Parker… Hongkong… Gelbe Drachen Roman von Günter Dönges Das schwere Wurfmesser war deutlich in der Luft zu sehen. Es sc...
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Parker… Hongkong… Gelbe Drachen Roman von Günter Dönges Das schwere Wurfmesser war deutlich in der Luft zu sehen. Es schwirrte durch den Sonnenglast und galt einem jener Passagiere, die die Boeing 707 verließen und die Gangway hinunterkamen. Die Frauen und Männer auf der Treppe ahnten nichts davon. Sie alle hatten erwartungsfrohe und heitere Gesichter. Einige von ihnen hatten die Arme erhoben und winkten zum Flughafengebäude des Kaitak Airports hinüber. Hinter der gerade gelandeten Maschine erhob sich ein durchsichtiger gelb gefärbter Staubschleier. Durch ihn waren die Gipfel der Kowloon-Mountains zu sehen. Über allem lastete die gnadenlose, grelle Sonne von Hongkong. Das Wurfmesser hatte sein Opfer erreicht. Es stak in der Brust eines Mannes, der etwa vierzig Jahre alt sein mochte. Er war untersetzt und besaß die Andeutung eines kleinen runden Bauches. Er trug einen zerdrückten Sommeranzug und war auf den Stufen der Gangway zusammengebrochen. Die Passagiere vor ihm auf der Treppe hatten noch nichts bemerkt. Die Gäste hinter dem Getroffenen beugten sich vor. Einige von ihnen deuteten auf den abrutschenden Mann. Mit der linken Hand umklammerte er den Griff einer dunklen Aktentasche. Die rechte Hand aber hatte sich um das Heft des Wurfmessers gelegt, als wollte sie im letzten Moment noch die Waffe aus der tödlichen Wunde ziehen. »Reiner Zufall, daß diese beiden Fotos geschossen wurden«, sagte Inspektor McParish vom Kriminal-Departement. »Sie stammen von einem Andenkenfotografen. Ich fürchte, sie werden uns nicht besonders helfen.« Anwalt Mike Rander legte die beiden Aufnahmen zurück auf den Schreibtisch des Inspektors. Mit langsamen Bewegungen zündete er sich eine Zigarette an. »Weiß man, wer das Opfer ist?« fragte er dann. »Natürlich. Der Mann heißt Larry Croften und stammt aus Miami. Er war Miß Morefields Vermögensverwalter.« »Zum erstenmal hier in Hongkong?« »Den Eintragungen in seinem Paß nach zu urteilen, zum erstenmal«, bestätigte Inspektor McParish, ein drahtiger, mittelgro2
ßer Mann von etwa 45 Jahren. Die Sonne von Hongkong hatte ihm im Laufe langer Dienstjahre jedes unnötige Gramm Fett aus dem Körper gebrannt. Sein Gesicht mit den grauen kühlen Augen war lederartig gespannt. »Wann wurde er genau ermordet?« fragte Mike Rander. »Vor knapp einer Woche«, erwiderte der Inspektor. »Es passierte, wie ja auf den Fotos zu sehen ist, gleich nach der Landung. Von den Tätern fehlt leider jede Spur.« »Konnte die Aktentasche, die auf den beiden Fotos zu sehen ist, sichergestellt werden?« schaltete sich Josuah Parker ein. Im Gegensatz zu McParish und Mike Rander, die sich ihre Jacketts ausgezogen hatten und in Hemdsärmeln waren, trug der Butler seinen pechschwarzen Dienstanzug. Der weiße Eckkragen wirkte wie frisch gestärkt. Seine Hände, die in schwarzen Zwirnhandschuhen staken, hielten die steife Melone und den unvermeidlichen, altväterlich gebundenen Universal-Regenschirm. »Verflixt, Parker, schwitzen Sie eigentlich nicht?« stöhnte Mike Rander. Obwohl er unter dem Deckenventilator saß, griff er verzweifelt nach dem Tischwirbler und lenkte den Luftstrom auf sein Gesicht. »Ich gestatte es mir einfach nicht, mich der Transpiration hinzugeben«, gab Josuah Parker würdevoll und auch etwas tadelnd zurück. Während er redete, ließ er den Inspektor nicht aus den Augen. McParish unterdrückte ein Grinsen. In Hongkong hatte er schon manch seltsamen Vogel kennengelernt. Menschliches war ihm nicht mehr fremd. Doch dieser Butler Parker übertraf alle Vorgänger. Er war einmalig skurril. »Die Aktentasche wurde sichergestellt«, antwortete McParish. »Sie enthielt Geschäftsunterlagen, Papiere, einiges Bargeld. Rückschlüsse auf den Mörder läßt der Inhalt nicht zu.« »Könnten wir uns die Tasche mal ansehen?« bat der junge, sympathisch aussehende Anwalt, der nicht wie ein Strafverteidiger, sondern eher wie ein Sportsmann aussah. Dunkelgraue Augen, braunes Haar und regelmäßig geschnittenes, ovales Gesicht verliehen ihm das Aussehen eines großen netten Jungen, mit dem man Pferde stehlen konnte. »Klar, läßt sich machen«, beantwortete McParish die Frage. Er beugte sich über das Mikrofon seiner Sprechanlage, drückte einen Knopf und gab, seine Order durch. Dann wandte er sich wieder Rander zu. »Seit wann sind Miß Morefields Briefe ausgeblieben?« 3
»Seit fast drei Wochen«, gab Rander zurück. Er hatte alle wichtigen Daten im Kopf. »Da sie aber weiterhin ihr Konto plünderte, fuhr Croften hierher nach Hongkong.« »Hat Miß Morefield eine Verfügungsgewalt über das Konto?« fragte Inspektor McParish. »Seit einem halben Jahr, nachdem sie großjährig geworden ist.« Mike Rander griff erneut nach dem Tischventilator und blies sich kühle Luft auf die schwitzende Haut. »Sie ist nach dem Tod ihrer Eltern Alleinerbin des Familienvermögens.« »Muß sich wohl um viel Geld handeln, wie?« »Darauf können Sie Gift nehmen, sonst hätten Miß Morefields Verwandte nicht so schnell Alarm geschlagen und uns gebeten, den Dingen nachzugehen. Um es rundheraus zu sagen, wir sollten Anwalt Croften in seinen Ermittlungen unterstützen.« »Darauf wird er jetzt wenig Wert legen, fürchte ich.« »Warum wurde dieser harmlose Mann ermordet?« fragte sich Rander laut. Dabei sah er den Kriminalinspektor an. »Ich vermisse jedes Motiv. Er hatte mit seiner Arbeit noch gar nicht begonnen.« »Der Mörder wird die Antwort geben können, nicht ich.« McParish griff nach dem Tischventilator und fächelte sich damit kühle Luft zu. Er übersah, daß Randers Hand bereits darauf wartete, wieder nach dem Ventilator zu greifen. Parker tat so, als ob er von der schwülen, drückenden Hitze im Dienstzimmer nichts bemerke. Er schien eine Klimaanlage unter dem Rock zu haben. Zurückhaltend, würdevoll, aber auch sehr aufmerksam verfolgte er die Unterhaltung. »Haben Sie inzwischen herausbekommen, wo Miß Morefield zur Zeit wohnt?« erkundigte sich Mike Rander weiter. »Erkundigt schon, Mr. Rander, aber leider ohne Ergebnis. Sie ist wie vom Erdboden verschwunden.« »Könnte sie Hongkong verlassen haben?« »Offiziell nicht. Aber denken Sie an die vielen Dschunken, die wir einfach nicht kontrollieren können. Wenn Sie mich fragen, so ist Miß Morefield nicht in Erpresserhänden. Sie wird sich einen netten Begleiter zugelegt haben und in den Bergen irgendwo Honigmond feiern.« »Und zusätzlich ihr Bankkonto plündern«, meinte Rander lächelnd. »Mag ja alles stimmen und zutreffen, McParish, aber warum schreibt sie dann nicht? Warum gibt sie ihre teure Wohnung 4
auf? Warum beantwortete sie nicht die Telegramme ihres Vermögensverwalters Croften? Nein, da muß etwas Böses mit ihr passiert sein!« »Das ist natürlich nicht ausgeschlossen«, räumte Inspektor McParish ein. Er erbarmte sich und reichte den Tischventilator an Mike Rander zurück, der dankbar aufstöhnte. »Hier in Hongkong passieren ja die unglaublichsten Dinge. Erpressung und Entführung sind unser tägliches Brot.« »Wo könnte man den Hebel ansetzen, Inspektor?« »Sie brauchen Zugang zu der Unterwelt.« »Wo finde ich den?« »Ich kann’s nur inoffiziell tun. Ich werde Ihnen eine Telefonnummer geben. Ein gewisser Li Wang wird sich melden. Sagen Sie ihm, was vorliegt?« »Kann man sich auf ihn verlassen?« wollte Mike Rander wissen. »Da überfragen Sie mich, Rander. Er ist gerissen und verschlagen. Wenn er Tips liefert, dann nur, um seine eigenen Fäden zu spinnen. Versuchen Sie’s mit ihm, aber seien Sie auf der Hut.« Inspektor McParish erinnerte sich, daß er eine Order gegeben hatte. Er drückte noch mal die Taste der Sprechanlage und fragte nach der sichergestellten Aktentasche des ermordeten Larry Croften. Im gleichen Moment klopfte es an der Tür, und ein uniformierter Besamter betrat den Raum. Er salutierte, ging zum Schreibtisch und beugte sich zum Inspektor hinunter. Er flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Das Gesicht von McParish färbte sich rot. Einen Moment lang sah er verlegen und etwas unglücklich aus. Doch dann räusperte er sich knapp. »Die Tasche ist aus dem Asservatenraum verschwunden«, sagte er zu Rander. »Daß uns das passieren muß! Einfach unglaublich!« »Darf ich Ihre Worte dahingehend interpretieren, daß die bewußte Aktentasche gestohlen worden ist?« schaltete sich Josuah Parker in die Unterhaltung ein. »Sie dürfen, verdammt noch einmal«, schimpfte McParish. »Ich finde einfach keine Worte…!« »Suchen Sie sie inzwischen«, meinte Anwalt Rander und stand auf. Er griff nach seinem Jackett. »Wir werden uns inzwischen um Miß Morefield kümmern. Sie erreichen uns, im >QueensVictoria Bank of Hongkongs< die an der Nahtstelle zwischen Wanchai und Victoria City lag. Von dieser Bank aus war das Morefield-Vermögen drüben in den Staaten bisher angezapft worden. Dort mußte Jane Morefield mehr als nur 6
gut bekannt sein. Parker und sein junger Herr Mike Rander blieben auf der Connaught Road Central immer wieder stehen. Hinreißend war der Blick auf den Meeresarm, der Kowloon von der Insel Hongkong trennt. Nicht umsonst wird Hongkong von erfahrenen Kennern als die schönste Stadt der Welt bezeichnet. Im tiefen Fahrwasser ankerten Kriegsschiffe und Flugzeugträger Ihrer Majestät der Königin. Schnelle Fähren transportierten wahre Heerscharen von Menschen hinüber nach Kowloon und wieder zurück. Die vielen vorgelagerten kleinen Inseln und die Hafenbecken waren umsäumt und angefüllt mit Hausbooten und Dschunken. Auf Kowloon waren die schroff ansteigenden Berge deutlich zu erkennen. Nur wenige Meilen dahinter befand sich bereits der Bambusvorhang, hinter dem das rotchinesische Territorium beginnt. Die Räume der >Victoria Bank of Hongkong< waren im Erdgeschoß eines hohen Geschäftshauses aus Beton, Glas und Stahl untergebracht. Mike Rander ließ sich bei dem leitenden Manager anmelden. Sie brauchten nur wenige Minuten zu warten, bis sie zu ihm geführt wurden. Ein rundlicher Chinese mit sehr wachsamen Augen kam freundlich lächelnd auf Rander und Parker zu. Der Mann trug einen europäisch geschnittenen Anzug und stellte sich als Ty Hong vor. Höflich erkundigte er sich nach den Wünschen seiner Besucher. Mike Rander ging geradewegs auf sein Ziel zu. Er nannte seinen Namen, legitimierte sich und legte seine Vollmachten der Familie Morefield auf den Tisch. »Sie forschen nach Miß Morefield?« fragte Ty Hong erstaunt zurück. »Aber warum denn das?« »Es besteht der Verdacht, daß sie entführt worden ist und erpreßt wird«, gab Rander zurück. »Ausgeschlossen, Sir«, widersprach der Manager und schüttelte den Kopf. »Miß Morefield war erst vor knapp einer Stunde hier bei uns und hob zehntausend Dollar ab!« »Wie bitte?« Mike Rander sah den Bankmanager ungläubig an. »Es entspricht den Tatsachen. Ich habe selbst für Miß Morefield die Formalitäten erledigt. Sie erfreute sich bester Gesundheit.« »Sind Sie sicher, daß es Miß Morefield gewesen ist?« »Selbstverständlich. Daran besteht gar kein Zweifel.« Ty Hong sprach ein hartes, aber sehr gut zu verstehendes Englisch. »Ich 7
