Sie sind unter uns.
Fossile Saurierknochen?
Nichts als kunstvolle Artefakte begabter Dinos.
Die besten Spieler der...
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Sie sind unter uns.
Fossile Saurierknochen?
Nichts als kunstvolle Artefakte begabter Dinos.
Die besten Spieler der American Football League?
Fast durchweg Brontosaurier.
Der genialste Detektiv in Los Angeles?
Rubio. Vincent Rubio. Veloziraptor in Bogart-Outfit.
Entgegen anders lautenden Gerüchten sind die Dinosaurier
keineswegs ausgestorben. In Latexkostüme gezwängt, leben sie
unerkannt unter den Menschen, und der Privatdetektiv Vincent
Rubio ist einer von ihnen.
Rubio kommt Versuchen auf die Spur, die eine genetische
Verbindung zwischen Menschen und Dinos ermöglichen sol len. Im Mittelpunkt des teuflischen Komplotts: eine hinreißen de Sängerin, ein verrückter Arzt und eine schwerreiche Carno saurus-Witwe mit Kinderwunsch …
»Das ist der innovativste Roman, den ich je gelesen habe.
Eine unglaubliche, nicht zu überbietende Lektüre!«
T.C. Boyle
»Eines der witzigsten Bücher, seit es witzige Bücher gibt!«,
Bookmark
»Die Leser werden vollständig begeistert sein!«
Publishers Weekly
»Der Roman hat das Zeug zum Bestseller!«
Entertainment Weekly
Das Buch Privatdetektiv Vincent Rubio ist auf dein absteigenden Ast: Erst kommt sein Partner auf mysteriöse Weise ums Leben. Dann wird sein Auto beschlagnahmt. Und außerdem ist er basilikumsüchtig. Denn Vincent ist kein normaler Mensch. Genaugenommen ist er überhaupt kein Mensch, obwohl er so aussieht. Vincent ist ein Dinosaurier, ein Velociraptor, um präzise zu sein. Entgegen anders lautenden Gerüchten leben die Dinos noch heute unter uns – in täuschend echten Menschenkostümen aus Latex. So ist der Chef von Vincents Agentur ein ungehobelter T-Rex, der ihn am liebsten feuern würde. Als eine Dino-Disco in Flammen aufgeht, bekommt Vincent allerdings noch eine letzte Chance. Doch was erst wie ein simpler Versicherungsbetrug aussieht, wird schon bald zum spektakulärsten Fall in Vincents Laufhahn. Er kommt dem verrückten Arzt Dr. Emil Vallardo auf die Spur, der in einem stillgelegten Kran kenhaus geheimnisvolle Experimente durchführt. Und Judith McBride, eine junge Witwe, die mit Vallardo in Verbindung steht, scheint mehr darüber zu wissen, als sie zugibt. Als Vincent endlich Vallardos Plan durchschaut, ist es schon fast zu spät. Der Arzt arbeitet nämlich daran, Dinos und Menschen zu kreuzen. Und Vincent muß ihn aufhalten, bevor diese Utopie Wirklichkeit wird … »Brillant, clever, smart« – die Presse lobt Eric Garcia, den neuen Star der amerikanischen Literaturszene, in den höchsten Tönen. Selten hat ein Autor seine Leser derartig in Erstaunen versetzt wie der 26jährige Garcia mit seinem Erstlingswerk Anonymus Rex. Garcia stammt aus Miami und besuchte die Cornell University, wo er eine Comedy-Truppe gründete, die bis heute Erfolge feiert. Anschließend studierte er an der University of Southern California Drehbuchschreiben und creative wri ting. Zu seinen großen Vorbildern zählen neben den einschlägigen Auto ren der schwarzen Serie auch Tolkien und Kurt Vonnegut, E. L. Docto row und Philip K. Dick. Mittlerweile hat der Autor, der mit seiner Frau in Los Angeles lebt, bereits seinen nächsten Roman beendet. Casual Rex.
UMSCHLAGGESTALTUNG: DESIGN TEAM MÜNCHEN UMSCHLAGFOTO: PREMIUM/FIRST LIGHT/KITCHIN HURST AUTORENFOTO: CHRISTOPHER BIERLEIN/VILLARD
ERIC GARCIA
Anonymus Rex
Roman Aus dem Amerikanischen von
Kristian Lutze
Non-profit ebook by tg
September 2004
Kein Verkauf!
MANHATTAN
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Anonymous Rex«
2000 bei Random House, New York
Manhattan Bücher erscheinen im Goldmann Verlag,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2000 by Eric Garcia
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH
Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
Printed in Germany • Presse-Druck Augsburg
ISBN 3-442-54503-X
Für meine Frau Sabrina,
die mein Basilikum, mein Koriander
und mein Majoran in einem ist.
Und für meine Eltern,
Manny und Judi,
deren Glauben unendlich ist
und die mir beigebracht haben,
Socken mehr als einmal zu tragen.
»I have never been really hardboiled,
but I’m trying.
I’m trying real hard.«
1
Keine Frage, heute abend habe ich mir basilikummäßig ziem lich die Kante gegeben. Ein halber Zweig im Tar Pit Club, ein Viertel auf der Toilette, ein halber auf der Fahrt über die 101 hierher und zwei weitere, während ich im Auto gewartet habe, und erst jetzt stellt sich langsam der Glimmer ein, und ich bin so benebelt, daß ich vor meinem eigenen Schwanz zusammen zucke. Hab das Zeug heute frisch ergattert, ein ganzes halbes Pfund von Trader Joe’s an der La Brea Avenue. Gene, der La gerverwalter, hält immer einen kleinen Vorrat für seine speziel len Kunden zurück, und auch wenn man ihm hin und wieder einen Fünfer extra in die Flosse drücken muß, um sich gut mit ihm zu stellen, war man nie wirklich auf Basilikum, solange man nicht Genes Spezialvorrat probiert hat. Zunächst kriegt man diesen Glimmer, der einen wünschen läßt, daß das Zeug endlich knallt, und wünschen läßt, daß das Zeug endlich knallt, und wünschen läßt, daß das Zeug endlich knallt, und dann ist man auf einmal drauf und fragt sich, wie, zum Teufel, es mög lich war, daß man irgendwann einmal nicht drauf war. Diese Kamera hängt mir mit offener Verschlußkappe schwer um den Hals, zerrt geradezu an mir und bettelt um Action. Es ist eine Minolta, ein Stück Scheiße für vierzig Dollar, in jeder Beziehung minderwertig, aber ohne Kamera kann ich keine Schnüffeljobs machen, und im letzten Monat habe ich nicht genug Gigs an Land gezogen, um meine gute wieder auszulö sen. Deswegen brauche ich diesen Job. Und wegen der Hypo theken. Das Auto nicht zu vergessen. Und die Kreditkarten. Ein Paar Scheinwerfer durchbricht die Dunkelheit und kriecht langsam die Straße hinunter. Auf dem Dach des Wa gens blinkt ein orangefarbenes Licht. Miet-Bullen, privater Sicherheitsdienst. Ich drücke mich tiefer in meinen Sitz. Ich bin klein. Ich bleibe unbemerkt. Der Wagen fährt vorbei, seine Rücklichter tauchen die friedliche Vorstadtstraße in ein blasses 8
verwaschenes Rot. In dem Haus gegenüber – das mit dem gepflegten Rasen, der Sicherheitsbeleuchtung aus Pseudo-Gaslaternen und der Ein fahrt aus Preßbeton – wartet der potentielle Hauptgewinn für diesen Monat. In den guten alten Zeiten hätte das bedeutet, ein Fall, der irgendwas zwischen zwanzig- und fünfzigtausend Dollar einbringt, nachdem Ernie und ich noch ein paar Gebüh ren und Spesen draufgeknallt hätten und was uns beim Schrei ben der Rechnung sonst noch so eingefallen wäre. Heutzutage heißt das, ich kann froh sein, wenn ich mit neunhundert nach Hause gehe. Ich habe Kopfschmerzen. Ich mache noch einen Zweig Basilikum fertig und kaue, kaue, kaue. Heute ist der dritte Tag eines Beschattungsjobs. Im Auto pennen, in rattenverseuchten Diners essen, schmerzende Augen vor Anstrengung, aus der Entfernung noch irgendwelche Ein zelheiten zu erkennen. Seit anderthalb Stunden sitze ich jetzt in meinem Wagen und warte darauf, daß im Schlafzimmer das Licht angeht. Es ist sinnlos, Fotos von einem dunklen Fenster zu machen, und nackte Tatsachen aus erster Hand sind einfach nicht gut genug – eifersüchtige Ehefrauen kümmert es einen Dreck, was ein Privatdetektiv sieht oder hört. Wir sind uner wünschte Personen, und zwar gründlich. Sie wollen Fotos, und zwar jede Menge. Einige verlangen Video-, andere TonbandAufnahmen, alle verlangen Beweise. Das heißt, selbst wenn ich persönlich Zeuge geworden wäre, wie Mr. Ohmsmeyer mit einer Frau rumschäkert, -scharwenzelt und -poussiert, die we der seine Gattin noch eine nahe Verwandte ist, und auch wenn mir mein Instinkt sagt, daß das namenlose Flittchen in diesem Haus in den letzten anderthalb Stunden einen wahren eroti schen Wirbelsturm entfacht hat, ist das meiner Klientin Mrs. Ohmsmeyer scheißegal, solange ich die Orgie nicht auf Nega tiv bannen kann. Was ich mit Vergnügen täte, wenn die beiden bloß das verdammte Licht anmachen würden. Im Wohnzimmer erwacht eine Halogenlampe zum Leben, 9
hinter den dünnen Vorhängen gehen Silhouetten schwankend in Positur – schon besser. Ich taste nach dem Türgriff, ziehe kurz daran, und ehe ich mich versehe, bin ich ausgestiegen und stolpere auf das Haus zu, wobei meine falschen menschlichen Beine mich bei jedem Schritt verraten. Komisch, wie sich der Boden wellt und knubbelt. Ich bleibe stehen, um das Gleich gewicht wiederzufinden, und verliere es gleich wieder. Ein in der Nähe stehender Baum bremst meinen Fall. Ich mache mir keine Sorgen, daß mich jemand sehen oder hören könnte, aber wenn ich im Basilikum-Vollrausch im Vor garten einschlafe, könnte das morgen früh einen schlechten Eindruck machen. Ich reiße mich zusammen, spanne meine Muskeln an, gehe leicht in die Hocke, schwanke durch den Vorgarten, hechte über eine kleine Hecke und lande im Dreck. Schlamm spritzt auf meine Hose, wo er bis auf weiteres auch bleiben muß, weil ich kein Geld für die Reinigung habe. Das Fenster ist niedrig, der untere Rahmen direkt über mei ner Augenhöhe. Dünne Gardinen, wahrscheinlich ein Baum wollmischgewebe, lausig zum Fotografieren. Jetzt tanzen die Silhouetten, schattenhafte Gestalten bewegen sich rück-zwei drei, links-zwei-drei, und dem gedämpften Grunzen nach zu urteilen, würde ich sagen, sie haben ihre Verkleidung abgelegt und sind bereit für eine wilde Nacht. Ich stelle die Linse scharf und wähle den Rahmen für einen netten, sauberen Schnappschuß. Aber auch nicht zu sauber – kein Scheidungsrichter würde auf der Basis eines Beweisfotos mit Ansel-Adams-Komposition eine großzügige Unterhaltsre gelung dekretieren. Verbotenes muß auch verboten aussehen. Vielleicht ein Fleck auf dem Abzug, das Ganze beiläufig ver wackelt, und natürlich immer schwarz-weiß. Noch ein Licht, diesmal im Flur. Jetzt kann ich ihre Umrisse ausmachen, und es ist ziemlich eindeutig, daß die beiden Tur teltäubchen ihre Haut abgelegt haben. Entrollte Schwänze schlängeln sich durch die Luft, ausgefahrene Krallen ziehen 10
Furchen in die Tapete. Die Leidenschaft hat das Pärchen un vorsichtig gemacht – ich kann sogar die Säugetier-Verkleidung des Weibchens über der Sofalehne erkennen, geknüpftes Blondhaar auf den Polsterkissen, schlaffe menschliche Arme, die wie Lochstreifen über der Lehne baumeln. Und durch den Flur poltern zwei Schatten Richtung Schlafzimmer, die zu sehr mit ihrer Libido beschäftigt sind, um ihre natürliche Haltung zu verbergen. Ich muß unbedingt zu diesem Schlafzimmerfenster hinkommen. Es gelingt mir, mich aufzurichten, bevor ich wieder umfalle, worauf ich beschließe, daß es vielleicht das Beste wäre, auf allen vieren am Haus entlang zu kriechen. Da unten ist es drek kig, schlammig und schmierig, aber immer noch besser, als den Kopf über Kniehöhe zu heben. Auf meinem Weg komme ich an einem wunderbar angelegten Garten vorbei und übergebe mich prompt in die Begonien. Danach fühle ich mich gleich viel besser. Das Schlafzimmer hat ein Erkerfenster, das zum Glück hinter den wuchernden Ästen einer Eiche versteckt liegt. Die zugezo genen Gardinen stehen einen Spalt offen, und durch diesen Spalt könnten mir ein paar erstklassige Aufnahmen gelingen. Ein kurzer Blick. Mr. Ohmsmeyer, staatlich anerkannter Buchhalter im öffent lichen Dienst und Vater dreier entzückender IguanodonKinder, hat seine menschliche Verkleidung vollständig abge legt, den Schwanz für die richtige Paarungsposition aufgestellt und die Krallen zur Sicherheit eingezogen. Ein Kiefer mit ei nem Satz rasiermesserscharfer Beißer schnappt in die phero mongeschwängerte Luft. Er steht über seiner Geliebten, einem durchschnittlich ge bauten Ornithomimus-Weibchen: hübscher Eiersack, schlanke Vorderbeine, runder Rücken, annehmbarer Schwanz. Ich kann nichts Umwerfendes an ihr finden und deshalb auch nicht ver stehen, welche Triebe Mr. Ohmsmeyer zum Bruch seines heili 11
gen Ehegelübdes verleitet haben, aber vielleicht kann ein pas sionierter Junggeselle die Leidenschaften, die verheiratete Männer überkommen, einfach nicht nachvollziehen. Anderer seits soll ich sie ja auch nicht verstehen, sondern einfach nur fotografieren. Die Fensterläden sind nicht so flüsterleise, wie ich es mir gewünscht hätte, aber bei all den Geräuschen, die die beiden mittlerweile von sich geben, ist das egal. Ich knipse drauflos, bemüht, so viele Fotos wie möglich zu schießen – Mrs. Ohms meyer hat sich bereit erklärt, für alle Film- und Entwicklungs kosten aufzukommen, die im Rahmen meiner Ermittlung anfal len, und wenn ich Glück habe, merkt sie nicht, daß sie auch ein paar Abzüge von meinem letztjährigen Angelausflug nach Beaver Creek bezahlt. Die beiden haben einen Rhythmus gefunden – eins, zwei, Stoß, Pause, Pause, Pause, vier, fünf, zurückziehen, Pause, Pause, und wieder von vorn. Mr. O. hat beim Liebesakt einen derben Jeder-Stoß-ein-Treffer-Swing, den ich von Ehebrechern kenne. Ihre Hüftbewegungen haben etwas Drängendes, viel leicht sogar ein wenig Wütendes. Seine schuppige braune Haut schabt rauh über das grüne Ornithomimus-Weibchen, und das wackelige Bett quietscht mit jedem beharrlichen Stoß. Sie machen weiter. Ich mache weiter. Klick, klick, klick. Diese Fotoserie stellt hoffentlich das Ende einer zweiwöchi gen Ermittlung dar, die weder besonders einfach noch beson ders interessant war. Als Mrs. Ohmsmeyer vor zwei Wochen zu mir kam und mir die Situation schilderte, dachte ich, das sei ein ganz normaler Fremdgeh-Job, todlangweilig, aber in drei Tagen erledigt, und vielleicht könnte ich meine Kreditgeber noch eine Woche hinhalten. Und da sie die erste Dame war, die mein Büro betreten hatte, seit mein Verweis aus dem Rat rechtskräftig geworden war, nahm ich den Auftrag sofort an. Was sie mir nicht erzählt hatte, ich jedoch bald herausfand, war, daß Mr. Ohmsmeyer auf einer neuen Masche segelte, die 12
darin bestand, daß er sich irgendwie eine Vielzahl menschli cher Verkleidungen verschafft hatte und diese ohne jede Scham so oft wie möglich wechselte. Natürlich sind Ersatzverkleidun gen in besonderen Fällen erlaubt, aber nur, wenn man sie ord nungsgemäß und mit seiner richtigen persönlichen Kennummer bestellt. Betrug mit falschen Identitäten ist in diesen Zeiten schon einfach genug, ohne daß auch noch Dinosaurier anfan gen, nach Belieben ihre Erscheinung zu wechseln. Auf jeden Fall war es ein Verstoß gegen die Bestimmungen des Rates, aber ich wäre der Letzte, der vor dieser verdammten Organisa tion Anklage gegen Ohmsmeyer erheben würde. Na klar – ich konnte mich einfach ins Auto setzen, sein Haus beschatten und ihn mit Adleraugen ausspähen, aber wer wußte schon, wo der kleine Lüstling als nächstes sein Unwesen trei ben würde. Ich hab mal einen Typ verfolgt, der es ausgerechnet auf den Balken unter einer Brücke am liebsten machte, und einen anderen, der es nur auf der Toilette des International House of Pancakes trieb. Ich konnte also, wie gesagt, einfach das Haus der Familie überwachen – und genau dort landete ich schließlich auch wieder –, blieb aber immer noch das Problem, wie ich Mr. O. im Visier behalten sollte. Aber nachdem ich erst einmal beschlossen hatte, meiner Nase zu trauen, dem nieder sten meiner Instinkte, fügte sich alles bestens. Er hat einen antiseptischen Geruch, beinahe körnig, mit ei nem Hauch von Lavendel. Typisch Buchhalter. Außerdem ziemlich kräftig – ich konnte ihn auf zweihundert Meter Ent fernung wittern. Als er also das nächste Mal seine Bäumchen wechsel-dich-Nummer versuchte, lief das so: Er betrat das Re staurant als Mr. Ohmsmeyer und verließ es zwei Stunden spä ter als alte asiatische Dame mit Gehhilfe, aber das war egal, denn er hinterließ richtige Pheromon-Wolken wie eine Spur von Brotkrumen, ein olfaktorischer Pfad, dem ich folgte, wäh rend er sein Flittchen zurück in diese Straße, in dieses Haus und hinter dieses Schlafzimmerfenster führte. Ein durchaus 13
kühner Schritt seinerseits, aber Mrs. Ohmsmeyer und die Kin der sind übers Wochenende zu ihrer Schwester nach Bakers field gefahren, so daß er vor unmittelbarer ehelicher Entdek kung sicher ist. Ich habe schon drei Rollen Film verknipst, und es ist fast Zeit, den Laden dichtzumachen. Pünktlich nähert sich auch Mr. Ohmsmeyer dem Höhepunkt seiner Lustbarkeiten; das merke ich an dem tiefer, rauher und lauter werdenden Grunzen. Sein Bass hallt durch das ganze Haus und läßt die Scheiben vibrie ren. Die beiden ineinander verschlungenen Dinos winden sich vor meinen Augen, der Rhythmus wird schneller, das Ornitho mimus-Weibchen bleckt die Zähne, die Beine fest um den Schwanz ihres Liebhabers geschlungen, streckt sich nach der Decke und beginnt zu heulen. Ihre Sandpapier-Haut wird stär ker durchblutet und verfärbt sich von Grün über Violett bis zu einem dunklen, schweißglänzenden Mahagoni. Mr. O. keucht heftig, seine Zunge schnellt in die Luft, Dampf steigt von sei nem gerippten Rücken auf, als er den Kopf zur Seite wirft, das Maul aufreißt und sich ein letztes Mal aufbäumt, um seine Lust voll auszukosten. Hinter mir ertönt ein Klappern. Metallisch und kratzend. Ich kenne dieses Geräusch. Ich kenne dieses Klappern, das vertraute Scheppern von Metall auf Metall, und es gefällt mir überhaupt nicht. Meine vorherigen Koordinationsschwierigkei ten vergessend, springe ich auf und breche durch die nächste Hecke – scheiß auf Ohmsmeyer und den Job –, Äste knacken, als ich mich durch das Unterholz wühle, ein verrückter Aben teurer, der sich einen Weg durch den Dschungel bahnt. Als ich aus dem Dickicht breche und Richtung Toreinfahrt abbiege, verliere ich beinahe das Gleichgewicht, bevor ich schließlich auf halber Strecke zwischen einem Gartenzwerg und dem schrecklichsten Anblick zum Stehen komme, den diese Augen je gesehen haben. Jemand schleppt mein Auto ab. 14
»Hey!« rufe ich. »Hey, Sie da! Ja, Sie!« Der kleine gedrungene Lkw-Fahrer blickt behende auf, als wäre sein Kopf von seinem Hals unabhängig, und zieht eine buschige Augenbraue hoch. Ich kann seinen Geruch auf zehn Meter Entfernung wahrnehmen – verfaultes Gemüse und Äthylalkohol, eine derart durchdringende Mischung, daß mir die Augen tränen. Er ist zu klein für einen Triceratops, also muß es ein Compy sein, was die Unterhaltung mindestens nervtötend machen sollte. »Ich? Ich?« krächzt er, und sein ab gerissenes Kreischen schmerzt in meinen Ohren. »Ja, Sie. Das ist mein Auto. Das da – da vorn – das ist meins.« »Dieses Auto?« »Ja«, wiederhole ich, »dieses Auto. Ich stehe nicht im Halte verbot. Sie dürfen es nicht abschleppen.« »Halteverbot? Nein, Sie stehen nicht im Halteverbot.« Ich nicke lebhaft in der Hoffnung, nonverbale Hinweise könnten der Unterhaltung auf die Sprünge helfen. »Ja, genau. Kein Schild, keine Markierung auf der Fahrbahn, nichts – also, lassen Sie meinen Wagen bitte wieder vom Haken.« »Diesen Wagen da?« »Ja, genau. Diesen Wagen. Den Lincoln. Machen Sie ihn los, und ich bin sofort hier weg.« »Das ist nicht Ihrer.« Er fährt damit fort, das Seil der Winde an meiner Vorderachse zu befestigen. Ich drehe mich zum Beifahrerfenster um, greife ins Hand schuhfach – Kaugummi, Stadtpläne, ein Streuer mit getrockne tem Oregano – und ziehe die zerknitterte Zulassung heraus. »Sehen Sie? Mein Name steht gleich hier.« Ich halte ihm das Dokument direkt unter die Nase, und er studiert es eine ganze Weile. Die meisten Compys haben eine Leseschwäche. »Das ist nicht Ihrer«, wiederholt er. Ich habe weder Zeit noch Lust, diesen beschränkten Dinosau rier in eine philosophische Debatte über das Wesen des Eigen 15
tums zu verwickeln, weshalb mir ein wenig Einschüchterung angebracht erscheint. »Das sollten Sie lieber lassen«, erkläre ich ihm mit einem verschwörerischen Flüstern. »Ich habe ein paar ziemlich einflußreiche Freunde.« Ein nackter Bluff, aber was weiß denn schon ein Procompsognathus! Er lacht, der kleine Affenficker, ein Glucksen wie von einer gluckenden Henne, und schüttelt den Kopf hin und her. Ich erwäge eine kontrollierte Körperverletzung und einen kleinen tätlichen Angriff, aber ich bin in den letzten Monaten schon oft genug mit dem Gesetz in Konflikt geraten, ohne daß ich der Liste meiner Verfehlungen auch noch diesen Zusammenstoß hinzufügen muß. »Ich weiß Bescheid über Sie«, sagt der Compy. »Ich weiß je denfalls, was ich wissen muß.« »Was? Sie haben – hören Sie – ich brauche diesen Wagen zum Arbeiten –« Plötzlich geht die Haustür auf der anderen Straßenseite auf, und Mr. Ohmsmeyer, der sich in Rekordzeit wieder verkleidet haben muß, marschiert zielstrebig durch den Vorgarten. Wirk lich beeindruckendes Tempo, wenn man bedenkt, daß die mei sten von uns mindestens zehn, fünfzehn Minuten brauchen, um nur das grundlegendste menschliche Make-up auf- und den Polyanzug anzulegen. Immerhin ist die D-9-Klammer über seiner linken Brust offen – ich kann sie durch seine Verklei dung erkennen –, doch das würde ein Säugetier niemals be merken. Seine Augen zucken nervös, geradezu paranoid hin und her, als ob er die dunkle Straße nach einer Spur seiner lie benden Gattin absucht. Vielleicht hat er meinen überstürzten Abgang durch das Gebüsch gehört; vielleicht habe ich seinen Höhepunkt unterbrochen. »Was, zum Teufel, ist denn hier los?« knurrt er, und ich will gerade etwas antworten, als der Lkw-Fahrer mir einen Zettel in die Hand drückt. Darauf steht in fetter, 20 Punkt großer Schrift BYRON ÜBERFÜHRUNGEN UND WIEDERINBESITZ 16
NAHMEN, darunter eine Telefonnummer und einige Beispiele für günstige Ratenzahlung. Ich blicke auf, einen Schwall em pörter Antworten auf den schaumbedeckten Lippen. Doch dann muß ich feststellen, daß der Compy schon in sei nem Lkw sitzt, den Motor angelassen hat und meinen Wagen anzieht. Ich mache einen Satz auf das offene Fahrerhäuschen zu – fast hätte ich unwillkürlich die Krallen ausgefahren –, und der Compy schlägt mir die Tür vor der Nase zu. Der Wichser grinst mich höhnisch durch die Scheibe an, seine kantigen Ge sichtszüge provozieren mich förmlich, mich vor den Laster zu werfen, um mein Leben für das meines Autos hinzugeben, was in Los Angeles keineswegs völlig ungewöhnlich ist. »Wenn Sie der Bank ihr Geld zahlen«, krächzt er durch das geschlos sene Fenster, »kriegen Sie Ihr Auto zurück.« Er legt mit einem Ruck seines knochigen Arms den ersten Gang ein, der Laster holpert davon und zieht meinen geliebten Lincoln Continental Mark V hinter sich her. Als die Rücklichter des Abschleppwagens schon eine ganze Weile in der Nacht verschwunden sind, starre ich immer noch die Straße hinunter. Ohmsmeyer reißt mich aus meinen Träumen. Er starrt auf meine Beine, genauer, auf meine schlammbespritzte Hose. Ei ne träge Zorneswelle legt seine Stirn in Falten. Ich grinse in einem Versuch, jeden Groll im Keim zu ersticken. »Ich könnte wohl nicht mal Ihr Telefon benutzen?« »Sie waren in meinen Büschen –« »Also eigentlich –« »Sie waren am Fenster –« »Ich würde gern etwas klarstellen –« »Wofür brauchen Sie, verdammt noch mal, eine Kamera?« »Nein, Sie – Sie sehen das ganz falsch –« Weiter komme ich nicht, bevor mich ein blitzschneller Schlag in den Magen zusammensacken läßt. Es ist ein feder gewichtiger Klaps, mehr nicht, aber von der Mischung aus ei 17
nem laschen Haken und fünf Zweigen Basilikum wird mir er neut schlecht, und ich bin drauf und dran, auch die andere Hälfte meines Abendessens loszuwerden. Ich weiche zurück und deute mit erhobenen Händen meine Bereitschaft zur Kapi tulation an. Das hilft auch gegen die Übelkeit. Verdammt, ich könnte mich wehren – diesen Buchhalter würde ich selbst in voller Montur fertigmachen, und ohne die ganzen Schnallen, Riemen und Gürtel könnte ich zweieinhalb Iguanodons verdre schen, daß ihnen die teerige Puste wegbleibt –, doch die Erei gnisse des Abends haben für mich ihren Reiz verloren, und ich würde den Festlichkeiten gern ein Ende machen. »Was, zum Teufel, glaubst du, wer du bist?« fragt er, über mir stehend, bereit, den nächsten flinken Hieb zu verteilen. »Ich kann dich von hier aus riechen. Ein Raptor, stimmt’s? Ich hätte nicht übel Lust, dich dem Rat zu melden.« »Sie wären nicht der erste«, sage ich und richte mich auf, so daß ich dem Burschen in die Augen sehen kann. Was soll’s – morgen sind die Fotos entwickelt, also kann ich dem armen Trottel auch einen juristischen Vorsprung geben. Ich strecke meine Hand aus, die der Iguanodon zu meiner Überraschung ergreift und schüttelt. »Mein Name ist Vincent Rubio«, sage ich, »und ich bin Privatdetektiv. Ihre Frau hat mich engagiert. An Ihrer Stelle, Mr. Ohmsmeyer, würde ich mir einen guten Scheidungsanwalt suchen.« Schweigen, während der Dinosaurier erkennt, daß er erwischt worden ist, und zwar vom Besten, den es gibt. Ich zucke die Achseln und schenke ihm ein dünnes Lächeln. Doch als er die Stirn runzelt, fällt mir auf, daß das nicht der passende Ge sichtsausdruck für Angst, Wut, Verrat oder irgendeine andere Gefühlsregung ist, die ich erwartet hatte. Dieser Typ ist einfach nur … verwirrt. »Ohmsmeyer?« sagt er, während der Groschen langsam fällt. »Oh, Sie sind hinter Ohmsmeyer her? Der wohnt nebenan.« Es ist eine herrlich laue Nacht. Ich beschließe, zu Fuß nach 18
Hause zu gehen. Vielleicht werde ich ja überfallen. Auf dem Fenster steht immer noch WATSON & RUBIO, PRIVATE ERMITTLUNGEN, obwohl Ernie schon seit neun Monaten tot ist. Das ist mir egal. Ich werde es nicht ändern lassen. Ein paar Wochen nachdem Ernie sich von dieser Welt verabschiedet hatte, kam irgendein Arschloch von der Haus verwaltung, um das WATSON abzukratzen, aber ich habe ihn mit einem Besenstiel und einer zerbrochenen Rumflasche ver trieben. Gut, daß Alkohol bei mir nicht anschlägt, sonst wäre ich noch wütender gewesen – es war teurer Rum. Im Büro hängt wie jedesmal, wenn ich nach einer MarathonBeschattung zurückkomme, ein vertrautes Aroma von muffi gem Teppich, Altersheim und Wäsche, die jemand vergessen hat, in den Trockner zu stecken. Was erstaunlich ist, wenn man bedenkt, daß sie den Teppich wegen ausstehender Raten schon vor zwei Monaten abgeholt haben. Aber egal wie gründlich ich desinfiziere, bevor ich zu einer Reise aufbreche, diese ver dammten Bakterien finden immer einen Weg, sich zu sammeln, zu teilen und jeden Quadratzentimeter des Büros zu verseu chen. Eines Tages werde ich die kleinen Biester erwischen. Es hat noch nicht das Ausmaß einer persönlichen Vendetta ange nommen, weil es schwer ist, einen Groll gegen einzellige Or ganismen zu hegen, aber ich bemühe mich nach Kräften, die nächste Ebene zu erreichen. Noch schlimmer ist, daß ich vor meinem Aufbruch vergessen habe, den Müll runterzubringen, außerdem sind die Räume kalt wie ein Gletscher aus dem Mesozoikum. Offenbar habe ich die ganze Zeit die verdammte Klimaanlage laufen lassen, und ich will gar nicht darüber nachdenken, wie sich das auf meine Stromrechnung auswirken wird. Ich bin schon froh, daß sie mir den Strom nicht ganz abgestellt haben; als das das letzte Mal passiert ist, hat natürlich auch mein Kühlschrank den Geist aufgegeben, und mein Basilikum ist sauer geworden, doch ich 19
war schon so high, daß ich es erst gemerkt habe, als es schon zu spät war. Wenn ich an den folgenden Horrortrip denke, kriege ich noch heute eine Gänsehaut. Apropos Rechnungen, offenbar bin ich der glückliche Ge winner von mindestens zwei Dutzend Exemplaren, die alle prompt auf dem wachsenden Berg auf dem Fußboden landen. Auch die eine oder andere Wurfsendung ist dazwischen, und ein Coupon für eine Teppich-Dampfreinigung, doch der Hau fen besteht hauptsächlich aus zornigen Sendschreiben auf hell rosa Papier, wortreichen juristischen Dokumenten, die mein finanzielles Wohlbefinden bedrohen. Die Ebene von »Bitte überweisen Sie spätestens bis zum« und Kreditinstitut-internen Zahlungserinnerungen habe ich schon lange hinter mir. Wir reden hier von Rechtsanwälten und blanker Wut, und es erfor dert eine Menge Konzentration, beides nicht zu beachten. Das einzig Gute an meiner desolaten Bonität ist, daß ich nicht mehr ständig Angebote für Platin-Karten bekomme. Oder GoldKarten. Oder überhaupt irgendwelche Karten. Ein blinkendes Licht. Der Anrufbeantworter, einst ein nützli ches, sogar geschätztes Bürogerät, verhöhnt mich aus der ande ren Ecke des Raumes. Ich habe acht – nein, neun – nein, zehn! – Nachrichten bekommen, und jeder rote Punkt sagt mir, daß ich erledigt bin – blink – erledigt – blink – erledigt. Ich könnte natürlich das Kabel aus der Wand ziehen, digitale Euthanasie sozusagen, aber wenn man sich von seinen Dämonen abwen det, verschwinden sie nicht einfach, wie Ernie mir immer er klärt hat – man macht es ihnen nur leichter, einem in den Rük ken zu fallen. Ich löse die unter meinem Handgelenk versteckten Knöpfe, ziehe die Handschuhe aus und fahre meine Krallen aus. Meine lange Unterkralle neigt sich in einem beunruhigenden Winkel abwärts, und ich sollte damit wohl zur Maniküre gehen, doch die Preise sind in letzter Zeit wirklich maßlos geworden. Und in dem Salon lassen sie sich nicht darauf ein, daß ich als Ge 20
genleistung kostenlos für sie ermittle. Ich drücke zögernd auf PLAY. Piep: »Mr. Rubio, hier ist Simon Dunstan von der First Na tional Hypobank. Ich habe Ihnen eine Kopie der Zwangsvoll streckungsunterlagen aus unserer Rechtsabteilung zukommen lassen –« Löschen. In meinen Schläfen breitet sich ein stechen der Kopfschmerz aus. Instinktiv gehe ich zur Kochnische in der vorderen Ecke des Büros. Der Kühlschrank scheint sich wie von selbst zu öffnen, und im oberen Regal wartet ein hübscher Klumpen Basilikum auf mich. Ich kaue. Piep: »Hey, Vinnie. Charlie.« Charlie? Ich kenne keinen Charlie. »Erinnerst du dich noch an mich?« Eigentlich nicht. »Wir haben uns letztes Jahr Silvester im Fossil Fuels Club in Santa Monica kennengelernt.« Vage Erinnerungen an Licht, Musik und die reinsten Kiefernnadeln, die meine Geschmacks nerven je zum Blühen gebracht haben, geistern durch meinen Kopf. Dieser Charlie – vielleicht ein weiterer Velociraptor? Und sein Job … er war ein – ein – »Ich arbeite für den Senti nel, weißt du noch?« Ach ja. Der Reporter. Soweit ich mich erinnere, ist er mit meinem Mädchen abgezogen. »Wie dem auch sei«, fährt er fort und verschwendet wertvol len digitalen Platz auf dem Speicher meines Anrufbeantwor ters, »ich dachte, weil wir doch alte Kumpel sind und so, könn test du mir einen kleinen Knüller über deinen Rausschmiß aus dem Rat liefern. Ich meine, jetzt wo dein Verweis öffentlich geworden ist – um der guten alten Zeiten willen, was, Kum pel?« Es ist schon schlimm genug, schwachsinnig zu sein, aber ein gefährlicher Irrer ist noch schlimmer. Die Erwähnung des Rates oder irgendeines anderen saurierspezifischen Themas in einer Umgebung, in der ein Mensch zufällig mithören könnte, ist absolut tabu. Ich drücke auf Löschen und massiere meine Schläfen. Diese Migräne läßt sich reichlich Zeit, bis sie auf meiner Matte steht, aber es sind gerade diese Langsamstarter, die dann mit voller Wucht zuschlagen, wenn sie an deine Haus 21
tür pochen. Piep: Klick. Aufgelegt. So was liebe ich – die besten Nach richten sind keine Nachrichten. Sie sind absolut unbestreitbar nicht zu beantworten. Piep. »Hallo. Bitte rufen Sie American Express unter der Nummer –« Okay, eine Nachricht auf Band, das ist nicht schlimm. Erst wenn sie ihre Möglichkeiten im direkten Kon takt lange erschöpft haben, fangen sie an, einem wirklich zuzu setzen. Löschen. Piep. »Mein Name ist Julie, ich rufe für American Express an und suche einen Mr. Vincent Rubio. Bitte rufen Sie mich so schnell wie möglich –« Verdammt. Löschen. So geht es noch drei, vier Nachrichten weiter, knappe, präzi se Reden, in denen unverhohlene Drohungen mitschwingen. Ich will mich gerade auf das ungefederte Sofa in der Ecke schmeißen und ein dreckiges Kissen wie ein riesiges Paar Ohr schützer um meinen Kopf wickeln, als eine bekannte Stimme durch die Litanei der Bösartigkeit dringt. Piep. »Vincent, ich bin’s, Sally. Von TruTel.« Sally! Eines der wenigen menschlichen Wesen, die ich widerwillig mögen gelernt habe, und obwohl sie natürlich durch ihre erbärmliche genetische Struktur behindert ist, ist sie in der Szene ziemlich bewandert. Nicht, daß sie von uns wüßte – keiner von ihnen hat den leisesten Schimmer von unserer Existenz –, aber sie ist trotzdem einer der am wenigsten unangenehmen Neandertaler, mit denen ich Umgang pflegen muß. »Ist lange her, was? Ich habe eine Nachricht … oder besser, eine Bitte an dich, von Mr. Teitelbaum, und er – er würde dich gern im Büro treffen. Mor gen.« Ihre Stimmlage sinkt ebenso wie ihre Phonstärke be trächtlich, als sie offenkundig ins Telefon flüstert: »Ich glaube, es geht um einen Job, Vincent. Ich glaube, er hat einen Fall für dich.« Darüber lohnt es sich nachzudenken, diese letzte Nachricht hat irgend etwas Gutes an sich, aber mein Gehirn ist zu be 22
schäftigt damit, gegen die Schmerzen anzukämpfen, die be schlossen haben, einen ausgedehnten Urlaub auf meinen Sy napsen zu verbringen. Ich spare mir den Rest der Nachrichten für einen Zeitpunkt auf, an dem entweder keine Migräne droht oder ich einen höheren Basilikumspiegel habe, und taumele in Richtung Sofa. Der Schmerz hat gerade begonnen, sich vom Mittelpunkt meines Kopfes auszubreiten, und marschiert mit raumgreifenden, federnden Schritten auf meine Ohrläppchen zu. In meinem Gehirn ist eine wilde Party im Gange, sechs Rock-Bands und drei Tanzflächen, und ich bin der einzige, der nicht eingeladen ist. Es gibt nur Stehplätze, Kinder, und hört auf, gegen die Wand zu hämmern. Es ist Zeit, sich hinzulegen. Zeit, schlafen zu gehen. Ich träume von einer Zeit, als ich noch zum Rat gehörte, von einer Zeit, als Raymond McBride nur der Name eines toten Industriellen war, von einer Zeit, in der Ernie noch nicht von einem unfallflüchtigen Taxi überfahren worden war, von einer Zeit, als ich noch nicht von Basilikum abhängig war und nicht auf der schwarzen Liste stand, die mich von jedem Ermitt lungsauftrag der Stadt ausschließt. Ich träume von einer Zeit der Produktivität und des Sinns, einer Zeit, in der ich noch ei nen Grund hatte aufzustehen und jeden neuen Morgen zu be grüßen. Ich träume von dem alten Vincent Rubio. Und dann verändert sich die Szenerie, die Tage von Honigtau und blauen Himmeln weichen einer in Rot gehüllten Schlacht, die sich durch die gesamte moderne Saurier-Population zieht, Stegosaurier und Brontos, die aufeinander eindreschen, Tri tops-Hörner, die sich in die Flanken von Iguanodons bohren, Compys, die winselnd und wie versteinert in dunklen Gassen kauern, und inmitten all dessen eine Frau – ein Mensch –, ihr volles Haar wild zerzaust, die Augen vor Leidenschaft und Erregung leuchtend, die Fäuste im wohligen Kitzel geballt an gesichts des strahlenden, lodernden Kranzes aus wütender Ge 23
walt, der ihren zerbrechlichen Körper umgibt. Ich träume, daß ich auf die Frau zugehe und sie frage, ob sie möchte, daß ich sie aus diesem Gemetzel herausführe, worauf sie lacht und mich auf die Nase küßt, als wäre ich ihr liebstes Haustier oder ein Teddybär. Ich träume, daß die Frau ihre Fingernägel mit einer Nagelfei le schärft, sich auf die Hinterläufe erhebt und sich lachend in den Haufen sich windenden Dinosaurierfleisches stürzt.
2 Am nächsten Morgen erwartet Teitelbaum mich bereits, wie ich es mir gedacht hatte; ich kann seine massige Silhouette durch die Glasbausteine erkennen, aus denen die Außenwand seines Büros besteht. Er verläßt seinen Eichenholzschreibtisch nie, selbst im Katastrophenfall nicht – egal, um welche Krise es sich handelt, die gesamte Belegschaft muß sich stets in diesem protzigen Raum versammeln, der angefüllt ist mit dem Ge schmacklosesten, was man in Flughafenshops für Geld erwer ben kann: eine mit einem Gemälde der hawaiischen Inseln ver zierte Kokosnuß, ein Handtuch mit der maschinengestickten Aufschrift ICH WURDE SAUBER AUSGENOMMEN IN LAS VEGAS, ein Eiswürfeltablett in Form des australischen Kontinents. Und da es nur zwei Besucherstühle gibt, muß das gesamte Büropersonal während seiner legendären epischen Reden auf dem Boden sitzen, an der Wand lehnen oder versu chen aufrecht zu stehen. Das Ganze ist absolut erniedrigend, und ich bin mir sicher, daß Teitelbaum es genau so haben will. Außerdem würde es mich nicht überraschen zu erfahren, daß er endgültig in seinem Lederchefsessel festklemmt, der große … dicke … Fettsack. Aber das gehört nicht zur Sache, und es ist offensichtlich unfair, einen Tyrannosaurus Rex wegen sei ner Gewichtsprobleme zu kritisieren. Ich bin sicher, unter all 24
dem Fett verbergen sich noch ein paar Muskelstränge, und je der weiß, daß Muskeln schwerer sind als Fett. Oder war Was ser leichter als Muskeln? Was soll’s – wie man es auch be trachtet, Teitelbaum ist ein alter Fettwanst, und das sage ich gern noch einmal: Fettwanst! Ich bin leicht angeschickert, weil ich mir dachte, daß es we der moralisch richtig noch geistig vernünftig gewesen wäre, stocknüchtern oder aber sternhagelvoll aufzukreuzen, und die ser milde Glimmer paßt mir ganz gut. Die Außenwelt fließt mit Dreiviertel der Originalgeschwindigkeit an mir vorbei, genau das richtige Tempo, um alle relevanten Einzelheiten aufzu nehmen, während man jedes Gefühl von Feindseligkeit auslas sen oder ignorieren kann. Die Sekretärinnen im Vorzimmer blicken erstaunt auf, als ich an ihnen vorbeigehe, und ich höre meinen Namen als leises Flüstern in den Fluren widerhallen. TruTel ist die größte private Detektei in Los Angeles – die zweitgrößte in Kalifornien – und war, bis ich mich im großen Stil in die Scheiße geritten habe, einer meiner regelmäßigen Auftraggeber. Als Ernie noch lebte, wurden wir oft für Fälle hinzugezogen, die knallharte, absolut verschwiegene Schnüffe lei erforderten. Ein paar der Jobs bewegten sich hart am Rande der Legalität, Aufträge, die die Firma nicht über die Bücher laufen lassen konnte, was sich richtig bezahlt machte. Wenn man mit TruTel Geschäfte machen will, muß man natürlich mit Teitelbaum verhandeln, und das ist eine ganz andere Geschich te. Er liebt es, uns Privatdetektiven Fälle hinzuwerfen und dann zuzusehen, wie wir für ein lächerliches Honorar aufeinander losgehen wie die Kampmähne, aber wenn man in der Branche seinen Weg machen will, muß man eben manchmal Kotau ma chen und für einen T-Rex lächeln. Zeit, sich ins Allerheiligste vorzuwagen. »Morgen, Mr. Teitelbaum«, sage ich, nur ein kleines bißchen lallend, als ich übertrieben schwungvoll sein Büro betrete. »Sie sehen … gut aus. Haben Sie abgenommen?« Meine Beine sind 25
wieder unter Kontrolle, meine Füße sind wieder unter Kontrol le, mein ganzer Körper ist wieder unter Kontrolle. »Sie sehen beschissen aus«, grunzt Teitelbaum und bedeutet mir, Platz zu nehmen, ein Angebot, das ich dankbar annehme. Dem Klatsch nach, den ich im Foyer aufgeschnappt habe, hat der Big Boss von TruTel, dessen menschliche Verkleidung wie eine Kreuzung zwischen Oliver Hardy und einem empfin dungsfähigen Schweißklumpen aussieht, den größten Teil der Woche mit einem neuen Spielzeug zugebracht, das vor mehr als acht Tagen geliefert wurde und das er noch immer nicht zum Laufen gebracht hat: Auf einer Ecke von Teitelbaums Schreibtisch steht eines dieser Gestelle mit vier Metallkugeln, die mit Angelschnur an einen Balken geknotet sind. Wenn man die äußere Kugel anhebt und sie gegen die anderen prallen läßt, kann man die Wunder Newtonscher Physik bestaunen, wäh rend die Kugeln stundenlang hin und her klicken. Teitelbaum hingegen hat höchstwahrscheinlich noch nie von Newton und womöglich noch nicht einmal von Physik gehört und versucht nach wie vor, die genaue Funktionsweise seines neuen Spiel zeugs zu ergründen. Er knurrt und haucht es an, schiebt es mit seiner rauhen, unbeholfenen Pranke hin und her, obwohl er mit seinen dürren Armen kaum über die Schreibtischplatte greifen kann. »Verzeihung –« sage ich, seinen höchstwissenschaftlichen Versuch unterbrechend. »Darf ich?« Ohne eine Antwort abzu warten, strecke ich die Hand aus, greife eine der silbernen Ku geln und lasse sie wieder los. Das Spielzeug setzt sich mit ei nem gleichmäßigen Klick-Klack in Bewegung, das in der Stille des Büros widerhallt. Teitelbaum starrt die Kugeln ehrfurchtsvoll an, klick-klack klick-klack, sein Gargantua-Kiefer steht weit offen, klickklack-klick. Er hatte ein Schaf zum Frühstück, ich kann noch das Fell auf seinen Backenzähnen erkennen. Schließlich findet der Schwachkopf seine Fassung wieder, obwohl er offensicht 26
lich darauf brennt, mich zu fragen, mit welch wundersamer Magie ich die Maschine in Gang gesetzt habe. »Mitbringsel vom Flughafen in Peking«, sagt er und umgeht das Thema seiner Ignoranz weiträumig. »Cathy hatte geschäft lich in Hunan zu tun.« Eine fette Lüge. Cathy ist eine von Tei telbaums Sekretärinnen, und das einzige, was sie jemals ge schäftlich zu tun hat, sind Ausflüge um die ganze Welt, um in Souvenirläden Nippes für Mr. Teitelbaum zu kaufen, damit der sich weltgewandt und kultiviert fühlen kann, ohne die Sicher heit, die Bequemlichkeit und die Polsterung seines Schreib tischsessels verlassen zu müssen. Und da Teitelbaum alle Flug tickets auf seinen Namen laufen läßt, kann das arme Mädchen nicht einmal Bonus-Meilen einstreichen. Cathys aktuelles Jah resgehalt liegt (wie ich weiß, weil ich vor einigen Jahren ein mal auf den Geschäftsbericht gelinst habe) bei knapp über dreißigtausend Dollar, und da sie zehn Monate im Jahr unter wegs ist, mußte Teitelbaum eine weitere Sekretärin einstellen – an dieser Stelle kommt Sally ins Spiel –, die den eigentlichen Papierkram erledigt, der durch seine schmierigen Hände geht. Deshalb kostet Teitelbaums Sekretariat die Firma mehr als sechzigtausend Dollar pro Jahr, was wiederum bedeutet, daß seine Privatschnüffler-Knechte soundsoviele unbezahlte Über stunden abreißen müssen, um die zusätzlichen Kosten auszu gleichen. Und alles nur, damit der ehemals glorreiche König von Hamilton High sich Andenken kaufen lassen kann, für deren Bedienung er dann zu blöd ist. »Sehr hübsch«, versichere ich ihm. »Es glänzt schön.« Ich bin froh, daß er zu beschränkt ist, um zu merken, wenn ich ihn hochnehme. »Eine Frage, Rubio«, knurrt Teitelbaum und lehnt sich in seinen Sessel zurück, daß seine fleischigen Hüften über das Seitenpolster quellen. »Sind Sie betrunken?« »Das ist aber eine ziemlich direkte Frage.« »Genau. Sind Sie betrunken? Ziehen Sie sich immer noch 27
dieses Basilikum-Zeug rein?« »Nein.« Er schnuppert und versucht mir in die Augen zu sehen, doch ich weiche seinem Blick aus. »Nehmen Sie Ihre Kontaktlinsen raus«, sagt er. »Ich will Ihre echten Augen sehen.« Ich schiebe den Stuhl zurück und mache Anstalten aufzuste hen. »Das muß ich mir nicht anhören –« »Setzen Sie sich, Rubio, setzen Sie sich. Mir ist es scheiß egal, ob Sie betrunken sind oder nicht, aber Sie haben keine andere Wahl, als mir zuzuhören. Ich kenne Leute aus Inkasso büros. Ich kenne Leute von der Bank. Sie haben keinen Cent mehr.« Er scheint diese kleine Rede zu genießen, was mich nicht überrascht. »Wollen Sie auf irgendwas Bestimmtes hinaus?« frage ich. »Ich will darauf hinaus, daß ich Sie hier überhaupt nicht rein lassen muß!« »Ehrlich gesagt«, erwidere ich, »war ich selbst ein wenig überrascht –« »Sie quatschen zu viel. Vielleicht habe ich ein bißchen Geld für Sie. Vielleicht. Vielleicht kann ich Ihnen einen Job zu schanzen, weiß der Himmel, warum. Wenn – und das ist ein großes Wenn, Rubio – wenn Sie dafür bereit sind. Wenn Sie es nicht vermasseln und mich reinreiten wie beim letzten Mal.« Die Kugeln auf Teitelbaums Schreibtisch zittern ein letztes Mal in einer Art metallischem Summen, bevor sie stehenblei ben. Teitelbaum starrt mich böse an, und ich strecke den Arm aus, um sie für ihn wieder in Gang zu setzen, offenbar eine meiner neuen Pflichten als potentieller Angestellter. Ich hoffe nur, daß die regelmäßige Inbetriebnahme dieser Apparatur nicht der Job ist, den er im Sinn hat. Das Traurige ist, ich könn te ihn annehmen. »Für diese Gelegenheit wäre ich sehr dankbar«, erkläre ich Teitelbaum und versuche jede Widerborstigkeit aus meiner vor Unterwürfigkeit klebrigen Stimme zu tilgen. 28
»Natürlich wären Sie das. Achtzig Mietschnüffler in der gan zen Stadt wären dankbar für so eine Gelegenheit. Aber diesen Ernie habe ich nicht gehaßt« – für Teitelbaum kommt das einer wahren Liebeserklärung gleich – »also werde ich Ihnen diese Chance geben. Außerdem habe ich keine andere Wahl. Gott steh mir bei, ich habe in diesem Büro neunzehn Idioten, die sich Detektiv schimpfen, und jeder einzelne ist mit irgendei nem beschissenen Fall beschäftigt und schindet Stunden, um ein paar Dollar zusätzlich zu kassieren. Und genau in diesem Moment kommt ein Fall mit knappem Zeitlimit rein, und an wen muß ich mich wenden – an einen abgehalfterten Säufer, der Komplexe wegen seines toten Partners hat.« »Danke.« »Hören Sie, ich brauche Garantien. Als Sie das letzte Mal in einem Fall ermittelt haben, haben Sie die Grenze über-« »Es wird nicht so sein wie beim letzten Mal«, unterbreche ich ihn. »Ich brauche Ihre Garantie. Garantieren Sie mir, daß das, was ich sage, auch passiert? Sie werden keine Befehle ignorieren und keinen Ärger mit den Bullen anfangen. Wenn ich Ihnen sage, geben Sie den Fall auf, dann geben Sie ihn auf. Sind wir uns bis hier einig?« »Es wird nicht so sein wie beim letzten Mal«, wiederhole ich. »Bestimmt nicht.« Sein Tonfall wird kaum merklich weicher, von Granit zu Sandstein. »Ich kann verstehen, wie das für Sie war. Daß Ernie bei einem solchen Auftrag umgekommen ist. Wenn man zehn Jahre mit einem Typen zusammenarbeitet –« »Zwölf.« »Zwölf Jahre, so was macht einen fertig. Das verstehe ich. Aber es war ein Unfall, nicht mehr und nicht weniger. Der Typ wurde von einem Taxi überfahren, in New York wimmelt es von Taxis –« »Aber Ernie war vorsichtig –« »Fangen Sie nicht wieder mit dem Mist an. Er war vorsichtig, 29
ja, aber diesmal nicht. Und herumzurennen, die Bullen zu belä stigen und das Maul über irgendwelche seltsamen Verschwö rungen aufzureißen, macht einen nicht gerade beliebter.« Er wartet ab, ob ich etwas erwidere. Ich entscheide mich dagegen. »Es ist vorbei, erledigt. Schluß, aus, fertig.« Teitelbaum schürzt die Lippen, und sein Gesicht zieht sich zusammen, als hätte er sich intravenös eine Zitrone gespritzt. »Deshalb muß ich wissen, ob Sie drüber weg sind? Über alles – Ernie, McBri de …« »Drüber weg? Ich meine, ich – nein, ich – sie sind tot, stimmt’s? Also …« Nein, will ich schreien, ich bin nicht drüber weg! Wie kann man verdammt noch mal von mir erwarten, daß ich meinen Partner vergesse und zusehe, wie der Tod meines einzigen Freundes ungeklärt zu den Akten gelegt wird? Ich will ihm sagen, daß ich in der Vergangenheit rumgeschnüffelt habe und es auch wieder tun werde, wenn ich die Chance bekomme. Ich will ihm sagen, scheiß auf den Rausschmiß aus dem Rat und alle schwarzen Listen, auf die man mich gesetzt hat, ich werde bis zum letzten Atemzug weiter nach Ernies Mörder suchen. Doch das war der Vincent Rubio der letzten neun Monate, und Wut und Groll haben diesem Vincent nichts eingebracht, außer sechzehn Pfund Mahnungen, angedrohte Zwangsvoll streckungen und eine teure Basilikum-Sucht. Ich habe kein Geld, keine Zeit und niemanden, an den ich mich wenden könnte, also setze ich mein strahlendstes Grinsen auf und sage: »Klar, ich bin drüber weg.« Der Tyrannosaurus bringt die klickenden Metallkugeln mit einem verkümmerten Finger zum Schweigen und starrt mich an. »Gut. Sehr gut.« Stille surrt durch den Raum. »Apropos, haben Sie irgendwas über irgendwelche Bußgelder des Rates gehört?« »Ich bin nicht mehr Mitglied des Rates, Sir.« Als ich es noch war, hat Teitelbaum ständig versucht, Informationen aus mir 30
herauszuquetschen. Für ihn war es stets einer massiven Krän kung gleichgekommen, daß einer seiner Angestellten einen Sitz im südkalifornischen Rat hatte, daß ich über die Politik mitent scheiden konnte, die sein alltägliches Leben bestimmte. Für mich war es jedesmal ein innerer Vorbeimarsch, an dem ich mich aufrichten konnte. »Nach den Ereignissen in New York haben sie … sie haben mich aus dem Rat gewählt.« Er nickt. »Ich weiß, daß Sie raus sind, ich mußte bei den Sit zungen als Zeuge aussagen. Aber Sie haben doch noch immer Freunde –« »Eigentlich nicht«, sage ich. »Nicht mehr.« »Verdammt, Rubio, Sie müssen doch irgendwas über die Bußgelder gehört haben.« Ich zucke die Schultern und schüttele den Kopf. »Die Bußgelder für McBride –« »Er ist tot.« »Dann eben ein Titel auf sein Erbe. Wegen dieser Men schengeschichte.« »Diese Menschengeschichte«, wiederhole ich. Ich weiß ge nau, wovon er redet, stelle mich jedoch ahnungslos. »Kommen Sie, Rubio«, sagt er, »Sie waren im Rat, Sie wuß ten, was los war. McBride hatte eine Affäre mit dieser … die ser …« – seine Schultern, wenn man sie so nennen wollte, zit tern vor Ekel – »dieser Menschenfrau.« Damit liegt er goldrichtig, aber das darf ich ihm nicht sagen. Raymond McBride, ein Carnosaurus, der aus dem Nichts des mittleren Westens in die Dino-Szene geplatzt und binnen we niger kurzer Jahre zu großem finanziellem Ansehen gekommen war, hatte tatsächlich eine Reihe von Affären mit menschlichen Frauen gepflegt. Und das sind keine Vermutungen, sondern Fakten. Wir wissen das aus einer ganzen Sammlung beeidigter Zeugenaussagen, die den Ratsmitgliedern bei einer offiziellen Anhörung zusammen mit reichlich Indizien in Gestalt von heimlich aufgenommenen Fotos präsentiert wurden, die J&T 31
Enterprises gemacht hatte, die größte Firma für private Ermitt lungen in New York und zufällig das Schwesterunternehmen von TruTel an der Ostküste. McBride war ein vollendeter Playboy, der bekanntermaßen trotz seiner intakten und langjährigen Ehe die weiblichen Mit glieder unserer Spezies schon immer mit unglaublichem Erfolg umworben hatte, weshalb sich die Nebenarme seines Stamm baums angeblich von der Ost- bis zur Westküste und mögli cherweise sogar bis nach Europa erstreckten. Er besaß ein Apartment an der Park Avenue, ein Haus auf Long Island und ein »Ferienhäuschen« hier draußen in Pacific Palisades, ganz zu schweigen von seinen beiden Casinos in Vegas und Atlantic City. Seine scharfen und von Natur aus klassischen Carnosaurier-Züge wurden täglich von einem Team professioneller Aus statter maskiert, die problemlos selbst den reptilienhaftesten aller Dinosaurier wie einen perfekten Menschen erscheinen lassen konnten, eine Aufgabe, die uns anderen zahllose Stun den des Schmerzes und der Enttäuschung bereitet. Kurzum, Raymond McBrides Leben war gesegnet. Deshalb weiß auch niemand, warum er sich entschlossen hat te, in einen anderen Populationspool zu tauchen – vielleicht war er unserer Art überdrüssig, des Eierlegens und endlosen Wartens darauf, daß die Schale springt, denn seine Ehe war in der Tat kinderlos geblieben. Vielleicht wollte er seine fleischli chen Fertigkeiten an einer anderen Rasse verfeinern, denn er war wahrhaft ehrgeizig. Vielleicht hatte er auch, wie viele ge neigt sind zu glauben, ein Dressler-Syndrom entwickelt, das heißt, er hielt sich für einen echten Menschen und konnte gar nicht anders, als den Freuden des Säugerfleisches zu verfallen. Vielleicht fand er die Mäuschen auch einfach nur schnuckelig. Was auch immer, Raymond McBride hatte jedenfalls gegen die allererste Regel verstoßen, die galt, seit sich der Homo habilis zum ersten Mal auf den Schauplatz des Geschehens geschleppt hatte: Es war absolut verboten, sich mit einem Menschen zu 32
paaren. Doch jetzt ist er tot, vor fast genau einem Jahr in seinem Bü ro ermordet, was sollte es also bringen, dem armen Kerl jetzt noch Bußgelder aufzubrummen? Ein Klopfen an der Tür bewahrt mich vor weiteren Fragen über Ratssitzungen zum Thema McBride, deren Verlauf mir nicht mehr bekannt ist. Teitelbaum bellt »Was?«, und Sally steckt ihren Kopf in sein Büro. Sie hat wirklich etwas Mausar tiges. Spitze Nase, strähnige Haare, blasse Haut. Wenn ich nicht wüßte, daß sie ein Mensch ist – kein Geruch, und außer dem hatte ich sie noch nie in einem der Dino-Schuppen in der Stadt gesehen –, hätte ich sie binnen zwei Sekunden als Compy abgestempelt. »London auf Leitung drei«, piepst sie. Sally ist ein tolles Mädchen und ein echt prima Kumpel, aber in Teitelbaums Anwesenheit schrumpft sie zusammen wie ein trockener Schwamm. »Gatwick Souvenir-Shop?« fragt Teitelbaum und zappelt in kindischer Vorfreude mit den Händen. Wenn er nicht so widerlich wäre, würde ich es vielleicht sogar rührend finden. »Sie haben die Tower-of-London-Zahnstocher gefunden, die Sie haben wollten.« Sally wirft mir ein kurzes Lächeln zu, dreht sich um und huscht aus dem Zimmer; Mission erfüllt. Ein präziser Vorstoß in das Territorium ihres Chefs: rein und wie der raus in sechs Sekunden! Gut gemacht. So viel Glück müßte ich mal haben. Teitelbaum atmet schwer, ein abgerissenes, Papier zerfetzen des Knurren, das sich in einem leisen Pfeifen verliert, als wür de man einem Ballon die Luft ablassen, und greift linkisch nach dem Telefon auf seinem Schreibtisch. »Ich will zwei Gros«, sagt er, »und schicken Sie sie Express.« Ende des Ge sprächs. Ich bin sicher, der Brite am anderen Ende ist sprachlos ob so viel amerikanischer Höflichkeit. Teitelbaum schlägt unvermittelt einen anderen Tonfall an, als er aufs Geschäft zu sprechen kommt. Er streckt seinen notdürf 33
tig verkleideten Arm über die Fläche des Schreibtischs, ächzt bei der geringfügigen Anstrengung und greift nach einer dün nen Aktenmappe. »Ich sage ja nicht, daß Sie nach dem HopeDiamanten suchen sollen oder so was«, sagt er und wirft mir den Ordner hin. »Nur ein bißchen Beinarbeit, nichts, womit Sie nicht fertig werden. Nichts Großes, aber es lohnt sich.« Ich überfliege die Seiten. »Eine Brandermittlung?« »Ein Nachtclub im Valley ist am Mittwoch morgen in Flam men aufgegangen. Einer von Burkes Läden.« »Burke?« frage ich. »Donovan Burke. Der Nachtclub-Besitzer. Mein Gott, lesen Sie denn keine Zeitschriften, Rubio?« Ich schüttele nur stumm den Kopf, weil ich ihm nicht erklä ren will, daß mich der Preis einer einzigen Zeitschrift dieser Tage dauerhaft unter die Armutsgrenze drücken würde. »Burke ist eine große Nummer in der Nachtclub-Szene«, er klärt Teitelbaum. »Jeden Tag Promis in seinen Schuppen, hauptsächlich Dinos, aber auch ein paar menschliche Gäste. Der Laden war bis über den Arsch versichert, und jetzt soll die Versicherung etwa zwei Millionen für Brandschäden abdrük ken. Deshalb wollen sie, daß wir uns die Sache mal ansehen und uns vergewissern, daß Burke den Laden nicht selbst abge fackelt hat, weil der Umsatz lausig war.« »War er das?« »Was?« »Lausig.« »Himmel noch mal, Rubio«, sagt Teitelbaum, »woher soll ich das wissen? Sie sind doch der Detektiv.« »War zu dem Zeitpunkt irgend jemand in dem Club?« »Warum lesen Sie nicht die verdammte Akte?« herrscht er mich an. »Ja, ja, ein Haufen Leute. Jede Menge Zeugen, die Party war in vollem Gange.« Er stupst erneut seine Newton schen Kugeln an, ein klares Zeichen, daß meine Gegenwart nicht länger vonnöten ist. Ich stehe auf. 34
»Wie sieht der Zeitplan aus?« frage ich, obwohl ich die Ant wort schon kenne – »Einen Tag weniger als sonst.« Die Standardantwort. Er hält sich für clever. Ich bemühe mich, die nächste Frage möglichst beiläufig klingen zu lassen. »Und die Bezahlung?« »Die Versicherung ist bereit, fünf Riesen plus Spesen auszu spucken. Davon sind dreitausend für die Firma, bleiben zwei tausend für Sie.« Ich zucke die Achseln. Das hört sich so weit ziemlich normal an, zumindest angesichts der Gehälter knapp über der Armuts grenze, von denen die meisten TruTel-Angestellten leben müs sen. »Aber ich habe da ein Problem mit meinem Pool im Gar ten«, fahrt Teitelbaum fort, »und ich brauche selbst ein bißchen zusätzliches Bargeld. Sagen wir, wir teilen uns Ihr Honorar fifty-fifty.« Er versucht ein Grinsen, ein breites HaifischLächeln, was in mir den primitiven Drang auslöst, mich über den Tisch zu stürzen und ihn mit den dünnen Drähten seiner Newtonschen Kugeln zu erdrosseln. Aber was für eine Wahl habe ich? Ein Tausender ist besser als nichts, und nachdem ich den Ohmsmeyer-Job gründlich versaut habe, könnte dies meine einzige Chance sein, mich gegen drohende Zwangsvollstreckungen und den endgültigen Bankrott zu wehren. Trotzdem ist es angezeigt, zumindest den Anschein von Stolz zu wahren. Ich recke den Hals, so weit es meine Verkleidung zuläßt, halte den Kopf hoch, drücke den Ordner an meine Brust und stolziere aus dem Büro. »Vermasseln Sie es nicht, Rubio«, ruft er mir nach. »Wenn Sie je wieder arbeiten wollen, dann stümpern Sie dieses eine Mal nicht so rum wie sonst.« Keine zwölf Schritte weiter habe ich einen Basilikumzweig zwischen den Zähnen und diesen Tyrannen von einem T-Rex schon fast vergessen. Auch den Auftrag sehe ich mittlerweile in einem milderen Licht. Geld auf dem Konto, vielleicht ein 35
wenig Ansehen, und es kann nicht mehr lange dauern, bevor andere Detekteien geradezu darauf brennen, ruhmreiche und teure Aufträge an Watson & Rubio zu verteilen. Ja, ich bin wieder am Ball. Ich bin auf dem Weg nach oben. Ein Raptor auf der Rolle. Auf dem Weg nach draußen zwinkere ich der Teilzeit-Empfangssekretärin, die in der Halle ein Diktat ab tippt, siegesgewiß zu. Meine freundliche Geste läßt sie zu rückweichen wie eine aufgescheuchte Klapperschlange, so daß es mich nicht gewundert hätte, wenn sie ihre Fangzähne ent blößt hätte und in einer Spalte unter ihrem Schreibtisch ver schwunden wäre.
3 Sechs Blätter Basilikum wirken ihr spezielles Wunder in den Hügeln und Tälern meines Metabolismus, und nur die frische Kräuterbrise hält mich davon ab, wie ein Schimpanse wild mit den Armen zu fuchteln und aus dem Bus zu springen. Dies ist das erste Mal, das ich zur Benutzung eines öffentlichen Ver kehrsmittels gezwungen bin, und wenn ich mir mit den mage ren Mietwagen-Spesen, die Teitelbaum mir für diesen Fall zu gestanden hat, irgendwas Schickeres als einen 74er Pinto lei sten kann, wird es auch das letzte Mal sein. Ich weiß nicht, was in diesem Bus gestorben ist, aber nach den sturzwellenartig hereinbrechenden Gerüchen aus den letzten drei Reihen zu urteilen, muß es groß und häßlich gewesen sein und vor seinem Ableben eine ordentliche Portion Curry gegessen haben. Die Frau neben mir hat sich einen Streifen Staniolpapier wie ein Stirnband um den Kopf gewickelt, und obwohl ich sie nicht nach dem Grund für ihren Schmuck frage – es ist eine meiner eisernen Regeln, niemanden mit Fragen zu behelligen, der of fensichtlich das verfassungsmäßige Recht auf Unzurechnungs fähigkeit für sich beanspruchen kann –, verspürt sie offenbar 36
trotzdem das Bedürfnis, mir ins Ohr zu brüllen, daß ihre schüt zende Kopfbedeckung die »terrestrischen Insekten« von ihren »feuchten Stellen« fernhalten würde. Ich nicke eifrig und wen de mich Richtung Fenster in der Hoffnung, mich durch irgend eine Öffnung in die rationale Außenwelt zwängen zu können. Doch das Fenster ist geschlossen. Fest verrammelt. Ein rosa farbener Kaugummi ist über dem Riegel erstarrt, und ich kann fast mit bloßem Auge die Bakterien erkennen, die auf seiner Oberfläche tanzen und mich herausfordern, mein Glück zu ver suchen und die harte Masse abzuknibbeln. Doch das Basilikum schlägt langsam zu und breitet einen gnädigen Schleier über die Szenerie. Ich lehne mich auf dem harten Plastiksitz des Busses zurück und versuche, die Kako phonie von Hüsteln, Niesen und endlosem Lamentieren über die Gesellschaft und diese verdammten terrestrischen Insekten zu überhören. Meine Arme lösen sich aus der defensiven Ver schränkung vor meiner Brust und sinken entspannt zur Seite, und ich spüre, wie ein feines Grinsen an meinen Mundwinkeln zupft. Total relaxed. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, aber Ernie war ein re gelmäßiger Unterstützer des öffentlichen Nahverkehrs. Ja, wirklich – einmal in der Woche, meistens donnerstags, minde stens einmal abends und einmal morgens pflanzte sich mein Carnosaurier-Partner auf die Bank auf dem Bürgersteig und wartete darauf, daß die Linie 409 aufkreuzte und ihn von unse rem Büro auf der Westside nach Hause oder von dort zur Ar beit transportierte. »So bleibt man in Kontakt mit den Leuten«, pflegte Ernie immer zu sagen. »In Kontakt mit den guten, einfachen Leu ten.« Und obwohl es in diesem Bus keine guten Leute gibt, mit denen Kontakt zu haben mich interessieren würde, glaube ich, daß Ernie daran geglaubt hat. Ich habe immer geglaubt, daß er es geglaubt hat. Ernie. 37
Zum letzten Mal habe ich Ernest J. Watson am Morgen des achtzehnten Januar gesehen, vor fast zehn Monaten. Er war auf dem Weg aus unserem Büro, und ich strengte mich nach Kräf ten an, seinen Abgang zu ignorieren. Wir hatten gerade einen besonders belanglosen Streit hinter uns – typischer Blödsinn, die Art Geplänkel, in die wir uns gegenseitig drei- bis viermal die Woche verwickelten wie ein altes Ehepaar, bei dem sie über die Angewohnheit ihres Mannes nörgelt, auf seinen Eis würfeln herumzukauen, während er sich darüber beschwert, daß seine Frau endlos über gar nichts plappert – Wir-kennen uns-schon-seit-Ewigkeiten-Kram eben. »Ich ruf dich an, wenn ich aus New York zurück bin«, sagte er zu mir, bevor er über die Schwelle unseres Büros trat, und ich grunzte als Antwort. Genau das war es – ein Grunzen. Das letzte, was Ernie aus meinem Munde gehört hat, war ein »Hm«, und nur mein täglicher Kräuterkonsum schiebt diesen quälenden Gedanken an den Rand meines Bewußtseins. Es war natürlich ein Fall, der seine Aufmerksamkeit verlang te, und eigentlich sollte ich sagen, es war ein Fall wie jeder andere, aber das war es nicht. Es war eine große Sache. T-Rex groß. Oder genauer gesagt: Carnosaurier-groß. Raymond McBride – Carnosaurier, Connaisseur menschli cher Gespielinnen und der große Mogul der McBrideCorporation, einer Anhäufung von Firmen, die sich auf Aktien, Anleihen, Akquisitionen, Fusionen und so ziemlich jede andere Unternehmung spezialisiert hatten, die tonnenweise Bargeld einbrachte – war am Weihnachtsabend in seinem Büro in der Wall Street ermordet worden, was die Dino-Gemeinde außer ordentlich beunruhigte. Weil die forensischen Experten, die man zum Tatort beordert hatte, schlampig ermittelt hatten, war die Frage, ob McBride von einem Menschen oder einem Mitsaurier ermordet worden war, immer noch ungeklärt. Deshalb schickte der Nationalrat – ein repräsentativer Zusammenschluß der 118 Regionalräte – 38
höchstselbst ein Team von Detektiven aus dem ganzen Land, das erste Ermittlungen anstellen sollte. Bei Morden innerhalb der Dino-Bevölkerung gibt es, ungeachtet der Umstände, stets eine offizielle Ermittlung des Rates, deshalb war es entschei dend, daß der Rat so schnell wie möglich erfuhr, zu welcher Gattung der Mörder gehörte und – noch wichtiger – wem man massive Bußgelder auferlegen konnte. Der Rat ist stets auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich ein paar schnelle Dollar zu verdienen. »Sie bieten jedem Privatschnüffler, der den Fall übernimmt, zehn Riesen«, erklärte mir Ernie eines Freitagmorgens kurz nach Silvester. »Der Rat will den Fall schnell abschließen; klar, bei einem hohen Tier wie McBride. Die wollen wissen, ob ein Mensch ihn erledigt hat.« Ich zuckte die Achseln und tat die Vermutung mit einer wegwerfenden Geste ab. »Kein Säugetier hat den Mumm, sich mit so einem reichen Typen anzulegen.« Darauf grinste Ernie mich an – das heißt, er verzog seine Miene zu jener starrlippigen Grimasse, die sein Gesicht knapp zehn Zentimeter breiter machte – und sagte: »Mord an einem reichen Mann gibt es nicht, Vincent. Unter der Kralle ist jeder eine arme Sau.« Ernie ging, ich grunzte, und drei Tage später war er tot. Ein Verkehrsunfall, sagte man mir. Ein unfallflüchtiges Taxi, sagte man mir. Ein ganz normaler Fall von Fahrerflucht, sagte man mir. Ich glaubte kein einziges Wort. Am nächsten Morgen flog ich mit einem braunen Koffer vol ler Kleidung und einem zweiten voller Basilikum nach New York. Ich habe nur sehr wenig Erinnerungen an diese Reise. Hier sind die Bilder, die ein von klaffenden BasilikumBlackouts durchlöchertes Gedächtnis gespeichert hat: Der Gerichtsmediziner des Bezirks, der sowohl Ernie als auch McBride obduziert hatte, war auf einmal verschollen. Im Urlaub irgendwo im Südpazifik. Sein Assistent, ein Mensch, 39
der weder hilfreich noch kooperativ war. Eine Prügelei. Mögli cherweise Blut. Sicherheitsbeamte. Eine Bar. Koriander. Eine Frau, möglicherweise ein Diplo docus. Ein Motel-Zimmer, feucht und dreckig. Ein Polizist, einer der vielen Detectives, die in dem vermeint lichen Fall von Fahrerflucht ermittelten, dem Ernie zum Opfer gefallen war, der sich weigerte, meine Fragen zu beantworten. Der sich weigerte, mich um drei Uhr morgens in sein Haus zu lassen. Seine schreienden Kinder. Eine Prügelei. Möglicher weise Blut. Die Rückbank eines Streifenwagens. Eine andere Bar. Oregano. Eine andere Frau, auf jeden Fall ein Iguanodon. Ein Motelzimmer, immer noch feucht, immer noch dreckig. Eine Scheckkarte für eines der vielen Konten des südkalifor nischen Rates in meinem Besitz, da ich zu der Zeit Delegierter der Velociraptoren und ein wohlangesehenes Mitglied des bü rokratischsten und heuchlerischsten Sauriergremiums war, das die Welt erlebt hat, seit Oliver Cromwell und seine Spießgesel len – allesamt Brontosaurier – in der Schatzkammer des briti schen Empire gewütet hatten. Eine Abhebung in Höhe von eintausend Dollar. Eine weitere in Höhe von zehntausend Dol lar. Schmiergelder in der Hoffnung, daß jemand – irgend je mand – mir einen Hinweis auf McBride, Ernie, ihr Leben oder ihren Tod geben konnte. Weitere Schmiergelder, um die ersten geheimzuhalten. Nutzlose Antworten, die mir kein bißchen weiterhalfen. Wut. Eine Prügelei. Möglicherweise Blut. Eine Horde von Polizisten. Ein Richter, eine Anhörung, eine Entlassung. Ein Flugticket zurück nach Los Angeles und eine bewaffnete Eskorte, die dafür sorgte, daß ich den Tri-State-Distrikt auch wirklich ver ließ. Irgendwie bekam der Rat Wind von meiner kreativen Buch führung zu Lasten seines Kontos sowie von den beträchtlichen Abhebungen – ich war auch bestimmt nicht in der geistigen 40
Verfassung, sie vernünftig zu kaschieren – und stimmte dar über ab, mich aus seiner Mitte zu verstoßen. Um die Situation zu rektifizieren, wie die offizielle Sprachregelung lautet, und mit einem einzigen einstimmigen »Ave« aus dem Mund der Mitglieder des südkalifornischen Rates wurde ich in derselben Woche, in der ich schon meine Nüchternheit, mein makelloses Führungszeugnis und meinen besten Freund eingebüßt hatte, auch noch meines sozialen Status beraubt. Das war das Ende meiner Ermittlung und das Ende meines Lebens als gut bestall ter Mittelschichts-Privatdetektiv in den Suburbs von L. A. Wenn ich in der ersten Woche des vergangenen Januars eines gelernt habe, dann schlicht dies: Es ist ein langer, langsamer und mühsamer Aufstieg bis zur halben Höhe, während es in geradezu atemberaubender Höchstgeschwindigkeit wieder ab wärts geht. Der Bus holpert weiter. Drei Stunden später kommt der Wagen, den ich von einer Dis count-Agentur gemietet habe, klappernd vor dem Evolution Club zum Stehen, und ich widme den automobilen Göttern ein stilles Dankgebet, daß es die letzten zwei Meilen bergab ging. Das durchgerostete Schlachtross von einem 83er Toyota Cam ry ist mir auf der Fahrt durch den Laurel Canyon zusammenge brochen, und ich habe anderthalb Stunden gebraucht, bis ich jemanden gefunden hatte, der einem Wildfremden die Tür öff net, der behauptet, eine Zange, ein Stück Garn und eine Draht schere zu brauchen. Wie sich herausstellte, war ich nicht der erste, der provisorische Reparaturen an dem erbärmlichen Ge fährt vorgenommen hatte – ein Blick in den Motor des Camrys war wie ein Blick in eine alternative Realität, in der ausschließ lich Geistesgestörte und Kinder Mechaniker werden dürfen. Ein ausgefranstes Geschenkband hält Bündel von Kabeln zu sammen, einer der Zylinder weist noch die äußeren Merkmale einer Campell’s-Suppendose auf, und ich bin mir ziemlich si 41
cher, daß Büroklammern nicht die ideale Befestigung für Zündkerzen sind. Ich kann mir schlicht nicht vorstellen, daß eines dieser improvisierten Extras noch viel länger halten wird. Mit etwas Glück kann ich ein bißchen mehr Geld aus Teitel baum rausquetschen und mir einen besseren Wagen mieten, da ich einen Tag in nicht allzu ferner Zukunft voraussehen kann, an dem dieses kleine Importauto unter der Last von mit Bordmitteln reparierten Motorenteilen und behelfsmäßigen Benzin schläuchen zusammenbrechen, Harakiri begehen und seine mobile Hülle glücklich zugunsten einer weniger provisorischen Existenz abstreifen wird. Und ich weigere mich, noch einmal den Bus zu nehmen. Der Evolution Club muß ein Dino-Schuppen sein, keine Fra ge. Wir mögen diesen Scheiß, kleine Insider-Späße, durch die wir uns den zweibeinigen Säugetieren, mit denen wir die Herr schaft über die Erde widerwillig teilen, ach so überlegen fühlen können. Meine Stammkneipe ist der Fossil Fuels Club, aber ich habe auch schon ein paar klassisch verschwommene frühe Morgenstunden im Dinorama, im Meteor Nightspot und im Tar Pit Club in der City abgesessen, um nur einige zu nennen. Laut der letzten Schätzung des Rates macht die Dino-Gemeinde etwa fünf Prozent der amerikanischen Bevölkerung aus, doch ich habe das Gefühl, daß wir überdurchschnittlich viele Nacht clubs in diesem Land besitzen. Aber, hey – wenn man den Großteil seiner wachen Stunden in Menschenverkleidung rumrennen muß, braucht man schon einen saurierstarken Laden, um am Ende des Tages runterzukommen, und sei es nur, um mal wieder so richtig echsenmäßig abzuhängen. Mein Mietwagen paßt perfekt zu dem neuen Erscheinungs bild des Evolution Club, seine verrostete Karosserie macht sich gut vor den verkohlten Wänden des ausgebrannten Gebäudes. »Vielleicht sollte ich dich hierlassen, alter Junge«, sage ich und gebe dem Auto einen spielerischen Klaps auf den Kofferraum. Meine Hand bricht durch den Rost und hinterläßt ein großes 42
Loch in dem Blech. Ich betrete den Laden. Soweit ich es von meinem Standort, der ehemaligen Haupt tanzfläche, erkennen kann, muß der Evolution Club zu seiner Zeit einmal ein ziemlich heißer Schuppen gewesen sein. Drei Ebenen, jede mit eigener Bar, eine ausladende Treppe wie aus Vom Winde verweht, Futterstufen aus Marmor, die sich im Schatten verlieren. Glitzerkugeln funkeln wie weit entfernte, verlöschende Sterne gegen das fahle Tageslicht an, das durch die rissigen Wände hereinfällt, und ich kann ein hochmodernes Beleuchtungssystem erkennen, das es, wenn man die Birnen auswechseln, die Linsen reparieren und die allgegenwärtige Asche von dem Steuer-Terminal fegen würde, mit den besten am Broadway oder am Picadilly aufnehmen könnte. Wuchern de Graffiti-Kunst bedeckt die Wände, ein fantastisches Wand gemälde, das Glanz und Gloria des reinen Hedonismus im Wandel der Zeiten zelebriert. Ein klobiges Kühlsystem liegt in Trümmern neben dem Ein gang zu etwas, das aussieht wie ein begehbarer Herbilator – ich kann das frische Basilikum und den Majoran beinahe riechen und mir den Luxus, diesen gekühlten Raum zu betreten und aus sämtlichen verfügbaren Substanzen eine oder auch alle zu wäh len, nur ausmalen. Sieht aus wie die Art Laden, die mich in meiner Jugend geradezu magnetisch angezogen hätte, und in diesem Augenblick sind alle meine inneren Organe dankbar, daß ich nichts von der Existenz dieses Clubs wußte. Als ich die Treppe zur ersten Etage hinaufsteige, verspüre ich einen stechenden Schmerz in meinem eingeklemmten Schwanz. Ich schüttele meinen Rumpf, doch der Schmerz bleibt klein, aber beharrlich da, als ob ein Aal mit Haifischzäh nen an meinem Schwanz ein All-you-can-eat-Brunch entdeckt hätte und sich nun weigern würde, das Buffet wieder zu verlas sen. Es ist die verdammte G-3-Klammer – sie muß irgendwie nach links verrutscht sein, so daß die Metallspange sich in meine Haut bohrt, eine Zwangslage, die sich nur beheben läßt, 43
indem man die komplette G-Serie neu justiert. Das geht an sich schnell und leicht, doch dafür müßte ich meinen Schwanz ein paar Minuten lang in die weite Welt entlassen. Wenn irgend welche Menschen hereinkommen … Aber wer spaziert schon mitten in der Woche am hellichten Mittag in einen ausgebrannten Nachtclub? Zur Sicherheit schlurfe ich im buckligen Galopp die Treppe hinauf- die Klammer piekst und sticht mich die ganze Zeit – und hüpfe in die relative Sicherheit eines schattigen Eckchens. Eine Drehung hier, eine Drehung da und – plopp – springen die G-1- und G-2-Klammern auf, und Spangen trudeln durch die Luft. Mein Schwanz befreit sich aus seiner Verklemmung, und ich seufze erleichtert, als die G-3 sich löst und klappernd zu Boden fällt. Ich spüre einen dumpfen pulsierenden Schmerz im Unterleib, und wo die Klammer sich in mein Fleisch ge bohrt hat, kann ich einen Bluterguß im Frühstadium ausma chen. Jetzt muß ich mich nur noch wieder zuklammern, bevor – »Ist da jemand?« Eine Stimme am Eingang des Clubs. Ich erstarre, Schweiß tritt aus meinen Poren, und schon bald rinnen kleine Salzwasserflüßchen an meinem Körper hinunter. Ich verfluche den Evolutionsprozeß, der meiner Art nach Jahr tausenden seliger Trockenheit Schweißdrüsen eingebracht hat. »Das ist Privatbesitz, Kumpel. Außerdem ein von der Polizei abgesperrter Tatort.« Ich kann nicht glauben, daß mir das passiert. Meine in ihren pseudo-menschlichen Handschuhen dicken und schwerfälligen Hände fummeln verzweifelt an den Klammern und Spangen und drücken sie mit roher Gewalt fest. »Hey, Sie da! Ja, Sie!« ertönt der Ruf erneut und erhebt sich über den dröhnenden Alarm, der wie eine Springflut in meinem Kopf tost. Mit einer Fertigkeit und Behendigkeit irgendwo zwischen ei nem Weltklasse-Olympioniken und dem einigermaßen fitten Torwart einer Altherrenmannschaft springe ich hoch, klemme 44
meinen Schwanz mit einer eleganten Bewegung zwischen die Beine, wickele ihn auf und um meinen Körper. Die G3 Klammer rastet ein, rasch gefolgt von der G-2. Ich arbeite jetzt fieberhaft und kleide mich schneller an als je zuvor. Spangen, Druckknöpfe, Knöpfe, Knoten, Schleifen, Reißverschlüsse, Klettverschlüsse – die Uhr läuft … »Sie dürfen sich hier drinnen nicht aufhalten.« Schon auf halber Treppe. »Für die Öffentlichkeit gesperrt. Los, ver schwinden Sie, Mann!« Meine G-1-Klammer klemmt. Klar, es ist ein älteres Modell, aber die Dinger sollen doch trotzdem halten, verdammt noch mal! Der letzte Rest meines Schwanzes ragt durch meinen of fenen Reißverschluß, und selbst wenn die Person, die die Trep pe hochkommt, ihn nicht als die Spitze eines zusammenge klappten Saurierschwanzes erkennt, sieht es trotzdem ver dammt obszön aus. Ich bin schon einmal wegen Erregung öf fentlichen Ärgernisses verhaftet worden und habe zwei Tage in einer Arrestzelle in Cincinnati gesessen – fragen Sie nicht, fra gen Sie nicht –, und meine Bereitschaft, diese Erfahrung zu wiederholen, hält sich in Grenzen, vielen Dank. Ich drücke und schiebe und quetsche und zerre und – »Hey, Sie – Sie da in der Ecke.« Langsam und widerwillig drehe ich mich um, bereit zu lügen und glucksend zu erklären, Verzeihen Sie meinen Aufzug oder Das muß mein Hemdzipfel sein. Ein Schwanz? Gütiger Him mel, nein! Das ist ja lachhaft! Ein Schwanz an einem so unbe streitbar menschlichen Wesen wie mir? Wie absurd! Und dann geben die Klammern nach. Mit einem Geräusch wie hundert Krallen, die über hundert Tafeln kratzen, sprengt mein Schwanz seine Fesseln und reißt meine neuen Dockers sauber in zwei Hälften. Fetzen des bequemen Baumwoll Polyester-Mischgewebes flattern durch die Luft. Langsam, beinahe genüßlich spulen sich die wenigen verbleibenden Jahre meines Lebens vor meinem inneren Auge 45
ab. Sie beginnen damit, daß der Eindringling kreischt wie eine Monsterattrappe aus der Geisterbahn, die Treppe hinunterrennt, aus dem Gebäude stürzt, einen Notfall-Termin mit seinem Psychiater vereinbart und von seinem Erlebnis in den qual menden Ruinen eines Nachtclubs in Studio City berichtet, wo ein Wesen, halb Mensch, halb Ungeheuer, praktisch über ihn hergefallen ist, mein Gott. Er wird in eine geschlossene Anstalt gesteckt (iß nur den Nachtisch, würde ich ihm raten), doch das ist egal. Die Nachricht von meiner Indiskretion wird sich verbreiten, und ich werde einsam und mittellos als Streichholz verkäufer an der Straßenecke enden, formell exkommuniziert durch den Rat und von der Dino-Gemeinde verstoßen, weil ich das geheimste aller geheimen Geheimnisse verraten habe: un sere Existenz. »Mein Gott, Rubio«, meldet sich die Stimme erneut, »mit dem Schwanz mußt du die Mädels ja reihenweise abschlep pen.« Meine Augen lösen sich von meinen übertriebenen morbiden Phantasien und kehren in den ersten Stock des Evolution Clubs zurück, wo sie auf einen grinsenden Sergeant Dan Patterson fallen, seit vielen Jahren Detective bei der Polizei von Los An geles und seines Zeichens einer der großartigsten reinrassigen Brontosaurier, die ich je kennengelernt habe. Wir umarmen uns, und mein wild in meiner Brusthöhle po chendes Herz kommt langsam von seinem verrückten ReggaeBeat runter. »Habe ich dich erschreckt?« fragt Dan, und ein hämisches Lächeln zieht seine wulstigen Lippen an den Mundwinkeln nach oben. Sein Geruch, eine Mischung aus kaltgepreßtem Olivenöl und Maschinenöl, ist heute nur schwach, was vermutlich erklärt, warum ich ihn nicht gewittert habe. »Mich erschreckt? Verdammt, Mann, ich bin ein Raptor.« »Dann frage ich dich noch einmal: Habe ich dich er schreckt?« 46
Gemeinsam zerren wir an meinem widerspenstigen Schwanz herum und schieben den unartigen Jungen abwechselnd hierund dorthin. Dans Muskeln, die auch unter seiner Verkleidung als Afroamerikaner mittleren Alters deutlich erkennbar sind, wölben sich vor Anstrengung, bis es uns schließlich gelingt, den Schlingel ohne weitere Verletzungen wieder in sein Ver steck zu stopfen, die G-Klammern zu spannen und die Schnal len zu befestigen. Ich habe im Wagen noch eine Ersatzhose, und wenn die, die ich trage, sich nicht spontan entscheidet, sich noch weiter aufzulösen als ohnehin schon, sollte ich noch ein paar Minuten einigermaßen schicklich bekleidet bleiben. Dan Patterson hat auf mich nie den Eindruck eines Modefreaks ge macht, und mein bestenfalls halbbekleideter Zustand scheint ihn nicht weiter zu stören. »Schön, dich zu sehen, Alter«, sagt er. »Ist schon ewig her.« »Ich wollte dich anrufen …« setze ich an, bevor der Rest des Satzes sich in einem matten Lächeln verliert. Dan legt seine behandschuhte fleischige Pranke auf meine Schulter und drückt sie fest. »Ich versteh schon, Mann, glaub mir. Wie kommst du so zurecht? Findest du Arbeit?« »Mir geht’s super«, lüge ich. »Echt prima.« Wenn ich Dan meine finanzielle Situation darlege, wird er mir Geld anbieten – er wird es mir förmlich aufdrängen, wie ich den Typ kenne –, und ich will keine Almosen, nicht einmal von den engsten Brontosaurier-Freunden. »Hör mal, hast du die Uhr gekriegt, die ich dir geschickt ha be, die –« »Ja, ja, die habe ich bekommen. Danke.« Vor einer Weile hat Dan eine Armbanduhr gefunden, die Ernie etwa einen Monat vor seinem Tod zufällig bei ihm liegengelassen hatte. Nach meiner unehrenhaften Rückkehr aus New York hat Dan mir die Uhr per Boten nach Hause bringen lassen, was ich als Dans Art erkannte, mir zu verstehen zu geben, daß er für mich da war, ohne es ausdrücklich zu sagen. Es war der größte Trost, den ich 47
während der gesamten Affäre erfahren habe. »Ermittelst du für die Versicherungsgesellschaft?« fragt er. Ich nicke. »Teitelbaum hat mich geschickt.« »Ohne Scheiß – du arbeitest wieder für TruTel?« »Zumindest für diesen Job. Wer weiß, vielleicht ist da auf die Dauer noch mehr drin.« »Die guten alten Zeiten, was? Mr. Teitelbaum … Mann, das ist ein T-Rex, den ich echt gern vergessen würde.« Dan hat anderthalb elende Jahre als freier Mitarbeiter für TruTel gear beitet – so haben wir uns kennengelernt –, bevor er seine Selb ständigkeit aufgegeben und sich dem Police Department von LA angeschlossen hat. Seine Zusammenstöße mit Teitelbaum waren im Büro Gegenstand zahlreicher Legenden. Wir reden noch ein bißchen über die alten Zeiten – den Strum-Fall, den Kuhns-Prozeß, das Hollywood-BoulevardNutten-Fiasko – fragen Sie nicht, fragen Sie nicht – und ein wenig über unsere Zukunftspläne. Er überlegt, ein paar Tage Urlaub in Expression zu machen, der Dino-Nudisten-Kolonie in Montana, und obwohl diese Art Ego-Massage sich anhört wie eine ziemlich gute Art und Weise, ein paar faule Tage zu verbringen, will ich ihm nicht erzählen, daß ich mir keine fau len Tage leisten kann, geschweige denn die Kosten für eine gute Sonnencreme. »Klingt super«, sage ich. »Check das mal durch und ruf mich an.« Nachdem das Gespräch zweier alter Freunde seinen gewohn ten Lauf genommen hat, komme ich auf den anstehenden Fall zurück. »Was machst du denn hier draußen?« frage ich. »Liegt das nicht ein bißchen außerhalb deines Bezirks?« Dan arbeitet für gewöhnlich im Rampart-Distrikt, das San Fernando Valley liegt weit abseits seiner gewohnten Trampelpfade. »Unser Brandstiftungsdezernat ist hinzugezogen worden«, erklärt Dan. »Wir leisten uns dauernd gegenseitig Amtshilfe. Ich bin bloß hier, um die Sicherung des Tatorts abzuschließen; offenbar habe ich nicht gründlich genug gearbeitet.« 48
»Und was kannst du mir zu dem Feuer sagen?« »Keinen Bock mehr, selbst zu ermitteln, Mr. Privatermitt ler?« »Ich denke mir, wenn ich dich meine Arbeit machen lasse, kann ich nach Hause gehen und schlafen. War ein langes Wo chenende.« Dan zieht einen abgegriffenen gelben Notizblock aus der Ta sche und murmelt vor sich hin, während er die Seiten durch blättert. »Mal sehen … also, Mittwoch früh gegen drei Uhr morgens geht in der Feuerwache 18 eine Meldung ein, daß der Evolution Club am Ventura Boulevard in Flammen steht. Der anonyme Anrufer spricht von einem riesigen Feuer.« »Woher kam der Anruf?« »Aus der Telefonzelle gegenüber. Drei Wagen wurden losge schickt, zusammen mit einer Flotte Spezialfahrzeuge – Kran kenwagen, Notärzte und so weiter.« »Ein Standard-Einsatz? Die ganze Flotte, meine ich?« Ich zücke Stift und Papier und notiere mir ein paar Details – offen sichtlich wichtige oder auch andere –, alles was ich kriegen kann. Man weiß nie, worauf man stößt. »Bei einem Brand in einem Nachtclub, klar. Normalerweise richten nicht Flammen und Rauch den meisten Schaden an, sondern die Gäste, die nach draußen stürmen. Bei einer Panik verwandeln sich alle in eine Herde verängstigter Compys, de nen es egal ist, auf wem sie rumtrampeln.« Er befeuchtet einen Finger und blättert weiter. »Die Feuerwehrwagen treffen ein und fangen an zu löschen. Die Gäste strömen ins Freie, der ganze Laden wird evakuiert …« »Fünfzig, hundert oder was?« Mit anderen Worten, wieviele verdammte Zeugen muß ich befragen? Dan lacht und schüttelt den Kopf. »Du warst wohl lange nicht mehr auf einer Party im Valley?« »Ich halte mich lieber an die Westside«, gebe ich zurück. »Meine Gesundheit ist schon schlecht genug, auch ohne daß 49
ich meinen Lungen in dem Smog-Kessel hier unten den Rest gebe.« »An einem guten Abend können sich bis zu vierhundert Leu te in dem Schuppen drängeln. Zu deinem – und wohl auch ih rem Glück – ist Mittwochnacht nicht unbedingt die Zeit, in der man durch die Clubs zieht. Alles in allem schwanken die Schätzungen zwischen hundertachtzig und zweihundert.« »Namen und Telefonnummern?« »Haben wir von etwa zwanzig.« »Das reicht für mich.« »Es gab auch zwei Tote – Rauchvergiftung vermutlich«, sagt Dan. »Und ein weiterer wurde in kritischem Zustand ins Kran kenhaus eingeliefert – der Typ, dem der Laden gehört, um ge nau zu sein.« »Ein Dino, stimmt’s?« Dan sieht mich an und zieht eine Braue hoch. »Bei einem Namen wie Evolution Club? Ich bitte dich …« »Damit ist die Theorie der Versicherungsgesellschaft, der Ei gentümer hätte das Feuer selbst gelegt, wohl gestorben«, be merke ich. »Ich meine, wenn ich meinen eigenen Laden abfak keln wollte, würde ich doch auf jeden Fall zusehen, daß ich eine Stunde, bevor der Schuppen in Flammen aufgeht, eine Kleinigkeit essen gehe.« »Das sollte man meinen, nicht wahr? Aber meine Männer haben gesagt, sie mußten das Hinterzimmer zu viert aufbre chen. Der Typ war zwar halbtot und verbrannt wie ein Trut hahn, doch er hat sich immer noch gegen die Tür gestemmt und sich gewehrt … Die Kollegen meinten, so was hätten sie noch nie gesehen.« »Als ob er etwas schützen wollte?« frage ich. »Wer weiß? Wir haben bis auf einen wirklich schönen Schreibtischstuhl nichts gefunden.« »Laß mich raten – er ist ein Compy, stimmt’s?« »Nein – einer von deiner Sorte. Wir wissen ja, daß die Rapto 50
ren nicht allzu helle sind.« »Wenigstens hat mein Gehirn nicht die Größe eines Tisch tennisballs.« Dan wirft mir seinen Notizblock zu, die Blätter rascheln in der Luft. »Prüf es nach«, sagt er und weist auf seine hand schriftlichen Notizen. »Ich habe die Aussage des Einsatzleiters wortwörtlich aufgenommen. Alle Zeugen bestätigen, daß es ein lautes Geräusch und dann Qualm gab. Die Gäste drängen nach draußen, das Getrampel geht los, und in dem Moment, als die Feuerwehrleute eintreffen, lodert aus dem hinteren Teil des Gebäudes eine große Stichflamme auf.« »Eine Stichflamme, hm. Eine Bombe?« Dan schüttelt den Kopf. »Wir haben den Laden in den letzten Tagen von Sachverständigen durchkämmen lassen, und sie haben keine Spur einer Explosion entdeckt. Aber du bist auf der richtigen Spur … Hier, komm mit.« Dan geht die Treppe hinunter, und ich folge ihm pflichtschuldig. Der dumpfe Schmerz in meinem Schwanz ebbt langsam ab, wofür ich sehr dankbar bin. Wir bahnen uns einen Weg zwischen verkohlten Tischen und rußschwarzen Barhockern, alle Oberflächen sind mit einem dünnen Aschefilm bedeckt. Die Lehnen der Stühle sind der Gestalt von Menschen an verschiedenen Punkten ihres gewun denen evolutionären Pfades nachempfunden, alle stark über trieben und keine besonders schmeichelhaft. Der unverhohlen dümmliche Ausdruck des Australopithecus afarensis paßt per fekt zu der selbstgefälligen Ich-bin-jetzt-der-Chef-der Nahrungskette-Miene des Homo erectus; der Homo habilis hockt zufrieden in einem Haufen seiner eigenen Fäkalien, wäh rend der angeblich entwickelte Homo sapiens als eine große schwabbelige Masse dargestellt ist, die dauerhaft mit einem riesigen Fernsehbildschirm verwachsen ist. Irgend jemand muß bei der Ausgestaltung des Lokals eine Menge Spaß gehabt ha ben. 51
»Guck dir mal die Streuung an«, sagt Dan. »An der Wand da drüben.« Ich blinzele in die Dunkelheit des Clubs. Wir stehen jetzt weit vom Eingang entfernt, und das einzige Licht fällt durch ein Oberlicht in Form eines gezackten Blitzes. Doch ich kann die Streifen erkennen, häßliche Bremsspuren, die sich in die Wand gebrannt haben, und ich habe schon in genug Brandfäl len ermittelt, um zu wissen, was das bedeutet. »Eine Explosion«, sage ich, und Dan stimmt mir zu. Die lan gen dunklen Brandspuren dringen wie Strahlen der plötzlich durchbrechenden Sonne aus einer offenen Tür, die zum Brand herd führen müßte. »Ist das das Büro?« frage ich. »Lagerraum. Und Sicherungskästen.« Dan streicht mit seinen rauhen Händen über die Wände, die rissige und zu Blasen auf geworfene Farbe blättert ab. »Da drin waren jede Menge Ki sten, die meisten haben das Feuer nicht überstanden. Während wir hier quatschen, untersuchen die Jungs im Präsidium den Kram gerade.« Ein schwacher, aber vertrauter Duft weht durch die Luft – und trifft mich wie vergammeltes Roastbeef, aber ich habe schon genug Fälle dieser Art geknackt, um es besser zu wissen. »Benzin«, murmele ich. »Riechst du das?« »Ja, klar rieche ich das. Unsere Chemiker haben ein paar Spuren gefunden, aber das ist nicht weiter überraschend. Eine Etage höher steht ein Generator für den Fall, daß der Strom ausfällt, und hier haben sie den Brennstoff gelagert.« Ich notiere alles so schnell wie möglich und überfliege meine Notizen noch einmal. Enge Schrift, ausgeprägte Bögen, groß und schlank. »Ihr habt doch sicher schon einen möglichen Tat hergang zusammengepuzzelt, oder?« frage ich. »Und ob. Die Polizei von L.A. schläft nie.« »Das erklärt zumindest euren Zuckerkonsum. Okay, laß mich raten.« Ich räuspere mich und improvisiere drauf los, bereit, zu brillieren oder doch zumindest ein wenig zu beeindrucken. 52
»Funken im Vorratsraum, ein Schwelbrand. Wahrscheinlich elektrischen Ursprungs, eine durchgebrannte Sicherung – das ist das erste Geräusch, das die Zeugen gehört haben. Ein paar Kisten fangen Feuer, vielleicht Pin-Up-Blättchen oder diese Pornos aus Taiwan.« »Pornos aus – gibt es da vielleicht etwas, was du mir erzäh len willst, Rubio?« »Unterbrich mich jetzt nicht. Ich komme gerade in Fahrt. Al so, knister, knister, die Pornoheftchen verbrennen, und eine halbe Stunde später quellen Rauchwolken aus dem geschlosse nen Büro. Dinos und Menschen grooven auf der Tanzfläche ab, als plötzlich jemand den Rauch sieht. Alles stürzt nach drau ßen, und irgend jemand alarmiert die Feuerwehr. Bis jetzt gibt es nur Rauchwolken, davon aber jede Menge. Die Feuerwehr trifft mit heulenden Sirenen und Blaulicht ein, ein Riesenauf lauf, und als gerade alle draußen sind – ka-WUUM –, erreicht das Feuer die Benzintanks, und der Laden geht in Flammen auf. Ein Unfall, ziemlich ungewöhnlich, aber ein Unfall, Ende der Durchsage, alle gehen nach Hause und schwindeln ihren Ehefrauen was vor, bis auf die beiden Toten und den Besitzer im Krankenhaus.« Dan applaudiert, und ich verbeuge mich und spüre, wie mein Gürtel sich unter dem Druck spannt. »Wir haben es ziemlich genauso rekonstruiert«, gibt Dan zu. »Wir haben übrigens Do novan Burkes Finanzen überprüft –« »Das ist der Besitzer, richtig?« »Ja, ein Playboy, große Nummer, ist vor ein paar Jahren in den Westen gekommen und hat sich in Nullkommanix etabliert – er liegt auf der Intensivstation des County Hospital. Wir ha ben ihn durchgecheckt, weil wir wußten, daß ihr früher oder später rumschnüffeln würdet, um euch zu vergewissern, daß er die Lunte selbst gelegt hat, aber er ist sauber. Der Schuppen war der heißeste Laden im ganzen Valley – die arme Sau hat Abend für Abend Kohle gescheffelt. Er mußte eine zusätzliche 53
Aushilfe anstellen, um sie zu zählen.« Ich weiß, daß den einsamen Privatdetektiv, der an einem Fall arbeitet, sich durch die schäbigsten Straßen schleppt und die schmutzigsten Details ausgräbt, bis er seinen Mann schließlich gefunden hat, ein großes Mysterium, ja, eine beinahe erotische Aura umgibt – ich habe mit dieser Nummer schließlich genug Weiber abgeschleppt. Und in gewisser Weise macht mir diese Art Arbeit sogar richtig Spaß. Hält einen wach und auf den Krallen. Aber bei einem so offensichtlichen Routine-Fall wie diesem schätze ich nichts mehr, als mir alle Informationen von einem guten Freund unter den Gesetzeshütern frei Haus liefern zu lassen. Ich meine, die müssen die Arbeit doch sowieso ma chen, warum sollten sie ihre Ergebnisse nicht teilen? Leider übersehen sie manchmal etwas. »Wirst du den Fall abschließen?« fragt Dan, als wir den Nachtclub verlassen und Richtung meines Wagens und meiner Ersatzhose gehen. »Gehst du zurück zu Teitelbaum, präsen tierst ihm die Infos und sagst ihm, wo er sie sich hinstecken kann?« »Ich muß diesen Job behalten«, erinnere ich ihn. »Genau wie mein Leben. Und einen T-Rex zu beleidigen ist wohl kaum der richtige Weg. Außerdem will ich noch ein paar Spuren nachge hen.« »Hör zu, ich geb dir alle Zeugenaussagen, die ich habe. Was willst du noch überprüfen?« Ich brauche einen Hut, an dessen Krempe ich tippen kann, einen Trench, den ich zuziehen kann, eine Zigarette, die zwi schen meinen Lippen hängt. Ein Leben als Privatdetektiv ohne Requisiten bringt’s einfach nicht. »Du hast doch gesagt, ein anonymer Anrufer hätte ein riesiges Feuer im Evolution Club gemeldet, richtig? Mit genau diesen Worten – ein riesiges Feu er?« »Soweit ich weiß, ja.« Ich klopfe auf Dans Brusttasche, und meine behandschuhten 54
Finger tippen auf sein Notizbuch. »Aber alle deine Zeugen haben die Flammen erst gesehen, nachdem die Feuerwehr ein getroffen war.« Ich halte kurz inne … und warte … und warte … und dann hat Dan kapiert. »Da haben wir es wohl mit widersprüchlichen Zeitangaben zu tun, was?« sagt er. »So ist es«, erwidere ich und setze das breiteste Grinsen aus meinem Repertoire auf, jenes, das meine Lippen zu einem strahlenden Halbmond verzieht. »Und du mußt noch einen ganzen Haufen mehr Papierkrieg erledigen.« Dan schüttelt schwermütig den Kopf – Formulare und Akten sind nicht gerade die Stärke von Brontosauriern. Doch er ist ein echter Polizist, und im Grunde meines Herzens weiß ich, daß er sich morgen früh über seine Schreibmaschine beugen und sich auf jede Einzelheit konzentrieren wird wie ein Mönch, der ein kostbares Manuskript illuminiert. »Hast du Lust, heute abend bei mir vorbeizukommen?« fragt er. »Ich will ein paar Steaks grillen und vielleicht richtig einen drauf machen und sie mit Oregano würzen.« Ich schüttele den Kopf und schlurfe zum Eingang des Clubs. Grillen klingt großartig, Steaks klingen noch besser, Steak und Oregano sind so ziemlich die Krönung –, aber ich habe etwas zu erledigen. Und ich brauche ganz schnell eine Dosis Basilikum. »Klingt super, vielleicht ein anderes Mal.« »Hast wohl was Heißes vor, was?« Dan zieht lasziv die Brauen hoch. Ich denke an den verbrannten Velociraptor im Krankenhaus und seine rätselhaften Bemühungen, in einem Raum zu verhar ren, der glutheiß, voller Qualm und hundert verschiedener To de auf einmal war. Niemand hängt so an seinem Schreibtisch stuhl – mit dreitausend Grad im Rücken würde selbst Teitel baum sich hochrappeln und aus seinem Büro schleppen. Was die Vermutung nahelegt, daß Donovan Burke einen Grund hat te, in diesem Raum zu bleiben – und zwar einen verdammt 55
guten –, und es gibt nur einen einzigen Dino, der mir sagen kann, was dieser Grund war. »Heißer geht’s nicht«, antworte ich Dan und trete ins Freie.
