Manfred Weinland
Perlen der Schöpfung Bad Earth Band 12
ZAUBERMOND VERLAG
Auf die radikal veränderte Erde verschlep...
42 downloads
621 Views
829KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Manfred Weinland
Perlen der Schöpfung Bad Earth Band 12
ZAUBERMOND VERLAG
Auf die radikal veränderte Erde verschleppt, wird John Cloud von einem Tribunal zum Tode verurteilt – weil ihm die Zerstörung wertvoller Ressourcen der neuen Menschheit zur Last gelegt wird. Indes versuchen seine Gefährten alles, um die RUBIKON aus der Umschlingung der bizarren Vakuumvegetation zu befreien. Und schließlich meldet sich ein Wesen, welches das größte Geheimnis des Universums vor ihnen enthüllt – eine Wahrheit, an der Menschen zerbrechen können …
Was bisher geschah … Auf der Suche nach Saskana, der Heimatweit des verstorbenen Gefährten Boreguir, wird die RUBIKON-Crew um John Cloud im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine golden schimmernde Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Fontarayn, Angehöriger des geheimnisvollen Volks der Gloriden, wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine sogenannte CHARDHIN-Perle befindet. Die Perle gehört zu einem universellen Netz von Perma-Stationen, die zu jeder Zeit existieren – bis in die tiefste Vergangenheit und fernste Zukunft, wie Fontarayn beteuert. Gleichzeitig räumt er ein, die Erbauer nicht zu kennen, obwohl sein Volk die Perlen wartet und verwaltet. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum, begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die für die Vernichtung von Fontarayns Schiff verantwortlich sind. Um der Treymor-Gefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Dort will Fontarayn nötigenfalls eine Zeitkorrektur herbeiführen lassen, die verhindert, dass die Treymor in den Besitz von Erbauer-Technik gelangen. Dadurch könnte diese Gefahr ein für alle Mal gebannt werden – aber es drohen auch Zeitparadoxa unbekannten Ausmaßes. Unter Clouds Kommando bricht die RUBIKON nach Andromeda auf – und erreicht die Nachbargalaxis schneller als je erwartet. Bei der Transition wird sie jedoch über zweihundert Jahre in die Zukunft geschleudert und findet Andromeda völlig anders vor, als von Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Sato-
ga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um sich eigenem Bekunden nach friedlich dort anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer: Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee, Mitglied der Crew aus ersten Tagen, will diesen Transfer nicht mitmachen, sondern bricht stattdessen mit dem Gloriden Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf, um die dortigen veränderten Verhältnisse zu erkunden. Das Gloridenschiff erreicht die Milchstraße jedoch nicht. Stattdessen kommt es im Leerraum zwischen den Galaxien zur unerwarteten Begegnung mit der Foronin Siroona, dem Jay'nac Porlac … und Tormeister Felvert, dem Angehörigen des rätselhaften Volkes der Felorer. Während die Gloriden von Porlac und seinen Verbündeten »versteinert« werden, erfährt Scobee Dramatisches über die heimatliche Milchstraße, in der nach Porlacs Worten »alles im Sterben« liegen soll. Kurz darauf bricht der Jay'nac mit ihr und Siroona als Gefangenen genau dorthin auf, in die sterbende Galaxis. John Cloud und die Besatzung der RUBIKON passieren indes die Portalschleuse der Andromeda-Perle und erreichen ebenfalls die Milchstraße, jedoch in einer anderen Zeit und noch von ihr abgeschottet durch den sonderbaren Bereich hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Black-Holes. Wo alles anders geworden zu sein scheint als noch beim letzten Besuch. Bizarre, nicht identifizierbare Objekte umschwärmen die Milchstraßen-Perle. Cloud und Jarvis wagen einen Vorstoß in die Station – und begegnen mannigfachem Leben, wo zuletzt noch völlige Verlassenheit herrschte. Das vermeintliche Leben aber entpuppt sich am Ende als Täuschung, als Teil einer Prüfung. Cloud und Jarvis sehen sich schließlich mit einem der legendären ERBAUER konfrontiert. Er nennt sich Kargor und übernimmt die volle Befehlsgewalt über die RUBIKON, die erzwungenermaßen zu einer Mission
in die Milchstraße aufbricht, von der laut Kargor der Fortbestand des ganzen Universums abhängen könnte. Prosper Mérimée, der Mann mit der Zeitanomalie, die auch schon den Fehlsprung der RUBIKON in eine zweihundert Jahre entfernte Zukunft verursachte, wird von Kargor »zweckentfremdet«, um überhaupt in die Milchstraße vorstoßen zu können die zur Brutstätte des Chaos geworden ist. Galaxisweit ist die Zeit entartet – und die Quelle, der Verursacher dieser Entartung, ist erklärtes Ziel der Kargor-Mission. Im System Butterfly-M2 wird man schließlich fündig. Dort residiert der »Zeitverbrecher«, umgeben von Jay'nac-Technologie und ganz in seinem Streben nach Rache aufgehend: Darnok, der einstige Freund und Weggefährte, der in die Gefangenschaft Arabims geriet und später sogar mit diesem »verschmolzen« wurde. Ein absonderliches Schicksal hat Darnok wieder von seinem dunklen Gegenpol befreit. John Cloud und die übrige Besatzung der RUBIKON erfahren die Zusammenhänge, die zu Darnoks Entartung führten. Aber schlimmer noch als die Erkenntnis, was der einstige Freund an Untaten beging (unter anderem löschte er sämtliche Master der Erde aus), wiegt das Bewusstsein, wie viel Zeit aufgrund der Manipulation in der Milchstraße vergangen ist – und nur dort –, nachdem die Zeitbeschleunigung abgeschaltet wurde. Es sind Jahrzehntausende. Jahrzehntausende, in denen sich die Menschen auf der Erde und sämtliche anderen bekannten Hochzivilisationen, vom Rest der Galaxie abgeschnitten, fortentwickelt haben. Enttechnisiert, wenn man so will. Wie mag das neue Bild der Erde aussehen? Die Besatzung der RUBIKON erfährt es auf dramatische und so nie erhoffte Weise: Denn dort, wo sich einst Erde und Mond um die Heimatsonne drehten, zieht nun eine gigantische Hohlwelt ihre Bahn – die sogenannte »Oortschale« umschließt Erde und Mond, und im Vakuum des Zwischenraums hat sich eine ganz neue Menschenspezies angesiedelt: die Vaku-Farmer. Bei ihrem Vorstoß zerstört die RUBIKON die »Weiden« der Farmer, was die höchste Instanz innerhalb des stark veränderten Menschenreichs auf den Plan ruft, John Cloud wird aus der RUBIKON
weg entführt und auf der Erde vor ein Tribunal gestellt, das die Todesstrafe über ihn verhängt. Das Aberwitzigste daran aber ist: Obwohl auf der Erde Jahrzehntausende vergangen sind, seit Cloud und seine Gefährten sie zuletzt betraten, scheint dort ein alter Bekannter zu regieren. Er ist auch oberster Richter, und ob seiner Identität zweifelt Cloud an seinem Verstand …
1. »Du wurdest dem Tode überantwortet, und das ist unumstößlich, John Cloud«, beschied ihm die Stimme des einstigen Handlangers der Keelon-Master. Die Stimme des tausendfachen Mörders, der in Arabims Auftrag das Erdgetto – letztes Asyl und letzte Zuflucht der Systemfeinde – dem Erdboden gleichgemacht hatte. Nur eine verschwindend kleine Zahl von Bewohnern hatte sich retten können. Cloud war einer von ihnen gewesen. Er wusste also, mit wem er es zu tun hatte, mit welcher Sorte Mensch. Reuben Cronenberg hatte wie Scobee, Resnick und er selbst den normalen Fluss der Zeit überlistet. Einstmals oberster Chef des NCIA – ein Geheimdienst, der wie alle ähnlichen Organisationen mit Landung der Äskulapschiffe im Jahr 2041 null und nichtig geworden war –, hatte er seinem Land absolute Treue geschworen. Doch mit Treue und Loyalität hatte dieser abgefeimte Mann schon immer seine Probleme gehabt. Sarah Cuthbert, letzte Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika, konnte ein Lied davon singen. Falls sie noch am Leben war. Genau wie Scobee – deren Schicksal mindestens ebenso ungewiss war, seit sich ihre Wege von denen der RUBIKON-Besatzung getrennt hatten. Drüben in Andromeda. Sie hatte den Gang durch die Portalschleuse der Andromeda-Perle nicht mitgemacht, war stattdessen mit einem goldenen Schiff der Gloriden in der Zukunft geblieben, in die eine Fehltransition die RUBIKON geschleudert hatte. Seither trennte nicht allein das Weltall und seine unermesslichen Entfernungen Scobee von ihren Gefährten, sondern vor allem die Zeit. Wobei niemand zu sagen vermochte, ob sie überhaupt noch am Leben war, in welcher Zeit auch immer. Denn Darnoks Eingriffe in den natürlichen Ablauf hatten Paradoxa mit ungeahnten Folgen er-
zeugt. Aber so gering die Wahrscheinlichkeit auch sein mochte, tief in seinem Herzen hegte Cloud immer noch die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit der eigenwilligsten und eigenartigsten Frau, die er jemals kennengelernt hatte. Narr!, schalt er sich selbst, umgeben von Geschöpfen, die dem Anschein nach Nachkommen der Menschen waren, wie er selbst einen verkörperte. Doch ihr Denken, ihr Horizont schien ihm entsetzlich verkümmert und beschränkt. Und das, obwohl die Keelon-Master vor Jahrzehntausenden den Allgemein-IQ eines Erdenbewohners radikal erhöht hatten. Bei Clouds letztem Besuch auf seinem Heimatplaneten hatte der Durchschnittsintelligenzquotient auf Einsteinniveau gelegen. Das war subjektiv erst Monate her. Doch durch den extrem beschleunigten Zeitfluss innerhalb der Milchstraße und bedingt durch die eigenen Zeitsprünge waren hier – ebenso wie auf jeder anderen Welt der Galaxie – inzwischen geschätzte dreißigtausend Jahre verstrichen. Entsprechend große Veränderungen hatte er bei seiner Heimkehr ins Sonnensystem erwartet. An einen Fortbestand der Keelon-Herrschaft war angesichts der immensen Zeitspanne kaum zu denken gewesen. So hatte er gehofft, eine Menschheit anzutreffen, die das Joch der Fremdbestimmung und Knechtschaft abgestreift hatte. Dann aber der Schock: Die Erde hatte sich nicht mehr am gewohnten Ort um die Sonne gedreht. Schlimmer noch: Sie war vermeintlich ersetzt worden durch einen toten Riesenplaneten … … der sich letztlich aber nur als die Schale einer von den neuen Menschen mithilfe ihre psionischen Kräfte erschaffenen Hohlkugel erwiesen hatte. Eine Kugel, die sich aus der Urmaterie zusammensetzte, die einst als Oort'sche Wolke in großer Entfernung das Sonnensystem umkreist hatte. Frühere Geburtsstätte von Kometen. Die psibegabten Menschen der Erde, so wusste er inzwischen aus den Erklärungen, die ihm gewährt worden waren, hatten mit dem Bau dieser »Himmelsschale« die »Stummen Götter« – die Sterne – aussperren wollen, die sie für den Niedergang der Hochtechnik auf
der Erde verantwortlich machten. Von Darnoks unseligem Wirken hatten sie bis zur Ankunft der RUBIKON nichts geahnt, und auch jetzt beschränkte sich der Kreis der Eingeweihten auf eine Handvoll, den unsichtbaren Reuben Cronenberg, von dem Cloud bislang nur die Stimme wahrgenommen hatte, eingeschlossen. Cronenberg wiederum schien ihm von dieser Handvoll der Einzige zu sein, dem zugetraut werden durfte, dass er die ganze Tragweite von Clouds Schilderung verstand. Alle anderen waren ohne Einblick in die Kosmologie, ohne Wissen um die Raumfahrtvergangenheit der Menschheit – der Erinjij – aufgewachsen. Cloud spürte, wie eine Gänsehaut über seinen Körper wucherte. Es rieselte ihm kalt den Rücken hinunter bei dem Gedanken an das, was aus der Spezies geworden war, der er selbst angehörte. Oder angehört hatte. In ferner Vergangenheit. Als Menschen noch nicht in der Lage gewesen waren, ohne künstlichen Schutz durch Kälte und Vakuum zu reisen, zu teleportieren oder Gegenstände allein kraft ihres Willens zu bewegen. Fast bereute er es, Darnok nicht wirklich für seine Vergehen umgebracht zu haben – wie er es kurzzeitig der Schiffs-KI befohlen hatte. Seine Freunde an Bord der RUBIKON hatten ihn zum Umdenken bewegt. Aber angesichts dieser Tragik und all der Folgen, die er seither kennengelernt hatte, kristallisierte sich heraus, dass selbst der Tod eine noch viel zu geringe Strafe für Darnok gewesen wäre. Er würde als Schlächter in die Annalen der Milchstraße eingehen. Als unzurechnungsfähiger Milliardenkiller. Gegen ihn war Reuben Cronenberg ein Waisenknabe. Erstaunlicherweise half diese Erkenntnis, half diese Einschätzung John Cloud, die eigene Bedrohung, das Damoklesschwert, das über seinem Nacken schwebte, in den Hintergrund zu schieben. Sich nicht länger mit der Ankündigung seines unausweichlichen Todes auseinanderzusetzen, sondern im Gegenteil dem Verkünder des Urteils ungebrochen entgegenzutreten. »Du bist nicht der, der du zu sein vorgibst!«, sagte er, ohne die
Richtung bestimmen zu können, in der sich der Richter verborgen hielt. »Ich gebe zu, dass ich nicht ganz verstehe, warum du dich ausgerechnet der Stimme dieses Mannes, der in meiner Vergangenheit eine Rolle spielte, bedienst, aber Fakt ist: Du bist ein Betrüger – niemals Reuben Cronenberg, der Mann, der wie ich aus dem 21. Jahrhundert der Menschheitsgeschichte stammt!« Für eine Weile herrschte auf diese Erklärung hin beinahe vollkommene Stille. Ringsum waren die Menschen dieser Epoche, die seine Widerrede hatten hören können, wie zu Stein erstarrt. Betretenes Schweigen, das die Sorge ausdrückte, wie der Mann im Off – Cronenberg – auf diese Provokation wohl reagieren würde. Die meisten erwarteten wohl die sofortige Vollstreckung des kurz zuvor mit Nachdruck in den Raum gestellten Urteils. Auch – das erkannte Cloud mit wachsender Unruhe – er selbst. Hatte er den Bogen überspannt? Gab es nun keine Rettung, keinen noch so geringen zeitlichen Aufschub mehr, der es seinen Freunden in der RUBIKON vielleicht doch noch ermöglicht hätte, ihn aus seiner Misere zu befreien? Aber Cloud bereute seine Worte keine Sekunde. Während er gesprochen hatte, war ihm klar geworden, wie unwahrscheinlich es tatsächlich war, dass der echte Reuben Cronenberg hinter dieser Farce einer Gerichtsverhandlung steckte. Dreißig Jahrtausende! Falls er diese Spanne nicht abermals mit einem Trick überwunden hätte, der mit einem Stasisschlaf früherer Tage vergleichbar gewesen wäre, so müsste ein derart langes Leben selbst für den tolerantesten Geist unvorstellbar bleiben. Dreißigtausend Jahre – als Cloud geboren wurde, war die früheste Höhlenkunst des Homo sapiens, im einstigen Frankreich und Spanien entdeckt, auf dieses Alter datiert worden. Hätte sich einer dieser ersten Künstler der Menschheitsgeschichte durch ein Wunder bis in Clouds Geburtsjahr am Leben erhalten können, hätte er einen vergleichbaren Schatz an Erfahrungen und Erlebnissen mit sich herumgetragen!
Auch das: unvorstellbar! Kein Gehirn hätte eine solche Fülle und Flut an Eindrücken und Informationen verkraften können. Kein Verstand hätte es geschafft, daran nicht zu zerbrechen und dem Wahnsinn anheimzufallen! Aber klang »dieser« Reuben Cronenberg nicht ganz genau so? Wahnsinnig? Clouds eben noch fest gefügte Meinung geriet ins Wanken. Bilder von einst tauchten aus seinem Gedächtnis empor. Cronenberg, der Amoralische. Cronenberg, der Mann, der Scobee genetisch präpariert und auf diese Weise mental versklavt hatte. Cronenberg, der Wendehals, der sein Fähnlein stets im Wind drehte und sich auf die Seite des jeweils Herrschenden, jeweils Mächtigsten schlug. An wessen Seite stand er jetzt, wenn er denn wirklich noch am Leben war? Für wen erledigte er die Schmutzarbeit, wer bediente sich seiner und zog die Fäden im Hintergrund? Wenig bis nichts hatte Cloud über die Verhältnisse in der Gegenwart erfahren. Einen kurzen Ausblick über die Grobgeschehnisse der vergangenen Jahrtausende hatte er erhalten, aber kein einziges Detail der Gesellschaft, wie sie im Hier und Jetzt, heute, auf der Erde und in anderen Bereichen der sie umgebenden Hohlwelt lebte und funktionierte. Erde und Mond wurden von der Oortschale umschlossen. Licht und Wärme der Sonne waren ausgesperrt, ein Verlust, der jedes Leben für alle Zeit unmöglich hätte machen müssen. Doch die vernetzten Psikräfte der neuen Menschheit glichen den eklatanten Mangel offenbar aus. Sie durchströmten jeden Bereich innerhalb der Hohlkugel und nährten die an der Innenseite entstandenen Pflanzen, die von den sogenannten Vaku-Farmern betreut wurden. Vaku-Farmer. Ein weiterer Begriff, der für die Transformation des Menschen, für seine Entwicklung und Veränderung in den vergangenen Jahrtausenden stand. Cloud wurde aus seinen Gedankensprüngen gerissen, als die Stimme Cronenbergs – ob nun vermeintlich oder nicht – in seine Überlegungen platzte. »Du wurdest nicht nur von mir zum Tode verurteilt«, hallte es
durch den Raum, »ich werde das Urteil auch höchstpersönlich vollstrecken – und dir, Zweifler, damit unleugbar beweisen, dass ich existiere. Ich bin kein anderer als der, den du in mir erkannt hast. Und wenn du argumentierst, dafür müsste ich unsterblich sein …« Ein dröhnendes Gelächter wurde laut; es endete ebenso abrupt, wie es aufgeklungen war. »… hast du recht. Denn das bin ich.« »Unsterblich?«, fragte Cloud, der nach außen immer noch eine unerschütterliche Ruhe, ungebrochenes Selbstbewusstsein demonstrierte. Nur ein Telepath hätte das Gegenteil erspüren können. »Du sagst es.« »Auch dafür gilt«, erwiderte Cloud scheinbar ungerührt, »du bist ein Betrüger und Blender! Die, die hier um dich herumstehen, magst du damit beeindrucken können. Aber bei mir beißt du dir die Zähne aus. Ich denke rational. Logisch. Und die Logik sagt, dass kein Individuum, egal unter welchen Umständen, eine so lange Zeit überdauert. Falls doch, müsste es einen Trick geben, der keiner Technik bedarf. Denn jedwede hochstehende Technologie wurde durch Darnoks Verbrechen zerstört, ihrer Funktionstüchtigkeit beraubt!« »Vergiss ihn«, seufzte die dunkle Stimme. »Vergiss Darnok, der einer der längst Vergessenen ist! Von seiner Art hat keiner überdauert. Nicht hier jedenfalls. Nicht in meiner Welt!« »Jetzt«, entgegnete Cloud fast widerwillig, »klingst du tatsächlich wie der Mann, den ich kannte – das muss ich dir zugestehen.« »Weil ich dieser Mann bin«, lachte Cronenberg, diesmal weniger dröhnend, fast versonnen. »Und jetzt komm, damit ich es tun kann.« »Was?«, fragte Cloud. »Mich töten? Das kannst du überall. Auch wenn ich an deiner Identität zweifle, an deiner Macht und Stärke zweifle ich nicht. Die hast du bewiesen, als du mich aus meinem Schiff entführtest.« »Dich töten«, bestätigte die Stimme. »Aber zuvor werde ich dich überzeugen. Du sollst wissend sterben. Du sollst sehen – was aus mir geworden ist. Welch beispielloses Geschöpf …« Cloud konnte nichts dagegen tun, er fror plötzlich. Cronenberg, geisterte es durch sein Bewusstsein. Ist es wirklich möglich, dass …?
Mehrere der Umstehenden wandten sich ihm zu und packten ihn dann. Ohne den Hauch einer Chance, sich dagegen zur Wehr zu setzen, zerrten sie ihn aus dem Raum, verfrachteten ihn zu einer Art Aufzug, dessen Kabine allein kraft ihrer telekinetischen Fähigkeiten bewegt wurde. Und nur Minuten später erreichte Cloud eine Etage, in der er mit dem konfrontiert wurde, was die Cronenberg-Stimme ihm angekündigt – und dabei nicht übertrieben – hatte. Mit einem beispiellosen Geschöpf …
2. »Das halte ich für keine gute Idee.« »Aber ich. Dazu muss ich näher heran. Unbedingt. Nur so kann ich einen optimalen Kontakt gewährleisten. Meine früheren Versuche aus der Distanz fruchteten nicht. Mehr als vage Impressionen kamen nicht bei mir an. Um aber einen echten Kontakt herzustellen, einen Kontakt, über den ich auch eine Einflussnahme auszuüben vermag, muss ich die Vegetation berühren.« »Wir können eine Sonde ausschleusen und eine Probe entnehmen – ich habe es schon mehrfach vorgeschlagen. Aber du bist nicht darauf eingegangen. Notfalls kann ich dir eine solche Probe eigenhändig besorgen …« »Das ist aber nicht, was ich brauche. Die Vegetation darf nicht ›entnommen‹ werden, keine simple Probe sein, sie muss weiterhin mit dem Gesamten verbunden sein. Nur so kann ich das Gesamte – oder doch weite Teile – ansprechen. Es auffordern, uns endlich freizugeben!« Jarvis sah Jelto, der seinen Standpunkt seit geraumer Zeit vehement vertrat, skeptisch an. Die Unterhaltung – eigentlich schon ein Disput – fand im hydroponischen Garten der RUBIKON statt. Hier, wo sich Jelto ein kleines Paradies erschaffen hatte. Mit Pflanzen, deren Schösslinge oder Samen sie auf ihren fantastischen Reisen durch das Weltall aufgenommen hatten. Aber so bunt die Mischung auf einen Laien auch wirken mochte, so viel Ordnung und Kontrolle wohnte doch allem inne. Der Klon, in dessen Genen der Umgang mit Flora jedweder Art als herausragende Begabung verankert worden war, stand in permanenter Zwiesprache mit seinen Schützlingen. Diese erfolgte auf parapsychischer Ebene; äußeres Merkmal war die Lichtaura, in die Jelto je nach Stärke seines diesbezüglichen Einsatzes gehüllt war. Das Aurenlicht stimulierte die Pflanzen, machte sie seinen Gedan-
ken zugänglicher. Die »Sprache«, die der Florenhüter benutzte, war von universeller Gültigkeit. »Ich will dir gewiss nicht zu nahe treten, Jelto, alter Knabe – aber der vakuumresistente Bewuchs, mit dem wir es hier zu tun bekommen haben, nachdem die RUBIKON die Felsschale durchbrochen hat und in den Raum dahinter vorgestoßen ist, ist so grundverschieden von allem, womit du es jemals zu tun hattest, dass ich –« »Du traust mir nicht zu, die Gewächse, die das Schiff festhalten und zeitweise sogar seine Energievorräte angriffen, zu zähmen.« Jarvis, der seit Kargors Geschenk auf Betrachter wieder wie ein echter Mensch aus Fleisch und Blut wirkte, nicht mehr wie ein aus Nanomaterie zusammengesetzter Roboter, in den sein Geist transferiert worden war, als der Originalkörper des ehemaligen GenTecs starb, nickte. »Die Gefahr, dass du dabei bleibenden Schaden nehmen könntest, ist zu groß. Kurzum: Ich verbiete es dir.« »Kraft welcher Autorisation?« In Jeltos schockgrünen Augen blitzte es kampflustig auf. »Kraft der Autorisation, die John nach Sarahs Verschwinden auf mich übertrug für den Fall, dass er nicht in der Lage ist, das Kommando zu führen.« »John«, nahm Jelto den Ball auf, »ist ein hervorragendes Argument, warum ich jedes Risiko eingehen sollte.« »Nein!«, blieb Jarvis hart. »Du willst ihn also diesen … diesen merkwürdigen Typen überlassen? Wer weiß, wie lange er noch lebt!« Wer weiß, ob er überhaupt noch lebt, dachte Jarvis. Aber er sprach es nicht aus. Die Situation war auch so schon schwierig genug – für ihn, wie auch für alle anderen an Bord. »Von Überlassen kann keine Rede sein.« »Dann lass uns etwas tun – kraft der übertragenen Autorisation!« Jarvis sah nachdenklich zu, wie Jelto trotz der Konzentration, die er auf ihr Streitgespräch verwendete, noch Zeit und Muße fand, sich um ein verkümmert wirkendes Pflänzchen zu kümmern, das am Rand des angelegten Pfades wuchs, den sie entlangschritten. Seine Achtung vor dem Florenhüter brauchte nicht mehr zu wach-
sen, sie war längst groß genug. Und genau deshalb wollte er ihn nicht auch noch einer Gefahr aussetzen, die sich nicht abschätzen ließ. Um Jeltos ausgestreckten Arm bildete sich eine gelblich strahlende, warme Aura, in die das Pflänzchen mit den eindeutigen Mangelerscheinungen getaucht wurde. Dann ging alles ganz schnell. Selbst mit dem bloßen Auge war die Veränderung zu verfolgen. Binnen weniger Sekunden hatten sich die schlaffen Stängel und Blätter wieder aufgerichtet, und kurz darauf bildeten sich sogar neue Knospen. »Du bist ein Zauberer, Jelto«, sagte Jarvis anerkennend. »Es ist meine Natur, keine Zauberei – und damit auch kein Humbug.« Jelto richtete sich auf. »Glaub mir, ich weiß, welcher Gefahr ich mich aussetze. Aber die Lage wird von Stunde zu Stunde prekärer. Wir haben keinerlei Lebenszeichen von John – dafür schließt sich der Kokon aus Vakuumpflanzen, die die RUBIKON festhalten, immer dichter. Alternativ zu meinem Vorschlag könntest du nur noch schwere Thermowaffen einsetzen. Damit würde der Kokon aller Wahrscheinlichkeit nach zerfetzt – wenn es sich um normale Pflanzen handelte. Das tut es aber nicht. Diese Gewächse atmen förmlich psionische Energie aus. Nur so ist es ihnen überhaupt möglich, auf die Meiler an Bord zuzugreifen. Dadurch wird jeder gewaltsame Befreiungsversuch zum Vabanque-Spiel. Ich habe Sesha befragt. Die Wahrscheinlichkeit, die RUBIKON mit Waffengewalt aus der Misere zu befreien, liegt bei gerade mal dreiundzwanzig Prozent.« »Du hast mit Sesha über solche Dinge gefachsimpelt? Hey, du bist Gärtner, kein Stratege!« »Heutzutage«, versetzte Jelto im Brustton der Überzeugung, »muss man Allrounder sein, um zu überleben. – Was ist jetzt? Unterstützt oder sabotierst du meine Bemühungen?« Jarvis gab sich einen Ruck. Vor allem die Sorge um John trieb ihn dazu. »Was genau hast du vor? Worin unterscheidet sich dein jetziger Versuch von dem, der bereits scheiterte?« »Ich sagte es bereits, ich muss dichter ran.«
»Wie dicht?« »Ich muss Körperkontakt herstellen. Die Vegetation mit bloßer Hand berühren.« »Du bist aber nicht dafür gemacht, um ohne Schutzanzug im luftleeren Raum zu agieren. Ich könnte es. Aber ich fürchte, das bringt uns nicht weiter.« »Wie wäre es mit Teamwork?« »Teamwork?« »Du siehst zwar gerade mal wieder aus wie ein Mensch, aber du bist es nicht mehr. Nicht nach strenger Definition jedenfalls … Was aber nichts daran ändert, dass ich dich als solchen betrachte. Natürlich tue ich das!«, beeilte sich Jelto anzufügen. »Worauf willst du hinaus?«, fragte Jarvis mit säuerlicher Miene. Auf Jeltos sonst so ernste Züge stahl sich ein Lächeln. »Ich erkläre es dir.«
3. »Lasst uns allein, Paladine.« Die Stimme kam auch hier von überall her, ohne dass die genaue Quelle auszumachen gewesen wäre. Während Cloud sich umsah und die Gegebenheiten des Raumes in sich aufnahm, trat einer der Tunikaträger vor und meldete respektvollen Protest an. »Er ist gefährlich, Erhabener. Ich fürchte um –« Die Cronenberg-Stimme schnitt ihm brüsk das Wort ab. »Das solltest du auch. Dich fürchten. Es gibt so vieles, wovor du Angst und Ehrfurcht haben solltest.« Eine kurze Pause, dann: »Aber ich – wen sollte ich fürchten müssen? Ich bin die Krone. Ich bin das Herz der Welt. Muss ich euch das erst beweisen? Auch du hängst an meinem Herzen, lebst, weil ich dich gnädig an seinem Schlag teilhaben lasse … Ist es nicht so?« »Es ist so, Erhabener. Verzeiht …« »Aber natürlich, Elrique, aber natürlich. Du kennst meine Güte. Nun aber geh, und nimm die anderen mit. Ich werde euch rufen, sobald ihr den Leichnam entfernen sollt. Ich möchte nicht, dass er meine Augen länger als nötig beleidigt. Die Ästhetik des Lebens war mir stets näher als die des Zerfalls.« Noch einmal zögerte Elrique kurz, dann wandte er sich ab und gab seinen Begleitern einen knappen Wink, mit dem er sie aufforderte, sich ihm anzuschließen. Cloud, der die Gruppe ab dem Moment, da die Stimme aus dem Off von der »Ästhetik des Lebens« gesprochen hatte, genau gemustert hatte, wartete, bis alle gegangen waren. Sie verschwanden mit der Kabine, die sie mit ihren geistigen Kräften bewegten. Zurück blieb ein offener Schacht. »Ich beleidige also deine Augen, dein ästhetisches Empfinden …«, wandte sich Cloud mit aufsässigem Ton an den Unsichtbaren. Ringsum hatte sich vieles verändert. Das glänzende Metall (oder
war es eine kristalline Struktur?) von einst war stumpf geworden, wie von einer dicken Patina überzogen. Aber mit ein wenig Fantasie war darunter noch immer manches zu erkennen, was Cloud von damals kannte. Damals, als er die Erde zuletzt besucht hatte. Als er Arabim begegnete und Darnok in den Fängen des machtgierigen Keelon-Masters zurücklassen musste. Des Herrn der Herren, wie Arabim sich selbst betitelte. »Ah, ich lese Erkennen in deinem Blick. Du weißt jetzt, wo du dich befindest. Aber weißt du auch, wo ich … bin?« »Du versteckst dich vor mir. Warum? Bist du dir doch nicht so sicher, wie du vor deinen Schergen vorgabst, dass du mich im Zaum halten kannst?« »Überheblicher Narr – warum sollte ich ein Risiko eingehen … wenn es denn eines wäre?« »Ja, das frage ich mich auch. Trotzdem.« »Und?« »Was?« »Wo bist du?« Clouds Miene wurde grimmig. Er schürzte die Lippen, ehe er antwortete. »Offenbar in großer Höhe. Dazu kommen mir der kreisrunde Grundriss und diverse Kleinigkeiten bekannt vor. Deshalb tippe ich auf einen der einstigen Residenztürme der Master. Washington vielleicht. Oder New York. Moskau … Wer weiß.« »Nicht Peking?«, fragte die Stimme. Cloud spürte, wie der alte Groll in ihm aufbrach. Nein, es war mehr als das. Tiefe Verachtung. »Nein«, erwiderte er rau. »Peking wohl kaum. Es sei denn, du hättest zum Gedenken an dein Massaker einen neuen Turm errichten lassen.« Der Unsichtbare lachte. »Ich vergesse immer, dass für dich alles noch ganz frisch im Gedächtnis brennt, während das meine von zahllosen wichtigeren Begebenheiten vereinnahmt wird. Ich bin uralter Geist. Nichts und niemand kommt mir gleich. Peking … das Getto … es ist nur eine Randnotiz bei alldem. Seither starben viele wertvollere Menschen.
Sie starben, weil das geschah, was auch du nicht verhindert hast. Obwohl du es vielleicht hättest verhindern können. Denn du warst nicht dort, wo es wehtat, als es begann. Wo die Welt, die ich kannte, die Welt, in der ich mich eingelebt, die ich geerbt hatte, in Scherben ging!« »Geerbt?« Cloud spürte den Ekel, den jedes von Cronenbergs Worten in ihm weckte. Cronenberg, ja. Jetzt war wieder so ein Moment, in dem er es uneingeschränkt akzeptierte, keinem anderen als diesem von Machtgier Zerfressenen gegenüberzustehen. Nur das Wie leuchtete ihm nicht ein. Noch nicht. Bis … Etwas veränderte sich. Erst waren es die Wände (sie wurden transparent), dann der Fußboden (der zu flimmern begann, als würde er seine Konsistenz ändern, seine Festigkeit verlieren). Weit und breit war kein Halt auszumachen, zu dem Cloud hätte fliehen können, falls sich sein erster Eindruck bestätigte. Kreatürliche Angst bemächtigte sich seiner. Gehetzt sah er sich um. »Cronenberg …«, rann es über seine Lippen. »Sie verdammter –« Keinen nachhaltigen Blick hatte er für die Aussicht, die sich ihm mit einem Mal nach allen Seiten hin bot. Die Aussicht über eine absurde Stadt, die allem widersprach, was dereinst eine Metrop ausgezeichnet hatte. Dann hörte das Flimmern des Bodens auf. Und unweit von Cloud fuhr jemand (etwas!) daraus hervor. Zuerst glaubte Cloud an eine Sinnestäuschung. Was sollte ein Thron an einem solchen Ort? Doch dann wurde ihm klar, dass nichts besser zu dem Mann, der darauf saß, passte, als eben dieses Sinnbild überzeichneter Wichtigkeit. Der Mann, der einem König oder Kalser gleich auf dem perlmuttartig schillernden Sitz thronte, war nur bei genauem Hinsehen wiederzuerkennen. Aber gerade wegen der Verfremdung, die an eine
Karikatur erinnerte, erschien dieser Reuben Cronenberg ihm echt und glaubwürdig – selbst nach dreißig Jahrtausenden! »Grundgütiger!«, keuchte Cloud. »Das – haben nicht einmal Sie verdient …!« Cronenberg würdigte seinen Kommentar keiner sichtbaren Reaktion. Der Albtraumkörper des zum Leben Verdammten (so und nicht anders wirkte er auf Cloud) zuckte zwar – aber wohl aus ganz anderen Gründen als ob des Mitleids, das ihm gerade entgegenschlug. Mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination starrte Cloud auf das Gebilde, das sich seinen Blicken enthüllt hatte. Es war nicht nur eine Person, die auf einem Ding saß. Es war ein … Verbund. Ein Komplex. Ein bizarres Konglomerat aus organischem Gewebe, das die Natur so nie zusammengefügt hatte. Diese Missgeburt war künstlich erzeugt worden. Ohne es zu merken, machte Cloud ein paar Schritte auf das Monstrum zu, in das Cronenberg sich verwandelt hatte. »Wer?«, fragte er tonlos. »Wer hat Ihnen das nur angetan?« »Angetan?« Die aufgedunsenen, nur unter größten Schwierigkeiten noch wiedererkennbaren Züge in dem blauädrigen Gesicht schienen zu entgleisen. »Du begreifst nicht, was du vor dir hast. – Angetan? Niemals war einem anderen Lebewesen solche Größe, solche Weisheit und Intelligenz vergönnt gewesen wie mir. – Aber falls du nach Schönheit suchst … Schönheit ist vergänglich. Macht bleibt – wenn man es klug anstellt. Mehr noch: sie wächst von Jahr zu Jahr …« Cloud konnte nur den Kopf schütteln. »Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie das freiwillig auf sich genommen haben, vielleicht sogar … initiiert?« »Genau das!« Die Stimme war das Einzige, was noch genau wie damals klang. Obwohl jedes Wort aus einem Mund kam, der mehr wie das Maul eines krötenartigen Ungetüms aussah. Inzwischen musste Cloud sich zwingen, diese Gestalt überhaupt anzusehen. »Cronenberg, ich …« Er schüttelte sich, blieb kurz stehen, ging
dann wieder ein paar Schritte auf die Gestalt zu, die aussah, als hätte ein wahnsinniger Bildhauer sie um den Thron drapiert. »Ich weiß inzwischen, wie die Schale um Erde und Mond entstand. Und bis zu diesem Moment hätte ich nicht geglaubt, dass es etwas geben könnte, was mich hier mehr interessieren könnte. Aber genau so ist es jetzt: Ich will … nein, ich muss es wissen! Wie konnte das hier aus Ihnen werden? Wie konnten Sie sich dafür hergeben?« »Willst du sterben?« Cloud schüttelte den Kopf. »Wer will das schon?« »Eben«, bestätigte Cronenberg, und etwas, das entfernt wie eine Zunge aussah, leckte kurz über die aufgeworfenen Lippen des schrecklich Entstellten. »Eben. Wer will das schon … Ich wollte es auch nicht. Damals, als meine Welt zusammenbrach. Als die Welt aller Menschen auf diesem Planeten, in diesem System in die Brüche ging. Ich spreche von Millionen Menschen. Der Essenz, die unter der IQ-fördernden Strahlung der Keelon-Satelliten über die Jahrhunderte entstanden war. Die genetische Elite, deren Klone die Raumschiffe flogen, mit denen die Erinjij ihr Imperium ausbauten. Über eine so lange Zeit. Und mit dem Segen derer, die du als Jay'nac kennst.« »Ich verstehe trotzdem nicht, wie –« »Von einem Tag auf den anderen wurde alles hinfällig. Darabim war gegangen. Er hatte mir die Befugnisse übertragen, um die Metrops, um die Erinjij-Flotte sowie die Welten des Solaren Systems und die extrasolaren Kolonien zu führen. Mir! Einem Menschen!« Der Stolz, der kurzzeitig in seinen Worten schwang, machte die Monstrosität vor Clouds Augen fast menschlich – dabei hatte sie fast alle Attribute, die einen Menschen auszeichneten, verloren. Hinzugekommen war stattdessen etwas Neues, etwas, das Cloud insgeheim als Albtraumfaktor bezeichnete. Und dieser Albtraumfaktor, das, was Cronenberg entmenschlichte, hatte seine Wurzeln unter dem transparenten Boden, auf dem Cloud stand … und aus dem Cronenbergs »Thron« herausgefahren war. Das Gigahirn, wisperte es in Clouds Erinnerung, während sein
Blick den Strängen folgte, die Thron und »König« wie die Äste eines wuchernden Gewächses umrankten. Mehr noch: Sie mündeten an etlichen Stellen in Cronenbergs schwammig bleichen, aufgeschwemmten Körper, durchbohrten ihn und hatten womöglich Triebe bis in die fernsten Winkel seines Organismus gebildet. »Unsterblich«, sagte Cronenberg plötzlich, als wüsste er Clouds Gedanken bereits anhand der kritischen Musterung zu deuten, der der Besucher ihn unterzog. »Unsterblich – aber auch gefangen. Gebunden an diesen Palast, diesen Kerker – das Zentrum der Welt. Die ich gestalte, indem ich auf die wertvollste Ressource zurückgreife: die Psionten.« »So nennst du die neuen Menschen?« Ohne es zu merken, war er zum Du übergewechselt. »Kein anderer Name wäre passender.« Cloud löste seinen Blick gewaltsam von der Cronenberg-Monstrosität und ließ ihn die Fenster hinauswandern. »Es hat sich vieles verändert, nicht nur du. Die Erde hat keine Ähnlichkeit mehr mit dem Planeten unserer letzten Begegnung. Ich werde nie begreifen, warum es so weit kommen musste. Diese … Häuser da unten – darin leben Menschen? Psionten?« Seine Augen schweiften über Bauten, die die Oberfläche wie riesige gläserne Murmeln übersäten. Kugeln, die in allen Farben schillerten und zwischen denen Bewegung zu erkennen war, ohne dass sich Details herauskristallisierten. Zu hoch oben hielt Cloud sich auf. Nur ameisenklein präsentierte sich das Leben, das zwischen Glas und seltsam grauem Boden gedieh. »Nein«. Wiegelte Cronenberg überraschend ab. »Was du meinst, sind Fraktale. Sie wurden zu meinem Schutz erzeugt und … nun, ich wusste immer, dass der Tag kommen wird, an dem die Schale bricht. Dass die Vergangenheit mich einholt. Ich wollte vorbereitet sein. Die Fraktalen waren stets meine persönliche Leibgarde, sind es seit langer Zeit. Aber sie sind auch prädestiniert zu sehr viel mehr. Nun, da der Bann gebrochen ist und die Stummen Götter …« Ein grausames Lächeln teilte seine Lippen. »… wieder begonnen haben, zu uns zu sprechen – indem sie Boten sandten, euch – wird ein
Sturm über die Gefilde jenseits der Schale hinwegfegen. Wir werden darüber hinwegfegen. Die Erinjij, die von den Völkern der Sterne als ›Pest‹ beschimpft wurden, waren gestern. Die Fraktalen und Psionten – das ist heute! Und sie werden das Bild von morgen prägen. Das Bild der Zukunft nach meinen Vorstellungen …« Der letzte Satz verdeutlichte mehr als alles Vorherige, wie es um Cronenbergs Geisteszustand bestellt war. Eine besondere Form von Wahnsinn hielt ihn fest im Griff: Größenwahn. Cloud hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. Der eigene Tod schien ihm angesichts des Szenarios, das der vor ihm Thronende gerade umrissen hatte, beinahe zweitrangig. »Ich weiß zwar nach wie vor nicht, was ich mir unter den ›Fraktalen‹, die du als deine Leibwächter bezeichnest, vorzustellen habe«, sagte er. »Aber eines weiß ich ganz sicher: Einer wie du darf niemals die Grenzen dieses Raumes verlassen – und seine willfährigen Werkzeuge ebenso wenig!« »Und wie willst du das verhindern, kleiner, schwacher, prähistorischer Mensch?« Cronenbergs Sarkasmus war buchstäblich ätzend. Cloud spürte, wie ihm die Galle hochstieg. »Größenwahn kommt vor dem Fall«, sagte er so ruhig wie möglich – weil er wusste, wie sehr er sein Gegenüber gerade damit auf die Palme bringen konnte. »Ich lebe ewig«, behauptete Cronenberg. »Ich habe einen Weg gefunden, mich mit dem Gigahirn, das die Master auf vielfältige Weise nutzten, zu verbinden. Schon vor Jahrtausenden, Jahrzehntausenden. Die Masse regeneriert sich selbst. Es findet eine permanente Erneuerung statt. Selbst mein eigener Körper partizipiert und profitiert davon. Ich werde, wie schon gesagt, niemals sterben. Mein Geist lebt in einem Perpetuum mobile. Wenn du verstehst.« Cloud verstand. Begriff endgültig, was es mit den Strängen auf sich hatte, die Wurzeln gleich aus dem Boden in Cronenbergs Hülle sprossen. Ihm wurde schlecht. Speiübel. »Zeig mir die Welt«, verlangte er. »Du willst mich doch umbrin-
gen. Ich werde es nicht verhindern können. Aber vorher: Zeig mir die Welt. Was aus ihr geworden ist. Ist sie wirklich so öde, wie mir im Gerichtssaal erklärt wurde? So trostlos und unwirtlich?« »Das war sie – über eine lange, lange Zeit«, erwiderte Cronenberg bereitwillig. »Aber die Kräfte der Psionten werden von mir seit Jahrhunderten mit einer Perfektion gebündelt und gesteuert, die es mir erlaubte, ein Paradies zu erschaffen. Einen neuen Garten Eden.« »Reden und behaupten kann man viel«, sagte Cloud. »Aber kannst du es mir zeigen?« »Ich könnte.« »Aber du willst nicht.« »Das weiß ich noch nicht.« »Wann, denkst du, wirst du es wissen?« Wieder ein fast diabolisches Grinsen, das über Cronenbergs Gesicht geisterte. Und dann die Frage, die Cloud mehr aus dem Konzept brachte, als er es für möglich gehalten hätte. »Wie geht es eigentlich meiner Kleinen?« Er wusste sofort, wen das Scheusal meinte. »Ist sie an Bord des Schiffes, das ich in der Gewalt habe? Meinen Fraktalen fiel sie nicht auf bei ihrem Besuch – als sie dich holten. Hat sie sich etwa versteckt? Oder … lebt sie schon nicht mehr?« »Sie würde den Tod einer Begegnung mit dir vermutlich vorziehen«, erwiderte Cloud. »Aber du liegst falsch – mit all deinen Vermutungen. Sie hält sich weder versteckt, noch befindet sie sich an Bord oder ist tot.« Letzteres wusste er nicht sicher, aber das tat hier und jetzt nichts zur Sache. Er weigerte sich einfach, Cronenberg irgendeine perverse Genugtuung zuzugestehen. »Wohin hat es sie gezogen? Was Loyalität angeht, hatte sie seit jeher Defizite. Die Konditionierung sollte das verhindern, aber nicht einmal das fruchtete – doch was erzähle ich? Du weißt ja Bescheid. Du kennst sie so gut wie ich.« »Besser«, sagte Cloud, weiterhin mühsam beherrscht. »Und was ihre Loyalität angeht: Ich würde ihr jederzeit mein Leben anvertrauen. Und sie würde es umgekehrt tun. Womit du deine Verständnis-
schwierigkeit hast, dürfte eher sein, dass sie klug und willensstark genug war, zu erkennen, auf wessen Seite es nicht lohnt zu stehen. Sie ist loyal, aber auch durch und durch moralisch. Aufrichtig und ehrlich.« Cronenberg lachte blubbernd. Es hörte sich an, als hätte er Blut in der Kehle. »Das klingt nach einer beschissenen Liebeserklärung, Trottel. Hat sie dich um ihre hübschen Finger gewickelt?« Cloud schwieg. »Aber wo wir gerade bei Leben und Tod sind: Wir sollten nicht aus den Augen verlieren, warum ich dich herkommen ließ.« »Heißt das, du hast dich dagegen entschieden?« »Wogegen?« »Mir den Garten Eden zu zeigen.« »Korrekt, John Cloud. Korrekt. Du machst mich wütend – und langweilst mich zugleich. Keine guten Karten für eine letzte Frist …« Cloud hatte schon oft knapp vor dem Tod gestanden. Er schreckte ihn nicht. Nicht mehr. Der Umstand, die Freunde nicht wiederzusehen, schmerzte, aber insgesamt blieb er fast unterkühlt ruhig. »Du versuchst nicht, um dein jämmerliches Leben zu betteln?« »Ist das sonst so üblich hier – vor dem großen Erhabenen?«, fragte Cloud zynisch. »Verstehe. Du bist deines Daseins überdrüssig. Nur ein Lebensmüder kann solche Gelassenheit demonstrieren.« »Ich hatte ein gutes Leben. Gewiss ein besseres als du. Denn ich hatte Freunde.« »Hatte ist das Stichwort«, entgegnete das Monstrum auf dem Thron. »Aber du wolltest die Fraktalen kennenlernen – erfahren, wozu sie fähig sind. Deine Entführung war nur eine Fingerübung. Der nächste Streich wird die totale Inbesitznahme deines Schiffes zur Folge haben. Was selbstredend die Hinrichtung der kompletten Crew beinhaltet. Du selbst wirst all dies nicht mehr mit ansehen müssen. Ich bin nicht das Monster, das du in mir siehst. Mir bereitet es durchaus Freude, dich zu quälen. Dein Tod wird schmerzvoll sein, aber irgendwann endet jede Qual.
Das zu deinem Trost. – Deinen Henker habe ich schon bestimmt.« Ein Fingerschnippen peitschte durch die Luft. »Du tust es nicht selbst?«, fragte Cloud. »Aber nein. Ich schaue lieber zu.« »Wahrscheinlich könntest du es gar nicht. Du bist ein Krüppel, hast dich selbst dazu gemacht – nur um ›ewig‹ leben zu dürfen.« Cronenberg lachte. Die Beschimpfung schien ihn nicht anzufechten. Cloud hörte Schritte. Als er sich umdrehte, erkannte er eines der Geschöpfe wieder, die ihn von der RUBIKON gekidnappt hatten. Ein Fraktaler. Er kam schnurstracks auf ihn zu und war nackt bis auf eine Art Lendenschurz. Er ist … unbewaffnet, dachte Cloud – aber es beruhigte ihn in keiner Weise. Als könnte Cronenberg seine Empfindungen auffangen, lachte er noch schallender. Im nächsten Moment griff der Fraktale an – und offenbarte, wozu er fähig war.
