußerungen schweigend zur Kenntnis. Hoorns dunkler Blick erschien vor seinem geistigen Auge, doch ihm blieb keine Zeit, sich über alles Gedanken zu machen. Ein gewaltiger Donnerschlag hallte übers Wasser, gefolgt von einem Geräusch, das sich wie der Knall einer Riesenpeitsche anhörte. Hoch über dem Herrn der Tiefe segelte etwas, das einem gelben Feuerfaden glich, in Richtung der Insel Dunkel. Ein zweiter Faden flog mehrere Kilometer entfernt in nordwestliche Richtung, ein dritter nach Südosten. Immer neue Fäden kamen hinzu. Begleitet vom Getöse ohrenbetäubender Donnerschläge entstanden Querverbindungen zwischen ihnen. Dann fiel ein kilometerlanges und -breites Netz glühender gelber Fäden auf Dunkel hinunter. »Das Netz des Fischers«, flüsterte Pit in Lethes Geist. »Ja«, antwortete Lethe laut, »und, es zieht sich über uns zusammen. Ich muss etwas unternehmen, ich muss …« Im nächsten Moment bewegte Lethe sich auf den Stein der Letzten Berührung zu. Eine Stimme flüsterte in seinem Geist. »Der Stein ist im Grunde der Berg, so wie die Welle das Meer ist. 368
Manchmal ist der Stein entscheidend, und manchmal ist die eine Welle von alles entscheidender Bedeutung.« Lethe kannte den Besitzer der Stimme. »Scharfblick. Du bist hier?« »Nein, Lethe, meine Zeit ist noch nicht gekommen.« Unzufriedenheit wirbelte wie ein vorzeitig gewelktes Herbstblatt in Lethes Geist. »Denk an meine Worte«, fügte Scharfblick hinzu und verschwand aus Lethes Gedanken. Lethe dachte nach, während das Netz aus gelbem Feuer über den Herrn der Tiefe hinabfiel und warnende Geiststimmen zu hören waren. »Der Stein ist im Grunde der Berg.« Lethe glaubte zu wissen, was damit gemeint war. Ein Teil des großen Ganzen beinhaltete viele, wenn nicht alle Elemente des Ganzen … Zischend sausten die Fäden des Netzes des Düsteren auf den Körper des Herrn der Tiefe herab. Ein unwilliges Brüllen ertönte, hallte in sämtlichen Geistgängen des Labyrinths wider. Erst eine Sekunde später registrierte Lethe, dass er zum ersten Mal die Stimme des Herrn der Tiefe vernommen hatte. Im nächsten Moment verdunkelten unerträgliche Schmerzen alle Geister. Schrille Schreie schnitten in Lethes Gedanken. »Der Stein und der Berg, die Welle und das Meer!« Scharfblicks Stimme schlüpfte zwischen dem Lärm und der Panik hindurch. Sie führte Lethe zu dem ungelösten Rätsel zurück. Inwiefern hatte dies etwas mit ihm zu tun, dem Herrn der Tiefe? Der Herr der Tiefe. Einhundertvierzehn Unmagier, ungefähr ebenso viele Nibuüm in einem lebenden Labyrinth, ein Stachelrochen, ein fliegender Berg … Der letzte Gedanke ließ ihn innehalten. Ein fliegender Berg. Der Stein ist im Grunde der Berg. Also war ein einziger Lethe im Grunde der Herr der Tiefe. Für einen Moment breitete sich in seinen Gedanken ein leerer Fleck aus. Dann kam der nächste logische Gedanke: Er, Lethe, der Paladinmeister, war im Grunde der Herr der Tiefe! 369
Es kostete ihn noch eine Sekunde voller beißender Schmerzen, ehe er in Aktion trat. Er verließ den Kern seines Wesens und tauchte wie selbstverständlich ein in den Stein der Letzten Berührung. Die flimmernde Hitze ungebändigter Magie erreichte ihn. Die Fähigkeit zerrte an ihm, flüsterte ihm ein, dies sei die Gelegenheit, vieles, wenn nicht alles zu bestimmen, und dann könne er Meister Jen gegenübertreten und sagen: »Schaut her, Ihr hattet Recht, ich habe viel mehr vermocht, als im Buch der Gezeiten vermeldet ist.« Doch er ließ all diese Macht links liegen. Zielbewusst jagte er an einer Korallenkette aus Wissen und Opalen aus Weisheit vorbei, die er bei jeder anderen Gelegenheit als kostbare Edelsteine betrachtet hätte. Er suchte weiter, zwischen Gefühlen süßer und banger Pein, Angst, die jeden vernünftigen Gedanken zunichte machte, da es um das nackte Überleben ging, Befriedigung, die jede Faser seines Körpers erfasst hätte, Wut und Zorn in allen Abstufungen; er durcheilte Sphären, die ihn wehmütig gestimmt hätten, hätte er die Zeit dafür gehabt. Schließlich landete er an einer leeren Fläche in einem Wald, von dem er wusste, dass er Ric'hts Wald hieß. Den Namen las er in den Erinnerungen der Edelfrau Aysilendil auf. Letzteres verwunderte ihn, da die Edelfrau sich nicht unter den Nibuüm im Herrn der Tiefe befand. Lethe schaute sich auf der freien Fläche um. Hier hatte früher ein Baum gestanden. Der Baum hatte einen Namen gehabt, und seltsamerweise schien dieser Name sich noch immer an dieser Stelle aufzuhalten, während der Baum zu einer Erinnerung geworden war. Behaupteten sich Namen oder Wörter länger als die Wesen oder Gegenstände, die diese getragen hatten? Berührte er hier ganz leicht, nur mit den Fingerspitzen, ein großes Geheimnis? Ostermanouth hatte der Baum geheißen, doch er existierte nicht mehr. Aus weiter Ferne erreichte ihn das panische Kreischen vieler Stimmen. Doch er wusste, dass er diesen Prozess, diese Traumreise nicht abbrechen durfte. Aus dem Schatten des Waldes, der die freie Fläche umschloss, trat eine Person hervor. Ihre Bewegungen verrieten ihm, dass es eine Frau sein musste. Als sie näherkam, erkannte er sie an ihren grünen Augen und dem langen silberblonden Haar. 370
»Edelfrau Aysilendil. Ihr wart dabei, an der fernen Küste. Ich fand sogar eine Eurer Erinnerungen in meinen Gedanken.« Zwei Schritte von ihm entfernt blieb sie stehen und schaute ihn mit wehmütigem Blick an. »Ihr seid also doch gekommen«, flüsterte sie. »Ich bin gekommen«, bestätigte er. »Ich bin Aysilendil, das stimmt«, fuhr sie fort. »Die Letzte meines Volkes.« Lethe schwieg. Was sollte er auch sagen? Er wusste nichts, obgleich irgendwo in seinem Innern, im Kern des Steins der Letzten Berührung, unendliches Wissen verborgen lag. Vielleicht machte er ja eine Reise durch den Stein, womöglich war er ein Staubkörnchen in einer kosmischen Sinnestäuschung. »Ihr seid gekommen, um Euer Geschenk abzuholen«, fuhr Aysilendil fort. »Ihr nennt es Unmagie. Nach unserem Dafürhalten ist diese Bezeichnung falsch, doch das spielt keine Rolle.« Ein Teil seines Geistes erlitt einen Schwindelanfall. Irgendetwas schrie, flehte um Führung, rief nach jemandem, der die Zügel in die Hand nahm. »Unsere Bezeichnung für diese Fähigkeit ist Fyogre Neri. Der erste Weber kannte sie als Elfenmagie, aber sie ist alles andere als Magie. Buchstäblich. Sie ist der alles umfassende Rahmen für jede Art von Magie. Fyogre Neri, dies ist eine der wenigen Bezeichnungen, die sich nie geändert haben. Die Sprache ist wie das Leben. Ihre Regeln, ihre Einschränkungen und Begrenztheiten ändern sich, aber da die Sprache sich mitverändert, bleiben die Bedeutungen jener Wörter, auf die es wirklich ankommt, auf lange Sicht doch ungefähr die gleichen.« »Unveränderliche Veränderlichkeit«, murmelte Lethe. Die Frau nickte. »Fyogre Neri werden viele Bedeutungen zugeschrieben. Es gibt jedoch nur eine einzige wirkliche Bedeutung. Wenn ich es so wörtlich wie möglich in der Sprache, mit der Ihr seit Eurer Geburt zu tun hattet, übersetzen soll, heißt Fyogre Kunst und Neri schwarz.« »Schwarze Kunst«, stammelte Lethe verblüfft. »Aber …« 371
»Geht selbst damit zurate: Was ist schwarz, was ist gut? Wenn Ihr die Antwort wisst, dürft Ihr über die Bezeichnung urteilen.« Sie wies auf die kahle Stelle inmitten der freien Fläche. »Hier stand einst Ostermanouth, der Urbaum. Der Baum, aus dessen Schatten den Mythen zufolge unsere Rasse geboren wurde. Den ewigen Baum nannten wir ihn, da wir glaubten, er werde dort für immer stehen bleiben. Und jetzt schaut Euch das an …« Sie berührte mit dem Zeigefinger Lethes Lippen. »Ein Geschenk für Euch, Lethe. Die Menschen nennen es Kryptus. Wir sagen dazu Letzte Berührung, die auch die erste ist.« Ein Zittern durchlief ihn. Für einen Moment wusste er, wer er gewesen war, bevor er zu Lethe wurde. Ein langer Name wogte durch seinen Geist. Doch dann floss diese Erinnerung an jenes Leben wie kostbares Blut davon in die Vergessenheit. Zugleich strömte neuer Lebenssaft in sein Wesen. Die Vergangenheit räumte ihren Platz für die Zukunft. Sein altes Leben verschwand für ein neues Leben, und der Kryptus, die Letzte Berührung, war der Wendepunkt. Es war ein Schwindel erregendes Gefühl. Aysilendil drehte sich um und ging zum Waldrand. Über die Schulter sagte sie: »Geht jetzt, Lethe, Strom der Vergessenheit, denn es wird Zeit.« Er spürte in seinem Innern etwas wachsen, als hätte die Berührung der Frau ein Saatkorn in ihn gepflanzt, das zu keimen begann. Fremdartige, vorerst noch bedeutungslose Worte nisteten sich in seinen Gedanken ein, bereit zum Gebrauch, falls nötig … Er löste sich aus seiner Traumreise. Im nächsten Moment spürte er höllische Schmerzen und war umgeben von einer Kakophonie verzweifelter Todesschreie. Aus dem Augenwinkel sah er den Wasserspiegel des Südlichen Nachtmeers schräg auf sich zurasen. Die Schmerzen drohten ihm die Sicht zu vernebeln. Er hatte den Körper des Herrn der Tiefe nicht mehr unter Kontrolle. »Der Stein ist im Grunde der Berg«, murmelte er. Unverzüglich befreite er seinen Geist von allen Lethes und Nibuüm. Dadurch unterband er deren direkten Kontakt mit dem Herrn der Tie372
fe und lieferte sie dem Zorn des Düsteren aus. Jeder Angriff konnte fatale Folgen haben, doch der Paladinmeister Lethe hatte beschlossen, dass er Prioritäten setzen musste, und wenn er jener Lethe sein wollte, der dem Zyklus ein Ende bereitete, musste er alleine handeln. Er flüsterte die Worte, die sich kurz zuvor angeboten hatten, bediente sich einer alten Sprache, die sich aus schwierigen, dunklen Wörtern zusammensetzte. Sie kratzten schmerzhaft in der Kehle seines Geistes. »Gaile arr. Grokhaa. Uniervi tarmoc ò Flmnnatyh.« Erst nach dem nächsten Wort geschah etwas. »Sachaerayd.« Alles fror ein. Der Herr der Tiefe hing schief in der Luft. Die Spitze seiner rechten Flosse berührte schon das Wasser, das hoch aufgespritzt war, bevor es erstarrte. Die linke Flosse ragte schräg in die Höhe. Die Schmerzen, die sich wie nach einem Stoß mit einem Riesenschwert anfühlten, waren irgendwo im Unterleib. Er spürte, wie auch der davonströmende Lebenssaft erstarrte. Das Netz aus gelbem Feuer drückte schwer auf einen Augapfel, der bereits blind geworden war und aus dem unerträglich stechende Schmerzen aufgestiegen waren. Doch auch hier war jetzt alles zu einer flammenden Erinnerung erstarrt. Ein fremdartiger, übler Geruch legte sich wie ein dunkler Schleier über seine bebenden Gedanken. »Fyogre Neri«, keuchte er. »Schwarze Kunst. Ich bin gar kein Unmagier. Ich bin ein schwarzer Magier.« Traurigkeit befiel ihn. War er wirklich ein Schwarzer Magier? Warum hatte Rax dann nie gewarnt? Waren seine dunklen Fähigkeiten so gewaltig, dass er sogar in der Lage gewesen war, das Schwert zu täuschen? Ein neuer Gedanke schwamm wie ein einzelner Steinfisch zur Oberfläche seines Bewusstseins: Schwarze Kunst, die Schwarze Kunst bekämpft. Plötzlich ging alles ganz schnell. Der nächste Gedanke stieß wie ein Felsblock gegen sein gesamtes Gedankengebäude. Schwarz war farblos! Standen sich hier zwei schwarze, zwei farblose Mächte gegen373
über? War farblose Magie etwa ein Euphemismus für Schwarze Magie? Welche Grausamkeit hatte sich das einfallen lassen? »Du hast das Wesen der farblosen Magie erfasst, Lethe. Das sollte dich jedoch nicht zu dunklen Gedanken verleiten.« Asayinda. Lethe wog ihre Worte ab. »Aber ich habe auch entdeckt, dass ich ein Schwarzer Magier bin.« »Fyogre Neri ist nicht jene Schwarze Magie, die dir vor Augen schwebt. Fyogre Neri ist alles das, was keine Magie ist.« »Der Rahmen, der Magie gefangen hält«, ergänzte Pit leise. Lethe stieß einen tiefen geistigen Seufzer aus. »Alles starrt mich an. Ich kann jede Einzelheit für sich verstehen. Alles liegt in Reichweite, ich brauche nur zuzugreifen. Aber was soll ich damit anfangen?« »Meines Erachtens hast du bereits den ersten Schritt getan«, sagte Asayinda. »Ich bin sicher, dass der Düstere deinen Alleingang und das, was du mit der Zeit gemacht hast, nicht erwartet hat. Und was weiß er über den Stein der Letzten Berührung, und über Pits Anwesenheit?« Lethe hielt den Atem an. Im Hintergrund stieß Pit einen leisen Schrei aus. »Du hast es gewusst!«, rief Lethe. »Ich wusste es nicht, aber Gall. Ich weiß, dass Pit hier ist, aber ich kann sie nicht hören. Ich glaube, dass ihre Anwesenheit bei dem, was geschehen wird, einer der entscheidenden Faktoren ist.« Stille. Dann fragte Lethe: »Was soll ich getan haben? Die Zeit stillstehen lassen? Kann ich das denn?« Weder Asayinda noch Pit antworteten. Sie zogen sich zurück. Lethe war allein. Er verlieh dem zusätzlichen Nachdruck, indem er auch die Verbindung zu Asayinda kappte. Die Herrin der Morgenröte ließ es widerspruchslos geschehen. Pit blieb, wo sie war. Lethe schaute mit dem noch intakten Auge nach draußen. Eine lang gezogene dunkle Stimme erging sich in einem Tobsuchtsanfall. Eine 374
