Carl Zimmer
Parasitus Rex
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Carl Zimmer
Parasitus Rex
scanned 04/2008 corrected 07/2008 von hw
Seit über vier Millionen Jahren bevölkern Parasiten diesen Erdball und führten bislang ein wenig erforschtes Leben im Schatten der Wissenschaft. Spannend geschrieben, schildert Carl Zimmer auf einer phantastischen Reise in das verborgene Universum der Parasiten die komplexe Welt von Würmern, Protozoen und anderen gefährlichen Kreaturen. ISBN: 3-8295-7502-5 Original: Parasite Rex Aus dem Amerikanischen von: Monika Curths Verlag: Umschau/Braus Erscheinungsjahr: 2001 Umschlaggestaltung: INFOLIO Digital, Badenweiler
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Seit Jahrhunderten lebten Parasiten in Alpträumen Gruselgeschichten und im finsteren Schatten der Wissenschaft. Nun führt uns der Autor Carl Zimmer auf eine fantastische Reise in das verborgene Parasitenuniversum, in dem wir leben und dies lange nicht erkannt haben. Er zeigt nicht nur, dass Parasiten die erfolgreichste Lebensform auf der Erde sind, sondern auch, dass auf sie die Entwicklung der Geschlechter zurückgeht, die Bildung von Ökosystemen – dass sie der Motor der Evolution waren. Zimmer macht die erstaunliche Beobachtung, dass die meisten Arten Parasiten sind und dass fast jedes Tier und ebenso jeder Mensch irgendwann der Wirt eines Parasiten wird. Er zeigt, wie hoch entwickelt Parasiten sind, und beschreibt die furchteinflößende und bemerkenswerte Findigkeit, die diese Eindringlinge anwenden, sich in den Wirten einzunisten und deren Verhalten zu kontrollieren.
Autor
Carl Zimmer, Autor von »At the Water’s Edge« schreibt häufig für »Discover«, »National Geographic«, »Natural History«, »Nature and Science«. Er wurde mit dem »Everett Clark Award« für Wissenschaftsjournalismus ausgezeichnet sowie mit dem »American Institute of Bioligical Science Media Award«. Er lebt in New York City.
Carl Zimmer
UMSCHAU; BRAUS
Parasitus Rex In der bizarren Welt der gefährlichsten Geschöpfe der Natur Aus dem Amerikanischen von Monika Curths
Die Deutsche Bibliothek – CJP-Einheitsaufnahme Zimmer, Carl: Parasitus Rex: In der bizarren Welt der gefährlichsten Geschöpfe der Natur/Carl Zimmer Frankfurt/Main: Umschau/Braus, 2001 ISBN: 3-8295-7502-5
Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel ›Parasite Rex‹ bei Simon & Schuster Inc. New York Copyright © 2000 by Carl Zimmer Für die deutsche Ausgabe: © 2001 Umschau Braus GmbH, Frankfurt/Main Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache, auch durch Film, Funk, Fernsehen, photomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten. Umschlaggestaltung und Satz: INFOLIO Digital, Badenweiler Druck und Bindung: Röck, Graphische Betriebe, Weinsberg Printed in Germany ISBN: 3-8295-7502-5 Besuchen Sie uns im Internet unter: www.umschau-braus.de
Inhalt Prolog Eine Vene ist ein Fluss .........................................................9 Kapitel 1 Die Kriminellen der Natur ...................................................22 Kapitel 2 Terra incognita....................................................................44 Kapitel 3 Der dreißigjährige Krieg .....................................................76 Kapitel 4 Ein echter Horror ..............................................................100 Kapitel 5 Der große Schritt nach innen ........................................... 155 Kapitel 6 Evolution von innen..........................................................194 Kapitel 7 Der zweibeinige Wirt .........................................................228 Kapitel 8 Leben in einer parasitischen Welt.................................... 254 Glossar ..............................................................................285 Danksagung ......................................................................287
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Prolog Eine Vene ist ein Fluss
D
er Junge in dem Bett vor mir hieß Justin,und er wollte nicht aufwachen. Sein Bett, eine schwammige Matratze auf einem Metallrahmen, stand in einer Krankenstation, einem kleinen Betonbau mit Fenstern ohne Scheiben. Das Krankenhaus, zu dem die Station gehörte, bestand aus mehreren solcher Gebäude – einige mit strohgedeckten Dächern – auf einem großen staubigen Hof. Mir kam es eher wie ein Dorf als ein Krankenhaus vor. Mit Krankenhäusern verbinde ich kaltes Linoleum, aber keine Geißlein, die Schwanz wedelnd und Euter stupsend im Hof umherspringen; keine Mütter und Schwestern von Patienten, die auf kleinen Feuerstellen unter den Mangobäumen in eisernen Töpfen ihr Essen kochen. Das Krankenhaus lag am Rand der verwüsteten Stadt Tambura im Südsudan, nahe der Grenze zur Zentralafrikanischen Republik. Fährt man von hier aus in eine beliebige Richtung, kommt man durch kleine Hirse- und Cassava-Felder, auf gewundenen Pfaden durch zerstörte Wälder und Sümpfe, vorbei an Beerdigungsstätten aus Ziegeln und Beton mit einem Kreuz auf dem Dach und an Termitenhügeln, die wie riesige Pilze aussehen. Es gibt Gebirge voller Giftschlangen, Elefanten und Leoparden. Als ich nach Tambura kam, herrschte im Sudan seit zwanzig Jahren Bürgerkrieg zwischen den südlichen und den nördlichen Stämmen. Seit vier Jahren kontrollierten die Rebellen Tambura und jeder Ausländer, der mit der wöchentlichen Propellermaschine auf dem schlammigen Flugfeld landete, durfte nur unter ihrer Aufsicht und nur bei Tag durch das Land reisen. Justin war zwölf Jahre alt, schmalschultrig und sein Bauch war nach innen gewölbt wie eine Schüssel. Er trug Khakishorts und eine Halskette aus blauen Perlen. Auf dem Fensterbrett über ihm lag ein aus Gräsern gewebter Sack und ein Paar Sandalen mit je einer metallenen Blume auf den Riemen. Sein Nacken war so geschwollen, dass man kaum sagen konnte, wo sein Hinterkopf begann. Die Augen quollen hervor wie bei einem Frosch und seine Nase war völlig verstopft. 9
»Hallo, Justin! Justin, hallo?« sagte eine Frau zu ihm. Zu siebt standen wir an seinem Bett – die Frau, eine amerikanische Ärztin namens Mickey Richer; ein großer Mann mittleren Alters, ebenfalls Amerikaner, der Krankenpfleger war und John Carcello hieß, sowie vier sudanesische Mitarbeiter. Justin versuchte, uns zu ignorieren – als ob wir dadurch einfach verschwinden würden, damit er wieder schlafen konnte. »Weißt du, wo du bist?« fragte Mickey Richer. Eine der sudanesischen Schwestern übersetzte in Zande. Er nickte und sagte: »Tambura.« Dr. Richer schob vorsichtig den Arm unter seine Schultern. Sein Nacken und sein Rücken waren so steif, dass er sich wie ein Brett aufrichtete, als sie ihn anhob. Sie konnte Justins Nacken nicht beugen, und als sie es versuchte, wimmerte der Junge mit kaum geöffneten Augen, sie solle damit aufhören. »Wenn das eintritt«, sagte sie mit Nachdruck zu den Sudanesen, »holen Sie einen Arzt.« Sie versuchte, ihren Ärger zu verbergen, dass man sie nicht eher gerufen hatte. Der steife Nacken des Jungen bedeutete, dass er kurz vor dem Tod stand. Seit Wochen war sein Körper von einem einzelligen Parasiten befallen und das Medikament, das Richer ihm gab, wirkte nicht. Und es gab etliche weitere Patienten in ihrem Krankenhaus, die an derselben tödlichen Krankheit, der afrikanischen Schlafkrankheit, litten. Ich war wegen der Parasiten nach Tambura gekommen, so wie andere Leute wegen der Löwen nach Tansania reisen oder wegen der Komodowarane nach Indonesien. In New York, wo ich zu Hause bin, bedeutet das Wort Parasit nicht viel oder wenigstens nichts Besonderes. Wenn ich dort erzähle, dass ich Parasiten studiere, lautet die Gegenfrage meistens: »Sie meinen Bandwürmer?« oder: »Ex-Frauen?« Selbst in Wissenschaftlerkreisen ist die Definition gelegentlich unscharf. Parasit kann alles bedeuten, was auf oder in einem anderen Organismus auf dessen Kosten lebt. Das können Erkältungsviren oder Bakterien, die Meningitis verursachen, sein. Doch wenn Sie einem Bekannten mit einem Husten sagen, dass er Parasiten hat, denkt er womöglich, ein Außerirdischer sitze in seiner Brust und warte nur darauf, hervorzubrechen und alles, was ihm vor die Augen kommt, zu verschlingen. Parasiten gehören in Albträume, nicht in Arztpraxen. Und aus merkwürdigen historischen Gründen neigen selbst Wissenschaftler dazu, 10
das Wort für alles zu benützen, was schmarotzerhaft lebt, nur nicht für Bakterien und Viren. Selbst in dieser beschränkten Definition sind Parasiten eine riesige Menagerie. Justin zum Beispiel lag dem Tode nahe auf dem Krankenhausbett, weil sein Körper die Heimat für einen Parasiten namens Trypanosoma geworden war. Trypanosomen sind einzellige Lebewesen, aber mit uns Menschen weitaus enger verwandt als mit Bakterien. Sie gelangten in Justins Körper, als er von einer Tsetsefliege gestochen wurde. Während die Tsetsefliege sein Blut trank, drangen die Trypanosomen in seinen Körper ein. Sie begannen, Sauerstoff und Glukose aus Justins Blut zu stehlen, vermehrten sich und schalteten sein Immunsystem aus; sie wanderten in seine Organe und schlüpften sogar in sein Gehirn. Die afrikanische Schlafkrankheit hat ihren Namen aufgrund der Art und Weise, wie Trypanosomen das Gehirn des Menschen zerrütten, seine biologische Uhr zerstören und für ihn den Tag zur Nacht machen. Wenn Justin von seiner Mutter nicht ins Tambura-Krankenhaus gebracht worden wäre, wäre er innerhalb weniger Monate gestorben. Die afrikanische Schlafkrankheit kennt kein Pardon. Als Mickey Richer vier Jahre zuvor nach Tambura kam, hatte es kaum Fälle der Schlafkrankheit gegeben, und man hielt sie für eine Krankheit, die schon fast Geschichte geworden war. Das war nicht immer so. Jahrtausendelang hatte die Schlafkrankheit die Menschen im Gebiet der Tsetsefliege – einem breiten Streifen südlich der Sahara – bedroht. Eine Variante der Krankheit befällt auch Rinder und machte in weiten Regionen des Kontinents die Viehhaltung unmöglich. Heute noch sind rund zwölf Millionen Quadratkilometer in Afrika wegen der Schlafkrankheit für Rinder tabu und selbst dort, wo Rinder gehalten werden, gehen jährlich drei Millionen Tiere an der Schlafkrankheit ein. Als die Europäer Afrika kolonisierten, trugen sie zu ungeheuren Epidemien bei, indem sie die Menschen zwangen, an von Tsetsefliegen verseuchten Orten zu bleiben und zu arbeiten. Im Jahr 1906 berichtete Churchill, damals Unterstaatssekretär für die Kolonien, dem Unterhaus, dass eine einzige Schlafkrankheit-Epidemie die Bevölkerung von Uganda von 6,5 Millionen auf 2,5 Millionen Einwohner reduziert habe. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatten Wissenschaftler entdeckt, 11
dass Medikamente gegen Syphilis auch Trypanosomen im Körper bekämpfen konnten. Es waren grobe Gifte, aber sie wirkten und senkten effektiv die Parasitenpopulationen, wenn die Ärzte die mit Tsetsefliegen verseuchten Orte sorgfältig abschirmten und die Kranken behandelten. Die Schlafkrankheit würde es immer geben, aber sie wäre die Ausnahme und nicht die Regel. Die gegen die Schlafkrankheit durchgeführten Maßnahmen in den fünfziger und sechziger Jahren waren so erfolgreich, dass die Wissenschaftler die Meinung vertraten, die Ausmerzung der Krankheit sei nur noch eine Frage von einigen Jahren. Doch Kriege, wirtschaftlicher Niedergang und korrupte Regierungen ließen die Schlafkrankheit zurückkehren. Im Sudan vertrieb der Bürgerkrieg belgische und britische Ärzte aus dem Bezirk Tambura; sie hatten ein wachsames Auge auf neue Ausbrüche der Krankheit gehalten. Mickey Richer stellte im Lauf der Jahre fest, dass die Zahl ihrer Schlafkranken anstieg, zuerst auf 19, dann auf 87; schließlich waren es hunderte. Nach einer Reihenuntersuchung im Jahr 1997 schätzte sie, dass zwanzig Prozent der Menschen im Bezirk Tambura – also etwa 12.000 Sudanesen – mit der Schlafkrankheit infiziert waren. Im selben Jahr startete Richer eine Gegenoffensive in der Hoffnung, den Parasiten zumindest im Bezirk Tambura zurückzudrängen. Für Menschen im frühen Krankheitsstadium genügte das Medikament Pentamidin, das an zehn aufeinanderfolgenden Tagen gespritzt wurde. Bei Fällen wie Justin, bei denen die Parasiten schon im Gehirn sitzen, war zur Abtötung der Krankheitserreger ein stärkeres Medikament nötig – das aggressive Gift Melarsoprol, das zu 20 Prozent aus Arsen besteht. Es weicht gewöhnliche IVSchläuche auf, sodass Mickey Richer Schläuche einfliegen lassen musste, die aus einem teflonähnlichen Material waren. Sickert Melarsoprol aus einer Vene, kann das umgebende Fleisch schmerzhaft anschwellen. Dann muss das Medikament für einige Tage abgesetzt, schlimmstenfalls das betroffene Gliedmaß amputiert werden. Als Justin ins Krankenhaus kam, waren die Parasiten bereits in seinem Gehirn. Die Krankenschwestern spritzten ihm drei Tage lang Melarsoprol und das Medikament vernichtete eine große Anzahl der Trypanosomen in Hirn und Wirbelsäule. Als Folge überschwemmten Fetzen toten Parasitengewebes Hirn und Rücken12
mark und versetzten die bislang betäubten Immunzellen in helle Aufregung. Die Zellen schossen Giftladungen ab und die Entzündung, die sie damit auslösten, presste das Hirn des Jungen wie in einem Schraubstock zusammen. Nun verordnete Mickey Richer Kortison, um die Schwellung zurückzuführen. Justin wimmerte schwach während der Injektion. Seine Augen waren geschlossen, als träumte er einen bösen Traum. Wenn er Glück hatte, nahm das Kortison den Druck von seinem Hirn. Der nächste Tag würde die Entscheidung bringen: Entweder ging es ihm besser oder er war tot. Bevor ich zu Justins Krankenlager kam, hatte ich Mickey Richer ein paar Tage bei ihrer Arbeit begleitet. Wir waren in Dörfer gefahren, wo ihre Mitarbeiter auf der Suche nach Anzeichen für den Parasiten Blut zentrifugierten, und hatten eine weitere, entlegenere Klinik von ihr besucht, in der den Menschen Rückenmarksproben entnommen wurden, um festzustellen, ob die Trypanosomen auf dem Weg zum Gehirn waren. Auf unserer Runde durch das Tambura-Krankenhaus trafen wir auf kleine Kinder, die bei den Injektionen schrien und festgehalten werden mussten, auf alte Frauen, die tapfer schwiegen, als das Medikament in ihren Venen brannte und auf einen Mann, der durch das Medikament so verrückt wurde, dass er sich auf seine Mitmenschen stürzte und an einen Pfahl gefesselt werden musste. Und von Zeit zu Zeit – auch jetzt, als ich vor Justin stand – versuchte ich, die Parasiten in diesen Menschen zu sehen. Dabei erinnerte ich mich an den Film »Die Reise ins Ich«, in dem Raquel Welch und ihre Mannschaft in ein U-Boot steigen, das dann mikroskopisch verkleinert in die Vene eines Diplomaten injiziert wird, sodass es durch die Blutbahnen in sein Gehirn vordringen und die Besatzung ihn vor einer lebensgefährlichen Verletzung, einem Blutgerinnsel, bewahren kann. Ich musste in die Welt dieser unterirdischen Flüsse gelangen, in diese Blutströme, die durch die immer kleineren Verzweigungen der Arterien fließen und wieder zurück in die kleinen Venen, die in größere münden, bis sie das schlagende Herz erreichen. Rote Blutkörperchen hüpfen und kulleren in den im Strom dahin, zwängen sich durch Kapillaren und nehmen ihre ursprüngliche Scheibenform wieder an. Weiße Blutkörperchen benützen ihre Lappen, um durch Lymphkanäle – ähnlich den als Bücherregale getarnten Tü13
ren in einem Haus – in die Blutgefäße zu kriechen. Und mit ihnen reisen die Trypanosomen. Ich hatte mir Trypanosomen in einem Labor in Nairobi unter dem Mikroskop angesehen und sie sind tatsächlich schön. Ihr Name kommt von trypanon, dem griechischen Wort für Augur oder Wahrsager. Sie sind ungefähr doppelt so lang wie eine rote Blutzelle und silbrig unter dem Mikroskop. Ihr Körper ist flach wie ein Streifen, aber wenn sie schwimmen, drehen sie sich wie Bohreraufsätze. Parasitologen, die sich längere Zeit mit Trypanosomen beschäftigen, neigen dazu, sich in sie zu verlieben. In einem sonst nüchternen wissenschaftlichen Aufsatz stieß ich auf folgenden Satz: »Trypanosoma brucei hat viele entzückende Merkmale, die diesen Parasiten zum Liebling der Experimentalbiologen gemacht haben.« Parasitologen beobachten Trypanosomen genauso sorgfältig wie Ornithologen den Fischadler – nur dass die Parasiten Glukose schlucken und der Verfolgung durch Immunzellen zu entkommen versuchen, indem sie ihre Hülle abwerfen und sich eine neue zulegen; die Parasiten können ihre Form verändern, um im Darm einer Mücke zu überleben, und sich wieder zurückverwandeln in eine für einen menschlichen Wirt geeignete Form. Trypanosomen sind nur eine von vielen Parasitenarten, die in den Menschen des Südsudans leben. Wenn Sie, lieber Leser, wie in jenem fantastischen Film durch die Haut dieser Menschen reisen könnten, würden Ihnen unter anderem murmelgroße Knötchen und in deren unmittelbarer Nähe zusammengeringelte Würmer, lang wie Schlangen und dünn wie Fäden, begegnen. Diese männlichen und weiblichen Tiere, Onchocerca volvulus genannt, verbringen ihr zehn Jahre währendes Leben in diesen Knötchen und bekommen unzählige Junge. Die Jungen verlassen die Knötchen und wandern in der Haut umher in der Hoffnung, dass sie beim Biss einer Kriebelmücke aufgenommen werden. Im Darm der Kriebelmücke reifen diese Parasiten zu ihrem nächsten Stadium heran, und das Insekt überträgt sie dann in die Haut eines neuen Wirts, in der jedes Tierchen wieder ein eigenes Knötchen bildet. Während die Jungen durch die Haut ihres Opfers schwimmen, können sie eine heftige Reaktion seines Immunsystems auslösen. Doch statt den Parasiten zu töten, verursacht das Immunsystem bei dem Wirt einen fleckigen Hautausschlag, der mitunter so juckt, dass sich 14
manche Menschen zu Tode kratzen. Wenn die Würmer durch die äußere Schicht der Augen wandern, kann die Panik des Immunsystems dazu führen, dass der Mensch erblindet. Weil ihre Larven im Wasser leben, halten sich Kriebelmücken vorwiegend in Wassernähe auf, und deshalb heißt die Krankheit »Flussblindheit«. Es gibt Gegenden in Afrika, in denen die Mehrheit der über Vierzigjährigen durch die Flussblindheit das Augenlicht verloren hat. Man könnte auf dieser Reise durch den Köper auch Tamburas Medinawürmern begegnen, 60 Zentimeter langen Lebewesen, die ihre Wirte verlassen, indem sie eine Blase durch das Bein treiben und binnen weniger Tage herauskriechen. Es gibt Fadenwürmer, die Elephantiasis verursachen, wobei ein Skrotum (Hodensack) so anschwellen kann, dass es eine Schubkarre füllt; Bandwürmer, augenlose, mundlose Wesen, die in den Eingeweiden leben, fast zwei Meter lang werden und aus tausenden von Segmenten bestehen, ein jedes mit einem eigenen männlichen und weiblichen Geschlechtsorgan; blattförmige Egel in der Leber und im Blut; einzellige Parasiten, die Malaria verursachen, indem sie in die Blutzellen eindringen und sie mit einer neuen Generation explodieren lassen. Bleibt man lang genug in Tambura, werden die Menschen in der Umgebung transparent und zu glitzernden Konstellationen von Parasiten. Tambura ist jedoch nicht so monströs, wie es sich vielleicht anhört. Es ist lediglich ein Ort, an dem man besonders gut beobachten kann, wie Parasiten in Menschen gedeihen. Die meisten Menschen auf der Erde sind von Parasiten befallen, selbst wenn man von Bakterien und Viren absieht. Über 1,4 Milliarden Menschen haben den schlangenähnlichen Spulwurm Ascaris lumbricoides in ihren Eingeweiden; fast 1,3 Milliarden die Blut saugenden Hakenwürmer; eine Milliarde den Peitschenwurm; zwei bis drei Millionen Menschen sterben jährlich an Malaria. Und die Verbreitung vieler dieser Parasiten nimmt zu und nicht ab. Mickey Richer kann die Ausbreitung der Schlafkrankheit in ihrer kleinen Ecke des Sudan vielleicht verlangsamen, aber rings um sie herum scheint sie sich auszubreiten. Die Krankheit könnte 300.000 Menschen jährlich töten und wahrscheinlich sterben in der Demokratischen Republik Kongo mehr Menschen an ihr als an AIDS. Parasitenmäßig gesehen ist New York monströser als Tambura. Und wenn Sie ei15
nen Schritt zurückgehen und unsere Evolution aus der Sicht eines affenähnlichen Vorfahren vor fünf Millionen Jahren betrachten, dann ist das vergangene Jahrhundert parasitenfreien Lebens, dessen sich einige Menschen erfreuten, nur eine winzige Atempause. Am nächsten Tag sah ich wieder nach Justin. Er lag auf der Seite, auf den Ellbogen gestützt, und aß Brühe aus einer Schüssel. Justin konnte Rücken und Nacken wieder beugen, seine Augen waren nicht mehr geschwollen und die Nase war frei. Er war noch erschöpft und weit mehr am Essen interessiert als an einem Gespräch mit einem Fremden. Aber es war gut zu sehen, dass auch ihm eine kleine Atempause gegönnt war. *** Während ich Orte wie Tambura besuchte, entdeckte ich den menschlichen Körper allmählich als eine kaum erforschte Insel des Lebens – als Heimat für Geschöpfe, die völlig anders waren als alles in der äußeren Welt. Aber als ich bedachte, dass wir nur eine Spezies unter Millionen anderer auf dieser Erde waren, wuchs die Insel vor meinem geistigen Auge zu einem Kontinent, einem ganzen Planeten. Einige Monate nach meiner Reise in den Sudan ging ich in einer schwülen und regnerischen Nacht durch einen Dschungel in Costa Rica. Ich hielt ein Schmetterlingsnetz in der Hand und die Taschen meines Regenmantels waren vollgestopft mit Plastikbeuteln. Der Scheinwerfer an meiner Stirn warf ein schräges Oval auf den Weg, den zehn Schritte vor mir eine Spinne überquerte. Ihre acht Augen funkelten wie ein einziger Diamantsplitter. Eine riesige Wespe krabbelte langsam in ihren Bau am Wegrand, um sich vor meinem grellen Licht zu verstecken. Das einzige Licht jenseits des Scheins meiner Lampe kam von fernen Blitzen und von den Leuchtkäfern, die oben in den Bäumen lange langsame Lichtzeichen gaben. Aus dem Gras stieg der scharfe Geruch von JaguarUrin. Wir waren eine Gruppe von sieben Biologen, angeführt von Daniel Brooks, der meinem Bild vom unerschrockenen Dschun16
gelbiologen nicht im entferntesten entsprach: ein schwer gebauter Mann mit hängendem Schnurrbart, der eine große Pilotenbrille, einen rot-schwarzen Jogginganzug und Turnschuhe trug. Aber während wir anderen uns beim Gehen die Zeit mit Gesprächen vertrieben, wie man Vögel fotografiert oder den Unterschied zwischen einer giftigen Korallenotter und einer harmlosen Mimikry feststellt, ging Brooks ein kleines Stück vor uns und horchte auf die piependen und krächzenden Geräusche, die uns umgaben. Plötzlich blieb er stehen und bedeutete uns mit der Hand, still zu sein. Er bewegte sich auf einen breiten Graben zu, der sich mit dem nächtlichen Regen füllte, und hob langsam sein Netz. Er setzte einen Turnschuh ins Wasser und ließ das Netz auf das gegenüberliegende Ufer des Grabens niedersausen. Das spitze Ende des Netzes begann zu tanzen und zu schlagen. Brooks packte es in der Mitte, bevor er es hochhob. Mit der freien Hand nahm er einen Plastikbeutel von mir in Empfang und blies ihn auf. Er bugsierte einen großen, beigegestreiften Leopardfrosch in den Beutel, verknotete das offene Ende des immer noch dick mit Luft gefüllten Beutels, in dem der Frosch verzweifelt auf und ab sprang, und klemmte sich den Knoten unter die Durchzugskordel seiner Trainingshose. Dann ging er weiter den Pfad entlang – mit seinem dicken Froschbeutel, einem durchsichtigen Sack voll Gold. Frösche und Kröten waren überall in jener Nacht. Brooks fing unweit des ersten einen zweiten Leopardfrosch. Tungarafrösche trieben im Wasser als stimmstarke Chöre. Kröten, manche so groß wie Katzen, warteten, bis wir ganz nahe waren, bevor sie einen großen, trägen Hüpfer machten, um sich auf Distanz zu bringen. Wir kamen an Schaumballen vorbei, die so fest waren wie Badedas-Schaum und aus denen hunderte von Kaulquappen ins nahe Wasser wimmelten. Wir fingen stumpfgesichtige kleine Laubfrösche mit winzigen Glotzaugen direkt über den Nasenlöchern und dicken Leibern, die aussahen wie ein Klacks Schokoladenpudding. Für manche Zoologen wäre die Jagd damit zu Ende gewesen. Aber Brooks war sich noch nicht sicher, was er tatsächlich gefunden hatte. Er brachte die Frösche ins Hauptquartier der Area de Conservacion de Guanacaste und ließ sie über Nacht in den Beuteln mit etwas Wasser, damit sie feucht und am Leben blieben. Am nächsten Morgen, nach einem Frühstück aus Reis, Bohnen und 17
Ananassaft, ging Brooks mit mir in sein Labor – eine Hütte mit zwei Wänden aus Maschendraht. »Die Assistenten hier nennen es das jaula«, sagte Brooks. In der Mitte der Hütte stand ein Tisch mit Seziermikroskopen, Käfer und Raupen krochen über den Betonfußboden. Ein Wespennest hing am Lichtkabel. Draußen, jenseits der Kletterpflanzen, welche die Hütte umgaben, schrie ein Brüllaffe in den Bäumen. Jaula heißt auf Spanisch »Gefängnis«. »Sie meinen, wir müssten hier drin bleiben, sonst würden wir alle ihre Tiere töten.« Brooks nahm einen Leopardfrosch aus einem Beutel und tötete ihn mit einem kurzen Schlag gegen die Ausgusskante. Er legte den Frosch auf den Tisch und begann, seinen Bauch aufzuschneiden. Mit einer Pinzette zog er vorsichtig die Eingeweide heraus. Er tat die Organe in eine breite Petrischale und den ausgenommenen Frosch unter ein Mikroskop. Während der drei vorangegangenen Sommer hatte Brooks das Innere von achtzig Reptilien-, Vogelund Fischarten in Guanacaste untersucht und begonnen, eine Liste der in diesem Reservat lebenden Parasiten anzulegen. Es gibt so viele verschiedene Parasiten in den Tieren und Pflanzen der Welt, dass noch niemand so etwas an einem Ort von der Größe Guanacastes gewagt hatte. Brooks rückte die Lampen auf ihren langen schwarzen Armen zurecht – zwei neugierige Schlangen, die auf den toten Frosch blickten. »Ah«, sagte er, »hier haben wir schon etwas.« Ein Fadenwurm – ein Verwandter der Spulwürmer bei Menschen – war aus seinem Zuhause in einer Vene im Rücken des Froschs herausgekommen. »Er wurde wahrscheinlich von Mücken übertragen, die sich von den Fröschen ernähren«, erklärte Brooks. Er zog den Wurm heraus und legte ihn in eine Schale mit Wasser. Bis er eine Schale mit Essigsäure (so stark wie Industrieessig) gefüllt hatte, war der Parasit zu weißem Schaum explodiert. Aber Brooks gelang es, einen weiteren unverletzt herauszuziehen und heil in den Essig zu verfrachten, wo er sich ausstreckte, bereit, für Jahrzehnte konserviert zu werden. Das war der erste von vielen Parasiten, die wir bei diesem Frosch zu sehen bekamen. Aus einer anderen Vene kam eine Reihe Saugwürmer heraus wie eine sich windende Kette. Die Nieren beherbergten eine weitere Spezies, die nur reif wird, wenn der Frosch 18
von einem Räuber, zum Beispiel von einem Reiher oder Nasenbär, gefressen wird. Die Lunge des Froschs war sauber, obwohl Frösche oft auch dort Parasiten haben. Man findet bei ihnen Malariaerreger im Blut, und Saugwürmer sogar in der Speiseröhre und in den Ohren. »Frösche sind Parasitenhotels«, sagte Brooks. Er nahm die Därme des Froschs auseinander und schlitzte sie vorsichtig auf, um keine darin befindlichen Parasiten zu zerschneiden. Er fand eine weitere Saugwurmspezies und einen winzigen Egel, der quer durch das Sehfeld des Mikroskops schwamm. »Wenn man nicht wüsste, wonach man sucht, würde man das hier für unwichtig halten. Dieser Egel wandert von einer Schnecke zu einer Fliege, die dann von einem Frosch gefressen wird.« Der Egel muss diesen Teil der Eingeweide mit einem Trichostrongylid-Wurm teilen, der einen direkteren Weg dorthin nimmt: Er bohrt sich direkt in den Darm des Froschs hinein. Brooks zog die Schale unter dem Mikroskop hervor. »Das war ziemlich enttäuschend, Jungs«, sagte er. Damit meinte er wohl die Parasiten. Ich war überwältigt von all den Lebewesen, die ich eben in einem einzigen Tier gesehen hatte, aber Brooks wusste, dass eine einzige Froschspezies ein Dutzend Schmarotzerarten in sich haben kann, und er wollte, dass ich so viele wie möglich zu sehen bekam. »Dann hoffen wir mal, dass dein compadre mehr zu bieten hat.« Seine Worte galten diesmal dem Frosch. Er holte den zweiten Leopardfrosch aus seinem Beutel. Diesem fehlten zwei Zehen am linken Vorderfuß. »Das bedeutet, dass er einem Räuber entkommen ist, der nicht so erfolgreich war wie ich«, sagte Brooks und tötete den Frosch mit einem raschen Schlag. Als er den Frosch unter dem Mikroskop aufgeschnitten hatte, gab er einen Laut freudiger Zufriedenheit von sich. »Das ist schön. Na gut – sagen wir: relativ gesehen ist es schön.« Er ließ mich durch das Okular schauen. Ein weiterer Egel, Gorgoderid genannt wegen seiner Ähnlichkeit mit den sich windenden Schlangen auf dem Haupt der Medusa, schob sich aus der Blase des Froschs. »Sie leben in Süßwassermuscheln. Dieser Frosch hatte sein Zuhause also dort, wo es Muscheln gibt, die einen garantierten Wasservorrat, sandigen Grund und kalziumreichen Boden brauchen. Und der zweite Wirt des Egels ist ein Flusskrebs. Also muss das Habitat Muscheln, Flusskrebse und Frösche beherbergen 19
– und zwar das ganze Jahr über. Wo wir ihn gestern gefangen haben, kam er bestimmt nicht her.« Nun waren die Därme an der Reihe. »Hier ist eine hübsche kleine Vignette!« – Nematoden Seite an Seite mit Egeln, die auf der Haut des Frosches Zysten bilden. Wenn der Frosch seine Haut abwirft, frisst er sie und infiziert sich dabei selbst. Die Egel waren akrobatische Eierbeutel. Brooks nahm sich, inzwischen wesentlich aufgeheitert, einen wabbeligen Laubfrosch vor. »O ja, du bist ein Glücksbringer«, rief er, während er die Eingeweide betrachtete. »Der hier muss an die 1.000 Fadenwürmerchen haben. Heiliger Strohsack, das wimmelt ja nur so.« Und in der Fadenwurmsuppe wanden sich schillernde Protozoen, einzellige Riesen, die fast so groß waren wie die vielzelligen Würmer. Einige der Parasiten, die wir sahen, hatten bereits Namen, aber die meisten waren für die Wissenschaft neu. Brooks setzte sich an seinen Computer und gab vage Beschreibungen ein – Nematode, Bandwurm –, die er oder ein anderer Parasitologe später ausfeilen und mit einem lateinischen Namen versehen würden. Der Computer enthielt Aufzeichnungen über weitere Parasitenfunde, die Brooks im Lauf der Jahre gemacht hatte, darunter auch einige, bei deren Präparierung ich in den vorangegangenen Tagen zugesehen hatte: Bandwürmer aus Leguanen oder ein Meer von Fadenwürmern aus einer Schildkröte. Kurz vor meiner Ankunft hatten Brooks und seine Assistenten einen Hirsch geöffnet und ein Dutzend Arten gefunden, die in oder auf ihm lebten, einschließlich Nematoden, die sich nur in der Achillessehne des Hirschs befinden, sowie Fliegen, die ihre Eier in die Nase des Hirschs legen. (Brooks nennt Letztere »Rotzbremsen«.) Selbst in diesem einen Reservat wird Brooks nicht jeden Parasiten erfassen können. Brooks ist Experte für Parasiten von Wirbeltieren, wie Parasiten traditionell definiert werden. Bakterien, Viren und Pilze sind davon ausgeschlossen. Als ich ihn besuchte, hatte er ungefähr 300 Parasiten von Wirbeltieren identifiziert, aber er schätzte, dass es insgesamt 11.000 gab. Brooks beschäftigt sich nicht mit den unzähligen Arten parasitischer Wespen und Fliegen, die im Wald leben, Insekten von innen auffressen und sie bis zum letzten Happen ihrer Mahlzeit am Leben erhalten. Er studiert nicht die Pflanzen, die auf anderen Pflanzen schmarotzen; die das Was20
ser, das ihre Wirte aus dem Boden pumpen, und die Nahrung, die sie aus Luft und Sonne bereiten, stehlen; und er untersucht nicht die Pilze, die in Tiere, Pflanzen oder sogar in andere Pilze eindringen. Er kann nur hoffen, dass sich andere Parasitologen dieser Aufgabe annehmen. Aber sie sind dünn gesät auf diesem riesigen Fachgebiet. Jedes Lebewesen hat wenigstens einen Parasiten, der in oder auf ihm lebt. Viele, wie die Leopardfrösche und die Menschen, haben mehr. In Mexiko lebt ein Papagei mit 30 verschiedenen Milbenarten allein auf seinem Gefieder. Und die Parasiten selbst haben Parasiten und einige davon haben wieder eigene Parasiten. Wissenschaftler wie Brooks haben keine Ahnung, wie viele Parasitenarten überhaupt existieren, aber eines wissen sie und das ist verblüffend: Parasiten bilden die Mehrheit der Arten auf der Erde. Laut einer Schätzung ist das zahlenmäßige Verhältnis von Parasiten zu frei lebenden Arten 4:1. Das Studium des Lebens ist also zum größten Teil Parasitologie. Dieses Buch handelt von diesem neuen Studium des Lebens. Parasiten wurden jahrzehntelang vernachlässigt. Doch in letzter Zeit sind viele Wissenschaftler wieder auf sie aufmerksam geworden. Es hat lange gedauert, bis die Wissenschaft die raffinierte Anpassung der Parasiten an ihre innere Welt vollständig durchschaute, weil man nur schwer etwas davon zu sehen bekommt. Parasiten können ihre Wirte kastrieren und dann ihren Willen lenken. Ein 2,5 Zentimeter langer Plattwurm ist in der Lage, unser komplexes Immunsystem so zu narren, dass es ihn für ebenso harmlos hält wie unser eigenes Blut. Eine Wespe kann ihre Gene in die Zellen einer Raupe einpflanzen, um deren Immunsystem auszuschalten. Erst jetzt denken Wissenschaftler ernsthaft darüber nach, dass Parasiten möglicherweise für das Ökosystem genauso wichtig sind wie Löwen und Leoparden und sogar eine beherrschende, wenn nicht gar die beherrschende Kraft in der Evolution des Lebens waren. Oder vielleicht sollte ich sagen: in der nicht parasitischen Minderheit des Lebens. Es dauert eine Weile, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen.
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Kapitel 1 Die Kriminellen der Natur Die Natur hat eine Parallele, die stark an die Perversion unserer Sozialgesetze erinnert, und der Vergleich ist sehr lehrreich. Die Schlupfwespe lebt parasitisch im lebenden Körper von Raupen und Larven anderer Insekten. Mit grausamer List und einer Erfindungsgabe, die nur vom Menschen übertroffen wird, durchbohrt sie die sich wehrende Raupe und legt ihre Eier in den zappelnden Leib ihres Opfers. John Brown in Parasitic Wealth or Money Reform: A Manifesto to the People of the United States and to the Workers oft the World (1898)
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uerst kam das Fieber. Es gab Blut im Urin. Es gab lange zuckende Fleischschnüre, die sich aus der Haut spulten. Es gab einen schläfrigen Tod nach Mückenstichen. Parasiten oder zumindest ihre Auswirkungen waren schon vor Jahrtausenden bekannt, lange bevor das Wort parasitos bei den Griechen entstand. Wörtlich genommen bedeutet es »mit jemanden essen« und die Griechen bezeichneten damit Beamte, die bei den Tempelfesten servierten. Irgendwann legte das Wort seine etymologischen Herkunft ab und bedeutete Gefolgsmann, Anhänger, jemand, der hin und wieder eine Mahlzeit von einem Edelmann bekommen konnte, indem er ihn mit guter Unterhaltung versorgte, als Bote diente oder andere Tätigkeiten verrichtete. Schließlich wurde der Parasit eine Standardfigur mit eigener Maske in der griechischen Komödie. Erst viele Jahrhunderte später fand das Wort Eingang in die Biologie, um Leben zu beschreiben, welches das Leben anderer von innen her aussaugt. Aber die Griechen kannten auch schon biologische Parasiten. Aristoteles zum Beispiel wusste von Lebewesen, die auf der Zunge von Schweinen leben, eingehüllt in Zysten so hart wie Hagelkörner. Auch anderswo in der Welt waren den Menschen Parasiten geläufig. Die alten Ägypter und Chinesen verschrieben verschiedene 22
Pflanzen, um im Darm lebende Würmer zu bekämpfen. Der Koran befiehlt seinen Lesern, sich von Schweinen und stehenden Gewässern fernzuhalten – beides Quellen von Parasiten. Doch dieses alte Wissen hat größtenteils nur einen Schatten auf der Geschichte zurückgelassen. Die zuckenden Fleischschnüre – heute bekannt als Medinawürmer – waren vielleicht die feurigen Schlangen, von denen die Bibel als eine der Plagen berichtet, unter denen die Israeliten in der Wüste zu leiden hatten. Mit Sicherheit waren sie eine Plage in großen Teilen Asiens und Afrikas. Sie können nicht auf einmal herausgezogen werden, weil sie sonst reißen und der im Körper bleibende Rest eine tödliche Infektion verursacht. Die allgemein übliche Behandlung des Medinawurms war eine Woche Ruhe, während der man den Wurm langsam auf einen Stock wickelte, um ihn am Leben zu halten, bis er ganz herausgekrochen war. Irgendjemand, der heute vergessen ist, hat sich vor Jahrtausenden diese Behandlung ausgedacht. Aber möglicherweise erinnert das Symbol der Heilkunst, der Äskulapstab, um den sich zwei Schlangen winden, an die Erfindung jenes Menschen. Noch in der Renaissance vertraten europäische Ärzte die Meinung, dass nicht Parasiten wie Medinawürmer beim Menschen Krankheiten hervorriefen, sondern Hitze, Kälte oder eine andere Ursachen, die den Körper aus dem Gleichgewicht brachten. Zum Beispiel konnte das Einatmen schlechter Luft ein Fieber namens Malaria mit sich bringen. Eine Krankheit äußerte sich mit bestimmten Symptomen: Husten, fleckiger Ausschlag auf dem Bauch oder Parasiten. Medinawürmer waren das Ergebnis von zu viel Säure im Blut und sie waren auch keine Würmer, sondern etwas, das ein erkrankter Körper produzierte: vielleicht verdorbene Nerven, schwarze Galle oder verlängerte Blutgefäße. Man wollte nicht glauben, dass etwas so Bizarres wie ein Medinawurm ein lebendes Wesen sein könnte. Selbst im Jahr 1824 hielten einige Skeptiker noch an dieser Meinung fest: »Die fragliche Substanz kann kein Wurm sein«, erklärte der Leiter der Gesundheitsbehörde von Bombay, »weil seine Lage, Funktionen und Eigenschaften die eines Lymphgefäßes sind, und deshalb ist die Idee, es könnte sich dabei um ein Tier handeln, absurd.« Andere Parasiten waren zweifellos lebende Wesen. Im Darm von Menschen und Tieren gab es zum Beispiel schlanke, schlan23
genförmige Würmer, später Ascaris genannt, sowie Bandwürmer – flache schmale Bänder, die bis zu 1,80 Meter lang werden konnten. In der Leber von kranken Schafen hausten blattförmige Parasiten, die man nach ihrem Aussehen Fasciola nannte. Doch die meisten Wissenschaftler argumentierten, dass, selbst wenn ein Parasit ein lebendiges Wesen sei, er ein Produkt des menschlichen Körpers sein müsse. Menschen mit Bandwürmern entdeckten zu ihrem Entsetzen, dass Streifen des Wurms mit ihren Exkrementen abgingen, aber niemand hatte je einen Bandwurm Zentimeter für Zentimeter in den Mund eines Opfers kriechen sehen. In den Zysten, die Aristoteles in den Zungen von Schweinen gesehen hatte, lagen zusammengerollt kleine wurmähnliche Lebewesen, aber es waren unselbstständige Tiere, die nicht einmal ein Geschlechtsorgan hatten. Die meisten Wissenschaftler vermuteten, dass Parasiten elternlos im Körper entstanden, so wie Maden spontan auf einer Leiche, Pilze auf alten Heu oder Insekten aus dem Inneren von Bäumen auftauchten. Im Jahr 1673 gesellte sich zu den sichtbaren Parasiten ein ganzer Zoo von unsichtbaren. Ein Kaufmann im holländischen Delft legte einige Tropfen abgestandenen Regenwassers unter ein selbstgebautes Mikroskop und entdeckte kriechende Kügelchen, manche mit dicken Schwänzen, andere mit Pfoten. Sein Name war Anton van Leeuwenhoek, und obwohl er zu Lebzeiten nur als Amateur galt, war er der erste Mensch, der Bakterien und Zellen sah. Er untersuchte alles, was er unter sein Mikroskop schieben konnte. Im Belag seiner Zähne entdeckte er rutenförmige Wesen, die er mit einem Schluck heißem Kaffee töten konnte. Nach einer unbekömmlichen Mahlzeit mit geräuchertem Rindfleisch oder Schinken schob van Leeuwenhoek Proben seines Stuhls unter die Linsen. Noch mehr Lebewesen zeigten sich: ein Klecks mit beinähnlichen Anhängseln, mit denen das Ding wie eine Assel krabbelte, und aalförmige Wesen, die wie Fische schwammen. Ihm wurde klar, dass sein Körper ein Hort für mikroskopische Parasiten war. Später fanden andere Biologen hunderte verschiedener Arten mikroskopischer Lebewesen, die in anderen Lebewesen wohnten, und ein paar Jahrhunderte lang wurde zwischen ihnen und den größeren Parasiten keine Trennung vollzogen. Die neuen kleinen Würmer nahmen vielerlei Formen an; sie sahen aus wie Frösche, 24
Skorpione, Eidechsen. »Einigen wachsen Hörner«, schrieb ein Biologe 1699, »bei anderen gabelt sich der Schwanz; manche bekommen Schnäbel wie Vögel, andere sind behaart oder werden ganz rau; und wieder andere sind mit Schuppen bedeckt und ähneln Schlangen.« Inzwischen identifizierten andere Biologen zahllose sichtbare Parasiten – Egel, Würmer, Krebstiere und andere, die in Fischen, Vögeln, praktisch in jedem Tier lebten, das sie öffneten. Die meisten Wissenschaftler blieben bei ihrer Theorie, dass Parasiten, große wie kleine, spontan von ihren Wirten gezeugt würden und nur der passive Ausdruck einer Krankheit seien. Sie hielten das ganze 18. Jahrhundert über daran fest, selbst als einige Wissenschaftler die These von der Urzeugung prüften und für nicht haltbar befanden. Diese Skeptiker zeigten, dass die Maden, die auf dem Leib einer toten Schlange auftauchten, aus Eiern von Fliegen stammten und selbst zu Fliegen wurden. Doch selbst wenn Maden nicht elternlos entstanden, musste dies bei Parasiten anders sein. Sie hatten einfach keine Möglichkeit, selbstständig in einen Körper zu gelangen, und mussten deshalb dort gezeugt worden sein. Sie waren auch nie außerhalb eines menschlichen oder tierischen Körpers gesehen worden. Man entdeckte die Parasiten in jungen Tieren, sogar in abgegangenen Föten. Manche Arten lebten in den Därmen der Tiere fröhlich neben anderen Organismen, die von den Verdauungssäften abgetötet werden. Andere fand man zusammengeballt in Herz und Leber, doch niemand konnte sich vorstellen, wie sie dorthin gelangten. Die Parasiten hatten Haken, Saugmünder und manch andere Ausrüstung, um in einen Körper hineinzukommen, aber in der äußeren Welt wären sie hilflos gewesen. Parasiten waren eindeutig so angelegt, um ihr ganzes Leben in anderen Tieren und sogar nur in besonderen Organen zu verbringen. Die Urzeugung war nach dem damaligen Stand der Forschung die beste Erklärung für Parasiten. Aber es war gleichzeitig eine zutiefst ketzerische Theorie. Die Bibel lehrt, dass das Leben von Gott geschaffen wurde und dass jede Kreatur ein Spiegelbild Seines Plans und Seiner Güte ist. Alles Lebendige musste von diesen ursprünglichen Lebewesen abstammen, in einer ununterbrochenen Kette von Eltern und Kindern – da konnte nicht später noch etwas anderes auftauchen dank einer ungezähmten Lebenskraft. Wenn 25
unser Blut spontan Leben zeugte, wozu bedurfte es dann Gottes Hilfe während der Schöpfungstage? Die rätselhafte Natur der Parasiten schuf einen ganz eigenen, verwirrenden Katechismus. Warum erschuf Gott die Parasiten? Damit wir nicht zu übermütig werden und nicht vergessen, dass wir nur Staub waren. Wie kamen Parasiten in uns hinein? Sie mussten uns von Gott eingepflanzt worden sein, weil es offensichtlich keine Möglichkeit für sie gab, von sich aus in den Menschen zu gelangen. Vielleicht wurden sie von Generation zu Generation in unseren Körpern an unsere Kinder weitervererbt. Bedeutete das, dass schon Adam, in reinster Unschuld erschaffen, mit Parasiten beladen war, als Gott ihm den Odem des Lebens einhauchte? Vielleicht wurden die Parasiten in ihm nach dem Sündenfall erschaffen. Aber wäre das nicht eine zweite Schöpfung gewesen, ein achter Tag zu den sieben der ersten Woche? »… und am folgenden Montag schuf Gott Parasiten?« Vielleicht wurde Adam doch mit Parasiten erschaffen, aber im Paradies waren Parasiten seine Helfer. Sie vertilgten die Nahrung, die er nicht völlig verdauen konnte, und leckten von innen her seine Wunden rein. Aber warum sollte Adam, der nicht nur unschuldig, sondern auch vollkommen erschaffen war, überhaupt Hilfe brauchen? Hier war der Katechismus endgültig überfordert. Parasiten sorgten besonders durch ihre für uns völlig ungewohnt verlaufenden Lebensläufen für große Verwirrung unter den Wissenschaftlern. Wir haben dieselbe Art von Körper wie unsere Eltern in unserem Alter, und genauso ist es bei den Lachsen, den Bisamratten oder den Spinnen. Parasiten können diese Regel brechen. Der erste Wissenschaftler, der das erkannte, war der dänische Zoologe Johann Steenstrup. Er befasste sich in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts mit den rätselhaften Egeln, deren blattähnliche Körper in beinahe jedem Tier, das ein Parasitologe untersuchte, zu finden waren: in der Leber von Schafen, im Gehirn von Fischen, im Darm von Vögeln. Egel legten Eier und doch hatte niemand zu Steenstrups Zeit jemals ein Egeljunges in seinem Wirt gefunden. Die Parasitologen hatten jedoch andere Lebewesen entdeckt, die eindeutig egelhaft aussahen. Wo immer eine bestimmte Schneckenart lebte, in Gräben, Teichen oder Bächen, stießen sie auf frei 26
schwimmende Tierchen, die wie kleine ausgefallene Egel aussahen, bis auf den großen Schwanz an ihrem Hinterteil. Diese Tiere, so genannte Zerkarien, schossen mit ihren Propellerschwänzen wie verrückt durch das Wasser. Steenstrup schöpfte etwas Wasser aus einem Graben mitsamt Schnecken und Zerkarien und stellte es in einen warmen Raum. Er beobachtete, dass die Zerkarien die Schleimschicht des Schneckenleibs durchdrangen, ihre Schwänze abwarfen und eine harte Zyste bildeten, die sich »wie ein kleines fest geschlossenes Uhrglas über sie wölbt«. Als Steenstrup die Zerkarien aus diesen Schutzräumen herauszog, stellte er fest, dass sie Egel geworden waren. Die Biologen wussten, dass Schnecken auch Wirtstiere für andere Parasitenarten waren, zum Beispiel für ein Tier, das wie ein formloser Sack aussah, oder eines, das sie den »gelben Wurm des Königs« nannten: ein fleischiges Tier, das in der Verdauungsdrüse der Schnecke lebte und etwas in sich trug, das wie Zerkarien aussah und zappelte wie eine Katze im Sack. Und Steenstrup fand sogar noch ein weiteres egelähnliches Lebewesen im Wasser; es hatte jedoch keinen Schwanz, der es wie ein Rakete antrieb, sondern trug am ganzen Körper hunderte feiner Härchen. Während Steenstrup alle diese durch das Wasser wuselnden Organismen betrachtete – Organismen, die in vielen Fällen eigene lateinische Artennamen hatten –, kam er auf eine unerhörte Idee: Alle diese Tiere waren verschiedene Stadien und Generationen von einem einzigen Tier. Die erwachsenen Tiere legen Eier, die ihre Wirte verlassen und im Wasser landen. Aus ihnen schlüpft die fein behaarte Form. Diese Form sucht sich im Wasser eine Schnecke, dringt in diese ein und verwandelt sich in den formlosen Sack. Der Sack schwillt an, während er sich mit den Embryos einer neuen Egelgeneration füllt. Aber diese neuen Egel ähneln weder den blattförmigen Formen in einer Schafsleber oder der fein behaarten Form, die in die Schnecke eindringt. Diese neuen Egel sind die gelben Königswürmer. Sie wandern fressend durch die Schnecke und züchten in sich eine weitere Egelgeneration heran: die propellerschwänzigen Zerkarien. Die Zerkarien treten aus der Schnecke aus und bilden sofort Zysten auf ihr. Von dort gelangen sie irgendwie in Schafe oder einen anderen letzten Wirt, in dem sie aus ihren Zysten als reife Egel schlüpfen. 27
Das war eine Möglichkeit, wie Parasiten in unseren Körpern ohne Vorgänger auftreten konnten. »Ein Tier trägt Junge, die den Eltern unähnlich sind und bleiben, aber diese Jungen bringen eine neue Generation hervor, deren Mitglieder entweder selbst oder in ihren Nachkommen zur ursprünglichen Form des Elterntiers zurückkehren.« Die Vorgänger seien den Wissenschaftlern bereits begegnet, sagte Steenstrup, aber sie konnten nicht glauben, dass sie alle zu derselben Spezies gehörten. Steenstrups Idee erwies sich schließlich als richtig. Viele Parasiten wandern bei ihrem Lebenslauf von einem Wirt zum anderen und wechseln in vielen Fällen von einer Generation zur nächsten die Form. Dank Steenstrups Erkenntnis löste sich eines der besten Beispiele für die Urzeugung bei Parasiten in Luft auf. Steenstrup wandte sich daraufhin den Würmern zu, die Aristoteles in den Zysten von Schweinezungen gesehen hatte. Diese Parasiten, die damals Blasenwürmer hießen, können in jedem Muskel eines Säugetiers leben. Steenstrup vermutete, dass Blasenwürmer ein frühes Stadium in der Entwicklung eines anderen, noch nicht gefundenen Wurms waren. Andere Wissenschaftler bemerkten, dass Blasenwürmer ein bisschen wie Bandwürmer aussahen. Man brauchte nur den größten Teil von dem langen bandförmigen Körper des Bandwurms abzuschneiden, seinen Kopf und ein paar der ersten Segmente in eine Muschel zu stecken, und schon hatte man einen Blasenwurm. Vielleicht waren Blasenwurm und Bandwurm ein und dasselbe – vielleicht waren sie tatsächlich das Produkt von Bandwurmeiern, die in den falschen Wirt geraten waren. Wenn die Eier in dieser ungünstigen Umgebung brüteten, konnten die Bandwürmer nicht ihren normalen Entwicklungsverlauf nehmen, sondern wuchsen zu verkrüppelten Mißgeburten heran, die starben, bevor sie das Reifestadium erreichten. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts hörte ein frommer deutscher Arzt von diesen Überlegungen und war empört. Friedrich Küchenmeister hatte eine kleine Arztpraxis in Dresden. In seiner Freizeit schrieb er Bücher über biblische Zoologie und leitete den örtlichen Feuerbestattungsverein »Die Urne«. Küchenmeister erkannte, dass die These, Blasenwürmer seien in Wirklichkeit Bandwürmer, zwar von der ketzerischen Idee der Urzeugung ab28
wich, aber sie tappte in eine andere sündige Falle: Die These beinhaltete die Idee, dass Gott eines seiner Geschöpfe in einer monströsen Sackgasse enden ließ. »Es wäre gegen die weise Ordnung der Natur, in der nichts ohne sinnvollen Zweck geschieht«, erklärte Küchenmeister. »Eine solche Irrtumstheorie widerspricht der Weisheit des Schöpfers und den der Natur gegebenen Gesetzen von Harmonie und Einfachheit« – Gesetze, die selbst auf Bandwürmer zuträfen. Küchenmeister hatte eine gottesfürchtigere Erklärung: Die Blasenwürmer seien ein Frühstadium im natürlichen Lebenslauf des Bandwurms. Schließlich fand man Blasenwürmer sehr häufig in Beutetieren wie Mäuse, Schweine und Kühe, und Bandwürmer fand man eher in Raubtieren wie Katzen, Hunde und Menschen. Vielleicht verhielt es sich so, dass ein Räuber eine Beute fraß und der Blasenwurm dann aus seiner Zyste kroch und zu einem vollständigen Bandwurm heranwuchs. Im Jahr 1851 begann Küchenmeister mit einer Reihe von Versuchen, um den Blasenwurm aus seiner Sackgasse zu erretten. Er entnahm dem Fleisch von Kaninchen 40 Blasenwürmer und verfütterte sie an Füchse. Einige Wochen später fand er 35 Bandwürmer in seinen Füchsen. Das Gleiche veranstaltete er mit einer anderen Spezies von Band- und Blasenwürmern in Mäusen und Katzen. Im Jahr 1853 gab er einem Hund Blasenwürmer aus einem kranken Schaf zu fressen, der bald darauf mit seinem Kot Segmente eines erwachsenen Bandwurms ausschied. Diese verfütterte er an ein gesundes Schaf, das 16 Tage danach zu taumeln begann. Als das Schaf geschlachtet wurde, untersuchte Küchenmeister den Schädel und fand Blasenwürmer, die auf dem Hirn des Schafs saßen. Küchenmeister verblüffte mit seinen Entdeckungen die Universitätsprofessoren, die Parasiten zu ihrem Lebenswerk gemacht hatten. Ein Amateur unterstand sich, völlig allein ein Problem zu lösen, mit dem sich die Experten seit Jahrzehnten vergeblich herumschlugen. Die Wissenschaftler versuchten Küchenmeisters Arbeit in jeder Hinsicht madig zu machen, um ihre eigenen Theorien über Sackgassen-Blasenwürmer aufrechtzuerhalten. Ein Problem bei Küchenmeisters Arbeit war, dass er die Blasenwürmer manchmal den falschen Wirtsarten zu fressen gab und die Parasiten dann alle 29
starben. Küchenmeister wusste zum Beispiel, dass in Schweinefleisch eine Blasenwurmspezies vorkam und dass die Dresdner Metzger und ihre Familien häufig an Bandwürmern namens Taenia solium litten. Er vermutete, dass die zwei Parasiten ein und derselbe waren. Er gab Schweinen Taenia-Eier zu fressen und sie bekamen Blasenwürmer; aber wenn er die Blasenwürmer Hunden zu fressen gab, entstanden keine erwachsenen Taenia. Die einzige Möglichkeit, den Zyklus zu beweisen, bestand darin, im alleinigen echten Wirt nachzusehen: im Menschen. Küchenmeister war so entschlossen, Gottes gütige Harmonie zu beweisen, dass er ein grausiges Experiment wagte. Er erhielt die Erlaubnis, einem zum Tode Verurteilten Blasenwürmer ins Essen zu mischen. Im Jahr 1854 wurde ihm tatsächlich mitgeteilt, dass man einen Mörder für ihn habe, der in wenigen Tagen enthauptet werden solle. Zufällig bemerkte Küchenmeisters Frau, dass in dem Schweinebraten, den sie für das Mittagessen zubereitet hatte, einige Blasenwürmer waren. Küchenmeister eilte sofort zu dem Gasthof, wo sie das Fleisch gekauft hatte, und bat um ein Pfund von dem rohen Fleisch, obwohl das geschlachtete Schwein bereits zwei Tage alt war und anfing zu riechen. Der Gasthofbesitzer gab ihm von dem Fleisch. Am nächsten Tag pickte Küchenmeister die Blasenwürmer heraus und mengte sie in eine auf Körpertemperatur gekühlte Nudelsuppe. Der Gefangene wusste nicht, was er da aß, und es schmeckte ihm so gut, dass er um eine zweite Portion bat. Küchenmeister gab ihm einen zweiten Schlag Suppe und Blutwurst dazu, in der er ebenfalls Blasenwürmer versteckt hatte. Drei Tage danach wurde der Mörder hingerichtet, und Küchenmeister untersuchte seine Därme. Er fand junge Taenia-Bandwürmer. Sie waren erst sechs Millimeter lang, aber sie hatten bereits ihren typischen Doppelkranz von 22 Haken entwickelt. Fünf Jahre später wiederholte Küchenmeister das Experiment. Diesmal gab er die Würmer einem Sträfling vier Monate vor dessen Hinrichtung. Danach fand er in den Därmen des Mannes bis zu 1,50 Meter lange Bandwürmer. Er empfand das Ergebnis als einen Triumph, aber die zeitgenössischen Wissenschaftler waren entrüstet. Die Versuche seien »erniedrigend für unsere gemeinsame Natur«, meinte ein Kritiker. Ein anderer verglich Küchenmeister mit 30
zeitgenössischen Ärzten, die einem frisch hingerichteten Menschen das noch schlagende Herz herausschnitten, »nur um ihre Neugier zu befriedigen«. Einer zitierte den Dichter Wordsworth: »Ein heimlicher Schnüffler und Botanisierer auf seiner Mutter Grab?« Trotzdem stand eines fest: Parasiten gehörten zu den merkwürdigsten Lebewesen, die es gab. Sie wurden nicht spontan gezeugt, sondern kamen von anderen Wirten. Küchenmeister trug auch zur Entdeckung einer weiteren bedeutsamen Eigenschaft von Parasiten bei, die Steenstrup nicht bemerkt hatte: Parasiten brauchten nicht immer durch die äußere Welt zu wandern, um von einem Wirt zum anderen zu gelangen. Sie konnten in einem Tier wachsen und darauf warten, bis es von einem anderen gefressen wurde. Die letzte Hoffnung, die den Anhängern der Urzeugung noch blieb, waren die Mikroben. Doch hier schob der französische Chemiker und Bakteriologe Louis Pasteur bald einen Riegel vor. Für seinen klassischen Beweis gab er Fleischbrühe in eine Flasche. Nach einiger Zeit wurde die Brühe schlecht und füllte sich mit Mikroben. Einige Wissenschaftler behaupteten, die Mikroorganismen seien in der Brühe spontan gezeugt worden, aber Pasteur bewies, dass sie mit der Luft in die Flasche gelangt waren und sich in der Brühe niedergelassen hatten. Darüber hinaus zeigte er, dass Mikroorganismen nicht nur ein Symptom, sondern häufig auch die Ursache von Krankheiten sind – ein Phänomen, das als Keiminfektion bekannt wurde. Dieser Erkenntnis verdankt die westliche Medizin ihre großen Erfolge. Pasteur und andere Wissenschaftler begannen nun mit der Isolierung spezieller Bakterien, die Krankheiten verursachten wie Milzbrand, Tuberkulose und Cholera und entwickelten Impfstoffe gegen einige dieser Krankheiten. Sie bewiesen, dass Ärzte mit schmutzigen Händen und unsterilen Skalpellen Krankheiten verbreiteten und dies mit Seife und heißem Wasser verhindern konnten. Mit Pasteurs Arbeit erfuhr der Begriff des Parasiten eine seltsame Wandlung. Um 1900 wurden Bakterien kaum noch als Parasiten bezeichnet, obwohl sie wie Bandwürmer in und auf Kosten von anderen Organismen lebten. Dass Bakterien Organismen waren, war für die Ärzte weniger wichtig als die Tatsache, dass sie Krankheiten verursachten und man sie jetzt mit Impfstoffen, Me31
dikamenten und Hygiene bekämpfen konnte. Forschung und Lehre in der Medizin konzentrierten sich auf Infektionskrankheiten und generell auf Krankheiten, die durch Bakterien (oder später durch die viel kleineren Viren) verursacht werden. Diese einseitige Ausrichtung hatte zum Teil damit etwas zu tun, wie die Wissenschaftler Krankheitsursachen erforschten. Im Allgemeinen richteten sie sich nach einem von Robert Koch entwickelten Verfahren. Dabei musste zunächst nachgewiesen werden, dass ein Krankheitserreger mit einer speziellen Krankheit in Zusammenhang stand. Der Erreger wurde isoliert und als Reinkultur gezüchtet. Dann wurde er einem Wirt eingeimpft, in dem er die Krankheit erneut hervorrufen musste. Die Krankheitserreger im zweiten Wirt mussten dem eingeimpften Organismus entsprechen. Bei Bakterien funktionierte dieses Verfahren ohne große Probleme. Aber es gab viele andere Parasiten, die sich nicht dafür eigneten. Zusammen mit Bakterien leben – im Wasser, in der Erde und im Körper von Lebewesen – viel größere, aber immer noch mikroskopisch kleine, einzellige Organismen: die Protozoen. Als Leeuwenhoek seinen Stuhl unter dem Mikroskop betrachtete, hatte er ein Protozoon gesehen, das heute Giardia lamblia heißt, und von dem ihm beim ersten Anblick ganz übel wurde. Protozoen ähneln nicht so sehr den Bakterien, sondern viel eher den Zellen, aus denen unser Körper, Pflanzen und Pilze bestehen. Bakterien sind im wesentlichen Beutel aus loser DNS und vereinzelten Proteinen. Aber die Protozoen wickeln – genauso wie wir Menschen – ihre DNS zu Molekularspulen auf und verwahren sie sorgfältig in einer Schale, dem Nukleus oder Zellkern. Sie haben ebenfalls Hohlräume, die Energie erzeugen, und ihr gesamter Inhalt ist – wie unsere Zellen – von einem skelettartigen Gerüst umgeben. Dies waren nur einige von zahlreichen Anzeichen, die den Biologen zeigten, dass Protozoen mehr mit mehrzelligem Leben verwandt sind als mit Bakterien. Man ging sogar soweit, das Leben in zwei Gruppen zu teilen: in Prokaryonten – dazu gehören Bakterien und Blaualgen – und in Eukaryonten – dazu gehören Protozoen, Tiere, Pflanzen und Pilze. Viele Protozoen, wie die Amöben im Waldboden oder das Phytoplankton, das die Meere grün macht, sind harmlos. Aber es gibt unzählige parasitische Protozoenarten und einige gehören zu den tückischsten Parasiten, die man kennt. Um die Jahrhundertwende 32
hatten Wissenschaftler entdeckt, dass das Malariafieber nicht von schlechter Luft verursacht wurde, sondern von mehreren Arten eines Protozoons mit dem Namen Plasmodium – ein Parasit, der in Stechmücken lebte und auf den Menschen übertragen wurde, wenn die Mücken durch die Haut stachen, um Blut zu trinken. Und die Tsetsefliegen trugen Trypanosomen in sich, welche die afrikanische Schlafkrankheit verursachten. Doch trotz ihrer Fähigkeit, Krankheiten zu erregen, konnten die meisten Protozoen Kochs strenge Anforderungen nicht erfüllen. Sie waren Wesen nach Steenstrups Herzen mit alternierenden Generationenzyklen. Plasmodium gelangt als eine Zucchini ähnliche Form, genannt Sporozoit, durch einen Mückenstich in den menschlichen Körper. Das Sporozoit wandert zur Leber, wo es in eine Zelle eindringt und und bis zu 40.000 Nachkommen zeugt, die Merozoiten. Diese bilden die Form einer Traube. Die Merozoiten strömen aus der Leber und suchen sich rote Blutzellen, in denen sie noch mehr Merozoiten produzieren. Die neuen Generationen schlüpfen und suchen sich neue Blutzellen. Nach einer Weile bilden einige der Merozoiten abweichende Formen, Makrogamonten genannt. Trinkt eine Stechmücke das Blut des Wirts, schluckt sie sicherlich auch eine Blutzelle mit Makrogamonten. Die männlichen und weiblichen Makrogamonten paaren sich im Insekt und zeugen einen kleinen runden Nachfahren, den Ookineten. Dieses Sporentierchen teilt sich im Darm der Stechmücke in tausende Sporozoiten, die zu den Speicheldrüsen der Mücke wandern, um von dort aus in einen neuen menschlichen Wirt übertragen zu werden. Bei so vielen Generationen und verschiedenen Formen kann man Plasmodium-Organismen nicht züchten, indem man sie einfach in eine Deckelschale packt und hofft, dass sie sich vermehren. Man muss die männlichen und weiblichen Makrogamonten glauben lassen, dass sie sich in einem Mückendarm befinden, damit sie Nachkommen zeugen. Und ihrem Nachwuchs muss man vortäuschen, dass er aus dem Mund der Mücke in menschliches Blut gespritzt wurde. Das ist kein unmögliches Unterfangen, aber erst in den siebziger Jahre erforschte ein Wissenschaftler, wie man Plasmodium im Labor kultivieren kann – ein ganzes Jahrhundert später, nachdem Koch sein Verfahren zur Züchtung von Reinkulturen auf festen Nährböden entwickelt hatte. 33
Parasitische Eukaryonten und Bakterien wurden durch die Geografie noch weiter voneinander getrennt. In Europa verursachten Bakterien und Viren die schlimmsten Krankheiten, zum Beispiel Tuberkulose und Kinderlähmung. In den Tropen richteten Protozoen und parasitische Tiere schlimme Schäden an. Die Wissenschaftler, die sich mit ihnen beschäftigten, waren größtenteils Ärzte in den Kolonien und ihr Spezialgebiet wurde die Tropenmedizin. Die Europäer betrachteten Parasiten unter ganz bestimmten Aspekten: Parasiten beraubten sie ihrer eingeborenen Arbeitskräfte; sie verlangsamten den Bau ihrer Kanäle und Dämme; sie verhinderten, dass Weiße wunschlos glücklich am Äquator leben konnten. Als Napoleon mit seiner Armee in Ägypten einfiel, begannen die Soldaten zu klagen, dass sie menstruierten wie Frauen. In Wirklichkeit waren sie von Egeln infiziert, die, wie die Egel, die Steenstrup untersucht hatte, aus Schnecken kamen und im Wasser auf der Suche nach Menschenhaut umherschwammen. Sie gelangten schließlich in die Blutgefäße im Unterleib der Soldaten und schoben ihre Eier in deren Blase. Blutegel befielen Menschen an der Westküste Afrikas und in den Flüssen Japans. Der Sklavenhandel brachte sie sogar in die Neue Welt, wo sie in Brasilien und in der Karibik beste Bedingungen vorfanden. Die Krankheit, die sie verursachten, die Bilharziose oder Schistosomiase, erschöpfte die Kraft von Millionen Menschen, welche die Kolonialreiche aufbauen sollten. Bakterien und Viren besetzten das Zentrum der Medizin und drängten die Parasiten, beziehungsweise alles andere, an den Rand. Die Tropenmediziner kämpften weiter gegen »ihre« Parasiten, häufig mit verblüffend geringem Erfolg. Impfstoffe gegen Parasiten versagten erbärmlich. Es gab ein paar alte Heilmittel – Chinin gegen Malaria, Antimon gegen Blutegel – aber sie bewirkten nur wenig Gutes. Manchmal waren sie so toxisch, dass sie ebenso viel Schaden anrichteten wie die Krankheit selbst. Mittlerweile untersuchten Tierärzte, was sonst noch in Kühen, Hunden und anderen Haustieren lebte. Entomologen sahen sich die Insekten genauer an, die sich in Bäume bohrten, sowie die Nematoden, die an den Baumwurzeln saugten. Alle diese verschiedenen Disziplinen wurden unter dem Begriff der Parasitologie zusammengefasst – ein eher loses Bündnis als eine tatsächliche Wissenschaft. Wenn etwas 34
die einzelnen Gruppen zusammenhielt, dann war es die Erkenntnis der Parasitologen, dass ihre Forschungsobjekte Lebewesen und nicht nur Krankheitserreger waren, ein jedes mit einer eigenen biologischen Geschichte. Ein zeitgenössischer Wissenschaftler sprach von »medizinischer Zoologie«. Einige Zoologen beschäftigten sich mit dieser medizinischen Zoologie. Aber gerade, als die Theorie von den Krankheitskeimen die Welt der Medizin veränderte, bekamen sie es mit einer Revolution in ihrem eigenen Fach zu tun. Im Jahr 1859 tischte ihnen Charles Darwin eine neue Erklärung für Leben auf. Er behauptete, Leben habe seit der Erschaffung der Erde nicht unverändert existiert, sondern sich von einer Lebensform zur anderen entwickelt. Diese Evolution sei von etwas vorangetrieben worden, das er natürliche Zuchtwahl nannte. Jede Generation einer Spezies habe ihre Varianten und einige Varianten gediehen besser als andere – sie fänden mehr Nahrung oder könnten vermeiden, die Nahrung von anderen zu werden. Ihre Nachfahren würden diese Eigenschaften erben, und im Verlauf von tausenden von Generationen hätte diese ungeplante Züchtung die heutige Vielfalt des Lebens auf der Erde erzeugt. Für Darwin war Leben nicht eine zu den Engeln führende Leiter oder ein mit Muscheln und präparierten Tieren vollgestopftes Kabinett. Es war wie ein Baum, der nach oben strebte mit all den vielfältigen Arten auf der Erde, die heute leben und früher gelebt haben und die alle aus einer einzigen Wurzel stammen. Den Parasiten erging es in der evolutionären Revolution ebenso schlecht wie in der medizinischen. Darwin beschäftigte sich nur flüchtig mit ihnen; gewöhnlich dann, wenn er zu erklären versuchte, dass sich die Natur schlecht dazu eignete, Gottes wohlwollenden Plan zu beweisen. »Es ist des Schöpfers zahlloser Weltensysteme unwürdig, jeden einzelnen der Myriaden kriechender Parasiten erschaffen zu haben«, schrieb er einmal. Er fand, dass parasitische Wespen ein besonders gutes Mittel gegen sentimentale Vorstellungen von Gott seien. Die Art, wie die Larven ihren Wirt von innen auffraßen, erschien ihm so grausam, dass er schrieb: »Ich kann nicht glauben, dass ein gütiger und allmächtiger Gott die Ichneumonidae (parasitische Schlupfwespen) vorsätzlich und eigens zu dem Zweck geschaffen hat, dass sie sich in lebenden Raupen von deren Körper ernähren.« 35
Trotzdem war Darwin geradezu freundlich zu den Parasiten verglichen mit den späteren Biologengenerationen, die seine Arbeit fortsetzten. Statt einer gewissen Vernachlässigung oder vielleicht auch eines leichten Ekels legten sie eine regelrechte Verachtung für Parasiten an den Tag. Diese spätviktorianischen Wissenschaftler fühlten sich zu einer merkwürdigen, heute von ihrem Nimbus entkleideten Form von Evolution hingezogen. Sie akzeptierten das Konzept von der Entwicklung des Lebens; aber Darwins natürliche Zuchtwahl, dieser Filter von Generation zu Generation, erschien ihnen zu willkürlich, um die Entwicklungen zu erklären, die sie in Fossilien sahen, die Millionen Jahre überdauert hatten. Für sie hatte das Leben eine innere Kraft, die es zu immer größerer Komplexität vorantrieb. Ihrer Ansicht nach verlieh diese Kraft der Evolution ein Ziel: die Schaffung höherer Organismen – solcher Wirbeltiere wie wir – aus den niedrigeren Lebewesen. Ein einflussreicher Vertreter dieser These war der englische Zoologe Ray Lankester. Lankester wuchs mit der Evolution auf. Darwin verkehrte im Haus seiner Eltern und erzählte dem Jungen Geschichten von riesigen Schildkröten auf einer Pazifikinsel, auf denen man sogar reiten konnte. Als Lankester erwachsen war, hatte er sich zu einem Hünen mit einem dicken Charles-LaughtonGesicht entwickelt. Als Professor in Oxford und Leiter des Britischen Museums in London trieb er Darwins Theorie voran – manchmal anscheinend mit dem schieren Gewicht seines Körpers. Er schaffte es, dass sich die Menschen neben ihm körperlich und geistig wie Zwerge fühlten. Ein Mann, der ihn kennenlernte, meinte, er erinnere ihn an einen assyrischen geflügelten Stier. Als ihn König Edward VII. einmal besuchte und ihn mit einem Leckerbissen wissenschaftlicher Erkenntnis erfreuen wollte, entgegnete Lankester schonungslos: »Sir, das stimmt so nicht. Da hat man Sie falsch informiert.« Für Lankester hatte Darwins Theorie der Biologie eine Geschlossenheit verliehen, die der jeder anderen Wissenschaft nicht nachstand. Er hatte keine Geduld mit senilen Professoren, die seine Wissenschaft als kurioses Steckenpferd betrachteten. »Wir werden nicht länger mit ansehen, dass die Biologie als nicht exakt verspottet, als Naturgeschichte abgetan oder nur wegen ihres Bezugs zur Medizin gepriesen wird. Die Biologie ist, ganz im Gegenteil, die 36
Wissenschaft, deren Entwicklung in unsere Zeit gehört«, erklärte er. Und das Verstehen dieser Wissenschaft würde dazu beitragen, künftige Generationen von dummen Orthodoxien aller Art zu befreien: »… vom wichtigtuerischen kleinen Beamten, aufgeblasenen Regierungsrat, schlecht gelaunten Kommandanten und von beschränkten Pädagogen«. Diese Wissenschaft würde zur höheren Entwicklung der menschlichen Zivilisation beitragen – ein Ziel, welches das Leben selbst seit Millionen Jahren anstrebe. Seine Sicht der biologischen und politischen Ordnung der Dinge legte Lankaster 1879 in seinem Aufsatz »Degeneration: A Chapter in Darwinism« dar. Der Lebensbaum, der in diesem Aufsatz beschrieben wird, ist nicht der wild wuchernde Busch Darwins. Er ähnelt eher einem Plastikweihnachtsbaum mit seitlich vom Hauptstamm abstehenden Ästen, dessen Stamm zu immer höheren Herrlichkeiten ansteigt, bis auf seiner Spitze die Menschen thronen. In jedem Stadium des sich höher entwickelnden Lebens gaben einige Arten, zufrieden mit dem Grad von Komplexität, den sie erreicht hatten, den Kampf auf – sie wollten eben nicht mehr sein als Amöbe, Schwamm oder Wurm –, während andere weiterhin höher strebten. Aber es gab auch schlaff herabhängende Zweige an Lankesters Baum. Einige Arten blieben nicht nur stehen, sondern gaben sogar einige ihrer erworbenen Eigenschaften auf. Sie entarteten, beziehungsweise stellten ihren Körper wieder auf ein einfacheres Leben ein. Für die Biologen zu Lankesters Zeit waren Parasiten das sine qua non der Entartung, ob sie nun Tiere oder einzellige Protozoen waren, die ein freies Leben aufgegeben hatten. Die Quintessenz eines Parasiten war für Lankester ein armseliger Rankenfußkrebs namens Sacculina carcini. Wenn er aus seinem Ei schlüpft, hat er einen Kopf, ein Maul, einen Schwanz, einen in Segmente gegliederten Rumpf und Beine – was man eben von einem Rankenfüßer oder jedem anderen Krebs erwartet. Aber statt zu einem Tier heranzuwachsen, das auf Nahrungssuche geht und um seine Nahrung kämpft, sucht sich Sacculina eine Krabbe und schlüpft in deren Panzer. Sobald er das geschafft hat, degeneriert er; er verliert Segmente, Beine, Schwanz und sogar das Maul. Dafür bildet er wurzelähnliche Ranken, die sich durch den ganzen Körper der Krabbe ziehen. Mit diesen Wurzeln saugt der Parasit Nahrung aus 37
dem Krabbenkörper. Damit war er für Lankester zur Pflanze degeneriert. »Lasst parasitisches Leben einmal gesichert sein«, warnte Lankester, »und es verschwinden Beine, Kiefer, Augen und Ohren. Die aktive, hoch begabte Krabbe kann zu einem bloßen Sack verkommen, der Nahrung aufnimmt und Eier legt.« Nachdem der Aufstieg des Lebens und die Geschichte der Zivilisation nicht zu trennen waren, sah Lankester in Parasiten eine ernste Warnung für die Menschen. Parasiten entarteten »genauso wie ein aktiver gesunder Mann manchmal entartet, wenn er plötzlich im Besitz eines Vermögens ist; oder wie Rom verkam, als es die Reichtümer der alten Welt besaß. Die parasitische Lebensweise wirkt sich in dieser Weise deutlich auf Tierorganismen aus.« Die Maya, die im Schatten der von ihren Vorfahren aufgegebenen Tempel lebten, waren für Lankester ebenso Entartete wie die viktorianischen Europäer blasse Imitationen der glorreichen alten Griechen darstellten. Seine Sorge war, dass wir »möglicherweise alle auf die Beschaffenheit eines vernunftbegabten Rankenfüßers zutreiben«. Ein ununterbrochener Fluss von der Natur zur Zivilisation bedeutete, dass Biologie und Moral gegenseitig austauschbar waren. Lankesters Zeitgenossen begannen, die Natur zu verdammen und sie bei nächster Gelegenheit als Autorität zur Verdammung anderer Menschen wieder heranzuziehen. Lankesters Aufsatz inspirierte den Schriftsteller Henry Drummond zu dem langatmigen Bestseller »Natural Law in the Spiritual World«, der 1883 erschien. Drummond erklärte, Schmarotzertum »ist eines der schwersten Verbrechen in der Natur. Es ist ein Bruch des Evolutionsgesetzes. Du sollst dich stufenweise entwickeln, du sollst alle deine Fähigkeiten vollständig ausbilden, du sollst die höchste erreichbare Vollkommenheit deiner Rasse erlangen – und so deine Rasse vervollkommnen –, das ist das erste und höchste Gebot der Natur. Aber der Parasit denkt nicht an seine Rasse oder an ihre Vervollkommnung in Gestalt oder Form. Er will nur zwei Dinge: Nahrung und Obdach. Wie er sie bekommt, ist ohne Bedeutung. Jeder Parasit lebt ausschließlich für sich selbst – ein isoliertes, träges, eigensüchtiges und abtrünniges Leben.« Und die Menschen seien nicht anders: »All jene, die sich mit Spekulation einen vorschnellen Wohlstand verschafft haben, alle Glückskinder, alle Erben, alle 38
gesellschaftlichen Schwämme, alle Trabanten des Hofes, alle Bettler auf dem Marktplatz – sie sind lebende und wahrhaftige Zeugen für die unweigerlichen Strafen des Schmarotzertums.« Schon vor dem ausgehenden 19. Jahrhundert hatte man gewisse Menschen Schmarotzer oder Parasiten genannt, aber Lankester und andere Wissenschaftler verliehen der Metapher eine Deutlichkeit und Klarheit wie nie zuvor. Und von Drummonds Rhetorik ist es nicht weit bis zum Genozid. Man höre nur, wie glatt Drummonds »höchste erreichbare Vollkommenheit einer Rasse« und die folgenden Worte ineinandergreifen: »Im Kampf ums tägliche Brot unterliegen alle, die schwach und kränklich oder weniger entschlossen sind, wogegen der Kampf der Männchen um die Weibchen nur den Gesündesten das Recht oder die Gelegenheit zur Fortpflanzung gewährt. Kampf ist immer ein Mittel, um die Gesundheit und Widerstandskraft einer Art zu verbessern, und deshalb ein Grund für ihre höhere Entwicklung.« Der Autor dieser Worte war kein Evolutionsbiologe, sondern ein kleiner österreichischer Politiker, der schließlich sechs Millionen Juden vernichten ließ. Adolf Hitler stützte sich auf eine wirre, drittklassige Version der Evolution. Er stellte sich Juden und andere »entartete« Rassen als Parasiten vor und weitete die Metapher sogar noch zur Bedrohung der Gesundheit ihres Wirtes, der arischen Rasse, aus. Es sei die Aufgabe einer Nation, die evolutionäre Gesundheit ihrer Rasse zu bewahren, und deshalb müsse sie den Parasiten aus seinem Wirt vertreiben. Hitler nützte jede versteckte Wendung der Parasitenmetapher. Er schilderte den Verlauf der jüdischen »Verseuchung«, wie sie sich auf Gewerkschaften, Börse, Wirtschaft und das kulturelle Leben ausbreitete. »Der Jude«, behauptete er, sei »nur und immer ein Parasit im Leib anderer Völker. Dass er manchmal seinen früheren Wohnort verließ, hat nichts mit seinem eigenen Willen zu tun, sondern ergibt sich aus der Tatsache, dass er von Zeit zu Zeit von den Wirtsvölkern, die er missbraucht hatte, hinausgeworfen wurde. Seine Verbreitung ist ein typisches Phänomen aller Parasiten: Er sucht immer einen neuen Nährboden für seine Rasse.« Die Nationalsozialisten waren nicht die Einzigen, die ihren Feinden das Parasitenmal aufbrannten. Für Marx und Lenin waren Bourgeoisie und Bürokraten Parasiten, von denen sich die Gesell39
schaft befreien musste. John Brown, ein Verfasser von Flugschriften, beklagte in seinem 1898 erschienenen Buch »Parasitic Wealth or Money Reform: A Manifesto to the People of the United States and to the Workers of the World«, dass drei Viertel des Geldvermögens des Landes in den Händen von drei Prozent der Bevölkerung konzentriert seien; dass die Reichen das Land aussaugten; dass ihre protektionierte Industrie auf Kosten des Volkes floriere. Wie Drummond und Hitler sah er das Spiegelbild seiner Feinde in der Natur, in parasitischen Wespen, die in Larven leben. »Mit dem Raffinement angeborener Grausamkeit«, schrieb er, »fressen sich diese Parasiten in den lebendigen Leib ihres widerwilligen, aber hilflosen Wirts, wobei sie alle lebenswichtigen Teile unberührt lassen, um die Agonie eines schleichenden Tods zu verlängern.« Aber auch die Parasitologen wirkten gelegentlich am Bild vom menschlichen Parasiten mit. Noch im Jahr 1955 veröffentlichte Horace Stunkard, ein führender amerikanischer Parasitologe, in der Zeitschrift Science einen Aufsatz unter der Überschrift »Freedom, bondage, and the welfare state«, in dem er die dünkelhaften Ansichten Lankesters fortführte: »Nachdem sich die Zoologie mit den Fakten und Prinzipien des tierischen Lebens befasst, ist das aus dem Studium anderer Tiere gewonnene Wissen auf die menschliche Spezies anwendbar.« Alle Tiere würden von dem Bedürfnis nach Nahrung und Schutz sowie von der Möglichkeit zur Fortpflanzung getrieben. In vielen Fällen würde Furcht sie dazu bewegen, ihre Freiheit für ein gewisses Maß an Sicherheit aufzugeben, nur um in permanenter Abhängigkeit gefangen zu sein. Auffällig unter den Sicherheit suchenden Tieren seien Lebewesen wie Muscheln, Korallen und Seegurken, die sich auf dem Meeresboden verankern, um aus dem vorüberfließenden Wasser ihre Nahrung zu filtern. Keines dieser Tiere sei jedoch mit den Parasiten vergleichbar. Ein ums andere Mal in der Geschichte des Lebens hätten frei lebende Organismen ihre Freiheit aufgegeben und seien Parasiten geworden, um den Gefahren des Lebens auszuweichen. Dann habe die Evolution sie auf einen entarteten Weg geführt. »Wenn andere Nahrungsquellen nicht ausreichend vorhanden waren, was war einfacher, als sich vom Gewebe des Wirts zu ernähren? Das abhängige Tier sucht sprichwörtlich nach dem einfachen Weg.« 40