4. Alles, was Rang und Namen hatte, war in der Bordzentrale versammelt: die erdgeborenen Jarvis, Jelto und Aylea sowie die Extraterrestrier Algorian, Cy, Jiim und Yael. Andere gab es nicht mehr auf der RUBIKON – nachdem Kargor sowohl den kompletten Zirkus um Prosper Mérimée als auch Sarah Cuthbert bei seinem Abschied mitgenommen hatte. Und nachdem ihr Commander unter den Augen einer machtlosen KI vom Schiff verschleppt worden war. Sieben Personen – sieben Sitze im weiten Rund des Herzens der ehemaligen Foronenarche. Es passte wie die Faust aufs Auge, und doch fühlte sich keiner der Versammelten wohl auf seinem Platz. Mit einer Ausnahme vielleicht: Der kleine Yael beanspruchte keinen eigenen Sitz für sich; einer blieb also leer, während der Jungnarge auf dem Schoß seines Elters Platz genommen hatte und alles beeindruckt in sich aufnahm. Ganz still saß er da, die Augen groß, der Blick mal hierhin, mal dahin gehend. Ohne es eigentlich beabsichtigt zu haben, entkrampfte das jüngste Besatzungsmitglied – das Aylea damit den Rang abgelaufen hatte – die angespannte Situation ein klein wenig. Dennoch sah Jarvis sich nach einem Rundblick genötigt, festzustellen: »Wir sind schon ein erbärmlicher Haufen, oder? Ein Schiff wie die RUBIKON, ein Schiff von den Ausmaßen einer weltraumtüchtigen Stadt, und alles, was wir aufzubieten haben, sind etwas mehr als eine Handvoll Streiter. – Damit ist keine Schlacht zu gewinnen, geschweige denn ein Krieg.« »Wer redet von Krieg?«, ging Aylea sofort in Opposition. Das tat sie oft, manch einer meinte sogar, sie täte es reflexartig. Aber das wurde ihr zugestanden, sie war in einem schwierigen Alter. Die Pubertät war auch unter der Herrschaft der Keelon-Master nicht abge-
schafft worden … Jelto, der links von ihr saß, streckte den Arm aus und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. Sein Aurenlicht umfloss ihn wie silbriger Nebel. »Schon gut«, sagte er. »Du weißt doch, dass Jarvis sich gerne … blumig ausdrückt.« Jarvis grunzte. Jiim tadelte: »Als John dir die Führerschaft für den Fall seines Ausfalls übertrug, dachte er wohl eher daran, dass du uns andere motivierst. Bislang merke ich davon aber herzlich wenig. Es wäre besser zu schweigen, als falsche Parolen in die Welt zu setzen. Noch besser aber wäre ein Plan. Ein Plan, um John zu befreien.« Unwillkürlich wippte er Yael, während er sprach, auf den Knien. Der erst kürzlich geborene Spross des vom Planeten Kalser stammenden Extraterrestriers war seinem Elter wie aus dem Gesicht geschnitten. Nur der Flaum seines Gefieders unterschied sich frappant. Jiims Federn glänzten im satten Goldton des Nabiss, das seit geraumer Zeit mit seinem Körper verschmolzen war. Niemand – am allerwenigsten er selbst – wusste, wie es zu dieser Symbiose hatte kommen können. Ebenso wenig waren die Folgen bekannt. Es war, als hätte der Körper die Ganf-Rüstung absorbiert – ohne dass sie ihre Funktionen dadurch eingebüßt hätte. »Es gibt einen Plan«, behauptete Jarvis, der sich unbeeindruckt von den Vorwürfen zeigte. »Der Plan lautet: Wir müssen schrittweise vorgehen, wenn wir auch nur den Hauch einer Chance auf Erfolg haben wollen.« »Und schrittweise bedeutet …?«, hakte Cy nach. Aus den Tiefen seines Pflanzenkörpers, der an ein knospen-übersätes, mannshohes Gestrüpp erinnerte, drang die vom Rascheln seiner Blätter begleitete Stimme. »Es bedeutet, dass wir zuerst das Schiff befreien müssen. Danach können wir in den seltsamen Raum vorstoßen, in den eingebettet Erde und Mond liegen …« Er zeigte auf die Holosäule, die sich zwischen ihren Sitzpositionen vom Boden des Podestes bis hinauf zur Decke spannte und in der das seltsame Zwielicht abgebildet war, in das die Hohlwelt offenbar restlos getaucht war. Inzwischen war es
Sesha gelungen, die Ortungssysteme feinzujustieren und auf die ungewöhnlichen äußeren Bedingungen abzustimmen. Seither schwebte auch der Verbund Erde-Mond in der Holowiedergabe. Nach Details jedoch suchte der Betrachter vergebens. Den Sensoren waren in diesem außergewöhnlichen Medium ungewohnt enge Grenzen gesetzt. »Und danach«, fuhr Jarvis fort, »können wir diesen Typen Druck machen! Wenn sie John nicht freiwillig herausgeben, erwartet sie eine unangenehme Lektion. Noch einmal werden sie nicht so mir nichts, dir nichts hereinspazieren. Sesha hat die Schwachstelle ermittelt und geschlossen. Wer immer noch einmal unberechtigt an Bord zu gelangen versucht, wird es teuer bezahlen. – Bestätigung, Sesha?« »Bestätigung«, erklang die feminin angehauchte Stimme der KI. »Wir wissen ja alle, wie ernst solche Versicherungen zu nehmen sind«, ätzte Aylea und warf einen funkelnden Blick zur Decke. »Nicht wahr, Sesha?« »Bestätigung«, sagte die KI. Ihre bedingte Humorfähigkeit war ebenso bekannt wie ihre Anfälligkeit, was externe Einflussnahmen anging. »Womit bereits alles gesagt wäre«, grinste Aylea. »Kommen wir zurück zum Plan«, wandte sich erstmalig Algorian an die Versammelten. »Wie stellst du dir unsere Befreiung aus dem Gespinst vor? Soweit ich weiß, scheiterten bislang alle Bemühungen. Außerdem gibt es Berechnungen Seshas, wonach der Einsatz von Waffengewalt innerhalb der besonderen physikalischen und paraphysikalischen Verhältnisse dieses Zwischenraums im schlimmsten Fall zu einer Rückkopplung und unserer Selbstvernichtung führen könn…« Mitten im Wort begann er sich plötzlich auf seinem Platz zu krümmen. Er schrie gepresst auf, und sein hagerer Zweimeterkörper rutschte vom Sitz. Noch bevor jemand reagieren konnte, half Algorian sich selbst. Er überwand den Anfall und konnte seinen Sturz eigenständig verhindern. Stöhnend stemmte er sich auf den Sitz zurück. Cy wollte zu ihm eilen, doch Algorian stoppte ihn mit einer Geste.
»Alles in Ordnung, macht euch keine Sorgen. Seit die RUBIKON festsitzt, kommt das schon mal vor. Das scheinbare Vakuum da draußen ist psionisch aufgeheizt. Ihr könnt euch denken, dass ich als Telepath besonders sensibel auf jedwede Veränderung reagiere. Und gerade war mir, als versuche etwas von dort draußen in meinem Gehirn zu wildern …« »Zu wildern?«, fragte Jiim besorgt. »Sagte Jarvis nicht gerade, dass Sesha Vorkehrungen getroffen hat, um Eindringlinge abzuwehren? Ich dachte, darin wären auch Paraattacken inbegriffen?« »Bestätigung.« Jarvis imitierte mühelos Seshas Stimme und Tonfall. Dann warf er theatralisch die Arme in die Höhe und seufzte: »Zumindest hoffe ich, dass Sesha diesbezüglich auf der Hut ist … Himmel, ich weiß es doch auch nicht! Früher hat es funktioniert. Früher hielt sich Sesha an die eigenen Prognosen. Aber seit Kargor an ihr herummanipulierte, ist sie nicht mehr die Alte. Vielleicht müssten wir das System komplett resetten und eine jungfräuliche Version des Kl-Programms aufspielen.« »Jungfräulich im Zusammenhang mit Sesha zu verwenden, ist schon gewagt«, erlaubte sich Aylea einen Einwand. Er war wenig produktiv, fand aber seine Lacher. Immerhin. Algorian massierte sich die Schläfenpartie. Schließlich sagte er: »Also noch einmal: Wie lautet der Plan?« »Stufe eins basiert auf einem Vorschlag von Jelto – ich betone, dass ich ihn mehrfach auf die damit verbundenen Risiken aufmerksam gemacht habe.« »Du wärst ein prima Politiker geworden«, sprach Algorian ihm ein fragwürdiges Kompliment aus. »Auf Crysral hättest du mit deiner ausschweifenden Art zu reden sicher Karriere gemacht.« Jarvis verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. »Okay, okay, ich fasse mich kurz: Jelto will, dass ich ihn im Schutz meines Nanogewebes nach draußen bringe, wo ich ihm – ebenfalls dank der Möglichkeiten meines hoch resistenten Körpers – dann ermögliche, Hautkontakt mit der absonderlichen Vakuumvegetation, die uns festhält, aufzunehmen. Einen echten und unverfälschten Kontakt
über Berührung, wie er es aus seinem Garten gewohnt ist. Und wo er seine Aura am besten entfalten kann. Gelingt das, wird er seine ganze Kraft daransetzen, die hiesige Flora zur Freigabe des Schiffes zu bewegen. – Wie gesagt, das wäre Stufe eins. Stufe zwei und drei erübrigen sich, wenn eins fehlschlägt. Gelingt die Befreiung aber, werden wir versuchen, die RUBIKON durch das Medium der Hohlwelt zu navigieren und John aufzuspüren. Wir können gerne darüber abstimmen, aber da nur Jelto und ich einer direkten Gefährdung bei dem Befreiungsversuch ausgesetzt sind und wir beide dafür plädieren, wage ich die Prognose, dass ihr anderen auch einverstanden seid. Oder gibt es ein Veto?« Allgemeines Kopfschütteln – von denen jedenfalls, die Köpfe aufzuweisen hatten. Der Tenor war einhellig: Jeltos Engagement wurde befürwortet und mit aufmunternden Worten gewürdigt, das von Jarvis rundweg übergangen. Der grunzte zum zweiten Mal an diesem Tag, stammte er doch aus einer Zeit, in der ein geflügeltes Wort sein Schicksal mehr als treffend umschrieben hatte: Undank ist der Welten Lohn. »Wann geht ihr raus?«, fragte Jiim. »Gleich«, erwiderte Jelto. »Ich bin bereit, wenn Jarvis es auch ist.« »Er ist«, beteuerte dieser. Eine knappe halbe Stunde später hatte er sich Jelto einverleibt und verließ mit ihm die RUBIKON über eine ihrer Schleusen. Dahinter wartete eine Welt wie aus einem Fiebertraum.
5. So also sah der Tod aus. Sein Tod. Cloud sah den seltsamen Mann auf sich zukommen. Auf den ersten Blick wirkte er wie gehäutet. Was daran lag, dass seine Haut so durchsichtig war, dass alles zum Vorschein kam, was normalerweise von ihr verhüllt wurde. Es war kein appetitlicher Anblick. Aber immer noch besser als das Bild, das Cronenberg bot – nach einem unermesslich langen, auf widerwärtige Weise gestreckten Leben. Nicht nur die Blutgefäße, auch das lymphatische System, das eng damit verbunden war, lag klar erkennbar vor Clouds Augen. Ebenso die Faserbündel der Skelettmuskulatur. Seltsamerweise blieben die inneren Organe jedoch verborgen. Selbst in dem Moment, als der Fraktale – Cronenberg hatte ihn so genannt, warum auch immer – wie beiläufig seine Tunika abstreifte, als wollte er sich von allem hinderlichen Gewebe befreien, blieb das so. Nackt legte er die letzten Meter bis zu Cloud zurück. Dass er ein Mann war, wurde überdeutlich. Selbst sein Geschlechtsteil war beeindruckend, sowohl was die Größe anging, als auch die innere Beschaffenheit, von der Transparenz der es umgebenden Haut enthüllt. Cloud ließ sich davon nur einen Sekundenbruchteil ablenken. So aggressionsfrei der Fraktale auch auf ihn zukam, lässig fast und nun auch entblößt, war er sich bewusst, dass nichts davon den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen konnte. Dieses Wesen, diese neue Art Mensch, war eine Waffe. Eine Waffe, die Cronenberg gerufen hatte, um Cloud, wie angekündigt, auf schmerzvollste Weise zu töten. Mehr denn je hatte Cloud während des Gesprächs von Cronenberg den Eindruck eines Sadisten gewonnen. Und dieser Mann da,
dieser »Fraktale«, war sein Folterknecht. Cloud war kein ausgebildeter Kämpfer, aber er hatte im Laufe der Zeit mehr als einmal ums nackte Überleben kämpfen müssen. Würde ihm die daraus erwachsene Erfahrung hier zugutekommen? Er klammerte sich an den Strohhalm. Instinktiv nahm er Abwehrhaltung ein, hob leicht die Arme, spreizte die Finger … Dann war der Fraktale da. Und offenbarte, warum Cronenberg ihn so nannte. Mit einem Sprung stieß er sich vom Boden ab, warf sich Cloud entgegen. Der ballte die Hände zu Fäusten und zuckte vorwärts, um den heranfliegenden Körper wegzustoßen, zur Seite zu lenken und so einen direkten Zusammenprall zu verhindern. Doch im Moment der Berührung zersplitterte der Fraktale. Für Cloud hatte es tatsächlich den Eindruck, als bestünde der Angreifer aus Glas, das sich unter dem Einfluss roher Gewalt in Tausende und Abertausende Scherben auflöste. Diese Teilchen regneten auf Cloud herab … und fügten sich im nächsten Moment wieder wie durch Zauberhand zusammen. Der Fraktale, so lebendig wie vor seiner Zersplitterung, hatte sich im idealen Nahkampfgriff um Cloud gewunden – und schmetterte ihn nun gekonnt zu Boden. Cloud blieb keine Zeit und Gelegenheit zur Abwehr. Er war noch völlig baff ob des Erlebten. Ein Arm mit stählerner Muskulatur hatte sich um seinen Hals gelegt. Der andere Arm des Fraktalen bildete einen Hebel. Die Absicht war klar: Ein kurzer Ruck, und Clouds Genick würde brechen wie ein morscher Ast. »Cronenberg«, röchelte er. Der Thron lag nicht mehr in seinem Sichtfeld. Dafür die Kugeln der Behausungen, in denen die Fraktalen wohnten. Sie zogen sich bis zum Horizont. Wie viele dieser unmöglichen Krieger mochte es geben? Und wie machten sie, was dieser hier gerade vorgeführt hatte? »Er könnte dir das Genick brechen«, erklang unerwartet doch noch Cronenbergs Stimme. »Aber das wäre kein Schmerz, wie ich ihn dir versprochen habe, oder, John Cloud? Und Versprechen pfle-
ge ich zu halten.« »Seit … wann?«, quetschte Cloud hervor. Der Druck auf seine Atemwege nahm zu. Ihm wurde schwindlig. Die Grimasse des Fraktalen geriet in sein Blickfeld. Für einen Moment sah er aus wie eine jüngere Ausgabe von Cronenberg. Dann merkte Cloud, dass er bereits halluzinierte. »Er wird dir jetzt nach und nach jeden einzelnen Knochen im Leib brechen, das Rückgrat aber verschonen. Du sollst keine Lähmungen nutzen, um der verdienten Marter zu entfliehen. Erst am Ende, ganz am Ende, wird dich ein letzter Griff erlösen. – Hast du das verstanden?« Cloud schüttelte andeutungsweise den Kopf. Der Fraktale hielt ihn wie ein Schraubstock umklammert. »Nicht … ganz. Könntest du … ihn bitten, es … an dir … vorzuführen? Nur damit … ich es auch sicher … verstehe.« Cronenbergs bereits gewohntes Lachen brandete über ihn hinweg. »Du wirst mir fehlen. Ehrlich. Ich hatte lange kein Opfer, das so amüsant war in der Umarmung meines Paladins.« Clouds Blick verzerrte sich. Aber das war ihm nur recht. Er sehnte die Ohnmacht herbei. Gegen die Kraft des Fraktalen, das war binnen eines Moments klar geworden, hatte er nicht den Hauch einer Chance. »Verschone … wenigstens …«, presste er hervor, »das Schiff. Die Leute dort … sind unschuldig. Lass sie … gehen.« »Aber John, wo bleibt deine Fantasie?«, kam es hämisch zurück. »Willst du ihnen etwa deine großartige Erfahrung mit den Kämpfern, die den neuen Ruhm der Erde weit draußen bis in die fernsten Winkel der Galaxie verbreiten werden, vorenthalten? Nein, nein, sie haben es ebenso verdient wie du, meine Paladine kennen – und fürchten – zu lernen. Dein … bald mein … Schiff ist der Schlüssel zu allem. Mit seiner Hilfe werden wir die Sternenräume erreichen, die ich meinem Reich einverleibe. Wir werden die Technologie kopieren und eigene, noch bessere Schiffe bauen. Zeit spielt keine Rolle, wie du weißt. Nicht für mich. Aber es wird gar nicht mal so lange dauern, bis die Menschen einen Ruf wie Donnerhall in der Milchstraße
genießen dürfen. Gar nicht mal so lange …« Er ist irre, dachte Cloud. Aber gleichzeitig wusste er, dass von Cronenbergs Wahnsinn schon andere beseelt gewesen waren. Männer, die längst vergessen oder Geschichte waren. Grausame Diktatoren, die dieses Monstrum hier leicht überflügeln würde, selbst die größten Schlächter, wenn man ihn gewähren ließ. Und es war weit und breit niemand, der ihn hätte stoppen können. Cronenberg, seine Psionten und Fraktalen … eine schlimmere Plage war nie über die Milchstraße gekommen. Abgesehen von Darnok natürlich. Darnok. Irgendwie schien es Cloud seltsam, ja verkehrt, dass der einstige Freund nun selbst ihn überleben würde – trotz aller Verbrechen, die der Keelon begangen hatte. Gab es so etwas wie Gerechtigkeit überhaupt? Jeden einzelnen Knochen im Leib, wisperte es wie ein Echo von Cronenbergs Ankündigung in seinem Bewusstsein. jeden einzelnen Knochen wird er dir brechen. Und dann fing der Fraktale mit Clouds linkem Oberarm an.
Der Schmerz umnebelte seine Sinne. Zumal der Fraktale sich nicht auf einen schnellen Bruch des Oberarms beschränkte – nein, er rieb die Bruchstellen auch noch gegeneinander. Vergleichbares hatte Cloud noch in keinem Kampf erlebt. Zumal Kampf der völlig falsche Begriff für das war, was ihm gerade widerfuhr. Ein Kampf im klassischen Sinn hatte nie stattgefunden. »Genieße den Schmerz«, drang Cronenbergs Stimme durch die Nebel zu ihm vor. »Danach folgt das Nichts. Die absolute Leere. Das Abhandensein von allem.« Cloud war nicht in der Lage zu antworten. Er musste alle Kraft und Beherrschung darauf verwenden, nicht laut loszubrüllen. Wie durch einen Schleier sah er den Fraktalen, von dem er immer noch nicht begriff, wie er über ihn gekommen, wie er ihn außer Ge-
fecht gesetzt hatte. Mit Teleportation hatte das beobachtete Phänomen wenig gemein. Der Folterknecht hatte vielmehr den Eindruck erweckt, sich in unzählige Teile aufzusplittern … um im nächsten Moment daraus wieder neu zu erstehen wie Phönix aus der Asche. Hatte er sich deshalb entkleidet? Weil die Tunika das Kunststück nicht mitgemacht hätte? Cloud wusste es nicht, aber es war auch nicht das, was ihn aktuell beschäftigte. Aktuell rollte nur eine Schmerzlawine nach der anderen durch seinen geschundenen Körper. – jeden einzelnen Knochen … Er wünschte, er hätte eine Waffe besessen, mit der er sich selbst hätte erlösen können. Aber der Fraktale beherzigte die Befehle seines Herrn wortgetreu. Der Unterarm erlitt dasselbe Schicksal wie der Oberarm. Das Geräusch klang – falls das überhaupt möglich war – noch hässlicher, fast ohrenbetäubend, und wie eine Schockwelle raste der neuerliche Schmerzherd durch das Labyrinth der Nerven. Warum kam die Ohnmacht nicht? Cloud fürchtete, dass Cronenberg auch, was das anging, die Hände im Spiel hatte. Zuzutrauen war es ihm. Müßig, sich über das Wie den Kopf zu zermartern. Nach all den Jahrtausenden hätte die Monstrosität auf dem Thron auch zu einer charismatischen Persönlichkeit mit extremem Hang zur Menschlichkeit reifen können – Cronenberg jedoch hatte den anderen Weg gewählt. Noch einmal – während der Fraktale sich dem anderen Arm zuwandte – nahm Cloud alle Kraft zusammen und stieß hervor: »Die … Strafe lautete doch … Tod! Nicht … Folter! Was bist … du nur für ein … Ungeheuer?« »Du bist nicht mehr als ein lästiges Insekt – und wie du stirbst, bestimme ich allein!« Auch der rechte Oberarm brach. Und wieder versuchte Cloud, in die Ohnmacht zu flüchten. Der Schmerz tauchte ihn in ein feuriges Bad. Die Silhouette des Frak-
talen verschwamm vor seinem Blick. Cloud atmete ins Leere, hatte das Gefühl, damit nicht mehr die Lungen zu füllen, sondern übergangslos dorthin zu treiben, wohin Cronenberg ihn erst quälend langsam schicken wollte. Kam der Tod doch früher als erhofft? Hatte der Fraktale einen Fehler begangen … … oder einfach nur Gnade walten lassen? In Cloud wurde es schwarz.
6. »Bekommst du ausreichend Luft?« »Durchaus. Aber könntest du mal das Licht anknipsen?« »Ich dachte, du hättest dein eigenes, dein Aurenlicht.« »Ich will Strom sparen.« »Ha, ha, ha.« »Ich fand ihn gut.« »War er auch. Aber jetzt bitte etwas mehr Ernst. Ich muss mich auf die Außenwelt konzentrieren. Wir verlassen soeben die Schleuse. Ich werde den Teufel tun und in diesem Medium transitieren. Das würde kaum gut gehen. Also bin ich auf meine Muskeln angewiesen. Achtung – ich springe … Ah! Gut gelandet. Ich klettere auf den dicken Ast da drüben. Warte …« Jelto war froh, keine klaustrophobischen Anwandlungen zu kennen. Die Enge der Rüstung, in die sich Jarvis für ihn verwandelt hatte – eine Form, die der eigentlichen Bestimmung dieses Nanokonstrukts aus foronischer Schmiede exakt entsprach, im Gegensatz zu dem, wofür Jarvis es umfunktioniert hatte: zur Körperprothese –, störte ihn nicht weiter. Seine augenblickliche Blindheit schon. »Komm schon«, seufzte er, »hör auf mit den Spielchen. Ich weiß, dass du mir die Sicht auf unsere Umgebung ermöglichen kannst – wenn du es nur willst.« »Verdammt, du bist einfach zu schlau für mich. Sorry, wollte dich ein wenig foppen. Macht einfach Spaß, so hin und wieder. Aber du hast natürlich recht. Der Anlass ist ernst. Also werden wir ihn auch ernst begehen.« Kaum hatte Jarvis ausgesprochen, öffnete sich ein visuelles Fenster vor Jeltos Augen. Das Licht blendete. Aber das war nicht alles: Es machte auch … krank. Ihn zumindest. Tief in ihm sprach etwas auf diesen abseitigen Schimmer an, der die
Hohlwelt erfüllte. Die Hohlwelt, die Erde und Mond wie eine Nussschale vereinnahmte, von der Sternenwelt draußen abschottete. Seit so langer Zeit, dass die heutigen »neuen« Menschen – von denen John entführt worden war – wohl noch nie Sterne zu Gesicht bekommen hatten … Wie verwirrend all dies war. Erst recht für jemanden wie Jelto, der auch mit dem vollkommenen Ausschluss eines Sternenhimmels aufgewachsen war, sie aber seit seiner Zeit auf der RUBIKON nicht mehr missen wollte. Damals auf der Erde hatte der Schattenschirm der Keelon-Master den Blick in die Weite des Alls verhindert. Heute war es ein gigantischer Felsenmantel. Der Effekt war derselbe. Allerdings glaubte Jelto nicht, dass er unter den gegenwärtigen Bedingungen noch auf der Erde – oder sonst wo innerhalb der von der Oortschale begrenzten Welt – hätte leben wollen. War John dorthin verbracht worden? Besaß die Erde überhaupt noch eine Lufthülle, eine atembare Atmosphäre? Die Fernortung hatte darüber so wenig Aufschluss erbracht wie über andere Details. Möglich, dass sich alles Leben nur noch hier im Vakuum abspielte. Eine verstörende Vorstellung. »Ist es hier okay?«, erreichte ihn Jarvis' Stimme, von den Audiomodulen erzeugt. »Oder soll ich dich an eine andere Stelle bringen?« Jelto begutachtete seine unmittelbare Umgebung. Überall rankten sich Pflanzen. Ihre Äste waren braun, das Blattwerk wie mit einem rötlichen Schimmer überzogen, und hier und da leuchtete sogar der Blütenkelch einer exotisch anmutenden Blume. »Perfekt«, sagte Jelto in den winzigen Zwischenraum hinein, der ihn von der Innenseite der Nanorüstung trennte und von wo ihn auch der Sauerstoff erreichte, mit dem sich seine Lungen füllten. Wenn er ausatmete, fingen die Anzugelemente den Stickstoff auf, filterten ihn heraus und stellten sofort wieder ein ideales Luftgemisch zur Verfügung. »Sie ist perfekt. Gehen wir vor wie besprochen.« »Du tust, als wäre dein ›Anzug‹ gar nicht vorhanden – den Rest erledige ich. Dein guter Geist.«
»Den wollte ich immer schon haben.« »Du bist eben ein Glückspilz.« Pilz war das Stichwort. Denn das Objekt, nach dem Jelto die Hand ausstreckte, ähnelte tatsächlich einem Pilzgewächs, das sich an einem armdicken Ast verwurzelt hatte. Jelto legte die nanoummantelte Hand um den »Hut« des Pilzes. Jetzt, dachte er. Und wahrhaftig, sein »guter Geist« reagierte, löste die Nanohülle um das Gewächs auf, ohne dass ein Spalt entstand, durch den das Luftgemisch im Innern hätte entweichen können … und ermöglichte es Jelto auf diese Weise, die Pflanzenoberfläche mit der bloßen Hand zu berühren. Sofort wurde die Aura aktiv, ihr Licht durchdrang die Struktur des Gewächses wie Röntgenstrahlung. Aber wichtiger noch war das, was Jelto mit seinem Geist schaffte. Seine Gedanken stießen in die lebende Materie vor … und fanden etwas Fremdes, das von keiner Intelligenz beseelt war, aber fühlte und eine genaue Vorstellung von seinem Sein hatte. Das genügte. Jelto fand intuitiven Zugang zu der unbekannten Lebensform. Die sich aber als noch bizarrer erwies, als nach dem ersten Grobkontakt geglaubt. Binnen eines Lidschlags strömte der Geist der Pflanze in den Florenhüter … und überflutete ihn mit Anklagen.
»Das gefällt mir nicht. Das gefällt mir überhaupt nicht! Sesha?« Cys Stimme schwankte. Der Platz, auf dem er saß, war unbequem – für einen Busch jedenfalls – und der Außeneinsatz Jeltos behagte ihm, auch wenn er zugestimmt hatte, nicht wirklich. Neben Algorian, den er schon seit Verlassen seiner Heimatspore Auri kannte, war Jelto der größte Bezugspunkt an Bord der RUBIKON für ihn geworden. Wann immer es sich einrichten ließ, besuchte Cy den »Pflanzenvater«, wie er ihn nannte, in dessen hydroponischen Garten und sonnte sich, wann immer es Jeltos Aktivitäten zuließen, in dessen belebender, harmonisierender Aura. Wenn dem Pflanzenvater und Freund etwas zugestoßen wäre, hät-
te Cy es wohl kaum überwunden. Entsprechend groß war die Sorge des Aurigen, wenn Jelto sich auf Risiken einließ, die sein Leben gefährdeten. Und das war da draußen, in den unwirtlichen Gefilden des Vakuums, zweifellos der Fall. Immerhin gab es Jarvis, der dem Pflanzenvater zur Seite stand – und wehrhafter als diese beseelte Maschine (Cy hätte Jarvis niemals so betitelt, aber für sich selbst dachte er rein pragmatisch in Bezug auf diesen ungewöhnlichsten seiner Freunde) war sonst niemand an Bord. »Ja?«, fragte die KI. »Gibt es Anzeichen von Gefahr? Ich meine Gefahr, die den Außeneinsatz bedroht.« Wie stets wurde Cys Stimmchen von einem Rascheln begleitet, das es mitunter schwer machte, alle Worte zu verstehen. Die KI schien indes keine Schwierigkeit damit zu haben. »Negativ«, sagte Sesha. »Sicher?« »Negativ«, bekundete die KI erneut. Es erinnerte an die vorausgegangene Kommunikation mit ihr, als sie mehrfach das Wort »Bestätigung« in unterschiedlicher Bedeutung gebraucht hatte. Cy raschelte stärker. »Was sie meint«, sprang Algorian der KI zur Seite, »ist vermutlich, dass es für nichts absolute Sicherheit gibt. Aber offenbar spricht momentan nichts für eine messbare Gefährdung.« Cy richtete einige seiner Sehknospen auf den psibegabten Aorii, der noch heute unter der Trennung von seinem Hassbruder Rofasch litt, dies aber nur im Kreis seiner engsten Vertrauten manchmal zum Thema machte. Das Gros seiner visuellen Sinnesorgane blickte weiterhin in die Holosäule, die in einem Teilsegment den Außeneinsatz dokumentierte. Wobei nur Jarvis zu sehen war. Natürlich. Interessanterweise vermochte Kargors Geschenk – die Kristallschuppe, die ihn wie ein Mensch aus Fleisch und Blut erscheinen ließ – selbst die hoch leistungsfähigen Sensoren der RUBIKON zu täuschen.
»Du klingst wie Seshas Anwalt.« Algorian verzog missbilligend das Gesicht. »Du weißt gar nicht, was ein Anwalt ist. Folglich ist es abstrus, mich so zu nennen. Ich wollte lediglich verhindern, dass hier wieder ein mehr als fruchtloses Zwiegespräch vom Zaun gebrochen wird. Sesha ist schwierig geworden, das wissen wir alle. Aber es hilft nicht, wenn darauf herumgeritten wird. Erfahrungsgemäß antwortet sie am klarsten, wenn ihr auch klare Fragen gestellt werden. Ein wenig mehr Disziplin diesbezüglich könnte nicht schaden.« »Du klingst wie ihr Anwalt«, beharrte Cy schmollend. »Und ich weiß durchaus, wovon ich spreche. Was sonst bleibt einem an Bord eines Schiffes wie diesem übrig, als sich die Zeit mit Wissenserweiterung zu verkürzen? Ich habe mich eingehend mit der Kultur der Menschen auseinandergesetzt. So wie John sie in seinen Mußestunden in den Datenbanken verankert hat. – Ich habe auch über die Aorii dazugelernt. Dank dem, was du eingespeist hast. – Und so könnte ich endlos fortfahren, denn auch Jiim war nicht untätig. Oder Darnok –« »Darnok?« Der Aorii blinzelte irritiert. Falls es denn ein Zeichen von Irritation war – manchmal kam Cy bei der Interpretation identisch aussehender Gesten unterschiedlicher humanoider Spezies schlichtweg durcheinander. »Wann sollte Darnok eine solche Datei angelegt haben? Er …« »Ich weiß nicht, wann genau. Ich weiß nur, dass es zu der von Sesha verordneten Therapie gehört.« Algorian war immer noch fassungslos. »Weiß … John davon?«, fragte er schließlich. »Keine Ahnung.« »Und wie bist du darauf gestoßen?« »Zufällig.« »Zufällig … Und du hast es nicht für nötig befunden, den Commander darüber zu unterrichten?« »Vielleicht weiß er es ja. Bestimmt sogar.« »Und wenn nicht?«
Cy rutschte auf seinem Sitz hin und her. Plötzlich fühlte er sich unbehaglich. Und ungerechtfertig attackiert. »Es ist keine geheime Datei. Nichts, was sie beinhaltet, stellt eine Gefahr dar oder besitzt überhaupt Brisanz. Darnok schildert darin das Leben auf seiner untergegangenen Heimatwelt Roogal. Der Name der Datei ist ›Architekten der Zeit‹, darin umreißt er die keelonische Zivilisation, in der er aufgewachsen ist. Es gibt bestimmte Initiationsriten, an denen er teilnahm, um sein Magoo – du weißt schon, das Organ, mit dem Keelon die Zeit zu manipulieren vermögen – zu schulen. Und dergleichen mehr. – Beim namenlosen Zwilling, es ist eine harmlose Lektüre. Aber sie hilft mir, andere Spezies, andere Crewmitglieder, besser zu verstehen.« »Mich auch?« »Du bist nicht schwierig.« »Nicht schwierig …?« »Na ja, von gerade eben vielleicht abgesehen. Wollten wir uns nicht auf den Außeneinsatz konzentrieren?« »Was melden die Sonden?«, stellte Algorian die Gegenfrage. »Das sollte Sesha am besten wissen«, erwiderte Cy kühl. »Sesha?« »Anwalt?« Cy zuckte bis in die letzte Faser seines Körpers zusammen. »Nein«, rann es aus seinem Sprechorgan. »Oder?« Aorii hatten eine gewöhnungsbedürftige Art zu lachen. Es hörte sich an, als würde ein ultrahoher Ton, fast ausreichend, um Glas zum Zerspringen zu bringen, aus sämtlichen Poren Algorians dringen. Cy musste vorübergehend seine Hörknospen schließen, um es zu ertragen. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, Sesha! So weit darf nicht einmal Kargors Wirken gehen. Du hast keinen Humor, verdammt. Du bist ein Ding. Eine rein rationale künstliche Intelligenz! Verhalte dich gefälligst auch so!« »Natürlich.« Es klang rein sachlich. Sehr, sehr rational. »Gibt es etwas Neues von den Sonden?«
»Negativ«, antwortete Sesha. Zeitgleich mit dem Ausstieg von Jarvis und Jelto waren drei Sonden losgeschickt worden. Sie hatten das Pflanzengespinst, das die RUBIKON im Klammergriff hielt, unbehelligt passieren können, und ihre Programmierung hatte sie durch die Bruchstelle im Hohlweltmantel nach draußen geführt, in den offenen Weltraum. Seither erreichten verstümmelte, immer wieder von psionischen Störungen überlagerte Ortungsdaten die Antennen des Rochenraumers. Sesha vermochte die Daten trotz Lücken auszuwerten, Fehlendes zu extrapolieren. Der Raum im Sektor Sol war demnach ohne Auffälligkeit. Zumindest wenn man das Fehlen von Außenbasen, kolonisierten Nachbarplaneten oder Raumschiffgeschwadern als normal betrachtete – und das musste man nach Darnoks Zerstörungsorgie. Nach seiner Zerschlagung sämtlicher technologischer Hochzivilisationen in diesem Bereich des Universums. »Zeig uns die aktuellen Bildeingänge«, drängte Cy, den das Zwielicht der Hohlwelt, von der Holosektion vermittelt, in der sich Jarvis/Jelto bewegten, mehr und mehr anstrengte. Er empfand nur wenig Verwandtschaft zu der Vakuumvegetation – so viel in etwa, wie ein Mensch mit einem beliebigen Säugetier empfinden mochte –, aber diese Gewächse, die fähig waren, den absoluten Unterdruck und Mangel an lebensspendender Luft oder Wärme zu kompensieren, waren ihm irgendwie unheimlich. Sie waren wider die Natur. Nicht nur wider die irdische, sondern wider alle Natürlichkeit im Kosmos. Ihm zumindest kam es so vor. Und es belastete ihn unterschwellig zusehends, wie er umso klarer erkannte, je länger die RUBIKON in dieser psigesättigten Zone festsaß. Die geforderten Bilder wurden von Sesha eingespielt. Aber sie waren enttäuschend. Der – wenn auch nur visuelle – Brückenschlag nach draußen in den Normalraum, war so nicht zu schaffen. Zu groß waren die Interferenzen. Die Übertragung musste so stark aufbereitet werden, dass sie am Ende wie eine Rechnersimulation wirkte. Sie zeigte den vermeintlichen Planetenkoloss, der Sol auf der Ter-
ra-Luna-Bahn umlief. Dazu das umgebende All mit seinen unzähligen Sternen. Obwohl es einer Simulation gleichkam, sog Cy es mit seinen Sinnesknospen regelrecht ein. Er hoffte, irgendwann einmal wieder dorthin zurückzukehren und nicht hier enden zu müssen. In dieser Abnormität von einem Weltenraum. »Wäre ein neuerlicher Versuch, Sonden auch Richtung Erde zu schicken, nicht ratsam?«, wandte er sich an Algorian und Sesha. Zu Beginn ihrer Strandung hatten sie es getan – aber der Kontakt zu den Sonden war schnell abgebrochen. Insgesamt wurden fast ein Dutzend vermisst. Sie alle mussten abgeschrieben werden, auch wenn niemand sicher wusste, ob sie das Opfer einer Aggression geworden waren oder in diesem Medium einfach nicht dauerhaft navigieren konnten. Von der KI kam die schon erwartete knappe Antwort: »Negativ.« Algorian war deutlich redseliger und diskussionsfreudiger. »Du meinst, wir könnten die Sonden eventuell mit Miniaturschilden versehen, die sie vor der Psieinstrahlung schützen würden?« »Zum Beispiel.« »Hm. Vielleicht machbar … ohne jetzt Sesha erschöpfend dazu zu befragen. Aber meiner Ansicht nach brennt uns inzwischen die Zeit unter den Nägeln. Wie lange befindet sich John jetzt in den Händen seiner Entführer, die noch mit keiner Forderung an uns herangetreten sind – so als hätten wir keinerlei Bedeutung für sie? Sechsunddreißig Stunden? In etwa jedenfalls. Nein, ich setze meine ganze Hoffnung auf die Jelto-Initiative. Ihm traue ich zu, dass er die RUBIKON freibekommt. Danach können wir höchstpersönlich nach John suchen und seinen Kidnappern Feuer machen – wie Jarvis es ausdrücken würde.« Cy blickte angespannt zu dem Holofenster, das die Maschine wiedergab, in der sich Jelto wie in einer Foronenrüstung bewegte. Nur dass diese … Maschine (Cy spürte erstmals mit Nachdruck, dass er Jarvis damit Unrecht tat, denn die Nanohülle, die seinem Bewusstsein als Ersatzhülle diente, durfte nicht darüber hinwegtäuschen,
dass der Freund immer noch »da« war, das Wichtigste von ihm jedenfalls, sein Geist, seine Seele – und er entschied sich, künftig nicht mehr als Maschine von ihm zu denken) wie der GenTec zu seinen Lebzeiten aussah. Er raschelte. »Ist etwas?«, fragte Algorian. »Ja«, erwiderte Cy. »Ich werde hier noch völlig kirre. Wenn wir nicht bald aus unserem Dornröschenschlaf erwachen, kriege ich welke Stellen!« »Dornröschen?« »Vergiss es. Ich werde dir nicht schon wieder Dinge aus den Datenbänken erklären, die dich sturen Aorii nicht mal ansatzweise wirklich interessieren. Du bist und bleibst eben ein Kulturbanause!« »Muss ich mir das von einem wandelnden Gebüsch an den Kopf werfen lassen? Immerhin war ich ein hoher CLARON-Beamter, der den Babysitter für dich mimen musste, als wir uns kennenlernten.« »CLARON ist Geschichte«, erinnerte Cy, und der Klang seiner Stimme verriet ihm selbst, wie bedauernswert er das fand. Was war nur aus der Welt – dieser Galaxie – geworden? »Ja«, erwiderte Algorian verdächtig kleinlaut. »Geschichte.« Er schreckte erst wieder aus seiner trüben Stimmung auf, als Sesha meldete. »Es hat begonnen. Die Fesseln lösen sich.« »Die Fesseln lösen sich?« »Definitiv.« »Das hört sich gut an. Sehr gut sogar!«, platzte es aus Cy heraus. Er war wirklich erleichtert. »Kannst du deine Behauptung mit Bildern belegen?« Sofort erschienen Szenen in der Holosäule, die Seshas Aussage bestätigten. Doch der Rückschlag ließ nicht lange auf sich warten. Er kam von einer völlig unerwarteten Seite. Und wurde dem ungleichen Gespann Jarvis/Jelto zum Verhängnis.
Nur die Rüstung, die ihn einem Korsett gleich festhielt, verhinderte,
dass Jiim in konvulsivische Zuckungen verfiel, kaum dass er den Kontakt zu dem Gewächs hergestellt hatte. Jarvis schien sofort zu bemerken, dass etwas nicht stimmte. »Jelto?« Schwach nur drang die Stimme des Freundes zu Jelto vor. In ihm war so viel … Schmerz und Trauer, dass er alle Konzentration darauf verwenden musste, die Eindrücke, die sein eigenes Ich unter sich zu begraben drohten, zu ordnen … und damit erst deuten zu können. »Jelto – sag etwas. Oder ich breche ab. Ich breche sofort ab, wenn du nicht –« Jelto büßte gerade mühsam gewonnenes Terrain wieder ein, als er sich Jarvis zuwenden musste. »Es ist alles okay. Stör mich jetzt nicht. Ich mach das schon!« »Aber –« »Bleib, wo du bist, und halte dich still. Es besteht keine Gefahr!« Das war glatt gelogen. Aber Jelto wusste, dass keine Zeit war, um Jarvis langwierig zu beruhigen. Sein Geist kapselte sich wieder ab von dem Freund, der ihn als schützender Anzug vor dem Tod im Vakuum bewahrte. Vor den »Stimmen« der Trauernden indes schützte ihn nichts. Jelto ahnte zunächst intuitiv, was hier betrauert wurde – kurz darauf erhielt er anhand der mentalen Signale, die ihn erreichten, Gewissheit. Was ihn aber am meisten erschütterte, war, dass er neben der erwarteten Emotion auch Anzeichen von schwacher Intelligenz empfing. Pflanzliches Denken. Er brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass der von ihm wahrgenommene Verstand nicht auf das pilzartige Gewächs allein zurückging, sondern nur in der Summe existierte. Der Pilz und seine Umgebung – benachbarte Gewächse – bildeten eine Gemeinschaft, deren individuelle Potenziale sich zu einem großen Netzwerk ergänzten. Nicht ein Gewächs für sich wies die entdeckte schwache Intelligenz auf; sie kam nur zustande, wenn die
gesamte Vegetation miteinander gekoppelt war, interagierte. Ob sich dies auf die Vegetation der gesamten Hohlwelt bezog – oder nur auf einzelne »Felder«, war Jelto außerstande einzuschätzen. Aber ihm wurde schnell klar, dass es sich mit der Trauer ebenso wie mit der Intelligenz verhielt: auch sie quälte nicht nur die unmittelbar von der RUBIKON bei ihrem Einbruch in diesen organischen Mikrokosmos zerstörten oder verletzten Bereiche, sondern fand ihren Nachhall selbst in weiter Ferne. In Zonen, die keine Schädigung erfahren hatten. Wir haben schwere Schuld auf uns geladen, dachte er. Keinem anderen wäre so rasch und so umfassend bewusst geworden, wie schrecklich die RUBIKON bei ihrem Vorstoß gewütet hatte. Niemand an Bord hatte es bemerkt oder dem Beachtung geschenkt. Aber winzige Vakuumwurzeln waren zerfetzt und irreparabel geschädigt worden. Erst später, quasi als Antwort darauf, hatte die Vegetation sich schließlich feindselig gegen das Rochenschiff gewandt und es mit ihren Mitteln attackiert. War es so? War alles nur eine kreatürliche Reaktion gewesen, oder gab es jemanden, der diese Vergeltungsaktion steuerte? Die entdeckte Kollektivintelligenz jedenfalls konnte Segen oder Fluch für Jeltos Vorhaben sein. Er hoffte auf Ersteres, sandte seine Gedanken und Wünsche jetzt konzentrierter, gebündelter an die Vakuumgewächse. Den Pilz unter seiner Hand benutzte er dabei wie das Eingabegerät eines Computers. Als er auf Widerstand stieß – das Kollektiv schottete sich wie in einem Reflex von ihm ab –, tat er etwas, was ihm kein vernünftig denkender Mensch geraten hätte: Er ließ seinerseits jeden mentalen Schutzwall fallen und offenbarte der Vakuumvegetation sein Innerstes. Offenbarte die lauteren Absichten, mit denen er und seine Freunde den Vorstoß in die Hohlwelt betrieben hatten. Dabei nahm er das Risiko auf sich, dass das Kollektiv ihre Absichten keineswegs als legitim beurteilen würde. Doch offenbar hatte er Glück. Nach und nach tastete sich fremder
Geist in seinen eigenen, verschmolz mit der Aura des Florenhüters und forschte neugierig in seinem Wesen. Dabei trat sicher nicht nur Vorteilhaftes zutage, aber die fremde Intelligenz wog ab und stellte schließlich einen Kontakt her, wie Jelto ihn sich erhofft hatte. Es bedurfte keiner Sprache, auch keiner gedachten, um mit der unglaublichen Flora zu kommunizieren. Jelto verkniff sich jede Forderung. Er bettelte auch nicht. Er legte schlichtweg seinen Standpunkt dar und wünschte sich im Anschluss Nachsicht und Vergebung seitens der Geschädigten. Die Resonanz war absolut positiv. Jelto zog seinen Geist ein Stück weit aus der Verbindung zurück und blickte durch das Fenster, das Jarvis ihm geschaltet hatte und über das es möglich war, die Außenwelt zu betrachten. Mit Freude und Erleichterung sah er, wie sich Pflanzenstrang um Pflanzenstrang von der RUBIKON zurückzog, als wären es die Tentakel eines urzeitlichen Riesen. »Das hast du fein gemacht«, lobte auch Jarvis. Jelto spürte eine tiefe Befriedigung – wie immer, wenn seine Verschmelzung mit einer Pflanzenpsyche zu messbaren Erfolgen führte. »Lass uns an Bord zurückkehren«, sagte Jarvis. »Oder ist noch etwas?« »Nein«, antwortete Jelto nach ein paar Abschiedsimpulsen, die er in den Pilz sandte, bevor er die Hand davon löste und die Rüstung sich wieder naht- und übergangslos über ihm schloss. »Wir haben viel Zeit verloren – was John angeht. Lass uns schnell ins Schiff wechseln und dann unverzüglich die Suche starten.« »Das –«, begann Jarvis. Was er noch mitteilen wollte, blieb für immer ungesagt. Irgendwo in der Nähe kam es zur Katastrophe. Und die Folgen waren verheerend. Sowohl für die RUBIKON als auch für die Ausgeschleusten. Schlagartig wich die Atmosphäre der Versöhnungsbereitschaft und der friedlichen Koexistenz dem genauen Gegenteil. Die Vakuumvegetation fühlte sich getäuscht – und entsprechend unbarmherzig schlug sie zu. Mit allem, was sie aufzubieten hatte.