lange schwarze Masse glitt unendlich langsam über den Herrn der Tiefe hinweg. Der Düstere des Nachtmeers! Zunächst glaubte Lethe, Mathathruin sei es egal, dass er die Zeit hatte stillstehen lassen. Das vergaß er schnell, als er den abgrundtiefen Zorn in dem gelben Blick aufflackern sah, der dem Rhythmus des wild hin und her schlagenden Schlangenkopfes folgte. Der Düstere fiel neben den Herrn der Tiefe; er wusste, was Lethe getan hatte, schien aber nicht fähig, aus dem normalen Zeitstrom heraus anzugreifen. Was immer stillstehende Zeit sein mochte – augenblicklich bescherte sie eine willkommene Pause, in der Lethe zu begreifen versuchen konnte, was er eigentlich tat. Und vor allem galt es zu überlegen, was als Nächstes getan werden musste. Plötzlich kam ihm eine Idee, ein Gedanke, der scheinbar aus dem Nichts auftauchte. Vielleicht war stillstehende Zeit nichts anderes als das ausgedehnte Jetzt. Er hatte sich früher schon über die Ungreifbarkeit des Heute gewundert, diesen Moment zwischen Vergangenheit und Zukunft, der ihm stets zwischen den Fingern davonglitt. Wenn er jederzeit dazu imstande war … Unendlich viele Möglichkeiten boten sich an. Vielleicht konnte er es sogar in seinem Kampf gegen den Düsteren einsetzen. Wie auf Verabredung meldete sich wieder Pit. »Im Zweifelsfall bist du ja überhaupt nur deswegen in der Lage, die Zeit stillstehen zu lassen«, murmelte sie. »Aber es gibt einen Unterschied zwischen dem Anhalten der Zeit auf magische Weise und dem Erschaffen dieser Stillstehenden Zeit«, sagte Lethe nachdenklich, als wäre er gerade erst dahinter gekommen. »Dies ist Wirklichkeit. Eine Art Wahrheit.« »Wahrhaftig«, sagte Asayinda. »Das ist das richtige Wort: Wahrhaftigkeit.« Lethe setzte sich mit dem Wort auseinander. Eine Erinnerung tauchte auf. »Wahrhaftigkeit ist das höchste Gut, sagte mein Lehrmeister immer. Strebe die Wahrhaftigkeit an, mit allem, was du bist.« Lethe starrte auf den fast zur Ruhe gekommenen Düsteren. 375
»Wenn die Zeit wieder weiter läuft, bricht hier die Hölle auf«, sagte er. »Vielleicht …« Schatten fielen wie große Blätter auf ihn herab. Er verstummte und schaute mit dem intakten Auge nach oben. »Warum schweigst du?«, fragte Pit. »Invaeri or sachaerayd«, rief Lethe, ohne auf Pit zu achten. Die Zeit bewegte sich wieder. Die Hölle brach los. Das Netz der gelben Fäden war verschwunden. Aus dem Nichts stürzten sich Hunderte schwarzer Vögel mit schillernden Edelsteinen auf dem Kopf auf den Herrn der Tiefe, die messerscharfen Krallen vorausgestreckt, die Schnäbel zu ohrenbetäubendem Kreischen geöffnet. Lethe gelang es, den Stachelrochen kurz untertauchen zu lassen, um mit ihm gleich darauf steil hinauf in den Himmel zu steigen. Für eine Weile konnte er die Vögel dadurch abschütteln. Der Düstere des Nachtmeers in Gestalt der in Nebelschwaden gehüllten, geflügelten Schlange flog mit wildem Geheul einen weiten Bogen in Richtung des Herrn der Tiefe. Damit versperrte er Lethe den Weg nach Dunkel. Das Maul des Monsters öffnete sich zu einem riesigen gähnenden Schlund. Einem Schwert mit zwei Spitzen gleich sprang eine gewaltige gespaltene Zunge heraus. Aus dem schwarzen Abgrund des Mauls schoss eine gelbe Feuerkugel direkt auf Lethe zu. In der Ferne schrien die Stimmen der Lethes und Nibuüm wild durcheinander. Lethe achtete nicht darauf. »Er greift uns an«, brummte er, »das sehe ich auch. Aber warum sollten nicht wir es sein, die zum ersten Schlag ausholen?« Er nahm die Zügel fester in die Hand und zog sie dann mit einem kräftigen Ruck an. Der Herr der Tiefe schien einen Purzelbaum zu schlagen. Die Feuerkugel schrammte am verwundbaren Bauch des Stachelrochens entlang. Der Düstere brach in ein triumphierendes Heulen aus und stürzte seinem Feind hinterher, gefolgt von seiner Vogelarmee. Dicht über der Wasseroberfläche ließ Lethe den Herrn der Tiefe eine scharfe Kurve fliegen und drehte ihn gleichzeitig um, sodass er sich plötzlich Auge in Auge mit dem Düsteren befand. Ohne die Ge376
schwindigkeit zu drosseln, raste er geradenwegs auf den Gegner zu. Der Herr der Tiefe tobte. Mit einem Übelkeit erregenden Schlag und ohrenbetäubenden Knall traf er die Schlange genau in der Mitte. Gelbe Blitze schossen in sämtliche Richtungen. Der Düstere stieß einen knarrenden Schrei aus, der in einen Donnerschlag überging. Die Nebelschwaden rissen auf, zeigten einen sich windenden schwarzen Leib, aus dem alle Luft entwichen war. Die pumpenden Flügelschläge gerieten ins Stocken, und für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde der Düstere ins Wasser stürzen und versinken, doch mit einer letzten Kraftanstrengung gelang es ihm, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Für den Körper des Herrn der Tiefe war der Schmerz des Zusammenpralls mindestens ebenso heftig, doch Lethe hatte die Kollision vorhergesehen und sich darauf vorbereiten können. Dennoch schossen schmerzhafte Stiche in seinen Geist. Er hatte Mühe, bei Bewusstsein zu bleiben. Hunderte Stimmen kreischten durcheinander. »Schau!«, rief Pit. Lethe blickte durch einen roten Nebel folternder Schmerzen. Der Düstere schwoll an. Das gewaltige Maul öffnete sich erneut. Ein Urschrei wilder Wut entrang sich dem Geschöpf. Jetzt war es mehr als doppelt so lang wie der Herr der Tiefe. Im Hintergrund verfinsterte sich der Himmel zu bedrohlichem Schwarz, als versammelten sich sämtliche Bundesgenossen des Düsteren hinter ihm zu einer unüberschaubaren Kriegsmacht. »Der Düstere wächst!« Pits Stimme war schrill. »Es sieht aus, als würde er vor Wut anschwellen.« »Manche Dinge muss man alleine erledigen«, murmelte Lethe. Wieder handelte er im Reflex, steuerte den Herrn der Tiefe mit ungelenken Bewegungen aus der Reichweite des anwachsenden Ungeheuers. Hinter ihm wurde das Grummeln des Düsteren zu einem bösen Zischen. Dissonante Töne erklangen, wuchsen an, verwandelten sich in schmerzhafte Pfeiftöne, hart an der Grenze des Hörbaren.
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Sie hatten die ersten Auseinandersetzungen zwischen dem Düsteren des Nachtmeers und dem Herrn der Tiefe in unterschiedlichen Stadien der Fassungslosigkeit, des Grauens und des ungläubigen Staunens verfolgt. Vorläufig war der Abstand noch groß genug, um sich halbwegs in Sicherheit zu wiegen. Für die meisten war es ein zum Leben erwachter Albtraum. »Geschieht das wirklich?«, flüsterte Gaithnard. »Das muss ein Traum sein.« »Es ist Wirklichkeit«, sagte der Dulce und hielt Rax hoch. Das Schwert leuchtete so grell, dass es unmöglich war, es direkt anzuschauen. Laut sang es sein Lied. »Dies sind denkwürdige Stunden, wie dieser Kampf auch ausgehen mag.« Marakis zeigte auf die beiden unwirklich groß erscheinenden Wesen. »Wer ist der Herr der Tiefe und wer der Düstere?« Der Dulce musste lächeln. »Wer will das schon sagen«, meinte er. Dann aber fügte er mit heller Stimme hinzu: »Die Schlange ist der Düstere.« Dunkelheit nahm den gesamten Horizont ein, als Vorschuss auf einen schwarzen Triumph. Das Geschöpf, das vor der in Nebel gehüllten Schlange floh, näherte sich der Insel. Die meisten der auf dem Dorfplatz Versammelten betrachteten das Herannahen der monströs großen Wesen als Sinnestäuschung. Schwarze Wolken sanken wie der Mantel eines verfrühten Abends auf Dunkel herab. »Es ist soweit«, brummte Llanfereit. Sein Blick glitt zur Seite, zu jener Stelle, wo Pits Körper lag. In seinen Augen spiegelten sich Angst und Hoffnung.
Pit rührte sich. »Was tust du?« Zuerst antwortete Lethe nicht. Er schien sich vollkommen darauf zu konzentrieren, den Herrn der Tiefe zu lenken. 378
Pit wiederholte ihre Frage. Es dauerte eine ganze Weile, ehe Lethe in Gedankensprache sagte: »Ich versuche Dunkel zu erreichen. Matei erzählte mir einmal, dass der Düstere über dem Land die Orientierung verliert.« »Und dann?«, fragte Pit. Es klang wie das Echo seiner eigenen Gedanken. Er musste die Antwort schuldig bleiben. Zu was war er in der Lage? Was vermochte der Herr der Tiefe, dieser mächtige und zugleich so empfindliche Körper? In seinem Hirn wirbelten noch viele weitere Fragen, doch er machte ihnen ein Ende. »Manchmal ist die Handlung besser als der Gedanke.« Auch dies war eine Weisheit seines Meisters Jen, die er nie so recht verstanden hatte. Doch nun war die Notwendigkeit des Handelns so groß, dass sie jeden Gedanken überschattete. »Und dann?«, wiederholte Pit. »Lass mich in Frieden!«, schnauzte Lethe und trennte die dünne Verbindung zwischen ihr und ihm. Mit jedem Schwingen der mächtigen Flügel kam der Düstere näher. Sein Schatten berührte bereits den Schwanz des Stachelrochens. Das Maul öffnete sich weit. Hinter ihm folgte eine zweite, zersplitterte Schlange und flog auf Dunkel zu: die Vögel. Als sie Dunkel erreichten, legte Lethe den Körper leicht auf die Seite. Er sah eine Menschengruppe auf einem Dorfplatz. In einem Winkel seines Geistes fragte er sich, was die Leute dort wollten. Aus dem Maul des Düsteren ertönte ein Triumphschrei. Ein Schatten glitt über den Herrn der Tiefe hinweg. Lethe zog die Zügel an. Im nächsten Augenblick versank er in einem Meer aus Schmerzen.
Gelbe Fäden, aus Lava gebosselt, fielen über ihn. Messer drangen von allen Seiten in sein Wesen ein, berührten seinen Kern, doch es gelang ihnen nicht, jenen Ort zu erreichen, wo der Stein der Letzten Berührung angesiedelt war. Niederlage und Tod waren ihm näher als ein 379
Entkommen, sehr viel näher. Das Labyrinth des Herrn der Tiefe wurde von einem sehr viel größeren Labyrinth gefangen genommen. Lethe wusste, dass er nicht mehr lange durchhalten würde. Der Flügelschlag des Herrn der Tiefe erlahmte. Zusammen mit dem Netz gelber Fäden legte sich der Geist des Düsteren über Lethe, ergriff nach und nach Besitz von ihm, als wäre er bloß ein Steinfisch, der sich aus seinem Schwarm abgesetzt hatte. Seltsamerweise wurde Lethe ganz ruhig. Er tastete nach seiner Fähigkeit, die Zeit stillstehen zu lassen und murmelte: »Sachaerayd.« Als die Zeit angehalten war, verschaffte Lethe sich einen Überblick: Es war das reinste Chaos. Er konnte nicht feststellen, wo der Körper des Düsteren aufhörte und der Leib des Herrn der Tiefe begann. Er spürte, wie sich der Zorn des Düsteren verstärkte. Das Wesen wusste, was Lethe getan hatte. Ganz langsam senkte sich das Netz der gelben Fäden herab, fuhr zischend und pfeifend durch die Gänge des Labyrinths. Der Schmerz nahm Lethe fast die Sicht. Nur durch einen Schleier sah er, wie die Vögel sich mit verlangsamtem Flügelschlag näherten. Wie war das möglich? Alles stand still, doch was mit dem Düsteren zusammenhing, bewegte sich weiter. In Lethes Geist erschien ein schwarzes Auge mit gelben Rändern. Es hing wie eine Sturmwolke über ihm. »Wenn die Vögel dich erreichen, ist alles verloren«, flüsterte Pit. Lethe fragte sich gar nicht erst, woher sie das wissen wollte und wie sie sich wieder in seinen Geist genestelt hatte. Ein Krachen erreichte sein Geistohr. Das Auge senkte sich auf ihn herab. Der Düstere versuchte, die Stillstehende Zeit zu durchbrechen.
Als das Monstrum, das Herr der Tiefe genannt wurde, dicht vor ihnen die Küste erreichte, wurde es von der Schlange eingeholt. Ein eigenartiges, knirschendes Geräusch ertönte. Die Wellen erstarrten, der Wind hielt den Atem an. Die Zeit stand still. 380
Nur der Dulce und Edelfrau Aysilendil entzogen sich der eingefrorenen Szene, konnten sich in die Stillstehende Zeit einfügen. »Alles läuft, wie es laufen muss«, murmelte der Dulce. Er betrachtete die beiden Ungeheuer, die dicht übereinander unbeweglich in der Luft hingen. »Das haben wir schon häufiger gesagt«, bemerkte Edelfrau Aysilendil leise und mit leichtem Tadel in der Stimme. Der Blick des Dulce glitt zum Dunkelgipfel. Der Berg war noch immer in Nebel gehüllt. Urplötzlich schoss ein vielzackiger Blitz daraus hervor. »Der Erbe ist da«, lispelte der Dulce. »Auch das haben wir bereits häufiger erlebt, aber noch nie war die Hoffnung in unserem Herzen so … anwesend.« Aysilendil antwortete nicht. Es sei denn, der Dulce hätte ihr verstecktes Lächeln als Antwort gewertet. Die Edelfrau hob den Kopf. »Er ist da«, stellte sie trocken fest. »So wie er schon häufiger dagewesen ist.« »Warum so trübsinnig, Herrin?«, fragte der Dulce. »Ich bin eine Nibuüm, eine Alv, eine Elfe, Aernold«, erwiderte sie, als habe sie darauf gewartet, dass der Dulce ihr dies vorhalten würde. Wehmut spiegelte sich in ihren Augen. »Die älteste Rasse, das älteste Volk. So ungewöhnlich das in Euren Ohren auch klingen mag, aber ich sehne das Ende herbei.« Aernold nickte. »Das weiß ich«, sagte er mit einem milden Lächeln. »Muss ich Euch daran erinnern, dass ich der Ältere von uns beiden bin?« Aysilendil neigte das Haupt. »Ihr habt Recht, ich …« »Lasst es gut sein, Herrin. Ich verstehe, wie Euch zumute ist.« Abrupt hob er den Kopf, als ein langgezogenes Pfeifen ertönte. Der ebenholzfarbene Leib des Düsteren schlängelte sich langsam auf den Körper des Herrn der Tiefe zu. Ein gewaltiger Donnerschlag ließ Dunkel erzittern. Blitze schossen 381
zischend auf die Inselküste zu, trafen den Sand und das Wasser. Die Erde bebte weiter, immer heftiger, bis die Stöße den Dulce und Aysilendil beinahe umgeworfen hätten. »Es ist so weit«, sagte der Dulce und drehte sich zu den Reisegefährten um, die wie erstarrt waren.