4 Zugegeben, Krankenhäuser sind eine harte Nummer für jeden. Der letzte Ort, an dem sich Kranke und Sterbende aufhalten wollen, ist unter Kranken und Sterbenden. Aber für Dinos ist es schlimmer. Viel schlimmer. Selbst nach Millionen von Jahren – nach all den zig Millio nen Jahren – mühselig langsamer evolutionärer Entwicklung erhalten wir Dinos unsere wichtigsten Informationen noch im mer mittels unserer Riechkolben. Ungeachtet unseres perfekten Sehvermögens und unserer scharfen Ohren ist der Geruchssinn unser wichtigster, und wenn man uns dieser Orientierungsmög lichkeit beraubt, kann das eine ziemlich niederschmetternde Erfahrung sein. Es gibt auf dieser Welt nichts Jämmerlicheres als einen Dino mit Schnupfen. Wir lamentieren, schniefen und klagen aus voller verstopfter Brust, daß nichts so ist, wie es sein soll, und die Welt mit einemmal jede Farbe und jeden Sinn verloren hat. Die Mutigsten unserer Gattung fallen in eine Art schniefende Infantilität zurück, wie gerade geschlüpfte Jungen, und diejenigen, die ohnehin schon zur Wehleidigkeit neigen, werden schlichtweg unausstehlich. Ein Krankenhaus hat keine Gerüche. Jedenfalls keine, die ei nem etwas nützen würden, und das ist das Problem. Die Kani ster über Kanister von Desinfektionsmitteln, die jeden Tag über Böden und Wände gekippt werden, sorgen dafür, daß kein ein ziges Geruchsmolekül diesen Ort lebend verläßt. Sicher, das alles geschieht im Namen der Gesundheit, und ich verstehe durchaus, daß die Ausrottung von Bakterien und ähnlichen mikroskopischen Übeltätern bei der Bekämpfung einer Ent 56
zündung oder was weiß ich ziemlich nützlich sein kann, doch für einen Dino ist es verdammt schwer, dabei nicht verrückt zu werden. Ich bin selbst schon auf bestem Wege, dabei habe ich das Hospital gerade erst betreten. »Ich möchte Donovan Burke besuchen«, erkläre ich einer schmallippigen Krankenschwester, die angestrengt über einer Tasse Kaffee und dem Kreuzworträtsel brütet. »Sie müssen schon lauter sprechen«, sagt sie unter rhythmi schem Schmatzen eines Kaugummis zwischen ihren kurzen stumpfen Zähnen. Mit geblähten Nüstern beuge ich mich in stinktiv näher zu ihrem mahlenden Kiefer, während sich mein Gehirn nach einem Hauch Juicy Fruit, Trident oder Wrigley’s verzehrt – irgendwas, um gegen dieses durchdringende Nichts anzukämpfen. »Donovan Burke«, wiederhole ich und weiche ein Stück zu rück, bevor sie mich dabei ertappt, wie ich an ihrem Mund schnüffele. »Donovan mit D.« Die Schwester – Jean Fitzsimmons, wenn sie nicht heute morgen mit jemandem das Namensschild getauscht hat – seufzt, als hätte ich sie aufgefordert, etwas weit unter ihrer Würde Stehendes zu tun, wie beispielsweise einen Stiefel mit Stahlkappe abzulecken. Sie läßt raschelnd die Zeitung sinken, um mit ihren dünnen vogelartigen Fingerchen auf einer Tasta tur neben ihr herumzutippen. Ein Computerbildschirm füllt sich mit einer Liste von Patientennamen, ihren jeweiligen Lei den sowie Preisen, die einfach nicht stimmen können. Einhun dertachtundsechzig Dollar für einen einzigen Penicillin-Schuß? Für so viel Geld sollte man als Dreingabe mindestens eine an ständige Dosis einer ernstzunehmenden Straßendroge verlan gen können. Schwester Fitzsimmons bemerkt meinen Blick und dreht den Monitor aus dem Sichtfeld von Peeping Vincents Glubschern. »Er liegt im fünften Stock, Station F«, sagt sie, während ihr 57
Blick mich besorgt von oben bis unten mustert. »Sind Sie ein Verwandter?« »Privatdetektiv«, antworte ich und zücke meinen Ausweis. Es ist ein nettes Bild von mir in meiner menschlichen Verklei dung und stammt aus einer Zeit, in der ich noch Geld und Lust hatte, meine Erscheinung zu pflegen – maßgeschneiderter An zug, breite Krawatte, glänzende Augen und ein breites freund liches Lächeln, das meine schärferen Zähne verbirgt. »Mein Name ist Vincent Rubio.« »Ich muß Sie –« »Anmelden, ich weiß.« Das übliche Verfahren. Station F ist ein von Dino-Ärzten und -Direktoren geführter Sondertrakt, in dem unsereiner in den Räumlichkeiten eines Krankenhauses eine Bleibe findet. Es gibt natürlich im ganzen Land auch spe zielle Dino-Kliniken, doch die meisten größeren Krankenhäu ser verfügen über eine Sonderstation für den Fall, daß einer von uns zur Notfallbehandlung eingeliefert wird wie Mr. Burke am letzten Mittwochmorgen. Die offizielle Version lautet, daß Station F für Patienten mit »speziellen Bedürfnissen« reserviert ist, womit eine ganze Rei he von Umständen beschrieben ist, die von besonderen religiö sen Vorlieben über Rund-um-die-Uhr-Betreuung am Kranken bett bis zu standardmäßigem VIP-Service reichen. Diese hin reichend breite Definition macht es den Dinos in der Verwal tung leichter, alle nichtmenschlichen Neuzugänge als Patienten mit »speziellen Bedürfnissen« zu klassifizieren, um sie, und nur sie, auf Station F einzuweisen. Alle Besucher – einschließ lich der Ärzte – müssen den Schwestern der Station gemeldet werden (allesamt verkleidete Dinos), vorgeblich, um die Pri vatsphäre und Sicherheit der Patienten zu wahren, in Wahrheit jedoch als Vorsichtsmaßnahme gegen eine zufällige Entdek kung. Das klingt ziemlich waghalsig, und man hört immer mal wieder einen Dino über die Risiken wettern, doch bis jetzt ha ben die Nörgler noch keine bessere Lösung präsentiert. Außer 58
dem machen Dinos einen großen Teil des Gesundheitswesens aus; Respekt vor der Medizin ist etwas, was alle Dino-Eltern ihren Kindern einimpfen, und sei es nur, weil unsere Vorfahren Millionen von Jahren lang an unbedeutenden bakteriellen Krankheiten und kleineren Entzündungen gestorben sind. Und weil so viele Dinos Ärzte werden, ist es leicht, ganze Stationen – manchmal sogar ein ganzes Krankenhaus – mit Saurierperso nal zu besetzen. »Sie können jetzt hochgehen«, sagt die Schwester, und ob wohl ich froh bin, ihrem grimmigen Blick zu entkommen, wird mir der ambrosische Duft ihres ausgelutschten Kaugummis fehlen. Während ich mit dem Aufzug in den fünften Stock fahre, kann ich mir den Aufruhr vorstellen, der dort zur Zeit herrscht. Schwestern führen Patienten in sichere Zonen, Zimmertüren werden geschlossen und verriegelt. Es ist wie beim Einschluß im Bezirksgefängnis, nur ohne Verbrecher und mit sehr viel hübscheren Wärtern. Als unbekannte Person stelle ich eine potentielle Bedrohung dar, und alle Zeichen von Saurierexi stenz müssen so gut wie möglich versteckt werden. Kameras und Standbilder meines Anmarsches nutzen nichts; so reali stisch, wie die Kostüme heutzutage sind, gibt es nur eine nar rensichere Methode, einen Menschen von einem Dino zu un terscheiden – unseren Geruch. Dinosaurier versprühen rund um die Uhr Pheromone wie ein außer Kontrolle geratener Ölturm Gase. Der natürliche Grund geruch eines Dinos ist süß, eine Brise von Kiefern an einem frischen Herbstmorgen mit nur einem Hauch saurem Sumpf dunst. Außerdem hat jeder von uns seinen eigenen individuel len Geruch, der sich mit dem Dino-Duft vermischt, ein Identi fikationsmittel, das in etwa dem menschlichen Fingerabdruck entspricht. Ich habe mir sagen lassen, daß mein Geruch an eine gute kubanische Zigarre erinnert, halb gekaut, halb geraucht. Ernie hat gerochen wie ein Bogen Kohlepapier frisch aus der 59
Druckerei; ich denke manchmal, ich kann ihn immer noch im Vorbeigehen riechen. Doch wegen den Schichten von Make-up, Gummi und Sty ropor, mit denen unsere Gattung ihre natürliche Schönheit Tag für Tag bedecken muß, ist es heute oft nötig, bis auf drei oder vier Schritte an jemanden heranzukommen, bevor ein Dino sich absolut sicher sein kann, mit welchem vernunftbegabten Mitglied des Tierreiches er zu tun hat. Deshalb werden die Vorsichtsmaßnahmen auf Station F weitergehen, bis ich vom Pflegepersonal gründlich geprüft worden bin, olfaktorisch und sonstwie. Die Fahrstuhltür gleitet auf. Ich hatte recht – die Räume sind fest verrammelt. Es herrscht Stille, und auf der Station ist es so leer wie beim letzten Bay-City-Rollers-Konzert, das ich gese hen habe. Gutes Konzert übrigens. Eine einsame Schwester lauert hinter ihrem Tresen und tut so, als würde sie einen Ta schenbuch-Roman lesen. Sie ist als kurvenreiche Blondine ver kleidet, und obwohl ich die menschliche weibliche Gestalt we der mit noch ohne Wespentaille attraktiv finde, kann ich trotz des Kostüms sehen, daß dieser Dino eine phantastische Infra struktur hat. Ich will die Sache nicht unnötig hinauszögern, schlendere zu ihrem Tresen, drehe eine kleine Pirouette und entblöße die Rückseite meiner Ohren, damit die Schwester eine ordentliche Prise meines männlichen Aromas abbekommt. Einmal habe ich diese Disco-Drehung im Vollrausch bei einer Menschenfrau ausprobiert und mir eine Ohrfeige eingefangen, obwohl ich bis heute nicht weiß, was genau sie daran obszön gefunden haben könnte. »Er ist sauber!« ruft die Schwester, und die Türen öffnen sich in rascher Folge wie von der Mitte zu den Rändern der Station kippende Dominosteine. Patienten strömen auf die Flure und knurren über die ständigen Sicherheitsübungen. Unter hauch dünnen Krankenkitteln sehe ich Schwänze zucken und Krallen 60
kratzen und träume für einen kurzen Moment davon, selbst Patient auf Station F zu werden, und sei es nur, um ein paar Tage in dieser Umgebung körperlicher Freiheit zu leben. Die Schwester bemerkt meinen wehmütigen Blick. »Sie müs sen schon krank sein, um hier reinzukommen«, sagt sie. »Ich wünschte mir beinahe, ich wär’s.« »Ich könnte Ihnen den Arm brechen«, meint sie scherzhaft, ein Angebot, das ich höflich ablehne. Dabei wäre es wirklich wunderbar, mich meiner Klammern und Gürtel zu entledigen und ein paar Tage in glückseliger Selbstakzeptanz als der Ve lociraptor herumzulaufen, der ich bin, doch irgendwo muß man eine Grenze ziehen, und diese Grenze ist physischer Schmerz. »Ich sehe so was ständig«, fährt die Schwester fort, als könn te sie meine Gedanken lesen. »Es wird so schlimm, daß wir alles tun würden, um wir selbst zu sein.« »Was würden Sie denn dafür tun?« frage ich und lege meinen inneren Flirt-Schalter um. Ich weiß, ich habe einen Job zu erle digen, aber Burke wird mir schon nicht weglaufen, und er kann ruhig ein, zwei Minuten warten, während ich hier den Char meur raushängen lasse. Die Schwester lehnt sich an den Tresen. »Was ich dafür tun würde? Ich weiß nicht«, sagt sie und zieht bedeutungsvoll eine Braue hoch. »Ein Armbruch kann sehr schmerzhaft sein.« »Genau das dachte ich auch.« Sie überlegt und wirft ihr falsches Haar über eine Schulter. »Ich könnte einen Schnupfen bekommen.« »Zu einfach«, sage ich. »Und damit kommen Sie auch nicht ins Krankenhaus.« »Nicht mal mit einem wirklich üblen Schnupfen?« »Sie sind auf dem richtigen Weg.« »Meine Güte, doch keine Krankheit?« ruft sie in gespieltem Entsetzen. »Vielleicht eine leichtere.« »Sie müßte aber auf jeden Fall heilbar sein.« 61
Ich nicke und rücke noch näher. »Unbedingt heilbar.« Wir sind nur noch Zentimeter voneinander entfernt. Die Schwester räuspert sich lasziv, beugt sich noch näher und sagt: »Ich habe gehört, dort draußen sollen ein paar ziemlich gutartige Kava lierskrankheiten wüten.« Nachdem ich mir ihre Telefonnummer gesichert habe, mache ich mich auf den Weg zu Burkes halbprivater Suite, vierte Tür links. Alle Arten von Patienten schlurfen, von meiner Anwe senheit unbeeindruckt, wortlos an mir vorbei, als ich den Flur hinunterschlendere. Ich sehe verbundene Wunden, Infusions beutel an Armen, Schwänze im Streckverband, und jeder ist verständlicherweise mehr mit seinem aktuellen Gesundheitszu stand als mit der Erscheinung eines weiteren Fremden auf einer ohnehin überfüllten Krankenhausstation beschäftigt. Das abwischbare Türschild an der Zimmertür trägt die Na men von Mr. Burke und seinem zeitweiligen Zimmergenossen, einem gewissen Felipe Suarez. Bevor ich den Kopf durch die Tür stecke, achte ich darauf, ein breites Grinsen aufzusetzen. Es gibt zwei Arten von Zeugen: Die einen reagieren auf Lä cheln, die anderen auf Einschüchterung. Ich hoffe, Burke zählt zur ersten Sorte, weil ich nur ungern handgreiflich werde, wenn es nicht sein muß, und in den vergangenen neun Monaten auch niemanden mehr geschlagen habe, eine Strähne, die ich nicht abreißen lassen möchte. Außerdem würde das Drangsa lieren eines bettlägerigen Velociraptors bestimmt eklatant ge gen die Krankenhausetikette verstoßen. Doch diesbezüglich muß ich mir keine Sorgen machen – die Betten sind komplett mit Vorhängen verhüllt, so daß mein Blick in das Zimmer durch ein paar durchscheinend weiße La ken begrenzt wird, die in der Brise eines Deckenventilators wehen wie weiße Fahnen zum Zeichen der Kapitulation. In einem Kleiderschrank hängen zwei leere Kostüme; zwei menschliche Hüllen, denen man die Luft abgelassen hat, bau meln schlaff bis auf den desinfizierten Boden. 62
»Mr. Burke?« rufe ich. Keine Antwort. »Mr. Burke.« »Er schläft«, ertönt von links eine nölige Stimme, deren Be sitzer hörbar unter Beruhigungsmitteln steht. Ich schleiche mich auf Zehenspitzen ins Zimmer und nähere mich dem verhüllten Krankenbett. Die schmale Silhouette hin ter dem Vorhang – Mr. Suarez, nehme ich an – stößt bei dem Versuch, sich umzudrehen und aufzurichten, ein Grunzen aus wie ein alter Chevy V8. »Irgendeine Ahnung, wann er aufwachen wird?« frage ich. Von Mr. Burkes Seite des Zimmers dringt kein Laut. Kein Schnarchen, kein Piepser, nichts. »Wer?« »Mr. Burke. Haben Sie eine Ahnung, wann er aufwachen wird?« »Haben Sie Schokolade?« Natürlich habe ich keine Schokolade. »Klar habe ich Schoko lade.« Der Schatten hustet und richtet sich auf. »Kommen Sie«, sagt er. »Sie ziehen Vorhang auf, geben mir Schokolade, und wir reden.« Ich kenne keinen einzigen Dinosaurier, dem Schokolade schmeckt. Unsere Geschmacksnerven sind für den Umgang mit einer derart reichhaltigen und mächtigen Köstlichkeit nicht ausgestattet, und obwohl wir im Laufe der Zeit gelernt haben, alle möglichen fettigen Substanzen zu uns zu nehmen, haben Johannisbrot und Konsorten auf unserer Geschmacksliste nie ganz oben rangiert. Andererseits gibt es Dinos, die alles fressen würden. Mit einer Ahnung, was mich erwartet (ich hoffe bei Gott, daß ich mich irre), ziehe ich zögernd den Vorhang zur Seite … Suarez ist ein Compy. Ich hab’s gewußt. Und jetzt muß ich mich mit der Kreatur unterhalten. Das kann gut sechs oder sie 63
ben Stunden dauern. »Und?« fragt er und breitet langsam seine verrunzelten schmächtigen Arme aus. »Wo ist Schokolade?« Suarez ist häßlicher als die meisten Compys, die ich bisher gesehen habe, aber das ist vermutlich ein Effekt der Krankheit, die er sich zugezogen hat, was immer es sein mag. Seine Haut ist ein Mischmasch aus gesprenkelten Grün- und Gelbtönen, und ich kann mich nicht entscheiden, ob das gegenüber dem üblichen Kothaufen-Braun seiner Art einen Fortschritt darstellt. Zahlreiche Pockennarben zieren seinen beweglichen Schnabel, kleine faulige Schönheitsflecken, die mich an die antiken mot tenzerfressenen Klamotten erinnern, die in meiner Abstell kammer verrotten. Und seine Stimme – diese Stimme! – eine Tonlage wie der Lkw-Fahrer mit einem Hauch Lachgas. »Hey, wo ist Schokolade?« krächzt er, und ich muß den Drang unterdrücken, den Träger dieser Stimmbänder mit einem Kissen zu ersticken. Es wäre so leicht. »Die Schokolade kommt später«, sage ich und weiche ein Stück zurück. »Erst erzählst du mir von Burke.« »Erst Schokolade.« »Erst reden.« Der Compy schmollt. Ich bleibe hart. Er schmollt noch ein bißchen weiter. Ich pfeife vor mich hin. Er trommelt mit seinen schwächlichen Fäusten wütend gegen das Bettgitter, und ich gähne breit und gönne ihm so einen Blick auf meine perfekt gepflegten Zähne. »Okay«, sagt er, »was wollen wissen?« »Wann wacht Burke auf?« frage ich. »Er nicht aufwachen.« »Ich weiß, daß er jetzt nicht wach ist. Ich meine, wie lange schläft er normalerweise. »Er immer schlafen.« Das reicht. Ich greife in meine Tasche und gebe vor, einen ungefähr Snickers-großen Gegenstand herauszuziehen. Ich 64
halte meine (leere) Hand hoch, sehe Suarez an und zucke mit den Schultern. »Dann kriegst du die Schokolade wohl nicht«, sage ich. Mannomann, manchmal muß man diese Penner wie Babies behandeln. »Nein, nein, nein, nein, nein!« kreischt er, ein schriller Ton, höher und lauter, als ihn selbst der berühmteste Kastrat je zu treffen erhoffen könnte. Im ganzen Stadtgebiet müßten Was sergläser zerspringen. Nachdem meine Trommelfelle die Sturmläden zugeklappt haben, beuge ich mich zu Burkes Bett hinüber und spähe mit Adleraugen durch den Vorhang. Nichts, kein Zucken. Und das nach diesem nicht unbeträchtlichen Lärm … nun, vielleicht wacht er wirklich nicht auf. »Willst du sagen, Burke liegt im Koma?« frage ich Suarez. »Ja«, sagt er. »Koma, Koma. Schokolade?« Verdammt … warum hat Dan das im Club nicht erwähnt? »Schokolade?« Von der Sorge befreit, meinen Zeugen zu wecken, stehe ich auf, gehe zu seinem Bett rüber und spähe hinter seinen Vor hang. Keine gute Idee. Der Geruch eines menschlichen Ernte dank-Festmahls schlägt mir entgegen, die berauschenden Düfte von geräuchertem Schinken und gebratenem Truthahn schießen in meine Nebenhöhlen. Dann sehe ich blutverklebte Verbände; das Fleisch ist von den Flammen verschrumpelt und rissig –, die klaffenden Wunden, den wie Vanillesauce quellenden Eiter – mein Blick klebt an der verkohlten Hülle, die aus diesem armen, mir von Größe und Gestalt so ähnlichen Raptor gewor den ist. Minuten später komme ich mit weichen Knien und zitternden Händen wieder zu mir. Irgendwie habe ich es geschafft, auf recht stehenzubleiben und den Vorhang zu schließen. Hinter dem hauchdünnen Stoff liegt jetzt nur noch ein regloser müder Schatten, der möglicherweise der verstümmelte komatöse Kör per eines gewissen Donovan Burke ist. Und obwohl ich froh 65
bin, wieder auf das weiße Laken zu starren, verspüre ich den perversen Drang, den Stoff wegzureißen und das Bild erneut in mich aufzusaugen, als ob ich mich, indem ich mir die Folgen eines solchen Unfalls ins Gehirn brenne, davor schützen könn te, daß mir je selbst so etwas zustößt. Doch Suarez’ hartnäcki ges Gejammer reißt mich aus meinen Gedanken. »Schokolade!« »Spricht … spricht er manchmal?« frage ich. »O ja, er manchmal sprechen«, sagt der Compy. »Ganz laut. Laut, laut.« Dann liegt er nicht im Koma. Ich beschließe, Suarez nicht über den Unterschied zu belehren. »Was er – was sagt er denn?« In Compy-Sprache zu verfallen ist so ziemlich das Letzte, was ich mir von diesem Abenteuer erhoffe. »Er Namen sagen«, erklärt Suarez mir. »Er rufen Judith, Ju dith, und dann er stöhnen. Ganz laut.« »Judith?« »Und er rufen J. C.« »J. C.? Die Initialen?« »Judith, Judith!« Suarez lacht laut los und besprüht sein La ken mit Spucke. »J. C.! Judith!« Ich fahre mir mit der Hand durch mein falsches Haar, eine Geste, die ich mir schon als Kind angeeignet habe, als ich noch lernte, ein vollendeter Mensch zu sein. Es ist ein nonverbales Zeichen, um Enttäuschung auszudrücken, habe ich mir sagen lassen und es seither nie wieder aus meinem KörperspracheWortschatz tilgen können. »Was sagt er sonst noch? Weiter.« »Er manchmal nach Mama rufen«, sagt Suarez flüsternd, als würde er ein epochales Geheimnis enthüllen, »und manchmal er nur rufen Judith, Judith.« Ich denke, ich kann ebensogut gleich anfangen, mir den Kram aufzuschreiben. Ruft nach Judith kommt ganz oben auf die Seite, und sei es nur, weil der Compy immer wieder davon anfängt. J. C. kommt als zweites, Mama als drittes. Tut mir 66
leid, Mama. »Hat er irgendwelche Besucher gehabt?« frage ich. »Ich haben Besuch!« kreischt Suarez und beginnt, mir eine Sammlung von Fotos zu präsentieren, die auf seinem Nacht tisch verstreut liegen. Einige sind einwandfrei von anderen Compys, kleinen, drahtigen Wesen, die offensichtlich mit Mr. Suarez verwandt sind, während andere ein bißchen suspekter erscheinen – Schnappschüsse von gutaussehenden Stegosauri ern und Brontos, wahrscheinlich Fotomodelle, deren Bilder noch nicht aus den Wechselrahmen entfernt worden waren. »Das ist wirklich reizend«, sage ich. »Sehr nett.« Ich schließe die Augen und … ja, da ist es wieder, eine weitere Migräne kämpft sich heran. Ich atme tief ein und spreche betont lang sam. »Ich möchte wissen, ob er – Mr. Burke –, der Raptor im Bett nebenan – irgendwelche Besucher hatte.« »Oh«, sagt Suarez und blinzelt heftig. »Oh.« »Du verstehen?« »Oh. Ja. Ja.« »Ja, er hatte Besucher, oder ja, du hast verstanden?« »Ja, Besucher. Einer. Ein Besucher.« Schließlich: »War es ein Verwandter? Ein Freund?« Suarez legt den Kopf zur Seite wie ein Hund, der sich fragt, wann sein Herrchen endlich das verdammte Frisbee wirft, und ein Lächeln breitet sich langsam über seinen Schnabel aus. »Wer war es?« frage ich. »Hast du einen Namen gehört?« »Judith!« ruft er und schüttelt sich vor Lachen. »Judith, Ju dith, Judith!« Ich stürme aus dem Zimmer, Suarez’ Singsang hallt mir noch in den Ohren. Der ganze Ausflug war eine einzige verdammte Zeitverschwendung, was das Endergebnis so ziemlich jeder Unternehmung ist, an der ein Compy beteiligt ist. Ich überlege, ob ich meine neue Krankenschwester-Freundin – sie heißt Rita und ist ein Allosaurier-Weibchen, o Mann! – nach den Unter lagen über Burkes Besucher fragen soll. Ich weiß, daß sie das 67
trotz der fragwürdigen Legalität eines solchen Unterfangens für mich tun würde, doch ich will sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Jedenfalls jetzt noch nicht, nicht ohne mich, und auf gar keinen Fall nüchtern. Doch ich senke im Vorbeigehen den Kopf zu einem kleinen Wir-sehen-uns-später-Nicken, und sie zwinkert zurück. »Viel leicht sollten Sie Schokolade von Mr. Suarez’ Speisezettel streichen«, schlage ich vor, denn der Restärger über den nutz losen Compy überwiegt meine gewohnte Zurückhaltung, den Siechen Schaden zuzufügen. »Er sieht ziemlich hyper irgendwas aus.« Ich trete rückwärts in die Fahrstuhlkabine. Rita beißt sich auf die Unterlippe – o Gott, sie kennt alle Tricks, und es macht mich verrückt, die Puppe nur anzusehen – und sagt: »Ist das eine ärztliche Anweisung?« »Noch besser«, gebe ich zurück. »Das ist Vincents Anwei sung.« Die Türen gleiten zu, und ich beglückwünsche mich selbst dazu, ein so verdammt cooles Reptil zu sein. Im Büro mache ich Dan per Telefon ganz schön die Hölle heiß, weil er mir nicht gesagt hat, in welch traurigem Zustand Burke sich befindet, und ich deswegen meinen Nachmittag mehr oder weniger nutzlos vertan hätte, doch ich bin nicht mit dem Her zen bei der Sache. Trotz meiner dumpfen kleinen Ahnungen deutet alles darauf hin, daß das Feuer im Evolution Club, so tragisch es auch sein mag, ein echter Unfall war, und ich bin bereit, den Bericht abzugeben, meine tausend Dollar von Tei telbaum zu kassieren und ein wenig dringend benötigten Schlaf nachzuholen. »Wenn es dir irgendwie hilft«, sagt Dan, »ich habe noch ein paar Hintergrundinformationen über den Typ. Ich habe sie ge rade aus den Akten gefischt. Ich könnte sie dir rüberfaxen.« »Irgendwas Interessantes?« frage ich. »Geburtsdatum, frühere Arbeitgeber und so weiter. Nee, nichts Interessantes.« 68
»Schick es trotzdem rüber«, sage ich. »So was macht den Klienten glücklich.« Für die zwei Minuten, die ich brauche, um das Fax zu überfliegen, kann Teitelbaum der Versicherung weitere zehn in Rechnung stellen; die Tageshonorare basieren auf einer festgelegten Gebührenordnung; und die Gebühren sind förmlich explodiert. Kurz darauf spuckt mein Faxgerät auf sechs der verbliebenen achtzehn Blätter, die ich besitze, die Dokumente aus. Die mei sten Möbel sind inzwischen abgeholt worden, ebenso wie die Schreibtische, Aktenschränke und Jalousien, aber ich habe immer noch ein Telefon und ein Faxgerät, Relikte aus den Ta gen, in denen ich Sachen noch mit hartem Bargeld bezahlt ha be. Es ist der übliche Schwachsinn, sinnlose Informationen, de nen ich nichts entnehmen kann, was ich nicht ohnehin schon weiß. Donovan Burke, geboren an der Ostküste, blablabla, El tern verstorben, blablabla, ledig, keine Kinder, etc., etc., Mana ger eines Nachtclubs, ladida, letzte Anstellung vor Eröffnung des Evolution Clubs in New York bei – Oha. Das ist tatsächlich interessant. Burkes letzte Anstellung vor Eröffnung des Evolution Clubs war in New York in Diensten des verstorbenen Raymond McBride. Offenbar hat Mr. Burke für McBride einen Club namens Pangea auf der Upper West Side geführt und die Stadt dann vor zwei Jahren ziemlich überstürzt verlassen, weil es laut seinen Angaben zu »kreativen Meinungsverschiedenheiten« mit dem Besitzer gekommen war. Binnen weniger Wochen hatte er das Kapital zusammen, sich in Studio City zu etablieren, er hat jedenfalls nicht lange getrödelt, bevor er sein Glück versucht und Ruhm und Reichtum à la L. A. angestrebt hatte. Interessant, ja. Aber nützlich? Eigentlich nicht. Was mich dann aber doch an den Eiern packt, ist die unauf fällig auf den unteren Rand der Seite gedruckte Kleinigkeit, der ich entnehme, daß es eigentlich McBrides Frau war, die sich 69
um die alltäglichen Geschäfte der Nachtclubs kümmerte, in die der Dino-Mogul investiert hatte. Es war McBrides Frau, die im Pangea so eng mit Donovan Burke zusammengearbeitet hatte. McBrides Frau war diejenige gewesen, mit der er »kreative Meinungsverschiedenheiten« gehabt hatte, und McBrides Frau war es auch gewesen, die ihn veranlaßt hatte, die Koffer zu packen und dreitausend Meilen weit zu verduften. Ihr Name war natürlich Judith. Ich rufe Dan zurück und bestätige den Erhalt des Faxes. »Hilft dir das irgendwie weiter?« fragt er. »Nein«, gebe ich zurück. »Gar nicht. Trotzdem vielen Dank.« Mein nächster Anruf gilt dem Reisebüro von TruTel, und drei Stunden später sitze ich dank eines 499-Dollar-Hin-und Rückflug-Sonderangebotes in einem Flieger Richtung Wall Street. Start spreading the news.
5 Der Flug verläuft völlig ereignislos, was die menschlichen Pas sagiere nicht davon abhält, bei der Landung zu applaudieren, als ob sie einen anderen Ausgang der abendlichen Festivitäten erwartet hätten. Ich habe das nie verstanden; ich habe nur ein mal Grund gehabt, an Bord eines Flugzeugs zu applaudieren, und das war, als mir die Flugbegleiterin, statt der mir zustehen den Ration von einem, zwei Päckchen geröstete Erdnüsse ge geben hat. Rückblickend hätte ich lieber still bleiben sollen, da mein Beifall die Stewardess auf ihren Irrtum aufmerksam machte und sie mir die Extraportion wieder abnahm. Teitelbaum hätte mich kaltmachen und an die Wand hängen lassen, wenn er meinen wahren Grund für diesen Besuch in New York geahnt hätte. Ich hatte ihn wissen lassen, daß einige Spuren zurück nach New York weisen würden, und ihn um 70
eine Firmenkreditkarte (mit fünftausend-Dollar-Limit, ohne Scheiß) gebeten, worauf er mich telefonisch zu löchern begann. »Sie wollen an diesem Fall dranbleiben?« »Natürlich«, versicherte ich ihm. »Deswegen fliege ich ja rü ber. Für die Versicherungsgesellschaft.« »Und Sie murksen nicht wieder an der Sache mit Ihrem toten Partner rum?« »Genau«, sagte ich. »Kein Gemurkse.« Aber wenn dieser Fall zu McBride führt, könnte ich natürlich gezwungen sein, Fragen bezüglich McBrides Tod zu stellen, und wenn ich Fragen über McBrides Tod stelle, werde ich möglicherweise auf Informationen über einen der ersten Pri vatdetektive stoßen, die an dem Fall gearbeitet haben, meinen »toten Partner« Ernie. Das alles muß ich Teitelbaum natürlich nicht erzählen. Er braucht nur zu wissen, daß die Versicherung jetzt noch mehr Geld für ein aufgeblähtes Spesenkonto aus spucken muß, das nun auch noch einen Aufenthalt in der zweitextravagantesten Stadt Amerikas abzudecken hat. Das nächste Mal muß ich einfach darauf hoffen, daß jemand in Las Vegas ermordet wird. Ich habe beschlossen, in der Stadt keinen Wagen zu mieten, was laut meinem Taxifahrer eine kluge Entscheidung war. Durch New York zu fahren sei eine besondere Kunst, erklärt er mir mit einem nicht einzuordnenden Akzent, und ich begreife, daß Uneingeweihte keine Exkursionen auf eigene Faust wagen sollten. Obwohl der Taxifahrer ein Mensch ist, hat er einen eigenen Geruch, auch wenn es sich nicht um aromatischen Kie fernduft an einem kühlen Herbstmorgen handelt, um nur so viel zu sagen. »Wo Sie wollen hin?« fragt er, und mich überkommt das Ge fühl, wieder mit Suarez zu tun zu haben. Spricht denn niemand außer mir unsere Sprache? Doch er ist nur ein Mensch – wahr scheinlich ein Ausländer –, und er beherrscht meine Mutter sprache besser als ich seine (wenn er nicht aus Holland stammt, 71
da ich praktisch fließend Holländisch spreche). »Zum McBride-Building«, sage ich, und er stürzt sich in den Verkehr und beschleunigt auf mindestens neunzig Meilen die Stunde, bevor er einen halben Block weiter wieder auf die Bremsen steigt. Nur gut, daß ich lange nichts mehr gegessen habe. Bevor er das Wort erneut ergreift, sind wir schon in Manhattan. »Sie Geschäfte mit McBride?« fragt er und mustert mich all zu auffällig im Rückspiegel. Mir wäre es lieber, er würde sich mehr auf die Bedienung seines Automobils konzentrieren. »Ich habe eine geschäftliche Verabredung in dem Gebäude«, sage ich. »Heute nachmittag.« »Er großer Mann, McBride.« »Großer Mann«, wiederhole ich matt. Als das Taxi stotternd am Straßenrand zum Stehen kommt, flackern verschwommene Bilder meines letzten New-YorkAufenthaltes vor meinen Augen auf, Polizeireviere und Zeu gen, fehlende Indizien und grobe Abfuhren. Und mehr als nur eine Supermarkt-Stellage. Wenn ich mich recht erinnere, gibt es in New York ein besonders kräftiges Majoran, wohingegen die Versorgung mit Bockshornklee schmerzhaft zu wünschen übrig läßt. Jeder harte Ermittlungsjob braucht eine entsprechende Aus stattung, und wegen meiner jüngsten finanziellen Schwierig keiten bin ich nur äußerst unzureichend ausstaffiert. Ich über lege, ob ich meinen Taxifahrer anweisen soll, vor dem näch sten Kaufhaus zu halten, wo ich die benötigten Posten mit der TruTel-Kreditkarte prompt erwerben könnte, doch ich wage zu bezweifeln, daß derlei Massenware mir die richtige Authentizi tät verleihen würde. An der Ecke 58. und Lexington lasse ich das Taxi vor einem echten New Yorker Hutmacher halten und kaufe mir einen braun-schwarzen Filzhut. Auf der 39. Straße kaufe ich einen Trenchcoat. Ich mache ein 72
Schnäppchen, weil in Manhattan fast dreißig Grad herrschen. Kurz hinter der Canal Street kaufe ich ein Päckchen filterlose Zigaretten, allerdings kein Feuerzeug oder Streichhölzer. Die Zigaretten sind ausschließlich dazu da, im Mundwinkel zu hängen. Komplett ausgestattet bitte ich erneut darum, zum McBrideBuilding gefahren zu werden, und wir wenden uns dem Herzen der Stadt zu. Wenige Minuten später ragt mein Ziel vor uns auf und durchbricht den künstlichen Horizont. Das McBride-Building, seit zehn Jahren steil aufragendes Symbol des Kapitalismus, ist achtzig Stockwerke hoch, einen ganzen Straßenblock breit und drängt sich durch die Skyline wie ein übereifriger Bodybuilder. Spiegelglas bestimmt die Konturen dieses architektonischen Meisterwerkes, helle silbri ge Spiegel, die die Straßen der Stadt aufsaugen und sie in satte ren, lebendigeren Farben wieder ausspucken. Okay, ja, es ist auf eine schmierig-protzige Art ganz schick, obwohl ich den Gedanken nicht verdrängen kann, daß es in vieler Hinsicht an ein riesiges, versilbertes Kondom erinnert. Ich hoffe, dieser aufrührerische Gedanke wird mich nicht die ganze Zeit während meines Treffens mit Mrs. McBride verfol gen – vorausgesetzt, ich kann eins arrangieren. Im Innern des Gebäudes setzt sich das Spiegelmotiv fort, Spiegel allerorten helfen mir, meinen Weg zu verfolgen, wohin ich auch gehe. Ich riskiere einen verstohlenen Blick auf meine neue Ausstattung; der Trench kommt gut, trotz der tropischen Temperaturen, unter denen die Stadt leidet; der Hut hängt schwer auf meinem Kopf, als drohe er ständig herunterzufallen. Menschen und Dinos strömen an mir vorbei, eine verschwom mene Mischung von Düften über die ganze Aroma-Palette. Ich schnappe Gesprächsfetzen über Ausverkäufe, Fusionen und das Flaggenrennen auf. Eine gewaltige Rezeption aus Granit nimmt einen Großteil der Lobby ein; durch das Gewimmel von Ge schäftswesen kann ich die Umrisse einer genervten Sekretärin 73
ausmachen. »Guten Morgen«, sage ich und ziehe den burgunderroten Kleidersack höher auf meine Schulter. »Ich wollte fragen, ob Mrs. McBride wohl zu sprechen ist.« Mit einem einzigen knappen Lächeln beweist die EmpfangsSekretärin in der Halle des McBride-Building, daß sie erstens freundlicher und zweitens ungleich furchteinflößender ist als die Nemesis meiner bisherigen Erfahrungen im Umgang mit Sekretärinnen, Schwester Fitzsimmons. »Sie möchten Judith McBride sprechen?« fragt sie, und der Sarkasmus lauert hinter ihren Zähnen, kratzt am Zahnschmelz und wartet nur darauf, losgelassen zu werden. »So bald wie möglich, ja«, erwidere ich. »Und haben Sie zufälligerweise einen Termin?« Sie weiß, daß ich keinen habe. Ich trage schließlich einen Kleidersack mit mir herum, Himmel noch mal. »Ja, ja, selbst verständlich.« »Und wie ist Ihr Name?« Ach, was soll’s. »Mein Name ist Donovan Burke.« Zucken ihre Augenbrauen? Spitzt sie die Ohren? Oder ist das nur meine Phantasie, die mir wieder die Evergreens der Para noia vorsingt? Ich möchte sie fragen, ob sie Ernie gekannt hat, ob sie ihn je gesehen hat, doch ich zügele meine Zunge, bevor sie irgendwelchen Schaden anrichten kann. Die Empfangssekretärin nimmt den Hörer ihres Telefons zur Hand und tippt die Nummer eines hausinternen Anschlusses ein. »Shirley?« sagt sie. »Hier unten ist ein Typ, der sagt, er hätte einen Termin mit Mrs. McBride. Nein. Nein. Ich weiß nicht. Er hat einen Koffer.« »Es ist ein Kleidersack. Ich bin gerade von der Küste herge flogen«, murmele ich. »Von der anderen Küste.« Das Ding wird mit jeder Millisekunde schwerer. »Genau, genau«, sagt die Rezeptionistin, während sie mit ei nem Auge verfolgt, wie ich mich mit meinem Gepäck abmühe. 74
»Er sagt, sein Name wäre Donny Burke.« »Donovan Burke. Donovan.« »Oh«, sagt sie. »Verzeihung.« »Das passiert mir dauernd.« »Donovan Burke«, stellt sie noch einmal für Shirley klar, und dann warten wir beide, während Shirley im Terminkalender einen Namen sucht, von dem wir alle drei wissen, daß sie ihn nicht finden wird. Die Rezeptionistin lächelt mich an wie ein Tiger mit Maulkorb; falls sie hinter ihrem Tresen einen IrrenAlarm hat, strebt ihre Hand jetzt unweigerlich zu dem Knopf hin. »Tut mir leid, Sir«, erklärt sie mir ein paar Sekunden später, »aber wir haben keinen Termin für Sie notiert.« Sie legt de monstrativ den Hörer auf die Gabel. Ich reiße die Augen auf, so weit es nur geht, und setze meine beste Miene schockierter Empörung auf. Dann nicke ich ernst, als hätte ich diese Wendung der Ereignisse erwartet. »Judi, Judi, Judi … Judith und ich, wir haben … wir hatten unsere Reibereien. Aber wenn Shirley – das war doch ihr Name, Shir ley, nicht wahr? – Mrs. McBride bitte ausrichten könnte, daß ich im Haus bin, dann versichere ich Ihnen, daß sie mich emp fangen wird. Wir kennen uns schon seit Jahren.« Ein weiteres falsches Lächeln, ein weiterer tödlicher LaserBlick. Zögernd nimmt sie den Hörer zur Hand. »Shirley, ich bin’s noch einmal …« Sie schickt mich zum Warten in eine Ecke, während sie und Shirley die Sache ausdiskutieren. Dieses Mal nähert sich nach Minuten – was sage ich, nach Sekunden – die plötzlich ausge sprochen respektvolle Sekretärin und erklärt mir, daß Mrs. McBride mich jetzt empfangen wird und daß ich die Unan nehmlichkeit bitte entschuldigen möge, ich würde sie in ihren Büros im siebenundsiebzigsten Stock antreffen. Hochgeschwindigkeits-Aufzug. Ich liebe diese Dinger. Gut, daß ich keine Eustachischen Röhren habe. 75
Im dreiundsechzigsten Stock steigen zwei Dinos in der Ver kleidung muskelbepackter Sicherheitsdienstleute zu – schwar zer Anzug, Ohrmikrophon – und postieren sich links und rechts neben mir. Sie strahlen physische Macht aus, und es würde mich nicht überraschen, wenn beide ein bißchen Sand mitge bracht hätten mit dem ausdrücklichen Vorsatz, ihn mir ins Ge sicht zu schleudern. Ich unterdrücke den heftigen Drang, ein kleines isometrisches Muskeltraining einzulegen. »Morgen, Jungs«, sage ich und tippe an meinen Hut. Die Ge ste rührt irgend etwas tief in meinem archetypischen DetektivUnterbewußtsein an, und ich beschließe, in Zukunft sehr viel häufiger an den Hut zu tippen. Sie reagieren nicht. »Ihr seht ja ziemlich schnittig aus in euren Kostümen. Eine echt gute Wahl.« Wieder keine Antwort. Ihre Pheromone – das dunkle, schwe re Aroma fermentierenden Hafers und aufgehender Hefe – ha ben bereits die Kontrolle über den Fahrstuhl übernommen und meinen eigenen köstlichen Duft als Geisel genommen. »Wenn ich raten müßte«, fahre ich fort und wende mich an den Koloß zu meiner Linken, »und ich muß euch warnen, darin bin ich ziemlich gut – würde ich sagen, du bist ein Allosaurier, und der kleine Lümmel da drüben ist ein Camptosaurier. Habe ich recht oder habe ich recht?« »Ruhe«, ertönt ein leiser Befehl. Ich gehorche sofort. Ein geeignetes Wort, um Judith McBrides Büro zu beschrei ben – das den gesamten siebenundsiebzigsten Stock des Ge bäudes einnimmt –, wäre »edel«. Das Wort des Tages. Edle Teppiche, edle Stoffe, durch die vom Boden bis zur Decke rei chenden Fenster ein edler Blick auf den Hudson und StatenIsland. Wenn ich auf die Toilette ginge, würde ich bestimmt feststellen, daß sie auch eine Methode entwickelt haben, das Wasser noch edler sprudeln zu lassen, wahrscheinlich mit Hilfe von Nutrasweet. 76
»Nette Bude«, sage ich zu meinen muskulösen Freunden. »Erinnert mich an mein eigenes Büro … das ist auch quadra tisch.« Sie sind nicht amüsiert. Ich bin nicht überrascht. »Mr. Burke?« Es ist Shirley, die berüchtigte Shirley, die mich zu der Doppeltür des Büros zitiert. »Mrs. McBride erwar tet Sie.« Die Wächter nehmen links und rechts der Türe Aufstellung, während ich das innere Heiligtum betrete und die breite Krem pe meines Hutes tief ins Gesicht ziehe. Mein Ziel ist es, ganz unterkühlt zu beginnen, um die Befragung dann zu einem net ten Cappuccino-Schaum aufzurühren, vielleicht mit ein paar Fragen über Ernie als Schokoflocken obendrauf. Das Licht ist gedämpft, die vertikalen Sichtblenden werfen dunkle Gitterstä be auf den Teppich. Zum Glück ist das Spiegelmotiv in diesen Gemächern nicht wieder aufgenommen worden, so daß ich mich von meinem Gedanken an das Kondom-Gebäude verab schieden kann. Statt dessen nehmen allerlei Gemälde, Skulptu ren und Kunstobjekte den verfügbaren Raum an den Wänden ein, und wenn ich irgend etwas von bildender Kunst verstünde, würde mir Mrs. McBrides Sammlung vermutlich vor Ehrfurcht die Sprache verschlagen. Es könnten ein paar Picassos darunter sein, vielleicht sogar ein paar Modiglianis, doch die Bar auf der anderen Seite des Raumes beeindruckt mich, ehrlich gesagt, sehr viel mehr. »Ich habe in meinem Büro keine Bar«, sage ich zu nieman dem bestimmten. Die Türen schließen sich leise hinter mir. »Donovan?« Ein Schatten löst sich vom Schreibtisch und bleibt starr hinter einem Stuhl stehen. »Bist du es wirklich?« In ihrer Stimme schwingt der affektiert aristokratische Tonfall eines Menschen mit, der tut, als wäre er schon reich auf die Welt gekommen, als sei sein Status ein Resultat seiner Her kunft und nicht das Ergebnis harter Arbeit. »Morgen, Mrs. McBride.« 77
»Mein Gott … Donovan, du … du siehst gut aus.« Sie hat sich noch immer nicht bewegt. »Du scheinst überrascht zu sein.« »Natürlich bin ich überrascht. Ich habe von dem Feuer gehört und …« Jetzt hat Mrs. McBride sich in Bewegung gesetzt, das Sonnenlicht spielt auf ihrer Haut, als sie mit ausgestreckten Armen auf mich zukommt, um mich zu umarmen, SOS, SOS. Wir umarmen uns, und meine Schuldgefühle setzen ein. Ich erstarre. Sie tritt einen Schritt zurück und mustert mich gründ lich. »Du hast deine Verkleidung gewechselt«, stellt sie fest. »Gewissermaßen.« »Auf dem schwarzen Markt?« »Was der Rat nicht weiß …« murmele ich mit geübter Gleichgültigkeit. »Die alte hat mir besser gefallen«, sagt sie. »Die hier ist zu … Bogart-mäßig.« Ich grinse breit, ich kann einfach nicht anders. Bogart! Wun derbar! Nicht genau das, was ich angestrebt hatte, aber schon ziemlich nah dran. Doch nun weicht sie zurück und wirft mir verstohlene Blicke zu, und ich muß die sprichwörtliche Katze aus dem Sack lassen. Langsam und ruhig spucke ich es aus. »Mrs. McBride, ich wollte Sie nicht beunruhigen … ich bin nicht Donovan Burke.« Ich wappne mich innerlich gegen ihren Sturm der Entrüstung. Doch der bleibt aus. Statt dessen nickt Judith stumm, und ih re großen braunen Augen füllen sich mit Angst. »Sind Sie der jenige?« fragt sie und tänzelt in einem zittrigen Walzer rück wärts. »Sind Sie derjenige, der Raymond getötet hat?« Wundervoll. Jetzt hält sie mich für den Mörder ihres Mannes. Wenn sie schreit, ist alles vorbei – ich würde nicht dagegen wetten, daß diese beiden Klumpen Saurierfleisch aus dem Auf zug noch immer direkt vor der Tür stehen und begierig darauf warten hereinzuplatzen, mich zu einem Dinoburger zu verar beiten und mich siebenundsiebzig Stockwerke tief auf das ge 78
schäftig wimmelnde Pflaster zu werfen. Ich kann nur hoffen, daß mein Blut und Hirngewebe in einem Muster von hinrei chendem künstlerischen Wert verspritzen, um die Architektur des Gebäudes zu komplementieren. Wenn sich diese Situation indes ganz vermeiden ließe … Ich öffne sanft die Hände, um zu demonstrieren, daß ich völ lig unbewaffnet bin. »Ich bin kein Killer, Mrs. McBride. Des halb bin ich nicht hier.« Erleichterung huscht über ihre Gesichtszüge. »Ich habe Schmuck«, sagt sie. »In einem Safe. Ich kann ihn für Sie öff nen.« »Ich will Ihren Schmuck nicht«, sage ich. »Dann Geld –« »Ich will auch Ihr Geld nicht.« Ich greife in meine Jackenta sche; sie erstarrt und schließt die Augen, bereit für die Kugel oder das Messer, das sie in die Dino-Walhalla schickt, wo sie ihren Mann wiedertreffen wird. Warum hat sie noch nicht ge schrien? Egal. Ich zücke meinen Ausweis und werfe ihn ihr vor die Füße. »Mein Name ist Vincent Rubio. Ich bin ein Privatde tektiv aus Los Angeles.« Wut, Frustration, Verlegenheit – dies sind nur einige der Ge fühlsregungen, die über Judith McBrides Gesicht huschen wie eine Folge mißgebildeter Masken. »Sie haben die Empfangsse kretärin belogen«, sagt sie. Ich nicke. »Das ist korrekt.« Sie findet ihre Fassung langsam wieder, die Farbe kehrt in ihr mittelaltes Gesicht zurück. Falten zerknittern ihre Krähenfüße. »Ich habe Beziehungen«, sagt sie. »Ich könnte Ihnen die Li zenz entziehen lassen.« »Das ist wahrscheinlich zutreffend.« »Ich könnte Sie binnen zwei Sekunden rausschmeißen las sen.« »Das ist auf jeden Fall zutreffend.« »Und was führt Sie zu der Annahme, daß ich das nicht tun 79
werde?« Ich zucke die Achseln. »Sagen Sie’s mir.« »Ich nehme an, Sie glauben, mich könnte all das faszinieren. Und daß ich wissen will, warum Sie herkommen und vorgeben, ein alter Geschäftsfreund zu sein.« »Nicht unbedingt«, antworte ich und bücke mich, um meinen Ausweis von dem langflorigen Teppich zu bergen. »Vielleicht bekommen Sie auch nicht oft Gelegenheit, sich zu unterhalten. Vielleicht brauchen Sie jemanden zum Schwatzen.« Ihre Lippen verziehen sich zu einem charmanten Lächeln, das sie um Jahre jünger aussehen läßt. »Gefällt Ihnen Ihre Ar beit als Detektiv, Mr. Rubio?« »Sie hat durchaus ihre angenehmen Seiten«, antworte ich. »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel, wenn man schöne Frauen umarmt, die den ken, man wäre jemand anderes.« Plänkel, plänkel. Ich liebe das. Es ist ein Spiel, ein Wettbewerb, und ich verliere nie. »Sie lesen eine Menge Hammett, was?« fragt sie. »Hab noch nie von dem Typen gehört.« »Rubio … Rubio …« Mrs. McBride läßt sich auf ihrem Schreibtischstuhl nieder. »Der Name klingt vertraut.« Ihre Fin ger zucken, und sie legt den Kopf zur Seite, während sie ver sucht, irgendeine Erinnerung an meinen Namen aus dem Sumpf zu ziehen, der den Mord an ihrem Mann umgibt. »Ich habe vor neun Monaten schon einmal versucht, Sie zu befragen.« »Über Raymond?« »Über Raymond und über meinen Partner.« »Und was ist passiert?« »Ich glaube, ich habe keinen Termin bekommen.« »Sie glauben?« »Es war eine harte Woche«, erkläre ich ihr. Sie nickt, kneift die Augen zusammen und fragt: »Wer war Ihr Partner?« 80
»Sein Name war Ernie Watson. Er hat in dem Mord an Ihrem Mann ermittelt, als er getötet wurde. Kommt Ihnen der Name irgendwie bekannt vor?« Sie schüttelt den Kopf. »Watson … Watson … ich glaube nicht.« »Ein Raptor, knapp einsachtzig groß, hat gerochen wie Koh lepapier?« Ich gehe die Sache ganz falsch an, die Erinnerung an Ernie beherrscht meine Lippen und meine Zunge, die von ganz allein Fragen stellen, und um meine Zunge im Zaum zu halten, bedarf es einer tyrannosaurischen Anstrengung. »Es tut mir leid, Mr. Rubio. Mehr kann ich Ihnen nicht sa gen.« Eine Weile mustern wir uns wortlos und erspüren unseren jeweiligen Rang. Sie hat einen starken Geruch. Ich rieche Ro senblütenblätter über einem Maisfeld, Chlortabletten in einem Orangenhain und noch etwas anderes, das ich nicht einordnen kann, ein fast metallischer Duft, der sich in ihrem natürlichen Aroma auflöst und wieder hervortritt und es auf unbestimmba re Weise tönt. Judith McBrides menschliche Verkleidung ist durchaus at traktiv, angenehm, ohne überwältigend hinreißend zu sein. In der Regel versuchen wir Dinos, nicht durch Kostüme, die für einen durchschnittlichen Menschen zu verlockend wären, Aufmerksamkeit auf unsere falsche Gestalt zu lenken, denn damit sind zahlreiche Fallstricke verbunden. Ich bin einmal mit einem Ornithomimus-Weibchen ausgegangen, die darauf be stand, eine wirklich umwerfende Verkleidung zu tragen – und ich meine, 314 auf einer Zehn-Punkte-Skala, Kurven wie das mißglückte Experiment eines Glasbläsers –, und konsequen terweise als eines der weltweit gefragtesten Modelle für Bade moden endete. Doch als bei einem Bikini-Shooting auf den Fidschis ein Reißverschluß aufging, hätte die Dino-Gemeinde beinahe eine ausgewachsene Krise am Hals gehabt. Glückli cherweise war der Fotograf einer von uns und konnte den Set 81
räumen lassen, bevor irgend jemand, der nicht zu unserer Gat tung zählte, etwas bemerkt hatte. Das Shooting ging wie ge plant weiter. Die belastenden Negative wurden vernichtet, noch bevor sie auch nur in eine Dunkelkammer gelangten, und die Welt erfuhr nie, daß sich hinter jener wohlgeformten Fessel, so sorgfältig von Felsen, Meerwasser und Tang verdeckt, ein drei zehiger grüner Fuß verbarg, der wild im Sand scharrte. »Und nun«, sagt Judith, »sind Sie vermutlich zurückgekom men, um über den Mord an meinem Mann zu reden.« »Unter anderem.« Es besteht keine Notwendigkeit, Donovan Burke zu diesem Zeitpunkt ins Gespräch zu bringen. Wenn sie über McBrides Tod reden will, bin ich nur allzu bereit, ihr zu zuhören. »Ich habe bereits mit der Polizei gesprochen«, sagt sie. »Hunderte Male. Und mit einer ganzen Schwadron von Privat detektiven wie Ihnen, die von dieser oder jener Firma engagiert worden waren. Ich habe auch selbst private Ermittlungen in dieser Sache anstellen lassen.« »Und?« »Sie sind alle mit leeren Händen zurückgekommen. Alle.« »Was haben Sie ihnen erzählt?« Sie hält unser Spiel in Gang. »Lesen Sie denn keine Zei tung?« »Man kann nicht allem trauen, was man liest. Warum erzäh len Sie mir nicht, was Sie den Bullen erzählt haben?« Mrs. McBride atmet tief ein und macht es sich in dem breit lehnigen Stuhl bequem, bevor sie beginnt. »Ich habe ihnen das selbe gesagt, das ich auch allen anderen erzählt habe. An jenem Weihnachtsmorgen kam ich in Raymonds Büro, um mit ihm zusammen Geschenke einzupacken. Ich habe meinen Mann mit dem Gesicht nach unten in einer Blutlache auf dem Teppich gefunden und bin schreiend aus dem Gebäude gelaufen. Eine Stunde später bin ich auf einem Polizeirevier wieder aufge wacht, ohne zu wissen, wie ich dorthin gelangt oder was in der 82
Zwischenzeit geschehen war. Ich habe sechs Monate lang nur geweint, und erst jetzt finde ich langsam die Kraft, meine Trauer zurückzustellen, bis ich abends allein im Bett liege.« Ihre Nase zuckt, sie macht eine Pause, hält den Atem an und erwidert meinen Blick. »Deckt das in etwa Ihre Fragen ab, Mr. Rubio?« Dies ist unbedingt ein passender Moment für Beileidsbekun dungen, wenn ich je einen erlebt habe. Ich ziehe den Hut, ent decke dabei eine weitere Verwendung für mein neues Acces soire und sage: »Das mit Ihrem Mann tut mir sehr leid, Ma’am. Ich weiß, wie schwer so etwas sein kann.« Sie nimmt meine Kondolenz mit einem knappen Nicken ent gegen, und ich bedecke meinen Kopf wieder. »Sie haben das Büro durchsucht«, fährt sie fort, »und sie haben das Haus durchsucht. Ich habe ihnen volle Einsicht in unsere Geschäftsunterlagen gewährt – jedenfalls in die meisten –, und nach wie vor nichts.« »Das heißt, die Untersuchung ist … gewissermaßen stecken geblieben.« »Sie ist gewissermaßen tot«, gibt sie zurück. »Was ist mit dem Bericht des Gerichtsmediziners?« frage ich. »Was ist damit?« »Haben Sie eine Kopie?« Judith schüttelt den Kopf und zerknittert ihre Bluse. »Ich nehme an, die Polizei hat eine Kopie.« »Das will ich doch hoffen. Erinnern Sie sich an irgendwelche Einzelheiten aus dem Bericht?« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel, ob festgestellt wurde, ob Ihr Mann von einem Mitsaurier ermordet wurde.« Diese Information wurde nie an den Rat weitergeleitet – als ich vor meiner Entfernung aus dem Rat zuletzt davon hörte, »arbeiteten sie noch daran« –, und ich frage mich, ob die Genies aus der Pathologie die Information 83
irgendwann im Verlauf der letzten neun Monate zusammenge puzzelt haben. »Ich kenne den endgültigen Befund nicht«, sagt sie, »aber ich glaube nicht, daß es ein anderer Dino war.« »Sie glauben oder Sie wissen?« »Niemand weiß es, aber ich bin mir ziemlich sicher.« »Was macht Sie so sicher?« »Man hat mir berichtet, daß sein Tod durch eine Schußwaffe herbeigeführt wurde. Reicht Ihnen das?« Ich zucke die Achseln. »Es ist durchaus schon vorgekom men, daß wir Waffen getragen haben. Capone und Eliot Ness waren auch bloß zwei Diplodociden, die eine alte Rechnung zu begleichen hatten, das wissen Sie doch.« »Dann gestehen Sie mir einen Instinkt zu. Ich vermute, daß die Mitglieder Ihrer Zunft häufig Ahnungen nachgehen, oder?« »Wenn sie berechtigt sind«, versichere ich ihr, »sind Ahnun gen ein durchaus mächtiges Werkzeug.« »Glauben Sie, was Sie wollen, Mr. Rubio.« Sie wirft einen Blick in einen Spiegel und streicht ihr Haar zurecht. Judith McBride wäre mich offensichtlich gern los. »Ich bin zum Mit tagessen verabredet, hatte ich das erwähnt?« »Wir sind fast fertig«, versichere ich ihr. »Nur noch einen Augenblick, bitte. Hatte Ihr Mann Feinde? Dinos oder sonsti ge?« Ich hasse diese Frage. Jeder mit so viel Geld hat garantiert auch ein paar Feinde, und sei es nur, weil tief, tief drinnen kei ner jemanden mag, der so viel Kohle hat. »Natürlich hatte er Feinde«, sagt Mrs. McBride. »Er war sehr erfolgreich. Das kann in dieser Stadt gefährlich sein.« Zeit, eine kleine Show abzuziehen. Ich zücke eine Zigarette und ziele damit auf meinen Mund. Als sie in Zeitlupe auf mei ne Lippen zutrudelt wie ein außer Kontrolle geratener Tam bourstab, wird mir bewußt, daß ich diesen Trick bei all meinen Phantasien darüber noch nie geübt habe. Der erste Schuß landet an meiner Nase, und die Zigarette fällt auf den Boden. Dezi 84
diert untheatralisch. Ich grinse dämlich und hebe sie auf. Mrs. McBride runzelt die Stirn. »Im McBride-Building ist Rauchen nicht gestattet, Mr. Rubio. Eine alte Regel, die mein Mann verfügt hat und an die ich mich nach wie vor halte.« »Ich habe nicht vor zu rauchen«, erkläre ich ihr. Ein weiterer Wurf, und diesmal landet die Zigarette auf der Unterkante mei ner Lippe. Perfekt. Ich lasse sie baumeln. Noch immer perfekt. Mrs. McBride lächelt, und mit ihrem Lächeln verschwindet ein weiteres Jahrzehnt an Falten und Schönheitsfehlern. Wenn ich diese Frau bei Laune halten kann, wird sie noch zu einem vergangenen Leben regredieren. Aber das ist nicht mein Job. »Erzählen Sie mir von Donovan Burke«, sage ich, und ihr Lächeln erstirbt. Ich beobachte, wie sie damit ringt, daran zieht und zerrt, es drückt und zwingt, doch das Lächeln ist ver schwunden. »Da gibt es nichts zu erzählen.« »Ich frage ja gar nicht nach seiner Lebensgeschichte. Mich interessiert nur Ihre Beziehung.« Ich zücke einen brandneuen Notizblock aus meinem brandneuen Trenchcoat und öffne eine Schachtel brandneuer Kugelschreiber. Die Zigarette hängt noch an Ort und Stelle, und ich bin bereit zur Tat. »Unsere Beziehung?« fragt Mrs. McBride. »Ihre und Mr. Burkes.« »Wollen Sie andeuten –« »Ich will überhaupt nichts andeuten.« Judith seufzt, ein schwacher Lufthauch, der in einem gepreß ten Wüstenspringmaus-artigen Quieken endet. Ich bekomme von meinen Zeugen eine Menge Seufzer zu hören. »Er war ein Angestellter meines Mannes. Ich habe ihn in der Hauptsache bei Dinner-Parties in unserem Haus gesehen. Ein- oder zwei mal sind wir mit Donovan und Jaycee zu irgendwelchen Emp fängen gegangen, haben zum Essen zusammen gesessen und so weiter.« »Jaycee?« Das ist ein neuer Name. 85
»Donovans Verlobte. Sie sagten doch, Sie wären Privatdetek tiv, oder?« »Seine Verlobte … ja …« Das muß die J. C. sein, nach der Burke aus den Tiefen seines Komas gerufen hat. J. C., Jaycee … das war nahe genug. Dans Hintergrundinformationen hatten die Gute mit keinem Wort erwähnt. Je öfter ich mit meinem Kumpel von der Polizei Kontakt habe, desto klarer wird mir, was für eine Quelle von Nichtinformation er geworden ist. »Jaycee Holden«, sagt Mrs. McBride. »Reizendes Mädchen, einfach entzückend. Sie war Ratsmitglied, müssen Sie wissen.« »Für den Staat oder die Stadt New York?« »Für die Stadt.« Sie kramt auf ihrem Schreibtisch nach einem Foto, findet eins und dreht es zu mir um. »Das wurde vor drei oder vier Jahren bei einer Benefiz-Veranstaltung aufgenom men. Es ging um ein Krankenhaus hier in der Stadt. Raymond und ich hatten einen Kinderhort gestiftet.« »Natürlich.« Ich ziehe das Bild näher zu mir und halte es mir eine Armlänge entfernt vor die Augen, um die Unscharfen zu korrigieren. Meine Augen sind nicht mehr das, was sie einmal waren, und der Basilikumzweig, den ich auf dem Weg hierher verputzt habe, fängt langsam an zu wirken und verschärft das Problem. Ich erkenne Judith in einem blauen Kleid, das den Himmel verblassen läßt, Perlen tanzen wie Wolken um ihren Hals. Zu ihrer Rechten thront Raymond McBride, ganz der treue Gatte, und sieht ziemlich schnittig aus – schwarze Krawatte, diamant besetzte Knöpfe und Manschettenknöpfe, sein Kummerbund hat Schlagseite wie die Titanic. Diese beiden wirken unmittel bar vertraut, und selbst wenn ich Judith nie persönlich kennen gelernt hätte, habe ich in meinem Leben schon genug Erzeug nisse der Regenbogenpresse durchgeblättert (nur in der Warte schlange im Supermarkt, ich schwöre es!), um das wohlhaben de Paar in seiner menschlichen Verkleidung zu identifizieren. Ihre beiden Tischnachbarn habe ich noch nie zuvor gesehen, 86
weder in fotografischer Reproduktion noch sonstwie, doch es ist offensichtlich, daß sie sehr verliebt sind oder sich zumindest in unmittelbarer Nähe dieses Zustands befinden. Allein das Bild verströmt heftige Wellen des Begehrens wie Röntgen strahlen; die hochglänzende Oberfläche läßt die Luftschicht darüber dampfen. Donovan, der schicke junge Raptor, sieht sehr viel besser aus als im Krankenhaus, so viel ist klar, und mein Herz klopft pflichtschuldig einen Zapfenstreich in Ge denken an eine verwandte Seele. Was seine Begleiterin an je nem prachtvollen Abend irgendwann in der unwiederbringli chen Vergangenheit betrifft, macht sie ganz den Eindruck eines robusten, gesunden Weibchens, mit kräftigem Rücken und breiten Hüften. Das könnte natürlich auch ein Markenzeichen ihrer Verkleidung sein – so wie die meisten Nakitara-Kostüme einen Leberfleck auf dem Hintern haben –, doch ich kann er kennen, daß ihr echter Körper ihren Polyanzug aufs stattlichste füllt. Braunes schulterlanges Haar umrahmt ein Gesicht, das für eine Verkleidung ganz niedlich aussieht, allerdings nichts, worüber man so oder so Tränen vergießen müßte. »Hübsches Paar«, sage ich. »Die Ehe ist wirklich eine feine Sache.« Mrs. McBride stellte das Bild wieder weg. »Gewiß.« Dann fügt sie, als wäre ihr der Gedanke gerade erst gekommen, was offensichtlich nicht der Fall ist, hinzu: »Sind Sie verheiratet, Mr. Rubio?« »Mein Leben lang Junggeselle.« »Heißt das, Sie sind Ihr Leben lang Junggeselle gewesen, oder planen Sie es für den Rest Ihres Lebens zu bleiben?« »Ersteres, hoffe ich. Ich würde eines Tages gern ein nettes Raptor-Weibchen finden. Wie Ms. Holden da.« »Wenn Sie einen Raptor wollen«, erwidert Mrs. McBride, und ihre Lippen zucken, als hätte sie einen Schluck sauren Wein probiert, »wäre Jaycee Holden das falsche Mädchen für Sie. Sie ist ein Coleophysis.« 87
Das wird ja immer besser. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, die beiden wären verlobt gewesen.« »Das waren sie auch.« »Das heißt, sie wollten keine Kinder?« »Doch.« Ich blinzele. Ich habe vergessen, mir all das zu notieren – was mich garantiert später verfolgen wird –, doch jetzt bin ich ehrlich fasziniert. Affären mit Mitgliedern anderer DinoRassen sind ebenso verbreitet wie entsprechende Ehen, wenn das Paar nicht daran interessiert ist, sich fortzupflanzen und die Art zu erhalten. Doch es ist eine simple Tatsache, daß DinoMischehen keine Kinder produzieren können, da beißt die Maus keinen Faden ab. Diese Begrenzung unserer Fortpflanzungsfähigkeit ist keine gesellschaftliche Einengung wie in der menschlichen Welt, wo Menschen ständig über dieses Thema diskutieren – und das sogar landesweit im Fernsehen. Als Gattung sind wir einfach nicht so unerträglich eingebildet. Für uns ist das schlicht eine Frage der Physiologie: Ein Velociraptor-Papi und eine Veloci raptor-Mami ergeben einen ganzen Wurf Velociraptor-Babies, während ein Velociraptor-Männchen und ein ColeophysisWeibchen, auch wenn sie vielleicht eine Menge Spaß mitein ander haben, nie ein Velociphysis-Baby machen können. Au ßer … außer … »Dr. Emil Vallardo?« frage ich. Mrs. McBride ist beeindruckt. »Sie haben von seiner Arbeit gehört?« »Ich bin Mitglied des südkalifornischen Rates«, erkläre ich. »Das heißt … ich war …« »Sie waren?« »Rektifikation.« »Ah, ich verstehe.« »Es ist nicht, wie Sie denken«, erkläre ich. »Ich habe ein paar Mittel veruntreut und meine Autorität ein wenig mißbraucht.« 88
Genauer gesagt habe ich zwanzigtausend veruntreut und un gleich mehr an Macht und Autorität des Rates mißbraucht, als wäre dessen guter Ruf mein eigener gewesen. Doch ich habe das alles für Ernie getan und würde es, ohne mit der Wimper zu zucken, jederzeit wieder tun. »Also, ja«, fahre ich fort. »Ich habe von Vallardos Arbeit ge hört.« »Er ist ein guter Mann«, sagt sie, und ich zucke die Achseln. Eine Diskussion über das Wesen gemischtrassiger Kinder ist so ziemlich das letzte, was ich anzetteln will; das ist die Art The ma, die Dinner-Parties binnen Sekunden zum Erliegen bringt, und was es bei einer Zeugenbefragung anrichtet, mag ich mir gar nicht ausmalen. »Was Mr. Burke angeht – ich nehme an, es hat nicht funktio niert. Mit ihm und seiner Verlobten.« Sie läßt sich Zeit mit ihrer Antwort. »Nein, das hat es nicht. Donovan und Jaycee hatten sich getrennt, bevor er nach Kali fornien abgereist ist.« »Haben die beiden sich wegen Dr. Vallardo getrennt?« »Das weiß ich wirklich nicht – ich glaube nicht«, sagt sie. »Er wollte ihnen helfen.« »Und hat er das?« »Ihnen geholfen? Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube nicht. Donovan und Jaycee waren sehr verliebt, aber Unfruchtbarkeit kann ein Paar auf eine Weise verändern, die Sie sich nicht vor stellen können.« Ich versuche, das Thema von der anderen Seite anzupacken. »Warum ist Mr. Burke nach Kalifornien gegangen?« »Auch das weiß ich nicht.« »Hatte er persönliche Probleme? Drogen? Glücksspiel?« Judith seufzt erneut, und ich frage mich, ob sie sich an schickt, unser Gespräch zu beenden. »Sie scheinen mir umfas sendes Wissen zuzutrauen, Mr. Rubio. Dabei bin ich kaum in der Lage, mein eigenes Leben zu ordnen – wie soll ich da De 89
tails aus Donovans Leben kennen?« »Soweit ich weiß, waren Sie sein Boss. Vorgesetzten fällt so etwas doch auf.« »Ich versuche, mich nicht in die persönlichen Angelegenhei ten meiner Angestellten einzumischen.« Vielleicht sollte ich ihr Teitelbaums Nummer geben. »Soweit ich weiß, gab es einige … kreative Meinungsverschiedenhei ten?« »Wenn Sie auf mein Arbeitsverhältnis mit Mr. Burke anspie len, ja, wir sind im Pangea ein paarmal aneinandergeraten. Ich hielt es für meine Pflicht, die Interessen meines Mannes an dem Nachtclub zu wahren.« Jetzt wird sie hochnäsig, und ich bin wieder auf festem Boden. Mit Selbstgerechtigkeit weiß ich umzugehen. »Also haben Sie ihn entlassen.« »Wir sind zu einer Übereinkunft gekommen.« »Einer Übereinkunft, daß Sie ihn entlassen würden.« Judith McBride schürzt die Lippen und sieht mit einemmal wieder so alt aus wie am Anfang, Fältchen überziehen ihre Wangen und ihre Stirn wie ein eingraviertes Spinnennetz. Be eindruckend – sie muß eines dieser neuen Erickson-Kostüme aus Schweden haben, mit Spezialkapillaren für HochdruckDurchblutung. »Ja«, sagt sie schließlich. »Ich habe ihn gefeu ert.« »Ich wollte Sie nicht kränken.« »Das haben Sie auch nicht.« »War es eine freundschaftliche Trennung?« »So freundschaftlich, wie man jemanden nur feuern kann«, sagt sie. »Er hat es verstanden.« Wie soll ich die nächste Frage angehen …? Ich stülpe die Lippen vor und ziehe sie wieder zurück und mache dabei ein Geräusch wie eine wildgewordene Popcorn-Maschine. Am besten direkt. »Haben Sie und Ihr Mann ihm geholfen, sich in Los Angeles zu etablieren?« 90
»Wie um alles in der Welt kommen Sie auf diese Idee?« »Er hatte das Kapital für den Evolution Club erstaunlich schnell zusammen.« »Donovan«, sagt Mrs. McBride, »war schon immer ein aus gezeichneter Verkäufer. Er hätte auch Kapital für eine TiefseeFischerei in Kansas bekommen.« Sie weist mit ihrer zierlichen Hand beiläufig auf eine Vielzahl von Papieren, die auf ihrem Schreibtisch ihrer Bearbeitung harren. »Ich würde gern weitere Fragen beantworten, Mr. Rubio, aber es wird spät, und ich ha be, wie Sie sehen, bis zum Mittagessen noch eine Menge zu erledigen. Der Tod meines Mannes hat mich mit der Verant wortung für ein kleines Imperium zurückgelassen, und Ent scheidungen treffen sich nicht von selbst.« Wenn das kein Stichwort ist, weiß ich nicht, was eines sein könnte. Ich schiebe meinen Stuhl zurück und ziehe breite Fur chen in den knöcheltiefen Teppich. Ich hatte auch mal so einen Teppich im Büro, lange bevor ich der bitteren Wahrheit ins Auge sehen mußte, daß die Bank tatsächlich einen Teppich beschlagnahmen konnte. »Ich muß Sie möglicherweise noch einmal befragen«, be merke ich. »Wenn Sie diesmal einen Termin vereinbaren«, erwidert Mrs. McBride, und ich verspreche ihr, daß ich das tun will. An der Tür drehe ich mich noch einmal um, weil ich eine letzte Frage vergessen habe. »Ich frage mich, ob Sie mir viel leicht sagen können, wo ich Jaycee Holden finden kann. Ich würde mich gern mit ihr unterhalten.« Mrs. McBride lacht erneut, was diesmal jedoch wenig dazu beiträgt, die Spuren ihres Alters aus ihrem Gesicht zu tilgen. Sie wirkt eher noch ein halbes Jahrzehnt älter. »Das ist eine Sackgasse, Mr. Rubio«, sagt sie. »Tatsächlich?« »Ja. Sie würden nur ihre Zeit verschwenden.« Ich scharre mit den Füßen und wende mich wieder zur Tür. 91
Es gefällt mir nicht, gesagt zu bekommen, was ich tun oder lassen soll. »Wenn Sie mir nicht sagen wollen, wo sie ist, ist das in Ordnung.« Ich hatte schon öfter mit dem einen oder an deren störrischen Zeugen zu tun, obwohl sie selten lange ver schlossen geblieben sind. »Ich bin sicher, ich kann die Infor mation auch anderweitig auftreiben.« »Es ist nicht so, daß ich Ihnen nicht sagen will, wo sie ist«, sagt Mrs. McBride. »Ich kann es Ihnen nicht sagen, weil ich es nicht weiß. Niemand weiß es.« An dieser Stelle sollte dramatische Musik einsetzen. »Wird sie vermißt?« frage ich. »Seit einigen Jahren. Sie ist etwa einen Monat nach ihrer Trennung von Donovan verschwunden.« Sie hält inne und schluckt. »Reizendes Mädchen, wirklich reizend.« »Nun, vielleicht kann ich sie aufspüren. In so was bin ich an geblich ganz gut. Was für einen Geruch hatte sie?« »Was für einen Geruch?« »Ja, ihr Duft, ihre Pheromone. Sie wären überrascht, wieviele vermißte Dinos ich anhand ihres Geruchs geschnappt habe. Man kann sich verkleiden, wie man will, der Geruch bleibt an einem haften. Ein Typ, den ich einmal gesucht habe, hat so durchdringend gestunken, daß ich ihn zehn Sekunden, nach dem ich von der Autobahn abgefahren war, in einem Umkreis von fünf Häuserblocks ausgemacht hatte.« »Ich … ich weiß nicht, wie ich es erklären soll«, sagt Mrs. McBride. »Es ist schwer zu beschreiben. Jasmin, Weizen, Ho nig, eigentlich von allem ein bißchen.« Das ist nicht besonders hilfreich. »Letzter bekannter Aufent haltsort?« »Grand Central Station«, sagt Mrs. McBride. »Das war aber nicht ihre Adresse, nehme ich an.« »Sie und Donovan hatten gerade ein wenig erfolgreiches Versöhnungsessen hinter sich, und er hat sie zum Bahnhof ge bracht. Vergessen Sie nicht, das ist lange her … vielleicht brin 92
ge ich da auch etwas durcheinander. Soweit ich mich erinnere, hat Donovan mir erzählt, daß er beobachtet hat, wie sie mit der Rolltreppe zu einem Bahnsteig hinuntergefahren ist, an dem die Züge nach Osten halten. Sie haben sich zum Abschied zu gewinkt, und im nächsten Moment war sie in der Menge ver schwunden. Wie Zucker, der sich im Wasser auflöst, hat er gesagt. In einem Augenblick war sie noch da, im nächsten war sie verschwunden.« »Und das war das letzte Mal, daß irgend jemand Jaycee Hol den gesehen hat?« frage ich. Sie nickt. Das wird ja immer seltsamer. Ich danke Judith McBride für ihre Zeit und ihre Bereitschaft, mit Informationen herauszurük ken, und sie begleitet mich aus ihrem Büro. Soll ich ihre Hand schütteln? Soll ich sie überhaupt berühren? Üblicherweise ist ein Händedruck immer drin, aber inmitten von so viel Luxus fühle ich mich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sie erleichtert mir die Entscheidung, indem sie ihre Hand ausstreckt; ich er greife sie, drücke sie einmal fest und eile zum Fahrstuhl. Ich bin auch nicht schockiert, als im zweiundsechzigsten Stock die beiden Leibwächter wieder zusteigen, diesmal bin ich so beschäftigt damit, meinen nächsten Schritt zu bedenken, daß ich ihren massigen Körpern und ihrem stechenden Aroma wenig Beachtung schenke. Sie folgen mir auf Schritt und Tritt, bis ich am Empfangstresen meinen Kleidersack in Empfang genommen und das McBride-Building durch die Drehtür in der Halle verlassen habe. Auf der Straße versuche ich vergeblich, ein Taxi zu kriegen. Ich schreie, ich winke, ich brülle, und sie sausen munter vorbei. Bedeutet ein beleuchtetes Taxi-Schild nun, daß sie im Dienst sind, oder nicht? Egal – ob einsatzbereit oder nicht, sie ignorie ren sämtlich ihre Chance, und ich warte einsam am Straßen rand. Ich wedele mit einem Geldschein – einem Zwanziger, einem Fünfziger. Der gelbe Strom rauscht weiter vorbei. Es 93
erfordert schließlich einen Bruce-Jenner-artigen Luftsprung, um die Aufmerksamkeit eines Fahrers auf mich zu ziehen, und nachdem ich unter Lebensgefahr zwei Spuren überquert und das Taxi bestiegen habe, stelle ich überrascht fest, daß dieser Taxifahrer, obwohl es unbestreitbar nicht derselbe ist, genauso riecht wie der andere. Vielleicht bilden New Yorker Taxifahrer ja auch eine eigene Gattung. Wir fahren zur City Hall.