Gerade noch zogen sich die psionisch genährten Pflanzenfasern und -stränge zurück – es sah aus, als würden versteckte Riesenkalmare ihre Fangarme von einer Beute zurückziehen, an der sie urplötzlich jedes Interesse verloren hatten. Die tentakelartigen Auswüchse, die die RUBIKON wie das Gespinst einer Raubspinne umschlossen hatten, schwanden zunehmend, und durch die Zentrale des Schiffes ging ein erleichtertes Aufatmen und Rascheln … … bis sich der Vorgang jäh umkehrte. Bis die »Tentakel« zurückstrebten, wieder ihre alte Position um den Rochenraumer einnahmen. Zeitgleich mit dieser Beobachtung, die manches Herz fast stillstehen ließ vor Schreck, meldete Sesha: »Heftige Energieentladungen in unmittelbarer Nähe. Höchstwahrscheinlich sind sie der Grund für die Wiederaufnahme der Aggression, die –« »Energieentladungen welcher Art – und wo genau?«, fuhr Algorian dazwischen, den Blick auf das Holosegment geheftet, das Jarvis zeigte, der kurz dort draußen im Nichts geschwebt hatte, nachdem sich das Gewächs, auf dem er gestanden hatte, zurückzog. »Werden wir angegriffen?« »Es scheint ein Angriff stattzufinden«, bestätigte die KI. »Aber er richtet sich nicht gezielt gegen uns. Vielmehr werden offenbar wahllos Bereiche der Hohlweltschale von schwersten Geschützen oder einem flächendeckenden Bombardement in Mitleidenschaft gezogen. Schon jetzt messe ich in unmittelbarer Nähe das Hundertfache an Schäden, wie wir sie beim Eindringen verursacht haben.« »Was … oder besser: Wer kann dahinterstecken?«, murmelte Aylea. Sie, Algorian und Cy waren die Einzigen, die sich in der Bordzentrale aufhielten. Jiim hatte sich mit Yael nach Pseudo-Kalser zurückgezogen, weil sein Sprössling Ruhe und Zuwendung nötig hatte. Und sie auch bekommen sollte – im Gegensatz zu denen, die sonst noch an Bord waren und den Bonus der Kindheit verloren hatten. Selbst Aylea zählte zu denen, die nicht mehr mit Schonung rech-
nen durften im Angesicht akuter Gefahr. Aber sie hatte sich deshalb nie beklagt, wollte ernst genommen und wie ein vollwertiges Crewmitglied behandelt werden. Das wurde respektiert. Jetzt aber machte sie sich Sorgen. Dass sie mit Jelto eine tiefe Freundschaft verband, die fast an eine Vater-Kind-Beziehung grenzte, war kein Geheimnis. Niemandem an Bord war es verborgen geblieben. Stundenlang konnte Aylea sich in den hydroponischen Garten zurückziehen, wo ihr väterlicher Freund ihr eine eigene Parzelle überlassen hatte. Dort sprossen nicht nur Ayleas Lieblingsblumen, – sträucher und -bäume, nein, Jelto hatte aus irgendeinem obskuren Buch aus Prosper Mérimées Sammlung – von der dieser bei seiner Flucht aus dem Getto nur ein halbes Dutzend hatte retten können – die Vorlage eines urgemütlichen, aber auch sehr antiquiert anmutenden »Gartenhäuschens« aus Blockbohlen und mit Giebeldach entnommen … und das Mädchen eines Tages damit überrascht, dass er eine Nachbildung neben einem Teich, im Schatten einer Linde, errichtet hatte. Sesha hatte ihm dafür zur Hand gehen müssen – aber wer ganze Planetenszenarien* naturgetreu aufleben lassen konnte, hatte mit einer solchen Kleinigkeit keine Probleme. Seltsamerweise war es das Bild dieser Hütte, wie sie im künstlichen Abenddämmer lag und wie Aylea zusammen mit Jelto auf der Bank vor dem Haus saß, um dem Gesang imaginärer Insekten zu lauschen – was sie oft taten –, das im Moment der Bedrohung kurz zum Greifen echt vor dem geistigen Auge der Elfjährigen aufblitzte. Im nächsten Moment musste sie ihrer Not Luft verschaffen: »Tu etwas, Sesha!«, rief sie. »Wir müssen Jarvis …« Sie nannte den seltsamsten ihrer Gefährten zuerst, weil es ihr manchmal peinlich war, ihre Fixierung auf Jelto allzu offensichtlich einzugestehen. »… und Jelto sofort da rausholen! Die Pflanzen – seht nur, was die Pflanzen machen!« Sie spielten verrückt. Jeder, der in die Holosäule starrte, erkannte dies. *siehe Jiims Pseudo-Schrund
»Sesha?«, drängte jetzt auch Algorian. »Notfallplan! Können wir das Außenteam evakuieren?« Die KI bestätigte die Frage. »Leite Bergung ein«, meldete sie. Im Hologramm wurde eine gepunktete Linie sichtbar, die sich wie eine Leine zwischen Schiff und Jarvis/Jelto spannte. Ein Traktorstrahl, wussten die Beobachter. Ein optischer, sichtbar gemachter Zugstrahl, der in der Realität völlig unsichtbar war. Aber hoch wirksam. Normalerweise. Nur dass nichts in diesen Gefilden, in denen die RUBIKON festsaß, noch normal war. Bevor der Traktorstrahl das Außenteam einholen konnte, brach ringsum das völlige Inferno aus. Die Hohlweltschale über der RUBIKON brach weitflächig ein – es sah aus, als verpuffte der feste Fels einfach –, und dann strömten sie herein wie ein Schwarm bizarrer Fische. Schiffe, die augenblicklich das Feuer eröffneten und ihr Zerstörungswerk fortsetzten.
7. Cloud kam zu sich, obwohl er gehofft hatte, es nie mehr zu müssen – um nie mehr den brutalen Folterungen von Cronenbergs Paladin unterworfen zu sein. Der Tod war für ihn erstrebenswerter als die zunehmend unwahrscheinlicher gewordene Rettung. Nein, er wollte nicht mehr leEr schlug die Augen auf. Der Fraktale war nicht länger mit ihm verschlungen, sondern stand drei Schritte von ihm entfernt und blickte auf ihn herab, als hätte er darauf gewartet, dass Cloud sich endlich wieder rührte. Um die Marter fortzusetzen? Die lockere Haltung des Mannes beruhigte Cloud nicht im Geringsten. So hatte der Fraktale auch noch unmittelbar vor der zurückliegenden Attacke ausgesehen. Harmlos, als könnte er kein Wässerchen trüben. Die Wirklichkeit war eine völlig andere. Was Cloud aber dennoch Hoffnung schöpfen ließ, war der Umstand, dass der Mann wieder seine Tunika übergestreift hatte. Ein Zeichen dafür, dass er von Cronenberg zurückgepfiffen worden war – warum auch immer? Cronenberg. Cloud stützte sich auf den Ellbogen, um nach Cronenberg zu schau… Wollte sich aufstützen. Aber der Schmerz, den er zuvor erfolgreich ignoriert hatte, auch wenn er nach wie vor vorhanden war, meldete sich eindrucksvoll zurück. Cloud sackte mit verzerrtem Gesicht in sich zusammen. In seinen beiden Armen schien nicht länger Blut, sondern Magma zu zirkulieren. Cloud fluchte wie selten in seinem Leben. Die Qual suchte sich ein Ventil. Als sich die von Tränenflüssigkeit getrübte Sicht wieder klärte, stand der Fraktale immer noch an seinem Platz. Und Cronenberg …
Cloud drehte leicht den Kopf, um das Gesicht dem abstrusen Thron zuzuwenden. Alles war unverändert. Cronenberg kauerte dort, die Augen geschlossen, der Atem – Die Augen geschlossen? »Scheiße«, presste Cloud hervor und schaffte es, im zweiten Anlauf aus der liegenden in eine sitzende Position zu kommen, trotz des hässlichen Pochens in beiden gebrochenen Armen. »Was ist jetzt los? Ist er eingeschlafen? Hat ihn die Vorstellung so gelangweilt?« Er hatte bewusst laut gesprochen. Weniger, um den Fraktalen als Cronenberg selbst zu einer Reaktion zu verleiten. Doch Cronenberg rührte sich nicht. Atmete er überhaupt? Die Vorstellung, die Marter könnte ihn so stark erregt haben, dass er vor »Genuss« gestorben wäre, zauberte ein bösartiges Grinsen aufs Clouds Gesicht. Und vielleicht war es dieses abseitige Grinsen, das den Fraktalen dazu verleitete, ihm zu antworten. »Du bist das Faustpfand.« Es klang sachlich, ohne auch nur das Geringste zu erklären. »Faustpfand«, wiederholte Cloud entsprechend verständnislos. »Wollt ihr meine Leute erpressen?« Er lachte auf. »He, das klingt aber gar nicht mehr so vor Selbstbewusstsein strotzend, wie dein Herr und Meister mir vorhin die weitere Vorgehensweise nach meinem Tod schilderte! Beißt ihr euch etwa gerade die hübschen Zähnchen an meiner Crew, an meinem Schiff aus?« Schweigen. »Das gefällt mir.« Cloud lachte übertrieben, wollte den Stoischen zur Weißglut reizen. Gern hätte er sich auch noch auf die Schenkel geklopft, doch darauf verzichtete er aus gegebenem Anlass. »Das gefällt mir ausnehmend gut!« Täuschte er sich, oder taxierte der Fraktale ihn mit größtem Misstrauen. »Was ist? Eben noch so redselig, und nun hat es dir die Sprache verschlagen? Hat es deinen Herrn und Meister etwa dahingerafft? Oder hält er wirklich nur ein Nickerchen?« Der Fraktale machte einen Schritt nach vorne. Cloud glaubte be-
reits, den Bogen überspannt zu haben, doch der Mann in der Tunika sagte nur: »Der Herr organisiert den Gegenschlag.« »Den …?« Clouds Herz hüpfte fast vor Freude. Gleichzeitig erfüllte ihn unbändiger Stolz auf seine Freunde, die offenbar einen Weg gefunden hatten, sich aus der Umklammerung der absurden Gewächse weit draußen an der Innenschale der Hohlkugel zu befreien, und jetzt unterwegs waren, um ihn zu befreien. »Gegenschlag«, half ihm der Fraktale aus. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Du verstehst es wirklich hervorragend, dich zu verstellen.« »Verstellen?« Cloud musste seine Verwirrung nicht mimen, sie war absolut echt. Ihn beschlich das dringende Gefühl, dass die Dinge nicht ganz so simpel waren, wie er in seiner Erleichterung zunächst angenommen hatte. »Warum sollte ich mich –« »Der Herr wird dir alles erklären, sobald euer heimtückischer Anschlag abgewehrt und jedes einzelne eurer absonderlichen Fahrzeuge in unsere Hand gebracht wurde.« »Absonderliche Fahrzeuge …« Cloud versuchte sich immer noch einen Reim auf das Gerede des Fraktalen zu machen. Schließlich rief er in Cronenbergs Richtung: »Aufwachen, Reuben! Stellen Sie Ihren verdammten Mittagsschlaf ein und sagen Sie mir, was hier vorgeht!« Die Zeit des Duzens war vorbei. Unbewusst errichtete er auch wieder verbale Barrieren gegen die Monstrosität, die dort auf ihrem Thron saß. Aber das viele Jahrtausende alte Wesen, das einmal ein ganz normaler – sah man von seinen Neigungen ab – Mensch gewesen war, reagierte auch auf lauteste Zurufe nicht. »Wie kommst du darauf, er könnte schlafen?«, wunderte sich der Fraktale kopfschüttelnd. »Du bist ein seltsames Wesen. Warum seid ihr nicht geblieben, wo ihr herkamt? Warum habt ihr uns nicht in Frieden leben lassen?« Cloud spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. »Himmelherrgott!«, fluchte er. »Wie oft soll ich es noch sagen? Wir kamen nicht als Feinde! Dies ist die Welt, auf der ich geboren
wurde – vor einer verdammt langen Zeit, zugegebenermaßen, aber das ändert nichts an der Tatsache. Alles hier hat sich verändert, auch der, den du deinen Herrn nennst. Und der im Übrigen weiß, dass ich von hier stamme. Weil er selbst in der Zeit geboren wurde, in der auch ich aufwuchs!« »Du redest wirr.« »Danke, dann haben wir wenigstens etwas gemeinsam.« »Ich wünschte, ich dürfte endlich gehen.« Wieder machte der Fraktale einen Schritt, diesmal seitwärts, von Cloud weg. »Oh, lass dich von mir nicht aufhalten.« Cloud lachte sarkastisch. »Was hält dich? Wenn du gehen willst, geh einfach! Am besten dorthin, wo der Pfeffer wächst!« »Ich kann nicht. Nicht, solange der Herr mich nicht ziehen lässt.« »Tja, er hat halt noch Großes vor mit dir. Du musst ja schließlich noch einen Mord vollenden.« »Mord?« »Du sollst mich töten, schon vergessen?« »Es gibt ein Urteil. Ich wurde angewiesen, es zu vollstrecken.« Cloud nickte fassungslos. »Ich weiß, die Henker waschen ihre Hände stets in Unschuld. So war das zu allen Zeiten. Aber noch mal von vorn, und weil wir uns gerade so prächtig unterhalten: Wohin genau zieht es dich? Hast du Familie? Noch einen Nebenjob, zu dem du nicht zu spät kommen darfst? Und wie ist die sonstige Lage? Heizen euch meine Leute gehörig ein?« Der Fraktale ging nur auf die letzte Frage ein – aber eigentlich war sie auch die einzige wesentliche. »Sie zerstören unseren Himmel!« Für einen Moment war Cloud tief erschüttert von der Inbrunst, mit der dieser Vorwurf hervorgebracht worden war. Und zum ersten Mal war er überhaupt bereit, in dem Fraktalen mehr als eine von Cronenberg gezüchtete biologische Waffe zu sehen. Stand vor ihm etwa doch ein menschliches Wesen? »Mein Schiff zerstört deinen … Himmel? Du meinst die Gesteinsschale, hinter die ihr euch zurückgezogen habt?« Cloud schüttelte den Kopf. »Haben sie Forderungen gestellt, die ihr nicht akzeptieren
wolltet? Drohten sie mit Zerstörung, wenn ihr mich nicht freigebt? Red schon! Sie würden niemals blindwütig –« »Du tust immer noch, als wüsstest du von nichts.« »Wovon nichts?« Der Fraktale zögerte kurz. Dann stieß er hervor: »Von der Armada, die den großflächigen Angriff gegen unseren Himmel führt!« Armada? Cloud musste sich eingestehen, dass er aufgehört hatte, auch nur irgendetwas von den aktuellen Geschehnissen zu verstehen. »Ich weiß von keiner Armada.« Der Fraktale schwieg. Aber es war offensichtlich, dass er Cloud nicht glaubte. »Ich weiß es wirklich nicht!« Der Tunikaträger blickte ihn jetzt an, ohne ihn zu sehen. Als würde sein Blick in Wahrheit weit über die Grenzen der ehemaligen Master-Residenz hinausgehen. Sich in den Erdhimmel bohren, um dorthin zu spähen, wo das passierte, was er als die Zerstörung seines Himmels bezeichnet hatte. Würden die Freunde auf der RUBIKON so weit gehen, um ihn freizupressen? Cloud wollte es nicht ausschließen. Er selbst wäre ebenfalls nicht zurückhaltend in der Wahl seiner Mittel gewesen, wenn es gegolten hätte, ein Mannschaftsmitglied aus der Gefangenschaft zu befreien. Aber was sollte das Gerede von der Armada? Hatte die RUBIKON Sonden ausgeschleust, die nun den Mantel der Hohlwelt bombardierten? Und wurden diese Sonden von dem Fraktalen mangels Wissen als Bestandteile einer Armada angesehen? Cronenberg wiederum musste die Wahrheit kennen. Aber wenn er tatsächlich mit irgendetwas beschäftigt war, so wie er zusammengesunken auf seinem Sitz ruhte, was genau wollte er den Angriffen entgegenhalten? Seine Fraktalen – von denen einer hier bei Cloud war, und den es trieb, sich den anderen anzuschließen, seinen Himmel, seine Heimat zu verteidigen? Die Untätigkeit, zu der er verurteilt war, war mehr als eine Geduldsprobe, sie fraß an seinen Nerven. Dazu der permanente Schmerz der erlittenen Misshandlung … »Hast du eigentlich auch einen Namen?«, wandte er sich an den
Fraktalen. »857911.« Unerwartet schnell kam die Erwiderung. 857911 – war das etwa die Mindestzahl der Soldaten, die Cronenberg zur Verfügung standen? Der Gedanke machte Cloud schwindlig. »Eine Zahl? Deine Name ist eine bloße Zahl?« In diesem Moment, und noch bevor der Fraktale antworten konnte, richtete sich Cronenberg abrupt auf seinem Thron auf. Seine Lider hoben sich, sein Blick fand Cloud, und aus den Tiefen seiner Kehle kam ein Laut höchster Verachtung. »Wen immer du uns da auf den Hals gehetzt hast«, grollte er, »ihr werdet euch alle wundern. Ihr werdet den Tag eures feigen Angriffs auf ewig verdammen! – Aber danke schon mal für das unerwartete Geschenk.« »Geschenk?« »Meine zukünftige Raumflotte, die ich durch euch soeben frei Haus geliefert bekomme.«
Jarvis zoomte eines der Objekte heran, von dem aus sich plasmagrelle Bahnen durch das Zwielicht der Hohlweltzone bahnten. Vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Vegetation waren die Kampfstrahlen umso klarer sichtbar. Für Jelto wurden die Ergebnisse des Zoomens auf die Innenseite projiziert. »Sie sehen aus wie … ›X‹e. Wie zwei sich überkreuzende Balken«, murmelte der Florenhüter, der im Nichts schwebte, weil sich die Ausleger der Vakuumvegetation von der RUBIKON – und damit auch von ihnen – zurückgezogen hatten. Etwa fünfzig Meter über ihnen schwebte das befreite Rochenschiff. »Die Länge eines Balkens über den Kreuzungspunkt hinweg beträgt 3,47 Kilometer«, meldete Jarvis. »Betrachtet man die Form tatsächlich als X, so hat das Objekt eine Länge von 2,94 Kilometern und eine Breite von 1,37 und eine Höhe von 0,45. Bei den Waffen, die zum Einsatz kommen, handelt es sich um Plasmastrahlen mit einer
Temperatur von rund 15 Millionen Grad.« »So heiß wie der Kern einer Sonne«, kommentierte Jelto. »Verdammt, woher kommen die? Wer sind sie? Und warum zerstören sie die Hohlweltschale?« »Ich wünschte, ich wüsste es«, sagte Jarvis. »Aber vielleicht ist darüber etwas an Bord der RUBIKON bekannt. Dort müssen wir hin. Leider wurde der Traktorstrahl, der uns bereits erfasst hatte, soeben wieder deaktiviert. Wahrscheinlich als Folge des aktuellen Angriffs durch die Fremdschiffe. Ich bilde jetzt einen alternativen Pulsationsantrieb aus, um uns an Bord zurückzubringen. Wir werden geschätzte zwanzig Sekunden benötigen, bis wir die Schleuse betreten können, durch die wir auch ausgestiegen sind.« »Dann los«, drängte Jelto, »bevor die RUBIKON auch getroffen wird und wir …« Weiter sprach er nicht. Weil in diesem Moment die Vakuumvegetation, durch die sich an zahllosen Stellen Plasmabahnen wühlten, ihren Rückzug aufhob und wütender als je zuvor gegen jeden Fremdkörper vorging, der sich in ihrer Reichweite aufhielt. Und das waren auch Jarvis und Jelto. Im Nu waren von allen Seiten Vakuumwurzeln herangeschnellt und woben einen Kokon um die humanoide Gestalt, die gleich zwei Menschen beherbergte. Jarvis verschwand darin wie in einem dicken Knäuel, und seine technischen Sinne begannen augenblicklich zu streiken, weil den einzelnen Wurzelfäden so viel psionische Energie anhaftete, dass die Sensoren nachhaltig gestört wurden. Aber das war noch das geringste Übel. Die Pflanzen demonstrierten, wozu sie noch in der Lage waren – und in welcher Gefahr das Duo von Beginn des Außeneinsatzes an geschwebt hatte. Jelto schrie plötzlich gellend auf. »Was … was tust du? Hör auf!« »Das bin ich nicht«, gab Jarvis in ähnlich geschocktem Ton zurück. Der Schmerz in Jeltos Bein, wo er den Einstich gespürt hatte, wurde stärker. »Und was ist es dann, wenn du deine Hände nicht im Spiel hast?«, keuchte er. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Eine Welle von Übel-
keit jagte durch seinen Körper. Er hatte das Gefühl, als würde ihm etwas … injiziert. »Frag mich nicht, wie sie es machen, aber – den verdammten Gewächsen gelingt es, Triebe durch meine Hülle zu bohren. Was da in dir steckt, ist der Ausläufer einer der Pflanzen, von denen wir gerade umwuchert sind. Und – Hölle, es werden immer mehr. Sie durchdringen mich an Dutzenden Stellen. Was du spürst, ist nur die erste Attacke von vielen …« Jelto wurde kurz schwarz vor Augen. »Sie … durchdringen dich?« Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Aber das wusste niemand besser als Jarvis selbst. Entsprechend paralysiert schien er ob der Erkenntnis zu sein. »Tu etwas!« »Ich wünschte, ich wüsste, was.« »Es muss mit der Psiaufladung der Pflanzen zu tun haben«, gab Jelto zurück. Seine Stimme schwankte. Er würgte. Die Aussicht, sich in der engen Rüstung übergeben zu müssen, war alles andere als angenehm, sogar lebensbedrohlich. Möglich, dass er an seinem eigenen Erbrochenen ersticken würde. »Ich brauche mehr Platz im Kopfbereich. Schnell!«, verlangte er zwischen den Übelkeitsschüben. Jarvis reagierte gerade noch rechtzeitig. »Keine Sorge«, beruhigte er. »Ich leite deine Kotze nach draußen. Du wirst schon nicht …« Er verstummte, setzte dann neu an. »Ich probiere jetzt etwas.« Was?, wollte Jelto fragen, stattdessen kam ein Schwall Saures aus seinem Mund. Es stank fürchterlich, aber Jarvis hielt Wort und leitete es augenblicklich durch die Nanostruktur seines Körpers ab. »Ich setze meine Außenhülle unter Strom«, erklärte Jarvis auch schon von sich aus. »Mal sehen, wie ihnen das schmeckt!« Jeltos Schwäche nahm zu. Und dann schrie er auf, weil sich an zwei, drei anderen Stellen nadelspitze Dinge in sein Fleisch bohrten. »Dann fang endlich an!«, keuchte er. »Ist längst geschehen.« »Na toll. Ich werde hier gerade bei lebendigem Leib aufgespießt!« »Die Gewächse reagieren nicht auf die Starkstromattacke. Es kümmert sie null.«
»Das merke ich.« »Ich weiß, was du fühlst.« Jelto lachte bitter auf. »Ach ja?« »Ob du es glaubst oder nicht – aber ich spüre es auch. Ich spüre den Schmerz dort, wo sie sich in mich gebohrt haben, als hätte ich immer noch meinen originalen Körper!« »Du machst Witze …« »Sicher. Ich bin die Stimmungskanone in Person. Vor allem in einer Lage wie dieser!« »Heißt das, wir krepieren beide?« »Du bist der Spezialist für Grünzeug.« »Das dachte ich bis heute auch. Aber noch einmal schaffe ich den Kontakt nicht. Dazu bin ich bereits zu schwach. Außerdem scheinen sie uns die Zerstörungsorgie anzukreiden, die wir beobachten konnten, bevor sich dieser Kokon um uns schloss. Sie …« Er musste sich erneut übergeben, aber es war nur noch wenig Mageninhalt. Jarvis leitete auch dies nach draußen ab. »Sie würden mich mit dieser Überzeugung wahrscheinlich gar nicht mehr anhören, an sich heranlassen. Die Chance ist vertan. Wenn es der RUBIKON nicht gelingt, uns aufzunehmen, ist das hier definitiv die Endstation. Außerdem müsste es bald passieren, denn irgendwie habe ich den Eindruck, als wollten sich die Fäden, die in uns eingedrungen sind, nicht ewig damit begnügen, uns die Kraft zu entziehen. Für mich fühlt es sich gerade so an, als wanderten sie Richtung Herz …« »Wir schaffen es schon! Die kriegen uns nicht!«, übte sich Jarvis in Zweckoptimismus. »Wenn wir Glück haben«, erwiderte Jelto sehr viel pragmatischer, »geraten wir in die Schussbahn der Zerstörer. Dann dürfte es wenigstens schnell mit uns vorbei sein …« Irgendwie schien Jarvis darauf keine Antwort mehr zu haben. Schweigen senkte sich über das absonderliche Gespann. Und dann blitzte es tatsächlich sonnenhell auf.
»Niemand ist so vertraut mit dem Schiff wie John. Ihm fiele viel-
leicht eine Lösung ein. Aber er ist nicht hier. Somit kann er uns nicht helfen …« Es klang resigniert, aber Algorians Haltung verriet, dass er alles andere als das war. Hoch aufgerichtet und mit selten zuvor demonstrierter Entschlossenheit saß er auf dem Sitz, den sonst ihr Commander einnahm. Cy raschelte. Dann sagte er: »Es gibt durchaus noch jemanden, der das Schiff ebenso gut kennt. Sesha.« Aylea erinnerte: »Aber die KI ist … nun, sie ist nicht ganz auf der Höhe, um es mal vorsichtig auszudrücken. Ich glaube nicht –« »Definiere: nicht auf der Höhe«, kam die Stimme aus dem Off. Aylea zuckte leicht zusammen, errötete sogar. »Nimm's bitte nicht persönlich«, wiegelte sie ab. »Ich meinte nur –« »Unter wessen Befehl stehst du momentan, Sesha?«, fiel Algorian dem blonden Mädchen ins Wort, das sein schulterlanges Haar seitlich mit Zierbändern zusammengeschlossen hatte. Sie standen keck ab und verliehen ihm gerade so viel mehr Kindlichkeit, wie der reife Ausdruck auf ihrem jungen Gesicht ihr normalerweise stahl. »Der Commander autorisierte Jarvis für seine etwaige Abwesenheit, sämtliche Optionen auszuschöpfen.« »Und für den Fall von Jarvis' Abwesenheit?« »Die Autorisationskette setzt sich fort bis zum letzten Crewmitglied.« »Wer steht momentan von uns Anwesenden an der Spitze?« »Du«, erwiderte die KI. »Ich.« Algorian schnitt eine Grimasse. »Prima, so etwas Ähnliches hatte ich vermutet. Schön, dass ich es jetzt auch bestätigt bekommen habe.« Er schwieg kurz und schürzte die schmalen Lippen. Seine Zunge war gespalten, wodurch es aussah, als hätte sich ein Schlangenmaul geöffnet. Die Freunde hatten sich daran längst gewöhnt. Es gab oftmals Exotischeres zu verdauen. Zumal ihnen Algorian bei passender Gelegenheit bereits eröffnet hatte, dass er die menschlichen Knubbelzungen auch nicht gerade ansehnlich fand. »Kann ich als Autorisierter auch andere Verfügungen erlassen?«
»Nur der aktuell an der Spitze der Kette Stehende kann das.« »Also: ja?« »Ja.« »Dann«, sagte Algorian und nahm Blickkontakt zu Cy und Aylea auf, als erwartete er ein Veto, »verfüge ich hiermit die Übergabe des Kommandos an dich, Sesha – verbunden mit zwei glasklaren Aufträgen, die du so erledigen kannst, wie es dir aufgrund der Möglichkeiten dieses Schiffes am effektivsten und erfolgversprechendsten erscheint …« Während Cy vor Schreck leicht in sich zusammenzusinken schien, blickte Aylea den Aorii geradezu bewundernd ob dieser salomonischen Entscheidung an. Der Einzige, der sich, kaum, dass er es ausgesprochen hatte, völlig unwohl fühlte, war wahrscheinlich Algorian selbst. Bei den verhassten Brüdern, dachte er, was habe ich da gerade getan …? Er fühlte sich plötzlich kein bisschen mehr salomonisch. Dabei, das zeigte alles Folgende, sollte sich seine Idee als der vermutlich weiseste Einfall in seinem ganzen bisherigen Leben entpuppen …
Gott war ein verdammter Stümper, fand Cronenberg. Sich selbst betrachtete er als nahezu perfekt. In all den Jahrtausenden hatte er jeden Hang zum Selbstzweifel fallen lassen. Den Schritt, der ihn damals bewogen hatte, sich mit dem Gigahirn der Metrop Washington zu koppeln und die in den gezüchteten Zellen schlummernde Parakraft zur ständigen eigenen Erneuerung zu nutzen, hatte er nie bereut. Der Mann, der ihm aus der von allen derzeit lebenden Erdbewohnern vergessenen Vergangenheit bis in die Gegenwart gefolgt war, Ex-Astronaut John Cloud, hielt ihn für ein bedauernswertes Monstrum, das sich selbst jeder Mobilität beraubt hatte. Was für ein ahnungsloser Narr! Cronenberg brauchte seine Beine nicht, um vom Thron herabzusteigen und sich in die fernsten Niederungen seines Reiches zu begeben. Es gab andere Möglichkeiten der Mobilität, als Cloud es sich vorzustellen vermochte.
Cloud, Cloud, Cloud. Cronenberg überlegte, ob dieser Mann, dieser Schatten der Vergangenheit, ihm tatsächlich noch nützlich sein konnte – als Faustpfand –, wie er im Moment des Angriffs geglaubt und weshalb er den Fraktalen gestoppt hatte. Er fürchtete den überraschend aufgetauchten Gegner in den X-Schiffen nicht. Er war vorbereitet, hatte mit dem Auftauchen von solchen oder ähnlichen »Besuchern« gerechnet. Über Jahrhunderte hatte er sich eine Armee aufbauen können, wie sie ihresgleichen suchte. Die Fraktalen. Sie waren reich an Zahl und wurden beständig erneuert. Auf einen, der starb, folgten drei neue. Und jeder Kämpfer war so unüberwindlich wie hundert oder tausend Soldaten in früheren Zeiten – wobei sie nicht einmal eine Waffe brauchten, nur sich selbst. Anders als John Clouds Vorauskommando – das Rochenschiff –, würden die Fraktalen die X-Schiffe, die der Oortschale bereits Schäden von gewaltigem Ausmaß zugefügt hatten, direkt angreifen. Und nichts würde sie daran hindern, an Bord der Zerstörer zu gelangen … … und dort alles zu töten, was sich ihnen entgegenstellte. Sogar alles, was sich ihnen nicht entgegenstellte. Cronenberg sandte den Einsatzimpuls. Und über die Hohlwelt verstreut, öffneten sich Hunderttausende von speziellen Bunkern, in denen seine Krieger bislang ein spartanisches Leben gefristet hatten. Einen Gedanken später waren sie bereits nah am Feind. Und nach noch einem weiteren … mitten unter ihm.
8. Cloud lauschte dem Wesen auf dem Thron, das ihm das Aussehen der angreifenden Schiffe beschrieb. Er brauchte eine Weile, um Cronenbergs Worte zu verdauen – doch danach war ihm restlos klar, dass der Vieltausendjährige einem folgenschweren Irrtum aufsaß. Er und seine Fraktalen glaubten offenbar felsenfest, dass die angreifenden x-förmigen Raumer zur RUBIKON gehörten. Und damit auf derselben Seite kämpften wie Cloud. Das Rochenschiff betrachtete Cronenberg offenbar als Vorhut, die das Terrain hatte erkunden sollen. Nun kam die eigentliche Flotte – und sie tat es mit Donnerhall. Zu verdenken war der Irrtum den Menschen dieser Zeit nicht. Immerhin waren sie über Jahrzehntausende unbehelligt von Besuchern aus dem All jedweder Art geblieben. Und nun tauchten binnen weniger Tage gleich zwei unterschiedliche Schiffstypen auf. Nach der simplen Logik eines Cronenberg mussten diese beiden Parteien zusammengehören. Und auch Cloud hätte zu gern gewusst, wie es zu diesem zeitlichen Aufeinandertreffen kam. Wer waren die Besatzungen der X-Raumer? Die Bauart war ihm völlig unbekannt. Im Grunde konnte es sich nur um Ankömmlinge aus einer anderen Galaxie handeln, denn das Darnok'sche Entartungsfeld war erst seit wenigen Wochen inaktiv. Binnen so kurzer Zeit vermochte sich keine enttechnisierte Zivilisation wieder den Sternen zuwenden – und dann sofort Schiffe der beschriebenen Perfektion und Kampfkraft bauen. »Du gibst ernsthaft vor, die X-Schiffe nicht zu kennen?«, fragte Cronenberg auf Clouds entsprechende Bemerkung. »Sie sind mir völlig unbekannt. Aber wenn sie von solcher Zahl sind, wie du es sagtest, droht der Erde die endgültige Vernichtung. Lass mich gehen, damit ich von der RUBIKON aus wenigstens den
Versuch einer Abwehr unternehmen kann!« »Das wird kaum nötig sein …« Cronenberg schloss die Augen und sank übergangslos wieder in sich zusammen. Das darf ja wohl nicht wahr sein, dachte Cloud wütend. Nicht schon wieder! »Sei so nett und weck deinen Boss«, wandte er sich an den Fraktalen. »Ich bin noch nicht fertig mit ihm. Er muss mir zuhören. Ich weiß nicht, was er sich einbildet, aber was will er gegen eine wahrhaftige Kriegsflotte ausrichten?« »Du verstehst nicht«, sagte der Fraktale fast teilnahmslos. »Den Verdacht habe ich auch. Aber es könnte ebenso gut sein, dass ihr mich nicht versteht. Verstehen wollt! Nur wird es in Kürze zu spät sein, um auf mein Angebot zurückzukommen – falls der Zellhaufen dort, der sich mit Cronenberg vermischt hat, irgendwann doch noch auf den Trichter kommt, dass er mich braucht. Mich, meine Leute und mein Raumschiff!« »Du verstehst nicht einmal ansatzweise … oh, ich wünschte, ich könnte dabei sein. Aber wenigstens kann ich verfolgen, was vor sich geht. Wir sind viele und doch eins …« Himmel, sind denn hier alle völlig durchgeknallt? Eine unbedachte Bewegung genügte, um den Schmerz seiner gebrochenen Arme wieder in den Vordergrund zu rücken. Stöhnend versuchte er, sich in eine Position zu bringen, in der die Qual nachließ. Der Fraktale kam zu ihm und sagte: »Der Herr fragt, ob ich dich von deinem Martyrium erlösen soll.« Cloud erstarrte. Sein Blick irrte zu der Cronenberg-Monstrosität. »Ich habe nicht gehört, dass er irgendetwas ›sagte‹.« »Soll ich?«, fragte Nummer 857911, ohne darauf einzugehen. Der Zorn auf Cronenberg und das, was er aus Erde und Menschheit gemacht hatte, überlagerte kurz jede andere Emotion und erst recht die Vernunft. »Ich schlage vor, du erlöst ihn – deinen sogenannten Herrn, den ich einen Irren nennen würde!« Der Fraktale blieb auch jetzt unaufgeregt. »Heißt das nein?«
»Ja, zur Hölle, das heißt nein! Ich will erlöst werden – aber bestimmt nicht von dir und nicht auf die Weise, die du und dein sauberer Herr sich vorstellen! Wenn ich wirklich mitentscheiden kann, dann lass mich einfach in Ruhe, ja? Ich warte, bis dieser Wahnsinnige wieder ›aufwacht‹, dann wird sich schon zeigen, was aus mir –« In diesem Moment explodierte mit Getöse die Wand hinter Cloud. Trotz der Schmerzen, die die abrupte Bewegung durch seinen Körper pumpte, wirbelte er im Sitzen herum und sah, wie durch das torgroße Loch etwas hereinkam. Etwas, das er nicht kannte, das aber zielstrebig auf ihn zukam – nicht mit der Geschwindigkeit eines Torpedos, das gerade eine Mauer durchschlagen hatte, sondern langsam, fast behutsam und suchend. Der Fraktale blickte ebenfalls in die Richtung des Dings. Seine Züge blieben ausdruckslos, aber er reagierte, wandte sich von Cloud ab und rannte in aberwitzigem Tempo auf den Thron und Cronenberg zu. Kurz bevor er ihn erreichte, zersplitterte er auf ähnliche Weise wie bei seinem Angriff auf Cloud – nur dass er sich beim Herabregnen wie eine Decke über Cronenberg breitete, dessen Thron gleichzeitig im Boden zu versinken begann. Irgendwo heulten Sirenen auf. Und ein rasch anschwellendes Geräusch verriet die Ankunft der Kabine, mit der Cloud hier heraufgebracht worden war. Das Ding aber, das die Wand durchbrochen hatte, hielt jetzt schnurstracks auf Cloud zu. Es hatte frappante Ähnlichkeit mit einer hinten flachen, vorne abgerundeten Gewehrkugel. Nur dass sein Durchmesser ungefähr einen Meter und seine Länge drei betrug. Die Kraft, die es bewegte, blieb unsichtbar, wahrscheinlich Antigravitation. Umgeben war es von einem Flirren, als strahlte es Hitze aus, die die Luft in Wallung brachte. Zu spüren war davon aber nichts. Das Ding kam bei Cloud an, als die Fahrstuhlkabine in der Raummitte eintraf und ihre Tür sich öffnete. Die flirrende, gewölbte Vorderseite des Objekts klappte nach oben, und Cloud fühlte sich von unsichtbaren Armen hochgehoben und in
eine waagrechte Haltung gebracht. Als er über dem Boden schwebte, schoss das Ding auf ihn zu und stülpte sich regelrecht über ihn. Cloud erhaschte einen letzten Blick auf den Lift, aus dem Fraktale strömten, zersplitterten und – Der Deckel des Dings schloss sich. Es wurde finster um Cloud, aber er meinte, ein Prasseln zu hören, als würden die Splitter der Fraktalen von außen gegen das Gehäuse prasseln. Er konnte sich täuschen. Minutenlang blieb es still. Es war, als läge er lebendig begraben in einem Sarg unter meterdicker Erde. Nur sein eigener Atem und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren war zu hören. Aber er rechnete jeden Moment damit, dass die Gehäuseschale aufbrechen und Fraktale eindringen würden, um ihm den endgültigen Todesstoß zu versetzen. Um das von ihrem Herrn gefällte Urteil doch noch zu vollstrecken. Und dann endeten Dunkelheit und Stille, und das Ding öffnete sich tatsächlich. Arme griffen ins Innere, und eine Stimme, die er zuerst für eine grausame Täuschung Cronenbergs hielt, sagte: »Bleib ganz ruhig auf dem Antigravpolster liegen, wir haben dich gleich – du wirst unverzüglich ärztlich versorgt!« Ein Gesicht tauchte in der Öffnung auf. Falls er nicht halluzinierte, gehörte es Aylea. Clouds Herz raste. Etwas in ihm weigerte sich, all dies zu glauben und als Realität zu akzeptieren. Zu groß war die Furcht, dass Cronenberg tatsächlich nur ein morbides Spiel mit ihm trieb. Aber dann erschien auch noch Algorian und half dabei, ihn aus der Röhre zu befreien. Cloud befand sich in einem Hangar der RUBIKON, ein Zweifel war kaum möglich. Und auch die Personen um ihn herum waren echt. »Wie …« Er schluckte, holte tief Luft. »Wie zum Henker habt ihr das geschafft?« »Wir waren das nicht.« Aylea trat dicht neben ihn, strich ihm eine Haarsträhne aus der verschwitzten Stirn. »Ihr wart das nicht?«
Auch Algorian verneinte mit einer typischen Aorii-Geste. »Wer dann?«, seufzte Cloud. »Ich«, sagte eine Stimme, die zu niemandem aus der Gruppe gehörte, die ihn umstand. Endlich begriff er. »Sesha, du …?« »Stets zu Diensten, Commander!«
Cronenberg registrierte das Geschehen im ehemaligen Residenzturm nur partiell. Zu sehr war sein Geist in die Aktionen der Fraktalen verstrickt, die er mental auf ihren Vorstößen in die Schiffe der Zerstörer begleitete. Erstaunt stellte er fest, dass keine Menschen, nicht einmal Humanoide an Bord waren. Aber das hinderte ihn nicht, die Fraktalen gegen alles vorgehen zu lassen, was sich in den Objekten regte, die der Oortschale schwerste Schäden zugefügt hatten – und keine Bereitschaft erkennen ließen, ihr Vernichtungswerk einzudämmen. Im Gegenteil. Erst einmal in den Konkavraum vorgestoßen, hatten sie damit begonnen, die Felder der Vaku-Farmer zu verwüsten – unentbehrliche Nahrungsressource der neuen Menschheit. Cronenberg benötigte keine weitere Rechtfertigung für sein Vorgehen. Tötet sie, befahl er seiner Armee aus Fraktalen. Tötet sie alle! Das Massaker währte nur kurz und ging auch nicht ganz ohne eigene Verluste ab. In einem der X-Schiffe zündete ein Kommandant noch den Selbstvernichtungsmechanismus, bevor die Fraktalen ihn ausschalten konnten. Das Kriegsschiff verwandelte sich in eine kurzlebige Miniatursonne und hinterließ weitere Verwüstungen im Konkavraum. Insgesamt aber war der Blutzoll, den die Fraktalen zu zahlen hatten gering im Verhältnis zum Lohn, den sie errangen. Hunderte von fremden Raumschiffen – Beutetechnik, die für Cronenberg und seine weitreichenden Pläne unbezahlbar waren. Darüber hatte er ganz John Clouds RUBIKON aus dem Blickfeld verloren. Und Cloud selbst. Was sich rächte. Denn als er seine Aufmerksamkeit wieder beidem zuwandte, war etwas Ungeheuerliches geschehen: Clouds Rochenschiff hatte die Fänge der Vakuumvegetation abgeschüttelt und war in den Erdorbit vorgestoßen. Dort hatte es ein sondenartiges Element ausgeschleust, das
den entführten Commander offenbar ohne große Schwierigkeit zentimetergenau aufgespürt … und in einer aberwitzigen Aktion befreit hatte. Aberwitzig deshalb, weil nicht einmal die herbeigeeilten Fraktalen in der Lage gewesen waren, Cloud und das Objekt, mit dem seine Flucht gelungen war, aufzuhalten. Zwei Fraktale wurden seit diesem Geschehnis sogar vermisst, von ihnen war keine noch so geringe Spur mehr im Turm gefunden worden. Der Fraktale, den Cronenberg zu Clouds Bewachung abgestellt hatte, war immerhin fähig genug gewesen, Cronenberg selbst zu schützen und samt seinem Thron in das darunterliegende Stockwerk zu befördern. Ihm machte Cronenberg keinen Vorwurf, sondern adelte ihn, indem er ihn endlich in den ersehnten Einsatz schickte – gegen die im Konkavraum offenbar nach Belieben manövrierende RUBIKON. Dass die eigentlich als Belohnung gedachte Aktion für Nummer 857911 den Tod bedeutete, kümmerte ihn dabei weit weniger als die Frage nach dem Wie. Wie war es dem Rochenschiff gelungen, sich plötzlich unangreifbar zu machen – ganz im Gegensatz zu all den X-Schiffen, die fast widerstandslos in Cronenbergs Hand gefallen waren? Den Blick nach innen gerichtet, in die Psisinne des Gigahirns, über die er mit sämtlichen Fraktalen verbunden war, ballte er die aufgeschwemmten Hände zu Fäusten und reckte sie drohend zur Decke. Wem diese Geste galt, war offenbar. Doch davon allein ließ sich das flüchtige Schiff nicht aufhalten. Cronenberg musste sich der neuen Herausforderung stellen …
Als Cloud an der Seite von Aylea und Algorian die Zentrale der RUBIKON betrat, kamen ihm Jarvis und Jelto entgegen. Beiden stand die Freude ins Gesicht geschrieben, ihn – relativ – unbeschadet wiederzusehen. »Entschuldigt, wenn ich auf eine Umarmung oder auf einen festen Händedruck verzichte«, lächelte Cloud und blickte bezeichnend auf die Spezialfixierungen seiner Arme, die ihm nach Seshas Instruktionen von flinken Spinnenrobotern angelegt worden waren. Darüber hinaus hatten sie ihm schmerzstillende und heilungsfördernde Mit-
tel injiziert. Laut Prognose sollten die lädierten Knochen in weniger als 48 Stunden wieder so weit zusammengewachsen sein, dass die Stützen abgenommen werden konnten. »Das heißt wohl«, grinste Jarvis zurück, »dass ich dich auch nicht umarmen sollte. Okay, dann lass es mich mit Worten ausdrücken: Schön, dich wiederzuhaben, Commander. Schön, dich lebend wiederzuhaben!« »Dito«, erklärte Jelto fast feierlich. »Uns beiden …« Er zeigte auf Jarvis und sich. »… wäre es auch fast an den Kragen gegangen. Nur Seshas Eingreifen ist es zu verdanken, dass wir jetzt hier stehen – und uns sofort im Anschluss an deine Befreiung machen konnten.« Aylea trat zwischen sie und nickte vehement. »Sesha war … oder ist … unglaublich! Sie spielt wie kein Zweiter auf der Klaviatur der Möglichkeiten dieses Schiffes …« Sie stockte. »Von dir natürlich abgesehen, Commander, Sir!« Ein verlegenes Lachen huschte über ihr Gesicht. »Was genau hat sie denn getan? Und wie konntet ihr mich überhaupt so zielsicher auf der Erde ausfindig machen?« »Das frag mal besser die Süße selbst«, sagte Jarvis. Kein anderer wäre je auf die Idee gekommen, die KI »Süße« zu nennen. »Sesha?« »Das war leicht. Zuvor musste ich das Schiff gegen die Attacken von außen wirksam abschotten. Ihr wisst, dass der Innenraum der Hohlwelt mit psionischer Energie förmlich übersättigt ist und dass diese auch die Funktionen des Schiffes – und meine eigenen – beeinträchtigte.« »Wie hast du die RUBIKON abgeschottet?«, fragte Cloud. »Indem ich das Schiff komplett auf ein anderes Energielevel hob«, erwiderte die KI, als sei damit alles erklärt. »Solange wir darauf verharren, sind die Zugriffsmöglichkeiten der Hohlweltbewohner beendet. Und auch das Vehikel, mit dem ich dich aus dem Turm barg, wurde mit entsprechenden Generatoren ausgerüstet.« »Klingt toll. War es wohl auch – verstehen tu ich aber nur die Hälfte«, gab Cloud zu. »Zumal immer noch nicht beantwortet wurde,
wie ich aufgespürt wurde.« »Das war ebenfalls Seshas Idee. Wir selbst hätten daran niemals gedacht«, rief Cy, der die ganze Zeit auf einem der Kommandositze abgewartet hatte, jetzt aber auf seinen Pseudopodien herangewirbelt kam und sich raschelnd einmischte. »Was für eine Idee?«, fragte Cloud neugierig. »Sie scannte die Erdoberfläche nach Hinweisen auf Protomaterie.« »Protomaterie?« »Ja«, sagte Aylea. »Du trägst immer noch Partikel von deinem Aufenthalt im Aquakubus in deinem Blut. Von den Vaaren. Die Teilchen beeinträchtigen dich offenbar nicht – aber sie sind einmalig, und Seshas Sensoren konnten darauf geeicht werden.« Cloud schüttelte fassungslos den Kopf. »Nie im Leben hätte ich daran gedacht … Aber wir plaudern hier gemütlich, während Cronenberg bestimmt längst alle Hebel in Bewegung setzt, um –« »Cronenberg?«, hauchte Aylea verstört. Von Jarvis kam nur ein dumpfes Ächzen. »Ja, ich erzähle euch alles später. Zuerst müssen wir hier weg – irgendwo muss auch eine Art Raumschlacht toben. Wir sind noch lange nicht aus dem Schneider, auch wenn Sesha Übermenschliches geleistet hat. Lasst uns –« Er wandte sich den Kommandositzen zu. »Nur die Ruhe«, besänftigte ihn Jarvis. »Die Süße hat alles unter Kontrolle. Wir sind bereits auf dem Weg raus, erreichen gleich die löchrig wie ein Schweizer Käse gewordene Schale der Hohlwelt. Auch die X-Raumer werden uns nicht stoppen. Und Cronenberg – Hölle, wie kann dieser Bastard immer noch sein Unwesen treiben? – erst recht nicht, obwohl …« »Obwohl?« Cloud blieb vor dem Podest stehen und blickte den Freund an, der neben ihm ging. »Obwohl er – wenn er dahintersteckt – einiges draufhat. Beängstigend viel.« »Was meinst du?« »Das wirst du gleich sehen. – Sesha? Einen Zusammenschnitt der jüngsten Ereignisse ins Holo. Mit Kommentar deinerseits.« Während Cloud Platz nahm, suchten auch die anderen ihre Sitze
rund um die Holosäule auf. »Im Übrigen ist da noch etwas – aber wie du schon sagtest, sollten wir erst einmal das Weite suchen und diese nicht mehr wiederzuerkennende ›Erde‹ hinter uns lassen, bevor wir uns damit befassen. Nur so viel vorab: Du warst kontaminiert, als du hier ankamst.« »Kontaminiert«, echote Cloud. Doch dann zog schon Seshas Zusammenschnitt der zurückliegenden Ereignisse seine Aufmerksamkeit auf sich, und er beließ es vorerst dabei. In der Bildsäule erschien das zwielichtdurchwobene Medium, das die Hohlschale erfüllte, hinter sich Erde und Mond verborgen hatten, nachdem die Oortschale vollendet worden war. Außerdem kreuzten darin die Bahnen von Plasmakanonen, deren Quellen sich mühelos zurückverfolgen ließen. Vor allem, als Sesha sie heranzoomte. X-förmige Raumschiffe unbekannter Bauart. Grünlich schillernd, wenn die Wiedergabe in Echtfarben arbeitete, wovon Cloud ausging. Die X-Schiffe waren damit beschäftigt, die »Agrarflächen« an der Innenseite der Hohlschale zu verwüsten und dabei nebenbei auch weitere Löcher in die Oortschale zu feuern. »So sah es noch vor Minuten aus«, erklärte die KI. »Dann aber wandelte sich das Bild.« In der Holosäule stellten die X-Raumer nacheinander ihre Salven ein. Einer von ihnen wurde jedoch ohne sichtbare Einwirkung von außen zerrissen. Als sich die Glut gelegt hatte, zoomte Sesha die Trümmerteile heran … und ging noch etwas näher mit dem Kameraauge heran, bis zwischen den Wrackteilen etwas anderes zum Vorschein kam. Treibende Tote. Leichen. Fast zur Unkenntlichkeit verbrannt – fast. Sesha extrapolierte die verstümmelten Körper zu einem Ganzen, das der RUBIKON-Crew – allen hier Versammelten – nur allzu vertraut war. Auch wenn sich keiner zu erklären vermochte, wie diese Geschöpfe, ausgerechnet diese, in die X-Raumer gekommen waren. »Damit hätte ich nicht gerechnet«, gab Cloud unumwunden zu.