Lethe rief die Zeit auf, befahl ihr, sich wieder in Bewegung zu setzen. Er entriss den Herrn der Tiefe dem Würgegriff des Düsteren und zwang ihn entlang den Flanken des Dunkelgipfels in die Höhe. Der gewaltige Körper sträubte sich; der Herr der Tiefe glühte und berührte die Unterkante des Nebelrings, der die Spitze des Dunkelgipfels den Blicken entzog. Von einem Moment auf den anderen hing der Herr der Tiefe unbeweglich in der Luft, wie eingefroren. Diesmal aber war es nicht Lethe, der die Zeit angehalten hatte. »Sohn.« Lethes Geist wurde durch die mächtige Stimme fast gespalten. »Berühre mich.« Lethe brachte kein Wort hervor. War das Dargill, Welm, sein Vater? Wie sollte er ihn berühren? »Du hast einen Körper«, antwortete Dargills Stimme auf die unausgesprochene Frage. Lethe spürte mehr als er wusste, dass er durch die letzte Bemerkung dicht an die Auflösung eines Rätsels herangeführt wurde. Ein unerwarteter Wutanfall packte ihn. Er war dieses ewige Fragen und seine Unwissenheit leid. Natürlich besaß er einen Körper, doch der befand sich woanders, irgendwo in der Weite des Reiches. »Nicht jener Körper«, flüsterte Dargill. Lethe zügelte seinen Zorn. Vor seinem Geistauge sah er eine Hand aus den Wolken zum Vorschein kommen. Die Finger waren nach innen gebogen, nur der Zeigefinger streckte sich ihm entgegen. Erneut fiel ein Schatten über Lethe. Im Hintergrund hörte er einen schrillen 382
Triumphschrei. Der Düstere des Nachtmeers war hoch in den Himmel hinaufgestiegen und stürzte sich jetzt auf den Herrn der Tiefe. Ein kleiner Teil von Lethes Geist registrierte es und kam zu dem Schluss, dass es keinen Ausweg gab. Er war in blinder Panik gefangen. Und er hatte nicht die geringste Ahnung, was Dargill, der sich offensichtlich irgendwo in den Flanken des Dunkelgipfels verborgen hielt, von ihm erwartete. In einem Reflex stellte er sich vor, er besäße einen geistigen Körper, und ahmte Dargills Bewegung spiegelbildlich nach. Ein Arm machte sich aus seinen Gedanken frei, durchstieß die Außenhaut des Herrn der Tiefe. Lethe streckte die Hand nach Dargills Finger aus. Langsam, unendlich langsam bewegten sich die beiden Zeigefinger aufeinander zu. Im gleichen Moment, als der Herr der Tiefe unter dem schwarzen Körper begraben wurde, veränderte sich der triumphierende Schrei des Düsteren des Nachtmeers in das Kreischen und Brüllen eines gefolterten Tieres. Die Kuppe von Lethes Zeigefinger berührte Dargills Fingerspitze. Ein Funke sprang über. Die Folgen waren überwältigend. Für Lethe, für die anderen Lethes, für die Nibuüm, Asayinda und Pit, für den Düsteren und auch für die Zuschauer unten auf dem Platz. Im Geiste glitt Lethe an dem Moment seiner Geburt vorbei. Außerhalb seines Geistes zuckten Blitze wie entfesselt in alle Richtungen davon. Der Vogelschwarm wurde getroffen und pulverisierte vor Lethes Augen. Nur die Edelsteine blieben erhalten und fielen funkelnd ins Wasser. Im selben Moment sahen die Zuschauer auf Dunkel den Herrn der Tiefe für einen Wimpernschlag verschwinden, so, als hätten sie kurz mit den Lidern gezuckt. Völlige Dunkelheit, völlige Ruhe. Nicht das geringste Lebenszeichen. So hatte Lethe sich früher das Nichts vorgestellt. »Am Kryptus vorbei«, flüsterte Gall aus der Tiefe des Nichts. Die Dunkelheit wogte um Lethe herum und in ihm. Er selbst, Lethe, war die Düsternis. Galls Stimme meldete sich erneut. »Nur jener Magier, der die schwar383
ze Magie kennt und wieder erkennt, ist auch in der Lage, sie wirklich zu bekämpfen.« Aber ich bin doch kein Magier!, wollte Lethe hinausschreien. »Ihr seid der Magier der neuen Zeit, Lethe. Jedenfalls wenn es Euch gelingt, den Düsteren zu besiegen.« Gall war verschwunden. Der Moment war vorüber. Lethes Hand brannte wie Feuer. Unwillkürlich zog er sie zurück. Als wäre nichts geschehen, stürzte der Düstere sich auf den Herrn der Tiefe. Das Maul der Schlange schoss auf das noch unversehrte Auge zu. In der nächsten Sekunde wurde alles dunkel. Lethe war blind. Doch er verfiel nicht in Panik. Vielleicht hatte er dies der Berührung von Dargills Finger zu verdanken. Vielleicht kam es daher, dass er sich schon immer blind gefühlt hatte, als junger Mann, der sich ohne jede magische Fähigkeit in einer Welt von Zauberern hatte behaupten müssen. Vielleicht aber war es auch der Schimmer eines Verstehens, ein geheimes Wissen. Irgendwo in seinem Hirn, tief unter der Oberfläche, wo das Unbewusste zum Bewusstsein überging, trafen sich verschiedene Schlussfolgerungen. Der Zorn des Düsteren richtete sich gegen alles, was Magie war – doch Lethe war kein Magier. Wie kam es dann, dass er angegriffen wurde? Die Antwort fiel mit dem Schlag zusammen, mit dem der Düstere auf dem Herrn der Tiefe landete. Während er mitgerissen wurde, an den Flanken des Dunkelgipfels hinab in die Tiefe. Der Düstere griff ihn an, weil Lethe, der Herr der Tiefe, ihn zu Dargill führen konnte. Der Düstere glaubte, er würde auf diese Weise irgendwann einmal wie von selbst auf Dargill stoßen. »Stillstehende Zeit«, wurde geflüstert, und mit einem Ruck blieb alles stehen. Sogar der Düstere hing bewegungslos auf ihm, wie Lethe spüren konnte. »Du bist der zweite Lethe, der begriffen hat, dass eigentlich ich angegriffen werde.« 384
Dargill. Schwang in der Stimme die Spur einer Hoffnung mit? »Dieser Kampf hat seine Wurzeln tief in der Zeit, mein Sohn, aus einer Epoche, bevor es den ersten Lethe gab. Dir bleibt gleich eine Sekunde, Lethe. Auch mir war diese Zeit einmal gegeben. Ich war blind, ich bin blind geblieben, obgleich es so gut wie niemand weiß. Aber durch die Hilfe von jemandem, den du jetzt als den Dulce kennst, reichte diese eine Sekunde.« Stille. »Reichte wofür?«, fragte Lethe. Doch Dargill schwieg weiter. Erst nach einer ganzen Weile, während Lethes Gedanken wild durcheinander sprangen, sagte er: »Tu es.« Dargill verschwand. Vollständig. Lethes Schlussfolgerungen führten ihn in neue Fernen. Sie mündeten in einem Dilemma: Er musste es alleine vollbringen, ohne die anderen Lethes, die Nibuüm und Asayinda. Es musste auch ohne Pit geschehen, doch es ging nicht ohne ihrer beider Kraft. Ihm fehlte mindestens ein Element, eine Information. Er fand keine Lösung, und es gab niemanden, der ihm helfen konnte. Wirklich niemand? Und die anderen Lethes? Die Nibuüm? Asayinda und Pit? Pits Bitte hallte in seinen Gedanken wider: »Lethe, vergiss mich nicht, wenn es so weit ist.« Wann würde es so weit sein? Wenn er die Zeit wieder laufen ließ? Zu viele Fragen, zu wenige Antworten. Lethe nahm die jetzige Situation in Augenschein. Auch wenn die Zeit stillstand, irgendetwas musste jetzt geschehen. Der Düstere hatte ihn erwischt, wie es ihm zuvor bereits einhundertdreizehn Mal gelungen war. Was konnte Lethe ausrichten? Sich zu befreien schien unmöglich. Der Düstere war mindestens doppelt so groß. Was hatte die unbekannte Stimme geflüstert? »Das Herrschaftsgebiet des Herrn der Tiefe ist das Meer.« Seine als Unmagie bezeichneten Fähigkeiten arbeiteten fieberhaft. Er stellte Zusammenhänge her, auf die andere nie und nimmer gekommen wären und wusste, wann es darauf ankommen würde, wann es so weit wäre, wie Pit gesagt hatte. Er bewegte sich durch das Labyrinth 385
von Gedanken, Erinnerungen und Kenntnissen – durch alles, was ihm zur Verfügung stand. Binnen weniger Sekunden hatte er sämtliche Ereignisse vorüberziehen lassen, die dazu geführt hatten, dass er hier als Paladinmeister gelandet war, als Lenker des Herrn der Tiefe. Sein mit Unmagie durchsetzter Geist verharrte hier und da. »Rax«, flüsterte er. Und kurze Zeit darauf, noch leiser: »Pit.« Beim ersten, dem Schwert, war ihm klar, welche Rolle es spielen konnte. Er war blind. Doch seine Fähigkeit, Ereignissen auf den Grund zu gehen, Bilder heraufzubeschwören, die er nicht sah, würde ihn vielleicht doch sehend machen. Seine Gedanken glitten zu den Menschen zurück, die er auf dem Dorfplatz in Dunkel gesehen hatte. Sein Geist modellierte mehrere Gestalten. Der Geistblick holte sie näher heran. Matei! Und Llanfereit, Marakis, Gaithnard und Dotar! Die Reisegefährten waren da, in Begleitung einiger anderer Menschen und einer Gruppe Nibuüm. Er erkannte Hochmeister Harkyn. Außerdem war da ein Mann mit weißen Augenbrauen: Ein zweiter Regulator. Bei einer Frau in einem grünen Mantel zögerte er einige Sekunden. Sorgfältig formulierte Gedanken trieben aus ihrem Geist in den seinen. Warnende Worte. Er bewahrte sie gewissenhaft. Sein innerer Blick schweifte weiter und blieb an dem Mann mit dem goldenen Glanz in den Augen haften. Er hatte diesen Mann früher schon einmal gesehen, schemenhaft, an jenem Tag von Welden Taylerch, kurz bevor er ins Wasser getaumelt war. Einer der Spieler! War Rax dort? Wahrscheinlich, antwortete sein unmagischer Geist. Wer hatte Rax bei sich? Er schloss die Menschen einen nach dem anderen aus, bis nur noch der Mann mit den goldenen Augen und Gaithnard übrig blieben. Lethe überlegte kurz und kam zu dem Schluss, dass es der Mann mit den goldenen Augen sein musste. Er untersagte sich, über die Folgen nachzudenken. Es musste sein. Und danach … Pit. Er hätte noch stundenlang abwägen und erneut überlegen können, doch er gab der Zeit den Befehl, sich wieder zu bewegen.
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Die ineinander verschlungenen Körper des Herrn der Tiefe und des Düsteren des Nachtmeers taumelten abwärts. Sie schlugen auf der Flanke des Dunkelgipfels auf. Schmerzen umnebelten Lethes Gedanken. Er ließ sich vom Düsteren mit in die Tiefe ziehen, veränderte jedoch kurz die Richtung, in die sie fielen. Ohne Pits Hilfe und ohne ihrer beider gebündelte Kraft wäre es nie gelungen. Zunächst schien der Düstere dies nicht zu bemerken. Als er es dann doch erkannte, war es bereits zu spät. Die Menschen und die Nibuüm auf dem Platz suchten schnell das Weite, als die beiden Monster auf sie zugeschossen kamen. Nur der Dulce blieb, wo er stand. Als die beiden Körper dicht über ihm waren, zog er mit einer geschmeidigen Bewegung Rax hervor. Das Schwert glühte dermaßen grell, dass alle Menschen und die Nibuüm die Gesichter abwenden mussten. Aernold aus Sey Hirin, der Dulce von Yle em Avrilux, streckte die Waffe, die im Vergleich zu dem monströsen Geschöpf, das sich auf ihn stürzte, wie ein kleiner Splitter wirkte, mit beiden Händen in die Luft und rief dabei drei Wörter, die die Welt um ihn herum beben ließen. »Reimme en Vlochse!« Jeder Muskel, jede Faser des Herrn der Tiefe, jedes Fitzelchen Kraft von Lethe und Pit zerrten an dem riesigen Körper des Düsteren. Als dies immer noch nicht auszureichen schien, rief Lethe ohne zu wissen, warum: »Kaharr!« Das Schwert bohrte sich in den Leib der Schlange, direkt bevor die beiden ineinander verkeilten Monster mit einem ungeheuren Aufprall auf Dunkel und den Dulce hinunterstürzten. Ein Schrei donnerte über Dunkel hinweg, zerriss die Trommelfelle der Menschen; Nibuüm und verlor sich in den Weiten des Nachtmeers. Beide Ungeheuer überlebten den Aufprall. Der Herr der Tiefe zerrte den Düsteren des Nachtmeers von der Stelle weg, wo der Dulce gestanden hatte. Im nächsten Moment sprang der Düstere auf und versuchte in wilder Panik zu entkommen. Mit unbeholfen pumpenden Schlägen seiner teilweise zerfetzten Flügel gelang es ihm, die Brandung zu erreichen. Doch mit einer blitzschnellen Bewegung bohrte der Herr der Tiefe seinen Schwanz in den sich windenden Schlangenleib des Düste387
ren. Als dieser sich verzweifelt mühte, über die Brandung hinauszukommen, begann der Herr der Tiefe wutschnaubend zu brüllen, stieß seinen Stachel noch tiefer in den Körper des Düsteren und zog ihn gnadenlos mit unter Wasser.