6 Öffentliche Archive und Ämter nerven. Ich würde sehr viel lieber am Rand der Legalität arbeiten und einen verstohlenen Blick in irgend jemandes Privatakten werfen, als in endlosen Schlangen zu warten, um mit hochnäsigen Sachbearbeitern (kriegen die diese Haltung an Sekretärsschulen beigebracht?) zu reden, die vielleicht, vielleicht aber auch nicht geruhen, mir die benötigten Informationen zu geben, je nachdem, ob sie schon zu Mittag gegessen haben und in welcher Phase sich der Mond gerade befindet. Eine verschlossene Tür und eine Kre ditkarte sind mir allemal lieber als mein Grundrecht auf Infor mationsfreiheit. Kreativer Umgang mit Gesetz und Wahrheit bereitet mir einfach Freude; wenn ich kein Detektiv wäre, wür de ich wahrscheinlich als Fossilien-Designer in einem der zahl reichen Labore tief unter dem Naturkundemuseum arbeiten, in denen ständig neue Tricks ausgeknobelt werden, unser »Aus sterben« vor 65 Millionen Jahren zu türken. Mein Ur-UrGroßonkel mütterlicherseits hat das erste fossilisierte Schulter blatt eines Iguanodon geschaffen, das dann in der Ödnis Pata goniens sorgfältig in einer dünnen Schlammschicht plaziert wurde. Ihn in meiner Ahnenreihe zu wissen erfüllt mich mit unendlichem Stolz. Täuschung macht Spaß; und Menschen zu täuschen ist eine regelrechte Volksbelustigung. 94
Vielleicht komme ich ja später noch dazu, ein bißchen echte Schnüffelarbeit zu erledigen, doch fürs erste sitze ich auf einem Stuhl mit harter Lehne fest, der ursprünglich für die Inquisition entworfen worden sein muß, blinzele ins Halbdunkel des City Hall-Archives und könnte kaum schlechter drauf sein. Laut der Unterlagen, in die ich nach etwa fünf Stunden War ten, Warten und noch mal Warten Einblick erhalte, hat Jaycee Holden vor etwa drei Jahren einen Trick gebracht, auf den selbst Houdini stolz gewesen wäre. Ihr Name, der zuvor in Schufa-Anfragen, Mietverträgen, Stromrechnungen, Gerichts akten, Ratslisten und sogar einigen Zeitungsartikeln aufge taucht war, hörte wenige Tage, nachdem sie auf dem Bahnsteig von Grand Central Station verschwunden war, auf, in irgend welchen Unterlagen zu erscheinen. Nicht einmal eine Trauer feier wurde für das vermißte Coleophysis-Weibchen gehalten, weil keine Leiche oder sonst ein konkreter Beweis für ihren Tod vorlag. Familie hatte sie praktisch auch keine, niemanden, der irgendwelche Beamten anbrüllen konnte, sie sollten endlich ihren Arsch hochkriegen und etwas unternehmen – beide Eltern waren verstorben, keine Geschwister. Jaycee Holden war eine attraktive, lebhafte junge Frau, die sich trotzdem immer noch am ehesten durch ihre Verbindung zum Rat und ihre Verlo bung mit Donovan definieren ließ; sie hatte also ein Leben ge führt, das nicht unbedingt Hinweise auf ihr Verschwinden na helegte. Laut eines einspaltigen Artikels auf der letzten Seite der Times hatten Donovan und einige Freunde sich redlich be müht, die Vermißte zu finden – Flugblätter, Aufdrucke auf Milchtüten, etc. –, die Bemühungen jedoch abgebrochen, nachdem die angeheuerten Detektive mit einer dicken Rech nung, aber ohne Ergebnis zurückgekehrt waren. Leute verschwinden. So was kommt vor. Aber niemand ver schwindet so vollkommen. Ich habe mein ganzes Arbeitsleben lang vermißte Dinos und Menschen aufgespürt, und egal wie gründlich ihre vorherige Existenz auch gelöscht worden war, 95
eines hatten sie alle gemeinsam: Ich habe immer eine Spur von Papieren und Formularen entdeckt, die ihnen ihr Leben lang folgte und an ihnen haftete wie eine Klette. So werden bei spielsweise weiter Werbesendungen in ihren Wohnungen ein treffen, die sie beschwören, dieses oder jenes unglaublich gün stige Angebot für Kreditkarten wahrzunehmen. Gnadenlose Freiwillige von TV-Call-In-Benefiz-Spektakeln werden ihre letzte bekannte Telefonnummer anwählen, um sie um Geld für bedürftige Kinder – alles für die Kinder – anzubetteln. Und so weiter. In der heutigen Welt, in der Computer die persönlichen Daten eines Menschen noch speichern können, wenn seine Ur Ur-Enkel bereits ins lokale Altersheim umgesiedelt sind, kann keiner mehr einfach so verschwinden. Niemand. Jaycee Holden hatte sich aufgelöst. Wie Zucker in Wasser, hatte Judith gesagt. Ihr Name war von allen Mailing-Listen gestrichen und aus den Unterlagen sämtlicher Direktwerber getilgt worden. Wenn ich eine Ahnung hätte, wie man ins In ternet kommt, würde ich dort garantiert feststellen, daß Jaycee Holden schon vor langer Zeit die erstbeste Abfahrt von der Datenautobahn genommen hatte. Nach jenem für die Jahreszeit außergewöhnlich warmen Februarnachmittag war sie virtuell nicht mehr existent, so als hätte sie alle Fährten ihres Lebens auf ihre Reise nach Nirgendwo mitgenommen. Ich habe schon von seltsameren Dingen gehört. McBrides Leben ist hingegen öffentlich ausgebreitet – Zei tungen, Zeitschriften, die ganze Palette. Zumindest die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens; davor klafft eine Lücke, aber das ist nicht weiter verwunderlich. Die meisten Artikel über den verstorbenen Dino erwähnen die Tatsache, daß er und seine Frau ursprünglich aus Kansas stammen, doch keiner geht aus führlicher auf sein dortiges Leben ein, als zu erwähnen, daß er jung verwaist ist und von einer Freundin der Familie großge zogen wurde. Irgendwann traf er seine entzückende Frau Ju dith, sie zogen nach New York, betraten die gesellschaftliche 96
und geschäftliche Bühne, bauten eine äußerst ertragreiche Fir ma auf, die sich auf Anleihen, Akquisitionen und den einen oder anderen angesagten Nachtclub spezialisierte, und – Peng! – ein Mogul war geboren. Von da an finden sich nur noch Klatschspalten und Geschäftsberichte, die beide die Eigen schaft haben, mich binnen Minuten zu Tränen zu langweilen. Ich verlasse das Archiv und freue mich schon auf einen Hap pen zum Abendessen an einer von New Yorks berühmten üp pigen Falafel-Buden, als ich auf eine Treppe stoße, die zum Leichenschauhaus des Bezirks führt. Ich kenne diesen Ort – sogar nur allzu gut. Vor neun Monaten war dies der Schauplatz meiner ersten Auseinandersetzung mit den Bürgern der Stadt New York. Vermutlich habe ich es mir damals zur Angewohn heit gemacht, den Assistenten des Gerichtsmediziners wegen Informationen über Ernies Tod zu nerven, obwohl meine Be mühungen nur mit einer unhöflichen Abfuhr und einem Denk zettel der Sicherheitsleute belohnt wurden. Ich glaube, es ist auch zu Drohungen sowie möglicherweise einer wie auch im mer gearteten körperlichen Konfrontation gekommen. Und wenngleich die genauen Einzelheiten jener Tage eher ver schwommen sind – das war etwa um die Zeit, als ich mit mei nem großen Absturz angefangen habe und so viel Basilikum intus hatte, daß ich praktisch ein wandelndes Gewächshaus war –, bin ich jetzt definitiv nüchterner als damals. Heute habe ich erst zwei Zweige von dem Zeug konsumiert und einen Teelöf fel getrocknetes Oregano und bin deshalb bereit, auf eine alles in allem unbedrohliche Art hartnäckige, bohrenden Frage zu stellen. »Nein, nein, nein – nicht Sie schon wieder –« wimmert der Assistent des Gerichtsmediziners und weicht zurück, als ich durch die doppelte Schwingtür der Leichenhalle schlendere. »Ich rufe den Sicherheitsdienst, das mache ich wirklich.« »Nett, Sie wiederzusehen«, sage ich und strecke in einer of fenen, friedfertigen Geste die Hand aus, die bei Hunden und 97
einigen dümmeren Menschen immer noch am besten funktio niert. Keine signifikanten Gerüche wehen in meine Richtung, das heißt, der Junge ist kein Dino – in einem solchen Angstzu stand, der seinen schmächtigen Körper in ein Mini-Erdbeben verwandelt, würde jeder Vertreter unserer Art Pheromone ver strömen wie eine läufige Schnauzerhündin. »Sie müssen – ich habe eine Nummer, die ich anrufen kann, ich kann Sie hinauswerfen lassen –« »Tue ich Ihnen etwas?« »Bitte – nicht –« Ich verlangsame meine Schritte und wiederhole meine Frage noch einmal laut und deutlich. »Tue-ich-Ihnen-etwas?« »Nein.« »Nein, das tue ich nicht«, sage ich. »Bedrohe ich Sie?« »Nein. Noch nicht.« »Genau. Und das werde ich auch nicht tun. Diesmal bin ich in einer offiziellen Angelegenheit hier.« Ich zücke die TruTelVisitenkarte, die ich vom Schreibtisch einer Empfangssekretä rin habe mitgehen lassen, und werfe sie dem Assistenten zu. Er taumelt ein paar Schritte zurück, als hätte ich eine Granate in seine Richtung geschleudert, beugt sich dann aber schließlich doch über seinen Schreibtisch und starrt, die Finger knapp über der Platte, auf meine Karte. Er wirkt besänftigt, trotzig, aber besänftigt. »Sie haben mir die Nase gebrochen«, sagt er. »Sie mußte neu gerichtet werden.« »Sie sieht jetzt viel besser aus«, lüge ich, weil ich mich nicht mehr daran erinnern kann, wie seine alte Nase ausgesehen hat. »Meiner Freundin gefällt sie auch. Sie sagt, damit würde ich männlicher aussehen.« »Ungemein männlich.« Ich kann mich ganz bestimmt nicht an ein Geplänkel erinnern, bei dem es derart zur Sache gegan gen wäre, daß anschließend Knochenbrüche zu beklagen wa ren, aber auf einem Basilikum-Trip kann einem alles passieren. 98
»Keine Grobheiten dieses Mal. Versprochen. Um ehrlich zu sein, suche ich eigentlich wieder Ihren Chef. Der kann doch nicht noch immer im Urlaub sein.« Beim letzten Mal hatte er die Stadt kurz nach Ernies Tod verlassen und erst wieder betre ten, nachdem ich längst aus New York rausgeworfen worden war. »Nein … aber er ist sehr beschäftigt.« »Wie wir alle. Bitte sagen Sie ihm, ein Privatdetektiv bittet um ein paar Augenblicke seiner kostbaren Zeit, mehr nicht.« Ich bemühe mich um größtmögliche Höflichkeit, eine Anstren gung, die meine Zähne jucken läßt. Der Assistent grübelt eine Weile über mein Ansinnen nach, bevor er sich wortlos umdreht und durch eine Tür hinter dem Tresen verschwindet. Ich würde gern ein bißchen rumschnüf feln und ein paar Aktenschränke durchwühlen, doch die Tür schwingt erneut auf, und der Gerichtsmediziner betritt den Raum in einem blutbefleckten Kittel und mit einem Geruch nach Formaldehyd, der sich mit dem natürlichen Aroma von polierter Kiefer und Chilipaste verbindet. »Ich habe da drinnen einen Selbstmord-Pakt, drei Kids vom City College, die beschlossen haben, sich umzubringen, indem sie sich ein paar Gallonen Jack Daniel’s reinziehen. Kein schö ner Anblick und eine verdammt eilige Sache.« »Dann werde ich mich kurz fassen. Mein Name ist Vincent Rubio –« »Ich weiß, wer Sie sind. Sie sind der Typ, der Wally im letz ten Januar so übel zugerichtet hat.« Wally beobachtet die Szene aus sicherer Entfernung und zuckt bei der Erwähnung seines Namens zusammen. »Klar braucht der Junge ab und zu eins auf die Nuß, aber wenn hier einer Kopfnüsse verteilt, dann bin ich das, verstanden?« »Verstanden«, antworte ich. »Und ich habe mich bereits ent schuldigt. Jetzt bin ich auf der Suche nach den Obduktionsbe richten von Raymond McBride und Ernie Watson, beide vor 99
etwa neun Monaten verstorben. Soweit ich weiß, haben sie beide Autopsien durchgeführt –« »Ich dachte, der Fall wäre abgeschlossen.« »Das war er auch.« »Das war er?« »Und ist es weiterhin. Dies hat nichts damit zu tun.« Der Gerichtsmediziner wirft einen Blick zu Wally, zur Decke und zum Boden, während er eine Entscheidung trifft. Schließ lich macht er mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Wir gehen durch die Leichenhalle zu seinem Büro, einer nüchternen Kammer, in der nur ein kleiner Schreibtisch und drei große Aktenschränke stehen. Ich bleibe auf der Schwelle stehen, während er einen der Schränke aufschließt, mir jedoch die Sicht auf seinen Inhalt verstellt. »Schließen Sie bitte die Tür«, sagt er, was ich gehor sam tue. »Ich will nicht, daß der Junge mithört. Er ist für mich wie ein Sohn, aber Säugetier bleibt Säugetier, wenn Sie verste hen, was ich meine.« Zwei Aktenordner liegen auf dem Schreibtisch, und der Ge richtsmediziner – Dr. Kevin Nadel laut Namensschild an der Tür – blättert sie eilig durch. »McBride. Genau, das habe ich auch allen anderen erklärt. Ich habe achtundzwanzig Schuß wunden an verschiedenen Körperstellen gefunden.« Kleine blaue Flecken markieren die Oberfläche einer menschlichen Gestalt, wahllos verstreute Pünktchen zieren seinen Kopf, sei nen Leib, seine Beine. Ich weise auf eine Reihe von Zahlen, die an den Rand des Obduktionsberichts gekritzelt sind. »Was haben diese Ziffern zu bedeuten?« »Das Kaliber der Geschosse. Vier Schüsse stammten aus ei ner Waffe vom Kaliber zweiundzwanzig, acht aus einer Fünfundvierziger, drei Streuwunden aus einer Schrotflinte und zwei von einer Neun-Millimeter, darüber hinaus haben wir elf Wun den gefunden, die wahrscheinlich auf eine Maschinenpistole zurückzuführen sind.« 100
»Moment mal«, sage ich.»Wollen Sie mir erzählen, daß man achtundzwanzig Mal aus fünf verschiedenen Waffen auf McBride geschossen hat? Das ist doch Wahnsinn.« »Wahnsinn oder nicht, das ist nicht mein Ressort. Man bringt mir die Toten, ich schneide sie auf, schaue hinein und berichte, was ich entdeckt habe.« Er nimmt ein Foto aus der Akte und gibt es mir. Es ist in der Tat McBride, wenngleich deutlich weniger le bendig als auf den Klatschseiten der Regenbogenpresse. Da liegt er mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Boden sei nes Büros, und obwohl es ein Schwarz-Weiß-Foto ist, kann ich die einzelnen Blutflecken auf dem Teppich, dem Stuhl und an den Wänden erkennen. McBrides Leiche ist mit Wunden über sät, und genau wie Nadel gesagt hat, sind sie von unterschiedli cher Form und Größe, obwohl alle von Projektilen zu stammen scheinen. Eine Schußwunde ist eine Schußwunde, und auf die sen Bildern sehen sie, ungeachtet des unterschiedlichen Kali bers, mehr oder weniger gleich aus. Glauben Sie mir, ich habe schon mehr als genug Fotos dieser Art gesehen. Ich gebe dem Gerichtsmediziner das Bild zurück. »Weiter.« »Was die zweite Leiche betrifft … ich kann mich nicht mehr an den Fall erinnern, aber meine Notizen besagen, daß ich zu dem Schluß gekommen bin, daß Mr. Watsons Tod ein Unfall war. Todesursache war ein massives Schädeltrauma, verursacht durch den Zusammenprall mit einem Auto.« »Und Sie haben keinerlei Anlaß, das zu bezweifeln?« frage ich. »Sollte ich? Soweit ich weiß, gab es Zeugen, die den Unfall gesehen haben. Fahrerflucht, glaube ich.« »Ich kannte Ernie«, sage ich. »Mr. Watson. Er war nicht der Typ, der – es ergibt einfach keinen Sinn, daß er so angefahren wurde –« »Deswegen heißt so was Unfall, Mr. Rubio.« Darauf weiß ich nichts zu erwidern, obwohl der Gedanke an 101
Ernies Tod nach neun langen Monaten Ermittlung, Blut (mög licherweise), Schweiß und Tränen bei mir noch immer ein flaues Gefühl im Magen auslöst. »Diese Sache ist mir wich tig«, erkläre ich dem Gerichtsmediziner. »Es ist nicht nur ge schäftlich. Dieser Mann – er war mein Partner. Er war mein Freund.« »Ich verstehe …« »Wenn Sie Angst haben, mit mir zu reden –« »Das habe ich nicht –« »Aber wenn, wenn Sie sich um Ihre Sicherheit sorgen, ich kann Sie schützen. Ich kann Sie an einen sicheren Ort brin gen.« Das ist kein absoluter Blödsinn – TruTel hat schon gele gentlich die Miete für ein sicheres Haus bezahlt, wenn ein Zeuge bereit war, mit Informationen rauszurücken, mittels de rer man einen großen Fall knacken konnte. Einen Moment lang sieht Dr. Nadel so aus, als wollte er noch etwas sagen. Er öffnet die Lippen, beugt sich vor, und seine Augen schimmern von jenem Glanz, der immer in den Augen von Zeugen funkelt, bevor sie mir alles offenbaren – und dann … nichts. »Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen«, sagt er, den Blick gesenkt. Die Ordner wandern wieder in den Schrank, der fest verschlossen wird. »Tut mir leid.« Ich finde selbst hinaus. Wenn mein Gehirn aufhört, vernünftig zu arbeiten – wenn ich tagträume, übermüdet oder, wie es in letzter Zeit häufiger der Fall ist, von irgendeinem scheußlichen Kraut benebelt bin, übernimmt der Rest meines Körpers nur zu gern das Komman do und führt mich an Orte, von denen er glaubt, daß sie mir gut tun würden. So muß ich wohl auch in Alphabet City gelandet sein, einem Viertel Manhattans, das weder besonders trendy noch der Gesundheit übermäßig förderlich ist. Als ich das Lei chenschauhaus verlasse, ertappe ich mich bei Gedanken an McBride, an Burke – und an Ernie –, und auf einmal funktio 102
niere ich per Autopilot, und meine Füße führen mich vor ein dunkles Gebäude mit bröckelndem Putz und einer Fassade, von der die Farbe abblättert. Ah, ein vertrauter Ort. The Worm Ho le ist ein Nachtclub mit Bar an der Avenue D und gehört Gino und Alan Conti, zwei Allosauriern, denen nachgesagt wird, den einen oder anderen Job für die Dino-Mafia erledigt zu haben. Der vordere Raum ist hauptsächlich Säugetieren vorbehalten und wird meines Wissens von einem stetigen Strom erbärmli cher Kunden bevölkert, professionelle Trinker, die schon mit tags anfangen, sich den Fusel hinter die Binde zu kippen, und erst am nächsten Morgen um neun aus den Latschen kippen. Doch jenseits der versifften Klos mit den NICHT-AUF-DIE BRILLE-PINKELN-Schildern, hinter einer als grafitti beschmierten Wand getarnten Tür, die von zwei Riegeln, einer Kette und einem Brontosaurier namens Skeech gesichert wird, befindet sich eine der gediegensten Dino-Bars diesseits des Hudson, ein Laden, in dem man jedem Laster frönen kann, krautig und anderweitig. Ich glaube, daß ich gegen Ende mei ner letzten New-York-Reise eine Menge vernebelter Zeit hier verbracht habe, obwohl ich, nachdem ich eingelassen worden bin und einen Platz gefunden habe, feststellen muß, daß ich keine Saurierseele in dem Laden wiedererkenne. Die meisten sind verkleidet, praktisch nicht von Säugern zu unterscheiden, doch einige tapfere Recken haben ihr natürliches Haupt und Gebiß entblößt, möglicherweise als Warnung an alle anderen, Abstand zu halten und sie in Ruhe zu lassen. »Basilikum, zwei Blätter«, bestelle ich bei der Kellnerin, ei nem Diplodocus-Weibchen, das sich einen Schlitz in ihr Ko stüm gemacht hat, so daß ihr Schwanz herausragt, träge hinter ihr über den Boden wedelt und den Dreck wie ein Besen auf kehrt. Die Kombination aus einer menschlichen Verkleidung und einem Dino-Schwanz ist ebenso reizvoll wie verboten und deshalb besonders verlockend für die zugedröhnte Kundschaft, die die Bar um diese Nachtzeit frequentiert. Als die Kellnerin 103
an einer Gruppe Raptoren vorbeigeht, strecken sie grölend die Hand nach ihrer nackten Haut aus, doch ein kurzes Zucken mit der Schwanzspitze, ein warnender Klaps gewissermaßen, erin nert sie schlagartig an ihre guten Manieren. »Vincent? Ach du heilige Scheiße, ist das wirklich Vincent Rubio?« Eine Frau, offenkundig ebenso überrascht wie erfreut, mich zu sehen. Schritte, ein Schatten, der auf meinen Tisch fällt. Ich überrede meinen Kopf aufzublicken. »Er ist es, verdammt noch mal!« kräht sie, und selbst wenn sie nicht ununterbrochen geflucht hätte, hätte ich Glenda Wet zel an ihrem Geruch erkannt, einer angenehmen Mischung aus Nelken und alten Baseball-Handschuhen. Glenda ist ein prachtvolles Mädchen, und es ist auch nicht so, daß ich sie nicht sehen will, ich bin zur Zeit nur nicht besonders daran interessiert, mit irgend jemandem zu reden. »Hey, Glen«, sage ich und stehe auf, um sie zu umarmen, bevor ich mich wieder auf meinen Stuhl fallenlasse. Ich mache ihr ein Zeichen, ebenfalls Platz zu nehmen. Sie zieht sich einen Stuhl heran und sitzt schon, bevor ich es ihr anbieten kann. »Scheiße, wie lange ist das her … ein Jahr?« »Neun Monate.« »Neun Monate … verdammt. Du siehst gut aus.« »Tue ich nicht.« Ich bin nicht in der Stimmung, mir mit ir gendwem irgendwas vorzumachen. »Okay, tust du nicht. Aber du riechst echt verflixt gut, so viel werde ich doch wohl noch feststellen dürfen.« Wir plaudern nichtssagend vor uns hin, bis das Basilikum kommt. Glenda sieht mich besorgt von der Seite an, als ich beide Blätter auf einmal kaue und in großen Klumpen herun terschlucke. Dann bestellt sie sich selbst einen halben Teelöffel gehackten Thymian. »Thymian hat’s für mich nie gebracht«, sage ich. »Für mich auch nicht«, gibt sie zu. »Aber irgendeine Sucht muß man schließlich pflegen.« 104
Glenda ist eine Kollegin, die ihre Stunden als Detektivin für J&T Enterprises abreißt, TruTels Schwesterfirma in Manhat tan. Ihr Boss, Jorgenson, ist eine lebensechte Kopie von Teitel baum, bis hin zu dem hohen Blutdruck und den unterdurch schnittlichen Umgangsformen. Die Leute von J&T hatten für den Rat der Stadt New York als erste im McBride-Fall ermittelt und jene berüchtigten Fotos geschossen, die in unserem südka lifornischen Rat herumgereicht wurden wie das Playmate des Monats im Umkleideraum einer Junior High School. Ich sehe sie noch vor mir – McBride in Verkleidung, der sich wahrhaf tig mit einer Menschenfrau paart und dies, dem Ausdruck auf seinem kostümierten Gesicht nach zu urteilen, ungeheuer ge nießt. Das Gesicht der Frau war durch einen fotografischen Prozeß geschwärzt worden, der Schwärzen-durch-Filzstift heißt, doch ihre Körpersprache gab ihre Gefühle recht deutlich wider. »Scheiße«, sagt Glenda, die mit Abstand der Hadrosaurier mit dem unflätigsten Wortschatz ist, den ich je getroffen habe, »ich glaub es einfach nicht … ich meine, nach dem letzten Mal …« »Ich weiß.« »… nachdem dich die Bullen in diesen Flieger nach L. A. ge steckt hatten –« »Wir wollen es nicht wieder aufwärmen, okay, Glen?« Sie nickt beschämt. »Natürlich. Klar.« Dann leuchten ihre Augen wieder auf. »Es ist verdammt schön, dich wiederzuse hen! In welchem Drecksloch wohnst du?« »Im Plaza«, erkläre ich ihr mit hochgezogener Braue. Ich ha be zwar noch nicht eingecheckt oder auch nur ein Zimmer re serviert, aber ich bin sicher, das läßt sich irgendwie deichseln. »Hey, hey, als Spesenritter unterwegs, was?« »Bis auf weiteres.« Das Basilikum fängt an zu wirken und hebt meine Stimmung. Glendas Pheromone erfüllen meine Sinne, und ich frage mich, warum ich sie noch nie um ein Ren 105
dezvous gebeten habe. Gut, sie ist ein Hadrosaurier, und die sind normalerweise nicht mein Typ, aber … »Mann«, sage ich, »du riechst echt gut. Gesund. Wirklich … echt gesund.« Lachend nimmt Glenda mir die kleine Keramikschüssel mit Basilikum-Krümeln weg. »Das ist genug von dem Scheiß zeug«, sagt sie. »An was für einem Fall arbeitest du?« »Ein Brand. In L. A.« Die Worte fließen jetzt schwerfälliger über meine Lippen, die Silben kommen zu spät zum Bahnhof, obwohl mein Gedankengang noch absolut pünktlich ist. »Und eine Spur hat dich hierher zurückgeführt?« »McBride. Mal wieder.« Sie reißt überrascht die Augen auf. »Ach ja? Ich wünsch dir viel Glück, Kumpel. Das ist eine verdammt harte Nuß.« Es bedarf einer besonderen Anstrengung, gegen die dicken, wuchernden, sich in meinem Mund ausbreitenden Kletterpflan zen anzukämpfen, doch ich bringe stotternd hervor: »Du kennst … du kennst … den McBride-Fall?« »Ob ich McBride kenne?« dröhnt sie. »Ich habe einen ganzen verdammten Monat an diesem Scheißhaufen von einem Fall gearbeitet.« »Muß … faszinierend gewesen sein.« »Ach, von wegen. Scheißlangweilig. Hast du schon mal je manden im fünften Stock eines Mietshauses ohne beschissenen Aufzug beschattet?« »Einem was?« Ich glaube, so etwas gibt es in L. A. gar nicht. »Wohnungen über Läden oder Werkstätten, keine Scheißauf züge«, erklärt sie. Jetzt bin ich mir sicher, daß es so etwas in L. A. nicht gibt. Selbst die Armen würden bei dem bloßen Ge danken in Ohnmacht fallen. Jede Entfernung von mehr als fünf Metern vertikal oder sonstwie erfordert ein Fahrzeug. Vor zugsweise mit Klimaanlage. Wenn wir sportliche Ertüchtigung suchen, benutzen wir einen Stepper, vielen Dank. »Ich meine, die Arbeit ist okay«, fährt Glenda fort. »Aber ich kann dir sagen, die abgestandene Luft und der beschissene Ge 106
ruch von Junk-Food macht dich spätestens nach dem fünften Tag völlig krank. Und das Scheißungeziefer, das über den Bo den und mein verdammtes Essen krabbelt …« »McBride hatte … hatte Affären … in einer Mietskaserne?« frage ich. Das kann nicht sein – der Mann hatte Millionen, möglicherweise Milliarden. Sie schüttelt den Kopf und bohrt in der Nase. Die Lady hat wirklich Stil. »Eine Mietskaserne würde ich es nicht nennen, einfach nur ein versifftes Haus. Es ist ganz in der Nähe, im East Village – kein Slum oder so, nur nicht besonders gepflegt. Wir haben jedenfalls auf der anderen Straßenseite gesessen und den ganzen beschissenen Tag lang Fotos gemacht – das Ge bäude, in dem sie gebumst haben, war schon ein bißchen schicker. Ich glaube, das Flittchen hat da gewohnt. Ich wette, sie haben vorher einen Kammerjäger kommen lassen. Gottver dammte Kakerlaken …« Schließlich bringe ich genug Silben zusammen, um das Ge spräch auf die Menschenfrau zu lenken, mit der McBride in flagranti delicto fotografiert worden ist. Ich frage nach einem Namen. »Wenn ich ihn dir sage, darfst du es keinem verraten«, flüstert sie. »Ich riskiere meinen Arsch. Also von mir hast du das nicht, klar?« »Ich schwöre es bei den Fossilien meiner Vorfahren.« »Wir wissen, daß der kleine Perversling es in der ganzen Stadt getrieben hat – seine Frau ist wahrscheinlich frigide oder so –, aber das Flittchen, mit dem wir ihn erwischt haben, ist ein echt heißer Schwanzfeger.« Ist das ein mir bisher unbekanntes Schimpfwort? »Eine menschliche Sexbombe, Titten bis hier, Beine wie Stelzen.« Warum ist ihr dreckiges Mundwerk mir peinlicher als ihr, obwohl sie die Wörter in den Mund nimmt, während ich bloß zuhöre? »Sie heißt Sarah«, fährt sie fort. »Ich weiß nicht, wie oft ich mir diesen beschissenen Namen über unsere Wanzen anhören mußte! Oh, Sarah, du bist wunderschön, Sarah. Du bist wirk 107
lich unglaublich, Sarah. Tu es, Sarah, tu es! Mir wird speiübel, etwas derart Widernatürliches. Ich kann dir sagen, einmal hab ich fast gekotzt.« »Sarah …?« Ich suche nach einem Nachnamen. »Action … Archton … irgendwas in der Richtung.« Die Ha drosaurierin mit dem schmutzigen Mundwerk zuckt die Ach seln und zieht sich den Rest ihres Thymians rein. Aber es rutscht nicht richtig, sie muß ein paarmal herzhaft husten und nach Luft ringen. »Scheiß drauf. Ich kann mich nicht genau erinnern, aber sie singt in einem Laden in der Nähe vom Times Square. Ein richtiges Singvögelchen.« Ich bin mit einemmal hellwach, alle Spuren von Basilikum sind vorübergehend in einen vergessenen Trakt meines Gehirns verbannt, der nicht mit dem Sprach- und Entscheidungszen trum verbunden ist. »Singt sie heute abend auch?« »Sehe ich aus wie ihr beschissener Manager?« »Glaubst du, daß sie heute abend singt?« »Ja, klar, nehme ich jedenfalls an. Ist schon ein paar Monate her, seit ich zuletzt in die beschissene Akte geguckt habe, aber ich glaube, sie war da ziemlich fest engagiert. Willst du dir etwa diese Menschenfrau angucken? Wozu denn, verdammt noch mal?« Das Basilikum schlägt wieder an, eine sanfte Woge, die sich mit meiner Erregung darüber vermischt, daß ich eine neue Zeugin gefunden habe, einen Weg um die Straßensperre aus fehlenden Indizien und mauernden Antworten herum, einen Weg zu McBride und einen Weg zu Ernie. Ich lecke die Basilikumkrümel aus der Schale und erkläre Glenda schlicht: »Ich habe Lust auf ein Lied.«
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Zweibeinige Säuger sind schon einzeln schlimm genug – un höflich, egozentrisch und ganz allgemein ziemlich unhygie nisch –, aber konfrontiert mit einem ganzen Haufen dieser dreckigen Affen kriege ich jedesmal Zustände. Es ist eine in stinktive Reaktion, ein Zucken des Unterbewußtseins, das ir gendwie für die kollektive genetische Antiphathie und das Un behagen unserer Art steht, da bin ich mir sicher. Meine Vorfah ren mußten zusehen, wie sich diese Wesen aus kaum mehr als behaarten Kröten entwickelt haben, und die Erkenntnis, daß sie irgendwann in der Zukunft gezwungen sein würden, die Exi stenz dieser eigenständigen, empfindungsfähigen Spezies an zuerkennen, muß ihnen endlose Pein bereitet haben. Klar, mei ne Vorfahren hätten sie einfach glattmachen können, sie hätten die kleinen Neandertaler mit ein paar satten Schwanzhieben zu Pastete verarbeiten können, doch zu diesem Zeitpunkt hatten sie bereits beschlossen zu versuchen, in Frieden mit den Men schen zu leben und sie im Notfall sogar zu imitieren. Eine klas sische Fehlentscheidung. Denn deshalb sitze ich jetzt hier in einem menschlichen Nachtclub, umgeben von Menschen, höre mir menschliches Gejaule an, rieche menschlichen Schweiß und berühre nackte menschliche Haut, und wenn sich noch einer von ihnen an mir reibt, kommt es mir wahrscheinlich hoch. Rauchschwaden trei ben in riesigen spiralförmigen Wellen auf mich zu, und auch wenn ich nichts dagegen habe, hin und wieder ein bißchen Zi garettenqualm zu schnuppern, werde ich nun fast überwältigt von den Aromen, die einer beeindruckenden Vielfalt von Mar ken, Teersorten und Filtern entspringen. Eine primitive Be leuchtungsanlage erhellt eine ansonsten öde, kleine Bühne mit einem kastanienbraunen Samtvorhang. »Wann geht es los?« frage ich Glenda, die einen Gin Tonic schlürft. Alkohol geht glatt durch unseren Metabolismus hin 109
durch, wie ein Kind durch eine Wasserrutsche, aber Glenda war schon immer eine Vertreterin der »Wenn-man-in-Rom ist«-Theorie. Ich habe ein Glas Eiswasser bestellt, weil in dem Eintrittspreis, der gereicht hätte, um eine anderthalbtägige Basilikum-Sause zu finanzieren, zwei Getränke inklusive sind. »Der Barkeeper sagt, sie tritt um zehn auf.« »Gut«, sage ich. Viel länger würde ich das alles auch nicht aushalten. Mein Kleidersack, der sich angesichts des Mara thons, den ich heute schon absolviert habe, ziemlich gut hält, liegt neben meinen Füßen auf dem Boden und suhlt sich im Dreck und den Resten von Alkohol und Erbrochenem. Nachdem ich die unmittelbare Nähe dieser begriffsstutzigen Paviane noch ein paar Minuten länger ertragen habe, entspanne ich mich ein wenig, als das Licht heruntergefahren wird und ein einzelner Spot die Bühne erhellt. Aus einem Lautsprecher tropft ein Baßakkord, ein jazziges Riff, das sich mit winzigen rhythmischen Varianten scheinbar endlos wiederholt. Ratata steigt eine High Head ein, gefolgt von einem swingenden RideBecken – der Vorhang öffnet sich, und eine ölige Männer stimme verkündet: »Ladies und Gentlemen, freuen Sie sich mit uns auf die Gesangskünste von Miss Sarah Archer.« Die Show hat begonnen. Eine Hand in einem smaragdgrünen Handschuh bis zum El lenbogen taucht hinter dem Vorhang auf und schlängelt sich ins Scheinwerferlicht. Ihr folgt ein langer, geschmeidiger, ver führerisch durch die Luft wedelnder Arm an einer einzelnen nackten Schulter. Als nächstes kommen ein Schuh, ein grün glitzernder Stöckelschuh mit Zehn-Zentimeter-Absatz, und ein für menschliche Verhältnisse annähernd perfektes Bein. Die Menge beugt sich vor, hält kollektiv die Luft an und wartet darauf, wieder auszuatmen. Derweil ist auf der Bühne eine Frau aufgetaucht, als wäre sie schon immer da gewesen; eine Kaskade aus feuerrotem Haar fällt auf ihre Schultern und über ihren Rücken und umrahmt eine zierliche Gestalt mit üppigen 110
Kurven an den säugergemäß richtigen Stellen. Einen Moment übertönen Gejohle und Pfiffe die Musik, doch sie verstummen augenblicklich, als Sarah Archer den Mund öffnet und zu sin gen beginnt. Es ist eine dieser langsamen Jazz-Balladen, deren Titel ich mir nie merken kann, doch ihre Stimme ist wie ein Wasserfall aus Sirup, der sich über meinen ganzen Körper ergießt, in mei ne Ohren sickert und mich zwingt, die Augen zu schließen, bis ich nicht mehr den Menschen auf der Bühne sehe, sondern mir statt dessen eine atemberaubende Reptilienschönheit vorstelle, die zu dieser Altstimme paßt. Das Dinofleisch unter meiner Verkleidung kribbelt entzückt wie ein ganzer Ameisenhaufen, als der schwüle Kitzel ihres Songs mich einzuhüllen beginnt. Sie möchte, daß ein Mann sie berührt, wie sie noch kein Mann berührt hat, geben mir ihre Worte zu verstehen, und ich glaube anstandslos, daß dieses Singvögelchen es ernst meint. Kurz darauf zwinge ich mich, die Augen wieder zu öffnen, und die Illusion ist verflogen. Auf der Bühne steht bloß ein Mensch. Ein Schritt von der Bühne, und Sarah Archer schlendert, noch immer singend, durch das Lokal und sitzt wenig später an unserem Tisch, starrt an Glenda vorbei und versucht meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ich wende den Blick ab. Sie faßt mein Kinn und dreht mein Gesicht zu jenen schmol lenden Lippen. Ich verberge meinen Ekel so gut wie möglich hinter einer Miene gepflegter Langeweile und nippe an meinem Eiswasser. Ein spielerisches Zupfen an meinem Hemd, ein Zwinkern, das mehr dem Publikum gilt als mir, und weg ist sie, zurück auf der Bühne, um ihre Ballade zu Ende zu bringen. Applaus, Pfiffe, die ganze Palette. Es folgt eine etwas flottere Nummer und noch eine, bald sind fünfundvierzig Minuten ver strichen, Sarah Archer dankt ihrem Publikum und verläßt die Bühne. Das Publikum verlangt eine Zugabe und schwenkt brennende Feuerzeuge, doch das Bühnenlicht verblaßt, die Saalbeleuchtung wird wieder hochgefahren, und die Vorstel 111
lung ist für diesen Abend beendet. Betrunkene taumeln ins Freie und vergessen, ihrer Kellnerin ein Trinkgeld zu geben. »Das war’s«, sagt Glenda. »Ich hab’s dir ja gesagt. Da wird einem doch kotzübel, oder?« Ich schiebe meinen Stuhl zurück und kann ihn gerade noch auffangen, bevor er versehentlich umfällt. Nachdem der Glim mer nun schon ein paar Stunden abgeklungen ist, ist mein Gleichgewichtsgefühl beinahe zu gut, und ich verspüre das dringende Bedürfnis, meine Hirnchemie wieder ein wenig zu verunreinigen, und zwar schnell. »Ich muß die Sängerin befra gen.« »Jetzt? Ich hatte gehofft, wir gehen noch ins Cilantro, eine Uptown-Bar – die haben da Kraut, einfach unglaublich –« »Nein, ich muß – ich würde sie gern jetzt befragen.« Glenda seufzt. Niemand setzt sich gegen einen sturen Raptor durch, und das weiß sie auch. »Okay, vielleicht kann ich mit dem Geschäftsführer reden, daß er uns hinter die Bühne läßt –« »Geh du ruhig schon vor, Glen«, sage ich. »Ich komme hier schon allein zurecht.« Sie schüttelt den Kopf. »Vergiß es – ich komme mit –« »Ich komme schon allein zurecht«, wiederhole ich, und diesmal kapiert das gute Mädchen meinen Wink. »Ich werde sehen, was sich machen läßt.« Vierzig Dollar später hat Glenda ein Backstage-Rendezvous für mich vereinbart und sich für den Rest des Abends in die Uptown-Koriander-Bar verzogen, während ich vor dem Ein gang zu Sarah Archers Garderobe stehe, einer klapprigen Holz tür, auf die jemand einen gezackten Stern gesprüht hat. An ei ner Wand steht ein Bierkasten; der Gestank in dem engen Flur ist schier überwältigend. Ich klopfe an die Tür. »Herein.« Wenn sie spricht, ist ihre Stimme deutlich höher als beim Singen; wahrscheinlich muß sie sich sehr anstrengen, die rauchige Stimmlage einer verruchten Chanteuse zu pflegen. Ich versuche die Tür zu öffnen, doch sie klemmt. Ich versu 112
che es erneut. Es funktioniert immer noch nicht. Ich hämmere mit der Faust gegen das Schloß. Von drinnen höre ich schlur fende Schritte und einen umfallenden Stuhl. »Tut mir leid«, ruft Sarah auf der anderen Seite der Tür. »Tut mir leid. Ich ha be schon zigmal darum gebeten, daß sie repariert wird –« Die Tür springt auf, und wir sehen uns unvermittelt in die Augen. Sie hat ihr grünes Kleid abgelegt und sich in einen gel ben, in der Taille eng gegurteten Frottee-Bademantel gehüllt. »Sie waren im Publikum«, sagt sie. »Ein Tisch in der zweiten Reihe. Sie haben für mich gesun gen.« »Ich singe für alle.« Sie verlagert ihr Gewicht schwer auf das andere Bein. »Kenne ich Sie?« »Wohl kaum. Ich komme aus Los Angeles.« Sie lacht. »Soll ich jetzt beeindruckt sein?« »Sind Sie beeindruckt?« »Nein.« »Dann … nicht.« Ich setze meine beste Jack-Webb-Miene auf und halte ihr meinen Ausweis hin. »Vincent Rubio. Privat detektiv.« Sarah pustet eine Strähne aus ihrer Stirn, offensichtlich eine gut einstudierte Geste. »Sarah Archer. Sie sehen nicht aus wie ein Detektiv, Detektiv.« »Wie sehe ich denn aus?« Sie sinniert eine Weile und meint dann: »Wie eine Hauskat ze.« Und mit diesen Worten dreht sie sich um, schlendert mit schwingenden Hüften in ihre Garderobe. Ich folge ihr drehbuchgemäß, schließe die Tür hinter mir und frage: »Sie kannten Raymond McBride?« »Sie kommen wohl gern gleich zur Sache.« »Warum lange drumherum reden? Seit wann kannten Sie ihn?« »Ich habe nicht gesagt, daß ich ihn kannte.« »Und kannten Sie ihn?« 113
»Ja«, sagt sie. »Aber alles immer schön der Reihe nach.« Sa rah geht zu der Bar in einer Nische der gegenüberliegenden Wand – hat in dieser Stadt denn jeder eine Bar? – und gießt sich einen Johnnie Walker Black Label ein. »Drink?« Ich lehne dankend ab, während sie ihre Pantoffeln abstreift – limonengrün und maximal Schuhgröße 34 – und es sich auf einem plüschigen grünen Sofa bequem macht. Die Polster sind von kleinen Rissen gesprenkelt, winzige Eruptionen von Schaumstoff, doch alles in allem scheint das Mobiliar in an nehmbarem Zustand. Über einer schlichten Frisierkommode hängt ein Spiegel mit drei kaputten Glühbirnen. Polaroids der Sängerin mit einer ganzen Palette von verschiedenen Frisuren sind an die Wand gepinnt. »Hat Ihnen mein Auftritt gefallen?« »Sehr unterhaltsam. Sie haben eine wunderschöne Stimme.« Sie lächelt, sie nippt an ihrem Drink. Sie wirft ihr Haar zu rück, was unter Menschen als verführerisch gilt und wohl auch so gemeint ist. »Und der Rest von mir?« »Der Rest von Ihnen hat auch eine wunderschöne Stimme.« »Das ist süß.« Jetzt ist es an mir zu lächeln. »McBride. Wie lange kannten Sie ihn?« Miss Archer schmollt; ich sehe, daß sie das Geplänkel gern noch ein wenig fortsetzen würde, und vor einem guten Match Verbal-Volleyball kneife ich für gewöhnlich nie, doch ich würde diese Angelegenheit gern beschleunigen. Ich kann schon meine allergischen Reaktionen gegen all den Säugerschweiß in der feuchtheißen Luft des Nachtclubs spüren. »Ich habe ihn vor ungefähr zwei oder drei Jahren kennengelernt.« »Wie haben Sie sich kennengelernt?« »Bei einer Benefiz-Veranstaltung.« »Einer Benefiz-Veranstaltung wofür?« »Ich habe keine Ahnung. Krebs, Leukämie, die schönen Künste. Ich weiß es wirklich nicht.« »Und Sie waren seine … Mätresse?« brumme ich teilnahms 114
los. Der Schock, den ich auf diese unverblümte Frage erwartet habe, bleibt aus. »Ich ziehe die Bezeichnung Geliebte vor.« »Sie wissen, daß er verheiratet war.« Sarah zuckt sichtlich zusammen, und ihre Augen werden schmal. Sie kaut, die Lippen eng geschürzt, auf einem Stück Eis. »Ja, ich wußte, daß er verheiratet war.« »Dann waren Sie McBrides Mätresse. Wann haben Sie denn angefangen, miteinander zu vögeln?« »Das haben Sie wirklich charmant ausgedrückt, Mr. Rubio.« »Ich bin Detektiv, kein Dichter.« »Und Sie könnten Nachhilfe in Manieren gebrauchen. Dies ist meine Garderobe, an meinem Arbeitsplatz. Ich lade Sie herzlich gern auf einen Drink und einen Plausch ein, aber wenn das Gespräch ins … ins Vulgäre abzurutschen droht, werde ich Sie bitten müssen zu gehen.« Ich habe es wieder übertrieben – dazu neige ich. Wenn ich darüber nachdenke, war genau das der Grund für meinen Rauswurf aus New York und dem Rest der Gesellschaft vor neun Monaten. Ich mache einen Rückzieher und nehme zur Demonstration meiner Bereitschaft, die Regeln der Höflichkeit zu achten, meinen Hut ab und lege ihn auf ein Tischchen in der Nähe. Sarah lächelt, und alles ist wieder in Ordnung. Der Pegel ih res Drinks ist gefährlich gefallen, und sie leckt den Rand ihres Glases mit einer langen kräftigen Zunge ab, die zwischen ei nem Satz strahlend weißer Zähne hervorschnellt. Sie klopft auf das Polster neben sich und sagt: »Kommen Sie, setzen Sie sich. Ich kann nicht mit einem Mann reden, wenn ich ihm nicht in die Augen sehen kann.« In meinem Hals hat sich mittlerweile ein fetter Kloß gebildet, und ich hoffe, daß sie mir erneut einen Drink anbietet, damit ich ihn hinunterspülen kann. »Ich kann Sie von hier aus gut sehen.« 115
»Aber ich Sie nicht. Ich bin kurzsichtig.« Widerwillig setze ich mich so weit wie möglich von der Zeu gin entfernt auf das Sofa, doch Sarah Archer hat augenschein lich andere Vorstellungen. Sie hebt ihre Füße vom Boden und legt sie in meinen Schoß. Ihre letzte Pediküre kann noch nicht lange her sein, ihre Zehennägel sind leuchtendrot. »Sie müssen wissen, daß es mir sehr schwer fällt, über Raymond zu spre chen. Ich war vielleicht nicht seine … Frau …« – wieder dieses chininbittere Kräuseln der Lippen –, »aber wir standen uns ziemlich nahe. Selbst für eine ›Mätresse‹.« »Ich verstehe. Ich wollte Sie nicht aufregen –« »Ist der Fall nicht schon abgeschlossen?« »Das sagt mir jeder.« »Aber?« »Aber ich höre nicht auf jeden.« Sarah reckt ihre Zehen gegen meine Brust wie eine Ballerina und sagt: »Können Sie sich vorstellen, wie es ist, eine Stunde auf zehn Zentimeter hohen Absätzen auf der Bühne zu stehen? Für die Füße ist es die Hölle, Mr. Rubio.« »Das glaube ich gern.« Schnell weiter im Text. »Sind Sie je einem Mann namens Donovan Burke begegnet?« »Dies ist der Punkt unserer Beziehung, an dem Sie mich fra gen sollen, ob Sie mir die Füße massieren dürfen.« »Unserer Beziehung?« »Kommen Sie. Fragen Sie mich.« »Ich würde Ihnen gern ein paar dringendere Fragen stellen«, erwidere ich. »Und ich werde sie mit dem größten Vergnügen beantwor ten.« Sie streckt ihre Beine und Zehen, und mein Blick fällt auf ihre straffen Wadenmuskeln. Nicht besonders verlockend. »Wenn Sie einwilligen, mir die Füße zu massieren.« Ich habe offensichtlich keine andere Wahl. Sie könnte mich in der Tat jederzeit rausschmeißen, und ungeachtet weiterer Fragen würde ich lügen, wenn ich behaupten würde, daß ich 116
das neckische Geplänkel unserer Unterhaltung nicht auf ir gendeiner Ebene genießen würde. Also hebe ich zu heftigem Fußgerubbel an. Die zierlichen Füße, die ich zwischen meinen Händen halte, sind fest, aber glatt, und obwohl die Handschu he, die ich tragen muß, um meine Krallen zu verbergen, mei nen Tastsinn beeinträchtigen, kann ich keine einzige Schwiele fühlen. »Zurück zu meiner Frage – haben Sie je einen Mann namens Donovan Burke kennengelernt?« »Ich glaube nicht. Das ist gut – ja, genau da, an der Ferse – ja, das ist es –« »Sind Sie je im Pangea-Nachtclub gewesen?« »Klar – das war Raymonds Laden.« Sie richtet sich mit ei nem erstaunten Lächeln auf, als wäre ihr etwas lange Verges senes wieder eingefallen. »Ich habe sogar einmal dort gesun gen. Silvester, glaube ich. Ich habe ein Neujahrsmedley ge macht.« »Donovan Burke war der Geschäftsführer vom Pangea.« Sarah spuckt den Rest eines Eiswürfels zurück in ihr Glas und wendet ihren Blick unvermittelt ab. »Stimmt.« »Ich frage Sie also noch einmal – sind Sie je einem Mann namens Donovan Burke begegnet?« »Ich nehme an … ich nehme an, ja.« »Sie müssen ihm begegnet sein.« »Wenn er der Geschäftsführer war, muß ich ihn kennenge lernt haben, ja. Aber ich kann mich nicht an ihn erinnern. Auf Raymonds Gehaltsliste standen eine Menge Leute. Manager, Trainer, Leibwächter – sogar Detektive wie Sie.« Ich schüttele den Kopf. »Es gibt keine Detektive wie mich.« »Da wäre ich mir nicht so sicher. Vor ein paar Monaten war schon einmal ein Privatdetektiv aus L. A. hier, der mir bereit willig seine Zeit –« Einen halben Herzschlag später stehe ich mit rasendem Puls über Sarah Archer. Ich glaube, ich habe das arme Mädchen erschreckt, denn sie versinkt in ihrem Sofa wie eine Frau, die 117
in Treibsand geraten ist. »Wie hieß er? Wo haben Sie ihn gese hen? Wann haben Sie ihn gesehen?« »Ich – ich – ich weiß es nicht mehr«, stottert sie. »War sein Name Ernie? Ernie Watson?« »Vielleicht –« »Vielleicht … oder ja?« »Es könnte sein«, sagt sie. Sie rudert jetzt nervös zurück, und obwohl ich keinen Grund habe, die Zeugin einzuschüchtern, macht sie jetzt zumindest keine Annäherungsversuche mehr. »Wie lange ist es her, daß sie ihm begegnet sind?« »Es war nach Raymonds Tod … im Januar?« Das kommt zeitlich hin – Ernie wurde Anfang Januar getötet, kurz nachdem er den McBride-Fall übernommen hatte. »Was hat er sie gefragt?« »Nicht viel«, sagt Sarah. »Wir haben nur kurz miteinander geredet, und er hat gesagt, er würde später noch einmal anru fen. Er hat mir eine Visitenkarte gegeben und eine New Yorker Nummer, unter der ich ihn erreichen könnte …« Sie beugt sich zu einem Nachttisch vor, wobei ihr Bademantel sich ein wenig öffnet und einen Streifen blasser nackter Haut entblößt, und durchwühlt eine kleine Handtasche. Wenig später richtet sie sich wieder auf und präsentiert eine Visitenkarte. Der Bade mantel schließt sich wieder. Ich habe sowieso nicht hingeguckt. Es ist eine Standard-Visitenkarte von J&T, Glendas Firma. Wenn sie in New York zu tun haben, benutzen TruTelAngestellte J&T manchmal als Operationsbasis, und auch Ernie muß das getan haben. Das heißt, daß eine gründliche Suche seine bisher unauffindbaren Aufzeichnungen zutage fördern könnte. Ich vermerke auf meinem zerebralen Notizblock, daß ich so bald wie möglich Glenda anrufen muß, um sie zu bitten, noch einmal genau nachzusehen. »Haben Sie je versucht, ihn unter dieser Nummer zu erreichen?« frage ich. »Dazu hatte ich keine Gelegenheit mehr«, erwidert Sarah. »Außerdem wollte er noch einmal vorbeikommen, um mir wei 118
tere Fragen zu stellen. Aber ich habe ihn nie wiedergesehen.« Ich kann den Kloß in meinem Hals nicht verhehlen, bemühe mich jedoch tapfer, ihn mit einem Husten zu überspielen. »Er ist gestorben«, sage ich schlicht. In ihrem Gesicht sehe ich nur Mitgefühl und Überraschung. »Das tut mir leid.« »Er wurde von einem Taxi überfahren.« »Das tut mir leid«, wiederholt sie. »Wenigstens ging es schnell.« Unser Gespräch wird durch heftiges Klopfen an der Tür un terbrochen. Sarah sieht mich an – »das muß der Manager sein«, sagt sie –, ich erwidere ihren Blick, und bevor einer von uns reagieren kann, wird ein Brief unter der Tür durchgeschoben, rutscht über den Holzboden wie eine Albinospinne und kolli diert mit meinen billigen Tretern. Oben auf der Seite steht Sa rahs Name in einer krakeligen, tattrigen Schrift wie von einem Drittklässler, der die Buchstaben noch nicht sicher beherrscht. Ich bücke mich, um ihn aufzuheben, und – »Nicht!« In ihrer Stimme schwingt etwas mit, das ich vorher noch nicht gehört habe, etwas am Rande von Angst. Wenn sie ein Dino wäre, wüßte ich es sofort – ihr Geruch würde sie ver raten. »Ich wollte ihn nur für sie aufhe-« »Ich hab ihn schon«, sagt sie. »Ich entscheide lieber selbst, wann ein Mann sich für mich verbiegt, danke.« Doch trotz ih rer bemüht neckischen Bemerkung hat ihr Gebaren einen dü steren Ton angenommen. Sie zieht ihre Füße hinter sich her, als wäre sie gefesselt, und ich beobachte, wie sie auf ihren Lippen herumkaut, bis sie beinahe bluten. Langsam beugt sie die Knie, und ihr Körper folgt schwerfällig, als sie in die Hocke geht, den Umschlag behutsam aufhebt und mit den Fingern über die krakeligen schwarzen Lettern streicht, die ihren Namen bilden. »Irgendwas ist nicht in Ordnung«, sage ich, und es ist sowohl eine Frage als auch eine Feststellung. 119
Sie beißt die Zähne aufeinander und schüttelt den Kopf. »Nein … nein. Alles okay.« Die kleine Ader an ihrer Schläfe pulsiert. »Ich bin sehr müde, Mr. Rubio. Vielleicht könnten wir diese Unterhaltung ein anderes Mal fortsetzen.« Ich biete an, ihr einen Drink zu machen oder eine Flasche Wein aus dem Nachtclub zu besorgen, doch sie lehnt ab. Dabei hat sie sich die ganze Zeit nicht vom Fleck bewegt, als hätte sie im Parkett tiefe Wurzeln der Furcht geschlagen. »Vielleicht … vielleicht sollten Sie jetzt besser gehen«, sagt sie, und das habe ich erwartet. Ich nehme meinen Kleidersack und werfe ihn über die Schulter, bereit, wieder in meine Rolle als Vincent, der Ewige Raptor, zu schlüpfen, der, seinen weltli chen Besitz in einem Bündel mit sich herumschleppend, durch die Straßen New Yorks wandert. »Sie haben recht«, stimme ich ihr zu. »Vielleicht können wir uns später weiter unterhalten.« »Das wäre vielleicht das beste.« »Ich wohne im Plaza, wenn Sie mich suchen. Der letzte Ter min für die Anmeldung heute war vor drei Stunden. Wenn ich noch eine Weile auf der Straße herumhänge, halte ich vielleicht noch bis zum ersten Check-in morgen früh durch. Dann habe ich die eine Nacht gespart.« Doch ist sie längst jenseits allen ironischen Geplänkels, und ich betrauere den Verlust einer charmanten Small-talkPartnerin, selbst wenn er nur vorübergehend ist. »Ich begleite sie hinaus«, sagt sie, ohne Anstalten zu machen aufzustehen. »Keine Umstände, ich finde schon allein hinaus.« Ich öffne die Tür – niemand zu sehen. Wer immer den Brief überbracht hat, wahrscheinlich nur irgendein Fahrradkurier, der keine Ah nung von seinem Inhalt hat, ist verschwunden. »Gute Nacht«, sagt sie, als ob ein Teil ihres Gehirns auf Höf lichkeitsfunktion umgeschaltet hätte. »Nacht. Vielleicht komme ich morgen noch einmal vorbei.« 120
»Ja«, sagt sie, ihr Mund wieder auf Autopilot. »Morgen.« Die Tür fällt ins Schloß, und ich stehe wieder in dem feuchten Flur, samt abgestandenem Biergestank und allem. Ich muß unbedingt Glenda anrufen, und ich brauche dringend eine kräftige Dosis Basilikum. Doch in meinem Magen verspü re ich ein Kribbeln, das sich zu einer Ahnung ausprägt, und wenn Ernie mir eins beigebracht hat, dann, daß man jedes Kribbeln wie eine Ahnung und jede Ahnung wie eine Tatsache behandeln soll. Was immer der Brief zu bedeuten hatte, was immer auch dar in stand, es verdiente eine Reaktion. Die war erfolgt. Und jetzt würde dieser Reaktion eine Aktion folgen. Wenn mein Instinkt richtig ist – was heutzutage ein ziemlich gewagtes Spiel ist, aber mein Instinkt ist alles, was ich habe –, wird es nicht länger als fünf Minuten dauern, bis Miss Sarah Archer diese Garderobe fluchtartig verläßt, den Flur hinunter schießt und durch den Bühneneingang in die Nacht verschwin det. Und ich werde ihr dicht auf den Fersen bleiben. Wenn ich es schaffe, ein Taxi zu kriegen.
8 Ernie war wie eine Schweizer Uhr, bei der sechs Zahnrädchen ein bißchen von der Rolle waren. Man konnte den Typ einfach nicht aufhalten; er hatte auf alles eine Antwort. Wenn man ihm sagte: »Wir können den Beschattungsjob nicht machen, der Wagen springt nicht an«, sagte er: »Wir überbrücken ihn.« Und wenn man dann sagte: »Die Ersatzbatterie ist auch tot«, meinte er: »Dann kaufen wir eine neue.« Spätestens dann war klar, daß man sich auf ein Spiel mit ihm eingelassen hatte, und es war nicht das Plänkel-Spiel – es war das Frage & Antwort-Spiel, bei dem der Einsatz stets höher war. Wenn man erst einmal 121
angefangen hatte, konnte man es nur noch zu Ende spielen, obwohl man wußte, daß man verlieren würde. »Wir haben nicht genug Geld für eine Ersatzbatterie«, sagte man zu ihm, und er erwiderte: »Wir leihen uns eine aus dem Laden.« Und am Ende hatte man einen Wagen für den Beschattungsjob ge stohlen, die örtliche Polizei alt aussehen lassen und das Auto wieder an seinen ursprünglichen Platz gestellt, normalerweise vollgetankt, denn Ernie war zumindest höflich. Wir waren ein großartiges Team, und obwohl wir einen un terschiedlichen Stil pflegten, ergänzten wir uns als Partner per fekt. Während Ernie noch dem flüchtigsten Geist auf der Spur bleiben konnte, dafür aber die Angewohnheit hatte, Zeugen so zu verärgern, daß sie einfach dichtmachten, lag mir eher die elegante Seite der Ermittlungsarbeit, bei der man die Verdäch tigen sanft genau dorthin trieb, wo man sie haben wollte, und sie zu einem Geständnis überredete, Stunden bevor sie begrif fen, daß sie einen Fehler gemacht hatten. Ernie trug, was im mer als erstes aus seinem vollgestopften Kleiderschrank fiel; ich hingegen war ein Brooks-Brothers-Mann. Ich benutzte kein Rasierwasser, während Ernie sich praktisch mit dem Zeug duschte, weil er sich als Carnosaurier für seinen eigenen Ge ruch schämte. Ernie konnte sich ausgezeichnet verkleiden und sich binnen Minuten vom Dino zum Menschen und wieder zurück verwandeln, und er hat sich mehr als einmal im Bade zimmerspiegel vor sich selbst erschreckt. Ernie war fett, ich war dünn. Ernie war ein Lächler, ich ein Stirnrunzler, Ernie war ein Optimist, ich ein Pessimist, Ernie war Ernie, und manchmal konnte er ein richtiges Arschloch sein. Aber er war mein Ernie, mein Partner, und jetzt ist alles sinnlos. Aber der Dicke linst mir immer noch über die Schulter, jeden Tag, bei jedem Fall, und egal, wie sehr ich meine Ermittlungs methoden auch verinnerlicht habe, sie tragen nach wie vor den unauslöschlichen Stempel ERNIE WAR HIER. Es ist eine Schande, daß er nicht einfach neben mir sitzen kann, vor allem 122
jetzt, wo ich gerade Sarah Archers Taxi aus den Augen verlie re. »Biegen Sie hier rechts ab«, bedränge ich meinen Fahrer. Dieser riecht streng nach Curry. »Hier?« Er will in eine Hauptstraße abbiegen, während Sa rahs Taxi in einer dunklen Gasse verschwunden ist. »Nein, nein – noch ein kleines Stückchen weiter.« »Wo anderes Taxi abgebogen?« »Ja, ja, wo das andere Taxi abgebogen ist.« »Sie wollen Taxi folgen?« »Bitte.« Wegen meiner üblichen Zurückhaltung in punkto Klischees wollte ich nicht in den Wagen springen und den Fah rer anweisen: Folgen Sie diesem Taxi, so daß ich seit fünf Mei len gezwungen bin, ad-hoc-Anweisungen zu geben wie ein sprechender Stadtplan. Glücklicherweise ist mein Taxifahrer ein sehr aufmerksamer Zeitgenosse, beinahe zu aufmerksam. Schon zweimal habe ich ihn aus Versehen in Einbahnstraßen gelotst, wobei er geradezu roboterhaft und in einem solchen Maße auf die Befolgung meiner Instruktionen fixiert war, daß er dabei nicht noch auf Kleinigkeiten wie Verkehrsregeln ach ten konnte. Hey, das ist nicht meine Stadt, ich tue mein Bestes. »Wo sind wir?« frage ich. »Hmm?« »Wo sind wir?« »Ja, ja. Sehr gutes Essen!« Selbst wenn das Englisch meines Taxifahrers zu wünschen übrig läßt, hat er nun wenigstens begriffen, daß ich dem ande ren Taxi folgen möchte, und zwar in gemessener Entfernung, so daß ich mich zumindest für eine Weile entspannt in meinen Sitz zurücklehnen kann, und – Das andere Taxi bleibt stehen. »Dreiunddreißig fünfzig«, sagt er. Ich ducke mich tief in den Sitz und spähe durch die Wind schutzscheibe. Hundert Meter vor mir steigt Sarah aus dem 123
Taxi und überquert eilig die Straße. Ich werfe dem überrasch ten Fahrer einen Fünfziger zu – einen der beiden letzten, die ich noch übrig habe, und ich habe nicht einmal Zeit, mir das Wechselgeld herausgeben zu lassen – worauf er, beeindruckt von meinem Trinkgeld, vorschlägt, mich zu einem DowntownSchuppen zu chauffieren, wo ich mein Geld ausgeben und im Gegenzug charmante weibliche Gesellschaft finden könne. Ich lehne sein Angebot höflich ab und eile die Straße hinunter. Sarah ist flink, sie huscht erstaunlich grazil durch die Schat ten. Im Vergleich dazu komme ich mir vor wie ein Esel, der mit jedem Schritt laut schreiend seine Anwesenheit kundtut. Ich versuche, immer mindestens fünfzig Meter Abstand zu hal ten, wobei ich aus Gründen der Unsichtbarkeit gelegentlich hinter Mülltonnen tauchen oder um Ecken huschen muß. Als ich mich umsehe, kann ich keinen einzigen Straßenna men, geschweige denn Hausnummern entdecken, als ob ein verwirrter Rattenfänger, der seine Melodien durcheinander gebracht hatte, durch das Viertel geschlendert wäre und mit seinen Weisen nicht Ratten, sondern Straßenschilder dazu ver führt hätte, sich aus ihrer Betonverankerung zu lösen und ihm in ein glücklicheres, weniger graffitiverseuchtes Land zu fol gen. Eins jedoch weiß ich sicher: Sarah und ich sind nicht die einzigen, die auf dieser Straße unterwegs sind, wenngleich möglicherweise die einzigen Nicht-Straftäter. Nach einigen weiteren Wendungen und Abzweigen durch Crazyville-City landen wir schließlich vor einem Gebäude, das ich für ein Lagerhaus gehalten hätte, wenn nicht auf einem verblaßten Schild in fetten schiefen Buchstaben KINDERTAGESKLINIK stehen würde. Zwei verfallene Lade rampen säumen einen überdachten Eingang, und es ist genau diese schwach beleuchtete Tür, die Sarah ansteuert. Ich ducke mich hinter einem mit Initialen und Banden-Slogans verunzier ten Briefkasten und lese mit Freude, daß Reina Julios Mädchen ist, zumindest laut Stand vom 18.9.1984. Ich hoffe, das Paar ist 124
immer noch glücklich vereint. Die Vorstellung, mit den Insassen eines weiteren Kranken hauses konfrontiert zu werden, ist so unappetitlich wie das be rüchtigte Fisch-Pfefferminz-Soufflé im Tar Pit Club, aber mein Beruf erfordert, daß ich es schlucke und handele. Die Tür der Klinik öffnet sich für Sarah – ich kann nicht erkennen, ob sie einen Schlüssel hat oder ob jemand von innen für sie aufge schlossen hat –, und sie schlüpft hinein. Nachdem ich zehnmal still Mississippi gesagt habe, husche ich über die Straße und schleiche mich von der Seite an den Eingang heran, wobei meine Augen ständig in ihren Höhlen hin und her wandern, während ich die Klinik, die Straße, die Schatten und die dahin terliegende Dunkelheit überprüfe. Die Tür ist verschlossen und fest verriegelt, und eine rasche Einschätzung der Sicherheitsvorkehrungen der Klinik sagt mir, daß ich hier mit dem Kreditkarten-Trick nicht reinkommen werde. Der direkte Weg scheidet ebenfalls aus, obwohl es in mancherlei Hinsicht für alle Beteiligten besser wäre, wenn ich einfach an die Tür der Klinik pochen, mich dem Öffnenden, wer immer es sei, vorstellen und fragen würde, ob es allzu stö rend wäre, wenn ich an der kleinen Zusammenkunft teilneh men, mir vielleicht ein paar Notizen machen und möglicher weise das eine oder andere Gespräch mitschneiden würde, nur um der Nachwelt willen. Leider hege ich starke Zweifel, daß ich mit diesem Ansatz dahinter kommen würde, was hier wirk lich gespielt wird. Die rollenden Aluminiumbleche, die als Türen fungieren, sind ebenfalls fest verriegelt, und obwohl ich sie wahrschein lich schneller knacken könnte, als einen Kolibri zum Niesen zu bringen, würde das Öffnen dieser metallischen Monstrositäten in etwa so unauffällig vonstatten gehen, als würde ich meine Ankunft über das zentrale Lautsprechersystem ankündigen. Höchste Zeit also, nach einem Hintereingang zu suchen. Ich schleiche mich an der Seitenmauer des Gebäudes entlang. 125
Doch jetzt, auf der Jagd, verändern sich die Dinge. Es ist Mitternacht, und irgendwas stimmt nicht. Alles scheint intensiver – der Verwesungsgeruch, die rauhe Oberfläche der Betonwände der Klinik. Die Nacht ist noch dunkler geworden, die Graffiti noch obszöner, und ich habe einen stechenden Me tallgeschmack auf der Zunge. Ernie hat mich immer gelehrt, in jedweder Situation meinen Instinkt einzusetzen, meine ur sprüngliche Wissensbasis. Und diese Wissensbasis rät mir, zu fliehen. Ich dränge weiter. In jeder Stadt gibt es Geräusche – das Gejohle der Obdachlo sen, die Schreie verirrter Tiere, das in den Betonschluchten widerhallende Ächzen der Windböen. Doch jetzt höre ich ein Klacken und Rascheln, das Murmeln von Lippen, ein guttura les Grollen. Ich höre Flüstern, und ich höre Stimmen, und ich weiß nicht, wieviel davon echt ist und wieviel Einbildung, und ich weiß nicht, warum ich so nervös geworden bin, daß ich bei jedem Windhauch in meinem Nacken herumfahre. Dann geht es mir auf – In einem Hinterhof irgendwo in der Nähe wird gegrillt. Selt same Gegend für ein Familienpicknick. Seltsame Tageszeit. Aber ich kann es riechen, und zwar deutlich – die Kohle, den Anzünder, die fettigen Säfte, die das Feuer zischen und neu auflodern lassen. Und noch etwas anderes. Etwas … was nicht dazugehört. Etwas, das sich vom Rande meiner Wahrnehmung in mein Bewußtsein schleicht, auf Hochtouren beschleunigt und sich in die Position im Zentrum drängt … Plastik. Brennendes Plastik, ekelhaft süßlich. Ich ducke mich. Ein stachelbewehrter Schwanz kracht in die Wand über mei nem Kopf. Betonbrocken fliegen wie Granatsplitter, und ich taumele rückwärts in die Dunkelheit. Was zum – Linker Arm – Feuer – Schmerz schießt von meiner Schulter abwärts – rauher Atem, nicht meiner, kommt näher – ich fahre 126
herum und springe, meine Schulter schreit vor Schmerz, meine Instinkte summen. Der Geruch von Zuckerwasser, vermischt mit dem verbrann ten Plastik, Zucker liegt schwer in der Luft, und ich rieche Blut – meins, meins, nur meins –, das an meinem Arm herunterläuft, als ich mich rückwärts an der Wand entlangtaste. Irgendwas ist hier draußen, irgendwas auf Raubzug. Mein Kostüm ist zerris sen, das Latex in Fetzen. Ein Schnauben, ein Brüllen – ich wappne mich für den An griff – und kann in diesem schwarzen Loch von einer Gasse einen mit glänzenden Stacheln besetzten Schwanz ausmachen, die Krallen rasiermesserscharf geschliffen, Zähne, Hunderte von ihnen, die ein unfaßbar breites und tiefes Maul füllen. Mein Gegenüber ist knapp, was sage ich, er ist gut drei Meter groß – größer als irgendein Dino in den letzten Millionen Jah ren gewachsen ist. Das ist kein Stegosaurier. Das ist kein Rap tor, kein T-Rex und auch kein Diplodocus. Dies ist keine der sechzehn Arten von Sauriern, deren Vorfahren die große Flut überlebt haben und sich irgendwann im Laufe der letzten fünf undsechzig Millionen Jahre zu unserer Art entwickelt haben. Doch das Vieh will mir ans Leder. Mit einem Kreischen wie von einem notbremsenden Zug macht es, ganz festes Fleisch und spitze Dornen, einen Satz auf mich zu. Schatten – Konturen – bewegen sich im Dunkel, ich setze alles auf eine Karte und springe nach rechts. Es zahlt sich aus. Das … Ding, gegen das ich kämpfe – dem ich, genauer gesagt, ausweiche –, kracht mit einem befriedigenden Knir schen von Knochen auf Beton gegen die Klinikmauer. Ich muß mich wehren, mich verteidigen. Ich muß meine Waffen zücken und das Raubtier rauslassen. Alles raushängen lassen. Mit pochender Schulter zerre ich an meiner Verkleidung, die Gürtel sind eng geschnallt, um ein Mißgeschick wie im Evolu tion Club zu vermeiden. Ich ringe mit der G-Serie, reiße Knöp 127
fe ab und zerfetze Reißverschlüsse. Keine Zeit für einen behut samen Umgang mit der Verpackung. Mein Schwanz schnellt heraus, ein breites Muskelband, gepanzert von einer dicken Schicht grünen Leders – keine Dornen, aber perfekt geeignet zum Hüpfen, Tänzeln, Parieren und Abwehren aller Angriffe. Doch der Geruch, dieses Falsche in der Luft – der Gestank von verbranntem Plastik, von Industrieabfällen und fehlgeleite ter Schöpfung – wird intensiver. Wut und Enttäuschung strö men aus den Poren meines Gegners, als er/sie/es sich zu voller Größe aufrichtet und herausfordernd brüllt. Flucht oder Kampf, Flucht oder Kampf. Adrenalin ist die Droge der Wahl. Die G-Serie ist gelöst. Schwanz und Beine sind frei. Meine einziehbaren Krallen, die sich einst nach einer Maniküre ge sehnt haben, schnellen vor und biegen sich leicht nach unten und über meine Handflächen, Messer aus Obsidian, die im Mondlicht schimmern. P-1 und P-2 abgelegt. Mit einem Schrei, der in kleineren Dörfern Panikattacken auslösen würde, zerre ich an meiner Maske und reiße mir das Gummi vom Kopf. Weich gewordene Knochen rasten ein, als meine so lange in Styroporfesseln gehaltene Schnauze in Position gleitet. Bleibt nur noch die M-Serie. Mit einem heftigen Spucken entledige ich mich meiner Brücke; Kronen und Mundschutz fallen klappernd auf den schmutzigen Boden. Es ist drei Mona te her, seit ich meine echten Zähne, jene achtundfünfzig spitzen Nadeln, zum letzten Mal entblößt habe, und es fühlt sich ein fach gut an, nach der Luft zu schnappen und sie mit einem bös artigen Malmen zu zerfetzen. Das Ding zögert. Ich brülle vor Begeisterung. Na, komm schon, Dicker! Komm schon! Meine Gedanken sind trübe, mein Urinstinkt ist alles, was ich habe. Das Plastik brennt noch immer, der Geruch wird stärker, Schwaden von Wut und Verwirrung – 128
Ein Blick-Duell, ein Riech-Duell – Knurren. Starren. Grollen. Warten. Wer sich bewegt, verliert. Wer sich bewegt, stirbt. Ein Zucken – nach links – Kreischen und Schreien – meine Krallen schnellen vor, tasten nach Fleisch, Muskeln, Sehnen, Knochen – Füße stampfen auf das Pflaster und suchen nach einem Hebelpunkt – Ströme einer dunkelroten Flüssigkeit sprudeln und quellen, ich spüre nichts – malmende und knak kende Kiefer, die in die Luft schnappen und sich zum Hals des Gegners vortasten – Blutgeruch, Zuckergeruch – mein eigener, nicht mein eigener – hängen in der Luft, aber da ist kein Schmerz, keine Angst, nur das Ding, diese Mischung aus Schwanz, Krallen und Zäh nen, die nicht zusammenpassen, nicht zusammenpassen kön nen. Ich schlage mit dem Schwanz aus, peitsche über den Boden und springe in die Luft in der Hoffnung, das Vieh zu Fall zu bringen, und es fühlt sich so gut und so richtig an, in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt zu sein. Durch den Teil von mir, den ich mit jedem anderen Dino gemein habe, durch unser kollektives archetypisches Gedächtnis bin ich zurückge worfen an die Ufer eines vorzeitlichen Flusses, die Luft ist schwer von Feuchtigkeit und dem Flügelschlag der Flugsaurier und summt von lange fossilierten Insekten, auf dem Boden liegen die verstreuten Knochen zahlloser Siege und Eroberun gen. Und ich weiß, daß diese Kreatur, gegen die ich kämpfe, es ungeachtet ihrer genetischen Disposition ebenfalls spürt. Klini ken, Taxis und Lagerhäuser liegen einhundert Millionen Jahre in der Zukunft, während wir mit gespannten Muskeln grunzen und ringen. Eine Pause – ich ziehe mich hastig zurück und bekomme meinen Blutverlust unter Kontrolle. Schwarze Schwaden trei ben durch mein Blickfeld, die Welt kräuselt sich wie im Fahr wasser eines Rennbootes. Eine Schulterwunde, eine Beinver 129
letzung sowie Wunden an Schwanz und Hals – einige tief, ei nige oberflächlich, alle schmerzhaft. Es zieht sich in den Schatten zurück, um sich zu erholen oder seinen Angriff neu zu überdenken. Mir bleibt nicht viel Zeit, bevor sein Blutdurst wieder erwacht. Ich kann nur hoffen, daß seine Kräfte ebenso schwinden wie meine und seine innere Tankuhr hart auf Reserve zugeht. »Das reicht«, keuche ich, und mein Atem geht stoßweise. »Müde.« Als Antwort erhalte ich ein wütendes Bellen, ein vor Spei chel zischendes Knurren. Ist es möglich, daß es zu antworten versucht? »Englisch?« Ich habe keine Ahnung, was das Ding spricht, und will lieber nichts voraussetzen. Keine Antwort. Zumindest keine verständliche. Atmen, Knurren, eine seitliche Bewegung im Schatten. Während ich noch gegen den Drang ankämpfe, hebe ich vor sichtig beide Arme, die Krallen halb eingezogen, die Brust ent blößt, eine nonverbale Frage nach einem Waffenstillstand, Spuren meiner Laß-uns-versuchen-uns-außergerichtlich-zu einigen-Erziehung in dieser menschlichen Welt. Ich bin verwundbar. Ich bin ungeschützt. Ich bin ein Idiot. Die Kreatur springt hoch in die Luft – hinter ihrem Brüllen meine ich ein Lachen zu hören, ein Kichern unter dem Krei schen – ich weiche zurück – meine Arme kreuzen sich schüt zend, mit ausgefahrenen Krallen – und das Vieh stößt mit glit zernden Zähnen, zum Schlag erhobenem Schwanz und trop fendem Geifer, der Löcher in das Pflaster brennt, auf mich her ab. Ich schließe die Augen, blinzele, das Ende ist nah – unsere Blicke treffen sich – Und meine nach oben gerichteten Krallen graben sich in den Leib meines Gegners. 130
Blut strömt über meinen Arm, und das Heulen von tausend sterbenden Wölfen zerreißt die Nacht. Meine Finger greifen Eingeweide, meine Krallen drängen in Körperhöhlen, und das Ding, gegen das ich kämpfe, windet sich wie ein Aal auf einem Grillspieß. Es wirft sich nach hinten in die Gosse, aber meine Krallen graben noch tiefer, wühlen und schließen sich um ihr Ziel, so daß ich mitgerissen werde. Wir wälzen uns in der Gosse, Blut fließt in feinen Rinnsalen über das Pflaster und durch die Kana lisation weiter Richtung Meer. Unsere Gesichter sind Zentime ter voneinander entfernt, und während mein Körper noch kämpft und an dem anderen reißt, blicke ich in jene schlammi gen, gelben, dunkelrot unterlaufenen Augen in der Hoffnung, eine Essenz, einen Hinweis auf ihren Ursprung zu erkennen. Doch ich sehe nur Schmerz, Wut und Verwirrung. Diese Nie derlage war nicht vorgesehen. So hatte es nicht enden sollen. Das im Hals meines Gegners gurgelnde Blut übertönt alle Geräusche, die Kreatur pflanzt Beine und Schwanz auf den Rinnstein und drückt sich ab – versucht zu springen – fällt – zerrt ihren malträtierten Körper in die Höhe und außer Reich weite meines Armes. Ich höre, wie das Gewebe reißt, als sich meine Krallen lösen, die ein nicht näher zu identifizierendes Organ umklammern. Ich blute, keine Frage, doch in punkto Blutverlust ist die Kreatur, die jetzt einige Meter abseits steht, absoluter Markt führer. Meine Krallen und Zähne haben klaffende Löcher in ihre Haut gerissen, und aus der Bauchwunde quellen Einge weide wie Pasta auf das Pflaster. Sie taumelt rückwärts, nicht aus Vorsicht oder Angst, sondern aus schierer Schwäche, ihre Beine zittern und können den unwahrscheinlich massigen Kör per nicht länger tragen. Und in diesem Moment blitzt in ihren Augen etwas auf, was sich bisher hinter den verzerrten Ge sichtszügen verborgen hat – etwas jenseits von Schmerz, Wut und Verwirrung – eine Traurigkeit, ein Schrei nach Befreiung, 131
nach einem Ende, nach Erlösung von ihrer Existenz. Danke, scheint dieser Blick zu sagen. Danke für das Ticket fort von hier. Mit einem letzten pfeifenden Atemzug beugt sich das Vieh vor und landet mit einem unappetitlichen Klatschen auf dem Boden. Das Plastik hat aufgehört zu brennen. Es ist zehn Minuten nach Mitternacht, und ich kann nicht an ders, als einen lauten Raptor-Schrei auszustoßen, ein Siegesge sang, ein triumphierendes Heulen, das in mir anschwillt und schäumend und explosionsartig aus mir herausbricht. Der ra tionale Teil meines Gehirns meldet sich natürlich sofort darauf zurück und ermahnt meinen Körper, sich aus dem Staub zu machen, meine Siebensachen einzusammeln und so schnell wie möglich in der Dunkelheit zu verschwinden, bevor irgendwer kommt und dieses prähistorische Schlachtfeld in einer dunklen New Yorker Gasse entdeckt. Doch er ist ein kaum hundert Pfund schwerer Schwächling, mein rationaler Teil, der sich gegen das stärkere Bedürfnis, meinen Sieg in alle Welt zu po saunen und mich am Fleisch des Besiegten zu laben, nicht durchsetzen kann. Ich reiße mein Maul weit auf, meine Zunge fährt gierig über die Zähne, als ich instinktiv die Schnauze senke und nach dem Hals meines Gegners taste, den ungeschützten fleischigen Nak kenmuskeln, leicht zugänglich, das Festmahl des Siegers – Po lizeisirenen. Noch weit entfernt, aber sie kommen näher. Keine Zeit zu zögern. Meine Kiefer, die noch unter dem letzten gülti gen Marschbefehl stehen, schnappen nach der gefallenen Krea tur, und ich muß all meine Willenskraft aufbieten, um davon abzulassen und mich zurückzuziehen. Dieses Zucker-WasserAroma, der Geruch von Blut verdichtet mein Begehren zu har ten Knoten und schlägt wild auf meine Ur-Bedürfnisse ein. Doch meine wütenden Dino-Instinkte werden kein Fleisch schmecken, nicht heute nacht. Ich weiß, daß ich morgen früh froh darüber sein werde. Ich esse selten Fleisch, selbst wenn 132
ich mein Abendessen nicht selbst erlege, und ich mag mir gar nicht ausmalen, was das rohe Fleisch dieser Kreatur meinem Magen antun würde. Facetten meines Lebens als relativer Pazi fist nisten sich wieder in meinem Hirn ein, peinlich berührt von dem Gemetzel, dem auf der Straße verschmierten, geronnenen Blut. Die Sirenen werden lauter, sie kommen näher. Ich bin mir si cher, daß uns niemand gesehen hat. Doch ich bin erstaunt, daß es in diesem finsteren Teil der Stadt einen Menschen gibt, den das Schicksal eines Mitmenschen – oder was er dafür gehalten hat – so sehr kümmert, daß er den Notruf gewählt und gemel det hat, das aus einer Gasse in der Nähe Geräusche dringen, die sich anhören wie aus einer Folge von Im Reich der wilden Tie re. So viel zu tun, und nur so wenig Zeit. So geht das schon den ganzen Tag. Es ist unmöglich, alle Spuren des Kampfes zu tilgen; das würde mindestens zwanzig Minuten dauern, und nach konservativsten Schätzungen bleiben mir maximal vier. Ich muß also die schnelle Methode wählen, bestenfalls eine hastige Vorsichtsmaßnahme. Ich hoffe, das wird reichen. Ich humpele zu meinem Kleidersack, der Adrenalinstoß ebbt ab, und der IC »Brennende Schmerzen«, Ankunft 0.12, läuft pünktlich im Bahnhof ein. In einem Fach unter einer Klappe, die in einer Tasche versteckt ist, die hinter einem Stoffstreifen verborgen ist, finde ich den kleinen Beutel, den ich suche. Ich fasse ihn so behutsam wie möglich mit den Zähnen, torkele zurück zu dem gefallenen Saurier und schlinge meinen Arm um seinen Leib. Ich ziehe. Ich hebe mir dabei fast einen Bruch. Das Ding ist schwer, sogar noch schwerer, als seine unglaubliche Größe vermuten läßt. Das Sirenengeheul kommt näher, begleitet vom Martins horn eines nahenden Krankenwagens. Ich zerre erneut mit aller Kraft an der Kreatur, und der Kadaver bewegt sich zwei bis drei Zentimeter. Ich stemme mich gegen das tote Gewicht und 133
schleppe es zu einem Müllcontainer in der Nähe, jeder Schritt eine gigantische Anstrengung. Es ist selbstverständlich komplett ausgeschlossen, daß ich das Vieh in den Müllcontainer wuchte, auch wenn ich das der Vorschrift nach tun sollte. Selbst wenn ich es über meinen Kopf gestemmt kriegen würde – was bei meiner Statur selbst ohne Verkleidung ziemlich unmöglich wäre –, ist die Wahr scheinlichkeit groß, daß ich von seinem Gewicht erdrückt und zu einem Pfannkuchen geplättet würde. Vielleicht, wenn ich eine Stunde Zeit hätte – oder eine Winde –, doch ich habe we der die Muße noch das nötige Werkzeug. Ich höre quietschende Bremsen und zuschlagende Autotüren. Meine Bürgerpflicht als Mitglied unserer geheimen Gesell schaft verlangt, daß ich alle ungetarnten toten Saurier außer Sichtweite und an einen sicheren Ort schaffe, wo sie von den entsprechenden Behörden abgeholt werden können. Sie ver langt nicht von mir, daß ich mich bei dem Versuch, das zu tun, umbringe. In den Müllcontainer, daraus wird also schlicht nichts werden, aber dahinter … ah ha! Ich ziehe und zerre. Das ganze ist bestenfalls eine provisorische Maßnahme, weil das Licht des morgigen Tages die Überreste des Dinosauriers für jeden sichtbar machen wird, der sich die Mühe macht, einen Blick in die Gasse zu werfen, doch bis dahin sollte eine Auf räum-Mannschaft hier gewesen sein und alle Spuren seiner Existenz getilgt haben. Ich ziehe den Beutel zwischen meinen Zähnen hervor und reiße die äußere Schutzschicht ab. Ein unglaublicher Fäulnisgeruch – verwesende Kadaver und lange verschimmelte Zitrusfrüchte – trifft mich frontal wie eine Bratpfanne und läßt meinen Kopf in die warme Nachtluft zu rückschnellen. Kein Wunder, daß die Aufräum-Mannschaften das Zeug angeblich aus zwanzig Meilen Entfernung riechen können – ich würde es untrainiert locker aus zehn Meilen wit tern. Ich halte, so gut ich kann, die Luft an und mir die emp findliche Schnauze zu und träufele die Körner in dem Beutel 134
auf den Saurierkadaver. Das Fleisch beginnt sich aufzulösen. Ich würde gern bleiben und zusehen, wie mein Gegner im Laufe der nächsten Stunde langsam verschwindet, wie seine Muskeln und sein Gewebe verdampfen, bis nur noch sein Ske lett übrig ist, das für die Ausstellung in jedem besseren Muse um geeignet wäre. Vielleicht könnte ich dann auch herausfin den, was mich da eigentlich angegriffen hat und was ein Sing vögelchen namens Sarah Archer in einer verfallenen Klinik zu tun hatte, die offensichtlich alles andere ist als das. Doch ich höre Funkgeräte und Stimmen von Polizisten, so daß die Zeit für mich gekommen ist, den Schauplatz des Geschehens zu verlassen. Ich bedecke die Leiche des Dinosauriers mit einem Haufen Müll, den ich in der Nähe finde, und verteile das ganze so, daß es aussieht wie der übrige Abfall, der in der Wildnis der Städte sein natürliches Vorkommen hat. Ich denke sogar daran, meine Klammern und Gürtel einzu sammeln, ganz zu schweigen von meinem Kleidersack – zer fetzt und zerrissen, benutzt und mißbraucht, wie er ist, das ar me Gepäckstück –, und mache einen kräftigen Satz auf den Müllcontainer, auf dessen Rand ich kurzzeitig schwanke, bis ich meine Balance gefunden habe. Ein weiterer Satz, diesmal unter Einbeziehung meines verletzten Schwanzes, bringt mich auf das Dach eines flachen Gebäudes. Ohne die leiseste Ah nung, wo ich bin, und in Unkenntnis der landläufigen Orientie rungspunkte von New York City mache ich mich über die Dä cher der Stadt davon, ohne mich darum zu scheren, wo ich lan de, solange es nur möglichst weit weg von dem Schlachtfeld ist. Irgendwann im Laufe der nächsten zwei Minuten wird die Polizei in die Gasse stolpern. Vielleicht werden sie trotz all ihrer Sorgfalt die Spuren des Kampfes übersehen. Vielleicht werden dunkle Schatten die Indizien verbergen, die wir hinter lassen haben. Doch die Chancen stehen nicht schlecht, daß sie 135
Blut und Organgewebe finden und weiter ermitteln. Doch sie werden nichts und niemanden finden, dem sie die ses Blut und dieses Gewebe zuordnen könnten. Sie werden es ausdiskutieren und Theorien ins Feld führen – Bullen und ihren Theorien, o je –, und wenn sie ihre verbale Energie erschöpft haben, werden sie eine gründliche Untersuchung des Tatorts veranlassen, die nichts ergeben wird. Selbst wenn ein Beamter helle genug sein sollte, hinter den Müllcontainer zu schauen, wird er nur einen Haufen Abfall finden, der sein Ziel verfehlt hat. Den Geruch, den dieser Haufen verströmt, so intensiv, daß ich ihn noch achtzehn Dächer entfernt riechen kann, wird seine abgenutzte Nase nicht bemerken; Menschen sind nicht in der Lage, die Mikroorganismen wahrzunehmen, die unser verwe sendes Fleisch so lieben. Vielleicht ist auch ein Dinosaurier unter den Polizisten. In diesem Fall kann ihm der Geruch der Körner gar nicht entge hen, er wird sofort begreifen, was das zu bedeuten hat, und sich bemühen, die Angelegenheit so knapp wie möglich abzuhan deln. Natürlich ist sein Beruf als Gesetzeshüter wichtig, doch vor seiner Pflicht gegenüber unserer Art muß alles andere zu rückstehen. Wenn er später allein ist, wird er die entsprechen den Behörden alarmieren, die sich unverzüglich an die Arbeit machen werden. Und wenn heute nacht kein Dino-Bulle in diesem Bezirk Dienst hat? Dann müssen wir eben hoffen, daß eine mobile Aufräum-Mannschaft, eine der dreiköpfigen Dino-Truppen, die in den Straßen der Stadt patrouillieren – vierundzwanzig Stun den am Tag, in drei Schichten von je acht Stunden, keine Pau sen, keine Ferien, ein Scheißjob, aber irgend jemand muß ihn halt machen –, auf die skelettierten Überreste des Untiers stößt, bevor zufällig ein Mensch über die Knochen stolpert und mit seinem Fund ins paläontologische Institut der New York Uni versity stürmt. Wir können uns keine Fossilienfunde mehr lei sten. 136
Ich springe und springe und springe, verschaffe den Frosch DNA-Bestandteilen, die sich möglicherweise vor Jahrmillionen in der schlammigen Ursuppe in meinen genetischen Code ge mogelt haben, kräftig Auslauf, bis die Qualität der Holzdächer sich von verrottet zu lediglich versifft, aber strukturell tragfä hig verbessert hat und ich mich in Sicherheit weiß. Schließlich hüpfe ich von Dach zu Dach, ohne mich jedesmal zu fragen, ob meine Landefläche unter mir zerbröseln wird, und beschließe, daß ich jetzt weit genug vom Tatort entfernt bin, um mir eine kleine Pause zu gönnen. Etwa zehn Blocks entfernt verläuft eine große Straße, möglicherweise ein Highway. Zeit, mich umzuziehen. Mit meinem letzten Satz lande ich auf einem Dach, das auf allen Seiten von einer kleinen Mauer umgeben ist. Perfekt. Zu nächst muß ich die Wunden verbinden. Ich werfe meinen Klei dersack auf den Boden und krame die Klamotten hervor, an denen ich am wenigsten hänge. Mit Claiborne for Men bin ich gut ausgestattet, mit Armani eher knapp – nur zwei Hemden, seufz –, also Claiborne. Ich wische meine blutverschmierten Krallen an dem Zementboden ab und reiße einige meiner But ton-down-Hemden in lange dünne Streifen, mit denen ich mei ne Wunden sorgfältig verbinde. Mein Leinenhemd von Henley lasse ich unbeschädigt, es ist mein liebstes Stück, von dem ich mich nicht trennen kann, obwohl ich noch einen Druckverband für meinen Schwanz brauche. Es ist das einzige Kleidungs stück aus Leinen, das ich besitze, und ich weigere mich ein fach, es zu zerreißen. Leinen atmet, habe ich mir sagen lassen, und ich finde, das ist bei jedem Stoff ein reizvoller Aspekt. Eingewickelt wie eine Mumie, meine Blutungen bis auf ein leichtes Tröpfeln gestillt, ziehe ich den Reißverschluß des Fut ters meines Kleidersacks auf, zerre mein Ersatzkostüm heraus und breite den Polyanzug auf den Boden aus, bevor ich hinein schlüpfe. Seit unsere Art vor mehr als drei Millionen Jahren beschlossen hat, sich dauerhaft zu tarnen, darf kein Dino seine 137
oder ihre menschliche Erscheinung ohne ausdrückliche Erlaub nis des lokalen und nationalen Rates verändern. Jedem werden ein oder zwei Ersatzverkleidungen genehmigt, Notanzüge für den Fall, daß die erste visuelle Verteidigungslinie eingerissen ist, doch sie müssen bei einer der großen Kostüm-Firmen unter Angabe einer Kennummer bestellt werden, die jeder Dino hat und unter der er in geheimen Akten geführt wird. Meine lautet 41392268561, und Sie können sich darauf verlassen, daß sie mir vom ersten Tag an ins Gehirn eingebrannt war. Kleinere Veränderungen sind trotzdem erlaubt, individuelle Marotten, die der Endverbraucher je nach Laune hinzufügen oder weglassen kann. Das Kostüm, das ich jetzt über meinen geschundenen Körper streife, ist beispielsweise in jeder Hin sicht eine genaue Kopie meines Alltagskostüms, bis auf eine Ausnahme: Dieses hat einen Schnurrbart. Es ist wirklich ein elegantes Stückchen Gesichtsbehaarung, ein dünner Streifen aus feinem Fell, der meinen Machismo betont, ohne zu übertreiben. Ich habe es bei der Najutsu Corpo ration bestellt – Accessoire 408, David-Niven-Schnurrbart Nr. 3, 26,95 $ – und es dauerhaft an meinem Ersatzkostüm befe stigt, sobald der UPS-Transporter von meiner Auffahrt ver schwunden war. Ich kam mir vor wie ein Kind an Weihnach ten, und ich wollte mein neues Spielzeug gleich ausprobieren. Einfach ankleben und zusehen, wie Frauen auf einen fliegen. Hatte zumindest die Werbung versprochen. Da Ernie bedauerlicherweise die irritierende Angewohnheit entwickelte, beim Anblick meines Schnäuzers jedesmal in lau tes Gelächter auszubrechen, als hätte er sich den ganzen Tag Äther reingepfiffen, hörte ich nach zwei Tagen permanenter Peinlichkeit ganz auf, das Kostüm zu tragen. Doch ich habe es als Ersatz-Verkleidung aufbewahrt, ein Man-kann-ja-niewissen-Outfit, und jetzt bin ich verdammt froh, daß ich es ha be. Ich streife eines meiner verbliebenen Hemden über, ziehe eine Hose an und trauere um meinen Hut und meinen Trench, 138
die ich bei meiner überstürzten Flucht achtlos zurückgelassen habe. Ich klettere vom Dach und über eine Feuertreppe bis auf die Straße. Da ich nicht den Drang verspüre, eine weitere Stunde damit zu verschwenden, ein Taxi heranzuwinken, suche ich die nächstgelegene Telefonzelle. Das Telefon ist kaputt. Ich gehe bis zur nächsten Straßenecke, wo ich auf ein weiteres öffentli ches Telefon stoße, das ebenfalls kaputt ist. Als mir das Wun der zuteil wird, in New York doch noch ein funktionierendes Telefon zu finden, melde ich dem ersten Taxiruf, den ich in den zerfledderten Gelben Seiten entdecke, meinen Standpunkt – es gibt endlich wieder Straßenschilder, und ich bin offenbar in der Bronx gelandet – und warte auf meinen Fahrer. Es ist fast ein Uhr nachts und fast eine Stunde her, seit mich dieser dornenbesetzte Schwanz um ein Haar enthauptet hätte, und ich kann nur hoffen, daß das Taxi bald kommt. Ich bin müde. Eine halbe Stunde später taumele ich in die Lobby des Plaza Hotels und stolpere, meinen Kriegsopfer-Kleidersack vor der Brust, auf die Rezeption zu. Alle Gedanken an den Fall – an Sarah Archer, Mrs. McBride, Donovan Burke und seinen Evo lution Club, ja, sogar an Ernie – haben sich in ein Unterge schoß meines Hirns verzogen. Von mir ist nichts mehr übrig; ich bin eine leere Hülle, meine natürliche Geistesgegenwart hat längst den nächsten Zug genommen. »Mein Name ist Vincent Rubio«, flüstere ich dem Portier zu, der so jung aussieht, als würde er im Rahmen eines Schulprak tikums hier arbeiten, »und ich möchte ein Zimmer.« Möglicherweise überrascht von meinem Gepäck, den blutun terlaufenen Augen und meiner etwas barschen Art, setzt er stot ternd zu einer Antwort an. »Ha-ha-haben S-Sie eine R-« Ich weiß, was kommt, und schmettere es ab. »Paß auf, Klei ner«, erkläre ich ihm, während mein Gehirn schon schläft und träumt und mein Körper die ganze Arbeit erledigt, »wenn du 139
mir sagen willst, daß du kein Zimmer hast, wenn du mir sagen willst, daß ich eine Reservierung brauche, wenn du auch nur daran gedacht hast, die Worte ›Tut mir leid, Sir‹ zu äußern, werde ich über diesen Tresen springen und dir die Ohren ab beißen. Ich werde dir die Augen ausstechen und dich damit füttern. Ich werde dir die Nase abreißen und sie dir in den Arsch stopfen, und was noch schlimmer ist – viel schlimmer –, ich werde dafür sorgen, daß du nie, hörst du mich, nie im Le ben Vater werden kannst, und ich werde das auf die schreck lichste, gemeinste und grausamste Art und Weise tun, die sich dein kleines Gehirn ausmalen kann. Wenn du also keine Freude daran hast, dich selbst vor qualvollen, bluttriefenden, demüti genden Schmerzen schreien zu hören, schlage ich vor, daß du meine Kreditkarte akzeptierst, mir einen Schlüssel gibst und sagst, welchen Aufzug ich nehmen muß.« Die Präsidentensuite ist einfach entzückend.