»Niemand von uns hätte es. Wir waren ja dabei, als Kargor das Butterfly-System ansteuerte, das von ihnen belagert wurde – in Schiffen, wie wir sie kennen. Schiffe, die Kargor mit der RUBIKON unbarmherzig zerstörte und damit auch sämtliche Insassen in den Tod trieb …« Jarvis' Worte erinnerten an mehr als ihre Begegnung mit den Geschöpfen, die hier im Umfeld des zerstörten X-Raumer trieben. Sie waren zugleich eine unverblümte Anklage gegen den ERBAUER Kargor, der noch viel mehr Dreck am Stecken hatte, sich darum aber nicht im Geringsten scherte. »Treymor«, rann es über Clouds Lippen. »Wie um alles in der Galaxis sind die Treymor in den Besitz einer solchen Technologie gelangt? Wir waren doch bei ihren Heimatwelten im Milchstraßenzentrum. Da war nichts mehr von Bedeutung. Wir glaubten sie dahingerafft von Darnoks Wüten. Dann die Überraschung, dass sie immerhin bis zum Butterfly-System vorgestoßen waren, wo Darnok sie in Schach hielt … Es ist mir unerklärlich, was hier geschieht – wie sie ausgerechnet jetzt, da wir zur Erde zurückgekehrt sind, hier auftauchen, um alles in Schutt und Asche zu legen …« »Zumindest Letzteres ist ihnen ja nun nicht gerade geglückt«, erinnerte ihn Jarvis. »Worüber wir uns aber kaum freuen sollten«, hielt Cloud dagegen und schilderte in knappen Worten, was Cronenberg ihm diesbezüglich eröffnet hatte. Danach herrschte betretenes Schweigen. »Er hat gar nicht das Know-how, um die Schiffe zu besetzen und als eigene Flotte zu nutzen«, hielt Cy schließlich dagegen. Aber es klang lahm und halbherzig, als glaubte er seinen eigenen Worten nicht vorbehaltlos. »Darauf würde ich keine Wette eingehen«, erwiderte Cloud düster. »Nach allem, was ich in meiner Gefangenschaft erlebte …« Während die RUBIKON weiter behutsam auf die Grenze der Hohlwelt zusteuerte, stellte sich Cloud allen Fragen der Gefährten – die ihrerseits auf seine eingingen. »Bleibt noch ein Punkt zu klären«, sagte Cloud am Ende. »Die Kontamination«, reagierte Sesha unaufgefordert aus dem Off.
»Die Kontamination«, bestätigte Cloud. »Was hattet ihr damit gemeint?« »Sieh es dir an«, riet ihm die KI. »Der Türtransmitter ist von mir soeben in den Bereich geschaltet worden, wo ich die Quarantänezone errichtet habe. Du kannst alles ungefährdet betrachten.« Cloud nickte und sah in die Runde. »Wer kommt mit?« Es gab keinen, der sich nicht gemeldet hätte. »Aber jemand sollte hier die Stellung halten«, sagte Cloud. »Jarvis?« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, auch wenn das Copyright mittlerweile bei Sesha lag. »Stets zu Diensten, Commander.«
Der Transmitter spie sie aus, der Reihe nach, ganz so, wie sie die Gegenstelle betreten hatten: Cloud, Aylea, Jelto, Cy und Algorian. »Ihr wollt mir wirklich nichts verraten?«, wandte sich Cloud an seine Begleiter. Vor ihnen lag ein langer Korridor mit Türen rechts und links. »Nicht einmal ein klitzekleiner Tipp?« »Du nimmst dir selbst den Reiz, wenn du es dir vorher beschreiben lässt«, behauptete Aylea und zwinkerte ihm zu. Hätte man ihr Strahlen zum Maßstab genommen, hätte man meinen können, sie wären unterwegs in einen Spielzeugladen, wo es die neueste Attraktion zu bewundern gab. Aber Cloud ließ sich davon nicht blenden. »Den Reiz«, murmelte er nur. »So, so.« Ohne im Schritt innezuhalten, fragte er: »Wie weit ist es noch, Sesha?« Die KI hätte ihn jederzeit vorab über alles informiert, was ihn erwartete – wenn er nur energisch genug darauf gedrungen hätte. Aber er wollte kein Spielverderber sein. Nachdem er Cronenbergs bizarrem Reich entkommen war, würde er einiges auf sich nehmen, um den Freunden eine kleine Genugtuung zu bereiten. Sie hatten es sich verdient, ihm wissensmäßig ein klein wenig voraus zu sein. »Die nächste Tür links«, antwortete Sesha.
Das Türschott glitt bereits vor ihnen auf … und schloss sich hinter ihnen auch wieder. Der Raum war etwa so groß wie Clouds Privatkabine und völlig unspektakulär – bis auf den Kubus vielleicht, der mittendrin etwa zweieinhalb Meter hoch aufragte. Er war aus demselben Material wie alles an Bord – und wurde erst transparent, als Cloud darauf zutrat. Sofort ging ein Raunen durch den Raum. »Grundgütiger«, rutschte es Cloud heraus. Er wusste sofort, worum es sich handelte. Aber es erschütterte ihn zutiefst, es hier zu erblicken. Das also hatte Sesha mit Kontamination gemeint. »Es haftete … an dem Vehikel, mit dem ihr mich aus dem Residenzturm geholt habt?«, wandte er sich an seine Freunde, auch an die KI. Jelto nickte. »Sesha reagierte zum Glück sofort und isolierte den Stoff, ehe er sich über das Schiff verteilen konnte. – Aber du scheinst zu wissen, worum es sich handelt, während wir hier alle noch rätseln. Die KI konnte vor deinem Eintreffen nur ermitteln, dass es biologisch ist – und eine absonderliche Eigenart besitzt.« Cloud nickte wie gebannt. Sein Blick hing an den Partikeln. »Von welcher ›Eigenart‹ sprichst du?« Jelto wandte sich direkt an Sesha. »Wärst du bitte so freundlich?« Die gläsern gewordene Wand wurde zu einer Art Lupe, durch die Cloud plötzlich eine Handvoll der in ständiger Bewegung befindlichen Teilchen stark vergrößert betrachten konnte. Er stöhnte auf. Einerseits bestätigte der Anblick seine Vermutung – irgendwie zumindest –, andererseits schockte es ihn, dass jedes einzelne dieser Teilchen aussah wie … wie das Ganze, das er kannte. »Ein Fraktaler«, sagte er schließlich. »Das ist einer der Soldaten aus Cronenbergs Armee und Leibgarde – mit denen es ihm wahrscheinlich gelungen ist, die X-Raumer unter seine Kontrolle zu bringen. Genau so hat sich auch der Fraktale aufgesplittert, als er mich angriff, um mir nach und nach alle Knochen zu brechen. Aber ich wusste nicht, dass sich hinter jedem einzelnen Partikel ein mikro-
skopisch kleines Ebenbild des Ausgangskörpers verbirgt …« »Die Bezeichnung Fraktaler legt aber genau das bereits nahe«, schulmeisterte Sesha. »Danke für die Belehrung«, knurrte Cloud. Der Anblick hinter der Scheibe war absolut faszinierend. Es musste einer der Fraktalen sein, die aus dem Aufzug gekommen waren, als Cloud gerade von dem Bergungsgerät aufgenommen und abtransportiert wurde. Er hatte noch ein prasselndes Geräusch gehört – offenbar der Moment, als der zersplitterte Fraktale sich auf dem Außengehäuse niederschlug. »Aber wie kann er mit dem umgegangen sein, was du als erhöhtes Energielevel bezeichnet hast?«, wandte Cloud sich an die KI. »Sagtest du nicht, die Bergungssonde und auch die RUBIKON seien genau dadurch unantastbar geworden für Übergriffsversuche?« »Ich bin noch auf Lösungssuche, was diese Ungereimtheit betrifft«, räumte Sesha ein. Das klang für Clouds Geschmack nicht wirklich gut. Außerdem fragte er sich, warum der Fraktale sich nicht mehr zu der Einheit, die ihn als Mensch auswies, zusammenfügte. Hatte der Zusammenprall mit der Bergungssonde ihn irreparabel geschädigt? Oder behielt er seinen Zustand bewusst bei? »Das gefällt mir nicht«, murmelte Cloud. »Du denkst, das Ding stellt eine Gefahr dar?«, fragte Aylea und zog beide Brauen nach oben. »Sesha hat uns aber versichert, dass –« »Solange Sesha auch nur eine einzige meiner diesbezüglichen Fragen mit ›Ich bin noch auf Lösungssuche‹ beantwortet, bin ich nicht bereit, ihre Aussagen als unumstößliches Faktum zu betrachten«, hielt er dagegen. »Dann sollten wir es besser loswerden – bevor es Seshas Erklärung ad absurdum führt«, schlug Cy vor. »Es ist kein Ding«, erwiderte Cloud. »Es ist ein Mensch. Zumindest können wir es nicht ausschließen.« »Im Krieg sterben manchmal auch Menschen«, sagte Jelto sachlich. »Und das, was uns Cronenberg gerade liefert, ist Krieg. Oder bist du anderer Meinung?« »Hatten wir nicht erst kürzlich hinsichtlich Darnok eine solche De-
batte?«, wunderte sich Cloud. »Da habt ihr mich vom Lebenswert selbst des größten Verbrechers der Geschichte überzeugt. Gilt das nur auf Darnok zugeschnitten oder generell?« Er schüttelte den Kopf. »Solange wir nicht wissen, was Cronenberg diesen Geschöpfen angetan hat, um sie zu dem zu machen, was wir gerade sehen, sollten wir Gnade walten lassen. Aber auch jedes Risiko ausschließen.« »Wie lässt sich das vereinbaren?«, fragte Aylea. »Indem wir ihn Cronenberg zurückgeben.« Er rief Sesha. »Sofort ausschleusen und mit einer Schaltung versehen, die den Behälter nach wenigen Minuten öffnet. Soweit ich weiß, können die Fraktalen im Vakuum überleben.« Die KI bestätigte den Befehl. Wenig später verschwand der Kubus im Boden. »Als Studienobjekt wäre er vielleicht wertvoll gewesen«, gab Algorian zu bedenken. »Wer weiß, wann wir darauf angewiesen sind, mehr über diese besonderen Menschen zu wissen.« »Wir werden die Erde so bald nicht wieder besuchen«, erwiderte Cloud, dem, während er es sagte, bewusst wurde, wie sehr ihn der Aufenthalt dort mitgenommen und nachhaltig geprägt hatte. »Sondern?« »Es gibt genug Ziele, denen wir uns zuwenden können. Ich habe Jiim versprochen …« Eine Stimme, die nicht Sesha gehörte, fiel ihm aufgeregt ins Wort. »Jarvis hier. Verdammt, wir sitzen wieder voll im Schlamassel. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, aber –« Die Stimme aus den verborgenen Systemen der Bordsprechanlage verstummte. »Sesha? Was geht da vor? Was meinte Jarvis – und vor allen Dingen: Was ist mit ihm? Warum ist die Verbindung abgebrochen?« Cloud hielt den Atem an, um die Antwort der KI in jedem Detail zu verstehen. Sie kam postwendend – und bestätigte seine schlimmste Befürchtung. »Wir wurden soeben geentert. Sämtliche Reaktionsversuche meinerseits scheitern. Meine Systeme kollabieren. Ich fürchte …«
Auch Seshas Stimme verebbte. Die Gefährten in der Quarantänesektion sahen einander geschockt an. »Wir müssen sofort in die Zentrale!«, rief Cloud schließlich. »Beim nächsten Arsenal versieht sich jeder mit Waffen. Wenn es Fraktale sind, haben wir nur eine einzige Chance: breitgefächertes Blasterfeuer!« Im Laufschritt hetzten sie aus dem Raum in den dahinterliegenden Korridor. Aber als sie wenig später die Zentrale stürmten, war dort die Entscheidung längst gefallen. So überfüllt war die Schaltzentrale der RUBIKON noch nie gewesen, solange Cloud sich zurückerinnerte. Mindestens einhundert Fraktale hatten sich über das Rund verteilt, und von Jarvis war nur noch eine riesige Pfütze aus Nanosubstanz zu sehen. Die Fraktalen hatten ihn als Ersten eliminiert.
Trotz seiner noch nicht verheilten Frakturen hatte sich auch Cloud mit einem leichten Handblaster ausgerüstet. Doch weder aus diesem noch aus einer anderen Waffe seiner Crew löste sich auch nur ein einziger Schuss, denn die Fraktalen hatten sie erwartet – und sie bildeten eine Übermacht, der nichts entgegengesetzt werden konnte. Cloud erkannte es mit einem Blick und reagierte sofort. »Waffen runter!«, blaffte er seine Begleiter an. Seinen eigenen Blaster ließ er einfach fallen, er polterte zu Boden. »Wir kapitulieren«, wandte er sich an die seltsamste Armee, die gegen sie jemals aufgeboten worden war. »John!«, fauchte Jelto und wies zu den Überresten von Jarvis. »Du kannst nicht erwarten, dass wir –« »Waffen runter!«, schnarrte Cloud. »Sonst gibt es hier ein Blutbad!« »Ja, aber unter denen da auch«, zischte Algorian. »Willst du, dass sie uns ohne Gegenwehr abschlachten? Glaubst du, das TreymorSchiff ging hoch, weil die Kerle so kooperationsbereit und barmher-
zig auftrumpften? Wohl eher das Gegenteil!« »Vielleicht. Aber denen sind eigene Verluste wahrscheinlich eher egal, als sie es mir sind, wenn sie uns betreffen. Wir verhandeln – wir werden es jedenfalls versuchen.« Die Fraktalen hatten sich noch nicht gerührt, schienen dem Disput der Gruppe lediglich zu lauschen und sie zu beobachten. Aber gerade das war unheimlich. Unerträglich. »Ihr ergebt euch?«, fragte jetzt der, der ihnen am nächsten stand und machte einen Schritt auf sie zu. »Kapituliert bedingungslos?« Cloud seufzte, schüttelte dann den Kopf. »Von bedingungslos war keine Rede.« »Dann«, sagte der Fraktale lapidar, »sterbt ihr.« Aus den Dutzenden Soldaten Cronenbergs in ihrer Nähe lösten sich weitere Gestalten und kamen auf Cloud und seine Gefährten zu. Durch Cloud ging ein Ruck. »Wenn sie es so wollen«, presste er hervor, bückte sich und schnappte sich den gefallenen Handblaster. Für seine Freunde war es das, wie es schien, erhoffte Signal. Sie wollten sich nicht einfach hinrichten lassen ohne auch nur den Versuch einer Gegenwehr. »Sesha?«, rief Cloud, während er bereits auf den Fraktalen, der mit ihm gesprochen hatte, zielte. Die KI schwieg. Offenbar war sie vom Enterkommando außer Gefecht gesetzt worden – wie Jarvis. Der Gedanke an den Freund gab den Ausschlag. Cloud drückte ab. Sonnenheiß bohrte sich der Waffenstrahl dort durch die Luft, wo der Fraktale gerade noch gestanden hatte. Es sah aus, als hätte der Treffer ihn verpuffen lassen – doch dann sah Cloud die Wolke aus kleinsten Partikeln auf sich zufliegen. Er wusste, was das bedeutete. Im nächsten Moment wurde er vom Gewicht seines Gegners, der sich auf ihm wieder zusammensetzte, zu Boden geworfen. Ringsum zerstoben weitere Fraktale und fügten sich auf den ande-
ren Crewmitgliedern zusammen. Cloud wusste, was als Nächstes geschehen würde. Und diesmal, dessen war er sich sicher, würden nicht erst Arme oder Beine unter dem stählernen Griff dieser absurden Elitesoldaten brechen. Sie würden sich gleich dem Genick oder Rückgrat zuwenden. Er bedauerte nur, nicht einen einzigen mit in das große dunkle Nichts mitgenommen zu haben, für das jede Spezies im Universum einen eigenen Namen hatte.
Cronenberg triumphierte. Das fliehende Rochenschiff, John Clouds Superfestung, hatte die Grenzen des Konkavraums schon fast erreicht, als es den Fraktalen gelungen war, sich auf das veränderte Energieniveau einzustellen. Während die ersten übernommenen X-Raumer Erdkurs einschlugen, sandte der Herrscher über die neue Menschheit eine Angreiferwelle gegen die RUBIKON, der es fast mühelos gelang, die Abwehrvorrichtungen zu durchdringen. Damit war das Schicksal der gesamten Crew besiegelt. Cronenberg hatte klare Anweisungen erteilt. Es würde keine Verhöre und keine Überlebenden mehr geben. Er wollte allein das Schiff. Alles andere konnte bedenkenlos entsorgt werden …
9. Aylea fühlte sich viel zu jung zum Sterben. Aber die Eindringlinge schienen das nicht gelten lassen zu wollen. Dabei sahen sie so harmlos aus … bis zu dem Moment jedenfalls, wenn sie zu unzähligen Splittern zerbarsten, als wären sie aus Glas zusammengesetzt. Und dann landete eines dieser … Wesen auch schon auf Aylea und riss sie zu Boden. Packte ihren Kopf, um – Aylea wusste sofort, was der Unbekannte vorhatte. Und ebenso gut wusste sie, dass sie es nicht würde verhindern können. Ein halb erstickter Schrei löste sich aus ihrer Kehle. Aus dem Augenwinkel sah sie in den letzten Momenten ihres Lebens zweierlei: zum einen, wie John ebenfalls von einem der Schrecklichen angesprungen und zu Boden gezwungen wurde – und zum anderen die Holosäule, die bislang die Umgebung der RUBIKON wiedergegeben hatte, den zwielichtigen Weltraum zwischen Erde, Mond und Oortschale. Dieses Bild verschwand. Obwohl die Holosäule bestehen blieb, gähnte in ihr plötzlich nur noch absolute Schwärze. Ein Defekt? Die Frage beschäftigte Aylea nicht wirklich. Sie fand nicht einmal Zeit, sich auf den Tod vorzubereiten, wie hätte sie da über etwas nachdenken können, das im Grunde keinerlei Bedeutung mehr hatte? Der Fraktale über ihr spannte die Muskeln an, um ihr wie einer Puppe das Genick zu brechen. Dann zerbröselte er. Zerfiel. Für einen Augenblick glaubte Aylea, er habe abermals seine seltsame Fähigkeit angewandt und sich geteilt, um eine andere Position
einzunehmen – womöglich eine, in der er ihr noch geschickter den Hals umdrehen konnte. Aber dann merkte sie, dass etwas anders war als zuvor. Der Fraktale blieb in dieser Zustandsform, die auch eher an Asche erinnerte als an – »Heilige Galaxis, was passiert jetzt?« Es war Algorian, der seiner Verblüffung Luft machte. Aylea rappelte sich indes auf, kam auf die Beine und klopfte sich die flockigen Partikel von der Kleidung. Als ihr Blick durch die Zentrale wanderte, sah sie nirgends mehr auch nur einen einzigen Fraktalen. »John?« Der Commander war bereits unterwegs zum Kommandopodest und seinem Sarkophagsitz. Er schien die Verblüffung um die plötzliche Zersetzung der Enterer fast überwunden zu haben. »Gleich«, sagte er. »Ich kümmere mich gleich um dich – um alle. Aber zuerst muss ich sehen, ob meine Befürchtung stimmt …« Er wuchtete sich in den Sitz, und das Gehäuse schloss sich lückenlos um ihn. Jelto trat zu Aylea und legte ihr beruhigend den Arm um die Schultern. Sie sah zu ihrem Freund auf. »Verstehst du das?« Er schüttelte den Kopf. »Und Sesha schweigt noch immer.« »Das hat nichts Gutes zu bedeuten, auch wenn es zuerst den Anschein hatte – oder?«, fragte sie. Er antwortete mit einem Achselzucken. Was sollte er auch sagen. »Kommt mal alle her. Schnell!« Das war Algorian, der zusammen mit Cy an die Lache herangetreten war, die von Jarvis übrig geblieben war. Niemand wusste, was die Fraktalen dem Gefährten angetan hatten, aber offenbar hatte er vor ihnen kapitulieren müssen. Algorian richtete sich gerade wieder auf, nachdem er sich zuvor über die Nanopfütze gebeugt und etwas aus ihr herausgezogen hatte. »Was ist das?«, fragte Jelto, während er mit Aylea zu den beiden
trat. Nachdem Algorian das stumpfe Plättchen eine Weile studiert hatte, reichte er es an Jelto weiter. »Ich tippe auf die Kristallschuppe, die Jarvis von Kargor bekam. Mit der er sein früheres Erscheinungsbild imitieren konnte.« »Oh …« Die Betroffenheit ließ Aylea sofort wieder schweigen. »Sie scheint auch gelitten zu haben«, urteilte Algorian. »Aber was ist Jarvis passiert? Wir hatten schon mal, dass sich der Verbund seiner Nanoteilchen löste – als er sich gegen den ERBAUER stellte. Aber das war nur von kurzer Dauer. Er konnte sich aus eigener Kraft wieder berappeln. Hier sieht es sehr viel dramatischer aus. Mit unseren gegenwärtigen Mitteln, die ohne Sesha und ihre Diagnosemöglichkeiten auskommen müssen, kann niemand von uns genau sagen, ob vielleicht noch ein Funke Energie in ihm steckt.« »Und Seele?«, hauchte Aylea. Sie erntete wieder nur Achselzucken. In diesem Augenblick bildete sich der Deckel des Sarkophagsitzes wieder zurück, und John sprang heraus. »Und?«, empfingen ihn die Freunde neben Jarvis »sterblichen Überresten«. Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich bin so ratlos wie ihr. Über die Sarkophageinrichtung war auch nicht mehr von der Umgebung der RUBIKON zu erkennen, als uns die Holosäule zeigt. Schwärze. Absolute Lichtlosigkeit, wie ein gähnender Abgrund zwischen zwei Galaxien. Nur ohne auch nur einen einzigen Stern oder noch so schwachen Schimmer … Dabei hatte ich nicht einmal den Eindruck, als würden die Ortungen streiken. Es war eher so, als bekämen sie nichts zu fassen. Möglicherweise trifft mein erster Gedanke, der Verdacht, der mich in den Sitz steigen ließ, also zu …« »Was für ein Verdacht, John?«, fragte Aylea, ohne den Blick von der Lache zu nehmen, die einmal ihr Kamerad gewesen war. Auch Johns Miene verhärtete sich, als er auf die Überreste von Jarvis schaute. »Verdammte Fraktale!«, fluchte er. »Und was meinen
Verdacht, meine Befürchtung angeht: Möglicherweise sind wir ins Schussfeld eines dieser Fremdschiffe geraten, die Cronenberg für sich erobert hat, wie es scheint.« »Die X-Raumer?«, raschelte Cy. »Die X-Raumer, ja. Über ihre genaue Bewaffnung ist uns so gut wie nichts bekannt. Die Plasmakanonen konnten wir im Einsatz erleben, bevor die Fraktalen dem ein Ende machten. Aber möglicherweise gibt es sehr viel tückischere Dinge, die sie gegen uns richten können – und vielleicht schon getan haben.« »Aber wie können sie so schnell gelernt haben, mit den Einrichtungen einer für sie völlig ungewohnten und unbekannten Hochtechnologie umzugehen?« »Sie haben auch Sesha ausgeschaltet«, gab John zu bedenken, »fast im Handumdrehen, wie es aussieht. Zumindest wurde sie mundtot gemacht …« Darauf wusste niemand mehr etwas zu erwidern. Aylea hatte das Gefühl, als wäre die Temperatur plötzlich um mehrere Grad gefallen. Sie fröstelte. Zuerst hielt sie es für Einbildung, aber dann sah sie die weißen Atemfahnen, die sowohl ihren Mund als auch die Münder der Freunde verließen. »Was –«, setzte sie an. In diesem Moment hallte feines Lachen durch die Zentrale. Und plötzlich waren sie nicht mehr allein.
Der Kontakt riss ab. Die besondere Verbindung, die jeden Fraktalen an seinen Schöpfer kettete. Cronenberg spürte Dutzende von Schockwellen, die ihn erreichten und die nur eines besagen konnten: Seine Kämpfer an Bord der RUBIKON gab es nicht mehr. Auch die RUBIKON selbst war – wie er feststellen musste –, von einem Moment zum anderen aus jeder Wahrnehmung verschwunden. Stattdessen … Bei den Türmen, dachte Cronenberg erschüttert, als ihn die ersten Bilder
über die geliehenen Augen von Fraktalen in gekaperten X-Raumern erreichten. Das ist eine Täuschung. Ein Trugbild! Das kann nur eine Halluzination sein, mit der sie uns zum Narren halten wollen … Welle um Welle von Fraktalen schickte er gegen die vermeintliche Fata Morgana. Doch nicht ein einziger Soldat kam durch …
Der Schmetterling stand inmitten der Kohlrabenschwärze der Holosäule. Das etwa menschengroße Geschöpf – nur die Fühler gingen noch über die Durchschnittshöhe eines Erdenbewohners hinaus – war von berückender Schönheit. Seine schillernden Flügel bewegten sich wie in einer sanften Brise. Offenbar erschloss sich die Faszination dieses Wesens selbst Cy, der gewiss ein anderes ästhetisches Empfinden hatte als die Mehrzahl der Versammelten. Seine Blätter raschelten anerkennend, und Seufzer, wie man sie selten von ihm vernommen hatte, drangen aus dem Dickicht seines Körpers. Das Lachen wiederholte sich, kam nun eindeutig von dem Geschöpf in der Holosäule, das aufrecht stand – ganz anders als irdische Schmetterlinge also – und jetzt mehrere Schritte nach vorne machte … … aus der Holografie heraustrat. Die Crew wich zurück. Selbst Cloud konnte sich dieses Reflexes nicht erwehren. Doch ging er wieder genau so weit vor, wie er zurückgezuckt war. Dies war sein Schiff! Darum würde er kämpfen. Gegen Fraktale ebenso wie gegen … ja, gegen was? Stand vor ihnen ein neuer Feind? »Bist du für dieses Phänomen verantwortlich, das unsere Außensensoren blind macht?«, fragte er rau. »Kannst du unsere Sprache verstehen?« Alles andere als eine Bejahung hätte ihn verblüfft. Ein Wesen, das aus einer Holografie heraustrat und dann dem Anschein nach real
vor ihnen stand, musste hochentwickelt genug sein, um – »Zweimal ja«, sang der Schmetterling. Seine Stimme – das hatte sich schon beim leisen Lachen angedeutet – passte perfekt zu seinem filigranen Erscheinungsbild. Cloud sog jeden Ton in sich ein; es war wie Musik. »Und warum?«, fragte er. »Gehörst du zu Cronenberg … oder zu denen, deren Schiffe er außer Gefecht setzte? Diese X- …« »Zweimal nein«, sang die liebreizende Gestalt. »Ihr kennt mich, wenn auch in etwas anderer Erscheinung. Ich bin Kargor, und mir scheint, ich bin gerade noch rechtzeitig gekommen, um dafür zu sorgen, dass ihr auf ewig in meiner Schuld steht …« Cloud starrte auf den Schmetterling, den er völlig anders in Erinnerung hatte. Als Prismengestalt. Als kristallines Wesen mit fast gottgleichen Kräften. »Dann ist das nur wieder eine neue Gestalt, um uns zu täuschen?«, fragte er. »Was bereitet dir daran ein solches Vergnügen? Und wo warst du? Wohin hast du Prosper, Sarah und all die anderen entführt?« Cloud trat jetzt immer näher an den Schmetterling heran, der vorgab, Kargor zu sein. Einer der legendären ERBAUER. Das filigrane Geschöpf stand unerschütterlich da. Furchtlos und durch keine Gebärde zu beeindrucken. »Ihr wollt mir nicht für mein Eingreifen danken?« »Ich weiß nicht einmal, ob es stimmt, was du sagst«, entgegnete ihm Cloud. Die anderen schwiegen, überließen ihm das Feld. Die Fühler des Schmetterlings bogen sich nach hinten Richtung Holosäule, und dort wurde es schlagartig hell. Die Verbindung zur Außenwelt schien wieder zu funktionieren – nur dass sie völlig anders aussah als erwartet. Kein Zwielicht, wie es die Hohlwelt beherrscht hatte, auch keine von Sternen durchsetzte Weltraumschwärze. Die Umgebung der RUBIKON war golden. »Und das bedeutet?«, fragte Cloud mit einem Kloß im Hals.
»Das bedeutet, dass ich die RUBIKON eingeschleust habe. Sie befindet sich in sicherer Obhut, und wir haben das solare System deiner Heimat bereits verlassen.« »Eingeschleust«, echote Cloud. »Die RUBIKON? In was hast du sie eingeschleust? Wie groß müsste dein Raumschiff sein, um das unsere –« »Ihr befindet euch samt Schiff in einer mobil gemachten Tridentischen Kugel«, sang Kargor. »Euch besser geläufig als CHARDHINPerle …«
Cloud musste die Worte in sich wirken lassen. Was offenbar auch genau in Kargors Absicht lag. »Ihr wirkt geschockt.« »Ist das ein Wunder? Wie … wie konntest du die Perle, die hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Black-Holes verankert war, ›mobil‹ machen, wie du es nennst? Und wenn du dazu in der Lage warst – warum hast du es nicht schon getan, um Darnok das Handwerk zu legen, ohne unsere Unterstützung und Prospers besonderen Status? Eine CHARDHIN-Perle ist doch permanent. Sie hätte den Zeitmanipulationen trotzen können …« »Die Milchstraßen-Perle kam dafür nicht infrage«, erwiderte Kargor mit Bestimmtheit. »Sie war bereits zu angeschlagen. Ich musste improvisieren, war im Bau eines funktionstüchtigen Fahrzeugs begriffen, als ihr kamt. Ich habe lediglich umdisponiert. Und es nie bedauern müssen. Ihr habt euch als gute Verbündete erwiesen. So etwas muss belohnt werden.« »Oh-oh«, machte Aylea im Hintergrund. »Das ist aber nicht der Kargor, den wir kennen, der da spricht.« Wieder das leise, wohlwollend klingende Lachen des ERBAUERS. »Ich habe mehr Facetten, als ihr ahnt. Ihr seht auch jetzt noch nicht ganz das, was ich bin.« »Also doch eine verdammte Täuschung!«, fauchte Jelto. Der Schmetterling verneinte. »Ihr werdet alles erfahren. Geduld.« »Das hast du uns schon mal versprochen«, erwiderte Cloud grim-
mig und ballte die Hände zu Fäusten. »Gehalten hast du herzlich wenig. Und jetzt musste auch noch Jarvis wohl endgültig dran glauben …« Er schüttelte den Kopf. »Ich kenne dich, glaube ich, gut genug, um zu ahnen, dass du auch noch etwas zeitiger hättest auftauchen können. Wenn du es denn gewollt hättest. Und dann wäre Jarvis noch am Leben!« »Jarvis.« Der Schmetterling tänzelte heran, auf Jelto zu. »Darf ich?«, fragte er, als er vor dem Florenhüter stand. Eines seiner dünnen Ärmchen streckte sich Jelto entgegen. Der Klon verstand zunächst nicht. Bis er auf die matte Schuppe hinabsah, die er immer noch in seiner Hand hielt. Wortlos hielt er sie Kargor entgegen. Dessen bloße Berührung genügte, das Plättchen aus Kristall wieder Glanz gewinnen zu lassen. Ohne Erklärung trug der ERBAUER es zu der dunklen Lache, in die sich Jarvis seit dem Anschlag der Fraktalen verwandelt hatte. Dort angelangt, ließ er es einfach in die »Pfütze« fallen. Sofort erfolgte eine Reaktion. Zuvor anthrazitfarbene Substanz wurde plötzlich fleischig, und aus einem formlosen Klumpen heraus schälte sich nach und nach die Kontur eines Menschen, der schließlich Jarvis' vertrautes Erscheinungsbild hatte. Allerdings wirkte er leblos, blass, und kein imaginärer Atemzug hob und senkte den Brustkorb. »Er ist tot, nicht wahr?« Obwohl Cloud die Antwort fürchtete, wollte er Klarheit. »Wie geriet er in diesen Zustand?«, wollte Kargor wissen. »Ich messe psionisches Feuer an, das in ihm schwelt – als hätte ihn eine ›Überspannung‹ aus Paraenergie getroffen.« »Es muss auf die Fraktalen zurückgehen«, sagte Cloud, obwohl niemand es gesehen hatte. »Vielleicht genügte ihre bloße Nähe, um den Amorphkörper zum Kollabieren zu bringen … Himmel, ich weiß es nicht! Konntest du dem Zustand der Schuppe nichts entnehmen, was uns weiterhilft?« »Eure KI besitzt Aufzeichnungen über den Vorgang. Wir sollten sie uns ansehen.« Das Schmetterlingswesen trat einen Schritt von dem wie tot daliegenden Jarvis zurück.
»Unsere KI hat sich mit der Ankunft der Fraktalen ebenfalls verabschiedet«, erwiderte Cloud. »Seither besteht keine Kontaktmöglichkeit mehr zu –« »Das habe ich behoben«, unterbrach ihn der ERBAUER. Im nächsten Moment flimmerte die Luft in ihrer Nähe, und ein Hologramm baute sich auf. Es zeigte die Zentrale, in der sie standen – allerdings hielt sich nur Jarvis darin auf, als wie aus dem Nichts Dutzende Fraktale um ihn herum erschienen. Er bildete sofort Waffen aus, aber aus den Umstehenden züngelten grüne Blitze, die sich in seinem Körper vereinten … und ihn seine Form verlieren ließen. Erst erlosch die Illusion, es mit einem lebendigen Menschen zu tun zu haben, und dann sank der Nanokörper in sich zusammen. »Danke«, sagte Kargor. Das Hologramm erlosch. »Die Fraktalen, wie du sie nennst, sind also tatsächlich die Verursacher«, sagte Kargor. »Sie sind beachtlich. Ich begegnete niemals zuvor einer vergleichbaren Laune der Evolution.« »Cronenberg deutete an, sie gezüchtet zu haben«, sagte Cloud. »Wir reden später darüber. Ich werde jetzt euren Gefährten reanimieren. Die einzelnen Elemente seines Kunstkörpers wurden ihrer Fähigkeit beraubt, im perfekten Zusammenspiel zu arbeiten. Die Schuppe wird das nach meinen Vorgaben reparieren. Es wird nur wenige Stunden eurer Zeitrechnung in Anspruch nehmen. – Seid ihr einverstanden?« Cloud schüttelte den Kopf. Nicht, um zu verneinen, sondern um seinem Unglauben Ausdruck zu verleihen. »Aylea hat ganz recht«, brachte er schließlich heraus. »Du bist nicht mehr der Kargor, den wir kannten!« »Vieles hat sich seither verändert«, erwiderte das Schmetterlingswesen. »Und es gibt vieles zu besprechen. Aber warten wir, bis ihr wieder vollzählig seid. Auch Jarvis sollte dabei sein, wenn …« »Wenn?« »Das ist eine Überraschung. Und der Beweis, nach dem ihr hoffentlich endgültig bereit seid, mich nicht länger als euren Feind an-
zusehen.« In den Gesichtern der Freunde konnte Cloud lesen, dass auch sie nicht wussten, wovon Kargor sprach. »Ich werde euch rufen, wenn es so weit ist«, sagte das Schmetterlingswesen, vorerst offenbar zu keiner weiteren Erklärung bereit. Das Einzige, was er noch tat, war, ihnen einen Ratschlag zu geben, wie sie Jarvis' Genesung beschleunigen konnten. Cloud hörte es mit Verblüffung, akzeptierte aber ohne Vorbehalt. »Danke«, verabschiedete er den ERBAUER. »Dafür nicht«, erwiderte das Schmetterlingswesen. Mit diesen Worten tänzelte es zurück in die Holosäule … … und verschwand.
Der Behälter konnte sprechen. Cronenberg betrachtete ihn durch die Augen mehrerer Fraktaler und lauschte der Botschaft mittels ihrer Ohren. Das geborgene Objekt zu sich in den ehemaligen Residenzturm bringen zu lassen, war seiner Leibgarde zu riskant erschienen – und ihm auch. »Wir kamen nie als Feinde«, sagte die Stimme des Mannes, den Cronenberg in der ihm eigenen Konsequenz zum Tode verurteilt hatte – und dessen Entkommen er nicht hatte verhindern können. »Uns trieb nichts weiter als die Sehnsucht nach der Heimat hierher. Den, der sich in dem Behälter befindet, hätten wir töten können. Aber dann würden wir uns auf eine Stufe mit dir stellen, Cronenberg. – Dich erreichen diese Worte doch? Es würde mich wundern, wenn nicht. Du hast ein totalitäres, beispielloses System aufgebaut. Dir entgeht sicher nichts in den Grenzen deines Reiches. Man wird dir den Behälter bringen. Früher oder später. Behandele den Inhalt gut. Es ist ein lebendes Wesen, auch wenn es von dir zum Morden abgerichtet wurde. Wir werden uns wiedersehen, Cronenberg, dessen bin ich mir sicher. Unter anderen Vorzeichen, aber es wird passieren. Und dann wirst du dich unserer Gerichtsbarkeit stellen müssen, sei darauf vorbereitet.« Das war alles. Der Text begann wieder von Neuem, in einer Endlosschleife.
Öffnet das Ding, befahl Cronenberg seinen Werkzeugen. Vielleicht war es eine Bombe – aber dann würde sie nur Ersetzbares vernichten. Kurz darauf stand der Behälter offen, und ein Fraktaler war darin zu sehen. Zersplittert in unzählige, mikroskopisch kleine Ebenbilder. Er weigert sich, herauszukommen, empfing Cronenberg die Gedanken derer, die den Behälter im Konkavraum geborgen und nun geöffnet hatten. Er weigert sich? Cronenberg versuchte, Zugang zum Gehirn des Betreffenden zu finden. Doch dieser sperrte sich dagegen. Ein ungeheuerlicher Vorgang. Ja, bestätigten die Fraktalen. Dann vernichtet ihn, gab Cronenberg seiner Wut nach. Die Fraktalen handelten ohne Zögern, vernichteten den Artgleichen. Cronenberg zog sich aus ihren Gedanken zurück und versuchte, die erlittene Schmach zu vergessen. Viel schwerer als das Verlorene wog schließlich das Erreichte. Und das war, obwohl die RUBIKON unter geradezu schockierenden Begleitumständen entkommen war, mehr, als er sich in den zurückliegenden Jahrtausenden hatte erhoffen können. Die Zeit der Agonie, so schien es, war endgültig vorbei. Eine neues Zeitalter brach an. Das Zeitalter der Sterne. Schon bald würden die ersten Raumschiffe mit Psionten und Fraktalen an Bord in die unendliche Weite jenseits der Oortschale vorstoßen. Und Cronenberg würde jedes einzelne dieser Schiffe begleiten. Von seinem Turm aus. Er hatte gut vorgesorgt für diesen Zeitenwechsel. Seine Armee, daran glaubte er felsenfest, war unbezwingbar – und würde schon bald die aktuelle außersolare Ordnung in ihren Grundfesten erschüttern …
10. Unendliches Glück und unendliche Sorge lagen enger zusammen, als Jiim es jemals für möglich gehalten hätte. Vor Yael hatte er nicht gewusst, wie groß ein Glücksgefühl überhaupt sein konnte, und ebenso wenig hatte er vor Yael geahnt, dass er einmal in solcher Sorge um ein nargisches Leben sein könnte, wie es seit der Geburt seines Sprösslings der Fall war. »Yael …« In Momenten wie diesen, Momenten der Besinnung, genügte es, den Namen seines höchsten Glücks und seiner schwärzesten Ängste laut auszusprechen, um die Gedanken auch zu jener Frau hinzulenken, die diesen außergewöhnlichen Namen ausgesucht hatte. Sie gehörte einer anderen Spezies und Kultur an, war keine Kalsergeborene wie er, aber das hatte ihrer Freundschaft nie im Weg gestanden. Sarah. Sarah Cuthbert. Eine der Verschollenen … Falsch, korrigierte sich Jiim in Gedanken. Nicht einfach nur verschollen – entführt! Von Kargor, diesem … Er unterdrückte die Flüche, die den Namen des ERBAUERs begleiteten, wann immer er über die Handlungen und Beweggründe dieses fast schon allmächtig anmutenden Wesens nachsann. Vielleicht, überlegte er stattdessen fast versöhnlich, klärt sich nun alles. Kein anderer als Kargor kann hinter unserer Entführung stecken. Er wird sich uns bald offenbaren, er muss es. Nicht umsonst hat er die RUBIKON in sein gigantisches Schiff aufgenommen. Womit er uns zudem wahrscheinlich das Leben gerettet hat … »… uns – und damit auch dir, Freude meiner Augen, Blut meiner Herzen.« Sein Blick streichelte über den zarten Flaum, der sich um Yaels kleinen Körper gebildet hatte. Silbrig weiß. Die Farbe der Unschuld. Das Kind schnalzte mit der tief im noch zahnlosen Mund liegenden Zunge, gluckste fröhlich und strahlte seinen Elter mit großen
Augen an. Es würde noch Wochen und Monate dauern, bis sein Gehirn und Geist genügend ausgereift waren, um jenes besondere Band zwischen ihnen zu knüpfen, zu dem nur Nargen fähig waren: die morphogenetische Verbindung. Jiim seufzte, wie er es auch bei der menschlichen Besatzung oft hörte. Er selbst vermochte sich kaum noch zu entsinnen, ob er sich diese Form der Artikulation erst hier an Bord angewöhnt oder schon zu Hause auf Kalser betrieben hatte. Kalser war ihm fremd geworden. Schlimmer noch: unheimlich. Und dies lag weniger an der Dauer seiner Abwesenheit (die subjektiv nur wenige Monate betrug, real aber inzwischen Jahrzehntausende, und daran war der Keelon schuld, der irgendwo in den labyrinthischen Tiefen des Schiffes im Genesungsschlaf lag), als vielmehr an dem Umstand, dass die morphogenetische Verbindung dorthin erloschen war. Die Ursache war Jiim unbekannt, auch wenn er anhand der zuletzt empfangenen Informationen einen Verdacht hegte. Einen grauenhaften Verdacht. Es gab die Kalser-Nargen nicht mehr. Sie hatten aufgehört zu existieren, hatten den Kontakt mit einer fremdartigen Lebensform – einem Jay'nac – mit ihrer Zukunft bezahlt. Die ihnen gestohlen worden war. Die Satoga hatten recht gehabt, als sie die Jay'nac Dex tauften, Sternenpest! Mit keinem anderen als Yael hatte Jiim bislang über den Inhalt der letzten morphogenetischen Botschaft gesprochen, die ihn von Kalser erreicht hatte – und die mittlerweile auch Jahrzehntausende alt war. Jahrzehntausende! Was hatte Darnok ihnen allen nur angetan? Der nächste Seufzer, der sich aus seiner Kehle quälte, ähnelte mehr einem qualvollen Wimmern. Yael, der eine besondere Antenne für Jiims Befindlichkeit hatte – so wie auch umgekehrt Jiim, was Yaels Gemütszustände anging –, weitete die Augen noch mehr … und fing an zu schreien. Heiser und krächzend. Die Töne gingen Jiim durch Mark und Bein. Es kostete ihn große Mühe, seinen Sohn wieder zu beruhigen. Behutsam wiegte er ihn mit den Greifhänden, die seinen Flügelspitzen ent-
sprossen. Dazu forderte er von Sesha eine Melodie an, die auf nargische Sinne wohltuend und beruhigend wirkte. Yael sprach sofort darauf an. Dünne Häute schoben sich vor seine Augäpfel. Nur wenig später war er eingeschlafen, und Jiim legte ihn zurück in das Nest, das er ihm gebaut hatte. Hier drinnen, in der Kalser-Illusion, die mit Seshas Hilfe innerhalb der RUBIKON erstanden war. Hier, in dem behaglichen Baumhaus am Pseudo-Schrund … … der auf der echten Heimatwelt der Nargen längst nicht mehr existierte. Weil ein Jay'nac ihn zerstört hatte. Ein Jay'nac namens Ustrac! Die traumatische Erinnerung an die Informationsfetzen, die ihm beim letzten Kontakt mit dem morphogenetischen Netz übermittelt worden waren, brachten die Flaumhaare im Nacken zum Sträuben. Noch immer hatte er mit keinem anderen darüber gesprochen, was er gesehen hatte. Das meiste hatte er selbst nicht verstanden. Aber seither beschäftigte ihn Kalser, die dortige Situation, fast permanent. Und das handicapte ihn. Er hätte seine ganze Kraft und Entschlossenheit lieber auf Yael verwendet – oder zur Lösung von Problemen an Bord der RUBIKON. Er fühlte sich als Teil der Mannschaft, wurde so auch von den anderen eingeschätzt – aber seit einiger Zeit hatte er immer öfter das Gefühl, sich selbst auszugrenzen. Zu isolieren. Er fluchte auf Nargenart. Und so leise, dass er Yael damit auf keinen Fall aufweckte. Mit einem letzten Blick auf seinen Sprössling, der jetzt friedlich in seinem Nest schlief, verließ Jiim das Baumhaus. Draußen wandte er sich an Sesha. »Hab bitte ein Auge auf Yael. Sobald er aufwacht, informiere mich und schicke ihm schon mal Chex vorbei, dass er ihn bei Laune hält, bis ich wieder hier bin.« »Verstanden«, sagte die KI, die ihre Krise überwunden zu haben schien – aber hatten sie das nach Kargors erstem Verschwinden nicht schon einmal geglaubt?
Jiim seufzte. Er hatte den Auftritt des ERBAUERS versäumt und ebenso den Überfall der Fraktalen, vor denen Kargor sie letztlich gerettet hatte, wie Jiim im Nachhinein erfuhr. Als dies alles geschah, hatte er sich mit Yael in seiner nachgebildeten Heimat aufgehalten. Eine seltsame Vorstellung … Eine seltsame Vorstellung, dass vielleicht alle an Bord von den Fraktalen gemeuchelt worden wären, während er selbst nichts davon mitbekommen hätte. Aber irgendwann wäre das Schiff sicher durchkämmt und Pseudo-Kalser entdeckt worden. Dann wären auch Jiim und sein Junges den furchtbaren Kriegern Cronenbergs zum Opfer gefallen … Der Gedanke an den möglichen eigenen Tod schreckte ihn weit weniger als die Vorstellung von einem Sterben Yaels. In seinem Jungen würde er eines Tages fortleben – aber wenn es starb, würde die Kette für immer unterbrochen sein. Jiim schüttelte die düsteren Gedanken ab und machte sich auf den Weg zur Schiffszentrale. Es war hoch an der Zeit, sich wieder mehr in die Gemeinschaft zu integrieren. Hoch an der Zeit, seinen Hang zum selbst gewählten Eremiten- und fast ausschließlichen Elterdasein aufzugeben. Er kam gerade recht zu einem völlig unerwarteten, eigentlich unmöglichen Wiedersehen …
Die Isolation setzte ihr zu. Sie war lieber unter Menschen, als Tage und Wochen nur mit sich selbst zu verbringen. Das Schlimmste daran war die viele Zeit, die sie zum Nachdenken hatte. Und zum Aufarbeiten von begangenen Fehlern. Fehler, ohne die sie jetzt nicht hier wäre. Allein. In einem goldenen Käfig. Ihr Wärter meldete sich seit Tagen nicht. Und auch wenn es ihr weder an Nahrung noch an anderen Annehmlichkeiten mangelte, konnte dies nicht das Alleinsein aufwiegen. Sie wünschte, sie hätte die anderen nie verlassen. Aber hatte sie eine Wahl gehabt? Nein!
Manchmal hasste sie ihren Peiniger. Der sie gerettet und verschleppt, verschleppt und gerettet hatte. Wie es ihm gerade gefiel. Rücksicht war ihm ein Fremdwort, auch wenn er manchmal vorgaukelte, nur das Beste für sie zu wollen. Wann hatten sie zuletzt miteinander gesprochen? Wann hatte er sich ihr in seiner wahren Gestalt gezeigt? Sie wusste es nicht. Aber der goldene Käfig wurde ihr mit jeder verstreichenden Stunde enger. Irgendetwas musste passieren. Irgendetwas, sonst wurde sie noch verrückt. Schnappte über. »Ich verfluche alle Bractonen!«, stieß sie hervor. Ihre Stimme hallte von den Wänden ihres Käfigs wider. Eine Suite, Luxus pur, wie der Momentaufnahme einer Erinnerung entliehen. Sie selbst hatte in solchem Luxus nie gelebt, aber vielleicht hatte sie ihn mal in einem Film gesehen. Ihr Wärter hatte daraus den Prunk geformt, in dem sie sich selbst überlassen worden war. Vielleicht hatte er sie längst abgeschrieben oder schlicht vergessen. Seine Art zu denken, war ihr niemals vertraut geworden. »Ja, ich verfluche alle Bractonen!«, wiederholte sie voller Inbrunst und Leidenschaft. Da klopfte es an die Tür.