Lethe hielt die Zeit an. Er war völlig erschöpft und wusste, dass er nur noch eine kurze Weile durchstehen würde. »Pit«, brummte er, offensichtlich nicht gewillt, auch nur eine Sekunde zu verschenken. »Wer ist deine Mutter?« »Ich weiß es nicht.« Pits Stimme bebte. »Kann es sein …« Lethe hatte fragen wollen, ob Pits Mutter vielleicht eine Nibuüm gewesen sei. In diesem Moment übergab der erste Nibuüm ihm schweigend eine Erinnerung. Lethe zögerte, holte geistig tief Luft. »Dein Vater!«, stieß er hervor. »Welm! Pit, du bist meine Halbschwester!« Pit stieß einen Schrei aus. »Die letzte Voraussetzung!«, rief sie aufgeregt. »Dies ist die letzte Voraussetzung! Du hast noch eine Chance, Lethe!« Und dann geschah etwas, das sie nie erwartet hätte. Während der Herr der Tiefe den Düsteren mit unter Wasser zog, wurde ihr Geist von den Splittern der Kraft gewaltsam gelöst. Alles in ihr versuchte, sich daran festzuklammern, doch sie wurde zu ihrem Körper zurückgeschickt, zu Füßen des Dunkelgipfels. »Nein!«, rief sie verzweifelt. »Lethe! Komm mit!« Doch Lethe stellte sich taub. Mit Hilfe der Kraft war es ihm gelungen, den Düsteren in sein Element, sein Herrschaftsgebiet zu locken – jetzt würde er nicht mehr loslassen. Mitleidlos zog er den Körper, der rasch schwächer wurde, mit in die Tiefe. Der Düstere röchelte, versuchte zu atmen, doch er bekam keine Luft. Mit letzter Kraft trat der Herr der Tiefe, vom Paladinmeister Lethe gelenkt, die lange Rückreise zu jenem Ort an der Grenze zwischen Weiß388
meer und Schwarzwasser an, wo das schlummernde Labyrinth wartete. Er machte sich auf den Weg zu seiner letzten Chance auf Rettung.
Asayinda verlor die Verbindung zum Herrn der Tiefe, als sich der Geist des Düsteren von seinem schwarzen Kern löste und tausendfach in der trägen Meeresdünung verteilte. Sie schwebte über dem Wasser, ohne zu wissen, wo genau sie sich gerade befand. Doch irgendetwas in ihrem Innern, ein Instinkt wie der einer Kalktaube, ließ sie zielstrebig nach Norden reisen. Einige Tage später erreichte sie ihren Körper. Er lag aufgebahrt in einem kleinen Haus in den Hügeln einer Insel, die sie nicht wiedererkannte. Sie sah den Volut in ihrer verkrampften linken Hand. Es dauerte Wochen, bis sie sich vollständig erholt hatte. Fünf Nibuüm pflegten sie. Als sie wieder laufen und für sich selbst sorgen konnte, nahmen die Nibuüm wortlos von ihr Abschied und verschwanden in Richtung der Berge. So begann das lange, einsame Leben, das ihr von Gall vorausgesagt worden war. Nur das unbestreitbare Vorhandensein des Volut hinderte Asayinda daran, die Ereignisse aus der Zeit des Neuntausendjahreszyklus als einen bösen Traum zu betrachten.
Von Aernold aus Sey Hirin, dem Dulce von Yle em Avrilux, wurde nichts mehr gefunden. Falls er vom Düsteren zerschmettert worden war, so waren an der Stelle, wo er dem Düsteren den Stich versetzt hatte, jedenfalls keinerlei Spuren von ihm zurückgeblieben. Nur Rax, das geheimnisvolle Schwert, lag dort lange Zeit als stiller Zeuge, bis einer der Nibuüm sich seiner erbarmte.
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46 Die letzte Reise »Hier, in dem Schatten aus Brokat, kommt es zum letzten Mal daher, in Grün und Grau, in glänzendem Ornat, des ält'sten Volkes Glorie und Ehr. Hier, im letzten Wald der Träume, wo alles nur noch filigraner Rest, wo Ostermanouths Geist durchschweift die Bäume, bis er sich nicht mehr fassen lässt. Hier sind sie noch, des ält'sten Volkes Wesen. Ihr Schatten gleitet schnell und nimmer rastet, doch blick ich hin, bin wieselflink gewesen, dann hat mein Auge nur das Nichts getastet. Hier sind sie noch, die Lieder unsrer Ewigkeit, die Stimmen klar und wie der Morgen rein. Hier geistert noch und schwebt das Echo einer andern Zeit. Doch eilt, denn bald schon werd ich nur noch Schatten sein. Hier schweigt die Zeit, die Nacht nicht dauert, hier hegt, das Leben sich im langen Licht. Doch in dem Rücken dieses süßen Zauderns lauert das Ungeheuer, das den Zeitenstrom bricht. Hier schlummert im Schatten aus Brokat, 390
bis niemand mehr sich um sie schert, die Glorie des Volkes samt ihrem Rat, den Mensch entbehrt und auch begehrt.« – Aus ›Neun Völker, neun Gedichte‹, von dem Asketen und Dichter N'hammat Oul aus Speet Pits Körper bewegte sich. Ihre Augen öffneten sich; sie stützte sich auf einen Ellenbogen und schaute sich verwirrt um. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht. Llanfereit stieß einen Schrei aus und lief zu ihr. »Lethe«, stammelte Pit. »Ich dachte … Ich hatte gehofft, dass Lethe mit Hilfe der Kraft und des Steins …« »Das hatte ich auch gehofft«, sagte Llanfereit. Pit versuchte ihre Tränen zurückzuhalten, jedoch vergeblich. Llanfereit legte ihr einen Arm um die Schulter. »Vielleicht ist es besser so«, flüsterte sie heiser und rieb sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. Llanfereits Zeigefinger tupfte mit einer zärtlichen Gebärde eine letzte Träne von ihrer Wange. »Vielleicht ist es wirklich besser so«, wiederholte er und drückte Pit an sich. »Er hat schon so unendlich viel mitgemacht. Die Schmerzen reichen für ein ganzes Leben.« Pit senkte erneut den Kopf. Sie hatte keine Tränen mehr, doch hinter ihrem Blick verbarg sich eine Leere, die den gesamten Horizont ihres Lebens füllte. Aysilendil trat zu ihnen. Die anderen hielten einen kleinen Abstand. »Versteht Ihr, was geschehen ist?«, fragte Aysilendil Pit. »Versteht Ihr, warum es so abgelaufen ist?« Pit schüttelte den Kopf. »Kommt mit«, sagte Aysilendil und führte sie mit leisem Nachdruck in Richtung des Waldes. Sie gingen einen langen Pfad entlang, der zu einer seltsam anmutenden kahlen Stelle führte, die wiederum das Zentrum einer freien Fläche bildete. 391
Aysilendil holte ein paar Stücke Pergament unter ihrem Mantel hervor. »Vielleicht versteht Ihr ein wenig mehr, wenn Ihr das hier gelesen habt. Es ist so etwas wie das Testament eines alten Volkes. Ich habe es geschrieben.« Pit schaute sie durch einen Tränenschleier hindurch an. Für einen Moment vergaß sie ihre Trauer um Lethe, nahm die Pergamentblätter entgegen und begann zu lesen. »Dies sind die letzten Worte meines Volkes. Dies ist auch die letzte Stunde der Elfen. Alles ist vorbereitet. Eigentlich waren wir schon vor einigen Wochen für die Reise bereit, benötigten dann aber doch noch etwas Zeit. Zeit zum Nachdenken. Zeit zum Schweigen und zum Eintauchen in die Tiefe unseres Herzens. Ja, wir benötigten Zeit. Zeit, die uns mit sanftem Flügelschlag flieht wie ein Schwarm Nachtschwalben am Saum des neuen Tages. Und so werden auch wir uns in andere Dimensionen begeben, wie eine Schar Schwalben, schwebend über dem Saum der Welt, auf dem Weg zu den Sternen. Unhörbar und ungesehen werden wir diese Welt von unserer Anwesenheit befreien. Und so fügen wir uns den Gesetzen aller Welten. Lange, sehr lange waren wir überzeugt, dass es zwar einen Anfang gab, mit Ostermanouth, unserem Urbaum, doch dass dem kein Ende gegenübersteht. Wir glaubten, die geheime Nische in der Zeit entdeckt, das Mysterium des ewigen Lebens berührt zu haben. Wir haben uns getäuscht. Unser Leben findet ein Ende. Selbst unser Aufenthalt in der Zwischenzeit unseres Zufluchtsortes Jen Aefendil yn Sereth, dem Paradies, das einst Yandath genannt wurde, dem Ort, zu dem die Ältesten unseres Volkes sich begaben, hat ein Ende. Über Jahrtausende hinweg hielten wir diesen ätherischen Ort für unbegrenzt, für eine Furche in Zeit und Raum. Wir glaubten, allen Jahrtausenden trotzen zu können, doch wir lagen falsch damit. Nein, für uns ist kein Platz mehr in diesem Zeitalter, in dieser Welt. Unsere Magie, die keine Magie ist, bewirkt nichts mehr, nicht einmal 392
in Yandath. Unsere Fyogre Neri schien nur noch imstande zu sein, die menschliche Magie anzufangen. Eine entscheidende Fähigkeit, wie sich letztendlich erweisen wird. Jedenfalls dann, wenn wir dem großen Magier Glauben schenken dürfen, der das Gewebe der Großen Geschichte entworfen hat. Doch auch diese Kraft wird dereinst diese Welt verlassen. Unser Wesen ist erfüllt von unheilbarer Wehmut. Selbst die Schatten, in denen wir uns so gerne niederließen, wenn ein anderes Volk sich sehen ließ, sind uns genommen. Traurigkeit so tief wie das Nachtmeer hat sich in den letzten Jahrtausenden wie eine unvermeidliche Nacht in unser Herz, unser Blut, unsere Gebeine geschlichen. Wird mein Volk deshalb nur von düsteren Gedanken heimgesucht? Nein, denn Traurigkeit verbindet sich in unserem Herzen mit einer kleinen Spur von Stolz. Schließlich sind wir die Letzten unseres Volkes, die Letzten sämtlicher Erzvölker, abgesehen vielleicht vom Baum aus dem Baum. Mit weinendem Herzen, doch erhobenen Hauptes verlassen wir diese Welt. Ich weiß, einige von uns bleiben zurück. Sie werden sich, unter Mithilfe des großen Magiers, mit den Menschenwesen vermischen, die die Große Geschichte durch die Zeit tragen werden. Eine Aufgabe voller Ruhm und Ehre, zugleich aber auch eine schwierige Aufgabe, die ihnen abverlangt, ihre Gefühle außer Acht zu lassen. Sie werden die Nibuüm genannt werden, was in der ältesten Sprache so viel wie Träger der Zeit bedeutet. Soll ich sie beneiden? Wer kann das wissen? Vielleicht beneiden sie uns, denn sie tragen die Erinnerung an die Größe unseres Volkes in sich. Aus meiner heutigen Sicht wird dies sowohl ein süßer Trost als auch eine schwere Last sein. Wie auch immer, sie werden unsere Magie, die keine Magie ist, unsere Unmagie über die engen Pfade des Zyklus zu den schier unzugänglichen Bergketten der Zeit tragen, von Zauberlosem zu Zauberlosem. Schließlich ist dies die einzige Möglichkeit, Ailaedmenderii zu widerstehen.« Pit hob den Kopf. In ihren Augen perlten Tränen. »Die Nibuüm«, murmelte sie ein wenig überrascht. Sie ließ die Schriftrolle sinken. »Wieder fügen sich Teile in das Gesamtbild.« 393
Aysilendil faltete die Hände und senkte den Kopf; ihre Augen waren bleicher als zuvor, und sie starrte zu Boden. Pit nahm die Schriftrolle wieder entschlossen an sich und las weiter. »Der große Magier wird dafür Sorge tragen, dass auch diese Worte über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg erhalten bleiben, damit sie das Volk einer fernen Zukunft erreichen können. Wer weiß, vielleicht vermitteln meine Gedanken, die dieser Schriftrolle anvertraut sind, diesen Wesen der Zukunft etwas Nützliches. Und sei es nur, dass Ewigkeit sowohl für uns als auch für sie ein unerreichbares Paradies darstellt, und dass in diesem Gedanken Schmerz ebenso wie Glück eingeschlossen ist. Nach unserem letzten Flug verlangen unsere übermüdeten Geister nach wohltätiger Ruhe. Nach ewiger Ruhe. Deshalb verlassen wir diese Länder. Unsere Gedanken, unsere Erinnerungen werden uns begleiten. Doch unsere Körper werden hier ruhen, um den Urbaum herum, dessen Name sich niemals ändert: Ostermanouth. Lebe wohl, Welt unserer Vorväter. Mein Volk tritt seine letzte Reise an. Wir verwehen mit dem Wind. Woöreth asusand.«
Hier endete die Schrift. Pit schaute auf. Tränen rannen ihr über die Wangen. Mit erstickter Stimme fragte sie: »Wo befindet sich Ostermanouth denn?« Aysilendil wich ihrem Blick aus, zeigte auf die Mitte des Kreises und flüsterte: »Ach, Ewigkeit ist ein unerreichbares Paradies, selbst für ein Geschöpf wie diesen Urbaum.« Pit schaute durch die Tränen hindurch auf die Stelle, auf die Aysilendil wies. »Dort, an jenem heiligen Ort, stand einst Ostermanouth«, sagte Aysilendil in einer Mischung aus Trauer und angemessener Ehrfurcht. »Jetzt wollen nicht einmal mehr Dornenbüsche dort wachsen.« 394
Sie biss sich auf die Unterlippe und setzte wie einen tiefen Seufzer hinzu: »Alles hat einmal ein Ende.« Eine lange Stille trat ein. »Herrin …«, begann Pit. Die Herrin, die blicklos in die Ferne gestarrt hatte, drehte den Kopf. »Herrin, seid Ihr eine Langlebende?« Aysilendil nickte. »Dann habt Ihr auch andere Namen?«, fragte Pit. Aysilendil schien zu erstarren. »Darf ich versuchen, einige der Namen zu erraten?« Pit ließ nicht locker. Die Herrin starrte unbewegt vor sich hin. Pit flüsterte: »Oder darf ich Euch Mutter nennen?« Aysilendil stand noch immer regungslos neben Pit, doch in ihren Augen schimmerten jetzt Tränen. »Nenn mich Mutter«, flüsterte sie, »doch wisse, dass ich in wenigen Augenblicken fort muss.« Pit drehte sich zu ihr um und fiel ihr um den Hals. »Ich kann damit leben«, sagte sie. »So ist die Legende nun einmal.« Und so standen sie dort, während Aysilendil ihr Leben beendete. Pit spürte, wie die Herrin, ihre Mutter, sich langsam am Rand der Welt ausstreckte, als würde sie sich schlafen legen. Sie schloss die Augen, wiegte sich sanft in den Wellenbewegungen des Lebens. Dann war sie verschwunden. Wenige Sekunden später war Pit allein. Sie hatte sich noch nie so einsam gefühlt.