kenne Miß Morefield seit drei Monaten. Seinerzeit habe ich mir alle Unterlagen und Papiere genau angesehen. Ich weiß, daß ich die ganze Zeit über mit Miß Morefield verhandelt habe.« »Sehr schön.« Mike Rander setzte sich. »Dann wissen Sie auch, wo wir Miß Morefield erreichen können?« »Ich werde Ihnen die Adresse geben. Schade, daß Sie nicht schon vor einer Stunde gekommen sind, Sie hätten sich dann sofort mit ihr in Verbindung setzen können.« Ty Hong griff nach einem Scheck, der vor ihm auf der Schreibunterlage lag. Er hielt ihn hoch und wies auf die Unterschrift. Er sagte: »Das hier ist Miß Morefields Handschrift. Und hier haben Sie auch ihre Adresse. Sie wohnt, warten Sie, an der Repulse Bay, im Süden der Insel. Ganz in der Nähe des dortigen Country-Clubs.« »Werden wir das Haus finden?« »Natürlich. Aber ich mache Ihnen den Vorschlag, Miß Morefield doch anzurufen. Sie hat telefonischen Anschluß. Ich glaube, sie wird gegen Abend bestimmt wieder zu Hause sein. Wie sie mir sagte, wollte sie noch drüben in Kowloon Einkäufe machen.« »Wie ist die Telefonnummer?« Der Manager holte einen Zettel und schrieb Adresse und Telefonnummer nieder. Als er Rander den Zettel reichte, schüttelte er noch mal den Kopf. »Miß Morefield und erpreßt werden? Völlig ausgeschlossen, wenn Sie mich fragen.« »Wissen Sie, warum sie ihre Wohnung verlassen hat, ohne ihre neue Adresse anzugeben?« Ty Hong lächelte wissend. »Miß Morefield ist noch recht jung«, antwortete er. »Vielleicht hat sie eine Romanze. Wer kennt sich in den Herzen junger Frauen aus?« »Darf ich mir eine bescheidene Frage erlauben?« mischte sich Josuah Parker in die Unterhaltung ein. Dann, bevor er die Erlaubnis dazu bekam, redete er weiter: »Sprach Miß Morefield davon, daß sie den Besuch ihres Vermögensverwalters erwartete?« »Nein«, sagte Ty Hong knapp und abwehrend. »Wurde Miß Morefield heute bei ihrem Bankbesuch begleitet?« »Allerdings. Sie unterhielt sich mit einem jungen, sehr sportlich aussehenden Mann. Er blieb allerdings im Schalterraum zurück, als Miß Morefield hierher zu mir kam.« 8
»Ist Ihnen dieser junge Mann bekannt?« »Leider nein, ich hatte ihn noch nie gesehen. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« »Im Moment nicht«, gab Rander lächelnd zurück. »Mir scheint, alle Fragen werden sich bald beantworten lassen.« »Es war mir eine Ehre und ein Vergnügen, Ihnen geholfen zu haben«, sagte der Bankmanager und geleitete sie zur Tür. Im Korridor lachte Rander leise auf. »Sie werden sich hier in Hongkong aber noch mächtig anstrengen müssen«, sagte er zu Josuah Parker. »Und warum, Sir, wenn mir diese, Frage gestattet ist?« »Ich habe das Gefühl, die Chinesen können sich noch wesentlich umständlicher und höflicher ausdrücken als Sie.« Parker verzichtete auf eine Antwort. Ob er sich Mike Randers Worte durch den Kopf gehen ließ, war fraglich. Im Grunde brauchte er Vergleiche dieser Art ja niemals zu scheuen… * Mike Rander stand am Rand der asphaltierten Fahrbahn und sah sich nach einer Rikschah um. Er hatte keine Lust mehr, durch die sengende Hitze zu laufen. Er sehnte sich nach einem kühlen Drink, nach Schatten und nach einer voll aufgedrehten Klimaanlage. Plötzlich hörte er links neben sich spitze, gellende Schreie. Im gleichen Moment legte sich eine harte Hand auf seine Schulter. Mike Rander wurde ruckartig zurückgerissen, verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Bruchteile von Sekunden später sauste dicht an ihm ein schneller Kleinlastwagen vorbei, der nun zurück auf die Fahrbahn tanzte und im Gewühl der auseinanderspritzenden Menschen verschwand. Mike Rander fluchte in sich hinein. Für Überraschungen dieser Art war die Hitze zu groß. Er hörte hinter sich Josuah Parkers Stimme. »Ich möchte mir zu bemerken erlauben, Sir, daß das kein Zufall gewesen sein kann.« »Helfen Sie mir auf, Parker!« Mike Rander war noch etwas benommen. Parker hatte natürlich recht. Er war gerade einem 9
sehr einfachen, aber auch sehr wirkungsvollen Mordanschlag entgangen. Parker hatte ihm wieder in letzter Sekunde das Leben gerettet. »Einen Moment, Sir.« Parker hatte Rander aufgeholfen. Jetzt zauberte er aus einer seiner Rocktaschen eine schmale Staubbürste. Damit entfernte er einige Schmutzspuren von Randers Anzug. Parker schien den bösen und drohenden Zwischenfall bereits vergessen zu haben. Im Moment interessierte ihn nur Randers Anzug. »Wir dürften bereits unangenehm aufgefallen sein«, meinte der Anwalt und wehrte Parkers Säuberungsversuche ab. »Verschwinden wir, Parker! Ich habe keine Lust, ein Wurfmesser mit meinem Rücken aufzufangen!« »Ich möchte mir die Feststellung erlauben, Sir, daß wir wahrscheinlich seit der Landung beobachtet werden.« »Kaum zu glauben, Parker. Wer weiß denn von unserem Auftrag, vom Termin unseres Eintreffens? Vielleicht ist das eben doch nur ein dummer Zufall gewesen.« »Ich wage zu widersprechen, Sir. Es handelte sich, wie ich mit aller Deutlichkeit feststellen möchte, um einen wohlüberlegten Mordversuch. Wenn ich so frei sein darf, schlage ich vor, die dortige Rikschah zu nehmen und zurück ins Hotel zu fahren.« In der Rikschah zündete sich Mike Rander eine Zigarette an. Erst jetzt spürte er den Schock des Anschlages. Nein, ein Irrtum oder ein Zufall schieden aus. Ein Mord war geplant worden. Man hatte ihn wie den Vermögensverwalter Croften umbringen wollen. Hier sollten Dinge verschleiert werden, die das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen hatten. Wer mochte hinter dem Mord an Croften und hinter diesem Mordanschlag stehen? Etwa Jane Morefield? Nun, sie selbst wußte doch nicht, daß ihre Verwandten Rander und Parker beauftragt hatten, hier in Hongkong nach dem Rechten zu sehen. Wer besaß so erstaunliche Informationen? Wer mochte die Karten mischen…? * Hell und dünn wie die eines Kindes, so war die Stimme des ehrenwerten Li Wang, der sich am Telefon meldete. Er hatte den Vorzug, mit Josuah Parker zu sprechen. Kaum im Hotel ange10
langt, hatte Parker diesen Mann angerufen. »Gern verkaufe ich Ihnen meine Mitarbeit«, sagte Li Wang. »Darf ich Sie in Ihrem Hotel besuchen?« »Wir erwarten Sie«, antwortete Parker würdevoll. »Und von wem erfuhren Sie meine Adresse?« Das Englisch des Chinesen war recht schlecht. »Inspektor McParish.« »Welch eine Ehre«, gab Li Wang zurück. »Er scheint mir vergeben zu haben. Erwarten Sie mich in einer halben Stunde. Ich werde mich beeilen.« Josuah Parker legte den Hörer auf und griff gedankenversunken nach seinem Zigarrenetui. Im letzten Moment, als er sie bereits anzünden wollte, dachte er daran, daß er ja nicht allein war. Mike Rander konnte das von Parker gerühmte Aroma dieser Spezialzigarren nicht vertragen und flüchtete regelmäßig, wenn Parker nur nach diesem Etui griff. Mike Rander befand sich im angrenzenden Badezimmer. Dort stand er unter der Dusche und erfrischte sich. Parker stand am Fenster des Hotelzimmers und schaute auf die See hinaus. Seine sonst so krausen Gedanken liefen auf Hochtouren. Er versuchte, verschiedene Tatsachen und Beobachtungen in ein Schema einzubauen. Am Luftzug spürte er plötzlich, daß die Tür geöffnet wurde. Als er sich umwandte, sah er zwei Männer, die sich in das Zimmer hineinschoben. Es waren Chinesen, klein, mager, drahtig. Sie trugen korrekte Anzüge und sahen auf den ersten Blick recht harmlos aus. Nur die Pistolen, die sie in Händen hielten, waren weniger harmlos. »Was darf und kann ich für Sie tun?« fragte er. Er zuckte mit keiner Wimper, zeigte keine Angst. Vielleicht hatte er sogar keine Angst. Bei Parker war eben alles möglich. »Gutel Lat geben«, sagte der Chinese, der eine knallrote Krawatte trug und den Wortführer machte. »Gutel Lat geben, velstehen?« »Ich kann Ihnen geistig folgen«, erwiderte Parker höflich. »Wenn ich richtig verstanden habe, wollen Sie mir einen guten Rat geben.« »Lichtig«, redete der Chinese weiter. Da er das >R< nicht aussprechen konnte, hielt er sich an das leichtere >LHongkong Silk und Cotton Company< in Wanchai. Rander mußte sich entscheiden. Entweder er kümmerte sich noch mal um die Kleiderfabrik, in die Jane Morefield angeblich als Teilhaberin eingetreten war, oder er fuhr bei untergehender Sonne zum zweitenmal hinaus nach Repulse-Bay. Die zweite Möglichkeit war ihm wesentlich sympathischer. Er kannte den Bungalow, wußte, wo er zu finden war. Die Kleiderfabrik hingegen mußte er erst noch suchen. Dabei konnte unter Umständen viel zuviel Zeit verlorengehen. Blieb also die Repulse-Bay. Damit tat Mike Rander leider genau das, was sich später als falsch und zeitraubend erweisen sollte… * Parker schritt ungehindert die Kellertreppe hoch. Er war übrigens nicht mehr der Butler, der korrekt gekleidet zu sein pflegte. Aus Gründen der Tarnung hatte der Butler sich einen weiten Arbeitskittel übergestreift. Die steife schwarze Melone ver53
lieh ihm ein feistes, dickes Aussehen. Parker hatte sie unter den Kittel gesteckt und auch seinen Universal-Regenschirm verborgen. Er wollte nicht vorzeitig erkannt werden. Sein Trick wirkte. Als er die steile Kellertreppe hinter sich gebracht hatte, landete er in einem Raum, der augenscheinlich als Stofflager diente. Auf langen Wandregalen stapelten sich Stoffballen. Es roch nach Staub und nach frischen Druckfarben. Parker blieb in Deckung des freistehenden Mittelregals und sondierte die Lage. An der Stirnseite des Raumes befand sich eine zweiflügelige Tür aus Stahlblech. Sie war nur angelehnt. Was sich dahinter befand, konnte der Butler von seinem Standort aus nicht genau erkennen. Durch die Oberlichter des Magazins fiel nur noch wenig Licht. Nach Parkers Rechnung mußte die Nacht bald hereinbrechen. Er hielt das für äußerst günstig, um sich abzusetzen. Auf Zehenspitzen pirschte er sich an die Tür heran, öffnete sie vorsichtig. Er sah in einen langgestreckten, niedrigen Raum hinein, in dem Arbeitstisch hinter Arbeitstisch stand. Bei näherem Hinsehen erkannte der Butler Nähmaschinen, die alle durchweg einen recht angestaubten Eindruck auf ihn machten. Hier schien schon seit geraumer Zeit nicht mehr gearbeitet zu werden. Es lag auf der Hand, daß Parker sich in den Arbeitsräumen der >Hongkong Silk and Cotton Company< befand, jener Firma also, der Miß Jane Morefield als Teilhaberin beigetreten war. Diese Firma schien darüber hinaus so etwas wie das Hauptquartier der Gelben Drachen zu sein. Beweise dafür hatte Parker allerdings noch nicht in der Hand. Josuah Parker schlüpfte in den langen Saal hinein, trat an eines der niedrigen, dick verglasten Fenster und spähte nach draußen. Er sah in einen engen, schmutzigen Hinterhof, der mit Unrat und Kisten vollgestopft war. Menschen konnte er nicht entdecken. Es war eine trügerische Ruhe, wie Parker empfand. Er konnte sich nicht vorstellen, daß ihn nur vier Chinesen bewacht hatten. In diesem Bau mußten sich noch weitere Komplicen befinden. Wo sie sich aufhielten, mußte er erst noch herausfinden. Langsam schritt er auf die nächste Tür zu, hinter der Licht schimmerte. Im Näherkommen hörte er das typische Klappern der Mahjong-Steine. Parker verzichtete in Anbetracht der Lage 54