9 Falls das New York Plaza Hotel zur Zeit nicht als eine der edelsten Absteigen der Welt gehandelt wird, nominiere ich es hiermit als solche. Wenn es bereits auf dieser exklusiven Liste steht, schlage ich eine neue Kategorie namens Bequemster Schlafplatz vor und rege an, daß das königliche, das kaiserli che, was sage ich, das Diktator-auf-lebenszeitliche Bett, in dem zu schlafen ich in der vergangenen Nacht das Vergnügen hatte, seinen rechtmäßigen Platz an allererster Stelle einnimmt. Trotz zahlreicher Verletzungen an diversen Körperteilen ha be ich wie auf Wolken gelegen. Trotz eines ausgewachsenen Blutergusses am Schwanz, dessen mitternachtsblaue Färbung aufs Häßlichste mit meinem natürlichen Grün kontrastiert, habe ich mich keinen Zentimeter herumgewälzt. Trotz einer Vielzahl von Bildern, die sich in mein Gehirn drängen wie Fahrgäste in 140
eine überfüllte U-Bahn, Bilder, die aufzuarbeiten jahrelange Psychoanalyse erfordern wird, hatte ich nicht einen einzigen Alptraum. Ich hatte überhaupt keine beunruhigenden Träume, geschweige denn Träume von lauernden mutierten Sauriern, und all das schreibe ich diesem Bett zu, diesem wundervollen Bett, nicht zu hart, nicht zu weich, mit Polstern und Kissen an all den richtigen Stellen, die sich den Konturen meines ge schundenen Körpers und Geistes anpassen. Jetzt weiß ich, war um die Säuger so scharf darauf sind, in den Mutterleib zurück zukehren. Ich bestelle ein Frühstück beim Zimmer-Service, weil ich finde, daß ich das nach dem Fiasko der vergangenen Nacht verdient habe. Vincents Regeln besagen eindeutig, daß ein An griff in einer dunklen Gasse von einem Wesen, das nach den Gesetzen der Natur gar nicht existieren darf, das Budget für den jeweiligen Fall sofort verdreifacht. Das Frühstück – drei Spiegeleier, zwei Streifen Speck, zwei Wurstpasteten, als Beilage Hafergrütze und Kekse, sechs But termilchpfannkuchen, vier Waffeln, eine Packung in der Pfan ne gebratenes Toastbroat, drei Biskuits Southern Style, eine gebratene Hühnerbrust, eine Schale Honey Nut Cheerios mit wenig Fett und viel Milch – wird von einem Zimmerkellner namens Miguel auf meinen Nachttisch gestellt, und obwohl ich kurz in Erwägung gezogen hatte, mir zur Verzierung ein paar Kräuter aus der Küche mitbringen zu lassen, schreckt irgend etwas in mir vor dem Gedanken zurück, schon so früh am Morgen an einem Zweig Basilikum zu lutschen. Seltsam. Auch das geht wieder vorbei. Ich rufe rasch die Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter zu Hause in Los Angeles ab, darunter neben dem Drohen und Flehen diverser Kreditabteilungen zwei knappe Nachrichten von Dan Patterson, der mich bittet, ihn bei Gelegenheit zurück zurufen. Ich möchte Dan nur ungern erzählen, daß ich in New York bin, denn ich weiß, daß er beleidigt sein wird, weil ich 141
ihm nichts von meiner Ahnung erzählt habe, also verschiebe ich den Rückruf auf später am Tag, wenn ich meine Schuldge fühle mit einem Mundvoll Kräuter lindern kann. Ich habe gerade aufgelegt und bin an meine Tafel zurückge kehrt, um einen Klumpen geschmolzener Butter mit einem Stapel Pfannkuchen aufzusaugen, als das Telefon klingelt. »Hallo?« murmele ich mit vollem Mund. »Ist da der … Detektiv?« Eine vertraute Stimme, gedämpft. Nicht wirklich vertraut, aber ich kenne sie. »Klar doch. Und Sie sind …?« Schweigen. Ich klopfe gegen den Hörer, um zu prüfen, ob die Leitung tot ist. Ist sie nicht. »Ich dachte, ich könnte …« sagt die Stimme und verliert sich im Nichts. »Sie müssen schon lauter sprechen«, sage ich. »Sie sind sehr schwer zu verstehen.« Plötzlich kapiere ich, daß mein Kostüm nicht richtig sitzt, das linke »Ohr« und sein Gegenstück sind nicht direkt über dem Ohrloch, so daß der Wangenknochen meines menschlichen Gesichts alle Geräusche blockiert. Muß im Schlaf verrutscht sein. Verdammt, und ich hatte gehofft, unter Leute gehen zu können, ohne heute morgen noch einmal Epoxidharz auftragen zu müssen. Ich zerre ein wenig an meiner Maske herum und kann sie für den Moment wieder zurechtrük ken, zumindest lange genug, um das Gespräch fortzusetzen. Die Stimme flüstert jetzt, ist aber verständlich. »Ich glaube, ich habe etwas, das Sie interessieren könnte. Informationen.« »Jetzt verstehen wir uns. Kenne ich Sie?« »Ja. Nein – wir – wir sind uns begegnet. Gestern. In meinem Büro.« Dr. Nadel, der Gerichtsmediziner. »Ist Ihnen noch etwas ein gefallen?« frage ich. Zeugen haben die ärgerliche Angewohn heit, sich erst Stunden, nachdem ich den Ort des Geschehens verlassen habe, an entscheidende Details zu erinnern. »Nicht am Telefon«, sagt er. »Nicht jetzt. Treffen Sie mich 142
heute mittag um zwölf unter der Brücke beim Südeingang des Zoos im Central Park.« Jetzt ist es kurz vor zehn. »Hören Sie«, sage ich. »Ich weiß ja nicht, was Sie mögli cherweise im Kino gesehen haben, aber Zeugen können Detek tiven ihre Informationen auch einfach am Telefon erzählen – wir müssen uns nicht unter einer Brücke oder in einer dunklen Gasse treffen, wenn Sie das denken.« »Ich darf nicht mit Ihnen gesehen werden. Das ist gefähr lich.« »Langsam, langsam – dann ist Telefonieren definitiv siche rer. Sie haben Angst, daß die Leute Sie mit mir sehen? Glauben Sie, in den Central Park gehen nur die guten Jungs, oder was?« »Ich werde eine andere Verkleidung tragen. Und Sie auch.« Von wegen. »Ich habe keine andere –« »Dann besorgen Sie sich eine.« Der Bursche wirkt völlig verängstigt. Man muß ihn ganz vorsichtig anfassen. »Ich weiß, daß diese Information Sie interessieren wird, Mr. Detektiv. Aber ich kann es mir nicht leisten, mit Ihnen gesehen zu wer den.« »Vielleicht interessiert sie mich doch nicht so sehr.« »Vielleicht wollen Sie auch nicht wissen, wie Ihr Partner ge storben ist.« Der Typ weiß, auf welche Knöpfe er drücken muß, das muß man ihm lassen. »Schon gut, schon gut«, willige ich ein. »Wir machen es auf Ihre Weise. Woher weiß ich, wer Sie sind –« Doch er ist weg. Zehn Minuten später bin ich das auch. In jeder größeren Stadt gibt es tausend Möglichkeiten, an ein Kostüm vom schwarzen Markt zu kommen, und in New York gibt es mindestens zwanzigmal so viele. Allein der Kleiderdi strikt ist von Beamten des Rates wegen des Imports von illega len Polyanzügen schon zigmal durchsucht worden, doch zu sammen mit all den Elektronik-Discountern und Porno-Läden rund um den Times Square bildet er nach wie vor eine blühen 143
de Industrie ungesetzlicher Accessoires. Wenn man die richti gen Dinos kennt, kann man zu jeder Tages- und Nachtzeit in das Hinterzimmer eines Messer-Ladens oder eines Waschsa lons treten und sich neue Haare, neue Hüften oder einen neuen Schmerbauch zulegen, wenn einem danach ist. Leider kenne ich nicht die richtigen Dinos. Aber ich habe das Gefühl, daß Glenda sie vielleicht kennt. »Weißt du, wie spät es ist, verdammt noch mal?« fragt sie mich, als ich ihr wenig später auf ihrer Türmatte gegenüber stehe. »Halb elf.« »Morgens?« »Morgens.« »Ohne Scheiß«, sagt sie. »War wohl eine lange Nacht. Nach dem wir uns getrennt haben, bin ich noch ein bißchen durch die Bars gezogen. Ich kann dir sagen, ich hatte eine ganze ver dammte Kanne von diesem Kräutertee, nicht von dieser Scheißwelt, sag ich dir –« »Ich brauche deine Hilfe«, unterbreche ich sie. Ein tolles Mädchen, aber man muß ihren Redefluß frühzeitig eindämmen, wenn man es eilig hat. Ich erkläre ihr rasch meine Lage: Ich brauche eine Verkleidung, ich brauche sie jetzt, und ich brau che sie unauffällig. »Mein Gott, Vincent, da bist du bei mir aber an der völlig falschen Adresse.« »Du bist meine einzige Adresse. Alle anderen in New York wollen mich entweder tot oder aus der Stadt gejagt sehen oder beides.« Während sie über meine Bitte nachdenkt, fährt sie sich mit der Zunge durch den Mund und stößt damit von innen gegen ihre Wangen. »Ich kenne einen Typen …« »Perfekt! Bring mich hin –« »Aber er ist ein Ankie«, warnt sie mich. »Und ich weiß, was du von den Scheiß-Ankies hältst.« 144
»Hey, im Moment würde ich sogar einem Compy ein Ko stüm abkaufen.« Glenda stößt ein spöttisches Lachen aus. »Das trifft sich gut. Sein Partner ist einer.« »Du machst wohl Witze.« »Das ist mein Ernst.« Es geht auf elf Uhr zu. Ich habe keine Wahl. »Ich werde die Luft anhalten. Bring mich hin.« Ankylosaurier sind die Gebrauchtwagenhändler der Dino-Welt. Genau genommen, sind sie auch die Gebrauchtwagenhändler der Säugerwelt – praktisch jeder Gebrauchtwagenhändler in Kalifornien stammt von der kleinen Schar Ankies ab, die die große Flut überlebt haben, was einem eine gewisse Ahnung von den Gefahren der Inzucht vermittelt. Sie machen außerdem noch in Immobilien, Theatermanagement, Waffenproduktion im großen Stil und würden zur Not auch die Brooklyn Bride an ahnungslose japanische Touristen verhökern. Der Schlüssel im Umgang mit Ankies ist, ständig alle Nüstern offen zu halten; sie mögen ja wortgewandt und schlagfertig sein, aber aus ihren Poren sickern trotzdem Lügen. »Er heißt Manny«, erklärt Glenda mir, als wir um eine Ecke biegen. Wir sind in der Nähe der Ecke Park Avenue und 56th Street, und ich bin überrascht, daß sie mich in ein derart wohl habendes Viertel geführt hat. »Sind wir auch in der richtigen Gegend für so was?« »Siehst du die Galerie da drüben?« »Das ist der Schuppen?« »Genau. Ich habe Manny kennengelernt, als ich den LederLaden nebenan überwacht habe. Wir durften sein Hinterzim mer benutzen, um ein paar Drähte zu legen, solange wir immer ein bißchen was gekauft haben.« Mit Ankies läuft es immer auf einen Handel hinaus, das Wort Gefallen ist ihnen unbekannt. »Du hast Kunst gekauft?« 145
Glenda lacht. »Nee, ich hab mir einen neuen Satz Lippen ge kauft. Ein bißchen dicker – eine Kopie der Najutsu Rita Hay worth Nr. 242. Keine Sau kauft Kunst – all diese Läden sind nur Tarnung. Scheiße, hast du schon mal jemanden in einer Galerie etwas kaufen sehen?« »Ich war noch nie in einer.« »Na ja, ich auch nicht – jedenfalls nicht vorher. Es geht gar nicht um die Scheißkunst – vielleicht nehmen hin und wieder ein paar Säuger eine Lithographie für ihr Wohnzimmer mit, aber …« Wir stehen vor dem Eingang von Mannys Laden, des sen stilvolle Fassade komplett verglast ist. Inmitten eines Durcheinanders von farbenfrohen Skulpturen kann ich einen Verkäufer erkennen, der mit zwei Kunden spricht. Glenda hält mir die Tür auf. »Du wirst schon sehen, was ich meine.« Ein schrecklicher Unfall eines mit Primärfarben beladenen Tanklasters – anders kann ich mir die Inneneinrichtung des Ladens nicht erklären. Poster, Leinwände, Skulpturen, Mosa ike, alle in grellen Rot-, Gelb- und Blautönen mit hin und wie der einem Spritzer Neongrün. Genug, um blind zu werden. Glenda winkt dem Verkäufer kurz zu – ich nehme an, es handelt sich um Manny –, und er entschuldigt sich höflich bei den beiden Kunden in der Nähe der Kasse. Als er auf uns zu kommt, die Arme ausgebreitet, ein Krokodilslächeln im Ge sicht, daß seine Lippen zu zwei festen Raupen spannt, spüre ich schon, wie die Schleimigkeit aus seinen Poren trieft. Darüber hinaus kann ich ihn jetzt auch riechen, sein für Ankylosaurier typischer Aluminiumgeruch überlagert einen Geruch nach Va seline. »Miss Glenda!« kreischt er in falschem Entzücken. »Wie wuuunderrrvoll, Sie heute zu sehen.« Ich habe das Gefühl, er übertreibt es mit seinem Akzent, aber ich halte mich zurück, den Kerl zu beleidigen, bevor ich ihn nicht ein wenig besser kenne. »Wir waren gerade in der Gegend, und da dachte ich, ich 146
schaue mal rein und zeige meinem Freund Vincent Ihre pracht volle Galerie.« »Vincent?« Er umfaßt meine Hand mit beiden Pranken und hält sie fest. »Ist das richtig? Viiiincent?« »Für mich reicht’s«, sage ich und zwinge mich zu grinsen. Glenda senkt ihre Stimme ein wenig und sagt: »Wir würden mit Ihnen gern über ein paar der Reproduktionen sprechen, die Sie verkaufen.« Eine gewölbte Braue, ein unmerkliches Zwinkern, und Man ny wendet sich wieder seinen beiden anderen Kunden zu. »Vielleicht bekomme ich das, was Sie suchen, nächste Woche rein, no? Manny meldet sich.« Das Paar – Menschen – begreift die subtile Abfuhr und verläßt die Galerie. Manny schließt die Tür hinter ihnen ab und dreht ein Schild mit der Aufschrift MITTAGSPAUSE um. Als er zurückkehrt, ist auch sein Ak zent nicht mehr so ausgeprägt. »Säuger. Sie wollten einen Kandinsky. Was weiß denn ich von Kandinsky?« Erwartet er eine Antwort? Glenda und ich entscheiden uns für ein mitfühlendes Kopfschütteln. Ich blicke verstohlen auf meine Uhr, und Manny blickt verstohlen zu mir. »Sie haben es eilig, no? Kommen Sie, kommen Sie, wir ge hen nach hinten.« Und nach hinten gehen wir, vorbei an Kisten voller Gemälde, Lithographien und abstrakten Skulpturen. Über einer Toilette hängt ein Schild NUR FÜR ANGESTELLTE, und durch diese Tür führt Manny uns, während er ohne Punkt und Komma auf uns einredet. »… und wenn es eine neue Lieferung Latex gibt, sage ich meinen Arbeitern, wir müssen sie sofort verarbeiten, denn Manny macht die besten Kostüme weit und breit, besser als die großen Firmen, viel besser als Nakitara zum Beispiel, die nicht einmal Homo-Polymere verwenden – haben Sie das gewußt? –, sondern statt dessen irgendein billiges tierisches Produkt. Nun sind Rinder natürlich auch Säuger, aber wir ver 147
wenden echte Säuger-Produkte, wenn Sie wissen, was ich mei ne, denn Manny führt nur die beste Qualität …« Und so weiter und so weiter. Derweil führt die Toilettentür zu einer weiteren und noch ei ner weiteren, und schon bald eilen wir durch ein veritables La byrinth aus Fluren und Türen, die so unauffällige Aufschriften tragen wie LAGERRAUM, REMITTENDEN, LEINWÄNDE und GEFAHR! NICHT ÖFFNEN! SÄURE! Als Manny diese letzte Tür öffnet, trete ich instinktiv einen Schritt zurück, weil ich erwarte, von einem Nieselregen aus Chemikalien empfangen zu werden; doch statt dessen betritt Manny eine kleine Lagerhalle, die bis zum Bersten mit menschlichen Kostümen jeder Gestalt, Farbe und Textur gefüllt ist. Spezialkleiderbügel – Styropor in Form der ungefähren Säugerproportionen – hängen entlang der Wände, und jeder trägt die schlaffe Karikatur eines menschlichen Körpers. Ein elektrisches Summen erfüllt die Luft. Im Erdgeschoß des Lagers schwitzen ein Dutzend Arbeiter über Nähmaschinen und Bügeleisen oder nähen von Hand sorgfältig Knöpfe, Reißverschlüsse und Verschlüsse an, die integraler Bestandteil jeder perfekten Verkleidung sind. Die Hitze ist wirklich erdrückend, und ich ertappe mich dabei, die Dinosaurier zu bemitleiden, die unter diesen Bedingungen ar beiten müssen. Ich kann mich noch an die Geschichten von lange vergangenen Zeiten erinnern, als wir Hitze und Feuch tigkeit vorzogen – ja, regelrecht darin aufblühten – und es lieb ten, jeden Morgen aufzuwachen und die süße dampfende Luft zu schmecken, jedes Partikelchen mit Feuchtigkeit vollgesogen – aber nach all den wohltemperierten, gut ventilierten Jahren würde ich wetten, daß jeder von uns lieber in der Antarktis leben würde als, sagen wir, in Miami Beach. Allerdings finde ich persönlich Kaiserpinguine ziemlich schmackhaft und bin deshalb möglicherweise voreingenommen. »Beachten Sie sie gar nicht«, sagt Manny, der offensichtlich 148
meine Gedanken gelesen hat. »Sie sind sehr glücklich darüber, hier arbeiten zu dürfen.« Zum Beweis ruft er: »Meine Arbeiter, seid ihr nicht glücklich darüber, für Manny zu arbeiten?« Und sie erwidern wie ein Mann: »Ja, Manny«, in einem völ lig weggetretenen, monotonen Tonfall, der mich vermuten läßt, daß dieser Anky billiges Basilikum gleich tonnenweise kauft. »Nun, Mr. Vincent, was darf es denn sein?« Wir steigen ins Erdgeschoß hinunter, und Manny führt Glenda und mich zu einer Reihe Kostüme im hinteren Teil der Halle. »Wir sind spezialisiert auf handgearbeitete Körperaccessoires. Vielleicht ein paar neue Biceps –« »Ich brauche ein komplettes Kostüm.« »Ein komplettes Kostüm, no? Das ist sehr teuer. Hier bei Manny arbeiten nur die allerbesten Handwerker –« »Sparen Sie sich Ihren Sermon, Manny. Der Preis spielt kei ne Rolle.« Schließlich habe ich TruTels Kreditkarte dabei. »Wenn Sie mir eine Rechnung über ein Kunstwerk ausstellen können.« Diesmal ist Mannys Lächeln echt; offenbar gefällt es ihm, wenn potentielle Kunden sich nicht lange mit den Präliminari en aufhalten, sondern direkt in seine kleine Abzocker-Grube hüpfen. »Natürlich, Mr. Vincent. Gleich hier entlang.« Die nächsten zwanzig Minuten verbringen wir damit, eine Reihe von Kostümen durchzusehen, die bezüglich Funktionali tät und Ästhetik alle ihre Vor- und Nachteile haben. Glenda fungiert als meine persönliche Einkaufsberaterin und Modekri tikerin, die Modelle von kitschigem Design oder mangelhafter Verarbeitung von vornherein verwirft. Um der Gerechtigkeit genüge zu tun, muß man sagen, daß Mannys Kostüme tatsäch lich unglaublich gut gearbeitet sind, weswegen ich meiner Verwunderung Ausdruck verleihe, daß er nie in der legalen Verkleidungsbranche gearbeitet hat. »Warten Sie, bis Sie die Rechnung gesehen haben«, erklärt er mir mit seinem typischen Grinsen. 149
Wir entscheiden uns schließlich für das Kostüm eines stäm migen Mannes im mittleren Alter, mit leichtem Bauchansatz und einem Hang zu O-Beinen, eine Kopie des Mr.-JohannsenModells Nr. 419 der Nakitara Company. Etwa einsachtzig, hundertsechzig Pfund, was für dieses Alter und Geschlecht verdammt nahe am Durchschnitt liegt und was genau das ist, wonach wir suchen. Doch in diesem Zustand ist das Kostüm, das über dem Styropor-Bügel hängt wie ein schlecht sitzendes Bettuch, nicht mehr als eine gesichtslose Hülle ohne Haare, Farbe oder sonstige besondere Kennzeichen. In einer Dreivier telstunde muß das Ding wie ein echter Mensch aussehen, damit ich damit in den Central Park marschieren kann. »Maria ist ein Genie für Haare«, sagt Manny. Wir stehen ne ben einer alten, verrunzelten Allosaurierin, ihre Haut ist locker und faltig und hängt von ihrem Körper wie von den StyroporBügeln. Ein Gratis-Kostüm zählt offensichtlich nicht zu Man nys Arbeitnehmerzulagen. »Sie macht die Haare jetzt seit … wie vielen Jahren?« Maria murmelt etwas, was wir nicht verstehen können. Ich bin überzeugt, daß auch Manny sie nicht verstanden hat. »Hö ren Sie das?« sagt er nichtsdestotrotz. »Das sind sehr, sehr vie le Jahre.« Wir entscheiden uns für hellbraunes Haupthaar mit graume lierten Schläfen – »für den distinguierten Touch, was?« – und ein Minimum an Körperbehaarung, um kostbare Minuten zu sparen. Ich habe nicht vor, diese Verkleidung öfter als dieses eine Mal zu benutzen, und bezweifle, daß ich mich während meines Rendezvous mit dem Gerichtsmediziner im Central Park entkleiden werde. Trevor ist ein »Genie« für besondere Kennzeichen, bei ihm suchen wir einen Leberfleck fürs Gesicht und eine verblaßte blaue Armeetätowierung für den Unterarm aus. Frank, das »Genie« für menschliche Hautfarbe, überarbeitet das Kostüm mit einem aufgespritzten Olivton, der es irgendwo zwischen 150
sonnengebräunt und dunkelbraun schimmern läßt. Maria, die offensichtlich nicht nur ein »Genie« für Haare, sondern auch Expertin für verschreibungspflichtige Sehhilfen ist, wählt ein Paar blaue Kontaktlinsen aus, um meine von Natur aus grünen Augen zu tarnen. Während Glenda und Manny mir aus meinem gewohnten Kostüm helfen und es in einem feinen Tragekoffer aus Leder verstauen – »ein Geschenk für meinen guten Freund Mr. Vin cent« –, legen die übrigen Experten des Lagers letzte Hand an meine neue Verkleidung. Ein Leberfleck hier, ein Fältchen da. Es ist ein Eilauftrag, aber sie schaffen es, und das Ergebnis ihrer Arbeit sollte zumindest für die nächste Stunde oder so halten. Ich schlüpfe in die neue Verkleidung wie in einen bequemen Pyjama. Das Kostüm ist mit Seidenpolymeren gefüttert, wie man mir erklärt, die diesen Prozeß immens erleichtern. Bevor ich in die leere Hülle gestiegen war, hatte ich mir ausgemalt, daß es seltsam sein würde, aus neuen Augenlöchern zu sehen und mit neuen Handschuhen zu tasten, aber ich stelle fest, daß es sich genauso anfühlt wie meine alte Verkleidung; ein Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch. Ein Spiegel wird her angerollt, und als ich winke, winkt ein pummeliger Bursche zurück. Als ich grinse, bläht sich das Doppelkinn eines pum meligen Mannes in mittleren Jahren. Als ich zu tänzeln versu che, stolpere ich über meine eigenen zwei Füße. Perfekt. »Gefällt es Ihnen?« fragt Manny, als wir fertig sind. »Sie machen gute Arbeit.« Ich zücke TruTels Kreditkarte und werfe kaum mehr als einen flüchtigen Blick auf die Rech nung – mein Gott, mehr als ein flüchtiger Blick würde mich wahrscheinlich umhauen. Manny zieht sie begierig durch. »Mr. Vincent, Sie sind ein guter Kunde. Kommen Sie wie der, wann immer Sie möchten.« Manny küßt unsere Hände und Wangen und führt uns aus dem Lager durch ein Labyrinth von Türen zurück in die Gale 151
rie. Der gesamte Vorgang hat nicht länger als dreißig Minuten gedauert. »Willst du, daß ich mitkomme?« fragt Glenda, als wir auf brechen. »Das ist eine Solo-Nummer. Ich will den Typ nicht erschrek ken – er ist sowieso schon völlig verängstigt.« »Vielleicht kann ich mich im Hintergrund halten –« »Ist schon okay, Glen. Geh arbeiten.« Als wir Mannys Laden verlassen, weht mir ein vertrauter Duft in die Nase, und ich fahre herum, um seinen Ursprung auszumachen. Doch bei all den Passanten, von denen zahlrei che ihren eigenen speziellen Geruch verströmen, ist es unmög lich, ihn zu lokalisieren. Ein junger Mann betritt selbstbewußt Mannys Galerie; vielleicht geht der Geruch von ihm aus, doch ich erkenne sein Gesicht nicht und habe auch keine Zeit, mir weiter Sorgen darum zu machen. Ich brauche rasch eine Wegbeschreibung. »Der Central Park ist …?« »Nördlich von hier«, sagt Glenda. »Der Zoo liegt etwa in der Mitte des Parks, auf der Ostseite. Halte dich immer rechts, dann kannst du ihn gar nicht verfehlen.« »Verdammt, das hätte ich fast vergessen –« Ich drehe mich noch einmal zu Glenda um. »Kannst du etwas für mich chek ken?« »Wie checken?« »Im Computer von J&T.« Glendas Gesicht legt sich in Falten. »Willst du mich in ir gendeine Scheiße reinreißen, Vincent?« »Vielleicht.« »Na endlich.« Sie reibt sich erwartungsfroh die Hände. »Was brauchste denn?« »Ich habe einen Hinweis bekommen, daß Ernie vielleicht Kram bei J&T aufbewahrt hat, als er das letzte Mal hier war. Notizen, Dateien, was immer du finden kannst.« 152
»War Ernie auch in diesen Fall verwickelt?« »Kann sein. Und selbst wenn nicht –« »Genau das gleiche hat dir schon beim letzten Mal jede Menge Ärger eingebracht, das weißt du doch, oder?« Ein sanf ter Tadel, ein federleichter Klaps. »Ich weiß. Bitte, einen Gefallen. Für Miiister Viiincent.« Sobald ich Glenda überredet habe, in ihrer Firma herumzu schnüffeln und mir mögliche Informationen telefonisch durch zugeben, verabschieden wir uns. Mir bleibt noch eine Viertel stunde, um zu Fuß zum etwa dreißig Blocks entfernten Herzen des Central Parks zu gelangen, und ich marschiere auf die ho hen Bäume zu, die sich in der Ferne erheben. Norden, denke ich. Mittag. Die Sonne brennt heute wie verrückt, und selbst durch das neue Kostüm spüre ich, wie ihre Strahlen meine empfindli che Haut aufheizen. Mir ist bereits aufgefallen, daß die Poren struktur nicht die Stärke von Mannys Kostüm ist, so daß ein großer Teil der natürlichen Feuchtigkeit unter der zweiten Haut bleibt, anstatt zu verdunsten. Ich hoffe inständig, daß sich das Epoxidharz nicht auflöst. Kein Dr. Nadel in Sicht, doch da er ebenso wie ich ein ande res Kostüm trägt, wird Ausschauhalten eh nicht viel weiterhel fen. Zum Glück hat die von mir ausgewählte Verkleidung extra breite Nasenlöcher, so daß ich in der Lage sein sollte, seine Witterung aufzunehmen, wenn er auftaucht. Ich meine mich zu erinnern, daß er einen holzigen Geruch hatte … Eiche? Ich werde es erkennen, wenn ich es rieche. Auf dem Weg zum Zoo bin ich an einer eindrucksvollen bo tanischen Anlage mit einer Reihe von Sträuchern und Bäumen aus diversen Teilen der Erde vorbeigekommen. Jede Pflanze hatte ein kleines Schild, auf dem Art, Blühgewohnheiten und Ursprungsland angegeben waren. Ich habe hier und da diskret ein paar Blättchen zum späteren testweisen Konsum gezupft 153
für den Fall, daß ich es im Laufe des Tages brauchen sollte. Vielleicht komme ich in meinem Leben nie nach, sagen wir, Französisch Guayana, aber wenn ich herausfinde, daß die dor tigen Bäume richtig reinhauen, wäre eine Reise doch angezeigt. Ich setze mich auf eine Parkbank, katalogisiere die Blätter und stecke sie in die Brusttasche einer besonders abscheulichen Strickweste, die Glenda ausgesucht hat. Eine Brise weht den Geruch von polierter Kiefer herüber – das ist Nadel. Ich sehe mich um und versuche, ihn zu lokalisie ren. Ein Punk mit Irokesen-Schnitt, der seines Weges schlen dert? Nein, ein Mensch. Der wütende Vater, der mit einem sich windenden Kind an der Hand auf mich zustürmt? Er würde doch kein Kind mitbringen, oder? Sie gehen vorbei – beides Menschen, wie ich erkenne –, doch der Geruch hängt nach wie vor in der Luft. Ich blicke weiter hinaus auf die grünen Wiesen des Parks. Da – etwa einhundert Meter entfernt, eine schwarze Frau mit kurzen Haaren. Grellbunte Jogging-Shorts, pinkfarbenes Top. Schlank. Und in der Hand eine Aktenmappe. Als sie näher kommt, wird der Geruch stärker, und als unsere Blicke sich treffen, gibt es einen Moment wortlosen Verstehens. Keine schlechte Idee für verdeckte Aktionen, der Mann/FrauTausch, obwohl ich selbst vor einer halben Stunde ein entspre chendes Angebot von Manny abgelehnt habe. Dinos riskieren auch ohne transsexuelle Verwicklungen schon genug Identi tätskrisen. Nadel marschiert in stetem Tempo auf die Brücke zu, ohne Eile, aber auch nicht trödelnd. Ich vermute, daß es keine längeren Diskussionen geben wird; höchstwahrscheinlich wird er vorbeigehen, die Mappe auf die Bank legen, wo ich sie Sekunden später an mich nehmen werde, während er wieder im Park verschwindet. Ich ziehe mich in den Schutz einer nahege legenen kleinen Brücke zurück. Ein weiterer Geruch, der Nadels Kiefer plötzlich überdeckt und mir völlig unbekannt ist. Doch er läßt mich innehalten und 154
meinen Blick erneut durch den Park schweifen. Nichts hat sich verändert – Fußgänger schlendern, Kinder rennen, Jongleure lassen ihre Keulen fallen. Da ist der Geruch wieder – Deodo rant und Kaugummi. Er paßt nicht hierher. Ein Tandem radelt auf die Szene, zwei korpulente blonde Frauen schaffen es, trotz eines unglaublich hohen Schwer punkts aufrecht auf dem Gefährt sitzenzubleiben. Sie tragen identische enge T-Shirts mit dem Aufdruck TOO HOT FOR YOU und kichern ununterbrochen über einen Witz, den wohl nur sie verstehen. Aber sie fahren schnell – fast zu schnell, selbst für erfahrene Radfahrerinnen –, ihr zweisitziges Velo schießt mit beeindruckender Geschwindigkeit durch den Park. Die Gerüche werden intensiver und kollidieren, vermischen sich zu einer suppigen Melange, die meine olfaktorischen Or gane nicht mehr zu trennen vermögen. Ich stehe wie angewur zelt auf meinem Fleck unter der Brücke und wende den Blick von der schwarzen Frau, von der ich weiß, daß sie Dr. Kevin Nadel ist, zu den beiden schweren Mädchen auf dem Fahrrad, von denen ich nur weiß, daß sie zwei schwere Mädchen auf einem Fahrrad sind. Aber ich habe so eine Ahnung. Bevor ich meine Beine überreden kann, sich von der Stelle zu bewegen, bevor der Gedanke überhaupt durch mein Rük kenmark gewandert ist, erreichen die Tandem-Fahrerinnen, weiterhin ununterbrochen kichernd, Dr. Nadel, bremsen und versperren mit ihrem Fahrrad seinen Weg. Jetzt kommen auch meine Beine in Gang, und ich komme aus den Startblöcken – doch trotz der Geräuschkulisse des Central Park, trotz des Lärms aus dem Zoo und der spielenden Kinder höre ich auf springende Druckknöpfe und einrastende Krallen. Die beiden Frauen haben sich seitlich auf ihren Sattel gesetzt und versper ren mir mit ihren massigen Körpern die Sicht auf Nadel. Es gibt kaum einen Aufruhr – keine lauten Stimmen oder Protestgeschrei. Keinen Kampf – sollen diese Dinge nicht ge 155
nau so laufen? Ich höre ein Surren, ein leises Klatschen, ein Stöhnen, und schneller, als die beiden Damen ihr Gefährt an gehalten haben, sind sie auch schon wieder auf den Reifen und erreichen binnen Sekunden ihre normale Fahrtgeschwindigkeit. Nadel liegt auf dem Boden. Als ich näher komme und mich über seinen Körper beuge, blicke ich noch einmal auf und stelle fest, daß das Fahrrad schon auf einem der zahlreichen schattigen Pfade verschwun den ist, die den Park durchziehen, und sich unter Bäumen oder in der Menge verloren hat. Aus einer schmalen Schnittwunde im Hals der schwarzen Frau sickert Blut, die Flüssigkeit pumpt im Rhythmus ihres versagenden Herzens heraus. Der Geruch verfliegt, der Doktor stirbt. Ein schneller Schlitz mit einer scharfen Kralle; mehr brauch te es nicht. Ich weiß nicht einmal, welche der »Damen« es war. Nadels Kostüm hält sich trotz der Verletzung gut – ich kann die falsche Haut kaum von der furchigen echten darunter unter scheiden, aber vielleicht verklebt auch das Blut die Nahtstelle. Nadel bleibt keine Zeit mehr, ein letztes Geständnis zu kräch zen; seine Augen sind bereits glasig, sein Mund klappt auf und zu wie das Maul eines Kabeljaus. Die Aktenmappe ist weg. Um uns herum hat sich eine Menschenmenge gebildet, mehr aus Neugier denn aus Altruismus, dessen bin ich mir sicher, doch es ist trotzdem meine Pflicht, mich um die Sicherheit und die Entsorgung der Leiche zu kümmern. Ich recke den Kopf hoch und sage: »Alles in Ordnung, ein kleiner Unfall. Sie ist ohnmächtig geworden. Das passiert ständig.« Das besänftigt einige der Schaulustigen, und sie trollen sich. Andere spüren möglicherweise, daß es um mehr geht als um eine ohnmächtige Joggerin, und bleiben, um weiter zu gaffen. Mein Blick fällt auf einen Dino in der Menge – ein junges Mädchen, Jasminduft, wahrscheinlich ein Diplodocus –, und ich zwinkere ihr langsam zu. 156
»Junge Dame, meinen Sie, Sie könnten vielleicht Hilfe ho len?« frage ich sie betont, und sie scheint zu begreifen, was Sache ist. Sie läuft zumindest im Eiltempo zur nächsten Tele fonzelle, von wo aus sie hoffentlich die richtigen DinoBehörden alarmieren wird. Derweil durchsuche ich Nadels neuen – und nun unbenutzten – Körper, ich filze die Leiche auf irgendwelche Hinweise oder Informationen, die die beiden Radlerinnen nicht an sich ge nommen haben. Was die Informationen betrifft, bleibt die Su che ergebnislos, doch aus der Tasche der Jogging-Shorts gleitet ein Schlüsselring voller Schlüssel, und ich transferiere die me tallische Masse rasch in meine eigene Tasche. Ich warte noch, bis der Krankenwagen eintrifft, und schirme Nadel gegen die Passanten ab, indem ich vorgebe, mit der auf dem Boden liegenden Afro-Amerikanerin zu sprechen, als würde sie noch leben. »Wenn du ein bißchen was gegessen hast, fühlst du dich bestimmt gleich besser«, sage ich zu der Leiche. »Sie müssen jeden Moment hier sein, ganz bestimmt.« »Platz da, Platz da«, ruft der Notarzt. Er hat zwei Partner, und nach dem Geruch zu urteilen, sind sie allesamt Carnosau rier. Sie hocken sich zu dritt um Nadels auf dem Bauch liegen de Leiche und murmeln miteinander. Die Vorschrift ist denk bar einfach: den Dino außer Sichtweite und an einen sicheren Ort schaffen, weg von menschlichen Augen. Sie legen Nadels Leiche auf eine Bahre und tragen ihn/sie zu dem Krankenwa gen. Unzufrieden mit dem Mangel an sichtbarem Blut, zer streut sich die Menge. Als wir allein sind, wendet sich der Notarzt an mich. »Haben Sie es gesehen?« »Ich habe es nicht direkt gesehen, aber ich war hier.« »Würden Sie mir das vielleicht erklären?« »Ich habe keine Zeit für Erklärungen«, sage ich, »aber sie können mich später in meinem Hotel anrufen.« Ich gebe ihm meine Kontaktadresse, notiere meinen Namen und die Nummer 157
meiner Detektiv-Lizenz, warne ihn diskret, daß Nadels Ko stüm, falls es zufälligerweise registriert sein sollte (meins ist es nicht), nicht auf den darin befindlichen Dino zugelassen sein könnte. Mürrisch und widerwillig glaubt er meinen Worten und wendet sich zum Gehen. »Ach, und noch etwas«, sage ich, »vielleicht solltet ihr euch auch einen neuen Gerichtsmediziner suchen.« »Warum?« fragt er. »Der Typ aus der Gerichtsmedizin in der City Hall hat in Fällen, die unsere Art betreffen, doch immer gute Arbeit geleistet.« »Ja, aber er ist in Urlaub. Er wird eine Weile weg sein.« Keine Zeit, die Kostüme zu wechseln; ich weiß nicht, wer Na del die beiden Mörderinnen auf den Hals gehetzt hat, und ich weiß nicht, ob sie auch hinter mir her sind. Aber für den Au genblick bleibe ich lieber versteckt. Ich schleiche mich durch die unterirdischen Flure der City Hall, auf der Suche nach ei nem Hintereingang zum Leichenschauhaus. Wenn ich ungese hen in Nadels Büro gelangen könnte … Doch solches Glück ist mir nicht beschieden. Ich muß es durch den Vordereingang wagen. Wally, der Assistent des Ge richtsmediziners, steht hinter dem Tresen, und ich erwarte bei nahe, daß er bei meinem Anblick ausrastet und den Sicher heitsdienst alarmiert. Aber ich sehe nicht aus wie der Typ, der ihn vor neun Monaten angegriffen hat; ich bin nur ein weiterer Hinterbliebener, ein Mann mittleren Alters, der aus dem Leim geht, und seine mickrige menschliche Nase ist der Aufgabe, meine Täuschung zu wittern, nicht gewachsen. »Ist … ist meine Myrtle … hier?« stammele ich. »Verzeihung?« Wally ist schon jetzt verwirrt – gut. »Meine Myrtle, sie … es war ein Schlaganfall, haben sie ge sagt, ein … ein Schlaganfall …« »Ich – ich weiß nicht, Sir, ähm … Ich werde mal in den Un terlagen nachsehen. Nachname?« 158
»Little.« »Myrtle Little?« Er klingt kein bißchen skeptisch, und es tut fast weh, nicht zu lachen. Ich verberge meinen entsprechenden Drang hinter einem bellenden Husten und schluchze in meine Hände, während Wally das Register des gerichtsmedizinischen Instituts durchblättert. »Ich kann nichts finden«, sagt er. »Wie lange –« »Ein paar Stunden, ich weiß es nicht. Bitte – Sie müssen sie finden – bitte –« Mit einem verzweifelten Hilferuf packe ich Wallys weißen Kittel. »Vielleicht könnten Sie zurück ins Krankenhaus fahren –« »Die haben mir gesagt, ich soll hierher kommen –« »Wirklich?« »Gerade eben. Bitte, meine Myrtle –« Wally greift nach einem Telefonhörer, wählt und hat mit der Person am anderen Ende der Leitung ein kurzes Gespräch, das rasch hitzig wird. Nachdem er mich mit seinem Gezeter fast taub gemacht hat, knallt Wally den Hörer auf die Gabel und stürmt mit einer Miene rechtschaffener Empörung hinter sei nem Tresen hervor. »Ich weiß nicht, was, zum Teufel, in die sem Laden los ist«, echauffiert er sich, »aber ich werde Ihre Frau finden, Mr. Little.« »Vielen Dank, junger Mann«, schluchze ich. »Danke.« Ich lasse meinem Tränenfluß weiter ungebremst seinen Lauf, bis Wally aus der Tür, den Flur hinunter und die Treppe hinauf ist. Dann wende ich mich knochentrocken wieder meinem Ge schäft zu. Die Außentür ist unverschlossen, was den ersten Teil der Ex pedition überaus angenehm gestaltet. Nadels Büro hingegen ist eine ganz andere Geschichte, und erst der letzte Schlüssel an dem Ring erweist sich als der richtige. Das Zimmer sieht noch genauso aus, wie ich es verlassen habe – ordentlich, pedan tisch, langweilig. Ich setze all meine Hoffnung auf den Akten schrank; bei all diesen Vorsichtsmaßnahmen birgt er vielleicht 159
etwas Aufregendes. Die Schlüssel sind leicht zu finden, und die Schranktüren gleiten geräuschlos auf. In jedem Fach sind Hunderte von Mappen in Ordnern abgeheftet, mit dem Zeitpunkt des Todes versehen und nach Nachnamen alphabetisch geordnet. Ich überfliege die Abteilungen M und W und versuche etwas zu finden, von dem ich weiß, daß es nicht hier sein wird: die Ob duktionsberichte für Ernie und McBride. Ich weiß auch, wo die beiden Mappen zu finden sind – in den verschwitzten Händen zweier korpulenter, kichernder Radlerinnen. Ich will gerade wieder abschließen, fehlendes Beweismateri al und vergeudete Zeit lassen mich diesen Umweg bereits be reuen, als mir ein kleines Unterfach an der Rückwand der un tersten Schublade auffällt, eine Metallkassette mit verschließ barem Deckel. Sie läßt sich mit einem weiteren Schlüssel von dem Ring öffnen, einem ganz kleinen, den ich fast übersehen hätte, doch in der Kassette finde ich keine weiteren Akten, sondern ein rotes ledergebundenes Ringbuch, ideal geeignet für Namen, Adressen und dergleichen. Ich blättere es eilig durch, bereit, mich verblüffen zu lassen, doch ich stoße lediglich auf scheinbar wahllose Zahlen und Buchstaben. Zum Beispiel: 6800 DREV. 3200 DREV. Nicht direkt eine Information, mit der man den Fall knacken könnte. Doch unter dem Notizbuch finde ich einen Kontoauszugshef ter der First National Bank, offenbar hat Dr. Nadel in letzter Zeit mehrere Einzahlungen getätigt. Um genau zu sein, hat er am 28. Dezember, drei Tage, nachdem man Raymond McBride tot in seinem Büro gefunden hatte, damit begonnen und im Laufe des Jahres sporadisch weitere Zahlungen auf sein eige nes Konto vorgenommen, und die Zahlen entsprechen denen in dem Notizbuch. Zum Beispiel die $ 6800, die im letzten De zember auf das Konto gegangen sind, oder die $ 3200 ein paar Monate später. Jetzt muß ich nur noch die Bedeutung der Buchstaben DREV ergründen. In dem Zeitraum um Ernies Tod 160
kann ich keine weiteren Einzahlungen entdecken – die nächste ist neununddreißig Tage, nachdem ich die Nachricht erhalten habe, erfolgt – aber ich bin sicher, daß sich bei genauerem Stu dium ein Muster herauskristallisieren wird. Doch dieses Studium werde ich ganz bestimmt nicht an Ort und Stelle beginnen. Ich packe meine neuen Habseligkeiten zusammen, verschließe den Aktenschrank und trabe zurück in den Flur, die Treppe hinauf und einen Gang hinunter. Ich kann gerade noch in eine Nische schlüpfen und beobachten, wie ein mit den Nerven völlig fertiger Wally die Leichenhalle betritt, um Mr. Little zu erklären, daß seine liebe Myrtle wohl irgend wann im Verlauf der letzten zehn Stunden von ihrer Bahre ge klettert ist und das Gebäude verlassen hat, vom Tod also ir gendwie desertiert sein muß.
10 Durch einen plötzlichen und unerwarteten Basilikummangel ist mein Körper seit mehr als drei Stunden kräuterfrei, und trotz Entzugserscheinungen, gelegentliche Stiche tief in der Brust, stelle ich erfreut fest, daß die Spinnenweben in den Winkeln meines Gehirns von selbst verschwinden. Ich verspüre keinen besonderen Drang, meinen klaren Kopf länger als nötig zu be wahren, aber solange es andauert, kann ich genausogut eine Einheit harten und gründlichen Nachdenkens einschieben. Zweifelsohne sind da Judith und Raymond und Sarah Archer und das Viech aus der Gasse – und all das verdient mehr als einen Moment des Sinnierens –, doch wenn ich zum Kern der Sache vordringen will, muß ich am Anfang beginnen, und sei es nur, um meine Spesen zu rechtfertigen. Ich muß im Evoluti on Club anfangen. Nachtclub-Besitzer Donovan Burke war der Freund von Jay cee Holden, Vertreterin des Rates der Stadt New York und 161
amerikanisches Vorzeige-Mädchen, das dann spurlos auf ei nem überfüllten Bahnsteig verschwand und einen verzweifelten Liebhaber zurückließ, dessen Suche nach ihr im gesamten Nordosten der Vereinigten Staaten ergebnislos blieb. Daraufhin kehrte Donovan Burke New York City und seiner gescheiterten Romanze den Rücken, um im stillen kleinstädtischen Wertkon servativismus von Los Angeles Trost zu finden, wo er einen Nachtclub aufmachte, der trotz einer ganzen Mannschaft gut ausgebildeter Feuerwehrmänner und dreißig Hektoliter Wasser bis auf die Grundmauern niederbrannte. Tatsache. Während dieses Brandes riskierte Donovan Burke Kopf und Kragen, indem er in dem Club blieb, als die Flammen sich schon bis an seinen Körper herangezüngelt hatten. Tatsache. Und nun eine kleine Mutmaßung: Der mit Herzeleid geschlagene Donovan Burke hing nicht besonders an dieser Welt. Rückblende zu dem Gespräch mit Judith McBride und zu ih rer Einschätzung von Donovans und Jaycees Beziehung: »Do novan und Jaycee waren sehr verliebt«, hatte sie mir gestern erklärt, »aber Unfruchtbarkeit kann ein Paar auf eine Weise verändern, die Sie sich nicht vorstellen können.« Vielleicht hatte Donovan mit allem abgeschlossen. Vielleicht hatte er das Feuer als eine Art grandiosen Abgang selbst gelegt. Vielleicht hatte er genug gehabt vom Verkleiden und Lügen und dem Wissen, daß er und seine Geliebte nie zueinander finden wür den. Zwei verschiedene Welten und so. Und in diesem Moment kommt mir der zuvor erwähnte klare Kopf ziemlich zupaß. Judith McBride hat mir erzählt, daß der Arzt, der Jaycee und Donovan behandelt hat, der Donovan mit der Hoffnung hingehalten hat, er könnte das System überlisten, das sich seit drei Millionen Jahren für uns bewährt hat, der Ge netiker, dessen Experimente eines Tages vielleicht tatsächlich eine Raptor-Coleo-Mischung möglich machen werden, nie mand anderes war als Dr. Emil Vallardo. Dr. E. Vallardo. 162
Dr. E. V. DREV. Und so kommt es, daß ich mich eine Stunde später, nach ei nem entsetzlichen Verkehrsstau auf der Park Avenue, der die Rush Hour von Los Angeles aussehen läßt wie die offenen wei ten Ebenen Montanas, in Dr. Emil Vallardos privatem Büro wiederfinde, wo ich auf die Ankunft des Arztes höchstselbst warte. Selbst wenn mein laienhafter Dechiffrierungsversuch von DREV völlig daneben liegt, ist dies ein ebenso guter Aus gangspunkt wie jeder andere. Vallardo – der Spin-Doktor, wie sie ihn in Ratssitzungen zu nennen pflegten, weil das Gerücht umging, daß er bei seinen Experimenten zum Kreuzen von Rassen Zentrifugen benutzte – hat vielleicht keine relevanten Informationen zu diesem Fall beizutragen, doch Ernie hat mich gelehrt, daß es keine Zufälle gibt. Wenn ein Name mehr als einmal auftaucht, ist es ein Name, der danach schreit, überprüft zu werden. Dr. Vallardo hat seine Praxis momentan verlassen, berichtet mir zumindest seine Empfangssekretärin, wird jedoch jeden Moment zurückerwartet. Nachdem meine Wenigkeit eine Kur packung seines Charmes versprüht hat, war die Sekretärin so freundlich, mir einen Stuhl im Privatbüro des Doktors anzubie ten, und obwohl ich den starken Verdacht hege, daß Dr. Val lardo mit ihrer Entscheidung nicht einverstanden sein wird, pflanze ich meinen Hintern ungleich lieber in diesen gepolster ten Ledersessel, als auf einem der harten Plastiksitze im Warte zimmer zu schwitzen. Und ich kann die Zeit zumindest dazu nutzen, die Vielzahl der Diplome und Zertifikate zu bewun dern, die die holzgetäfelten Wände zieren. Leider vermittelt mir das nur ein Gefühl intellektueller Unterlegenheit. Grundstudium in Cornell. Na und? Ich kenne einen Stegosau rier, der in Cornell studiert hat und sich jetzt seinen Lebensun terhalt damit verdient, an Autos zu arbeiten. Okay, er entwirft sie, aber trotzdem … Doktor der Medizin mit dem Spezialge 163
biet Geburtshilfe an der Johns Hopkins University. Weithin überbewertet. Oh, und ein Doktortitel in Genetik von der Co lumbia University. Das Problem ist, der Typ hat einfach zu viele Buchstaben vor seinem Namen – Dr. Dr. Emil Vallardo klingt doch nicht halb so nett wie Vincent Rubio, Privatdetek tiv. Letzteres hört sich einfach viel cooler an und würde auf jeden Fall die angesagtere Fernsehserie abgeben. »Ich bekomme so selten Besuch«, ertönt eine Stimme hinter mir, die zweifellos eine fremde Färbung hat, obwohl ich den Akzent nicht genau unterzubringen weiß, irgendein europäi scher Mischmasch. »Das Leben eines Wissenschaftlers ist ein sam, nicht wahr?« »Ich weiß, was Sie meinen«, erwidere ich. Dr. Vallardo, ein großes vierschrötiges Untier mit einem breiten vierschrötigen Lächeln, ergreift die dargebotene Hand und reißt meinen Arm hoch und runter wie einen Wagenheber. Seine linke Hand ist nicht so kräftig; sie zittert wie verrückt, vielleicht eine lokale Schüttellähmung. »Nett, Sie kennenzuler nen«, sagt er, und ich meine, einen Hauch von Holländisch erkannt zu haben. Sein Geruch, eine Mischung aus Anis, Pesti ziden und Gesichtsreinigungscreme, gibt mir auch keinen Hin weis auf seine Herkunft. »Möchten Sie Kaffee? Mineralwas ser? Ja, ja?« Ich lehne die angebotenen Getränke ab, obwohl meine Kehle ein wenig ausgedörrt ist. »Ich bin Privatdetektiv aus L. A.«, erkläre ich ihm, und er nickt eilig, wobei er die Schultern zu spitzen Hügeln hochzieht. »Ich habe ein paar Fragen, es wird nicht lange dauern.« »Ja, ja, das sagte Barbara bereits. Ich stehe Ihnen wie stets in … offiziellen Fragen mit dem größten Vergnügen zur Verfü gung.« Sein Grinsen wird breiter, und – Gott bewahre – ich glaube, es ist echt. »Wo sollen wir anfangen?« »Ihre Arbeit hier … faszinierend. Vielleicht sollten wir mit Ihren Experimenten beginnen.« 164
»Mit meinen Experimenten?« Mit welchem von all den Mil lionen? scheint sein Ton anzudeuten. »Ja. Mit Ihren Experimenten.« Harte Betonung auf dem letz ten Wort. »Ah ja, meine Experimente. Ja, ja.« Ich liebe es, mich in vagen Allgemeinheiten zu ergehen. Es ist eine viel bessere Übung für das Gehirn als ein direktes Ge spräch. Dr. Vallardo zieht die Nase kraus – vielleicht schnup pert er einen Hauch meines alten kubanischen Zigarrenstum meldufts – und läßt sich auf den Stuhl hinter seinem Schreib tisch fallen. »Hier drinnen ist es nicht nötig, daß wir unsere Worte ver schleiern. Sie können ganz ungeniert reden, Mr. …« »Rubio, Vincent Rubio.« »Wie gesagt, Mr. Rubio, in diesem Büro können wir ganz of fen miteinander sein. Mein gesamtes Personal ist … von unse rer Art, und obwohl ich als Gynäkologe hin und wieder auch eine menschliche Patientin empfange, sind die meisten meiner Patienten ebenfalls Dinos.« »Ihre Empfangssekretärin –« »Barbara.« »Ein Ornithomimus?« Er klatscht Beifall, und seine Wangen legen sich in Lachfält chen. »Ja! Ja! Sehr gut! Woher wußten Sie das?« »Zum Teil der Geruch, zum Teil eine Ahnung. Die hab ich dauernd.« »Aha! Sehr hübsch. Sehr hübsch. Erlauben Sie mir, eine Vermutung zu wagen …« Er mustert mich von oben bis unten, und wenn er jetzt sagt, daß ich ein Compy bin, muß ich ihn umbringen, scheiß auf den Fall. »Ein Sauropode sind Sie nicht, das ist offensichtlich. Vielleicht … ein Chilantaisaurier?« Er schmeichelt mir, während er mir gleichzeitig zu verstehen gibt, daß ich nicht der tollste Dino bin, den er je gesehen hat. Chilantaisaurier waren die größten der großen, massive emp 165
findungsbegabte Berge mit dezidiert wenig Hirnmasse. Eine der wenigen Saurierarten, die die Große Flut überlebt haben, aber noch vor dem Zeitalter des Menschen ausgestorben sind; der letzte Chilantaisaurier ist vor fast zwei Millionen Jahren ins große Jenseits abgetreten. Sein Name war Walter, das ist zu mindest die dem Englischen am nächsten kommende Transkription der Johl- und Brüllaute, unter denen er wahr scheinlich zu Lebzeiten bekannt war. Walters sterbliche Über reste sind, von klugen Dino-Archivaren erhalten, in der Halle des Sitzes des Weltrates in Grönland zu besichtigen. Ich war erst vor zwei Jahren dort, und ich kann Ihnen sagen, Walter kann von Glück sagen, daß er damals mit den anderen Chilan taisauriern ausgestorben ist. Er hätte in der modernen Zeit höl lische Probleme mit seiner Ausstattung bekommen, und ich wage zu bezweifeln, daß er hier und heute etwas finden würde, das seine Hüften auch nur annähernd schlank aussehen lassen würde. Dr. Vallardo korrigiert seine Vermutung und rät korrekter weise, daß ich ein Raptor bin. »Sie wollen also etwas über meine Experimente wissen«, fährt er, auf meine Frage zurück kommend, fort. »Sie sind nicht zufällig Ratsmitglied, oder?« »Ich war es.« »Ja?« Mißtrauen mit einem Hauch von Antipathie. »Mit Betonung auf der Vergangenheitsform«, sage ich. »Das hat mit dieser Sache nichts zu tun, das kann ich Ihnen versi chern. Der Rat wird nichts von dem erfahren, was wir mitein ander besprechen.« »Ich verstehe«, sagt Dr. Vallardo, und ich entdecke zum er sten Mal einen Riß in seiner fröhlichen Fassade. Doch schon bald besteht er wieder nur aus Lachen und Schmunzeln. »Ab solut kein Problem. Stets gern zu Diensten. Ja, ja.« Ich stehe auf und stelle mich hinter meinen Stuhl. Es wird Zeit, das Labor unter die Lupe zu nehmen. »Sollen wir?« Das hatte er in diesem frühen Stadium unseres Gespräches 166
offenbar nicht erwartet. Verwirrt rappelt er sich auf. Tricera tops sind für gewöhnlich ohnehin nicht die flinksten unserer Art, doch Dr. Vallardo bewegt sich noch lethargischer, als sei ne Rasse vermuten läßt. »Gibt es ein Problem?« frage ich. »Kein Problem«, sagt Vallardo, während es ihn abwechselnd zur Tür und zur Gegensprechanlage zieht. »Ich bin nur nicht darauf vorbereitet, meine Praxis zu verlassen, das ist alles.« »Nicht vorbereitet?« »Ich habe … Männer. Dinos. Sie folgen mir.« O nein. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie verfolgt werden?« Noch ein Fall mit einem schizophrenen Paranoiker als Zeugen ist das letzte, was ich brauchen kann – fragen Sie nicht, fragen Sie nicht. Vallardo schüttelt kichernd den Kopf. »Ich möchte, daß diese Leute mir folgen, Mr. Rubio. In Ermangelung einer treffende ren Bezeichnung, sie sind meine Leibwächter.« Seit wann braucht ein Arzt Leibwächter? »Seit wann braucht ein Arzt Leibwächter?« »Seit der Rat den ersten Bericht über meine genetische Ar beit hat durchsickern lassen«, sagt er mit mehr als einem Hauch von Mißbilligung. »Einige Mitglieder der DinoGemeinde waren über die Ergebnisse nicht sehr erfreut.« Rasch und scheinbar unwillkürlich schiebt Dr. Vallardo den Kragen seines Hemdes beiseite und entblößt eine lange, breite, kaum verheilte Narbe; für jemanden, der derlei Dinge zu be merken weiß, ganz offensichtlich eine Krallenspur. »Das ist die Folge des jüngsten Angriffs«, sagt er. »Ein Raptor-Weibchen, es hat gekreischt, ich wäre ein Sünder, als es zum tödlichen Schlag ausholte. Einen Sünder hat sie mich genannt. In diesen Tagen und Zeiten. Ja …« Vom Rat zusammengetragene Informationen durchsickern zu lassen, bevor eine offizielle Entscheidung getroffen war und bevor das Objekt der Ermittlung benachrichtigt werden konnte, ist absolut tabu, und obwohl ich gehört habe, daß sich irgend 167
ein Mitglied des Rates der Stadt New York verplappert hat, hatte ich keine Ahnung, daß es so weit gekommen war. Ich versichere dem Nobelpreis-Aspiranten erneut, daß der Rat kei nesfalls und zu keinem Zeitpunkt irgendwelche Informationen veröffentlichen wird, die er mir heute zu nennen bereit und in der Lage ist. Ich sage ihm nicht, daß das daran liegt, daß ich lieber den Rest meines Lebens als Außenseiter fristen würde, als mich noch einmal dieser Truppe von Heuchlern anzuschlie ßen. Kurz nachdem Vallardo seine Empfangssekretärin per Ge gensprechanlage benachrichtigt hat, stoßen zwei Brontosaurier in menschlicher Verkleidung zu uns, die mir als Frank und Pe ter vorgestellt werden. Ihre Kostüme stellen sie als Zwillinge dar, und so weit ich das aus ihrer vergleichbaren Riesengröße schließen kann, könnten sie tatsächlich durchaus aus demsel ben Nest stammen. Der evolutionäre Prozeß, der die Mehrheit von uns Dinosauriern auf einigermaßen praktikable Größe hat schrumpfen lassen – einige von uns sogar auf zu praktikable Größe –, ist an den Brontosauriern eher spurlos vorübergegan gen, so daß sie zur Zeit die größten Saurier auf der Erde sind. Kein Wunder, daß so viele von ihnen in der National Football League spielen. Als unser Quartett vollständig ist, marschieren wir ins Labor. Bei der Einschätzung der Größe der von Dr. Vallardo im Cook Medical Center genutzten Räumlichkeiten unterliegt man einer raffinierten optischen Täuschung. Auf den ersten Blick ist es nicht mehr als eine ganz gewöhnliche Praxis mit Wartezimmer, mehreren Behandlungszimmern und einem privaten Büro. Doch durch eine Schiebetür hinter Barbaras Empfangstresen, einen klaustrophobischen Flur hinunter und Jenseits einer Rei he von nur mit einem einzutippenden Geheimcode zu öffnen den Metalltüren erstreckt sich ein jedes Budget sprengendes Forschungszentrum, das alles, was ich je in Raumschiff Enter prise gesehen habe, hoffnungslos veraltet erscheinen läßt. 168
Ich bin sichtlich beeindruckt, was Dr. Vallardo nicht zu über raschen scheint. »Ja, ja, ich sehe, es gefällt Ihnen«, sagt er. Seine eigene Begeisterung nährt sich in einer Synergie der Er wartung von meiner, als er an meinem Arm zupft und mich weiter zum Herz der Anlage zieht. Frank und Peter folgen uns ungerührt auf dem Fuße. Neben all dem Summen, Piepen und Rauschen, dem Krei seln, Spritzen und Blubbern, neben all den Glaskolben, Becherund Reagenzgläsern verblüffen mich vor allem die Heerscharen von Wissenschaftlern. Dutzende von ihnen, mehr als einhun dert in langen Reihen, an der Hüfte vornübergebeugt wie ver biegbare Strohhalme, die Augen an Mikroskopen, über Petri schalen und Samenproben, kurzum eine verdammt arbeitsin tensive Umgebung. Wie Mannys Laden, in High-Tech und mit besserer Klimaanlage. »Das ist mein Labor«, sagt Dr. Vallardo mit ausladender Ge ste, die Gelegenheit, mit seinem Arbeitsplatz protzen zu kön nen, sichtlich genießend. Und ich bin durchaus bereit, mich von jedem Büro beeindrucken zu lassen, das sechzehntausend Mal so groß ist wie meins. Woher hat er die Mittel, ein derarti ges Unternehmen zu finanzieren? »Wirklich toll«, sage ich. Er führt mich an einer Reihe Wissenschaftler in weißen Kit teln entlang, die wie Laborratten in ihren Käfigen hin und her huschen, vor sich hin experimentieren und ihre Tätigkeit für die Begrüßung ihres Gönners kaum eine Sekunde unterbre chen, um sich, wie unter ein unsichtbares Joch gebeugt, sofort wieder ihrer Arbeit zuzuwenden. Wir nähern uns einem bebrill ten jungen Mann, der sein Kostüm mit einer lustigen Enten schwanz-Frisur verziert hat, offenbar eine nostalgische Remi niszenz an die Tage von James Dean und dem jungen Brando. Muß ein Najutsu-Modell sein, wie die Jayne-Mansfield-Kopie, die sie vor ein paar Jahren herausgebracht haben. Der RetroLook ist bei Kostümen schwer angesagt; ich habe auch schon 169
daran gedacht, ein wenig zusätzliches Brusthaar – Accessoire 513, Connery-Style Nr. 2 – und ein paar Goldkettchen zu er werben. Das würde vielleicht ganz gut zu dem Schnurrbart passen, über den ich, wenn ich das hinzufügen darf, den ganzen Tag noch keinen einzigen negativen Kommentar gehört habe. Wir werden einander vorgestellt, und es dauert zwei Minu ten, bis Dr. Gordon – der junge Wissenschaftler – überzeugt ist, daß ich keinerlei Informationen an den Rat weitergeben werde. Die Mitarbeiter haben in letzter Zeit offensichtlich unter ziemlichem Streß gestanden. »Dr. Gordon arbeitet am Proteintransfer der sekundären Re zeptoren«, erklärt Dr. Vallardo, und das akademische Kauder welsch wringt meine Gehirnmasse wie einen alten Putzlap pen.»Er hat eine Methode entwickelt, das Zytosin aus einem Strang zu isolieren und –« »Oha, oha, Doktor, warten Sie.« Ich bin erst eine Minute hier unten und habe schon Kopfschmerzen. »Bin ich zu schnell?« fragt der Arzt. »Das könnte man sagen.« Ich habe schon Schwierigkeiten, ihm zu folgen, wenn er nur den Mund aufmacht. »Ginge das ganze auch ein bißchen allgemeinverständlicher? »Haben Sie meine Veröffentlichungen nicht gelesen?« fragt er. »Tut mir leid, das sagen zu müssen, aber: Nein. Ich habe ein paar Grundbegriffe von Ihrer Arbeit, mehr nicht.« Das bringt Dr. Vallardo ins Grübeln, seine buschigen Augen brauen bewegen sich wie zappelnde Larven über seine Stirn. »Kommen Sie, kommen Sie«, sagt er, nachdem er offensicht lich zu einer Entscheidung gekommen ist, und wir verabschie den uns von dem Wissenschaftler, der überglücklich wirkt, an seine Arbeit zurückkehren zu dürfen. Vallardo führt mich durch das Labor und eine Treppe hinun ter. »Angeblich neige ich gelegentlich dazu … wie sagt man … über die Köpfe der Leute hinweg zu reden«, sagt er und öffnet 170
eine weitere Schiebetür. »Das kommt von all den Jahren in der Forschung und der Abgeschiedenheit unter Wissenschaftlern, ja, ja.« »Ganz und gar nicht«, versichere ich ihm, obwohl er vermut lich recht hat. »Ich wollte eigentlich vor allem einen Überblick über Ihre Arbeit gewinnen. In groben Zügen.« »Ja, ja. Dann wird das hier vielleicht angemessener sein.« Die Wände des Korridors, den wir betreten, bestehen vom Boden bis zur Decke aus matt violett schimmernden Neonröh ren. Dr. Vallardo tritt in die Mitte des Flures, hebt beide Arme und vollführt eine ballerinenhafte Pirouette. Frank und Peter tun es ihm nach, und der Anblick dieser beiden den Nußknak ker tanzenden Ungetüme läßt mich um ein Haar in hysterisches Gelächter ausbrechen. »Schwache ultraviolette Strahlung«, erklärt Dr. Vallardo und drängt mich, seinem Beispiel zu folgen. »Tötet oberflächliche Bakterien ab. Wir haben es auch mit stärkerer Strahlung ver sucht, aber davon sind alle ziemlich krank geworden, ja, ja.« Wie beruhigend. Ich hebe widerwillig die Arme und reihe mich in die surreale Tanzformation aus Vallardo, Frank und Peter ein. Nach dem Schlußapplaus treten wir auf der anderen Seite des Korridors ab, desinfiziert und tatendurstig. »Gleich werde ich die Tür hinter uns schließen«, erklärt Dr. Vallardo mir, und ich habe das Gefühl, daß Peter und Frank das alles schon einmal gehört haben – »und das Licht wird ausgehen. Sie werden nichts sehen, aber keine Sorge, das ist normal, ja. Eine weitere Tür wird sich öffnen, und wir werden Sie hindurchfuhren. Dann wird sich auch diese Tür schließen, und eine Zeitlang wird es ziemlich dunkel sein, ja? Bleiben Sie also absolut still stehen, dann stoßen Sie auch nirgendwo an. Die Beleuchtung ist minimal, und das hat seinen Grund.« Ich nicke. »Ich bin soweit.« Mit einem elektrischen Floppen geht das Licht aus. Ich höre, 171
wie eine weitere Schiebetür aufgleitet, und fühle eine kräftige Hand an meinem Ellenbogen. Ich werde ein paar Schritte wei ter geführt und spüre den Windhauch der sich hinter uns wieder schließenden Tür. Wir warten. »Sie haben recht, Doc, ich sehe gar nichts.« Wir haben das Cook Medical Center verlassen und sind im Schwarzen Loch von Kalkutta gelandet. »Haben Sie ein wenig Geduld«, sagt Dr. Vallardo. »Sie wer den schon bald etwas sehen, ja, ja.« Noch immer nichts. Nichts. Nichts. Oh … vielleicht ein gra pefruitfarbener Schimmer irgendwo zwischen Gelb und Rose, aber sehr weit entfernt … und da noch einer, eher ein Leuchten, wie von selbstgepreßtem Orangensaft … und noch einer und noch einer. Aus dem Dunkel tauchen langsam die Konturen von Hunderten von kleinen schimmernden Kästen auf, die meine Sehnerven schließlich so weit reizen, daß ich endlich begreife, wo ich mich befinde: in einer Brutkammer. »Die verschiedenen Lichter – Färbungen, Schattierungen und Konturen – sind Nebenerscheinungen der Wärmefaktoren und chemischen Bedingungen, die in den einzelnen Brutkästen herrschen.« Dr. Vallardo führt mich durch den Raum und zeigt mir seine Geschöpfe. »Die blauen sind zum Beispiel für die Eier, deren Befruchtung am kürzesten zurückliegt. Sie werden frühestens in drei Wochen unter die gelben und orangefarbenen Lichter geschoben. Wenn wir uns vergewissert haben, daß die Befruchtung erfolgreich war, können wir sie in eine wärmere Umgebung verlegen, ja …« Während Dr. Vallardo weiterplappert, ertappe ich mich da bei, nach Beweisen für einen Trick zu suchen, nach den un sichtbaren Fäden am Rücken des schwebenden Zauberers. Trotz allem, was ich über Dr. Vallardo und seine Arbeit gele sen habe, ist meine erste Reaktion Skepsis. Es war leicht ge nug, all das zu akzeptieren, als ich noch in einer Ratssitzung in einem Keller auf der anderen Seite des Kontinents saß – okay, 172
es gibt da einen Arzt in New York, der behauptet, die Gene verschiedener Dino-Rassen mixen und gemischtrassigen Nachwuchs produzieren zu können, was also wollen wir tun, wenn das bis nach Los Angeles schwappt? Damals ging es nur um eine politische Entscheidung zum Schutz des öffentlichen Interesses in einer hypothetischen Situation, doch als ich jetzt in dieser Kammer stehe, fällt meine Reaktion ungleich instink tiver aus, und ich kann die Konsequenzen bis tief in meine Re produktionsorgane spüren. Jeder Brutkasten enthält ein Ei, und keins sieht aus wie das andere, an Größe und Form ist vom Baseball über den Basket ball bis zum Football so ziemlich alles vertreten, doch jedes ist unverkennbar ein Dino-Ei. Ein komplizierter Mechanismus aus Klammern und Gummipolstern wendet die Eier sporadisch in ihrem Bett, hebt sie hoch, dreht sie und legt sie behutsam wie der ab. Ein kleiner Monitor über jedem Brutkasten zeigt die Lebenszeichen, wie ich vermute, obwohl ich mir kaum vorstel len kann, daß ein gerade befruchtetes Exemplar viele meßbare Lebenszeichen von sich gibt. Die ganze Kulisse erinnert mich an einen selten dämlichen Film, der vor ein paar Jahren in den Kinos lief und ein enormer Publikumserfolg war; die Menschen haben ihn sich angesehen, um sich ihre schlimmsten Ängste über unsere Art bestätigen zu lassen, und wir Dinos haben ihn uns angesehen, um unsere schlimmsten Ängste zu bestätigen, daß wir in der Tat den größ ten Schrecken des Menschen darstellen und sofort vom Antlitz dieses Planeten getilgt würden, sollten wir uns je zu erkennen geben, so daß es nicht verwunderlich ist, daß der Streifen so viel Geld eingespielt hat. Es ging, soweit ich mich erinnern kann, um einen menschlichen Wissenschaftler, der mittels fos silisierter DNA – ha! – einen ganzen Schwarm von Dinosauri ern züchtet und dann auf einer Insel irgendwo im Südpazifik gefangen hält, offenbar mit dem Ziel, einen Vergnügungspark zu errichten, doch wir Dinos können uns befreien und töten 173
jeden Menschen in Sichtweite, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie er möglicherweise schmeckt. Alles Blödsinn, vor allem die Art und Weise, wie wir armen Raptoren dargestellt wurden. Wir können gefährlich sein, ja, aber wir töten nicht wahllos, und ich habe nie davon gehört, daß einer von uns ohne guten Grund einen Menschen umge bracht hätte. Aus den Tiefen eines Reagenzglases hervorgezerrt und wie wilde Tiere in Käfige eingesperrt zu werden, könnte allerdings ein ziemlich guter Grund sein. Mir ist schon klar, daß das alles nur Spaß und Unterhaltung ist, Zelluloid-Phantasien für eine hirnlose menschliche Bevöl kerung, die sich selbst in ihren wildesten Träumen nicht vor stellen könnte, einen echten lebendigen Dinosaurier zu sehen, noch viel weniger, daß ein Dinosaurier eine polizeiliche Er mittlung leitet, einen Film entwickelt, Getränke im Dine-OMat serviert oder den weltgrößten Arzneimittelkonzern leitet, aber das macht die ganze Sache nicht weniger beleidigend. Aber da rege ich mich schon wieder auf, während ich eigent lich nur sagen wollte, daß eine Sache – die einzige –, die der Film richtig dargestellt hat, die enorme finanzielle Belastung ist, unter der jemand arbeitet, der DNA-Stränge trennt und am genetischen Code herumpfuscht, um auch nur ein einziges Di nosaurier-Ei durch die Inkubation zu bringen. Da der Typ aus dem Film bis über den Arsch Kontakte in der Wirtschaft hatte und die Ausstattung, die Dr. Vallardo mir hier unten präsen tiert, in ihrem ganzen Ausmaß noch um eine ganze Ecke un glaublicher ist, ertappe ich mich erneut bei der Frage, wie er das Geld für seine Forschungen auftreibt. Diesmal frage ich ihn. »In der Hauptsache durch private Spender«, sagt er. »Auf Krankenhausmittel kann ich natürlich nicht zurückgreifen, weil viele der Treuhänder Menschen sind, ja, doch ich konnte mir diese Arbeitsräume mit Hilfe einiger Freunde im Aufsichtsrat sichern.« 174
»Private Spender wie zum Beispiel …?« Dr. Vallardo droht mir mit dem Zeigefinger. »Dann wären sie ja nicht mehr so privat, ja?« »Darf ich eine Mutmaßung äußern?« »Wieder eine Ihrer Ahnungen?« »Eine fundierte Vermutung.« Er zuckt die Achseln und wendet sich ab, um ein Ei zu inspi zieren. »Ich kann Sie schlecht davon abhalten, oder?« Stimmt genau. »War Donovan Burke ein Spender?« »Wer?« »Donovan – Burke«, wiederhole ich mit Betonung. Er zuckt die Schultern. »Der Name klingt nicht vertraut. Ich habe viele Förderer, die meisten geben nur kleine Beträge, es sind einfach zu viele, um sich jeden Namen zu merken.« »Er war außerdem vor etwa zwei Jahren Ihr Patient«, sage ich. »Ein männlicher Raptor.« Dr. Vallardo gibt überzeugend vor, in seinem Gedächtnis zu kramen, seine Augen wandern zur Decke, er kratzt sich am Kinn, doch ich falle keine Sekunde darauf rein. »Nein«, sagt er schließlich kopfschüttelnd, »ich kann mich nicht an einen Pati enten dieses Namens erinnern.« »Seine Verlobte war ein Coleophysis-Weibchen namens Jay cee Holden.« Wieder schüttelt er den Kopf, und wieder glaube ich ihm nicht. »Sie sind zur Behandlung gekommen, sagen Sie?« »Das habe ich nicht gesagt, aber, ja, das sind sie.« »Ja, ja … ich kann mich nicht erinnern. Es sind so viele.« »Dann waren sie wahrscheinlich keine großen Spender.« »Wahrscheinlich nicht.« »Was ist mit Dr. Nadel?« »Kevin Nadel?« Läutet die Glocken – der Doktor gibt endlich einmal etwas zu. »Ja, der leitende Gerichtsmediziner. Hat er gespendet?« »Ich glaube nicht.« 175
»Aber Sie kennen ihn.« »Wir haben zusammen Medizin studiert, ja. Ein alter Freund. Aber er arbeitet für die Regierung – da kann man nicht viel verdienen.« »Dann haben Sie ihm vielleicht etwas Geld gegeben.« »Ich verleihe kein Geld an Freunde.« »Vielleicht war es ja kein Kredit.« »Wollen Sie auf etwas Bestimmtes hinaus?« fragt er, und ich entscheide, die Sache ruhen zu lassen, bevor er seine beiden Brontos anweist, mich in einen Glaskasten zu stopfen und vom Dach des Gebäudes zu werfen. »Gut, weiter«, sage ich. Zeit für die Hauptattraktion, alle Zu schauer werden gebeten, ihre Plätze einzunehmen. »Hat Ray mond McBride gespendet?« Zum Glück hat Dr. Vallardo seine Hand schon wieder von dem bowlingkugelförmigen Ei zurückgezogen, das er eben noch getätschelt hat, sonst hätte dieses Experiment möglicher weise mit zerbrochener Schale und verspritztem Eigelb geen det. Er ruft seinen Leibwächtern, die eifrig die kleineren Eier inspizieren, zu: »Frank, Peter, könntet ihr draußen warten?« Die Brontosaurier-Zwillinge gehorchen und verschwinden durch die doppelt gesicherte Tür. Dr. Vallardo wartet, bis sie gegangen sind, und wendet sich dann mit angestrengt heiterer Miene wieder an mich. »Haben Sie mit ihm gesprochen?« fragt er, und ich höre ihn quer durch den Raum mit den Zähnen knir schen. »Vor seinem Tod, meine ich?« Ich hatte eine Reaktion erwartet, aber keine so saftige. Ich muß sie gründlich ausquetschen. »Ich habe mit seiner Frau gesprochen«, sage ich so bedeutungsvoll wie möglich. »Wir hatten ein langes Gespräch. Sie hat mir viel erzählt.« Er fällt nicht darauf rein. »Mr. McBride, möge er in Frieden ruhen, war einer unserer Spender, ja. Ein ziemlich öffentlicher sogar. Er hat meine Ar beit voll und ganz unterstützt, ja, ja.« 176
»Voll und ganz … Das heißt, wir reden von Tausenden? Hunderttausenden? Millionen?« »Ich fürchte, das darf ich nicht preisgeben.« »Nicht einmal, wenn ich Sie richtig nett frage?« »Nicht einmal, wenn Sie mich anflehen.« Eine Machtprobe. Nicht zucken. Ein Wettkampf der Willens stärke. So habe ich meine Schlachten am liebsten. Ein Duell mit Blicken – wer als erster blinzelt, hat verloren. Verdammt. Das ist nicht fair – ich habe von Geburt an trok kene Augen. Okay, zumindest habe ich verifiziert, daß McBri de ein Spender war, auch wenn ich die genauen Summen nicht kenne. »Warum sollte Raymond McBride einen Wissenschaftler fördern, von dessen Erkenntnissen er nicht profitieren würde?« frage ich. »Sowohl er als auch Mrs. McBride sind Carnosau rier. Sie brauchen keine Behandlung.« »Wie kann ich mich zu den Gedanken eines Toten äußern?« sagt er. »Vielleicht wollte er der Dinosaurier-Gesellschaft im ganzen helfen, ja, ja.« »Glauben Sie, Raymond McBride wurde von jemandem er mordet, der es für falsch hielt, daß er Ihre Projekte unterstütz te?« »Ich habe keine Ahnung, warum Mr. McBride ermordet wurde. Wenn ich etwas wüßte, wäre ich zur Polizei gegangen, ja.« »Aber ist es möglich«, sage ich wie ein smarter GerichtsSerien-Anwalt, eine Nebenwirkung meines in letzter Zeit zu häufigen Konsums des Spätprogramms infolge mangelnder Tagesbeschäftigung, »daß Mr. McBride wegen seines Enga gements für Ihre Arbeit ermordet wurde.« Ein tiefer Seufzer – ich habe das Gefühl, daß ich die in jüng ster Zeit immer öfter von meinen Zeugen zu hören bekomme –, und er sagt: »Möglich ist alles, Mr. Rubio. Alles.« Dr. Vallardos Lächeln ist die ganze Zeit nicht verrutscht und wirkt irritie 177
rend maskenhaft, ja, es würde mich nicht überraschen, wenn es sich um ein neues Accessoire der Najutsu Corporation handelt – Accessoire 418, Dauerlächeln. Irgendwo im Kopf des Dok tors steht eine feste dicke Mauer, die einzureißen ein echter Vorschlaghammer-Job werden wird. Aber vielleicht, ganz viel leicht, kann ich mich drumherum winden. Ich schlendere bemüht sorglos durch den Raum und betrachte die Brutkästen. Alles in Butter, soll dieser Gang verkünden, entspannt euch. Als ich weiter in die Kammer vordringe, ent decke ich eine Abteilung, in der die Eier deutlich weiter ent wickelt sind als die anderen, sozusagen die Abschlußklasse von Dr. Vallardos Brutkammer, die mit den coolen Autos zur Schu le kommen und alle Mädels abschleppen, zusätzliche Lichter in ihren Kästen tauchen sie in ein tiefes Dunkelrot an der Grenze zum Braun, ein Farbton, der in Schulmalkästen wahrscheinlich einfach Gebranntes Umbra heißen würde. »Was ist das für eins?« frage ich und zeige auf eine längliche Hülle. »Es ist größer als die anderen.« Mit stolzem Vaterlächeln streift Dr. Vallardo sich ein Paar Plastikhandschuhe über und streicht sanft über die zarte Hülle. »Das ist Philip«, gurrt er leise. »Philip ist weiter gekommen als irgendeines unserer anderen.« »Aber er ist noch nicht geschlüpft.« »Natürlich nicht«, sagt Dr. Vallardo und streichelt weiter Philips Schale. »Wir sind noch nicht einmal annähernd in die sem Stadium.« »Aber ich habe gehört –« »– ein unzutreffender Bericht«, schneidet er mir das Wort ab. »Sie beziehen sich sicher auf das Gerücht, demzufolge es mir gelungen sein soll, ein Ei vollständig auszubrüten, ja? Bisher ist mir dieses Glück noch nicht vergönnt gewesen. Aber Unter stellungen sind hartnäckig.« Und ob. Bei der Ratssitzung war es als Tatsache berichtet worden, daß Dr. Emil Vallardo einen lebenden Mischling ge 178
schaffen hatte, obwohl die Rassen, aus denen er bestand, unbe kannt waren. Ich habe normalerweise wenig Anlaß, die Berich te des Rates anzuzweifeln, aber wenn Dr. Vallardo tatsächlich ein Mischlings-Kind ausgebrütet hatte, warum sollte er dann den Erfolg, den er seit Jahrzehnten angestrebt hatte, verleug nen? »Wie lange dauert es noch, bis unser Philip hier schlüpft?« frage ich. »Wenn er überhaupt schlüpft«, sagt Vallardo, »wird der ei gentliche Kampferst in etwa drei Wochen beginnen. Er ist mitt lerweile fast vollständig entwickelt, aber jetzt muß er Kraft sammeln, ja.« Dann schaltet er ein zweites Licht an, eine nor male 25-Watt-Birne in einer Nische an der Seite des Brutka stens und fragt mich: »Möchten Sie ihn einmal sehen?« Alles im Namen der Wissenschaft. »Bitte.« Dr. Vallardo schiebt das Ei – mit immer noch zitternder lin ker Hand – behutsam in Richtung Glühbirne, wie ein kleines Kind, das die Lieblingsporzellanpuppe seiner Mutter halten darf. Die Schale ist dünner, als ich vermutet hatte, und als das Ei neben der Birne zu liegen kommt, wird eine schattenhafte Silhouette sichtbar, die, umgeben von kalkigem milkshakearti gen Plasma, behaglich in der Mitte des Eis schwebt. »Wenn Sie genau hinsehen« – er weist auf die größere, run dere Seite des Eis –, »können Sie den Knochenrand um Philips Kopf erkennen.« »Sieht aus wie ein Triceratops.« »Ja, ja, Philip ist das Produkt eines Triceratops-Vaters und einer Diplodocus-Mutter.« Ein Triceratops-Vater – könnte es sein eigenes Kind sein? Arzt, verhilf dir selbst zur Empfängnis? »Sind Sie verheiratet?« frage ich. »Ich weiß, was Sie denken, Mr. Rubio, aber nein, das Ei ist nicht meins, sondern das meines Bruders. Philip wird mein Neffe sein, ja, ja.« 179
Mit welchem Stammbaum auch immer, Philip wird ein ver dammt großer Junge, wenn er je aus dieser Schale schlüpft. Triceratops sind auch ohne Diplodocus-Gene schon groß ge nug. Aber vielleicht funktioniert das auch gar nicht so. Ich ha be, ehrlich gesagt, keine Ahnung, und ich möchte mich auch nicht in eine zweitägige Fachkonferenz über das Thema ver wickeln lassen. Aber ich kann auch die Diplodocus-Konturen bei dem jungen (sehr jungen) Philip erkennen, den sanft geschwungenen Rük ken, den abgerundeten Kopf, der sich mit den knochigen Plat ten eines Triceratops verbindet, die sich bereits jetzt auf Philips pränataler Haut bilden. Der Schwanz ist zu kurz für einen Di plodocus und zu lang für einen Triceratops, er ist wie eine Spielzeug-Spirale unter dem Fötus zusammengerollt, um sich irgendwann in den kommenden drei Wochen zu entfalten. Auch die Beine sind sowohl lang als auch stämmig, eine per fekte Mischung der beiden Tiere, und ich ertappe mich bei der Frage, was für ein Leben Philip führen wird, wenn er es lebend in diese Welt schafft: Wird er als Wunderkind oder Mißgeburt gelten? Apropos Mißgeburt – »Dr. Vallardo«, sage ich möglichst bei läufig und ziehe den Doktor näher an mich heran, »sind Sie der einzige, der derartige Forschungen betreibt?« Jetzt ist er ehrlich verwirrt, das ist keine Show. »Soweit ich weiß. Ja, ja, ich würde sagen, ich bin der einzige.« »Keine Gerüchte oder Berichte über abtrünnige Wissen schaftler, die jenseits der Grenzen der offiziellen Wissenschaft arbeiten?« Ich höre mich reichlich meschugge an, wirres Gefa sel eines Verrückten, und ich weiß es. Aber ich will auf etwas ganz Bestimmte’s hinaus, und zwar schon recht bald. Dr. Vallardo schüttelt vehement den Kopf, und Speichelgra naten schlagen im ganzen Labor ein. »Ich versichere Ihnen, daß ich von solchen Forschungen wüßte.« »Was ist mit zufälliger Mutation? Könnte sie etwas … nun 180
ja, etwas wie Philip hier hervorbringen?« Ein Glucksen. »Unmöglich. Mutationen sind zwar in der Tat der Motor der Evolution, Mr. Rubio, aber sie können die Natur nicht umgehen.« »Das ist mehr Ihre Aufgabe, was?« Dr. Vallardo sagt nichts, also wird es Zeit, ein wenig im Trüben zu fischen. »Wenn ich Ihnen sagen würde«, beginne ich und wage mich auf dünnes Eis, das jederzeit brechen könnte, »daß Freunde im New Yor ker Rat mir von Berichten über gemischtrassige … Kreaturen … erzählt haben, die angeblich in den Straßen von New York gesichtet worden sind –« »Gesichtet?« fragt er, und sein rasches Nachhaken verrät sein Interesse. »Wir haben verschiedene Berichte erhalten«, lüge ich. »Eine Frau hat behauptet, einen Allosaurier mit einem HadrosaurierSchnabel gesehen zu haben.« Keine Reaktion von dem Doktor. Ich fahre fort. »Ein anderes Ratsmitglied hat – Sie werden’s nicht glauben – von einem ausgewachsenen Bronto mit Ankylosaurier-Stacheln gehört. Albern, nicht wahr?« »Ja, ja, ziemlich.« »Und der letzte – ich sollte Ihre Zeit eigentlich nicht mit so etwas vergeuden –« »Nein, nein«, unterbricht er mich, und ich bin entzückt, daß er endlich einmal etwas anderes sagt als »ja, ja«. »Sprechen Sie weiter.« »Es klingt ein wenig wirr, um ehrlich zu sein. Ich habe selbst mit dem armen Kerl gesprochen, und ich kann Ihnen sagen, ich habe noch nie einen so blassen Raptor gesehen. Zu Tode ge ängstigt. Offenbar ist er in einen Kampf verwickelt worden, oder besser, er wurde angegriffen, von einem Dino – und ich möchte betonen, daß das seine Worte waren, nicht meine – von einem Dino aus der tiefsten Hölle.« »O je«, sagt Dr. Vallardo. 181
»O je ist richtig. Wahrscheinlich ein Spinner, aber ich werde Ihnen die ganze Geschichte erzählen. Er sagte, das Ding hätte einen Schwanz gehabt wie ein Stegosaurier – mit Stacheln und allem drum und dran – Krallen wie ein Raptor – ich könnte zur anschaulicheren Illustration meine Handschuhe ausziehen, aber Sie wissen, was ich meine – Zähne wie ein Tyrannosaurus – jede Menge, und riesengroß – und die Ausmaße eines Diplodo cus. Das wäre natürlich ziemlich lang. Also, haben Sie schon mal etwas derart Verrücktes gehört? Ich würde vermuten, daß er in irgendeiner Basilikum-Bar zu tief ins Kraut geschaut hat.« Ich lache. Dr. Vallardo lacht nicht. »Wo war das?« fragt er. »Der Angriff?« »Der Angriff, dieses Wesen.« »Ist das von Belang?« »Nein – nein – natürlich nicht«, stottert er, und ich spüre, wie ich seine mentale Mauer schon halb umrundet habe. »Reine Neugier.« »Er hat gesagt, es wäre in einer Gasse gewesen, mit jeder Menge Graffiti. Eines der ärmeren Viertel der Stadt, nehme ich an.« »Die Bronx?« fragt Dr. Vallardo mit einer Mischung aus Hoffnung und Verleugnung, die kleine Fältchen um seine Au gen schlägt. Aha – vielleicht habe ich jetzt einen Bezirk, in dem ich mit der Suche nach der Klinik anfangen kann. »Die Bronx«, sage ich, »Brooklyn, Queens, ich glaube nicht, daß der Typ überhaupt wußte, wo er war. Bloß weil man ver schwommen eine Gasse gesehen hat …« »Ja, ja, Sie haben wahrscheinlich recht. Er muß betrunken gewesen sein.« »Komplett hinüber, wenn Sie mich fragen. Seine Beschrei bung des Monsters klang allerdings ziemlich überzeugend. Puh, eine Kreatur wie aus Der Schrecken vom Amazonas.« In teressante Beobachtung: Je heftiger ich mich über das Vieh aus der Gasse lustig mache, desto erregter wirkt Dr. Vallardo. Es 182
besteht definitiv ein kausaler Zusammenhang zwischen meinen Sticheleien und seinem Blutdruck. Ich probiere es noch einmal. »Ich wette, wenn man das Ding finden könnte, würde jeder Wanderzirkus eine Menge Geld dafür locker machen.« Vielleicht habe ich es übertrieben; Dr. Vallardos Maskenhaut wird blau, was bedeutet, der Genetiker muß unter seinem Ko stüm praktisch dunkelviolett angelaufen sein. Netter Trick, aber ich beruhige ihn lieber wieder, bevor ein Schlaganfall ihn aus dieser Welt und meinem Fall reißt. »Hey, was soll’s, wenn Sie sagen, es ist unmöglich, dann ist es unmöglich. Wenn Sie sagen, es gibt keine Dino-Mutanten in New York, dann gibt es keine Dino-Mutanten in New York. Sie sind schließlich der Doktor, stimmt’s? Der Mann mit dem genetischen Plan.« Er blinzelt und findet seine Fassung langsam wieder. Die blau angelaufene Außenhaut seines Kostüms hat wieder einen medizinisch akzeptablen Beigeton angenommen. »Ähm … ja, ja.« Er ist ganz atemlos vor Anstrengung. Jetzt weiß ich wieder, warum mein Job mir immer so viel Spaß gemacht hat. Dr. Vallardo schlägt vor, daß wir die Inkubationskammer wieder verlassen – »… die Eier brauchen ihre Ruhe, ja …« –, und ich folge ihm nur zu bereitwillig nach oben. Mein Fisch zug hat sich bezahlt gemacht; ich habe ein paar Barsche mehr in meinem Kahn als am Anfang, und obwohl ich noch nicht weiß, wie Dr. Vallardo auf meine Fischplatte passen soll, bin ich mir jetzt zumindest ziemlich sicher, daß er eine der Beila gen ist. Schon im Aufbruch stelle ich ihm noch ein paar Fragen zu seiner Arbeit, wissenschaftliche Aspekte, die er mit einem Schwall von Fachkauderwelsch beantworten kann, was ihn gut gelaunt zurücklassen wird, wenn ich weg bin. Vielleicht möch te ich mir sein genetisches Labor demnächst noch einmal anse hen, und wenn ich erneut problemlos Zugang bekommen möchte, muß ich dafür sorgen, daß er sich nicht beim Haupt 183
quartier des Rates über mich beschwert, sobald ich aus der Tür bin. »Es war wirklich eine große Ehre«, schleime ich, »eine große Ehre. Sehr groß.« »Bitte, das war doch gar nichts, ja.« »Nein, wirklich, eine einmalige Erfahrung. Ich verstehe jetzt viel mehr.« Ich tippe auf mein Notizbuch und schwenke es demonstrativ in der Luft. Schließlich weiß er nicht, daß es bis auf ein paar Notizen über den Brand im Evolution Club, die Worte Judith, J. C. und Mama sowie ein paar halb wegradierte erotische Skizzen, die ich auf dem Flug nach New York von der Stewardeß angefertigt habe, leer ist. Wir verabschieden uns und ziehen unserer Wege. Doch ich bin noch keine drei Schritte den Flur hinunter, als ich höre, wie er hinter mir herjoggt – ein Geräusch, so häßlich, wie der An blick sein muß –, und spüre, wie er eine feste Hand auf meine Schulter legt. »Was ist mit Ihrem Freund passiert?« fragt er mich, und ei nen Moment lang habe ich keinen Schimmer, wovon er redet. »Der Freund, der angegriffen wurde?« frage ich. »Ja, was ist mit ihm geschehen?« »Soweit ich weiß, macht er eine Therapie.« »Ah. Ja, ja …« Wir stehen im Flur, keiner von uns sagt et was. Irgendwas hat er noch auf dem Herzen, doch ich weigere mich, ihm das Stichwort zu liefern. Dann kommt schließlich doch die Frage, die Dr. Vallardo eigentlich stellen wollte: »Und die … Kreatur? Der Dino-Mischling?« »Ja …?« Ich weiß, was er will. »Was … was ist mit ihm geschehen?« Ich könnte lügen und sagen, er wäre zwar humpelnd und blu tend, aber ansonsten gesund in der Nacht verschwunden, oder behaupten, ich wüßte nichts darüber, doch ich bin so verdammt neugierig, endlich eine echte Gefühlsregung in Dr. Vallardos Gesicht zu sehen, daß ich nicht anders kann, als ihm die Wahr 184
heit zu sagen. »Da müßten Sie die Aufräum-Mannschaften fragen«, sage ich. »Die kümmern sich doch normalerweise um die Skelette.« Ich kann Ihnen sagen, es ist ein Anblick fürs Familienalbum.
