Orte der Moderne
Alexa Geisthövel, Dr. phil., ist Lise-Meitner-Habilitationsstipendiatin an der Fakultät für Geschich...
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Orte der Moderne
Alexa Geisthövel, Dr. phil., ist Lise-Meitner-Habilitationsstipendiatin an der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld. Habbo Knoch, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Universität Göttingen.
Alexa Geisthövel, Habbo Knoch (Hg.)
Orte der Moderne Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts
Campus Verlag Frankfurt/New York
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-593-37736-5 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2005 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Umschlagmotiv: Siehe Schutzumschlag Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany
Inhalt
Einleitung .................................................................................................................. 9 Alexa Geisthövel/Habbo Knoch
Bewegen: Orte der Erweiterung .................................................................... 15 Der Bahnhof................................................................................................................ 17 Alfred Gottwaldt Das Laboratorium....................................................................................................... 27 Philipp Felsch Das Auto...................................................................................................................... 37 Alexa Geisthövel Das Flugzeug............................................................................................................... 47 Detlef Siegfried Das Raumschiff........................................................................................................... 57 Rebekka Ladewig
Vernetzen: Orte der Steuerung ...................................................................... 69 Die Zeitungsredaktion................................................................................................ 71 Frank Bösch Die Telefonzentrale .................................................................................................... 81 Andreas Killen Das Arbeitsamt ........................................................................................................... 91 Britt Schlehahn Die Parteizentrale........................................................................................................ 99 Till Kössler Der Agrarbetrieb....................................................................................................... 109 Uwe Spiekermann
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Sich nahe kommen: Orte des Abstands ................................................... 119 Der Strand.................................................................................................................. 121 Alexa Geisthövel Das Grandhotel......................................................................................................... 131 Habbo Knoch Das Tanzlokal............................................................................................................ 141 Alexa Geisthövel Das Stadion................................................................................................................ 151 Per Leo
Gestalten: Orte der Rationalisierung ......................................................... 161 Das Stahlwerk............................................................................................................ 163 Habbo Knoch Das Hochhaus........................................................................................................... 174 Jörn Weinhold Die Stadtrandsiedlung ............................................................................................. 183 Jörn Weinhold Der Staudamm .......................................................................................................... 193 Dirk van Laak
Vereinnahmen: Orte des Ausstellens ........................................................ 205 Das Warenhaus ......................................................................................................... 207 Uwe Spiekermann Das Völkerkundemuseum ....................................................................................... 218 Anja Laukötter Das Kino.................................................................................................................... 228 Daniel Morat Der Kraftraum .......................................................................................................... 238 Maren Möhring Das Stripteaselokal.................................................................................................... 248 Pascal Eitler
Verdichten: Orte der Zerstörung ................................................................ 257 Das U-Boot................................................................................................................ 259 Jan Rüger Die Front ................................................................................................................... 270 Habbo Knoch
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Der Bunker ................................................................................................................ 281 Marc Buggeln/Inge Marszolek Das Konzentrationslager ......................................................................................... 290 Habbo Knoch
Sich zurückziehen: Orte der Befreiung..................................................... 301 Die Kleinstadt ........................................................................................................... 303 Bernd Hüppauf Der Kleingarten ........................................................................................................ 316 Uffa Jensen Das Appartement...................................................................................................... 325 Moritz Föllmer Die Wahlkabine......................................................................................................... 335 Thomas Mergel Die Couch.................................................................................................................. 345 Uffa Jensen
Erlebte Welten Erfahrungsräume der Moderne .................................................................... 355
Alexa Geisthövel/Uffa Jensen/Habbo Knoch/Daniel Morat
Autorinnen und Autoren ......................................................................................... 371 Abbildungsnachweis................................................................................................. 374
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Einleitung Alexa Geisthövel/Habbo Knoch
Mitten auf dem hektischen Berliner Alexanderplatz sehnt sich Franz Biberkopf ins Gefängnis zurück. Im gleichnamigen, 1929 erschienenen Roman Alfred Döblins steht er nach langer Haft ungeschützt im Strudel der modernen Stadt. »Hundert blanke Scheiben« blitzen bedrohlich, Passanten wirken wie Schaufensterpuppen und Häuserfronten bieten keine Zuflucht. Biberkopf bricht zusammen, kehrt aber wie gebannt mehrfach zurück. Er fängt an, den Platz und sein Gedränge zu beobachten: »Rumm rumm« wuchtet vor Aschinger, der Bierschwemme mit »Konzert und Großbäckerei«, eine Dampframme Eisenstangen in den Boden. Rund um den Platz stehen Bauzäune, ein altes Kaufhaus wird abgerissen. »Ruller ruller fahren die Elektrischen, [...] Abspringen ist gefährlich. Der Bahnhof ist breit freigelegt, Einbahnstraße nach der Königstraße an Wertheim vorbei.« Die Schutzpolizei »beherrscht gewaltig den Platz« und regelt den Verkehr. Auf ihr Signal hin »ergießt sich der Norden nach Süden, der Süden nach Norden«. Viele »biegen auch seitlich um, von Süden nach Osten«. Dabei geben sich die Fußgänger »so gleichmäßig wie die, die im Autobus, in den Elektrischen sitzen«. Biberkopf kapituliert angesichts dieser Apathie: »Was in ihnen vorgeht, wer kann das ermitteln, ein ungeheures Kapitel.« Er bleibt ein Fremdkörper in der Stadt. Restaurant, Tram, Bahnhof, Warenhaus, Autobus, Straßenkreuzung: Seine Sinne sind den modernen Verkehrsmitteln, Gebäuden und Bewegungen nicht gewachsen. Die Stadt im Umbruch lässt ihm dafür auch keine Zeit. Am heutigen Alex sind Aschinger und Wertheim verschwunden, doch die Szenerie ist vertraut geblieben: Vergnügungslokale, Grandhotels und Kinos bieten immer noch ihre Dienste an, Bahnhöfe, U-Bahn-Stationen und Ampelkreuzungen sind nach wie vor Knotenpunkte der modernen Bewegungsgefährte. Wo Biberkopf Bauzäune sah, entstanden erste Hochhäuser und neue Großraumbüros, deren Etagen durch Aufzüge verbunden waren. Über den Himmel, für den Biberkopf kaum einen Blick übrig hatte, zogen schon zu seiner Zeit Flugzeuge. Bahnen und Autos
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Moritz Föllmer, Uffa Jensen, Daniel Morat und Jörn Weinhold, die im Band auch mit eigenen Beiträgen vertreten sind, waren wesentlich an den ersten konzeptionellen Überlegungen für dieses Buch beteiligt. Uffa Jensen und Daniel Morat haben das Projekt darüber hinaus bis hinein in die letzte Phase sowie Einleitung, Zwischentexte und Schluss mitgestaltet. Ermöglicht hat dieses Buch erst die oft spontane Beteiligung der zahlreichen Autorinnen und Autoren, denen auch für ihre geduldige Kooperation in der Redaktionsphase zu danken ist.
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verbanden damals wie heute Stadtrandsiedlungen mit dem Zentrum. Wer es sich leisten konnte, fuhr mit ihnen an den Strand. Wer heute städtische Räume, aber auch manche Landschaft durchstreift, sieht sich von einer Fülle von Orten umgeben, die zwischen 1870 und 1930 in der Zeit der »klassischen Moderne« entstanden. Sie haben die räumlichen Erfahrungen des modernen Menschen bis in die Gegenwart geprägt. Bahnhöfe, Fabriken und Passagen machten nach 1830 den Anfang. Ihre Verbindung von technischem Fortschritt und neuen Verhaltensformen krönten pathetische Deutungen, die sie als Träger der Zukunft sahen. Große Bahnhofshallen avancierten zu repräsentativen Schauseiten der Stadt und zu Orten einer funktionalen, rationell gestalteten Bewegungsführung; Passagen boten in luxuriösem Ambiente eine Vielzahl von Waren an und brachten auf engstem Raum Konsumenten verschiedener Schichten zueinander, die neue Fertigkeiten des Beobachtens, Kommunizierens und Verhaltens erlernen mussten. Doch Zahl und Reichweite solcher erlebter Welten nahm erst in den Jahrzehnten um 1900 erheblich zu. Im Zuge der zweiten, auf Elektrizität fußenden Industrialisierung und der Urbanisierung, in der die Großstadt zur »Synchronisationsmaschine« (Armin Nassehi) des modernen Lebens wurde, durchdrangen diese Orte und die Prinzipien ihrer Raumorganisation mehr und mehr das öffentliche und private Leben. Sie übernahmen ausdifferenzierte Funktionen, machten Angebote für bislang unbekannte Bedürfnisse und wuchsen zu einem Ensemble städtischer und ländlicher Orte zusammen, die untereinander vielfältig vernetzt waren. Orte des Bewegens und Erkundens, des Vergnügens und Vermittelns, des Begegnens und Zerstörens begründeten eine neue räumliche Ordnung der Erfahrung. Wie Bahnhof und Eisenbahn die Poststation und die Kutsche nach und nach abgelöst hatten, so drängten auch spätere Orte der Moderne manchen Konkurrenten zur Seite. Völkerkundemuseen machten den »Völkerschauen« die Besucher streitig, Einkaufsläden an Straßenpassagen zielten auf ähnliche Kundschaft wie die Warenhäuser. Teils übernahmen die neuen Orte einzelne räumliche Elemente ihrer Vorgänger, teils bestanden Orte aus verschiedenen Zeiten nebeneinander fort und beeinflussten einander; repräsentative Architektur etwa orientierte sich lange an der Kirche oder dem Fürstenhof. Viele Konflikte, die aus dem Zusammentreffen von bestehenden und neuartigen Raumstrukturen erwuchsen, sind bis heute nicht gelöst, so etwa die Frage nach der ökologischen Verträglichkeit von Agrarbetrieben oder nach der Sicherheit von Fußgängern und Fahrradfahrern im Autoverkehr. Mit den Orten der Moderne hielten neuartige Formen, Raum zu gestalten, zu nutzen und wahrzunehmen, Einzug: Menschen und Orte wurden durch neue Verkehrsmittel wie das Flugzeug oder durch Kommunikationstechniken wie die Zeitungsredaktion oder die Telefonzentrale dichter und schneller miteinander vernetzt. Indem Stadtzentren und Wohngebiete getrennt wurden, entstanden das städtische Appartement und die mehr oder weniger familientaugliche Stadtrandsiedlung. UBoot, Bunker oder Raumschiff ließen ihre Nutzer Isolation in Abhängigkeit von modernen Versorgungstechniken erfahren. Im Alltag übernahmen entlegene und medial kaum präsente Orte wie der Agrarbetrieb oder der Staudamm zentrale Auf-
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gaben der Infrastruktur. Bisher unbekannte Gefahren und Risiken prägten das Bild vieler moderner Orte, auch Ängste vor bleibenden Schäden ihrer Nutzerinnen und Nutzer, wie die frühe Wahrnehmung des Kinos oder des Autos zeigt. Viele Bedrohungsszenarien machten sich am Körper fest. Forscher in Laboratorien arbeiteten daher an seiner Optimierung, immer mehr Menschen bemühten sich um ihre Figur in Krafträumen oder bewunderten trainierte Körper im Stadion. Arbeitstechniken der industriellen Moderne wie das Fließband basierten dabei weniger auf hochtechnologischen Erfindungen als auf räumlichen Neuordnungen und der Anpassung der Arbeiterinnen und Arbeiter an diese Produktionsform. Dem entsprach, etwa im Arbeitsamt, die bürokratische Durchdringung der Lebenswelt mit Registrierungen und Verhaltensauflagen. Auch im politischen Raum war die Organisation und Steuerung des Parteilebens oder der demokratischen Wahl mit signifikanten Räumlichkeiten wie Parteizentrale oder Wahlkabine verbunden. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sind weitere Orte hinzugekommen, solche der Hochtechnologie wie das Atomkraftwerk, aber auch der Abenteuerspielplatz oder der Frauenbuchladen, die ein bestimmtes Zeitkolorit tragen. Seitdem sich Digitalisierung, Biochemie und Neurowissenschaft als neues Paradigma des Fortschritts durchsetzen, scheint der »virtuelle Raum« einen neuen Einschnitt zu markieren, der »Nicht-Orte« entstehen lässt (Augé 1994) und den Raum zum Verschwinden bringt (Virilio 1995). In der Tat erweitern sich damit räumliche Erfahrungen, aber bereits in der klassischen Moderne sollte der Körper in Illusionskabinetten oder im Kino in eine andere Wirklichkeit versetzt werden. Womöglich stellen die neuen Informationstechnologien in dieser Hinsicht keinen fundamentalen Wandel für die Raumund Kommunikationserfahrungen dar und sind eher Teil jenes dauernden Umbruchs, den schon Franz Biberkopf miterlebte: Entstandenes wird optimiert, verfeinert und mit einem neuen Stil versehen; Konsumangebote werden rationeller gestaltet, Arbeitsfelder weiter automatisiert, aber das Grundverhältnis von Arbeit und Erholung löst sich nicht auf. Seit den dreißiger Jahren haben sich die zuvor entstandenen modernen Orte ausgeweitet, sind breiteren Schichten zugänglich geworden und haben sich in Zahl und Funktion vervielfältigt. Wenn hier von »Orten der Moderne« gesprochen wird, sind nicht zuerst bestimmte Orte gemeint, auch wenn die Texte dieses Bandes alle mit einem konkreten Beispiel beginnen. Vielmehr wird darunter ein Typus verstanden, der den dreidimensionalen Raum auf eine bestimmte, verallgemeinerbare Weise nach außen und im Innern räumlich ordnet und der mit raumspezifischen Funktionen und Erfahrungen verbunden ist. Diese Orte schneiden gleichsam ein Stück Raum aus der Welt und verwandeln es durch ihre Anlage, ihre Nutzung und die durch sie bewirkten und an sie geknüpften Raumerfahrungen realer oder medialer Art in eine eigene erlebte Welt (Bittner 2001). So bekommt das Stück Raum einen eigenen Sinn; indem historische Akteure es gestalteten, aneigneten und wahrnahmen, »machten« sie es erst zu einem »räumlich-sinnlichen Gebilde« (Simmel 1992, 697). Der fragliche Ort ist dabei Teil eines Geflechts: Das favorisierte Tanzlokal ist ein Fall des Tanzlokals an sich, dessen Raum eine typische Ordnung trägt. Es ist mit den anderen
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modernen Orten der Großstadt vielfältig verbunden. Schließlich verkörpert es, umgeben von Gebäuden früherer Jahrhunderte und ungleich kurzlebigeren Imbissbuden, die Moderne zwischen den Schichten vorheriger und nachfolgender Orte. Die Autorinnen und Autoren der 32 Texte durchleuchten dieses Ensemble jeweils auf drei Ebenen: Ausgehend vom räumlichen Muster eines Ortes stellen sie seine Etablierung während der »langen Jahrhundertwende« dar und zeigen, wie er im Zusammenspiel mit anderen Orten wahrgenommen und gedeutet wurde. Die hier vorgestellten Beispiele sind keine »Erinnerungsorte«, also dingliche oder imaginäre Symbole, an denen sich das Gedächtnis einer nationalen Kultur manifestiert (François/Schulze 2001). Die Orte der Moderne sind in jedem Fall konkret und materiell, auch wenn viele von ihnen – etwa die Telefonzentrale, das Laboratorium oder das Raumschiff – Imaginationen freigesetzt haben, die sie zu Erinnerungs- und Referenzorten für das Selbstbild der Moderne machen. Die Vorstellung, in der Moderne zu leben, hat sich wesentlich über die Wahrnehmung solcher Orte herausgebildet. Wenn heute die klassischen Wolkenkratzer oder Kinopaläste als Zeugen einer visionären, stilvollen und intensiven Zeit aufgerufen werden, ist auch diese Nostalgie schon ein Erbe der historischen Orte. Handelt es sich um Orte wie die Couch oder das Auto, gibt es Überschneidungen zur Geschichte der modernen Alltagsdinge (Ruppert 1993). Man könnte sie auch als Gebrauchsobjekte klassifizieren, aber die Alltagserfahrung zeigt, dass sich um einen Fernseher immer auch ein räumliches Arrangement entwickelt. Industrialisierte Produktion, Serialität und Massenkonsum beeinflussen in jedem Fall Objekte und Orte der Moderne gleichermaßen. Auch hierin gehören sie den Jahrzehnten um 1900 und damit einer historischen Schwellenphase an, in der sich die räumliche Konstellation von Handeln und Erfahren gravierend veränderte (Knoch/Morat 2003). Das unterscheidet sie von zeitübergreifenden »Orten des Alltags« (Haupt 1994). Wie in einer klassischen Reisebeschreibung schreiten die Texte von Ort zu Ort fort. Doch es geht nicht um die chronologische Abfolge, sondern um die Gleichzeitigkeit eines Ensembles von »sozialen Orten« (de Certeau 1991). In den Texten werden Schichten der räumlichen Topographie der modernen Erfahrungswelt freigelegt. Jeder Text beginnt mit der Begehung eines konkreten, möglichst »frühen« Ortes, die seine räumlichen Merkmale inspiziert und aufzeigt, wie er unmittelbar wahrgenommen wurde. Es folgen Entstehung und Entwicklung des jeweiligen Ortes, wobei funktionale Veränderungen und soziale Gebrauchsweisen im Mittelpunkt stehen. Abschließend kommen Deutungen und Imaginationen zur Sprache sowie Bezüge zu anderen Orten. Die Texte gehen dabei immer von deutschen Beispielen aus, um sie zeitlich und räumlich zu verbinden. Im Verlauf der Darstellung werden diese »deutschen Orte« in den Kontext internationaler Entwicklungen gerückt. Deutschland war auch bei den Orten der Moderne vielfach Nachzügler, aber in einigen Fällen – beim Auto oder beim Kino etwa – wies es auch den Weg. Insofern sind die deutschen Orte der
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Moderne zumindest Leitsonden, vielfach aber selbst Katalysatoren für die nationalen und regionalen Varianten allgemeinerer Modernisierungsprozesse. Unter den Orten finden sich einige, die schon zur Zeit ihrer Entstehung Ikonen der Moderne waren. Sie dienten als Modell der realisierten Utopie und einer Gegenwart gewordenen Zukunft, aufgeladen mit überschwänglichen Erwartungen und apokalyptischen Ängsten. Andere, wie der Staudamm oder der Agrarbetrieb, haben sich nicht vergleichbar in das kollektive Gedächtnis eingeprägt. Sie kommen nüchterner daher und sind erst mit der Diskussion um Nachhaltigkeit und Massentierhaltung zu Objekten medialer Aufmerksamkeit geworden. Bei allen Orten mischen sich die Realität vor Ort, die Anwesende erleben, und die Imagination des Nichterlebten, die in Medien zirkuliert. Dem Letzteren neigen am deutlichsten U-Boot und Raumschiff zu: Der Raum, den beide in den kollektiven Imaginationen einnehmen, steht in keinem Verhältnis zu ihrer tatsächlichen Frequentierung. Orte der Moderne im Sinne dieses Buches sind demnach auch solche, die nicht von vielen Menschen aufgesucht und genutzt wurden, auch wenn alle Orte im Zuge der Ausbildung industrialisierter Konsumgesellschaften entstanden sind. Ihre Modernität gewinnen sie aus sehr unterschiedlichen Eigenschaften und Funktionen. Viele sind das Ergebnis technischer Revolutionen wie das Raumschiff oder die Telefonzentrale. Das Stahlwerk schuf eine neue Ordnung mit vergleichsweise konventionellen Mitteln, durch Dimension und Planung; das Stripteaselokal prägen dagegen bestimmte Beobachtungsverhältnisse. Manche Orte, die es zuvor bereits gab, erfuhren während der »langen Jahrhundertwende« einen Funktionswandel, wie die Kleinstadt oder der Kleingarten, weil sie als »Gegenorte« zum beschleunigten und rationalisierten Großstadtleben gefragt waren. Das Wohnen veränderte sich durch die räumlichen Modelle von Appartements oder Stadtrandsiedlungen, weil hier soziale Angleichung und Differenzierung stattfanden. Andere Orte zählten als Arbeitsplätze zum Alltag, wie die Zeitungsredaktion, von der aus nicht zuletzt die mediale Imagination der Moderne erheblich geprägt worden ist. Zu Imagination und Erfahrung von Moderne und Modernität gehört ihr ambivalenter Charakter. Franz Biberkopf ist deren Protagonist: Er scheitert an den Herausforderungen des modernen Lebens, wie es die Großstadt verkörpert – aber dieses Scheitern war nicht zwangsläufig, denn er hatte die Freiheit, sein Leben zu gestalten. Die Spannung zwischen Entfremdung und Selbstverwirklichung, zwischen Chance und Last, die Soziologen wie Emile Durkheim oder Georg Simmel bereits um 1900 erkannt haben, wird an vielen der folgenden Orte deutlich (van der Loo/van Reijen 1992). Fließband und Produktionstechnik entlasten von körperlich anstrengender Arbeit, aber sie erzeugen Monotonie unter größerem Zeitdruck. Das Kino erlaubt Fluchten in andere Welten, aber es erlöst nicht aus den Abhängigkeiten der Realität. Am Strand wollen sich Urlauber entspannen, aber die drangvolle Intimität aktiviert den Reflex, sich abzugrenzen. Vielfach entziehen sich die Menschen an diesen Orten deren Zumutungen und schaffen sich, zum Beispiel im Kleingarten, eigene Nischen. Franz Biberkopf stand dem Wirbel auf dem Alexanderplatz hilflos gegenüber, weil ihm keine seiner vertrauten Fähigkeiten recht wei-
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terhalf. Er war kein »moderner Mensch« im Sinne Georg Simmels, den der moderne Raum geprägt hatte: »Von Unzähligem chockiert« hatte dieser »robustere Empfindungsweisen« entwickelt, die unvermeidlich eine »größere Isolierung, eine schärfere Umgrenzung der personalen Sphäre« mit sich gebracht hatten (Simmel 1992, 734). Auf solche Mehrschichtigkeiten weisen die Titel der sieben Gruppen hin, in denen die Texte zusammengestellt sind: Bewegung kann ziellos und frei sein oder im Dienst gezielter Erweiterung stehen; in ähnlicher Spannung stehen vernetzen und steuern, sich nahe kommen und Abstand halten, gestalten und rationalisieren, vereinnahmen und ausstellen, verdichten und zerstören, sich zurückziehen und befreien. Immer scheint das Dauerrisiko der Moderne durch, ihre Träger und Gestalter zu überfordern; zugleich gehören – wie die psychoanalytische Couch – Techniken, sich dieser Überforderung zu erwehren, fest zum Kanon der Raumordnungen. Die meisten der Orte weisen auch Aspekte anderer Gruppen auf. Dies unterstreicht den Charakter eines ineinander verwobenen Ensembles, in dem die Ebenen der Gestaltung, Aneignung und Wahrnehmung von Raumstrukturen im Austausch stehen. Zu diesem Ensemble gehören weit mehr Orte, als in diesem Buch Platz gefunden haben, viele sind immerhin im Netz der Verweise eingefangen. Es würde die Ausgangserfahrung von Herausgebern und Autoren bestätigen, wenn die vorhandenen Texte das Bedürfnis wecken sollten, mehr über hier nicht vertretene Orte zu erfahren, weil sie die Landschaft der Moderne als erlebte Welten in nachhaltiger Weise gestaltet haben.
Literatur Augé, Marc (1994): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt. Bittner, Regina (Hg.) (2001): Urbane Paradiese. Zur Kulturgeschichte modernen Vergnügens, Frankfurt. Certeau, Michel de (1991): Das Schreiben der Geschichte (1975), Frankfurt. Döblin, Alfred (1988): Berlin Alexanderplatz (1929), München. François, Etienne/Hagen Schulze (Hg.) (2001): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München. Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.) (1994): Orte des Alltags. Miniaturen aus der europäischen Kulturgeschichte, München. Knoch, Habbo/Daniel Morat (Hg.) (2003): Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880-1960, München. Loo, Hans van der/Willem van Reijen (1992): Modernisierung. Projekt und Paradox, München. Ruppert, Wolfgang (1993): Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge, Frankfurt. Simmel, Georg (1992): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), Frankfurt. Virilio, Paul (1995): Der negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung, Frankfurt.
Bewegen: Orte der Erweiterung
»Moderne« steht für Bewegung: Fest gefügte Weltbilder und soziale Grenzen lösen sich auf, neue politische Ordnungen entstehen, individuelle Freiheiten nehmen zu. Wenn das 19. Jahrhundert diese Veränderungen im Zeichen von ökonomischer Dynamik und territorialer Expansion als »Fortschritt« feierte, war damit auch das effiziente, jedem mögliche Fort-Schreiten von einem Ort zum anderen gemeint. Im Übergang zum 20. Jahrhundert paarte sich dieser Anspruch auf individuelle Mobilität mit der Faszination durch Technik und mit meist staatlichen Initiativen, die Massen in Bewegung zu steuern. AUTO, FLUGZEUG und RAUMSCHIFF wurden zu Ikonen und Gefahrenträgern einer Gesellschaft im Zeichen der Beschleunigung. Die Eisenbahn verband seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine potente Technologie mit der räumlichen Öffnung des begrenzten Horizonts. Mehr noch als das qualmende, lärmende Gefährt wurde der BAHNHOF als »Pforte zur Freiheit« (Alfred Polgar) zum uneingeschränkt positiven Emblem dieses Fortschritts, das um 1900 mit großartigen Neubauten das Bild der Städte prägt. Wie der Flughafen oder die UBahn-Station ist er logistischer Umschlagplatz und technischer Knotenpunkt in einem vielfach vernetzten Verkehrssystem. Für die Reisenden markieren diese Plätze vor allem den Übergang zwischen städtischem Terrain und Unterwegssein; in den flüchtigen Begegnungen ihrer Nutzer werden sie zu Orten der Nähe. Weil man in Straßen- und U-Bahnen kürzer und alltäglicher unterwegs ist, bringen sie andere Erfahrungen mit sich als der Fernreiseverkehr. Noch komprimierter zeigt sich die routinisierte Beförderung im Fahrstuhl, der die technische Bewegung in die Senkrechte wendet. Die Zuversicht, sich mit Maschinenmobilität selbst zu übertreffen und anderen vorauseilen zu können, gründete seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf einem geradezu gläubigen Vertrauen in die Naturwissenschaften. Es ist im LABORATORIUM als Ort forschender Erweiterung verkörpert. Der Glaube an die Macht des technischen Wissens fußte auf einem bürgerlichen Konzept von Bildung, das sozialen Aufstieg versprach, und auf der Überzeugung, sich »Natur« objektiv aneignen zu können. Obwohl das Laboratorium selbst nicht mobil ist oder mobil macht, sich vielmehr vom Getriebe seiner Umwelt so dicht wie möglich abschottet, geht es auch an diesem Ort des Rückzugs um Bewegung: Wissenschaftler entwerfen und verwerfen Modelle der Natur, sie wollen Zusammenhänge erkennen, neue Stoffe und Verfahren entwickeln, Lebensbedingungen und schließlich den Menschen
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selbst verbessern. Dieses Wissen zu vermitteln, ist Aufgabe der Universitäten, denen gerade um 1900 Forschungsinstitute zum konzertierten Erkenntnisgewinn angegliedert wurden. Der moderne Erweiterungsdrang prägte sogar die Bildung auf dem elementaren Niveau der in dieser Zeit entstehenden Grundschule. Zwar nutzte der Staat die Schulpflicht, um loyale Staatsbürger zuzurichten und das Klassenzimmer mithin zu einem Ort der Steuerung zu machen. Trotzdem wurden hier Wissen und Kulturtechniken vermittelt, die den Einzelnen in die Lage versetzen sollten, sich zu entfalten und soziale Barrieren zu überschreiten. Statusgrenzen markierte anfänglich allein schon der Besitz eines AUTOS. Im Gefolge des Fahrrads steigerte es die individuelle Mobilität. Weil es jedoch lange ein Objekt des gehobenen und des Luxuskonsums blieb, erweiterte zunächst das Motorrad massenhaft den individuellen Bewegungsraum. Vor allem machte es seine Nutzer von kollektivierenden Fahrplänen unabhängig. Das Prinzip des Kraftwagens setzte sich mit dem Omnibus auch im öffentlichen Personenverkehr und mit dem Lastkraftwagen im Gütertransport durch. Sie zogen eine Anpassung der Infrastruktur an die neuen Verkehrsarten nach sich; Orte der Vernetzung wie die Autobahn oder hochtechnologische Brücken- und Tunnelkonstruktionen entstanden. Die mythische Aufladung des FLUGZEUGS als Medium einer im Vergleich zum Auto noch größeren Raumüberwindung beruhte auf der Eroberung der »dritten Dimension«. Bewegung durch Motorkraft faszinierte besonders bei hohem Tempo: Anders als der Rennwagen erwies sich der behäbige, schwer zu lenkende Zeppelin nicht als Erfolgsmodell. Mit Hilfe des Düsenantriebs, der schon den Flugverkehr revolutionierte, steigerte auch das RAUMSCHIFF – wenn auch zunächst eher imaginär als real – den scheinbar unbändigen Drang, sich über die Grenzen des menschlichen Lebensraums hinaus zu bewegen. In unbekannte Welten vordringend, wurde das Raumschiff wie das Laboratorium zu einem Ort der Entdeckung. Der Freiheitsverheißung und dem Zugewinn an individuellen Spielräumen, der von den Bewegungsmaschinen ausging, stand jedoch ein Moment unfreiwilliger Mobilität gegenüber. Um 1900 kam es vielen Zeitgenossen so vor, als lebten sie in einem unruhigen, gehetzten »Zeitalter der Nervosität« (Joachim Radkau). Jederzeit beweglich sein zu müssen, wurde als Überforderung wahrgenommen. Das ließ eine Sehnsucht nach Orten des Rückzugs wie dem Kleingarten, dem Appartement oder dem Wintergarten im Grandhotel wachsen, auch wenn die Entschleunigung mit viel Aufwand gestaltet werden musste. Wer von der modernen Bewegung hingegen noch nicht genug hatte, kam im Tanzlokal oder bei den laufenden Bildern des Kinos auf seine Kosten.
Der Bahnhof Alfred Gottwaldt I. Centralbahnhof, Frankfurt am Main, 1888 Der prachtvolle, feudale Frankfurter Centralbahnhof wurde am 18. August 1888 eröffnet. Er ist beispielhaft für den großstädtischen Bahnhof der Jahrhundertwende, den Ort der »klassischen Moderne« par excellence. Neben Frankfurt am Main hätten es auch die Hauptbahnhöfe von Köln (1894) oder Dresden (1898), Hamburg (1906) oder Leipzig (1915) verdient, als typische Großstadtbahnhöfe bezeichnet zu werden. Mit Frankfurt ist die Wahl auf einen prominenten Bahnhof an den Achsen zwischen Kopenhagen und Rom, Amsterdam und Budapest gefallen, auf einen Ort des beschleunigten, rationalisierten Großstadtlebens – nicht auf eine beschauliche kleinstädtische oder ländliche Station wie Neu-Isenburg bei Frankfurt oder Salzhausen in Oberhessen, obwohl mit den täglich drei bis zehn Zügen auch zahlreiche Arbeiter, Marktfrauen und Schüler vom Land Anschluss an den »Weltverkehr« erhielten. Kaum ein Straßenpassant weiß heute noch, dass die ersten Bahnhöfe in Frankfurt unmittelbar westlich des historischen Stadtkerns und der Wallanlagen standen, wo sich jetzt die Gallusanlage und das Bankenviertel mit seinen Hochhäusern befinden. Auch in Berlin lagen sämtliche Bahnhöfe einmal außerhalb der historischen Stadtmauer. Im 19. Jahrhundert war es zudem üblich, dass die Bahngesellschaften ihre Bahnhöfe selbst gestalteten. Vor der Errichtung des neuen Frankfurter Hauptbahnhofs wurde ab 1880 von der Preußischen Akademie für Bauwesen ein gigantischer Wettbewerb unter Beteiligung sämtlicher bedeutender Architekten durchgeführt. Man lud sie ein »in der Erkenntnis, dass es [...] um einen die Betätigung höchster künstlerischer Kraft herausfordernden Denkmalbau sich handele« (zit. n. Bundesbahndirektion 1988, 122). Diese »Kathedrale der Technik« konnte nahezu ohne Rücksichtnahme auf die Kosten errichtet werden, denn die frisch verstaatlichten Eisenbahnen besaßen faktisch das Monopol im Landtransport und schwammen, zumindest bis zum August 1914, im Geld. Unter 55 eingesandten Entwürfen erhielt der Landbauinspektor und Universitätsbaumeister Hermann Eggert aus Straßburg im Elsass den ersten Preis. Weil Frankfurt an der Schnittstelle von preußischem und hessischem Gebiet lag, war der Centralbahnhof ein Gemeinschaftsprojekt zweier Staaten: Auf der Südseite baute die Preußische Staatsbahnverwaltung ihre Büros, auf der Nordseite die Hessische Ludwigsbahn. Jedes größere Bahnhofsgebäude war laut Lehrbuch in funktio-
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Für Hinweise zum Thema danke ich Frau Claudia Schuster (Berlin) und Frau Heike Weber (München) sowie den Herren Professor Dr.-Ing. Manfred Berger (Kössern), Joachim Breuniger (Nürnberg), Professor Meinhard von Gerkan (Hamburg), Professor Dr. Mihály Kubinszky (Sopron), Dr. Jörg Kuhn (Berlin), Senatsdirigent i. R. Herbert Liman (Berlin), Professor Diedrich Praedel (Bad Homburg) und Dr. Volker Rödel (Frankfurt am Main).
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nale Elemente wie Schalterhalle, Wartesäle, Restauration sowie Räume für den Bahnhofsvorsteher und seine Leute zu gliedern. Diese Aufgabe hat Eggert glänzend gelöst, denn er kam fast ohne die sonst obligaten Treppen für Reisende aus. Einen großen Uhrenturm – ein verkappter Kirchturm – auf der Bahnhofskathedrale, wie er bald darauf unter anderem in Köln (1894), Wiesbaden (1906), Danzig (1910) oder Oldenburg (1915) verwirklicht wurde, erhielt der Frankfurter Hauptbahnhof noch nicht. Gleichwohl zählte Baedekers Reiseführer von 1902 Eggerts Werk »zu den großartigsten derartigen Anlagen, an Zweckmäßigkeit der Einrichtung hat er kaum seines gleichen. An das über 200 m breite Bahnhofsgebäude, mit stattlichen 25 m Höhe Eingangsraum, schließt sich die 168 m breite und 186 m lange Bahnhalle. Ihre drei [...] in Eisenkonstruktion ausgeführten Einzelhallen mit mächtigem, 28 m hohem Tonnengewölbe umfassen je drei Bahnsteige zu sechs Gleisen.«
1. Grundriss des Empfangsgebäudes im Bahnhof Frankfurt am Main, 1887 Die Bahnverwaltung hatte sich entschlossen, in Frankfurt einen Kopfbahnhof zu errichten. Die Lokomotiven mussten ohnehin gewechselt werden, so dass man auf einen Durchgangsbahnhof nach dem Vorbild von Hannover (1880) oder der Berliner Stadtbahn (1882) verzichtete. Beim Kopfbahnhof vermittelt ein Querbahnsteig die Fahrgäste zwischen den zahlreichen Eingängen zu den nicht minder zahlreichen Ausgängen auf die Bahnsteige. Neben den Reisenden mussten sehr große Mengen
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von Gepäck und Postsendungen, das eilbedürftige Expressgut und die Verpflegung für die Speisewagen abgesandt werden. Dafür waren zwischen den Bahnsteigen für die Passagiere jeweils niedrigere Gepäckbahnsteige errichtet worden, die ein Tunnelsystem mit elektrischen Aufzügen untereinander verband. Außerdem war ein Hauptgüterbahnhof für Stückgüter benachbart, dem ein Ortsgüterbahnhof für Wagenladungen angeschlossen war. Daneben sorgten Lokomotivbahnhöfe oder Bahnbetriebswerke für die Pflege der Lokomotiven. Obwohl sorgfältig geplant, blieb der Centralbahnhof dennoch nicht von Zugunglücken verschont. Am 6. Dezember 1901 überfuhr der verspätete Orient-Express »in voller Geschwindigkeit und mit mächtiger Wucht den Prellbock, der das Geleise von dem für das Publikum bestimmten Gangraum scheidet. [...] Die Lokomotive sauste mitsamt dem Tender durch die massive Steinmauer bis in den Wartesaal 2. Klasse [...] Glücklicherweise hatte der Unfall keine Opfer an Menschenleben gefordert« (zit. n. Bundesbahndirektion 1988, 17). Bereits zwei Jahrzehnte nach seiner Eröffnung reichten die 18 Gleise des Frankfurter Hauptbahnhofs für den Verkehr nicht mehr aus. Im Sommer 1912 gingen von hier aus an jedem Werktag 277 Züge ab, 267 trafen ein, zusammen also 544 Züge. Um Platz zu gewinnen, wurden die Bürotrakte im Norden und Süden abgerissen und zwischen 1914 und 1923 durch jeweils eine kleinere Bahnsteighalle in sehr sachlichem Baustil mit drei Gleisen ersetzt. Nunmehr kam der Frankfurter Hauptbahnhof mit 24 Gleisen und 15 Bahnsteigen fast an den neuen Leipziger mit seinen 26 Gleisen heran. 1939 wurden am Frankfurter Hauptbahnhof täglich 965 Zugfahrten mit zusammen 30.000 Reisenden gezählt. Ein solcher Hauptbahnhof hatte meistens ein größeres Netzwerk weiterer Bahnhöfe in derselben Stadt hinter sich. Für Frankfurt nennt das amtliche Bahnhofsverzeichnis von 1944 noch 21 solcher Zielstationen. Im Zweiten Weltkrieg trafen Fronturlauber und Verwundete, Opfer der Kinderlandverschickung und der Zwangsarbeit am Hauptbahnhof ein und fuhren ab. Die Frankfurter Juden wurden vorwiegend von einem Gleisanschluss der Großmarkthalle im Ostend der Stadt aus deportiert, aber regelmäßig wurden Justizgefangene und andere Verfolgte des Naziregimes mit planmäßigen Zellenwagen vom Frankfurter Hauptbahnhof abtransportiert (KONZENTRATIONSLAGER). Zum Umfeld eines jeden deutschen Großstadtbahnhofs gehörten seit 1939 große BUNKER, die, von unterschiedlicher architektonischer Qualität, noch jahrzehntelang mahnend auf dem Bahngelände und im städtischen Raum standen. Am Frankfurter Hauptbahnhof wurden jeweils ein größerer Nord- und Südbunker errichtet und nach dem Krieg zu »Bunkerhotels« umgestaltet. Auf den Bahnsteigen und neben den Stellwerken der Eisenbahn befanden sich viele kleinere »Splitterschutzbunker« für die Bahnbeamten im Dienst. Nach dem Krieg erfuhr der Frankfurter Hauptbahnhof eine grundlegende Modernisierung durch den Bau des Zentralstellwerks im Jahre 1957, als auch die ersten Gleise des Bahnhofs mit elektrischem Fahrdraht überspannt wurden. Das heutige Frankfurter S-Bahn-Netz, 50 bis 100 Jahre jünger als das Berliner Stadtbahnsystem, reicht weit in den Taunus, den Rodgau und in andere Gebiete des südhessischen Ballungsraums von Rhein-Main hinein. Der beständig wachsende Vorortverkehr
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war eine Folge der Trennung von Wohn- und Arbeitsort, zugleich aber auch Ursache für den Verkehrskollaps auf den Straßen der Innenstadt. Der Tunnel für die SBahn in der »D-Ebene« (drei Ebenen unter dem Straßenniveau) wurde seit 1969 angelegt und am 22. Mai 1978 eröffnet. Damit war der Charakter des Kopfbahnhofs teilweise aufgehoben, denn für die S-Bahn wurde der Frankfurter Hauptbahnhof zum Durchgangsbahnhof. Wenn man den Frankfurter Hauptbahnhof heute betritt, so fallen bestimmte Veränderungen seiner räumlichen Merkmale auf: Früher konnte man die Schalterhalle aus der Stadt zu ebener Erde und zu Fuß erreichen, man gelangte auch mit der Pferdebahn dorthin. Dieses Vestibül war durch dicke Mauern zur Straße und zu den Gleisen abgeschirmt, die längst abgebrochen und durch Glaswände ersetzt sind. Wegen des Straßenverkehrs und der elektrischen Straßenbahnen musste man seit 1975, um von der Kaiserstraße ins Vestibül zu gelangen, durch eine mit Rolltreppen bestückte Unterführung vorrücken, aus der wenigstens die tiefen Bahnsteige der städtischen Untergrundbahnen und der noch tiefer eingegrabene Tunnel der Schnellbahn bequem zu erreichen sind. Immerhin hat sich die Stadtverwaltung 1985 dazu drängen lassen, auch einen oberirdischen, durch Verkehrsampeln geschützten Weg über die Straßen zum Hauptbahnhof einzurichten.
II. Inszenierte Bewegung: Der Bahnhof als Schleuse und als Stadttor Der Laie benennt als »Bahnhof« den Ort, wo er die Züge besteigt und verlässt, wo er seine Gäste empfängt und verabschiedet. Jeder dieser Vorgänge ist ein Ritual des Selbsterlebens und der Selbstinszenierung. Der Eisenbahner versteht unter diesem Begriff in erster Linie die betrieblichen Aufgaben einer Anlage, an der Züge beginnen oder enden können und die wenigstens über eine Weiche verfügt. Sonst spricht die Eisenbahn-Betriebsordnung von einem Haltepunkt. Der Bahnhof gehört zum Transportsystem Eisenbahn, das neben der eigentlichen Dampfmaschine als das bedeutendste Symbol der Industrialisierung gilt. Die Eisenbahn war eine »zusammengesetzte Maschine« aus dem fahrenden Zug mit seiner Dampflokomotive und dem fest darunter liegenden, glatten und ebenen Gleis. An beiden Enden der linearen Strecke, oftmals auch an einzelnen Haltestellen unterwegs, mussten punktförmige »Stationen« errichtet werden. Die erste deutsche Eisenbahn wurde am 7. Dezember 1835 zwischen den fränkischen Handelsstädten Nürnberg und Fürth in Betrieb genommen. Goethe hat diese »Ludwigsbahn« und auch den ersten Taunusbahnhof von 1839 in seiner Geburtsstadt Frankfurt am Main zwar nicht mehr gesehen, aber dennoch schon 1828 zukunftsweisend festgestellt: »Mir ist nicht bange, daß Deutschland nicht eins werde; unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das ihrige tun.« Die Bauaufgabe »Eisenbahnhof« stellte sich in England schon seit 1828 und in den deutschen Ländern seit 1834 (Kubinszky 1969; Parissien 1997). Die Blütezeit des Bahnhofbaus lag zwischen 1870 und 1914, als im Deutschen Reich zahl-
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lose neue Strecken und Stationen errichtet wurden. In den größeren Städten ersetzten sie teilweise Bahnhöfe der ersten Generation. So modern aber der städtische Bahnhof aufgrund seiner technischen und urbanen Funktionalität war, so rückwärtsgewandt erschien zunächst seine Architekturhülle. Nur in den seltensten Fällen erreichte man das Niveau, das England mit der Londoner Euston Station in Form eines monumentalen griechisch-dorischen Portikus schon 1839 vorgegeben hatte (Meeks 1956; Biddle 1986). Das Ornament hatte sich verselbständigt und hinter der hohen Fassade stand kein Gebäude. Nur in Braunschweig wurde am ersten Bahnhof von 1838 mit einem tunnelartigen Portal im dorischen Stil ein ähnlich starker Ausdruck mit einem »fast erschreckend anmutenden romantischen Bau« (Mihály Kubinszky) gefunden. Bereits 1845 war dieses Gebäude durch einen klassizistischen Neubau ersetzt worden (Gronen 2002). Seit 1840 baute man die ersten »Aufnahmegebäude«, wie eine österreichische Bezeichnung dafür lautete, vor allem im neogotischen Stil, ab 1870 oftmals neoromanisch und spätestens seit 1890 im Stil der Neorenaissance (Krings 1985). Es hat sehr lange gedauert, bis diese von den Vertretern des Bauhauses und der Neuen Sachlichkeit als würdelos und unbedeutend diffamierte Phase des Historismus von der Kunstgeschichte überhaupt wieder ernst genommen wurde. Um die vorige Jahrhundertwende befanden sich in den einzelnen Ländern des Deutschen Reiches fast 30.000 Bahnstationen; schon mit den Gebietsverlusten am Ende des Ersten Weltkriegs sank dieser Höchstwert. Erst 1920 wurden die deutschen Länderbahnen zu einer »Reichsbahn« zusammengefasst. 1945 ging die Zahl der Bahnhöfe auf deutschem Boden nochmals stark zurück. Mit aufmerksamem Blick kann man noch heute »deutsche« Stationen in Königsberg und Breslau, in Mülhausen und Posen finden. Ende 2004 zählte die Deutsche Bahn AG noch ungefähr 5.700 Bahnhöfe in ihrem Bestand. Größere Personenbahnhöfe weisen zwei architektonische Hauptelemente auf: Zur Straße hin das imposante, von einem namhaften Architekten entworfene steinerne Haus, dessen Architektur den Stil von Burgen oder Kathedralen wirkungsvoll imitiert. Da gibt es Portale, Bögen, Türme und reichhaltigen bildlichen Schmuck in Werkstein oder Ziegel, nicht wirklich modern und nur durch seine Größe auffällig. Dahinter dann, zumeist von einem Ingenieur entworfen, das nüchterne Gerüst der Bahnsteighalle mit einem oder mehreren »Schiffen«, teuer in der eisernen Konstruktion und billig in der Ausführung mit Wellblechbedachung. Der Bahnhof war folglich stets »halb Fabrik, halb Palast« (Wolfgang Schivelbusch), wobei sich die eine Hälfte der Stadt und die andere Hälfte der Eisenbahn oder der Ferne zuwandte. Stets merkt man den Ingenieur-Architekten ihren Blick auf den wundervollen »Crystal Palace« der Londoner Weltausstellung von 1851 an, mit dem erstmals eine moderne Stahl-Glas-Architektur dieser Ausmaße verwirklicht wurde. Stets aber schmückte man im 19. Jahrhundert das gegossene, geschmiedete oder gewalzte und genietete Eisen noch mit den Kapitellen griechischer Säulen oder mit floralen Elementen aus Schmiedeeisen, um den kalten Stahl zu maskieren. Mit Löwenköpfen waren einst die Regenfallrohre der Frankfurter Bahnsteighallen dekoriert.
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Schnell wurden diese lichten Hallen des Eisenbahnjahrhunderts düster, denn der Rauch aus den Schornsteinen der Dampflokomotiven war schmutzig. Die eisernen Dächer und ihre Stützen erwiesen sich als dankbare Opfer der schwefelhaltigen Abgase. Schon seit etwa 80 Jahren fragen sich, von Nordamerika ausgehend, die Architekten der Eisenbahn, ob es der gewaltigen Hallen überhaupt bedurfte. Man baut jetzt kleinere, standardisierte Bahnsteigdächer, die wesentlich billiger sind. Bei den alten Bauten kam es zu dramatischen Verlusten an Hallenarchitektur. Während die Deutsche Bahn von 2002 bis 2006 die Hallen in Frankfurt strahlend restauriert, wurden sie in Hannover abgerissen. Die Abstimmung zwischen Bahnhofsarchitekten und Ingenieuren gelang nicht immer. Mitunter lassen sich zwei getrennte Bauwerke erkennen, die eine gemeinsame Wandfläche aufweisen. Nur ganz selten, etwa am bereits 1880 eröffneten Anhalter Bahnhof in Berlin, wurden die Ausmaße und die alles beherrschende Dachrundung der funktional wichtigeren Bahnsteighalle ernsthaft bis in die Straßenfassade des neoromanischen Backsteingebäudes durchgezogen. Bei dem Frankfurter Neubau von 1888 greift der Haupteingang zwar das Motiv der großen, dreifach vorhandenen Halle wuchtig auf, untertreibt aber bei seiner Dimension: Die dahinter liegende eiserne Bahnsteighalle ist noch etwas größer als der vorgelagerte Torbogen mit dem Vestibül für die Schalterhalle. Seit dem Ersten Weltkrieg entstanden im Deutschen Reich nur noch wenige Neubauten von Großstadtbahnhöfen, zum Beispiel in Stuttgart (1911-27), Duisburg (1933), Oberhausen (1934) und Düsseldorf (1934). Der Bahnhofsbau wurde um das Jahr 1930 durch das internationale Projekt der Autobahn abgelöst, an dem viele deutsche Eisenbahnbeamte beteiligt waren. Als avantgardistisch kann man die Bahnhofsarchitektur auf europäischer Ebene vielleicht in Mailand (1906-31), Helsinki (1910-20), Königgrätz (1935) und Amsterdam-Amstel (1939) bezeichnen (Kubinszky 1969; Parissien 1997). Die von Albert Speer geplanten hypertrophen Großbaumaßnahmen für Breitspurbahnen sahen einen Anschluss von Frankfurt nicht vor. Gigantische Empfangsgebäude wurden in der Zeit des Nationalsozialismus für Berlin, München, Linz und Wien entworfen. Der Bahnhof ist ein Schleusenraum für die Vermittlung zwischen zwei verschiedenen Verkehrsräumen, dem der Stadt und dem der Eisenbahn (Schivelbusch 1983). Er verändert Menschen, zumindest vorübergehend: Sie unterwerfen sich dem Bahnhof für eine kurze Zeit und verlassen ihn bald wieder in einer anderen Stimmung. Am Bahnhof sind viele Menschen aus vielen Gründen anwesend. Indem sie kommen und gehen, bleiben sie als Menge eine konstante Erscheinung. Sie begeben sich Tag für Tag dorthin, um selbst wegzufahren oder um andere Personen abzuholen, um dort zu essen und zu trinken. Manche kommen aber auch zum Bahnhof, um darin zu flanieren und in der Anonymität mit ihresgleichen zu reden. Spezialisten erscheinen, um im Gedränge zu stehlen und um in der Dunkelheit ihre Drogen oder käufliche Liebe zu suchen. Einige Menschen betreten den Bahnhof, um dort zu betteln oder wenigstens in warmer Umgebung zu schlafen. Die Eisenbahner und die Frauen von der Bahnhofsmission müssen zum Dienst in das Em-
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pfangsgebäude eintreten, in den Zeitungsläden und Bahnhofsrestaurants gehen Leute ihren Jobs nach. Dann gibt es noch Apotheken, Fotogeschäfte und Angebote für allerlei sonstige Bedürfnisse, die von den am Bahnhof erweiterten Ladenschlusszeiten für »Reisebedarf« profitieren. Am Bahnhof werden die typischen Großstadtphänomene der Obdachlosigkeit, Sucht, Armut, Prostitution und Kriminalität als ganz eigene räumliche Erfahrungen des modernen Menschen sichtbar. Anonymität wird von Massenverkehr und Massengesellschaft begünstigt. Im Bahnhof ist niemand, dem alles gehört, der auf alles achtet. Das Hausrecht wird zum Problem. Die Eigentümer lassen sich von angestellten Funktionären vertreten, denen es an Identifikation mit dem Ort fehlen mag: Bahnpolizei und Bundesgrenzschutz. Wenn sie kommen, gehen viele. Früher waren Bahnhöfe durchgehend geöffnet, jetzt werden sie nachts abgeschlossen. So offen wie die Straßen, Plätze und Parks sind die Bahnhöfe nicht, aber den »Gastarbeitern« der fünfziger und sechziger Jahre, die vornehmlich mit der Eisenbahn aus Südeuropa gekommen waren, diente der Bahnhof dennoch als »Promenade, Piazza, Plaza, Medan und Basar: ›Kreuzweg der verlorenen Söhne des Südens‹« (Gisela Kyrieleis). Während der modernen Hochzeit des Bahnhofs gab die Klassengesellschaft den Maßstab vor. In den Zügen und in den Wartesälen wie in den Bahnhofsrestaurants sah man um 1900 die Menschen in bis zu vier Klassen geschieden, manchmal in zwei Gruppen der beiden oberen und der beiden unteren Klassen zusammengefasst. Restaurants am Bahnhof konnten mitunter so gut sein, dass sie selbst Gäste aus der Stadt anzogen. Also hatte das Bahnhofsrestaurant zwei Seiten, nämlich zur Straße und zum Bahnsteig. Der Speisewagen, erst um das Jahr 1900 in größerem Maßstab eingeführt, brachte die Verpflegung auf Räder. Die ersten Speisewagenbetreiber waren sogar noch Bahnhofswirte, die um ihr schwindendes Geschäft besorgt waren. Hin und wieder wurden am Bahnhof auch »Damenzimmer« eingerichtet, wie es in den Zügen zeitweilig Damenabteile gab. Separat lag das Fürstenzimmer am äußersten Südende des Bahnhofs von Frankfurt, falls der Kaiser oder andere Herrschaften mit ihrem Salonwagen oder gar mit dem eigenen Hofzug abfahren wollten. Die Menschen am Bahnhof legen kein uniformes Verhalten an den Tag, sondern vielfältiges, das sich ähnelt. Die Frau des Malers Max Beckmann berichtet, dass er in den »Frankfurter Jahren [...] manchmal spät abends noch zum Hauptbahnhof [ging], nur um die Menschen kommen und gehen zu sehen; auf diese Weise sah er viele ›Typen‹, die er später in seinen Bildern verwendete. Der Strom der Menschen, ihre Stimmungen und Launen, die Aufregungen der Reise, das ständige Auf und Ab des Lebens, die Freuden und Leiden faszinierten ihn und beflügelten seine Phantasie« (Beckmann 1983, 16). In der Ansammlung anonymer Massen hat der Bahnhof etwas von der fast vergessenen Passage, einem WARENHAUS oder einer Messehalle, neuerdings von einem Einkaufszentrum oder der shopping mall. Der Dialog zwischen den Menschen am Bahnhof hat nachgelassen: Fahrkartenautomaten haben den Schalterbeamten abgelöst, Fahrkarten werden nicht mehr an der Bahnsteigsperre
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vorgezeigt und bei Bedarf mit einer Zange geknipst. Der Berufspendler hat Dauerkarten. Die am Bahnhof allgegenwärtige Uhr und der sich täglich wiederholende Fahrplan weisen unerbittlich darauf hin, dass es neben dem zyklischen Zeitbegriff der regelmäßigen Erneuerung von Tageslauf und Jahreszeiten immer auch einen linearen Zeitbegriff der Vergänglichkeit geben wird. Erst 1893 wurden, eine Folge der Eisenbahn, im Deutschen Reich die Uhrzeiten vereinheitlicht. Jeder Fahrplanwechsel eröffnet eine neue Folge von Tag zu Tag, doch immer folgt auch ein neuer Fahrplanwechsel, einer nach dem anderen. Das Theaterstück an jedem Bahnhof besteht aus ritualisierten Abschiedsszenen zwischen Individuen: Küsse, Taschentücher, das heute kaum noch vorhandene offene Zugfenster – immer sind die Akteure zugleich auch Zuschauer. Hunderttausende wirken täglich als Statisten mit. Die meisten verlassen bald die Bühne, um auf einer neuen Bühne in anderen Rollen aufzutreten.
III. Der Hauptbahnhof als Bühne Der Hochseehafen kann als originärer Vorläufer der Poststation im 18. Jahrhundert und des Eisenbahnhofs im 19. Jahrhundert gelten. Nicht umsonst spricht man seit dem Beginn der Fliegerei um 1910 wieder vom »Lufthafen« oder auch vom »Flughafen« (FLUGZEUG). Nur der mit dem Eisenbahnwesen direkt konkurrierende Wettbewerber des Straßenverkehrs brachte das unsägliche Wort vom »Omnibusbahnhof« hervor. Der klassisch-moderne Großstadtbahnhof ist mittlerweile eine historische Erscheinung: »Maschinenhaus, Passage, Forum, Basar, Kaffeehaus, Restaurant, Hotel, Fürstenpalast – alle diese Aufgaben hatte der Großstadtbahnhof zu übernehmen. Der Glanz seiner Eröffnungszeit verblich zumeist rasch im ständigen Lokomotivrauch; der Wandel der Verkehrsbedürfnisse wie der politisch-ökonomischen Strukturen unterwarf seinen baulichen Bestand ständigen Veränderungen; Kriegszerstörungen taten ein Übriges. Hier und da gelang es, charakteristische Vertreter der einst so stolzen Baugattung zu erhalten, viele sind jedoch verstümmelt oder gänzlich verschwunden« (Krings 1985, 86). Die größten Veränderungen hat der Bahnhof durch Tunnel erfahren, also durch Bauten für U-Bahn und S-Bahn, denn damit wurde er von einer zweidimensionalen Fläche mit ein bis zwei Ebenen zu einem in die Erde gedrückten Turmgebilde verwandelt. Nach oben kam nur selten ein Büro- oder HOCHHAUS hinzu. So durfte der deutschstämmige Architekt Walter Gropius über dem Grand Central Terminal von New York das 1963 fertiggestellte und seitdem vielfach kopierte Pan-AmBuilding (heute: MetLife-Building), ein Verwaltungshochhaus, als eine Ikone der Moderne gestalten. Brutal war nicht nur die prismenförmig abgekantete Struktur des 59 Stockwerke hohen Gebäudes, brutal war auch seine Position über den Gleisen der verkleinerten Central Station. Nur für wenige Wochen war auf dem Hochhausdach ein futuristisches »Helipad« in Betrieb, ein Hubschrauber-Landeplatz für
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Direktverbindungen mit den großen Flughäfen der Stadt. Ein solches Flugfeld hatte auch die Deutsche Bundesbahn um 1960 einmal für ihren Frankfurter Hauptbahnhof geplant, als man sich den Intercity-Verkehr mit Hubschraubern erträumte. Damit rückt der Bahnhof immer näher an Vergnügungswelten wie den Lunapark heran, wo die Grenze zwischen Ernst und Spiel sich aufzulösen beginnt. Zum Hauptbahnhof gehört auch das Bahnhofsviertel. Mit dem Bau der Bahnhöfe in der Gründerzeit entstanden ringsum neue Stadtgebiete, die sich durch Verkehr und Dienstleistungen aller Art bald nach 1900 einen zweifelhaften Ruf erwarben. Am oder im Bahnhof der Vergangenheit waren stets ein Automatenrestaurant mit mechanisierter Bedienung und ein Aktualitäten-KINO mit endlos laufendem Programm zu finden. So ist das Wort vom »Bahnhofsviertel« bald zum Schimpfwort geworden, obwohl ein solches Stadtquartier zur Moderne gehört wie früher schon das Hafenviertel zur Handelsstadt (STRIPTEASELOKAL). Das GRANDHOTEL ist in Deutschland nicht so stark zum Bestandteil des Bahnhofs geworden wie in England oder Frankreich. Dort haben die Bahngesellschaften um die vorige Jahrhundertwende mitunter das Empfangsgebäude als regelrechtes »Palast-HOTEL« ausgebildet, das die Bahnsteighalle völlig verdeckte. Seit 1993 wurde in Frankfurt zum Entsetzen des Denkmalpflegers das Projekt verfolgt, die breite innerstädtische Fläche über den 24 Bahnsteiggleisen mit einer Platte aus Beton zu verdecken und darauf ein gigantisches Verwaltungs- und Dienstleistungszentrum in Citynähe zu errichten. Die Wirtschaftskrise hat solchen Träumen, die auch für die Bahnhöfe von Stuttgart und München bestanden, etwas von ihrem Wind aus den Segeln genommen. Immerhin ist 2003 ein Flughafenbahnhof mit ICE-Anbindung für den Fernverkehr entstanden (FLUGZEUG), der dem alten Centralbahnhof große Konkurrenz macht. Das Bahnhofshotel heißt heute gleich »Intercity-Hotel«, auch die Restauration im Bahnhof darf Namen wie »Intercity-Restaurant« oder »Bistro Vitesse« führen. Selbstredend muss auch die Bahnhofstoilette »FrischePause« oder »McClean« heißen.
Literatur Baedeker, Karl (Hg.) (1902): Die Rheinlande von der Schweizer bis zur Holländischen Grenze, 29. Aufl., Leipzig. Beckmann, Mathilde Q. (1983): Mein Leben mit Max Beckmann, München. Berger, Manfred (1988): Historische Bahnhofsbauten, Bd. 3, Berlin (Ost). Biddle, Gordon (1986): Great Railway Stations of Britain. Their architecture, growth and development, Newton Abbot. Brunn, Burkhard/Diedrich Praedel (1992): Der Hauptbahnhof wird Stadttor. Zum Ende des Automobilzeitalters, Gießen. Bundesbahndirektion Frankfurt am Main (Hg.) (1988): 100 Jahre Hauptbahnhof Frankfurt am Main, Darmstadt. Bund Deutscher Architekten u.a. in Zusammenarbeit mit Meinhard von Gerkan (Hg.) (1996): Renaissance der Bahnhöfe. Die Stadt im 21. Jahrhundert, Berlin.
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Cornelius, Carl (1921): Eisenbahn-Hochbauten. Reihe Eisenbahnwesen und Städtebau, Berlin. Gottwaldt, Alfred (1983): Deutsche Bahnhöfe. 500 Ansichtskarten von 1900 bis 1945, Zürich. Gronen, Claudia A. (2002): Der erste Braunschweiger Hauptbahnhof von Carl Theodor Ottmer. Ein Hauptwerk früher europäischer Bahnhofsarchitektur, Hannover. Kirn, Richard (1967): Frankfurt – so wie es war. Ein Bildband, Düsseldorf. Krings, Ulrich (1985): Bahnhofsarchitektur. Deutsche Großstadtbahnhöfe des Historismus, München. Kubinszky, Mihály (1969): Bahnhöfe Europas. Ihre Geschichte, Kunst und Technik, Stuttgart. Kyrieleis, Gisela (1985): Großstadt-Heimat. Der Frankfurter Hauptbahnhof, in: Eisenbahn-Ausstellungsjahr-Gesellschaft (Hg.), Zug der Zeit – Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahn 18351985, Berlin (West), 338-349. Meeks, Carroll L. V. (1956): The Railroad Station. An architectural history, New Haven. Parissien, Steven (1997): Bahnhöfe der Welt. Eine Architektur- und Kulturgeschichte, München. Deutsche Reichsbahn (Hg.) (1944): Amtliches Bahnhofsverzeichnis 1944, gültig vom 1. Juni 1944 an, Berlin. Röttcher, Hugo (1933): Hochbauten der Deutschen Reichsbahn. Empfangsgebäude der Personenbahnhöfe, Berlin. Schack, Martin (2004): Neue Bahnhöfe. Die Empfangsgebäude der Deutschen Bundesbahn 19481973. Mit einem Beitrag von Ulrich Langner, Berlin. Schivelbusch, Wolfgang (1983): Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München. Schomann, Heinz (1983): Der Frankfurter Hauptbahnhof. 150 Jahre Eisenbahngeschichte und Stadtentwicklung (1838-1988), Stuttgart. Zimmermann, Karl (1954): Bahnhof – geliebt und erforscht, Frankfurt.
Das Laboratorium Philipp Felsch I. Physiologisches Laboratorium, Leipzig, um 1870 In der grünen Leipziger Vorstadt, wo weder Verkehrslärm noch die benachbarte Taubstummenanstalt für Unruhe sorgten, lag hinter Eisengittern das Physiologische Institut der Universität. Die schlichte Fassade unterbrach kein Portal; schmale Eingänge an den Enden der hufeisenförmigen Anlage führten zu den Laboratorien. Der reguläre Vorlesungsbetrieb beschränkte sich auf ein separates Gebäude im Hof. »Bitte nicht stören!«: Wenn die Architektur eine Botschaft verkörperte, dann diese (Hoffmann 2001). Im Innern setzten sich die Sicherheitsvorkehrungen fort. Die Mikroskopierräume gingen nach Norden, um vor direktem Sonnenlicht geschützt zu sein. Dicke Trennmauern dämpften Vibrationen des Fußbodens auf ein erträgliches Maß. Die Laboratorien für physiologische Physik im Ostflügel, in denen zwischen mechanischen Apparaturen der Vivisektionsbetrieb stattfand, umfassten eine Dunkelkammer, in der unter Lichtabschluss gearbeitet werden konnte, und Isolierräume, die hohe oder niedrige Temperaturen konstant hielten. Im chemischen Laboratorium im Südflügel lernten ausgewählte Studenten an großen Arbeitstischen praktisch und anschaulich, wie der tierische Stoffwechsel funktioniert. Seit seiner Fertigstellung im Jahr 1869 beherbergte das Institut den renommierten Professor Carl Ludwig nebst Mechaniker und Assistenten, eine fluktuierende, internationale Schar von Wissenschaftlern sowie Fische, Frösche, Kaninchen, Hunde und manchmal Pferde, die keine Treppen stiegen und deshalb in einem Nebengebäude hausten. Der Professor und seine engsten Mitarbeiter wohnten über den Laboratorien im ersten Stock. Die Tiere waren in diversen Stallungen, Käfigen und Aquarien im Garten untergebracht (Wurtz 1870). Vieles spricht dafür, das Laboratorium als »verschwiegenes epistemisches Zentrum« der Moderne zu betrachten (von Herrmann/Hoffmann 2004). Offensichtlich geschahen in seinen sorgfältig befestigten Räumlichkeiten wichtige Dinge, aber was genau das war, darüber herrschte Unklarheit, seitdem die Omnipräsenz naturwissenschaftlicher Forschungslokale um 1900 ins öffentliche Bewusstsein gedrungen war. Ein Leipziger Journalist, der das neue Physiologische Institut 1870 für die illustrierte Familienzeitschrift Daheim besuchte, staunte über Ludwigs unerwartete Liebenswürdigkeit und über eine Art »Telegraphenapparat«, der, auf undurchsichtige Weise mit dem Körper eines Hundes verbunden, »auf- und absteigende Linien« auf Papierstreifen schrieb (Ploss 1870, 334). In der Tat war Ludwigs innovative Domäne die »graphische Methode«: ein bildgebendes Verfahren, mit dem organische Bewegungsvorgänge wie Atmung oder Blutkreislauf mechanisch aufgezeichnet werden konnten. Die physiologische Experimentalisierung des Lebens übersetzte Körperfunktionen in analoge Kurven, die den Gesetzen der Mechanik zugänglich waren; und die junge internationale Physiologengemeinschaft operierte in der
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selbstgewissen Überzeugung, jenseits aller subjektiven oder kulturellen Vermittlungen an die kurvenreiche »Sprache der Natur« selbst zu rühren (Daston/Galison 2002). Der sächsische Landadelige Ernst von Weber besuchte das Laboratorium 1878 in Ludwigs Abwesenheit. Sein populäres Pamphlet über Die Folterkammern der Wissenschaft zeichnete ein ungleich düstereres Bild: Vom sardonischen Lächeln des Wärters, der ihn führte, über martialische Apparaturen und Blutflecken an den Wänden bis zu den modrigen Verliesen im Keller des »palastartigen Gebäudes« atmete die Anstalt den Geruch unausdenklicher Grausamkeit (Weber 1879, 51ff.). Weber und die deutsche Tierschutzbewegung waren überzeugt, dass die Vivisektion keinen medizinischen Nutzen besitze. Während der 1880er Jahre gelangte ihr öffentlicher Protest vor den Reichstag, aber obwohl sich sogar Richard Wagner als Wortführer engagierte und trotz mancher Sympathien auf konservativer Seite blieben physiologische Laboratorien erlaubt (Tröhler/Maehle 1987).
II. Mauerloch, Labor, Laborsystem Als erstes Exemplar seiner Art, und zwar weltweit, vereinte das Leipziger Laboratorium die unterschiedlichen Zweige der Physiologie unter dem Dach einer funktionalen Architektur und mit dem Auftrag zu experimenteller Forschung und systematischer Ausbildung von Medizinstudenten. Die romantische Naturphilosophie und die »dumpfen Mauerlöcher«, als die der Berliner Experimentalphysiologe Emil Du Bois-Reymond seine früheren Arbeitsstätten bezeichnete, hatten ausgedient (Lenoir 1992, 58). Was der sächsische Staat um 1870 ins Leben rief und nach der Reichsgründung mit wachsenden Geldmitteln finanzierte, ist ein frühes Beispiel für die »institutionelle Revolution« (Cahan 1984), die sich um 1900 in den deutschen Naturwissenschaften ereignete. Der Staat verfolgte dabei handfeste Interessen, »denn es steht außer Frage, dass die Kultur der Wissenschaften den Aufschwung von Industrie und Handel nur begünstigen kann«, wie ein zeitgenössischer französischer Beobachter zutreffend anmerkte (Wurtz 1870, 68). In der Physiologie, Chemie und Physik entstanden zunächst große universitäre Institute, die Laboratorien mit Hörsälen koppelten und experimentelle Verfahren zum neuen Standard von Forschung und Lehre erhoben. Mit den Instituten wuchs auch die Studentenschaft, besonders in der Medizin: Waren um 1870 lediglich 2.900 Medizinstudenten an deutschen Hochschulen eingeschrieben, belief sich ihre Zahl am Vorabend des Ersten Weltkriegs auf 18.000 (Cahan 1984, 44). Dass zu ihrer Ausbildung zunehmend Laboratoriumspraktika gehörten, vermittelt einen deutlichen Eindruck vom raschen Wachstum der neuen Forschungslokale. Laboratorien gab es zwar bereits in der frühneuzeitlichen Alchemie und seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auf die Privatinitiative einzelner Wissenschaftler hin, etwa Jan Evangelista Purkinjes physiologisches Institut in Breslau
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(1824), Justus Liebigs chemisches Laboratorium in Gießen (1825) und Heinrich Gustav Magnus’ physikalisches Kabinett in Berlin (1843). Dass jedoch ein staatlich finanziertes »Laborsystem« entstand, zum unvermeidlichen Angelpunkt der modernen Naturwissenschaften avancierte und vom Deutschen Kaiserreich aus nach Frankreich, England, Italien, in die USA und nach Russland ausstrahlte, datiert in die Jahre ab 1870. Es war die räumliche Entsprechung zur Ausdifferenzierung der betreffenden Disziplinen im »naturwissenschaftlichen Zeitalter«, das der Berliner Industrielle Werner von Siemens 1886 ausrief. Acht Jahre später stellte ein Festredner zur Eröffnung des »William Pepper Laboratory of Clinical Medicine« in Philadelphia apodiktisch fest: »Kein Land [und] keine Universität [...] können heute einen seriösen Platz im Gang von Erziehung und Fortschritt einnehmen, wenn sie nicht über geeignete Laboratorien für die wissenschaftliche Arbeit verfügen« (Welch 1896, 21ff.). Die weitere Evolution moderner Laborsysteme kennzeichneten drei Momente: die wachsende Bedeutung privater Mittel, die Einrichtung von reinen Forschungsinstituten sowie die zunehmende Größe und Rationalisierung der Laboratorien und ihres Betriebs. Der Doyen der deutschen Elektroindustrie Werner von Siemens setzte sich bereits während der 1880er Jahre für ein außeruniversitäres physikalisches Forschungsinstitut auf Reichsebene ein. Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, die 1887 auf seine Initiative hin und mit seinen Mitteln ins Leben gerufen wurde, beherbergte bis zum Ersten Weltkrieg den weltweit größten physikalischen Laborkomplex für angewandte und Grundlagenforschung (Cahan 1989). Ab 1911 entstanden reine Forschungsinstitute ohne universitäre Lehrverpflichtungen unter dem Dach der staatlichen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Auch für die Lebenswissenschaften, deren industrielle Relevanz im ausgehenden 19. Jahrhundert noch weitaus weniger evident war als die von Physik oder Chemie, hatten sich bereits vor der Jahrhundertwende private Förderer gefunden. Ein frühes Beispiel ist das prestigeträchtige Institut Pasteur in Paris. Als institutionelle Krönung des vielleicht durchschlagendsten wissenschaftlichen Lebenswerks im späten 19. Jahrhundert, der Pasteurschen Mikrobiologie, konnte es 1888 aus einer groß angelegten Spendenaktion finanziert werden, an der sich Privatiers aller Klassen – vom Handwerker bis zur Königsfamilie – und ein bunter Reigen von Wirtschaftsunternehmern beteiligten, wie etwa Madame Boucicaut, die Besitzerin des florierenden Pariser WARENHAUSES Bon Marché. Die französische Regierung verpflichtete sich im Gegenzug, einen Großteil der laufenden Folgekosten zu übernehmen. Natürlich war Pasteurs Mikrobenforschung aufgrund ihrer eindrucksvoll demonstrierten hygienischen Erfolge bereits während der 1870er Jahre längst zum wissenschaftlichen Stolz der Grande Nation und ihrer Bürger avanciert (Weindling 1992, 172ff.). Bereits 1892 bezeichnete der englische Biologe Thomas H. Huxley die moderne Universität als »Fabrik für neues Wissen«, und zwar besonders im Hinblick auf ihre Laboratorien (Fye 1986, 920). Die Fabrikmetapher ist dem naturwissenschaftlichen
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Forschungslokal seither treu geblieben (STAHLWERK). Sie verweist auf das Anwachsen von Forschungsmitteln, auf die räumliche Vergrößerung von Instituten und auf die zunehmende Arbeitsteilung, die bereits um 1900 dazu führte, dass naturwissenschaftliche Zeitschriftenartikel von mitunter unübersichtlich großen Autorenkollektiven gezeichnet wurden. Dem russischen Experimentalphysiologen Iwan Pawlow, berühmt und berüchtigt durch seine konditionierten Hunde, konnte erst im vierten Anlauf 1904 der Nobelpreis verliehen werden, da seine Gepflogenheit, die Forschungsarbeit im Petersburger Institut für Experimentelle Medizin an eine Vielzahl von jungen Assistenten zu delegieren, ungewöhnlich und neu war und Zweifel an Pawlows persönlichem Verdienst aufkommen ließ (Todes 2004). Die moderne Transformation naturwissenschaftlicher Autorschaft befand sich angesichts wachsender Laboratorien in vollem Fluss. 1905 ließ der Leipziger Physiker Otto Wiener in seinem vierstöckigen Institutsgebäude eine Telefonanlage installieren, um Kommunikationsstörungen zwischen den Wissenschaftlern vorzubeugen (TELEFONZENTRALE). Im Sinne reibungsfreier Forschung sollten Kollegen künftig besser miteinander fernsprechen, denn Wiener versicherte: »Ohne diese Einrichtung könnte man im Institut eine halbe Stunde lang vergeblich nach jemandem suchen.« Nicht ohne Stolz bezeichnete er das Telefonnetz als »Nervensystem« seines Laboratoriums (Cahan 1984, 36).
III. Das Laboratorium der Moderne Der Siegeszug des Laboratoriums als Ort ist eng mit dem Siegeszug des Experiments als Praxis der modernen Naturwissenschaften verknüpft. »Jede Experimentalwissenschaft braucht ein Laboratorium. Dorthin zieht sich der Forscher zurück, um mittels der experimentellen Analyse zu einem Verständnis der beobachteten Naturvorgänge zu gelangen«, erklärte Claude Bernard in seinem einflussreichen Leitfaden der experimentellen Medizin von 1865 (Bernard 1961, 201). Tatsächlich fungieren Laboratorien als Refugien, in denen der natürliche Lauf der Dinge außer Kraft gesetzt ist. Sie öffnen der experimentellen Praxis einen Freiraum vom undefinierbaren Rauschen der Natur und gestatten es, isolierte Variablen in mehr oder weniger artifiziellen Milieus kontrolliert aufeinander einwirken zu lassen. Der räumlichen Isolation und Verdichtung (U-BOOT, RAUMSCHIFF) gesellt sich als zweites Moment ein ungewisser Ausgang hinzu. Laut François Jacob sind Experimente »Maschinen zur Herstellung von Zukunft«, fragile Anordnungen von Wissenschaftlern, Versuchstieren und Instrumenten, die sich von technischen Arrangements – Maschinen im eigentlichen Sinn – dadurch unterscheiden, dass sie Differenzen oder eben: Informationen erzeugen, anstatt Identitäten zu reproduzieren (Rheinberger 1992, 25f., 71f.). Als Schnittstelle von künstlicher Intensivierung und prozessualer Offenheit sind das Experiment und sein Laboratorium bereits um 1900 zu einer einflussreichen Projektionsfläche für Vorstellungen der Moderne geworden. Welcher moderne Ort
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wäre während der langen Jahrhundertwende – zumal von den künstlerischen und intellektuellen Avantgarden – nicht auch als »Laboratorium« adressiert oder zumindest als laborförmig impliziert worden? Wenn die italienischen Futuristen für FLUGZEUGE und FRONTEN, für Metropolen und AUTOS als »Zonen intensiven Lebens« schwärmten; wenn Walter Benjamin das KINO als Ort einer schockförmigen Wahrnehmung analysierte (Smuda 1992); wenn der sowjetische Konstruktivist Ossip Brik von modernen Großstädten als »Laboratorien des realen Lebens« sprach (Lethen 1987, 289): Dann waren in allen Fällen die Referenzen »Experiment« und »Laboratorium« mit aufgerufen. Sie korrespondierten einer Erfahrung der Moderne als künstlichem Intensivierungs- oder Verdichtungsprozess mit ungewissem Ausgang. Einer gegenwärtigen Metaphorik zufolge, die im Petersburg des frühen 20. Jahrhunderts ein »Laboratorium der Moderne« erblickt, war das neue Zeitalter sogar selbst ein Laborprodukt (Schlögel 2002). Als künstliche Ausnahmezustände sind Laboratorien empfindlich und störungsanfällig, besonders in ihrem natürlichen Lebensraum, der Stadt. Zahlreiche Beispiele belegen, wie Laborarchitekturen um 1900 verstärkt und verfeinert wurden, um den Ablauf der Experimente gegen urbane Ruhestörungen zu gewährleisten. Werner von Siemens stiftete 1884 eigens privaten Grund, um die Physikalisch-Technische Reichsanstalt in Charlottenburg anzusiedeln. Wie viele andere hatte er die idyllische KLEINSTADT am Rand von Berlin als Domizil gewählt, um im Duft von »Linden und Orangen« den lautstarken Zumutungen der Metropole zu entgehen, wie Heinrich Hertz, der Entdecker der elektromagnetischen Wellen, an seinen Vater schrieb (Hertz 1927, 97). Doch die Situation veränderte sich. Ab 1895 bekam Charlottenburg eine Straßenbahn, und der zweite Direktor der Reichsanstalt Friedrich Kohlrausch sah sich in langjährige, zähe Auseinandersetzungen mit der Berlin-Charlottenburger Straßenbahngesellschaft – und obendrein mit dem Unternehmen des inzwischen verstorbenen Gründervaters, der Telegraphenbauanstalt Siemens & Halske – um den Verlauf und die Isolierung von Schienen und Kabeln verwickelt. Die mechanischen Vibrationen und die vagabundierenden Erdströme, die das neue Verkehrsmittel abstrahlte, waren geeignet, die Präzisionsexperimente in den Laboratorien der Reichsanstalt empfindlich zu stören. Erst 1901 einigte man sich: Die Straßenbahngesellschaft musste hohe Kompensationszahlungen an die Reichsanstalt leisten, mit denen ein störungsfreies Magnetometer gebaut wurde (Cahan 1989, 140ff.). Straßenbahnen und wenig später auch AUTOS bereiteten den meisten Laborleitern Kopfschmerzen. Erschöpft vom städtischen Verkehrslärm richtete der Experimentalphysiker Otto Lehmann 1911 ein »Ferienlaboratorium« im Schwarzwald ein und propagierte die Idee in einem Rundbrief an seine deutschen Kollegen. In idyllischer Natur, so hoffte Lehmann, wäre nicht nur die Lärmbelästigung abgestellt, sondern zugleich eine Atmosphäre geschaffen, um erholt und frei von Lehrverpflichtungen an den grundlegenden Problemen der Physik zu arbeiten (Cahan 1984, 62). Damit jedoch nicht genug: Das sorgsam befestigte Innere des Laboratoriums störte sich mitunter selbst. Die Reaktionszeitmessung in Wilhelm Wundts experi-
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mentalpsychologischem Institut in Leipzig war derart lärmempfindlich, dass die Probanden sogar von den Messinstrumenten und ihren feinen Nebengeräuschen getrennt werden mussten – um im Laboratorium von Wundts Schüler Edward Scripture an der Yale University schließlich in schalldichten Isolationskammern zu landen: »Wenn die Person sich einschließt, hat sie zur Außenwelt keine Verbindung mehr, außer über Telephon«, erklärte Scripture 1895. Wie ein hypertrophes bürgerliches Interieur schachtelte das Laboratorium, so ein zeitgenössischer Beobachter, »Zimmer in Zimmer«, um gerade jene Nerven zu erforschen, die nervöse Großstadtbewohner hinter ihren Korkwänden zu vergessen suchten (Schmidgen 2004, 300) (APPARTEMENT, HOCHHAUS, GRANDHOTEL). Laboratoriumsmauern sind auch in umgekehrter Richtung undurchlässig. Als Architektur, die künstliche Milieus durch den materiellen Ausschluss von Umweltbedingungen ermöglicht, ist das Laboratorium zugleich ein opaker, verschwiegener Ort. Diese Eigenschaft hat seine Wahrnehmung und den Status der Wissenschaften, die in ihm praktiziert werden, nachhaltig geprägt. In der räumlichen Organisation der modernen Naturwissenschaften lebt die Tradition eines hermetischen Wissens fort, dessen Lokale im Fall der Alchemie von Geheimnissen umgeben und nur Eingeweihten zugänglich waren. Zwar begründete die Londoner Royal Society das neue Experiment im 17. Jahrhundert ausdrücklich gegen die okkulten Gepflogenheiten, indem sie angesehenen Gentlemen Zugang gewährte und damit Überprüfbarkeit zur unverzichtbaren Bedingung experimentellen Wissens erklärte. Auf den Laboratorien der Naturforscher ruhten seither die Augen einer Fachöffentlichkeit. Darüber hinaus begegnete auch den Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der expandierende Anspruch der bürgerlichen Gesellschaft auf allgemeine Publizität. Es ist kein Zufall, dass das neue Genre der Populärwissenschaft just in dem Moment entstand, als die modernen Experimentalwissenschaften disziplinär formiert, in Laboratorien entrückt, durch komplexe Apparaturen störungsanfällig und durch neue Formalismen unanschaulich wurden. Ein Jahr nach der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt gründeten ihre Vordenker – darunter wie immer Werner von Siemens – 1888 die Berliner Gesellschaft Urania zur populären Vermittlung der Wissenschaften (Daum 2002, 178ff.). Auf den Forschungsstätten der Moderne ruhten seither zusätzlich die Augen einer bürgerlichen Öffentlichkeit. Aber trotz aller populärwissenschaftlichen Bemühungen sind die neuen Laboratorien um 1900 black boxes geblieben. Sie vermittelten gerade darin – ähnlich wie Börsen oder Ämter (ARBEITSAMT) – die spezifisch moderne Erfahrung, dass Kardinalfunktionen der Gesellschaft auf eine Weise bewerkstelligt werden, die für den Einzelnen nicht länger durchschaubar ist. Da der Zugang zu Laboratorien nach wie vor einem kleinen Kreis von Professionellen in weißen Kitteln vorbehalten blieb, die ihren schwer nachvollziehbaren Geschäften nachgingen, operierte die öffentliche Wahrnehmung der neuen Forschungsstätten notgedrungen tief im Imaginären. Das oben angeführte Beispiel von Carl Ludwigs Physiologischem Institut in Leipzig ist typisch: Je nach Disposition rätselten Laienbesucher über Wunderwerke techni-
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schen Ingeniums – »Die Hand des Meisters setzte mit einem Griffe im Nu das complicirte Räderwerk in Bewegung« (Ploss 1870, 334) –, die zudem medizinische Heilsversprechen bargen, oder sie schauderten vor Folterwerkzeugen und Blutflecken an den Wänden zurück. Als Orte einer technisch-esoterischen Wissensbildung blieben Laboratorien entweder gänzlich unbemerkt oder gaben zu ungedeckten Spekulationen Anlass, die ihrerseits Wunder- oder Höllenmaschinen, geniale Gehirne oder menschenverachtende Zyniker am Werk vermuteten, in jedem Fall also Ungeheuerliches. Manche Forscher trugen selbst zur Legendenbildung bei: »In der Geschichte der Laboratorien gibt es Ereignisse romantischer Art, gegen die die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht und die Erzählungen von Jules Verne wie Kindereien wirken«, verkündete Angelo Mosso, ein Turiner Physiologieprofessor, 1903. Mit Stevensons tragischem Dr. Jekyll (1886) und H. G. Wells’ Dr. Moreau (1895), der seine abgeschiedene Insel in ein Laboratorium für unerhörte Vivisektionsexperimente verwandelt, traten kurz vor der Jahrhundertwende jene bis heute geläufigen Prototypen des entfesselten Wissenschaftlers auf den Plan, die wie keine anderen das unheimliche Potenzial des modernen Laboratoriums verkörpern: »Es scheint kaum ein Haus zu sein. [...] Niemand geht ein oder aus [...]. Im ersten Stock sind drei Fenster nach dem Hof zu; sie sind immer geschlossen, aber sauber. Und dann ist ein Kamin da, der meistens raucht; es muss also jemand da wohnen. Und doch ist das nicht so sicher« (Stevenson 1997, 19). Dr. Jekylls Klause treibt die Verschwiegenheit moderner Experimentierstätten auf ihre schaurige Spitze. Zeitgleich kämpften in Deutschland praktizierende Ärzte gegen den neuen Hegemonialanspruch der experimentellen Bakteriologie, nicht länger am Krankenbett, sondern im Laboratorium über Diagnose und Therapie zu entscheiden. »Inhumane, antisociale, ja geradezu widerchristliche Consequenzen«, erblickte ein Breslauer Kliniker im Rückzug der Koch-Schüler vom klinischen Ort alltäglichen Leidens (Rosenbach 1903, V). Die Entfremdung der Naturwissenschaften von der Lebenswelt und deren praktischem Wissen, die hier anklingt, nahm fürderhin ihren Lauf: Von Wilhelm Dilthey und Edmund Husserl über die externalistisch-internalistische Wissenschaftstheorie bis hin zu den »zwei Kulturen« C. P. Snows ist sie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in zahlreichen Varianten festgestellt und beklagt worden (Hagner 2001). Sicherlich besitzt sie im Laboratorium ihr räumliches Pendant. Dass auch Laborwissen auf durchaus »weltlichen« Praktiken beruht, die außerwissenschaftliche zeitgenössische Entsprechungen haben mögen, wagten nach vereinzelten Vorgängern wie Ludwik Fleck in den dreißiger Jahren erst Laborethnographen fünf Jahrzehnte später zu behaupten (Latour/Woolgar 1986). Seither bemüht man sich verstärkt, auch Laboratorien und Experimente als Teil von »Kultur« zu behandeln. In gewisser Hinsicht stellt der Experte das Gegenstück zum entfesselten Forscher dar: Er ist der Wissenschaftler, der öffentlich sichtbar agiert. Auch er ist ein Geschöpf des modernen Laboratoriums; er personifiziert die Vervielfältigung und den sukzessiven Exodus dieses Ortes aus der Enge seiner Architektur hinaus in die
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Welt. »Die Laboratorien reichen nicht mehr aus [...]: Im Gegenteil, das Studium der organisierten Körper wird bald an sein Ende gelangen, wenn man nicht dazu übergeht, die Natur auf ihrem eigenen Feld zu beobachten«, notierte der französische Experimentalphysiologe Étienne-Jules Marey seiner Zeit vorauseilend bereits 1883, als er an der Peripherie von Paris die Station Physiologique in Betrieb nahm, einen Ort, der das Studium der Körperbewegung am Menschen und unter freiem Himmel gestattete (Marey 1883, 226). Mareys Turiner Kollege Angelo Mosso, ein Schüler Carl Ludwigs, verließ die Stadt gleich ganz und begann, in den nah gelegenen Alpen mit Soldaten, Radfahrern und Bergsteigern zu experimentieren, um den Energiehaushalt des menschlichen Organismus nicht länger an stellvertretenden Froschmuskeln, sondern unter Wirklichkeitsbedingungen zu studieren.
2. Energieverbrauch beim Cellospiel, um 1925 Mit ihren beweglichen Apparaturen zur graphischen Aufzeichnung von Stoffwechsel und Ermüdung wurden Marey, Mosso und andere zu den Gründervätern der europäischen Arbeitswissenschaft, die noch vor Henry Fords Fließband eine Neuordnung der industriellen Produktion nach experimentellen Maßgaben erprobte (STAHLWERK). Neuartige Forschungslokale wie das Institut de Physiologie de Bruxelles des belgischen Philanthropen und Wissenschaftsmäzens Ernest Solvay (1902) oder das Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie (1913) und Untersuchungsreihen wie Nathan Zuntz’ Studien zu einer Physiologie des Marsches (1901), Pieraccinis Experimente über die Ermüdung von Druckern (1905), Armand Imberts Forschungen zur Effizienz von Schubkarrentypen im Häuserbau, die 1908
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zum Gegenstand einer entsprechenden Gesetzesvorlage wurden, oder Jules Amars Studie über den Energiehaushalt beim industriellen Feilen (1910) bildeten gemeinsam ein europäisches Netzwerk von immobilen und mobilen Laboratorien aus, die zunächst Fragen körperlicher und später auch geistiger Verausgabung unter energetischen Gesichtspunkten berechen- und optimierbar zu machen versprachen (Rabinbach 1992, 179-239). Die Einrichtung eines sportwissenschaftlichen STADIONLaboratoriums auf der Dresdner Weltausstellung für Hygiene 1911 und das methodische Bodybuilding im KRAFTRAUM gehören ebenso in diesen Kontext wie die experimentelle Vermessung von alltäglichen Verrichtungen. Physiologen wagten sich bis in die Domänen des Bildungsbürgertums vor, um den Energiehaushalt des »menschlichen Motors« bei allen möglichen Kulturtechniken zu ermitteln. Auch die klinische Medizin geriet in den Sog der Arbeitsphysiologie. Unter ihrem neuen Direktor Friedrich Kraus entwickelte sich die II. Medizinische Klinik der Berliner Charité ab 1902 zu einer Modellagentur für neue geräteintensive Methoden in der Herz-Kreislauf-Diagnostik, die das Herz unter dem Gesichtspunkt der Leistung und seine diversen Erkrankungen folgerichtig als »Insuffizienzen« behandelten. Die experimentelle Kolonisierung des Alltagslebens hat die Geste des Messens selbst alltäglich gemacht. Erst seit der langen Jahrhundertwende ist es üblich geworden, dass wissenschaftliche Experten mitsamt ihrer Apparate in Kliniken, Fabriken, auf Sportplätzen und in Schulen erscheinen, Versuche anstellen und quantitatives Datenmaterial erheben. Der Wissenschaftsforscher Bruno Latour sieht »die Mauern des Laboratoriums nun den ganzen Planeten [umfassen]. [...] Kreuz und quer durchziehen Instrumente überall die Außenwelt, als bestünde sie aus Logarithmenpapier« (Latour 2004, 19). Diese fortschreitende Entgrenzung nahm Ende des 19. Jahrhunderts ihren Anfang.
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Das Auto Alexa Geisthövel I. Lenkbare Geschwindigkeit: 35-PS-Rennwagen der Daimler-Motoren-Gesellschaft, genannt »Mercedes«, 1901 In der Seitenansicht nimmt der Betrachter das ruhende, unbemannte Fahrzeug zuerst als maschinelle Konstruktion wahr: Das Fahrgestell besteht aus einem Stahlrahmen, der zwei gleich hohe Fahrachsen mit breitem Radstand verbindet. Auf den vier gleich großen Rädern sitzen »Pneumatiks«, Luftreifen. Angetrieben wird der Kraftwagen von einem vierzylindrigen Frontmotor, der in einem Aluminiumgehäuse verborgen ist. Benzin ist der Kraftstoff, der dieses Gefährt zum Laufen bringt, während zeitgleich auch Dampf- und Elektromotoren noch sehr verbreitet sind. Bei einem Hubraum von knapp sechs Litern erzeugt der Motor eine Leistung von 35 PS, er treibt über Ketten die Hinterräder an, die das Fahrzeug gleichsam schieben. Vorne schließt ein Bienenwabenkühler mit geschlossenem Kühlkreislauf das Motorgehäuse ab (Daimler-Benz AG 1961, 74; Niemann 1995, 121-125). Der Begriff »Automobil« markiert den Personenkraftwagen als selbstbewegliche Maschine schlechthin. Doch von alleine würde er sich nicht von der Stelle rühren, jemand muss ihn handhaben. Wer heute Auto fährt, braucht über die Einzelheiten der Fahrmechanik nicht viel zu wissen. 1901 jedoch können nur technisch Versierte ein Auto in Gang setzen und fahren. Schon das Starten ist ein komplexer Vorgang, der zudem viel Kraft erfordert. Aber auch während der Fahrt müssen Zünd- und Kühlvorgang permanent beobachtet und nachreguliert werden. Nicht umsonst hat in den Rennwagen neben dem Fahrer ein assistierender Mechaniker Platz (Möser 2002, 36). Das Zentrum des Wagens bildet der Raum des Fahrers. Die Bedienungsvorrichtungen sind so angebracht, dass er sitzend steuern kann. Die Lenksäule ist ihm zugeneigt, mit Hand- und Fußhebeln stellt er die Gänge ein, reguliert die Gaszufuhr und betätigt die Bremsen. Da es sich um einen Rennwagen handelt, fehlen Scheinwerfer und Hupe, die für die Kommunikation im Straßenverkehr unerlässlich und bei dem zeitgleich herausgebrachten viersitzigen Tourenwagen vorhanden sind. Im Vergleich zu späteren Autos sieht dieses Fahrzeug nackt aus, denn es fehlt ein schützendes Gehäuse, die Karosserie, die als gestaltete Außenhaut zugleich Trägerin von sozialem Status ist. Dieser erste Mercedes ist wegweisend, weil er einen tiefen Fahrzeugschwerpunkt mit einem relativ leichten, aber leistungsstarken Motor kombiniert; nur so lässt sich das Auto schnell und zugleich kontrolliert führen. Mit der Entwicklung dieser fahrdynamischen Eigenschaften haben die Konstrukteure um Wilhelm Maybach auf einen tödlichen Unfall in den eigenen Reihen reagiert: 1900 verlor der Werksfahrer Wilhelm Bauer beim Rennen von Nizza in einer Kurve die Kontrolle über sein Fahrzeug. Emil Jellinek, ein in Nizza ansässiger, reicher »Herrenfahrer« und Geschäftspartner der Firma Daimler, drängt darauf, sich vom Zerstörungspotenzial der
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Fahrmaschine nicht entmutigen zu lassen, sondern es durch Optimierung zu bewältigen. Als Anreiz verspricht er, 36 Exemplare des verbesserten Wagens abzunehmen, die er mit dem Vornamen seiner Tochter als Marke vertreiben will. Im März 1901 erregt der Mercedes bei der Rennwoche von Nizza mit 86 Stundenkilometern große öffentliche Aufmerksamkeit – nicht nur ein sportlicher, sondern auch ein betriebswirtschaftlicher Erfolg, denn das Prinzip relativ sicherer Schnelligkeit weist den Weg zur Alltagstauglichkeit und Massennutzung des Automobils.
II. Individuelle Mobilität: Von der motorisierten Fahrradkutsche zum Volkswagen Benzinfahrzeuge existierten 1901 seit etlichen Jahren. Mitte der 1880er Jahre ließen sich Gottlieb Daimler in Cannstatt seine vierrädrige Motorkutsche und Carl Benz in Mannheim seinen dreirädrigen Motorwagen patentieren. Beide verwendeten dabei unerlaubt den geschützten Viertakter Nikolaus Ottos, dessen Patent 1886 erfolgreich angefochten wurde. Eine Revolutionierung des Individualverkehrs hatte keiner der beiden Erfinder im Sinn. Daimler ging es um einen leichten, vielseitig einsetzbaren Universalmotor, während Benz für die gängigen, von Pferden gezogenen Fuhrwerke eine alternative Antriebskraft suchte. Das Personenkraftfahrzeug kam etappenweise in die Welt. Automobilkonstrukteure wie Daimler und Benz griffen auf verschiedene vorhandene Technologien zurück und collagierten daraus den Motorwagen (Möser 2002, 23f.). Bis um 1900 glichen Automobile daher motorisierten Kutschen. Nicht nur die Maßeinheit PS für Pferdestärke blieb diesem Vorbild verhaftet. Auch Kutschentypen wie Phaeton und Landaulet wurden noch auf Autos übertragen, als sich die eigenständige Karosserieform längst durchgesetzt hatte. Eine zweite Quelle war das Fahrrad, das Ende des 19. Jahrhunderts bereits ein ausgereiftes Verkehrsmittel darstellte. Fahrradfahrer waren Pioniere moderner Selbstbeweglichkeit, die »ungebundene Circulation der Individuen« als Kennzeichen neuer Mobilitätsverhältnisse wurde zuerst am Fahrrad benannt (Scharfe 1990). Zudem stammten viele Konstruktionselemente des Autos von Kugellagern bis zu stabilen, leichten Stahlrohren aus dem Fahrradbau und einige Fahrradhersteller gingen später zur Autoproduktion über. Die frühen Besitzer und Fahrer von Autos kamen vielfach aus dem Radsport, man veranstaltete anfangs gemeinsame Rennen und organisierte sich in gemeinsamen Vereinen, und bis in die zwanziger Jahre fuhren Radler wie »Autler« gegen den konventionellen Verkehr an. Sie distanzierten sich unter anderem von der Eisenbahn, die den maschinisierten Massenverkehr vorweggenommen hatte und über ein exklusives Fahrbahnnetz verfügte, das für die Autobahnen Pate stand. Das Auto rollte nicht geradlinig auf seine Durchsetzung als Massentransportmittel zu. Aus der großen Bandbreite von Antriebsarten und Fahrzeugformen schälte sich nur langsam der Einheitstyp heraus. Eine Fülle von Innovationen verbesserte über Jahrzehnte Fahrsicherheit und Bedienungskomfort. Zur Zeit der
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Patente von Daimler und Benz gab es für individuell zu nutzende Kraftwagen in Deutschland noch keine Interessenten. Erst nachdem Daimler 1889 seinen Motor auf der Pariser Weltausstellung gezeigt hatte, begann sich in Frankreich eine soziale Basis für das Automobil zu formieren. »Von oben her ist das Automobil in die Gesellschaft hineingewachsen« (Sachs 1984, 51); es startete als Gerät des Luxuskonsums, das sich schließlich zum Kleinwagen für alle entwickelte. Um dem verheißungsvollen Vehikel Aufmerksamkeit zu verschaffen, schrieb der Herausgeber des Petit Journal, Pierre Giffard, 1894 in seiner Zeitung eine Konkurrenz für »Wagen ohne Pferde« aus und damit das erste Autorennen der Welt. Auf der Strecke Paris-Rouen ging es nicht um das höchste Tempo, sondern um Sicherheit und einfache Handhabung des Fahrzeugs. Im Anschluss an die »Zuverlässigkeitsfahrt« Paris-Bordeaux-Paris im folgenden Jahr konstituierte sich als erster seiner Art der distinguierte Automobile Club de France mit Sitz in Paris. Seine einflussreichen Mitglieder – Bankiers, Fabrikanten, Politiker, Aristokraten – arbeiteten mit spektakulären Rennen, Autosalons und Publikationen aktiv darauf hin, neue Nutzer und politische Entscheidungsträger für das Automobil einzunehmen (Merki 2002, 210f.). Da sie vor allem private Fahrer im Auge hatten, trieben die französischen Automobilisten die Vereinheitlichung des fahrbaren Untersatzes voran. Stilbildend verwandelte die Firma Panhard et Levassor schon 1899 die motorisierte Fahrradkutsche in ein Gefährt mit verbesserter Straßenlage und Lenkbarkeit, das seine Insassen auf zwei hintereinanderliegenden Sitzbänken in Fahrtrichtung anordnete. Die gesellige Kutschengruppe wich damit tendenziell einer stummen, vom Fahrer dominierten Tempogemeinschaft (Möser 2002, 37f.). So wie sich im ersten Mercedes dieses système Panhard und deutscher Motorenbau verbanden, entstand nach französischem Vorbild der elitäre Deutsche Automobil-Club, der sich 1905 in Kaiserlicher Automobil-Club umbenennen durfte, nachdem Kaiser Wilhelm II. sein Faible für die Motorkraft entdeckt hatte (Haubner 1998). Wegen hoher Anschaffungs- und Unterhaltskosten stand die Nützlichkeit des pannenanfälligen Autos zunächst im Hintergrund. Schnelle Wagen waren gefragt, das Bild prägten nationale wie internationale Rennen, Abenteuerfahrten rund um die Welt und Vergnügungstouren über Land. Auch wer sich als Selbstfahrer ans Steuer setzte, anstatt dies einem Chauffeur zu überlassen, beschäftigte in der Regel Personal für die aufwändigen Wartungs- und Reparaturarbeiten. Wie sehr auch die maschinengetriebene Eigendynamik des Automobils faszinierte, es war abhängig von Treibstoffversorgung und Fahrbahnen. Das Benzinauto setzte sich unter anderem deshalb gegen die Dampf- und Elektrokonkurrenz durch, weil Benzin ein relativ leicht transportabler Brennstoff war. Problematischer war das Fahrbahnnetz, das überwiegend aus gewölbten Straßen mit losen Oberflächen bestand. Zudem wurden andere Verkehrsteilnehmer in Unfälle mit den gefährlichen Kraftmaschinen verwickelt, deren freie Fahrt sie wiederum behinderten. So kam der Gedanke auf, das Auto vom übrigen Straßenverkehr abzukoppeln, etwa durch städtische Schnellstraßen. Da die Autorennen von Stadt zu Stadt für zahlreiche Passanten tödlich endeten, entstanden zudem private Renn- und Testanlagen, zuerst
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1906 der Long Island Motor Parkway und im Jahr darauf eine Strecke in Brooklands bei London. Die 1909 gegründete Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße GmbH (Avus) leitete 1913 den Baubeginn einer Rennpiste durch den Berliner Grunewald ein, fertiggestellt wurde sie jedoch erst 1921. Seitdem war die Avus mit dem anfangs schnellsten Straßenbelag ihrer Zeit immer wieder Schauplatz von Autowettkämpfen mit mehreren Hunderttausend Zuschauern. Wie Flieger, Boxer, Fußballer und Radfahrer wurden professionelle Rennfahrer zu Sportidolen, die Mut und Kaltblütigkeit, Flexibilität und das beschleunigte Tempo der Moderne verkörperten. Einige Rennsportler bauten sogar Flugzeugmotoren in ihre Wagen ein, um in kurzlebigen »Wegwerfraketen« auf geraden Strecken immer neue Superlative der Geschwindigkeit zu erzielen, die 1935 schon an die 500 Stundenkilometer heranreichten (Borscheid 2004, 208ff.). Etablierte sich das Automobil zwischen 1895 und 1905 als elegante Sportmaschine, machten sich in den folgenden Jahren auch andere Gebrauchsweisen bemerkbar. Der auf die Ansprüche von Landärzten zugeschnittene »Doktorwagen« wandte sich an Käufer, die in erster Linie Nützlichkeit nachfragten, einen motorisierten Wochenendausflug mit der Familie dabei aber nicht verschmähten. 1907 verzeichnete die erste statistische Erfassung des Autos im Deutschen Reich rund 10.000 Fahrzeuge, bis 1910 kam es hier zu einer ersten Welle der Verregelung und Verrechtlichung. Trotz dieser Bemühungen, den Autoverkehr zu befrieden, blieben teilweise gewalttätige Aktionen gegen Wagen und Fahrer zunächst an der Tagesordnung. Wo alter und neuer Verkehr aufeinanderprallten, kollidierten nicht nur schwer vereinbare Geschwindigkeiten und Fortbewegungsweisen, sondern meistens auch verschiedene Positionen in der sozialen Hierarchie. Besonders sichtbar war dies auf dem Land. Grotesk vermummte »Herrenfahrer« rasten hupend durch Dörfer und wirbelten auf den Schotterstraßen raumgreifende Staubwolken auf. Insbesondere in reinen Durchfahrtsregionen bekamen Autofahrer jene Attacken und Hindernisse zu spüren, mit denen Landbewohner zuvor schon Radfahrer vergraulen wollten: Steinwürfe, Nägel und Scherben auf der Straße, lebensgefährliche, über die Straße gespannte Drahtseile. Aber auch in den Städten war die Straße ein automobil umkämpfter öffentlicher Raum. Abgase, Motoren- und Huplärm belästigten andere Verkehrsteilnehmer, spielende Kinder wurden auf die Bürgersteige und in die Höfe gedrängt (Fraunholz 2002). Besonders konfliktreich verliefen die Begegnungen mit Fuhrleuten, die sich nicht überholen ließen oder zur Peitsche griffen. Aus Sicht der Autofahrer stellten mehr noch als scheuende Pferde ihre Lenker ein Problem dar, denn deren traditionelles Verkehrsverhalten erschien nun phlegmatisch und rücksichtslos (Scharfe 1991, 149f.). Unter Automobilisten kursierte das Stereotyp des dösenden Fuhrwerkers, der seinen Zugtieren die Lenkung überlässt. Der »Animalität« von Pferden und schlafenden Kutschern stand das »Automobilgesicht« mit dem wachen Blick des Fahrers gegenüber, der Habitus beständiger Aufmerksamkeit und Sorge um andere Verkehrsteilnehmer (Glaser 1986, 16f.).