auf seine sonst übliche Diskretion und beugte seinen Kopf zum Schlüsselloch herunter. Was er sah, wirkte nicht gerade ermunternd auf ihn. Hinter der Tür waren im schmalen Ausschnitt des Schlüssellochs etwa vier Männer zu erkennen. Sekunden später waren es sechs Chinesen, die die Plätze austauschten. Es roch nach dem Rauch billiger, strohiger Zigaretten, es roch nach warmem Reisschnaps und nach billigem Fusel. Als nüchterner Beurteiler der Lage kam der Butler zu dem Schluß, daß ihm dieser Ausweg verschlossen blieb. Selbst er mit seinen Tricks hätte sich gegen eine Übermacht von sechs Gegnern kaum durchsetzen können. Es war schon richtig, eines der Fenster zu benutzen und hinunter in den Hinterhof zu steigen. Parker erlebte eine grausame Enttäuschung. Alle Fenster – er hatte vorher nicht darauf geachtet – waren fest vergittert. Um den Nähsaal zu verlassen, mußte er durch den Vorraum, eine andere Lösung bot sich ihm nicht… Parker besaß einen Colt. Er hätte damit einen wilden Feuerzauber veranstalten können. Er hätte mit gezielten Schüssen seine Gegner außer Gefecht setzen können. Das Überraschungsmoment befand sich auf seiner Seite. Er hätte mit einem durchschlagenden Erfolg rechnen können. Doch Parker dachte nicht eine Sekunde lang an solch eine Lösung. Blutvergießen war ihm verhaßt, selbst wenn er es mit brutalen Gangstern zu tun hatte. Er begnügte sich stets damit, seine Gegner mit List und Tricks zur Strecke zu bringen. Das Urteil über sie war dann Sache der zuständigen Richter. Als Henker hatte Josuah Parker sich noch niemals wohl gefühlt. Selbst in dieser Lage, in der es doch um sein Leben ging, ließ er sich etwas einfallen. Er erinnerte sich der Modellbüsten, die am Ende der stillgelegten Fabrikationsbänder standen. Parker ging auf leisen Sohlen zurück in den Saal und besorgte sich einige Ballen Stoff. Schnell und geschickt drapierte er die Stoffbahnen und verwandelte die Modellbüsten in menschenähnliche Gebilde. Er schuf sich so eine Privatarmee von wenigstens sechs Kämpfern, die alle nur den Nachteil hatten, daß sie nicht lebten, sondern nur auf Dreibeinen standen. Parker verteilte seine Einsatzgruppe. Er gruppierte sie an der 55
Tür zum Stofflager und verband sie untereinander mit Zwirnsfäden, die er ja in reichlicher Menge vorfand. Diese Fäden mündeten in einen dicken Strang, den der Butler in der linken Hand festhielt. Nach diesen erbaulichen Vorbereitungen ging er hinter einer Nähmaschine in Deckung und stieß einige gekonnte, schrille Schreie aus. Gleichzeitig feuerte er einen Lockschuß ab. Der Erfolg war frappierend…! Die Chinesen im Vorraum glaubten sofort an einen Überfall, an einen Ausbruchsversuch. Sie unterbrachen augenblicklich ihr Mah-Jong-Spiel und stürzten zur Tür. Als sie sie aufgedrückt hatten, feuerte der Butler den zweiten Schuß ab, der im niedrigen Raum wie die Detonation einer Granate wirkte. Die Chinesen fühlten sich angegriffen. Sie sahen im Halbdunkel die Silhouette der von Parker eingekleideten Modellpuppen und reagierten sehr nachdrücklich. Sie schossen zurück. Teils von der Gewalt der Einschläge, teils von Parker niedergerissen, fielen die wehrlosen und harmlosen Gegner zur Seite. Von der Tür aus mußte es so aussehen, als hätten sie Deckung genommen. Die Chinesen, von einem feisten Burschen kommandiert, gingen zum konzentrischen Gegenangriff über und arbeiteten sich an die Modellpuppen heran. Sie achteten nicht weiter auf die Tür. Parker aber verlor sie nicht aus den Augen. Er wartete, bis der Weg endgültig frei war. Dann schlüpfte er in den Aufenthaltsraum der Gelben Drachen und entledigte sich hier seiner unwürdigen Maskerade. Er fühlte sich erst dann wieder wohl, als er sich die schwarze steife Melone auf den Kopf setzen konnte. Er hängte sich den Bambusgriff seines UniversalRegenschirms über den linken Unterarm und schritt würdevoll von dannen. Sein Weg führte ihn durch Glasverschläge, die vormals als Büros oder Ateliers gedient haben mochten. Jetzt hatte sich hier der Staub fingerdick abgelagert. Parker hielt sich an die Fußspuren auf dem Boden. Sie wiesen ihm den genauen Weg. Nach wenigen Minuten schon befand er sich auf einer schräg nach unten führenden Rampe. Von hier aus hatte er einen wunderbaren Blick auf ein kleines Hafenbecken, das mit Dschunken und Hausbooten dicht gefüllt 56
war. Ein atemberaubender Geruch von Schlick, Schlamm, Unrat, faulen Fischen, von menschlichen Ausdünstungen und von brackigem Salzwasser schlug ihm entgegen. Parker hatte leider nicht genügend Zeit, um das alles richtig auf sich einwirken zu lassen. Im Haus hörte er das Lärmen und Toben der aufgebrachten Chinesen, die inzwischen wohl ihren Irrtum eingesehen hatten. Sie waren auf dem Weg, um Parker doch noch einzufangen. Josuah Parker ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen. Ihn interessierte die Rampe, die hinunter zu einem Kai führte und dicht vor der steil ins Wasser abfallenden Kaimauer endete. Sein stets wacher Geist erkannte neue Möglichkeiten, zumal neben ihm auf der Rampe einige Ölkanister standen, deren Deckel säuberlich ausgeschnitten waren. In diesen Kanistern schillerte dunkles, schlüpfriges, übel riechendes Schmieröl. Parker stieß mit dem Fuß diese Ölkübel um. Die zähe Flüssigkeit schwabbte auf den Zementboden und breitete sich aus. Sie folgte dem Gesetz der Schwerkraft und floß nach unten, der Kaimauer entgegen. Sie verwandelte die schräge Rampe in eine improvisierte Eisbahn, was die Gleitfähigkeit anbetraf. Parker baute sich neben dem Ausgang auf und wartete auf seine Verfolger. Sie brausten aufgebracht heran. Sie gierten danach, sich an Josuah Parker zu rächen. Der erste erschien auf der Rampe. Er hatte sich etwas zu weit vorgewagt. Seine Füße glitten auf dem schmierigen Ölfilm aus. Verzweifelt warf der Mann die Arme in die Luft. Er verlor das Gleichgewicht, setzte sich auf seinen Hosenboden und… segelte in gekonnter Manier hinunter auf die Kaimauer zu. Der zweite Gegner erschien. Auch er glitt auf der schlüpfrigen Bahn aus und folgte seinem Vorgänger. Zwei Chinesen trudelten mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf die steil abfallende Kaimauer zu. Als der dritte Gegner sich anschickte, ebenfalls hinunterzurodeln, landete der erste Sportsmann im aufklatschenden Wasser. Parker war äußerst zufrieden. Ohne sein Dazutun beeilten sich seine Gegner, ins Wasser zu 57
rutschen. Parker blieb nur noch übrig, das Aufklatschen des Wassers zu registrieren. Anhand dieser Methode konnte er genau berechnen, wieviel Gegner sich unfreiwillig im schmutzigen Wasser abkühlten. Nach dem sechsten Aufschlag trat eine kleine Kunstpause ein. Riß die Kette der Gegner damit ab? Parker wandte sich zur Seite. Im Halbdunkel, das bereits herrschte, erkannte er die Figur des kleinen Chinesen, der den bestickten Seidenmantel trug. Es war genau der Mann, mit dem Parker sich durch die Gitterstäbe hindurch unterhalten hatte. Erstaunt und nicht verstehend hielt dieser Oberdrache Ausschau nach den Häuptern seiner Lieben. Wahrscheinlich konnte er sich nicht erklären, wo sie geblieben waren. Parker sorgte für Aufklärung und Selbststudium. Mit dem Bambusgriff seines Regenschirms hakte er hinter den linken Fußknöchel des Oberdrachens. Dann ein kurzer Ruck… und der Chinese stieß einen verzweifelten Schrei aus. Er warf ebenfalls die Hände in die Luft, fand natürlich keinen Halt und rutschte dann über den Ölfilm ebenfalls hinunter in das aufklatschende Wasser. Butler Parker war äußerst zufrieden. Mehr konnte er nun wirklich nicht für seine Gegner tun. Er schritt würdevoll zurück in den langgestreckten Bau und suchte nach einem ihm genehmen Weg, um diese Räumlichkeiten zu verlassen. Doch selbst nach diesem an sich recht amüsanten Ausgang des Treffens verzog sich keine Miene in seinem Gesicht. Er hielt ja stets auf Würde und Selbstbeherrschung… * Die Sonne war längst untergegangen, als Anwalt Mike Rander an der Repulse-Bay eintraf. In Victory City hatte er sich einen Wagen gemietet. Er war unabhängig, brauchte keine Rücksichten zu nehmen. Mike Rander nutzte diese Unabhängigkeit aus und fuhr an der Straßenfront des Bungalows vorbei, in dem er bereits schon einmal auf das Erscheinen von Jane Morefield gewartet hatte. Das Haus machte einen vollkommen friedlichen Eindruck. Einige Fenster zur Straße hin waren erleuchtet. 58
Rander dachte natürlich an den Panther, von dem sein Butler ihm berichtet hatte. Es ging also nicht an, einfach auf dieses Grundstück überzuwechseln und sich an das Haus heranzupirschen. Er mußte mit dieser großen, lebensgefährlichen Katze rechnen, gegen die kaum ein Kraut gewachsen war. Aber wie sollte er es anstellen, einen Blick auf die Bewohner des Bungalows zu werfen? In einer kleinen Seitenstraße hielt er den Wagen am und überlegte. Er versuchte, sich in die Gedankenwelt seines Butlers zu versetzen. Wie hätte Josuah Parker dieses Problem gelöst, das war für Mike Rander die große und entscheidende Frage. Nach wenigen Minuten fand er eine brauchbare Lösung. Es kam darauf an, seine Feuerkraft zu verstärken. Dazu brauchte er natürlich keine Schußwaffe zusätzlich, sondern nur einige handliche Feuerwerkskörper. Solche Dinge ließen sich gerade hier in Hongkong leicht beschaffen zumal die Chinesen für ihre Vorliebe für Feuerwerk aller Art sattsam bekannt waren. Mike Rander steuerte seinen Wagen zurück in die Bucht, ließ sich von einem Verkehrspolizisten den richtigen Weg zeigen und stand dann in einem einschlägigen Fachgeschäft. Ein sich immer wieder devot verbeugender Chinese bediente ihn mit Sachkenntnis und innerer Anteilnahme. Mike Rander erstand ein gutes Dutzend Kanonenschläge, deren Schwarzpulverlunten er später auf die Länge eines knappen Dezimeters verkürzte. Nach dem Anzünden solch einer Lunte mußte er sich beeilen, dieses höllische Ding schleunigst loszuwerden, wenn es nicht in seiner Hand platzten sollte. Bewaffnet mit dieser Spezialausrüstung fühlte der Anwalt sich stark genug, den Boden des Bungalowgrundstücks zu betreten. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß seine Schußwaffe in Ordnung war, riskierte er es. Die Nacht war wunderbar geeignet, dieses Unternehmen zu unterstützen. Von See her eilten dunkle, regengefüllte Wolken auf das Land zu. Eine frische, kühle Brise machte sich breit. Der Anwalt kam gut voran. Der weiche, kurzgeschorene Rasen dämpfte seine Schritte fast bis zur Lautlosigkeit. Die vielen Büsche und Sträucher deckten ihn gegen Sicht. Von einem blutgierigen Panther war vorerst weit und breit nichts zu sehen und zu hören. 59
Da war auch schon das erste Erdgeschoßfenster… Mike Rander schob den Kopf hoch und warf einen Blick in die erleuchtete Halle. Die attraktive Chinesin May Tai Hing stand vor einem kleinen Wandschrank und füllte ein Lacktablett mit Gläsern. Sie schien einige Erfrischungsdrinks zu mixen. Sie war nicht allein in der Halle. In der Nähe der geöffneten Verandatür waren zwei Chinesen zu erkennen, die aus dickstieligen Pfeifen rauchten. Sie sahen äußerst gelassen und zufrieden aus. Ein plärrender Lautsprecher sorgte für Musik. Für Randers Ohren waren die Tonfolgen eine einzige Beleidigung, die Chinesen aber genossen ihre Heimatmusik und sahen kaum hoch, als sie von May Tai Hing bedient wurden. Ein einziges Glas blieb zurück auf dem Tablett. Die Chinesin trug es zur Treppe, die von der Halle aus hinauf ins Obergeschoß führte. Nach wenigen Sekunden verschwanden ihre Beine aus Mike Randers Gesichtsfeld. Der junge Anwalt dachte selbstverständlich an Jane Morefield. Augenscheinlich wurde sie in den oberen Räumen der Villa festgehalten. Rander verließ das Fenster. Er suchte nach einem passenden Aufstieg. Die schlanken Säulen eines Balkons boten sich dazu an. Mike Rander, ein durchtrainierter Sportsmann, schätzte ab. Nein, es mußte eine Kleinigkeit sein, den Balkon zu erklettern. So etwas pflegte er mit der linken Hand zu erledigen. Er brauchte nur noch zu warten, bis May Tai Hing wieder nach unten in die Halle ging. Nach einer kurzen Wartepause machte sich Rander an den Aufstieg. Schnell und geschmeidig benutzte er eine der dünnen Säulen als Kletterstange. Nach knapp zwei Minuten konnte er sich bereits über die Balkonbrüstung schwingen. Auf Zehenspitzen schlich er sich an das nur halb geöffnete Fenster heran. Im Zimmer war es dunkel. Hielt sich irgendeine Person in diesem Raum auf? Rander zog die Tür weiter auf, duckte sich und betrat das Zimmer. In der Hand hielt er seinen schußbereiten Revolver. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er die Umrisse der spärlichen Einrichtung. Sie bestand aus ei60