Jiim betrat die Zentrale, und das Erste, was ihm auffiel, war das geflügelte Wesen, das die ersten zwei Meter der Holosäule ausfüllte. Er hatte es zuvor nur aus Erzählungen gekannt, aber selbst für nargische Verhältnisse war es … schön. Außerordentlich schön sogar. Jiim konnte den Blick nicht mehr von dem ERBAUER nehmen, der sich dort den Anwesenden präsentierte. »Jiim …« John winkte ihm zu. Er saß auf seinem gewohnten Platz. Neben ihm hatten sich Aylea, Jelto, Algorian und Cy in den Sarkophagsitzen des ehemaligen Foronen-Septemvirats niedergelassen. Einer der offenen Sitze – zwischen Jelto und Algorian – war noch
frei, der letzte von insgesamt sieben geschlossen. Jiim kannte den Grund. Jarvis steckte darin. Kargor hatte versprochen, dass der beim Angriff der Fraktalen schwerst in Mitleidenschaft gezogene Freund in dem Moment wieder voll auf der Höhe sein würde, wenn sich der Sarkophagdeckel öffnete. Ihnen allen blieb nichts anderes übrig, als es zu glauben und auf Kargors lautere Absichten zu vertrauen. Was manch einem schwer genug fiel. »Nimm Platz«, rief John und deutete auf den freien, offenen Sitz. »Ich wollte gerade nach dir rufen lassen, wusste aber nicht, ob du abkömmlich bist …« »Sesha kümmert sich um Yael. Er schläft. Zumindest hoffe ich, dass Sesha sich kümmert …« »Das wird sie«, behauptete der Commander. Es war gut, ihn wieder in ihrer Mitte zu haben. Während seiner Entführung hatte die RUBIKON seltsam leer auf jedes Crewmitglied gewirkt, fast so, als wäre John fester Bestandteil des Inventars. Was aber in gewisser Weise auf jeden hier zutraf – das Geschöpf in der Säule ausgenommen. »Kargor ist gekommen, um uns … wie er es ausdrückt … zu überraschen«, fügte John erklärend hinzu, während Jiim sich bereits vorsichtig auf den Sitz niederließ, der nicht wirklich an die nargische Anatomie angepasst war. Aber davon konnte auch Cy ein Lied singen. »Hieß es nicht, das wollte er erst, wenn wir wieder vollzählig sind?«, fragte Jiim in die Runde, dabei heftete sich sein Blick auf das geschlossene Gehäuse des siebten Sitzes zwischen John und Aylea. »Eigentlich ja …«, begann der Commander. In diesem Moment drang feines Lachen aus der Holosäule, und Jiim, dessen Blick immer noch auf dem Sarkophagdeckel haftete, zuckte heftig zusammen. Weil eben dieser Deckel gerade vor seinen Augen verschwunden war und sich der darin Befindliche aus einer halb liegenden Position in die aufrecht sitzende brachte.
Voller Elan. »Jarvis!« »Derselbe«, erwiderte er launig, und ein Grinsen breitete sich über die wieder voll funktionstüchtige Illusion seines Gesichts. Alles an ihm wirkte wieder lebendig. Kargors Schuppe arbeitete perfekt. »Ich lausche euch schon ein ganzes Weilchen, aber es gab noch ein paar Selbstinspektionen durchzuführen, bevor ich mich wieder voll fit fühlte. Das ist jetzt der Fall.« Sein Blick suchte und fand den ERBAUER in der Holosäule. »Ich weiß, dass ich ihm mein Überleben verdanke, aber seid mir nicht böse, Freunde, ich mag das Bürschchen trotzdem immer noch nicht!« Das Schmetterlingswesen zeigte sich von Jarvis' »Sympathiekundgebung« unbeeindruckt. Wieder wehte ein feines Lachen durch den Raum. »Seid ihr bereit, mir zu folgen?«, fragte Kargor im Anschluss. »Vielleicht – wenn du uns sagst, wohin«, gab sich auch John spürbar zurückhaltend. »In die Station.« »Die … Tridentische Kugel, wie du sie nennst.« »Die Tridentische Kugel«, bestätigte Kargor. »Wozu?« »Vertraut mir einfach.« Jetzt war es an John, aufzulachen. »So viel Humor sollte belohnt werden«, wandte er sich an seine Freunde, »meint ihr nicht auch?« Von allen Seiten kam vorsichtige Zustimmung. Auch Jiim schloss sich dem an. »Führst du uns?«, fragte John nach einer Weile. »Durch welche Schleuse müs-« »Ihr müsst durch keine Schleuse.« Kargor streckte seine zerbrechlich wirkenden Ärmchen aus und gestikulierte unmissverständlich. »Erhebt euch einfach und tretet vor in die Holografie.« »Und dann?« »Seid ihr dort, wo ich sagte.« Jiim war ebenso skeptisch wie die anderen. Aber auf Johns Nicken
hin verließen sie fast synchron die Sitze … und bewegten sich nach vorne in den Bereich, in dem Kargor abgebildet war. Passieren konnte ihnen wenig. Es war absolut ungefährlich, in den Pixelschwarm eines Hologramms zu treten. In der Vergangenheit war es häufig vorgekommen, dass sie die Säule unabsichtlich berührten … oder einfach durch sie hindurchgegangen waren, um den Weg zu einem der anderen Sitze abzukürzen. Nein, Furcht empfand gewiss keiner, auch Jiim nicht. Aber dann war es, als saugte ihn das Hologramm regelrecht in sich ein. Als verschlinge es ihn. Er schüttelte sich. Der Schauder wich, und seine Umgebung hatte sich komplett verändert. Die umgebenden Wände des Korridors waren golden, und unweit von ihm standen seine Freunde, die nicht weniger verblüfft waren als er. Von Kargor war nichts zu sehen. Dabei gab es ganz in der Nähe eine Tür, auf die kein anderer als der ERBAUER geschrieben haben konnte: HIER. »Wie … wie hat er das gemacht?«, hauchte Aylea gerade beeindruckt. »Seit wann funktioniert die Holosäule wie ein Durchgangstransmitter, der –« Cloud legte ihr schulterzuckend die Hand an den Arm und brachte sie damit zum Schweigen. »Wollen wir?«, fragte er und nickte in Richtung HIER-Tür. »Klar«, erwiderte Jarvis flapsig und wieder ganz der Alte. »Jetzt will ich's wissen. Wenn das Bürschchen schon mal von Überraschungen spricht, dürfte auch wirklich etwas dahinterstecken, was uns umhaut.« »Hoffentlich nicht«, raschelte Cy. »Ich meine, hoffentlich haut es uns nicht um. Mein Bedarf an Aufregung ist für die nächsten hundert Jahre gedeckt!« Niemand nahm den Einwand ernst. John ging voraus. Die Tür sah seltsam aus. Sie passte eigentlich nicht in die sonst so nüchterne Umgebung. »Altmodisch«, kommentierte Jarvis. »Als wäre sie aus Holz gefer-
tigt, zumindest aus einem Imitat.« »Und sie hat eine Klinke«, unterstrich John. »Ich denke, die brauchen wir nur runterzudrücken und … Aber wir sind höfliche Menschen –« »Aurigen«, raschelte Cy empört. »Aorii«, blies Algorian ins gleiche Horn. »Nargen«, schloss sich Jiim mehr reflexartig an. John schüttelte nur den Kopf, hob die Hand und klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers sacht gegen das Türholz …
11. Da standen sie nun, die einen noch auf dem Gang, die anderen bereits drinnen im Raum – aber ihnen allen war eines zu eigen: das Misstrauen, das sie dem, was sie sahen, entgegenbrachten. Und nichts Geringeres als Misstrauen begegnete ihnen auch von der Person, die gerade zaghaft »Herein« gerufen hatte. Die Person, die nicht hätte hier sein können, es aber war. Zumindest dem Anschein nach. »Ich drehe ihm den dürren Schmetterlingshals um!«, keuchte Jarvis unmittelbar hinter Cloud. »Diesmal bringt mich keiner davon ab, alles hat seine Grenzen!« Vielleicht waren es gerade diese für den echten Jarvis so typischen markigen Worte, die den Zweifel aus ihren Augen verschwinden ließen. »John?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch, die Kleidung, die sie trug – ein richtiges Kleid – ungewohnt, aber sonst … sonst stimmte einfach alles. »Lea, Jarvis?« Sie schluckte. »Cy, Algorian … Jiim?« »Guma?«, reagierte ihr gemeinsamer Nargenfreund, dem ebenso wie allen anderen zu dämmern schien, dass sie eben nicht nur einer weiteren von Kargors launigen Illusionen aufsaßen, sondern … »Scob – bist du es wirklich?« Cloud trat ihr immer noch zögernd entgegen. Sie nickte. Und dann legte sie alle Zurückhaltung ab und stürmte ihnen regelrecht entgegen. Damit war der Bann gebrochen. Dass Kargor zwischen ihnen materialisierte, realisierten sie mehr am Rand. Aber seine Versicherung sogen alle in sich auf. »Ich verstehe euren Argwohn – aber es geht alles mit rechten Dingen zu. Ich habe diese Wiedervereinigung von langer Hand vorbereitet.« Wiedervereinigung war das Stichwort – und nicht einmal annä-
hernd zu hoch gehängt für das, was dann folgte. Cloud hatte oft über Scobees Entscheidung in Andromeda nachgedacht, sich von der übrigen Crew zu trennen und zusammen mit Ovayran zur Milchstraße zurückzufliegen. Er hatte es ihr nicht auszureden versucht, und genau das war es gewesen, was ihn bis heute verfolgt hatte. Unbewusst. Nun aber, Auge in Auge mit ihr, stieg es ganz hoch nach oben. In Andromeda hatte Scobee sich nicht nur für eine räumliche Trennung entschieden – Strecken konnten überwunden werden –, sondern auch für eine temporale. Sie war in der Zukunft geblieben, in die der Fehlsprung der RUBIKON sie alle zuvor verschlagen hatte. Cloud und die anderen aber waren mit der RUBIKON mithilfe der sogenannten Portalschleuse der Andromeda-Perle um rund hundert Standardjahre in die Vergangenheit zurückgereist. Dort hatten sie das Rätsel um die Abschottung der Milchstraßen-Perle lösen wollen … waren Kargor begegnet und hatten Darnok aus seinem selbst gewählten Rachealbtraum gerissen. Falls Scobee nicht auch eine Portalschleuse benutzt hatte und in exakt derselben Zeit herausgekommen war wie sie, hätte diese Begegnung niemals stattfinden können. Aber sie hatte ja offenbar Kargor auf ihrer Seite – warum auch immer, dachte Cloud, während er den Blick durch das riesige Zimmer schweifen ließ, das wie ein Anachronismus in einer CHARDHINStation wirkte. Offenbar hatte Scobee es von Kargor nach ihren Wünschen gestaltet bekommen. Wünsche, die sich zweifellos an den Heile-Welt-Szenarien amerikanischer Seifenopern orientiert hatten … »Scob, Scob«, sagte er kopfschüttelnd. »Du enthüllst immer neue Seiten an dir …« Sie verstand sofort, was er meinte, löste sich aus der Umarmung mit Aylea und kam zu ihm. »Sag bloß, das gefällt dir nicht? Allein die Bonbonfarben … ich dachte, harte Jungs wie du stehen auf so was?« »Harte Jungs wie ich könnten losheulen vor Freude, dich wieder-
zusehen!«, erwiderte er, überwand die letzte Kluft zwischen ihnen und schlang die Arme um sie, zog sie ganz fest an sich. Sie fiel in sein Lachen ein. Irgendwann räusperte sich Jarvis hinter ihm. »Äh, Commander, dürfte ich vielleicht auch irgendwann mal …?« »Ungern«, frotzelte Cloud, gab Scobee, die immer noch so duftete und sich anfühlte wie früher, aber dennoch frei. Während die anderen weiter ungehemmt ihrer Wiedersehensfreude nachgaben, bemühte sich Cloud bereits wieder um einen klaren Kopf. Als er den abseits stehenden ERBAUER entdeckte, ging er zu ihm und sagte: »Du verhältst dich zunehmend irritierender. Warum lag dir so viel daran, uns wieder zusammenzuführen? Vor allem aber: Wie hast du das fertiggebracht?« »Zeit ist für mich kein Hindernis. Keine unüberwindliche Barriere. Die Tridentischen Kugeln vermögen nach Belieben zwischen den temporalen Marken zu wechseln. Es war kein Problem, Scobee aus den Händen der Jay'nac zu befreien …« »Aus den Händen der Jay'nac? Scobee war in der Gewalt der Anorganischen?« »Sie hatte ein wenig Pech bei der Anreise zur Milchstraße. Aber das wird sie dir sicher selbst noch berichten.« »Du hast sie befreit und bist dann wieder auf diese Zeitebene zurückgekehrt – zu uns?« »Grob gesagt.« Die Fühler des ERBAUERS pendelten wie dünne Halme in einem schwachen Luftzug hin und her. Cloud schüttelte den Kopf. »Ich dachte immer, durch unser Eingreifen in dieser Zeit – durch unseren Sieg über Darnok etwa und die damit verbundene Aufhebung der Milchstraßenabschottung – wäre unweigerlich auch die Zukunft verändert worden. So radikal verändert, dass Scobee dort vielleicht sogar aufgehört haben müsste zu existieren … Verdammt, ich merke immer mehr, dass ich nichts weiß. Dass auf rein gar nichts Verlass ist, sobald man erst an vermeintlichen Konstanten wie der Zeit rüttelt!« Das Schmetterlingswesen machte eine Geste, die wohl als Vernei-
nung zu werten war. »Deine Vorstellung ist keineswegs falsch. Scobee hätte aufgehört zu existieren, wenn nicht andere Faktoren dazugekommen wären. Die Felorer zum Beispiel, die ganz Nar'gog davor bewahrten, zwischen den Instabilitäten zerrieben zu werden, die durch die Zeitparadoxa ausgelöst wurden. Scobee hatte großes Glück, sich ausgerechnet auf Nar'gog aufzuhalten, als die realitätsverändernden Beben durch diesen Bereich des Universums liefen.« Cloud konnte Kargor nur anstarren. »Demnach ist alles noch komplizierter, als ich ohnehin schon dachte.« »Höchstwahrscheinlich.« Cloud sah sich in der Suite um. »Wonach suchst du?«, sang das ERBAUER-Wesen mit melodischer Stimme. »Wenn du dich schon so gut um Scobee gekümmert hast, obwohl das nun gar nicht zu erwarten war«, sagte er langsam, »ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass du auch Sarah, Prosper und all den anderen kein Haar gekrümmt hast – obwohl es erst so aussehen musste.« »Du wirst sie hier nicht finden.« Statt Kargor ging Scobee auf Clouds Bemerkung ein, die sie offenbar gerade aufgeschnappt hatte. Sie löste sich vom Pulk der anderen und kam zu ihnen. Cloud nickte. »Okay. Sie werden eigene Kabinen haben –« »Sie sind nicht an Bord«, erklärte Scobee kategorisch. Es klang, als schwinge darin Zorn auf Kargor mit, den sie auch mit funkelnden Blickes ansah. »Nirgends hier!« »Dann hat er …?« Cloud spürte mehr als bloße Enttäuschung in sich aufwallen. Plötzlich traute er dem ERBAUER wieder jede Untat zu. Scobee beruhigte ihn. »Nein – nicht, was du denkst. Gott sei dank nicht …« »Was dann? Hast du sie getroffen? Weißt du, was aus ihnen wurde, wie es ihnen geht?« Auch die anderen rückten näher, wollten die Antwort auf Clouds Frage hören. Scobee blieb verhalten. »Ich weiß nicht, wie es ihnen aktuell geht.
Als wir sie verließen, waren sie alle noch am Leben und gerade im Aufbruch begriffen.« »Im Aufbruch? Wohin?«, fragte er. »Zu ihren neuen Heimatwelten.« Cloud sah ein, dass es wenig sinnvoll war, sich weiter gegenseitig mit Informationsbrocken abzuspeisen. So vieles bedurfte der ausführlichen Erklärung und Schilderung. Scobee würde mindestens ebenso viele Fragen an sie haben wie umgekehrt. »Willst du hierbleiben?«, fragte er die Frau mit den Augenbrauentätowierungen, die um keinen Tag gealtert zu sein schien, seit er ihr das erste Mal begegnet war. Nur ihr Blick und manches Mienenspiel hatten sich seither verändert. Scobee war die anziehendste Frau, die er kannte. Immer noch. Und immer noch hinderte ihn irgendetwas, ihr das zu sagen. Obwohl es ihr vielleicht gefallen hätte. Obwohl sie vielleicht auf genau das wartete, seit … … seit einer kleinen Ewigkeit! »Hier?« Sie verzog den Mund wie über einen bösen Scherz. »Wenn ich eine andere Wahl habe, bestimmt nicht!« »Hat sie eine andere Wahl?«, wandte Cloud sich an Kargor. »Natürlich. Sie ist ein freies Individuum.« »Oh«, reagierte Scobee zynisch. »Es darf gelacht werden, ja?« Cloud begann zu ahnen, dass das Verhältnis zwischen dem ERBAUER und ihr alles andere als entspannt gewesen war. Scobee reagierte nicht grundlos mit Sarkasmus. »Dann«, versuchte er die Schärfe herauszunehmen, »schlage ich deinen Umzug in Gefilde vor, die du hoffentlich schrecklich vermisst hast.« »Mehr als das«, gab sie unumwunden zu. Was ihn freute. Mehr als das.
12. Sie hatten sich in der Schiffsmesse eingefunden – auch einer der Orte hier, die erst hatten erfunden werden müssen. Zu Foronenzeiten hatte es dergleichen nicht gegeben. Aber seit die ehemalige Arche der Flüchtlinge aus der Großen Magellan'schen Wolke in den dauerhaften Besitz der jetzigen Crew übergegangen war, hatte man einen Ort der Zusammenkunft, der Geselligkeit und gemeinschaftlichen Nahrungsaufnahme einfach schaffen müssen. Wie vieles andere mehr, das an menschliche, nargische, aurigische und Aorii-Bedürfnisse angepasst worden war. So war die RUBIKON unmerklich zu einem Schmelztiegel der Kulturen geworden. In bescheidenem Maßstab zwar, aber immerhin. Jedes Mitglied der Besatzung hatte die Freiheit erhalten, sich seinen unmittelbaren Lebensraum ganz nach Gutdünken zu gestalten. Und so wie sich Jelto mit dem hydroponischen Garten oder Jiim mit Pseudo-Kalser einen Traum erfüllt hatten, war es auch allen anderen mehr oder weniger eindrucksvoll gelungen, in der RUBIKON ein Stück ganz persönlicher Heimat zu etablieren. Cloud bildete da keine Ausnahme. Und Scobees privater Bereich war nach ihrem Fortgang nie angetastet, nie verändert worden. Alles war noch so, wie sie es hinterlassen hatte. »Wenn es noch eines Grundes bedurft hätte, euch zu lieben«, wandte sie sich an die Freunde, die sich mit ihr in diesen sehr individuell zugeschnittenen vier Wänden eingefunden hatten, »dann wäre er damit erfüllt. Ich hätte nicht erwartet, dass mich alles noch genau so erwartet, wie ich es verließ …« »Das war doch selbstverständlich«, erwiderte Cloud. Es klang, wie es gemeint war: aufrichtig. Bis auf Kargor waren alle zu Scobees »Einweihungspartie« – wie sie es nannte – erschienen. Drei Stunden zuvor waren sie aus der
Holosäule wieder in der RUBIKON herausgetreten. Das Schiff selbst befand sich nach wie vor in einem der riesigen Hangars der noch unbeschreiblich riesigeren Tridentischen Kugel, mit der Kargor im Solaren System erschienen war. Gerade hatte Cloud seinen Bericht, wie es ihnen nach der Trennung im Zentrum von Andromeda ergangen war, abgeschlossen. Und nun warteten alle ungeduldig auf Scobees Schilderung der Ereignisse seither. Neben Ovayrans Schicksal interessierte die meisten, was aus Mérimée und dessen Zirkus, natürlich auch aus Sarah Cuthbert, die mit ihnen verschwand, geworden war. »Sie sind versteinert?«, entfuhr es Aylea, als Scobee die Geschehnisse im Leerraum bei der RUDIMENT-Station hatte aufleben lassen. »Wie meinst du das? Haben die Felorer sie … umgebracht?« »Das hoffe ich nicht. Es hatte eher den Anschein, als wären sie matt gesetzt worden. Vorübergehend«, gab Scobee bereitwillig ihre Eindrücke preis. »Allerdings könnte der Zustand wohl bis in alle Ewigkeit anhalten, falls die Jay'nac nicht demnächst wieder mit einer Felorer-Loge in den Leerraum zurückkehren und die Erstarrung aufheben. Offen gestanden mache ich mir große Sorgen um Ovayran und die anderen Gloriden an Bord des Schiffes, mit dem ich ursprünglich die Milchstraße erreichen wollte. Als ich noch nicht ahnte, was für ein Chaos dort herrschte.« Die Felorer waren, wie Scobee erklärt hatte, das Volk, das es den Jay'nac erst ermöglicht hatte, künstliche Wurmlöcher zu schalten – was letztlich auch zur Invasion der Erde geführt hatte. »Dann waren es diese Wesen, die wie aus Hunderten oder Tausenden Achten zusammengesetzt aussehen, die damals Jupiter vernichteten, um ein Tor in unser Sonnensystem zu öffnen?«, fragte Cloud. Scobee nickte. »Sie verwalteten im späteren die Wurmloch-Steuerstationen. Auch im Nar'gog-System, wo sie zudem eng mit den letzten Keelon zusammenarbeiteten.« Cloud hatte all dies mit größtem Erstaunen, aber auch mit Faszination vernommen. Allmählich setzte sich Mosaikstein für Mosaikstein zu einem Gesamtbild zusammen.
»Und Siroona blieb auf Nar'gog, als Kargor kam, um dich den Händen der Jay'nac zu entreißen?« Scobee nickte. »Dort sah ich sie zum letzten Mal. Vielleicht ist sie längst nicht mehr am Leben. Ich weiß nicht, wie alt Foronen im Allgemeinen werden, aber die tragische Trennung von Sobek hat sie offenbar rapide ihres Lebenswillens beraubt. Als ich sie traf, war sie nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst.« Cloud nickte, ohne echtes Mitgefühl für die Foronin aufbringen zu können. Zu menschenverachtend und despotisch war sie ihnen in der Vergangenheit begegnet, selbstsüchtig bis zum Gehtnichtmehr. »Spann uns nicht länger auf die Folter: Wohin brachte dich Kargor von Nar'gog aus – und unter welchen Umständen bist du Prosper und den anderen Entführten begegnet. Du sprachst von ›neuen Heimatwelten‹, zu denen sie aufgebrochen sein sollen. Ich begreife nicht recht, was du damit meinst. Hat Kargor sie auf irgendwelchen Planeten ausgesetzt? Hast du vorher mit ihnen sprechen können?« »Nicht auf irgendwelchen Planeten«, erwiderte Scobee und rutschte sichtlich unbehaglich in ihrem Sessel hin und her. »Auf den Angk-Welten.« Und dann lehnte sie sich zurück und berichtete ausführlich, was sie im Angk-System erlebt hatte – bevor Kargor sie von den anderen getrennt hatte und mit ihr zur Erde gereist war. Sie war noch nicht ganz fertig, als Sesha sich unvermittelt meldete und Jiim aufforderte, schnellstens nach Pseudo-Kalser zu kommen. Cloud sah seinen nargischen Freund erzittern und hörte ihn keuchen: »Ist etwas … mit meinem Jungen? Ist ihm etwas passiert?« »Ich bin mir nicht sicher, ob man es so nennen kann«, erwiderte die KI. »Es scheint nichts Bedrohliches zu sein, aber ich kam zu der Auffassung, dich besser zu rufen.« Jiim hatte sich bereits aus der Hängevorrichtung gestemmt, die seinen anatomischen Besonderheiten Rechnung trug. »Ich komme sofort!« »Soll jemand von uns mitgehen?«, bot Cloud impulsiv an. Doch Jiim verneinte fahrig. »Ich melde mich, wenn es doch ernst sein sollte. Wir alle kennen ja Sesha …« Es klang nicht wirklich
überzeugt, mehr nach Durchhalteparole. »Wie du willst.« Auch Scobee stand jetzt auf. »Jiim, ich wusste gar nicht, dass du … ein Kind hast. Ich will alles darüber wissen. Ich komme mit und –« »Ich rufe euch, wenn es nötig ist!«, wiegelte er erneut ab. »Reden können wir später immer noch. Ich freue mich über dein Interesse und werde dir gerne erzählen, wie es dazu kam. Später. Jetzt nicht. Ich muss erst …« Und dann hatte er die Kabine auch schon verlassen. Das Trennschott schloss sich hinter ihm wieder und schnitt seine weiteren Worte ab. »John! Das gefällt mir nicht. Der Ärmste hat ein Kind, und keiner sagt mir etwas! Sesha! Erkläre genauer, was passiert ist. Schwebt Jiims Junges in Lebensgefahr?« »Das darf ich nicht sagen.« »Das darfst …?« »Jiim hat es mir verboten, kaum dass er deine Kabine verließ. Er dringt auf seine Privatsphäre, die schwerer wiegt als euer Informationsbedürfnis. John selbst hat in mir verankert, dass ich diese Grundsätze zu achten habe. Er –« »Schon gut«, unterbrach Cloud die KI. »Du handelst völlig korrekt. Jiim wird uns nicht länger als nötig im Unklaren lassen. – Fahren wir inzwischen dort fort, wo wir vor der Unterbrechung stehen geblieben waren. Die Angk-Welten, Scob. Du wolltest uns gerade über die Angk-Welten berichten. Sie scheinen von großer Bedeutung für Kargor zu sein. Umso verwunderlicher, dass er sie mit Menschen teilen will … oder habe ich da etwas missverstanden?« Scobee schüttelte den Kopf, sammelte sich kurz und sprach dann weiter.
»Geh mir aus dem Weg!« Jiim fühlte sich nicht in der Verfassung, der Gestalt, die plötzlich vor ihm im Korridor auftauchte, freundlich zu begegnen. All seine Gedanken kreisten um Yael – und die merkwürdige Andeutung, die Sesha über dessen Befindlichkeit gemacht hatte. Auch wenn sein
Spross offenbar nicht in akuter Lebensgefahr schwebte, war Jiim doch voller Sorge. Zu frisch waren die Erinnerungen an die Stunden, als Yael um Federbreite gestorben wäre – kurz nach dem Schlüpfen. Die Zeit, die alles entschied. Die Zeit, in der ein Narge nichts nötiger brauchte als die Milch seines Elters … und Jiim war nicht da gewesen, um sie ihm zu geben! Die eigene Schuld – wenn man es überhaupt so nennen konnte, denn immerhin war höhere Gewalt dafür verantwortlich gewesen, dass Jiim seinerzeit in der komplizierten Welt von Pseudo-Kalser strandete – hatte ihn in der Folge noch vorsichtiger gemacht, wenn es um Dinge ging, die Yael betrafen. Aber er wollte ihn nicht verlieren. Yael und er waren schon jetzt zu einer Einheit verschweißt, die für nargische Verhältnisse normal war, aber über das hinausging, was beispielsweise Menschen an Banden zu knüpfen vermochten. Jiim großer Traum war es, mit Yael zusammen einmal ein ganz eigenes morphogenetisches Netzwerk zu bilden. Bislang war das jedoch noch reine Utopie. Sonst hätte er längst gewusst, was Sesha mit ihrer kryptischen Nachricht ausdrücken wollte. Und nun tauchte im denkbar ungünstigsten Moment Kargor vor ihm auf und verstellte ihm den Weg. »Verschwinde!«, fauchte Jiim. »Ich muss –« »Ich wollte mich schon lange mit dir unterhalten«, sang das Schmetterlingswesen unbeeindruckt. Jiim Flügelspitzen und die von Kargor waren in etwa auf gleicher Höhe, aber die Präsenz, die der ERBAUER ausstrahlte, war mit der seinen nicht zu vergleichen. Dennoch war Jiim in diesem Moment, da die Sorge an ihm nagte, bereit, Kargor einfach über den Haufen zu rennen. »Später!«, zischte er. »Ich habe jetzt keine Zeit. Geh mir aus dem Weg, oder –« »Ich stehle dir keine Zeit. Du wirst dort, wohin du willst, keine Sekunde später ankommen, als du es ohne unser Zusammentreffen geschafft hättest. Dafür verbürge ich mich.« Hatte er bislang nur einfach ruhig dagestanden, machte nun der ERBAUER zwei, drei Schritte auf Jiim zu. So schnell und so betö-
rend in seiner Eleganz, dass der Narge überhaupt nicht daran denken konnte, auszuweichen. Und dann berührte ihn das Schmetterlingswesen. Und mit einem Mal wurde Jiim ganz ruhig. Die friedliche Aura, die ihn vereinnahmte, erstickte jeden weiteren Reflex von Widerstand. Kargor strich mit seinen feingliedrigen Fingern über das Gold von Jiims Nabiss. »Eine wirklich außergewöhnliche Arbeit«, wisperte der ERBAUER, was verwirrend genug war, denn immerhin zeichnete seine Spezies verantwortlich für ein Netz von riesigen Stationen, die offenbar universumweit in den zentralen Black Holes von Galaxien verankert waren. Und über deren eigentlichen Sinn und Zweck die RUBIKON-Crew immer noch rätselte. Jiim wollte etwas erwidern, aber Kargor fuhr wie in einem Monolog fort: »Dein Körper hat diesen Anzug, diese Rüstung … teilweise absorbiert, in sein Zellgewebe hineinwuchern lassen. Ich glaube nicht, dass du das bewusst gesteuert hast. Alles deutet darauf hin, dass …« Er verstummte kurz. Dann: »Aber es erklärt manches. Auch, weshalb du gerade gerufen wurdest. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Wann und wo diese Entwicklung abgeschlossen ist, bei dir und …« Wieder sprach er seinen Satz nicht zu Ende. Stattdessen zog er seine spinnenbeinfeinen Finger zurück – und stand plötzlich auf der anderen Gangseite hinter Jiim, sodass dessen Weg frei war. Jiim fühlte sich außerstande, irgendwelche Fragen zu stellen. Wie von selbst setzte er sich wieder in Bewegung und eilte weiter. Auf den nächsten Türtransmitter zu, den Sesha für ihn bereits mit Zielpunkt Pseudo-Kalser geschaltet hatte. Und als er in der Illusion des Schrundes anlangte, wusste er schon nicht mehr sicher, ob die Begegnung mit Kargor tatsächlich stattgefunden … oder ob er sich alles nur eingebildet hatte. Rasch erhob er sich in die Lüfte und steuerte das Baumhaus an, das er zusammen mit Yael bezogen hatte. Als er landete, empfing ihn eine Stille, die ihm unter normalen
Umständen wahrscheinlich gar nicht aufgefallen wäre. In dieser speziellen Situation aber steigerte sie sein Unbehagen ins Unermessliche. »Yael?«, rief er sein Junges beim Namen. Der Laut, der ihm aus den Tiefen des Baumhauses antwortete, sträubte ihm das Gefieder. Und das, was ihm wenig später entgegenwankte, brachte sein seelisches Gleichgewicht endgültig aus dem Lot.
Gebannt lauschten die Gefährten Scobees grober Beschreibung der sieben Angk-Welten, über die Kargor offenbar Prosper und seine Leute verstreut hatte, auf dass sie fruchtbar sein und sich mehren sollten: Gismo, Nomad, Portas, Schaggrom, Arrankor, Myron und zu guter Letzt Voosteyn. Wobei Scobee insbesondere bei der Erwähnung von Portas ins Stocken geriet und sich dann rasch selbst korrigierte: »Laut Kargors Ausführungen spielt Portas in seinem Kolonisationsprogramm keine Rolle. Die Art, wie er über Portas sprach, muss stutzig machen. Es ist, als rührte man an einem uralten Tabu, zu dem er sich nicht näher auslassen will oder kann. Im Gegensatz dazu scheinen alle anderen sechs Welten, die sie besiedeln, geradezu willkommen zu heißen.« »Du erwähntest einen ›Schlüssel‹, nach dem Kargor die einzelnen Kolonisten der für sie geeigneten Welt zugeordnet und zugewiesen hat.« »Auch was das angeht«, erwiderte Scobee zurückhaltend, »kann ich nur wiedergeben, was Kargor bereit war, mir preiszugeben. Und das habe ich gesagt.« »Demnach wäre auf Schaggrom die Produktionsstätte der Tridentischen Kugeln zu finden«, murmelte Cloud. »Eine bizarre Vorstellung, dass Raumgiganten wie der, in dem wir uns gerade samt RUBIKON befinden, so mir nichts, dir nichts auf einer x-beliebigen Welt innerhalb der Milchstraße hergestellt werden.« »X-beliebig dürfte der falsche Ausdruck sein«, gab Scobee zu be-
denken. »Das Sieben-Sonnen-System besitzt eine exponierte Stellung, daran gibt es nicht den geringsten Zweifel. Kargor nannte es auch das Erste Reich der Bractonen.« »Bractonen?«, fragte Cloud. Der Begriff fiel zum allerersten Mal. »So nennt Kargor seine Spezies.« »Er scheint dir gegenüber doch recht mitteilsam gewesen zu sein«, meinte Jarvis mit einem anzüglichen Grinsen, wie nur er es zustande brachte. Cloud tadelte ihn dafür mit einem strengen Blick, der den Freund völlig unbeeindruckt ließ. Wie nicht anders zu erwarten. »Nicht wirklich«, relativierte Scobee auch schon Jarvis' Aussage. »Auf dem Weg ins Sonnensystem ließ er mich beispielsweise völlig im Unklaren, als wir längst angekommen waren. Die Begegnung mit euch war dann das i-Tüpfelchen an Geheimniskrämerei.« »Das liegt ihm offenbar im Blut. Ob alle Bractonen so sind?«, sagte Aylea. »Wer weiß«, seufzte Cloud. »Jedenfalls scheinen wir tatsächlich unterwegs in dieses ominöse Angk-System zu sein.« Er schüttelte den Kopf. »Sieben Planeten, die einander weitgehend ähneln und sich so ganz nebenbei auch noch dieselbe Umlaufbahn um ihre Sonne teilen … das ist wahrhaft starker Tobak! Ich bin gespannt auf dieses kosmische Wunder, das die Bractonen da vollbracht haben.« »Eines habe ich euch bislang noch nicht verraten«, sagte Scobee nach kurzem Schweigen. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt und schien angestrengt zu überlegen, ob dies der geeignete Moment für das war, was sie ihnen eröffnen wollte. »Ist es so furchtbar?«, fragte Cloud lächelnd. »Furchtbar nicht, aber …« »Ja?« »Gewöhnungsbedürftig. Kargor ist auch so häufig schon schwer zu verstehen. Aber wenn ihr erst einmal wisst, was ich weiß, werdet ihr –« »Werden wir was?«, drängte Cloud. »Komm schon. So leicht lassen wir uns nicht umhauen.«
Sie nickte, schürzte die Lippen. »Alles, worauf ich euch vorbereiten will, ist, dass ihr fehl in der Annahme geht, mit Kargor ein einzelnes Individuum vor euch zu haben.« Cloud sah sie fragend an. »Wenn er kein Individuum ist, was dann?« Scobee sah ernst von ihm zu jedem anderen, der sich in ihrer Kabine aufhielt und ihren Ausführungen lauschte. »Er ist ein ganzes Volk. Laut seiner eigenen Erklärung beinhaltete der Körper, den er uns in Prismenstruktur zeigte, Milliarden und Abermilliarden Einzelwesen, die darin quasi komprimiert agierten – mit ihm, Kargor, als Mittler. Als ihr … ja, Sprecher. Ein besseres Wort fällt mir nicht ein.« »Und das Schmetterlingswesen, als das er uns neuerdings gegenübertritt?«, fragte Cloud, der sich von dieser Eröffnung schneller erholt hatte, als er es selbst erwartet hätte. »Ist das Kargor – als Individuum? Oder gaukelt er uns dieses Aussehen nur vor, und dahinter befindet sich immer noch dieses Prismending, das ihm als Aktionskörper dient?« »Das«, räumte Scobee unumwunden ein, »weiß ich nicht. Ich persönlich vermute Letzteres. Aber auf diesbezügliche Fragen geht er grundsätzlich nicht ein.« »Bleibt die Frage, warum er mit uns zurück ins Erste Reich der Bractonen steuert«, sagte Algorian. Er wirkte noch ernster als sonst. »Ich hoffe nicht, dass er uns ebenfalls nach seinem speziellen Schlüssel über die Angk-Welten verstreuen will. Dann wären wir genauso aufgeschmissen wie Prosper und seine Clique. Eine erschreckende Vorstellung – wir würden vermutlich für alle Zeit voneinander getrennt werden.« An diese Möglichkeit hatte Cloud auch schon gedacht, sie aber nicht vorschnell in den Raum stellen wollen. Nun hatte Algorian, der sich sichtlich weniger Hemmungen auferlegte, es für ihn getan. »Du meinst, Kargors Aktion innerhalb der Hohlweltschale war letztlich keine Rettungsmission«, hauchte Aylea mit großen Augen, »sondern eine verkappte Entführung, die darin gipfelt, dass unsere
Gemeinschaft auseinandergerissen und wir auf fremden Planeten ausgesetzt werden?« Das, dachte Cloud für sich, wäre das Worst-Case-Szenario. Doch um es wirklich ausschließen zu können, musste er mit Kargor Tacheles reden. Und zwar so bald wie möglich.
Der Anblick elektrisierte Jiim. Der Anblick und das dunkle Timbre der Stimme, die nach ihm rief. Zuerst glaubte er an eine Projektion Seshas, die aus eigenem Antrieb einen weiteren Pseudonargen in das Sammelsurium der Gestalten eingefügt hatte, die die Siedlung am Holoschrund bevölkerten. Doch dann machte er sich bewusst, dass die KI dies nicht in Eigeninitiative getan hätte – und dass er sich hier in seinem Haus aufhielt. Dem Ort, an dem er Yael zurückgelassen hatte, in der vermeintlich sicheren Obhut Seshas. Und mit jedem Schritt, den der Jüngling auf ihn zumachte, mit jedem weiteren Wort, das er an ihn richtete, wurde ihm klarer, worin das »Problem« lag, von dem die KI gesprochen hatte. Dieser halbwüchsige Narge vor ihm war das Problem. Weil das Nest hinter ihm, in dem Yael geschlafen hatte, verwaist war. Und weil vieles an dem Halbwüchsigen Jiim überaus – geradezu befremdlich – vertraut vorkam. Der Schock der Erkenntnis brachte fast seine beiden Herzen zum Stillstand, und ein Krächzen, von dem er geschworen hätte, dass es niemals aus seiner Kehle gekommen war, schwang als Ausdruck seiner grenzenlosen Qual in dem kleinen, spartanisch eingerichteten Raum. »Yael …?« Der vertraute Fremde machte eine linkische Geste der Bestätigung. »Was … was geht mit mir vor, o mein Elter?«, wehte es Jiim zittrig entgegen. Und spätestens jetzt wurde ihm klar, dass sein Junges von der un-
glaublichen Verwandlung ebenso überrascht worden war wie er. Er schüttelte die Befangenheit ab und nahm Yael in die Arme. Dabei entdeckte er eine weitere Veränderung: Das Federkleid um die Flügel schimmerte anders als bei ihm selbst – anders als bei jedem anderen Nargen, den Jiim jemals zu Gesicht bekommen hatte. Es leuchtete wie die Rüstung, die Jiim auf Kalser von dem letzten Ganf empfangen hatte. Golden. Und dieser Schimmer zeichnete auch die bloß liegenden Hautstellen, wo kein Flaum wuchs, aus. Diese Entdeckung bestürzte Jiim beinahe stärker als der unerklärliche Wachstumsschub, der sich an Yael ausgetobt hatte. »Sesha: Erklärung! Sofort!«, wandte sich Jiim über die Schulter des nur einen Kopf Kleineren an die KI. »Ich habe dafür keine Erklärung«, antwortete Sesha prompt. Da Jiim nicht davon ausging, dass die KI ihn mit Vorsatz belog, musste er es hinnehmen. Aber noch während er den zitternden Yael fester an sich drückte, ihm Trost und Zuversicht zu vermitteln versuchte, sagte eine andere vertraute Stimme hinter ihm: »Aber ich. Vielleicht.« Yael zuckte zusammen, und Jiim drehte den Kopf. Dort im Eingang des Baumhauses stand ein anderer Geflügelter, der dennoch nichts mit einem Nargen gemein hatte – das Geschöpf, das sich ihm schon auf dem Herweg entgegengestellt hatte. Kargor. »Woher solltest du –« Jiim brach ab. Ihm wurde bewusst, wie töricht seine Erwiderung war. Der ERBAUER verfügte über schier grenzenlose Wissensressourcen – zumindest wurde das allgemein angenommen. »Warum, glaubst du, habe ich mich vorhin für den seltsamen Prozess interessiert, der deinen Körper erfasst hat? Warum habe ich mich für das Ding interessiert, das begonnen hat, sich mit deinem Fleisch zu vermählen?« Die Art, wie Kargor sich ausdrückte, hatte etwas Obszönes und stieß Jiim ab.
»Hör auf, so zu reden!« »Warum? Verträgst du die Wahrheit nicht?« »Hast du es damit überhaupt je versucht, seit du uns begegnet bist?«, hielt er dem ERBAUER vor. »Gut gekontert, Narge, gut gekontert. Es ist jammerschade, dass du so wenig über dich selbst weißt. Noch viel bedauerlicher aber ist, dass du offenbar gar nicht mehr über dich herausfinden willst.« »Die Philosophie meines Volkes ist es, dass das Leben nicht da ist, um Licht in jedes Dunkel zu bringen. Unwissenheit ist kein Makel. Sie kann ein wahrer Segen sein. Wir Nargen leben, um uns zu spüren – ich weiß nicht, was dein Lebenszweck ist. Aber so, wie du redest, hast du dich lange nicht mehr gespürt.« »Du wirst anmaßend.« »Dann geh. Ich habe nicht nach dir gerufen. Du bist hier in meine Privatsphäre eingebrochen und –« »Er hat es von dir vererbt bekommen«, fiel ihm Kargor ins Wort. »Egal, ob du dich dem stellen willst oder nicht – es ist eine Tatsache. Das, was dich allmählich verändern wird, hat sich auch auf deine Brut ausgewirkt. Yael wird sich dem nicht entziehen können. Er bündelt erstaunliche Kräfte in sich. Sollten sie je zur völligen Entfaltung kommen, wird er jeden anderen Nargen, den ein Ganf je beschenkte, in den Schatten stellen!« Jiim wusste nicht, welche genaue Absicht Kargor mit seinen Behauptungen verfolgte. Er wusste nur, dass er nichts von all dem hören wollte, was der ERBAUER gerade von sich gab. »Geh«, wiederholte er. »Vielleicht haben wir dir zu danken, weil du uns vor den Fraktalen bewahrt hast. Aber ich hege große Zweifel, dass du es uneigennützig tatest. Bislang hast du immer ganz eigene Pläne verfolgt.« »Dein letztes Wort? Du willst wirklich nicht mehr über dein Nabiss und die Hintergründe von Yaels Wachstumssprung erfahren?« »Verschwinde!« Jiim wandte sein Gesicht ab und strich beruhigend über die Ansätze von Yaels Flügeln. Als er sich wieder umdrehte, war Kargor verschwunden.