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Erst in den zwanziger Jahren zeichnete sich eine Trendwende ab. Öffentliche Verkehrsmittel und andere Arten des Nutzverkehrs versöhnten das Publikum mit der Motorisierung. Autobusse und Taxen, Brauereikraftwagen, Kranken- und Feuerwehrwagen dienten nicht mehr nur dem beargwöhnten Privatvergnügen einiger Privilegierter. Geschäftsleute und Angehörige freier Berufe, die ihrer Arbeit besser mobil nachgehen konnten, bezeugten: »Wenn man sich heutzutage einen Kraftwagen kauft, ist man kein Protz oder Raffke mehr« (Bernhard 1925, 86). Zudem stieg die Autoindustrie langsam zu einem volkswirtschaftlich bedeutenden Faktor auf. Aus der Werkstattfertigung von Einzelstücken und Kleinserien entwickelte sich die fabrikmäßige Massenherstellung. Billige Großserien waren durch ein Fertigungsverfahren möglich geworden, das der Detroiter Autobauer Henry Ford 1913 einführte. Er ordnete die Abfolge der Arbeitsschritte räumlich hintereinander an und verband die isolierten Montierstationen mit einem Fließband (STAHLWERK). Durch diese Rationalisierungstechnik konnte er sein Modell T im Laufe einiger Jahre drastisch verbilligen. Dass es in den USA bereits in den zwanziger Jahren zu einer Massenmotorisierung kam, war unter anderem auf den Verkauf von 15 Millionen Exemplaren des Modells Tin Lizzy zurückzuführen. Die Attraktivität der anspruchslosen Massenware hatte sich um 1927 aber schon abgenutzt. Auf die veränderten Konsumentenwünsche reagierte der Ford-Konkurrent General Motors mit einer innovativen Marketingstrategie. Eine breite, jährlich erneuerte Modellpalette vom Billigauto bis zur Edellimousine sollte den Käufer dazu bringen, seine über die Jahre wechselnden Bedürfnisse zu befriedigen und trotzdem bei einer Automarke zu bleiben. Damit war das Auto endgültig zum »repräsentativen Gebrauchsgut« (Sachs 1984, 46f.) geworden. In Deutschland blieb es auch nach dem Ersten Weltkrieg vorerst bei der kleinseriellen Produktion für den gehobenen Anspruch (Braun 1995). Der Abschied vom Abenteuer- und Schönwetterfahrzeug veränderte jedoch die Form des Autos. Die geschlossene Karosserie wurde zum Standard, das Auto zum gestalteten Innenraum, in dem sich Fahrer und Beifahrer von der Umwelt abkapselten. Das Auto hatte sein bis heute gültiges Erscheinungsbild gefunden. Mitte der zwanziger Jahre nahm die Zahl der Personenkraftwagen sprunghaft zu und stieg von rund 98.000 im Jahr 1923 auf 261.000 vier Jahre später. Dieser Trend brach selbst während der Weltwirtschaftskrise zunächst nicht ab, denn 1932 besaßen schon fast eine halbe Million Deutsche ein Auto. Um 1930 überschritt die Anzahl motorisierter Fahrzeuge die der pferdegezogenen. Der Personenkraftwagen war nun ein akzeptiertes und verbreitetes, wenngleich noch längst nicht allgemeines Individualtransportmittel. Arbeiter und Angestellte stiegen mehrheitlich über das Motorrad in die Motorisierung ein (Ruppert 1993, 133). Visionen einer immer weiter wachsenden automobilen Zirkulation riefen nun Lobbyisten aus der Baubranche und Straßeningenieure auf den Plan. Ab 1926 projektierten sie ein landesweites Fernstreckennetz aus »Nur-Autostraßen«, die im Unterschied zu Rennpisten wie der Avus dem allgemeinen Verkehr zur Verfügung stehen sollten – wie die erste, noch dreispurige Autostrada von Milano zu den ober-
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italienischen Seen, die 1924 eingeweiht wurde. Auch die Kleeblattkreuzung entwarf schon 1927 der Schweizer Schlosserlehrling Willy Sarbach. Als kleines Teilstück des anvisierten deutschen Gesamtnetzes wurden bis 1932 jedoch lediglich 20 Kilometer zwischen Köln und Bonn realisiert. Bis auf einen befestigten Mittelstreifen trugen sie alle Merkmale einer Autobahn: Einzäunung, getrennte Richtungsfahrbahnen, geteerte Straßendecke (Schütz/Gruber 1996, 31-35). Auf die Vorarbeiten der Weimarer Zeit stützte sich das nationalsozialistische Autobahnprogramm, das seit 1933 unter dem Schlagwort »Straßen des Führers« systematisch umgesetzt wurde (ebenda, 35ff.). Eine Million Arbeitsplätze und 3.500 gebaute Streckenkilometer waren das Ergebnis dieser Motorisierungspolitik. Dabei standen nicht allein militärische Erwägungen im Mittelpunkt, sondern vor allem die Ästhetik der sanft durch deutsche Landschaften schwingenden, »hellgrauen Bänder«. Ein weiteres Element nationalsozialistischer Autopolitik war der Volkswagen, das Fahrzeug für alle Volksgenossen, entworfen von Ferdinand Porsche. Hunderttausende Ratensparer zahlten wöchentlich fünf Reichsmark ein, um in den Besitz eines Autos zu gelangen, das die Attitüde der »herrschaftswagen« abgelegt hatte (Aicher 1984, 8). Die ersten verkäuflichen »Käfer« rollten im 1939 fertiggestellten Volkswagen-Werk aber erst kurz nach Kriegsende vom Band. In den folgenden Jahrzehnten wurde das Auto in den kapitalistischen Teilen Europas zur demokratischen Fortbewegungsware. Immer mehr Menschen erfuhren den Komfort eines eigenen Autos; zugleich nahm die Zahl der Verkehrstoten stark zu. Die »Sicherheit« des Autoverkehrs wurde zu einem öffentlichen Thema, die Hersteller reagierten mit Produktentwicklung und Öffentlichkeitsarbeit (Sedlaczek 1994). Die beispiellose Verdichtung individueller Beweglichkeit brachte auch neue Ohnmachtserfahrungen mit sich. Stau und Parkplatzmangel, Schrottberge, Energiekrisen und Umweltbelastungen begleiten als Kehrseite individueller Mobilität das »Leitfossil unserer Zeit« (Strübin 1973, 13).
III. Riskante Selbstverstärkung Wie kein anderes modernes Fortbewegungsmittel stand und steht das Auto für jederzeit verfügbare individuelle Mobilität. Mit ihm, so die Allgemeine AutomobilZeitung 1906, erlange der Mensch die »Herrschaft über Raum und Zeit« (zit. n. Sachs 1984, 19). Ähnliche Assoziationen hatten im mittleren 19. Jahrhundert die Raumüberwindungskräfte der Eisenbahn hervorgerufen, die darum zum Symbol des industriellen Fortschritts wurde (Schivelbusch 1977, 171) (BAHNHOF). Um 1900 jedoch wurden der Eisenbahn die Vorzüge des Automobils entgegengehalten: hier die Abhängigkeit von festgelegten Strecken und Fahrplänen, die temporäre Zwangsgemeinschaft mit unbekannten, möglicherweise unangenehmen Fahrgästen; dort das Gefühl, Herr über die eigenen Bewegungen zu sein. Zentral für das Gefühl mobiler Selbstbestimmung des Autofahrers sind aber ebenso Steuerbarkeit und Fahrdynamik. Die Person am Steuer muss relativ wenig
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Kraft aufwenden, um überwältigende Kräfte freizusetzen und nach eigener Vorstellung zu dirigieren. Aufmerksamkeit und Geschicklichkeit sind daher die Tugenden des Fahrers. Die Modulationen der Geschwindigkeit übertragen sich auf die weitgehend stillgestellten Körper im Fahrzeug. Anders als im KRAFTRAUM, wo sich der Körper am Widerstand der Maschine langsam, aber dauerhaft verändert, ist die anschmiegsame Kraft des Autos nur geliehen. Die technische Ermächtigung endet in dem Moment, in dem es zum Stillstand kommt. Dennoch muss das Auto als Medium der »Selbstverstärkung« gelten, weil es die Körperkräfte in übermenschliche Wucht vervielfältigt (Sachs 1984, 137). Vielfach ist das Auto zu einer Projektionsfläche moderner Individualität geworden, die in der Straßenöffentlichkeit ein Publikum findet (Ruppert 1993, 122). Der Autofahrer stellt sich den anderen Verkehrsteilnehmern mit dem Besitz eines bestimmten Fahrzeugs und einem bestimmten Fahrstil dar. Den Wunsch nach Distinktion bedient eine abgestufte Modellpalette mit unterschiedlicher Motorleistung, Design und Ausstattung. Dem APPARTEMENT vergleichbar kann das Auto als standardisiertes Produkt zur Herstellung von Individualität genutzt werden. Die Parallele zum privaten Wohnraum liegt auch nahe, weil schon in der Ära der offenen Wagen die aufwändigen Interieurs der Luxusautos mit einem Salon oder Boudoir verglichen wurden (Ruppert 1993, 152). Umso mehr schuf die Durchsetzung der geschlossenen Karosserie Raum für die Gestaltung eines behaglichen, intimen Inneren. Seit den fünfziger Jahren begannen Autobesitzer, sich mit persönlichen Gegenständen und Unterhaltungselektronik in ihrem Fahrzeug häuslich einzurichten. Die Geschwindigkeitsmaschine trägt somit paradoxerweise Züge der Entschleunigung (KLEINGARTEN, COUCH). Diese Ambivalenz brachte der Designer Otl Aicher in seinem Diktum vom »Sofa als Rakete« auf den Punkt. Ärzte empfahlen im frühen 20. Jahrhundert das Autofahren als sanft vibrierendes Beruhigungsmittel und Therapeutikum gegen Nervosität. 1903 pries der Schriftsteller Otto Julius Bierbaum in seiner Empfindsamen Reise im Automobil die Rückkehr zum beschaulichen Landschaftsgenuss (mit Chauffeur) und meinte sich in die gute alte Zeit der Kutsche zurückversetzt, die von der Hektik und Flüchtigkeit der Eisenbahnreise noch unberührt gewesen sei (Reinecke 1984, 44, 58). Das schützende, vielleicht sogar anheimelnde Gehäuse isoliert die Menschen im Fahrzeug von ihrer Umwelt. Aus dem geschlossenen Auto wird die Außenwelt distanzierter wahrgenommen. Je höher die Geschwindigkeit, desto mehr konzentriert sich der Fahrer auf die vorausliegende Strecke. Im Extremfall schotten sich Rennfahrer in ihren Tempopanzern von der vorbeiwischenden Umgebung vollständig ab (Borscheid 2004, 213). Diese Erfahrung teilen unter existentiell verschärften Bedingungen die Besatzungen von RAUMSCHIFFEN oder U-BOOTEN. Gewöhnliche Autoinsassen können ihre Isolation zwar jederzeit aufgeben, doch spätestens auf den ummauerten und schallgeschützten Autobahnen gleichen ihre Gefährte den Eisenbahnen, die auf Schienensträngen wie Projektile durch die Landschaft schießen (Schivelbusch 1977, 53).
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Trotz seiner gemütlichen Eigenschaften ist das Auto vor allem Teil einer »kinetischen Revolution« gewesen (Ruppert 1993, 143): Geschwindigkeit wandelte sich von einem neutralen Maß zu einem Superlativ, der in den unterschiedlichsten Lebensbereichen Einzug hielt. Paul Virilio hat in diesem Zusammenhang den Begriff der »Dromokratie« geprägt, bei der die Mächtigen über die Mittel zur Beschleunigung verfügen (Virilio 1989, 246ff.). Zwischen 1900 und 1910 vervielfachte sich die Geschwindigkeitsleistung der Automobile. Schnelligkeit gepaart mit Freiheit waren jene Attribute, die das Auto zu einem der markantesten Modernitätssymbole machten. Als solches verstärkte es das moderne Erscheinungsbild von Menschen, aber auch von Orten. Die »Neue Frau« etwa trat in den zwanziger Jahren als sportive Selbstfahrerin noch selbstbewusster auf; um ihre eigene Geschwindigkeit in der Nachrichtenübermittlung zu demonstrieren, initiierten Zeitungsverleger immer wieder spektakuläre Rennen (Johae 2002, 241f.) und schmückten die Darstellungen ihrer Verlagshäuser mit hochkarätigen Wagen (ZEITUNGSREDAKTION). Städteund Verkehrsplaner träumten von künftiger Vollmotorisierung und räumten dem Auto Vorrang vor allen anderen Verkehrsteilnehmern ein – was dann auch 1935 in der Straßenverkehrsordnung festgelegt wurde. Darüber hinaus war das Auto durch den Rennsport einerseits mit dem STADION, andererseits mit dem LABORATORIUM verbunden. Schon vor dem Ersten Weltkrieg fanden beispielsweise im Windkanal Experimente zur optimalen Stromlinienform statt. Viele Aspekte teilt das Auto mit dem FLUGZEUG. Beides sind selbstbewegliche Hüllen, deren Fähigkeit zur Raumüberwindung Freiheit verheißt. Beide haben vor allem in den zwanziger Jahren ähnliche Phantasien moderner Allbeweglichkeit beflügelt, die sich beim Flugzeug noch in die dritte Dimension steigerten. Land- und Luftverkehr unterscheiden sich jedoch in der Steuerung der Verkehrsflüsse. Bei der zweidimensionalen Mobilität des Autos koordinieren fest installierte Richtungsfahrbahnen, Verkehrszeichen und Ampeln das Miteinander der Fahrzeuge. Dagegen müssen sich Piloten und Bodenpersonal bei jedem Flug aufs Neue mit Hilfe von Kommunikationstechnologien (TELEFONZENTRALE) über den Bewegungsverlauf verständigen. Anders auch als das Flugzeug ist das Auto tatsächlich in der »Grundausstattung« des modernen Menschen angekommen (Sachs 1984, 56). Seine alltagstaugliche Komplexität hat es »zu einer universellen Anschauungsform« gemacht (Reinecke 1986, 22) – zahllos sind entsprechende Metaphern in Politik, Wirtschaft und Kunst. Während individuelle Flugmobilität weiterhin in den Bereich der Sciencefiction gehört, ist das Auto ein allgegenwärtiges, vertrautes Alltagsding, das als »genaues Äquivalent der großen gotischen Kathedralen« in seiner Epoche beschrieben worden ist (Barthes 1964, 76). Obwohl es ganz profan, ohne Initiationsritual, auf die Straße kam (Reinecke 1986, 26f.), bot sich das Auto als Gegenstand der Sakralisierung an. Die schnelle Fahrt im Auto transformiert den Menschen; Fahrer und Anbieter machen das fahrende Objekt zum Fetisch. Wie jedes Heilige fordert auch das Auto Opfer. Der Fahrzeugkonstruktion wohnt keine Zerstörungsabsicht inne, aber ihre Fähigkeit zur Beschleunigung gibt der steuernden Person ein immenses Aggressions- und Ge-
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waltpotenzial an die Hand. Das Auto eignet sich daher in besonderer Weise für »potenzgebärden« (Aicher 1984, 21) und Provokationen. Die antibürgerliche Avantgarde der Futuristen bezog das Auto in ihren Tabula-rasa-Kult ein. Rennfahrten waren Attraktionen, gerade weil sie die Todesgefährlichkeit hervorkehrten. Der Unfall bei hoher Geschwindigkeit kreierte »ein heroisches Paradigma der Moderne« (Möser 1999, 164) (FRONT). Im Auto liegen Macht und Ohnmacht dramatisch nahe beieinander. Forderte die Panne den »Herrenfahrer« zunächst sportlich heraus, ist heute das Versagen der alltäglich gewordenen Bewegungsmaschine mindestens ärgerlich. Die unfreiwillige Entschleunigung im Stau nimmt die Autoinsassen in einem Zustand peinlichen Nichtankommenkönnens gefangen. Massenmotorisierung führt die individuelle Mobilität immer wieder ad absurdum. Dennoch hat sich das Auto als Vehikel der Ermöglichung bewährt. Wenn sich Arbeiten, Wohnen, Einkaufen, Lernen, Sport, Vergnügen, Erholung oder politische Partizipation auf unterschiedliche Orte verteilen, gewährleistet das massenhaft genutzte Auto flexible Verbindungen innerhalb der Landschaft moderner Orte (Ruppert 1993, 141). Im Gegensatz zur U-Bahn und zu anderen öffentlichen Verkehrsmitteln vereinfacht es die individuelle Vernetzung dieses Ensembles. Privater als im Auto kann sich der transitorische Mensch auf seinen Wegen von hier nach da und zurück nicht bewegen. Als zirkulierendes, zuweilen ortloses Wesen umgibt er sich im Auto mit einem eigenen Ort.
Literatur Aicher, Otl (1984): kritik am auto. schwierige verteidigung des autos gegen seine anbeter, München. Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags (1958), Frankfurt. Bernhard, Kurt (1925): Was man vom Auto wissen muß, in: Uhu 2, H. 1, 86-91. Borscheid, Peter (2004): Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt/ New York. Braun, Hans-Joachim (1995): Automobilfertigung in Deutschland von den Anfängen bis zu den vierziger Jahren, in: Harry Niemann/Armin Hermann (Hg.), Die Entwicklung der Motorisierung im Deutschen Reich und den Nachfolgestaaten, Stuttgart, 58-68. Daimler-Benz AG (Hg.) (1961): Chronik Mercedes-Benz Fahrzeuge und Motoren, Stuttgart. Fraunholz, Uwe (2002): Motorphobia. Anti-automobiler Protest in Kaiserreich und Weimarer Republik, Göttingen. Glaser, Hermann (1986): Das Automobil. Eine Kulturgeschichte in Bildern, München. Haubner, Barbara (1998): Nervenkitzel und Freizeitvergnügen. Automobilismus in Deutschland 1886-1914, Göttingen. Johae, Dirk (2002): Mittendrin statt nur dabei. Eine historisch-kritische Bestandsaufnahme zum Einfluss der Medien auf die Entwicklung des Motorsports, in: Harry Niemann/Wilfried Feldenkirchen/Armin Herrmann (Hg.), Die Geschichte des Rennsports, Bielefeld, 239-269. Merki, Christoph Maria (2002): Der holprige Siegeszug des Automobils 1895-1930. Zur Motorisierung des Strassenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien/Köln/Weimar.
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Möser, Kurt (1999): Zwischen Systemopposition und Systemteilnahme: Sicherheit und Risiko im motorisierten Straßenverkehr 1890-1930, in: Harry Niemann/Armin Hermann (Hg.), Geschichte der Straßenverkehrssicherheit im Wechselspiel zwischen Fahrzeug, Fahrbahn und Mensch, Bielefeld, 159-167. Ders. (2002): Geschichte des Autos, Frankfurt. Niemann, Harry (1995): Wilhelm Maybach, König der Konstrukteure, Stuttgart. Reinecke, Siegfried (1986): Mobile Zeiten. Eine Geschichte der Auto-Dichtung, Bochum. Ruppert, Wolfgang (1993): Das Auto. »Herrschaft über Raum und Zeit«, in: ders. (Hg.), Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge, Frankfurt, 119-161. Sachs, Wolfgang (1984): Die Liebe zum Automobil. Ein Rückblick in die Geschichte unserer Wünsche, Reinbek bei Hamburg. Scharfe, Martin (1990): »Ungebundene Circulation der Individuen«. Aspekte des Automobilfahrens in der Frühzeit, in: Zeitschrift für Volkskunde 86, 216-243. Ders. (1991): Pferdekutscher und Automobilist, in: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung N.F. 27, 139-162. Schivelbusch, Wolfgang (1977): Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München. Schütz, Erhard/Eckhard Gruber (1996): Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der »Straßen des Führers« 1933-1941, Berlin. Sedlaczek, Dietmar (1994): Vom Ausblenden der Gewalt. Auto-Biographisches aus den 60er Jahren, in: Rolf W. Brednich/Walter Hartinger (Hg.), Gewalt in der Kultur, Bd. 2, Passau, 403417. Strübin, Eduard (1973): Volkskundliches zum Automobil, in: Schweizer Volkskunde 63, 1-13. Virilio, Paul (1989): Der negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung, München/Wien.
Das Flugzeug Detlef Siegfried I. Verkehrsflugzeug aus Leichtmetall: Junkers F 13, 1919 Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs brachte der deutsche Flugzeughersteller Hugo Junkers mit dem Modell F 13 ein erfolgreiches Fluggerät für den zivilen Luftverkehr auf den Markt. Auch wenn die F 13 nur vier Passagiere befördern konnte, verkörperte sie bereits die Grundform des modernen Verkehrsflugzeugs. Zunächst wies sie die grundlegenden Merkmale eines Flugzeugs auf: eine Konstruktion, die sich nach dem Prinzip »schwerer als Luft« frei von Erdbindung fortbewegt sowie Auf- und Vortrieb – also Flugfähigkeit – durch mit einem Rumpf fest verbundene Flügel und ein Antriebsaggregat gewinnt. Zur Steuerung und Stabilisierung dient ein Leitwerk. Die F 13 revolutionierte den bisherigen Flugzeugbau in mehrfacher Hinsicht: Sie hatte nicht nur eine durchgehende, tiefgelegte Tragfläche, die frei trug und nicht durch Verspannungen abgestützt wurde. Auch ihre Form, die sich aus ihrer Funktion als Verkehrsflugzeug ableitete, war neu: eine geschlossene, vor Fahrtwind und Witterungseinflüssen schützende Kabine, die mehreren Passagieren und ihrem Reisegepäck Platz sowie dem in einem abgetrennten Funktionsraum untergebrachten Flugpersonal optimale Arbeitsbedingungen bot. Konstruiert war die F 13 in erster Linie nach den Kriterien Sicherheit, Gewichtsersparnis und effiziente Raumnutzung. Dabei spielte das Material eine zentrale Rolle. Das von Junkers erstmals konsequent als Basis der Gesamtkonstruktion eingesetzte Duraluminium, eine erst 1906 erfundene Legierung, war fast ebenso leicht wie Aluminium, aber fester als Stahl. Es war prädestiniert für einen Flugzeugtypus, dessen Eigenschaften über die Erfordernisse von Militärmaschinen hinausgingen. Die Produktion mit Leichtmetall war bedeutend aufwändiger und erforderte einen sehr viel höheren Forschungs- und Entwicklungsaufwand, als dies bei Kriegsflugzeugen in der Regel der Fall war und überhaupt lohnenswert gewesen wäre. Denn sowohl im Hinblick auf die Typen wie auf die Einsatzdauer ging man hier von schnellem Verschleiß aus. Duraluminium war witterungs- wie alterungsbeständig und bruchsicher. Außerdem konnten Leichtmetallflugzeuge wegen ihres geringen Eigengewichts große Lasten tragen. Junkers’ Verkehrsflugzeug optimierte das Verhältnis von Nutzlast und aufgewendeter Energie auf konkurrenzlose Weise und flog nicht nur sicher, sondern auch billig. Seit 1925 ersetzten größere Maschinen mit mehreren Motoren die noch bis 1930 gebaute F 13. Dennoch bedeutete sie einen Paradigmenwechsel, in dem sich auch ein Wandel der zeitgenössischen Ästhetik abbildete. In den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts hatten Flugzeuge mit zwei oder sogar drei übereinanderliegenden Tragflächen, hergestellt aus Holz und Stoffbespannung, dominiert. Erst um 1930 konnte sich der Eindecker aus Leichtmetall durchsetzen; in seiner avanciertesten Form kam er sogar weitgehend ohne inneres Stützsystem aus. So wandelte sich das Flugzeug innerhalb des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts von einer be-
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häbigen, stoffverkleideten Verstrebungskonstruktion zu einer eleganten und strömungsgünstigen, selbsttragenden Metallhülle mit einer einzigen durchgehenden Tragfläche. Es mutierte von einem »Ding aus Stricken, Leinwandfetzen und Eisen« (Brecht 1988, 22) zu einem stromlinienförmigen Pfeil. Diese moderne Form entwickelte eine beträchtliche symbolische Anziehungskraft. Wesentliche Grundlagen des Motorflugs waren von amerikanischen und französischen Pionieren gelegt worden – etwa 1903 von den Gebrüdern Wright, die erstmals ein Flugzeug durch eigene Motorkraft in die Luft brachten, und von Louis Blériot, der 1909 in einem Eindecker mit Propeller und Leitwerk den Ärmelkanal überquerte. Doch aus dem hitzigen Wettbewerb, den der Erste Weltkrieg auslöste, gingen die deutschen Newcomer Junkers, Dornier und Rohrbach am Ende als Sieger hervor – nicht zuletzt, weil das Reich den Krieg verloren hatte. Denn im Gegensatz zu Deutschland waren die Flugzeughersteller in den anderen europäischen Ländern nicht gezwungen, über zivile Alternativen zum Militärflugzeug nachzudenken und gerieten daher auf dem Gebiet des Verkehrsflugs ins Hintertreffen. Dies zeigte sich zum Beispiel in der Verwendung umgebauter Kriegsmaschinen für den Lufttransport oder in einer nach wie vor konventionellen Stoffwahl. Weil Experimente mit Metall im französischen Flugzeugbau an Gewichtsproblemen scheiterten, verbreitete sich eine allgemeine Skepsis, wirklich leistungsfähige Metallflugzeuge bauen zu können. Sie prägte die Materialwahl der europäischen Flugzeugproduzenten bis weit in die zwanziger Jahre hinein. Ein amerikanischer Flugzeugindustrieller notierte noch 1929 nach einer Studienreise durch die europäischen Staaten, in Frankreich neige man zur Holzkonstruktion, in England würden überraschend viele Holzpropeller verwendet, die holländischen Fokker-Maschinen würden »vollständig aus Holz gebaut«. Deutschland hingegen zeichne sich dadurch aus, dass »praktisch alles aus Metall gebaut« wurde (Nicholas 1929, 74). Allerdings geriet die deutsche Luftfahrtindustrie in den späten zwanziger Jahren zunehmend unter Konkurrenzdruck aus den USA. Seit 1929 lagen amerikanische Flugzeughersteller in technischer Hinsicht an der Spitze, weil sie das innere Verstrebungssystem des Flugzeugs abbauten und die Außenhaut selbst zur tragenden Struktur umformten. Durch die Schalenbauweise wurden die Flugzeuge leichter und damit schneller. Prototyp dieses technologischen Paradigmenwechsels war das Modell DC-3 der Firma Douglas, das 1935 seinen Jungfernflug absolvierte und das meistgebaute Verkehrsflugzeug überhaupt wurde. 1929 büßte die mit deutschen Maschinen operierende Deutsche Luft-Hansa gegenüber der amerikanischen Konkurrenz auch den ersten Platz im internationalen Flugverkehr ein. Seit der F 13 haben zahlreiche weitere technische Innovationen Sicherheit und Effizienz von Flugzeugen verbessert: Navigationssysteme, Materialien wie etwa Kunststoff und Antriebssysteme, vor allem Strahltriebwerke. Mit der Zunahme des Passagieraufkommens wurden Klassen eingerichtet, die die Fluggäste über Distinktionsmechanismen des Komforts sozial segmentierten. Der Massentourismus rief auch eine Nachfrage nach Großraumflugzeugen hervor – das erste Modell kam 1970 mit der Boeing 747 auf den Markt. Während in den Kabinen der frühen Flug-
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zeugmodelle die Anordnung der Sitze und die Größe der Fenster eine gute Sicht nach außen boten, Unterhaltungen aber wegen des hohen Geräuschpegels kaum möglich waren, haben sich vor allem durch die Einführung der Druckkabine die Kommunikationsmöglichkeiten verbessert, während die Sicht schlechter geworden ist. Durch die weitgehende Abschottung gegenüber den äußeren Gegebenheiten hat sich die Wahrnehmung des Flugerlebnisses deutlich verändert: Die Lufterfahrung durch unmittelbare Konfrontation mit der Natur tritt zurück hinter die Dienstleistung des effizienten, sicheren und komfortablen Fortkommens.
II. Ozeanische Imaginationen: Freiheit, Fliegertypus und Luftpolitik Wie viele technische Utopien war das Fliegen mit Vorstellungen von grenzenloser Freiheit aufgeladen – und damit für Totalitätsvisionen aller Art prädestiniert. Schon der Ballon und der Zeppelin waren Technologien, in denen sich derartige Vorstellungen verwirklicht hatten. Das kleinere, schnellere und zuverlässigere Flugzeug hingegen gab dem einzelnen Piloten die Flexibilität, den neu gewonnenen Raum optimal zu erschließen. Als Verkehrsmittel ermöglichte es zunehmend großen Menschenmassen eine Ahnung von jener sagenhaften Freiheit in der »dritten Dimension« und entmythologisierte diesen Raum gleichzeitig, indem es ihn alltagspraktisch funktionalisierte. Während dem Zeppelin schon bald etwas Nostalgisches anhaftete, wurde in einer Zeit, in der Minimalismus, Effizienz und Tempo faszinierten, speziell das Metallflugzeug zur Ikone der Modernität. Die Konnotation der Freiheit wurde aus verschiedenen politischen Richtungen inhaltlich ganz unterschiedlich gefüllt. So kam Ernst Jünger immer wieder auf das Fliegen und die Flieger zu sprechen, wenn er seine technizistische Anthropologie des 20. Jahrhunderts entfaltete, nach der die modernen Technologien nicht – wie die traditionelle konservative Kulturkritik meinte – Entindividualisierung und allgemeinen Werteverfall bewirkten. Vielmehr ermöglichten sie nach Jünger gerade eine Entlastung des Individuums, die zur Herausbildung neuer Eliten führen würde. Der Flieger habe sich als der eigentliche Autonom des Ersten Weltkriegs erwiesen, der den Beschränkungen des traditionellen Landkriegs enthoben war und sich ganz auf den technikvermittelten Kampf konzentrieren konnte. Die Piloten der Kriegsflugzeuge »kennen keine wochenlangen Märsche, kein Herumwühlen in Dreck, Verwesung und Blut. Auch der Kampf bei Nacht und Nebel sowie die großen Verstümmelungen sind ihnen fremd. Sie werfen die Zigarette fort, steigen auf in sauberer Uniform, schneeweißer Wäsche und gepflegten Händen und sind in einer Stunde wieder da« (Jünger 1930, 80). Autonome Stellung und militärische Durchschlagkraft machten den Flieger zu einer maskulinen Leitfigur, die auch in Friedenszeiten Vorbildwirkung hatte. Der »fliegende Mensch«, so Jünger 1929, »ist vielleicht die schärfste Ausprägung einer neuen Männlichkeit. Er stellt einen Typus dar, der sich bereits im Kriege angedeutet hat« (Jünger 1929, 11f.). Auch am Ende der klassischen Moderne galt das Fliegen als
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Medium einer positiv gedeuteten »Bindungslosigkeit«, die gegen die noch immer wortmächtigen Verteidiger der traditionalen Gemeinschaft legitimiert wurde – allerdings in einer zivilen und egalitären Deutung. Auf der Suche nach einem Konzept für die Erziehung zur Individualität machten etwa westdeutsche Pädagogen in den frühen sechziger Jahren das Fliegen als Urerfahrung der Freiheit aus. Sie versuchten, daraus Hinweise für die Erziehung einer jungen Generation zu gewinnen, die sich am Übergang zur postindustriellen Gesellschaft aus traditionalen Bindungen zu lösen begann und Individualismus als adäquate Lebensform demokratisch-pluralistischer Gesellschaften entdecken sollte (Gebhard/Nahrstedt 1963, 134). Weil das Flugzeug auf nahezu unbegrenzten Verkehrswegen auch in entferntesten Regionen der Erde operieren konnte, wurde es zu einem eminent politischen Faktor, der Begehrlichkeiten freisetzte. Die neue Technologie relativierte scheinbar das nach dem Ersten Weltkrieg neu fixierte geopolitische Kräfteverhältnis und rief insbesondere beim Kriegsverlierer Wiederaufstiegsphantasien hervor. Die Eroberung der »dritten Dimension« bot Deutschland die Chance, hier jene Weltgeltung zu erreichen, die ihm auf dem Lande und zur See durch andere Weltmächte versperrt war. »Vor den Ausgangstoren des Luftozeans steht kein seebeherrschendes Albion«, pointierte ein Junkers-Manager die neue Lage (Sachsenberg 1929, 4). Aber auch unabhängig von machtpolitischen Ambitionen galt das Flugzeug als Medium zur Wiederherstellung der nationalen Gemeinschaft nach innen. Von der Sozialdemokratie bis zum rechten Rand des politischen Spektrums war man überzeugt, das Fliegen könne als »sittliche Anstrengung« des Volkes die Nation einen (Ernst Jünger) und eine »air minded nation« erzeugen (Hugo Junkers). Insbesondere in den USA und in Italien fanden derartige Visionen erhebliche staatliche Unterstützung. Wie stark ihre Resonanz in der Bevölkerung war, zeigte sich etwa an der nationalen Euphorie, die der Atlantikflug des flying politician Charles Lindbergh 1927 in den USA auslöste. Nicht zuletzt kurbelte dieser Popularitätsschub für das Fliegen an sich und speziell für den transatlantischen Flugverkehr auch die amerikanische Flugzeugindustrie an. Auch wenn in der Fliegertruppe selbst der Nimbus des Aristokratischen vorherrschte, hatten sich schon im »Duell« der Kampfflieger im Ersten Weltkrieg soziale Aufsteiger bewähren können. Während auf der politischen Rechten Jüngers kriegsgenerierter »Fliegertypus« die Inkarnation eines elitär-aristokratischen Kampfgeistes der Gegenwart darstellte, hob die politische Linke gerade die Demontage dieses Typus hervor, die mit der vom Versailler Friedensvertrag erzwungenen Zivilisierung der Flugzeugindustrie eingesetzt hatte. Hier zog die politische Utopie des Fliegens einen Teil ihrer Kraft nicht aus dem elitären Ideal der Kriegsaviatik, sondern aus dem Demokratisierungspotenzial des Verkehrsflugs. Zwar waren die Flugzeugführer auch nach dem Krieg noch in der Regel frühere Offiziere. Doch als Lenker von Verkehrsflugzeugen änderte sich ihre Stellung. Die Mutation des Piloten vom aristokratisch-privilegierten Kriegsautonom zum gewöhnlichen Verkehrsdienstleister begrüßte die politische Linke als Demokratisierungsvorgang (Reissner 1930, 236). An der seit dem Ende der zwanziger Jahre explosionsartig zunehmen-
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den Segelfliegerei waren nicht nur nationalistische Studenten beteiligt, sondern auch Arbeiter- und Beamtenkinder mit sozialdemokratischem Hintergrund. Mit dem überparteilichen Deutschen Luftfahrt-Verband vornehmlich bürgerlicher Zusammensetzung konkurrierte der Sturmvogel, eine SPD-nahe Organisation von Segelfliegern. Der Verband erstrebte »eine durchgreifende Demokratisierung des deutschen Flugwesens und kämpft für eine aktive Verwendung der deutschen Luftfahrt als Instrument der Völkerversöhnung und der Solidarität über die Landesgrenzen hinaus« (Interessengemeinschaft der deutschen Luftfahrt 1931, 166). In den Segelfliegerverbänden wurde das Fliegen für eine größere Zahl insbesondere junger Menschen zur Individualerfahrung. Statt passivem Bestaunen eigene Aktivität, potenziell überall: Dies entsprach eher den Mobilisierungsmechanismen moderner Massenkulturen als die Luftschifffahrt, die nur bewundert, nicht aber selbst ausgeübt werden konnte. Allerdings blieben Versuche erfolglos, durch ein über den Automobilhandel vertriebenes »Volksflugzeug« in der Luft ein ähnliches Maß an Alltagsmobilität zu erreichen wie auf der Straße. Im Zweiten Weltkrieg schließlich bewirkte das Flugzeug in Form von Bombern oder Tieffliegern eine soziale Egalisierung, indem es alle Bürger der kriegführenden Staaten zu potenziellen Opfern und »Kämpfern« machte, »da sie ausnahmslos den unmittelbaren Angriffen des Feindes ausgesetzt sind« – so jedenfalls imaginierte die politische Rechte den totalen Krieg (Douhet 1935, 16). Mit der Ausbreitung der Konsumgesellschaft wurden große Menschenmassen nicht mehr auf einen Opferstatus reduziert, sondern eroberten als pekuniär potente Akteure die Fahrgastkabinen. Wenn auch durch »feine Unterschiede« sozial segmentiert, partizipierten sie so an den Errungenschaften des internationalen Tourismus. Der Massenflugverkehr setzte sich vor allem nach 1945 durch, als die Zahl der Fluggäste sich in der Bundesrepublik von gut 650.000 im Jahr 1950 auf fast 70 Millionen im Jahr 1989 erhöhte – mit besonders hohen Steigerungsraten in den fünfziger und sechziger Jahren (Treibel 1992, 36). Das erhöhte Passagieraufkommen trieb nicht nur die Entwicklung größerer und zugleich wirtschaftlicherer Flugzeuge voran, es stellte auch neue Anforderungen an die Bodenorganisation des Flugverkehrs. Während der BAHNHOF als architektonisches Ensemble des 19. Jahrhunderts die schienengebundene Transportfunktion der Eisenbahn mit der Stadt vermittelte, so konditionierte der Flughafen als Mobilitätsglacis des 20. Jahrhunderts die Passagiere für die Bewegung aus der horizontalen in die vertikale Verkehrsebene und umgekehrt. Waren Bahnhöfe durch das Wachstum der Städte urban eingekapselt worden, wurden Flughäfen häufig in Regionen außerhalb der Städte verlegt, an die Nahverkehrssysteme angeschlossen und zusätzlich mit großen Parkflächen ausgestattet. Dies war vor allem auf die massenhafte Einführung von Düsenflugzeugen seit den fünfziger Jahren zurückzuführen, durch die Lärmbelastung und Flächenbedarf anstiegen. Die zumeist mit Grasbahnen ausgestatteten, oval angelegten stadtnahen Flughäfen der zwanziger und dreißiger Jahre genügten weder den Anforderungen des gestiegenen Verkehrsaufkommens noch dem Bedarf an längeren und besser befestigten Startbahnen. Der erste, 1920 eröffnete Londoner Flug-
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hafen Croydon wurde 1959 aus Mangel an Expansionsmöglichkeiten geschlossen, in Berlin der 1923 eröffnete Flughafen Tempelhof seit 1974 durch den neuen Flughafen in Tegel entlastet. Der Anstieg der Beförderungszahlen machte eine optimierte Abfertigungsorganisation notwendig – was wiederum den funktionalen Charakter der Flughafenarchitektur verstärkte. Zwar sind Flughäfen ähnlich wie Bahnhöfe zu Dienstleistungszentren geworden, die neben Hotels, Restauration und Tagungsmöglichkeiten Konsumgelegenheiten aller Art anbieten. Doch sie unterscheiden sich von ihnen in ihrem Inneren vor allem durch ein ausgefeiltes Schleusungs- und Sicherheitssystem, das die Fluggäste und ihr Gepäck während der Passage vom Land- zum Luftverkehr zu durchlaufen haben. Dabei handelt es sich heute um stark automatisierte Abläufe, die durch computergestützte Reservierungs-, Sortier- und Beförderungsvorgänge abgewickelt werden. Der Gebrauch der englischen Sprache oder der Einsatz von Piktogrammen als Leitsymbolen deuten einerseits auf den demokratischen und internationalen Charakter des Verkehrsmittels Flugzeug hin, während andererseits ein fein gestaffeltes Kontrollsystem darauf verweist, dass die Funktionalität des internationalen Luftverkehrs nur aufrechterhalten werden kann, wenn ein bestimmtes Regelwerk eingehalten wird. Legitimitätsprüfungen durch Zoll und Grenzschutzbehörden synchronisieren nationale Interessen mit dem globalisierten Verkehr, Sicherheitschecks sollen Angriffe auf das empfindliche Luftverkehrssystem verhindern. Schon lange vor den Anschlägen vom 11. September 2001 hatten Sabotageakte und Flugzeugentführungen zu erhöhten, teilweise international koordinierten Anstrengungen zur Verbesserung der Sicherheit geführt. Besonders in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren zogen (häufig politisch motivierte) Flugzeugentführungen – allein 1969 waren es 92, von denen 58 nach Havanna führten – verstärkte Sicherheitsmaßnahmen nach sich, wie etwa die Einführung von Metalldetektoren oder Sanktionen gegenüber Staaten, die Flugzeugentführer unterstützten. Als unmittelbare Folge derartiger Maßnahmen ging die Zahl der Entführungen seit 1971 wieder zurück (Mondey 1980, 436ff.). Wie alle Mobilitätstechnologien erhöhte auch das Flugzeug zunächst vor allem die männlichen Steuerungskompetenzen, wobei sich die Geschlechteraffinität im Lauf des 20. Jahrhunderts verschob – gerade weil die Beherrschung maschinengetriebener Verkehrstechnologien nicht in erster Linie von Körperkraft abhängig war. Schon das »Dandytum« (Jünger 1930, 79) der Weltkriegsflieger hatte eine feminine Komponente enthalten, und die erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit für weibliche Flieger in der Hochzeit der klassischen Moderne zwischen den zwanziger und den vierziger Jahren ließ gerade das Fliegen zu einer Domäne der weiblichen Bewährung werden – wenn auch mit begrenzter quantitativer Reichweite. Fliegerinnen verkörperten das Ideal der urbanen, ungebundenen und tatkräftigen jungen Frau, die die Herausforderungen der leichten Zukunftstechnologien souverän meisterte (Pfister 1989; Douglas 1990).
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III. Grenzenlose Mobilität: Die Erschließung der modernen Welt Mobile Räume dienen als transportable Hülle, in denen Menschen sich temporär aufhalten, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Aus dieser Funktion leitet sich ihre innere Gestalt ab, aber als Orte der Moderne sind sie besonders signifikant, weil sich durch sie das menschliche Raumgefühl insgesamt verschoben hat. Die Ausdehnung der Horizonte veränderte nicht nur Lebenswelten, sie beeinflusste auch gesellschaftspolitische Gegenwartsdeutungen und geschichtsphilosophische Modelle. Es war die technologisch vermittelte »Raumrevolution«, in der Carl Schmitt 1940 die historische Triebkraft seiner Gegenwart sah (Adam 1991). Und es war das Flugzeug, das zu einem entscheidenden Mobilitätssignum der klassischen Moderne wurde. Es trug dazu bei, gesellschaftliche Strukturen aufzubrechen, indem es physikalische Mobilität rund um den Erdball ermöglichte und zu einem Medium der sozialen Mobilisierung wurde. Denkt man diese beiden oftmals getrennt betrachteten Mobilitätsebenen zusammen, dann bilden sich in der Geschichte des Flugzeugs nicht nur signifikante Tendenzen der Moderne ab, es entpuppt sich auch als Beschleuniger derartiger Tendenzen (Bonß/Kesselring 2001). Am Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft hatten andere Verkehrsmittel solche revolutionären Funktionen übernommen. Mitte des 19. Jahrhunderts hielt das europäische Publikum den Atem an, als »Metternich und das ganze Haus Habsburg zwischen den Rädern der Dampfmaschine zerquetscht, wie die östreichische Monarchie von ihren eignen Lokomotiven in Stücke geschnitten« wurde (Engels 1974, 508). Während die Bourgeoisie per Eisenbahn und Dampfschifffahrt »über die ganze Erdkugel« (Marx/Engels 1974, 465) jagte, um in einem ersten Globalisierungsschub der Moderne einen Weltmarkt zu schaffen, emanzipierte das Flugzeug die entwickelten Industriegesellschaften noch sehr viel weitgehender von nationalen und geographischen Begrenzungen, indem sie, »die Zeit überwindend, [...] den Raum bezwingend« (Junkers 1929, 99), in kürzester Zeit an jedem beliebigen Ort der Erde frei operieren konnte. Gerade wegen seines Potenzials, die Grenzen des Nationalstaats zu überwinden, kristallisierte sich am Flugzeug stärker als an allen anderen Verkehrsmitteln der Streit um die Konturen der Nation, um nationale Selbstbilder und den Ort der Nation in einer sich immer schneller globalisierenden Welt (Fritzsche 1992). Das Flugzeug emanzipierte die Gesellschaften jedoch nicht nur von ihren nationalen Grenzen, sondern auch von den gegebenen Sozialstrukturen und kulturellen Prägungen. Der Soziologe Georg Simmel sah als Komplementärbewegung zur Freisetzung des Individuums aus der traditionalen Gemeinschaft den Aufbau neuer Bindungen »zu den Entfernteren« (Simmel 2001, 48). Schon zur Zeit des Ersten Weltkriegs wurde das Flugzeug, das derartige Verbindungen im internationalen Maßstab herstellte, als physikalischer Katalysator der Auflösung sozialer Traditionen begriffen. Mitte der zwanziger Jahre skizzierte Siegfried Ebeling, ein Bauhausschüler und Mitarbeiter der Junkers-Flugzeugwerke in Dessau, den Zusammenhang von räumlicher Massenmobilität und Flugverkehr folgendermaßen: Das moderne Eu-
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ropa sei »ein Boden geworden, wo alles nur ein Abströmen, Zuströmen und funktionelles Verweilen ist: wo die Menschen im Stadium des Wanderns, Wimmelns und Sich-Mischens nur noch die Erde flüchtig tangieren«. Dafür sei das »kurze Aufsetzen des Flugzeugs bei Start und Landung [...] ein wunderbares Sinnbild« (Ebeling 1924). Während der automobile Verkehrsfluss durch Sicherungs- und Steuerungssysteme gelenkt wird, die direkt in die erdgebundene Fahrbahn eingelagert sind oder mit ihr korrespondieren, musste in der Luft ein dreidimensional ausgerichtetes Leitsystem etabliert werden. Wurde hier in der Anfangszeit ausschließlich nach Sicht und mit Instrumentarien maritimer Herkunft navigiert, so wurde dies später durch funkgestützte Navigationssysteme und durch Instrumentenflug ergänzt und zum Teil ersetzt. Nach ersten multilateralen Abkommen in den zwanziger Jahren wurden internationale Standards bei der Fluglenkung und -sicherung erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs zuverlässig etabliert. Die 1947 gegründete »International Civil Aviation Organization«, die für die zivile Luftfahrt zuständige Organisation der UN, definierte unter anderem Sicherheitsstandards, Regularien für die Durchführung des Flugverkehrs und Haftungsregeln. Um die Kontrolle und Regulierung der Flugbewegungen zu ermöglichen, ist der »Luftozean« heute weltweit durchstrukturiert: Fluginformationsgebiete gliedern sich in Flugkontrollbezirke, die jene zwischen Flughäfen verlaufenden Luftstraßen – sie wurden in den USA bereits in den zwanziger Jahren eingeführt – ebenso erfassen wie Nahverkehrsbereiche, zu denen auch die Warteräume über den Flughäfen gehören. Durch dieses sektoral gegliederte System wird die kontinuierliche Überwachung von Flügen gewährleistet. Fluglotsen, die bei den Flugsicherungsstellen der Flughäfen sitzen, dirigieren die anfliegenden Flugzeuge bis zur Parkposition. Weil die Lufträume mit der Ausbreitung des Flugtourismus seit den sechziger Jahren überlastet waren, entstanden erhebliche Probleme für die Flugsicherung, denen man durch verbesserte Verkehrsplanung und eine präzisere Organisation des Luftraums zu begegnen suchte. Auch das System der Flugverkehrsstrecken soll aufgebrochen werden, weil es die Kapazität des Luftverkehrs begrenzt. Auf Architektur und Städtebau als Professionen der sozialen Verdichtung hatte die Entdeckung der »dritten Dimension« besonders weitreichende Auswirkungen. Die Utopie von der permanenten Mobilität erstreckte sich zum Beispiel auf den Hausbau, indem die Idee vom »transportablen Haus« starke Anziehungskraft etwa als »moderne[s] Wohnzelt des europäischen Nomaden« gewann, das man, so imaginierte es der avancierteste Architekturschriftsteller der Weimarer Republik, Alexander Schwab, »an beliebiger Stelle montieren läßt, bei jedem Wechsel der Beschäftigung an eine neue passende Stelle bringt, nach 10 Jahren bei steigenden Lebensansprüchen vergrößert oder gegen ein größeres eintauscht, nach weiteren 10 Jahren ohne Schaden als Altmaterial verkauft und durch ein neues besseres ersetzt« (Schwab 1973, 168f.). Nicht zufällig waren es auch Flugzeugproduzenten wie die französische Firma Voisin oder die deutschen Junkerswerke, die mit leichten und mobilen Architekturvisionen experimentierten.
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Doch nicht nur Wohnmobilität erhielt vom Flugzeug her Anregungen. Die Sicht aus der Höhe auf die Fläche ermöglichte städtebauliche régularisations im großen Stil, wie sie unter Baron Haussmann in Paris Mitte des 19. Jahrhunderts durchgeführt worden waren. Als Le Corbusier sich 1929/30 im Zuge seiner Planungen für die Umgestaltung Rio de Janeiros kritisch mit dem unstrukturierten und gewissermaßen undemokratischen Wildwuchs der Städte beschäftigte, lobte er die aufklärende Funktion des Flugzeugs: »Wir wußten es; doch wir hatten keine Ahnung, wie ungeheuerlich, wie hassenswert diese Unsauberkeit, diese Unaufrichtigkeit der Stadt gegenüber ihren Einwohnern gewesen ist. Das Flugzeug hat uns zur Einsicht verholfen. Das Flugzeug hat den Blick dafür. Das Flugzeug klagt an« (Ingold 1980, 321). Diese Anklage richtete sich gegen die historisch gewachsene Unübersichtlichkeit der vorfindlichen Stadtstrukturen, die nun beseitigt und durch planmäßige Konstruktion ersetzt werden sollten. Die Städte des 20. Jahrhunderts sollten die modernen Wohnstätten des Neuen Menschen beherbergen – gestaltet ganz nach rationalistischen Kriterien. Zu einem Massenmarkt wurde der Luftverkehr erst seit der Ausweitung der Konsumgesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hier zeigte sich die Ungleichzeitigkeit von militärischer und ziviler Nutzung besonders deutlich: Während das Flugzeug im Zweiten Weltkrieg als wirksames Mittel zur Kriegsführung insbesondere gegen die Zivilbevölkerung zum Einsatz gekommen war, profitierten breitere Schichten von dieser technischen Errungenschaft der klassischen Moderne erst, als sie nicht mehr klassisch war. Das machte die Dialektik dieses Aufklärungsinstruments vollends sichtbar: Wie problematisch die unmittelbare Verknüpfung von Modernität und Mobilität mit seinem avanciertesten Verkehrsmittel in der »zweiten Moderne« geworden ist, hat sich nicht erst mit dem 11. September 2001 gezeigt, sondern bereits in den Debatten über die Folgen von Fluglärm, Umweltverschmutzung und Massentourismus seit den späten sechziger Jahren.
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Das Raumschiff Rebekka Ladewig I. Höhenflüge 15. Oktober 1929: Die Fassade des Berliner UFA-Filmpalastes ist bedeckt von einem »gigantischen Plakat, auf dem Erde und Mond vor einem sternenklaren Himmel und eine geschossförmige Mondrakete« abgebildet sind (Neufeld 1997, 18). Hier findet an diesem Tag die Premiere des Films Die Frau im Mond von Fritz Lang statt. Weniger das sentimentale Eifersuchtsdrama, das auf dem Mond seinen Höhepunkt findet, trägt zur Begeisterung des Kinopublikums bei, als vielmehr die filmische Darstellung jener technischen Konstruktion, mit der das Liebespaar auf den Himmelskörper gelangt: Die Mondrakete ist der eigentliche Gegenstand des Films. So ist es auch der Trickfilm-Raketenstart, der bei der Uraufführung Szenenapplaus erhält. Der als Publicity-Gag angekündigte Start einer realen Flüssigkeitsrakete kommt hingegen nicht zustande. Für deren Konstruktion und für die wissenschaftliche Assistenz bei der technischen Umsetzung und Inszenierung der Filmrakete hatte Lang den als Raketenexperten ausgewiesenen Ingenieur Hermann Oberth engagiert. Die Allianz aus Unterhaltungsindustrie und Wissenschaft ist, anders als es das Scheitern des vorgesehenen Raketenstarts anlässlich der Premiere nahelegt, sowohl für Lang als auch für Oberth ein Erfolg. Schreibt Die Frau im Mond als Sciencefiction-Streifen ein Stück deutscher Filmgeschichte, so gelingt Oberth – ausgerüstet mit finanziellen Mitteln der UFA – während seiner 15-monatigen Arbeit in Babelsberg die Entwicklung einer Brennkammer für flüssige Treibstoffe. Seine »Kegeldüse« ist einer der Prototypen moderner Raketentriebwerke. 3. Oktober 1942: »x-1. Zeit läuft. Noch zehn Sekunden! Zündung! Abgehoben! Schallgeschwindigkeit! Brennschluß! Einschlag!« Folgt man der herkömmlichen Technikgeschichtsschreibung, so bezeichnet diese Ereigniskette nichts Geringeres als den Beginn des Raumfahrtzeitalters (Dornberger 1981, 15-24). Die dramatischen Höhepunkte aus der Feder des befehlshabenden Leiters der Abteilung Waffenprüfungsamt 11 der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, Generalmajor Walter Dornberger, bezeichnen auch die wichtigsten Punkte auf der Flugbahn des Aggregats 4 (»A 4«), das wenig später als V 2 bekannt werden sollte. Den entscheidenden Ort dieser Technik-Performance bildet der buchstäbliche Höhepunkt des Flugs in fast 85 Kilometern Höhe. Unbeabsichtigt, durch einen technischen Defekt im Steuerungssystem, erreichte das Aggregat die Stratosphäre. Als ballistisches Fehlprodukt markiert der Höhenflug vom 3. Oktober 1942 einen (technik-)historischen Wendepunkt, wie der Ansprache Dornbergers vom selben Tag zu entnehmen ist. Von einem Griff zu den Sternen ist da die Rede und vom Beginn einer neuen Verkehrstechnik: der Raumschifffahrt (ebenda 1981, 26). Nach mehr als einem Jahrzehnt Entwicklungsarbeit unter nationalsozialistischer Regie blitzt damit eine Bestimmung der Rakete auf, die zu Beginn der zwanziger Jahre den Motor ihrer technischen Konstruktion dargestellt hatte. Als »Raumschiff der Zukunft« (Valier 1924, 44) war
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die Rakete imaginiert worden. In der Unsteuerbarkeit des Ereignisses vom 3. Oktober 1942 deckt sich für einen kurzen Moment die Gestalt der Rakete mit der Erscheinung eines raumrevolutionierenden Flugkörpers und die reale Fernwaffe wird in der Phantasie ihrer Konstrukteure vom Bild eines Raumgefährts überblendet, wie es Fritz Lang 13 Jahre zuvor in Szene gesetzt hatte. Wenn auch keines der beiden Szenarien explizit von einem Raumschiff handelt, so haben sie doch dessen reale und imaginäre Konstruktion gleichermaßen hervorgebracht und beeinflusst. Während Langs Mondrakete das Bild des Raumschiffs medial prägte, hat sich die reale Durchschlagskraft dieser technischen Utopie zuerst in Gestalt einer V2-Rakete manifestiert, die weniger ein strategisches als ein ideologisches Konstrukt nationalsozialistischer Militärindustrie und Rüstungspolitik darstellte. Dass damit ein militärisches und ein mediales Szenario den Hintergrund für die Geschichte des Raumschiffs bilden, ist symptomatisch. Es handelt sich hier um einen Ort der technischen Moderne, dessen technologische Realisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Produkt eines rüstungspolitischen Wettlaufs darstellte, und der, obgleich real, bis heute meist nur in medialen Repräsentationen auftritt. Dass sich dieser Ort zudem einem alltagspraktischen und sozialen Erfahrungs- und Handlungsraum entzieht, mag einer der Gründe für die vielfältigen Imaginationen sein, die sich mit ihm verbinden. Zugleich liegt gerade darin sein richtungweisendes Merkmal: Weniger die räumlichen Qualitäten des Ortes selbst, der im Lauf seiner Entwicklung verschiedene Formen angenommen hat, als vielmehr die durch seine Bewegung eröffneten räumlichen Dimensionen haben ihn als Träger raumrevolutionierender Technikphantasien ausgezeichnet. Hierin wird der Weltraum als Bewegungsraum für den Menschen zuallererst denkbar. Nicht zufällig war es die Rakete, die diese technische Utopie in ihrer frühen Phase verkörperte. Bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert war die Rakete als technische Lösung für Weltraumflüge projektiert und synonym mit den Ausdrücken »Raketenzug«, »Stratosphärenflugzeug« (Ziolkowski), »Weltenschiff« (Ley) oder »Weltraumschiff« (Valier) verwendet worden. Erst gegen Ende der zwanziger Jahre setzte sich im allgemeinen Sprachgebrauch der Ausdruck »Raumschiff« durch. Noch 1927 musste der in Breslau gegründete Verein für Raumschiffahrt aufgrund eines gerichtlichen Beschlusses seine Vereinssatzung präzisieren, da der Begriff »Raumschiffahrt« den Vereinszweck »nicht eindeutig zu erkennen gebe« (Winkler 1995, 98). Die paradigmatische Wende von phantastisch anmutenden Raketenentwürfen zur theoretischen Grundlegung der Raketentechnik als Antrieb für bemannte Raumschiffe leitete die 1923 von Hermann Oberth vorgelegte Schrift Die Rakete zu den Planetenräumen ein – und so wundert es nicht, dass bereits ihre dritte, erweiterte Auflage 1929 unter dem programmatischen Titel Wege zur Raumschiffahrt erschien. »Raumschiff« ist seitdem der Oberbegriff für Fahrzeuge, die für die Bewegung im leeren Raum außerhalb der Erdatmosphäre konstruiert sind. Anders als bei jedem anderen Fahrzeugtyp handelt es sich hier um ein Fortbewegungsmittel, mit dem der Mensch in ein absolutes Außen gelangen und die Erde aus einer planetari-
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schen Perspektive betrachten kann. Als vollautomatischer Flugkörper wird das Raumschiff während seines Flugs von einem Kontrollzentrum auf dem Boden gesteuert. Im Gegensatz zu anderen Transportmitteln zeichnet es sich dadurch aus, dass seine Fortbewegung nicht durch die Verdrängung eines natürlichen Umgebungselements, sondern durch einen von der Umgebung unabhängigen Strahlenantrieb geschieht, der die Bewegung des Flugkörpers im Vakuum ermöglicht. Die Rakete als technische Verkörperung einer solchen Antriebskraft stellt insofern einen integralen Bestandteil des technischen Gefüges »Raumschiff« dar. Dessen räumliche Merkmale selbst sind durch die Qualitäten des Umgebungsraums bestimmt. Vakuum, extreme Temperaturen und radioaktive Strahlung des Weltraums werden durch die Außenwand des Raumschiffs abgeschirmt; im Inneren werden dem Menschen so auf engstem Raum die notwendigen atmosphärischen Lebensbedingungen eingeräumt. Die Rede von dem Raumschiff ist jedoch aus technologischer Perspektive ungenau. Form und Material variierten nicht nur im Zuge der technologischen Entwicklung der Raumfahrt; sie wurden darüber hinaus ebenso durch nationale Ausprägungen bestimmt wie durch spezifische Raumfahrtprogramme, die verschiedene Raumschifftypen hervorgebracht haben.
II. Schwerelos im Unendlichen: Das Raumschiff zwischen technischer Vision und technologischer Wirklichkeit Wenngleich es Phantasien über Weltraumflüge schon seit der Antike gibt, hat erst die Moderne das zu ihrer technologischen Realisierung notwendige Wissen hervorgebracht. Wie jeder technischen Utopie gingen auch hier den ersten Konzeptualisierungen und Experimenten literarische Entwürfe voraus, von deren imaginärer Energie die Idee der Raumfahrt in der Folge angetrieben werden sollte (Warrick 1980). Nicht zufällig ist es mit Jules Verne einer der Begründer der modernen Sciencefiction, der in seinen Romanen Von der Erde zum Mond (1865) und Reise um den Mond (1870) das Projekt Mondflug rund 100 Jahre vor der amerikanischen Mondlandung erstaunlich präzise antizipierte (Ladewig 2000). Zwar entwarf Verne dieses Projekt vor dem technischen Horizont seiner Zeit als ballistisches Ereignis: Er dachte es noch in artilleristischen Kategorien des Schusses, und die »Kolumbiade«, seine fiktive Raummaschine, erscheint folgerichtig als bemannte Hohlgranate aus Aluminium, die von einer Riesenkanone in Richtung Mond abgefeuert wird. Deutlich zeichnen sich hier aber die Konturen einer Raumkapsel ab, die die irdische Schwerkraft mit der notwendigen Geschwindigkeit überwindet und in den Weltraum gelangt. Die Mondromane Vernes bildeten zudem die Vorlage für den ersten Sciencefiction-Film: Mit La Voyage dans la Lune brachte der französische Regisseur und Zauberkünstler George Méliès im Jahr 1902 erstmals kinetische und kinematographische Projektionen zur Deckung (Virilio 1992, 41). Er stand damit am Anfang einer Geschichte, in der das Medium Film und das KINO die herausragenden
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Orte der medialen Repräsentation und illusionären Verräumlichung von Weltraumphantasien darstellen. Dagegen gilt der russische Wissenschaftler Konstantin E. Ziolkowski als eigentlicher »Vater der Raumfahrt« (Ditchev). Mit seiner 1903 veröffentlichten Schrift Die Erforschung der Weltenräume mit rückstoßgetriebenen Geräten sah er eine neue Epoche des Fliegens heraufziehen, die er als »Ära der Stratosphärenflugzeuge« bezeichnete. Tatsächlich schuf Ziolkowski bereits in den 1890er Jahren mit der »Raketengrundgleichung« nicht nur die mathematische Voraussetzung, um sich seinen Traum von der Schwerelosigkeit erfüllen zu können. Sie war auch die Grundlage der modernen Raketentechnik, die den Raketeneffekt als Spezialfall der theoretischen Mechanik entwickelte und die Rakete als selbstbewegtes Flugobjekt entwarf. Damit wurde zum ersten Mal ein Flugkörper projektiert, der sich aus eigenem Antrieb – nämlich durch den Ausstoß von Teilen seiner eigenen Masse und folglich unabhängig vom Umgebungselement – von der Erde trennt (Kosmodemjanski 1979, 59ff.). Bildete schon die Fliegerei im Russland der zehner und zwanziger Jahre eine erhabene politische Metapher für die Eroberung des Himmels, so wies die Rakete weit über dieses Bild hinaus. Für Ziolkowski verband sich mit ihrem Flug die zunehmend realistische Möglichkeit, in einen Raum vorzudringen, der sich jenseits von Himmel und Erde als neuer Lebensraum für den Menschen öffnen sollte. Die Rakete verkörperte eine vollkommene Transzendenz, mit der sich auch die Überwindung der irdischen Natur verband. Während sich in Vernes Mondreise kolonialistisch gefärbte Raumeroberungsphantasien mit einem romantisch motivierten Raum-Weh gemischt hatten, bildete der Traum von der Schwerelosigkeit, gespeist von technisch-physikalischem Konstruktivismus und politischem Revolutionspathos, den Hintergrund für die Arbeiten Ziolkowskis. Das in seiner Schrift Kosmische Raketenzüge (1929) entworfene Modell einer kosmisch-kommunistischen Gesellschaft stellt insofern die konsequente Ausformulierung einer technischen Vision dar, die deutlich sozialutopische Elemente aufweist. In der hier beschriebenen Besiedlung des Weltraums sah Ziolkowski eine »kosmo-evolutionäre Entwicklung«, in deren Rahmen sich die »Errichtung künstlicher Lebenswelten« zuerst in Raketen, später dann auf größeren orbitalen Stationen vollziehen sollte. Während die Raumstation, wie Ziolkowski sie vor rund 80 Jahren als autarkes Ökosystem und damit als dauerhaften Lebensraum für den Menschen imaginierte, bis heute unrealisiert geblieben ist, nahm das von ihm zugrunde gelegte Konstruktionsprinzip der Rakete noch zu seinen Lebzeiten Gestalt an. Die Anfänge der experimentellen Raketentechnik lassen sich nach dem Ersten Weltkrieg zuerst in Deutschland verorten. Neben der 1923 veröffentlichten Schrift Hermann Oberths trug hier vor allem deren populärwissenschaftliche Version Der Vorstoß in den Weltenraum: Eine technische Möglichkeit? (1924) des Ingenieurs Max Valier maßgeblich zur Verbreitung der Idee vom Weltraumflug bei. Der drei Jahre später auf Initiative Valiers gegründete Verein für Raumschiffahrt (VfR) stellte eine der frühesten Institutionalisierungen dar, die sich der massenwirksamen Popularisierung der Raumfahrtidee verschrieb und zugleich die experimentelle Phase der Raketen-
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technik einleitete. Die vom VfR geprägte Parole »Helft das Raumschiff schaffen!« steht für ein modernes Bewusstsein, das die bisher theoretisch diskutierten Probleme des Antriebs, der Steuerung und der Stabilisierung der Rakete nunmehr technisch-experimentell erprobte. Anders als bei Ziolkowski war dieses Bild des raketengetriebenen Raumschiffs Ausdruck eines restaurativen Denkens, das mit dem Vorstoß des »deutschen Weltenschiffes« (Willi Ley) in den Weltraum in erster Linie die Wiederherstellung räumlich-territorialer, materieller und nicht zuletzt ideeller Werte des Vorkriegszustands in Verbindung brachte (Valier 1924).
3. Anzeige »Helft das Raumschiff schaffen!«, 1929 Eine reale räumliche Dimension sollte der Flug der Rakete erst in dem Moment erhalten, in dem die experimentelle Forschung mit militärischen Interessen fusio-
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nierte, die in erster Linie darauf abzielten, die rüstungspolitischen Auflagen des Versailler Vertrags zu umgehen. Ohne an einem »futuristischen Konzept des Raumgeschosses« (Neufeld 1997, 32) interessiert zu sein, das das hochgesteckte Ziel der bisherigen Raketenentwicklung war, förderte das Heereswaffenamt bereits ab 1930 die experimentelle Entwicklung von Flüssigkeitsraketen, deren Konstruktion sowohl auf die Arbeit des VfR als auch auf die Kooperation zwischen Fritz Lang und Hermann Oberth zurückging. Als wenige Monate vor der Machtergreifung Hitlers die Raketentechnik endgültig in das rüstungspolitische Programm des Heereswaffenamtes Eingang fand, war der Grundstein für eine Entwicklung gelegt, deren destruktives Produkt rund zehn Jahre später die Peenemünder V2-Rakete darstellen sollte (Pynchon 1973). Als Erd-Erd-Geschoss entworfen, das den kosmisch und vertikal gedachten Flug der Raumrakete in eine ballistische Parabel umbog, wurde die Rakete zuerst als Vernichtungswaffe realisiert, deren Reichweite die nationalsozialistische Propaganda mit dem Reich selbst gleichsetzte. Als Walter Benjamin 1933 den modernen Konstrukteur als Typus beschrieb, der zuerst »reinen Tisch mache [...] und das von der Geschichte begonnene Zerstörungswerk vollende, um dann von Neuem anzufangen« (Benjamin 1977, 291), hätte er damit die Aktivitäten der Raketeningenieure aus Peenemünde, allen voran von deren Leitfigur Wernher von Braun, nicht treffender vorwegnehmen können. Im Zuge der amerikanischen Geheimoperation »Paperclip« landete die wissenschaftliche und technische Elite Peenemündes kurz nach Kriegsende in White Sand, New Mexico (McDougall 1985, 44ff.). Die Geschichte der deutschen Raketentechnik ging hier nahtlos in die der amerikanischen Raumfahrt über. Den rüstungspolitischen Auslöser für die zukünftige Hochtechnologieentwicklung bildete bekanntlich der Sputnik-Schock von 1957, gefolgt vom Orbitalflug des russischen Kosmonauten Juri Gagarin im April 1961. Die Wostok 1 brachte als erste Raumkapsel – nach technischen Instrumenten, einem Hund und einem Affen – einen Menschen in den Weltraum. An die Stelle der alliierten »Luftüberlegenheit« des Zweiten Weltkriegs trat mit diesem Flug die »orbitale Überlegenheit« der Sowjetunion, die den Weltraum als Szenario des Kalten Kriegs eröffnete und zu Beginn der sechziger Jahre das space race zwischen den Supermächten auslöste. Dessen räumliches Ziel erreichten zuerst die USA mit der 1969 unternommenen Mondmission der Apollo XI, deren Trägerrakete Saturn V unter leitender Mitarbeit Wernher von Brauns auf der Grundlage der deutschen V 2 konstruiert wurde. Das von der NASA realisierte Lunar-Orbit-Rendezvous, eine Mondlandetechnik, die die Konstruktionsweise der Apollo-Serie maßgeblich bestimmt hatte, stellte zudem die technologische Überlegenheit der USA wieder her und beseitigte damit die letzten Spuren des Sputnik-Schocks (McDougall 1985, 344ff.). Die Landung der Mondkapsel Eagle auf dem »oldest TV« (Nam June Paik) ersetzte die bisherige Bezugsachse der menschlichen Existenz durch die »lunare Nullhöhe« (Virilio 1992, 126ff.). Darin verwirklichte sich die Transformation der amerikanischen frontier, deren Westwärtsbewegung der Historiker Frederick Jackson Ende des 19. Jahrhunderts als eigentliches Movens der amerikanischen Geschichte herausgestellt hatte, in
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die vertikale Dimension. Das 1974 von der NASA eingeleitete Shuttle-Programm, das die Konstruktion von wiederverwendbaren Raumfähren an die Stelle der Einwegkapseln und -raketen der Apollo-Ära setzte, markierte den Übergang zu einer durch militärische, wissenschaftliche und kommerzielle Einsätze bedingten Routinisierung von Weltraumflügen. Ökonomische Kriterien, vor allem das der Wiederverwendbarkeit, waren für die Konstruktionsweise der Shuttle-Serie entscheidend, die bis heute das Kernstück des amerikanischen Raumfahrtprogramms darstellt. Mit der 1981 in Betrieb genommenen Shuttle-Serie – bestehend aus dem Orbiter, einem externen Treibstofftank und zwei wiederverwendbaren Feststoffraketen – entstand ein neuer Raumschifftypus, der mit der Größe eines Passagierflugzeugs vom Typ Boing 737 die zehnfache Größe einer Apollo-Kapsel aufweist und sich von ihr vor allem durch seine horizontale Landetechnik unterscheidet. Mit dessen Einsatz verband sich zuallererst die kommerzielle und wissenschaftliche Nutzung des Weltraums – und damit die Funktion von Raumfähren als Zubringern und Transportsystemen für den bisher einzigen Ort der technischen Moderne, der dem Menschen einen Aufenthalt von relativer Dauer im Weltraum ermöglicht: die Raumstation. Sie bildet einen Orbitalkomplex aus Wohn-, Forschungs-, Versorgungs- und anderen Modulen. Die seit 1986 betriebene russische MIR, die im Jahr 2001, dem mystischen Datum der Sciencefiction, in der Atmosphäre verglühte, wurde von mehr als 100 internationalen Astronauten besucht und war von 1989 bis 1999 durchgehend bewohnt (APPARTEMENT, LABORATORIUM). Sie ist insofern nicht nur ein Zeichen der zunehmenden Internationalisierung der Raumfahrt. Indem die Raumstation dem Menschen eine vergleichsweise großzügige (stationäre) Lebenswelt einräumt, kann sie auch als erster wirklicher Außenposten des Menschen im Weltraum aufgefasst werden. Als Ort im äußeren Raum, der von Raumfahrzeugen angesteuert werden kann, ist die Raumstation als (welt-)räumliches Ziel an die Stelle des Mondes getreten. Liegt es auch nahe, Raumschiffe vor allem als Transportmittel wahrzunehmen, erschöpfen sich ihre räumlichen Qualitäten nicht in dieser instrumentellen Funktion. Sie bewegen den Menschen durch das Schwarz des Weltraums; indem sie den Heimatplaneten hinter sich lassen, rücken sie die Erde zugleich als Protofundament des Sinns in den Blick. »Wenn ich versuche, es Dir zu erzählen«, so der russische Kosmonaut Sergei Krikalev in einem Interview mit dem Filmemacher Andrei Ujica, »so werde ich an der Sprache scheitern. [...] Jeder weiß, daß der Himmel im All schwarz ist. Wenn man aber mit eigenen Augen gesehen hat, wie die Sonne am schwarzen Himmel erscheint und die Sterne der Sonne ganz nah sind, dann ist das unbeschreiblich. Wenn man auf einem Weltraumflug all die Regionen der Erde mit eigenen Augen gesehen hat, dann ist es nie wie früher« (Ujica 2001, 74). In die Dunkelheit des Alls hat sich die fast 100-jährige phantasmatische Vorgeschichte der Raumfahrt hineingedacht. Noch bevor sich mit der Mondlandung der schwarze Raum den Bewegungen des Menschen öffnete, verkehrten sich die Projektionen, und als schlichter »Blob« landete ein Jahr nach dem Sputnik-Schock der erste extraterrestrische »Schrecken ohne Namen« auf der Erde (The Blob, USA
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1958). Der aus den Verteidigungs- und Abwehrtechnologien des Zweiten Weltkriegs entstandene virtuelle Raum bildet das räumliche Dispositiv, das sich gleichzeitig mit der technologischen Realisierung der Raumfahrt ausbilden musste. In Form von virtuellen Schutzschilden, die sich über das Territorium legen, verschließt sich die Erde vor der drohenden Gefahr des offenen Alls.
III. Zur Exzentrizität des Raumschiffs Das Schiff, so Michel Foucault, sei die Heterotopie schlechthin: ein wirklicher, wirksamer Ort, realisierte Utopie, real beschreibbar und mythisch aufgeladen zugleich – ein Ort außerhalb aller Orte (Foucault 1990, 46, 39). Schiffe, Luftschiffe und Raumschiffe bewegen sich außerhalb aller Orte, durchqueren dabei jedoch verschiedene Räume (Wasser, Luft, leeren Raum). Gemeinsam ist ihnen, dass sie dem Menschen durch ihren einräumenden, umhüllend-schützenden Charakter die Bewegung durch elementare (Natur-)Räume ermöglichen und ihm diese als Handlungs- und Spielräume eröffnen (U-BOOT, FLUGZEUG). Schiffe, Luft- und Raumschiffe sind in diesem Sinne Zeichen von Raumrevolutionen; mit ihrer technischkulturellen Entwicklung verbindet sich die Entstehung von »neuen Maßstäben und Dimensionen der politisch-geschichtlichen Aktivität, neuen Wissenschaften, neuen Ordnungen« (Schmitt 1974, 19). Was Carl Schmitt zuerst für das neuzeitliche Unternehmen der Seefahrt als »Ausgang der ozeanischen Kultur« geltend gemacht hat, trifft für die Raumfahrttechnologie des 20. Jahrhunderts in einem buchstäblich äußersten Sinne zu: Wie keine vorausgegangene Technologie ist die Raumfahrt Ausdruck der totalen Raumerschließung. Anders als das Flugzeug überwindet das Raumschiff die natürliche Schwerkraft, um in den Weltraum vorzustoßen. Mit dem Raumschiff realisiert sich folglich jene Möglichkeit der theoretischen Mechanik, die Isaac Newton bereits in der mathematischen Grundlegung seiner Gravitationstheorie angedeutet hatte, als er die Geschwindigkeit eines geworfenen Steins derart beschleunigt dachte, »daß er endlich über die Grenzen der Erde hinausginge und nicht mehr zurückfiele« (Newton 1963, 514). Die technische Bewältigung natürlich-physikalischer Zwänge, die das Raumschiff verkörpert, erscheint in diesem Zusammenhang als beispielloser Ausdruck menschlicher Naturbeherrschung (STAUDAMM). Dem raumrevolutionierenden Pathos, mit dem sich seit der Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaften und potenziert in der technischen Moderne eine Veränderung der Begriffe, Vorstellungen und Strukturen von Raum und Welt verbindet, entspricht aber eine phantasmatische Seite, die das Prekäre und Unheimliche der technischen Beherrschung menschenfremder Elemente und lebensfeindlicher Räume widerspiegelt. Indem die Raumfahrt die Erde als Basis der menschlichen Existenz buchstäblich hinter sich lässt, stellt sie eine Unternehmung der experimentellen Anthropologie par excellence dar (Sloterdijk 2004, 231). Zwar werden im Inneren des Raumschiffs die Bedingungen der humanen Lebenswelt rekonstruiert
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und gegen die lebensfeindlichen Bedingungen des Weltraums abgeschirmt; an die Stelle der natürlichen Lebenswelt des Menschen treten aber künstliche, hochtechnologische Lebenserhaltungssysteme, wie sie mit der Intensivstation gleichzeitig auch auf der Erde entstehen. Zu den Technologien, die einen dauerhaften Aufenthalt zum Beispiel auf einer Raumstation ermöglichen, zählt neben der Regelung von Temperatur und Kabinendruck, Nahrungsversorgung sowie Abfall- und Exkrementenbeseitigung in erster Linie das Luftmanagement (BUNKER). Die Atmung des Menschen geschieht hier in absoluter Abhängigkeit von der Technik. So wird beispielsweise die Sauerstoffversorgung während des Schlafs durch künstliche Luftumwälzung im Gesichtsbereich garantiert (Ujica 2001, 75). Der Raumstation und dem Projekt Raumfahrt insgesamt liegt damit ein technischer Konstruktivismus zugrunde, der ein hochtechnologisches, geschlossenes System in eine Nicht-Lebenswelt implantiert. Allerdings sind Raumstationen bislang auf Nachschub und Versorgung von der Erde angewiesen. Trotz der Nabelschnur, die als Verbindung zum Mutterschiff Erde weiterhin besteht, wird mit dem langfristigen Aufenthalt im All das den Menschen bestimmende In-der-Welt-Sein problematisch, zumal sich dieses in erster Linie durch ein Mit-Sein mit anderen Menschen auszeichnet. Das Leben auf einer Raumstation reduziert nicht nur die Möglichkeiten sozialer Interaktion auf die fast automatisierten Handlungsabläufe zwischen wenigen Besatzungsmitgliedern; es bedeutet auch, vom irdischen Geschehen ausgeschlossen zu sein. Wenn Roland Barthes die phantastischen Reisen Jules Vernes als »Erforschung des Abgeschlossenseins« beschrieben und in diesem Zusammenhang die »Geste der Einschließung« als charakteristisches Merkmal für die Raumgefährte von Jules Verne positiv – nämlich als »Wohnen« und »Geborgenheit« – gewertet hat (Barthes 1964, 39), reflektiert sich darin auch immer schon ein Moment des Ausschlusses und des Ausgeschlossenseins (APPARTEMENT). Nirgends ist diese »Dialektik des Draußen und Drinnen« (Bachelard 2003) deutlicher zutage getreten als in den Ereignissen, die das Material für den Dokumentarfilm Out of the Present von Andrei Ujica lieferten: Er handelt von der Raummission des sowjetischen Kosmonauten Sergei Krikalev, der im Mai 1991 zur Raumstation MIR – »dieser Apotheose der Oktoberrevolution« (Ujica 2001, 79) – aufbrach. Während seines Aufenthalts im All ereignete sich der Augustputsch in Moskau. Als Krikalev im März 1992, sechs Monate später als geplant, auf die Erde zurückkehrte, war die Sowjetunion zerbrochen und gehörte der Vergangenheit an (Ditchev 1993, 44). Der stationäre Aufenthalt im Weltraum bedeutet damit immer auch eine temporäre Isolation und das Ausgeschlossensein aus einer sozialen, politischen und kulturellen Um- und Mitwelt. Die von Barthes hervorgehobene »Geste der Einschließung« stellt indessen als absolutes Ausgeliefertsein an technische Systemzusammenhänge gerade die Gefahr der Raumfahrt dar. Unfälle und Katastrophen haben ihre Entwicklung seit den Anfängen begleitet. Von der Apollo-1-Kapsel, in der am 27. Januar 1967 während einer Startsimulation auf der Erde drei amerikanische Astronauten bei einem Brand ums Lebens kamen, bis zur Raumfähre Columbia, in der vier Besatzungsmitglieder
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im Februar 2003 beim Wiedereintritt in die Atmosphäre verglühten, bezeugen die Technikkatastrophen der Raumfahrtgeschichte die Grenzen technischer Leistungsfähigkeit und das Scheitern menschlicher Naturbeherrschung. Nicht zufällig ist die Metapher des Schiffbruchs eine Daseinsmetapher für die menschliche Existenz. Wie schon die Seefahrt birgt zumal die Raumfahrt nicht nur ein gefährliches, sondern ein blasphemisches Moment, indem sie gegen das Gesetz verstößt, das die Institutionen des menschlichen Lebens begründet und garantiert (Blumenberg 1979). Davon weiß schon der Mythos zu berichten: Phaeton ist die tragische Figur, die sich zum Flug in kosmische Höhen aufschwingt und damit den mythischen Prototypen des Kosmonauten darstellt. Angetrieben wird er von dem hybriden Begehren, den Sonnenwagen zu lenken und das Werk seines göttlichen Vaters Helios zu verrichten: die Natur zu regieren – ein Unternehmen, das in Tod und Zerstörung der Natur umschlagen muss. Im Mythos ist es das Klagen der brennenden Mutter Erde, die Jupiter dazu bewegt, dem größenwahnsinnigen Unternehmen Phaetons ein Ende zu setzen und ihn vom Himmel zu schießen, um den Weltenbrand abzuwenden. Seit den Anfängen der Raumfahrt stellt die Beherrschung des Feuers – die Kontrolle der Explosion, die die Antriebsenergie für den Flugkörper liefert – eine der größten Herausforderungen an die menschliche Technik dar. Ihre Entwicklung entzündet sich ihrerseits am »ewig innern Flammenwurf des Herzens, der zum Allerhöchsten treibt«, wie Goethe das Begehren des mythischen Phaeton beschrieb. Dessen Grenzüberschreitung bildet den Prototypen für die experimentelle Anthropologie der technischen Moderne. Dieses Projekt weiter voranzutreiben, verkündet das auf der Webpage der NASA erscheinende Programm: »Improve life here – extend life to there – find life beyond.«
Literatur Bachelard, Gaston (2003): Poetik des Raumes (1957), Frankfurt. Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags (1957), Frankfurt. Benjamin, Walter (1977): Erfahrung und Armut, in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften I, Frankfurt, 291-297. Blumenberg, Hans (1979): Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigmen einer Daseinsmetapher, Frankfurt. Ditchev, Ivaylo (1993): Über Raketen, Unsterblichkeit und den Kommunismus, in: Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 11, 33-34, 43-49. Dornberger, Walter (1981): Peenemünde. Die Geschichte der V-Waffen, Esslingen. Eisfeld, Rainer (1996): Mondsüchtig. Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei, Reinbek bei Hamburg. Foucault, Michel (1990): Andere Räume (1967), in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmen heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, 34-46. Ingold, Felix Philipp (1978): Literatur und Aviatik. Europäische Flugdichtung 1909-1927, Frankfurt. König, Wolfgang (Hg.) (1992): Propyläen Technikgeschichte, Bd. 5: Energiewirtschaft, Automatisierung, Information, Berlin.
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Vernetzen: Orte der Steuerung
In vielen Gegenständen des Alltags wie dem Wasserhahn oder dem Radio werden verborgene Infrastrukturen des modernen Lebens sichtbar: Verteilerstellen speisen unterirdische Leitungen und Kanäle, entrückte Spezialanlagen senden immaterielle Funksignale. Ressourcen, Güter und Informationen zirkulieren in Netzwerken, die mit Hilfe steuernder Knotenpunkte große Gruppen und ganze Gesellschaften versorgen, verbinden und lenken. Rationalisierung und technische Entwicklung haben ebenso leistungsfähige wie störungsanfällige Apparate entstehen lassen, die bisweilen bedrohlich wirken, weil sie schwer zu durchschauen sind. Allerdings haben einige Schnittstellen dieser Netze im imaginären Haushalt der Moderne einen besonderen Platz. An ihnen wird die Ambivalenz von Leistungsfähigkeit, Abhängigkeit und Geheimnis greifbar. Die ZEITUNGSREDAKTION ist wie der Bahnhof und das Laboratorium ein Erbe des optimistischen 19. Jahrhunderts. Pressefreiheit war eine politische Forderung: Jedermann Informationen zugänglich zu machen und sich im Austausch mit anderen eine Meinung bilden zu können, galt als Voraussetzung selbst bestimmter Partizipation. Als Ausbreitung und Vervielfältigung der Presse das massenmediale Zeitalter einläuteten, war die Zeitungsredaktion das Symbol einer demokratischen Sicherung und Verbreitung von Informationen. Zugleich präsentiert sie Wirklichkeit selektiv und »macht« Nachrichten nach eigenen Marktgesetzen. Sie ist auf Nachrichtenagenturen angewiesen und prägt unser Bild der Welt im Verbund mit den Sendezentralen in Hörfunk und Fernsehen. Wie sie Nachrichten auswählen, wird nur selten transparent, obwohl die Redaktionen eine ausgeprägte öffentliche Selbstdarstellung pflegen. Dabei greifen sie auf die Aura technischer Apparate zurück, die im Wahrzeichen des Funkturms oder dem Mythos der Rundfunkstationen Züge religiöser Verehrung angenommen hat. Anders als bei den Massenmedien im herkömmlichen Sinn werden in der TELEFONZENTRALE Netzwerkteilnehmer lediglich punktuell miteinander verbunden. Erst mit ihrer Technologie verbreitete sich das Telefon am Beginn des 20. Jahrhunderts als ein Ort der Nähe, der räumliche Distanz überbrückt. Durch die Automatisierung der Schaltverbindungen ist die Telefonzentrale inzwischen mehr Auskunfts- als Vermittlungsstelle; immer mehr kommerzielle Anbieter nutzen zudem das Telefonnetz als Markt. Wie anfänglich die Telefonistin bei den Gesprächen mithören konnte, so schalten sich Geheimdienste und verdeckt arbeitende Agentu-
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ren in Fernsprechsysteme ein, um Informationen zu erhalten. Auf der anderen Seite verlässt sich die moderne Gesellschaft auf telefonisch gesteuerte Notfallnetze in Bereitschaftsräumen von Krankenhäusern oder Einsatzzentralen von Feuerwehr und Polizei. Vermitteln soll auch das ARBEITSAMT; die Chancen, die es bereithält, sind jedoch stark vom Steuerungsinteresse des Wohlfahrtsstaats bestimmt. In dessen Auftrag kategorisieren die Beschäftigten ihre Klienten. Dieser bürokratischen Entindividualisierung entspricht eine Raumorganisation, welche die Bewegungen der Arbeitslosen im Amt hochgradig reguliert. Im Arbeitsamt wird mit der kontrollierten Verteilung begrenzter Mittel soziale Identität hergestellt, vergleichbar dem Einwohnermeldeamt oder der transitorischen Situation an der Grenzstation. Staatliche Bürokratien stützen sich auf Informationsspeicher und lagern die Ergebnisse ihres Wirkens in Archiven ab. Diese zeigen sich als Orte der Erweiterung, wenn Unbekanntes oder Geheimes zutage tritt, aber ebenso können sie als Orte der Herrschaft für ungefragte Einflussnahmen und politische Interessen instrumentalisiert werden. Von der PARTEIZENTRALE aus wird politische Macht offen angestrebt, bisweilen mit verdeckten Mitteln. Ihre partikularen Zwecke können sich in der totalitären Einparteienherrschaft auf die ganze Gesellschaft ausweiten. Die repräsentativen, miteinander konkurrierenden Zentralgebäude, in denen Mitglieder und Organisationsapparat verwaltet und vernetzt werden, verkörpern ähnliche Visionen: Vom Hinterzimmer aus und durch die Nahkommunikation der Parteifunktionäre gesteuert, sollen politische Kollektive im Sinne der Parteilinie mobilisiert werden. Wenn Partei- und Wahlvolk diesen Erwartungen nicht entsprechen, kann die Manipulationskompetenz von Werbeagenturen bemüht werden. Diese tun offensiv, was in Zeitungsredaktionen unausgesprochen geschehen mag, indem sie ausschließlich gute Nachrichten über ihre Auftraggeber verbreiten lassen. Während Parteien und andere Werbekunden in die Öffentlichkeit drängen, gerät der AGRARBETRIEB vor allem dann in den Blick, wenn Nahrungsmittel knapp zu werden drohen oder Gesundheitsgefahren zum Thema werden. Er versorgt die urbane Marktgesellschaft mit Gütern des alltäglichen Bedarfs, deren Herkunft über Markenzeichen zwar erkennbar ist, aber weitgehend anonym bleibt. Um in die Supermärkte als Schnittstellen der Grundversorgung zu gelangen, kreuzen die Produkte des Agrarbetriebs die Verkehrswege ihrer Nutzer in Güterzügen und Lastkraftwagen. Trotzdem wird der Agrarbetrieb so wenig wahrgenommen wie andere Orte in den Kreisläufen von Ver- und Entsorgung, beispielsweise der Großmarkt, das Elektrizitätswerk oder die Kläranlage.
Die Zeitungsredaktion Frank Bösch I. Die Redaktionen des Ullstein-Verlags, Berlin 12.30 Uhr, um 1909 Die Größe des Gebäudes wirkt einschüchternd. Die fünfstöckige, nüchtern und gerade aufstrebende Fassade des Ullstein-Verlags zieht sich endlose 150 Meter hin. Dahinter verschanzen sich auf über 10.000 Quadratmetern weitere Gebäudekomplexe, die der Verlag seit dem Neubau 1902 aufkaufte, um so seine Grundfläche schlagartig zu versechsfachen (de Mendelssohn 1982, 191f.). Vom verspielten Fassadenschmuck des Vorgängerhauses ist beim Neubau nichts übrig geblieben. Vorn, in der belebten Kochstraße mitten im Herzen von Berlin, rasen Zeitungsjungen zu Fuß und auf Fahrrädern, auf Motorrädern und Lieferwagen. Sie tragen hektisch die BZ am Mittag aus dem Gebäude, die sich rühmt, die »schnellste Zeitung der Welt« zu sein. Immerhin ist sie Deutschlands erstes Boulevardblatt und bringt um halb eins schon die Mittagsdotierungen der Berliner Börse. Ihr Tempo ist ihr Erfolgskonzept und prägt daher auch die Aura des gesamten Areals.
4. Redaktion der Berliner Illustrirten Zeitung, um 1900 Auf der Straße befinden sich zahlreiche Menschen, die als Erste das Blatt kaufen wollen, um sofort auf die Kleinanzeigen antworten zu können. Beim Eingang in das Vorderhaus, wo die Rotationsmaschinen aus den hinteren Gebäuden zu hören sind, treffen Journalisten von unterschiedlichen Ullstein-Blättern aufeinander, da neben der BZ etwa auch die Berliner Morgenpost und die Berliner Illustrirte Zeitung hier ihre Redaktionen haben. Knapp 100 Redakteure arbeiten in dem Gebäude – fast dreimal so viele wie sieben Jahre zuvor (Stöber 2000, 162). Denn wie bei anderen Großver-
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lagen haben die Ullstein-Blätter im Zeitungsboom der Jahrhundertwende schlagartig eine Massenauflage erreicht, die zur rasanten Expansion der Gebäude führte. Ihre Berliner Morgenpost ist mit rund 400.000 Exemplaren die führende Tageszeitung, ihre Berliner Illustrirte mit rund einer Million das auflagenstärkste deutsche Wochenblatt. Auf dem Weg zur Redaktion begrüßen die Journalisten regelmäßig Kollegen von der Konkurrenz. Denn um 1900 haben sich auch andere Großverlage wie Mosse und Scherl in der Nachbarschaft, im neuen Berliner Zeitungsviertel, repräsentative Gebäudekomplexe errichtet. An den Eingängen treffen die Redakteure auch auf die Leser der Ullstein-Blätter. Sie besuchen nicht nur die Anzeigenannahme, sondern auch die Sprechstunden der Redaktionen, die ihre Neuigkeiten notieren und eine kostenlose Rechtsberatung für Abonnenten anbieten. In den vorderen Räumen befinden sich zahlreiche Großraumbüros: Männer, die an Schreibtischen handschriftlich die Aufträge entgegennehmen, Räume mit Frauen, die Schreibmaschinen bearbeiten, und Säle mit langen Tischen, an denen Korrektoren nach Satzfehlern suchen oder Graphiker Bilder bearbeiten. Die Redaktionsräume selbst wirken chaotisch. Die zeitgenössischen Fotografien ihrer Zimmer zeigen vor allem die geballten Insignien der modernen Kommunikation. Telefone, Telegramme, überfüllte Postfächer, Bücherregale, Fotos und Zeitungsstapel umrahmen die Journalisten. Bereits um 1900 ist die produktive Unordnung Kennzeichen der Redaktion. Im Unterschied zur Selbstrepräsentation der staatlichen Verwaltung wurden die Schreibtische mit einer Überfülle von gestapelten Papieren abgebildet, aus denen nicht selten Tassen oder volle Aschenbecher herausragen. Damit repräsentiert die Redaktion wegweisend jene Überlast an Arbeit, die in der Wissensgesellschaft zugleich kreativ und standardisiert unter Termindruck bewältigt werden soll. Die Journalisten selbst zeigen sich auf den frühen Fotos in legerer, aber bewegter Haltung. Sie rauchen, vermeiden den Blick zur Kamera und demonstrieren unermüdliche Tätigkeit. Damit verkörpern sie das Bild des »rasenden Reporters«, das vor allem über Egon Erwin Kischs Selbstdarstellung etwas später popularisiert wurde (Kisch 1930). Auch die Wände der Büros unterscheiden sich von Ämtern oder Unternehmen: Statt repräsentativer Bilder hängen hier Zettel, Kalender und vor allem Plakate, die für die Zeitungsprodukte aus dem eigenen Hause werben. Zudem posieren die Journalisten auf den Fotos nicht bei einsamer Schreibtischarbeit, sondern in diskutierender Haltung. Damit markieren sie, dass die kollektive Auswahl, Gestaltung und Kontrolle von Nachrichten das eigentliche Geschäft der Redaktion ist.