Etwas zimperlicher war Stunkard nur bei der Anwendung dieser Parasitenregel auf die Menschen. »Sie kann auf jede Organismengruppe angewendet werden und soll sich nicht nur auf politische Dinge beziehen, obwohl gewisse Implikationen in Ordnung sein können.« Mit der vollständigen Aufgabe seiner Freiheit war der Parasit in den »Wohlfahrtsstaat« eingezogen, wie Stunkard schrieb – um Bandwurm und New Deal zu trennen. Hätten Parasiten erst einmal ihre Freiheit aufgegeben, würden sie diese selten wiedergewinnen; stattdessen konzentrierten sie ihre Energie auf die Erzeugung neuer Parasitengenerationen. Ihre einzigen Neuerungen seien sonderbare Fortpflanzungsarten. Egel änderten ihre Form zwischen den Generationen und vermehrten sich geschlechtlich in Menschen und ungeschlechtlich in Schnecken. Bandwürmer könnten pro Tag eine Million Eier legen. Konnte Stunkard etwas anderes im Sinn haben als kinderreiche Wohlfahrtsempfänger? »Ein solcher Wohlfahrtsstaat existiert nur für jene glücklichen Individuen, die es schaffen, andere dazu zu bewegen oder zu zwingen, Sozialhilfe zu leisten«, schrieb er. »Der abgedroschene Versuch, ohne eigene Anstrengung und umsonst Wohltaten erwiesen zu bekommen, hält sich als eine Illusion, die zu allen Zeiten den Leichtsinnigen fasziniert und verführt hat.« Diese Veröffentlichung Stunkards im Jahr 1955 war der letzte Atemzug der alten Reaktion auf die Evolution. Noch während Stunkard die Wohlfahrtsmarken-Parasiten attackierte, warfen seine Kollegen die gesamte Grundlage seiner wissenschaftlichen Ausführungen zum alten Eisen. Sie entdeckten, dass alles Lebendige auf der Erde in seinen Zellen eine genetische Information in Form der DNS trug, ein Molekül in Gestalt einer Doppelhelix. Gene (besondere Strecken der DNS) enthielten den Code zur Bildung von Proteinen, und diese Proteine konnten Augen bauen, Nahrung verdauen, die Erzeugung anderer Proteine steuern und noch etliche andere Sachen mehr. Jede Generation gab ihre DNS an die nächste weiter, und dabei wurden die Gene zu neuen Kombinationen verschoben. Manchmal tauchten Mutationen an den Genen auf, die völlig neue Codes schufen. Die Biologen erkannten, dass die Evolution auf diesen Genen beruhte und darauf, wie sie im Lauf der Zeit stiegen und fielen – und nicht auf einer geheimnisvollen inneren Kraft. Die Gene boten eine reiche Vielfalt, und die natürliche 41
Auswahl schützte bestimmte Arten. Aus diesen genetischen Gezeiten konnten neue Arten, neue Körperformen entstehen. Aufgrund der Erkenntnis, dass Evolution auf den kurzfristigen Auswirkungen der natürlichen Auslese basiere, brauchten die Biologen keinen inneren Antrieb mehr für die Evolution und sie betrachteten das Leben nicht mehr als einen Plastikweihnachtsbaum. Die Parasiten hätten von dieser gewandelten Grundeinstellung der Wissenschaft eigentlich profitieren sollen. Jetzt waren sie nicht mehr die rückständigen Parias der Biologie. Doch von Lankesters Stigma konnten sie sich trotzdem bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht befreien. Die Verachtung hielt sich sowohl in der Wissenschaft als auch jenseits von ihr. Hitlers Mythos von der germanischen Herrenrasse ist zusammengebrochen, und die einzigen, die heute die Ausrottung sozialer Parasiten im Munde führen, sind Randgruppen wie die arischen Skinheads und die kleinen Diktatoren. Doch das Wort Parasit hat nach wie vor die gleiche beleidigende Bedeutung. Und die Biologen stellten sich noch während eines großen Teils des 20. Jahrhunderts Parasiten als untergeordnete, degenerierte Arten vor, die ganz amüsant, aber für das prächtige, abwechslungsreiche Bild des Lebens unwichtig waren. Als die Ökologen bewunderten, wie die Sonnenenergie durch die Pflanzen in die Tiere strömte, waren Parasiten nicht mehr als eine groteske Fußnote. Das bisschen Evolution, das sie mitgemacht hatten, war nur deshalb zu Stande gekommen, weil sie von ihren Wirten mitgeschleppt wurden. Sogar Konrad Lorenz, der große Pionier der Tierverhaltensforschung, schrieb 1989 über die »retrograde Evolution« von Parasiten. Er wollte nicht von Entartung sprechen – vielleicht, weil das Wort zu sehr von der Nazi-Rhetorik belastet war. Er ersetzte es durch den Begriff »Sacculinasation«, abgeleitet von Sacculina, Lankesters entartetem Rankenfußkrebs. »Wenn wir die Worte ›höher‹ und ›niedriger‹ im Zusammenhang mit Lebewesen und ebenso mit Kulturen gebrauchen«, schrieb er, »bezieht sich unsere Bewertung direkt auf die Menge von Kenntnissen, von Wissen, bewusstem oder unbewusstem, das diesen Lebenssystemen innewohnt.« Und entsprechend dieser Bewertungsskala verachtete Lorenz Parasiten. »Wenn man die angepassten Formen der Parasiten 42
nach der Menge retrogressiver Information beurteilt, findet man einen Kenntnisverlust, der sich mit der niedrigen Meinung, die wir von ihnen haben, deckt und sie bestätigt. Der reife Sacculina hat keine Kenntnisse von irgendeiner Besonderheit und Eigentümlichkeit seines Habitats; das einzige, worüber er etwas weiß, ist sein Wirt.« Sehr ähnlich wie Lankester 110 Jahre früher sah Lorenz die einzige gute Eigenschaft von Parasiten darin, dass sie eine Warnung für die Menschen waren. »Eine Retrogression spezifisch menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten beschwört das Schreckgespenst des weniger Menschlichen, sogar des Unmenschen.« Von Lankester bis Lorenz haben die Wissenschaftler alles, was Parasiten betrifft, falsch verstanden. Parasiten sind komplexe, hoch angepasste Lebewesen, die zum innersten Kern der Geschichte des Lebens gehören. Hätten sich die Wissenschaftlern, die das Leben erforschten – die Zoologen, Immunologen, mathematischen Biologen und Ökologen –, nicht so voneinander abgeschüttet, hätte man vielleicht schon früher entdeckt, dass Parasiten nicht widerlich sind – oder zumindest nicht nur. Wenn Parasiten tatsächlich so schwach und träge sind, wie konnten sie es dann schaffen, in jeder frei lebenden Spezies zu existieren und Milliarden von Menschen zu infizieren? Wie konnten sie sich mit der Zeit so verändern, dass Heilmittel, die sie einmal erfolgreich bekämpften, wirkungslos wurden? Wie konnten Parasiten Impfstoffen trotzen, die brutale Killer wie Blattern und Kinderlähmung in Schranken hielten? Die Wissenschaftler zu Beginn des 20. Jahrhunderts dachten fälschlicherweise, sie hätten bereits alles entdeckt. Sie wussten, wie Krankheiten verursacht wurden, und konnten einige davon behandeln; sie wussten, wie sich das Leben entwickelte. Aber sie bedachten nicht, wie groß ihr Nichtwissen noch war. Sie hätten sich an Steenstrups Worte erinnern sollen, der als erster gezeigt hatte, dass Parasiten mit nichts auf der Erde zu vergleichen sind. Steenstrup hatte recht, als er 1845 schrieb: »Ich glaube, dass ich nur die ersten groben Umrisse einer großen Terra incognita erfasst habe, die unentdeckt vor uns liegt und deren Erforschung einen Gewinn verspricht, den wir gegenwärtig kaum richtig einschätzen können.« 43
Kapitel 2 Terra incognita Möge ich dich nie verlieren, o mein großzügiger Gastfreund, o mein Universum. Wie die Luft, die du atmest, und das Licht, an dem du dich freust, für dich sind, so bist du für mich. Primo Levi, Man’s Friend
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aquel Welch wäre es ziemlich schlecht ergangen, wenn sie das U-Boot nicht gehabt hätte. Nehmen wir an, sie wäre zur Größe eines Stecknadelkopfs geschrumpft und hätte dann allein auf sich gestellt in den Blutkreislauf des sterbenden Diplomaten gelangen müssen. Selbst wenn sie es geschafft hätte, die zähen Hautschichten mit Fingernägeln und Zähnen aufzureißen und sich in ein Blutgefäß hineinzuzwängen, wäre sie hilflos zappelnd vom pulsierenden Blutstrom mitgerissen worden. Nehmen wir weiter an, dass sie so etwas wie eine Tauchermaske trug, mit der sie aus dem Blut Sauerstoff ziehen konnte, um zu atmen. Sie wäre trotzdem erstickt, wenn sie in einen Teil des Körpers geraten wäre, in dem es so gut wie keinen Sauerstoff gibt, zum Beispiel in der Leber. Und während sie durch die Dunkelheit taumelte, hätte sie keine Ahnung gehabt, wo sie sich gerade befand – ob in der oberen Hohlvene oder der Halsschlagader. Das Innere eines Körpers ist eine raue Welt, will man darin überleben. Wir sind mit unserer Luft atmenden Lunge und mit unseren auf die Luftschwingungen abgestimmten Ohren dem Landleben angepasst. Ein Hai, der Wasser durch seine Kiemen presst und die meilenweit entfernte Beute riecht, ist für das Meer geschaffen. Parasiten dagegen leben in einem völlig anderen Habitat, dem sie auf eine Weise angepasst sind, welche die Wissenschaftler noch nicht ganz verstehen. Parasiten können durch ihr finsteres Labyrinth navigieren, durch Haut und Knorpel gleiten und unversehrt durch den Hexenkessel des Magens schwimmen. Sie können fast jedes Organ im Körper – die Eustachische Röhre, die Kieme, das Hirn, die Blase, die Achilles44
sehne – zu ihrem Heim machen und Teile des Wirtskörpers nach ihren Anforderungen umbauen. Sie ernähren sich von fast allem: von Blut, Darmschleimhäuten, Leber oder Rotz. Und sie können den Körper ihres Wirts veranlassen, ihnen Nahrung zu beschaffen. Die Parasitologen benötigen Jahre, manchmal Jahrzehnte, um diese Anpassungen zu enträtseln. Parasiten kann man nicht einen Sommer lang wie einer Affenhorde folgen oder ihnen wie einem Rudel Wölfe einen Sender um den Hals hängen. Sie leben im Verborgenen und Parasitologen können ihr Tun und Treiben nur beobachten, wenn sie deren Wirte töten und sezieren. Diese auf grausame Weise gesammelten Schnappschüsse addieren sich langsam zu einer Naturgeschichte. Steenstrup wusste, dass Egel außergewöhnliche Tiere sind, aber viel mehr nicht. 150 Jahren später können die Parasitologen nun zeigen, wie außergewöhnlich sie sind. Nehmen wir den Blutegel Schistosoma mansoni, ein winziger Torpedo, der eben aus seiner Schnecke schlüpfte und auf der Suche nach einem menschlichen Knöchel durch einen Teich schwimmt. Wenn er die UV-Strahlung der Sonne spürt, lässt er sich auf den dunklen Grund sinken, um sich vor der schädlichen Strahlung zu verstecken. Aber wenn er Moleküle von Menschenhaut wahrnimmt, schwimmt er wie verrückt in alle Richtungen. Hat er die Haut erreicht, bohrt er sich hinein. Menschliche Haut ist weitaus zäher als das weiche Fleisch einer Schnecke. Dann stößt der Egel seinen langen Schwanz ab. Die Wunde verheilt rasch, während er sich in die Haut gräbt. Besondere Chemikalien, die er von seiner Hülle absondert, weichen die Haut auf und lassen ihn in seinen Wirt eintauchen wie einen Wurm in den Schlamm. Nach ein paar Stunden hat der Egel eine Kapillare erreicht. Der Durchschnitt dieser Haargefäße ist kaum größer als der Egel, deshalb braucht er zwei Saugnäpfe, einen am vorderen und einen am hinteren Ende, um sich fortbewegen zu können. Er wandert von Vene zu Vene, immer in eine größere, bis er schließlich vom kräftigen Blutstrom mitgerissen wird. Auf den Wellen des Blutes reitend erreicht der Egel schließlich die Lunge, schlüpft wie eine Schlange im Laub des Waldes von den Venen in die Arterien, sucht sich den Weg in eine Lungenkapillare, dann in eine größere Arterie und wird wieder durch den ganzen Körper geschwemmt. 45
Er macht diese Tour durch den Wirtskörper vielleicht dreimal, bis er in der Leber zur Ruhe kommt. Hier quartiert sich der Egel in einem Blutgefäß ein und nimmt endlich seine erste Mahlzeit seit dem Verlassen der Schnecke zu sich: ein Tröpfchen Blut. Dann beginnt er zu reifen. Wenn er weiblich ist, bildet sich ein Uterus. Ist er männlich, formen sich wie ein Büschel Trauben acht Hoden. In jedem Fall werden die Egel innerhalb weniger Wochen um einige Dutzend Mal größer. Nun ist es für den Egel Zeit, sich nach einem Partner umzusehen. Wenn er Glück hat, haben auch andere Egel diesen menschlichen Wirt gewittert und sitzen nun in der Leber. Die Weibchen sind zart und schlank, die Form der Männchen ähnelt einem Kanu. Die Egel produzieren Aromastoffe, die vom Blut weitergetragen werden und die Geschlechtspartner anlocken. Sobald ein Weibchen einem Männchen begegnet, schlüpft es in seinen stacheligen Schoß. Dort hält sie sich fest und das Männchen verlässt mit ihr die Leber. Über einige Wochen hinweg macht das Pärchen die lange Reise von der Leber zu den Venen, die über dem Darm ausfächern. Dabei überträgt das Männchen Moleküle in den Körper des Weibchens, die ihre Gene beauftragen, sie geschlechtsreif zu machen. Die beiden reisen, bis sie einen Rastplatz am Dickdarm erreichen, der ausschließlich ihrer Spezies, der Shistosoma mansoni, entspricht. Wären wir Schistosoma haematobium (dem Erreger der Bilharziose) gefolgt, hätte er den Weg zur Blase genommen. Und Schistosoma nasal, ein Blutegel bei Kühen, wäre wiederum auf einem anderen Weg zur Nase gewandert. Hat das Egelpärchen einmal seinen Platz gefunden, bleibt es dort für den Rest seines Lebens. Das Männchen trinkt Blut mit seinem kräftigen Schlund und massiert das Weibchen, damit tausende von Blutzellen in ihren Mund und durch ihren Darm fließen können. Alle fünf Stunden verzehrt er sein eigenes Gewicht an Glukose, wobei er den größten Teil an sie abgibt. Sie sind vielleicht das monogamste Paar im Tierreich. Das Männchen wird an seinem Weibchen sogar nach ihrem Tod noch festhalten. (Bei homosexuellen Egelpaaren, die es auch gibt, ist der Zusammenhalt nicht ganz so fest; trotzdem werden auch sie sich immer wieder vereinen, sollte ein mißbilligender Wissenschaftler sie trennen.) Heterosexuelle Egel paaren sich jeden Tag ihres langen Lebens, 46
und wann immer das Weibchen bereit ist, ihre Eier zu legen, sucht das Männchen an den Darmwänden einen guten Ablageplatz. Das Weibchen gleitet gerade weit genug aus dem Schoß heraus, um die Eier in die kleinsten Kapillaren zu legen. Einige Eier werden vom Blut fortgeschwemmt und landen wieder in der Leber, diesem fleischigen Filter, in dem sie sich einnisten, das Gewebe entzünden und die schmerzhafte Schistosomiase verursachen. Aber die übrigen Eier verschaffen sich Eingang in den Darm, aus dem sie – bereit, ihre Hülle zu öffnen und eine Schnecke zu finden – von ihrem Wirt ausgeschieden werden. Jedes Teilchen des Parasitenpuzzles erfordert jahrelange Forschungsarbeit. Die Frage, wie Parasiten ihren Weg finden, hat Michael Sukhdeo fast während seiner gesamten Wissenschaftlerkarriere beschäftigt. Sukhdeo lehrt heute an der Rutgers University in New Jersey, weit entfernt von Tambura, aber es fehlt ihm keineswegs an Parasiten, die er in Pferden, Kühen und Schafen untersucht. Ich besuchte Sukhdeo in seinem Büro. Er war ein untersetzter Mann mit einem dunklen Spitzbart. Ein Fahrrad hing an der Wand, Fische schwammen in einem Aquarium neben seinem Schreibtisch, und aus dem Radio drang Klassischer Rock. Wie viele Parasitologen, die ich kennengelernt habe, kann er unvermittelt auf die schauerlichsten Dinge zu sprechen kommen. Für jemand, der Tag für Tag Lebewesen studiert, die das Bindegewebe von Lebern und Därmen zerkauen, macht es vermutlich wenig Sinn, um die häßlicheren Dinge des Lebens herumzureden. Sukhdeo begann darüber zu sprechen, wie grotesk es sei, wenn Menschen Elephantisasis bekommen; eine Krankheit, die in British Guyana, wo er einen Teil seiner Kindheit verbrachte, sehr verbreitet ist. »Wo man ging, sah man Menschen mit riesigen Verdickungen im Schritt und unförmig geschwollenen Füßen«, sagte er. Dann erzählte er, dass er selbst mit elf Jahren infiziert wurde. Er bekam eine Schwellung und seine Eltern brachten ihn zu einem Arzt. »Wenn man auf Elephantiasis untersucht, kommen die Mikrofilarien nur bei Dunkelheit in den Blutkreislauf. Niemand weiß, wo sie stecken. Also mussten wir in der Nacht in die Klinik gehen, um unser Blut untersuchen zu lassen. Und dort war auch ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter. Sie war elf, und sie hatte nur eine Brust. Das ist eine Stelle, wo die Würmer leben. Sie war ein wun47
derschönes Mädchen. Ich war sofort verliebt in sie. Wir wurden beide gleichzeitig untersucht. Die Behandlung sollte zwölf guyanesische Dollar – sechs amerikanische Dollar – kosten, aber das konnten sich die Eltern des Mädchens nicht leisten. Wir boten ihnen an, für sie zu bezahlen, aber sie waren sehr stolz und wollten das Geld nicht einmal geliehen bekommen. Also blieb das Mädchen infiziert – wegen sechs amerikanischer Dollar.« Sukhdeo ging an die McGill University in Montreal, und dort entdeckte er, dass Parasiten zwar oft grauenerregend, aber gleichzeitig die interessantesten Lebewesen waren, denen er je begegnet war. »Ich belegte einen Kurs in Humanparasitologie, und – was soll ich sagen – es war ekelhaft und aufregend zugleich. Ich hatte vier Jahre Universität hinter mir, aber nichts hatte mich so angetörnt wie das hier. Diese Biester waren so unheimlich, und man wusste so wenig über sie.« Er beschloss, Parasitologie zu studieren, und dabei wurde ihm klar, dass die Menschen kaum eine Ahnung hatten, wie sich Parasiten als effektive, lebende Organismen verhalten. Viele Parasitologen beschränkten sich darauf, sie auf einer abstrakten Ebene zu studieren, indem sie zum Beispiel neue Arten nach ihren Saugwerkzeugen und Stacheln katalogisierten, ohne jedoch die Funktion dieser Saugnäpfe, Haken und Stacheln zu kennen. Für seine Magisterarbeit wählte Sukhdeo Trichinella spiralis als Untersuchungsobjekt. Diese winzigen Nematoden finden wir in nicht durchgebratenem Schweinefleisch, in dem sie in Zysten aus eigenem Bindegewebe leben. Wenn ein Mensch das Fleisch isst, verlässt der Parasit seine Kapseln und wandert in den Darm, wobei er sich durch die Zellen der Darmwand schlängelt. Dort paart er sich und produziert eine neue Generation von Trichinella, die den Darm verlässt und mit dem Blutstrom wandert, um sich in der Muskulatur des Menschen festzusetzen und eigene Kapseln zu bilden. Menschen sind nur zufälligerweise Wirte für Trichinen, weil diese sie nicht zum nächsten Stadium ihres Lebenslaufs weitertragen können. Schweine hingegen sind wesentlich gewinnbringendere Wirte. Ein totes Schwein kann von einer Ratte benagt werden, die dann stirbt und von einer anderen Ratte angefressen wird. Letztere wird vielleicht wieder von einem Schwein gefressen. Schweine übertragen Trichinen untereinander, wenn man sie mit infizier48
tem Fleisch füttert oder sie ihre Schwänze abfressen. In der freien Wildbahn halten Raubtiere und Aasfresser den Zyklus in Gang, der von den Eisbären und Walrossen in der Arktis bis zu den Hyänen und Löwen in Afrika reicht. Die Wissenschaftler haben die Parasiten, die diese einzelnen Zyklen durchwandern, in individuelle Artengruppen unterteilt, aber tatsächlich wusste niemand, ob sie in Wahrheit nicht eine einzige, über verschiedene Regionen und Wirte verstreute Spezies waren. Sukhdeo besorgte sich Trichinen aus Russland, Kanada und Afrika, zerkleinerte jede Probe und infizierte Mäuse damit. Dann verglich er die Antikörper, die das Immunsystem der Mäuse gegen die zermahlenen Parasiten produzierte, um zu sehen, wie ähnlich sie sich waren. Schließlich hörte er auf, sich zu fragen, warum er das eigentlich machte. Seine Versuche beruhten auf der Annahme, dass sich die Individuen einer Spezies ähnlich sähen. Gewöhnlich ist das eine ziemlich zuverlässige Annahme, aber die Biologen haben erkannt, dass es nicht immer zutrifft. Pudel und Dobermänner gehören zum Beispiel derselben Spezies an. Andererseits können zwei Käfer, die fast gleich aussehen, verschiedenen Arten angehören. Deshalb definieren die Biologen heute eine Spezies nicht mehr nach dem Erscheinungsbild, sondern als eine Gruppe von Organismen, die sich untereinander geschlechtlich fortpflanzen, dies aber nicht mit anderen Gruppen tun. Aus dieser Isolation, der natürlichen Zuchtwahl, heraus bewirkt dann die Evolution, dass sich eine Spezies von den anderen unterscheidet. Sukhdeo ging davon aus, dass der vermutlich beste Weg, die Spezies seiner Parasiten zu untersuchen, die Erforschung ihres Geschlechtslebens sei. Er löste Trichinenkapseln aus der Muskulatur und zupfte die nur 250 Mikron (ein Mikron ist ein Tausendstel Millimeter) langen Würmer heraus. Er prüfte ihr Geschlecht und injizierte sie mit einer Spritze in den Magen einer Maus. Dann suchte er sich aus seinen übrigen Zysten einen andersgeschlechtlichen Wurm und injizierte ihn ebenfalls in den Magen der Maus. Einen Monat später untersuchte er die Muskeln der Maus, um zu sehen, ob sich die Parasiten gepaart und Junge produziert hatten. Sukhdeo kam zu dem Schluss, dass die afrikanische Form wahrscheinlich eine Subspezies und keine separate eigene Spezies 49
ist. Aber das Experiment warf eine viel tiefergehende und viel interessantere Frage auf. Wie hatten sich die Parasiten gefunden? Greifen wir auf die Reise-ins-Ich-Methode zurück. Stellen wir uns vor, man hätte Sie in einen dunklen Tunnel geworfen, einen zwölf Meilen langen Tunnel mit unzähligen Nebenhöhlen, dessen Wände ringsum mit glitschigen, mannshohen Pilzen dicht bewachsen sind. Wenn Sie dort irgendwo gelandet wären und ziellos umhertappten, könnten Sie kaum hoffen, einen anderen Ihresgleichen zu finden. Und doch haben die Trichinen dies – ohne Karte und ohne viel Hirn – immer wieder geschafft. Sukhdeo wollten wissen, wie sie es anstellten, aber sein Studienberater riet ihm ab. »Sie können nicht herausfinden, wie die Tiere dorthin gelangen, wo immer sie hingelangen, weil Parasitologen seit 100 Jahren vergeblich eine Antwort darauf gesucht haben. Bessere Leute als Sie haben es versucht.« Sukhdeo ignorierte den Rat und machte sich auf die Suche nach dem Geheimnis der Parasitennavigation. Unglücklicherweise startete er in die falsche Richtung. Er nahm an, dass die Parasiten wie die Tiere draußen einem Gradienten folgten. Ein Hai riecht das Blut einer verwundeten Robbe über Meilen hinweg und strebt darauf zu, nicht nur dank seines scharfen Geruchsinns, sondern auch nach dem einfachen Gesetz, wie sich Blut im Wasser ausbreitet. Je weiter sich das Blut von der Robbe entfernt, umso dünner wird es. Folgt der Hai einem steigenden Gradienten, erreicht er automatisch die Quelle. Sobald er in die falsche Richtung abweicht, verliert sich das Blut, und er kann sich wieder ausrichten. Gradienten funktionieren auch in der Luft. Sie führen Bienen zu den Blumen und Hyänen zu Kadavern. Sie funktionieren so gut zu Land und zu Wasser, dass es absolut sinnvoll war anzunehmen, dass sich auch Parasiten danach richten würden. Die Parasitologen suchten nach dem Geruch einer Gallenblase, dem Dufthauch eines Auges. Aber sie fanden nichts. Jahrelang versuchte Sukhdeo, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Er baute Kammern aus Plexiglas, in die er einen Parasiten setzte und dann verschiedene chemische Stoffe hinzufügte, um zu sehen, ob der Parasit darauf zuschwimmen würde. Anfangs hielt er sein ganzes Labor auf Körpertemperatur erwärmt. Dann erfand er ein Röhrensystem, um warmes Wasser um einen künstli50
chen Darm zirkulieren zu lassen. »Ich versuchte, alles zu kopieren, was sie im Wirt vorfanden. Zuerst versuchte ich es mit Speichelsekreten, dann ging ich darmabwärts.« Nichts ergab einen Sinn. Er konnte die Parasiten nicht dazu bringen, auf irgendeinen Stoff, den er in die Kammer gab, zuzuschwimmen oder davor zu flüchten. Manchmal reagierten die Parasiten, aber auf eine Weise, die überhaupt keinen Sinn ergab. »Bei Gallenflüssigkeit fingen diese kleinen Dinger an, sich wie verrückt zu bewegen«, sagte Sukhdeo. »Das war aber nicht, was ich wollte – ich wollte etwas, das sie anzog. Anfangs bewegten sie sich fünfzig Mal in der Minute vor und zurück, und wenn ich Gallenflüssigkeit einfüllte, änderte sich das schlagartig, und sie fingen an, sich wellenförmig zu bewegen.« Nachdem Sukhdeo an die University of Toronto gegangen war, suchte er weiter nach dem Schlüssel zur Parasitennavigation und geriet dabei auf ein akademisches Abstellgleis. In Toronto lernte er seine Frau Suzanne kennen, die bei seinem Laborleiter ihre Doktorarbeit in Parasitologie machte. Als ihr Chef an Alzheimer erkrankte, übernahm Sukhdeo die Laborleitung und wurde Suzannes Doktorvater. Für eine erfolgreiche Karriere als Parasitologe hätte er sich jetzt nach einer neuen Anstellung umsehen müssen, aber er blieb in Toronto und beantragte jedes Jahr mehr Geld, um seine Versuche fortzuführen. Sechs Jahre lang verzichtete Sukhdeo auf jegliche Aufstiegschancen, doch dafür hatte er die Freiheit, nach Antworten zu suchen, die andere Wissenschaftler für unauffindbar hielten. »Ich hatte nichts zu verlieren«, sagt Sukhdeo. »Ich konnte alles machen, was ich wollte, und ich hatte keine Zukunft.« Er dehnte seine Untersuchungen auf andere Arten wie den Leberegel Fasciola hepatica aus. Dieser Egel ist ein Verwandter des Blutegels mit einem ähnlichen Lebenslauf. Der Leberegel lebt in Rindern und anderen Weidetieren und seine Eier verlassen den Wirtskörper mit dem Kot. Er schlüpft aus dem Ei und sucht im Wasser als nächsten Wirt eine Schnecke, in der dann mehrere Generationen heranwachsen. Diese Zerkarien verlassen die Schnecke und schwimmen umher, bis sie einen Gegenstand finden – gewöhnlich einen Stein oder eine Pflanze –, auf dem sie sich in eine zähe, durchsichtige Kapsel einhüllen. Wenn sie von einem weidenden Säugetier gefressen werden, gelangen sie in ihrer säurefesten Kapsel sicher durch den Magen und in den Darm. Dort brechen 51
sie die Kapsel auf, graben sich aus dem Darm hinaus in die Bauchhöhle und wandern zur Leber, wo sie zu blattförmigen, 2,5 Zentimeter langen reifen Tierchen heranwachsen, die sich zu hunderten in einer Leber ansammeln können und eine Lebensdauer von bis zu elf Jahren haben. Leberegel befallen manchmal auch Menschen, aber in der Regel sind sie nur eine Gefahr für das Vieh. In den tropischen Ländern sind 30 bis 90 Prozent der Rinder mit Leberegeln verseucht und der jährliche Schaden beläuft sich auf zwei Milliarden Dollar. Doch trotz dieser massiven Schädigung und jahrzehntelanger Forschung hatten die Wissenschaftler keine Ahnung, wie die Egel die Leber finden. Sukhdeo baute neue Kammern aus Messing und Aluminium, in die er Leberegel setzte. Drei Jahre lang führte er Versuche mit verschiedenen chemischen Verbindungen durch, welche die Leber absondert und die Egel möglicherweise in ihren endlichen Wohnort lockt. Aus schierer Verzweiflung suchte er einen prominenten Leberphysiologen auf. Vielleicht gab es ein Lockmittel, das er übersehen hatte. »Er dachte ziemlich lange darüber nach, und dann sagte er: ›Sie wissen doch, dass die Leber von einer Hülle umgeben ist, der Glissonschen Kapsel, nicht wahr?‹« »Ich sagte: ›Ja.‹« »Und er sagte: ›Nun, dort endet mein Universum.‹« Sukhdeo stellte fest, dass er die Leberegel zwar nicht dazu brachte, auf ein besonderes Stichwort stromaufwärts zu schwimmen, dass sie aber auf bestimmte chemische Verbindungen, zum Beispiel auf Gallenflüssigkeit, heftig reagierten. Die gleiche merkwürdige Reaktion zeigten die Trichinen, als er sie mit Pepsin, dem eiweißspaltenden Enzym des Magensafts, konfrontierte. Als er über seinen Daten brütete, erkannte Sukhdeo plötzlich, dass er das Problem von einem völlig falschen Standpunkt aus betrachtete. Er hatte die Egel und Würmer als frei lebende Tiere angesehen, was sie nicht waren. Ein Körper ist kein friedlicher Ozean, sondern ein geschlossener Raum, in dem Flüssigkeiten wirbeln und schwappen. Ein von einem Organ abgegebener Duftstoff kann sich nicht ruhig und gleichmäßig durch andere Organe hindurch ausbreiten. In der Luft breitet sich ein Geruch gleichmäßig und im wesentlichen unendlich aus, aber ein chemischer Markierer in ei52
nem Körper stößt auf zahlreiche Barrieren, wo er sich staut und den Bereich sättigt; wo jeder Hinweis, den er vielleicht zu bieten hatte, verlorengeht. Sukhdeo erklärte mir dies, indem er mit den Armen zur Wand wies. »Um einen Gradienten zu bekommen, brauchen Sie ein offenes System, und es darf keine Turbulenzen geben. Wenn ich hier eine Scheibe Toast hinlege, würden Sie sie riechen und wissen, wo sie liegt. Würde ich Tür und Fenster schließen, wäre der Raum sehr schnell von dem Geruch erfüllt. Weil dieser Raum ein geschlossenes System ist, können Sie keinen Gradienten haben. Wenn Sie Eingeweide in dieses Büro bringen würden, würde das Gleiche passieren.« Die Welt eines Parasiten ist anders als unsere Welt – sie hat ihre eigenen Zwänge und Chancen. Aufgrund der in einem Körper herrschenden Bedingungen fragte sich Sukhdeo, ob Parasiten möglicherweise nicht nach Gradienten navigieren, sondern einfach auf einige unterschiedliche Reize reagieren. Konrad Lorenz hatte gezeigt, dass frei lebende Tiere in der Außenwelt auf reflexive Verhaltensmuster vertrauen, wenn sie sich in voraussehbaren Situationen befinden. Wenn einer Gans ein Ei aus dem Nest kullert, kann sie bestimmte automatische Handlungen ausführen, um es zurückzuholen: Hals recken, Hals nach hinten ziehen, Kopf beugen. Damit sollte sie das Ei wieder unter ihren Schnabel gebracht und ins Nest zurückgeholt haben, ohne dem Ei selbst besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Zieht man ihr das Ei mitten in diesem Bewegungsablauf unter dem Schnabel weg, wird sie trotzdem fortfahren, den Hals nach hinten zu ziehen. Sukhdeo fragte sich, ob sich Parasiten auf diese programmierten Verhaltensweisen stärker verlassen als frei lebende Tiere. Ein Körper ist in gewisser Weise kalkulierbarer als die Außenwelt. Ein in den Rocky Mountains geborener Berglöwe muss sein Territorium kennen lernen und sich wieder neu orientieren, wenn ein Brand, ein Erdrutsch oder ein Parkplatz die Topografie plötzlich verändert. Ein Parasit kann durch eine Ratte wandern in der Gewissheit, dass er durch eine kleine Biosphäre kriecht, die so gut wie identisch ist mit jedem anderen Ratteninneren. Das Herz liegt immer zwischen den Lungenflügeln, die Augen sind vor dem Hirn. Indem Parasiten während ihrer Reise auf bestimmte Landmarken 53
reagieren, können sie an ihr Ziel gelangen. »Alles andere ist irrelevant«, sagt Sukhdeo. »Sie brauchen keine Zeit mit der Bildung von Neuronen zu verschwenden, um zu erkennen, was da sonst noch alles vor sich geht.« Nun fügte sich das sonderbare Verhalten von Trichinen und Leberegeln zu einem unkomplizierten Erfolgsrezept zusammen. Die Trichine sitzt fest in ihrer Muskelkapsel, wenn sie in den Magen gerät. Hier nimmt sie das Enzym Pepsin auf, das die Nahrung im Magen aufspaltet, und als Reaktion darauf fängt sie an zu zappeln. »Diese erste Bewegung sprengt die Kapsel. Man sieht sie hin und her schlagen, bis der Schwanz frei ist, und dann sind sie draußen im Magen.« Das Stückchen Fleisch, in dem sie sitzen, wandert durch den Magen in den Darm, in den von der Leber aus ein Gefäß mit Gallenflüssigkeit mündet, die bei der weiteren Verdauung hilft. Die Gallenflüssigkeit ist der zweite Reaktionsauslöser. Sie bewirkt, dass die Trichinen von ihren peitschenden Bewegungen zu einem schlangenartigen Gleiten übergehen. So können sie sich aus dem Nahrungsbrei heraus- und in den Darm hineinschlängeln. Sukhedo dachte sich eine Möglichkeit aus, um seine Idee zu beweisen. »Was geschähe, wenn ich die Stelle, wo die Gallenflüssigkeit mündet, verlegen würde?« sagte er. »Ich hatte viel über Chirurgie gelernt und konnte eine Kanüle mit Gallenflüssigkeit anbringen, wo ich wollte.« Die Trichinen beruhigten sich überall dort, wo er die Gallenflüssigkeit in den Darm fließen ließ. »Der einzige Grund, dass sie dort hingingen, wo sie hingingen, war die Gallenflüssigkeit.« Bei den Leberegeln stellte Sukhdeo fest, dass auch sie Regeln und nicht Gradienten folgen. Weil sie eine längere Reise machen als die Trichinen, brauchen sie drei Regeln statt nur zwei. Wenn eine Leberegelkapsel in den Darm kommt, reagiert sie ebenfalls auf Gallenflüssigkeit. Der Egel beginnt zu zucken – »er wird spastisch«, sagt Sukhdeo. Während er sich windet, bricht er die Kapsel auf, und dieselben Bewegungen treiben ihn durch die weiche Darmwand in die Bauchhöhle. Der Leberegel hat je einen Saugnapf am Mund und am Bauch. Er bewegt sich fort, indem er den vorderen Saugnapf vorstreckt, ansaugt, den Rest des Körpers nachzieht und dann den am Bauch befindlichen Saugnapf fest anbringt. Und er kann sich auch wellenförmig bewegen. Dabei zieht 54
sich der ganze Egel plötzlich in einem heftigen Krampf zusammen, und anschließend lässt er an beiden Saugnäpfen los. Diese Fortbewegungsarten genügen, um einen Egel zur Leber zu bringen. Wenn er aus dem Dünndarm kommt, windet er sich hinaus in die Bauchhöhle und erreicht schließlich die glatte Wand der Bauchmuskulatur. Am nächsten Tag schaltet der Egel auf Kriechen um. Sicher vor den Sturzbächen in den Därmen kriecht er an der Bauchdecke entlang, ohne befürchten zu müssen, dass er fortgespült wird. An diesem Punkt angelangt wird ein kriechender Leberegel fast immer die Leber erreichen, egal in welche Richtung er sich wendet. Nun könnte man einwenden, dass der Egel mindestens ein paar Dinge wissen müsste, zum Beispiel, wo oben und unten ist, oder dass die Leber neben der Bauchspeicheldrüse und nicht neben der Gallenblase liegt. Aber dem ist nicht so. Der Egel nützt die Tatsache, dass die Bauchhöhle wie die Innenseite eines Balles beschaffen ist. Ob er nach unten oder einfach geradeaus weiter kriecht, der Egel wird die Leber immer erreichen, denn er kommt hinten herum auch wieder nach oben und dorthin, wo sie sitzt. Deshalb stellte Sukhdeo fest, dass 95 Prozent der Egel an der Oberseite der Leber, wo sie an der Kuppe der Bauchhöhle das Bauchfell berührt, in das Organ eindringen. Trotz der Tatsache, dass die Leberunterseite groß ist und näher bei den Därmen liegt, dringen nur fünf Prozent von dieser Seite her ein. Sukhdeo brauchte ein ganzes Jahrzehnt, um herauszufinden, wie diese beiden Parasiten navigieren. Heute ist er beinahe gesellschaftsfähig. Zu seiner Überraschung wurde ihm trotz seiner jahrelangen Abseitsstellung ein Posten als Parasitologe an der Rutgers University angeboten. Sukhdeo hat mittlerweile ein Labor voller Studenten, die eifrig damit beschäftigt sind, die Navigation anderer Parasiten zu entschlüsseln. Er denkt über Möglichkeiten nach, seine Entdeckungen zur Schädlingsbekämpfung zu nützen, indem man den Parasiten zur falschen Zeit Navigationssignale gibt. Und er hat noch viele andere Rätsel zu lösen. Als ich zuletzt mit Sukhdeo sprach, beschäftigte er sich mit einem weiteren Egel, der ebenfalls den Weg über eine Schnecke nimmt; aber wenn er diesen Wirt verlässt, sucht er sich einen Fisch an Stelle eines Schafs. Wenn der Fisch vorüberschwimmt, hängt sich der Egel an den 55
Fischschwanz und wühlt sich ins Fleisch. Dann wandert er auf dem kürzesten Weg durch die Muskulatur zum Kopf des Fischs und lässt sich in der Linse des Fischauges nieder. »Es scheint, dass alle bisherigen Vorstellungen falsch waren«, sagte Sukhdeo. »Also fangen wir ganz von vorne an.« Sukhdeo hat sich den Respekt anderer Parasitologen verdient, weil er bewiesen hat, dass es bei Parasiten ein Verhalten gibt; dass sie ihren Weg durch die einzigartige innere Ökologie ihrer Wirtskörper finden und dass man die Regeln, denen sie folgen, herausbekommen kann. Vor kurzem erhielt er sogar eine Auszeichnung für seine Arbeit, eine Medaille, die er Besuchern mit einem verwunderten Ausdruck zeigt. »Als sie mir überreicht wurde, sagte ich: ›Warum bekomme ich das?‹ Ich wurde so viele Jahre boykottiert.« Es schwingt ein wenig Nostalgie mit, wenn er darüber spricht, wie man ihn ignoriert und belächelt hat. Einmal schickte er einen Aufsatz über Tierverhalten an eine Zeitschrift. Der Aufsatz wurde abgelehnt. Als er den Redakteur nach dem Grund fragte, las dieser das Papier noch einmal und nahm es mit den Worten an: »Ich hatte keine Ahnung, dass sich Parasiten verhalten. Bitte entschuldigen Sie meinen Wirbeltierchauvinismus.« Und Sukhdeos alter Studienberater war nicht der einzige Parasitologe, der ihm erklärte, dass er einen Fehler mache. »Bei einem Meeting, sagte ich, dass wir bei der Erforschung von Parasiten ökologische Konzepte anwenden müssten. Daraufhin stand so ein alter Parasitologe auf und schrie mit Schaum vor dem Mund: ›Ketzerei!‹ Das muss man sich mal vorstellen. Ein Ketzer!« Bei diesem Wort musste Sukhdeo lächeln, und sein Ziegenbart sah plötzlich regelrecht teuflisch aus: »Es war der Höhepunkt meiner Karriere.« *** Ist es einem Parasiten gelungen, den ihm gemäßen Platz in seinem Wirt zu finden, kann er sich nicht einfach zurücklehnen und das Leben genießen. Er braucht jetzt vor allem eine Möglichkeit, um in seinem neuen Heim bleiben zu können. Im Erwachsenenstadium ist ein Leberegel nur für ein Leben in der Leber angepasst; setzt 56
man ihn ins Herz oder die Lunge, wird er sterben. Die Evolution hat es den Parasiten ermöglicht, an jedem Ort, den sie zum leben haben, auch bleiben zu können. Es gibt zum Beispiel eine Krebsart, die parasitischen Ruderfußkrebse, die überall am Körper von Fischen leben: im Auge des Grönlandhais, auf den Schuppen der Makohaie und auf den Kiemenbögen. Einige Ruderfußkrebse leben in der Nase des Blauhais leben, andere bohren sich durch die Flanke eines Schwertfischs und heften sich an sein Herz. Diese Ruderfußkrebsarten sehen so verschieden aus, dass eigentlich nur ein Experte sehen kann, dass sie sich alle aus einem gemeinsamen Vorfahren entwickelt haben. Sie sind alles andere als entartet, sondern haben bizarre Formen entwickelt, um in den von ihnen gewählten Nischen bleiben zu können. Würden diese Ruderfußkrebsarten ihren Griff lockern, würden sie in den sicheren Tod gerissen. Bei jedem Hai bilden die Schuppen ein besonderes geometrisches Muster, und die auf ihnen lebenden Ruderfußkrebse legen ihre Beine so dicht rings um die Schuppen, dass diese praktisch hinter Schloss und Riegel sitzen. Der Ruderfußkrebs, der im Grönlandhai lebt, hat eines seiner Beine in einen pilzförmigen Anker verwandelt, den er in die Gallerte des Fischauges drückt. Selbst die im Darm eng anliegenden Bandwürmer kostet es einige Mühe, an Ort und Stelle zu bleiben. Bandwürmer wachsen, sobald sie Nahrung aufnehmen, unheimlich schnell. Sie vervielfachen ihre Größe mit einem Faktor von 1,8 Millionen innerhalb von zwei Wochen. Sie fressen nicht wie die meisten Tiere, weil sie weder einen Mund noch einen Darm haben. Ihre Verdauung läuft nicht im Inneren ihres Körpers ab, sondern an der Außenseite. Ihre Haut besteht aus Millionen kleinster, blutgefüllter, fingerartiger Fortsätze, die Nahrung aufsaugen. Die Därme ihres Wirts sind innen mit fast identischen Fortsätzen überzogen. Dem Bandwurm fehlt kein Verdauungstrakt, sondern er ist sozusagen ein von innen nach außen gewendeter Darm. Bandwürmer leben in an- und abschwellenden Wogen halbverdauter Nahrung vermischt mit Blut und Gallenflüssigkeit und unter dem ständigen Druck der peristaltischen Darmbewegungen. Wenn sie nichts unternehmen, werden sie von der Peristaltik aus dem Wirt hinausbefördert. Einige Bandwurmarten heften sich mit den 57
an ihrem Kopf befindlichen Haken und Saugnäpfen an die Därme, aber andere gleiten ständig dorthin, wo sich die Nahrung befindet. Wenn wir etwas essen, wogt die Peristaltik durch unsere Verdauungsorgane. Die nicht verankerten Bandwürmer reagieren darauf, indem sie stromaufwärts schwimmen. Sie erreichen die hereinkommende Nahrung und schwimmen weiter, bis sie die höchste Nahrungskonzentration erreichen. Während sie fressen, wird die Nahrung darmabwärts getragen und für eine Weile lassen sich die Bandwürmer von ihr mitnehmen. Sie kontrollieren die Länge der zurückgelegten Strecke, indem sie sich an der sich ändernden Peristaltik ihres Wirts orientieren. Wenn sie zu weit abwärts gelangt sind, hören sie zu fressen auf und schwimmen wieder darmaufwärts. Je länger die Bandwürmer werden, desto komplizierter wird das Darmaufwärtsschwimmen, denn die Peristaltik bewegt die Därme an einer Stelle schnell und ein Stück weiter oben vielleicht gar nicht. Doch die Bandwürmer gleichen diese Unterschiede aus, indem sie manche Teile ihres Körpers schneller und manche langsamer schwimmen lassen. Auch die Hakenwürmer leben in den Därmen und sie riskieren beim Fressen einiges mehr. Hakenwürmer beginnen ihr Leben in feuchter Erde, wo sie aus Eiern schlüpfen und zu winzigen Larven heranwachsen. In den menschlichen Körper gelangen sie auf zweierlei Weise: auf eine einfache und eine qualvolle. Wenn ein Mensch eine Larve schluckt, wandert sie geradewegs in die Därme. Aber Hakenwürmer können wie Blutegel auch die Haut durchdringen und sich in eine Kapillare zwängen. Durch die Venen schwimmen sie zum Herzen und zur Lunge. Wenn der Wirt hustet, werden die Larven in seinen Hals transportiert und kommen durch die Speiseröhre an ihr Ziel. Im Darm wächst der Hakenwurm zu einem ungefähr 1,2 Zentimeter langen erwachsenen Individuum heran. Im Gegensatz zum Bandwurm hat er einen kräftigen, ringsum mit dolchähnlichen Zähnen besetzten Mund an einer muskelbepackten Speiseröhre. Und anders als die Bandwürmer ist er nicht an der halb verdauten Nahrung interessiert, die durch die Därme fließt, sondern an den Därmen selbst. Er bohrt den Mund in die Darmwände und reißt das Fleisch auf. Die Parasitologen streiten noch, ob Hakenwürmer dann das Blut ihres Wirts trinken oder das abgerissene Darmgewe58
be aufschlürfen. Nach einer Weile lockern sie ihren Griff und fressen an einer anderen Stelle weiter. Wenn der Hakenwurm jedoch etwas vom Darm abreißt und in den Mund schiebt, beginnt das Blut zu stocken. Ein verletztes Blutgefäß nimmt Moleküle von den Zellen des umgebenden Gewebes auf. Einige dieser neuen Moleküle verbinden sich mit bestimmten Stoffen, die im Blut schwimmen. Diese Verbindungen lösen mit anderen Faktoren im Blut eine Kettenreaktion aus, die schließlich spezielle Zellen, die so genannten Blutplättchen, aktiviert. Die Blutplättchen schwärmen zur Wunde und verkleben sich, während die Kaskade ein Netz aus Fasern um sie herum bildet. Auf diese Weise entsteht ein festes Klümpchen, das die Blutung stoppt. Für einen Hakenwurm bedeutet es den Hungertod, wenn die Blutgefäße in seinem Mund erstarren. Der Parasit reagiert auf diese Gefahr mit einer Raffinesse, über die Biotechnologen nur staunen können. Er setzt eigene Moleküle frei, die so angelegt sind, dass sie sich mit verschiedenen Faktoren in der Gerinnungskaskade verbinden. Indem er sie neutralisiert, verhindert er, dass sich die Blutplättchen verklumpen. So kann das Blut ungehindert in seinen Mund fließen. Sobald der Wurm die Futterstelle verlässt, können sich die Gefäße erholen und verkleben. Würden die Hakenwürmer irgendeinen primitiven Blutverdünner benutzen, der sich in den Därmen ausbreitet, würden sie ihre Wirte zu Blutern machen, die bald verblutet wären, und die Hakenwürmer hätten nichts mehr zu fressen. Eine BiotechnologieFirma hat diese Moleküle isoliert und versucht nun, sie zu gerinnungshemmenden Medikamenten zu verarbeiten. *** Manche Parasiten sind noch nicht ganz am Ziel ihrer Wünsche, wenn sie ihren neuen Wohnort im Körper ihres Wirts erreicht haben. Bevor sie fressen und sich fortpflanzen können, müssen sie sich ein Haus bauen. Dazu verwenden sie das Gewebe ihres Wirts. Der Parasit Plasmodium, der Malaria verursacht, gelangt durch einen Mückenstich in die Blutbahn und lebt ungefähr eine Woche 59
lang in einer Leberzelle. Dann verlässt er sie, kehrt in den Blutkreislauf zurück und sucht sich schlingernd und taumelnd sein nächstes Zuhause: eine rote Blutzelle. Dort kann Plasmodium Hämoglobin futtern, ein Molekül, das sich am Sauerstoff festhält, den die roten Blutzellen von der Lunge mitbringen. Wenn es den größten Teil des Hämoglobins in der Zelle vertilgt hat, hat es genug Energie gewonnen, um sich in 16 neue Versionen zu teilen, in eine ganze Schar neuer Parasiten, die nach zwei Tagen aus der Zelle hervorbricht und sich neue Blutzellen sucht, um in sie einzudringen. Rote Blutzellen sind in vieler Hinsicht ein schlechter Wohnort. Genaugenommen sind sie nicht einmal Zellen, sondern Körperchen. Alle echten Zellen tragen Gene in einem Zellkern und verdoppeln ihre DNS, um zu zwei neuen Zellen zu werden. Rote Blutzellen stammen aus den Zellen tief in unseren Knochen. Diese Stammzellen teilen sich und bilden die Formen der verschiedenen Komponenten des Bluts: weiße Blutzellen, rote Blutzellen und Blutplättchen. Aber während andere Zellen ihren ordnungsgemäßen Anteil an DNS und Proteinen erhalten, bekommen die roten Blutzellen überhaupt keine DNS. Ihr Job ist einfach. Sie nehmen Sauerstoff in der Lunge auf und speichern ihn in Hämoglobinmolekülen. Weil das Sauerstoffatom sehr temperamentvoll ist und leicht reagiert – und dabei andere Moleküle beschädigen kann –, legt sich das Hämoglobin mit seinen vier Ketten rings um den Sauerstoff herum. Sobald das rote Blutkörperchen die Lunge verlässt und durch den Körper wandert, setzt es den Sauerstoff frei, um dem Körper zu helfen, seinen Brennstoff in Energie umzusetzen. Die roten Blutkörperchen sind einfach Behälter, die vom schlagenden Herzen durch den Kreislauf geschoben werden. Legt man weiße Blutkörperchen unter das Mikroskop, strecken sie Läppchen aus, um sich über den Objektträger zu ziehen. Rote Blutkörperchen sitzen nur einfach da. Weil die Aufgabe der roten Blutzellen so einfach ist, brauchen sie keinen aufwändigen Stoffwechsel. Das bedeutet, dass sie nur einige wenige jener Proteine enthalten, die zur Energieerzeugung nötig sind, und dass sie auch keine Nahrung verbrennen und Abfallstoffe beseitigen müssen. Eine echte Zelle pumpt ihre Nahrung in sich hinein und spuckt ihren Abfall mit Hilfe eines vollendet 60
entwickelten Systems aus Kanälen und Blasen aus, das die Moleküle durch die äußere Zellmembran pendeln lässt. Ein rotes Blutkörperchen hat kaum etwas von dieser Ausstattung – ein paar Kanäle für Wasser und andere lebenswichtige Stoffe –, weil Sauerstoff und Kohlendioxyd ohne zusätzliche Hilfe durch seine Membran dringen können. Und während andere Zellen in ihrer Membran komplizierte Gerüste haben, damit sie steif und fest bleiben, ist das rote Blutkörperchen der Verrenkungskünstler im Zellenzirkus des Körpers. Es legt im Lauf seines Lebens 300 Meilen zurück, geschubst und gestoßen vom strömenden Blut, gegen Gefäßwände geschleudert und durch enge Kapillaren gezwängt, die es im Gänsemarsch mit anderen roten Blutkörperchen und zu ungefähr einem Fünftel seines normalen Durchmessers zusammengepresst passieren muss, um sich, sobald es durchgerutscht ist, wieder zu seiner normalen Größe zu entfalten. Um diese Misshandlung zu überleben, ist die Membran des roten Blutkörperchens mit einem Netz aus Proteinen unterlegt, die wie Maschen verstrickt sind. Jede Proteinenschlinge des Netzes ist außerdem wie eine Ziehharmonika gefaltet, sodass sie sich, je nach dem, auf welche Belastung sie reagieren muss, dehnen oder zusammenfalten kann. Aber trotz dieser Flexibilität kann ein rotes Blutkörperchen diese grobe Behandlung nicht ewig ertragen. Seine Membran wird mit der Zeit hart und es fällt ihm immer schwerer, sich durch die Kapillaren zu zwängen. Die Aufgabe der Milz ist es, den Blutvorrat des Körpers jung und kraftvoll zu halten. Während die roten Blutkörperchen die Milz passieren, werden sie sorgfältig untersucht. Die Milz erkennt die Anzeichen des Alterungsprozesses auf der Oberfläche der roten Blutkörperchen wie Falten auf einem Gesicht. Nur junge rote Blutkörperchen dürfen die Leber verlassen; der Rest wird vernichtet. Trotz all dieser Nachteile wählt Plasmodium dieses merkwürdige, leere Haus. Der Parasit kann nicht schwimmen, aber dafür an den Wänden der Blutgefäße entlanggleiten. Er setzt Haken auf die Gefäßwand, zieht das Schwanzende heran und hakt sich wieder fest – wie bei einer Kletterpartie an einer steilen Felswand. Am vorderen Ende des Parasiten sitzen Fühler, die nur auf junge rote Blutzellen reagieren, indem sie sich an Proteine auf der Zellenoberfläche heften. Sobald sich Plasmodium für eine Zelle ent61
schieden hat, klammert es sich daran fest, dreht sich mit dem Kopf zur Zelle und bereitet sich darauf vor, in diese einzudringen. Der Kopf des Parasiten ist rundherum mit Kammern besetzt wie der Lauf eines Revolvers. Aus den Kammern spritzen innerhalb von Sekunden Molekülgeschosse. Einige dieser Moleküle helfen dem Parasiten, das Membranskelett zur Seite zu schieben und ins Zellinnere zu gelangen. Dieselben Haken, die der Parasit bei seiner Kletterei an den Gefäßwänden einsetzt, heften sich nun an die Ränder des Lochs und schieben ihn hindurch. Unterdessen sondert der Parasit lose Moleküle ab, die sich zusammenfügen und eine Hülle um ihn bilden, während er in die Zelle schlüpft. 15 Sekunden nach der Sprengung der Zelle verschwindet sein hinteres Ende durch das Loch, und das elastische Geflecht der roten Blutzelle schnellt wieder zurück und schließt sich. Jetzt ist der Parasit in der Speisekammer. Jedes rote Blutkörperchen besteht zu 95 Prozent aus Hämoglobin. Plasmodium hat an einer Seite so etwas Ähnliches wie einen Mund oder eine Luke. Wenn es sich öffnet, öffnet sich gleichzeitig die äußere Membran der Blase des Parasiten, sodass er kurz mit dem Inhalt der roten Blutzelle in Kontakt kommt. Ein Tröpfchen Hämoglobin sickert in diesen Rachen, der sich dann wieder zusammenzieht und schließt. Das Hämoglobin schwebt jetzt in einer Blase im Parasiten, die molekulare Skalpelle enthält, mit denen die Moleküle zerlegt werden. Plasmodium öffnet mit mehreren Schnitten die gefalteten Zweige der Moleküle, lässt in kleinere Stücke zerfallen und fängt die Energie auf, die in diesen Verbindungen enthalten ist. Der Rumpf der Hämoglobin-Moleküle ist eine stark geladene, eisenreiche Verbindung und für den Parasiten giftig. Sie könnte sich leicht an der Stelle in die Membran von Plasmodium einlagern, an der ihre Ladung dann das normale Hinein- und Hinausfließen anderer Moleküle unterbricht. Aber Plasmodium neutralisiert das giftige Herz seiner Beute. Es reiht einen Teil davon zu einem langen, trägen Hämozoin-Molekül auf. Der Rest wird von den Enzymen des Parasiten verarbeitet, welche die Ladung der schädlichen Verbindung reduzieren und verhindern, dass sie in die Membran eindringt. Doch Plasmodium lebt nicht von Hämoglobin allein. Es braucht auch Aminosäuren, um seine molekularen Skalpelle zu bauen und um sich zu 16 neuen Exemplaren zu vermehren. In62
nerhalb von zwei Tagen erhöht sich die Stoffwechselrate in einer infizierten Zelle um das Dreihundertfünfzigfache, und der Parasit muss neue Proteine bilden und den Abfall beseitigen, der während seines Wachstums anfällt. Hätte der Parasit eine echte Zelle infiziert, könnte er für diese Aufgabe einfach die Biochemie seines Wirts übernehmen, aber in einem roten Blutkörperchen muss er den ganzen Mechanismus erst aufbauen. Mit anderen Worten: Plasmodium muss die Blutkörperchen zu richtigen Zellen umwandeln. Aus seiner umhüllenden Blase fährt es ein wirres Labyrinth von Röhren aus, die bis zur Membran des roten Blutkörperchens reichen. Es ist noch nicht geklärt, ob diese Röhren die Membran des roten Blutkörperchens tatsächlich durchstechen oder die dort bereits vorhandenen Kanäle anzapfen. In beiden Fällen aber kann das vom Parasiten besetzte rote Blutkörperchen jetzt beginnen, die Bausteine aufzunehmen, die der Parasit zum Wachsen braucht. Die Oberfläche des roten Blutkörperchens, die plötzlich mit Gängen und Röhren überfüllt ist, verliert an Elastizität. Das könnte für den Parasiten gefährlich werden, denn wenn die Milz entdeckt, dass die Zelle nicht mehr jugendlich geschmeidig ist, wird sie diese töten – zusammen mit dem Parasiten, den sie beherbergt. Deshalb setzt Plasmodium, sobald es in eine Zelle eindringt, Proteine frei, die durch die Röhren an die Unterseite der Membran des Blutkörperchens geschleust werden. Diese Moleküle, die man auch als chaperones (Begleiter) bezeichnet, gehören zu einer Gruppe von Proteinen, die in allen Organismen auf der Erde vorkommen. Sie helfen anderen Proteinen, sich richtig zusammen- und aufzufalten, selbst wenn sie durch Hitze oder Säure beschädigt wurden. Im Fall der Proteine von Plasmodium jedoch scheinen diese Stressmoleküle das rote Blutkörperchen vor dem Parasiten zu schützen. Mit ihrer Unterstützung kann sich das Zellenskelett zunächst trotz der störenden parasitischen Konstruktion weiterhin dehnen und wieder eng zusammenfalten. Innerhalb weniger Stunden hat der Parasit das rote Blutkörperchen aber so verändert und gehärtet, dass keine Hoffnung mehr besteht, es als ein gesundes Blutkörperchen verkleiden zu können. Nun schickt der Parasit eine neue Gruppe von Proteinen an die Oberfläche der Blutzelle. Einige davon ballen sich unter der Zel63
lenoberfläche zu Klümpchen, sodass die Membran wie eine Gänsehaut aussieht. Dann pikst Plasmodium mit klebrigen Molekülen in die Gänsehautknötchen und bekommt mit diesen Klebefingern Rezeptoren zu fassen, die auf den Zellen der Blutgefäßwände sitzen. Die roten Blutzellen bleiben an den Gefäßwänden kleben und fallen aus dem Blutkreislauf des Körpers heraus. Der Parasit versucht also gar nicht erst, sich durch das Schlachthaus der Milz zu mogeln, sondern lässt stattdessen seine Blutzellen in den Kapillaren des Hirns, der Leber und anderer Organe verklumpen. Anschließend ist er einen Tag lang mit Teilen beschäftigt, bis die rote Blutzelle nichts anderes mehr ist als eine straff gespannte Haut um einen sich beulenden Sack voller Parasiten. Schließlich bricht die neue Generation aus der Zelle hervor und sieht sich nach roten Blutzellen um, in die sie eindringen kann. In der toten Zelle bleibt ein Klumpen aufgebrauchten Hämoglobins zurück. Für eine Weile war die Zelle die Wohnung des Parasiten, eine Zelle wie keine andere im menschlichen Körper. Am Ende wird sie zu einer Mülldeponie. *** Trichinella ist ebenfalls ein biologischer Raumausstatter und in mancher Hinsicht noch eindrucksvoller als Plasmodium. Sie ist ein mehrzelliges Tier, das in einer einzigen Zelle leben kann. Wenn dieser Wurm im Darm seines Wirts aus dem Ei schlüpft, bohrt er sich durch die Darmwand und wandert mit dem Blutkreislauf durch den Körper. Er folgt dem Fluss bis in die feinen Kapillaren, wo er die Blutbahn verlässt und sich in die Muskulatur hineinwühlt. Er kriecht an den Muskelfasern entlang und dringt dann in eine der langen, spindelförmigen Zellen, aus denen die Fasern bestehen. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als Wissenschaftler die in den Muskeln sitzenden Trichinenkapseln zum ersten Mal sahen, dachten sie, das Gewebe sei entartet und der Parasit schliefe darin und warte einfach darauf, seinen endgültigen Wirt zu erreichen. Zunächst scheint die befallene Muskelzelle tatsächlich zu atrophieren. Die Proteine, die der Zelle als Gerüst dienen und 64
sie starr machen, werden immer weniger. Die muskeleigene DNS verliert ihre Kraft, neue Proteine zu bilden. Innerhalb weniger Tage nach dem Eindringen des Wurms wird der drahtige Muskel weich und löst sich auf. Aber der Parasit zerstört die Zelle nur, um sie wieder aufbauen zu können. Trichinella macht die Gene ihres Wirts nicht untauglich – vielmehr beginnen die Gene sich zu reproduzieren, bis sie sich vervierfacht haben. Aber diese zahlreichen Gene gehorchen jetzt Trichinellas Befehlen und bilden Proteine, welche die Zelle in ein geeignetes Heim für den Parasiten verwandeln. Früher dachten die Wissenschaftler, diese Art der genetischen Kontrolle sei auf Viren beschränkt, welche die DNS ihres Wirts benützen, um sich mehrfach zu reproduzieren. Jetzt haben sie erkannt, dass Trichinella ein Virustier ist. Trichinella verwandelt die Muskelzelle in eine Parasitenplazenta. Sie macht die Zelle locker und flexibel und schafft dadurch auf deren Oberfläche Raum für neue Rezeptoren zur Nahrungsaufnahme. Außerdem zwingt sie die DNS der Zelle, Kollagen auszuschütten, das eine zähe Kapsel um diese bildet. Und sie lässt die Zelle ein Signalmolekül, einen endothelischen Wachstumsfaktor, produzieren. Dieses Molekül schickt normalerweise ein Signal an die Blutgefäße, wenn sie neue Zweige wachsen lassen sollen, um eine Wunde zu heilen oder wachsendes Gewebe zu ernähren. Trichinella nutzt das Signal für ihre eigenen Zwecke: Sie lässt rund um sich herum ein Kapillarennetz weben, wobei die Kollagenkapsel die Form bestimmt. Die Gefäße führen nahrhaftes Blut heran, sodass der Parasit wächst und gedeiht in seiner Muskelzelle, die sich ausbeult, während der Wurm hin und her schaukelt und sein kleines Haus erforscht. Auch das Innere von Pflanzen können Parasiten drastisch verändern. Vielleicht überrascht es den einen oder anderen, dass Pflanzen überhaupt Parasiten haben, aber tatsächlich sind sie übersät davon. Bakterien und Viren führen zusammen mit Tieren, Pilzen und Protozoen ein herrliches Leben in und auf Pflanzen. Trypanosomatiden zum Beispiel, enge Verwandte des Parasiten, der uns die Schlafkrankheit beschert, leben auch in Palmen. Pflanzen sind sogar Wirte für parasitische Pflanzen, die ihre Wurzeln in ihren Wirt treiben. Parasitischen Pflanzen fehlen einige wesentliche 65
Eigenschaften, die einer Pflanze ein selbstständiges Leben ermöglichen. Eine Rachenblütlerart, die in Salzmarschen wächst, ist ein Halbschmarotzer, der sich Süßwasser aus Salzgräsern und anderen Salzpflanzen stiehlt, die das Salz ausscheiden können. Dieser Halbschmarotzer ist zu eigener Photosynthese befähigt und kann seinen eigenen Mineralstoffbedarf decken. Die Mistel kann ebenfalls photosynthetisieren, aber sie kann sich nicht selbst mit Wasser und Mineralstoffen versorgen. Die Orobanche-Arten sind überhaupt nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen, und daher Vollschmarotzer. Auch Millionen Insekten und andere Tierarten leben auf Pflanzen. Aber noch vor 1980 galten sie nur bei wenigen Ökologen als Parasiten. Sie waren eben so etwas wie Pflanzenfresser, kleine wirbellose Ziegen. Peter Prince, ein Ökologe an der Northern Arizona University, wies darauf hin, dass zwischen diesen Tieren und Pflanzenfressern ein fundamentaler Unterschied bestehe. Ein Pflanzenfresser sei für Pflanzen das, was ein Raubtier für Beutetiere sei: ein Tier, das viele andere Arten fressen könne. Ein Präriewolf fresse eine Fledermaus, ein Kaninchen, eine Katze und sei zufrieden. Und genauso unbeschwert fresse das Schaf Klee, Wiesenlieschgras oder Wilde Möhre. Manche Insekten wie die Raupe des Bärenspinners grasten wie Schafe; sie nähmen von einzelnen Pflanzen kleine Häppchen und zögen weiter. Aber viele Insekten konzentrierten sich nur auf eine bestimmte Pflanze, zumindest während eines Stadiums ihres Lebens. Eine Raupe, die vom Ei bis zur Puppe auf einer einzigen Wolfsmilchpflanze lebt, schmarotze nicht viel anders als ein Bandwurm, der im Erwachsenenstadium nur in den Därmen eines Menschen leben könne. Und viele pflanzenfressenden Insekten verbrachten ihr ganzes Leben auf einer einzigen Pflanze und passten ihr Leben dem ihres Wirts an. Ein eindrucksvoller Beweis für die Behauptung von Prince sind die Nematoden, die in den Wurzeln von Pflanzen leben. Diese Parasiten sind unglaubliche Schädlinge. Jährlich und weltweit vernichten sie zwölf Prozent der für den Verkauf bestimmten Feldfrüchte. Eine besondere Art – die Wurzelknoten-Nematoden der Gattung Meloidogyne – ist ein geradezu unheimliches, botanisches Spiegelbild der Trichinella. Jeder dieser Nematoden schlüpft aus einem Ei im Erdboden und kriecht zur Spitze einer Wurzel. Er 66
trägt einen hohlen Dorn im Mund, mit dem er in die Wurzel sticht. Sein Speichel lässt die äußeren Zellen der Wurzel platzen, sodass genug Platz zum Durchschlüpfen entsteht. Der Fadenwurm schiebt sich zwischen den Zellen in der Wurzel vor bis zum Wurzelinnersten. Dann sticht er in einige Zellen in seiner nächsten Umgebung und injiziert ihnen ein merkwürdiges Gift. Die Zellen beginnen, Kopien ihrer DNS zu bilden, und das zusätzliche Gen produziert eine wirbelnde Wolke von Proteinen. Gene aktivieren diese Wurzelzellen, die normalerweise nie aktiv geworden wären. Aufgabe einer Wurzelzelle ist es, Wasser und Nährstoffe aus dem Boden zu saugen und in das Kreislaufsystem einer Pflanze zu pumpen – in ein Netzwerk aus Röhren und Höhlen, das die Nahrung zu den übrigen Pflanzenteilen trägt. Aber unter dem Einfluss der Nematoden beginnt eine Wurzelzelle, rückwärts zu arbeiten. Sie saugt Nahrung aus der Pflanze. Ihre Zellwände werden gerade so durchlässig, dass die Nahrung leicht in sie hineinfließen kann, und sie bildet fingerartige Einwüchse, in denen sie die Nahrung speichert. In die veränderte Zelle spuckt der Nematode Moleküle, die sich zu einer Art Stroh formen, das die restliche Nahrung aufsaugt. Während die Zelle immer dicker wird, droht sie, die gesamte Wurzel zu sprengen. Um sie zu schützen, veranlasst der Nematode die umgebenden Zellen, sich zu vermehren und einen kräftigen Wurzelknoten zu bilden, um dem Druck standzuhalten. Genauso, wie Trichinella die genetische Sprache der Säugetiere spricht, haben die Nematoden die Sprache der Pflanzen gelernt. *** Parasiten leben in einer abgewandelten Version der äußeren Welt, an einem Ort mit eigenen Gesetzen für die Navigation, die Nahrungssuche und den Bau eines Obdachs. Während sich ein Dachs einen Bau gräbt oder ein Vogel ein Nest baut, arbeiten Parasiten häufig mit Hilfe eines biochemischen Zaubers, damit Fleisch und Blut die von ihnen gewünschte Form annehmen – so, als würde ein loser Bretterhaufen zu einem Haus zusammenwirbeln. 67
Ökologen studieren, wie sich die Millionen Arten auf der Erde die Welt miteinander teilen, aber sie nehmen nicht den ganzen Planeten auf einmal unter die Lupe, sondern konzentrieren sich gewöhnlich auf ein einzelnes Ökosystem, sei es eine Prärie, ein Watt oder eine Sanddüne. Selbst hier wird ihre Arbeit häufig zunichte gemacht durch fließende Grenzen, fern hereingewehte Samen oder Wölfe, die von der anderen Seite eines Gebirges zuwandern. So kommt es, dass einige der bedeutendsten Arbeiten der Ökologen auf Inseln entstanden sind, die im Lauf von Millionen Jahren vielleicht nur einige wenige Male kolonisiert wurden. Inseln sind die isolierten Labors der Natur. Auf Inseln haben Ökologen herausgefunden, dass die Größe eines Habitats bestimmt, wieviele Arten darin überleben können. Sie haben diese Erkenntnis aufs Festland mitgenommen und gezeigt, dass ein zerstückeltes Ökosystem ein Inselmeer wird, in dem Arten aussterben können. Für einen Parasiten ist ein Wirt eine lebende Insel. Größere Wirte beherbergen häufig mehr Parasitenarten als kleinere Wirte, so wie auf Madagaskar mehr Arten leben als auf den Seychellen. Aber wie die Inseln haben auch die Wirte ihre typischen Eigenschaften. Parasiten finden in ihnen eine große Anzahl ökologischer Nischen, weil ein Körper viele unterschiedliche Orte hat, denen sie sich anpassen können. Auf den Kiemen eines einzigen Fischs können 100 verschiedene Parasitenarten ihre besondere Nische finden. Ein Darm sieht vielleicht wie ein schlichter Zylinder aus, aber für einen Parasiten hat jede Strecke eine einzigartige Zusammensetzung des Säuregehalts, des Sauerstoffgehalts, der Nahrung. Ein Parasit kann für ein Leben auf der Darmoberfläche geboren sein, für ein Leben in der Darmschleimhaut an der Innenseite oder tief in den fingerartigen Darmzotten. In den Eingeweiden einer Ente können 14 parasitische Wurmarten leben (zusammen ergeben sie eine Population von rund 22.000), und jede Spezies besiedelt eine ganz bestimmte Strecke des Darms, die sich manchmal, aber nicht oft, mit der ihrer Nachbarn überlappt. Parasiten finden sogar einen Weg, das menschliche Auge zu parzellieren: für eine Wurmart die Retina, für andere Arten die Augenkammer, den Augapfel, die Augenhöhle. Finden Parasiten in ihrem Wirt genug Nischen, konkurrieren sie nicht um ihre Insel aus Fleisch. Aber wenn sie alle in dieselbe Ni68
sche wollen, wird es gewöhnlich gefährlich. Ein Dutzend Egelarten kann zum Beispiel eine einzige Schnecke infizieren, aber sie müssen alle in der Verdauungsdrüse leben. Wenn Parasitologen Schnecken öffnen, finden sie darin bezeichnenderweise nicht dieses Dutzend Egelarten, sondern nur mehrere Individuen einer einzigen Spezies. Die Egel können ihre Konkurrenten fressen oder chemische Stoffe ausscheiden, die eventuellen Neuankömmlingen das Eindringen erschweren. Das gilt auch für andere Parasiten. Wenn zum Beispiel stachelköpfige Würmer in den Darm einer Ratte kommen, vertreiben sie die Bandwürmer aus der fruchtbarsten Region und verbannen sie in einen unteren Teil des Gedärms, in dem es wesentlich schwieriger ist, Nahrung zu finden. Das bösartigste und nachbarschaftsfeindlichste Verhalten findet man jedoch bei einigen parasitischen Wespen, über die Darwin so entsetzt war, weil sie äußerst grausam mit ihren Wirten umgehen. Die Mutterwespe fliegt über das Land und sucht den Duft der Pflanze, auf der sich ihr Wirt – oft eine Raupe, manchmal auch eine Blattlaus, Ameise oder ein anderes Insekt – ernährt. Sobald sie der Pflanze näherkommt, schnüffelt sie nach dem Geruch der Raupe oder deren Kot. Parasitische Wespen lassen sich auf ihrem Wirt nieder und drücken ihren Stachel in den weichen Teil des Raupenkörpers zwischen den Segmenten des Außenskeletts. Dieser Stachel ist eine Legeröhre, mit der Eier abgelegt werden – in manchen Fällen nur eine Handvoll, in anderen hunderte. Manche dieser Wespen injizieren auch Gift, das ihre Wirte lähmt, während andere ihre Opfer auf Blättern und Stengeln weiterfressen lassen. Die Wespeneier werden im Wirt ausgebrütet und die Larven schlüpfen in dessen Körperhöhle. Manche Arten trinken nur das Blut der Raupe, andere fressen auch das Fleisch. Die Wespen halten ihren Wirt so lange am Leben, wie sie ihn für ihre Entwicklung brauchen, und sparen die lebenswichtigen Organe aus. Nach ein paar Tagen oder Wochen verlassen die Larven die Raupe, verstopfen die Ausgänge hinter sich und spinnen sich zu Kokons, die wie Knöpfe auf dem sterbenden Wirtstier sitzen. Sie reifen zu ausgewachsenen Wespen heran und fliegen davon. Erst dann gibt die Raupe ihren entomologischen Geist auf. Wenn verschiedene Wespenarten um ein und dieselbe Raupe konkurrieren, kann es zu einem brutalen Kampf kommen. Eine 69
Larvengruppe kann verkümmern und verhungern, wenn die Konkurrenz zu groß ist, und diese Gefahr ist umso größer, je länger eine Wespenart braucht, um in einer Raupe zu reifen. Die Wespe Copidosoma floridanum benötigt einen ganzen Monat, um in der Raupe des Kohlspanners zu reifen und ist folglich ein extrem unfreundlicher Parasit. Copidosoma legt nur zwei Eier in ihren Wirt, ein männliches und ein weibliches. Wie alle Eier beginnt jedes als einzelne Zelle und teilt sich, doch dann weichen sie vom normalen Weg, dem die meisten Tiere bei ihrer Entwicklung folgen, ab. Die Wespenzellengruppe teilt sich in zahllose kleinerer Gruppen, von denen sich dann jede zu separaten Wespen entwickelt. Ein einzelnes Ei bringt plötzlich 1200 Clone hervor. Einige dieser Gruppen entwickeln sich wesentlich schneller als die übrigen und werden schon vier Tage, nachdem ihr ursprüngliches Ei gelegt wurde, zu voll ausgebildeten Larven. Diese 200 Larven, die so genannten Soldaten, sind lange und schlanke Weibchen mit spitz zulaufendem Schwanz und scharfen Kiefern. Sie wandern durch die Raupe auf der Suche nach einer der Röhren, welche die Raupe zum Atmen benützt. Sie schlingen ihren Schwanz um eine Luftröhre und wiegen sich wie ein Seepferdchen an einem Korallenriff verankert im Blutstrom der Raupe. Die Aufgabe dieser Soldaten ist einfach: Sie leben nur, um andere Wespen zu töten. Jede Larve, die vorüberkommt, ob eine Copidosoma floridanum oder eine andere Spezies, wird von einem Soldaten geschnappt und ausgesaugt. Nur die tote leere Hülle darf weiterschwimmen. Während sich dieses Gemetzel abspielt, entwickeln sich langsam die übrigen Copidosoma-Embryos und wachsen schließlich zu rund 1000 weiteren Wespenlarven heran. Diese Larven, die so genannten Fortpflanzer, sehen ganz anders aus als die Soldaten. Sie haben als Mund nur eine Saugröhre und sind so rund und dick und träge, dass sie sich nur fortbewegen können, wenn sie vom Blutstrom der Raupe getragen werden. Die Fortpflanzer wären jedem Angriff hilflos ausgeliefert, aber dank der Soldaten brauchen sie nichts anderes zu tun als die Säfte der Raupe zu trinken, während die schrumpligen Leichen ihrer Rivalen vorüberziehen. Nach einer Weile gehen die Soldaten auch auf ihre Geschwister 70
los – genauer gesagt, auf ihre Brüder. Eine Copidosoma-Mutter legt ein männliches und ein weibliches Ei. Nachdem sich beide vermehrt haben, produzieren sie getrennte Geschlechter im Verhältnis eins zu eins. Aber die Soldaten töten selektiv die Männchen, sodass die überwiegende Mehrheit weiblich ist. Insektenforscher haben einmal 2000 aus einer Raupe schlüpfende Schwestern und nur einen einzigen Copidosoma-Bruder gezählt. Die Soldaten wenden sich aus ganz vernünftigen evolutionären Gründen gegen ihre eigenen Brüder. Männchen sind für ihre künftigen Nachfahren nur als Samenspender von Bedeutung. Copidosoma-Wirte aber sind schwer zu finden – sie sind verstreut wie meilenweit voneinander entfernte Inseln im Ozean, sodass sich die Männchen, die aus einer Raupe hervorkommen, wahrscheinlich in nächster Nähe mit ihren Schwestern erfolgreich paaren werden. In einer solchen Situation sind nur einige wenige Männchen nötig. Jedes weitere würde bedeuten, dass es weniger zu begattende Weibchen gibt und damit auch weniger Nachkommen. Indem die weiblichen Soldaten die männlichen Fortpflanzer töten, sorgen sie dafür, dass der Wirt die größtmögliche Anzahl von Weibchen ernähren und ausreichend dazu beitragen kann, ihre und die Gene ihrer Geschwister weiterzugeben. Die Copiciosoma-Soldaten sind ebenso grausam wie selbstlos. Sie werden ohne das Rüstzeug für eine Flucht aus der Raupe geboren. Während sich ihre reproduktiven Geschwister aus dem Wirt hinausbohren und sich in Kokons spinnen, bleiben sie in der Raupe gefangen. Wenn ihr Wirt stirbt, sterben sie mit ihm. Das Verlassen des Wirts ist der wichtigste Schritt im Leben eines Parasiten. Ist er nicht zum richtigen Zeitpunkt bereit, stirbt er mit seinem Wirt. Menschen, die auf Elephantiasis untersucht werden wie der junge Michael Sukhdeo, müssen nachts zur Untersuchung kommen. Die Adultfilarien leben in den Lymphbahnen. Ihre Babywürmer wandern in die Blutbahn und verbringen die meiste Zeit in den Kapillaren in Geweben tief im Inneren des Körpers. Sie haben aber nur die Möglichkeit erwachsen zu werden, wenn sie beim Stich einer Mücke aufgenommen werden. Und diese Mücke fliegt in der Nacht. Irgendwie wissen die Würmchen tief in unserem Körper, welche Tageszeit gerade herrscht – vielleicht, indem sie das Ansteigen und Absinken der Körpertemperatur ihres Wirts 71
spüren. Dann begeben sie sich in die Blutgefäße direkt unter der Haut, wo sie möglicherweise von einer Mücke aufgesaugt werden. Gegen zwei Uhr morgens wandern die Würmer, die nicht aufgenommen wurden, ins Wirtsinnere zurück, um auf den nächsten Abend zu warten. Parasiten nützen auch Hormone, die ihnen signalisieren, wann es Zeit ist zu gehen. Die Flöhe auf der Haut eines weiblichen Kaninchens nehmen in dem Blut, das sie trinken, Hormone wahr. So erfahren sie, wann die Kaninchenmutter anfängt, Junge zu werfen, und haben nichts Eiligeres zu tun, als ans vordere Kopfende des Kaninchens zu kommen. Sobald die Jungen geboren sind und von der Mutter herumgeschoben und geleckt werden, hüpfen die Flöhe auf die Babys. Kaninchenbabys können sich nicht selbst putzen, und die Mutter säubert sie nur, wenn sie ihr Nest einmal am Tag aufsucht, um die Jungen zu säugen. Das macht die kleinen Kaninchen zu einem wundervoll ruhigen Plätzchen für die Flöhe, die sofort beginnen, sich von ihren neuen Wirten zu ernähren, sich zu paaren und Eier zu legen. Die neue Flohgeneration wächst auf den Kaninchenbabys auf, aber wenn sie merken, dass die Mutter wieder trächtig ist, kehren sie zu ihr zurück und warten darauf, den nächsten Wurf zu infizieren. Einen neuen Wirt zu erreichen kann zu einer riesigen Herausforderung werden, wenn die vom Parasiten bevorzugte Spezies ein einsam lebendes Tier ist. Gräbt man zum Beispiel ungefähr einen Meter tief in den harten Wüstenboden von Arizona, kann man auf einen Krötenfrosch stoßen. Es ist Scaphiopus couchi oder Couch’s Schaufelfuß, der die in Arizona elf Monate währende Trockenzeit verschläft. Er sitzt in der Erde, frisst nicht, säuft nicht. Sein Herz schlägt kaum, aber seine Zellen müssen trotzdem stoffwechseln, und so verstaut er ihre Abfallprodukte in Leber und Blase. Im Juli oder August kommt der Regen. Monsunartige Güsse prasseln auf die Erde nieder und weichen den Boden auf. Schon in der ersten Regennacht werden die Schaufelfüße munter und kriechen an die Erdoberfläche. Sie versammeln sich in Tümpeln, wo die Männchen die Weibchen zahlenmäßig zehn zu eins übertreffen. Sie locken die Weibchen an, indem sie schwimmende Chöre bilden und so leidenschaftlich quaken, dass ihre Kehlen bluten. Die Weibchen treiben 72
zwischen den Männchen, bis sie die Stimme finden, die ihnen gefällt. Sie stupsen den Erwählten an, er klettert auf sie hinauf, und sie umschlingen sich, während das Weibchen Eier ausstößt, die es wie ein Floß hinter sich herzieht und die das Männchen mit seinem Samen befruchtet. Gegen vier Uhr früh ist die Zeit des Werbens um. Noch bevor die brennende Sonne aufgeht, haben sich die Schaufelfüße wieder mehrere Zoll tief in die Erde gegraben. Erst wenn die Sonne wieder untergeht (und nur, wenn genug Wasser vorhanden ist), kommen sie wieder an die Oberfläche. Wenn sie sich nicht paaren, fressen sie, um die nächsten elf Monate über die Runden zu kommen. Ein Schaufelfuß kann in einer Nacht eine Termitenmenge von der Hälfte seines Körpergewichts fressen. Die Nachkommen müssen sich währenddessen in nur zehn Tagen von Eiern zu Kaulquappen entwickeln, weil die Regenzeit lediglich wenige Wochen dauert. Sobald der Regen versiegt, verschwinden alle Schaufelfüße nach wenigen Tagen wieder im Untergrund und kehren zu ihrem Schlafleben zurück. Angesichts so geringer Möglichkeiten für einen Wirtswechsel scheint ein Schaufelfuß für einen Parasiten keine besonders gute Wahl zu sein. Es gibt in der Tat auch kaum Parasiten, die im Schaufelfuß Fuß fassen konnten, und die meisten davon lösen nur schwache Infektionen aus. Aber ein Parasit schwelgt regelrecht im Schaufelfuß: der Wurm Pseudodiplorchis americanus. Pseudodiplorchis gehört zur Gruppe der Monogeneten. Es sind kleine, tropfenförmige Würmer, die fast immer auf der Haut von Fischen leben und im stets vorhandenen Wasser bequem von Wirt zu Wirt wandern können. Doch auch die Hälfte aller Schaufelfüße ist von dem monogenen Pseudodiplorchis befallen. In jedem Schaufelfuß sitzen im Durchschnitt fünf Exemplare. Ausgerechnet die Blase des Schaufelfußes sucht sich Pseudodiplorchis als Aufenthaltsort für den langen Schlaf aus. Obwohl der Krötenfrosch immer mehr Salze und andere Abfallstoffe in die Blase pumpt, lebt der Parasit dort, saugt Blut und paart sich. In jedem weiblichen Pseudodiplorchis reifen hunderte von Eiern zu Larven. Monatelang sitzen sie in ihrer Mutter und warten darauf, dass der Schaufelfuß aufwacht. Der Parasit wartet genauso lang wie der Schaufelfuß, selbst wenn es einmal ein Jahr lang nicht regnet. Wenn es dann aber regnet, setzt für den Parasiten eine Sint73
flut ein. Sobald sich der Schaufelfuß aus der Erde gewühlt hat, saugt seine Haut Wasser auf, das durch die Blutbahn strömt und den ganzen giftigen Abfall, der sich übers Jahr in seinem Körper angesammelt hat, durch die Nieren in die Blase schwemmt. Diese Urinschwemme verwandelt das Habitat des Parasiten von einem salzigen Ozean in einen Süßwassersee. Pseudodiplorchis hält diesem Sturzbach stand und wartet den Chor der Männchen sowie die Partnersuche der Weibchen ab. Ist der Schaufelfußwirt sexuell erregt ist und versucht sich zu paaren, schickt Mutter Pseudodiplorchis ihre vielen Jungen aus der Blase hinaus in den Tümpel. Sobald die Jungen im Wasser sind, befreien sie sich von ihren Eiersäcken und schwimmen umher. Aber jetzt, nach elf Monaten Wartezeit, müssen sich die Parasiten beeilen. Sie haben nur ein paar Stunden, um in dem Laichwasser einen anderen Wirt zu finden, bevor die Sonne aufgeht, die Schaufelfüße wieder unter der Erde verschwinden und alle gestrandeten Parasiten vertrocknen. Während sie in dem Tümpel umherschwimmen, müssen sie überdies acht geben, dass sie nicht auf eine andere Spezies der Wüstenkröten kriechen, die sich ebenfalls in diesem Wasser tummeln. Wahrscheinlich führt sie eine einzigartige Hautabsonderung des Schaufelfußes zu ihrem Wirt. Pseudodiplorchis hat ein fantastisches Heimkehrvermögen. Bei vielen Parasiten ist es nichts Ungewöhnliches, wenn nur einige unter tausenden von Larven einen Wirt finden, in dem sie reifen können. Pseudodiplorchis hat eine Erfolgsquote von 30 Prozent. Sobald eine Pseudodiplorchis-Larve auf ihren Wirt trifft, kriecht sie an ihm hoch. Sie kommt ganz aus dem Wasser heraus und klettert so hoch, wie es nur geht. Sie erreicht den Kopf des Schaufelfußes, findet die Nasenlöcher und kriecht hinein. Der Wettlauf geht weiter: Pseudodiplorchis muss in die Blase des Wirts gelangen, bevor die Regenzeit endet. Im Schaufelfußinneren trifft Pseudodiplorchis auf Bedingungen, die ebenso mörderisch sind wie die Wüstensonne. Der Wurm wandert durch die Luftröhre bis zur Lunge und trinkt unterwegs Blut. In der Lunge, wo er sich gegen die Bemühungen des Schaufelfußes wehren muss, ihn abzuhusten, bleibt er zwei Wochen und reift zu einem jungen Erwachsenen von ungefähr einem Viertelzentimeter heran. Er verlässt die Lunge und kriecht in das Maul seines Wirts, um 74
sofort wieder kehrt zu machen und durch die Speiseröhre in die Därme abzutauchen. Die Säuren und Enzyme, mit denen der Schaufelfuß seine Nahrung verdaut, sollten einen so zarten Parasiten eigentlich zersetzen. Wenn man einen neu angekommenen Pseudodiplorchis aus der Lunge des Schaufelfußes holt und ihn sofort danach in die Schaufelfußdärme steckt, stirbt der Parasit innerhalb von Minuten. Hat er aber in der Lunge zwei Wochen Zeit, kann er sich auf diese Reise vorbereiten. Er lagert dafür mit Flüssigkeit gefüllte Blasen in seiner Haut ein. Taucht er dann in den Verdauungstrakt des Schaufelfußes hinab, lässt er die Bläschen platzen, und die chemischen Stoffe, die sie verspritzen, neutralisieren die Stoffe, die ihn zersetzen könnten. Doch trotz dieses Schutzschildes erlaubt sich Pseudodiplorchis keine Trödelei. Er stürmt förmlich durch den gesamten Verdauungstrakt und erreicht schon nach einer halben Stunde die Blase. Die ganze Reise, von der Nase über Lunge und Maul zur Blase dauert nicht länger als drei Wochen. Bis dahin hat das Wirtstier seine jährliche Paarung und Futteraufnahme beendet und sitzt wieder unter der Erde. Der Schaufelfuß ist einer der wenigen Wirte, die ein ebenso isoliertes Leben führen wie ihre Parasiten. Gemeinsam verbringen sie fast ein ganzes Jahr unter der Erde und warten auf die Chance, ihre Artgenossen wiederzusehen. Parasiten haben die unwirtlichsten Habitate besiedelt, welche die Natur zu bieten hat; und sie haben dafür die ausgeklügeltsten Anpassungen entwickelt. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht von den frei lebenden Tieren, auch wenn Lankester dies empörend fände. Und dabei bin ich noch nicht einmal auf die bemerkenswerteste Anpassung eingegangen, die Parasiten gelungen ist: die Bekämpfung des Immunsystems. Dieser Kampf erfordert ein eigenes Kapitel.