11 Als ich das Cook Medical Center verlasse, naht die Rush Hour, und Taxis schießen, von meinem ausgestreckten Arm unbeein druckt, an mir vorbei. Aber was soll’s – alle anderen in dieser Stadt sind auch willige Fußgänger, und da ich um die Hüften ein wenig zugelegt habe, denke ich mir, daß ein kleiner Fuß marsch nicht schaden kann. Von einer Schwesternhelferin in der Eingangshalle lasse ich mir den Weg erklären und begebe mich auf die Straße. Der Rückweg zum Plaza wird so natürlich ein wenig länger dauern, aber vielleicht finde ich die Zeit, über den Fall nachzudenken und ihn in meinem Kopf zu rekonstru ieren, um auf mögliche Ungereimtheiten zu stoßen. Außerdem spare ich mindestens einen Fünfer an Fahrtkosten. Ich bin gerade zum Anfang der Geschichte zurückgekehrt und mental darauf vorbereitet, mir die Szene im Evolution Club auf meiner Hirn-Betamax vorzuspielen, als eine schicke Lincoln-Limousine neben mir bremst. Dabei würde ich mir nichts weiter denken, wenn sie nicht mit etwa acht Stundenki lometern weiter neben mir hertuckern würde, ungeachtet der Tatsache, daß sie dabei einen verdammt schlechten Kilometerschnitt macht. Eine Gelegenheit, einen Blick auf den Fahrer zu werfen, er gibt sich nicht, weil alle Fenster weit jenseits der Grenzen des Gesetzes und des guten Geschmacks kohlenschachtschwarz getönt sind, was eine Identifizierung des Chauffeurs unmöglich macht. Ich bekomme ein ungutes Gefühl, aber ich habe dau ernd ungute Gefühle. Vielleicht ist der Wagen im Begriff, sei 185
nen Geist aufzugeben. Vielleicht hat er sich verirrt. Vielleicht will der Fahrer einfach nach dem Weg fragen und hält mich, da ich zu Fuß gehe, für einen Einheimischen. Vielleicht bin ich einfach paranoid. Das bin ich nicht. Kurz darauf werde ich von zwei Dinos in ihren besten Sonntags-Kostümen flankiert. Keiner der beiden ist viel größer als ich, aber ihr nicht ganz sanfter Griff an meine Ellenbogen sagt mir, daß ich trotzdem lieber gehorchen sollte. »Wollen Sie einsteigen?« fragt der Dino zu meiner Linken, der nach Old Spice und abgestandenem Helium riecht, was mir irgendwie bekannt vorkommt. »Danke für das Angebot«, sage ich, »aber ich fange gerade an, Gefallen am Zufußgehen zu finden.« Ich versuche, die Blicke der anderen Fußgänger zu erha schen, um ein Warn- und Notsignal auszusenden, doch wir sind auf allen Seiten von couragierten New Yorkern umgeben, die sämtlich zu Boden starren und mit Höchstgeschwindigkeit an mir vorbeihasten. »Ich denke, eine nette kleine Autofahrt wird Ihnen auch ge fallen«, gibt der Dino zu meiner Rechten zu bedenken – er ist größer als sein Partner, doch sein Geruch ist nicht viel mehr als eine schwache Dosis Kinderhustensaft. Kaum bedrohlich, ir gendwie fruchtig. Ich riskiere einen weiteren Blick auf die Limousine, ihre ge tönten Scheiben, glänzenden Radkappen, die brandneue Lak kierung – Einschüchterungs-Schwarz, Farbton 008 – und be kräftige innerlich meinen Entschluß, weiter zu laufen. Viel leicht ein bißchen schneller … Old Spice hält mit mir Schritt und legt einen Arm um meine Schulter. Würde ich von weitem zusehen, würde ich es für eine freundliche Geste halten, eine fröhliche kameradschaftliche Umarmung. Aber so freundschaftlich ist dieser Arm nicht – Old Spice hat eine der Latexfingerspitzen abgezogen, und ich spüre, wie seine Kralle ziemlich ernsthaft an meinem zarten 186
Hals kratzt. Deswegen kommt mir auch der Geruch so bekannt vor – Aftershave und Kaugummi –, dies sind die beiden Schlä ger aus dem Park, Nadels Mörder. »Fahren Sie gern Rad?« frage ich. »Ich werde dich noch einmal nett bitten«, zischt der Killer und haucht mir seinen Atem ins Ohr, »danach mache ich dich einfach kalt. Steig in den Wagen.« Okay, okay, also steige ich in den Wagen. Ernies Regel Nr. 5 besagt: Tote Schnüffler können nicht ermitteln. Eine Zeitlang fahren wir in vollkommenem Schweigen dahin. Der Fahrer, den ich wegen einer Trennscheibe zwischen den Vordersitzen und dem Fond des Wagens nicht richtig sehen kann, weigert sich, das Radio einzuschalten. Wenigstens könn te man mich mit ein paar munteren Melodien unterhalten. Die beiden Schläger, die mich in die Limousine bugsiert haben, sitzen links und rechts neben mir, und unsere Schultern sind trotz der geräumigen Rückbank dicht aneinander gepreßt. »Meine Beine schlafen ein«, sage ich. Das scheint meine Entführer nicht weiter zu kümmern. Wir fahren weiter. »Wißt ihr«, sage ich, »mir fällt gerade auf, daß wir uns noch gar nicht richtig vorgestellt worden sind. Viel leicht habt ihr ja den falschen Typen erwischt.« »Nee, nee, wir haben schon den Richtigen«, sagt Hustensaft. »Es gibt schließlich keine zwei Dinos, die Vincent Rubio hei ßen und wie eine kubanische Zigarre riechen.« Ich blinzele verwirrt und lege meine Stirn bis an den Rand eines Muskelkrampfes in Falten. »Vincent Rubio? Seht ihr, ich wußte, daß es sich um eine Verwechslung handeln muß. Ich bin Wladimir Rubio. Aus Minsk.« Darüber scheint der Dümmere der beiden tatsächlich eine Weile zu sinnieren, bevor Old Spice mir den Spaß verdirbt. »Hör nicht auf den kleinen Scheißer. Und ob das Rubio ist.« »Erwischt«, gestehe ich, »erwischt. So … jetzt kennt ihr meinen Namen, ich aber nicht eure.« 187
»Ach ja«, sagt Hustensaft, »ich bin Engelbert, und das ist Harry –« Old Spice versetzt uns beiden einen kräftigen Klaps auf den Hinterkopf, der mir einen Rülpser, Hustensaft ein leises Auf jaulen entlockt. »Klappe, alle beide«, sagt er, und wir gehor chen ihm prompt. Es dauert eine Weile, bis die harten Linien der Stadt den wei cheren Konturen der Natur weichen, Bäume, Blumen und Bü sche ersetzen Laternen, Ampeln und Straßenhändler. Auch der Geruch verändert sich, und ich bin überrascht, wie leer die Luft riecht, wie ein tausendteiliges Puzzle, bei dem sechs entschei dende Teile fehlen. Es ist schon eine Weile her, seit ich zum letzten Mal eine Stadt verlassen habe – L. A., New York oder sonstwas –, und das Fehlen des pikanten Smog-Geruchs läßt mich immer ein wenig orientierungslos zurück. In gewisser Weise ist er wie das Leuchtfeuer eines Heimathafens, ein Si gnal für den Ort, den ich liebe. Als die Gegend noch ländlicher wird, greift Old Spice unter den Sitz vor sich und zieht eine Einkaufstüte aus Papier hervor. »Über den Kopf«, sagt er und reicht mir die Griffe der Tüte hin. »Soll das ein Witz sein?« »Höre ich mich an, als würde ich Witze machen?« »Ich weiß nicht«, sage ich, »wir kennen uns ja erst seit einer halben Stunde.« »Und du wirst mich auch nicht viel länger kennen, wenn du dir jetzt nicht die Tüte über den Kopf ziehst.« Offenbar hat er nie von der Devise gehört, daß man mit Speck mehr Mäuse fangt. Meine Beine sind immer noch eingeschlafen. Widerwillig streife ich den provisorischen Kopfschmuck über, und all die hübschen Bäume verschwinden. Wenigstens bleibt mir noch mein Geruchssinn. »Das hätte ich fast vergessen«, grunzt Old Spice. Ich höre ihn in seinen Taschen kramen, Kleingeld und Schlüssel klimpern, 188
und kurz darauf drückt er mir etwas in die linke Hand – lang und schmal, bestehend aus zwei durch einen gebogenen Draht miteinander verbundenen Holzteilen in Form eines AlligatorenKiefers, nur ohne Zähne. Wenn man die eine Seite zudrückt, geht die andere auf … »Klemm sie ihm auf die Nase«, trägt Old Spice seinem Part ner auf. »Schön fest.« Mit einer mittelgroßen Papiertüte von Bloomingdale’s über meinem Kopf und einer Wäscheklammer auf der Nase geht die Fahrt durch die Landschaft weiter. Das vermute ich zumindest. Mit meinen beiden stärksten Sinnen auf der Reservebank wür de ich es auch nicht bemerken, wenn wir wenden und zurück in Richtung Stadt fahren würden. Auch mein Zeitgefühl schwin det allmählich – der Rest der Fahrt könnte eine Stunde oder auch einen Tag dauern, ich wüßte es schlicht nicht. Ich hoffe nur, daß ich mich nicht in Georgia wiederfinde, wenn mir die Tüte vom Kopf gezogen wird, weil mich dort möglicherweise ein Haftbefehl erwartet – fragen Sie nicht, fragen Sie nicht. Doch meine Ohren sind unbeeinträchtigt, und nach einer Weile höre ich zu meiner Linken ein kreissägenartiges Schnar chen, das langsam an Lautstärke zunimmt. Old Spice ist einge schlafen und geneigt, diesen Umstand seiner näheren und wei teren Umgebung bekanntzugeben. Kurz darauf bremst der Wa gen ab, und man kann das unverkennbare Klimpern von Mün zen vernehmen, die den Schacht eines Automaten hinunterglei ten, bevor der Wagen wieder beschleunigt. Zehn Minuten später höre ich eine Kuh. Weitere fünf Minuten danach dringt das unverwechselbare Aroma einer Mülldeponie an der Wäscheklammer vorbei in meine Nüstern und prallt frontal auf das olfaktorische Identifi kationszentrum meines Gehirns. Ob der stechenden Duftwolke schnappe ich unwillkürlich nach Luft; auch Old Spice erwacht aus seinem Schlummer – sein Schnarchen wird zu einem 189
Schnauben und Niesen, zu einer ganzen Kavalkade von Lauten aus dem Neuigkeiten-Regal –, und er klemmt meine Klammer träge wieder fest, womit auch die letzten Geruchsfetzen ausge sperrt sind. Wir sind in New Jersey. Eine Weile später kommt der Wagen zum Stehen. Das ist schon ein- oder zweimal vorher geschehen, doch diesmal wer de ich angewiesen auszusteigen, ein Befehl, dem ich bereitwil lig nachkomme. Ich springe förmlich von der Rückbank, denn meine verkrampften, kribbelnden Beine sehnen sich danach, sich zu strecken. »Soll ich auch die Tüte abnehmen?« »Das wäre ziemlich unklug.« Harry packt meinen linken Arm, Engelbert meinen rechten, und gemeinsam führen sie mich über ein holpriges Gelände. Meine Füße senden verstoh len Signale – wir gehen über eine Schotterstraße mit losem Kies. Ein paar Minuten später erreichen wir offenbar eine Lich tung. Ich arbeite bereits an einem Fluchtplan für den Notfall. Ich weigere mich schlicht, mit einer Bloomingdale’s-Tüte über dem Kopf zu sterben. »Mach die Augen zu«, befiehlt Harry mir, und ich beschlie ße, seiner Anweisung dieses eine Mal nicht zu folgen. Autsch! Licht – gleißendes Licht – meine Augen brennen, meine Augen brennen! Ich klappe die Lider wieder runter, um meine malträtierten Glubscher zu schonen. Harry lacht mich aus, und Engelbert stimmt halbherzig ein. »Meine Augen! Was habt ihr mit meinen Augen gemacht?« Klaps. Ein weiterer Schlag auf den Hinterkopf. »Hör auf rumzujammern«, sagt Harry. »Ich habe dir die Tüte vom Kopf gezogen, das ist alles. Hier draußen ist es eben hell, du Schwachkopf.« Langsam gewöhnen sich meine Augen an das Licht, die roten Streifen verschwinden von meiner Netzhaut. Nach und nach 190
kommt die Lichtung in Sicht, und sie sieht im großen und gan zen so aus, wie ich sie mir vorgestellt habe: ein grober, in die Vegetation gehauener, leerer Kreis, das Blattwerk der Bäume filtert einen Großteil des Sonnenlichts, doch nicht genug, um meinen müden Augen eine Rast zu gönnen. Der einzige Be standteil der Kulisse, den ich nicht erraten hatte, ist gleichzeitig der prominenteste und steht mitten auf der Lichtung: eine Holzhütte, klein, aber stämmig, so wie sie der alte Abe Lincoln gebaut hätte. Vielleicht hat er das ja auch getan. Harry gibt mir einen kleinen Schubs, einen Football-Klaps auf den Hintern. »Los«, sagt er. »Da rein?« »Ja, da rein.« »Kann ich die Klammer von der Nase nehmen?« »Nein.« Als ich, schwer durch den Mund atmend, auf die Hütte zuge he, fällt mir auf, daß weder Harry noch Engelbert folgen. Ich habe jetzt gut dreißig Meter Vorsprung und könnte theoretisch einen Ausbruch wagen – gazellengleich über die Lichtung hüp fen und mich fieberhaft durchs Unterholz in die Freiheit wüh len. Die Bullen anrufen, sie auf die drohende Gefahr hinweisen und einer Talkshow meiner Wahl meine Geschichte erzählen. Aber auch wenn ich wühlmäßig schon immer ein flinker Dachs gewesen bin, ist meine Laufgeschwindigkeit der eines pumme ligen Dackels stets näher gewesen als der einer Gazelle. Und selbst wenn ich den beiden Schlägern hinter mir davonrennen könnte, ist es durchaus wahrscheinlich, daß sie Distanzwaffen bei sich tragen und mich binnen Sekunden niederstrecken wür den, ganz egal wie ausgeprägt meine Talente als Wühler auch sein mögen. Kurzum, ich beschließe, die Hütte zu betreten. Bei meinem Glück gibt es drinnen natürlich kein Licht. Zwi schen Vallardos Brutkammer und der Papiertüte hat mein visu elles Spektrum heute bereits einen Wechsel zwischen hell und dunkel und noch heller und noch dunkler durchgemacht, so daß 191
meine Augen bei dem Bemühen, den Durchblick zu behalten, ganz schön ins Schwitzen gekommen sind. Ich bleibe einen Moment auf der Schwelle stehen, damit das Licht von draußen hereinfallen kann, bis eine weibliche Stimme – leise, aber nachdrücklich – sagt: »Schließen Sie die Tür.« Ich gehorche und stehe wieder im Dunkeln. »Ihre Augen werden sich daran gewöhnen«, sagt die Stimme. »Bis dahin habe ich Ihnen einige Dinge zu sagen. Ich bitte Sie zu schwei gen, bis ich fertig bin. Haben Sie mich verstanden?« Ich erkenne eine Fangfrage, wenn ich sie höre, und halte be fehlsgemäß den Mund. »Sehr gut«, sagt sie. »Vielleicht wird das alles ja doch nicht so schwierig.« Schatten kommen in Sicht – ein Herd, ein Stuhl, ein Kamin möglicherweise, vor dem eine lange, schlanke Gestalt steht. »Soweit ich weiß, sind Sie geschäftlich hier«, sagt die Stimme, während sich neben anderen Silhouetten ein kräftiger Schwanz aus dem Dunkel schält. »Und das kann ich respektieren. Wir müssen alle unseren Job machen, und das tun wir nach besten Kräften. Sie würden Ihre Pflichten vernachlässigen, wenn Sie Ihrer Arbeit nicht die volle Aufmerksamkeit widmen würden, die Sie in dieser Sache bisher an den Tag gelegt haben.« Jetzt erkenne ich auch einen Hals, lang, grazil und schwa nenhaft – Arme, kurz, aber muskulös – mandelförmige Augen, die hoch über zwei Wangen wie reife Pflaumen stehen. »Mir ist ebenfalls bekannt, das Sie aus Los Angeles kommen«, sagt sie, »und auch wenn Sie möglicherweise den Eindruck haben, das Leben einer Metropole zu kennen und zu wissen, wie man sich in einer großen Stadt benimmt und seine Geschäfte führt, möchte ich, daß Sie kapieren, daß L. A. verglichen mit dem Big Apple ein Laufställchen ist. Und was an Mutters Brust noch durchgeht, ist im Kindergarten schon eine Ungezogen heit.« Ich habe Sie nicht um meinetwillen hierher bringen lassen, sondern zu Ihrem eigenen Besten. Um genau zu sein, habe ich 192
Ihnen schon zweimal das Leben gerettet. Das müssen Sie mir nicht glauben, aber es ist die Wahrheit.« Ein Coleophysis-Weibchen, kein Zweifel, und ein wirklich umwerfendes dazu. Jede ihrer sechs Zehen hat die perfekte Länge, den perfekten Umfang, die Häute dazwischen makellos. Und ihr Schwanz – oh, dieser Schwanz! –, doppelt so dick wie meiner und vierzigmal so zart. Ich wünschte nur, ich könnte die verdammte Wäscheklammer abnehmen, um ihren Geruch tief einzuatmen. »Ich müßte lügen, wenn ich behaupten würde, daß ich Ihre Arbeit nicht … verstehen könnte«, sagt sie. »Aber wenn Sie weiterhin all diese Fragen stellen und diese Ermittlung fortfüh ren … meine Macht, Sie zu schützen, ist nicht unbegrenzt. Verstehen Sie mich?« »Ich verstehe, was Sie mir sagen wollen«, erwidere ich, nachdem meine Augen ihre lethargischen Anpassungsbemü hungen endlich erfolgreich abgeschlossen haben, »obwohl ich nicht unbedingt einverstanden bin.« »Das dachte ich mir schon.« »Ich verstehe auch nicht, warum Sie mich in eine Hütte in New Jersey schleifen mußten. Sie hätten mir auch ein Tele gramm schicken können.« »Das alles hat nichts mit Ihnen zu tun«, sagt das Coleophy sis-Weibchen. »Aber ich bin im Gegensatz zu anderen nicht der Auffassung, daß Ihnen etwas zustoßen sollte.« »Von einem kleinen Gerangel mit Harry und Engelbert ein mal abgesehen, bin ich in letzter Zeit kaum in gefährliche Si tuationen geraten. Wissen Sie, daß Ihr Schläger damit gedroht hat, mir die Kehle rauszureißen?« »Sie haben Ihnen ihre Namen genannt?« Sie schürzt sichtlich unglücklich die Lippen. Ich zucke die Schultern. »Engelbert denkt man sich nicht ein fach so aus.« »Sagen Sie mir eins«, fährt sie fort und kommt so nahe, daß 193
ihr heißer Atem meinen Hals streift. »Warum halten Sie es für notwendig, in dem ganzen Ärger rumzurühren?« »Rühre ich? Ich hatte gedacht, ich würde eher schütteln?« Eine Pause. Wird sie mich küssen oder anspucken? Weder noch – das Coleophysis-Weibchen weicht zurück. »Sie haben Dr. Emil Vallardo aufgesucht, ist das zutreffend?« »In Anbetracht der Tatsache, daß Ihre Schläger mich vor sei ner Praxis aufgelesen haben, würde ich vermuten, Sie wissen, daß es zutrifft.« Ohne um Erlaubnis zu bitten – Schluß mit Er laubnis –, mache ich ein paar Kniebeugen, um wieder Leben in meine Beine zu bringen. »Es sind nicht meine Schläger.« Sie schweigt kurz und fährt dann fort: »Dr. Vallardo ist ein kranker Mann. Brillant, aber krank. Es wäre besser, wenn Sie ihn weiter allein an seiner Ba stardisierung der Natur arbeiten lassen würden.« »Sie finden es also nicht richtig«, sage ich. »Ich habe die Früchte seiner Arbeit gesehen. Persönlich.« Sie zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich. »Außerdem haben Sie Judith McBride belästigt.« Woher weiß sie das alles? Bin ich seit Verlassen des Flug zeugs beschattet worden? Ich muß ziemlich zerknirscht zur Kenntnis nehmen, daß mich die Stadt so durcheinander ge bracht hat, daß ich trotz meiner Paranoia keinen Verfolger ge sehen habe. Rasche 360-Grad-Drehungen gehören an sich zur regelmäßigen Routine auf meinen Wegen durch die Stadt; eine automatische Handlung wie der Blick in den Rückspiegel eines Autos. Verdammt, normalerweise sehe ich mich sogar unter der Dusche noch nach Verfolgern um. »Ich habe sie nicht belästigt«, gebe ich zurück, »ich habe ihr ein paar Fragen gestellt.« Ein harter Blick, bevor sie auch mir einen Stuhl anbietet. »Bitte nehmen Sie Platz.« Ich stelle meine Kniebeugen ein und lasse mich ihr gegenüber auf den Stuhl fallen. Mir fällt auf, daß sie meine Begegnung mit der Dino-Mischung in der Gasse hin 194
ter der Klinik noch nicht erwähnt hat, aber entweder das kommt noch, oder ihre Spione hatten an jenem Abend ihren schlaffen Tag. Das Coleo-Weibchen nimmt meine Hand, und ein Kribbeln wandert durch mein Kostüm meinen Arm hinauf bis in mein Herz, das einen Schlag aussetzt. Seltsamerweise fühlt es sich schön an. Dann pocht mein Herz weiter. »Der Brand im Evolu tion Club war eine schreckliche Sache«, sagt sie, und an dem Glänzen in ihren Augen und dem sanften Ton, der jedes ihrer Worte in Watte packt, merke ich, daß sie es ehrlich meint. »Di nos sind gestorben, und das war falsch. Donovan wurde ver letzt, und das war schrecklich. Und ich verstehe auch Ihre Be troffenheit über den Tod Ihres Partners. Aber das alles war ein Unfall. Können Sie das begreifen?« »Waren Sie an dem Abend dabei?« frage ich. »Als Ernie ge storben ist?« »Nein.« »Und was ist mit L. A. – mit dem Club?« »Nein.« Auch ohne daß meine Nase mir Hinweise sendet, spüre ich, daß sie mir in beiden Fällen die Wahrheit sagt. »Aber ich weiß, daß das, was geschehen ist, nicht geschehen sollte. Jedenfalls nicht auf diese Art.« »Toll. Was sollte denn geschehen?« Kopfschütteln, Händeaufwerfen. »Das ist ja genau das, was ich Ihnen klarzumachen versuche, Vincent. Sie müssen aufhö ren, Fragen zu stellen. Sie müssen New York noch heute abend verlassen und die ganze Sache vergessen.« »Das kann ich nicht.« »Sie müssen.« »Ich verstehe. Aber ich werde es trotzdem nicht tun.« Ich weiß nicht, ob sie in sich hineinlacht oder leise weint – sie hat den Kopf auf die Arme sinken lassen, ihr ganzer Körper bebt, ihre Schultern zucken, ein Lachanfall oder ein Heulkrampf – doch ich nutze die Gesprächspause, um mich erneut 195
zu dehnen. Das Rumsitzen macht mich fertig, und meine Haut ist unter dem Kostüm mittlerweile ganz feucht. Als sie den Kopf wieder hebt, schimmern Tränen in ihren Augen – womit die Sache mit Lachen oder Weinen weiter un entschieden bleibt –, und sie schüttelt nur stumm den Kopf, womit das Gespräch offenbar für beendet erklärt ist. Es würde mich nicht überraschen, wenn auch noch ein kleiner Seufzer im Spiel gewesen wäre. »Ich habe getan, was ich konnte«, sagt sie. »Ich kann Sie nicht mehr schützen.« »Ich weiß«, sage ich, während ich mich selbst frage, warum ich nicht aufgebe, nach Hause fliege und meine dünne Haut rette. Schutz ist normalerweise eine gute Sache, und nur weil ich das Gefühl habe, ganz nah an etwas ganz Großem zu sein, bin ich noch nicht aus dem Spiel ausgestiegen. »Ist Ihnen dieser Job wichtiger als Ihr Leben, Mr. Rubio?« fragt das Coleo-Weibchen. Ich denke darüber nach, und sie läßt mir Zeit. Meine verzö gerte Antwort kommt über meine Lippen, noch bevor ich be greife, wie wahr sie ist. »Im Augenblick ist dieser Job mein Leben.« Sie versteht und bohrt nicht weiter. Ich bin froh. Ich blicke auf meine Uhr – es wird spät, und nachdem ich mir nun ziem lich sicher bin, daß ich nicht mitten in New Jersey erledigt werden soll, senkt sich eine bleierne Müdigkeit über mich. Meine Muskeln sehnen sich danach, von ihren Fesseln befreit zu werden, und freuen sich schon auf ein schönes heißes Voll bad im Hotel. »Sind wir dann fast so weit?« frage ich und deute auf meine Uhr. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber …« »Noch eine Frage«, sagt sie. »Und dann lasse ich Sie von Harry und Engelbert zurück ins Hotel bringen.« »Schießen Sie los.« »Es ist eine persönliche Frage.« »Keine Küsse beim ersten Kidnapping.« 196
»Ich weiß, daß Sie Donovan im Krankenhaus besucht ha ben«, sagt sie – und die Art, wie sie den Namen des verbrann ten Raptors ausspricht – die Flutwelle auf der ersten Silbe, der federnde Schwung auf den nächsten beiden –, sagt mir, daß sie ihn vor langer Zeit einmal sehr gut gekannt hat. »Das stimmt.« »Sagen Sie mir …« Sie zögert, ihre Stimme bricht. Sie will die Frage nicht stellen, vielleicht weil sie die Antwort nicht hören will. »Sagen Sie mir, wie geht es ihm?« Dieser flehende Ausdruck in ihren Augen, dieser Blick von Sagen Sie mir, daß alles in Ordnung ist und er keine Schmer zen leidet, setzt einen Zug von Gedanken in Gang, von dem ich gar nicht gewußt hatte, daß er auf dem Gleis war: Sie ist ein Coleophysis-Weibchen – sie hat mich aus der Kulisse beobach tet – sie hat Erfahrungen mit Dr. Vallardo gemacht – sie hat ihre Schläger angewiesen, mir die Nase zuzuklammern, damit ich mir ihren Geruch nicht einprägen und sie so wiederfinden kann – sie ist im Schatten geblieben und will das auch weiter hin tun – doch am wichtigsten von allem, sie liebt Donovan Burke immer noch sehr. Auch nach all den Jahren noch. »Er sieht prächtig aus«, lüge ich, und die unauffindbare Jay cee Holden lächelt. »Es geht ihm wirklich prima.« Die Tüte ist wieder über meinem Kopf, obwohl ich seit zehn Minuten mit der Begründung gegen diese Entscheidung prote stiere, daß es völlig nutzlos ist, mir dergestalt die Augen zu verbinden, da ich ohnehin weiß, wo wir sind. »Befehl ist Befehl«, knurrt Harry. »Die Lady hat euch angewiesen, mich zurück ins Hotel zu bringen. Ich war dabei, ich habe sie gehört, von einer Tüte war nicht die Rede.« Jaycee Holden hatte die beiden Dinos in der Tat angewiesen, mich sicher und geborgen zurück ins Plaza zu bringen, und zwar so schnell wie möglich. Letzteres hatte sie 197
betont, als hätte sie Grund zu der Annahme, daß die beiden anders handeln könnten, und die Dinos hatten widerwillig zu gestimmt. Der Fahrer, den ich noch immer nicht zu Gesicht bekommen habe, grunzt etwas, und Harry beugt sich vor und murmelt eine Antwort, die ich nicht verstehen kann. Engelbert ist die ganze Zeit ziemlich zugeknöpft, seine vorherige Bereitschaft, auf meine Spielchen einzugehen, ist verschwunden. Ich überlege gerade, ob ich erneut die Stimme erheben soll, diesmal viel leicht mit der Bitte, die Klimaanlage höher zu schalten, ent scheide jedoch, mich eine Weile bedeckt zu halten und die ge wonnene Zeit dazu zu nutzen, meine Gedanken und Eindrücke zu ordnen. Ich gehe die Beziehungen der handelnden Personen einzeln durch – Vallardo kannte McBride, Nadel, Donovan, Jaycee – Judith McBride kannte sie alle plus Sarah – Sarah hat mit McBride geschlafen und ein kurzes Gespräch mit Ernie geführt – Nadel hat sowohl McBride als auch Ernie obduziert – Nadel wurde von den beiden Dinos ermordet, die neben mir sitzen – Und mit einemmal fällt mir auf, daß der Straßenbelag sich verändert hat. Wir haben die Autobahn und überhaupt jede Art von gepflasterter Straße verlassen und sind auf eine weiche Böschung oder dergleichen geraten. Die Reifen wirbeln auf der Suche nach Haftung Dreck auf, der Wagen fährt deutlich lang samer. Ich lege eine Hand an die Tüte – »wo sind wir?« Sie wird grob weggeschlagen. »Das geht dich einen Scheiß dreck an.« Brombeerranken und Zweige kratzen an der Seite des Wa gens entlang, und trotz meiner mangelnden Ortskenntnis, was die weitere Umgebung von New York angeht, bin ich mir ziemlich sicher, daß dies nicht der Weg zurück nach Manhattan ist. »Hey, Jungs, ihr seid falsch abgebogen«, sage ich. 198
»Nein, das sind wir nicht – oder, Harry?« »Nein.« »Da bin ich mir aber ziemlich sicher. Miss Holden hat euch angewiesen, mich zurück ins Plaza zu bringen, und das hier ist ganz bestimmt nicht die Park Avenue.« Harry beugt sich vor und preßt seine Stirn gegen die Tüte, mein Ohr und seine Lippen sind nur durch ein dünnes braunes Papier getrennt. »Wir kriegen unsere Befehle nicht von diesem Flittchen.« Was das bedeutet, ist mir schon klar, bevor ich aufspringende Knöpfe und einrastende Krallen höre. Ich weiß, daß sie mich nie ins Hotel zurückbringen werden. Sie haben vor, mich zu töten, gleich hier an Ort und Stelle. Ich drücke mich kräftig mit den Beinen ab und werfe mich nach hinten gegen Engelbert, während ich mit den Händen gleichzeitig die Tüte von meinem Kopf und die Handschuhe von meinen Händen reiße – »Halt ihn fest!« kreischt Harry. »Hol die –« Doch ich bin schlüpfrig wie ein Aal, schiebe mich hinter den verwirrten Engelbert und halte ihn vor mich wie ein Schild. Meine Handschuhe sitzen einfach zu gut – ich hatte keine Zeit, sie richtig aufzuknöpfen –, also fahre ich meine Krallen einfach so aus, ihre scharfen Ränder zerreißen meine Latex-Finger, meine Waffen zerfetzen diese nutzlosen menschlichen Hände. Ein Schwanz kracht in den Sitz neben mir und zerreißt das Polster beinahe in zwei Hälften, während ich mich im letzten Moment gegen die Tür der Limousine drücke und die Beine gegen das Fenster stemme – wieder heißt die Devise, töten oder getötet werden, und ich bin bereit. Ich werfe mich mit aller Kraft gegen die warmen Körper meiner Angreifer. Der Fahrer sieht sich besorgt um und bremst den Wagen. Der Ge ruch des Kampfes ist überwältigend, ein sattes Aroma aus Angst und Wut. Wir bilden ein Knäuel aus Krallen und Knurren, keiner kann 199
seine Gliedmaßen befreien, hat Zeit, die Maske vom Gesicht zu reißen oder sein Gebiß auszuspucken. Harrys Schwanz ist frei, doch er prügelt ziellos um sich – wenn er versucht, mich zu schlagen, wird er auch sich selbst treffen, deshalb klammere ich mich an seinen Körper und kratze nach seinen Augen, Oh ren und jedem anderen weichen Gewebe, das in Reichweite kommt. Blut und Schweiß bedecken die Polster – Engelbert ist auch mit uns verschlungen, und ich glaube, daß er seine Kral len tatsächlich in Harrys Flanke geschlagen hat. »Gib auf – gib auf –« keucht Harry – »du – hast – keine Chance –« Der Rest geht in einem Brüllen unter, weil ich versteckte Restenergien mobilisiert habe, um den Brontosaurier hochzu reißen und ihn mit dem Gesicht zuerst gegen den Beifahrersitz zu schleudern. Ich hole mit meiner rechten Kralle aus, um die Sache gleich hier und jetzt zu beenden, als ich einen Strom schlag von Schmerz verspüre, vier scharfe Spritzen aus Ago nie, die durch meinen Brustkorb schießen. Hinter mir lösen sich Engelberts blutige Krallen von meiner Haut. Ich wirbele mit ausgestreckten Armen herum, der Schwung läßt den Kreis weiter und weiter werden – ich weiß nicht, wo der Schlag landen wird, und es ist mir im Grunde egal, solange meine Krallen etwas treffen, irgendwas. Sie bohren sich durch den Hals des Fahrers. Der Fahrer sinkt über dem Steuer zusammen, sein Fuß wird zum toten Gewicht auf dem Gaspedal, und der Wagen schießt die Schotterstraße hinunter. Der Lärm ist jetzt ohrenbetäubend, ich kann das Brüllen und Kreischen und das Dröhnen des Mo tors nicht mehr auseinanderhalten, während die Krallen weiter fliegen, Blut strömt und Fleisch unter wütenden Attacken in Fetzen gerissen wird. Als ich zum Luftschnappen kurz auftau che, fällt mein Blick durch die Windschutzscheibe auf einen riesigen Baum vor uns, der mit jeder Sekunde näher kommt. Ich lasse mich in das Gewirr aus zerfetzten menschlichen Ko 200
stümen und Dinofleisch zurückfallen, und – Aufprall. Es ist wie eine Art Traum, obwohl ich mir durchaus bewußt bin, daß ich auf dem Boden einer Limousine liege, blutüber strömt, Krallen noch ausgefahren, einen Arm in dem zerfetzten Beifahrersitz vor mir vergraben. In dieser … Halluzination, wenn wir es so nennen wollen, nähert sich eine junge Frau dem Wagen – dieselbe junge Frau wie aus meinen anderen Träumen der letzten Zeit – und starrt auf meinen vornübergebeugten Körper. Ich versuche zu winken, zu blinzeln, ihr zu signalisie ren, daß ich Hilfe brauche, aber es ist zwecklos. Sie öffnet die Tür des Wagens, und mein Kopf fällt heraus und schlägt gegen den Rahmen. Ich kann mich nicht bewegen. Meine Angst wächst. Ohnmächtig muß ich mitansehen, wie diese Frau, deren Züge deutlich sind, deren Gesicht im ganzen jedoch von einem schimmernden Licht überstrahlt wird, das auch ihr Haar be glänzt, sich über mich beugt wie eine Mutter, die ihr Kind ins Bett bringt. Sie lächelt, und meine Nervosität verfliegt. Wortlos öffnet sie den Mund und senkt den Kopf noch weiter. Das Vor spiel zu einem Kuß, und ich kann die Lippen nicht bewegen. Sie öffnet den Mund, ihre Zunge schnellt hervor – Und sie leckt das Blut ab, das mein Gesicht bedeckt, schlürft es mit einem Grinsen auf den Lippen. Ich schreie und verliere erneut das Bewußtsein. Der Fahrer ist tot. Harry ist auch tot. Engelbert nicht, aber er ist bewußtlos und wird es vermutlich noch ein paar Stunden blei ben. Alle drei sind durch die Windschutzscheibe geschleudert worden, als der Wagen gegen die große alte Eiche geprallt ist, und ich danke der Firma Lincoln, daß sie den Vordersitz so robust gebaut hat, daß er der Wucht eines mit knapp hundert Stundenkilometern anrauschenden Velociraptors standhält, 201
obwohl ich vermute, daß das kein standardmäßiger Sicherheits test ist. Wie in meinem Traum bin ich blutüberströmt – zum Teil meins, zum Teil nicht – auf dem Boden der Limousine aufge wacht, aus dem Wagen geklettert und über den schlammigen Boden getaumelt. Es hat eine Weile gedauert, bis ich meine Orientierung wiedergefunden hatte. Der Highway ist ganz in der Nähe; ich kann leise Motorengeräusche und Hupen hören. Wie üblich ist es meine erste Dino-Pflicht, den Tatort in Ord nung zu bringen, und obwohl es eine Weile dauert, schaffe ich es, Harry und Engelbert wieder zu kostümieren, wobei es mir besondere Mühe bereitet, ihre Krallen von Hand wieder zu rückzuschieben und ihnen die Handschuhe überzustreifen. Für den Fall, daß Engelbert aus irgendeinem Grund nicht mit der Situation fertig wird oder doch noch an seinen schweren Ver letzungen verrecken sollte, kann ich nicht das Risiko eingehen, daß ein Mensch mitten in Jersey zufällig auf einen Haufen halbverkleideter, toter Dinosaurier stößt. Ich hoffe, daß eine rasche Durchsuchung der Limousine ein paar Hinweise auf den Auftraggeber des Mordanschlags zutage fördern wird, doch der Kofferraum ist ebenso leer wie das Handschuhfach, abgesehen von den üblichen Formularen. Nicht einmal die Zulassung hilft mir weiter; der Wagen ist auf einen Sam Donavano zugelassen, ein mir völlig unbekannter Name. Ich filze den toten Fahrer und finde eine Brieftasche und ein paar stümperhaft gestaltete Visitenkarten – und tatsäch lich, es ist Mr. Donavano höchstselbst. Auch wenn mein eigenes Kostüm ein paar Risse abbekom men hat, läßt es sich bestimmt retten und sollte, wenn ich einen Teil der Körperflüssigkeiten abwasche, für die Rückfahrt in die Stadt reichen. Einige der hartnäckigeren Blutgeysire kann ich mit einem Druckverband aus Harrys Hemd stillen, und ich bin froh, daß ich diesmal nicht meine eigenen Klamotten für medi zinische Zwecke opfern muß. Es wird eine Weile dauern, bis 202
mich jemand mit zurück in die Stadt nimmt – auch wenn ich nicht noch immer ein wenig bluten würde, humpele ich und schleppe meinen armen geschundenen Körper hinter mir her wie ein vollendeter Landstreicher –, und die Sonne schickt sich an, hinter dem Horizont zu verschwinden. Doch die Dunkelheit wird mich unsichtbarer machen, und Unsichtbarkeit kann ich zur Zeit schaufelweise gebrauchen. Ich setze mich neben die Eiche und versuche, wach zu bleiben. Mein Plan ist simpel: Ich werde auf den Einbruch der Dun kelheit warten und dann in die Stadt und die relative Sicherheit meines Hotelzimmers zurückkehren. Dort werde ich mich aus ziehen, auf diese Wolke von einem Bett legen und – aller guten Dinge sind drei – für den heutigen Tag ein letztes Mal in Be wußtlosigkeit versinken. Das heißt, falls nicht noch jemand versucht mich umzubrin gen.
12 No rest for the wicked. Ich bin kaum in meinem Hotelzimmer eingetroffen, habe mein Kostüm abgelegt, die dringend benö tigte Dusche genommen und mich zum Schlafengehen wieder verkleidet, als es klopft. Eine Hose über meine Hüften ziehend, watschele ich pinguinartig zur Tür und spähe durch den Spion. Man kann gar nicht vorsichtig genug sein, bei all den Leuten, die mich umbringen wollen und so. Es ist der Portier, ein angenehmer Zeitgenosse namens Al fonse, den kennenzulernen ich das Vergnügen heute morgen auf meinem Weg aus dem Hotel hatte. »Guten Abend, Mr. Rubio«, sagt er und verbeugt sich knapp. »Tut mir leid, wenn ich Ihnen Probleme bereite.« »Kein Problem.« Ich zögere. »Es sei denn, Sie sind hier, um mir zu sagen, daß es ein Problem gibt.« 203
»O nein, Sir. Sie haben eine Nachricht, Sir.« Ich werfe einen Blick zu dem Telefon; die Leuchtanzeige für Nachrichten blinkt nicht. Alfonse muß meine Gedanken ahnen, denn er sagt: »Ich habe beschlossen, Sie persönlich zuzustellen, Mr. Rubio, auf Bitten der Dame, die sie mir überreicht hat.« Eine Dame, wie? Alfonse legt den kleinen rosa Umschlag in meine Hand, und ich gebe ihm dafür einen Fünf-Dollar-Schein. Der Portier bedankt sich zufrieden, wünscht mir einen guten Abend und geht. Ich schließe die Tür und setze mich aufs Bett. Der Umschlag riecht nach einem schweren Parfüm, woraus ich sofort schließe, daß der Absender ein Mensch ist. Sarah. Lieber Mr. Rubio, beginnt der Brief, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich heute abend ins Theater und zum Abendessen begleiten könnten. An Halloween habe ich immer frei, und an statt mich zu kostümieren, würde ich meinen freien Abend lie ber mit einem so interessanten Mann verbringen, als der Sie sich vielleicht herausstellen. Wenn Sie mich begleiten können, kommen Sie bis spätestens halb acht zum Prince Edward Thea ter. Ich hoffe, Sie dort zu treffen und verbleibe mit herzlichen Grüßen Ihre Sarah Archer. Laut meinen Regeln ist es verboten, die Einladung einer Da me auszuschlagen, vor allem, wenn sie auch noch eine Ver dächtige ist. Aber Sarah Archer … sie ist interessant – sogar faszinierend –, und ich kann nicht umhin, mich auf irgendeine Weise zu ihr hingezogen zu fühlen, obwohl der Rest ihrer Art mir das kalte Grausen verursacht. Und da die Logik seit meiner Ankunft in New York ohnehin den Bach runtergegangen ist, entscheide ich, meinem Instinkt zu folgen. In der Lobby erklärt mir Alfonse den Weg zum Prince Ed ward Theater, eine Dienstleistung, die zu meiner Überraschung auch noch das Heranwinken eines Taxis einschließt, das mich dorthin bringen soll. Ich habe mich in den einzigen Anzug ge schmissen, den ich mitgebracht habe, einen edel gearbeiteten Dreiteiler mit schwarzen und grauen Nadelstreifen, und auch 204
wenn er vielleicht nicht aus einer der noblen Boutiquen am Rodeo Drive stammt, finde ich, daß er über meinem Kostüm verdammt schick aussieht. Ich drücke Alfonse einen weiteren Fünfer in die Hand, er schließt die Tür, und das Taxi schießt Richtung Theater-Distrikt davon. Ich hatte keine Gelegenheit, meine Basilikum-Vorräte aufzustocken, und stelle nun fest, daß der Mangel an Kräutern bei mir, obwohl stocknüchtern, nicht die übliche Panik auslöst. Ich werde sicher irgendwo unterwegs eine Dosis bekommen. »Das Prince Edward?« fragt der Fahrer mich. Er spricht ei nen reinen New Yorker Akzent, nicht die Spur einer ausländi schen Betonung. »Ich bin da verabredet«, erkläre ich ihm. »Wollen Sie sich die Vorstellung ansehen?« »Die Vorstellung? Die Vorstellung im Prince Edward, ja.« »Verdammt abgedrehte Show«, sagt der Taxifahrer und schüttelt den Kopf. »Das habe ich jedenfalls gehört – ver dammt abgedrehte Show.« Ich komme lebend und zehn Minuten zu früh am Prince Ed ward Theater an, was mir reichlich Zeit gibt, das Publikum zu betrachten. Darunter eine überraschend große Anzahl Dinos – ich schätze, daß mindestens die Hälfte der Zuschauer von unse rer Art sind, was sehr viel mehr ist als der nationale Durch schnitt von zehn bis zwölf Prozent. Entweder stimmen die Sta tistiken nicht, oder einer von uns hat die Show inszeniert. Ich stehe auf dem Bürgersteig wie ein nervöser Teenager, der auf seine Verabredung zum Abschlußball wartet, und mache mir mit jeder verstreichenden Minute mehr Sorgen, daß Sarah nicht kommen könnte. Hat sie mich versetzt? Die anderen Zu schauer sind bereits hineingeströmt, und die Vorstellung muß jeden Augenblick anfangen. Ich drehe mich um und halte in der Dunkelheit Ausschau nach einem Wagen, einer Limousine, irgendeinem Zeichen von Sarah. Nichts. »Mr. Rubio?« Es ist nicht Sarahs Stimme, aber sie ruft mei 205
nen Namen, und das ist immerhin ein Anfang. Ich drehe mich um und sehe die Ticket-Abreißerin, das arme Ding ist derart anämisch, daß sie beinahe durchsichtig ist. »Sind Sie Vincent Rubio?« Ich bejahe ihre Frage, und sie sagt: »Ihre Freundin hat angerufen und gesagt, daß sie sich ein wenig verspäten wird. Ihre Karte war vorbestellt, also … hier.« Ich bekomme ein Tik ket überreicht, werde durch die Tür und auf meinen Platz ge führt – dritte Reihe, Mitte, zwischen einem Trupp asiatischer Geschäftsleute und einem ältlichen Paar, das schon jetzt ge langweilt aussieht. Das Theater ist im Dschungel-Look dekoriert, Bäume und Höhlen aus Pappmaché zieren die Wände. Stoffe in Tiger- und Leopardenmuster bedecken die Bühne, das Gebrüll wilder Tie re und Trompetenstöße von Elefanten erfüllen die Luft, und was in einem kleinen Boulevard-Theater am Stadtrand von Santa Barbara möglicherweise funktioniert hätte, wirkt hier auf dem Great White Way schlicht erbärmlich. Der Vorhang ist geschlossen, das Publikum vibriert in gespannter Erwartung, und von der Galerie hängt stolz ein zehn Meter langes und fünf Meter hohes, beleuchtetes Schild. Darauf steht: MANIMAL – THE MUSICAL! Und ich weiß, daß mir ein langer Abend bevorsteht. Ich muß zugeben, daß ich damals, 1983, ein großer Fan der Fernsehserie Manimal – Ein Fall für Professor Chase war. Ich fand es toll, Dr. Jonathan Chase dabei zuzusehen, wie er gegen das Verbrechen kämpfte, in Rage geriet und sich im Handum drehen in ein Tier aus dem Dschungel verwandelte, aber ich muß so ziemlich der einzige gewesen sein, denn die Serie lief ungefähr drei Monate, bevor sie abgesetzt und auf den Halden des Low-budget-, High-concept-TV entsorgt wurde. Doch selbst die hartgesottensten Ein Fall für Professor Chase-Fans konnten unmöglich zweieinhalb Stunden einem Halbmen schen/Halbleoparden dabei zusehen, wie er singend und tan zend einen Fall von Drogenschmuggel löste. 206
Der erste Song heißt »Ich liebe dich, unglaublicher Leopar den-Mann« mit Textzeilen wie Ich wußte, du bist zur Hälfte ein wildes Katzentier, deshalb war ich auch gleich hinter dir her, und dies ist auch ungefähr der Punkt, an dem ich beschließe, mein Gehirn abzuschalten, da seine Dienste nicht länger benö tigt werden. Zwanzig Minuten verstreichen, in deren Verlauf mir zwei weitere Musical-Nummern und ein vierbeiniger Step-Tanz ge boten werden, als ich spüre, wie mir jemand auf die Schulter klopft. »Ist dieser Platz besetzt?« vernehme ich ein Flüstern und drehe mich um, bereit, den Sitz mit allem Heldenmut zu vertei digen, den ich, eingezwängt in diese Polster, aufbringen kann. »Genau genommen …« – und dann sehe ich Massen von ro tem Haar, die auf nackte Schultern fallen, ein knallgelbes Cocktail-Kleid, daß bis ans andere Ende der Stadt zu sehen sein muß, und darin verpackt eine vertraute Gestalt. Mein Herz hämmert gegen meinen Brustkorb wie King Kong gegen seine Gitterstäbe. »Er ist für eine Freundin reserviert«, sage ich. Sarah läßt sich lässig auf den gepolsterten Sitz gleiten, beugt sich vor und flüstert mir etwas ins Ohr. Es kitzelt. »Hätte Ihre Freundin etwas dagegen, wenn ich mich auf ihren Platz setze?« »Ich glaube nicht«, erwidere ich mit bemüht ruhiger Stimme, während ich versuche, meinen Herzschlag wieder auf Normal frequenz zu bringen. »Ich habe Sie eigentlich erst gestern ken nengelernt.« »Und Sie ist bereits eine Freundin?« Ich zucke die Achseln. »Scheint so. Sie hat mich ins Theater eingeladen.« »Sie bekommt Freikarten.« Sie schlägt die Beine übereinan der und zupft ihr Kleid zurecht. »Was habe ich bisher ver paßt?« Meine Stimme zu einem Bibliotheks-Flüstern senkend, ver suche ich für Sarah, die Haupthandlungsstränge von Manimal – 207
The Musical zusammenzufassen. Das Problem ist nur, es gibt kaum welche. »Also, mal sehen … da ist dieser Typ, der ein Mensch, aber auch eine Katze ist. Und dann gibt es noch ein paar Schmuggler.« Schweigend ertragen wir eine Reihe von Songs über Leopar den, Löwen, Dachse und Drogenschmuggel (Kauft ein Gramm, kauft ein Pfund, Koks, das hält die Welt in Schwung) sowie über weitere Leoparden, bevor ein besonders niedergeschlage ner Dr. Chase direkt vor der Pause seinen traurigen Zustand als ein Wesen zwischen zwei Welten beklagt. Das Publikum ap plaudiert, Sarah und ich stimmen hirnlos mit ein – und das Licht geht an. Eine Viertelstunde, um sich vor dem zweiten Akt ein bißchen zu strecken. »Möchten Sie etwas trinken?« frage ich. »Ich könnte Ihnen etwas von der Bar holen.« Sarah schüttelt den Kopf. »Man darf keine Getränke mit ins Theater nehmen. Ich komme mit.« Bis wir es zum Orchesterrang und dem Ausgang geschafft haben – Männer lechzen und saugen Sarahs Anblick ein, und obwohl sie nicht von meiner Art ist, gehe ich stolz erhobenen Hauptes neben ihr –, drängen sich Trauben von halb erledigten Theaterbesuchern um die wenigen Bars des Prince Edward, um die zweite Hälfte des Opus aus einer anderen Perspektive zu sehen. Sarah und ich stellen uns in einer Schlange hinter einem Dino-Pärchen an, das als älteres Ehepaar verkleidet ist. Ihre Gerüche – ein Kamin mit stetig brennenden Nadelholzscheiten – sind fast ununterscheidbar, und obwohl ich weiß, daß es bloß eine alte Dino-Legende ist, daß sich die Gerüche von verheira teten Dinos im Laufe der Jahre immer mehr angleichen, stoße ich täglich auf empirische Beweise für ihre Richtigkeit. Das ältere Paar dreht sich um – sie müssen meinen Duft ge wittert haben – und nickt mir zu, eine freundliche Geste, mit der wir Dinos andere Mitglieder unserer Art gelegentlich grü ßen, wie Besitzer eines klassischen 73er Mustang Fastback 208
einen Co-Enthusiasten, der im gleichen Modell vorbeifährt, mit einem Hupsignal grüßen. Aber dann sehen sie Sarah – und sie riechen Sarah, oder genauer, sie riechen sie nicht –, und ihr Lächeln weicht augenblicklich Grimassen des Ekels. Sie ist eine Zeugin! will ich schreien. Vielleicht eine Freun din, aber nicht mehr! Andererseits will ich auch nicht zu heftig widersprechen. »Die Schlange ist ziemlich lang«, sage ich, angestrengt be müht, das Schweigen zu brechen. »Das kann man wohl sagen«, antwortet Sarah. »Wenn wir auf unsere Getränke warten, schaffen wir es wahrscheinlich nicht pünktlich zum zweiten Akt zurück auf unsere Plätze.« »Ja, ja. Den dürfen wir auf keinen Fall verpassen.« »Es gefällt Ihnen also?« fragt sie, während ihre kleine Hand verführerisch über ihren Rock streicht. »Die Vorstellung? Natürlich. Ich meine, er ist ein Mensch, und er ist eine Raubkatze … echt tierisch. So was darf man sich doch nicht entgehen lassen.« »Ah.« Sie wirkt enttäuscht. »Und Ihnen?« »Ja, sicher. Klar. Ich meine, was sollte einem nicht gefallen? Es gibt Leoparden und …« »Und Tiger«, ergänze ich. »Richtig. Und Tiger.« Wir lügen. Alle beide. Und wir wissen es auch beide. Kichernd laufen wir Hand in Hand durch die Lobby, die Treppe hinunter und auf die Straße wie zwei Schulkinder, die zum ersten Mal blau machen. Eine Stunde später glucksen wir immer noch vor uns hin, wo bei der ansteckendste Teil des Gelächters vor einer Viertel stunde abgeebbt ist. Eine Zeitlang hatten wir wirklich ein Pro blem, ein Lachanfall löste den nächsten aus, und keiner von uns konnte sich lange genug beherrschen, um etwas von der 209
Speisekarte einer kleinen griechischen Taverne zu bestellen, die wir in der Nähe des Theaters gefunden hatten. Schließlich mußte ich mir auf die Zunge beißen, um dem Gekicher ein En de zu bereiten, was jedoch beinahe mit Tränen und einer Fahrt ins Krankenhaus geendet hätte – eine meiner Kronen hatte sich gelöst, und mein von Natur aus spitzer Zahn bohrte sich mit unerwarteter Wucht in meine Zunge. Zum Glück konnte ich einen dringenden Toilettenbesuch vortäuschen, die Krone wie der einsetzen, mich vergewissern, daß meine Zunge im Laufe des Essens nicht aus meinem Mund rutschen und in Sarahs Schoß landen würde, und rechtzeitig zu einem zweiten Ver such, etwas zu bestellen, wieder an unserem Tisch sein. Und jetzt warten wir und reden und trinken. »Nein, nein –« Sarah nippt an ihrem Wein, ihre Lippen hin terlassen einen köstlichen roten Abdruck auf dem Glas, »das ist es nicht. Ich kann mir schon vorstellen, daß es Leute gibt, de nen so etwas gefällt.« »Aber nicht Ihnen.« »Nein, mir nicht. Anthromorphose ist ja ganz nett und so –« »Das ist aber ein ziemlich großes Wort, Ma’am.« »– aber eine ganze Gesellschaft von humanoiden Raubkat zen, die nach irgendwelchen selbst auferlegten Regeln handeln und unentdeckt von uns anderen herumlaufen, kann ich einfach nicht akzeptieren.« »Nicht realistisch?« »Nein, nicht unterhaltsam.« Unsere Vorspeisen kommen, und wir spachteln tsatziki und tarama mit Pita-Fladen. Unser Kellner ist so griechisch, wie man nur sein kann – zum Halloween hat er sich als Sorbas in rückenfreier Weste verkleidet –, und trägt die Spezialitäten des Tages mit einem Gusto vor, daß jedes Wort zu einer eigenen kleinen Mahlzeit wird. Sarah bittet mich um Hilfe bei der Auswahl, und ich schlage eine griechische Platte vor, weil ich mir denke, daß ich dann immer noch verputzen kann, was sie 210
nicht schafft. Ich gehe sogar so weit, pingeligst möglichst viel Basilikum und Dill von meinem Teller zu picken, eine fast schon automa tische Reaktion, die Gabel fängt an zu stochern, bevor ich eine Gelegenheit hatte, meine Bewegung zu kontrollieren. Was im mer wir hier tun – Sarah und ich –, es fühlt sich irgendwie rich tig an, und es ist das erste Mal seit langer Zeit, daß ich nicht das Bedürfnis verspüre, irgendwelche Kräuter zu knabbern. Sarah wiederum bittet um mein Basilikum, und da es bei ihr nicht die gleiche Wirkung hat wie bei mir, überlasse ich es ihr gerne. Sarah blinzelt ins Dämmerlicht des Restaurants und mustert ausführlich mein Gesicht, wobei sich ihre Stirn zu einem grazi len kleinen Vorgebirge zerknittert. Ihre Blicke wandern an meinen Zügen entlang, an meiner Nase, meinen Lippen, mei nem Kinn. »Habe ich irgendwas im Gesicht?« frage ich plötzlich verle gen, wische mir mit wirbelnder Serviette hastig Kinn und Lip pen ab und hoffe so, alle griechischen Delikatessen zu tilgen, die möglicherweise einen Nebenjob als Gesichtsmaske ergat tert haben. »Das ist es nicht«, kichert sie. »Es ist … ich meine … der Schnurrbart.« »Gefällt er Ihnen nicht?« Sarah muß meine gekränkte Miene gesehen haben, denn sie beeilt sich zu versichern: »Nein, nein, er gefällt mir schon. Nur, als ich Sie … wann, gestern abend … gesehen habe, waren Sie noch glatt rasiert.« Darauf weiß ich keine Antwort. Derlei Kostümerweiterungen sollten normalerweise Schritt für Schritt hinzugefügt werden, um dem Eindruck eines natürlichen Prozesses zu erwecken – die Najutsu-Brustmuskel-Serie etwa, deren Anschaffung ich in meinen großspurigen Tagen einmal erwogen habe, muß über einen Zeitraum von mehreren Monaten langsam aufgebaut 211
werden –, doch Schnurrbärte sind meines Wissens schon im mer Tagesfahrten in das Land des Machismo gewesen. »Er ist nicht echt, stimmt’s?« »Aber natürlich!« erwidere ich empört. »Er ist genauso echt wie der Rest meines Körpers.« Sarah kichert erneut, beugt sich impulsiv vor und zieht kräf tig an meinem Gesichtshaar. Das würde normalerweise nicht weh tun, aber die dünne Epoxidharzschicht unter der Maske überträgt ihr Zupfen auf meine Haut, so daß mein »Autsch!« durchaus ernst gemeint ist. Verlegen und beschämt wendet Sarah sich ab und errötet bis unter die Haarwurzeln. »Es tut mir so leid«, sagt sie. »Ich dach te wirklich …« »Unsere Familie hat einen sehr kräftigen Haarwuchs«, sage ich, bemüht, unseren leichten Souffleur-Ton wieder ins Ge spräch einzuführen. »Meine Mutter war ein Terrier.« Darüber muß Sarah lachen, und ich sehe mit Freude, daß ihre Verlegenheit verfliegt. »Wenn er Ihnen nicht gefällt«, fahre ich fort, »kann ich ihn wieder abrasieren.« »Nein, nein, er gefällt mir wirklich. Ganz ehrlich.« Sie kreuzt ihre schlanken Finger. Wir essen weiter. Wir trinken weiter. Wir plaudern. »Wie läuft Ihr Fall?« fragt sie mich, während sie sich noch einmal nachschenkt. »Ist das ein Geschäftsessen?« »Nicht, wenn Sie es nicht wollen.« Ist das ein Annäherungsversuch? Ich entscheide mich für die sichere Variante. »Nein, nein, das ist schon in Ordnung. Der Fall ist immer noch ziemlich ungeklärt. Spuren, Spuren, Spu ren, so ist das Leben eines Schnüfflers. Indizien zusammen schütten, zu einem Frappé aufrühren und gucken, was dabei herauskommt.« Sarah leert die Weinflasche – Himmel, kann die trinken – und bestellt eine neue. »Sie haben mich immer noch nicht be 212
fragt«, bemerkt sie. »Nicht wirklich.« »Ein Verhör beim Rendezvous ist unhöflich.« »Ist das ein Rendezvous?« »Nicht, wenn Sie es nicht wollen.« Wir lächeln gleichzeitig, und Sarah beugt sich vor und küßt mich auf die Stirn. Dann lehnt sie sich wieder zurück, ihr Kleid klebt eng an ihrem Körper. Sanfte Kurven wölben ihren Aus schnitt, ihre Brustwarzen sind hart und bereit, und ich empfin de ein seltsames Verlangen … sie zu berühren? Unmöglich. Ich denke an den Haufen Rechnungen, der mich in Los Angeles erwartet, und die verbotenen Gedanken platzen wie Seifenbla sen. »Mir wäre es lieber, wenn wir es hinter uns bringen«, fährt sie fort. »Fragen Sie mich, was Sie fragen müssen. Ich möchte nicht, daß Sie Dinge über mich denken, die nicht wahr sind, und Dinge nicht über mich denken, die wahr sind.« »Sie wissen, daß Mr. McBride in meinen Fall verwickelt ist. Raymond. Nicht direkt – aber – nahe genug.« »Ich weiß.« »Und es ist Ihnen nicht unangenehm, über ihn zu sprechen?« Normalerweise ist es mir scheißegal, wie sich meine Zeugen fühlen – ich muß nur an diesen nervigen Compy Suarez denken und kriege noch immer einen Knoten im Bauch – doch hin und wieder gönne ich mir spezielle Rücksichten. »Schießen Sie los«, sagt Sarah. Der Kellner erscheint mit der zweiten Flasche Wein, und diesmal macht Sarah sich nicht die Mühe, das Etikett zu inspizieren, an dem Korken zu schnüffeln oder einen Schluck zu probieren, bevor sie dazu übergeht, sich das Zeug glasweise reinzukippen. Ich habe keinen Notizblock parat, also muß es auswendig ge hen. »Wie lange kannten Sie Mr. McBride? Bevor …« Sie scheint darüber nachzudenken, bevor sie erwidert: »Ein paar Jahre. Zwei, vielleicht drei.« »Und Sie haben sich wie kennengelernt?« 213
Ein wehmütiger Ausdruck umflort ihre Augen, ihre Finger tasten ziellos an ihrem Ausschnitt entlang und lenken meine Aufmerksamkeit tiefer und tiefer und tiefer … »Bei dieser Wohltätigkeitsgala«, sagt sie. »Auf dem Land.« »Welches Land?« »Das Land eben. Im Sinne von Landschaft. Long Island, glaube ich, vielleicht auch Connecticut.« Egal. »Und Raymond war der Gastgeber?« »Er und seine … Frau« – wieder diese spürbare Animosität – »haben auf ihren Landsitz eingeladen.« Die Fragen fallen mir jetzt leichter, sie flattern förmlich von meiner leicht beschädigten Zunge. »Warum waren Sie dort?« »Mein Agent hat mich mitgenommen. Es war eine Wohltä tigkeitsgala. Und ich war eben wohltätig.« »Aber an den genauen Anlaß können Sie sich nicht erin nern.« »Richtig.« Sie legt tapsig einen Finger auf die Nase und zeigt mit der anderen Hand auf mich. Eine beschwipste Geste, aber süß. »Gut. Das heißt, Sie haben sich mit den Reichen und Be rühmten getummelt –« »Vor allem reich. Ich glaube nicht, daß ich irgend jemanden besonders Berühmten getroffen habe.« »Nur so ein Spruch. An jenem Abend haben Sie Raymond also kennengelernt?« »Es war am Tag«, verbessert sie mich, und jetzt staune ich für zwei. »Es war eine lange Veranstaltung, wenn ich mich richtig erinnere. Ich bin am frühen Nachmittag angekommen und erst am nächsten Tag wieder gefahren. Alle haben in dem Haus übernachtet.« »Und Sie sind direkt aufeinander geflogen?« »Nicht direkt, würde ich sagen, aber da war auf jeden Fall ein Knistern. An dem Tag haben seine Frau und ich uns sogar noch prima verstanden. Am nächsten Morgen haben wir uns ge 214
haßt.« Protokollieren. »Haben Sie in jener Nacht mit Raymond ge schlafen?« Ich kann meine beiläufige Frage förmlich in Sarahs verblüff tes Gesicht klatschen hören und den Bluterguß anschwellen sehen. So habe ich das nicht gemeint. Ich habe nicht nachge dacht. Es war dumm, es war idiotisch, aber ich bin zu perplex über meine eigenen Worte, um Bedauern zu äußern. Dies ist nicht das erste Mal, daß mein vorlautes Mundwerk in delikaten Situationen viel Porzellan zerschlagen hat – wenn der Schnüff ler in mir erst einmal in einer bestimmten Richtung losgeht, wird das Gaspedal durchgetreten und die Steuerung abgeschal tet, was super ist, wenn ich auf gerader Straße unterwegs bin, aber wenn eine Klippe vor mir auftaucht, dann bye, bye, Vin cent. Sarah antwortet mit leiser, verletzter Stimme, wie ein junges Mädchen, das sich in eine Ecke drückt und nicht versteht, war um es bestraft wird. »Ist das Ihr Bild von mir?« fragt sie. »Nein, nein, ich –« »Ich rede einmal mit einem Mann, und dann schlafe ich mit ihm?« »Das wollte ich nicht –« »Denn wenn Sie mich so sehen, möchte ich Sie nicht enttäu schen. Sie wollen das Essen hinter sich bringen, nach Hause gehen und mich flachlegen, okay, gehen wir.« Jetzt steigt der Zorn in ihre Augen, quillt über, tropft auf den Tisch und spült durch das ganze Lokal. Sie springt unsicher auf die Füße und zerrt an meinem Arm. »Los, steh auf, Junge, laß uns gehen und sehen, wie du es mir besorgen kannst.« Andere Gäste drehen sich um und lauschen, erpicht, ein Ohr voll Drama abzube kommen. Ich kann Sarahs Empörung geradezu riechen. Ich lege meine Hand auf ihre und versuche, die Ruhe an un serem vormals so idyllischen Tisch für zwei wiederherzustel len. »Bitte«, sage ich, »so habe ich das nicht gemeint.« Die 215
Zorneswellen ebben langsam ab und fließen aufs offene Meer zurück. Vorsicht Unterströmungen. »Bitte. Manchmal rede ich einfach unbedacht drauflos. Berufskrankheit.« Zwei Gläser Wein und ein paar Kleckse tsatziki später nimmt Sarah meine Entschuldigung an. »Nein«, beantwortet sie meine ursprüngliche Frage spitz, »ich habe in jener Nacht nicht mit ihm geschlafen.« »Das dachte ich mir schon.« »Das heißt nicht, daß ich ihn nicht attraktiv fand. Dieses kräf tige wettergegerbte Gesicht mit den tiefen Falten – Falten, die andeuteten, daß er schon etwas von der Welt gesehen hatte. Groß, kräftige Muskeln, breite Schultern … Von außen be trachtet, wirkte Raymond wie ein sehr starker, hartnäckiger Mann. Nicht körperlich, sondern mental. Emotional.« »Und innerlich?« »Sein Inneres bekam man erst zu sehen, wenn man ihn sehr gut kannte, und dann begriff man, was Raymond zu … Ray mond machte. Er hatte ein paar interessante Besonderheiten, einige liebenswerter als andere. Ich glaube nicht, daß irgend jemand außer mir und vielleicht seiner Frau Raymond kannte, wie er wirklich war.« Soll ich ihr erzählen, daß ihr geliebter Raymond ein allseits berüchtigter Schürzenjäger war? Daß er mehr Matratzen gese hen hat als 007? Daß sie, auch wenn sie vielleicht die letzte seiner Geliebten gewesen sein mochte, bestimmt nicht die ein zige gewesen war? Aber welchen Sinn hätte das, außer das Mädchen zu verletzen – und für heute habe ich meine Quote an gemeinen Bemerkungen schon erfüllt. Vielleicht bin ich auch eifersüchtig auf McBride, auf seine Bereitschaft, gesellschaftli che Beschränkungen hinter sich zu lassen, und auf seine Lust auf das Verbotene, die offensichtlich so viel stärker war als meine. Aber derlei Gedankengänge sind sowohl destruktiv als auch total schwachsinnig, also kappe ich sie gleich an der Wurzel. 216
»… und selbst wenn er damals Interesse gehabt hätte«, sagt Sarah gerade. »Ich war fest liiert.« »Mit wem?« »Mit meinem Agenten.« »Mit Ihrem Agenten? Ist das denn klug, Geschäft und Ver gnügen zu mischen?« »Manchmal ist es das Beste«, sagt Sarah, und ich stelle glei chermaßen froh und besorgt fest, daß sie ihre Wut vergessen und ihre verführerische Art wiedergefunden hat. »In diesem Fall war es nicht klug. Wir haben uns kurz nach der Party ge trennt, um genau zu sein. Damit war ich wieder solo, Raymond hatte aber noch eine Beziehung.« »Judith.« Sarah tut den Namen mit einer ärgerlichen Handbewegung ab, als wollte sie eine lästige Fliege vertreiben. »So haben wir sie nicht genannt. Wir haben sie die Mrs. genannt, schlicht und einfach. Das war besser für mich und besser für Raymond.« »Hat er sie noch geliebt?« Während Sarah über ihre Antwort nachdenkt, taucht der Kellner mit unserem ersten Gang auf. Mein Zitronenhühnchen ist durchaus eßbar, aber Sarahs griechische Platte sieht absolut oberlecker aus. Ich bin mir zum Glück sicher, daß sie nicht alles schaffen wird, und dann kann ich die Reste wegknabbern. Der Kellner trottet davon, und wir hauen rein, wir stürzen uns auf unser Essen wie Compys auf frisch erlegte Beute. Mein Appetit überrascht mich nicht – mein letztes substantielles Mahl liegt mehr als zwölf Stunden zurück, und obwohl das Frühstück heute morgen ein Fest war, das dem kugelrundesten aller Könige würdig gewesen wäre, bin ich vollkommen aus gehungert. Was mich hingegen überrascht, ist Sarahs Fähigkeit, das Es sen in Guinness-Rekord-verdächtiger Zeit von der Platte zu putzen. Moussaka, Hähnchen Olympia, Pastitsio, irgendein Gericht aus Auberginen, von dem ich noch nie gehört habe – 217
ich sehe mit wachsendem Staunen zu, wie die gehäufte Gabel in diesem entzückenden Mund verschwindet, um gleich darauf leer wieder herauszukommen und erneut zum Teller hinabzu stoßen. Meine Güte, wo läßt sie das alles? Unter dem Tisch? Verfüttert sie es an einen streunenden Hund? Doch ich sehe ihren schlanken Hals schlucken, weiß also, daß sie jeden Bis sen selbst vertilgt. Wie kann eine ganze Platte voll Speisen, die wahrscheinlich mehr wiegt als sie selbst, in einem solchen Körper verschwinden? In dieser griechischen Taverne herrscht irgendeine verdrehte Perversion der Naturgesetze, ein Zusam menstoß von Nahrung und Anti-Nahrung, aber ich kapiere ums Verrecken nicht, wie’s funktioniert. Wenn sich Jaycee Holdens Verschwinden nicht heute für mich aufgeklärt hätte, würde ich vermuten, daß Sarah sie verspeist hat. Ich bringe kein Wort heraus. Ich kann nur zusehen. Wow. Wow. Zehn Minuten später hat Sarah ihr Essen verputzt, und meine Kinnlade steht auf Halbmast. »Hungrig?« frage ich. »Jetzt nicht mehr. Das will ich auch hoffen. Sarah schiebt ihren Teller weg, und trotz der erstaunlichen Mengen, die sie gerade verdrückt hat, kann ich keine neuen Ausbuchtungen an ihrem Bäuchlein er kennen. Menschen wie Sarah ziehen überall auf der Welt eine Menge Haß seitens der Körperbewußten auf sich, aber ich bin zu perplex, um eifersüchtig auf ihre Stoffwechselwerte zu sein. »Wo war ich?« frage ich, ernsthaft aus dem Konzept gebracht. Diese Demonstration konzentrierter Nahrungsaufnahme hat mich aus der Bahn geworfen. »Sie hatten mich gefragt, ob Raymond die Mrs. noch immer geliebt hat«, sagt Sarah, ihre Bezeichnung für Judith McBride verwendend, »und ich hatte noch nicht geantwortet.« »Und … hat er?« Wieder zögert sie, obwohl man meinen sollte, daß sie beim 218
Verzehr von halb Griechenland genug Zeit zum Nachdenken hatte. Wahrscheinlich ist jedoch ein Großteil der aktiven Ge hirnzellen beschäftigt, wenn man das Zeug dermaßen in sich hineinschaufelt. »Hatten Sie je eine Affäre, Vincent?« »Mit einer verheirateten Frau?« »Ja, mit einer verheirateten Frau.« »Nein.« Einmal bin ich allerdings ganz knapp dran vorbeige schrammt. Ich hatte die Gattin eines Brontos beschattet, um die üblichen belastenden Fotos zu bekommen, und dabei herausge funden, daß sie zwar aktuell keine außereheliche Affäre hatte, jedoch höchst interessiert daran war, eine anzufangen. Sie hatte mich dabei erwischt, wie ich vor ihrem Schlafzimmerfenster Fotos geschossen hatte, und ehe ich wußte, wie mir geschah, schlürfte ich zu den Klängen von Tom-Jones-Oldies Schampus in einem Whirlpool. Ich mußte warten, bis sie zurück ins Haus gegangen war, um »in eine bequemere Haut zu schlüpfen«, bevor ich fliehen konnte. »Verheiratete Menschen sind genau das«, erklärt Sarah mir. »Verheiratet. Man kann nicht fragen, ob ein verheirateter Mann, der eine Affäre hat, seine Frau noch liebt, weil es eine sinnlose Frage ist. Es ist schlicht belanglos, ob er sie liebt oder nicht, weil sie seine Frau ist, ganz einfach.« Ich nehme einen Bissen von meinem Essen und sinniere über ihre Sichtweise und meine nächste Frage. »Wie oft haben Sie ihn getroffen?« »Oft.« »Zwei-, dreimal die Woche?« »Zum Schluß? Eher fünf- oder sechsmal. Er hat versucht, die Sonntage mit der Mrs. zu verbringen, aber zu diesem Zeitpunkt war ihr das im Grunde schon egal.« »Das heißt, sie hat es gewußt?« Sarah kichert geringschätzig, während sie sich vorbeugt und eine Kartoffel von meinem Teller nascht. »Und ob sie es gewußt hat. Sie ist nicht dumm, die Lady, das 219
muß man ihr lassen. Außerdem hätte man ein Granitblock sein müssen, um es nicht zu bemerken. Arbeit bis spätabends, und das sechs Tage die Woche? Klar, Raymond hat gearbeitet wie besessen, aber niemand klotzt neun Monate lang ununterbro chen Achtzehn-Stunden-Tage runter. Ich glaube, nach etwa einem Monat wußte die Mrs., was gespielt wurde, weil Ray mond von da an am Telefon lockerer wurde. Er hat mich mit meinem richtigen Namen angeredet und nicht mehr dieses Theater mit den Code-Wörtern gespielt. Davor ging alles im mer ganz heimlich ab, und ich wußte es jedesmal, wenn sie ins Zimmer gekommen war, weil er dann auf einmal anfing, mich Bernie zu nennen und über die tolle Golfpartie zu reden, die wir neulich gespielt hätten. Dabei hasse ich Golf. Ich bin mein Leben lang von Golfern umgeben gewesen. Bitte sagen Sie mir, daß Sie nie Golf gespielt haben.« »Zweimal.« »Sie arme Seele. Raymond hat diesen verdammten Sport ge liebt. Als wir in Paris waren, die Frühlingsluft genossen haben, durchs arabische Viertel geschlendert sind, die Läden ange schaut und mit Menschen geplaudert haben, hat er zwischen durch immer wieder seinen Schlag geübt und sich gefragt, wel chen Schläger er benutzen würde, um einen Ball in diese La denfassade oder jenes Kirchenfenster zu schlagen. Die vierte Ebene des Eiffelturms war übrigens ein Neuner Holz.« »Er hat Sie mit nach Paris genommen?« »Nach Paris, Mailand, Tokio, rund um den Globus. Wir wa ren ein richtiges Jet-Set-Pärchen. Ich bin überrascht, daß Sie uns in keiner Klatschspalte entdeckt haben.« »Ich lese nicht viel. Hin und wieder eine Fernsehzeitung.« »Fotos in allen internationalen Magazinen. Raymond McBri de und seine Begleiterin. Seine Frau haben sie nie erwähnt und deswegen auch nie ein großes Theater gemacht. Das ist das einzig Gute an den Europäern – für die ist Ehebruch wie Käse. Die Möglichkeiten sind zahlreich und vielfältig und nur 220
manchmal ein wenig anrüchig.« Die Gerüchte stimmten also: McBride hatte den Verstand verloren. Der bekannte Carnosaurier war offensichtlich ausge flippt, hatte der Welt stolz seine menschliche Freundin präsen tiert und war sogar so weit gegangen, öffentliche Andeutungen über eine romantische Beziehung zu tolerieren. Und auch wenn die internationalen Räte bezüglich des sexuellen Sittenkodex nicht ganz so streng sind wie die amerikanischen, ist gattungs übergreifende Paarung weltweit nach wie vor strictly forbid den. Es bedarf nur eines Ausrutschers irgendeines von uns, vom kleinsten Compy im kleinsten Regierungsbezirk von Liechtenstein angefangen, und die letzten einhundertdreißig Millionen Jahre eines Lebens in einer Welt ohne Verfolgung und natürliche Feinde könnten vorüber sein. Exklusive des Mittelalters natürlich. Von wegen Drachen … »Hat er Ihnen die Ehe versprochen?« »Er war, wie gesagt, mit der Mrs. verheiratet, und das war das. Ich nehme an, sie hatten irgendeine Absprache getroffen.« »Eine Absprache?« »Er hat mit mir geschlafen, und sie hat mit wem auch immer geschlafen.« Sarah läßt ihren Blick auf der Suche nach weite rem Alkohol über die anderen Tische schweifen. »Sie glauben also, daß Jud- Mrs. McBride – ebenfalls eine Affäre hatte?« »Ob ich das glaube?« Sarah wirft den Kopf zurück und blin zelt ein wenig angestrengt, und ich muß sie davon abhalten, unseren zum Mundschenk mutierten Kellner heranzuwinken. »Natürlich hatte sie eine Affäre. Sie hatte schon eine Affäre, lange bevor ich ins Spiel kam, so viel ist sicher.« Ich weiß, ich sollte schockiert sein, aber ich bringe die ange messenen Gefühle einfach nicht auf. »Kannten Sie den Typ, mit dem sie geschlafen hat?« Ein Kopfschütteln, ein Nicken, und ich weiß nicht, ob Sarah mir antwortet oder im Begriff ist einzuschlafen. »Ja …« mur 221
melt sie. »Der verdammte Geschäftsführer von … dem Nacht club.« Einmal ›Treffer, versenkt‹ für Vincent Rubio. Meine ober flächlichen Erkundigungen über das Wesen von Donovans und Judiths Beziehung, Fragen, die Judith sichtlich nervös gemacht haben, werden bei meiner nächsten Begegnung mit Mrs. McBride wohl erneut aufgeworfen werden müssen. Natürlich dis kret und mit allem gebührenden Takt, und wenn das nicht funktioniert, direkt und unhöflich. »Sarah«, frage ich, »haben Sie Donovan Burke gekannt?« »Hm …?« »Donovan Burke – kannten Sie ihn? Kannten Sie Jaycee Holden, seine Freundin?« Doch Sarahs Kopf ist nach vorn gesackt und pendelt jetzt an ihrem langen Hals in alle Himmelsrichtungen, ohne daß eine verständliche Antwort folgt. Der Wein scheint sich nun lang sam gegen die schätzungsweise sechs Tonnen griechischen Essens durchzusetzen, die in ihrem Magen gegen ihn aufgefah ren worden sind. »Er wollte unbedingt seine Kinder sehen«, jammert Sarah, den Tränen nahe. »Wer wollte seine Kinder sehen?« »Raymond. Er wollte Kinder, mehr als jeder andere Mann, den ich je kannte.« Jetzt lallt sie, murmelt Worte, die ich nicht verstehen kann, doch ich muß noch ein bißchen weitermachen. Ich hebe Sarahs Kopf an und zwinge sie, auf meine Lippen zu achten. »Warum hatte er keine Kinder?« frage ich, um deutliche Aussprache bemüht. »Lag es an Mrs. McBride? Wollte sie keine Kinder?« Sarah rudert mit den Armen und schlägt meine Hand weg. »Nicht sie!« kreischt sie und erregt zum dritten Mal an diesem Abend die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit. »Er wollte sie mit mir. Mit mir …« Ihre Stimme erstirbt, ihr Körper zuckt unter Schluchzen. Kein Wunder, daß sie so fertig ist – dieses arme Mädchen hat 222
in den letzten Jahren in der Illusion gelebt, daß sie irgendwann Raymond McBrides Kind empfangen würde, ohne zu wissen, daß das vollkommen unmöglich war. Wer weiß, was für Lügen er ihr sonst noch erzählt hat? Und die Tatsache, daß McBride selbst so tief in diese Geschichte verstrickt war, nährt auch bei mir die Vermutung, daß er tatsächlich am Dressler-Syndrom gelitten und sich für einen Menschen gehalten hatte, weil er seine tägliche Verkleidung und die Realität nicht mehr zu un terscheiden vermochte. Die Mischung aus Wein und schmerzhaften Erinnerungen hat aus Sarah Archer einen emotionalen Krüppel gemacht, und ich fühle mich ehrenhalber verpflichtet, dafür zu sorgen, daß sie sicher nach Hause kommt. »Wollen wir gehen?« sage ich und werfe einen Hundert-Dollar-Schein für Essen, Getränke und ein stattliches Trinkgeld auf den Tisch. Mit Ausnahme der bei den Zwanziger, die in meinen Socken stecken, war das mein letztes Bargeld – ich sollte mit der TruTel-Kreditkarte zahlen, aber zum jetzigen Zeitpunkt erscheint es mir klüger, daß wir schnellstmöglich von der Bühne abtreten, Abgang nach links. Sarah auf die Füße und von dem Tisch wegzuziehen ist schwieriger, als ich erwartet hatte; sie ist zwar nicht so schwer wie der Dino-Mischling, den ich hinter den Müll-Container gezerrt habe, aber die ungelenken Bewegungen ihres betrunke nen Körpers machen sie sehr viel gewichtiger, als ihre zierliche Gestalt möglich erscheinen läßt. Wir taumeln rückwärts, Sarah hängt auf meinem Schoß wie eine überdimensionierte Bauch rednerpuppe, und ich grunze vor Anstrengung. »Amüsieren wir uns schon?« fragt Sarah, wirft ihre Arme um meinen Hals und drückt sich fest an mich. So geht es zumin dest leichter, obwohl ihre Nähe einige unwillkürliche Reaktio nen auslöst, die sowohl, was den Ort, als auch, was die Gattung betrifft, unschicklich sind. Die anderen Gäste des Restaurants verfolgen unseren Kampf gebannt, froh darüber, Logenplätze für die Hauptattraktion ergattert zu haben. Ich sehe, wie sie ihre 223
Gesichter synchron mit meinem verziehen, während ich Sarah, halb stützend, halb zerrend, in Richtung Tür zu manövrieren versuche. Bis dahin sind es vielleicht noch gut drei Meter, aber es könnte genausogut eine Meile sein. Kellner eilen hinzu, bieten ihre Hilfe an und halten uns die Tür auf, ängstlich bemüht, die Abendvorstellung abzukürzen, und ich nehme ihre Hilfe mehr als dankbar an. Wir torkeln aus der Taverne in die lähmend schwüle Herbstluft. Die Feuchtig keit ruiniert mein Make-up, und ich halte Ausschau nach der nächsten Bank. Wir wanken zu einer Bushaltestelle, die mit Reklametafeln bedeckt ist, die ihrerseits wiederum mit Graffiti verschmiert sind, und ich lasse Sarah unsanft auf die Holzbank gleiten. Ihr Rock rutscht noch höher und läßt ihren sonnengel ben Slip aufblitzen. »Hierbleiben«, sage ich und ziehe ihren Rock in eine etwas schicklichere Position. »Rühr dich nicht vom Fleck.« Sarah klammert sich an mein Handgelenk. »Verlaß mich nicht«, sagt sie. »Alle verlassen mich.« »Ich muß uns ein Taxi besorgen«, erkläre ich ihr. »Verlaß mich nicht«, wiederholt sie. Mit einem Fuß auf der Bank und dem anderen auf der Straße, mein Handgelenk immer noch fest in Sarahs Händen, winke ich mit meinem freien Arm wie mit einer SOS-Flagge in der Hoffnung, daß ein Taxi aus dem Dunkel tauchen und uns retten wird. Sarah hat angefangen zu singen, Worte, Wortfetzen, Seat-Melodien, die sich über den Lärm der geschäftigen Stadt in den Nachthimmel erheben. Ihr hörbar ausgebildeter, voller, tiefer Alt ist stark genug, die Nebel ihrer Trunkenheit zu durchbrechen, und ich bin überrascht, wie klar die Melodie trotz der unzusammenhängenden Texte klingt. Fünf Minuten später haben wir noch immer kein Taxi, und Sarahs Gesang versiegt. Sie läßt mein Handgelenk los und ver stummt. Auch der übliche Verkehrslärm scheint zu verwehen, der Rest der Welt tritt zurück und verschwindet, und zurück 224
bleibt nur eine einzelne Laterne, die eine Bushaltestelle, eine wunderschöne Frau und den Velociraptor bescheint, der sie bewacht. »Deine Stimme …« flüstere ich, »… ist wirklich unglaub lich.« Ihre einzige Reaktion besteht darin, daß sie aufblickt – eine stattliche Leistung, wenn ich bedenke, wie sich die Welt vor ihren Augen drehen muß – und mich verkrampft anlächelt. Im Licht der Laterne werden die Tränen in ihren Augen zu golde nen Tropfen, und ich kann nur daran denken, sie wegzuküssen. Ich gehe in die Knie, meine Lippen nähern sich ihren Augen und Wangen, und plötzlich kann ich das Salzwasser schmek ken, den Schmerz, und ich kann nicht aufhören, ich habe mich nicht mehr im Griff, während mein Mund über ihre Haut glei tet, ihre Tränen aufsaugt, erst langsam, dann immer schneller nach ihren Lippen sucht. Unsere Haut scheint bei der weichen Berührung zu knistern, unsere Zungen tasten sich vor, ge dämpftes Stöhnen des Begehrens vibriert in unserer Brust, ich versinke in einem tiefen Kuß, mein Verstand verabschiedet sich – Und ein Taxi hält und hupt. »Taxi? Ihr da – ihr zwei Turteltäubchen! Sie haben doch vor hin mit der Hand gewedelt, wollen Sie jetzt mitfahren?« Möglicherweise muß ich diesen Mann töten. Sarah und ich lösen uns voneinander, langsam verblassen die Sternchen vor meinen Augen. Sarah hat die Augen immer noch geschlossen, obwohl ich das eher ihrer Benommenheit als andauernden Lustgefühlen zuschreibe. »Ich hab nicht die ganze Nacht Zeit«, ruft der Taxifahrer. »Eine Sekunde!« rufe ich zurück. »Deswegen müssen Sie ja nicht gleich so rumschreien!« Sarah ist zu weit jenseits von Gut und Böse, um mir zu hel fen, während ich sie auf meine Schulter hebe wie ein Neander taler, der seine ihm treu ergebene Ehefrau über die Steppe 225
schleppt. Schon jetzt finde ich mein eigenes Verhalten wider wärtig. Mein Mund und ein menschlicher Mund … die Gefahr, mir irgendwelche Krankheiten einzufangen, ist unermeßlich. »Sie haben ja alle Hände voll zu tun«, sagt der Fahrer, als ich Sarah auf der Rückbank seines Taxis ablade. »Ziemlich heißer Feger.« Ich entscheide mich, seine grobe Bemerkung keiner Antwort zu würdigen, und klemme mich neben Sarah, die just in diesem Moment beschlossen hat, sich komplett von den Lebenden zu verabschieden, auf den Sitz. Gar nicht gut – zumal ich die Adresse der Lady nicht kenne. Eine behutsame Ohrfeige hilft überhaupt nicht weiter, genausowenig wie ein rauhes Schulterrütteln. Als ich die Tür des Taxis zuziehe und wir in dem dicht ver siegelten und beengten Gefährt sitzen, trifft mich der Geruch – weiches Leder und Hundefutter aus der Dose, ein DinoGeruch, wenn ich je einen geschnuppert habe. Der Fahrer dreht sich um, mein Robusto-angehauchter Duft ist ihm etwa zur selben Zeit in die Nase gestiegen. »Hey«, sagt er, »immer nett, einen Artgenossen in meinem Taxi zu haben.« Er streckt mir seine fleischige Pranke entge gen. »Pssst!« ermahne ich ihn mit einem Kopfnicken in Sarahs Richtung. Die Sorge ist unbegründet – sie ist kilometerweit von jedem wie auch immer gearteten Wachheitszustand entfernt –, aber in Gegenwart von Menschen kann man gar nicht vorsich tig genug sein. »Sie meinen, sie ist … Kein Wunder, daß ich nichts gerochen habe –« »Ja. Ja.« Der Taxifahrer zieht lasziv eine Braue hoch, ein anzüglicher Blick, der sagt, ich weiß, was du vorhast, du gerissener Hund. Er bestätigt meine Vermutungen, indem er Augenblicke später hinzufügt: »Na ja. Wenn man’s schon macht, soll man’s auch 226
richtig machen, sage ich immer.« »Es ist nicht so, wie Sie denken. Wir sind Freunde.« »Das sah aber eben auf der Bank da ganz anders aus.« »Wirklich, wir –« »Machen Sie sich wegen mir keine Sorgen, Kumpel, ich werde kein Wort sagen. Diese Wichser vom Rat denken doch, sie können über unser ganzes Leben bestimmen, verdammt noch mal. Ich darf bloß einen von ihnen wählen, und Typen wie ich werden immer nur rumgeschubst.« Der Schwachkopf leidet offenbar unter der Vorstellung, daß der Rat während sei ner unendlichen wochenlangen Sitzungen tatsächlich etwas bewirkt. Muß ein Compy sein. »Nein«, sage ich, möglicherweise mehr zu meiner als zu sei ner Beruhigung, »da läuft gar nichts.« Er lehnt sich weiter über den Sitz, ja, er hockt sich beinahe auf meinen Schoß und senkt seine Stimme zu einem Flüstern. »Ich kenne einen Haufen Typen wie Sie, und ich sage Ihnen, ich wünschte, ich hätte den Mumm. Tag für Tag sehe ich diese Schnallen rumlaufen, und ich hab ja schließlich auch meine Bedürfnisse, oder nicht? Hey, ich verbringe den größten Teil meines Lebens in einer Verkleidung, und da bin ich eben manchmal scharf drauf, ein Original anzufassen, verstehen Sie? Aber ich bin wohl ziemlich streng erzogen worden. Ich kann diese Sperre in meinem Kopf einfach nicht überwinden.« Er will offenbar andeuten, daß meine moralische Konstituti on nicht der Norm entspricht. Ich erwäge, ihn zu schlagen, Sa rah wieder aus dem Taxi zu hieven und ihm wegen irgendeines kleineren Vergehens, das ich mir im Notfall ausdenken würde, den Rat auf den Hals zu hetzen, doch er hat leider recht. Dieser eine Kuß – ein Moment der Schwäche oder auch nicht – be weist es. »Aber wenn ich mal die Pfoten an einen dieser echten menschlichen Ärsche kriegen könnte … das ist doch die verbo tene Phantasie jedes Dinos, stimmt’s?« Er wirft einen Blick auf 227
Sarah und verschlingt sie förmlich mit den Augen. »Und, Jun ge, Junge, Sie haben echt das große Los gezogen.« »Hören Sie«, sage ich mit aller Empörung, die ich aus mei nem ausgezehrten Vorrat noch mobilisieren kann, »zwischen uns läuft gar nichts. Nichts. Tut mir leid, wenn ich Ihnen Ihre feuchten Träume verderben muß. Können wir jetzt fahren?« Der Fahrer kneift die Augen zusammen und beißt mit pulsie renden Schläfen die Zähne zusammen – wird er mir eine ver passen? –, bevor er die Schultern zuckt, sich wieder umdreht und den Schaltknüppel mit einem Karatehieb in den ersten Gang schlägt. »Was immer Sie sagen, Kumpel. Mir ist es scheißegal, was Sie tun. Wohin?« Weiteres Insistieren scheint zwecklos; solange er das Thema nicht ausweitet, werde ich es bestimmt nicht tun. »Zum Plaza«, erkläre ich ihm. Bis wir im Hotel sind, wird Sarah so weit aus genüchtert sein, daß sie mir ihre Adresse nennen kann, und dann kann ich den Fahrer dafür bezahlen, sie nach Hause zu bringen. Vom Fahrersitz ertönt ein spöttisches Grunzen, als wir anfah ren und uns in den fließenden Verkehr einfädeln. Auf unserem Weg zum Plaza kommen wir am Hintereingang des Prince Edward Theaters vorbei. Die Abendvorstellung ist gerade zu Ende, die herausströmenden Theaterbesucher drängen sich um den Bühneneingang, wo das noch immer verkleidete Ensemble Autogramme für Menschen schreibt, die noch nie zuvor von ihnen gehört haben. Im Vorbeifahren sehe ich erwachsene Männer und Frauen tanzen, lachen und fröhliche Lieder an stimmen, und bin froh, daß offensichtlich irgend jemand die Musical-Fassung von Professor Chases Abenteuern erbaulich fand. Ich kurbele das Fenster herunter und werfe mein Programm heft in die Menge.