II. Ort und soziale Praxis in historischer Perspektive Der Begriff Redaktion umschrieb bis 1900 weniger einen Ort als die Praxis und die Gruppe der Redakteure, die ein »Druckwerk« leiten (so noch der Brockhaus 1898). Seit der Jahrhundertwende verweist »Redaktion« gleichzeitig auf den Vorgang des Redigierens von Nachrichten, auf einen materiellen Raum, in dem Medieninhalte
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bearbeitet werden, und auf eine Personengruppe, die als Redakteure Medieninhalte beschaffen, bearbeiten und koordinieren. Ort und soziale Praxis sind damit bereits begrifflich denkbar eng verbunden und bedingen sich gegenseitig. Bis ins späte 19. Jahrhundert dominierten die »Verlegerzeitungen«, bei denen Verleger, Redaktion und Schreibkraft in einer Person zusammenfielen. Darüber hinaus schrieben und redigierten Professoren, Lehrer, Pfarrer oder Schriftsteller nebenberuflich Artikel oder übersetzten diese aus ausländischen Zeitungen (Requate 1995, 119). Eine frühzeitig ausgebildete Redaktion entstand in Deutschland vor allem bei der Augsburger Allgemeinen Zeitung, die als eines der bestinformierten Blätter galt. Sie hatte ab den 1830er Jahren bereits vier Redakteure (Blumenauer 2000). Die Ein-Mann-Redaktion des 19. Jahrhunderts organisierte dagegen den kommunikativen Austausch nur virtuell. Unterschiedliche Meldungen und Meinungen, die per Post oder aus anderen Druckschriften beim Redakteur einliefen, wurden zusammengeklebt. »Kleistertopf und Schere« wurden daher auch in der Selbstbeobachtung der Journalisten und der frühen Zeitungswissenschaft zum Signum der prototypischen Redaktion des 19. Jahrhunderts und der kleinen Lokalblätter des 20. Jahrhunderts (Groth 1928, 383). Ausdifferenzierte Redaktionen kamen zunächst in den USA und Großbritannien auf, dann in Frankreich (Bollinger 2002). Erst mit den Generalanzeigern und insbesondere mit den neuen Berliner Massenblättern der 1880er Jahre entstand die Redaktion auch in Deutschland. Die Redaktion des Berliner Lokal-Anzeigers, die 1899 bereits 46 Journalisten zählte, war dabei wegweisend (Stöber 1994). Kulturelle Transfers aus den Metropolen der westlichen Nachbarländer beschleunigten diesen Prozess. Die Chefredakteure der ersten bedeutenden Berliner Redaktionen sammelten ihre Erfahrungen in New York, London oder Paris. Zugleich schufen Vorstellungen von ausländischen Metropolen Leitbilder. Die Redaktion war ein Kind der nun entstehenden Großstädte, Deutschland in beidem Nachzügler. Die zahllosen Zeitungen in den kleineren Gemeinden beschäftigten bis zum Zweiten Weltkrieg nur einzelne Redakteure, die Meldungen und zunehmend auch Matern, vorgefertigte Druckplatten, übernahmen. Die Angehörigen der ersten Redaktionen waren vornehmlich männliche Akademiker aus bildungsbürgerlichen Familien, zeichneten sich aber durch eine vergleichsweise große soziale Offenheit aus. Immerhin waren bis in die Weimarer Republik bis zu einem Drittel der Redakteure in großen Verlagshäusern jüdischen Glaubens (Requate 1995, 143f.; Retallack 1993, 141, 183). Im Unterschied zu anderen Professionen öffneten sich die Redaktionen auch relativ früh für Frauen (Ichenhäuser 1905). Zudem bildeten Redaktionen zusammen mit den entstehenden Massenorganisationen und -parteien Kulminationspunkte von Nationalismus, Liberalismus oder Sozialismus. Der materielle Ort der Redaktion war das Stadtzentrum. Redaktionen etablierten sich im Umfeld des Rathauses, des Markts und der Regierung. Diese zentrale Lage war nicht nur nötig, um schnell Informationen zu übermitteln, sondern auch, um die Zeitung schnell an möglichst viele Leser auszuliefern. Vor allem in Deutschland
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ballten sich wegen des kaiserzeitlichen Pressegesetzes, das der Post zunächst ein Monopol bei der Auslieferung gab, Zeitungsredaktionen in der Nähe der großen Postämter. Wie beim berühmten Berliner »Zeitungsviertel« in der Kochstraße entstanden dadurch mehrere Verlagshäuser dicht beieinander. Gleiches gilt für England in der Londoner Fleet Street oder für den Civic Center District in New York. Diese räumliche Verdichtung vernetzte die Kommunikation unter den Journalisten und ließ die Presse als eine zusammenhängende neue Macht wahrnehmen. Die Redaktionen waren frühzeitig auch ein Ort der intensiven medialen Selbstrepräsentation. Die Außenaufnahmen der Verlagshäuser unterstrichen wie die Innenbilder eine produktiv-chaotische Dynamik. Ullstein montierte zusätzliche AUTOS auf das Foto des neuen Verlagshauses, um den Konnex zur großstädtischen Moderne zu verstärken. Bereits der Eingangsbereich betonte mitunter architektonisch die herausgehobene Stellung des Verlegers. Das Verlegerzimmer von Rudolf Mosse wurde beispielsweise schon von außen durch ein Balkongitter mit vergoldetem Bronzerelief markiert. Im Extremfall konnte die architektonische Untermauerung des Verlegers so weit gehen wie bei August Scherl, der sich neben dem Verlagseingang einen Privateingang baute, um den Kontakt zu den Angestellten zu meiden. Gepolsterte Türen hinter dem Vorzimmer unterstrichen die Abschottung seines Zimmers (de Mendelssohn 1982, 182). Diese Herausstellung entsprach der exzeptionellen Stellung, die einige Großverleger wie Pulitzer, Northcliffe oder Ullstein um 1900 in der Öffentlichkeit erreichten. Jedes Land wies nun eine Hand voll Pressezaren auf, die auch als Lenker von Politik und Öffentlichkeit gesehen wurden. Die Räume der Redaktion waren um 1900 nur ein Teil des Verlagshauses. Die ganze Zeitung entstand in einem Gebäudekomplex, um Zeit zu sparen. Hinter der repräsentativen Vorderfront dieser riesigen Verlagsareale mit dem breiten Eingangsbereich befanden sich, für den Besucher versteckt, die Druckereien. Der Redaktionsbereich im engeren Sinne war zunächst ein langer Flur, von dem viele kleine Zimmer abgingen. Sie stehen für die Ausdifferenzierung von Wissensfeldern, da die Büros sich um 1900 zunehmend nach Ressorts aufteilten. Im Flur selbst herrschte fortwährende Bewegung. Gespräche fanden vor allem zwischen den Ressorts statt, während die alltägliche Kommunikation über die Ressortgrenzen hinweg selten blieb. Das durch ein Vorzimmer herausgehobene Büro des Chefredakteurs bildete einen Knotenpunkt. Zu ihm wurden einzelne Redakteure zitiert, um ihre Artikel zu besprechen. Angesichts der immer vielfältigeren Redaktion wuchs die Bedeutung des Chefredakteurs, der die gemeinsame Linie des Blattes oft mit großem Nachdruck vertrat. Die Unterwürfigkeit der Redakteure gegenüber dieser Figur und die Angst vor dem Betreten seines Zimmers ist in Memoiren und autobiographisch angehauchten Romanen popularisiert worden (Kracauer 1995). Die Anordnung der Redakteurszimmer wies bereits um 1900 nationale Unterschiede auf. In Deutschland besaßen die Redakteure Zimmer, die nach fachlichen Ressorts sortiert waren, da jeder Journalist Recherche, Schreiben und Redigieren gleichzeitig übernahm. Dagegen dominierte im angelsächsischen Raum frühzeitig
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eine Trennung nach Arbeitsschritten, die sich in einer entsprechenden Raumanordnung niederschlug (Esser 1998). In der Öffentlichkeit und insbesondere bei konservativen Politikern wurde vielfach angenommen und befürchtet, dass die Redaktionen umfangreiche Karteien, Archive und Korrespondenzen besaßen. Doch fanden sich hier zunächst nur bescheidene und schlecht sortierte Mittel der Wissensspeicherung. Bemerkenswerter war um 1900 die Ausstattung mit Apparaten der elektronischen Kommunikationsübermittlung, insbesondere der eigene telegraphische Anschluss und die Telefone, mit denen die Redaktionen schneller als viele Politiker Informationen erhalten konnten. Als Kollektiv begegnete sich die Redaktion in den Zimmern für die Redaktionsund Ressortkonferenzen. Diese Sitzungen entsprachen in gewisser Weise politischen Gremien. Die runde oder hufeisenförmige Tischordnung bildete das kollegiale Prinzip ab, das zugleich durch die Ausrichtung auf den Chefredakteur gebrochen wurde. Als Inhaber von »Ressorts« – hier ähnelten die Namen den Ministerien – vertraten sie gesellschaftliche Felder wie Politik, Wirtschaft oder Kultur. Nur wenige Redaktionen hatten Anfang des 20. Jahrhunderts tatsächlich eine kollegiale Verfassung – wie etwa die Frankfurter Zeitung. Die tägliche Redaktionssitzung war im frühen 20. Jahrhundert ebenfalls noch nicht überall üblich. Das auflagenstärkste Blatt des katholischen Milieus, die Kölnische Volkszeitung, berief selbst in den zwanziger Jahren nur eine wöchentliche Sitzung ein, um die Positionen zu den aktuellen Ereignissen zu debattieren (Groth 1928, 399). Besonders die deutschen Redaktionen sahen sich dennoch in hohem Maße als ein Kollektiv, das mit einer Stimme zu sprechen hatte. Da namentlich gekennzeichnete Artikel unüblich waren, bildete die Zeitung generell eine stärkere Einheit, die mit der politischen Haltung des Herausgebers verbunden war. Außendruck infolge staatlicher Verfolgung und kollektiver Angriffe der Konkurrenzpresse förderte diese Vorstellung ebenso wie die hohe parteipolitische Bindung der deutschen Presse. In der Selbststilisierung der Redaktionen standen die Kommunikation zwischen den Redakteuren und das Gespräch mit Informanten weitaus mehr im Vordergrund als die alltägliche Arbeit wie das Redigieren von Manuskripten und die Durchsicht von Agenturmeldungen. Seit 1900 nahm nicht nur die Zahl der Redakteure zu, ihre Ressortbildung war auch wegweisend für die Auffächerung von Wissensfeldern. Sie förderten das Expertenwissen in Bereichen wie Sport, Landwirtschaft oder Reisen lange vor einer akademischen Trennung dieser Bereiche. Mit den Arbeits- und Themenfeldern der Redakteure entwickelten sich auch Kriterien für Wert, Gruppierung und Anordnung von Nachrichten. An die Stelle der bis dahin üblichen fortlaufenden Meldungen, die allenfalls geographisch sortiert waren, trat eine hierarchisierte Platzierung. Die um 1900 entstehenden großen Redaktionen zeichneten sich durch eine demonstrative Öffentlichkeit aus. Der Zeitungskopf ermunterte die Leser, sich schriftlich, telefonisch oder persönlich an die Redaktion zu wenden. Hinweise auf die Sprechzeiten unterstrichen dies. Die Besucher von außen übermittelten nicht nur Neuigkeiten, sondern wollten selbst zum Thema eines Medienberichtes werden. So
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klagte die Berliner Illustrirte Zeitung am 22. März 1903 über hartnäckige Besucher, die als »Erfinder« oder Künstler unvermittelt Tricks vorführten. Zugleich war die Redaktion wie das LABORATORIUM ein abgeschlossener, arkaner Ort der Vertraulichkeit. Zum Schutz vor der Strafverfolgung einzelner Journalisten war das Wissen um die Autorschaft ein wichtiges Geheimnis, das Redakteure auch vor Gericht immer wieder verteidigten. Gleiches galt für den Schutz von Informanten. Insbesondere das Redaktionsarchiv wurde dabei zu einem Ort, der in der staatlichen Imagination schnell als Bedrohung gesehen wurde und staatsgefährdende Dossiers bündelte – von der Sozialistenverfolgung unter Bismarck bis hin zur Spiegel-Affäre 1962. Bis zum Ersten Weltkrieg hatte die Redaktion somit zahlreiche Charakteristika ausgebildet, die trotz aller technischen Innovationen bis heute ihre materielle Struktur, ihre soziale Praxis und ihre Repräsentation prägen. Dennoch war sie nicht nur Beobachter und Akteur im Zeitalter der Extreme. Vielmehr schlugen sich die dramatischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts besonders deutlich in den Räumen der Redaktionen nieder. Bei allen Systemwechseln und politischen Verwerfungen war sie ein wichtiges Kampfgebiet. Der Erste Weltkrieg bedeutete für alle Redaktionen Westeuropas eine starke Begrenzung ihrer Arbeitsweise. Er schnitt von internationalen Nachrichten ab, die Zensur blockierte den freien Diskurs und die Anzeigen- und Papierverknappung bremsten den Zeitungsboom zusätzlich, der schon einige Jahre vor dem Krieg an seine Grenzen gestoßen war. Der materielle Ort der Redaktion geriet nach Kriegsende in Gefahr. Die Arbeiterräte wussten um die kommunikative Schlüsselstellung der großen Verlage. Gerade im Berliner Zeitungsviertel entflammten Anfang 1919 die entscheidenden Revolutionskämpfe, an die die Einschusslöcher in den Gebäuden noch lange erinnerten. Traumatisch war für viele Redakteure, dass Kommunisten ihre Redaktionen besetzten und in ihren Räumen einige Tage marxistische Blätter wie die Rote Fahne produzierten. Diese Erfahrung prägte ihre politische Denkhaltung und mag vielleicht auch erklären, dass einige traditionell liberale oder konservative Redaktionen um 1930 weiter nach rechts rückten. Nachdem der Erste Weltkrieg für den Niedergang vieler kleiner Redaktionen gesorgt hatte, kam es bis 1930 zu einer erneuten Expansionsphase. Die Zahl der Zeitungen stieg zwar wieder auf den Vorkriegsstand an. Allerdings sank die Zahl der selbstständigen Redaktionen, da zumindest der Politikteil durch den Ausbau des Maternsystems zunehmend zentral geliefert wurde. Dieser Konzentrationsprozess, der auch die wirtschaftliche Organisation der Zeitungen mit einschloss, schlug sich nicht nur auf der Rechten im berühmten »System Hugenberg« nieder (Holzbach 1981), sondern auch auf der Linken, sei es in der Gründung der sozialdemokratischen Konzentration AG oder dem Erfolg des kommunistischen MünzenbergVerlags. Mit Ausnahme von rund 200 größeren Zeitungen konzentrierte sich damit die redaktionelle Arbeit der meisten Blätter auf die Ausgestaltung lokaler Belange. Bei den Verlagen, die von der Pressekonzentration profitierten, wurden hingegen die Verlagshäuser nochmals aus- und umgebaut und Redaktionen von neu gegründeten Blättern zogen in die erweiterten Bauten. Dadurch war zunehmend weniger
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die Redaktion das Kollektiv, zu dem ein Journalist sich zugehörig fühlte, sondern das verlagspolitische Verbundsystem jener virtuelle Ort, in dem er sich bewegte und der den weltanschaulichen Rahmen vorgab. Schon vor dem Nationalsozialismus sorgten um 1930 die Wirtschaftskrise und der Wechsel von Eigentumsverhältnissen in verschiedenen Redaktionen für erneute Einschnitte. Der Generationswechsel um 1930 veränderte ebenfalls vielfach das Klima und sorgte bereits vor der »Machtergreifung« für die Absetzung zahlreicher linksliberaler Redakteure (Frei/Schmitz 1999, 41f.). Grundlegende Änderungen erfuhr die Struktur der Redaktion erwartungsgemäß im Nationalsozialismus. Neben den bekannten rassischen und politischen Verfolgungen und Enteignungen lassen sich in mehrfacher Hinsicht Verstaatlichungsprozesse ausmachen. Das Schriftleitergesetz von Oktober 1933 entband die Redakteure vom Weisungsrecht ihrer Verleger zugunsten des Staates und verlangte die staatliche Zulassung zu dem bisher freien Beruf. Dies bescherte Entlassungen und eine hohe personelle Fluktuation. Der Aufkauf und die Schließung von Zeitungen überführten zahlreiche Redaktionen in den quasistaatlichen Eher-Verlag der NSDAP. Dies mündete, spätestens durch die großen »Stillegungsaktionen« ab 1941, in die Schließung der meisten Redaktionen. Durch ihre zentrale Lage in den Großstädten wurde im Zweiten Weltkrieg auch der materielle Ort der wichtigen Redaktionen besonders häufig zerstört. Bei Ullstein überlebten nur einige Druckereimaschinen die Bombenexplosionen; bei Mosse und Scherl standen nur noch die Fassaden. Die alliierte Medienpolitik sorgte nach 1945 für eine grundsätzliche Neustrukturierung der Redaktionen. Die geringsten Veränderungen fanden in der Britischen Zone statt, wo die Besatzer vielfach die parteinahen Redaktionen wieder aufleben ließen, so dass insbesondere sozialdemokratische und katholische Verleger an alte Orte und Traditionen anknüpfen konnten. Die Amerikaner schufen in ihrer Zone neuartig strukturierte Redaktionen, in denen Redakteure unterschiedlicher politischer Couleur für einen neuen Pluralismus innerhalb einer Zeitung sorgen sollten (Koszyk 1999). Nun saßen zwangsweise und konfliktträchtig Redakteure in einem Raum, die aus bislang völlig getrennten (politischen) Lebenswelten stammten. In der SBZ und der DDR wurde die Pressekonzentration verfestigt, wodurch Großredaktionen dominierten (Holzweißig 2002). Die neuen Bezeichnungen »Kollegium« und »Redaktionskollektiv« sollten das geschlossene Handeln hervorheben. In der Bezirksredaktion wurde in den fünfziger Jahren vom Chefredakteur für einen Monat ein Arbeitsplan entwickelt, über den das »Kollegium« entschied (Bönisch 1955). SED und Redaktion wurden eng miteinander verzahnt. Ressorts und Kollegium entwickelten sich zu einem Berichtssystem, das in beide Richtungen auch Informationen über die Redakteure lieferte. Im Westen Deutschlands wurden die Gebäude der »Alt-Verleger« bis zur Aufhebung des Lizenzzwangs 1949 vielfach nicht journalistisch genutzt. Das galt vor allem für die Redaktionsräume der Lokalzeitungen. Erst in den frühen fünfziger Jahren blühten sie kurzzeitig in der Provinz auf, um dann in der Phase der Pressekonzentration zwischen 1955 und 1976 vielfach wieder zu verschwinden oder er-
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neut einen anderen Zeitungsmantel zu übernehmen. Die akademische und parlamentarische Beobachtung der Redaktion führte in den sechziger Jahren zu einer neuen statistischen Wahrnehmung, die mit dem Begriff »redaktionelle Einheit« deren Selbstständigkeit vermaß. Gerade mit Blick auf die Weimarer Republik sah man in der Abnahme der selbstständigen Redaktionen eine Gefahr für die Demokratie (Melchert 2003). Zugleich wurde das große Verlagshaus der Metropole, das markant herausragte, seit den sechziger Jahren wieder zum Symbol des Selbstbewusstseins, der Macht und der Modernität der Redaktionen. Statt der langen Fasade dominierte nun das HOCHHAUS als Zeichen der Moderne. Den wohl wichtigsten Akzent setzte Axel Springer, der 1957 im alten Berliner Zeitungsviertel das ehemalige Grundstück des Scherl-Verlags kaufte, um direkt an der Mauer ein Hochhaus für Redaktion und Verlagsabteilung zu bauen. Ursprünglich waren 35 Stockwerke geplant, der Untergrund erlaubte jedoch nur 20. Dennoch war das 1966 eingeweihte Haus damals die höchste Berliner Erhebung nach dem Fernsehturm. Auch das Hamburger Hochhaus des Spiegel lag direkt in der Innenstadt. Die soziale Praxis innerhalb der Redaktionen scheint sich bis zu den sechziger Jahren nicht grundlegend geändert zu haben. Sie übertrug sich auf neue Medienredaktionen, die mit dem Radio und dem Fernsehen entstanden. Die Entwicklungen weisen hierbei erstaunliche Parallelen auf. So bestand die Arbeit der wenigen Tagesschau-Redakteure zunächst ebenfalls daraus, aus vorhandenen Berichten mit »Kleister und Schere« ein eigenes Produkt zu entwerfen. Bei den Zeitungsredaktionen veränderte sich die freie Zugänglichkeit des Gebäudes. Das galt insbesondere für das politische Ressort. Wie zeitgenössische Sozialwissenschaftler in teilnehmender Beobachtung feststellten, waren gerade hier in den sechziger Jahren die Arbeitskontakte zu anderen Ressorts, zu Informanten und zu Lesern besonders gering (Rühl 1969). Generell sorgte die massive Verbreitung des Telefons und des Fernschreibers dafür, dass die Räume seltener für Außenrecherchen verlassen werden mussten. Den meisten Außenkontakt wahrte noch die Lokalredaktion.
III. Beschleunigtes Wissen: Die Zeitungsredaktion als Ort der Moderne Die Redaktion ist ein Promotor der Moderne. Wie die Börse oder die TELEFONZENTRALE ist sie ein Ergebnis und ein Knotenpunkt der beschleunigten Kommunikation. Sie lässt sich ebenso als Katalysator der Informations- und Wissensgesellschaft fassen wie als Produkt und Antriebskraft der industrialisierten, technisierten und demokratisierten Konsumgesellschaft. Gerade durch ihre offene Orientierung auf eine große Gruppe von anonymen und heterogenen Kunden steht sie in Beziehungen zu anderen neuen Orten – wie etwa dem WARENHAUS. Ihr Anspruch auf weltanschauliche Lenkung und Kontrolle verbindet sie mit den nun ebenfalls entstehenden PARTEIZENTRALEN. Wie die WAHLKABINE bietet sie eine »verwaltete Partizipation« an, da Medienkonsumenten durch Leserbriefe oder Abokündigun-
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gen zumindest einen indirekten Einfluss auf die politische Arbeit der Redaktion nehmen können. Ihre präzise, streng termingebundene Arbeit unter Zeitdruck korrespondiert durch die Zeitfixierung auch mit Orten der technischen Moderne, die durch das Fließband repräsentiert werden (STAHLWERK). Ihre bürokratische Kategorisierung verweist auf das Amt (ARBEITSAMT) und ihre ausgefeilte Logistik auf technische Großunternehmen wie den AGRARBETRIEB. Wie andere Orte der Medienproduktion und Mediennutzung, vor allem das KINO, sorgt sie für die Vervielfältigung von Wahrnehmungen, die die Erfahrungen der Mediennutzer ändern können. Die Redaktion ist ein neuer Ort, der seine Vorläufer bedeutungsloser machte. Sie bildete in gewisser Weise einen professionalisierten Ersatz für jene Vereinslokale, Logen oder Kaffeehäuser, in denen die frühe bürgerliche Öffentlichkeit politisch-kulturelle Fragen und Schriften diskutierte. Damit stand die moderne Massenpresse nicht allein für das Aufkommen einer kommerzialisierten Medienöffentlichkeit (Habermas 1990, 302), sondern auch für die Entstehung eines neuen Ortes der interpersonalen Kommunikation, der die von Habermas sehr idealtypisch ausgemachten Diskursformen der bürgerlichen Öffentlichkeit tradierte. Ihn kennzeichnete Überbelastung in Gestalt der nachts arbeitenden, sich selbst wie die Polizeiwachen als Wächter stilisierenden Redaktion. Dem entsprach die Selektion der immer wieder fotografisch inszenierten Flut eingehender Meldungen. Sie bildet widersprüchliche Merkmale der Moderne ab: den Glauben, durch rationales Abgleichen von Aussagen Wahrheit und Realität zu ermitteln, das utopisch aufgeladene Ziel, Partei für eine Verbesserung der Gesellschaft zu ergreifen, und den Anspruch, sich an Geschmack und Interessen von Konsumenten und öffentlicher Meinung zu orientieren. Die Zeitungsredaktion wurde zu einer neuen Kontrollinstanz der Moderne. Sie bildete einen institutionellen Ort, in dem die mediale Konstruktion von Wirklichkeit reflektiert wurde. Manuskripte, Konkurrenzprodukte und Inhalte wurden auf ihre Wahrheit geprüft, Sprache daraufhin korrigiert, ob sie sagbar war. Redaktionen polarisierten und emotionalisierten deshalb in der öffentlichen Wahrnehmung: Sie beschworen Faszination, aber auch Angst und Gefahr herauf, zumal sie Demokratisierungsprozesse befördern und unterlaufen konnten.
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Die Telefonzentrale Andreas Killen I. Konzentrierte Kommunikation: Fernsprechvermittlungsamt VI, Berlin, 1900 Das Fernsprechamt VI in der Lützowstraße war die erste echte Telefonzentrale in der deutschen Hauptstadt. Mit 10.000 Teilnehmern die damals größte ihrer Art, verfügte sie über eine hochrationalisierte Anordnung und technische Vorrichtungen, die charakteristisch für alle späteren großstädtischen Telefonzentralen waren. Die Längsseiten des schlauchigen, höhlenartigen Raums säumten Reihen von Schaltbrettern, an denen 80 bis 100 Telefonistinnen mit Kopfhörern saßen. Die Schaltbretter, Wunderwerke der Elektrotechnik, bestanden aus Glühlichtern, Schaltern und Tastaturen mit wabenförmigen Öffnungen. Diese quer und frontal zum Arbeitsplatz angeordneten Klinkenfelder waren durch eine Vielzahl von Kabeln verbunden. Wenn ein aufleuchtendes Licht einen eingehenden Anruf anzeigte, nahm ihn die Telefonistin an, indem sie einen Stöpsel in die Klinke steckte und den Anrufer mit einer Standardformel wie »Hier Amt« oder »Hallo Central« begrüßte. Um den Anruf zu verbinden, steckte sie den Stöpsel am anderen Ende der Leitung im oberen Feld der Schalttafel in eine Klinke, über deren Leitung der gewünschte Gesprächsteilnehmer erreichbar war. Das gesamte System wurde von einer oder mehreren Aufseherinnen überwacht, die an einem der Kopfenden des Raums an eigenen Schaltbrettern saßen. Die Telefonistinnen waren fast ausschließlich junge, ledige Frauen in langen, schwarzen Kleidern mit sorgfältig aufgestecktem Haar. Privatgespräche zwischen Telefonistin und Anrufer waren strengstens untersagt und die Kommunikation unter dem Personal auf ein Minimum begrenzt. Die Anspannung im Raum war geradezu greifbar und führte während der Stoßzeiten gelegentlich zu nervösen Ausbrüchen unter den Telefonistinnen. Um sie zu entlasten, wurden die Pausenräume mit Turngeräten ausgestattet.
II. Vom frühen Schaltbrett zur Automation Das Fernsprechamt in der Lützowstraße stand am Ende einer rapiden Entwicklung von Schaltbrettern. Die erste Telefonvermittlung war 1878 in New Haven in den USA eröffnet worden, zwei Jahre, nachdem Alexander Graham Bell das Telefon erfunden hatte; das Telegrafenamt stand dabei Pate. Als sich das Fernsprechwesen von einer vor allem von Geschäftsleuten genutzten Dienstleistung zu einem System der Massenöffentlichkeit entwickelte, mussten die Ingenieure zunächst die Stauungen beseitigen, die an den Knotenpunkten des rasch wachsenden Leitungsnetzes auftraten. Die ersten Telefonvermittlungen waren chaotische Räume mit einem spaghettiartigen Kabelgewirr und einer primitiven Arbeitsteilung. Je größer das System wurde, desto komplizierter wurde es auch, zwei Teilnehmer zu verbinden.
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Kabelmassen überkreuzten sich auf den Schalttafeln, deren Anzahl, Größe und Komplexität das Personal überforderten. Ein einziger Anruf konnte durch die Hände von bis zu fünf Telefonisten gehen, zu dieser Zeit in der Regel noch Jungen. Sie riefen einander die Wünsche der Anrufer zu und liefen von Schaltbrett zu Schaltbrett, um die Verbindungen herzustellen. Schlechte Verbindungen und Verzögerungen waren chronische Probleme. Atmosphärische Störungen in der Leitung verursachten rätselhafte Geräusche und machten das Gespräch zu einer Nervenprobe. Innerhalb eines Jahrzehnts jedoch wurde dieses primitive Arrangement durch eine Formation abgelöst, die die Telefonzentrale bis zum Beginn der Automation prägen sollte: ausgereifte Vielfachumschalter, die ausschließlich von Frauen bedient wurden. Das Ensemble aus neuer Schalttechnologie und Telefonistin leitete das Zeitalter des Massenfernsprechens ein. Das Hauptproblem war ein nachrichtentechnisches. Die kontinuierliche Expansion des Systems hatte eine Reihe technischer Krisen hervorgerufen, die das neue Kommunikationsmittel zu überwältigen drohten. Der Amerikaner Charles Scribner entwickelte ein Schaltbrett, das die gravierendsten Probleme überwand. Seine neuen Vielfachumschalter automatisierten einige Vorgänge teilweise, während andere vereinfacht und verdichtet wurden. Die Telefonistin konnte nun alle eingehenden Anrufe einer Tastatur mit den entsprechenden vertikalen Klinkenfeldern verbinden, was wertvolle Sekunden sparte. Während das durchschnittliche Pensum in den 1890er Jahren bei zehn Anrufen pro Stunde lag, betrug das Aufkommen für eine New Yorker Telefonistin in den zwanziger Jahren im Schnitt 500 Anrufe in der Stunde. In Berlin nahm die erste Telefonvermittlung mit 50 Teilnehmern bereits 1881 den Betrieb auf, multiple Verbindungssysteme wurden in Deutschland jedoch erst um die Jahrhundertwende eingeführt. Auf der Berliner Gewerbeausstellung von 1896 zeigte die Firma Siemens & Halske ein Fernsprechvermittlungsamt für 10.000 Anschlüsse. Die Reichspost als Betreiberin des deutschen Telefonsystems beauftragte Siemens, ihr neues Fernsprechamt VI in der Lützowstraße damit auszurüsten. Die Inbetriebnahme von Telefonzentralen war eine heikle Angelegenheit. Sie fand nachts statt, um den Betriebsausfall so kurz wie möglich zu halten. Angesichts des »reizbaren Berliner Publikums« und weil das Personal dem neuen System anfangs verständnislos gegenüberstand, war der Vorgang häufig eine »Nervenbelastungsprobe erster Ordnung« (Siemens 1961, 194). Ein typisches Beispiel war die Hysterie, die 1902 während der Einschaltung des damals größten Berliner Amtes IV in der Friedrichstraße auftrat. Die Telefonistinnen waren der neuen Anlage nicht gewachsen, die Anrufer wurden zunächst ungeduldig und dann wütend, was beim Personal schließlich einen Nervenkollaps auslöste. Die Ordnung wurde erst wieder hergestellt, als Telegrafenbeamte hinzukamen, um den Sturm zu beruhigen. Bis zum Nachmittag waren die Telefonistinnen auf ihre Plätze zurückgekehrt und das neue System funktionierte reibungslos (ebenda, 195; Killen 2003, 205). Die neuen Telefonzentralen der späten 1890er Jahre beschrieb ein Zeitgenosse als einen »stillen, spannungsgeladenen Ort«, was im Vergleich mit der Frühzeit des
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Fernsprechwesens sicherlich zutraf (Casson 1910, 155). Was sie an Lärm einbüßten, machten sie freilich an Komplexität wett. Ein ausgewachsenes Schaltbrett in einem modernen »Amt« bestand aus über zwei Millionen Teilen, war von 15.000 winzigen elektrischen Glühbirnen erleuchtet, und das Aderwerk seiner Kabel hatte »eine Gesamtlänge, die von New York bis Berlin gereicht hätte« (ebenda, 142). Die hier herrschende Anspannung war mit Händen zu greifen. Erst die Entstehung der Telefonzentrale, die zur Schaffung weltumspannender Netzwerke führte, machte das Telefon zu einem revolutionären Instrument. Sie riss sowohl räumliche als auch soziale Barrieren ein (Kern 1983, 316). Die Telefonzentrale ermöglichte neue Formen der Alltagskommunikation und war unverzichtbar für die Entwicklung einer neuen Finanzordnung. Das Prinzip der Telefonvermittlung trieb die Entstehung zahlloser neuer Organisationen voran, »weil es eine unbegrenzte Auswahl sozialer Kontakte bot, bei Bedarf sogar zwischen Unbekannten, ohne Zeremoniell, Einführungen oder Empfehlungen« (Cherry 1977, 113). Am deutlichsten zeigte sich die Wirkung der Telefonzentrale in den Großstädten, die nach der Jahrhundertwende beschleunigt wuchsen. Keine andere ihrer Einrichtungen sei »so empfindlich und wirkungsvoll wie eine Telefonvermittlung«, schrieb Casson, der das Schaltbrett als »Gehirn« des telefonischen Nervensystems bezeichnete (Casson 1910, 149). Eine ähnliche Hierarchie herrschte auch zwischen den großstädtischen Telefonzentralen und den Leitungen, die entlegene Regionen versorgten. Das Telefon förderte einen gewaltigen Zentralisierungsprozess, der in der Standardbegrüßung der Telefonistin »Hallo Central« seinen symbolischen Ausdruck fand. Unter anderem brachte es eine Konzentration von Büros in bestimmten Stadtgebieten mit sich (HOCHHAUS) und trug entscheidend zu jener Form der organisierten Verwaltung bei, die eines der – unter anderem von Max Weber beschriebenen – Kennzeichen des 20. Jahrhunderts ist (ARBEITSAMT, PARTEIZENTRALE). Um die Jahrhundertwende erschien das Telefonsystem als virtuelles Ebenbild der Gesellschaft: »Schon das Bell-System war so groß, einem nationalen Nervensystem so ähnlich geworden, dass es seinesgleichen suchte. [...] Wäre das ganze BellSystem an einem Fleck konzentriert, würde es eine Stadt Telephonia von der Größe Baltimores darstellen« und die »Hauptstadt eines Kabelreiches« sein. Die Armee, die hier jeden Morgen zur Arbeit ginge, sei ein »Heer von 110.000 Männern und Mädchen [...], vor allem Mädchen« (Casson 1910, 196ff.). In Telephonia galten außerdem eigene Regeln und Umgangsformen, deren Verletzung bedeutete, als »untauglich für eine telefonierende Gemeinschaft ausgestoßen« zu werden. Weil das Telefonsystem anders als alle vorhergehenden Kommunikationsnetze die menschliche Stimme übertrug, erzeugte es ein nie da gewesenes Maß an Intimität. Das »Wunder des Kabels, zitternd mit elektrisierten Worten, und die Romantik des Schaltbretts, erbebend mit den Geheimnissen einer großen Stadt«, sprachen zudem die poetische Ader an (ebenda, 297). Diese Eigenschaften machten das Telefon zu einer höchst charismatischen Technologie – ein Medium zur Überwindung von Distanz, mit dem sich die vollkommene, augenblickliche Verständigung erreichen
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ließ, die für das harmonische Funktionieren einer großen, komplexen Gesellschaft nötig ist. Doch so wie sie utopische Bilder von Echtzeitkommunikation, Ordnung und Effizienz beflügelte, schuf die Telefonzentrale auch neue Szenarien der Überlastung und des Zusammenbruchs. Paul Virilio zufolge ist der Unfall allen technologischen Systemen inhärent: Mit der Eisenbahn wurde auch die Entgleisung erfunden (FLUGZEUG, STAUDAMM). Auch die Telefonzentrale war – wie das Gehirn, mit dem sie oft verglichen wurde – wiederkehrenden Erschütterungen unterworfen, die das gesamte System in Unordnung zu stürzen drohten. Im Extremfall verselbstständigten sich die Botschaften in den Leitungen und destabilisierten die soziale Ordnung. Stephen Kern weist beispielsweise darauf hin, dass die Kommunikation mit Telefon und Telegraf der Julikrise im Vorfeld des Ersten Weltkriegs ihre eigene Logik und Dynamik aufdrückte (Kern 1983, 271). Das Feldtelefon trug fraglos dazu bei, das rationalisierte Schlachten zu organisieren. Die gesteuerte Vernetzung wurde zur gesteuerten Vernichtung (FRONT). Ebenso wurde die Wall Street, die in ihrer modernen Form ohne das Telefon undenkbar ist, durch das neue Medium beinahe zu Fall gebracht. Panikverkäufe, die den Börsenkrach von 1929 auslösten, hätte es ohne das Telefon nicht gegeben. Die Telefonzentrale stand daher sowohl für neue Möglichkeiten des Verbundenseins wie für Überlastung, Kurzschluss und Versagen. Die Zeitgenossen verorteten viele dieser Aspekte in den Körpern und Psychen der Frauen, die in den Telefonzentralen arbeiteten. Seit die Firma Bell Telephone 1878 Emma Nutt als erste Telefonistin für ihre Vermittlung in Boston engagiert hatte, hatte die Beschäftigung von Frauen am Schaltbrett enorm zugenommen – parallel zum starken Anwachsen eines weiblichen Arbeitsmarkts in Büros, Geschäften und WARENHÄUSERN. In Deutschland wurden Frauen erst Anfang der 1890er Jahre in die Belegschaften an den Schalttafeln aufgenommen, doch schon um die Jahrhundertwende war die Vermittlungsarbeit zu einer ausschließlich weiblichen Beschäftigung geworden und das Telefon, anders als der Telegraf, weiblich codiert. Mitte der zwanziger Jahre waren 65.000 Frauen als Telefonistinnen tätig und machten die Reichspost damit zu Deutschlands größtem Arbeitgeber für weibliche Arbeitskräfte. Frauen waren billiger und erschienen gefügiger als Männer. Sie wurden zum menschlichen Gesicht einer Technologie, die sich trotz ihrer Alltäglichkeit dem Verständnis ihrer meisten Nutzer entzog. Marcel Proust nannte sie die »Priesterinnen des Unsichtbaren«, die uns in das Raunen des »überwundenen Raums« entlassen (Proust 1967, 1429). Auf der Berliner Gewerbeausstellung von 1896 war der »Telephonpavillon« eine der größten Attraktionen. Besuchern wurde hier die Physik des Fernsprechens demonstriert und Telefonistinnen waren zur Stelle, um sie in das »Geheimniss des Fernsprech-Betriebes« einzuführen (Lindenberg 1896, 170). Der Pavillon selbst war mit ornamentalen Figuren geschmückt, die das »Fräulein vom Amt« als nymphenartige Repräsentation der Lebenskraft darstellten. Diese Figuren waren Teil einer dekorativen Strategie, die Technik für den öffentlichen Konsum
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aufbereitete. Zugleich legten sie nahe, dass elektrische Energie und menschliche Arbeit Erscheinungsformen derselben elementaren Kraft seien (Osietzki 1996). Die an neue Energienetze angeschlossenen Telefonistinnen wurden zum Emblem einer bis dahin unvorstellbaren Verschaltung von Mensch und Technik. Die Telefonzentrale mit ihrer prägnanten Anordnung von Körpern im Raum, die hochreglementierte Tätigkeiten ausführten und in standardisierten Satzschnipseln sprachen, wurde zu einem Symbol der rationalisierten Welt. Cassons Eindruck vom Hin- und Herwogen der »langen Reihe weißer Arme vor den Schalttafellichtern«, die ihm das Gefühl gaben, »den eigentlichen Puls städtischen Lebens gesehen zu haben«, nimmt Siegfried Kracauers »Ornament der Masse« der späten zwanziger Jahre vorweg (Casson 1910, 156). Als menschliches Antlitz der Schalttafel teilten die Frauen deren Aura, aber auch deren Unheimlichkeit. In einem Text über seine Berliner Kindheit bezeichnete Walter Benjamin das Telefon als »Höllenmaschine«, deren »schrilles Geläut aus der Finsternis« drang. Für den Jungen verströmte ihr Platz in einem Winkel des Korridors Angst und Schrecken (APPARTEMENT). Benjamin beschreibt, wie sich sein Vater veränderte, wenn er mit den »vermittelnden Instanzen« sprach. Das Telefon kehrte die reizbare Seite des normalerweise höflichen Mannes hervor, der sich wiederholt mit Telefonistinnen stritt (Benjamin 1985, 498). Eine Szene in Werner Ruttmanns Film Berlin. Symphonie einer Großstadt brachte Telefonistinnen gar mit schnatternden Affen in Verbindung. Wenn das Telefon mit dem nationalen Nervensystem verglichen wurde, dann waren die Telefonistin und besonders ihre Nerven dessen Schwachstelle (COUCH). Diese neue Gruppe von Angestellten leistete eine neue Form von »geistiger Arbeit«, die Geist, Nerven und Sinne auf besondere Weise beanspruchte. Während der Börsenpanik von 1907 gab es einer Darstellung zufolge »eine verrückte Stunde, in der beinahe alle Telefone in der Wall Street von irgendeinem verzweifelten Spekulanten angewählt wurden. Die Schalttafeln glühten. Ein paar Mädchen verloren den Kopf. Eins fiel in Ohnmacht und wurde in den Waschraum getragen.« Um sich gegen solche Vorkommnisse zu schützen, standen »immer Mädchen in Reserve [...], und wenn die Hände einer Telefonistin sichtbar zittern und sie einen roten Warnfleck auf jeder Wange hat, wird sie weggebracht und ihr eine Pause gegönnt, bis sie ihr Gleichgewicht wiederfindet« (Casson 1910, 155f.). Solche Szenarien gaben einem medizinischen Diskurs Auftrieb, der einerseits die fraglos hohe Belastung der Vermittlungsarbeit und andererseits die Befürchtungen widerspiegelt, die mit weiblicher Berufstätigkeit und der daraus folgenden neuen Unabhängigkeit junger Frauen verbunden war. Je mehr Geschichten über Telefonistinnen kursierten, die von der Arbeit in den Nervenzusammenbruch getrieben wurden, desto größer war auch die Besorgnis über ihre »moralische Hygiene«. Denn die Aura des Fernsprechens beruhte nicht zuletzt auf seiner Fähigkeit, die Grenzen traditioneller Kommunikationsformen einzureißen. Obwohl die Behörden versuchten, diese Grenzen durch vorgeschriebene Redewendungen und Arbeitsplatzdisziplin abzustützen, wurden die Telefonzentralen auch zu Räumen
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romantischer Rede und erotischer Phantasien (STRIPTEASELOKAL). Konservative beklagten die Folgen ungezügelter Rede, die sie mit den emanzipierten Frauen an den Schalttafeln assoziierten. Ernstzunehmender war angesichts der wachsenden Militanz in der Arbeiterschaft die verbreitete Furcht vor Streiks. 1910 beschwor die Boston Post das Bild einer paralysierten Gesellschaft als Folge eines Ausstands in den Telefonzentralen herauf: »Die Lebensweise des 20. Jahrhunderts hat zwei Millionen Menschen im Großraum Boston vollkommen abhängig vom Telefon gemacht.« Ein Streik würde Börse, Eisenbahn und praktisch jedes andere Unternehmen lahmlegen (zit. n. Norwood 1990, 109). Die von der Telefonzentrale forcierte Zentralisierung drohte die Gesellschaft durch einen Streik in den großstädtischen Telefonzentralen außer Gefecht zu setzen. Die politischen Unruhen, die in Deutschland auf den Ersten Weltkrieg folgten, wurden 1919 von einem Streik der Telefonistinnen begleitet, der die Reichsbehörden vom Rest des Landes abschnitt und nur durch »die Umstellung von telefonischer auf telegrafische Nachrichtenübermittlung mithilfe einer loyalen Militärtelegrafeneinheit« aufgefangen wurde (Thomas 1988, 192). Das Bewusstsein der Abhängigkeit und das katastrophische Potenzial eines zusammenbrechenden Kommunikationsbetriebs forcierten die Suche nach höherer Effizienz und Verlässlichkeit. Zunächst stand dabei die Überwachung im Vordergrund. Die Aufseherin konnte sich über ihre Schalttafel bei jeder beliebigen Telefonistin »einstöpseln« und deren Arbeit genau verfolgen, indem sie mithörte. Unregelmäßigkeiten zogen sofort den Zorn der Aufseherin nach sich. Im frühen 20. Jahrhundert waren Telefonzentralen zu minutiös regulierten, durch und durch rationalisierten Räumen geworden. So streng wie hier wurden die Mitarbeiterinnen in keinem anderen Berufszweig überwacht (Norwood 1990, 33; Nienhaus 1995, 110). Dies war zwar der Disziplin zuträglich, doch wie eine vom amerikanischen Arbeitsministerium durchgeführte Studie bilanzierte, verstärkte das »Bewusstsein, unter derart gnadenloser Überwachung zu stehen«, die »nervöse Anspannung der Telefonistinnen« (U.S. Bureau of Labor 1910, 55). Hinzu kam die Anwendung tayloristischer Prinzipien der wissenschaftlichen Betriebsführung. Hugo Münsterberg, der deutsch-amerikanische Vater der Psychotechnik, entwickelte Optimierungen für die Arbeitsabläufe der Telefonistinnen. Seine Bemühungen, die Telefonistinnen besser in die Schaltkreisläufe der Telefonzentrale zu integrieren, wurden in Deutschland während der Rationalisierungsmanie der zwanziger Jahre kopiert. Die Reichspost beauftragte Psychotechniker, für ihre weiblichen Angestellten Eignungstests zu entwickeln. Sie richtete Teststellen in den meisten größeren Städten ein, wo die Frauen standardisierten Testreihen unterzogen wurden, um ihre Leistungsgrenzen zu bestimmen (LABORATORIUM). Der von Wirtschaftspsychologen ersehnte automatisierte Arbeitnehmer wurde schließlich durch die Automatisierung der Telefonzentrale obsolet. Seit Mitte der zwanziger Jahre eingeführt, war der Selbstwählbetrieb in den sechziger Jahren endgültig Standard. Diese Automatisierung vernichtete die meisten Arbeitsplätze für
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Telefonistinnen. Sie reduzierte aber nicht nur die Belegschaft Telephonias auf einen Bruchteil ihrer früheren Größe, sondern verringerte ebenso die Gebühren und die Reaktionszeit bei der Verbindung von Anrufen. Einer scherzhaften Schätzung zufolge wären bei einer Ausweitung des Telefonsystems ohne Automatisierung irgendwann alle erwachsenen Amerikanerinnen zu Telefonistinnen geworden (Fischer 1992). Die Automatisierung der Telefonzentrale verdrängte die Figur der Telefonistin als eines der sichtbarsten Gesichter des Modernisierungsprozesses. Wenn die zwanziger Jahre als erstes Zeitalter der Massenkultivierung gelten können, so war das Telefon deren Symbol: »Zu diesem Zeitpunkt hatte beinahe jeder, der etwas war, ein Telefon und benutzte es ständig« (Brooks 1977, 217). Davon zeugen auch die Screwball-Komödien und Zeitungsfilme der dreißiger Jahre (KINO, ZEITUNGSREDAKTION). Eine Standardszene in diesen Filmen montiert Aufnahmen eines Reporters, der geschäftig mit Menschen in Hotels und Presseräumen telefoniert, mit Aufnahmen von Telefonmasten und -kabeln sowie Telefonistinnen, die Verbindungen herstellen. Die visuelle Repräsentation dieser Versatzstücke beschwört die Fähigkeit des Telefons zur Distanzüberwindung. Gesteigert wurde dies noch in den klassischen Hotelfilmen der Zeit wie Grand Hotel, die eine Gesellschaft am Telefon zeigen, ein veritables Telephonia, zusammengeflochten in einem wirren Schaltkreissystem aus Schaltbrettern, Kabeln und Telefonistinnen (GRANDHOTEL).
III. Die Telefonzentrale als technischer Doppelgänger des sozialen Körpers Die Automatisierung der Telefonzentrale und das Verschwinden der Telefonistin fielen nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Entdeckung zusammen, dass sich das Telefonsystem als Modell für neue Kommunikations- und Steuerungstheorien eignete. Das war insofern nichts Neues, als die Telefonzentrale und ihr Kabelnetz von Beginn an als Gehirn und zentrales Nervensystem dem sozialen Körper eingeschrieben worden waren. Fritz Mauthners Metapher für den psychologischen Vorgang der »Gedankenassoziation« war das »Telefongedächtnis«, eine »Zusammenschaltung aller 20.000 Berliner Telefonbenutzer«, und Walter Rathenau sah das Telefonsystem als »elektrisches Nervenbündel«, das die »Schwingungen des Geistes« verlängerte (Asendorf 1989, 72; Hughes 1990, 16). Hugo Münsterberg imaginierte die eigentümliche Verbindung von Technologie und Personal des Telefons als kollektives Gehirn, das ihm höchst geeignet für Experimente mit der Erinnerung, der Aufmerksamkeit und anderen mentalen Funktionen schien. Die frühen Metaphoriken der Telefonzentrale kamen nach dem Zweiten Weltkrieg zu voller Blüte in Norbert Wieners Begründung der Kybernetik. Sie ruhte auf der Prämisse, dass »die Gesellschaft nur verstanden werden kann, wenn man ihre Botschaften und Kommunikationseinrichtungen erforscht« (Wiener 1950, 9). Die wichtigsten Figuren im neuen Fachgebiet der Kommunikationswissenschaft, so auch Claude Shannon, arbeiteten in den Laboren von Bell Telephone. Shannons
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Definitionen der Information und der Nachrichtenübertragung beruhten auf seiner Analyse der Ströme im Bellschen Fernleitungsnetz. In dieser Hinsicht diente das Telefonsystem als Vorbote der Informationsgesellschaft. War es Zufall, dass diese sich entfaltete, sobald das Telefonsystem seine »vermittelnden Instanzen«, die Telefonistinnen, weitgehend abgestoßen hatte? Die Sozialtheoretikerinnen Donna Harraway and Katherine Hayles jedenfalls haben die Entkörperlichung als ein Merkmal des Aufstiegs der Informationsgesellschaft ausgemacht. Marshall McLuhan dagegen stellte sich das Telefon als eine »Ausweitung« des zentralen Nervensystems vor und reproduzierte damit die willkürliche Kopplung von biologischen und technischen Systemen, die schon frühere Kommentatoren vorgenommen hatten (McLuhan 1994). Wenn auch die frühen Kybernetiker das Telefonsystem zu einer Schablone der Informationsgesellschaft machten, so neigten sie doch dazu, die dem System inhärente Möglichkeit des Missbrauchs und der Überwachung zu ignorieren. In einer wegweisenden Entscheidung verfügte der US Supreme Court 1928, dass das Abhören von Telefonen durch Regierungsbeamte keine Verletzung von Verfassungsrechten darstelle. Das FBI machte sich diese Verfügung während der Bürgerunruhen der sechziger Jahre umfassend zu Nutze, also just als McLuhans utopische Visionen ihre größte öffentliche Verbreitung fanden. Nach Fredric Jameson erlangte das Telefonsystem nicht umsonst gerade zu jener Zeit in der Öffentlichkeit den Status eines technologischen Doppelgängers der Gesellschaft: »Telefonkabel und -leitungen [...] folgen uns überallhin, verdoppeln die Straßen und Gebäude der sichtbaren Welt durch eine geheime unterirdische Welt« und stellen dadurch »eine paranoide kognitive Landkarte« bereit (Jameson 1992, 15). Dieses Bewusstsein brachte einige der düstersten kinematographischen Phantasien der sechziger und siebziger Jahre hervor. Während frühere Komödien das Telefon in den Dienst einer im Wesentlichen demokratischen (wenn auch korrumpierbaren) Institution – den Nachrichtenjournalismus – gestellt hatten, machten die späteren Filme es zu einem Instrument von Herrschaft, Steuerung und Überwachung. The President’s Analyst (1967), in dem die Telefongesellschaft sogar an einer Verschwörung zum Sturz des Präsidenten mitwirkt, legt nahe, dass im modernen Staat die Macht von der Kontrolle des Telefonsystems ausgeht. Die Kybernetik ist Amok gelaufen und hat das Telefon in eine Entsprechung von Stanley Kubricks schurkischem Computer Hal in 2001 verwandelt. Zugleich kommt in diesen späteren Filmen jedoch auch eine neue Art »Telefonist« ins Spiel – der Hacker. Der Schlüsselfilm ist Die drei Tage des Condor (1975), in dem Robert Redford einen CIA-Mitarbeiter der mittleren Ebene spielt, dessen Einheit ausgelöscht wird. Als ausgebildeter Militärnachrichtentechniker kann Redford den Spieß gegen die Kräfte, die ihn ausschalten wollen, umdrehen, indem er sich zuerst in die Schalttafel des Holiday Inn Hotels in Manhattan und von dort aus in den Rechner des CIA-Hauptgebäudes hackt. Diese Vorgänge sind vollständig automatisiert: Die Schalttafel im Hotel ist ein leuchtendes Meer von Stromkreisläufen, seinem feminisierten Pendant in Grand Hotel ganz unähnlich, und Redford
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spricht auf eine Weise unmittelbar zu dem Computer am anderen Ende der Leitung, die wieder an 2001 erinnert. Eine spätere Szene zeigt Redford, wie er die Hauptschaltung von New York Telephone infiltriert. Auf diesem »Abstieg in das Innere der Telefonzentrale« mit ihren »großen Schalter- und Synapsenreihen« (Jameson 1992, 14) gelingt es ihm, 50 Telefone zusammenzuschalten und damit zu den Verhältnissen der ersten primitiven Vermittlungen zurückzukehren. Er bringt das Aufspürsystem der CIA durcheinander, indem er Spuren erzeugt, die sich vervielfachen und willkürlich über New York City ausbreiten. Diese Dezentrierung des Telefonsystems wird zu einem Emblem für die politische Neuordnung und für die Auflösung von Bell Telephone nach dem Watergate-Skandal. Fredric Jameson hat darauf hingewiesen, dass diese Szene als Vorläufer aller weiteren Darstellungen von Computerhackern angesehen werden kann. Das Hackerforum 2600 war usprünglich ein »zine« für phone phreaker. »Phreaking« bedeutet, sich in Telefone zu hacken und dadurch Schwachstellen des Telefonsystems aufzuspüren. Einer der ursprünglichen phone phreaker verwendete das Pseudonym »Captain Crunch«, nachdem er herausgefunden hatte, dass er mit einer Spielzeugpfeife, die den Getreideflocken-Packungen der Marke Cap’n Crunch beigelegt war, gratis telefonieren konnte. Hier gibt es eine direkte Verbindungslinie zu William Gibsons Roman Neuromancer (1984), der vom Anschließen (»Einklinken«) eines Nervensystems an ein technologisches System erzählt. Das Vermächtnis der Telefonzentrale lebt im Traum des modernen Hackers weiter, die technischen Schaltsysteme zu beherrschen, und in der Macht, die sie verleiht.
Literatur Asendorf, Christoph (1989): Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen. Benjamin, Walter (1985): Berliner Chronik (1932), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt, 465-519. Brooks, John (1977): The Telephone in Literature, in: Ithiel de Sola Pool (Hg.), The Social Impact of the Telephone, Cambridge, Mass. Casson, Herbert (1910): The History of the Telephone, New York. Cherry, Donald (1977): The Telephone: Creator of mobility and social change, in: Ithiel de Sola Pool (Hg.), The Social Impact of the Telephone, Cambridge, Mass. Fischer, Claude (1992): America Calling: A social history of the telephone to 1940, Berkeley. Hughes, Thomas (Hg.) (1990): Ein Mann vieler Eigenschaften: Walter Rathenau und die Kultur der Moderne, Berlin. Jameson, Fredric (1992): Geopolitical Aesthetic: Cinema and space in the world system, Bloomington. Kern, Stephen (1983): The Culture of Time and Space 1880-1918, Cambridge, Mass. Killen, Andreas (2003): From Shock to Schreck: Psychiatrists, telephone operators, and traumatic neurosis in Germany 1900-1926, in: Journal of Contemporary History 38, 201-220. Lindenberg, Paul (1896): Pracht-Album photographischer Aufnahmen der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896, Berlin.
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Das Arbeitsamt Britt Schlehahn I. Warten auf Arbeit: Städtisches Arbeitsamt, München, 1914 Im Vermittlungsbüro für weibliches Haus- und Gaststättenpersonal des Städtischen Arbeitsamts München sitzen Frauen auf einfachen Holzbänken und warten darauf, als Arbeitswillige registriert zu werden. Den Schalterraum schmückt ein holzverkleideter Regulator, eingerahmt von Landschaftsaufnahmen, Verhaltensanweisungen und Informationen über die aktuelle Arbeitsmarktsituation. Eine Theke trennt die Arbeitsuchenden von den Beamtinnen, die von ihren Schreibpulten aus das Verhalten der Wartenden beobachten können. Die Pulte selbst werden als Schalter bezeichnet, an dem das Stellengesuch abgegeben wird. Die Arbeitsuchende erhält einen Vormerkzettel, auf dem neben Name und Beruf auch der Tagesstempel Platz findet. Danach nimmt sie im Warteraum Platz. Hier werden die eingegangenen Arbeitsangebote ausgerufen. Die Beamtinnen treffen eine Vorauswahl und berücksichtigen dabei nicht nur Qualifikation und Berufserfahrung, sondern auch die Wartezeit auf dem Amt. Wer diese Hürde übersteht, darf im angrenzenden Raum ein Gespräch mit dem anwesenden Arbeitgeber führen. Im Idealfall wird anschließend bereits im Amt der Arbeitsvertrag unterschrieben. Diesem Ablauf entsprechend wird die Institution Arbeitsnachweis genannt, in Bayern und Württemberg Arbeitsamt. Das 1895 gegründete Städtische Arbeitsamt München befindet sich seit 1897 in der ehemaligen Isarkaserne. Hier wie auch in anderen deutschen Städten muss das Amt auf vorgegebene Raumsituationen der Vorgängerbauten (unter anderem Gaststätten, Hotels und Ladenlokale) reagieren, um Warte- und Schalterraum sowie Räume für die Arbeitgeberseite und die Beamten unterzubringen. In allen Ämtern unterscheidet sich die »weibliche Abteilung«, so die offizielle Bezeichnung der Räume für weibliche Arbeitsuchende, grundlegend von der »männlichen Abteilung«. Diese verfügt aufgrund der größeren Zahl männlicher Arbeitsuchender über weitaus mehr Beamte. Ihnen stehen uniformierte Aufseher zur Seite. Das Schalterprinzip ist mittels einer Gitterwand voll ausgeprägt. Im Gegensatz zu repräsentativen Industrie-, Verkehrs-, Verwaltungsbauten oder WARENHÄUSERN, die den Aufschwung der Wirtschaft verkünden, verkörpert das Arbeitsamt die Schattenseite der modernen Industriegesellschaft. Der Raum muss auf eine sich ständig verändernde Besucherzahl reagieren und über dynamische Raumstrukturen zur Bewältigung von verwaltungstechnischen Aufgaben verfügen. Er hat Arbeitsuchende aufzunehmen, die voller Zuversicht oder Enttäuschung sind. Viele schämen sich, weil sie ihre Arbeit verloren haben. Der Raum kann dies abfedern oder verstärken. Um den sozialen Frieden nicht zu beeinträchtigen, sollen die räumlichen Strukturen des Amtes und der Umgang mit den Arbeitsuchenden Fürsorge und Fortschritt suggerieren. Dem Arbeitsamt wird eine Erziehungsaufgabe zugeschrieben, die seit den 1840er Jahren eine Veränderung der Raumstruktur von Fürsorgeeinrichtungen zur Folge hat und sich grundlegend auf das Verhalten
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und die Bewegung der Arbeitslosen im Amt auswirkt. Wesentlich für die Einrichtung von Arbeitsämtern ist, welcher Raum den Arbeitsuchenden im und am Gebäude zugewiesen und wie der Warteprozess gestaltet wird, um Müßiggang und Vermassung zu unterbinden.
II. »Warte-Ämter«: Das Arbeitsamt als neue Bauaufgabe um die Jahrhundertwende Der »verderbliche Müßiggange der Armen« (Leipzig 1844, 1) ist es, der das Armendirectorium zu Beginn des Jahres 1844 in Leipzig bewegt, eine »Städtische Anstalt für Arbeitsnachweisung« einzurichten. Sie soll nicht nur die seitens der Bittsteller oft vorgetragene ergebnislose Suche nach Arbeit steuern, indem sie Arbeitsmöglichkeiten anbietet. Verschafft sie Erwerbsfähigen Arbeit, reduzieren sich auch die laufenden Ausgaben der Armenanstalt. Aufwärter und Buchhalter, finanziert aus dem Budget des Armendirectoriums, nehmen in einem Büro die Bestellungen auf Arbeiter entgegen und vermitteln Arbeitslose. Die Verteilung erfolgt nach dem Zeitpunkt der Anmeldung, so dass lange Wartezeiten ebenso unterbunden werden sollen wie das allzu häufige Aufsuchen der Institution. Der Aufenthalt im Büro oder ein längeres Verweilen nach erhaltenem Bescheid sind nicht gestattet. Das Amt in Leipzig wie auch der 1840 in Dresden initiierte »Verein für Arbeits- und Arbeiternachweisung« bilden die ersten Initiativen, um Arbeit außerhalb von Innungen oder persönlichem Vorsprechen – der so genannten »Umschau« – zu vermitteln. Sie konzentrieren sich dabei hauptsächlich auf ungelernte Arbeitsuchende. Mit der Gründerkrise entsteht im Deutschen Reich der 1870er Jahre eine neue Situation, da Arbeitslosigkeit erstmals außerhalb der Armenverwaltung in das Bewusstsein der Gesellschaft tritt. Zudem setzt sich die in der heutigen Zeit wieder in Vergessenheit geratene Erkenntnis durch, dass Arbeitslosigkeit »ihrem Wesen nach kein individuelles Verschulden« darstellt, sondern »eine gesellschaftliche Erscheinung im kapitalistischen Wirtschaftsprozess [ist]. Aus diesem Unverschuldetsein der Arbeitslosen erwächst der Gesellschaft die Pflicht, für den notwendigen Unterhalt der Arbeitslosen zu sorgen« (Schröder 1930, 8). »Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung in Industrie- und Handelsstädten« steht im Mittelpunkt der Herbsttagung des Freien Deutschen Hochstifts im Oktober 1893. Neben der paritätischen Verwaltung des Amtes wird auch die Verantwortung der Kommune auf dem Gebiet der Arbeitsvermittlung jenseits der Armenpflege diskutiert. Ein städtisches Arbeitsamt ist anders konzipiert als die Vermittlungen der privaten Wirtschaft, von Berufsgenossenschaften, Armenverwaltung oder Wohlfahrtsvereinen. Ihre Vermittlung von Arbeitsplätzen und die Beratungsangebote für alle Berufsgruppen sind kostenlos. Die Zentralisierung der Facharbeiternachweise geht einher mit dem Wunsch, einen neutralen Raum zur Bewältigung der Arbeitslosigkeit zu schaffen. Das Arbeitsamt soll kein »Tummelplatz« für politische Parteien werden (Weigert 1899, 4). Am 1. April 1894 eröffnet im Esslinger Rathaus das
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erste städtische Arbeitsamt, dem bis 1900 weitere 50 folgen. Bis zum ersten Neubau 1902 in Berlin müssen die angemieteten Räume in kürzester Zeit und mit geringem finanziellem Aufwand möglichst funktional eingerichtet werden. Die räumliche Struktur dient vor allem einer Geschlechtertrennung sowohl im Warte- und Schalterraum als auch in der Eingangssituation. Die Einteilung in »männliche« und »weibliche« Abteilungen ergibt sich aus einer besonderen Brisanz; sie geht über die zeitgleich in anderen öffentlichen Gebäuden wie Schulen oder Krankenhäusern vorgenommenen geschlechtsspezifischen Raumaufteilungen hinaus. Die Trennung von Männern und Frauen ist einerseits ein Zeichen der Feminisierung von Berufsgruppen. Andererseits erzeugt sie innerhalb der zentralisierten Arbeitsnachweise auch einen Schutzraum. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mehren sich parallel zu den Forderungen nach weiblicher, außerhäuslicher Erwerbsarbeit Stimmen, die in der Frauenarbeit eine Ursache der männlichen Arbeitslosigkeit sehen. Fordert Louise Otto-Peters beispielsweise auf der Ersten Deutschen Frauenkonferenz 1866 in Leipzig erneut das Recht der Frauen auf Erwerb ein, so protestieren ein Jahr später Vertreter des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, die »Lassalleaner«, gegen die Beschäftigung von Frauen in der Industrie. Denn sie verschlechtere die materielle Lage der Arbeiter und zerstöre die Familien. Ihre Kampfmaßnahmen gegen Arbeiterinnen in Form von Abwehrstreiks zielen auf eine vermehrte Anstellung von Männern und die Erhöhung des Männerlohns. Neben dem politisch motivierten Unmut gegenüber der weiblichen Erwerbsarbeit werden auch die »sittlichen Gefahren« für Frauen bei der Arbeitsuche ins Feld geführt. In Arbeitsämtern, die aufgrund der begrenzten Platzkapazität nur über einen Warteraum und Eingang verfügen, werden entweder die Geschäftszeiten für Männer und Frauen strikt getrennt oder nachträglich räumliche Veränderungen vorgenommen. Das Regensburger Arbeitsamt, das sich gemeinsam mit der städtischen Armenkasse im Gebäude einer alten Fechtschule befindet, errichtet nach Pöbeleien gegenüber Frauen im Warteraum sowohl getrennte Zugänge als auch Wartebereiche (Riedl 2000, 42). Das Warten auf die Ausrufung von Arbeitsmöglichkeiten bestimmt die Arbeitsweise des Amtes zur Jahrhundertwende. Als das Arbeitsamt zu einer autonomen Bauaufgabe wird, nehmen dementsprechend der Warteraum ebenso wie die Standortwahl bei der Konzeption eine zentrale Rolle ein. Der Neubau des Berliner Zentralen Arbeitsnachweises 1902 in der Gormannstraße im Scheunenviertel verfügt über einen großzügig gestalteten männlichen Warteraum für ungelernte Arbeiter. Einfache Holzbänke strukturieren den Raum. Sie sind so ausgerichtet, dass die Wartenden der einen Raumhälfte das Verhalten der anderen beobachten können. Der Warteprozess, bis der Beamte von einer erhöhten Stelle im Raum die eingegangenen Arbeitsmöglichkeiten ausruft, wird von uniformierten Aufsehern begleitet. An die Warteräume der weiblichen und männlichen Abteilungen schließen sich Versorgungseinrichtungen an. Buffet, Bibliothek, Schusterei und Schneiderei ergänzen nicht nur den Warteprozess, sondern bereiten die Arbeitsuchenden auf Bewerbungsgespräche vor.
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Die Einrichtung von Arbeitsämtern im städtischen Raum durfte die öffentliche Ordnung nicht stören. Standortdebatten werden deshalb nicht nur vom Einspruch ansässiger Geschäftsleute begleitet, die Einnahmeverluste befürchten, sondern auch von der Angst, dass die Arbeitslosen einen Rückstau im städtischen Verkehr erzeugen und am Amt vorbeigehende Passanten durch ihre bloße Anwesenheit belästigen. Daher schlägt der Münchner Stadtbaudirektor Hans Grässl für das 1912 bis 1914 gebaute Städtische Verwaltungsgebäude, das neben dem Arbeitsamt auch die öffentliche Speiseanstalt beherbergt, eine schräg verlaufende Straßenfront vor, um die Wartenden durch den Gehwegverlauf direkt zum Eingangsbereich zu lenken. Innerhalb der räumlichen Ausstattung verzichtet Grässl auf einen feststehenden Grundriss, sondern lässt einen Spielraum in Gestaltung und Ausrichtung der Räumlichkeiten zu. Ausgestattet mit Warmwasserheizung und elektrischer Beleuchtung entsteht eine »vertrauenerweckende Architektur«. Nicht mehr in ehemaligen Gasträumen, Kasernen oder Hotels, sondern in einem Saal mit zwei Deckengemälden und acht Ölbildern samt Handwerkssymbolen wird den Wartenden abseits des öffentlichen Raums ein Platz bereitet. Neben der personellen Überwachung kanalisieren Geländer und Absperrungen die Besucher durch das Gebäude, um einen reibungslosen Verkehr auch im Innern zu garantieren. Die steigenden Arbeitslosenzahlen vor allem im Zuge der Demobilisierung nach dem Ersten Weltkrieg führen die Arbeitsämter jedoch an die Grenzen der räumlichen Belastung. Um Konflikte unter den Arbeitslosen zu vermeiden, müssen nicht nur effizientere Formen zur Verwaltung der Arbeitslosen, sondern auch neue Ordnungskonzepte erarbeitet werden. Im Arbeitsamt Mannheim findet eine besondere Symbiose von modernem Leistungsprinzip und Kontrolle statt. Nachdem die vermehrten Übergriffe im männlichen Wartebereich nur durch Polizeieinsätze hatten geschlichtet werden können, engagiert das Amt zwei Mitglieder des örtlichen Ring- und Stemmerklubs als Ordnungsgruppe. Als international anerkannte Sportler verkörpern sie durch ihre äußere Erscheinung Kraft und Disziplinierung des eigenen Körpers. Respekt seitens der Wartenden lösen sie zudem durch ihre Erfolge in einer echten Männersportart aus (KRAFTRAUM). In der Weimarer Republik wird die Verwaltung von Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung aus der kommunalen Fürsorge in staatliche Hand überführt. Das Arbeitsnachweisgesetz von 1922 soll dem schematischen Bürokratismus ein Ende bereiten, indem Arbeitsuchende individueller betreut werden. Dazu müssen die Räume im Amt neu gestaltet werden. Drei Jahre später ordnet der Reichsarbeitsminister den Neubau von Arbeitsämtern an und gewährt dafür ein Darlehen in Höhe von drei Milliarden Reichsmark. Mit dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung von 1927 wird eine Sozialversicherung für Arbeitslosigkeit eingeführt, die kommunale Fürsorgeleistungen ablöst. Mit diesem Paradigmenwechsel werden die Räume im und am Gebäude neu strukturiert. Vor allem das Warten und der Wartebereich müssen grundlegend verändert werden, damit auch das Selbstbild der Institution eine architektonische Entsprechung findet. Das Dessauer Arbeitsamt verkörpert diese neue Form des Amtes, die sich nicht mehr auf
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den Warteprozess konzentriert, sondern die Arbeitsuchenden gemäß dem tayloristischen linear programming durch die Räumlichkeiten führt (STAHLWERK). Der Verwaltungsapparat tritt dabei in den Hintergrund. Das »arbeitende Amt« suggeriert Bewegung und mit der Aufgabe des Schalterprinzips eine individuelle Betreuung durch die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Im Auftrag des Magistrats der Stadt Dessau organisiert der Berliner Stadtbaurat Martin Wagner 1926 einen Architektenwettbewerb für den Neubau. Er lädt dazu Hugo Häring, Bruno Taut und Walter Gropius ein (Kutschke 1983; Krause 2000). Gebaut wird 1928/29 nach den Plänen des zu diesem Zeitpunkt bereits zurückgetretenen Bauhausdirektors Walter Gropius. Der Bau entspricht nicht nur den Vorgaben von Wagner, sondern basiert auf Gropius’ Gedanken zur Rationalisierung im Bauen. Diese hat er zuvor bereits im öffentlichen Raum mit dem Bauhausgebäude (1926) und für das private Wohnen mit der Meisterhaussiedlung (1925/26) umgesetzt. Dabei soll »das wirtschaftliche handeln des einzelnen menschen in nutzbringenden zusammenhang mit dem wohl der gesamtheit« gebracht werden. Der »modernen baugesinnung« gemäß entsteht ein »komplexes element, dessen vielfältigkeit seiner funktionen nur durch vernunft im höheren sinne zu einer einheit gebunden und gestaltet werden kann« (Gropius 1997, 200). Gemäß der Wettbewerbsausschreibung von Wagner befindet sich das Amt an einem begrünten, zentral gelegenen Platz in der Stadt, der kurze Wege zum Amt garantiert. Wagner sah in weiten Wegen zum Amt jenen Unmut der Arbeitslosen begründet, der sich gegen die Mitarbeiter richte. Der Baukörper gliedert sich in einen halbrunden Gebäudeteil, der den Publikumsverkehr kreuzungsfrei reguliert und die Beamten räumlich miteinander vernetzt. Zum Zweck der Übersichtlichkeit und Separation teilt er sich in einen äußeren und einen inneren Ring, der von einem Flurbereich unterbrochen wird. An den Bau schließen sich das Verwaltungsgebäude und Räumlichkeiten zur Unterbringung von Fahrrädern sowie die sanitären Einrichtungen und Garagen an. Mit der Aufteilung des Amtes in verschiedene Gebäudekomplexe, die im Vergleich zum halbrunden Bau sehr zurückgenommen wirken, erfüllt Gropius einen selbst gestellten Anspruch. »Verkehrswege in der Luft« erfordern nach seinen Vorstellungen eine neue Bauweise. Pragmatische Baulösungen müssen aus der Vogelschau ersichtlich werden (Gropius 1997, 16). Den Pragmatismus des Gebäudes erfahren die Arbeitsuchenden und die Beamten am eigenen Leib. Auch wenn Gropius in seinen Raumkonzeptionen besonderen Wert auf die leistungsfördernde Atmosphäre von gut beleuchteten Arbeitsplätzen legt, ist das halbrunde Arbeitsamtsgebäude in Dessau von außen doch nicht einsehbar. Ebenso können die Beamten in den Aufnahme- und Vermittlungsräumen die Situation vor dem Gebäude nicht beobachten, da alle Wände erst ab einer Höhe von zweieinhalb Metern mit Spiegelglasscheiben versehen sind. Die dabei angestrebte Transparenz und Leichtigkeit der Wände wird durch das Oberlicht verstärkt. Der Eintritt in das Amt erfolgt wie die Bewegung im Gebäude durch ein elektrisches Leitsystem, das von den Beamten betreut wird. Damit kann innerhalb des Amtes auf Sicherheits-
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maßnahmen wie Geländer oder Wachpersonal verzichtet werden. Selbst der Kassenbereich wird nicht zusätzlich gesichert, sondern besteht aus einer hufeisenförmigen Theke. Um eine effektive Arbeitsweise zu ermöglichen, werden sieben Ein- und zwei Ausgänge eingerichtet und die Verkehrswege der Arbeitslosen nach Berufsgruppen und Geschlecht getrennt. Lediglich die Berufsgruppe »Angestellte« verfügt über einen gemeinsamen Eingang. Eine geplante Schranke im Mittelflur des Gebäudes trennt weibliche und männliche Verkehrswege und Räumlichkeiten auch im Innern. Einzig vor der Kasse – dem Mittelpunkt des Gebäudes – treffen Frauen und Männer aufeinander. Den Gesamteindruck von Dynamik und Hygiene unterstützen helle, abgerundete Kachelwände.
III. Panoptische Verwaltung: Das Arbeitsamt im Spektrum der modernen Orte Im Arbeitsamt werden wie in REDAKTIONEN Informationen verwaltet. Mit der Aufgabe des Schalterprinzips im Dessauer Amt wird ein »systematisches und bewusstes Beobachten« seitens der Beamten gewährleistet, um möglichst viele Informationen über den Arbeitslosen zu erhalten (Jülich 1930, 23). Bereits 1925 kritisiert Antonie Hopmann vom Arbeitsamt Köln auf der Tagung der »Gesellschaft zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit« die teilansichtige Wahrnehmung der Arbeitslosen durch den Beamten. Der Schalter störe nicht nur die Verbindung zum Arbeitslosen, dieser könne auch nur beschränkt taxiert werden (zit. n. Kahrs 1990, 41). Die Kategorisierung findet jedoch nicht nur in den Räumen des Arbeitsamts statt. Sie hat auch weitreichenden Einfluss auf die Bewegung außerhalb des Gebäudes. Seit März 1928 stellen die Arbeitsämter »Wanderscheine« aus, die eine eigenständige Arbeitssuche nur innerhalb klar abgesteckter Arbeitsamtsbezirke erlauben. Erwerbsfähige, die sich flexibel zeigen, lassen sich so von »asozialen« Wanderern unterscheiden, die sich der Kontrolle des Arbeitsmarkts entziehen. Der pragmatische Bau in Dessau muss bereits in den ersten drei Jahren nach der Eröffnung verändert werden, da die zunehmende Arbeitslosenzahl den räumlich vorgegebenen Ablauf sprengt. Außerdem wird die Außenfront des Halbrundbaus mit Fenstern versehen, da der Amtsleiter im Oberlicht den Grund für »gewisse Nachteile an stimmungsmäßiger Wirkung« seitens der Angestellten erkannt hat (zit. n. Kutschke 1983, 77). Als Gegenteil zur vermeintlich offenen Atmosphäre ohne Schalterbegrenzung im Dessauer Arbeitsamt erscheinen die Arbeitsämter in Österreich. Sowohl der erste Zweckbau eines Arbeitsnachweises in Österreich, das von Arbeitslosen errichtete Arbeitsamt für das Baugewerbe (1927), als auch der Vorzeigebau des Internationalen Stils der Zwischenkriegszeit, das Arbeitsamt der industriellen Bezirkskommission in Wien-Liesing von Ernst Anton Plischke (1930/31), werden von der Schaltersituation bestimmt. Die Architekten Hermann Stiegholzer und Herbert Kastinger, die neben dem Neubau für das Baugewerbe auch das Arbeitsamt der
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Metall- und Holzindustrie (1929-31) sowie das Arbeitsamt in Florisdorf entwerfen, richten für das Baugewerbe insgesamt 48 Schalter ein. Sie verbinden die Kontrollund Auszahlungsräume an der Rückseite des Gebäudes sowie die nach einzelnen Tätigkeitsfeldern geteilten Vermittlungsräume im seitlichen Gebäudeflügel mit einem zentralen Beamtenraum (TELEFONZENTRALE, PARTEIZENTRALE). Die räumliche Struktur des Arbeitsamts fördert die gegenseitige Kontrolle der Beamten, da die Schreibtische wie in den zeitgenössischen Großraumbüros hintereinander angeordnet sind. Nach diesem Prinzip richtet auch Ernst Anton Plischke das Arbeitsamt in WienLiesing aus. Das Gebäude in Skelettbauweise öffnet sich in breiter Front zur Straßenseite. Durchlaufende Fensterbänder wirken einerseits offen durch den Blick in das Innere des Gebäudes. Gleichzeitig tritt der von Wagner geforderte Spiegeleffekt ein, der die Umgebung an der Gebäudeoberfläche wiedergibt und so letztlich das Arbeitsamt zum Verschwinden bringt. Einzig das seitlich dem Gebäude in Richtung Straßenfront vorgelagerte Treppenhaus versperrt den frontalen Blick in sein Inneres. Stattdessen lassen die verglasten Seitenwände den Blick auf sich bewegende Menschen zu. Es sind also nicht die wartenden Arbeitslosen, die dem Gebäude ein Gesicht geben, sondern Bewegung und Offenheit, worin die Fürsorge nach dem Verlust des Arbeitsplatzes zum Ausdruck kommen soll. Gleichzeitig wird Plischkes Konzept, Architektur erzieherisch wirken zu lassen, durch den vermeintlichen Blick von außen auf die Arbeitslosen im Gebäude spürbar. Sie stehen unter der doppelten Beobachtung von Angestellten und Passanten. Obwohl Arbeitsämter als Ort der industriellen Reservearmee am Rand der modernen Industriegesellschaft existieren, übersetzt das Baukonzept die Rationalisierung von Arbeit in eine räumliche Struktur (STAHLWERK). Der sparsame und rasche Ablauf des Herstellungsprozesses findet seinen Ausdruck in der logischen Reihung von Räumlichkeiten. Wegenetze, elektrische Leitsysteme, Eisengerüste und Piktogramme bestimmen, der Situation im BAHNHOF oder im HOCHHAUS vergleichbar, die Bewegung des Publikums. Dazu tritt ein panoptisches Moment, das durch den Grundriss und die verwendeten Baumaterialien erreicht wird. Die Einweg-Verkehrswege kanalisieren das Aufeinandertreffen einer größeren Zahl von Menschen im Gebäude. Der Prozess des Wartens wird reglementiert, indem der »verderbliche Müßiggange« möglichst unterbunden wird. Damit reiht sich das Arbeitsamt in seinen unterschiedlichen Ausführungen in die Reihe moderner Disziplinarbauten ein (KONZENTRATIONSLAGER). Oberstes Prinzip dieses Gebäudetypus ist die Parzellierung der Masse und die Unterbindung des unkontrollierten Umherschweifens (Foucault 1994). Dass der räumliche Pragmatismus im Hinblick auf die steigenden Arbeitslosenzahlen zu Beginn der dreißiger Jahre scheitert, beschreiben Siegfried Kracauer und Erich Kästner sehr eindringlich. Ab 1933 beginnt im Arbeitsamt als Ort der »Arbeitsschlacht« das düsterste Kapitel der Moderne. Die Entlassung der Arbeitslosen in die Arbeitswelt der Reichsautobahn etwa wird ausgehend vom Arbeitsamt durch den öffentlichen Raum samt Spielmannszug der SA publikumswirksam in
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Frankfurt inszeniert. Neben den verschärften Kontrollmaßnahmen in deutschen Arbeitsämtern durch die Einführung des Arbeitsbuchs 1935, die DienstpflichtVerordnung 1938 und die Zwangsbeschäftigung von Juden seit 1938, nehmen Beamte am Überfall auf Polen am 1. September 1939 teil, um bereits zwei Tage später das erste Amt zur Registrierung der polnischen Arbeitskräfte zu eröffnen.
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Die Parteizentrale Till Kössler I. Das Karl-Liebknecht-Haus der KPD, Berlin, 1926 Das vierstöckige Haus am Bülowplatz in der belebten Spandauer Vorstadt, symbolträchtig am Rand der Bannmeile um Reichstag und Reichsregierung gelegen, fiel schon von weitem ins Auge. Dies lag weniger an seiner Architektur, die sich neben dem voluminösen Bau der Volksbühne und dem expressionistischen »Kino Babylon« von Hans Poelzig in der unmittelbaren Nachbarschaft eher zurückhaltend ausnahm. Als Etagenfabrik 1911 vom Industriellen Rudolph Werth in Auftrag gegeben, handelte es sich um eines jener Gewerbegebäude im Stahlskelettbau, die im Berlin der zwanziger Jahre häufig anzutreffen waren.
5. Parteizentrale der KPD in Berlin, 1932 Aber die ungewöhnliche Fassadenverkleidung hob das Karl-Liebknecht-Haus aus seiner städtischen Umwelt heraus und machte es in der Endphase der Weimarer Republik zu einem der bekanntesten Gebäude Berlins. Die KPD war nach ihrem Einzug allmählich dazu übergegangen, die zwei im stumpfen Winkel angeordneten Seiten der Zentrale, die auf den Bülowplatz (heute Rosa-Luxemburg-Platz) wiesen und diesen gleichsam in einen Zuschauerraum verwandelten, mit großflächigen politischen Losungen und Wahlaufrufen der Partei zu versehen. Zusätzlich bedeckten regelmäßig überdimensionale Parteisymbole sowie Großporträts von Parteiführern die Fassade, rote Fahnen flatterten an mehreren Stellen über der Straße und auch die meisten der großen Fenster waren zur Hälfte mit Agitationsplakaten behängt. Die Fassadengestaltung mit politischen Botschaften war in der Arbeiterbewegung damals keineswegs unbekannt; sozialdemokratische Parteibuchhandlungen brachten schon im Kaiserreich in ihren Schaufenstern Aufrufe der SPD an. Neu
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waren jedoch die Dimension der Aufmachung und das vollkommene Zurücktreten des Gebäudes hinter der politischen Werbung, die Identifikation von Partei und Ort, beglaubigt durch die Namensgebung nach einem verstorbenen Parteiführer. Die expressive Gestaltung der Gebäudefront erinnerte an Werbeplakate jener Jahre, die das Stadtbild zunehmend prägten. Aber die Fassade gab dem Haus auch das Aussehen einer Festung, ein Eindruck, zu dem auch die Gitter vor den Erdgeschossfenstern und die hier regelmäßig patrouillierenden Polizisten beitrugen. Tatsächlich kam es bis 1933 immer wieder zu »Belagerungen« der Parteizentrale durch die Polizei oder nationalsozialistische Demonstrationen (Kuczynski 1975, 229, 240f.). Für die KPD, die das Gebäude Anfang November 1926 erwarb, war es nicht nur aufgrund seiner Lage am Rand des politischen Berlin und seines industriellen Flairs, sondern auch aufgrund seiner vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten als Büround Gewerbehaus von Interesse. Nach dem atemlosen Aktionismus der revolutionären Jahre nach 1918 und in der Folge ihrer schmerzlichen Niederlage im »Deutschen Oktober« 1923 trat die KPD in eine Phase der krisenhaften Stagnation, aber auch der organisatorischen Konsolidierung ein. Unter Mitwirkung der Kommunistischen Internationale wurden der Parteiaufbau gestrafft, der Parteiapparat vergrößert und die gesamte Partei zentralistisch auf die Berliner Führung ausgerichtet. Mit der Machtkonzentration wuchsen Personalbestand und Verwaltungsaufwand in der Zentrale (Weber 1969, 265). Dabei erwiesen sich die provisorischen Büroräume am Hackeschen Markt, die der Partei seit 1918 als Hauptquartier dienten, als unzureichend. Der Umzug an den Bülowplatz löste in dieser Situation das Raumproblem und führte die wichtigsten Schaltstellen der kommunistischen Bewegung an einem Ort zusammen – neben Zentralkomitee und Politbüro der KPD sowie der Landesleitung Berlin-Brandenburg fanden auch die Vorstände diverser Vorfeldorganisationen, weiterhin die Redaktion des Zentralorgans Rote Fahne, der Parteiverlag der KPD sowie die parteieigene City-Druckerei in dem Gebäude Platz. Eine Mischnutzung von Gebäuden durch Partei, Zeitungen und Verlage war in der Sozialdemokratie und in den repräsentativen »Volkshäusern« der sozialistischen Arbeiterbewegung bereits seit dem Kaiserreich üblich. Auch sie stellten politische Manifestationen gegenüber ihrer städtischen Umwelt dar. Doch im Karl-Liebknecht-Haus überwog die Nutzung als Parteizentrale. Der Umzug gab nicht nur dem deutschen Kommunismus ein markantes öffentliches Gesicht. Er bettete eine politische Partei erstmals auch visuell in den städtischen Raum ein. Das neue Gebäude wurde allmählich zur räumlichen Repräsentation des deutschen Kommunismus, der hier der hauptstädtischen und reichsweiten Öffentlichkeit visuell entgegentrat. Das Leben im und um das Karl-Liebknecht-Haus ähnelte demjenigen moderner Verwaltungs- und Verlagshäuser (ZEITUNGSREDAKTION). In seiner besonderen Betriebsamkeit aber spiegelte sich die rastlose Aktivität der kommunistischen Bewegung wider (Kuczyinski 1975, 232). In der Einfahrt, die auf den Innenhof führte und als Schleuse Innen- und Außenraum deutlich trennte, ließ sich bis tief in die
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Nacht ein ständiges Kommen und Gehen von Parteimitgliedern, Funktionären und Betriebsräten, Zeitungsboten und Redakteuren beobachten (Benenowski 1983, 24). Das Karl-Liebknecht-Haus war ein politisches Symbol und ein Ort symbolischer Politik. Auf den Fotos sieht man regelmäßig Trauben von Menschen vor dem Gebäude, das gerade in der ausgehenden Weimarer Republik eine polarisierende Wirkung ausübte. Es war regelmäßig Ziel pro- und antikommunistischer Demonstrationen. Am 22. Januar 1933 wählte die NSDAP mit Bedacht gerade den Bülowplatz für eine Machtdemonstration aus und ließ unter Polizeischutz ihre Anhänger an der Parteizentrale vorbeimarschieren. Dass die KPD dies als symbolische Demütigung verstanden hatte, zeigte sich drei Tage später, als sie mit einer Großdemonstration mit mehreren Zehntausend Teilnehmern am selben Ort antwortete und dabei ihre aufgebrachten Anhänger nur mit Mühe von Übergriffen auf die Polizei abhalten konnte. Die Belagerung des Parteihauses, die Gegner wie Anhänger als Angriff auf die Partei selbst verstanden, machte die Parteizentrale zum Mittelpunkt demonstrativer Straßenpolitik. Wie sehr der Ort politisch aufgeladen wurde, zeigte der Umgang der NSDAP mit dem Gebäude nach dem Verbot der KPD. In einem exorzistisch anmutenden Ritus wurde es schon am 1. März 1933 in »Horst-Wessel-Haus« umbenannt und auf seinem Dach die Hakenkreuzfahne gehisst.
II. Bürokratie und Repräsentation: Die Parteizentrale als funktionaler und expressiver Ort Die Parteizentrale bildete sich mit der Entstehung moderner Massenmitgliederparteien und eines politischen Massenmarkts seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert heraus. Bis dahin waren Parteien im Wesentlichen auf persönlichen Beziehungen basierende Honoratiorenvereinigungen, lose zusammengehalten von Parlamentsfraktionen und einzelnen Parteiführern. Als seit den 1870er Jahren – vor allem mit der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts – die Wahlkämpfe zahlreicher und intensiver wurden, erschien eine dauerhafte Organisation der politischen Gruppen sinnvoll. Nur so ließ sich die überregionale Abstimmung der Parteiarbeit, eine flächendeckende Finanzierung der Wahlkämpfe und die Integration des wachsenden Mitgliederbestands gewährleisten. Aus zunächst nur temporären Wahlkampfbüros der Fraktionen entstanden mit der Zeit feste Institutionen, Parteivorstände und Geschäftsstellen. Neben die Aufgaben der Finanz- und Mitgliederverwaltung sowie der politischen Agitation trat bald die Repräsentation nach außen. Indem die Parteizentralen zu Ansprechpartnern für Interessenverbände, Vereine und eine sich ausdifferenzierende Medienöffentlichkeit wurden, wuchs auch ihre innerparteiliche Bedeutung. Nach 1918 stärkten die Einführung des Verhältniswahlrechts, das eine Kandidatenauswahl auf Reichsebene vorsah, und der Ausbau der Parteiorganisation die Bedeutung der Parteizentralen. Spätestens jetzt etablierten sie sich in den meisten Parteien als eigenständige Machtzentren neben den Parlamentsfraktionen (Nipperdey 1961, 399f.).
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Der organisatorische Ausbau wurde in der Zentrale, in den Regionen und Kommunen von einer neuen Schicht besoldeter Parteifunktionäre vorangetrieben, die das Tagesgeschäft der Partei übernahmen. Nach einem langsamen Anstieg vor 1914 beschäftigten die großen Parteien in der Weimarer Republik zumeist mehrere Hundert Parteisekretäre, die SPD 1928 sogar mehr als 1.000 (Kössler/Stadtland 2004). Der personelle Ausbau des Parteiapparats auf allen Ebenen beförderte seinerseits wiederum die Bürokratisierung der Parteien. Die räumliche Konstituierung der Parteizentralen verlief wie ihr politischer Aufbau zögernd, nicht zuletzt, weil die organisatorischen Aufgaben in der Anfangszeit meist von Abgeordneten in Nebentätigkeit wahrgenommen wurden. Ihrer Funktion als reine Hilfsorgane entsprechend waren die Geschäftsstellen, aus denen sich die späteren Parteizentralen entwickelten, zunächst in kleinen, wenig repräsentativen Büroräumen untergebracht, bei deren Auswahl allein die günstige Verfügbarkeit und die Nähe zu den wichtigen politischen Institutionen der Hauptstadt eine Rolle gespielt zu haben scheint. Der Parteivorstand der SPD – um diese Zeit schon eine Massenpartei mit mehreren Hunderttausend Mitgliedern – belegte um die Jahrhundertwende ein einziges Zimmer im vierten Stock eines unscheinbaren Hauses in der Berliner Lindenstraße, in dessen Erdgeschoss sich die Gastwirtschaft eines Parteigenossen befand (Ebert 1928, 347). Der Aufbau einer leistungsfähigen Bürokratie hinkte dem Wachstum der Parteien deutlich hinterher. Selbst die Parteizentrale der SPD, in der sich die organisatorische Zentralisierung recht früh vollzog, verfügte bei der Ankunft Friedrich Eberts als neuem Parteisekretär in Berlin 1906 weder über eine Schreibmaschine noch über ein Telefon (Schorske 1981, 167). Die steigenden Ansprüche an die Organisation führten in allen Parteien jedoch zu einer Professionalisierung der Verwaltung und der Parteiangestellten. Am Vorbild der staatlichen Bürokratie ausgerichtet, erfolgten allmählich die Einführung eines geregelten Verwaltungsablaufs und eine Differenzierung der Tätigkeitsbereiche nach Sachgebieten. Abteilungen für Organisationsfragen, Finanzen, Bildung und Öffentlichkeitsarbeit entstanden. Diese Entwicklung war ein internationales Phänomen. Auch die britische Labour Party baute beispielsweise ihren nationalen Organisationsstab im 20. Jahrhundert kontinuierlich aus (Berger 1994, 73f.). Die wachsenden Aufgaben erforderten eine räumliche Expansion der Parteizentralen. Raum für die neu angestellten Parteisekretäre musste ebenso geschaffen werden wie für die wachsenden Mitgliederkarteien und Parteiarchive. Soweit es die finanziellen Mittel zuließen, wurde die innere Struktur des Raums nach dem Vorbild von Ämtern gestaltet und spiegelte die Bedürfnisse bürokratischen Handelns (ARBEITSAMT). Bürotrakt, Registratur, Kasse, Archiv und Sitzungszimmer fanden sich in der Parteizentrale wie in anderen Verwaltungsgebäuden. Der Umzug in größere Räumlichkeiten ging jedoch vor 1945 zumeist noch nicht mit einer besseren äußeren Sichtbarkeit der Zentralen einher. Der Parteivorstand der SPD zog zwar 1914 in das repräsentative Gebäude ihres Parteiverlags Vorwärts, doch wurde das Haus weiterhin in erster Linie als Verlags- und Pressehaus wahrgenommen (Danker 2003, 108). Zudem war der Expansionsprozess der Parteizentra-
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len nicht irreversibel. Angesichts der dramatisch verschlechterten Finanzlage der Partei verkleinerte die Deutsche Volkspartei nach 1926 ihre Reichsgeschäftsstelle sukzessive und gab die größeren Räumlichkeiten in der Berliner Friedrichstraße wieder auf, in die sie 1920 gezogen war (Richter 2002, 167ff.). Aus denselben Gründen löste die Deutsche Demokratische Partei ihre Berliner Zentrale 1932 gleich ganz auf (Stang 1994, 35). Die Parteizentrale war von Anfang an nicht nur Verwaltungseinheit, sondern zugleich ein symbolischer, imaginärer Ort, der im Mittelpunkt von Diskussionen über Leistungsfähigkeit, aber auch Fehlentwicklungen politischer Massenorganisationen stand. Der wachsende Einfluss der Parteizentralen mit ihren besoldeten »Unteroffizieren« wurde insbesondere in den bürgerlichen Parteien mit Skepsis verfolgt. Die Bürokratisierung der Parteiarbeit wurde als Einschnitt in die Autonomie des politischen Individuums empfunden. Zudem gefährdete im Kaiserreich die Bündelung der Kräfte auf Reichsebene die prekäre Balance zwischen Reich und Regionen. Die Vorbehalte waren ein wichtiger Grund für die schlechte personelle wie finanzielle Ausstattung vieler Parteizentralen sowie für ihre zurückhaltende öffentliche Repräsentation. Ihre Unsichtbarkeit unterstrich das Bild einer rein dienenden Rolle, obwohl ihre Nutzung tatsächlich schon weit darüber hinausging. Noch in der Bundesrepublik spielte eine ausgeprägte Skepsis gegenüber Bürokratie und Zentrale in Teilen des Parteienspektrums eine wichtige Rolle und verhinderte zunächst den Ausbau der organisatorischen Leitungsebene (Bösch 2001, 254). Der Aufstieg der Parteizentrale rief auch eine neue Bürokratie- und Funktionärskritik auf den Plan, die zu erkennen meinte, wie sich Parteileitungen verselbstständigten und Parteisekretäre die Macht an sich rissen. Es entstand der wirkungsmächtige Mythos der eigen- und allmächtigen Parteizentrale (Michels 1911; Mergel 1999). Im Gegensatz zu diesen organisationsskeptischen Haltungen gewann nach der Jahrhundertwende in vielen Parteien, besonders an deren Spitzen, ein positives Konzept zentralisierter Steuerung an Bedeutung. Innerparteiliche Reformströmungen und führende Politiker wie Ebert und Stresemann betonten die Chancen einer Zentralisierung und Bürokratisierung für die politische Arbeit. In diesem Modell nahm die Parteizentrale als Schaltzentrum eine Schlüsselstellung ein (TELEFONZENTRALE). In ihr sollten die Fäden der Politik zusammenlaufen, organisationsinterne Willensbildung und Vertretung nach außen vermittelt und aufeinander abgestellt werden. Diese konzeptionelle, häufig in militärische Bilder gefasste Aufwertung der Parteizentrale lässt sich zuerst in der SPD beobachten, griff aber bald auf andere Parteien über. Gustav Stresemann versuchte beispielweise seit 1919, seine Vision einer »reichgegliederten Geschäftsstelle« der Deutschen Volkspartei mit umfassenden Endscheidungsbefugnissen zu verwirklichen. Tatsächlich setzte er eine personelle Aufstockung und einen großzügigen Etat durch (Richter 2002, 166). Ihre weitgehendste Ausprägung fand die organisationsbejahende politische Konzeption in der Weimarer KPD der späten zwanziger Jahre. Hier war die extreme Machtkonzentration in Politbüro und Zentralkomitee mit der Utopie einer umfassenden sozialtechnologischen Steuerung des politischen Prozesses verknüpft
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(Mallmann 1996, 142-147). Jenseits der polarisierenden Hoffnungen und Ängste hatte die Macht der Zentrale im Alltagsbetrieb jedoch deutliche Grenzen. Der Arbeitsalltag erschöpfte sich oft in ermüdender Routine (Scheidemann 1928, 100f.). Die Personalausstattung der Parteileitungen reichte selbst in den zentralistisch ausgerichteten Arbeiterparteien nie aus, um die Untergliederungen umfassend zu kontrollieren. Gegen deren Autonomiestreben konnte sich die Parteileitung trotz zunehmender Kompetenzen immer nur teilweise durchsetzen (Berger 1994, 74). Mit dem Karl-Liebknecht-Haus der KPD trat neben der Funktion der bürokratischen Steuerung erstmals die expressive räumlich-visuelle Selbstdarstellung der Partei als konstituierendes Element der modernen Parteizentrale in den Mittelpunkt. Das war neu, blieb Politik doch trotz der einsetzenden medialen Bilderflut während der Weimarer Republik noch weitgehend »gesichtslos« (Mergel 2002, 354-361). Es waren die extremen Parteien, die KPD und vor allem die NSDAP, die als erste die Bedeutung von Bildern in der Politik erkannten, sie in größerem Umfang zur politischen Werbung nutzten und die Parteizentrale zum visuell-symbolischen Repräsentanten der Partei aufwerteten. Der Raum, an dem die Partei ihren Mitgliedern und der Öffentlichkeit entgegentrat, wurde durch eine dramaturgische Inszenierung ausgestaltet. Ort und architektonische Form wurden auf ihre öffentliche Rezeption hin angelegt: Als vorbildlicher Ort sollte die Zentrale Grundsätze und Ziele der Partei darstellen und beglaubigen. Sprachbilder und Begriffe des Theaters fanden nun Eingang in die Darstellung der Parteizentrale, ihre Rolle als »politische Bühne« trat neben ihre Funktion als Verwaltungsapparat (Sarcinelli 1998). Vor allem gewann die hauptstädtische Parteizentrale im politisch-medialen Wandel an Präsenz, weniger die intermediären Parteizentralen in den Ländern, Bezirken, Kreisen und Städten. Auch wenn sich die mediale Inszenierung der Parteizentrale erst in den sechziger Jahren durchsetzen sollte, prägten sich ihre wesentlichen Merkmale bereits in den zwanziger Jahren aus. Als besondere, individuelle Orte kennzeichneten sie Parteiembleme und Fahnen an der Gebäudefassade sowie die Namensgebung, in der Regel nach ehemaligen, die »Werte« der Partei exemplarisch verkörpernden Parteiführern. Aber auch Grundriss, architektonische Raumgestaltung, schließlich die verwendeten Materialien nahmen nach und nach einen repräsentativen Charakter an, wie eine Betrachtung der Parteibauten der NSDAP zeigt, die der expressiven Funktion der Parteizentrale früh besondere Aufmerksamkeit schenkte. Schon der Erwerb einer Villa in einer vornehmen Gegend der Münchener Innenstadt als neuer Sitz der Reichsgeschäftsstelle im Mai 1930 war auf öffentliche Wirkung angelegt. Der Kauf des späteren »Braunen Hauses« hatte nach einer Stellungnahme Hitlers den Zweck, »der Partei ein eigenes Haus zu geben, daß der Größe der Bewegung auch in seiner Würde entsprach«, und war als eine explizite politische Stellungnahme gedacht. Er sollte den Medienvertretern »zeigen, dass wir mehr Kultur besitzen als unsere Kritiker. Sie sollen nur die Geschäftsstellen dieser Parteien mit Millionenvermögen vergleichen mit unserem neuen Haus und mögen dann selbst urteilen« (zit. n. Grammbitter 1995, 61).