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Kapitel 3 Der dreißigjährige Krieg O Rose, du bist krank. Der unsichtbare Wurm, Der in der Nacht fliegt, Hat im Sturm Dein Bett purpurner Lust gefunden, Und seiner Liebesweise, So heimlich, still und leise, Wirst du nicht mehr gesunden. William Blake, »Die kranke Rose«
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ines Tages kam ein Mann ins Royal Perth Hospital in Australien und klagte über fortwährende Müdigkeit. Er war schon seit zwei Jahren müde, und jetzt, im Sommer 1980, fand er es an der Zeit herauszufinden, was mit ihm nicht stimmte. Sein Gesundheitszustand war nicht perfekt, aber auch nicht erschreckend schlecht. Als Teenager und junger Mann hatte er ziemlich viel geraucht, aber mit vierundvierzig war sein einziges Laster ein Glas Weißwein am Abend. Sein Arzt konnte beim Abtasten eine geschwollene Leber feststellen. Die Ultraschalluntersuchung ergab, dass zwei der drei Leberlappen vergrößert waren. Trotzdem fand der Arzt wider Erwarten keine Anzeichen für einen Tumor oder eine Zirrhose. Erst als er das Ergebnis der Stuhluntersuchung vor sich hatte, erkannte er, was passiert war: Der Stuhl war voller stachliger Eier von Schistosoma mansoni – von Blutegeln, die nur in Afrika und Lateinamerika vorkamen. Der Arzt ließ sich den Lebenslauf des Mannes erzählen. Er war 1936 in Polen geboren. Im Zweiten Weltkrieg wurde er mit seiner Familie von der Sowjetarmee in ein sibirisches Gefangenenlager verschleppt. Gegen Ende des Kriegs waren sie von dort geflohen und nach einer Reise durch Afghanistan und Persien in einem Flüchtlingslager in Ostafrika gelandet. Sechs Jahre lang waren Savannen sein Spielplatz, bis die Familie 1950 nach Australien emigrierte, wo er dann geblieben war. 76
Es ist leicht nachzurechnen, aber trotzdem kaum zu glauben: Die einzige Zeit, in der der Mann in die Nähe von Schistosoma mansoni gekommen sein konnte, war Ende der vierziger Jahre. Beim Baden in tansanischen Seen, war mindestens ein Egelpaar in seine Haut gedrungen und in seine Venen gewandert. Die Egel waren mit ihm nach Australien gereist und hatten mit ihm ein neues Leben begonnen. Über dreißig Jahre lang hatten Pärchenegel weitergelebt, sich still umschlungen und Eier produziert. Ihre Langlebigkeit ist noch beeindruckender, wenn man bedenkt, dass sie ihr Alter unter ständigen Bedrohungen und Angriffen erreichten. Lankester war der Meinung, befinde sich ein Parasit einmal in seinem Wirt, sitze er gemütlich in seinem Zuhause und habe nichts anderes zu tun als die Nahrung zu trinken, in der er schwimme. Zu viel mehr sei er ja auch nicht in der Lage. Aber Lankaster schrieb seinen Aufsatz »Degeneration« im Jahr 1879, als die Immunologie, die Wissenschaft von den Abwehrkräften des Körpers, kaum mehr war als Alchimie. Die Ärzte wussten zwar, dass sie die Menschen vor Pocken schützen konnten, indem sie ihnen eine kleine Portion Pockenserum injizierten, aber sie hatten keine Ahnung, wie diese Impfung Leben rettete. Wenige Jahre nach Lankesters Veröffentlichung wurden räuberische Zellen im menschlichen Körper entdeckt, die in ihm umherwandern und Bakterien fressen. Das war die Geburtsstunde der Immunologie. Aufzuzählen, was die Wissenschaft seitdem über das Immunsystem gelernt hat, käme dem Versuch gleich, die Sixtinische Kapelle mit Buntstiften auszumalen. Das Immunsystem ist orchestral in seiner Komplexität: Es setzt sich aus einer ungeheuren Vielfalt von Zellen zusammen, die mittels Signale, die ein Wörterbuch füllen könnten, miteinander kommunizieren sowie Dutzenden von Molekülarten, die den Zellen bei der Entscheidung helfen, was vernichtet und was verschont werden soll. Das Immunsystem agiert wie ein aus Blut bestehendes Gehirn. Im Folgenden soll eine kurze Darstellung zeigen, wie sich unser Körper gegen Parasiten wehrt. Das Immunsystem greift einen Eindringling – zum Beispiel Bakterien, die eine Schnittwunde infizieren – in mehreren Wellen an. Eine der ersten Wellen ist eine Anhäufung von Molekülen, die Komplemente genannt werden. Wenn Komplementmoleküle auf 77
die Oberfläche eines Bakteriums treffen, halten sie sich dort fest und verändern ihre Gestalt so, dass sie andere vorbeikommende Komplementmoleküle festhalten können. Allmählich sammeln sich immer mehr Moleküle an und setzen sich zu Zerstörungswerkzeugen zusammen, die wie ein Bohrer Löcher in die Membranen des Bakteriums bohren. Gleichzeitig wirken sie wie Leuchttürme, sodass das Bakterium für die Immunzellen sichtbarer wird. Komplemente landen auch auf unseren eigenen Zellen, aber hier richten sie keinen Schaden an. Unsere Zellen sind mit Molekülen besetzt, die an einem Komplement andocken und es zerlegen können. Wandernde Immunzellen treffen ebenfalls früh an der Schnittwunde ein; die wichtigsten sind die Makrophagen. Sie haben eine recht derbe Art, mit Bakterien umzugehen. Sie nehmen die Eindringlinge in sich auf und zersetzen sie. Gleichzeitig senden sie Signale aus, welche die restlichen Helfer des Immunsystems herbeirufen. Einige dieser Signale lassen die Infektion anschwellen, indem sie die benachbarten Blutgefäßwände lockern. Dadurch können andere Immunzellen und Moleküle in das Gewebe strömen. Die von den Makrophagen freigesetzten Signalmoleküle hängen sich auch an Immunzellen, die zufällig in nahe gelegenen Blutgefäßen vorüberfließen, und führen sie durch die Gefäßwand zu der infizierten Stelle – ungefähr so wie ein Junge, der im Supermarkt seine Mutter in den Gang mit den Spielsachen zieht. Hat das Immunsystem genug Zeit, kann es eine neue Angriffswelle mit raffinierteren Zellen organisieren. Dann kommen die Bund T-Zellen zum Einsatz. Die meisten unserer Zellen haben auf ihrer Oberfläche eine Standardausgabe von Rezeptoren. Normalerweise ähneln sich rote Blutzellen sehr. Aber wenn die Blutzellen B- und T-Zellen bilden, mischen sie die Gene, welche die Rezeptoren auf ihrer Oberfläche entstehen lassen. Diese veränderten Gene benützen die Zellen, um neue Rezeptoren mit Formen zu bauen, die bei keiner anderen Immunzelle vorkommen. So entstehen Milliarden unterschiedliche Formen, sodass jede neue B- oder T-Zelle ein eigenes Gesicht erhält. Weil diese B- und T-Zellen so verschiedenartig sind, können sie eine ungeheure Menge an Molekülen an sich binden, darunter auch die auf der Oberfläche von Eindringlingen. (Fremde Moleküle, die 78
eine Immunreaktion auslösen, heißen Antigene.) Zuerst jedoch müssen die Antigene den Zellen auf die richtige Weise präsentiert werden. Diese Aufgabe übernehmen Makrophagen und andere Immunzellen. Wenn die Immunzellen Bakterien oder deren abgelegte Fragmente fressen, zerlegen sie diese in kleine Stücke. Dann bringen sie die Antigene an ihre Oberfläche und stellen sie in einer speziellen Mulde (dem größten Gewebeverträglichkeitskomplex – major histocompatibility complex, kurz MHC) aus. Mit diesen zur Schau gestellten Eroberungen wandern die Immunzellen in die Lymphknoten. Hier treffen sie auf T-Zellen. Wenn eine T-Zelle den richtigen Rezeptor hat, kann sie sich wie ein Schlüssel, der in ein Schloss passt, mit den von der Makrophage ausgestellten Antigenen verbinden. Sobald die T-Zelle das Antigen erkennt, vermehrt sie sich schnell zu einer Schar identischer Zellen, die alle mit dem gleichen Rezeptor ausgestattet sind. Diese T-Zellen können eine von drei möglichen Formen annehmen und jede Form tötet die Eindringlinge auf andere Weise. Manchmal werden sie zu Killer-T-Zellen, die den Körper nach Zellen absuchen, die von Krankheitserregern infiziert wurden. Sie orten infizierte Zellen dank des MHC. Die meisten Zellen im menschlichen Körper können wie die Makrophagen Antigene auf ihren eigenen MHC-Rezeptoren ausbreiten. Wenn die Killer-T-Zelle dieses Anzeichen einer Störung erkennt, befiehlt sie der infizierten Zelle, Selbstmord zu begehen. Der Parasit in der Zelle stirbt mit ihr. In anderen Fällen verbünden sich aktivierte T-Zellen mit anderen Immunzellen, um effektiver zu töten. Manchmal helfen sie, indem sie entzündliche Lymphokine werden. Diese Zellen schwimmen zu den Makrophagen, die gegen die zunehmende Flut von Bakterien schwer zu kämpfen haben, und docken an dem Antigen, das auf dem MHC der Makrophagen ausgestellt ist, an. Dieses Andocken wirkt wie ein Trigger, der den Makrophagen zu einem noch gewaltsameren, noch mehr Gift verspritzenden Killer macht. Gleichzeitig bewirken die Lymphokine, dass die Schnittwunde stärker anschwillt als es die Makrophagen allein schaffen würden. Die T-Zellen töten auch alte ermüdete Makrophagen und regen die Erzeugung neuer Makrophagen an, die dann ihre älteren Vettern fressen. Sie sind wie schlachtenhungrige Generäle, die in einem Krieg sehr nützlich sind, aber nicht außer Kontrolle geraten 79
dürfen. Zuviel Entzündung, zu viele von den Makrophagen erzeugte Gifte würden dazu führen, dass das Immunsystem den eigenen Körper zerstört. In der dritten Form, die T-Zellen annehmen, helfen sie den BZellen, Antikörper zu bilden. B-Zellen haben ebenso vielfältige Oberflächenmoleküle wie die T-Zellen und können ebenfalls an Milliarden verschiedener Antigene festmachen. Wenn sich eine BZelle an ein Fragment angeschlossen hat, kann eine T-Helferzelle vorbeikommen und sich gleichzeitig einklinken. Bei diesen Vereinigungen kann die T-Zelle die B-Zelle veranlassen, mit der Produktion von Antikörpern zu beginnen. Antikörper sind eine Art freischwebende Version eines B-Zellen-Rezeptors und können sich ebenfalls nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip mit einem Eindringling verbinden. Sobald B-Zellen aktiviert sind, speien sie Antikörper aus und bekämpfen, je nach deren Beschaffenheit, auf unterschiedliche Weise die Infektion. Entweder umhüllen sie einen von Bakterien ausgeschiedenen Giftstoff und neutralisieren ihn oder sie helfen den Komplementmolekülen, sich in die Bakterien hineinzubohren. Sie können sich an Bakterien hängen und die chemischen Mechanismen, die diese anwenden, um in die Zellen des Körpers einzudringen, ausschalten. Oder sie markieren Bakterien, um sie zu einem deutlicheren Ziel für die Makrophagen zu machen. Während die Mehrheit der B- und T-Zellen damit beschäftigt ist, die von der Schnittwunde kommenden Bakterien auszurotten, sitzen einige dieser Immunabwehrzellen den Angriff einfach aus. Dies sind die so genannten Gedächtniszellen. Ihre Aufgabe ist es, die Oberflächenstruktur des Eindringlings, der die Infektion ausgelöst hat, über viele Jahre hinweg zu speichern. Sollte dieselbe Bakterienart wieder in den Körper gelangen, können sie auf diese Information zurückgreifen und einen schnellen Gegenangriff starten. Diese Zellen sind das Geheimnis der Impfstoffe. Selbst wenn Immunzellen nur mit einem Antigen in Berührung kommen, produzieren sie Gedächtniszellen. Ein Impfstoff macht einen Menschen nicht krank, weil er nur ein Molekül und nicht einen lebenden Organismus enthält, aber er kann das Immunsystem trotzdem darauf vorbereiten, dass es den Krankheitserreger vernichtet, sollte er jemals im Körper auftauchen. 80
T-Zellen, B-Zellen, Makrophagen, Komplemente, Antikörper und all die anderen Teile des Immunsystems bilden ein dichtes Netz, das unseren Körper ständig von Krankheitserregern säubert. Doch hin und wieder geht dem Immunsystem ein Parasit durch die Lappen und nistet sich ein. Sein Erfolg beruht weniger auf einem Fehler des Immunsystems als vielmehr auf seiner Fähigkeit, dem Immunsystem zu entkommen. Bakterien und Viren haben ihre Tricks, aber die faszinierendsten Strategien finden wir bei den »klassischen« Parasiten – den Protozoen, Egeln, Bandwürmern und anderen Eukaryonten. Sie können dem Immunsystem ausweichen, es verwirren, erschöpfen und sogar beherrschen, indem sie seine Signale bis zur Unkenntlichkeit schwächen oder – notfalls – verstärken. Wie raffiniert diese Parasiten sind, zeigt die Tatsache, dass es gegen sie immer noch keinen Impfstoff gibt, wohingegen wir viele Impfstoffe gegen Viren und Bakterien haben. Hätte Lankester dies alles gewusst, hätte er Parasiten vielleicht nicht so in Verruf gebracht – ein Imageproblem, das sie heute noch haben. *** Im September 1909 erkrankte ein kräftiger junger Mann aus Northumberland, der sich im Nordosten Rhodesiens, nahe des Luangwa-River, aufhielt, an Schlafkrankheit. Seine Krankheit wurde erst nach zwei Monaten erkannt. Bald danach kehrte er nach England zurück und wurde von Ärzten der Liverpool School of Tropical Medicine behandelt. Am 4. Dezember kam er ins Royal Southern Hospital, wo ihn ein Arzt namens Major Ronald Ross behandelte. Ross war damals schon Nobelpreisträger und eine Koryphäe in der Tropenmedizin. Zehn Jahre zuvor hatte er die Übertragung von Malaria durch die Anophelesmücke und den Entwicklungszyklus des Malariaplasmodiums nachgewiesen. Das Blut des schlafkranken Patienten wimmelte von Trypanosomenparasiten. Zahllose bohrerförmiger Geißeltierchen bevölkerten jeden Blutstropfen. Seine Drüsen schwollen, und seine Beine waren von Ausschlag bedeckt. Woche um Woche siechte er dahin. Ross versuchte, die Parasiten mit einer Arsenverbindung zu bekämpfen, musste die 81
Behandlung aber abbrechen, weil das Arsen die Augen des Mannes beschädigte. Im April erbrach sich der Mann vier Tage lang und nahm zehn Pfund ab. Er wurde schläfriger und schläfriger, obwohl er zwischendurch immer wieder kurz auflebte. Seine Leber vergrößerte sich und das Blut staute sich zunehmend in den Blutgefäßen des Gehirns. Ross versuchte andere Behandlungsmethoden. Er impfte eine Ratte mit dem Blut seines Patienten und wartete, bis sich die Parasiten vermehrt hatten. Dann nahm er der Ratte Blut ab, erhitzte es, um die Trypanosomen abzutöten, und injizierte diesen primitiven Impfstoff dem Kranken. Er bewirkte nichts. Im Mai setzte bei dem Kranken eine anale Schließmuskellähmung ein, und Ross war überzeugt, dass er sterben würde. Doch eine Woche später stellte sich eine bemerkenswerte Besserung ein. Sie dauerte nur einige Tage. Dann wurde der Patient wieder schwächer, bekam Lungenentzündung und starb. Bei der Autopsie fand Ross kein einziges Trypanosoma. Einige Jahre zuvor hatte Ross eine Methode entwickelt, um Blutparasiten schnell zu entdecken; diese Methode hatte er auch bei seinem schlafkranken Patienten angewendet. Im Lauf von drei Monaten, bis zum Tod des Patienten, erstellte er das erste Tag-fürTag-Portrait der Schlafkrankheit, das es auf der Welt gab. Er ermittelte es an Hand eines »bemerkenswerten Kurvenblatts«, wie er in einem Bericht über seinen Patienten schrieb. Das Diagramm zeigte einen deutlichen Rhythmus: Während einiger Tage nahmen die Trypanosomen sprunghaft zu und vermehrten sich um das Fünfzehnfache. Dann verringerte sich ihre Zahl ebenso plötzlich auf eine verschwindend geringe Menge. Dieser Zyklus zog sich ungefähr über eine Woche hin und das Fieber des Mannes und die Anzahl seiner weißen Blutkörperchen stiegen und fielen entsprechend. Der Mann war nicht das Opfer eines einzigen Angriffs von Parasiten gewesen – vielmehr war eine ganze Reihe von Ausbrüchen in ihm aufgeflammt und erstickt worden. Ross sah in seinem Patienten »einen Kampf zwischen den Abwehrkräften des infizierten Körpers und den aggressiven Kräften der Trypanosomen«. Aber was bei diesem Kampf im einzelnen vor sich ging, konnte er nicht genau sagen. Heute, nach weiteren neunzig Jahren, können die Wissenschaftler immer noch keinen Impf82
stoff gegen die Schlafkrankheit herstellen, aber sie wissen wenigstens, wie die Trypanosomen auf ihren stachligen Wellen reiten, bis ihr Wirt stirbt. Wenn Sie auf ihrer »Reise ins Ich« über ein Trypanosoma flögen, wären Sie von dem, was Sie sähen, bald schrecklich gelangweilt. Es wäre, als blickten Sie auf das eintönigste Maisfeld irgendwo in Iowa: Millionen von Stengeln, die mit geringstmöglichem Zwischenraum dicht an dicht nebeneinander stehen. Sie würden zum nächsten Trypanosoma fliegen in der Hoffnung auf Abwechslung. Aber die Maisstengel hier sähen nicht anders aus. Tatsache ist, dass Sie zu jedem beliebigen Zeitpunkt über irgendeinen der Millionen und Abermillionen von Trypanosomen in einem menschlichen Wirt fliegen könnten und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei jedem die gleiche Oberfläche finden würden. Für ein menschliches Immunsystem sollten diese Parasiten so leicht zu töten sein wie ein Fisch in der Badewanne. Lernt das Immunsystem, auch nur ein einziges dieser Maisstengelmoleküle zu erkennen, kann es die Parasiten im Körper bekämpfen. Wenn die B-Zellen eines Wirts zu den Maisstengeln passende Antikörper produzieren, sterben die Trypanosomen tatsächlich ab – aber nicht alle. Gerade, wenn es so aussieht, als wären die Trypanosomen verschwunden, haben sie zahlenmäßig ihren Tiefststand erreicht und vermehren sich wieder. Aber wenn Sie jetzt über die Trypanosomen fliegen würden, sähen Sie keine Maisstengel mehr, sondern Weizen – eine stinklangweilige, riesige, aber völlig anders bewachsene Fläche. Dieser schnelle Wechsel geschieht dank der einzigartigen Ausstattung der Trypanosomen-Gene. Die Bauanleitung für die Moleküle, aus denen die Umhüllung der Trypanosomen besteht, sitzt auf einem einzigen Gen. Wenn sich das Trypanosoma teilt, benützen die neuen Parasiten normalerweise das gleiche Gen, um die gleiche Hülle zu bauen. Doch ungefähr einmal alle zehntausend Teilungen zieht ein Trypanosoma das Gen plötzlich aus dem Verkehr: Es schneidet das Gen aus seinem Platz in der DNS des Parasiten heraus, holt aus einem Reservoir unzähliger anderer Hüllen bauender Gene ein neues hervor und klebt es an die Stelle des alten. Das neue Gen beginnt, sein Oberflächenmolekül zu bauen: ein 83
Molekül, das dem vorherigen ähnlich, aber nicht mit ihm identisch ist. Nun braucht das Immunsystem, das sich auf die erste Oberflächenstruktur eingestellt hat, Zeit, um die zweite zu erkennen und entsprechende neue Antikörper zu bilden. Währenddessen sind die Trypanosomen mit der neuen Hülle sicher und können sich massenhaft vermehren. Bis das Immunsystem nachgezogen hat und die Trypanosomen mit einem neuen Antikörper angreift, hat ein anderes Trypanosoma ein drittes Gen installiert und baut bereits eine dritte Hülle. Diese Jagd erstreckt sich über Monate und Jahre und die Trypanosomen konstruieren immer wieder neue Hüllen. Im Lauf der Zeit sammeln sich so viele verschiedenartige Trypanosoma-Fragmente in der Blutbahn an, dass das Immunsystem des Wirts chronisch überreizt wird und den eigenen Körper angreift, bis das Opfer stirbt. Diese Strategie funktioniert nur, weil der Parasit aus einem unendlichen Vorrat Hüllen produzierender Gene schöpfen kann. Aber diese Gene werden nicht in einer beliebigen Reihenfolge aus ihrer Großraumzelle abgerufen. Nehmen wir an, dass die erste Trypanosomen-Generation, die in einen menschlichen Körper gelangt ist, ihre sämtlichen Hüllen bauenden Gene aktivieren würde. Das Immunsystem würde für alle diese Gene Antikörper bilden und die Infektion ganz schnell unterbinden. Und wenn eine neue Parasiten-Generation auf ein altes Hüllen-Gen zurückgreifen sollte, hätte das Immunsystem immer einige Antikörper über, mit denen es dieses schon einmal aufgetauchte Gen bekämpfen könnte. Folglich halten sich die Trypanosomen sorgfältig an eine vorprogrammierte Reihenfolge. Infiziert man zwei Mäuse mit zwei Trypanosomen-Klonen, schalten ihre Nachkommen auf die gleichen Gene in der gleichen Reihenfolge um. Auf diese Weise kann der Parasit die Infektion über Monate hinziehen. Ronald Ross ist heute vor allem dank seiner Erforschung der Malaria bekannt und weniger wegen seiner Arbeit über die Schlafkrankheit. Doch es gelang ihm nie, viel über die Art, wie Plasmodium gegen das menschliche Immunsystem kämpft, herauszufinden. Die Trypanosomen protzen mit ihrem rasanten Auf und Ab und zeigen, wie gerissen sie sind, aber Plasmodium verhält sich subtiler. Die meiste Zeit, die es im menschlichen Körper verbringt, 84
eilt es von einem Versteck zum anderen. Wenn es zum ersten Mal durch einen Mückenstich in den menschlichen Körper gelangt, kann es innerhalb einer Stunde in der Leber sein, und häufig reicht das, um vom Immunsystem unentdeckt zu bleiben. Der Parasit schlüpft in eine Leberzelle, um zu reifen, und erst hier wird der Körper auf ihn aufmerksam. Die Leberzellen schnappen sich vereinzelte Proteine von dem in ihnen schwimmendem Plasmodium, zerlegen sie, transportieren sie an ihre Oberfläche und stellen sie sie auf ihren MHC-Molekülen aus. Das Immunsystem des Wirts erkennt diese Antigene und beginnt, einen Angriff auf die kranken Leberzellen zu organisieren. Aber der Angriff braucht Zeit – und diese Zeit genügt dem Parasiten, um sich vierzigtausendmal pro Woche zu kopieren, aus der Leber auszubrechen und sich Blutzellen zu suchen. Bis das Immunsystem soweit ist, um die infizierten Leberzellen zu vernichten, sind diese leere Hülsen geworden. Inzwischen dringen die Parasiten in rote Blutzellen ein und statten ihr Zuhause so aus, wie sie es brauchen. Plasmodium muss einige Mühe aufwenden, um den Mangel an Genen und Proteinen in diesen Zellen auszugleichen, aber dieser Mangel hat auch seine Vorteile: Rote Blutzellen sind ein gutes Versteck. Weil sie keine Gene haben, können sie keine MHC-Moleküle bilden und somit dem Immunsystem auch nicht zeigen, was in ihnen steckt. Für eine Weile kann sich Plasmodium einer perfekten Tarnung in der Zelle erfreuen. Wenn sich der Parasit teilt und die Zelle füllt, muss er die Zellmembran mit seinen eigenen Proteinen stützen. Um nicht von der Milz vernichtet zu werden, baut er Knötchen auf der Zellenoberfläche, ein jedes mit kleinen Schnappriegeln, die sich an den Blutgefäßwänden einhaken können. Diese Schnappriegel stellen aber auch eine Gefahr dar: Sie können die Aufmerksamkeit des Immunsystems erregen, das Antikörper gegen sie bilden und eine Armee von Killer-T-Zellen zusammentrommeln kann, die diese Zeichen einer infizierten Zelle erkennen. Weil diese Schnappriegel vom Immunsystem erkannt werden, haben ihnen die Wissenschaftler viel Zeit gewidmet in der Hoffnung, einen Impfstoff gegen Malaria herstellen zu können. In den neunziger Jahren gelang es zum ersten Mal, die Reihenfolge der Gene, welche die Anweisungen für die Schnappriegel tragen, zu 85
ermitteln. Es stellte sich heraus, dass nur ein einziges Gen nötig ist, um einen Schnappriegel zu bauen; dass es aber über Hundert verschiedene Gene in der Plasmodium-DNS gibt, die das ebenfalls können. Und obwohl jede Sorte Schnappriegel die rote Blutzelle an einer Blutgefäßwand einhaken kann, hat jede Sorte eine einzigartige Form. Dringt Plasmodium in eine rote Blutzelle ein, schaltet es viele dieser Schnappriegel bauenden Gene gleichzeitig an, aber es sucht sich nur eine Sorte aus, um sie an der Oberfläche anzubringen. Die rote Blutzelle wird deshalb nur mit dieser besonderen Art von Schnappriegel besetzt sein. Wenn die Zelle aufbricht, gehen sechzehn neue Parasiten daraus hervor. Sie benützen in der Regel das gleiche Gen, um den gleichen Schnappriegel zu bauen. Aber hin und wieder wird ein Parasit auf ein anderes Gen umschalten und neue Schnappriegel bauen, die das Immunsystem nicht erkennen kann. Auf diese Weise schafft es Plasmodium, sich praktisch in aller Öffentlichkeit zu verstecken. Und bis das Immunsystem die Schnappriegel erkannt hat, macht der Parasit bereits neue. Malaria folgt also einer Strategie des Köderns und Umschaltens ähnlich der der Schlafkrankheit. Die Patienten von Ronald Ross, die gegen Schlafkrankheit und Malaria kämpften, erlagen dem gleichen tödlichen Spiel – er wusste es nur nicht. Plasmodium ist nur einer von vielen Parasiten, die in unseren Zellen leben. Manche können in jeder Zelle leben, andere nur in einer bestimmten. Einige spezialisieren sich sogar auf die gefährlichsten Zellen, die Makrophagen, deren Aufgabe es ist, Parasiten zu töten und zu fressen. Zu letzteren gehört das Protozoon Leishmania. Von diesem Parasiten gibt es ein Dutzend Arten, die alle durch den Biss von Sandmücken von Mensch zu Mensch oder von Tier zu Mensch übertragen werden. Jede Spezies ist ein besonderer Krankheitserreger. Leishmania major verursacht die Orientbeule – ein lästiges Geschwür, das von selbst heilt. Leishmania donovani befällt die Makrophagen im Körper und kann seinen Wirt innerhalb eines Jahres töten. Ein dritter Leishmania-Parasit, Leishmania brasiliensis, verursacht die Krankheit Espundia, wobei der Parasit das weiche Gewebe des Kopfes frisst, bis das Opfer kein Gesicht mehr hat. Leishmania braucht sich den Weg in ihren Wirtsmakrophagen nicht mit Gewalt zu bahnen, wie Plasmodium in die roten Blutkör86
perchen. Sie agiert eher wie eine feindliche Spionin, die bei der Polizei anklopft und bittet, festgenommen zu werden. Wenn der Parasit beim Biss einer Sandmücke eindringt, zieht er Komplementmoleküle an, die versuchen, sich in seine Membran zu bohren, sowie Makrophagen, die den Parasiten fressen wollen. Leishmania hält die Komplemente davon ab, sich in sie hineinzubohren, aber sie zerstört sie nicht. Sie lässt das Komplement auch seine Aufgabe als Leuchtturm erfüllen. Ein Makrophage kriecht über den Parasiten, entdeckt das Komplement und öffnet seine Membran, um Leishmania zu verschlingen. Der Makrophage verschluckt den Parasiten in einer Blase, die in sein Inneres sinkt. Normalerweise wäre dies eine Todeszelle für einen Parasiten. Der Makrophage verbindet normalerweise diese Blase mit einer anderen voller molekularer Skalpelle, die Leishmania unschädlich machen sollen. Aber irgendwie – die Wissenschaftler wissen immer noch nicht, wie sie es anstellt – verhindert Leishmania, dass sich die Blasen verbinden. Ihre eigene Blase, die jetzt vor jedem Angriff sicher ist, wird zu einem gemütlichen Heim, in dem der Parasit gedeihen kann. Leishmania verändert nicht nur den Makrophagen, in dem sie sitzt, sondern auch das gesamte Immunsystem des Körpers. Wenn junge T-Zellen zum ersten Mal Antigenen begegnen und sich bei ihnen einklinken, können sie zu Helferzellen werden. Welcher Typ Helferzelle sie werden – Lymphokine oder solche, die B-Zellen bei der Bildung von Antikörpern helfen –, hängt vom Gleichgewicht bestimmter Signale ab, die durch den Körper wandern. Zunächst beginnen beide T-Zellenarten, sich zu vermehren, aber dann kommen sie sich dabei ins Gehege. Bei vielen Infektionen verlagert dieser Kampf das Gleichgewicht zugunsten der einen oder anderen T-Zellenart. Die Gewinnerseite beginnt dann, auf ihre Art den Parasiten zu bekämpfen. Leishmania hat herausgefunden, wie dieser Kampf manipuliert werden kann. Der beste Weg, um diesen Parasiten zu vernichten, wäre sicherlich die Produktion vieler Lymphokine. Sie würden den Makrophagen helfen, die Parasiten, die sie geschluckt haben, zu töten. Und das scheint in der Tat bei Menschen zu passieren, denen es gelingt, Leishmania abzuwehren. Parasitologen haben Versuche durchgeführt, bei denen sie Mäuse mit Leishmania infizierten und 87
Lymphokine absaugten, die von den Mäusen produziert wurden, welche die Krankheit überlebt hatten. Dann injizierten sie diese TZellen in Mäuse, bei denen man auf genetischem Weg den größten Teil des Immunsystems lahmgelegt hatte. Die Injektion ermöglichte es den geschwächten Mäusen, dass auch sie den Parasiten abwehren konnten. Doch häufig kann unser Körper nicht die richtige Verteidigung aufbauen, und dieses Versagen scheint auf das Konto von Leishmania zu gehen. Während sie in ihrem Wirtsmakrophagen sitzt, zwingt sie die Zelle, die Signale zu geben, die das Immunsystem zugunsten jener T-Zellen kippen, die bei der Bildung von Antikörpern helfen. Da Leishmania in den Makrophagen versteckt ist, kann sie von den Antikörpern nicht erreicht werden. Und so bleibt die Krankheit unentdeckt. Plasmodium und Leishmania sind sehr schwierig, was ihre Behausung betrifft, weil sie nur in bestimmten Zelltypen überleben können. Die meisten parasitischen Protozoen sind ähnlich wählerisch, aber es gibt einige, die sich praktisch in jeder Zelle einnisten können. Eine solche Spezies ist Toxoplasma gondii, ein Lebewesen, das es verdienen würde, bekannter zu sein, denn ein Drittel aller Menschen auf der Erde ist mit ihm infiziert. In bestimmten Teilen Europas ist beinahe jeder ein Toxoplasma-Wirt. Dabei sind wir eigentlich nicht die natürlichen Wirte des Parasiten. Normalerweise wechselt er zwischen Katzen – Haus- und Wildkatzen – und den Tieren, die von Katzen gefressen werden. Die Katze scheidet mit ihrem Kot die ei-ähnlichen ToxoplasmaOozyten aus. Die Oozyten können viele Jahre im Boden warten, um irgendwann einmal von einem Vogel, einer Ratte, einer Gazelle oder einem ähnlichen Tier aufgenommen zu werden. In ihrem neuen Wirt brüten die Oozyten und die Protozoen wandern durch den Körper und suchen nach einer Zelle, um darin zu leben. Toxoplasma ist ein enger Verwandter von Plasmodium, dem Malaria verursachenden Protozoon, und ist wie dieses am vorderen Ende mit einem Spezialapparat ausgestattet, mit dem es sich den Weg in die Zelle freisprengt. Aber während Plasmodium nur in Leberzellen und dann in roten Blutkörperchen leben kann, schert sich Toxoplasma kaum um so feine Unterschiede. Es drängt sich rücksichtslos in ungefähr jeden Zellentyp. 88
Sobald Toxoplasma eine Zelle infiziert hat, beginnt es zu fressen und sich zu vermehren. Hat es sich in 128 neue Exemplare geteilt, reißt es die Zelle auf und die neuen Parasiten wimmeln heraus, bereit, in frische Zellen einzudringen. Nach einigen Tagen schaltet der Parasit um. Statt in Zellen einzudringen, baut er Kapseln, in denen sich jeweils etliche Hundert Toxoplasma-Individuen verbergen. Hin und wieder bricht eine der Kapseln auf, die Parasiten dringen in Zellen ein und erzeugen neue Toxoplasmen. Aber ihre Nachkömmlinge bauen sich sofort eigene Zysten und verschwinden darin. Dort schlafen sie mitunter jahrelang, bis ihr Wirt von einer Katze gefressen wird. Sobald sie in ihrem Endwirt angekommen sind, wachen sie wieder auf und beginnen sich zu teilen. Es werden männliche und weibliche Formen geboren. Sie paaren sich, legen Oozyten und der Kreislauf beginnt von vorn. Schluckt ein Mensch Toxoplasma-Eier mit ein bisschen Schmutz oder mit dem Fleisch eines infizierten Tiers, durchläuft der Parasit die gleiche erst schnelle, dann langsame Entwicklung. Die Menschen merken kaum, was während einer ToxoplasmaInfektion in ihnen vorgeht; schlimmstenfalls fühlen sie sich wie bei einer leichten Grippe. Und sobald sich der Parasit in seine Zyste zurückgezogen hat, spürt ihn ein gesunder Mensch überhaupt nicht. Nun könnte man vielleicht meinen, dass dieses lammfromme Toxoplasma eigentlich gar nicht berechtigt ist, neben Parasiten wie Trypanosoma und Plasmodium erwähnt zu werden. Aber tatsächlich manipuliert Toxoplasma das Immunsystem seines Wirts genauso elegant wie diese andere Arten. Wenn sich der Parasit wie verrückt vermehren und jede Zelle im Wirtskörper zerstören würde, befände er sich bald in einer Leiche, und das wäre nicht das, was eine Katze fressen würde. Toxoplasma will, dass sein Zwischenwirt am Leben bleibt, und benutzt deshalb das Immunsystem des Wirts, um sich selbst im Zaum zu halten. Es geht dabei wie Leishmania vor, nur genau umgekehrt. Leishmania zwingt das Immunsystem, T-Zellen zu produzieren, die beim Bau von Antikörpern mitwirken. Toxoplasma jedoch setzt ein Molekül frei, das die Balance zugunsten der Lymphokine verschiebt. Durch den gewaltigen Anstieg der Lymphokine werden die Makrophagen zu Toxoplasma-Mördern. Sie erlegen das Protozoon und sprengen es. Nur die Toxoplasmen, die sich in den zäh89
wandigen Zysten verkrochen haben, überleben diesen Angriff. Von Zeit zu Zeit brechen ein paar Parasiten aus ihren Zysten aus und verspritzen eine neue Ladung ihrer Reizmoleküle, die das Immunsystem wie eine Wiederholungsimpfung auffrischen. Erneut angeregt treiben die Makrophagen des Wirts die Parasiten wieder in ihre Zysten. So bleibt der Wirt dank Toxoplasmas Manipulationen gesund und in der Lage, Krankheiten abzuwehren, während der Parasit gemütlich in seiner Zyste sitzt und auf das Gelobte Land im Inneren einer Katze wartet. Toxoplasma wird nur dann eine Gefahr für den Menschen, wenn seine Sicherheitsvorkehrungen nicht greifen. Ein Fötus zum Beispiel hat kein eigenes Immunsystem. Er ist nur durch die von der Mutter produzierten Antikörper geschützt, die die Plazenta durchdringen. Die T-Zellen der Mutter dürfen nicht zum Fötus durchdringen, weil sie ihn wie einen gigantischen Parasiten behandeln und töten würden. Die Antikörper der Mutter leisten gute Arbeit bei einem Grippevirus oder Escherichia coli-Bakterien, aber vor Toxoplasma können sie den Fötus nicht schützen. Dazu bräuchte der Fötus Lymphokine, die den Parasiten in seine Zysten treiben. Folglich ist eine Toxoplasma-Infektion während der Schwangerschaft sehr gefährlich. Wenn der Parasit von der Mutter auf den Fötus übergreift, wird er sich dort wie wild vermehren. Er wird versuchen, das Immunsystem als Bremser einzusetzen, aber im Fötus gibt es niemand, der seine Rufe hören könnte. Also vermehrt er sich weiter, bis er massive, oft tödliche Hirnschäden verursacht. In den achtziger Jahren wurde Toxoplasma auch zu einer Gefahr für Menschen, die an AIDS leiden. Das Human Immunodeficiency Virus, kurz HIV, das AIDS verursacht, dringt in Lymphokine ein, benutzt sie, um sich zu vermehren, und tötet sie dabei. Wenn Toxoplasma in einem AIDS-kranken Menschen aus seiner Zyste bricht und sich teilt, erwartet es eine kräftige Immunreaktion, die es in sein Versteck zurücktreibt. Sind jedoch kaum noch Lymphokine vorhanden, ist der Wirt so hilflos wie ein Fötus. Der Parasit vermehrt sich ungezügelt und richtet den größten Schaden im Gehirn an. Sein Wirt versinkt im Delirium und manchmal stirbt er. Über ein Jahrzehnt konnten die Ärzte fast nichts gegen das in AIDS-Patienten wütende Toxoplasma tun. Doch in den neunziger 90
Jahren entwickelten Wissenschaftler Medikamente, die zum ersten Mal die Reproduktion des HIV verlangsamten und die Lymphokine wieder ansteigen ließen. Bei den relativ wenigen, die sich diese Medikamente leisten können, wurde Toxoplasma glücklicherweise von einer gesunden Schar T-Zellen in seinen Bau zurückgetrieben. Aber die Millionen Menschen, die sich diese Medikamente nicht leisten können, sind dem Wahnsinn ausgeliefert, den dieser widerspenstige Parasit mit sich bringt. *** Für einen einzelligen Parasiten ist es schwer, das Immunsystem zu überleben, aber er hat wenigstens den Vorteil, sehr klein zu sein, sodass er sich in den Taschen der Zellen oder den Krümmungen der Lymphkanäle verstecken kann. Doch für parasitische Tiere gilt das nicht. Diese vielzelligen Lebewesen überqueren das Radar des Immunsystems wie riesige Luftschiffe. Sie sind so auffällig wie eine transplantierte Lunge. Und ohne ständigen Nachschub an immunsuppressiven Medikamenten würde eine transplantierte Lunge vom Immunsystem angegriffen und sterben. Trotzdem schaffen es parasitische Tiere von einer Länge bis zu 20 Metern, jahrelang in unserem Körper zu leben, zu fressen und hunderttausende Nachkommen hervorzubringen. Sie schaffen das, weil sie noch weitaus mehr Möglichkeiten haben, unser Immunsystem zu foppen. Ein bemerkenswertes Beispiel ist der Bandwurm Taenia solium. Bevor aus den Eiern von Taenia in unserem Körper die langen Bänder werden können, müssen sie einige Zeit in einem Zwischenwirt, gewöhnlich in einem Schwein, verbringen. Das Schwein schluckt die Eier mit seiner Nahrung und die Parasiten schlüpfen, sobald sie zu den Därmen gelangen. Sie benützen Enzyme, um ein Loch in den Darm zu graben, und schlängeln sich hindurch. Sobald sie eine Kapillare erreichen, wandern sie mit dem Blut durch den Körper zu einem Muskel oder einem Organ. Dort lassen sie sich nieder und wachsen zu perlenartigen Murmeln. In diesen Zysten können sie jahrelang auf ihren endlichen Wirt warten. 91
Wären Schweine die einzigen Orte, in denen Bandwürmer ihre Zystenjahre verbringen, würden wir wahrscheinlich nichts darüber wissen, wie sie das Immunsystem überleben. Aber manchmal geraten Eier von Taenia solium in Menschen (zum Beispiel wenn jemand mit einem ausgewachsenen Bandwurm in sich Bandwurmeier an den Händen hat und für andere Menschen etwas zu essen macht). Die Eier entwickeln sich, als wären sie in einem Schwein: Die Larven schlüpfen, brechen aus den Därmen aus und finden eine Wohnung irgendwo im Körper (häufig ist es das Auge oder das Gehirn). Dann bilden sie eine Zyste und je nach dem, wo sie sich niedergelassen haben, können sie harmlos oder tödlich sein. Wenn eine Bandwurmzyste auf Blutgefäße drückt, kann sie Gewebe abtöten. Ruft sie im Gehirn eine Entzündung hervor, kann sie epileptische Anfälle auslösen. Findet Taenia einen eher sicheren Ort, kann er über Jahre unentdeckt bleiben. Aber im Gegensatz zu Toxoplasma, das in seiner Zyste eigentlich nur schläft, bleibt Taenia in seiner Kapsel aktiv. Durch kleine Poren in der Zystenwand saugt er Kohlehydrate und Aminosäuren und wächst. Das Immunsystem des Wirts bemerkt die Ankunft eines Bandwurmeis und bildet Antikörper, aber bis es zum Angriff übergehen kann, ist das Ei verschwunden. Die geschlüpfte Larve hat sich schnell in eine Zyste gehüllt. Immunzellen drängen sich um die Zyste und bauen eine äußere Wand aus Kollagen; doch mehr können sie nicht tun. Während die Zyste Nahrung aufnimmt, setzt sie über ein Dutzend Moleküle frei, und ein jedes lähmt das Immunsystem. Ein Komplement lässt sich auf der Zyste nieder, aber der Bandwurm sondert einen Stoff ab, der sich an das Komplement heftet und verhindert, dass es sich zu Membran durchdringenden Bohrern vereinigt. Die Immunzellen sprengen die Zyste mit hoch reaktiven Molekülen, die Gewebe abtöten können, aber der Bandwurm setzt andere Chemikalien frei, die sie entwaffnen. Und wie Leishmania versteht er es irgendwie, die Signale, die normalerweise eine Armee von Lymphokinen in Bewegung setzen würden, zu blockieren. Stattdessen wird dem Immunsystem signalisiert, Antikörper zu bilden. Einiges weist darauf hin, warum sich der Bandwurm diese Mühe macht. Wenn sich die Antikörper an eine Zyste hängen, zieht sie der Bandwurm in die Zyste hinein und frisst sie. Anders gesagt: Der 92
Bandwurm wächst, indem er sich von den vergeblichen Bemühungen des Immunsystems ernährt. Doch wie Toxoplasma will auch der Bandwurm seinen Zwischenwirt nicht töten. Erst wenn die Zyste zu wanken beginnt, wenn sie nicht mehr hoffen kann, in ihren endlichen Wirt zu kommen, wird es gefährlich. Der Bandwurm kann die chemischen Prozesse, mit denen er das Immunsystem zur Bildung von Antikörpern verleitet, nicht mehr ankurbeln. Jetzt beginnt das Immunsystem, Lymphogne zu produzieren, die auf den Bandwurm zugeschnitten sind. Sie lassen die Makrophagen und andere Immunzellen aktiv werden. Angesichts eines so riesigen Ziels geraten die Immunzellen in Raserei. Sie attackieren so heftig, dass das Gewebe rings um die Zyste schwillt und manchmal so starken Druck ausübt, dass ein Mensch daran stirbt. Nicht der Parasit tötet den Wirt, sondern der Wirt tötet sich selbst. Eine noch intimere Kenntnis des menschlichen Immunsystems hat der Blutegel, jener 30 Jahre alte Methusalem, der von Afrika nach Australien reiste. Wenn junge Egel in den Wirt eindringen, erregen sie bereits die Aufmerksamkeit des Immunsystems, und den Immunzellen gelingt es, einige Egel schon früh zu töten, vielleicht noch während sie sich durch die Haut wühlen oder sich ihren Weg durch die Lunge suchen. Aber wenn die Egel ihr Süßwasserkleid abgelegt haben, schlüpfen sie geschwind in ein neues, und das Immunsystem schafft es nie ganz, ihnen in diesem neuen Gewand auf die Spur zu kommen. Dass ihr neues Kleid so verwirrend ist, liegt daran, dass es teilweise aus dem Wirt des Egels besteht. Ein einfacher Versuch zeigt, wie die Verkleidung der Egel wirkt. Wenn die Parasitologen ein Egelpaar aus einer Maus in ein Äffchen übertragen, bleiben die Egel heil und legen bald wieder Eier. Sie haben weniger Glück, wenn die Wissenschaftler dem Äffchen vorher Antigene aus dem Mausblut injiziert haben. Die Injektion wirkt wie ein Impfstoff, weil sie das Immunsystem des Äffchens in die Lage versetzt, die Mausblut-Antigene zu erkennen und zu vernichten. Wenn die Egel aus der Maus in das geimpfte Äffchen verpflanzt werden, werden sie vom Immunsystem des Äffchens getötet. Sie ähneln ihrem Mauswirt so sehr, dass das Immunsystem des Äffchens reagiert, als wären sie ein aus der Maus transplantiertes Organ. 93
Obwohl die Parasiten bei diesem Versuch starben, wurde bewiesen, wie hervorragend sie sich verkleiden. Man weiß nicht genau, wie sie das anstellen, aber anscheinend besteht ihre Verhüllung zum Teil aus den Molekülen, die auf unseren Blutzellen sitzen. Es könnte sein, dass die Egel, wenn sie an roten Blutkörperchen vorüberkommen oder von weißen Blutkörperchen angegriffen werden, einige Moleküle ihres Wirts an sich reißen und sie an ihrer eigenen Oberfläche befestigen. So wären die Parasiten in den Augen des Immunsystems nichts als rote Schatten in einem roten Fluss. Diese Proteine sind aber nicht das einzige, was die Blutegel unserem Körper stehlen. Komplementmoleküle lassen sich auf unseren Zellen und auf denen der Parasiten nieder. Dürften sie ihre Arbeit tun und Leuchttürme für Makrophagen aufstellen, würde unser Immunsystem unseren Körper zerstören. Um dies zu vermeiden, produzieren unsere Zellen chemische Verbindungen wie den Zerfall beschleunigenden Faktor (decay accelerating factor, kurz DAF), der die Komplementmoleküle spaltet. Blutegel können die Komplementmoleküle, die auf ihrer Oberfläche landen, zerstören. Die Parasitologen haben das Enzym, das sie dazu verwenden, isoliert. Es erwies sich als DAF. Unklar ist, ob der Parasit das Enzym aus den Wirtszellen stiehlt oder ein eigenes Gen zur Bildung des Enzyms hat. Möglich wäre, dass irgendwann in der fernen Vergangenheit ein Virus, das Menschen infizierte, das DAF-bildende Gen aufgeschnappt hat, dann auf einen Blutegel übersprang und die gestohlene DNS seinem neuen Wirt vermachte. In jedem Fall ermöglicht das Gen den Blutegeln, dass sie sich in unseren Venen so zu Hause fühlen wie die Venen selbst. Im Jahr 1995 stießen Parasitologen, die Blutegel an den Ufern des Viktoriasee studierten, auf ein Paradox. Sie untersuchten Eingeborene, die am See Autos waschen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Weil sie im flachen Uferwasser arbeiten, leiden sie häufig an Schistosomiase, die durch Blutegel verursacht wird. In der Region ist auch AIDS stark verbreitet, sodass viele dieser Autowäscher beide Krankheiten haben. Das HIV zerstört die Lympholine, jene kampflustigen Generäle, die Makrophagen gegen Parasiten ins Feld führen. Wenn diese T-Zellen absterben, 94
greifen alle möglichen gefährlichen Parasiten wie Toxoplasma im Körper von Menschen mit AIDS um sich. Doch die Blutegel gedeihen neben dem HIV ziemlich schlecht. Bei den Autowäschern am Viktoriasee, die sowohl AIDS als auch Schistosomiase hatten, sonderten die Blutegel weitaus weniger Eier ab als in den Menschen, die nur an Schistosomiase erkrankt waren. Das Paradox bei den Autowäschern resultiert aus der Tatsache, dass Blutegel das menschliche Immunsystem brauchen, um ihre Eier aus dem Wirt hinauszubefördern. Ohne ein funktionierendes Immunsystem können sie sich nicht vermehren. Sobald ein weiblicher Egel seine Eier in den Gefäßwänden abgelegt hat, scheiden sie einen chemischen Cocktail aus, der die in der Nähe befindlichen Makrophagen manipuliert. Angeregt von den Eiern produzieren die Makrophagen Signalmoleküle, deren wichtigstes der Tumor-Nekrose-Faktor alpha (TNF-α) ist. Der TNF-α kann besonders gut Entzündungen verursachen, indem er die Venenwände auflockert und weitere Immunzellen anlockt. Die Immunzellen sprühen Gifte auf das Ei, um es zu töten, aber das Ei ist durch eine zähe Schale geschützt. Den Immunzellen bleibt nichts anderes zu tun, als sich um das Ei herumzulegen und es mit einem Schild aus Kollagen zu verkapseln. Die Immunzellen bauen diese Kapsel (ein Granulom) in der Hoffnung, den darin befindlichen Fremdkörper loszuwerden. Wenn Sie zum Beispiel einen Splitter im Daumen haben, bilden die Zellen ringsherum ein Granulom, das dann an die Hautoberfläche transportiert und aus Ihrem Körper ausgeschieden wird. Das Gleiche geschieht mit einem Granulom, das sich um ein in der Gefäßwand sitzendes Egelei bildet. Das Granulom wandert durch die Gefäßwand und dann durch die Darmwand, und das ist genau das, was der Parasit braucht, weil er aus dem Wirtskörper heraus muss, um im Wasser zu schlüpfen. Der Parasit benutzt also die weißen Blutkörperchen, um ihn über ein sonst unpassierbares Hindernis zu tragen. Sobald er auf der anderen Seite ist, werden die Immunzellen im Granulom von den Verdauungssäften im Darm aufgelöst, aber das Ei in seiner zähen Schale überlebt und verlässt schließlich den Körper. So kommt es zu dem Paradox bei den Autowäschern am Viktoriasee: AIDS hat sie der Immunzellen beraubt, welche die Egel bräuchten, um ihre Eier auf den Weg zu bringen. 95
Die Art, wie sich Pärchenegel vermehren, ist elegant, aber nicht sehr effektiv. Der Blutstrom in den Venen, in denen die Egel leben, bewegt sich von den Därmen weg hinauf zur Leber. Die Folge ist, dass er die Hälfte der Eier wegspült, bevor sie aus dem Darm hinausgelangt sind. Stattdessen landen sie in der Leber, in der sie Granulome bilden. Aber in der Leber nützen die Granulome dem Parasiten nichts. Sie können den Wirt am Ende töten. Die Parasitologen vermuten, dass die Egel den Schaden, den sie ihrem Wirt zufügen, möglicherweise unter Kontrolle halten, indem sie ihre Anzahl begrenzt halten. Auch die erwachsenen Egel veranlassen den Körper, TNF-α zu produzieren. Das Signalmolekül schadet den erwachsenen Parasiten kaum, aber es ist tödlich für die zarten jungen Larven, die gerade in einen Menschen eingedrungen sind, aber noch keine Chance hatten, eine Verteidigung aufzubauen. Deshalb ist es für einen Menschen, der bereits Blutegel in sich trägt, weniger wahrscheinlich, erneut infiziert zu werden. Anscheinend helfen die Blutegel dem Immunsystem, Nachzügler ihrer eigenen Spezies zu bekämpfen, damit der Wirt nicht überlastet wird. Das Eindrucksvollste an den Blutegeln ist nicht, wie viele Menschen sie verkrüppeln oder töten, sondern wie es ihnen gelingt, in der überwiegenden Mehrheit ihrer Wirte zu gedeihen, ohne besondere Probleme zu schaffen. Genaugenommen sind sie eigennützige Wächter. Nur Wirbeltiere haben ein Immunsystem mit sich ständig anpassenden B- und T-Zellen. Alle wirbellosen Tiere – vom Seestern bis zu den Hummern, Erdwürmern, Libellen und Quallen – trennten sich vor über 700 Millionen Jahren von unseren Vorfahren, bildeten einen eigenen Zweig und entwickelten individuelle Abwehrkräfte. Insekten zum Beispiel begraben Eindringlinge in einer Decke aus Zellen, die Gifte ausscheiden und schließlich eine erstickende Versiegelung rund um den Parasiten bilden. Die Parasiten, die sich auf wirbellose Tiere spezialisiert haben, passten sich deren außergewöhnlichen Immunsystemen auf nicht minder listige Weise an, wie sie das bei den Menschen taten. Einer der am besten erforschten Parasiten in Wirbellosen ist die Wespe Cotesia congregata. Diese mückengroße Wespe benützt den Tabakhornwurm als Wirt, eine dicke grüne Raupe (des Tabakschwärmers) mit schwarzen Haken an den Füßen und einem oran96
gefarbenen, wie ein Horn abstehenden Dorn am hinteren Ende. Wirt und Parasit wurden so gut erforscht, weil der Hornwurm ein übler Schädling ist und nicht nur Tabakpflanzen, sondern auch Tomaten und andere Gemüse verschlingt. Außerdem ist er so groß, dass ihn die Wissenschaftler einfach auf einem Schieber zerquetschen können, um zu sehen, was drin ist. Der Angriff einer Cotesia-Wespe erfolgt so schnell, dass sie kaum jemand erwischt. Sie landet auf einem Hornwurm, kriecht an seiner Seite entlang und sticht ihre Legeröhre in den Wirt. Der Hornwurm windet sich vielleicht ein bisschen, um die Wespe abzuwehren, aber es nützt ihm nichts. Aus den Wespeneiern schlüpfen in der Raupe zigarrenförmige Larven. Sie trinken das Blut ihres Wirts und atmen durch silbrige Gewebeblasen, die an ihrem Hinterende sitzen. Der Hornwurm hat ein starkes Immunsystem. Trotzdem gehen die Larven ungestört ihrer Tätigkeit nach. Aber es sind nicht die Larven, die das Immunsystem hemmen, sondern ein Geschenk ihrer Mutter. Die Mutterwespe injiziert die Eier zusammen mit einer suppigen Mischung, welche die Eier zum Überleben brauchen. Nimmt man die Eier heraus und steckt sie von der Suppe gereinigt zurück in die Raupe, schlägt das Immunsystem zu und mumifiziert die Eier. Der Parasit überlebt dank Millionen von Viren, die in der Suppe schwimmen. Diese Viren haben nicht viel Ähnlichkeit mit denen, die wir sonst kennen – zum Beispiel mit Erkältungsviren. Ein Erkältungsvirus wandert von Wirt zu Wirt, dringt in die Zellen der Schleimhäute von Nase und Rachen und zwingt die Proteine der Wirtszellen, Kopien von ihm herzustellen. Andere Viren wie das HIV stechen ihre Gene sogar in die DNS ihrer Wirtszelle und kopieren sich dort. Und einige gehen weiter: Ihre Wirte werden mit der DNS des Virus geboren, der schon in ihren eigenen Genen eingebettet ist, und übertragen sie auf ihre Kinder. Die Viren parasitischer Wespen sind noch eigenartiger. Die Wespen werden mit dem auf vielen ihrer Chromosomen verstreuten genetischen Code des Virus geboren. Bei den Männchen bleiben die Codes so verstreut. Aber sobald ein Weibchen in ihrer Puppe ihre erwachsene Form anzunehmen beginnt, erwacht das Virus. In bestimmten Zellen des Wespen-Ovariums werden die Stücke des Virusgenoms aus der Wespen-DNS herausgeschnitten 97
und zusammengeheftet, als würden einzelne Kapitel zu einem kompletten Buch zusammengestellt. Diese Gene bewirken, dass sich daraus richtige Viren bilden – mit anderen Worten: DNSStränge in einer Proteinhülle –, die den Kern der Ovariumzelle füllen. Wenn der Kern so voll ist, dass er nichts mehr aufnehmen kann, platzt die Zelle, und Millionen Viren schwimmen im Ovarium der Wespe. Aber sie machen die weibliche Wespe nicht krank. Sie nützen der Wespe sogar, weil sie sie als Waffe gegen den Hornwurm einsetzt. Wenn sie die Viren mit ihren Eiern in einen Hornwurm überträgt, dringen die Viren innerhalb von Minuten in die Wirtszellen ein. Sie organisieren die DNS des Wirts und zwingen die Zellen, seltsame neue Proteine zu bilden, die normalerweise nie in einem Hornwurm vorkommen und jetzt seine Körperhöhle überschwemmen. Diese Proteine zerstören das Immunsystem der Raupe. Die Zellen kleben sich aneinander statt an die Parasiten und brechen auf. Der Wirt ist so immungeschwächt wie ein Mensch mit voll ausgebrochener AIDS (die auch von einem Virus verursacht wird, der Immunzellen sprengt). Dank dem Virus können die Wespenlarven schlüpfen und wachsen, ohne von ihrem Wirt verfolgt zu werden. Aber anders als ein AIDS-kranker Mensch erholt sich der Hornwurm nach einigen Tagen von dem Wespenvirus. Dann scheinen die Wespenlarven allein, ohne die Hilfe der Mutter, mit dem Immunsystem zurechtzukommen. Sie können ihren Wirt auf ähnliche Weise täuschen wie es die Blutegel bei uns tun, indem sie sich die Proteine des Insekts borgen oder sie nachahmen. Es erscheint vielleicht widernatürlich für ein Virus, dass es für einen anderen Organismus sozusagen die Drecksarbeit macht und dabei so weit geht, das Immunsystem eines Wirts zu vernichten, wodurch es sich selbst vernichtet. Aber in jedem Ei, welches das Virus schützt, befindet sich die Bauanleitung für neue Viren, die überleben werden, wenn andere Viren den Wirt infizieren. Doch es wäre falsch, sich ein Virus als vollwertigen Organismus mit eigenen evolutionären Zielen vorzustellen. Die Wahrheit ist vielleicht noch widernatürlicher, denn die DNS des Virus ähnelt einigen Genen der Wespe. Diese Ähnlichkeit kann tatsächlich erblich sein: Das Virus kann von einem Teilstück der Wespen-DNS abstam98
men, das zu einer Form mutierte, die nicht auf die übliche Weise, wie Gene repliziert und gespeichert werden, entstand. Möglicherweise ist es nicht ganz korrekt, die Viren überhaupt Viren zu nennen. Sie könnten eine neue Methode sein, mit der Wespen ihre eigene DNS zusammenstellen. (Ein Wissenschaftler schlug vor, sie genetische Sekrete zu nennen.) Wenn das der Fall ist, dann gelingt es den parasitischen Wespen, ihre Gene in die Zellen eines anderen Tiers einzupflanzen, um es für ihre Spezies zu einem Ort mit verbesserter Lebensqualität zu machen. Diese Wespen scheinen vielleicht auf einen anderen Planeten zu gehören, aber in Wirklichkeit beweisen sie eine universelle Eigenschaft der Parasiten hier auf der Erde: Um Immunsysteme zu bekämpfen, finden Parasiten Mittel und Wege, die genau auf die Besonderheiten ihres Wirts zugeschnitten sind. Ob sie am Schluss ihre Wirte töten oder verschonen, hängt davon ab, wie sie am besten ihr evolutionäres Ziel erreichen: ihre Vermehrung.