»Ich habe Angst«, flüsterte Yael, der so flüssig sprach, als läge monatelange Übung hinter ihm. »Vor dem, der gerade ging? Er tut dir nichts – nicht, solange ich da bin!« Yael machte eine Geste der Verneinung. »Nicht vor ihm.« »Wovor dann?« »Vor dir.«
13. Cloud wünschte sich, die RUBIKON wäre wieder frei. Würde die unendlichen Weiten des dunklen Ozeans zwischen den Sternen aus eigener Kraft überbrücken. Das Mitreisen in einem Giganten, wie die Tridentische Kugel es war, befriedigte seinen Drang nach Selbstbestimmung nicht einmal ansatzweise. Außerdem fühlte er sich, so absurd das klingen mochte, in der riesigen Kugel nicht sicher. Trotz dieser massiven Verunsicherung brauchte er, wie jeder andere Mensch, auch ab und zu Schlaf – zumal ihn die Ereignisse auf der neuen Erde, seine Begegnung mit Cronenberg und dessen Vasallen, nachhaltig erschöpft hatten. Als er Kargor trotz intensiven Bemühens nicht finden und zu einem Gespräch animieren konnte, zog er sich deshalb nach Absprache mit Jarvis in seinen privaten Bereich zurück. Er duschte und schlüpfte in einen pyjamaähnlichen Anzug, der so leicht war, dass Cloud auch danach noch das Gefühl hatte, nackt zu sein. Dann legte er sich in seine Koje. Wie so oft, wenn er wirklich ausspannen und in einen erholsamen Tiefschlaf ohne medikamentöse Unterstützung sinken wollte, ließ er sich von Sesha eine sanft-meditative musikalische Untermalung in die Kabine zaubern. So leise, dass sie keineswegs störend wirkte, im Gegenteil aber seinen Geist sehr rasch aus den schwerwiegenden Gedanken hinübertreiben ließ in den angestrebten Zustand. Als Sesha merkte, dass er eingeschlafen war, stellte sie die Musik ab. Stille senkte sich über den Raum. Nur Clouds Atemzüge und ab und zu ein leises Rascheln der Zudecke waren noch zu hören. Und bald darauf träumte er. In diesem Traum begegnete ihm Kargor und stellte sich seinen
Fragen. Einigen zumindest. Die Begegnung fand in einer Landschaft statt, die Cloud nie zuvor gesehen hatte. Ein riesiger kobaltblauer Turm ragte kilometerhoch in den Himmel. In der Ferne war eine Art Stadt zu sehen, deren Gebäude wie die gemusterten Panzer von Schildkröten aussahen. Kargor wandelte zwischen durchscheinenden Bäumen, wie aus Glas gemacht. »Du hast nach mir gerufen«, sagte er. »Du hast nicht darauf reagiert.« »Jetzt bin ich ja da.« Im Traum sah Cloud sich lange um. Manchmal kam Kargor ihm dabei näher, manchmal entfernte er sich wieder. Ihre beiden Stimmen hatten die gläsernen Blätter zum Klingen gebracht. Die Melodie fügte sich absolut harmonisch in die Umgebung ein. »Es gibt immer noch sehr viele Fragen, die auf eine Antwort warten«, lenkte Cloud das Traumgespräch schließlich in die Richtung, die ihm wichtig war. »Frag.« Das Schmetterlingswesen tänzelte hinter transparenten Gewächsen vorbei, und jedes Mal, wenn es nur noch verschwommen sichtbar war, stellte Cloud mit Verwunderung fest, dass es alle Farben verlor. Das »Glas« dieser Bäume schien alles Bunte zu filtern, bis nur noch ein schwarz-weißer Kargor blieb. Aber selbst dann wirkte er noch unvergleichlich in seiner filigranen Schönheit. »Fangen wir mit etwas Leichtem an: Scob verriet uns einiges über das System, zu dem wir gerade unterwegs sind – unter anderem soll es dort eine Welt geben, auf der CHARDHIN-Perlen … Tridentische Kugeln … hergestellt werden. Hast du dich aus dem dortigen Arsenal bedient? Stammt dein ›Raumschiff‹ von dort?« »Warum interessiert es dich, woher die Kugel stammt?« »Weil ich neugierig bin?« »Ist das eine Frage?« »Nein, wir nennen es Ironie.« »Ich verstehe.« Das bezweifelte Cloud – selbst im Traum. »Also?« »Nein, sie stammt nicht von Schaggrom.«
»Sondern?« »Was käme noch infrage?« Aus einem ihm selbst unerfindlichen Grund verursachte die Gegenfrage Cloud einen eisigen Schrecken. »Die nächstgelegene infrage kommende Perle, die mir einfällt, wäre die im Milchstraßenzentrum. Auf der ich schon war, unter unschönen Begleitumständen. Und wo auch wir beide uns erstmals begegneten.« »So ist es.« Das Schmetterlingswesen tänzelte hinter einem Baum hervor, gewann an Farbe … und verlor sie hinter dem nächsten. Cloud fragte sich, ob er selbst – aus Kargors Sicht – wohl den gleichen Effekt hervorrief. »So ist was?« »Die Kugel, in der ihr aufgenommen wurdet, entstammt dem Milchstraßenzentrum.« »Aber –« »Du willst wissen, warum, wo ich auf Schaggrom doch nur auf die legitimen Ressourcen hätte zugreifen müssen, die mein Volk selbst schuf?« Cloud fror immer noch. Der Traum verlor seine erquickende Atmosphäre, fast so, als greife der Monochromeffekt der Bäume nun auf alle Bereiche über, auch auf die, die weit abseits des Hains lagen. »Ist es nicht mit immenser Gefahr verbunden, eine aktive Perle aus dem Verbund zu entfernen? Oder ist sie noch immer Bestandteil des Netzwerk, obwohl sie die Sphäre verlassen hat, hinter der sie von euch untergebracht wurde?« »Du hast erlebt, was in der Milchstraßen-Perle vor sich ging. Sie war bereits …« Er schien kurz nach dem passenden Ausdruck zu suchen. »… entartet. Ich musste sie vollends aus dem Verbund entfernen, um eben diesen nicht auch noch zu gefährden. Wir sprachen schon einmal über Sinn und Notwendigkeit der Abschottung.« »Und sie hinterlässt kein Vakuum?« Cloud ging auf Kargor zu, wollte die Distanz zwischen ihnen verkürzen. »Du weißt, was ich mit Vakuum meine. Es ist nicht wörtlich zu nehmen. Vakuum im Sinne von –«
»Ich verstehe durchaus, was du meinst. Aber es führte zu weit, dir die möglichen Folgen darzulegen. So viel nur sei gesagt: Eine neue Tridentische Kugel wird bereits auf die Erfordernisse vorbereitet und in absehbarer Zeit das ›Vakuum‹, wie du es bezeichnest, ausfüllen. Alles wird gut.« Gerade der letzte Satz aus dem Mund des ERBAUERS entbehrte nicht einer gewissen Skurrilität. Cloud erreichte Kargor, was ihn ein wenig verblüffte, denn er wusste, dass das alles nur ein Traum war, und in Träumen versuchte man meist vergeblich, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Statt ihm näher zu kommen, entfernte man sich in aller Regel nur von ihm. Uneinholbar. »Reden wir über das, was mir am meisten auf der Seele brennt«, sagte er. »Das Angk-System.« »Was ist damit? Wir werden es, kurz nachdem du erwacht bist, erreichen.« »Warum sind wir dorthin unterwegs?« Kargor trat an ihn heran, und seine Fühlerspitzen senkten sich so tief herab, dass sie fast Clouds Gesicht berührten. Er sah, dass winzige, wurmähnliche Fäden darüber hinwegliefen, was ihm vorher nie aufgefallen war. Es sah aus, als lebten sie. »Ich will euch belohnen, das sagte ich bereits. Zumindest versuchte ich, es euch klarzumachen.« »Und wie?«, fragte Cloud. »Es gibt da gewisse Überlegungen unsererseits, von denen niemand hofft, dass sie eintreten.« »Ich kenne eure Sorge.« »Kannst du sie auch ausräumen?« »Natürlich. Es ergäbe keinerlei Sinn, euch ins Angk-System zu bringen, nur um euch dort zu weiteren Urzellen einer neuen Menschengattung zu machen, die die dortigen Welten bereichert.« »Bei Prosper und den anderen machte es offenbar durchaus Sinn …« Kargor bestätigte dies. »Durchaus. Aber gerade deshalb seid ihr nicht mehr vonnöten.« »Die Logik dahinter erschließt sich mir nicht ganz. Prosper und
seine Leute sind nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, um ganze Planeten zu besiedeln. Jeder weitere, der sie ergänzt, würde –« »Du spekulierst über Dinge, die längst nicht mehr aktuell sind.« »Nicht mehr aktuell? Was willst du damit sagen?« »Dass Prosper Mérimée und die anderen nicht mehr am Leben sind.« Für einen Moment schien die Kälte, die Cloud bislang nur hatte schaudern lassen, einen dicken Eispanzer um ihn zu formen. »Nicht mehr am Leben«, echote er schließlich. Kargor ging. Der Traum endete. Cloud schlug die Augen auf, es war hell, und Kargor, der neben seiner Koje stand, sagte: »Du wirst das Wissen, das du bekamst, ertragen. Ob du es mit den anderen teilst, bleibt dir überlassen.«
Noch während er wie gefangen war in der Erinnerung an das Gehörte, meldete Sesha Besucher, die vor der Tür warteten. Cloud erhob sich von seinem Lager und schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Jiim und –« »Wie lange habe ich geschlafen?«, unterbrach er sie brüsk. »Fast acht Stunden.« »Acht Stunden …« Eigentlich ein Wunschtraum von ihm, aber er fühlte sich kein bisschen erholt. »Die Besucher«, erinnerte Sesha. »Vertröste sie eine Minute. Ich ziehe mir nur etwas anderes an.« Die KI bestätigte. Es dauerte nicht einmal eine Minute, bis Cloud barfuß, aber ansonsten in der für ihn üblichen Bordkleidung das Türschott öffnete. »Jiim«, begrüßte er den Freund – und erstarrte. Einen zweiten, fast ebenso großen, aber gebeugt dastehenden Nargen hinter Jiim zu erblicken, verblüffte ihn völlig. »Das, Guma Tschonk, ist Yael«, sagte Jiim. »Und wie du dir den-
ken kannst, genau das ist das Problem.«
»Was ist jetzt wieder los?« Jarvis starrte in die Holosäule, in der ein bemerkenswerter Wechsel stattgefunden hatte. Keinen Moment länger gab es Anzeichen dafür, dass die RUBIKON immer noch innerhalb der Tridentischen Kugel lagerte. »Sterne!«, seufzte auch Algorian, der zu ihm in die Zentrale gekommen war, während alle anderen offenbar die eintönig verlaufende Fahrt nutzten, um ein wenig Schlaf zu finden – oder sich anderweitig zu entspannen. Cy beispielsweise hatte Jelto in dessen Garten begleiten wollen. Aylea erwähnte etwas von einem Rätselspiel, auf das sie in den Datenbanken gestoßen war und in das sie sich seit Tagen gerne vertiefte. Aber sie alle, dessen war sich Jarvis sicher, wären geblieben, hätten sie geahnt, was nun passiert war. Er überprüfte seine Instrumente und wandte sich schließlich an die KI. »Trügt der Schein, oder sind wir soeben wieder … autark geworden?« »Es ist richtig«, erwiderte Sesha, »dass wir vor wenigen Sekunden wieder ausgeschleust wurden – ohne vorherige Ankündigung, wie ich betonen möchte.« »Beweise für diese Annahme?« In den Erfassungsbereich der Holosäule schob sich eine goldene Wölbung, die erst zum Halbmond und schließlich zur plastisch wirkenden Kugel wurde. Die CHARDHIN-Perle. »Position?«, fragte Jarvis. »Laut der Daten, die mich soeben aus der Tridentischen Kugel erreichen, das anvisierte Ziel: das Angk-System.« »Die Kugel ist langweilig«, knurrte Jarvis. »Kannst du uns Bilder des Systems liefern? Oder sind wir noch zu weit –« Vor ihm und Algorian erschien das Wunderwerk der miteinander gekoppelten, auf ein und derselben Umlaufbahn befindlichen sieben
Planeten, die über ein engmaschiges Netz von sogenannten Energiestraßen miteinander verbunden waren. »Entfernung zur Umlaufbahn?«, fragte Algorian mit fast schriller Stimme, was eindrucksvoll belegte, wie sehr ihn der Anblick mitnahm. Ihn, der immerhin lange Zeit auf Crysral gelebt hatte, der zentralen Regierungswelt der einstigen Allianz CLARON. Sie war auf ihre Art nicht minder eindrucksvoll gewesen. Zumindest glaubte Jarvis dies, auch wenn er nie einen Fuß auf sie gesetzt hatte. Bei manchem Beisammensein hatte Algorian regelrecht von Crysral geschwärmt, und auch Cy war von seinem kurzzeitigen Aufenthalt dort nachhaltig fasziniert. Etwas musste also wohl dran sein an diesem Faszinosum. Genau wie an diesem. Sieben Welten, deren Distanzen zum jeweiligen Nachbarn fast auf den Meter genau austariert waren. Sieben Welten mit Land- und Wasserflächen, die sich in etwa die Waage hielten. Sieben Welten mit sieben Gesichtern, zumindest eines davon verboten. Portas, die Schwellenwelt, hatte Scobee den »gesperrten« Planeten in ihren kurzen Ausführungen genannt. Und jetzt trieb die RUBIKON plötzlich nackt, ohne die Ummantelung der Tridentischen Kugel, mittendrin. »Entfernung gegenwärtig rund vierhunderttausend Kilometer«, antwortete Sesha auf Jarvis' Frage. Etwa die Entfernung Erde-Mond, machte sich Jarvis bewusst. »Ist John bereits über das Ausschleusmanöver informiert?« »In diesem Moment.« »Reaktion?« »Er wollte unverzüglich die Zentrale aufsuchen. Da er gerade Besuch hatte, kommt er nicht allein.« »Wer ist bei ihm?« »Yael und Jiim.« Irgendwie erschien es Jarvis eigenartig, dass Sesha Yael zuerst nannte. Aber er ging nicht weiter darauf ein. Und zwei Minuten später wurde ohnehin alles noch viel, viel merkwürdiger.
Sesha hatte auf sein Geheiß hin Bildübertragungssonden ausgeschickt, die Systemdetails übermittelten, welche den Sensoren der Fernortung verborgen blieben. Speziell die Energiestraßen gerieten in den Fokus des Interesses. Zunächst aber stürmte der Commander in die Zentrale, dicht gefolgt von zwei hoch geschossenen Nargen. Zwei Schlackse mit Flügeln, die sich optisch nur dadurch klar unterschieden, weil der eine gebeugt ging, als drücke eine gewaltige Last auf seine Schultern. Und wie vor ihnen schon der Commander, trauten auch Jarvis und Algorian ihren Augen nicht …
14. »Ich muss darauf bestehen«, wandte sich Cloud an Jiim, nachdem die komplette Crew der RUBIKON über Yaels unbegreiflichen Wachstumsschub unterrichtet worden war. Jiim war darüber verständlicherweise am meisten erschüttert, versuchte es aber so wenig wie möglich zu zeigen. »Ich verstehe deine Beweggründe – und kann sie im Grunde nur begrüßen«, entgegnete er Cloud. »Seine Reifegeschwindigkeit ist für Nargen völlig abnorm. Am meisten aber beunruhigt mich der Goldton, in dem er seitdem schimmert und der unschwer als artverwandt mit meinem Nabiss zu erkennen ist.« Cloud nickte ernst. »Genau das sollten wir zumindest versuchen zu prüfen, und zwar unter deiner engsten Mitwirkung und in der für Yael vertrautesten Umgebung – Pseudo-Kalser also. Du hast von mir alle Vollmachten, um eine optimale Zusammenarbeit mit Sesha zu bewerkstelligen. – Sesha, du hast verstanden. Findet heraus, was mit Yael vorgeht, und falls es nach eingehender Prüfung keine Anzeichen dafür gibt, dass der Prozess Yael selbst oder Lebewesen in seinem Umfeld zum Nachteil gereicht, kann er sich künftig wie jeder andere überall an Bord frei bewegen. Zunächst aber, das schulde ich dem Rest der Besatzung, muss ich ihm die genannte Einschränkung auferlegen, und wir alle müssen die Ergebnisse der Untersuchungen und Beobachtung abwarten.« Cloud blickte sich unter den Versammelten um. »Gibt es dazu irgendwelche Einwände oder Anmerkungen von allgemeinem Interesse?« »Ja.« Selbst Cloud zuckte unmerklich zusammen, als ausgerechnet der Betroffene selbst das Wort ergriff. »Ich möchte etwas sagen. Ich möchte sagen, dass ich mich selbstredend allen erforderlichen Maßnahmen beuge, weil ich ein ureigenes
Interesse daran habe, dass eine Gefährdung – sowohl für mich selbst als auch für andere – ausgeschlossen werden kann. Gegen eines verwahre ich mich allerdings nachdrücklich …« Cloud wusste nicht, worüber er mehr erstaunt sein sollte – über den Inhalt von Yaels Redefluss oder über den Umstand, dass der Jungnarge in absolut fließendem Englisch gesprochen hatte, der Einheitssprache, die sich an Bord auch unter Besatzungsmitgliedern nicht irdischer Herkunft eingebürgert hatte. Diese hatten englisch aber erst erlernen müssen oder bedienten sich technischer Gimmicks, um mit den so Sprechenden zu kommunizieren. Bei Yael, der damit bislang höchstens streiflichtartig Kontakt gehabt hatte, kam es jedoch ohne jede Fremdunterstützung völlig fließend über die Lippen. So fragte der Blick, den Cloud reflexartig mit Jiim tauschte, denn auch: Wo zur Hölle hat er das her? Wie ist das möglich? Aber gerade Jiim schien darüber am ratlosesten. Endgültig aus der Fassung gebracht aber wurde er, als Yael zum Kern seines Einwandes kam. »Dagegen nämlich, dass mein Elter den Tests beiwohnt. Das möchte ich nicht. Ich wiederhole: Das möchte ich keinesfalls. Er …« Zum ersten Mal geriet Yaels Stimme ins Stocken. »Er macht mir Angst. Alles an ihm … macht mir Angst. Ich ertrage seine Nähe nicht.«
Selten war Cloud so betroffen gewesen wie nach Yaels Worten. Das hielt auch an, als der Jungnarge die Zentrale längst verlassen und von zwei Spinnenrobotern zum Pseudo-Schrund zurückbegleitet worden war. Cloud hatte sich, wieder nach Blickwechseln mit Jiim, der restlos beschämt wirkte, dazu bereit erklärt, Yaels Forderung nachzugeben. Fürs Erste jedenfalls. Mit Jiim zog er sich nun in einen fernen Winkel der Zentrale zurück, um ihm Gelegenheit zu einem Vieraugengespräch zu geben, das er selbst eröffnete. »Es tut mir leid für dich. Ich kann mir vorstellen, wie –«
»Es ist schon gut«, fiel Jiim ihm mit beherrschter Stimme ins Wort, der die Anstrengung, ruhig zu wirken, jedoch deutlich anzumerken war. »Ich hätte darauf vorbereitet sein müssen.« Cloud zog eine Augenbraue nach oben. »Er hatte es schon mit seinen ersten Worten mir gegenüber angedeutet – als ich ihn in diesem Zustand fand. Aber ich hätte nicht gedacht, dass er so daran festhält, dass er mich vor allen …« Nun versagte Jiim doch die Stimme. Cloud legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wir werden herausfinden, was mit ihm ist, mein Freund«, sagte er. »Spontan fiele mir dazu ein, dass eigentlich auch du einer sehr genauen Überprüfung unterzogen werden müsstest. Schon seit geraumer Zeit – du weißt, wovon ich rede.« »Das Nabiss«, bestätigte Jiim und blickte an sich herab. »Es hatte sich schon vor Yaels Geburt auf diese Weise mit mir verbunden, die es vorher nie offenbart hatte. Das Nabiss, das ich vorher besessen hatte, jedenfalls nicht. Aber dieses hier …« Er strich sanft über das Metall, das an etlichen Stellen in seinem Fleisch verschwand. »… wurde offenbar mit der Prämisse hergestellt, eine zuvor unbekannte Symbiose mit seinem Träger einzugehen. Der Ganf, der es schmiedete, hätte mir sicher alles über Sinn und Zweck dieser Maßnahme verraten. Leider verstarb er unmittelbar nach der Vollendung der Rüstung. Anfänglich hätte ich mich sicher entscheiden können, das Nabiss einfach abzulegen und lediglich als Andenken zu betrachten. Dadurch, dass ich es aber mehr als einmal auch einsetzte, hatte ich diese Option irgendwann verspielt. Zumindest hat es diesen Anschein. Selbst wenn ich will, vermag ich es nicht mehr abzulegen.« Er senkte unvermittelt die Stimme. »Und jetzt verrate ich dir etwas sehr Intimes: Ich hätte Yael niemals zur Welt bringen können, wenn das Nabiss es nicht gewollt und zugelassen hätte. Denn die Rüstung öffnete sich erst im entscheidenden Moment, als das Ei meinen Körper verlassen musste.« »Musste?«, fragte Cloud unbehaglich, weil er spürte, wie sehr es Jiim zu schaffen machte, darüber mit einem Nichtnargen zu sprechen.
»Sonst wäre es in mir geblieben und hätte mich vergiftet. Ich wäre unweigerlich daran gestorben. Auch Yael wäre innerhalb der Schale verendet, und genau das hätte mich umgebracht.« »Was willst du mir damit sagen?« »Ich wünschte, ich wüsste es. Da ist nur dieses Gefühl, dass das Nabiss nicht nur mit mir etwas tut, sondern auch schon an Yael manipuliert haben könnte, während er sich noch im Ei in meinem Körper befand …« »Wegen des Goldtons seines Gefieders, seiner Haut?« »Ist das schon ein mehr als deutliches Indiz?« »Vielleicht. Wir werden es jedenfalls nicht außer Acht lassen. Glaubst du, du kommst damit zurecht, wenn wir ihm für ein paar Tage wenigstens seinen Willen lassen und du ihm fernbleibst?« »Ich werde es müssen. – Aber ich habe dir noch nicht alles gesagt.« »Was gibt es noch?« Jiim berichtete von seiner Begegnung mit Kargor, unmittelbar bevor er auf Yael im veränderten Zustand getroffen war. »Das plötzliche Interesse an deinem Nabiss öffnet den Spekulationen Tür und Tor«, murmelte Cloud. »Auch das werden wir gut im Auge behalten. Komm jetzt, gehen wir zu den anderen. Scobee sitzt bestimmt schon auf glühenden Kohlen und will uns vor Ort mehr über das Angk-System erzählen.« Er umriss Jiim kurz, was er von Kargor in einem vermeintlichen Traum erfahren hatte. »Demnach scheint er wirklich nicht zu beabsichtigen, uns ebenfalls hier auszusetzen«, kommentierte Jiim das Gehörte. »Aber ob dem zu trauen ist, wird sich zeigen müssen. Ich persönlich stehe ihm immer noch sehr skeptisch gegenüber.« »Ich wüsste momentan auch nichts, womit ich seine lauteren Absichten beweisen könnte.« »Hört sich nicht wirklich gut an, oder?« »Wir hatten schon bessere Zeiten«, erwiderte Cloud und dachte: Aber das ist lange her. Das war ein völlig anderes Leben. Es kam immer öfter vor, dass er sich dieses verlorene Leben zurückwünschte, und damit – er brauchte sich nur in der Zentrale umzusehen, um das bestätigt zu finden – stand er Gott weiß nicht al-
lein.
Die Straßen waren voller Menschen. Welch fantastischer Anblick. Welch aberwitziges Bild! Inmitten der Holografie erschien Kargor und trat aus ihr hervor. »Das Angk-System. Wir sind angekommen. Eure Nöte werden bald ein Ende haben.« Wie anrührender Gesang klang seine Stimme. Cloud fragte sich, ob Extraterrestrier wie Cy, Algorian oder Jiim dies wohl ebenso ansprechend fanden. Er hätte sie fragen können und würde dies vielleicht auch tatsächlich tun – irgendwann einmal, bei anderer Gelegenheit. Cloud erhob sich aus seinem Kommandositz, neben dem Kargor zum Stehen kam. »Was soll das?«, fuhr er ihn an und zeigte auf das Hauptbild der Holosäule, das vor Kargors Erscheinen für wilde Spekulationen gesorgt hatte. Sonden lieferten »hautnahe« Übertragungen aus dem Gewirr der energetischen Schläuche, über die alle Planeten miteinander verbunden waren (wobei das nicht ganz stimmte, eine Ausnahme gab es). Und genau diese Übertragungen sorgten für Zündstoff. Zuerst hatten sie nur schlierenartig entlangjagende »Verschmutzungen« der silbrig schimmernden Adern ausgemacht. Aber Sesha hatte ihnen sofort eröffnet, dass dieser Effekt nur auf die enorme Geschwindigkeit zurückzuführen war, mit der Objekte innerhalb der Schläuche dahinrasten. Objekte, die sich nach entsprechender Verlangsamung der Aufnahmen als Subjekte entpuppt hatten. Als Menschen, die über das gesamte System verteilt reisten. Keine Straße, auf der auf diese Weise nicht enormer Verkehr herrschte. Schon die erste Grobschätzung hatte eine Zahl von Reisenden ergeben, die unmöglich war. Es waren Hunderttausende. Eine neue Farce des ERBAUERS?
Es gab keine andere Erklärung, weder für Scobee, die das AngkSystem von ihnen allen am besten kannte, noch für Cloud. Dessen harsche Frage war somit berechtigt: »Was soll das?« Er wiederholte es, weil Kargor keine Anstalten machte, sich seinem Ärger zu stellen. Er stand nur da, und seine Fühler wippten sacht hin und her. »Wie ich sagte: Eure Nöte werden bald ein Ende haben. Ihr habt die Welten, auf denen ihr entstanden seid, als Heimat verloren. Mit dem Angk-System biete ich euch einen sicheren Hafen an, in dem ihr jederzeit willkommen seid, Kraft schöpfen und Umgang mit euresgleichen pflegen könnt. Die menschlichen Angehörigen der Crew zumindest.« »Du müsstest dich reden hören«, erboste sich Cloud noch mehr. »Was für eine Inszenierung praktizierst du gerade? Ich frage noch einmal: Was soll das? Wenn du uns mit Menschen in Kontakt treten lassen willst, dann fang mit denen an, die du schon vor uns gegen ihren Willen hierher verschleppt hast. Bring uns mit Prosper und Sarah und all den anderen zusammen, damit –« »Erinnere dich an unsere Begegnung in deiner Kabine«, unterbrach ihn Kargor. »Du dachtest, du träumst. Aber wir unterhielten uns ausgiebig. Dabei sagte ich dir bereits, dass ihr denen, die ich einst mitnahm, nie mehr begegnen könnt. Sie sind nicht mehr am Leben. Schon lange nicht mehr.« Für Scobee war es das Erste, was sie hörte – und für die anderen auch. Cloud hatte diesen Aspekt seines Traumes komplett verdrängt gehabt. Bis zu diesem Moment. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die GenTec-Matrix aufsprang und rief: »Das ist nicht wahr. Das hast du nicht getan – oder? Du hast sie nicht wirklich alle … sterben lassen?« »Es ist die Natur des Menschen, nicht unbegrenzt zu leben«, reagierte das Schmetterlingswesen gelassen. »Auch ihr werdet eines Tages sterben müssen. Was ist daran so schlimm?« »Schlimm ist daran«, fauchte Scobee mit geballten Fäusten, »dass Prosper und die anderen noch so viel vor sich gehabt hätten, wenn du nicht –«
Der ERBAUER zeigte in die Holosäule, die immer noch ein Ding der Unmöglichkeit zeigte: Tausende und Abertausende vermeintliche Menschen, die zwischen den Angk-Welten pendelten. »Sie sind tot – aber das heißt nicht, dass ich sie umgebracht habe! Sie lebten ein erfülltes Leben, ich habe mir bereits sämtliche Schlüsseldaten überspielen lassen. Ich kann sie euch von jedem Einzelnen bei Bedarf vorlegen, euch Einblick nehmen lassen … auch wenn das für Menschen wohl ein merkwürdiges Gefühl sein muss, die Leben anderer einzusehen. In jedem noch so winzigen Detail.« »Schlüsseldaten?«, wiederholte Cloud. »Du redest wirr wie üblich. Aber lenk nicht ab! Wenn du sie nicht umgebracht hast, so hast du durch ihr Aussetzen doch wenigstens indirekt dafür gesorgt, dass sie starben. Wahrscheinlich kamen sie nicht mit den Bedingungen auf den für sie fremden Welten zurecht. Damit bist und bleibst du also der Verantwortliche für ihren Tod, auch wenn du sie nicht eigenhändig getötet haben magst.« »Der Verantwortliche bin ich tatsächlich«, räumte Kargor wider Erwarten nun doch ein. »Aber sind nicht auch all die Menschen tot, die ihr damals bei eurer ersten Zeitversetzung um zweihundert Jahre hinter euch zurückgelassen habt – und nanntet ihr damals schon den, der euch in die Zukunft versetzte, einen Mörder?« »Darnok?« Cloud schüttelte den Kopf. »Nein, damals war das noch nicht der Vorwurf an ihn. Aber du vergleichst Äpfel mit –« »Mein Vergleich ist völlig legitim. Die Bilder, die ihr seht, sind echt. Prosper Mérimée und die anderen ersten Schlüsselträger haben die ihnen übertragene Aufgabe mit Bravour erfüllt. Sie sind die Keimzelle der neuen Menschheit, die heute über die Welten des Ersten Reichs verstreut leben.« Plötzlich, noch während Kargor sprach, dämmerte es Cloud. Ein leises Stöhnen von Scobee verriet, dass sie gerade denselben Gedanken hatte. »Endlich«, seufzte das Schmetterlingswesen, als könnte es die menschliche Mimik deuten wie die eines Artgleichen. »Ihr habt es begriffen.« »Begriffen?«, rief Aylea. »Was begriffen? Klärt mich mal jemand
auf?« »Zu früh, Schätzchen, viel zu früh«, konterte Jarvis, der in diesen Dingen etwas altmodisch war. Aylea beugte sich zu ihm im Nachbarsitz und knuffte ihn in die Seite. Aber so weit ging der Einfluss von Kargors Schuppe dann doch nicht; statt auf weiches Fleisch traf ihr Hieb hartes Nanometall. Sie schrie leise auf. »Tschuldigung«, lächelte Jarvis. »Begriffen«, sagte Kargor in diesem Moment, »dass ich Prosper und seine Leute nicht einfach nur in direkter Linie ins Angk-System brachte, sondern …« »… sondern in ein Angk-System, das weit in der Vergangenheit lag«, vollendete Cloud für ihn. »Durch die Tridentische Kugel und ihre Permanenz hattest du das nötige Instrument … obwohl ich dachte, dass die Milchstraßen-Perle so schwer angeschlagen ist, dass sie nur noch bedingt und äußerst beschränkt in der Permanenz entlanggleiten kann …« »Das war nur, solange sie ins Netz eingebunden war. Mit ihrer Loslösung potenzierten sich die Möglichkeiten, da sie fortan nicht mehr auf ihre kosmische Umgebung wirken musste, wie es davor ihre Aufgabe war. Wie es die Aufgabe aller Tridentischen Kugeln im Netz ist …« »Du hast Prosper und die anderen in der Vergangenheit auf den Angk-Welten ausgesetzt?«, fragte Aylea verblüfft. »Wie tief in der Vergangenheit? Jahrhunderte reichten sicher nicht aus.« »Sicher nicht«, bestätigte Kargor, ohne konkret zu werden. »Und die Menschen, die wir in den Energieadern sehen, sind … sind alles Nachkommen der paar Leutchen, die du einst hierher brachtest?«, mischte sich jetzt auch Jarvis ein. »Sie müssten sich extrem untereinander vermehrt haben, wobei der Genpool sehr beschränkt blieb. Was ist mit den bekannten Folgen von Inzest, was ist mit Missbildungen unterschiedlichster Art, auch geistiger? Bei den Menschen, die wir hier sehen, ist nichts Außergewöhnliches zu entdecken. Sie wirken normal. Und das ist umso unverständlicher – ohne Paula und den anderen jetzt Böses zu wollen –, da Prospers
Zirkus nun nicht eben durch Normalität glänzte. Da gab es ganz schön viele … na, ihr wisst es alle selbst.« »Diese möglichen Probleme wurden im Vorfeld ausgeschlossen und bereinigt. Geblieben sind alle positiven Aspekte«, versicherte Kargor. »Die gibt es? Welche? Was sind die positiven Effekte?«, fragte Cloud. »Auf den Angk-Welten leben besondere Menschen mit besonderen Talenten. Ihr werdet es mit eigenen Augen sehen. Ich habe nicht vor, euch den Kontakt zu ihnen zu verwehren, das sagte ich bereits. Dieses System soll zum Sinnbild der Verschmelzung unserer beiden Völker werden. Wobei Verschmelzung nicht wörtlich zu nehmen ist. Viele von uns sehnen ein echtes Leben herbei, wie sie es früher hatten – wie es ihnen aber lange Zeit verwehrt werden musste. Weil die Voraussetzungen nicht stimmten und erst geschaffen werden mussten. Bractonen sind gesellige Wesen. Wenn sie körperlich werden, brauchen sie mentale Gesellschafter, die ihren Ansprüchen genügen, sonst verkümmern sie.« Jetzt redete er wieder wie der Kargor, der behauptet hatte, aus Milliarden Einzelwesen zu bestehen. »Mentale Gesellschafter. Das klingt wie bessere Schoßhündchen … ist es das, was du in uns Menschen siehst?«, fragte Jarvis gereizt. »Wer missverstehen will, missversteht«, erwiderte Kargor. »Es bleibt euch unbenommen. Aber ich spiele mit offenen Karten. Dieses System ist, was es vorgibt zu sein. Hier wird nicht getrickst. Dafür gibt es keinen Grund. Ich brachte Menschen hierher, damit sie sich mehren und die verwaisten Welten für sich als Lebensraum erschließen. Es sind gute Menschen, wiewohl ich davon ausgehe, dass es auch gute Menschen sind. Die Zukunft wird wunderbar sein für die, die das Glück haben, Teil der Harmonie zu werden.« »Wo sind all die … Bractonen, von denen du die ganze Zeit sprichst?«, fragte Cloud. »Scob sagte, du hättest sie in dir. Wie kann das sein? Was sollen wir uns darunter vorstellen?« »Ich begleite euch nach Angk I, dann werdet ihr es sehen«, versprach Kargor.
»Wie gelangen wir dorthin?«, fragte Jarvis immer noch angespannt. »Die RUBIKON kann auf einer Planetenoberfläche nicht landen. Sollen wir in ein Shuttle umsteigen, das –« »Ihr gelangt so nach Angk I«, sang das Schmetterlingswesen. Und über die gesamte Crew strich ein warmer, duftender Wind hinweg, der in anderem Licht, zwischen fremden Horizonten wehte. Cloud blickte sich benommen um. Sie hatten die RUBIKON verlassen und standen in niedrigem Gras, in der Ferne eine Stadt, wie einem verwunschenen Traum entliehen, und über ihnen ein kobaltblauer Turm …
Es war alles noch so frisch, so vertraut. Subjektiv waren nur Wochen vergangen, seit Scobee das letzte Mal durch solches Gras gegangen und schildkrötenpanzerartige Gebäude in der Ferne gesehen hatte. Real aber musste hier seither eine riesige Zeitspanne verstrichen sein. Denn neben den Schildkrötenbauten gab es neue, andere, die eindeutig menschliche Handschrift trugen. Und der Himmel war voller Treiben. Zeppelinartige Luftschiffe bevölkerten ihn. Scobee stellte sich vor, dass die Passagiere und Piloten gerade auf sie herabstarrten. Sich wunderten. Am meisten wohl über das Geschöpf, das zwischen ihnen stand wie ein überlebensgroßer, aufrecht gehender Schmetterling. »Mach das rückgängig, sofort!«, hörte Scobee Jiim fordern. »Yael ist noch da oben. Yael ist ganz allein auf dem Schiff!« Sie alle ahnten nicht, wie falsch er damit lag.
»Wie geht es dir nach der Trennung?«, fragte Chex. Chex war eine Illusion von Sesha. Das Original dieses Nargen hatte einst als bester Freund von Yaels Elter gegolten. Inzwischen lebte er längst nicht mehr – in der realen Welt. Hier schon. Yael mochte Chex, auch wenn es ein Trugbild war.
»Ich fühle mich befreit. Kann wieder durchatmen.« »Das konntest du vorher nicht?« »Nicht mehr, seit …« »Seit?« »… ich wie neugeboren erwachte.« »Du meinst nach dem Wachstumsschub?« »So nennt ihr es.« »Ist es falsch?« »Ich weiß nicht, was falsch oder richtig ist. Mich hat das Fernweh gepackt. Es wäre, so fühlt es sich für mich an, wahrscheinlich ›richtig‹, ihm nachzugeben.« »Fernweh – mit einem bestimmten Ziel?« »Ich weiß es nicht.« »Kalser vielleicht?« »Ich weiß es nicht. Es ist nur …« »Ja?« »Als zöge, nein, zerre etwas an mir.« »Warum hast du das nie erwähnt?« »Weil es ganz neu ist.« »Wie neu? Seit deiner körperlichen Veränderung?« »Nein, später. Es setzte erst später ein.« »Kannst du etwas konkreter werden?« »Als wir in diesem System ankamen.« »Das ist interessant. Ich werde es besonders vermerken.« »Das ist doch alles sinnlos«, seufzte er plötzlich. Und dann begann er, vor Chex zu verblassen – als wäre er das Hologramm. Sekunden später war er vollständig verschwunden. Sesha schlug Alarm. Aber niemand an Bord hörte die KI. Sie waren alle gegangen …
Aus Richtung Stadt kamen Menschen neugierig näher. Mehr als neugierig, ihre Gesichter drückten ehrfurchtsvolles Staunen aus. Of-
fenbar hatten Zeppelinbesatzungen sie verständigt – oder jemand hatte bemerkt, dass sich dort, beim kobaltblauen Turm, etwas nie Dagewesenes tat. Wir können es nicht sein, dachte Cloud, dem die Art von Verehrung, die er spürte, unangenehm war und auch völlig unangemessen vorkam. Menschen sehen sie alle Tage, sie sind ja selbst welche. Und Algorian geht sicher auf den ersten und zweiten Blick, erst recht aus der Ferne, noch als »Mensch« durch. Problematischer wird es bei Cy. Doch der könnte auch irgendein Strauch sein, solange er nur dasteht wie angewurzelt … Nein, für ihr Verhalten kommt nur einer infrage. Menschliche Fremde können es nicht verursachen. Den Energiestraßen nach zu urteilen, herrscht ein reges Kommen und Gehen zwischen den Welten … Es musste an Kargor liegen. An dem filigranen Schmetterlingswesen, das unter dieser prächtigen »Schminke« womöglich immer noch den kristallenen Prismenkörper verbarg. Die Heimstatt der Milliarden, von denen Scobee gesprochen hatte. Als die ersten Ankömmlinge in Rufweite waren, trat der ERBAUER ihnen entgegen. Er stimmte einen Sprechgesang an, der die Angk-Bewohner in schiere Ekstase versetzte.
Scobee fühlte eine Enge um ihr Herz. Der Gestaltenstrom, der aus der nahen Stadt drängte, machte ihr endgültig klar, wie stark sich die Situation gegenüber ihrem ersten Besuch auf Angk I verändert hatte. Zwischen den Menschen, die das Gros der Ankömmlinge stellten, bewegten sich auch die ursprünglichen Bewohner dieser Welt, auf die sie damals getroffen war. Tavner – was in Kargors Sprache so viel wie Diener bedeutete. Die Tavner sahen aus wie auf zwei gedrungenen, muskelstrotzenden Beinen gehende Schildkröten. Zusätzlich zum gewachsenen Panzer trugen die Tavner rüstungsartige Elemente, zu denen auch ein Helm gehörte, der die Schädelkontur exakt nachzeichnete und nur das Gesicht freiließ. Der Helm war aus rauem Metall gefertigt,
das fast wie Felsgestein wirkte. Die Maserung der freiliegenden Haut war typisch reptilisch, und die Physiognomie entsprach fast völlig der einer irdischen Schildkröte. »Was sind das für Wesen zwischen den Menschen?«, wollte Jarvis auch schon wissen – und Scobee erklärte es ihm. Zumindest so weit, wie sie selbst es wusste. »Diener … aha«, machte Jarvis. »Das klingt nicht wirklich gut in meinen Ohren. Eher nach tiefem Mittelalter – oder anderen Epochen, in denen nach rassischer Herkunft selektiert und Privilegien verteilt wurden … Ist das der wahre Geist der Bractonen? Sind sie Sklavenhalter?« Er hatte absichtlich laut gesprochen, sehr laut sogar, aber Kargor schien immer noch auf seine spezielle Art der Begrüßung konzentriert zu sein, mit der er den ankommenden Angk-Bewohnern entgegentrat. Mehr und mehr verblüfft musste Scobee erkennen, dass sie auf ihn wahrhaftig reagierten wie auf einen leibhaftig vom Himmel herabgestiegenen Gott oder dessen Gesandten, einen Messias fast, auf den sie Generation um Generation gewartet und gehofft hatten. Wenn sie es so betrachtete, empfand sie großen Widerwillen gegen Kargors Auftritt. Aber vielleicht täuschte sie sich. Sie hatte sich oft geirrt, im Zusammenhang mit diesem Wesen, dem sie ihre Befreiung aus den Händen der Jay'nac verdankte … was sie oft zu dem Gedanken führte, was wohl aus Siroona geworden war, die mit ihr nach Nar'gog gelangt war. Oder aus Porlac, der sie von der RUDIMENT-Station im Leerraum verschleppt hatte. Oder … … oder den Gloriden, mit denen sie aus Andromeda aufgebrochen war. Und die es den Jay'nac und Felorern offenbar nicht wert erschienen waren, mitgenommen zu werden. Sie vermisste Ovayran. »Verbreitet die Kunde«, hörte sie Kargor gerade singen. »Verbreitet die Kunde, dass der Tag, auf den ihr immer gewartet habt, ge-
kommen ist. Eure Mentoren sind gekommen … und werden sich nun unter euch mischen. Erschreckt nicht. Ihr wurdet darauf vorbereitet. Alles, was geschieht, verändert zwar euer Leben, aber es verändert es nur zu eurem und unserem Vorteil. Seid offen für alles Neue, was nun auf euch einstürzt. Es wird keinen Zwist geben, nur friedliche Koexistenz, denn wir haben euch so viel zu geben – und ihr uns!« »Was … was hat er jetzt vor? Wovon spricht er?«, fragte Aylea ganz leise, als fürchtete sie, die Aufmerksamkeit Kargors oder der Angk-Bewohner auf sich zu ziehen. »Er brachte uns hier herunter, um uns etwas zu zeigen – das hier? Aber was genau?« Scobee verstand ihre Ungeduld – die aber von Kargor auf seine Weise beantwortet wurde. Das Schmetterlingswesen war umringt von herbeigeströmten Männern, Frauen und Kindern … und Tavnern. Selbst sie schienen dieses Geschöpf bis zur Selbstaufgabe zu verehren, was den schalen Beigeschmack für Scobee noch verstärkte. Doch dann vergaß sie alle Vorbehalte. Weil sie, wie alle anderen mit ihr, Zeuge dessen wurde, was der ERBAUER indirekt bereits angekündigt hatte – ohne ins Detail zu gehen. Vor ihnen begann sich das Schmetterlingswesen zu verändern. Stroboskopartig blitzte die erste Gestalt, in der Kargor aufgetreten war, durch die filigrane Pracht dieses Geschöpfes hindurch. Für einen Moment fragte Scobee sich, ob sie allein es bemerkte, aufgrund der genetischen Erweiterung ihres Sehspektrums. Doch rasch vergaß sie solche Überlegungen wieder, gebannt von dem Vorgang, dessen Zeuge sie gerade wurden. Kargors Schmetterlingshülle verblasste immer nachhaltiger, und auch die fangschreckenartige Prismengestalt, die darunter zum Vorschein kam, blieb nicht lange erhalten. Auch diese Form veränderte sich nun rasend, als würden immer neue Gestaltungsbefehle durch sie hindurchrasen. Schließlich blieb von der Fangschrecke nur eine Art glatter Obelisk übrig, der wie ein stumpfer Kegel etwa zweieinhalb Meter hoch aufragte.
Und dann lösten sich aus eben diesem Kegel Schemen, die wie Nebel hervorquollen und sich zu Ebenbildern des gerade verschwundenen Kargor entwickelten, zu farbenprächtigen, wunderschön anmutenden Schmetterlingswesen! Eines nach dem anderen manifestierte sich vor der staunenden Menge und trat dann beiseite, in den Hintergrund, um Platz zu machen für alle Nachfolgenden. Und derer kamen viele. Der Kegel, so hatte es beinahe den Anschein, hatte die Funktion einer bizarren Gebärmaschine übernommen. Einer der Bractonen, die sich materialisiert hatten, folgte nicht seinen Artgenossen, sondern kam schnurstracks auf Scobees Gruppe zu. »Ich bin Kargor«, sang es glockenhell. »Du meinst …?«, setzte Cloud an. »Ich bin der echte Kargor, der die ganze Zeit als Mittler fungierte und dies auch weiter tun wird. Doch nun in meiner originalen Hülle, die ich einst im Depot hinterlegte wie alle anderen, und die mir noch passt, obwohl seither eine für euch unvorstellbare lange Zeit verstrich.« »Und die anderen sind …«, warf nun auch Scobee ein. »Diejenigen, die sich zur Wiederverkörperlichung entschlossen haben und nicht länger einer Illusion nachjagen wollen – wie sie es ausdrücken.« »Illusion?«, fragte Cloud. »Was versteht ihr darunter, und worauf bezieht sich das?« Kargor schien zu zögern. »Wir werden über alles sprechen. Euch erwartet vielleicht mehr, als euer Verstand zu fassen fähig ist – ich hoffe es nicht, aber seid gewarnt.« Niemand nahm Kargors großspurigen Ankündigungen mehr ernst. Er hatte oft versprochen, die Karten auf den Tisch zu legen, alles zu offenbaren, was sich hinter ihm und seinen Absichten verbarg, aber nie hatte er Wort gehalten. Immer waren es nur winzige Informationsbrocken gewesen, die er ihnen wie Brosamen hingeworfen hatte.
Und das sollte sich plötzlich ändern? »Lass das nur unsere Sorge sein«, wandte sie sich an den ERBAUER. »Sprich.« Kargor tänzelte vor ihr auf und ab. »Nicht hier, nicht hier.« Seine Fühler bogen sich kurz in Richtung der Menge, die aus der Stadt gekommen war, und sofort lösten sich daraus mehrere Tavner, die zwischen sich ein floßartiges Fahrzeug ohne besondere Aufbauten entstehen ließen, das einen halben Meter über dem Boden schwebte. Wie sie es machten, dass es plötzlich da war, blieb ihr – oder Kargors – Geheimnis. »Steigt auf«, bat der Bractone. »Wir fahren zur Stadt. Scobee war schon einmal in dem Gebäude, das geeignet ist, um euch alle Zusammenhänge zu offenbaren. Darin lagert immenses Wissen, das wir mit euch teilen wollen.« »Wir?«, fragte Cloud. »Mein Volk.« Nach kurzer Beratung willigten sie ein. Und wenig später setzte sich das schwebende Floß mit ihnen und Kargor an Bord in Richtung der großen Stadt in Bewegung.
15. Schnell kam die Stadt näher. Das Schwebefloß der Tavner chauffierte sie durch einen atemberaubend fruchtbaren Landschaftsgürtel, der in der Ferne vor schneegekrönten Bergen endete. Aber auch die Stadt selbst war ein Gebirge aus größeren und kleineren Erhebungen. Dazwischen liefen die Bewohner. Manche wirkten geschäftig, andere, als hätten sie Freizeit. Kinderlachen drang im Vorbeifahren an Clouds Gehör, und dieses Lachen war es, was ihn erstmals Glauben an Kargors uneingeschränkt ehrliche Absichten schöpfen ließ. Wenn sie zurückblickten zum kobaltblauen Turm, sahen sie immer neue Ströme von Bractonen aus dem kegelförmigen Obelisken treten. Die meisten näherten sich zielstrebig dem Turm … und verschwanden, wenn sie eine bestimmte Distanz dazu unterschritten. »Die Türme sind die Einspeispunkte ins Netz der Energiestraßen«, hatte Scobee ihnen erklärt. »Offenbar schwärmen die ›frei werdenden‹ ERBAUER auf die anderen Angk-Welten aus – oder wenden sich anderen Gebieten dieses Planeten zu.« Inzwischen mussten Hunderte, wenn nicht Tausende den Kegel verlassen haben. »Die Heimstatt der Milliarden«, hatte Kargor ihn genannt, und er war einer dieser Milliarden, die auf unbekannte Weise darin komprimiert gelebt hatten. Die Fahrt selbst verlief sehr schweigsam. Das Schmetterlingswesen hatte sich zwischen den beiden Tavnern platziert, die das Floß lenkten. Cloud saß mit seiner Crew im mittleren Bereich. Auf ihrer Fahrt durch die Stadt erregten sie – nein, das war falsch, eigentlich war es nur Kargor – gewaltiges Aufsehen. Aber es kam nie zu Ausschreitungen oder Übergriffen. »Du hast sie ja voll im Griff«, bemerkte Jarvis irgendwann einmal sarkastisch. Erstaunlicherweise ging Kargor darauf ein, indem er
ernst erklärte: »Sie wurden immer auf unsere Wiederkehr vorbereitet. Wir waren stets Teil ihres Lebens – auch wenn wir nicht körperlich präsent waren. Sie werden täglich mit unseren Hinterlassenschaften konfrontiert. Wir sind keine abstrakten Begriffe für sie. Die Tavner hier auf Angk I hatten stets vor allem eine Aufgabe: die Menschennachkommen auf diesen Tag vorzubereiten. Den Tag der Wiederkehr, wenn wir beginnen, uns unter sie zu mischen.« »Das wollt ihr tatsächlich tun?«, fragte Cloud mit einiger Beklemmung. »Die, die wie du wieder körperlich geworden sind, haben sich für ein Leben mit … Menschen entschieden? Entschieden, ihre Welten – nanntet ihr sie nicht euer ›Erstes Reich‹ – mit Wesen zu teilen, die für sie doch nicht mehr sein können als besseres Gewürm. Ihr steht intellektuell meilenweit über uns. Geschöpfe wie du haben Dinge vollbracht, die Menschen nicht in einer Million Jahren vollbringen werden. Ihr seid für uns so abgehoben, dass es sich eigentlich von vorneherein verbieten müsste, sich überhaupt mit euch auseinanderzusetzen.« Er seufzte. »Wir – oder diese Leute hier – können euch nichts geben. Nichts zu einer friedlichen Koexistenz beisteuern. Wie soll ein solches Zusammenleben also funktionieren? Dazu bedarf es des gegenseitigen Respekts. Das vor allem. Respekt. Ich glaube nicht, dass ihr … verzeih mir die Offenheit … dazu in der Lage seid. Uns zu respektieren. Umgekehrt funktioniert es wohl eher, wie zu sehen ist. Wobei ich statt Respekt lieber das Wort Verehrung wählen würde. Es trifft den Nagel eher auf den Kopf. Verehrung. Ihr habt den menschlichen Nachkommen von Prosper und all den anderen offenbar gar keine andere Wahl gelassen, als so, wie sie es gerade tun, auf die Stunde null zu reagieren. Sorry, aber das stinkt für mich gewaltig zum Himmel. Das riecht verdammt nach Indoktrinierung, und davon bin ich kein Freund, werde es nie sein!« Kargor löste sich von den Steuerleuten des Floßes und kam mit unbeschreiblicher Eleganz auf Cloud zu. »Es ist dein Misstrauen, das deine Gedanken vergiftet, deine Denkstrukturen verkrustet. Nichts von alledem ist wahr. Wahr ist: Die Menschen hier und auf den anderen Welten des Systems leben frei und glücklich seit Jahrtausenden. Und sie werden noch viele
Jahrtausende frei und glücklich mit den Bractonen hier leben. Es ist Platz genug. Uns steht ein unerschöpfliches Reservoir an Möglichkeiten zur Verfügung. Dies ist das Paradies, das sich jede Zivilisation, jede Spezies erträumt, deren Blick zu den Sternen gerichtet ist. Mit uns als Mentoren, als Förderer werden diese Menschen in die tiefsten Geheimnisse des Kosmos eingeweiht. Und glaube mir, niemand kennt sie besser als wir!« Sie erreichten das Zentrum der vermischten Bauten aus Menschenund Tavner-Architektur und flogen in einen Turm ein, der beide Merkmale in sich vereinte. Somit war es nicht das Gebäude, das Scobee bereits kannte und in dem Kargor vor … ja, vor wie langer Zeit eigentlich? … die Schlüssel an die Kolonisten verteilte. Die Erinnerung an die Toten weckte Wehmut, umso mehr, da diese Erinnerung mehr als frisch war. Auch wenn sie tatsächlich nach einem erfüllten Leben und eines natürlichen Todes gestorben sein mochten, stimmte der Gedanke, sie nie mehr zu sehen, traurig. Mehr als das. Zugleich lenkte er die Überlegungen dahin, dass all die Menschen, denen sie inzwischen begegnet waren oder die sie auch nur, wie in der RUBIKON, über herangezoomte und verlangsamte Aufnahmen des Energiestraßennetzes gesehen hatten, von den Vermissten und Betrauerten abstammten. Dass all diese Menschen Erbgut in sich trugen, das in direkter Linie auf einen Prosper Mérimée, eine Sarah Cuthbert oder wen auch immer aus den Reihen der einstigen Gettobewohner in sich trug. Ein klein wenig tröstete der Gedanke, dass die Freunde etwas so Großes geschafft hatten – gegen Widerstände, die man kaum erahnen konnte. Es sei denn, man nahm Kargors Angebot an, Einblick in die Schlüsselaufzeichnungen zu erhalten, wobei es sich offenbar um eine lückenlose Chronik aller handelte, die jemals auf den Angk-Welten gelebt und sich vermehrt hatten. Eine Vorstellung, die in ihrer Gigantonomie in den Rahmen passte, den die Bractonen erstellt hatten. Er machte Cloud, Scobee und dem Rest der Floßfahrer immer wie-
der klar, in welch kleiner, geordneter Welt sie bislang gelebt hatten, obwohl sie schon meinten, die Tore zum Kosmos aufgestoßen und manches Wunder erblickt zu haben. »Was wohl aus Tovah'Zara geworden ist?«, murmelte Jarvis unvermittelt. »Ich meine: Im Zuge von Darnoks Rachefeldzug müsste der Aquakubus eigentlich auch draufgegangen sein, oder? Schade drum – irgendwie.« Cloud zuckte die Achseln. »Wer weiß. Die Wahrscheinlichkeit dürfte für die Vernichtung sprechen. Aber die Technik der Bractonen hier in diesem System hat ja offenbar auch alles überstanden – obwohl es mitten in der Milchstraße liegt.« Jarvis lächelte. »Ich fürchte nur, dass man unseren Kumpel Kargor und die Vaaren oder Foronen nicht vergleichen kann.« Cloud nickte. »Apropos Foronen«, mischte sich Scobee ein. »Was wohl aus Sobek wurde? Siroona hat nie wieder ein Lebenszeichen von ihm erhalten. Und auch die in der Milchstraße verbliebenen SESHA-Kopien waren Darnoks Wüten ausgesetzt. Auch sie werden höchstwahrscheinlich vernichtet worden sein. – Es ist schon gewaltig, was dieser Keelon, den wir alle mit einem ganz anderen Gesicht kannten, zerstört hat …« Damit waren sie an einem Punkt angelangt, zu dem sie schon alles gesagt hatten. Cloud hob den Arm und machte eine umfassende Geste. Das Floß hatte angehalten. »Wir sind offenbar da und müssen zur Abwechslung mal wieder unsere Beine bewegen.« Er nickte zu Kargor. »Stimmt's?« Der Bractone sprang, unterstützt von einem Schlag seiner filigranen Flügel, vom Schwebefloß herunter. »Folgt mir«, forderte er seine Begleiter auf. »Dieser Turm wurde in den letzten hundert Planetenjahren errichtet, und er hat nur auf mich – oder einen anderen Bractonen – gewartet.« »Die Bewohner von Angk I kannten das Datum eurer Wiederkehr?«, fragte Scobee sichtlich verwundert. »Nicht auf Tag und Stunde genau – aber doch ziemlich präzise.«
Es war Kargor zu glauben. Nach allem, was er bislang an Überlegenheit zelebriert hatte, war ihm zumindest so gut wie alles zuzutrauen.