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Anders als die KPD im Fall des Karl-Liebknecht-Hauses nahm die NSDAP die innere Gestaltung des Gebäudes nicht nur nach funktionalen, sondern auch nach expressiven Gesichtspunkten vor. Neben Büroräumen, Sitzungszimmern und einem großen Kartotheksaal für die Mitgliederkartei ließ Hitler eine Fahnen- und eine Standartenhalle in das Gebäude einfügen, in denen sich die Partei ihren Mitgliedern, Gästen und einer weiteren Öffentlichkeit präsentierte. Im Zuge des Neubaus der Parteizentrale nach der Machtergreifung traten Verwaltung und Selbstdarstellung räumlich in zwei Gebäuden, »Führerbau« und »Verwaltungsbau«, auseinander. Repräsentation und Verwaltung blieben jedoch nicht nur durch die symmetrische Anordnung der Gebäude am Münchener Königsplatz mit spiegelbildlichen Fassaden, sondern auch in der inneren Gestaltung der Häuser aufeinander bezogen. Auch der »Verwaltungsbau« erfüllte repräsentative Funktionen und war fester Bestandteil von Besuchsprogrammen der NSDAP für in- und ausländische Gäste. Er sollte die NSDAP als moderne, effiziente und seriöse Organisation darstellen, als »Musterbeispiel theoretischer Ideen und vom Grundsatz peinlichster Sauberkeit in der Geschäftsführung geleitet. [...] Es ist bewusst auf jede Pracht verzichtet, [...] dennoch entsprechen die Räume der repräsentativen Würde des Hauses.« Insbesondere der riesige, nach dem Vorbild von Großraumbüros der zwanziger Jahre gestaltete Karteiraum wurde von der nationalsozialistischen Propaganda als Zeichen der militärgleichen Effizienz und Größe der Partei gefeiert: »Die lange Flucht der stählernen Schränke, die Reihen ausgerichteter Arbeitstische sind ein Symbol der Vollendung« (zit. n. von Seckendorff 1995, 121ff.). Der Karteiraum inszenierte das reibungslose Funktionieren der Partei als organischer Körper und beanspruchte auch in seiner militärischen und hierarchischen Dimension Vorbildcharakter für die Organisation der nationalsozialistischen Gesellschaft (FRONT). Die Verbindung von Repräsentation und Verwaltung kam auch in den Bautraditionen zum Ausdruck. Folgte etwa die Konstruktion zweier überdachter Binnenhöfe der Bauweise von Verwaltungsbauten seit dem 19. Jahrhundert, so orientierten sich die Eingangshalle des »Verwaltungsbaus« – mit Marmor aus deutschen Steinbrüchen verkleidet – und die Form des geplanten großen, halbrunden Sitzungssaales mit vorgelagerter »Wandelhalle« im »Führerbau« an der Architektur von Theaterund Parlamentsbauten. Dennoch gelang es der NSDAP nicht, das erwünschte Bild der Parteizentrale in der Bevölkerung dauerhaft zu verankern. Schon vor 1933 setzte eine öffentliche Kritik an den nationalsozialistischen Parteibauten als »verschwenderische Parteipaläste« (Thomas Mann, zit. n. Grammbitter 1995, 69) ein. Ihre aufwändige Inszenierung wurde hier als Prunksucht und Abgehobenheit von den Interessen der Bevölkerung gedeutet. Diese kritische Sichtweise beeinflusste auch die gestalterische Entwicklung der neuen Parteizentralen nach 1945. In der Bundesrepublik versuchten die Parteien, ihre Zentralen den Grundsätzen der neuen Demokratie entsprechend zu gestalten. Sie sollten keine Assoziation mit den »Politzentralen« kommunistischer Parteien oder dem inszenierten Prunk der NSDAP-Bauten aufkommen lassen, gleichwohl aber die gestiegene Bedeutung der Parteizentralen widerspiegeln und die Parteien in der massenmedialen Öffentlichkeit
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angemessen repräsentieren. In den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten verweigerten sich die Parteien zunächst weitgehend einer Politik symbolischer Repräsentation. Zwar zog die SPD 1951 erstmals in ein eigenständiges Hauptquartier ein, doch zeichnete sich die SPD-»Baracke« schon in ihrem umgangssprachlichen Namen durch eine Betonung des Provisorischen und Behelfsmäßigen aus. Darin kam zwar auch das Ziel der SPD zum Ausdruck, eine Wiedervereinigung mit der DDR anzustreben; Bonn war nur als Zwischenlösung vorgesehen. Doch verweigerte sich die SPD damit auch einer auftrumpfenden architektonischen Formensprache Mit der politischen Etablierung der Bundesrepublik und dem organisatorischen Ausbau der Bundesgeschäftsstellen setzte sich dagegen in der SPD wie in der CDU in den siebziger Jahren die Form einer zurückgenommenen Repräsentativität durch, deren symbolische Aufladung jedoch keineswegs geringer war als diejenige der Parteizentralen der zwanziger Jahre. Auch die CDU wurde nach dem Verlust der Regierungsmacht vom Trend einer organisatorischen Aufwertung und Modernisierung der Parteizentralen erfasst, der in den Neubau ihres Bundeshauses 1973 mündete. Aufgrund einer tief sitzenden Bürokratieskepsis hatte sie in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik keine repräsentative Parteizentrale besessen. Noch bis 1973 war die Bundesgeschäftsstelle mit einem winzigen Stab in einem vierstöckigen Altbau in der Bonner Südstadt untergebracht. Selbst mit dem Neubau stieg die Parteizentrale nie zu jener »obersten Kommandobehörde der Partei« auf, die sich einige Reformer erhofft hatten (Kleinmann 1983, 259). Die neuen Gebäude hatten die Aufgabe, eine sachliche, bürgernahe Politik zu symbolisieren. Das Erich-Ollenhauer-Haus der SPD von 1975 sollte kein »Prestigeobjekt« sein, sondern ein Haus, das »die sachliche, nicht auf äußere Repräsentation gerichtete Haltung der Partei ausdrückt«. Dieser Gestus richtete sich nach außen wie nach innen. Das neue Parteihaus sollte den Ansprüchen an ein modernes Bürohaus genügen, ein »offenes, den Bürgern nahes Parteihaus« (Willy Brandt) werden und »eine atmosphärische Ausstrahlung besitzen, in der die Mitarbeiter des Parteivorstandes politisch schöpferisch tätig werden können« (Jahrbuch der SPD 19731975, 222, 352). Nicht mehr bürokratisch-effizientes Handeln und politische Kontrolle standen im Vordergrund der Selbstdarstellung, sondern demokratische Transparenz, die bauliche Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Parteiangestellten und die Verbundenheit zwischen Partei und Bevölkerung. Das neue Parteihaus spiegelte damit in seiner Konzeption den fürsorglichen, demokratischen Wohlfahrtsstaat, den die Sozialdemokraten verwirklichen wollten. Die Rhetorik der Offenheit und Transparenz stieß jedoch auch in den neuen Parteizentralen an deutliche Grenzen. Die in der Notwendigkeit politisch-bürokratischen Handelns gründende Zweiteilung der Gebäude in einen öffentlich zugänglichen, repräsentativen Publikumsbereich und einen Bereich der »Hinterzimmer«, der oft durch markante architektonische Gesten wie Treppen oder Fahrstühle wirkungsvoll inszeniert wird, blieb ein Strukturelement der modernen Parteizentrale, das die ihr inhärente Spannung zwischen Repräsentation und Funktion unterstrich.
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III. Die Parteizentrale als moderner Ort Die Parteizentrale entsteht als Resultat steigender Organisationsbedürfnisse politischer Bewegungen im Zuge der Entfaltung eines politischen Massenmarkts. Sie zielt zunächst auf die Integration und Steuerung der neuen Massenparteien durch bürokratische Organisation, wobei organisationsskeptische Bewegungen in den Parteien ihren Einfluss begrenzen. Die Parteizentrale soll eine effizientere Politikführung durch Vernetzung und Bündelung herbeiführen (TELEFONZENTRALE), wie sie mit den modernen Verkehrsmitteln und Kommunikationsmedien als Möglichkeit und Utopie aufscheint. Schreibmaschine und Telefon werden zu wichtigen Hilfsmitteln. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts übernimmt die Zentrale neben dieser primären Funktion immer mehr die Aufgabe der Repräsentation der Partei gegenüber einer weiteren Öffentlichkeit; sie wird zu einem primären Ort der medialen Inszenierung von Politik. Diese Dualität kennzeichnet ihren organisatorischen Aufbau sowie ihre architektonische Gestalt und prägt ihre Stellung im Beziehungsgeflecht moderner Orte. Sie orientiert sich an der bürokratisch-rationalen Raumaufteilung und Arbeitsweise des Amtes: Parteizentralen sind zunächst Verwaltungsgebäude (ARBEITSAMT). Andererseits ähnelt sie in ihrer expressiven Dimension dem GRANDHOTEL und dem WARENHAUS. Sie lenkt bewusst Aufmerksamkeit auf sich und verweist über ihre räumliche Gestalt auf grundlegende Konzepte politischer Tätigkeit und sozialer Organisation. Die Parteizentrale setzt sich darüber hinaus in ihrer internen Arbeitsweise als explizit moderner Ort in Szene, wie es in ähnlicher Weise die ZEITUNGSREDAKTION tut. Die Ausstattung mit modernen technischen Hilfsmitteln zählt ebenso zu ihren Kennzeichen wie die Betriebsamkeit der in ihr Beschäftigten. In der Verbindung von Verwaltung, Herrschaft und deren öffentlichkeitswirksamer Repräsentation liegt ein wesentlicher Grund für die hohe symbolische Aufladung der Parteizentrale als Ort. Das Gebäude umgibt zumeist eine Aura, die wesentlich auf der Spannung zwischen ihrer öffentlichen Präsenz bei gleichzeitiger Unsichtbarkeit der Vorgänge in ihr beruht. Die Ambivalenz von Öffentlichkeit und Geheimnis betrifft auch ihre politische Symbolik und verbindet sie mit der WAHLKABINE. Stärker als diese inszenieren Parteizentralen jedoch das Versprechen von Teilhabe an der politischen Willensbildung, sind gleichzeitig aber auch Symbole der Enttäuschung von Partizipationserwartungen. Es ist kein Zufall, dass Protestdemonstrationen oft Parteihäuser zum Ziel haben. Parteizentralen stellen politische Macht zur Schau. Sie können für Mitglieder und Anhänger zu auratisch aufgeladenen Orten eines politischen Glücksversprechens werden, doch überwog und überwiegt in der breiteren Öffentlichkeit bis heute zumeist ihre Wahrnehmung als undurchsichtige »Politzentralen«, in deren Hinterzimmern Politik »gemacht« wird. Die Entwicklung der Parteizentrale als realer wie imaginierter Ort bewegt sich im Spannungsfeld von politischem Steuerungsoptimismus, der sie mit technischen Projekten der Umweltbeherrschung wie dem STAUDAMM verbindet, und einer immer präsenten Kritik an Bürokratie und Zentralismus. In der jüngsten Vergangenheit haben sich die Parteien bemüht, die Span-
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nung architektonisch zu lösen, indem sie eine Formensprache technischer und architektonischer Modernität mit baulichen Metaphern der Transparenz verbunden haben.
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Der Agrarbetrieb Uwe Spiekermann I. Popiollen, Ostpreußen, im Spätsommer 1925 Am 24. September 1925 hatte Gutsbesitzer Carl Blunk, Major der Reserve a. D., einen großen Auftritt. Die »Arbeitsgemeinschaft Technik in der Landwirtschaft« tagte in Königsberg und er durfte den Hauptvortrag halten. 30 Jahre zuvor hatte er, 18-jährig, als Lehrling auf dem Gutshof seines Vaters mit der Landwirtschaft begonnen, später das zwischen Angerburg und Goldapp gelegene Gut Popiollen übernommen und zu einem anfangs belächelten Musterbetrieb ausgebaut. Nun stellte er sein Lebenswerk vor, präsentierte es in einem fulminanten Lichtbildervortrag. Blunk hatte im vermeintlich rückständigen Ostpreußen eine »landwirtschaftliche Fabrik« errichtet, in der er das industrielle Prinzip umsetzte: »Mit möglichst wenig Pferden und Menschen, unter Zuhilfenahme von Maschinen, möglichst viel und möglichst billig produzieren« (Blunk 1926, 12f.). Der Wirtschaftshof von Gut Popiollen, 288 Meter lang und 320 Meter breit, bildete das Zentrum von etwa 3.000 Morgen landwirtschaftlicher Nutzfläche. In der Mitte lagen Düngergruben, von den Viehställen nur durch eine Mauer getrennt. Um die Transportwege kurz zu halten, grenzten die Futterscheunen unmittelbar an. Die nötigen Nebenbetriebe verteilten sich konzentrisch um den Mittelpunkt, weitere Ställe sowie kranbewehrte Futtersilos schlossen den Hof nach außen hin ab. 150 Meter vom Hof entfernt gab es einen Eisenbahnanschluss, auf dem bis zu 20 Waggons be- und entladen werden konnten. Hauptsächlich wurden Vieh und Futter transportiert, doch ebenso Milch, Fleisch und Fleischprodukte, die in Wirtschaftsräumen an der Querchaussee hergestellt wurden. Urbane Märkte boten Absatz, weniger in Königsberg als in Berlin. Moderne Hygiene hatte auf diesem Gut einen festen Platz, Desinfektions- und Quarantäneräume boten zugleich Schutz bei Viehseuchen. Die Chaussee trennte auch Arbeits- und Wohnbereiche, soziale Grenzen waren so markiert, 40 Arbeiterfamilien und die Gutsherren voneinander separiert. Zwischen beiden stand die Maschinenzentrale, die Popiollen mit Elektrizität versorgte. Die Modernisierung des Agrarbetriebs hatte beträchtliche Produktivitätssprünge zur Folge, der jährliche Ertrag stieg »von 6-8000 Ztr. Getreide bis auf fast 13.000 Ztr., von 180000-200000 l Milch auf 350000-400000 l Milch, von 100-150 Mastschweinen à ca. 225 Pfund auf durchschnittlich 7-800 Stück zu je 270 Pfund« (Blunk 1926, 43). Weitere Zuwächse waren möglich und angesichts der hohen Kapitalbindung auch erforderlich.
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6. Hofgrundriss des Gutes Popiollen, 1926
II. Einheitliches Land? Der Agrarbetrieb und die innere Heterogenität der Moderne Organisation, Marktorientierung und Spezialisierungsgrad zeigen Popiollen als Beispiel eines seither als »Agrarfabrik« vielfach kritisch bewerteten Agrarbetriebs (Gegen Agrarfabriken 1965; Rinke 2000). Er ist nicht deckungsgleich mit der Landwirtschaft, aber von seiner Existenz hängt die Versorgungssicherheit bis heute ab. Kri-
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tik und Begriff verdeutlichen, wie schwierig es ist, ländliche Orte der Moderne zu benennen. Historisch ungebräuchlich, fachwissenschaftlich nicht verwandt, verweist »Agrarbetrieb« auf Veränderungen, durch die sich Anbau, Ernte und Absatz von Agrarprodukten in den letzten 200 Jahren grundlegend neu gestalteten: die Ökonomisierung und Rationalisierung eines Ortes der Primärproduktion, in dem Leben und Arbeit einst direkt aufeinander bezogen waren. Die deutschen Kameralisten des späten 18. Jahrhunderts mochten auf Gewerbeentwicklung zielen, doch sie setzten stets eine rationale Landwirtschaft voraus (Pfeiffer 1773; von Benekendorf 1786). Ausgehend vom englischen Beispiel verstanden Agrarwissenschaftler wie Albrecht Thaer schon Anfang des 19. Jahrhunderts die Landwirtschaft als Gewerbe, mit dem ein Einkommen zu erzielen sei. Ihre Wissenschaft habe dem »möglichst höchsten Erwerb« und dem »höchst möglichen Gewinn« zu dienen (Thaer 1815, 2f.). Gegenüber dem »Bauernhof« spiegeln sich im Begriff des »landwirtschaftlichen Betriebs« eine Abkehr von der Selbstversorgung und eine zunehmende Absatzorientierung wider. Doch blieb der »Agrarbetrieb« noch stark von bäuerlichen Traditionen geprägt. Er war anfangs ein Ort modernen Wollens, der noch vielfach in alten Strukturen befangen war. Mustergütern wie Popiollen zum Trotz war die erst in den fünfziger Jahren einsetzende umfassende Mechanisierung, Kapitalisierung und Chemisierung der Landwirtschaft noch kein Massenphänomen. Die Landwirtschaft war durch eine Vielfalt von Betriebsformen charakterisiert. 1882 gab es im Deutschen Reich knapp 5,3 Millionen landwirtschaftliche Betriebe, 1907 über 5,7 Millionen. Die Mehrzahl waren Zwergbetriebe mit bis zu zwei Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche. Über 20 Hektar bewirtschafteten 1882 lediglich 306.501 Betriebe, 1907 lag ihre Zahl bei 285.757, heute sind es etwa 170.000. Die Größe der Agrarbetriebe wies zudem immense regionale Unterschiede auf, die naturräumliche Gegebenheiten, heterogene Besitzverhältnisse (Grund- und Gutsherrschaft), unterschiedliche Sozialverfassungen und Erbrechte widerspiegelten. Die ökonomische Funktion Popiollens bestand in der arbeitsteiligen Versorgung städtischer Märkte. Markt- und Eigenproduktion waren seit dem Spätmittelalter eng aneinander gebunden. Bevölkerungswachstum, größere Binnenmärkte und städtische Konsumzentren sowie insbesondere die Verbilligung des Transports durch die Eisenbahn erhöhten die Absatzmöglichkeiten wesentlich (Kopsidis 1996). Trotz Agrarreformen und zunehmenden Kapitaleinsatzes entwickelte sich in Deutschland – anders als etwa in Großbritannien – im 19. Jahrhundert nicht die von Agrarökonomen erwartete »landwirtschaftliche Industrie«. Weil mittlere und kleine Betriebe dominierten, konnten Größen- und Verbundvorteile nicht ausgeschöpft werden. Maschinen wurden nur moderat eingesetzt, der Düngerverbrauch stieg nur langsam. Produktivitätsgewinne wurden vor allem durch veränderte Nachfragestrukturen hervorgerufen, insbesondere durch die Veredelungswirtschaft, also die Produktion von Fleisch, Milch und Milchprodukten sowie von Obst und Gemüse. Nur zögerlich wurde die Landwirtschaft kapitalintensiver, neue wissenschaftlich propagierte Sorten und Arten drangen vor, genossenschaftliche Produktions- und Absatzformen stabilisierten die Mittel- und Kleinbetriebe (Achilles 1993; Zimmermann 1998;
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Wieland 2004). Dennoch waren die deutschen Agrarbetriebe spätestens seit den 1870er Jahren der internationalen Konkurrenz nicht mehr gewachsen (Schmoller 1882). Mit der wettbewerbshemmenden Schutzzollpolitik seit 1878/79 wurde der Agrarsektor gegenüber einer umfassenden Ökonomisierung politisch geschützt. Doch Agrarbetriebe können nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Absatzorientierung verstanden werden. In einem mittleren hessischen Betrieb zum Beispiel machte um 1900 der Naturalertrag der eigenen Wirtschaft – Grundnahrungsmittel, Viehfutter, textile Rohstoffe – fast die Hälfte der Gesamteinnahmen aus (Rudloff 1911, 280f.). Die Kombination von Marktbezug und Selbstversorgung erlaubte ein Wirtschaften auch abseits der Effizienzkriterien der rationellen Landwirtschaft (Becker 1935, 77). Selbst bei großen Agrarbetrieben war die Eigenwirtschaft ein wichtiger Krisenpuffer. Umso mehr galt dies für den Klein- oder Parzellenbetrieb: »In den Gebieten der größeren Bauernschaften sichert er einen ansässigen, kulturell nicht allzu tiefstehenden Taglöhnerstand. In Industriebezirken erhält er die Seßhaftigkeit der Industriebevölkerung, erhöht die Lebenshaltung derselben durch Zuschußwirtschaft, gibt Frauen und Töchtern der Arbeiter gesunden und gewinnbringenden Nebenerwerb und läßt den Gegensatz zwischen landwirtschaftlicher und industrieller Bevölkerung wenigstens lokal nicht allzuscharf erscheinen« (Kempf 1913, 52f.). Die Folge war jedoch ein relativ geringer Spezialisierungsgrad; effiziente Agrarbetriebe wurden strukturell begrenzt. Weitere Gründe für die nur langsame Ökonomisierung der Agrarbetriebe liegen in sozialen Faktoren. Auch wenn das vormoderne Bild des »Ganzen Hauses«, also eines auf ständischen Verpflichtungen und patriarchalischen Herrschaftsstrukturen gründenden Sozialmodells, idyllenhafte Chimäre ist, so waren doch wechselseitige personelle Abhängigkeiten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein charakteristisch für Land und Landwirtschaft. Auch wenn die soziale Absicherung normalerweise an die Familie oder den Gutshof gebunden war, bestanden erhebliche soziale Unterschiede. Im leistungsfähigen Agrarbetrieb war der Gegensatz von Agrarunternehmer und ländlichen Arbeitern offenbar, doch schon zuvor waren die Bauern keine einheitliche Gruppe (Dipper 1987; Mooser 2001). Bereits die Protoindustrialisierung basierte im 18. Jahrhundert auf einer Kombination von Landarbeit und gewerblicher Produktion, wie sie später viele Kleinbauern praktizierten. Trotz des seit den 1860er Jahren zunehmenden Genossenschaftswesens bestand in vielen ländlichen Regionen eine »Klassengesellschaft« (Mooser 1984). Die Doppelstruktur von Produktions- und Konsumtionsbetrieb wurde insbesondere für die Bäuerin immer stärker zum Problem, war sie doch eine flexible und billige Arbeitskraft in beiden Sektoren (Wunder 2003; Albers 2001). Analog zum gewerblichen Sektor waren Frauen erst einmal Modernisierungsverlierer: Die moderate Maschinisierung des Agrarbetriebs erreichte zwar Feld und Hof, aber zunächst kaum den Haushalt, trotz steigender Ansprüche an Hausarbeit und Hygiene. Die wachsende Absatzorientierung eröffnete den Frauen jedoch finanzielle Spielräume. Den Ertrag aus Naturalien konnten sie zumeist eigenständig verwalten, um Hauswirtschaft und Kleidung zu finanzieren. Allerdings entsprach den steigenden An-
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forderungen keine entsprechende Ausbildung. Von Fachschulen, landwirtschaftlichen Vereinen und Genossenschaften profitierten vorwiegend Männer; die ländlichen Haushaltungsschulen schufen nur ein gewisses Gegengewicht. Die ökonomischen Probleme der landwirtschaftlichen Betriebe führten vor allem in den zwanziger und dreißiger Jahren zu intensiverer Frauenarbeit, zu einem »Abrackern und Abhetzen« (Brand 1933, 28), dass erst seit den fünfziger Jahren vermindert wurde. Angesichts derartiger Probleme verwundert es kaum, dass der Agrarbetrieb immer auch ein Ort für organisatorische und technische Visionen war. Die frühe Hauswirtschaftswissenschaft konzentrierte sich nicht primär auf Modernisierungssymbole wie die »Frankfurter Küche«, sondern befasste sich vielfach mit dem Agrarbetrieb, einer einfacheren Haushaltsführung der Bäuerin und der effizienten Nutzung flexibler Kleinmaschinen. Das Ideal dafür findet sich schon 1815 bei Albrecht Thaer: »Die Wissenschaft erfindet die Idee des Auszuführenden, [...] das Gesetz; Kunst führt es aus durch die Hand des Arbeiters« (Thaer 1815, 168). Technische Innovationen konzentrierten sich zwar in der Regel auf relativ wenige Großbetriebe und spezielle Kulturpflanzen. Aber immerhin gehörten Milchzentrifugen, Kartoffelernte- und Hackmaschinen während der Weimarer Republik zur Standardausstattung eines Agrarbetriebs, ebenso der Einsatz von Kali und Phosphaten. Die wissenschaftliche Betriebslehre setzte Fabrik und Agrarbetrieb gleich, konzentrierte sich auf eine abstrakte Form des Wirtschaftens und wollte den Betrieb über seine Buchführung optimieren. Die Diskussionen der zwanziger Jahre über industrielle Landwirtschaft mündeten in zahllose Konzepte betrieblicher Intensivierung, neuer Kulturpflanzen, veränderter Tierproduktion und normierter Qualitätsprodukte. Besondere Bedeutung gewannen die Visionen Henry Fords: »Der Ackerbau alten Stils ist im Begriff, zu einer romantischen Erinnerung zu werden. [...] Mechanisch betriebene Landwirtschaft bringt den Erfolg – daß tödliche, überbürdende Arbeit aus dem Farmerleben verschwindet. Die mechanisch betriebene Landwirtschaft nimmt die Last dem Menschen ab, um sie Stahl und Eisen aufzubürden« (Ford o. J., 239f.) (STAHLWERK). Diese Vision des amerikanischen Unternehmers sollte in der Sowjetunion unter Millionenopfern durchgesetzt werden und wurde in Europa seit den fünfziger Jahren teilweise Realität. In der Weimarer Republik schien eine fordistische Landwirtschaft jedoch unmöglich, mochten die populären Zeitschriften auch über amerikanische Melkkarusselle oder neueste Züchtungserfolge berichten; vor allem sozialdemokratische Agrarwissenschaftler traten diesem »weißen Sozialismus« auf dem Land entgegen und wollten die deutsche klein- und mittelbetriebliche Struktur bewahrt sehen (Baade 1925; David 1903). Das Modell Fords war seinerzeit in den USA, stärker aber noch in exportorientierten europäischen Kleinstaaten, zum Beispiel in den Niederlanden oder in Dänemark, Realität und Imagination zugleich. Zeitgenossen erkannten unter der »rührenden und anheimelnden« Oberfläche die Wirklichkeit einer Fabrik: »Schweine auf der Waage, Kuhställe, Traktoren. Maschinen machen alles: sie schneiden das Korn, sie bündeln es, sie sortieren es. Sogar die verborgensten Prozesse: das Keimen der Saat oder der Weg des Eberspermas erweisen sich als Teil des laufenden Bandes.
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Der menschlichen Natur ist kein Ausweg zur Flucht gelassen. Von der sogenannten Natur ist Abschied zu nehmen« (Ehrenburg 1930, 425f.). In Deutschland hingegen erlaubte die zersplitterte Produktion keine wirklich einheitliche Qualität, hochwertige Verpackungen waren Ausnahmen, ebenso große Liefermengen. Gerade die weniger geschützte pflanzliche Veredelungswirtschaft konnte mit der Konkurrenz aus Kalifornien und den Niederlanden nicht wirklich mithalten (Heller 1905/06; Sandmann 1906; Erzeugungsverhältnisse 1929). Aufklärung, Normierung und Standardisierung nahmen zu, genossenschaftliche Zusammenschlüsse gewannen weiter an Bedeutung, doch die Vision technisch hochstehender industrieller Agrarbetriebe blieb unerfüllt. Die deutschen Agrarwissenschaftler propagierten eine Politik kleiner Schritte, förderten Bildung, Kunstdüngereinsatz und Kleinmaschinen. Agrar- und Weltwirtschaftskrise hätten die Grenzen der Technik gezeigt, das Fließband die Erschütterungen »nur verschärft« (Brinkmann 1932, 111). Der Agrarbetrieb nährte nicht nur die technischen Visionen der Moderne. In einer Zeit ökonomischer und kultureller Umbrüche schien der Agrarbetrieb eine der wenigen verbliebenen Möglichkeiten, im Einklang mit der Natur zu wirtschaften und zu leben. Natur sollte nicht bezwungen, sondern symbiotisch genutzt werden. Diese Debatte begleitete nicht allein die Lebensreform- und die Siedlungsbewegung. Sie fand sich insbesondere in der sentimentalen Literatur und Karikatur, wurde aber auch in der Werbung seit der Jahrhundertwende immer stärker genutzt. Ihre Anfänge liegen in der romantischen Vorstellung von Landwirtschaft, die zum Vehikel einer allgemeinen Kulturkritik, einer Kritik insbesondere an der kulturellen Moderne wurde. Erst in den zwanziger Jahren startete die Karriere von »Bauernhaus« und »Bauernhof«. Diese organische Rückbindung des Agrarbetriebs bildete ein zentrales Argument für staatliche Interventionen und eine bewahrende Strukturpolitik. Schon um die Jahrhundertwende war eine effiziente Landwirtschaft gefordert, aber einer negativ bewerteten industriellen Moderne entgegengestellt worden, weil »ackerbautreibende Staaten auf die Dauer der Zeit die glücklichsten, zufriedensten« seien (Löbe 1888, 15). Der Agrarbetrieb durchbrach demnach die Abhängigkeit vom Ausland, besonders im Kriegsfall, und den Niedergang der Wehrfähigkeit. Er war ferner Hort unabhängiger Persönlichkeiten, stand für sozialen Frieden, den Ausgleich von Bauern und Arbeitern sowie die Zukunftsfähigkeit eines kräftigen Deutschen Reiches (Dietzel 1923). Seit der Jahrhundertwende mit biologischen Argumenten und kulturellen Dekadenzängsten angereichert, erschien das Bauerntum nun vielen als »Blutsquell der Nation« (Oswald Spengler). Schon vor der Revolution von 1848 wurde es als Feste der Monarchie, Jungbrunnen der Nation und Kraftspender der städtischen Bevölkerung verklärt. Rationelle Landwirtschaft und konservative Deutung mündeten in ein Janusgesicht des volkswirtschaftlichen Primärsektors. In der NS-Zeit dominierten Erbhof und Bauernhof, mochte sich dies mit der Aufrüstung des Dorfes während des Zweiten Weltkriegs auch ändern. Konservative und Nationalsozialisten verstanden die Landwirtschaft weniger als Güter- denn als Wertproduzent: »Das wirtschaftliche Denken des Bauern [...] beginnt nicht mit wirtschaftlichen Erwä-
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gungen, sondern mit einer naturhaften Auffassung von den natürlichen Dingen des lebenden Inventars [...], welches [...] weder einem Rohstoffe noch einem Aufwande, noch einem Kapital oder einer Maschine gleichgestellt werden« dürfe (Ostermayer 1933/34, 639). Die Vorstellungen eines germanischen Bauernreichs am Ende des Rassenkriegs und die funktionale Deutung der Industrie, deren Produkte die »völkische Substanz« bewahren sollten, belegen die immense Dynamik einer Sehnsucht, die sich eine vormoderne Bauernwirtschaft zurückwünschte (Gies 2000).
III. Das rückständige Land? Der Agrarbetrieb im Gefüge anderer Orte der Moderne Der Agrarbetrieb gewinnt seine Bedeutung scheinbar durch die Anbindung an urbane Märkte und die Übernahme städtischer Kultur und Lebensformen. Als wichtiger Teil der Versorgungsinfrastruktur ist er mit dem WARENHAUS unmittelbar verbunden, auch wenn dieses eher vom Großhandel oder von Genossenschaften beliefert wurde. Spezialisierung und Arbeitsteilung verweisen auf das Fließband (STAHLWERK). Doch begrenzte die spezifische Bindung der Landwirtschaft an Boden und Klima dessen effiziente Nutzung. Die wachsende Verschuldung der deutschen Landwirtschaft seit dem späten 19. Jahrhundert und insbesondere während der zwanziger Jahre weiten den Blick für ein etabliertes Geld- und Kreditwesen, dessen Symbol die Börse war. AUTO, TELEFONZENTRALE und ZEITUNGSREDAKTION bildeten Schnittstellen für Transport und Informationsgewinnung, verringerten den Abstand von Zentrum und Peripherie, verdeutlichen aber nochmals den Außenseiterstatus des Agrarbetriebs als Ort der Moderne, die als Landnahme des Ländlichen und als Verlust direkten Naturbezugs erscheint. KLEINGARTEN, STRAND oder KRAFTRAUM wirkten bestenfalls kompensatorisch für den Verlust an Natürlichkeit. Diese Vorstellung verweist auf blinde Flecken in der Selbstdefinition einer Moderne, die simple Gegensätze transportiert. Landwirtschaft und Agrarbetrieb standen im frühen 19. Jahrhundert im Mittelpunkt der Modernisierungsdebatten. Der Agrarbetrieb bildete ein Experimentierfeld für rationale Wirtschaft, angewandte Wissenschaft und effiziente Arbeitsteilung. Erst nach der Revolution von 1848 trat diese Modernisierungsleistung in den Hintergrund – obwohl Industrialisierung und Urbanisierung ohne leistungsfähige Agrarbetriebe nicht möglich gewesen wären. Die Ideologisierung des Landes und insbesondere des Bauern als Hort des Beharrenden wurde gerade von den liberalen urbanen Eliten aufgegriffen. Ackerbau und Viehzucht entschwanden aus dem Horizont immer breiterer Bevölkerungsschichten, der Agrarbetrieb wurde immer mehr zu einem Rohstofflieferanten, der abstrakten Normen von Markt, Handelsklassen und stofflicher Zusammensetzung genügen musste. Doch die Vorstellung einer einseitigen Landnahme unterschätzt die Brüche und Umwandlungen einer Modernisierung, die zwar nach vorn weist, deren Fortschrittsbegriff aber brüchig ist. Die bis heute bestehenden ideologischen
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und doch nicht hintergehbaren Sehnsüchte nach Naturbezug und einer intakten Symbiose von Mensch, Tier, Pflanzen und Umwelt verweisen auf Sinn- und Zukunftsfragen, die Ausdruck und Problem gerade der Moderne sind.
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Sich nahe kommen: Orte des Abstands
Anonymität, Flüchtigkeit und kühle Sachlichkeit gelten als Merkmale der Moderne, Zwischenmenschliches hat einen schweren Stand. Nicht umsonst ist das 20. Jahrhundert von zahlreichen Anstrengungen geprägt, sich Refugien der Geborgenheit, Orte des Rückzugs zu schaffen. Sie richten sich gegen die »Großstadt«, die paradigmatisch für den Verlust von Nähe und Verbindlichkeit steht. Doch selbst hier kann von einem Verschwinden persönlicher Kommunikation nicht die Rede sein: Während sich alte Vertrautheiten aufgelöst haben, sind unzählige neue Gelegenheiten entstanden, anderen zu begegnen und Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Allerdings mischen sich hier Nähe und Distanz auf eigentümliche Weise, denn sie finden meist unter Unbekannten und daher zufällig statt; nicht immer ist klar, ob Annäherung erwünscht oder unerwünscht ist. Es bedarf neuer Techniken, sich anderen zu nähern, ohne ihnen zu nahe zu treten oder sich selbst auszuliefern. Solche Situationen der anonymen Nähe ergeben sich zwangsläufig an den Schnittstellen alltäglicher Mobilität, beispielsweise im Bahnhof, in der U-Bahn oder an ähnlichen Orten der Bewegung. Verbringen Unbekannte auf der Reise oder an Touristenorten gar Stunden, Tage und Wochen miteinander, müssen sie Wege finden, voneinander Notiz zu nehmen und doch unverbindlich miteinander umzugehen. Besonders ausgeprägt ist dies am STRAND, wo sich mehr oder weniger entblößte Menschenmassen dicht an dicht aufhalten. In der Regel grenzen sie sich lieber demonstrativ voneinander ab, als sich zwanglos kennen zu lernen. Im heimischen Alltag wiederholt sich dies in Schwimmhallen und Freibädern mit Liegeflächen, aber auch im Straßencafé: Man betrachtet andere Gäste oder vorüberziehende Passanten und belässt es meist bei der verheißungsvollen Möglichkeit, jemanden anzusprechen. Wer sich im GRANDHOTEL begegnet, ist durch soziale Ausschlussmechanismen bereits vorsortiert. Hier treffen sich Angehörige der lokalen Eliten zu Teestunden, Diners und Bällen, und auch der Ortsfremde kann sich im hohen Standard von Ausstattung und Dienstleistungen wiedererkennen. Der transitorischen Existenz des Durchreisenden offeriert das Grandhotel eine von Komfort getragene Geborgenheit. Noch exklusiver finden sich diese Eigenschaften auf dem Kreuzfahrtschiff wieder, das die Passagiere während der Überfahrt isoliert und dadurch zeitweilig vergemeinschaftet.
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Das TANZLOKAL war über Tanztees und Bälle lange mit dem Grandhotel liiert. Es profiliert sich jedoch als ein Ort, der soziale Distinktionen relativiert, weil beim populären Tanzen Intuition und Intensität maßgeblich werden. Im Spiel mit den Normen von Körperlichkeit stellt das Tanzlokal potenzielle Selbstentgrenzung in Aussicht. Programmatische Spontaneität und die Bereitschaft, sich von Musik mitreißen zu lassen, teilt es mit dem Jazzclub. In der Cocktailbar regiert hingegen Coolness die zwischenmenschliche Begegnung. Doch auch für diesen Ort gilt, dass der Besuch erst dann zum Erlebnis wird, wenn zahlreiche Unbekannte zugegen sind. Im STADION sollen sich die Besucher ebenfalls als Teil einer Zuschauermasse fühlen und in den Bann eines spannenden Sportereignisses gezogen werden. Vor allem bei Fußballspielen übersetzt sich das Zusammensein tausender Menschen in eine Geräuschkulisse, die dem gemeinsamen Erlebnis Ausdruck verleiht, während die Anwesenheit konkurrierender Gruppen zugleich Grenzen schärft. Im Stadion wie am Strand, im Grandhotel wie im Tanzlokal zeigen sich die Anwesenden einander im Licht idealer und normierter Verhaltensweisen. Denn wie im Warenhaus oder im Kino sind Vergnügungen, zumal kommerzieller Art, in der Moderne durch Seherlebnisse geprägt, die gegenseitiges Beobachten mit einschließen.
Der Strand Alexa Geisthövel I. Körpernähe in der leeren Weite: Das »Familienbad« in Westerland auf Sylt, um 1905 Touristen haben sich im »Familienbad« von Westerland auf der Grenze zwischen Land und Meer in einem Raum zueinander gesellt, der auf den ersten Blick kaum Spuren menschlicher Gestaltung trägt. Die Dünenlandschaft der Nordseeinsel trennt ihn von der dahinter liegenden Siedlung, dem Kurort mit seinen Hotels und Pensionen, Kaffeehäusern und dem Kurhaus. Ein Zaun kennzeichnet das Gebiet als Badestelle und hält Unbefugte ab. Leicht erhöht errichtet, verheißt eine entfernte »Giftbude« mit Getränkeausschank Erfrischungen und Aussicht. Es gibt ein paar Windfahnen auf hohen Stangen und hölzerne Böcke am Meeressaum.
7. »Familienbad« auf Sylt, 1907 Materiell besteht der Strand aus Luft, Wasser und Sand, den bewegten Elementen einer zeitlos alten geologischen Formation. Ebbe und Flut verändern täglich sein Gesicht, in der Regel ohne dass sich etwas nachhaltig ändert. Sonne, Wolken, Stürme und Regen wechseln sich ab, außer Seevögeln und winzigen Strandtieren ist hier niemand zu Hause. Dieses Küstenland haben die Inselbewohner Jahrhunderte lang unter großen Anstrengungen gewonnen und erhalten. Doch nicht jedes unbebaute, vom Meer überspülte Uferstück eignet sich als moderner Strand. Schon die Besucher der Seebäder im 19. Jahrhundert, die Strandaufenthalt und Bad noch auseinander hielten, bevorzugten klares Wasser und einen festen, feinen Sandboden mit geringem Gefälle, während Kiesel und Algen unangenehm auffielen (Urbain 1996, 168f.). Der ideale Strand gleicht einer gepflegten, gastlichen Wüste: Er ist roh, leer und weit, zugleich aber sicher, überschaubar und gefällig. Er konfrontiert den Körper mit den Elementen, ohne ihn zu gefährden. Männer, Frauen und Kinder sind teils vollständig angezogen, teils nur mit einem Badeanzug bekleidet, der Arme und Teile der Beine entblößt und als lockere zweite
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Haut den Rumpf verbirgt. Niemand geht einer sichtbaren Beschäftigung nach, die Körperhaltungen drücken Muße aus. Einige Personen baden; schwimmen ist noch nicht sehr verbreitet. Ein Paar schreitet Hand in Hand durch die Brandung, andere stehen mit den Füßen im Wasser und unterhalten sich. Die meisten Leute befinden sich auf der trockenen Sandfläche, beobachten den Himmel, plaudern, spazieren, bereiten sich auf das Bad vor. Frauen mit verschleierten Hüten haben sich auf Stühlen eingerichtet. Die mit sich und der Natur beschäftigten Strandtouristen sind nicht allein, auch wenn mancher dies vielleicht bedauert. Paare und vertraute Grüppchen sind einander zugewandt. Untereinander stehen diese Ensembles in keinem direkten Kontakt, Blicke gehen in alle möglichen Richtungen und treffen auch offensichtlich unbekannte Strandbesucher, während die Betrachteten woanders hinschauen. Eine der Attraktionen des Strandes ist die statische Offenheit des Panoramas. Wo Meer und Himmel in der Horizontlinie zusammenzutreffen scheinen, entsteht das Faszinosum einer absoluten Grenze, die den Blick in die Ferne zieht, ohne dass der Leib ihm folgen könnte (Bollnow 2000, 75). Anders als der Berg enthält der Meereshorizont keine Herausforderung: Er ist ein unbezwingbares Gegenüber. In dieser Landschaft erleben die Menschen anstelle wechselnder, durch Höhenunterschiede hierarchisierter Perspektiven einen für alle gleichen Blick in den Raum. Die Wasseroberfläche zeigt sich als malerisches, leicht bewegtes Gekräusel. Hier, an der Nordsee, ist das Wasser relativ kalt. Es umhüllt, ohne greifbar zu sein, verlangsamt gewohnte Bewegungen, trägt den Badenden und kann in der Welle eine überwältigende Wucht entwickeln. Immer verströmt das Meer seinen typischen Geruch, ist der monotone Rhythmus des Wellenschlags präsent. Turbulenter Wind kann nah gesprochene Worte entführen und entfernte Geräusche herantragen. Die Sonne spendet Helligkeit und Wärme, die der Sand speichert. Im nassen Sand bleiben die eigenen unbeholfenen Schritte und die Spuren anderer längere Zeit sichtbar, er bildet den leicht formbaren Stoff für das Spiel von Kindern und Erwachsenen. Doch was sie buddeln und bauen, wo sie stehen und sitzen, der getrocknete oder vom Wasser überspülte Sand wird es spätestens am nächsten Tag vergessen haben: »Am Strand lebt eine provisorische Welt« (Hennig 1997, 28).
II. Vom Badekarren zum Familienbad: Die Genese des modernen Strandes Der moderne Strand ist nicht aus der technischen oder baulichen Gestaltung von Natur hervorgegangen, obwohl in Landschaften ohne Dünen Badearchitektur häufig zu seinem Erscheinungsbild gehört und in den meisten Seebädern die Hauptpromenade längs des Strandes verläuft. Seinen Platz in einem Ensemble moderner Orte verdankt er in erster Linie Praktiken des Badens und Verweilens am Meer, mit denen seit der Wende zum 20. Jahrhundert immer mehr Menschen ihre Ferien verbrachten. Die Vorgeschichte des modernen Strandes reicht bis zur Mitte des 18.
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Jahrhunderts zurück. Seit dieser Zeit verwandelte sich die als wüst, gefährlich und trostlos wahrgenommene unbewohnte Küste in einen begehrenswerten Ort (Corbin 1990). 1750 beschrieb der englische Arzt Richard Russell die medizinische Anwendung des Meerwassers. Seine heilsame Wirkung erprobten Kranke zuerst an der südenglischen Küste in Fischerdörfern wie Brighthelmstone (Brighton). 1793 gründete Herzog Friedrich Franz I. das erste deutsche Seebad Doberan-Heiligendamm in Mecklenburg, 1797 folgte das Oldenburger Nordseebad Norderney. Mit steigenden Besucherzahlen aus dem Bürgertum entstanden in den wachsenden Badestädtchen Hotels, Theater, nächst dem Strand gelegene Promenaden und prächtige, zum Meer geöffnete Gesellschafts- und Kaffeehäuser. Der Kuraufenthalt im Seebad wies bereits wichtige Elemente des modernen Strandlebens auf, die allerdings noch räumlich trennten, was später an einem Ort zusammenkam: im Wasser die Erfahrung des Badens, des Eintauchens, der körperlichen Transformation; in den urbanen Institutionen des Badeorts eine relativ freizügige Interaktionskultur, denn der zwanglose gesellige Umgang mit anderen Kurgästen galt als ebenso wichtig für den Erfolg der Kur wie eine disziplinierte, kurgerechte Lebensweise. Der Strand selbst blieb dabei weitgehend ausgespart, denn die Badenden durchquerten eiligst die sandige Zone zwischen heilendem Wasser und sicherer Uferzivilisation. In einem Badekarren, einer hölzernen Kabine auf Rädern, ließen sie sich von Pferden ins seichte Wasser ziehen und stiegen über eine kleine Treppe, beschirmt von einer bauchigen Markise, ins Wasser. Assistiert von Badedienern tauchten sie an Ort und Stelle mehrere Male unter oder ließen sich einige Minuten von der Brandung bespülen. Sich dem möglichst kalten Meerwasser auszusetzen, beschrieben Mediziner als nicht ungefährlichen, aber wohltätigen Schock. Mitte des 19. Jahrhunderts erweiterte sich der Bewegungsradius um den Badekarren. Zugleich hielten einfache Zelte und Hütten Einzug am Strand, der nun auch für längere Aufenthalte genutzt wurde. Von der windreichen Ostseeküste aus verbreitete sich seit den 1880er Jahren der Strandkorb als mobile Kombination aus Sitzgelegenheit, Wind- und Sonnenschutz. Noch war es allerdings unüblich, sich direkt aus dem Wasser kommend im Sand oder im Strandkorb niederzulassen. Am Strand hielt man sich angezogen auf. Auch wildes Baden außerhalb der ausgewiesenen Strandbäder war nicht vorgesehen. Erst in den zwanziger Jahren fanden Behörden und Badende am gewohnheitsmäßigen »freien« Baden nichts mehr auszusetzen. Je freizügiger die Badenden sich von ihrem Gehäuse fortbewegten, desto mehr wurde die Öffentlichkeit ihrer Körper zum Problem. Hatten bürgerliche Männer und Frauen noch im frühen 19. Jahrhundert zuweilen nackt und in Sichtweite voneinander gebadet, wurde Badekleidung nun Vorschrift und die Badestelle nach Geschlechtern getrennt. An den dreigeteilten Stränden waren bestimmte Abschnitte zu festen Tageszeiten als Damen- und Herrenbad ausgewiesen. Dazwischen lag die »neutrale Zone«, wo sich aufhalten konnte, wer nicht badete. Der moderne Strand war in Deutschland ein Produkt des bürgerlichen Tourismus, der nach 1870 verstärkt einsetzte. Dieser Trend forcierte die soziale Segmentierung des Bädermarkts in ein breit gefächertes Angebot vom preiswerten Fischer-
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dorf mit bescheidenem Pensionsbetrieb bis zum Luxusbad mit großstädtischem Unterhaltungsangebot und Komfort. Letztere verwandelten die Insel Usedom geradezu in einen »Vorort von Berlin«, denn nach Heringsdorf zog es nicht nur Kaiser Wilhelm II. und Teile des alten Adels, sondern auch viele (neu-)reiche Hauptstädter (Tilitzki/Glodzey 1984, 520ff.). Dagegen hatten englische Seebäder schon seit den 1840er Jahren zahlreiche proletarische Gäste. 1893 konnte Blackpool bereits zwei Millionen Besucher aufweisen (Walton 1983, 72). Eine besondere Attraktion waren eiserne Piers, die mehrere hundert Meter ins Meer hinein führten und mit Verkaufsund Spielbuden besetzt waren. Einen regelrechten Vergnügungspark gab es am städtischen Strand von Coney Island bei New York, wo sich um 1900 an Sommerwochenenden rund eine halbe Million Menschen amüsierten (Löfgren 1999, 229). Solche Amüsierstrände gab es im Deutschen Kaiserreich nicht. Stattdessen frequentierten zahlreiche deutsche Bürger Orte wie das belgische Blankenberghe, das als respektables Mittelschichtbad galt, aber ebenfalls einen Vergnügungspier hatte (Ostende 1906/07, 54). An der belgisch-niederländischen Küste lernten Deutsche bereits in den 1880er Jahren auch gemischte Bäder kennen, die daheim als sittengefährdend noch nicht zugelassen waren. Erst 1901 öffneten auf Helgoland, ein Jahr später in Westerland auf Sylt ebenfalls »Familienbäder«. Hier sollten die auf Damen- und Herrenstrand verteilten Familien gemeinsam baden können. Diese Einrichtung setzte sich bis zum Ersten Weltkrieg in vielen anderen Badeorten durch (Spode 1990, 62; Wördemann 1992). Obwohl beispielsweise Alleinstehende keinen Zutritt zum Familienbad hatten, öffnete es den Strand für Formen des Beisammenseins, in deren Mittelpunkt der Umgang mit vertrauten und unvertrauten Menschen stand. Der Übergang von Land und Meer rückte damit ins Zentrum des Badelebens. Auf der kollektiven Verweilfläche des umzäunten Strandbads lockerte sich die rigide Routine der Kurvorschriften, während das Ambiente aus Meer, Sand und Sonne seine Eigendynamik entfaltete: »Am Familienstrand sucht der eine sofort die gestern mit Mühe erbaute Burg und geht, wenn das gierige Meer über Nacht sie zerstört, frisch und froh an den Neubau. Die Andern liegen auf Decken und lesen, träumen, schlafen. [...] Dieses Leben in stärkender, kräftiger Seeluft, ungebunden und sorglos, mit dem Blick auf das bald smaragdgrüne, bald tiefblaue [...], unendliche Meer, ist ein großer, wenn nicht der größte Heilfaktor« (Badedirektion 1904, 18f.). Kurmäßige, gewissenhafte Gesundungsarbeit blieb am modernen Strand zunächst weiterhin relevant, aber Badefreuden und erholsames Nichtstun rückten in den Vordergrund. 1913 zählten die deutschen Seebäder von Ahlbeck bis Zoppot rund 700.000 meist bürgerliche Gäste (Prignitz 1977, 132), während die Unterschichten ihr Badevergnügen auf städtische Fluss- und Seebadeanstalten beschränken mussten, die zum Teil mit Strandkörben und aufgeschüttetem Sand Strandimitationen schufen. Erst in der Weimarer Republik wurden die alten Forderungen der Arbeiterbewegung nach mehr Freizeit unter anderem mit fünf bezahlten Urlaubstagen eingelöst. Doch selbst die Bemühungen um einen organisierten Arbeitertourismus änderten nichts daran, dass die Ferienreise noch nicht zum Allgemeingut wurde, obwohl sie
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nun am Erwartungshorizont aller Bevölkerungsgruppen aufstieg (Keitz 1997). Es waren vor allem Angehörige der Mittelschichten, die in den zwanziger Jahren an die Küsten strebten: Voll entfaltet war nun der allen zugängliche Badestrand, an dem man sich mehr oder weniger entblößt und in Gesellschaft anderer aufhielt, um sich zu erholen und etwas zu erleben. Derweil erfand ein junges amerikanisches Ehepaar an der französischen Riviera den hedonistischen Strand. Sara und Gerald Murphy kultivierten in Antibes hochsommerliches easy-living: Sonnenbaden und Schwimmen, die Wechselbäder intensivierter Körperempfindung, wurden in ihren Kreisen der weltläufigen jeunesse dorée zur zentralen Tagesbeschäftigung und Sonnenbräune zum Schönheitsideal. Amouröse Libertinage, Jazz, Spritztouren im Auto, Cocktails und Strandpartys grundierten das raffiniert schlichte Ambiente des mediterranen Spaßstrandes (Löfgren 1999, 166-170). Da die Region von vornehmen englischen Wintergästen gelebt hatte, waren im 19. Jahrhundert mehrere Versuche gescheitert, in Nizza eine Sommersaison zu etablieren. 1931 beschlossen die Hoteliers der Côte d’Azur mit Erfolg, ihre Häuser auch über den Sommer offen zu halten. Damit erhöhte sich die Temperatur der international kursierenden Vorstellungen des Strandes: Er wurde nun auch weiter im Norden als sommerlich und heiß imaginiert. Lange bevor der »Süden« zu einem massenhaften Reiseziel wurde, begann er sich als Sehnsuchtsort eines unbeschwerten und doch erlebnisreichen Lebensgefühls zu etablieren. In den sechziger Jahren erhielt diese Strandstimmung eine nachhaltig jugendlich-sportliche Färbung, als mit Surfmusik und -spielfilmen das urbane Strandleben Kaliforniens Einzug in die Popkultur hielt. Vorerst aber war selbst der Badeurlaub im eigenen Land noch ein Desiderat, das Regierungen unterschiedlicher Couleur in den dreißiger Jahren stark politisierten. Die 1933 nach dem Vorbild der faschistischen »Opera nazionale dopolavoro« gegründete »Nationalsozialistische Gemeinschaft ›Kraft durch Freude‹« (KdF) stieg zum weltweit größten Veranstalter preiswerter Reisen auf (Spode 1990, 69). In Massenbädern wie dem nicht mehr in Betrieb genommenen Prora auf Rügen sollten Hunderttausende Volksgenossen erstmals Ferien am Meer machen. Realität wurde die Ferienreise für alle erst in den Wohlstandsgesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg. Um 1970 etablierte sich der Strandurlaub in der kalendarischen Routine. Dabei fächerte sich die bestehende Bandbreite von Szenarien und Praktiken des Strandlebens weiter auf. Ballermann, Techno-Partys in Goa, die Campingwagenburgen der Surfer vor den Küsten Marokkos, Champagner an der Buhne 16 auf Sylt, zelten an griechischen Gestaden oder Gummistiefelurlaub im Nationalpark Wattenmeer – damit sind feine oder weniger feine Unterscheidungen verbunden, mit denen Strandbesucher an ihrer sozialen Identität arbeiten. Sie werden vielfach von Imaginationen angeleitet, die den Strand bereits im späten 19. Jahrhundert als Ort des erträumten Anderen ausgaben (VÖLKERKUNDEMUSEUM). Als besonders einflussreich haben sich seither Strategien der Exotisierung erwiesen, die sich tropisch-südseeischer Elemente bedienten (Urbain 1996, 151). An der amerikanischen Hawaii-Mode der späten vierziger und fünfziger Jahre etwa partizipierten
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neben Reiseunternehmen auch Musik- und Filmproduzenten, Bekleidungsindustrie und Innenausstatter. Die heute gängigste Vision des Strandes sieht ihn denn auch als paradiesisches Ensemble aus Palmen, glasklarem Wasser und feinstem Sand (Löfgren 1999, 213f.). Werbung für den Strand zeigte ihn um 1900 als verlockend und leicht erreichbar (Kolbe 2004), Werbung mit dem Strand zeigt mittlerweile die Konsumenten von Rum, Süßigkeiten, Duschgel oder Parfum in schwer zugänglichen und daher umso begehrenswerteren Settings. Schauplatz von Werbefilmen sind häufig Privatstrände, an die sich Reiche auch in der Realität zurückziehen. Wer über solche Mittel nicht verfügt, kann es mit Entdeckergeist versuchen: In der versteckten Bucht, die man mit keinem Unbekannten teilen muss, erscheint der Strandaufenthalt als freiwillige Robinsonade – kein beängstigendes Szenario des Gestrandetseins an einem gottverlassenen Landstrich, sondern ein Traum im Zeitalter des Massenstrandes.
III. Alltagsferne und intime Anonymität: Modernitätserfahrungen am Strand Um 1900 lag der Strand nicht verloren an der Meeresküste, sondern war eingebettet in die Infrastruktur von Touristenorten: auf der einen Seite eine scheinbar weltenthobene Szenerie, auf der anderen Seite Freizeitarchitekturen und Dienstleistungsapparate, die für den weltlichen Komfort sorgten. Man kann Seebäder als eine Kreuzung aus GRANDHOTEL und KLEINSTADT beschreiben, denn hier trafen Urbanität und Abgeschiedenheit, Erlebnis und Entschleunigung aufeinander. Die Ortsfremden begegneten einander in »touristischer Geselligkeit«: Herausgelöst aus vertrauter Umgebung, ihren Verbindlichkeiten, Interessen und Positionierungen, glichen sie sich in ihrer sozialen Vereinzelung am fremden Ort, die durch die Öffentlichkeit im Alltag privater Aktivitäten aufgehoben wurde (Gleichmann 1969, 73ff.). Beispielsweise aßen Fremde lange Zeit mehrmals täglich gemeinsam an der Wirtstafel. Darüber hinaus erzeugten organisierte Geselligkeitserlebnisse wie Wattwanderungen zu Blasmusik eine Intimität, die aufgrund ihrer begrenzten Dauer Spielräume für außeralltägliche Annäherungen öffnete (Keller 1973, 78). Allerdings konnte die riskante Nähe auch das Gegenteil bewirken und Grenzziehungen verstärken. Der ausgeprägte »Bäderantisemitismus«, der schon im Kaiserreich ganze Inseln für »judenrein« erklärte, ist ein Indiz für die ausschließenden Effekte des Tourismus (Bajohr 2003, 12). Interaktionen im Seebad waren jedoch nicht auf Unbekannte beschränkt. Reisten Kurgäste häufig noch allein, verbrachten Kleinfamilien oder größere Verwandtschaften, Freunde und Paare an der See gemeinsam Zeit, die nicht unter dem Druck vielfältiger Alltagsverpflichtungen stand, dafür aber mit der Erwartung gelingender emotionaler Nähe besetzt war. Der Badekarren gab dem Aufenthalt am wenig besuchten Strand noch ein individualisiertes Gepräge vor. Mit dem Strandkorb galt es dagegen, den eigenen Platz am vollen Strand zu behaupten. Als typisch deutsches Phänomen gilt die Sandburg
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– ob heftigen Böen oder militaristischen Dispositionen geschuldet, sei dahingestellt. Um 1900 wurde sie meist als veritabler Wall um den Strandkorb errichtet und mit Wimpeln, Muschelornamenten oder gar politischen Losungen geschmückt. Auf Fotografien deutscher Nord- und Ostseestrände ist denn auch häufig eine Maulwurfshügel-Landschaft zu sehen, die der Parzellenstruktur des KLEINGARTENS oder des APPARTEMENTS ähnelt (Prignitz 1977, 151). Trotz dieser Vorkehrungen war es am Strand fast unmöglich, anderen nicht zu nahe zu treten. Dies bedingte allein die schiere Menschenfülle, denn auch vor der Ära des Handtuch-an-Handtuch besetzten »Teutonengrills« war der Strand ein Ort hoher sozialer Dichte. Dabei ist nicht zu entscheiden, ob diese als bedrängendes crowding ertragen oder als reizvolle Belebtheit geradezu gesucht wurde. Die seit den frühesten Tourismuskritikern immer wieder unterstellte natürliche Vorliebe für den menschenleeren Strand muss vielmehr als Reflex auf die »Massenkultur« am vollen Strand verstanden werden. Die Eigenschaft, Menschenmengen zum Zweck des populären Vergnügens an einem Ort zu versammeln, teilte der Strand mit KINO, STADION und TANZLOKAL. Allerdings fokussierten Kino und Stadion das Publikum auf ein zentrales Geschehen von begrenzter Dauer. Die räumliche Beschaffenheit des Tanzlokals und die Verausgabung beim Tanzen kontrastierten mit der Naturweite des Strandes und der Entspannung unter freiem Himmel. Beide jedoch brachten auf verschiedene Weise die Verschmelzung mehrerer Sinneseindrücke zustande und ermöglichten damit außeralltägliche Formen der Selbstempfindung. Die Erfahrung intimer Anonymität war am Strand besonders präsent, weil dies – neben dem städtischen Schwimmbad – der Ort öffentlich entblößter Körperlichkeit war. Techniken des Ausweichens und der Blickvermeidung waren gefragt, die auch in der U-Bahn oder im Fahrstuhl gepflegt wurden. Allerdings musste sich mit der Gewöhnung an das Nackte erst eine Praxis des »bekleideten Blicks« herausbilden (Erving Goffman, zit. n. Edgerton 1979, 152). Da man stundenlang in nächster Nähe beieinander verweilte, konnte man andere ausgiebig beobachten. Diese Konstellation ermöglichte eine Lust am Schauen, die jedoch – anders als im STRIPTEASELOKAL – mit Rücksichtnahme einhergehen musste, um verträglich zu bleiben. Nicht umsonst wurde und wird der Strand als Ort der Überschreitungen interpretiert. Vor allem im englischen Kontext erscheint das unsichere Terrain zwischen Land und Meer als pleasure ground, der das legitime Vergnügen ebenso beherbergte wie das Unerlaubte. In der Tradition der Kurorte stand die Geselligkeit der Seebäder unter anderem im Ruf sexueller Freizügigkeit, selbst wenn sie nicht wie das Brighton der zwanziger Jahre zum Inbegriff des Seitensprungs am dirty weekend wurden (Shields 1991, 105-109). Die Lust am Baden auf verdrängte Sexualität zurückzuführen (Corbin 1990, 106f.), erscheint jedoch zu simpel, obwohl das Meer zweifellos mit sexualisierten Überwältigungsphantasien in Verbindung gebracht wurde. 1895 blieb der Basler Arzt Adolf Haegler im normannischen Villers-sur-mer, während Frau und Töchter badeten, skeptisch zurück, irritiert von der Flut, die zuerst nur »den Sand befeuchtet & dann wieder zurückweicht, aber jede Minute
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weiteres Terrain gewinnt und [...] bald den ganzen Boden unüberwindlich unter ihre Herrschaft nimmt, ganz wie die Sünde« (zit. n. Schumacher 2002, 46f.). Die erotische Projektionsfläche des badenden Körpers ergab sich aus der Spannung von Bedeckung und Blöße. Um 1900 regelten Vorschriften Reichweite und Transparenz des Badekostüms detailliert, doch in der Tendenz zog sich das Gewebe nach und nach auf jene Zonen zurück, die am stärksten tabuisiert waren. Unabhängig von diesem Trend hatte bereits die bürgerliche FKK-Bewegung des Kaiserreichs von der Öffentlichkeit streng abgeschottete »Luft- und Lichtbäder« eingerichtet. Doch obwohl es auch eine proletarische Praxis des Nacktbadens gab und 1931 in St. Peter-Ording der erste offizielle Nacktbadestrand eröffnet wurde, kam es nur wenigen Strandbenutzern in den Sinn, sich völlig zu entkleiden. In hohen Auflagen kursierten dagegen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts humoristische Darstellungen des Badens. In Karikaturen und auf Witzpostkarten wimmelte es von grotesken und nackten Körpern. Junge Frauen posierten in tropfnassen Badeanzügen als leicht zu habende Objekte der Begierde; voyeuristische Szenen – die Beobachtung eng umschlungener Paare durch ein Guckloch in Strandkorb oder Zaun – waren zu sehen, ebenso aber Momente, in denen Repräsentanten der Moral bei Freizügigkeiten ertappt wurden (Timm 2000, 65f.; Shields 1991, 97ff.). Der entblößte und bewitzelte Körper am Strand war Tummelplatz einer Vielzahl von Diskursen, die seine Gesundheit thematisierten. Nervöse Entscheidungsträger und schwächliche Kinder wurden zur Kräftigung an den Strand geschickt. Andere Verbindungen liefen vom gesunden zum schönen (schlanken, gebräunten) und zum sportlichen Körper (KRAFTRAUM), der sich am Strand von der Naturgewalt des Wassers herausfordern ließ und den drohenden Kontrollverlust durch Fertigkeiten wie Schwimmen, Tauchen, später auch Wellenreiten meisterte. Wie andere Segmente der modernen Freizeitkultur ist der Badeurlaub Gegenstand kulturkritischer Deutungen geworden. Schon früh bemängelten Heimatbewegte und andere Kritiker touristischen Kommerz. Gemessen an der Bildungsreise und einer sensiblen Begegnung mit der Natur erschienen ihnen die Touristen oberflächlich und passiv. Dies setzt sich auf gewisse Weise bis in die Gegenwart fort, wenn reisende Individualisten sich selbst mit dem Prädikat der Neugier auf das Fremde adeln, während sie den Massentouristen nur als stumpfen Konsumenten sehen können. Andere Deutungen haben die Gleichförmigkeit von Arbeits- und Freizeitwelt kritisiert (STAHLWERK). Im seriengefertigten Urlaub mit seiner Parodie der »totalen Mobilmachung« liege keine Alternative zu den alltäglichen Mechanismen der rationalen Moderne (Enzensberger 1987, 670ff.). Neuere anthropologische Interpretationen betonen dagegen den kreativen Kern der touristischen Erholung. Überschreitungen von Raum und Sitten, Reisen in imaginativ aufgeladene Welten hielten jenen Spielraum offen, der die Gesellschaft vor Erstarrung bewahre (Hennig 1997, 91). Am modernen Strand verrichte der Freizeitmensch Arbeit am Selbst, die das Libidinöse gegen das Übergewicht des Verstandes wieder zur Geltung bringe (Shields 1991, 112).
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Diese Deutungen gehen von vermeintlich natürlichen Bedürfnissen des Menschen aus, die im Freizeitverhalten zum Ausdruck kommen oder kommen sollten. Dabei lassen sich die Motive des Strandaufenthalts ebensowenig wie andere touristische Formate essentiell bestimmen. Als grundlegend kann mit Erwin Scheuch lediglich der Distanzgewinn zum Alltag gelten (Spode 1995, 110), der alternative Erfahrungen von Raum, Zeit und Selbst eröffnet hat. Der moderne Strand schuf distanzbewusste Nähe zwischen unbekannten Körpern und enthielt das Versprechen einer temporären Verwandlung: Erholung durch erlaubtes Nichtstun in einem Ambiente zahmer Naturgewalten.
Literatur Bajohr, Frank (2003): »Unser Hotel ist judenfrei«. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt. Badedirektion (Hg.) (1904): Beschreibung des Nordseebades Helgoland, Cuxhaven/Helgoland. Bollnow, Otto Friedrich (2000): Mensch und Raum (1963), 9. Aufl., Stuttgart. Corbin, Alain (1990): Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste 1750-1840, Berlin. Edgerton, Robert E. (1979): Alone Together: Social order in an urban beach, Berkeley. Enzensberger, Hans Magnus (1987): Eine Theorie des Tourismus (1958), in: Universitas 42, 660676. Gleichmann, Peter G. (1969): Zur Soziologie des Fremdenverkehrs, in: Wissenschaftliche Aspekte des Fremdenverkehrs, Hannover, 55-78. Hennig, Christoph (1997): Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur, Frankfurt/Leipzig. Keitz, Christiane (1997): Reisen als Leitbild. Die Entstehung des modernen Massentourismus in Deutschland, München. Keller, Peter (1973): Soziologische Probleme des modernen Tourismus. Unter besonderer Berücksichtigung des offenen und geschlossenen Jugendtourismus, Bern/Frankfurt. Kolbe, Wiebke (2004): Viel versprechende Strandwelten. Ein Werkstattbericht über den Umgang mit Bildquellen am Beispiel früher Seebäderplakate, in: WerkstattGeschichte 13, 42-56. Löfgren, Orvar (1999): On Holiday. A history of vacationing, Berkeley. Ostende, Blankenberghe, Heyst und die anderen belgischen Seebäder (1906/07): 3. Aufl., bearb. v. Otto Fiedler, Berlin. Prignitz, Horst (1977): Vom Badekarren zum Strandkorb. Zur Geschichte des Badewesens an der Ostseeküste, Leipzig. Saison am Strand (1986): Badeleben an Nord- und Ostsee, Herford. Schumacher, Beatrice (2002): Ferien. Interpretationen und Popularisierung eines Bedürfnisses, Schweiz 1890-1950, Wien u.a. Shields, Rob (1991): Places on the Margin. Alternative geographies of modernity, London. Spode, Hasso (1990): Der moderne Tourismus – Grundlinien seiner Entwicklung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Dietrich Storbeck (Hg.), Moderner Tourismus. Tendenzen und Aussichten, 2. Aufl., Trier, 39-76. Ders. (1995): »Reif für die Insel«. Prolegomena zu einer historischen Anthropologie des Tourismus, in: Christiane Cantauw (Hg.), Arbeit, Freizeit, Reisen. Die feinen Unterschiede im Alltag, Münster/New York, 105-123.
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Das Grandhotel Habbo Knoch I. Gesellschaftsbühne der Nachzügler: Kaiserhof, Berlin, 1875 Abend für Abend ließen die erleuchteten Fenster des Kaiserhofs vorübergehende Passanten am Leben der Oberschichten teilhaben. Die Lichtinseln inszenierten das erste moderne Grandhotel Berlins als einen Ort des Erlesenen, der Sehnsucht und des Verborgenen. Vieles blieb Projektion, denn das Haus war um Diskretion bemüht. Doch die illustre Hotelgesellschaft bot hinreichend Anlass für Gerüchte und Spekulationen. In welchen Zimmern und neben wem wohl jene Gräfin schlief, sich ankleidete und speiste, deren Ankunft in der Zeitung vermeldet worden war? Gewiss logierte sie in einem der unteren Stockwerke, denn darüber wohnten in kleineren Räumen Reisende ohne Dienstpersonal. Zum Träumen lud auch das Erdgeschoss ein, das üppige Diners und Wohltaten versprach, die den meisten Bewohnern der Stadt kaum dem Namen nach bekannt waren. Den imposanten Neubau hatten 1875, mitten im Gründungsfieber des Kaiserreichs, Berliner und Fremde gleichermaßen bestaunt: Nach allen Seiten stand er frei und erhob sich fünf Stockwerke hoch auf einer rechteckigen Grundfläche. Kritiker beklagten die Tristesse der langweilig gegliederten Fassade, die den modernen Nutzbau verriet. Dennoch war der Kaiserhof Wegbereiter: Um Jahrzehnte gegenüber den USA, England oder Frankreich verspätet, setzte mit ihm der Bau von Grandhotels in Deutschland ein, die sich durch Größe, Komfort und Exklusivität auszeichneten. Zwar gab es mit dem Badischen Hof in Baden-Baden (1809) oder dem Hotel Vierjahreszeiten in München (1856) bereits einzelne namhafte und fortschrittliche Häuser. Aber ein Hotel, das nicht aus einem Wohngebäude entstanden und genau für den Zweck gebaut war, Gäste zu beherbergen, und viel Raum für Geselligkeit bot – das war neu und angesichts der hohen Investitionskosten wagemutig. Der Standort war mit Bedacht gewählt: »Unter den Linden«, wo bis dahin vor allem Adlige und frühe Unternehmer wie Krupp in exklusiven, aber keineswegs luxuriösen Hotels unterkommen konnten, war nicht mehr unbedingt erste Wahl. Die Lage dieser Häuser aber zeugt noch unmittelbar von der feudalen Traditionslinie der städtischen Grandhotels, die in Ausstattung und Gestus viel von adeligen Palais und Residenzen übernahmen und dennoch einen eigenen Stil herausbildeten. Die Nähe des Kaiserhofs zum Anhalter und zum Potsdamer Platz bot geeigneten Bauplatz, sollte aber vor allem das Hotel seinen Gästen näher bringen. Für »vornehme Fremde« ging es vom Bahnhof aus zum Kaiserhof als Tor zur neu entstehenden City Berlins, die sich nach Norden hinauf zu den Linden als Zentrum der Geschäfte, des Regierens und des Vergnügens entwickelte. Anders als viele der späteren Grandhotels in Berlin lag der Kaiserhof noch nicht unmittelbar an einem der Bahnhofsplätze. Haus und Gäste von dem immer agileren Treiben dieser Dreh-
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scheiben fernzuhalten, war angesichts des wenig ausgereiften Lärmschutzes durchaus von Vorteil. In der Größe repräsentativ, aber im Außendekor eher zurückhaltend warb der Kaiserhof seine Gäste vor allem über seine Verheißungen von Komfort, Rückzug und Geselligkeit. Er konnte sich durchaus mit seinen Vorbildern in London und Wien messen, war aber in technischer Hinsicht längst nicht so spektakulär wie 30 Jahre später das Adlon. Teilten sich dort zwei Gäste die Privatheit eines Bades, so verfügte der Kaiserhof, dem damaligen Standard entsprechend, lediglich über eine Hand voll Toiletten und ein Bad pro Etage mit 60 Zimmern. Die Etagen selbst stellten unterschiedliche Zimmer je nach Status bereit: Die Räume im ersten und zweiten Stock waren größer, ihre Decken höher, und sie konnten für reisende Familien und längere Aufenthalte zu APPARTEMENTS zusammengelegt werden. Was in Nutzung und Repräsentation noch sehr an die Beletage der Privatwohnungen erinnert, diente vielen zur Dauernutzung und findet sich bis heute in der luxuriösen Suite und neuerdings in »Serviced Apartments«, die Geschäftsleuten übergangsweise privates Wohnen und Rundumversorgung anbieten. Im Kaiserhof waren die kleineren Räume in den oberen Etagen eher Einzelreisenden mit kürzerer Aufenthaltsdauer vorbehalten – einer seit den Gründerjahren wachsenden Zielgruppe. Modern war der Kaiserhof vor allem wegen des Raumprogramms im Erdgeschoss: Seine ganze Fläche diente Durchgang, Aufenthalt, Zusammensein und Verwaltung – in diesem Umfang ein Novum in deutschen Städten. Wie in den großen Hotels in London oder Wien befanden sich auch im Kaiserhof an der Vorderfront Räume für Läden und Cafés. Wer eintrat, gelangte von der Vorhalle über das Vestibül in einen glasbedeckten Innenhof, der sich über zwei Stockwerke nach oben erstreckte. Diese ausgeprägte, im Speisesaal endende Achse war typisch für das moderne Grandhotel. Der griechischen Tempeln nachempfundene Hof war das bauliche und kommunikative Zentrum des Gebäudes. Von hier aus ließen sich neben dem Speisesaal nach rechts die Frühstückszimmer und nach links die Salons erreichen, an die sich rückwärtig weitere kleinere Speise- und Dinerräume anschlossen. Anfänglich herrschten im Kaiserhof die aus Schweizer Ferienhotels bekannten kleineren und halb geschlossenen Räume vor. Dennoch richtete er sich wegweisend bereits an Einheimische – als Rückzug aus der Stadt, ohne sich aus ihr entfernen zu müssen, und als Kulisse für die Selbstdarstellung einer städtischen Oberschicht. Die Anordnung der Räume mit unterschiedlichen Zugangsregeln von der noch offenen Vorhalle zu den seitlicher gelegenen, ausdrücklichen »Privaträumen« zeigt die Bedeutung der Grenze zwischen Straße und Wohnraum, Öffentlichkeit und Privatheit für die innere Ordnung des Hotels. Sein Erdgeschoss entwickelte sich mehr und mehr zum Schwellenreich in der offenen Großstadt. Über den Zugang wurde nach Stand und Verhaltensweisen, Budget und Besitz entschieden; das Spiel der sozialen Unterschiede und der feinen Distinktion der Reichen untereinander fand hier seine Bühne. Fernab davon, im Untergeschoss und in den Dachzimmern, hatte das Dienstpersonal seine Räume, die so verborgen bleiben sollten wie ihr Wirken in Küche, Keller und Waschraum. Bindeglied dieser beiden Welten waren Por-
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tiers, Kellner und Pagen. Auch ihre Professionalisierung, die sie zum Vorbild für das Ideal des vornehmen, zurückhaltenden und wohl situierten Hotelgastes machte, begann in Häusern wie dem Kaiserhof.
II. Metropolen der Nostalgie: Grandhotels als Schwellenräume Es war ein Hotelportier »im Frack mit Stehkragen, einer fleckigen grauen Seidenschleife und eingerissenen Fingernägeln«, der für Arthur Miller drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Palermo »Europa« verkörperte. Er fand ihn vor den Bogengängen eines Hotels der Jahrhundertwendezeit, dessen Herrlichkeit an einer »braunen Leinwand« endete. Dahinter lagen die »Trümmer der eingestürzten anderen Hälfte des Gebäudes« (zit. n. Künzli 1996, 85). Was die erste Blüte der Luxushotels als Schrittmacher und »Chiffren metropolitanen Lebens« (Gruber 1994, 148) zwischen 1880 und 1910 hervorgebracht und den Takt der Vergnügungssucht in den zwanziger Jahren mitbestimmt hatte, war zwar schon vom Hotelsterben im Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise um 1930 arg gerupft worden. Aber erst Besatzungsmacht und Bombenkrieg, Nüchternheit des Wiederaufbaus und Lustfeindschaft des Kommunismus setzten dem Grandhotel zumindest in Kontinentaleuropa ein Ende. Es hatte sich zuvor über ganz Europa erstreckt und war über vielfache Austauschbeziehungen mit Nordamerika, aber auch mit den kolonialen Reisezielen der europäischen Oberschicht verbunden. Für Deutschland waren Berliner Hotels im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts internationale Nachläufer und nationale Schrittmacher zugleich. Das großstädtische Luxushotel gab es in den USA bereits seit Beginn, in Europa mit den berühmten englischen »Railway-Hotels« seit den späten dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts (Denby 1998). Wachsende Mobilität dank der Eisenbahn, Weltausstellungen und die Entdeckung des Reisens als Erlebnisform förderten in London, Paris und Wien den Aufbau einer frühen, vor allem Oberschichten zugänglichen touristischen Infrastruktur. Um 1860 hatte Paris mit drei Grandhotels einen Standard gesetzt, gegenüber dem die wenigen größeren Hotels, die in dieser Zeit in deutschen Großstädten entstanden, noch deutlich abfielen. Der immense Wirtschaftsaufschwung seit den 1870er Jahren machte sich zunächst in Berlin bemerkbar, wo nach dem Kaiserhof noch weitere große Häuser entstanden. So war das 1880 eröffnete Central-Hotel mit seinen 500 Zimmern nicht nur lange Zeit das größte in Berlin, es sollte auch erklärtermaßen den Anschluss an die angloamerikanische Hotelkultur bringen. Effiziente Raumnutzung, unmittelbare Bahnhofsnähe und öffentlicher Wintergarten machten Durchgangsreisende und Stadtpassanten zur Zielgruppe. Größe und Rationalisierungsanspruch drängten zur Übernahme technischer Innovationen wie der Dampfheizung, vollständiger Elektrifizierung und der Ausstattung mit neuesten Küchenanlagen.
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8. Ansichtspostkarte des Central-Hotels in Berlin, 1898 Wirtschaftsboom, Urbanisierung und Mobilitätsschub machten in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg alle europäischen Großstädte zu Konkurrenten auf dem Hotelmarkt. In mehreren Phasen kam es vor allem in London und Berlin, aber ebenso in Hamburg oder Madrid, Amsterdam und Manchester zu Hotelneubauten. Jede Stadt, die etwas auf sich hielt, hatte vor dem Ersten Weltkrieg »ihr« Grandhotel. Mit der Zeit wurden mit den Städten auch die Hotels kleiner, die diesen Namen trugen, wenn in skandinavischen oder osteuropäischen Kleinstädten das »beste Haus« am Ort als »Grandhotel« den Glanz der weiten Welt verbreitete. Bereits um 1850 hatten dafür verschiedene Schweizer Hotels wie das Baur au Lac in Zürich (1844) oder der Schweizerhof in Luzern (1845/46) Raumprogramme vorgegeben. Aber erst seit etwa 1880 verdichteten sich weitere Einflüsse zum modernen Großstadthotel, die ein Spiel der Stile erlaubten. Von Frankreich aus breitete sich die Ritz-Kultur aus, die das Hotel zum Hort erstklassiger Restauration machte. Vor allem über England kam die amerikanische Hotelkultur in den europäischen Markt: Das Carlton bot als erstes Hotel in London 1899 ein Bad pro Zimmer (Wenzel 1991, 53). Gleichzeitig erlebten die seit Mitte des Jahrhunderts wachsenden Kurorte und Reiseziele eine starke Zunahme an Hotels. Allein in der Schweiz verdoppelte sich ihre Zahl zwischen 1894 und 1912 auf über 3.500 (Schmitt 1982, 76); an der Mittelmeerküste entstanden neue Städte wie Nizza im Gefolge der Hotels. Da an diesen Reisezielen mit reichlich Platz und ohne Rücksicht auf Baugesetze geplant werden konnte, prägte sich der Typus des Palasthotels mit seiner reichhaltigen, bisweilen überbordenden Verzierung aus. Er war mehr auf äußere Repräsentation angelegt als seine städtischen Pendants. Mit diesem Hoteltyp gelangte ein Wohn- und Lebensstandard, den wohlhabende Europäer und zunehmend auch Amerikaner aus ihren
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Privatwohnungen kannten, sich ersehnten oder abschauten, in Reisegegenden abseits des großstädtischen Molochs. In den Grandhotels von Davos oder Nizza konnte man unter sich und der Stadt fern sein, ohne auf deren Annehmlichkeiten verzichten zu müssen. Unter den vielen erstklassigen Hotels, die um 1900 entstanden, ragen im internationalen Vergleich einige heraus, die zu Mythen der Moderne geworden sind: das Savoy in London (1889), das Plaza in New York (1893/1907) oder das Ritz in Paris (1898). Das Raffles in Singapur (1887), das Shepheard’s in Kairo (1891) oder das wegen seiner dramatischen Lage am »Gate of India« berühmte Taj Mahal in Bombay (1903) dokumentieren, wie der westliche Luxustourismus in die Kolonialgebiete eindrang. Stützpunkte der europäischen Zivilisation wurden ebenfalls manche der in dieser Zeit in New York entstehenden Luxushotels, die sich am französischen Stil orientierten und Treffpunkte einer neureichen Oberschicht wurden. Diese versuchte mit viel Aufwand, das Fehlen eines Geburtsadels wettzumachen, indem sie einen eigenen Sozialadel der wirtschaftlichen Aufsteiger begründete: Wer dazugehören wollte, musste von der legendären Mrs. Astor zu den jeweiligen Hotelgesellschaften eingeladen werden. Mit ihrem Namen standen Grandhotels als Prestigeträger von Stadt oder Reiseort ein. Ihre Lage sprach meist für sich: In den Reiseorten fanden sie sich thronend an oberen Berghängen (»Zauberberge«), in den Städten bestimmten sie im Verbund mit WARENHÄUSERN, KINOS oder TANZLOKALEN funktionale Zentren und exklusive Plätze. Sie verhießen Überlegenheit und Dynamik, Distinktion und Fortschritt. Noch vor Beginn der öffentlichen Förderung des Fremdenverkehrs machten die großen Hotels Werbung in eigener Sache und setzten sich mit hauseigenen Reiseführern ins Zentrum einer von ihnen aus entworfenen Stadt oder Erholungswelt. Werbeanzeigen projizierten ideale Gesellschaftsordnungen des Hotellebens auf den städtischen Raum oder vereinten Modernität und Natur in einer lichtreichen Bildsprache des Erhabenen: Das Hotel bot sich als Schutzraum und Erlebnis des Überschreitens dar. Um darauf innerhalb der zunehmend dichter bebauten Stadt aufmerksam zu machen, lenkte die Fassadenarchitektur den Blick der Passanten auf den Eingangsbereich. Ihn hob mit dem Vordringen der elektrischen Beleuchtung ein Namensschriftzug zusätzlich hervor, ein Lichtszenario auch für die hoteleigenen Werbeetiketten (Bien/Giersch 1988, 13). Bereits mit seiner Eröffnung 1907 galt in Deutschland das Hotel Adlon als Krönung der Berliner Hotelkultur. Eine »Wohnmaschine« wie das Adlon bewegte sich auf einem schmalen Grat zwischen Tradition und Modernität, Diskretion und pompösem Stil. Das Adlon, eine der wichtigsten »Gesellschaftsbühnen« der Reichshauptstadt, war ein »einzigartig verdichteter Kommunikationsraum« (Gruber 2000, 11), dem die Einrichtung einer hoteleigenen Telefonanlage auch nach innen Rechnung trug. Wenn dann noch vom »Nervensystem« des Hotels die Rede war, klang alles nach einem organischen Körper, in dem der Puls der Moderne effizient schlug, solange der Aufzug nicht stecken blieb.
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Viele Hotelbesitzer priesen neben den technischen Errungenschaften zunehmend ihre nichtprivaten Angebote: die Bar, den Grill-Room oder den Tanzsaal. Das strich ihre Funktion als großstädtischer Begegnungsraum heraus, in dem sich Privatheit und Öffentlichkeit in neuartiger Weise mischten. Den Bedarf an öffentlicher Aufmerksamkeit und den gleichzeitigen Wunsch nach Diskretion teilten die Hotelbesitzer mit vielen ihrer Gäste. Doch die Spannung zwischen beiden Zielen wuchs, je mehr die Grandhotels nicht zuletzt durch das expressive Verhalten vieler Gäste zu Objekten der öffentlichen Beobachtung wurden: Am Luxusgehabe schieden sich, zumal in Zeiten wirtschaftlicher Krisen, immer wieder die Geister; Hochstapler, die nicht vorhandenen Stand und Reichtum vorgaben und erfolgreich Hotelbesitzer oder Gäste prellten, fanden das Interesse der Boulevardpresse ebenso wie Fassadenkletterer, die sich einen ganz anderen Weg in das sonst für so viele unnahbare Hotel bahnten. Auf ihre Weise überwanden Hochstapler und Fassadenkletterer jene realen und imaginären Grenzen, die Fassaden und Preise, Etiketten und Werbung um das und im Territorium des Grandhotels zogen. War die Aristokratie ursprünglich erster Adressat der vornehmen Hotels, brachten Industrialisierung und Urbanisierung ganz andere Kunden mit sich. Die Adeligen waren nicht mehr unter sich, seitdem der Zugang sozialer Aufsteiger, fremder Reisender und von Geschäftsnutzern nicht mehr an den bekannten Namen oder eine selbstverständliche Vornehmheit gebunden war. Vermögen und – ein dem keineswegs immer entsprechendes – Verhalten wurden mehr und mehr die passenden Schlüssel zum Hotelleben. Die Hotelbesitzer und ihr Personal wollten das Verhalten ihrer bisweilen eigenwilligen Gäste zumindest beeinflussen; die Hotels wurden mit ihrem ausgefächerten Raumangebot zu Sozialisationsagenturen geselliger Stile. Wer die Schwelle des Grandhotels überschritt, wurde taxiert. »Bei jedem neuen Gast«, so der selbst ernannte »Hotelbürger« Joseph Roth, tauschte der Portier »einen schnellen Blick mit dem Empfangschef – und jeder Blick bedeutet: eine Zimmernummer, ein Stockwerk, einen Preis, eine Mahnung, eine Warnung, Zufriedenheit oder Mißmut« (zit. n. Bien/Giersch 1988, 43). Unter den Augen des Portiers entwickelte sich die Hotelhalle seit dem Ende des Jahrhunderts zum kommunikativen Zentrum der größeren Hotels. Hier konnte man sich zweckfrei aufhalten, er diente als Puffer für die angrenzenden Räumlichkeiten: die einzeln zu mietenden Salons oder kleineren Speisesäle für Familien- und Geschäftsessen sowie zahlreiche Vereinsgeselligkeiten, das Rauchzimmer oder den Wintergarten als Rückzugsraum für die Hotelgäste und den Tanzsaal oder das Restaurant als Forum gemischter Geselligkeit. Allen Besuchern wurde die opulent wirkende Innenausstattung bereits der Halle, aber auch die unterschiedliche, oft historischen Themen folgende Ausgestaltung einzelner Räume zuteil. Hielten Hotels wie das Adlon noch auf die Qualität echten Materials, trat in vielen größeren Häusern, die ganz nach ökonomischen Gesichtspunkten gebaut wurden, der Schein an die Stelle der Echtheit. Aber gerade die mythenbewehrten Hotels trugen authentische Exotik zur Schau. Teppiche aus dem
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Orient, Skulpturen aus Afrika, Leuchter aus dem fernen Asien: Grandhotels konkurrierten mit einer ähnlichen Ausstattung vieler Villen und folgten einem Wildwuchs der Stile, die sich zu einem dreidimensionalen Album kolonialer Reisepraktiken und Wunschvorstellungen fügten (VÖLKERKUNDEMUSEUM). Diese weite Welt im Hotel machte es zu einem phantasmagorischen Ort, der zumindest anbot, die Wirklichkeit des eigenen Lebens in eine traumartige, geographisch nicht näher bestimmbare Landschaft zu überführen. Als Nicht-Ort im realen Ort des Hotels bot sie eine Art Opium der Sinnesfülle und überlagerte die im Hotel ganz manifeste, aber unsichtbar und für selbstverständlich gehaltene Klassentrennung. Wer Dienstboten im eigenen Haushalt hatte, war daran gewöhnt. Angesichts der ausdifferenzierten Logistik und Personalstruktur der Grandhotels nahm dieses Verhältnis dort jedoch andere Formen an. Es war das erklärte Ziel der Planer und Besitzer von Hotels, die getrennten Welten nicht zusammenkommen zu lassen. Versorgungsanlagen und Dienstwege verliefen vertikal und horizontal separiert von der Welt der Gäste; eigene Zimmer, Aufzüge und Treppen, aber auch der hocharbeitsteilig organisierte Küchen- und Lagertrakt bildeten die Gegenseite der vornehmen Geselligkeit. Doch die Wände waren dünn und manche Beobachter beschworen besonders nach der Novemberrevolution von 1918/19 die soziale Doppelwelt der Hotels metaphorisch als Ausgangspunkt einer sozialen Revolte. Davon unberührt warteten in der Hotelhalle Gäste auf das Essen, »fremd untereinander und in gespielter Teilnahmslosigkeit«, einander am »weltgültigen Abendanzug« als »Uniform der Gesittung« erkennend (Thomas Mann, zit. n. Künzli 1996, 156). Hier beobachteten auch viele auswärtige Gäste die Invasion der Einheimischen zum »Fünf-Uhr-Tee« und zum luxuriösen Restaurantbesuch. Schon um 1900, vor allem aber in den zwanziger Jahren waren viele Grandhotels wichtige Scharniere in der städtischen Vergnügungskultur: Führte zunächst der Weg vom Hofball in das TANZLOKAL des Hotels oder vom Theater in das Hotelrestaurant, konkurrierten die großen Häuser später mit üppig ausgestatteten Vergnügungsetablissements, die ein umfangreiches Raumangebot und große Gästezahlen mit hohem Anspruch an die Bewirtung verbanden. Für Siegfried Kracauer verkörperten gerade die lokalen Hotelgäste in besonderer Weise jene modernen »entindividualisierten Scheinindividuen«, die allein ihren neuen Reichtum zur Schau stellten und inhaltslose Reden ohne jeden Wirklichkeitsbezug führten (Kracauer 1977). Das Hotelleben zu genießen, wurde zur Frage eines bestimmten Raumgefühls, das die einfachen Funktionen des Ortes weit hinter sich ließ. Während viele Zeitgenossen über den großen Lärm gerade durch die technischen Neuerungen klagten, war für Alfred Polgar das Hotel einfach nur »ein Märchen«: »Ein Griff: heißes Wasser sprudelt in das porzellanene Becken. Ein anderer: warme Luft durchströmt lautlos die Stube, sie mit Behaglichkeit füllend. Ein Fingerdruck: Licht« (zit. n. Gruber 1994, 74). Kurz nach Kriegsende war das auch ein Gleichnis für die erhoffte Wiederkehr des Gleichmaßes im alltäglichen Leben sowie ein Zukunftsentwurf der Konkurrenzfähigkeit. Denn seit der Jahrhundertwende schauten viele Stadteuropäer immer neidvoller auf die USA, vor allem auf die riesigen Hotelkomplexe, die in
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Chicago und New York entstanden. Man wog ab, ob 2.000 Zimmer wie im 1919 eröffneten Hotel Pennsylvania in New York auch für Berlin geeignet waren, und beschränkte sich dann doch auf die europäische Lösung: keine Gebirge aus HOCHHÄUSERN, dafür mehr Nähe zum Gast. So konnten die europäischen Hoteliers nur staunend verfolgen, wie in New York inmitten der Weltwirtschaftskrise 1929/30 das neue Waldorf-Astoria in Rekordzeit errichtet wurde. Sich gegen den amerikanischen Pragmatismus in die Traditionslinie der Hotelgemütlichkeit zu stellen, verlieh dem eigenen Kapitalismus ein menschlicheres Gesicht. Spätestens seit 1930 wurden die Grandhotels als Drehscheiben moderner Schicksale mythisiert, indem Nomadentum und Scheinhaftigkeit, zufällige Begegnungen und Weichenstellungen als Folgen der Auflösung traditionaler Sozialordnungen im Hotel verdichtet wurden. Der Raum des Hotels wurde zur Projektionsfläche einer vielseitigen Selbstbeobachtung in der Moderne. Das Grand Hotel, in der Verfilmung von Vicky Baums Roman Menschen im Hotel drei Jahre nach dessen Erscheinen 1929 verewigt, erschien vor allem als Ansammlung sich kreuzender Lebensgeschichten: »Großartiger Betrieb in so einem Hotel, [...] kolossaler Betrieb«, hatte Baum den Volontär ihres Hotels resümieren lassen. »Immer ist was los. Einer wird verhaftet, einer geht tot, einer reist ab, einer kommt. [...] Hochinteressant eigentlich, aber so ist das Leben« (Baum 1988, 319). Hier verflüchtigte sich nicht nur die Sesshaftigkeit, sondern auch ein Verständnis des Hotels als »kolossales« Wirtschaftsunternehmen und als Raum der Reproduktion sozialer Ungleichheit.
III. Vertrauen im Übergang: Das Hotel als Bühne der Modernität Grandhotels entwickelten sich von temporären Wohnorten einer feudalen Oberschicht zu transitorischen Lebenszentren einer immer mobileren Gesellschaft. Das schlug sich auch in den Bauformen nieder: In den USA seit den zwanziger Jahren, in Europa im Jahrzehnt darauf setzte sich eine pragmatischere, sachlichere Architektur durch. Sie ließ vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg viele Hotels entstehen, in denen die Rationalisierung der Lebens- und Arbeitswelt an die Stelle des opulenten Luxus der Jahrhundertwende trat. Gleichzeitig nahm mit dem Reiseboom seit den fünfziger Jahren die Zahl der Mittelklasse- und Ferienhotels mit einer besseren, wenn auch vergleichsweise einfachen Ausstattung deutlich zu. Trotz aller Enttäuschungen, die Reisende hier erleben, ist vielfach erkennbar, wie selbst in kleineren Hotels der Serialität des Angebotenen die Individualität des Hauses gegenübergestellt wird, nicht selten unter Hinweis auf seinen familiären Stil (APPARTEMENT). Auch in den Grandhotels der langen Jahrhundertwende wurde der Anspruch erhoben, mehr als Durchgangsstationen des Reiseverkehrs zu sein. Dieses Bestreben teilten sie mit WARENHÄUSERN und, was den Prestigewert des Baus als Werbezeichen angeht, mit BAHNHÖFEN sowie den späteren Flughäfen. Dafür wurde viel investiert. Nicht zuletzt die Werbeindustrie und die Zeitungen profitierten von dem Bemühen, die moderne Mobilität über das Angebot der Hotels zu bändigen.
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Nicht einfacher wurde dies durch die automobile Individualisierung, die schon früh die amerikanischen Resorthotels prägte. Bilder monotoner Hotelburgen, aber auch paradiesischer All-inclusive-Ferienanlagen verkörpern inzwischen die enge Bindung von Urlaub, FLUGZEUG und Mobilität. Gegenüber der Transitorität von Aufenthalt und Begegnung sollte insbesondere die technische Ausstattung ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln. Idealerweise sah sich der Hotelgast rund um die Uhr von einem Ensemble der besonderen Expertise umhegt, das im Direktor des Hauses seine exklusivste Verkörperung fand. In ihren Selbstdarstellungen schrieben die Größen der Branche gegen den ihnen anhaftenden Ruf mangelnder Solidität ihres Geschäfts an. Sie wetteiferten mit dem Heroenimage der Zeit, das sie nicht zuletzt Industriellen, Fliegern und Ingenieuren (FLUGZEUG, STAUDAMM) neideten. Da aber Diskretion ihr ureigenstes Geschäft war, wollten aus ihnen so recht – trotz aller Ehrerbietungen untereinander und des vor allem in den USA ausgeprägten Professionskults – keine Ikonen der Modernität werden. Oft verschmolz ihr Bild auch mit dem Ruf ihrer Häuser. Kulturen des Bedienens und des Angebots machten die Hotels zwar untereinander vergleichbar, schufen aber durchaus Spielräume der Differenz. Der halböffentliche Charakter der modernen Hotels, insbesondere in den Großstädten, erforderte neue Regeln der sozialen Rollenbildung. Hier wurden soziale Fassaden antrainiert, die in das Repertoire der städtischen Begegnung eingingen. Es wurde in intimer Anonymität und kultivierter Fremdheit kommuniziert. Zwar kannte man sich nicht oder nur weitläufig, aber die Hoteletikette führte zu einer gewissen Verlässlichkeit des gegenseitigen Verhaltens. Wie der STRAND, aber auch das STADION oder das KINO beruhten diese Orte auf verinnerlichten Verhaltensregeln und waren dennoch auf zusätzliche Beobachter und Aufpasser angewiesen, die dem Spiel auf der Bühne sozialer Selbstdarstellung Grenzen setzten. Zur Vertrautheit auf Zeit im Hotel trug auch dessen selbst erklärte Rolle als Schutzraum in der Stadt bei. Der Wintergarten ähnelt in vielem dem KLEINGARTEN, auch wenn sich die Hotelgäste gerade durch die Freistellung von körperlicher Arbeit gegenüber den Angestellten des Betriebs unterschieden. Wie das WARENHAUS oder der Vergnügungspark befriedigte und weckte das Grandhotel vielfältige Bedürfnisse, doch was die Hotels boten, diente zunächst nur als symbolisches Kapital, mit dem sich Reiche voneinander unterscheiden konnten. Erst über langwierige Zwischenschritte wie besonders fortschrittliche STADTRANDSIEDLUNGEN fanden hygienische Innovationen ihren Weg in den Kreislauf des Massenkonsums. Aber zumindest während der langen Jahrhundertwende sicherten sich die Grandhotels neben den HOCHHÄUSERN einen vorrangigen Platz in der Ahnengalerie haus- und gebäudetechnischer Innovationen. Viele Hotels, insbesondere in den USA, markierten gegenüber ihrer unmittelbaren Umgebung Höhenzeichen wie einstmals Kirchtürme. Die Bauform des verdichteten Raums für Nutzzwecke setzte sich in Europa nicht in vergleichbaren Höhen, dafür aber oft in flaggschiffartigen, längsgestreckten Gebäuden um.
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Ohne die Massenmedien hätten die Grandhotels ihren Ort in der öffentlichen Vergnügungskultur wohl kaum in der bis heute nachwirkenden auratisch überhöhten Weise gefunden. Zwar kam bei den frühen Aufführungen zuerst das KINO ins Hotel, aber bald schon fand das Hotel Eingang in den Film. Die Bilder versprachen eine Realität, an der die meisten Zuschauer nicht teilhaben konnten. Wie im STRIPTEASELOKAL nutzte der soziale Voyeurismus jedes sich bietende Guckloch, um etwas von den eigentlich Unnahbaren mitzubekommen. Das Grandhotel erlaubte die Projektion besserer Welten und dramatischer Lebensgeschichten, die von allen lokalen Bindungen abgelöst waren. Diese Überschreitung teilte das Grandhotel mit der Entfesselung des Ich auf der COUCH bei seiner Reise durch die eigene Geschichte, mit der Entgrenzung des Körpers im TANZLOKAL bei der Suche nach einer tief empfundenen eigenen Körperlichkeit oder mit der Entwirklichung im KINO beim Eintauchen in die Ersatzwelt der laufenden Bilder im dunklen Raum. Das Grandhotel versprach eine Traumreise durch eine harmonisierte Moderne mit einer entlehnten Tradition. Nur wenn der Nachbar schnarchte und das durchs ganze Haus rauschende Wasser zu hören war, stieg eine Ahnung von den hinter dünnen Wänden und unter poliertem Glanz verborgenen Spannungen auf.
Literatur Baum, Vicky (1988): Menschen im Hotel, Köln. Bien, Helmut M./Ulrich Giersch (1988): Reisen in die große weite Welt. Die Kulturgeschichte des Hotels im Spiegel der Kofferaufkleber von 1900 bis 1960, Dortmund. Damm-Etienne, Paul (1910): Das Hotelwesen, Leipzig. Denby, Elaine (1998): Grand Hotels. Reality and illusion, London. Gruber, Eckhard (1994): Fünfuhr-Tee im Adlon. Menschen und Hotels, Berlin. Ders. (Hg.) (2000): Das Hotel Adlon, Berlin. Hoffmann, Moritz (1960): Geschichte des deutschen Hotels. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Heidelberg. Kracauer, Siegfried (1977): Die Wartenden (1922), in: ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt, 106-122. Künzli, Lis (Hg.) (1996): Hotels. Ein literarischer Führer, Frankfurt. Müller, Wolfgang (1980): Hotelbauten, in: Berlin und seine Bauten. Teil VIII: Bauten für Handel und Gewerbe. Band B: Gastgewerbe, Berlin/München/Düsseldorf, 1-52. Schmitt, Michael (1982): Palast-Hotels. Architektur und Anspruch eines Bautyps, 1870-1920, Berlin. Vehling, Paul (1910): Die Moral des Hotels. Tischgespräche, New York. Wenzel, Maria (1991): Palasthotels in Deutschland. Untersuchungen zu einer Bauaufgabe im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Hildesheim u.a.