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Kapitel 4 Ein echter Horror Weißt du immer noch nicht, womit du es zu tun hast? Mit einem perfekten Organismus! Er ist ebenso perfekt wie feindselig … Ich bewundere seine Reinheit – ungetrübt von Gewissen, Reue oder Moral. Ash zu Ripley in »Alien« (1979)
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ay Lankester hatte für Sacculina, jenen Rankenfüßer, der praktisch zu einer Pflanze entartet, nur Verachtung übrig. Er fand es abscheulich, wie dieses Tier auf der Evolutionsleiter abgestiegen war – geradezu sinnbildlich für Rückständigkeit und Trägheit. Merkwürdig nur, dass Sacculina heute eher ein Sinnbild für die Raffinesse eines Parasiten ist. Dass Lankester sich so irrte, lag nicht daran, dass er alle Parasiten hasste. Die damaligen Biologen wussten einfach nicht viel über Sacculina. Diese Parasiten beginnen ihr Leben als freischwimmende Larven. Unter dem Mikroskop sehen sie aus wie Tränentropfen mit wedelnden Beinchen und zwei dunklen Augenflecken. Lankesters Kollegen hielten Sacculina für einen Hermaphroditen, aber in Wirklichkeit sind sie getrennt in Männlein und Weiblein. Die weibliche Larve siedelt sich als erste in einer Krabbe an. Sie hat Sinnesorgane an den Beinen, die den Geruch eines Wirts aufnehmen können, und sie tanzt im Wasser umher, bis sie am Panzer einer Krabbe landet. Sie kriecht an einem Arm entlang, während die Krabbe vielleicht vor Schreck zuckt oder wie auch immer als Krebstier reagiert. Die Larve kommt zu einem Gelenk am Arm, wo sich im harten Außenskelett ein weicher Streifen befindet. Dort sucht sie die feinen Härchen, die aus dem Krabbenarm sprießen und von denen jedes in einer Vertiefung verankert ist. In eine solche Mulde sticht sie mit einem langen hohlen Dolch und spritzt durch diese Röhre einen aus ein paar Zellen bestehenden Klecks. Die Injektion, die nur einige Sekunden dauert, ist eine Variante der Häutung, die Krustentiere und Insekten vornehmen, um zu wach100
sen. Eine auf einem Baum sitzende Zikade trennt eine dünne äußere Schale vom Rest ihres Körpers. Sie schlüpft aus der leeren Hülse mit einem neuen Außenskelett, das eine Weile weich und dehnbar bleibt, während das Insekt einen Wachstumsspurt einlegt. Im Fall der weiblichen Sacculina wird der größte Teil ihres Körpers zur zurückgelassenen Hülle. Der Teil, der weiterlebt, hat kaum noch Ähnlichkeit mit einem Rankenfüßer, sondern eher mit einer mikroskopisch kleinen Schnecke. Diese Schnecke (deren Existenz erst 1995 entdeckt wurde) taucht in die Tiefen der Krabbe. An der Unterseite der Krabbe lässt sie sich nieder und wächst, wobei sie eine Ausbuchtung in der Außenhaut der Krabbe bildet und die »Wurzeln« oder »Ranken« treibt, die Lankester so entsetzten. Die Biologen sprechen in diesem Zusammenhang auch heute noch von Ranken, aber sie ähneln kaum dem, was man an einem Baum findet. Die Ranken der Schnecke sind von feinen, fleischigen Fingern bedeckt, sehr ähnlich denen, die unsere Därme auskleiden oder auf der Haut eines Bandwurms sitzen. Im Gegensatz zu einem regulären Krebstier wirft dieses Tier nie seine Haut ab. Stattdessen saugt es mit den Ranken die im Blut der Krabbe gelösten Nährstoffe auf. Die Krabbe bleibt, während all dies geschieht, am Leben; und wenn sie durch die Brandung gleitet, Muscheln und Mollusken frisst, ist sie von gesunden Krabben nicht zu unterscheiden. Ihr Immunsystem kann Sacculina nicht töten. Obwohl der Parasit ihren gesamten Körper füllt und die Ranken sich sogar um ihre Augenstiele schlingen, lebt die Krabbe weiter. Der Sack, den die weibliche Sacculina gebildet hat, entwickelt sich zu einer Verdickung, deren äußere Schicht allmählich abbröckelt, sodass oben eine Öffnung zum Vorschein kommt. In diesem Stadium wird Sacculina den Rest ihres Lebens verbringen, es sei denn, eine männliche Larve findet sie. »Er« landet auf der Krabbe und kriecht über ihren Körper, bis er die Verdickung erreicht. An der obersten Stelle findet er die nadelfeine Öffnung, die so klein ist, dass er nicht hineinpasst. Also macht er es wie vor ihm das Weibchen: Er streift den größten Teil von sich ab und injiziert einen winzigen Rest in das Loch. Diese männliche Ladung – ein stacheliger rötlich brauner Torpedo, nicht länger als ein fünfzigtausendstel Zentimeter – gleitet durch einen erregt pulsierenden 101
Schacht tief in den Körper des Weibchens hinein. Unterwegs wirft er seine Stachelhülle ab. Zehn Stunden später landet das Männchen auf dem Boden des Schachts. Hier vereint es sich mit dem Weibchen und beginnt, Sperma zu produzieren. Jede weibliche Sacculina hat zwei solche Schächte; und typisch für sie ist, dass sie bis ans Ende ihrer Tage zwei Männchen bei sich hat. Sie befruchten unaufhörlich ihre Eier und alle paar Wochen schlüpfen unzählige neuer Sacculina-Larven. Die Krabbe verändert sich allmählich zu einer neuen Art Lebewesen, das nur existiert, um dem Parasiten zu dienen. Sie kann nichts mehr tun, um das Wachstum von Sacculina zu stoppen. Sie hört auf, sich zu häuten und zu wachsen, weil das für den Parasiten mit einem Energieverlust verbunden wäre. Gesunde Krabben können Räubern entkommen, indem sie einfach eine Schere loslassen, die ihnen später wieder nachwächst. Krabben mit Sacculina können eine Schere verlieren, aber keine neue nachwachsen lassen. Und während sich andere Krabben paaren und Junge bekommen, ist eine parasitierte Krabbe nur noch damit beschäftigt zu fressen. Sie wurde kastriert. Alle diese Veränderungen sind das Werk des Parasiten. Doch den Drang zu nähren, verliert die kastrierte Krabbe nicht. Sie wendet ihre ganze Zuneigung nun dem Parasiten zu. Eine gesunde weibliche Krabbe trägt ihre befruchteten Eier in einer Bruttasche an ihrer Unterseite, und während ihre Eier reifen, reinigt sie die Tasche sorgfältig von Algen und Pilzen. Wenn die Krabbenlarven schlüpfen und ins offene Wasser wollen, sucht sich die Mutter einen hohen Stein, stellt sich darauf und hüpft dann auf und ab, um die Jungen aus ihrer Tasche in die Meeresströmung zu schütteln; dazu wedelt sie mit den Scheren, um noch mehr Bewegung ins Wasser zu bringen. Der Knoten, den Sacculina an der Krabbe bildet, sitzt genau dort, wo normalerweise die Bruttasche wäre, und die Krabbe behandelt den Parasitenknoten, als wäre er ihre liebe Bruttasche. Sie streichelt und putzt ihn, während die Larven wachsen. Wenn sie bereit sind herauszukommen, presst sie diese stoßweise aus ihrem Körper. Während die Krabbe dicke Wolken von Parasiten versprüht, rudert sie mit den Armen, um ihnen auf den Weg zu helfen. Aber auch männliche Krabben sind vor Sacculina nicht sicher. 102
Normalerweise haben männliche Krabben einen schmalen Hinterleib, aber der Hinterleib von infizierten männlichen Krabben ist fast so breit wie bei einem Weibchen – breit genug, um eine Bruttasche oder einen Sacculina-Knoten unterzubringen. Ein Krabbenmännchen verhält sich sogar so, als hätte es eine weibliche Bruttasche; es pflegt sie, während die Parasitenlarven im Knoten wachsen, und hüpft in den Wellen auf und ab, um sie hinauszubefördern. In einem anderen Organismus leben zu können – ihn aufzuspüren, durch ihn hindurchzuwandern, in seinem Inneren Nahrung und einen Partner zu finden, die Zellen, die ihn umgeben, zu verändern, seine Abwehrkräfte zu überlisten – dies alles ist eine ungeheure evolutionäre Leistung. Aber Parasiten wie Sacculina tun noch mehr. Sie beherrschen ihre Wirte; sie werden zu ihrem neuen Gehirn und verwandeln sie in neue Lebewesen. Der Parasit wird zum Puppenspieler und der Wirt zur Marionette. Dieses Marionettenspiel nimmt verschiedene Formen an – je nach Art des Parasiten und was er in einem bestimmten Stadium seines Lebens von seinem Wirt braucht. Wenn sich ein Parasit an einem günstigen Ort in seinem Wirt niedergelassen hat, ist zunächst die Ernährung die Hauptsache. Sobald eine Tabakschwärmerraupe von den Viren der parasitischen Wespe Cotesia congregata wehrlos gemacht wurde, sind die Wespeneier soweit, dass die Larven schlüpfen und wachsen können. Statt nun einfach zu fressen, was da ist, verändert die Wespe die Nahrungsaufnahme und die Verdauung des Wirts. Je mehr Wespen in einem Wirt sind, um so mehr wird der Wirt wachsen – bis zum Doppelten seiner normalen Größe. Normalerweise würde eine Tabakschwärmerraupe einen Großteil des Blatts in Fett verwandeln, in eine feste Form von Energie, die sie speichern kann für die Fastenzeit im Kokon. Aber wenn die Raupe von Wespen infiziert ist, verwandelt sie ihre Nahrung in Zucker, eine schnell verfügbare Energiequelle, die die Parasiten für ein rasches Wachstum brauchen. Parasiten leben in einer heiklen Konkurrenz mit dem Wirt, bei der es um das Fleisch und das Blut des Wirtes geht. Jede Energie, die der Wirt für sich nützt, hätte auch dem Wachstum des Parasiten nutzen können. Doch ein Parasit wäre dumm, würde er ein lebenwichtiges Organ des Wirts von der Energiezufuhr abschneiden. 103
Wenn zum Beispiel das Gehirn ausfiele, wäre der Wirt nicht mehr in der Lage, Nahrung zu finden. Deshalb stellt der Parasit nur die weniger lebenswichtigen Dinge ab. Wenn Cotesia congregata die Raupe um ihren Fettspeicher bringt, legt sie damit auch die Geschlechtsorgane ihres Wirts lahm. Männliche Raupen werden mit großen Hoden geboren und verbrauchen viel Energie, die sie aus ihrer Nahrung beziehen, um sie weiter zu vergrößern. Doch wenn eine parasitische Wespe in der männlichen Raupe lebt, schrumpfen die Hoden. Kastration ist eine Strategie, die zahllose Parasiten unabhängig voneinander für sich entdeckt haben – Sacculina kastriert Krabben, Blutegel kastrieren Schnecken. Ein Wirt, der keine Energie mehr verwenden darf zur Bildung von Eiern oder Hoden, zur Partnersuche oder zur Aufzucht von Jungen wird, genetisch gesehen, ein Zombie, ein Untoter, der einem Herrn dient. Sogar Blumen können zu Sklaven für ihre Parasiten werden. Der Pilz Puccinia monoica lebt in einer Kreuzblütlerpflanze, die an den Gebirgshängen von Colorado wächst. Er schiebt seine Fäden durch den Stiel der Pflanze und nutzt die Nährstoffe, die die Blume aus dem Himmel und dem Boden gewinnt. Um sich zu vermehren, muss er sich mit einem Puccinia-Pilz vereinigen, der in einer anderen Kreuzblütlerpflanze lebt. Zu diesem Zweck hindert der Pilz die Pflanze, ihre zarten kleinen Blüten nach oben auszutreiben und zwingt sie, ganze Blätterbüschel in leuchtend gelbe Blumenimitationen zu verwandeln. Diese Imitationen sehen genauso aus wie andere Blumen, die auf den Bergen wachsen, nicht nur bei sichtbarem Licht, sondern auch bei Ultraviolettlicht. Sie locken Bienen an, die eine süße klebrige Masse auf ihnen fressen können, welche die Pflanze für den Pilz auf den Blütenimitationen bildet. Der Pilz stopft seine Samenzellen und seine weiblichen Geschlechtsorgane in die falschen Blüten, sodass die Bienen einen Puccinia monoica befruchten können, wenn sie von einer Kreuzblütlerpflanze zur anderen fliegen. Die Pflanze selbst bleibt jedoch steril. Auch wenn sich ein Parasit noch so bequem in einem Wirt eingerichtet hat, muss er ihn früher oder später verlassen. Bei einigen Parasiten fällt der Wirtswechsel mit dem Generationswechsel zusammen; andere verlassen den Wirt als frei lebende erwachsene Individuen. In vielen Fällen inszenieren die Parasiten sehr sorgfäl104
tig ihren Abgang. Für die meisten Parasiten würde es den Tod bedeuten, ließen sie den Wirt einfach sein normales Leben weiterführen. Die Tabakschwärmerraupe häutet sich normalerweise fünfmal; dann verlässt sie ihre Pflanze, kriecht zur Erde und gräbt ein mehrere Zentimeter tiefes Loch, in dem sie sich einspinnt und bleibt, bis sie als Schmetterling aus dem Kokon schlüpft. Wenn diese Raupen von der Wespe Cotesia congregata befallen sind, gehen sie einen anderen Weg. Sie häuten sich nur zweimal und erhalten nie die Aufforderung, von ihrer Pflanze herunterzukriechen. Stattdessen fressen sie weiterhin Blätter und ernähren ihre Parasiten, bis die Wespenlarven herauskommen. Erst dann wird die Raupe langsamer und hört auf zu fressen; offenbar hat sie keinen Appetit mehr. Für diese Anorexie scheinen die Wespen verantwortlich zu sein, denn eine gesunde Tabakschwärmerraupe würde mit Vergnügen ein Dutzend Wespenkokons verdrücken. Eine andere Wespenart geht sogar noch weiter, indem sie ihren Wirt – die Kohlraupe – zu ihrem Leibwächter macht. Wenn die Wespenlarven herangereift sind, lähmen sie die Kohlraupe und kriechen aus ihrem Hinterleib. Dann spinnen sie ihre Kokons auf dem Kohlblatt. Doch selbst nachdem die Wespenlarven die Innereien ihres Wirts gefressen und Löcher in ihn gebohrt haben, durch die sie herausgekrochen sind, erholt sich die Kohlraupe wieder. Sie schleppt sich nicht davon, sondern bleibt und spinnt ein Netz über die Wespen, das diese vor anderen Parasiten schützt; dann legt sie sich zusammengeringelt oben drauf. Sollte irgendetwas die Raupe stören, während sie Wache hält, schlägt sie wild um sich, beißt und spuckt ungesunde Flüssigkeiten. Erst wenn die Wespen aus ihren Kokons schlüpfen, hat die Kohlraupe ihre Pflicht getan und legt sich zum Sterben nieder. Während die Wespen auf trockenem Land leben können, sobald sie ihren Wirt verlassen haben, müssen andere Parasiten zum Wasser gelangen. Es gibt parasitische Nematoden, die sich im Erwachsenenstadium frei lebend in Bächen aufhalten, in denen sie sich paaren und Eier legen. Wenn ihre Nachkommen schlüpfen, überfallen sie die Eintagsfliegenlarven, die ebenfalls im Bach leben. Die Nematoden durchbohren das Außenskelett der Fliegenlarve und ringeln sich in deren Körperhöhlung zusammen. Dort wachsen sie, während auch die Fliegenlarve wächst, und zweigen sich ihre 105
Nahrung von der der Larve ab. Die Eintagsfliegen reifen nur langsam im Wasser heran, bevor sie sich in ihre zarte, langgeflügelte Form verwandeln. Die Männchen steigen aus dem Wasser auf und bilden große Wolken, welche die Weibchen anlocken. Die Nematoden sind – unsichtbar in ihren Wirten – ebenfalls in dieser Wolke. In dem Schwarm finden männliche und weibliche Eintagsfliegen zusammen. Sie umfassen sich und fallen in den Uferbewuchs, wo sie sich paaren. Man erkennt die unterschiedlichen Geschlechter nicht nur an den Genitalien (die Männchen haben kleine Haftorgane, die ihnen beim Paaren helfen) sondern auch an anderen Körperteilen wie den Augen: Das Weibchen hat kleine, zur Seite weisende Augen, während die Augen des Männchen so weit vorstehen, dass sie über den Kopf reichen. Wenn sie sich gepaart haben, ist das Lebenswerk der Männchen getan. Sie fliegen träge vom Bach weg und halten Ausschau nach einem Platz zum Sterben. Die Weibchen fliegen bachaufwärts und suchen sich einen über den Bach ragenden Stein. Sie kriechen darunter und bewegen ihren Hinterleib ruckartig auf und ab, während sie ihre Eier legen. Wenn das Weibchen einen Nematoden in sich trägt, bricht der voll ausgewachsene Parasit aus dem Fliegenleib aus und wühlt sich in den Kies, um sich einen Partner zu suchen. Seinen Wirt lässt er tot zurück. Die Strategie dieses Nematoden hat eine nicht zu übersehende Schwachstelle: Wenn der Nematode zufällig in eine männliche Eintagsfliegenlarve eindringt, wird er irgendwo im Gras enden. Statt ins Wasser zurückzugelangen, stirbt er in seinem Wirt. Aber der Nematode weiß sich auf eine Weise zu helfen, die an Sacculina erinnert: Er verwandelt das Männchen in ein Quasi-Weibchen. Wenn eine infizierte männliche Eintagsfliege reift, entwickelt sie keine Haftorgane und auch nicht die hoch gewölbten Augen. Die Nematoden bewirken, dass das Männchen nicht nur wie ein Weibchen aussieht, sondern sich auch wie eines benimmt. Statt sich vom Bach zu entfernen, fällt das Männchen hinein und versucht sogar, imaginäre Eier zu legen, während der Parasit aus seinem Körper ausbricht. Der Nematode muss aus zwei Gründen wieder in den Bach gelangen: um ins nächste Lebensstadium einzutreten und um an einem Ort zu sein, wo seine Nachkommen eine Eintagsfliegenlarve 106
finden, in die sie eindringen können. Das Streben zum nächsten Wirt könnte man als die verzehrende Leidenschaft der Parasiten bezeichnen, weil es keine Alternative gibt. »Leb frei und stirb« ist das geltende Motto. Ein Pilz, der in Stubenfliegen lebt, liefert hierfür ein sensationelles Beispiel. Wenn seine Sporen mit einer Fliege in Berührung kommen, bleiben sie an ihrem Körper kleben und graben ihre Zellfäden in den Fliegenkörper. Der Pilz breitet sich wie Sacculina rankenartig in der ganzen Fliege aus und zieht Nährstoffe aus ihrem Blut. Während er wächst, schwillt der Hinterleib der Fliege mehr und mehr an. Die Fliege lebt einige Tage ganz normal weiter, fliegt von verschütteter Limonade zu Kuhmist und benützt ihren Rüssel zur Nahrungsaufnahme. Doch früher oder später verspürt sie den unwiderstehlichen Drang, sich einen hoch gelegenen Platz zu suchen, sei es ein Grashalm oder das obere Ende einer Fliegengittertür. Sie streckt ihren Rüssel vor und nützt ihn als Haftorgan, mit dem sie sich an ihrem Hochsitz festhält. Die Fliege knickt ihre Vorderbeine ein und stemmt ihren Hinterleib von der Oberfläche, an der sie klebt, schräg nach außen. Ein paar Minuten lang schlägt sie noch mit den Flügeln, dann richtet sie sie starr nach oben. Der Pilz hat inzwischen seine Zellfäden durch die Beine und den Bauch der Fliege nach draußen geschoben. An den Enden der Fäden befinden sich kleine, unter Federdruck stehende Sporenpakete. Die Fliege stirbt in ihrer bizarren Haltung, und der Pilz katapultiert sich aus ihrer Leiche. Jede Einzelheit dieser Sterbehaltung – der hoch gelegene Ort und der Winkel, den Flügel und Hinterleib bilden – bringt den Pilz in eine günstige Position, bevor er seine Sporen abschießt. Weil diese Leistung einem winzigen Pilz anscheinend noch nicht reicht, sterben infizierte Fliegen diesen dramatischen Tod stets kurz vor Sonnenuntergang. Wenn der Pilz in der Nacht reif wird, um Sporen zu verstreuen, wartet er damit bis zum nächsten Tag. Der Pilz entscheidet nicht nur, wie die Fliege stirbt, sondern auch wann: kurz vor Sonnenuntergang. Denn nur dann ist die Luft kühl und feucht genug, damit sich die Sporen rasch auf einer anderen Fliege entwickeln können. Außerdem verlassen zu diesem Zeitpunkt gesunde Fliegen die Luft, um in Bodennähe zu übernachten, wo sie für die Sporen leicht zu erreichen sind. Die Sporen regnen praktisch auf sie nieder. 107
Parasiten wie dieser Pilz benutzen ihre Wirte, um zu anderen Wirten derselben Spezies zu gelangen. Aber viele Parasiten sind gezwungen, kompliziertere Wege zu gehen: Sie müssen zwischen einer ganzen Reihe verschiedener Wirtstiere wechseln. Manchmal zwingen sie ihren derzeitigen Wirt, sich in die Nähe ihres nächsten zu begeben. An den Küsten von Delaware lebt ein Egel, der Schlammschnecken als ersten und Winkerkrabben als zweiten Wirt benützt. Sein Problem ist, dass die Schnecken im Wasser leben und die Krabben an Land. Doch wenn die Schnecken vom Egel infiziert sind, ändern sie ihr Verhalten. Gesunde Schnecken bleiben im Wasser, aber die infizierten werden rastlos und wandern bei Ebbe an Land oder auf Sandbänke. Sie verbreiten ihre Parasiten auf dem Sand und bringen sie so nah an die Winkerkrabben heran, dass sich die Egel leicht in den neuen Wirt hineinwühlen können. Es ist genauso einfach wie mit dem Taxi zum Bahnhof zu fahren. Den Lanzettegel, Dicrocoelium dendriticum, findet man auf den Wiesen Europas und Asiens, seltener in Nordamerika und Australien. Dieser Egel macht Kühe und andere weidende Tiere zu seinem Wirt, wenn er erwachsen ist, und die Kühe verbreiten die Eier mit ihrem Dung. Hungrige Schnecken fressen die Eier, die in den Schneckendärmen schlüpfen. Die Larven bohren sich durch die Wand eines Schneckendarms und setzen sich in die Verdauungsdrüse. Hier produzieren sie eine Generation Zerkarien, die an die Schneckenoberfläche wandern. Die Schnecke wehrt sich gegen die Parasiten mit Hilfe von Schleimhüllen. Der Schleim ballt sich um die Zerkarien, die Schnecke hustet die Schleimballen aus und hinterlässt sie im Gras. Nun kommt eine Ameise des Wegs. Ein Schleimkügelchen ist für sie eine Köstlichkeit. Also schluckt sie mit dem Schleim auch hunderte von Lanzettegeln. Die Parasiten rutschen in ihren Darm und wandern eine Weile durch den Ameisenkörper, bis sie sich schließlich zu den Nervenbündeln begeben, welche die Kiefer der Ameise steuern. Diese Reise machen alle gemeinsam. Aber nach dem Besuch bei den Nerven teilen sie sich. Die meisten Lanzettegel wandern zurück in den Hinterleib, wo sie Zysten bilden. Nur einer oder zwei bleiben am Kopf der Ameise. Die zurückgebliebenen Egel treiben nun eine Art parasitischen 108
Voudou-Zauber mit ihrem Wirt. Gegen Abend, wenn die Luft abkühlt, überkommt die Ameise ein Bedürfnis, sich von ihren Artgenossen auf dem Boden zu entfernen und an einem Grashalm ganz nach oben zu krabbeln. Wie die mit einem Pilz infizierten Fliegen halten sie sich an der Spitze des Grashalms fest. Aber der Lanzettegel peilt ein anderes Ziel an als der Pilz. Der Pilz benützt seinen Wirt als Katapult, um seine Sporen auf andere Insekten zu streuen. Der Lanzettegel kann nur weiterleben, wenn er in seinen letzten Wirt gelangt, in ein Säugetier. Die an der Spitze eines Grashalms sitzende, infizierte Ameise hat eine gute Chance, von einer Kuh oder einem anderen grasenden Tier gefressen zu werden. Wenn die Ameise im Kuhmagen ist, brechen die Egel aus und wandern zur Leber der Kuh, in der sie als erwachsene Egel leben werden. Wie der Pilz erkennt auch der Lanzettegel die wechselnden Tageszeiten. Wenn die Ameise die ganze Nacht auf ihrem Halm sitzt, ohne gefressen zu werden, lässt sie der Egel bei Sonnenaufgang ihren Griff lockern. Die Ameise krabbelt auf den Boden zurück und verbringt den Tag auf ganz normale Weise. Würde sie in der prallen Sonne vertrocknen, würde der Parasit mit ihr sterben. Sobald es wieder Abend wird, schickt er die Ameise für einen weiteren Versuch auf einen Grashalm. Die Mehrzahl der Parasiten versuchen solche Tricks selten bei Menschen, aber einige tun es doch und das sehr geschickt. Der Medinawurm verbringt sein frühes Lebensstadium zusammengeringelt in einem im Wasser schwimmenden Ruderfußkrebs. Schluckt ein Mensch beim Trinken von Wasser einen infizierten Ruderfußkrebs, löst sich dieser in der Magensäure auf. Der Medinawurm flüchtet in die Därme und wühlt sich hinaus in die Bauchhöhle. Von dort wandert er durch das Bindegewebe, bis er einen Partner findet. Das 5 Zentimeter lange Männchen und das 60 Zentimeter lange Weibchen paaren sich. Dann sucht sich das Männchen einen Platz zum Sterben. Das Weibchen schlängelt sich durch die Haut, bis sie ein Bein erreicht. Während dieser Wanderung entwickeln sich ihre befruchteten Eier. Wenn sie ihr Ziel erreicht hat, sind die Larven geschlüpft und zu einer wimmelnden Schar von Jungen in ihrem Uterus geworden. Diese Jungen müssen in einen Ruderfußkrebs gelangen, wenn sie erwachsen werden sollen. Deshalb treiben sie ihren menschli109
chen Wirt zum Wasser. Sie drücken so stark auf den Uterus der Mutter, dass sie ihn ein Stück aus dem Körper der Mutter hinauspressen. Dabei kommen einige Larven frei. Erwachsene Medinawürmer zähmen das menschliche Immunsystem, sodass sie unversehrt durch unseren Körper wandern können, aber die Jungen tun exakt das Gegenteil. Sie bewirken eine schnelle Reaktion, die Immunzellen zu ihnen eilen lässt, wodurch die Haut rings um sie anschwillt und blasig wird. Die einfachste Art für das Opfer, die brennende Wunde zu kühlen, ist, Wasser darüber zu gießen oder in einen Teich zu waten. Die Jungen, die ihrer Mutter bereits entschlüpft sind und in der Blase sitzen, reagieren auf das Wasser und schwimmen los. Die Mutter reagiert ebenfalls auf das Wasser, indem sie weitere Junge entlässt. Doch diesmal tut sie es nicht wie zuvor durch eine Bruchstelle in ihrem Leib, sondern durch den Mund. Bei jeder Berührung mit Wasser erbricht sie eine halbe Million kleine Guineawürmer. Die Kontraktionen schieben sie Stück für Stück aus der Wunde, bis sie und alle ihre Jungen den Wirt verlassen haben – die Mutter, um zu sterben, die Jungen, um im Wasser einen neuen Ruderfußkrebs zu suchen und sich darin einzukringeln. Am besten funktioniert die Manipulation, wenn das Wasser, auf das Menschen und Ruderfußkrebse angewiesen sind, knapp ist; denn dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch Medinawurmlarven dort ablädt, wo sie ihren nächsten Wirt finden. Drakunkulose, die vom Medinawurm verursachte Krankheit, ist denn auch eine besondere Plage in Wüsten, wo sich viele Menschen um die Oasen scharen. Der Medinawurm gehört zu den Parasiten, die ganz zufrieden in ihrem ersten Wirt sitzen und warten, bis sie zufällig vom nächsten geschluckt werden. Andere verlassen sich weniger auf den Zufall. Ihre Wirte kommen in regelmäßigen Kontakt, gewöhnlich um zu fressen oder gefressen zu werden. Stechende Insekten suchen Menschen oder andere Wirbeltiere und trinken ihr Blut; und sie sind angefüllt mit Parasiten, die versuchen, in ihren Wirt zu gelangen. Malaria und Filariosen (Infektionen durch Filarien) werden durch Stechmücken übertragen; Schlafkrankheit durch Tsetsefliegen; Kala-Azar durch Sandfliegen; Fluss- oder Sudanblindheit durch Kriebelmücken. Bakterien und Viren sind stets mit von der 110
Partie und verbreiten Beulenpest, Denguefieber und andere Krankheiten. Die Parasiten schwimmen in die Wunde, die das Insekt gestochen hat. Dann leben sie in unserer Haut oder unserer Blutbahn, wo sie sehr wahrscheinlich mit dem Biss des nächsten vorüberkommenden Insekts aufgenommen werden. Aber vielen von ihnen genügt es nicht, nur am richtigen Ort zu sein. Sie verändern zusätzlich das Verhalten der Insekten, damit sie die Parasiten schneller verbreiten. Blut zu trinken ist nicht einfach. Wenn eine Stechmücke auf unserem Arm landet, muss sie ihren Rüssel durch die zähe Außenschicht der Haut bohren und ihn dann eine Weile tastend umherschieben, bis sie ein Blutgefäß findet. Je länger sie dazu braucht, umso größer ist das Risiko, dass sie erschlagen und zu einem blutigen Fleck zerquetscht wird. Sobald die Mücke auf Blut stößt, reagiert der menschliche Körper. Blutplättchen schwärmen um den Mückenrüssel und setzen chemische Stoffe frei, die sie zu klebrigen Klümpchen gerinnen lassen und andere Blutplättchen herbeirufen. Während die Mücke zu trinken versucht, gerinnt ihr glattflüssiger Blutcocktail zu einem Dickmilchshake. Um Zeit zu gewinnen, mischt sie gerinnungshemmende Stoffe in ihren Speichel. Einer davon zersetzt den von den Blutplättchen gebildeten Kleber; andere erweitern die Blutgefäße, damit mehr Blut fließt. Die Stechmücken sind sich der Gefahren, die beim Trinken von Blut drohen, bewusst. Wenn sie es zu schwierig finden, an einer Stelle eines Wirts Blut zu saugen, fliegen sie schnell zu einer anderen Stelle seiner Haut. Hat dieser Wirt jedoch Malaria, kommt das den Mücken zugute. Malaria greift die Blutplättchen des Wirts an, sodass diese ihren Job der Blutgerinnung nur mangelhaft verrichten. Wenn eine Stechmücke bei einem Malaria infizierten Menschen ein Blutgefäß trifft, kann sie das Blut leichter trinken und den Parasiten mit ihm. Gelangt Plasmodium in eine Stechmücke, braucht es Zeit, bis es in einen anderen Menschen überwechseln kann. Es muss in den Mückendarm, um sich mit anderen Plasmodium-Parasiten zu paaren und zu vermehren. Über 10.000 Ookineten entstehen auf diese Weise innerhalb von zehn Tagen. Sie entwickeln sich zu Sporozoiten, die zur Speicheldrüse wandern, wo sie schließlich bereit sind, auf einen Menschen übertragen zu werden. Aber bis es soweit ist, 111
bedeutet jede Nahrungsaufnahme der Mücke für den Parasiten ein Risiko, denn sie könnte mitten im Biss erschlagen werden. Deshalb tut Plasmodium sein Möglichstes, um den Wirt vom Fressen abzuhalten. Eine Mücke mit Ookineten gibt den Versuch, Blut zu trinken, eher auf als eine ohne den Parasiten. Doch sobald der Parasit den Mückenmund erreicht hat, möchte er, dass die Mücke so oft wie möglich sticht. Plasmodium wandert in die Speicheldrüse und dort in ein Läppchen, das für die Bildung des gerinnungshemmenden Moleküls Apyrase zuständig ist. Hier unterbricht es die Versorgung der Mücke mit Apyrase, sodass es für die Mücke schwieriger wird, das Blut flüssig zu halten, wenn sie ihren Rüssel in einen neuen Wirt schiebt. Sie muss mehr Wirte aufsuchen, um die gleiche Menge Blut zu trinken. Gleichzeitig macht Plasmodium die Mücke hungriger, damit sie mehr trinkt und bei mehr Wirten ihre Nahrung sucht. Folglich ist bei einer kranken Mücke die Wahrscheinlichkeit, dass sie in einer Nacht zwei Menschen sticht, doppelt so groß wie bei einer gesunden Mücke. Die kranke Mücke, die mehr Blut zu mehr Wirten trägt, ist bei der Verbreitung von Malaria effektiver. Plasmodium sorgt dafür, dass ein Räuber – in diesem Fall die Stechmücke – Kontakt bekommt mit seiner Beute – mit uns. Genauso können Parasiten den umgekehrten Weg nützen, indem sie zuerst in einer Beute leben, die dann von einem Räuber gefressen wird. Manche Parasiten warten in aller Ruhe ab, bis ihr Zwischenwirt verspeist wird. Viele andere sind nicht so geduldig. Der Egel Leucochloridium paradoxum macht eine Schnecke zu seinem ersten Wirt und Insekten fressende Vögel, die keinerlei Appetit auf Schnecken haben, zu seinem endlichen Wirt. Die Egel erregen die Aufmerksamkeit der Vögel, indem sie sich in die Augenfühler der Schnecke schieben. Von braunen oder grünen Streifen überzogen sind die Parasiten durch die transparenten Tentakel sichtbar und sehen für einen Vogel wie Raupen aus. Ein Vogel greift die Schnecke an und bekommt nichts als einen Bauch voller Parasiten. Andere Parasiten können die Haut ihres Wirts verändern, damit er zu einem deutlicheren Ziel wird. Einige Bandwurmarten leben ein paar Wochen in den Därmen des Dreistachligen Stichlings. Wenn sie in einen Vogel wechseln wollen, bewirken sie, dass sich der Fisch orange oder weiß färbt. Sie können auch sein Verhalten 112
verändern, um die Vögel auf ihn aufmerksam zu machen. Normalerweise hält sich der Stichling von Vögeln sorgfältig fern, um nicht gefressen zu werden. Er bleibt stets ein gutes Stück unter der Wasseroberfläche. Steckt ein Reiher seinen Kopf ins Wasser, flitzt er davon, auch wenn es gerade etwas Gutes zu fressen gegeben hätte. Doch wenn der Stichling von Bandwürmern infiziert ist, bekommt er Auftrieb und muss gezwungenermaßen nahe der Oberfläche schwimmen. Außerdem wird er übermütig und jagt seiner Nahrung hinterher, auch wenn sich ein Vogel gefährlich nähert. Manchmal macht der Parasit seinen Wirt nicht nur leichter angreifbar, sondern schickt ihn schnurstracks auf den falschen Weg. Dies trifft auf die Kratzer zu – Würmer, die einen mit Widerhaken besetzten Rüssel haben. Viele Arten dieser Parasiten beginnen in wirbellosen Tieren, die in Seen und Flüssen leben. Dann reifen sie in Vögeln zu Adultwürmern heran und bohren ihre mit Haken bewehrten Köpfe tief in das Gewebe der Därme. Der kleine Süßwasserflohkrebs Gammarus lacustris sucht seine Nahrung nahe der Oberfläche von Teichen und Flüssen. Sobald sein räuberischer Feind – eine Ente – in die Nähe kommt, flüchtet er aus dem hellen Wasser in die dunkle Tiefe. Doch wenn ein Kratzer in dem Flohkrebs sitzt, tut dieser genau das Gegenteil. Erscheint eine Ente auf dem Wasser, fühlt der Flohkrebs plötzlich einen unwiderstehlichen Drang nach Licht und schwimmt an die Wasseroberfläche. Dort sucht er sich einen Stein oder eine Pflanze, und sobald er Feindkontakt aufgenommen hat, drückt er sein Maul nach unten und bietet sich praktisch der Ente an. Toxoplasma, das Protozoon, das in Milliarden Menschengehirnen sitzt, könnten wir für ein sanftes Wesen halten, das mit Gehirnwäsche nichts zu tun haben will. Schließlich steckt es artig in seinen Zysten und ist nicht geneigt, seinen Wirt zu töten. Aber seine Harmlosigkeit ist Teil eines unbewussten Kalküls, um die Chancen, in seinen Endwirt zu gelangen, zu verbessern. Toxoplasma muss von der Katze zu ihrer Beute (die Ratte) und wieder zurück wechseln können, um seinen Entwicklungszyklus zu vollenden. Eine tote Ratte würde nicht viele Katzen anlocken. Aber wie sich herausstellt, hilft Toxoplasma der Katze indirekt beim Fang ihrer Beute. An der Oxford University hat man etliche Jahre die Wirkungen 113
von Toxoplasma auf das Verhalten von Ratten untersucht. Die Wissenschaftler bauten ein zwei mal zwei Meter großes Freigehege und errichteten darin aus Ziegelsteinen ein Labyrinth aus Gängen und Zellen. In jede Ecke des Geheges stellten sie einen Nistkasten, Futter und Wasser. Jedes Nest wurde mit ein paar Tropfen eines besonderen Geruchs parfümiert. Eines roch nach frischem Stroh, eines nach Rattennest, zwei andere nach Kaninchen- beziehungsweise Katzenurin. Als gesunde Ratten in das Gehege kamen, liefen sie neugierig umher und erforschten die Nester. Doch als sie auf den Katzengeruch stießen, scheuten sie zurück und gingen nie wieder in diese Ecke. Das war an sich keine Überraschung, denn Katzengeruch löst eine plötzliche Veränderung in der Chemie des Rattenhirns aus, die Angst erzeugt. (Wenn Wissenschaftler Angst lösende Medikamente an Ratten testen, verwenden sie einen Hauch von Katzenurin, um sie in Panik zu versetzen.) Die Angst ließ die gesunden Ratten vor dem Geruch zurückschrecken und machte sie ganz allgemein mißtrauisch gegenüber neuen Dingen nach dem Motto: Lieber abwarten und am Leben bleiben. Dann setzten die Wissenschaftler Toxoplasma-infizierte Ratten in das Gehege. Diese unterscheiden sich nicht sehr von ihren gesunden Artgenossen. Der einzige Unterschied, den die Forscher feststellen konnten, war, dass die Wahrscheinlichkeit, getötet zu werden, bei den infizierten Ratten größer war. Der Katzengeruch im Gehege machte ihnen keine Angst. Sie erkundeten die Umgebung mit dem Katzengeruch sogar mindestens ebenso oft wie jeden anderen Winkel des Geheges. In einigen Fällen zeigten sie sogar ein besonderes Interesse an der nach Katze riechenden Stelle und kehrten immer wieder dorthin zurück. Wenn Toxoplasma Ratten in Kamikaze-Nagetiere verwandelt, mehrt es wahrscheinlich seine Chancen, in eine Katze zu gelangen. Wenn es statt in eine Ratte in einen Menschen gerät, besteht wenig Hoffnung, dass es den Weg in eine Katze finden, aber es gibt Beweise, dass der Parasit dennoch versucht, seinen Fehlwirt zu manipulieren. Psychologen haben herausgefunden, dass Toxoplasma die Persönlichkeit seines menschlichen Wirts verändert, und zwar bei Männern und Frauen auf unterschiedliche Weise. Männer sind weniger bereit, sich den Sitten und moralischen Maßstäben einer Gemeinschaft unterzuordnen; es beunruhigt sie nicht sehr, dass sie 114
bestraft werden, wenn sie gegen die gesellschaftlichen Regeln verstoßen. Und sie werden mißtrauischer gegenüber anderen Menschen. Frauen dagegen werden extrovertierter und warmherziger. Auch bei diesen Wirten manipuliert Toxoplasma das natürliche Angstgefühl, das vor Gefahren schützen soll. In der Wissenschaft weiß man von derartigen Veränderungen seit über 70 Jahren, aber niemand hielt sie für echte Manipulationen. Parasiten konnten unmöglich an ihren eindeutig höher entwickelten Wirten gezielt Veränderungen vornehmen. Sie richteten alle möglichen Schäden an und vielleicht veränderte der Schaden zufällig den Wirt. Erst in den sechziger Jahren begannen die Wissenschaftler, ernsthaft darüber nachzudenken, ob ein Parasit die Physiologie seines Wirts oder gar sein Verhalten steuern könnte. Daraufhin tauchte ein Fall nach dem anderen auf, und alle schienen genau das zu bestätigen. In den meisten Fällen waren die Verursacher parasitische Eukaryonten. Sicher können auch Bakterien und Viren als Puppenspieler agieren. Wenn wir niesen, pusten wir Erkältungsviren zu neuen Wirten. Das Ebola-Virus scheint unseren Respekt vor Sterbenden und Toten zu nutzen, indem es seine Opfer Blut verströmen lässt, das an den Körper von Menschen gelangt, welche die Opfer pflegen oder beseitigen müssen und dabei infiziert werden. Doch wenn man sich die dokumentierten Fälle ansieht, machen Bakterien und Viren nur einen winzigen Teil der Manipulatoren aus. Vielleicht liegt es daran, dass sie sehr schlichte Bedürfnisse haben: Sie brauchen selten mehr als eine Wirtstierart und können ohne weiteres bei regelmäßigen Kontakten zwischen den Wirten umsteigen – sei es bei der Begattung, einem Händeschütteln oder einem Mückenstich. Wahrscheinlich gibt es unter den Bakterien und Viren noch viele Manipulatoren, die darauf warten, entdeckt zu werden. Sie könnten noch unentdeckt sein dank der Tatsache, dass die meisten Menschen, die sich mit Viren und Bakterien beschäftigen, in erster Linie an Krankheiten, Symptome und Therapien denken und nicht wie Parasitologen an ihre Studienobjekte herangehen. Parasiten sind für ihre Erforscher in erster Linie Lebewesen, die in ihren Wirten überleben und in neue Wirte gelangen müssen. Die große Gefahr bei der Untersuchung von Manipulationen durch Parasiten besteht darin, raffinierte Parasitenstrategien zu 115
entdecken, die gar keine sind. Manche Veränderungen bei einem Wirt sind vielleicht nur ein Schaden. Wenn ein Parasit die Farbe eines Fischs verändert hat, bedeutet das nicht viel. Es kommt darauf an, ob die Veränderung tatsächlich bewirkt, dass der Fisch leichter von einem Vogel gefressen wird. Beweisen lässt sich eine echte Manipulation nur durch Versuche. Die ersten Versuche, die wirkliche Manipulationen mit deutlichen Auswirkungen zeigten, wurden in den achtziger Jahren von Janice Moore, einer Parasitologin an der Colorado State University, durchgeführt. Ihre bevorzugten Parasiten waren eine Kratzerspezies – Würmer, die als Larven in Kugelasseln auf dem Waldboden und als Erwachsene in Staren leben und ihre Eier mit dem Vogelkot ausbringen, damit sie von Kugelasseln gefressen werden. Moore baute Kammern aus hitze- und säurebeständigen Glasschalen, um das Verhalten der infizierten Kugelasseln zu beobachten. Bei einem ihrer Versuche wollte sie feststellen, wie die Asseln auf Feuchtigkeit reagierten. Sie stellte die Schalen übereinander, um einen geschlossenen Raum zu bekommen. Dann teilte sie den Raum mit einer gläsernen Schranke und ließ nur einen kleinen Spalt zwischen den beiden Kammern offen, den sie mit einem Nylonnetz abdeckte. Eine Kammer machte sie feucht, indem sie Kaliumdichromat hineinfüllte – ein Salz, das in Verbindung mit Luft Wasser bildet. In die andere Kammer goss sie Salzwasser, das die Luft trocken macht, weil ihr Wasser entzogen wird. Dann setzte sie ein paar Dutzend Kugelasseln in das Glashaus und beobachtete, welche Kammer sie wählten – die feuchte oder die trockene. Anschließend sezierte sie die Asseln, um festzustellen, ob sie mit Kratzerlarven infiziert waren. Für einen anderen Versuch baute sie in die Mitte einer Glasschale aus vier Kieselsteinen und einer darüber gelegten Kachel einen Unterschlupf für die Kugelasseln. Sie wollte sehen, ob sie sich darunter versteckten oder unter freiem Himmel umherliefen. Und bei einem dritten Versuch füllte sie gefärbten Kies in eine Glasschale – die eine Hälfte weiß, die andere schwarz – um zu sehen, ob sich die Asseln zum hellen oder zum dunklen Untergrund hingezogen fühlten. Kugelasseln leben im feuchten Waldboden, wo sie sich vor den Vögeln verstecken können, die sie sonst fressen würden. Wenn 116
man sie aus der Erde holt, krabbeln sie schleunigst wieder zurück. Sie werden vom Boden angezogen durch Faktoren wie Feuchtigkeit, trübes Licht und dunkle Farben. Die gesunden Asseln in Moores Glasgehäuse verhielten sich genau auf diese Weise. Sie blieben in der feuchten Kammer und mieden die trockene; sie versteckten sich unter der Kachel, und sie wählten den dunklen Kies und nicht den hellen. Aber die Kugelasseln, die Kratzerlarven in sich trugen, gingen wesentlich öfter in den trockenen Teil des Gehäuses. Ein Parasit würde seinen Wirt veranlassen, häufiger über den weißen Kies zu krabbeln und sich eher nicht unter der Kachel zu verstecken. Die vom Parasiten befallenen Kugelasseln konnten die für sie lebenswichtigen Hinweise nicht mehr erkennen und wurden zur leichten Beute für Vögel. Statt sich nur auszumalen, was ein Vogelleben leichter machen könnte, ließ sich Moore dies von den Vögeln selbst erzählen. Sie setzte Kugelasseln in einer Voliere aus, in der sie Stare hielt. Die Vögel fraßen die Kugelasseln und bevorzugten eindeutig die infizierten Asseln. Für ein weiteres Experiment stellte sie Starenkästen auf, und die Stare kamen und zogen ihre Jungen darin auf. Auf den umliegenden Feldern suchten sie ihr Futter – darunter auch Kugelasseln – und brachten es in die Nistkästen. Moore band den Vogeljungen Pfeifenreiniger um den Hals, die ihnen die Kehle gerade so weit zuschnürten, dass sie kein Futter schlucken konnten. Später durchsuchte sie ihre Schnäbel und die Nester und sammelte die Kugelasseln ein, die die Elternvögel gebracht hatten. Sie sezierte die Asseln und stellte fest, dass die mit Parasiten befallenen weitaus häufiger in den Nestern auftauchten, als dies der Fall sein sollte. An einem repräsentativen Ort ergab sich, dass weniger als 1 Prozent der Kugelasseln von Kratzern befallen waren, aber 30 Prozent der Kugelasseln, die Moore aus den Nestern geholt hatte, waren infiziert. Auf Janice Moores Versuche folgten weitere sorgfältig durchgeführte Tests, und in vielen Fällen förderten die Parasiten tatsächlich ihren Erfolg, indem sie ihre Wirte veränderten. Nachdem die Parasitologen gezeigt hatten, dass diese Manipulationen echt waren, fragten sie sich, wie die Parasiten sie vornehmen konnten. Wahrscheinlich benutzt jeder Parasit seinen eigenen speziellen Mechanismus – darunter auch einige, die ganz einfach sind. 117
Wenn Bandwürmer in einem Dreistachligen Stichling heranwachsen, die ganze Körperhöhle des Fischs füllen und den größten Teil der Nahrung, die ihr Wirt aufnimmt, für sich verbrauchen, steigert das den Hunger des Fischs. Dieser Hunger lässt den Stichling ein höheres Risiko bei der Nahrungssuche eingehen und nicht gleich wegzutauchen, wenn er einen Vogel in der Nähe bemerkt. Häufiger jedoch sind die Mechanismen wesentlich subtiler. Die Parasitologen sind sicher sicher, dass Parasiten das Vokabular der Neurotransmitter und Hormone ihrer Wirte lernen, auch wenn sie noch kein besonderes Molekül gefunden haben, von dem sie sagen könnten, dass es einen Wirt in einer bestimmten Weise verändert. In den Körpern und Hirnen herrscht ein zu reger Signalverkehr, als um ein kurzes Signal von einem Parasiten auffangen zu können. Aber die Parasitologen wissen indirekt einiges über diese Parasitenmoleküle – ähnlich wie man sich einen Menschen nach seinem Schatten vorstellen kann. Diese Situationen bieten dem Bandwurm die Möglichkeit der Übertragung. Erinnern Sie sich für einen Augenblick an den armen Flohkrebs Gammarus, der von einem Kratzer an die Oberfläche eines Teichs geschickt wird, wo er sich an einem Stein festhält, bis ihn eine Ente frisst. Mit Sicherheit ist mit seinem Nervensystem etwas nicht in Ordnung, weil die gleiche Empfindung, die einen gesunden Gammarus auf den Grund des Gewässers schicken würde, bei einem kranken Gammarus die gegenteilige Reaktion auslöst. Biologen haben die Nervenzellen von kratzerinfizierten Flohkrebsen frei gelegt und mit Chemikalien eingefärbt, welche die Neuronen leuchten lassen, wenn sie bestimmte Neurotransmitter tragen. Als sie nach dem Neurotransmitter Serotonin suchten, funkelten die Neuronen wie Weihnachtsbäume. Serotonin findet man in ungefähr jedem Tier. Bei Menschen und anderen Säugetieren scheint es das Gehirn zu stabilisieren. Wenn der Serotoninspiegel sinkt, können Menschen Zwangsvorstellungen bekommen, depressiv oder gewalttätig werden. (Das Antidepressivum Prozac fördert die Serotoninproduktion.) Serotonin spielt auch in den Hirnen von Wirbellosen eine Rolle, obwohl die Wissenschaftler noch nicht wissen, welche das ist. Doch wenn einem Gammarus Serotonin injiziert wird, geschieht etwas Interes118
santes: Oft versucht dann ein gesunder Flohkrebs, etwas zu packen und festzuhalten. Warum sollte Serotonin den Flohkrebs dazu bewegen sich anzuklammern? Es könnte etwas mit der Fortpflanzung zu tun haben. Wenn sich Gammarus paart, hält das Männchen mit seinen Beinen das Weibchen fest und zieht seinen Hinterleib zu ihr hinunter. Er bleibt tagelang auf ihr sitzen und wartet darauf, dass sie sich häutet. Tut sie das, steckt sie ihre Eier in eine Tasche unter ihrem Bauch. Das Männchen befruchtet die Eier und hält sich weiterhin an ihr fest, um sie vor anderen paarungswilligen Männchen zu schützen. Die Paarungshaltung des Männchens entspricht genau der Haltung, die Kratzerwürmer dem Gammarus aufzwingen. Wenn die Parasitologen infizierten Flohkrebsen einen Stoff injizieren, der die Serotoninwirkung hemmt, unterlassen sie das Klammern für einige Stunden. Möglicherweise sondern die Kratzer ein Molekül ab, das die Serotoninaufnahme steigert. Der Parasit könnte Signale auslösen, die den Gammarus glauben lassen, er würde sich paaren, oder die sogar die Weibchen in die Rolle des Männchens beim Paarungsakt schlüpfen lassen. Wenn die Parasitologen eines Tages die ganze Geschichte der Parasitenmanipulation aufgedeckt haben, wird sich zeigen, dass sie um einiges komplizierter ist. Es ist unwahrscheinlich, dass Parasiten nur ein einziges Molekül verwenden, um ihre Wirte zu lenken. Parasiten sind mit einem riesigen Drogensortiment ausgestattet, auf das sie stets dann, wenn sie für sich etwas ändern müssen, zurückgreifen können. Das ist das Bild, das sich ergeben hat, nachdem sich verschiedene Wissenschaftler zusammengesetzt hatten, um gemeinsam den Lebenszyklus eines speziellen Parasiten, zum Beispiel des Rattenbandwurms Hymenolepis diminuta, zu untersuchen. Erwachsene Rattenbandwürmer leben und paaren sich in den Eingeweiden von Ratten und Mäusen, wo sie 30 bis 60 Zentimeter lang werden. Ihre Eier werden mit den Rattenköteln ausgeschieden, die in der Regel von Käfern gefressen werden. Im Käfer löst sich die Hülle des Bandwurmeis auf und heraus kommt ein kugelförmiges Lebewesen mit drei Hakenpaaren. Mit diesen Haken wühlt es sich aus dem Darm des Käfers heraus und gelangt in den Blutkreislauf, wo es in gut einer Woche zu einer kurzschwänzigen 119
Form heranwächst. Dann wartet der Parasit, dass der Käfer von einer Ratte gefressen wird, in der er seine Erwachsenenform annimmt. Der ganze Zyklus findet häufig in Kornsilos oder Lebensmittellagern statt, wo die Mehlkäfer das Getreide oder das Mehl fressen und von Ratten gefressen werden, die ihren Kot im Getreide hinterlassen. Die Bandwürmer manipulieren die Mehlkäfer bereits, bevor sie in ihnen sind. Die Käfer werden von einem Duft, dem sie anscheinend nicht widerstehen können, zu den mit Eiern befrachteten Köteln gelockt. Findet ein Käfer den Kot einer gesunden Ratte und den einer parasitierten, wählt er eher den mit den Bandwurmeiern. Fängt man den Duft von infiziertem Rattenkot ein und konserviert ihn in einer Flüssigkeit, lässt ein Tropfen dieses Parfüms die Käfer herbeieilen. Niemand weiß, ob die Eier den Duft produzieren, ob es ein Stoff ist, der von den erwachsenen Bandwürmern in den Ratten stammt, oder ob die Parasiten die Verdauung der Ratten irgendwie verändern, sodass der Wirt selbst den Duft produziert. Auf jeden Fall führt dieser Duft dazu, dass die Käfer Bandwurmeier fressen, und vielleicht auch, dass die Käfer von einer Ratte gefressen werden. Einmal im Käfer, setzt der Bandwurm erneut Chemikalien ein, um den Wirt zu sterilisieren. Wie die meisten Insekten speichern Käfer einen Energievorrat im so genannten Fettkörper, der sich über ihren Rücken zieht. Die Weibchen verwenden etwas von diesem Material, um die Dotter für ihre Eier zu bilden. Um das Fett zu den Eiern zu bringen, müssen sie dem Fettkörper ein Hormonsignal geben. Dieser reagiert darauf mit der Bildung des Dotterbestandteils Vitellogenin. Das Vitellogenin verlässt den Fettkörper und fließt durch den Käfer in die Eierstöcke. Das Käferei ist von einem Schwarm von Helferzellen umgeben, die nur einige ganz wenige Zwischenräume offen lassen, die überdies so winzig klein sind, dass kaum etwas hindurch und zu dem Ei selbst gelangen kann. Aber wenn die richtigen Hormone an diesen Helferzellen andocken, schrumpfen die Zellen und öffnen die Zwischenräume. Ist eine ausreichende Menge dieser Hormone vorhanden, kann das Vitellogen das Ei erreichen und zu Dotter werden. Der Bandwurm hat die Möglichkeit, diesen Vorgang an mehreren Stellen zu unterbrechen. Er bildet ein Molekül, das in den Fett120
körper dringt und die Bildung von Vitellogenin in den Zellen verlangsamt. Etwas Vitellogenin fließt trotzdem aus dem Fettkörper, aber nur wenig davon scheint ein Ei zu erreichen. Anscheinend bildet der Bandwurm noch ein anderes Molekül, das sich an die Rezeptoren der Helferzellen in den Eierstöcken hängt. Es verstopft die Rezeptoren, damit die Hormone nicht mehr andocken und die Helferzellen nicht mehr schrumpfen können. Die Helferzellen bleiben dick und das Vitellogenin gelangt nicht in das Ei. Sinn und Zweck dieser Moleküle ist, den Käfer daran zu hindern, wertvolle Nährstoffe zu vergeuden, die der Bandwurm für seine eigenen Eier nutzen will. Ist der Bandwurm im Käfer herangereift, sucht er sich eine Ratte. Der Käfer wäre gewiss nicht damit einverstanden, deshalb muss der Parasit eine weitere Schublade seiner Apotheke öffnen. Einige seiner Drogen – wahrscheinlich sind es Opiate, die Schmerz- und Angstgefühle abschwächen – bewirken, dass sich der Käfer nicht mehr so sorgfältig verborgen hält. Auf ein Häufchen Mehl gesetzt wird der Käfer auf der Oberfläche entlang krabbeln statt sich im Mehl zu vergraben. Der Bandwurm macht ihn träge, sodass er bei einem Angriff nur langsam reagiert. Trotzdem wehrt sich ein infizierter Käfer nach Kräften, sobald ihn eine Ratte ins Maul nimmt. Mehlkäfer sind mit zwei Drüsen am Hinterleib versehen, mit denen sie einen übel schmeckenden Stoff ausscheiden können, und eine Ratte, die einen Mehlkäfer schnappt, spuckt ihn wahrscheinlich gleich wieder aus. Doch sobald der Bandwurm reif ist, verhindert er, dass die Drüsen dieses Gift bilden. Wenn sich der infizierte Käfer zu wehren versucht, schmeckt er der Ratte gar nicht mehr so schlecht und wird eher geschluckt als ein gesunder Käfer. Der Käfer wird von Anfang bis Ende von seinem Parasiten gesteuert. Wenn man in Kalifornien bei Carpintería den Ventura Freeway verlässt und ein kurzes Stück Richtung Ozean fährt, vorbei an einem Lagerhaus für Teddybären und über ein Bahngleis, kommt man zu einem eingezäunten Gelände. Hinter dem Zaun erstreckt sich ein etliche Hektar großes Tiefland, auf dem niedrige, üppige Pflanzen wie Salzgras und Salzmelde wachsen – der Carpintería Salzsumpf. An einem klaren Sommertag öffnete ein Ökologe namens Kevin Lafferty das Tor des Zauns und ließ mich ein. Er wollte mir zeigen, wie ein Salzsumpf funktioniert. Lafferty trug eine 121
Badehose, ein ausgefranstes T-Shirt mit fluoreszierenden Löwenkopffischen, Zehensandalen und in der Hand ein Paar hohe Gummistiefel. Ich verbrachte einige Tage in der Gesellschaft von Lafferty und sah ihn kein einziges Mal in einer förmlicheren Aufmachung. Er hatte ein junges Gesicht und weizenblondes Haar. Seit er 1981 an die University of California in Santa Barbara kam, surfte er an diesen Stränden. Auf dem Wasser wäre der Biologieprofessor kaum von einem Studenten zu unterscheiden gewesen. Lafferty beschrieb mir den Salzsumpf, während wir auf einem erhöhten Weg zum Meer gingen. »Man braucht eine Art Innenraum unterhalb des Meeresspiegels, damit sich ein Salzsumpf bildet. Das kann ein Fluss sein, der einen Kanal gräbt, in den das Meer bei Flut eindringen kann – das wäre die OstküstenStandardversion. Oder man hat tektonische Aktivität, die zu einer Senkung des Bodens führt.« Er deutete landeinwärts zu den San Ynez Mountains, die mit einem Nebelschal geschmückt hinter dem Freeway aufragten. »Die ganze kalifornische Küste ist eine komplizierte Mischung aus tektonischer Aktivität plus Veränderungen der Meereshöhe. Das Becken hier wurde wahrscheinlich vom Meer überflutet, weil sich das Land gesenkt hat.« Jetzt liegt das Gebiet ungefähr 30 Zentimeter unter dem Meeresspiegel, sodass sich die von den Santa-Monica- und Franklin-Flüssen mitgeführten Sedimente eher in diesem Becken ablagern als draußen im Meer. Jeden Tag dringt die Flut in den Sumpf, überflutet die Flussufer und überschwemmt das ganze Gebiet bis an die Umzäunung. »Wenn der Meeresspiegel nicht steigt und es zu keiner tektonischen Aktivität kommt, könnte dieses Land in rund 100 Jahren trocken sein. Aber wenn sich das Land ständig senkt, kann das Sediment das nicht ausgleichen«, sagte Lafferty. Die gegensätzlichen Kräfte von Sedimentansammlung, Süßwasserzufuhr und Meeresgezeiten haben in diesem breiten, mit Wasser vollgesogenen und von Kanälen durchschnittenen Land einen Kompromiss erreicht. Jeden Tag bei Ebbe schwitzt der Boden in der Sonne und sein Wasser verdampft; die Salzlake bleibt zurück. An manchen Stellen ist der Boden salziger als das Meerwasser. Unter solchen Bedingungen überlebt kein Baum. Dafür gibt es hier einen niedrigen Teppich aus zähen Pflanzen, die sich an das Salz angepasst haben. 122
Salzgras zum Beispiel pumpt das Salzwasser aus dem Boden, lagert das Salz in seinen Früchten ab und nutzt das zurückbleibende Süßwasser. An den kahlen morastigen Flächen entlang der Kanäle wachsen Algen in dumpfen Grüntönen. Die Algen sehen vielleicht etwas trübselig aus, aber in Wirklichkeit erfreuen sie sich nahezu perfekter Lebensbedingungen. Der Morast ist vollgepackt mit Stickstoff, Phosphor und anderen Nährstoffen, die das Wasser aus den Bergen mitgebracht hat. Weil die Böden dieser Flächen jedesmal bei Ebbe der Sonne ausgesetzt sind, bekommen die Algen wesentlich mehr Licht, als wenn sie immer von Wasser bedeckt wären. Wir waren bei Ebbe dort, als die Algen fröhlich phosphorsynthetisierten. Überall an den Ufern waren tausende kleiner Geburtstagshüte zu sehen – die konischen Gehäuse der kalifornischen Hornschnecken, die auf den Algen weiden. »Sie mähen einen rasch wachsenden Rasen«, erzählte Lafferty. Die vielen wirbellosen Tiere wie Littleneck-Muscheln und Sanddollar sind für Wirbeltiere ein herrliches Fressen. Einige Fische wie Grundeln und Kärpflinge leben das ganze Jahr über in den Flussmündungen. Bei Niedrigwasser kauern sie sich auf den Grund und bei Flut fressen sie. Manchmal gesellen sich neugierige Stachelrochen oder Haie aus dem Meer dazu. Als ich dort war, gab es nur Kärpflinge, die umherflitzten und sich immer wieder auf die Seite drehten, um ihre hell glitzernden Bäuche zu zeigen. An den Ufern der Kanäle sah man beinahe faustgroße Löcher, aus denen, sobald die Morgensonne darauf schien, Krabben krochen – gestreifte Strandkrabben, die die Schnecken wie Walnüsse knackten, und Winkerkrabben, die langsam ihre großen Klauen hoben, als würden sie den neuen Tag begrüßen. Räuberische Säugetiere gab es hier nicht mehr viele; ständig wachsende Städte wie Carpintería hatten die Berglöwen und Bären vertrieben, sodass hier nur noch Waschbären, Wiesel und Hauskatzen lebten. Aber der Salzsumpf war immer noch ein großes Schlaraffenland für Seeschwalben, Schlammtreter, Schlammläufer, Gelbschenkelwasserläufer, Brachvögel und viele andere Vögel. Lafferty betrachtete das Ökosystem dieses Salzsumpfes, das Fressen und Gefressen werden, die Verwandlung von Sonnenlicht in die verschiedenen Lebensformen, mit etwas anderen Augen als die meisten Ökologen. Ein Brachvogel zog eine Muschel aus ih123
rem Loch. »Und schon ist er infiziert«, sagte Lafferty. Er blickte auf das Ufer voller Schnecken. »Über 40 Prozent dieser Schnecken sind infiziert. Sie sind eigentlich nur verkleidete Parasiten. Wir könnten hier ganze Waggons mit parasitischer Biomasse füllen.« Er deutete auf einen weißen Vogelschwarm, der sich am Ufer niederließ. »Diese da sind hübsch verpackte Egeleier.« Er machte eine nachdenkliche Pause und zuckte die Achseln. »Meine Sicht der Dinge ist ziemlich verrückt.« Das war sie noch nicht, als Lafferty 1986 mit seinem Fachstudium begann. Hätte ihn damals jemand aufgefordert, die Ökologie dieses Salzsumpfes zu erforschen, hätte er die Dinge untersucht, die er sehen konnte. Er hätte gezählt, wieviele Algen die Schnecken abweiden, wieviele Muscheln ein Vogel an einem Tag frisst, wieviele Eier ein weiblicher Kärpfling in einem Jahr legt. Heute weiß er, dass er an dem eigentlichen Drama dieses Ökosystems völlig vorbeigegangen wäre, weil er nicht an die Parasiten gedacht hätte. Ungewöhnlich wäre diese Vergesslichkeit keineswegs gewesen. Seit Jahrzehnten wateten die Ökologen in die Bayous, plantschten in Seen und stapften durch Wälder, um zwei Phänomene zu untersuchen: den Kampf um die lebensnotwendigen Dinge wie Nahrung und Wasser und das Streben, nicht gefressen zu werden. Sie prüften die Vorkommensdichte von Pflanzen und Tieren, ihre Verteilung von jung bis alt sowie die Vielfalt der Arten und zeichneten Diagramme von Nahrungsnetzen, die wie verhedderte Mobiles aussahen. Aber nie führte auch nur eine dieser Bemühungen zu einem Parasiten. Die Ökologie leugnete nicht, dass es Parasiten gab, aber man hielt sie für unwichtige Trittbrettfahrer. Alles Leben wurde betrachtet, als wäre es frei von Krankheiten. »Viele Ökologen denken nicht gern an Parasiten«, meinte Lafferty. »Ihr Blickfeld endet an der Außenseite eines Organismus.« Nur wenige Ökologen machten sich die Mühe, ihre Indifferenz mit Daten zu stützen. Es störte sie nicht, dass viele Tiere von mehreren unterschiedlichen Parasitenarten befallen sind. Auf der anderen Seite waren auch die Parasitologen recht nachlässig. Sie besahen sich ihre Parasiten in den Labors, aber sie hatten keine Ahnung, was Parasiten in der Welt draußen bewirken. Diese Wirkungen können enorm sein. Erst im vergangenen 124
Jahrzehnt haben zum Beispiel die Meeresbiologen entdeckt, dass es in den Ozeanen von Viren nur so wimmelt. Sie wussten seit langem, dass Viren ungefähr jede marine Lebensform, vom Wal bis zum Bakterium, infizieren können; aber sie dachten, dass es im Meer nicht viele Viren gebe oder dass sie zu zart seien, um großen Schaden anzurichten. Aber Viren sind robust und es gibt sie im Überfluss. Durchschnittlich leben im Meer zehn Milliarden Viren in einem halben Liter Oberflächenwasser. Ihre bevorzugten Ziele sind Bakterien und Phytoplankton, weil diese die am häufigsten vorkommenden Wirte im Meer sind. Außerdem sind sie das unterste Glied der dortigen Nahrungskette. Sie werden von räuberischen Bakterien und Protozoen gefressen und diese wiederum von Tieren. Die Meeresbiologen erkannten inzwischen, dass dieses entscheidende Glied sehr krank ist. Die Hälfte der Bakterien im Meer wird von Viren getötet. Wenn ein Bakterium stirbt, platzt es in Form eines kleinen organischen Schauers. Andere Bakterien nehmen die Überreste auf, und oft werden auch sie daraufhin von einem Virus gesprengt. Eine ungeheure Menge an Biomasse bleibt in dieser Bakterien-Virus-Bakterien-Schleife stecken und geht der marinen Nahrungskette verloren. Würden die Viren aus dem Meer verschwinden, wäre es wahrscheinlich völlig übervölkert von Fischen und Walen. An Land ist der Einfluss der Parasiten auf die Ökologie ebenso groß. Die Ökologen, die in der Serengeti arbeiteten, dachten jahrzehntelang, dass die großen Herden der Weißschwanzgnus und anderer grasender Säugetiere von zwei Faktoren kontrolliert würden: von der Nahrung, welche die Herden stärken konnte, und von den Raubtieren, welche die Populationen nicht überhand nehmen ließen. Doch die meiste Zeit in diesem Jahrhundert war der mächtigste Kontrolleur ein Rinderpestvirus. Die Rinderpest wurde um 1890 durch den Import von infiziertem Vieh vom Horn von Afrika nach Kenia und Tansania eingeschleppt. Sie sprang von den Haustieren auf die wild lebenden Tiere über, dezimierte sowohl die Population der Pflanzenfresser als auch die der Raubtiere und hielt den Bestand jahrzehntelang niedrig. Erst in den sechziger Jahren, als das Hausvieh geimpft wurde, erholten sich auch die Säugetiere in der Serengeti. Parasiten können in das Ökosystem einschneidend eingreifen, 125
wobei sie nicht jeden ihrer Wirte töten. Ein Parasit ist in der Lage, den Wettbewerbsvorsprung einer Spezies so zu beschneiden, dass sie es nicht mehr schafft, einen Konkurrenten zu verdrängen. Dadurch erreicht er, dass zwei Arten weiter nebeneinander existieren. Hirsche tragen einen Nematoden in sich, der ihnen nicht schadet. Aber wenn dieser Parasit in einen Elch gelangt, kriecht er ihm in die Wirbelsäule und lässt den Elch wie betrunken umhertaumeln, bevor er stirbt. Ohne den Parasiten könnten die Hirsche nicht mit den Elchen konkurrieren. Und Biologen wie Lafferty haben gezeigt, dass die Art, wie Parasiten ihre Wirte manipulieren, großen Einfluss auf das Gleichgewicht in der Natur hat. Als Lafferty sein Biologiestudium aufnahm, glaubte er, bereits eine ziemliche gute Vorstellung von der Ökologie der kalifornischen Küste zu haben, denn er hatte dort schon während seiner Schulzeit getaucht (das Geld für sein College verdiente er sich, indem er von Bohrinseln Muscheln abkratzte). Seine Meinung änderte sich, nachdem er einen Parasitologiekurs belegt hatte. Er war völlig verblüfft, als ihm sein Lehrer, Armand Kuris, zeigte, dass überall im Meer Parasiten zu finden sind. »Da habe ich alle diese Tiere beim Tauchen kennen- und lieben gelernt – und dann öffnest du sie, und sie sind voller Parasiten. Ich begriff, dass der Meeresbiologie ein großer Teil des Gesamtbilds entgangen ist.« Lafferty begann, die Parasiten des Carpinteria-Salzsumpfes zu studieren. Die Auswahl, die ihm hier zur Verfügung stand, war groß – ein Dutzend verschiedene Egel infizieren allein die kalifornische Hornschnecke. Er entschied sich für den am häufigsten vorkommenden Parasiten, den Euhaplorchis californiensis. Vögel scheiden mit ihrem Kot Euhaplorchis-Eier aus, die von Hornschnecken gefressen werden. Die Egel schlüpfen und kastrieren die Schnecke, während sie ein paar Generationen produzieren. Die Zerkarien schwimmen aus der Schnecke heraus und suchen im Salzsumpf ihren nächsten Wirt, den California-Kärpfling. Sie hängen sich an seine Kiemen und zwängen sich in seine feinen Blutgefäße. Sie kriechen tiefer in den Fisch, bis sie einen Nerv finden, dem sie bis ins Hirn folgen. Die Zerkarien dringen nicht direkt in das Hirn des Kärpflings ein, sondern bilden auf der Hirnoberseite einen dünnen Teppich, der wie eine Schicht Kaviar aussieht. Dort warten die Parasiten, dass der Fisch von einem Vogel gefressen 126
wird. Wenn sie im Vogelmagen landen, brechen sie aus dem Fischkopf aus und wandern in den Darm, wo sie dem Vogel Nahrung entziehen und Eier produzieren, die mit dem Vogelkot in Sümpfen und Teichen verstreut werden. Nun wollte Lafferty herausfinden, welche Wirkung dieser Zyklus auf die Ökologie des Salzsumpfes hat. Würde Carpintería ohne die Egel das sein, was es jetzt war? Er begann seine Karusselfahrt um den Parasitenzyklus bei der Schnecke. Die Beziehung zwischen Egel und Schnecke ist merkwürdig. Es ist kein Räuberund-Beute-Arrangement. Wenn ein Luchs Schneeschuhhasen tötet, werden die zarten Schößlinge, welche die getöteten Hasen gefressen hätten, von den überlebenden Hasen gefressen, die diese Energie zur Aufzucht von jungen Hasen nutzen können. Aber die Egel des Carpinteria-Salzsumpfes töten ihre Schnecken nicht. Im genetischen Sinn sind sie zwar tot, weil sie sich nicht mehr vermehren können; aber sie leben trotzdem und fressen Algen, um die Egel in ihnen zu ernähren. Würden die Schnecken von den Egeln getötet, wären die Algen, die sie nicht mehr fressen könnten, für die überlebenden Schnecken da. Stattdessen konkurrieren die Egel als Schnecken direkt mit den nicht infizierten Schnecken. Lafferty unternahm einen Versuch, um zu sehen, wie sich diese Konkurrenz abspielt. »Ich baute Käfige aus engem Maschendraht, sodass Wasser ein- und ausströmte, aber die Schnecken nicht hinauskriechen konnten. Die Sonne konnte in die Käfige scheinen, sodass am Grund Algen wachsen konnten. Dann brachte ich Schnecken ins Labor und untersuchte, welche infiziert und welche nicht infiziert waren und welche Größe sie hatten. Ich verteilte die Schnecken nach diesen Kriterien auf einzelne, identische Käfige. Die Käfige wurden in einem Bereich von der Größe eines Schreibtischs aufgestellt. Das wiederholten wir an acht verschiedenen Stellen im Salzsumpf.« Er beobachtete, wie sich die nicht infizierten Schnecken ohne die Konkurrenz ihrer parasitierten Artgenossen entwickelten. Sie wuchsen schneller, produzierten mehr Eier und konnten in wesentlich beengteren Verhältnissen gedeihen. Die Ergebnisse zeigten Lafferty, dass die Parasiten in der freien Natur so stark konkurrieren, dass sich die gesunden Schnecken nicht schnell genug 127
fortpflanzen können, um den Salzsumpf voll zu nutzen. Ohne den Egel würde sich also die Gesamtzahl der Schnecken in der freien Natur explosionsartig nahezu verdoppeln und das gesamte Ökosystem des Salzsumpfs erschüttern. Der Algenteppich würde ausdünnen, und die Räuber der Schnecken, zum Beispiel die Krabben, hätten nun auch mehr zu fressen und würden sich ebenso zahlreich vermehren. Nachdem Lafferty 1991 seine Doktorarbeit beendet hatte, arbeitete er mit Kuris zusammen. Er folgte den Egeln von den Schnecken zu den Fischen. Als Lafferty anfing Euhaplorchis zu erforschen, war noch nichts über dessen Auswirkungen auf seinen Kärpfling-Wirt bekannt. Wenn Lafferty ein Netz voll Kärpflinge aus dem Wasser holte und sezierte, sah er, dass die meisten Parasiten auf der Oberseite des Hirns saßen. Es schien, als fügten die Parasiten dem Fisch keinen besonderen Schaden zu. Nicht einmal das Immunsystem des Fischs reagierte. Als ich mit Lafferty im Salzsumpf stand und zu den Kanälen hinunterblickte, hätte ich nicht sagen können, welche Kärpflinge parasitiert und welche gesund waren. Aber Lafferty bezweifelte, dass die Egel nur passive Mitreisende waren. Wie viele andere Parasiten lenkten vermutlich auch sie die Geschicke ihrer Wirte. »Wenn ich mir diese Fische ansah, bemerkte ich nichts Ungewöhnliches. Aber als ich mit diesem ganzen Verhaltensveränderungszeug vertrauter wurde, schien es offensichtlich, was die Parasiten tun müssten«, sagte er. »Sie sind in einer guten Position, um etwas zu tun. Denken Sie mal an ein einfaches Molekül wie Prozac. Es ist kein Problem für die Egel, irgendeinen Neurotransmitter auszuscheiden.« Er überließ es seinem Studenten Kimo Morris, festzustellen, ob die Egel die Kärpflinge beeinflussten oder nicht. Lafferty holte 42 Fische aus den Kanälen und brachte sie in ein 300 Liter fassendes Aquarium im Labor. Morris saß tagelang vor den Fischen. Er suchte sich einen Fisch aus, beobachtete ihn eine halbe Stunde und notierte sich jede seiner Bewegungen. Dann nahm er den Fisch heraus und sezierte ihn, um zu sehen, ob Parasiten auf seinem Hirn klebten. Anschließend widmete er sich dem nächsten Fisch. Was dem bloßen Auge verborgen geblieben war, machten die 128
Daten sichtbar. Wenn Kärpflinge Beute suchen, wechseln sie zwischen Stehen und Umherflitzen. Aber hier und da sah Morris einen, der häufiger wackelte, zuckte, auf einer Seite schwamm und den hellen Bauch zeigte oder dicht an der Oberfläche entlangflitzte – ein gefährliches Treiben für einen Fisch, wenn ein Vogel das Wasser absuchte. Morris’ Aufzeichnungen enthüllten, dass von Parasiten befallene Fische viermal mehr wackelten, zuckten, blitzten und an die Oberfläche kamen als ihre gesunden Artgenossen. Danach versuchte Lafferty in Zusammenarbeit mit einem Molekularbiologen herauszubekommen, wie die Parasiten ihre Wirte zum Tanzen brachten. Sie stellten fest, dass die Egel mächtige Signalmoleküle ausschieden, die als Fibroblastenwachstumsfaktoren bekannt sind und das Wachstum von Nerven stören. Diese Moleküle könnten sich als das Prozac des Parasiten erweisen. Nun wollte Lafferty wissen, welchen Effekt diese Manipulation auf die Ökologie des Salzsumpfes hat. »Nachdem wir gesehen haben, dass es Verhaltensunterschiede gibt, mussten wir natürlich Feldversuche machen.« Konnte das, was Morris vielleicht als ungewöhnliches Verhalten erkannt hatte, tatsächlich die Wahrscheinlichkeit vergrößern, dass ein Fisch von einem Vogel gefressen würde – und zwar nicht von einem Vogel im Laborkäfig, sondern von einem, der frei war und, wenn er Lust hatte, auch zu einem anderen Sumpf fliegen konnte? Lafferty und Morris stellten mehrere geflochtene Körbe auf, die zum Himmel hin offen und an einer Seite auf gleicher Höhe mit dem Ufer waren, sodass die Fische nicht entkommen und die Vögel aber ohne weiteres in dem Korb landen oder auch hineinwaten konnten. Sie füllten beide Körbe mit infizierten und mit gesunden Fischen und bedeckten diese mit einem Netz, um die Fische darin vor den Vögeln zu schützen. Zwei Tage lang beobachteten sie die Körbe, ohne zu wissen, ob sich die Vögel überhaupt dafür interessieren würden. Dann watete ein großer Reiher langsam und versonnen in den offenen Korb. Er starrte in das schlammige Wasser, stieß einige Male zu und hatte einen Kärpfling erwischt.
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Drei Wochen später brachten Lafferty und Morris die Fische aus den Körben zurück ins Labor und untersuchten ihre Schädel. Das Ergebnis war noch deutlicher als Morris’ Beobachtungen: Die Vögel pickten sich nicht vier- sondern dreißigmal öfter einen verrückt zuckenden Fische aus dem Wasser heraus. Aber warum fraßen die Vögel so viele kranke Fische, wenn sie ihnen einen Darmparasiten praktisch garantierten? Die Egel fordern ihren Zoll von den Vögeln, aber einen relativ geringen. Es ist schließlich in ihrem Interesse, dass der Vogel gesund genug bleibt, um fliegen zu können und die Egel in andere Salzsümpfe zu tragen. Würden die Vögel infizierte Kärpflinge peinlich vermeiden, würden sie außerdem Hunger leiden. Die Parasiten stellen ihnen so viel Nahrung zur Verfügung, dass der Vorteil, den sie daraus ziehen, die Nachteile weit übertrifft. »Mich verblüffte vor allem«, sagte Armand Kuris über das, was sein früherer Student herausgefunden hatte, »dass sie die Anfälligkeit für räuberisches Verhalten, vorsichtig geschätzt, um das Dreißigfache steigerten. Das Dreißigfache! Und wenn ich mir jetzt die Vögel ansehe, die hier umherfliegen, frage ich mich: Hätten wir diese Vögel auch hier, wenn es für sie dreißigmal schwerer wäre, ihre Nahrung zu bekommen? Bis zu diesem Zeitpunkt hielt ich Verhaltensveränderung für eine großartige Geschichte, aber inzwischen denke ich, dass sie tatsächlich eine Kraft ist. Sie steuert vermutlich einen großen Teil der Wasservogel-Ökologie.« Diese Kraft ist nicht auf einen Salzsumpf an der kalifornischen Küste beschränkt. 2000 Meilen von den Carpinteria-Salzsümpfen entfernt tauchte die Umweltforscherin Greta Aeby an den hawaianischen Korallenriffen. Korallen sind eigentlich Kolonien von Tieren – ein jedes ein weicher Polyp, der in einem harten Kalkgerüst sitzt. Ein Polyp kann ins Meerwasser hinauslangen, um Nahrung zu filtern oder um zu laichen; danach zieht er sich wieder in seine sichere Rüstung zurück. Ein im Meer lebender Egel, Podocotyloides stenometra, beginnt sein Leben in Muscheln, die rings um das Riff leben. Für das nächste Stadium in seinem Entwicklungszyklus dringt er in einen Korallenpolypen ein. Von dort muss er in den Darm des Schmetterlingsfischs gelangen, der an den Korallen weidet. Die Schmetterlingsfische müssen einige Mühe aufwenden, um das bisschen Fleisch von 146
den Polypen abzuknabbern, das über ihr unscheinbares graubraunes Außenskelett hinausragt. Ein Parasit kann Korallen nicht wie Kärpflinge tanzen lassen, um den nächsten Wirt auf sie aufmerksam zu machen. Aber Aeby hat festgestellt, dass Podocotyloides bei den Polypen Veränderungen hervorruft, die genauso effektiv sind. Wenn der Egel den Polypen infiziert hat, schwillt dieser und ändert seine normale braune Farbe in ein helles Rosa. Gleichzeitig bildet er aus Kalziumkarbonat ein dorniges Netz, das ihm die Möglichkeit nimmt, sich zurückzuziehen. Die Folge ist, dass der geschwollene, leuchtend helle Polyp draußen baumelt und für einen vorüberkommenden Schmetterlingsfisch leicht zu pflücken ist. Als Aeby Schmetterlingsfische in einem Becken mit gesunden und infizierten Korallen beobachtete, waren 80 Prozent der Fisch-Bisse auf die kranken Korallen gerichtet. In einer halben Stunde kann ein einziger Fisch 340 Egel schlucken. Aber Aeby entdeckte auch, dass sich die Gemeinschaften in ihrem Ökosystem von denen, die Lafferty in Salzsümpfen entdeckt hatte, unterschieden. Ein Kärpfling, der einen Egel zu einem Vogel bringt, stirbt bei diesem Vorgang. Korallen jedoch bestehen aus Kolonien von Klonen, und wenn ein einzelner Polyp, der mit einem Egel infiziert ist, stirbt, wird er durch einen neuen gesunden Polypen ersetzt. Ein infizierter Polyp kann nicht fressen und sich nicht vermehren; wenn also einem Egel erlaubt würde, innen am Polypen zu nagen, wäre das für die Kolonie wie ein Aderlass, der ihr Wachstum verlangsamen würde. Stutzt ein Schmetterlingsfisch die infizierte Koralle, kann sie genauso gut funktionieren wie eine gesunde. Es ist für die Koralle von Vorteil, ihre kranken Polypen loszuwerden, was bedeuten könnte, dass die Koralle selbst zu der rosa Farbe oder den Dornen beiträgt, damit der Schmetterlingsfisch den Polypen leichter findet. Lafferty entdeckte einen Fall, bei dem ein Parasit und sein endlicher Vogelwirt Verbündete sind; Aeby hatte hier einen Fall, bei dem der Zwischenwirt und der Parasit zusammenarbeiten. Bei der Entdeckung, wie Parasiten in Ökosystemen wirken, hat man ein bisschen das Gefühl, als würde man Zeuge eines Bankraubs; man erschrickt, und dann sieht man auf der anderen Straßenseite eine Filmcrew mit Kameras und Mikrofongalgen. Vögel 147
werden zu ihrem Futterplatz geführt und Fische suchen sich ihre Korallenpolypen aus dank der bunten, von Egeln initiierten Reklame. Solche Wirkungsweisen aufzudecken ist harte Arbeit und nur einige wenige Beispiele sind bis jetzt dokumentiert. Aber sie reichen aus für die Vermutung, dass Parasiten einige der in Ehrwürdigkeit ergrauten Begriffe der Ökologie fragwürdig machen können. Nach unserer bisherigen Auffassung dienen Raubtiere dazu, eine Herde von Beutetieren gesund zu erhalten, indem sie die schwächsten töten. Aber das trifft nicht zu auf das, was in Laffertys Salzsumpf geschieht, und nicht einmal auf solche Raubtierund-Beute-Ikonen wie Wolf und Elch. Wölfe sind die Endwirte für einen der kleinsten Bandwürmer, den Echinococcus granulosus. Dieser Bandwurm hat Glück, wenn er sechs Zentimeter lang wird. Er fügt seinem Endwirt keinen großen Schaden zu, aber seine Eier können ungemein bösartig sein. Sie werden von Pflanzenfressern wie Elchen aufgenommen, in denen sie sich langsam zu Zysten verwandeln. Eine solche Zyste kann bis zu 30 Individuen beherbergen. Wenn kein Knochen im Weg ist, wachsen die Zysten immer weiter. Geraten die Eier zufällig in Menschen, werden sie mitunter so groß, dass sie in einigen Fällen bis zu 14 Liter Flüssigkeit und Millionen junger Bandwürmer enthalten. Am liebsten bildet dieser Bandwurm seine Zyste in der Lunge. Ein Elch kann mehrere dieser Zysten in der Lunge haben, die seine Bronchien und Blutgefäße zerreißen. Folglich wird ein Wolfsrudel, das eine Herde Elche angreift, eher einen langsamen, keuchenden Elch als Beute wählen. Es ist sogar möglich, dass diese Elchbandwürmer die gleiche Art Duft bewirken können, wie ihn die Rattenbandwürmer benützen, um Mehlkäfer anzulocken. Statt den Geruch im Kot zu verpacken, könnten die Elchbandwürmer ihr Aroma mit jedem Atemzug ihres Wirts verbreiten. Das Ergebnis jedenfalls ist, dass der Bandwurm den Wolf zum Elch führt, sodass er in den Wolf gelangen kann. Das Lichten der Herde durch Raubtiere ist eine Illusion; es ist nicht ihr Verdienst, sondern ein Nebeneffekt des Bandwurms, der seinen Weg geht. Als ich zu Lafferty fuhr, übernachtete ich unterwegs in einem Hotel in Riverside, California. Das Hotel war früher eine spanische Mission, und nachdem ich ausgepackt hatte, sah ich mir die alte 148
Anlage an. Ich ging durch versteckte, von Ranken und Palmen umgebene Gänge und überquerte den stillen Friedhof. Zurück in meinem Zimmer fühlte ich mich sehr allein. Ich schaltete den Fernseher ein und sah mir eine Folge von »Akte X« an, die gerade lief. Anscheinend war ein FBI-Mann plötzlich schwermütig geworden und beantwortete keine Telefonanrufe mehr. Als ihn ein anderer Agent aufsuchte und zur Rede stellte, warf ihn der finstere Typ auf den Boden und näherte sich seinem Gesicht mit geöffnetem Mund. Mit wundervoll knarrenden und schurrenden Geräuschen kroch ein skorpionartiges Wesen aus seinem Hals und in den Mund des anderen Agenten. Danach fühlte ich mich nicht mehr so allein. Auch ein Drehbuchautor hatte sich mit Parasiten beschäftigt. Dabei fiel mir ein, dass Parasiten die Grundlage für viele Science-fiction-Romane, Kino- und Fernsehfilme lieferten. Und auffallenderweise waren diese Parasiten gefährlich, weil sie ihre Wirte wie in der Wirklichkeit manipulieren konnten. Als ich wieder zu Hause war, begann ich, mir Videos auszuleihen. Freunde nannten mir weitere Filme und Bücher, die ich anschauen beziehungsweise lesen sollte. Es wurde ein gruseliger Marathon. Das älteste, von solchen Parasiten handelnde Buch, das ich finden konnte, war der 1955 erschienene Roman »Puppenspieler« von Robert Heinlein. Ein Raumschiff voller Aliens begibt sich vom Saturnmond Titan auf die Reise und landet in der Nähe von Kansas City. Aber diese Aliens sind nicht die Standardausgabe der haarlosen Zweifüßer aus den fünfziger Jahren, sondern pulsierende quallenartige Lebewesen, die sich an das Rückgrat der Menschen heften. Verborgen unter der Kleidung ihrer Wirte zapfen sie das Gehirn an und zwingen die Menschen, bei der weltweiten Verbreitung der Parasiten mitzuhelfen. Die Art, wie die Parasiten bekämpft werden, ist etwas lächerlich: Die Regierung zwingt alle Menschen, praktisch nackt herumzulaufen, um sicherzustellen, dass sie keinen Alien tragen. Die Menschheit ist gerettet, als die Armee schließlich einen Virus findet, der die Parasiten tötet, und das Buch endet damit, dass eine Raumfahrzeugflotte von der Erde zum Saturnmond reist, um die Parasiten ein für alle Mal auszurotten. Es ist ein merkwürdiges Buch – das einzige, das bei all meiner Lektüre mit dem Schlachtruf »Tod und Zerstörung!« endet. 149
»Puppenspieler« wurde 1994 ziemlich mittelmäßig verfilmt, aber sein wesentlicher Inhalt – dass Menschen riesige Parasiten beherbergen – wurde zu einer ständigen Hollywood-Institution. Parasiten sind wie in der griechischen Komödie ein Teil unserer Literatur. Jeder Blockbuster kann seinen Plot auf Parasiten aufbauen, ohne dass man befürchten muss, die Geschichte könnte nur Eingeweihten verständlich sein. Einer der erfolgreichsten Kinofilme von 1998, »The Faculty«, spielt an einer Highschool, an der sich Parasiten von einem anderen Planeten Lehrer und Schüler körperlich und seelisch zu eigen machen. Den egelähnlichen Dingern wachsen Greifarme und Ranken und sie ziehen sich durch Mund oder Ohren in ihre neuen Wirte. Diese – völlig erschöpfte Lehrer und schmollende, gewalttätige Jugendliche – werden zu aufrechten Bürgern mit glasigen Augen, die versuchen, den Parasiten auf neue Wirte zu übertragen. Ein paar Verlierertypen – Drogendealer, Pausenclowns und Aussteiger – bleibt es überlassen, die Welt vor der Parasiteninvasion zu retten. Ihren ersten großen Auftritt im Kino hatten Parasiten schon 1979 in dem Film »Alien«. Ein Raumtransporter, der Erz befördert, legt auf einem unbelebten Planeten einen Zwischenstopp ein, um einen Unfall zu untersuchen. Die Mannschaft entdeckt ein fremdes Schiff, das grausam zerstört wurde, und ganz in der Nähe stoßen sie auf ein Nest mit Eiern. Ein Crewmitglied, ein Mann namens Kane, sieht sich eines der Eier genauer an. Plötzlich bricht ein riesiges, krebsähnliches Ding aus dem Ei hervor, klammert sich an sein Gesicht und schlingt einen Schwanz um seinen Hals. Die Gefährten bringen Kane lebend, aber komatös, in ihr Schiff. Als der Schiffsarzt versucht, Kane das Ding abzunehmen, schlingt es sich noch enger um dessen Hals. Am nächsten Tag ist es verschwunden, und mit Kane scheint alles in Ordnung zu sein. Er steht auf und isst gierig, was anscheinend ganz normal ist. Aber natürlich verschwindet ein Filmungeheuer nicht einfach so. Dieses hier hat Kanes Eingeweide gefressen und es dauert nicht lange, bis Kane sich plötzlich an den Bauch fasst und schreiend krümmt. Ein kleiner Alien mit einem höckerartigen Kopf durchbohrt seine Haut und springt heraus. Dieser Alien ist für die Menschen, was die parasitische Wespe für die Raupe ist. »Alien« hat Parasiten vielleicht zu einem sicheren Erfolgsrezept 150
in Hollywood gemacht, aber ein Großteil der nötigen Vorarbeit wurde vier Jahre zuvor mit dem wenig gezeigten Low-BudgetFilm »Shivers« geleistet. Der Regisseur war David Cronenberg. Der Film spielt auf Starlight Island, in einem nagelneuen Hochhaus auf einer Insel außerhalb von Montreal. »Genießen Sie Ihr Leben in Ruhe und Behaglichkeit«, sagt eine beruhigende OffStimme in einer Werbung für das Gebäude. Aber Ruhe und Behaglichkeit werden von einem künstlichen Parasiten gestört. Der Parasit ist das Werk eines Dr. Hobbs. Ursprünglich wollte Dr. Hobbs Parasiten schaffen, die eine Rolle als Organtransplantate spielen sollten. Der Parasit konnte an den Kreislauf des Menschen angeschlossen werden und zum Beispiel wie eine Niere Blut reinigen, wobei er für sich nur ein wenig Blut abzapfte, um selbst leben zu können. Aber Dr. Hobbs verfolgt auch einen heimlichen Plan: Er findet, dass der Mensch ein Tier ist, das zu viel denkt, und möchte die Welt in eine einzige riesige Orgie verwandeln. Zu diesem Zweck konstruiert er ein Lebewesen, das eine Kombination aus Aphrodisiakum und Geschlechtskrankheit ist – einen Parasiten, der seinen Wirt sexuell unersättlich macht und beim Geschlechtsverkehr übertragen wird. Dr. Hobbs implantiert den Parasiten einer jungen Frau, mit der er eine Affaire hat und die auf Starlight Island wohnt. Sie schläft mit einigen Männern in dem Hochhaus und überträgt den Parasiten – einen wurstförmigen Wurm von der Größe eines Kinderfußes, der in den Eingeweiden der Menschen lebt und während eines Kusses von einem Mund in den anderen kriecht. Er verwandelt die Menschen zu Sexualmonstern, die in Wohnungen, Waschküchen und Aufzügen übereinander herfallen. Es kommt zu Vergewaltigungen, Inzest und allen möglichen anderen Scheußlichkeiten. Der für Starlight Island zuständige Arzt verbringt die meiste Zeit des Films mit dem Versuch, die Verbreitung des Parasiten zu stoppen. Er muss einen Mann erschießen, der seine Praxishilfe (und Freundin) überfällt. Die beiden fliehen in den Keller. Als sie dort in einem Versteck kauern, erzählt die Arzthelferin, sie habe in der Nacht zuvor geträumt, dass sie mit einem alten Mann geschlafen habe. Er habe ihr erklärt, alles sei erotisch und sexuell; »dass Krankheit nichts anderes ist als die Liebe zweier fremder Lebewesen zueinander«. Daraufhin versucht sie, den Arzt zu küssen und 151
hat schon den sprungbereit gekrümmten Parasiten im Mund. Der Arzt schlägt sie bewusstlos und versucht, aus dem Haus zu fliehen, aber Scharen von infizierten Wirten kreisen ihn ein und treiben ihn in den Swimmingpool. Seine Helferin und Freundin ist auch dort und gibt ihm schließlich den fatalen Kuß. Später in der Nacht verlassen alle Bewohner in ihren Autos die Insel, um den Parasiten und sein Chaos in der Stadt zu verbreiten. Als ich diese Filme sah, staunte ich, wie einfach es war, die biologische Wirklichkeit in einen Horrorfilm umzusetzen. Das Wesen in »Alien« ist für den Insektenforscher, der sich mit parasitischen Wespen befasst, keine Überraschung. Heinlein wusste vielleicht nicht, wie Parasiten das Verhalten ihrer Wirte steuern können, aber das Wesentliche, nämlich dass sie die Kontrolle übernehmen können, hatte er begriffen. Es mag einem lächerlich vorkommen, dass sich die Parasiten in »Shivers« verbreiten, indem sie die Menschen zum Geschlechtsverkehr animieren, aber es ist nicht lächerlicher als das, was sie in der Wirklichkeit tun. Der bereits erwähnte Pilz, der Fliegen infiziert und sie zwingt, abends an Grashalmen nach oben zu kriechen, wendet tatsächlich noch einen zweiten Trick an, um sich zu verbreiten: Er macht den Leichnam seines Wirts zu einem sexuellen Magneten. Etwas an der Fliege, das vom Pilz erzeugt wird, macht sie unwiderstehlich für nicht infizierte männliche Fliegen. Sie versuchen, sich mit der Fliegenleiche zu paaren, und tun dies lieber mit ihr als mit lebenden Fliegen. Während sie den Leichnam betasten, werden sie von den Sporen bedeckt. Wenn sie sterben, werden auch sie unwiderstehlich. Wann wird jemand ihre Geschichte verfilmen? Selbstverständlich sind die Hollywood-Parasiten mehr als nur Parasiten. Cronenberg benutzt sie in »Shivers«, um die unter der kühlen Glätte des modernen Lebens verborgene sexuelle Spannung aufzudecken. In »The Faculty« wird mit den Parasiten die verdummende Konformität an den Schulen angeprangert, gegen die nur Außenseiter etwas tun können. Und in dem Science-Fiction »Puppenspieler«, der in der McCarthy-Ära geschrieben wurde – also in der Zeit, als die Kommunistenjagd in den USA einer Hexenjagd ähnelte – symbolisieren die Parasiten den Kommunismus. Sie verstecken sich in scheinbar ganz normalen Menschen, breiten sich still über die gesamten Vereinigten Staaten aus und müssen 152
mit egal welchen Mitteln vernichtet werden. An einer Stelle sagt der Erzähler: »Ich fragte mich, warum die Titaner (der Name für die Aliens) nicht zuerst Russland angegriffen haben. Der Stalinismus schien wie geschaffen für sie. Aber vielleicht hatten sie das ja getan. Und wenn ich es mir recht überlege – was wäre dann anders gewesen? Seit drei Generationen wurde der Verstand der Menschen hinter dem Eisernen Vorhang versklavt und von Parasiten beherrscht.« Alle diese Bücher und Filme haben eines gemeinsam: Sie nutzen geschickt eine allgemeine, tief sitzende Angst vor Parasiten. Diese Gruseligkeit ist neu und deshalb interessant. Es gab eine Zeit, in der Parasiten verächtlich behandelt wurden – sie standen für die unerwünschten, schwachen Elemente, die einer fortschrittlichen Gesellschaft hinderlich im Weg standen. Jetzt sind aus den schwachen die starken Parasiten geworden, und Angst trat an die Stelle von Verachtung. In der Psychiatrie kennt man die wahnhafte Parasitose – die Angst, von Parasiten angefallen zu werden. Die alten Parasitenmetaphern, die Leute wie Hitler und Drummond benutzten, waren biologisch bemerkenswert exakt; und nach Filmen wie »Alien« und »The Faculty« zu urteilen, gilt das Gleiche für die neuen. Es ist nicht nur die Angst, getötet zu werden; es ist die Angst, innerlich von etwas beherrscht zu werden, das nicht wir sind, benutzt zu werden für die Zwecke anderer. Es ist die Angst, ein von einem Bandwurm gelenkter Mehlkäfer zu werden. Dieser echte Horror vor Parasiten hat seine Wurzeln in der heutigen Sicht unseres Verhältnisses zur natürlichen Welt. Vor dem 19. Jahrhundert unterschied sich im westlichen Denken der Mensch strikt vom Rest der Welt. Er war von Gott in der ersten Woche der Genesis erschaffen und mit einer göttlichen Seele betraut worden. Die Aufrechterhaltung dieser göttlichen Herkunft wurde problematisch, als die Wissenschaftler unseren Körperbau mit denen von Menschenaffen verglichen und nur ziemlich geringfügige Unterschiede feststellten. Und Darwin zeigte, warum das so ist: Menschen und Affen sind verwandt aufgrund der gemeinsamen Abstammung, ebenso wie alles Leben auf der Erde. Im 20. Jahrhundert wurde diese Erkenntnis durch die Erforschung der Zellen bestätigt. Unsere DNS unterscheidet sich nur um eine Winzigkeit von der eines Schimpansen. Und wir haben ein Gehirn, das 153
wie beim Schimpansen, der Schildkröte oder dem Aal aus knisternden Neuronen und fließenden Neurotransmittern besteht. Diese Entdeckungen können uns in einer Hinsicht etwas beruhigen. Wir gehören auf diesen Planeten ebenso wie die Eiche und das Korallenriff; und wir könnten lernen, mit dem Rest der Familie des Lebens besser auszukommen. Sieht man diese Entdeckungen unter einem anderen Blickwinkel, sind sie erschreckend: Kopernikus nahm die Erde aus dem Mittelpunkt des Universums heraus und wir mussten die Tatsache akzeptieren, auf einem feuchten Körnchen in einer überwältigenden Leere zu wohnen. Biologen wie Darwin taten etwas Ähnliches, als sie den Menschen ihre privilegierte Stellung in der lebenden Welt nahmen. Trotzdem gehen wir noch immer durchs Leben, als wären wir über die anderen Tiere erhaben. Dabei wissen wir, dass auch wir lediglich eine Ansammlung von zusammenwirkenden Zellen sind, die nicht von einem Engel, aber von chemischen Signalen gesteuert werden. Wenn ein Organismus diese Signale beherrschen kann – ein Organismus wie ein Parasit –, kann er uns beherrschen. Parasiten sehen uns ganz kühl als Nahrung oder Transportmittel. Wenn ein Alien aus der Brust eines Filmschauspielers hervorbricht, durchbricht er unsere Anmaßung, mehr zu sein als großartige Lebewesen. Es ist die Natur, die hervorbricht – und sie jagt uns Angst ein.