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47 Scharfblicks Gelöbnis »Stundenlang waren sie nebeneinanderher geklettert. Der Pass hatte sich die ganze Zeit wie eine unerreichbare Festung über ihnen erhoben. Der Pfad dorthinauf war steil und tückisch, denn auf den vielen losen Steinen rutschten ihre Füße immer wieder aus. Kurz bevor sie und Schade den Pass erreichten, hielt die Herrin der Weisheit und Eingebung an. ›Wir waren jahrelang unterwegs, Schade.‹ Schade schaute erschrocken auf, denn die Stimme der Herrin klang betrübt, als stünde diese kurz davor, sich zu verabschieden. ›Hinter dem Pass liegt dein Ziel, die Quelle. Hier trennen sich unsere Wege. Du kletterst weiter. Ich gehe zurück, woher ich gekommen bin.‹ Es stimmte also wirklich! Schade schaute ihre Lehrmeisterin durch einen Tränenschleier hindurch hilflos an. Sie suchte nach Worten, doch diese flatterten ihr davon wie aufgescheuchte Vögel. ›Sag nichts‹, meinte die Herrin. ›Ein Abschied muss kurz sein, sonst brennen die Wunden sich zu tief in unsere Erinnerungen. Ich gehe jetzt.‹ Sie drehte sich um und begann mit dem Abstieg. ›Herrin.‹ Schade hatte nur leise gerufen, dennoch wurde ihr Flüstern gehört. Die Herrin drehte sich um. Ihr Mund war nur noch ein schnurgerader Strich, doch Schade hörte durch ihre Gedanken hindurch eine Stimme: ›Lass dir dies ein Trost sein, Schade: Wir bleiben in Verbindung. Erst mit dem Tag meines Hinscheidens darfst du deine Gedanken von den meinen trennen.‹ Über Schades Wangen strömten Tränen. ›Nimm dein Lebern selbst in die Hand, Schade. Setze die von dir erarbeiteten Lehren, die du aus meinen Worten gezogen hast, in die Praxis 396
um. Mein letzter Hinweis ist, dass das Leben zu einem großen Teil aus Verlusten und Abschiednehmen besteht.‹ Ein langer, leiser Seufzer durchwehte Schades Geist. ›Denke an mich, wenn du Raum dafür hast, Schade. Schaffe aber auch Raum für andere. Und schaffe vor allem genügend Raum für dich selbst.‹ Endlich fand Schade Worte. Ihre Stimme zitterte. ›Herrin, eine Frage.‹ Irgendetwas in der Haltung der Herrin vermittelte Schade, dass sie wusste, wie die Frage lauten würde, und dass sie diese eigentlich nicht hören wollte. Doch die Frage hatte Schade schon so oft auf der Zunge gelegen, dass sie sich ihrer in diesem allerletzten Moment nicht mehr erwehren konnte. ›Herrin, meine Mutter … Ist sie … Seid Ihr …‹ Die Herrin der Weisheit und Eingebung drehte sich brüsk um und setzte ihren Abstieg fort. Schade starrte ihr hinterher; sie fühlte sich plötzlich unendlich leer. Als die Herrin außer Sichtweite war, tauchte deren Stimme erneut in dem Wirrwarr von Schades Gedankenfetzen auf. ›Schade, meine Tochter.‹ Dann verstummte die Stimme – und mit der Stimme verschwand auch die Herrin der Weisheit und Intuition aus Schades Gedanken. Schade wollte, konnte nicht verstehen, warum sie erst hatte erfahren dürfen, dass die Herrin ihre Mutter war, nachdem diese sie verlassen hatte. Sie weinte einen halben Tag und eine Nacht und schlief erst bei Morgengrauen ein, mitten auf dem kleinen Pfad. Als sie am späten Vormittag erwachte, hatte ihr Geist sich beruhigt. Sie erhob sich und machte sich auf den Weg zum Pass, der Schwelle ihres neuen Lebens.« – Aus ›Eine Wallfahrt in die Seele‹, von Edelfrau Asrath aus Dunkel Siebzig Jahre später. Gehandyr, der Kaiseradler, den Lethe als Scharfblick gekannt hat397
te, hing zum hundertsten Male mit gefalteten Flügeln über dem südlichen Weißmeer. Die Westküste von Lan-Gyt leuchtete in der Morgensonne. Hinter den glitzernden Klippen lagen die Schluchten, wie der Spieler wusste. Er wusste auch, dass er sich genau westlich von Welden Taylerch befand. Hier, in dem Abgrund unter seinem Adlerkörper, schlummerte der Herr der Tiefe in seinem Labyrinth, und mit ihm schlief Lethe seinen langen Schlaf. Gehandyr hatte anfangs nicht glauben wollen, dass sich der Herr der Tiefe hier aufhielt und nicht an der Küste von Dunkel. Wenngleich ein mächtiger Magier in ihm wohnte, war der Kaiseradler selbst an die Naturgesetze gebunden. Zudem musste der eigene Wille des Adlers respektiert werden, und er hatte sich ein um das andere Mal geweigert, dem Magier zu gehorchen, sodass dieser all seine Überredungskunst eingesetzt hatte, um den Adler davon zu überzeugen, dass dies oder das getan werden musste. Doch mit einem Geschöpf, das keine menschlichen Gefühle kannte und nur in Kategorien von Eigennutz oder Nutzlosigkeit dachte – an das Beschaffen von Nahrung und dem Verteidigen des eigenen Territoriums –, war schlecht diskutieren. »Schließlich war es deine Geiststimme, deine Gedankensprache, die dem Unmagier gegenüber das Gelöbnis formuliert hat«, hatte der Zauberer gegen Gehandyrs Weigerung ins Feld geführt. »Meine Stimme war nur ein Werkzeug deiner Gedanken«, wiederholte das Tier stur. Was immer der Magier auch anführte und sich an neuen Argumenten einfallen ließ, Gehandyr blieb bei seiner Weigerung. An diesem Morgen spürte der Zauberer, dass Gehandyr milde gestimmt war. Mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen und mit allen Tricks und Schlichen, die er im Laufe eines sehr langen Lebens gelernt hatte, unternahm er seinen Angriff auf den Geist des Tieres. Welches Wort, welche Überlegung letztendlich den Ausschlag gegeben hatte, sollte der Zauberer nie in Erfahrung bringen, doch Gehandyr stimmte zu. »Wir werden tun, was getan werden muss, Mensch aus Ulvor.« Gehandyr sprach in Begriffen, die der alte Zauberer wie gewöhnlich in 398
seinem Geist erst in Worte umformen musste. »Heißt das, deine Pflicht findet damit ein Ende?« Der Zauberer bestätigte dies. »Es bedeutet, dass mein letzter Tag auf dieser Welt angebrochen ist, Gehandyr. Eine neue Zeit bricht an, und die kommt ganz gut ohne meine … unsere Unterstützung aus. Meine Aufgaben und die etlicher anderer Langlebenden wurden zu einem guten Ende geführt. Ich bin zufrieden, aber auch sehr müde. Es ist genug. Lass uns tun, was getan werden muss.« »Wenn ich dich richtig verstanden habe, muss ich zugeben, dass auch ich es nicht bedauern würde, sollte ich bei diesem Unternehmen mein Leben lassen. Die Tat wird auf jeden Fall von erheblichem Nutzen für die Menschenwelt sein.« Die Antwort des Vogels überraschte den Zauberer. Schließlich waren es eher menschliche Überlegungen als die eines Tieres. »Ich bin stolz auf dich, Gehandyr, Scharfblick. Doch lass uns lieber davon ausgehen, dass du es trotz allem überlebst.« »Und mich erfüllt es mit Stolz, dass du einen Teil meines Lebens ausgemacht hast«, erwiderte Gehandyr. Der Zauberer war gerührt. Was der Adler zeigte, grenzte bereits an menschliche Gefühle. Offenkundig hatten seine Gedankengänge einen größeren Einfluss auf den Vogel ausgeübt, als er für möglich gehalten hatte. Das nahe Ende machte ihm keine Angst. Ihn verlangte es bereits seit geraumer Zeit nach Ruhe. Gehandyr schraubte sich höher und höher. Dann wendete er mit einigen sanften Flügelschlägen, legte die Schwingen eng an den Körper und stürzte sich wie ein graues Schwert dem Meer entgegen. Kurz bevor er die Wasseroberfläche durchstieß, mitten hinein in die erschreckende Kälte der winterlichen See, ließ er seinen hohen Schrei ertönen: »Ork!«
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Der Körper des Herrn der Tiefe ruhte auf dem Grund des Meeres. Ob er tot war oder in tiefem Schlaf lag, war nicht auszumachen. Auf jeden Fall bedeckte er vollständig, was vom Düsteren des Nachtmeers übrig geblieben war – und das wurde mit jedem Tag weniger. Im Labyrinth herrschte die tödliche Stille des völligen Schlafes. Von Zeit zu Zeit berührte einer der Geister die Oberfläche des Bewusstseins, nahm kurz die lebenden Gänge und die wogende Mauer aus Jade wahr und zog sich wieder beruhigt in seinen Geistschlaf zurück. Bisweilen glitt der Schatten eines großen Plattfisches mit leeren Augen dicht über das Labyrinth hinweg, doch auch das verursachte keinerlei Veränderung. Das ferne Geräusch des Einschlags, welches das Gehör des Labyrinths erst viel später erreichte, bewirkte, dass zumindest ein Geist langsam aus dem Schlaf in einen Zustand des Halbbewusstseins taumelte, als wüsste irgendetwas im Zentrum dieses vor sich hin vegetierenden Wesens, dass ein besonderes Ereignis bevorstand. Die gerade erst in Gang gekommenen Gedanken dieses Geistes machten unvermittelt eine eigenartige Rückwärtsbewegung und betrachteten eine Erinnerung an die Zukunft. Das Wesen sah sich selbst neben einem Thron aus Knochen oder Gebeinen stehen. Eine Frau legte ihre Hand auf seinen Arm. Sie hob den Kopf und lächelte ihn an. Ein schmerzliches Gefühl sorgte dafür, dass er noch wacher wurde. Seine Gedanken, an den Rändern umschleiert, gewannen an Schärfe. Erinnerungen an lange Träume von einem alten und edlen Volk drängten sich in seine Welt. Ein seltsames Geräusch erklang, als würde ein Fisch mit unglaublicher Geschwindigkeit durchs Wasser schießen. Das Geräusch kam näher. Augenblicke später prallte irgendetwas mit erschreckender Wucht auf ihn. Ein wildes Wirbeln, ein vom Wasser gedämpfter Schrei. Die unkontrollierten Bewegungen anderer Geister, brutal aus ihrem Schlaf gerissen. Dann wurde er von einem anderen Geist aufgesogen und entführt, fort aus der Monotonie seiner beruhigenden grünen Welt.
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Gehandyr schaffte es bis zur Oberfläche, zur Verwunderung des Zauberers und zu seinem eigenen Erstaunen, denn all seine Instinkte, die wegen der Schmerzen, der Panik, der Kälte und des Mangels an Atemluft Notsignale ausgesandt hatten, waren bereits verstummt. Das Tier bediente sich zunächst seiner eigenen Reserven. Als diese auf halbem Wege seines Aufstiegs zur Wasseroberfläche restlos aufgebraucht waren, verlieh der Zauberer ihm einen Schild Allseitig Geschlossener Abwehr, der es ihm ermöglichte, bis zum Ende durchzuhalten. Dennoch reichte es nicht. Völlig erschöpft und bis auf die Knochen ausgekühlt, ließ er Lethes Geist dicht über dem Wasser los. Dann geriet sein verkrampfter Flügelschlag ins Stocken. Er und der Zauberer landeten erneut im Wasser. Der Zauberer machte sich ein Bild von Gehandyrs Zustand, kam zu dem Schluss, dass es keine Rettung mehr gab, und löste seine alten Gedanken voller Wehmut von dem Adler. Die Gedanken des Zauberers wurden von einem kalten Ostwind fortgetragen und verwehten über dem Weißmeer. Noch einmal erklang ein heiseres, schwaches »Ork«, dann schlossen sich die Wellen über dem einst so mächtigen Tier, das manche als Gehandyr, andere als Scharfblick gekannt hatten.
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48 Dunkel (2) »Ich sehe sie jede Nacht zum Strand gehen. Sie wirkt leer, grau. Sie braucht keinen Namen, denn sie existiert kaum noch. Sie zaudert am Saum von Land und Wasser, sucht wieder und wieder den Horizont ab, als erwarte sie von dort Besuch. Doch der Horizont hält ungerührt Abstand und missachtet die kleine Frau.« »Die Maske der Nacht verbirgt das wahre Leben, so berichtet uns die Stimme. Und warum sollten wir diese nahezu heiligen Gedanken anzweifeln? Was sollte uns der Schleier des Tages schließlich auch anderes bescheren als das Höllenfeuer des Schmerzes, der sich seinen Weg durch die Haut frisst, um anschließend zu wuchern wie das Leben selbst? Nein, der Tod und die Stimme sind unsere Kumpanen, unser gesamtes Dasein hindurch. Die Nacht, die Nacht, je öfter wir diesem Gedanken Form verleihen durch das Ungesprochene Wort, desto spürbarer wird die Heiligkeit unseres Status. Wir sind die Nacht, denn ohne uns nimmt die heilige Düsternis nichts wahr. Ohne uns kein süßer Gestank nach Verwesung. Die Nacht gehört uns, wir sind die Nacht. In uns und um uns herum ist die dröhnende Stille der Tiefe, die stillstehende Zeit, die sich im Herzen der Nacht erst zeigt.« – Zwei Fragmente aus ›Die Visionen des Geistmeisters Damphier aus Demster‹ 402
Der Körper lag nach siebzig Jahren immer noch an derselben Stelle, neben der Hütte an der Nordküste von Dunkel, unangetastet von den Elementen, als könnte Lethe jeden Moment erwachen. Die Nibuüm, die davon überzeugt gewesen waren, dass Lethe nie mehr zurückkehren würde, hatten den Körper mitnehmen wollen, doch Pit hatte darauf bestanden, ihn an Ort und Stelle zu lassen. »Wegen der winzigen Chance«, hatte sie mit erstickter Stimme geflüstert. Die Nibuüm hatten den Wunsch respektiert. Pit hatte beschlossen, ihren Lehrmeister zu verlassen und auf Dunkel zu leben. Ihre Trauer um Lethe überwog den Schmerz beim Abschied von Llanfereit. »Die einzige Alternative zu einem Leben mit Lethe ist die Einsamkeit«, hatte sie Llanfereit erklärt. Dieser hatte verständnisvoll genickt, doch in seinen Augen standen die Tränen. Pit hatte auf Wering ihre Siebensachen gepackt und war mit dem Kühnen Furcher der Neun Meere nach Dunkel gesegelt. Kapitän Wigbolt hatte darauf bestanden, sie persönlich dorthin zu bringen. Auf Dunkel bezog sie eine kleine Hütte. Im Windschatten der Dünen, auf dem fruchtbaren Geestboden, baute sie Satzbeeren an, in ihrem großen Garten Kohl, anderes Gemüse und Kräuter. Sie hielt sich ein paar Hühner und eine Ziege. Etwas weiter landeinwärts gab es eine kleine Quelle, von wo sie ihr Wasser bezog. Neben der Pflege des Gartens, dem täglichen Gang zur Quelle und gelegentlichen Wanderungen den Strand entlang beschäftigte sie sich hauptsächlich damit, Briefe an Llanfereit, Matei und die anderen Reisegefährten zu schreiben. Sie alle schrieben regelmäßig zurück. Manchmal besuchte sie auch einer von ihnen. Dann lebte sie ein wenig auf, vor allem, wenn alte Erinnerungen aufgefrischt wurden. Doch schon nach wenigen Tagen verfiel sie in Schweigen, und ihr Besucher ließ sie dann sehr bald allein, weil er sich außerstande sah, sie aufzuheitern. Inzwischen war Gaithnard friedlich entschlafen, in dem kleinen Häuschen am Stadtrand von Haramat, wo er lange Zeit zusammen mit seiner Halbmutter Adwyne gewohnt hatte. Er starb in hohem Al403
ter und ohne Angst haben zu müssen, in einem letzten Gefecht von einem Kurmer Schwert durchbohrt zu werden. Dotar lebte zurückgezogen in einem Flügel des Palasts Kryst Valdare, wo er sich mit dem Verfassen wissenschaftlicher Abhandlungen beschäftigte. Matei hatte ihn mit den Geheimnissen eines längeren Lebens vertraut gemacht. In seinem letzten Brief hatte der Regulator mitgeteilt, er bringe gerade seine Erinnerungen zu Papier. Llanfereit verbrachte seine Tage auf Wering, immer auf der Suche nach Hinweisen auf neue Bedrohungen für das Reich. Er schrieb Pit lange Briefe voller Vermutungen und Thesen darüber, mit Randbemerkungen, aus denen Zweifel und Unsicherheit sprachen. »… denn ich vermisse so sehr deine Intuition, meine liebe Pit«, schrieb er. Matei führte die Hochmeister auf Loh. Das erforderte großen Zeitaufwand; dennoch besuchte er Pit noch am häufigsten. Dann holte er sich in wichtigen Angelegenheit Rat von ihr, denn ihr Verstand arbeitete immer noch messerscharf, und oft ging sie ein Problem ganz unkonventionell an und schlug dabei überraschende Lösungen vor. Marakis, Desran Xarden Llyn Marakis, besuchte sie nur selten, denn er war zu beschäftigt, doch er schrieb ihr jeden Monat. Keiner der ehemaligen Reisegefährten erwähnte jemals Lethes Namen, denn sie wussten um den Schmerz, den das bei Pit noch immer ausgelöst hätte. Wenn sie nicht gerade Briefe schrieb, arbeitete sie an Aufzeichnungen für eine lange Geschichte, in der Lethe die Hauptrolle spielte. Eigenartig war, dass sie sich nie wirklich einsam fühlte. In den seltenen Momenten, in denen Trauer und ein Anflug von Melancholie sie erfassten, wanderte sie zu Lethes Körper, der trotz der Einflüsse von Wetter und Zeit in seinem alten Zustand geblieben war. Dann streichelte sie sein Haar, flüsterte ihm ihre Trauer zu und stellte sich vor, er könne ihr zuhören. Manchmal saß sie dort die ganze Nacht und versuchte bis zum Morgengrauen, ihre Gedanken wieder in den Griff zu bekommen. Bis jetzt war es ihr jedes Mal gelungen.