Das Tanzlokal Alexa Geisthövel I. Tangoschieber: Zwei Berliner Tanzlokale, 1912 Altes Ballhaus, Joachimstraße. Der hohe Saal in der Spandauer Vorstadt ist gut gefüllt, einige Dutzend Paare schieben und drehen sich auf dem Parkett. Balustraden fassen die Tanzfläche ein und wie in einem Theater kann man vom ersten Rang hinuntersehen. Hinter den Brüstungen sind Tische aufgestellt, an denen einige Gäste sitzen, viele aber stehen in Zweier- und Dreierreihen am Rand der Tanzfläche und schauen den anderen zu. Die Männer sind in Anzug, Schlips und Kragen gekommen, die Frauen tragen große Hüte und einfache helle Blusen zu dunklen Röcken. Über den Tanzenden schwebt mit bescheidenem Prunk ein riesiger Kronleuchter (Wolffram 1992, 12). Der Name des Etablissements weist auf eine der Wurzeln des modernen Tanzlokals hin. Als um 1800 der Walzer die höfisch geprägte Tanzkultur revolutionierte, bürgerte sich in den größeren europäischen Städten der Ballsaal ein, ein halböffentlicher Ort, an dem wechselnde Gastgeber vor allem in der »Saison« zu von ihnen bestimmten Terminen Bälle ausrichteten (Braun/Gugerli 1993). Bevor das Tanzlokal seit den 1960er Jahren zur Disco umgestaltet wird, gleicht sein Erscheinungsbild einer Kreuzung aus Ballsaal und Kneipe. Die Tanzfläche bildet zwar das Zentrum des Geschehens, die Bühne, auf der Zuschauer jederzeit zu Akteuren werden können. Der private Betreiber verdient jedoch hauptsächlich am Getränkekonsum. Von diesen Einnahmen bezahlt er Musiker und andere Unterhaltungskünstler, die in den Tanzpausen akrobatische Nummern, Witze oder Zaubertricks darbieten. Die eher kleinbürgerlichen Paare in der Joachimstraße sind nicht zu einem Ball im traditionellen Sinn angetreten. Sie wurden von niemandem eingeladen und brauchen keinen besonderen Anlass, um einen Abend beim Tanzen zu verbringen. Man sieht hier weder ausgesuchtes Publikum noch brillante Toiletten oder Kostümierungen. Die Besucher des Alten Ballhauses haben nicht monatelang Unterricht bei einem Tanzlehrer genommen. Hier vergnügen sich zufällige, zahlende Gäste, die sich in der Regel weder zur »guten Gesellschaft« noch zur »Halbwelt« zählen. Stehen Frühlings- oder Maskenbälle auf dem Programm, setzt der Wirt lediglich Akzente in einem kontinuierlichen Angebot aus Tanzveranstaltungen, zu denen nicht nur am Wochenende, sondern auch an Werktagen zahlreiches Publikum kommt. Neben Walzer, Polka und anderen Gesellschaftstänzen sieht man hier auch den Schieber. Die Paare gleiten eng aneinandergeschmiegt vor und zurück, statt wie beim Walzer drehend auf Abstand zu bleiben. Das Wort »schieben« hat eine zwielichtige Konnotation, und als der Tanz um 1880 in Arbeiterquartieren von Berlin und Wien gesichtet wurde, galt er nicht als nachahmenswert. Mittlerweile aber haben Gassenhauer und Revuenummern lokale Schiebervarianten wie den Rixdorfer gefeiert und entsprechende Schlager zu eingängigen Marschmusiken sind erfolgreich.
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Palais de Danse, Behrenstraße. Das elegante Tanzlokal liegt in einer Parallelstraße zu Unter den Linden, mitten im alten Zentrum der Stadt. Der Raum ist ähnlich strukturiert wie im Ballhaus – Tanzfläche, Balustraden, Logen, Tische –, nur überschlägt sich hier die Ausstattung mit Luxus und Raffinesse, wartet mit großartigen Treppenaufgängen und unzähligen Glühbirnen auf. Befrackte Kellner eilen hin und her. Der anwesende Gesellschaftsreporter schwelgt in Stoffen und Accessoires, bemerkenswerten Erscheinungen stets auf der Spur: »Auf dem achteckigen Tanzparkett wogt ein kleiner See von Farben. Man drängt und schiebt sich aneinander vorbei. Die Melodie wird immer leiser und leiser und geht schließlich im Lärm ganz unter. Und immer weiter tanzen die Paare in den nächsten Indianer-Two step von Valverde. Hier kommen drei Tänzerinnen zusammen. Hintereinander wie zwei. Dort tanzt eine Frau allein. In brandrotem spanischem Kleid, den Spitzenschal umgeworfen, Kastagnetten in der Hand« (Koebner 1912, 12). Im Palais de Danse geht es musikalisch und tänzerisch innovativer zu als im Alten Ballhaus. Zwischen Walzern wird die Musik mitunter laut und rhythmuslastig. Es handelt sich um Ragtime, der aus Marschmusiken hervorgegangen ist und synkopisch gespielt wird, die unbetonten Taktteile akzentuierend. Die Klänge der »zerrissenen Zeit« präsentierte John Philipp Sousas »Ragtime Band« dem Publikum der Alten Welt erstmals 1900 auf der Pariser Weltausstellung. Deutsche Musikproduzenten zogen schnell mit Plagiaten und eigenen Ragtime-Schlagern nach, die sie über Noten, Walzen für Musikautomaten und Schallplatten vertrieben. So zerrissen, mit Harmoniekonventionen brechend wie die Musik sind die Tänze, die auch aus Übersee kommen, obwohl sie dem einheimischen Schieber meist nicht unähnlich sind. Den Auftakt macht, noch als reiner Schautanz für die Bühne, 1903 der Cakewalk: Schwarze Tänzer parodieren die Salontänze der weißen Südstaatenoberschicht. Solch neue Tänze bleiben zunächst die Domäne professioneller Bühnenkünstler. 1905 »bostonisieren« einige wenige Connaisseure, meist amerikanische Weltenbummler, die europäischen Gesellschaftstänze, ein paar mehr erlernen dann die simplen Two- und One-Steps. Um 1909 wird es parkettfähig, beim Tanzen zu kauern, überraschende Ausfallschritte zu wagen oder mit dem Oberkörper zu wackeln, auch wenn oder weil diese häufig vom Rumpf ausgehenden Bewegungen einen »unwürdigen« Eindruck hinterlassen (Braun/Gugerli 1993, 311). Als weltliche und Kirchenfürsten 1912 den unzüchtigen »Schiebe- und Wackeltänzen« den Kampf ansagen, gewinnen diese nur an Attraktivität. Nicht in volkstümlichen Tanzdielen und proletarischen Kneipen, sondern im Rahmen »fashionabler« Tanzveranstaltungen hält die transatlantische Popkultur Einzug in das europäische Tanzlokal. Ihre Gäste betrachten sich als Geschmackseliten und sind empfänglich für das, was Multiplikatoren wie das New Yorker Tanzlehrerpaar Irene und Vernon Castle von den populären Tänzen der multiethnischen amerikanischen Städte an Groteskem und Obszönem übriggelassen haben. Sie konfrontieren ihresgleichen mit wohl dosierten Verletzungen von Konventionen, die erträglich sind, weil sie in der gesicherten Sphäre von GRANDHOTELS und
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eleganten Bars stattfinden. Von Tradition und guten Sitten unterscheidet man sich mit Modernität und dem Schick des Verruchten. Was in der Joachimstraße »Schieber« heißt, trägt in der Behrenstraße modische Tiernamen wie »Bunny Hug« und »Fish Tail« oder eingedeutscht »Putertrab« und »Bärentanz«. Daneben stehen Tänze südamerikanischen Ursprungs wie der Maxixe für Temperament und Leidenschaft. Für die meiste Furore sorgt allerdings der Tango. Seit 1907 verbreitet er sich, aus den argentinischen Vorstädten kommend, von Paris aus über Europa. Mit ihm reüssiert ein Tanz der Pariser Zuhälter, der Apache, als Showeinlage: In teuren Cafés wird zum Fünf-Uhr-Tee seine obsessive Beziehung zur Prostituierten als Tango dargestellt. 1911 wächst das »Tangofieber« über die kleinen Zirkel der Oberschicht hinaus und wird zur ersten modernen Selbsttanzwelle, begleitet von großer medialer Aufmerksamkeit und massiver Vermarktung nicht nur seitens der Kulturindustrie, sondern auch bei Uhrenherstellern oder Konditoren, die ihre Produkte »Tango« nennen (Elsner/Müller 1989, 312).
9. Berliner Tanzlokal in den zwanziger Jahren Das Besondere am Tango, so ein Tanzratgeber, ist nicht nur die diffizile Schrittfolge: »Wenn Walzer von jedem Menschen gelernt werden kann, der nicht gerade an verwachsenen Kniescheiben leidet, so kann Tango überhaupt nicht ›gelernt‹ werden. [...] Tango muß man dichten, nachkomponieren, nicht nur mit den Füßen, sondern mit dem gesamten Muskel- und Nervenapparat« (Müller 1914, 5). Der Tanzboden zerfällt in die Bewegungsräume einzelner Paare, die ganz auf sich konzentriert eine Auswahl von Figuren nach Belieben variieren. Die Mehrheit der konservativen Tanzlehrer sieht sich von diesem Trend in die Defensive gedrängt. Versuche, Modetänze wie den Tango zu kultivieren und einem größeren Publikum zugänglich zu machen, gehen daher von vornehmen Amateuren aus, die sich seit 1911 in Tanzclubs organisieren. Im Jahr darauf findet im Berliner Admirals-Palast die erste
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Tango-Meisterschaft statt. In diesen Kreisen wird der »wilde« argentinische Tanz von einem strengen Regelwerk aufgesogen (Schär 1991, 113-120). Für sportliche Tango-Meister wie für unbeschwerte Freizeittänzer zeigt sich Könnerschaft nicht mehr vorrangig in korrekten Schrittfolgen und einwandfreien Manieren; man »tanzt keine Schemen mehr, sondern individuell« (Koebner 1912, 10). In den Vordergrund rücken Rhythmusgefühl und das Talent, Musik spontan in Bewegung umzusetzen, eine Bewegung zumal, die das Moment des Ungezügelten transportiert, ohne ordinär zu sein. Subkulturelle Distinktionsstrategien scheinen auf, wenn 1913 in der Berliner Morgenpost jemand dichtet: »Mensch was nützt dir Rang und Titel, / Schönheit, Schick und reiche Mittel, / wenn du nicht das eine kannst, / wenn du noch nicht Tango tanz’st?! / Jeder Gimpel ist dir über, / der ein richt’ger Tango-Schieber« (zit. n. Eichstedt/Polster 1985, 32).
II. Ein Ort für wilde Körper: Die Entwicklung des Tanzlokals Altes Ballhaus und Palais de Danse stehen beispielhaft für jene zahlreichen Lokale, in die man um 1900 bereits zum Tanzen ausgehen konnte. Damit jedoch das Tanzlokal im modernen Sinn entstand, mussten die modischen transatlantischen Tänze der Behrenstraße mit der unprätentiösen Durchschnittskundschaft der Joachimstraße erst an einem Ort zusammenkommen. Im 19. Jahrhundert fanden fliegende Beine und Röcke im Bordell, auf Theateroder Varietébühnen (STRIPTEASELOKAL) statt. In den Unterhaltungslokalen, die seit den 1840er Jahren entstanden, war Tanz – als Schautanz oder als Selbsttanz der zahlenden Gäste – nur eine von vielen Attraktionen, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts von populären Gesangsdarbietungen dominiert wurden. Erst als sich aus dieser Mixtur das Selbsttanzen herauslöste und zu einem eigenständigen Freizeitvergnügen für Männer und Frauen wurde, entstanden öffentliche Orte, an denen gegen Eintrittsgeld regelmäßig und hauptsächlich getanzt werden konnte. Noch 1905 sah Hans Ostwald in den meisten Tanzlokalen »nichts weiter als Märkte der Prostitution« (Ostwald 1905, 3). Im modernen Tanzlokal kamen sexuelle Dienstleistungen zwar weiterhin vor, aber sie gehörten nicht mehr zum Programm. Reale oder vermutete Freizügigkeiten beim Tanzen blieben noch lange in der Kritik, doch seine räumliche Spezialisierung trug dazu bei, dass es als unterhaltsame und gesellige Praxis langsam akzeptabel wurde (Nye 1973, 14f.). Das moderne Tanzlokal ist eingebettet in Massenmedien und Massenmärkte. Vorreiter war die US-amerikanische Musikindustrie, die sich in den »gay nineties«, den »fröhlichen« 1890er Jahren, formierte (Baxendale 1995, 151; Ritzel 1987, 266). Angesichts dieser frühen Popkultur lässt sich die »Tanzwut« der zwanziger Jahre nicht als motorische Reaktion auf die Krisen dieser Zeit erklären. Im eskapistischen Rausch von Shimmy und Charleston mögen sich auch die Erfahrungen von Not und Umbruch in der Kriegs- und Nachkriegszeit niedergeschlagen haben (Braun/ Gugerli 1993, 346; Eksteins 1990, 385f., 435). Aber vieles spricht dafür, dass in
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Deutschland der Krieg – nicht zuletzt mit Tanzverboten und fehlendem Anschluss an den internationalen Musikmarkt – die Ausbreitung des Gelegenheitstanzens verzögert hat. Nach Kriegsende wurden viele der bis dahin illegalen Tanzdielen konzessioniert. Nicht weil er mit Mangel und Gewalt einen diffusen Ausdrucksstau erzeugte, sondern in vielen Ländern die gesellschaftliche Umgestaltung forcierte, stellt der Erste Weltkrieg eine wichtige Zäsur in der Geschichte des Tanzlokals dar. Mit dem Trend zur Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft wurde das expressive Freizeittanzen zum festen Bestandteil urbaner Vergnügungen. Tausende neuer Tanzlokale mit unterschiedlicher Ausstattung und Klientel entstanden. Die gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit auf 48 Wochenstunden öffnete größeren, wenngleich bei weitem nicht allen Teilen der Bevölkerung die Tür zum Tanzboden. Hervorgegangen aus dem Varieté, wurden KINO und Tanzlokal in der Zwischenkriegszeit zum wichtigsten kommerziellen Freizeitangebot für Jugendliche und junge Erwachsene (Langhamer 2000). Zu tanzen war so verbreitet, dass es geradezu ortlos erschien. Fotografien von Charleston-Tänzern zeigten diese bevorzugt in überraschender Umgebung, zum Beispiel auf den Dächern von HOCHHÄUSERN und AUTOS. Häufiger dürfte tatsächlich im STRANDBAD oder beim Picknick im Grünen, auf Ausflugsdampfern oder auf der Straße, in der Arbeitspause oder auf Festen von Vereinen und Wohlfahrtsorganisationen getanzt worden sein. Mit dem Format des make-believe ballroom versorgten Radiosender private Partys mit Tanzmusik. 1919/20 läutete der Shimmy die Ära der Jazztänze ein, die gekennzeichnet waren durch »neue Armhaltung. Neue Bewegungen. Schultertanz, Bauchtanz, Rückentanz« (Pollack 1921, 71). Bei Shimmy und Black Bottom gingen von Schultern und Becken konvulsive Körperwellen aus. Die Tanzenden standen sich dabei paarweise gegenüber, agierten aber unabhängig voneinander am Platz. Die Platztänze verdichteten das Tanzgeschehen, weil die Tänzer anders als bei den Schiebern keinen Manövrierraum mehr benötigten. In den zwanziger Jahren war Jazz reine Tanzmusik, gekennzeichnet durch das Schlagzeug als dominantes Rhythmusinstrument. Häufig war »Jazz« allerdings nicht mehr als ein Etikett für schnelle und laute Musik. Die von den Alliierten verhängte Blockade und die Inflation schnitten Deutschland bis 1924 vom weltweiten Kulturgütermarkt ab; weil amerikanische Bands hier äußerst selten auftraten und einheimische Musiker an entsprechende Noten zunächst nicht herankamen, spielten sie den gewohnten Ragtime in veränderter Instrumentierung unter dem Namen »Jazz«, um die medial erzeugte Nachfrage zu befriedigen (Schröder 1990, 272-278; Robinson 1994, 4f.). Mitte der zwanziger Jahre kam dann auch in Deutschland der Charleston an, den man von den Hüften oder gar den Knien abwärts tanzte, indem die Unterschenkel abwechselnd nach oben geworfen wurden. Schauvorführungen blieben stilbildend, so galt Josephine Bakers Bühnenauftritt mit Bananenrock in der Revue Nègre, mit der sie 1925/26 erstmals in Europa gastierte, als Inbegriff des relativ kurzlebigen Charleston. Aufgrund seiner Prägnanz wurde er zu einem Emblem der
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Epoche – vor allem als ein Attribut der »Neuen Frau« mit Bubikopf, kurzem Rock und Zigarettenspitze, die am Wochenende Motorradausflüge unternimmt. So wenig diese Ikone der Lebensrealität der meisten Frauen jener Zeit entsprach, so lässt die mediale Allgegenwart des Charleston auch nur ungefähre Rückschlüsse auf die Tanzvorlieben der Zeitgenossen zu. Bei aller Begeisterung für die neueste überseeische Tanzmode hielten sich der Walzer und gezähmte Varianten von Tango oder Foxtrott wohl beharrlich im Repertoire der meisten Freizeittänzer. Obwohl Kritiker mit öffentlichem Tanzen noch lange sittlichen und körperlichen Verfall assoziierten, war es bis zum Ende der zwanziger Jahre zu einem weithin praktizierten geselligen Vergnügen geworden. Beispielsweise genossen Angehörige der Mittelschichten nach französischem Vorbild beim Fünf-Uhr-Tanztee in GRANDHOTELS, noblen Bars und Cafés die »Nachmittagsvorstellung der Gesellschaft zu kleinen Preisen« (Szatmari 1927, 72). Akzeptabel erschien der moderne Freizeittanz zumal im Zeichen der »neuen Lieblichkeit«, die um 1930 nicht nur eine Refeminisierung der Frau zu bringen schien, sondern auch eine Renaissance ruhiger Paartänze. Im Berliner Westen begann die Zeit der großen Tanzpaläste, in denen man sich bei Bedarf auch einen geschulten Tanzpartner mieten konnte. Bald jedoch zog hier ein neuer »wilder« Musik- und Tanzstil ein, der bis zu seinen Ausläufern Jitterbug und Boogie-Woogie die folgenden zwei Jahrzehnte überdauerte. Der Swing entstand in Harlem, jenem schwarzen Teil Manhattans, der mit seinen mittlerweile mythischen Nachtclubs, Theatern und Tanzsälen zu einem Ausgehviertel auch für Weiße wurde. Im Harlemer »Savoy« wurde 1927 erstmals der rasante, athletische Lindy-Hop getanzt, inspiriert von den Luftnummern des Flugpioniers Charles Lindbergh (FLUGZEUG). Statt Hüftbewegungen und Beinarbeit am Platz herrschte nun eine lockere Paarhaltung vor, bei der die Extremitäten und per throwaway auch der Partner geschleudert wurden. Swing kultivierte die tänzerische Verausgabung bei high tempo, deren berüchtigte Variante jene Tanzmarathons waren, bei denen sich das Publikum an der Erschöpfung der Tänzer ergötzte. Im Amerika der Prohibition bestand eine enge Verbindung zwischen Jazz, Swing und organisierter Kriminalität. Daneben führte die Musikindustrie Swing in den weißen Unterhaltungsbetrieb ein. Mitte der dreißiger Jahre gelangten Benny Goodman und Fred Astaire per Schallplatte und Hollywood-Film auch nach Europa. Mit geschliffenen Melodien und Arrangements in sattem Orchestersound war Swing musikalisch eingängiger als Jazz und der Tanzpalast ein Ort der großen Dimensionen. Er offerierte einen glamourösen, romantischen Stil für jedermann, mit raffinierter Ausleuchtung und verschwenderischen Oberflächen. Dekoration und Technik gingen Hand in Hand, das Resi im Berliner Osten etwa war bekannt für seine Belüftungsanlage, deren verspiegelte Endpunkte wie die späteren Diskokugeln aussahen (Wolffram 1992, 119-123). Der swingende Tanzpalast wurde so geläufig, dass selbst im nationalsozialistischen Berlin die Zahl der Tanzstätten, in denen hot gespielt und getanzt wurde, jene der zwanziger Jahre übertraf (ebenda, 13). Gleichzeitig entfalteten kleine Gruppen von Jugendlichen eine Subkultur, die in Deutschland besonders starker Repression ausgesetzt war. »Swingheinis« und
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»Swing-Babys« kombinierten ein betont erwachsenes, dandyeskes und unstrammes Auftreten mit exzessivem Tanz (Fackler 2002). Für Ansehen in der Gruppe sorgten Musikexpertise und eine Sammlung amerikanischer Importplatten. Die Swing-Fans veranstalteten mit Koffergrammophonen regelmäßig Gelegenheitstanz zu technisch reproduzierter Musik in Badeanstalten, Eisdielen und Parks. So auch im besetzten Paris: Zazous, die französischen Swings, verkabelten in Lokalen und illegalen Tanzkellern ihre Grammophone mit Lautsprechern, um weiterhin für eine eingeweihte Öffentlichkeit zum Tanz aufzuspielen. Nach dem Krieg, als Livekapellen wieder spielen konnten, behielten einige diese Praxis bei und übertrugen den Begriff discothèque von ihrer privaten Tonträgerkollektion auf den Ort, an dem getanzt wurde (Poschardt 2001, 103; Mühlenhöver 1999, 31f.).
III. Rhythmische Selbstentgrenzung und inszenierte Spontaneität Das Tanzlokal war eine jener »Pläsierkasernen«, in denen Siegfried Kracauer die Asyle der modernen Arbeitsmenschen vermutete (Kracauer 1930, 123). Die in ganz Europa kursierende Rede vom »Tanzfieber« der Nachkriegsjahre spiegelt zwar auch eine reale Ausweitung bestimmter Tanzpraktiken wider, vor allem aber war sie Teil gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen, die in der tänzerischen Massenkultur ihrer Zeit Symptome des kulturellen Verfalls sahen. Das war nicht neu: In Metaphern wie dem »Tanz ums goldene Kalb«, dem »Tanz auf dem Vulkan« oder dem »Totentanz« stand exzessives Tanzen schon vor der Moderne für krisenhafte oder katastrophische soziale Ausnahmezustände. Neu war jedoch, dass zustimmende wie ablehnende Kommentare zum Tanzvergnügen um das körperlich begrenzte Selbst kreisten. In einem Gedränge fremder Menschen Tango, Charleston oder Swing zu tanzen, setzte etablierte Grenzen zwischen Innen und Außen, Geist und Sinnlichkeit, Kultur und Natur aufs Spiel. Das Tanzlokal, so nahmen Beobachter an, bringe etwas Körperliches, gar Triebhaftes zum Vorschein, das im Alltag verborgen blieb. Es bedrohe, so seine Gegner, die stets prekäre Selbstbeherrschung des Individuums. Anderen versprach der Kontrollverlust beim Tanzen eine natürliche Lebensqualität zurückzugewinnen, die durch die verinnerlichte Disziplin der rationalen Moderne verloren gegangen war. Die modernen Tänze galten einer konventionellen Öffentlichkeit als unwürdig, gewollt grotesk und schamlos. Die Tanzkultur spielte mit diesen Tabus. Namen von Tänzen und Musikstilen waren sexuell konnotiert, Tanzbewegungen deuteten Geschlechtsverkehr an oder setzten offensiv gerade jene Körperteile ein, die als sexuell tabuisiert waren. Die imaginative Aufladung moderner Vergnügungstänze vollzog sich vor allem über Projektionen auf »wilde« Körper, die verschiedene Spielarten des Anderen konkretisierten. Nicht zufällig standen Tiere für viele der neuen Tänze Pate. Das Animalische bildete eine Schnittmenge mit rassistischen Diskursen, die den Ursprung vieler Tänze in Afrika verorteten (VÖLKERKUNDEMUSEUM). »Negermusik« und »Negertanz« hielten sich als Schimpfwörter bis weit in die zweite
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Hälfte des 20. Jahrhunderts. »Amerika« diente dagegen als Chiffre für Beschleunigung, Sensation, Materialismus und Künstlichkeit. In der Figur Josephine Bakers verdichteten sich Attribute des Primitiven, des Weiblichen und des Amerikanischen zu einer Ikone vitaler Modernität, die deutsche Intellektuelle faszinierte (Nenno 1997; Gumbrecht 2003). Unter Hinweis auf prominente Interpreten wie Benny Goodman und die Bosse der Musikindustrie wurde Jazz zehn Jahre später dagegen als »jüdisch« und »entartet« stigmatisiert. Viele Zeitgenossen sahen das Tanzlokal als einen Ort, an dem das Selbst sich durch den Körper ausdrückt. Tanzend entlastete sich der moderne Mensch von einseitiger sinnlicher Dauerbeanspruchung und versuchte, der Monotonie des Fließbands oder den »Chocs« (Walter Benjamin) des Großstadtverkehrs zu entkommen. Anderen erschien die Leiblichkeit des Menschen durch moderne Disziplinierungen hochgradig zivilisatorisch überformt. Tanz als selbst gewählte sinnliche Überwältigung war für sie ein Medium der Befreiung. Vor allem Afroamerikaner wurden in dieser Lesart zu Lehrern des Authentischen, Idolen unverminderter Ausdrucksfähigkeit, die dem (weißen) Mittelstand Nordamerikas und Europas Lebensfreude beibrachten. Die Deutung des Tanzlokals wurde bis in die achtziger Jahre durch die Kritik an einer »Kulturindustrie« (Adorno/Horkheimer 1994) geprägt, die Konsumwünsche nach Marktgesetzen steuert. Schon früher hatte Adorno die populäre Tanzmusik der zwanziger und dreißiger Jahre als eine Kulturware beschrieben, die Hörer oder Tänzer rhythmisch auf synchronisierte Bewegungen fixiere, die sich selbst genügten und nichts bedeuteten. Der Erfolg des nur scheinbar oppositionellen Jazz galt ihm als Ausdruck eines Unterwerfungswunsches und der Entindividualisierung (Adorno 1982) (COUCH, APPARTEMENT). Zweifellos ist der hype das ureigene Geschäft der Popindustrie, die mit der Imagination des Publikums kalkuliert und den tänzerischen Exzess zu einem kommerziellen Artikel macht. Doch dem Versuch, die Nachfrage zu lenken, ist nicht immer Erfolg beschieden (TELEFONZENTRALE). Von der vereinnahmten Subversion, die zu den neuen Tanzstilen ursprünglich gehörte, sind kleine Quellen der Unruhe geblieben. Selbst die gesteuerte kommerzielle Massenkultur bietet Spielräume für individuelle Aneignungen (Maase 1992). Konsumenten können die Popware als Projektionsfläche ihrer eigenen Anliegen nutzen. Ihre Entscheidungen lassen daher auch im Tanzlokal zumindest die Freiheit vielfältiger Bedürfnisbefriedigung (WARENHAUS). Von anderen Orten des Vergnügens wie KINO, STADION oder STRIPTEASELOKAL unterscheidet sich das Tanzlokal, weil es hier nicht in erster Linie um Sichtbares geht. Es stellt eine Gegenwelt dar, in der das Akustische dominant ist, sich Hitze und Geruch aufdrängen, der eigene Leib fühlbar wird. Dennoch wird im Tanzlokal auch beobachtet. Bereits die Vorbereitung aufs Tanzengehen, sorgfältig und genussvoll am eigenen Erscheinungsbild zu arbeiten, ist Teil des Erlebnisses (Langhamer 2000, 65f.). Sich im hemmungslosen Tanzen zu verlieren, geschieht nicht voraussetzungslos. Da sich Tanzende von Körperordnungen der Arbeit oder
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von gesellschaftlichen Tabus befreien, ähnelt das Tanzlokal dem KRAFTRAUM, wo kontinuierliche, kontrollierte, auf künftige Perfektion gerichtete Arbeit am Selbst geleistet wird. Das expressive Tanzen kann sich immer zu inszenierter Spontaneität verselbständigen: Wenn Rang und Mittel nichts mehr zählen gegen das Temperament des »richt’gen Tangoschiebers«, achten die Tanzenden darauf, sich vor den Augen der anderen auch sichtbar sinnlich aufzuführen. Am Ort des vermeintlichen Kontrollverlustes wird beobachtet, ob die Leidenschaft gelingt. Im Tanzlokal tanzt man vielleicht von Zeit zu Zeit mit einem Partner, immer aber in der Gegenwart anderer Menschen. Viele Gäste kamen ins Tanzlokal, um jemanden kennen zu lernen, einen Partner für eine Nacht, ein paar Wochen oder das ganze Leben zu finden. Es kann aber auch darum gehen, beim Tanzen Zeit mit Freunden zu verbringen oder einfach die zugewandte Nähe Unbekannter zu spüren, also jene anonyme Intimität, die in anderer Form am STRAND zu finden ist. Das Ideal des Tanzlokals ist ein wohlmeinendes Gedränge, das Bewegungsfreiheit lässt, aber punktuell so viel Berührung erzeugt, dass es den Individuen in der rhythmischen Masse das Gefühl gemeinsamen Erlebens nahe legt (STADION). Wie man mit der körperlichen Nähe anderer umzugehen hatte, wie sich insbesondere Männer und Frauen im Tanzlokal begegnen sollten, wurde lange an den Regeln des Gesellschaftstanzes gemessen: Wieder und wieder kam zur Sprache, wie Tänzer vom rücksichtsvollen Miteinander heterosexueller Paare abwichen, dass eingespielte Geschlechterhierarchien – der Mann führt, die Frau lässt sich führen – missachtet wurden. Die allein und auf der Stelle ausgeführten Platztänze schafften das Tanzpaar gleich ganz ab. In diesem Moment der Isolation (U-BOOT) meinten Zeitgenossen einen grassierenden Individualismus zu erkennen, der nicht Individualität entfaltete, sondern Bindungslosigkeit vorantrieb. Wie der Kronleuchter im Alten Ballhaus scheint in großen Lettern das Wort »Bedeutung« über jenen auffälligen körperlichen Praktiken zu hängen, die das moderne Tanzlokal beherbergt. Der Drang, jede Tanzbewegung als Ausdruck gesellschaftlicher Prozesse oder individueller Notlagen zu lesen, zieht sich bis in gegenwärtige Interpretationen dieses Ortes. Dabei gerät leicht aus dem Blick, dass die Besucher des Tanzlokals vielleicht einfach nur Gefallen an dem fanden, was sie hier taten.
Literatur Adorno, Theodor W. (1982): Über Jazz (1937), in: ders., Musikalische Schriften IV, Frankfurt, 74108. Ders./Max Horkheimer (1994): Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug (1944), in: dies., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragemente, Frankfurt, 128-176. Baxendale, John (1995): »... into another kind of life in which anything might happen ...«. Popular music and late modernity, 1910-1930, in: Popular Music 14, 137-154. Braun, Rudolf/David Gugerli (1993): Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550-1914, München.
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Eichstedt, Astrid/Bernd Polster (1985): Wie die Wilden. Tänze auf der Höhe ihrer Zeit, Berlin. Eksteins, Modris (1990): Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg, Reinbek bei Hamburg. Elsner, Monika/Thomas Müller (1989): Das Ich und sein Körper – Europa im Tango-Fieber, in: Manfred Pfister (Hg.), Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne, Passau, 312-322. Fackler, Guido (2002): Die »Swing-Jugend«. Oppositionelle Jugendkultur im nationalsozialistischen Deutschland, in: Alenka Barber-Kersovan/Gordon Uhlmann (Hg.), Getanzte Freiheit. Swingkultur zwischen NS-Diktatur und Gegenwart, Hamburg/München, 33-50. Gumbrecht, Hans Ulrich (2003): Tanz, in: ders., 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt, 253262. Koebner, F. W. (1912): Die Bälle der Behrenstraße. Metropol – Palais de Danse, in: Elegante Welt 1, 10-12. Kracauer, Siegfried (1930): Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt. Langhamer, Claire (2000): Women’s Leisure in England 1920-60, Manchester/New York. Maase, Kaspar (1992): BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur in der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg. Mühlenhöver, Georg (1999): Phänomen Disco. Geschichte der Clubkultur und der Popularmusik, Köln. Müller, Ph. (1914): Der perfekte Rag-, Onestep-, Twostep-, Boston- und Tango-Tänzer, Berlin. Nenno, Nancy (1997): Feminity, the Primitive, and Modern Urban Space: Josephine Baker in Berlin, in: Katharina von Ankum (Hg.), Women in the Metropolis. Gender and modernity in Weimar culture, Berkeley, 145-161. Nye, Russell B. (1973): Saturday Night at the Paradise Ballroom: or, Dance Halls in the Twenties, in: Journal of Popular Culture 7, 14-22. Ostwald, Hans (1905): Berliner Tanzlokale, 5. Aufl., Berlin/Leipzig. Paysan, Marco (1989): Zauber der Nacht. Tanz- und Vergnügungsbetriebe im Berlin der Dreißiger Jahre, in: Bernd Polster (Hg.), »Swing Heil«. Jazz im Nationalisozialismus, Berlin, 75-94. Pollack, Heinz (1921): Die Revolution des Gesellschaftstanzes, Dresden. Poschardt, Ulf (2001): DJ Culture. Discjockeys und Popkultur, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg. Ritzel, Fred (1987): »Hätte der Kaiser Jazz getanzt ...«. US-Tanzmusik in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Sabine Schutte (Hg.), Ich will aber gerade vom Leben singen ... Über populäre Musik vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik, Reinbek bei Hamburg, 265-293. Robinson, J. Bradford (1994): The Jazz Essays of Theodor Adorno. Some thoughts on jazz reception in Weimar Germany, in: Popular Music 13, 1-25. Schär, Christian (1991): Der Schlager und seine Tänze im Deutschland der 20er Jahre. Sozialgeschichtliche Aspekte zum Wandel von Musik- und Tanzkultur während der Weimarer Republik, Zürich. Schröder, Heribert (1990): Tanz- und Unterhaltungsmusik in Deutschland 1918-1933, Bonn. Szatmari, Eugen (1927): Das Buch von Berlin, München. Wolffram, Knud (1992): Tanzdielen und Vergnügungspaläste. Berliner Nachtleben in den dreißiger und vierziger Jahren, Berlin.
Das Stadion Per Leo I. Zwei Massenereignisse: Deutsches Stadion, Berlin, 1922 Für Carl Diem muss es ein erhebender Anblick gewesen sein. Angeführt von Studenten der Deutschen Hochschule für Leibesübungen waren Zug um Zug die besten Athleten der deutschen Sport- und Turnverbände in das Stadion einmarschiert. Unter Militärmusik und dem gemessenen Applaus des Publikums, der mit jedem neuen Zug in regelmäßigen Abständen an- und abgeschwollen war, hatten sich die Sportler nach einer präzise abgestimmten Orchestrierung im weiten Innenraum formiert. Kurz bevor Staatssekretär Dr. Lewald seine Eröffnungsansprache begann, herrschte einen Moment lang Stille. Über 10.000 Sportler und Turner aus allen Teilen Deutschlands vereinten sich mit den über 30.000 Zuschauern zu einem ruhenden Menschenensemble; nur das an die Tribünen angeschmiegte Oval der Radrennbahn trennte die beiden Gruppen voneinander. Den oberen Rand des Stadions, das zehn Meter tief in die Erde gesenkt lag, umkränzte ein dichter Ring aus Föhren. Und wie auf einem glatten See spiegelte sich die Sonne im Wasser der Schwimmbahn, deren Quader die Ränge gegenüber der Kaiserloge aus dem Zuschauerrund hinausschob. In ihrer Mitte grüßte, von einer hohen Säule am Tribünenrand, eine Viktoria-Statue den leeren Platz des Monarchen, auf beiden Seiten flankiert von Reihen antikisierter Athletenplastiken, deren Abschluss zwei Pferdestatuen an den Kopfenden des Bassins bildeten (Bensemann/Frommel 1922, 40ff.). An diesem Tag, dem 25. Juni 1922, konnte das 1913 erbaute Deutsche Stadion in Berlin-Grunewald endlich seiner eigentlichen Bestimmung übergeben werden: In »Deutschlands Olympia« wurden die ersten »Deutschen Kampfspiele« feierlich eröffnet. Der Gesamteindruck der Feier mochte der weihevollen Vision recht nahe gekommen sein, die der Cheforganisator der Spiele Carl Diem mit dem griechischen Wort stadion verband (Diem 1913, 5). Die im Rahmen der Kampfspiele ausgetragenen Wettkämpfe hatten bereits am Sonntag zuvor mit dem Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft zwischen dem Hamburger SV und dem 1. FC Nürnberg begonnen – einer nach Diems Begriffen alles andere als festlichen Veranstaltung. Unter den fast 40.000 Zuschauern befanden sich große Gruppen von Anhängern beider Mannschaften, die in Sonderzügen angereist waren. Lautstark brachten sie ihre Parteilichkeit mit Anfeuerungsrufen, Pfiffen und Beschimpfungen zum Ausdruck. Als es nach über drei Stunden Spielzeit immer noch 2:2 stand, brach der Schiedsrichter das Spiel bei Einbruch der Dunkelheit ab. Auf den voll besetzten Rängen kam es zu tumultartigen Szenen. Besonders den Hamburger Anhängern warfen Beobachter später rowdyhaftes Benehmen vor (Eggers 2001, 48). Doch die »unschönen Ereignisse« im Deutschen Stadion waren nur ein Vorgeschmack auf das Wiederholungsspiel in Leipzig einige Wochen später. Tausende Fußballanhänger verschafften sich ohne Karten Zutritt zum Stadion und drückten
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johlend viele Stehplatzinhaber über die Absperrungen in den Innenraum, wo sie von der Polizei nicht zu kontrollieren waren. Steine und Flaschen wurden geworfen. »Es gab Verletzte in Massen, und als das Spiel begann, war die Stimmung auf den Siedepunkt angestiegen« (Leipziger Volkszeitung 1922). Als sich nach 120 Minuten eines äußerst hart geführten Spiels mit zahlreichen Verletzungen und Platzverweisen nur noch sieben Nürnberger Spieler auf dem Feld befanden, brach der Schiedsrichter beim Stand von 1:1 erneut ab. Ihren Heimweg bahnten sich viele der aufgewühlten Zuschauer querfeldein durch eine Kleingartenanlage. Ein drittes Spiel wurde nicht in Erwägung gezogen, die Saison 1921/22 blieb ohne Meister. Die Ereignisse zeigen das Stadion als modernen Ort, an dem die massenhafte Kopräsenz von Körpern arrangierbar, erfahrbar und beobachtbar wird. Zugleich markieren sie die extremen Pole des Arrangements von Körpern im Stadion: hier die organisierte Menschenformation, lebendige Verdoppelung der Geometrie des Stadions und sichtbare Repräsentantin einer gedachten Ordnung – dort die eigensinnige Masse als eine vom Stadion angezogene, aber kaum gebändigte Flut, in ihrem Lärmen von unausweichlicher Präsenz. Stadien sind in jeder Hinsicht offene Gebäude: Nicht überdacht, räumlich groß dimensioniert und einfach strukturiert, auf keine bestimmte Nutzung beschränkt, lassen sie großen Spielraum bei der Verteilung der Körper. Was genau in einem Stadion passiert, ist daher eine Frage der Errichtung oder Verwischung, Achtung oder Verletzung von materiellen wie symbolischen Grenzen. Jeder Stadionbau stellt eine Beziehung zwischen drei Räumen her: einem ebenen Innenraum von mindestens den Ausmaßen eines Fußballplatzes (110 mal 70 Meter), einem diesen umschließenden, vertikal ansteigenden Zuschauerraum und einer nie ganz ausgeschlossenen Umgebung. Im Fall des Deutschen Stadions legten die Planer großen Wert auf die Abschwächung der Grenzen zwischen diesen Räumen. Die um zwei große Turnplätze an den Kopfseiten des Fußballplatzes verlängerte Rasenfläche, die breite Schwimmbahn sowie der Doppelring aus Laufbahn und Radrennbahn schufen eine breite Schwelle zwischen Innenraum und Zuschauerraum, was deren Konfrontation dämmte. Die Bauform des Erdstadions wiederum verringerte den Kontrast zwischen Zuschauerraum und Umgebung: In die Erde versenkt, hatte das Stadion keine Außenfassade, die obersten Stehplatzreihen befanden sich auf Bodenhöhe, die Bäume des umliegenden Grunewalds waren im ganzen Rund sichtbar und kein Tribünendach versperrte den freien Blick. Die Wettkampfstätten des antiken Griechenland vor Augen, hatte der Architekt Werner March das Deutsche Stadion als Teil einer gegliederten Landschaft konzipiert. Auch in seiner inneren Gestaltung war das Stadion ein Symbol der Integration. Es verkörperte die Einheit der verschiedenen Sportarten ebenso wie die Verbindung von Sport und anderen Bereichen der Gesellschaft: Mit den Skulpturen prominenter Bildhauer – wie Walter Schmarje oder Georg Kolbe – auf der Schwimmbahntribüne, den seit 1920 darunter eingerichteten LABORATORIEN und Hörsälen der Deutschen Hochschule für Leibesübungen und
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dem mächtigen Kaiserpavillon auf der gegenüberliegenden Tribüne bot es Kunst, Wissenschaft und Herrschaft einen eigenen Platz (Krause 1926, 20ff.). Einmärsche von Athleten wie bei den Deutschen Kampfspielen 1922 stellten ideale Nutzungen für diese Raumkonzeption dar. Beide Räume des Stadions waren dann mit Menschen gefüllt, die in ihrer gegliederten Einheit den biologischen Körper und die geographische Integrität der Nation repräsentierten. Ein Fußballspiel dagegen stellt einen spannungsgeladenen Kontrast zwischen wenigen, über den weiten Innenraum verteilten Wettkämpfern und der engagierten Masse im dicht gefüllten Zuschauerraum her, der permanente Interaktion zwischen den Räumen fördert und die verbale oder gewaltsame Verletzung der Grenze geradezu provoziert (Bale/Moen 1995, 314). Die Stadien der Fußballclubs sind ganz auf diese Nutzung zugeschnitten: Vier schmucklose, unmittelbar an den Begrenzungen des Spielfelds steil ansteigende Tribünenbauten konfrontieren Spieler und Zuschauer hautnah und verschließen den Stadionraum gegenüber seiner Umgebung. Durch die konzentrisch-vertikale Anordnung nach dem Modell eines römischen Amphitheaters kann von jedem Platz im Zuschauerraum neben der Innenfläche aus nahezu der gesamte restliche Zuschauerraum eingesehen werden. Das Stadion ist somit nicht nur die Bühne sportlicher (oder anderer) Darbietungen, sondern auch ein panoptischer Spiegel, in dem die Zuschauer sich als Teil einer Masse sehen und sich zugleich der Überwachung ausliefern.
II. Olympische Raumordnung und Stadtteilwohnzimmer Das Deutsche Stadion in Berlin entstand im Kontext der neuzeitlichen olympischen Bewegung. Aus Sorge vor den »degenerierenden« Wirkungen der industriellen und großstädtischen Moderne hatten Pierre de Coubertin und seine Anhänger seit Ende des 19. Jahrhunderts einen breit betriebenen Sport als sozialhygienisches Mittel der moralischen und physischen Optimierung nationaler Kollektive propagiert. Die im Rekurs auf die griechische Antike erneuerten olympischen Spiele, bei denen sich die besten Athleten einer oder mehrerer »kultivierter« und »zivilisierter« Nationen maßen, sollten der modernen Sportidee eine gebührende Öffentlichkeit verschaffen (Alkemeyer 1996, 49ff.). Der engen Verbindung von internationaler Sportbewegung und nationalistischen Deutungsmustern um 1900 entsprechend, fanden die olympischen Spiele von 1900 in Paris, 1904 in St. Louis und 1908 in London parallel zu den dortigen Weltausstellungen statt. Olympische Stadien und Ausstellungshallen schufen einen agonalen Repräsentationsraum für das technische, wirtschaftliche und physische Leistungsvermögen der Nationen. Gegen starke Widerstände des wilhelminischen Establishments und der traditionell »teutschen« Turner propagierte der 1904 gegründete »Deutsche Reichsausschuß für Olympische Spiele« die Sportbewegung auch in Deutschland. Sportfunktionäre wie Carl Diem warben erfolgreich für die Idee nationaler und internationaler olympischer Spiele in Deutschland. Als im Sommer 1912 mit der Grunewalder
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Pferderennbahn ein Ort für den Stadionbau gefunden und dessen private Finanzierung gesichert war, vergab das Internationale Olympische Komitee die Spiele von 1916 an Berlin (Krause 1926, 15). Zwar verhinderte der Erste Weltkrieg die Durchführung der Spiele, aber die mit ihm verbundenen physischen Entbehrungen verliehen dem Sport als »Arzt des Volkes« schlagartig große Legitimität (Eisenberg 1997, 100ff.). Die Errichtung von Sportplätzen und Stadien wurde daher in den zwanziger Jahren zu einem bevorzugten Anliegen kommunaler Bautätigkeit. Gab es bei Kriegsausbruch in ganz Deutschland nur das Stadion im Grunewald, so standen 1929 in 100 deutschen Städten 125 Sportplätze mit Kapazitäten für mehr als eine Million Zuschauer zur Verfügung (Verspohl 1975, 185). Das Deutsche Stadion und der von Carl Diem nach dessen Vorbild entworfene »Normalplatz« setzten einen funktionalen und ästhetischen Standard (Diem 1928, 424ff.). Die meisten Anlagen integrierten Plätze für unterschiedliche Sportarten, wenn auch Schwimm- und Radrennbahn zunehmend separat errichtet wurden. Zudem sollten sich Sportplätze als »Oasen der Stadt« in die urbane Landschaft eingliedern. Besonders die von Wald umschlossenen Stadien in Hannover und Frankfurt am Main oder die an offenen Gewässern gebauten Anlagen in Kassel, Duisburg und Potsdam wurden für ihre landschaftliche Qualität gelobt. Eine Erweiterung dieser Norm stellte der 1926 errichtete Sportpark in Köln dar. Unter geschickter Ausnutzung staatlicher Subventionsprogramme wurde unter Oberbürgermeister Konrad Adenauer in Müngersdorf das größte Sportplatzensemble der Welt geschaffen: Acht separate Stadien boten Wettkampfmöglichkeiten für Leicht- und Schwerathletik, Fußball, Hockey, Reiten, Schwimmen und Tennis; wochentags standen sie Sportvereinen und Schulen für Unterricht und Training zur Verfügung (Ostrop 1928). Unabhängig von ihrer geographischen Lage im Innern oder am Rand der Stadt wurden die Stadien als Orte betrachtet, die für alle Bewohner erreichbar sein sollten (STADTRANDSIEDLUNG). Wo nicht vorhanden, war die Verkehrsanbindung der Stadien daher von zentraler Bedeutung. Beim Stadionbau »olympischen« Typs verknüpften deutsche wie andere europäische Kommunalpolitiker, Sportfunktionäre und Architekten Strategien moderner Massenpolitik mit der Herstellung einer repräsentativen Massenöffentlichkeit. Beim Besuch des Stadions sollte die situativ konzentrierte Stadtbevölkerung für den aktiven Sport gewonnen werden. Die Architektur sollte durch »gute Maßverhältnisse« und »angenehmes Linienspiel« (Pierre de Coubertin) mäßigend auf die Affekte von Zuschauern und Athleten wirken und in ihrer großzügigen Weite einen Rahmen für den Auftritt kultivierter und formierter Körper schaffen. Dabei wurde auf unterschiedliche Raumordnungsmodelle zurückgegriffen: auf die Landschaft wie in Berlin (1913) und Frankfurt (1925), auf eine geometrisch-funktionale Sachlichkeit wie in Nürnberg (1927) und beim Olympiastadion in Amsterdam (1928) oder auf die Naturwissenschaft wie im Wiener Stadion (1931), bei dessen Planung der Architekt Otto Ernst Schweizer die ideale Sichtdistanz zwischen Zuschauer- und Innenraum durch psychophysikalische Experimente ermitteln ließ (Verspohl 1976, 210).
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Nutzbar waren solche Räume durchaus nicht nur für die Erziehungs- und Selbstdarstellungsansprüche des bürgerlich-nationalen Lagers. Sportliche Massenfeste, in denen politische Kollektive Existenzwillen, Integrationskraft und Leistungsbereitschaft zum Ausdruck brachten, waren geradezu ein Epochensignum der Zwischenkriegszeit: Die sozialistische Arbeitersportbewegung veranstaltete 1925 in Frankfurt und 1931 in Wien aufwändig inszenierte Arbeiterolympiaden, jüdische Sportler aus aller Welt bekräftigten 1932 bei der Makkabiade in Tel Aviv den Anspruch auf einen zionistischen Staat und in der Sowjetunion gaben seit Ende der zwanziger Jahre die Massovye Dejstva kommunistischer Körperkultur eine Bühne. In einer ganz anderen Tradition standen dagegen die unzähligen Stadien, die ausgehend von England zwischen 1880 und 1925 in allen Städten Europas und Südamerikas als Spielstätten privater Fußballclubs errichtet wurden. Frei von volkspädagogischen und repräsentativen Ansprüchen, bestanden sie bis zum Ersten Weltkrieg oft aus kaum mehr als einem Bretterzaun und einigen Holztribünen, die im Lauf der Jahre ausgebaut und über den Sitzplätzen mit Dächern ausgestattet wurden. Meist inmitten der Stadtteile gelegen, in denen die Clubs ansässig waren, zeichneten sie sich durch einen engen, rechteckigen Zuschnitt aus, was ihnen einen fast intimen Charakter verlieh und die emotionale Bindung des Publikums an Spieler und Ort förderte (Nielsen 1995, 26ff.; Torberg 1979, 169). Dank der einzigartigen Massenattraktivität des Fußballs schufen die auf Publikumseinnahmen angewiesenen Vereine in ihnen einen Ort der Massenunterhaltung, den sich die Stadtbevölkerung eigensinnig als Forum folkloristischer Kreativität und lokaler Vergemeinschaftung aneignete. Besonders charakteristische Stadionkulturen entwickelten sich in Großbritannien, den europäischen Mittelmeerländern, Südamerika und, von besonderer Intensität, im Wien der Zwischenkriegszeit. Auf engem Raum verteilt, wurden die zwölf Stadien der Wiener Fußballclubs zu Knotenpunkten einer neuartigen Massenmobilität. Sonntag für Sonntag bewegte sich bis zu einem Siebtel der gesamten Wiener Bevölkerung zu den Spielplätzen. Regelmäßig kollabierte das Verkehrssystem und partikulare Gemeinschaften innerhalb der Stadt traten in offener Konfrontation gegeneinander an. An spezifische Milieukulturen gebunden, repräsentierten Mannschaften wie »Wacker« aus Meidling oder »Rapid« aus Hüttelsdorf in ihrem betont kämpferischen Spielstil die proletarisch geprägten Vorstädte, während die innerstädtische »Austria« oder die jüdische »Hakoah« ihr Publikum eher aus den Mittelschichten und Kaffeehauskreisen rekrutierten (Horak/Maderthaner 1995). Die englische football crowd prägte dagegen eine Gesangskultur, die in ihrer strengen Kodifizierung beinahe liturgische Züge trug. Ihr wichtigster Ursprungsort liegt im englischen Nationalstadion in Wembley. Seit seiner Erbauung 1923 vermischten sich dort alljährlich anlässlich des Pokalfinals höfisches Zeremoniell und Massenspektakel. Nach Abschluss der Siegerehrung, die bis zu seinem Tod 1936 von George V. vorgenommen wurde, stimmten 100.000 Zuschauer den Lieblingschoral des Königs an. »So wird Abide with me nur in Wembley gesungen«, gab ein beeindruckter deutscher Gast die Meinung eines Endspielbesuchers wieder (Fußball-
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woche, 12.8.1934, 12). Die Erhabenheit der sprichwörtlich gewordenen »WembleyExperience« setzte einen nationalen Standard, der in die Clubstadien übertragen und dort lokalspezifisch abgewandelt wurde (Morris 1981, 304ff.). Der moderne Fußballtourismus machte aus dem Stadion einen kulturellen Umschlagplatz. Kurz nachdem die Liverpooler Band »Gary and the Pacemakers« 1963 mit You’ll never walk alone die britischen Charts erobert hatte, avancierte der Song auf den Tribünen an der Anfield Road zur Vereinshymne des F.C. Liverpool und einige Jahre später sangen ihn Fußballfans in ganz Europa. Ebenso ist die La-Ola-Welle, die mexikanische Zuschauer 1986 der Weltöffentlichkeit vorführten, heute bei Fußballspielen und anderen Großveranstaltungen fester Bestandteil einer massenmedial vervielfältigten Selbstinszenierung des Publikums. Die Kommerzialisierung des Fernsehens hat die europäischen Fußballstadien zuletzt einem in den USA schon seit den sechziger Jahren üblichen Standard angenähert. Um neue Interessenten und Werbekunden für den Fußball zu gewinnen, mussten Zuschauergewalt und Katastrophen wie die 39 Toten im Brüsseler Heyselstadion 1985 ausgeschlossen werden. Durch die weitgehende Abschaffung der Stehplätze und eine komplette Überdachung des Zuschauerraums sind die Stadien komfortabler und sicherer geworden. Der Einsatz von Moderatoren, die mit dem Publikum kommunizieren, bis zu 20 Kamerastandpunkte, große Screen-Bildschirme und verglaste VIP-Lounges haben aus ihnen zudem studioartige Räume zur Produktion konsumierbarer Bilder gemacht (Eichberg 1995, 340ff.) (KINO).
III. Paradigma Fußball Als Teil der Ausbildung einer spektakulären Massenöffentlichkeit um 1920 hat das unter starker emotionaler Beteiligung des Publikums ausgetragene Fußballspiel nachhaltiger als alle anderen Nutzungen des Stadions und oft gegen die Intentionen der Erbauer moderne Erfahrungsweisen geprägt und die Wahrnehmung des Stadions als Ort der Moderne bestimmt. Stärker als am STRAND steigert sich in ihm die Anonymität der Großstadt zur Konzentration einander unbekannter Menschen auf engstem Raum. Erst durch die Etablierung einer organisierten Fankultur ist das Stadion in den letzten Jahrzehnten darüber hinaus auch zu einem Ort vertrauter Gemeinschaft geworden. Zugleich stiftet es eine sinnlich erfahrbare Einheit, in der die Fragmentierung der urbanen Welt aufgehoben ist. Indem sich eine große Zahl von Menschen gleichzeitig auf einen Fokus orientiert, stellt sich jene spezifische Erfahrungsform ein, die Elias Canetti als »Masse« bezeichnet hat (Canetti 1982, 230-237). In der Masse schlägt die Quantität der Körper in die Qualität einer veränderten Wahrnehmung um. Ihre Einheit besteht nicht allein in der räumlichen Häufung der Körper wie im KONZENTRATIONSLAGER, sondern in einer kontextabhängigen Kanalisierung und Ausdifferenzierung der Sinne wie im KINO. Beim Fußball sehen die Zuschauer ein Ereignis mit offenem Verlauf, das viele Spannungs- und Überraschungsmomente enthält. Mit der Fesselung des Blicks ver-
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lieren Haut und Nase ihre Funktion der Distanzregulierung zu anderen Körpern. Akustische Phänomene erhalten dagegen wie in der Dunkelheit eine starke Eigenpräsenz, die sich zu einer mächtigen Klanggestalt steigert, wenn das Fußballpublikum – in genauer Umkehrung der apparativen Aufzeichnungen im LABORATORIUM – sichtbare Bewegungen in Vibrationen der Stimme übersetzt. Für die umliegenden Anwohner ist das Fußballstadion ein gewaltiger Resonanzkörper, von dem wie von einem Rockkonzert ein unverwechselbarer Sound ausgeht. Besonders die Teilung in zwei gegnerische Lager ist charakteristisch: »Ich rührte mich nicht von der Stelle und hörte dem ganzen Match zu. Die Triumphrufe galten einem Tor, das geschossen wurde, und kamen von der siegreichen Seite. Es war auch, er tönte anders, ein Aufschrei der Enttäuschung zu vernehmen« (Canetti 1982, 240). Nicht zuletzt wegen der Geräuschkulisse gehören Liveübertragungen von Fußballspielen zu den intensivsten Hörerfahrungen des Rundfunks, der den Stadionraum bis in die Wohnzimmer (APPARTEMENT) ausdehnt: »Wie hält man den Atem an, wie stockt einem der Herzschlag, wenn die Zehntausende plötzlich bei besonderen Gelegenheiten ihre Stimme erheben«, beschrieb ein Journalist sein erstes Spiel am Radio (Fußballwoche, 5.7.1927, 9). Das akustische Potenzial des Stadions wird vom Publikum aber auch zur Selbstinszenierung genutzt. Neben synchronisierten Anfeuerungsrufen hat vor allem die Aneignung von Choralmusik und traditionellen noise cultures, wie mediterranem Charivari oder karnevaleskem Trommeln, die Ränge zu einer selbstbezüglichen Klangbühne gemacht, von der aus die Zuschauer mit dem Spielgeschehen interagieren, es aber auch erhaben ignorieren können (Nielsen 1995, 35). Als amorphe, zugleich überschaubare und prägnant hörbare »Kulisse« wird das Publikum sich selbst zur Sensation. Auch die Zeitwahrnehmung der Zuschauer unterliegt beim Fußballspiel einem eigenen Regiment, das einige Aspekte spezifisch moderner Erfahrung bestätigt und andere zugleich aufhebt. Das Stadion wird zu einem Ort der verlangsamten Schnelligkeit: Die im physiologischen LABORATORIUM vermessenen und im KRAFTRAUM trainierten Leistungssportler reizen einerseits die Grenze der Geschwindigkeit des menschlichen Körpers aus, doch kann der Betrachter ihr anders als der technologischen Geschwindigkeit der AUTOS mühelos folgen (Alkemeyer 1996, 153). Die Spielzeit wiederum ist standardisiert wie der Takt des Fließbands (STAHLWERK), aber ihre Wahrnehmung hängt wie im KINO vom Verlauf des dramatischen Ereignisses ab. Bei knappem Ergebnis wird gegen Ende des Spiels die Stadionuhr zu einem Fixpunkt der Aufmerksamkeit. Für die Anhänger der im Rückstand liegenden Mannschaft rückt der Zeiger unerbittlich vorwärts, während dem Radioreporter Herbert Zimmermann nach dem 3:2 für die deutsche Mannschaft im Weltmeisterschaftsfinale 1954 die letzten Spielminuten endlos erschienen: »Geh doch schneller, geh doch schneller, möchte man dem Zeiger zurufen – aber er tut es nicht, er wandert mit der ihm vorgeschriebenen Präzision seine Bahnen« (Kollektives Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland 1954-2004). Zugleich ist das Stadion ein Ort sozialer Beziehungen, an dem körperliche Nähe und Distanz, Zusammengehörigkeiten und Unterscheidungen verhandelt, inszeniert
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und räumlich erfahren werden. Die Zeiten unmittelbar vor und nach dem Spiel, in denen sich Tausende Körper an den Zugängen des Stadions drängen und auf den offenen Stehrängen nach gleichmäßiger Verteilung suchen, werden als unbehagliche Intimität erfahren, die sich bis zur Panik steigern kann. Durchbrüche der »Zuschauerflutwelle« auf das Spielfeld und erst recht die vielen Verletzten und Toten, die unter »menschlichen Lawinen« begraben wurden, verleihen dem Stadion ein ähnliches Katastrophenpotenzial wie dem STAUDAMM (Morris 1981, 272ff.). Wie der STRAND stellt auch der Zuschauerraum einen Schwellenraum dar, an dem soziale Grenzen verstärkt, eingerissen oder neu etabliert werden. Die Anhänger beider Mannschaften zollen sich wechselseitig Respekt oder beschimpfen einander, die Zuschauer auf den billigen Stehrängen fordern die Sitzplatzinhaber zu mehr Aktivität auf oder vergemeinschaften sich mit ihnen im Jubel, die Spieler werden angefeuert oder durch das Werfen von Gegenständen eingeschüchtert. Zudem ist der Zuschauerraum beim Fußballspiel die Bühne, auf der aus Spielern und Anhängern einer Mannschaft Repräsentanten von Schichten, Städten, Rassen und Nationen werden (Nielsen 1995, 32ff.). Vorgestellte Gemeinschaften werden hier wie an der FRONT in der physischen Auseinandersetzung erfahrbar. Darüber hinaus hat sich das Stadion, ausgehend von der Entstehung der Fankulturen in den sechziger Jahren und auch hierin dem KONZENTRATIONSLAGER ähnlich, zu einem eigenständigen Sozialraum entwickelt. Im Stadion unterscheiden sich die Zuschauer nach Organisiertheit, Verbundenheit mit dem Verein, Regelmäßigkeit und Grund des Besuchs (Morris 1981, 233ff.). Jenseits aller sonstigen Grenzziehungen teilte das Stadion bis in die jüngste Vergangenheit mit der FRONT und dem STRIPTEASELOKAL den Charakter exklusiver Männlichkeit. Die wetterexponierte Stehtribüne galt lange als Schule der Abhärtung (Horvath 1983, 30-34), die Frau im Stadion war ein beliebter Topos humoriger Sportliteratur (Torberg 1979, 163) und gegnerische Zuschauer oder Spieler werden bis heute als homosexuell stigmatisiert. An keinem anderen öffentlichen Ort der Moderne versammeln sich Menschen derart zahlreich und zugleich konzentriert wie im Stadion. Es wurde daher zum Brennpunkt einer mal faszinierten, mal besorgten Beobachtung durch Sportfunktionäre, Journalisten und Sozialwissenschaftler und zur Ikone einer Epoche, für die »Massenzeitalter« eine der zentralen Selbstbeschreibungskategorien geworden war. Für die Planer der ersten »olympischen« Generation meinte der emphatisch aufgeladene Begriff des stadion einen ästhetisch und funktional geordneten Raum, der eine repräsentative Massenöffentlichkeit für Körperkultur und politische Vergemeinschaftung schaffen sollte. Die vermeintliche Unerziehbarkeit des Fußballpublikums verursachte bei Funktionären und Polizei eine Krise dieser Steuerungsphantasien (PARTEIZENTRALE). So wurde die Aneignung des Stadions durch eine spektakuläre Massenöffentlichkeit von Oswald Spengler und anderen Kulturkritikern unterschiedlicher Provenienz als epochales Verfallssymptom gedeutet: »Der Unterschied eines Berliner Sportplatzes an seinem großen Tage von einem römischen Zirkus war schon 1914 sehr gering« (Spengler 1918, 49). In den siebziger Jahren wurde das
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Stadion, auch hierin dem KINO ähnlich, zum prominenten Gegenstand einer neomarxistischen Ideologiekritik: Der professionelle Leistungssport stellte in dieser Lesart eine symbolische Verdoppelung der Produktionsverhältnisse des Industriekapitalismus dar, in dessen Interesse die Masse im Stadion manipuliert, durch die Scheinwelt des Spektakels mit den realen Widersprüchen versöhnt und dadurch zugleich entpolitisiert wurde (Prokop 1972; Vinnai 1972). Schließlich machte die Usurpation des Zuschauerraums durch gewaltbereite jugendliche Subkulturen den »Tatort Stadion« seit Ende der siebziger Jahre zum Brennpunkt soziologischer und sozialpädagogischer Diskurse (Dembowski/Scheidle 2002). Die Fußballzuschauer sind als sichtbare Spitze einer nach dem Ersten Weltkrieg gewaltig anwachsenden Sportöffentlichkeit aber auch zum Faszinosum der Berichterstattung geworden. In den zwanziger Jahren wurde Sportjournalist zum Beruf. Der Radioreporter, auf einem Podest an der Mittellinie, und seine Kollegen von der Presse, die mit ihren ZEITUNGSREDAKTIONEN telefonierten, verbanden die Masse im Stadion mit den Massen der Zeitungsleser und Rundfunkhörer. Das Label »Ausverkauft!« wurde zu einem Fetisch, der das Leserinteresse verlässlich auf sich zog. Nationale Rekordzahlen wie 40.000 (1920), 55.000 (1926) und 100.000 (1936) oder internationale wie 136.000 (Glasgow 1933) und 200.000 (Rio de Janeiro 1950) waren Schlagzeilen wert. Immer mehr Körper an einem Ort zu versammeln, wurde zu einer Steigerungsphantasie der klassischen Moderne. Sie kulminierte in den gigantischen Stadionprojekten der Nationalsozialisten, für die Albert Speer 1936 nicht nur das Berliner Olympiastadion realisierte, sondern auch ein nie gebautes Deutsches Stadion in Nürnberg für 450.000 Zuschauer entwarf (Verspohl 1976, 250). In den letzten Jahrzehnten ist das Stadion zudem als ein Ort in den Blick genommen worden, an dem sich Paradoxien der Moderne veranschaulichen lassen. Dazu zählt etwa die Spannung aus geometrischer Raumordnung und der Gestaltbarkeit eines konkreten Ortes, an dem emotionale Bindungen geschaffen und volkskulturelle Praktiken tradiert werden (Morris 1981; Nielsen 1995; Eichberg 2003). Dass viele Stadien heute eine Aura umgibt und mit ihrem Namen lange zurückliegende Spiele, der Stil einer Mannschaft oder die Kultur eines Publikums verbunden sind, verdankt sich nicht zuletzt der massenmedialen Inszenierung des Fußballs: Der »Hexenkessel« des Aztekenstadions in Mexiko-City, die erhabene »Fußballkathedrale« in Wembley, das »Freudenhaus der Liga« am Hamburger Millerntor oder das Weserstadion als Ort der »Bremer Europapokalwunder« sind Elemente einer Gesamterzählung, deren Vermarktung von der Offenheit des Ereignisses ebenso abhängt wie von der Vertrautheit mit Protagonisten und Schauplätzen. Der Literatur schließlich blieb es vorbehalten zu zeigen, dass im Stadion wie im TANZLOKAL zwar bestimmte ritualisierte und tradierte Verhaltensweisen erwartet werden können, doch das Maß aller Dinge die plötzliche Ekstase ist: »Aber dann brachte Alan Sunderland seinen Fuß an den Ball und stocherte ihn rein, genau in das Tor vor uns, und ich schrie nicht ›ja‹ oder ›Tor‹ oder irgendeinen der anderen Laute, die in solchen Momenten üblicherweise aus meiner Kehle kommen, sondern produzierte nur einen Laut, ›AAAARRRRGGGGHHHH‹, einen Laut, der aus höchster
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Freude und gelähmtem Unglauben geboren war, und plötzlich waren wieder Menschen auf den Betonrängen, doch sie rollten übereinander und durcheinander, mit fiebrigen Augen und in Raserei« (Hornby 1996, 156).
Literatur Alkemeyer, Thomas (1996): Körper, Kult, Politik. Von der »Muskelreligion« Pierre de Coubertins zur Inszenierung von Macht in den Olympischen Spielen von 1936, Frankfurt/New York. Bale, John/Olof Moen (Hg.) (1995): The Stadium and the City, Bodmin. Bensemann, Walther/Fritz Frommel (1922): Deutsche Kampfspiele 1922, Berlin. Canetti, Elias (1982): Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931, Frankfurt. Dembowski, Gerd/Jürgen Scheidle (Hg.) (2002): Tatort Stadion. Rassismus, Antisemitismus und Sexismus im Fußball, Köln. Diem, Carl (1913): Das deutsche Stadion, in: August Reher (Hg.), Das Deutsche Stadion. Sport und Turnen in Deutschland. Eine Denkschrift für das deutsche Volk, Berlin, 5-12. Ders. (1928): Moderne Sportplatzanlagen, in: F. Breithaupt/ders./H. Sippel (Hg.), Stadion. Das Buch von Sport und Turnen, Gymnastik und Spiel, Berlin, 420-431. Eggers, Erik (2001): Fußball in der Weimarer Republik, Kassel. Eichberg, Henning (1995): Stadium, Pyramid, Labyrinth: Eye and body on the move, in: Bale/ Moen (Hg.), Stadium, 323-347. Ders. (2003): Stadion, in: Hans-Otto Hügel (Hg.), Handbuch der Populären Kultur, Stuttgart, 437441. Eisenberg, Christiane (1997): Deutschland, in: dies. (Hg.), Fußball, Soccer, Calcio. Ein englischer Sport auf seinem Weg um die Welt, München, 94-129. Horak, Roman/Wolfgang Maderthaner (1997): Mehr als ein Spiel. Fußball und populare Kulturen im Wien der Moderne, Wien. Hornby, Nick (1996): Fever Pitch. Ballfieber – Die Geschichte eines Fans, Köln. Horvath, Ödön von (1983): Jugend ohne Gott, Frankfurt. Krause, Gerhard (1926): Das Deutsche Stadion und Sportforum, Berlin. Morris, Desmond (1981): Das Spiel. Faszination und Ritual des Fußballs, München/Zürich. Nielsen, Niels Kayser (1995): The Stadium in the City: A modern story, in: Bale/Moen (Hg.), Stadium, 21-44. Ostrop, Max (1928): Deutschlands Kampfbahnen, Berlin. Prokop, Ulrike (1972): Soziologie der Olympischen Spiele, München. Spengler, Oswald (1918): Der Untergang des Abendlandes, Bd. 1, München. Torberg, Friedrich (1979): Die Erben der Tante Jolesch, München. Verspohl, Franz-Joachim (1976): Stadionbauten von der Antike bis zur Gegenwart. Regie und Selbsterfahrung der Massen, Gießen. Vinnai, Gerhard (1972): Sport in der Klassengesellschaft, Frankfurt.
Gestalten: Orte der Rationalisierung
Der Mensch als bloßes Rädchen im Getriebe: In diesem Bild hat sich eine kritische Sicht auf die Rationalisierung von Produktion, Verwaltung und Vergnügen nachhaltig niedergeschlagen. Für diese Schattenseite, aber nicht minder für die Faszination der technischen Moderne steht vor allem das Fließband, um das herum die Arbeitsschritte so zerlegt und angeordnet werden, dass alle Handgriffe aufeinander abgestimmt und ohne Zeitverlust ausgeführt werden können. Dieses äußerst effiziente Verfahren zwingt die Menschen am Fließband, sich den monotonen, getakteten Maschinenrhythmen weitgehend anzupassen. Ungeachtet seines hohen Symbolwerts hat sich das Fließband jedoch erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts in der industriellen Herstellung durchgesetzt. Maßgeblich waren in der klassischen Moderne zunächst Arbeitsteilung und Standardisierung wie in den groß dimensionierten STAHLWERKEN. Deren extreme, hochproduktive Verdichtung erzeugte fremdbestimmte Abläufe, denen sich die Arbeiter nur punktuell entziehen konnten. Eine solche effiziente Verarbeitung von Rohstoffen war die Voraussetzung für die Massenproduktion von Konsumgütern, aber auch für die Umgestaltung der Stadt. Neue Bautechniken hielten Einzug. Das HOCHHAUS erschloss die Vertikale und repräsentierte in seiner Größe Überlegenheit und Wohlstand. Das Bauen in der dritten Dimension trieb die funktionale und soziale Differenzierung voran, vor allem durch Geschäftsviertel in den Innenstädten, wo sich Verwaltungen und Dienstleistungen ansiedelten. Die neuen Großraumbüros konnten mit dem Fahrstuhl erreicht werden. An den Schreibtischen strukturierten Arbeitsorganisation, Bürotechnik und moderne Kommunikationsmittel den Handlungsraum der wachsenden Dienstleistungsklasse. Auf ihren seriell angeordneten Arbeitsplätzen kontrollierten sich die Kollegen gegenseitig oder wurden zu Komplizen gegen Vorschriften und Zwänge. Die zur Jahrhundertwende einsetzende Rationalisierung machte nicht bei der Erwerbsökonomie Halt. Sie erreichte binnen weniger Jahre auch den häuslichen Bereich, wo verschiedene Funktionsbereiche aufeinander abgestimmt wurden. Das technisierte Badezimmer sonderte die Körperpflege von Schlafzimmer und Küche. Diese sollte ihrerseits nach dem Motto »Griffe statt Wege« als verkleinerte Arbeitsküche vollständig neu organisiert werden. Die Architektin Grete Schütte-Lihotzky entwarf die bekannte Frankfurter Küche nach dem Vorbild hochkomprimierter Speisewagenküchen. Anders als am Fließband wiederholte die Hausfrau hier nicht
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immer wieder die gleichen Handgriffe; die effiziente Verdichtung unterschiedlichster Tätigkeiten sollte ihr helfen, Arbeiterin und zugleich Managerin des häuslichen Betriebs zu sein. Mit dem Prinzip der rationellen Haushaltsführung durchdrangen Effizienzkriterien den Privatbereich, denn eingesparte Zeit, Kraft und Mittel sollten dem Wohlbefinden von Mann und Kindern und letztlich der »Volksgesundheit« zugute kommen. Dem ähnelt die Rationalisierung von Körpern auf dem gynäkologischen Stuhl: Vorsorge und hygienische Behandlung sicherten Leben und Gesundheit von Frauen und Kindern, zugleich setzten Ärzte hier beizeiten staatliche Geburtenpolitik um, die versuchte, Einfluss auf die Gestalt des »Volkskörpers« zu nehmen. Das Ideal eines »organischen« Städtewachstums wiederum stand hinter zahlreichen Bauprogrammen, die bestimmte Funktionen und ähnliche Lebensstile innerhalb der Stadt räumlich zusammenfassten und ausgliederten. In der STADTRANDSIEDLUNG bilden Villen, Reihen- und Einfamilienhäuser oder Sozialwohnungskomplexe solche Ensembles, deren Lage im Grünen eher an Rückzug als an Gestaltungswillen denken lässt. Doch schon diese Siedlungen greifen wie viele Orte der Steuerung oder Fabriken und Supermärkte auf der »grünen Wiese« in die Natur ein. Nirgendwo sind die Folgen dieser Eingriffe so sichtbar wie an Talsperren und STAUDÄMMEN. Sie verkörpern den Wunsch, Natur zu beherrschen. Die technische Bändigung elementarer Gewalten schützt vor Gefahren, erzeugt aber auch neue, wenn das Gebändigte sich zu entfesseln droht. Der Preis für die unbeschränkte Nutzung von Ressourcen durch solche Großprojekte ist hoch. Die Moderne begleitet ein wachsendes Bewusstsein für Risiken und Zerstörungen: Naturschutzräume werden ausgewiesen und selbst Skipisten sind umstritten. Das Prinzip der Nachhaltigkeit hat sich trotz fortgesetzten Raubbaus nicht nur semantisch als überaus erfolgreich erwiesen, sondern auch scheinbar entgrenzende Raumerfahrungen ihrer sorglosen Naivität beraubt.
Das Stahlwerk Habbo Knoch I. Moderne im Schmelztiegel: Gussstahlfabrik Krupp, Essen, und die FriedrichAlbert-Hütte, Duisburg, 1905 Die Krupp-Stadt bei Essen nahm die Sinne ihrer Arbeiter gefangen und zog ihre Besucher in den Bann: Um die Jahrhundertwende erzeugten über 1.200 Öfen, mehrere Hundert Dampfmaschinen und mehr als 100 Dampfhämmer, darunter der legendäre, über Essen hinaus hör- und spürbare 25-Tonnen-Hammer »Fritz«, ein Szenario aus Lärm, Dampf und Feuer, sekundiert von Stahlwalzen, Lokomotiven und Signaltönen. In den Hallen ließen die gigantischen Ausmaße die Menschen »wie Zwerge« erscheinen, »die Apparaturen und Bauten ragen höher als Kirchtürme in den Himmel« (Muthesius 1941, 75). Die Grundgeräusche der 25.000 Arbeiter im Hauptwerk – 1881 waren es erstmals mehr als 10.000, kurz vor Kriegsbeginn wurde die Grenze der 40.000 überschritten – erstickten im Dauerlärm der Maschinen. Ihre Kinder litten am kaum behandelbaren »Krupp-Husten«. Die Arbeiter gingen in über 200 Hallen, Werkstätten und Gebäuden ihren Tätigkeiten nach – an den Stahlöfen im »Schmelzbau«, dem Herz des Unternehmens, in den Hammerwerken und Schmieden, den Knüppel-, Blech- und Panzerplattenwalzwerken, den diversen Bearbeitungs- und Produktionswerkstätten, an den Dampfmaschinen und in der Wasserversorgung. Mindestens eine Stufe höher in der werksinternen Hierarchie standen die Angestellten in Verwaltung, Konstruktionsbüros und Laboratorien, die »Beamte« genannt wurden und zu denen auch ein Teil der »Meister« zählte. Doch die Stahlproduktion als Leitindustrie der klassischen Moderne verkörperten Arbeiter vor den grell leuchtenden Feuerschlünden der Schmelzen. Ihre Gewerkschaften zehrten davon, diese Bändiger des Elementaren an einer Schlüsselstelle der industriellen Produktion zu vertreten. Inzwischen sind die meisten Werke geschlossen, die Kocher und Schmelzer im Zuge der Vollautomatisierung durch Maschinenführer und Techniker ersetzt. Ein 1912 aus Anlass des 100-jährigen Bestehens der Firma gefertigtes Panoramabild zeigt, wie sich vom ursprünglichen Fabrikgebäude aus konzentrisch, aber scheinbar ohne innere Ordnung und unter Ausnutzung jedes Quadratmeters ein Durcheinander von Dächern und in die Höhe schießenden Essen entfaltet hatte. Die Bauformen der Hallen unterschieden sich nach Entstehungsjahr und Funktion. So standen in den Gebäuden mit den höchsten Giebeln die zum Teil riesigen Dampfhämmer, in den flacheren wurden Einzelteile montiert, unter lang gestreckten Flachdächern oder Hallen mit Sägedächern, deren kürzere Fallkanten für Oberlichter genutzt wurden, verbargen sich ganze Produktionsstraßen. Solche Industrieriesen gab es erst seit gut 50 Jahren: Neue Maschinen, Spezialisierung und Arbeitsteilung hatten den Bau von Großhallen erforderlich gemacht; nicht wenige waren Kirchenhallen nachempfunden. Bei Krupp machte man sich aber nicht viel aus der
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revolutionären Industrieästhetik eines Peter Behrens, die seit der Jahrhundertwende den Fabrikbau als »monumentale Kunst« (Walter Gropius) nobilitierte. Aus dem Panorama der Krupp-Stadt ragte die am Rand gelegene IX. Mechanische Werkstatt mit ihrer imposanten Anlage heraus. 1905 erbaut und fünf Jahre später erheblich erweitert, war sie mit mehr als 30.000 Quadratmetern die größte zusammenhängende Werkshalle der Welt. Hier wurden »Panzertürme«, großkalibrige Geschütztürme, in bis zu 14 Meter tiefen Schächten montiert. Um das doppelt halbrund bedachte, hoch aufragende Mittelschiff lagerten sich rechts und links in zwei weiteren abfallenden Höhenstufen mehrere Seitenschiffe an. Die Absätze in den wellenförmig angelegten Dächern führten den Hallen seitliches Tageslicht zu, verstärkt durch dicht gestaffelte Dachlaternenaufsätze. Arbeitsbühnen teilten die Seitenschiffe in mehrere Ebenen, auf denen Maschinen zur Bearbeitung kleinerer Werkteile Platz fanden; inzwischen legten Bauordnungen maschinenbezogene Mindestgrößen von Arbeitsplätzen fest. Von ihren erhöhten »Meisterbuden« aus konnten die Aufsichtsbeamten die Halle überblicken. In der Haupthalle bewegten sich zwei Dutzend Laufkräne. Insgesamt standen fast 500 Werkzeugmaschinen in Reihen bereit, betrieben von Transmissionsriemen, die dem Halleninneren ihr Gepräge gaben. Waschgelegenheiten für 1.600 Beschäftigte und ein eigener Speisesaal machten den Komplex nicht nur unabhängig vom Rest des Geländes, sie folgten auch den Hygienevorgaben des Bauamtes. Krupp konnte sich die moderne Werkstatt leisten, weil Panzerstahl und daraus gefertigte Produkte seit den 1890er Jahren die größten Gewinne im Unternehmen abgeworfen hatten. Sie wurden reinvestiert, so war die Firma groß geworden. Um von fremden Erzgruben unabhängig zu sein, hatte schon der alte Krupp seit den 1860er Jahren mit zahlreichen eigenen Gruben, Zechen und Transportschiffen die Fabrik zu einem großbetrieblichen Verbundsystem erweitert; 1914 arbeitete die Hälfte der inzwischen über 80.000 Kruppianer in den Außenbetrieben. Ohnehin galt es Stillstand zu vermeiden, denn die Konkurrenz im Ruhrgebiet und in den USA – 1900 der weltweit größte Stahlhersteller mit einem Drittel der gesamten Produktion – war immens. Dazu konnten die elementaren Kräfte des Stahlwerks zunehmend durch technologische Fortschritte aus den LABORATORIEN gesteuert werden. Friedrich Alfred Krupp, Sohn und Nachfolger des Erschaffers der KruppStadt, nutzte neue Stahllegierungen und die »Gaszementierung«, um die Symbiose zwischen wilhelminischer Flottenbaupolitik und seinem Unternehmen zu festigen. Schon Alfred Krupp, der »Kanonenkönig«, hatte immer vom Krieg profitiert. Seit den 1850er Jahren versorgte er gleich mehrere, zum Teil gegnerische Armeen in Europa mit Geschützen (Gall 2000). Kriegsmaterial machte bei besonders hohen Ertragsspannen mindestens ein Drittel, bisweilen auch die Hälfte des Umsatzes aus. Aber durch seine führende Rolle im Bau von Radkränzen und Schienen für die Eisenbahn stand seine Gussstahlfabrik stets auf zwei Säulen. Für beide Bereiche setzte Krupp auf Innovation und war bei neuen Herstellungsverfahren führend. Dank des Bessemer-Verfahrens konnte er seit 1862 ungleich schneller als mit dem hochwertigen Tiegelguss die für Schienen und Bahnteile erforderlichen großen
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Stahlmengen produzieren. Der unter Hochdruck in das Roheisen geblasene Sauerstoff ließ bei zum Donner anschwellendem Lärm spektakuläre Funkenfontänen aus den Schmelzbirnen speien; nicht umsonst nannten die Arbeiter sie »Ratten«. Erst der bessere Stahl aus den 1869 bei Krupp eingeführten Siemens-Martin-Öfen hielt auch dem Druck in den Geschützrohren stand. In diesen Öfen konnten zudem aus verschiedenen Mischungen von Roheisen und Schrott flexible Stahlsorten für eine breitere Produktpalette gewonnen werden.
10. Beschickung eines Siemens-Martin-Ofens mit Schrott, 1930er Jahre Um die verschiedenen Ofentypen entstanden unterschiedliche Stahlwerke und Arbeitsplätze. Je größer Kapazität und Anzahl der Öfen, desto spektakulärer war das Spiel aus Feuer und Dampf in den Schmelzhallen. Beim Bessemer-Verfahren wurden die in Reihen längsseitig in einer Halle angeordneten Schmelzbirnen (»Konverter«) für die Windzufuhr mechanisch in den Fußbereich hoher Kamine gewendet und der flüssige Stahl nach dem Ausblasen ebenerdig in Behälter entleert. Aus ihnen gossen Arbeiter auf der anderen Hallenseite Stahlblöcke oder leiteten den Stahl direkt zur Weiterverarbeitung. Auch die Öfen im Siemens-Martin-Werk waren in einer Reihe angeordnet, aber Beschickung und Ausguss erfolgten jeweils an den gegenüberliegenden Ofenenden in längsseitig benachbarten Hallen. Das Roheisen wurde in einer geschlossenen Schmelze ausgekocht, wobei die zum Verbrennen des Kohlenstoffs erforderliche »Frischung« des Eisens durch den Luftüberschuss der Flamme und zugesetzte Erze erreicht wurde. Anschließend musste der Stahl abgestochen werden, um in der benachbarten Halle unterhalb des Ofens in Behälter zur weiteren Verarbeitung fließen zu können. Trotz Hitze und Verbrennungsgefahr mussten die Arbeiter immerhin nicht mehr wie beim ähnlichen, nun veralteten »Puddelverfahren« mit Stangen in der teigig werdenden Masse rühren.
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Vor den Tiegeln und Öfen wuchsen die Schmelzer zu Ikonen der »Stahlzeit« heran. Krupp hatte sie 1871 ausgerufen: Stahl sei das Material der Zukunft und des Kriegs, Bronze nur noch für Monumente da. Den Großbetrieb dachte er dabei wie einen Militärstaat, diesen wiederum als durchorganisierte Fabrik. Krupp erwog sogar längere Zeit, eine Geheimpolizei aufzubauen, um Lebenswandel und vor allem politische Aktivitäten seiner Arbeiter überwachen zu können. Disziplin und Kontrolle erforderte aber auch die Stahlherstellung selbst. Der Guss ausladender Stahlblöcke, wie sie für die großen Geschütze gebraucht wurden, musste generalstabsmäßig ablaufen. Hunderte, bisweilen mehr als 1.000 Tiegel mit flüssigem Stahl waren in die Gussform einzufüllen, bevor sie erkalteten. Immer zwei Arbeiter trugen einen davon zur Gussstelle. Störungen im Ablauf konnten den ganzen Block unbrauchbar werden lassen. Die Arbeiter teilten den Fabrikraum nach Fähigkeiten und Spezialisierung in Reviere auf. Der Stahlschmelzer brauchte Erfahrung, um die richtige Mischung einzustellen. Um kleinere Rohstahlblöcke herzustellen, bedurfte es einer harmonierenden Gruppe mit dem Vorarbeiter als Gießer, Arbeitern, die Transportmotoren bedienten und die Gusspfanne justierten, sowie Hilfsarbeitern für die Entschlackung der Gerätschaften. An den Schmiedehämmern verfügte der Hammerführer über besondere, oft seinem Gerät angepasste Präzisionsfertigkeiten. Wie das Stahlwerk erfahren wurde, hing von der Stellung in der Hierarchie am Ofen, am Hammer oder an der Walze ab. Wer die Werkstücke mit Zangen unter den Hammer halten musste, war kaum vor dem unvermeidbaren Funkenflug geschützt. Konnte sich der Hammerführer schon halb hinter einer Schutzwand verbergen, hielt sich der Meister in sicherer Entfernung im Hintergrund auf. Dem dauernden Lärm konnte sich niemand entziehen, vor allem in den Walzwerken nicht. Hier war die Luft erfüllt »von rollendem Krachen, schrillem Kreischen, dem Surren der Räder und Rollen, dem Gebrumm der Motoren und den Pfiffen der Signale«. Auch der rot glühende Stahl selbst »schimpfte und stöhnte«, wenn er auf den Blockstraßen gefährlich gequetscht und gepresst wurde (Muthesius 1941, 220f.). Die vielgestaltigen Walzwerke, in denen die Automatisierung am schnellsten fortschritt, machten aus Stahl flexibles Konservenblech oder stabilste Panzerplatten. Im selben Jahr wie die IX. Mechanische Werkstatt wurde 1905 nach nur einjähriger Bauzeit die Friedrich-Alfred-Hütte in Duisburg-Rheinhausen in Betrieb genommen. Sie war das Lieblingsprojekt des jüngeren Krupp, der drei Jahre zuvor nach einem handfesten Skandal um seine Eskapaden in Italien unter mysteriösen Umständen gestorben war. Rheinhausen war vor dem Ersten Weltkrieg das größte Hüttenwerk Europas, mit insgesamt zehn Hochöfen, die bald fast 90 Prozent des Roheisens und 60 Prozent des Rohstahls der gesamten Firma produzierten. Es war vom Reißbrett aus auf der grünen Wiese errichtet, Naturlandschaft in eine Industriestadt umgewandelt worden. Der massenhaft produzierte Stahl sollte noch »in Hitze« verarbeitet werden. Eigene Walzwerke, insbesondere für die Schienenherstellung, eine Fülle von Nebenbetrieben und Anlagen zum Bau von Stahlteilen komplettierten die Produktionslinie. Hafen und Bahnanschluss sicherten den Transport.
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Anders als Erweiterungsbauten auf Stammgeländen wie bei Krupp in Essen konnten neu errichtete Fabriken effizient mit verdichteten und funktional abgestimmten Laufwegen geplant werden; auch deren Skizzen lieferten die Architekten gleich mit. Während die Krupp-Stadt in Essen nach dem Ersten, vor allem aber nach dem Zweiten Weltkrieg das Symbol für die Allianz von Industrie und Aufrüstung in Deutschland schlechthin war, verkörpert Rheinhausen die innere Krise der industriellen Moderne. Vom Wiederaufbau der fünfziger und sechziger Jahre profitierten beide Standorte noch erheblich. Aber das Abschwächen der Konjunktur und billiger produzierter Stahl aus Brasilien und Korea rissen viele bundesrepublikanische Stahlwerke seit den siebziger Jahren in die »Stahlkrise«, die nur durch Subventionen abgefedert werden konnte. Zu den Standorten, die unter großen öffentlichen Auseinandersetzungen geschlossen wurden, zählte 1993 auch das Werk Rheinhausen: Ein Hoffnungsträger der Moderne hatte sich in ihren Dinosaurier verwandelt. Der gleichnamige Stadtteil Duisburgs war schon vorher zum sozialen Brennpunkt und zur umstrittenen Kulisse für eine TV-Krimiserie geworden.
II. Fortschritt ohne Fließband: Die Mechanisierung der Arbeit in der »klassischen Moderne« Arbeitsteilung und Mechanisierung gab es bereits in den frühindustriellen Manufakturen und im Verlagswesen, in dem mehrere Arbeiter meist im eigenen Haus Produktteile herstellten. Aber erst als sich Spezialisierung und mechanisierte Arbeit mit Kapital, Neubauten, eigener Verwaltungsebene und Marktorientierung verbanden, entstand – in Deutschland seit den 1840er Jahren – die moderne Fabrik (Ruppert 1983). Sie übernahm Raumelemente von Arbeitshaus, Hof und Gefängnis, zentralisierte aber gegenüber dem Verlagswesen vor allem die Produktions- und Disziplinarmacht der Unternehmer in einem zusammenhängenden Raumensemble. Zwischen 1870 und 1930 expandierten mit dem Maschinenbau, der chemischen und der Elektroindustrie die Kerntechnologien der »zweiten Industrialisierung«. Technische Fortschritte und Optimierungen des Arbeitsablaufs ermöglichten teilautomatisierte Produktionssysteme, mit denen Massengüter ungleich rationeller als zuvor gefertigt werden konnten. Stahlwerke bestimmten um 1900 den Pulsschlag der industriellen Welt. Bei Andrew Carnegie in Pittsburgh wurden immer neue Geschwindigkeitsrekorde aufgestellt, die Arbeitsleistung von Öfen, Walzen und Maschinen vervielfachte sich. Frederick W. Taylor, Pionier der innerbetrieblichen Rationalisierung, hatte jahrelang Zeitstudien in einem Stahlwerk durchgeführt und selbst innovative Schneidewerkzeuge erfunden. Erst diese Beschleunigungen machten die Konsumgesellschaft möglich. Als Ursprungsort der automatisierten Massenproduktion insbesondere von Konsumgütern gilt Henry Fords Automobilfabrik Highland Park in Detroit, wo er seit 1913 das Einheitsmodell T in Fließfertigung bauen ließ. Ford integrierte spezialisierte Werkzeugmaschinen, serielle Fertigung und maximale Arbeitsteilung in
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einem Großbetrieb, den er auf einen breiten Konsumentenmarkt ausrichtete. Die beiden wichtigsten Elemente – das Bandsystem und die Spezialisierung der Arbeiter auf einen Bereich – hatte er auf Schlachthöfen beobachtet. Bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts wurden Schusswaffen, Uhren und Textilien arbeitsteilig und teilweise mithilfe automatischer Produktionsmaschinen hergestellt. Nach 1850 hatten die Erfindung der Nähmaschine und der massenhafte Uniformbedarf die Massenproduktion und Vereinheitlichung von Textilien forciert. Im deutschen Maschinenbau hielten Arbeitsteilung und serielle Fertigung in dieser Phase Einzug, aber noch waren die Unternehmen auf die handwerkliche Fähigkeit der Arbeiter angewiesen: Die angelieferten Einzelteile mussten vor Ort passgenau gefeilt werden. Seine nachhaltige Bedeutung für die industrielle Welt des 20. Jahrhunderts erhielt der Fordismus aber erst, als er durch arbeitsphysiologische und betriebspsychologische Maßnahmen ergänzt wurde. Taylors Principles of Scientific Management von 1911 wurde zwei Jahre später in Deutschland veröffentlicht, als eine »Taylorisierung« bereits im Gang war; schon 1899 hatte der Mittelständler Alois Riedler den »Schnellbetrieb« propagiert (Borscheid 2004, 260). In seinen Zeitstudien hatte Taylor ermittelt, wie Arbeiten mit geringstem physischem und zeitlichem Aufwand durchzuführen waren. Körper sollten sich so effizient und berechnet wie möglich im Raum bewegen (HOCHHAUS), Arbeitsräume den Möglichkeiten des menschlichen Körpers angepasst und die »fähigsten Personen« für die angestrebte Pensumarbeit gefunden werden. In Industrie und Sport hielt um 1900 die Stoppuhr mit Zehntelsekundeneinteilung Einzug und noch vor dem Ersten Weltkrieg wurden Taylors Grundideen auf die private Küche übertragen. Taylor plädierte auch dafür, Konstruktion, Planung und Ausführung konsequent zu trennen. Im 19. Jahrhundert war es noch üblich, dass die handwerklich geschulten Meister oft erst am Werkstück Konstruktionsskizzen anbrachten. Aber schon vor Taylor hatten Großbetriebe eigene Büros für Ingenieure eingerichtet, die auch auf LABORATORIEN zugreifen konnten. Bei Krupp war zudem der Meister »mit Zetteln«, denen er die vorgeplanten Abläufe entnehmen konnte, lange vor dem Ersten Weltkrieg ein vertrautes Bild. Immer weniger war die Meisterschaft gefragt, ein Werkstück von Anfang bis Ende zu erzeugen; der Meister musste nun vor allem beaufsichtigen und dirigieren können. Trotz einer verbreiteten, aber keineswegs einhelligen Euphorie für Ford und Taylor bestimmte bis in die fünfziger Jahre nicht das Fließband, sondern der Transmissionsriemen das Bild der europäischen Fabriken. Einzelstücke konnten in Massen produziert werden, indem Arbeitsplätze vervielfältigt und mechanisiert wurden. Gruppen im Fließverfahren beschleunigten den Ausstoß vor allem in der kleinteiligen Elektroindustrie. Bei den seriellen Bearbeitungsmaschinen lösten Elektromotoren die Dampfmaschinen ab, weil sie präziser einzustellen waren. Jeder Arbeiter konnte die Maschine an seine Arbeitsform anpassen und eine Art serieller Individualität entwickeln (APPARTEMENT). Die Elektrifizierung der Großbetriebe erfasste im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auch die Logistik. Bandförderer und Aufzüge in den Fabriken erleichterten Transport und Lagerung, Schneckenspiralen,
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Schüttelrutschen und Becherwerke ermöglichten vor allem im Bergbau und in der Getreideproduktion die mechanische Bewegung von körnigem Gut oder Kleinstücken (AGRARBETRIEB). Im Bergbau revolutionierte die rasante Zunahme von elektrischen Abbauhämmern in den zwanziger Jahren die Arbeit »vor Kohle«. Mechanisierungsschübe riefen bei den Arbeitern große Unzufriedenheit hervor. Handwerklich geschulte Arbeiter büßten ihren Statusvorteil gegenüber Ungelernten ein. Außerdem stieg die Unfallhäufigkeit, auch wenn Maschinen am Ende des 19. Jahrhunderts nur an einem Viertel aller gemeldeten Arbeitsunfälle beteiligt waren. Dennoch waren die neuen Belastungen immens, weil die Arbeiter über Produktionsdruck und Zeitregime diszipliniert wurden. Akkordlohn, schlechte Qualifikation und lange Arbeitsdauer sowie das berüchtigte Prämiensystem für Vorarbeiter, die den Produktionsausstoß in der Fließfertigung erhöhten, indem sie die Transportmaschinen schneller laufen ließen, brachten den »amerikanischen Saal« vor allem in Deutschland noch vor dem Ersten Weltkrieg in Verruf. Einen solchen Saal hatten schon im ersten Amerikanisierungsschub der 1870er Jahre Ludwig Loewes und Werner Siemens in ihren Elektrobetrieben eingerichtet. Am Fließband von Ford standen die Arbeiter »hart an hart [...], so dass sie unter dem Gesicht des Nachbarn nach dem heranrollenden Bestandteil greifen, knapp vor dem Gesicht des linken Nachbars die Behandlung des Stückes in Angriff nehmen, unmittelbar vor dem Gesicht des rechten Nachbars vollenden müssen«, wie Egon Erwin Kisch 1928 beobachtete (Kisch 1995, 179). Gegner von Fordismus und Taylorismus begründeten ihre Kritik mit der anderen Mentalität des amerikanischen Arbeiters. »Freilebiger« und »ungehemmter« könne dieser sich »viel eher auf eine mechanisierte und monotone Arbeit einstellen«. Der deutsche Arbeiter wehre sich gegen die Rationalisierung, weil er »kritisch, langsam, mit seiner Arbeit innerlich mehr verbunden« sei (Rogier 1928, 12). Das mache ihn anfälliger für die Folgen der Fließbandarbeit, für Nervosität und Entseelung. Die Überforderung des menschlichen Körpers durch maschinelle Arbeit hatte schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts dazu geführt, ihn unter technischen und physikalischen Aspekten als zu optimierende Maschine zu sehen. Der Körper erschien immer mehr als ein »Feld von Kräften, Energien und der Arbeitskraft« (Rabinbach 2001, 81). In den beiden Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende fahndeten Wissenschaftler in Bewegungs- und Ermüdungsstudien nach den Gesetzen des »Motors Mensch«. Kurz bevor Taylors Buch in Deutschland bekannt wurde, hatte der Verein für Sozialpolitik bereits unter der Ägide von Max Weber Studien zu den Auswirkungen der Großindustrie auf Persönlichkeit und Lebensführung von Arbeitern durchgeführt. Die früh etablierte Arbeitswissenschaft wies Achtstundentag, Schichtensystem und körperlicher Ertüchtigung den Weg. Kampfmüdigkeit und Hysterie der Soldaten im Ersten Weltkrieg gaben den Psychotechnikern erheblichen Aufschwung. Nicht von ungefähr unterstützten konservative Kreise und Ruhrmagnaten 1925 die Gründung des Deutschen Instituts für technische Arbeitsschulung (DINTA), das Auslese und Arbeitererziehung mit einem ausgeprägten Antiamerikanismus verband. Diesen »deutschen Weg« setzte es
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nach 1933 unter dem Dach der Deutschen Arbeitsfront fort: Was als »Schönheit der Arbeit« an Modernisierungen des Arbeitsplatzes verkündet und in einigen Großbetrieben teilweise nach amerikanischem Vorbild umgesetzt wurde, sollte Disziplinierung und Produktion effizienter machen – Deutschland bereitete sich auf den Krieg vor. Arbeitswissenschaft und Betriebspsychologie waren wichtig, aber entscheidend für eine erfolgreich fließende Fertigung war die Normierung von Teilen, Maschinen und Produktionsverfahren. Doch auch trotz neuer staatlicher Institute zur Normierung von Produktionsprozessen und Werkstücken waren Taylorismus und Rationalisierung in den zwanziger Jahren in Deutschland mehr Propaganda als Wirklichkeit. Die deutschen Autohersteller fertigten Luxusmodelle in kleineren Stückzahlen und unter den elektrotechnischen Betrieben in Deutschland setzten nur wenige konsequent auf Fließfertigung. Besonders dem Einsatz von Fließbändern stand neben einer schwankenden Nachfrage das Traditionsideal des deutschen Facharbeiters im Weg. Bei Siemens lief nach mehrjährigen Vorstudien zum Arbeitsablauf 1925 das erste Fließband in der Staubsaugerherstellung. Zwar erhöhte sich in den dreißiger Jahren der Mechanisierungsdruck vor allem in der Rüstungsindustrie, aber dem Mangel an spezialisierten Arbeitskräften wurde eher mit der Einstellung billigerer Arbeitskräfte und schließlich dem Einsatz von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen begegnet.