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Kapitel 5 Der große Schritt nach innen Woher, glaubst du, kommen Könige und Parasiten? Percy Bysshe Shelley, »Queen Mab«
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n der University of Pennsylvania gibt es Milliarden Jahre alte Geheimnisse, aber sie sind gut versteckt vor den Augen der Welt im Labor des Biologen David Roos. Das Sonnenlicht eines seidigen Philadelphia-Himmels fällt durch hohe Fenster in das Labor, wo Roos’ Studenten Glasfläschchen mit kirschroten Flüssigkeiten unter Mikroskope legen, Daten in Computer eingeben, Pipetten in Reagenzgläser tunken und in Bruträumen, Kühlräumen, Warmräumen arbeiten. Über ihnen stehen Kletterpflanzen und Aloen auf Blumenborden in der Sonne. Die Pflanzen nehmen das Sommerlicht auf, und jedes Photon fällt auf die Oberfläche eines mikroskopisch kleinen, kugeligen Einschlusses in den Pflanzenzellen, der Chloroplast genannt wird. Ein Chloroplast ist im wesentlichen ein kleines Solarkraftwerk. Er benutzt die Energie des Lichts, um aus Rohstoffen wie Kohlendioxid und Wasser neue Moleküle herzustellen. Die neuen Moleküle werden aus den Chloroplasten hinausgeschoben, und die Pflanzen bilden daraus neue Wurzeln oder schicken neue Fühler an dem Bord entlang, auf dem sie stehen. Roos’ Studenten arbeiten hier an der Entdeckung der verborgenen Biochemie eines Parasiten und veröffentlichen wissenschaftliche Arbeiten mit einem Eifer, als würde die Sonne auch in ihnen eine Art intellektueller Photosynthese anregen. Zu einer solchen Zeit, an einem solchen Ort – wer hat da Zeit, über Geschichte nachzudenken? David Roos leitet das Labor von einem Büro aus, das im Zentrum des Ganzen liegt. Er ist ein junger Mann mit schwarzem Wuschelkopf und einem angeschlagenen Schneidezahn. Er spricht angenehm ruhig. Seine Antworten kommen wie gedruckt, seitenweise und in Absätze unterteilt, mit Verweisen zum Thema. Er 155
braucht kaum eine Pause, um seine Gedanken zu ordnen. Als ich ihn an jenem sonnigen Tag besuchte, erzählte er mir, wie er dazu kam, den Parasiten zu studieren, den er zu tausenden in seinem eigenen Gehirn trägt: Toxoplasma gondii. An den Wänden hängen Kohlezeichnungen, die an seine Zeit als Kunststudent erinnern. Nach der Highschool war er zunächst Programmierer geworden. »Ich dachte, ich würde nie aufs College gehen, weil ich als Programmierer viel Spaß hatte und viel Geld verdiente, aber es wurde mir doch ziemlich schnell langweilig.« Als er mit dem Biologiestudium begann, wollte er über Parasiten arbeiten. »Es gibt in der Biologie keine interessantere Frage als die: ›Wie lebt ein Organismus von einem anderen und ganz besonders innerhalb einer anderen Zelle?‹ Aber als ich mich als Doktorand umsah und mit den Leuten in einigen Labors sprach, kamen mir die Systeme sehr archaisch vor.« Roos meinte damit, dass es die Parasitologen bei der Beschaffung von Haushaltsmitteln schwerer hatten als andere Biologen. Viele Wissenschaftler, die sich mit der Entwicklung von befruchteten Tiereiern beschäftigen, studieren zum Beispiel die Fruchtfliege. Wenn sie bei einer Fliege eine interessante Mutation finden, wissen sie, wie man daraus einen Stamm züchtet, in dem alle Individuen dieselbe Mutation mitbringen. Sie besitzen die nötigen Geräte, um das mutierte Gen zu isolieren, es auszuschalten oder durch eine andere Version zu ersetzen. Mit diesen Instrumenten können sie das Interaktionsgeflecht darstellen, das eine einzelne Zelle zu einem edlen Insekt werden lässt. Aber Parasitologen haben schon Mühe, Parasiten in einem Labor am Leben zu halten, und das Züchten interessanter Varianten ist häufig unmöglich. Fruchtfliegenbiologen steht eine riesige Werkzeugkiste zur Verfügung. Parasitologen sind auf einem kaputten Hammer und einer stumpfen Säge sitzen geblieben. Diese frustrierenden Zustände fand Roos wenig verlockend und so arbeitete er zunächst über Viren und später über Säugetierzellen. Seine Arbeit zahlte sich aus und er bekam einen Job an der Penn University. Doch nun wollte er sich mit einem neuen Thema beschäftigen. Er hatte gehört, dass in der Zwischenzeit andere Forscher erste Erfolge erzielt hatten, indem sie Parasiten wie Fruchtfliegen behandelten. Ein Parasit sah besonders vielverspre156
chend aus: Toxoplasma. Er war vielleicht nicht so angesehen wie sein naher Verwandter Plasmodium – der Parasit, der Malaria verursacht und so raffiniert ist, dass er eine armselig ausgestattete rote Blutzelle in wenigen Stunden zu einem gemütlichen Heim ausbauen kann – aber Toxoplasma schien auf das Leben im Labor gut anzusprechen. Vielleicht konnte der Parasit als Modell für Malaria dienen, weil viele seiner Proteine auf ähnliche Weise wirkten. »Ich dachte, möglicherweise sehr naiv, dass die Leute vielleicht auch deshalb nicht über Toxoplasma gearbeitet haben, weil es zu langweilig ist«, sagte Roos. »Auch Biologen bevorzugen Themen, die sexy sind. Aber ich dachte, wenn dieser Organismus so langweilig ist – mehr oder weniger so langweilig wie Dinge, die wir schon kennen – bräuchte man vielleicht nicht das Rad neu zu erfinden, um genetisches Werkzeug zu entwickeln.« Roos begann mit dem Bau von Geräten und seinen Erfolg fand er entnervend einfach. »Manche denken, wir haben in meinem Labor goldene Hände, aber in Wahrheit arbeiten wir mit einem unkomplizierten Organismus.« Sein Labor lernte, den Parasiten mutieren zu lassen, ein Gen gegen ein neues auszutauschen und den Parasiten deutlicher als früher zu erkennen. Innerhalb weniger Jahre konnten Roos und seine Mitarbeiter dank ihrer Ausrüstung Fragen stellen – zum Beispiel, wie Toxoplasma es anstellt, Zellen zu infizieren, oder warum Toxoplasma und Plasmodium von manchen Medikamenten getötet werden, obwohl sie gegen andere resistent sind. Im Jahr 1993 begann Roos mit der Untersuchung des Medikaments Clindamycin, das beide Parasiten tötet. Es wird jedoch nicht gegen Malaria eingesetzt, weil es, um Plasmodium zu töten, zu viel Zeit benötigt. Aber es wird gegen Toxoplasma eingesetzt, vor allem bei AIDS-Kranken, weil sie ein Medikament brauchen, das sie über Jahre hinweg ohne Nebenwirkungen nehmen können. »Das Komische an Clindamycin ist«, meinte Roos, »dass es eigentlich nicht wirken dürfte.« Clindamycin wird meistens als Antibiotikum verwendet, um Bakterien zu töten; es tut dies, indem es die am Proteinaufbau beteiligten Partikel, die Ribosomen, verklumpt. »Eukaryontische Zellen haben ganz andere Ribosomen, und das Clindamycin lässt sie in Frieden, was gut ist, weil es sonst tödlich wirken würde. Aber 157
Toxoplasma … Wissen Sie, diese Jungs sind keine Bakterien. Sie haben einen Zellkern, sie haben Mitochondrien.« Mitochondrien sind Kompartimente, kleine Abteilungen, in denen eukaryontische Zellen ihre Energie gewinnen. »Sie sind eindeutig mehr mit Ihnen und mir verwandt als mit Bakterien.« Und doch tötet Clindamycin Toxoplasma und Plasmodium. Wie es sie tötet, wusste niemand. Man wusste, dass es die regulären Ribosomen in den Parasiten nicht angreift. Aber Eukaryonten haben noch ein paar zusätzliche Ribosomen in ihren Mitochondrien, die sich von den übrigen unterscheiden. Mitochondrien besitzen eine eigene DNS, mit der sie unter anderem auch ihre eigenen Ribosomen bauen. Doch die Forscher stellten fest, dass das Clindamycin auch die Ribosomen der Mitochondrien nicht beschädigt. Roos erinnerte sich, dass Toxoplasma noch einen dritten Satz DNS hat. In den siebziger Jahren hatten Wissenschaftler einen Ring aus Genen entdeckt, der nicht zum Zellkern und nicht zu den Mitochondrien gehörte. Dieses Waisenkind enthielt das Rezept für ein drittes Ribosom. Vielleicht, dachte Roos, greift das Clindamycin dieses dritte Ribosom an und tötet dadurch die Parasiten. Er und seine Studenten zerstörten den DNS-Ring und entdeckten, dass Toxoplasma ohne ihn tatsächlich nicht überleben kann. Aber was genau war dieser Ring aus Genen? Roos und seine Studenten entdeckten, dass er in einem Gebilde saß, das dicht am Zellkern des Parasiten schwamm. Frühere Wissenschaftler hatten viele Namen für diese Struktur – Kugelkörper, Golgi-Adjunktion, Multimembrankörper –, sodass man hätte meinen können, sie wüssten, wovon sie redeten. Aber sie wussten es nicht. Roos wusste aber nun, dass diese Struktur diejenigen Gene beherbergt, die Toxoplasma für Clindamycin verletzlich machen. Aber wozu das Ribosom dient, das die Gene bildeten, hatte er immer noch nicht herausgefunden. Er verglich diese Gene mit anderen Genen in Toxoplasma und in anderen Mikroben. Die größte Ähnlichkeit fand er nicht unter den Genen im Kern oder in den Mitochondrien von Toxoplasma, sondern in den Chloroplasten, jenen kleinen Sonnenkraftwerken, die die Pflanzen auf den Blumenbänken des Labors wachsen ließen. »Sie sehen in jeder Hinsicht wie eine Grünpflanze aus …«, sagte Roos. Er hatte gehofft herauszufinden, warum Toxoplasma und Plas158
modium wie Bakterien sterben, obwohl sie wie wir leben. Jetzt hatte er nur ein Rätsel gegen ein anderes eingetauscht: Wie kann Malaria ein Vetter des Efeus sein? *** Für Lankester und seine Biologengeneration des 19. Jahrhunderts waren Parasiten durch Degeneration zu dem geworden, was sie jetzt sind. Ihre Evolutionen waren Geschichten von Verlierern, von der Aufgabe aller Anpassungen, die ein aktives, freies Leben ermöglichten, von einem Leben mit vorgekauten Mahlzeiten. Diese Definition von Entartung hat sich bis ins 20. Jahrhundert gehalten, und noch jahrzehntelang herrschte unter Evolutionsbiologen die Meinung, dass es sich im Vergleich zu den Sagas vom Ursprung des Fliegens oder von der Entwicklung des Gehirns nicht lohne, über die Evolutionsgeschichte von Parasiten nachzudenken. Doch die Fähigkeiten von Trichinella, sich von ihrem Wirt in dessen Muskeln ein Kinderzimmer bauen zu lassen, von Sacculina, eine männliche Krabbe zu ihrer Mutter umzufunktionieren, oder von Blutegeln, in der Blutbahn unsichtbar zu werden, sind allesamt von der Evolution bewirkte Anpassungen. Für viele Parasitologen steht die Evolution nicht im Vordergrund ihrer Arbeit; sie studieren Parasiten, wie sie heute leben. Aber die Evolution nimmt darauf keine Rücksicht und drängt sich auch in ihre Arbeit. Ähnlich erging es David Roos. Der einzige Weg, über den er verstehen kann, was Toxoplasma heute ist, und wie es kommt, dass Malaria eine grüne Krankheit ist, führt Millionen von Jahren in die Vergangenheit. Diese Stammesgeschichten sind genauso faszinierend wie die der frei lebenden Tiere. Sie verweben sich mit der Evolution des übrigen Lebens, weil sie vier Milliarden Jahre zurückreichen. Die Geschichte der Parasiten ist zu einem großen Teil die Geschichte des Lebens selbst. Es ist nicht leicht, diese Geschichte zu rekonstruieren. Parasiten sind meistens matschig oder knackig – beides Beschaffenheiten, die keine guten Fossilienfunde erwarten lassen. Alle paar Millionen Jahre vielleicht tappt eine parasitische Wespe in einen Harz159
klecks oder ein von einem parasitischen Rankenfüßer feminisiertes Krabbenmännchen hinterlässt sein geschlechtsverändertes Fossil, aber zum größten Teil verschwinden Parasiten im verwesenden Gewebe ihrer Wirte. Dennoch ist es nicht das Monopol von Steinen, Hinweise auf die Geschichte des Lebens zu geben. Die Evolution hat einen großen Baum geschaffen, und die heutigen Biologen können seine belaubten Enden untersuchen. Indem sie die biologischen Merkmale vergleichen, die sie dort finden, können sie sich über die Astgabeln zum Fuß des Baumes hinunterarbeiten.
DER ALLEN GEMEINSAME VORFAHRE Der Baum des Lebens zeigt die evolutionäre Entwicklungsphase einiger Parasiten (adaptiert mit Erlaubnis von Pace, 1998)
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Die Biologen zeichnen die Äste dieses Baums, indem sie feststellen, welche Arten am engsten miteinander verwandt sind. Das Erbgut, das Arten als nahe Verwandte ausweist, bedeutet, dass sie sich von einem gemeinsamen Vorfahren vor kürzerer Zeit abgezweigt haben als von anderen Arten. Um diese Verwandtschaft zu erkennen, untersuchen die Biologen die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Organismen und bestimmen, was davon das Resultat einer gemeinsamen Herkunft oder ein Trugbild der Evolution ist. Ente, Adler und Fledermaus haben Flügel, aber Ente und Adler sind wesentlich näher verwandt. Der Beweis dafür sind ihre Flügel: Bei Vögeln bestehen sie aus Federn, die an einer verschmolzenen Hand hängen; bei der Fledermaus spannen sich Häute über die langen Finger. Die Tatsache, dass Fledermäuse behaart sind, lebende Junge gebären und sie mit Milch säugen, beweist zusätzlich, dass sie trotz ihrer Flügel enger mit uns und anderen Säugetieren verwandt sind als mit einem Vogel. Mehr können Fleisch und Knochen jedoch nicht sagen. Sie geben keine definitive Auskunft, ob Fledermäuse nähere Vettern von Primaten sind oder zum Beispiel von Spitzhörnchen. Und bei Organismen, die kein Fleisch oder keine Knochen haben, entfällt diese Möglichkeit einer Aussage sowieso. Dieses Schweigen regte die Biologen in den vergangenen 20 Jahren dazu an, an Stelle von Flügeln oder Geweihen das Eiweiß und die DNS von Organismen zu vergleichen. Sie haben gelernt, Gene zu sequentieren und sie mit Hilfe von Computern zu vergleichen. Diese Methode hat allerdings ihre Tücken, weil Gene manchmal ebenso verwirrende Bäume schaffen wie Fleisch und Knochen; aber im Großen und Ganzen hat sie es den Biologen ermöglicht, zum ersten Mal alles Leben auf einen Blick vor sich zu sehen. Der Fuß des Baumes stellt den Ursprung des Lebens dar. Viele der Organismen, welche die untersten Zweige des Baumes besetzen, leben heute im heißen Wasser, oft in der Umgebung von Thermalquellen. Das lässt die Vermutung zu, dass das Leben vielleicht an einem solchen Ort vor vier Milliarden Jahren begann. Vielleicht versammelten sich gen-ähnliche Moleküle in kleinen fettigen Kapseln oder öligen Filmen, mit denen die Ränder der Quellen überzogen waren. Irgendwann nach Millionen Jahren bildeten sich die ersten echten Organismen, irgendetwas Bakterien161
ähnliches, in dessen Innerem Gene lose umherschwammen. Aus diesen bakteriellen Anfängen begann sich das Leben in separate Stämme zu verzweigen. Die Urtiere führten weiterhin ein im wesentlichen bakterienähnliches Leben, während ein dritter Zweig – die Eukaryonten mit ihrer zu einem Kern geballten DNS und ihrer aus den Mitochondrien kommenden Energie – eine völlig andere Form annahm. Parasiten sitzen entsprechend ihrer traditionellen Definition (Kreaturen, die Malaria und Schlafkrankheit verursachen, sich in Därmen und Lebern mästen und aus Raupen hervorbrechen) alle auf Zweigen des Eukaryontenastes. Sie haben ein Leben im Meer oder an Land aufgegeben für ein Leben in anderen Eukaryonten. Unter ihnen befinden sich Organismen, die riesengroße evolutionäre Unterschiede von uns trennen. Trypanosomen und Giardia gingen bereits zu Beginn des Zeitalters der Eukaryonten vor über zwei Milliarden Jahren ihre eigenen Wege. Es gibt auch Parasiten, die wesentlich näher mit uns verwandt sind, zum Beispiel Pilze und Pflanzen. Parasitische Tiere wie Blutegel und Wespen sind praktisch unsere Vettern und Basen. Parasitismus ist über das ganze Eukaryontenreich verstreut – eine Lebensweise, welche die einzelnen Gattungen selbstständig angenommen haben und über viele Hundert Millionen Jahre ungeheuer profitabel fanden. Doch dieser Baum macht auch deutlich, wie oberflächlich die herkömmliche Definition von Parasit ist. Warum sollte der Name auf Organismen, die auf einem der drei großen Zweige des Lebens vorkommen, beschränkt sein? Die Biologen des 19. Jahrhunderts haben zu Recht infektiöse Bakterien Parasiten genannt. Bestimmte Bakterien wie Salmonella und Eschericia coli gaben ebenso wie manche Eukaryonten das selbstständige Leben auf, während andere Bakterien ihre Unabhängigkeit in Meeren, Sümpfen, Wüsten und sogar unter dem antarktischen Eis beibehielten. Der Unterschied liegt nur in der Genealogie, nicht in der Lebensweise. Und selbst diese Definition von Parasit ist zu begrenzt. Nirgends auf diesem Baum findet man zum Beispiel ein Grippevirus – weil Viren genau genommen keine Lebewesen sind. Sie haben keinen inneren Stoffwechsel und können sich nicht selbst vermehren. Sie sind nichts anderes als Proteinhülsen, in denen sie die Ausrüstung tragen, die sie brauchen, um in Zellen einzudringen 162
und sich dann mit Hilfe des Mechanismus der Zelle zu kopieren. Trotzdem haben Viren die gleichen parasitischen Merkmale, die man bei Lebewesen wie Blutegeln findet: Sie leben auf Kosten ihres Wirts, benützen die gleichen Tricks, um dem Immunsystem zu entkommen, und für eine bessere Ausbreitung können sie manchmal sogar das Verhalten ihrer Wirte verändern. In den siebziger Jahren ließ der englische Biologe Richard Dawkins die Viren etwas weniger widersprüchlich erscheinen. Viren sind vielleicht nicht im herkömmlichen Sinn belebt, aber sie erfüllen die wichtigste Aufgabe des Lebens: Sie vermehren ihre Gene. Dawkins argumentierte, dass Tiere und Mikroben existierten, um ein und dasselbe zu tun; und dass wir uns ihre Körper, ihren Stoffwechsel und ihr Verhalten als Transportmittel vorstellen sollten, die von den Genen gebaut würden, damit sie sich vermehren könnten. In diesem Sinn unterscheide sich ein menschliches Gehirn gar nicht so sehr von der Proteinhülle, die einem Virus erlaube, in eine Zelle zu schlüpfen. Diese Sicht des Lebens ist umstritten und viele Biologen glauben, dass sie die Bedeutung der Komplexität des Lebens bagatellisiert. Aber sie trifft zu, wenn es um Parasitismus geht. Für Dawkins ist Parasitismus nicht das, was ein besonderer Floh oder Kratzerwurm tut, sondern jedes Arrangement, bei dem ein DNS-Satz mit Hilfe – oder auf Kosten – eines anderen DNS-Satzes reproduziert wird. Diese DNS kann sogar ein Teil unserer eigenen Gene sein. Große Mengen menschlichen Genmaterials tragen nicht zum Wohl des Körpers bei, in dem sie sich befindet. Diese Gene bilden weder Haare noch Hämoglobin und helfen nicht einmal anderen Genen bei deren Aufgaben. Sie bestehen fast nur aus der Information, wie sie sich schneller als das übrige Genom reproduzieren können. Einige Viren erzeugen Enzyme, die sie aus der DNS herauslösen und an einer anderen Stelle in die menschlichen Gene einsetzen. Die Lücke, die sie hinterlassen, wird bald von Proteinen besetzt, die auf der Suche nach beschädigter DNS sind. Da menschliche Gene paarweise auftreten, können diese Proteine das unbeschädigte Gegenstück als Vorlage verwenden und das verschwundene Stück nachbauen. Am Ende gibt es zwei Kopien der DNS. Diese Stückchen wandernden genetischen Materials werden auch egoistische DNS oder genetische Parasiten genannt. Sie be163
nutzen ihren Wirt – ihre Mit-Gene – um sich zu vermehren. Genetische Parasiten können wie die konventionelleren ihren Wirt schädigen, weil sie sich an beliebigen Orten im Genom einfügen und dadurch Krankheiten verursachen. Genetische Parasiten vermehren sich schneller als ihre Mit-Gene und haben so das Genom vieler Wirte, auch das von Menschen, überschwemmt. Eltern geben ihre genetischen Parasiten an ihre Kinder weiter und deshalb ist es möglich, egoistische DNS in Familien zu ordnen. Genetische Parasiten haben ihre eigenen Dynastien, die aufsteigen und fallen. Wenn ein Gründer zum ersten Mal in einer neuen Wirts-DNS auftaucht, beginnt er, sich explosionsartig zu vermehren und sein Wirtsgen mit Parasiten zu füllen. (Ich spreche hier von einer Explosion, die eine evolutionäre Zeit, vielleicht tausende von Jahren, in Anspruch nimmt). Genetische Parasiten sind schlampige Duplikatoren und fertigen häufig defekte Kopien von sich an. Diese Pechvögel können sich nicht reproduzieren und verstopfen einfach ihre Wirts-DNS. Genetische Parasiten riskieren deshalb immer, dass sie sich selbst ausrotten. Dieser Sackgasse können sie mit kleinen evolutionären Erneuerungsexplosionen entkommen. Einige stehlen Gene von ihrem Wirt, die ihnen erlauben, Proteinhüllen zu bauen. Die genetischen Parasiten wandeln sich zu Viren, die aus ihrer eigenen Zelle ausbrechen und neue Arten infizieren. Wahrscheinlich werden sie von anderen Parasiten (zum Beispiel von Milben) zu ihrem neuen Wirt getragen, obwohl manche Sprünge so lang sind, dass man sich kaum vorstellen kann, wie sie zu Stande kommen konnten. Wie kommt es zum Beispiel, dass ein Süßwasserplattwurm die gleichen genetischen Parasiten hat wie ein im Meer lebendes Nesseltier und ein an Land lebender Käfer? Viren und genetische Parasiten sind heute vielleicht recht häufig, aber vor vier Milliarden Jahren könnte der Parasitismus wild grassiert haben. Ein typischer, heute lebender Organismus, sei es ein Bakterium oder ein Rotholzbaum, trägt Gene in sich, die zu starken Verbänden zusammengeschlossen sind. Sie können sich originalgetreu zu einer neuen Generation kopieren und sich gut gegen scheinbare Gene wehren. Einige Biologen vertreten die Meinung, dass die Gene allerdings zu der Zeit, als die Erde noch jung war, kaum organisiert waren und nicht sehr gut zusammenar164
beiteten. Gene bewegten sich fließend von einer Mikrobe zur nächsten, wobei sie durch eine Art globales Mikrobennetzwerk in Genome hinein- und hinausglitten. Alle Gene, die andere dazu bringen konnten, sie zu reproduzieren, wurden von der natürlichen Auswahl belohnt und verbreiteten sich. Die Genverbände organisierten sich schließlich zu separaten Organismen, tauschten ihre DNS aber immer noch so wahllos, dass ein Biologe größte Mühe gehabt hätte, sie als eine Spezies zu klassifizieren. Wahrscheinlich begann sich das Leben damals in die drei großen Äste zu teilen: Bakterien, Urtiere und Eukaryonten. Einige dieser frühen Mikroben fanden ihre Energie in den Chemikalien, die sich an Thermalquellen ablagerten. Während Jahrmillionen vergingen, erwarben einige Bakterienstämme die Fähigkeit, die Energie des Lichts einzufangen. Andere ernährten sich von ihrem mikrobiellen Kot und wieder andere entwickelten sich zu Killern, welche die bescheideneren Bakterien fraßen. Die genetischen Parasiten lebten noch immer von diesen unterschiedlichen Mikrobenarten, obwohl ihre Wirte allmählich die Oberhand gewannen. Aber während das Leben immer komplexer wurde, tauchten auch immer wieder neue Parasiten auf. Als sich echte Organismen entwickelten, wurden einige von ihnen parasitisch. Es gibt recht einleuchtende Geschichten über ihre anfängliche Entwicklung, die sich in dem einen oder anderen Fall als wahr erweisen könnten. Eine Geschichte beginnt mit mikrobiellen Räubern, die etwas schluckten, das ihre nächste Mahlzeit sein sollte. Sie öffneten eine Höhle in ihrer Membran und verschlangen die Beute; dann gingen sie daran, sie zu zerlegen, aber aus irgendeinem Grund kamen sie mit ihrer Mahlzeit nicht weiter. Die Beute saß unverdaulich im mikrobiellen Bauch des Räubers. Nun wendete sich das Blatt, denn die Beute war im Stande, sich bei dem gescheiterten Räuber Nahrung zu holen, bevor sie ausgespuckt wurde. Die zusätzliche Nahrung und der einstweilige Schutz vor erfolgreicheren Räubern halfen ihr, sich schneller zu vermehren, als das sonst möglich gewesen wäre. Die natürliche Auswahl sorgte dafür, dass die Gene, die halfen, im Räuber zu überleben, Allgemeingut wurden. Andere Gene schlossen sich ihnen an und unterstützten die Beute bei der Suche ihres Räubers und bei der Öffnung der Höhlen seiner Membran. Die Beute verbrachte mehr 165
und mehr Zeit im Räuber und gab allmählich ihr frei lebendes Dasein auf. Nun war es an den Räubern, sich gegen die Beute zu wehren, wofür sie mehr und mehr Kraft aufwenden mussten. Wenn der Versuch, die Parasiteninvasion abzuwehren, zu aufwändig wurde, fanden sich einige Wirte damit ab, ihre Parasiten als permanente Gäste zu behalten. Wenn sich der Wirt teilte, kopierte der Parasit seine eigene DNS und gab sie von Generation zu Generation weiter. Sind Parasit und Wirt auf diesem Weg Partner geworden, können sie ihre Beziehung auf verschiedene Weise gestalten. Entweder der Parasit erschwert seinem Wirt das Leben weiterhin oder er macht sich nützlich, indem er beispielsweise ein Protein absondert, das der Wirt verwenden kann. Nach vielen gemeinsamen Generationen beginnen sich die Grenzen zwischen Parasit und Wirt möglicherweise zu verwischen. Einiges von der DNS des Parasiten wird zufällig in die Wirtsgene übertragen. Der Parasit verkümmert vielleicht bis auf einige grundlegende Funktionen. Die zwei Organismen werden im Wesentlichen zu einem. Eine solche Fusion des Lebens kam Darwin nie in den Sinn. Er stellte sich das Leben als einen ständig verzweigenden Baum vor (vgl. S. 150). Aber den heutigen Biologen ist klar geworden, dass sie einige Zweige miteinander verflechten müssen. Die Wissenschaftler sequentieren mittlerweile in vielen Mikroben die gesamten Gene und können in diesen Gensätzen Anzeichen für die von den Parasiten getroffene Wahl erkennen. Unter den vollständig sequentierten Arten befindet sich auch Rickettsia prowazekii, ein Bakterium, das Typhus verursacht. Es infiziert Zellen, saugt ihre Nährstoffe auf und verbraucht ihren Sauerstoff; es vervielfacht sich wie verrückt und lässt seine Wirte aufplatzen. Seine DNS sieht der in den Mitochondrien, jenen Organellen, die jede Zelle in unserem Körper mit Energie versorgen, bemerkenswert ähnlich. Der Vorfahre von Rickettsia und Mitochondrien muss ursprünglich – vielleicht vor drei Milliarden Jahren – ein frei lebendes Bakterium gewesen sein. Einige seiner Nachfahren wurden Mitreisende der frühesten Eukaryonten. Der Zweig, der zu Rickettsia führte, entwickelte sich zur Bösartigkeit, wogegen sich die Vorfahren der Mitochondrien schließlich friedlich in ihren Wirten niederließen. Der Erwerb des Mitochondria-Parasiten war ein Glück für unsere 166
Die evolutionären Verwandtschaften von Tieren (adaptiert mit Erlaubnis von Knoll und Carroll, 1999)
Vorfahren. Photosynthetisierende Bakterien füllten allmählich die Atmosphäre mit Sauerstoff und Mitochondria ließ die Eukaryonten den Sauerstoff einatmen. Die Eukaryonten von heute sind das Produkt einer lang dauernden Fress- und Infektionsorgie. Nach der Invasion der Mitochondrien erwarben etliche Zweige bei den Eukaryonten weitere, eigene Bakterien. Diese Bakterien waren photosynthetisch; und ihre Wirte entblößten sie bis auf ihren die Sonne nutzenden Kern: den Chloroplasten. Aus diesen Eukaryonten entwickelten sich Algen und Landpflanzen, die noch mehr Sauerstoff an die Luft abgaben. Wir können Sauerstoff einatmen und Pflanzen können ihn in riesigen Mengen erzeugen – dank der Parasiten in unseren Zellen. Dieses Milliarden Jahre alte Drama erklärt, wie Malaria zu einer grünen Krankheit wurde. Irgendein urzeitlicher Eukaryont schluckte ein photosynthetisierendes Bakterium und wurde zu einer Sonnenlicht aufnehmenden Alge. Millionen Jahre später wurde 167
eine dieser Algen von einem zweiten Eukaryonten gefressen. Der neue Wirt weidete die Alge aus, warf ihren Zellkern und ihre Mitochondrien weg und behielt nur den Chloroplasten. Dieser Dieb eines Diebs war der Vorfahre von Plasmodium und Toxoplasma. Und dieser Ablauf der Ereignisse nach dem Schema der Puppe in der Puppe erklärt, warum man Malaria mit einem Antibiotikum heilen kann, das Bakterien tötet: Plasmodium trägt ein ehemaliges Bakterium in sich hat, das ein paar wichtige Aufgaben erfüllt. Es ist schwer zu sagen, was genau jener urzeitliche Parasit mit seinen neu gefundenen Chloroplasten machte. Vielleicht benutzte er sie, um wie eine Pflanze durch Photosynthese zu leben. Aber Chloroplasten stellen auch zahlreiche Verbindungen her, unter anderem Fettsäuren (die Art Moleküle, aus denen zum Beispiel Olivenöl besteht). David Roos und seine Kollegen vermuteten, dass ein Überrest eines Chloroplasten in Plasmodium und Toxoplasma diese Fettsäuren noch immer produziert und dass die Parasiten diese Fettsäuren verwenden, um sich in ihren Wirtszellen zu verhüllen. Vielleicht ist Clindamycin für Plasmodium tödlich, weil es seine umhüllende Blase zerstört. Eines ist jedoch klar: Jener Vorfahre von Plasmodium und Toxoplasma lebte nicht in Tieren. Vor einer Milliarde Jahren gab es noch keine Tiere, die von Parasiten befallen werden konnten. Damals begannen die einzelligen Lebewesen gerade erst, sich zu Kolonien und Kollektiven zu verbinden. Viele der ersten mehrzelligen Lebewesen sind mit keiner heutigen Lebensform vergleichbar. Manche sahen aus wie aufblasbare Matratzen oder wie schön geprägte Münzen aus einem alten Königreich. Erst vor ungefähr 700 Millionen Jahren entstanden die ersten Tierarten, wie wir sie heute kennen: Korallen, Quallen, Gliederfüßer. Inzwischen begannen die Algen, sich zu komplizierteren Formen zu organisieren. Pflanzen entstanden, die vor ungefähr 500 Millionen Jahren an Land wanderten, wo sie einen moosigen Teppich bildeten und sich dann zu niedrigen Gewächsen und schließlich zu Bäumen entwickelten. Etwa 50 Millionen Jahre später kamen auch Tiere aus dem Wasser heraus: Hundertfüsser, Insekten und andere Wirbellose. Die ersten schwerfälligen Wirbeltiere folgten nach weiteren 90 Millionen Jahren. Mehrzellige Organismen schufen eine verführerische neue Welt für Parasiten. Sie konzentrierten Nahrung in großen festen Kör168
pern, die über Wochen oder gar Jahre ein sicheres Obdach boten. Die Tiere der Cambrium-Meere zogen Protozoen wie Plasmodium und Bakterien, Viren und Pilze an. Und wieder einmal bildete sich eine neue Art Parasit heraus –, diesmal waren es Tiere, die in anderen Tieren leben konnten. Plattwürmer bahnten sich ihren Weg in Krebstiere, wo sie sich verschiedenartig zu Egeln, Bandwürmern und anderen Parasiten gestalteten. Es folgten Krabben, Insekten, Spinnentiere – mindestens fünfzigmal so viele andere Tierstämme zogen nach. Die Parasiten entwickelten sich in ihren Wirten schnell zu Formen, die keine Ähnlichkeit mehr mit ihren Vorfahren hatten. Verwandte der Quallen begannen, Fische zu parasitieren und verschlankten sich zu kleinen sporenähnlichen Formen, die heute die Forellen in den Flüssen Amerikas mit Drehkrankheit verseuchen. Die Wirte wurden größer und verbreiteten sich weiter – riesige Bäume, millionenstarke Ameisenvölker, 25 Meter lange Meeresreptilien wuchsen heran – und die Parasiten erfreuten sich somit eines sich ständig vergößernden Habitats. Nach dem ersten großen Erfolg gleich zu Beginn des Lebens und dem brutalen Rückschlag, als die Wirte besser organisiert wurden, brach jetzt für Parasiten ein neues goldenes Zeitalter an. Unser Stamm, die Wirbeltiere, hat sich nicht sonderlich bemüht, parasitisch zu werden. Zu den wenigen, die sich dazu entschlossen haben, gehören einige Welse in den Flüssen Südamerikas. Einer der bekanntesten ist der Candiru, ein bleistiftdünner Fisch, der Menschen angreift, die in Flüssen urinieren. Er folgt dem Uringeruch und rammt sich in die Harnröhre. Hat er sich in einem Penis oder einer Vagina festgebissen, ist es beinahe unmöglich, ihn wieder zu entfernen. Doch diese Angriffe auf Menschen dienen dem Candiru nicht zur Nahrungsbeschaffung. Er frisst gewöhnlich bei anderen Fischen, bei denen er sich unter die Kiemenklappen schiebt und aus den zarten Blutgefäßen darunter Blut saugt. Nach einigen Minuten lässt er wieder los und sieht sich nach einem neuen Wirtsfisch um. Andere Welsarten schmarotzen noch intensiver. Wenn in Südamerika Fische gefangen werden, sitzen manchmal kleine, 2,5 Zentimeter lange Welse in ihren Kiemen. Diese Fische verbringen dort den größten Teil ihres Lebens und ernähren sich vom Blut oder Schleim ihrer Wirte. 169
Niemand weiß, warum es nicht mehr Candirus auf der Welt gibt, aber möglicherweise gibt es einiges, was den Wirbeltieren ein parasitisches Leben erschwert. Sie haben im Vergleich zu den Wirbellosen einen hohen Stoffwechsel, sodass sie vielleicht in einem anderen Tier nicht genug Nahrung bekommen würden. Als Parasit muss ein Tier zahlreiche Nachkommen produzieren, weil das Erreichen des nächsten Wirts schwierig und lebenswichtig ist. Wirbeltiere benötigen viel Energie für die Aufzucht ihres Nachwuchses, sodass sie auch in diesem Punkt überfordert wären. Aber Richard Dawkins wies darauf hin, dass Parasitismus nicht unbedingt eine konventionelle Form wie beim Bandwurm annehmen muss. Stellen Sie sich ein Tier vor, dem es gelingt, einem anderen Tier die Aufzucht seiner Brut unterzujubeln. Der Trickser würde wahrscheinlich seine Gene sehr schön weitergeben, während der Ausgetrickste weniger Zeit hätte, sich um seinen Nachwuchs und den Erhalt seines genetischen Erbes zu kümmern. Es gibt in der Tat viele Arten – Wirbeltiere und Wirbellose – die genau diesen sozialen Parasitismus praktizieren. Einen der extremsten Fälle von sozialem Parasitismus unter Wirbellosen findet man in den Schweizer Alpen. Dort lebt die Ameise Tetramorium. Wenn man in ihren Nestern nach der Königin sucht, entdeckt man sie mit hoher Wahrscheinlichkeit mit ein paar bleichen, merkwürdig geformten Ameisen auf dem Rücken. Diese Ameisen sind keine besondere Kaste der Tetramorium-Ameisen, sondern eine völlig andere Spezies namens Teleutomyrmex schneideri. Teleutomyrmex verbringt den größten Teil ihres Lebens auf dem Rücken einer Tetramorium-Königin und umarmt sie mit besonders dafür geeigneten Greifbeinen. Statt diese Fremdlinge anzugreifen, erlauben ihnen die Tetramorium-Arbeiterinnen, das Futter zu fressen, das sie für ihre Königin ausspeien. Die TeleutomyrmexParasiten paaren sich im Nest ihres Wirts und die jungen Königinnen verlassen es, um eine neue Wirtskolonie zu finden. Das Geheimnis, wie sich Ameisen auf diese Weise parasitieren lassen, besteht in der Erzeugung von Geruchsillusionen. Ameisen nehmen die Welt hauptsächlich über Gerüche wahr und haben aus chemischen Schwebstoffen ein kompliziertes Vokabular entwickelt, um miteinander zu kommunizieren: um Futterwege anzulegen, kolonieweit Alarm auszulösen oder um sich als Nestgefährten 170
zu erkennen. Die Teleutomyrmex können ihre Wirte so betören, dass sie lieber für sie sorgen statt sie zu fressen. Dazu erzeugen sie Signale, die bewirken, dass ihre Wirte sie als Königinnen wahrnehmen. Der Grund, warum die Teleutomyrmex diesen Zauber beherrscht, ist wahrscheinlich der, dass sie sich aus ihrem Wirt heraus entwickelt haben und die gemeinsame Sprache nun gegen ihre Verwandten einsetzen. Aber auch viele Tiere, die keine Ameisen sind, sind soziale Parasiten von Ameisen. Manche Schmetterlinge zum Beispiel können Ameisen dazu bewegen, ihre Raupen aufzuziehen. Die Schmetterlinge legen ihre Eier auf Blumen ab. Wenn die Raupen schlüpfen, fallen sie auf die Erde, auf der die Ameisen krabbeln. Normalerweise ist eine Raupe ein gigantisches Fressen für Ameisen. Aber wenn es sich um einen sozialen Parasiten handelt, tun sie, als wäre die Raupe eine verirrte Larve aus ihrer eigenen Kolonie. Von den Düften der Raupe getäuscht, ziehen die Ameisen den Fremdling in ihr Nest, wo sie ihn füttern und putzen, als wäre er eine ihrer eigenen Larven. Manchmal ziehen die Ameisen den Parasiten sogar den eigenen Jungen vor. Die Raupe verbringt den ganzen Winter in diesem Luxus und wächst; dann spinnt sie sich in einen Kokon. Die Ameisen sorgen für sie auch während der Metamorphose. Erst, wenn der fertige Schmetterling aus dem Kokon schlüpft, fällt den Ameisen auf, dass sich ein großer Eindringling in ihrer Mitte befindet, und sie versuchen, ihn anzugreifen. Aber der Schmetterling ist fertig und fliegt auf und davon. Alle diese sozialen Parasiten tun im Wesentlichen, was jeder konventionelle Parasit tut: Sie finden die Schwachstellen in der Verteidigung ihrer Wirte und nutzen sie zu ihrem eigenen Vorteil. Es gibt Wirbeltiere, die das Gleiche machen. Der Kuckuck zum Beispiel legt seine Eier in die Nester anderer Vögel. Wenn ein junger Kuckuck im Nest eines Rohrsängers schlüpft, wirft er die Eier und die Jungen seines Wirts hinaus. Die Rohrsänger füttern den Kuckuck, selbst wenn er schon um einiges größer ist als seine Stiefeltern. Sobald der Kuckuck flügge ist, fliegt er fort, um einen Partner zu finden, und lässt die Rohrsänger kinderlos zurück. Ameisen nehmen ihre Welt hauptsächlich durch Gerüche wahr. Vögel dagegen sind mehr auf ihre Augen und Ohren angewiesen. Deshalb fälschen Kuckuck und andere parasitischen Vögel nicht 171
Gerüche, sondern Aussehen und Töne. Das Kuckucksei ahmt Form und Farbe der Eier der Wirtsspezies nach, damit der Wirt nicht den Drang verspürt, es aus dem Nest zu werfen. Wenn der Kuckuck geschlüpft ist, verleitet er die Rohrsänger, ihn zu füttern, in dem er geschickt die Signale gibt, die Rohrsängereltern veranlassen, ihre Jungen zu füttern. Wenn Rohrsänger feststellen wollen, wieviel Futter sie fangen müssen, blicken sie in ihr Nest, in dem ihre Jungen die Schnäbel aufsperren. Wenn sie viel Rosa sehen – die Innenseite der Schnäbel – besorgen sie automatisch mehr Futter. Gleichzeitig verlassen sie sich auf ein zweites Signal: das Piepsen ihrer Jungen. Wenn die Jungen noch hungrig sind und schreien, suchen die Rohrsänger mehr Futter. Ein eben erst geschlüpfter Kuckuck ist schon größer als ein ausgewachsener Rohrsänger, und während er heranwächst, wird er noch größer. Wenn der Rohrsänger in sein Nest schaut, sieht er ein einziges Kuckucksmaul; aber sein Gehirn registriert es aufgrund der großen rosa Fläche als viele kleine Rohrsängermünder. Gleichzeitig ahmt der junge Kuckuck das Piepen der jungen Rohrsänger nach, und zwar nicht das eines einzigen, sondern das Gepiepse eines ganzen Nests voll junger Rohrsänger. Auf diese Weise täuscht er seinen Wirt so, dass dieser ihn nicht nur füttert, sondern ihm auch die Würmer für viele Rohrsängerkinder bringt. Ein parasitisches Wirbeltier findet keinen Platz in einem anderen Tier, aber in den Nestern fremder Artgenossen sieht es schon viel besser aus. Das Gleiche trifft auf einen Mutterleib zu. Wenn ein befruchtetes Ei in den Uterus purzelt und sich dort einzunisten versucht, trifft es auf eine Armee von Makrophagen und anderen Immunzellen. Der neue Embryo hat nicht dieselben Proteine auf seinen Zellen wie seine Mutter, was die Immunzellen eigentlich veranlassen sollte, ihn zu töten. Der Fötus steht vor den gleichen Problemem wie ein Bandwurm oder ein Blutegel, und er weicht dem Immunsystem der Mutter auf ziemlich die gleiche Weise aus. Die ersten Zellen, die sich in einem menschlichen Embryo spezialisieren, die Trophoblasten, bilden einen Schutzschild um den Rest des Embryokörpers. Sie wehren angreifende Immunzellen und Komplementmoleküle ab und können Signale geben, die das fremde Immunsystem einlullen. Merkwürdigerweise deutet einiges darauf hin, dass diese Signale in den Trophoblasten von einigen Viren 172
herrühren, die ständig in unserer DNS lagern – so wie Viren in den Genen parasitischer Wespen bewirken, dass sie das Immunsystem ihres Wirts steuern. Betrachtet man Parasitismus unter dem Gesichtspunkt von Dawkins’ Definition des genetischen Interesses, dann ist ein Fötus eine Art Halbparasit. Er hat zur Hälfte die Gene seiner Mutter und zur anderen Hälfte die seines Vaters. Evolutionär gesehen liegt es in beider Interesse, dass der Fötus geboren wird und ein gesundes Leben lebt. Aber einige Biologen haben darauf hingewiesen, dass bei den Eltern auch starke gegensätzliche Interessen vorhanden sind, was das Wachstum des Fötus betrifft. Während sich der Fötus entwickelt, baut er sich seine Plazenta und ein Netzwerk von Gefäßen, um aus der Mutter Nahrung zu beziehen. Er schaltet die Kontrolle der Mutter über ihre Blutgefäße in Uterusnähe aus, damit sie den Blutfluss zum Fötus nicht einschränken kann. Er setzt sogar Stoffe frei, um den Zuckergehalt in ihrem Blut zu erhöhen. Würde die Mutter jedoch zulassen, dass sich das Kind zuviel nimmt, könnte das ihrer Gesundheit ernsthaft schaden, sodass sie nicht mehr ausreichend für ihre anderen Kinder sorgen oder vielleicht gar keine Kinder mehr bekommen könnte. Mit anderen Worten: Der Fötus bedroht ihr genetisches Erbe. Forschungsergebnisse lassen darauf schließen, dass Mütter sich gegen ihren Fötus wehren, indem sie gegen ihn wirkende Stoffe freisetzen. Während ein Fötus seine Mutter schwer belasten kann, hat die Geschwindigkeit, mit der er wächst, keinerlei Auswirkungen auf die Gesundheit des Vaters. Es liegt vielmehr im genetischen Interesse des Vaters, dass der Fötus so schnell wie möglich wächst. Dieser Konflikt spielt sich im Fötus selbst ab. Untersuchungen bei Tieren haben gezeigt, dass die Gene, die ein Fötus von Vater und Mutter erbt, unterschiedliche Dinge tun, besonders in den Trophoblasten. Die mütterlichen Gene versuchen das Wachstum des Fötus zu verlangsamen, um diesen Parasiten in ihr in Schranken zu halten. Die väterlichen Gene hingegen gehen scharf gegen die mütterlichen vor und bringen sie zum Schweigen, damit der Fötus schneller wächst und sich mehr Energie aus seinem Wirt holt. Wann immer zwei Leben in engen Kontakt und genetischen Konflikt geraten – sogar im Fall von Mutter und Kind –, kommt es zu Parasitismus. 173
*** Das Gefühl, von ein paar Millionen Parasiten umgeben zu sein, ist schwer zu beschreiben. Wenn Sie sich dicht über ein Glas mit einem anmutig geschlungenen Bandwurm aus einem Stachelschwein beugen, können Sie gar nicht anders, als die vielen Hundert Segmente zu bewundern – ein jedes mit einem eigenen männlichen und weiblichen Geschlechtsorgan, strotzend vor Leben und wie auf einem ein Foto festgehalten im konservierenden Spiritus. Und dann, vielleicht nur eine Sekunde lang, befällt Sie die Angst, dass das Lebewesen da drin ein wenig zucken, plötzlich um sich schlagen und aus dem Glas ausbrechen könnte. Die National Parasite Collection, die vom Agricultural Research Service des Landwirtschaftsministeriums der USA geleitet wird, ist eine der drei größten Parasitensammlungen auf der Welt. (Niemand weiß genau, ob die amerikanische Sammlung größer ist als die nationalen Sammlungen in Russland. Bei einigen Millionen Exemplaren kann man sich schon mal verzählen.) Die Sammlung befindet sich in einer ehemaligen Meerschweinchenscheune auf einer Farm, die das Landwirtschaftsministerium seit 1936 in Maryland betreibt. Ferne, kalt blaue Glaskuppeln von Firmenzentralen ragen über die Bäume. Eric Hoberg, ein Parasitologe in Gestalt eines Bären, führte mich durch die Sammlung. Er untersucht Parasiten des hohen Nordens: Nematoden, die nur in der Lunge von Moschusochsen leben, und die Egel einer Walrossart. Hoberg geleitete mich eine Treppe mit graugestreiften Stufen hinunter, vorbei an mehreren kleinen Labors, an einer Frau hinter einem Computer und an einem gewaltigen Stapel Katalogkarten. Dann öffnete er eine schwere Tür, und wir betraten die Sammlung. Zunächst war ich etwas enttäuscht. Ich schritt, begleitet von Paläontologen, die Ausstellungsstücke des Museums ab, folgte ihnen durch verborgene Türen in ihre Sammlungen und wanderte durch Korridore voller Vitrinen mit Walschädeln und Dinosauriern, die niemand angerührt hatte, seit sie aus der Erde gebuddelt wurden. Hoberg stellte mich einem pensionierten Biologielehrer namens Donald Poling vor, der in Wanderstiefeln und weißem Laborkittel an einem Tisch saß und Objektträger mit Nematoden aus Konser174
vierungsflüssigkeiten rettete, die in den vergangenen 100 Jahren zu einer Konsistenz von braunem Zucker kristallisiert waren. »Besser hier als in der Kneipe«, sagte er, während er von einem Deckglas den Belag abkratzte. Den übrigen Raum füllten zum größten Teil Metallregale, die auf ihren Laufrollen aufglitten, wenn man an einem dreigezinkten Rad drehte. Hoberg und ich gingen zwischen den Regalen umhergingen, sahen uns die dort aufgereihten Gläser und Fläschchen an und meine Enttäuschung verschwand. Wir nahmen die versiegelten Gläser in die Hand, um die mit Bleistift beschriebenen Etiketten zu lesen. »Wirt: Gelbkronen – Stärling« stand dort unter anderem. Es folgten Bandwürmer von Karibus aus Alaska, Leberegel von Elchen, gekräuselte monogene Parasiten an den Kiemen von Fischen aus Korea. Als Hoberg mir einen Nematoden zeigte, der – fingerdick, lang wie eine Reitpeitsche und blutrot – zusammengerollt in einer Fuchsniere lag, entfuhr mir unwillkürlich ein »Igitt!«. Ich hatte Hoberg eigentlich in der Absicht besucht, etwas zu lernen und nicht, um meinen Horrormarathon fortzusetzen; aber diese Dinge verstehen es, sich ihren Weg zu bahnen. Nun war Hoberg an der Reihe, enttäuscht zu sein. »Der Ekelfaktor ärgert mich immer wieder«, sagte er, »weil dabei übersehen wird, wie unglaublich interessant das hier ist. Und er schadet der Parasitologie als Disziplin. Zum Teil liegt es daran, dass sich die Leute von so etwas abgestoßen fühlen.« Er nickte in Richtung Fuchsniere. »Parasitologen gehen in Rente und werden nicht durch neue ersetzt.« Wir sahen uns weiter um: Ein Glas voller Hymenolepis – Bandwürmer, die Mehlkäfer benutzen, um in Ratten zu gelangen – erinnerte mich an einen großen geringelten Strang Reisnudeln; ein von Trichinella durchsetztes Stück Schweinefleisch sah aus wie ein Nachthimmel voller Sternschnuppen. Wir kamen an geschlossenen Tabletts mit Objektträgern vorbei, die hochkant wie Bücher auf einem Bücherbord standen – hunderte von ihnen, jedes mit Dutzenden von Parasitenpräparaten, die auf Glas montiert waren. Es folgten die 12.000 Parasitenexemplare, die Hoberg auf den Aleuten gesammelt hatte, als er an seiner Dissertation arbeitete, und über die zu schreiben er wahrscheinlich erst als Rentner Zeit haben wird. Als Hoberg 1989 den Posten in der Sammlung erhielt, 175
brachte er die Präparate von der University of Washington mit. Ein Jahrzehnt später stieß er immer noch auf Überraschungen. »Krabbenfresserrobbe?« bellte er, während er ein Glas mit Bandwürmern in die Hand nahm. Er schob sich die Brille auf die Stirn, um das in der Flüssigkeit schwimmende Etikett zu lesen. »Das könnte von Byrds letzter Expedition in die Antarktis sein.« Wir fanden ein Glas mit Larven der Pferdebremse. Die Pferdebremsen legen ihre Eier auf das Fell der Pferde, und wenn sich die Pferde sauber lecken, schlucken sie die Eier. Die Larven schlüpfen, sobald sie die Wärme im Pferdemaul spüren, und fressen sich in die Pferdezunge. Von dort bohren sie sich in den Pferdemagen, wo sie sich festsetzen und Blut trinken. Sobald sie geschlechtsreif sind, lösen sie sich und werden über den Verdauungstrakt des Pferdes ausgeschieden. Im Freien verwandeln sie sich zu erwachsenen Fliegen. In dem Glas vor uns lag auf dem Boden ein von Pferdebremsenlarven übersätes Stück Pferdemagen, eine Ansammlung kleiner harter Quaddeln. Ich war fasziniert, aber Hoberg zuckte zurück. »Auf das hier kann ich verzichten.« Erfreut stellte ich fest, dass selbst ein Parasitologe an seine Grenzen kam. Hobergs Lieblinge in der Sammlung waren die Präparate für die mikroskopische Untersuchung. Er nahm ein paar Kästen mit hinauf in sein Büro, das von einem Compound-Mikroskop dominiert wurde. Er stellte das Mikroskop für mich ein und zeigte mir Schnitte von Bandwürmern aus Lunden (der Lund ist ein Seevogel), Bartrobben und Killerwalen. Bandwurmarten sind schwer zu unterscheiden. Manchmal besteht der einzige sichtbare Unterschied in der Form der Kammer, in der die Geschlechtsorgane sitzen. Manchmal verraten nur die Gene, dass es sich bei zwei Bandwürmern um verschiedene Arten handelt. Hoberg untersucht ihre Verwandtschaftsverhältnisse. Dabei rekonstruiert er 400 Millionen Jahre Parasitengeschichte ohne einen einzigen Fossilienfund, der ihn leiten könnte. Er tut dies, indem er nach merkwürdigen Mustern bei Parasiten und ihren Wirten sucht. Warum, fragt sich Hoberg, leben Bandwurmarten – die Tetrabothriiden – nur in Seevögeln und Meeressäugetieren? Warum lebt keine dieser Spezies in Menschen oder Haien? Warum kommt eine andere Bandwurmart nur in zwei Gegenden der Welt vor: in Australien und in der Dornstrauchsavanne Boliviens? Die Antworten auf diese Fra176
gen ergeben eine Geschichte der Bandwürmer – ein Epos, das auch von Geheimnissen in der Geschichte ihrer Wirbeltierwirte, von driftenden Kontinenten und wandernden Gletschern erzählt.
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Im 19. Jahrhundert dachten die Biologen noch, diese Geschichte sei unbedeutend und langweilig. Sobald Parasiten sich ihrem inwendigen Leben hingäben, hieß es, hätten sie eine evolutionäre Sackgasse erreicht, weil sie woanders nicht mehr leben könnten. Die Evolution, die sie durchgemacht hätten, sei minimal gewesen und nur im Schlepptau ihrer Wirte erfolgt. Ihre Wirte teilten sich vielleicht in neue Arten, wenn eine Population auf einer Insel oder einem Gebirge isoliert würde, und der Parasit, vom Rest seiner Spezies ebenso abgeschnitten, bilde dann auch eine neue eigene Spezies. Wenn das stimmte, müsste beim Vergleich eines Evolutionsbaums von eng verwandten Wirten mit den Parasiten, die sie trugen, ein bestimmtes Muster erkennbar sein: Wirte und Parasiten würden Spiegelbilder voneinander bilden. Nehmen wir an, Sie sezierten vier eng verwandte Vogelarten und hätten Bandwürmer in ihnen gefunden. Der Vogelstamm, der sich am frühesten abzweigte, hätte die Bandwürmer mitgenommen, die sich als erste unter den Parasiten abzweigen. Jeder folgende Wirtszweig hätte ebenfalls seinen Parasitenzweig mitgenommen. Erst Ende der siebziger Jahre begannen Biologen wie Daniel Brooks an der University of Toronto solche Wirt- und Parasitenbäume aufzustellen. Sie erkannten bald, dass diese gepaarten Geschichten viel komplizierter sind als sie gedacht hatten. Manchmal sahen die Bäume wie perfekte Spiegelbilder aus – so wie der obere der abgebildeten Bäume. Aber ein anderes Mal sahen sie aus wie der untere Baum. Die Parasiten folgten tatsächlich manchmal ihren Wirten in neue Arten, aber sie konnten auch auf völlig neue Wirte überspringen (wie die Bandwürmer B, C und E in diesem Beispiel). Manchmal spalteten sie sich in zwei neue Arten bei einem einzigen Wirt, ohne dass sich der Wirt ebenfalls in verschiedene Arten teilte. Und manchmal verschwanden sie völlig aus ihren Wirten. Parasiten haben also Entwicklungsgeschichten, die genauso dramatisch und komplex verliefen wie die ihrer frei lebenden Vettern. Die wichtigsten Hinweise auf die frühe Geschichte der Bandwürmer liefern die untersten Wurzeln ihres Baumes. Diese primitiven Bandwürmer lebten alle in Fischen. Die heute lebenden Fische teilten sich vor ungefähr 420 Millionen Jahren in zwei Klas178
sen: in die Knorpelfische wie Haie und Rochen und in die Knochenfische. Etwa 20 Millionen Jahren später gabelte sich der Stamm der Knochenfische in zwei Zweige. Einer der beiden führte zu den Strahlenflossern wie Lachs, Forelle, Hecht und zahlreiche weitere Arten, der andere zu den Fleischflossern wie Lungenfische und Quastenflosser. Aus Letzterem entwickelten sich schließlich die vierbeinigen Wirbeltiere, die an Land gehen konnten – unsere Vorfahren. Bandwürmer entwickelten sich wahrscheinlich zuerst in den frühesten Strahlenflossern. Das zeigt die Tatsache, dass die primitivsten Bandwürmer von heute in den primitivsten Strahlenflossern wie Stör und Schlammfisch leben. Dort bildeten die Bandwürmer aus ihren blattartigen Formen die charakteristischen langen, segmentierten Körper. Und von diesen Wirten aus kolonisierten sie später Haie und andere Knorpelfische. Aber offensichtlich verschonten sie die Fleischflosser. Weder bei Lungenfischen noch bei Quastenflossern wurden Bandwürmer gefunden. Doch in den nächsten Verwandten der Fleischflosser – in den Land bewohnenden Wirbeltieren – leben Bandwürmer. Tatsache ist, dass sie praktisch in allen Arten der Amphibien, Vögel, Säugetiere und Reptilien leben. Die Landbewohner erbten die Bandwürmer jedoch nicht von ihren im Wasser lebenden Vorfahren. Die Parasiten müssen sie befallen haben, indem sie in einem Strahlenflosser-Fisch aus dem Wasser gekommen sind. Vielleicht 50 Millionen Jahre, nachdem Wirbeltiere an Land gekommen waren, nahm ein fischfressendes Reptil mit seiner Mahlzeit einen Bandwurm auf- und ein neuer Stamm war geboren. Seit damals haben sich Bandwürmer an Land mit ihren Wirten weiter entwickelt. Als diese sich zu neuen Formen verzweigten, sind sie mit von Zweig zu Zweig gesprungen und pendelten zum Beispiel von Säugetieren zu Amphibien und von Säugetieren zu Vögeln. Die Wirbeltiere an Land spalteten sich vor rund 300 Millionen Jahren in Reptilien und die Vorläufer der Säugetiere gespalten. Vor 200 Millionen Jahren brachte der Reptilienzweig Dinosaurier hervor, die sehr schnell die dominierenden Landtiere wurden. Lebten Bandwürmer in Dinosauriern? Genau wissen wir das nicht. Aber wenn man bedenkt, dass ihre engsten Verwandten – Vögel und Krokodile – Bandwürmer haben, kann man sich nur schwer 179
vorstellen, dass die Dinosaurier keine hatten. Und ebenso wenig kann man sich vorstellen, dass die Bandwürmer nicht den Platz in diesen Giganten genutzt hätten, um zu Längen von 30 Meter und mehr heranzuwachsen. Ein solcher Gedanke bringt einen Parasitologen zum Lächeln. Armand Kuris, der Parasitologe in Santa Barbara, hat sich spaßeshalber einmal überlegt, welche Ökologie ein solches Monster haben würde. Die größten Dinos, die Sauropoden, waren langhalsige Pflanzenfresser, die bis zu 100 Tonnen schwer werden konnten. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Raubtier, selbst ein so großes wie Tyrannosaurus rex, diesen Riesen etwas anhaben konnte. Vielleicht wurden sie nur als Aas gefressen oder die Raubtiere bekamen von irgendwoher Hilfe. Vielleicht, so meinte Kuris, seien es die Bandwürmer gewesen, welche die Sauropoden und Tyrannosaurus rex zu den Ahnenschatten von Elch und Wolf werden ließen. Die Sauropoden nahmen mit den Pflanzen, die sie fraßen, Bandwurmeier auf und die Parasiten entwickelten sich in ihnen zu riesigen Zysten. Indem sie die Lunge oder das Gehirn ihrer Wirte zerrissen, könnten sie die Sauropoden so langsam gemacht haben, dass Tyrannosaurus sie überwältigen und der Bandwurm in seinen Endwirt gelangen konnte. Ein Dinosaurierbandwurm könnte sogar Spuren in Fossilien hinterlassen haben. Die Zysten einiger heutiger Bandwürmer werden so groß und wachsen mit solcher Kraft, dass sie einen menschlichen Schädel sprengen können. Wenn Dinosaurier Zysten hatten, die so groß waren, dass man einen Gabelstapler gebraucht hätte, um sie zu tragen, könnten Paläontologen ihre Spuren vielleicht erkennen. Im Lauf der 400 Millionen Jahre, seit denen es Bandwürmer gibt, wurde die Erde von vier großen Massensterben heimgesucht. Das letzte ereignete sich vor 65 Millionen Jahren und wurde wahrscheinlich durch einen zehn Meilen breiten Asteroiden ausgelöst, der in den Golf von Mexiko stürzte. Diese Naturkatastrophe tötete die Dinosaurier sowie 50 Prozent aller Arten auf der Erde. Doch die Bandwürmer überlebten. In einigen Teilen der Welt findet man sogar Bandwürmer, die heute noch so leben wie damals, als die Dinosaurier die Erde bevölkerten. In den Dornstrauchsavannen Boliviens leben Beuteltiere wie die Mauszwergbeutelratten. Sie sind Wirte einer seltenen Gruppe von Bandwürmern, den Linsto180
wiiden, die als Zwischenwirt einen Gliederfüßer brauchen. Linstowiiden kommen sonst nur noch in Australien vor, wo sie in ähnlichen Beuteltieren leben. Heute sind diese Parasiten durch den Stillen Ozean tausende von Meilen getrennt, aber vor 70 Millionen Jahren waren Australien, Südamerika und die Antarktis eine einzige Landmasse. Die Vorfahren der australischen und bolivianischen Bandwürmer stammen aus einem Beuteltier jenes verschwundenen Kontinents, und Wirt und Parasit spalteten sich allmählich, als die Landmasse durch die Kontinentalverschiebung auseinandergerissen wurde. Aber während der vergangenen 70 Millionen Jahre ist das Ökosystem, das den Entwicklungszyklus des Bandwurms durch die Säugetiere ermöglicht, intakt geblieben. Andere Bandwürmer haben die Folgen des Asteroideneinschlags vielleicht überlebt, indem sie ihre alten Wirte aufgaben. Die Tetrabothriiden-Bandwürmer leben nur in Seevögeln wie Lund und Seetaucher sowie in Meeressäugetieren wie Wal und Robbe. Auf den ersten Blick ergibt diese Wirtekombination keinen Sinn. Diese Tiere sind so entfernt verwandt, dass sie die Bandwürmer nicht von einem gemeinsamen Vorfahren geerbt haben können. Vögel entwickelten sich aus Reptilien – wahrscheinlich aus zweibeinigen Laufdinosauriern – vor über 150 Millionen Jahren. Meeressäugetiere hingegen bevölkerten die Ozeane erst viel später. Wale entwickelten sich aus hundsähnlichen Säugetieren vor ungefähr 50 Millionen Jahren, und Robben aus bärähnlichen Säugetieren von rund 25 Millionen Jahren. Man muss also 300 Millionen Jahre zurückgehen, um einen gemeinsamen Vorfahren für Vögel und Säugetiere zu finden, und von diesem Vorfahren gingen viele andere Wirbeltierstämme aus – Krokodile, Schildkröten, Kobras, Wallabys und auch die Menschen. Aber keiner ist ein Wirt für Tetrabothriiden-Bandwürmer. Die Vögel und die Wale mussten ihre Bandwürmer irgendwoher bekommen haben. Fische waren vermutlich nicht die Quelle, weil die engsten Verwandten der Tetrabothriiden in Land bewohnenden Reptilien leben, die mit Vögeln und Walen nicht eng verwandt sind. Tetrabothriiden mussten von einem Bandwurm stammen, der in einer Gruppe sehr alter reptilienartiger Wirte lebte. Zufällig gab es, noch bevor Wale und Seevögel existierten, in den Meeren Reptilien, welche die gleichen ökologischen Rollen wie 181
sie spielten. Wenn wir vor 200 Millionen Jahren über einen Ozean gefahren wären, hätten wir über uns keine Vögel gesehen, sondern Flugsaurier-Reptilien mit schlanken Köpfen und behaarten Hautflügeln, die Fische fingen, um sie zu ihren Horsten auf dem Land zu bringen. Und aus den Wellen wären keine Wale aufgetaucht, sondern ungeheure Reptilien vieler verschiedener Rassen wie langhalsige Ruder-Saurier und schwertfischförmige Fisch-Saurier. Diese Reptilien dominierten in der Zeit von vor 200 Millionen Jahren bis vor 65 Millionen Jahren die marine Nahrungskette. Dann teilten sich die Flugsaurier den Himmel allmählich mit Vögeln. Hoberg glaubt, dass die Bandwürmer eine Art Begrüßungsgeschenk der Flugsaurier an die Vögel waren. Die Vögel erhielten sie, indem sie die Fische fraßen, die dem Parasiten als Zwischenwirt dienten. Als nach der Naturkatastrophe vor 65 Millionen Jahren die großen Dinosaurier ausstarben, verschwanden auch die Meeresreptilien und die Flugsaurier. Niemand weiß, warum die Vögel die Auswirkungen des Meteoriteneinschlags überlebten, aber es scheint, dass sie den Zyklus der Tetrabothriiden fortsetzten. Wale und Robben übernahmen später die Rollen der einstigen Meeresreptilien, und die Bandwürmer besiedelten auch sie. Selbst wenn die Tiere darin sich ändern – solange das Ökosystem selbst intakt bleibt, werden Parasiten überleben. In den vergangenen 65 Millionen Jahren gediehen die Bandwürmer stetig und ihre Reisen hinterlassen weiterhin Spuren in der Geschichte ihrer Wirte. Bandwürmer, die in Stachelrochen im Amazonas leben, sind der lebende Beweis dafür, dass der Fluss einst in die entgegengesetzte Richtung floss. Hätten sich in den Urzeiten Stachelrochen aus dem Atlantik (in den der Amazonas heute mündet) im Amazonas angesiedelt, wären die Bandwürmer der heutigen Amazonas-Stachelrochen sehr eng mit den Bandwürmern der heutigen atlantischen Stachelrochen verwandt. Aber die Amazonas-Bandwürmer sind tatsächlich enger mit denen im pazifischen Stachelrochen verwandt. Und um die Sache noch komplizierter zu machen, gibt es außerdem andere Bandwürmer in den Stachelrochen des Atlantiks und Pazifiks, die enger miteinander verwandt sind als jeder der beiden mit den Bandwürmern im Amazonas-Stachelrochen. In dem Szenario, das diese Fakten am besten in Übereinstim182
mung bringt, schwammen Stachelrochen vor zehn Millionen Jahren stromaufwärts. Damals hatten sich die Anden noch nicht aufgefaltet und der Amazonas floss von Brasilien zur Nordwestküste von Südamerika. Ein weiterer bedeutender Unterschied zur heutigen Geografie war, dass sich der Isthmus von Panama noch nicht gebildet hatte; das heißt, dass der Atlantische und der Pazifische Ozean hier durch einen breiten Kanal miteinander verbunden waren. Stachelrochen aus dem Pazifik schwammen in den Amazonas, als er von Ost nach West floss. Während sich die AmazonasStachelrochen an das Süßwasser anpassten und sich von ihren Vettern im Meer absonderten, bewegten sich die MeeresStachelrochen zwischen zwei Ozeanen hin und her. Als sich Panama aus dem Meer erhob, hatten die Meeres-Stachelrochen einige neue Bandwurmarten erworben, welche die SüßwasserStachelrochen nicht bekommen konnten. In den letzten paar Millionen Jahren entdeckten die Bandwürmer einen weiteren Wirt – einen, der auf zwei Beinen ging. Hoberg hat die Bandwürmer, die in Menschen leben, studiert. Seit Jahren zerbrechen sich die Parasitologen den Kopf darüber, wie es kam, dass Bandwürmer in Menschen leben. Eine Erklärung könnte sein, dass sich die Menschen vor 10.000 Jahren, als sie Tiere domestizierten, mit Bandwürmern infizierten, deren Wirte die wild lebenden Verwandten von Rindern und ihre Räuber waren. Hoberg hält diese Theorie für unwahrscheinlich und verweist auf die Evolutionsbäume. Zusammen mit seinen Kollegen hat er die Gene von Menschen-Bandwürmern mit denen ihrer engsten Verwandten verglichen und festgestellt, dass sie sich vor einer Million Jahre – und nicht vor ein paar Tausend Jahren – als eigener Stamm abzweigten. Zur damaligen Zeit waren unsere Vorfahren Hominiden und weit davon entfernt, Ackerbau und Viehzucht zu treiben. Was von dem, was sie damals aßen, einer Kuh oder einem Schwein am nächsten kam, waren die Kadaver von Beutetieren, die von Löwen getötet und übriggelassen wurden. Und das würde noch etwas anderes erklären, was Hoberg entdeckt hat: Die engsten Verwandten der Menschen-Bandwürmer machen Löwen und Hyänen zu ihrem Endwirt. Nach Hobergs Auffassung folgten die Hominiden den Löwen, aßen die Überreste ihrer Beute und übernahmen dabei auch ihre Bandwürmer. 183
Es gibt mehr als nur eine Möglichkeit, eine Reise in die Frühzeit der Menschheit zu unternehmen. Man kann nach Äthiopien reisen und Sand auf der Suche nach Steinwerkzeugen und alten Knochen sieben; aber man kann auch in die National Parasite Collection gehen, das richtige Glas finden und einen alten Reisegefährten betrachten. *** Als Bandwürmer in neue Wirte einzogen, mussten sie neue Lebensweisen in ihnen entwickeln. Sie mussten sich an neue Darmlandschaften anpassen. Bandwürmer, die begonnen hatten, in Ratten zu leben, fanden neue Wege, um Mehlkäfer in den Rachen ihres Endwirts zu schaffen. Die Rekonstruktion dieser allmählichen Anpassungen ist eine tückische Arbeit, weil vernünftig klingende Evolutionsgeschichten leicht zu erfinden sind. Man sieht den langen Schwanz einer Schwalbe und erklärt, dieser Schwanz muss sich entwickelt haben, damit der Vogel besser steuern kann. Aber dann kommt jemand, der den langen Schwalbenschwanz zu einem männlichen Attribut erklärt, das sich entwickelt hat, weil es die weiblichen Schwalben attraktiv finden. Vielleicht hat das Ganze mit Anpassung auch überhaupt nichts zu tun – vielleicht hatten die meisten Schwalben, die zufällig diese Spezies bildeten, zufällig schon immer lange Schwänze. Sehen wir uns noch einmal die Reisen des Nematoden Strongylus an. Bei der Spezies Strongylus vulgaris kriecht die Larve auf die Spitze eines Grashalms und wartet dort auf ein weidendes Pferd. Ist der Wurm geschluckt, unternimmt er eine lange und anscheinend sinnlose Reise. Er wandert durch den Hals des Pferdes in den Pferdemagen und weiter in den Darm. Hier frisst er sich durch die Darmwand in die Bauchhöhle des Pferds und zieht wochenlang durch die Arterien des Wirts, bis er geschlechtsreif ist. Daraufhin kehrt er in die Därme zurück, in die er sich eingräbt und den Rest seines Lebens verbringt. Warum sollte ein Parasit die Därme verlassen, nur um dorthin zurückzukehren und für den Rest seines Lebens zu bleiben? Su184
zanne Sukhdeo hat sich die nahen Verwandten von Strongylus angesehen und eine Arbeitshypothese aufgestellt, wie es zu dieser Pilgerreise gekommen sein könnte. Der Vorfahre dieser Nematoden lebte vor über 400 Millionen Jahren in der Erde und verbrachte seine Tage mit Buddeln und dem Vertilgen von Bakterien, Amöben und anderer mikroskopischer Beute; er lebte ziemlich genauso, wie viele tausende von Nematodenarten heute noch leben. Vor ungefähr 350 Millionen Jahren begegnete ihm etwas Neues: Weichhäutige Amphibien krochen im Matsch umher. Die Nematoden nutzten ihre Fähigkeit zu graben, um in diese Wirte und in ihren Darm zu gelangen, in dem sie sehr gut von dem lebten, was die Amphibien fraßen. Im Lauf von zehn Millionen Jahren entwickelten sich an Land neue Wirbeltierarten: auf Beinen gehende Säugetiere und Reptilien. Diese Tiere boten nicht mehr das leichte Ziel eines schleimigen, über den Boden rutschenden Bauchs, sondern ragten auf ihren Beinen über den Boden. Einige Nematoden passten sich diesen neuen Wirten an, indem sie einen neuen Zugang entwickelten: Statt sich durch die Haut zu graben, ließen sie sich fressen. Aber das Graben, behauptet Sukhdeo, sei ihnen so stark angeboren, dass es nicht einfach unterlassen könnten. Sobald die Nematoden geschluckt waren, traten sie ihre Pilgerfahrt an, die ihre Vorfahren Millionen Jahre lang gemacht hatten, und zogen ihre Kreise durch den Wirtskörper, um wieder in die Därme zurückzukehren. Sukhdeo behauptet, dass die seltsame Reise des Strongylus nur ein evolutionäres Relikt sei. Eines Tages würde er dieses Erbe vielleicht verlieren, aber noch erhielte sich seine Art diesen Überrest aus ihrem ersten Versuch, parasitisch zu leben, als Bäuche und Boden noch in engem Kontakt gewesen seien. Andere Wissenschaftler vertreten die Meinung, dass die Parasiten bei dieser Reise blieben, weil sie davon profitieren würden. Sie verglichen Nematodenarten wie Strongylus, die durch Gewebe wandern, mit Arten, die in den Därmen bleiben, und stellten einen ziemlich einstimmigen Unterschied fest: Die Wanderer wuchsen schneller und wurden größer und fruchtbarer. Eine Reise durch die Muskeln bedeutet für den Parasiten also eine Erholungspause, denn hier ist er verschont vor der Magensäure in den Därmen, vor den Güssen verdauter Nahrung, dem niedrigen Sauerstoffgehalt und den heftigen 185
Angriffen des im Darm sehr starken Immunsystems. Diese Reise ist vielleicht ein Relikt, aber ein sehr nützliches. Das Puzzle der Parasitenevolution wird noch verwirrender, wenn man bedenkt, was den Wirten widerfährt, wenn sie von Parasiten befallen werden. Filarien, jene hoch spezialisierten Nematoden, die Elephantiasis verursachen, dringen ins Lymphsystem des Menschen ein und produzieren dort tausende von Mikrofilarien. Manchmal reagiert das Immunsystem eines Menschen sehr heftig auf die Würmer, indem es die Lymphkanäle vernarbt und verstopft. Die Lymphflüssigkeit staut sich in den Lymphkanälen und erzeugt Elephantiasis – monströs geschwollene Beine, Brüste oder Hoden. Ein geschwollenes Bein als Anpassung des Parasiten zu bezeichnen wäre unsinnig, weil es dem Wurm keinerlei Vorteil bringt. Es ist einfach eine Fehlleistung des Immunsystems oder, wie Richard Dawkins es ausdrückte, ein lästiges Nebenprodukt. Um festzustellen, ob eine Veränderung bei einem Wirt ein lästiges Nebenprodukt oder eine echte Anpassung ist, studiert man am besten seine Evolution. Es gibt einen eleganten Test mit Insekten, die Gallen auf Pflanzen bilden. Manchmal sieht man kirschgroße Kugeln an den Blättern von Eichen, oder ein Blütenstiel beult sich, als hätte er eine Murmel verschluckt. Diese Verdickungen sind Gallen, pflanzliches Gewebe, das sich zu Schutzhüllen für parasitische Insekten geformt hat. Hunderte verschiedener Insektenarten leben in Gallen, die sich auf Blumen, Zweigen, Stielen oder Blättern bilden können. Einige Wespenarten legen ihre Eier zum Beispiel auf Eichenblätter, und die Zellen des Blatts reagieren auf die Eier, indem sie in die Höhe und um das Ei herum wachsen. Die Larve wird geboren und noch tiefer in das Blatt versenkt. Die Zellen vermehren sich zu einer großen runden Form mit einer aus einem haarartigen Gewebe bestehenden Innenschicht. Nahrung – Stärken, Zucker, Fette und Proteine – wird von anderer Stelle in der Pflanze in die Galle gepumpt und füllt die übermäßig großen Zellen in den inneren Haaren. Die Wespenlarve bricht diese Zellen auf und frisst den nahrhaften Cocktail. Während sie die inneren Zellen zerstört, teilen sich die äußeren und werden so bereit für den Verzehr. Die Gallen sind das Werk der Pflanzen, nicht der Insekten. Sind sie, wie einige Forscher meinen, nur Narben, die den Parasiten 186
zufällig etwas Schutz bieten? Warren Abrahamson von der Buckneil University und Arthur Weis von der University of California in Irvine haben einige der gründlichsten Untersuchungen von Gallen durchgeführt, wobei sie sich auf die Goldruten-Gallmücken konzentrierten. Im späten Frühling legen die Mücken ihre Eier in eine Goldrutenknospe. Es bildet sich eine kugelförmige Galle von 1,2 bis 2,5 Zentimeter Durchmesser, in der die Mückenlarve wächst. Die Mückenlarve wird von parasitischen Wespen und von Käfern angegriffen. Spechte und Meisen hacken im Winter die Gallen auf und fressen sie wie eine köstliche Nuss. Die Gallen, in denen diese Mückenlarven leben, sind von unterschiedlicher Größe und Form. Gehen wir also einmal davon aus, dass sie nur das lästige Nebenprodukt einer Mücke sind, die in einer Goldrute lebt. Dann würden wir erwarten, dass jede Veränderung in ihrem Erscheinungsbild von einer Generation zur nächsten mit Veränderungen in den Genen zusammenhängt, mit denen sich die Pflanze gegen Eindringlinge wehrt. Abrahamson und Weis führten Versuche durch, bei denen sie Gallmücken auf Goldrutenpflanzen züchteten, die alle geklont waren. Nachdem ihre Gene identisch waren, hätte auch die Verteidigung der Pflanze gegen die Mücken identisch sein müssen. Doch die beiden Forscher stellten fest, dass die Pflanzen sehr unterschiedliche Gallen bildeten. Das lässt vermuten, dass die Gene der Mücken für die Formung der Gallen verantwortlich sind und die Gene der Pflanze steuern. Wahrscheinlich sind diese Gene in den Mücken einer scharfen natürlichen Auslese ausgesetzt, wenn man bedenkt, dass 60 bis 100 Prozent der Gallen von Parasiten befallen sind. Belegt wird dies auch durch die Biologen, welche die Gallmücken von Generation zu Generation beobachtet haben und feststellten, dass ein bestimmter Mückenstamm stets ähnliche Gallen formte. Die Galle wird von der Pflanze gebildet und ist doch das Werk des Parasiten; denn geformt wird sie durch seine Entwicklung, nicht durch die des Wirts. Es ist in der Tat erstaunlich, was Parasiten alles mit ihren Wirten anstellen, das nicht unter die Kategorie lästiges Nebenprodukt fällt, sondern von der Evolution bewirkte Anpassungen sind. Sogar eine Schädigung ist häufig eine Adaption. Eng verwandte Parasiten können ihre Wirte sanft, brutal oder auf irgendeine dazwi187
schenliegende Weise behandeln. Leishmania verursacht ein paar eitrige Pickel oder frisst das ganze Gesicht weg, je nach dem, welche Spezies am Werk ist – Leishmania major oder Leishmania brasiliensis. Noch bis vor kurzem dachten die Wissenschaftler nicht darüber nach, wie es kommt, dass Parasiten so unterschiedliche Auswirkungen auf ihre Wirte haben können. Die Ärzte waren zu beschäftigt mit der Suche nach Therapien und die Evolutionsbiologen interessierten sich mehr für die Wirte als für die Parasiten. Sie taten die Unterschiede mit der Behauptung ab, dass, wenn Parasiten zum ersten Mal eine neue Wirtspezies befallen, sie großen Schaden anrichten; doch sobald sie sich gut auf den Wirt eingestellt hatten, würden sich ihre Auswirkungen abschwächen. Das trifft sicherlich auf viele Parasiten zu, die zufällig in neue Wirte geraten. Sparganose zum Beispiel wird durch eine Bandwurmspezies verursacht, die Ruderfußkrebse als Zwischenwirt benützt und in einem Frosch geschlechtsreif wird. Wenn ein Mensch den Ruderfußkrebs zufällig mit einem Glas Wasser schluckt, bricht der Bandwurm aus den Därmen aus und wandert verwirrt im Körper umher, weil er keine der Hinweise und Landmarken wie im Frosch findet. Während der Bandwurm unter der Haut hierhin und dorthin kriecht, wächst er – unter Umständen bis zu 30 Zentimeter. Er hinterlässt zerstörtes Gewebe und verursacht beim Wirt äußerst schmerzhafte Entzündungen. Würden sich genügend Froschbandwürmer in Menschen zuammenfinden, könnten sie sich zu einer weiteren, besser an den neuen Wirt angepassten Spezies entwickeln. In diesem Fall, so die herkömmliche Auffassung, würden sie von der natürlichen Auslese für jede Mutation, die den Schaden bei ihrem neuen Wirt verringert, reich belohnt. Schließlich wäre der Tod des Wirts auch der Tod der Parasiten. Die Weisheit der Reife hätte sie sanft gemacht. Erst in den neunziger Jahren unternahmen Biologen die ersten Versuche, um diese Behauptung zu prüfen. Ein deutscher Evolutionsbiologe, Dieter Ebert, führte einen solchen Versuch mit Wasserflöhen durch. Wasserflöhe leiden manchmal unter einem parasitischen Einzeller namens Leistophora intestinalis, der in ihrem Darm lebt und Durchfall verursacht. Mit dem durchfließenden Stuhl werden die Sporen des Parasiten ausgeschieden und auf andere Wasser188