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Und jetzt hatte sie das Alter der Starken überschritten. Sie war sich selbst nicht sicher, ob sie vierundachtzig, fünfundachtzig oder vielleicht sogar sechsundachtzig war. Die Reisegefährten, die sie besuchten, hätten es ihr sagen können, doch sie fragte nie danach. Ungefähr um ihren sechzigsten Geburtstag, den sie ja auch nicht genau kannte, war sie mit dem Zählen durcheinander gekommen. So beschloss sie jetzt einfach, dass sie vor einigen Wochen fünfundachtzig geworden sei. Endlich hatte sie den Mut aufgebracht, ihre Aufzeichnungen über die Geschichte des Zauberlosen zu einem Epos auszuarbeiten, das nun seiner Vollendung entgegenging. Das Schreiben hatte sie viel Mühe gekostet, vor allem der letzte Teil. Es war mitten im Winter. Ihre alten, doch immer noch scharfen Augen suchten den Horizont ab, wo dunkelgraue Wolken heftigen Schneefall versprachen. Der Wind hatte sich gelegt. Ungefähr fünf Monate zuvor hatte Marakis sie mit einem überraschenden Besuch beehrt. Seinen Briefen hatte sie entnehmen können, dass er ernsthaft erkrankt gewesen war; daher hatte sie schon gar nicht mehr damit gerechnet, ihn jemals wiederzusehen. Doch eines Morgens stand er unerwartet vor ihr, eine zerbrechliche Gestalt neben einer kleinen Kutsche, gestützt auf einen seiner Söhne. Der Besuch hatte ihr gut getan. Marakis konnte nur wenige Tage bleiben, da die Vorbereitungen für die Parade der Siebenhundert Schritte auf ihn warteten, doch sie hatten über die verschiedensten Dinge geredet. Am zweiten Tag war er plötzlich aufgestanden und zu der Ecke der Hütte gegangen, in der Rax an dem Schornstein lehnte. Mit seiner zerbrechlichen Hand hatte er den Griff umfasst, das Schwert mühsam hochgehoben und mit der Spitze auf Pit gezeigt. »Wisst Ihr, dass dieses Schwert für sich genommen schon eine Legende ist?« Pit hatte genickt. »Matei hat mir davon erzählt. Es besitzt viele Namen. Die Rune …« »Kaharr«, sagte Marakis leise. »Der Quell der Kraft.« 405
Wieder hatte Pit genickt. Es war ihr vorgekommen, als wäre bereits mehr als eine Woche verstrichen, als Marakis am Morgen des dritten Tages seine Abreise ankündigte. »Vielleicht ist es das letzte Mal«, hatte er ihr beim Abschied mit seiner weichen Stimme ins Ohr geflüstert. »Ich bin mir sogar sicher. Ich spüre bereits, wie der Tod durch meine Knochen kriecht, liebe Pit.« Im letzten Moment hatte er sich noch einmal zu ihr umgedreht. »Vollendet Eure Geschichte«, hatte er heiser gesagt. »Vollendet sie und sorgt dafür, dass das Manuskript nach Romander-Stadt kommt. Unsere Nachfahren sollen darüber informiert sein.« »Unsere Nachfahren werden vergessen, wie jedes nachfolgende Geschlecht«, hatte Pit geantwortet, und ihr Blick war zu dem Körper gewandert. »Ich weiß. Deshalb ja gerade«, hatte Marakis geseufzt und war zu dem kleinen Hafen gefahren, fort aus ihrem Leben. Als Pit jetzt daran zurückdachte, legte sich ein wehmütiges Lächeln auf ihre Lippen. Sie stand in der Türöffnung ihrer winzigen Hütte. Mit einer Hand stützte sie sich auf einen Stock, mit der anderen hielt sie sich am Türrahmen fest. Eine unerwartete Brise strich ihr durch die Haare. Sie blinzelte und tat, was sie schon hunderttausend Mal getan hatte: Sie schaute auf Lethes Körper. Mit weit geöffneten Augen starrte er in den Himmel. Ihr Herzschlag drohte auszusetzen. Sie stieß einen heiseren Schrei aus, eilte zu dem Körper und ließ sich auf die Knie fallen, wobei sie die Schmerzen in ihren Muskeln und Knochen vergaß. »Lethe!« Mit beiden Händen fasste sie seinen Kopf. Er war warm! Leben durchströmte ihn! Lethes Augen starrten immer noch unbewegt, mit fast leerem Blick, doch hinter der Netzhaut flackerte ein Anflug von Verwunderung. Die Verwunderung eines Kindes, das zum ersten Mal mit einer Spur von Bewusstsein in die Welt hineinschaut. Pit hatte seit Jahren nicht mehr geweint, doch jetzt kamen ihr die 406
Tränen. Unaufhaltsam flossen sie über ihre Wangen und tropften auf Lethes Gesicht … und dieser schaute Pit langsam an. Auf diesen Moment hatte Pit ein Leben lang gewartet. Sie hatte die Hoffnung nie gänzlich aufgegeben, doch vor allem in den letzten Jahren war diese Hoffnung mehr und mehr geschwunden. Eigentlich konnte sie in den Pupillen, die sie verschwommen anstarrten, nichts lesen. Dennoch begann sie zu reden. Sie erzählte Lethe, was sie erlebt hatte, nachdem sie zum letzten Mal mit Hilfe der Kraft miteinander gesprochen hatten. Als sie sich anders hinsetzte, folgten ihr Lethes Blicke. Ihr war klar, dass Lethe nicht wirklich wusste, wo und wer er war. Doch Pits wiedergekehrte Hoffnung sagte ihr, dass Lethes Bewusstsein wieder einsetzen würde. Vielleicht schon morgen, vielleicht erst in einem Monat, doch sie fühlte, dass sie irgendwann mit ihm würde sprechen können. Nachdem sie eine Stunde auf ihn eingeredet hatte, stand sie plötzlich erschrocken auf. »Oh, Lethe, verzeih mir. Dir muss kalt sein. Ich hole eine Decke.« Seine Blicke folgten ihr, bis sie in der Hütte verschwunden war. Als sie zurückkehrte, erfassten seine Augen wieder ihren Gang.
Pit holte Hilfe aus dem kleinen Dorf. Sie ließ Lethe nach drinnen bringen und in ihr Bett legen. Sie schrieb Briefe mit der glücklichen Nachricht an Matei, Marakis, Dotar und Llanfereit. Einen Tag später erschienen die beiden Zauberer mittels der Magie der Doppelten Zeit in ihrer Hütte. Alle drei glaubten in Lethes Blick so etwas wie Erkennen wahrzunehmen. Die Freude war entsprechend groß. Von Dotar kam ein Brief, in dem auch er sich glücklich über Lethes Erwachen zeigte. Doch er hatte auch schlechte Nachrichten. Marakis schien wieder ernsthaft erkrankt zu sein; es sah so aus, als hätte er nicht mehr lange zu leben. Dotar verbrachte fast Tag und Nacht am Krankenbett des Desran. Wenn er wach war, ergingen sie sich in Erinnerungen an die letzten Tage der farblosen Magie. 407
Lethe erholte sich langsamer, als Pit gehofft hatte. Doch wenn sie in all diesen Jahren etwas gelernt hatte, war es Geduld. Als Erstes verschwand die verzögerte Reaktion, mit der sein Blick Pits Bewegungen folgte. Danach gelang es ihm, den Kopf ein wenig mitzuwenden. Schließlich war er in der Lage, nicht nur viel zu trinken, sondern auch etwas zu essen. Als er die Arme und Hände einigermaßen bewegen konnte, legte er die rechte Hand auf die Brust. »Lethe.« Es war leiser als ein Flüstern, doch für Pit war dieses eine Wort wie ein Sonnenstrahl an einem Himmel, der siebzig Jahre lang bewölkt gewesen war. Schluchzend kniete sie neben Lethe nieder und umarmte ihn. Die ganze Zeit hatte sie befürchtet, dass er sich selbst nicht mehr kennen würde und dass sie, Pit, auf einen leeren, geistlosen Körper eingeredet hatte. Als sie Lethe schließlich losließ, hob dieser seine Hand ein kleines Stück und wies auf sie. »Pit.« Sie umklammerte seine Hand und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Es dauerte Wochen, bis er wieder in der Lage war, ganze Sätze zu formulieren. Doch Pits Geduld kannte keine Grenzen. Sie verstand die Gebärden seiner Hände und Finger, das kaum sichtbare Verziehen der Mundwinkel oder den federleichten Tanz seiner Augenbrauen. Als er an einem Tarvanderabend endlich zu sprechen imstande war, war es immer noch nicht viel mehr als ein Flüstern, das sich in der Stille verlor. Doch Pit genoss die Worte wie süßen Met. Später, als Lethe die Stimmbänder wieder gehorchten, führten sie lange Gespräche. Pit fiel auf, dass Lethe in seiner Wortwahl auf Ausdrücke eines älteren, weisen Mannes zurückgriff. Manchmal bediente er sich erstaunlicher Metaphern und einer Sprache aus längst vergangenen Zeiten. 408
»Mein Körper ist jung, doch mein Geist ist alt«, begann er. Seine Stimme war flach, aber der matte Blick seiner Augen gewann zunehmend an Glut. »Ich habe eine ferne Vergangenheit geschaut, und ich sah Fetzen der Zukunft. Vor meinem Auge spielten sich Szenen ab, die zuvor noch kein Mensch erblickte. Ich sah, wie die Welt sich veränderte. Ich habe Völker emporsteigen und wieder untergehen sehen. Ich habe das älteste Volk in all seiner Pracht, in seinen viele Jahrtausende währenden Glanzzeiten betrachten dürfen. Ich habe seine Unnahbarkeit erlebt, die zu Unrecht als Arroganz ausgelegt wurde. Ich bin in den Städten dieses Volkes umhergestreift, zwischen Gebäuden, die mit den Schatten in den Wäldern verwachsen waren. Ich habe mich an den Kunstwerken ergötzt, den Vogelpalästen und den wunderschönen Orten, wo diese Leute ihre Dörfer errichteten. Ich schaute die Folgen ihrer Fyogre Neri, ihrer Unmagie.« Er machte eine Pause, um zu Atem zu kommen. »Ihre Zivilisation hatte von allen Zivilisationen am wenigsten den Geruch des Zerfalls, und doch fand auch ihr Glanz ein Ende. Es vollzog sich langsam, vergleichbar mit einer in eine königliche Robe gekleideten Fürstin, die gemessenen Schrittes eine sehr lange Treppe hinuntersteigt. Ihre Trauer war ebenso unendlich, wie ihr Niedergang tragisch war.« Er schüttelte den Kopf. »Später werde ich mehr über sie erzählen, denn nie gab es ein edleres Volk als das älteste. Sie waren durchdrungen vom Verlangen nach Wahrhaftigkeit.« Seine Augen verloren ihren starren Blick. Seine Stimme veränderte sich, wurde fester. »Ich habe mehr geweint als gelacht, denn in der Geistwelt war mehr Trauer als Freude.« »Womit die Geistwelt sich kaum von dieser Welt unterscheidet«, murmelte Pit.