III. Menschen aus Metall: Das Stahlwerk und die Visionen der Moderne Schichtwechsel. Arbeiter pulsieren durch einen Raum, der als städtisch zu erkennen ist, aber nichts vom Glamour der City an sich hat. Die Frühschicht war noch im Dunkeln gekommen, jetzt strömt die nächste Schicht in der Mittagssonne in das Werk, »ihr« Werk. Identifikation mit der Fabrik ist eine Hinterlassenschaft des Kleinbetriebs, die Schicht eine Errungenschaft von Sozialpolitik und Betriebswirtschaft. In Walter Ruttmanns Film Berlin. Sinfonie einer Großstadt überformt von Zeit dirigierte Bewegung den Raum, ein klassisches Sujet im KINO der zwanziger Jahre. Die Ströme relativieren den Eindruck, am Tor zur Fabrik beginne eine andere Welt. Doch Zugang hat nur, wer stempeln darf oder Kontrollmarken hat; Arbeitslose und Familienangehörige bleiben außen vor, Kantinen erlauben die Abschließung von der Stadt während der Schicht. Gleich nach dem Tor begann bei vielen Firmengeländen eine effiziente Wegeführung, die Angestellte und Arbeiter auf verschiedenen Ebenen an ihre Arbeitsplätze leitete. Das Hochgefühl der Angestellten löste sich wie der Schein ihrer Einheitlichkeit im Bürosaal auf, der wie das Kasino der Firma strikt hierarchisch organisiert war. Hier zählten die Höhe des Stuhls und die Zahl der Telefone. Die ideale, weil effiziente Ordnung des Schreibtisches ließ kaum Spielraum für individuelle Aneignungen. Der viel beschworenen nervlichen Belastung in diesen Büros konnten die Angestellten nach Arbeitsschluss eher durch die Flucht ins Vergnügen in TANZLOKAL und KINO oder in ihre STADTRAND-
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SIEDLUNG entkommen als die Arbeiter, die auch jenseits des Geländes in den Produktionsrhythmus eingespannt blieben. Ganze Städte und Regionen hingen am Lebensnerv einer Fabrik. Sie löste, wenn auch am Rand gelegen, Kirche und Rathaus als inneres Zentrum der Stadt ab. Die Stadt Essen war in den 1880er Jahren nicht einmal halb so groß wie das KruppGelände. Dann profitierte auch sie vermehrt von ihrem Nachbarn und den umliegenden Industrieunternehmen, die Essen neben Dortmund und Düsseldorf zu einem der großstädtischen Zentren des Ruhrgebiets werden ließen. Nach einem repräsentativen Rathaus und einer Kläranlage 1886 entstanden zwischen 1892 und 1902 in rascher Folge ein neues Stadttheater, die erste elektrische Straßenbahn des Ruhrgebiets, mit den Kaiserhallen eine luxuriöse Einkaufspassage, die Stammzentrale der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke, ein zentrales Verwaltungsgebäude der Reichsbahn, ein neuer BAHNHOF, ein opulent ausgestatteter öffentlicher Saalbau und ein Kunst- und Heimatmuseum (VÖLKERKUNDEMUSEUM). 1912 wurde das Provinzialkaufhaus Althoff eröffnet, mit 10.000 Quadratmetern und 53 Fachabteilungen das größte WARENHAUS im Ruhrgebiet. Krupp selbst thronte seit 1873 in der stilprägenden »Villa Hügel«. In ihr paarten sich wie in vielen GRANDHOTELS hoher Ausstattungsstandard und Weitläufigkeit mit einer gewissen Zurückhaltung gegenüber adeliger Opulenz. In den umfangreichen Sozialeinrichtungen, die unter Krupps Führung entstanden, kamen Firmenbindung und gutsherrlicher Paternalismus zusammen. Visionen von Fabrikstädten und Industriedörfern, die Effizienz und Nachhaltigkeit vereinen sollten, kalkulierten lange vor der »wissenschaftlichen Betriebsführung« den Arbeiter vor allem am Beispiel der Stahlproduktion als menschliches Zahnrad ein. Der Auto- und Eisenbahnhersteller Pullmann in Chicago sowie Cadbury und Lever in Großbritannien hatten schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts rationelle und fortschrittliche Betriebssiedlungen an ihre Firmengelände angeschlossen, um Effizienz und Kontrolle, aber auch den Lebensstandard der Arbeiter zu erhöhen. Das Krupp-Gelände umfassten bereits zahlreiche Arbeitersiedlungen, als 1911 der erste Bauabschnitt der Margarethenhöhe eröffnet wurde. Als Siedlung für »minderbemittelte Klassen« hob sie sich deutlich von den Reihenhäusern der älteren »D-Zug-Siedlungen« und den Mietskasernen mancher Innenstädte ab. Mit klaren Grundrissen, Einfamilienhäusern und weichen Straßenführungen wollte der Architekt eine »Numerierung der Bewohner« vermeiden. Nur wenige Jahre zuvor war das Kontrollmarkensystem in der Fabrik durch die Stechuhr abgelöst worden. Wohnungsplaner der zwanziger Jahre gingen noch einen Schritt weiter. Vor allem die Bauhaus-Architekten wollten effiziente Wohnraumnutzung und rationelle Fertigungsverfahren miteinander verbinden, um Arbeitern und Angestellten ein ausreichend freizügiges und hygienisches Wohnen zu ermöglichen (APPARTEMENT). In vielen ihrer Bauten übernahmen sie dynamische Formen, die für Karosserien und Verkleidungen aus Stahl bei AUTOS und Lokomotiven verwendet und nach dem Ersten Weltkrieg zu Fortschrittssymbolen wurden. Der nationalsozialistische Wohnungsbau machte sich Anfang der vierziger Jahre den Gedanken zu
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eigen, »Wohnungen wie Autos« zu bauen: Im Serienbau sollte als schön erkannt werden, was »einfach und klar« war und ohne Abweichungen in der Innen- und Außengestaltung auszukommen hatte (Fehl 1995). Während des Zweiten Weltkriegs fanden sich im Aufbau der Retortenstadt Salzgitter in Nachbarschaft der stahlerzeugenden Hermann-Göring-Werke Rüstungshybris und Reißbrettplanung vereint. Ohne den ästhetischen Anspruch des Bauhauses entstand 1951 Eisenhüttenstadt als erste »sozialistische Wohnstadt« der DDR für die Beschäftigten des Eisenhüttenkombinats Ost. Ohnehin wurde Stahl zu einem Schauplatz im Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus. In den USA ermöglichten Stahl und Stahlbeton den Bau von HOCHHÄUSERN; in der Sowjetunion wurde der immense Aufschwung der eigenen Stahlproduktion in die Mechanisierung der Landwirtschaft investiert (AGRARBETRIEB). Der sowjetische Traktorist wurde zur Ikone der sozialistischen »Stahlzeit«, die Neubeginn, radikale Modernisierung und den »neuen Menschen« verkörperte. Ein Gefühl der Zeitlosigkeit umgab Stahl im Osten wie im Westen, wo es in einem Bauhaus-Manifest hieß: »Tod der Vergangenheit, dem Mondschein und der Seele, so schreitet mit Eroberergeste die Gegenwart einher.« Mit einer ganz unromantischen Faszination wurde neuen öffentlichen Vergnügungs- und Zweckbauten gehuldigt, deren ausladende Kuppeln durch den Einsatz von Stahl- und Spannbeton möglich wurden. Allerdings gab es nach wie vor im Fabrik- wie im Saalbau Alternativen: Die 1925 in Dortmund eröffnete Westfalenhalle – groß wie ein STADION, für Sportveranstaltungen mit bis zu 16.000 Zuschauern ausgelegt und seinerzeit die größte freistehende Halle Europas – war bis auf die Fundamente ganz in Holz ausgeführt. Großprojekte dieser Art waren mit einer umfassenden Elektrifizierung verbunden, ohne die auch die modernen Produktionstechniken in den Fabriken nicht denkbar gewesen wären. Im Ersten Weltkrieg entstanden in Deutschland infolge der gestiegenen Rüstungsproduktion erste Großkraftwerke, deren Strom über Land transportiert wurde und die sich gegenüber den viel effizienteren lokalen Erzeugern durchsetzten. Hochspannungsleitungen und Umspannwerke verwandelten ganze Landstriche in Energiefelder, entsprechend bauten deutsche Energieunternehmen früh Netzwerke und Verbundsysteme auf (TELEFONZENTRALE, AGRARBETRIEB). Elektrifizierung und Mechanisierung entwickelten sich symbiotisch; aus der Rationalisierung wuchs das Streben nach vollautomatischen Herstellungsweisen. Der Einsatz fühlergelenkter Kopiermaschinen in den zwanziger Jahren zeichnete den Weg in die rechnergesteuerte Automatisierung vor. Der alte Traum von Unternehmern und Ingenieuren, unabhängig von der körperlichen Unzulänglichkeit und Fehlerhaftigkeit des gewöhnlichen Menschen zu sein, schien Wirklichkeit zu werden. Bevor die vollautomatische, programmierte Maschine technisch möglich wurde, war sie wie das RAUMSCHIFF Gegenstand der Literatur. Auf den Titel des Stücks Rossum’s Universal Robots, in dem Karel þapek 1921 ein menschenähnliches Gerät beschrieb, das sich schließlich gegen seine Erschaffer wendet, geht der Begriff »Roboter« zurück. Ernst Jüngers stahlharter »Arbeiter« nahm nach dem Ersten
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Weltkrieg in Reaktion auf die Erfahrungen der FRONT im Schutz des Stahlhelms roboterähnliche Eigenschaften an. Dem standen kritische Bilder der rationalisierten Arbeitswelt gegenüber. Schon 1879 hatte Jules Verne, Krupps Essen vor Augen, das Schreckensbild einer deutschen »Stadt aus Stahl« dem wohl geordneten französischen Gewerbedorf gegenübergestellt. In der neusachlichen Kunst nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Mensch als bloßer Fortsatz der Technik, bestenfalls als deren Kopf zum Dauersujet. Doch selbst Bertolt Brecht zeigte sich 1927 über den als »Iron Man« stilisierten amerikanischen Radfahrer Reggie MacNamara begeistert, bevor er später stellvertretend für den gesamten Fordismus die Schlachthöfe von Chicago anprangerte. 1932 wies Frank Arnau in seinem Roman Stahl und Blut auf die Gefahren der technischen Modernisierung hin: Infolge eines Unfalls wird ein Arbeiter wie ein Stahlblech ausgewalzt. Kaum ein Produkt der Moderne war ambivalenter als Stahl. Er verkörperte Dynamik und Inflexibilität, Tragfähigkeit und Verfall, Emanzipation und Entseelung, den Fortschritt des zivilen Lebens und die Gewalt des Kriegs. Selbst dem alten Krupp wurde es bei aller Begeisterung für seine Fabrikstadt dort zu laut und zu stickig: Nach seinem 50. Geburtstag brach er regelmäßig zu mehrwöchigen Erholungsreisen auf.
Literatur Borscheid, Peter (2004): Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt. Braun, Hans-Joachim/Walter Kaiser (1997): Propyläen Technikgeschichte, Bd. 5: Seit 1914. Energiewirtschaft, Automatisierung, Information, Berlin. Fehl, Gerhard (1995): »Eine Wohnung, gebaut wie ein Auto«. Ford und die »Industrialisierung des Wohnungsbaus« im Nationalsozialismus, in: Zukunft aus Amerika, 250-275. Franz, Werner (1923): Fabrikbauten, Leipzig (Handbuch der Architektur, 4. Teil, 2. Halbbd., 5. Heft). Gall, Lothar (2000): Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums, Berlin. Kisch, Egon Erwin (1995): Aus den Ford-Werken, in: Zukunft aus Amerika, 176-191. Krupp (1912): Zur Hundertjahrfeier der Firma Krupp 1812-1912, Essen. Muthesius, Volker (1941): Du und der Stahl, Berlin. Rabinbach, Anson (2001): Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien. Reif, Heinz (1986): »Ein seltener Kreis von Freunden«. Arbeitsprozesse und Arbeitserfahrungen bei Krupp 1840-1914, in: Klaus Tenfelde (Hg.), Arbeit und Arbeitserfahrung in der Geschichte, Göttingen, 51-91. Rogier, Hermann (1928): Die Stellung der Arbeiterschaft zur Rationalisierung, Diss. jur. Breslau. Ruppert, Wolfgang (1983): Die Fabrik. Geschichte von Arbeit und Industrialisierung in Deutschland, München. Welskopp, Thomas (1994): Arbeit und Macht im Hüttenwerk. Arbeits- und industrielle Beziehungen in der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von den 1860er bis zu den 1930er Jahren, Bonn. Zukunft aus Amerika (1995): Fordismus in der Zwischenkriegszeit, hg. v. Stiftung Bauhaus Dessau und Lehrstuhl Planungstheorie RWTH Aachen, Dessau.
Das Hochhaus Jörn Weinhold I. Der »Bau 15« der Carl-Zeiss-Werke in Jena, 1915/1917 Das Hochhaus als Turm: So wollte 1917 der Fotograf den neu errichteten Bau 15 der Carl-Zeiss-Werke sehen. Diese vermeintlich charakteristische Form eines Hochhauses war ursprünglich allerdings gar nicht gewollt. Der Darmstädter Architekt Friedrich Pützer hatte einen deutlich umfassenderen Gebäudekomplex geplant. Seine Entwürfe sahen ein Scheibenhochhaus mit einer Gesamtlänge von 102 Metern vor; eine für die damalige Zeit beeindruckende Fabrikarchitektur von monumentalem Ausmaß. Verwirklicht werden konnte Pützers Entwurf jedoch nur zu einem Drittel, wodurch der Turmcharakter des Hochhauses erst zur Geltung kam. Um diesen Eindruck bildhaft einfangen zu können, musste der Fotograf seine Kamera aus einem ganz bestimmten Blickwinkel vom Hof der Carl-Zeiss-Werke auf den Bau 15 richten. Tatsächlich handelte es sich nämlich keineswegs um einen freistehenden Turm. Zur Stadtseite zeigte sich das Gebäude nur von seiner mehrgeschossigen Längsseite, von der aus das eigentliche Hochhaus rechtwinklig in das Firmengelände hineinragte und somit für die Bewohner der Innenstadt nicht unbedingt als solches erkennbar war. Diese Abschwächung des Höheneindrucks wurde zusätzlich durch terrassenförmige Abstufungen zwischen dem Längsbau und dem Hochhaus erzielt, die den Höhenunterschied der beiden Gebäudeteile an der stadtseitigen Flanke erheblich relativierten (Klein 1999, 106ff.).
11. Zeiss-Fabrikgebäude B 15 (Hochhaus) vom Hof gesehen, kurz nach der Fertigstellung des ersten Bauabschnitts, Mai 1917
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Das Jenaer Fabrikhochhaus büßte daher von Beginn an etwas von seiner radikalen Modernität ein. Die reduzierte Ausführung des Bau 15 war zum Teil eine Folge des Kriegs: Die Bautätigkeit war in Deutschland seit 1914 starken Einschränkungen unterworfen. 1916 wurde schließlich ein allgemeines Bauverbot erlassen, das im Fall der Erweiterungsbauten der Carl-Zeiss-Werke jedoch aufgrund der Bedeutung der Firma für die Rüstungswirtschaft umgangen werden konnte. Die abgemilderte Form des Bau 15 lässt sich aber vor allem auf die Proteste der ortsansässigen Architektenvereinigung und der Stadtverwaltung zurückführen (Kurze 1997, 42f.; Klein 1999, 105f.). Das Zeiss-Werk hatte mit Bau 13 und 15 – bei Zeiss pflegte man Gebäude nach dem Jahr des Baubeginns oder der Fertigstellung zu bezeichnen – sein seit der Jahrhundertwende immens gewachsenes Firmengelände am westlichen Rand der Innenstadt nahezu arrondiert. Darüber hinaus unterschied sich der gesamte Gebäudekomplex des Industrieunternehmens durch die neuen Höhenlinien und modernen Gestaltungsformen deutlich von der Altstadt und drohte, sie zu dominieren. Die neuen Bauprojekte der Firma Carl Zeiss stießen daher auf zunehmende Kritik. Die Ortsgruppe Jena der Deutschen Freien Architektenschaft beschwerte sich in einem Brief vom 19. Februar 1913 bei der Zeiss-Geschäftsleitung über deren unternehmerische Bauplanungen: »Die rapide Entwickelung der Zeiss-Werke hat dazu geführt, dass in einem der schönsten Teile der Innenstadt hohe Fabrikgebäude haben errichtet werden müssen ohne Rücksicht auf städtebauliche und baukünstlerische Gesichtspunkte. Es ist anzunehmen, dass in aller Kürze auch der jetzt noch freie Teil des Geländes [...] dem Utilitätsprincip der Firma Zeiss geopfert werden muss« (Baupolizeiakte 13/15, 27). Die Stadtverwaltung erklärte sich schließlich mit einer geschrumpften Version des Bau 15 einverstanden, sofern bei der Gestaltung der Architektur die Fernwirkung des Gebäudes berücksichtigt würde (Klein 1999, 107). Stellte das Hochhaus des Bau 15 insofern einen Kompromiss des Bauherrn und des Architekten mit der Stadtverwaltung dar, so zeigte sich das neue Gebäude für die auf dem Werksgelände arbeitenden Menschen trotzdem in einer imposanten Weise: Das in einigen Darstellungen auch als »Turmhaus im Zeisswerk« bezeichnete Bauwerk wurde im Betonskelettverfahren errichtet. Es erstreckte sich knapp 43 Meter in die Höhe und zählte neben dem Kellergeschoss neun Stockwerke. Den oberen Abschluss des Hochhauses bildete zusätzlich eine sieben Meter hohe, stützenlose Dachhalle, die als Kaltraum der Prüfung militärischer Entfernungsmesser diente. Nur wegen dieser rüstungsrelevanten Funktion der Dachhalle hatte die Firma Carl Zeiss die baupolizeiliche Genehmigung für den Neubau erhalten. In der Gestaltung der Fassaden, vor allem auch des Treppenhauses mit seinen Aufzügen an der Südfassade, erinnerte der Bau 15 sehr an amerikanische Vorbilder des Hochhausbaus. Hinter den großen, doppelten Fensterreihen befanden sich die Werkstätten zur industriellen Herstellung von optischen Produkten. Die Innenansicht des Hochhauses war für die Arbeiter des Zeiss-Werks vermutlich weniger spektakulär. Andere
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Werkshallen der Firma zeigten in der regelmäßigen Aufstellung von Maschinen und Arbeitsplätzen in Reihen, die sich über die einzelnen Stockwerke erstreckten, kaum Unterschiede zum Bau 15. Mehrere Abteilungen eines Herstellungsprozesses unter einem Dach unterzubringen, verkürzte die Arbeitswege im Zuge der arbeitsteiligen Rüstungswirtschaft erheblich (Markowski 1997). Für die Entwicklung der Stadt sollte sich die Fertigstellung des Fabrikhochhauses als eine einschneidende Zäsur herausstellen. Das betraf zum einen die zunehmende innerstädtische Verdichtung: Das alte Eins-zu-Eins-Verhältnis von Gebäudehöhe und Straßenbreite war längst in Frage gestellt, immer mehr Menschen arbeiteten in den hohen Gebäuden auf dem engen Firmengelände und die Bürger Jenas beschwerten sich vermehrt über die aus den Werkstoren in die Straßen der Stadt drängenden Zeiss-Arbeiter. Vor allem bedeutete der Bau 15 aber den »Beginn der Ära Jenas als Hochhausstadt« (Klein 1999, 106). Nach erneut akutem Platzmangel auf dem Gelände des Hauptwerks wurde 1936 das 66 Meter hohe Verwaltungshochhaus der Firma mit 15 Geschossen erbaut. Zwei Jahrzehnte später ließ das nun als VEB Carl Zeiss Jena geführte Werk ein Forschungshochhaus von 67 Meter Höhe entwerfen und bauen. Schließlich folgte der 1972 beendete Bau des Universitätshochhauses nach den Plänen von Hermann Henselmann als Rundturm mit einer Höhe von 120 Metern.
II. Der Hochhausstreit zwischen Wirtschaftlichkeit und Repräsentation In Jena war die Konstellation für den ersten Hochhausbau zu einem für Deutschland frühen Zeitpunkt äußerst günstig gewesen: Es gab ein florierendes Unternehmen, dessen selbstbewusste Geschäftsleitung die Weltgeltung ihrer Firma auch in repräsentativen, modernen Industriebauten zum Ausdruck bringen wollte; es herrschte Platzmangel auf dem zur Verfügung stehenden Gelände, was eine Expansion der Produktionsstätten in die Höhe nahe legte und daher trotz zahlreicher Vorbehalte gegenüber der Stadtverwaltung auch durchsetzbar war; hinzu kamen die Umstände des Kriegs, die eine baupolizeiliche Genehmigung des rüstungsrelevanten Projekts ermöglichten. Dass die Initiative von einem Industrieunternehmen ausging, das Hochhaus als Fabrikbau umgesetzt wurde und die Gestalt eines Turmhauses erhielt, war nicht untypisch. Auch zahlreiche spätere Hochhäuser wie das 1923 gebaute Turmhaus der Ernemann-Werke in Dresden entsprachen in ihrer industriellen Nutzung, in der Zahl ihrer Geschosse und der Höhe des Gebäudes dem Bau in Jena (Deutschlands erstes Turmhaus 1923). Die gestalterische Anlehnung des Zeiss-Hochhauses an amerikanische Vorbilder war kein Zufall. 1913, als der Bau 15 geplant wurde und bereits zu zahlreichen Kontroversen unter den Architekten und einflussreichen Bürgern der Stadt führte, veröffentlichte der Regierungsbaumeister Otto Rappold aus Stuttgart sein Buch Der Bau der Wolkenkratzer, in dem er seine Beobachtungen während einer Studienreise in die USA festhielt. Er hatte das Buch für deutsche Ingenieure und Architekten ge-
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schrieben, die keine Gelegenheit hatten, selbst nach Amerika zu fahren, aber auch für »die immer größer werdende Schar bildungsdurstiger Fachgenossen, welche das große Land besuchen« und sein Werk als Orientierung nutzen konnten (Rappold 1913, V). Rappolds Buch steht für die Faszination, die viele deutsche Amerikareisende für Hochhäuser entwickelt hatten. In der Zeit des Kaiserreichs, gekennzeichnet durch eine euphorische Stimmung mit hoch gesteckten Zielen und einem Hang zu Großprojekten, fand diese Begeisterung für Wolkenkratzer nicht nur unter deutschen Ingenieuren weite Verbreitung. Vor allem die Stahlindustrie versprach sich große Gewinne von der neuen Bauweise der Hochhäuser als Stahlkonstruktionen mit Stein- und Zementverkleidung (STAHLWERK). Und so waren es in erster Linie Industrielle, aber auch Bodenspekulanten und Immobilienbesitzer, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine Debatte über Hochhäuser initiierten und die Neugierde auf diesen modernen Bautyp in Deutschland weckten (Neumann 1995). Zunächst herrschte in Deutschland aber erhebliche Unklarheit, was die Begriffe »Hochhaus«, »Wolkenkratzer« oder »Turmhaus« tatsächlich bedeuteten. Beispielsweise betitelte man 1911 den Bericht über den Brand eines im Bau befindlichen Hochhauses mit der Zeile »Brand des ersten Hamburger Wolkenkratzers«, obwohl es sich nur um ein zehngeschossiges Haus von 34,5 Meter Höhe handelte (Beton und Eisen 1911, 250). Die Verwirrung wurde noch durch die weit verbreitete Annahme gesteigert, dass »der Bau hoher Häuser infolge der bestehenden Baugesetze in Deutschland unzulässig« sei (Rappold 1913, VI). Dies galt jedoch in erster Linie für Preußen, insbesondere für die Stadt Berlin, auf die sich viele Hochhausdebatten vor und nach dem Ersten Weltkrieg konzentrierten. Für das Zentrum der Hauptstadt war die maximale Bauhöhe auf 22 Meter mit maximal fünf Geschossen festgelegt. Bereits Häuser mit sechs bis sieben Stockwerken galten in Berlin daher als Hochhäuser. Die Baugesetze von Hamburg, Thüringen oder Sachsen ließen jedoch schon vor 1914 zehngeschossige Gebäude zu. Während daher in und für Berlin viel diskutiert und entworfen, aber kaum etwas gebaut wurde, fand die deutsche Hochhausmoderne in der Provinz statt (Kloft 2002; Neumann 1995; Stommer 1990). Dies galt auch noch nach 1921, als durch Erlasse des Wohlfahrtsministers die Genehmigungen für Hochhausbauten als Ausnahmen zu den bestehenden Baugesetzen ermöglicht wurden. Eine genauere Bestimmung der physischen Gestalt wurde dadurch freilich nicht erreicht: Sowohl Turmhäuser als auch Gebäude, die zwar eine gewisse Höhe überstiegen, aber wie das Hamburger Chile-Haus eher breit als hoch waren, galten rechtlich als Hochhaus. Das Jahr 1921 markierte verglichen mit der Vorkriegszeit dennoch ein sprunghaft ansteigendes und weit über die Fachkreise hinausreichendes Interesse an der Hochhausdebatte. Es wurde von einem »Hochhausfieber«, einer »Turmhaus-Epidemie« oder einem hysterischen »Schrei nach dem Hochhaus« gesprochen. Im emotional geführten Hochhausstreit der frühen zwanziger Jahre fand das Hochhaus in Deutschland seinen ersten Höhepunkt als Ort der Moderne – faszinierend und umstritten zugleich. Von großer Bedeutung waren mehrere ausgeschriebene Wettbewerbe für den Bau von Hochhäusern, die auch in der Öffentlichkeit verfolgt wurden. Zentral war der Wettbe-
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werb um die Bebauung eines dreieckigen Grundstücks in der Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße in Berlin-Mitte 1921. Er brachte mit Mies van der Rohes Glasturmentwurf eine architektonische Ikone der Moderne hervor; gebaut wurde aber selbst nach einer erneuten Ausschreibung 1929 nicht (Neumann 1995, 39-61). Andernorts hingegen wurde gebaut: Mitte der zwanziger Jahre konnten in Hamburg das Chile- und das Ballin-Haus, in Düsseldorf das Wilhelm-Marx-Haus und das Haus des Stumm-Konzerns sowie in Dresden das bereits erwähnte Hochhaus der Firma Ernemann fertiggestellt werden. Berlin erhielt 1924 auf dem Gelände der Borsig-Werke endlich ein Bürohochhaus, in Köln wurde das viel beachtete Hansa-Hochhaus – mit 17 Stockwerken das höchste Bürohaus Europas – gebaut und ein Jahr später der Stuttgarter Tagblatt-Turm, der sich vor allem durch seine ornamentlosen, horizontalen modernen Formen auszeichnete. Wirtschaftsunternehmen der unterschiedlichsten Branchen wie der Hannoveraner Anzeiger, Siemens, Shell oder Opel legten großen Wert auf die Repräsentativität ihrer neuen Gebäude: Hochhäuser symbolisierten technischen Fortschritt, ökonomischen Erfolg und gesellschaftliche Dynamik. Aber auch die städtischen Verwaltungen in München oder Düsseldorf traten jetzt als Bauherrn von Hochhäusern auf. Und schließlich wollten staatliche Institutionen wie die Post, die in Schorndorf und Stuttgart Hochhäuser errichten ließ, nicht zurückstehen. Wie wichtig repräsentative Gebäude für die Imagebildung sein konnten, wusste man bei Zeiss in Jena bereits seit einiger Zeit. Ende der zwanziger Jahre plante der Architekt Emil Fahrenkamp für die Firma mehrere Fabrikhochhäuser, »die Jena städtebaulich und architektonisch zu einer wahren ›Metropolis‹« (Kurze 1997, 52) hätten werden lassen. Die Planungen zu den letztlich nicht gebauten Hochhäusern – darunter ein Verwaltungshochhaus mit 24 Stockwerken und einer Höhe von über 80 Metern – wurden selbst in den USA wahrgenommen. In einem Brief an die deutsche Zentrale in Jena fragte die New Yorker Niederlassung von Zeiss an, ob die Meldungen im Los Angeles Herald und in der New York World zuträfen, dass in Jena Deutschlands erster wirklicher Wolkenkratzer gebaut würde, da man dies »zu Reklamezwecken ausbeuten« könne (Unternehmensarchiv, 14565). Auf der anderen Seite des Atlantiks waren die ersten Hochhäuser bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gebaut worden. An der Jahrhundertwende standen mit dem Masonic Temple in Chicago und dem Park Row Office Building in New York bereits Hochhäuser von 92 und 119 Meter Höhe. Nach dem Ersten Weltkrieg imponierte nicht nur dieser technologische, sondern vor allem auch der wirtschaftliche Vorsprung Amerikas. Architekten wie Max Berg sahen zwischen der wirtschaftlichen Zielsetzung und den technischen Potenzialen der Hochhäuser einen Zusammenhang: »Die Erkenntnis, dass aus räumlicher Konzentrierung durch Verkürzung verlorener Wege und verlorener Zeit Vereinfachung und Verbilligung von Geschäfts- und Verwaltungsverkehr und damit Ersparung an Menschenkraft entspringt, hat in Amerika im Verein mit Platzmangel in den Geschäftszentren zum Entstehen des Hochhauses geführt. Der Zwang zur Leistungssteigerung liegt für das unterlegene Deutschland in erhöhtem Maße vor. Die deutschen Großstädte, die
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Zentren des wirtschaftlichen Hirns Deutschlands, stehen deshalb vor der Notwendigkeit intensiver Citybildung« (Berg 1922, 54). Mit einer Ökonomisierung der Hochhaus-Grundrisse und einer Verkürzung der Arbeitswege sollten die Arbeitseffizienz erhöht und Kosten gespart werden. Planer und Architekten übertrugen den Taylorismus – die Organisation von Arbeitsabläufen nach wissenschaftlichen Methoden (STAHLWERK) – auf die Hochhäuser. Der Bewegungsablauf von Verwaltungsangestellten in Bürohochhäusern und Beamten in Behördentürmen wurde vorgezeichnet. Auch die Verkäufer und Kunden im Warenhaus, die Arbeiter in Fabriken oder die Ärzte, Schwestern und Pfleger im Krankenhaus erlebten ihre Tätigkeit in gänzlich neuen Raumbezügen. Viele Alltagshandlungen wurden in Hochhäusern räumlich auf neue Weise durchorganisiert, zum Teil geradezu mechanisiert. Das angeblich »modernste WARENHAUS der Welt«, das zwischen 1927 und 1929 in Berlin am Hermannplatz für Karstadt errichtet wurde, eröffnete durch die zahlreichen, funktional angeordneten Treppen, Fahrstühle und die noch ungewöhnlichen Rolltreppen neuartige Erfahrungsmuster: Kunden konnten auf direkten Wegen ungehindert die vielfältigen Warenabteilungen mit ihren Verkäufern erreichen. Angestellte ließen sich schnell durch Maschinen von einem Stockwerk zum anderen befördern und kommunizierten mit Kollegen und der Geschäftsleitung, ohne jemals das Haus verlassen zu müssen. Vor allem diese innere Organisation machte das Kaufhaus zu einem Symbol des Amerikanismus (Stommer 1990). Andere Teilnehmer der Hochhausdebatte bezweifelten angesichts der steigenden Grundstückspreise den wirtschaftlichen Nutzen von Hochhäusern in Deutschland: »Nur ungeheure Bodenpreise machen den Wolkenkratzer rentabel. [...] Je höher das Gebäude ist, um so größer werden die Kosten der Konstruktion, der Fundierung, desto größer werden die Verluste in den Grundrissen jedes Geschosses durch Treppen, Aufzüge usw., desto kostspieliger werden Ventilation, Beleuchtung und – ein besonderes Kapitel bei den Wolkenkratzern – die Feuerlöscheinrichtung« (Poellnitz 1921, 689). Für Kritiker der Hochhauseuphorie waren beengte, innerstädtische Verhältnisse, die allein den Bau von Turmhäusern hätten rechtfertigen können, in den deutschen Städten nicht gegeben. Zwei niedrige Gebäude an unterschiedlichen Stellen seien rentabler als ein Gebäude von übertriebener Höhe (Behrendt 1922). Von Hochhäusern gingen aber auch zahlreiche Gefahren aus, die deren Wahrnehmung und Image in der Öffentlichkeit nachhaltig prägen sollten. Bürgerliche Architekten und Angehörige der Stadtverwaltung sahen in den amerikanischen Hochhäusern vor allem eine ästhetische Bedrohung. Amerikanische Kunst galt ohnehin als brutal, sofern sie nicht europäische nachahme. Selbst Befürworter des Hochhausbaus plädierten für eine deutsche Hochbauweise, die sich von der amerikanischen Rücksichtslosigkeit gegenüber der städtischen Umgebung und von der »dekorativen Kleisterarchitektur« in den USA absetze (Berg 1922, 54). Zudem bestanden Ängste vor dem Verlust von »Luft und Licht« (Hegemann 1928). Sorgen bereiteten das zukünftige Leben in den Häuserschluchten, der dicht gedrängte
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Verkehr in den Innenstädten und die enormen Belastungen während des Baus eines Hochhauses. Die Angst ging um, bei Brand oder Einsturz aussichtslos in einem Hochhaus gefangen und damit der Katastrophe hilflos ausgeliefert zu sein. Die Debatte nahm gegen Ende der zwanziger Jahre langsam ab, aber auch in den folgenden Jahren wurden die Hochhäuser widersprüchlich betrachtet: Die Nationalsozialisten gingen gegen die vermeintliche »Hochhausseuche« vor, unter anderem weil der Luftschutz für Hochhäuser nicht zu gewährleisten sei. Dennoch ließen sie den Hochhausbau für Industriebetriebe wie im Fall des Bau 36 der CarlZeiss-Werke zu. Vor allem aber entdeckte das nationalsozialistische Regime das Hochhaus als monumentale Repräsentation für sich. So sollte der für das Hamburger Elbufer geplante Wolkenkratzer mit 60 Stockwerken als »Gauhochhaus« bewusst in Konkurrenz zu amerikanischen Wolkenkratzern gebaut werden (Neumann 1995, 82). Als Triebkraft einer modernen Entwicklung gewann das Hochhaus jedoch erst in den fünfziger und sechziger Jahren wieder an Bedeutung. In den USA triumphierte die Moderne in der Fassadengestaltung der Hochhäuser erst jetzt, indem man sich endgültig vom Historismus, aber auch vom Art Déco zugunsten neuer Materialien, klarerer Formen und Außenflächen ohne Ornamente verabschiedete (Goldberger 1984, 117). Für die Hochhäuser als Elemente der »Moderne«, gekennzeichnet durch ein rational organisiertes Inneres und eingebettet in ein funktionales Stadtsystem, hatte sich damit ein sachliches Äußeres durchgesetzt, das es vereinzelt schon vor dem Krieg zum Beispiel in Deutschland gegeben hatte. Das erneute deutsche Interesse an Hochhäusern entwickelte sich nicht zuletzt aus dem Bedarf an Geschäftsräumen in den zerstörten Städten. In der DDR sollte in den sechziger Jahren die sozialistische Umgestaltung der Städte mit der Errichtung von Stadtdominanten »gekrönt« werden, wie sie auch vor dem Krieg diskutiert worden waren. So entstanden neben Bauten in Berlin vor allem das Universitätshauptgebäude in Leipzig als ein 142 Meter hohes »aufgeschlagenes Buch« und das als »Fernrohr« oder »Linse« gedachte zylindrische Forschungshochhaus für den VEB Carl Zeiss Jena (Topfstedt 1999, 506ff.). In der Bundesrepublik stellte sich Frankfurt am Main früh als der führende Standort von Hochhäusern heraus. Die Bedingungen waren hier besonders günstig: Das Hauptquartier der amerikanischen Besatzungsmacht zog den raschen Ausbau des internationalen Flughafens nach sich, viele Großbanken entschieden sich für die hessische Stadt als Ort ihres Hauptsitzes und spätestens 1957 hatte sich Frankfurt mit der Konstituierung der Bundesbank und der folgenden Errichtung der internationalen Börse als Finanz- und Dienstleistungszentrum etabliert. Die Banken wollten ihre wirtschaftliche Macht in den neu gebauten Hochhäusern ebenso dokumentiert sehen wie die Stadt ihre wirtschaftliche Prosperität. Hierfür hatte die Stadtverwaltung, nicht ohne Druck der Banken, den für Deutschland einmaligen Weg in Kauf genommen, mit einer an amerikanische Verhältnisse erinnernden Skyline zu leben (Kloft 2002).
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III. Ein Produkt der technischen, ein Motor der urbanen Moderne Das Hochhaus war lange Zeit eher ein Versprechen für die Zukunft als Realität, zumal in Deutschland, wo anfänglich nur wenige Hochhäuser tatsächlich gebaut wurden. Gerade dies machte jedoch für viele Bevölkerungsschichten die Faszination dieses neuen Gebäudetyps aus. Den Imaginationen und Visionen einer modernen Welt, die in den tausenden Entwürfen von Architekten und den unzähligen Projektplanungen von Unternehmern und Kommunalpolitikern zum Ausdruck kamen, waren daher kaum Grenzen gesetzt. Gerade Künstler konnten ihren Phantasien freien Lauf lassen, wenn sie für Filme wie Metropolis, Modern Times, Things to Come oder Playtime Wolkenkratzerkulissen entwarfen. Die Hochhäuser waren dem noch relativ neuen KINO bei der Produktion von Alpträumen und Utopien der Moderne sehr nahe (Weihsmann 1988, 165-198). Gleichzeitig wurden die polarisierenden Hochhausdebatten, durch die Popularisierung des Hochhauses in Filmen, Romanen oder auf Postkarten immer wieder angefacht und in die Bevölkerung hineingetragen. Die alte Vorstellung, sich vom Erdboden abzuheben, um einen umfassenden Blick von oben auf die Welt zu haben, war unweigerlich mit der Entwicklung der Technik verbunden. Neue Maschinen und Technologien wie das FLUGZEUG oder das RAUMSCHIFF verhießen den Aufstieg in bisher ungeahnte Höhen, erzeugten aber auch neue Ängste vor dem möglichen Absturz. Abgesehen von den an innovative Techniken gebundenen Wahrnehmungen hatten die Hochhäuser aber konkrete technische Voraussetzungen, die ihren Bau und ihre Nutzung erst möglich machten. Neben der Skelettbautechnik aus Stahl (STAHLWERK) waren dies vor allem Vorkehrungen, durch die sämtliche Stockwerke mit ausreichend Wasser, Wärme, Ventilation und elektrischem Licht versorgt werden konnten. Von ausschlaggebender Bedeutung war gleichwohl die Entwicklung des Aufzugs, insbesondere des Personenfahrstuhls und des Paternosters. Während in den USA der Hochhausbau relativ rasch auf die Entwicklung des Fahrstuhls seit den 1850er Jahren folgte, mussten sich in Deutschland – wie in Jena – erst besondere stadträumliche Konstellationen ergeben. Zweifellos liegt in der spezifischen Art, wie Hochhäuser die Stadtentwicklung vor allem in den USA und Europa prägten, die stärkste Wirkung dieses Gebäudetyps. Als vertikale Raumverdichtung war das Hochhaus ein wichtiges Mittel zur Citybildung. Damit begann eine stärkere funktionale Trennung der Stadt und die allmähliche Auflösung der traditionellen »europäischen Stadt« mit ihrem multifunktionalen Zentrum. In den zum Dienstleistungsstandort reduzierten Innenstädten prägten Hochhäuser durch ihre innere Struktur die rationalisierten Arbeitsabläufe von Großraumbüros in Verwaltungen und Behörden. Anders als in den USA waren GRANDHOTELS und Hochhäuser in Deutschland nicht eng verbunden. Gerade die Angst vor Bränden führte dazu, dass hier in den zwanziger Jahren keine Hotelhochhäuser genehmigt wurden (Neumann 1995, 144-147). Die Citybildung ließ viele Menschen in STADTRANDSIEDLUNGEN ziehen; in der wachsenden Stadtlandschaft
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dienten Hochhäuser nun ihrerseits als Orientierungsmarken. In den Augen zeitgenössischer Beobachter der Stadtentwicklung hatte sich auch in Deutschland »für gewisse Zwecke der Weltstadt die Senkrechte, also das Hochhaus« als »Lebensbedürfnis« durchgesetzt (Hegemann 1928, 289).
Literatur Baupolizeiakte Bau 13/15, Bauaktenarchiv der Stadtverwaltung Jena. Behrendt, Walter Curd (1922): Die Wirtschaftlichkeit der Wolkenkratzer, in: Die Bauwelt 13, 841843. Berg, Max (1922): Die deutsche Hochhausbauweise, in: Deutsche Bauhütte 26, 54-59. Brand des ersten Wolkenkratzers (1911): Beton und Eisen 10, 250. Deutschlands erstes Turmhaus in Dresden (1923): Der Baumeister 21, H. 7, Beilage 39. Douglas, George H. (1996): Skyscraper. A social history of the very tall building in America, Jefferson. Flierl, Bruno (2000): Hundert Jahre Hochhäuser. Hochhaus und Stadt im 20. Jahrhundert, Berlin. Goldberger, Paul (1984): Wolkenkratzer. Das Hochhaus in Geschichte und Gegenwart, Stuttgart. Hegemann, Werner (1923): Hochhaus-Gefahren in Leipzig und in anderen Städten, in: Städtebau 8, 273-275. Ders. (1928): Soll Berlin Wolkenkratzer bauen? Abdruck von Antworten auf eine Umfrage im Berliner 12-Uhr-Blatt vom 2. April 1928, in: Wasmuths Monatshefte für Baukunst 12, 286-289. Klein, Martin (1999): Jena als Hochhausstadt, in: Michael Diers/Stefan Grohé/Cornelia Meurer (Hg.), Der Turm von Jena. Architektur und Zeichen, Jena, 105-115. Kloft, Ellen (2002): Gebäudetypologie, in: Johann Eisele/dies. (Hg.), Hochhaus-Atlas. Typologie und Bespiele, Konstruktion und Gestalt, Technologie und Betrieb, München, 10-23. Kurze, Bertram (1997): Architekturgeschichtliche Aspekte zur Fabrikarchitektur in Jena – Die Bauten des ZEISS-Hauptwerkes, in: Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege (Hg.), Das Hauptwerk von CARL ZEISS JENA. Ursprung und Wandel, Bad Homburg/Leipzig, 16-67. Markowski, Frank (1997): Präzisionsarbeit, Massenproduktion und Gruppensystem. Arbeit und Technik bei Carl Zeiss bis zur Weltwirtschaftskrise, in: ders. (Hg.), Der letzte Schliff. 150 Jahre Arbeit und Alltag bei Carl Zeiss, Berlin, 54-75. Neumann, Dietrich (1995): »Die Wolkenkratzer kommen!« Deutsche Hochhäuser der zwanziger Jahre. Debatten, Projekte, Bauten, Braunschweig/Wiesbaden. Poellnitz (1921): Der Schrei nach dem Turmhaus, in: Die Bauwelt 12, 689-690. Rappold, Otto (1913): Der Bau der Wolkenkratzer, München/Berlin. Schmidt, Jochen N. (1991): Wolken-Kratzer. Ästhetik und Konstruktion, Köln. Stommer, Rainer (1990): Hochhaus. Der Beginn in Deutschland, Marburg. Topfstedt, Thomas (1999): Wohnen und Städtebau in der DDR, in: Ingeborg Flagge (Hg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 5: 1945 bis heute. Aufbau, Neubau, Umbau, Stuttgart. Unternehmensarchiv der Carl Zeiss Jena GmbH, Bestand: Betriebsarchiv des VEB Carl Zeiss Jena bis 1990, Signatur: 14565. Weihsmann, Helmut (1988): Gebaute Illusionen. Architektur im Film, Wien.
Die Stadtrandsiedlung Jörn Weinhold I. »Waldliche Weltabgeschiedenheit«: Die hamburgischen Walddörfer, um 1914 »Zu dem lieblichsten und schönsten, was Hamburgs Umgegend an Gelände aufzuweisen hat, zählen unstreitig unsere Walddörfer. [...] In unseren alles umwertenden Tagen werden die Walddörfer für die Stadt besonders dadurch wertvoll, dass sie um ihre herrlichen Waldungen herum die geeignetsten Stätten bieten für Villenkolonien. Wer in frischer Waldluft auf gutem Baugrunde und in reizvoller Umgegend wohnen will, der ist nirgend besser aufgehoben als in unseren Walddörfern« (Hamburgs Walddörfer 1914, 2). Mit diesen Zeilen eröffneten die Terraingesellschaften, die ihr Bauland im Nordosten Hamburgs gewinnbringend veräußern wollten, eine Werbeschrift aus dem Jahr 1914. Die reich bebilderte Broschüre stellte die ländliche Idylle durch Fotografien der Walddörfer um Volksdorf heraus: Ein Paar rudert mutterseelenallein auf einem See, Birken säumen den Volksdorfer Teichweg, Kühe grasen friedlich auf Farmsener Wiesen und Bäume spiegeln sich im Kupferteich. Kurze Begleittexte hoben die historische Verbundenheit der Dörfer mit der Stadt Hamburg sowie kuriose bäuerliche Sitten und Gebräuche des jeweiligen Walddorfes hervor. Mit den angebotenen Bauflächen versprachen die Makler den bürgerlichen Lesern und potenziellen Käufern vor allem eine ländliche Abgeschiedenheit vom städtischen Trubel ihrer »alles umwertenden Tage«. Umwälzend und neuartig war diese Zeit für viele Hamburger vor allem durch das rasante Bevölkerungswachstum ihrer Stadt und die sich daraus ergebende räumliche Expansion. Hatte der Stadtstaat Ende 1900 noch 768.349 Einwohner, war er zwölf Jahre später zur Millionenstadt angewachsen. Dieser Anstieg verteilte sich jedoch nicht gleichmäßig auf das Stadtgebiet. Die rasch voranschreitende Citybildung in der Innenstadt und der Abriss eines ganzen Stadtteils, um in den 1880er Jahren die Speicherstadt im Hafen errichten zu können, vertrieben Bürger und Arbeiter an die Ränder der Stadt: Die Einwohnerzahl der Altstadt halbierte sich zwischen 1900 und 1912. Gleichzeitig verdoppelte sie sich im bürgerlichen Eimsbüttel ebenso wie im Arbeiterviertel Barmbek auf jeweils weit über 100.000 (Hamburg und seine Bauten 1914, Bd. I). Auch die Zahl der Bewohner in den Walddörfern stieg in diesem Zeitraum für ihre Verhältnisse beträchtlich, von 2.103 auf 3.718. Obwohl sie nur ein Prozent der Hamburger Bevölkerung ausmachten, erstreckten sich die Walddörfer auf einem Zehntel der Gesamtfläche des Stadtstaates. Als die Bodenspekulanten für ihre Bauflächen warben, handelte es sich bei den Walddörfern noch um Dörfer mit einigen Bauernhöfen, kleinen Dorfkernen und vor allem großen Waldflächen. Vereinzelt waren schon Landhäuser gebaut worden, die jedoch häufig recht entfernt von den Dörfern lagen. Bereits im Bau befindlich war die Walddörferbahn, deren Bahndamm sich von Barmbek über Farmsen, Berne und Volksdorf weiter gen Norden zog. Erschlossen waren die Orte darüber hinaus seit 1904 durch eine elektrische
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Kleinbahn von Altrahlstedt bis Volksdorf. Ausgewiesene, aber erst teilweise parzellierte Bauflächen deuteten bestenfalls die projektierten Kolonien und Siedlungen an, in denen zu dieser Zeit nur wenige Häuser standen.
12. Fritz Schumachers Entwicklungsschemata der Stadt Hamburg, 1921 Vom naturräumlichen Gesichtspunkt aus sprach vieles für eine hohe Anziehungskraft der Dörfer auf die Bauherren bürgerlicher Villen. Tatsächlich existierten die Walddörfer in der räumlichen Wahrnehmung der Hamburger vor allem als gelegentliches Ausflugsziel. Mit der Charakterisierung Volksdorfs durch seine »waldliche Weltabgeschiedenheit« war in der Werbebroschüre eine zwar freundliche, jedoch auch sehr treffende Formulierung für diesen Umstand gefunden worden. Als hamburgische Enklaven in Preußen, ohne direkten Landanschluss an die Stadt und zum Teil mehr als 20 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, erschienen die Walddörfer häufig nicht auf Karten des hamburgischen Staatsgebiets. In Statistiken wurden sie nicht als Vororte oder Stadtteile geführt, sondern abgesondert als »Landge-
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biete« oder »Landherrenschaft der Geestlande«. In den Grenzen des Stadtstaates sah Fritz Schumacher, seit 1909 Baudirektor in Hamburg, daher auch die Ursache, dass Hamburg nicht vom Zentrum zu den Stadträndern entlang mehrerer Achsen »natürlich« wachsen konnte. Tatsächlich zeigte sich der nordöstliche Ast des »Organismus Hamburg« verkümmert, mit nur wenigen Wachstum andeutenden Abschnitten (Harth 1994, 178). Mehr als die Walddörfer hatten die westlich von Hamburg gelegenen preußischen Orte entlang der Elbe zwischen Altona und Blankenese bereits vor 1900 zahlreiche steuerkräftige Einwohner Hamburgs, die großstädtischer Verschmutzung und Hektik entkommen wollten, zum Bau von Villen eingeladen. Diese Prachtbauten ließen die Elbchaussee zu einer besonders angesehenen Adresse werden, während in den Walddörfern Bauspekulanten ihre Grundstücke nicht veräußern konnten. Erst nach der Inbetriebnahme der Kleinbahn im Jahr 1904 leisteten sich vereinzelt reiche Hamburger auch am nördlichen Rand der Stadt ein Landhaus. Mit derartigen Villen »begüterter Mitbürger« warb die Broschüre von 1914 ebenso wie mit der schon bestehenden Infrastruktur. So verwies die Terraingesellschaft Farmsener Höh für ihre Grundstücke auf die vorhandenen Straßen und das Kanalisationssystem von Wandsbek, ein anderer Grundstücksbesitzer hob die Lage seiner Parzellen an Wasserläufen hervor, die sich für die Anlage von Teichen eigneten. Volksdorf wurde als zukünftiger Geschäftsmittelpunkt und kommunales Zentrum mit entsprechenden öffentlichen Einrichtungen wie einer höheren Schule angepriesen. Zwei schlagkräftige Argumente für die Wahl der Walddörfer als neuen Wohnsitz des hamburgischen Bürgertums wurden auf der Titelseite der Broschüre besonders herausgestellt: »Schnellbahn ab Hafen-Rathausmarkt« und »Hamburger Staatsgebiet – keine Doppelbesteuerung«. Bereits mit der elektrischen Kleinbahn hatten Pendler ab 6 Uhr morgens 28-mal am Tag von Volksdorf nach Altrahlstedt mit Anschluss in die Hamburger Innenstadt fahren können. Die neue Walddörferbahn war den Bahnanbindungen anderer Villensiedlungen in vielerlei Hinsicht überlegen, weil sie als Zweig der Hamburger Hochbahn lästiges Umsteigen vermeiden half und in noch kürzeren Intervallen als die Kleinbahn in die Innenstadt fuhr. Sei die Walddörferbahn erst fertig, werde der »wohlsituierte Hamburger Preußen Preußen sein lassen und sich vor dem städtischen Dunst hinausretten in unsere Walddörfer, die es an landschaftlicher Schönheit mit jedem anderen Villenort in Hamburgs Umgegend aufnehmen, und die es dem Hamburger ermöglichen, im Hamburger Staatsgebiet zu bleiben und so die steuerlichen Annehmlichkeiten unseres Gemeinwesens zu genießen« (Hamburgs Walddörfer 1914, 3).
II. Zuflucht des Bürgertums und Wohnort der Massen Gerade in Hamburg schaute man bereits auf eine lange Tradition des suburbanen Wohnens zurück. Große Kaufmanns- und Reedereifamilien der Hansestadt hatten
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vor 1860 mit dem Bau von Landhäusern jenseits der Stadtgrenzen begonnen. Diese wurden häufig jedoch nur für die Wochenenden oder ausschließlich im Sommer genutzt. Als Beginn der suburbanen Besiedlung des großstädtischen Umlandes durch das Bürgertum gilt in Deutschland die von dem Unternehmer Johann Anton Wilhelm Carstenn 1857 geplante Villenkolonie Marienthal in Wandsbek an der östlichen Grenze Hamburgs. Der Erfolg dieser Kolonie hatte gerade nach 1860, als die Torsperre aufgehoben worden war, in Hamburg einige Nachahmer gefunden. Andere deutsche Großstädte zogen schnell nach. Vor allem Berlin entwickelte sich aufgrund der großen Zahl potenzieller Siedlungsprojekte und damit lukrativer Geschäfte am Rande der Reichshauptstadt zum Zentrum der Aktivitäten von Grundstücksspekulanten und Bauunternehmen; zunächst mit Kolonien wie Alsen, Friedenau und Fichtenberg, später mit Grunewald. Aber auch in anderen Großstädten wie Leipzig und München wurden nun Villenviertel errichtet. Enorme Schübe erfuhr der bürgerliche Suburbanisierungsprozess seit 1880 durch die zunehmende funktionale Trennung der Wohn- und Arbeitsstätten sowie die allmähliche Ablösung von Pferdeomnibussen und Dampflokomotiven durch elektrifizierte Straßenbahnen (Bodenschatz 2001a). Mit der Besiedlung des Stadtrandes vollzog man im Kaiserreich eine Entwicklung nach, die in England und den USA bereits weit fortgeschritten war. Unter anglophilen Hamburgern schien es fast zu einer Mode geworden zu sein, »ähnlich englischer und amerikanischer Gewohnheit, Wohngelegenheiten abseits vom Stadtkerne in ruhiger, ländlicher Lage zu suchen« (Hamburg und seine Bauten 1914, Bd. II, 460). Vereinzelt waren seit 1900 Landhäuser wie das von Martin Uhlmann in Volksdorf errichtet worden, das den Speditionskaufmann die nicht unerhebliche Summe von 110.000 Mark gekostet hatte. Das repräsentative Gebäudeensemble wurde asymmetrisch um einen Hof herum gebaut, an den sich sogar Stallungen und Gebäude für das Fuhrwerk anschlossen. Mit diesem bürgerlichen Landhausstil grenzten sich Architekten und Besitzer von den Stadthäusern des hanseatischen Bürgertums ab. Nicht nur die Architektur des Anwesens, sondern auch die Inneneinrichtung und vor allem der großzügig angelegte Landschaftspark waren von englischen Vorbildern beeinflusst (Hamburg und seine Bauten 1914, Bd. I, 545; von Behr 1996, 45ff.). Das Landhaus sollte bei großer Fläche und geringer Geschosszahl den Bewohnern größtmögliche Bequemlichkeit bieten. Sogar bei den 15 geplanten Stationen der Walddörferbahn sollte »weitestgehende Rücksicht auf den landhausmäßigen Charakter der Gegend« genommen werden (Hamburg und seine Bauten 1914, Bd. I, 460-466). Als moderner Berufspendler erfuhr der bürgerliche Geschäftsmann, den die Terraingesellschaften mit einer 30-minütigen Fahrtzeit in die Innenstadt umwarben, den neuen Lebensstil somit nicht nur im eigenen Heim, sondern vor allem auch auf dem alltäglichen Weg zur Arbeit. Dieser neuartige städtische Lebensstil auf dem Land war von Beginn an Teil der Werbestrategien für Villenkolonien gewesen, an denen sich auch die Gemeindevorstände der Walddörfer beteiligten. Sie wollten ihre Orte stärker im Bewusstsein der Hamburger verankert sehen und finanzkräftige
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Bürger als steuerzahlende Gemeindemitglieder gewinnen. Hierfür gaben sie 1912 die illustrierte Zeitschrift Folge mit in die Hamburger Walddörfer als »praktischen Wegweiser für Ansiedler, Sommerfrischler, Ausflügler und Wanderer« heraus. Das Journal bot Architekten Werbeflächen für ihre Landhausentwürfe und Hausbesitzern für ihre zum Verkauf stehenden Villen. Diese massive Werbetätigkeit unterschied den Suburbanisierungsprozess des Kaiserreichs vom früheren Siedeln an der großstädtischen Peripherie. Indem sie das städtische Landleben als idealen Lebensstil pries, prägte sie die bürgerliche Aneignung des neuen Alltags am Stadtrand maßgeblich vor. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verzögerte den Bau der Walddörferbahn und damit auch die Entwicklung der Villenkolonien erheblich. Als die Bahn 1918 zunächst provisorisch mit Dampflokomotiven, nach 1920 dann elektrisch ihren Betrieb aufnahm, setzte in den Walddörfern ein Bauboom ein. Es entstanden jetzt aber nicht nur individuelle Villen. Fritz Schumacher hatte für den Wensenbalken in Volksdorf den Grundrissentwurf einer Siedlung überarbeitet, die im Zuge der Kriegerheimstättenbewegung seit 1922 mit dem Bau von 45 Doppel-, neun Einzel- und drei Reihenhäusern entstand (Hamburg und seine Bauten 1929, 344). Für die ursprünglich 200 geplanten Häuser gab es 1921 bereits 3.000 Bewerber. Kriegsversehrte, Witwen und kinderreiche Familien sollten bei der Vergabe des Wohnraums besonders berücksichtigt werden. Da die Durchführung in der Hand eines Architektenbüros lag, war die Gestalt der Gebäude sehr einheitlich: Die Häuser waren gekennzeichnet durch roten Backstein, holländische Dachpfannen, weiße Fenster, grüne Türen und Fensterläden, gewalmte Satteldächer und einen Springelzaun als Abgrenzung der etwa 1.000 Quadratmeter großen Parzellen. Während der für Schumacher ausschlaggebende Gedanke der privaten Gärten für diese Stadtrandsiedlung verwirklicht werden konnte (KLEINGARTEN), fehlten im Zentrum der Anlage zum Teil wichtige, geplante öffentliche Einrichtungen wie das Schulhaus (von Behr 1996, 55; Harms/Schubert 1989, 326ff.). Die Hamburger Walddörfer zeigten sich nach dem Ersten Weltkrieg also durchaus uneinheitlich: Auf der einen Seite gab es die von Terraingesellschaften als Villenkolonien erschlossenen Straßenzüge mit großbürgerlichen Landhäusern, die auch in den kommenden Jahrzehnten durch einzelne Villen ergänzt wurden. Auf der anderen Seite entstanden aufgrund der Wohnungsnot nach 1918 vereinzelt geschlossene Kleinsiedlungen, die staatlich subventioniert wurden und breiten Bevölkerungsschichten das Wohnen am Stadtrand ermöglichen sollten. Diese zwei Spielarten der Stadtrandsiedlungen als moderne Wohnform unterschieden sich nicht nur in ihrer äußeren und inneren Gestalt voneinander, sondern vor allem in ihrer sozialen Zusammensetzung. In der Weimarer Republik lösten die auf sozialstaatliche Initiative geplanten Siedlungen das private Landhaus als Bauaufgabe des Wohnungsbaus ab. Die Kriegerheimstättenbewegung, die am Wensenbalken in Volksdorf eine neue soziale Klientel in die Walddörfer geführt hatte, war nur eine Variante öffentlicher Wohnungsbauprogramme in der Zwischenkriegszeit. Der Reformwohnungsbau zwi-
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schen 1924 und 1930, die Erwerbslosensiedlungen Anfang der dreißiger Jahre und die von staatlichen Wohnungsfürsorgegesellschaften ins Leben gerufenen Siedlungsprojekte zählen ebenso dazu. Am Stadtrand wohnten größtenteils nicht mehr Eigentümer in meist repräsentativen Einfamilienhäusern, sondern Mieter in »Kleinhäusern« und Wohnungen. »Dezentralisierung der Großstadt« war das neue Leitbild der Planungspolitik. Sie führte beispielsweise in Hamburg zu einem »Gürtel« mehrgeschossiger Großsiedlungen. Neben den sozialstaatlichen Bestrebungen, die städtische Peripherie für die Masse der Bevölkerung als Wohnort zu erschließen, entwickelte sich eine kaum bemerkte, »stille Suburbanisierung« entlang der Bahnlinien in Form von privaten Kleinsiedlungen. Für das Berliner Umland schätzten Zeitgenossen, dass 150.000 Parzellen existierten, auf denen 30.000 bis 50.000 Häuser gebaut wurden. Darüber hinaus errichteten Arbeitslose und Angehörige sozialer Randgruppen oft illegale Behelfs- oder Barackensiedlungen als »wilde Siedelei« (Bodenschatz 2001b; Kuhn 2001). Stadtrandsiedlungen wurden in dieser Zeit aber auch zum Experimentierfeld des »Neuen Bauens«. Für Dessau-Törten entwarf Walter Gropius, der Gründer des Bauhauses, zwischen 1926 und 1928 im Auftrag der Stadt Dessau eine Arbeitersiedlung. Törten diente als Versuchssiedlung, in der die vom Bauhaus entwickelten rationellen Bauweisen ebenso getestet wurden wie neue Baustoffe. Angestrebt waren Häuser für das »Existenzminimum« mit kleinen Räumen für funktionalisierte Bewegungsabläufe, aber auch großen Gärten zur Selbstversorgung. Ähnliches war mit der Weißenhof-Siedlung in Stuttgart beabsichtigt, die aber – 1927 als Werkbundausstellung »Die Wohnung« eröffnet – durch die Teilnahme von Architekten wie Le Corbusier, Oud, Gropius und Mies van der Rohe mehr internationale Aufmerksamkeit erfuhr. Weißenhof war nur sehr bedingt eine Siedlung, da die Zahl der errichteten Gebäude gering blieb und die Infrastruktur ganz offensichtlich für eine Ausstellung gebaut war. Im Zentrum stand hier die »Neue Wohnung« als »ein Glied in dem großen Kampf um neue Lebensformen« (Mies van der Rohe). So beliebt die preiswerten Häuser und Wohnungen in Törten und Weißenhof auch waren – sie waren ihrer Zeit weit voraus. Viele Bewohner gestalteten die neuen Unterkünfte bald nach ihren Bedürfnissen um, nicht selten im Widerspruch zu den Intentionen der Architekten (Werkbundausstellung 1998; Bittner 2003). Die Suburbanisierung – im Kaiserreich zunächst ein Phänomen der Reichen – setzte sich somit während der Weimarer Republik verstärkt fort und führte zu einer erstaunlichen Differenzierung der Stadtrandsiedlungen. Waren die Motive für das Siedeln am Rand der Großstädte durchaus unterschiedlich, so trug zur Abwanderung großer Bevölkerungsgruppen seit Ende des 19. Jahrhunderts in starkem Maße ein antiurbaner Diskurs bei. Die Großstadtfeindschaft war vor allem in bürgerlichen Kreisen weit verbreitet und ging mit einer zuvor nicht gekannten Agrarromantik Hand in Hand (Reulecke 1985, 139-145). Die ideologische Aufladung des StadtLand-Gegensatzes erreichte im Nationalsozialismus ihren politischen Höhepunkt. Umso erstaunlicher ist es, dass »Entballung«, »Reagrarisierung« und »Zerschlagung der Großstadt« zwar wichtige Bestandteile der nationalsozialistischen Propaganda
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waren, sich der Kleinsiedlungsbau aber – anders als nach 1933 unter vehementer Kritik an den Villenkolonien des Kaiserreichs und den sozialstaatlichen Reformsiedlungen der Weimarer Republik geplant – nicht von den Großstädten auf die Mittelund Kleinstädte verlagerte (Harlander 2001b). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg sollte die Entwicklung der Stadtrandsiedlungen in beiden deutschen Staaten wieder an Dynamik gewinnen. Im Zuge der Industrialisierung des Bauwesens verlagerte man in der DDR seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre die Wohnungsneubauten an den Rand der Städte. In den siebziger Jahren erfolgten 90 Prozent des industriellen Wohnungsbaus mit vorgefertigten Platten auf zuvor landwirtschaftlich genutzten Flächen. Wohnhochhäuser entstanden zuweilen auch in kleineren Städten oder sogar in ländlichen Gemeinden. Dies entsprach der staatlichen Zielsetzung der »sozialistischen Stadt«: Der Stadt-LandGegensatz sollte aufgelöst, soziale Segregation durch die Schaffung gleicher Lebensverhältnisse überwunden und so eine »sozialistische Lebensweise« ermöglicht werden. Die Neubauwohnungen dieser Großsiedlungen genossen unter den dort lebenden »sozialistischen Kleinfamilien« als Kernelement der »sozialistischen Lebensweise« hohe Wertschätzung. Tatsächlich mischte sich in vielen Siedlungen die Bevölkerung stärker, gleichzeitig entstanden aber DDR-spezifische sozialräumliche Segregationsformen. Trotz des monotonen Erscheinungsbildes und wachsender Kriminalität in vielen dieser Satellitenstädte besaßen sie für manche Bewohner aber fast dörfliche Qualitäten (Topfstedt 1999; Hannemann 1996; von Saldern 1995). In der Bundesrepublik wurde die Suburbanisierung nach 1945 rasch zum »strukturbestimmenden Prozess der Stadtentwicklung« (Jessen 2001, 316), ermöglicht durch wirtschaftlichen Aufschwung und Reichtum. Verkehrstechnisch führte die massenhafte Verbreitung des AUTOS, das dem öffentlichen Nahverkehr für den Pendlertransport zunehmend Konkurrenz machte, zu einer immer beschleunigteren städtischen Expansion. Die staatliche Eigenheimförderung unterstützte den Bau großer Einfamilienhaussiedlungen, der soziale Wohnungsbau die Errichtung von Großsiedlungen mit HOCHHÄUSERN am Rand von Ballungszentren. Die Entstehung eines »Siedlungsbreis« oder einer »verstädterten Landschaft« wurde noch dadurch gefördert, dass neben produzierendem Gewerbe auch viele Betriebe des Dienstleistungssektors, besonders Einkaufszentren, ihren Standort in das städtische Umland verlagerten. Der Fremdenverkehr und, im Zuge der Kommerzialisierung der Freizeit, auch Vergnügungs- und Kultureinrichtungen wie Freizeitparks, Golfplätze, Reitsportanlagen oder KINOS trugen zu neuen Wellen der Suburbanisierung bei. Da spätestens mit den neunziger Jahren immer mehr zentrale Funktionen des alltäglichen Lebens den Innenstädten verloren gingen, sprachen manche Beobachter nun sogar von einer »Peripherisierung« (Prigge 1998): Das Leben am Rand der Stadt richte sich nun nicht mehr auf ein städtisches Zentrum aus, sondern erfülle sich fast vollständig in der urbanen Peripherie.
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III. Mobilisierung und Sesshaftigkeit in der Moderne Begrifflich waren die Siedlungen am Rand der Stadt immer schon schwer zu fassen. 1874 hatte man noch 15 Orte aus den hamburgischen Landgebieten zu »Vororten« erklärt, während die Altstadt, die Neustadt, St. Pauli und St. Georg die eigentlichen »Stadtteile« Hamburgs waren. 20 Jahre später war dies schon wieder obsolet. Die bisherigen Vororte wurden zu Stadtteilen und ehemalige Landgemeinden wie Ohlsdorf oder Fuhlsbüttel galten nun als Vororte. Ein Barmbeker Bürger brachte diesen raschen Wandel in seinem Buch Barmbeck als Dorf um 1750, als Vorort von Hamburg um 1867 und als Stadtteil von Hamburg 1894 bis 1910 auf den Punkt (Voigt 1910). Vermutlich führte erst die 3. Notverordnung des Reichspräsidenten vom 6. Oktober 1931 den Begriff der »vorstädtischen Kleinsiedlung« oder »Stadtrandsiedlung« ein, die, so ein Rückblick nach dem Zweiten Weltkrieg, »so viel umstritten [war], doch so viel Segen gebracht hat« (Hamburg und seine Bauten 1953, 23). Die Verwandlung ein und desselben Ortes vom Dorf über den Vorort und die Stadtrandsiedlung hin zum Stadtteil zeigt, dass die wachsende urbane Bevölkerung eine stetige Umformung der Raumstrukturen nach sich zog. In der Tat wurden Eingemeindungen nach 1885 der ausschlaggebende Faktor des Verstädterungsprozesses. Erst die Schaffung neuer administrativer Einheiten erlaubte es, über die engen Stadtgrenzen hinauszuplanen, um den urbanen Herausforderungen der modernen Gesellschaft gerecht zu werden (Reulecke 1985). Mit dem Denken in Stadtregionen oder urbanen Agglomerationen kamen in der neuen Fachdisziplin Städtebau immer wieder neue Leitbilder wie das der »Gartenstadt« oder der »Bandstadt« auf, mit denen man das ausufernde städtische Wachstum in geregeltere Bahnen lenken wollte (Fehl 2000). Im Gegensatz zu ihrem spektakulären Pendant der urbanen Moderne, dem HOCHHAUS, standen die Stadtrandsiedlungen für eine kaum bemerkte, unscheinbare Stadtmoderne. Einmal in Gang gesetzt entfaltete der Suburbanisierungsprozess im Gegensatz zu den Hochhäusern aber eine nicht mehr abnehmende Transformationskraft. Ihre Entwicklung verlief in Abhängigkeit zur verkehrstechnischen Entwicklung des Nahverkehrs, insbesondere der Straßenbahn und des AUTOS, mit denen die Stadtrandbewohner erst mobil wurden. Im sich ständig wandelnden transitorischen Raum zwischen Stadt und Land trugen die Stadtrandsiedlungen maßgeblich zur Verbreitung urbaner Lebensformen bei. Neben der politischen Ablösung der Dörfer aus vormals landesherrlichen Bindungen brachten die geplanten Siedlungen eine stadttechnische Infrastruktur durch Straßenbeleuchtung oder Abwasserentsorgung und soziale Einrichtungen wie höhere Schulen, Bibliotheken oder Sportstätten (STADION) in das stadtnahe Umland. Die »kulturelle Leitbildfunktion der Großstädte« (Reulecke 1985, 148) wurde an diesen Knotenpunkten zwischen Stadt und Land der ganzen deutschen Gesellschaft vermittelt. Die Stadtrandsiedlungen bildeten als Orte einer wechselseitigen Durchdringung von Stadt- und Landkultur einen eigenen Lebensstil aus. Obwohl Suburbia auch im 20. Jahrhundert ein bürgerliches Utopia blieb und selbst weniger begüterten
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Schichten der Bevölkerung als erstrebenswerter Wohnort erschien, wurde der suburbane Lebensstil zunehmend Gegenstand von Kritik und Spott. Aus Sicht der großstädtischen Avantgarde lebten in den Vororten vor allem die arrivierten, oft spießigen Kleinfamilien, die sich enge, rückwärtsgewandte Verhaltensregeln auferlegten (KLEINGARTEN). Die Einförmigkeit der Stadtrandsiedlungen mit ihren ewig gleichen Reihenhäusern oder die Anonymität der APPARTEMENTS in den Hochhäusern der Trabantenstädte ließen viele erschaudern. Neuerdings als »Zwischenstadt« (Sieverts 1999) bezeichnet, sind Stadtrandsiedlungen jedoch nach wie vor Fokus und Motor stadträumlichen wie gesellschaftlichen Wandels.
Literatur Behr, Karin von (1996): Die Walddörfer. Volksdorf, Bergstedt, Wohldorf-Ohlstedt, Hamburg. Bittner, Regina (2003): Bauhausstil. Zwischen International Style und Lifestyle, Berlin. Bodenschatz, Harald (2001a): Städtebau – Von der Villenkolonie zur Gartenstadt, in: Harlander (Hg.), Villa und Eigenheim, 76-105. Ders. (2001b): Zur Karriere von Suburbia in Deutschland, in: Olaf Bartels u.a. (Hg.), Dorfanger Boberg. Ein urbanes Quartier am Stadtrand, München, 10-22. Fehl, Gerhard (2000): Gartenstadt und Bandstadt. Konkurrierende Leitbilder im deutschen Städtebau, in: Die alte Stadt 27, 48-67. Frank, Hartmut (Hg.) (1994): Reformkultur und Moderne, Stuttgart. Hamburg und seine Bauten (1914): Hg. vom Architekten- und Ingenieursverein Hamburg e.V., 2 Bde., Hamburg. Hamburg und seine Bauten (1929): Hg. vom Architekten- und Ingenieursverein Hamburg e.V., Hamburg. Hamburg und seine Bauten (1953): Hg. vom Architekten- und Ingenieursverein Hamburg e.V., Hamburg. Hamburgs Walddörfer (1914): Villenkolonien, Hamburg. Hannemann, Christine (1996): Die Platte. Industrialisierter Wohnungsbau in der DDR, Braunschweig. Harlander, Tilman (Hg.) (2001a): Villa und Eigenheim. Suburbaner Städtebau in Deutschland, München. Ders. (2001b): Suburbanisierung – Zwischen Reagrarisierung und Evakuierung, in: ders. (Hg.), Villa und Eigenheim, 250-257. Harms, Hans/Dirk Schubert (1989): Wohnen in Hamburg – Ein Stadtführer zu 111 ausgewählten Beispielen, Hamburg. Harth, Susanne (1994): Stadt und Region. Fritz Schumachers Konzepte zu Wohnungsbau und Stadtgestalt in Hamburg, in: Frank (Hg.), Reformkultur und Moderne, 157-181. Jessen, Johann (2001): Suburbanisierung – Wohnen in verstädterter Landschaft, in: Harlander (Hg.), Villa und Eigenheim, 316-329. Kuhn, Gerd (2001): Suburbanisierung – Planmäßige Dezentralisierung und »wildes« Siedeln, in: Harlander (Hg.), Villa und Eigenheim, 164-173. Prigge, Walter (1998), Peripherie ist überall, Frankfurt. Reulecke, Jürgen (1985): Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt. Saldern, Adelheid von (1995): Häuserleben. Zur Geschichte städtischen Arbeiterwohnens vom Kaiserreich bis heute, Bonn.
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Sieverts, Thomas (1999): Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, Braunschweig/Wiesbaden. Topfstedt, Thomas (1999): Wohnen und Städtebau in der DDR, in: Ingeborg Flagge (Hg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 5: 1945 bis heute. Aufbau, Neubau, Umbau, Stuttgart, 419-562. Voigt, F. (1910): Barmbeck als Dorf um 1750, als Vorort von Hamburg um 1867 und als Stadtteil von Hamburg 1894 bis 1910, Hamburg. Werkbundausstellung (1998): Amtlicher Katalog der Werkbundausstellung »Die Wohnung« (1927), Stuttgart.
Der Staudamm Dirk van Laak I. Gegen die Wand: Die Edertalsperre, 1914 Wer im grünen Herzen Deutschlands an einem der idyllischen Flüsse entlangstreift, die später in die Weser münden, läuft bisweilen recht unvermittelt vor eine Wand. Erreicht der Wanderer im Waldecker Land, von Osten kommend, bei Hemfurth südlich von Kassel eine der Talschneisen der Eder, tut sich mit einem Mal ein gewaltiger, 48 Meter hoher und 400 Meter breiter Mauerbogen aus Grauwackebruchsteinen vor ihm auf. Links und rechts begrenzen Türme die Mauerspitze, und auch die Mauerkrone gemahnt keineswegs an einen »Ort der Moderne«, sondern an einen der uneinnehmbaren Wehrbauten des Mittelalters. Dazu passt ein Pechnasenkranz, der sich bei genauerer Betrachtung jedoch als Wasserüberfallkante erweist. Steht man doch vor keiner festen Burg, sondern vor der Staumauer der Edertalsperre, die ein Reservoir von über 200 Millionen Kubikmetern Wasser abriegelt. Dieser »letzte Gigant der Kaiserzeit« (Neumann 1995, 55) ist ein charakteristischer Vertreter der Hochphase deutschen Talsperrenbaus, in der zahlreiche Staumauern errichtet wurden, um dem rasant gestiegenen Bedarf an Brauch- und Trinkwasser sowie hydroelektrischer Energie im Einzugsbereich urbaner und industrieller Zentren zu entsprechen. Die Edertalsperre diente außerdem der Regulation von Verkehrswegen, denn zusammen mit der Diemeltalsperre wurde die Zuverlässigkeit der Wasserspeisung des Mittellandkanals erhöht.
13. Ansichtspostkarte Edertalsperre, 1928.
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Zwischen 1890 und 1930 waren in rascher Folge rund um das Ruhrgebiet, in Sachsen und in Schlesien Dutzende von Talsperren entstanden. Allein Otto Intze, ein Aachener Hochbauprofessor, errichtete zwischen 1891 und 1905 25 solcher Schwergewichtsmauern. Sie besaßen weitaus mehr Standfestigkeit als die Lehm- und Erdaufschüttungen früherer Jahrhunderte, die vor 1890 viele Sicherheitsbedenken mit sich gebracht hatten. Die Einwände waren dadurch nicht stillgestellt: Vor allem diejenigen, die den Bauten weichen mussten, setzten den Vorhaben dauerhafte Widerstände entgegen. Im Fall der Edertalsperre waren dies etwa 155 Gehöfte mit 900 Bewohnern aus drei Dörfern, die mitsamt ihren Kirchen und den darin befindlichen Reliquien in Plandörfer umsiedeln mussten. Dort wurde versucht, den Verlust des Authentischen mit zusätzlicher Bequemlichkeit auszugleichen. Die Fotografien der preußischen Messbildanstalt von den gefluteten Gebieten wurden zu einem Archiv der Erinnerung. Auch die Heimatschutzbewegung trat gegen die immer größer werdenden Bauwerke auf den Plan. Der 1904 gegründete Deutsche Bund Heimatschutz befasste sich gleich auf seiner erster Tagung mit Staudämmen. Der erste Vorsitzende Ernst Rudorff meinte, ihrem Wesen nach schließe es die Talsperre »von vornherein aus, etwas anderes zu werden als eine Verunglimpfung der Natur« (Rudorff 1904/05, 178). Den ästhetischen Einwänden wurde mit einer künstlerischen Ausgestaltung und der Auslobung von Wettbewerben begegnet. Wie oft in der Technikgeschichte wurde das zweckhaft Neue zunächst in der Formensprache des Alten verpackt: So wie AUTOS zuerst wie Kutschen aussahen, verwandelten sich die modernen Talsperren zunächst Festungen an. Schon 1906 aber kritisierte der Maler und Architekt Paul Schultze-Naumburg die »Maskerade der Ritterburgen«. Der sachlich-moderne Stil des Ingenieurbauwerks bildete sich nur zögerlich aus. Die parallel zur Edertalsperre entstandene Talsperre Klingenberg in der Nähe von Dresden etwa gestaltete Hans Poelzig ebenso einfach wie zweckkonform; sie orientierte sich eher an zeitgenössischer Denkmalarchitektur (Stabenow 1997). Denn Poelzig befand: »Unsere Zeit findet in den großen wirtschaftlichen Nutzbauten den vollkommenen Ausdruck, sie sind die eigentlichen Monumentalaufgaben der heutigen Architektur« (Poelzig 1911). Je weiter sich der Besucher – meist ein männlicher Talsperren-Tourist – von der Staumauer entfernt und den schmaler werdenden Stausee entlangfährt, umso rascher verblasst der monumentale Eindruck. Vom Wasser her gesehen scheint der See sich in aller Regel überaus natürlich in die Umgebung einzupassen. Der Ufersaum wirkt selten künstlich und die Wasseroberfläche bietet der Freizeit und dem Verkehr die besten Aussichten. Kaum ein Gedanke dürfte den Elementen gewidmet sein, die von den Wassermassen dereinst begraben wurden. Vielmehr sind Staudämme Pilgerstätten des homo faber, die eine ganz ähnliche Anmutung erzeugen wie Brückenbauwerke oder die Hybridform beider, die Aquädukte. In ihnen freilich sticht das Moment der Kühnheit architektonisch oft noch deutlicher hervor als bei Talsperren. Ähnlich wie Staudämme repräsentieren sie den menschlichen Sieg über Raum und Zeit. Solche Bauwerke streben nach technischen Höchstleistungen und
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ermöglichen technikhistorische Rückblicke auf das, was zu einer gegebenen Zeit »menschenmöglich« erschien. Den Zufälligkeiten der natürlichen Landschaft trotzen sie ein Stück menschlicher Rationalität ab, die sich nur noch selbst, durch »menschliches Versagen«, zu besiegen vermag. So wurde die Edertalsperre gleich mehrfach von der Geschichte eingeholt: Die für den 25. August 1914 geplante Einweihung der Staumauer fiel gleichsam »ins Wasser«. Die Jubelreden und patriotischen Hymnen wurden nicht dem Bauwerk, sondern den Hemfurther Rekruten gewidmet, die in den gerade ausgebrochenen Ersten Weltkrieg zogen. Und auch im Zweiten Weltkrieg wurde die Edertalsperre zum Gegenstand »höherer Gewalten«: Am 17. Mai 1943, kurz nach Mitternacht, griffen die »Dam Busters«, eine Bomberstaffel der Royal Air Force, mehrfach die strategisch wichtige Talsperre an und rissen mit Rotationsbomben ein 70 Meter breites und 22 Meter tiefes Loch in die Mauer. Mit dieser Vorform eines »chirurgischen Bombardements« wurde eine Flutwelle freigesetzt, die unter ihrer schäumenden und grollenden Gischt mehrere Dutzend Menschen, zahllose Tiere, Gehöfte und Anlagen begrub. Von dem Ereignis, das geeignet war, menschliche Urängste und eine geradezu biblische Katastrophenfurcht wachzurufen, machte die deutsche Presse wohlweislich kein Aufheben. Stillschweigend wurden etwa 7.000 Soldaten vom Atlantikwall abgezogen, um die Eder- und die parallel zerstörte Möhnetalsperre möglichst rasch und unspektakulär zu reparieren (Neumann 1995, 61; Euler 1993). Auch in der Folgezeit wurde die Talsperre mehrfach restauriert und verstärkt. Und seither ist zumindest in Deutschland ohne Fremdeinwirkung keines dieser imposanten Bauwerke jemals wieder gebrochen.
II. Giganten aus Beton: Staudämme im 20. Jahrhundert Erst bei der Linachtalsperre im Jahr 1925 und bei der Talsperre Kriebstein im Jahr 1930 wurden in Deutschland Staumauern aus Beton gegossen; zuvor waren sie von Hand gemauert worden. Mit den standardisierten Bauwerken zeichnete sich die neue Qualität dieser Orte der Moderne ab. Statt wie in der Vormoderne der Natur mit singulären Leistungen ihre Unberechenbarkeit zu nehmen und ihr nutzbare Kräfte abzutrotzen, erhielt nun die gestaltete Kulturlandschaft endgültig den Primat über die »wilde« Natur. Die Energie und Lebenskraft des Wassers wurde nicht mehr nur dort angezapft, wo es vorhanden war, sondern der industriellen Rationalität unterworfen – gleich bleibende Verfügbarkeit in steigerungsfähigen Rationen (STAHLWERK). In der Hochzeit des Dammbaus und der hydroelektrischen Energiegewinnung zwischen 1900 und 1930 galt weit über Deutschland hinaus jeder Fluss, der ungenutzt und unreguliert ins Meer lief, als »Verschwendung«. Der Talsperrenbau ordnete sich dabei in eine systematische Gestaltung des nationalen »Wasserbauwesens« ein, der auch den Kanalbau, die Flussregulierung, die Trockenlegung von Feuchtgebieten, die Bewässerung trockener Regionen und den Deichbau an den Küsten umfasste. Oft wurden Zweckverbände der Wasserver- und entsorgung wie
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der 1899 gegründete Ruhrtalsperrenverein zu Keimzellen einer modernen Raumordnung. Die modernen Infrastrukturnetze (TELEFONZENTRALE) überstiegen die Möglichkeiten der Kommunen und wirkten zunehmend als Agenten der räumlichen Integration. Doch waren die Widerstände auch in Deutschland noch nicht gebrochen: Die Dust-Bowl-Katastrophe, die 1934 den Mittleren Westen der USA heimsuchte, befeuerte auch deutsche »Landschaftsanwälte« in ihrer skeptischen Haltung. Alwin Seifert, der die »organische« Einbindung der Autobahnen in die Landschaft mitbefördert hatte (AUTO), machte 1936 den extensiven Wasserbau, die allseitigen Regulierungen, Begradigungen und Drainagen für die Gefahr einer auch Deutschland drohenden »Versteppung« verantwortlich: »Die Natur aber ist, vom kleinsten Wiesenfleck angefangen bis zum ganzen Weltall, überall ein geschlossener lebender Organismus, in dem jedes einzelne kleinste Glied auf jedes andere abgestimmt ist; jede Veränderung eines Teils wirkt sich aus auf alle übrigen« (Seifert 1938, 5; Zeller 2003). Derart »ökologisch« verhielt sich der Nationalsozialismus gerade nicht. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert waren Wohl(stand) und Wehe in der Weltgeschichte stattdessen vom Wasser her gedacht worden. Dabei verwies man oft auf Großreiche der Vergangenheit, deren vermeintlich mangelhaftes »Wassermanagement« zur Verwüstung fruchtbarer Gebiete und zur Versumpfung oder Verlandung von Häfen und damit zum Untergang vormals »blühender Landschaften« beigetragen hätte (Flemming 1957). Befürworter der Wasserwirtschaft konnten sich zudem auf anthropologisch konstante Verhaltensweisen berufen, etwa die geradezu zwanghafte Tätigkeit von Heranwachsenden, Bäche zu stauen oder an STRÄNDEN den Kampf mit der herannahenden Flut aufzunehmen, indem ein Strandabschnitt eingedeicht wird. Tatsächlich steht die Regulierung des Wassers nicht erst am Beginn menschlicher »Industrie«, sondern bereits am Beginn menschlicher Gesellschaft. Die antiken Hochkulturen in Ost- und Südasien, im Vorderen Orient, in Mittel- und Südamerika, waren Wasserbaukulturen, deren Organisationsbedarf nicht nur Herrschaft, sondern auch gesellschaftliche Differenzierung und diverse Kulturtechniken nach sich zog. Kalender, Mathematik und Astronomie bedeuteten für die Agrarmanager in »wasserbaubürokratischen« Staaten wichtiges Herrschaftswissen; es lag nahe, die Methoden der Zusammenarbeit auf andere Großaufgaben auszuweiten, etwa auf kolossale Verteidigungsanlagen wie die Chinesische Mauer, weil die hydraulische Agrikultur stark ortsgebunden war (Wittfogel 1977, 56-60) (AGRARBETRIEB). Staudämme sind zwar Bauwerke eines Kampfs gegen die Natur und ihre Gesetze, der sich in der Neuzeit nicht selten als Krieg darstellte (FRONT), zugleich aber solche des Friedens unter den Menschen. Ihr Bau ist ein Synonym für das Zutrauen in eine friedliche Zukunft (von Samson-Himmelstjerna 1903). Deshalb sind sie in Kriegszeiten wiederum strategische Achillesfersen und in Krisenzeiten anfällig für terroristische Anschläge. Schon Ende des 19. Jahrhunderts drohten die Franzosen damit, den Oberlauf des Nils aufzustauen und damit die Lebensader des damals britisch besetzten Ägyptens abzuschnüren (Baumgart 1975, 17f.). 1956 wiederum sig-
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nalisierte die Verstaatlichung des Suez-Kanals, die der Finanzierung eines erweiterten Assuan-Staudamms dienen sollte, beiden ehemals kolonialen Rivalen sichtbar das Ende ihrer imperialen Ära. Heute kommt noch die Rivalität um die zusehends knapper werdende Ressource Wasser hinzu. Am Atatürk-Staudamm sollen daher Boden-Luft-Raketen zu seiner Verteidigung stationiert worden sein (Vorholz 1998; Meyer 1993). Je stärker eine Kultur vom Wasserbau abhängt, umso stärker ist sie auf Selbstbestimmung angewiesen. Doch meist schlug die Natur selbst zurück: Als einer der mutmaßlich ältesten Dammbauten aus den Jahren um 2600 v. Chr., zeitgleich mit den ersten Pyramiden, wurde in einem Wadi südwestlich von Kairo aus Sand, Kies und Steinen der Sadd-el-Kafara-Damm errichtet, eine über zehn Meter hohe und mehr als 100 Meter lange Mauer, die noch vor ihrer Fertigstellung von einer Flutwelle fortgerissen wurde. Erst 1885 entdeckte Georg Schweinfurth sie wieder (von Wölfel 1995). Solche Vorfälle, die in der Moderne nicht ohne Paradoxie als »Naturkatastrophen« bezeichnet werden, begleiteten den Staudammbau über die Jahrtausende (zuletzt brach 1976 der Teton-Damm in Idaho/USA, was elf Menschen das Leben kostete). Je nach Größe und Definition finden sich Ansätze zum Talsperrenbau seit etwa 8000 v. Chr. Sie dienten der Be- und Entwässerung, der Bewirtschaftung von periodisch knappem oder der Abwehr von zu viel Wasser, der Verbesserung des Verkehrs und der Gewinnung von Energie. In Mitteleuropa wurde über Jahrhunderte hinweg kaum auf diese Techniken zurückgegriffen. Seit dem Mittelalter legten einzelne Klöster jedoch Teiche zur Fischzucht an, seit der Frühen Neuzeit wurden über gestaute Anlagen Brauchwasser und Mühlenenergie im Bergbau genutzt. Erst der forcierte Bau von Kanalsystemen im Merkantilismus, der industrielle Bedarf der Textil-, Montan- und Stahlindustrie sowie die urbanen Agglomerationen des 18. und 19. Jahrhunderts steigerten den kalkulierbaren Wasserbedarf und riefen nach technologischen Innovationen (STAHLWERK). Fortschritte des Talsperrenbaus stellten sich hier nach der Steigerung der Kenntnisse in Mechanik, Statik und Statistik ein. Die Architectura Hydraulica, seit langem in ihren Grundzügen bekannt (Forest de Belidor 1766), wurde mit Hilfe der neuen technologischen Möglichkeiten zu einer weltweiten Erfolgsgeschichte sondergleichen. Grandiose und gefeierte Einzelleistungen wie der Suezkanal (1869) und der Panamakanal (1914), die Trockenlegung der Zuidersee (ab 1929) oder das Tennessee-Valley-Projekt des New Deal (ab 1933) waren nur Oberflächenphänomene. Heute werden weltweit über 45.000 Staudämme gezählt, die nach einer Definition der International Commission of Large Dams (ICOLD) als »Großstaudamm« bezeichnet werden können, also mindestens 15 Meter Höhe oder ein Speichervolumen von über drei Millionen Kubikmeter Wasser besitzen. Fast die Hälfte der Flüsse weltweit haben inzwischen einen oder mehrere solcher Dämme, manche sind auf ihrer gesamten Länge terrassenförmig ausgebaut. Hydroelektrische Anlagen erzeugen fast ein Fünftel des weltweiten Stroms. Welch schiere Masse hier angestaut wird, zeigen die regelmäßigen Befürchtungen, die weltweit ungleich verteilten Stauseen könnten zu einer Verschiebung der Erdachse
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führen und eine kaum merkliche, aber messbare Änderung am Rotationsverhalten der Erdkugel bewirken (Browne 1996). Zur Räumlichkeit von Staudämmen gehören auch die Verdrängungsprozesse, die ihr Bau jeweils bewirkte. Wenn es die Flora schon nicht konnte, mussten vor der steigenden Flut sowohl die Fauna als auch Menschen fliehen. Schätzungen zufolge mussten in den letzten 50 Jahren zwischen 40 und 80 Millionen Bewohner solchen Dammbauten weichen. Allein der letzte und gewaltigste Dammbau unserer Tage, der Drei-Schluchten-Damm am chinesischen Jangtse, setzte die Umsiedlung von mindestens 1,2 Millionen Menschen voraus (Shiu-Hung/Whitney 1993). Dass hierbei individuelle Widerstände in aller Regel am »Gemeinwohl« scheitern, gehört untrennbar zur Geschichte dieser Bauwerke hinzu, deren Nutzen zwar einer Allgemeinheit zugute kommt, deren Standorte aber nicht demokratisch ermittelt werden. Vielmehr folgen sie einer anderen, nämlich technokratischen Logik, die sich an vermeintlichen Sachzwängen orientiert. Diese Monumente der Naturbändigung sind in der Kernphase ihrer Geschichte denn auch nur von lokal begrenzten Widerständen gegen solche Großprojekte in Frage gestellt worden, von Betroffenen oder Heimatschützern (Linse u.a. 1988). Ihren Einwänden begegneten die Erbauer oft ebenso »technokratisch«: Siedlungen wurden an anderer Stelle ähnlich oder sogar »höherwertig« wieder aufgebaut. Selbst Kultur- oder Sakralbauten konnten gelegentlich verpflanzt werden, so im Fall der Tempelanlagen von Abu Simbel, die zwischen 1964 und 1968 der Erweiterung des Assuan-Staudamms weichen mussten und andernorts Stein für Stein, aber 64 Meter höher gelegen wieder aufgebaut wurden. Es ist aber nicht die räumliche Rivalität menschlicher Kulturbauten, die der Ära des Talsperrenbaus langsam »das Wasser abgräbt«, sondern es sind die zunehmenden Bedenken wegen der nachhaltigen Umweltfolgen, die wasserbauliche Ensembles mit großem Landschaftsverbrauch nach sich ziehen. Obwohl die »weiße Kohle« der Stauseen, das Wasser, nicht so unumkehrbar verloren geht wie die »schwarze« und die Stromerzeugung zudem nach Bedarf reguliert werden kann, erweisen sich Stauseen als massive Eingriffe in den Naturhaushalt. 1994 verkündete das US-Bureau of Reclamation das Ende der Staudammära in den USA, denn zu viele Flussökosysteme seien gestört und zu viele Dämme versandet. Sie stünden nun sogar im Verdacht, Erdbeben auszulösen (Pollmann 1996). Der Aufstieg des ökologischen Gedankens seit den sechziger Jahren ließ komplexere Zusammenhänge erkennbar werden, als es das fortschritts- und wachstumsorientierte Denken der »klassischen Moderne« für notwendig hielt. Gegenüber der möglichst effizienten Ausnutzung der Naturkräfte schienen »ortsübliche« Umweltbelastungen tolerabel. Die meisten Nutznießer nahmen sie gerade dann in Kauf, wenn sie nicht unmittelbar von der Anlage der Staudämme betroffen waren. Eine sich globalisierende Welt lässt solche Vernachlässigungen freilich kaum noch zu. Der Raum der Erde ist zu knapp geworden. Damit endet die Geschichte der Talsperre aber noch lange nicht. Auch in der Gegenwart und namentlich in den »Schwellenländern« werden weiterhin gewaltige Staudammprojekte geplant und ausgeführt. Ähnlich wie der Bau von Atomwaffen
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oder die Errichtung immer höherer Wolkenkratzer (HOCHHAUS) gelten Talsperren als Belege für politische Handlungsfähigkeit und wirtschaftliche Macht. Die Geschichte des Staudammbaus lässt sich anhand gemessener Höchstleistungen und triumphaler Überbietungen darstellen; darin ist sie seit Jahrtausenden konstant geblieben. Dennoch zeichnet sich ein Wandel ab: Die Weltbank, die über Jahrzehnte hinweg im Staudammbau einen geradezu idealen Ansatzpunkt für einen ebenso umweltfreundlichen wie nachhaltigen take-off in die wirtschaftliche Selbständigkeit von Neuländern sah, weigert sich seit Mitte der neunziger Jahre zunehmend, solche Projekte zu finanzieren. Zu oft war sie für fehlgeleitete Milliarden kritisiert worden. Angesichts der allein in Indien fast 700 im Bau befindlichen Großdämme verwies im Jahr 2001 die Schriftstellerin und Umweltaktivistin Arundhati Roy auf die bereits bestehenden 3.600 Staumauern und meinte: »Große Dämme sind heute die Bühne, auf der die wichtigsten Debatten über Ökologie und soziale Gerechtigkeit stattfinden, auf der politische und bürokratische Intrigen, internationale Fnanzgeschäfte und korrupte Machenschaften unvorstellbaren Ausmaßes eingefädelt werden« (zit. n. Kämpchen 2002). Der Staudamm Sardar Sarovar ist der größte eines gewaltigen Bauprogramms, das 30 Großstaudämme, 135 mittlere und 3.000 kleine Dämme sowie Kanalanlagen in einer Gesamtlänge von 80.000 Kilometern umfassen soll. Der Plan sieht die Umsiedlung von 14 Millionen Indern vor – ein letztes ideologisches Erbe des ersten indischen Premierministers Jawaharlal Nehru, der Staudämme einmal zu Tempeln des modernen Indien hochstilisiert hatte. 1995 dagegen wurde das von Deutschen mitkonzipierte Staudamm-Projekt Arun III im benachbarten Nepal gestoppt; seine Kosten wären höher gewesen als der nepalesische Staatshaushalt eines Jahres. Auch die prestigeträchtigen Großdammbauten in Lateinamerika erweisen sich bisweilen als »Stauseen der versunkenen Milliarden« (Schuster 1997). Korruption und die Renommiersucht von (Provinz-)Politikern haben den Talsperrenbau stets begleitet, denn die in Dämmen und Talsperren materialisierte Flutabwehr wie ein erfolgreiches Wassermanagement stehen seit jeher im Zentrum menschlicher Machtausübung (Seiffert 1997). Und das nicht nur in »orientalischen Despotien«, von denen 1957 Karl August Wittfogel sprach (Wittfogel 1977), sondern auch in liberalen Systemen. Es sei hier nur an den nach Präsident Herbert Hoover benannten BoulderDamm am Colorado River erinnert, bis heute einer der meistbesuchten Pilgerorte eines technologisch »bezwungenen« amerikanischen Westens.
III. Staudämme als Regulationsriegel im Fluss der Geschichte Der Historiker Charles S. Maier wertete Staudämme vor allem als Signaturen einer von Territorialität geprägten Ära zwischen 1860 und 1960, für welche die schiere Größe zählte, die riesige Erdbewegungen vornahm oder riesige Mengen Wassers hinter Betonmauern auftürmte (Maier 2000, 821). Doch sind Talsperren nicht nur Ausdruck der Bulldozer-Technologie, zu deren Bildwelten die Staudammbauten mit
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steil aufgerichteten Kränen gehören (van Laak 1999). Hinter den Staumauern und Stauwehren verbirgt sich oft sensible Hochtechnologie, um die Kräfte des Wassers effizient zu nutzen oder auf unvorhergesehene Naturereignisse flexibel reagieren zu können. Ein solches System stellt etwa der Delta-Plan der Niederländer dar, der 1956, in Reaktion auf die verheerende Sturmflutkatastrophe drei Jahre zuvor, die Wasserfront der Niederlande um 780 Kilometer verkürzte und in Gestalt der 1986 eröffneten Sturmflutwehr Oosterschelde eine »intelligente« Reaktion auf die Unwägbarkeiten der Natur erlaubt, indem sie sich erst bei Bedarf zu einem Deich schließt. Andere Projekte, die der Hochphase der »klassischen Moderne« beziehungsweise der »autoritären Hochmoderne« (Scott 1998) zuzuordnen sind, blieben unausgeführt, so das ins Phantastische gesteigerte Staudammprojekt des Münchner Baumeisters Hermann Sörgel, mit dem er das Mittelmeer bei Gibraltar hatte abriegeln wollen (Gall 1998). Andere Projekte endeten glücklicherweise, bevor sie verwirklicht werden konnten, etwa der »Große Stalinsche Plan zur Umgestaltung der Natur« von 1949, dessen Planung kontinentale Dimensionen weit überschritt. Solche Dammbauten ordneten sich in ein System von Eingriffen ein, mit denen »Korrekturen an der Erdgeschichte« vorgenommen werden sollten. Das utopische Element großer Staudamm- und Kraftwerksbauten war oft mit Händen zu greifen. Es spiegelte sich auch darin, die Baustellen selbst als Geburtsorte des »Neuen Menschen« darzustellen, die sich – von ihrer Vergangenheit befreit – ganz dem kühnen Aufbauwerk an der besseren Zukunft hingeben sollten (Josephson 1995; van Laak 1999). Analogien zu Bauwerken früherer Zeiten, zu Pyramiden und Kathedralen, sind im Zusammenhang mit Talsperren allgegenwärtig. Von unterhalb der Staumauer aus gesehen stellen sich – unabhängig von der Gestaltung – Ehrfurcht, ja Erhabenheit ein. Sie nähren sich aus der schieren Größe der Mauerfläche, zu der die Kleinheit des Betrachters in frappantem Kontrast steht. Man hat eine unwillkürliche Ahnung von den Gewalten, die hinter dieser Mauer verborgen sind. Vom meist gebogenen Kamm der Staumauer aus gesehen sind die Betrachter stolz auf die dauerhafte Zähmung der geballten Kräfte. Staudämme erweisen sich hier als gebaute Momente des Innehaltens, als Symbole der gebändigten Energie und als Triumphe über die Mächte der Natur (BUNKER). Staudämme haben sich aber nicht nur als unerschöpfliche Reservoire für Wasser, sondern auch für Bilder und Begriffe der politischen Psychologie des Massenzeitalters erwiesen. »Dämme errichten« gegen die »Flut«, »Trockenlegung« von »Sümpfen«, die »Zähmung« des »wilden Wassers«: Solche Formulierungen verweisen auf die dunklen, buchstäblich »unkultivierten« Winkel der Natur, auf Wälder, Sümpfe und Gewässer, in denen Miasmen und Malaria drohen und sich »lichtscheues Gesindel« verschanzt. Der »Dammbruch« wiederum ist zu einem Synonym für die Katastrophe schlechthin geworden. Wasser wird eben nicht nur als Lebensmittel gepriesen, sondern auch als unberechenbare Naturgewalt gefürchtet. Entsprechend gilt es als politische, organisatorische und technische Heldentat, wenn
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man singuläre oder wiederkehrende »Heimsuchungen« der Natur einzudämmen und die Kräfte der Natur zu bändigen versteht. Die Politiker Otto von Bismarck, Helmut Schmidt oder Matthias Platzek wurden nicht zufällig als »Deichgrafen« oder als Krisenmanager bei Deichbrüchen und Sturmfluten überregional bekannt. In der Individualpsychologie dagegen gilt es heute eher als Fehlleistung, wenn man glaubt, Staudämme gegen alles errichten zu müssen, was an Emotionen aus dem Innersten der menschlichen Seele hervorbrechen könnte (COUCH). Dass die Unterwerfung und »Verbesserung« der Natur ein psychologisch und moralisch durchaus ambivalenter Vorgang ist, hat die »schöngeistige« Literatur schon immer reflektiert und dabei in der Neuzeit gelegentlich auf das Sujet des Deichbaus zurückgegriffen: Goethe ließ 1832 im zweiten Teil seines Faust gewaltige Landgewinnungsprojekte durchführen, thematisierte in Gestalt von Philemon und Baucis aber auch die humanen Verluste solcher Unternehmen. Theodor Storms Schimmelreiter gestaltete um den Deichgrafen Hauke Haien einen Konflikt zwischen modernem Tatendrang und vormoderner Trägheit. Hier wurde die Großbaustelle zum Ort, an dem das »abergläubische« Alte mit dem Neuen ringt (Knittel 1939; Monnier 1963). Ähnlich verhielt es sich mit den »Großbaustellen des Kommunismus« in der Sowjetunion, die von »Ingenieuren der Seele« hymnisch besungen wurden (Westermann 2003). Dass der Fortschritt seine Opfer fordert, ist in der Literatur der »klassischen Moderne« oft als tragischer Konflikt angelegt, aber nicht immer zugunsten der »Moderne« entschieden worden. Vielmehr wurde die »wilde« Natur als Rückzugsgebiet gestaltet (KLEINGARTEN) und in der Literatur umso stärker idealisiert, je weniger es in der Realität davon gab. So entstand zeitlich parallel zur Begradigung und Zähmung des Rheins die deutsche Rheinromantik; 1861 wurde das erste deutsche öffentliche Aquarium eröffnet (Blackbourn 2000, 445ff.). Heute gibt es Anzeichen dafür, dass die klaren Gliederungen der industrialisierten Kulturlandschaft mit ihren begradigten Wegen, ihren künstlichen Hürden und Blockaden als ebenso »unästhetische« wie »ungesunde« Eingriffe, als Regulationsriegel im gleichförmigen Fluss der Geschichte verstanden werden. Ähnlich wie in der Psychologie soll in der gestalteten Umwelt wieder alles »fließen«. Der die Natur bezwingende starke Arm der Technik wird eher als »Gewalt« gedeutet (AGRARBETRIEB). Affekte gegen Staudämme greifen dabei auf ökologische Einwände zurück: Die natürliche Artenvielfalt im Fluss werde eingeschränkt, für wandernde Arten wie Aal oder Lachs seien die Staumauern unüberwindbar, in den Turbinen der Kraftwerke kämen Millionen von Lebewesen um, durch die ausbleibenden jährlichen Überschwemmungen versalze der Boden und bleibe die Düngung aus, in den stehenden Gewässern entstünden Mückenplagen und es breite sich Bilharzirose aus, eine in schweren Fällen tödlich verlaufende Wurmerkrankung. Vorerst werden solche Einwände weiterhin technologisch beantwortet, etwa durch den Bau von Terrassen neben den Dämmen, die den Lachsen ihre Wanderung flussaufwärts ermöglichen. Doch scheint die Idee des Staudamms zugleich flussabwärts zu weisen. Im April 1997 wurde im schweizerischen Gland die World Commission of Dams (WCD) gegründet, die ausdrücklich auch Staudammgegner
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aufnahm. Sie legte im November 2000 einen Bericht vor, der sich um eine abgewogene Beurteilung dieser Bauwerke bemühte. Staudämme, so die Kommission, hätten durchaus einen bemerkenswerten Beitrag zur menschlichen Entwicklung geleistet und einen beträchtlichen Nutzen entfaltet. Aber zu oft sei dabei ein zu hoher Preis für Mensch, Umwelt und Steuerzahler entrichtet worden. Die ungerechte Verteilung der Nutzen und Gewinne solcher Großprojekte erfordere deshalb einen frühzeitigeren Interessenausgleich, um Zweifeln erfolgreich zu begegnen (Dams and Development 2000; Baur 2001). Wird jedoch während sommerlicher Hitzeperioden auf den niedrigen Wasserpegel in Talsperren hingewiesen, mag der eine oder andere zwar tatsächlich das Autowaschen oder das Rasensprengen einschränken. Einmal mehr taucht im Betrachter solcher Bilder aber die Ahnung auf, wie sehr selbst der ökologisch und postmodern geläuterte Bürger von Voraussetzungen abhängt, die in der klassischen Moderne geschaffen wurden, um uns von Problemen der elementaren Lebenserhaltung zu entlasten.