flöhe im Teich übertragen. Ebert sammelte Wasserflöhe aus England, Deutschland und Russland und züchtete von jeder Population parasitenfreie Kolonien. Dann infizierte er die Kolonien mit Leistophora, verwendete dazu aber nur die aus englischen Teichen. Nach den herkömmlichen Vorstellungen über Parasiten hätte es den englischen Wasserflöhen am besten gehen sollen. Schließlich hatte Leistophora in ungezählten Generationen die englischen Wasserflöhe parasitiert und war – theoretisch – zu einer schonenden Koexistenz gelangt. Aber Ebert stellte fest, dass genau das Gegenteil eintrat. Die englischen Wasserflöhe waren von wesentlich mehr Parasiten befallen als die deutschen und russischen. Sie wuchsen langsamer, legten weniger Eier und starben in größerer Anzahl. Obwohl die englischen Parasiten mehr Zeit gehabt hatten, um sich an englische Wasserflöhe anzupassen, waren sie bösartig geblieben. Für einige Biologen waren Eberts Ergebnisse keine Überraschung. Sie hatten mathematische Modelle von der Beziehung zwischen Wirten und Parasiten erstellt und theoretische Gründe entdeckt, warum Vertrautheit Missachtung hervorbringen konnte. Die natürliche Selektion favorisiert Gene, die sich öfter identisch vermehren können als andere. Ein Gen, das einen Parasiten für seinen Wirt sofort tödlich macht, wird es offensichtlich in dieser Welt nicht weit bringen. Doch ein Parasit, der sich zu brav benimmt, wird nicht erfolgreicher sein. Weil er beinahe nichts von seinem Wirt nimmt, wird er nicht genug Energie haben, um sich zu vermehren, und in der gleichen evolutionären Sackgasse enden. Wie grob ein Parasit seinen Wirt behandelt oder wie virulent er ist, wie das die Biologen nennen, ist das Ergebnis eines Kompromisses. Auf der einen Seite möchte der Parasit aus seinem Wirt soviel Nutzen wie möglich ziehen – andererseits will er, dass sein Wirt am Leben bleibt. Die Balance in diesem Konflikt ist für einen Parasiten die optimale Virulenz. Und sehr häufig ist diese ziemlich bösartig. Wie Virulenz wirkt, lässt sich sehr schön am Beispiel von Milben zeigen, die auf den Ohren von Nachtfaltern leben. Nachtfalter müssen ständig auf der Hut vor jagenden Fledermäusen sein. Wenn Nachtfalter die von den Fledermäusen ausgesendeten Ultraschallsignale hören, beginnen sie sofort im Zickzack durch die 189
Luft zu flitzen und hin und her zu pendeln, um einem Angriff zu entgehen. Wenn die Milben das ganze Ohr des Falters – an der Innen und Außenseite – besiedeln, haben sie Platz genug, um viele Nachkommen zu produzieren. Aber während sie dort herumwühlen und die zarten Härchen des Falters beschädigen, mit denen er hört, machen sie den Falter auf diesem Ohr taub. Mit einem untauglichen Ohr wird es ihm schwerer fallen, den Fledermäusen zu entkommen. Und wenn beide Ohren ausfallen, ist das für den Nachtfalter der sichere Tod. Die Natur hat sich auf zwei Lösungen dieses Dilemmas geeinigt. Einige Milbenarten besiedeln das ganze Ohr, innen und außen. Aber sie leben nur in einem Ohr des Nachtfalters und lassen ihn genug hören, damit er nicht gefressen wird. Andere Milbenarten leben an der Außenseite beider Ohren. Aber weil sie auf den gesamten Innenbereich verzichten, vermehren sie sich weniger als die taub machenden Milben und werden langsamer von Falter zu Falter übertragen. Um Virulenztheorien zu testen, machen Biologen Voraussagen über das Verhalten von Parasiten. In den Wäldern Mittelamerikas leben mehrere parasitische Nematodenarten in Wespen. Diese Wespen sind außergewöhnliche Tiere: Das Weibchen legt seine Eier in die Blüte eines Feigenbaums und stirbt. Die Blüte verwandelt sich in eine dicke Frucht und die Larven aus den Wespeneiern ernähren sich von der Feige. Sie wachsen zu geschlechtsreifen Männchen und Weibchen heran und paaren sich in der Frucht. Daraufhin verlassen die Weibchen die Feige, um eine neue Feigenblüte zu finden, in der sie ihre Eier ablegen. Wenn sie ausfliegen, sammeln sich Pollen auf ihrem Körper, und wenn sie eine neue Feigenblüte finden, befruchten sie diese und bewirken die Bildung neuen Samens. Die Feige braucht die Wespe, um sich fortzupflanzen, und die Wespe die Feige, um einen Platz für die Aufzucht ihrer Jungen zu haben – eine angenehme Symbiose für Pflanze und Tier. Aber in dieses glückliche Szenario mischt sich der Nematode. Manche Feigen sind durchsetzt mit Nematoden, und wenn sich eine reife weibliche Wespe anschickt, die Feige zu verlassen, kriecht ein Nematode auf sie, um sich mitnehmen zu lassen. Bis die Wespe bei einer neuen Feigenblüte angekommen ist, hat sich der Nema190
tode in ihren Körper gebohrt und frisst ihre Därme. Die Wespe kriecht in die Feigenblüte und legt ihre Eier, aber inzwischen hat auch der Parasit seine Eier in ihrem Körper gelegt. Sobald die Wespe ihre Eier gelegt hat, tötet sie der Parasit, und aus ihrem Körper taucht eine halbes Dutzend junger Nematoden auf. Wespen und Nematoden haben seit über 40 Millionen Jahren als Wirt und Parasit zusammengelebt – eine lange, geradezu ehrwürdige Gemeinschaft. Die Wespen haben von Art zu Art unterschiedliche Eiablage-Gewohnheiten. Manche legen ihre Eier nur in eine von anderen Wespen unberührte Feigenblüte, damit ihre Jungen die Feige für sich allein haben; anderen Arten macht es nichts aus, ihre Eier neben die anderer Wespen zu legen. Die Virulenztheorie macht nun eine Voraussage über die Nematoden, die in Feigenwespen leben: Nematoden, die eine Wespe infizieren, die ihre Eier alleine legt, müssen vorsichtig mit ihrem Wirt umgehen. Wenn sie die Wespe zu schnell ausplündern, kann sie vielleicht nur noch wenige Eier oder gar keine mehr legen. Die Nachkommen des Nematoden hätten dann weniger potentielle Wirte in ihrer Feige und damit schlechtere Überlebenschancen. Das gilt jedoch nicht für die Parasiten der geselligeren Wespenarten. Wenn Nematodenjunge in einer Feige schlüpfen, in der sie andere Wespen vorfinden, die sie parasitieren können, bedeutet das, was der Nematode mit seinem Wirt anstellt, für die Nachkommen kein Risiko mehr. Folglich könnte man erwarten, dass diese Parasiten wesentlich gefährlicher sind. Der Biologe Edward Herre studierte in Panama über zehn Jahre lang Feigenwespen und ihre Parasiten, und als er sich seine Aufzeichnungen über elf Arten ansah, stellte er fest, dass sie sich tatsächlich in das vorausgesagte Verhaltensmuster fügten – eine großartige Bestätigung für die Virulenztheorie. Um die Virulenzgesetze zu studieren, können die Parasitologen mit praktisch jedem Parasiten arbeiten – mit Milben, Nematoden, Pilzen, Viren und sogar mit entarteter DNS. Der Wirt kann ein Mensch, eine Fledermaus, eine Wespe oder eine Eiche sein. Es lassen sich immer dieselben Gleichungen anwenden. Wenn man Parasiten unter diesem evolutionären Gesichtspunkt betrachtet, fallen plötzlich die Mauern, die sie traditionsgemäß trennen. Gewiss, sie alle sitzen auf verschiedenen Zweigen des Lebensbaums; alle stammen von völlig unterschiedlichen frei lebenden Vorfahren ab. 191
Aber diese großen Unterschiede machen ihre Ähnlichkeiten umso bemerkenswerter. Darwin entdeckte bereits, dass sich unterschiedliche Stämme unabhängig voneinander zur gleichen Form hin entwickeln können. Ein Thunfisch und ein Großer Tümmler sind durch mehr als 400 Millionen Jahre einer divergierenden Evolution getrennt. Doch der Delfin, dessen Vorfahren vor nur 50 Millionen Jahren wie Steppenwölfe aussahen, hat einen tropfenförmigen, zum Schwanz hin schmal zulaufenden Körper mit einer halbmondförmigen Schwanzflosse entwickelt – alles Körperformen des Thunfischs. Die Biologen nennen diese Ausbildung ähnlicher Merkmale bei genetisch verschiedenen Lebewesen Konvergenz, und Parasiten sind von allen konvergenten Organismen die spektakulärsten. Frei lebende Nematoden sind vom Erdboden in Baumwurzeln umgezogen, in denen sie die Fähigkeit entwickelten, individuelle Gene an- und auszuschalten und individuelle Pflanzenzellen in eine komfortable Behausung umzuwandeln. Aus einem anderen Nematodenstamm ging Trichinella hervor – ein Parasit, der das Gleiche mit den Muskelzellen von Säugetieren macht. Der Lanzettegel hat chemische Stoffe entwickelt, die eine Ameise zwingen können, auf die Spitze eines Grashalms zu klettern und sich dort anzuklammern. Das gleiche Kunststück beherrschen Pilze. Um den letzten gemeinsamen Vorfahren von Lanzettegeln und Pilzen zu finden, müsste man die Meere nach einem einzelligen Lebewesen durchforschen, das vor einer Milliarde Jahren oder vor noch längerer Zeit gelebt hat. Trotzdem gelang es den Parasiten nach all dieser Zeit, dieselbe Taktik zur Beherrschung ihrer Wirte zu finden. Die Virulenzgesetze basieren ebenfalls auf Konvergenz und werden vermutlich unsere bisherige Art der Krankheitsbekämpfung verändern. Ein Virus wie das HIV muss von Wirt zu Wirt übertragen werden, um sich fortzupflanzen, genauso wie ein Nematode. Wenn einem HIV das Reisen erleichtert wird, kann es sich schneller in einem Wirt vermehren (und mehr schaden). Auf diese Weise spielt sich die AIDS-Epidemie ab: Dort, wo die Menschen viele Geschlechtspartner haben, zerstört das Virus das Immunsystem des Wirts schneller. Cholera wird von dem Bakterium Vibrio cholerae verursacht, das mit dem Wasser übertragen wird und seinen Wirt verlässt, indem es Durchfall verursacht. In Gegenden, in denen das Wasser gereinigt wird und Vibrio wenig Chancen hat, 192
einen neuen Wirt zu infizieren, verläuft die Krankheit milder. In Gegenden ohne sanitäre Einrichtungen können es sich die Bakterien leisten, bösartiger zu sein. Die Geschichte der Parasiten, die sich über Milliarden Jahre erstreckt, wird erst jetzt langsam erkennbar, aber sie hat bereits deutlich gemacht, dass ihre bestimmende Kraft nicht die Degeneration ist. Parasiten können durchaus im Lauf ihrer Evolution einige Merkmale verloren haben; aber auch wir haben in unserer Entwicklungsgeschichte Schwänze, Pelz und hartschalige Eier aufgegeben. Lankester war entsetzt, weil Sacculina mit der Reifwerdung Segmente und Fortsätze verlor. Er hätte genauso gut über sich selbst entsetzt sein können, weil er Rudimente von Kiemen im Leib seiner Mutter entwickelte und verlor, als ihm Lungenflügel wuchsen. Als die Parasiten das dritte große Habitat der Erde besiedelten, verloren sie einiges ihrer alten Anatomie, aber sie entwickelten viele neue Anpassungen, welche die Wissenschaftler noch längst nicht alle verstehen. Nachdem ich mich einen Nachmittag lang mit Eric Hoberg in seinem Büro in der National Parasite Collection unterhalten und er mir Präparate unter dem Mikroskop gezeigt hatte, fragte ich ihn, ob ich noch einmal in die Sammlung hinuntergehen könne. »Sicher. Ich sperre Ihnen nur rasch auf«, sagte er. Wir gingen nach unten und er schloss die Tür auf. Jetzt war niemand mehr hier. Donald Poling hatte für heute genug Objektträger abgeschabt und war nach Hause gegangen. Während ich die Sammlung betrat, blieb Hoberg an der Tür und sagte, ich solle mich melden, wenn ich etwas bräuchte. Dann schloss er mich ein. Die schwere Tür fiel mit mehr Endgültigkeit zu, als mir lieb war. Nun war ich mit den Parasiten gefangen. Aber nachdem ich mich an diesen Gedanken gewöhnt hatte, befand ich mich an einem Ort der Besinnung. Das hier kam einem richtigen Museum, wie ich es mir für Parasiten vorstellte, am nächsten, auch wenn eine bedeutende Parasitendiaspora fehlte: die parasitischen Wespen und Gallenbildner aus den Insektensammlungen; die in Instituten für Tropenmedizin versteckten Protozoen; die sich in den Händen eines dänischen Experten für Rankenfußkrebse befindenden Sacculina. Eines Tages, dachte ich, werdet ihr alle wieder vereint sein, und vielleicht in etwas Ansehnlicherem als einer alten Meerschweinchenscheune. 193
Kapitel 6 Evolution von innen Der Kluge lernt viele Dinge von seinen Feinden. Aristophanes, »Die Vögel«
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arwins Buch »Über den Ursprung der Arten durch natürliche Zuchtwahl« kann traurig stimmen. Er schrieb, dass Gott die Arten hier auf Erden nicht so geschaffen habe, dass sie in vollkommener Harmonie miteinander leben könnten. Sie würden aus einer unermesslichen, fortwährenden Vernichtung geboren. »Wir sehen das heiter strahlende Antlitz der Natur, wir sehen häufig Nahrungsüberfluss«, schrieb er. »Wir sehen nicht oder wir vergessen, dass die Vögel, die rings um uns müßig singen, zum größten Teil von Insekten oder Samen leben und folglich ständig Leben zerstören; oder wir vergessen, in welch großem Ausmaß diese Sänger, ihre Eier oder ihre Jungen von Vögeln und Raubtieren vernichtet werden.« Die meisten Pflanzen und Tiere, so argumentierte er, bekämen nie eine Chance, sich zu vermehren, weil sie von einem Raubtier oder einem weidenden Tier getötet würden, im Konkurrenzkampf mit ihren Artgenossen um Sonnenlicht und Wasser unterlägen oder einfach verhungern würden. Die wenigen, die all diese Gefahren überleben und sich vermehren würden, gäben ihr Erfolgsrezept an die nächste Generation weiter. Und aus all diesem Sterben, so Darwin, ergäbe sich die natürliche Zuchtwahl, die den Tod in den Gesang der Vögel verwandele, in den Sprung eines fliegenden Fischs – in eine Welt, die, zumindest an der Oberfläche, munter und fröhlich sei. Doch Darwin sagte wenig über eine besonders große evolutionäre Bedrohung – eine, die ihm persönlich viel Leid zugefügt hat. Seine zehn Kinder kämpften gegen Krankheiten wie Grippe, Typhus und Scharlach, und als 1859 sein Buch über den Ursprung der Arten erschien, waren drei von ihnen bereits gestorben. Er selbst litt während seines Erwachsenenlebens unter Erschöpfungszuständen, Schwindelanfällen, Erbrechen und Herzbeschwerden. 194
Er beschrieb seine Gesundheit mit den Worten: »Gut, als ich jung war, schlecht in den letzten 33 Jahren.« Obwohl niemand genau weiß, woran er litt, vermutet man, dass es die Chagas-Krankheit war. Sie wird durch Trypanosoma cruzi verursacht, einer Trypanosomenart, die mit Trypanosoma brucei, dem Verursacher der Schlafkrankheit, verwandt ist. T. cruzi zerstört ganz allmählich Teile des Nervensystems und kann auf erschreckend vielfältige Weise zum Tod führen. Der Kranke kann am plötzlichen Herztod sterben oder die Därme bekommen nicht mehr die richtigen Befehle für die Peristaltik, sodass sich die Nahrung im Darm staut und es zu einer tödlichen Blutvergiftung kommt. T. cruzi wird durch tropische Raubwanzen übertragen. Darwin wurde von einer solchen Wanze gebissen, als er auf der Beagle um die Welt segelte. Viele seiner Symptome traten erst nach seiner Rückkehr auf. Die Darwins brauchten nicht zu befürchten, von Wölfen gefressen zu werden oder zu verhungern, aber Infektionskrankheiten – mit anderen Worten: Parasiten – konnten verheerende Auswirkungen auf sie haben. Der Tribut, den Parasiten vom übrigen Leben auf der Erde fordern, ist enorm; er entspricht bezogen auf die Evolution dem, was Raubtiere und Hunger an Opfern fordern. Viren und Bakterien verrichten ihren Job meistens schnell. Sie vermehren sich schnell und verursachen Krankheiten, die entweder tödlich sind oder vom Immunsystem überwunden werden. Eukaryontische Parasiten können ebenfalls rasch tödlich sein – man denke an die Brutalität von Schlafkrankheit und Malaria –, aber sie richten auch andere Schäden an. Zecken und Läuse leben nur auf der Haut, aber sie können ihren Wirt abmagern lassen und auszehren. Würmer im Darm lassen ihre Wirte jahrelang leben, aber sie hemmen ihr Wachstum und schmälern ihre Nachkommenschaft. Die Egel, die Kevin Lafferty im Carpintería Salzsumpf studierte, bringen ihre Kärpflinge nicht selbst um, aber sie verwandeln sie in tanzendes Vogelfutter. Eine von Sacculina infizierte Krabbe kann lange leben, aber weil sie von ihrem Parasiten kastriert wurde, kann sie ihre Gene nicht weitergeben. Im evolutionären Sinn ist sie eine wandelnde Leiche. Wenn Parasiten verhindern, dass die Gene ihrer Wirte weitergegeben werden, bewirken sie damit eine strenge natürliche Auslese. Vielleicht bereiteten sie Darwin zuviel Leid, sodass er deshalb 195
die kreative evolutionäre Kraft, die sie in ihren Wirten auch sein können, nicht erkannte. Ein großer Teil der von Parasiten bewirkten Evolution findet dort statt, wo man es erwartet: im Immunsystem, das Tiere vor Infektionen schützt. Aber es entstehen auch andere Dinge, die auf den ersten Blick nichts mit Krankheiten zu tun haben. Es gibt immer mehr Beweise, dass Parasiten dafür verantwortlich sind, dass wir – und viele andere Tiere – Sex haben. Den Pfauenschwanz und andere Einrichtungen der Natur, mit denen Männchen ihre Partnerinnen anlocken, verdanken wir möglicherweise den Parasiten. Parasiten könnten Tiergesellschaften geformt haben – von den Ameisen bis zu den Affen. Wahrscheinlich haben Parasiten die Evolution ihrer Wirte von Anfang an vorangetrieben. Vor vier Milliarden Jahren, als Gene lockere Zusammenschlüsse bildeten, konnten sich parasitische Gene diesen Zustand zunutze machen und sich schneller replizieren als alle anderen. Als Reaktion darauf entwickelten diese frühen Organismen wahrscheinlich die Fähigkeit, ihre Gene zu überwachen. Diese Überwachung findet auch heute noch in unseren Zellen statt, denn sie sind mit Genen ausgestattet, deren einzige Aufgabe darin besteht, nach genetischen Parasiten zu suchen und sie möglichst zu vernichten. Als sich mehrzellige Organismen entwickelten, wurden sie zu einem besonders beliebten Ziel für Parasiten, weil jeder dieser Organismen ein großes stabiles Habitat mit reichlich Nahrung zu bieten hatte. Und sie wurden zudem mit einer neuen Art von Parasitismus konfrontiert, denn einige ihrer eigenen Zellen versuchten, sich auf Kosten des übrigen Organismus zu vermehren (ein Problem, das wir auch heute noch bei Krebs haben). Dieser Druck führte zur Entwicklung der ersten Immunsysteme. Doch auf jeden Schritt, den ein Wirt gegen Parasiten unternimmt, können die Parasiten mit einem entsprechenden Schritt reagieren. Nehmen wir an, ein Immunsystem entwickelt ein Etikett, um es Parasiten aufzukleben und sie besser erkennbar und leichter zerstörbar zu machen. Dann kann der Parasit das nötige Werkzeug entwickeln, um dieses Etikett abzureißen. Auf diese Weise wurden die Immunsysteme immer raffinierter. Vor ungefähr 500 Millionen Jahren entwickelten Wirbeltiere zum Beispiel die Fähigkeit, besondere Parasitenarten mit Hilfe von T- und B-Zellen zu erkennen und Anti196
körper gegen sie zu bilden. Dieses evolutionäre Vor und Zurück erfolgte nicht nur in der fernen Vergangenheit. Es geschieht auch heute, und die Biologen können zusehen, wenn sie die entsprechenden Versuche machen. A. R. Kaaijeveld vom Imperial College in England hat einen solchen Versuch mit zwei Fruchtfliegenspezies, der Drosophila subobscura und Drosophila melanogaster, und ihren Wespenparasiten durchgeführt. Er züchtete die Wespen auf D. subobscuraFliegen und setzte dann ein paar Dutzend der Parasiten in eine Kammer mit D. melanogaster. Die Wespen parasitierten diese neuen Wirte und töteten 19 von 20 D. melanogaster. Nur einer D. melanogaster-Fliegen gelang es, ihr Immunsystem so umzustellen, dass es die Wespenlarve tötete. Mit diesen resistenten Fruchtfliegen züchtete Kraaijeveld die nächste D. melanogaster-Generation. Gleichzeitig züchtete Kraaijeveld weiterhin seine Wespen auf den D. subobscura-Fliegen. Als die nächste D. melanogasterGeneration reif war, setzte er einige Wespen in ihre Kammer. Die Wespen griffen die jungen D. melanogaster an und aus den Überlebenden züchtete Kraaijeveld wieder eine neue Generation. Die Art, wie Kraaijeveld die Wespen und Fliegen züchtete, lässt sich mit einem Boxkampf vergleichen, bei dem einem Boxer die Augen verbunden wurden. Mit jeder Generation konnten sich die D. melanogaster-Fliegen den Wespen mehr und mehr anpassen. Die Wespen, die Kraaijeveld auf einer anderen Fliegenspezies züchtete, hatten keine Chance, mit der Evolution ihres D. melanogaster-Wirts mitzuhalten. Die ungleiche Paarung führte dazu, dass sich D. melanogaster im Kampf gegen ihre Parasiten ständig verbesserte. In nur fünf Generationen erhöhte sich der Anteil von Fliegen, welche die Wespenlarven töten konnten, von 1:20 auf 12:20. Wirte und Parasiten können sich gemeinsam in einer ständigen Eskalation entwickeln (was die Biologen einen Rüstungswettlauf nennen), aber in vielen Fällen gleicht ihre Evolution mehr einem Karussel. Parasiten gewinnen mit der Zeit eine immer größere Fähigkeit, ihre Wirte zu erkennen, Schwachstellen in ihrer Abwehr zu finden und in ihren Wirten gedeihlich zu leben. Aber eine Wirtsspezies ist nie genetisch uniform, sondern hat ihre verschiedenen Spielarten oder Rassen, eine jede mit einem eigenen Gen197
satz. Parasiten bilden ebenfalls ihre Variationen, von denen einige bei bestimmten Wirtsrassen hilfreich sein können. Mit der Zeit tauchen dann Parasitenrassen auf, von denen jede an Wirtsrassen angepasst ist. Biologen haben mathematische Modelle von diesen engen Beziehungen erstellt. Wenn eine Wirtsrasse (nennen wir sie Wirt A) häufiger vorkommt als die übrigen, werden alle an sie angepassten Parasiten eine rosige Zukunft haben. Schließlich können sie eine Fülle von Wirten infizieren und sich unterwegs vermehren. Das Problem ist nur, dass sie viele ihrer Wirte töten oder verkrüppeln. Wirt A wird von Generation zu Generation dahinschwinden, während die Parasiten in ihm ihren Erfolg untergraben. Die Aufmerksamkeit, die Parasiten dem häufigsten Wirt widmen, verschafft den selteneren Wirtsrassen einen Vorteil. Nachdem die häufigsten Parasiten nicht adaptiert sind, um sie anzugreifen, haben sie die Chance, sich gut zu vermehren. Während Wirt A absteigt, steigt ein anderer Wirt – nennen wir ihn Wirt B – auf. Parasiten, die sich an Wirt B anpassen können, werden von der natürlichen Auslese belohnt und vermehren sich ebenfalls. Sie wiederum dezimieren Wirt B und lassen Wirt C aufsteigen, dann folgen D und E, und so geht es fort, vielleicht sogar wieder zurück zu Wirt A. Manchmal entsteht durch eine Mutation eine seltene neue Wirtsrasse. Sie wird einfach Wirt F und schließt sich der Rotation an. Dieses endlose Auf und Ab hätte die Biologen zu Lankesters Zeiten wahrscheinlich entsetzt. Sie verstanden die Geschichte des Lebens als eine fortschrittliche Entwicklung, die stets von Degeneration bedroht war. Bei dieser neuen Art von Evolution gibt es keine Vorwärts- oder Rückwärtsentwicklung. Parasiten zwingen ihren Wirt, eine ungeheure Vielzahl von Veränderungen durchzumachen, ohne sich auf irgendetwas hinzubewegen. Eine Variante steigt auf und dann wieder ab, eine andere Variante steigt auf, um ihren Platz einzunehmen, aber nur, um ebenfalls wieder abzusteigen. Diese Art von Evolution ist kein Stoff für Heldengedichte, sondern eher für surreale Kindergeschichten. Die Biologen nannten sie denn auch die Red-Queen-Hypothese nach der Figur der Roten Königin in Lewis Carrolls Geschichte »Alice im Wunderland«. Die Rote Königin nimmt Alice auf einen Dauerlauf mit, der 198
nirgendwohin führt. »Ja, siehst du«, sagt die Rote Königin, »hier musst du laufen, was du kannst, um auf der Stelle zu bleiben.« Doch etwas ist an der Red-Queen-Hypothese paradox. Eigentlich handelt es sich dabei um das Auf-der-Stelle-laufen, und doch kann dieses Auf-der-Stelle-laufen der Evolution erlaubt haben, einen entscheidenden Schritt nach vorn zu tun: Es kann zur Erfindung der Sexualität geführt haben. *** Anfang der achtziger Jahre befand sich Curtis Lively in Neuseeland und dachte über Sex nach. Er hatte gerade mit einer Dissertation über die Rankenfußkrebse des Golfs von Kalifornien seinen Doktor in Evolutionsbiologie gemacht. Eine Frage, die ihm bei seinen Vorprüfungen gestellt wurde, lautete: »Warum fällt es den Evolutionstheoretikern so schwer, Sexualität zu erklären?« Er hatte keine Ahnung. Es ist eine Frage, welche die wenigsten Menschen erwarten würden. »Wenn Sie in eine College-Klasse gehen und fragen: ›Warum gibt es männliche Wesen?‹, ernten Sie Blicke, als wären Sie nicht ganz dicht«, sagt Lively. »Als Antwort hören Sie dann, man bräuchte männliche Wesen zur Fortpflanzung und dass jede Generation mehr Männlein als Weiblein produziert. Das gilt vielleicht für Säugetiere, aber für viele andere Arten trifft das nicht zu. Alles und jedes kann sich fortpflanzen. Es gibt auch Fortpflanzung ohne Männer und ohne Sex. Aber Sex und Fortpflanzung sind in den Gehirnen der meisten Menschen schlicht ein und dasselbe.« Bakterien teilen sich einfach in zwei Hälften, wenn der richtige Zeitpunkt für sie gekommen ist, und das Gleiche können viele einzellige Eukaryonten. Eine große Anzahl Pflanzen und Tiere hat die Fähigkeit, sich ganz bequem allein fortzupflanzen. Selbst unter den Arten, die sich geschlechtlich vermehren, können viele auf Klonen umschalten. Wenn man an einem Berghang in Colorado durch einen großen Bestand von Zitterpappeln geht, könnte man sich auch in einem Wald von Klonen befinden, der nicht durch Samen, sondern aus den Wurzeln eines einzigen Baums entstanden 199
ist, die aus dem Boden herauswuchsen und neue Schößlinge bildeten. Hermaphroditen wie Nacktkiemer-Schnecken und Regenwürmer haben männliche und weibliche Geschlechtsorgane und können sich selbst befruchten oder sich mit anderen paaren. Manche Eidechsenarten sind ausschließlich Mütter und können ihre unbefruchteten Eier durch Parthenogenese, auch Jungfernzeugung genannt, irgendwie dazu bringen, dass sie sich zu entwickeln beginnen. Verglichen mit all diesen Fortpflanzungsarten ist Sex langsam und kostspielig. 100 parthenogenetische weibliche Eidechsen können weitaus mehr Nachkommen produzieren als 50 Männchen und 50 Weibchen. In nur 50 Generationen könnte eine einzige klonende Eidechse mehr Nachkommen haben als eine Million geschlechtlicher Eidechsen. Als Lively erfuhr, dass man für die sexuelle Fortpflanzung noch keine befriedigende Erklärung hatte, gab es ein paar ganz gute Hypothesen, warum Sexualität überhaupt existierte. Zwei der beliebtesten hatten Spitznamen: »Lottery« und »Tangled Bank«. Nach der Lottery-Hypothese half die sexuelle Fortpflanzung, in instabilen Umgebungen zu überleben. Eine Reihe von Klonen konnte in einem Wald ganz gut zurechtkommen, aber was würde passieren, wenn aus diesem Wald im Lauf von ein paar Jahrhunderten eine Prärie wurde? Die sexuelle Fortpflanzung lieferte die Variationen, die den Organismen das Überleben in einer veränderten Umwelt ermöglichten. Die Tangled-Bank-Hypothese geht davon aus, dass die sexuelle Fortpflanzung die Nachkommen für eine komplizierte Welt rüstet. In jedem Lebensraum – ob im Watt, im Laubdach der Wälder oder in einer Thermalquelle in der Tiefsee – gibt es Nischen, in denen zum Überleben unterschiedliche Fähigkeiten erforderlich sind. Ein Klon, der auf eine bestimmte Nische spezialisiert ist, kann nur Nachkommen produzieren, die wie er nur mit dieser einen Nische zurechtkommen. Die sexuelle Fortpflanzung dagegen mischt die genetischen Karten und gibt jedem Nachkommen ein anderes Blatt. »Im Grunde verteilt sie die Nachkommen, sodass sie verschiedene Ressourcen nutzen«, sagt Lively. Die Jungen müssten nicht so viel untereinander um Nahrung kämpfen, und eine Mutter habe eine bessere Chance, Großmutter zu werden. Obwohl die Tangled-Bank-Hypothese theoretisch funktionieren würde, war sie 200
nicht sehr wahrscheinlich, denn die von den verschiedenen Gensätzen gebauten Körper müssten sich, wenn es so funktionieren sollte, völlig voneinander unterscheiden. Trotzdem war dies die damals vorherrschende Theorie. Lively hielt sich 1985 in Neuseeland auf, weil seine Frau, Lynda Delph, an der University of Canterbury Evolutionsbiologie studieren wollte. Lively hatte dort eine Forschungsstelle bekommen und überlegte, ob ihm Neuseeland eine Möglichkeit bieten könnte, die verschiedenen Erklärungen für Sexualität zu testen. In der Evolutionsbiologie ist es oft so, dass Ideen aufkommen, die sich dann als schlecht nachprüfbar erweisen. Um Erklärungen für Sexualität zu testen, brauchte Lively geeignete Studienobjekte. Sie mussten eine Mischung aus geschlechtlichen und ungeschlechtlichen Arten sein. Bei einigen Tierarten gibt es zum Beispiel Populationen von männlichen und weiblichen Tieren, die Seite an Seite mit Klonen leben. Andere Arten sind Hermaphroditen, die sich aussuchen können, ob sie sich selbst befruchten oder paaren. Nur bei diesen Tierarten ließen sich von Generation zu Generation die evolutionären Auswirkungen feststellen, weil ein Biologe vergleichen könnte, wie die geschlechtlichen und die ungeschlechtlichen Arten gediehen. »Wenn Sie etwas nehmen, das nur geschlechtlich ist«, sagt Lively, »werden Sie nicht wissen, was die Auslese für oder gegen einen Ungeschlechtlichen bewirken würde. Aber wenn Sie ein System haben, in dem beide vorkommen, haben Sie eine Vergleichsbasis.« Er konnte zum Beispiel keine Hypothese über die zeitliche Existenz der Sexualität bei Menschen testen, weil wir uns alle sexuell fortpflanzen. Es gibt nirgends einen vergessenen Stamm, der natürlich geklonte Kinder haben kann. In unserer Stammesgeschichte endete der Wettlauf zwischen Sexuellen und Asexuellen vor hunderten von Millionen Jahren. Ein glücklicher Zufall wollte es, dass es in Neuseeland eine Schnecke gibt, die sich perfekt für Livelys Untersuchung eignete: Potamopyrgus antipodarum, eine gut fünf Millimeter lange Schnecke, die in den meisten Seen, Flüssen und Bächen des Landes vorkommt. Obwohl die meisten Populationen der Schnecke parthogenetisch gezeugte identische Klone waren, gab es einige mit männlichen und weiblichen Formen, die sich sexuell fortpflanzten. 201
Lively begann damit festzustellen, ob die Habitate der Schnecken einen Einfluss darauf hatten, wie sie sich vermehrten. Die Schnecken in Flüssen und Bächen mussten mit plötzlichen Überschwemmungen leben, während die in den Seen ein friedliches, gleichbleibendes Dasein genossen. Nach der Lottery-Hypothese müssten die Schnecken in den Bächen die geschlechtliche Fortpflanzung favorisieren, weil sie an einem instabilen Ort lebten. Und der Tangled-Bank-Hypothese zufolge müsste es in den Seen mehr Konkurrenz um die verschiedenen Nischen geben und deshalb bräuchte man dort Männchen. Lively wanderte zu den hochgelegenen Bergseen und fischte Schnecken. Er knackte und schnitt die gefangenen Schnecken auf, um hinter ihrem rechten Tentakel nach einem Penis zu suchen. Doch als er das Schneckeninnere vor sich sah, war er bestürzt: Sie waren vollgestopft mit etwas, das für ihn wie riesiges Sperma aussah. »Ich zeigte sie einem der Parasitologen an der Universität, und er sagte: ›Das ist kein Sperma, Idiot. Das sind Würmer.‹« Der Parasitologe erklärte Lively, dass es sich bei diesen Parasiten um Würmer handele, die ihre Schneckenwirte kastrieren, sich vermehren und schließlich in ihren Endwirt, eine Ente, wechseln würden. An manchen Orten, sagte er, seien die Schnecken vollgepackt mit Egeln, an anderen hätten sie überhaupt keine. Die Blöße, die sich Lively gegeben hatte, war jedoch leicht zu verschmerzen, weil ihm klar wurde, dass er mit diesen Parasiten eine dritte Erklärung für die Dauerhaftigkeit der sexuellen Fortpflanzung nachprüfen konnte – nämlich die, dass Parasiten dafür verantwortlich waren. Diese Idee war bereits in verschiedener Form von einigen Wissenschaftlern geäußert worden, am ausführlichsten im Jahr 1980 von dem Oxford-University-Biologen William Hamilton. Hamilton behauptete, wenn Wirte mit der Roten Königin konfrontiert würden, könne Sex eine bessere Strategie zur Bekämpfung von Parasiten sein als Klonen. Stellen wir uns eine Ansammlung von Amöben vor mit solchen, die sich durch Klonen vermehren, und anderen, die sich in zehn genetisch unterschiedliche Linien geteilt haben. Nun werden die Amöben von Bakterien infiziert und der Wettlauf mit der Roten Königin beginnt. Die Bakterien kommen ebenfalls in Gestalt verschiedener Rassen vor, von denen jede an eine andere Wirtsrasse 202
angepasst ist. Die häufigste Amöbenrasse wird von ihrer Bakterienrasse schwer geschädigt, und wenn diese Amöbenrasse genügend dezimiert ist, richtet sich das Spotlight der Parasiten auf eine andere. Weil sich diese Amöben durch Klonen vermehren, ist jede neue Amöbengeneration mit ihren Vorfahren genetisch identisch. Die Bakterien fallen also immer und immer wieder über die gleichen zehn Amöbenrassen her, und nach einer Weile können sie einige davon ausgerottet haben. Nun stelle man sich vor, dass einige dieser Amöben Möglichkeiten zur sexuellen Fortpflanzung entwickeln. Die männlichen und weiblichen Amöben bilden Kopien ihrer Gene und verbinden sie zur DNS ihrer Nachkommen, und während sich die Gene zusammenfinden, werden sie gemischt. Daraus ergibt sich, dass der Nachkomme nicht die Kopie eines Elternteils ist, sondern eine neue, bunt durcheinander gewürfelte Anordnung von Genen. Nun fällt es den Parasiten wesentlich schwerer, Jagd auf ihre Wirte zu machen. Weil sich die Gene der geschlechtlichen Amöben mischen, bilden sich keine deutlich unterscheidbaren Rassen, und dadurch wird es für die Parasiten schwieriger, sich bei ihnen einzuklinken. Die Rote Königin nimmt auch die sexuellen Organismen auf den Dauerlauf mit, aber das Risiko, infiziert zu werden, ist für deren Nachkommen geringer. Der Schutz, den diese Vielfalt mit sich bringt, könnte den sexuellen Amöben einen entscheidenden Vorsprung in der Konkurrenz mit den asexuellen verschaffen. Es war eine elegante Hypothese, aber Lively glaubte sie nicht so recht, als er zum ersten Mal davon hörte. »Ich hatte das Gefühl – und ich glaube, es ging fast allen so –, dass es eine sehr kluge Idee war, aber ich hielt sie für unwahrscheinlich, weil es in meinen Augen einfach nicht genug Parasitismus auf der Welt gab. Wenn Sie einen selektiven Druck haben wollen, der stark genug ist, sollte es etwas sein, das große, unmittelbar sichtbare Auswirkungen hat. Zumindest bei den Menschen in diesem Land sehen wir keine solchen großen Auswirkungen. Und die Feldbiologie war hauptsächlich an Konkurrenz oder räuberischem Verhalten interessiert. Bei Parasiten gab es keine Tradition.« Aber es war eine Tatsache, dass die meisten Tiere – einschließlich Livelys Schnecken – voll von Parasiten waren. Nur für den Fall, dass Hamilton recht haben könnte, begann Lively sich zu no203
tieren, ob seine Schnecken mit Egeln infiziert waren oder nicht. »Die Theorie von den Parasiten hatte Hamilton gerade erst in den Jahren 1980, 1981, 1982 aufgestellt, aber niemand hatte Systeme entdeckt, wo man sie hätte testen können. Ich wußte nicht, dass ich bereits mit einem arbeitete, bis ich anfing, die Schnecken aufzuschneiden. Da wurde mir klar, dass ich mich Hamiltons Idee widmen konnte. Aber wenn es Viren gewesen wären, wäre ich nicht draufgekommen. Hier haben wir es jedoch mit dicken schwimmenden Würmern zu tun und jeder kann sie unter einem Präpariermikroskop sehen.« Lively brauchte nicht lange, um ein deutliches Muster zu erkennen. Die Schnecken in den Seen waren stärker mit Egeln infiziert als die in den Bächen und in den Seen gab es die meisten männlichen Schnecken. Je stärker ein See infiziert war, umso mehr Schneckenmännchen gab es dort. Die einzige Hypothese, die bei allen drei Mustern zutraf, war die Rote Königin: Wo es mehr Parasiten gab, herrschte ein stärkerer Evolutionsdruck in Richtung sexuelle Fortpflanzung. »Ich war völlig überrascht. Als ich die Hälfte des Materials, das ich schließlich veröffentlichte, beisammen hatte, dachte ich: ›Wow, da zeichnet sich ein Trend ab.‹ Also besorgte ich mir noch eine Menge weiterer Daten, um zu sehen, ob er sich fortsetzte. Und das tat er. Mehr Seen veränderten nichts – es waren nicht nur einige wenige Seen, die viele geschlechtliche Schnecken hatten und stark infiziert waren.« Lively veröffentlichte diese ersten Ergebnisse seiner Neuseeland-Schnecken-Studie im Jahr 1987. Er testete die Rote-KöniginHypothese auf verschiedene Weise und erhielt Ergebnisse, die sie stützten. Im Jahr 1994 reiste er zum Beispiel mit seiner Mitarbeiterin Jukka Jokela an den Lake Alexandrina auf der Südinsel von Neuseeland. Sie sammelten Schnecken sowohl aus flachen als auch aus tiefen Gewässern. In den flacheren lebten die Schnecken Seite an Seite mit Enten, den Endwirten für die Egel, und die Enten verbreiteten die Egeleier. Bei so vielen Eiern im Wasser sind die Schnecken im flachen Bereich kränker als die weiter vom Ufer entfernten. Lively und Jokela stellten fest, dass es dort auch mehr männliche Schnecken gab, wahrscheinlich aufgrund des Drucks durch die Parasiten. An einem einzigen See konnten sie sehen, wie Parasiten das Sexualleben ihrer Wirte gestalteten. 204
Gleichzeitig verfolgte Lively die Arbeit anderer Biologen, die bei anderen Arten die Rote Königin am Werk fanden. In Nigeria lebt die Schnecke Bulinus truncatus, eine jener Schneckenarten, die mit den Bilharziose verursachenden Pärchenegeln infiziert sind. Das Sexualleben dieser Schnecke ist exotischer als das von Livelys Neuseeland-Schnecken. Jede ist ein Hermaphrodit, mit männlichen und weiblichen Keimdrüsen, die zur Befruchtung der eigenen Eier und zur Bildung von Klonen verwendet werden können. Aber manche haben auch einen Penis, den sie zur Paarung benutzen können. Wie bei den Neuseeland-Schnecken scheint der Aufwand, den die nigerianische Schneckenspezies mit Penisentwicklung und geschlechtlicher Fortpflanzung betreibt, eine Riesenverschwendung zu sein, wenn sie sich doch viel einfacher selbst befruchten kann. Aber wie in Neuseeland scheint sich dieser Aufwand wegen der Parasiten zu lohnen. Die Parasitologin Stephanie Schrag stellte fest, dass die Schnecken jedes Jahr eine Penissaison haben. Im Norden Nigerias ist das Wasser im Dezember und Januar am kühlsten. Die Schnecken nützen die niedrige Temperatur als Stichwort, jetzt mehr Nachkommen mit Penissen zu produzieren – also Schnecken, die sich mit anderen Schnecken paaren können. Bei mehr Penissen kommt es unter den Schnecken zu mehr Sex, zu mehr DNS-Vermischung und zu mehr Variation bei der nächsten Generation. Die Schnecken brauchen ungefähr drei Monate, um zu reifen; folglich wird diese neue, sexuell gezeugte Generation zwischen März und Juni erwachsen. Und das ist genau die Zeit, in der die Egelverseuchung in Nord-Nigeria am schlimmsten ist. Mit anderen Worte: Schnecken scheinen die sexuelle Fortpflanzung zu nutzen, um sich schon Monate im Voraus auf einen alljährlichen Parasitenüberfall vorzubereiten. Die am wenigsten erwartete Unterstützung für den RoteKönigin-Effekt auf die sexuelle Fortpflanzung kam von den Parasiten selbst. Viele Parasiten pflanzen sich ebenso wie ihre Wirte geschlechtlich fort. 1997 fragten sich schottische Wissenschaftler, warum sich Parasiten diese Mühe machten. Wie Lively suchten sie eine Spezies, die sich nicht nur geschlechtlich oder ungeschlechtlich vermehren kann. Sie wählten Strongyloides ratti, einen Nematoden, der, wie der Name besagt, in Ratten lebt. Die in den 205
Därmen der Ratten wohnenden Weibchen legen Eier ohne irgendwelche Hilfe seitens der Männchen. Wenn diese Eier den Rattenkörper verlassen, schlüpfen die Larven als eine von zwei verschiedenen Formen. Die eine Form ist sämtlich weiblich. Sie verbringt ihre Zeit mit der Suche nach einer Ratte. Ist sie in eine Ratte eingedrungen, kriecht sie durch die Haut, bis sie die Nase der Ratte erreicht. Dort findet sie die Nervenenden, mit denen die Ratte riecht, und folgt ihnen in das Gehirn. Von dort begibt sie sich – niemand weiß genau, auf welchem Weg – zu den Därmen der Ratte und beginnt, weibliche Klone zu produzieren. Die andere Form des Nematoden schlüpft aus Eiern im Boden und bleibt dort. Wenn die Larven reif sind, werden sie sowohl zu Männchen als auch zu Weibchen. Statt zu klonen, paaren sie sich, um sich zu vermehren. Die Weibchen legen befruchtete Eier, aus denen eine neue Generation Würmer geboren wird, die in die Haut von Ratten eindringen und in ihre Därme kriechen. Das heißt, dass Strongyloides seinen Lebenszyklus mit oder ohne Sex vollenden kann. Die schottischen Wissenschaftler wollten sehen, ob eine Veränderung des Immunsystems der Ratte die vom Parasiten gewählte Fortpflanzungsart beeinflussen kann. Sie infizierten Ratten mit Strongyloides und die Tiere entwickelten eine Immunantwort auf die Parasiten. Dann bekamen sie ein Mittel gegen die Würmer gespritzt, um die Parasiten aus ihrem Körper zu entfernen. Nun waren die Ratten präpariert, um eine zweite Invasion abzuwehren. Als die Wissenschaftler die Ratten erneut infizierten und die neue Nematodenwelle anfing, Eier zu produzieren, waren die aus ihnen hervorgegangenen Parasiten solche, die mehr für die sexuelle Fortpflanzung in Frage kamen. Bei einem anderen Versuch unterdrückten die Wissenschaftler das Immunsystem einer Ratte durch Bestrahlung und infizierten sie dann mit Strongyloides. Sie stellten fest, dass die Parasiten wesentlich mehr dazu neigten, sich zu klonen als zu paaren. Diese Versuche zeigten, dass sich Strongyloides lieber asexuell fortpflanzen würde, jedoch von einem gesunden Immunsystem gezwungen wird, sich sexuell fortzupflanzen. »Das Immunsystem ist eine Art Parasit des Parasiten«, sagt Lively. T- und B-Zellen 206
vermehrten sich wie die Parasiten zu vielen verschiedenen Rassen, und die erfolgreichsten Killer würden sich am meisten vermehren. Und wie ihre Wirte könnten sich auch die Parasiten verteidigen, indem sie sich geschlechtlich fortpflanzen und ihre Gene diversifizieren würden. Alle Arbeiten – die von Lively sowie die der anderen Wissenschaftler – über die Ursprünge der Sexualität ruhen auf den Schultern der Roten Königin und doch war von ihr selbst kaum etwas zu sehen. Einige Wissenschaftler, die Computersimulationen vom Kampf zwischen Wirt und Parasit erstellten, sahen ihren Schatten über die Monitore huschen. Lively konnte ihre Auswirkungen nur sehen, indem er auf einer Karte eintrug, wo die sexuellen und die asexuellen Schnecken lebten – doch es war nie mehr als eine Momentaufnahme. Aber schließlich hatte er genug Schnecken untersucht, um zu erkennen, dass sich ihr Werk eher über die Zeit als über den Raum erstreckte. Fünf Jahre lang sammelten er und sein Mitarbeiter Mark Dybdahl Schnecken im Lake Poerua. Die Schnecken dort waren ausschließlich Klone und die meisten gehörten einer von vier größeren Rassen an. Lively und Dybdahl nahmen jedes Jahr eine Volkszählung bei den vier Schneckenclans vor und beobachteten, wie ihre Populationen stiegen und fielen. Sie brachten die seltensten und die häufigsten Klone in ihr Labor an der Indiana University, wo Lively mittlerweile arbeitete. Dort setzten sie diese beiden Schneckenarten ihren Egeln aus und stellten einen gewaltigen Unterschied fest: Die Parasiten fanden es wesentlich schwieriger, die seltenen Schnecken zu infizieren als die häufigen Schnecken. Hier war eine zentrale Voraussage der Roten Königin: Seltenheit ist für einen Organismus ein Vorteil, weil Parasiten den häufigeren Wirten besser angepasst sind. Dann sahen sie sich ihre Zählungen an, die sie fünf Jahre lang von den Schnecken des Lake Poerua gemacht hatten. Es stellte sich heraus, dass es in einem Jahr keine besondere Verbindung zwischen der Zahl der Parasiten, die eine Schneckenrasse infizierte, und der zahlenmäßigen Größe der Rasse gab. Diejenigen, die stark von Parasiten befallen waren, waren nicht die häufigsten. Aber nachdem sich ihre Aufzeichnungen über fünf Jahre erstreckten, konnten Lively und Dybdahl Vergleiche mit früheren Jahren 207
ziehen. Dabei zeigte sich plötzlich ein deutliches Muster. Die Schneckenrassen, die in einem Jahr am schwersten durch Parasiten belastet waren, waren ein paar Jahre zuvor die häufigsten Schnecken gewesen. Und jetzt nahmen sie ab. Die Schnecken hatten als seltene Rasse begonnen und sich tüchtig vermehrt, aber die Parasiten holten sie schließlich ein und begannen, sie wieder zu dezimieren. Weil es eine Weile dauerte, bis die Evolution so weit fortgeschritten war, dass die Egel ihren Wirten gewachsen waren, erreichten die Egel ihren größten Erfolg erst, als der Bestand der Schnecken bereits zurückging. Zum ersten Mal waren Wissenschaftler in der Lage, die Rote Königin am Werk zu sehen, indem sie rückwärts durch die Zeit gingen. Es ist eine Methode, die Alice gutgeheißen hätte. Als sie bei ihren Abenteuern die Rote Königin einmal aus den Augen verlor, fragte sie die Rose, wie sie sie einholen könne, und die Rose antwortete: »Ich würde dir raten, in die andere Richtung zu gehen.« Das hörte sich für Alice unsinnig an, aber nachdem sie die Königin nur hin und wieder für einen kurzen Augenblick in der Ferne sah, dachte sie, sie könne die Methode ja einmal ausprobieren und in die entgegengesetzte Richtung gehen. Und es glückte ganz wunderbar. Sie war noch keine Minute gegangen, als sie von Angesicht zu Angesicht vor der Roten Königin stand. *** Kurz nachdem William Hamilton seine These aufgestellt hatte, dass Parasiten die Evolution der geschlechtlichen Fortpflanzung vorantreiben würden, wurde ihm klar, dass sich daraus noch etwas anderes ergab. Sex hilft den Organismen vielleicht, sich gegen Parasiten zu wehren, aber er bringt auch seine besonderen Probleme mit sich. Sagen wir einmal, Sie wären eine Henne. Ihre Gene sind besonders gut geeignet, um die Parasiten abzuwehren, welche die Rote Königin im Augenblick zu den häufigsten gemacht hat. Sie möchten ein paar Küken haben, aber dafür brauchen Sie einen Hahn, und die Hälfte der Kükengene wird von ihm stammen. Wenn Sie sich einen Hahn aussuchen, der schlechte Parasiten ab208
wehrende Gene hat, werden Ihre Küken die Folgen zu tragen haben. Es zahlt sich also für Sie aus, wenn Sie wählerisch sind und herausfinden, welche Hähne gute Gene haben. Der Hahn braucht nicht heikel zu sein, weil er millionenweise Sperma bilden kann. Sie jedoch können im Lauf Ihres Lebens nur ein paar Dutzend Eier ausbrüten. Hamilton, der damals mit einer graduierten Studentin, Marlene Zuk, an der University of Michigan zusammenarbeitete, behauptete, dass weibliche Tiere das Aussehen und die Zurschaustellung der Männchen beurteilen würden, um zu entscheiden, wie gut sie Parasiten abwehren könnten. Ein schwacher Freier bräuchte den größten Teil seiner Kraft im Kampf gegen Parasiten auf und habe wenig Reserven. Aber ein Männchen, das Parasiten Widerstand leisten könne, habe genug Energie übrig, um dem Weibchen seine gesunden Gene anzupreisen. Diese Reklame, so argumentierten Hamilton und Zuk, solle auffallend, extravagant und kostspielig sein. Ein Hahnenkamm wäre ein Beispiel für diese Art eines biologischen Resümees. Für das Überleben des Hahns sei der Kamm nicht nur völlig unwichtig, sondern sogar eine Belastung für ihn. Denn wenn er rot und stolz geschwellt bleiben solle, müsse der Hahn Testosteron hineinpumpen. Testosteron hemme das Immunsystem und benachteilige den Hahn im Kampf gegen Parasiten. Parasiten könnten dahinter stecken, dass der Hahn einen Kamm trage; sie könnten die Schwanzfedern der Paradiesvögel in die Länge gezogen, die Brust des Dompfaffen röter gefärbt, das Stichlingsmännchen mit bunten Flecken geschmückt und die Spermapäckchen der Grillen vergrößert haben. Alles, was Weibchen bei der Beurteilung der Männchen von Nutzen sein könne, würde möglicherweise von Parasiten beeinflusst. Hamilton und Zuk stellten ihre Idee Anfang der achtziger Jahre mit einem einfachen Test vor. Im Großen und Ganzen würde man erwarten, dass die Angehörigen einer mit vielen Parasiten belasteten Spezies auffälliger seien als Arten mit weniger Parasiten. Nach der Hypothese von Hamilton und Zuk würden Bakterien und Viren keinen großen Einfluss auf die männliche Zurschaustellung haben. Sie neigten dazu, ihre Wirte zu töten und von ihnen getötet zu werden. Im ersten Fall seien keine Männchen mehr übrig, um sich zur Schau zu stellen; im zweiten könne sich ein krankes Männchen 209
so gut erholen, dass es von stärkeren Männchen nicht zu unterscheiden sei. Hamilton und Zuk sammelten Berichte über nordamerikanische Singvögel und ihre Parasiten, die chronische, zerrüttende Krankheiten verursachen – zum Beispiel Vogelmalaria, Toxoplasma, Trypanosomen sowie verschiedene Würmer und Egel. Dann bewerteten sie die Auffälligkeit der Männchen jeder Spezies nach Buntheit und Gesang und stellten fest, dass die Arten mit den meisten Parasiten die eindrucksvollsten männlichen Zurschaustellungen hatten. Diese Arbeit regte zu einer Fülle von Forschungsarbeiten an – mehr noch als Hamiltons weit reichende Theorie über den Ursprung der Sexualität. Zoologen testeten diese Ideen am Gesang der Grillen, an den Flecken der Stichlinge und an den Kehlsäcken von Zauneidechsen. Bei vielen dieser Tests – besonders bei den Laborversuchen – kamen Hamilton und Zuk gut weg. Zuk beobachtete Bankivahühner aus Südostasien – wild lebende Verwandte des Haushuhns. Sie notierte, welche Wahl die Bankivahennen in ihrem Labor trafen und maß die Kämme der von ihnen gewählten Hähne. Die Hennen, so stellte sie fest, bevorzugten unbeirrbar die Männchen mit den längeren Kämmen. Bei einem etwas komplizierterem Versuch arbeiteten schwedische Wissenschaftler mit wild lebenden Jagdfasanen. Männliche Fasane haben Sporen an den Beinen. Die Forscher fanden heraus, dass die Hennen die Länge der Sporen nutzten, um sich für einen Hahn zu entscheiden. Dann untersuchten die Wissenschaftler die Immunsystem-Gene der Fasane und fanden, dass die Fasane mit den längsten Sporen eine besondere Genkombination aufwiesen. Was diese Gene tun, um den Hähnen bei der Abwehr von Parasiten zu helfen, wissen sie nicht. Aber sie beobachteten die Nachkommen der Fasane und hier ergab sich, dass die mit den langspornigen Vätern bessere Überlebenschancen hatten als die mit den kurzspornigen. Es gibt keinen Grund, warum sich diese Antiparasit-Reklame nicht auf das Balzverhalten ausdehnen könnte. Mit Sicherheit scheint dies auf einen Fisch namens Copadichromis eucinostomus zuzutreffen, der im Malawisee in Südostafrika lebt. Um die Weibchen anzulocken, bauen die Männchen Lauben auf dem Seegrund. 210
Manche dieser Lauben sind nicht mehr als eine Hand voll Sandkörner auf ein paar Steinen, während andere zehn Zentimeter hohe große Kegel bilden. Die Männchen bauen ihre Lauben in nächster Nachbarschaft, und jeder verteidigt die seine gegen umherstreifende Männchen, die versuchen, sich einer Laube zu bemächtigen. Die Fischweibchen tun unterdessen nicht viel mehr, als irgendwo zu fressen. Aber wenn die Paarungszeit kommt, schwimmen sie zu den Lauben und inspizieren das Werk der Männchen. Wenn sich ein Weibchen mit einem Männchen paaren will, scheidet es ein Ei aus und nimmt es ins Maul. Das Männchen legt sein Sperma dort hinein und das Weibchen trägt das befruchtete Ei fort. Anscheinend benutzen die Weibchen die Lauben, um herauszufinden, welches Männchen am besten gegen Parasiten wie Bandwürmer gewappnet ist. Versuche zeigten, dass Männchen bevorzugt wurden, die große, ebenmäßig geformte Lauben bauten. Diese Männchen hatten die wenigsten Bandwürmer. Ein Fisch mit Bandwürmern muss vielleicht zu viel Zeit zum Fressen aufwenden, sodass er seine Laube nicht behaupten kann. Somit wird die Laube zum Krankenblatt und vielleicht zu einem genetischen Profil. Doch bei etlichen Tests versagte die Hamilton-Zuk-Hypothese auch. Männliche Wüstenkröten zum Beispiel locken ihre Partnerinnen mit Rufen, aber ein lauter Ruf reflektiert nicht eine bessere Immunität gegen Pseudodiplorchis, ein Parasit, der in ihrer Blase lebt und sich von ihrem Blut ernährt. Bei einigen Zauneidechsenarten haben die Männchen leuchtend bunte Kehllappen, welche die Weibchen bewundern, aber es besteht keine Verbindung zwischen der Farbigkeit und Parasiten wie Plasmodium, welche die Eidechsen befallen. Aufgrund dieser Fehlschläge fragten sich die Wissenschaftler, ob sie die Hamilton-Zuk-Hypothese vielleicht falsch getestet hätten. Ein Parasit kann schädlich oder unschädlich sein und deshalb entweder großen Einfluss auf die Zurschaustellung eines Männchens haben oder gar keinen. Wenn man eine Unmenge an Untersuchungen über die Unmenge verschiedener Parasiten hat, ist es ziemlich schwierig, damit zu irgendeiner allgemeinen Schlussfolgerung zu gelangen. Statt Parasiten zu zählen, kann die Messung des Immunsystems zuverlässiger sein. Immunsysteme haben sich 211
so entwickelt, dass sie mit vielen verschiedenen Arten von Parasiten fertig werden, und können deshalb einen besseren allgemeinen Hinweis geben. Es ist zwar wesentlich mühsamer, mikroskopisch kleine weiße Blutkörperchen zu zählen als riesige Bandwürmer, aber es erweist sich als die bessere Methode. Immununtersuchungen untermauern die Hamilton-Zuk-Hypothese. Pfauhennen wählen zum Beispiel Pfauhähne mit den extravaganteren Schwänzen. Die Wissenschaftler konnten feststellen, dass Pfauhähne mit extravaganteren Schwänzen ein Immunsystem haben, das stärker auf Parasiten reagiert. Ein weiterer Grund für das Versagen der Hamilton-ZukHypothese könnte sein, dass die Wissenschaftler auf die falschen Signale achten. Sie haben sich an sichtbare Phänomene wie Hahnenkämme und Eidechsenkehlsäcke gehalten, weil sie leicht zu messen sind. Aber vielleicht ist die visuelle Kommunikation zwischen den Geschlechtern gar nicht so wichtig. Mäuse zum Beispiel riechen den Urin eines potentiellen Partners und erkennen daran, ob er Parasiten hat oder nicht; ist der Mäuserich krank, wird sich die Maus von ihm fernhalten. Es ist sogar möglich, dass Männchen ihre Düfte nützen, um ihre Widerstandskraft gegen Parasiten mit einer Art unwiderstehlichem Parfüm anzupreisen. »Der Duft einer männlichen Maus«, schreibt ein Biologe, »ist das chemische Äquivalent zum Gefieder des Pfaus.« Und selbst wenn sich herausstellt, dass die Hamilton-ZukHypothese bei anderen Tieren versagt, ist es durchaus möglich, dass die Parasiten ihr geschlechtliches Leben aus ganz anderen Gründen entwickelt haben. Es kommt letztlich immer wieder darauf an, wie ein Tier seine Gene weitergibt. Bei den Bienen verlassen die jungen Königinnen gegen Ende des Sommers den heimatlichen Stock mit einem Gefolge von Drohnen. Nachdem sie sich mit ihr gepaart haben, sterben die Drohnen, aber die Königinnen überleben den Winter und gründen im Frühling neue Kolonien mit den Eiern, die im vorigen Herbst befruchtet wurden. Die Untersuchung der DNS von Bienen hat ergeben, dass die Königinnen sich auf ihrem Hochzeitsflug mit 10 oder 20 Drohnen paaren können. Soviel Sex ist, vom Vergnügen einmal abgesehen, eine kostspielige Sache. Eine sich paarende Königin ist weniger geschützt vor räuberischen Angriffen, und die bei all dem Sex auf212
gewendete Energie könnte sie sich für das Überleben im Winter aufsparen. Möglicherweise ist aber diese sexuelle Aktivität der Bienen ein Schutz gegen Parasiten. Paul Schmid-Hempel, ein Schweizer Biologe, injizierte Sperma in Königinnen und zog die daraus entstehenden Völker auf. Einige Königinnen erhielten nur das Sperma von einigen eng verwandten Drohnen, andere bekamen einen Cocktail mit der vierfachen genetischen Vielfalt. Als die Bienen schlüpften, brachte Schmid-Hempel seine Bienenvölker auf eine blühende Wiese in der Nähe von Basel und ließ sie dort bis zum Ende des Frühjahrs. Als er sie wieder heimholte, zeigte sich, dass die Nachkommen der vielfältig begatteten Königinnen in fast jedem gemessenen Faktor wesentlich widerstandsfähiger gegen Parasiten waren als die von wenigen Drohnen begatteten. Ihre Völker hatten insgesamt sowie bei der einzelnen Biene sehr viel weniger Infektionen und Parasitenbefall. Die Nachkommen der vielfältig begatteten Königinnen hatten bessere Chancen, bis zum Ende des Sommers zu leben, woraus sich die größere Wahrscheinlichkeit ergab, dass sie neue Völker hervorbringen würden. Statt sich einzelne Partner sorgfältig von oben bis unten anzusehen, nimmt sich die Bienenkönigin viele Freier, um in ihrem zukünftigen Stock einen genetischen Regenbogen zu erzeugen. *** So gefährlich ein Immunsystem für Parasiten sein mag – besonders eines, das schnell aktiv werden kann – ist es doch die Verteidigung des letzten Auswegs. Es kämpft gegen Eindringlinge, die den Graben bereits überschritten haben und sich in der Burg befinden. Weitaus besser wäre es, die Parasiten gar nicht erst einzulassen. Die Evolution war auch hier gefällig. Wirte haben bestimmte Formen ihres Körpers, ihr Verhalten, ihre Paarungsart und sogar die Form ihrer Gesellschaften so angepasst, dass sie Parasiten auf Distanz halten können. Die Gestalt vieler Insekten dient eigens der Abwehr von Parasi213
ten. Einige Arten sind während ihres Larvenstadiums mit Stacheln und harten Hüllen bedeckt, die den Wespen das Ablegen ihrer Eier in der Larve verleiden. Manche haben lösbare Bartbüschel auf dem Leib, in denen sich die Wespe verstrickt, wenn sie versucht, sich auf der Larve niederzulassen. Wenn sich Schmetterlinge verpuppen, hängen sie manchmal an einem langen Seidenfaden, der es den Wespen unmöglich macht, die nötige Hebelkraft einzusetzen, um den Kokon zu durchbohren. Für manche Insekten ist eine Rüstung nicht genug. Viele Ameisenarten zum Beispiel werden von zahllosen ihnen angepassten parasitischen Fliegenarten geplagt. Die Fliege sitzt über dem Pfad, den sich die Ameisen vom Nest zum Futterplatz angelegt haben. Krabbelt eine passende Ameise unten vorbei, lässt sich die Fliege auf ihr nieder und schiebt ihre Legeröhre in den Spalt zwischen Kopf und Rumpf der Ameise. Die Eier reifen schnell, und die Maden bohren sich ins Innere der Ameise und wandern in ihren Kopf. Diese Larven sind Muskelfresser. In einem Säugetier würden sie in einen Bizeps oder einen Schenkel kriechen, aber bei Ameisen sitzt das meiste Fleisch am Kopf. Im Gegensatz zu unseren mit Hirn gefüllten Schädeln enthalten die der Ameisen nur ein loses Gewirr von Neuronen; der übrige Platz ist den Kiefermuskeln vorbehalten. Die Made im Ameisenkopf frisst die Muskeln, verschont aber sorgfältig die Nerven und wächst, bis sie den gesamten Raum ausfüllt. Eines Tages schließlich ereilt die Ameise ihr Schicksal: Der Parasit trennt die Verbindung zwischen Kopf und Rumpf und fällt wie eine reife Orange auf den Boden. Während der kopflose Wirt umhertaumelt, beginnt sich die Fliege zu verpuppen. Andere Insekten sind den Elementen und hungrigen Räubern ausgesetzt, wenn sie ihren Kokon spinnen, aber diese Fliege entwickelt sich wohlbehalten in der harten Schale eines Ameisenkopfs. Diese Fliegen sind so zerstörerisch, dass die Ameisen Verteidigungsstrategien entwickelt haben. Einige rennen, um den Fliegen zu entkommen; andere bleiben stehen und beginnen wild um sich zu schlagen und mit den Kiefern zu knirschen, sobald sie spüren, dass eine Fliege über ihnen ist. Eine einzige Fliege kann 100 Ameisen auf einer zwei Meter langen Strecke des Ameisenpfads zum Stillstand bringen. Landet die Fliege auf einer Ameise einer bestimmten Spezies, presst diese Ameise den Kopf plötzlich nach 214
hinten gegen ihren Leib und zerquetscht die Fliege wie in einem Schraubstock. Bei den Blattschneiderameisen haben parasitische Fliegen die gesamte Sozialstruktur verändert. Blattschneiderameisen laufen von ihren Bauten zu Bäumen, hacken Blätter ab und tragen sie nach Hause, wobei sie eine grüne Konfettiparade auf dem Waldboden bilden. Sie sind in vielen Wäldern Lateinamerikas die dominierenden Pflanzenfresser – obwohl sie die Blätter gar nicht fressen. Sie benützen sie, um darauf in ihren Bauten einen Pilz zu züchten, dessen Fruchtkörper sie dann fressen. Rein formal gesehen sind Blattschneiderameisen mehr Pilzzüchter als Pflanzenfresser. Ihre Staaten sind unterteilt in große Ameisen, welche die Blätter nach Hause tragen, und in kleine, die Zwerge, welche die Pilzgärten hegen und die man auch auf den Blättern sitzen sieht, die von den großen Ameisen zum Bau getragen werden. Die Insektenforscher haben lange gerätselt, warum die Zwerge hier ihre Zeit vergeuden. Einige meinten, sie würden vielleicht irgendeine andere Art Nahrung, zum Beispiel Pflanzensaft, auf den Bäumen sammeln und dann auf den Blättern heimkehren, um Energie zu sparen. In Wirklichkeit sind die Zwerge Parasitenwächter. Die parasitischen Fliegen, die Blattschneiderameisen angreifen, haben eine besondere Art, sich an ihre Wirte heranzumachen: Sie landen auf den Blattfragmenten und kriechen daran hinunter zu der Stelle, wo das Blattstück von den Kiefern der Ameise gehalten wird. Dann legen sie ihre Eier in die Lücke zwischen Kiefer und Kopf der Ameise. Die auf den Blättern reitenden Zwerge suchen die Blätter ab oder sitzen mit aufgesperrten Kiefern oben drauf. Wenn sie auf eine Fliege treffen, verscheuchen sie sie oder töten sie sogar. Größere Tiere führen einen ähnlich heftigen Kampf gegen Parasiten, obwohl er nicht so offensichtlich ist wie der Ringkampf einer Ameise mit einer Fliege. Säugetiere werden ständig von Parasiten befallen – von Läusen, Flöhen, Zecken, Pferdebremsen, Dasselfliegen und Magenbremsen –, die Blut saugen oder ihre Eier in die Haut legen. Als Reaktion darauf haben sich Säugetiere zu besessenen Putzern entwickelt. Wenn eine Gazelle träge mit dem Schwanz wedelt und ihre Flanken beschnuppert, sieht das vielleicht friedlich aus, aber in Wirklichkeit ist es ein Kampf in Zeitlupe gegen eine Armee von Eindringlingen. Die Zähne der Gazelle 215
sind wie eine Harke geformt, aber nicht, um ihr beim Fressen eine Hilfe zu sein, sondern um Läuse, Zecken und Flöhe abzuschaben. Sind ihre Zähne verstopft, vermehrt sich der Zeckenbefall um das Achtfache. Gazellen putzen sich nicht als Reaktion auf ein besonderes Jucken, sondern in regelmäßigen Abständen, weil Parasiten so erbarmungslos sind. Das Putzen kostet die Tiere Zeit, die sie zum Fressen und zur Sicherung vor Raubtieren bräuchten. Der Leitbock einer Impallaherde ist am Ende sechsmal mehr von Zecken befallen als die weiblichen Impallas, weil er ständig gegenüber männlichen Herausforderern auf der Hut sein muss, sodass ihm zum Putzen nicht genug Zeit bleibt. Die äußere Form einer Tiergesellschaft kann ebenfalls den Parasitenbefall verringern. Fische zum Beispiel schützen sich vor Räubern, in dem sie in Schulen beisammen bleiben und ihre Wachsamkeit vereinen. Sobald einer von ihnen einen Räuber bemerkt, können alle fortschwimmen. Und selbst wenn der Räuber angreift, ist das Risiko, getötet zu werden, für jeden einzelnen in der Schule geringer. Es ist an der Zeit, den Parasiten neben den Löwen zu stellen. Die Vergrößerung einer Herde verringert für die einzelne Gazelle nicht nur das Risiko, von einem Löwen gefressen zu werden, sondern auch das Risiko, dass das einzelne Tier von einer Zecke oder einem anderen Blutsauger befallen wird. Auf der anderen Seite können Parasiten verhindern, dass Herden zu groß werden. Wenn sich Tiere in immer größeren Gruppen zusammendrängen, erleichtern sie es manchen Parasiten, von einem Wirt zum anderen Wirt zu gelangen – ob es sich nun um Viren handelt, die durch ein Niesen übertragen werden, um überspringende Flöhe oder um das Plasmodium einer hungrigen Anophelesmücke. Laut Katherine Milton, einer Primatologin an der University of California in Berkeley, schaffen Parasiten es sogar, Tieren gutes Benehmen beizubringen. Milton beschäftigt sich mit den Brüllaffen Mittelamerikas und ist verblüfft über die Bösartigkeit, die einer ihrer Parasiten, eine Dasselfliegenspezies, an den Tag legt. Diese Fliege sucht nach offenen Wunden bei Säugetieren und findet sogar das winzige Loch eines Zeckenbisses. Sie legt ihre Eier in die Wunde und die Larven fressen das Fleisch ihres Wirts. Sie richten so verheerende Schäden an, dass sie einen Brüllaffen leicht töten können. 216
Vielleicht liegt es an den Dasselfliegen, dass die Brüllaffen Kämpfe um eine Partnerin oder um ein Revier vermeiden. Selbst wenn es bei einem solchen Kampf nur zu einer kleinen Balgerei käme, könnte dies, wenn ein Brüllaffe dabei einen Kratzer abbekommt, wegen der Dasselfliege sein letzter Kampf gewesen sein. Dasselfliegen finden Wunden tatsächlich mit solcher Sicherheit, dass die Evolution gewalttätige Brüllaffen möglicherweise missbilligt. Vielleicht hat sie sie deshalb zu freundlichen Wesen gemacht und sie ermutigt, Formen der Konfrontation zu entwickeln, bei denen sie sich nicht verletzen – dass sie brüllen und schlagen statt beißen und kratzen. Viele andere Säugetiere haben ebenfalls ihre Möglichkeiten, Kämpfe zu vermeiden, und vielleicht versuchen auch sie, sich auf diese Weise vor Parasiten zu schützen. Die beste Strategie für einen Wirt ist natürlich die, Parasiten erst gar nicht zu begegnen. Einige Anpassungen, die Wirte vornehmen, um Parasiten nicht auf sich aufmerksam zu machen, sind so grotesk, so unerhört, dass man zunächst nicht auf die Idee kommt, dass sie etwas mit Parasiten zu tun haben. Nehmen wir die sich in Blätter einspinnenden Raupen. Es sind ziemlich gewöhnliche Insektenlarven mit einer Ausnahme: Sie schießen wie Haubitzen mit ihrem Kot. Sobald etwas Fraßmehl aus der Raupe austritt, schiebt sie einen drehbaren Deckel vor einen Ring aus Blutgefäßen, der ihren After umgibt. Das Blut staut sich hinter dem Deckel, und wenn die Raupe den Deckel öffnet, drücken die prall gefüllten Blutgefäße mit einem Schlag so heftig gegen den Kot, dass er mit einer Geschwindigkeit von einem Meter pro Sekunde nach oben schnellt und bis zu 60 Zentimeter weit fliegt. Was um alles in der Welt könnte die Entwicklung einer Afterkanone angeregt haben? Es könnten Parasiten gewesen sein. Wenn parasitische Wespen eine Larve wie den des Goldafter ansteuern, können sie sich sehr gut vom Kotgeruch ihres Wirts leiten lassen. Da Raupen sesshaft sind und nicht von Ast zu Ast eilen, sammelt sich ihr Kot normalerweise in ihrer unmittelbaren Nähe an. Der enorme Druck der Wespen auf die sich in Blättern einspinnenden Raupen hat die Entwicklung des Kotabschießens vorangetrieben. Liegt der Kot weit entfernt, werden die Raupen weniger leicht von den Wespen gefunden. Auch Wirbeltiere bemühen sich, Parasiten aus dem Weg zu ge217
hen. Kuhmist düngt das Gras, und wo er hinfällt, wächst es hoch und üppig. Aber die Kühe lassen dieses Gras meistens stehen, weil mit dem Dung oft die Eier von Parasiten wie Lungenwürmer ausgeschieden werden und die geschlüpften Parasiten auf die benachbarten Grashalme kriechen in der Hoffnung, von einer Kuh gefressen zu werden. Säugetiere wie Karibus und Weißschwanzgnus, die weite Wanderungen unternehmen, planen nach Meinung einiger Wissenschaftler den Verlauf ihrer Wanderung zum Teil so, dass sie keine parasitenverseuchten Gegenden durchqueren müssen. Schwalben kehren zu ihren alten Nestern zurück und benützen sie wieder. Entdecken sie aber, dass ihr Nest mit Würmern, Flöhen oder anderen Parasiten infiziert ist, bauen sie ein neues. Wenn Paviane feststellen, dass der Ort, wo sie schlafen, von Nematoden überlaufen ist, ziehen sie fort und kommen erst wieder zurück, wenn die Parasiten abgestorben sind. Purpurschwalben gehen sogar so weit, ihre Nester mit Pflanzen wie Wilde Möhre und Flohkraut auszulegen, die natürliche schädlingsvernichtende Stoffe enthalten. Eulen fangen Blindschleichen, aber statt sie zu zerreißen und an ihre Küken zu verfüttern, lassen sie sie manchmal einfach in ihr Nest fallen, wo die Blindschleiche zur Putzfrau wird. Sie verkriecht sich in den Winkeln des Nests und frisst, was sie dort an Parasiten findet. *** Doch selbst wenn Ihre Mutter ein ausgezeichnetes Auge für Fischlauben hatte, Sie Ihren Fliegen tötenden Kopfstoß rückwärts perfektioniert haben und es fertig bringen, Ihr Fraßmehl in hohem Bogen auf die Nachbarwiese zu katapultieren, kann es passieren, dass Sie von einem Parasiten befallen werden. Ihr Immunsystem, ein ungemein präzises Abwehrsystem dank des von Parasiten ausgeübten evolutionären Drucks, wird sein Bestes tun, um die Invasion abzublocken. Aber die Wirte haben noch andere Arten der Kriegführung entwickelt: Sie können andere Tierarten als Hilfskräfte anheuern, sich selbst heilen und sogar ihre ungeborenen Nachkommen auf eine von Parasiten tyrannisierte Welt vorbereiten. 218
Wenn eine Pflanze von einem Parasiten befallen wird, verteidigt sie sich mit ihrer Version eines Immunsystems, indem sie Giftstoffe produziert, die der Parasit aufnimmt, wenn er an ihr nagt. Aber sie kämpft auch, indem sie Hilferufe ausschickt. Eine Pflanze spürt, wenn eine Raupe ein Blatt von ihr anbeißt – es ist kein Gefühl, das von Nerven übertragen wird, aber sie spürt es trotzdem. Als Reaktion darauf bildet sie ein besonderes Molekül, das sie an die Luft abgibt. Dieser Geruch der Pflanze ist für parasitische Wespen, die auf der Suche nach einem Wirt umherfliegen, wie ein Parfüm, von dem sie sich mächtig angezogen fühlen. Sie folgen ihm bis zu dem angebissenen Blatt, finden dort die Raupe und infizieren sie mit Eiern. Diese Verständigung zwischen Pflanzen und Wespen funktioniert nicht nur zeitlich sehr gut – sie ist auch außerordentlich genau. Die Pflanze erkennt auf irgendeine Weise, welche Art von Raupe an ihr frisst, und kann das entsprechende Molekül versprühen. Eine parasitische Wespe wird nur reagieren, wenn sie von der Pflanze übermittelt bekommt, dass ihre besondere Wirtsspezies auf der Pflanze sitzt. Tiere verteidigen sich manchmal gegen Parasiten, indem sie ihre Kost verändern. Einige hören einfach auf zu fressen. Ist ein Schaf zum Beispiel stark von Darmwürmern befallen, frisst es vielleicht nur noch ein Drittel seines normalen Nahrungsquantums. Eine solche Veränderung ist eindeutig nicht zum Wohl des Parasiten, der möchte, dass das Schaf viel frisst, damit er ebenfalls viel fressen und viele Eier produzieren kann. Wissenschaftler vermuten, dass durch die geringere Nahrungsaufnahme das Immunsystem des Wirts angekurbelt und dadurch die Abwehrkräfte gestärkt werden. Es könnte aber auch sein, dass die Tiere nicht einfach fasten, sondern nur wählerischer sind und sich Futter suchen, das die richtigen Stoffe zur Bekämpfung der Infektion enthält. Manchmal fressen von Parasiten befallene Tiere etwas, das sie sonst praktisch nie fressen. Einige Bärenspinnerarten ernähren sich normalerweise von Lupinen. Manchmal werden sie von parasitischen Fliegen angegriffen, die Eier in die Raupen legen. Im Gegensatz zu den Fliegen, die Ameisen oder andere Insekten angreifen, töten diese Parasiten ihre Wirte jedoch nicht immer, wenn sie aus dem Wirtskörper kriechen. Und die Bärenspinner verbessern ihre Überlebenschancen, indem sie ihre Kost von Lupine auf gifti219
gen Schierling umstellen. Die parasitischen Fliegen kriechen trotzdem aus dem Raupenkörper, aber ein Stoff im Schierling hilft den Bärenspinnern, am Leben zu bleiben und sich voll zu entwickeln. Mit anderen Worten: Die Bärenspinner haben eine einfache Art von Heilmittel entwickelt. Solche Heilmittel sind unter Tieren weit verbreitet. Von vielen Tieren weiß man, dass sie manchmal Pflanzen fressen, die Parasiten töten können oder dazu führen, dass sie aus dem Darm vertrieben werden. Aber noch versucht die Forschung zu beweisen, dass sie diese Pflanzen tatsächlich dann fressen, wenn sie krank werden. Wenn die Lage wirklich aussichtslos ist und für den Wirt nur noch wenig Hoffnung besteht, den Parasiten loszuwerden, gibt er auf. Er muss akzeptieren, dass es mit ihm zu Ende geht. Aber die Evolution hat ihn so ausgestattet, dass er aus der ihm verbleibenden Zeit das Beste machen kann. Einigen Schneckenarten bleibt, wenn sie von Egeln infiziert werden, nur noch ungefähr ein Monat, bevor sie von den Parasiten kastriert und zu Nahrung sammelnden Sklaven gemacht werden. Doch einen Monat haben sie noch, um ihre letzten Nachkommen zu produzieren, und sie nützen diese Zeit nach Kräften. Wenn ein Egel eine Schnecke infiziert, die noch nicht geschlechtsreif ist, reagiert sie darauf mit einer wesentlich schnelleren Entwicklung ihrer Keimdrüsen als dies bei einer gesunden Schnecke der Fall ist. Mit etwas Glück kann sie noch einige Eier hinauspressen, bevor sie der Parasit kastriert. Wenn die Fruchtfliegen der Sonora-Wüste von Parasiten befallen werden, reagieren sie darauf, indem sie geil werden. Diese Fliegen ernähren sich vom verwesenden Fleisch des Saguarokaktus und treffen dort manchmal auf Milben. Die Milben springen auf die Fliegen und stechen ihren nadelförmigen Mund in den Leib ihrer Opfer, um deren Körperflüssigkeit zu trinken. Für die Fliegen kann dies ernsthafte Folgen haben. Ein starker Milbenbefall kann in wenigen Tagen ihren Tod herbeiführen. Biologen haben einen großen Unterschied zwischen den sexuellen Aktivitäten von gesunden und von milbenverseuchten Fruchtfliegen festgestellt. Die Parasiten veranlassen die männlichen Fliegen, die Fliegenweibchen intensiver zu umwerben. Je mehr Parasiten ein Fliegenmann hat, umso mehr Zeit verbringt er damit. In manchen Fällen verdreifacht er seine Bemühungen. 220
Auf den ersten Blick könnte dies wie ein weiterer Beweis für die Puppenspielerkünste der Parasiten sein, weil ein Parasit seine Übertragung beschleunigt, wenn er infizierte Fliegen mit gesunden Fliegen in Kontakt bringt. Nun scheinen die Milben aber nur auf Fliegen zu hüpfen, die auf dem Kaktus fressen. Sie springen nie von einer Fliege auf die andere, wenn diese sich paaren. Tatsächlich scheinen die Parasiten wesentlich dazu beigetragen zu haben, dass die Fliegen die Gewohnheit entwickelten, sich öfter zu paaren, wenn ihnen der Tod – und damit das Aus für weitere Paarungen – droht. Warum machen die Fliegen dieses intensive Liebesleben nicht zu einer festen Gewohnheit? Die Antwort lautet wahrscheinlich: weil die Fliegen nicht ständig von Milben befallen werden. Manche Kakteen sind übersät mit Milben; andere sind milbenfrei. Und wie bei den Bienen stellt Sex auch an die Fruchtfliegen erhebliche Anforderungen und macht sie zur leichten Beute für Räuber. Da ist es besser, flexibel zu sein, sich im Normalfall weniger oft zu paaren und bei Parasitenbefall die Häufigkeit zu steigern. Eidechsen werden ebenfalls von ihren speziellen Milben geplagt. Sie können daran sterben. Die widerstandsfähigeren befallenen Eidechsen verkümmern meistens. Doch vorher verändern sie noch schnell ihre ungeborenen Nachkommen. Sie bringen Junge zur Welt, die größer und flinker sind als die von gesunden Eltern. Ein gesundes Eidechsenjunges hat im ersten Lebensjahr einen Wachstumsspurt und wächst dann für den Rest seines Lebens langsamer. Eine von milbenverseuchten Eltern gezeugte Eidechse dagegen wächst bis zum Ende des zweiten Lebensjahres schnell, vielleicht auch noch länger. Anscheinend können Eidechsenmütter das Wachstum ihrer Nachkommen programmieren, damit sie an das Vorhandensein von Parasiten angepasst sind. Ohne Milben können die Nachkömmlinge langsam wachsen und ein langes Leben genießen. Aber wenn Milben auftauchen, lohnt es sich, schneller zu wachsen, um als erwachsenes Tier ein ordentliches Gewicht zu erreichen, selbst wenn das einen früheren Tod bedeutet. Und wenn ein Wirt zum Sterben verurteilt ist, kann er immer noch einiges tun, um seine Nachkommen zu verschonen. Die Arbeiterinnen der Hummeln verbringen ihre Tage, indem sie von Blüte zu Blüte fliegen, Nektar sammeln und zu ihrem Nest tragen. 221