Nirgends in dem Turm begegnete ihnen auch nur eine einzige Menschenseele, auch kein Tavner. Nichts. Alles war blitzblank, an der Grenze zur Sterilität. Ein Lift wartete auf sie. Die Kabine war groß genug, um sie alle auf einmal aufzunehmen, und bestand aus einem Material, das gleich zu Beginn der Fahrt durchsichtig wurde. Und obwohl sie etliche Stockwerke passierten, konnten sie die ganze Zeit durch das Glas starren, als gäbe es kein Gebäude, als bewegten sie sich durch nichts anderes als Luft. Sie hatten freie Sicht über Stadt und Umland. Erst als die Kabine stoppte, verlor sie ihre Transparenz, und Kargors Tross folgte dem Bractonen in einen unerwartet geschmackvoll (nach menschlichem Verständnis) eingerichteten Saal. Es gab gepolsterte Stühle und auch Vorrichtungen für extraterrestrische Bedürfnisse, eine Mulde für Cy etwa oder eine Konstruktion, die wie geschaffen für Jiim schien. Kargor bat sie mit schmeichelndem Gesang, Platz zu nehmen. Er selbst blieb stehen. »Ihr werdet hungrig und durstig sein«, sagte er. »Neben jedem Sitz liegt ein schmaler Stick, den ihr nur gegen die Stirn – oder ein adäquates Organ, in dem euer Denken abläuft – halten und eure Wünsche gedanklich formulieren müsst. Die Serviceautomatik produziert unverzüglich das Gewünschte … hoffentlich exakt nach euren Vorstellungen.« »Das weißt du nicht sicher?«, fragte Aylea, die bereits Platz genommen und den erwähnten Stick ergriffen hatte. »Heißt das, es kann auch irgendein Gematsche herauskommen?« »Oder etwas Giftiges?«, schoss Jelto sofort hinterher, da er sich wie üblich Sorgen um seinen Schützling machte. »Im Prinzip ist das auszuschließen. Ihr wurdet bei Betreten des Turms gescannt. Die Eigenarten eures Metabolismus sind nun gespeichert und wurden mit dem Service abgestimmt. Es besteht keine
Gefahr. Aber ob euch das Produzierte schmeckt, eurem ganz persönlichen Geschmack entspricht, vermag die Automatik nicht zu garantieren. Ihr müsst euch auf das Wagnis einlassen und probieren. Alle nötigen Nährstoffe, die euer Körper braucht, beinhaltet das Gewünschte auf jeden Fall.« »Eine Art Tischlein-deck-dich oder vollautomatisiertes Schlaraffenland also«, kommentierte Jarvis. »Schade, dass ich keinerlei Konsumbedürfnis mehr habe. Obwohl … der Geist wäre willig, allein mein wunderbarer Robotkörper macht da nicht mit …« Obwohl Jarvis zu seinen Worten grimassierte, war ihm anzumerken, dass er durchaus unter dieser Einschränkung litt. Die zudem nicht die einzige war. Vor Aylea tauchten gerade ein randvoller Becher und ein überladener Teller auf. Beides schwebte auf einer unsichtbaren Unterlage in bequemer Höhe. Das Mädchen grinste und rief: »Gibt's auch Besteck?« Während sie fragte, hielt sie immer noch den Stick gegen die Schläfe gepresst. Neben ihrem Teller tauchten Messer und Gabel auf. »Irre!«, strahlte sie. Und haute rein. Bis … sie in ihrem enthusiastischen Kauen abrupt innehielt, dem offenbar dringenden Impuls, den Inhalt ihres Mundes auszuspeien, aber tapfer widerstand und stattdessen nur gequält herunterschluckte. Auf Nachschlag verzichtete sie, nippte nur vorsichtig an ihrem Becher und trank dann gierig daraus, um den Geschmack wegzuspülen. »Was ist das eigentlich, was du da geordert hast?«, fragte Jarvis scheinheilig. »So was hab ich ja noch nie gesehen. Sieht aus wie bunte Kugeln, die jemand mit grüner Soße überschüttet hat …« »Das war meine Leibspeise … als ich noch daheim lebte, bei meinen …« Sie verstummte, gab sich dann aber einen Ruck und vollendete: »… Eltern.« Die sie verstoßen hatten. Indem sie Aylea der Willkür des Masterregimes auslieferten und damit ihre Abschiebung ins Getto ermöglichten. Wobei – welche andere Wahl hätten sie gehabt?
»Ich wette, euer Hausautomat hat das ein klein wenig besser hingekriegt, sonst würdest du nicht ein solches Gesicht machen. Wonach schmeckte es?« »Das hier? Nach feuchter Pappe«, erwiderte Aylea. Obwohl sie feuchte Pappe wahrscheinlich nie in ihrem Leben versucht hatte. »Ich fürchte«, sagte Cloud, »das ist genau das, was Kargor uns erklären wollte: Dieser Turm war offenbar noch nie in ›Betrieb‹. Wir sind seine ersten Gäste. Da muss sich alles erst ein wenig einspielen. Vielleicht hast du deine Wünsche auch nicht klar genug formuliert.« »Pah!«, machte Aylea verächtlich. »Dann mach's besser!« »Danke, bin nicht hungrig.« Er sah das Funkeln in ihren Augen. »Und durstig auch nicht. Später vielleicht.« Er blickte zum ERBAUER. »Kargor? Du wolltest doch loslegen, oder? Mit Erklärungen, meine ich.« »Davon wird man aber nicht satt«, maulte Aylea. »Probier einfach weiter durch«, flüsterte Jarvis ihr zu. »Irgendwann wird's schon klappen, dass dein verwöhnter Gaumen Hurra schreit.« »Du bist ein Idiot.« »Danke für die Blumen.« »Aussichtslos«, fauchte Aylea. »Wenn du das schon als Kompliment auffasst …« »Ich werde loslegen – wie du es ausdrückst, John Cloud«, sang der ERBAUER. »Aber macht euch bei allem, was ihr nun erfahrt, bewusst, dass ihr die ersten Nichtbractonen seid, vor denen wir das Elementarste lüften, was es in diesem Kosmos zu begreifen gibt.« »Wow.« Mehr erwiderte Jarvis nicht darauf. Cloud selbst nickte. »Fang an«, sagte er. »Überzeuge uns mit Inhalten.« Kargors Fühlerspitzen richteten sich auf ihn. »Ich warne euch jedoch ein letztes Mal: Es besteht die Gefahr, dass eure Psyche nicht verkraftet, was ihr offengelegt bekommt. Denn ich spreche nicht über x-beliebige Ereignisse, sondern –« »Fang an«, wiederholte Cloud, »und überlass es uns, ob wir es verkraften. Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine Wissenserweiterung
mir schaden könnte, im Gegenteil.« Kargors Fühler wippten zurück, richteten sich wieder kerzengerade nach oben. »Es ist eine wahre Tragödie – und das Furchtbare daran ist, dass es dafür nur einen Schuldigen gibt, uns selbst …« Mit diesen einleitenden Worten begann das Schmetterlingswesen, über Dinge zu sprechen, die Cloud und dessen Crew bei aller Fantasie und Spekulation im Vorfeld so niemals erwartet hätten. »Alles fing mit der Ewigen Kette an, die ihr als Verbund aus CHARDHIN-Perlen oder Tridentische Kugeln kennengelernt habt. Es fing damit an, dass wir ein bis dahin einzigartiges Experiment starteten … unter dessen Folgen wir bis heute leiden …« Von irgendwoher senkten sich helmartige Gespinste herab, die sich blitzschnell um die Köpfe der Versammelten spannten und selbst Cys Zentrum im Dickicht seines Körpers fanden. Selbst Jarvis, der nur einen simulierten Schädel besaß, blieb davon nicht verschont. Offenbar nahm der ERBAUER an, dass sein Vorhaben auch bei einem Kunstgeschöpf funktionierte. Zu Recht, wie sich zeigen sollte. »Ich will euch nicht mit einem simplen Bericht abspeisen, ich will euch die Geschichte meiner Art in diesem Universum zeigen. Sperrt euch nicht dagegen, öffnet euren Geist. Und danach wird sich zeigen, ob ihr die Wahrheit, die auch an den Grundfesten eurer Existenz rüttelt, wirklich ertragt …« Obwohl Cloud die Augen nicht schloss, verblasste mit jedem Wort Kargors die bisherige Umgebung mehr. Bis sie schließlich ganz verschwunden war und abgelöst wurde … vom ANFANG. Vom absoluten Anfang. Einer Zeit und einem Ort, als das Universum noch nicht entstanden war.
»Ihr habt oft gefragt«, sagte eine sphärenhafte Stimme, die zweifellos Kargor gehörte, dem Individuum Kargor, nicht dem Sprecher eines Verbundes aus Abermilliarden Bractonen, »welchen genauen
Zweck die Tridentischen Kugeln eigentlich verfolgen, die dort positioniert sind, wo kein uneingeweihter Bewohner des Weltalls sie je finden oder auch nur vermuten würde.« Zu den Worten blitzten begleitende Bilder auf. Cloud, der völlig in der Präsentation aufging, erkannte erst eine einzige riesenhafte goldene Kugel, wie sie normalerweise in der Nichtzeit und im Nichtraum hinter einem Ereignishorizont verankert ruhte, dann explodierte dieses Bild förmlich, und er sah Dutzende, Hunderte, Tausende dieser »Perlen«, aneinandergereiht wie an einer Kette und umgeben von … Er wusste nicht, wovon. Er fand nicht einmal Worte, um die Umgebung zu beschreiben. Das war nicht die Sphäre hinter einem Ereignishorizont – das war eine Fremde, die den Verstand biss, sobald er auch nur den Versuch unternahm, sie zu analysieren. »Nun«, fuhr Kargor fort, »ich versuche, es mit einfachen Worten zu erklären. Aber zunächst müsst ihr wissen, dass wir nicht aus diesem Kosmos stammen. Wir stammen nicht aus ihm, aber sind für ihn verantwortlich. Für Angehörige eurer Evolutionsstufe musste die Entdeckung der CHARDHIN-Perlen zwangsläufig eines bedeuten: Irgendeine fremde, eine hoch technisierte und weit entwickelte Macht hat sie in den Schwarzen Löchern deponiert, um dort einer wie auch immer gearteten Absicht nachzugehen … Doch schon der Ansatz ist falsch.« Warum?, geisterte es durch Clouds Hirnwindungen. Warum sollte – »Das ursprüngliche Kontingent Tridentischer Kugeln, mit denen das EXPERIMENT startete, existierte schon, als es weder Schwarze Löcher noch sonst irgendetwas gab. Die Ausgangsperlen der EWIGEN KETTE wurden nicht im Universum installiert …« Kargor machte eine bedeutungsvolle Pause. Sondern?, dachte Cloud, dachten alle, die dem Exkurs beiwohnten. »Ganz einfach«, sang Kargor, »sie installierten das Universum.«
16. Der Behauptung des Bractonen folgten Irritation und hier und da – bei denjenigen, in denen das Gehörte schneller in seiner ganzen Tragweite ins Begreifen sickerte – auch blankes Entsetzen. Cloud versuchte, das Statement des ERBAUERS, das viel weiter ging als alles, was er erwartet hätte, zu verdauen. Und wie um es ihm schwerer zu machen, nicht um das Verstehen zu erleichtern, durchzuckten ihn die begleitenden Bilder des moderierenden und referierenden Bractonen. Kargor ließ die Zeit seit damals gerafft vor ihren Augen ablaufen. Die Zeit von dem Moment an, als die ERBAUER aus dem Urraum ihr EXPERIMENT starteten und die EWIGE KETTE aus Tridentischen Kugeln zündeten – was innerhalb ihrer angestammten Gefilde einen neuen, davon abgekapselten Raum generierte … das Universum Einstein'scher Prägung. Das Universum, dessen Bestandteil Cloud ebenso wie alles andere, was er kannte, war. Bis zum heutigen Tag jedenfalls. Denn nun kannte er auch eine Spezies, die ursprünglich von anderswoher kam. Eine Spezies, die mit ihren CHARDHIN-Perlen offenbar erst all dies, was sie umgab, erschaffen hatte. Die Konsequenzen, falls es stimmte, waren unabsehbar. Und warum hätte Kargor sein Volk (konnte man die Schöpfer des Universums überhaupt so nennen?) in dieser Weise erhöhen sollen, wenn die Tatsachen dem nicht standgehalten hätten? Und was ist jetzt mit Gott?, dachte Cloud fröstelnd. Er hatte die Sinngebungstheorien der irdischen Religionen nie uneingeschränkt teilen können, aber dennoch stets an eine sinngebende Kraft geglaubt, mit der definitiv nicht die Bractonen gemeint sein konnten. Er hatte an die Schöpfung an sich geglaubt, und jetzt kam einer wie Kargor daher und wollte ihm weismachen, ein ganzes Universum sei dereinst von ihm und seinesgleichen im Rahmen eines EXPERI-
MENTES geboren worden? Alles in ihm sträubte sich gegen diese Vorstellung, doch dann beruhigte er sich mit dem Gedanken, dass, selbst wenn Kargors Behauptungen stimmten, auch Kargor, auch die Bractonen von jener Urkraft erschaffen worden sein mussten. Um den Glauben an die Schöpfung als solche und einen Lebenssinn nicht völlig zu verlieren, musste er seinen bisherigen Horizont also »nur« um eine weitere Ebene oder Stufe erweitern … und die Bractonen mit einbeziehen. Wenn es doch tatsächlich so einfach gewesen wäre … Ihm war, als würde er die Seufzer der anderen hören, die mit ihm von Kargor in Kenntnis gesetzt wurden. Und noch immer stürmte eine Bilderflut auf seinen Verstand ein, nötigte ihm weiteres Verstehen und Akzeptieren ab. Kargor offenbarte ihnen das zweitgrößte Geheimnis seiner persönlichen Tragödie. »Aber das EXPERIMENT misslang«, sang er in Moll. »Zumindest in der Hinsicht, dass wir, die, über die Tridentischen Kugeln verteilt, darüber wachten, von der folgenden Entwicklung völlig überrumpelt wurden – und ihr bis heute hilflos gegenüberstehen.« Wovon zur Hölle redest du?, dachte Cloud. Komm endlich auf den Punkt. Drisch richtig auf uns ein, sodass uns endgültig Hören und Sehen vergeht … wenn du schon mal dabei bist. »Das Elementarste – die Gesetze des von uns erschaffenen Universums nämlich, die sich anders entwickelten, als von uns vorhergesehen – lief aus dem Ruder, und wir wurden zu Gefangenen unserer eigenen Schöpfung. Seit dem Urknall, dem Moment, da die Tridentischen Kugeln diese Raumzeit initiierten, versuchen wir dem dir bekannten Universum wieder zu entkommen und in unseren eigenen Kosmos zurückzugelangen … vergeblich. Es gab und gibt bis heute keine Möglichkeit, die Grenzen des selbst erdachten Universums zu überwinden und heimzukehren.« Kargor schwieg kurz, dann appellierte er unvermittelt an das Mitgefühl seiner Zuhörer. »Ihr müsst zugeben, dass dies die größtmögliche denkbare Katastrophe für eine denkende und forschende Lebensform ist: in ihrem eigenen Experi-
ment gefangen zu sein …« Clouds Mitleid hielt sich in Grenzen, und er nahm an, dass es den anderen ebenso erging. Vor ihren Augen ließ Kargor noch die Konsequenz aus dem Desaster der Bractonen auferstehen: Sie verließen ihre Tridentischen Kugeln und fanden sich an einem einzigen Ort des Universums zusammen, um gemeinschaftlich doch noch eine Lösung für ihr Problem zu finden. Hier in der Milchstraße, wo sie das ERSTE REICH gründeten, dieses abstruse Sieben-Welten-System, dem kein anderes Bractonen-Reich mehr gefolgt war, wie diejenigen, die davon hörten, automatisch annahmen. Der Begriff deutete vielmehr auf das generell erste Reich hin, das in diesem Kosmos jemals entstand und unglaublicherweise bis heute existierte! »Auch wenn wir das Zentralgestirn des Öfteren ersetzen mussten, die Planeten sind noch original seit damals erhalten«, sang Kargor. »Seit Jahrmilliarden eurer Zeitrechnung also.« Auch das war kaum vorstellbar. Cloud nahm es dennoch hin – so wie er alles Sonstige hinnahm, um bei klarem Verstand zu bleiben. »Im Laufe dieser Jahrmilliarden«, fuhr der ERBAUER fort, »gelang kein Durchbruch, was unser Bemühen betrifft, in unseren eigentlichen Lebensraum zurückzukehren. Wir mussten jedoch feststellen, dass wir in unserer Schöpfung nicht alterten, nicht starben. Anfänglich lag darin unsere größte Hoffnung, mit einer unerschöpflichen Menge an Zeit im Rücken das Problem in den Griff zu bekommen. Aber als diese Lösung in immer weitere Ferne rückte, weil wir im Moment des Urknalls offenbar perfekt in unsere Schöpfung integriert und fester Bestandteil davon wurden, wurde die Unsterblichkeit zu einer Qual. Nach Jahrmilliarden des Scheiterns in unserem vorrangigsten Bemühen überließen wir den Mortuas die Pflege und Wartung der Tridentischen Kugeln …« Mortuas, dachte Cloud reflexartig, müssen die Gloriden sein. »… und entschieden uns, Zuflucht in uns selbst zu suchen. Uns auf die einzige Art zu regenerieren, die für uns vorstellbar war. Zu diesem Zweck erschufen wir den Prismenkörper, den ihr kennt. Er nahm unsere wahren Körper in sich auf. Wir vergeistigten völlig,
lebten nur noch in der so entstandenen Gedankenwelt … die aber viele von uns auch nicht dauerhaft befriedigte. So kam der Moment, in dem wir entschieden, uns wieder der Welt ›draußen‹, der von uns erschaffenen Welt, zuzuwenden. Aber seit wir ›zurückgekehrt‹ sind, häufen sich die Rätsel, für die auch wir keine Antwort haben – noch nicht. Es begann mit dem Problem, das wir gemeinschaftlich lösten: das Individuum Darnok, das in diesem Abschnitt des Universums für eine Entartung der Zeit sorgte, die uns auf den Plan rufen musste. Aber es war nur die Spitze des Eisbergs, wie sich herausstellte. Auch hier in unserem ureigenen System lauert Gefahr. Sie kommt von –« Nicht nur Kargors hypnotische Stimme verstummte abrupt – Cloud fühlte sich auch brutal aus den oft psychedelisch anmutenden Bildern gerissen, die der Bractone zu ihrem besseren Verständnis aufgeboten hatte. Neben ihm stemmte sich Scobee aus ihrem Sitz und kam mit unsicheren Schritten auf ihn zu. »Wo ist er hin?« Suchend blickte sie sich um. Zweifellos meinte sie Kargor, den auch Clouds Augen suchten. Aber das Schmetterlingswesen war aus dem Raum verschwunden, und mit ihm waren die berauschenden Bilder gegangen. Jetzt wirkte wieder alles sehr nüchtern und funktionell. »Das würde ich auch gern wissen. Jarvis?« Cloud gab dem Freund einen Wink. »Was sagen deine Module? Du hast andere Möglichkeiten des Wahrnehmens als wir. Konntest du erkennen, wohin sich Kargor so abrupt verabschiedete?« Jarvis schien Rücksprache mit seinen Systemen zu nehmen, denn es dauerte ein paar Sekunden, bis er antwortete. »Tut mir leid, Fehlanzeige. Mein Geist war genauso von der Demonstration beansprucht, wie ich annehme, dass es auch euch erging. Und die Sensoren meiner Nanohülle haben für die Dauer, da unsere Bewusstseine ›entführt‹ waren, offenbar komplett abgeschaltet.« »Dann können wir nur darauf warten, dass er zurückkehrt«, meinte Aylea, die auch zu ihnen kam, nachdem sie zunächst zu Jelto gegangen war. Algorian, Cy und Jiim hatten sich zum Florenhüter ge-
sellt und blickten herüber. »Wer sagt das?«, rief Jarvis. »Ich würde im Gegenteil sagen, das ist die Gelegenheit, sich hier mal ein bisschen umzusehen. Wer weiß –« Zwischen ihnen bildete sich ein vertikaler Riss, aus dem blendendes Licht brach. Das Licht erlosch, der Spalt war verschwunden, und Kargor – oder ein anderer Bractone, zu unterscheiden waren sie kaum – stand vor ihnen. »Wo warst du?«, fuhr Cloud ihn verärgert an. Dabei wurde sein Blick wie magnetisch von dem Gegentand angezogen, den der ERBAUER in seinen feingliedrigen Händen hielt. »Auf eurem Schiff«, sagte Kargor. Jeder Zweifel, dass es sich um ihn handelte, hatte sich inzwischen in Cloud zerstreut. »Auf der RUBIKON? Aber –« »Ich habe die Verbindung dorthin nie abreißen lassen. Sesha hatte Weisung, mich sofort zu informieren, falls …« Cloud ballte unbewusst die Fäuste. Obwohl Kargor von ihrem Schiff sprach, erweckte er durch seine Taten doch eher den Eindruck, als hielte er sich für den Besitzer der RUBIKON. »… etwas Unvorhergesehenes passiert.« »Yael ist allein dort oben«, sagte Jiim gepresst. »Er und Darnok, ja«, nahm Kargor die Bemerkung auf. »Sie sind in der Obhut der KI, und eigentlich sollte ihnen nichts – erst recht nicht in diesem System – gefährlich werden, aber …« »Eigentlich!«, keuchte Jiim und überwand die Distanz zu ihnen mit einem einzigen Sprung und Flügelschlag. Kerzengerade stellte er sich vor dem anderen Geflügelten auf. »Was bedeuten dein eigentlich und aber …?« Kargor hob das Mitbringsel leicht an. Es sah aus wie ein Brocken dunkler Schlacke. Aber ganz gewiss war es mehr, denn wenn man genau hinsah, hatte es den Anschein, als raste das Licht der unmittelbaren Umgebung auf den Klumpen zu, als würde es davon angezogen wie von der Gravitation eines Schwarzen Loches. »Ihr könnt nicht wissen, was das ist. Aber es befand sich auf der RUBIKON, als ich zu ihr wechselte.« »Du lenkst ab«, schnarrte Jiim. »Ist irgendetwas mit Yael? Ist ir-
gendetwas mit meinem Jungen?« Kargor hob leicht den Schmetterlingskopf, und jede einzelne Facette seiner Augen schien den Nargen anzustarren. »Ja, es ist etwas mit ihm. Etwas, das niemand voraussehen konnte. Er ist verschwunden. Er ist von Bord der RUBIKON, aus der Kalser-Simulation, verschwunden – und an seiner Stelle tauchte das hier auf.« Jiim erstarrte wie schockgefrostet. Für den Bruchteil einer Sekunde schien sein Nabiss dort, wo es mit Gefieder und Fleisch des Nargen verschmolzen war, aus Jiims Körper hervorbrechen zu wollen. Ein wimmernder Ton löste sich von seinen Lippen. »Was – ist das? Und was hat es mit Yael zu tun?« »Ich habe mir die von eurer KI aufgezeichneten Daten eingehend angesehen. Das Ergebnis ist … nun, ich fürchte, es ist niederschmetternd.« »Ist mein Junges tot?«, krächzte Jiim und wankte. Jarvis trat neben ihn, um ihn zu stützen. »Ich weiß nicht, was mit ihm ist. Er kann leben, tot sein – oder ihm kann Schlimmeres als der Tod widerfahren sein. Portas ist eine Welt ohne Gesicht geworden. Kein Bractone hat sie seit der Katastrophe je wieder betreten.« »Portas? Katastrophe?«, ergriff Cloud das Wort. »Grundgütiger, wovon redest du? Was hat Yael mit –« »– Portas zu tun?« Kargor tänzelte zwischen Cloud und Jiim auf und ab. An den Nargen gewandt, sagte er: »Du erinnerst dich, dass wir über dein Nabiss sprachen, das eine selbst für mich als Bractonen unbekannte Nuance enthält. Dein Junges hat davon etwas geerbt. Die Nuance, von der ich spreche, ist in seine Gene eingeflossen. Aber ob das den Ausschlag gab, dass …« »Dass?«, drängte Jiim mit zuckenden Lippen. Er war außer sich, konnte es nicht mehr verbergen – und wollte es auch gar nicht. Am liebsten, das stand ihm ins Gesicht geschrieben, wäre er dem Schmetterlingswesen an die Gurgel gegangen. »… es ihn geholt hat«, sagte Kargor, »weiß ich nicht. Aber ich verspreche, nichts unversucht zu lassen –« »Es sich geholt hat?«, wimmerte Jiim und wandte sich an Jarvis, der
ihn gar nicht mehr loszulassen wagte. »Was redet dieses Wesen da?« »Das«, knurrte Cloud, während sich Scobee tröstend an Jiims andere Seite begab, »wüsste ich auch nur zu gern. Kargor? Was geht hier vor? Was hat Yaels Verschwinden mit Portas, eurer ›verbotenen Welt‹ hier, zu tun? Und was ist das für ein Stoff, den du da in Händen hältst? Es sieht fast aus wie ein miniaturisiertes Black Hole. So etwas gab es niemals an Bord der RUBIKON. Du irrst! Oder du bluffst und betrügst! Sag uns, was es ist! Sag endlich die schonungslose Wahrheit!« Kargor zögerte nicht länger. »Es ist Pwarm. Es entstand einst bei einem unserer zahllosen Versuche, ein Tor zurück in unseren Kosmos aufzustoßen. Aber was vielversprechend begann, endete in einer Verseuchung des gesamten Planeten. Wir mussten ihn schließen. Kein Bractone, der sich dorthin wagte, kehrte je wieder zurück. Auch keine Sonden oder dergleichen. Portas ist seither das Krebsgeschwulst in unserem System. Wir hätten es längst herausgeschnitten und entfernt, wenn es nicht Wahrscheinlichkeiten gäbe, dass dadurch erst eine wirkliche Katastrophe einträte. Wir haben damals versucht, einen Brückenschlag von einem Kosmos in den anderen zu erzeugen. Aber alles, was herüberkam, waren Energien, die die Oberfläche von Portas verwüsteten. Bevor Portas unbetretbar wurde, entdeckten Bractonen das Pwarm – einen Stoff, der sonst nirgendwo in diesem Universum vorkommt, wohl aber …« »Ja?«, drängte Cloud. »… in unserem Heimatkosmos.« »Dann«, seufzte Scobee, »gelang es offenbar doch, eine Verbindung dorthin herzustellen. Sie mag instabil gewesen und von unguten Effekten begleitet gewesen sein, aber darauf ließe sich gewiss aufbauen. Wesen mit euren Fähigkeiten geben doch nicht beim ersten Rückschlag auf. Sie –« »Du ahnst nicht, was auf Portas freigesetzt wurde. Würden Menschen sich ins Herz einer Kernfusion begeben, auch wenn sie sicher wissen, dass darin nur der Tod auf sie wartet?« »Kann man das miteinander vergleichen?«, fragte Scobee zweifelnd.
»Wir haben Versuche unternommen, Portas zu betreten und Erkenntnisse über die dortigen Vorgänge zu gewinnen. Da kein Bractone, der nach dem Gau dorthin ging, je zurückkehrte, versuchten wir es über die Zeiten immer wieder mit Kundschaftern anderer Natur. Die Tavner beispielsweise. Selbst Mortuas oder die künstlichen Helfer, die wir hier im System geschaffen haben und die größtenteils in den Knotentürmen der Energiestraßen hausen … Aber keiner kam je zurück. Keiner berichtete, was auf Portas geschieht, wie die heutigen Verhältnisse dort sind.« Kargor wandte sich an Scobee. »Als wir die Angk-Welten verließen und wieder in die Gegenwart zurückwechselten, hinterließ ich den Tavnern den Auftrag, immer wieder auch geeignet erscheinende Menschen nach Portas zu versetzen – in der Hoffnung, dass einer von ihnen den Bann brechen und mit wertvollen Informationen zurückkehren könnte.« Er zögerte kurz, fuhr dann fort. »Offenbar geschah dies bereits in den ersten Jahrzehnten tatsächlich einmal. Ein Mann namens Rodriguez, Mitglied von Prosper Mérimées Zirkus und euch vielleicht bekannt, wurde nach Portas versetzt … und kehrte irgendwann zu Mérimée zurück. Aus eigener Kraft kehrte er von dort zurück, von wo es eigentlich keine Wiederkehr mehr gibt. Er überredete Mérimée, ihm nach Portas zu folgen, weil angeblich die Zukunft des ganzen Angk-Systems davon abhinge, dass sie irgendetwas dort verhinderten.« Kargors Fühler wippten, er wirkte nervöser als jemals zuvor. »Aber die Tavner reagierten zu spät, bemerkten zu spät, was geschah. Rodriguez war es offenbar aus eigenem Vermögen gelungen, von Portas auf die andere Angk-Welt zu springen – und es gelang ihm auch wieder, gemeinsam mit Mérimée von dort zu verschwinden. Ab da endet die Schlüsselaufzeichnung Mérimées. Die von Rodriguez versagte bereits wesentlich früher.« »Prosper«, raschelte Cy. Offenbar hatte er sich in der Erinnerung an all jene verstrickt, die schon so lange tot sein mussten – obwohl es erst Wochen her war, dass sie von Bord verschwunden waren. »Über all die Zeiten seit Portas' Versiegelung«, fuhr Kargor unge-
rührt fort und wandte sich nun wieder Jiim zu, der leicht zusammenzuckte, »haben wir immer wieder Kundschafter oder Geräte auf die Geschlossene Welt geschickt.« Er wog das Stück Pwarm nachdenklich in den Händen. »Aber hier und heute geschah es zum ersten Mal …« Eine seiner Hände tauchte plötzlich in den Klumpen ein, und als Kargor sie wieder herauszog, sah sie aus wie abgestorben. Ein entsetztes Raunen ging durch den Raum, aber schon ein paar Herzschläge später hatte sich der Anblick wieder normalisiert. »Was geschah hier und heute zum ersten Mal?«, knirschte Jiim, der ebenso wenig wie Cloud begriff, was Kargors Ausführungen mit Yaels Verschwinden von Bord der RUBIKON zu tun hatten. »… dass Portas sich ein Lebewesen holte«, erwiderte Kargor düster. »Und dafür das hier …« Er hielt ihnen allen den Klumpen Pwarm hin. »… wie im Austausch – oder wie eine Visitenkarte daließ …«
17. »Wir halten fest«, sagte Cloud etwas später. »Die Bractonen bauten die Tridentischen Kugeln im Rahmen eines Versuchsaufbaus immensen Ausmaßes und generierten damit das, was wir als unser Universum kennen. Bei dem Experiment ging jedoch etwas schief, und seither sind die ERBAUER in ihrer eigenen Schöpfung gefangen. Jeder Versuch, sich daraus zu befreien und in die heimischen Gefilde jenes Kosmos zurückzukehren, dem sie entstammen, scheiterte laut Kargor. Zuletzt ging bei einer dieser Bemühungen sogar so viel in die Hose, dass die Angk-Welt, auf der die Anstrengung unternommen wurde, anschließend versiegelt werden musste, weil Bractonen nicht mehr darauf leben konnten. Und niemand scheint zu wissen, was seither, was aktuell auf Portas vorgeht.« Er schüttelte sich kurz, als hätte ihn ein eisiger Luftzug gestreift. »Und dann wären da noch Prosper und Rodriguez, die möglicherweise genau dort auf der Sorgenwelt gelandet sind – allerdings vor vielen Jahrtausenden, sodass es keine Hoffnung gibt, ihnen oder einem anderen der ersten Menschensiedler in diesem System jemals wieder zu begegnen.« Er holte tief Luft, nickte den anderen zu, die ihn umstanden und förmlich an seinen Lippen hingen. »Was ich aber absolut nicht verstehe, ist, warum die Bractonen, als sie ihre Gefangenschaft in diesem Universum konstatierten, die Generatoren – also die Tridentischen Kugeln – nicht einfach wieder abstellten. Dann wäre doch der ganzen Logik folgend unser Kosmos einfach wieder erloschen, und sie wären wieder dort gewesen, woher sie kamen … Oder irre ich mich da?« »Ich weiß es nicht«, gestand Scobee, und auch der Rest seiner Gefährten zuckte mit den Achseln oder Blättern – was immer gerade geboten war. Jiim saß wie ein gebrochener Mann zwischen ihnen am Boden und starrte Löcher in die Luft. Sie waren noch immer in dem Turm, in
den Kargor sie geführt hatte. Aber nach seinen jüngsten Erläuterungen war der Bractone gegangen – angeblich, um das Pwarm in sicheren Gewahrsam zu übergeben. Vielleicht an die Tavner, falls diese für solche Aufgaben geeignet waren. Vielleicht auch an Menschen – wer wusste es schon? »Ich schätze, die Lösung für das Bractonen-Problem ist nicht so simpel, dass es nur der Abschaltung der einmal in Gang gesetzten Tridentischen Kugel bedarf«, wandte Algorian ein. »Wäre es so einfach, hätten die Bractonen es getan. Schon unmittelbar, nachdem sie ihre Gefangenschaft konstatieren mussten.« Nicht einmal Cloud selbst zog ernsthaft in Erwägung, dass eine Lösung so banal hätte sein können. Aber der erste Gedanke bei Kargors Anhörung war genau der gewesen: Warum schalten sie die verdammten Dinger nicht einfach wieder ab? »Eine Deaktivierung könnte ›drüben‹ ebenso schwerwiegende Folgen haben wie für uns Bewohner dieses Universums«, beteiligte sich auch Aylea an den Spekulationen. »Der Verlauf des sogenannten EXPERIMENTS scheint die Bractonen vollkommen überrascht zu haben. Bei aller Überlegenheit, die sie uns hier immer wieder demonstrieren – was die Sache an sich betrifft, haben sie sich wie blutige Anfänger benommen.« Cloud musste fast wider Willen auflachen. »Du bist mir vielleicht eine Marke …« Auch Jelto grinste, und Scobee zupfte die Elfjährige an ihrer Kleidung. »Gewöhn dir endlich an, dich altersgemäß auszudrücken. Du klingst immer so verdammt altklug und professorenhaft, wenn du redest.« Aylea starrte selbstbewusst zurück. »Die Alternative wäre«, sagte sie im Brustton der Überzeugung, »dass ihr euch endlich altersgemäß verhaltet und artikuliert … Wo bin ich nur hingeraten?« Sie seufzte halb resignierend. »Der Einzige, der mir intellektuell annähernd das Wasser reichen kann, ist Sesha. Alle anderen …« Was immer sie noch ausführen wollte, blieb ungesagt. »Das reicht!«, bremste Cloud ihr Temperament. Er deutete auf Jiim, der
wie ein Häuflein Elend zwischen ihnen kauerte. »Das Wichtigste ist, Klarheit über Yael zu gewinnen. Über sein Schicksal. Zu diesem Zweck werden wir auf die RUBIKON zurückkehren und …« »Was hast du vor?«, fiel Jarvis ihm ins Wort. »Willst du nach Portas starten? Versuchen, ob uns gelingt, was diesen überheblichen Bractonen all die Zeit danebenging?« »Das wäre Selbstmord«, vermutete Cloud und verneinte Jarvis' Frage damit gleichzeitig. »Wir werden zunächst klären, ob wir eindeutige Spuren finden, die Kargors Mutmaßung bestätigen, dass sich Yael auf Portas aufhält. Dafür gibt es bislang keinerlei Beweis. Unter Umständen ist Yael immer noch auf dem Schiff und –« »Und das Pwarm?«, warf Cy ein. »Wo sollte es hergekommen sein, wenn es nicht von demjenigen hinterlassen wurde, der Yael feige entführte?« »Ich sagte bereits, wir werden versuchen, es herauszubekommen.« »Dann sollten wir keine Zeit mehr vergeuden.« Cloud nickte grimmig, musste sich aber eingestehen, dass das nicht in ihrer Hand lag. Um von Angk I wieder zurück auf die RUBIKON zu gelangen, bedurfte es der tätigen Unterstützung von Kargor oder einem anderen Bractonen. Und Kargor war nicht zur Stelle. »Ich könnte den Versuch eines Sprungs wagen«, bot sich Jarvis an. »Allerdings weiß ich nicht, welche Gegenmaßnahmen eventuell getroffen wurden, um solche Dinge zu verhindern. Ich wäre aber bereit, es zu riskieren.« »Du vielleicht, ich nicht«, erwiderte Cloud. »Ich möchte dich nicht schon wieder als formlose Pfütze vor mir liegen sehen.« »Na, jetzt baust du mich aber auf. Irgendwie verdirbt mir das selbst jede Lust, meinen Nanohals zu riskieren.« »Und das ist gut so. Nein, Kargor wird bald wieder auftauchen. Er hat uns mit mancher Eröffnung geschockt – oder hat von euch schon jemand verdaut, dass wir mit den Bractonen den offenkundigen Schöpfern dieses Universums begegnet sind? –, aber er wird wiederkehren. Wahrscheinlich will er uns nur etwas Zeit geben, das Gehörte zu verdauen.«
»Mich schockt schon die bloße Aussage, dass die Typen hier nicht altern«, knurrte Jarvis. »Das hieße, sie existieren wahrhaftig seit Anbeginn des Universums …« »Sogar schon länger«, korrigierte ihn Aylea, stets wachsam. »Die Typen, wie du sie nennst, lebten ja schon ›drüben‹ – wo immer und was immer das auch ist.« In diesem Moment spaltete sich vor ihnen wieder der Raum. Ein vertikaler Balken, aus dem blendend grelles Licht hervorbrach, ermöglichte Kargors Rückkehr, ohne dass er die üblichen Wege in einem Gebäude nutzte. »Ich respektiere eure Entscheidung«, sagte er und offenbarte damit, dass er über jedes in seiner Abwesenheit gesprochene Wort informiert war. »An eurer Stelle würde ich nicht anders denken und handeln wollen. Ich lasse euch zurück zum Turm bringen, über den der Transfer in die RUBIKON bereits vorbereitet ist. Die Tavner bringen euch hin und zeigen euch die Schwelle, die ihr übertreten müsst, um eingefädelt zu werden.« »Eingefädelt«, kicherte Aylea. Niemand beachtete es. »Wie bleiben wir in Kontakt?«, fragte Cloud, der dies nicht als Abschied auf Dauer sehen wollte. »Über eure KI. Ich bleibe mit ihr verbunden, solange die RUBIKON sich im Angk-System aufhält.« Damit war vorläufig alles gesagt. Wie versprochen brachten zwei Tavner auf einem Floß die Crew zum kobaltblauen Turm zurück, und diesmal erregten sie so gut wie kein Aufsehen. Die Menschen und anderen Bewohner der Stadt sahen ohne Kargor nichts wirklich Besonderes in ihnen. Als sie im Schatten des kilometerhohen Turms jene Linie gezeigt bekamen, die Kargor als Schwelle bezeichnet hatte, fragte Cloud: »Und wir müssen sie wirklich nur übertreten und sind dort, wohin wir wollen, auf unserem Schiff?« »Alles wurde entsprechend geschaltet«, bestätigte der Tavner, der mit ihnen gegangen war. Der andere stand noch am Ruder des Floßes.
»Okay, wagen wir's«, sagte Cloud und ging mit gutem Beispiel voran, die Hand zum Abschiedsgruß an die Tavner erhoben. Er verschwand vor den anderen, kaum dass er die Markierung übertreten hatte. »Weg«, seufzte Jarvis. »Aber wer sagt uns, dass er dort angekommen ist, wohin er wollte?« »Meinst du nicht, Kargor hätte es bedeutend leichter, uns um die Ecke zu bringen oder anderweitig zu schaden, wenn das in seiner Absicht läge?«, hielt Scobee dagegen. Dann bewegte sie sich beherzt auf den Turm zu, überschritt die Linie und war ebenfalls verschwunden. Daraufhin folgten auch die anderen ohne weiteres Zögern. Cloud empfing sie in der Zentrale der RUBIKON. »Und jetzt«, sagte er nach kurzer Orientierung, »auf nach Pseudo-Kalser. Jarvis, du nimmst Einblick in die Logeintragungen von Sesha, wir anderen sehen uns vor Ort um.« »Das kann ich auch, während ich euch begleite«, erklärte Jarvis. »Aber sagte Kargor nicht, Sesha habe nicht die Bohne aufzeichnen können von dem, was zu Yaels Verschwinden führte?« »Wollten wir nicht genau das noch einmal persönlich überprüfen und darauf abklopfen, ob uns vielleicht etwas mehr auffällt? Etwas, das uns weiterhilft?« Die ganze Zeit über war Jiim völlig in sich gekehrt gewesen, doch jetzt war er auch der Erste, der die Zentrale verließ. Cloud und die anderen eilten ihm hinterher. Sesha schaltete eine Transmitterverbindung in den Schiffsbereich, in dem Pseudo-Kalser untergebracht war. Als sich das entsprechende Trennschott vor ihnen öffnete, zuckte Jiim, der zuvorderst stand, zurück. »Was –« »Warum hast du uns das nicht gesagt, Sesha?«, herrschte Cloud die KI an. »Ich verstehe nicht …« Cloud schob Jiim sanft zur Seite und trat in den Bereich, der eigentlich eine lebensecht wirkende Kalser-Simulation hätte enthalten
sollen. Stattdessen sah die holografische Illusion aus wie eine von einer Million Mäusen zernagte Leinwand eines ehemals imposanten Ölgemäldes. Überall fehlten Teile in der Holonachbildung. An ihrer Stelle … Cloud sah genauer hin, und erst da erkannte er die ganze furchtbare Wahrheit: Ganz offensichtlich hatte Kargor nur einen Bruchteil des Pwarms an sich genommen, das tatsächlich hier gelandet war. Und jetzt hatte es begonnen, Pseudo-Kalser zu zersetzen. Wie Krebsfraß.
Auf Angk I kehrte Kargor derweil in den Prismenkegel zurück, um sich mit den darin verbliebenen Bractonen, die ihre Körperlosigkeit nicht aufgeben wollten, zu beraten. »Wir dürfen die Zeichen nicht ignorieren«, wandte er sich an das Kollektiv. »Das aufgetauchte Pwarm kann kein Zufall sein. Alles deutet darauf hin, dass es uns gezielt geschickt wurde.« Er hatte den vergeistigten Bractonen nicht erst langwierig umreißen müssen, was draußen in der Welt geschehen war, im Moment seines Eintauchens in den Obelisken war sein eigenes Wissen komplett auf die anderen übergegangen. »Es wurde nicht uns geschickt«, kam beispielhaft für viele eine Stimme des Widerspruchs. »Es erschien an Bord der Fremden, an denen du einen Narren gefressen hast. Dafür verschwand einer der Ihren. Es kann alles bedeuten. Vor allem, dass Portas zu Recht geschlossen wurde. Und dass dort Dinge vorgehen, Kräfte am Wirken sind, die man besser ruhen lässt.« »Kein Bractone darf so denken!« Kargor verhehlte seine Enttäuschung keinen Moment. »Portas war der ultimative Versuch, die Rückkehr in unser Heimatkontinuum zu erzwingen. Wir alle waren an der Umsetzung des Versuchs beteiligt, auch wenn wir dabei nicht auf Portas weilten. Aber wir sprachen damals mit einer Stimme – wohin sind diese Zeiten verschwunden? Hat uns die Zeit besiegt? Ist nichts mehr übrig von dem unbeugsamen Wissensdrang, der uns zwar erst in diese Misere lenkte, aber auch für so viele Hochleistun-
gen in diesem und in unserem Kontinuum verantwortlich war? Ich bitte euch – besinnt euch eurer Wurzeln!« »Du glaubst wirklich, SIE könnten dahinterstecken?« »Wer sonst?«, erwiderte Kargor. »Die bloße Kraft, wie zerstörerisch und brutal sie auch sein mochte, die wir damals freisetzten, ist nicht intelligent. Sie arbeitet und sie reagiert auf Versuche von Einflussnahme – aber sie tut es nicht mit Verstand und verfolgt keine Strategie. All die Zeiten, die wir Kundschafter nach Portas entsandten, kehrten diese nicht zurück, weil die schädigende Kraft auf Portas ihnen wahrscheinlich keine Chance ließ. Aber nie – nie! – kam es vor, dass das, was Portas seit der Versiegelung beherrscht, über die planetaren Grenzen hinausgriff. Dies ist ein Präzedenzfall – und genau so müssen wir ihn behandeln. Wir müssen selbst wagen, was wir noch niemals zuvor auch nur andachten!« »Das klingt nach einem Plan«, rauschte es ihm vielstimmig wie die Brandung einen Ozeans aus schierem Geräusch entgegen. »Und wir erkennen den Plan in dir natürlich auch – aber es wäre ein Risiko, das unsere Existenz für immer negieren könnte. Wir reden von der Existenz derer, die sich nicht für eine Rückkehr in die Körperlichkeit in diesem Universum entschieden haben – wir reden von uns, die hier versammelt sind und beraten. Auch du hast den Prismenkörper nur kurzzeitig verlassen wollen, wenn wir dich erinnern dürfen.« »Das ist immer noch Fakt«, erwiderte Kargor ruhig. »Ich hatte und habe nicht vor, länger in diesem Universum zu leben. Wie ihr ziehe ich die Entkörperlichung und das Los als Kollektiv dem vor, was so viele von uns aber wiederhaben wollten. Nicht jeder ist gleich. Und wer die Gleichheit liebt, bekommt sie hier, in dieser Zuflucht, geboten … Doch wir kommen vom Eigentlichen ab. Und vielleicht ist die eigentliche Frage: Wollen wir ein Risiko eingehen, das unserer Existenz vielleicht ein Ende bereitet – wer von uns sehnt dies unter den gegebenen Umständen nicht immer wieder herbei? – oder aber im besten Fall uns gelingen lässt, was wir eine Ewigkeit lang vergeblich anstrebten?« »Die Rückkehr …«, seufzte es ihm entgegen, und jetzt war es keine einfache Brandung mehr, jetzt war es ein Tsunami.
»Die Entscheidung ist also gefallen?«, fragte Kargor, nachdem sich die Emotionen wieder geglättet hatten wie die Wellen eines aufgewühlten Meeres. »Sie ist gefallen«, raunte es ihm entgegen. »Du hast alle Vollmachten. Das Gros von uns geht das Wagnis ein – und diejenigen, die die Gefahr scheuen, werden den Prismenkörper umgehend verlassen und sich ebenfalls über die Angk-Welten verstreuen.« So geschah es. Wieder strömten Bractonen aus dem Obelisken und fädelten sich in das System der Energiestraßen ein, um zu den verschiedenen Welten des Angk-Systems zu wechseln … oder sich einen Platz auf Angk I zu suchen. Unter Menschen und Tavnern. Als auch dieser Strom versiegt war, verschwand der Prismenkegel aus dem Schatten des kobaltblauen Turms. Es sah aus, als löste er sich auf. Aber er begab sich nur auf die wichtigste Mission der letzten Jahrmilliarden.