nem Bett, einem kleinen Wandschrank und aus einem Tisch samt Sessel. Es roch nach kaltem Rauch. Der Raum schien demnach von einem Mann bewohnt zu werden. Der Anwalt näherte sich der Tür, die wahrscheinlich hinaus auf einen Korridor führen mußte. Er öffnete sie vorsichtig und zuckte fast zurück. Es lag nicht am Licht, das auf sein Gesicht fiel. Es hing mit der Chinesin May Tai Hing zusammen, die dicht an dieser Tür vorbeischritt und das leere Tablett unter den Arm geklemmt hatte. Sie hatte nichts bemerkt. Sie ging die Treppe hinunter und verschwand unten in der Halle. Rander riskierte einen Blick auf die Galerie. Es gab einige Türen, die sich ihm anboten. Hinter welcher aber wurde Jane Morefield festgehalten? Aus welchem Zimmer mochte die Chinesin gekommen sein? Rander huschte hinaus auf die Galerie. Von hier aus konnte er hinunter in die große Wohnhalle des Bungalows sehen. Er preßte sich eng gegen die Wand und hielt auf einen Vorhang zu, der die Galerie unterteilte. Hinter diesem Vorhang befand sich nur noch eine einzige Tür. Sein Gefühl sagte ihm, daß er das Ziel erreicht hatte. Vorsichtig drückte er die Türklinke herunter. War die Tür verschlossen? Ließ sie sich sofort aufstoßen? Mike Rander schwitzte Blut und Wasser. Im Öffnen von versperrten Türen besaß er nämlich keineswegs jene Fertigkeit, die seinen Butler auszeichnete. Erleichtert atmete er auf. Die Tür ließ sich aufziehen. Er roch sofort das süßliche, schwere Parfüm, das auf eine Frau hindeutete. * Josuah Parker wußte inzwischen, daß die Gelben Drachen ihn nicht belogen hatten. Ein Anruf im >Queens< hatte gezeigt, daß Anwalt Mike Rander das Hotel verlassen hatte und zum Flugplatz Kaitak gefahren war. Der Butler sparte sich weitere Anrufe. Für ihn war es klar, daß Mike Rander Hongkong verlassen hatte. Was hätte der Anwalt sonst auch tun sollen, wenn er das Leben 61
seines Butlers hatte retten wollen? Er war schamlos erpreßt worden. Josuah Parker fand die Handlungsweise seines jungen Herrn als vollkommen richtig. Er hatte es überdies nicht besonders gern, wenn Mike Rander sich allzu heftig mit Gangstern einließ. In solchen Fällen kam er sich stets wie eine Glucke vor, die auf ihr Lieblingsküken aufpassen muß. Ja, Parker war eigentlich recht froh, daß er nun allein handeln konnte. Er brauchte keine Rücksichten mehr zu üben, er konnte sich frei entfalten… Es war klar, daß er den Kampf mit den Gelben Drachen nicht aufsteckte. Diese Burschen hatten ihn unnötig gereizt. Sie bestanden auf einer Kraftprobe, sie sollten sie frei Haus geliefert bekommen… Parker verzichtete darauf, sich mit Inspektor McParish in Verbindung zu setzen. Offizielle Hilfe brauchte er nicht. Sie hätte ihm nur Beschränkungen auferlegt. Nein, Josuah Parker wollte weiterhin als Einzelgänger auftreten und wirken. Wie Mike Rander überlegte auch er, wo er den Hebel ansetzen konnte. Der geheimnisvolle Bungalow an der Repulse-Bay bot sich ihm freundlichst an. Dort war tatsächlich noch nicht genügend nachgeforscht worden. Dort schien Miß Jane Morefield auch festgehalten zu werden, falls sie wirklich noch lebte. Nach den Zwischenfällen in der Kleiderfabrik war nicht mehr damit zu rechnen, daß die Gelben Drachen dort ihren Stützpunkt unterhielten. Sie mußten schließlich mit der Möglichkeit rechnen, daß Parker die Polizei alarmierte und daß dort dann eine Razzia stattfand. Blieb als Alternative der gut informierte Chinese Li Wang. Übrigens ein undurchschaubarer, rätselhafter Mann, der für zwei Seiten zu arbeiten schien. Hatte es irgendeinen Sinn, sich mit ihm in Verbindung zu setzen? Konnte er echte Informationen über Miß Jane Morefield und die Gelben Drachen liefern? Butler Parker entschied sich, nach Repulse-Bay zu fahren. Der Bungalow zog ihn magnetisch an. Dort hoffte er des Rätsels Lösung zu finden. Nachdem er sich entschieden hatte, machte er sich sofort an die Arbeit. Er brauchte einen Wagen, um die Insel schnell zu durchqueren. Er brauchte einige zusätzliche Ausrüstungsgegenstände, um den Kampf mit den Gelben Drachen aufnehmen zu können… 62
* Anwalt Mike Rander trat vorsichtig in das dunkle Zimmer, wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und nutzte die Zwangspause, um sich mit seinen Ohren zu informieren. Tiefe, feste, ein wenig rasselnde Atemzüge wiesen ihm den Weg ans Bett. Es stand seitlich am Fenster. Rander ging darauf zu. Er war sicher, Jane Morefield anzutreffen. Er malte sich bereits aus, wie er die junge Amerikanerin retten wollte. Er lachte in sich hinein, wenn er an den Butler dachte. Es ging also auch ohne ihn, ja, jetzt hatte er es in der Hand, ihn zu erreichen. Für Mike Rander war es sicher, daß auch Josuah Parker in diesem Bungalow festgehalten wurde. Es war ein Aufwaschen, auch ihn zu befreien. Rander hatte das Bett erreicht und beugte sich über die schlafende Person. Noch wußte er nicht, mit wem er es zu tun hatte. Daß es eine Frau sein mußte, sah er an dem langen Haar, das auf dem Kopfkissen zu sehen war. »Miß Morefield…«, flüsterte er leise und rüttelte die Frau an der Schulter. »Miß Morefield, wachen Sie auf…« Die Frau reagierte ungewöhnlich. Sie schrie schrill auf, setzte sich vehement hoch und warf sich im gleichen Moment auf den reichlich verdutzten Anwalt. Sie klammerte sich an seinem Jackett fest und stieß unregelmäßige, spitze Schreie aus’, die auf des Anwalts Ohren wie Alarmsirenen wirkten. »Seien Sie doch still!«, flüsterte Rander verzweifelt. »Ich bin ein Landsmann von Ihnen, Miß Morefield, ich will Sie befreien…!« Die Frau schrie weiter. Mike Rander tastete mit der freien Hand nach der Nachttischlampe, schaltete das Licht ein und… hätte beinahe selbst einen irren Schrei ausgestoßen. Eine Art Mumie schien sich an ihm festgeklammert zu haben. Das zerknitterte Gesicht einer uralten Chinesin hatte sich zu einem einzigen Schrei verformt. Der zahnlose Mund war weit geöffnet. Ein fauliger Geruch entströmte diesem Gehege. Mike Rander merkte viel zu spät, daß er sich sehr geirrt hatte. 63
Er merkte aber auch, daß die alte Chinesin die Kräfte einer zähen, alten Katze besaß. Als sie sogar Anstalten machte, ihm das Gesicht zu zerkratzen, verlor Mike Rander seinen Rest von Humor. Er stieß das alte Weib zurück in die Kissen und wandte sich dann zur Flucht. Es wurde auch höchste Zeit, daß er sich absetzte, denn die irren, spitzen Schreie der Mumie mußten unten in der Wohnhalle gehört worden sein. Rander rannte zur Tür. Als er auf der Galerie war, sah er bereits die ersten beiden Chinesen, die die Treppe hinaufliefen. Der Anwalt griff nach einem Feuerwerkskörper und zog gleichzeitig seine Schußwaffe. Er feuerte einen Warnschuß ab und zwang die beiden Chinesen in Deckung. Die kurze Verschnaufpause nutzend, zündete er die Lunte des Feuerwerkskörpers an und warf das gefährliche Ding hinunter in die Halle. Noch in der Luft barst der Feuerwerkskörper auseinander. Es gab einen riesigen Knall. Der Hersteller dieser Ware war ein Meister seines Fachs und hatte mit Rohmaterialien bestimmt nicht gespart. Kurz, die beiden Chinesen dachten an Bomben und Granaten. Sie drehten sich um und rannten zurück in die Halle. Mike Rander brannte noch zwei weitere Feuerwerkskörper an und warf sie in die Halle. Die Detonation ausnutzend, rannte er zurück in das Balkonzimmer, lief durch bis zum Balkon und rutschte an der schlanken Säule hinunter in den Garten. Er mußte schnell um sein Leben laufen. Die Gelben Drachen waren ausgesprochen verärgert darüber, daß ihre Ruhe so jäh gestört worden war. Sie vermuteten vielleicht auch einen Angriff eines Konkurrenzunternehmens. Sie scheuchten jeden ihrer Leute hoch und wollten Rander den Weg zurück zur Straße abschneiden. Aber sie hatten es schließlich mit einem gewissen Mike Rander zu tun, der von seinem Butler sehr gut instruiert worden war. Mike Rander ließ sich nicht verscheuchen, nicht abdrängen oder in die Enge treiben. Seine Schußwaffe richtig einsetzend, gelang es ihm, an den Zaun zu kommen. Er schwang sich hoch, landete glücklich auf der Straßenseite und rannte auf seinen in einer Seitenstraße abgestellten Wagen zu. Hinter sich hörte er auf dem Asphalt das Klatschen nackter Fuß64
sohlen. Die Gelben Drachen entwickelten sportliche Talente und wollten Mike Rander um jeden Preis einholen. Noch war er schneller. Keuchend, mit pfeifenden Lungen nach Luft schnappend, warf er sich in den Wagen. Im Rückspiegel sah er die Gestalten der Gelben Drachen, die den Vorsprung des Anwalts fast schon wettgemacht hatten. Rander ließ den Motor anspringen und tat das, was die Gangster bestimmt nicht erwarteten. Er schaltete den Rückwärtsgang ein, ließ die Kupplung schleifen und gab sehr viel Gas. Laut heulte der schwere Motor auf. Ruckartig ließ Mike Rander die Kupplung kommen. Der Wagen tat einen Satz nach hinten. Dann rauschte er mit schneller Fahrt und singendem Getriebe genau zwischen die geschlossen anpreschenden Gelben Drachen. Die Chinesen spritzten auseinander. Sie behinderten sich dabei gegenseitig. Sie stießen sich um und purzelten übereinander. Sie waren einfach nicht in der Lage, ihre Schußwaffen richtig anzusetzen. Mike Rander steuerte den Wagen in verwegenen Schlangenlinien auf eine Kreuzung zu. Er riß das Steuer herum, der Wagen schwenkte mit dem Heck zuerst in die Seitenstraße ein. Rander legte den Vorwärtsgang ein, gab Gas und ließ die Pneus auf dem Asphalt aufrauschen. In gekonntem Schnellstart fuhr er dann hinunter zur Repulse-Bay. Verfolgt wurde er nicht. Die Gelben Drachen mochten sich von ihrem Schrecken noch nicht erholt haben. Sie verzichteten darauf, eine Hetzjagd zu veranstalten. Rander konnte das Tempo etwas drosseln. Als die ersten hellerleuchteten Hotels an der Bay in Sicht kamen, war Randers Laune tief unter den Nullpunkt gesunken. Er war sich klar darüber, alles verpatzt zu haben. Die Gelben Drachen waren gewarnt. Sie wußten wahrscheinlich inzwischen, wer der Eindringling gewesen war. Jetzt ging es nicht mehr um Jane Morefield. Jetzt handelte es sich ausschließlich um Butler Josuah Parker. Er war und blieb das Faustpfand in der Hand dieser Gangster. Mike Rander hatte ja keine Ahnung, daß sein Butler bereits auf dem Weg nach Repulse-Bay war. Er konnte nicht ahnen, daß sich Josuah Parker einiges vorgenommen hatte… 65