Nachts bleiben sie im Nest, wo sie es gemütlich haben dank der Wärme, die von tausenden flatternder Flügelmuskeln erzeugt wird. Bei der Nektarsuche kann eine Hummel von einer parasitischen Fliege angegriffen werden, die ein Ei in ihren Körper legt. Der Parasit reift in der Hummel und in der Wärme eines Hummelnests arbeitet sein Stoffwechsel so schnell, dass er in nur zehn Tagen ausgewachsen ist. Die Fliege taucht aus ihrem Wirt auf und kann den Rest der Hummelkolonie infizieren. Doch vielen parasitischen Fliegen ist dieser Luxus nicht vergönnt, weil ihr Wirt etwas Seltsames tut: Er verbringt seine Nächte jetzt außerhalb des Nests. Wenn die Hummelarbeiterin draußen in der Kälte bleibt, verlangsamt sie die Entwicklung des Parasiten und verlängert dadurch ihr Leben. Der kombinierte Effekt macht es unwahrscheinlich, dass der Parasit das Reifestadium erreicht, bevor die Hummel sowieso stirbt. Und die Hummel verhindert auf diese Weise, dass sich in ihrem Nest eine Epidemie ausbreitet. Doch noch so listenreiche Konterattacken ändern nichts an der Tatsache, dass Parasiten Konter-Konterattacken reiten können. Wenn die Kühe kein Gras von dem frisch gedüngtem Boden fressen, weil dort Lungenwürmer lauern, wird der Parasit diesen Ort verlassen. Fällt ein Lungenwurm mit dem Dung auf den Boden, wartet er, bis Licht auf ihn fällt. Das ist für ihn das Zeichen, an die Oberfläche des Dungs zu klettern. Hier sucht er nun nach einer Pilzart, die ebenfalls Kühe parasitiert und ebenfalls auf Licht reagiert, indem sie kleine, unter Federdruck stehende Sporenpakete bildet. Sobald der Lungenwurm das Sporenpaket berührt, hakt er sich daran fest und klettert ganz nach oben. Der Pilz katapultiert sich rund zwei Meter hoch in die Luft und fliegt vom Dung weg. Und der Lungenwurm fliegt mit und hat außerhalb des gedüngten Bereichs gute Chancen, von einer Kuh gefressen zu werden. Wenn man sich mit diesem Rüstungswettlauf längere Zeit beschäftigt, bekommt man den Eindruck, dass sich Wirte und Parasiten gegenseitig in ungeahnte Höhen tragen könnten, weil jeder die Evolution seines Gegners so mächtig vorantreibt, dass sie zu allmächtigen, sich mit Blitzen bekämpfenden Göttern werden könnten. Aber der Wettlauf hat natürlich seine Grenzen. Als Kraaijeveld Wespen auf Fruchtfliegen ansetzte, waren die Fruchtfliegen nach nur fünf Generationen zu 60 Prozent resistent gegen die 222
Wespen; doch in den späteren Generationen blieb ihre Resistenz bei 60 Prozent. Warum stieg sie nicht auf 100 Prozent und schuf eine vollkommen immune Fliegenrasse? Der Kampf gegen Parasiten ist teuer. Die notwendigen Proteine zu bilden kostet die Wirte Energie – Energie, die sie nicht anderweitig einsetzen können. Kraaijeveld ließ seine Fliegen, die für den Kampf gegen Wespen selektiert waren, gegen reguläre Fliegen um Nahrung konkurrieren und stellte fest, das sie schlecht abschnitten. Sie wuchsen langsamer als die Fliegen, die noch für Wespen verwundbar waren; sie starben öfter, solange sie noch jung waren, und waren als erwachsene Fliegen kleiner. Die Evolution hat den Wirten kein unerschöpfliches Waffenarsenal zu bieten. An irgendeinem Punkt müssen sie nachgeben und akzeptieren, dass Parasiten ein Teil des Lebens sind. *** Als Darwin sein Buch »Über den Ursprung der Arten durch natürliche Zuchtwahl« schrieb, tat er das nicht mit dem Ziel, die Wirkungsweise der natürlichen Auslese zu verstehen. Sie war eigentlich nur Mittel zum Zweck – um den Titel seines Buchs zu erklären. Der Baum des Lebens, der in vier Milliarden Jahren gewachsen ist und sich immer wieder verzweigt hat, trägt heute eine schwere Krone. Die Wissenschaftler haben 1,6 Millionen Arten festgestellt und diese sind vielleicht nur ein kleiner Teil der gesamten Vielfalt der Erde. Darwin wollte herausfinden, wie diese Vielfalt zu Stande kam, aber seine Biologiekenntnisse reichten für eine Antwort nicht aus. Nachdem die Wissenschaftler heute mehr über Vererbung und über den sich immer wiederholenden Auf- und Abstieg der Gene im Lauf der Generationen wissen, kommen sie der Antwort, wie die Arten tatsächlich entstanden sind, sehr viel näher: Der Wettlauf zwischen Wirten und Parasiten ist wieder einmal entscheidend. Er könnte zu einem beträchtlichen Teil für das dichte Laubdach des Lebensbaumes verantwortlich sein. Eine neue Spezies wird aus der Isolation geboren. Ein Gletscher trennt zum Beispiel eine vereinzelte Mäuseschar von ihrer übrigen 223
Spezies und im Verlauf von Jahrtausenden entwickeln diese Mäuse Mutationen, sodass sie den übrigen Mäusen nicht mehr gleichen und sich nicht mehr mit ihnen paaren können. Eine einzige Fischart gelangt vielleicht in einen See und einige von ihnen fangen an, sich speziell auf dem schlammigen Grund zu ernähren, während die anderen im klaren seichten Wasser ihre Nahrung suchen. Während sie das Rüstzeug für ihre besondere Lebensweise entwickeln, sind Kreuzungen weder für die eine noch die andere Gruppe geeignet. Die natürliche Auslese wird sie zwingen, sich voneinander fern zu halten. Sie werden mehr und mehr unter sich bleiben, bis sie eine eigene Spezies bilden. Das Leben eines Parasiten fördert die Bildung neuer Arten. Parasiten können sich an einen einzigen Winkel in einem Wirt anpassen. Das kann eine Windung in den Därmen sein, das Herz oder das Gehirn. Ein Dutzend Parasiten können sich auf eine Kieme eines Fischs spezialisieren und den Platz dort so geschickt untereinander aufteilen, dass keine Konkurrenz zwischen ihnen aufkommt. Die Spezialisierung auf bestimmte Wirtsarten führt bei Parasiten sogar zu einer noch größeren Vielfalt. Ein Kojote frisst so ungefähr alles, was vier Beine hat. Dies hat zum Teil dazu geführt, dass es in ganz Nordamerika nur eine Kojotenspezies gibt. Im Gegensatz zu Kojoten und anderen Raubtieren stehen viele Parasiten unter der Fuchtel der Roten Königin. Ein Parasit, der viele verschiedene Wirte bevorzugt, muss versuchen, das Rote-KöniginSpiel mit allen diesen Wirten zu spielen und hin und her rennen wie ein Schachspieler, der ein Dutzend Partien gleichzeitig spielt. Wenn ein anderer Parasit eine Mutation durchmacht, die ihn nur einen Wirt bevorzugen lässt, wird er seine ganze evolutionäre Leistung auf diesen einen Wirt konzentrieren. Die Wirte brauchen nicht einmal eine gesamte Spezies zu sein – wenn nur eine Population des Wirts ausreichend isoliert ist, wird es sich für den Parasiten lohnen, sich nur auf sie zu spezialisieren. Konzentrieren sich Parasiten auf eine Spezies oder auf nur einen Teil von ihr, lassen sie Raum für die Entwicklung anderer Parasiten. Während neue Arten geboren werden, sterben ältere aus. Arten verschwinden, wenn sie in einer Konkurrenz unterliegen, wenn ihre Populationen bis unter eine kritische Schwelle schrumpfen oder wenn sich die Welt zu schnell verändert und sie sich nicht 224
mehr anpassen können. Parasitenstämme können sich vielleicht besser gegen das Aussterben wehren als die von frei lebenden Arten. Obwohl sie Spezialisten sind, versuchen sie hin und wieder auch etwas anderes. Manchmal erweist sich ein neuer Wirt als gute Bleibe, und der Parasit gründet eine neue Spezies. TetrabothriidenBandwürmer gibt es noch heute. Sie leben zum Beispiel in Lunden und Grauwalen, aber die Flugsaurier und Ichthyosaurier, in denen sie vor 70 Millionen Jahren lebten, gibt es nicht mehr. Die Vielfalt der Parasiten ist wie ein großer See, in den sich Ströme neuer Arten ergießen, aus dem aber nur ein Rinnsal ins Aussterben fließt. Nimmt man all diese Gründe zusammen, ist die Existenz so vieler Parasitenarten nicht überraschend. Es gibt ungefähr 4.000 Säugetierarten, und abgesehen von ein paar Kaninchen und Hirschen, die noch in einem abgelegenen Wald ihrer Entdeckung harren, steht diese Zahl fest. Aber wir kennen bis heute 5.000 Bandwurmarten, und jedes Jahr werden neue Arten entdeckt. Es gibt 200.000 Arten parasitischer Wespen. Die Insekten, die Pflanzen parasitieren, gehen ebenfalls in die hunderttausende. Zählt man sie alle zusammen, ist die Mehrheit der Tiere parasitisch. Unzählige Pilze, Pflanzen, Protozoen und Bakterien tragen ebenso stolz den Titel Parasiten. Heute wird allmählich deutlich, dass Parasiten ihre Wirte gedrängt haben, sich ebenfalls stärker zu diversifizieren. Parasiten greifen nicht eine gesamte Spezies auf ein und dieselbe Weise an. Die in einem bestimmten Gebiet vorkommenden Parasiten können sich auf die dortige Wirtspopulation spezialisieren, indem sie sich dem ortsspezifischen Muster der Wirtsgene anpassen. Als Reaktion darauf entwickeln sich die Wirte weiter – aber nur die Wirte in dieser Region, nicht die Spezies insgesamt. Dieser regionale Kampf hat einige der schnellsten Evolutionen hervorgebracht, die je dokumentiert wurden – seien es die Yuccafliegen und die Blüten, in die sie ihre Eier legen, die Schnecken und ihre Egel oder der Flachs und seine Pilze. Und während sich diese Wirtspopulationen gegen ihre Parasiten verteidigen, werden sie zu einer sich vom Rest ihrer Spezies genetisch unterscheidenden eigenen Art. Aber dies ist tatsächlich nur ein Weg von vielen, auf denen Parasiten dazu beitragen können, dass sich ihre Wirte in neue Arten verwandeln. Genetische Parasiten können zum Beispiel die Evolu225
tion ihrer Wirte beschleunigen. Damit eine Evolution stattfindet, müssen sich die Gene neu gruppieren. Das kann bei gewöhnlichen Mutationen geschehen – wenn zufällig ein kosmischer Strahl aus dem Weltraum in die DNS einschlägt oder beim schlampigen Crosssing von Genen, wenn sich Zellen teilen. Schneller geht es jedoch mit Hilfe eines genetischen Parasiten. Wenn er in einer Zelle von Chromosom zu Chromosom springt, kann er sich in die Mitte eines neuen Gens hineinzwängen. Dieses rüde Hineinplatzen verursacht gewöhnlich Probleme; genauso gut könnte man eine beliebige Befehlskette mitten in ein Computerprogramm setzen. Doch hin und wieder erweist sich diese Spaltung im evolutionären Sinn als etwas Gutes. Ein gespaltenes Gen kann plötzlich die Fähigkeit entwickeln, eine neue Art Protein zu bilden, das eine ganz neue Aufgabe übernimmt. Der ziellose Sprung eines genetischen Parasiten scheint uns zu ermöglichen, Parasiten wirksamer zu bekämpfen. Die Gene, die auf T- und B-Zellen Rezeptoren bauen, sehen so aus, als wären sie aus heiterem Himmel von genetischen Parasiten geschaffen worden. Wenn sich ein genetischer Parasit einmal in einem neuen Wirt etabliert hat, kann er die Einheit einer gesamten Spezies sprengen. Das typische Schicksal eines genetischen Parasiten ist, sich durch das Genom seines Wirts während der folgenden Generationen explosionsartig zu vermehren, indem er sich an unzähligen Stellen hineinzwängt. Mit der Zeit bilden dann die betroffenen Wirte von sich aus separate Populationen, die zwar keine andere Spezies sind, wohl aber Gruppen mit der Neigung, sich untereinander fortzupflanzen. Während sie das tun, springt der genetische Parasit weiterhin in ihrer DNS von Ort zu Ort. Seine Sprünge fallen in jeder Population anders aus und bewirken, dass sich die Gene der Populationen mehr und mehr voneinander unterscheiden. Wenn sich schließlich ein Romeo und eine Julia aus zwei dieser Gruppen begegnen und versuchen, sich zu paaren, können sie wegen ihrer unterschiedlichen genetischen Parasitenkollektionen unvereinbar geworden sein. Indem es die genetischen Parasiten den verschiedenen Populationen ihrer Wirte erschweren, ihre Gene zu mischen, fördern sie die Aufspaltung in neue Arten. Parasiten können vielleicht auch neue Arten schaffen, indem sie in das Sexualleben ihrer Wirte hineinpfuschen. Das Bakterium 226
Wolbachia kommt in 15 Prozent aller Insekten vor sowie in vielen anderen wirbellosen Tieren. Es lebt in den Zellen seines Wirts und kann einen neuen Wirt nur infizieren, wenn es die Eier eines weiblichen Wirts besiedelt. Wenn das Ei, in dem Wolbachia lebt, befruchtet wird und sich zu einem erwachsenen Tier entwickelt, wächst es mit einer Wolbachia-Infektion auf. Doch die Sache hat einen Haken: Wenn Wolbachia in einem männlichen Wirt aufwächst, steckt es in einer Sackgasse, weil es hier keine Eier gibt, die es infizieren könnte. Deshalb hat Wolbachia die Kontrolle über das Sexualleben seiner Wirte übernommen. Bei vielen seiner Wirtsarten verändert es das Sperma so, dass sich die infizierten Männchen nur mit Wolbachia tragenden Weibchen erfolgreich paaren können. Sollten sie versuchen, sich mit einem gesunden Weibchen zu paaren, würden ihre sämtlichen Nachkommen sterben. Eine etwas andere Strategie wendet Wolbachia bei manchen Wespenarten an. Normalerweise werden diese Insekten als Männchen und Weibchen geboren, die sich geschlechtlich vermehren. Wenn sie jedoch von Wolbachia infiziert sind, werden ausschließlich weibliche Wespen geboren, die wieder nur weibliche Nachkommen haben können. Auf diese Weise verschafft sich das Bakterium eine Fülle von Wirten. In beiden Fällen isoliert Wolbachia die infizierten Wirte genetisch von den nicht-infizierten. Ein neugeborener Wirt ist entweder der Nachkomme von Wolbachia-tragenden oder von ausschließlich gesunden Eltern. Er wird kein gesund-ungesunder Hybride sein. Mit dieser Fortpflanzungsschranke hat der Parasit womöglich die Voraussetzung geschaffen, dass sich eine neue Spezies bildet. Wolbachia ist nur der bekannteste unter vielen Parasiten, die ins Sexualleben ihrer Wirte eingreifen. Insofern kann sich auch dies eines Tages als ein häufig eingeschlagener Weg zur Bildung neuer Arten herausstellen. Darwin hatte einen ausgeprägten Sinn für Ironie, aber diese hier wäre ihm vielleicht zu weit gegangen: Er hätte bei seinen sterbenden Kindern einen Hinweis dafür finden können, wie das Leben seine Gestalt verändert, wie die Evolution vorangetrieben wird und neue Arten entstehen. Auf diesem Gebiet sind Parasiten absoluter Experten. 227
Kapitel 7 Der zweibeinige Wirt Die Menschheit hat nur drei große Feinde: Fieber, Hunger und Krieg; der bei weitem größte und schrecklichste ist das Fieber. William Osler
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ie Schönheit der Parasiten ist eine unmenschliche Schönheit – nicht, weil Parasiten von einem anderen Stern gekommen sind, um uns zu versklaven, sondern weil sie schon so viel länger auf der Erde wohnen als wir. Ich denke immer wieder einmal an Justin Kalesto, den sudanesischen Jungen, der so von der Schlafkrankheit gequält wurde, dass er in seinem Bett nur noch wimmern konnte. Er war zwölf Jahre alt, und auf sich allein gestellt wäre er hoffnungslos unterlegen gewesen im Kampf gegen eine Parasitendynastie, die in beinahe jeder Säugetierart gelebt hat – in Reptilien, Vögeln, Dinosauriern, Amphibien, kurzum in allem, was eine Wirbelsäule hat, seit Fische an Land kamen. Diese Parasiten lebten sogar schon in Fischen, bevor irgendetwas auf dem Festland wandelte. Sie entwickelten Möglichkeiten, um in die Därme von Insekten und Wirbeltieren zu gelangen und sogar in Bäumen zu gedeihen. Die gesamte menschliche Rasse ist ein Kind wie Justin, eine junge Spezies, vielleicht nur einige Hunderttausend Jahre alt, ein zarter neuer Wirt für Trypanosomen und andere Parasiten. Natürlich ist den Parasiten niemals vorher ein Wirt begegnet, der so war wie wir. Im Gegensatz zu allen bisherigen Lebewesen können wir sie mit Erfindungen wie Medikamente und Kläranlagen bekämpfen. Wir haben auch die Erde ringsum verändert. Nach einer glorreichen Herrschaft über Milliarden Jahre hinweg sind die Parasiten jetzt gezwungen, in einer von uns regierten und veränderten Welt zu leben – in einer Welt mit schrumpfenden Wäldern und wuchernden Favelas, mit aussterbenden Schneeleoparden und immer mehr Hühnern. Aber dank ihrer Anpassungsfähigkeit geht es ihnen insgesamt gut. Besorgt machen sollte uns allerdings das Verschwin228
den des Kondors und der Lemuren; es zeigt, wie schlecht wir den Planeten bestellen. Die Zeckenarten, die auf den Spitzmaulnashörnern leben, werden im nächsten Jahrhundert wahrscheinlich ebenfalls mit ihren Wirten aussterben. Aber dass Parasiten im Allgemeinen während der Lebenszeit unserer Spezies vom Planeten Erde verschwinden, ist nicht zu befürchten. Wahrscheinlich werden fast alle noch hier sein, wenn es uns längst nicht mehr gibt. Parasiten müssen in einer Welt leben, die wir gestaltet haben; aber das trifft umgekehrt ebenfalls zu. Sie haben die Ökosysteme geschaffen, auf die wir angewiesen sind, und sie haben die Gene ihrer Wirte, einschließlich der unseren, über Milliarden Jahre hinweg geformt. Mit welcher Präzision sie uns geformt haben, ist schlicht verblüffend. Als die Immunologen begannen, sich mit Antikörpern zu beschäftigen, entdeckten sie, dass man sie in Klassen ordnen konnte. Einige Antikörper hatten schwenkbare Äste, andere waren wie fünfstrahlige Sterne. Jede Antikörpergruppe entwickelte sich als Reaktion auf eine besondere Parasitenart. Das Immunglobulin A wehrt das Grippevirus ab und kaum etwas anderes. Das sternförmige Immunglobulin M heftet seine Strahlen an Bakterien wie Streptokokken und Staphylokokken. Und dann gibt es da noch einen merkwürdigen kleinen Antikörper: das Immunglobulin E (IgE). Als die Wissenschaftler diesen Antikörper entdeckten, wussten sie zunächst nicht, wozu er gut sein sollte. Bei den meisten Menschen blieb er auf einem kaum erkennbaren Level, nur wenn es zu einem Heuschnupfen- oder Asthmaanfall oder irgendeiner anderen allergischen Reaktion kam, wallte er plötzlich durch den Körper. Immunologen fanden heraus, wie IgE an diesen Reaktionen beteiligt ist. Wenn bestimmte harmlose Stoffe in den Körper gelangen – Kreuzkrautpollen, Katzenschuppen oder Samenwolle – bilden B-Zellen auf diese Stoffe zugeschnittene IgE-Antikörper. Diese Antikörper werden dann an den Mastzellen – spezielle Immunzellen, die in der Haut, der Lunge und im Darm vorkommen – verankert. Später gelangt der harmlose Stoff, für den das IgE gebildet wurde, erneut in den Körper. Wenn er sich an einem einzigen IgE-Antikörper an der Oberfläche einer Mastzelle anhängt, passiert nichts. Hängt er sich jedoch an zwei auf einer Mastzelle nebeneinander sitzende IgE-Antikörper, 229
lässt der harmlose Stoff die Mastzelle plötzlich aktiv werden. Sie stößt eine Flut von Chemikalien aus, die bewirken, dass sich Muskeln zusammenziehen, Flüssigkeiten herbeiströmen und andere Immunzellen die Stelle überschwemmen; daher das Niesen beim Heuschnupfen, das Keuchen bei Asthma, der rote Ausschlag nach einem Bienenstich. Da Allergien keinem guten Zweck dienen, konnten die Immunologen das IgE nur für einen der seltenen Fehler des Immunsystems halten. Doch dann entdeckten sie, dass das IgE durchaus für etwas gut ist, nämlich zur Abwehr parasitischer Tiere. Bei den Menschen in den Vereinigten Staaten und in einigen anderen Teilen der Welt, die heute ziemlich frei sind von Darmwürmern, Blutegeln und ähnlichen Parasiten, mag IgE nur in Spuren vorkommen, aber der Rest der Menschheit (vom Rest der Säugetiere ganz zu schweigen) hat Würmer und Egel in rauhen Mengen – und IgE. Versuche mit Ratten und Mäusen haben gezeigt, dass IgE ein entscheidender Faktor zur Abwehr dieser Parasiten ist. Wenn man Tieren ihr IgE nimmt, wimmeln sie von Parasiten. Das Immunsystem hat sozusagen erkannt, dass sich parasitische Tiere von anderen in unserem Körper existierenden Lebewesen unterscheiden. Sie sind größer und ihre Außenhülle ist weitaus komplexer als die von einzelligen Organismen. Als Folge hat das Immunsystem eine neue Strategie gegen sie erfunden, die auf dem IgE-Antikörper beruht. Wie diese Strategie genau aussieht, ist noch nicht völlig geklärt. Sie könnte für jeden Parasiten ein bisschen anders sein. Am besten erforscht ist die von Trichinella, dem parasitischen Wurm, der in Muskelzellen aufwächst und dann in einem Stück Fleisch in den Magen eines neuen Wirts gelangt. Sobald sich Trichinella frei gezappelt hat, wandert sie durch den Darm ihres Wirts, indem sie sich durch die Schleimhauterhebungen bohrt, welche die Därme ausfüttern. Immunzellen in der Darmschleimhaut nehmen einige der Proteine von der Haut des Parasiten auf und wandern zu dem Lymphknoten, der direkt hinter den Därmen liegt. Hier präsentieren sie die Trichinella-Proteine den T- und B -Zellen im Lymphknoten und lösen die Bildung von Millionen Zellen aus, die den Parasiten aufs Korn nehmen sollen. Die B- und T-Zellen ergießen sich aus dem Lymphknoten und schwärmen durch die Auskleidung der Därme. 230
Die B-Zellen produzieren Antikörper, einschließlich IgE, die sich über die Darmoberfläche ausbreiten und einen Schild bilden, den Trichinella nicht durchdringen kann, um sich zu verankern. Gleichzeitig werden die Mastzellen aktiviert, die plötzliche Krämpfe und eine Überflutung der Därme mit Flüssigkeit hervorrufen. Ohne die Möglichkeit, sich irgendwo in den Därmen festzuhalten, werden die Parasiten ausgeschwemmt. Diese gezielte Vorgehensweise gegen einen speziellen Parasiten – und gegen viele andere – gab es bereits lange bevor sich unsere ersten Primatenvorfahren vor sechzig Millionen Jahren von Baum zu Baum schwangen. An irgendeinem Punkt vor fünf Millionen Jahren trennten sich unsere irgendwo in Afrika lebenden Vorfahren von denen der heutigen Schimpansen. Hominide begannen, auf zwei Beinen zu gehen und von den üppigen Dschungeln in spärlichere Wälder und Savannen zu ziehen, wo sie sich von der erkämpften oder übrig gelassenen Beute der Raubtiere und von Pflanzen ernährten. Einige Parasiten unserer Vorfahren folgten ihnen und verzweigten sich wie ihre Wirte zu neuen Arten. Aber die Hominiden bekamen auch neue Parasiten, als sie sich auf neue ökologische Verhältnisse umstellten. Laut Eric Hoberg stolperten sie in den Lebenszyklus von Bandwürmern, die sich zuvor zwischen großen Katzen und ihrer Beute bewegt hatten. Gleichzeitig verbrachten die Hominiden jetzt einen Großteil ihrer Zeit an den wenigen Wasserlöchern der Savannen. Hier tranken sie dasselbe Wasser, das auch viele andere Tiere tranken, einschließlich Ratten. Ein Blutegel, der von Schnecken zu Ratten schwamm, stieß zufällig auf die Haut eines Hominiden und probierte sie aus. Ihm gefiel, was er gefunden hatte, und allmählich entwickelte sich eine neue Egelspezies, die nur auf Hominiden spezialisiert war. Seit damals lebt der Egel Schistosoma mansoni in unserer Blutbahn. Vor ungefähr einer Million Jahre begannen die Hominiden in mehreren Wellen von Afrika aus quer durch die Alte Welt zu wandern, von Spanien bis nach Java. In einem populären Evolutionsmodell hat keiner dieser Hominiden heute noch irgendeinen Nachfahren auf der Erde. Alle lebenden Menschen stammen von einer letzten Welle ab, die vor ungefähr 100.000 Jahren aus Ostafrika kam und jeden anderen Hominiden, dem diese Menschen begegneten, ersetzten. Durch die Auswanderung aus dem Mutterkontinent 231
entgingen unsere Vorfahren einigen Parasiten. Trypanosomen, die Erreger der Schlafkrankheit, werden von Tsetse-Fliegen übertragen, die aber nur in Afrika leben. Folglich blieb die Schlafkrankheit eine afrikanische Krankheit. Aber bei ihren Wanderungen wurden die Menschen die Wirte von neuen Parasiten. In China hielt ein weiterer Blutegel, Schistosoma japonicum, der bis dahin ebenfalls nur in Ratten gelebt hatte, Einzug in den Menschen. Vor mindestens 15.000 Jahren wanderten einige Völker nach Norden und Osten und im Bogen hinüber nach Alaska und in die Neue Welt, wo ihnen eine Menge neuer Parasiten begegnete. Die Trypanosomen, welche die Menschen in Afrika hinter sich gelassen hatten, gab es auf jenem Kontinent schon seit hunderten von Millionen Jahren. Vor 100 Millionen Jahren war Südamerika noch mit der Westseite Afrikas verbunden, und die Parasiten waren über die gesamte Landmasse verbreitet. Aber dann riss die Erdkruste, die zwei Kontinente drifteten auseinander und die Lücke füllte sich mit einem Ozean. Die auf Südamerika fortgetragenen Trypanosomen entwickelten sich weiter zu Trypanosoma cruzi und anderen Arten. Erst lange nachdem sich diese zwei Parasitenäste gespalten hatten, entwickelten sich in Afrika die ersten Primaten, und zehn Millionen Jahre lang kämpften unsere Vorfahren nur mit der Schlafkrankheit. Die aus Afrika fortziehenden Menschen entkamen dieser Plage, aber als sie schließlich in Südamerika ankamen, waren die Vettern ihrer alten Parasiten bereits da und warteten darauf, sie mit der Chagas-Krankheit zu beglücken. Bis vor 10.000 Jahren hatten sich die Menschen auf jedem Kontinent außer der Antarktis angesiedelt; aber sie lebten noch in kleinen Gruppen, aßen Tiere, die sie jagten, oder wildwachsende Pflanzen, die sie sammelten. Ihre Parasiten mussten nach diesen Regeln leben. In jenen frühen Tagen war es für die Parasiten am besten, wenn sie zuverlässige Wege in die Menschen hatten – die Bandwürmer im Großwild zum Beispiel, Plasmodium in blutdürstigen Gabelmücken oder Blutegel im Wasser. Parasiten, die engen Kontakt benötigten, hatten in kurz aufflammenden Epidemien wahrscheinlich herrliche Zeiten erlebt – zum Beispiel das schreckliche Eboli-Virus an einigen Orten in Zentralafrika-, aber die dünn gesäten menschlichen Populationen ermöglichten es ihnen nicht, sich über die einzelne Gruppe hinaus zu verbreiten, und so blieben sie selten. 232
Das änderte sich, als die Menschen begannen, Tiere und Pflanzen zu domestizieren und zu essen. In verschiedenen Erdteilen setzte unabhängig voneinander die neolithische Revolution ein; zuerst im Nahen Osten vor 10.000 Jahren, dann kurz danach in China und ein paar tausend Jahre später in Afrika und in der Neuen Welt. Beinahe jeder Parasit erlebte mit der aufkommenden Landwirtschaft und der Entstehung von Dörfern und Städten eine absolute Blütezeit. Bandwürmer brauchten nicht mehr zu warten, bis Menschen das richtige Aas fraßen oder das richtige Wild erlegten; sie konnten im Hausvieh leben. Wenn Menschen infiziertes Schweinefleisch aßen und Bandwurmeier ausschieden, dauerte es nicht lange, bis ein schnüffelndes Schwein die Eier schluckte und eine neue Parasitengeneration wachsen ließ. Mit der weltweiten Verbreitung von Katzen und Ratten machten die Menschen Toxoplasma vielleicht zum häufigsten Parasiten auf der Erde. In den Anden schufen die Inka mit ihren Häusern ideale Lebensverhältnisse für Raubwanzen. Ihre Lamakarawanen verbreiteten das Insekt und den Parasiten Trypanosoma cruzi, den Erreger der Chagas-Krankheit, über weite Teile des Kontinents. Für die Blutegel war Landwirtschaft das Beste, was ihnen überhaupt passieren konnte. Als die Menschen im südlichen Asien Bewässerungssysteme und Reisfelder anlegten, eröffneten sich für die Schneckenwirte von Egeln riesige neue Habitate, und die Bauern, die auf den Feldern arbeiteten, waren stets in bequemer Reichweite. Viren und Bakterien konnten in der Enge und Unsauberkeit der Städte von Mensch zu Mensch übertragen werden. Und am besten von allen gedieh Plasmodium. Die Mücken, die Malaria übertragen, legen ihre Eier am liebsten in offene, stehende Gewässer. Als die Bauern Wälder rodeten, schufen sie genau diese Art von Tümpel. Die daraus aufsteigenden Mückenschwärme entdeckten neue Ziele wesentlich leichter als ihre Vorfahren: Es waren Menschen, die tagsüber auf den Feldern arbeiteten und sich nachts in Dörfern zusammendrängten. Über hunderte von Millionen Jahren haben Parasiten die Evolution unserer Vorfahren gestaltet. Sie haben damit in den vergangenen 10.000 Jahren auch nicht aufgehört. Allein die Malaria hat mit unserem Körper merkwürdige und tief greifende Veränderungen hervorgerufen. Das Hämoglobin, das von Plasmodium verzehrt wird, besteht aus zwei Kettenpaaren, die Alpha und Beta heißen. 233
Jede Kette ist nach den in unseren Genen enthaltenen Anweisungen gebaut. Wir haben zwei Gene für Alphaketten – eine vererbt vom Vater und eine von der Mutter – und dasselbe gilt für die Betaketten. Wenn in einem dieser Hämoglobingene eine Mutation auftritt, kann sie das Blut eines Menschen beschädigen. Eine Mutationsart in der Beta-Kette verursacht eine Erbkrankheit, die Sichelzellenanämie. In diesem Fall sitzt das Hämoglobin nicht mehr richtig fest um den Sauerstoff herum und kann seine Form nicht halten. Das beschädigte Hämoglobin zerfällt in nadelscharfe Flocken, die anschließend die ganze Zelle wie eine Sichel formen. Die Sichelzellen stauen sich in den Kapillaren und das Blut versorgt den Körper nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff. Menschen, die nur eine Kopie dieses schadhaften Betakettengens erben, können mit dem Hämoglobin auskommen, das von der übrigen normalen Kopie gebildet wird. Aber Menschen, die zwei Kopien des schlechten Gens erben, bilden nur schadhaftes Hämoglobin und werden gewöhnlich nicht älter als 30 Jahre. Ein Mensch, der an Sichelzellenanämie stirbt, hat wenig Chancen, das schadhafte Gen weiterzugeben. Daher müsste die Krankheit sehr selten sein. Aber das ist sie nicht. Von 400 amerikanischen Schwarzen leidet einer an Sichelzellenanämie und einer von zehn ist Träger nur einer Kopie des defekten Gens. Der einzige Grund, warum das Gen so in Umlauf bleibt, ist der, dass es zufällig auch eine Verteidigung gegen Malaria ermöglicht. Die nadelscharfen Hämoglobinflocken bedrohen nicht nur eine Blutzelle, sie können auch den darin befindlichen Parasiten aufspießen. Und wenn eine Sichelzelle kollabiert, verliert sie die Fähigkeit, Kalium aufzunehmen, ein Element, das Plasmodium zum Leben braucht. Um gegen Malaria relativ geschützt zu sein, reicht eine Kopie des defekten Gens. Die Leben, die durch einzelne Kopien dieses defekten Gens vor dem Malariatod gerettet werden, gleichen den Verlust jener Menschen aus, die zwei Kopien des Gens bekommen und sterben. Menschen, deren Vorfahren an vielen Malaria verseuchten Orten lebten – in großen Teilen von Asien, Afrika und den Mittelmeerländern – sind folglich auch weitgehend Träger dieses Gens. Sichelzellenanämie ist aber nur eine von mehreren Blutkrankheiten, die beim Kampf zwischen Mensch und Malaria entstanden. 234
In Südostasien zum Beispiel findet man Menschen, deren Blutzellen so starre Wände haben, dass sie nicht durch die Kapillaren gleiten können. Diese Ovalozytose genannte Krankheit folgt denselben genetischen Regeln wie die Sichelzellenanämie: Sie nimmt einen leichteren Verlauf, wenn ein Mensch nur das schadhafte Gen von einem Elternteil erbt, und ist lebensgefährlich, wenn beide Eltern das Gen weitergeben. Sie ist sogar so gefährlich, dass ein Kind mit zwei Genen fast immer schon vor der Geburt stirbt. Aber Ovalozytose macht die roten Blutzellen weniger anfällig für Plasmodium. Die Membranen werden so hart, dass es dem Parasiten schwer fällt, in die Zelle einzudringen; und weil die Zellen so starr sind, scheinen sie nicht mehr genügend Stoffe wie Phosphate und Sulfate, die der Parasit zum Überleben braucht, in sich hineinpumpen zu können. Wahrscheinlich haben sich die Menschen mit diesen Veränderungen des Bluts seit Jahrtausenden gegen Malaria gewehrt, aber der Beweis dafür ist schwer zu erbringen. Einer der wenigen deutlichen Hinweise aus der Vorzeit ist die Thalassämie. Menschen mit dieser Krankheit bilden die Zutaten für ihr Hämoglobin quantitativ falsch. Ihre Gene produzieren zu wenige oder zu viele Ketten, und wenn sich aus ihnen die vollständigen Hämoglobinmoleküle zusammengesetzt haben, bleiben die zuviel gebildeten Ketten über. Diese Extraketten verbinden sich zu Klumpen, die in einer Blutzelle ein Chaos auslösen können. Sie können sich wie ein normales Hämoglobin an ein Sauerstoffmolekül hängen, aber es nicht vollständig umschließen. Sauerstoff ist ein gefährlich charismatisches Element; es kann eine starke elektrische Ladung haben, die andere Moleküle in der Zelle anzieht. Sie ziehen den Sauerstoff aus den defekten Hämoglobinklümpchen und tragen ihn mit sich fort. Während der Sauerstoff nun in der Zelle umherwandert, kann er mit weiteren Molekülen reagieren und sie dabei zerstören. Menschen mit schwerer Thalassämie sterben gewöhnlich vor der Geburt; bei milderen Formen können sie überleben, leiden aber häufig an Anämie. Der Körper eines an Thalassämie leidenden Menschen kann versuchen, als Ausgleich für seine kranken Blutzellen mehr Blut im Knochenmark zu bilden. Dies führt dazu, dass das Knochenmark anschwillt, sich in den umgebenden Knochen ausbreitet und dadurch das Knochenwachstum stört. Schwere Tha235
lassämie kann schließlich zu einem deutlich deformierten Skelett führen – zu gekrümmten, verkrüppelten Arm- und Beinknochen. Und in Israel haben Archäologen 8000 Jahre alte Knochen mit solchen Missbildungen gefunden. So lange gibt es die Thalassämie schon und sie ist in dieser Zeit zur häufigsten Blutkrankheit auf der Erde geworden, weil sie gegen Malaria hilft. Sieht man sich eine Karte von einem Malarialand wie Neuguinea an, steht die Häufigkeit von Thalassämie in einem engen Verhältnis zu der des Parasiten. Die schwere Thalassämie kann tödlich sein, die leichteren Formen retten Leben. Die Forscher vermuten, dass das defekte Hämoglobin in einer roten Blutzelle dem darin befindlichen Parasiten das Leben schwerer macht als dem Wirt. Die losen Hämoglobinstränge schnappen sich den Sauerstoff, der aus der Zelle rutscht und anschließend das Plasmodium schädigt. Die Parasiten scheinen keine Möglichkeit zu haben, sich zu reparieren, und können folglich auch nicht richtig wachsen. Wenn sie schließlich aus einer roten Blutzelle auftauchen, sind sie verkrüppelt und träge und können keine neuen Zellen infizieren. Die Folge ist, dass eine Malariainfektion bei Menschen mit Thalassämie eher einen leichten als einen tödlichen Verlauf nimmt. Diese Blutkrankheiten tun aber noch mehr gegen Malaria als dem Parasiten das Leben zu erschweren. Möglicherweise sorgen sie für eine natürliche Impfung. Kinder, die zum ersten Mal von einer Mücke mit Plasmodium gestochen werden, erreichen einen Wendepunkt in ihrem Leben. Wird ihr unbedarftes Immunsystem den Parasiten erkennen und abwehren können, bevor es sie tötet? Wenn der Parasiten in seinem Wachstum gehemmt wird – sei es durch Thalassämie, Ovalozytose oder Sichelzellenanämie –, hat das Immunsystem mehr Zeit, den Ausweichmanövern von Plasmodium auf die Spur zu kommen, es zu erkennen und eine Immunantwort aufzubauen. Diese leichten Malariafälle machen Kinder immun gegen Malaria und lassen sie bis zum Erwachsenenalter weiterleben. ***
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Wenn man sieht, wie Parasiten den menschlichen Körper geformt haben, liegt die Frage nahe, ob sie dies auch mit der menschlichen Wesensart getan haben. Wählen sich Frauen einen Mann aufgrund seines Parasiten abstoßenden Immunsystems – so wie sich ein Huhn einen Hahn aussucht? Die Biologin Bobbi Low untersuchte 1990 an der University of Michigan die unterschiedlichen Formen von Ehe in Kulturen, die von Parasiten wie Blutegeln, Leishmania und Trypanosomen heimgesucht werden. Sie stellte fest, dass, je stärker eine Kultur mit Parasiten belastet war, es umso wahrscheinlicher war, dass die Männer mehrere Ehefrauen gleichzeitig oder Konkubinen hatten. Nach der Hamilton-Zuk-Theorie könnte man ein solches Ergebnis erwarten, weil demnach gesunde Männer an Parasiten belasteten Orten so hoch geschätzt sind, dass viele Frauen einen solchen Mann heiraten würden. Aber nach welchen Anzeichen für ein Parasiten abstoßendes Immunsystem würden sich Frauen bei der Wahl ihrer Männer richten? Männer haben keine Hahnenkämme; aber sie haben dicke Bärte und breite Schultern und bei beidem kommt es auf das Testosteron an. Die Anzeichen müssen vielleicht auch nicht unbedingt sichtbar sein – ein großer Teil der zwischenmenschlichen Kommunikation geschieht über den Geruch, den Wissenschaftler bereits dekodierten. Wenn es eine Verbindung zwischen Parasiten und Liebe gibt, ist sie wahrscheinlich mit vielen anderen evolutionären Kräften verknäuelt und zusätzlich von einer dicken Schicht kultureller Variationen überdeckt. Ich sprach mit Marlene Zuk über ihre Arbeit, die sie aufteilt zwischen der Erforschung der Hamilton-ZukHypothese und der Erforschung der Grillengesänge. Als ich sie fragte, was sie davon hielte, ihre Ideen auf Menschen anzuwenden, war sie vorsichtig. »Es ist leicht, diese adaptiven Szenarios zu konstruieren, und fast unmöglich, sie zu überprüfen«, sagte sie. »Ich will damit nicht sagen, man sollte menschliches Verhalten nicht untersuchen oder dass daran etwas unmoralisch ist. Aber ich denke schon, dass hier einige Arbeiten Talmi sind, die nur deshalb Aufmerksamkeit erzielten, weil die Leute denken: ›Ist doch cool, dass man so etwas jetzt auf Menschen anwendet.‹ Wenn sich Menschen mit Menschen beschäftigen, verfangen sie sich in ihren Lieblingstheorien. Ich persönlich verstehe nicht einmal, was in der Struktur von Grillengesängen vor sich geht.« 237
Trotzdem darf man spekulieren. Könnten Parasiten die Evolution des menschlichen Verstands vorangetrieben haben? Primaten verbringen einen großen Teil ihres Tages – zwischen 10 und 20 Prozent –, indem sie sich gegenseitig putzen. Wie alle sich regelmäßig putzenden Tiere müssen sie sich gegen einen ständigen Ansturm von Läusen und anderen Hautparasiten wehren. Schon das Abklauben dieser Parasiten ist beruhigend, weil Berührung leichte Narkotika im Primatengehirn freisetzt. Laut Robin Dunbar von der University of Liverpool erhielt dieses von Parasiten veranlasste Vergnügen eine neue Bedeutung, als der gemeinsame Vorfahre von Affen, Menschenaffen und Menschen vor ungefähr 20 Millionen Jahren in Habitate zog, in denen es viele Raubtiere gab. Diese Primaten mussten dichter zusammenleben, um nicht getötet zu werden; aber das brachte ein stärkeres Konkurrieren um Nahrung mit sich. Als soziale Spannungen auftraten, brauchten die Primaten das beruhigende Gefühl, das sich beim gegenseitigen Putzen einstellt; nicht wegen der vorherigen Funktion – um Parasiten loszuwerden –, sondern als eine Art Währung, um sich das Bündnis mit anderen Affen zu erkaufen. Putzen erhielt sozusagen eine politische Bedeutung. Und um sich über die immer größeren Gruppen auf dem Laufenden zu halten, entwickelten Menschenaffen größere Gehirne und mussten mehr Zeit für das Putzen aufwenden. Die Hominiden erreichten schließlich bei ungefähr hundertfünfzigköpfigen Horden einen Punkt, als ein Tag nicht mehr ausreichte, um sich gegenseitig zu putzen und die Gruppe auf diese Weise intakt zu halten. Und damals, so behauptet Dunbar, entstand die Sprache und trat an die Stelle des Putzens. Die Abwehr von Parasiten könnte bei der Entwicklung der menschlichen Intelligenz noch auf andere Weise eine Rolle gespielt haben, die noch spekulativer, aber möglicherweise bedeutsamer ist. Vielleicht hatte sie eine medizinähnliche Funktion. Wenn eine Bärenspinnerraupe von einer parasitischen Fliege angegriffen wird und ihre Kost von Lupine auf Schierling umstellt, tut sie das aus bloßem Instinkt. Sie hält nicht plötzlich auf ihrem Blatt inne und denkt: »Mir scheint, dass eine Made in mir wächst, die mich als leere Hülle zurücklässt, wenn ich nichts gegen sie unternehme.« Vermutlich ändert sich nur ihr Appetit – und wahrscheinlich ist dies bei den meisten Tieren der Fall, die diese Pro238
tomedizin einsetzen. Aber in den Primaten, besonders den Schimpansen, die uns am nächsten verwandt sind, scheint etwas anderes vorzugehen. Kranke Schimpansen suchen sich manchmal ungewohnte Nahrung. Sie schlucken bestimmte Arten von Blättern unzerkaut oder streifen die Rinde von Pflanzen ab und fressen nur das bittere Mark. Diese Pflanzen haben so gut wie keinen Nährwert, aber sie sind für etwas anderes nützlich: Die Blätter scheinen Würmer aus den Därmen zu vertreiben, und das bittere Mark wird von Menschen, die sich den Wald mit den Schimpansen teilen, als Medizin verwendet. Als Wissenschaftler die Pflanzen im Labor analysierten, entdeckten sie, dass sie viele Parasiten töten können. Sollten sich Schimpansen tatsächlich medizinisch selbst versorgen können? Die Beweise für die Schimpansen-Doktor-Theorie mehren sich mit jedem Jahr, aber die Theorie gewinnt nur langsam Akzeptanz. Sie erfordert wesentlich mehr Beweismaterial als eine typische Hypothese in der Biologie, weil die Wissenschaftler überzeugend darlegen müssen, dass Schimpansen an bestimmten Parasiten erkrankt sind, wenn sie zu ihren Pflanzen greifen, und sie müssen zeigen, wie die Pflanzen die Parasiten bekämpfen. Dies wissenschaftlich zu beweisen, während man durch hügelige Regenwälder rennt, um mit den Schimpansen Schritt zu halten, dauert seine Zeit. Aber der Primatologe Michael Huffman konnte tatsächlich zeigen, dass bei Schimpansen nach dem Verzehr bestimmter Pflanzen die Parasitenbelastung abnimmt und sich ihr Gesundheitszustand verbessert. Er behauptet, dass sich Schimpansen wesentlich differenzierter kurieren würden als Instinkt getriebene Bärenspinner. Wenn sie von der Pflanze Vernonia amydalina nur das Mark fressen und Rinde und Blätter wegwerfen würden, würden sie den giftigen Teil der Pflanze vermeiden und nur den Teil der Pflanze zu sich nehmen, der Steroide Glukoside enthielte, die Nematoden und andere Parasiten töten würden. Würde eine hungrige Ziege zuviel von dieser Pflanze fressen, würde sie daran sterben. Wenn Huffman recht hat, sammeln Schimpansen medizinisches Wissen und geben es durch Lehren und gegenseitiges Beobachten weiter. Einmal beobachtete Huffman ein Schimpansenmännchen dabei, wie es Vernonia frass und den Rest auf den Boden warf; dann kam ein Schimpansenbaby und wollte diesen Rest aufheben, aber seine Mutter hielt es zurück, stellte den Fuß auf das Mark und trug 239
den Kleinen fort. Wenn Huffman recht hat, müssen Schimpansen etwas an kognitiver Sophistikation haben, das heißt, sie können von etwas, das sie kennen, auf etwas anderes schließen. Sie erkennen die Symptome von bestimmten Parasiten und assoziieren das Fressen von bestimmten Pflanzen mit ihrer Gesundung. Möglicherweise fressen sie manche Pflanzen sogar zur Vorbeugung, was die Assoziation auf eine noch abstraktere Ebene stellen würde. Gewöhnlich fallen Begriffe wie Abstraktion oder Wahrnehmung der möglichen Verwendung von Dingen in der Natur, wenn über einen der wichtigsten Schritte in der menschlichen Evolution diskutiert wird: die Fähigkeit, Werkzeuge herzustellen. Schimpansen können Äste abstreifen, um damit Termiten aus dem Bau zu fischen, Schalen zwischen Steinen aufklopfen und sich sogar Sandalen machen, um eine Dornbuschsteppe zu durchqueren. Als unsere nächsten Primatenverwandten verfügen sie vielleicht über einige Fähigkeiten der frühesten Hominiden von vor fünf Millionen Jahren. Als unsere Vorfahren die dichten Wälder verließen, lernten sie, intelligentere Werkzeuge herzustellen, indem sie Steine zerschlugen, um mit den scharfen Seiten Fleisch zu schneiden. Die Fähigkeit, die Form eines Werkzeugs mit dem zu verbinden, was man damit tun kann, wurde mit mehr Nahrung belohnt. Dieses abstrakte Denken machte die Herstellung besserer Werkzeuge möglich und das Überleben wurde ein bisschen leichter. Anders gesagt: Werkzeuge könnten unser Gehirn vergrößert haben. Das gleiche Argument ließe sich auch auf die Medizin anwenden. Könnte die Fähigkeit zu erkennen, dass Pflanzen gegen verschiedene Parasiten helfen, den Hominiden ein längeres Leben und mehr Kinder beschert haben? Und könnte dieser Erfolg zu fähigeren Gehirnen geführt haben, um bessere Heilmittel gegen Parasiten zu finden? Wenn das zutrifft, wäre der bessere Name für uns vielleicht Homo medicus. *** Im Jahr 1955 schrieb Paul Russel, ein Naturwissenschaftler an der Rockefeller University, ein Buch und gab ihm den – seiner Mei240
nung nach absolut sinnvollen und realistischen – Titel »Man’s Mastery of Malaria«. Der Parasit, der so viele Menschen dahingerafft hatte (nach manchen Zählungen die Hälfte aller Menschen, die je geboren wurden) war nahe daran, vor den Errungenschaften der modernen Medizin zu kapitulieren. »Zum ersten Mal ist es auch für unterentwickelte Länder und ungeachtet ihres Klimas ökonomisch machbar, die Malariagefahr vollständig zu bannen.« Das Aus für Malaria war so sicher, dass Russell sein Buch mit der Warnung schloss, nach der Vernichtung des Parasiten könnte eine Bevölkerungsexplosion über die Welt hereinbrechen. Während ich diese Worte schreibe – 44 Jahre später, am Ende des 20. Jahrhunderts –, stirbt alle zwölf Sekunden ein Mensch an Malaria. In der Zeit zwischen Russell und mir haben Wissenschaftler das Geheimnis der DNS entschlüsselt, die Beschaffenheit der Zellen eingehend studiert und sich an einigen Ketten Glied um Glied emporgearbeitet, vom Gen bis zu seiner Wirkung. Und trotzdem wütet die Malaria immer noch unter den Menschen. Das Gleiche gilt für viele andere Parasiten. Außer den Bakterien und Viren, die Amerikanern und Europäern vielleicht bekannt sind, feiern Protozoen und Tiere fröhlich Miteinander in ihren menschlichen Wirten. Es gibt mehr Darmwürmer in Menschen als Menschen selbst. Filarien, die Erreger von Elephantiasis, infizieren 120 Millionen Menschen. Es gibt 200 Millionen Fälle von Bilharziose, die durch Blutegel verursacht wird. Selbst ein geografisch eingeschränkter Parasit wie Trypanosoma cruzi, der Erreger der Chagas-Krankheit, infiziert an die 20 Millionen Menschen. Welch hohen Tribut diese Parasiten fordern, wird aus mehreren Gründen geflissentlich übersehen. Zum einen trifft es meistens die Ärmsten in den ärmsten Ländern. Zum anderen sind viele dieser Parasiten nicht direkt tödlich. Obwohl 1,3 Milliarden Menschen Hakenwürmer haben, sterben daran jährlich nur 650.000. Aber chronische Parasiteninfektionen sind trotzdem verheerend, weil die Menschen dadurch apathisch werden und unterernährt sind. Parasiten wie Hakenwurm und Peitschenwurm erschweren den Kindern das Lernen in der Schule; eine Dosis eines Antipeitschenwurmmittels genügt, um begriffsstutzige Kinder wieder zu aufgeweckten zu machen. Epidemiologen haben versucht, diese Verluste mit etwas zu 241
quantifizieren, das sie das von Arbeitsunfähigkeit bereinigte Lebensjahr (disability-adjusted life year) nennen. Diese Einheit misst, einfach ausgedrückt, den geschätzten Wert der gesunden Lebensjahre, die aufgrund einer Krankheit verloren gingen. Es ist eine grausame Statistik, vollgestopft mit eiskalten Berechnungen von Produktionsfaktoren. Eine Blutegelinfektion mit 25 Jahren zählt mehr als eine im Alter von 55. Ein Jahr, das ein Kranker noch lebte, entspricht, je nach dem, wie schwer die Krankheit war, nur einem Bruchteil eines parasitenfrei gelebten Lebens. Fadenwürmer und Kratzer können das Wachstum eines Kindes verlangsamen, aber wenn sie rechtzeitig bekämpft werden, tritt eine Wende ein und das Kind beginnt wieder zu wachsen. Bleiben sie zu lange im Körper, ist das Kind als Erwachsener möglicherweise verkrüppelt. So gesehen sind Parasiten eine unglaubliche Belastung für das Leben. Malaria beraubt die Weltbevölkerung jährlich um 35,7 Millionen Lebensjahre. Parasitische Darmwürmer – vor allem Haken-, Rund- und Peitschenwürmer – sind weniger tödlich als Malaria, aber sie kosten trotzdem mehr Leben: 39 Millionen Lebensjahre. Insgesamt vernichten die führenden Parasiten fast 80 Millionen Lebensjahre pro Jahr, nahezu das Doppelte von dem, was durch Tuberkulose verloren geht. In den USA wissen die meisten Menschen nicht, welchen Schaden Parasiten anrichten (oder sie wissen nicht einmal, was Parasiten sind), weil sie heute kaum noch eine Bedrohung für ihre Gesundheit darstellen. Aber das war nicht immer der Fall. Den meisten Amerikaner ist nicht bekannt, dass sich in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts eine Malariawelle über die Great Plains bis hinauf nach North Dakota ausbreitete und dass 1901 ein Fünftel der Bevölkerung von Staten Island den Malariaparasiten in sich trug; dass die Menschen in den amerikanischen Südstaaten deshalb als dumm und faul galten, weil so viele vom Hakenwurm ausgelaugt waren und dass in den dreißiger Jahren ein Viertel des in den USA verkauften Schweinefleischs mit Trichinen verseucht war. In den USA braucht man sich wegen dieser Parasiten keine Sorgen mehr zu machen, aber nicht, weil irgendjemand ein Zaubermittel erfunden hat, sondern weil sie dank der langsamen, aber stetigen Arbeit der öffentlichen Gesundheitsdienste, des Baus von Außenaborten, der Lebensmittelkontrolle, der Behandlung von 242
Infektionen zurückgedrängt wurden. Mit dieser einfachen Methode ist noch eine Menge mehr zu erreichen. Nehmen wir die schreckliche Plage des Medinawurms. Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts waren Medinawürmer fantastisch erfolgreiche Parasiten. Nach einer Schätzung in den vierziger Jahren krochen sie aus den Beinen von 48 Millionen Menschen pro Jahr. Heute gibt es noch immer keinen Impfstoff gegen diese Wurmkrankheit; man kennt nicht einmal ein Medikament, das gegen den Medinawurm wirkt. Aber Anfang der achtziger Jahre starteten die Gesundheitsbehörden eine Kampagne, die den Medinawurm vielleicht bald ausrottet. Ihre Strategie war einfach. Sie klärten die Menschen in der Medinawurm-Zone über die Lebensweise des Parasiten auf. Dann sorgten sie dafür, dass Brunnen gebaut wurden und verteilten anderswo Seihtücher, um die parasitentragenden Hüpferlinge aus dem Teichwasser herauszufiltern. Die Gesundheitsbehörden erklärten den Menschen, dass sie die Abszesse, welche die Parasiten bei ihnen bildeten, verbinden müssten, damit der Medinawurm seinen Lebenszyklus nicht ungehindert fortsetzen könne. Wenn sich die Medinawürmer aus ihren Wirten herausschoben, wurden die Wirte vom Wasser fern gehalten. Innerhalb weniger Jahre begann die Medinawurmpopulation zusammenzubrechen. Im Jahr 1989 gab es 892.000 bekannte Fälle (die tatsächliche Zahl war vermutlich wesentlich höher); bis 1998 war die Zahl auf 80.000 gesunken. Im Jahr 1993 verschwanden Medinawürmer in Pakistan vollkommen. Es ist durchaus denkbar, dass diese Plage in einigen Jahren vollkommen beseitigt ist. In der Geschichte der Medizin wären Medinawürmer nach den Pocken dann erst die zweite Krankheit, die ausgemerzt werden konnte. Zwei andere gefährliche Parasiten haben ebenfalls Lebenszyklen, die sie zu guten Kandidaten für eine endgültige Ausrottung machen. Der eine ist Onchocerca volvulus, der durch Kriebelmücken übertragen wird und die Flussblindheit verursacht. 17 Millionen Menschen sind Träger dieses Parasiten, die meisten leben in Afrika. Nur wenn man alle Kriebelmücken ausrotten oder an alle gefährdeten Afrikaner Insektenspray verteilen würde, könnte man verhindern, dass die Menschen weiter infiziert werden. Wie beim Medinawurm gibt es gegen O. volvulus zwar keinen Impfstoff, aber eine partielle Behandlung. Schafzüchter verabreichen ihren 243
Tieren Ivermectin gegen Darmwürmer. Dieses Medikament scheint die Würmer zu lähmen, sodass sie weder fressen noch schwimmen können und aus dem Körper ausgeschieden werden. Ivermectin hat ein breites Wirkungsspektrum gegen Nematoden, einschließlich O. volvulus. Wenn ein an Flussblindheit erkrankter Mensch das Medikament einnimmt, sterben die kleinen Larven, die in der Haut umherwandern. Es tritt keine vollständige Heilung ein, weil die Adultwürmer in ihren Bindegewebeknoten weiterleben und dort zahllose Junge bekommen. Aber die Jungen sind es, welche die schlimmsten Krankheitssymptome verursachen – den starken Juckreiz und die Augenverletzungen, die zur Erblindung führen. Wissenschaftler stellten fest, dass eine Tablette pro Jahr einen infizierten Menschen von den Larven befreien würde. Nachdem ein erwachsener Wurm zehn Jahre lebt, müsste die Tablette zehnmal eingenommen werden, um den Infizierten vollkommen zu heilen. Der Pharmakonzern Merck hat die Menge an Ivermectin gespendet, die nötig ist, um die Welt von Flussblindheit zu befreien. Bis jetzt wurden 100 Millionen Tabletten ausgegeben. In jüngerer Zeit haben Parasitologen entdeckt, dass Ivermectin ebenso wirksam gegen die Filarien, die Elephantiasis verursachen, eingesetzt werden kann. Die Filarien haben im Wesentlichen den gleichen Lebenszyklus wie O. volvulus und reagieren ebenso empfindlich auf das Medikament. Dieses Projekt ist jedoch weitaus anspruchsvoller: 120 Millionen Menschen in nahezu der gesamten tropischen Welt sind infiziert. Sollte es den Forschern gelingen, diese drei Parasiten auszumerzen, müssten sie von der Welt geehrt werden. Wir können auf eine Zeit hoffen, in der Menschen kaum glauben werden, dass es auf der Erde etwas gab, das auf so raffinierte Weise menschliches Elend verursacht hat. Diese Parasiten werden die Drachen und Basilisken des 20. Jahrhunderts sein. Was ihre Verwundbarkeit betrifft, sind diese drei Parasiten eher die Ausnahme als die Regel. Viele andere gedeihen in der Armut, in welcher der größte Teil der Menschheit lebt, und es braucht mehr als ein paar gute Absichten, um ihnen den Garaus zu machen. Bilharziose ist leicht heilbar, wenn man die 20 Dollar hat, um das Medikament Praziquantel zu kaufen. Wer zu arm ist, um es sich leisten zu können, bekommt es vielleicht von irgendwoher umsonst, aber er wird sich wieder anstecken, wenn er sein Trink244
wasser aus einem Tümpel holen muss, statt es aus einem sauberen Brunnen zu schöpfen. Und oft machen die vermeintlichen Heilmittel gegen die Armut den Parasiten das Leben noch leichter. Wenn riesige Dämme gebaut und weite Regionen trockenen Landes unter Wasser gesetzt werden, entstehen neue Lebensräume für die Schnecken, die Blutegelträger sind, und neue BilharzioseEpidemien folgen wie das Amen in der Kirche. Warum Parasiten heute so gedeihen, liegt jedoch vor allem daran, dass sie sich weiterentwickeln. Parasiten sind keine Sackgassen des Lebens, wie man einst annahm, sondern passen sich fortwährend ihren Umgebungen an. Malaria hat nicht nur uns gezwungen, sich weiterzuentwickeln, sondern sie hat das ebenfalls getan. Und nachdem sich Plasmodium viele Tausend Jahre lang den menschlichen Abwehrsystemen angepasst hat, sind es jetzt nicht irgendwelche neuen T-Zellenrezeptoren, auf die es sich einstellen muss, sondern nur ein paar Medikamente. Vor 1950 konnte die Malaria, die sich ein Mensch irgendwo in der Welt zuzog, mit einigen Dosen des milden Medikaments Chloroquin behandelt werden. Chloroquin heilt Malaria, indem es die Nahrung der Plasmodien in Gift verwandelt. Wenn der Parasit das Hämoglobin in roten Blutzellen frisst, trennt er die Arme des Moleküls ab; zurück bleibt ein stark eisenhaltiger Kern. Dieser Kern ist für den Parasiten gefährlich, weil er sich in die Membran der Plasmodien einhaken und das Ein- und Ausfließen der Moleküle verhindern kann. Der Parasit neutralisiert das Gift auf zweierlei Weise: Er reiht einige Moleküle zum harmlosen Hämozoin aneinander; den Rest des Gifts verarbeitet er mit Enzymen, bis es nicht mehr mit der Membran reagieren kann. Das Chloroquin bahnt sich einen Weg in das Plasmodium und verbindet sich mit dem Hämoglobinkern, bevor ihn der Parasit neutralisieren kann. In der neuen Form passt die Verbindung nicht an das Ende der Hämozoinkette und die Enzyme des Parasiten können nicht mehr mit ihr reagieren. Stattdessen baut sie sich in der Membran von Plasmodium auf und macht sie undicht. Der Parasit kann Atome wie Kalium, die er zum Leben braucht, nicht mehr in die Zelle pumpen, oder die, die er loswerden muss, nicht mehr hinauspumpen. Schließlich stirbt er. Inzwischen gibt es in weiten Gebieten der Welt eine Malaria, die Chloroquin resistent 245
ist. In den späten fünfziger Jahren wurden zwei Chloroquin resistente Parasiten geboren – der eine in Südamerika, der andere in Südostasien. Die Wissenschaftler wissen nicht genau, was sie so hartnäckig macht, aber sie vermuten, dass sie ein mutierendes Protein haben, das sich das Chloroquin schnappt, bevor es zu tief in den Parasiten eindringt. Diese Mutanten traten wahrscheinlich regelmäßig seit tausenden von Jahren auf, aber die Proteine, die sie produzierten, dienten keinem guten Zweck. Wahrscheinlich bremsten sie sogar den Blutkonsum des Parasiten und wurden deshalb von der natürlichen Auslese unterdrückt. Doch seit den fünfziger Jahren hatte jeder Parasit, der Chloroquin abblocken konnte, eine Menge Platz – in menschlichen Körpern. Jahr für Jahr breiteten sich die Kinder dieser zwei Plasmodium-Mutanten weiter aus. Der südamerikanische Mutant besiedelte jede Malariaregion auf dem gesamten Kontinent. Der Mutant aus Südostasien war mittlerweile noch kosmopolitischer geworden. Bis zu den sechziger Jahren hatte er nach Osten hin Indonesien und Neuguinea erobert, und in den Siebzigern verbreitete er sich in Indien und im Mittleren Osten. 1978 wurde diese südostasiatische Form zum ersten Mal in Ostafrika registriert, und in den achtziger Jahren hatte sie sich im größten Teil von Afrika unterhalb der Sahara verbreitet. Jetzt ist es wesentlich schwieriger, die Ausbreitung der Malaria aufzuhalten, weil andere Gegenmittel teurer sind und sich auch gegen sie resistente Plasmodium-Ketten bilden. Das Wiederaufleben von Parasiten wie Plasmodium schreit geradezu nach einem Impfstoff. Gegen einige Viren und Bakterien sind Impfstoffe sehr effizient, aber es gibt bisher keinen kommerziell verfügbaren gegen einen Eukaryonten. Es gibt keinen. Das Problem besteht darin, dass eukaryontische Parasiten komplexe, schwer fassbare Lebewesen sind. Sie durchlaufen verschiedene Stadien in ihrem Wirt und keines sieht aus wie das nächste. Protozoen und Tiere können unsere Immunsysteme perfekt zum Narren halten – man denke nur an die Trypanosomen, die ihren molekularen Pelz abwerfen und sich einen neuen mit einem völlig anderen Muster aus chemischen Streifen zulegen, oder an die Blutegel, die sich mit unseren Molekülen maskieren, während sie Stoffe produzieren, die bewirken, dass wir uns gegen uns selbst wenden. 246
Die ersten Versuche, Impfstoffe gegen Parasiten herzustellen, waren eine recht primitive Angelegenheit. Die Wissenschaftler töteten im Labor Parasiten durch Bestrahlung und injizierten ihre Überreste den Versuchstieren. Der damit erzielte Impfschutz war minimal. In den letzten 20 Jahren lernten die Wissenschaftler, die Impfstoffe sorgfältiger abzustimmen. Jetzt konzentrierten sie sich auf einzelne Moleküle, die Parasiten an ihrer Oberfläche tragen, in der Hoffnung, ein paar zu finden, die das Immunsystem nützen kann, um sich auf die Bekämpfung dieser Eindringlinge vorzubereiten. Aber ein Fehlschlag folgte dem anderen. Die Weltgesundheitsorganisation startete in den achtziger Jahren eine Offensive, um einen Bilharziose-Impfstoff zu schaffen. Sie unterstützte nicht nur Versuche mit einem, sondern mit sechs Molekülen, von denen jedes von einer Schar von Immunologen getestet wurde. Keines bot einen ausreichenden Schutz. Der große Plan wurde aufgegeben und die Impfstoffentwickler suchen nach neuen Molekülen. Doch Parasiten trotzen Impfstoffen nicht per definitionem. Es ist immer noch möglich, dass es ein Molekül gibt, ohne das sie nicht leben können, und das vom Immunsystem regelmäßig genug erkannt und als Wegweiser zu den Angreifern benutzt werden könnte. Im Jahr 1998 begannen Wissenschaftler bei der amerikanischen Marine mit Menschenversuchen für einen Malariaimpfstoff. Dieser Impfstoff ist noch komplizierter als alle bisherigen. Die Wissenschaftler wollen das menschliche Immunsystem dazu bringen, Plasmodium in seinem frühen Stadium in der Leberzelle anzugreifen. Die Leberzellen stellen in den Rezeptoren für den MHC (Haupthistokompatibilitätskomplex) kleine Stücke von Plasmodium-Proteinen an ihrer Oberfläche aus. Normalerweise kann unser Körper Malaria in diesem Stadium nicht abwehren, denn bis die Killer-T-Zellen diese Plasmodium-Fragmente erkannt und sich zu einer Parasiten tötenden Armee vermehrt haben, sind die Plasmodien bereits aus der Leber verschwunden und in den Blutstrom entwischt. Wären die Killer-T-Zellen bereits vorbereitet gewesen, um die Plasmodium-Fragmente zu erkennen, hätten sie sofort mit der Zerstörung der infizierten Leberzellen beginnen können. Die Marinewissenschaftler wollen eine solche T-Zellen-Armee erzeugen, indem sie die Menschen mit einer falschen Malaria infizieren. Sie 247
setzten eine DNS-Sequenz zusammen, die sie in die Muskeln von freiwilligen Versuchspersonen spritzten. Die DNS gelangt in die Muskelzellen, in denen sie die gleichen Proteine, die von den Leberzellen an der Zellenoberfläche ausgestellt werden, zu bilden beginnt wie Plasmodium. Die Muskelzellen sollen – in der Theorie – dieses Impfprotein an die eigene Oberfläche tragen. Killer-TZellen, die darauf stoßen, werden dann in der Lage sein, eine echte Infektion abzuwehren. Doch es ist ein weiter Weg von Menschenversuchen bis zu einer Impfkampagne – besonders gegen Krankheiten wie Malaria und Bilharziose, unter denen hunderte von Millionen Menschen in den ärmsten Gegenden der Welt leiden. »Was könnte man bestenfalls von einem Impfstoff erwarten?« fragt Arman Kuris, der einen großen Teil seiner wissenschaftlichen Laufbahn mit der Suche nach Möglichkeiten zur Bekämpfung der Bilharziose verbracht hat. »Ein Molekularbiologe wird sagen: ›Er ist teuer, er wird alle fünf bis sieben Jahre eine Nachimpfung erfordern, er wird tadellos gekühlt geliefert werden müssen.‹ Das bedeutet Kühlung von der Herstellung bis zu dem Moment, an dem Sie eine Ampulle herausnehmen und eine Spritze hineinstecken. Wurden Sie schon mal gegen Pocken geimpft? Ich schon, an der Grenze von Costa Rica, wo die Krankenschwester den Impfstoff in einem Schnapsglas hatte und mich mit einer Nähnadel tätowierte. So etwas nenne ich einen Impfstoff.« Er weist daraufhin, dass Praziquantel, das Medikament gegen Bilharziose, 20 Dollar kostet. »In den kenianischen Dörfern, in denen ich arbeite, können sich die am besten gestellten Familien das Medikament vielleicht für ein Lieblingskind leisten. Da wirtschaftlich kein größerer Erfolg zu erwarten ist und ich ihnen einen Impfstoff liefern würde – was zum Teufel könnten sie damit anfangen? Ich sage nicht, daß man hier nicht forschen sollte. Die Navy muss vielleicht in Malaria verseuchte Gegenden gehen, auch Leute vom Peace Corps, Diplomaten … Aber im Hinblick auf die 200 Millionen Menschen, die an Bilharziose leiden, sehe ich keine Chance, dass so ein Impfstoff funktioniert. Und doch ist nach meiner Berechnung drei Viertel des Geldes, das in den vergangenen 20 Jahren für Bilharziose ausgegeben wurde, für Impfstoffe verwendet worden.« Selbst wenn die Forscher einen Impfstoff herstellen könnten, 248
der Kuris’ Schnapsglas-Standard entspräche, fänden die Parasiten durchaus einen Weg, um ihn zu umgehen. Die Weltgesundheitsorganisation kam zu dem Schluss, dass sich eine finanzielle Förderung selbst bei einem nur zu 40 Prozent schützenden BilharzioseImpfstoff lohnen würde. Das bedeutet nicht, dass 40 Prozent der 200 Millionen Menschen mit Bilharziose ihre Parasiten loswürden, sondern dass jeder Infizierte 40 Prozent weniger Würmer in seinen Venen hätte. Es klingt wie ein lohnendes Ziel; was man dabei übersieht, ist die Raffinesse der Schistosomen. Diese Egel können spüren, wieviele Egelgefährten sich in ihrem Wirt befinden, und wenn diese Zahl steigt, produziert jedes Weibchen weniger und weniger Eier. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um einen Mechanismus, den die Blutegel entwickelt haben, um ihre Wirte zu schonen. Wenn jedes Weibchen so viele Eier austreiben würde, wie es kann, würden sie die Leber des Wirtes so schädigen, dass der Wirt sterben könnte. Ein Impfstoff, der 40 Prozent der Würmer in einem Menschen tötet, könnte die gegenteilige Situation herbeiführen: Die überlebenden Schistosomen würden spüren, dass sie weniger Konkurrenz haben; sie würden die Eiproduktion ankurbeln und die Krankheit verschlimmern. Bei Impfstoffen besteht auch die Gefahr, dass sie uns unsere hart erworbene Fähigkeit, uns selbst zu immunisieren, nehmen. Angenommen, der Navy-Impfstoff gegen das Leberstadium von Malaria wirkt und man entscheidet sich, Millionen Kinder rund um die Welt damit zu impfen. Der Impfstoff wirkt einige Jahre hervorragend. Dann lassen die Länder das Programm einschlafen – wegen eines Bürgerkriegs oder weil Spekulanten die Landeswährungen ruinieren; oder es taucht ein mutierter Malariatyp auf, der sich deutlich genug unterscheidet, sodass ihn die auf den Impfstoff trainierten T-Zellen nicht erkennen. Die Menschen hätten keinen Schutz mehr in der Leber und keine Gelegenheit, ihren eigenen Widerstand gegen das Blutstadium des Parasiten aufzubauen. Unter solchen Umständen könnte der Impfstoff mehr schaden als nützen. In manchen Fällen kann es tatsächlich sinnvoller sein, eine bessere Koexistenz mit dem Parasiten anzustreben, als zu versuchen, ihn auszumerzen. Bei Bilharziose zum Beispiel richten die erwachsenen Blutegel keinen großen Schaden an. Sie werden vom 249
Immunsystem so gut abgedeckt, dass sie keine schädliche Wirkung auslösen, und sie trinken kein Blut. Schädlich sind ihre Eier, weil das Immunsystem in der Leber große Ballen aus Narbengewebe um sie herum bildet. Unter den vielen Signalen, die Immunzellen austauschen, kann eines die Bildung dieser Granulome stoppen. Wissenschaftler haben Mäusen mit Schitosoma-Trematoden, dem Verursacher der Krankheit, eine zusätzliche Dosis von diesem Signal verabreicht und festgestellt, dass ihr Körper die eigene Leber nicht zerstörte. Möglicherweise könnte uns diese Art der Behandlung retten – nicht vor dem Parasiten, sondern vor uns selbst. Eine andere Strategie wäre, die Blutegel davon abzuhalten, sich zu paaren. Wissenschaftler haben entdeckt, dass die Weibchen mit einem chemischen Signal von den Männchen angelockt werden. Wenn man die Menschen so impfen würde, dass ihr Immunsystem dieses Signal zerstört, würden sich Blutegel nicht mehr paaren und es würden keine Eier mehr produziert. Koexistenz mit Parasiten wäre vielleicht auch möglich, wenn es uns gelingen würde, sie zu zähmen. Wie schwer eine von einem Parasiten verursachte Krankheit ist, hat viel mit den evolutionären Optionen des Parasiten zu tun. Wenn es die beste Überlebenschance eines Virus erfordert, seine Wirte schnell zu töten, wird er sich wahrscheinlich zu einem tödlichen Typ entwickeln. Aber das Gegenteil trifft auch zu: Wenn der Virus einen hohen Preis für seine Virulenz zahlen muss, werden gutartigere Typen die Gewinner sein. Wir haben seit über 10.000 Jahren eine Menge an Evolution bewerkstelligt, indem wir Pflanzen und Tiere so züchteten, wie wir sie uns wünschten – fügsame Kühe und süße Äpfel zum Beispiel. Einer der Architekten der Virulenztheorie, Paul Ewald vom Amherst College, hat vorgeschlagen, das Gleiche mit Parasiten zu tun, um Krankheiten zu bekämpfen. Und es ist gar nicht so schwer, einen Parasiten zu domestizieren. In vielen tropischen Gegenden werden von Gesundheitsorganisationen Fliegengitter und Moskitonetze an die Menschen verteilt, damit sie im Schlaf nicht von Malaria übertragenden Mücken gestochen werden. Ewald vermutet, dass diese Maßnahmen nicht nur Leben retten, weil sie Mückenstichen vorbeugen, sondern auch, weil sie das Plasmodium in den Mücken zwingen, sich zu einer milderen Form zu entwickeln. Wenn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Parasit von einem Wirt 250
zum nächsten gelangen kann, abnimmt, wird es für ihn, evolutionär gesehen, unsinnig, seinen Wirt zu töten. Die Ausmerzung von Parasiten kann aber auch neue Krankheiten entstehen lassen. Heutzutage leiden eine Million Amerikaner an Kolitis und der Crohn-Krankheit. In beiden Fällen greift das körpereigene Immunsystem die Darmwände an. Die dadurch ausgelöste Entzündung zieht den ganzen Verdauungstrakt in Mitleidenschaft und manchmal muss durch einen chirurgischen Eingriff ein Stück des geschädigten Darms entfernt werden. Beide Krankheiten können einen Menschen ein Leben lang quälen, und sind bis jetzt unheilbar. Obwohl sie heute so häufig sind, findet man keine Berichte über Colitis oder Morbus Crohn aus den Jahren vor 1930. Die ersten Fälle tauchten in den USA in gut situierten jüdischen New Yorker Familien auf, was die Ärzte annehmen ließ, dass es sich um Erbkrankheiten handelte. Aber dann erkrankten auch Weiße, die nicht jüdisch waren, an diesen Krankheiten. Aber die Ärzte glaubten immer noch an eine Erbkrankheit, weil kaum Schwarze davon betroffen waren. Doch in den siebziger Jahren tauchten die Krankheiten auch unter Schwarzen auf. Außerhalb der USA zeigte sich ein weiteres merkwürdiges Muster. Die Krankheiten sind in den ärmeren Ländern der Welt praktisch unbekannt. In Japan und Korea dagegen, zwei Länder, die sich in relativ kurzer Zeit von armen zu reichen Ländern entwickelt haben, sind Colitis und die Crohn-Krankheit epidemisch geworden. Einige Wissenschaftler sind der Meinung, dass die Ausbreitung dieser Krankheiten auf die Ausrottung von Darmwürmern zurückzuführen ist – was sicher zur Geschichte der Krankheiten passen würde. In den USA tauchten sie zuerst bei wohlhabenden Menschen in den Großstädten auf – mit anderen Worten bei denen, die vermutlich zu den ersten zählten, die frei von Band- und anderen Darmwürmern waren. Später, als die Schwarzen allmählich zu Wohlstand kamen und ebenfalls in die Städte zogen, wurden auch sie krank. Darmwürmer sind in den meisten Teilen der Welt immer noch häufig, aber in Ländern, in denen sie in jüngster Zeit ausgerottet wurden, folgten dicht darauf Colitis und die CrohnKrankheit. Selbst bei Nutztieren stellen sich Darmkrankheiten ein, nachdem sie mit Wurmmitteln wie Ivermectin behandelt wurden. Vielleicht waren Menschen vor diesen Krankheiten geschützt 251
aufgrund der Wechselwirkung zwischen ihrem Immunsystem und den Darmparasiten. Parasitologen stellten fest, dass Darmwürmer das Immunsystem von seiner giftspuckenden, Zellen fressenden Raserei abbringen und zu einer milderen Attacke bewegen können. In dieser gemäßigteren Stimmung kann das Immunsystem immer noch Bakterien und Viren in Schach halten, aber die parasitischen Würmer können unbehelligt leben. Dieses Arrangement bekommt auch dem Wirt. Wenn parasitische Würmer vorhanden sind, wäre es gefährlich, sie immer und immer wieder anzugreifen. Aber dann verloren ein paar Hundert Millionen Menschen innerhalb eines evolutionären Augenzwinkers ihre Darmparasiten. Ohne diesen beruhigenden Einfluss schwenken einige Menschen jetzt zu weit in die andere Richtung und ihr Immunsystem ist nicht in der Lage, mit den Angriffen auf den eigenen Körper aufzuhören. Wissenschaftler von der University of Iowa setzten diese Idee 1997 in die Praxis um. Sie verabreichten sieben Personen mit geschwüriger Colitis und Crohn-Krankheit, denen keine der herkömmlichen Behandlungen Erleichterung verschafft hatte, Eier eines Darmwurms, der normalerweise in einem Tier lebt und in einem menschlichen Darm keine Krankheit verursacht (die Wurmspezies soll bis zum Abschluß der Forschungsarbeiten geheim bleiben). Nach ein paar Wochen waren die Larven geschlüpft und gewachsen. Bei sechs von den sieben Versuchspersonen stellte sich eine Vollremission ein: Sie fühlten sich völlig gesund und die Krankheit war mit den üblichen Mitteln nicht mehr festzustellen. Ein parasitenfreies Leben ist vielleicht auch für die Zunahme anderer Immunkrankheiten wie Allergien verantwortlich. 20 Prozent der Bevölkerung in den Industrieländern leiden an Allergien, aber andernorts kommen sie kaum vor. Weil es gefährlich ist, von einem Land auf ein anderes zu schließen, nahm der Immunologe Neil Lynch dieses Muster in Venezuela unter die Lupe. Er untersuchte Menschen, die in Häusern der Oberschicht wohnten mit fließendem Wasser und Toiletten, und verglich sie mit armen Menschen aus den venezolanischen Slums. Während 43 Prozent der Privilegierten Allergien hatten, waren nur bei zehn Prozent von ihnen leichte Darmwurmifektionen festzustellen. Unter den Armen gab es nur halb so viele Allergien wie in der Oberschicht, aber doppelt so viele Würmer. Und als Lynch venezolanische Indianer 252
untersuchte, die in den Regenwäldern leben, fiel das Ergebnis noch krasser aus: 88 Prozent waren mit Parasiten infiziert und hatten überhaupt keine Allergien. Ohne den Einfluss parasitischer Würmer neigt unser Immunsystem möglicherweise dazu, auf harmlose Katzenschuppen und Schimmelpilze übertrieben zu reagieren. Um diese Krankheiten zu bekämpfen, müssen wir uns vielleicht zu unserer langen Ehe mit Parasiten bekennen. Das heisst nicht, dass Menschen mit Colitis Trichinella-Eier essen sollten, es sei denn, sie wünschen sich einen langen, qualvollen Tod, während sich der Parasit seinen Weg in ihre Muskeln bahnt. Aber die chemischen Stoffe, die Parasiten nutzen, um unser Immunsystem zu manipulieren, können vielleicht vor dem modernen Leben schützen. Vielleicht werden Kinder eines Tages bei der Polioimpfung auch Parasitenproteine bekommen, damit ihr Immunsystem lernt, nicht über die Stränge zu schlagen. Das wäre der Clou der Geschichte der Parasiten im menschlichen Wirt. Sie müssen nicht immer die Krankheit sein. In manchen Fällen sind sie vielleicht die Heilung.