»Wir müssen Kargor sofort benachrichtigen!«, rief Cloud und wich einigen am Boden befindlichen Stellen aus, die von Pwarm überwuchert waren. »Offenbar vermag Sesha die Substanz mit ihren Sensoren nicht wahrzunehmen – fragt mich nicht, warum, nehmt es einfach hin. Kargor muss sofort her! Ich habe keine Lust, die RUBIKON mit diesem Herd potenzieller Ansteckung verseuchen zu lassen. – Sesha, sofort den Bractonen kontaktieren! Er wird um die Dringlichkeit wissen, wenn du ihm einfach nur die Sachlage schilderst. Sag ihm, dass er Pwarm übersehen hat. Und dass es nun auf Teile der RUBIKON übergegriffen hat …« »Schon geschehen«, meldete die KI. »Und?« »Er ist bereits unterwegs und –« »– da!«, sang das Schmetterlingswesen, das zwischen ihnen erschien. Seine sonst so melodische Stimme zitterte. Cloud ahnte längst, dass die Situation auf Pseudo-Kalser Anlass zu höchster Besorgnis war. Yael wurde da fast zum zweitrangigen
Problem – außer für einen. Jiim flatterte hektisch innerhalb der sich auflösenden Simulation umher. Dabei streifte er hier und da Flecken von Pwarm – und es kam zu regelrechten Verpuffungen. Nicht nur Cloud und andere aus der Crew beobachteten es mit Verblüffung. Am überraschtesten wirkte der erschienene Bractone. »Du sagtest nicht, welche Gefahr von dem Zeug ausgeht«, fauchte Scobee ihn an. »Das, was hier sichtbar wurde, ist auch mir neu«, behauptete Kargor. »Möglicherweise hat das Pwarm eine Mutation durchlaufen. Dadurch kann es neue Eigenschaften erlangt haben. Aber …« Er starrte unentwegt auf Jiim, den die Substanz nicht anfocht. Seine Nabiss-Rüstung schützte ihn offenbar perfekt. Jedes Mal, wenn sie in Berührung mit einem Fragment des Portas-Stoffes kam, schien sich dieser unter Freisetzung von Lichteffekten aufzulösen. »… bislang war kein Verfahren bekannt, das in der Lage ist, Pwarm zu neutralisieren. Es rückstandslos in sich verflüchtigende Energie umzuwandeln …« Er wirkte regelrecht elektrisiert. Cloud veranlasste die komplette Abschottung dieses Schiffsbereichs. »Kannst du uns von dem Zeug befreien?«, wandte er sich an den ERBAUER. »Offenbar nicht so rigoros und umfassend wie euer Freund …« Er zeigte auf Jiim. »… dies vermag. Mein Vorschlag: Lasst ihn das Begonnene fortsetzen, vielleicht …« »Was ›vielleicht‹?« »Vielleicht stößt er sogar auf eine Spur seines verschwundenen Jungen – eine echte, aber nur für ihn erkennbare Spur …« Damit hatte Kargor indirekt eingeräumt, dass seine Meinung, Yael sei nach Portas versetzt worden, bislang lediglich auf besserer Spekulation basierte. »Das hört sich nicht sehr wahrscheinlich an.« »Ginge es immer nach reiner Wahrscheinlichkeit«, eröffnete ihm Kargor, »wäre dieses Universum niemals entstanden. Wir schufen es auf der Grundlage des absolut Unwahrscheinlichen …« »Deshalb hakt und zwickt es auch überall«, stichelte Jarvis.
»Einen Versuch ist es wert.« Cloud ging vorsichtig zu Jiim und unterbreitete ihm den Vorschlag einer kombinierten Säuberungs- und Spurensuchaktion. Jiim erwachte wie aus einer Trance. Dass er so wirksam gegen das Pwarm vorgegangen war, schien ihm gar nicht bewusst geworden zu sein. »Natürlich!«, willigte er sofort ein. »Ich hatte vorhin schon mal kurz das Gefühl …« »Was für ein Gefühl?«, fragte Cloud hellhörig. Jiim machte eine wegwerfende Geste. »Später. Wie ich inzwischen weiß, reden auch Menschen nicht gern über ungelegte Eier … Lass mich einfach machen. Ich schlage sofort Alarm, wenn ich fündig werde!« Cloud nickte. »Dann habe ich vorläufig nur noch eine Bitte.« »Welche?« »Dekontaminiere jeden mit deinem Nabiss, bevor er Pseudo-Kalser … na ja, die Reste davon … verlässt.« »Du weißt, was das bedeutet«, sagte Jiim. Cloud grinste schief. »Klar: Leibesvisitation. Du musst mit deiner Rüstung jede Körperstelle berühren, um sicherzustellen, dass nirgends länger ein Pwarmrest anhaftet. Fang am besten gleich bei mir an …«
18. Stunden später war die Säuberung von Pseudo-Kalser durch Jiim so gut wie abgeschlossen. Sesha hatte ihm mit einem simplen Trick geholfen, seine Aktion zu beschleunigen. Die KI hatte die holografischen und dimensatorischen Elemente des nachgebildeten Schrundes und Umgebung einfach »zurückgefahren« und auf das real Greifbare reduziert. Geblieben war nicht mehr als eine große Halle, in der sich Baumhäuser aus Metall befanden, die nur durch die Simulation Holzcharakter erhielten. Die nackten Wände des Raumes waren danach immer noch von Pwarm befallen gewesen, aber sehr viel übersichtlicher. Jiim hatte keine Mühe, sie durch die Berührung seiner Ganf-Rüstung zu beseitigen. Wo immer das Nabiss in direkten Kontakt damit kam, verpuffte die seltsame Substanz, vor der selbst Bractonen gehörigen Respekt zu haben schienen. In der Zwischenzeit erbat sich Cloud die Erlaubnis, mit der RUBIKON Portas anzusteuern. »Warum?«, hielt der ERBAUER sich zunächst bedeckt. Cloud hatte sogar den Eindruck, dass er bestürzt über sein Ansinnen war – was in Anbetracht der bisherigen Erzählungen über die »Schwellenwelt« jedoch auch nicht weiter verwunderlich war. »Ihr denkt doch nicht ernsthaft daran, auf Portas nach dem Verschwundenen zu suchen?« »Ich denke ernsthaft daran.« »Das wäre Selbstmord!« »So dachte ich zunächst auch. Allerdings gibt mir Jiims momentane Aktion – du weißt schon, sein Einsatz gegen dieses komische Zeug – neue Hoffnung. Du kennst die RUBIKON aus eigenem Erleben. Du weißt, dass sie nicht zu unterschätzen ist. Und wenn ich mit Jiim gemeinsam eine Koppelung seines Nabiss mit den Schildaggregaten unseres Schiffes hinbekäme … Okay, ich gebe zu, dass ich auch darüber mit dir sprechen wollte und nicht nur eine Erlaubnis erbitte, mir Portas aus der Nähe anzusehen.«
Daraufhin schwieg Kargor lange Zeit. Sie befanden sich in einem der Schiffsräume, die unmittelbar an die Zentrale anschlossen, wo gegenwärtig Jarvis die Stellung hielt. Schließlich sagte der Bractone: »Würden wir nicht selbst ein vergleichbar aberwitziges Unternehmen planen … nein, uns dazu entschlossen haben, könnte meine Antwort in beiden Fällen nur Nein lauten. So jedoch …« »Aberwitziges Unternehmen? Was habt ihr vor? Du und … wer?« »Ich und die im Prismenkörper verbliebenen Bractonen.« »Ich wollte dich schon die ganze Zeit fragen, wie es mit denen weitergehen soll, die sich nicht dazu entschlossen haben, sich neu auf den unbedenklichen Angk-Welten niederzulassen.« »Zu denen auch ich nicht zähle.« »Zu wem?«, fragte Cloud irritiert. »Zu denen, die die Absicht haben, sich noch einmal die Bürde einer dauerhaften Körperlichkeit in diesen Gefilden aufzuerlegen.« Der bloßen Irritation folgte die Verblüffung. »Ich dachte –« »Ich verließ das Depot der Geister, das Kollektiv, nur vorübergehend, um die Weichen für diejenigen zu stellen, die der reinen Vergeistigung überdrüssig wurden. Und die nicht mehr an eine Illusion – wie sie es nennen – glauben wollen.« »Was ist das für eine Illusion – du erwähntest es schon einmal?« »Sie haben den Glauben aufgegeben, jemals wieder in die Gefilde des Wahren Raumes zurückzukehren.« »Euer angestammter Kosmos.« »Unser angestammter Kosmos.« »Und du? Du hast diese Hoffnung nicht aufgegeben, trotz so vieler – und dramatischer – Fehlschläge?« »Nie war die Rückkehr so greifbar wie heute.« Falls Clouds Erstaunen noch eine Steigerung erfahren konnte, dann geschah dies gerade. »Greifbar …?« Plötzlich glaubte er zu verstehen. »Das Pwarm? Das Ereignis, von dem du glaubst, dass etwas auf Portas aktiv und initiativ geworden ist, als es Yael holte und im Gegenzug einen Klumpen von diesem furchtbaren Zeug hinterließ?«
»Ich betrachte es als Zeichen. Als das, worauf wir all die Äonen gewartet haben, unbewusst vielleicht. – Und ich konnte auch die anderen von dieser Theorie überzeugen. Auch sie wollen das Wagnis eingehen.« »Was für ein Wagnis wird das sein?« »Du hast die Erlaubnis, dich frei im ganzen System zu bewegen – das schließt auch Portas ein. Tu oder lass, was immer dir gefällt, solange es keinen Bewohner der neu erblühten Welten in Bedrängnis bringt. Findet heraus, ob ihr Yaels Spur aufnehmen könnt. Ich werde euch alle Unterstützung angedeihen lassen, um deine Idee, so sie irgend machbar ist, in die Tat umzusetzen.« »Die Schildmodifizierung?« »Ja«, bestätigte Kargor. »Ich sehe keine Gefahr, dass wir uns auf Portas in die Quere kommen.« »Warum sollten wir auch?« »Weil auch wir dorthin aufbrechen werden. Auf eine Weise, die wir noch niemals zuvor erprobten, von der ich mir aber Erfolg verspreche. Wir starten mit einer Tridentischen Kugel nach Portas … und dann wird sich zeigen, ob unser Verdacht, unsere Hoffnung, stimmt. Ob von der anderen Seite aus begonnen wurde, uns zu Hilfe zu kommen …«
»Und?«, fragte Scobee. »Wie sieht es aus?« Sie trat auf Jiim zu, der zwischen kargen Metallwänden kauerte. Der Narge schien sie erst zu bemerken, als sie nach ihm rief. Mit wächsernem Gesicht hob er den Kopf. »Ich bin fertig«, sagte er – und wie er es sagte, verriet allzu deutlich, dass er dies durchaus doppeldeutig meinte. Scobee nickte und setzte sich auf den blanken Boden vor ihm. »Du hattest angedeutet, auf etwas gestoßen zu sein, was Kargor übersehen haben könnte.« Jiim machte eine Geste der Bestätigung. »Das Nabiss hat es gefunden, um genau zu sein.« Scobee spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Aber sofort
nahm sie willentlich Einfluss darauf, und der Puls beruhigte sich wieder. »Erzähl.« Jiim hob kurz ermattet die Flügel, die von der Ganf-Rüstung ebenso umschlossen waren wie die meisten anderen Bereiche seines Körpers. Plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper, und er stand auf. Jiims Augen wurden zu Fenstern, die bis auf den Grund seiner Seele blicken ließen. Furchtbares wogte dort. »Ich werde ihn umbringen!«, keuchte er. Zuerst verstand Scobee den Gefühlsausbruch nicht – auch nicht, auf wen er sich bezog. Doch Jiim fasste sich wieder, als würde ihm bewusst, wie sehr er sich vor einer Freundin gehen gelassen hatte. Er machte eine beschwichtigende Bewegung mit den Armchen, die in seine Flügel übergingen. »Entschuldige, aber … es war einfach zu viel.« »Was war zu viel?« »Das Nabiss. Es … es fand die Stelle, an der Yael sich zuletzt aufhielt, und von wo aus er aus dem Schiff geholt wurde.« Scobee nickte halb verstehend. »Und wen willst du deshalb umbringen?« »Wen? Es gibt doch nur einen, der infrage kommt!« »Und wer?« »Kargor, dieser boshafte Lügner und Betrüger!« »Aber –« »Ich habe dir noch nicht alles erzählt«, fiel Jiim ihr ins Wort. »Mein Nabiss fand nicht nur die Stelle, von der Yael entführt wurde – es gelang ihm auch, eine bildhafte Rekonstruktion der letzten Momente Yaels hier an Bord zu liefern. Wie in einer Vision sah ich … sah ich, wer mein Junges stahl!« »Du willst nicht wirklich behaupten …« Scobee versagte die Stimme. »Doch! Doch, genau das will ich! Mein Nabiss hat keinen Grund, mich zu betrügen!« »Ich kann es trotzdem nicht glauben. Zumal ich aus einem Grund gekommen bin, der eng mit Kargor zusammenhängt. John schickt mich. Er hat mit dem Bractonen verhandelt und die Erlaubnis erhal-
ten, dass wir uns auf Portas umsehen, nach Yael suchen. Aber er hat nicht nur die Erlaubnis erhalten, sondern auch die Zusage, dass die Bractonen den Versuch unternehmen werden, die Kräfte deines Nabiss mit den Schildgeneratoren der RUBIKON abzugleichen, um die Gefahr innerhalb von Portas' Atmosphäre auf ein Minimum zu reduzieren. Alles natürlich nur unter Vorbehalt deiner Zustimmung …« Jiims Flügel peitschten wütend die Luft. »Das werde ich niemals! Warum sollte ich auch? Kargor ist der Entführer meines Sohnes! Wenn er ein solches Angebot macht, dann nur, um uns nach Portas zu locken und damit wahrscheinlich in den sicheren Untergang!« Scobee konnte Jiim nur anstarren. Vergeblich suchte sie nach einem einzigen Argument, das die Überzeugung des Freundes ad absurdum führen konnte. Stattdessen musste sie erkennen, dass sie sich bereits auf die Seite des Nargen geschlagen hatte und dessen Argumentation folgte. Kargor, du gottverdammter Mistkerl!
19. »Ist er noch bei dir?« Die Frage kam über die Bordsprechanlage. Und unschwer war Scobee als Fragestellerin zu identifizieren. »Wer?« »Der Mistkerl!« »Der …?« »Schon gut, Erklärung folgt. Ist Kargor nun noch bei dir, oder nicht?« Cloud musterte den Bractonen, erhielt aber keine Reaktion auf die unausgesprochene Aufforderung, dazu Stellung nehmen, ob er sich denken konnte, warum Scobee ihn einen Mistkerl schimpfte. »Er ist«, wandte Cloud sich schließlich an Scobee. »Gut, dann sind wir sofort bei euch. Halt ihn fest. Lass dir nicht vormachen, er müsse dringend sonst was erledigen!« »Ihr?«, fragte Cloud. »Wer kommt mit dir? Jiim? Du wolltest ihn ja informieren, dass –« »Ja, Jiim.« »Ah, gut – er ist also fertig. Hat er –« »Bis gleich«, würgte Scobee das Gespräch ab. Cloud spürte eine Art Sodbrennen in der Brust, als er sich an Kargor wandte. »Du hast nicht zufällig eine Ahnung, warum Scob so ›gut‹ auf dich zu sprechen ist?« Der ERBAUER verneinte. »Ich bin ebenso neugierig wie du.« »Also kein Fluchtversuch?« Cloud scherzte, aber irgendwie wollte der Humor nicht einmal bei ihm selbst fruchten. Endlich schlug der Türsummer an. Cloud öffnete per Audiobefehl. Scobee trat als Erste ein, dicht gefolgt von Jiim, der einen hoch nervösen und … hoch erzürnten Eindruck machte. »Überlass bitte mir das Reden«, wandte sie sich an den Nargen in der goldenen Rüstung, die Cloud immer suspekter wurde – in die er
aber auch große Hoffnungen setzte. Jiim beherrschte sich sichtlich mühsam. »Was ist passiert?« Cloud trat Scobee entgegen. Kargor blieb im Hintergrund. »Ihr seid bestimmt nicht grundlos so aufgebracht. Geht es um mein Anliegen? Darum, das Nabiss einzubinden, um Yael –« »Es geht um Yael«, erwiderte Scobee. »Und um das, was das Nabiss in dem Raum gesehen hat, in dem Yael verschwand.« »Du betonst ›sehen‹ so seltsam.« »Er sah es, weil das Nabiss ihm zeigte, was anderen Augen verborgen bleibt«, erklärte Scobee geduldig. »Er sah, wer sein Junges entführte.« Clouds Augen weiteten sich. »Das ist eine unerwartete Wendung – aber erfreulich. Es gibt uns die Chance …« Scobee schüttelte den Kopf und zeigte dann in Kargors Richtung. »Du verstehst nicht. Er sah nicht irgendein Wesen, das Yael von Bord holte, sondern ihn! Und das ist alles andere als erfreulich!« Die Reaktion des ERBAUERS war mindestens ebenso bemerkenswert wie Scobees Behauptung. »Der Narge hat den Verstand verloren! Dieser Vorwurf ist absurd!« Die farbenprächtigen Flügel des Bractonen flatterten hektisch. »Wo ist der Beweis? Wo sind die Bilder?«
Zwei Stunden später überlegte Cloud, ob das »Stillhalteabkommen«, zu dem er Jiim hatte überreden können, wirklich eine so kluge Entscheidung war, wie er zunächst geglaubt hatte. Noch nie zuvor waren so viele Bractonen an Bord aktiv geworden – jedenfalls nicht in ihren Individualkörpern. Kargor hatte nach eigenen Angaben die fähigsten Köpfe seines Volkes, die sich für die »Auslagerung« entschieden hatten, zusammengetrommelt, um die Herausforderung Nabiss in Angriff zu nehmen. Dazu brauchten sie Jiims uneingeschränkte Kooperationsbereitschaft, und diese zu erhalten, war mit die härteste Nuss gewesen, die Cloud jemals hatte knacken müssen.
Letztlich hatten die Vernunftargumente den Ausschlag gegeben. Auch Jiim konnte sich der Logik von Clouds Vorschlag nicht entziehen – obwohl er zu bedenken gegeben hatte, dass die Bractonen vielleicht nur an der Rüstung »herumpfuschen« wollten, um sie außer Gefecht zu setzen. Weil sie die Kraft, die darin schlummerte, fürchteten. Oder aus einem anderen unheilvollen Grund. »Ich bete, dass dein Plan aufgeht«, flüsterte Scobee, als sie wieder einmal nach dem Rechten sahen. Jiim hielt sich tapfer. Er ließ es geschehen, dass die Bractonen eine Unmenge fremdartiger Instrumente und Gerätschaften um ihn aufbauten und ihn einem Scan nach dem anderen unterzogen. »Ich schließe mich an«, seufzte Cloud. Irgendwann zur Mitte der dritten Stunde, seit Jiim in die Vorgehensweise eingewilligt hatte, trat Kargor zu ihnen und sagte: »Es ist so weit. Es sieht aus, als hätten wir eine brauchbare Schnittstelle gefunden und Kompatibilität herstellen können.« »Heißt das …?«, fragte Cloud. »Das heißt, dass wir in wenigen Momenten alle sehen werden, was das Nabiss hinsichtlich Yaels Entführung aufzeichnete. Und dann erwarte ich eine klare Entschuldigung …«
In dem Raum, in dem das Unternehmen Nabiss in Angriff genommen worden war, entstand über Jiims auf A-Grav-Polstern ruhendem Körper ein riesiges Hologramm, das zunächst nur Schlieren und verwaschene Schemen zeigte. »Es fehlt noch die Feinjustierung«, erklärte Kargor. »Aber sie wird nur Sekunden in Anspruch nehmen …« Tatsächlich stabilisierte sich der Inhalt des Hologramms, das die Bractonen erzeugten und das offenbar unmittelbar Daten verwertete, die dem Nabiss entströmten. Cloud fragte sich, was geschehen würde, wenn Jiims Rüstung die Vorgänge als Angriff wertete. Mehr als einmal hatte das Ganf-Wunderwerk gezeigt, dass es über eine gehörige Portion Eigeninitiative verfügte.
Aber er baute darauf, dass Jiim dem Nabiss klarmachte, worum es hier ging. Um Indizien, die Kargor entweder be- oder entlasteten. Jiim war offenbar von Ersterem überzeugt, Kargor demonstrierte die bedingungslose Verfechtung von Letzterem. Cloud wäre über nichts glücklicher gewesen als über die Entlastung des ERBAUERS. Andererseits konnte er sich nicht vorstellen, dass Jiim derart schwere Vorwürfe ohne eine entsprechende Beweislast vorgebracht hätte. Die Sekunden verstrichen, und die Holowiedergabe wurde gestochen scharf. Sie zeigte Yael, im Hintergrund Pseudo-Kalser. Offenbar befand sich Yael in Interaktion mit Sesha, aber plötzlich materialisierte neben ihm ein Wesen, das einen Klumpen Pwarm in Händen hielt und vor Yael zu Boden fallen ließ – ehe es den Jungnargen berührte … und mit ihm verschwand. »Wie ich euch sagte!«, krächzte Jiim heiser und schlug wild mit den Flügeln. Bractonen, die in seiner Nähe standen, wichen zurück. Cloud spürte, wie ihm siedend heiß und gletscherkalt im Wechsel wurde. »Was hast du dazu zu sagen?«, wandte er sich erschüttert an Kargor. »Es war ein Bractone«, antwortete der ERBAUER. »Aber ein mir völlig unbekannter Bractone!« »Das kann jeder sagen!«, kreischte Jiim. »Würde ich auch – an seiner Stelle. Nur würde ich mich nie zu einem so feigen Anschlag gegen ein hilfloses Junges hinreißen lassen …« Daran, dass die für alle zugänglich gemachte Aufzeichnung des Nabiss einen Bractonen zeigte, gab es nicht mehr den allerleisesten Zweifel. Aber es gab auch keine vernünftige Erklärung dafür, dass Kargor so extrem auf dieser Beweisführung bestanden hatte – wenn er tatsächlich hinter allem steckte. Oder baute er genau auf diesen Widerspruch? Im Gegensatz zu Cloud und den anderen Crewmitgliedern war er immer noch in das Hologramm vertieft. Plötzlich sagte er: »Es ist
leicht, euch aufzuzeigen, dass ich nicht identisch mit diesem Bractonen bin!« Er unterhielt sich kurz in einer Sprache, die nicht einmal Sesha zu übersetzen vermocht hätte, mit den anderen Bractonen, und unter diesen entstand eine unübersehbare Unruhe. »Was tuschelt ihr da?«, schrie Jiim. »Ihr seid entlarvt! Du bist es, Kargor! Und ich werde dich zwingen, mir mein Junges –« Scharf fuhr der ERBAUER dazwischen. »Ihr argumentiert so armselig, als würde ich behaupten, ein Mensch sehe exakt wie der andere aus, oder ein Narge wie der andere, nur weil dies auf mich zunächst diesen Eindruck macht. Einer genauen Überprüfung hielte eine solche Behauptung sicherlich nicht stand – so wenig wie die eure!« »Du willst sagen –« Kargor unterbrach erneut, diesmal Cloud. »Ich will sagen, dass es leicht ist, zu beweisen, wie unmöglich eure These ist, dies hier …« Er wies zum Hologramm. »… sei ein Bractone, der wie ich aus dem Prismenkörper kam – oder gar ich selbst!« »Beweise es«, forderte Cloud ihn auf, »wenn es denn so leicht ist.« »Bittet eure KI um eine Analyse. Ihr vertraut ihr gewiss mehr als uns.« Cloud kam der Aufforderung nach. Immer noch wünschte er sich, dass Kargor unschuldig war. Aber dessen Behauptung, auch kein anderer Bractone sei für Yaels Entführung verantwortlich, wurde von der festgehaltenen Szene klar korrigiert. »Sesha?« »Ich habe verstanden. Hier meine Analyse …« Cloud, Scobee und Jiim lauschten ungläubig dem, was Sesha ihnen zu sagen hatte. »Aber das ist – Wahnsinn!«, keuchte Jiim schließlich. »Es gibt nicht den geringsten Zweifel«, widersprach die KI. Sie teilte das Hologramm auf und zoomte den Entführer in Großaufnahme heran. Dann stellte sie ein Bild von Kargor – wie sie erklärte – daneben … und hob die Unterschiede zwischen beiden Bractonen hervor.
Diese Unterschiede waren anders geartet als beispielsweise zwei Menschen, die miteinander verglichen wurden, sie aufzuweisen gehabt hätten. Es war eher, wie Jiim ebenso einsehen musste, wie es Cloud und Scobee taten, der Unterschied zwischen Homo sapiens und Cro Magnon. »Die Details sprechen eine eindeutige Sprache«, sagte Sesha abschließend. »Der Entführer-Bractone steht auf einer anderen Evolutionsstufe als die hier befindlichen Bractonen. Ein Irrtum ist ausgeschlossen.« Das unerwartete Ergebnis schlug wie eine Bombe unter den Versammelten ein. »Damit«, sagte Kargor, »ist nun absolut zweifelsfrei bewiesen, was ich schon nach Entdeckung des Pwarm annahm: Auf Portas tut sich Großes! Offenbar ist es der anderen Seite gelungen, die Fehler auszumerzen, die seinerzeit zu unserem Scheitern beim Versuch eines Brückenschlags führten. Wir müssen unverzüglich dorthin aufbrechen!« »Aber«, wandte Jiim gequält ein, »was hat das mit meinem Jungen zu tun? Warum haben sie ihn geholt und euch nicht einfach kontaktiert …?« Kargor ging nicht auf die Frage ein. »Wollt ihr immer noch unsere Unterstützung?«, wandte er sich an Cloud. »Die Schildmodifizierung betreffend.« Cloud bejahte, fühlte sich aber irgendwie überrumpelt. »Dann lasst uns schnell handeln – meine Artgenossen haben ein Recht darauf, so rasch wie möglich heimzukehren!«
20. Die Modifizierung der Schilde nahm drei Standardtage in Anspruch – und auch das nur, weil Jiim vorbehaltlos kooperierte … nun, nachdem sich Kargors Unschuld erwiesen hatte. Die Unschuld aller Bractonen auf den sechs von ihnen wieder bewohnten Angk-Welten. Wie es sich auf Nummer Sieben verhielt, wie die dortigen Verhältnisse waren, wagte niemand vorauszusagen. Aber Jiim klammerte sich an den Strohhalm, dass Yael noch am Leben war, ganz gleich, in wessen Gewalt er sich auf Portas letztlich befand. Portas, die Schwellenwelt. War dort tatsächlich gelungen, wovon die ERBAUER seit Anbeginn dieses Universums träumten? Hatte von der anderen Seite jemand das Tor zur Rückkehr aufgestoßen? Eine Antwort darauf würde nur Portas selbst geben können, und dazu war es nötig, die Geschlossene Welt aufzusuchen, uralte Vorbehalte und Ängste abzustreifen … Ich wünsche euch Glück, dachte Cloud, während die RUBIKON sich immer weiter von Angk I und dem Knotenpunkt entfernte, an dem sie zeitweise angedockt hatte, um die Nutzung der Energiestraßen zu ermöglichen. Die Straßen, die Portas weiträumig umgingen. Alle Wege dorthin waren einst von den Bractonen verödet worden. »Wir erreichen soeben den anvisierten Orbit um Portas«, wandte sich Cloud an die KI. »Alles scheint nach Plan zu laufen.« »Korrekt«, erwiderte Sesha. Kurz tauchte in der Holosäule jene Tridentische Kugel auf, die Kargor zum Raumschiff umfunktioniert hatte – und mit der er nun den Vorstoß auf die Tabuwelt wagen wollte. Fast zeitgleich mit der RUBIKON. Der Abschied von Kargor lag erst wenige Stunden zurück. Nachdem die Schildmodulation abgeschlossen war, hatten alle Bractonen das Rochenschiff verlassen, zuletzt Kargor.
»Wir stoßen beide ins absolut Ungewisse vor«, hatte Cloud den Bractonen wissen lassen, ohne den die Milchstraße noch immer nicht vom Rachefeldzug Darnoks befreit gewesen wäre. Und ohne den es vermutlich nie ein Wiedersehen, eine Wiedervereinigung mit Scobee gegeben hätte. »Das schreckt mich nicht«, hatte Kargor erwidert. »Uns auch nicht. Denn es geht um ein Mitglied der Besatzung, um das Kind eines Wesens, das auch umgekehrt nichts unversucht ließe, jedem seiner Gefährten beizustehen.« »Ihr achtet einander, das ist gut so. Für den Fall, dass eurer Mission Erfolg beschieden ist und ihr von Portas zurückkehren könnt, wartet auf Angk I noch ein spezieller Dank von mir an euch. Frag nicht, worum es sich handelt. Du wirst es erfahren, sobald du Kontakt mit Angk I aufnimmst. Und hier …« Er griff in die Tasche eines Gürtels, der sich chamäleonartig an den Körper des Bractonen angeglichen hatte, sodass er fast unsichtbar war. »… noch eine Aufmerksamkeit für Scobee. Damit kann sie sich einen Herzenswunsch erfüllen. Viel Glück euch allen!« Cloud nahm den Ring entgegen, der wie aus Silber geschmiedet und mit einem Edelstein versehen war. »Na, hoffentlich missversteht sie die Geste nicht … Viel Glück jedenfalls auch dir, Kargor. Du kannst dir denken, dass wir nicht wirklich begriffen haben, mit welch hoch entwickelten Geschöpfen wir es mit euch zu tun bekamen. Den Schöpfern des Universums begegnet man schließlich nicht alle Tage. Aber es beruhigt auch zu wissen, dass selbst dermaßen hoch entwickelten Intelligenzen Grenzen gesetzt sind. Dass auch sie Nöte und Ängste haben, die erst überwunden werden müssen – immer wieder aufs Neue. Es macht euch fast ein wenig … menschlich.« »Was ich niemals als Beleidigung auffassen würde – nicht nach dem, was ich über euch lernte.« »Dann haben wir vielleicht beide eine Lektion gelernt.« Kargor berührte ihn zum Abschied. Und für einen Moment stand die Zeit still. Als Cloud wieder ins Bewusstsein fand, war auch der letzte Bractone von Bord der RUBIKON gegangen.
»Ich wünsche ihnen, dass sie nicht enttäuscht werden«, murmelte er zu sich selbst. »Ich wünsche ihnen, dass dies alles nicht nur eine perfide Täuschung und Falle ist, in die sie gelockt werden …« »Was hast du gesagt?« Scobee trat von hinten auf das Podest und stellte sich hinter den Kommandositz, vor dem Cloud gestanden und mit Kargor gesprochen hatte. »Nichts«, sagte er. »Ich habe nur laut gedacht.« Und jetzt kreiste die RUBIKON bereits um Portas. Um die Gestalt gewordene Hölle, auf der sich Kargor die Rückkehr ins Paradies erhoffte. »Benachrichtige Jiim«, forderte Cloud die KI auf. »Er soll seine vorgesehene Position einnehmen. Und dann volle Konzentration auf sein Nabiss und die Schilde …«
Ein Mahlstrom aus Farben, Formen, Lichteffekten und gespenstisch zuckenden Blitzen … Portas unterschied sich schon rein optisch von allen anderen Welten des Angk-Systems – wobei dieser Unterschied erst erkennbar geworden war, als die RUBIKON eine bestimmte Abstandsgrenze, etwa neuntausend Kilometer, unterschritt. Von da ab war der Blick frei auf das chaotische Brodeln, das die Atmosphäre dieses Angk-Planeten prägte. »Da unten soll irgendetwas leben?«, stöhnte Jelto auf – und hätte sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. Aber um Jiim hatte sich der Deckel des Sarkophags geschlossen. Unwahrscheinlich, dass er etwas von den Lautäußerungen aufschnappte, die außerhalb des von den Bractonen aufgerüsteten Sitzes erfolgten. Im Innern ruhte Jiim und wurde sein Nabiss »angezapft«. Die Kräfte daraus flossen in die modifizierten Schildgeneratoren ein. Davon erhofften sich alle den nötigen Schutz innerhalb der Portas-Atmosphäre. Und darüber hinaus war Jiim auf engstmögliche Weise mit Sesha verbunden. »Ich weiß nicht, wie viele Planetenumrundungen wir in welcher Zeit schaffen«, sagte Cloud von seinem Sitz aus, der noch geöffnet
war. »Aber wir werden auf jeden Fall versuchen, den gesamten Planeten zu scannen. Wenn das Glück uns wohlgesonnen ist –« »Schraub deine Erwartungen nicht zu hoch, John. Es dürfte eher der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleichkommen«, bremste Scobee seine Zuversicht. »Darf ich nicht auch einmal auf Optimist machen?«, gab er zurück. »Zumal so viel davon abhängt?« Yael hing davon ab – seine mögliche Rettung. Scobee verkniff sich weitere Kommentare. Sie drehte nur kurz den Ring an ihrem Finger, den Cloud ihr in Kargors Auftrag übergeben hatte. Außer Erstaunen hatte sie dazu noch nichts weiter geäußert. Nicht einmal die ironische Bemerkung, die Cloud eigentlich erwartet hatte, war über ihre Lippen gekommen. Noch nicht. »Gut, wenn alle bereit sind … Jiim?« Er wandte sich über Funk direkt an den abgekapselten Nargen. »Bereit«, meldete dieser mit hörbarer Ungeduld. »Okay, dann beginnen wir. Stoßen wir hinein in diese … Hexenküche! Jiim, sei auf der Hut. Wir bauen auf dein Nabiss, es darf uns nicht im Stich lassen!« »Es wird sich meinem Willen beugen – und wie der lautet, könnt ihr euch denken!« Cloud lächelte. Ein letztes Mal tauschte er Blicke mit den Gefährten, die sich über die übrigen Sitze verteilt hatten. Er strahlte so viel Zuversicht aus, wie ihm nur möglich war. Dann schloss sich auch um seinen Sitz das Gehäuse. Cloud wurde eins mit der RUBIKON … und verschmolz damit in gewisser Weise auch mit Jiims Geist, der eine ganz besondere Aufgabe übernommen hatte – und dank der technischen Unterstützung der Bractonen auch umsetzen würde. Schiefgehen durfte nichts, sonst … Cloud schob den Gedanken an ein Scheitern weit von sich. Mindestens zwei Leben hingen vom Erfolg der Mission ab – das von Yael und das seines Elters. Denn Jiim, das stand für Cloud fest, ohne darüber gesprochen zu haben, würde ohne sein Junges nicht
weiterleben wollen …
»Sie dringen in die Atmosphäre ein«, sang eine der lautlosen Stimmen, mit denen sich Kargor wiedervereint hatte. Der Prismenkörper stand in dem Raum, wo alle Nervenstränge der Tridentischen Kugel zusammenliefen. »Das werden wir auch tun«, gab Kargor an seine Mitbractonen zurück. Die goldene Perle von hundert Kilometern Durchmesser beschleunigte und überbrückte die Distanz zu Portas in wenigen Flügelschlägen. »Wir hätten uns den Nargen als zusätzlichen Schutzfaktor sichern sollen«, meldeten sich Summen aus der Tiefe. »Wenn unsere Theorie stimmt, werden wir keinen zusätzlichen Schutz brauchen«, entgegnete Kargor kühl. »Die Tridentische Kugel ist stark genug, allen bekannten Gefahren zu trotzen. Wir hätten schon früher einen Vorstoß mit ihrer Hilfe versuchen können …« Stimmen der Zustimmung und der Verneinung brandeten ihm entgegen. Über die Sensoren der Perle sah Kargor die Tabuwelt auf sich zuschießen, auch wenn es in Wirklichkeit umgekehrt war. Dann tauchte sein mächtiges Schiff in den Mahlstrom ein. Im selben Moment verschwand die Tridentische Kugel von den Beobachtungssystemen sämtlicher wieder von Bractonen bewohnten Angk-Welten. Portas hatte sie verschluckt. Das Schicksal von Milliarden verlor sich in den Schleiern des Chaos …
… während anderswo das Schicksal einer Handvoll entschieden wurde. Die RUBIKON bewegte sich durch ein Sturmgebiet planetaren
Ausmaßes. Sämtliche auf höherdimensionaler Ebene arbeitenden Geräte spielten verrückt. Die herkömmlichen Sensoren erblindeten. Binnen eines Lidschlags hing alles von Jiim und seinen Nabiss-verstärkten Sinnen ab. Doch all dies zehrte unverhältnismäßig an den Kräften des Nargen, wie Cloud zu seinem Entsetzen feststellte. Sie hielten sich erst wenige Minuten jenseits der Banngrenze auf, und schon drohte Jiim zu kollabieren. Wir müssen abbrechen, dachte Cloud. Es tut mir leid, alter Freund, aber wir … Plötzlich erreichten Cloud erstmals seit ihrem Vorstoß Bilder der Planetenoberfläche, und sie machten ihn kurzzeitig sprachlos. Die Kruste der Welt sah über Hunderte und Tausende Kilometer Strecke, über Millionen von Quadratkilometern, die Jiims Sinne aus dem Dunkel rissen, aus wie … Wie ein gigantischer Dynamo, dachte Cloud beklommen. Wie ein … Hochleistungsgenerator. Überall wuchsen antennenartige Stacheln aus dem Boden, der nirgends nackt war. Alles war wie mit einer Metallschicht überzogen, die an manchen Stellen von Pwarm befallen war, aber bei Weitem nicht großflächig. Und im nächsten Moment übertraf Jiim sich selbst, lieferte Bilder, die bis in die Planetenrinde hineinreichten. Sehen …, dachte Cloud, … etwa alle Angk-Welten im Kern so aus? Er konnte es sich nicht vorstellen. Aber hier auf Portas schien es der Fall zu sein, dass unter der Rinde der Welt eine Sonne in Fesseln gelegt war – eine wahrhaftige kleine Sonne, die offenbar Energie für die globusumspannenden Anlagen lieferte, die noch auf das EXPERIMENT der Bractonen zurückgehen mochten … Zurück!, wiederholte Cloud seinen Befehl, kaum dass er sich von dem faszinierenden Anblick gelöst hatte. Du stirbst, wenn wir nicht sofort – Ich gehe nicht ohne mein Junges!, gab Jiim mit Inbrunst zurück. Ich spüre bereits etwas … Wir kommen ihm näher … Cloud war überzeugt, dass sich Jiim von Wunschdenken narren
ließ. Ich bin der Commander. Ich befehle dir – Da! Auf eine andere Art als sonst üblich nahm Cloud wahr, was Jiim entdeckt hatte und ihm nun zeigte. Und plötzlich war auch Cloud wieder zu jedem Risiko bereit. Einholen!, ordnete er an. Traktorstrahl darauf – jetzt! Der Mahlstrom schloss sich immer bedrohlicher um die RUBIKON, weil Jiims Kräfte jetzt rapide erlahmten. Cloud riss das Kommando wieder vollends an sich, fuhr Jiims Einflussnahme auf ein Minimum zurück. Mit den Sinnen des Schiffes spürte er, wie etwas nach der RUBIKON griff. Wie etwas den Eindringling entdeckt hatte und nicht zulassen wollte, dass er … Dann durchstieß der Rochen die letzte dünne Atmosphärenschicht und überwand auch die Grenze, jenseits derer Portas wie jede beliebige friedliche Angk-Welt auf den Betrachter wirkte. Clouds Sarkophag spaltete sich regelrecht, und er sprang heraus. »Sesha – Status! Haben wir das Zielobjekt an Bord?« »Yael ist an Bord«, bestätigte die KI, während auch Jiim sich aus seinem Sitz schälte, aber gestützt werden musste, um nicht einfach zusammenzuklappen. »Wie … wie habt ihr beiden das gemacht?«, fragte Scobee, die den Nargen vor dem Sturz bewahrt hatte, ungläubig. »Das«, seufzte Cloud, »musst du ihn fragen. Ich habe damit – fast – nichts zu tun!« Doch Jiim winkte nur ab. »Wo?«, krächzte er. »Wo ist mein Junges?« Sesha gab die Koordinaten an Bord bekannt. »Er ist so weit wohlauf, aber noch ohne Bewusstsein. Lasst ihn ruhen – bis auch sein Elter wieder erholt ist.« Cloud erwartete, dass Jiim dagegen aufbegehren würde, aber der Narge war bereits in einen ohnmachtgleichen Schlaf gesunken, nur noch von einer beherzt zupackenden Scobee am Fallen gehindert.
Epilog Auf dem Weg nach Angk I erfuhr die Crew, dass die Tridentische Kugel mit denjenigen Bractonen, die sich gegen eine Wiederverkörperlichung in diesem Universum sperrten, an Bord nach Portas vorgestoßen war – etwa zeitgleich mit der RUBIKON. Im Gegensatz zu ihr tauchte die CHARDHIN-Perle jedoch nicht wieder auf. Auch Stunden später, als Cloud Kontakt mit Angk I aufnahm, hatte sich daran nichts geändert. »Ich fürchte, es war eine Falle«, sagte Cloud. »Sie scheint Kargor und den anderen zum Verhängnis geworden zu sein.« »Du meinst, sie sind umgekommen – obwohl sie meinten, in unserem Universum nicht sterben zu können?«, fragte Jelto. »Es wäre nicht ihr erster Irrtum«, entgegnete Cloud. Angk I meldete sich. Ein Tavner war am Funkgerät. »Die Leute stehen bereit«, sagte er. »Welche Leute?«, fragte Cloud irritiert. »Die für euch ausgewählt wurden.« Der Tavner schickte einen Leitstrahl, der die RUBIKON zu einem der Weltraumknotenpunkte der Energiestraßen lotste. Und zwar wider Clouds Willen! Sesha behauptete, nichts gegen den eingeschlagenen Kurs tun zu können. »Wozu ausgewählt?« Clouds Erstaunen wich Verärgerung. Was hatte Kargor da wieder ausgebrütet? »Sie sind ausnahmslos geschult für die Anforderungen, die sie in Kürze erfüllen müssen. – Ihr habt soeben angedockt. Ich sende.« Bevor Cloud energischen Widerspruch einlegen konnte, meldete Sesha bereits die Ankunft von insgesamt siebenhundert Männern und Frauen, die ihre Befehle erbaten. »Befehle?« »Sie sagen, sie wären die neue Besatzung, die künftig Commander Cloud untersteht …«
Yael erwachte irgendwann aus seiner Bewusstlosigkeit. Aber er konnte sich an keine Sekunde seines Aufenthalts auf Portas erinnern. Seine letzte Erinnerung vor der Ohnmacht war das Gespräch mit Sesha, während die übrige Crew sich bereits auf Angk I aufhielt. Selbst unter Tiefenhypnose war niemand in der Lage, eventuell verschüttete Erinnerungen zu wecken. Erstaunlich war nur, dass Yael seinen Elter Jiim plötzlich wieder ohne jeden Vorbehalt annahm. Die Furcht und Ablehnung, die dieser zuvor in ihm erzeugt hatte, waren verschwunden – was niemand dankbarer akzeptierte als der gebeutelte Jiim.
»Und, hast du dich schon mit allen bekannt gemacht, die du künftig herumscheuchen darfst?«, fragte Scobee Stunden später mit einem Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reichte. »Ich lasse mir das nicht gefallen!«, brauste Cloud auf. »Ich werde sie alle dorthin zurückschicken, woher –« »Sie sind das Geschenk eines vermutlich Toten«, gab Scobee zu bedenken, und erstaunlicherweise stimmte das Cloud gnädiger. Er zeigte auf den Ring an ihrer Hand. »Mit Geschenken von Toten kennst du dich ja aus. Ich hätte nie gedacht, dass Kargor für so etwas –« »Es ist nicht, was es scheint.« »Sondern?« »Kargor wusste, woran ich all die Zeit, seit ich nach Nar'gog entführt und von dort weiterverschleppt wurde, denken muss.« »Und das wäre?« »An die Gloriden, die noch immer im Leerraum bei der RUDIMENT-Station dahinvegetieren. Wie zu Stein erstarrt.« »Ich fürchte, ich verstehe nicht …« »Der Ring ist selbsterklärend. Als ich allein in meiner Kabine war, enthüllte er mir, dass ich damit die Versteinerung auflösen kann. –
Leider müsste ich dazu in ihrer unmittelbaren Nähe sein.« »Wieso leider?«, fragte Cloud. »Wenn es weiter nichts ist. Das wäre doch genau der Flug, den eine neue Crew braucht, um sich an Bord einzugewöhnen. Wenn du also einverstanden bist, brechen wir noch heute auf …« ENDE
Glossar John Cloud
Jarvis
Scobee
28 Jahre alt, 1,84 m groß, schlank, durchtrainiert. Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes. Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert und dessen Mimik er immer besser zu beherrschen lernt. Er ist ca. 1,85 m groß, hat ein schmales, energisches Gesicht und angedeutete streichholzkurze »Haare«. Weibliche In-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Scobee wurde von Kargor mithilfe der mobil gemachten CHARDHIN-Perle aus dem Nar'gog-System befreit/entführt und ins AngkSystem gebracht. Wo sie mit Prosper Mérimée und dessen Leuten über eine »Energiestraße« auf die
Oberfläche eines der dortigen Planeten gelangt. Rätselhafte Entität mit dem Erscheinungsbild einer riesigen Gottesanbeterin, jedoch aus kristallinen Strukturen bestehend, die in allen Farben des Regenbogens leuchten. Bei Kargor scheint es sich um einen Angehörigen jenes Volkes zu handeln, das einst die CHARDHIN-Perlen erbaute … und dann von der kosmischen Bühne verschwand. Erst die Gefahr, die Darnok über der Milchstraße heraufbeschwor, rief die ERBAUER offenbar wieder auf den Plan. Kargor besitzt Kräfte und Macht, die ihn jedem anderen bekannten Wesen überlegen machen. Die Perle CHARDHIN So benannt vom Gloriden Fontarayn: Eine golden schimmernde, kugelförmige Station, die hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Super-Black-Holes verankert ist. Ihr Durchmesser beträgt gigantische hundert Kilometer. Fontarayns Volk, die Gloriden, sind quasi das »Wartungspersonal« dieser Perlen – von denen es unzählige in unzähligen Galaxien gibt. Der Clou jedoch ist, dass diese Stationen, deren Erbauer nicht einmal die Gloriden zu kennen scheinen, permanent existieren – vom Anbeginn der Zeiten bis … ans Ende aller Zeiten? Vieles, was diese Hinterlassenschaft eines uralten Volkes betrifft, ist ungeklärt. Sicher ist: Die Milchstraßen-Perle scheint aus dem Netz der übrigen CHARDHIN-Stationen herausgefallen zu sein und wurde von Unbekannten, die spezielle »Gloriden-Fallen« hinterließen, offenbar gezielt ausgeschlachtet und entvölkert. Florenhüter Jelto Ein Klon mit »Kirlianhaut«, genetisch prädestiniert, um mit jedweder Pflanze – ganz gleich, ob auf der Erde ansässig oder auf einem fremden Planeten – mentale Verbindung aufzunehmen. Jelto Kargor
Aylea
Jiim
Die RUBIKON
ist eine Art lebendiger »grüner Daumen«; er besitzt eine nicht mehr zu übertreffende Affinität zu Pflanzen und vermag sich optimal um ihre Bedürfnisse zu kümmern, Jelto hütete eine gewaltige Parzelle Wald, der das »Getto« umgibt und – wie sich herausstellt – offenbar nur dazu dient, jeden Fluchtversuch aus der früheren Metrop Peking zu vereiteln. Denn dieser Wald besteht zur Hauptsache aus außerirdischer Vegetation, die durchaus fleischliche Gelüste kennt … Mittlerweile ist Jelto vollwertiges Mitglied der RUBIKON-Crew, kümmert sich dort um den Hydroponischen Garten. Im »Paradies« einer irdischen Metrop (Metropole) aufgewachsene 12-Jährige – die unversehens die Schattenseite der Gesellschaft kennenlernte und ins sogenannte »Getto« abgeschoben wurde, wo die Rechtlosen der neuen Menschheit ihr Dasein fristen. Dort traf sie auf John Cloud und gelangte auf Umwegen an Bord der RUBIKON, wo sie seither das Nesthäkchen ist. Besonders angefreundet hat sie sich dort mit Jelto. Geflügelter, einstiger Bewohner des Planeten Kalser, die sich selbst Nargen nennen. Jiim ist ein Freund der Menschen und im Besitz einer fast metaphysischen goldenen Rüstung namens Nabiss, die seit einiger Zeit förmlich mit seinem Körper verschmolzen ist, von diesem absorbiert wurde. Seine Befindlichkeit hat darunter nicht gelitten, im Gegenteil: Jüngst brachte Jiim ein Kind namens Yael zur Welt, für das er nun als »alleinerziehender Elter« die volle Verantwortung übernommen hat. Ein mantarochenförmiges Raumschiff, das John Cloud in der Ewigen Stätte des Aquakubus fand und in Besitz nahm. Der »gute Geist« des Schiffes
ist die künstliche Intelligenz Sesha. Die Ausmaße sind gewaltig, können jedoch hinter sogenannten Dimensionswällen verborgen werden, sodass das Schiff für externe Beobachter sehr viel kleiner wirkt. Die RUBIKON bedient sich der Dunklen Energie, um überlichtschnell durch den Raum zu reisen. Dabei bewegen sich die Schwingen wie bei einem tatsächlichen Mantarochen, der durch die Tiefen eines Ozeans pflügt. Das Erste Reich Auch Angk-System. Sieben fast identisch wirkende Planeten teilen sich dieselbe Umlaufbahn um einen Fixstern. Untereinander verbunden sind diese Welten über ein Netz sogenannter Energiestraßen, für die man allerdings eine Legitimation braucht, um sie benutzen zu können. Im Ersten Reich lebten laut Kargor einst – vor und seit einer Zeit, die er nicht näher spezifiziert – seine Artgenossen, die von den Gloriden als ERBAUER verehrten Schöpfer der CHARDHIN-Perlen.
Vorschau Echo von Manfred Weinland Nach den fantastischen Enthüllungen der Bractonen im Angk-System hat sich manches Rätsel um die ERBAUER geklärt. Zeit, sich wieder anderen Schauplätzen und Fragen zuzuwenden. Andromeda beispielsweise. Immer noch ungeklärt ist der Werdegang der Satoga, nachdem sie aus der Milchstraße abzogen und sich der Nachbargalaxis zuwandten. Wie konnte es dazu kommen, dass die Satoga trotz anderslautender Versprechen ihres Ersten Expansers Artas in Andromeda den größten Krieg der dortigen Geschichte vom Zaun brachen …? Und auch in der Milchstraße ist so manches verschollen, was vor Darnoks Rachefeldzug einen beträchtlichen Machtfaktor darstellte. Dementsprechend machen sich John Cloud und seine Gefährten nach der Befreiung der Gloriden auch unverzüglich auf Spurensuche. Dabei treffen sie auf eine altbekannte Gefahr – die neue Dimensionen erreicht hat …