* Josuah Parker wiederum wußte nicht, was sich im Bungalow an der Repulse-Bay zugetragen hatte. Vollkommen arglos traf er gegen Mitternacht dort ein. Wie sein junger Herr, Mike Rander, sondierte auch er erst mal die Lage. Daß das Innere des Bungalows einem aufgescheuchten Ameisenhaufen glich, war von der Straße aus nicht zu sehen. Daß sich auf dem Grundstück eine wilde Hetzjagd abgespielt hatte, war dem friedlichen Rasen nicht anzusehen. Josuah Parker mußte einfach glauben, daß die Gelben Drachen im Bungalow ahnungslos waren und sich vollkommen in Sicherheit wiegten. Die von See her kommende leichte Brise hatte sich weiter aufgefrischt. Ein bereits steifer Wind wehte über die Berghänge und zwang die Bäume zu tiefen, mehr als nur höflichen Verbeugungen. Es roch nach Sturm. Josuah Parker mußte sich die steife schwarze Melone tief in die Stirn drücken, als er den Mietwagen verließ. Die harten stoßweise kommenden Böen rissen an seinem Universal-Regenschirm. Parker kämpfte sich gegen den Wind an das Grundstück heran und blieb in der Nähe des Tores im Schatten eines Baumes stehen. Mondlicht hatte er kaum noch zu fürchten. Immer nur für wenige Sekunden war die silberne Scheibe hinter den dunklen regenschwarzen Wolken zu sehen. Der Butler zog seinen Zigarrenabschneider aus der Westentasche. Einige wenige Handgriffe genügten, um aus diesem Schneidinstrument ein kleines einäugiges Fernglas zu machen. Damit beobachtete er den Eingang des Bungalows. Er hatte sich dazu genau den richtigen Zeitpunkt gewählt. Ein amerikanischer Kombiwagen erschien auf der Vorderseite des Hauses. Der Fahrer – er trug die landesübliche chinesische Tracht: blauer Kittel und weite, sackartige Hosen verschwand im Haus. Josuah Parker kam voll auf seine Kosten. Schon nach wenigen Minuten erschien eine sehr gut aussehende Chinesin. Sie trug den kleidsamen Cheongsam und hatte sich ein Tuch um den Kopf gebunden. In ihrer Begleitung befand sich eine junge, blondhaarige Dame, die etwa 21 oder 22 Jahre alt sein 66
mochte. Sie war nicht ganz sicher auf ihren Beinen. Diese blonde Frau wurde von der Chinesin in den Wagen gesetzt. Dann stieg der Fahrer zu und wartete, bis seine Landsmännin neben ihm Platz genommen hatte. Der Wagen schickte sich an, den Bungalow zu verlassen. Josuah Parker schaltete augenblicklich. Das blonde Haar hatte ihn alarmiert. Alles sah danach aus, als ob Jane Morefield ein neues Quartier beziehen wollte. Hier bot sich eine wunderbare Gelegenheit, den neuen Aufenthaltsort festzustellen. Butler Parker hatte es eilig, um zurück zu seinem Mietwagen zu gelangen. Er verzichtete dabei sogar auf die sonst übliche Würde. Ihm kam es nur darauf an, nicht den Anschluß zu verlieren. Er verlor ihn nicht… Als der große, schwere Kombiwagen auf die Straße hinausfuhr, saß der Butler bereits am Steuer. Mit ausgeschalteten Scheinwerfern hängte er sich an seinen Schrittmacher. Aufkommender erster Regen erschwerte zwar die Sicht, sorgte andererseits aber auch dafür, daß Parkers Wagen unentdeckt blieb. Mit traumwandlerischer Sicherheit blieb der Butler an seinem Objekt kleben. Es gehörte sehr viel fahrerisches Geschick dazu, sich nicht abschütteln zu lassen, zumal der Kombiwagen ohne Hemmungen und mit großer Schnelligkeit gefahren wurde. Die roten Schlußlichter waren für Parker der einzige Anhaltspunkt. Nach ihnen konnte er sich richten. Da Parker sich über die Form der Insel Hongkong genau unterrichtet hatte, wußte er auch bald, wohin die Fahrt ging. Wenn ihn nicht alles täuschte, wurde der nahe Hafen Aberdeen angesteuert. Parker wußte nur vom Hörensagen, daß dort ganze Flotten von Dschunken und Hausbooten versammelt waren. Um einen Menschen verschwinden zu lassen, um alle Spuren zu beseitigen, konnte man sich keinen besseren Platz aussuchen. Während der Fahrt überlegte der, Butler, welche Möglichkeiten sich für ihn ergaben. Wurde die blonde Frau, die augenscheinlich eine Amerikanerin war, im Gewirr der Hausboote versteckt, dann fiel es ungemein schwer, sie zu finden. Die Chinesen hielten bestimmt wie Pech und Schwefel zusammen. Schon aus Angst vor den Gelben Drachen würden sie kein Wort sagen. Warum also warten, wohin man die blonde Frau brachte? War 67
es nicht wesentlich besser, sie schon während der Fahrt nach Aberdeen Harbour zu befreien? Parker hatte es mit einem Chinesen zu tun. Die Chinesin selbst zählte wohl nicht. Die Chancen sahen also recht günstig aus. Parker sah in den Rückspiegel. Hinter ihm auf der gebirgigen Küstenstraße war alles dunkel. Er schien seinerseits also nicht beschattet zu werden. Auch das Wetter spielte mit. Hier auf der freien Küstenstraße waren die harten Windböen besonders deutlich und stark zu spüren. Sie schüttelten den Wagen durch und brachten ihn mehr als einmal aus dem Kurs. Parker ließ sich dadurch kaum erschüttern. Dieses Wetter paßte zu seinem Plan, den er sich innerhalb weniger Sekunden ausdachte. Wie ein Phantom wollte er auftauchen und die blonde Frau zum Umsteigen in seinen Wagen veranlassen. Nach einer Straßenkehre schaltete er die Wagenlichter ein. Mit voll aufgedrehten Scheinwerfern und steigender Geschwindigkeit verkürzte er den Abstand zu seinem Schrittmacher. Nach wenigen Minuten konnte er ihn auf einer langen Geraden reibungslos überholen. Parker baute seinen Vorsprung weiter aus. Als die nächste Kehre in Sicht kam, drosselte er das Tempo, bremste scharf ab und stellte den Wegen quer zur Straße. Er sorgte dafür, daß die Scheinwerfer auf ein blankes Felsstück fielen und der Lichtreflex seinen Wagen anstrahlte. Parker stieg aus dem Wagen und ging in Deckung. Der Wind war so heftig geworden, daß das Geräusch des nachkommenden Kombis nicht zu hören war. Dann tauchten plötzlich die Scheinwerfer auf. Sekunden später preschte der Wagen um die Straßenkehre. Der Fahrer sah das Hindernis auf der Bahn und vollführte eine Vollbremsung. Dicht vor Parkers Wagen kam der Kombi zum Stehen. Der Fahrer hupte ungeduldig, stieg aber noch nicht aus. * Josuah Parker dachte natürlich nicht daran, sein Versteck im Straßengraben zu verlassen. Er schlich sich ein paar Meter hinter den Kombi und näherte sich in gebückter Haltung dem Wagen. 68
Der Fahrer verlor die Geduld. Er klinkte die Wagentür auf und stieg aus. Langsam und vorsichtig schritt er auf den leeren Wagen zu, der quer zur Straße stand. Der Chinese mochte mißtrauisch sein. Wahrscheinlich hatte er sich auch bewaffnet. Parker war so einsichtig, mit solch einer Möglichkeit zu rechnen. Wenig später hatte der Chinese sich vergewissert, daß der Wagen tatsächlich leer war. Er tat etwas, womit Josuah Parker nicht gerechnet hatte. Der Mann setzte sich ans Steuer, ließ den Motor anspringen und schickte sich an, das Hindernis an den Straßenrand zu fahren. Parker war erfreut, daß der Chinese solchermaßen reagierte. Er kam seinen Absichten sehr entgegen. Der Butler genierte sich nicht, sich an das Steuer des Kombi zu setzen. Er hörte hinter sich einen überrascht Aufschrei, hatte aber keine Zeit, beruhigende Worte von sich zu geben. Nun kam es erst mal darauf an, den Wagen wegzuschaffen. Da der Motor des Kombi noch lief, ergaben sich keine Schwierigkeiten. Sobald der ahnungslose Chinese den sperrenden Wagen etwas an die Seite gelenkt hatte, gab Josuah Parker Gas und brauste los. Gleichzeitig spürte er einen Schlag auf den Kopf. Die Chinesin hatte mit einem harten Gegenstand zugeschlagen und wollte den Butler damit außer Gefecht setzen. Sie konnte natürlich nicht wissen, daß Parkers schwarze Melone mit solidem Stahlblech gefüttert war. Diese Kombination von Kopfbedeckung und Sturzhaube ließ sich von dem Schlag überhaupt nicht beeindrucken. Auch Parker nicht. Er preschte durch die Lücke auf der Fahrbahn, schaltete den Kombi schnell hoch und entfernte sich vom Tatort. Parker hörte hinter sich einige Schüsse. Der Chinese hatte den Trick endlich bemerkt und wollte retten, was noch zu retten war. Zu spät…! Die Schüsse pfiffen wirkungslos durch die dunkle, stürmische Nacht. Josuah Parker konnte das Tempo herabmindern. »Ich möchte mich in aller Form vorstellen«, sagte er zu seinen beiden Begleiterinnen. »Mein Name ist Josuah Parker. Ich habe den Vorzug, Mr. Mike Rander als Butler dienen zu können. Sie brauchen nichts zu befürchten, meine Damen, ich bin mit den besten Absichten gekommen. Ich möchte vorschlagen, daß Sie 69
sich vorerst noch etwas gedulden. Sobald ich Sie aus der mittelbaren Gefahrenzone herausgebracht habe, werde ich mit näheren Erklärungen aufwarten.« Parker wollte sich zufrieden im Fahrersitz zurechtsetzen. In diesem Augenblick schien in seinem Kopf eine Granate zu explodieren. Er fühlte noch einen schmerzhaften, harten Schlag am Hals und wurde dann augenblicklich besinnungslos… * Mike Rander setzte zu einem zweiten Angriff an. In Repulse-Bay hatte er sich ein kleines Motorboot gemietet. Er wollte noch mal zum Bungalow, in dem er seinen Butler Josuah Parker vermutete. Diesmal wollte er es von der Seeseite her versuchen. Im Wetter hatte er sich allerdings böse getäuscht. Schon nach zehn Minuten wurde sein kleines Boot von der immer stärker werdenden auflaufenden Flut durchgeschüttelt. Der böige Wind stürmte die Wogen auf. Wie eine hilflose, kleine Nußschale tanzte das Boot auf den Wellen. Mike Rander war Sportsmann. Angst hatte er nicht. Zu Hause, drüben in den Staaten, betätigte er sich gern auf dem Wasser. Mit einem Boot wußte er umzugehen. Doch das hier war erheblich anders. Meterhoch türmten sich die Wellen auf. Rander schwitzte, obwohl das Wasser angenehm kühl war. Wie er am Bootssteg des Bungalows anlegen sollte, war ihm unklar. Es bestand die größte Gefahr, daß ihn die Brandung gegen die Felsen schmetterte. Er hatte riesiges Glück. Beim Einbiegen in die kleine Bucht geriet er in den Windschatten des immer stärker aufkommenden Sturms. Hier im Schutz der vorspringenden Felsen war das Wasser erstaunlich ruhig. Rander wischte sich das Salzwasser aus dem Gesicht. Er glaubte einen Schatten auf dem Wasser gesehen zu haben. Er riskierte es, sich aufzurichten. Blitzschnell mußte er sich wieder auf den Boden des Bootes zusammenkauern, sonst wäre er ins Wasser geschleudert worden. Der kurze, schnelle Blick aber hatte bereits genügt. Er hatte die Umrisse einer Dschunke erkannt, die die Bucht ver70
ließ. Jetzt tauchte sie auf einem hohen Wellenkamm auf. Eine riesige, unsichtbare Hand schien die Dschunke zum Himmel hochtragen zu wollen. Sekunden später verschwand das Fahrzeug in einem tiefen Wellental und war nicht mehr zu sehen. Rander war es unmöglich, sich auf den Kurs der Dschunke zu legen. Dazu war die Entfernung zu groß. Im Gegensatz zu ihr war es auch ausgeschlossen, sich hinaus auf das aufgewühlte Meer zu wagen. Mit größter Sicherheit wäre er umgeschlagen. Er mußte froh sein, als er nach einer Viertelstunde am Bootssteg festmachen konnte. Bis auf die Haut durchnäßt, stieg er über die steile Betontreppe hinauf zum Bungalow. Seine Gestalt wurde von den harten, fast schmerzhaften Windschlägen erfaßt. Der Sturm heulte um die Klippen. Rander mußte sich am Eisengeländer festklammern, um nicht von der Treppe geweht zu werden. Mühsam kämpfte er sich nach oben. Mit seinen Feuerwerkskörpern konnte er nicht rechnen. Sie waren völlig durchnäßt worden. Er warf sie als unnötigen Ballast ab. Er hoffte, auch ohne sie zurecht zu kommen. Nach dem Zwischenfall im Bungalow rechneten die Gelben Drachen bestimmt nicht mehr mit seiner Rückkehr. Rander erreichte den Garten. Er legte eine kleine Verschnaufpause ein. Die ersten Blitzbündel zuckten vom Himmel und erleuchteten alles taghell. Rander sprang von Deckung zu Deckung. Er näherte sich der Rückseite des Bungalows, der übrigens nicht ein einziges, erleuchtetes Fenster aufwies. Sollten die Gelben Drachen sich bereits zur Ruhe gelegt haben? Mike Rander wurde ein ungutes Gefühl nicht los. Er mußte an die auslaufende Dschunke denken. Hoffentlich hatten die Gelben Drachen sich nicht abgesetzt. Plötzlich zuckte Rander zusammen. Ein hartes, explosionsartiges Geräusch traf seine Ohren. War auf ihn geschossen worden? Rander ging in Deckung, lauschte, wartete ab. Pfeifend strich der Sturm um die Hausecken. Er heulte über das flache Dach des Bungalows und peitschte die Bäume und Sträucher. Der Regen begann stärker zu werden. Da, wieder dieses knallende Geräusch…! Doch nun war der junge Anwalt beruhigt. Ein loser Fensterläden 71