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Vereinnahmen: Orte des Ausstellens
Die Pariser Passagen des 19. Jahrhunderts waren für Walter Benjamin exemplarische Orte der Moderne, weil hier Produkte als Waren zur Schau gestellt wurden, um potenzielle Käufer in den Bann zu ziehen und Illusionen zu einer neuen Wirklichkeit zu arrangieren. An solchen Orten des Ausstellens wird die fließende, flüchtige und unsichtbar vernetzte Welt der Moderne sichtbar und konkret. Museumsexponate und Warenpräsentationen, Filmprojektionen und Bühnendarbietungen schaffen Umschlagplätze für Bilder und Hoffnungen. Manches lässt sich kaufen, anderes bleibt unerreichbar. Die Maskerade von Kostümen, Makeups und Verpackungen verdeckt, was nicht zum Vorschein kommen soll, oder spielt gerade mit dem Reiz der Enthüllung. Oberflächen verlocken ein verführungswilliges Publikum, das sich in künstliche Ersatzrealitäten begibt, weil es diese als Bereicherung versteht. Weil die Orte des Ausstellens diesen Zwiespalt zwischen dem, was »wirklich« ist, und dem, was sichtbar wird, in sich tragen, sind sie häufig als Orte des Scheins kritisiert worden. Anlass zu dieser Kritik bot ihr kommerzieller Charakter, der sie auch zu Orten der Steuerung und der Rationalisierung macht. Sie schaffen vielfältige Angebote, die mit den Wünschen ihrer Nutzer kalkulieren, Bedürfnisse erzeugen, abrufen und befriedigen. Sie lassen ihren Betrachtern die Wahl und sollen sie zugleich für sich einnehmen oder vereinnahmen. Zugleich sind sie Bühnen, auf denen sich Käufer und Besucher selbst darstellen, zueinander in anonyme Nähe und in gewählte Differenz treten. Der illusionäre Charakter macht aus ihnen Inseln des Rückzugs, die zu Träumen und kleinen Fluchten einladen. Das WARENHAUS versammelt unterschiedlichste Warengruppen an einem Ort und überwölbt sie mit einem Verkaufskonzept, das wie das Schaufenster auf eindrucksvoller Präsentation beruht. Im Wechselspiel von Angebot, Betrachtung und Erwerb wird es zum Symbol der gelenkten Entscheidungsfreiheit. Als Massenerlebnis verwirklichte sich diese Konsumform im Warenhaus jedoch zunächst nur eingeschränkt, weil hier lediglich ein Bruchteil des gesamten Einzelhandels über den Ladentisch ging. Auch der Supermarkt und das Selbstbedienungsrestaurant bedienten vor allem die Imagination und setzten Maßstäbe in der Produktkommunikation, ohne dass sie die alltägliche Versorgung bereits dominierten. Im Vergleich zu den aufwändig inszenierten Effekten des Warenhauses waren die Geschäftsräume des Reisebüros, das in den 1860er Jahren entstand, zurückhaltend ausgestattet. Verheißungsvoll war allein die weite Welt, die hier als erfahrbarer
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Raum verkauft wurde. Mit den Weihen von Wissenschaft und Bildung versehen sind ferne, fremde Welten auch das Thema des VÖLKERKUNDEMUSEUMS. Während in den Zoologischen Gärten anfangs noch menschliche Exemplare »wilder Naturvölker« ausgestellt wurden, sollte der Museumsbesucher die präsentierten Objekte als Stellvertreter ferner Kulturen ehrfürchtig in sich aufnehmen. Suggerieren die Museumsexponate Authentizität, so ist im KINO das Gezeigte zweifellos unwirklich. Mit seinen künstlichen, gestellten Bildern hat dieses Massenmedium moderne Wahrnehmung nachhaltig geformt. Das Kinoerlebnis wird dabei ebenso durch das Arrangement der Zuschauer im dunklen Vorführsaal bestimmt wie durch das Leinwandgeschehen, die großen Erzählungen und Illusionstechniken, die aus den Traumfabriken der Filmstudios kommen. Breit gefächert wie das Warenhaus und künstlich wie das Kino ist der Vergnügungspark, eine kleine Stadt kommerziellen Amüsements in der Stadt. Einzelne Attraktionen reizen zum Hingucken, man kann seine Kraft und Geschicklichkeit unter Beweis stellen oder sich der extremen Erfahrung einer Achterbahnfahrt aussetzen. Spektakulär ist der Vergnügungspark als Gesamtensemble, das durch unübersichtliche Vielfalt, den technischen Aufwand der Apparate und die sinnliche Überwältigung der Dekoration beeindruckt. Konzentrierter geht es im KRAFTRAUM zu. Zunehmend massenmedial verbreitete Normen geben das Ziel für die Arbeit an den Kraftmaschinen vor, aus der ein gestärkter und optimal geformter Körper hervorgehen soll. Ein wesentliches Element des kontrollierten Muskelaufbaus besteht darin, sich im Spiegel zu beobachten. Eine solche Selbstbespiegelung, die vom eigenen Aussehen fasziniert ist, findet sich auch im Schönheitssalon. Dort führen allerdings nicht eigene Mühen zum gewünschten Ergebnis, sondern die Zurichtung durch professionelle Gestalterinnen. Das Ansehen und Präsentieren von Körpern prägt das räumliche Arrangement des STRIPTEASELOKALS. Eine einzelne Frau, die auf der Bühne animierend tanzt und sich dabei auszieht, wird von einem zumeist männlichen Publikum aus der Distanz beobachtet. Wie der Kinofilm ohne Spannungsbogen langweilig bleibt, läuft der Striptease auf den Höhepunkt vollständiger Nacktheit zu. Und doch bleibt beides Simulation: Weder kommt es zum Sex, noch werden die Traumgeschichten der laufenden Bilder Wirklichkeit.
Das Warenhaus Uwe Spiekermann I. Warenhaus Hermann Tietz, Berlin, 1914 Im April 1914 feierte Hermann Tietz in seinem Warenhaus den »Einzug des Frühlings«. Der Konsumtempel zeigte seine kommerzielle Blüte, aber nicht schnöder Ausverkauf, sondern kunstvolle Arrangements standen im Vordergrund: »Die Innenräume sind in allen Etagen mit duftigen Frühlingsblumen geschmückt, und in den Lichthöfen erregen imposante Dekorationen sensationelle Aufmerksamkeit.« Das Haupthaus in der Leipziger Straße war »im japanischen Charakter gehalten. Die Wände sind im zarten Teehaus-Stil verkleidet und durch reiches Gitterwerk miteinander verbunden. In der Mitte erhebt sich eine dreistöckige Pagode, deren sattes Rot sich mit dem Gold der Dächer beim Scheine gelber Lampen und bunter Lampions zu einem farbenprächtigen Bilde vereint. Rote Ziegeldächer mit Turmhähnen, Glockentürme mit Osterglocken, vorspringende Erker mit Transparentfenstern sowie luftige Szenen aus dem Leben des Osterhasen sind die Signatur des alten Lichthofes, dessen grün bedeckte Seitenwände beim Leuchten altdeutscher Laternen eine stimmungsvolle Vorahnung der nahenden Osterfreuden hervorrufen« (Einzug 1914). Auch in den Nebenhäusern am Alexanderplatz sowie in der Frankfurter Allee war der Frühling präsent, die weniger solvente Kundschaft konnte sich hier an Blütendächern, glühwürmchenartigen Illuminationen des Lichthofs, blühenden Apfelbäumen und natürlich reichhaltigem Blumenschmuck ergötzen. Das Warenhaus feierte in diesen wiederkehrenden und stets abgewandelten Arrangements sich selbst, schuf einen Kunstraum, der die Grenzen von Zeit und Raum sprengte und dessen Größe und Pracht ein bürgerlich-rechenhaftes Pendant zum höfischen Zeremoniell bildete. Kommerz und Erlebnis fanden hier zu einer neuen Synthese. Im Warenhaus entstand Ende des 19. Jahrhunderts ein Ort der Moderne, zu dem man Stellung beziehen musste, der niemanden kalt ließ. Konsum, das nach Adam Smith eigentliche Ziel jeglicher Produktion, jeglicher Anstrengung der Industrialisierung, gewann in diesen Gevierten eine neue Qualität. Losgelöst vom Zwang der Reproduktion wurde es hier zum Bestandteil eines neuen Lebensstils. Die Zeitgenossen waren von diesen Orten fasziniert, Sonntagsspaziergänge führten von der STADTRANDSIEDLUNG in die Warenhäuser, Frauen und Familien gerieten in Bewegung auf der Suche nach zugleich Preiswertem und Gediegenem. Historiker überbieten dieses Tun und Deuten, wenn sie gar von einer »Warenhausgesellschaft« sprechen (Kuhn 1990, 61). Darin zeigt sich das Warenhaus als einer der am meisten überschätzten Orte der Moderne, greift doch die Imagination des Ortes vielfach über dessen tatsächliche Bedeutung hinaus (Spiekermann 1999, 363382; Tamilia 2002).
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II. Verkaufsräume und Konsumträume: Das Warenhaus als Erlebniswelt Zunächst ist ein Warenhaus nichts anderes als ein kapitalistisch geführter Großbetrieb im Einzelhandelsgewerbe, der Waren verschiedenster, innerlich nicht zusammenhängender Art in einheitlichen Verkaufsräumen oder Verkaufshäusern anbietet. In Deutschland entstand das erste Warenhaus 1891 mit dem Berliner Kaiser-Bazar. Verglichen etwa mit Großbritannien und Frankreich scheint dies spät zu sein und den deutschen Rückstand gegenüber den westlichen Demokratien auch im Bereich des Konsums zu belegen. Doch die Definition weist darauf hin, dass genau diese weit verbreitete Vorstellung verfehlt ist. In den Metropolen des Westens, in Paris und London, Brüssel und New York waren seit Mitte der 1870er Jahre Geschäfte entstanden, die zentrale Elemente eines Warenhauses aufwiesen, insbesondere Bauten bisher nicht bekannter Pracht. Die Namen der Unternehmen wurden zu Markenzeichen der Konsumgesellschaft: Whithley, Harrods, Marshall Field, Stix Baer & Fuller, Wanamaker und Macy sowie Printemps, Samaritaine und Louvre. Emile Zola hat dem großen Bon Marché 1882 in seinem Roman Das Paradies der Damen ein literarisches Denkmal gesetzt, die Verführungskraft der modernen Verkaufsmaschinerien kritisiert und zugleich gefeiert. Doch diese Geschäfte waren allesamt keine Waren-, sondern Kaufhäuser, deren Angebot sich auf Textilien und Einrichtungsgegenstände konzentrierte, in denen noch nicht ein umfassendes, auch Nahrungsmittel und Speisen einbeziehendes Sortiment vertrieben wurde. Entsprechend etablierten sich Warenhäuser in Europa und den USA faktisch erst um die Jahrhundertwende. Das Faszinosum der Pariser Magasins bildete gleichwohl eine wichtige Quelle für den Erfolg auch der deutschen Warenhäuser. In den späten 1880er Jahren kündeten detaillierte Berichte in immer mehr Publikumszeitschriften von Chic und Raffinesse, Preiswürdigkeit und weltstädtischem Konsum in diesen Betrieben. Doch es gab in Deutschland, insbesondere in den Metropolen Berlin und Hamburg, eine bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichende Tradition großer Einkaufshäuser, die Pendants zu den Pariser und Londoner Großbetrieben des Kleinhandels bildeten: die Magazine und Kaufhäuser. Sie konzentrierten sich ebenso auf Textilien und Einrichtungsgegenstände, wobei Erstere einen Großteil ihrer Waren selbst produzierten, während Letztere sich fast gänzlich auf den Absatz konzentrierten. Bei Größe und Umsatz setzten sie schon früh Maßstäbe, beschäftigten Hunderte von Angestellten und nutzten systematisch die Chancen gediegener Reklame, um ein vornehmlich bürgerliches Publikum anzusprechen. Es gab noch weitere Vorläufer: Im Kaiserreich waren spätestens in den 1870er Jahren Abzahlungsgeschäfte entstanden, die Gebrauchsgüter an Kleinbürger und Arbeiter verkauften. Filialsysteme setzten sich im Lebensmittelsektor zunehmend durch. Daneben drangen mit den Wanderlagern und Bazaren lärmende Betriebsformen vor, die vor allem auf billige Preise setzten. Die späteren Warenhäuser entwickelten sich aus Textilfachgeschäften, indem sie die zentralen Geschäftsprinzipien des sich ausdifferenzierenden Kleinhandelsmarkts
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aufgriffen und zu einem neuen Ganzen kombinierten. Das Warenhaus war etwas Neues, obwohl nichts daran wirklich neu war. Was Henry Ford später in der Produktion gelang, nämlich strukturell Neues zu schaffen, indem er Bestehendes umorganisierte, das praktizierten auch die neuen Verkaufsmaschinerien seit den 1890er Jahren. Allerdings lag ihr Anteil an den Umsätzen des Einzelhandels 1914 mit nur 2,5 Prozent unter dem der Abzahlungsgeschäfte und dem der 200.000 Hausierer. Doch kehren wir zurück an den Ort des Konsums, blicken wir in die Warenhäuser selbst. Seit der Jahrhundertwende bildete sich insbesondere bei den führenden Berliner Warenhäusern Wertheim und Hermann Tietz ein neuer architektonischer Stil heraus, der sich – trotz zahlreicher regionaler Variationen – in Europa durchsetzte. Es entstand ein lichterfüllter, geräumiger, ja monumental wirkender Raum, dessen Hauptmerkmal der Lichthof wurde. Nicht kleingeistiges Krämertum, sondern großzügiges Unternehmertum fand hierin einen ästhetischen Ausdruck, der einen neuen Rahmen für den schnöden Kauf von Gütern schuf. Der Lichthof gab dem Warenhaus einen erhabenen Eindruck, erinnerte in seiner Größe an die Wucht mancher BAHNHÖFE, in seiner Abkehr vom Profanen an die Kathedralen einer untergegangenen Zeit. Um diesen Mittelpunkt gruppierten sich die Stockwerke und Verkaufsrayons. Treppen und Fahrstühle erlaubten geschwinde, aber auch flanierende Bewegung. Die Weite des Raums lud zum Schauen ein, kaufende Menge und käufliche Waren wurden zu einem ästhetischen Ensemble verbunden: »Was ist alle Zeitungs- und Katalogreklame gegenüber derjenigen, die das Warenhaus durch sich selbst, durch das sinnbethörende Treiben und Leben in ihm ausübt!« (Stresemann 1900, 715) Doch dieser Raum stand nicht für sich. Er schuf eine kühl kalkulierte Konsumwelt. Nicht nur Waren wurden hier vertrieben, sondern hier wurde shopping zum Erlebnis. Bürgerliche Beobachter kritisierten dies anfangs. Früh mokierte sich etwa Maximilian Harden über Wertheim, dessen Leistung nur darin bestehe, »daß er diese ganze Vergnüglichkeit, die diese sehnend suchte, seiner Kundschaft in einem Geschäftshause bot, ohne Eintrittsgeld zu erheben, von früh bis spät, billig und bunt« (Harden 1894, 46). Doch wie im KINO, wo ein Programm für Unterhaltung sorgte, war der Besuch des Warenhauses immer wieder mit Überraschungen verbunden. Ausverkäufe – teils mehr als 100 pro Jahr – wechselten sich in rascher Folge ab, ehe sie kurz vor dem Ersten Weltkrieg strikter geregelt wurden, unterschiedliche Warengruppen wurden herausgestellt, die Schaufensterauslagen und Innendekorationen systematisch erneuert. Auch Neu- und Umbauten standen im Zusammenhang mit diesem Wettbewerb der Erlebnisse. Die Grundfläche von Wertheim an der Leipziger Straße lag 1912 bei fast 15.000 Quadratmetern, davon entfielen fast 2.300 auf glasüberdachte Lichthöfe. Es übertraf den Reichstag mit seinen 11.200 Quadratmetern erheblich.
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14. Kathedralen des Konsums: Lichthofarchitektur bei Wertheim 1909 Die großen Häuser erinnerten in der Vielzahl ihrer Angebote an eine ständige Ausstellung der käuflichen Errungenschaften der Moderne. Massenprodukte glänzten im Schein der hervorgehobenen Luxuswaren, Erfrischungsräume und Lesesäle luden zum Verweilen ein, Kunstausstellungen und Theateraufführungen boten Anregung und Unterhaltung. Technische Neuerungen wurden ausgestellt und gefeiert, Kinematographen gab es hier, Grammophone und elektrische Haushaltsgeräte. Im Warenhaus wurde der Einkauf zum Freizeiterlebnis, Warenabsatz erschien als Dienstleistung und drückte die Freiheit des konsumierenden Menschen aus: »Dem unangenehmen Gefühl, kaufen zu müssen, ist er enthoben, denn niemand kümmert sich um ihn. Zwanglos kann er das ganze Haus durchwandern, die Aufzüge bis zum obersten Geschoss benutzen, die reich dekorierten Säle und Hallen durchstreifen, Neuheiten der Mode, Kostbarkeiten aller Branchen, moderne Zimmereinrichtungen, seltene Altertümer und wertvolle Kunstwerke beschauen, ungeniert sich am Büfett erfrischen, zwischen Palmen und Blumen im Winter- und Sommergarten weilen, Schirm, Paletot und Paket an der Annahmestelle zum unentgeltlichen Bewahren abgeben« (Buß 1906/07, 608f.). Das Warenhaus stand jedoch nicht allein, es war vielmehr »Leitbetrieb der Kommerzialisierung des umgebenden Stadtbereichs« (Gerlach 1987, 94). Sein Ort war das Zentrum der Stadt, die City. Es erzeugte Verkehr und sammelte ihn ein. Konkurrenten, Fachgeschäfte, Restaurants und Dienstleistende gliederten sich kranzartig um das Zentrum des Absatzes, nutzten dessen Attraktivität, erhöhten sie zugleich. Als Folge schnellten die Immobilienpreise in die Höhe, Innenstadtlagen entleerten sich. So mussten dem 1907 eröffneten Kaufhaus des Westens gleich acht
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Mietshäuser weichen, die erst zwölf Jahre zuvor errichtet worden waren. Zerstörung wurde zum Erlebnis – als Kauf-, Wirtschafts- und Imaginationsraum. Das Warenhaus als Kaufraum verdeutlicht, dass geläufige Begriffe wie »Industrialisierung« oder »industrielle Moderne« zu eng sind. »Dampf und Elektrizität haben Zeit und Raum, haben die auf der Materie lastende Schwere fast überwunden; die Maschine in tausendfältigen Variationen ersetzt die Arbeit der menschlichen Hände. Massenproduktion, Massenkonsum, Massenverkehr und Massenansiedelung bestimmen die moderne Physiognomie, und in diese fügt sich ein das Warenhaus, die branchenreiche Verkaufsstätte aller zum täglichen Leben erforderlichen Bedarfsartikel und Nahrungsmittel« (Buß 1906/07, 601). Es war Teil und Ausdruck des Übergangs zu einer Konsumgesellschaft. Nicht Produktion, sondern Absatz und Verbrauch von Waren war und ist Ziel des Wirtschaftens. Ihres prachtvollen Glanzes entkleidet, bildeten Warenhäuser Absatzorte für Massenartikel. »Großer Umsatz, kleiner Nutzen« war ihre betriebswirtschaftliche Maxime. Die Filialnetze der in Groß- und Mittelstädten ansässigen Unternehmen erlaubten gebündelte Einkäufe mit großen Kostenvorteilen. Sie verkauften zu festen Preisen und gegen Barzahlung. Das breite Angebot federte saisonale Schwankungen ab, regelmäßige Ausverkäufe unterstützten den Warenumschlag und die Auslastung der Häuser (Ullmann 2000). Sie entdeckten den »Kunden«, inszenierten für ihn einen Kaufraum eigener Qualität, behandelten ihn höflich und kulant, sprachen ihn mit solider und ästhetisch ansprechender Reklame an (Spiekermann 2005). Die an sich hohen Marktnutzungskosten – etwa für die zeitaufwändige und kostenträchtige Fahrt in die City – wurden so mehr als wettgemacht. Das Warenhaus steht für eine umfassende, immer breitere Bevölkerungsschichten umgreifende Kommerzialisierung und Ökonomisierung des Lebens. Dieses zentrale Element der Moderne lässt sich in allen Staaten der westlichen Hemisphäre beobachten. Die Unternehmen standen nicht nur im Wettbewerb, sondern beobachteten sich, lernten wechselseitig voneinander. Vor dem Ersten Weltkrieg waren die amerikanischen Warenhäuser Vorreiter einer modernen Betriebs- und Absatzorganisation, bildeten Vorbilder für die Berliner Warenhäuser, expandierten nach Übersee, wo sie in London mit Selfridge eines des führenden Häuser aus dem Boden stampften (Lawrence 1999). Doch auch von Deutschland gingen Impulse für eine westliche Konsumkultur aus: Hermann Tietz etablierte nach der Jahrhundertwende »Weiße Wochen«: periodische Sonderverkäufe von Textilien, die sich nach dem Weltkrieg in Frankreich, Großbritannien und den USA fest etablieren sollten. Als Teil der Moderne wurden dem Warenhaus vielfach demokratisierende Wirkungen nachgesagt (Stresemann 1900, 714). Dies trifft grundsätzlich zu, öffnete Geld doch einem breiten Publikum den Zugang zur Ware. Der Besuch des Warenhauses stand jedem frei, doch nicht jeder besuchte das Warenhaus. Die vornehmlich von Bürgern verfassten Quellen unterschätzen die Prägekraft einer Klassengesellschaft. Der Adel kaufte hier selten, ebenso die breite Arbeiterschaft. Das Warenhaus war im Kern ein Ort für das Bürgertum, auch wenn die Chance auf Teilhabe
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erste mentale Breschen in die Klassengesellschaft schlug. Nicht von ungefähr errichteten Konsumgenossenschaften von Arbeitern schon vor dem Ersten Weltkrieg »Warenhäuser«. Vor allem in Großbritannien konkurrierten sie erfolgreich mit den privatwirtschaftlichen Unternehmern. Soziale Unterschiede lassen sich am Berliner Beispiel gut aufzeigen: Hier gab es eben nicht nur die um 1900 errichteten Haupthäuser in der Leipziger Straße. Jandorf galt als das »Warenhaus des kleinen Mannes«, Hermann Tietz bot teurere Waren für den Mittelstand, Wertheim dagegen Luxusgüter an. Während in der Leipziger Straße Pferdefuhrwerke und erste AUTOS des Großbürgertums vorfuhren, wiesen die lokalen Filialen andere Käuferprofile auf. Die frühen Wertheim-Häuser in der Rosenthaler Straße und der Oranienstraße richteten sich eher an kleinbürgerliche Konsumenten, die Filialen in der Königstraße und am Moritzplatz zielten auf das zahlungskräftigere Bürgertum. Stärker emanzipatorische Auswirkungen besaß das Warenhaus unter geschlechterhistorischen Aspekten. Es gab deutlich mehr Käuferinnen als Käufer. Warenhäuser bildeten öffentliche Räume, in denen sich Frauen auch ohne männliche Begleitung bewegen konnten. Mochte der Einkauf auch im Mittelpunkt stehen, so nahmen insbesondere bürgerliche Frauen doch zugleich immer stärker an kommerziellen Freizeitaktivitäten teil – das Londoner Westend ist hierfür ein gutes Beispiel (Rappaport 1996). Frauen stärkten mittels der großen Häuser ihre tradierte Rolle als Konsumexpertinnen, die vor Ort den Wandel der Mode beobachteten, um das eigene Heim im Trend und mit Geschmack auszugestalten. Weil die Warenhäuser relativ preiswert waren, konnten Frauen ihre haushälterische Kompetenz unter Beweis stellen. So sehr damit auch bestehende Geschlechterstereotype und tradierte innerfamiliäre Arbeitsteilungen festgeschrieben wurden, bildeten die Warenhäuser doch zugleich einen wichtigen Arbeitsmarkt für junge, noch unverheiratete Frauen. Die Integration in die moderne Arbeitsgesellschaft lief im Kleinbürgertum weniger über Amt und Fließband denn über die strikte hierarchische Betriebsorganisation der modernen Verkaufsmaschinerien (ARBEITSAMT, STAHLWERK). Als Ort des Verkaufs wies das Warenhaus aber zugleich über den eigenen Standort hinaus. Das galt weniger für die vielfach übliche Expeditionsstelle, deren Aufgabe es war, den Käufern gekaufte Waren ins Haus zu schicken. Das Angebot der Warenhäuser wurde zudem über Kataloge hinaus ins Umland und bis aufs Land getragen – eine für Kontinentaleuropa übliche Entwicklung, während insbesondere in den USA Spezialversender den Markt beherrschten. Trotz intensiver Konkurrenz durch Fabrikversender, Kaufhäuser, Berufs- und Branchenversandgeschäfte – wie das Warenhaus für deutsche Beamte oder auch für Armee und Marine – oder durch Anbieter ländlicher Produkte und größere AGRARBETRIEBE gelang es den Warenhäusern, beträchtliche Marktanteile zu erobern und Kataloge mit Millionenauflagen zu verbreiten. Die betriebswirtschaftlichen Vorteile waren immens, Saisonwaren konnten so auch nach der Saison abgesetzt, die Schwankungen des Ortsgeschäfts ausgeglichen, die Auslastung des Personals optimiert werden. Stadt und Land rückten so näher zusammen, kommerzielle Träume einten tendenziell Bürger- und Bauerntum, so unterschiedlich die erstrebten Gegenstände auch sein mochten.
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Das Warenhaus war nicht nur Kauf-, sondern auch Wirtschaftsraum. Seine Binnenstruktur spiegelte den sozialen Wandel der Moderne wider. Die Zahl der Beschäftigten ging in allen Metropolen in die Tausende, eine Armee der Verkäuferinnen und Näherinnen, der Einkäufer und Abteilungsleiter. Zeitgenössisch galten sie als etwas Neues, als »neuer Mittelstand«. Die Angestellten waren Vorreiter eigenständiger Lebens- und Konsumstile, die fest in der Konsumgesellschaft integriert waren, die Werbung und Kommerz zu schätzen wussten und eine neue Freizeitkultur trugen. Längerfristig höhlte diese ausgefächerte Konsumkultur die Stellung der Warenhäuser vor dem Ersten Weltkrieg aus, indem Angebote und Betriebsformen vielfältiger wurden. Innerhalb des Betriebs war das Regiment hart: »Mit sentimentaler Rücksichtnahme und weichlicher Nachgiebigkeit kann man nicht Tausende von Angestellten dirigieren« (Colze o. J., 34). Die Fluktuation war insbesondere bei den Verkäuferinnen beträchtlich, die Arbeitsregulierung immens: »Der einzelne ist eine Nummer, die an ihren Platz gestellt wird und dort ihre Arbeit zu verrichten hat, ein kleines Rädchen in dem großen Riesenmechanismus, das, wenn es unbrauchbar wird, durch ein neues ersetzt wird, um den Gang des Ganzen nicht zu hemmen« (ebenda, 31). Die Arbeitskräfte und die Abläufe ihrer Arbeit zu koordinieren, war ein zentrales Problem gerade größerer Häuser; die Reibungsverluste waren beträchtlich. Auf der einen Seite erforderte der Betrieb aufmerksame und kompetente Bedienung, andererseits waren hohe Grundlöhne angesichts der Fluktuation des Personals nur begrenzt sinnvoll. Die führenden Unternehmen reagierten mit Umsatzbeteiligungen, freiwillig gewährten Sozialleistungen, Angeboten für Fortbildung und realen Aufstiegschancen – einer Mischung, die für eine moderne Unternehmenskultur typisch wurde. Im Warenhaus fand offenkundig ein sozialpolitischer Lernprozess statt, der sich auch in der immer stärkeren Bedeutung von Branchengewerkschaften niederschlug. Wie kaum ein anderer Ort der Moderne bildete das Warenhaus einen Imaginationsraum, in dem die Szenarien der Konsumgesellschaft durchgespielt wurden. Die positive, verheißungsvolle Perspektive einer Gesellschaft der Fülle, ohne Not und Enge wurde häufig beschworen, ohne explizit angesprochen zu werden. Die Ästhetisierung des Warenhauses und seines Interieurs sowie die den Innenraum prägende Kraft der ehedem nach außen dominierenden Schaufenster mündeten in fordistische Ideale einer rational organisierten Konsumgesellschaft ohne tief greifende soziale Konflikte. Die Utopie des Golden Age of Capitalism, die in den fünfziger und sechziger Jahren Realität werden sollte, fand im Warenhaus ihren kommerziellen, in der noch aufstrebenden Konsumgenossenschaftsbewegung ihren egalitär-solidarischen Ausdruck. Doch die Symbolwelt des Warenhauses umfasste mehr. Sie bündelte insbesondere Negativszenarien, in denen sich Ängste vor der neuen, kommerzialisierten Zeit äußerten. Die Ansammlung großer Menschenmengen an einem Ort barg neue Gefahren, derer sich die Zeitgenossen angesichts von Warenhausbränden wieder und wieder gewahr wurden. »Ihr Handwerker, Ihr Kaufleute, Ihr Landwirte [...] haltet
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Eure Frauen und Töchter ab hinzugehen, auch schon deshalb, daß Ihr sie nicht eines Tages vom Feuer gebraten [...] wieder erhaltet« (Suchsland 1904, 30). Die gefeierte Technik ummantelter Stahlkonstruktionen erwies sich als hitzeanfällig und wurde erst durch den Einsatz verbesserter Baustoffe, Sprinkleranlagen, Rauchmelder sowie durch rigide Brandschutzbestimmungen minimiert, nachdem auch in Deutschland Warenhäuser in Braunschweig, Rixdorf und Oberhausen zu Asche zerstoben waren. Jeder Brand, insbesondere aber die Katastrophe im Budapester Warenhaus Goldberg 1896, erschien vielen Zeitgenossen als Fanal für die Gefährdungen einer neuen kommerziellen Zeit, für die Abkehr von einer überchaubaren Welt von Treu und Glauben. Während die Feuergefahr periodisch aufflackerte, bildete der »Warenhausdiebstahl« – so die Bezeichnung einer bis heute gültigen Kategorie der Kriminalstatistik – ein kontinuierliches Phänomen, das auf Publikum, Psychologen und Kriminologen einen steten, aber immer wieder anders gedeuteten Reiz ausübte (Spiekermann 1999a). Früh schon wurde der Diebstahl zahlreicher bürgerlicher Frauen in den viktorianischen Kaufhäusern thematisiert und als Menetekel einer untergehenden bürgerlichen Welt diskutiert. Breiter rezipiert wurden jedoch die wiederholten Diebstähle in den Pariser Magasins. Seit den 1880er Jahren drangen ihre Nachrichten in die Publikumszeitschriften des Deutschen Reiches und das Fachschrifttum seiner Psychologen (Dubuisson 1904; O’Brien 1983). Noch konnten diese Entwicklungen auf die Verführungskünste der Franzosen projiziert werden, noch führten Psychologen derartige Abweichungen auf die besondere Reizbarkeit französischer Frauen zurück. Das änderte sich seit 1898, als der Warenhausdiebstahl auch in Deutschland zunehmend wahrgenommen wurde. Das Warenhaus schien zum Ort der alltäglichen Verführung, des alltäglichen Verbrechens zu werden. Hier galt es einen Kampf gegen entsittlichende Einflüsse amerikanischer Gerissenheit und französischer Falschheit zu führen. Mittelständische Kritiker sahen den Kampf gegen den modernen Massenkonsum als Kampf für ein patriarchalisches »ächtes« Deutschtum. Schließlich fielen vornehmlich bürgerliche Frauen den unsittlichen Angeboten zum Opfer, wurde deren vermeintliche geistige Minderwertigkeit von männlichen Psychologen begutachtet und bestätigt (König 2000). Das Warenhaus galt ihnen als Ort ständiger Sexualisierung; Begehren und Verführung gingen nicht allein von Waren aus. Erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde der Warenhausdiebstahl seiner Symbolkraft entkleidet: Angesichts sozial differenzierter Statistiken schwand die Sonderrolle der bürgerlichen Frau und der »Ladendiebstahl« der unteren Schichten entwickelte sich. Die tiefgreifendste Wirkung erzielte das Warenhaus jedoch im Mittelstand selbst. Die scheinbare Verdrängung der kleinen selbständigen Geschäfte durch die geballte Kraft des modernen Kapitals legte deren Ängste vor sozialem Niedergang, vor einer Zersetzung der alten Gesellschaftsordnung offen. Der Mittelstand galt als Stütze von Thron und Altar, von Familie und Anstand, als letzte Klippe gegen die anstürmenden Wogen eines überbordenden Kapitalismus, dessen Ziel es zu sein schien, »den gesammten Detailhandel dereinst in den Händen der Judenschaft zu
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monopolisieren« (Grävell 1899, 10). Gegen die Kauf- und Warenhäuser wurden in Europa und den USA seit den 1880er Jahren Sondergewerbesteuern erlassen, die als Teil eines Kampfs gegen die »gelbe Internationale« galten. Wie präsent diese Wahrnehmungen blieben, obwohl sie ihren Höhepunkt schon zur Zeit der Jahrhundertwende erreichten, zeigte sich im Wiederaufkommen der Diskussion um Sondersteuern während der Weltwirtschaftskrise, in der systematischen Behinderung des Warenhausbetriebs in der Frühphase des NS-Regimes und mit den umfassenden Arisierungen, durch die manch bundesdeutscher Warenhauskönig seine unternehmerische Basis gewann.
III. Netzwerke des Konsums, Netzwerke der Moderne Indem das Warenhaus zentrale Entwicklungen der klassischen Moderne bündelte, stand es mit zahlreichen anderen ihrer Orte in enger Beziehung. Die Warenbeschaffung umfasste nicht allein eine zunehmend abhängige Industrie, sondern auch leistungsfähige AGRARBETRIEBE, durch die Innovationen wie Tomaten oder preiswerte Obst- und Gemüsekonserven erst einen Markt fanden. Seine Betriebsstruktur wies Ähnlichkeiten mit der bürokratischen Organisation des Amtes und mit der rationalen Struktur des Fließbands auf (ARBEITSAMT, STAHLWERK). Das Raumkonzept der Warenhäuser war originär, doch an Orten des transitorischen Übergangs wie dem GRANDHOTEL oder aber dem BAHNHOF fanden sich vergleichbare Einzelelemente von Raumgrößen und Raumausstattungen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg war es vor allem der Einsatz von Elektrizität und Gas, von Kraft, Licht und Kälte, der Konsumenten, Ingenieure und Architekten gleichermaßen beeindruckte. In den späten zwanziger Jahren, als ihr Anteil am Einzelhandel auf vier Prozent anstieg (in den USA waren es 15 Prozent), erlebten die Warenhäuser eine neuerliche Blüte, die sich in Bauten im Stil der Neuen Sachlichkeit oder des International Style niederschlug. Explizit wurden die Verkaufsmaschinerien nun als Ausdruck modernen Lebens verstanden und gebaut. Neben den Filialen der Firma Schocken drückte vor allem der 1929 errichtete Karstadt-Bau am Berliner Hermannplatz diesen Gestaltungswillen aus (Stürzebecher 1979, 41f.). Die beiden zentralen Türme erinnerten an Wolkenkratzer und überragten mit 57 Metern die umgebenden Bauten beträchtlich (HOCHHAUS). Das Warenhaus erhielt eine eigene U-Bahn-Station, 24 Rolltreppen führten die Konsumenten in den Gebäudekomplex, dessen Nutzfläche 72.000 Quadratmeter erreichte. Der Stahlbetonskelettbau wies drei große Lichthöfe auf, doch in Fach- wie Publikumszeitschriften wurde noch stärker die dem Kunden verborgene Technik gefeiert: Sprinkler-, Kühl-, Heiz-, Telefon- und Radioanlagen prägten den Bau. Sie ließen den Mythos einer stetigen, untergründigen Warenversorgung aufkeimen (Bartosz 1929; Freundlich 1931) – ehe der Karstadt-Konzern nicht zuletzt wegen dieses Baus fast bankrott gegangen wäre. Warenhäuser standen im Mittelpunkt von Informations- und Versorgungsstrukturen, TELEFONZENTRALEN waren für die großen Häuser üblich. Die täg-
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lichen Konferenzen, in denen Einkäufer Preisdaten und Wissen im Sinne des Betriebes verarbeiteten, erinnern in Form und Struktur an die ZEITUNGSREDAKTIONEN und deren Tätigkeit. Untergründig präsent blieb stets die Börse, ohne deren Kapitalkraft moderne Großbetriebe nicht denkbar sind, die zugleich aber neue kommerzielle Abhängigkeiten für die Warenhäuser bedeuteten. Diese selbst bildeten Vergnügungsparks der besonderen Art, verknüpften Einkauf und Freizeit in Richtung moderner Konsumstile. Warenhäuser verbanden Stadt und Land, City und Stadtrandsiedlung. Als Ausdruck und Symbol der modernen Konsumgesellschaft bildeten die Warenhäuser einen Ort, an dem modernes Wirtschaften greifbar und sinnlich erfahrbar wurde. Ohne den Kreislauf von Geld und Geschäft war und ist kein Ort der Moderne denkbar.
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Das Völkerkundemuseum Anja Laukötter I. Das Königliche Museum für Völkerkunde in Berlin, 1886 1886 erhielt das Berliner Museum für Völkerkunde endlich sein eigenes Domizil. Schon 13 Jahre zuvor war die seit 1830 bestehende ethnographische Abteilung der Kunstsammlungen der Königlich Preußischen Museen in ein eigenständiges Museum umgewandelt worden (Westphal-Hellbusch 1973, 6ff.). Nun konnte es in einen monumentalen Bau an der Ecke Königgrätzer und Prinz-Albrecht-Straße umziehen (Essner 1986, 65ff.). Er lag in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kunstgewerbemuseum, dem heutigen Martin-Gropius-Bau, und zum Preußischen Landtag, zudem nicht weit entfernt vom Reichstag und bedeutenden Geschäftsvierteln der Stadt. Für Spaziergänger, Pferdekutschen und mit den Straßenbahnlinien 1 und 28 war das größte und bedeutendste Völkerkundemuseum Deutschlands nun gut erreichbar.
15. Museum für Völkerkunde Berlin in der Königgrätzerstr. 120, 1905 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden in einer Gründungswelle zahlreiche Museen für Völkerkunde in Deutschland, so auch in Hamburg, Leipzig, Dresden, München und Köln. Dabei übernahm das Berliner Völkerkundemuseum aufgrund seiner beträchtlichen Sammlungsbestände national wie international eine dauerhafte Vorreiterfunktion. Andere, vom Umfang her mit Berlin vergleichbare
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ethnographische Sammlungen erhielten erst nach 1900 monumentale Neubauten in zentraler Lage: In Hamburg wurde das neue Museum für Völkerkunde in der Rothenbaumchaussee 1912, in Leipzig das neue Grassimuseum am Johannisplatz erst 1927 eröffnet. Diese Museumsbauten waren finanziell sehr aufwändige Projekte. In der jahrelangen Planungszeit diskutierten die Museumsdirektoren die innere und äußere Gestaltung des Gebäudes wieder und wieder mit ihren Sponsoren. Alle um die Jahrhundertwende verwirklichten völkerkundlichen Museumsbauten wiesen eine ähnliche äußere Struktur auf: Säulen an der Außenfassade, die das Monumentale des Baus unterstrichen; große Fenster zur verbesserten Lichtnutzung; zum Haupteingang führende Treppen, die den Besucher bereits durch die physische Anstrengung des Aufstiegs auf das zu erwartende Museumsereignis einstimmen sollten; mit mehreren Eingängen signalisierte das Gebäude, einer großen Besucherschar Einlass gewähren zu können. Auch die innere Ausgestaltung der Museumsbauten variierte einen Typus: Im Eingangssaal befanden sich als besonders wertvoll deklarierte Ausstellungsgegenstände, die das Publikum bezaubern sollten und Bewunderung verlangten. Von hier versuchten lange und breite Treppen dem Besucher ein majestätisches Raumgefühl zu vermitteln und nötigten ihn zugleich zum ungesicherten Gleichgewichthalten. Über diese gelangte er in die einzelnen Stockwerke des Gebäudes und zu den jeweiligen Ausstellungsräumen, weiten Sälen, die zunächst nur nach einem geographischen Prinzip aufgeteilt waren. Zahlreiche Vitrinen boten sich den umherschweifenden Besuchern als durchsichtige Gehäuse für unzählbar viele völkerkundliche Gegenstände dar: Ethnographica, die der Museumsdirektor nach für den Laien kaum durchschaubaren Kriterien jeweils als repräsentativ für die auszustellende Region auserkoren hatte.
II. Museumsraum und musealer Alltag Die ersten völkerkundlichen Privatsammlungen entstanden schon im 17. Jahrhundert. Wie die Bestände fürstlicher Kuriositätenkabinette waren sie oftmals die Basis für die Gründung von Völkerkundemuseen. So ging der Grundstock des 1873 gegründeten Leipziger Völkerkundemuseums auf die Privatsammlung des Dresdner Bibliothekars Gustav Klemm zurück (Zwernemann 1997, 28); in Berlin kam der Großteil der ersten ethnographischen Objekte aus einer fürstlichen Kunstkammer (Hog 1981, 9f.). Andere völkerkundliche Sammlungen entstanden als Abteilungen in Museen, die zunächst nicht über derartige Objekte verfügten. So sind in Hamburg die ersten ethnographischen Bestände ab 1849 nachweisbar. Bis zur Übernahme durch den naturwissenschaftlichen Museumsverein 1867 befanden sie sich im Besitz der Stadtbibliothek, um 1879 dann den Grundbestand des neuen Museums für Völkerkunde unter der Verwaltung des Hamburger Senats zu bilden (Zwernemann 1984, 8).
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Die Exponate der Völkerkundemuseen waren und blieben in ihrer Hochzeit bis zum Zweiten Weltkrieg meist Gebrauchsgegenstände wie Kleidung, Schmuck, Werkzeug, Kriegs- und Jagdgeräte. Euphorisch beschrieb der Berliner Museumsführer von 1918 afrikanische Ethnographica: »Neben vielem Gemeinsamen [...] haben alle diese Völkerschaften ihre Besonderheiten, die im Charakter des Kulturbesitzes trefflich zum Ausdruck gelangen. Besonders bemerkenswert sind: [...] die überaus elegant und kunstreich gearbeiteten Messer, Äxte und Speere [...]; schön geschnitzte Trinkbecher (z. T. in Form menschlicher Köpfe) und andere Gefäße aus Holz; hölzerne Tabakspfeifen mit Knochenmundstück; reich ornamentierte Trinkhörner aus Büffelhorn und Nachahmungen von solchen aus Holz; Schwerter und Dolche in verschiedenen Formen; prachtvolle Plüschgewebe aus der Faser der Raphiapalme« (Führer 1918, 54f.). In ihrer Anfangszeit waren die Museen noch unsystematisch aufgeteilt; eine Methode lässt sich erst um die Jahrhundertwende erkennen. In dieser Zeit professionalisierte sich die Völkerkunde als wissenschaftliches Fach ebenso wie die Arbeit der Völkerkundemuseen, nun meist geleitet von Nachfolgern der Gründungsdirektoren. Die Museen erhielten Abteilungen, die einem Kontinent oder einer kleineren festgelegten »geographischen Einheit« wie Indonesien oder China gewidmet waren. Die Gliederung der Museen folgte damit dem Prinzip der Herkunft, das allenfalls aus Raumnot zeitweise aufgegeben wurde und zur Zusammenlegung von Sektionen führte. »Europa« wurde dabei zumeist ausgespart; einheimische Folklore wurde in den örtlich und organisatorisch eigenständigen Volkskundemuseen dargestellt. Nur einzelne Völkerkundemuseen, wie das in Hamburg unter der Direktion von Georg Thilenius, richteten zeitweise eine entsprechende Abteilung ein. Begründet wurde dieser Ausschluss des »eigenen« Kontinents zum Beispiel in Berlin mit dem zentralen Forschungsgegenstand der Völkerkundemuseen: »Primitive« fänden sich nur außerhalb Europas (Führer 1881, 3f.). Außerdem wurden »prähistorische« Abteilungen zur steinzeitlichen »Vorgeschichte der Menschen« eingerichtet und seit der Jahrhundertwende kamen zunehmend »vergleichende Abteilungen« hinzu, in denen thematisch sortierte Ausstellungsstücke verschiedener Kulturen gezeigt wurden. Schließlich entstanden »anthropologische Abteilungen« mit Skeletten und Schädeln, die in der Weimarer Republik dann auch unter »rassekundlichen« Gesichtspunkten organisiert wurden. Erklärtes Ziel der Ausstellungen war es stets, die Ursprünge der Menschheit und die Lebensweise der vorgestellten »Kultur« in ihrer Eigenart und Komplexität verständlich zu machen. Die ausgestellten Gegenstände sollten einen Überblick über die Vielfalt »fremder«, meist außereuropäischer »Völker« oder »Kulturen« geben – die Begriffe wurden synonym verwandt. Völkerkundemuseen wollten und konnten keine »Völker« zeigen, sondern nur Repräsentationen ihrer kulturellen Ausdrucksformen (Köstering 2003, 17). Die Besucher sollten mehrere »Kulturen« vergleichen können und sich durch die Darbietung »anderer Lebensformen« auch mit der eigenen »Kultur« auseinandersetzen. Bereits 1906 erkannte der Völkerkundler Oswald
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Richter: »Das Studium der heutigen sogenannten ›Naturvölker‹ leitet [...] in einer ähnlichen Weise zum Verständnis der Gegenwart an wie das Studium der Vergangenheit« (Richter 1906, 202ff.). Die um die Jahrhundertwende gegründeten Völkerkundemuseen mussten außergewöhnlich schnell vergrößert werden, weil die vielen Sammlungseingänge immer mehr Raum beanspruchten; sie wurden rasch zum wichtigen Bestandteil der jeweiligen Stadtlandschaft. Sie standen damit im Trend der Institutionalisierung von Museen aller Art, von Kunsthallen und Zoologischen Gärten. Dieser Gründungsboom von öffentlichen Ausstellungsorten war eng mit der Ausbreitung des großstädtischen Bürgertums im Zuge der Urbanisierung verbunden. Mit ihr lässt sich die Entstehung des Völkerkundemuseums aber nur teilweise erklären. Eine wichtige Rolle spielte der im internationalen Vergleich bescheidene, aber dennoch auch Deutschland prägende Kolonialismus. Als Bismarck seine »kolonialabstinente Haltung« (Gründer 1999, 93) aufgab, erkämpfte sich das deutsche Reich ab 1884 sehr schnell »Schutzgebiete« in Afrika (»Deutsch-Südwest«, Togo, Kamerun, »Deutsch-Ostafrika«), in der Südsee (»Deutsch-Neuguinea«) sowie einige Südseeinseln (wie »Deutsch-Samoa«) und das »Pachtgebiet« Kiautschou in China. Das neue Kolonialreich war zwar nicht mit dem Kolonialbesitz der Großmächte England, Russland und Frankreich vergleichbar, aber immerhin sechsmal so groß wie das Deutsche Reich. Feldforscher hatten in diesen Kolonialgebieten nun bessere Arbeitsbedingungen, was auch hieß, rücksichtsloser auf völkerkundliche Gegenstände zugreifen zu können. Die jetzt zahlreich ausgesandten Expeditionen sollten neben dem Erwerb von Gegenständen auch die »Einheimischen« fotografieren und vermessen sowie Notizen über ihre »Kultur« anfertigen. Durch den Expeditionsreisenden und Völkerkundler Karl von den Steinen in den 1890er Jahren angeregt, kamen dann vor allem nach dem Ersten Weltkrieg die »teilnehmende Beobachtung« und das Interview hinzu, die später zu bevorzugten Arbeitsweisen der Ethnologen aufstiegen (Hermannstädter 2002, 83ff.). Auch der Staat finanzierte um die Jahrhundertwende verstärkt ethnographische Unternehmungen mit. Entsprechend verzeichneten die Völkerkundemuseen eine Hochkonjunktur in der Vermehrung ihrer Sammlungsgegenstände und der Erforschung »fremder Völker« (Hog 1981, 11). Allerdings wäre es zu einfach, ihre Erfolgsgeschichte ausschließlich als Resultat des deutschen Kolonialismus, einer »Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven« (Osterhammel 2001, 21), zu sehen, sie aus nationalistischen Aspirationen zu erklären oder als musealisierte Kolonialpropaganda zu interpretieren (Penny 2002, 176f.). Die ersten Völkerkundemuseen etablierten sich bereits vor der deutschen Kolonialzeit und ihre Gründer äußerten sich zwar zum Teil opportun zur Kolonialpolitik, aber selten nationalistisch. Die Entstehung der Völkerkundemuseen erklärt sich vielmehr über ein spezifisches Bedürfnis, das sich durch die Herausforderungen der »Moderne« ergab. Die soziale und ökonomische Umbruchsituation war nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet, dass die fremde Welt näher rückte: Auf Welt- und Kolonialausstellungen wurden mit großem Erfolg Menschen aus fernen Ländern exponiert, im Berliner
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Wachsfigurenkabinett »Castan’s Panoptikum« waren ab 1873 neben Embryonen und Missbildungen auch »Wilde« zu sehen, die später in Hagenbecks Völkerschauen innerhalb von Zoos ihre Lebensweise nachspielen sollten (Staehelin 1993, 26ff.; Thode-Arora 1989, 133; Eissenberger 1996). In diesem Rahmen versprach das Völkerkundemuseum, sich den »neuentdeckten« Räumen und ihren Völkern ausdrücklich wissenschaftlich zu widmen. Entsprechend deklassierten die Direktoren der Völkerkundemuseen Hagenbecks Völkerschauen auch gerne als populistische Veranstaltungen, obwohl dort verwendete Gegenstände später in den Bestand der Völkerkundemuseen eingingen (Thode-Arora 1989, 133). Das Völkerkundemuseum präsentierte sich als wissenschaftliche und damit »wahre« Ordnungsinstanz für die Welt und befriedigte damit ein Bedürfnis nach kultureller Deutung der »Schöpfung«. Dieser Anspruch beeinflusste die Raumvorstellungen der Museums-»Architekten«. Während die Gründer der Völkerkundemuseen sich über die Organisation des Museumsraums kaum programmatisch geäußert hatten, änderte sich dies um die Jahrhundertwende mit der zweiten Generation der Museumsdirektoren. Ihr Bemühen, die Völkerkundemuseen zu optimieren, war nicht zuletzt von dem Wunsch getragen, die Besucherzahlen zu erhöhen. Denn die Völkerkundler sahen ihr Museum zunehmend als eine Institution mit »volksbildendem« Charakter für alle sozialen Schichten. Außerdem verwiesen Direktoren auf steigende Besucherzahlen, wenn sie über städtische und staatliche Zuschüsse verhandelten. Durch Führungen und Vorträge für Schulklassen und Arbeiter eine neue Klientel an das Museum zu binden, blieb allerdings noch ohne erkennbaren Erfolg. Mit der »Entdeckung der Besucher« entwickelte sich ein ausgeprägtes Bewusstsein für den Museumsstandort. Im Berliner Abgeordnetenhaus kam es zu einer ausführlichen Debatte um die Errichtung eines neuen Gebäudes in Dahlem, einem damaligen Vorort von Berlin. Solch eine Verlegung vom Zentrum über den Stadtrand hinaus, argumentierten mehrere Politiker, komme seiner Marginalisierung gleich (Geheimes Staatsarchiv 1904, 241). Auch wurde nun über die Wirkung des Museumsraums auf das Publikum nachgedacht. Der Hamburger Museumsdirektor Georg Thilenius setzte sich 1910 in einem Brief an den Hamburger Senator zum geplanten Neubau für eine »eigenartige und reichere dekorative Ausführung« des Mittelbaus ein. Gegenüber dem architektonischen Prinzip einer »harmonischen Ausstattung« räumte er der psychologischen Aufgabe Priorität ein, »den Besuchern, die in das Museum eintreten, die Absonderung zum Bewußtsein [zu] bringen und ihre Stimmung durch Material und Farbe der Eingangsräume günstig für die Aufnahme der ausgestellten Sammlungen [zu] beeinflussen. Ein neues Museum, das auf diese Gesichtspunkte keine Rücksicht nehmen wollte, würde sich einer wenig freundlichen Kritik aussetzen, zumal wenn es nicht die Möglichkeit hat, durch den künstlerischen Wert seiner Sammlungen zu wirken, sondern vor der Aufgabe steht, dem Beschauer fremdartige, im europäischen Sinne gelegentlich unkünstlerische und häßliche Gegenstände nahezubringen« (Staatsarchiv Hamburg 1910, 3f.). Vor allem Eingangshalle und Mittelbau
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sollten, wie Thilenius schrieb, beim Besucher eine »Absonderung zum Bewußtsein« hervorrufen, um ihn von der (europäischen) Außenwelt in die (außereuropäischen) Ausstellungswelten zu überführen. Dieser räumlich verortete Übergang entspricht dem »KINO-Moment«, dem Zeitpunkt der Verdunkelung des Raums und des Filmbeginns, des Übergangs von der »realen« zur »fiktionalen« Welt. Seit der Jahrhundertwende bezogen die Museumsmacher das Gebäude, den Eingangsraum, die Ausstellungshalle und die Vitrinen in die Inszenierung der Ethnographica ein: Sie erklärten das Völkerkundemuseum zum Gesamtkunstwerk. Bis dahin hatten die Sammlungen vor allem als Aufbewahrungsort ethnologischer Gegenstände von »außereuropäischen Kulturen« gedient, deren Untergang durch die »Europäisierung« drohte (Vogel/Thilenius 1911, VIII). Sie wurden wie selbstverständlich ausgestellt. Nun sollte laut Thilenius ein »modernes Museum« die Psyche des Publikums auf eine bestimmte Wahrnehmung der Ausstellung vorbereiten. Somit wurde der gebaute Raum Ausdruck und »zugleich Akteur im Prozess der Strukturierung von Menschen, Institutionen und Wissen« (Köstering 2003, 6). Damit das »Gesamtkunstwerk Museum« wirklich funktionierte, wurde es als Ort der Wissenschaft ausgewiesen. Das wird durch den Weg der Objekte in die Ausstellungen anschaulich. Deren Musealisierung vollzog sich in drei Schritten: Zunächst wurden die Gegenstände ihrem ursprünglichen Kontext entnommen, dadurch ihrer Funktion beraubt und damit entzeitlicht und enträumlicht. Mittels ihrer Neudeklaration und Einfügung in ein museales Regelwerk innerhalb der Völkerkundemuseen wurden die Objekte dann einer »semantischen Veränderung« unterworfen: Sie wurden Teil einer neuen Umgebung und Nachbarn anderer Objekte. Aus ihrem eigentlichen Symbol- und Funktionszusammenhang entrückt, bedurften sie nun der Erläuterung und Interpretation (Sturm 1991, 42). Im dritten Akt wurde das Objekt durch den spezifischen Blick der Besucher, die »Gebärde der Besichtigung« (Horst Rumpf) endgültig musealisiert. Diese Schritte – vom Sammeln, Benennen und archivalischen Systematisieren bis hin zur Ausstellung – garantierten nicht nur die Bedeutung und Authentizität der völkerkundlichen Sammlungen (Jenkins 1994, 255). Vielmehr wurden die Objekte durch diesen Prozess erst zu Ethnographica gemacht: Ordinäre Dinge, wie ein Kochtopf oder eine Suppenkelle, erhielten durch ihre Ausstellung, die erst durch die Betrachtung ihren Sinn erfüllte, eine exklusive Aura. Doch die Völkerkundemuseen erschufen nicht nur ihre völkerkundlichen Gegenstände, sondern lieferten in Rückgriff auf die sich etablierende wissenschaftliche Disziplin der Völkerkunde ihre eigene Daseinsberechtigung gleich mit (Kirshenblatt-Gimblett 1991, 410, 387f.). Sie stellten der Öffentlichkeit eine Unmenge an »neuem Wissen« zur Verfügung und generierten dadurch neue »Experten«, die dieses »Wissen« wiederum sammelten, interpretierten, organisierten und ausstellten. Die Besucher sollten diesem Wissen mit Ehrfurcht gegenübertreten. »Ein gesellschaftlich genau festgelegter Kanon bestimmt, wie man sich zu bewegen hat, in welcher Form man sich dem Objekt nähern soll, wie laut man sich verhalten darf, in welcher Reihenfolge der Museumsbesuch vonstatten gehen soll« (Sturm 1991,
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108f.). In diesem Zusammenhang sei auf die Kleidervorgaben für die Besucher verwiesen: Wie der »Sonntagsanzug« beim Kirchbesuch, so wurde von den Museumsbesuchern »ordentliche Kleidung« erwartet. Durch die Einhaltung der Kleiderordnung sollte das Publikum seine Wertschätzung und seine Demut gegenüber dem Museum ausdrücken – dies ist nur ein Beispiel für die Nähe der Museen zu sakralen Orten. Zugleich sollte durch die Kleidung auch eine eindeutige Trennung zwischen Alltag und Museumsbesuch gezogen werden, die den Besucher für das erwünschte Verhalten sensibilisierte. Auch der Einlass von Kindern war nicht unstrittig: Um 1900 beschwerten sich Besucher des Berliner Museums über deren mangelnde Disziplin; sie sahen sich in ihrem Museumsvergnügen behindert (Penny 2002, 141f.). Die vorgegebenen Verhaltenscodes waren von den Besuchern offenbar so weit verinnerlicht worden, dass sie Missachtungen sanktioniert sehen wollten. Doch welche Auswirkungen hatten die, um bei Thilenius zu bleiben, »fremdartigen« und »gelegentlich unkünstlerischen und häßlichen«, aber wissenschaftlich legitimierten Gegenstände der Ausstellungen auf das Publikum? Wozu diente die wissenschaftliche Legitimierung? Durch den selbst gestellten Anspruch der Völkerkundemuseen, die »Kultur« der »Völker« der Welt, jedoch primär der außereuropäischen »fremden Völker«, durch Gegenstände abbildbar zu machen, institutionalisierte das Museum die Begegnung mit dem »Anderen«: Es war ein Ort, an dem die Wahrnehmung von Differenz und der »Kulturvergleich« eingeübt wurden. Es trainierte eine spezifische Form des Sehens, die auf der Unterscheidung zwischen »Eigenem« und »Fremdem« beruhte. Damit knüpften die Völkerkundemuseen an soziale Praktiken des Sehens an, die bereits bei den äußerst beliebten Völkerschauen oder Castan’s Panoptikum ausgebildet worden waren. Um sich von solchen Veranstaltungen abzugrenzen, präsentierten Völkerkundler ihre »kolonialen Phantasien« (Kundrus 2003) in den Museen mit Hilfe der »wissenschaftlich« erfassten und dargebotenen ethnographischen Objekte. Im Völkerkundemuseum wurde die Welt nicht mehr nur nach unbestimmten Kriterien, sondern »wissenschaftlich«, also vermeintlich objektiv, imaginiert (Mitchell 2002, 156). Geprägt noch durch die Tradition der Reiseberichte seit dem 15. Jahrhundert war in der Entstehungsphase der Völkerkundemuseen – und weit über diese Zeit hinaus – die »Kultur« das distinktive Merkmal schlechthin gewesen. Museumsdirektoren und andere Völkerkundler bestätigten immer wieder gängige Unterscheidungen, indem sie von »Natur-« und »Kulturvölkern« sprachen. Während »Kulturvölker« mit Kategorien wie Rationalität, Bildung, technischem Fortschritt und »Zivilisation« identifiziert wurden, galten die »Naturvölker« als unfähig zur Reflexion, als kindisch, technisch unbegabt und »unzivilisiert«. Dass die Unterscheidungsmerkmale allerdings austauschbar waren, zeigte sich gegen Ende der Weimarer Republik, als in den völkerkundlichen Ausstellungen statt der »Kultur« zunehmend (rassen-)anthropologische Gesichtspunkte in den Vordergrund gerückt wurden. Durch Charles Darwins Evolutionstheorie und die Renaissance der Mendelschen Vererbungslehren erhielt das »rassisch« begründete Hegemonialdenken um 1900 eine neue »wissenschaftliche« Grundlage, von der sich auch die Völkerkundler und
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Anthropologen exaktere Beschreibungsmöglichkeiten des Menschen versprachen (El-Tayeb 2001, 18).
III. Das Völkerkundemuseum als Ort der Moderne Zwar haben Museen um 1900 generell von technischen Errungenschaften profitiert, etwa durch die Entwicklung neuer Museumsschränke, die eine verbesserte, besucherfreundlichere Präsentation ermöglichten. Doch sind Völkerkundemuseen weniger als Ergebnis technisch-medialer Revolutionen, sondern eher – wie das Fließband (STAHLWERK) oder der STRAND – aus neuen Raumordnungen entstanden. Sie teilten die Welt in »Kulturräume« auf, konkretisierten diese durch repräsentative Gegenstände und strukturierten damit die Vorstellungen von der Welt: Wie das RAUMSCHIFF den Weltraum denkbar machte, so ermöglichten die Völkerkundemuseen die imaginative Erschließung des Neuen, vor allem der kolonialen Gebiete. Sie reduzierten die Welt, indem sie die »Welt als Ausstellung« (Mitchell 2002, 148ff.) zusammenfassten. Gleichzeitig erweiterten sie den scheinbar erfahrbaren Raum nicht in technologischer Hinsicht wie das AUTO oder das FLUGZEUG, sondern auf der Ebene der Vorstellung: »Afrika«, so die Botschaft, wurde durch die Präsentation von Suppenlöffeln und Werkzeugen entzifferbar. Aufgrund seines wissenschaftlichen Ansatzes verstand sich das Museum als »Ort der Rationalität«, der aber gleichzeitig eine demokratische Institution mit einem spezifischen Bildungsauftrag sein sollte. Denn im Gegensatz zur Universität richtete sich das Museum an die »Masse« (Jenkins 1994, 245f.). Weil es ein Erfahrungsort des Massenkonsums sein sollte, wurde der Antagonismus von Wissenschaft und Massengesellschaft aufgehoben. Allerdings wollte das Völkerkundemuseum nie unterhalten wie das KINO oder das STADION. Im Gegenteil: Es kämpfte mit anderen »populären« Veranstaltungen wie Völkerschauen um die öffentliche Deutungshoheit, mit dem Ziel, den Besuchern kulturelle Deutungsangebote zu offerieren, die auch als »Macht der Wertung« (Bourdieu 1972, 149) bezeichnet werden können. Es garantierte der interessierten Öffentlichkeit, die es, ähnlich dem WARENHAUS, als Kunden sah, durch seine Ausstellungsgegenstände eine verdinglichte und dadurch sichtbare Wissenschaft. Wissenschaftliche Legitimität erhielten die Ausstellungsgegenstände in einem Prozess der Bewertung, Präparierung, Deklarierung und Systematisierung, der in den Arbeitsräumen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand und darin an das LABORATORIUM erinnert. Wie bei den Weltausstellungen erschienen die Repräsentationen wirklichkeitsnah, zugleich unterschieden sie sich aber von der Lebenswelt des Besuchers (Mitchell 2002, 156). Dieser konnte sich damit zu den »Anderen«, zum Beispiel den »Kaffern« und »Hottentotten« aus Afrika, in einer bestimmten Beziehung sehen und wurde in dieser Betrachtung nicht durch eine eventuell irritierende Darstellung der »eigenen« Kultur gestört – obwohl diese Beziehung gerade auf Differenz beruhte. So fungierten die Völkerkundemuseen nicht nur als Infor-
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mationsquellen über die »Welt dort draußen«, sondern waren zugleich Orte der wissenschaftlich abgesicherten Selbstvergewisserung. Mit dem Medium Film kamen dabei neue technische Möglichkeiten und veränderte Sehgewohnheiten ins Spiel. Vor allem in der Weimarer Republik bedienten sich einige Filmemacher gerne ethnographischer Objekte im Völkerkundemuseum, etwa um »Kultur«- oder Werbefilme für die Stadt Berlin zu drehen, die dann im KINO gezeigt wurden. Zudem setzten viele Völkerkundler bei ihren Expeditionen den Film als Bestandteil der wissenschaftlichen Erforschung ein. Sie brachten die »Kultur« in eine neue sichtbare Form, in der sie überprüfbar war und aufbewahrt werden konnte. War also das Völkerkundemuseum durch das Sammeln von Gegenständen oder durch das Filmen von »Kulturhandlungen« ein »Lebensretter« für die vom Untergang bedrohten Völker, wie Museumsdirektoren und Völkerkundler annahmen? Oder verkörpert die Völkerkunde vielmehr die »Kraft der Kulturvernichtung«, wie Jean Baudrillard meint, und waren die Völkerkundemuseen dementsprechend eher Orte des Vergessens als Orte des Erinnerns (Sturm 1991, 93)? Sicher erscheint, dass die Gebäude und Ausstellungen der modernen Völkerkundemuseen mindestens ebenso viel über die »Kultur« ihrer Gestalter erzählen wie die Ausstellungsobjekte über die »Kultur«, die sie repräsentieren sollen.
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Das Kino Daniel Morat I. In der Lichthöhle: Das »Union Theater Unter den Linden«, Berlin, 1910 Wer das 1910 eröffnete »Union Theater Unter den Linden« in Berlin durch den mit Reklameschrift geschmückten Eingang betrat, gelangte zunächst in das vornehm gestaltete Foyer mit Garderobe und mehreren Sitzgelegenheiten. Von hier führte eine breite Aufgangstreppe zu zwei verkleideten Türen, hinter denen sich der lang gestreckte, fensterlose Kinosaal befand. Dort boten fest und eng aufgestellte Stuhlreihen etwa 400 Sitzplätze. Sie sollten die Zuschauer auf das schmale Saalende ausrichten, an dem sich hinter einem Vorhang die Leinwand befand. Bei Vorstellungsbeginn wurden die elektrischen Kerzenleuchter gelöscht, der Vorhang wurde zurückgezogen und ein im Rücken der Zuschauer angebrachter Projektionsapparat warf in rascher Folge auf einem Zelluloidstreifen festgehaltene fotografische Bilder auf die Leinwand, die dort den optischen Eindruck einer kontinuierlichen Bewegung erzeugten. Nach der Vorstellung wurden der Vorhang wieder zugezogen und die Saalbeleuchtung eingeschaltet.
16. Zuschauerraum im »Union Theater Unter den Linden«, Berlin, 1914 Mit dieser räumlichen Anordnung und der Struktur des Vorstellungsverlaufs entsprach das Filmtheater »Unter den Linden« 1910 in seinen Grundzügen bereits der bis heute typischen Kinosituation. Das Kino ist als Ort darauf angelegt, zugleich Nicht-Ort zu sein, Zugangstor zu einer jenseits der Raumgrenzen liegenden Welt.
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Die Saalverkleidung schließt den Kinoraum von der Außenwelt ab, während die Leinwand ihn virtuell öffnet. Häufig gibt es zwei Türen oder Vorhänge, die als Schleuse zwischen Innen und Außen fungieren. Auch das Foyer mit Garderobe, Sitzgelegenheiten, Ausschank und Verkauf von Süßigkeiten ist eine solche Schleuse zwischen Straße und Kinosaal. Der Eintritt in den Vorführraum gewährt den Zutritt zu einem anderen Ort. Der archetypische Kinomoment ist der Augenblick zwischen Verlöschen der Saalbeleuchtung und Beginn der Leinwandprojektion. Dieser Augenblick des Dunkels und der Stille ist ein Moment des Übergangs, des Umschlags, in dem der reale Zuschauerraum vom aufbrechenden Bildraum überlagert und ausgefüllt wird: Die leibhafte Körperwelt wird zugunsten der virtuellen Bilderwelt zeitweilig aufgehoben. Das Ende der Vorführung ist zugleich eine Rückkehr aus diesen jenseitigen Bilderwelten.
II. Vom Kino der Attraktionen zum Kino der narrativen Integration Diese idealtypische Kinosituation hat sich allerdings erst im Laufe der Zeit als paradigmatische Anordnung des Filmschauens herausgebildet. In seinen Anfängen und in vielen seiner Erscheinungsformen war und ist das Kino wesentlich offener und durchlässiger gegenüber seiner Außenwelt und für alternative Aneignungspraktiken. Das »Union Theater Unter den Linden« markiert dabei in mehrfacher Hinsicht eine Übergangsphase: von den Ladenkinos und »Kintopps« zu den Saalkinos und luxuriösen Lichtspielhäusern, vom proletarischen und Jahrmarktskino zum bürgerlichgehobenen Lichtspieltheater, vom revueartigen Nummernprogramm zum narrativen Langfilm, vom Wildwuchs kleiner Kinounternehmen zur ökonomischen Konzentration in großen Konzernen. Denn seine Geschichte reicht bis zu den unmittelbaren Anfängen des Kinos zurück. Bereits 1896 entstand im selben Haus das erste Kinematographentheater Berlins, das in der Restauration Wilhelmshallen untergebrachte so genannte »Isolatograph«; das Haus hat alle wichtigen Stationen der Kinogeschichte erlebt. Als Geburtsstunde des Kinos gilt gemeinhin die öffentliche Filmvorführung der Brüder Louis und Auguste Lumière im »indischen Salon« des Grand Café in Paris am 28. Dezember 1895. Bereits sechs Monate zuvor hatten die Brüder Lumière ihren Film La sortie des usines Lumière in der Pariser Société d’Encouragement pour l’Industrie Nationale vor Wissenschaftlern gezeigt. Zusammen mit der Filmvorführung der Brüder Max und Emil Skladanowsky im Berliner Varieté Wintergarten am 1. November 1895 wird aber zu Recht die spätere Präsentation als eigentlicher Beginn des Kinos angesehen, da es sich hier um öffentliche Vorführungen vor zahlendem Publikum handelte. Erst hier kamen die unterschiedlichen Vorläufer der bewegten Fotografie, der Projektionskunst (Laterna Magica) und der Unterhaltungsbranche zum Kino zusammen. Auch Thomas A. Edisons 1894 eingeführter Kinetoskop kann daher noch nicht als Kino gelten. Denn in diesem Filmvorführgerät in
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Form eines Guckkastens konnte man die kurzen Filme nur je einzeln betrachten. Konstitutiv für das Kino ist aber die (Leinwand-)Projektion vor einem mehrköpfigen Publikum. Der Film selbst geht zwar auf wissenschaftliche Experimente zur fotografischen Erfassung, Speicherung und Wiedergabe von Bewegungsabläufen zurück, verdankt seine rasche Karriere als Massenmedium aber der populären Vergnügungskultur des späten 19. Jahrhunderts. Nach 1895 wurden Filme des Öfteren, wie im Berliner »Isolatograph«, in Gaststätten und eigens dafür angemieteten Nebenräumen gezeigt. Vorherrschend war allerdings das Wanderkino, das wechselnde Vorführorte vor allem auf Jahrmärkten und in Varietés fand. Besonders das Varieté mit seinem Nummernprinzip prägte das frühe Kino. So wurden Filmvorführungen häufig als Teil des Programms an die Bühnenvorstellung angehängt. Die frühen Filme zeigten aufgrund technischer Beschränkungen wie die Nummernrevuen nur kurze, unverbundene Szenen, darunter viele abgefilmte Varieténummern. Die Brüder Skladanowsky mussten jedoch bald erkennen, dass die bloße Verdoppelung des Varietéprogramms ihren Attraktionswert bald einbüßte. Den dem Kino eigenen Realitätseffekt erzielten dokumentarische Filme wie die der Brüder Lumière, die Alltagsszenen von der Straße, dem Bahnhof oder der Fabrik zeigten. An diesen Filmen konnte die naturgetreue Wirklichkeitswiedergabe am direktesten erfahren werden. Durch den Film wurde das Abbild des Alltags selbst zur außeralltäglichen Sensation. Früh wurde auch die Fähigkeit des neuen Mediums erkannt, Geschichten zu erzählen. Als erster »Spielfilmregisseur« gilt Georges Méliès, der aus dem Varieté- und Zaubertrickfilm um 1900 das phantastische Illusionskino entwickelte. Nach der Jahrhundertwende entstanden immer mehr ortsfeste Kinos, die »Ladenkinos« oder »Nickelodeons«, die zumeist nur aus wenigen Stuhlreien sowie einer Leinwand in einem freigewordenen Ladenlokal bestanden und vorwiegend ein unterbürgerliches Publikum anzogen. Gleichzeitig stellten einige Varietés ihren Betrieb ganz auf Kinovorführungen um. Um 1910 eröffneten dann immer mehr Kinos, die nicht nur durch gesteigerten Komfort, sondern auch durch ihre symbolische Annäherung ans Bühnentheater begannen, ein bürgerliches Publikum anzusprechen und das Kino als sozialintegratives Massenmedium zu etablieren. Im »Union Theater Unter den Linden« zeigt sich das etwa an der ornamentalen Ausschmückung des Kinosaals und den Logenbalkons, die sich vom Parkett abhoben. Diese Saalkinos wurden zumeist in WARENHÄUSER, Geschäftskomplexe oder Hotels integriert, wie 1909 im GRANDHOTEL Alexanderplatz das »Union Theater am Alexanderplatz«, Berlins erster »Kinopalast«. 1913 eröffnete mit dem »Cines« am Nollendorfplatz das erste freistehende und ausschließlich als Kino errichtete Filmtheater in Berlin. Die Hochzeit dieser großen Lichtspielhäuser und Kinopaläste fällt in die beiden Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg. In den kommerziellen Zentren der großen Städte, aber zunehmend auch in Wohngebieten und Vorstädten lockten sie durch aufwändig gestaltete Fassaden mit meterhohen Leuchtreklamen das amüsierfreudige Massenpublikum an.
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Diese Entwicklung auf dem Sektor der Filmvorführung ging mit Veränderungen auf der Ebene der Produktion einher. Da in der Ära der Wanderkinos die Produktion und Projektion von Filmen zumeist in der Hand des gleichen Unternehmers lagen und sie zusammen mit den Projektoren an die Schausteller verkauft wurden, mussten diese von Ort zu Ort ziehen, um ein ständig wechselndes Publikum für die immer gleichen Filme zu finden. Die ortsfesten Kinos dagegen waren darauf angewiesen, einem immer gleichen Publikum ständig wechselnde Filme zu präsentieren. Das neu eingeführte Verleihsystem erlaubte eine Zirkulation der Filme von Kino zu Kino. Damit trat aber auch der Warencharakter der Filme deutlicher zutage, die nun in einer sich zunehmend zentralisierenden und monopolisierenden Produktionsindustrie gefertigt wurden. Gegenüber französischen und italienischen Filmproduktionen wuchs seit 1910 der Einfluss der amerikanischen Filmindustrie. Sie erlangte mit dem Hollywood-Kino in den zwanziger Jahren ihre bis heute andauernde dominante Stellung. »Hollywood« steht dabei nicht nur für die Marktführerschaft eines bestimmten Studiokonsortiums. Die amerikanische Filmproduktion spielte auch eine Vorreiterrolle bei der Herausbildung des narrativen Spielfilms, der bis heute als klassischer Kinofilm gilt. Dieses »Kino der narrativen Integration« unterscheidet sich vom früheren »Kino der Attraktionen« (Gunning 1990) nicht allein durch die ästhetischen Mittel des Films selbst, sondern auch durch die »Leinwandpraxis« (Musser 1984) des Publikums, durch das Verhalten der Menschen im Kinosaal, das die Kinoerfahrung als Ganze prägte. Das frühe Kino war ein »polymorpher Erlebnisort« (Elsaesser 2002, 75), der noch wenig mit der eingangs geschilderten Kinosituation zu tun hatte. Im Kino wurde gegessen, getrunken und geraucht. Die nummernartige Aufeinanderfolge der kurzen Filme bedeutete eine wiederholte Unterbrechung des Leinwandgeschehens und forderte zu Kommentaren und Bemerkungen des Publikums heraus. Die stummen Filmstreifen wurden durch vielfältige Musik- und Toneffekte begleitet und zumeist von einem professionellen »Kinoerklärer« erläutert. Auch der Filmvorführer hatte großen Einfluss auf die Kinovorführung, da er die Reihenfolge der Filme frei festlegen, zum Teil sogar einzelne Sequenzen neu zusammensetzen und die Projektionsgeschwindigkeit variieren konnte. Die Rezeption der Filme wurde daher mehr durch ihre Vorführung als durch die Erzähllogik der Filme selbst gesteuert. Das Kino der Attraktionen setzte sich erst in der Aneignung durch das Publikum zum Kinoerlebnis zusammen. Entsprechend entwickelten diese Filme keine lang andauernden, geschlossenen Erzählungen, sondern folgten einer Logik der Demonstration und des Vorzeigens. Die Darsteller sprangen vor die Kamera wie auf eine Bühne, führten ihre Kunststücke vor und verneigten sich nicht selten vor dem Ende der Projektion. Die Filme stellten so eine direkte Beziehung zum Zuschauerraum her, während der Leinwandraum selbst wie durch einen Bilderrahmen begrenzt wurde. Im Unterschied dazu erschien die Leinwand im Erzählkino nicht mehr als Bühne, sondern als Fenster zu einer anderen Welt. Der narrative Langfilm wies eine
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eigene Kontinuität auf, die nicht mehr außerfilmisch durch einen Erklärer hergestellt werden musste. Dies ließ auch ein »individualisiertes Betrachter-Subjekt« entstehen (Elsaesser 2002, 87), das in den Erzählraum hineingezogen wurde. Denn das narrative Kino zielte auf die Verinnerlichung des Films durch den einzelnen Zuschauer, der den Film nun schweigend und bewegungslos verfolgen sollte. Es erzeugte einen imaginären Spannungsbogen, dessen Zuschauerintegration auf suspense beruhte. Aus Sicht der Kinoindustrie war der entscheidende Effekt des narrativen Films, dass die Kontrolle über das Kinoerlebnis nun in einem wesentlich höheren Maße bei der Filmproduktion lag, weil der lange Spielfilm für sich selbst sprach. Daher verschwanden auch die Filmerklärer schon vor Einführung des Tonfilms Ende der zwanziger Jahre weitgehend aus den Kinos. Selbst der stumme Spielfilm war durch Zwischentitel und Verfeinerung der Montagetechniken selbsterklärend. Allerdings wurde der Zuschauer mit dem Tonfilm noch viel stärker in das Leinwandgeschehen hineingezogen. Denn der Ton brachte nicht nur das Publikum weitgehend zum Verstummen, er machte den Film auch wirklichkeitsnäher. Je weiter sich die Tontechnik bis hin zum heutigen surround sound entwickelte, desto mehr durchdrang der Film den Zuschauerraum. Das Raumerlebnis gewann eine intensivere sinnliche Qualität. Das »Kino der Attraktionen« und das »Kino der narrativen Integration« haben trotz der zeitlichen Abfolge beider Typen stets nebeneinander bestanden. Seit der Kinokrise in den fünfziger Jahren, die in erster Linie auf die Ausbreitung des Fernsehens zurückzuführen ist und sich in einem weit verbreiteten Kinosterben äußerte, erlebt das Attraktionskino eine Renaissance. Hollywood reagierte auf die Krise mit neuen Kinotechniken wie dem Cinemascope und spektakulären Monumentalfilmen. Diese sinnliche Überwältigung setzt sich heute in vielen Blockbustern und den technisch aufgerüsteten Multiplexkinos fort. Die europäische Reaktion auf die Kinokrise bestand dagegen in den vielfältigen nationalen Bewegungen des Neuen Films (Nouvelle Vague, Neuer Deutscher Film oder New British Cinema), die ebenfalls das klassische Narrationskino hinter sich ließen und mit neuen filmischen Methoden des Schnitts und der Montage experimentierten. Dennoch hat sich die mit dem Kino der narrativen Integration verbundene Rezeptionsform der kontemplativen Versenkung als gängiger Modus des Filmschauens durchgesetzt. Trotz und neben den vielfältigen Formen des Eventkinos bleibt der dunkle Kinosaal die dem Kino genuine Anordnung, die als stete Einladung zum Aufbruch in imaginäre Fernen dient.
III. Das Kino als Traummaschine der Moderne Das Kino ist in vielfacher Hinsicht ein Produkt der Moderne. Technisch ein Ergebnis der Erfindungen und Neuerungen der industriellen Revolution, entspricht es auch als soziale und kulturelle Einrichtung den veränderten Lebensbedingungen
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dieser Epoche. Tatsächlich schien die Zeit 1895 überreif für die Einführung des Kinos, die sich in vielen Dingen im Laufe des 19. Jahrhunderts bereits vorbereitet hatte: »Die moderne Kultur war kinematographisch, bevor das Kino da war« (Charney/Schwartz 1995, 1). Das gilt vor allem für den Aufstieg der Massen- und Vergnügungskultur seit Mitte des 19. Jahrhunderts (Maase 1997) und die Mobilisierung des Sehens im Zuge der »Industrialisierung von Raum und Zeit« (Schivelbusch 2000). Das Kino war zunächst ein großstädtisches Phänomen, bevor es sich auch auf dem Land und in den Kleinstädten verbreitete. In den Großstädten hatte sich bereits vor Einführung des Kinos eine moderne Vergnügungskultur entwickelt, die die Schaulust und Sensationsfreudigkeit des metropolitanen Publikums ansprach (Schwartz 1998). In diese Vergnügungskultur nistete sich das frühe Kino ein, wie vor allen Dingen die ersten Abspielstätten auf Jahrmärkten und in Varietés deutlich machen. Auch die ersten ortsfesten Kinos lagerten sich stadttopographisch an den neu entstehenden Knotenpunkten der großstädtischen Zirkulation an – BAHNHÖFEN, U-Bahn-Stationen und AUTO-Garagen, WARENHÄUSERN und Einkaufspassagen oder GRANDHOTELS. Mit diesen Orten gemeinsam hat das Kino die dem Massentransfer eigene intime Anonymität (STRAND), in der sich die Großstädter gleichzeitig nah kamen, einander aber doch fern blieben (Simmel 1995). Auch die räumliche und soziale Differenzierung der Großstädte (STADTRANDSIEDLUNG) spiegelte sich in den unterschiedlichen Kinobauten, die von theaterähnlichen Lichtspielhäusern in den Zentren und bürgerlichen Vergnügungsvierteln bis zu Arbeiterkinos in proletarischen Vorstädten reichten. Eine zentrale Voraussetzung für die Entstehung der Vergnügungskultur war die Herausbildung der modernen Arbeitsgesellschaft mit ihrer Teilung von Arbeitszeit und Freizeit. Konsum- und Reproduktionssphäre waren denselben ökonomischen Gesetzen unterworfen wie die Produktionssphäre: »Tags – laufendes Band, abends – Kino«, nannte Ilja Ehrenburg das »Gesetz des Daseins« im Maschinenzeitalter (Ehrenburg 1931, 32). Tatsächlich spiegelte sich die durch Fordismus und Massenproduktion erzeugte Entfremdung des Produktionsprozesses (STAHLWERK) in den Augen vieler Kulturkritiker auch an den Stätten der kompensatorischen Entlastung. Ein berühmtes Beispiel ist etwa Siegfried Kracauers Kritik am »Kult der Zerstreuung« und an den »kleinen Ladenmädchen«, die im Kino ihrem Berufsalltag zu entfliehen suchten, um dort doch nur wieder auf die »Summe der gesellschaftlichen Ideologien« (Kracauer 1977, 282) zu stoßen, die sie unbewusst ans System bänden. Das Starsystem der »Traumfabrik« und die Vielzahl der Kinostoffe, die von sozialem Aufstieg und individueller Errettung handelten, erzeugten Versprechungen, an die mit einer epiphanischen Glückserwartung geglaubt werden konnte, ohne aus dem ökonomischen Verwertungskreislauf befreit zu werden. Doch auch Kracauer erkannte in der im Kino freigesetzten Phantasietätigkeit einen utopischen Überschuss. Als visuelles Bewegungsmedium ist das Kino im besonderen Maße in der Lage, »Aufbruchsutopien« (Engell 1992, 52) zu erzeugen und Zukünftigkeit herzustellen. Nicht zufällig war einer der ersten Spielfilme, Georges
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Méliès’ Voyage dans la lune von 1902, ein phantastischer Sciencefiction-Film (RAUMSCHIFF). Als Teil der Populärkultur erfüllte das Kino seit seinem Entstehen also nicht nur eine gesellschaftliche Reproduktionsfunktion, sondern war als fiktionales Erzählmedium auch maßgeblich an der kollektiven Phantasie- und Imaginationstätigkeit einer Gesellschaft beteiligt. Als genuin modern erscheint das Kino aber nicht nur im Kontext der Massenkultur, sondern auch in seiner Eigenschaft als Medium der Wahrnehmung. Wie bei der Vergnügungskultur wurde auch das »filmische Sehen« schon vor der Erfindung des Kinos vorbereitet, vor allem durch die Eisenbahnfahrt, die den Fahrgast ähnlich wie später das Kino zum »unbewegt bewegten Betrachter einer realen Bewegung« machte (Paech 1989, 71) (BAHNHOF). Die Mobilisierung des Sehens fand parallel zur realen Steigerung der technischen Mobilität statt, die ihre Fortsetzung mit dem AUTO und dem FLUGZEUG fand. Mit Henri Bergson ließe sich daher vom »kinematographischen Wesen« der modernen Wahrnehmung überhaupt sprechen (Segeberg 1996, 353). Wenn von filmischer Wahrnehmung die Rede ist, geht es allerdings nicht nur um die Bewegtheit des Blicks, sondern auch um die durch Projektionstechnik und Schnitt bedingte Fragmentierung und »Zergliederung des Zusammenhängenden« (Engell 1992, 23) im Film, die sich in der Steigerung der Sinnesreize des modernen großstädtischen Lebens wiederholt. Seit Georg Simmel wurden die Großstadt und der Großstadtverkehr immer wieder als fragmentierter Wahrnehmungsraum beschrieben, der auf besondere Weise mit dem Kino korrespondiert. Walter Benjamin, der von der Schockförmigkeit der modernen Wahrnehmung sprach, war gar der Meinung, dass das Kino einen »Lehrgang« darstelle, durch den der Mensch die veränderten Aufgaben der Reizbewältigung, die ihm in der Großstadt und der technischen Welt allgemein gestellt würden, zu bewältigen lerne (Benjamin 2002). Im Kino spiegelte sich also die Beschleunigung und Reizüberflutung des modernen Lebens auf vielfältige Weise. Gleichzeitig steht es als Wirklichkeitsmedium im Kontext der Vervielfältigung der medialen Erscheinungen seit der Erfindung der Fotografie. Denn die Entwicklung der mimetischen Aufzeichnungssysteme Fotografie, Phonographie und Kinematographie im 19. Jahrhundert, die schließlich im Tonfilm und dann im Fernsehen zusammenkamen, bildete die Grundlage für die Massenmedialisierung des 20. Jahrhunderts (Schanze 2001, 214f.). Das Kino diente mit seinen »Aktualitäten« und Wochenschauen lange Zeit als Nachrichtenmedium und transportierte damit das Realitätsversprechen der modernen Massenmedien (ZEITUNGSREDAKTION). Die Zuschauer mussten lernen, mit dem nicht immer eindeutigen Realitätsgrad der bewegten Bilder umzugehen. Das Spannungsfeld von »dokumentarisch« und »fiktional« beschreibt nicht nur die Genremöglichkeiten des Films, sondern auch den variablen Wirklichkeitsgehalt der Filmbilder selbst. Diese erkenntnistheoretische Unschärfe wurde durch die Verfeinerung der Tricktechnik und schließlich die Digitalisierung des Kinos am Ende des 20. Jahrhunderts noch verstärkt. Allerdings transportierte das Kino von Anfang an nicht nur ein mediales Realitätsversprechen, sondern begründete auch eine »Kultur des Fiktionalen« (Mül-
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ler 2003, 14). Die Zuschauer lernten nicht nur, zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu unterscheiden, sondern auch die Wirklichkeit der Fiktion als solche zu erkennen, das heißt, mit den (Film-)Bildern als realen Gegebenheiten umzugehen. In seinen Anfängen wurde dem Kino aber häufig noch auf naive Weise Wirklichkeitstreue attestiert. So wurde der Film seit seiner Erfindung auch als Instrument der wissenschaftlichen Forschung und als Unterrichtsmedium eingesetzt. 1927 ging etwa Oskar Kalbus davon aus, dass der Film zur wissenschaftlichen Überprüfung übersinnlicher Phänomene und zur Entlarvung spiritistischer Scharlatane dienen könne (Kalbus 2002). Im Unterschied dazu wurde das Kino seit der Jahrhundertwende jedoch selbst regelmäßig in den Dunstkreis okkulter Phänomene und Praktiken wie der Hypnose oder der Geisterbeschwörung gerückt (Andriopoulos 2000). Diese Nähe zur Geisterwelt resultierte in erster Linie aus der Schattenhaftigkeit und Immaterialität der Kinoerscheinungen auf der Leinwand und der Rezeptionssituation im dunklen Kinosaal. In ihr offenbart sich die zweite, verborgenere Bedeutung der Metapher von der »Traumfabrik«, die eben nicht nur auf die Wunsch- und Tagträume der »kleinen Ladenmädchen«, sondern auch auf die Nachtträume und das kollektive Unterbewusste des in der Dunkelheit versammelten Publikums verweist. Die Dunkelheit des Kinosaals wurde vielfach mit der des Schlafs verglichen, in der die Wahrnehmungsaktivität des Filmschauens der des Träumens gleicht. Der Kinoraum erscheint dann als »Raum der Besetzungs- und Übertragungsvorgänge, die sich unterhalb der sprachlichen Organisation des Bewusstseins bewegen« (Kappelhoff 2002, 152). Besonders die Großaufnahme eines Gesichts kann als »Affektbild« (Kaes 2000, 160) dienen, das zum emotionalen Engagement und zum (ungleichen) Gefühlstausch einlädt. Wer hätte nicht schon einmal – und wenn auch nur für Momente – sein Herz an eine Leinwandfigur verloren, und wer wollte nicht schon einmal so sein wie der Kinoheld oder die Kinoheldin. Man kann die emotionale Aktivität im Kino allerdings auch als symbolische Arbeit am Unterbewussten interpretieren. Sie wäre dann nicht dem Träumen selbst, sondern der Traumdeutung vergleichbar. In diesem Sinn hat Felix Guattari vom Kino als der »COUCH des Armen« (Guattari 1977) gesprochen. Nicht nur bei Woody Allen ersetzt der Gang ins Kino den Gang zum Psychoanalytiker. Darüber hinaus wurde die Dunkelheit im Kinosaal schon früh als sittengefährdend kritisiert. Gerade weil das Kino stark zur Gefühlsbeteiligung einlädt und von Beginn an ein Schauplatz erotischer Phantasien war, wurde die im Kino angeregte Gefühls- vielfach als Triebtätigkeit verstanden. Das Kino als Schule des Voyeurismus rückte in die Nähe der STRIPTEASELOKALE und der Peep-Shows, in deren Umkreis die feste Unterform des Pornokinos bis heute fortbesteht. Doch findet im Kino nicht allein eine Übertragung von Seiten des Zuschauers auf die Leinwand statt. Auch umgekehrt wird »das Unbewusste des Zuschauers selbst zu einem Feld von Besetzungen« (Kappelhoff 2002, 156). Das Kino ist nicht nur Schauplatz unserer kollektiven Träume, unsere Träume werden auch von Filmbildern durchdrungen. Das Kino ist im 20. Jahrhundert zum Leitmedium der gesellschaftlichen Phantasietätigkeit geworden, das sich auf unhintergehbare Weise in unser Denken und
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Fühlen eingeschrieben hat: »Ich kann schon nicht mehr denken, was ich denken will. Die beweglichen Bilder haben sich an den Platz meiner Gedanken gesetzt« (Georges Duhamel, zit. n. Benjamin 2002, 378). Ähnliches gilt auch für die Erinnerungen. Das Kino ist nicht nur Ort der Aufbruchsutopie, sondern auch der Nostalgie, die als Begleitnarrativ der Moderne einen Bedarf nach Entschleunigung (KLEINGARTEN) zum Ausdruck bringt (Fritzsche 2002). Das Kino kann einerseits selbst Ort dieser Entschleunigung sein, indem es zum zweistündigen Ausstieg aus dem Vorwärtsdrängen des Alltags einlädt. Andererseits heften sich unsere Erinnerungen an Filmbilder, die uns durch ihren emotionalen Gehalt das Vergangene vergegenwärtigen und dadurch kollektive Gedächtnisfunktionen übernehmen (Klippel 1997). Das Kino legt so innerhalb der Moderne auch deren eigene Wehmutsseite offen. Die verschiedenen Weisen, in denen das Kino unsere Gefühle anspricht, haben schließlich auch eine körperliche Dimension, die sich allerdings im Attraktionskino anders gestaltet als in dem der narrativen Integration. Die beschriebenen Übertragungen und emotionalen Aufladungen sind eher dem Erzählkino zuzuordnen, in dem der Betrachter sich gleichsam ins Bild begibt und seinen Körper dabei im Kinosessel zurücklässt. Aber auch bei der kontemplativen Versenkung treten »unsere Leiber in sinnliche Beziehungen zu den ›Dingen‹ auf der Leinwand« (Robnik 2002, 252). Diese sinnliche Beziehung verändert ihren Charakter im »Kino der Attraktionen«. Hier erfolgt die körperliche Ansprache eher durch Schockeffekte, die, so Walter Benjamin, zur Durchdringung von »Leib und Bildraum« (Benjamin 1977, 310) führen. Im heutigen Event- und Effektkino findet sich diese Durchdringung von Körper und Bild wieder. Mit der Öffnung des Kinos zum Cyberspace und seiner Eingliederung in einen multimedialen Verbund entwickeln sich gegenwärtig neue Formen der medialen Raum- und Körpererfahrung, die über den abgedunkelten Kinosaal und sein Publikum hinausweisen. Das klassische Kino gehört damit einer bereits historisch gewordenen Epoche an, deren vergangene Zukunft es in seinen Bildspeichern bewahrt.
Literatur Andriopoulos, Stefan (2000): Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos, München. Benjamin, Walter (1977): Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, in: ders., Gesammelte Schriften II.1, Frankfurt, 295-310. Ders. (2002): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., Medienästhetische Schriften, hg. v. Detlev Schöttker, Frankfurt, 351-383. Charney, Leo/Vanessa R. Schwartz (Hg.) (1995): Cinema and the Invention of Modern Life, Berkeley/Los Angeles/London. Ehrenburg, Ilja (1931): Die Traumfabrik. Chronik des Films, Berlin. Elsaesser, Thomas (2002): Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels, München.
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Der Kraftraum Maren Möhring I. Der Kraftraum im »Kraft-Kunst-Institut«, Dresden, 1919 Ein relativ großer Raum mit seitlichen Fenstern für Belüftung und Lichteinfall, aber auch ausgestattet mit künstlicher Beleuchtung; ein leicht zu reinigender Fußbodenbelag. Im Raum verteilt Hanteln, Halterungen für Hanteln und Kraftmaschinen in unterschiedlichen Größen. In der Mitte des Raums die Statue eines griechischen Jünglings, an den Wänden zahlreiche großflächige Spiegel. So präsentiert sich der Übungsraum – nicht zu sehen sind Umkleide- und Waschraum – im »Kraft-KunstInstitut«, das der Maler und Bildhauer Sascha Schneider 1919 in Dresden eröffnete und 1922 um eine »Damenabteilung« erweiterte (Röder 1999; Starz 2003). Hier wollte sich der Künstler »ideal-schöne« Modelle durch vielseitige Körperbildung heranziehen.
17. Teilansicht des Übungsraums in Sascha Schneiders Kraft-Kunst-Institut, Dresden, 1921 Als Anhänger der Körperkulturbewegung, die als Vorläuferin der heutigen Fitnessbewegung gelten kann, hoffte Schneider, einen Beitrag zum Kampf gegen die viel beschworene körperliche »Degeneration« im Industriezeitalter zu leisten – noch der Begriff »Fitness« verweist auf ein (sozial-)darwinistisches Szenario des survival of the fittest. Die Körperkultur, die viele Gemeinsamkeiten mit der Lebensreformbewegung aufweist, trug wie diese zivilisationskritische Züge, wurde aber durchaus als moderne Bewegung begriffen. In Abgrenzung von dem als Drill kritisierten Turnen
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einerseits und dem aufgrund seiner Rekordorientierung abgelehnten Sport andererseits wurden in der frühen Fitnessbewegung neue Formen der körperlichen Betätigung entwickelt, die in hohem Maße auf eine ästhetische Selbstgestaltung des Körpers ausgerichtet waren. Fitnesstraining und Bodybuilding als »organisierte Praxis, in der spezielle technische Verfahren angewandt werden, um Körper [...] nach definierten Kriterien zu verändern« (Honer 1985, 155), sind stark über die festgelegte Anordnung der Maschinen im Trainingsraum bestimmt. Mit Hilfe standardisierter Trainingsmaschinen wird an der Optimierung des Körpers gearbeitet. In diesem Sinne kann der Kraftraum als Ort der Moderne gelten, an dem die »Intensivierung der Wünsche eines jeden für, in und auf seinen Körper« (Foucault 1976, 107) paradigmatisch zum Ausdruck kommt. Wichtig ist auch der Blick in den Spiegel, der Vergleich mit den anderen Trainierenden, vor allem aber mit einem imaginären Idealbild (verkörpert in der antiken Statue), der den gegenwärtigen Körperzustand als defizitär und verbesserungsbedürftig erkennen lässt.