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Ich kann mich insofern glücklich schätzen, als Sarah beschlos sen hat, sich noch im Taxi zu übergeben anstatt in meinem Ho telzimmer, so daß der Taxifahrer und nicht ich gezwungen war, die Sauerei zu beseitigen. Ich habe des weiteren Glück, daß Sarahs Erbrechen, eine gesunde Mischung aus Auberginen, tsatziki und gewaltigen Mengen von Weißwein, mein kleines menschliches Mannequin zumindest partiell ernüchtert hat, so daß sie aus einem Zustand bewegungsunfähiger Bewußtlosig keit wieder zu torkelnder Trunkenheit erwacht ist. Mit dem Ergebnis, daß Sarah zumindest ansatzweise mithel fen kann, sich aufrecht zu halten, während ich sie durch die Lobby des Plaza zu den Fahrstühlen bugsiere. Ein wenig Aus ruhen auf meinem Zimmer, und dann zurück zu ihrer Woh nung. Sie ist ein wenig wackelig auf den Beinen, aber sie geht aufrecht, was mehr ist, als ich erwartet hatte. Da warten wir also, während zwei vermeintliche Express-Fahrstühle sich von den obersten Stockwerken nach unten bewegen. Auf dem Bo den liegt ein Perserteppich, der im Falle seiner Zerstörung mein Sparkonto und noch einiges mehr abräumen würde, so daß ich ein stilles Gebet zu den Übelkeits-Göttern schicke, daß sie Sa rah vor weiteren Mißgeschicken bewahren mögen. Wenn sie ein Opfer verlangen, werde ich das nächste Mal in der Drogerie gerne eine Flasche Maalox zerschmeißen. Ein älteres Paar betritt Arm in Arm die Halle und steuert ebenfalls die Fahrstühle an. Wie niedlich. Außerdem kommen sie mir irgendwie bekannt vor, auch wenn ich nicht weiß, wo her. Ich habe sie jedenfalls schon einmal gesehen. Hm … Ihre durchbohrenden Blicke helfen meinem Gedächtnis auf die Sprünge – das hochnäsige Dino-Pärchen aus der Warteschlan ge an der Bar von Manimal – The Musical, die Eheleute, die sich beim Erklimmen moralischer Höhen fast Nasenbluten ge holt haben. 229
Sarah rutscht aus meinen Armen, und ich bemühe mich nach Kräften, sie fest um die Hüfte zu packen. Sie sackt zusammen wie eine zerfetzte Puppe und hängt sich an mich. Während ich mich anstrenge, sie in der Vertikalen zu halten, werfe ich dem Pärchen zur Demonstration meiner humorvollen Gelassenheit angesichts der Situation ein Lächeln zu und gluckse. Ha, ha, soll dieses Glucksen andeuten. Was für ein albernes Mißver ständnis. Davon werde ich eines Tages meinen reinrassigen Raptor-Kindern erzählen. Das Paar reagiert nicht. Das nach folgenden Schweigen ist geradezu schmerzhaft, so daß ich her ausplatze: »Hat Ihnen die Vorstellung gefallen?« Bei derart in die Höhe gereckten Nasen ist es schwer, ihre Reaktion auszumachen. Aber aus irgendeinem Grund wählt Sarah diesen Moment, um einen vollständigen und zusammenhängenden Satz zu äu ßern. »Hast du dich heute abend amüsiert?« lallt sie, und jedes Wort bricht sich an unorthodoxen Synkopen. »Ich habe mich nämlich prima amüsiert.« »Ja, ja, amüsiert. Ha, ha, ja, ja.« Sie kneift mir mit Daumen und Zeigefinger in die Nase und dreht heftiger daran, als sie vorhatte. Die verspielte Geste treibt mir die Tränen in die Augen. »Ich meine, ich hab mich echt prima amüsiert.« »Amüsiert«, wiederhole ich und reibe mir die Nase. Ich wen de mich erneut dem Paar zu, um zu erklären, mit den Schultern zu zucken oder auf irgendeine andere Weise anzudeuten, daß diese Szene, so lasziv sie auch wirken mag, nicht das ist, was sie denken, doch die beiden ältlichen Dinos sind verschwun den. Sarah greift wieder nach meiner Nase. Ich schiebe ihre Hand behutsam weg und sage: »Du brauchst ein bißchen Schlaf.« »Was ich brauche«, flüstert Sarah und stößt mit ihrer Stirn gegen meine, »bist du.« Ich tue so, als hätte ich sie nicht gehört. 230
»Du, du, du«, wiederholt Sarah, und diesmal ist es schwer, die Ohren vor ihrer Stimme zu verschließen. »Ich brauche dich.« Meine beste Antwort ist keine Antwort, also halte ich die Klappe, während wir weiter auf den Aufzug warten, der offensichtlich in irgendeine Raum-Zeit-Krümmung geraten ist. Als er schließlich doch ankommt und die Metalltüren aufge hen, trete ich einen Schritt zurück, um die Passagiere – ein of fenbar sehr verliebtes, regelrecht ineinander verkeiltes junges Paar – aussteigen zu lassen. Doch als ich nach links trete, be wegen sie sich ebenfalls nach links. Und als ich mich nach rechts wende, tun sie das auch. Es ist ein Spiegel. Ich beschließe, nicht weiter darüber nach zudenken. Wir betreten den Lift. Seine Beschleunigung wirft Sarah und mich fast zu Boden – klar, jetzt geht es per Expreß –, und wieder klammern wir uns eng aneinander, während wir zur obersten Etage hinauf schie ßen. »Das geht aber schnell«, kichert Sarah und hängt sich haltsu chend an meine Schulter. Die Präsidentensuite liegt ganz für sich am Ende eines langen Flures, abseits der gewöhnlicheren Quartiere in der Nachbar schaft. Der Weg ist schon nüchtern ziemlich weit, und ich mag mir gar nicht vorstellen, wie lang er werden wird, wenn ich Sarah in ihrem Zustand hinter mir herschleifen muß. Wie ein müder Matrose, der weiß, daß er noch eine letzte Etappe der Reise vor sich hat, bevor er zu seiner Familie, seinen Freunden und hausgemachten Mahlzeiten zurückkehren kann, lege ich Sarahs Arm um meinen Hals und hisse die Segel. Wir schaffen den Flur mit nur ein paar kleineren Ausrut schern und Stürzen, wobei Sarah zu sich kommt und wieder wegdämmert wie ein kaputter Fernseher. Ich öffne die Tür und fluche, daß die Suite so riesig ist. Mit kurzen kleinen Sprüngen manövriere ich Sarah durch das Marmorfoyer ins Schlafzim mer. In diesem Moment wäre mein Schwanz verdammt prak 231
tisch, und ich überlege sogar, ob ich ihn für das kurze Stück auspacken soll. Doch dafür müßte ich meine Hose ausziehen, und ein hereinplatzender Page, der Sarah Archer in meinem Bett und mich hüfteabwärts in meiner natürlichen Haut über rascht, hätte mir gerade noch gefehlt. Auf zwei Beinen wird es bestimmt auch gehen. Sarah kommt kurz wieder zu sich, als ich mich über sie beu ge und versuche, ihren Körper in einer möglichst natürlichen Lage auf dem Bett zu arrangieren. »Wwwwwoooinniiich?« Ich vermute, bei dieser langgezogenen Silbe handelt es sich um ein Fragepronomen, mittels dessen sie versucht, ihren aktu ellen Aufenthaltsort zu bestimmen. »In meinem Bett«, sage ich, und Sarah kichert entzückt. Ihre Hände krabbeln über mei ne Arme wie riesige Spinnen, ihre Finger packen mein Hemd, zerren am Kragen und versuchen, mich auf dieses Laken und diese Kissen herunterzuziehen. »Sarah, nein.« Meine Stimme ist fest wie Tofu. Sie zieht noch ein wenig heftiger. »Nein.« Schon besser, aber immer noch nicht ausreichend, um sie davon abzuhalten, ihre Lippen zu einem Kußmund aus zwei schmuseweichen Hügelchen zu verziehen. Es wäre so leicht, so köstlich, zu sagen, was soll’s, es ist doch bloß Sex, wen kümmert schon Art und Natur, richtig und falsch, der Versuchung nicht einfach nur nachzugeben, sondern mich mit meinem ganzen Körper darauf zu stürzen, doch wäh rend meine Moral offensichtlich in Urlaub ist, treten die Reste meines Über-Ichs auf den Plan, um die Vakanz zu füllen. Und auch wenn mein Herz und meine Lenden mich noch immer in die Behaglichkeit dieser Arme und Lippen und dieser Matratze ziehen, ist mein Kopf klug genug, meinem Körper zu befehlen, die Decke über Sarah zu breiten und sich mit erhobenen Hän den aufzurichten. »Ich kann nicht«, erkläre ich ihr. »Ich will, aber ich – kann nicht.« 232
»Bist du … verheiratet?« fragt sie. »Nein – das ist es nicht –« »Hast du … hast du eine Freundin?« »Nein, habe ich nicht. Hör zu –« Das Telefon klingelt. Ich beachte es nicht. »Hör zu«, wiederhole ich, und das Telefon klingelt wieder. Das Lämpchen für eingegangene Nachrichten blinkt schon, seit ich das Zimmer betreten habe. Es klingelt noch einmal. »Vergiß nicht, was du sagen wolltest«, sage ich und nehme den Hörer ab. »Heilige Scheiße, der Mann ist zu Hause! Rubio, wo, zum Teufel, bist du gewesen?« »Glen, hat das Zeit bis später? Ich bin gerade … sehr be schäftigt.« »Also, erst bittest du mich um Hilfe, und dann bist du zu scheißbeschäftigt, um dir die Antworten anzuhören, ja? Ich hab schon verstanden –« »Warte! Warte – hast du etwas herausgefunden? »Nicht so! Nein, habe ich nicht.« Jetzt schmollt sie. Sarah rührt sich, streckt die Hand aus und versucht, mich aufs Bett zu ziehen. »Leg auf«, schnurrt sie verführerisch. »Ruf später zurück.« Na super, gleich zwei Frauen zu besänftigen. Ich mache Sa rah mit einem erhobenen Finger ein Zeichen – eine Sekunde, bitte, nur eine Sekunde – und ziehe mich in eine dunkle Ecke des Zimmers zurück. »Tut mir leid, Glen, ich war nur – also, hier ist schwer was los. Aber was immer du hast, ich würde es gern hören.« »Aber nicht am Telefon. Wir müssen uns treffen, Vincent.« »Der letzte Typ, der das zu mir gesagt hat, ist jetzt tot.« »Was?« »Erzähl ich dir später. Müssen wir uns jetzt treffen? Kannst du mir nicht zumindest knapp andeuten, worum es geht?« Glenda überlegt eine Weile, doch sie bleibt stur. »Lieber nicht. Kannst du ins Worm Hole kommen?« 233
»Jetzt?« »Ja, jetzt. Es wird dich garantiert interessieren.« »Ja, ja, bestimmt. Gib mir zwanzig Minuten. Und Glen – paß gut auf dich auf.« »Immer doch.« Ich wende mich wieder zu Sarah, während ich bereits nach Worten für eine Entschuldigung suche, einem Grund dafür, daß ich sie an einem so entscheidenden Punkt unserer … nun ja, unserer Beziehung allein lassen muß. Doch als ich mich um drehe, höre ich schon ihre gleichmäßigen Atemzüge und das leise Schnarchen und weiß, daß ich meine Entschuldigungen auf später verschieben kann. Sarah Archer döst weg, eine Hand noch immer an meinem Hosenbein. »Es tut mir leid«, flüstere ich. »Es tut mir so leid.« Ihre Haut leuchtet im fahlen Licht des Kronleuchters im Wohnzimmer wie blasses Elfenbein von solcher Reinheit, daß es einen Gute-Nacht-Kuß verdient. Als ich mich über sie beu ge, um ihre Wange zu küssen, flattern Sarahs Lider auf, und sie sieht mich mit wachsender Verwunderung an. Sie hebt eine Hand und streicht über mein Gesicht, Wärme breitet sich unter meiner Haut aus, und Sarah sagt: »Du … du siehst aus wie je mand, den ich einmal gekannt habe. Vor langer Zeit.« »Wer war das?« flüstere ich. Doch Sarah ist endgültig eingeschlafen. An diesem All Hallow’s Eve sieht die Dino-Bar im Hinter zimmer des Worm Hole wahrscheinlich mehr oder weniger genauso aus wie immer: Kräuter, Lärm und vollgeknallte Ra bauken. Doch der Säuger-Schuppen auf der Vorderseite brummt, wie ich ihn noch nie habe brummen sehen, randvoll mit diesen dreckigen Affen in irgendwelchen schwachsinnigen Kostümen. Ich bahne mir zwischen Majas und Ninjas, Zeichen trickfiguren und französischen Kammerzofen einen Weg zu dem geheimen Eingang hinter den Toiletten. 234
Glen erwartet mich an einem der hinteren Tische, und wäh rend ich lässig zu ihr hinüberschlendere, unterziehe ich das Lokal einem olfaktorischen Check. Alles sauber – zumindest was mir bereits bekannte Attentäter betrifft. Wenn jemand neue Dinos losgeschickt hat, um mich zu erledigen, kann ich zur Zeit wenig dagegen tun. Ich ziehe mir einen Stuhl ran und bestelle einen Eistee. »Ohne Minze«, erkläre ich der Kellnerin. Glenda sieht mich überrascht an. »Ohne Minze?« fragt sie. »Du stehst doch auf Minze.« Ich zeige auf den Ringbuchordner unter ihrem Arm. »Was hast du für mich?« »Der Scheiß war versteckt, und zwar gut.« »Gelöscht?« »Ich glaube schon. Aber wer immer das Zeug gelöscht hat, war entweder in Eile oder hat nicht an die versteckten temporä ren Dateien gedacht. Ich habe ein Wiederherstell-Programm genutzt, um sie wieder sichtbar zu machen, und das meiste von dem Mist retten können.« Glenda ist ein echtes ComputerGenie, jedenfalls ein größeres Genie als ich. Ernies verstaubter PC steht bei mir zu Hause und wartet darauf, vom InkassoBüro abgeholt zu werden, aber da ich ihn seit Ernies Tod ohne hin nur als weitere Abstellfläche für schmutziges Geschirr be nutzt habe, können sie ihn meinetwegen gerne mitnehmen. »Zeig mir, was wir hier haben.« Die ersten paar Seiten sind handschriftliche Notizen von Ernie über seine Befragungen, seitenlang, in fetter schwarzer Tin te. »Er hat sie einfach so eingescannt«, erklärt Glenda mir. »So machen wir das bei J&T – wir haben dieses beschissene Pro gramm, das unsere Handschrift erkennt und in ein Textverar beitungsdokument konvertiert, aber Ernies Schrift hatte es noch nicht gelernt und deshalb so eingelesen.« Ich spüre einen Kloß im Hals, als ich auf die Schleifen, Bö gen und Striche von Ernies krakeliger Schrift starre. Seine Handschrift war wirklich grauenhaft, und er brauchte nicht 235
selten meine Hilfe, um die unentzifferbaren Passagen seiner Notizen zu entschlüsseln. Es ist beinahe, als würde er jetzt ne ben mir sitzen und fragen: »Guck mal, Vinnie – heißt das: Zeu ge sagt, Opfer umgebracht, oder Zeuge sagt, Opfer unbe dacht?« »Wenn ich seine beschissene Handschrift richtig lese, hat er so ungefähr mit demselben Haufen Leute geredet wie du – Mrs. McBride, dieser Säuger-Nachtclubsängerin, ein paar An gestellten und sogar mit dem Gerichtsmediziner. Du kannst es ja noch einmal durchgehen und auf Widersprüche überprüfen.« »Das werde ich tun. Sonst noch was?« »Mehr oder weniger das übliche, Spesenabrechnungen, Zeit pläne, ein paar Sachen, die ich nicht entziffern konnte, einen Kalender –« »Zeig mal her – den Kalender.« Glenda durchsucht ihre Ausdrucke und gibt mir drei Seiten, die aus einem persönlichen Terminplaner oder dergleichen ko piert worden sind. Die Daten stehen in Druckschrift oben auf der Seite (in diesem Fall der 9., 10. und 11. Januar), die Tage sind in halbe Stunden unterteilt. Die Seiten sind weitgehend leer, doch ein paar Termine sind eingetragen worden. Am 9. Januar hat Ernie sich beispielsweise mit Judith McBride und vier Top-Managern der McBride Corporation getrof fen. Am 10. hatte er einen Termin mit Vallardo und Sarah so wie mit einigen anderen Personen, deren Namen mir nichts sagen. Doch am 11., dem Tag, an dem Ernie in irgendeiner gottverlassenen Gasse von einem unfallflüchtigen Taxi über fahren wurde, hatte er um zehn Uhr morgens, nur wenige kurze Stunden, bevor sein Kopf auf dem harten Pflaster New Yorks aufschlug und zerplatzte, einen Termin mit Dr. Kevin Nadel gehabt. Und nur drei Tage später, als ich in volltrunkenem Zorn in New York gelandet und in die Gerichtsmedizin hinein geplatzt war, um meinen Partner und besten Freund sowie den Gerichtsmediziner zu sehen, der offensichtlich die Obduktion 236
eines Mordopfers getürkt hatte, war Nadel bereits zu einem zweimonatigen Urlaub auf den Bahamas aufgebrochen und unerreichbar. Rechts neben den Zehn-Uhr-Termin ist eine Notiz gekritzelt, die zu klein ist, um sie mit bloßem Auge zu erkennen. »Hast du eine Lupe dabei?« frage ich Glenda. »Meine Brille hat bifokale Gläser.« »Das reicht auch.« Glenda gibt sie mir, und ich halte die kleine Linse am unteren Rand des Glases über die handschrift liche Notiz, die jetzt zwar größer, aber immer noch unleserlich erscheint. Ich bewege die Brille hin und her und strenge meine Augenmuskeln bis zum Zerreißen an, bis ich die Nachricht schließlich entziffern kann: Fotos abholen. Fotos abholen. Ich blicke zu Glenda auf, die mir einen schwarz-weißen Kon taktbogen hinhält. »Wahrscheinlich hat er die hier gemeint.« Die McBride-Tatortfotos. Die echten McBride-Tatortfotos. Keine sauberen Schußwunden, kein in verdaubaren Portionen über den Boden verteiltes Blut, kein netter, ordentlicher Tod, sofern ein Tod durch zahlreiche Schüsse aus verschiedenen Waffen überhaupt nett und ordentlich sein kann. Nein, diese Fotos zeigen ein ganz anderes Bild. Blut füllt je de Aufnahme, bedeckt Wände, Möbel und Teppich wie eine Azetat-Persenning; unter den dunklen Lachen kann ich vage McBrides Umrisse ausmachen, beinahe bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt, ein blutiger Haufen auf dem Sofa in der Ecke, seine aristokratische Haltung unter einem offenbar blindwütigen An griff in Stücke gerissen. Ich sehe Biß- und Krallenspuren, Striemen von Schwanzschlägen, und mir wird klar, daß das, was mir Judith McBride erzählt und Dr. Nadel gezeigt haben, die dreistesten Lügen waren. Jetzt habe ich den Beweis: Raymond McBride wurde von ei nem Dinosaurier ermordet. »Die sind gefälscht worden«, erkläre ich Glenda. 237
»Hast du die anderen gesehen?« »Bei dem Gerichtsmediziner. Er hat mir eines dieser Bilder gezeigt, aber das meiste Blut war verschwunden, und die Wun den waren … gesäubert worden, nehme ich an. Sie sollten aus sehen wie Schußwunden, woran McBride laut Aussage seiner Frau Judith auch gestorben ist. Und der Gerichtsmediziner hat behauptet, McBride wäre von fünf Waffen unterschiedlichen Kalibers getroffen worden –« »– was die unterschiedliche Größe der Wunden erklären würde«, beendet Glenda meinen Satz. »Verdammt.« »Verdammt.« »Irgend jemand hat sich eine Menge Mühe gemacht, um es so aussehen zu lassen, als ob der Mörder ein Mensch gewesen wäre«, sage ich. »Und ich wette, Ernie war der Sache auf der Spur, als er kaltgemacht wurde.« Die Kellnerin kommt mit meinem Eistee, und ich trinke ihn in einem Schluck leer. Glenda rückt ihren Stuhl näher an mei nen und sieht sich nervös in dem Lokal um. »Du weißt doch, daß ich die Fotos einfach verbrennen kann? Wir können zum Hinterausgang gehen, ein bißchen Feuerzeugbenzin darüber kippen und sie anzünden. Wenn du weitermachst, bin ich da bei, aber ich möchte, daß du weißt, daß wir die Sache auch einfach vergessen können, und das wär’s dann.« Ich lasse mir Zeit mit meiner Erwiderung, weil ich möglichst präzise antworten will. »Ich habe zugesehen, wie Nadel von einem zweiköpfigen Dino-Killer-Kommando ermordet wurde«, sage ich. »Mich hätten sie auch beinahe erwischt. Vorher hat mich irgendeine Mißgeburt in einer dunklen Gasse angegriffen, und ich bin nur um Haaresbreite mit heiler Haut davongekom men, und davor ist mein Partner Opfer eines Unfalls geworden, der kein Unfall gewesen sein kann. Ich bin in die Irre geführt, ausgelacht und betrogen worden – man hat mir meinen Beruf, mein Leben und meine Freunde genommen. Ich bin herumge 238
schubst und belogen worden. Und ehrlich gesagt, du hast recht – ich sollte die Sache ver gessen. Wir sollten zum Hinterausgang gehen, ein kleines Feu erchen machen und ein paar Marshmallows rösten, und dann sollte ich den nächsten Flug zu den Galapagosinseln nehmen und mich ins Koma kauen. Ich habe lauter gute Gründe abzuhauen, und es ist immer schlau, durch die offene Tür zu verschwinden, ohne sich umzu sehen. Aber es ist nun mal so, wie Ernie zu sagen pflegte – es ist immer das dümmste Arschloch, das ganz vorn in der Nah rungsmittelkette hockt, wenn die Meteoriten einschlagen. Und diesmal bin ich dieses dümmste Arschloch eben selbst.« Während meiner kleinen Rede hat sich ein Grinsen in Glen das Gesicht geschlichen. »Vincent Rubio«, sagt sie, »schön, dich wiederzusehen.« Tips vom Portier sind billig zu haben, vor allem wenn er die Bewohner des Gebäudes nicht besonders mag. Chet, der die Nachtschicht in Judith McBrides Privatgebäude auf der Upper East Side hat, erzählt mir mit Vergnügen, wo ich die Mrs. fin den kann, nachdem ein Fünfer in seine Tasche gewandert ist. »Sie ist auf dem Halloween-Wohltätigkeitsball im Vier Jah reszeiten«, informiert er mich, wobei er jede Antipathie, die er möglicherweise gegen Mrs. McBride hegt, hinter einem Lä cheln verbirgt, bevor er, dieses nervige Grinsen nach wie vor im Gesicht, hinzufügt: »Die alte Hexe weiß doch gar nicht, was Wohltätigkeit ist, selbst wenn sie ihr in die Fresse springen würde.« Ich weiche ein paar Schritte vor ihm zurück zu mei nem Taxi und weise den Fahrer an, schnellstmöglich abzuhau en. Das Hotel Vier Jahreszeiten ist nett – wenn man dergleichen mag. Ich persönlich bin eher ein Plaza-Mann. Auf der Suche nach dem richtigen Ballsaal durchschreiten Glenda und ich, beide für Ort und Anlaß nicht angemessen gekleidet, opulente 239
Hallen, bis wir schließlich aufgeben und den Portier nach dem richtigen Raum fragen, und obwohl er weder so freundlich noch so höflich ist wie Alfonse, führt er uns zum richtigen Ort. MASKENBALL FÜR DIE KINDER lautet die Inschrift ei nes großen wehenden Spruchbandes, das stolz über dem Ein gang prangt. Hinter einem großen Doppelportal, fünf Meter hoch und komplett vergoldet, höre ich laut und deutlich eine Big Band swingen – Schlagzeug, Trompeten und Posaunen im flotten Dreivierteltakt. Im Flur hallt die gedämpfte Stimme eines Sängers wider, der von den neunundneunzig Frauen säu selt, die er in seinem Leben geliebt hat. »Halte dich im Hintergrund, wenn wir reinkommen«, sage ich. »Ich versuche, Judith zu erwischen. Du …« »Ich klau was vom Büffet.« Ich greife einen Türknauf, Glenda den anderen, und wir zie hen. Der Lärm trifft uns wie eine Schockwelle, ungefiltert dröh nende Musik schlägt uns entgegen und drängt uns auf die Schwelle zurück. Die Band, die Menge, der unglaubliche Ra dau läßt meinen Verstand kurzfristig zum Erliegen kommen, und ich kann nur in den Saal starren, wo sich unzählige – drei-, vier-, fünfhundert, tausend? – Gäste tummeln. Wie viele es auch sein mögen, ein guter Teil von ihnen sind Dinos, denn nachdem die Lärmwelle verebbt ist, schlägt mir eine zweite Woge von Gerüchen entgegen, und neben dem Aroma von Schweiß und Alkohol kann ich Kiefer und frischen Morgen sowie eine unverkennbare Kräutermischung riechen. Nachdem Glenda als erste ihre Benommenheit abgeschüttelt hat, macht sie sich auf die Suche nach Hors d’œuvres. Ich schlage die entgegengesetzte Richtung ein und sehe mich, nach einem vertrauten Anblick, Laut oder Duft suchend, unter den Feiernden um. Die Kostüme hier sind ungleich kunstvoller als im Worm Hole – diese Leute haben das Moos, um es für derartigen Blöd 240
sinn auszugeben –, und die Raffmesse und Kunstfertigkeit ei niger Verkleidungen faszinieren mich ehrlich. Eine Frau mit einer Rumfahne, die ich auf dreißig Meter Entfernung riechen kann, watschelt auf mich zu und rülpst mir anmutig ins Ge sicht. Sie trägt etwas, das aussieht wie ein großer Schreibtisch mit zwei Schubladen in Bauchhöhe und einer Platte unter dem Kinn, auf die sie ihre Arme stützt. In der unteren Schublade klebt eine Bibel, auf der Tischplatte eine Brille. »Rate mal, was ich bin!« kreischt sie in mein Ohr. »Keine Ahnung.« »Was?« schreit sie. Ich bin gezwungen, mich dem allgemeinen Gebrüll anzu schließen. »Ich sagte, keine Ahnung!« »Ich bin ein one-night-stand! Verstehst du? One-night-stand, ein Nachttisch. One-night-stand.« Wenn ich sie schubse, fällt sie um, was einen Aufruhr verur sachen würde, also entschuldige ich mich einfach und zwänge mich durch eine Lücke zwischen zwei Donuts in die Menge. Plötzlich bin ich von Nashörnern umzingelt, Hörner bohren sich unfein in meine Seite, und ich wirbele herum und halte nach einer Lücke Ausschau. Doch statt dessen sehe ich mich einem Kontingent Außerirdischer mit weit auseinanderliegen den, bedrohlichen, schwarzen Augen gegenüber, die dürre Ar me und Gläser voll Gin und Tonic nach mir ausstrecken. Also die andere Richtung – Abbott und Costello streiten, stolpern und fallen auf den Hintern – Richard Nixon, der Abe Lincoln schrill und mitleiderregend versichert, daß er kein Betrüger ist – ein Sparschwein komplett mit herausquellenden Dollarschei nen – Und ein Carnosaurier. Ein echter, leibhaftiger, lebensgroßer Original-Carnosaurier. Der Rest des Ballsaals tritt in den Hin tergrund, verschwindet in einem visuellen Abgrund, und jedes Licht schwenkt herum und fixiert den Dino in der Mitte des Raumes, der munter mit einer Marilyn Monroe plaudert. Mein 241
erster Gedanke ist, daß irgend jemand in der Halloween-Hektik vergessen hat, seine Verkleidung anzulegen, so wie DinoKinder, die ihr Kostüm übergezogen haben, bisweilen verges sen, daß sie auch Kleider überstreifen müssen, und splitter nackt, mit im Wind flatternden primären menschlichen Ge schlechtsorganen auf die Straße rennen. Ohne bewußte Anstrengung haben meine Füße mich durch den Saal getragen, und als ich nur noch etwa drei Meter von dem Dino entfernt bin, kann ich die Orangen und das Chlor riechen: sie – Judith McBride. Sie plauscht unverkleidet vor sich hin, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Ich kann den Drang verstehen, dieses unglaubliche Bedürfnis, sich all seiner Schnallen, Klammern und Gürtel zu entledigen, aber nicht hier, nicht jetzt, nicht vor den Augen von Säugern. Ohne einen Gedanken an Konsequenzen oder Etikette zu verschwen den, stürme ich auf Judith zu und packe den Ellenbogen ihres muskulösen Carnosaurierarms. »Sie ist gleich wieder da«, erkläre ich der verblüfften Mari lyn, die, wie ich von nahem erkennen kann, eher ein Marvin ist, und zerre Judith in eine der weniger bevölkerten Ecken des Ballsaals, wo ich ihr gründlich die Meinung geige. »Was, zum Teufel, fällt Ihnen ein, so aus dem Haus zu ge hen? Haben Sie den Verstand verloren?« »Diesmal, Mr. Rubio«, erwidert eine sichtlich perplexe Ju dith, »werde ich Sie wirklich hinauswerfen lassen müssen.« Sie hebt ihre Hand – ihre Vorderpfote – in Richtung eines unsicht baren Beschützers in der Kulisse, doch ich ergreife sie, bevor sie sie ganz erhoben hat, und halte sie mit meinem Kung-FuGriff gepackt. »Das können Sie nicht machen – es ist – es ist der schlimm ste Verstoß, das größte Tabu, unverkleidet auszugehen –« »Heute ist Halloween.« »Scheiß auf Halloween! Bloß weil ein paar Säuger sich zum Narren machen wollen, können Sie doch nicht unsere Sicher 242
heit aufs Spiel setzen.« »Ich versichere Ihnen, daß ich gar nichts aufs Spiel setze.« »Sie wissen, wovon ich rede –« »Und Sie hören mir nicht zu. Es ist Halloween. Das – ist – ein – Kostüm. Ein Dinosaurier-Kostüm. Sonst nichts.« Mein Griff löst sich; die Vorderpfote sinkt wieder herab. »Das ist unmöglich«, sage ich. »Der Mund – er bewegt sich, wenn Sie reden. Es ist genau wie – die Zähne – die Zunge –« Judith lacht, und das Carnosaurier-Kostüm wackelt auf und ab. »Für diese Verkleidung habe ich vermutlich mehr ausgege ben, als Ihr Haus gekostet hat, Mr. Rubio. Ich will doch hoffen, daß es realistisch wirkt. Und was für Möglichkeiten es einem eröffnet … nun, das sollten Sie besser wissen als ich.« »Das ist … eine Verkleidung?« »Ich kann Ihnen versprechen – ich kann beschwören, wenn Sie wollen –, daß das, was ich trage, ein Dinosaurier-Kostüm ist.« Ich senke die Stimme, obwohl sich an diesem Abend und an diesem Ort niemand wundern würde, selbst wenn er zufällig mithören würde: »Sie sind also ein Dino, der sich als ein Mensch verkleidet hat, der sich als Dino verkleidet hat.« »So ähnlich«, sagt sie und zieht zum Beweis unter einer Naht an der Hüfte, die mir bisher nicht aufgefallen ist, ein Stück ih rer Dino-Haut zurück. Darunter sehe ich blasse menschliche Haut, Mrs. McBrides »natürlicher« verkleideter Hautton. »Tolles Kostüm«, sage ich matt. Aber immerhin habe ich sie zum Lachen gebracht, was bes ser ist, als würde sie ihre Leibwächter auffordern, mich in die Bowle-Schüssel zu stecken. »Tanzen Sie?« fragt sie, schon auf dem Weg zur Tanzfläche. Es ist ein Foxtrott, und ich erinnere mich vage an die Schrit te. »Ich würde mich geehrt fühlen«, sage ich, »wenn Sie mir verzeihen könnten.« Beiläufiges Tanzgeplauder ist möglicher weise die perfekte Einleitung für meine nachfolgenden Fragen. 243
Und so fängt es in der Tat an, Judith und ich parlieren über das Wetter, die Stadt, den verrückten Feiertag, während wir lang-lang-kurz-lang über die Tanzfläche kreiseln, wobei ich mit jeder Drehung und jedem Vorbeischritt sicherer führe. Sie ist ihrerseits eine ausgezeichnete Tänzerin, die meinen Bewe gungen auf den sanftesten Zug und leisesten Druck hin folgt. Bald kann ich mich unterhalten, ohne den Takt im Kopf mitzu zählen, und wir gleiten entspannt dahin. »Haben Sie Ihren Auftrag erledigt, was immer es war, was Sie gesucht haben?« fragt sie. »Ja und nein.« »Ich nehme an, daß Sie heute abend hierhergekommen sind, weil Sie etwas entdeckt haben, was nicht warten konnte. Sagt man das in Ihrer Branche nicht so? Es konnte nicht warten?« »So sagt man in unserer Branche manchmal, ja.« »Und sie würden mich jetzt gern etwas fragen.« »Irgendwann im Laufe des Abends.« »Da wir unseren Vorrat an Small-Talk erschöpft zu haben scheinen«, meint sie, »können wir uns den Rest ebensogut schenken und gleich zur Sache kommen. Ich nehme an, Sie haben mittlerweile mit dieser Miss Archer gesprochen.« »Habe ich, ja.« »Und mit dem Rest von Raymonds Harem?« »Seinem Harem?« »Schockiert? Nicht doch.« Es war mir klar, daß Judith von der Affäre ihres Mannes mit Sarah gewußt hatte – das hatte ich beim Abendessen erfahren – , doch von wie vielen weiteren Seitensprüngen Raymonds wußte Sie? »Sie waren also über die Affären im Bilde?« Wir wirbeln um ein langsames Pärchen herum und lassen es hinter uns zurück. »Zuerst nicht, nein. Es hat eine Weile gedauert, bis ich ka piert hatte, aber nicht lange. Raymond war ein brillanter Mann, aber in Herzensangelegenheiten war die Garantie meines Gat 244
ten schon lange abgelaufen.« »Er hat durchaus unauffällig angefangen«, fahrt Judith fort, »ein Mädchen aus dem Büro, glaube ich, und eine Weile fand ich das ganz niedlich. Er hat dieses junge Ding unter seine Fit tiche genommen und es durch das Labyrinth des Wirtschaftsle bens geführt, wissen Sie.« »Und dann?« Es gibt immer ein ›dann‹. »Und dann fing er an, sie zu bumsen.« Die Nummer wird flotter, die Band legt einen Zahn zu, und wir beschleunigen unsere Schritte entsprechend. »Was haben Sie gemacht?« frage ich. »Das einzige, was ich tun konnte: damit zurechtkommen. Das ist schließlich nichts Ungewöhnliches.« »Was?« »Untreue. Ich habe keine einzige Freundin, deren Mann nicht hinter ihrem Rücken rumgevögelt hat.« Das ist auf jeden Fall ein Nähkränzchen, das es zu meiden gilt. »Aber es entspricht uns nicht, wütend zu werden. Jedenfalls nicht offen.« »Zurückschlagen, wenn sie nicht hingucken?« frage ich. »Zurückschlagen, wo sie nicht hingucken. Wenn Sie sich für ein Leben unter den oberen Zehntausend entschieden haben, ist die beste Rache immer finanziell. Zur Vergeltung kaufen wir uns Dinge. Pelze, Juwelen, Häuser … Ich hatte eine Freundin, deren Mann ein derartiger Wiederholungstäter war, daß sie sich gezwungen sah, eine kleine Charterfluggesellschaft zu kaufen und zum Absturz zu bringen – und das bisweilen im durchaus wörtlichen Sinn –, nur um seine Aufmerksamkeit zu erregen.« »Hat es funktioniert?« »Ein Jahr lang. Dann ist er wieder in seine alten Gewohnhei ten zurückgefallen, und sie hat auf Personenzüge umgesattelt.« »Aber so etwas haben Sie natürlich nicht gemacht, richtig?« sage ich. »Sie waren das brave kleine Mädchen der Clique.« »Ob Sie es glauben oder nicht, das war ich tatsächlich. Jeden falls eine Weile. Ich habe alles hingenommen und Raymond so 245
akzeptiert, wie er war. Natürlich waren seine ersten Seiten sprünge auch noch … normal. Artgerecht. Er hatte noch nicht … die Gattung gewechselt.« »Und wann hat er aufs andere Ufer übergesetzt?« frage ich. »Vor drei Jahren, vielleicht auch vier, so genau weiß ich das nicht mehr.« »War Sarah Archer die erste?« Judiths Lachen ist ein kurzes, humorloses, verächtliches Bel len. »Wenn Sie meinen, ob sie seine erste gattungsübergreifen de Affäre war, nein. Es hat fünf, zehn, zwanzig Mädchen vor ihr gegeben, alle gleich, alle langbeinig, mit voller Mähne, schön und dumm. Können Sie sich vorstellen, daß einige von ihnen bei uns zu Hause angerufen haben – bei mir zu Hause –, um Nachrichten für ihn zu hinterlassen? Aber wenn Sie meinen, ob Sarah Archer die erste war, die meinen Mann in Besitz genommen, Ansprüche auf ihn geltend gemacht und sich an ihn geklammert hat, als wäre er ein Steg und sie ein Boot in rauher Dünung, dann würde ich sagen, ja, sie war die erste.« »Und das war auch der Zeitpunkt, an dem es angefangen hat, Ihnen weh zu tun.« »Nein«, sagt Judith, »es ist mir schon lange vorher nahege gangen. Es gab eine Zeit, in der er in einem ganzen Monat viel leicht zwei Nächte in meinem Bett verbracht hat. Und auch wenn Raymond und ich schon seit einer Weile … keine eheli chen Beziehungen mehr gepflegt haben« – ihre Wortwahl ist jetzt deutlich vorsichtiger –, »entstand mit der Zeit nachts doch eine Leere. Wenn man daran gewöhnt ist, sein Leben lang ne ben jemandem zu schlafen, wird es schwierig, sich auf den leeren Platz auf der Matratze einzustellen. Ich glaube, da hat es mir endgültig gereicht. Geld kam nicht in Frage – es war ihm egal. Und im Schlaf zimmer konnte ich ihn nicht mehr erreichen, jedenfalls nicht direkt. Also habe ich mich auf die einzige Art gerächt, die mir 246
einfiel: Ich hatte eine Affäre.« »Mit Donovan Burke«, sage ich. Das bringt Judith keineswegs so sehr aus der Fassung, wie ich es mir gewünscht hätte, aber es ist ein Anfang. Zumindest wirken ihre sonst so festen Schritte ein wenig unsicher, und ich muß an ihre Seite wirbeln und ihren Fehltritt mit einer Drehung unter dem Arm kaschieren. »Sie wissen davon.« »Ich hatte von Anfang an so eine Ahnung.« Sarahs Bemer kungen beim Abendessen hatten meine anfängliche Vermutung nur bestätigt, doch das lasse ich gegenüber Judith geflissentlich unerwähnt. »Eine Affäre als Strafe für eine Affäre. Das ist ziemlich Auge-um-Auge.« »Wollen Sie mich verurteilen, Mr. Rubio?« »Ich verurteile nie, was ich nicht verstehe.« Das entlockt Judith ein trockenes Lächeln. »Es war nicht so, wie es sich anhört«, sagt sie. »Das ist es nie.« »Ich habe die Affäre mit Donovan nicht nur aus Rache ange fangen, verstehen Sie. Wenn überhaupt, ging es mir um Gesell schaft. Raymond konnte nicht für mich da sein, und ich war des ewigen Einkaufens langsam überdrüssig. Donovan war genau das, was ich brauchte.« »Im Bett?« »Im Bett, in meinem Haus, im Theater, wann und wo immer er konnte. Freundschaft ist mehr als Sex, Mr. Rubio.« »Und diese Affäre mit Donovan Burke – ereignete sich nach Jaycees Verschwinden, nehme ich an?« Schweigen meiner Tanzpartnerin, eine verräterische Pause. »Sie hatten eine Affäre mit Donovan, während er noch mit Jaycee Holden verlobt war?« Die Antwort klingt fast unterwürfig, ein mausiges Piepsen, das erste leise Wort, das ich aus Judith McBrides Mund höre: »Ja.« Ich möchte auf keinen Fall Teil der großen spirituellen Ein 247
heit werden, wenn das Karma der McBride-Familie am Ende addiert wird; es wird einen Gutteil der Ewigkeit dauern, die ganze Scheiße wieder ins Reine zu bringen. »Neulich in Ihrem Büro haben Sie behauptet, daß Sie Jaycee Holden mochten.« »Das stimmt auch.« »Sie haben Sie ein reizendes Mädchen genannt, wenn ich mich recht erinnere?« »So ist es.« »Warum sind Sie ihr dann derartig in den Rücken gefallen?« Ich hasse es, hochmütig zu klingen, aber diese Anhäufung ehe licher Vergehen macht mich ganz krank. Können diese Leute ihre Kostüme nicht geschlossen halten? Natürlich war ich vor zwei Stunden noch bereit, den Amateur-Zauberer zu geben, das Tischtuch unter dem griechischen Essen wegzureißen und Sa rah in einem Anfall von Leidenschaft auf das nackte Holz zu werfen, aber das war vor zwei Stunden, und seither habe ich meine fast verlorene Kontrolle wiedergefunden. »Jaycee war keine Heilige«, sagt Judith. »Sie hatte auch ihre Fehler.« Außer ihrer Neigung zu gut inszeniertem Verschwinden und schlecht inszenierten Entführungen war sie mir eigentlich ganz nett vorgekommen. »Sie hatten also schon Probleme, bevor Sie sich mit ihm eingelassen haben?« »Meines Wissens nicht«, sagt Judith. »Wer hat die Affäre angefangen?« »Es war gegenseitig.« »Wer hat die Affäre angefangen?« wiederhole ich. Ich kom me mir vor wie ein Vater, der herausfinden will, welches seiner Kinder die Vase im Wohnzimmer zerbrochen hat. »Ich«, gibt Judith schließlich zu. »Haben Sie ihn verführt?« »Wenn Sie es so nennen wollen.« »Warum Donovan? Warum nicht irgend jemand anderen, der nicht schon eine Beziehung hatte?« 248
Jetzt weicht Judith meinem Blick aus. Sie starrt zu dem Bandleader hinüber, ihre längliche Carnosaurier-Nase auf mei ne Schulter gestützt. »Donovan und Raymond … standen sich sehr nahe.« »Deswegen haben Sie ihn ausgesucht – wegen seiner Freund schaft mit Ihrem Mann?« »Ja. Es war nicht meine Absicht, Raymond zu verletzen, das möchte ich klarstellen. Aber wenn er je von der Affäre erfahren sollte … könnte es vielleicht doch ein bißchen weh tun. Ich habe einen seiner Vertrauten gewählt, damit er sich so betrogen fühlen würde, wie ich mich betrogen gefühlt habe. Es war in vielerlei Hinsicht eine rein geschäftliche Entscheidung.« »Ich dachte, daß eher Sie Donovans Chef im Pangea-Club waren und daß er kaum Kontakt mit Ihrem Mann hatte.« »Beruflich hatte er das auch nicht. Donovan war Manager ei nes Unterhaltungs-Lokals, damit hätte sich Raymond nie abge geben. Aber sie waren seit einiger Zeit privat befreundet. Golf kumpel. Das war, als wir nach New York gezogen sind.« »Vor etwa fünfzehn Jahren?« »Genau.« »Wo haben Sie vorher gelebt?« »In Kansas. O bitte, es war trist. Ich will nicht darüber re den.« Verständlich. Ich will auch nicht über Kansas reden. »Hat Jaycee es herausgefunden?« »Wissen Sie«, sinniert Judith, »damals dachte ich, daß wir sie ziemlich gründlich hinters Licht geführt haben.« »Aber das haben Sie nicht.« Sie schüttelt den Kopf. »Nein. Das haben wir nicht. Das weiß ich heute.« »Ach ja? Und woher?« »Ich weiß es einfach«, sagt Judith. »Zwei Wochen später ist sie verschwunden.« »Und ein paar Monate später …« 249
»Habe ich Donovan gefeuert«, gibt sie zu. »Wie nett von Ihnen. Donovan muß begeistert gewesen sein. Keine Frau, keinen Job, keinen Grund weiterzumachen.« »Sie verstehen das nicht«, sagt Judith. »Ohne Jaycee war er depressiv und mürrisch. Er hat den Club vernachlässigt, die Bücher waren ein einziges Chaos. Er – er war –« »Nutzlos?« Darauf bekomme ich keine Antwort. Der Foxtrott endet, aber die Band gönnt uns keine Atempause, sondern stimmt einen zackigen Tango an. Mein Körper zuckt in Bereitschaft – den Rücken bolzengerade aufgerichtet, die Knie gebeugt, lege ich eine Hand um Judiths Carnosaurier-Hüfte. »Tanzen Sie Tan go?« frage ich, und sie antwortet, indem sie zu einem perfekt abgestimmten Wiegeschritt in meine Arme wirbelt. Ein paar andere Paare strömen ebenfalls auf die Tanzfläche, und obwohl es langsam voll wird, sind Mrs. McBride und ich Ginger und Fred, die immer zur rechten Zeit am rechten Ort wirbeln und stampfen. »Sie können sich gut bewegen«, sagt Judith. »Warum haben Sie mir erzählt, daß Ihr Mann durch Schüsse getötet wurde?« »Weil es stimmt.« Wiegeschritt. »Ich frage Sie noch einmal –« Ihre Hände lösen sich von meinen und stemmen sich gegen meine Brust. Sie versucht sich meinem Griff zu entziehen, doch ich halte sie fest um die Hüfte; sie wird fürs erste nir gendwohin gehen. Ich zwinge sie weiterzutanzen. »Sie glau ben, sie verstehen alles«, höhnt sie, »aber das tun Sie nicht. Sie haben ja nicht die geringste Ahnung.« »Vielleicht können Sie mir helfen. Sie können damit anfan gen, indem Sie mir sagen, warum Sie gelogen haben.« »Das habe ich nicht. Ich werde Ihnen die Fotos vom Tatort zeigen, Mr. Rubio, und dann werden Sie die Schußwunden sehen, Sie werden sehen –« 250
»Ich habe die Tatort-Fotos gesehen«, sage ich, was sie zum Schweigen bringt. »Und zwar die echten.« »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« »Ich meine die unretuschierten Originale.« Ich flüstere harsch in ihr Ohr, in das Kostüm über dem Kostüm. »Diejeni gen, auf denen Ihr Mann von den Krallenspuren beinahe in zwei Hälften gerissen und von Bißwunden übersät ist –« Sie bleibt stehen, läßt ihren Arm sinken und beginnt zu zit tern. »Können wir draußen weiterreden?« »Mit dem größten Vergnügen.« Ich führe Mrs. McBride von der Tanzfläche, und unsere Dar bietungen werden mit freundlichem Applaus bedacht. Es dauert etwa eine Minute, bis ich eine Tür entdeckt habe, doch wenig später betreten wir einen kleinen Innenhof mit Brunnen, ein paar Bäumen und einer Bank. Die Klänge des Tangos ver stummen hinter einer weiteren schalldichten Tür. Keuchend beginnt Judith, sich in der kühlen Herbstluft ihres Carnosau rier-Kostüms zu entledigen, und entblößt Kopf und Oberkör per. Jetzt steht sie als Mensch mit fetten grünen Beinen und Schwanz vor mir und sieht aus wie ein betrunkener Dino, der seine Verkleidung vom falschen Ende her aufgeknöpft hat. »Haben Sie noch eine von diesen Zigaretten?« fragt sie mich. Ich werfe ihr die Schachtel zu, und sie zündet sich eine an. Der Qualm weht über ihrem Kopf, während sie tief inhaliert. »Warum haben Sie die Fotos retuschiert? Warum haben Sie Nadel zum Lügen angestiftet?« »Das habe ich nicht«, sagt sie. »Ich habe jemanden gebeten, es für mich zu tun.« »Wen?« Sie murmelt einen Namen. »Wen?« sage ich und mache ei nen Schritt auf sie zu. »Sprechen Sie lauter.« »Vallardo. Ich habe Dr. Vallardo gebeten, sich darum zu kümmern.« Langsam füllen sich die Lücken – dafür war also das Geld, 251
die Einzahlungen auf Nadels Konto. Ich kann nicht glauben, daß sich alles so glatt auflöst. »Nun, ich kann Sie nicht verhaf ten«, sage ich. »Nicht offiziell. Aber ich kann mir Ihr Geständ nis anhören und dafür sorgen, daß die Bullen Sie anständig behandeln.« Sie ist wieder aufgestanden und läuft auf dem Hof auf und ab. »Mein Geständnis? Was sollte ich denn gestehen?« »Seinen Ehemann umzubringen ist immer noch ein Verbre chen, Mrs. McBride.« »Ich habe nichts dergleichen getan!« Judiths Empörung tritt hervor wie die plötzlich durchbrechende Sonne und versengt mich um ein Haar. »Nun gut – haben Sie ein Alibi?« »Sie sind mir vielleicht ein Detektiv – haben Sie überhaupt mit der Polizei gesprochen? Ich war die erste Verdächtige auf ihrer Liste, und natürlich habe ich ein Alibi. Ich habe damals vor den Augen von zweihundert Leuten eine WohltätigkeitsGala geleitet. Die meisten von ihnen sind auch heute abend hier – wollen Sie, daß ich sie herholen lasse, damit Sie auch sie des Mordes beschuldigen können?« Jetzt bin ich durcheinander. Das alles läuft ganz anders als geplant. »Aber warum wollten Sie dann alles vertuschen …« Judith seufzt und läßt sich wieder auf die Bank fallen. »Geld. Es geht immer um Geld.« »Da müssen Sie sich schon was Besseres einfallen lassen.« »Ich kam von meiner Wohltätigkeitsveranstaltung zurück, und da lag er. Auf dem Boden, tot, genau wie ich es Ihnen er zählt habe. Ich habe die Wunden gesehen, die Bisse, die Kratz spuren, und ich wußte, wenn das durchsickert, haben wir den Rat am Hals.« Ich glaube, jetzt kapiere ich langsam. »Mord durch einen Di no an einem Dino …« »… zieht immer eine Ermittlung des Rates nach sich. Sie hät ten nach einem Vorwand gesucht, uns jahrelang auszusaugen – 252
Sie wissen doch, wie das mit den Bußgeldern funktioniert. Ich weiß nicht, wer meinen Mann getötet hat, Mr. Rubio, aber ich wußte, daß die Möglichkeit bestand, daß der Täter … illegale Geschäfte mit meinem Mann gemacht hat. Geschäfte, aus de nen sich Ansprüche auf sein Erbe ergeben könnten. Um also eine offizielle Ratsuntersuchung zu vermeiden …« »… haben Sie Vallardo und Nadel die Fotos so retuschieren und den Obduktionsbericht so fälschen lassen, daß es aussah, als wäre der Mörder ein Mensch gewesen. Kein Dino-Täter, keine Ermittlung, keine Bußgelder.« »Ist es so schrecklich, mein Vermögen schützen zu wollen?« Ich schüttele den Kopf. »Und was ist mit Ernie? Warum ha ben Sie, was ihn angeht, gelogen?« »Mit wem?« »Mein Partner. Der Detektiv, der Sie aufgesucht hat –« Sie tut meine Frage mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Das wieder. Diesmal weiß ich wirklich nicht, wovon Sie sprechen. Haben Sie noch weitere imaginäre Indizien gefun den, um mich zu überführen?« Judith hält mir beide Hände hin, als würde sie erwarten, daß ich ihr Handschellen anlege, und ich schlage sie wütend weg, vor allem, weil sie recht hat. Ich habe keinen Beweis dafür, daß sie etwas mit Ernies Tod zu tun hat, und dieser Mangel an Information nagt an mir. »Nadel ist tot«, erkläre ich ihr grob. »Das weiß ich.« »Woher?« »Emil – Dr. Vallardo – hat es am frühen Abend erfahren und mich gleich angerufen. Soweit ich weiß, wurde Nadel als schwarze Frau im Central Park gefunden. Seltsam.« »Ich war dabei. Er wurde umgebracht – ein Auftragsmord.« »Wollen Sie mich wieder beschuldigen?« »Ich beschuldige niemanden –« »Es tut mir leid, daß Sie offenbar den Eindruck haben, daß ich für alle Todesfälle in Manhattan verantwortlich bin, aber 253
ich bin deswegen genauso nervös wie Sie. Wenn Sie nachse hen, werden Sie hinter dieser Türe zwei meiner Leibwächter antreffen, die bereit sind, auf Kommando loszuschlagen.« Ich blicke auf die geschlossene Tür, beschließe jedoch, das Thema nicht zu vertiefen. »Ich bin vorbereitet, Mr. Rubio. Sie auch?« Mit theatralischem Timing fliegt just in diesem Moment die Tür auf, und ich sehe Glenda, eingeklemmt zwischen den bei den pummeligen Leibwächtern, die mich gestern vormittag in Judiths Büro empfangen haben. Sie tritt um sich, rudert mit den Armen und kreischt: »– loslassen, verdammt noch mal – ich reiß euch eure beschissene Kehle raus –« und versucht, mit Stimme und Beinen möglichst großen Schaden anzurichten. »Eine Freundin von Ihnen?« fragt Judith, und ich nicke be schämt. »Laßt sie los«, befiehlt sie ihren Leibwächtern, und sie schubsen Glenda grob in den Hof. Ich muß meine Kollegin mit Gewalt davon abhalten, ihnen zurück in den Ballsaal zu folgen, und es ist wahrlich nicht leicht, einhundertfünfzig Pfund zap pelnden Hadrosaurier festzuhalten. Schließlich gibt sie nach, und ich lasse sie los. »Ich hab dir ein paar Cocktail-Würstchen mitgebracht«, sagt Glenda und drückt mir ihre Beute vom Buffet in die Hand. »Können wir hier abhauen? Ich glaube, das Service-Personal ist irgendwie sauer auf mich.« »Ich denke, wir sind hier so gut wie fertig«, sage ich und fü ge, an Judith gewandt, hinzu: »Es sei denn, es gibt noch etwas, was Sie mir gern sagen würden.« »Nicht, wenn Sie mich nicht noch irgendeines weiteren Ver gehens beschuldigen wollen.« »Im Augenblick nicht, danke. Aber ich würde an Ihrer Stelle die Stadt nicht verlassen.« Judith sieht mich amüsiert an. »Ich bin es nicht gewohnt. Be fehle entgegenzunehmen.« »Und ich mache keine Vorschläge.« Ich schiebe mir ein Würstchen zwischen die Zähne und zermalme es. Es ist so 254
heiß, daß ich mir den Mund verbrenne. Ich hatte an sich vorge habt, noch ein paar treffende Abschiedsbemerkungen in Mrs. McBrides Richtung loszuwerden, aber wenn ich jetzt den Mund aufmache, würde ich womöglich das Würstchen wieder ausspucken, und damit wäre niemandem gedient. Ich packe Glendas Hand und führe sie aus dem Hof, durch den Ballsaal, vorbei an betrunkenen Partygästen bis zur näch sten U-Bahnstation. Für meine beiden letzten Dollar kaufe ich uns ein Ticket, und wir machen uns auf den Weg zum nächsten Zug in Richtung Süden. Glenda ist nach Hause gegangen, und ich bin in die Höhle des Löwen zurückgekehrt. Ich stehe vor der Präsidenten-Suite, Chipkarte in der Hand. Drinnen ist Sarah, die schläft oder auch nicht, und der Vorrat an Willenskraft, den ich auf der UBahnfahrt zusammengekratzt habe, scheint durch ein unsicht bares Leck zu versickern. Ständig versuchen irgendwelche Leute, mich umzubringen, ich habe kein Geld in der Tasche, und am Horizont zeichnet sich keine erkennbare Zukunft für mich ab, doch es sind die nächsten fünf Minuten, die meine wahre Rettung oder mein endgültiger Untergang sein können. Ich ziehe die Karte durch den Schlitz. Kein Schnarchen, fällt mir auf, als ich die Suite betrete. Au ßerdem brennt das Schlafzimmerlicht. Ich mache einen schnel len Deal mit mir selbst: Wenn Sarah liest, fernsieht oder ein fach rumhängt, werde ich ihr beim Zimmer-Service eine Kanne Kaffee bestellen, mir an der Rezeption ein paar Dollar leihen und sie mit dem Taxi nach Hause schicken, und keine krum men Geschichten. Wenn ich ihren schlanken geschmeidigen Körper bei Betreten des Schlafzimmers jedoch unter der Decke – über der Decke – um die Decke gewickelt – nackt und meiner Rückkehr harrend vorfinde, werde ich vor den Resten meiner Rechtschaffenheit die Rolläden runterlassen, welchen Urin stinkten auch immer erlauben, meinen Körper zu führen, und 255
kopfüber in die luxuriöse Lasterhöhle springen. Auf dem Kopfkissen liegt ein Brief und keine Sarah. Er lautet: Liebster Vincent, es tut mir leid, daß du dich mei netwegen entschuldigen mußtest. Bitte behalte mich in guter Erinnerung. Sarah. Ich lasse mich, den Brief fest an die Brust gedrückt, aufs Bett fallen und zähle die Fliesen an der Decke. Heute nacht wird es für mich keinen Schlaf geben.
14 Wie erwartet habe ich das Land der Träume nicht einmal von weitem gesehen. Ich habe den angebrochenen Abend in meiner Badewanne verbracht, in der ich meinen unverkleideten Körper mit eiskaltem und brühwarmem Wasser benetzt habe. Nach dem ich das jeweils eine halbe Stunde getan habe, bin ich ins Schlafzimmer zurückgeschlichen, habe mein Kostüm angezo gen für den Fall, daß die Zimmermädchen die Tür aufbrechen und unbefugt eindringen, und dann versucht, in einen Schlum mer zu sinken, der nie gekommen ist. Der Sandmann ist ein fauler Herumtreiber. Ich hasse ihn. Um acht Uhr morgens klingelt das Telefon. Es ist Sally von TruTel in L. A., die sagt, daß Teitelbaum mich sprechen möch te. »Stell ihn durch«, sage ich zu Sally, und im nächsten Augen blick ist er dran. Ich habe so ein Gefühl, daß er schon die ganze Zeit in der Leitung war. »Sie sind gefeuert!« ist das erste, was er mir ins Ohr brüllt, und mich beschleicht die deprimierende Ahnung, daß es nicht das letzte gewesen sein wird. »Ich bin – wovon reden Sie überhaupt, verdammt noch mal?« »Haben wir uns nicht über Watson unterhalten? Hatten wir diese gottverdammte Diskussion nicht bereits?« 256
»Welche Diskussion? Sie haben gesagt, ich soll den Job nicht vermasseln und nicht wegen Ernies Tod rummurksen, mehr nicht –« »Und genau das haben Sie getan!« Das Glas in meiner Hand zittert bei seinem Gebrüll, kleine Wellen kräuseln die Wasser oberfläche. »Sie haben mich verarscht, Rubio, und jetzt werde ich Sie verarschen!« »Beruhigen Sie sich«, sage ich und senke zur Demonstration meine eigene Stimme. »Ich habe nur ein paar Fragen gestellt, um einen Überblick über den McBride-Fall zu bekommen –« »Ich bin nicht einer Ihrer Verdächtigen, Rubio. Damit kön nen Sie mir nicht kommen. Ich weiß alles über Ihre kleine Freundin bei J&T – wir wissen, was sie getan hat.« »Glenda?« Oh, Scheiße – er weiß von den Dateien. »Und wir wissen, daß Sie sie dazu angestiftet haben. Das ist Wirtschaftsspionage, unerlaubtes Betreten, Diebstahl – Sie haben auf jeden Fall Ihre Grenzen überschritten. Und jetzt reicht’s, es ist vorbei.« Ich höre, wie Teitelbaum im Zimmer auf und ab läuft, Spielzeuge stürzen um und fallen polternd vom Tisch, und obwohl es erstaunlich ist, daß er es überhaupt geschafft hat, sich aus seinem Stuhl zu erheben, ist er ob der Anstrengung hörbar kurzatmig. »Ich entziehe Ihnen den Fall«, keucht er, »ich sperre Ihre Kreditkarte, Sie sind fertig. Erle digt.« »Und … was jetzt?« schmolle ich. »Wollen Sie, daß ich nach L. A. zurückkomme?« »Es ist mir scheißegal, was Sie machen, Rubio. Ich habe die Buchung für Ihren Rückflug storniert, also bleiben Sie in New York, wenn Sie wollen, es soll da unter den Brücken eine nette Obdachlosen-Gemeinde geben. Ich habe nämlich jede Firma der Stadt telefonisch verständigt, so daß der einzige Ermitt lungsauftrag, der hier noch auf Sie wartet, die Suche nach Ih rem verlegten Sozialhilfe-Scheck ist.« »Ich bin hier auf etwas gestoßen, Mr. Teitelbaum«, versuche 257
ich zu erklären. »Diesmal ist es kein Quatsch, sondern eine große Sache, und ich werde nicht aufgeben, weil ich –« Aufgelegt. Ich rufe zurück und frage Sally beiläufig, ob sie mich noch einmal mit Ihrem Boss verbinden kann. Eine kurze Pause, dann ist Sally wieder in der Leitung. »Er geht nicht ans Telefon«, erklärt sie. »Tut mir leid, Vincent. Kann ich irgendwas für dich tun?« Ich überlege kurz, Sally als Agent provocateur zu benutzen, sie zu bitten, sich in die Dateien einzuloggen, die Sperrung meiner Kreditkarte wieder aufzuheben und mir ein neues Flug ticket nach L. A. zu schicken, doch ich habe schon Glenda in Schwierigkeiten gebracht und will deshalb nicht noch jeman den auf die Liste meiner leidenden Freunde setzen. »Nichts«, sage ich. »Ich bin am Arsch, das ist alles.« »Wird schon alles wieder werden«, sagt sie. »Klar. Sicher.« Ohne Kreditkarte und eigenes Bargeld kann ich es mir unmöglich leisten, noch einen weiteren Tag in dieser Stadt zu verbringen. Das Zimmer hat sich sichtlich verdüstert. »Möchtest du, daß ich dir die Nachrichten rüberschicke?« »Was für Nachrichten?« »Du hast einen ganzen Haufen, hat Teitelbaum dir das nicht erzählt?« »Nicht direkt. Was soll’s, ist auch egal. Irgendwas Wichti ges?« »Ich weiß nicht«, sagt sie. »Sie sind alle von einem PolizeiSergeant, einem Dan Patterson. Er will nur, daß du zurückrufst. Er sagt, es wäre dringend. Er hat fünf- oder sechsmal bei dir angerufen.« Im Handumdrehen habe ich mich von Sally verabschiedet und lasse mich mit dem Rampart-Distrikt des Los Angeles Po lice Departments verbinden. Ein rasches »Vincent Rubio für Dan Patterson«, und schon meldet er sich am anderen Ende der Leitung. »Dan Patterson.« 258
»Dan, ich bin’s. Was ist los?« »Bist du zu Hause?« fragt er. »Ich bin in New York.« Eine leicht verblüffte Pause. »Du bist doch nicht – nicht wie der –« »Doch. Irgendwie schon. Frag nicht.« »Gut«, sagt er, bereit, das Thema fallenzulassen. Ein echter Freund eben. »Wir haben im Hinterzimmer dieses Nachtclubs etwas gefunden –« »Meinst du den Evolution Club?« »Ja. Erinnerst du dich, daß ich dir erzählt habe, daß ich den Laden von ein paar Typen habe durchsuchen lassen? Und daß eine Kiste nicht verbrannt war? Nun, sie haben darin einen Haufen verdammt seltsamen Scheiß gefunden, und ich dachte, du solltest das wissen. Es waren übrigens keine illegalen Por nos.« »Ich nehme an, es handelt sich um etwas, das du mir nicht am Telefon erzählen kannst«, sage ich. In meinem Leben be ginnt sich ein Muster abzuzeichnen, und es wird langsam ver dammt ermüdend, ihm um den ganzen Erdball zu folgen. »Es ist eher so, daß man es besser mit eigenen Augen sieht, und glaub mir, du würdest es weder glauben noch verstehen, wenn du die verdammten Dinger nicht selbst gesehen hast. Ich mußte alles dem Rat übergeben, der gerade zu einer Notsitzung zusammentritt, aber den Papierkram habe ich dir fotokopiert.« »Was würdest du sagen, wenn ich dir erzähle, daß ich nicht mehr an dem Evolution-Club-Fall arbeite?« frage ich. »Kein Problem – ich habe trotzdem eine Fotokopie für dich.« »Und wenn ich dir sagen würde, daß ich kein Geld für den Rückflug nach L. A. habe, daß ich gerade offiziell auf die schwarze Liste jeder Firma der Stadt gesetzt worden bin, daß mir Teitelbaum und sein Fall scheißegal ist, daß ich es hier drüben schon zu vier Fünftel geschafft habe, mich umbringen zu lassen, und daß ich wahrscheinlich auch noch einen Haufen 259
zusätzliche Kohle brauche, um nach New York zurückzukeh ren, nachdem ich dich getroffen habe?« Diesmal muß er ein wenig länger überlegen, aber nicht so lange, wie ich erwartet hatte. »Dann würde ich ein Stück die Straße hinuntergehen und dir via Western Union Geld anwei sen.« »Ist es eine so große Sache?« frage ich. »Ja, es ist eine so große Sache«, sagt er, und zwei Stunden später stehe ich, meinen treuen Kleidersack im Schlepptau, in einer Warteschlange am Flughafen. Los Angeles, fünf Stunden später. Ich wurde bei meinem Flug nicht in die erste Klasse umgebucht. Der Angestellte am Schalter der Fluggesellschaft verwies mich an den Check-inCounter, wo man mir riet, mich an das Flugpersonal zu wen den, das mir wiederum nahelegte, das Terminal ein weiteres Mal zu durchqueren und mich in dieser Angelegenheit erneut an den Schalter der Fluggesellschaft zu wenden, wo man mir schließlich mitteilte, daß man mich liebend gern in die erste Klasse umbuchen würde, es jedoch keine Plätze mehr geben würde, weil alle anderen sich etwa eine Stunde früher hatten umbuchen lassen. Also verbrachte ich den Großteil des Fluges eingeklemmt zwischen einem schlechtgelaunten SoftwareDesigner, dessen Laptop samt Peripherie allen Platz nicht nur auf seinem, sondern auch auf meinem Tischchen in Anspruch nahm, und einem sechsjährigen Jungen, dessen Eltern das Glück gehabt hatten, einen Sitz in der ersten Klasse zu ergat tern. Alle zwei Stunden schaute seine Mutter bei uns Unbe rührbaren in der Economy Class vorbei, um ihren Jungen zu ermahnen, den netten Mann neben ihm – mich – nicht zu stö ren, und Timmy (oder Tommy oder Jimmy, ich weiß es nicht mehr) schwor bei allen ihm heiligen Zeichentrick-Figuren, ihre Anweisungen zu befolgen. Aber keine zehn Sekunden, nach dem seine Mutter hinter dem Vorhang verschwunden war, fing 260
er wieder an, auf alle erreichbaren Flächen einzutrommeln, meine Gliedmaßen nicht ausgenommen. Er war ein angehender Buddy Rich, keine Frage, doch trotz seines unbestreitbaren Talents war ich durchaus bereit, mein Leben, meine Gesund heit und den Verlust einer zukünftigen Größe des Jazz zu ris kieren, indem ich ihn höchstpersönlich durch den nächsten Notausgang hinausbeförderte. Wenn es mir trotzdem gelang einzuschlafen, träumte ich von Sarah. In Los Angeles dauert es eine Weile, bis man ein Taxi be kommt, selbst am Flughafen, doch schließlich finde ich eins, das bereit ist, mich nach Pasadena zu fahren. Das Geld, das Dan mir angewiesen hat, schwindet zusehends, da allein das Flugticket wegen des Kaufs in allerletzter Minute mehr als zweitausend Dollar gekostet hat. Ich nehme mir vor, ihm das Geld so schnell wie möglich zurückzuzahlen, sobald ich wieder auf den Beinen bin, wann immer das sein mag. Im Augenblick stecke ich eher bis zum Kinn in der Scheiße und sinke rasch tiefer. Über den Highway 110 kommen wir auf den Arroyo Vista Parkway, der uns an den Stadtrand führt, und wenig später bremsen wir scharf vor Dans blau-weißem Haus im Ranch-Stil, wobei wir fast den Ford Pickup gerammt hätten, der quer in der Einfahrt steht. Ich bezahle den Taxifahrer und steige aus. Auf der obersten Stufe von Dans Haus liegt die heutige Aus gabe der Los Angeles Times, der warme Santa-Ana-Wind aus dem Süden läßt die Seiten flattern. Behutsam steige ich über die morgendlichen Schlagzeilen und klopfe an die Tür. Die könnte dringend einen neuen Anstrich gebrauchen, weil der Lack längst ein Opfer der allgegenwärtigen Schadstoffe in der Luft geworden ist, auch wenn es immer noch ein gediegenes Stück Eiche ist, von dem mein Klopfen widerhallt. Ich warte. Wahrscheinlich hängt Dan in seiner Billigkopie eines La-Z-Boy-Liegesessels im Wohnzimmer an einem virtu 261
ellen Tropf aus Cheetos und Chunky Soups und blinzelt verbis sen auf seinen 20-Zoll-Bildschirm, weil er zu stur ist, sich Kon taktlinsen machen zu lassen. »Es ist schon traurig genug, daß ich jeden Tag Make-up tragen muß«, hat er mir einmal erklärt. »Auf keinen Fall werd ich mich auch noch an diese ScheißKontaktlinsen gewöhnen.« Vielleicht sollte ich das Thema Brille ganz meiden. Eine Minute verstreicht ohne Antwort. Ich versuche es und klopfe diesmal ein wenig heftiger »Dannyboy!« rufe ich und lege meine Lippen so nah wie möglich an die Tür, ohne daß meine Haut das Holz wirklich berührt. »Abre la puerta!« Dan weiß, was das bedeutet – er kann »Machen Sie die Tür auf!« in mehr als sechzehn verschiedenen Sprachen und vier asiatischen Dialekten sagen, das Resultat seiner Arbeit als Polizeidetective in Los Angeles. Wieder nichts. Mir fällt auf, daß Dan immer noch den Tür klopfer montiert hat, den ich ihm aus Jux zu Weihnachten ge schenkt habe – ein überdimensioniertes, überteuertes und über triebenes Ungetüm, das bestenfalls bei den Munsters ge schmackvoll gewirkt hätte –, also packe ich die Messingnase des Untiers und schlage es auf die Metallplatte darunter. Na, das ist mal ein Klopfen, das Dröhnen wirft mich fast rückwärts die Treppe hinunter. Das Messing vibriert in meiner Hand wie ein überlasteter Massagestab, und ich lasse das Ungetüm rasch wieder los, bevor es vor lauter Schwingung zum Leben er wacht. Eine Minute. Zwei. Stille. Ich presse mein falsches Ohr an das Holz und lausche. Musik möglicherweise, ein monotoner Beat. Vielleicht ist er eingeschlafen – und zwar tief, wie ich mir vorstelle, wenn er den Türklopfer nicht gehört hat –, aber noch wahrscheinlicher ist er hinten in seinem kleinen Kräutergarten und hat die Musik so weit aufgedreht, daß er sie draußen hören kann. Ich gehe ums Haus herum. Brombeergestrüpp und Büsche versuchen mich aufzuhalten 262
und strecken ihre langen dornigen Krallen aus, um mein Ko stüm zu zerreißen. Die übleren Dornen vorsichtig meidend, bahne ich mir einen Weg durch das Unterholz, bis ich schließ lich den hohen Holzzaun erreiche, der Dans bescheidenen Gar ten begrenzt. Die Latten sind dicht genagelt, aber ein Astloch bietet ein ausgezeichnetes Guckloch, durch das ich wie ein geübter Voyeur spähe. Oregano, Basilikum, Salbei und ihre kulinarischen Kohorten sprießen aus der Erde und drängen zur Sonne und ihrer lebens spendenden Kraft. Wir haben manch beschickerten Nachmittag damit zugebracht, die Leckerbissen dieser gut gepflegten Scholle zu kosten. Links sehe ich Blumen, rechts etwas, das aussieht wie ein Möhrenbeet, aber kein Sergeant weit und breit. Ich balle eine Faust, klopfe an den Zaun und rufe erneut nach Dan. Hätte ich nicht seinen Wagen in der Auffahrt gesehen, hätte er nicht gewußt, daß ich heute mit genau diesem Flug zu eben dieser Uhrzeit ankommen würde, würde ich denken, Dan hätte das Haus oder gar die Stadt kurz verlassen, ein kleiner Raus aus-allem-Trip. Ich schnuppere in einer leichten Brise … Gerüche wehen mich an und dringen in meine Nasenlöcher. Ich kann alles in der Umgebung wittern, von den Kräutern und Blumen bis zu dem Wagen auf der Straße, die Chemikalien eines nahe gelegenen Foto-Schnellentwicklungs-Dienstes, die vollgeschissenen Windeln eines Säuglings ein paar Häuser weiter und den beißenden Essiggeruch der zutiefst verbitterten Stegosaurier-Witwe von nebenan, die Dan immer Avancen macht, wenn sie einen zu viel hat. Aber kein Dan. Jetzt mache ich mir ernsthaft Sorgen. Zeit für unbefugtes Betreten. Auf dem Weg zurück zur Haustür kommt mir der Gedanke, daß sich dieser Eichenklotz von einer Tür wahrscheinlich nur mit einer Streitaxt aufbrechen läßt. Und von der relativen Un 263
möglichkeit, das Ding mit meinem schmächtigen Gewicht auf zurammen, einmal abgesehen, wird Dans Job ihn zumindest gelehrt haben, sein Haus mit mehreren Schlössern zu sichern. Also zurück in den Garten. Als ich von der Veranda trete, rutsche ich beinahe aus, weil mein Blick auf einen kleinen dunklen Fleck auf dem Boden fallt und mein Körper instinktiv herumfährt, um ihn sich ge nauer anzusehen. Es ist Blut, drei, höchstens vier Tropfen, aber unzweifelhaft Blut. Getrocknet, aber noch relativ frisch. Ich könnte mein Etui mit chemischen Lösungen auspacken und rasch testen, ob es Dino-Blut ist, doch ich fürchte, daß ich die Antwort schon weiß. Ich schalte einen Gang herunter und ma che einen Satz Richtung Zaun. Adrenalin durchströmt meinen Körper und überwindet meine Erschöpfung, und so behende und elegant, wie es meine ausge laugten Muskeln zulassen, hangele ich mich an dem Holz hoch, wobei meine große Zeit des Über-Zäune-Kletterns schon lange hinter mir liegt. Als ich nach der obersten Latte greife und mich über den Zaun schwingen will, bleibe ich mit dem linken Bein an einem Vorsprung hängen und lande mit dem Kopf zu erst in Dans Basilikum-Beet. Der Geruch ist überwältigend, und ich rappele mich so schnell wie möglich auf die Füße, während mein Mund schon instinktiv in die Luft schnappt, wo er noch das Basilikum vermutet. Die Hintertür ist ebenfalls verschlossen und von innen ver riegelt. Ich klopfe, poche und rüttele mit aller Kraft an der Tür, doch das einzige, was ich von drinnen höre, sind die treibenden Gitarren und die dumpfe Rhythmusgruppe von Creedence Clearwater Revival, zu denen John Foggertys gequälte Stimme nach seiner Suzie Q. ruft. Foggerty ist, wie ich kürzlich erfah ren habe, ein Ornithomimus, genau wie Joe Cocker und Tom Waits, was ihren eigenwilligen Gesangsstil erklärt. Paul Simon hingegen ist ein reinrassiger Velociraptor, und ich glaube, ich habe noch nie einen besseren Drogen-Song als »Scarborough 264
Fair« gehört, auch wenn Rosmarin und Thymian mir persön lich nie viel gebracht haben. »Dan!« schreie ich mit überschnappender Stimme, während meine Tonhöhe in die Stratosphäre abhebt. »Mach die ver dammte Tür auf!« »… say that you’ll be true …« antwortet John Foggerty. Durchs Fenster einzusteigen bleibt meine einzige Möglich keit. Trotz meiner wachsenden Panik zwinge ich mich, immer noch positiv zu denken: Dan hat sich bei der Zubereitung des Abendessens geschnitten, hatte keine Pflaster und ist zur Apo theke gerannt, um sich ein kleines Erste-Hilfe-Set zu kaufen, vielleicht ist er sogar zum Krankenhaus gefahren, um sich mit zwei, drei Stichen nähen zu lassen. Beim Verlassen des Hauses hat er ein paar Tropfen Blut verloren. Oder noch besser, er ist vom Supermarkt nach Hause gekommen, hat eine Packung mit Lammkoteletts fallenlassen und ein bißchen Blut verspritzt, und jetzt sitzt er gerade bei einem Freund und grillt die Dinger. Wenn ich es mir stark genug einbilde, kann ich beinahe die Holzkohle riechen … Unter Zuhilfenahme meines Schweizer Taschenmessers ist das Fliegengitter rasch überwunden, und ich sehe mich einer festen, aber dünnen und daher leicht zerbrechlichen Scheibe gegenüber. Normalerweise sind derlei proletenhafte Einstiegs methoden unter meiner Würde, aber die Zeit drängt, also schlage ich drauflos und zertrümmere die Scheibe mit dem Ellenbogen. Die Alarmanlage macht mir keine Sorgen – ich habe im vergangenen Oktober Dans Haus gehütet und weiß noch, daß die Geheimzahl 092474 lautet, und wenn ich mich recht erinnere, habe ich reichlich fünfundvierzig Sekunden, um sie abzuschalten. Doch der Alarm geht gar nicht los. Ich vernehme das verräte rische PIEP PIEP PIEP nicht, das mich normalerweise immer wahnsinnig macht. Ich wünschte, ich würde es hören. Ich schiebe das Fenster hoch und steige hindurch, wobei ich 265
die Scherben in dem Rahmen und auf dem Boden sorgfältig meide. Creedence rocken jetzt noch lauter, so wie es sich für Creedence gehört, und im Arbeitszimmer verzehrt sich der gute alte John noch immer nach seinem Mädchen. »Irgend jemand zu Hause?« rufe ich über das Getöse hinweg. »Dan? Dan, bist du hier?« Dan war noch nie der ordentlichste Brontosaurier, weshalb es mich nicht überrascht, seine Kleider in postapokalyptischer Manier im Wohnzimmer verteilt zu sehen. Hier ein Gürtel, da eine Klammer, Kostümunterwäsche auf der Ottomane. Obwohl ich es eben auf der Veranda nicht gerochen habe, hängt Dans Geruch nach Oliven- und Motoröl fetzenweise in der Luft wie eine verblassende Erinnerung. Ich vermute, er geht von der verstreuten Kleidung aus. Mein Blick fällt über einen niedrigen Tresen in die offene Küche, auf einen kleinen Tisch und den Olymp von schmutzigem Geschirr, der sich im Spülbecken erhebt. Aber kein Dan. Sein Schlafzimmer ist im ersten Stock, und aus Gewohnheit strebe ich dorthin. Doch Creedence lockt mich in das Arbeits zimmer im Erdgeschoß. Foggerty hat seine Suzie inzwischen aufgegeben und konzentriert seine Anstrengungen jetzt darauf, »doo doo doo«, aus der Hintertür zu spähen. Ein weiterer an gedeuteter Kreis von Blutflecken auf dem Teppich, der sich zu einem langen gequälten Oval dehnt, das sich unter die Tür des Arbeitszimmers schiebt … Ich öffne die Tür und betrete den Raum. Umgestürzte Boxen liegen plärrend auf dem Boden, und die Musik schlägt mir mit einer Lautstärke entgegen, die mich zu rückweichen läßt. Zerfetzte Bilder, zerschlagene Rahmen, zer brochenes Glas. Ein Fernseher, der knapp drei Meter von sei nem Schränkchen entfernt liegt, ein umgestürztes Bücherregal. Heruntergerissene Vorhänge, geplatzte Glühbirnen, zerbroche ne Lava-Lampen, deren Inhalt sich langsam über den Teppich ergießt, so daß ihre phosphoreszierenden Teilchen wie Schmet 266
terlinge über dem grauen Stoff treiben. Und Dan in seinem Lieblingssessel, das Kostüm halb zer fetzt, das Haar verklebt, die Reste eines Thunfisch-Sandwiches und eine umgekippte Suppenschüssel auf dem Tablett neben sich, den Körper von Stichwunden übersät. Das Blut ist längst durch die Kleidung gesickert und zu karminroten Flecken auf seiner rauhen spröden Haut getrocknet. Er lächelt durch die Decke himmelwärts. »Dan, Dan, Dan … komm schon … nicht … Dan …« Ich stammele, ich nuschele, ich rede mit mir selbst, ohne zu wissen, was ich sage, während ich auf der Suche nach einem Lebenszeichen mit den Händen über Dans Körper streiche. Ich drücke meine Nase in seine Haut, um einen Geruch aufzuspü ren, irgendeinen Geruch, irgendwas! Ich reiße an den Druck knöpfen in meinem Nacken und zerre meine Maske achtlos vom Gesicht, um besser Witterung aufnehmen zu können. Un behindert spüre ich seine Geruchsdrüsen auf und sauge erneut Luft ein, so tief ich kann … Leere. Kein Geruch. Sergeant Dan Patterson ist tot. Ich schließe ihm die Augen, die inneren Lider zuerst, aber den Rest seines Körpers lasse ich lieber so, wie er ist. Früher oder später wird die Polizei alarmiert werden müssen, und sie werden schon sauer genug sein, daß ich hier eingebrochen bin und den Tatort verändert habe. Es ist wohl besser, wenn ich seine Leiche unberührt lasse … wenn ich alles unberührt lasse. Dan ist nicht kampflos abgetreten – das zeigt die Verwüstung seines Arbeitszimmers –, doch ich weiß nicht, ob es Stolz auf Dans Mut, Trauer über seinen Tod oder beides ist, was meine Eingeweide zu einem festen Knoten verschlingt, der mit aller Kraft gegen meinen Hals drängt. »Jetzt wird das mit dem Angelausflug wohl nichts mehr, was?« frage ich Dans zusammengesunkenen Leichnam. »Du Mistkerl, jetzt wird das mit dem Angelausflug nichts mehr.« 267
Die Wunden sind gerade Einstiche, wahrscheinlich von ei nem Messer, gelegentlich eine etwas breitere Wunde, aber kei ne der verräterischen Spuren eines Dino-Angriffs, wie ich sie auf dem Foto von McBride entdeckt hatte – gebogene Einsti che von Krallenschlägen, parallele Kratzspuren, konische Biß wunden oder die tiefen Einstiche eines Schwanzstachels. Laut LED-Anzeige auf der Vorderseite des CD-Players läuft dieselbe CD seit fast vier Stunden, wodurch ich den Zeitpunkt von Dans Ableben auf irgendwann innerhalb dieses Zeitraums festsetzen kann, falls der Mörder Creedence nicht in einer Art blutrünstigem 60er-Retro-Ritual erst nach der Tat aufgelegt hat. Mir fällt auf, daß die Gürtel der G-Serie an Dans dickem braunem Schwanz gelöst worden sind, aber ich glaube kaum, daß Dan ihn zu seiner Verteidigung einsetzen konnte, da er immer noch durch den darüberliegenden Leib-Gurt einge zwängt wird. Alles – die Verletzungen an Dans Handflächen, die gleichmäßig im Zimmer verspritzten Blutspuren, die feh lenden Indizien für ein gewaltsames Eindringen, das meinem Einbruch vorausgegangen wäre, die Tatsache, daß bis auf die ses Arbeitszimmer alles unberührt geblieben ist – weist auf einen überraschenden Angriff von jemandem hin, den Dan kannte oder zu kennen glaubte, jemandem, den er selbst in sein Arbeitszimmer gebeten, dem er vielleicht etwas zu essen ange boten hatte, während man gemeinsam ein paar Oldies lauschte. Und dann – ein Stich, punktgenau, Dan ist nach hinten getau melt und hat versucht, sich zu verteidigen, hat versucht, sich das Kostüm vom Leib zu reißen, Krallen und Schwanz zu be freien, doch zu spät und zu langsam. Dann war es schlicht und einfach vorbei. Ein neuer Duft kommt geflogen. Einen kurzen Moment lang denke ich, das Dan eine Lazarus-Nummer gebracht hat, wieder zum Leben erwacht ist und jetzt Hunger auf eine Pizza hat, doch auch wenn mir bald klar wird, daß es nicht Dans Geruch 268
ist, riecht er doch irgendwie vertraut. Meine Nase führt meinen gehorsam folgenden Körper zu Dans Sessel, und ich streiche mit den Händen über den Boden darunter, so daß die vorste henden Teppichnägel in meine Polyesterhaut pieksen. Da, meine Hände ertasten ein quadratisches Stück Stoff, das sich anfühlt wie doppellagiger Mull. Ich ziehe es hervor. Es ist ein kleiner Beutel, ganz ähnlich wie die Säckchen mit den Chemikalien zur Auflösung von toten Artgenossen, die ich immer mit mir herumtrage. Doch dieser hier verströmt nicht jenen schrecklichen Verwesungsgeruch, und der kann unmög lich so schnell verflogen sein; selbst leere Säckchen dieser Sor te müssen verbrannt oder in irgendeiner gottverlassenen Depo nie verbuddelt werden, um ihrem ranzigen Gestank Einhalt zu gebieten. Chlor. Das ist es. Ich kann zwar keine Körner mehr in dem Beutel finden, aber ich bin sicher, daß er just dieses chemische Element enthalten hat. Ein paar andere Düfte versuchen, sich ebenfalls Zugang zu meinen Nasenlöchern zu verschaffen, und kämpfen gegen ihren Widerpart an, doch es ist zwecklos; das erste Aroma hat die Kontrolle übernommen und will sie nicht wieder hergeben. Ich lege den Beutel wieder an exakt dieselbe Stelle unter dem Stuhl, wo ich ihn gefunden habe, für den Fall, daß die Polizei in diesem Indiz mehr Sinn erkennt als ich. Vom Boden aus ist das Chaos und die wütende Zerstörung noch deutlicher zu erkennen; zersplittertes Holz und abgerisse ne Tapeten über mir, Erinnerungsstücke, die zerdrückt wurden wie leere Cola-Dosen. Nichts in diesem Raum ist der Verwü stung entgangen, und ich kann nur hoffen, daß Dans Augen schon glasig und dunkel geworden waren, bevor sie die Ver heerung mitansehen mußten, die über seine Fotos, Gemälde und Bowling-Trophäen hereingebrochen ist. Trost wird lange auf sich warten lassen, doch zumindest weiß ich, daß Dan Patterson in seinem Lieblingssessel gestorben ist. Er starb in der Hitze des Gefechts. Er starb bei einem herzhaf 269
ten Mittagessen. Er starb zu Hause, umgeben von den Bildern derer, die er liebte. Und er starb mit Creedence Clearwater Re vival im Ohr, mit Ornithomimus John Foggerty, und das heißt, die vertraute Stimme eines Dinosaurier-Bruders geleitete ihn auf seinem Weg ins große Jenseits. Wenn wir nur alle so viel Glück hätten. Ich würde gern weitersuchen und den Teppich auf Faserspu ren durchkämmen. Ich würde mir gern eine Tüte Mehl aus Dans Küche holen und die Wände auf der Suche nach Finger abdrücken bestäuben. Ich würde gern die Blutflecken auf der Veranda für einen DNA-Test sichern. Ich will einen Hinweis, irgendeinen, doch mir bleibt keine Zeit. Keine Zeit. Ich muß diese weltbewegende Information finden, die mich überhaupt nach Los Angeles zurückgeführt hat, doch eine gründliche Durchsuchung des Hauses fördert nichts weiter zu tage als eine Schublade voller Porno-Magazine wie Stegorotik und Dralle Diplo-Damen, durchweg und ausschließlich SoftCore. Wußte gar nicht, daß Dan auf etwas anderes stand als Brontosaurier, aber im Moment bin ich wohl so ziemlich der letzte Dino, der zum Moralprediger berufen ist. Die Fotokopien, von denen Dan mir erzählt hat, kann ich hingegen nicht finden, und ich hege keinen Zweifel daran, daß sie sowohl für den Evolution-Club-Fall wie auch für alles an dere, was in den letzten paar Tagen passiert ist, von größter Wichtigkeit sind. Er hat allerdings einen weiteren Satz erwähnt – die Originale –, und auch wenn mir der Gedanke daran, was ich tun muß, um sie in die Finger zu bekommen, nicht gefällt, habe ich kaum eine andere Wahl. Ich gehe zurück ins Wohnzimmer, um den Dino-Notruf zu verständigen, eine spezielle Unterabteilung des allgemeinen Notrufs, der für Situationen wie diese nur mit unseresgleichen besetzt ist. Er unterscheidet sich von der Notarztnummer und der Hotline der Aufräum-Teams, erfüllt jedoch eine ähnliche Funktion: nämlich zur richtigen Zeit die richtigen Behörden auf 270
den Plan zu rufen. »Was für ein Notfall liegt vor?« fragt eine apathische Telefo nistin. »Ein Kollege ist verletzt«, sage ich. »Sehr schwer verletzt.« Ich nenne Dans Adresse, weigere mich jedoch, meinen Namen anzugeben, und lege rasch wieder auf. Zurück ins Arbeitszimmer, wo ich mich von meinem Freund verabschiede. Es ist ein kurzer und prägnanter Abschied, und als die Worte über meine Lippen gekommen sind, habe ich sie auch schon wieder vergessen. Es ist besser so. Wenn ich noch länger rumhänge und auf die Bullen warte, werden sie mich mit aufs Revier schleifen und mich mit einem hochtrabenden übergewichtigen T-Rex in eine Zelle stecken, der versucht, mich zu verhören, bis mir die Ohren bluten. Dafür habe ich keine Zeit. Nicht weit von hier findet eine Ratssitzung statt, in die ich unbedingt hineinplatzen muß.