wurde mit großer Gewalt gegen die Hauswand geschleudert. Mike Rander folgte diesem Geräusch. Bald schon stand er vor einem Fenster, dessen Flügel aufgedrückt und dessen Glas zertrümmert war. Da sich seit einigen Minuten keiner im Haus darum gekümmert hatte, verdichtete sich sein Verdacht, daß das Haus geräumt worden war. Der Anwalt stieg durch das zertrümmerte Fenster, ging vorsichtig durch den Raum und erreichte die Wohnhalle. Als er die Tür aufdrückte, hörte er ein nervenzerfetzendes Stöhnen und Wimmern. Doch es war nur der Wind, der durch das Haus strich. Rander schaltete das Deckenlicht ein. Die Wohnhalle war leer. Sie war buchstäblich leer. Die Gelben Drachen hatten nicht ein einziges Möbelstück, nicht einen Wandbehang oder Teppich zurückgelassen. Rander durchsuchte alle übrigen Räume. Auch sie waren leer und ausgeräumt worden. Die Gelben Drachen hatten gründliche Arbeit geleistet. Der Anwalt interessierte sich selbstverständlich für den Raum, den er erst vor knapp einer Stunde besucht hatte. Daß auch er leer war, verstand sich am Rande. Hinter diesem Raum aber, neben dem Bett, in dem er von der alten zahnlosen Chinesin schockiert worden war, befand sich die Tür zu einer kleinen Kammer. Ob Jane Morefield hier festgehalten worden war? Spuren waren nicht zu finden. In der kleinen Kammer roch es jedoch nach kaltem Zigarettenrauch und nach einem schwachen Hauch Parfüm. Als Mike Rander zurück auf die Galerie ging, hörte er unten in der Wohnung ein schauriges Brüllen. Er beugte sich über die Brüstung der Galerie. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Nun, der Panther, der unten in der Halle unruhig umherstrich, war kein Trugbild. Die Gelben Drachen hatten ihre schwarze Hauskatze zurückgelassen. Oder befanden sich dennoch einige Gangster im Haus? Vielleicht in den Kellerräumen? Bewachten sie dort den entführten Butler? Rander rief den Panther an. Das Tier nahm sofort den Kopf hoch, erkannte ein mögliches Opfer und sprang mit federnden, weichen Sätzen über die breite Treppe nach oben. Rander behielt die Nerven. Auch von seiner Schußwaffe machte er keinen Gebrauch. 72
Er wartete, bis das Tier ihn fast erreicht hatte. Dann aber sprang er schnell in eines der Zimmer, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Der Panther, hungrig und versessen darauf, ein verspätetes Abendessen einzunehmen, folgte prompt. Rander wischte durch die angrenzende Tür ins Nebenzimmer und schloß hinter sich ab. Fauchend sprang der schwere Panther an der Tür hoch. Er hatte Menschenwitterung aufgenommen und wollte nicht einsehen, daß vorerst nichts zu machen war. Mike Rander lief durch die Tür zurück auf die Galerie, ging auf Zehenspitzen zu der Tür zurück, durch die er den Panther in das erste Zimmer hineingelockt hatte. Leise und verstohlen zog er die halb geöffnete Tür zu. Übrigens im richtigen Augenblick, denn das Tier hatte es sich anders überlegt und wollte zurück auf die Galerie. Es kam zu spät. Vor seiner Nase schloß sich die schwere Tür. Mike Rander drehte den Schlüssel im Schloß herum, klopfte sich durchaus zufrieden die Hände ab und stieg nach unten. Jetzt sollten die Kellerräume an die Reihe kommen. Insgeheim hoffte er noch immer, den Butler zu finden… * In Aberdeen Harbour drängten sich die Dschunken und Hausboote schutzsuchend zusammen. Das Meer war auch hier aufgewühlt, trotz der vorgelagerten Insel Aplchau. Im Licht der Hafenbeleuchtung glich das Wasser flüssigem Blei. Niedrige Regenwolken strichen auf das Land zu. Selbst ein unerfahrener Tourist hätte längst gemerkt, daß einer jener berüchtigten Taifune im Anmarsch war. Die Straßen waren längst geräumt worden. Chinesen mühten sich mit dicken Stricken ab, die Hausdächer zu sichern. Was nicht niet- und nagelfest war, wurde in die niedrigen, oft strohbedeckten Häuser hineingetragen. Oberhalb von Aberdeen Harbour stand in einer kleinen Seitenstraße in amerikanischer Kombiwagen. Auf dem Vordersitz lag ein 73
Mann namens Josuah Parker. Er schlief, wenn auch nicht ganz freiwillig. Ein gekonnter Handkantenschlag hatte ihn außer Gefecht gesetzt. Um Parkers Bewegungsfreiheit zu dämpfen, war er an Händen und Füßen gefesselt worden. Doch er wußte davon nichts. Auf dem breiten Rücksitz befand sich ein zweiter Passagier. Auch der besaß eine weiße Haut, dazu noch honigblonde Haare. Diese Frau war ebenfalls gefesselt. Auch sie wußte davon nichts. Sie stieß Laute aus ihrem weit geöffneten Mund aus, die eindeutig als Schnarchen zu bezeichnen waren. Josuah Parker erwachte aus seinen bunten Träumen. Sein Hals schmerzte. Als er nach der Stelle greifen wollte, merkte er erst, daß man ihn gebunden hatte. Das war das Startzeichen für ihn, sofort hellwach zu werden. Augenblicklich erinnerte er sich daran, was vorgefallen war. Der Regen hämmerte inzwischen gegen die Wagenscheiben. Der Wind riß am Wagenaufbau. Die Chinesin hatte die Scheinwerfer gelöscht. Der schwere Kombi schien in einem dunklen Tunnel zu stehen. Josuah Parker dachte selbstverständlich zuerst daran, sich der Fesseln zu entledigen. Er haßte es, wenn seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurde. Nach wenigen Minuten fand er natürlich einen gangbaren Weg, um die Hanfstricke loszuwerden. Mit dem Mund drückte er den Zigarettenanzünder ein. Er wartete, bis das Zündgerät mit leichtem Klicken wieder hervorsprang. Vorsichtig, mit den Zähnen sehr geschickt hantierend, zupfte er den Zigarettenanzünder aus der Halterung und warf sich auf den Rücken. Er zog die Beine rechtwinklig an und durchbrannte die Fußstricke. Er brauchte insgesamt drei Zündungen, bis er die Beine wieder frei bewegen konnte. Dann kamen die Handstricke an die Reihe. Da man ihm die Hände auf dem Rücken zusammengebunden hatte, mußte er sich schon etwas mehr anstrengen. Er entwickelte die Geschicklichkeit eines erfahrenen Taschenspielers. Da seine langen Finger frei und beweglich geblieben waren, ließ sich auch dieses Problem erfreulich und zufriedenstellend lösen. Ohne sich auch nur einen Quadratzentimeter Haut anzu74
sengen, dauerte es nur wenige Minuten, bis er sich die Handgelenke reiben und das gestockte Blut wieder in Bewegung setzen konnte. Den Colt hatte man ihm weggenommen. Parker hielt sich nicht damit auf, nach ihm zu suchen. Er war sicher, daß er ihn bald wieder in Besitz nehmen konnte. Seiner Schätzung nach mußte die attraktive schwarzhaarige Chinesin bald wieder erscheinen. Er kümmerte sich um die blonde junge Frau. Sie schnarchte unbekümmert. Josuah Parker rief sie an, versuchte es mit dem Namen Jane Morefield, doch sie reagierte einfach nicht. Parker kam zu dem treffenden Schluß, daß sie höchstwahrscheinlich unter den Nachwirkungen eines Opiats litt. Man hatte die Frau eingeschläfert, um keine Scherereien mit ihr zu haben. Parker nutzte seine neu gewonnene Freiheit, um die blonde Frau in Sicherheit zu bringen. Daß die Wagenschlüssel nicht vorhanden waren, störte ihn nicht. Er schloß die Zünddrähte kurz und fuhr davon. Im eingeschalteten Scheinwerferlicht war der schmale, geschotterte Feldweg zu erkennen. Nach einigen Biegungen sah Parker den Hafen tief unter sich. Der Sturm war derart stark geworden, daß er Mühe hatte, den Wagen auf dem schmalen Feldweg zu halten. Butler Parker war froh, als er hinter schützenden Erdwällen Deckung nehmen konnte. Lange durfte er hier aber nicht bleiben. Es war ja nicht klar, ob die Chinesin allein zurückkommen würde. Unverständlich war es auf der anderen Seite, daß sie den Wagen nicht zurück zu den Gelben Drachen gesteuert hatte. Warum verhielt diese Frau sich derart inkonsequent? Welche Pläne mochte sie haben? Nun, eine Antwort darauf ließ sich bestimmt noch finden. Nur nicht im Moment. Jetzt ging es um die schnarchende blonde Frau, für die Parker sich verantwortlich fühlte. Er traute sich mit dem Kombi also noch mal in den peitschenden Sturm hinaus. Es goß wie aus Eimern. Die Sicht wurde sehr schlecht. Die starken Scheinwerfer waren nicht mehr in der Lage, den Weg auszuleuchten. Es wäre lebensgefährlich gewesen, weiterzufahren. Parker mußte notgedrungen anhalten und eine Wartepause einlegen. Der Regen trommelte auf das Wagendach. Durch die rechten 75
Seitenfenster sah Parker hinauf auf den langgestreckten Hang. Gelb gefärbte Schlammassen ergossen sich gurgelnd und rauschend nach unten. Sie rissen ganze Stücke aus dem schmalen Feldweg und verwandelten ihn in einen grundlosen Sturzbach. Zuerst erkannte Butler nicht die Gefahr. Dann aber, als der schwere Wagen sich plötzlich zur Seite neigte und hangabwärts ein Stück wegrutschte, durchfuhr es ihn siedendheiß. Wenn sie nicht weggespült werden wollten, mußten sie sofort aussteigen und zu Fuß weiterflüchten. Der Butler rutschte vorsichtig auf die rechte Seite des Sitzes und öffnete den Wagenschlag. Regen peitschte in das Wageninnere. Der Wind füllte den Innenraum. Parker stieg vorsichtig aus. Seine Füße versanken bis zu den Waden im gurgelnden Schlamm. Ein grell aufleuchtendes Blitzbündel warnte ihn zusätzlich. Die Vorderräder des schweren Kombi rutschten langsam weg. Der Wagen geriet in Bewegung. Er saß auf einer dicken Schlammwoge, die sich wie zähflüssige Lava langsam über den Berghang nach unten wegsetzte. Der Butler riß die hintere Wagentür auf. An den Beinen zerrte er die schnarchende, teilnahmslose Frau aus dem Rücksitz. Sie spürte nicht, was um sie herum vorging. Sie wehrte sich unwillkürlich, aber sie vermochte gegen Parker nichts auszurichten. In diesem Augenblick passierte es. Die Vorderräder rutschten endgültig ab. Die Schlammwoge füllte sich auf und drückte den schweren Wagen wie ein Spielzeug hoch. Parker kannte nun keine Rücksicht mehr. Er zerrte die Frau aus dem Wagen und schleifte sie gnadenlos durch den Schlamm. Er spürte, daß der Boden nachgiebig und weich war. Das Wasser umspülte seine Knie. Parker stellte die Frau hoch, verabreichte ihr ein paar aufmunternde Ohrfeigen und brachte sie so einigermaßen wieder zu sich. Er bedauerte es selbstverständlich ungemein, sie so behandeln zu müssen. Doch es ging schließlich um ihr Leben. Parker allein hätte sich längst in Sicherheit bringen können. Die Ohrfeigen taten ihre Wirkung. Die blonde Frau, deren Haar sich in Strähnen verwandelt hatte, kam zu sich. Noch begriff sie nicht, was passiert war, doch der kühle Regen erfrischte sie. Instinktiv spürte sie wohl, daß man ihr 76
helfen wollte. Willig ließ sie sich von Parker wegzerren. Doch die Gefahr war nicht gebannt. Parkers Füße wateten durch den Schlamm. Er hielt auf eine dunkle Gruppe zu, die hinter den dichten Regenschleiern in Umrissen zu erkennen war. Vielleicht war es ein Haus, vielleicht eine schützende Felswand? Was es war, war vollkommen gleichgültig, Hauptsache, Parker konnte die Frau und sich erst mal von diesem Morast wegschaffen. Ein berstendes Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Er drehte sich um, spähte nach dem Kombi aus. Der Wagen war verschwunden. Von der Schlammwoge getragen, rollte er über den steilen Hang hinunter auf die Stadt zu. Er war bereits in der Dunkelheit verschwunden. Parker kämpfte gegen den Sturm und gegen den trommelnden Regen an. Immer dann, wenn die gebündelten Blitze vom Himmel stießen, konnte er sich kurz orientieren. Die dunkle Gruppe entpuppte sich als eine Felswand. Wenn Parker es schaffte, dorthin zu gelangen, konnte er sich als gerettet betrachten. Die Frau war frischer geworden. Sie stellte keine Fragen, sie jammerte nicht. Sie hielt sich dicht neben dem Butler und klammerte sich an seinem Arm fest. Auch sie mußte inzwischen begriffen haben, daß es um ihr Leben ging. Als Parker die schützende Felswand erreicht hatte, rutschte die Frau in sich zusammen. Sie war total erschöpft und ausgepumpt. Parker vergewisserte sich erst mal, ob dieser Platz auch sicher war. Er wollte es nicht noch mal mit Schlamm zu tun bekommen. Sie konnten bleiben. Einige Felsvorsprünge leiteten über zu einer weiten Felswand, die sich zwar in einen kleinen Wasserfall verwandelt hatte, die aber wenigstens keinen zähen Schlamm durchließ. Hier hinter den schroffen Klippen konnten Parker und seine unfreiwillige Begleiterin erst mal das Abebben des Taifuns abwarten. Es wäre sinnlos gewesen, sich mit der Frau unterhalten zu wollen. Grollender Donner, der an eine Materialschlacht des letzten Weltkrieges erinnerte, was den Krach anbetraf, hätte doch nur jedes Wort erstickt. Parker spannte seinen Universal-Regenschirm auf, hielt ihn schützend hoch und bedauerte nur, daß er sich keine seiner spezialangefertigten Zigarren anzünden konnte. Und er überlegte, ob man den Wagen wohl absichtlich auf die77