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49 Der neue Desran »Lethe macht still, was andrer gebiet'. Lethe zwingt stark das Wort in sein Lied – Lethe macht still wie sterbender Wind. Lethe macht leer, eh Sturm noch beginnt.« – Aus ›Für des Reiches Helden‹, von dem Asketen und Dichter N'hammat Oul aus Speet Es dauerte drei Monate, bis Lethe sich völlig erholt hatte. Er half Pit bei ihren täglichen Verrichtungen. Sie redeten Tag und Nacht. Pit erfuhr viel über Lethes Tage als Herr der Tiefe, als er ein Teil dieses Wesens gewesen war, doch ihr war klar, dass er ihr mindestens ebenso viel verschwieg. Am fünften Tag des frühen Sommermonats Ulten Eqinex erreichte sie per Kalktaube die Nachricht, dass Marakis nun wirklich im Sterben liege. »Ihr müsst kommen«, stand da in der kräftigen Handschrift seines ältesten Sohnes Hiridel. »Ein Schiff ist nach Dunkel unterwegs, um euch abzuholen. Dieser Abschnitt der Großen Legende wartet auf seine Erfüllung.« »Ach ja«, flüsterte Lethe ein wenig überrascht. In Pits Augen leuchteten die Tränen der Freude und Trauer zugleich. 410
»Ich habe dich einige Monate bei mir behalten dürfen«, flüsterte sie, »aber ich dachte mir schon, dass es kommen würde … diese Aufgabe. Deine Aufgabe, Lethe.« »Meine Aufgabe«, griff Lethe das Wort auf. Sein Blick schweifte zum nebligen Horizont. »Meine letzte Aufgabe. Allen Spuren der Großen Legende muss gefolgt werden.« Es klang dumpf, als wäre er alles andere als begeistert. Sie trafen Vorbereitungen für die Reise, überließen Pits Haus, die Tiere und den Garten der Obhut einiger Nachbarn und begaben sich zum kleinen Hafen von Dunkel, als drei Tage später die weißen Segel einer Hochkaravelle am Horizont auftauchten. »Es ist Wigbolts Kühner Furcher«, sagte Lethe, nicht einmal sonderlich überrascht. »Sein Sohn Torveld kommt uns abholen.« Sie segelten über ruhiges Wasser nach Romander-Stadt, wo Marakis' Sohn sie im Palast Kryst Valdare begrüßte. Als sie sich erfrischt hatten, begaben sie sich eilig in Marakis' Schlafgemach. Die bleiche Gestalt mit den eingefallenen Wangen und den schwarzumränderten Augen wurde vom Sohn gestützt, sodass Marakis Lethe und Pit sehen konnte. »Ich habe auf Euch gewartet.« Marakis' Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. »Erzählt mir noch einmal von den Tagen des Zauberlosen, dem wichtigsten Kapitel der Großen Legende.« Lethe nickte und berichtete von dem Tag an, als er auf Loh am Schwind entlanggestreift war. Manchmal übernahm Pit das Wort. Marakis ließ die beiden nicht aus dem fiebrigen Blick seiner Augen. Als Lethe und Pit schwiegen, stöhnte Marakis, schloss die Augen und flüsterte: »Es ist gut, alles findet sein Ende.« Dann seufzte er tief und starb.
Fünf Tage später wurde Marakis begraben. Er hatte als ein guter Desran gegolten, und das zeigte sich nun: Von nah und fern kamen die Menschen nach Romander-Stadt, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Als die Feierlichkeiten beendet waren, verkündete Hiridel vom gro411
ßen Balkon des Palasts, dass nicht er, sondern Lethe die Nachfolge von Marakis antreten werde. »Denn so steht es in der Großen Legende geschrieben. Und wer bin ich, dass ich das Recht hätte, diese Worte in Zweifel zu ziehen?«
Als sie wieder hineingingen, nahm Hiridel Lethe mit in den Thronsaal. »Da sind zwei Leute, die Euch gerne sprechen möchten.« Lethe schaute auf. An einer Seite des Podiums standen Dargill und Janila. Ihm stockte das Herz. Er hatte nie nach Janila zu fragen gewagt, aus Angst, dann hören zu müssen, dass sie nicht mehr lebte. Seine Mutter sah noch genauso alt aus wie damals, als er sie verlassen hatte. Ihre Augen strahlten. »Lethe«, sagte sie leise und lachte wie eine junge Frau. Lethe konnte einen Schrei nicht unterdrücken, eilte zu ihr und fiel ihr um den Hals. »Ja, mein Sohn«, sagte Dargill, während er Lethes Haar streichelte. »Du hast es wohl schon bemerkt: Ich habe beschlossen, Janila, der Frau meiner Träume, deiner Mutter, ein langes Leben zu schenken.« Lethe umarmte Dargill. »Alles hat seinen Preis«, flüsterte Dargill ihm ins Ohr. »Dadurch, dass ich ihr zu einem langen Leben verhelfe, verurteile ich mich letztendlich selbst zur Sterblichkeit.« Erschrocken machte Lethe sich los und trat einen Schritt zurück. »Aber …« Dargill gab ihm ein Zeichen, er solle schweigen. »Wir müssen reden, Sohn.« Er drehte sich zu Hiridel um. »Gibt es hier einen Ort, wo ich meinen Sohn unter vier Augen sprechen kann?« Hiridel nickte und führte sie zu einem Zimmer neben dem Thronsaal, ließ die beiden allein und schloss die Tür. Dargill starrte eine gan412
ze Weile zu Boden; dann schaute er auf. In seinen Augen spiegelten sich Jahrtausende. »Lethe«, begann er. »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es reicht. Ich weiß nicht einmal mehr, wie viele Jahre ich gelebt habe. Vielleicht ist es schwer nachzuvollziehen, aber es verlangt mich nach dem Tod. Einst sagte das Geschöpf, das du als den Dulce, als Randoël gekannt hast: ›Jeder Prozess, der das Leben ausmacht, macht auch den Tod aus.‹ Das Leben hat einen Anfang und ein Ende. Das gilt letztlich auch für mich. Der Faden ist lang genug gedehnt worden.« Lethe schaute seinen Vater an, die Augen fast geschlossen. »Ich verstehe dich«, sagte er. »Ich habe viel gesehen, gehört und erfahren, als ich Teil des Herrn der Tiefe war. Der erste Lethe hatte dasselbe Bedürfnis.« Dargill fasste ihn an der Schulter. »Ich werde ein gewöhnliches Leben führen, ich werde mit deiner Mutter glücklich sein. Doch am Ende dieses Lebens werde ich sterben. Auch Janila hat die siebzig Jahre deiner Abwesenheit lediglich überbrückt, ohne älter zu werden. Ihre Zeit wird in nicht allzu ferner Zukunft kommen. Das bedeutet, dass meine Unsterblichkeit auf jemand anderen übergehen muss.« Lethe riss die Augen auf. Dargill lächelte wehmütig. »Ja, Junge, du bist der Einzige, der für diese Aufgabe geeignet ist. Die Große Legende überdauert die Zeiten, und sie wird vom größten Magier getragen.« »Aber ich bin der Unmagier!«, stieß Lethe atemlos hervor. Seltsamerweise wusste er nicht, ob er sich freuen sollte. Plötzlich entfaltete sich vor seinem geistigen Auge ein Leben voller Ungewissheit und schwerer Aufgaben. Das Gewicht der Zeit lastete auf seinem Geist. Hatte er denn noch nicht genug getan? »Der Unmagier, der ein vielfach größerer Magier ist als jeder Hochmeister oder sonstige Zauberer auf dieser Erde«, widersprach ihm Dargill. »Was heute Unmagie ist, ist morgen die größte und mächtigste Magie, auch wenn sie nicht diesen Namen trägt. Die neue Magie steht einem Geist zu, der die dunklen Seiten kennt und seine Fähigkei413
ten nicht der düsteren Seite leihen will. Nachdem die Nibuüm sich zurückgezogen haben, bist du das einzige Wesen, das dafür geeignet ist.« Lethe starrte seinem Vater lange in die Augen. Der trübsinnige Blick spiegelte sämtliche Jahrtausende wider, die wie im Handumdrehen an ihm vorübergezogen waren. Es war ein Blick, der von einem tief erlebten Wissen berichtete, erfüllt von Trauer und Freude. »Ich habe noch eine weitere Überraschung für dich«, sagte Dargill sanft, während er Lethe die Hand an den Hinterkopf legte und ihn zu sich heranzog, bis ihre Stirnen einander berührten. »Du wirst während deines langen Lebens nicht alleine sein. Deine Halbschwester wird dich auf deiner langen Reise begleiten. Sie darf es aber noch nicht wissen, denn zuerst muss … Platz für sie geschaffen werden. Du wirst wissen, wann es so weit ist. Zusammen werdet ihr die Last tragen, zusammen werdet ihr Glück und Unglück teilen. Aber du bist der Weber, Lethe. Auf dir lastet in den kommenden Jahrhunderten die Große Legende. Sei ein guter Herrscher, hier in Romander-Stadt. Du wirst wissen, wann es an der Zeit ist, das Zepter abzugeben. Du wirst wissen, wann Enerlad der Thron eines anderen ist.« Dargills Blick verlor sich in der Ferne. »Ach, Enerlad. Der Knochenthron steht eigentlich nur sich selbst zu. Vielleicht ist er das einzige Mysterium, das auch ich nicht habe ergründen können. Da ist mehr …« Sein Blick verschwamm für eine Weile; dann schaute er Lethe wieder an, schweigend, mit einem Lächeln, hinter dem sich Wissen und Weisheit verbargen, das aber auch von einer tief in seinem Innern verwurzelten Müdigkeit kündete. Die Tür öffnete sich, und Janila und Pit betraten den Raum. Mit Pit war irgendetwas vor sich gegangen, bemerkte Lethe. Sie schien jünger zu sein. Sie kam auf Lethe zu und fasste ihn an der Hüfte. »Wir machen uns auf den Weg nach Katzinsel«, sagte Janila schließlich. »Wir haben einen der Bauernhöfe gekauft, die beim Angriff des Düsteren beschädigt wurden. Da gibt es eine Menge zu renovieren, aber er befindet sich an einer großartigen Stelle, nicht weit von Wickel entfernt. Torveld bringt uns mit dem Kühnen Furcher dorthin.« 414
Dargill griff nach Lethes Händen und zog ihn zu sich. »Außer uns beiden weiß niemand davon«, flüsterte er ihm ins Ohr. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. »Dabei muss es auch bleiben. Erfülle deine Pflichten, Lethe, und dann verschwinde von der Bühne. Lass selbst Leute wie Dotar und Llanfereit nichts von deiner Aufgabe wissen.« »Aber was umfasst diese Aufgabe?« »Du wirst es wissen, so wie du wusstest, was zu tun war, als es den Düsteren zu besiegen galt.« Dargill glaubte offenbar, genug gesagt zu haben. Er drückte Lethe noch einmal die Hand, küsste Pit auf die Wange, bot Janila seinen Arm und schritt zusammen mit ihr aus dem Raum. Lethe und Pit blieben allein in dem Seitenzimmer zurück. Pit nahm Lethes Hand. Als sie kurz darauf den Thronsaal betraten, war von Lethes Eltern nichts mehr zu sehen. Lethe nickte und wandte sich an Hiridel. »Ich bin bereit«, sagte er.
Im Thronsaal brandete Jubel auf. Lethe ging durch ein Ehrenspalier der Palastgardisten unter Anführung von Kapitän Marten aus Yr Dant. Es gab rührende Wiedersehensszenen. Harkyn, Gesyrah, Wyl und Balmir waren da. Ebenso Dotar, gestützt auf einen Stab aus Waschholz. Und auch Llanfereit. Er schien kein bisschen gealtert zu sein. Während Lethe den Zauberer begrüßte, betrat Matei den Saal. Auch für den neuen ersten Hochmeister des Konklave schien die Zeit stillgestanden zu haben. Er und Lethe fielen sich um den Hals. »Willkommen, Raielf«, flüsterte Lethe dem Hochmeister ins Ohr. Matei zeigte kein Erstaunen. Völlig überraschend hingegen war die Ankunft eines alten Ehepaares. Lethe schätzte die beiden auf etwa fünfundachtzig. Er musste mehrmals hinschauen, bis ihm klar wurde, wen er vor sich hatte. »Myrde! Ervin!« 415
Er drückte auch sie an seine Brust. Dann kam der offizielle Teil: Die Krönung im Sferium. Lethe ging langsam, Schritt für Schritt bis zur Kuppel. Ihm folgten Hiridel und Pit. Dahinter alle Gäste. Lethe zählte seine rituellen Schritte und war nicht einmal überrascht, als er mit genau dem siebenhundertsten Schritt das Sferium betrat. Er erlebte die Krönung wie im Traum. Hiridel verlas eine Botschaft von Marakis, in der er von der Großen Legende sprach, die sich heute erfülle. »Lethe Viiskandir Reye ist der Desran einer neuen Zeit«, las Hiridel vor. »Einer neuen Zeit, deren Wegbereiter er selbst war.« Lethes Blick suchte Pit; an ihrem Gesicht konnte er ablesen, dass sie ihn schon eine ganze Weile angeschaut hatte.
Als alles vorüber war, kam Lethe mit Myrde und Ervin ins Gespräch; später nahm Matei ihn kurz zur Seite. Als er danach im Palastgarten ein wenig Atem schöpfen wollte, stand plötzlich Hochmeister Balmir vor ihm. Sie tauschten ein paar Höflichkeiten aus. Unvermittelt beugte der Hochmeister sich nach vorn. »Die neue Zeit, die nach einer neuen Legende und einem neuen Weber verlangt«, sagte er leise, sodass nur Lethe es hören konnte. Lethe holte tief Luft und blickte den Hochmeister mit großen Augen an. Balmir lächelte. »Ich weiß«, sagte er. »Doch bei mir ist Euer Geheimnis sicherer aufgehoben als bei Euch selbst.« Balmir hob mit einer winzigen Bewegung den rechten Zeigefinger, wurde durchsichtig und verschwand, ohne dass irgendjemand es bemerkt hätte. »Vielleicht begegnen wir einander noch einmal«, flüsterte der Hochmeister in Gedankensprache. Lethe bemerkte, dass diese letzte Fingerbewegung und das darauffolgende Verschwinden nichts mit Loher Magie zu tun gehabt hatten. Die 416
Stirn gerunzelt, starrte er auf die Stelle, wo der Hochmeister gestanden hatte. Er erkannte, dass er soeben etwas außerordentlich Wichtiges erlebt hatte. In seinen Gedanken wurde eine Möglichkeit zur Wahrscheinlichkeit. Die Erinnerung an jene rätselhafte Anwesenheit eines Wesens, als er und Asayinda in den Körper des Herrn der Tiefe geglitten waren, kam zurück. »Balmir«, murmelte er. Seine Verwunderung über dessen Worte wurde zu Wissen. Der Hochmeister war mehr als ein gewöhnlicher Hochmeister. Dessen allenthalben belächelte Dummheit, seine Albernheiten und Bemerkungen, die oft genug fehl am Platz gewirkt hatten, waren nichts als Fassade gewesen. So wie auch Marakis sich stets als dumm verkauft hatte. »Es gibt mehr, Lethe«, hörte er in Gedanken seinen Lehrmeister Jen sagen. »Schau hinauf zu den Sternen, jene Sonnen sind wie unsere Sonnen. Beobachte die Insekten. Geh mit offenen Augen durch die Welt. Lausche auf jedes Geräusch. Eines Tages wirst du mehr wissen und sagen: Es gibt mehr.« »Viel mehr«, murmelte Lethe, als er wieder in den Palast ging und sich neben Pit stellte.