15 Harold Johnson ist der amtierende Repräsentant der Brontosau rier im Rat, und dem offiziellen Ratskalender zufolge, den man mir abzunehmen vergessen hat, als man mich aus diesem Gre mium geworfen hat, ist der Versammlungsort für potentielle Notfallsitzungen in den Herbstmonaten der geräumige holzge täfelte Keller seines Hauses. Der Gedanke an eine weitere Sit zung mit diesen aufgeblasenen Trotteln läßt mich innerlich erschaudern, doch es ist meine einzige Chance, einen Blick auf diese Unterlagen zu werfen. Vorausgesetzt natürlich, ich kann überhaupt bis zu der Versammlung vordringen. Ich habe einen bestimmten Plan, und er könnte sogar funktionieren, wenn Ha rold immer noch dasselbe anale Scheusal ist wie vor neun Mo naten. Es herrscht kaum Verkehr, und ich sause mit beträchtlicher 271
Geschwindigkeit über die Interstate 405. In Los Angeles gibt es überhaupt nur zwei Geschwindigkeiten: Rush-Hour-Stop-and go und Lichtgeschwindigkeit. Wegen des permanenten Still stands auf unseren Highways in den Stunden zwischen sieben und zehn Uhr morgens und drei und sieben Uhr nachmittags nutzen wir Angelinos mit Freude jede sich bietende Gelegen heit, in den raren Zeiten weniger dichten Verkehrs Chuck Yea gers Schallmauer-Experimente zu wiederholen. Achtzig Stun denkilometer sind ein Witz, fünfundneunzig eine Posse, hun dertfünf die reale Minimalgeschwindigkeit, mit hundertzehn verschafft man sich langsam Respekt, und hundertzwanzig ist der normale Durchschnitt. Ich fahre zur Zeit knapp hundert fünfzig. In meinem ganzen automobilen Leben bin ich – sofern mein Wagen es mitgemacht hat – immer mit mindestens hun dertvierzig Stundenkilometern über diese Highways gerast und habe noch nie einen Strafzettel bekommen. Bis heute. Die Lichter, die da in meinem Rückspiegel auf leuchten, sind keine Weihnachtsdekoration, und die Sirene ge hört nicht zu einer Luftschutzübung. Ich fahre rechts ran und stoppe den Wagen so schnell wie möglich. Wie benimmt man sich in solchen Situationen? Ich will nicht ins Handschuhfach greifen, um nach meiner Zulassung zu su chen, weil es den Polizisten bestimmt nervös macht, wenn ich herumzappele und nach Sachen greife, und ein nervöser Mann mit einer Pistole in der Hand ist jemand, den kennenzulernen ich kein Interesse habe. Die Tür zu öffnen erscheint mir eben falls unklug, also hebe ich die Arme über den Kopf und spreize meine Finger. Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein Elch. Im Seitenspiegel beobachte ich, wie der Polizist, ein gesetzter Herr Mitte vierzig mit Schnauzbart – wie direkt von einer Ca sting-Agentur –, vorsichtig zu meinem Gefährt schlendert. Mit dem Griff seines Schlagstocks klopft er gegen mein Fenster, das ich eilig herunterkurbele, bevor ich die Hände sogleich wieder hebe. 272
»Sie können die Hände runternehmen«, sagt er mit rollender Stimme. Ich gehorche. Zwischen den Lippen des Beamten spannt sich ein Spuckefaden, ein silbriges Band, das im Son nenlicht glitzert. Es erfordert eine beträchtliche Anstrengung, meinen Blick davon loszureißen. »Zu schnell gefahren, was?« Leugnen ist zwecklos. »Jawohl.« »Und jetzt geben Sie mir einen Strafzettel, oder?« »Jawohl.« Natürlich sollte ich widersprechen, mich und meine rück sichtslosen Fahrgewohnheiten verteidigen. Beinahe zu spät fällt mir ein, daß dies nicht mal mein Auto ist – ich habe mir die Freiheit genommen, Dans Ford Explorer zu stehlen, da er keinen Bedarf mehr dafür hat und ich kein eigenes Fortbewe gungsmittel mehr –, und es wird einen Haufen Arbeit machen zu erklären, warum ich in einem Wagen herumfahre, der einem kürzlich ermordeten Polizisten gehört. Es wäre sehr viel leichter, wenn dieser Bulle ein Dino wäre – sein fehlender Geruch sagt mir leider, daß er durch und durch Mensch ist –, dann könnte ich ihm einfach von der dringenden Ratssitzung erzählen, und die Sache wäre erledigt. Doch er sieht mich auch so schon irgendwie seltsam an, den Kopf auf eine Seite gelegt, eine Geste, die mich an Suarez, den Abschleppwagenfahrer, erinnert. »Sie sind ein Raptor, stimmt’s? In meinem Job trifft man nicht viele von Ihrer Sor te.« Ohne einen Gedanken, ohne mich auch nur zu fragen, wie dieser Mensch von unserer Existenz erfahren haben kann, übernehmen meine Instinkte das Kommando – Speichel fließt in meinem Mund zusammen, während ich mich innerlich dar auf vorbereite, ihm die Kehle rauszureißen. Eines der ersten Dinge, die ein junger Dino lernt, ist, daß Sicherheitslücken gestopft werden müssen, und zwar schnell. Mit jedem Men schen, der in irgendeiner Form etwas von unserer Anwesenheit 273
ahnt, muß entsprechend kurzer Prozeß gemacht werden, was in der Regel sein Todesurteil bedeutet, rasch und endgültig. Ich blicke mich auf dem Highway um – der Verkehr fließt stetig, und an der Böschung gibt es nirgendwo Sichtschutz. Selbst wenn es mir gelingen würde, ihn zu erledigen, würde ich sofort entdeckt werden. Ich muß einen sicheren Ort finden, ein Versteck, wo ich ihn aus dem Verkehr ziehen und – »Ein Raptor hat mir drüben in Vietnam das Leben gerettet«, sagt der Bulle stolz. »Der tollste Scheißkerl, den ich je getrof fen habe.« Er streckt seine Hand durch das Wagenfenster. »Don Tuttle, Triceratops. Nett, Sie kennenzulernen.« Perplex schüttele ich die dargebotene Hand. »Sie … sind ein Dino?« frage ich. Mein Speichel trocknet, während die entsprechenden Drüsen sich in die Kaffeepause verabschieden. »Klar doch«, sagt der Bulle. Dann bemerkt er meine Verblüf fung und schlägt sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Mann – Sie haben gedacht … der Geruch, nicht wahr?« Ich nicke. »Das passiert mir dauernd. Ich weiß, ich sollte mir angewöh nen, es gleich zu erwähnen …« Officer Tuttle wendet mir den Rücken zu, hockt sich in Fen sterhöhe und zieht die Haarsträhnen beiseite, die sein Kostüm schmücken. Er knöpft mit geübter Behendigkeit die versteckten Knöpfe im Nacken auf, schält die Kostümhaut von seiner Schulter und entblößt die grüne Haut an seinem Hinterkopf. Eine lange tiefe Narbe zieht sich von Ohr zu Ohr wie eine flei schige Halskette, mit einem gezackten Dreieck an jedem Ende. »Eine Kugel«, sagt er. »Das einzige Mal, daß auf mich ge schossen wurde, aber vermutlich reicht einmal auch. Ist zur einen Seite rein- und zur anderen wieder rausgegangen.« »Autsch.« »Nö, ich hab gar nichts gespürt. Hat ein ganzes Bündel Ner ven mitgerissen.« Er bedeckt seine Haut mit dem Polyanzug und knöpft ihn wieder zu. »Außerdem hat sie meine Geruchs 274
drüsen total zerstört. Ein paar Dino-Ärzte im County Hospital haben sich gedacht, es wäre besser, sie ganz zu entfernen, an statt beim Versuch, sie wieder hinzukriegen, endlos daran her umzupfuschen. Eine Zeitlang hatte ich solche batteriebetriebenen Duftkissen. Funktionieren wie diese Duftlampen, kennen Sie die Dinger? Meine Frau hat sie gehaßt. Die Ärzte haben sie von irgendei nem Diplodocus-Apotheker für mich zusammenbrauen lassen, der so was wohl ziemlich regelmäßig gemacht hat, aber meine Frau meinte, es würde stinken wie altes Kleingeld. Ich weiß nicht genau, wovon sie eigentlich geredet hat – altes Klein geld? Aber ich weiß, was sie gemeint hat. Sie haben einfach nicht … richtig gerochen, verstehen Sie? Da ist es schon bes ser, ganz ohne Geruch weiterzuleben und damit umgehen zu lernen.« »Das tut mir leid«, erkläre ich ihm, ohne recht zu wissen, wie man jemandem zum Verlust seiner Pheromon-Produktion kon doliert. Ich frage mich, ob es für den Anlaß vorgedruckte Kar ten gibt. »Ist kein Weltuntergang«, erwidert er nonchalant. »Ich muß mich nur vor den Dinos in acht nehmen, die denken, daß ich nicht wäre, was ich nicht bin, wenn Sie wissen, was ich mei ne.« »Klar, logo.« Und da wir uns jetzt so gut kennen … »Officer – Don – Officer Don, wegen meiner Geschwindigkeitsübertre tung, es tut mir sehr leid –« »Vergessen Sie’s«, sagt er und zerreißt meinen Strafzettel. Das neu entstandene Konfetti rieselt zu Boden, obwohl ich bezweifle, daß er sich selbst in nächster Zeit zu einem Bußgeld wegen Verunreinigung öffentlicher Straßen verdonnern wird. »Danke«, sage ich, ergreife seine Pfote und drücke sie dank bar. »Ich war so in Eile, zu einer Ratssitzung zu kommen, daß ich –« »Sagten Sie gerade, eine Ratssitzung?« 275
»Im Valley. Ich komme ohnehin schon zu spät.« »Wieviel zu spät?« »Etwa einen Tag, plus minus ein paar Minuten.« »Na, wenn das so ist«, dröhnt er, »müssen wir Ihnen wohl ei ne Eskorte besorgen.« So kommt es, daß ich eine Viertelstunde später, begleitet von drei Streifenwagen und zwei Motorrad-Einheiten, vor Harold Johnsons ausladendem Ranchhaus in Burbank eintreffe. Es ist ein gewaltiges Gefühl, die Straßen mit heulenden Sirenen und flackernden Lichtern im Sturm zu nehmen, und ich kann ver stehen, daß dieser Adrenalinschub zu unerfreulichen Umstän den führen kann. Auch ohne daß nur ein einziger Krimineller in Sicht wäre, bin ich bereit, ein paar Köpfe einzuschlagen. Ich bedanke mich bei den Polizisten, allesamt Dinos, und verabschiede mich, bevor ich über den Kiespfad zur Haustür der Johnsons stapfe. Die Fußmatte muß einen druckempfindli chen Sensor haben, denn lange bevor meine Hand den Klingel knopf erreicht hat, sehe ich mich einer nervösen Mrs. Johnson gegenüber, ihre ganzen ein Meter sechzig und gut zwei Zentner in ein Kostüm gestopft, das für maximal ein Drittel dieses Ge wichts entworfen worden ist. Sie braucht ein neues, und zwar bald – noch ein Banana-Split, und das jetzige wird unter dem Druck platzen. Ihre Hände zittern, und sie wirft ängstliche Blicke in den Vorgarten, auf die Straße und in den Hausflur. »Gehen Sie weg«, bittet sie mich. »Das wird Harold gar nicht gefallen.« »Es muß ihm auch nicht gefallen«, erwidere ich. »Sagen Sie ihm nur, daß ich hier bin.« Sie sieht sich zu der Tür um, die in den Keller führt. Selbst von draußen kann ich das Geschrei und ununterbrochene Ge polter und Gedröhne hören. »Bitte«, fleht sie. »Er wird immer so wütend auf mich.« Ich lege eine Hand auf Mrs. Johnsons Schulter, das Fleisch 276
unter ihrem fragilen Polyanzug schreit förmlich danach, he rausgelassen zu werden. »Er hat keinen Grund, wütend auf Sie zu werden –« »Aber er tut es trotzdem. Bestimmt. Sie kennen ja sein Tem perament –« »Und ob. Aber ich möchte trotzdem, daß Sie hinuntergehen und ihn holen.« Ein weiterer Blick zu der Tür, als würde sie sich vor dem Holz selbst fürchten. »Warum können Sie nicht einfach runter gehen? Ich bin sicher, sie werden sich alle freuen, Sie zu se hen.« »Wenn ich unangekündigt da runter gehe, werden die sich schneller auf mich stürzen, als ich Intensivstation sagen kann, und dann haben Sie einen toten Raptor am Hacken. Wollen Sie das wirklich, Mrs. Johnson?« Langsam und zögernd wendet sie sich um und trottet auf die Kellertür zu wie ein zum Tode Verurteilter auf seinem letzten Gang. Mrs. Johnson verschwindet im Keller, und ich warte auf der Schwelle. Ein Scheppern, ein Kreischen und Knurren, das einem das Blut in den Adern gefrieren läßt. Die weiten Ebenen der Seren geti sind in den Keller der Johnsons verlegt worden. Während ich noch in den Flur linse und den vorstädtischen Mangel an Eleganz bewundere, fliegt plötzlich die Tür auf, schlägt kra chend gegen die Wand, zerbricht in zwei Teile und fällt aus den Angeln auf das Linoleum. »Harold, ich weiß, was du denkst –« setze ich an, noch bevor ich seine massive Gestalt in dem nunmehr leeren Rahmen er blicke, »aber du mußt mir eine Chance geben.« Er trägt kein Kostüm und hat den Schwanz zum Schlag erhoben, sein massi ger Körper pulsiert vor Haß und Wut. Keine menschlichen Worte, die ich je gehört hätte, dringen aus der Kehle des Brontosauriers, als er sich anschickt, mit eng angelegten Armen auf mich loszustürmen, den Kopf zwischen 277
die mächtigen Schultern eingezogen. Ich sehe, wie sich Mrs. Johnson hinter ihm aus dem Keller in die Küche verdrückt, wie eine Kakerlake, wenn das Licht angemacht wird. »Warte – warte – ich habe alles Recht der Welt, hier zu sein«, verkünde ich. »Du – hast – kein – Recht.« »Ich bin Mitglied des Rates.« »Du – bist – des – Rates – verwiesen – worden.« Die Art, wie er jedes Wort einzeln betont, gefällt mir nicht – er war nie der Typ für einen brillanten verbalen Austausch, aber der dro hende Unterton in seiner Stimme ist fast mit Händen zu grei fen. »Ja, ja, ich wurde ausgeschlossen, ich habe die Papiere gese hen, das wissen wir alle. Ihr habt mich aus dem Rat rausge schmissen, schön.« »Dann verschwinde – bevor ich dir deinen Schwanz – in den Hals – ramme.« Das ist der Punkt, an dem ich mein verstecktes As ausspiele. »Aber ich habe die Papiere nie unterschrieben!« »Na, und wenn schon?« fragt er, spricht aber immerhin wie der ohne Pausen. »Schlag in den Bestimmungen nach«, sage ich. »Wenn ich die Papiere nicht in Anwesenheit mindestens eines Ratsmit gliedes unterschrieben habe, ist der Verweis nicht rechtskräf tig.« »Blödsinn, nicht rechtskräftig. Vor drei Jahren haben wir Gingrich rausgeschmissen – du warst dabei –, und er hat einen Scheißdreck unterschrieben.« »Dann ist er rein formal immer noch Mitglied. Niemand be steht mehr auf der Einhaltung dieser Bestimmung, aber sie exi stiert seit ewigen Zeiten. Nur zu, ich warte hier.« Und genau das tue ich, während Harold, ein klassischer Ko rinthenkacker vor dem Herrn, sich in den Keller zurückzieht, um irgendeine alte Bestimmung nachzuschlagen, von der ich 278
hoffe, daß ich sie mir nicht aus dem Arsch gezogen habe. Zehn Minuten später höre ich seine schweren Schritte die Treppe hinaufstampfen. Schwerfällig, langsam – geschlagen. »Komm mit runter«, murmelt er, den Kopf kaum durch den Türrahmen steckend. Ich werde von einem Chor aus Gestöhne und Buhrufen emp fangen, als die vierzehn südkalifornischen Vertreter der überle benden Dinosaurierarten mich mit verschränkten Armen wie der in ihren Reihen begrüßen. Sie haben ihre Verkleidungen abgelegt und wandern im Zustand nackter Autonomie in dem Keller hin und her. Schwänze schlagen gegeneinander, wäh rend sie ungehindert über den Fußboden fegen, und ich bin froh, daß ich keine Blutspuren an den Wänden sehe – bisher jedenfalls nicht. Harold hat klugerweise große Plastikplanen über die Sofas, Stühle und Beistelltische gebreitet, um sein Mobilar vor Flecken zu schützen, wenn die Fetzen erst einmal zu fliegen beginnen. Und bei Ratssitzungen fangen sie früher oder später immer an zu fliegen. Ich sehe Parsons, den Stego saurier, Buchhalter einer kleinen Firma in der Innenstadt, und Seligman, den Vertreter der Allosaurier, ein Staranwalt und hohes Tier in Century City. Oberst, Iguanodon und Zahnarzt, mustert mich spöttisch von der Seite, während Kurzban, T-Rex und Professor für evolutionäre Psychologie oder so an der UCLA, es vorzieht, mich komplett zu ignorieren. Aber nicht jeder aus der Runde ist berufstätig – Mrs. Nissenberg, unsere Coleophysis-Repräsentantin, deren Vornamen ich immer ver gesse, ist Hausfrau und eine ausgezeichnete Schneiderin, und Rafael Colon – Hadrosaurier – ist ein hoffnungsloser Herum treiber, der sich für einen Schauspieler hält, weil er damals, als sie für Miami Vice abgerissene Verbrecher-Visagen suchten, ein paar Nebenrollen bekommen hat. Und dann gibt es natür lich noch Handleman, den Vertreter der ProcompsognatusGemeinde, denn eine Ratssitzung wäre einfach unvollständig ohne einen Compy, der das Ganze noch quälender macht. 279
»Warum du hier?« quakt er. »Wir dich rausgeschmissen!« »Das ist wirklich nicht klug«, murmelt Seligman. Der neue Raptor-Repräsentant – laut einem behelfsmäßig an seiner schuppigen Brust befestigten Namensschildchen ein Mr. Glasser, ein großgewachsener Bursche mit hübscher bräunli cher Haut – schlendert auf mich zu und streckt seine Hand aus. »Danke, daß Sie es versaut haben, Kumpel«, sagt er mit der Andeutung eines australischen Akzents. »Nichts für ungut, was?« »Keine Sorge«, erwidere ich. Aber die übrigen machen sich jede Menge Sorgen und krei schen rum von wegen, ich hätte ihre Mittel, ihr Vertrauen und die Macht des Rates für meine eigenen egoistischen Zwecke mißbraucht, und ich kann ihnen nicht widersprechen. »Ihr habt recht«, sage ich. »Alle miteinander, einhundert Prozent kor rekt.« Aber keiner von ihnen will auch nur zuhören, bis Harold das volle Gewicht seines Körpers und seiner Kraft in die Diskussi on einbringt. Sein Schwanz schlägt beim Gehen heftig hin und her, und die Spitze trifft Mrs. Nissenbergs Wange. Sie schreit auf, was jedoch niemand zu bemerken oder keinen zu beküm mern scheint. »So lauten die Regeln, meine Damen und Herren. Die Re geln. Wir halten uns daran, und auch wenn einige von uns mei nen, sich als Individuen darüber hinwegsetzen zu können« – ein scharfer Blick in meine Richtung –, »kann das dieses Gre mium als Ganzes deswegen noch lange nicht tun. Wenn die Regeln besagen, daß der Raptor bleiben kann, kann er blei ben.« Erneute Wortwechsel, erhitzte Debatten, ich hebe die Hand und bitte um Ruhe. Die bleibt aus, also schreie ich: »Wartet! Wartet! Ich will ja gar nicht bleiben.« Das beruhigt sie so weit, daß ich ihnen mein Ultimatum vor tragen kann. »Ich schlage euch einen Handel vor. Der Rat ver 280
fügt über bestimmte Informationen, und ich wäre gern anwe send, wenn diese Informationen präsentiert werden.« Ein scharfer Blick von Harold – er weiß, wovon ich rede. »Wann hattet ihr vor, euch das … Material anzusehen?« frage ich. »Es ist als neuer Tagesordnungspunkt vorgesehen, also … morgen irgendwann.« Und das nennen sie eine Notfall-Sitzung. »Wie wär’s damit: Ihr behandelt die Angelegenheit sofort, ich kann bleiben, bis der Punkt erledigt ist, und dann unter schreibe ich die Papiere, und ihr seht mich nie wieder.« »Nie wieder?« fragen sie wie aus einem Mund. »Verschwunden wie ein Alptraum.« Ein elektrisiertes Murmeln geht durch die Gruppe. »Können wir eine Minute darüber beraten?« fragt Harold. »Dreißig Sekunden«, antworte ich. »Ich bin ein wenig in Ei le.« In einer halben Minute könnte die Truppe nicht einmal ent scheiden, ob sie einatmen wollen, von einer Beratung meiner Anfrage ganz zu schweigen, doch nach kurzem Tumult und einigen Ordnungsrufen wird mein Ultimatum akzeptiert. Ha rold geht zur Kellertreppe und ruft nach seiner geliebten Gattin. »Maria!« Und nachdem einige Sekunden ohne Antwort ver strichen sind: »MARIA!« »Ja, Harold?« kommt die ängstliche Antwort. »Schick diesen Dr. Solomon runter.« Harold wendet sich wieder der Gruppe zu und erklärt uns: »Gestern morgen habe ich Informationen erhalten, von denen ich annahm, daß sie von Interesse für den Rat sein könnten. Sie werfen einige neue Fra gen zu einem alten Thema auf und deuten auf eine neue Ver wicklung hin, von der ich noch nicht weiß, ob ich sie glauben soll. Bisher kenne ich nicht einmal alle Einzelheiten, aber wir werden Sie in Kürze gemeinsam erfahren.« »Worum geht’s denn?« kräht Handleman, und wir anderen bedeuten ihm, die Klappe zu halten. 281
»Bevor ich diese Informationen mit Ihnen teile, möchte ich alle Anwesenden bitten, trotz der potentiellen Implikationen, die diese Sache möglicherweise haben könnte, die Ruhe zu bewahren, vielleicht können wir dann in angemessener Zeit zu einer gemeinsamen Lösung kommen.« Ha! Ich werde längst weg sein, bevor sie beschlossen haben, in welcher Reihenfolge sie sich gegenseitig umbringen wollen. Harold Johnson watschelt wie ein überdimensionierter Ente rich auf Oberst und Seligman zu. Die beiden Dinos zucken zusammen und bauen sich wagenburgmäßig Rücken an Rük ken auf, um ihr Territorium zu verteidigen. Johnson wirft den Vertretern der Allosaurier und Iguanodons einen verächtlichen Blick zu, drängt an ihnen vorbei und steuert einen Akten schrank unter einem vergammelten Schreibtisch an. Ich kann nicht sehen, was er macht, doch ich höre eine Reihe von Schlössern aufspringen, die ihm Zugang zu den dahinter lie genden Schätzen verschaffen. Mit einem dicken Packen von einer Unzahl farbiger Gummi bänder zusammengehaltenen Papiere unter dem Arm schreitet er in die Mitte des Raumes zurück. Die Ränder der einzelnen Blätter sind angesengt, so daß von einigen Aschekrümel zu Boden rieseln. »Hierbei handelt es sich lediglich um etwa ein Prozent des Originalmaterials«, sagt Johnson und hält das Bündel für je dermann sichtbar hoch. »Die anderen neunundneunzig Prozent sind vergangene Woche bei einem Feuer in einem Nachtclub verbrannt. Der Besitzer des Nachtclubs ist bei dem Brand ums Leben gekommen.« »Er ist gestorben?« platze ich heraus, unfähig, mich zurück zuhalten. »Heute morgen«, sagt Johnson. »Ich habe es vor ein paar Stunden am Telefon erfahren.« Ich empfinde ein eigenartiges Gefühl von Verlust; obwohl ich Burke nie persönlich gekannt habe, habe ich diesen Raptor in den letzten Tagen verstehen 282
gelernt. Ich bin in seine Vorlieben und Abneigungen einge weiht worden, in seine Beziehungen moralischer und anderer Natur. Ich kann nur hoffen, daß Jaycee Holden eine starke Schulter zur Hand hat, wenn sie die Nachricht bekommt. »Doch diese Unterlagen« – Johnson wedelt wichtigtuerisch mit den Papieren herum wie McCarthy mit seiner schwarzen Liste, so daß die brüchigen Ränder in der Luft knistern –, »sind etwas, was letztendlich noch wichtiger ist als das Leben jedes einzelnen Dinosauriers. Sie wurden in einem Pappkarton ge funden, der im Lager des Nachtclubs versteckt worden war. Offenbar gehören sie einem gewissen Dr. Emil Vallardo, ei nem Dino-Mediziner und -Genforscher aus New York. Sie ent halten Informationen bezüglich seiner … KreuzungsExperimente.« Heureka! will ich rufen. Deshalb hat Judith McBride bestrit ten, Donovans Nachtclub finanziell unterstützt zu haben – es war von Anfang an Vallardo gewesen, der das Geld vorge schossen hatte! Trotzdem, einen Nachtclub am anderen Ende des Landes zu finanzieren, nur um ein paar Unterlagen zu ver stecken, erscheint mir ein unverhältnismäßig großer Aufwand, nur um ein Experiment zu schützen, das die Räte des Landes bereits ausreichend dokumentiert hatten. »Und dies«, sagt Johnson und hält mit seinen Wurstfingern ein Reagenzglas hoch, »hat man in einem unter den Bodendie len versteckten Safe gefunden.« Mrs. Nissenberg hebt den Kopf. »Was ist das?« Johnson senkt seine Stimme. »Dies ist eines seiner Experi mente. Dies ist ein Mix-Embryo.« Chaos. »Wir müssen ihm die Zulassung entziehen!« kreischt Oberst. »Das kann man nur bei Anwälten«, erwidert Seligman, »nicht bei Ärzten.« »Man könnte ihm die Approbation aberkennen –« »Die Kinder, was ist mit den Kindern?« 283
Ich lehne mich, mit meinem Schwanz das Gleichgewicht hal tend, in meinen Stuhl zurück und blende mich aus dem Tumult um mich herum aus – Tiraden gegen Vallardo und seine Kor ruption der Natur, Rufe von Was soll aus uns werden, wir wer den alle Bastarde, das Stöhnen, Ächzen und Jammern über die Zerstörung unserer Art. Und trotz meiner Aversion gegen jeg liche Form von Gejammer kann ich es ihnen nicht einmal ver übeln. Die Ratsmitglieder machen sich Sorgen wie alle anderen Dinos. Sorgen um die Einheit unserer Gattung, Sorgen um den Konflikt zwischen Natur und Wissenschaft, Sorgen darüber, was richtig und falsch ist in einer Welt, in der wir uns verstek ken müssen und in der es moralisch drunter und drüber geht und die Positionen sich von einem auf den anderen Tag umkeh ren können. Vor allem jedoch machen sie sich Sorgen, daß sie ihre Identi tät verlieren werden. Aber derlei Gegrübel ist sinnlos, unsere Identität haben wir schon vor langer Zeit verloren. Dann von der Treppe: ein Klappern, zwei Schritte, Pause. Ein Klappern, zwei Schritte. Ein müdes dreibeiniges Pferd, eine Leiche, die von widerwilligen Mördern die Stufen hinunter geschleift wird. Ein Klappern. Zwei Schritte. Kurz darauf wird das Geklapper von einer beharrlichen, mür rischen Stimme begleitet: »Und? Wollen Sie mir nun helfen oder nicht?« Harold schießt die Treppe hinauf – Brontos können ganz schön was wegschleppen, wenn es sein muß – und taucht eine Minute später, einen ältlichen Mann unter einem Arm, eine Gehhilfe unter dem anderen, wieder auf. »Lassen Sie mich run ter«, grunzt der alte Mann. »Ich kann laufen, ich kann laufen. Keine Treppen. Aber sonst schon.« »Das ist Dr. Otto Solomon«, stellt Johnson ihn vor. »Er war vor vielen Jahren Vallardos Partner, und ich denke, er kann vielleicht ein wenig Licht in die Angelegenheit bringen.« Der Doktor – ein Hadrosaurier, wenn ich seinen Geruch richtig 284
einordne – trägt noch sein menschliches Kostüm und ist ein drolliger kleiner Bursche. Ein Akzent wie ein SS-Sturmführer, einsfünfzig groß, Gesicht wie ein Mastino, Haare, die sich haltsuchend an seine Kopfhaut klammern, ein verlorener Kampf. Eine wundervolle Imitation menschlichen Verfalls, und ich kann die Wahl seines Kostüms nur bewundern. Ich hoffe, daß ich in seinem Alter den Mumm habe, meine körperliche Hin fälligkeit derart präzise abzubilden. »Was starren Sie so?« fragt er, und ich gluckse in mich hin ein, während mir der Zeitgenosse leid tut, den er in flagranti erwischt hat. »Ich sagte, was starrst du so, Raptor?« »Ich?« Uups. »Hast du jetzt genug geglotzt?« »Ja.« »Ja, was?« »Ja … Doktor?« »Schon besser.« Dr. Solomon schnappt sich seine Gehhilfe und galoppiert – klapper, rumpel, rumpel, klapper, rumpel, rumpel – mit einer für einen Dino seines Alters und seiner Ge brechlichkeit erstaunlichen Geschwindigkeit in die Mitte des Kreises. »Bevor ich Ihnen meine Analyse der Situation darlege«, sagt er, jedes Wort ein abgehackter Befehl teutonischer Disziplin, »möchte irgend jemand etwas Wichtiges sagen? Etwas, das nicht warten kann?« Niemand meldet sich. »Gut«, sagt Solomon. »Dann seien Sie bitte so gut und halten Sie die Klappe, während ich rede. Fragen werde ich erst am Schluß meines Vortrags beantworten, und an Spekulationen jedweder Art werde ich mich ohnehin nicht beteiligen.« Wieder stimmen wir seiner Forderung zu. Dr. Solomon rich tet sich gerader auf und starrt jedem von uns nacheinander in die Augen. Er beginnt mit einer kurzen Erörterung der Schöp fung, der Ursuppe und einzelliger Organismen, die nichts bes 285
seres zu tun hatten, als rumzuschwimmen, zu mutieren und sich zu teilen. Wir arbeiten uns zu frühen Formen mehrzelligen Lebens vor, bevor der Doktor anfängt, sich über DNS, geneti sche Codes, Doppelhelix und Nukleotidenketten auszulassen. Nach fast einer halben Stunde, während der mich Mrs. Nis senberg mehrmals mit ihrer Stricknadel pieksen mußte, damit ich nicht einschlafe, recke ich meine Hand in die Höhe und frage: »Können Sie das ganze auch laienhaft ausdrücken?« Der Doktor würdigt mich keines Blickes, sondern fährt mit seinem Vortrag fort. »… das heißt, da die Ribosome zwei RNS-Arten enthalten, deren Sedimentationskoeffizienten …« Doch ich bin entschlossen, der Sache noch vor dem Abend essen auf den Grund zu kommen. »Verzeihen Sie, Dr. Solo mon, aber was hat all das mit den Vallardo-Papieren zu tun?« Der Doktor humpelt mit lodernden Blicken auf mich zu. »Ihr wollt es so bequem haben«, sagt er. »Eure ganze Generation, ihr wollt alles sofort und auf einem Silbertablett. Ihr wollt nicht über die Antwort nachdenken – ihr wollt, daß andere die Arbeit für euch machen. Ist es das? Ist es das, was du willst?« »Exakter hätte ich die Situation nicht darlegen können, Dok tor.« Ich sehe mich um, und mir scheint, ich habe die allgemei ne Stimmungslage präzise getroffen. »Könnten Sie jetzt bitte mit den Infos rüberkommen?« Solomon seufzt und schüttelt mitleidig den Kopf über uns ungebildete Massen. »Dr. Vallardos Unterlagen sowie der ein gefrorene Embryo in diesem Gefäß deuten auf ein Experiment in gattungsübergreifender Paarung hin«, sagt er schlicht. »Das wußten wir schon!« ruft Johnson. »Das wissen wir jetzt seit einem halben Jahr!« Die anderen stimmen in seine Tirade ein und beschimpfen Solomon, weil der eine halbe Stunde unserer Zeit mit wissen schaftlichem Kauderwelsch vergeudet hat, doch der Doktor klatscht dreimal in die Hände, und es kehrt wieder Ruhe ein. »Wenn Sie aufhören könnten herumzuschnattern«, sagte er, 286
jedes Wort mit Eis überzogen, »würden Sie vielleicht nicht nur hören, sondern auch zuhören. Zuhören. Gemischtrassige Paa rungsexperimente betreibt Dr. Vallardo schon seit längerem. Doch das ist nicht das, was ich Ihnen eben sagte.« »Sechs Monate!« fängt Handleman wieder an. »Ich sagte vielmehr«, fährt Solomon fort, »daß all diese Indi zien, wenn ich sie richtig deute, anzeigen, daß er begonnen hat, gattungsübergreifende Paarungsexperimente durchzuführen.« »Gattungsübergreifend?« wiederholt Colon, weil er sich der Definition des Begriffes nicht ganz sicher ist. »Wie was zum Beispiel?« fragt Oberst. Colon tritt vor. »Wie … wie ein Hund und eine Katze?« »Oder eine Maus und ein Huhn?« fragt Mrs. Nissenberg. »Ein Esel und ein Fisch!« kräht Kurzban. Doch ich verstehe es jetzt, alles, die ganze Geschichte, das große Ganze, und die Motive noch obendrein. Nun ja, das mei ste jedenfalls. Ich stehe auf. »Wie ist es mit der Paarung eines Dinosauriers mit einem Menschen?« frage ich, obwohl ich längst weiß, daß ich todsi cher goldrichtig liege. »Ist es das, woran Dr. Vallardo gearbei tet hat?« Solomon lächelt, ein träges trockenes Grinsen, das er beiläu fig in meine Richtung wirft. »Sehen Sie«, sagt er, »einige von Ihnen wissen doch, wie man zuhört.«
16 Ich konnte mich verdrücken, kurz nachdem die Fetzen wirklich zu fliegen begannen, obwohl ich während meines Rückzuges ein paar verirrte Krallen und Schwänze abbekommen habe. Das Chaos brach in dem Moment aus, als Solomon uns die Sache erklärte und deutlich machte, daß Vallardo sich bemüh te, einem Gattungsmischling auf die Welt zu verhelfen. Sekun 287
den später brachen im gesamten Kellerraum Scharmützel aus, kleine Schlachten der Wut und Verwirrung. Dr. Solomon, der die heftigen Reaktionen, auf die der Rat spezialisiert ist, offen sichtlich nicht erwartet hatte, erlitt eine üble Platzwunde an der Stirn, bevor er seine Kräfte sammeln und sich die Kellertreppe hinaufschleppen konnte; Johnson, der sich mit Kurzban aus altem Groll einen Kampf ohne Rücksicht auf Verluste lieferte, eilte dem ältlichen Arzt diesmal jedenfalls nicht zur Hilfe. Während also Blut, Schweiß und Galle die Kellerwände be spritzten, schnappte ich mir Mrs. Nissenberg und schleifte sie in die gegenüberliegende Ecke. »Sie müssen zusehen, wie ich das hier unterschreibe«, sagte ich und zückte eine Kopie der Rektifikations-Papiere. Dabei mußte ich mich ständig weiter vor peitschenden Schwänzen ducken und Krallenhiebe abwehren, doch es gelang mir, die Sitzung unversehrt zu überstehen. Ich unterzeichnete die Papiere, Mrs. Nissenberg beglaubigte meine Unterschrift, und dann war alles vorbei – ich war end gültig und rechtskräftig aus dem Rat verwiesen. Mrs. Nissen berg wünschte mir viel Glück, und ich stieg, weitere Attacken knapp parierend, die Stufen hinauf. Auf der rasanten Rückfahrt zurück zu meiner Wohnung be geht meine Wenigkeit nicht weniger als acht Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung, darunter das Überfahren einer Ampel, die schon seit gut zehn Sekunden Rot zeigt. Irgend jemand da oben muß mich mögen oder scheint zumindest so viel Gefallen daran zu finden, meinem Mumpitz zuzusehen, daß er mich noch einen weiteren Tag leben läßt. Doch wer will mir den Verstoß gegen ein paar kleine Ver kehrsregeln vorwerfen, wenn mein Gehirn mit so vielen ande ren Dingen beschäftigt ist? Ich muß zurück in die Wohnung, alle Wertsachen zusammenraffen, die ich auftreiben kann, sie für einen möglichst guten Preis an Pedro vertickern, der den Trödelladen an der Vermont Avenue hat, und mir ein weiteres 288
Flugticket nach New York besorgen. Ich muß Vallardo mit den Tatsachen konfrontieren – ich muß Judith mit den Tatsachen konfrontieren – und ich muß Sarah wiederfinden, und sei es nur, um sie zum Essen einzuladen, alle Ideen einer unsinnigen Beziehung im Keim zu ersticken und einer Affäre ein Ende zu bereiten, die unwillentlich und unklugerweise begonnen hat. Solomons Erklärung von Vallardos Unterlagen bestätigt es – McBride war tatsächlich vollkommen übergeschnappt, aber der abgedrehte Affenficker hatte genug Knete und genug genauso verrückte Freunde, um seinen Wahn durchzuziehen. Wirklich erstaunlich – ja, geradezu widerwärtig – ist jedoch, daß seine Liebe zu einem Menschen – seine Liebe zu Sarah – so groß war, daß er sogar das Bedürfnis hatte, Vater ihrer Kin der zu sein. Wenn Sarah je von der Ungeheuerlichkeit erfahren würde, in die sie verwickelt war, würde sie sich gewiß zu Tode schämen, aber diese neue Information könnte möglicherweise sogar buchstäblich ihr Tod sein. An meiner Wohnungstür im Erdgeschoß klebt eine Mittei lung über eine Zwangsvollstreckung, die ich wütend abreiße, in kleine Stücke zerfetze und in den Dreck rieseln lasse. Die Schlösser sind auch ausgetauscht worden, doch eine überzoge ne und ansonsten nutzlose Kreditkarte verschafft mir raschen Zutritt zu meinem – jawohl, meinem – Zuhause. Der Strom ist abgestellt worden – ich wußte, daß das irgend wann passieren würde –, was bedeutet, daß der komische Ge ruch von den verdorbenen Resten in meinem Kühlschrank stammen muß. Ich stolpere durch die Wohnung und stoße mir im Dunkeln die Schienbeine. Das einzig Gute an dem Strom ausfall ist, daß mich mein Anrufbeantworter nicht anblinkt. Mikrowelle, Mixer – hey, der Fernseher ist noch da. Die in der Wohnung verteilten Elektrogeräte sollten für einen Flug zurück nach New York reichen, und wenn ich auf der Tragflä che sitzen muß. Aber es ist völlig ausgeschlossen, daß ich noch heute abend 289
aufbreche. Die Sonne steht schon tief, und selbst wenn es mir irgendwie gelingen würde, den ganzen Sperrmüll in den Wa gen zu packen, würde ich es nicht mehr vor Ladenschluß zu Pedro schaffen. Außerdem brauche ich dringendst ein Nickerchen. Das letzte Mal, daß ich lange genug geschlafen habe, um die REM-Phase überhaupt zu erreichen, war … mal sehen … vor zwei Nächten im Plaza. Wenn ich das an meinen – verschwimmenden und auseinanderstrebenden – Fingern abzähle, macht das vierzig Stunden, in denen ich bestenfalls mal kurz eingenickt bin, und ich bin erstaunt, daß ich überhaupt noch funktioniere. Mein Bett haben sie noch nicht abgeholt, weshalb ich beschließe, die Rolläden herunterzulassen, mich hinzulegen und ein paar Mi nuten die Augen zuzumachen. Es klingelt. Ich weiß nicht, wieviel später es ist, aber die Sonne ist untergegangen, und die Laternen brennen. Das an sich an genehme Glockenspiel, das ich letztes Jahr Weihnachten an meine Klingel angeschlossen habe, zerrt an meinen Nerven und scheppert auf meine Trommelfelle, als die batteriebetriebene Klingel erneut loslegt. Ich werfe einen raschen Blick durch das Fenster auf den kleinen Parkplatz vor dem Gebäudekomplex, doch ich sehe keine Wagen, die nicht den in der Nachbarschaft wohnenden Dinos und Menschen gehören. Ein Stück weiter kann ich hinter unserem Müllcontainer die Haube eines Autos ausmachen, das ein Lincoln sein könnte, aber sicher bin ich mir nicht. Meinen trägen Körper so schnell wie möglich hinter mir herschleifend, gehe ich zur Tür und spähe durch das Guckloch, bereit, meine Handschuhe abzustreifen und im Notfall ein paar Krallen zu zücken. Mein Schwanz zuckt unwillkürlich erwar tungsvoll, mein Puls beschleunigt in der Startbox. Es ist Sarah. Weiße Seidenbluse, kurzer schwarzer Rock und Beine, Beine, Beine. Das einzige, was ich denke, ist, daß ich nichts denke. Ich ha 290
be in meinem Leben ein paar Ganoven dingfest gemacht, die stocksteif dastanden, als ich sie zur nächsten Wache schleifte, und ich habe mich immer gefragt, warum sie aussahen wie ein Reh, das vom Scheinwerfer eines Autos erfaßt worden ist. Jetzt weiß ich es – das Gehirn schaltet sich ab, einfach so, wann und wo es will. Es hält sich an keinen Fahrplan. Sarah lächelt die Tür und den Spion an, weil sie erwartet, daß ich sie beobachte. Die Linse verzerrt ihre Züge, spreizt ihre Lippen zu einem goldfischartigen Schmollmund, dehnt ihre Zähne zu großen weißen Monolithen, macht ihre Augen schmal. Entsetzlich. Ich reiße die Tür auf. Wir fallen uns wortlos in die Arme. Ich ziehe sie fest an mich. Wenn ich sie ganz umhüllen könnte, würde ich auch das tun. Wenn ich sie zu einem Teil meines Körpers machen, sie aufsaugen, mir einverleiben könnte, ich würde es tun. Sie schlingt beide Arme fest um meine Taille, wie zum Halt gegen einen böigen Wind, und drückt ihren Kopf an meine Brust, daß ihr Haar mir in die Nase weht. Ihr künstliches Parfüm duftet trotz der synthetischen Komponenten köstlich. Wir küssen uns. Das haben wir schon einmal getan, und wir werden es wieder tun, und ich kann nichts dagegen machen, also küssen wir uns. Es ist ein langer Kuß, der flackernde Blit ze durch meinen Kopf jagt. Meine Hände wandern über ihren ganzen Körper, gleiten an ihren Kurven entlang, den exquisiten Formen, und ich würde nichts lieber tun, als mir die Handschu he von den Fingern zu reißen, damit ich sie mit meinen echten Händen spüren kann, sie als der, der ich wirklich bin, erkennen kann. Ich möchte sie fragen, warum sie hier ist, wann sie gekom men ist und wo sie wohnt, aber ich weiß, daß dafür auch noch später Zeit genug sein wird. Später. Später. Noch immer schweigend nimmt Sarah meine Hand und drückt sie. Ich drük ke zurück und führe meine menschliche Geliebte ins Schlaf zimmer. 291
Mein Körper hat komplett die Kontrolle übernommen, Augen und Verstand sitzen auf der Tribüne und feuern mich an. Sarah entkleidet mich – meine äußere Hülle –, knöpft langsam mein Hemd auf, zieht es mir vom Leib und wirft es achtlos zu Bo den. Hände reiben über meine Brust und vermitteln ihren festen warmen Druck an meine echte, tiefer liegende Haut. Sie beugt sich hinunter und leckt über die Härchen auf meiner Brust und über meine Brustwarzen bis zum Bauch hinunter. Nach menschlichen Maßstäben ist mein verkleideter Oberkörper ganz in Ordnung – nicht ausreichend, um ihn in irgendeiner der nobleren Frauenzeitschriften abgebildet zu sehen, doch die, die es wissen müssen, haben mir versichert, ich hätte eine ganz passable Brust und einen annehmbaren Bauch. Doch als Sarahs Blick jetzt jeden Zentimeter meines Körpers kitzelt, wünschte ich, ich hätte mir damals doch die Brustmuskel-Accessoires gegönnt. Sarah lächelt, als wir uns erneut küssen, und hat offenbar nichts gegen meinen »natürlichen« Körper einzuwenden, wo bei sie sich nun auf den Teil unter der Gürtellinie zu konzen trieren beginnt. Ihre Hände werden schneller, mühen sich eher fieberhaft als sinnlich mit meinem Gürtel ab und lassen ihn schließlich durch die Luft zischen. Reißverschlüsse gleiten und Knöpfe platzen auf, Hosen segeln auf den wachsenden Haufen auf dem Boden, und ich gehe aufs Ganze, vorsichtig, nichts zu zerknittern und zu zerdrücken, während ich mich mit Knöpfen und Trägern und Haken abmühe. Frauenkleidung nervt zwar, ist aber unendlich viel empfindlicher als unsere schleuder- und trocknerfeste Kluft, so daß ich mich zwingen muß, ihr den Stoff in frustrierter Erwartung nicht einfach vom Leibe zu rei ßen. Ich weiß nicht, wie oder wann wir es bis aufs Bett geschafft haben, doch als meine Augen sich nach dem innigsten und be friedigendsten Kuß, den diese Lippen je schmecken durften, wieder öffnen, finde ich mich eng umschlungen mit Sarah auf 292
meiner blaugrünen Patchwork-Tagesdecke wieder, nackt wie an dem Tag, als ich mein erstes Kostüm überzog. Sarah ist auch nackt. Und atemberaubend. Buchstäblich – nachdem ich ihren geschmeidigen, sich in Erwartung kommen der Dinge windenden Körper eine Weile betrachtet habe, muß ich mir selbst einen Klaps geben, um die Sauerstoffzufuhr wie der zu aktivieren. Wieder nimmt Sarah mein Gesicht in ihre zarten Hände und zieht mich zu sich herunter. Fingernägel kratzen zart und o so köstlich über meine äußere Haut, als wir übereinander rollen, uns wie ein Körper bewegen und ich mich anschicke, meine Gattung auf die wunderbarste Art zu verra ten, die ich mir vorstellen kann. Dino-Weibchen – genauso wie die meisten Männchen, neh me ich an – gehen Sex auf eine sehr rationale und praktische Art an. Der Akt selbst wird beinahe wie eine Pflicht behandelt, nicht ihrem Gefährten und Partner, sondern ihrer eigenen an geborenen Weiblichkeit und der Gattung als Ganzes gegen über. Es ist, als wären wir trotz gut einhundert Millionen Jah ren Evolution nicht in der Lage gewesen, uns von der Domi nanz unserer rohen animalischen Instinkte zu befreien. Wenn die Zeit kommt, sich fortzupflanzen (oder zumindest so zu tun als ob), kommt die Zeit, sich fortzupflanzen, und wehe dem, der versucht, ein Dino-Weibchen davon abzuhalten, ihren Wil len zu bekommen. Doch es gibt eine Welt jenseits davon, wie ich jetzt weiß, ei ne Ebene, die tiefer ist, als es irgendein Tantra-Handbuch ver mitteln kann. Wie konnte ich so lange ohne dies auskommen? In der Vergangenheit hatte ich natürlich keinerlei Erfahrung außerhalb meiner Gattung, keine Ahnung, daß an der Glei chung noch irgendwas fehlte. Doch als ich meinen Körper jetzt zusammen mit Sarahs bewege, meine Kostümhaut praktisch unsichtbar für meine hypersensiblen Sinne, begreife ich, daß in diesem Akt so viel mehr liegt, ein Element der Sinnlichkeit, das ich schon immer vermißt habe. Bei Dinos kreisen und knir 293
schen Körper, Haut reibt sich heiß an Haut. Doch bei Men schen – bei Sarah – dehnt und wölbt sich der Körper, verdichtet und verflüssigt sich zu einer einzigen Woge. Als ich in ihre Wärme eintauche, mein angeschwollenes Geschlechtsteil be engt in den Zwängen der Polyanzug-Ausbuchtung, gefesselt von meiner neuen Geliebten, kommt sie mir entgegen, unsere Energien verschmelzen zu einer großen Welle aus Bewegung und Hitze. Bei Dinos sind die Laute Kreischen und Stöhnen, ein Geheul für die Religion der Lust. Bei Sarah ist es ein leises Murmeln, unregelmäßige Herzschläge und ein Flüstern in der Nacht. Ich habe nicht die geringsten Schuldgefühle. Als es vorbei ist, als unsere Arme entkräftet zur Seite sinken, erschöpft davon, einander so eng und so fest zu halten, zehre ich von meinen letzten Energievorräten, schiebe meinen Arm unter Sarahs zerbrechlichen Körper und bette sie auf meine Brust. Kuscheln ist zwar nicht macho, doch meine normaler weise allgegenwärtige Selbstreflektion hat das Haus verlassen, nachdem sie wie eine ungezogene Katze vor die Tür gesetzt worden ist. Wir starren einander an, Worte bleiben immer noch ungesagt, Blicke treffen sich, Pupillen werden im Dunkeln immer noch größer, ihre grünen Augen strahlen wunderschön vor dem Hin tergrund ihrer roten Haare, die sich über ihre Wangen kringeln. Meine Hände können nicht aufhören, ihren Körper auf ihrer eigenen Reise ins Unbekannte zu erforschen. Ich streichele ihre Brüste und streife die Brustwarzen mit den Fingerspitzen. Vor heute nacht habe ich noch nie eine menschliche Brust berührt, und ich stelle fest, daß sie überraschend fest und sehr sinnlich ist. Wir lieben uns erneut. Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nehme, aber wenn ich die Quelle je aufspüre, könnte ich mich vielleicht mit einem Patent für das Perpetuum mobile selbstän dig machen. 294
Einer von uns muß zuerst etwas sagen. Vermutlich wäre es auch denkbar, daß sie sich schweigend anzieht, mich küßt und mein Haus verläßt, ohne auch nur ein einziges Wort gesagt zu haben; das wäre vermutlich romantisch, phantastisch roman tisch sogar, aber das könnte ein redseliger Typ wie ich wohl nie zulassen. Und obwohl ich innerlich zusammenzucke, als der Detektiv, der sich in meinem Kopf eingemietet hat, vortritt und bittet, kurz den Vermieter sprechen zu dürfen, habe ich in der Tat einige Fragen zu stellen. »Wie war dein Flug?« fange ich an. Sarah räkelt sich immer noch nackt auf dem Bett; ich habe die Tagesdecke über meinen verkleideten Körper gezogen. Mir ist kalt, meine Durchblutung ist mangelhaft. Ich sollte wirklich mal zum Arzt gehen. Sie lacht, ein helles Kichern, das in mir, ungeachtet des selt samen Kribbelns in meinem Schwanz und meinen unteren Ex tremitäten, den Wunsch weckt, aufzuspringen und von vorn anzufangen. Ich hoffe, daß diese wiederholten Stoßbewegun gen meinen Gurt nicht beschädigt haben; ich sollte bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit ins Bad rennen und den Mechanismus überprüfen. Ein gerissener Gurt kann zu ernsten Durchblutungsstörungen führen, die wiederum vorübergehen de, in manchen Fällen auch bleibende Taubheit in den betrof fenen Körperpartien verursachen können. »Wie war dein Flug?« wiederholt Sarah und schüttelt sich das Haar aus dem Gesicht. »Das willst du mich fragen?« »Ich hab mir gedacht, daß ich dich das irgendwann sowieso fragen würde, also kann ich es auch genausogut jetzt tun.« Ich küsse sie auf die Nase. »Der Flug war okay«, sagt sie. »Möchtest du wissen, wel chen Film wir gesehen haben?« »Mit dem größten Vergnügen.« »Wir haben Spartacus gesehen.« »Ist das nicht ein ziemlich alter Film?« »Es war auch ein altes Flugzeug. Außerdem hat er fast den 295
ganzen Flug lang gedauert.« Sie gähnt und streckt sich, und ich beobachte, wie sich ihre Muskeln an- und wieder entspannen. »So, und jetzt darfst du mich fragen, was du eigentlich fragen wolltest, nämlich, warum ich in Los Angeles bin.« »Nun ja … jetzt, wo du es erwähnst …« »Ein Auftritt.« »Ein Auftritt.« Ich bin skeptisch. Sarah schlägt den Blick nieder und streicht mir mit dem Fin ger über die Brust. »Du glaubst mir nicht?« »Nicht, daß ich dir nicht glauben würde«, sage ich. »Ich hatte nur gedacht …« Vielleicht ist sie den weiten Weg nur gekom men, um mich wiederzusehen. Ich kann den Satz nicht aus sprechen; er riecht nach Weiblichkeit. »Als ich aus dem Hotel in meine Wohnung zurückkam, war eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter. Mein Agent hat mir einen Studio-Gig als Background-Sängerin für ein B.-B. King-Album besorgt. Wir haben den ganzen Tag aufgenom men.« »Und dann hast du beschlossen, bei mir vorbeizuschauen? Ich bin also nur zweite Wahl?« Sarah kitzelt mich, ein tückischer Blitzkrieg, der mich rück wärts aufs Bett wirft, bevor ich einen Gegenangriff starten kann. Bald küssen wir uns wieder wie Teenager, die sich auf dem Wohnzimmersofa ranhalten, bevor die Eltern nach Hause kommen. Danach liegen wir eine Weile schweigend und eng um schlungen da und freuen uns darüber, wie perfekt unsere Kör per zusammenpassen, wie füreinander maßgeschneidert. »Wann fliegst du zurück nach New York?« frage ich. »Der Rückflug ist noch offen«, sagt sie, »aber der Gig ist übermorgen zu Ende.« Ich spüre eine Hand, die sich an mein Kostümknie drängt und weiter an jener Polyfasermischung hinaufgleitet, aus der mein Schenkel besteht. Mein Schwanz fängt wie wild an zu kribbeln, und ich bin mir nicht sicher, daß 296
das ausschließlich auf mangelnde Durchblutung zurückzufüh ren ist. »Ich könnte mich natürlich überreden lassen, noch zu bleiben.« Mehr Einladung braucht es nicht, um meine Säfte wieder fließen zu lassen. Ich bin heute ein echter Dynamo! Jemand sollte meine sexuelle Energie in Flaschen abfüllen, um damit die Stromversorgung Indiens zu sichern. Beinahe vier Stunden und ungezählte Liebesakte nach Sarahs Eintreffen lade ich sie ein, die Nacht bei mir zu verbringen. Sie willigt ein. »Ich fahr nur schnell zurück ins Hotel und hol meine Sa chen«, sagt sie. »Ich fahre dich«, biete ich an. »Ich habe einen Mietwagen.« »Du kennst dich doch gar nicht aus.« »Ich habe einen Stadtplan«, sagt sie lachend. »Liebling, diesmal komme ich bestimmt zurück, okay?« Die mittlerweile wieder vollständig bekleidete Sarah beugt sich über das Bett und drückt mir einen satten Kuß auf die Lippen, bei dem ihre Zunge die meine sucht. Ich versuche, sie für eine weitere Run de auf mein Lager zu ziehen, doch sie weicht zurück und droht mir mit dem Finger. »Du böser Junge«, kichert sie. »Du wirst einfach noch ein wenig warten müssen.« Ich nicke; es wird in der Tat das Beste sein, wenn wir uns für etwa eine Stunde trennen. Sarah hat Zeit, ihre Sachen zu pak ken, und ich habe Zeit, mein Kostüm zu restaurieren und mich mit der Realität des gerade Geschehenen vertraut zu machen. Nachdem mein Gehirn von der permanenten Ekstase orgasmi scher Höhepunkte befreit ist, hat es wieder Zeit, sich um den aktuellen Gefühlsverlust in meinem Schwanz zu sorgen. Dies bezüglich muß etwas unternommen werden. Ich hüpfe aus dem Bett – o je, da ist wieder dieses Kribbeln – und bringe Sarah zur Wohnungstür. Im Flur umarmen wir uns erneut, und als ich sie hinauslasse, verstecke ich mich hinter 297
der Tür. Kostüm oder nicht, ich bin schließlich kein Exhibitio nist. »Ungefähr eine Stunde?« frage ich. Sie lacht, offensichtlich amüsiert, daß ich ihr nichts vorma che. Ich will sie, sie weiß es, Ende der Geschichte. »So bald wie möglich, Vincent.« Sie wirft mir eine Kußhand zu und geht zu ihrem Wagen. Ich schließe die Tür und vergewissere mich, daß die Jalousien heruntergelassen sind. Das Kribbeln und Jucken ist stärker geworden und hat sich in meinem ganzen Körper ausgebreitet. Irgendein integraler Be standteil meines Kostüms muß seine Funktion vorübergehend eingestellt haben, und ich kann nur hoffen, daß ich es noch früh genug bemerkt habe, um größere Schäden zu vermeiden. Ich mache mir nicht die Mühe, meine Maske und die OberkörperVerkleidung abzulegen, weil es eine verdammt mühselige An gelegenheit ist, daß Epoxidharz neu aufzutragen, das allein einen guten festen Sitz auch bei intensivsten Liebkosungen garantiert, sondern ziehe nur die untere Hälfte meiner zweiten Haut aus. Der Polyanzug schält sich langsam von meiner Haut, seine ohnehin glatte Innenseite ist dank der in den letzten paar Stunden erhöhten Produktion von Schweiß und anderen Kör persäften richtiggehend glitschig. Ich stelle mich vor den mannshohen Spiegel an der gegenü berliegenden Wand und inspiziere die tragenden Stützen und Gurte auf mögliche Schäden. Bisher kann ich noch keine Mak ken erkennen. Könnte das Gefühl in unmittelbarer Nähe meiner Lenden rein psychosomatischer Natur sein? Die Folge unter drückter Schuldgefühle wegen des garantiert unnatürlichsten Aktes, an dem ich je beteiligt war? Hoffentlich nicht, denn wenn es nach mir geht, habe ich vor, mich erneut unnatürlich zu gebärden. Moment, Moment – da ist es. Direkt unterhalb der G-Serie, der Klammer, die mir immer den meisten Ärger bereitet. Ein Streifen des Materials hat sich in einer Schlinge um meinen 298
Schwanz gezogen. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wie das passiert ist, aber bei all den interessanten neuen Positionen, die Sarah und ich ausprobiert haben, bin ich nicht wirklich über rascht. Ich packe meinen Schwanz mit einer noch immer ko stümierten Hand, löse die Schlinge und ziehe den Streifen in eine weniger unangenehme Position; sofort spüre ich, wie das Empfindungsvermögen, das glorreiche Gefühl, in meinen Kör per zurückströmt wie ein Fluß, der einen Damm überwunden hat. Es fühlt sich nicht so gut an, wie mit Sarah zu schlafen, aber es reicht für einen knappen zweiten Platz. Vielleicht sollte ich mein Kostüm komplett ablegen und die notwendigen Anpassungen vornehmen, damit mir das nicht noch einmal passiert. Ich hoffe, daß Sarah und ich unserer Vor stellung eine Zugabe folgen lassen werden, wenn sie zurück kommt, und ich möchte nicht, daß irgendwelche Funktionsstö rungen dazwischenkommen. Das nächste Mal könnte sich der Stoffstreifen um etwas weit Lebenswichtigeres schlingen als meinen Schwanz. Ich ertaste die versteckten Knöpfe unter meinen Brustwarzen, löse sie und versuche den Polyanzug über meinem Oberkörper von der darunterliegenden Haut zu trennen. Oberkörper ma chen immer die meisten Probleme, vielleicht weil es nur so wenige Stellen gibt, an denen man die notwendige Befestigung verbergen kann. Für Gesichtsmasken gibt es zahllose solcher Stellen – unter dem Haar, im Ohr, in der Nase und so weiter. Die untere Körperhälfte erlaubt die Unterbringung von Reiß verschlüssen und Knöpfen in anderen Zonen, die gesellschaft lich zwar weniger akzeptiert, aber letztendlich durchaus prak tisch sind. Ich habe den letzten Klettverschluß fast gelöst, ich taste da nach – Und Sarah spaziert durch die Haustür. »Vincent, ich habe vergessen zu fragen, welche Straße ich –« Sie erstarrt. Ich erstarre. Nur ihre Augen bewegen sich, wan 299
dern hektisch über meinen halbverkleideten Körper und be staunen das Spektakel, das sich ihnen bietet. Und ich kann mich in Sarahs Kopf versetzen und mich durch ihre Augen sehen: eine Echse mit einer körperlosen menschlichen Hülle, ein Untier, das aus den Tiefen der Vorgeschichte emporgekro chen ist, um niedliche junge Menschenfrauen zu erschrecken und zu verschlingen. Ein Monster. Eine Mißgeburt. Lust, Lei denschaft, Erotik und, ja, Liebe sind vergessen, als mein In stinkt, mein verdammter Instinkt, das Kriegsrecht über meinem Körper verhängt und das Kommando übernimmt. »Vincent –« sagt sie, doch ich schneide ihr mit einem Satz durch das Zimmer das Wort ab, schlage mit den entblößten Krallen die Tür zu, stoße mich von der Wand ab und springe auf ihre Brust. Sarah fallt unsanft zu Boden und landet mit ei nem verblüfften Japsen auf dem Rücken. Meine Krallen grei fen nach ihrer Kehle, während mein Brüllen den Spiegel zer springen und Scherben auf den Teppich regnen läßt. Ich kenne meine Pflicht. Ich muß sie töten. »Es tut mir leid, Sarah«, bringe ich hervor, während ich schon die Kralle zum endgültigen Stoß in ihren wunderschö nen, zitternden Hals erhebe. Sie schluckt, versucht etwas zu sagen, doch es hat ihr noch immer die Sprache verschlagen – »Vin… Vin…« »Es tut mir leid«, wiederhole ich und führe den tödlichen Schlag. Doch er wird blockiert. Ihr Arm packt meinen und hält ihn, meine spitzen Krallen nur Zentimeter von ihrem Hals entfernt, fest. Wie ist das möglich? Vielleicht hat die Angst ihr ungeahn te Kräfte verliehen. Ich schlage mit der anderen Hand zu, mei ne natürlichen Dolche blitzen – Wieder gepackt und gefangen. Sarah kämpft gegen meine Arme an, zögert, das Gesicht schmerzverzerrt, ihren Tod hin aus. »Vincent«, stößt sie mit einer Stimme hervor, die zwei Oktaven tiefer ist, als ich sie je gehört habe. »Warte.« 300
Doch da ist immer noch mein angeborenes Gefühl von Ge fahr oder auch Verantwortung, das mir sagt, zieh es durch, er ledige sie, töte die Menschenfrau, bevor sie alles verrät! Ich spanne meine Muskeln erneut an, begierig, die Sache zu Ende zu bringen und mit einem garantiert langen Trauerprozeß zu beginnen. »Warte«, sagt Sarah erneut, und diesmal dringen ihre Worte durch das Getöse instinktgetriebenen Wahnsinns und bremsen den Stoß meiner Arme. Ist das dumm von mir? Ist es diese menschengemachte Gewohnheit, alles verstehen zu wollen, die sich wieder zu Wort meldet und mich kostbare Zeit kostet? In der Dino-Welt neigen wir nicht dazu, die Dinge über Gebühr zu analysieren. Wir sehen, wir reagieren und wir erobern. Ob wohl meine gattungsfremde Paarung kaum eine halbe Stunde zurückliegt, empfinde ich Ekel vor den menschlichen Anteilen, die ich im Laufe der Jahre in meine Persönlichkeit integriert habe. Ich sollte sie sofort töten! Doch statt dessen warte ich, um sie anzuhören. Ich hocke mich mit noch immer zuckenden Muskeln auf meine Hinterbeine, bereit zuzuschlagen, falls sie versucht, zu fliehen und in die Welt hinaus zu laufen. Ich liebe Sarah mit allem, was ich an Seele noch in meinem Körper habe, aber ich darf das Risiko nicht eingehen, ihr zu vertrauen. Nicht, wenn die Dinge liegen, wie sie nun mal liegen. Ich erwarte, daß sie mich um Gnade anfleht, beteuert, daß sie keiner Menschenseele erzählen wird, was sie heute in meiner Wohnung gesehen hat, mich um Milde bittet, wie es andere vor ihr getan haben. Doch sie macht den Mund nicht auf, sie ver sucht nicht einmal, etwas zu sagen. Statt dessen wirft Sarah ihre Haare in den Nacken und hebt die Hände, als wollte sie ihre Mähne in einem Pferdeschwanz bändigen. Ich höre ein Klicken, ein vertrautes Zzip, und Sarah läßt ihre schönen Arme wieder sinken. Ich werde sie vermis sen. 301
Ihre Gesichtszüge geraten in Bewegung, verrutschen unmög lich nach links. So bewegen sich weder Nase noch Kinn. Je denfalls nicht ohne gravierende chirurgische Eingriffe. Augen brauen fallen, rosige Wangen folgen, was, zum Teufel, ist hier eigentlich los – Sarahs Maske löst sich, ihre künstliche Gesichtshaut hängt schlaff herunter. Darunter wird eine dunkelbraune Haut sicht bar, eine Oberfläche wie glattes Sandpapier. Kontaktlinsen springen von ihren Augen, grüne Wölbungen fallen auf den Teppich. Ich taumele nach hinten und habe meinen Körper nicht mehr unter Kontrolle, während ich zusehe, wie die fal sche Schicht über ihrer echten Haut zu Boden fällt. Ungläubig starrend verfolge ich, wie sie den Rest ihres Kostüms ablegt. Polyanzug für Polyanzug schält Sarah Archer langsam und behutsam jede falsche Hautfalte, jedes Gramm Make-up, jeden Zentimeter Gürtel und Riemen von ihrem echten Körper. Ich weiß nicht, wieviel Zeit verstrichen ist. Eine Minute, eine Stunde, ein Tag, es spielt auch keine Rolle, während ich das langsame Verschwinden von Sarah Archer und die schrittwei sen Enthüllungen eines mir sehr bekannt vorkommenden Cole ophysis-Weibchens beobachte. »Vincent«, sagt sie leise. »Ich wollte es dir sagen.« Ich hätte es kommen sehen müssen, ich hätte es von Anfang an wissen müssen. Schließlich bin ich ein ausgebildeter Profi, Herrgottnochmal. Es stand mir die ganze Zeit vor Augen, leicht genug zu entdecken, wenn meine eigene Lust auf verbotene Schätze mich nicht blind gemacht hätte: Sarah Archer ist Jaycee Holden. Jaycee Holden ist Sarah Ar cher. Wie herum auch immer, die beiden Frauen sind ein und dieselbe, und ich spüre, wie die zusehends wackeligeren Stüt zen, die meine kleine Welt tragen, zusammenbrechen und mei ne Muskeln nachgeben. Irgend jemand, so scheint es, dämpft das Licht …
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Wir sitzen auf dem Sofa, knapp einen Meter, Meilen voneinan der entfernt. Alle paar Minuten versucht sie zu sprechen, doch ich hebe die Hand und weigere mich zuzuhören. Vor knapp einer Stunde bin ich wieder zu mir gekommen, und ich gewin ne erst nach und nach genug Kontrolle über meine Gefühle, um ein rationales Gespräch zu führen. »Vincent, hör mir zu …«, fleht sie, und in ihren sanften braunen Augen stehen Tränen, derweil ihre grünen Kontaktlin sen in einem Behälter in ihrer Handtasche vor sich hin wei chen. »Ich kann nicht … Wie konntest …« Mit meiner kleinen Re de komme ich nicht weit, also entscheide ich mich für einen verletzten Gesichtsausdruck, der die Botschaft mindestens ge nauso angemessen übermittelt. »Glaubst du etwa, ich wollte es dir nicht sagen? In dem grie chischen Restaurant wollte ich alles offenlegen, vor allen Leu ten, wenn es sein mußte, ich wollte alles rauslassen und dich wissen lassen, daß du und ich … daß wir gleich sind.« Ich lache ein bitteres Lachen und schüttele den Kopf. »Wir sind nicht gleich«, sage ich. »Wir sind beide Dinos.« »Das behauptest du jedenfalls. Vielleicht ist das auch ein Ko stüm.« »Sei nicht kindisch, Vincent, natürlich ist es keins.« »Woher, zum Teufel, soll ich das wissen?« platze ich los, und ein Teil von mir freut sich, sie zusammenzucken zu sehen. »Ich meine, Himmel noch mal, Sarah … oder Jaycee?« »Jaycee.« »Bist du ganz sicher? Im Moment würde ich alles akzeptie ren. Wenn du willst, daß ich dich Bertha nenne, nenne ich dich Bertha.« »Jaycee«, wiederholt sie leise. 303
»Gut. Hast du sonst noch was zu verbergen, Jaycee? Mir reicht’s nämlich so ziemlich mit den Spielchen. Du wirst ver mißt, du wirst nicht vermißt, du bist ein Mensch, du bist ein Dino-« »Es gibt einen Grund«, unterbricht sie mich. »Das will ich auch schwer hoffen. Wenn du das ganze nur zum Spaß gemacht hast, wäre ich echt beunruhigt. Und, wirst du es mir erzählen?« »Wenn du mich läßt.« »Ich lasse dich.« »Gut.« »Gut. Dann rede auch.« Sie beginnt langsam, während sie nervös auf der Couch her umrutscht und meinen Blick meidet. Vorher war doch alles so verdammt einfach, oder nicht? »Ich weiß nicht, wo ich anfan gen soll«, sagt sie. »Am Anfang«, schlage ich vor. »Es gibt keinen richtigen Anfang. Es hat sich irgendwie … ergeben.« »Aus heiterem Himmel?« »Vor fünf Jahren«, fährt Jaycee fort, »habe ich Donovan in New York auf der Straße kennengelernt. Das heißt, nicht auf der Straße – wir saßen beide am Tresen eines Imbißladens in Greenwich Village. Und wir waren beide nicht fest liiert, beide attraktiv und beide bereit für eine Beziehung, obwohl wir das damals noch nicht wußten. Ich habe ihn sofort gerochen, als er den Laden betreten hat, der stärkste Dino-Geruch, der mir je in die Nase gestiegen ist. Erinnerst du dich an seinen Geruch, Vincent? Von deinem Besuch im Krankenhaus?« Ich erinnere mich an das Aroma von gegrilltem Fleisch und geröstetem Raptor, und obwohl ich finde, daß Jaycee Holden es verdient hat, für das, was sie mir angetan hat, ein wenig zu leiden, glaube ich nicht, daß es eine faire Vergeltung wäre, wenn ich ihr diese Information enthüllte. »Es war ein Kranken 304
haus«, sage ich. »Du weißt doch, wie das ist, mit den ganzen Desinfektionsmitteln.« Sie spürt, daß ich das Thema taktvoll meide, und nickt dank bar. »Er konnte mit seinem Duft einen ganzen Raum entflam men. Wie eine Welle von Rosen auf einer Meeresbrise. Ich habe ihn immer meinen kleinen Seedrachen genannt. Ich habe Corned Beef auf Weißbrot gegessen, mit Mayo, und er hat sich darüber lustig gemacht. Er meinte, ich wüßte nicht, wie man anständig ißt. Das waren die ersten Worte, die ich je aus seinem Mund gehört habe – ›Ich möchte mich ja nicht einmischen, Ma’am, aber Sie wissen nicht, wie man richtig ißt.‹« Wie niedlich. »Läuft dieser Unsinn auf irgendwas Bestimm tes hinaus?« fragt die gute altmodische Eifersucht in mir, doch das ist mir ziemlich egal. »Du hast gesagt, ich soll am Anfang anfangen, und das tue ich. Er war ein toller Typ, Vincent, ziemlich genau wie du. Nicht nur, weil er auch ein Raptor war. Dein Humor, dein Stil, deine ganze Haltung – ganz ähnlich. Du hättest ihn bestimmt gemocht.« Mit Schmeicheleien kommt sie immer weiter, und auch ich bin ein wenig versöhnt. »Ganz bestimmt. Weiter.« »Es hat eine Weile gedauert, bis ich Donovan von der Idee der Ehe überzeugt hatte, doch nachdem er sich erst einmal mit dem Thema angefreundet hatte, hat es ihn wirklich gepackt. Du weißt schon, unser gemeinsames Leben planen, unsere Zukunft … Wir hatten eine Wohnung am Central Park West, Donovan arbeitete noch für Raymond, ich war mit dem Ratssitz beschäf tigt, den ich mit seiner Hilfe bekommen hatte, und wir waren das, was die eine Hälfte der Welt für ein perfektes Paar und die andere Hälfte für perfekten Yuppi-Abschaum halten würde. So oder so, wir waren glücklich. Es gab nur ein kleines Problem …« »Kinder.« 305
»Ja. Kinder.« Jaycee zieht ihre langen braunen Beine unter ihren Körper, läßt sich in das Polster zurücksinken und legt ihren Schwanz neben dem Sofa ab. Ich klammere mich weiter hin stocksteif an die gegenüberliegende Seitenlehne. »Ich woll te sie, Donovan wollte sie, aber mit unseren beiden unter schiedlichen Rassen … Wir hätten vermutlich eins adoptieren können. Ich weiß, daß es genug Eierspender auf der Welt gibt, aber wir wollten etwas, das wir unser eigen nennen konnten. Ist das egoistisch? Donovan hat das Problem wohl mal bei der Arbeit erwähnt, und Raymond hat uns mit Dr. Vallardo be kannt gemacht. Genau genommen waren wir einer seiner ersten Fälle. Er hat te schon mit Vögeln sowie ein paar Echsen, Fröschen und Schlangen herumexperimentiert, aber er hatte vor uns nur sehr wenige Dino-Patienten gehabt. Die Forschungen in seinem Labor waren damals noch geheim, und wir mußten zu den un möglichsten Zeiten zu Tests und Behandlungen in seine Praxis kommen. Ich erinnere mich noch an ein entsetzliches Gebräu aus Kreide und Zink, das ich hinunterwürgen mußte; ich kann noch heute spüren, wie es an meinen Mandeln kratzt.« »Ihr wart also seine Versuchskaninchen«, sage ich. »Das wußten wir, als wir uns für die Behandlung entschieden haben. Aber wenn wir dadurch die Chance bekommen würden, Eltern zu werden, wären wir auch mit Freuden Kartoffelkäfer gewesen, wenn das weitergeholfen hätte. Ein Monat ist vergangen, sechs Monate, ein Jahr, ohne Er folg. Ich habe meine Eier gespendet und Donovan seinen Sa men, und Dr. Vallardo hat sie gemischt und alle genetischen Schalter umgelegt, die man so umlegen muß, damit Lasche A in Schlitz B paßt, aber es ist nie etwas draus geworden.« Ich zucke die Schultern. »So was passiert ständig.« »Sicher, aber es macht das Leben nicht leichter. Es hat Do novan härter getroffen als mich. Er war regelrecht verzweifelt. Das konnte Donovan ziemlich gut, seine gute Laune und sein 306
Glücklichsein einfach an- und abschalten. Meistens dauerten seine depressiven Phasen nicht lange, und ich hatte mich daran gewöhnt, seine Flauten mit ihm gemeinsam zu überstehen, die langen verschlafenen Tage, die düstere Musik … aber diesmal hat es sich über Wochen hingezogen. Er war träge und lustlos, zu Hause, bei der Arbeit, im Bett … Aus den Wochen wurden Monate, und irgendwann fiel mir auf, daß er bestimmten Din gen aus dem Weg ging. Daß er mir aus dem Weg ging.« »Inwiefern?« »Nimm zum Beispiel die Hochzeit. Donovan, der all das noch ein halbes Jahr zuvor geplant hatte wie die Invasion in der Normandie, wirkte mit einemmal nicht mehr so … energisch wie vorher. Als ob er alles in Frage stellen würde, nicht mich oder meine Motive, sondern sich selbst. Und wenige Wochen später wurde mir klar, daß er mit Judith McBride schlief.« »Eine Detektei?« frage ich. »Gesunder Dinoverstand. Irgendwann habe ich zwei und zwei zusammengezählt«, antwortet sie. »Es war schon die gan ze Zeit offensichtlich gewesen, aber ich hatte es einfach nicht wahrhaben wollen.« Klingt vertraut. »Etliche meiner sogenann ten Freundinnen – ein Wolfsrudel von Schickeria-Hexen, die ihre Zeit mit Geplapper über falsche menschliche Nägel und neue Strickperücken verbringen – hatten es mir schon etwa einen Monat lang unter die Nase gerieben. ›Ich habe heute beim Mittagessen Judith und Donovan gese hen‹, erzählte mir die eine. ›Scheinen sich prächtig amüsiert zu haben.‹ Und ich habe genickt und gelächelt und unverbindlich weitergeplaudert, während ich annahm, daß sie als Arbeitgeber und Angestellter zusammengesessen hatten, um möglicherwei se eine geschäftliche Transaktion zu besprechen. Nun, irgendwann habe ich es herausgefunden und war am Boden zerstört. Fünf Jahre meines Lebens im Eimer, und alles wegen einer verwelkten alten Schachtel, die nichts Besseres 307
mit ihrer Zeit anzufangen wußte, als einen emotional aufge wühlten Raptor auszunutzen.« Ich frage sie, ob sie irgendwas zu Donovan gesagt und ihn mit ihrem Verdacht konfrontiert hat, doch sie schüttelt den Kopf. »Ich wollte. Immer wieder habe ich versucht, an ihn ran zukommen, habe ihn um Gespräche gebeten, aber ich habe es dann einfach nicht über mich gebracht. Als ob es, wenn ich es nicht aussprechen würde …« »… vielleicht gar nicht wahr wäre«, beende ich ihren Satz. »Genau. Also habe ich zu Hause rumgesessen, bin zu Rats sitzungen gegangen, habe in Restaurants gehockt, die Klappe gehalten und ungefähr genauso rumgemuffelt wie Donovan.« »Und dann?« Trotz des hohen Grollpegels, den ich zu be wahren suche, beginnt die Geschichte mich zu fesseln, und die Erzählung schwächt meine Entschlossenheit. Jaycee sieht sich in der dunklen Wohnung um. »Hast du ir gendwelche Kräuter?« fragt sie und befeuchtet ihre Lippen mit ihrer sinnlichen Zunge. »Sind mir gerade ausgegangen. Und wenn ich nicht kaue, tut es auch sonst keiner. Ich will wissen, wie deine kleine Kostü mierungsnummer ins Bild paßt.« »Dazu komme ich ja gerade«, sagt Jaycee. »Ich wollte mit Donovan Schluß machen, aus der gemeinsamen Wohnung aus ziehen und mein eigenes Leben leben. Ich wollte, wenn schon nicht verzeihen, so doch vergessen. Und dann hatten wir bei einer Ratssitzung einen Notfall.« »Das kenne ich gut.« »Diesmal ging es um Raymond und seine zusehends unver hohleneren Beziehungen zu menschlichen Frauen. Das Gremi um machte sich große Sorgen, und ich gebe zu, ich habe zu den lautesten Bedenkenträgern gehört. Raymond hatte sich mit ei nigen seiner Sekretärinnen, einigen Bekannten, sogar mit einer oder zwei Professionellen von einer beliebten menschlichen Vermittlungsagentur in der Stadt herumgetrieben, und das 308
Ganze war einfach … falsch. Derweil suchte der Rat nach einer Möglichkeit, ihn in flagranti zu ertappen, damit sie ihm ein sattes Bußgeld aufbrummen konnten – und ich meine, richtig satt. Vierzig, fünfzig Millionen Dollar, also praktisch Erpres sung. Ich wußte nicht, wer mich mehr angeekelt hat – Ray mond oder der Rat. Die Frage war nur, wie sollte man ihn auf frischer Tat ertap pen, und es wurde beschlossen, daß wir einen V-Mann oder besser eine V-Frau einschleusen mußten. Jemand, der ihn zu einem Fehltritt verleiten und uns dabei ermöglichen sollte, konkrete Beweise zu sammeln.« »Eine Falle«, sage ich. Sie will mir widersprechen, hält jedoch kurz inne und nickt dann. »Ja, eine Falle.« »Und da wurde aus Jaycee Holden Sarah Archer«, sage ich und fange langsam an, das Puzzle zusammenzusetzen. »Sehr gut, Mr. Detektiv. Damit sind Sie in der zweiten Run de.« Wenn ich jetzt darüber nachdenke, fügen sich gewisse Teile meiner Ermittlung zusammen und ergeben ein wenig mehr Sinn. Es ist erstaunlich, daß ich all das nicht vorher erkannt habe, aber es ist, als würde man einem Labyrinth vom Ziel zum Anfang folgen – die Abzweige und Irrwege sind da, aber man sieht sie erst, wenn man schon daran vorbei ist. »Deswegen konntest du auch so leicht untertauchen«, sage ich. »Der Rat hat dir geholfen.« »Nur minimal«, gibt Jaycee zu, »aber sie konnten ein paar Drähte für mich ziehen. Nur zwei andere Ratsmitglieder wuß ten überhaupt, daß ich … nun ja, sozusagen die Gattung ge wechselt habe. Die übrigen dachten, ich wäre verschwunden, wie alle anderen auch.« »Aber ein einfacher Kostümwechsel reichte nicht aus, stimmt’s?« sage ich und denke an Officer Tuttle, den netten Polizisten, der mir das Bußgeld für zu schnelles Fahren auf der 309
Interstate 405 erlassen hat, das ich so sattsam verdient hatte. »Du mußtest auch noch deine Geruchsdrüsen loswerden.« Jaycee streicht über eine kleine Narbe an der Seite ihres ge rippten Halses. »Das war schwer«, gesteht sie. »Ich hatte einen wirklich umwerfenden Duft.« Sie versucht zu grinsen, ein blas ses, melancholisches Lächeln, und zum ersten Mal seit mehr als einer Stunde fühle ich mich mehr zu ihr hingezogen als ab gestoßen von dem, was ich für ihren Verrat gehalten habe. »Honig und Gummibärchen«, rate ich. »Leicht und luftig.« »Jasmin«, sagt sie. »Durchdringend. In einem Blumenladen hättest du mich nie gefunden. Zumindest nicht mit der Nase. Aber mein Verlangen nach Rache war stärker als mein Bedürf nis, meinen Geruch zu behalten, also hat der DiplodocusVertreter mir für meinen Undercover-Auftrag die Geruchsdrü sen entfernt. Er ist Arzt, und wir hatten ein kleines Rendezvous in seiner Praxis, nur er, ich und eine Menge Lachgas.« »Kann man das rückgängig machen?« frage ich. »Vielleicht möchte ich dich irgendwann riechen.« Sie schüttelt den Kopf. »Er hat sie so lange wie möglich in einer Lösung aus Blut und was weiß ich für Vitaminen aufbe wahrt, doch das Gewebe ist vor ein paar Monaten abgestorben. Wir wußten nicht, wie lange meine … Verführung von Ray mond dauern würde. Niemand dachte, daß die ganze Affäre sich so lange hinziehen würde. Der Arzt hat vorgeschlagen, daß er eine Mischung aus Chemikalien anrühren könnte, die meinen Dino-Geruch ersetzen sollte, aber ich … ich habe so was schon mal gerochen. Es heißt, man würde den Unterschied nicht merken. Aber das stimmt nicht. Es riecht metallisch. Syn thetisch. Und das gefällt mir überhaupt nicht. Also habe ich mir natürlich Sorgen um meine Geruchsdrüsen gemacht, aber der Gedanke, Raymond zu Fall zu bringen, war zu verlockend, obwohl er in der ganzen Geschichte vermutlich nur eine Schachfigur war. Denn wenn ich Raymond zu Fall brachte, würde Judith mit ihm stürzen, und ich konnte es kaum 310
erwarten, sie so leiden zu sehen, wie ich gelitten hatte. War das falsch, Vincent, daß ich Judith McBride leiden sehen wollte? Sind diese Gefühle falsch? Ich würde gern glauben, daß ich das moralisch Richtige getan habe. Auge um Auge, Mann um Mann.« Ich schüttele den Kopf, ich nicke, ich zucke die Achseln – auch ich kenne diesen Schmerz und habe mich schon Rache phantasien hingegeben, also kann ich ihre Gefühle schlecht verurteilen. »Und das Singen? Der Gig an der Westküste?« »Das ist wahr, jedes Wort. Ich stand also ohne Geruch und mit perfekt sitzendem Kostüm da, meine Vergangenheit eine Erfindung. Wir haben einen Geburtsort gefälscht und ein paar Jobs, alles sauber und ordentlich, aber wenn man nicht über die nötigen Qualifikationen verfügt … Ich konnte nicht tippen, konnte kein Diktat aufnehmen, konnte nicht einmal einen Computer bedienen.« Sie hält ihre Finger hoch und läßt sie in der Luft zappeln. »Das kann ich noch immer nicht. Alles in allem, ziemlich nutzlos, nehme ich an. Ich hatte den Großteil meines Berufslebens in den Sümpfen der Dino-Politik zuge bracht, so daß für mich ganz bestimmt kein Platz in der menschlichen Welt war.« »Aber du hattest deine Stimme«, bemerke ich. »Die hatte ich, ja. Ich hatte meine Stimme, und noch wichti ger, ich hatte diesen falschen Körper und dieses falsche Ge sicht. Und ich muß zugeben, die waren verdammt gut. Wir hat ten uns mit Raymond McBrides Vorlieben und Abneigungen vertraut gemacht, bevor wir mich verkleidet haben – mit dem Ziel, ihm eine willige Partnerin zu präsentieren, die seiner menschlichen Idealfrau entsprach. Daß das auch im Ambiente eines Nachtclubs funktionierte, war eher ein Zufall. Ich hing also auf dieser Benefiz-Veranstaltung rum, zu der ich mich von meinem Agenten hatte mitnehmen lassen, aber kurz bevor ich Raymond vorgestellt werden sollte, bekam ich plötzlich kalte Füße. Die Nerven, die Anspannung, ich weiß 311
nicht, was über mich gekommen ist, aber ich habe auf einmal beschlossen, daß ich es nicht durchziehen konnte. Ich wollte meinem Agenten gerade sagen, daß ich schleu nigst verschwinden wollte, als ich in der Küche ein Gepolter hörte. Gelangweilt von der Konversation – ich glaube, es ging um irgendeine Seifenoper – bin ich in die Küche geschlendert, um zu sehen, was das Gepolter zu bedeuten hatte, und habe Judith McBride und Donovan küssend und fummelnd auf dem Küchentresen erwischt, bis zur Hüfte in Lachsplatten.« Sarah – Jaycee, verdammt noch mal! – legt ihren Kopf in den Nacken und starrt an die Decke. Ich glaube, sie kichert tonlos vor sich hin. »Alles in Ordnung?« frage ich. »Wir können eine Pause ma chen.« »Ich bitte dich«, sagte Jaycee. »Ich hatte viel Zeit, darüber hinwegzukommen. Wo war ich? Richtig, sie haben sich gegen seitig auf dem Küchentresen abgeleckt, und ich habe unwill kürlich einen kleinen Japser ausgestoßen. Judith hat aufgeblickt und gesagt: ›Was dagegen?‹ Keine Reue, keine Schuld, keine Betroffenheit darüber, erwischt worden zu sein. Und diese kal te Schwärze in ihren Augen, der Blick, den die alte Hexe mir zugeworfen hat … Einen Moment habe ich geglaubt, ein Flak kern des Wiedererkennens in ihren Augen ausgemacht zu ha ben, aber dann habe ich begriffen, daß Judith jeden so behan delte. Und wenn es nur deswegen war, sie mußte bestraft wer den – wenn nicht für mich, dann für all die anderen, die sie unglücklich gemacht hatte. Wie auch immer, ich habe mich sofort entschlossen, es doch durchzuziehen. Ich habe Judith angestarrt, bis sie den Blick abwandte, bevor ich mich Dono van zuwandte. Er wirkte zumindest ein wenig verlegen. ›Sie sollten sich schämen‹, habe ich zu ihnen gesagt. ›Das ist ja wohl alles andere als hygienisch.‹ Und dann bin ich gegangen. Aus der Küche ins Wohnzimmer, wo ich mich von meinem Agenten mit Raymond bekannt machen ließ, und der Rest ist 312
Geschichte.« »Er ist dir ja ziemlich schnell verfallen«, sage ich. »Und wie. Mein natürlicher Charme, selbstredend, aber das Kostüm hat auch nicht geschadet.« »Und dann?« »Dann was?« sagt sie achselzuckend. »Den Rest kennst du – ein paar Wochen später ist Donovan an die Westküste gezogen, Raymond und ich hatten unsere Affäre, ich habe den Rat über Ort und Zeit informiert, damit er die Detektei anweisen konnte, wann und wo die Fotos gemacht werden sollten. Wenn du wüßtest, welche Mühe ich hatte, Raymond zu überreden, beim Sex die Jalousien offenzulassen – ich mußte ihn davon über zeugen, daß ich eine Exhibitionistin wäre und daß es für mich bei offenen Fenstern besonders erregend sei. Das hat ihn ange törnt …« »Der Rat hat also seine Bilder bekommen und du deine Ra che«, sage ich. »Warum hast du danach nicht Schluß ge macht?« »Das wollte ich ja«, sagt Jaycee, und erneut spüre ich, daß ih re Tränendrüsen sich anschicken, den Salzwasserhahn wieder aufzudrehen. »Und dann … dann ist er gestorben.« »Er wurde ermordet«, stelle ich klar. Sie nickt, und die Tränen steigen ihr in die Augen. Unwill kürlich ziehe ich sie an mich und versuche sie zu trösten, in dem ich mit der Hand über ihren langen Rücken streiche. Ich muß sie zu dem Mord befragen, muß sie fragen, was sie weiß, was sie denkt und wen sie verdächtigt, doch fürs erste haben meine törichten Gefühle wieder das Kommando übernommen. »Hast du ihn geliebt?« frage ich. »Nein«, schnieft sie. »Ich habe Donovan geliebt. Aber Ray mond war ein netter Mann, er war charmant, er war intelligent. Er hat nicht verdient … was ich ihm angetan habe.« »In eine Falle gelockt zu werden?« Nach einer Weile nickt Jaycee und bricht erneut in Tränen 313
aus. Als sie sich wieder im Griff hat, sagt sie: »Und das ist al les. Seitdem bin ich schlicht zu müde gewesen, um mich wie der in Jaycee zu verwandeln. Außerdem, warum sollte ich? Seit Donovan tot ist, habe ich in der Dino-Welt niemanden mehr. Ich habe mir gedacht, vielleicht bleibe ich einfach Sarah und schaue mal, was ich als Mensch aus mir machen kann. Als Di no hab ich es jedenfalls total vermasselt …« »Und das ist alles?« frage ich, neugierig, warum sie etwas ausgelassen hat, was ich für ein entscheidendes Teil des Puzz les halte. »Alles.« »Was ist mit Vallardo?« »Was soll mit ihm sein? Ich habe dir doch gesagt, daß Dono van und ich nach ein paar Jahren mit der Behandlung aufgehört haben.« Aber als Jaycee, die mir die ganze Zeit über viel in die Augen gesehen hat, das sagt, wendet sie ihre babybraunen Au gen ab, und ich weiß, daß ich einen Punkt gefunden habe, an dem ich nachbohren kann. »Aber du hast ihn doch seither gesehen«, sage ich. »Komm schon, Jaycee, kein Versteckspielen mehr.« »Vielleicht auf Parties oder so, aber ich weiß nicht, warum du denkst, daß ich –« »Der Brief«, sage ich schlicht, und das bringt sie zum Schweigen. »Der Brief, den du an dem Abend bekommen hast, als wir uns kennengelernt haben, und der dich so in Panik ver setzt hat. Er war von Vallardo, stimmt’s?« Sie versucht nicht, es zu leugnen oder die Sache abzuwie geln. »Woher wußtest du das?« fragt sie mich. »Aus demselben Grund, aus dem du es wußtest, ohne ihn auch nur zur Hand zu nehmen«, sage ich. »Die Handschrift. Dein Name war über den ganzen Umschlag gekrakelt. Als ich Vallardo am nächsten Tag besucht habe, ist mir die Schüttel lähmung in seiner linken Hand aufgefallen, obwohl er sie trotzdem für alltägliche Verrichtungen benutzt hat. Erst vor 314
kurzem habe ich zwei und zwei zusammengezählt. Willst du mir also erzählen, warum du ein Kind von Raymond McBride wolltest?« »Weil ich ein Kind wollte, irgendein Kind«, stößt sie hervor. »Und Raymond war vielleicht ein Lüstling, aber er wäre ein verdammt guter Vater gewesen. Nicht der Dad, der mit seinem Sohn im Garten Football spielt, aber genetisch ein starker Typ. Der Rassenmix war mir egal. Als ich Raymond sagte, daß ich ein Kind von ihm wollte, sagte er ›wundervoll!‹ und hat mich sofort zu Dr. Vallardo gebracht. Er hat ihn mir als den besten Gynäkologen der ganzen Stadt vorgestellt.« »Aber Raymond dachte doch, daß du ein Mensch bist«, wen de ich ein. »Deswegen hat er die gattungsübergreifenden Paa rungsexperimente doch finanziert.« »Von denen weißt du also auch?« sagt sie, und mehr als ein Hauch von Abscheu kräuselt ihre Lippen. »Nun, was das … menschliche Element angeht, war Raymond inzwischen ein bißchen abgehoben.« »Dressler-Syndrom«, werfe ich ein. Jaycees Lachen ist ein heftiges Wiehern, das mich ein paar Nummern kleiner macht. »Ich kann dir versichern«, kichert sie, »daß Raymond McBride nicht unter dem Dressler-Syndrom gelitten hat.« Weiter führt sie das Thema nicht aus. »Aber er wollte sich mit deinen ›menschlichen Eiern‹ kreu zen.« »Er war an meiner Gattung interessiert, da hast du recht. Und ich wollte, um ehrlich zu sein, seinen Carnosaurier-Samen. Das einzige Problem war Vallardo – wenn er erst einmal anfangen würde, mir Eier zu entnehmen, konnte es wenig Zweifel daran geben, daß es keine menschlichen waren.« »All die feinen Unterschiede«, sage ich. »Harte Schale, Rei fung außerhalb des Körpers –« »Und tausendmal größer«, fügt sie hinzu. »Du verstehst also das Problem. Also habe ich getan, was ich tun mußte; ich habe 315
Dr. Vallardo angesprochen, mich als Jaycee offenbart und ihm gesagt, er solle, wie geplant weitermachen, Raymond jedoch nicht verraten, daß ich ein Dino bin. Ich habe ihm mit jeder nur erdenklichen Strafe des Rates gedroht, darunter auch den voll ständigen Ausschluß aus der Gemeinde, der meines Wissens nur ein- oder zweimal tatsächlich verhängt worden ist. Ich bin mir jedenfalls ziemlich sicher, daß Napoleon ausgeschlossen wurde.« »Camptosaurier?« frage ich, meine elementarsten Ge schichtskenntnisse vergessend. »Raptor«, sagt sie und wirft mir ein Lächeln zu. »Ich hatte geplant, mein Kind zu nehmen und wieder in der DinoBevölkerung zu verschwinden, wenn er oder sie geboren war, so daß Raymond nie herausfinden mußte, daß ich nicht war, wofür er mich hielt. Also habe ich die Behandlung erneut durchlaufen, obwohl Vallardo sie mittlerweile ein wenig ver feinert hatte. Zumindest mußte ich nichts mehr schlucken, was mir den Magen umdrehte, und darüber war ich froh. Aber bevor etwas daraus werden konnte, wurde Raymond ermordet, und ich war allein. Das Experiment war vorbei. Seit dem trete ich ziemlich auf der Stelle. Als ich den Brief von Vallardo gesehen habe, hatte ich vor allem Angst, wieder lügen zu müssen, noch einmal in das ganze Chaos einzutauchen. Und die ganze Zeit habe ich daran gedacht, Donovan anzurufen, um es noch einmal zu versuchen, aber nach dem Brand … ich wußte, was im Evolution Club aufbewahrt wurde, und ich war bestimmt nicht die einzige. Jemand wollte diese Notizen und diese Samenprobe – alles miteinander Vallardos –, und Dono van ist vermutlich einfach im Weg gewesen.« Jaycee verfällt in Schweigen, und ich bin noch nicht wieder in der Lage, das lose Gesprächsende aufzunehmen, weil ich einfach zu viel zu verarbeiten habe. Statt dessen beschließe ich, dringendere persönliche Fragen anzusprechen. »Ich verstehe, warum du getan hast, was du getan hast«, erkläre ich ihr 316
schließlich. »Und ich kann es akzeptieren. Aber ich bin immer noch verletzt, daß du so etwas tun konntest … wie du es … mit mir … gemacht …« Ich bringe es einfach nicht über mich, of fen auszusprechen, daß sie mit mir geschlafen hat, um mich zum Schweigen zu bringen oder Insider-Informationen zu be kommen. Aber sie kann es unbekümmert aussprechen. »Du denkst, daß ich mit dir ins Bett gegangen bin, gehörte dazu, nicht wahr?« Ich wende mich ab, doch sie faßt mir unters Kinn und dreht mein Gesicht in ihre Richtung. Haben wir unterwegs die geschlechtsspezifischen Rollen ge tauscht, oder was? »Ist schon okay«, murmele ich und entziehe mich ihrer Be rührung. »Du tust, was du tun mußt.« »Vincent«, sagt sie. Ich blicke nicht auf. »Vincent, sieh mich an«, verlangt sie mit fester Stimme, ein Befehl, den ich nicht verweigern kann. »Was ich vorhin gesagt habe, ist wahr – ich mag dich. Wie gesagt, du erinnerst mich in vielerlei Hinsicht an Donovan –« »Das heißt, ich bin ein Ersatz.« »Nein, das bist du nicht. Du bist kein Ersatz für niemanden. Aber wenn ich mich nun mal zu einem bestimmten Typ hinge zogen fühle, fühle ich mich eben zu einem Typ hingezogen.« Sie wirft mir einen verspielt lüsternen Blick zu und streichelt meine Brust. »Und zu deinem Glück entsprichst du diesem Typ.« »Das trifft sich ja gut«, sage ich und finde langsam mein Gleichgewicht wieder. »Du bist nämlich auch mein Typ.« »Darüber bin ich sehr froh«, sagt sie. »Und ich will, daß du dich immer daran erinnerst, egal, was passiert, okay?« »Klar.« »Egal, was passiert?« »Egal, was passiert.« Wir lieben uns erneut, diesmal als Dinos, so wie die Natur es vorgesehen hat. Unsere Körper reiben sich aneinander, rauhe 317
Haut kratzt wie Sandpapier übereinander, als wir uns auf dem Sofa, auf dem Boden, auf dem Bett und wieder auf dem Boden wälzen. Und es hat nichts Unschickliches, nichts Verbotenes, nichts Abenteuerliches oder Verstohlenes an sich. Und auch wenn da nicht mehr diese Schärfe, dieser dicht unter der Ober fläche lauernde Kitzel der Gefahr ist, ist der Liebesakt irgend wie noch schöner, noch echter als vorher. Und irgendwann, lange nachdem die Sonne hinter dem Hori zont untergegangen ist, ziehen wir ins Schlafzimmer um und fahren fort, einander bis tief in die Nacht zu entdecken. Ir gendwann sagt Jaycee, daß sie mich braucht, und ich ertappe mich dabei, wie ich dasselbe erwidere. Irgendwann döse ich ein, und hypnotische Bilder von Echsen und Jasmin tanzen in meinem Kopf. Irgendwann wache ich im Stockfinstern auf. Eine Stimme in der Nähe flüstert etwas wie nehme den nächsten Flug und bin bei Anbruch der Dämmerung zurück. In dem schwachen Licht, das durch das Schlafzimmerfenster fällt, kann ich Jaycees Um risse beim Telefon auf dem Nachttisch ausmachen. In meiner Benommenheit kann ich nur denken, daß es erstaunlich ist, daß sie das Telefon noch nicht abgestellt haben. »Jaycee?« murmele ich. »Sarah? Komm ins Bett?« Doch während ich noch versuche, mich auf einen Arm zu stützen, hat sie den Hörer wieder auf die Gabel gelegt und sich neben mich gekniet. Sie streichelt mich sanft und drückt zwei Küsse auf meine geschlossenen Augenlider. »Es tut mir leid«, sagt sie. »Ich glaube, ich hätte dich lieben können.« Und bevor ich entweder freundlich antworten oder sie fragen kann, was, zum Teufel, sie mit »Es tut mir leid« meint, sehe ich eine glitzernde Spritze, spüre den Einstich in meinem Arm, und alles versinkt in einer anheimelnd schwarzen, tauben Dunkel heit. 318
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Glenda Wetzels Wohnung in Hell’s Kitchen ähnelt stark mei nem alten Mietwagen, insofern, als die Behausung ebenfalls klein, heruntergekommen und wahrscheinlich mit Ungeziefer verseucht ist. Doch Glenda war so nett, mich auf ihrer Wohn zimmer-Couch schlafen zu lassen – einem Klappsofa mit nur sechs kaputten Sprungfedern –, obwohl ich es geschafft habe, daß sie bei J&T rausgeflogen ist und sie in einen nicht länger offiziellen Fall verwickelt habe, in dessen Verlauf nicht weni ger als vier Dinos getötet und zahlreiche andere, darunter ich selbst, terrorisiert und belästigt worden sind. Mein Plan, den ich auf dem Flug heute morgen sorgsam ausgeheckt habe, lau tet wie folgt: Ich werde den Fall lösen, ich werde Jaycee fin den, ich werde sie auf meine Arme heben wie Richard Gere Debra Winger am Schluß von Ein Offizier und Gentleman und sie nach Los Angeles bringen. Wir werden nicht den Rücksitz meines Wagens benutzen, wegen des oben erwähnten Ungezie fer-Problems. Aufgewacht bin ich mit Kopfschmerzen, die selbst Godzilla niedergestreckt hätten – was immer in dieser Spritze war, es hat mächtig reingehauen, und es würde mich nicht überraschen zu erfahren, daß es sich um irgendein konzentriertes Küchen kraut gehandelt hat. Es hat mich an die Kater erinnert, die ich früher nach meinen tagelangen Abstürzen hatte – mein Gott, ist das erst eine Woche her? Pedro hat meine verbliebenen Möbel und Haushaltsgeräte in neunzehnhundert Dollar in bar verwandelt, und ich habe ihm überschwenglich dafür gedankt, daß er mich um meine letzten weltlichen Besitztümer geprellt hat. Zwanzig Dollar für das Taxi zum Flughafen, fünfzehnhundert Dollar für das Flugtik ket, vierzig Dollar für die Fahrt nach Manhattan. Zur Zeit bin ich dem Zustand der völligen Mittellosigkeit näher als je zuvor in meinem Leben, doch das ist meine letzte Sorge. 319
»Ich kann nicht glauben, daß du mit dieser Menschenfrau ins Bett gestiegen bist«, sagt Glenda, als wir in die Stadt aufbre chen wollen. J&T hat sie rausgeschmissen, doch sie behauptet, ihre Freiheit als Selbständige zu genießen. Ich glaube, das ist totaler Quatsch, den sie sich ausgedacht hat, damit ich mich zu einem Zeitpunkt, an dem ich ohnehin kaum mehr als acht Mil limeter groß bin, nicht noch mieser und kleiner fühle, aber so lautet ihre Geschichte, und sie weicht nicht davon ab. »Ich meine … ein Mensch, Herrgott noch mal.« »Sie ist kein Mensch«, erkläre ich zum ungefähr zehnten Mal. »Sie sieht bloß aus und riecht wie ein Mensch.« »Wenn sie wie ein Mensch riecht …« murmelt Glenda, eine uralte Dino-Weisheit, die ihr über die Lippen gerutscht ist. »Okay, vielleicht ist sie kein Mensch, aber sie ist eine beschis sene Nutte.« »Sie ist auch keine Nutte. Sie hat es für den Rat getan.« »Ich hab die Photos gemacht, Rubio. Farbe, Hochglanz und alles. Es hat der verdammten Nutte Spaß gemacht.« »Natürlich«, sage ich. »Sie waren beide Dinos. Warum soll ten zwei Dinos keinen Spaß miteinander haben?« »Sollen sie gerne, aber –« Der Einwand läßt sie stutzen, sie verzieht die Unterlippe zu einem nachdenklichen Schmoll mund. »Okay, wo du recht hast, hast du recht.« »Wirst du dann aufhören, sie eine Nutte zu nennen?« »Oh, sieh mal an«, neckt sie mich. »Du hast dich in das Flitt chen verknallt, stimmt’s?« Nachdem wir das geklärt haben, mache ich mich daran, mei nen Plan zum Angriff auf die Stadt darzulegen. Es gibt viel zu tun, und wir haben, wenn meine Nackenhaare, die sich seit Verlassen des Flugzeugs langsam, aber stetig weiter aufgestellt haben, ein Hinweis sind, nur noch verdammt wenig Zeit. »Erste Station ist die McBride-Wohnung am Central Park East«, erkläre ich Glenda. »Kannst du hierbleiben und ein paar Anrufe erledigen?« 320
»Scheiße, kann ich.« »Scheiße, von wegen, oder scheiße, na klar?« »Sag mir einfach, was ich tun soll«, antwortet sie. »Ganz leicht – du rufst bei Pacific Bell an und findest heraus, welche Nummern zwischen sechs Uhr gestern abend und acht Uhr heute morgen aus meiner Wohnung angerufen worden sind. Möglicherweise als R-Gespräch oder auf Karte, sie müß ten es in jedem Fall in ihrer Anrufliste verzeichnet haben. Jay cee hat von mir aus bei irgend jemandem angerufen. Da bin ich mir ganz sicher.« »Und du glaubst, wenn du diesen Jemand findest, findest du auch deine kleine Nut… Jaycee?« Glendas wenngleich verspäteter Versuch, meine Wünsche zu respektieren, entlockt mir ein Lächeln. »Irgendwo muß sie ja sein«, sage ich. »Niemand verschwindet einfach so.« »Vergiß nicht, von wem wir hier reden.« Ich nehme meine Schlüssel, meine Brieftasche und ein paar Beutel mit Auflösungs-Chemikalien mit, für den Fall, daß ich irgendwelche Probleme bekommen sollte. »Und du kümmerst dich drum?« frage ich. »Sofort, Boss.« »Danke.« Ich drücke Glenda einen Kuß auf die Wange, und sie kichert. Es ist das erste Zeichen von Weiblichkeit, das ich an meiner neuen zeitweiligen Partnerin entdecke, und ich glau be, fluchend hat sie mir besser gefallen. Das ist einfach zu verwirrend. »Und jetzt sieh zu, daß du dich hier verpißt«, sagt sie, und die Welt ist wieder in Ordnung. »Schließ die Tür«, rate ich ihr beim Gehen. »Schließ sie fest ab.« Hinter mir werden krachend Riegel vorgeschoben. Das Plaza hält einen Vergleich mit Mrs. McBrides Apartment gebäude mit Blick auf den Central Park trotz allem nicht aus: Das Hotel, so elegant es auch sein mag, in eine Reihe mit die 321
sem Haus zu stellen, wäre, als würde man Carmen Miranda zum Gruppenfoto mit der Queen aufstellen. Was im Plaza vormals so gediegen wirkte, erscheint verglichen mit der zu rückhaltenden Eleganz dieses namenlosen Gebäudes richtigge hend protzig. Apropos Exklusivität – der Portier, der nicht derselbe Herr ist, der mir neulich bereitwillig mit Informationen über Judith gedient hat –, will mir nicht einmal seinen Namen nennen, ge schweige denn den Namen das Palastes. Und daß er mich rein läßt, steht ohnehin nicht zur Debatte. Ich erkläre ihm, daß ich geschäftlich im Haus zu tun habe, bevor ich einen persönlichen Termin mit Mrs. McBride anführe. Er beißt nicht an. Ich ver suche es mit der Einschüchterungstaktik, die bei den meisten Menschen, die ich treffe, so wunderbar funktioniert. Zwecklos. »Gibt es irgendwas, was ich für Sie tun kann, damit Sie mich in dieses Haus lassen?« Mir sind die Alternativen ausgegangen. »Ich glaube nicht, Sir.« Der Portier ist die ganze Zeit aus nehmend höflich geblieben, was angesichts der Tatsache, daß er mich nicht tun läßt, was ich tun will, jedoch um so frustrie render ist. »Und wenn ich einfach an Ihnen vorbeirennen würde? Sie gar nicht beachten und einfach reingehen?« Sein Lächeln ist eisig. Unter seiner albernen TürsteherUniform kann ich die Umrisse beträchtlicher Muskelpakete erkennen, die in einem kraftvollen Rhythmus zucken. »Das sollten Sie lieber nicht tun, Sir.« Geld. Geld funktioniert immer. Ich ziehe einen Zwanziger aus meiner Brieftasche und gebe ihn dem Mann. »Was ist das?« fragt er und betrachtet den Geldschein mit ehrlicher Verwunderung. »Wie sieht es denn aus?« »Es sieht aus wie ein Zwanzig-Dollar-Schein«, antwortet er. »Damit haben Sie eine Gummipuppe gewonnen«, sage ich in dem Wissen, daß eine Situation, die schon vor langer Zeit takt 322
los geworden ist, keinen Takt erfordert. »Ich brauche ihn nicht. Er müllt nur meine Brieftaschen zu.« »Aber zwanzig Dollar …« Ich werfe meine Hände in die feuchte Abendluft – was ist das bloß mit dieser verdammten Luftfeuchtigkeit? Hat irgend je mand einen Ozean in den Himmel gekippt? – und sage: »Schon gut, schon gut, schon gut! Sie wollen das Geld nicht, Sie wol len das Geld nicht!« Ich greife nach meinem Zwanziger, aber der Portier hält ihn fest. »Ja, was denn nun?« frage ich. »Sie wollen mein Geld nicht –« »Das habe ich nicht gesagt, Sir.« Es dämmert mir schlagartig. »Sie … o mein Gott … Sie wol len mehr, oder?« Ein Lachen, das aus den Tiefen meines Zwerchfells aufsteigt, perlt über meine Lippen und hüllt den armen Portier in Spott und Hohn. »Da überlege ich die ganze Zeit, ob es irgendein Zauberwort gibt, und dabei hätte ich dich von Anfang an bloß bestechen müssen!« Ich nehme meine frühere Kritik an New York zurück, ich liebe diese Stadt! Der Portier verzieht keine Miene, starrgesichtig wie ein Nuß knacker tritt er zur Seite und wünscht einem älteren Herrn, der das Gebäude betritt, höflich einen guten Abend. Danach be zieht er seinen Posten aufs Neue und starrt, die Hand beiläufig in Richtung meiner Brieftasche ausgestreckt, in die Luft. Mit Vergnügen halte ich einen Hunderter zu seiner Begutach tung hoch und schiebe ihn in seine Tasche. In meiner Briefta sche ist noch mehr, wenn es sein muß – wenn dieser Typ will, daß es Bargeld regnet, drehe ich den Hahn gerne auf. Doch die 120 Dollar wirken schon Wunder; der Portier nickt einmal knapp, greift den Messinggriff der Haustür und zieht das Portal auf, um mir Zutritt zu den heiligen Hallen zu gewähren. »Willkommen in der Park Avenue, Sir.« Ich verbeuge mich dankbar. »Vielen herzlichen Dank … wie 323
war noch gleich Ihr Name?« »Das macht noch einmal zwanzig«, sagt er mit unbewegtem Gesicht. Judith McBride ist nicht zu Hause. Ich habe den Verdacht, daß diese Information leichter und vermutlich auch billiger zu haben gewesen wäre, doch der Portier macht seinen Job um des lieben Geldes willen, wie alle anderen auch. Das kann man ihm nicht verübeln. Ich hätte mich selbst auch reingelegt. Ich klin gele Sturm, klopfe ein paarmal, pfeife und rufe laut Judiths Namen, bekomme jedoch keine Antwort. Ich könnte vermutlich gewaltsam eindringen – eine Kredit karte würde bei einer derart massiven Tür nicht funktionieren, aber ich habe noch ein paar andere Tricks im Ärmel –, doch die Zeit ist knapp, und ich kann mir nicht vorstellen, daß Judith irgendwelche dramatisch belastenden Beweise in ihrer Woh nung herumliegen läßt. Ich will gerade verschwinden, zu Glen das Wohnung zurückkehren und versuchen, Jaycees Spur dort wieder aufzunehmen, wo wir sie verloren haben, als mir ein gelber Zettel auffällt, der unter Judith McBrides Tür hervor ragt. Genau genommen bemerke ich ihn erst, nachdem ich mich flach auf den Boden gebreitet, ein Auge zugekniffen, meine Wange auf den weichen Teppich gelegt und durch den Spalt gespäht habe, aber am Ende läuft es aufs selbe hinaus, und welchen Unterschied machen schon die Mittel? Es steht außer Frage, daß es moralisch gerechtfertigt ist, den Zettel herauszufischen – schließlich ist es meine Bürgerpflicht, gegen die Verschmutzung der Umwelt aktiv zu werden, und sei es im Domizil eines Mitbürgers. Vor allem im Domizil eines Mitbürgers. Meine kostümierten Finger sind zu plump, um sie unter der Tür durchzuschieben, also muß ich eine Kralle ent blößen, um den Job zu erledigen. Benachrichtigung wegen eines Pakets. Das bedeutet, der Verwalter des Hauses oder das Personal am Empfang hat ein Paket für den Mieter angenommen und bewahrt es nun da auf, 324
wo derlei Gegenstände für gewöhnlich aufbewahrt werden. Ich habe schon von solchen Service-Angeboten gehört, sie jedoch noch nie mit eigenen Augen gesehen. Als ich noch Mieter war, haben meine Hausverwalter günstigstenfalls wütende Briefe in meinen Briefkasten gestopft, auf denen stand: Wenn ich diesen UPS-Typen noch einmal jammern höre, daß Sie nicht zu Hause sind, werde ich Ihre Wohnungstür aufbrechen und ihn auf Ih ren Teppich scheißen lassen. Seither kaufe ich nur noch flek kenresistente Auslegeware. Ich könnte vermutlich die Paketannahme aufspüren, ein Rie sentheater machen und versuchen, das Paket als mein eigenes abzuholen, doch wahrscheinlich würde mir jeder Trick, den ich möglicherweise anwenden könnte, entweder keine weiteren nützlichen Hinweise oder gar eine Nacht im Bezirksgefängnis bescheren. Doch auf diesem Zettel finde ich alles, was ich brauche. Un ten warten zwei verschiedene, an Judith McBride adressierte Pakete. Paket Nummer eins wurde von Martin & Company geschickt, einer Firma für Kupferkabelverlegung und Zubehör, und ist laut Stempel auf dem Zettel heute am frühen Morgen zugestellt worden. Wofür um alles in der Welt braucht Judith McBride eine Kupferverkabelung? Ein wissenschaftliches Projekt? Dafür ist sie zu alt. Eine Bombe? Dafür ist sie zu vernünftig. Heimwer kerarbeiten? Dafür ist sie zu zimperlich. Ich habe eine Theorie, die ich jedoch schon in dem Moment, in dem sie mir einfällt, als unsinnig verwerfe. Paket Nummer zwei ist ähnlich kurios und stammt von einer Firma für Swimming-Pool-Zubehör in Connecticut. Nichts auf dem Zettel deutet auf seinen tatsächlichen Inhalt hin, doch ich kann mir kaum vorstellen, daß Judith McBride sich freiwillig gemeldet hat, in ihrer Freiheit die Sanitäranlagen des hiesigen YMCA zu reinigen. Ich prüfe es nach. Nachdem weitere zwanzig Dollar aus mei 325
ner Börse in die Tasche des Türstehers gewandert sind, erklärt er mir, wo ich die Paketannahme finde, und ich bahne mir ei nen Weg zur Rückseite des Gebäudes. Dort wartet ein weiterer Super-Snob darauf, mich zurückzuweisen, doch um ihn muß ich mir keine Sorgen machen. Ich muß nur nah genug an den Lagerraum herankommen. »Kann ich … Ihnen helfen?« fragt der Lagervenvalter. »Nein, ich bewundere bloß die Aussicht.« Ich beuge mich noch weiter über seinen Tresen, und er weicht, verwirrt von meiner Nähe, zurück. »Werden da drinnen die Pakete aufbe wahrt?« frage ich und zeige auf einen offenen Raum hinter ihm, in dem Pakete ordentlich in Reihe gestapelt stehen. »Ja … sind Sie ein Gast im Haus?« fragt er, wohlwissend, daß ich das nicht bin. Ich antworte nicht. Ich muß ein bißchen rumschnüffeln. Ich atme rasch aus und blase meine verbrauchte, nutzlose Luft in das runzelige Gesicht des Mannes, bevor ich einen tiefen lan gen Zug nehme, meine Nüstern beben, meine Nebenhöhlen knirschen vor Anstrengung. Gerüche aus ganz New York we hen heran, mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren daran, sie zu isolieren und zu identifizieren. Ich richte meine Nase auf die Tür des Lagerraums und inhaliere noch stärker. Meine Brust dehnt sich, meine Lungen füllen sich, und es würde mich nicht überraschen, wenn ich sämtlichen verfügbaren Sauerstoff aus der Luft gesaugt hätte, was den Lageristen auf der Stelle in Ohnmacht sinken lassen würde. Das würde die Sache erleich tern. Und gerade als ich denke, daß ich nicht weiter einatmen kann, gerade als der Mann, der sich von seiner Verwirrung erholt hat, mir den Sicherheitsdienst auf meinen armen Hals hetzen will, wittere ich einen winzigen Hauch des Geruchs, nach dem ich suche. Chlor. Kein Zweifel, meine Nase weiß es. Ein paar Würfel Chlor-Tabletten in dünnem Papier, zwischen Styroporkugeln in 326
einem Karton, eingewickelt in braunes Packpapier. Ja, so gut bin ich. »Glenda, wir müssen los.« Ich habe dem Taxifahrer gerade den dreifachen Fahrpreis bezahlt, damit er mich im Eiltempo zu Glendas Wohnung zurückbringt und vor dem Haus wartet, während ich ein paar dringend benötigte Utensilien einpacke. Er hat mein Geld mehr als bereitwillig entgegengenommen, doch ich habe ernsthafte Zweifel, ob er meine Anweisung ver standen und tatsächlich gewartet hat. »Ich habe unten ein Taxi. Hoffentlich.« »Vielleicht solltest du mal einen Blick auf das hier werfen«, sagt sie und gibt mir ein einen Meter langes, helles, wachsarti ges Faxpapier, das bis auf den letzten Zentimeter mit winzigen Nummern und Buchstaben bedeckt ist. »Was ist denn das?« »Alle Telefonate, die im letzten Monat von deinem Haus aus geführt worden sind.« Sie linst über meine Schulter und weist auf eine einzelne Zeile mit einer 0180-Nummer. »Verdammt noch mal, Vincent, hast du dir eine Wahrsagerin angelacht?« »Nur einmal«, sage ich abwesend, zu beschäftigt mit diesem neuen Beweismaterial, um mich zu rechtfertigen. Da ist er, der Anruf, nach dem ich suche – heute morgen um vier Uhr. Ein R-Gespräch, aber es ist trotzdem aufgeführt, und die Vorwahl ist 718. »Das ist die Nummer«, sage ich und zeige sie Glenda. »Die da.« »Das habe ich mir schon gedacht«, sagt sie, »und sie deshalb bereits überprüft. Dreimal darfst du raten, wessen Anschluß das ist.« »Eine Kinderklinik in der Bronx?« »Hey …« schmollt sie. »Du darfst es aber nicht schon beim ersten Versuch erraten.« »Ich verfüge über Insider-Informationen«, erkläre ich ihr. »Hast du auch eine Adresse bekommen?« 327
»Klar doch. Ziemlich beschissene Gegend.« »Na super. Komm, vielleicht schaffen wir es, noch vor Be ginn der Vorstellung dort zu sein.« Der Taxifahrer hat tatsächlich unten gewartet und will heute abend zu unserem Glück auch nicht mit seinen Passagieren an seinem Englisch arbeiten. Ich bitte ihn, das Radio lauter zu drehen, und er legt eine reizende indische Weise auf, die allem Anschein nach von rolligen Katzen gesungen wird. Perfekt – so kann ich Glenda auf der Fahrt zur Klinik meine Geschichte erzählen, ohne die ganze Zeit flüstern zu müssen. »Die Sache ist die«, sage ich und stürze mich in meine Fabel.