sem gefährlichen und unterspülten Feldweg abgestellt haben mochte. Welche Rolle mochte diese attrakive Chinesin spielen, von der er durch Mike Rander wußte, daß sie May Tai Hing hieß…? * Schon auf der Kellertreppe hörte Mike Rander ein Stöhnen und Wimmern. Sofort dachte er an seinen treuen Butler. Er steckte alle Vorsicht auf. Den entsicherten Revolver in der Hand, beeilte er sich, hinunter in den Keller zu kommen. Je tiefer er stieg, desto penetranter wurden die tierhaften Ausdünstungen, die ihn an einen Raubtierkäfig im Zoo erinnerten. »Parker! Parker…« Rander blieb stehen und lauschte. Er erhielt keine Antwort. Zögernd tastete er sich durch die Dunkelheit, an einem Mauervorsprung suchte er nach einem Lichtschalter. Nach einigen Sekunden fand er ihn, ließ das Deckenlicht aufleuchten. Auf dem Betonboden waren noch frische, feuchte Blutspuren zu erkennen, die aber von einem breitprankigen Tier herrühren mußten. Hatte der Panther hier unten sein Opfer geschlagen? Hieß das Opfer etwa Josuah Parker? Mike Rander wollte daran einfach nicht glauben. Er konnte es sich nicht vorstellen, daß sein Butler so geendet haben könnte. Das paßte einfach nicht zu ihm. Auf der anderen Seite war Parker schließlich kein Übermensch. Vielleicht hatte es ihn nun wirklich böse erwischt… Das Wimmern und Stöhnen – Rander fiel es jetzt auf – war plötzlich nicht mehr zu hören. Der junge Anwalt folgte den blutigen Spuren. Hinter einem Mauervorsprung verschwanden sie. Rander bog vorsichtig um die Ecke, erkannte ein rötliches trübes Licht an der Wand. Es handelte sich um eine Art Notbeleuchtung. Im Schein dieser Beleuchtung entdeckte er die Stäbe eines Käfigs, dessen Tür weit geöffnet war. Und rechts von dem Käfig an der Wand lag eine verkrümmte Gestalt auf dem Boden. Sie war an Händen und Füßen gefesselt. Die lose herabhängenden, zerrissenen Verbindungsstricke deuteten daraufhin, daß dieser unglückliche Mensch an Mauerhaken festgebunden gewesen sein mußte. 78
»Parker, Parker. Um Himmels willen, sind Sie’s?« Die Gestalt am Boden wimmerte, sagte unverständliche Laute. An welchen Verletzungen dieser Mann litt, war im schwachen Licht nicht zu erkennen. Rander bückte sich und wollte die Gestalt sanft aufrichten. In diesem Augenblick brüllte der Mensch grell und gequält auf. Der Schmerz hatte ihn aus der Ohnmacht erweckt. »Nein, nicht…!« stöhnte der Mann. »Nicht, es ist bald vorbei!« Rander machte sich Vorwürfe, daß er trotz allem erleichtert war. An der Stimme hatte er gehört, daß nicht sein Butler Josuah Parker am Boden lag. Der Mann sprach aber korrektes Englisch. Wer mochte er sein? Warum hatten die Gelben Drachen ihn in der ausgeräumten Villa zurückgelassen? »Wollen Sie rauchen?« fragte Rander, nur um etwas zu sagen. Gleichzeitig mühte er sich ab, die Stricke des Mannes zu lösen. »Das Biest, das Biest!« stöhnte der Mann entsetzt. »Passen Sie auf, das Biest…!« »Es ist eingesperrt«, beruhigte Rander den Unglücklichen. »Warten Sie einen Moment, ich werde Sie verbinden.« »Nein, nicht! Zu spät!« »Wer sind Sie?« fragte Rander. Ohne die Antwort abzuwarten, ging er zur Tür zurück. Seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen hatten den Lichtschalter erspäht. Sekunden später flammte Licht auch in diesem Teil des Kellers auf. Neugierig ging er zurück zu dem blutenden Mann. Erst jetzt erkannte Rander, wie dieser Mann zugerichtet war. Pantherpranken hatten ihm die Kleidung vom Leibe gerissen und die Brust und den Oberschenkel erheblich verletzt. Der Mann hatte bereits viel Blut verloren. Er hatte seine Lage richtig beurteilt. Es war bereits zu spät, um ihm noch richtig helfen zu können. »Sind Sie Miß Morefields Freund?« fragte Rander rundheraus. »Retten Sie sie!« stöhnte der Mann. »Ist sie von den Gelben Drachen entführt worden?« »Nach Aberdeen Harbour«, flüsterte der Mann mit schwacher Stimme. »Schnell, helfen Sie!« »Wo finde ich sie?« »Hu Pei Street… Unter dem Temple-Kino.« Der Mann wollte noch etwas sagen, doch seine Kräfte verlangten eine kurze Pause. Keuchend ging sein Atem. Er sah Mike Rander dennoch prüfend und wissend an. 79
»Sie sind der Anwalt, ja?« fragte er dann wieder. »Sie kennen mich?« Der Mann nickte schwach. »Sie sollen ermordet werden! Auch Ihr Butler. Sie wissen zuviel!« »Was sollten wir schon wissen?« »Daß Miß Morefield gekidnappt worden ist.« »Seit wann?« »Seit ein paar Wochen.« »War sie heute noch hier im Bungalow?« Der Mann schüttelte mühsam den Kopf. »Wer wurde hier gefangengehalten?« »Liz Carrels… Eine Freundin von mir.« »Sie hat sich als Miß Morefield ausgegeben, ja?« »Klappte alles, bis Sie kamen.« »Bis Miß Morefields Anwalt kam. Larry Croften wurde gleich nach der Landung ermordet.« »Helfen Sie der kleinen Morefield«, stöhnte der Mann. »Haben Sie eine Zigarette für mich?« Mike Rander hatte längst eingesehen, daß dem Mann eine Zigarette nicht mehr schaden konnte? Er zündete eine an und schob sie ihm zwischen die Lippen. Tief und gierig sog der Mann den Rauch ein. Er hustete gequält, schloß einen Moment die Augen und fühlte sich dann wesentlich besser. »Ich bin an allem schuld«, redete er mit leiser Stimme weiter. »Ich habe die Morefield reingelegt.« »Aus eigenem Antrieb?« »Ich witterte ein tolles Geschäft. Die Gelben Drachen ebenfalls.« »Miß Morefield wurde also entführt und versteckt. Ihre Freundin Carrels trat an ihre Stelle und täuschte die Öffentlichkeit. War es nicht so?« »Genau! Wir mußten spuren. Die Gelben Drachen hatten uns in der Hand. Wir konnten nicht mehr zurück.« »Lebt Miß Morefield noch?« »Vielleicht«, sagte er mit heiserer Stimme. »Warum ließ man Sie hier zurück?« »Ich wollte nicht mehr mitmachen.« »Hatten Sie Gewissensbisse bekommen?« »Unsinn…« Der Mann grinste schwach. »Ich habe zugeschlagen, 80
als man meine Freundin belästigte. Dafür wurde ich dem Biest zum Fraß vorgeworfen.« »Wie heißen Sie?« »Joe Londale. Die Cops kennen mich. Sie brauchen nur nachzufragen.« »Und wer leitet die Gelben Drachen?« »Keine Ahnung«, antwortete der Sterbende mit bereits schwacher Stimme. »Kennen Sie denn einen gewissen Li Wang?« bohrte Mike Rander weiter. »Dieser verdammte Gauner!« »Warum? Was hat er angestellt?« »Er… er hetzte uns… auf… die Morefield.« »Könnte er der Oberdrache sein?« »Weiß nicht… Retten Sie die Morefield!« »Woher wußten die Gelben Drachen von meinem Auftauchen? Schnell, Sie müssen antworten!« »Li Wang fragen…!« Joe Londale wollte noch etwas sagen, doch nun verließen ihn endgültig die Kräfte. Ein krampfartiges Zucken ging durch seinen erschöpften Körper. Die noch brennende Zigarette löste sich von der Unterlippe und fiel zu Boden. Joe Lonsdale war tot. Mike Rander richtete sich auf. Er sah nun klar, wußte, was sich in der jüngsten Vergangenheit abgespielt hatte. Das Geständnis des Sterbenden hatte jeden Zweifel behoben. Nun ging es darum, Jane Morefield aus den Klauen der Gelben Drachen zu befreien. Viel Zeit dafür blieb nicht. Der junge Anwalt verließ den Keller. Als er in der Wohnhalle stand, hörte er das Gebrüll des eingesperrten Raubtieres, das immer wieder gegen die Tür sprang und sich befreien wollte. Mike Rander trat an das Telefon. Er rechnete nicht damit, daß die Leitung intakt war. Um so erstaunter war er, als das Freizeichen ertönte. In der Eile des Aufbruchs hatten die Gelben Drachen vergessen, die Leitungen zu zerschneiden. Rander wählte die Nummer McParishs, wartete ungeduldig, bis die Verbindung hergestellt war und atmete auf, als sich die trockene Stimme von Sergeant Noreland meldete. »Hier Mike Rander«, meldete der Anwalt sich. »Passen Sie ge81
nau auf, Noreland. Es gibt einiges für Ihre Dienststelle zu tun!« * Butler Josuah Parker befand sich auf der Aberdeen Island Road, jener breiten Straße, die sich teilweise hart am Meer an den Dockanlagen und Verladeeinrichtungen entlangzieht. Sie war jetzt menschenleer. Deshalb fiel der Butler auch nicht auf. Er war schlammbespritzt und so gelb eingefärbt und erinnerte nun an einen Tropenhelm. Der Universal-Regenschirm war derart schlammverkrustet, daß er wie eine Zaunlatte aussah. Parker hatte sich auf abenteuerlichem Weg hinunter in die kleine Hafenstadt gekämpft. Er hatte es dabei, besonders schwer gehabt, denn Miß Liz Carrels besaß schließlich nicht die starken Nerven, wie Parker sie zur Verfügung hatte. Er wußte inzwischen, wer die blonde Frau war und welche Rolle sie bisher gespielt hatte. Parker war bekannt, daß Miß Carrels Freund, ein gewisser Joe Londale, im Keller des Bungalow zurückgelassen worden war. Was aber noch wichtiger war, er kannte die Adresse, wo die wirkliche Miß Jane Morefield festgehalten wurde. Die weißhäutige Abenteuerin Miß Carrels hatte ein Geständnis abgelegt und nichts verschwiegen. Sie hatte zugegeben, daß sie als Jane Morefield aufgetreten war, daß sie die Bankgeschäfte in ihrem Namen getätigt hatte. Das alles war nicht so wichtig wie das Schicksal der Jane Morefield. Ihr wollte der Butler nun aus der Patsche helfen. Er konnte nur hoffen, daß die junge Amerikanerin noch unter dem TempleKino festgehalten wurde. Nach kurzem Fußmarsch bog der Butler von der Aberdeen Island Road in die Hu Pei Street ein. Heulend und pfeifend schlug ihm der Sturm entgegen und drückte ihn gegen die Häuserwände. Die Reklametafeln knarrten und wehten im Wind. Dachziegel segelten als gefährliche Wurfgeschosse durch die Dunkelheit. Die meisten Straßenlaternen waren vom Sturm längst zertrümmert worden. Die hochgepeitschten Wogen donnerten gegen die Kaianlagen. Gischt und Salzregen drangen bis in die Hu Pei Street hinein. Von 82