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50 Der letzte Traum »In des Meeres trägem Wiegen birgt sein Geheimnis still das Sein. Darfst diesem Rhythmus wohl erliegen, der labt den Geist und schwächt die Pein. Das Meer reicht uns mit milder Hand aus seinem Schoß das Leben dar. Doch zerrt die Ebbe erst am Sand, dann ist des Todes Stunde nah.« – Aus ›Die tanzenden Gezeiten‹, Gedichte von Gyrde Kulmsson aus Mittel-Loh Dargill stieg die Düne östlich von Wickel hinauf. Er bewegte sich wie ein alter Mann, mit großer Mühen, die ihn bei jedem Schritt stöhnen ließen. Auf halbem Weg drehte er sich um und winkte Janila zu, die sich auf einen Stab aus geflochtenem Weidenholz stützte. Wie auf Verabredung drehten beide sich um, wandten sich voneinander ab. Janila ging zu ihrem Hof, Dargill kletterte weiter die Düne hinauf. Als er oben angekommen war, kniff er seine Augen halb zu und schaute angestrengt auf das südliche Nachtmeer hinaus. Er spitzte die Lippen und formte ein Wort. »Zhaerred!« Die Welt um ihn herum erstarrte wie zu einem Gemälde, und er schloss die Augen. 418
Augenblicklich strömte die Zeit wieder. Zeit, die sein gesamtes Leben beherrscht hatte. Er erinnerte sich an jenen Moment, der dank einer einzigen Sekunde entscheidend für den Fortbestand der Welt gewesen war. Er reihte seine Erinnerungen zu einer langen Kette aneinander, was seine Schwermut nur noch tiefer und trüber werden ließ. Er floh in eine geträumte Vision. Mein letzter Traum, dachte er. Die Vision fügte sich in den späten Abend seines Lebens wie ein lange erwarteter und willkommener Windhauch. Ilyce, seine Mutter, erschien am Rande seines Bewusstseins. Er spürte, wie sie ihn betrachtete, doch er hielt sein Antlitz abgewendet. Er starrte auf die hoch aufragenden Türme, die lange Schlagschatten auf die verlassene Ebene warfen. Dies war die Welt, wo sich manchmal, sehr selten, die Lebenden und die Toten trafen. Diese geruchlose Welt bestand ansonsten aus Leere, Stille und unvorstellbarer Kälte. »Jyll?« Ilyce brachte nicht mehr als ein gerade noch hörbares Flüstern zustande. Dargill antwortete nicht gleich, da er seine Gedanken erst noch ordnen musste. Als er endlich sprach, flossen ihm die Wörter flach und grau aus dem Mund. Doch was er sagte, war alles andere als flach und grau. »Ich habe Welten bereist und Zeiten gewoben, nur um bei dir zu sein. Eine Parade der Jahrtausende zieht an meinem Geist vorüber, aber auch das verliert jede Bedeutung, wenn ich nicht bei dir sein kann.« Ilyces Augen suchten seinen Blick. »Du hast das Böse verfolgt.« Er starrte an ihr vorbei und nickte. »Du hast der Welt eine Große Legende und den Anbruch einer neuen Zeit geschenkt.« Erneute Zustimmung. Sein Blick glitt zur Seite und ertrank in ihrem. »Ist es dann nicht an der Zeit?«, fragte sie. »Stillstehende Zeit«, murmelte er und wedelte mit der rechten Hand. Die Ebene erstarrte, der Traum fror ein. Ilyces Gesicht hing bewegungslos vor ihm. Er betrachtete die zarten Linien dieses Antlitzes und verspürte einen Stich im Herzen. Er blickte in ihre sanften Augen und fühlte, wie ihm die Tränen kamen. 419
»Es ist so einfach«, flüsterte er. »Warum klammere ich mich dann so sehr an dieses Leben?« Es war eine rhetorische Frage, denn er konnte eine ganze Reihe guter Gründe für ein Weiterleben anführen. Die Lippen zusammengepresst, schloss er die Augen und bewegte wieder die Finger. Ilyce betrachtete ihn ernst. »Du hast Recht, Mutter«, sagte er ohne jede Gefühlsregung. »Es ist an der Zeit. Heute Abend nehme ich Abschied von Janila. Morgen …« »Mein Sohn«, flüsterte sie, am Rande des Hörbaren. »Warum willst du ihr zusätzliche Schmerzen bereiten mit dem doppelten Kummer des Wissens um den Abschied? Tu es jetzt.« Er schwieg, da er nicht wusste, was er darauf antworten sollte. Mit einem Winken in Ilyces Richtung verließ er die Vision. Den Rest des Tages blieb er auf der Düne sitzen. Er blickte aufs Meer hinaus, ertrank in den Nebeln, die den scharfen Rand des Horizonts dem Blick entzogen und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Erst als er aufstand, weil es zu dämmern begann, spürte er, dass ihm feine Tränenfäden über die Wangen liefen. Er seufzte tief. »Zeit, für Pit Platz zu machen«, sagte er zu sich selbst. »Auf dass sie unsterblich sei bis zu jenem Moment, da sie erkennt, dass Davongehen, Auflösung, Abwesenheit letztlich der einzige Weg ist.« Er drehte sich um. Vom Dünenhügel aus konnte er einen kleinen Teil vom Dach seines Bauernhofes sehen. Während erneut die Tränen in ihm aufstiegen, dachte er an seine letzte große Liebe: Janila. Und wie von selbst tauchte das Bild seiner ersten großen Liebe vor ihm auf. Er flüsterte ihren Namen: »Esled.« Wenngleich er im Laufe seines unwahrscheinlich langen Lebens gelernt hatte, seine Gefühle im Zaum zu halten, wurde er jetzt von Trauer übermannt, vermischt mit Freude. Die Gefühle wurden schier unerträglich. »Alles findet ein Ende«, murmelte er und bewegte die Finger. Langsam begann seine Gestalt eine weiße Glut auszustrahlen. Schließlich 420
verloren sich seine Umrisse im Grau der aufkommenden Dunkelheit. Wie ein schwarzes Gewand legte sich Stille über die Dünen und den Strand. Selbst das ewige Rauschen der Wellen ging in den Falten des Schweigens dieser Welt unter. Dann brach der Schrei einer Nebelmöwe die Stille.
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51 Abschied »Das Gute und das Böse? Wenn der Mantel der Zeit sich über Erinnerungen gelegt hat, scheinen beide nur allzu oft austauschbar geworden zu sein.« – Aus ›Die Herrin überlegt. Gedanken aus der Einsamkeit‹, von Asayinda, Herrin der Morgenröte Die Regierungszeit des Desran Lethe Viiskandir Reye war für das Reich von Romander der Auftakt zu einer langen Epoche größten Wohlstands und Friedens. Von den fünf Verrätern, die sich in dem Abkommen zusammengeschlossen hatten, hatten nur die beiden Frauen überlebt. Edelfrau Isper fristete ihr Dasein als Gefangene in einem Seitenflügel von Kryst Valdare. Sie wurde gut behandelt und schien sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben. Marakis hatte sie regelmäßig besucht. Edelfrau Hylmedera blieb unauffindbar, trotz der intensiven Nachforschungen von Marten aus Yr Dant. »Ist das Böse nun besiegt?«, fragte Pit Jahre später Lethe, als sie an einem strahlenden Sommermorgen im Palastgarten spazieren gingen. Lethe, zig Jahre älter, ohne dass die Zeit größere Spuren in seinem Gesicht hinterlassen hätte, blieb stehen und lächelte. »Zwei Gegenfragen, Pit. Erstens: ›Was ist das Böse?‹ Zweitens: ›Ist die Nacht endgültig vorüber, nachdem es nun Tag geworden ist?‹ Nein, das Böse existiert immer, in vielen Erscheinungsformen, doch auch das Gute bleibt. Tagsüber schlummert die Nacht, doch wenn der 422
Abend fällt, erwacht sie, und dann schließt die Herrin des Tages die Augen.« Er seufzte tief und schaute Pit von der Seite her an. »Jeder Prozess, der das Leben ausmacht, macht auch den Tod aus.« Pit erbleichte. Lethe legte ihr eine Hand auf den Unterarm. »Dereinst«, fügte er sanft hinzu. »Dennoch ist die Zeit gekommen, da wir verschwinden sollten. Du weißt, wohin wir uns begeben?« Pit nickte. Danach schwiegen sie – auch nachdem sie sich unbeobachtet aus Romander-Stadt hatten absetzen können. Erst als sie mit dem Solitär von Avrilux, gesteuert von einem uralten Gall, nach Norden segelten, sprach Lethe wieder. »Das Abschiednehmen sollte man am besten überspringen.«
Die Taten von Lethe, dem Unmagier, blieben lange im Gedächtnis des Volks von Romander. Erst Jahrzehnte nach seinem Verschwinden wuchs der Mythos um seine Person. Es bildete sich eine Gruppe von Menschen, die davon überzeugt waren, dass Lethe noch immer lebte. Sie verwiesen darauf, dass nirgends auf der Welt ein Grabstein mit seinem Namen zu finden sei. Sie forschten in allen Himmelsrichtungen und sämtlichen Winkeln des Reiches nach einem Beweis für seine Existenz. Vergeblich. Es war unvermeidlich, dass Geschichten über seine Unsterblichkeit entstanden. Menschen behaupteten, ihn gesehen zu haben; manche wollten sogar mit ihm geredet haben. Anfangs nahmen die Geschichten mythische Formen an, doch vier Jahrhunderte nach Lethes Verschwinden entwickelte der Mythos religiöse Züge. Folgerichtig bildete sich eine Gruppe von Jüngern des Lethe. Sie nannten sich die Elesyane. Fünfhundert Jahre später standen sich die Solitäre und die Elesyane in der Nähe von Yle em Avrilux gegenüber. Doch das ist eine ganz andere Geschichte. 423
Epilog So hat auch diese Episode der Großen Legende ihr Ende gefunden. Doch es ist nur eine Episode, davon bin ich mittlerweile überzeugt. Die Große Legende umfasst die Welt in all ihren Zeitenwenden, und die Spieler verändern die Richtung, in welche die Erzählung sich bewegt. All diese Spieler finden ihren Platz in der Welt mythischer und legendärer Geschöpfe. Wir erzählen unseren Kindern und Enkeln von dem mutigen Knaben, der die Welt vom Schrecken der farblosen Magie befreite. Vielleicht beschönigen wir die schicksalhaften Umstände, mit denen Lethe zu kämpfen hatte, da wir unsere Kinder ungern mit jenen Plänen konfrontieren, die das Schicksal möglicherweise auch für sie bereithält. Und für mich gilt: Es ist geglückt! Ich habe die Aufgabe, mit der ich mich selbst gestraft habe, zu einem guten Ende geführt. Mit tränenden Augen und blutendem Herzen habe ich die letzten Kapitel dieser Geschichte aufgezeichnet. Lange Zeit musste ich gegen die Überzeugung ankämpfen, dass Lethe, mein Lethe, niemals zurückkehren würde. Ja, dachte ich dann, irgendwo auf dem Meeresboden ruht ein Geschöpf, und im Geist dieses Wesens nimmt etwas einen Platz ein, das einmal mein Lethe gewesen ist. Doch er war die ganze Zeit hindurch lediglich eine Spur in einem schlafenden Ungeheuer, nicht mehr als ein kleiner Strom der Vergessenheit zwischen einhundertdreizehn anderen solcher Ströme. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dass die Magier imstande sein könnten, ihn aus dem Labyrinth zu befreien. Doch siehe, das Wunder geschah. Viel zu spät, war mein erster Gedanke nach dem Schock, doch auf wundersame Weise war es auch genau der richtige Zeitpunkt, wie mir später klar wurde. 424
Ich bin alt. Meine letzte Aufgabe ist vollbracht. Mir bleibt nur der Nachhall heldenmütiger Taten, nur die Erinnerung an all die Menschen und die anderen Wesen, die für die gute Sache gekämpft haben. Viele von ihnen leben nicht mehr. Ich bin einer der Letzten.
Nachts kriecht die Melancholie durch die Spalten von Türen und Fenstern in mein Haus und weckt mich. Als ich die Geschichte des Unmagiers aufzeichnete, war diese Melancholie meine Muse, doch jetzt bringt sie mir den Schmerz, den ich vergessen hatte, wenn ich schlief. Manchmal träume ich, dass ein grauer Vogel mich holen kommt. Dann fliegen wir weit hinaus, an der fernen Küste vorbei, und finden hinter einer Nebelwand eine andere Welt. Diese Welt atmet das Versprechen der Ruhe, nach der es mich so sehr verlangt. Gibt es noch eine weitere Aufgabe, die ich zu erfüllen habe? Falls ja, bin ich blind und taub, denn die Melodie einer neuen Perspektive hat sich in meinen schwerfälligen alten Gedanken noch nicht gemeldet. Vielleicht muss ich, mit den Worten von N'hammat Oul, nur meinen Nachruf abschließen, wie die Nibuüm es taten: »Doch jedes Geschöpf ist heimatlos, weggeführt von des Heimes Laub, gefangen im fernen Sternenstaub, ratlos dem Ursprung entrückt. Die Wellen wogten und genossen der langen Tage Glück und Lachen, doch knirschend sie zerbrachen am Nachruf, der nun abgeschlossen.«
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Nachwort Erneut fegten die Stürme über Nord-Beveland hinweg, als ich die letzten Kapitel des dritten Bandes dieser Trilogie schrieb. Meine Muse bleibt mir treu, stellte ich einmal mehr fest; sie treibt auf den Wogen des Sturms dahin und erscheint, wenn ich sie brauche. Und so genoss ich das Vorrecht, unter ihrer Aufsicht die Gewebe von Meistermagier und Unmagier miteinander zu verknüpfen. Schon während ich die letzten Bände des Meistermagiers schrieb, hatte ich beschlossen, dass es in Bezug auf die Welt des Meistermagiers D'Anjal nicht bei diesen sechs Bänden bleiben sollte. Aber das wollte ich natürlich nicht an die große Glocke hängen. In einer Rezension von Die Türme von Romander wurde dem Leser vermittelt, der Unmagier-Zyklus erzähle im Endeffekt nur auf andere Weise dieselbe Geschichte wie die vorausgegangene Meistermagier-Reihe. Der Rezensent meinte dies durchaus nicht positiv. Ich konnte und wollte ihm nicht verraten, dass es genau so angelegt war, da sich alles, allerdings in einem anderen Zeitalter, in derselben Welt abspielte. Ich habe nicht das Bedürfnis, ihm meinen Plot und meine Absichten mitzuteilen. Jetzt wissen er und die Leser auch, warum Lethe in mehr als einer Hinsicht an Jyll erinnerte, warum manche Elemente der Loher Magie – beispielsweise die Verwendung einer Vogelgestalt – denen des Kreises der Neun glichen, warum die Welt des Zauberlosen, auch wenn es sich um ein Inselreich handelte, Übereinstimmungen mit dem Aiden von D'Anjal aufweist. Sicher wird es Leser geben, die auch nach der Lektüre der drei Unmagier-Bände noch Fragen haben. Nun, ihnen kann ich versprechen: Viele ihrer Fragen werden beantwortet. Wann dies geschieht, und in
welcher Geschichte oder welcher Reihe, bleibt für die Leser eine offene Frage und für mich vorerst mein Geheimnis. Eine Warnung aber muss ich vorausschicken: Jede Erzählung wird wieder neue Fragen aufwerfen. Und so erweist sich das Mysterium des Schreibens als gleichbedeutend mit dem des Lebens, denn auch im Schreiben liegen mehr Fragen als Antworten. Kats, April 2004, W.J. Maryson
Auf Fragen, Vorschläge oder Einwände meiner Leser gehe ich gern ein. Schreiben Sie an: W.J. Maryson, p/a Uitgeverij M, Herengracht 540, 1017 CG Amsterdam, Niederlande E-Mails sind ebenfalls willkommen, unter der Adresse:
[email protected] Beteiligen Sie sich an der Diskussion über W.J. Maryson und seine Bücher unter www.meestermagier.com. Der Autor besucht diese Internetseite regelmäßig, diskutiert mit und beantwortet Fragen.