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Kapitel 8 Leben in einer parasitischen Welt Immer, wenn die Erde ihre Daseinsform änderte, gingen auch vorhandene Geschöpfe zu Grunde. Das Gleiche geschieht mit den Würmern; wenn das Wirtstier stirbt, verenden auch sie. Johannes Bremsner, ein deutscher Parasitologe (1819)
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ährend meines Aufenthalts in Santa Barbara, wo mir Kevin Lafferty zeigte, wie Parasiten einen ganzen Salzsumpf beherrschen, verbrachte ich einen Vormittag mit einem von Armand Kuris’ Doktoranden, einem jungen Mann namens Mark Torchin. Er führte mich durch eines der Labors für Meeresbiologie zu einer blauen Tür mit der nicht zu übersehenden Aufschrift QUARANTÄNE. Als Torchin die Tür öffnete und wir in den dunklen Raum traten, hörte ich ein Geräusch wie von einem plätschernden Bach. Torchin fand den Lichtschalter und kaltes Neonlicht fiel auf einen hohen Tisch, der sich durch die ganze Länge des Raums erstreckte. Auf der linken Seite befanden sich Wasserbecken, in denen Krabben auf Fetzen eines weißen Geflechts umherliefen. Rechts standen Wannen mit gestapelten Bechergläsern, in denen jeweils eine Krabbe in einem Löffel voll Wasser saß. Das plätschernde Geräusch kam aus dem Röhrensystem, das aus der Lagune neben dem Gebäude Meerwasser pumpte. Das Wasser floss in die Becken und tröpfelte auf den Tisch, bevor es durch einen Gulli in den Pazifik zurückströmte. Bei den Krabben handelte es sich um die grüne europäische Strandkrabbe Carduus maenas. Einige waren so groß wie Teetassen, andere hatten nur die Größe eines Schnapsglases. Bei einem Strandspaziergang im Norden Kaliforniens und im pazifischen Nordwesten kann man jedoch mittlerweile auch auf grüne Strandkrabben treffen, und diese Tatsache hat einige Leute erschreckt. Vor 1991 gab es an der kalifornischen Küste keine grünen Strandkrabben. Ihr Gebiet war die Gezeitenzone an den Küsten Europas. 254
Dort waren sie als sehr gefräßige Tiere bekannt. In Großbritannien haben Biologen beobachtet, wie einzelne Krabben an einem Tag 40 Herzmuscheln – eine jede 1,5 Zentimeter lang – vertilgten. Tausende, vielleicht Millionen Jahre war die übrige Welt vor der Gefräßigkeit dieser Strandkrabben verschont geblieben, aber das änderte sich, als die Menschen Schiffe erfanden. Die grüne Strandkrabbe streut unzählige fast unsichtbar kleine Larven ins Wasser, die mit dem Wasser, das Schiffe als Ballast aufnehmen, in den Schiffsbauch gelangen können. Vor vielleicht 200 Jahren brachten einige Schiffe, die zu den amerikanischen Kolonien fuhren, Strandkrabben in die Neue Welt, wo sie sich rasch an der amerikanischen Ostküste ausbreiteten und in Neuengland und Kanada Schalentiere fraßen. Die Klaffmuschel, einst Grundlage einer ganzen Fischerei-Industrie in Neuengland, verschwand vollständig. Die europäischen Strandkrabben reisten nach Südafrika und Australien, aber die Westküste der USA blieb verschont. Trotz der vielen Schiffe, die aus Europa und den amerikanischen Ostküstenstaaten dorthin kamen, fand erst 1991 ein Fischer bei San Francisco eine grüne Strandkrabbe in seinem Netz. Als diese Nachricht bei den Meeresbiologen eintraf, gab es düstere Mienen. Beinahe alle Schalentierarten rund um San Francisco waren geeignete Beute. Wenn die Strandkrabben mit den Schiffen nach Los Angeles oder hinauf in den Nordwesten reisten, konnten sie sich in neuen Habitaten ausbreiten und Austern, Dungeness-Krabben und andere wertvolle Tiere fressen. Die Löcher, die sie sich gruben, konnten Deiche, Uferdämme und Kanäle destabilisieren und noch größere Schäden anrichten. »Es ist eine Katastrophe«, sagt Armand Kuris. »Genau das, was man sich für ein Worst-case-Szenario wünscht.« Die grünen Strandkrabben in dem Quarantäne-Labor in Santa Barbare hüpften in ihren Becken umher. Einige hatte geisterhaft weiße Scheren, die ihnen an der Stelle wuchsen, an der sie eine frühere verloren hatten. Und einige hatten – was ich erst entdeckte, als Torchin sie aus dem Wasser zog und umdrehte, sodass ihre Beine und Scheren hilflos in der Luft ruderten – am Hinterleib einen karamelfarbenen Sack. Sie sahen aus wie normale Krabben, waren aber in etwas anderes verwandelt worden: Sie waren vollgestopft mit Sacculina carcini, dem degenerierten parasitischen Ranken255
fußkrebs aus Ray Lankesters Alpträumen. Torchin, Lafferty und Kuris versuchten mit Hilfe von Sacculina die Pazifikküste vor der Strandkrabbe zu retten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Parasitologie von Wissenschaftlern manchmal als medizinische Zoologie bezeichnet. Sie meinten damit, dass Parasiten erst einmal als echte Organismen mit einer eigenen Naturgeschichte verstanden werden müssten, bevor man versuchte, die von Parasiten verursachten Krankheiten zu bekämpfen. Ein Jahrhundert später ist diese Auffassung wieder aktuell. Nur ist jetzt der Patient nicht der Mensch, sondern die natürliche Welt. Fremde Arten verbreiten sich unkontrollierbar über die Kontinente und Meere, einheimische Pflanzen und Tiere fallen neuen Krankheiten zum Opfer und Lebensräume verschwinden, weil Wälder vernichtet und Küsten mit Wohnanlagen verbaut werden. Als Ökosysteme zusammenbrachen, erkannten viele Wissenschaftler, dass Parasiten für eine gesunde Umwelt wichtig sind. In einem gesunden Ökosystem wimmelt es von Parasiten. In manchen Fällen kann die Gesundheit eines Ökosystems sogar von ihnen abhängig sein. Wir verändern die Welt, indem wir die Biosphäre zerstören; aber vielleicht können uns Parasiten helfen, einige unserer Fehler zu korrigieren, und uns von neuen Fehlern abhalten. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts dachten Wissenschaftler zum ersten Mal daran, Parasiten gegen Schädlinge einzusetzen. Die Idee war einfach. Ein Parasit ist ein billiger, nie ausgehender Schädlingsbekämpfer. Er kann sich seinen Wirt suchen und ihn infizieren; er kann das Immunsystem des Wirts ausschalten und ihn in vielen Fällen tot zurücklassen. Landwirte, die Pestizide verwenden, müssen ihre Felder mindestens einmal im Jahr besprühen, aber Parasiten wachsen von selbst nach und bringen neue Wirte zur Strecke. Sät einfach den Parasiten, so lautete das Argument, und ihr seid eure Sorgen los. Und im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts hatten die Farmer genau den Erfolg, den man sich von dieser Maßnahme versprochen hatte. Schildläuse, Käfer und andere Schädlinge wurden von Wespen, Fliegen und sonstigen Parasitenarten vernichtet. Die Schädlinge konnten von den Parasiten nicht vollständig ausgerottet werden, aber sie drohten jetzt nicht mehr, ganze Felder zu vernichten. Nach 1930 kam die agrochemische Industrie auf und brachte 256
DDT auf den Markt, ein äußerst wirksames Pestizid mit dem strahlenden Glanz der modernen Wissenschaft – eine synthetische Kreation, mit der die Menschen die Natur bändigen konnten. Eine Folge davon war, dass die biologische Schädlingsbekämpfung völlig in den Hintergrund rückte. Ein paar Biologen in Kalifornien und Australien studierten weiterhin Parasiten in der Hoffnung, die biologische Schädlingsbekämpfung wieder einzuführen. Dann, im Lauf der nächsten 40 Jahre, begannen die Pestizide zu versagen. Die Insekten wurden DDT-resistent. Die Chemikalie gelangte in die Nahrungskette, sodass Vögel Eier mit zu dünner Schale legten. Eine Umweltbewegung formierte sich gegen Pestizide, und die alternden Lehrmeister der biologischen Schädlingsbekämpfung sahen ihre Chance für ein Comeback. »Ich studierte damals in Berkeley«, erzählt Armand Kuris. »Es war wahnsinnig interessant. Das waren alte Männer – 20 bis 30 Jahre älter als ich. So richtig alte Agrarwissenschaftler mit schmalem Schlips und so; und das in den sechziger Jahren zwischen all den Hippies. Und plötzlich fanden wir uns mit denen in einem Bett. Anfangs kam es uns verrückt vor, aber dann begriffen wir, dass sie und wir auf derselben Seite standen.« Bei ihrer zweiten Inkarnation hatte die Schädlingsbekämpfung mit Parasiten eine wesentlich solidere wissenschaftliche Grundlage. Insekten können resistent werden gegen DDT, aber Parasiten können sich ebenfalls weiterentwickeln. Sie können neue molekulare Rezepte entwickeln, um ihre Wirte anzugreifen und jeden Widerstand, den die Schädlinge vielleicht aufgebaut haben, zunichte zu machen. Einige Wissenschaftler behaupteten, ein Parasit könne einen Schädling in Grenzen halten, indem er zumindest ein gewisses Gleichgewicht in der Natur wiederherstelle. Die meisten Schädlinge sind, wie die grüne Strandkrabbe, fremde Arten, die in ein neues Land gebracht wurden. Dass sie so schädlich sind, liegt auch daran, dass sie ihren heimischen Parasiten entkommen sind und sich jetzt ungehindert vermehren können, während sich einheimische Arten ihrer Parasiten erwehren müssen. Mit einem aus der Heimat des Einwanderers eingeführten Parasiten – so das Argument für die biologische Schädlingsbekämpfung – könnten einige natürliche Restriktionen wieder hergestellt werden. 257
*** Die neue biologische Schädlingsbekämpfung hat in der Tat einige aufsehenerregende Siege über gefährliche Wirte errungen. Ihr könnte es beispielsweise zu verdanken sein, dass viele Menschen in Afrika nicht verhungern mussten. Maniok (oder Kassave) ist für Afrika so wichtig wie für China der Reis oder wie für Irland bis ins 20. Jahrhundert die Kartoffel. Der Strauch wird über drei Meter hoch und hat breite grüne Blätter, die so nahrhaft sind wie Spinat, aber wesentlich schmackhafter. Spinatwurzeln geben nicht viel her; die bis zu fünf Kilo schweren Wurzelknollen des Maniok dagegen sind reich an Stärke. Maniok ist so robust, dass er auch dort wächst, wo andere Wurzeln verfaulen würden. Deshalb ist er in den feuchteren Teilen Afrikas oft das einzige, was die Menschen vor dem Hungertod rettet. Von Senegal und der Elfenbeinküste bis nach Mozambique am Indischen Ozean hängt das Leben von 200 Millionen Menschen vom Gedeihen der Maniokpflanzen ab. Im Jahr 1973 begannen sie abzusterben. Auf den kleinen Feldern um Kinshasa, der Hauptstadt Zaires, begannen die Blätter der Sträucher sich einzurollen und zu schrumpfen, und ohne Photosynthese verkümmerten die Wurzelknollen. Schon nach wenigen Jahren gab es in der Umgebung der Stadt nur noch so wenig Maniok, dass die Menge, die eine Familie für eine Woche benötigte, mehr als ein Monatsgehalt kostete. Mittlerweile begannen auch die Maniokpflanzen in der Umgebung anderer Hafenstädte an der afrikanischen Atlantikküste zu kränkeln und einzugehen – in Brazzaville, Cabinda, Lagos, Dakar. Wenn die Menschen die welken Blätter auseinanderfalteten, fanden sie einen weißen, fleckigen Belag, der sich unter einem Vergrößerungsglas in unzählige helle, platte Insekten auflöste. Niemand hatte diese Insekten jemals in Afrika gesehen; tatsächlich hatte sogar niemand diese spezielle Art jemals zuvor irgendwo auf der Welt gesehen. Die Maniok-Schildlaus ist eine der vielen pflanzenfressenden Parasitenarten, die sich auf das räumlich beschränkte Vorkommen ihrer Wirtspflanzenart eingestellt haben. Das Insekt bohrt seinen Rüssel in das Blatt und sitzt dadurch fest. Es saugt den Pflanzensaft und injiziert gleichzeitig ein Gift, das wach258
stumshemmend auf die Wurzelknollen wirkt – wahrscheinlich, damit die Schildläuse mehr Nährstoffe durch die Blätter aufnehmen können. Maniok-Schildläuse sind alle weiblich und ein einziges Weibchen kann in seiner mikroskopischen Lebenszeit 800 Eier legen. Am Ende einer Saison kann ein einziger Maniokschößling mit 20.000 Insekten beladen sein. Das Gift der Schildlaus bewirkt auch das Einrollen der Blätter. Möglicherweise helfen die schrumpelnden Blätter dem Insekt, sich von Pflanze zu Pflanze auszubreiten. Ein gesundes Maniokfeld umgibt eine dicke Blätterhülle, die den Wind ablenkt und über die Pflanzen wehen läßt. Sind die Pflanzen von Schildläusen befallen, wird diese Hülle rissig, sodass der Wind zwischen die Sträucher fahren und junge Larven mitnehmen kann, die neue Pflanzen besiedeln. Obwohl es sich hier nur um eine Theorie handelt, besteht kein Zweifel, dass eine einzige von der Schildlaus befallene Maniokpflanze ein ganzes Feld ruiniert. Zu allem Übel ist Maniok auch noch eine durch Ableger vermehrbare Pflanze. Ein Bauer kann einen Spross nehmen und damit irgendwo ein neues Feld anlegen. Wenn nur eine einzige Schildlaus in den Blättern versteckt ist, werden das neue und die älteren Felder ringsum ebenfalls verseucht. Wahrscheinlich gelangten die Schildläuse auf diese Weise auch von einem Hafen zum anderen. Irgendjemand kann sogar eine Schildlaus per Flugzeug mitgenommen haben, weil sie 1985 plötzlich im mehrere tausend Kilometer entfernten Tansania auftauchte, wo sie sich von Feld zu Feld verbreitete. Und überall, wo sie hingelangte, brachte sie die Bauern nicht nur um eine einzige Jahresernte, sondern auch um die Ernten der folgenden Jahre, weil die Bauern Ableger brauchten, um ihre Felder aufzupflanzen, und diese Ableger verseucht waren. Im Jahr 1979 kam der Schweizer Wissenschaftler Hans Herren nach Ibadan, eine nigerianische Universitätsstadt tief im ManiokSchildlausland. Herren war Entomologe, der schon als Junge auf dem Bauernhof seiner Familie außerhalb von Montreux mitgearbeitet hatte. »Damals haben wir uns von einer fast vollständig organischen Landwirtschaft total auf Pestizide umgestellt«, erzählte mir Herren 20 Jahre später, als ich ihn in Nairobi besuchte. Sein Haar war grau geworden, aber er war immer noch ein Energiebün259
del und konnte eine ganze Stunde lang in rasendem Tempo reden. »Ich kann mich noch gut erinnern. Ich war nämlich derjenige, der nach der Schule den Traktor gefahren hat. Wir haben unsere Kartoffeln, unseren Tabak, den Weizen, praktisch alles mit diesem Chemiezeug behandelt. Ich weiß noch, wie diese Leute zu uns auf den Hof gekommen sind und meinem Vater Chemie verkauft haben. Ich habe gesehen, wie es uns vorher ging, und danach waren wir in dieser Tretmühle von mehr und immer noch mehr.« Herren ging aufs Gymnasium in der Hoffnung, dieser Tretmühle zu entkommen, ohne allzu schmerzhaft zu landen. Er studierte biologische Schädlingsbekämpfung, zuerst in der Schweiz, dann im Heimatland ihrer Wiederauferstehung an der University of California in Berkely. Das International Institute of Tropical Agriculture bot ihm eine Stelle, oder, genauer gesagt, eine Herausforderung an: Könnte er einen Parasiten für die Maniok-Schildlaus finden? Er überlegte nicht lange. »Nach Nigeria zu gehen, war eine Chance, das, was ich in Berkeley und Zürich gelernt hatte, in sehr großem Maßstab in die Praxis umzusetzen.« Als er in Ibadan ankam, stellte er fest, dass die meisten der dortigen Wissenschaftler meinten, er würde scheitern. Sie züchteten neue Maniok-Hybriden, die schnell wachsen und resistent gegen Krankheiten sein sollten, und waren überzeugt, dass sie die Schildlaus-Katastrophe in den Griff bekommen würden. »Sie sagten: ›Schildlaus? Kein Problem. Züchten, das ist die Lösung.‹ Und sie dachten noch etwas anderes: ›Dieser Typ aus Berkeley – was weiß der schon? Ein Ökofreak.‹« Herren hatte nichts gegen züchten, aber angesichts der absehbaren Krise hatten sie dafür einfach nicht genug Zeit. Die Schildlaus sprang von einer Stadt auf die andere über und verbreitete sich mit rasender Geschwindigkeit auf den Feldern des Umlands. »Wie eine Staubwolke«, sagt Herren. Die Züchtung eines resistenten Hybriden kann ein Jahrzehnt dauern, aber in zehn Jahren gab es vielleicht schon keine Manioksträucher mehr, die man retten konnte. Um einen Parasiten für die Maniok-Schildlaus zu finden, musste Herren erst einmal herausbekommen, woher sie kam. Sie war praktisch aus dem Nichts in der Umgebung von Kinshasa aufgetaucht. Sie war mit keiner bekannten Schildlaus in Afrika verwandt, nur mit einer Spezies, die jenseits des Atlantiks, in Yuca260
tan, auf dem Baumwollstrauch lebte. »Dann fing ich an nachzudenken. Sie stammte also aus Mittelamerika. Das war interessant, weil Maniok ursprünglich aus Amerika kam. Die Portugiesen brachten ihn während des Sklavenhandels nach Afrika. Es war eine sehr lange Reise unten im Schiffsbauch und das salzige Wasser hatte alles getötet, was sich auf der Pflanze befand. Deshalb schleppten sie nie Insekten ein und der Maniokstrauch konnte in Afrika mehrere Jahrhunderte lang wundervoll gedeihen. Bis die Schildlaus doch kam.« In der Neuen Welt hatte noch nie jemand die Maniok-Schildlaus gesehen, folglich, so Herren, musste es dort einen Parasiten geben, der sie in Schach hielt. »Wenn sie nicht unter Kontrolle wäre, würden wir das bereits wissen.« Herren ging die entomologischen und landwirtschaftlichen Fachzeitschriften durch und las alles über Insekten, die domestizierten Maniok fraßen. »Irgendetwas ergab keinen Sinn. Wissenschaftler in beiden Amerikas haben in den letzten fünfzig Jahren über Maniok gearbeitet und alles Mögliche gezüchtet. Aber niemand hat je diese Schildlaus gesehen. Dann ist mir eingefallen, dass wilder Maniok als Blumenschmuck verwendet wird. Es sind schöne Pflanzen. Also habe ich mir gedacht: Vielleicht hat sich jemand diese hübsche Pflanze angesteckt. Wenn in all diesen Jahren kein Mensch diese Schildlaus auf Sträuchern gefunden hat, warum sollte sie dort sein? Und daraufhin habe ich mir auch die wilden Verwandten des Maniokstrauchs angesehen.« In ganz Lateinamerika nach einem noch nie zuvor gesichteten Insekt zu suchen hätte länger gedauert als der Versuch, einen resistenten Maniok zu züchten. Aber Herren entdeckte im Verbreitungsgebiet des wilden Manioks einige genetisch veränderte Manioksträucher. In dieser Gegend lebten möglicherweise sehr viele unterscheidliche Maniok fressende Insekten, und eines davon war vielleicht der Übeltäter in Afrika. Herren reiste im März 1980 nach Amerika. Zunächst suchte er mehrere botanische Museen auf und sah sich getrocknete Exemplare der Maniokpflanzen an. Möglicherweise hatte schon jemand vor ihm gefunden, wonach er suchte. »Aber ich fand nichts. Also musste ich mich draußen auf die Suche machen. Ich flog nach Kalifornien und kaufte mir einen großen Lieferwagen. Im hinteren Teil richtete ich ein Labor ein, ein Bett und was ich sonst noch 261
brauchte. Dann fuhr ich durch Mittelamerika bis nach Panama und suchte nach wildem und kultiviertem Maniok.« Als er durch Mittelamerika zog, suchte dort eine Gruppe von Entomologen ebenfalls nach der Maniok-Schildlaus. Viele neue Schildläuse kamen bei dieser Suche zum Vorschein, aber keine erwies sich als die Art, die in Afrika so gedieh. »Ich dachte, okay. Sehen wir in Südamerika nach. Ich parkte meinen Wagen am Flughafen von Panama und flog nach Kolumbien, wo ich einen Freund besuchte. Wir fuhren nach Venezuela, in den nördlichen Teil, in dem wir uns eines der Zentren der Maniokvielfalt ansahen. Wir waren wochenlang unterwegs, fanden jede Menge ManiokSchildläuse, aber nie die richtigen. Also gab ich meinem Freund Bilder von dem, was ich suchte und wie die Pflanzen aussahen, wenn sie von der Schildlaus befallen waren – und ging zurück nach Afrika.« Herrens Freund, Tony Bilotti, ging kurz, nachdem Herren nach Ibadan zurückgekehrt war, nach Paraguay. Er besuchte dort einige Landsleute, Amerikaner, die beim Peace Corps arbeiteten. Er wusste, dass er sich dort an einem Maniok-Hot-spot in Lateinamerika befand, dem einzigen, den Herren aus Zeitmangel nicht aufgesucht hatte. Als er eines Tages an einem Maniokfeld vorbeifuhr, bemerkte er einige Pflanzen, die irgendwie seltsam aussahen. Er hielt an und pflückte die Blätter. Und in diesen Blättern sah er Herrens Schildlaus. Als Herren davon erfuhr, bat er Bilotti, die Insekten an das Britische Museum in London zu schicken, wo sie von den Entomologen exakt identifiziert werden konnten. Obwohl die Insekten tot waren, als sie dort ankamen, erkannten die Entomologen sie als die Art, die in Afrika wütete. Und als sie die Schildläuse sezierten, fanden sie in ihrem Leib das eigentliche Ziel von Herrens Suche: parasitische Wespen. Damit hatte Herren den Parasiten, der die Maniok-Schildlaus zu einem unbedeutenden Schädling in einer Ecke von Paraguay machte und den er für Afrika brauchte. Er ließ lebende Schildläuse aus Paraguay nach England einfliegen, wo sie in Quarantäne gehalten und die Parasiten gefangen werden konnten, sobald sie aus ihren Wirten auftauchten. An dasselbe Labor schickte er Schildläuse und Maniokpflanzen aus Afrika. Die dortigen Wissenschaftler konnten die Wespen dazu bringen, Eier in die Schildläuse zu legen. Ein noch erfreulicheres Ergebnis die262
ser Versuche war, dass die Wespen ihre Eier nur in die ManiokSchildläuse legen konnten. Sie waren nicht an die Immunsysteme anderer Schildläuse angepasst, welche die Wespeneier verkapselten und erstickten. Damit stand für Herren fest, dass die Wespen ohne Risiko nach Afrika gebracht werden konnten. Ein Vierteljahr später traf die erste Sendung bei ihm ein. Herren und seine Studenten in Ibadan hatten inzwischen Gewächshäuser gebaut, in denen sie mit Schildläusen infizierte Manioksträucher ziehen und die parasitischen Wespen, die sich auf den Schildläusen entwickelten, fangen konnten. Und sie fanden heraus, wie sich die Wespen begatten. Nachdem sie einige Hundert eierlegende weibliche Wespen gesammelt hatten, machten sie im November 1981 ihren ersten Freilandversuch auf den Feldern nahe des Universitätsgeländes. »Innerhalb von drei Monaten brach die Schildlauspopulation zusammen. Da wussten wir, dass wir es geschafft hatten. In knapp eineinhalb Jahren, nachdem wir praktisch bei Null anfangen mussten, hatten wir etwas auf den Feldern, das funktionierte.« Die biologische Schädlingsbekämpfung blieb auch nach ihrer Wiederauferstehung ein bescheidenes Unternehmen. Entomologen zogen Wespen in ihren Labors, packten sie in kleine Behälter und fuhren mit ihnen zu Obstgärten oder Maisfeldern. Aber Herren träumte davon, die Wespen quer durch Afrika zu verbreiten. »Was mir bei der biologischen Schädlingsbekämpfung nicht gefallen hat, war die Kleinkrämerei. Da wurden Secondhand-Bechergläser verwendet, Wespen in irgendwelchen kleinen Käfigen gezüchtet. Sie wurde nicht auf die bestmögliche Weise durchgeführt. Deshalb hat die biologische Schädlingsbekämpfung auch gegen die chemische verloren.« Herren wusste, dass die Verwirklichung seines Traums viel Geld kosten würde. Es ging um 30 Millionen Dollar. »Damals nannten sie mich einen Megalomanen. Ich sagte: ›Wenn ihr drüben in Amerika eine Fruchtfliegenschwemme in Kalifornien habt, die verglichen mit der Katastrophe hier ein Fliegenschiss ist, gebt ihr in einem Jahr 150 Millionen Dollar aus. Wir reden hier von 200 Millionen Menschen, deren Leben auf dem Spiel steht, und nicht über ein paar Firmen, die ihr Geld mit Orangen verdienen. Wir haben es mit einem Gebiet zu tun, das eineinhalbmal so groß ist 263
wie die Fläche der Vereinigten Staaten. Wir werden das hier nicht irgendwie mit Käfigen und auf Eselsrücken und Fahrrädern über die Bühne bringen, sondern mit Technologie, Maschinen, Elektronik und Flugzeugen.‹« Vielleicht war es das Wort Flugzeug, das die Leute misstrauisch machte. Herren behauptete, er könne seine Wespen über Afrika aussäen. Die Wespen wurden mit Kohlendioxyd eingeschläfert und dann zu je 250 Stück in Schaumstoffzylindern verpackt. Diese Zylinder kamen in ein Magazin, das eine österreichische Kamerafabrik nach Herrens Angaben hergestellt hatte. Herren wollte, dass der Pilot die Wespen genau über einem Feld abwarf. »Es war wie bei den Kampffliegern. Das Fadenkreuz sagt einem, wann man die Bombe abwerfen muss. Wir probierten es über einem Swimmingpool in Ibadan. Wir flogen drüber und warfen die Wespen ab. Bei 180 Meilen pro Stunde schafften wir es.« In der Zwischenzeit hatten sich die Wespen vermehrt, die Herren auf den Feldern um Ibadan ausgesetzt hatte. Nach zwei Jahren wollte Herren sehen, wie weit sie sich verbreitet hatten. »Wir gingen zu Fuß. Wir dachten, es würde schon nicht so weit sein. Machen wir einen Spaziergang. Und dann gingen wir den ganzen Tag und fanden immer wieder welche. Hier konnte etwas nicht stimmen. Bis jetzt hatte sich diese Wespensorte nie weiter als ein paar Kilometer verbreitet. Am nächsten Tag fuhren wir mit dem Auto. Erst nach 150 Kilometern fanden wir endlich keine Wespen mehr.« Dank dieser frühen Erfolge hatte Herren bis 1985 drei Millionen Dollar Startkapital beisammen und seine Piloten bombardierten die Landschaft mit Wespen. Die Parasiten landeten auf Feldern in Nigeria, Kenia, Mozambique, in Ländern vom Atlantischen bis zum Indischen Ozean. Seine Mitarbeiter zogen jeden Monat 150.000 Wespen auf. Viele Wespen gingen während der langen Reise von Ibadan bis zu dem Ort, wo sie ausgesetzt wurden, ein, aber es genügte, wenn nur eine einzige lebensfähige weibliche Wespe Flug und Abwurf überlebte und sich nach Wirten umsah. Im Vergleich zu parasitischen Wespen besaß die paraguayische Spezies eine außerordentliche Fähigkeit, Wirte zu finden. »Wenn Sie auf einem Feld von Hundert mal Hundert Metern eine einzige Pflanze mit Schildläusen haben, wird die Wespe sie finden. Wir 264
haben das getestet. Wir hatten Felder, die sauber waren. Wir setzten Schildläuse auf eine Pflanze und ließen die Wespen an einer Ecke des Felds ausfliegen. Innerhalb eines Tages waren sie auf der Pflanze. Dann versuchten wir etwas anderes. Wir setzten Schildläuse auf eine Pflanze und nahmen sie wieder herunter. Daraufhin ließen wir die Wespen frei, und sie landeten auf derselben Pflanze. Die Pflanze gibt etwas von sich, das die Wespen anlockt – einen Hilfeschrei.« Herren ließ 1200 Personen aus den Ländern, in denen die Wespen eingeführt wurden, erklären, wie sie die Insekten erkennen konnten. Einige Monate nach den Abwürfen begannen sie, die Felder zu durchkämmen, um festzustellen, wie schnell sich die Wespen verbreiteten und was die Schildläuse machten. »Überall hatte sich das Problem ein Jahr nach dem Abwurf der Wespen erledigt. Wir konnten selbst kaum glauben, dass es so schnell ging.« Im Jahr 1991 flog der Wespenbomber zum letzten Mal. Was damit bewirkt wurde, beobachteten Entomologen aber noch einige Jahre länger. Auf 95 Prozent der Felder, auf denen die Wespen ausgesetzt wurden, waren die Schildläuse praktisch verschwunden. Als die Wespen ihre Wirte verloren, blieben auch von ihnen nur wenige übrig. Auf den restlichen fünf Prozent der Anbaufläche gediehen die Schildläuse nach wie vor, aber Herren konnte zeigen, warum das so war: Die Bauern hatten ihre Felder nicht gut bestellt. Ihre Pflanzen waren mager, und die Schildläuse, die sich auf ihnen ernährten, ebenfalls. Die Wespenspezies, die Herren benutzte, begutachtet die Größe ihres Wirts sehr genau. Die Wespe benützt ihre Fühler wie ein Lineal, um herauszubekommen, wie groß eine Schildlaus ist. Erst dann entscheidet sie, welches Geschlecht ihr Nachwuchs haben soll. (Wenn sich eine weibliche Wespe paart, speichert sie das Sperma in einer Drüse, mit der sie später ihre Eier befruchten kann. Aufgrund der Wespengenetik wird aus einem unbefruchteten Ei eine männliche, aus einem befruchteten eine weibliche Wespe.) In kleine Schildläuse legen die Wespen entsprechend ihrer Logik nur Eier für männliche Nachkommen, weil sie sozusagen billig sind. Die Chancen, dass ein Ei erfolgreich zu einem erwachsenen Tier heranreift, sind in einer kleinen Schildlaus schlechter, da der Parasit weniger zu fressen bekommt. Weil die Wespen die Eier für 265
männliche Nachkommen nur in kleine Wirte legen, erreichen nur wenige von ihnen die Geschlechtsreife. Aber das schadet nichts, denn ein paar männliche Wespen genügen, um viele weibliche zu besamen. Dank dieser Strategie der Wespen wird ein schlecht bestelltes Maniokfeld voll von männlichen Wespen sein. Nachdem sie keine Eier legen, sind sie keine Gefahr für die Schildläuse, die jetzt ihre Population schnell wieder aufbauen können. »Wir haben den Bauern gesagt, dass biologische Schädlingsbekämpfung nur funktionieren kann, wenn alles andere in gutem Zustand ist. Wenn sie auf ihren Feldern kein Unkraut jäten, funktioniert nichts.« Herren erzählte mir die Geschichte von der Maniok-Schildlaus an einem strahlend schönen Tag in Nairobi. Er kam 1991 hierher als Generaldirektor des International Center for Insect Physiology and Ecology – ein großer Gebäudekomplex am Stadtrand mit Skulpturen von Mistkäfern vor dem Eingang. Dieser Posten ist eine der zahlreichen Auszeichnungen dafür, dass er die Hauptnahrungsquelle von 200 Millionen Menschen gerettet hat. Die Entomologen, die hier arbeiten, suchen nach Möglichkeiten, das menschliche Leben zu verbessern – mit Hilfe von Insekten, die Honig oder Seide produzieren oder Schädlinge vernichten. Ein Stielbohrer hatte sich durch den Mais Ostafrikas gefressen, aber Herrens Wissenschaftler fanden eine aus Indien stammende Wespe, die den Schädling parasitiert. Als ich das Forschungszentrum in Nairobi besuchte, hatten sie diese Wespe in Kenia bereits ausgesetzt, um zu sehen, ob sie auf freiem Feld überleben würde. Sie hat überlebt. Nur wie weit sie sich verbreitet hat, wussten die Forscher noch nicht – und dieses Nichtwissen brauchte sie nicht einmal zu beunruhigen. *** Ähnlich wie Herren die Maniok-Schildlaus bekämpft hatte, wollten Lafferty und Kuris gegen die grüne Strandkrabbe vorgehen. Sie wussten, dass in Europa viele Strandkrabben von Parasiten wie Sacculina befallen sind, aber die Krabben aus der San Francisco Bay, die sie sezierten, waren parasitenfrei. Dies könnte einer der 266
Gründe gewesen sein, warum die grüne Strandkrabbe in ihrer neuen Heimat in der Lage war, andere Krabben zu verdrängen. Lafferty und Kuris begannen also, darüber nachzudenken, wie es wäre, wenn man auch Sacculina nach Kalifornien bringen würde. Man könnte mit Sacculina infizierte Strandkrabben in die pazifischen Gewässer werfen. Sie würden Sacculina-Larven ins Wasser streuen. Die Larven würden sich gesunde Krabben suchen, sich in sie hineingraben und ihre Ranken ausbreiten. Eine solche Aktion mit Sacculina in Kalifornien würde jedoch nicht die gleiche Wirkung erzielen wie die mit den parasitischen Wespen gegen die ManiokSchildlaus in Afrika, weil die Biologie der beiden Parasiten sehr unterschiedlich ist. Die Wespen töten ihre Wirte, indem sie deren Innereien fressen und sich dann aus den Wespenhülsen herausbeißen. Sacculina dagegen tötet die Strandkrabben-Wirte nicht, sondern kastriert sie und macht sie zu Nahrungskonkurrenten der gesunden Krabben. Lafferty erstellte mathematische Modelle, aus denen hervorging, dass Sacculina im Pazifik die Strandkrabbenpopulation reduzieren würde, dies jedoch langsamer als im Fall der Schildlaus. Denn nicht die toten Strandkrabben, sondern die geringere Anzahl der Krabbeneier würde zu weniger Strandkrabben führen. Wenn Sacculina und die Strandkrabbe schließlich ein gegenseitiges Gleichgewicht erreichten, wären die gefräßigen Krabben reduziert, aber nicht verschwunden. Aber für Lafferty und Kuris schien es keine andere Möglichkeit zu geben. »Alles andere wäre ökologisch schlechter gewesen«, sagt Kuris. »Anti-Rankenfüßer-Farbe an den Schiffen belastet unsere Buchten wesentlich stärker. Oben in Oregon fliegt jemand mit einem Flugzeug für Schädlingsbekämpfung über die Küstenschlammzonen, um die Geisterkrabben zu bekämpfen und die verdammte eingeführte Austernproduktion zu schützen – mit dem Nebeneffekt, dass die Dungeness-Krabben sterben.« Mehrere Jahre lang gelang es Lafferty und Kuris nicht, Geld für einen Versuch mit Sacculina aufzutreiben; doch 1998 hatte die grüne Strandkrabbe die Küsten des Staates Washington erreicht und drohte, in den Puget Sound mit seiner riesigen DungenessKrabbenfischerei vorzudringen. Dann endlich bekamen Kuris und Lafferty das Geld, das sie brauchten. Sie wandten sich an den dänischen Wissenschaftler Jens Høeg, einen Experten für Sacculina 267
und verwandte parasitische Rankenfüßer, und Høeg schickte ihnen in Eis verpackte infizierte grüne Strandkrabben. Mark Torchin, Doktorand bei Kuris, installierte die Krabben in einem isolierten Raum. Er konnte diesen Raum jedoch nicht völlig isolieren, weil sowohl die Krabben als auch die Parasiten zirkulierendes Meerwasser brauchten. Torchin baute Röhren, die Meerwasser hereinpumpten. Das Wasser floss in mehrere Tanks, und was daraus abfloss und die unsichtbaren Parasitenlarven enthalten konnte, wurde durch mehrere Filter und mit Kies gefüllte Wannen geleitet, bevor es in den Ozean zurücklief. Es dauerte etliche Monate, bis sich Torchin mit Sacculina und ihrem bizarren Lebenszyklus vertraut gemacht hatte. Er fand heraus, wann eine Krabbe soweit war, einen neuen Schwung parasitischer Larven aus dem Sack an ihrem Unterleib zu entlassen (der hell karamelfarbene Sack nahm dann eine bräunliche Farbe an). Er setzte diese Krabben in Plastikbecher, um die Larven zu sammeln, und dann saugte er etwas von dem Sacculina-verseuchten Wasser ab. Er goss es in einen anderen Becher, in dem eine gesunde Strandkrabbe saß, und wartete, dass die weibliche Sacculina ihren neuen Wirt infizierte. Jeden Tag nahm er eine Krabbe an der Schere hoch und drückte die Schere mit den Fingern zusammen. Um zu entkommen, trennte sich die Krabbe von ihrem Glied und fiel zurück ins Wasser. Torchin untersuchte die abgelöste Schere unter dem Mikroskop, um zu sehen, ob auf den Haaren der Krabbenschere Larven saßen und sich in die weichen Einsenkungen gruben, in denen die Haare verankert sind. Wenn es einer weiblichen Sacculina gelungen war, eine Strandkrabbe zu infizieren, wartete er, bis sie einen Knoten an der Unterseite der Krabbe gebildet hatte, und versuchte dann, sie mit männlicher Sacculina zu befruchten. Nach einigen Monaten konnte Torchin Sacculina-Larven großziehen. Anfang 1999 wandte er das, was er gelernt hatte, bei einheimischen kalifornischen Krabben an. Er wählte die häufig vorkommende Küstenkrabbe Hemigrapsus oregonensis und brachte sie mit Sacculina zusammen. Dies war wahrscheinlich die erste Begegnung in der Geschichte dieser beiden Arten – eine Krabbe aus Kalifornien und ein parasitischer Rankenfüßer aus Europa. Nun wartete Torchin, was passieren würde. 268
Er stellte fest, dass eine weibliche Sacculina problemlos in die Küstenkrabbe gelangen und ihre Ranken durch den gesamten Körper ihres neuen Wirts wachsen lassen konnte. Aber dann ging etwas schief. In einer europäischen Strandkrabbe wickelt der Parasit seine Ranken vorsichtig um die Nerven herumwickeln und lässt sie nicht nur unbeschädigt, sondern gibt über diese Nerven auch noch verhaltensändernde Signale an den Wirt. In der Küstenkrabbe jedoch schienen die Ranken von Sacculina die Nerven des Wirts einfach zu zerstören. An manchen Tagen kam Torchin morgens ins Labor und fand auf dem Rücken liegende Küstenkrabben, die zwar noch atmeten, aber völlig gelähmt waren. Die infizierten Küstenkrabben starben innerhalb weniger Tage und Sacculina mit ihnen. Die Biologen waren ziemlich unsanft auf ein Problem gestoßen, das einem bei Parasiten immer wieder begegnet: ihre Flexibilität. Dank ihres evolutionären Wettrüstens können Parasiten zu Spezialisten für einen einzigen Wirt werden. Aber das bedeutet nicht immer, dass ein Parasit seine speziellen Tricks nicht anwendet, um auch andere Arten zu infizieren. Wenn er zufällig auf einen neuen Wirt mit einer ähnlichen Physiologie und ähnlicher Lebensweise trifft, kann er sich in ihm vielleicht einigermaßen durchschlagen. Möglicherweise bekommt er nie die Gelegenheit, diesen neuen Wirt auszuprobieren aufgrund der Ökologie des Wirts: Wenn eine Bandwurmart in einem Stachelrochen im Amazonas lebt, hat sie kaum eine Chance, Stachelrochen in Neuguinea zu testen. Manchmal jedoch bekommen Parasiten so eine Chance – zum Beispiel, wenn Kontinente zusammenstoßen und Tiere des einen Kontinents den anderen besiedeln. Und es scheint tatsächlich, dass Parasiten auf diese Weise Massensterben überleben, die unter ihren Wirten so viele Opfer fordern. Sie springen einfach von einem Wirt auf einen neuen. Aus diesem Grund können Parasiten, die unvorsichtig in neue Habitate eingeführt werden, Katastrophen verursachen – trotz allem, was für sie spricht, wenn sie richtig funktionieren. Sie haben ausgeklügelte Taktiken, die sie gegen ihre Wirte einsetzen, und entwickeln feinste Anpassungen an neue Wirte und Abwehrsysteme. Wenn sie einmal in ein neues Habitat eingedrungen sind, gibt es keine Möglichkeit, sie wieder herauszubekommen. Es ist ein Einwegexperiment. 269
Die Eindämmung der Maniok-Schildlaus war eine großartige Erfolgsstory, aber es gibt auch Geschichten von spektakulären Fehlschlägen – zum Beispiel die von den Wäldern auf Hawaii. Sie sind voll von fremden Parasiten, die eingeführt wurden, um schädliche Insekten zu vernichten. Gegen eine besondere Stinkwanze wurden parasitische Fliegen eingeführt, aber diese Fliegen konnten auch im Koa-Käfer leben, einem großen prächtigen hawaiischen Insekt, das jetzt beinahe ausgestorben ist. Parasitische Wespen wurden gegen Motten eingeführt, welche die Ernten bedrohten, und auch sie verbreiteten sich auf viele einheimische Arten. Vor der Einfuhr der Parasiten kam es bei den hawaiischen Motten jährlich zu explosionsartigen Vermehrungen, auf deren Höhepunkt sich die von den Bäumen fallenden Exkremente wie trommelnder Hagel anhörten. Die Vögel fraßen die Raupen der Motte und fütterten damit ihre Jungen. Aber seit es die fremden Parasiten gibt, gelingen vielen einheimischen Motten solche Vermehrungsausbrüche nur noch einmal alle 10 oder 20 Jahre. Die Waldvögel von Hawaii werden immer weniger. Biologen hegen den Verdacht, dass die aussterbenden Motten mit daran schuld sind, weil sie die Vögel nicht mehr genügend ernähren. Und ohne Vögel, welche die Bäume mit Blütenstaub befruchten und ihre Samen verbreiten, leiden auch die Wälder. Die bedauerliche Situation in Hawaii ist das am besten dokumentierte Versagen der biologischen Schädlingsbekämpfung, weil Hawaii eine kleine, biologisch deutlich abgegrenzte Inselgruppe ist. Aber Kritiker hegen den Verdacht, dass es viele ähnliche Geschichten gibt, die nur noch nicht an die Öffentlichkeit gelangten. In den USA zum Beispiel wurden im 20. Jahrhundert über 30 verschiedene Parasiten zur Bekämpfung des Schwammspinners eingeführt. Keiner davon brachte die gewünschte Wirkung, und einige töteten die schönen großen Seidenspinner, sodass sie heute vom Aussterben bedroht sind. Diese Katastrophen machten Biologen wie Lafferty und Kuris sehr viel vorsichtiger, wenn es um den Einsatz von Parasiten zur Schädlingsbekämpfung geht. Diese Vorsicht war auch der Grund für die lange, mühevolle Erprobung von Sacculina. Nachdem die Strandkrabben anfingen zu sterben, wiederholten sie ihre Tests mit Dungeness-Krabben. Sie erhielten die gleichen Ergebnisse: Auf die Läh270
mung folgte der Tod. »Wenn ich für die Vernichtung der DungenessKrabbe verantwortlich sein sollte«, sagte Kuris, »wäre mein Name für immer besudelt. Es würde mir genauso gehen wie dem Mann, der die Killerbienen eingeführt hat. Der Mann hat sich 40 Jahre seines Lebens öffentlich gegeißelt. Ob ich mir Sorgen um die einheimischen Strandkrabben mache? Sicher. Da stehe ich keinem nach.« Im Herbst 1999 teilte Lafferty seinen Kollegen die schlechte Nachricht mit. Zu diesem Zeitpunkt hatte man die europäische Strandkrabbe bereits in British Columbia ausgemacht – über 1000 Meilen von ihrem Landeplatz San Francisco entfernt. Lafferty schickte auch mir eine E-Mail und ich rief ihn sofort an. Ich fragte ihn, ob er enttäuscht sei. »Nun ja, als Wissenschaftler sollte man nie enttäuscht sein«, antwortete er. »Die Wahrheit existiert nun mal und niemand gebietet über das, was Realität ist.« Aber es war frustrierend mitanzusehen, wie sich die grüne Strandkrabbe ausbreitete. »Mein Gefühl sagt mir, wenn man diese Dinger an der Westküste aussetzte, würden sie die einheimischen Krabben wahrscheinlich nicht sehr beeinträchtigen. Wir haben nur festgestellt, dass sie das Potential dazu haben.« Aber eine Sacculina-Larve in einem Becher mit einer Dungeness-Krabbe zusammenzubringen ist etwas anderes, als sie im Ozean auszusetzen. »Wir müssen uns jetzt Fragen stellen wie: Wo findet sie am ehesten ihre Wirtskrabbe.« Sacculina und ihre Verwandten benutzen Anhaltspunkte wie Sonnenlicht und chemische Stoffe, die ihre Wirte ausscheiden, um sich dort zu positionieren, wo sie aller Wahrscheinlichkeit nach einer grünen Strandkrabbe begegnen. Diese Anhaltspunkte lassen sie vielleicht nicht mit anderen Arten zusammentreffen. Lafferty erzählte mir von einem weiteren Versuch, den er in dieser Richtung unternommen hatte. Er verwendete dazu eine parasitische Rankenfußspezies, die mit Sacculina verwandt ist und in der pazifischen Schafkrabbe lebt. Dann sammelte er kalifornische Strandkrabben, die im selben Bereich wie die Schafkrabben leben, bei denen aber nie ein für sie spezifischer parasitischer Rankenfüßer gefunden wurde. Als er die kalifornische Strandkrabbe mit dem Parasiten zusammenbrachte, konnte dieser sie mühelos infizieren. Irgendetwas musste den Parasiten hindern, die Krabbe draußen im Freien zu infizieren. 271
Wenn man zum ersten Mal in der Geschichte versucht, Parasiten im Meer als biologische Schädlingsbekämpfer einzusetzen, will man verständlicherweise vollkommen sicher gehen. Ich fragte Lafferty, ob er noch andere Möglichkeiten sehe, die europäischen Strandkrabben aufzuhalten. »Ich denke nicht, dass wir uns zurücklehnen und dem Massaker zusehen sollten«, sagte er. Und dann erzählte er mir von Portunion conformis, einem weiteren Parasiten der europäischen Strandkrabbe. Er ist eine Assel, ein Verwandter der Kugelasseln, und hat unabhängig eine Sacculina ähnliche Daseinsform in den grünen Strandkrabben entwickelt. Die Assel dringt als mikroskopisch kleine Larve in eine Krabbe ein, zerstört die Keimdrüsen des Wirts und nimmt ihren Platz ein. Am Ende hat sie den Krabbenkörper soweit ausgefüllt, dass ihr Gewicht ein Fünftel des Gewichts der Krabbe beträgt. Indem sie die Keimdrüsen der Krabbe zerstört, kastriert sie den Wirt und feminisiert wie Sacculina die männlichen Krabben. Bis jetzt hat noch niemand Portunion im Labor gezüchtet, aber Lafferty will es versuchen. Und dann will er mit diesen Parasiten die gleichen Tests durchführen, die mit Sacculina nicht den gewünschten Erfolg brachten. »Es sind wunderschöne Parasiten«, sagte Lafferty. Er schilderte mir einen großen, dunklen Beutel mit einem Mund an einem Ende und einer Kollektion goldener Eier im Beutelinneren. »Sie sind schwer zu beschreiben. Sie sehen aus wie … ach, sie sind einfach unvorstellbar.« Mit Parasiten zu arbeiten, mag manchmal frustrierend sein, aber für einen Parasitologen gibt es immer einen Trost, weil sie so schön sind. *** Herren und Lafferty arbeiten am ramponierten Rand der Natur, auf den Maniokfeldern und Austernbänken, wo die Menschen die Wildnis in eine neue Art Patchwork verwandelt haben; dort, wo fremde Arten innerhalb von Wochen tausende von Meilen wandern können und die am besten geeignete Spezies häufig diejenige ist, die in ständigem Chaos gedeiht. Vielleicht können Parasiten den Schlag mildern, den wir Orten wie der kalifornischen Küste 272
zufügen, wenn wir ihre enormen evolutionären Fähigkeiten berücksichtigen. Aber ich dachte auch an jene Teile der Welt, die noch relativ unberührt sind, und fragte mich, ob Parasiten helfen könnten, sie intakt zu halten. Diese Frage führte mich schließlich in den Dschungel von Costa Rica, wo ich mit Daniel Brooks Frösche fing. Wir streiften durch die Area de Conservación Guanacaste, ein rund 900 Quadratkilometer großes Naturschutzgebiet aus Trocken-, Regen- und Nebelwald, das sich von Buchten am Pazifik bis zu den Gipfeln von Vulkanen erstreckt. Vor 20 Jahren verschwanden die Wälder von Guanacaste, als die Viehzüchter Bäume rodeten, um Felder für ihr Vieh zu schaffen, obwohl sich die Viehzucht immer weniger lohnte. Ein Biologe, der in dem Gebiet arbeitete, ein graubärtiger Mann namens Daniel Janzen, erkannte die Zeichen der Zeit und nützte sie. Er gründete eine Stiftung, welche die Viehfarmen nach und nach aufkaufte, und stellte die arbeitslos gewordenen Cowboys als »Paratoxonomisten« ein. Mit ihrer Hilfe dokumentierte er die Vielfalt von Guanacaste, sammelte Arten, sezierte und beschrieb sie. Auf diese Weise wurde der Wald nicht nur gerettet – er dehnte sich sogar aus, und die Menschen, die ringsherum leben, haben ein Interesse daran, ihn zu schützen. Es gibt keine Zäune um Guanacaste. Als ich Ende der neunziger Jahre Guanacaste besuchte, war Janzen mit dem Aufbau des Reservats fast fertig. Er verbrachte die meiste Zeit bei seinen Lieblingen, den Schmetterlingen von Costa Rica. Wenn man sein kleines Haus neben dem Verwaltungsgebäude des Reservats betritt – drei Zimmer unter einem rostigen Blechdach –, muss man sich unter Dutzenden von Plastiktüten bücken, die von den Balken hängen und in denen jeweils ein Käfer sitzt, der an einem Blatt knabbert. »Mein Ziel ist, sämtliche Käfer, die es hier gibt, zu finden, bevor ich im Schlamm hier begraben werde«, erklärte er mir. In Guanacaste ist ein beträchtlicher Teil des Waldes noch Urwald; noch wichtiger jedoch ist, dass der Wald hier auch künftig wächst und zu einem sich selbst erhaltenden Ökosystem wird. »Kommen Sie heute in 1000 Jahren wieder und der Wald wird noch da sein«, sagte er. Eines Abends platzten Brooks und ich in Janzens Haus. Wir hatten tagsüber viel seziert und uns viele Parasiten angesehen. 273
Schließlich hatten wir beschlossen, auf einen Drink zu einer eine halbe Stunde entfernten Bar zu fahren. Unterwegs sahen wir im Scheinwerferlicht plötzlich ein Pelztier am Wegrand liegen. Wir hielten an und setzten zurück. Es war ein Fuchs, der noch nicht lange tot sein konnte, denn seine Rute sah noch wie eine zarte graue Wolke aus. Er wanderte hinten in den Transporter und wir fuhren zurück nach Guanacaste. Bei Janzens Haus angelangt, holte Brooks den toten Fuchs aus dem Wagen und legte ihn auf den Zementboden vor Jansens Tür. Das Tier war so heftig getroffen worden, dass ihm die Augen wie Kuppeln aus dem Kopf quollen, sah aber ansonsten unversehrt aus. Janzen sagte: »Nun, was haben wir denn da?« Janzens Frau Winnie kam ebenfalls an die Tür, um zu sehen, was los war. Sie trug ihrer beider Lieblingsstachelschwein Espinita auf der Schulter und es stellte vor Furcht die Stacheln auf. »Du hast zuviel von deinen Katzen gelernt«, sagte Winnie zu Brooks »Jetzt legst auch du schon den Leuten Geschenke vor die Tür.« Man muss schon sehr gut befreundet sein, um jemand einen blutigen Fuchs vor die Haustür zu legen, und genau diese Art Freundschaft verband Janzen und Brooks seit 1994. (Janzen benannte sogar eine von ihm entdeckte parasitische Wespenspezies nach Brooks.) Sie hatten sich kennen gelernt, als Janzen Hilfe suchte, um jede Spezies im Reservat zu erfassen. In so großem Maßstab war so etwas noch nie unternommen worden – Janzen schätzt, dass es 235.000 Arten in Guanacaste gibt. Er träumte von einem vollständigen Artenbestandsverzeichnis, das die Wissenschaftler ähnlich wie die Gelben Seiten benutzen würden; aus dem sie sich Arten heraussuchen könnten, um sie zu studieren und zu entdecken, wie in tropischen Wäldern biologische Vielfalt entsteht und erhalten wird. Als Brooks von diesem Projekt erfuhr, wollte er sofort mitmachen. Brooks war seit Mitte der siebziger Jahre Parasitologe und hatte herausgefunden, wie man mit Hilfe der Verwandtschaftsverhältnisse von Parasiten die Wanderungen ihrer Wirte vor Millionen Jahren rekonstruieren kann. In Kansas hatte er angefangen, mit Fröschen zu arbeiten. Den größten Teil seiner beruflichen Laufbahn verbrachte er jedoch in Lateinamerika, wo er sich den Parasiten von Stachelrochen, Alligatoren und anderen Tieren widmete. Es ist eine Arbeit, die nur langsam vorangeht, und 274
gewöhnlich kann sich ein Parasitologe nicht viel mehr erhoffen, als ein winziges Stück der parasitischen Vielfalt zu entdecken. Deshalb griff Brooks Janzens Idee sofort auf. »Sobald ich hörte, was man hier vorhatte, übergab ich mein ganzes Stachelrochenzeug meinen Doktoranden. Mir wurde klar, dass dies der Platz war, den ich zum Mittelpunkt meiner Arbeit machen wollte.« Zum ersten Mal waren Parasitologen vielleicht in der Lage, alle Parasiten an einem Ort kennen zu lernen. Guanacaste würde, wie Brooks es ausdrückt, »ein bekanntes Parasitenuniversum« werden. Als Janzen Brooks zum ersten Mal begegnete, wusste er nicht so recht, was er von ihm halten sollte, und ich konnte ein wenig von dieser Verwunderung in seinem Gesicht lesen, als Brooks ihm den toten Fuchs vor die Haustür legte. Wie kann sich jemand über einen Kadaver so freuen? Aber Brooks predigte sein Evangelium, bis Janzen allmählich das parasitische Licht aufging. »Dieser Mensch taucht hier auf und mein Bild von einer Maus ist für immer verändert«, erzählte mir Janzen. »Jetzt sehe ich sie als einen Sack voll Bandwürmer und Nematoden. Da hat man eine fröhliche Maus; dann macht man sie auf und sie ist voller Würmer.« Nachdem wir also unseren Fund hergezeigt hatten, brachten wir ihn zu Brooks Schuppen. Brooks schaltete die Neonbeleuchtung ein und Nachtfalter schwärmten durch den Maschendraht. Er legte den Fuchs in den Kühlschrank neben einen Ozelot und einen Tapir – ebenfalls glückliche Funde, die er sezieren würde. Wir kamen noch zu unserem Drink – Cuba Libre in einer Dose – und als wir gegen 23.00 Uhr genug hatten, fuhren wir zum Reservat zurück. Brooks hielt vor dem Schuppen und schaltete erneut das Licht an. Am besten sieht man Parasiten, wenn man einen frischen Kadaver öffnet. Wenn das tote Tier zu verwesen beginnt, verlieren die Parasiten die Orientierung und entfernen sich von ihrem natürlichen Aufenthaltsort. Bald darauf sterben sie und ihre Leichen lösen sich auf. Deshalb holte Brooks den Fuchs jetzt aus dem Kühlschrank und aus einer Schublade eine Schere. Die innere Ökologie des Fuchses erwies sich als ziemlich schlicht: Er war voller Hakenwürmer, die Blut aus seinen Därmen gezapft hatten. »Der Bursche hier hatte eine handfeste Hakenwurminfektion«, sagte Brooks, während er den Fuchsdarm unter 275
dem Mikroskop zerlegte. Was mich jedoch bei dieser Präparierung am meisten beeindruckte, war Brooks selbst. Immer wieder entschuldigte er sich bei dem Fuchs, als er ihn aufschnitt – »Tut mir leid, tut mir wirklich leid!«-, immer wieder fluchte und klagte er, dass der Fuchs auf so dumme Weise umkommen musste und dass ihm bei dem Aufprall die Lunge zerquetscht wurde. Die anderen Wissenschaftler, die in Guanacaste arbeiteten, sahen in Brooks eine Art Vampir – einen Wissenschaftler, den die schönen Tiere des Waldes nur interessierten, wenn er sie aufschlitzen konnte. Aber ich hatte noch nie erlebt, dass jemand den Tod eines Tieres so tief bedauerte. Janzens Traum von einer vollständigen Bestandsaufnahme zerbrach bei den Verhandlungen mit der Regierung von Costa Rica. Janzen gefiel nicht, wie das für die zentrale Aufgabe der Artenzählung zur Verfügung stehende Geld umverteilt werden sollte. »Wir erledigten das Pferd per Kopfschuss« sagte er zu mir. Brooks erhielt von der kanadischen Regierung genug Geld, um mit den Parasiten weitermachen zu können. Er schätzt, dass die 940 Wirbeltiere des Reservats 11.000 Parasitenarten beherbergen (nur bezogen auf parasitische Tiere und Protozoen), von denen die meisten neu für die Wissenschaft sein würden. »Diese Inventur wird den Rest meines Berufslebens in Anspruch nehmen«, sagte Brooks. Ich fragte mich, warum er sich diese Plackerei antun wolle. Im Lauf des nächsten Tages stellte ich ihm diese Frage mehrmals und erhielt jedesmal eine andere Antwort. Die biologische Vielfalt in einem tropischen Wald wie Guanacaste ist überwältigend, aber das meiste davon sieht man nur mit Hilfe eines Skalpells. »Es gibt zweifellos mehr Parasitenarten als frei lebende Organismen«, sagt Brooks. »Wenn Sie eine Hirschart vor dem Aussterben schützen, schützen Sie gleichzeitig 20 Parasitenarten aus vier Naturreichen.« Wenn das nicht genügt, kann man das Projekt auch mit aufgeklärtem Egoismus rechtfertigen. Die Genealogie der meisten Arzneimittel geht auf eine natürliche Zusammensetzung in irgendeinem Organismus zurück, sei es Penicillin, das von einem Pilz stammt, oder das aus den Blättern des Fingerhuts gewonnene Digitalis. Erst in den letzten paar Jahren haben Wissenschaftler begonnen, sich die Pharmakopöe des Parasiten zu erarbeiten. Cordyceps, 276
ein Pilz, der Insekten befällt und blütenähnliche Stiele aus ihrem Körper wachsen lässt, ist zum Beispiel der Rohstoff für Ciclosporin, ein wichtiges Antibiotikum. Hakenwürmer liefern Moleküle, die sich perfekt mit Gerinnungsfaktoren im menschlichen Blut verbinden, und Biotechnologie-Firmen testen diese Moleküle als Blutverdünner, die in der Chirurgie benötigt werden. Zecken können ebenfalls unser Blut verändern. Damit sie es leichter trinken können, setzen sie chemische Stoffe ein, die nicht nur geronnene Klümpchen lösen, sondern auch Entzündungen vermindern und Bakterien töten, die versuchen, in eine Wunde zu gelangen. Es gibt andere Parasitentricks, die noch auf eine Erklärung warten. Blutegel stehlen Stoffe aus unserem Blut, um sich vor dem Immunsystem zu tarnen, aber bis jetzt hat niemand herausgefunden, wie sie es anstellen. Wenn die Wissenschaftler dieses Phänomen aufklären würden, könnte ihre Entdeckung vielleicht bei transplantierten Organen angewendet werden. Ein Arzt könnte das Blut eines Patienten durch eine Spenderlunge pumpen und sie im Wesentlichen in einen gigantischen geschützten Egel verwandeln. Auf diese Weise wäre man in der Lage, den Patienten die gefährlichen Immunsuppressiva zu ersparen. Und das sind nur einige wenige Parasiten; wer weiß, welche chemischen Stoffe die Millionen anderen entwickelt haben? Ein weiterer Grund für eine Parasitenbestandsaufnahme tauchte auf, als Brooks und ich beschlossen, einen Tag lang nicht zu sezieren. Wir fuhren den Volcan Cacao hinauf, hin- und hergeschleudert auf dem Rücksitz eines Land Cruisers, der über eine aus Felsbrocken bestehende Straße holperte. Ein großer Teil des Bergwaldes war von den Viehzüchtern gerodet worden, aber Naturschützer hatten das Land zurückgekauft und warteten nun, dass sich die Hänge wieder bewaldeten. Wir fuhren eine Weile an der Waldgrenze entlang und hielten dann an, um zu Fuß in den Wald hineinzugehen. Schon nach wenigen Schritten waren wir untergetaucht in einem Meer von Bäumen. Blaue Morphofalter huschten durch den Schatten wie über uns schwimmende Fische. Ein feiner Regen sickerte durch das dicke Laubdach, als wir einen Bach überquerten. Brooks blieb stehen und sah sich um. »Eigentlich sollte es hier von Fröschen wimmeln«, sagte er. Und es war kein einziger zu sehen. 277
Ende der achtziger Jahre begannen die Frösche aus den Höhenlagen Mittelamerikas zu verschwinden. Auf dem Cacao ist keine einzige Froschspezies mehr zu finden. Anfangs hatten die Biologen keine Ahnung, was den Tod der Frösche verursachte; sie sahen nur haufenweise von Vögeln unberührte Froschkadaver. Erst 1999 isolierte ein Biologie die wahrscheinliche Ursache dieses Froschsterbens – einen aus den USA eingeschleppten Pilz. Seine Sporen reisen mit dem Wasser, bis sie auf die Haut eines Froschs treffen. Dann graben sie sich in das Tier hinein, fressen das Keratin in der Froschhaut und setzen ein Gift frei, das den Frosch rasch tötet. Das einzige, was den Pilz abhält, jeden Frosch in Mittelamerika zu töten, ist die Tatsache, dass er an kühles Klima angepasst ist. Unterhalb von 2000 Metern ist es in diesen Breiten für den Pilz zu heiß. Als man den Übeltäter endlich kannte, war es längst zu spät, etwas zu unternehmen. Die Wissenschaftler konnten nur zusehen, wie sich der Parasit von Berg zu Berg weiter nach Süden ausbreitete. »Wir hätten von diesem Pilz wissen müssen«, sagt Brooks. »Wenn wir ein Bestandsverzeichnis von Froschparasiten gehabt hätten, gäbe es vielleicht noch Frösche auf den Berggipfeln von Mittelamerika. Wir wussten nicht, dass er dort war.« Auch Menschen haben keinen besonderen Schutz vor Parasiten und diese könnten massenhaft aus gestörten Regenwäldern kommen. Nicht die Mediziner werden herausfinden, wo das Ebolavirus herkommt, sondern die Zoologen, die das Tier im afrikanischen Regenwald finden können, in dem es normalerweise lebt. Aber für Brooks ist dieses Bestandsverzeichnis nicht ausschließlich ein Katalog von Tod und Zerstörung. Es würde den Wissenschaftlern ermöglichen, die ökologische Gesundheit von Guanacaste und anderen ähnlich urtümlichen Wäldern zu messen. Ein Ökosystem lässt sich in gewisser Weise mit einem Menschen vergleichen. Bei einem gesunden Menschen wirken alle Körperteile so zusammen, wie es sein sollte: Die Lunge nimmt Sauerstoff auf, der Magen die Nährstoffe; das Blut transportiert alles in die Gewebe, die Nieren spülen die Abfallprodukte hinaus und das Gehirn denkt über die Welt nach oder was es zum Abendessen gibt. Bei einem Kranken arbeiten einige Körperteile nicht mehr richtig; und wenn sie ganz zu arbeiten aufhören, wird der gesamte Körper des Men278
schen in Mitleidenschaft gezogen und dies manchmal so sehr, dass auch die übrigen Organe ausfallen. Ein Ökosystem hält über eine lange Zeit, wenn seine Bestandteile gut zusammenarbeiten: Die Würmer lockern den Boden; der auf Baumwurzeln lebende Pilz versorgt den Baum mit Nährstoffen und entzieht ihm dafür Kohlehydrate. Wasser, Mineralstoffe, Kohlenstoff und Energie zirkulieren wie Blut durch das Ökosystem. Aber wie sich herausstellt, können Ökosysteme ebenfalls krank werden. Man führt einen Parasiten ein, der Koa-Raupen tötet, und der Schaden setzt sich mitunter bis zu den Bäumen in einem Wald fort. Ärzte warten nicht, bis ihre Patienten tot sind, um dann zu erklären, dass bei ihnen etwas nicht gestimmt hat. Sie suchen nach frühen, leicht zu erkennenden Hinweisen auf eine Störung, selbst wenn sie noch nicht wissen, was das eigentliche Problem ist. Wenn sich eine möglicherweise tödliche Bakterienkolonie irgendwo im Körper eines Menschen eingenistet hat, muss man nicht sofort feststellen, um welche Mikroben es sich handelt, sondern man misst erst einmal das Fieber. Auch die Ökologen wünschen sich etwas, das ihnen sagt, ob ein Ökosystem krank ist, bevor sich der Schaden bis in alle Fäden des Netzes ausgebreitet hat. Sie haben die Arten geprüft, die Ökosysteme bilden, in der Hoffnung, eine zu finden, die als eine Art Körpertemperatur-Index dienen könnte. Einige haben sich Ameisen und andere Insekten daraufhin angesehen, andere die Singvögel, die auf Waldböden nisten. Viele Kandidaten sind auf die eine oder andere Art ungeeignet. Es ist relativ einfach festzustellen, ob Raubtiere wie zum Beispiel Wölfe zurückgehen, weil es sich um große und relativ gering vorkommende Tiere handelt. Aber bis die Auswirkungen einer Umweltbelastung über die Nahrungskette bis zum Wolf durchgedrungen sind, ist das Ökosystem wahrscheinlich schon so kaputt, dass jede Hilfe zu spät käme. Manche Wissenschaftler wie Brooks sind der Meinung, dass Parasiten ein Zeichen für ökologische Gesundheit sind, aber nicht so, wie sich die meisten Menschen das vielleicht vorstellen. Bis vor kurzem betrachteten die meisten Ökologen Parasiten lediglich als ein Zeichen für eine Verschlechterung der Umwelt. Wenn irgendein Schadstoff das Immunsystem der Mitglieder eines Ökosystems schwächt, werden sie anfälliger für Krankheiten. Das 279
scheint in der Tat manchmal zuzutreffen, aber es ist zu einfach – und falsch –, dies zu verallgemeinern. Diese Ansicht ist der Nachhall von Lankesters Auffassung, die Zunahme von Parasiten sei ein Zeichen des Niedergangs. Die Frösche, die Brooks und ich in den tropischen Wäldern gesammelt hatten, waren gesund. Es gab so viele, dass sie uns vor die Füße sprangen. Aber sie wimmelten von Parasiten. Parasiten sind tatsächlich ein Zeichen für ein intaktes, unbelastetes Ökosystem, und, so seltsam es klingen mag, das Gegenteil ist wahr: Wenn die Parasiten aus einem Habitat verschwinden, ist das Ökosystem wahrscheinlich bedroht. Parasiten sind während ihres Lebenslaufs häufig verwundbar durch giftige Schadstoffe. Ein Egel zum Beispiel schlüpft als eine zarte, mit haarähnlichen Zilien bedeckte Form aus dem Ei und schwimmt im Wasser auf der Suche nach einer Schnecke. Ein paar Generationen später taucht eine Zerkarie aus der Schnecke auf, um sich ihren Säugetierwirt zu suchen. In beiden Entwicklungsstadien ist der Parasit auf sauberes Wasser angewiesen, um zu überleben. So jedenfalls lautet die Theorie, und es gibt einige konkrete Beweise, die zeigen, dass sie stimmt. Das Wasser der Flüsse in Nova Scotia, einer Halbinsel im südöstlichen Kanada, wurde als Folge der Luftverschmutzung durch windwärts gelegene Kohlekraftwerke sauer. Kanadische Ökologen schütteten Kalk in die Oberläufe eines schwer betroffenen Flusses, um die Säure zu neutralisieren. Im Jahr darauf kamen sie wieder, um Aale zu fischen. Dann verglichen sie diese Aale mit denen aus einem unbehandelten Fluss, der weiter unten in den gekalkten mündete. Die Aale aus dem gekalkten Gewässer enthielten eine wesentlich größere Vielfalt an Bandwürmern, Egeln und anderen Parasiten. Die Ökologen dehnten ihre Untersuchung auf die Flüsse entlang des größten Teils der neuschottischen Küste aus und stellten fest, dass die Aale in den am stärksten belasteten Gewässern die wenigsten Parasiten hatten. Parasiten fungieren auch noch aus einem anderen Grund als ökologische Wächter: Sie sitzen am oberen Ende vieler ökologischer Systeme. Kippt man Nickel in einen Fluss, nehmen die kleinen Tiere etwas davon auf, ohne besonders darunter zu leiden; doch wenn das Nickel in der Nahrungskette weiterwandert – wenn Ruderfußkrebse von kleinen Fischen gefressen werden, die dann die Beute ihrer großen Artgenossen und diese wieder die von Vö280
geln werden-, sammelt es sich zu immer höheren Konzentrationen an. Aber die Parasiten, die auch in den räuberischen Tieren leben, konzentrieren sogar noch mehr Gift in ihrem Körper. Bandwürmer können etliche Hundert Mal mehr Blei oder Cadmium in sich haben als der Fisch, in dem sie hausen, und tausendmal mehr als das sie umgebende Wasser. Im Gegensatz zu frei lebenden Organismen durchwandert ein Parasit viele Ebenen seines Ökosystems und kann von den Schäden berichten, auf die er bei seinen Wanderungen trifft. Manch ein Parasit muss bei seinem Lebenslauf viele Wirte passieren, von denen jeder seine eigene Nische im Habitat besetzt. Egel in den Carpenteria-Salzsümpfen müssen in Schnecken leben, die sich von Algen auf den Schlammbänken ernähren; von dort aus suchen sie sich einen Fisch, der tierisches Plankton fressen muss, um zu überleben; und schließlich muss der Parasit den Darm eines gesunden Vogels finden, in dem er reifen kann. Wenn einer dieser Wirte verschwinden sollte, würde der Parasit darunter leiden. Kevin Lafferty stellte 1997 fest, dass es in dem schwer belasteten Teil des Carpenteria-Salzsumpfes nur noch halb so viele Parasitenarten gab wie in dem gesunden Teil, und nur noch halb so viele Parasiten insgesamt. Teile des Sumpfes wurden jetzt saniert und schon 1999 hatten die Schnecken dort wieder eine Parasitenvielfalt wie die im unverdorbenen Sumpf. Deshalb seziert Brooks Frösche in Costa Rica. »Da läuft dieser Bursche mit neun oder zehn Parasiten gesund und munter herum. Wenn man alle diese Parasiten in den Fröschen kennt und es fehlt plötzlich einer, stimmt etwas mit den Fröschen nicht oder mit einem Zwischenwirt. Wenn wir einen Parasiten verloren haben, haben wir etwas im Gefüge des Ökosystems verloren.« Und wenn Brooks eines Tages mit seiner Inventur fertig ist, wird es vielleicht möglich sein, Parasiten an ihren Eiern oder Larven zu erkennen – und es wäre nicht mehr nötig, weitere Wirte zu opfern. Parasiten können nicht nur gute ökologische Gesundheit bedeuten, sondern sogar ein wesentlicher Faktor dafür sein. Wenn Bauern zulassen, dass ihr Vieh zartes Grasland überweidet, stören sie mitunter den Haushalt der Natur so, dass sich eine ganze Region in eine Wüste verwandelt. Soweit die Ökologen dies heute beurteilen können, ist eine solche Entwicklung weitgehend unum281
kehrbar, weil die Wüstenpflanzen den Boden auf eine Weise umformen, dass sich Gräser nicht mehr darin niederlassen können. Zu entscheiden, wieviel Land auf einer bestimmten Fläche als Weideland genützt werden sollte, ist schwierig und immer auch politisch brisant. Gewöhnlich füttern die Bauern ihre Herden mit Medikamenten, um möglichst viele Darmwürmer abzutöten, dabei könnten die Parasiten den Bestand in einem sorgfältigen Gleichgewicht mit dem Weideland halten, auf das das Vieh angewiesen ist. Die Larven einiger parasitischer Würmer gelangen in die Weidetiere, indem sie sich an das Gras heften, welches das Vieh frisst. Gelangt ein Wurm in den Darm eines Schafs, reift er und beginnt, etwas von der Nahrung des Schafs abzusaugen. Von den Auswirkungen des Wurms belastet wird das Schaf kürzer leben und weniger Lämmer werfen. Der Parasit lässt die Herde schrumpfen. Ein solches Auf und Ab kann ein ganzes Ökosystem verändern. Wenn ein Bauer ein mitteltrockenes Grasland von seinen Schafen überweiden lässt, werden sich die Schafe vielleicht gut vermehren, aber die Pflanzen verkümmern. Gleichzeitig mit dem Weideland verändert sich die Situation der Parasiten: Weil mehr Schafe vorhanden sind, können sie sich ungeheuer vermehren. Es wimmelt von ihnen an den immer weniger vorhandenen Grashalmen, und die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Schaf infiziert, ist ungleich größer geworden. Bald darauf nimmt die Schafspopulation wieder zu, aber dank des Managements der Parasiten wird sie nie groß genug werden, um das Weideland in eine Wüste zu verwandeln. Die Bauern könnten profitieren, wenn sie es den Parasiten überließen, die Stärke ihrer Herden zu kontrollieren, anstatt die Tiere mit Schädlingsbekämpfungsmitteln vollzupumpen und das Weideland zu vernichten. Doch für den Augenblick bleibt die Theorie von der parasitischen Stabilität größtenteils Theorie, weil die Wissenschaftler so wenig über Parasiten in der Natur wissen – ein weiterer Grund, warum Daniel Brooks in Costa Rica ist: »Die Leute werden ihre Ansichten über parasitische Stabilität überprüfen müssen. Parasiten können Schwankungen dämpfen; und wenn sie einen Einfluss haben, wird man sie nicht ausrotten wollen.« »Wenn wir einen Ort wie diesen erhalten wollen«, sagte Brooks, »ist es wichtig zu wissen, was mikroskopisch vorgeht. Wir 282
müssen herausbekommen, wie man mit Parasiten arbeitet, und was Organismen brauchen und wollen, damit wir sie auf eine Weise nützen können, die ihre Existenz nicht beendet.« Während dieses Gesprächs musste ich daran denken, wie Parasiten ihre Wirte benutzen, damit sie sich nicht selbst vernichten. Bei meinen Reisen für dieses Buch kam mir oft der Gedanke, dass die natürliche Welt die Summe ihrer Teile ist. Aus dem Flugzeug hatte ich auf die Schlammseen des Sudan, die reißbrettartig angelegten Wohnsiedlungen um Los Angeles, die den Wald zerstückelnden Ranches und die Waldreste von Costa Rica geschaut und an Gaia gedacht, ein Prinzip, das einige Wissenschaftler übernommen haben. Sie betrachten die Biosphäre – die Schale um Ozeane, Land und Luft, welche die Heimat des Lebens ist – als eine Art Superorganismus. Der Phosphor, der dazu beiträgt, dass ein Glühwürmchen leuchtet, gelangt in den Boden, wenn das Glühwürmchen stirbt, vielleicht, um von einem Baum aufgenommen zu werden und in eines seiner Blätter zu steigen. Mit dem Blatt gerät der Phosphor vielleicht in einen Fluss und fließt zum Meer, wo er von photosynthetisierendem Plankton aufgenommen wird, nur um von Krill gefressen zu werden, der ihn mit seinem Kot in die Tiefen des Meeres schickt. Dort wird er von einem umherstreifenden Bakterium gefressen und an die Meeresoberfläche zurückgeschleust, bevor er schließlich viele Jahre später auf dem Meeresboden landet. Gaia wird – wie unser Körper – von ihrem Stoffwechsel zusammen- und stabil gehalten. Wir Menschen leben innerhalb von Gaia und unser Überleben hängt von ihr ab. Heute leben wir, indem wir Gaia rigoros ausbeuten. Mit unserer intensiven Landwirtschaft räumen wir die Ackerkrume ab, ohne sie zu ersetzen; wir fischen die Meere leer, roden die Wälder. Wir müssen lernen, die Natur zu nutzen, ohne sie zu zerstören. »Sie reden, als wäre wir Parasiten«, sagte ich. Brooks zuckte mit den Schultern. Für ihn war das in Ordnung. »Ein Parasit, der keine Selbstregulierung hat, rottete sich selber aus und unter Umständen auch seinen Wirt«, sagte er. »Und weil die meisten Arten auf der Erde Parasiten sind, können wir davon ausgehen, dass das nicht oft passiert ist.« Ich dachte eine Weile darüber nach. Die Parasiten könnten eine neue Bedeutung für uns haben, die an die Stelle von Lankesters entarteten jüdischen 283
Bandwürmern und der alten Mythen von fehlgegangener Evolution treten könnte, eine Bedeutung, die biologisch genau ist, ohne das Leben in einen Horrorfilm zu verwandeln, ohne dass Parasiten plötzlich zwischen unseren Rippen hervorbrechen. Wir sind es, die Parasiten sind, und die Erde ist unser Wirt. Wir umgehen die Physiologie des Lebens zu unseren eigenen Zwecken, indem wir Düngemittel abbauen und unsere Felder damit bedecken, ähnlich wie die Schlupfwespe die Physiologie ihrer Raupe umgeht, damit sie die Art von Nahrung bekommt, die sie braucht. Wir beuten diese Ressourcen aus und lassen unseren Abfall zurück, so, wie Plasmodium es mit einem roten Blutkörperchen tut. Wenn Gaia ein Immunsystem hätte, könnten vielleicht Krankheit und Hunger verhindern, dass eine explodierende Spezies die Welt übernimmt. Aber wir haben diese Sicherheitsmechanismen ausgetrickst mit Medikamenten, sauberen Toiletten und anderen Erfindungen, und sie haben es uns erlaubt, den Planeten mit Milliarden von Menschen zu bevölkern. Es ist keine Schande, ein Parasit zu sein. Wir schließen uns einer ehrwürdigen Gilde an, die seit den Anfängen auf diesem Planeten wohnt und seine erfolgreichste Lebensform wurde. Aber wir sind, was die parasitische Lebensweise betrifft, Elefanten im Porzellanladen. Parasiten können ihre Wirte mit großer Genauigkeit verändern und sie für besondere Zwecke wechseln: Um in ihre Urheimat in einem Bach zu gelangen oder zum Reifen in eine Seeschwalbe umzuziehen. Aber sie verstehen es exzellent, nicht mehr Schaden anzurichten als nötig, weil die Evolution sie gelehrt hat, dass unsinniger Schaden letztlich ihnen selbst schadet. Wenn wir als Parasiten erfolgreich sein wollen, müssen wir von den Meistern lernen.
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Glossar Antigen: Eine vom Organismus als fremd erkannte Substanz, die eine Immunantwort auslöst. Antikörper: Ein vom Immunsystem gebildetes Protein, das sich an Antigene anlagern und sie neutralisieren kann. Blutegel: Eine bestimmte Egelart, die in der Blutbahn von Wirbeltieren lebt. Am besten erforscht sind Schistosomen wie Schistosoma mansoni, der Erreger der Bilharziose bzw. Schistosomiasis. D-Zelle: Ein Immunzellentyp, der Antikörper produziert. Chloroplost: Ein Hohlraum in den Zellen von Pflanzen und Algen, in dem die Photosynthese abläuft Cotesio congregoto: Parasitische Wespenart, welche die Raupe des Tabakschwärmers als Wirt benützt. Egel: Parasitischer Plattwurm, der zur Klasse der Trematoden gehört. Elephantiasis: Eine von Filarien, hoch spezialisierten Fadenwürmern, verursachte Krankheit. Die Würmer sitzen in den Lymphbahnen, wo es infolge der Reaktion des Immunsystems zu Verstopfungen kommt, sodass sich die Lymphflüssigkeit in Gliedmaßen oder Genitalien staut. Flussblindheit: Eine von Onchocerca volvulus, einem parasitischen Nematoden verursachte Krankheit. Der Mensch erblindet aufgrund der Narben, die der über die Augen kriechende Parasit hinterlässt. Hakenwurm: Er gehört zu den Fadenwürmern und lebt als Larve im Erdboden, als Adultform im menschlichen Dünndarm. Blutsaugender und Anämie verursachender Parasit Hüpferlinge: Synonym für Ruderfußkrebse Komplement: Sammelbezeichnung für im Blut vorkommende Proteine, die Antigene entweder mit oder ohne Beteiligung von Antikörpern inaktivieren können. Makrophage: Eine Immunzelle, die fremde Organismen frisst oder mit Giften, die sie freisetzen kann, tötet. Malaria: Eine Krankheit mit hohem Fieber, die durch eine Infektion durch Protozoen der Gattung Plasmodium hervorgerufen wird. 285
Mastzelle: Immunzelle in der Darm- und Nasenschleimhaut; sie kann plötzlich eine allergische Reaktion auslösen. Medinawurm, auch Guineawurm: Ein parasitischer Fadenwurm, der durch infiziertes Trinkwasser auf den Menschen übertragen wird. Nach der Paarung bricht das Weibchen bei Berührung mit Wasser aus dem Bein des Wirts hervor und entlässt einen Teil der Larven, die sich im Wasser einen Ruderfußkrebs als Wirt suchen. Nematoden: Fadenwürmer. Plasmodium: Das Protozoon, das Malaria verursacht. Sacculina: Ein parasitischer Rankenfüßer, der in Krabben lebt. Schistosomiosis: Diese auch Bilharziose genannte Krankheit wird durch Schistosomen – Blutegel, die in Schnecken und Menschen leben – verursacht. Die schweren Leberschäden entstehen durch die Reaktion des Immunsystems auf die Eier der Schistosomen. Schlafkrankheit: Eine von dem Protozoon Trypanosoma brucei hervorgerufene Krankheit, die von der Tsetsefliege übertragen wird. Sie führt zu Verwirrtheit und Koma und ist tödlich, wenn sie nicht behandelt wird. Toxoplasma gondii: Protozoon, das normalerweise Katzen und deren Beutetiere zu seinen Wirten macht. Eine Infektion ist für den Menschen gewöhnlich ungefährlich, nicht jedoch für Schwangere und Menschen mit Immundefekten. Trematoden: Saugwürmer wie Leberegel, Darmegel, Lungenegel, Schistosoma. Trichinella: Parasitischer Nematode, der in Muskelzellen lebt. Trypanosomen: Parasitische Protozoen der Gattung Trypanosoma. Sie verursachen u.a. Schlafkrankheit (T. brucei) und Chagas-Krankheit (T. cruzi). T-Zelle: Immunzelle, die spezifische Antigene erkennen kann. T-Zellen wandeln sich in Killerzellen, Lymphokine und Granulozyten um. Killerzellen töten mit Viren und anderen Krankheitserregern infizierte Zellen. Lymphokine organisieren u.a. Angriffe durch Makrophagen. Granulozyten können Bakterien vernichten. T-Helferzellen wirken mit B-Zellen zusammen, um die Produktion von Antikörpern zu steigern.
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Danksagung Bei den Recherchen für dieses Buch waren mir viele Wissenschaftler behilflich. Ich zapfte ihre Gehirne entweder bei einem Besuch, per Telefon oder über ein Modem an. Mein besonderer Dank geht an Larry Roberts, der das gesamte Manuskript gelesen hat. Ich halte alle diese Wissenschaftler in Ehren, wie es jeder anständige Parasit mit seinem Wirt tun muss. Mein Dank geht an: Greta Smith Aeby Jonathan Baskin Nancy Beckage George Benz Manuel Berdoy Jeff Boettner Daniel Brooks Janine Caira Dickson Despommiers Andrew Dobson Thomas Eickbush Gerald Esch Donald Feener Michael Foley Scott Gardner Matthew Gilligan Bryan Grenfell Iah Harrison Hans Herren Jens Høeg Peter Hotez Stephen Howard Frank Howarth Michael Huffman
Hillary Hurd Tod Huspeni Mark Huxham John Javony Daniel Janzen Aase Jesperson Piter Johnson Martin Kavaliers Christopher King Jacob Koella Stuart Krasnoff Armand Kuris Kevin Lafferty Curtis Lively Philip LoVerde David Marcogliese Scott Miller Katherine Milton Anders Meiler Janice Moore Thomas Nutman Jack O'Brien Richard O'Grady Norman Pace
Edward Pearce Barbara Peckarsky Kirk Phares Stuart Pimm Ramona Polvere Michey Richer Larry Roberts David Roos Mark Siddall Joseph Schall Phillip Scott Andreas SchmidtRhaesa Biola Senok Michal Strand Michael Sukhdeo Suzanne Sukhdeo Richard Tinsley John Thompson Nelson Thompon Mark Torchin Joel Weinstock Clinton White Marlene Zuk
Ich bedanke mich ebenfalls bei David Berreby für einige aufschlussreiche historische Erkenntnisse, bei Jonathan Weiner für die Wurm-Connection, bei Grace Farrell, die den Parasiten-FilmMarathon und auch sonst eine merkwürdige Obsession ertrug, bei Eric Simonoff, dass er schöpferische Grausamkeiten erkannte, und bei meinem Lektor, Stephen Morrow, der immer dafür sorgte, dass aus alldem schließlich ein Buch wurde. 287