irgendwoher erklangen Warnsirenen. Da war auch schon das bewußte Kino, von dem Miß Carrels gesprochen hatte. Die Leuchtreklame war erloschen und vom Sturm losgerissen worden. Windschief hing sie an der pompösen Fassade herunter. Parker dachte an Liz Carrels. Er hatte sie am Außenbezirk der Stadt in einem Gasthof zurückgelassen. Hoffentlich hatte sie ihn nicht betrogen und belogen. Von ihrer Ehrlichkeit hing jetzt viel ab. Der Butler kämpfte sich an der langen Außenfront des Kinos vorbei, bog nach rechts in eine schmale Gasse ab und fand ein weit geöffnetes Tor, das auf den Hof des Kinos führte. Im Licht der zuckenden Blitze suchte und fand er seinen weiteren Weg. Er blieb vor einer kleinen Pforte stehen, die in einen Anbau des Kinos führte. Das Schloß war kein Hindernis für den Butler. Mit seinem Spezialbesteck bezwang er es innerhalb einer knappen Minute. Der Butler schlüpfte in den Anbau und schloß sofort wieder die Tür. Er blieb seitlich an der Wand stehen und lauschte. Bis auf das Toben des Taifuns war nichts zu hören. Er fragte sich, wo man eine Frau wie Jane Morefield wohl festhalten könnte. Doch wohl in den Kellerräumen, die still und verschwiegen waren. Wo also war der Weg, der unter das Kino führte? Parker schritt durch einen langen Korridor. Da es dunkel war, benutzte er seinen KugelschreiberLeuchtstab, der sich hier wieder mal bestens bewährte. Der feine, aber scharfe Lichtstrahl genügte vollkommen, um den Weg auszuleuchten. Parker landete in einem Treppenhaus. Breite Betonstufen führten hinauf in den Anbau und nach unten in den Keller. Parker unterstellte, daß die Keller des Anbaus mit denen des Kinos untereinander verbunden waren. Er zögerte nicht lange, nach unten zu steigen. Er erreichte ein Gewirr unterirdischer Räume, die mit Waren aller Art vollgestopft waren. Vielleicht handelte es sich um Beutestücke der Gelben Drachen. Dieses Kino schien der tatsächliche Schlupfwinkel der Gangster zu sein. Parker stieß auf einen zweiten Treppenaufgang. Seinen Berechnungen nach befand er sich nun unter dem Zu83
schauerraum des Lichtspieltheaters. Hier irgendwo mußte Miß Morefield eingesperrt sein, wenn Liz Carrels ihn nicht belogen hatte. Parker wollte gerade weitergehen, als plötzlich das Licht eingeschaltet wurde. Oben auf der Treppe waren die hastigen Schritte einiger Menschen zu hören. Sie kamen sehr schnell nach unten. War Parker beobachtet worden? Traten die Gangster an, um ihn nun endgültig zur Strecke zu bringen? Der Butler ließ es darauf ankommen. Schnell verbarg er sich hinter einem Stapel Kisten und wartete ab. Drei Chinesen erschienen im Keller. Und hinter ihnen tauchte die attraktive May Tai Hing auf. Sie stolperte hinter den drei Männern einher. Sie kam nicht freiwillig mit. Man hatte sie an den Händen gefesselt. Eine lange, dünne Eisenkette verband sie mit einem der Chinesen. Sie wehrte sich nicht. Willenlos ließ sie sich abführen. Sie glich einem ängstlichen Schlachtopfer. Parker könnte sich glücklich preisen, daß er diese Szene beobachten durfte. Nun gab es keinen Zweifel mehr. Liz Carrels, das Double von Miß Morefield, hatte also doch nicht gelogen. Parker verfolgte die drei Chinesen und ihr Opfer. Jetzt war es eine Kleinigkeit für ihn, sich führen zu lassen. Wo die Reise endete, war klar, nämlich im Gefängnis der Jane Morefield. Vor einer Betonwand blieben die Männer stehen. Einer von ihnen bückte sich, griff nach einem im Boden eingelassenen Eisenring und zog daran eine Falltür hoch. May Tai Hing wurde gezwungen, über eine Leiter hinabzusteigen. Anschließend folgten die drei Chinesen. Sie ließen die Falltür geöffnet, da sie sich ja unbeobachtet fühlten. Parker gestattet sich einen schnellen Blick nach unten. Im Licht einer gerade angezündeten Laterne sah er eine weißhäutige Frau, die auf einer einfachen Pritsche lag und teilnahmslos zusah, daß sie Besuch erhielt. Das mußte Jane Morefield sein! Josuah Parker ging zurück in Deckung und hob prüfend seinen Universal-Regenschirm. Er bereitete sich darauf vor, daß die drei Chinesen wieder heraufkamen. Nach einigen Minuten erschienen sie nacheinander. 84
Parker war in seinem Element. Dem ersten Gangster legte er den Regenschirm sehr nachdrücklich auf den Kopf. Dem zweiten verabreichte er einen gekonnten Handkantenschlag. Und dem dritten Burschen, der seinen Kopf gerade durch die Luke steckte, ließ er den schweren Lukendeckel auf den Schädel fallen. Innerhalb einiger Sekunden hatte er die Lage bereinigt. Er konnte sich den beiden verängstigen Frauen widmen, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wußten, daß sie gerettet waren… * Inspektor McParish teilte seine Streitmacht ein. Er verlor kein unnötiges Wort, er wußte genau, was er wollte. Mike Rander freute sich nachträglich, daß er den Inspektor alarmiert hatte. McParish hatte sich trotz des tobenden Taifuns quer über die Insel gekämpft und setzte seine Begleiter nun zum Sturm auf das Kino an. Alles klappte wie am Schnürchen. Auf das Zeichen der Trillerpfeife stürmten die Beamten das große Haus. Sie schlugen die Türen ein, verteilten sich und würgten die Gegenwehr der Gelben Drachen im Handumdrehen ab. Sie alle konnten von Glück sagen, denn die Gelben Drachen hatten es sich im Büro der Kinoleitung bequem gemacht und tranken warmen Reisschnaps. Sie waren derart betrunken, daß sie kaum Gegenwehr leisten konnten. Einige von ihnen flüchteten zwar in das Haus, es kam auch zu einigen Schießereien, doch nach insgesamt fünfzehn Minuten war McParish Herr der Lage. »Nun runter in den Keller!« rief der Inspektor dem Anwalt zu. »Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.« McParish, Sergeant Noreland und Mike Rander stürmten über die Treppe hinunter in den Keller. Licht brannte. Ihr Weg war genau vorgezeichnet. Plötzlich blieb McParish stehen. »Was ist?« erkundigte sieh der Anwalt. »Hier brennt es irgendwo«, sagte McParish. »Riechen Sie denn nichts, Rander?« Gleichzeitig hustete er gequält auf und verdreh85
te die Augen, denn ihm wurde schlecht. Sergeant Noreland fühlte eine leichte Schwäche in den Beinen. »Giftgas!« murmelte er. Mike Rander sog den grausamen Duft in die Nase ein. Dann grinste er plötzlich und schüttelte den Kopf. »Kein Giftgas, kein Brand«, stellte er richtig. »Das ist eine von Parkers Zigarren.« »Wie bitte?« McParish sah den Anwalt ungläubig an. »Parker ist bereits vor uns eingetroffen«, redete Mike Rander weiter. »Ich ahnte es im voraus, daß er wieder mal schneller sein würde als ich…!« * »Viel bleibt nicht mehr zu sagen«, meinte McParish am anderen Vormittag. Der Taifun hatte sich ausgetobt, die Sonne schien wieder. Mike Rander und Josuah Parker hielten sich im Dienstzimmer des Inspektors auf. Innerhalb kurzer Zeit hatte Parker seinen Dienstanzug wieder in Ordnung gebracht. Wie aus dem Ei gepellt stand er vor McParish. An ein Schlammbad schien er sich überhaupt nicht mehr zu erinnern. »Wie geht es Miß Morefield?« erkundigte sich Mike Rander. »Ausgezeichnet. Sie befindet sich im Queens-Hotel. Sie ist noch jung, sie dürfte den Schock ihrer Entführung bald überwunden haben.« »Und was ist mit Miß Carrels?« »An einer Anklage wird sie nicht vorbeikommen«, erwiderte Inspektor McParish. »Immerhin hat sie sich an diesem Kidnapping beteiligt und anschließend Betrug begangen. Ich denke jedoch, daß man ihr mildernde Umstände zubilligen wird, schließlich hat sie im entscheidenden Moment ja geholfen.« »Weiß sie, daß ihr Begleiter Londale tot ist?« »Ich mußte es ihr sagen. Londale ist übrigens ein steckbrieflich gesuchter Gentlemen-Verbrecher. Sein Paktieren mit den Gelben Drachen war Selbstmord, er hätte es wissen müssen. Doch seine Geldgier war eben größer.« »War es seine Idee, Miß Morefield kidnappen zu lassen?« fragte Mike Rander. »An ein Kidnapping hat er wohl nicht gedacht. Er wollte Miß Mo86
refield nur ausnehmen. Als er falsche Papiere gebrauchte, geriet er an die Gelben Drachen. Und diese Gangster witterten sofort ein viel größeres Geschäft. Einzelheiten kennen Sie ja.« »Liz Carrels mußte also Jane Morefield spielen«, sagte Mike Rander. »Deshalb mußte Vermögensverwalter Croften sterben, als er nach Hongkong kam.« »Nur aus diesem Grund. Er hätte den Betrug sofort durchschaut.« »Erstaunlich, daß Miß Morefield sich nach dem Kidnapping weigerte, Schecks zu unterschreiben und Geld abzuheben.« »Sie spielte mit ihrem Leben. Die Gelben Drachen hätten sie bestimmt gezwungen, mitzuspielen. Zu Miß Morefields Glück stand ja Liz Carrels zur Verfügung, die diese Rolle übernehmen konnte. Das war und ist der Grund, warum man Miß Morefield nicht durch die Folter gefügig machte.« »Aber wie zum Henker erfuhren die Gelben Drachen von Croftens Ankunft und von unserer Landung?« wollte Mike Rander nun noch wissen. »Das geht auf das Konto unseres ehrenwerten Mr. Li Wang.« Inspektor McParish schmunzelte. »Wir haben ihn uns sofort gekauft. Zuerst hat er alles abgestritten, doch seine Freunde verrieten ihn. Miß May Tai Hing gab uns den richtigen Tip. Sie war in den Plan ja eingeweiht worden. Li Wang rief Miß Morefields Verwandte in Miami an und stellte sich als ihr chinesischer Berater vor. Miß Morefields Onkel Bannon rückte ahnungslos mit der Sprache heraus und kündigte Croftens und Ihre Ankunft an. Die Gelben Drachen waren also bestens informiert.« »Demnach ist Li Wang also ein gelber Drache gewesen?« »Und ob! Und ich, ausgerechnet ich, Inspektor McParish von der Polizei, muß Ihnen raten, sich an Li Wang wenden. Unverzeihlich! Gut, daß daraus nichts passiert ist!« »Was wird mit der Chinesin May Tai Hing geschehen?« »Man wird sie anklagen und aburteilen. Sie hielt Miß Carrels unter Druck, und sie war es, die Ihren Butler und Miß Carrels durch die Schlammlawine ins Meer befördern wollte. Lassen Sie sich nicht täuschen, Rander, dieses Mädchen sieht sehr attraktiv aus, aber sie ist auch sehr gefährlich.« »Wir werden sie nicht mehr sehen«, meinte Rander. »Unsere Maschine geht in einer guten Stunde. Wir werden Miß Morefield 87
zurück in die Staaten bringen.« »Und anschließend einen neuen Fall übernehmen, wie ich in aller Bescheidenheit bemerken möchte«, schaltete sich Josuah Parker ein. »Man bedarf unserer schnellen Hilfe. Es handelt sich um einen Fall von höchster Dringlichkeit.« »Was steht denn auf dem Programm?« fragte McParish lächelnd. »Organisierter Warenhausdiebstahl, mit Verlaub zu sagen«, antwortete Parker würdevoll, »ein Problem, dem ich schon jetzt einige Reize abgewinnen kann.« »Ich möchte nicht in der Haut dieser Kerle stecken«, antwortete McParish und lächelte plötzlich nicht mehr. Er sah den Butler nachdenklich und auch ein wenig hochachtungsvoll an… * »Bedanken Sie sich bei meinem Butler«, sagte Mike Rander eine Stunde später zu Jane Morefield. »Er hat Sie schließlich aufgespürt und aus den Klauen der Gelben Drachen befreit.« »Ich will nicht mehr daran denken«, antwortete Jane Morefield, die frisch und jugendlich aussah. »Es waren ja schreckliche Wochen, die mich an den Rand der Verzweiflung brachten.« »Ihr Bedarf an Abenteuern dürfte gedeckt sein«, meinte der Anwalt trocken. »Auch das unterscheidet Sie von Mr. Parker. Er jagt den Abenteuern förmlich nach.« »Kennt er keine Angst?« fragte Jane Morefield leise. »Ich weiß es wirklich nicht. Er gibt mir immer wieder neue Rätsel auf.« Jane Morefield näherte sich dem Butler, der sich diskret zurückgehalten hatte. »Mr. Parker«, sagte Jane Morefield, »wie kann ich Ihnen nur danken?« »Sie beschämen mich, Miß Morefield«, erwiderte der Butler. »Sie überschätzen meine Mitarbeit an diesem Fall. Ich tat auch nur das, was in bescheidenem Rahmen möglich war.« »Eben dafür möchte ich Ihnen danken«, gab Miß Morefield zurück, stellte sich auf die Zehenspitzen und verabreichte dem Butler einen Küß auf den Mund. Parker fuhr ruckartig zusammen. 88
Er starrte Jane Morefield an. Seine Augen wurden groß. Er schluckte, warf sich in die Brust, schulterte seinen UniversalRegenschirm und ging wie beschwipst auf die wartende Maschine zu. Er schien sein Gleichgewicht verloren zu haben, denn er war weich in den Knien geworden und beschrieb eine leicht angedeutete Schlangenlinie auf dem Beton des Flughafens. »Du lieber Himmel, was habe ich angerichtet?« fragte Jane Morefield, sich an Rander wendend. »Sie haben den falschen Mann geküßt«, antwortete Rander. »Im übrigen sagte ich ja schon, daß Parkers Reaktionen immer überraschend sind. Er steckt halt voller Rätsel…!«
-ENDE-
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