19 »Das muß so ziemlich der abgedrehteste Scheiß sein, den ich je gehört habe«, sagt Glenda, nachdem ich den ganzen Fall, Stück für Stück, Theorie für Theorie, vor ihr ausgebreitet habe, und ich gebe zu, es hört sich wirklich reichlich bekloppt an. Wir sind direkt vor jener vertrauten Gasse in der Bronx zum Stehen gekommen, auf der anderen Straßenseite erhebt sich verlok kend die Kinderklinik und wartet auf uns. Ich leere meine Brieftasche für den Taxifahrer. »Eine absolut verrückte Stadt«, fährt sie fort. »Und das ist alles, ja? Keine weiteren Überra schungen?« »Na ja …« sage ich zögernd. »Es gibt da noch eine Kleinig keit, in die ich dich nicht direkt eingeweiht habe. Aber, hey, man muß sich schließlich sicher sein, bevor man seinen Freun den den Kopf aufbläst. Ich bin jedenfalls nicht die Art Detek tiv, die ermittelt und dann quatscht. Vielleicht liege ich ja völ lig daneben.« »Na, ich hoffe jedenfalls, daß du deinen Kopf in diesem Fall im eigenen Arsch stecken hattest, denn wenn du recht hast, was diesen ganzen Mist angeht, will ich gar nicht darüber nachden 328
ken, was uns noch bevorstehen könnte.« Wir steigen aus dem Taxi und starren die Klinik an. Die Fen ster sind mit Brettern vernagelt, die aussehen wie hölzerne Augenklappen, die Aluminium-Doppelschiebetür ist fest ver schlossen. Die Verrückten sind heute abend in voller Truppenstärke unterwegs, und hin und wieder kneift ein Penner Glenda in den Hintern, wenn wir vorbeigehen. Ich muß sie davon ab halten, auf irgend jemanden loszugehen. »Bläh die Nüstern und achte auf jedes Anzeichen von Ge fahr«, sage ich. »Als ich das letzte Mal hier war, bin ich auf ein kleines Problem gestoßen.« Genauer gesagt, auf ein großes, knurrendes, zähnefletschendes Problem. »Wenn du auch nur einen Hauch von Grillgeruch witterst, laß es mich wissen.« Nonchalant überqueren wir die Straße und versuchen, für den Rest der Welt auszusehen wie zwei nicht vorbestrafte oder po lizeilich gesuchte Menschen, die um zehn Uhr abends ohne erkennbare Bewaffnung oder sonstige Verteidigungsmittel in den Gassen und Hinterhöfen der Bronx einen netten Spazier gang machen. »Geh schnell«, warne ich Glenda, »aber ganz natürlich.« Die wenigen Lampen an der Fassade der Klinik sind schon vor langer Zeit von Vandalen zerschlagen worden, so daß wir das erste Stück unserer Wanderung im Dunklen hinter uns bringen können. Wir erreichen den Vordereingang. Zu. Ver schlossen. Und diese metallischen Ungetüme von Schiebetüren aufzubrechen würde in der Stille des Abends noch immer zu viel Lärm machen. Glenda mustert das Gebäude und versucht seine Ausmaße abzuschätzen. »Es muß hier irgendwo einen Hintereingang geben«, sagt sie. »Es gibt immer einen beschissenen Hinterein gang.« »Ich weiß nicht. Als ich das letzte Mal nach einem gesucht habe, wurde ich … abgelenkt.« Glenda marschiert zur Seite des Gebäudes, und ich folge ihr 329
mit in Erwartung eines erneuten Angriffs wild pochendem Herzen. Auch wenn ich die Luft der Umgebung tief schnaufend in mich hineinsauge, erreicht kein Hauch von verbranntem Pla stik meine Geruchsnerven, aber man kann gar nicht vorsichtig genug sein. Ich bleibe weiterhin auf der Hut und schaue hinter jede Ecke und in jede Nische, bevor ich daran vorbeigehe. Ich kann keinerlei Spuren von meinem Kampf in der letzten Woche entdecken, doch der Müllcontainer ist verschoben wor den, entweder von dem Aufräum-Team, als sie das Skelett weggeräumt haben, oder von Müllmännern, deren Wagen leicht aus der Spur war. Ein kleiner Metallzaun versperrt uns den Weg zur Rückseite der Klinik, und Glenda macht Anstalten, ihn zu erklimmen. Sie streckt die Hand aus – »Warte!« rufe ich, bevor ich meine Stimme wieder zu einem Flüstern senke. »Erst testen!« Glenda dreht sich verwirrt um. »Wen testen?« »Den Zaun. Die meinen es hier verdammt ernst; ein alberner kleiner Drahtzaun wird nicht viel nutzen, um Eindringlinge abzuwehren. Und ich habe die Wachhunde gesehen, die sie hier halten.« Zögernd strecke ich einen Finger in Richtung der metallenen Rauten … Druck reißt meinen Finger an den Draht, zerrt an meinem Arm – ich ziehe ihn mit verzerrtem Gesicht zurück und kämpfe um meine Extremität – Ich gewinne den Kampf, werde nach hinten geschleudert, krache gegen Glenda, so daß wir beide zusammen auf dem Boden landen. Ich rolle von der Hadrosaurierin herunter und helfe ihr auf die Füße. »Was zum Teufel …« »Strom«, sage ich und reibe meinen Arm, der mit jeder Se kunde heftiger schmerzt. »Ein Elektrozaun, und so wie er zu gepackt hat, würde ich sagen, wir haben es mit einer ziemlich tödlichen Spannung zu tun.« 330
Kein Sicherungskasten in Sicht, keine Chance, den Zaun kurzzuschließen, und auch keine Löcher und Lücken. »Zurück zum Vordereingang?« schlägt Glenda vor. »Das ist zwecklos. Der wird sich bestimmt nicht wundersam öffnen.« Es sei denn … Ich blicke nach oben, spähe in die Dunkelheit und bemerke ein kleines Fenstersims direkt über der Zaunkrone. »Glenda, kannst du mich zu dieser Regenrinne hochhieven?« »Ich kann sechs von deiner Sorte zu dieser Regenrinne hoch hieven. Aber wie soll uns das helfen, in den Laden reinzu kommen?« »Ich gehe hinten rum rein und mache dir die Vordertür auf. Komm, heb mich hoch.« Nachdem wir uns gegenseitig ermahnt haben, auf Nummer sicher zu gehen, schön vorsichtig zu sein, auf uns aufzupassen und so weiter, stemmt Glenda mich auf ihre Schultern wie eine Mutter, die ihren Sohn hochhebt, damit er die Parade besser sehen kann, und ich schaffe es, die Regenrinne zu packen. Sie ist mit einigen eher fragil wirkenden Trägern an der Wand des Gebäudes befestigt, die bedenklich zittern, als ich mein ganzes Gewicht an das Rohr hänge. Gut, daß ich in letzter Zeit nicht oft zum Essen gekommen bin; ein einziger Hamburger in mei nem Magen könnte die ganze Konstruktion zum Einsturz brin gen. Die Träger schwanken, wackeln und zittern, aber sie hal ten. Eine kurze Kletterpartie – das Rohr droht mit jedem Zenti meter, den ich vorwärts komme, von der Wand abzubrechen – bringt mich in Griffweite des Fenstersimses, und erst als ich mich hinaufgehangelt habe, fällt mir auf, daß dieses Fenster genau wie alle anderen der Klinik mit Brettern vernagelt ist. Dicke Holzbalken versperren meinen Weg. Und ich habe mei ne Stichsäge nicht dabei. Glenda ist schon wieder um die Ecke Richtung Vorderein gang marschiert, wo sie darauf wartet, daß ich ihr die Tür öff 331
ne, und somit außer Hörweite, so daß aus dieser Richtung keine Hilfe zu erwarten ist. Springen ist im Moment meine einzige Wahl, doch es geht gut fünf Meter abwärts. Wenn ich nur mei nen Schwanz entrollen könnte, würde die zusätzliche Muskel kraft den Aufprall vielleicht ein wenig dämpfen, aber … Nun, was soll’s, warum kann ich meinen Schwanz eigentlich nicht entrollen? Regeln sind dazu da, gebrochen zu werden, und wenn es je einen passenden Zeitpunkt für Regelverstöße gegeben hat, dann diesen. Ich halte mich an einem Astloch in einem der Bretter fest, streife rasch Hose und Unterhose ab, zerre das Rückenteil meines Polyanzuges herunter und löse die obere Sektion der G-Serie. Mann, es fühlt sich gut an, den Schwanz wieder offen zu tra gen! Die kühle Nachtluft streicht über meine Haut und ruft Erinnerungen an die vergangene Nacht mit Jaycee wach, an die Art, wie sie mich von oben bis unten abgerieben und mit ihrem Körper … Okay, an die Arbeit, Vincent, du hast einen Job zu erledigen. Aber diese körperliche Freiheit fühlt sich besonders angenehm an, und ich kann nur hoffen, daß ich noch einmal die Chance bekomme, an einem anderen Ort als in dieser Klinik in der 18th Street so an der frischen Luft herumzutollen. Die Aussicht, mich mit einem Riesensatz auf den harten Bo den der Realität zu stürzen, trägt jedenfalls dazu bei, meinen Elan zu bremsen, aber ich muß in die Hufe kommen. Für den Fall, daß ich mich mein Leben lang bezüglich ihrer Nichtexi stenz geirrt habe, murmele ich ein rasches Gebet zu den Göt tern, wappne mich innerlich, mache einen tapsigen Schritt von der Kante und springe. Wie geplant hilft mein Schwanz, den Aufprall zu dämpfen, ich rolle mich auf dem Boden ab und bleibe Zentimeter vor dem elektrischen Zaun liegen. Ich richte mich so schnell wie möglich auf und klopfe den Staub ab. »Kinderspiel«, sage ich zu niemand Bestimmtem, und meine Stimme kratzt an der Stil le des Abends. Ich beschließe, die Klappe zu halten, solange 332
niemand in der Nähe ist. Ich wittere einen Hauch von Tod und Verwesung, Gerüche, die mich kampfbereit machen sollten, doch diesmal haben sie keinen Beigeschmack von Gefahr, also mache ich einen Schritt auf die Nische zu, der das Aroma entströmt. Ich spähe um den Mauervorsprung, doch meine Augen brauchen Zeit, bis sie sich an das noch schwächere Licht gewöhnt haben. Den langen Kratzern an den grob abgerundeten Wänden nach zu urteilen, sieht es fast so aus, als hätte ein wildes Tier beschlossen, gleich hier an Ort und Stelle seine Höhle zu graben, scheiß auf den Beton. Tierknochen, der Knorpel abgenagt, die Oberfläche aufge brochen und das Mark ausgesaugt, liegen in einem halben Me ter hohen Haufen neben einem Bett aus alten Matratzen, Zei tungen und Lumpen. Fingergemalte Bilder aus Blut bedecken die Wände, kindliche Bilder von Menschen, Hunden und Dino sauriern … Ich glaube, ich weiß, wer – was – in dieser Höhle gelebt hat. Bevor es mich angegriffen hat. Bevor ich es getötet habe. In einer weiteren kleinen Nische entdecke ich einen Eingang in die Klinik, und wenn man das richtige Werkzeug hat, sind die Schlösser davor leicht genug zu knacken. Die Tricks mit der Kreditkarte und der Coladose sind für Allerweltstüren ganz nützlich, doch das Knacken von Türen dieses Kalibers erfor dert schon den Werkzeugsatz eines Schlossers, den ich kluger weise diesmal mitgebracht habe. Zu meinem Glück hatte Ernie einen Freund, der einen Neffen hatte, der einen Kumpel hatte, dessen Mutter in einer Fabrik gearbeitet hat, in der diese Din ger hergestellt werden, und er hat mir das Set zum Selbstko stenpreis überlassen. Zumindest hat er gesagt, es wäre der Selbstkostenpreis gewesen. Ich erwarte, daß irgendein Alarm losgeht – und stelle erleich tert fest, daß nichts dergleichen meine Ankunft herausposaunt. Der Flur, in den ich trete, ist finster und trostlos, weil hier im 333
Gegensatz zu draußen der Mond nicht scheint, und bietet als zusätzliche Attraktionen Schimmelpilze und Spinnenweben. Die Flure kreuzen und vereinigen sich wahllos und in einem beinahe willkürlichen Muster. Von außen sah die Klinik nicht annähernd so groß aus, und ich frage mich, ob ich es mit einer Art optischen Täuschung zu tun habe. Trotzdem finde ich den Vordereingang ziemlich schnell und öffne die fünf schweren Riegel, mit denen die Tür verrammelt ist. »Scheißkalt hier draußen«, sagt Glenda, und ich lege meinen Finger auf den Mund, um sie zu ermahnen, ihre Stimme zu dämpfen. Zu zweit wandern wir durch die Flure und machen uns Zei chen, um uns die einzuschlagende Richtung und den weiteren Verlauf unserer Aktion mitzuteilen. Ein permanentes Summen erfüllt das ganze Gebäude, und ich denke mir, daß wir die Stromquelle früher oder später finden werden. Und wenn wir sie gefunden haben, werden wir sehen, wie richtig oder falsch ich in der ganzen Sache gelegen habe. »Psst!« Ich drehe mich um und sehe Glenda vor einer halb geöffneten Tür stehen. »Ich höre da was – hier entlang.« Wir gehen durch einen breiten, dunklen Flur, dessen Wände mit irgendeinem Metall verschalt sind, das den elektrischen Strom, der durch dieses Gebäude fließt, weiterleitet; ich kann das Kribbeln spüren, wenn ich meine flache Hand auf die Wände lege. In unregelmäßigen Abständen huschen kleine blaue Lichtblitze an den Wänden entlang, und ich frage mich unwillkürlich, ob wir uns nun dem Zentrum des Labyrinths nähern. Eine weitere Tür, hinter der man ein gedämpftes Gemurmel vernehmen kann, wie ein Fluß, der eine rostige Wassermühle antreibt, oder das Getuschel des Publikums nach einem beson ders schlechten Film. »Ich glaube, es ist hier«, sagt Glenda und öffnet unvorsichtigerweise die Tür. In dem Raum ist es stock 334
finster, und sie schlägt auf der Suche nach einem Lichtschalter mit der flachen Hand an die Wand. »Warte«, flüstere ich. »Immer schön langsam –« Mit einem lauten Knacken flackern eine Reihe von Neonröh ren über unseren Köpfen auf und erleuchten einen rechteckigen Raum von gut dreißig Meter Länge und knapp fünfzehn Meter Breite, an dessen Wänden Käfig an Käfig gestapelt ist. Das seltsame Geplapper wird lauter, als wir den Raum betreten, und uns klappt unfreiwillig die Kinnlade herunter, als wir klar und deutlich erkennen, wer all den Lärm veranstaltet. Jeder Käfig enthält ein … Wesen, in Ermangelung eines bes seren Ausdrucks, eine Miniaturausgabe des Untiers, das mich vor drei Tagen angegriffen hat, und auch das ist nicht ganz richtig. Man erkennt Stegosaurier-, Diplodocus-, Velociraptorund Allosaurier-Gene; ich kann in jeder dieser Kreaturen die genetischen Züge aller sechzehn existierenden Saurierarten erkennen. Kleine mißgebildete Hörner ragen in schrägen Win keln aus großen mißgebildeten Köpfen auf verdrehten mißge bildeten Hälsen und behinderten mißgebildeten Körpern. Die Geräusche, die wir hören, sind deshalb so seltsam, weil sich keine zwei Mäuler gleichen – das heißt, bei den Wesen, die überhaupt mit einem Mund gesegnet sind. Einige von diesen Kreaturen haben statt dessen nichts weiter als klaffende Löcher in ihren Köpfen, und das leise gequälte Gewimmer, das sie von sich geben, wird durch die schreckliche leere Öffnung noch verstärkt. Sie sind klein. Höchstens sechzig Zentimeter groß, im Grun de noch Babies. Aber das ist noch nicht alles. Noch längst nicht. Es gibt Finger. Richtige, echte Finger. Und Beine, echte Bei ne. Und Ohren und Ohrläppchen und Nasen und Oberkörper, und der Hammer an diesen Körperteilen ist: Sie sind mensch lich. »Er hat es geschafft«, sagt Glenda in einer vollendeten Mi 335
schung aus Ehrfurcht und Ekel. »Vallardo hat es tatsächlich getan.« »Es … es scheint so …« stottere ich. »Aber was – was ist denn verkehrt mit ihnen –« »Ich glaube – ich glaube, das sind die Mißgeburten«, erkläre ich. »Mißgeburten.« »Nichts gelingt ohne ein paar Fehlschlägen. Das sind die hier.« Wie auf Stichwort beginnen sie leise klagende Töne auszu stoßen, wie Katzenjunge oder Babies, die Hilfe und Fürsorge brauchen. »Aber er hat sie eingesperrt wie … wie Tiere.« Ich nicke. »Das sind sie in gewisser Weise auch –« »Wie kannst du so etwas sagen?« schreit Glenda beinahe und wendet sich mir wutentbrannt zu. Super – ausgerechnet zu ei nem Zeitpunkt wie diesem müssen Glenda Wetzels Mutterin stinkte ihr Debüt geben. »Es sind Babies, Vincent.« Wie benommen wandelt Glenda in die Mitte des Raumes und starrt mit offenem Mund auf die Unzahl von mißgebildeten Monstern um sie herum. Bevor ich sie aufhalten kann, greift sie in einen der Käfige und krault etwas, das aussieht wie eine Mensch-Hadrosaurier-Kreuzung, hinter einem grotesken Ohr. Das Wesen gurrt entzückt. »Sieh nur, Vincent«, sagt sie. »Es braucht nur liebevolle Zu wendung, das ist alles.« Ihre Miene verfinstert sich, und ihr Tonfall wird noch wütender. »Und dieser Mistkerl Vallardo sperrt sie einfach so ein.« »Ich bin ganz deiner Meinung, es ist falsch, und er sollte be straft werden«, sage ich, »aber dafür haben wir jetzt keine Zeit. Komm, Glen, laß es gut sein.« Glenda scheint anderer Meinung. Sie marschiert zu einer in die gegenüberliegende Wand eingelassenen Konsole und läßt die Finger über die Knöpfe huschen, während ihr Zorn jede Sekunde wächst. Und dabei passiert etwas Seltsames – je wü 336
tender Glenda wird, desto lauter werden die Geräusche in den Käfigen. »Denkt dieser Affenficker vielleicht, er könnte an der Natur herumpfuschen und dann die Babies hinter Gitter sperren? Ist das seine Wissenschaft? Macht ihm das Spaß?« »Glen, ich denke wirklich, wir sollten aufhören.« Die Käfige klappern jetzt, alle Geschöpfe sind hellwach und rütteln an den Gitterstäben ihres Gefängnisses. Das Gewimmer ist zu einem Gejohle angeschwollen, und es kann nicht mehr lange andau ern, bis Geschrei daraus geworden ist. Doch Glenda hört weder meine Einwände noch den lauter werdenden Lärm. Sie legt die Schalter vor sich um, und die zuvor tote und stumme Konsole leuchtet unter einem Energie schub auf. Ich haste zu ihr herüber, um sie unter allen Umstän den von dem abzuhalten, was sie möglicherweise im Sinn hat. »Ich werde es diesem Wichser zeigen, was es heißt, mit dem Gen-Pool herumzupfuschen«, brüllt sie. »Ich werde es ihm zeigen!« Und nun läßt die Menagerie der Mißgeburten so rich tig die Sau raus, sie springen in ihren Käfigen auf und ab wie eine Horde Affen, werfen ihre Körper gegen die Gitter, als wüßten sie, daß die Flucht unmittelbar bevorsteht, daß der Messias gekommen ist, sie von ihren Fesseln zu befreien. »Glenda, nicht –« rufe ich, als sie mit der Hand auf den Knopf schlägt, der alle Käfige gleichzeitig öffnet. Mit einem wilden kollektiven Kreischen, das Tarzan und sei ne Freunde aus dem Dschungel zutiefst beschämt hätte, regnen hundert grauenhafte Geschöpfe vom Himmel, die durch den Raum toben und auf Glendas und meinen Rücken springen. Der Angriff hat begonnen. Mein erster Gedanke ist, daß ich die Viecher falsch einge schätzt habe und sie tatsächlich nicht gefährlicher sind als ein Floh, doch das ist bald vorbei, als das erste an meinem Ohr zu knabbern beginnt und einen Fetzen meines Kostüms zusammen mit einem ordentlichen Stück Fleisch herausreißt. Ohne dar 337
über nachzudenken, greife ich hinter mich, packe es im Nacken – einem Nacken mit Knochenzacken? – und schleudere es wie einen Football durch den Raum. Es kracht an die gegenüberlie gende Wand und fällt zu Boden, wo es vollkommen unbeein druckt aufsteht und sich wieder in den Haufen zappelnder Kreaturen stürzt. Derweil kommen weitere der Viecher auf mich zu, springen mich an, wobei sie ihre stummeligen Ringelschwänze benut zen, um sich abzudrücken, die schrägen Mäuler weit offen, die rasierklingenscharfen Zähne auf meine Augen, mein Gesicht und jedes weiche Gewebe meines Körpers fixiert. Es ist eine tödliche Kombination – mit ihren menschlichen Fingern kön nen sie sich an meine Haut klammern, während ihre DinoZähne die Drecksarbeit erledigen. Durch das Getümmel sehe ich Glenda, die unter einem Haufen der Biester zu Boden ge gangen ist, und ich schüttele genug von den kleinen Dingern ab, um quer durch den Raum zu ihr zu gelangen. Meine Krallen stoßen durch mein Kostüm wie die Dornen einer Rose und zerfetzen alles, womit sie in Berührung kom men, als ich mich mit den Händen gegen Angriffe von vorn schütze. Mein bereits zuvor befreiter Schwanz kommt mir bei der Abwehr von Feinden in meinem Rücken gerade recht, und obwohl ich binnen zwei Minuten mehr als hundert Mal ge kratzt und gebissen worden bin, teile ich mehr aus, als ich ein stecke. Der Großteil des Blutes auf dem Boden des Käfigrau mes ist nicht meins. »Glenda!« rufe ich über das Gejaule und Gekreische hinweg und höre ein »Vincent!« als Antwort. »Alles in Ordnung?« schreie ich, während erneut ein ste chender Schmerz diesmal durch mein Handgelenk schießt. Als ich hinunterblicke, sehe ich ein Gebiß an einem mißgebildeten Stück Fleisch, das sich fest in meinen Arm gegraben hat. Ich schwenke den Arm auf und ab, so daß die Kreatur sich zusam menrollt, doch ihre Zähne sitzen tief in meinem Muskel. Ich 338
strecke die Unterkralle der anderen Hand und bohre sie durch den Kopf der Kreatur; sie stößt ein leises Schmerzenswimmern aus, bevor sie ihren Biß löst und tot zu Boden fällt. Und jetzt taucht Glenda neben mir auf, noch schlimmer zuge richtet als ich selbst, doch wir stehen beide aufrecht. In einer Ecke. Die Viecher weichen für einen Moment zurück, etwa siebzig der bösartigen Kobolde, keiner mehr als sechzig Zentimeter groß, inklusive Hörner. Sie gackern und kreischen noch immer wie ein Schwarm imitierter Tauben, doch die Laute haben ei nen gesprächsmäßigen Ton angenommen, als würden sie sich irgendwie untereinander verständigen und ihren nächsten An griff planen. »Okay, ich hab mich geirrt«, gibt Glenda zu. »Es sind keine süßen kleinen Dinger.« Ich sehe mich rasch um. Die Wand hinter uns ist vollkom men glatt, nichts, wo eine Hand oder ein Fuß Halt finden könn te. »Was jetzt? Sie haben uns in die Enge getrieben.« Und das scheinen sie zu wissen. Glenda und ich versuchen gleichzeitig einen Ausbruch nach links, doch sie schnellen vor, um unsere Flucht zu verhindern. Eine Bewegung nach rechts bringt das gleiche Resultat. »Wir sitzen in der Falle.« Die Geräusche werden wieder lauter, der Blutdurst der Krea turen erwacht aufs neue. In der hinteren Reihe der Horde gehen zwei von ihnen aufeinander los, kleine menschliche Finger und Dino-Krallen, ein Kampf auf Leben und Tod, kraftvolle Kiefer mit stumpfen menschlichen Zähnen, die instinktiv nach unge schützten Hälsen und Hauptschlagadern schnappen. »Lauf«, sagt Glenda. »Was?« »Hau ab und verriegle die Tür hinter dir. Ich kümmere mich schon um – das hier.« »Die werden dich umbringen.« »Vielleicht auch nicht. Hör zu, was du da herausgefunden 339
hast, ist so monströs, daß man es unbedingt aufhalten muß. Du hast diese Ermittlung begonnen, also sollst du auch derjenige sein, der sie zu Ende bringt. Ich habe das hier vermasselt, also werde ich mich den Konsequenzen stellen –« »Aber ich kann dich doch nicht allein zurücklassen –« »Himmel, Herrgott, verdammt noch mal, Rubio – lauf!« Und dann: »Finde sie, wie immer sie heißt. Nimm sie mit zurück nach L. A. Nennt ein Kind nach mir.« Ich habe keine Zeit zu widersprechen. Glenda ruft: »Hey, ihr häßlichen beschissenen kleinen Kobolde! Wie wär’s mit einem Bissen hiervon?« Mit diesen Worten springt sie nach links und tritt im Flug mit den Beinen um sich. Ihre Krallen zerkratzen Dutzende von Leibern, die sich schon auf sie gestürzt haben. Sofort verschwindet sie unter einem Haufen unreinen Fleisches und disparater Körperteile. In dem Chaos tut sich ein Korridor auf, in den ich mich stür ze, ohne mich umzudrehen, um mit Vollgas weiterzurennen. Eine der Baby-Mensch-Dino-Kreuzungen löst sich aus dem Rudel, hoppelt mir nach und schafft es, aus dem Raum zu schlüpfen, bevor ich die Tür zuschlagen und von außen verrie geln kann. Das Vieh stößt einen matten Warnschrei aus – von seinen Krippengenossen getrennt, klingt es eher erbärmlich als kraftvoll – und unternimmt einen vergeblichen Versuch, sich in meinem Schienbein festzubeißen. Ich reiße das Bein hoch, und die Kreatur fliegt an die Decke und landet mit einem dumpfen Platschen auf dem Boden. Lebwohl, Glenda. Auf daß du schnell dorthin kommen mö gest, wo immer wir hingehen. Ich wende ein altes Manöver zum Entkommen aus Labyrint hen an und halte mich an die rechte Außenwand des Gebäude komplexes, und schon bald wird das Summen lauter. Wahllos Türen aufreißend und immer in höchster Alarmbereitschaft wandere ich durch die Klinik. Die heruntergekommenen Teile des Gebäudes gehen langsam in neuere, renovierte, saubere 340
Sektionen über, und ich habe das Gefühl, daß es hinreichend sicher ist, meine blutbeschmierte Maske abzunehmen, meine echten Nasenlöcher freizulegen und gründlich herumzuschnüf feln. Da ist wieder dieser Chlorgeruch, diesmal vermischt mit dem Aroma von Rosen und Orangen, das ich erwartet hatte. Auch Vallardos Duft nach Anis und Pestiziden hängt in der Luft, und ich vermute, daß er sich vom selben Ort ausbreitet. Wie die Maus vom Lande im Zeichentrickfilm vom Duft des üppigen Gelages in der Stadt angezogen wird, folge ich meiner Nase weiter und weiter. Fünf Minuten später schlendere ich in das zentrale Labor der »Klinik« und werfe mit Lächeln um mich wie Magazine mit kostenlosen Probeabos. Theoretisch gibt es pro Kunden nur eins, doch ich gönne Vallardo und Judith McBride gleich je weils ein ganzes Dutzend. Die beiden erbleichen ob meines Anblicks, Vallardos grüne Triceratops-Haut kann den Schock nicht verbergen. Er erblaßt zu einer Yeti-weißen Farbe; wenn ich eine Kamera dabei hätte, könnte ich die zehntausend Dollar kassieren, die ein Boulevardblatt landesweit für einen Beweis, daß dieses Geschöpf wirklich existiert, ausgelobt hat. Alle – Vallardo, Judith und Jaycee (die hinter dem Doktor hervorgetreten ist) – mustern mich von oben bis unten. Ich spü re das Gewicht ihrer Blicke, ihrer unausgesprochenen Fragen. Wie gut ist er mit seinem untersetzten Körper? Kann ich es allein mit ihm aufnehmen? Können wir ihn zusammen erledi gen? Ich mache all dem mit einem Schlag meines Schwanzes und einem Brüllen ein Ende, das selbst meine eigenen Trommelfel le fast durchbohrt. Sie weichen zurück. »Ihr habt nicht einmal die Tür zum Labor abgeschlossen«, sage ich tadelnd und verfalle vom Knurren in einen Plauderton. »Ich bin wirklich enttäuscht von euch allen dreien.« Dann galoppiert Jaycee auf mich zu, offensichtlich im Zwei 341
fel darüber, was sie tun soll. Umarmt sie mich? Schiebt sie mich aus dem Raum? Sie wählt die sichere Lösung, bleibt ein paar Meter außerhalb meiner Reichweite stehen und sagt: »Vincent … du mußt verschwinden.« »Nein«, antworte ich. »Ich glaube, diesmal warte ich das En de der Vorstellung ab.« Ich weise auf die andere Seite des Labors, auf das größte Aquarium, das ich je innerhalb eines geschlossenen Gebäudes gesehen habe. Sea World kann Dr. Dr. Vallardo jedenfalls nicht das Wasser reichen. Das zehn Meter hohe Glasbecken nimmt eine ganze Hälfte der von der Großindustrie massiv ge sponsorten Forschungsstätte ein, man könnte den Indischen Ozean in das Ding kippen und hätte immer noch genug Platz für Lolita, den Killerwal. Doch in dem Bassin ist keine Lolita, und es tummeln sich auch keine Fische darin, nichts, was die Kinder unterhalten könnte, während sich die Eltern in Busch Gardens bräunen lassen. Dieser künstliche Mutterleib enthält nur ein einziges einsa mes Ei von knapp zwanzig Pfund Gewicht, das gut einen Meter unter der Oberfläche treibt und im Wasser von einer geflochte nen Hängematte getragen wird. Seine ansonsten albinoweiße Schale ist mit braunen und grauen Punkten gesprenkelt, und jeder Punkt ist über eine Elektrode und einen Draht mit einem Computer verbunden, der direkt außerhalb der Spritzzone auf gebaut ist. Die Vitalfunktionen werden als Lichtzeichen auf einen Monitor übertragen, Herz- und Hirntätigkeit werden durch einen regelmäßigen Piepton angezeigt. In der Schale zeigen sich erste Risse. Von meinem Stand punkt aus sind es drei, und ich vermute weitere auf der Rück seite. Irgendwas will raus. »Wann wolltest du mir denn diesen Teil erzählen?« frage ich Jaycee, wohlwissend, daß die Antwort lautet: nie. »Ich … ich konnte nicht«, gesteht sie und wendet sich an Vallardo und Judith um Unterstützung. »Wir … wir drei … 342
haben die Entscheidung getroffen, nichts zu sagen.« »Wir haben gar nichts entschieden«, sagt Judith ätzend. »Du hast entschieden, Jaycee.« »Ich habe getan, was ich tun mußte«, entgegnet das ColeoWeibchen, und ihre Krallen schnappen hervor und rasten ein. »Bevor wir mit der Vorstellung anfangen und ihr beide auf einander losgeht«, verkünde ich, »würde ich uns gern alle ent tarnen, okay? Jeder, der ein Kostüm abzulegen hat, soll das jetzt tun.« Eine Reaktion bleibt aus, alle drei starren mich an, als würde ich in Zungen reden. Vallardo und Jaycee haben ihre Kostüme schon vor einer Weile abgelegt; nur Judith McBride verharrt in menschlicher Gestalt, was mich nicht überrascht. »Hier«, sage ich, »ich fange an, wie wär das?« Ich schäle mich mit der Routine einer Stripperin aus meiner verbliebenen Kleidung, löse nonchalant Gürtel, Klammern und Bänder und präsentiere meinen natürlichen Körper in Lebensgröße. Meine Kiefer schnappen in die Luft, mein Schwanz streicht zufrieden hin und her, und ich stoße mein schreckliches Brüllen aus und knirsche nur zum Spaß mit meinen schrecklichen Zähnen. »So«, sage ich, »und jetzt hebt jeder, der ein Dino ist, die Hand.« Ich fange selbst an, um die Welle in Schwung zu brin gen. Bald haben auch die drei anderen zögernd eine Hand ge hoben. Ich trete vor Judith McBride, deren linke Wange unter einem besonders amüsanten Muskelzucken zu leiden scheint, lege meinen Arm auf ihren und drücke ihn wieder nach unten. »Kommen Sie, Mrs. McBride. Sind Sie bezüglich Ihrer eigenen Identität schon derartig verwirrt?« »Ich – ich weiß nicht, was Sie meinen«, stottert sie. »Ich bin ein Carnosaurier, das wissen Sie doch. Sie haben die Geschich ten gehört, Sie haben die Bilder gesehen. »Wohl wahr, wohl wahr«, sage ich, nicke theatralisch und wandere in einem immer enger werdenden Kreis um sie herum. Ah, wenn ich nur meinen Hut und meinen Trenchcoat noch 343
hätte. Ich entdecke einen weißen Kittel an einem Haken an der Wand und frage Vallardo, ob ich ihn mir für eine Minute aus leihen darf. Er ist zu verwirrt, um zu widersprechen, also schlüpfe ich in den langen Kittel und spüre sein angenehmes Gewicht auf den Schultern. »Ich habe die Bilder gesehen, Mrs. McBride, sowohl von Ih nen als auch von Ihrem toten Mann. Und sie waren wirklich ein prachtvolles Carnosaurier-Paar. Und ja, ich habe die Geschich ten gehört. Die Gerüchte. Die Legenden von dem Carnosaurier Raymond McBride und seinem illustren Kreis von DinoFreunden. Unterhaltungskünstler, Geschäftsleute, Staatsober häupter. Sehr gediegen.« Jaycee unterbricht mich. »Vincent, ich glaube, das ist wirk lich nicht der richtige Zeitpunkt –« »Aber ich muß euch erzählen, daß ich im Laufe der Jahre ei nige Blessuren abgekriegt habe und meinen Sinnen nicht mehr so trauen kann wie früher. Auf meine Ohren zum Beispiel setze ich seit jenem kleinen Jagdausflug nicht mehr viel, den ich vor etwa zehn Jahren mit einer Horde Menschen unternommen habe. Diese waffengeilen Arschlöcher haben mit schwerer Ar tillerie auf Zehnender angelegt und ihre Dinger direkt neben meinem Kopf abgeschossen. Drei Tage und weiß der Himmel wie viele Schüsse später hatte sich das obere Register meines Hörvermögens verabschiedet. Ja, ich habe die Geschichten gehört, wie Sie sagen, ich hab sie gehört, aber das heißt nicht, daß ich dem, was ich gehört habe, auch trauen kann. Meine Augen? Vergessen Sie’s. Ich bin eine Weile mit schlechter Sicht herumgefahren, bevor ich klug geworden bin und meine Glubscher habe untersuchen lassen, und ich kann Ihnen sagen, die Hälfte der Zeit wußte ich nicht, ob ich vor einer roten Ampel stand oder mir eine echt langweilige LaserShow angeguckt habe. Ich habe Kontaktlinsen so dick wie Co laflaschen, so schlecht ist mein Sehvermögen. Das heißt, viel leicht habe ich diese Bilder, die ich von Ihnen und Raymond, 344
hübsch verkleidet als Carnosaurier, gesehen habe, nicht so ge sehen, wie ich sie hätte sehen sollen. Ich kann meinen Augen einfach nicht trauen. Geschmackssinn? Damit will ich gar nicht erst anfangen. Ich liebe scharf gewürztes Essen, eine Angewohnheit, die meine Geschmacksnerven matt setzt. Nach zehn Jahren von Tante Marges Jamabalaya, na ja … denen kann ich also auch nicht mehr trauen. Tastsinn? Nun, so nahe sind wir beide uns nie gekommen. Doch wie dem auch sei, es gibt Silikon, und es gibt die Polyfasern, die wir alle kennen und lieben, meinem Tast sinn kann ich also auch nicht trauen, oder? Das heißt, mir bleibt eigentlich nur ein Sinn, auf den ich mich deswegen mehr als auf alle anderen verlassen muß. Ich bin sicher, das können Sie verstehen. Ich lebe von meiner Nase, Mrs. McBride, und ein echter Di no vergißt nie einen Geruch. Man kann einen Duft nicht vor täuschen, aber man kann es, wie Sie sehr gut wissen, versu chen. Sie können sich wirklich anstrengen. Aber am Ende …« Ohne ihren Protest und ihr Flehen, ihre rudernden Arme und die Schläge auf meinen Hals und in mein Gesicht zu beachten, nehme ich Judith McBride in den Schwitzkasten und greife mit der freien Hand in das dichte Haar über ihrem Nacken. Leicht und schnell habe ich gefunden, wonach ich suche. Es ist mit dem beliebten Epoxidharz an ihre Kopfhaut geklebt, und ich reiße es ab. Sie schreit vor Schmerz auf. Das Säckchen ist mit Chlorpulver, getrockneten Rosenblü tenblättern und Orangenschalen gefüllt, die Mischung ver strömt dank permanenter Stromzufuhr von einer Knopfzelle in dem Säckchen über dünne Kupferdrähte kleine Wölkchen künstlichen Dino-Duftes. Ich wedele das Geruchskissen vor ihrer Nase, als würde es dampfende Hundescheiße enthalten, und knurre: »Das ist Ihr Geruch, die Chemikalien in diesem Säckchen, und das ist das einzige, wodurch Sie uns je auch nur entfernt ähnlich gewesen 345
sind. Ich habe das Gefühl, Ihr Mann war genau wie Sie, stimmt’s, Mrs. McBride? Sie sind kein Dino«, sage ich voller Abscheu. »Sie … Sie sind nichts weiter als ein gewöhnlicher Mensch.« Einsatz der dramatischen Musik, Reprise. Mein Triumph ist vollkommen; Judith bringt kein Wort her aus, sondern klappt ihren Mund nur abwechselnd auf und zu, während ihre Augenlider unkontrollierbar flattern. Ein ver dammter Mensch, ich sollte sie gleich an Ort und Stelle töten, nicht nur, weil es meine Pflicht ist, sondern allein aus Prinzip. Mich derart anzulügen, mich kreuz und quer durch das Land zu jagen. Doch Vallardo unterbricht uns alle mit einem abgerissenen Keuchen, das Dinos wie Pseudo-Dinos gleichermaßen aufmer ken läßt. »Das Ei«, flüstert er ehrfürchtig. »Es ist soweit.« Unsere Blicke wandern unisono durch das Labor und verhar ren bei dem einsamen Bewohner des weit offenen Beckens. Die wenigen Risse, die ich zuvor ausmachen konnte, haben sich zu einem Spinnennetz ausgeweitet, das die gesamte Ober fläche des Eies überzieht und Sekunde für Sekunde neue Fäden bildet. Vallardo tippt ein paar Befehle in den Computer, und ein Außenlautsprecher schaltet sich ein und verstärkt die Ge räusche, die in dem Becken widerhallen. Ein Knacken, ein Knistern und … könnte das ein Schrei gewesen sein? »Komm schon, Baby«, murmelt Jaycee. »Du schaffst es. Schlüpf aus, für Mama.«
20 Vallardo hastet unbeholfen an den Rand des Bassins und packt eine Reihe von Flaschenzügen, zerrt die Seile nach unten und knotet sie an einen im Boden eingelassenen Anker. Die linke Seite der Hängematte, auf der das Ei liegt, hebt sich ein wenig 346
aus dem Wasser, so daß zur Wahrung des Gleichgewichts auch die rechte Seite angehoben werden sollte. »Die andere Seite!« ruft Vallardo durch den Raum, und ich glaube, er redet mit mir! Ich bin zwar nicht gekommen, um Geburtshilfe zu leisten, doch ich schätze, wenn ich mitten in der Lösung des Falles als Hebamme tätig werden muß, wäre das nicht das Schlimmste. »Und was jetzt?« frage ich, als ich die Seile erreicht habe. Mein Winkel zu dem Becken ist spitzer, und das Wasser ver zerrt das Ei zu einem länglichen ovalen Klecks. Doch über die Verstärkeranlage kann ich noch immer das Knacken hören und weiß deshalb, daß das Ei oder sein Inhalt nach wie vor aktiv ist. »Wenn ich bis drei gezählt habe«, ruft Vallardo mir zu, »zie hen Sie das Seil bis zu der gelben Markierung herunter!« Ich blicke auf – gut drei Meter entfernt verfärbt sich das Tau zu einem Gelbbraun – und rufe zurück, daß ich bereit bin. Vallar do zählt, und wir hieven die Hängematte hoch. Es geht leichter, als ich erwartet habe, meine Muskeln hatten sich auf größere Anstrengungen eingestellt. Meine überschüs sige Kraft zieht das rechte Ende der Hängematte höher als das linke, und das Ei beginnt zu rutschen. »Nein!« kreischt Jaycee und stürzt sich auf die Seile und Val lardo. Ihr zusätzliches Gewicht führt dazu, daß sich die Matte auf ihrer Seite erneut höher hebt, was mich zwingt, dagegen zu halten, und einen Moment lang zerren wir hektisch an unseren Seilen, um die noch ungeborene Kreatur zu stabilisieren, die auf dieser Hängematte hin und her rollt. »Vorsicht!« warnt Vallardo uns, als wüßten wir das nicht selbst. »Es darf nicht runterrutschen!« Jaycee vertäut ihr Seil an dem Anker, stürmt zu mir rüber und verpaßt mir eine saftige Ohrfeige. »Das hast du mit Ab sicht gemacht«, sagt sie. »Du willst, daß es stirbt.« »Ich will nichts dergleichen«, sage ich. »Ich möchte lediglich Mrs. McBride vor den nationalen Rat bringen und ihn ent 347
scheiden lassen, wie mit ihr zu verfahren ist. Ich bin erstaunt, daß du sie nicht schon getötet hast.« »Das hätte sie auch beinahe«, sagt Judith. »Aber wir sind statt dessen zu einer Übereinkunft gekommen.« Wir drehen uns zu dem menschlichen Eindringling um und stellen fest, daß Judith eine Pistole in der Hand hat. Ich wußte es, die Bösen haben immer eine Pistole. Aber ich hatte nicht erwartet, daß ihre Pistole so … groß ist. Der riesige Revolver zieht ihre Hand nach unten, ihr schmächtiges menschliches Handgelenk zittert vor Anstrengung, ihn hochzuhalten. Judith macht mir mit dem Lauf ein Zeichen, mich von dem Bassin zu entfernen, und Jaycee und Vallardo folgen mir widerwillig. »Das Ei …« sagt der Doktor. »Wir müssen darauf aufpas sen.« »Ich werde auf das Ei aufpassen«, faucht Judith. »Es ist mein Kind, ich bin durchaus in der Lage, mich darum zu kümmern.« Jaycee verliert die Beherrschung, ein plötzlicher Ausbruch von Haß treibt sie mit peitschendem Schwanz und gefletschten Zähnen durch den Raum; sie rauscht so schnell an mir vorbei, daß ich nur einen braunen Streifen Zorn an meinem Gesicht vorbeihuschen sehe. Alles spielt sich wie in Zeitlupe ab, nur ohne Kommentar: Judiths Reflexe erwachen schlagartig zum Leben, sie reißt den Revolver hoch, den Lauf von der Größe eines Hula-Hoop-Reifens, und die Kammern sind offensicht lich geladen und bereit, ihre Geschosse abzufeuern – meine Lungen sind wie von einer Lähmung befallen und weigern sich, einen Atemzug zu tun, mit dem ich das obligatorische Nein! schreien könnte – Vallardo wirft sich vor das Bassin, bereit, eine Kugel, einen Pfeil, einen Sprengkopf oder was auch immer abzufangen, um es zu schützen – Judiths Finger drückt hart auf den Abzug, ihre Lippen verziehen sich zu einem be friedigten Grinsen – Und dann ein weiterer vorbeihuschender Schatten, diesmal einigermaßen unerwartet, ein vage Hadrosaurier-förmiges We 348
sen, das durch die Tür des Labors und auf das kaum zu verfeh lende Ziel Judith McBride kracht. Aus der Waffe löst sich ein Schuß, und sein Widerhall dröhnt in meinen bereits beschädig ten Gehörgängen. Betonbrocken fallen von der Wand hinter mir und regnen in spitzen weißen Splittern herab. Eine Scherbe bohrt sich in mei nen Schwanz. Der Schmerz ist schier unerträglich, aber ich beachte ihn gar nicht. Glenda rappelt sich auf und befördert Judiths Waffe mit ei nem Tritt, der auch Mrs. McBrides Brustkorb trifft, in die ge genüberliegende Ecke des Labors. Die Menschenfrau keucht stöhnend und rollte sich wie ein Fötus zusammen. »Wofür ist die Knarre, verdammt noch mal?« wendet sich ei ne blutüberströmte Glenda an mich. Ich zucke die Achseln. Glenda fährt wieder zu Judith herum, beugt sich zu ihr herun ter, packt ihre Wangen und zieht die Witwe dicht an sich. »Wofür brauchst du die Knarre, verdammt noch mal?« Judiths Antwort ist nicht mehr als ein schmerzvolles Stöh nen. »Glenda – alles okay?« »Mir tut alles weh, aber ich lebe noch, ja. Wirklich fiese kleine Affenficker, die Sie in diesen Käfigen halten, Doc.« Vallardos Miene bleibt unverändert, das heißt, schwer zu deuten. »Wie geht’s dem Ei, Doc?« »Alles stabil«, sagt er. »Wir haben noch ein wenig Zeit.« »Dann werde ich da weitermachen, wo ich aufgehört habe. Wenn irgendwer nicht mehr durchblickt, soll er mich unterbre chen.« Ich vergewissere mich, daß mein Laborkittel-Trench in der Taille fest gegürtet ist, schlendere zu Jaycee hinüber und lege meinen Arm um ihre Schulter. »Es muß anstrengend sein, sich ständig etwas auszudenken«, sage ich. »Lügen kostet viel Kraft.« Sie versucht mich mit einem »Vincent, ich –« zu unterbre 349
chen, doch ich schenke ihr wie versprochen keine Beachtung, sondern fahre ihr statt dessen barsch über den Mund. »Spar dir die Mühe«, sage ich. »Ich werde es so erzählen, wie es ist, also unterbrich mich nicht, auch wenn du das alles schon einmal gehört hast. Das meiste, was du mir erzählt hast, stimmte«, beginne ich, meine Bemerkungen weiter an meine einmalige (aber fünf Mal!) Geliebte richtend. »Du hast nur ein paar entscheidende Sachen ausgelassen. Ja, Judith McBride hatte eine Affäre mit Donovan und, ja, du hast angeboten, einen Menschen zu spie len, um Raymond im Namen des Rates in eine Falle zu locken. Vielleicht bist du ja auch wirklich auf ihn abgefahren, wie du gesagt hast, und das ist alles schön und gut. Ich sage dir, ich bin aus reinem Zufall in diesen Fall geraten, wußtest du das? Ich wurde von der Versicherungsgesellschaft engagiert, die Donovan Burke Schadenersatz für den Brand im Evolution Club zahlen sollte. Und von Anfang an hat irgend was nicht gestimmt – die Feuerwehr wurde alarmiert, bevor irgendein Zeuge die Flammen gesehen hatte. Beinahe so, als sollte es ein kontrolliertes Feuer sein, das nur einen Teil des Gebäudes ausradiert, ohne den ganzen Laden abzufackeln.« An dieser Stelle mache ich eine Pause, um die Einwände der Komplizen abzuwarten. »Wir wollten niemanden verletzen«, sagt Jaycee schließlich. »Vor allem Donovan nicht.« »Aber ihr mußtet dafür sorgen, daß diese Papiere verschwin den, stimmt’s? Und der eingefrorene Embryo – nachdem du dieses Baby hier hattest, mußtest du alle weiteren Beweise ver nichten. Warum konntet ihr Donovan nicht einfach bitten, sie euch zurückzugeben?« »Ja, ja, nun … er wollte sie mir nicht geben«, sagt Vallardo, der sich von seinem Computer abgewandt hat, um sich an dem Gespräch zu beteiligen. Im Hintergrund sehe ich, wie die brü chige Schale unter den andauernden Angriffen des Wesens 350
darin weiter zerbröselt. Es kann jetzt nicht mehr lange dauern. »So einfach, ja? Er dachte, jemand würde mich zwingen«, fährt Vallardo fort, »und er wollte mich schützen. Donovan war … sehr loyal.« »Ha!« schnaubt Jaycee und sagt nichts weiter zu der Angele genheit. Ich wende mich wieder Vallardo zu und sage: »Loyal, gewiß. Vor allem nachdem Sie ihm seinen Club in Los Angeles finan ziert haben. Sie brauchten einen Ort, wo Sie eine zweite Kopie Ihrer Arbeit deponieren konnten, ein sicheres Versteck, und er brauchte einen neuen Job. Wer würde je in einem Nachtclub in L. A. nach derart brisantem Material suchen? Das Schlimmste, was dort abgeht, ist ein bißchen Gefummel auf den Klos. Aber die eigentliche Frage ist, warum Sie diese Art von Ar beit überhaupt begonnen haben? Und dafür müssen wir ein wenig weiter zurückgehen.« Ich dehne meine Finger, als wollte ich meine Knöchel knacken lassen – was ich in Wahrheit gar nicht kann, weil meine festen Raptor-Gelenke nicht hinrei chend luftdurchlässig sind –, gehe zu der noch immer am Bo den liegenden Judith und ziehe sie auf die Füße. Sie sackt in meinen Armen zusammen, doch ich weiß, daß sie mich hört, und ich glaube, daß sie sprechen kann. »Wann haben Sie und Ihr Mann damit angefangen vorzutäu schen, Sie wären Dinos?« frage ich, und Glenda fällt fast in Ohnmacht. »Vorzutäuschen?« fragt sie. »Ich glaube, ich komme nicht mehr mit.« »Es ist genauso, wie es sich anhört. Wir verkleiden uns jeden Tag als Menschen, und sie hat sich bei Bedarf als Dino ver kleidet. Damit kommt sie jetzt seit mindestens fünfzehn Jahren durch; jeder denkt, sie wäre ein Carnosaurier, verkleidet als matronenhafte Witwe, während sie in Wahrheit ein als Carno saurier verkleidetes, kaltschnäuziges Stück Dreck ist.« Ich grei fe eine Hautfalte unter Judiths Arm, sie löst sich nicht, und die 351
Frau wimmert. Glenda, die langsam zu begreifen beginnt, zupft ebenfalls an ihr. »Also, nur damit ich das richtig verstehe … die hier ist ein Mensch, der vorgibt, ein Dinosaurier zu sein, der vorgibt, ein Mensch zu sein?« »Genau«, sage ich, und Glenda läßt jeden Anschein von Höf lichkeit fahren, stürzt auf Judith zu und reißt sich mit einer ge übten Behendigkeit, wie ich sie noch nie gesehen habe, die Maske vom Gesicht. Das muß ein Guinness-Buch-reifer De maskierungsrekord gewesen sein. Doch ich reiße Judith zur Seite, weg von dem plötzlich aufgerissenen Schnabel des Ha drosauriers, und bringe sie an der gegenüberliegenden Wand in Sicherheit. »Weg da, Vincent!« knurrt Glenda. »Wir müssen sie töten, so lauten die Regeln. Sie ist ein Mensch, sie weiß Bescheid, sie muß sterben.« »Ich kenne die Regeln, Glen, glaub mir. Aber dies ist eine besondere Situation. Wir werden sie vor den Rat bringen«, sa ge ich. »Der wird entscheiden, was mit ihr geschehen soll.« Glendas und meine Blicke treffen sich, und ich bitte sie stumm, für den Moment Gnade walten zu lassen. Auf meinem Informa tionsblatt gibt es immer noch Lücken, die ausgefüllt werden müssen. Widerwillig weicht Glenda zurück und wischt sich mit ihren kurzen braunen Armen den Geifer vom Schnabel. Ich muß sie im Auge behalten – sie ist immer noch heiß darauf, Judiths Blut zu schmecken. »Was ich gern wissen würde, ist, wie sie überhaupt von uns erfahren und wer uns verraten hat.« Ich fahre erneut zu Mrs. McBride herum und starre in diese leeren Augen. »Wollen Sie mich nicht aufklären?« »Es war seine Ba-Ba«, sagt Jaycee, die für einen Moment den Part des Geschichtenerzählers übernimmt. »Raymonds BaBa.« »Was, zum Teufel, ist eine Ba-Ba?« »So hat er seine Adoptivmutter genannt, Kindersprache für 352
Barbara. Raymonds Eltern sind gestorben, als er noch ein Kleinkind war, und er kam zur besten Freundin seiner Mutter, die zufällig eine Carnosaurierin war. Er hat nicht viel über sie gesprochen, aber ich weiß, daß sie ihn als Dino erzogen hat, ihn gelehrt hat, wie man sich Duftsäckchen macht, wie man sich benimmt, wie man sich verkleidet und wie man sich in der Dino-Welt präsentiert. Er ist Judith begegnet, als sie als Kellnerin in Kansas gear beitet hat, hat sie mit dem einzigen Leben bekannt gemacht, das er wirklich kannte – mit dem eines Dinos – und ihr erlaubt, die Wahl zu treffen, als was sie ihr Leben leben wollten, als Menschen oder als Pseudo-Menschen. Sie haben beschlossen, sich als Dinos auszugeben, und sind nach New York gezogen, um eine größere Gemeinde ihrer – unserer – Art zu finden. Raymonds geschäftlicher und Judiths gesellschaftlicher Auf stieg, alles nur durch ihre Dino-Beziehungen. Die Gattung zu wechseln kann sehr lukrativ sein.« Ich bedanke mich bei Jaycee für ihren Beitrag zu unserem abendlichen Symposium und übernehme wieder, erpicht dar auf, allen Anwesenden mein Talent beim Lösen von Kriminal fällen zu demonstrieren. »Ich wußte, daß etwas nicht stimmte, sobald ich Ihr Büro betreten hatte«, erkläre ich Judith, »aber ich bin ums Verrecken nicht drauf gekommen, was es war. Ihr Duft war natürlich irgendwie seltsam, aber nicht seltsam ge nug, um sofort meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich habe Ihrer Sekretärin Donovans Namen nur genannt, um Zutritt zu Ihrem inneren Heiligtum zu bekommen, und ich hatte erwartet, daß das nur so lange gutgehen würde, bis Ihnen mein erster Dufthauch in die Nase steigt. Aber wir haben eine gute Minute miteinander verbracht – wir haben uns sogar umarmt! –, und Sie dachten noch immer, ich wäre Donovan, in einem an deren Menschenkostüm. Und genau das war das Problem, die erste Ahnung eines Verdachts, obwohl ich es erst viel später begriffen habe – sie konnten mich nicht riechen! Im weiteren 353
Verlauf des Gespräches habe ich Sie aufgefordert, Jaycees Ge ruch zu beschreiben, als Hinweis, um sie aufzuspüren, und Sie haben gezögert und sind mir ausgewichen. Sie konnten mir nicht sagen, wie sie riecht, weil Sie es nicht wußten. Einfacher ausgedrückt, menschliche Nasen sind schlicht beschissen. Ein weiteres Indiz war das Duftsäckchen, das ich in Dan Pat tersons Haus gefunden habe. Sie erinnern sich doch an Dan Patterson, oder? Der Polizei-Sergeant in Los Angeles, den Sie haben umbringen lassen? Nicht übel, ihren Killern zu sagen, sie sollten Messer benutzen, um Dino-Spuren vorzutäuschen, aber selbst ein blutiger Amateur-Forensiker wie ich kann auf drei Meter Entfernung einen Messerstich von einer Krallenver letzung unterscheiden.« »Sie sollte ihm nichts tun«, wirft Jaycee ein. »Sie sollte bloß die Dokumente besorgen.« »Und Nadel?« »Er wollte dir die Fotos geben, die echten Fotos.« »Und Ernie?« frage ich. »Sollte sie Ernie was tun?« Jaycee wendet den Kopf ab. »Davon habe ich erst sehr viel später erfahren.« »Nachdem sie ihn getötet hat?« »Ja.« »Wie haben Sie es gemacht?« frage ich, nun meinerseits be reit, meine Zähne in Judith McBride zu schlagen. Mein Griff um ihren Hals wird fester, und wenn ich nur noch ein wenig nach links drücken würde, könnte ich ihn mit einem einzigen lockeren Schlag brechen. »Wie – haben – Sie – es – gemacht?« Wieder meldet sich Jaycee zu Wort. »Sie hat mir erzählt –« »Um dich kümmere ich mich gleich«, sage ich schlicht, wo bei ich meinen wachsenden Zorn knapp unter der Hochwas sermarke halte. »Im Moment bin ich mit dieser Menschenfrau hier beschäftigt.« Wieder an Judith gewandt: »Erzählen Sie es mir, oder Sie sterben gleich hier an Ort und Stelle, scheiß auf 354
den Rat.« »Es war ganz leicht«, seufzt Judith. »Ein paar Schläge auf den Kopf, eine falsche Zeugenaussage.« »Und warum?« »Weil er uns zu nahe gekommen war. Sie hatten Glück mit diesen beiden Schwachköpfen in dem Wagen, sonst würden Sie ihm jetzt Gesellschaft leisten.« Ich schleudere Judith zu Boden und laufe vor ihrem ausge streckten Körper auf und ab. Ich muß wieder zur Tagesordnung zurückkehren. »Ich habe also das Säckchen mit den Spuren von Chlor in Dans Arbeitszimmer gefunden und es mit dem Swimming-Pool-Zubehör verglichen, das Ihnen heute zuge stellt worden ist.« Ich schlendere zu meiner Hose, die in einem zerknuddelten Haufen auf dem Boden liegt, durchsuche meine Taschen und ziehe den gelben Benachrichtigungsschein heraus. Ich gebe ihn Judith, die ihn wie eine Schlafwandlerin entge gennimmt und auf den Zettel starrt. »Zwei Päckchen warten in der Paketannahme auf Sie«, erkläre ich ihr. »Geöffnet bis neun Uhr.« »Und was hat all das zu bedeuten?« frage ich mein gebanntes Publikum. »Es bedeutet, daß Judith ein Mensch ist und Ray mond ein Mensch war und daß sie in der Tat beide mit einer anderen Gattung herumgemacht haben, doch diese andere Gat tung waren wir Dinos.« Ich fahre herum und fort: »Judith hatte ihre kleine Affäre mit Donovan, und sie war in Wirklichkeit auch diejenige, die die Experimente gesponsert hat, nicht wahr, Doc? Es war Judith, nicht ihr Mann, die unter dem DresslerSyndrom litt. Sie war diejenige, die ein Menschen-Dino-Kind wollte.« Vallardo nickt, endlich einmal geschlagen. »Sie suchte nach einer Möglichkeit, ein Kind mit einem Raptor zu haben, ja? Aber es hat nicht funktioniert.« »Warum nicht?« »Dinosaurier-Samen, ein menschliches Ei. Der Wachstums 355
prozeß des Fötus ist nicht korrekt verlaufen … Die Kreuzungen brauchen die umgekehrte Situation, wenn sie sich in der dino spezifischen zehnmonatigen Brutphase richtig entwickeln sol len, ja? Menschliches Sperma und ein Dino-Ei, eine harte äu ßere Schale. Ansonsten …« »Ansonsten kommen sie mißgebildet zur Welt. Wie diese Biester, die Sie in den Käfigen halten. Und das Ungetüm, das mich vor der Klinik angegriffen hat.« Ein Nicken von Vallardo. »Meine früheren Experimente. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie zu eliminieren.« »Ach ja«, sagt Glenda, »Sie haben wirklich ein Herz aus Gold, Doc.« »Als Judith klarwurde, daß sie kein eigenes Dino-MenschenKind haben konnte, beschloß sie, daß der Doktor eines von Jaycees Eiern benutzen sollte – die er bei seinen früheren Ver suchen mit ihr und Donovan bereits entnommen und eingefro ren hatte – und das fruchtbare Sperma ihres Mannes. Es würde zwar nicht im genetischen Sinne ihr leibliches Kind sein, aber es käme dem schon verdammt nahe. Vallardo hätte das Kind gemacht, Judith hätte es als ihr eigenes groß gezogen, und nie mand wäre dahinter gekommen. Und dann – nun, ich kann den ganzen lieben langen Tag Vermutungen anstellen, aber das würde uns der Wahrheit nicht näher bringen. Warum erzählst du es uns nicht, Jaycee?« »Wenn du so genau Bescheid weißt …«, gibt sie verbittert zurück. »Mir wäre es lieber, du würdest es uns erzählen. Berichte aus erster Hand sind immer spannender.« Alle Blicke wandern zu Jaycee, und vermutlich überwindet der Druck des Schweigens ihren Wunsch, nichts zu sagen. »Ich wollte Raymond eigentlich nur schöne Feiertage wünschen, das war alles«, beginnt sie. »Das Büro war verlassen – das ganze Gebäude – es war Heiligabend, aber Raymond hat wie üblich noch gearbeitet, irgendwelche Sachen in letzter Minute erle 356
digt. Ich hatte ihm schon eine Weile in den Ohren gelegen, mir für den Silvesterabend zuzusagen, weil ich Pläne für uns ge macht hatte. Er hatte Probleme, sich aus der Party mit der Mrs. herauszureden« – Judith und Jaycees haßerfüllte Blicke prallen in der Mitte des Raumes aufeinander, wo sie harmlos explodie ren –, »und ich habe ihm geholfen … Vorwände zu erfinden. »Ich weiß nicht, was mich getrieben hat, aber als wir an sei nem Schreibtisch saßen, ich auf seinem Schoß, und über die Ferien und unser Baby und das wundervolle Leben gesprochen haben, das wir haben würden, empfand ich eine solche … Lie be möchte ich nicht sagen, aber Nähe … Was auch immer, ich mußte es ihm sagen. Die Wahrheit. ›Ich muß dir etwas zeigen‹, habe ich zu ihm gesagt, und er hat gelacht und gefragt, ob ich mich ausziehen wollte. ›Gewis sermaßen‹, habe ich geantwortet. Also habe ich mich in die Mitte des Zimmers gestellt, habe alle meine Kleider ausgezo gen und auch mein Kostüm abgelegt. Da stand ich, ein nacktes Coleophysis-Weibchen, und wartete auf seine Reaktion. Raymond war still. Sehr still. Ich dachte, daß er wütend auf mich war, weil ich ihn getäuscht hatte, daß er mich vielleicht hinauswerfen und den Sicherheitsdienst rufen lassen wollte … Aber heute weiß ich, daß er seine Optionen erwogen hat. Schließlich sagte er, ich solle wieder am Schreibtisch Platz nehmen, und erzählte mir seine Geschichte. Wie er erzogen wurde. Woher er kam. Und wer er wirklich war. Er wollte eine Vereinbarung zwischen den Menschen und den Dinos herbeiführen, er wollte unsere Art so friedlich wie möglich mit seiner Art bekanntmachen. Er war ganz aufgeregt und erzählte mir, daß er derjenige sein könnte, der der Dino saurier-Gemeinde zu ihrem Coming-Out verhelfen würde. ›Uns aus den dunklen Hinterzimmern hinauszuführen‹, wie er sich ausdrückte, war sein größter Traum, und er wollte, daß ich die jenige sein sollte, mittels derer es geschehen könnte. Ich weiß nicht, ob er Freude, Schock oder Entsetzen erwartet 357
hat, und ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was ich in dem Mo ment empfunden habe. Mir blieb keine Zeit zum Nachdenken; du weißt ja, wie das ist. Ich weiß, daß du es weißt. Alle von uns sind schon einmal das Opfer unserer Instinkte geworden, das ist das Kreuz, das unsere Gattung zu tragen hat – du hast ver sucht mich umzubringen, als du dachtest, ich wäre ein Mensch, der dich ohne dein Kostüm überrascht hat, Vincent; und wir haben gerade die Reaktion deiner Partnerin auf Judith gesehen. Es ist angeboren, und mehr noch, es ist das, was uns vom er sten Tag an eingebleut wird: Wenn ein Mensch Bescheid weiß, muß er sterben. An den eigentlichen Angriff kann ich mich kaum noch erin nern. Ganz ehrlich nicht. Ich weiß nur noch, daß ich in einer Lache von Blut, das nicht mein eigenes war, wieder zu mir gekommen bin und Raymond, den ich inzwischen gern mochte, tot daliegen sah. Doch der Trieb hat weiter in mir rumort, und ich habe mich gewaschen, mich auf Raymonds Schreibtisch stuhl gesetzt und auf Judith gewartet, die, wie ich wußte, bald eintreffen würde. Mein Plan war, auch sie zu töten, das Büro zu verlassen und in ein anderes Land zu verschwinden: Jamaica, Barbados, die Philippinen. Ich habe gehört, Costa Rica hat einen hohen DinoAnteil. Der Plan war, irgendwo zu leben, wo ich nicht unter Menschen sein mußte, weil die mir in meinem Leben genug Kummer bereitet hatten.« Judith rührt sich und rappelt sich auf die Füße, wobei sie Glenda und mich besorgt im Auge behält. »Sie hat mich ange griffen, als ich hereinkam. Ist mir an die Kehle gegangen.« »Du kannst von Glück sagen, daß ich dich nicht gleich dort getötet habe«, sagt Jaycee, bevor sie sich wieder mir zuwendet. »Aber sie hat mich dazu gebracht, eine Sekunde von ihr abzu lassen und mir dann von dem Baby erzählt. Von meinem Ba by«, fügt sie, wieder an Judith gewandt, hinzu. »Sie hat gesagt, sie würde das Experiment weiter finanzieren, und ich könnte 358
das Kind nach der Geburt als mein eigenes großziehen. Wenn ich sie töten würde, würde auch das Experiment ster ben. Wenn ich es dem Rat erzählen würde, würde der mit Si cherheit das Ei zerstören und sämtliche Unterlagen von Dr. Vallardo vernichten. Also haben wir einen Deal gemacht.« Jaycee hält inne, atmet tief ein und blickt auf ihr Publikum, das sie so routiniert in ihrer schlanken gebräunten Hand gehal ten hat. »Und das ist alles. An jenem ersten Abend, als du in den Nachtclub gekommen bist und ich den Brief von Dr. Val lardo bekommen habe – das war ein Fehlalarm.« »Das Ei zeigte Dehnungstendenzen am lateralen Äquator«, verteidigt sich der Arzt. »Ich dachte, es wäre das beste, Sie rufen zu lassen.« »Wie auch immer«, sagt Jaycee, »es war ein falscher Alarm. Aber ich bin mit Dr. Vallardo in Kontakt geblieben, und ge stern nacht … nun, gestern nacht war wundervoll, Vincent. Ich hätte das um nichts in der Welt verpassen wollen. Doch als ich den Doktor anrief und er sagte, ich solle sofort nach New York zurückkehren, es würde losgehen … Kannst du es mir zum Vorwurf machen, daß ich das nicht verpassen wollte?« »Natürlich nicht«, sage ich ehrlich. »Aber du hättest mich ja nicht gleich betäuben müssen.« »Eine notwendige Vorsichtsmaßnahme«, erklärt sie. Ich beginne wieder auf und ab zu laufen. »Doktor, Jaycee, stellt euch darauf ein, im Laufe der nächsten Wochen vor den nationalen Rat zitiert zu werden. Ich glaube, diese Geschichte würde man dort auch gern hören. Und daß mir keiner von euch Pläne für einen spontanen Urlaub macht. Mrs. McBride, Sie werde ich mit nach L. A. nehmen, wo wir sehen werden, wie die Polizei mit einer Polizistenmörderin zu verfahren gedenkt. Glenda, wärst du so gut?« Glenda und ich nehmen links und rechts von Judith McBride Aufstellung und packen beide einen ihrer schlaffen Arme. Sie leistet keinen Widerstand. »Es geht los!« ruft Vallardo plötzlich, und seine Stimme hallt 359
in dem Labor wider, begleitet von einem gurgelnden Jammern, das aus einer der Boxen dröhnt. Auch das Knacken ist lauter geworden und erfüllt die Luft mit einem heißen Rauschen, das Jaycees nachfolgenden Schrei übertönt. Mutterglück? Phan tomwehen? »Wir müssen es höher heben!« ruft Vallardo und zerrt an dem Flaschenzug der Hängematte. »Es muß über die Wasser oberfläche kommen!« Ein energischer Zug – ich eile zu der anderen Winde und ziehe mit aller Kraft – irgendwas stimmt nicht, irgendwas … ächzt? Das Seil reißt. Der Flaschenzug gibt nach. Die Hängematte bricht zusammen. Jaycee kreischt, diesmal offenkundig nicht vor Glück, und läuft zum gegenüberliegenden Ende des Beckens, wo Vallardo eben sein Gleichgewicht wiedergefunden hat. Die beiden stür zen sich auf die Leiter an der Glaswand des Bassins und versu chen, über den Beckenrand zu klettern; Jaycee mit ihren langen Coleo-Beinen ist schneller als Vallardo mit seinem untersetz ten, stämmigen Körper, und sie taucht in den Mini-Ozean zu ihren Füßen. Vallardo kämpft sich kurz nach ihr auf die oberste Sprosse vor und plumpst spritzbombenmäßig in das kühle Naß. Oder besser das lauwarme Naß, wie ich feststelle, als einige Tropfen bis zu meinen Füßen spritzen, eine samtene Berüh rung, die mich daran erinnert, wie gern ich schwimme. Glenda, Judith und ich starren Jaycee und Vallardo durch die Glaswand des Beckens wie gebannt an und bestaunen ihr phan tastisches Wasserballett. Vallardo taucht unter, hakt die nur noch störende Hängematte aus und hebt das Ei über seinen Kopf, während er mit den Beinen und seinem kurzen Stummel schwanz hektisch auf der Stelle rudert. Die Unterwassermikrophone übertragen den Kampf der Di nos, Ächzen und Stöhnen vermischen sich mit dem Geräusch der brechenden Schale. Jaycee hilft Vallardo, hält das Ei mit ihren langen braunen Fingern, wobei sie alles tut, um ihr Kind 360
über Wasser zu halten, während das Klagen lauter und lauter wird, ein schrilles Trillern irgendwo zwischen einem menschli chen Schmerzensschrei und dem Lockruf eines Kanarienvo gels. Durch das Glas und über die Lautsprecher werden Glenda Wetzel, Judith McBride und ich unwillkürlich zu drei sprachlo sen Zeugen der ersten gattungsübergreifenden Geburt, die die ser Planet je gesehen hat. Mit einem letzten Knacken bricht das Ei auf, seine Proteine ergießen sich in das Becken und trüben das Wasser mit ihren Säften, während die Schale in tausend kleine Teile zerbricht, die im Wasser treiben wie Asche von einem Lagerfeuer. »Kannst du es sehen?« frage ich Glenda, ohne den Blick von dem zusehends trüber werdenden Wasser zu wenden. »Nein«, antwortet sie, und ich kann nur vermuten, daß auch sie den Blick nicht abwenden kann. »Und Sie?« »Ähm. Judith?« Keine Antwort. »Judith, können Sie das Ba by sehen?« Wieder nichts. Ich drehe mich zur Seite, um unsere Gefangene anzusehen, deren Arm ich, wie mir jetzt auffällt, irgendwann in den letzten Minuten losgelassen habe. Sie ist verschwunden. »Glen, wir haben –« Ich werde durch ein penetrantes Kreischen unterbrochen, ei nen schrillen, dämonischen Schrei, der unsichtbare Spinnen über meinen ganzen Körper krabbeln läßt. Er kommt, zehnfach verstärkt, aus den Lautsprechern, was bedeutet, er muß aus dem Becken kommen, was bedeutet – Er kommt von dem Baby. Spritzendes Wasser und die Staubwolken einer krümeligen Nachgeburt beeinträchtigen meine Sicht, doch inmitten der Wellen kann ich Jaycees ge schmeidige Gestalt ausmachen, die noch immer auf der Stelle strampelt, und als sie langsam auftaucht, kann ich auch einen kurzen Blick auf ihr neugeborenes Kind erhaschen. Und ein Moment ist alles, was ich brauche. 361
Winzige graue Krallen an einem Paar dünner Ärmchen, unter den Schwimmhäuten zeichnen sich kleine braune Fleischwulste ab, die nach der unvertrauten Luft greifen. Es sind Finger, stummelige Glieder, die sich nur so weit herausgebildet haben, wie es die seitlich herausragenden Krallen zulassen. Rauhe schuppige Hautpartien treffen sich mit unbehaarten, glatten, rosafarbenen Stellen. Die Wirbelsäule ragt hervor und drückt gegen ihre dünne Schutzschicht wie ein brailleartiges Muster der Mißbildung, und ich kann die einzelnen Wirbel erkennen, die sich heben und senken wie die Tasten eines elektrischen Klaviers, das eine Dixieland-Nummer dudelt. Und am Ende der Wirbelsäule hängt ein einzelner Schwanz herab, kaum mehr als ein dünner Knochenstrang, das die Gesamtlänge des Kindes jedoch verdoppelt. Der Oberkörper ist geschwungen, ein langer mitter nachtschwarzer Streifen verbrannten Gummis, und das aufge blähte Bäuchlein, das hin und her wiegt, platscht und zappelt, zeichnet eine tiefe Spur in das Fleisch der Flanke. Ein weiterer Satz längerer und dunklerer Krallen ragt grob aus Stümpfen, die möglicherweise fünfzehige Füße sind; sie strecken sich aus und ziehen sich wieder ein, strecken sich aus und ziehen sich wieder ein. Und der Kopf, dieser Kopf, eine wahnwitzige Lotterie aller möglichen Gesichtszüge, Nasenlöcher eingedrückt, große, aber gelbe Augen, die Ohren bis auf ein einziges Ohrläppchen, das schräg von der linken Wange baumelt, praktisch nicht vorhan den, die Schnauze in einem orthopädisch ungünstigen Winkel schräg nach unten geneigt, ein paar Zähne sind bereits entwik kelt und drohen, den Kiefer zu durchbohren. Es ist eine Mischung aus allem, was ich je gesehen habe, doch irgendwie ist es vollkommen anders als die Mißgeburten, die wir zuvor gesehen haben. Es ist schön. Ich bin entsetzt, doch ich kann den Blick nicht abwenden. Und Jaycee Holden ist glücklicher als je zuvor in ihrem Le 362
ben; dieser gehetzte Ich-will-hier-nicht-mehr-sein-Blick ist ver schwunden, ersetzt durch einen Ausdruck von Erfüllung und Hingabe. Sie tritt noch immer Wasser und hält ihr Baby trium phierend über den Kopf. Ein Schuß peitscht durch den Raum und übertönt die elektro nisch verstärkten Geräusche nachgeburtlicher Euphorie – und ein Sprung erscheint und verästelt sich an der Stelle, wo am oberen Beckenrand direkt über der Wasseroberfläche jetzt ein grob kreisrundes Loch klafft. Wir fahren herum. Es ist Judith. Sie hat ihre Pistole wiedergefunden. Sie zielt auf das Baby. Oder auf Jaycee. Das ist auch egal, denn sie schickt sich an, noch einmal zu schießen. Jetzt hat Glenda einen guten Grund, um die Menschenfrau anzugreifen, von der ich sie zuvor gewaltsam weggezerrt habe. Diesmal werde ich sie bestimmt nicht aufhalten. Sie springt mit einem Satz durch das Labor, begierig, ihren zackigen Schnabel in weiches Fleisch zu stoßen. Doch Judith hebt erneut den Re volver – Jaycee hat in Todesangst um zwei Leben keine andere Wahl, als, das Baby an ihre Brust gedrückt, wieder unterzutau chen – auch Vallardo demonstriert ein weiteres Mal seine über legene Tauchtechnik – und ich? Ach, verdammt, ich stehe wie angewurzelt da. Ich kann meine Stimmbänder immerhin zu dem Schrei moti vieren: »Paß auf den Rev-«, bevor ein zweiter Schuß das Labor erschüttert. Eine Millisekunde später stürzt sich Glenda auf Judith wie eine Fettsüchtige auf Nulldiät, der man einen ein stündigen Freigang an einem Buffet in Las Vegas gewährt hat. Sie gräbt ihre Zähne in den Hals der Menschenfrau und tastet nach den kostbaren Arterien, die das Blut sprudeln lassen und das Leben beenden. Ich würde ihr zu Hilfe eilen, wirklich, doch als ich mich um drehe, um mich zu vergewissern, daß Jaycee und Vallardo nicht getroffen worden sind, ertappe ich mich dabei, wie ich auf die beiden langen Risse starre, die sich über die gesamte 363
Wand des riesigen Bassins ziehen, immer schneller immer län ger werden und sich vielfach verästeln. Wasser leckt, Wasser drängt gegen die Wand, Glas wölbt sich unter seinem Druck, und bevor ich meine Füße überreden kann, lauft, ihr Idioten, bringt euch in Sicherheit, zerbersten die Wände, und die Schleusen öffnen sich. Ich wollte schwimmen, jetzt habe ich die Gelegenheit. Glen da, Judith, Vallardo, Jaycee, das Neugeborene, das Labor – alles versinkt in einer riesigen Flutwelle, während am Boden festgeschraubte Tische zu künstlichen Riffs in einem brand neuen Ozean werden. Brecher schlagen über mir zusammen, ich werde unter Wasser gezogen, Luft explodiert in meinen Lungen und drängt nach draußen. Ich schwimme nach oben – und stoße mit dem Kopf auf den Boden. Falsche Richtung. Ich mache kehrt und breche kurz darauf, gierig nach Luft schnap pend, durch die Wasseroberfläche. Eine zweite Welle rollt über mich und meinen offenen Mund hinweg. Ich würge, werde erneut untergetaucht und suche hek tisch nach Halt in dem trüben Wasser. Wie sagt man – wer dreimal untergeht, kommt nicht wieder hoch? Dann sollte ich einen weiteren Tauchgang tunlichst vermeiden. Mit einer ge waltigen Anstrengung schlage ich mit meinem Schwanz und stemme mich erneut aus dem Wasser, wobei ich einer heranrol lenden dritten Welle nur knapp entgehe. Schalensplitter schwimmen an mir vorbei wie Treibholz nach einem Sturm, und ich mühe mich ab, den Kopf über Wasser zu halten, als eine neue Woge droht, mich in den Tod zu ziehen. Die Tür zum Labor steht offen, und was immer an Wasser abfließen kann, tut das auch, so daß sich dort rasch heftige Strudel bilden. Die Strömung zieht mich in die Gefahrenzone und droht meine mickrigen Schwimmkünste zu besiegen, doch ich kämpfe wie ein Lachs, der zum Laichen stromaufwärts strebt, und greife nach allem, was mir in meiner Lage mögli cherweise Hilfe bietet. Mir ist, als würde ich auf der anderen 364
Seite des Labors etwas zappeln sehen, wie ich ganz offensicht lich bemüht, über Wasser zu bleiben, doch das Wasser brennt in meinen Augen und macht es mir schwer, genaue Umrisse oder Farben zu erkennen. »Glenda!« rufe ich, und das gurgelnde Wasser verzerrt mei nen Ruf zu einem »Blenbla!«, doch ich bekomme keine Ant wort. Auch mit Blaybee, Blablardo oder Bludibth klappt es nicht. Meine Hand findet Halt unter einem fest montierten Bunsenbrenner, und ich gehe dortselbst vor Anker und warte, bis der Sturm sich gelegt hat, während ich meine Energie dar auf konzentriere, meinen Kopf über Wasser zu halten. Mit der Zeit fließt der größte Wasserschwall aus dem Labor ab und läßt mich mit Glasscherben, Schalensplittern und schienbeinhohen Prielen zurück. »Ist irgend jemand hier?« rufe ich und stelle überrascht fest, daß kein Laut aus meiner Kehle dringt. In meinem Hals steckt Wasser. Offenbar habe ich seit mehr als einer Minute nicht mehr geatmet. Irritiert, daß mir das nicht früher aufgefallen ist, beuge ich mich über einen zertrümmerten Schreibtisch und wende den Heimlich-Handgriff in Selbstbehandlung an. Der HeimlichHandgriff wird bei Dinos viel höher angesetzt als bei Men schen, wie ich vor langer Zeit auf die brutale Art gelernt habe – fragen Sie nicht, fragen Sie nicht. Das Wasser spritzt gut einen Meter aus meinem Mund, erhöht den Wasserspiegel der La chen um einige Millimeter, und ich kann wieder die gute abge standene Luft atmen. »Irgend jemand hier?« probiere ich es erneut, wobei meine Stimme schwächer klingt, als mir lieb ist, aber zumindest wie der funktionstüchtig scheint. Bis auf das Zischen von einem Kurzschluß in den Lautsprechern bleibt es still. Gut, daß sie so hoch an der Wand montiert sind, daß ihre Funken keinen Kon takt mit diesem neugegründeten Aqua-Center bekommen, sonst würde ich strahlen wie der Weihnachtsbaum im Rockefeller Center. 365
Weitere Gefahrenzonen sorgsam meidend, trotte ich aus dem Labor zurück in die feuchten Klinikflure, die durch die Flut gründlich gereinigt worden sind. Unterwegs rufe ich Namen, und als ich bereits ein paar leere Räume durchsucht habe und anfange, mir Sorgen zu machen, daß ich als einziger überlebt habe, höre ich ein »Vincent?«, das durch den Parallelflur hallt. Ich stürze hinüber … … und finde Glenda, die in einer Pfütze am Boden liegt und keuchend zu mir aufblickt, ihr Hadrosaurier-Schnabel mit Wasser- und Blutstropfen gesprenkelt. Judith McBride liegt ebenfalls in diesem Raum, schlaff und leblos auf einem verwitterten Eichenschreibtisch. Ihre Arme sind ausgebreitet, ihre Beine in einem unmöglichen Winkel verbogen, und sie hat den Kopf abgewandt. »Hat die Flut sie erwischt?« frage ich Glenda. »Ich habe sie erwischt«, erwidert Glenda, geht zu Judith hin über und dreht den Kopf der Witwe in meine Richtung. Drei große Bisse zieren ihren Hals, die Abdrücke der Zähne sind klar zu erkennen, nachdem das meiste Blut weggespült worden ist. Ich bin sicher, daß sie kaum gelitten hat und daß es sehr schnell gegangen ist. »Sie wußte Bescheid, Vincent. Das Mist stück mußte sterben.« »Du hast richtig gehandelt«, sage ich, um Glenda schmerz hafte Schuldgefühle zu ersparen. Jemanden zu töten, selbst wenn es ein Mensch ist, ist manchmal für Kopf und Seele schwer zu verarbeiten. Trotz ihrer nonchalanten Haltung, die sie jetzt an den Tag legt, dürfte es Glenda in nächster Zeit ziemlich schwerfallen einzuschlafen. »Komm«, sage ich und klopfe ihr auf den Rücken. »Hilf mir, die anderen zu suchen.« Wir durchsuchen das Gebäude bis tief in die Nacht, lassen keinen Raum aus und keinen Schreibtisch und kein Becherglas ungewendet. Die Klinik ist riesig, eine veritable Ameisenkolo nie von Gängen und Gewölbekammern, auf dem Wasser trei ben die Leichen von hundert Mißgeburten – die wenigen, die 366
Glenda am Leben gelassen hat, sind von der Flut mitgerissen worden. Um ein Uhr finden wir Dr. Vallardo, seine Haut violett, sein Leib dick und aufgetrieben. Irgendwie ist er von dem heran strömenden Wasser in eine Abstellkammer gedrängt worden und konnte sich nicht mehr befreien. Vielleicht hat ihn seine Leibesfülle nach unten gezogen, vielleicht lag es an seinem untauglichen Schwanz. Wie auch immer, er ist tot, und es ist zwecklos, weiter darüber zu diskutieren. Sein Mund ist von dem Dreck verstopft, den die Flut mit sich gerissen hat – Eigelb, Eischalen, Mutterkuchen –, und wir säu bern ihn, um die Angelegenheit für Außenseiter überschaubarer zu machen. Man sollte sie nicht weiter verwirren, wenn sie die Klinik durchsuchen. Es hat in letzter Zeit schon genug Verwir rung gegeben, und die Untersuchung des Rates, die garantiert folgen wird, wird auch so genug Schlamm aufwühlen, um zehn dieser Becken zu füllen. Wir zerren Vallardos Leiche in den anderen Raum und legen sie neben die von Judith McBride, eine rein altruistische Maßnahme, denn für die Aufräum-Teams ist es leichter, wenn sie alle Leichen an einem Ort finden. Es wird zwei Uhr, dann drei, dann vier Uhr. Glenda und ich haben das gesamte Gebäude von oben bis unten und von links nach rechts durchsucht. »Wir trennen uns und durchsuchen den Laden jeder für sich noch einmal«, schlage ich vor, und Glenda ist weise genug, mir nicht zu widersprechen. Jaycee und ihr Kind sind nirgends zu finden. Ich bin nicht hektisch. Ich bin nicht besorgt. Ich bin bloß ein Durchschnitts typ, der seinen Job macht. Meine Kehle brennt. Als es zu dämmern beginnt, haben wir unsere Runde dreimal gedreht, und ich habe mein Fühlen und Denken wirksam abge schaltet. Ich will das so. So tut es wenigstens nicht weh. Danach schütten wir zwei Säcke mit Auflösungschemikalien über Vallardos und auch über Judiths Leiche, obwohl sie nie wirklich ein Dino war. Glenda überzeugt mich davon, daß wir 367
Jaycee, wenn wir sie bis jetzt nicht in der Klinik gefunden ha ben, nie finden werden. Ich bin sicher, sie erwartet, daß ich widerspreche, weiter dränge, sie noch einmal losschicke, aber das tue ich nicht. Ich akzeptiere ihre Entscheidung, und sei es nur, weil der rationalere Teil meines Gehirns schon zu einem ähnlichen Schluß gekommen ist. Wenn Jaycee nicht hier ist, ist Jaycee nicht hier. Ich kann im Moment nicht darüber nachden ken, was das bedeutet; ich will nicht darüber nachdenken, was es bedeuten könnte. »Sie muß es nach draußen geschafft haben«, vermutet Glen da leise, vernünftig und mütterlich. Sie flucht wundersamer weise überhaupt nicht – die Flut muß ihren Mund ausgespült haben –, doch ich nehme diesen Sieg der Etikette kaum zur Kenntnis. »Ja«, gebe ich zurück und hoffe, daß sie recht hat. »Sie ist wahrscheinlich entkommen und in ihre Wohnung zu rückgegangen. Vermutlich findest du sie da.« »Ja«, antworte ich. Ich weiß, daß das nicht stimmt. Jaycee hat die Stadt verlassen, das Land verlassen, soviel ich weiß, viel leicht sogar diesen Planeten. Ich werde Jaycee Holden nie wie dersehen. »Komm, gehen wir«, sagt Glenda, und ich erlaube ihr, mei nen Arm zu fassen und mich aus der Klinik auf die hellen Stra ßen der Bronx zu führen, in denen gerade das Leben eines ge schäftigen Herbstmorgens erwacht. Die Sonne spiegelt sich in abgestellten Autowracks und zerschlagenen Ampeln und läßt alles in ihrem warmen Glanz strahlen. »Siehst du, Vincent«, sagt Glenda, als sie mich die Straße hi nunterführt und bei jedem Schritt einen Hüpfer einlegen und, statt müde zu schlurfen, fröhlich schliddern will, »an einem Morgen wie heute ist sogar die Bronx voller Hoffnung.«
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Epilog
Ein Jahr ist vergangen, und aus der Detektei Watson & Rubio ist die Detektei Rubio & Wetzel geworden. Es hat ein paar Monate gedauert, aber schließlich habe ich den Malern erlaubt, Ernies Namen vom Fenster der Eingangstür zu entfernen, ob wohl ich sie angewiesen habe, ihn an der Tür seines ehemali gen Büros stehenzulassen. Ich sehe ihn jeden Tag. Glenda und ich arbeiten jetzt in der ersten Liga und müssen Überstunden machen, um die Fälle zu bewältigen, die uns übertragen wer den. Wir müssen inzwischen sogar hin und wieder einen Auf trag ablehnen, aber jedes Nein danke, das wir aussprechen müssen, trifft mich wie ein nagender Hunger, als wollte es mich daran erinnern, daß es einmal eine Zeit gab, in der mein Kühlschrank bis auf ein paar Cherry-Tomaten und meinen Ba silikum-Vorrat leer war. Apropos Basilikum und seine bösartigen Vettern, ich gehe jetzt regelmäßig zu Treffen der Anonymen Herbaholiker, und mein Sponsor, ein Allosaurier, der ausgerechnet von Selleriesalz abhängig war, ist Shortstop bei den Dodgers, so daß ich immer Freikarten für die Ränge hinter dem Schlagmal der Heimmannschaft bekomme. Es ist 213 Tage her, seit ich das letzte Kraut zu mir genommen habe, und in der kommenden Woche bekomme ich meinen nächsten goldenen Stern. Kleine Ziele, kleine Schritte, aber so verändert man sein Leben. Die sogenannte Ratsuntersuchung in der Affäre McBride/ Vallardo/Burke/Holden wurde durch einen Befehl von unsicht barer höherer Stelle abgewürgt, weil man eine totale Katastro phe vermeiden wollte, und ich werde meine dünne Haut be stimmt nicht noch einmal für diesen Mist aufs Spiel setzen. Es herrschte die Sorge, daß die Dino-Bevölkerung die Implikatio nen des Geschehenen nicht verkraften würde – vor allem die Vorstellung, daß jemand derart Mächtiges ihre Gemeinschaft auf so hoher Ebene infiltriert hatte – und den Aufstand proben, 369
Selbstmord begehen oder einen Börsencrash provozieren könn te. Wie auch immer, ich hatte nur kurz mit dem Nationalen Rat zu tun und mußte lediglich zweimal in Cleveland erscheinen, um meine Aussage zu Protokoll zu geben. Dans Beerdigung, die wenige Tage nach meiner Rückkehr aus New York stattfand, war wirklich prachtvoll, all seine Kumpel von der Polizei sind erschienen, um ihm die letzte Eh re zu erweisen. Wir haben bei der Trauerfeier Eis und Cheetos gegessen. Ich war den Großteil des Nachmittags aus einer Rei he von Gründen in meinem eigenen Kummer versunken, so daß ich den anderen Gästen nicht viel Trost spenden konnte, aber es war auf jeden Fall sehr nett, sie als Trostspender um mich zu haben. Nachdem Teitelbaum die ganze Wahrheit über meinen Auf enthalt in New York erfahren hat, hat er mich von seiner schwarzen Liste gestrichen und schiebt uns jetzt manchmal knurrend Firmenaufträge rüber. Er zockt mich weiterhin ab, und die Daumenschrauben, die er anlegt, sind, wenn überhaupt, eher größer geworden. Wahrscheinlich hat er sie von seiner Sekretärin Cathy in Frankfurt besorgen lassen. Seine öffentli che Reaktion auf meine Verwicklung in die McBride-Affäre bestand darin, das Honorar für zwei Wochen einzubehalten, weil ich auftragsfremde Ermittlungen geführt hatte, um mir dann das Honorar für zwei Wochen als Bonus auszuzahlen, weil ich dem Namen TruTel Anerkennung gebracht hatte. Frei nach dem Motto, dynamisch auf der Stelle treten. Ich habe einen neuen Wagen, und die Pfändung auf mein Haus ist aufgehoben. Ich habe sogar noch genug Geld auf der Bank, um ein paar Durststrecken zu überstehen, in die ich viel leicht gerate, doch ich komme immer noch jeden Abend nach Hause, setze mich vor den Fernseher, wärme mir irgendwelche Reste auf und lese meine Post. Rechnung – Strom. Rechnung – Kabel. Rechnung – Wasser für den Springbrunnen. Brief von einem Freund aus Oregon, 370
der mich fragt, ob ich den letzten Brief bekommen habe, den er mir geschickt hat. Ein Angebot von MasterCard, riesiger Kre ditrahmen, ich brauche nur auf der gepunkteten Linie zu unter schreiben. Ein weiterer Brief, dieser von einer ehemaligen Klientin, die sich darüber beschwert, daß sie mich nie telefo nisch im Büro erreicht, weil ich so verdammt beschäftigt wäre, und ob ich sie nicht anrufen könne, sie hätte einen Fall für mich. Irgendwas über einen Stausee und die Wasserrechte für L. A. und Umgebung. Und eine Postkarte, deren lebhafte Far ben mir aus dem Stapel von Post entgegenspringen und meine Aufmerksamkeit in Beschlag nehmen. Das Bild zeigt einen ruhigen friedlichen Strand mit samtweichem Sand, einem tief blauen Meer und entsprechendem Himmel. Ein Streifen mit GRÜSSE AUS COSTA RICA prangt in gelber Prägeschrift über dem Foto. Ich drehe die Karte um. Die Rückseite ist bis auf meinen Namen und meine Adresse leer, die I-Punkte von Vincent und Rubio sind als kleine Herz chen ausgemalt. Wo die eigentliche Nachricht stehen sollte, kann ich nur ein paar merkwürdige Tintenabdrücke erkennen – drei lange vertikale Streifen, die sich behutsam um fünf kleine re Streifen wölben, die in halb ausgeprägten Fingerabdrücken enden. Ich rieche an der Karte, presse sie fest an meine Nase und glaube beinahe, daß ich den Sand und die Brandung und diesen Duft herzhafter Kiefern an einem frischen Herbstmor gen riechen kann. Mein Blick fällt auf einen großen Spiegel im Flur. Ich habe mein Kostüm abgelegt und lasse den Anblick meiner Zähne, meiner Haut und meiner Ohren, meiner Nase, meines Schwan zes, meiner Beine und all der anderen Dinge, die mich von bei nahe jedem Wesen auf dem Antlitz dieses Planeten unterschei den, lange auf mich wirken. Ich fahre meine Krallen aus. Lang, gebogen und einziehbar. Die Abdrücke auf der Postkarte sind offensichtlich Kralle nabdrücke zusammen mit noch unausgebildeten stummeligen 371
Menschenfingern. Ich sehe jetzt ganz deutlich vor mir, wie der Abdruck entstanden ist: ein Satz Krallen ist in Tinte getaucht und fest auf das dicke Papier gedrückt worden. Ein Satz von erwachsenen Krallen und ein Satz Babyabdrücke. Ansonsten birgt die Karte keinen Hinweis, es steht nichts weiter darauf geschrieben, doch mehr brauche ich nicht. Ich werfe den Rest meines Abendessens in den Mülleimer, schalte den Fernseher aus und gehe ins Schlafzimmer, unfähig, das Lächeln zu unterdrücken, das sich unangekündigt in mei nem Gesicht breit gemacht hat.
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Danksagung
Danke zuallererst und vor allem an Barbara Zitwer Alicea, die beste Literaturagentin im bekannten Universum (und ein rund herum wundervoller Mensch), ohne die dieses Buch ganz an ders aussähe und wahrscheinlich noch immer Staub auf meinem Regal sammeln würde. Und ein T-Rex-großes Dankeschön an Jonathan Karp, meinen Lektor bei Random House/Villard, der in den Teergruben meines Romans etwas Strahlendes und Glänzendes gesehen und mir geholfen hat, es zu bergen und zu polieren. Danke auch an alle, die das Buch in einer embryonalen Phase gelesen und immer konstruktive Kritik geübt haben, und an meine Freunde und meine Familie, auf deren Hilfe und Unter stützung ich mich immer verlassen konnte: Steven Solomon, Alan Cook, Ben Rosner, Julie Sheinblatt, Brett Oberst, Michele Kuhns, Rob Kurzban, Crystal Wright sowie Beverly und Howard Erickson.
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