II. Vom Kraftraum zum Fitnessstudio Die umfassende ästhetische Vision mag das Schneidersche Kraft-Kunst-Institut in seiner Ausrichtung von anderen Trainingszentren der Zeit unterscheiden; in der Innenausstattung des Raums glich es aber den zeitüblichen Trainingsanlagen. Die ersten Kraftstudios – und auf Kraftzuwachs waren die meisten frühen Studios ausgerichtet – wurden am Ende des 19. Jahrhunderts gegründet, so 1885 in St. Petersburg, wo der Gründer den Kraftraum mit zahlreichen, den Ehrgeiz entfachenden Fotografien gestählter Männerkörper ausstattete. Berühmtheit erlangte das Brüsseler Kraftstudio von »Professor Attila«, der eigentlich Louis Dürlacher hieß und sich als Ausbilder von Eugen Sandow, dem wohl bekanntesten Kraftsportler um 1900, einen Namen machte. 1902 richtete Theodor Siebert mit dem »Erholungs- und Kräftigungsheim« in Alsleben an der Saale das erste Studio dieser Art in Deutschland ein. Die genaue Anzahl der Kraftstudios in Europa und den USA ist nicht bekannt. Im Deutschen Reich gab es vor dem Ersten Weltkrieg für jeweils einige hundert Mitglieder 50 bis 100 solcher Studios. Diese kommerziellen Einrichtungen finanzierten sich über die Beiträge ihrer Mitglieder und wurden oft von ehemaligen Berufsathleten betrieben. Vornehmlich in Städten angesiedelt, nutzten sie vor allem Angestellte, Beamte und Studierende (Wedemeyer 2003, 40f.). Die meisten Studios waren auf Muskelstählung durch Hanteln, also auf Bodybuilding im engeren Sinne, eingestellt. Da sich der Kraftsport nicht in Vereinen organisierte, wie dies für andere Sportarten und das Turnen üblich war, wurden hier neue Formen der sozialen Interaktion erprobt: Trainiert wurde in intimer Anonymität (STRAND). Während sich die Trainingsstudios in den USA relativ kontinuierlich großer Beliebtheit erfreuten, setzte in Deutschland – nach einer anfänglichen Begeisterung in
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den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – erst in den achtziger Jahren ein wirklicher Boom der Fitnessstudios ein. Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass in Deutschland Turn-, später auch Sportvereine als Organisationsform fest verankert waren. Daneben gab es mit den »Heimgymnastiksystemen« von Müller und Mensendieck bereits um 1900 durchaus eine Tradition des individuellen Körpertrainings. Die Heimgymnastik wurde als zeitsparende und kostengünstige Alternative zu anderen Formen der Leibesübung empfohlen, für die man Turnhalle, Luftbad oder eben ein Trainingsstudio aufsuchen musste (Möhring 2004). Obwohl sich in Deutschland die Studios lange Zeit nicht gegen die Dominanz des Vereins- und Schulsports durchsetzen konnten, gab es doch einige wenige Einrichtungen, die sich über lange Jahre behaupten konnten, so die Schulen für HantelKraftsport, die Lionel Strongfort – mit bürgerlichem Namen Max Unger – in Deutschland, aber auch in der Schweiz und Österreich gegründet hatte und bis kurz vor seinem Tod leitete. Während des Nationalsozialismus konnten die meisten Betreiber von Kraftstudios relativ unbehelligt ihren Geschäften nachgehen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit allerdings waren die Besucherzahlen eher niedrig, wurden seitens der Bevölkerung doch eher die preiswerteren Vereine besucht. Die erste Neueröffnung eines Kraftstudios in der Bundesrepublik erfolgte 1955 durch den amerikanischen Soldaten Harry Gelbfarb in Schweinfurt (Wedemeyer 1996, 173). Der US-amerikanische Kulturtransfer auf dem Gebiet des Fitnesstrainings sollte von nun an bestimmend werden. Während bis in die frühen achtziger Jahre hinein in den deutschen Studios nur Bodybuilding, also leistungsorientierter Muskelaufbau, betrieben wurde und die Besucher zum größten Teil junge Männer waren, wandelte sich die Zusammensetzung der Trainierenden sowie die Ausrichtung der Studios im Zuge der aus den USA importierten Aerobicwelle. Nun kamen verstärkt Frauen und auch ältere Menschen in die fortan auf Fitness, also eine abgeschwächte Form von Bodybuilding, oder auf Wellness spezialisierten Trainingsräume. Die Zugangsbedingungen und die Verwendungsweisen des Studios veränderten sich also grundlegend, was sich auch räumlich manifestierte. Die spartanisch-zweckmäßig ausgestatteten Bodybuildingstudios wichen zunehmend aufwändig gestalteten, mit Teppich ausgelegten und mit Pflanzen begrünten Fitnesscentern, die neben dem Kraftraum auch genügend Platz für Aerobic- oder auch Entspannungskurse boten sowie häufig Sauna, Solarium und einen »Gastro-Bereich« umfassten. Der Kraftraum, vormals der einzige Bereich der Studios, verlor immer mehr an Bedeutung. Angesichts der Zunahme der Freizeitsportler, die seit Ende der achtziger Jahre über 85 Prozent der Kunden und Kundinnen eines Fitnessstudios stellten (Höller 1991, 14), haben die Bodybuilder begonnen, sich aus den Studios zu verabschieden und im Rahmen der Kraftsportverbände eigene Übungsräume einzurichten. Gleichzeitig sind auch andere Sportvereine dazu übergegangen, ihren Mitgliedern Fitnessräume zur Verfügung zu stellen und den kommerziellen Studios damit Konkurrenz zu machen. Auf dem Fitnessmarkt ist es – und dieser Prozess begann bereits um 1900 – zu weitgehenden Ausdifferenzierungen gekommen; die
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einzelnen Studios wie auch die Ketten mit zahlreichen Filialbetrieben sprechen jeweils eine unterschiedliche Klientel an, die sich nach sozialem Status, Geschlecht oder sexueller Orientierung unterscheidet. Trotz der signifikanten Veränderungen, denen das Trainingsstudio innerhalb der letzten 100 Jahre unterworfen war, lassen sich klare Kontinuitäten entdecken. Zwar wurde in den Anfängen der Kraftstudios vor allem mit Hanteln trainiert; doch bereits um 1900 gab es eine Vielzahl von Druck-, Zug- und Schwunggeräten, die auf das 18. Jahrhundert zurückgingen (Borgers 1988) und den heutigen Kraftmaschinen durchaus ähnelten. Die von George Hackenschmidt, einem Schüler Sieberts, entworfene Beinmuskelmaschine etwa wird noch heute benutzt. Die Bearbeitung des eigenen Körpers mittels verschiedener Maschinen, die Koppelung von Körper und Maschine machen den Kraftraum zu einem Ort, der untrennbar mit der modernen Technisierung des Körpers und seiner Optimierung durch Technik verbunden ist. Dieser Aspekt wird seitens der Trainierenden durchaus reflektiert: »Er dachte an Chaplin’s Moderne Zeiten. [...] Warum sich von einer Maschine – einer Freizeit-Maschine! – vorschreiben lassen, wie man sich bewegen, wie man sich führen soll?« (Würzberg 1987, 16) In der Moderne wird der Körper als Ort und Prozess begriffen, in den man intervenieren kann und der technischer Betreuung bedarf. Die Herstellung von Körperlichkeit im Kraftraum geschieht kontrolliert, geben die normierten Maschinen doch Art und Richtung der Bewegung weitgehend vor. Beim Gebrauch der Maschinen kommt es dabei nicht nur zu einer Anlehnung der Motorik an die Geräte, sondern zur Herstellung eines Körpers, der »gerätemäßig zu funktionieren« lernt (Gebauer/Wulf 1998, 36). Die Kraftmaschinen im Studio sind auf eine bestimmte Weise im Raum verteilt. Ihre Anordnung und damit auch die Anordnung der Individuen im Raum ist festgelegt, der Raum damit seriell organisiert. Diese Parzellierung gilt ebenso für den Körper des Individuums. Es werden die einzelnen Teile des Körpers jeweils separat trainiert – ein Vorgang, der im heutigen Bodybuilding als »Isolation« bezeichnet wird. Den Körper als Organismus im Sinne der modernen Physiologie zu denken, heißt, ihn als organisierte Einheit zu begreifen, in der die einzelnen Elemente auf funktionale Weise verteilt sind. Diese Anordnung soll dem »Besitzer des Körpers«, dem »Maschinenmeister« (Mensendieck 1912, 1, 112), die Kontrolle über seinen Körper ermöglichen. Dabei wird der Wille des Menschen als diejenige Instanz gedacht, die das Körpersystem zentral steuert (PARTEIZENTRALE, TELEFONZENTRALE). Geht es beim Training vornehmlich um Selbststeuerung und Selbstdisziplin, so ist die besondere Rolle von Trainer oder Trainerin im Studio nicht zu unterschätzen. Neben der Einweisung in die Maschinenbenutzung üben sie vor allem über die Erstellung des Trainingsplans Kontrollfunktionen aus. Der Trainingsplan ist – ähnlich wie der Ernährungs- oder Diätplan – zentrales Element einer langfristigen, vorausschauenden und systematischen Körperbildung, die Merkmale einer bürgerlichen Lebensführung im Sinne Bourdieus aufweist (Bourdieu 1986, 110f.). Der Trainingsplan legt Reihenfolge wie Auswahl der Geräte und meist auch die Anzahl der
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Bewegungswiederholungen für den Einzelnen fest. Innerhalb dieses vorgeschriebenen Rahmens lassen sich nun aber auch »trickreich differente Interessen und Wünsche entwerfen« (de Certeau 1988, 85). Man kann eine Maschine, die unterhaltsam erscheint, einfach ausprobieren, obwohl sie nach Plan (noch) nicht vorgesehen ist. Unbemerkt lassen sich Übungen unterschlagen oder die Wiederholungen übertreiben; durch ein zeitliches Manöver wird damit den Festschreibungen des Ortes nicht so Folge geleistet, wie es als vernünftig vorgegeben ist. Insofern sich die einzelnen Trainingsabläufe überkreuzen, müssen bisweilen (auch stumme) Absprachen mit den übrigen Nutzern und Nutzerinnen getroffen werden. Machtverhältnisse zwischen den Trainierenden (Alter, Trainingserfahrung, Geschlecht) mögen bisweilen bei der Frage eine Rolle spielen, wem der Vortritt an einer Maschine gewährt wird; insgesamt scheinen sich die Mitglieder eines Studios meist gegenseitig einen weitgehend reibungsfreien Ablauf des Trainings zu garantieren. Dabei hilft der disziplinär organisierte Raum, der von seinen räumlichen Eigenschaften her gegen ein »diffuses Herumschweifen« und eine »unnütze und gefährliche Anhäufung« von Individuen gerichtet ist (Foucault 1989, 183). Die planlos-planvollen Aneignungspraktiken können sich auch auf eine Art bündeln, die zu einer weitreichenden Veränderung des Ortes selbst führt. Dies geschah etwa bei der Umnutzung der Studios im Zuge der Aerobicwelle. Die Trainingsweisen haben sich vervielfältigt: Neben dem »Powerlifter«, der schwerste Gewichte zur Erhöhung seiner Wettkampftauglichkeit hebt, gibt es den »Instrumentalisten«, der für eine bestimmte Sportart Muskelaufbau betreibt, den »Fitneßtypen«, der sich nur mäßig verausgabt und am umfassendsten das Angebot des Studios nutzt, und den eigentlichen »Bodybuilder« (Würzberg 1987, 128-138). Die frühen Besucher von Trainingsstudios suchten weniger einen Ausgleich für monotone und anstrengende Maschinenarbeit, rekrutierten sie sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts doch kaum aus der Arbeiterklasse. Dort, »wo man körperliches Arbeiten nicht nötig hat« (Wuppermann 1909, 173), kann der Körper verstärkt andere Funktionen übernehmen, nämlich als Medium der Kommunikation und der Gestaltung des Selbst fungieren. Gesundheit, Schönheit und Jugendlichkeit waren zwar keine neuen, aber im biopolitisch geprägten 20. Jahrhundert in allen Lebensbereichen virulente Körpernormen. Die Fitnessbewegung beharrte von Anfang an auf der Erreichbarkeit dieser Normen durch ein kontinuierliches, diszipliniertes Training und machte damit den Gedanken der Selbstverantwortlichkeit für Gesundheit und Schönheit zu ihrer Basis: »Jeder Mensch hat die Pflicht, so schön zu sein, wie er kann!« (Surén 1925, 67) Der Körper hat im 20. Jahrhundert zunehmend die Funktion übernommen, einen vermeintlich sicheren Ort der eigenen Identität bereit zu stellen; er ist zum Träger sozialer Distinktion geworden, indem er selbst erworbene Schönheit und Gesundheit und damit Leistungsfähigkeit und Willensstärke demonstriert. Entsprechend schweißtreibend wurde und wird in den Körper investiert, und zwar nicht mehr in seine Funktion als Arbeitskörper (STAHLWERK), sondern als Statussymbol und Konsumkörper. Konsumiert wird der Körper bereits im Trainingsstudio, näm-
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lich bei der intensiven Selbstbetrachtung im Spiegel. Anders als im STRIPTEASELOKAL ist der Voyeurismus hier vornehmlich auf den eigenen Körper gerichtet. Dabei ist die Produktivität dieses Konsums zu betonen: Der Blick auf das eigene Spiegelbild stellt ein einheitliches Körperbild her; er wird zum »Normalitätsrichter« (Foucault 1989, 392). Im Spiegel werden Fehler bei der Übungsausführung und körperliche Mängel in ästhetischer Hinsicht registriert. Die permanente Selbstbeobachtung im Spiegel erlaubt dem modernen (selbst-) normalisierenden Blick eine detaillierte Erfassung des »Abnormen« – eine Fähigkeit, die im Kraftraum ohne Unterlass eingeübt wird. Zugleich bietet der Kraftraum Möglichkeiten, durch das »Aufpumpen« der Muskeln auch hegemoniale Schönheitsnormen zu überschreiten. Gerade das weibliche Krafttraining geriet – und zwar von Beginn an – in den Ruf, nicht nur Körpergrenzen zu modellieren, sondern Grenzüberschreitungen nach sich zu ziehen. Die häufige Charakterisierung von Bodybuilderinnen als »Mannweiber« markiert eine solche als lächerlich und gefährlich betrachtete Auflösung des heterosexistischen Ideals. Auch Arnold Schwarzenegger betont die zentrale Bedeutung, die dem Sehen bei der Perfektionierung des Körpers zukommt: »Schließlich geht es darum, den Körper zu verändern. Einen Teil dieser Veränderung erfassen Sie gefühlsmäßig, der Rest ist visuell« (Schwarzenegger 1995, 44). Die Selbstbeobachtung ist dabei eine mehrfach mediatisierte. Das Medium des Spiegels wird am Ende des 19. Jahrhunderts zum wichtigen Requisit nicht nur des Kraftraums, sondern auch der bürgerlichen Wohnung (APPARTEMENT) und des WARENHAUSES. Er bediente und bedingte den »Zwang des 20. Jahrhunderts, den Körper unentwegt zu reflektieren« (Penz/Pauser 1995, 14). Als weniger flüchtige Technik traten Fotografie und Film hinzu (KINO). Richard Ungewitter etwa, der in der Körperkultur-Zeitschrift Kraft und Schönheit 1905 sein Training nach dem Sandow-System beschrieb, fügte seinem Bericht – neben den genauen Maßen seiner Oberarme und anderer Körperteile – diverse Vorher-Nachher-Fotos bei. Die Fotos wie die Maßtabellen dienten der Verifizierung des neu geschaffenen Körpers vor sich selbst und anderen: »Während mein Körper vorher infolge jeden Mangels durchgreifender Gymnastik und infolge der bewegungslosen Beschäftigung als Bureau-Arbeiter keinerlei nennenswerte Muskelbildung aufwies, [...] so begann jetzt durch die regelmäßigen Übungen ein Umschwung einzutreten. [...] Die Muskelentwicklung machte nun immer schnellere Fortschritte, deren Beobachtung meine Energie gewaltig förderte.« Aufgrund der stimulierenden Wirkung des Blicks seien die Übungen »ohne Ausnahme vor einem genügend großen Spiegel« vorzunehmen (Ungewitter 1905, 138-141). Wenn der Bodybuilder vor der Spiegelwand seines Studios steht, ist schnell der Vorwurf des Narzissmus zur Hand. Geht man jedoch mit Jacques Lacan davon aus, dass Subjektbildung maßgeblich auf der Erstellung eines ganzheitlichen (imaginären) Körperbildes basiert, die Ganzheit des Körpers nicht einfach vorfindlich ist, sondern erst hergestellt werden muss und dies in entscheidendem Maße über den Blick geschieht (Lacan 1991), dann erhält die Selbstbespiegelung ein anderes Ge-
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wicht. Ihre identitätsstiftende Funktion wurde bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts thematisiert: »Erkenne Dich selbst – dies ist in physischem Sinne nur möglich hüllenlos vor dem Spiegel« (Theoros 1921, 517). Indem das Subjekt sich mit der sichtbaren Gestalt im Spiegel identifiziert, lässt sich der Kraftraum mit seiner Spiegelwand als eine exemplarische Verräumlichung der Selbstbeziehung lesen. Die Bruchlinie innerhalb des Selbstbezugs, die Abwesenheit in der Selbstpräsentation, erlangt im Spiegel räumliche Materialität. Zugleich stiftet der Spiegel eine Differenz im Raum. Das vom Spiegel zurückgeworfene und entworfene Bild erweitert den Raum vor dem Spiegel um einen virtuellen Raum, der die gesamte Raumordnung affiziert. Der Spiegel ist ein heterotopischer Ort, weil er »den Platz, den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet«, ihn aber »zugleich ganz unwirklich macht, da er nur über den virtuellen Punkt dort wahrzunehmen ist« (Foucault 1997, 266). Die Utopie des perfekten Körpers und die Heterotopie des Spiegels erweitern den Ort »Kraftraum« um andere Raumdimensionen und Möglichkeiten imaginärer Verortung. Darin kann sich der Wunsch nach einem »vollkommenen Double« (Kirchhoff 1980, 148) oder nach einer »Imitatio nach dem Tode Gottes« (Sarasin 1998, 451) äußern; in jedem Fall eröffnet das Trainingsstudio einen Raum für das moderne Begehren nach dem eigenen Körper.
III. Das Traumstudio: Fitnessbewegung und moderne Körperoptimierung Die Modernität des Körpers und des Selbst wurde in der Fitnessbewegung um 1900 im Rekurs auf die Antike formuliert. Die bedeutendsten Bodybuilder und Körperkulturisten der Zeit wie Eugen Sandow, Lionel Strongfort oder J. P. Müller wurden in antiken Posen abgelichtet; ideale Schönheit lag in einer möglichst »großen Ähnlichkeit mit den antiken Statuen« begründet (Müller 1908, 4). Entsprechend wurde ein Studio wie das eingangs skizzierte Schneidersche Kraft-Kunst-Institut als »neue griechische Palästra« umschrieben (Theoros 1921, 520). Die Trainingsstätten sollten – auch wenn sie es von den genutzten Räumlichkeiten her oft waren – keine Turnhallen mehr sein. Der Rückgriff auf die Antike führte Momente einer vermeintlichen Naturnähe und einer harmonischen Vermittlung von Natur und Kultur in den körperkulturellen Fitnessdiskurs ein. In Sieberts »Erholungs- und Kräftigungsheim« sollte, wenn das Wetter es zuließ, in der Natur, im Freien, nur notfalls in luftiger Halle trainiert werden. Das Trainingsstudio stellte also für die Fitnessbegeisterten aus dem Umfeld der Lebensreformbewegung vielfach nur eine Ausweichmöglichkeit bei schlechtem Wetter dar. Als Idealfall galt das Training in »Licht und Luft«, zählte zur modernen Körperästhetik spätestens seit den zwanziger Jahren doch die (vermeintlich) gesunde Bräune. Diese ließ sich im Kraftraum allein nicht erlangen. Entsprechend träumte Hans Surén, ein Protagonist der FKK-Bewegung und Erfinder der SurénGymnastik, bereits 1927 von einem multifunktionalen »Gymnastikpalast«, der den
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heutigen Fitnessstudios durchaus nahe kommt: »Man muss in den einzelnen Stadtteilen die Möglichkeit finden, für billiges Geld und ganz zwanglos – ähnlich wie man ein Kaffeehaus aufsucht – einige schöne, reich ausgestattete Trainingsräume besuchen zu können. Diese sind mit Sonnenbad und Höhensonne auszustatten, mit Radio und Erfrischungsräumen, jedoch ohne Alkohol« (Surén 1927, 177f.). War dieser erträumte Ort zum einen als Gesundheitstempel gedacht, der dem hygienischen Regime der Moderne entsprang, so verweist er zum anderen auf die Organisation von Vergnügen in Form von Erholung und Erlebnis. Verschiedene moderne Lokalitäten wurden in diesem Idealstudio kombiniert. Das neue Bedürfnis nach brauner Haut sollte es ebenso bedienen wie ein (über den Vergleich mit dem Kaffeehaus angedeutetes) geselliges Interesse. Der Vorteil des Trainingsstudios gegenüber dem Sportverein liegt darin, dass bei Wunsch kommuniziert, aber auch die intime Anonymität wie am STRAND genossen werden kann. Am halböffentlichen Ort des Studios kann eine temporäre Vergemeinschaftung stattfinden, erleichtert durch das allgemein übliche Duzen. Der Transitbereich, in dem sich dieser »zwanglose« Umgang einstellt, ist der Umkleideraum. Doch nicht nur dieser stellt einen Schwellenraum dar; insgesamt lässt sich das Trainingsstudio als Ort des Übergangs charakterisieren. Eine körperliche Konversion wird hier kontinuierlich betrieben und damit konkret an der Herstellung eines modernen, sich permanent transformierenden Subjekts gearbeitet. In der Nachahmung standardisierter und massenmedial verbreiteter Idealkörper im Studio und dabei produzierter Abweichungen von diesem Ideal wird moderne Subjektivität als serielle Individualität erfahrbar. Statt auf Zerstörung von Körperlichkeit (KONZENTRATIONSLAGER, FRONT) ist der Kraftraum auf eine kontrollierte Herstellung von Körperlichkeit ausgerichtet, hat über den Aspekt der Körperstählung allerdings durchaus Anteil an einer Militarisierung des Körpers. Die im Studio vollzogene technische Optimierung des Körpers, die es mit anderen modernen Orten wie dem Aufnahmestudio oder dem Windkanal verbindet, ist in weiten Teilen ästhetisch orientiert und erfüllt damit eine ähnliche Funktion wie etwa die Maniküre im Schönheitssalon oder die sich zeitgleich mit den Krafträumen durchsetzende Schönheitschirurgie. Anders als bei der Schönheitschirurgie oder auch der technisierten Überlebenssteuerung auf einer Intensivstation nehmen die Individuen im Kraftraum den Eingriff in den Körper selbst vor. Die Arbeit an den Maschinen ist dabei zwar relativ selbstbestimmt, erlaubt sie doch die Festlegung des Tempos durch den Trainierenden. Sie verweist aber durch die rationelle Verzahnung von Körper und Maschine, die zeitliche Durcharbeitung der Bewegung an der Maschine wie auch durch die Ausrichtung auf Optimierung auf einen anderen Ort der Moderne, nämlich den tayloristischen oder fordistischen Betrieb (STAHLWERK). Frederick W. Taylor selbst hatte seine 1911 erschienenen Principles of Scientific Management explizit nicht auf den Industriebetrieb beschränkt, sondern für alle Arten von (Körper-)Haushalten empfohlen; so sind auch in der Frankfurter Küche und dem APPARTEMENT diese Prinzipien umgesetzt worden. Räumliche Praktiken, aber auch Raumerfahrungen sind demnach nicht »nach ihrem Ort (der Arbeit oder der Freizeit)«, sondern nach ihren jeweiligen Mo-
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dalitäten zu unterscheiden (de Certeau 1988, 77). Im Kraftraum verbinden sich technisierte Körperoptimierung, serielle Individualität und intime Anonymität auf eine Weise, die permanent die Herstellung des modernen Subjekts und seiner Selbstbeziehung – durchaus reflexiv – zum Thema macht.
Literatur Borgers, Walter (1988): Von der Motionsmaschine zum Fitness-Studio. Aspekte des apparativen Zugriffs auf den Körper, in: Brennpunkte der Sportwissenschaft 2, 130-152. Bourdieu, Pierre (1986): Historische und soziale Voraussetzungen des modernen Sports, in: Gerd Hortleder/Gunter Gebauer (Hg.), Sport – Eros – Tod, Frankfurt, 91-112. Certeau, Michel de (1988): Kunst des Handelns, Berlin. Foucault, Michel (1976): Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin. Ders. (1989): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 8. Aufl., Frankfurt. Ders. (1997): Andere Räume, in: Politics-Poetics. Das buch zur documenta X, hg. v. documenta u. Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH, Ostfildern-Ruit, 262-272. Garb, Tamar (1998): Bodies of Modernity. Figure and flesh in fin-de-siècle France, London. Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph (1998): Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg. Höller, Jürgen (1991): Fitness erfolgreich vermarkten. Das Managementfachbuch für Sportstudios und Fitnessanlagen, Mannheim. Honer, Anne (1983): Körper und Wissen – Die kleine Lebens-Welt des Bodybuilders. Eine wissenssoziologische Untersuchung zu Ideologie und Praxis, unveröff. Magistraarbeit, Konstanz. Dies. (1985): Bodybuilding als Sinnsystem. Elemente, Aspekte und Strukturen, in: Sportwissenschaft 15, 155-169. Kirchhoff, Bodo (1980): Body-Building. Erzählung, Schauspiel, Essay, Frankfurt. Lacan, Jacques (1991): Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint, in: ders., Schriften I, hg. v. Norbert Haas, 3. Aufl., Weinheim/Berlin, 61-70. Mensendieck, Bess M. (1912): Körperkultur der Frau. Praktisch hygienische und praktisch ästhetische Winke, 5. Aufl., München. Möhring, Maren (2004): Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890-1930), Köln/Wien/Weimar. Müller, J. P. (1908): Mein System. 15 Minuten täglicher Arbeit für die Gesundheit, Leipzig/Zürich. Penz, Otto/Wolfgang Pauser (1995): Schönheit des Körpers. Ein theoretischer Streit über Bodybuilding, Diät und Schönheitschirurgie, Wien. Pronger, Brian (2002): Body Fascism. Salvation in the technology of physical fitness, Toronto/ Buffalo/London. Röder, Hans-Gerd (1999): Das Kraft-Kunst-Institut von Sascha Schneider, in: Dresdner Hefte 17, 22-30. Sarasin, Philipp (1998): Der öffentlich sichtbare Körper. Vom Spektakel der Anatomie zu den curiosités physiologiques, in: ders./Jakob Tanner (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt, 419452. Schwab, Andreas/ Ronny Trachsel (2003) (Hg.): Fitness. Schönheit kommt von aussen, Zürich.
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Das Stripteaselokal Pascal Eitler I. Ein umgedrehtes Panopticon: Das Varieté Alkazar, Hamburg-St. Pauli, 1925 Die Scheinwerfer blenden ab. Ein fahles Halbdunkel umfängt die zehn Meter breite und fünf Meter tiefe Bühne. Um kleine Tische gruppiert blicken 200 Männer und Frauen gebannt auf eine Frau, die in einen Löwenkäfig steigt. Kurz bevor sie verschwindet, lässt sie ihren halb durchsichtigen Schleier fallen. Für einen kurzen Augenblick ist sie vollkommen nackt. Der Käfig verlässt die Bühne, das Publikum tobt. Die Scheinwerfer blenden auf, der Saal erstrahlt in vollem Glanz. Das Orchester spielt auf, zwei Jongleure betreten die Bühne. Der Auftritt Cellys – so das Pseudonym der Frau im Löwenkäfig – 1925 im Alkazar in Hamburg-St. Pauli gilt als eine der ersten Stripteaseshows in Deutschland (Barth 1999, 58f.). St. Pauli ist seit der Jahrhundertwende das bekannteste Vergnügungsviertel Deutschlands und das Alkazar liegt mittendrin: Reeperbahn 110. »Alle 15 Minuten eine Sensation«, so lautet sein Leitspruch, von neun Uhr abends bis drei Uhr nachts. Die ersten Ausziehtänze finden nicht in Stripteaselokalen im engeren Sinn statt; diese entstehen in Deutschland erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wiederum auf St. Pauli. Das Alkazar ist ein Varieté. Trotz mancher Unterschiede steht das Stripteaselokal unverkennbar in dessen Tradition. Ein Stripteaselokal ist von außen weder einsehbar, noch ist es jedem zugänglich. Die Fenster sind abgedunkelt, der Eingang wird überwacht. Dieser Ort scheint ein Geheimnis zu hüten, ein Geheimnis, das nur Männern offenbart wird. Die Frau auf der Bühne verbirgt jedoch nichts, auch wenn sie sich »enthüllt« und ihr mehr oder weniger nackter Körper ein unverhohlenes Versprechen auf Sexualität zu geben scheint. Sexualität findet an diesem Ort nur bedingt statt, Sex wird lediglich simuliert. Tatsächlich ist das Stripteaselokal zuerst und zuletzt ein Lokal, eine Bar mit einer Bühne. Es wird zu Unrecht als ein Ort der Grenzüberschreitung imaginiert. Es ist vielmehr Ausdruck einer spezifisch modernen Verklärung von Sexualität. Das Stripteaselokal bestätigt ein patriarchales Geschlechterverhältnis, das an diesem Ort auf einer ausgeprägten Asymmetrie des Blicks beruht. Es erinnert an das von Jeremy Bentham 1791 entworfene Panopticon, ein Gefängnis, von dessen Zentrum aus die an der Peripherie angeordneten Zellen vollständig einsehbar sind (Foucault 1995, 256ff.). Im Stripteaselokal indes beobachtet und begutachtet die Peripherie das Zentrum. In diesem umgedrehten Panopticon richtet eine Vielzahl von Männern im Publikum ihren Blick auf eine einzige Frau auf der Bühne. Die Männer sind angezogen und sitzen im Dunkel, die Frau tanzt im Licht und zieht sich zu langsamer Musik ebenso langsam aus. Das Stripteaselokal ist keine Heimstätte des sexuellen Kontakts, sondern eine Produktionsstätte von Nacktheit. Je weiter sich eine Stripteasetänzerin auszieht und je mehr sie von ihrem Körper zeigt, je näher sie den Männern im Publikum rückt, desto mehr entfernt sie sich von ihnen. Der Laufsteg, der seit Anfang der dreißiger
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Jahre Verbreitung findet, bringt die Frau den Männern nur scheinbar »zum Greifen nah«, denn der unmittelbare Kontakt zwischen Publikum und Bühne ist in aller Regel verboten. Er bleibt rein virtuell: Je mehr Nacktheit, desto weniger Sex (Eco 1995, 18ff.). Der Striptease soll zwar sexuell stimulieren, der »Akt« selbst allerdings findet an anderen Orten statt. Im Stripteaselokal ist eine bestimmte Ordnung des Sichtbaren verkörpert, die das Spürbare außen vor lässt. In dieser Hinsicht unterscheidet es sich markant von einem Bordell. Vollkommen nackt sind Stripteasetänzerinnen nur für einen verhältnismäßig kurzen Augenblick und erst am Ende ihres rund zehnminütigen Auftritts. Genau genommen werden sie nackt: Das sexuell aufgeladene Sichentkleiden stellt eine Praxis des Übergangs dar (Barthes 1994, 68ff.). Hierin liegt das grundlegende Problem einer Geschichte des Striptease, denn ein Ausziehtanz ist nicht immer eindeutig als solcher zu identifizieren. Bereits der Begriff des strip-tease – ausziehen und anreizen – verweist auf diese Uneindeutigkeit. Menschen ziehen sich in allen möglichen Situationen aus und nur von Zeit zu Zeit soll dieses Ausziehen anreizend sein. Wann man es – und womöglich zum ersten Mal – mit einem Ausziehtanz zu tun hat, ist daher eine Frage der Interpretation, die nicht an datierbare Erfindungen, sondern an Wertsetzungen geknüpft ist. Diese beruhen auf problematischen Unterscheidungen zwischen »Kommerz« und »Kunst«, »Kunst« und »Pornographie«, »Pornographie« und »Erotik«. Hat man es mit »Kunst« zu tun, so handelt es sich um einen Ausdruckstanz, hat man es »nur« mit »Kommerz« zu tun, spricht man von Striptease. Ein Ausdruckstanz gilt als »erotisch«, ein Striptease dagegen als »pornographisch«. Die Grenze zwischen »Kunst« und »Kommerz« ist jedoch ebenso fließend wie die zwischen »Erotik« und »Pornographie«. In der Geschichte der Sexualität markieren diese vermeintlich analytischen Begriffe lediglich erwünschte und unerwünschte Formen der Sexualität, ihrer Darstellung oder Darbietung. Als »pornographisch« wird der Striptease aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgegrenzt. Dies trifft nicht nur die Stripteasetänzerinnen, sondern auch die Männer im Publikum. Der imaginären Ausgrenzung entspricht eine räumliche Segregation: Das Stripteaselokal entwickelt sich innerhalb eines spezifischen Milieus, im Umfeld der »Rotlicht-« oder »Vergnügungsviertel«, sehr häufig am Stadtrand, nicht selten in der Nähe von Häfen oder BAHNHÖFEN. Die bürgerliche Gesellschaft stigmatisiert diese Vergnügungsviertel als »Sündenpfuhl« oder »Brutstätte« von Krankheit und Kriminalität, sie gelten ihr als Bedrohung der öffentlichen Sicherheit. Berühmtberüchtigt werden die Bowery in New York, Soho in London, Montmartre in Paris und St. Pauli in Hamburg. Erst in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts löst sich diese Gestalt des Rotlichtviertels teilweise auf. Geblieben ist die Vorstellung, dass im Stripteaselokal etwas Besonderes, Anrüchiges, gar Geheimnisvolles stattfindet, und dies, obwohl Sexualität und Nacktheit, Ausziehen und Anreizen heutzutage nahezu allgegenwärtig und nicht mehr eindeutig lokalisierbar sind.
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II. Von der Beinshow zur Peepshow: Die Radikalisierung des Ausziehtanzes Der Begriff des Striptease kommt Anfang der dreißiger Jahre auf, weite Verbreitung findet er sogar erst nach dem Zweiten Weltkrieg (Jarrett 1999, 99-113). Die ersten Stripteaselokale im engeren Sinn entstehen in den fünfziger Jahren nahezu zeitgleich in Deutschland, Frankreich, England und in den USA. Die Vorgeschichte des Striptease lässt sich jedoch bis in die 1870er Jahre zurückverfolgen. Sie nimmt ihren Anfang auf der Bühne des Varietés im Rahmen der Burleske, wo die Tänzerinnen »Bein zeigen«. Die Beinshow beginnt ihren Siegeszug in den USA, mit der englischen Varietétänzerin Lydia Thompson und den British Blondes, die 1868 zum ersten Mal in New York auftreten. Auch wenn die Beinshow streng genommen keine Stripteaseshow avant la lettre ist, prägen Thompson und ihr Ensemble das Stereotyp der Stripteasetänzerin für Jahrzehnte: blonde Haare, lange Beine. Der außergewöhnliche Erfolg der British Blondes ruft zahlreiche Nacheifernde auf den Plan, unter anderem Madame Frothingham’s Naughty Blondes. Die Nachfrage nach »Blondes« ist in diesem Zeitraum jenseits des Atlantiks so groß, dass Tänzerinnen, die keine blonden Haare haben, eine blonde Perücke tragen (ebenda, 22ff.). Die Burleske war in den 1860er Jahren als Spielart des Varietés aufgekommen. Sie ist eine Catch-all-Veranstaltung, vermengt Theater und Gesang, Tanz und Zirkus und zielt auf die Unterhaltung derer, die man bald als »Volk«, bald als »Masse«, bald als »Proletariat« bezeichnet. Die Burleske ist frivol, kokett, vulgär und ihr Publikum besteht rasch ausschließlich aus Männern. Eine Beinshow bestreiten meist mehrere Tänzerinnen, die bekleidet die Bühne betreten und zumindest in diesem Zeitraum auch bekleidet wieder verlassen. Die Tänzerinnen zeigen – zumindest aus heutiger Perspektive – noch nicht allzu viel von ihrem Körper, allem voran die Beine oder vielmehr die Strumpfhose, die sie tragen, schließlich jenen winzigen Abschnitt der Beine zwischen Strumpf und Unterhose. Die Frauen auf der Bühne tanzen jedoch nicht nur, sie singen und schauspielern auch. Komiker, Zauberer, Jongleure ergänzen das Programm. Die Beinshow ist eine Nummer unter anderen, auch wenn sie im Zentrum der Burleske steht (Sobel 1947). Zum mehr oder weniger festen Bestandteil der Beinshow zählt die »quadrille réaliste«. Zu Weltruhm gelangt dieser Tanz allerdings erst in den 1890er Jahren unter der Bezeichnung »Cancan« – jedoch nicht in New York, im Kontext der Burleske, sondern in Paris, im Rahmen der Revue. Diese war seit den 1880er Jahren aus dem Varieté entstanden. Die Revue ist aufwändiger und kostspieliger als die Burleske, die größeren Bühnen werden immer beeindruckender ausstaffiert und die vielen Tänzerinnen sind in luxuriöse Gewänder gekleidet. Im Unterschied zur Burleske wendet sich die Revue an ein vorrangig bürgerliches Publikum, das mehrheitlich, aber nicht ausschließlich aus Männern besteht. Die aufwändigsten und kostspieligsten Revuen von Paris produzieren um die Jahrhundertwende das Moulin Rouge und das Folies Bergère. Sie machen den Cancan zu einer allabendlichen Attraktion und Paris zur viel beschworenen »Hauptstadt der Liebe«. Die Grenze zwischen Tänzerin und Prostituierter ist in diesem Zeitraum
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noch fließend. Das Folies Bergère zum Beispiel besitzt eine »Wandelhalle« im hinteren Bereich des Gebäudes, in der sich Tänzerinnen und Prostituierte jeweils vor und nach einer Beinshow präsentieren, um sich gegebenenfalls in eines der zahlreichen Séparées »zurückzuziehen«. Die Cancan-Tänzerin Louise Weber – genannt »La Goulue«, die Unersättliche – wird zum gefeierten Star des Moulin Rouge, weil sie offensiver als ihre Kolleginnen ein Versprechen auf Sexualität zu geben scheint, auch fernab der Bühne. Als Unersättliche wird sie von Henri de Toulouse-Lautrec verewigt, dessen Bilder nicht unerheblich für den Weltruhm des Moulin Rouge verantwortlich sind. Das Moulin Rouge ist für die Geschichte des Striptease von besonderer Bedeutung, weil es auf einen der wesentlichen Einflüsse auf die Entwicklung des Ausziehtanzes verweist: den Bauchtanz. Es eröffnet 1889, im selben Jahr wie die Pariser Welt- und Kolonialausstellung (VÖLKERKUNDEMUSEUM). Eine der Hauptattraktionen der Ausstellung, von der sich das Moulin Rouge inspirieren lässt, ist die »Kairoer Straße«, in der erstmals vor einem größeren Publikum Bauchtänzerinnen aus Algerien und Ägypten vorgeführt werden. Vier Jahre später übernimmt die Chicagoer Welt- und Kolonialausstellung dieses Konzept und präsentiert eine Bauchtänzerin, die unter dem Pseudonym »Little Egypt« bekannt wird und zahllose Nacheiferinnen findet (Jarrett 1999). Der Einfluss des Bauchtanzes auf den Striptease illustriert ein Phänomen, das Edward Said als »Orientalismus« bezeichnet hat (Said 1981). Im Zeitalter von Kolonialismus und Imperialismus macht sich der »Okzident« ein phantasmatisches Bild vom »Orient«. Im Striptease entfaltet sich dieses Bild in der Verbindung von Erotik und Exotik. Tänze aus dem »Orient« – neben dem arabischen Bauchtanz vor allem der indische Tempeltanz – prägen ihn maßgeblich. Den vermeintlich »orientalischen« Charakter des rhythmischen Hüftkreisens nimmt das »westliche« Publikum als ebenso geheimnisvoll wie anreizend wahr. Auch in der Kleidung der Tänzerinnen – weit verbreitet sind Schleier, Federn und Perlenkostüme – und in der Gestaltung des Bühnenbildes findet der Orientalismus seinen Niederschlag. So inszeniert sich das Moulin Rouge mit seinen Rundbögen, Säulengängen und der überdimensionalen Elefantenstatue im hinteren Teil des Gebäudes um die Jahrhundertwende ganz gezielt als »orientalischer« Palast (GRANDHOTEL). Stilbildend für diesen Orientalismus wird nach der Jahrhundertwende der an den arabischen Bauchtanz angelehnte Tanz der Salomé. Die kanadische Ausdruckstänzerin Maud Allan führt ihn zum ersten Mal 1906 am Wiener Carl Theater auf, anschließend begibt sie sich mit großem Erfolg auf eine Tournee durch Europa und gastiert unter anderem über ein Jahr am Palace Theatre in London (Jarrett 1999, 6576; Ochaim/Balk 1998, 98f.). Allan ist durch die gleichnamige Oper von Richard Strauss inspiriert, auch in der Musik dieser Zeit findet der Orientalismus seinen Ausdruck. Sie tanzt die biblische Geschichte der Salomé in einzelnen Kapiteln und knüpft auf diese Weise an die Tradition des tableau vivant an. Ihre Salomé ist eine »lebende Statue« in Bewegung. »Lebende Statuen« kannte schon das Varieté des späten 18. Jahrhunderts: Eine oder mehrere Frauen, zuweilen auch Männer, wurden
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dabei meist nach dem Vorbild eines klassischen Gemäldes arrangiert und zur Schau gestellt, mehr oder weniger nackt, mitunter in einem hautfarbenen Ganzkörperkostüm, aber stets bewegungslos (Jarrett 1999, 67ff.; Wortley 1976, 12ff.). Auch wenn die Anknüpfung an die Tradition des tableau vivant, der Bezug auf eine biblische Geschichte und die Aufführung in bürgerlichen Theatern den Tanz der Salomé als »Kunst« zu qualifizieren scheinen, auch wenn Allan als eine Wegbereiterin des Ausdruckstanzes und nicht als eine Vertreterin des Ausziehtanzes gelten darf – selten zuvor hat eine Frau auf der Bühne so viel von ihrem Körper gezeigt wie sie. Anfangs noch von einem Schleier verhüllt, bedeckt am Ende ihres Auftritts nur noch ein Perlenkostüm ihren Busen und Schambereich. Weiter geht vor Beginn des Ersten Weltkriegs kaum eine Frau. Auch am indischen Tempeltanz orientierte Tänzerinnen wie die Amerikanerin Ruth St. Denis oder die berühmt-berüchtigte Mata Hari lassen nicht alle »Hüllen« fallen. Eine der wenigen Ausnahmen stellt die Berliner Nackttänzerin Olga Desmond dar, die sich 1910 im Rahmen von »Schönheits-Abenden« vor ausgesuchtem Publikum quasi nackt präsentiert (Ochaim/Balk 1998, 76ff., 103ff.; Barche 1985, 307f.). Die Entstehung des Ausdruckstanzes vor Beginn des Ersten Weltkriegs im Fadenkreuz von Orientalismus, Expressionismus und Nacktgymnastik ist für den Striptease wegweisend. Doch erst in den zwanziger Jahren präsentieren sich Frauen auf der Bühne reihenweise fast oder vollkommen nackt. Zu Weltruhm bringt es die Amerikanerin Josephine Baker, die ihre als ekstatisch beschriebenen Tänze zwischen 1925 und 1927 in Paris und seit 1926 auch in Berlin aufführt. Vollkommen nackt zeigt sich Baker allerdings nicht, ein Kostüm aus »Bananen« bedeckt ihren Schambereich – ein deutlicher Hinweis auf die vermeintliche Heimat der Tänzerin: »Afrika«. Auch bei Josephine Baker greift das Phantasma des Orientalismus, die Verknüpfung von Erotik und Exotik, allerdings leicht variiert: Sie steht für die Verbindung des primitiv Urwüchsigen Afrikas mit der technischen Moderne Amerikas (Nenno 1997; Jarrett 1999, 84f.). Eine der ersten Tänzerinnen, die in Deutschland vollkommen nackt auftreten, ist Anita Berber. Sie gilt als eine der begabtesten Vertreterinnen des Nackttanzes in der Zwischenkriegszeit. Erstmals 1919 in Berlin zu sehen, wird sie mit den Tänzen des Lasters, des Grauens und der Ekstase bekannt, die sie 1922 im Wiener Konzerthaus präsentiert (Jarrett 1999, 90-97). Berber ist eine Ausdrucks- und Nackttänzerin, die eher an Allan und Desmond als an Baker anschließt. Indes ist diese Form der »Kunst« der Stripteaseshow in zweierlei Hinsicht erheblich ähnlicher als der »Kommerz« der Beinshow: Nackttänzerinnen wie Berber treten dem Publikum allein gegenüber und nicht im Schutz eines Ensembles. Sie sind den Blicken der Männer im Publikum daher kaum weniger ausgeliefert als Stripteasetänzerinnen im engeren Sinn. Ihr Ort ist in der Regel das Cabaret und nicht das Varieté, ihre Bühne ist daher vergleichsweise klein und kaum ausstaffiert, die Atmosphäre suggeriert Intimität. Das Beispiel von Tänzerinnen wie Allan, Desmond oder Berber unterstreicht, wie fließend die Grenzen zwischen »Kunst« und »Kommerz« in der Geschichte des Striptease sind.
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Der erste Striptease, der sich eindeutig als solcher identifizieren lässt, findet in New York statt, wo die Vorgeschichte des Ausziehtanzes ihren Anfang genommen hat – auf der Bühne der Burleske. Er wird der Amerikanerin Mae Dix zugeschrieben, die 1917 während eines Auftritts im National Winter Garden einen kurzen Blick auf ihren Busen freigibt und damit für Furore sorgt. Den Begriff »Striptease« prägt rund 15 Jahre später Billy Minsky, der Besitzer des National Winter Garden. Der so genannte »König der Burleske« ist es auch, der wenig später den Laufsteg in die Stripteaseshow einführt (Jarrett 1999, 102-122). In der Zwischenkriegszeit beginnt sich der Striptease diesseits und jenseits des Atlantiks deutlich zu radikalisieren. Binnen weniger Jahre wird aus der Bein- eine Busenshow. Auf St. Pauli ist es das Alkazar unter Leitung von Arthur Wittkowski, in Berlin sind es James Klein an der Komischen Oper und Hermann Haller am Admiralspalast, die diese Entwicklung maßgeblich vorantreiben (Jansen 1987). Wie der Name sagt, bleibt der Schambereich im Kontext der Busenshow jedoch in aller Regel bedeckt. Das Stripteaselokal im engeren Sinn – als ein exklusiver Ort für den Ausziehtanz – entsteht nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Stilbildend wird unter anderem der 1953 von Alain Bernardin in Paris eröffnete Crazy Horse Club. Die Bühne des Crazy Horse ist verhältnismäßig klein und kaum ausstaffiert, nichts soll den Blick der Männer im Publikum von der Frau auf der Bühne ablenken. Der Club steht in der Tradition des Cabaret und nicht des Varietés. Die Bühne dient anders als bei Burleske oder Revue nur noch einem Zweck: dem Ausziehen und Anreizen. Die Frauen auf der Bühne sind ausschließlich Stripteasetänzerinnen, weder singen noch schauspielern sie. Auch im Crazy Horse indes gilt noch bis in die sechziger Jahre und entsprechend der herrschenden Rechtslage: Wenn die Frau auf der Bühne unmittelbar vor Ende ihres Auftritts vollkommen nackt ist, bleibt sie unbewegt, sie verlässt die Bühne im fahlen Halbdunkel (Wortley 1976, 31f.; Jarrett 1999, 135-144). In Deutschland, wo man den Striptease anfangs noch als »Schönheitstanz« bezeichnet, fallen die letzten »Hüllen« zum ersten Mal 1963, wiederum auf St. Pauli, in Hans-Henning Schneidereits Moonlight Bar. Für fünf Mark extra ziehen die Tänzerinnen auch den Schlüpfer aus. Noch einen Schritt weiter geht Schneidereit in seinem kurz darauf eröffneten Haiha Safari Club, wo 1964 der erste Koitus vor Publikum simuliert wird, sechs Jahre bevor auf St. Pauli die ersten Live-Sex-Shows stattfinden (Barth 1999, 106ff.; Gutberlet 2000, 35ff.). Nirgendwo in Deutschland ist die Prostitution zu dieser Zeit so gut organisiert und fest etabliert wie auf St. Pauli und nirgendwo entstehen mehr pornographische Magazine – nicht zuletzt aufgrund der geographischen Nähe zu Dänemark. 1967 wird dort, ein Jahr später auch in Schweden, die Pornographie legalisiert, woraufhin Deutschland von einer regelrechten »Pornowelle« überschwemmt wird. Die massenmediale Verbreitung von Pornographie, die Omnipräsenz von Sexualität und Nacktheit in Illustrierten und KINO, in Theater und Fernsehen, setzt das Stripteaselokal unter Zugzwang. Während die Tänzerinnen dort immer mehr von ihrem Körper zeigen, entsteht parallel in den siebziger und achtziger Jahren die Peepshow. Sie beginnt dort, wo die Stripteaseshow endet: Die Frau auf der Bühne, so man denn im Fall der Peepshow noch von
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einer Bühne sprechen mag, zieht sich nicht aus – sie ist und bleibt nackt. Ihr Körper ist den Blicken der Männer unbeschränkt ausgesetzt, wenngleich das Publikum nunmehr von der Bühne durch Scheiben und Wände getrennt ist und die Männer von ihren Kabinen aus einzeln auf die Bühne blicken.
III. Männer, Frauen und die Sorge um den Körper Die Geschichte des Ausziehtanzes, von der Beinshow zur Peepshow, kann als eine stetige und schließlich beschleunigte Radikalisierung beschrieben werden, in deren Verlauf sich das Stripteaselokal als Ort der Moderne allmählich herausbildet. Aus dem Varieté, das verschiedene Sparten und Formen der Unterhaltung vermischte, gehen spezialisierte Vergnügungsstätten wie das KINO, das TANZLOKAL und das Stripteaselokal hervor. Sie illustrieren wie das HOCHHAUS, die STADTRANDSIEDLUNG oder der KLEINGARTEN die funktionale Differenzierung zwischen verschiedenen Bereichen des städtischen Lebens. Innerhalb der Stadt befindet sich das Stripteaselokal zumeist im Rotlichtviertel, häufig in der Nähe des BAHNHOFS. Wie dieser kann es zwar topographisch in der Mitte der Stadt liegen und doch aus ihr herausweisen. In der bürgerlichen Gesellschaft ist das Vergnügungsviertel und mit ihm das Stripteaselokal ein randständiger Ort, imaginär und räumlich ausgegrenzt. Diese Ausgrenzung geht jedoch mit einer bestimmten Form der Eingrenzung einher. Die bürgerliche Gesellschaft ist an dieses spezifische Milieu gleichsam gekettet, als ihr verzerrtes Spiegelbild, ihr »konstitutives Außen« (Butler 1997, 30ff.). Das Stripteaselokal markiert, der Gefängniszelle vergleichbar, das vermeintlich »ganz Andere«, das Anrüchige, Geheimnisvolle, von dem sich die bürgerliche Gesellschaft fortlaufend abgrenzen muss, um ein Bild von sich selbst zu gewinnen. Die bürgerliche Gesellschaft grenzt das Vergnügungsviertel aus und kanalisiert auf diese Weise ein ebenso tabuisiertes wie viel beschworenes »Vergnügen«. Die Ausgrenzung der Sexualität muss produktiv gedacht werden: Sie bewirkt – auf paradoxe Weise – eine Pluralisierung der Sexualität und des Bedürfnisses nach Sexualität (Foucault 1996). In dieser Hinsicht ist das Stripteaselokal dem WARENHAUS verwandt. Auch das Warenhaus produziert und vervielfältigt Bedürfnisse, die es angeblich lediglich zu befriedigen trachtet. So verwundert es nicht, wenn in den sechziger und siebziger Jahren Sexshops und »Erotik-Center« Eingang in die Vergnügungsviertel und schließlich sogar in die Seitenstraßen von Einkaufspassagen finden. Die Stripteasetänzerin ist jedoch keine Ware im üblichen Sinn, denn der Ausziehtanz selbst ist verhältnismäßig preiswert oder sogar kostenlos, verdient wird in erster Linie mit der Gastronomie und nicht mit der Show. Erst die Peepshow verkauft die Tänzerin als solche. Die Vervielfältigung sexueller Bedürfnisse in der Moderne ist eng mit deren Virtualisierung verbunden. Anders als im Bordell wird Sex im Stripteaselokal lediglich simuliert. Es erlaubt nur Blickkontakt zwischen Bühne und Publikum und ähnelt darin dem STADION und dem KINO. Auch das Stadion trägt Züge eines
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umgedrehten Panoptikums und das Spielfeld gleicht durchaus einer Tanzbühne. Im Kino ist der Blick zwar nicht auf eine Bühne, sondern auf eine Leinwand ausgerichtet, aber der Unterschied zwischen Kino und Stripteaselokal verschwimmt, insofern der Kontakt zwischen der Frau auf der Bühne und den Männern im Publikum ebenfalls rein virtuell bleibt. In den siebziger und achtziger Jahren übernimmt das »Bahnhofskino« immer mehr die Funktion des Stripteaselokals, das in den neunziger Jahren fast vollkommen von Video und Internet verdrängt wird. Mit dem Striptease im Internet erreicht diese Tendenz zur Virtualisierung ihren vorläufigen Höhepunkt. Käufliche Nacktheit und Nacktheit als Kaufanreiz verlassen in ihrer medialisierten Form den ihnen lange Zeit vorbehaltenen Bereich des städtischen Lebens und sind inzwischen an fast jedem öffentlichen und privaten Ort abrufbar. Im virtuellen Raum des Internets reproduzieren Konventionen des Erlaubten und Verbotenen die nunmehr in Auflösung begriffenen Grenzziehungen des Stadtraums. Die Präsentation eines vermeintlichen Höchstmaßes an Intimität bei weitgehender Anonymität – die schließlich vollkommen nackte Frau auf der Bühne vor einem Publikum von Unbekannten – zeichnet das Stripteaselokal aus und verbindet es mit dem STRAND, der unter den Bedingungen körperlicher Nähe ebenfalls Nacktheit produziert. Am Strand kommt jedoch die Asymmetrie des Blicks nicht so zum Tragen wie im Stripteaselokal. Diese Asymmetrie fehlt auch dem TANZLOKAL, wenngleich dort auf der Tanzfläche als Bühne Männer und Frauen ihre mehr oder weniger nackten Körper präsentieren und Varieté oder Tanzlokal vor dem Zweiten Weltkrieg häufig in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander liegen. Auch der KRAFTRAUM ist ein Ort der weitgehend anonymen Körperpräsentation, und nicht zufällig verbindet das tableau vivant die Geschichte des Kraftraums mit der des Striptease – wenngleich die »lebende Statue« im Kontext der Freikörperbewegung, in deren Rahmen der Kraftraum entsteht, zumindest keinen offenen Bezug zur Sexualität besitzt. Die Freikörperbewegung unterscheidet in diesem Zusammenhang rigide zwischen unerwünschter Sexualität und erwünschter Nacktheit. Striptease- und Tanzlokal, Strand und Kraftraum sind als Orte der Körperpräsentation je auf ihre Weise Ausdruck einer spezifisch modernen Sorge um den Körper. Im Fall des Stripteaselokals ist dabei in aller Regel nur ein Körper Gegenstand der Präsentation: der Körper der Frau auf der Bühne. Weit stärker als an den meisten anderen Orten der Moderne gründet das Stripteaselokal auf einem patriarchalischen Geschlechterverhältnis, das es uneingeschränkt reproduziert. Anders als an »männlichen« Orten wie der FRONT oder dem STADION ist hier die Anwesenheit einer Frau grundlegend für die herrschende Ordnung des Sichtbaren. Die Asymmetrie des Blicks, auf der dieses patriarchialische Geschlechterverhältnis beruht, verleiht dem Stripteaselokal eine politische Ebene, die es seit den siebziger Jahren zu einem bevorzugten Objekt der feministischen Kritik werden lässt. Sie macht es vor allem in den USA und England zu einem Ort, an dem das vermeintlich Private zu einem umkämpften Politikum wird. Feministinnen wie Andrea Dworkin haben gezeigt, dass es an diesem Ort weniger um Sexualität als um Macht geht. Postfeministinnen wie Judith Butler haben in den neunziger Jahren jedoch zu
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Recht darauf aufmerksam gemacht, dass diese Macht stets unvollkommen bleiben wird: Wie jeder andere Ort der Moderne bietet auch das Stripteaselokal Spielräume, winzige Spielräume für die Tänzerinnen, aber auch für die Männer im Publikum. Es eröffnet bescheidene Handlungsmöglichkeiten, die eigentlich nicht vorgesehen sind. Auch in dieser Hinsicht ist das Stripteaselokal ein moderner, ein ambivalenter Ort.
Literatur Barche, Gisela (1985): Als der siebte Schleier fiel, in: Michael Köhler/dies. (Hg.), Das Aktfoto. Ansichten vom Körper im fotografischen Zeitalter, München, 304-310. Barth, Ariane (1999): Die Reeperbahn. Der Kampf um Hamburgs sündige Meile, Hamburg. Barthes, Roland (1994): Strip-tease, in: ders., Mythen des Alltags, Frankfurt, 68-72. Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht, Frankfurt. Eco, Umberto (1995): Platon im Striptease-Lokal, in: ders., dass., München, 16-21. Elsom, John (1973): Erotic Theatre, London. Foucault, Michel (1995): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt. Ders. (1996): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt. Gutberlet, Ronald (2000): Die Reeperbahn. Mädchen, Macker und Moneten, Hamburg. Jansen, Wolfgang (1987): Glanzrevuen der zwanziger Jahre, Berlin. Jarrett, Lucinda (1999): Striptease. Die Geschichte der erotischen Entkleidung, Berlin. Nenno, Nancy (1997): Femininity, the Primitive, and Modern Urban Space: Josephine Baker in Berlin, in: Katharina von Ankum (Hg.), Women in the Metropolis. Gender and Modernity in Weimar Culture, Berkeley u.a., 145-161. Ochaim, Brygida/Claudia Balk (1998): Varieté-Tänzerinnen um 1900. Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne, Frankfurt. Said, Edward (1981): Orientalismus, Frankfurt. Sobel, Bernard (1947): A Pictorial History of Burlesque, New York. Wortley, Richard (1976): A Pictorial History of Striptease. 100 years of undressing to music, New York.
Verdichten: Orte der Zerstörung
Gewalt, Kriege und Völkermorde haben die moderne Gesellschaft der Illusion beraubt, mit dem technischen Fortschritt einen unumkehrbaren Weg in eine bessere Welt zu gehen. Viele Errungenschaften der langen Jahrhundertwende gingen auf Kosten kolonialer »Völker« und einheimischer Unterschichten. Die Orte der modernen Gewalt überragt allerdings ein bestimmter wegen seiner Beispiellosigkeit: Der Massenmord in den Gaskammern von Auschwitz hat vielfach zu der Annahme verleitet, man habe es mit einem unbegreifbaren Rückfall in vormoderne »Barbarei« zu tun. Doch die Effizienz des Mordens verstört. Moderne Technik ist hier nicht einfach für irrationale Zwecke missbraucht worden, sondern mit ihrem destruktiven Gebrauch waren untrennbar Vorstellungen von Ordnung, Hygiene und Sicherheit verknüpft. So sind Orte der Zerstörung zumeist auch Orte der Rationalisierung, an denen sich die Ambivalenz der Moderne in aller Schärfe offenbart: Wo Fortschritt und Tod, Zurichtung und Vernichtung ineinander greifen, reduziert sich Leben oftmals auf ein bloßes Überleben. Das U-BOOT geht über traditionelles Kriegsgerät hinaus, weil es sich in ein Element begibt, das in der militärischen Auseinandersetzung sowohl Verbündeter als auch Feind sein kann. Die Isolation von der Außenwelt zwingt auf engstem Raum eine hierarchische Solidargemeinschaft zusammen, die sich offensiv verhält, soweit es ihre Verletzlichkeit zulässt. Auch der Panzer schottet den Angreifer beim Vormarsch von der Außenwelt ab. Auf dem vertrauteren Terrain des Landes gab er der FRONT eine neue Gestalt, die sich im totalen Materialkrieg zum Schauplatz eines industrialisierten Tötens entwickelte. Angesichts des anonymen Sterbens und Zerstörens wurde im Bild der »Frontgemeinschaft« die erzwungene Nähe im Schützengraben heroisiert. Anders als der militärische Kampf mit seiner wechselseitigen Gewalt und der Möglichkeit, vielleicht zu überleben, verläuft das institutionalisierte, räumlich konzentrierte Töten im zivilen Alltag einseitig und ausnahmslos. Der Bedarf nach hygienischer Lebensmittelversorgung bringt im Schlachthof, wo Tiere massenhaft getötet und verarbeitet werden, ein industrielles Verfahren hervor, das zum Vorbild für das Fließband wird. Auf dem elektrischen Stuhl dagegen sterben Einzelne, die verurteilt worden sind, sich in extremer Weise an der Integrität der Gesellschaft vergangen zu haben. Ihre Hinrichtung stellt eine vergleichbar extreme, endgültige
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Form des Ausschlusses dar, der die Verwahrung im Hochsicherheitstrakt vorausgeht, mit dem sich die Gemeinschaft vor Einzelnen schützt. Dagegen verspricht der BUNKER, ganze Kollektive in einem unzerstörbaren Gehäuse sicher einzuschließen, wenn der Krieg die Heimatfront erreicht oder zivile Hochtechnologie außer Kontrolle gerät. Während im Alltag der Notausgang die Flucht nach draußen ermöglichen soll, gleicht der Zutritt zum Bunker einem – häufig privilegierten – Noteingang in eine zusammengedrängte Überlebensgemeinschaft. Sie durchzieht als Szenario der »Risikogesellschaft« die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ebenfalls weitgehend abgeschottet ist das KONZENTRATIONSLAGER, allerdings dient es nicht dem sichernden oder gar befreienden Rückzug. Im Gegenteil sind die Häftlinge hier in einem rationalen Raumarrangement so einzigartig konsequent der Herrschaft ausgesetzt, dass dieser Ort als Experimentierfeld für die Abtötung von Individualität angesehen werden kann. Wie an der technisch expansiven Front fand im Konzentrationslager die Zerstörung in einem hochgradig verdichteten Raum statt. Die Absonderung solcher Räume selbst in Gewaltherrschaften zeugt davon, dass sie ihre Zerstörungen nicht oder nur in kontrollierter, verzerrter Form sichtbar werden lassen wollen.
Das U-Boot Jan Rüger I. Torpedoförmiger Stahlkörper: U 1, 1906 »Kiel, 15. Dezember. Das erste deutsche Unterseeboot ›U 1‹ ist gestern in Dienst gestellt worden.« Die lapidar klingende Meldung des Wolffschen Telegraphen-Bureaus im Dezember 1906 betraf einen torpedoförmigen Stahlkörper von 42,4 Meter Länge und 3,8 Meter Breite. Sein Außenschiff war aus verzinktem Torpedobootsblech gebaut, maximal zwölf Millimeter stark und mit Spanten im Abstand von 1,6 Metern gefertigt. Um die höchste Festigkeit gegen den Überdruck unter Wasser zu erreichen, war er im Querschnitt kreisrund. Über Wasser von zwei Sechszylinder-Zweitaktern, unter Wasser von zwei Elektromotoren angetrieben, erreichte das erste Unterseeboot der deutschen Marine eine maximale Geschwindigkeit von 10,8 Knoten (aufgetaucht) oder 8,7 Knoten (getaucht). Das U 1 hatte eine Verdrängung von 238 Tonnen über Wasser und 283 Tonnen unter Wasser. Seine Nenntauchtiefe lag bei 30 Metern, die maximale Tauchtiefe, die seine Konstrukteure Boot und Mannschaft zutrauten, bei 50 Metern, auf dem Tiefenmanometer des Maschinenraums mit einem roten Strich gekennzeichnet.
18. Der Stahlkörper. Voll- und Schnittmodell des Unterseebotes U 1, 1906. »Maschinenraum« erscheint dabei als irreführende Bezeichnung, schließlich war das ganze U-Boot ein Maschinenraum. Die Akkumulatoren für den Antrieb waren über den gesamten Innenraum verteilt, Leitungen und Rohre durchzogen ihn von Bug bis Heck. Selbst die Zentrale, oft als »Nervenzentrum« oder »Gehirn« des U-Boots
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bezeichnet (TELEFONZENTRALE), war ein Motorenraum. Hier lag der streng regulierte Zugang zum »Turm«, waren die Schalter und Sicherungen des elektrischen Netzwerks angebracht sowie die wichtigsten Navigations- und Kommunikationsinstrumente zu finden, speziell das Periskop. Daneben befand sich hier der Antriebsmotor für Kompressor, Hauptlenzpumpe und Gebläse. Für die Besatzungsmitglieder musste also der Eindruck vorherrschen, sich in einer komplexen Maschine zu befinden, in einem unübersichtlichen Netzwerk, das nicht selten auch als technischer »Organismus« bezeichnet wurde. Im U-Boot, erklärte 1911 Graf Bernstorff, Korvettenkapitän a. D., den Lesern der Gartenlaube, herrschte »eine so sinnverwirrende Fülle von Rohren und Leitungen aller Art, dass wir zunächst staunend fragen, wie es überhaupt möglich ist, dass sich ein Mensch in diesem scheinbaren Wirrwarr zurechtfinden kann« (Bernstorff 1911, 187). Wenigstens ein Dutzend Männer mussten sich in diesem »Wirrwarr« zurechtfinden. Die Besatzung war entsprechend der Arbeitsteilung des U-Boots auf verschiedene Stationen aufgeteilt, wo sie ihren speziellen Aufgaben nachgingen. Die räumliche Trennung von Arbeits- und Aufenthaltsbereich war dabei weitgehend aufgehoben. Im U-Boot wohnen die Mannschaften an dem Ort, an dem sie arbeiten. Auch dort, wo die Crew schläft oder rastet, herrschen Technik und Stahl vor. Die Stahlgestelle, die der Besatzung von U 1 als Kojen dienten, waren direkt über den Batterien angebracht, die das U-Boot unter Wasser mit Energie versorgten. Diese waren nicht mehr durch traditionelle Baustoffe wie Holz verkleidet oder abgetrennt. Während im zivilen und militärischen Schiffbau dieser Zeit Elemente der vorindustriellen Zeit durchaus, wenn oft auch nur stilisiert oder zitiert, übernommen wurden, verweigerte sich das U-Boot solcher Beeinflussung. Entscheidend für seine Materialität und Architektur waren Funktionalität und Effizienz. Tradition und zu einem gewissen Grad selbst Hierarchien mussten sich diesen Kriterien unterordnen. Der Offiziersbereich war zwar räumlich vom Rest der Besatzung getrennt, wurde von diesem aber regelmäßig durchquert: Es gab bei U 1, wie bei allen klassischen U-Booten, nur einen Durchgang für den »Bootsverkehr«, der längs durch das gesamte Boot ging. Um beispielsweise vom Motorenraum zur Toilette zu gelangen, mussten Zentrale und »Offizierswohnraum« durchquert werden. Eine separate Küche gab es nicht, dafür drei elektrische Kochtöpfe und eine Kochkiste. Die Toilette war auf der Backbordseite des Torpedoraums angebracht und nicht abgeteilt: Die technologische Rationalität des U-Boots hatte Vorrang gegenüber Intimsphäre und Schamgefühl. Mannschaftsmitglieder jeden Rangs verrichteten hier, zwischen Stahlwand und Torpedoröhre, ihre Notdurft, die mit Pressluft aus dem U-Boot gepumpt wurde. Wie im Rest des Bootes dominierte auch an diesem Ort der Maschinencharakter. Das U-Boot ist ein Druckkörper, eine abgeschlossene Stahlkapsel, in der physisch und psychisch Verdichtung und Isolation herrschen. Die Unterordnung des Einzelnen unter diese Bedingungen ist eine Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des U-Boots, für den Erfolg seiner Mission und die Unversehrtheit der Mannschaft. Das temporäre Versiegeln des Ausgangs markiert den Beginn der Tauchfahrt und die Isolation der Mannschaft von der Außenwelt. Das Eingeschlossensein, die
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schlechte Atemluft und das wiederholte Auf- und Abtauchen belasten besonders neue Besatzungsmitglieder. Die Zeit im U-Boot wurde als Zeit der Entsagung erfahren, der Luftknappheit und Selbstdisziplin. Der eigene Körper war ungewohnten Veränderungen und Schwächungen unterworfen (Das U-Boot 1918, 47f.). Die Isolation in diesem Druckkörper beschrieben Besatzungsmitglieder immer wieder als eine Form der Gefangenschaft: »Wir klettern in den gepanzerten Turm des U-Bootes hinunter. Luftdicht schliesst sich die schwere Klappe über unseren Köpfen. Nun stehen wir gleich Gefangenen im Innern«, schrieb ein Mitfahrender 1916 (Das UBoot 1916, 34).
II. Das U-Boot: Ein Produkt der Moderne Das U-Boot ist ein Produkt der »klassischen«, industriellen Moderne. Nahezu alle wesentlichen Aspekte seiner Konstruktion und Funktionsweise verdanken sich der Zeit zwischen 1880 und 1930. Pläne für Unterseeboote existieren aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Einige wichtige Pioniertauchboote wurden zur Mitte des 19. Jahrhunderts konstruiert, so der »Brandtaucher« von Wilhelm Bauer, der 1851 bei der ersten Probefahrt in der Kieler Bucht sank, der 1863 von der französischen Marine in Dienst gestellte »Plongeur« und das von Hand angetriebene Tauchboot »H. L. Hunley« der Konföderierten im Amerikanischen Bürgerkrieg. Die Hunley ging 1864 unter, als eine von der Crew an einem Blockadeschiff angebrachte Mine explodierte. Erst die Kombination von Errungenschaften des späten 19. Jahrhunderts, insbesondere einer Reihe von Erfindungen der Elektrotechnik, ermöglichte es, ein Schiff zu konstruieren, das selbstständig auf- und abtauchen und sich unter Wasser fortbewegen konnte. Die Erfindung des Torpedos durch Robert Whitehead gab dem U-Boot zudem eine Waffe, die es einsetzen konnte, ohne sich selbst unmittelbar zu gefährden. Um abtauchen zu können, verfügt das U-Boot über Ballasttanks oder Tauchzellen, in die Wasser gepumpt wird. Dieser Ballast wirkt der Auftriebskraft der hohlen Stahlkapsel entgegen. Zum Auftauchen werden die Ballasttanks durch Pressluft entleert. Unter Wasser benötigt das U-Boot eine Antriebsart, die sauerstoffunabhängig ist. Erst als zur Jahrhundertwende mit leistungsfähigen Elektromotoren und Akkumulatoren ein solcher Antrieb gefunden war, konnte sich das UBoot durchsetzen. Während der Überwasserfahrt, bei der es von einem Petroleumverbrennungsmotor angetrieben wird, werden die Akkumulatoren aufgeladen, die den Elektromotor während der Unterwasserfahrt bewegen sowie Pumpen, Kompressoren und Gebläse mit Energie versorgen. Entscheidend für die Tauchdauer ist neben den Energiereserven der Sauerstoff. Ist das U-Boot getaucht, wird die Atemluft durch Kalipatronen geführt, die Kohlenstoff binden; sie kann zusätzlich durch Sauerstoff aus Flaschen angereichert werden. Die Tauchdauer konnte bei den U-Booten des frühen 20. Jahrhunderts so auf vier oder fünf Tage ausgedehnt werden.
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Bis in die fünfziger Jahre hinein, als zum ersten Mal Nuklearreaktoren als luftunabhängiger Antrieb für Unterseeboote eingesetzt wurden, blieb die Kombination von Verbrennungs- und Elektromotor die wesentliche Antriebsart aller Unterseeboote. Der irischstämmige Amerikaner John Philip Holland konstruierte den ersten Prototypen mit diesen technologischen Merkmalen der Moderne. Holland VI lief 1897 vom Stapel und wurde 1900 von der U.S. Navy übernommen. Die erste Generation britischer Unterseeboote, die »Holland Class«, basierte ebenso auf diesem Prototyp. Im Februar 1903 wurde mit A 1 das erste U-Boot der Royal Navy in Dienst gestellt. Die deutsche Marineleitung unter Alfred von Tirpitz war U-Booten gegenüber zunächst skeptisch eingestellt und trieb deren Entwicklung später als die britische, amerikanische und französische Flotte aktiv voran. Erst als die Germania Werft in Kiel drei Unterseeboote für Russland fertiggestellt hatte und diese Boote Tauglichkeit bewiesen, gab die kaiserliche Marine im Dezember 1904 das spätere U 1 in Auftrag. Sein Entwurf lehnte sich den drei bereits nach Russland gelieferten Booten an, wurde aber in wichtigen Punkten überarbeitet, weswegen die Werft erst im April 1905 mit dem Bau begann. Am 4. August 1906 wurde das Boot zum ersten Mal zu Wasser gelassen, im November erhielt es die Bezeichnung U 1 und im Dezember wurde es schließlich nach umfangreichen Probefahrten in Dienst gestellt. Dem Pionierboot, dem die Marine 1911 bescheinigte, es habe sich »als ein sehr gutes Tauchboot bewährt« (Rössler 1997, 10), folgte eine zunächst zögerlich ausgebaute Serie an U-Booten. 1910 wurde die erste U-Boot-Flotille der deutschen Marine zusammengestellt, bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs standen 28 U-Boote im Dienst der Flotte. Der Erste Weltkrieg brachte den Durchbruch des U-Boots als Waffengattung und gleichzeitig deren Ausdifferenzierung: Auf deutscher Seite reichten die eingesetzten Typen von kleinen Küsten-U-Booten (125 bis 250 Tonnen) bis zu Unterseekreuzern (1.700 bis 3.200 Tonnen), die den Atlantik überqueren konnten. Die deutsche Marineleitung verordnete den raschen Ausbau der »U-Boot-Waffe«, die, insbesondere mit der Erklärung des »uneingeschränkten U-Bootkriegs« im Februar 1915, strategisch und politisch die traditionelle Schlachtflotte zunehmend in den Schatten stellte. Maßgeblich für die Symbolik und spätere Erinnerung dieser neuen Rolle des U-Boots wurde der 7. Mai 1915, als das U 20 mit einem einzigen Torpedo das Passagierschiff Lusitania versenkte. 1.198 Passagiere und Besatzungsmitglieder kamen ums Leben, darunter 120 Staatsbürger der zu diesem Zeitpunkt noch neutralen USA. Der Zweite Weltkrieg bestätigte die strategische und symbolische Rolle des UBoots. Noch stärker als zwischen 1914 und 1918 wurde es zu einem wesentlichen Träger der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Nationen. Unter Karl Dönitz, zunächst »Führer der U-Boote«, von 1939 an »Befehlshaber der U-Boote«, begann die deutsche Kriegsmarine 1936 mit dem Aufbau einer U-Boot-Flotte. Mit Erklärung des »verschärften U-Bootkriegs« spielte sie von 1940 an neben der Luftwaffe die zentrale Rolle im Krieg gegen Großbritannien. Während der Massenein-
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satz und die unter Dönitz eingeführte »Rudeltaktik« neu waren, blieb die strategische Aufgabe, die dem Unterseeboot zukam, im Wesentlichen die des Ersten Weltkriegs: die Unterbrechung der gegnerischen Zufuhr von Versorgungs- und Kriegsgütern über den Seeweg. Zwar experimentierten die am U-Boot-Krieg beteiligten Mächte mit verschiedenen Techniken und Modellen; und die deutsche Kriegsmarine plante noch bei Kriegsende den Übergang zur Produktion im Fließbandverfahren: In Bunkerhallen geschützt, sollten U-Boote an Taktstraßen gebaut werden (STAHLWERK, BUNKER). Letztlich basierten aber nahezu alle U-Boote des Zweiten Weltkriegs auf der zur Jahrhundertwende eingeführten Kombination von Verbrennungs- und Elektromotor, die in Deutschland mit U 1 begonnen hatte. 1954 nahm die U.S. Navy das erste nuklearangetriebene Unterseeboot in Dienst, USS Nautilus, oft als erstes »wirkliches Unterseeboot« bezeichnet, weil es antriebsbedingt nicht auftauchen musste: Ein Nuklearreaktor erzeugte hier kontinuierlich den Strom zum Antrieb der Elektromotoren. Da dazu kein Sauerstoff benötigt wurde und die Atemluft der Mannschaft ausgetauscht werden konnte, war zum ersten Mal eine monatelange, ununterbrochene Unterwasserfahrt möglich. Als nuklearangetriebene U-Boote dann mit ballistischen Raketen und Atomsprengköpfen ausgestattet wurden, ergab sich eine grundlegend neue Rolle: Das U-Boot des späten 20. Jahrhunderts wurde zu einem Instrument der nuklearen Abschreckung und des Kalten Kriegs.
III. Modernität und Maschine Die Modernität des U-Boots war äußerlich deutlich erkennbar: Es trug keine Ornamente, Wappen oder Figuren, die auf Traditionen oder Verwandtschaften hingewiesen hätten. »Einige Ventilatoren, ein umklappbarer Signalmast, die Periskoprohre und der Schornstein des Motors nebst dem Flaggstock bilden die ganze Verzierung des Oberdecks«, betonten schon Zeitgenossen (Bernstorff 1911, 187). Die offizielle Repräsentation unterstrich diesen Bruch: Das U-Boot durfte sich nicht an den Rest der Flotte anlehnen. Es war zu andersartig und risikobeladen, als dass es mit historischen Verweisen hätte besetzt werden können. In der öffentlichen Inszenierung der wilhelminischen Flotte, bei Paraden und Marinespektakeln (Rüger 2005), spielte das U-Boot eine deutlich untergeordnete Rolle. Marineleitung und Kaiser trauten dem U-Boot keine einheits- und identitätsstiftende Rolle zu und reihten es nicht in die Reichstradition der Flottendarstellung ein. Nur Kreuzer und Schlachtschiffe bekamen Paten verordnet, die auf vergangene Siege verwiesen und die Einheit von Nation und Reich verkündeten (Rüger 2004). Sie trugen die Namen deutscher Feldherren und Fürsten, deutscher Städte und Länder. U-Boote hingegen erhielten eine nüchterne Kombination aus Buchstabe und Zahl als Seriennummer. Statt »Blücher«, »Moltke« oder »Großer Kurfürst« hieß das erste deutsche U-Boot eben schlicht »U 1«. Statt »Drake«, »Britannia« oder »Trafalgar« wurde das erste englische Submarine »A 1« getauft. Das U-Boot galt lange als
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»unritterlich« und als »Waffe des Schwachen« (Broelmann 2003, 186). Militärgeschichtlich lag seine Modernität in der radikalen Absage an die traditionelle Seekriegsführung, bei der sich zwei Flotten als »Schlachtkörper« gegenüberstanden. Für Rudyard Kipling war der Bruch mit der Tradition, den das U-Boot vollzog, gerade in der Bezeichnung der neuen Fahrzeuge festgehalten. Sein Gedicht The Trade von 1914/18 begann er mit dem Hinweis auf das Fehlen von traditionsverbundenen Namen (Kipling 1922, 712): »Sie tragen, anstelle klassischer Namen, / Buchstaben und Nummern auf der Haut. / Sie spielen ihre grässlichen Spiele mit verbundenen Augen / In kleinen Schachteln aus Blei.« Diese »Bleischachteln« boten ihren Besatzungen eine zutiefst ambivalente Erfahrung: zum einen die souveräne Handlung, durch Maschinenmacht und Erfindergeist einen neuen Raum zu erschließen, zum anderen die Wahrnehmung, dass die Erkundung und militärische Nutzung dieses Raums Risiken und Gefahren mit sich brachte, die nur selten abzusehen oder zu kontrollieren waren und lebensbedrohlich sein konnten. Die ambivalente Kommunikationssituation im U-Boot unterstrich diese Erfahrung. Die einzige Verbindung zur Außenwelt ist die Funktechnik; gleichzeitig kann gerade das Funken die Ortung des U-Boots ermöglichen. Auch die »Schleichfahrt« markiert diese Isolation: Um nicht geortet werden zu können, müssen Geräusche, insbesondere auch des Motors, vermieden werden. Das Meer als Raum um die Stahlkapsel herum bedeutet dabei gleichzeitig Schutz und Bedrohung. Der Vorgang des Abtauchens in diese Situation wurde regelmäßig als verunsichernde Erfahrung beschrieben. Ein deutscher U-Boot-Fahrer erinnerte sich 1918: »Als wir, in meiner Gegenwart heisst das, zum ersten Male tauchten, hatte ich so ungefähr das Gefühl, als wäre der Boden unter meinen Füssen verschwunden, und ich stürzte in grenzenlose Tiefen« (Das U-Boot 1918, 47). Die Aneignung der scheinbar grenzenlosen Tiefe und Weite des Meeres (STRAND) war nur durch die entgegengesetzte Situation an Bord des U-Boots möglich: extreme Enge, Isolation und ständiger Disziplinierungszwang. Die Erfahrung der eigenen Macht und der Überwindung der Naturgesetze war an die nahezu totale Unterordnung unter die Rationalität des Instruments gebunden, das diese Macht bedeutete, und an die Akzeptanz des Risikos, das sein Einsatz mit sich brachte. Zugleich hing das Überleben in Notsituationen von einem Höchstmaß an Konzentration und Flexibilität, Kraft und Geschick ab, wobei sich mannschaftliche Ordnung und individuelle Kreativität ergänzten. Angst und Abenteuer sind entsprechend die vorherrschenden Motive im Genre der U-Boot-Geschichten, das mit Jules Verne Prominenz erlangte und nach der Jahrhundertwende zum Standardrepertoire der Populärliteratur gehörte. Das UBoot wurde hier als Symbol der Moderne bestaunt und verehrt: Es bedeutete ähnlich wie später das RAUMSCHIFF die Erforschung eines neuen Raums, dessen Beherrschung und Aneignung. Es verordnete zu diesem Zweck die Unterordnung des Individuums unter die Zweckrationalität der Maschine und es versprach ungeahnte militärische Möglichkeiten im Zeitalter des Navalismus und Imperialismus. Das vom U-Boot eröffnete und von Zeitgenossen so genannte »dunkle Gebiet«
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(Gentsch 1895) stand nicht nur für die moderne Forschung, sondern auch für Bedrohungsszenarien zwischen den Nationen bereit. Ähnlich wie FLUGZEUG und Zeppelin (Fritzsche 1992; Wohl 1994; Syon 2002) wurde es zu einem Symbol für internationale Konfrontationen. So kombinierten die futuristischen Romane der Jahrhundertwende die Faszination durch die und die Angst vor der Tiefe, die im UBoot erfahrbar und vorstellbar wurden, mit der Bedrohung durch einen unsichtbaren Feind. Als die erste U-Boot-Flotille der Marine öffentlich vorgeführt wurde, schrieb der Korrespondent der Täglichen Rundschau am 6. November 1911 in der Unterhaltungsbeilage des Blattes: »Das ist das lebendig gewordene Grauen. Unter den tausenden von Zuschauern wird alles still.« In der zeitgenössischen Populärliteratur gab das U-Boot dem Meer eine neue beängstigende und zugleich faszinierende Qualität, die durch die anglo-deutsche Konfrontation der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zusätzlich aufgeladen wurde. In Percy Westermans The Rival Submarines von 1913 führen die beiden Länder einen (un-)heimlichen Unterwasserkrieg. In Arthur Conan Doyles Kurzgeschichte Danger, kurz vor Kriegsausbruch geschrieben, wird die britische Flotte gar durch einen UBoot-Angriff überrascht und versenkt (Westerman 1913; Doyle 1914). Die U-BootObsession der europäischen Populärkultur ging so weit, dass sie satirische Reaktionen provozierte. So überspitzte Ernest Oldmeadow die Spionage-, Kriegs- und Invasionsphantasien der Zeit in The North Sea Bubble, einem Satireroman, in dem unter anderem ein wundersames Wassergefährt namens »Meerweib«, als Insel getarnt und U-Boote mit sich führend, Großbritannien angreift (Oldmeadow 1906). Schon um die Jahrhundertwende nahm das U-Boot also als Symbol der Bedrohung einen prominenten Platz in der Vorstellung vom Raum zwischen den Nationen ein. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs und insbesondere mit Erklärung des »uneingeschränkten U-Bootkriegs« wurde diese Bedrohung Realität. Das Geheimnisvolle der »unsichtbaren Waffe« (Broelmann 2003), vor allem aber die souveräne Isolation (RAUMSCHIFF) der U-Boot-Besatzungen wurde während des Kriegs regelmäßig idealisiert, als verlangte das U-Boot nach einem neuen, modernen Individuum, das die technische Rationalität des Maschinenzeitalters verkörperte, neue Formen der Entbehrung und Selbstdisziplinierung akzeptierte, traditionelle Werte und Normen im industrialisierten Krieg hinter sich ließ und gerade dadurch eine neue Freiheit erfuhr. Im isolierten U-Boot konnte diese Freiheit darin liegen, Entscheidungen über Leben und Tod zu fällen, ohne Rücksprache halten zu können oder Vorgesetzte konsultieren zu müssen. Ein Beispiel dieser Idealisierung ist der wiederholt gedruckte Aufsatz Im U-Boot von Paul Zifferer, Feuilletonredakteur der Wiener Neuen Freien Presse, der 1916 schrieb: »Alles Grauen des Krieges scheint in engem Raum zusammen gepreßt. Und doch zeigt uns hier der Krieg ein freieres Antlitz, die Tat des Einzelnen zielt ins Großartige. Überall sonst hat sich der Krieg in ein gleichförmiges Grau des Entsetzens gekleidet. Es gibt einen furchtbaren Werktag des Krieges, wie es früher einen Werktag des Friedens gab. Die Fahrten der U-Boote haben aber noch ihre eigene Farbe. Etwas Geheimnisvolles ist um sie, mehr noch
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als um die Fahrten der Flugzeuge im Aetherraum. In der engen Stahlzelle des Tauchbootes wohnt eine völlig abgesonderte, in sich geschlossene Welt des Krieges. Den jungen Kommandanten erreicht kein hilfreicher Befehl eines Vorgesetzten, er kann sich nirgends Rat holen. Er ist auf sich allein angewiesen. Wir spüren, daß hier der Einsatz einer Persönlichkeit entscheidet« (Zifferer 1916). In solchen Überhöhungen klang auch das neue, spezifisch moderne Verhältnis von Mann und Maschine an, das im U-Boot eine besondere Ausformung fand. Das U-Boot stellt einen verdichteten Raum dar, in dessen Beschreibungen regelmäßig Technologie, Krieg und Männlichkeit zu einem ausdrucksstarken Symbol verschmolzen. Zwei Aspekte verdienen besondere Aufmerksamkeit, auf die die Selbstzeugnisse von U-Boot-Besatzungen, aber auch die Produkte der Populärkultur hinweisen: das U-Boot als Wirkungs- und Erfahrungsraum eines neuen Typus von Mann sowie als Ort der sexuellen Aufladung. Mit dem Einsatz von U-Booten im Ersten Weltkrieg kam zu den ohnehin hohen Anforderungen an die Mannschaften (körperliche Belastung, gegenseitige Abhängigkeit, technologische Komplexität, emotionale Konflikte) die Erfahrung einer neuen Form des Tötens hinzu. Das U-Boot führte weiter, was mit der Entwicklung der Handfeuerwaffe begonnen hatte: die Industrialisierung und Anonymisierung des Kriegs, der Verlust der »persönlichen Beziehung« der Kämpfenden zueinander (FRONT). Die Besatzung des U-Boots erfährt vom Schicksal ihrer Gegner oft nichts. Allenfalls Geräusche vermitteln das Wissen, getötet zu haben. Die Herausforderungen durch den »Nervenkrieg« des U-Boot-Einsatzes wurden mit einem neuen Helden- und Männlichkeitsideal assoziiert. Das U-Boot, das Organ des Deutschen U-Boot-Vereins, beschrieb regelmäßig »U-Boot-Helden«: Männer, die trotz Luftknappheit, Enge und komplexer technischer Probleme bis zum Ende gegen die Fluten kämpfen, die gerade noch rechtzeitig ein wesentliches Maschinenteil reparieren oder pflichtergeben bis zum Erstickungstod einen Ausweg suchen. Vor allem aber waren dies Helden, die vor den Möglichkeiten des Maschinenzeitalters nicht zurückwichen; Helden, die sich den Anforderungen der technischen Moderne unterordneten und deren Rationalität zur eigenen Handlungsmaxime machten. Überwindet das Unterwasserfahrzeug natürliche Hindernisse, so besiegt der U-BootHeld seine eigene Natur. Er wird zu einem Teil der Maschine und Waffe, der »Stahlkammer« oder des »Eisenschlauchs«, wie U-Boote immer wieder bezeichnet wurden. Im April 1916 druckte Das U-Boot das Gedicht eines Offiziers, das das »Bild einer U-Boot-Mannschaft« beschrieb. Die metaphorische Übertragung von Maschine auf Mann war darin leitmotivisch: »Von Stahl und Bronze rings umwehrt, / Tief unterm Wellental, / Die Stirne eisern Mann für Mann, / Die Herzen selbst von Stahl.« Solche Metaphorik von Stahl und Männlichkeit, von Technologie und Tod war nicht spezifisch für das U-Boot (FLUGZEUG). Sie war Teil einer Sprache, mit der Autoren wie Ernst Jünger die Rolle des modernen Selbst in der neuen Realität der industriellen Vernichtung und anonymisierten Tötung (FRONT) zu fassen versuchten. Die Erfahrung oder Vorstellung der Ich-Entgrenzung und Vereinigung mit der
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industriellen Kriegsmaschine, die auch Jüngers Stahlgewitter prägt, war im U-Boot besonders ausgeprägt. Die enge Verbindung von U-Boot und Besatzung wurde durch eine beiderseitige Übertragung suggeriert. Zum einen wurden den männlichen Körpern Eigenschaften der Stahlkapsel zugeschrieben und sie erschienen als Teil der Kampfmaschine: Männer aus Stahl, die »nicht nach Luft fragen«, wie das zitierte Gedicht fortfuhr. Zum anderen wurde das U-Boot mit Mensch- und Tiermetaphern belegt: Meeresungeheuer, Seehund, Hai, Hecht, Wolf oder Drache sind wiederkehrende Namen. Schon in Jules Vernes futuristischem Roman 20.000 Meilen unter dem Meer (1869/70) war diese Übertragung zwischen Mensch und Maschine zu beobachten. Die Elektrizität erschien hier als »Herrscherin« und »Seele« des UBoots Nautilus und war durch Eigenschaften charakterisiert, die dem Männlichkeitsideal des Maschinenzeitalters entsprachen: »Die gesamte Nautilus wird von einem einzigen Agens beherrscht. Es ist eine mächtige Kraft, gefügig, schnell und einfach, die sich allen Aufgaben unterwirft« (Verne 1972, 43). Das U-Boot war stärker noch als andere moderne Schnittpunkte von Technik, Krieg und Männlichkeit ein Ort der sexuellen Aufladung (STRIPTEASELOKAL). Der enge Zusammenhang von Kriegs- und Sexualitätserfahrung (Fussell 1975, 270-309; Theweleit 1978) war hier besonders wirksam. Die phallische Symbolik des U-Boots wird immer wieder erwähnt und durch den Torpedo noch verstärkt: Das Torpedorohr scheint die Energie des Maschinenorganismus zu bündeln und ihn zur Waffe zu machen. Selbst in offiziösen Beschreibungen des Umgangs der Mannschaften mit Torpedos ist sexuelle Lust offensichtlich: Torpedos werden geölt und gestreichelt, mit Spitz- und Kosenamen und mit Vorstellungen belegt, in denen sexuelle Penetration und die Lust an Gewalt und Vernichtung verschmelzen. Das metaphorische Verschmelzen von Ich und Maschinenwaffe, die immer wieder mit biologischen oder organischen Metaphern bezeichnet wird, unterstreicht diese sexuelle Aufladung. Die Erfahrung dieses Ortes der Moderne war also ganz besonders eine Körpererfahrung: die Beziehung des eigenen Körpers zum Druckkörper des UBoots wie zu den Körpern der Anderen, die der gleichzeitigen Erfahrung von Isolation und Tiefe, von Bedrohung und industralisiertem Töten, von Maschine und Sexualität unterworfen waren. Ähnlich wie andere Hochtechnologieerzeugnisse der klassischen Moderne, etwa das FLUGZEUG, das AUTO, der Zeppelin oder der STAUDAMM, rief das U-Boot eine Debatte über die Risiken und die Beherrschbarkeit neuer Technologien hervor. Es provozierte ein neues Nachdenken über das Funktionieren des Menschen in der Maschine. Von Anfang an begleiteten der technische Unfall und »die Katastrophe« die Wahrnehmung des U-Boots. 1904 sank das erste britische Submarine A 1 nach einer Kollision. Trotz verzweifelter Versuche konnte die Crew nicht befreit werden. 1911 ging das deutsche Unterseeboot U 3 verloren, ein »Tauchunfall«, bei dem drei Besatzungsmitglieder starben. Eine offizielle Untersuchung ergab, dass auf der Werft die Verschlusskappe des Maschinenraum-Ventilationsmasts fehlerhaft eingesetzt worden war (Rössler 1986, 41f.). Solche Unfälle zeigten, dass in der Anwendung des U-Boots ein ständiger Unsicherheitsfaktor lag. Je spezialisierter und aus-
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differenzierter es wurde, desto mehr rückte die Möglichkeit sowohl technischen als auch menschlichen Versagens ins Bewusstsein. »Risiko« wurde zu einer zentralen Kategorie in der Wahrnehmung und Interpretation dieses Ortes der Moderne. Ziel des Umgangs mit dem U-Boot, schrieb der britische U-Boot-Offizier und Techniker Murray Sueter 1907, müsse es sein, jegliches Risiko zu minimieren (Sueter 1907, 370). Die Erfinder und Betreiber der frühen U-Boote begegneten dem Risiko, das in der neuen Technologie und ihrer Anwendung lag, indem sie Expertenwissen und umfassendes Training verordneten. Und sie griffen dabei auf einen Behelf zurück, der typisch für den Umgang der Moderne mit neuen Technologien war: den Tierversuch wie im LABORATORIUM. Wie später in der Raumfahrt (RAUMSCHIFF) wurden Tiere eingesetzt, um das Risiko zu testen. Britische U-Boote der A-Klasse führten als Standardausrüstung drei weiße Mäuse als »Risikoindikatoren« mit. Zur Jahrhundertwende gab es kein verlässliches Testverfahren, das hätte eingesetzt werden können, um vor einer zu hohen Kohlenmonoxidsättigung im U-Boot zu warnen. Also hängten die Besatzungen einen Käfig mit weißen Mäusen im Motorraum auf. Diese »effektive und praktische Methode« beruhte auf der Einsicht, dass im Blutkreislauf der Maus das Kohlenmonoxid schneller wirkt als beim Menschen. Sollten während eines Tauchgangs die Mäuse plötzlich kollabieren, so waren ein sofortiges Auftauchen des U-Boots und seine Durchlüftung zu empfehlen (Sueter 1907, 251). Sowohl Sueter als auch G.-L. Pesce, ein einflussreicher französischer U-Boot-Theoretiker der Jahrhundertwende, druckten in ihren Werken das eindrucksvolle Bild dreier solcher Mäuse, die in einem englischen U-Boot erstickt waren (Pesce 1906, 112). Sueter und Pesce räumten damit wenigstens unbewusst den symbolischen Stellenwert dieser Tiere ein, die eine moderne Ambivalenz verkörperten: dass nämlich trotz fortgeschrittener Technologie das Überleben des Menschen beim Ausgreifen in neue Räume von der ihm vermeintlich so unterlegenen Kreatur abhängen konnte. Dem treuen Dienst weißer Mäuse und allen technischen Verbesserungen und Expertenanstrengungen zum Trotz blieb ein Restrisiko: der Mensch selbst. Sueters Buch, das er der tragisch umgekommenen Besatzung des ersten englischen U-Boots widmete, endete mit einer ausgesprochen modernen Erklärung für diese Katastrophe: »Menschliches Fehlverhalten, das müssen wir uns alle eingestehen, kann nie ganz ausgeschlossen werden« (Sueter 1907, 370).
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Die Front Habbo Knoch I. Ausgestellter Krieg: Schauschützengräben an den Zoohallen, Berlin, 1915 Ein Foto vom Sonntagsausflug an die Front: Gut gekleidete Frauen lassen sich mit ihren Halbwüchsigen durch eine Grabenanlage führen. Der Uniformierte ergeht sich vermutlich gerade in technischen Details über die Attraktion: ein Periskop, das wie eine unförmige Bombe aussieht, aber eine Art Fernrohr ist. Mit ihm kann im wirklichen Krieg der Graben des Gegners beobachtet werden. Doch der stand nicht in Berlin, sondern an der Westfront. Weil aber der Krieg im Westen so viel Neues zu bieten hatte, wurden Ausstellungen veranstaltet und Musterschützengräben angelegt. Die Heimatfront sollte ihre Soldaten aus Stolz und mit Verständnis für die moderne Kriegsführung unterstützen. Obwohl die unmittelbare Kampferfahrung im Ersten Weltkrieg männlich blieb, waren die Ausstellungen bereits Vorzeichen eines totalen Kriegs, dessen Gewalt keine Grenzen mehr zwischen Soldaten und Zivilisten, zwischen Männern und Frauen, jung und alt kannte. Waren Beutestücke schon in früheren Kriegen als Trophäen gezeigt worden, dienten erstmals innerstädtische Parkanlagen der Volksaufklärung, indem sie zu großflächigen Modellfronten umgestaltet wurden. Im Mai 1915 in Heidelberg, kurz darauf in Hannover und an weiteren Orten, schließlich im Dezember im Zoologischen Garten in Berlin übten zukünftige Rekruten das Ausheben von Gräben (Brandt 2000; Lange 2003). Schon vor 1914 war dies auf Truppenübungsplätzen trainiert worden, denn die Strategen sahen einen Krieg voraus, der nicht allein auf dem Schlachtfeld entschieden werden würde. Waren die offiziellen Kriegsausstellungen Sache des Militärs, entstanden die Mustergräben oft auf private Initiative und mit Hilfe des Roten Kreuzes. Sie sollten die Frontlage so anschaulich wie möglich demonstrieren. Der Volkskundler Wilhelm Peßler schlug dazu bereits 1916 ein Arrangement der Sinneseindrücke vor, das so erst Jahrzehnte später im Imperial War Museum in London umgesetzt wurde: »Zahllose Töne wirken [an der Front] zusammen und gegeneinander: Das Donnern der Kanonen, das Sausen, Zischen und Krachen der Granaten, das Rattern der Maschinengewehre, das Singen der Gewehre, das Klirren der Säbel, die Signale der Trommeln und Trompeten, das Getrappel der Pferde, das Janken der Geschirre und Wagen und die Kommandorufe. Vielleicht ließe sich ein Ausschnitt aus diesem gewaltigen Tongemenge [...] durch einen Phonographen [...] wiedergeben« (zit. n. Lange 2003, 87). Wenn auch nicht durch Geschützdonner und Pferdegetrappel, sollte der Stellungskrieg doch durch möglichst detailgenaues Bauen nachempfunden werden. Die Treue zum Detail war aber gefärbt: Während die deutschen Gräben intakt, sauber und bestens ausgestattet waren, zeugten Granattrichter auf der anderen Seite von so erfolgreichen wie einseitigen Angriffen. Kriegsgefangene stürzten als Statisten auf die Besucher zu, aber da sie nicht wirklich angreifen konnten, ließen sich an ihnen besonders überzeugend die Schutzvorrichtungen des Schützengrabens demonstrie-
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ren. Sie sollten die Heimatfront beruhigen. Das war auch nötig, wollte man den 1917 in einem Frontbericht beschworenen »Pulsschlag«, der aus den Gräben »ins Herz der Heimat« zurückwirken und Front und Heimat zu einem Körper verschmelzen sollte, im Takt der nationalen Volksgemeinschaft halten (zit. n. Brandt 2000, 73).
19. Luftaufnahme einer zum Sturmangriff ausgebauten französischen Angriffsstellung (links) bei Berry-au-Bac, 18. September 1915 Anhand von Karten ließ sich der Aufbau des Frontbereichs nachvollziehen. Neben dem eigentlichen Schützengraben mit seinen Maschinengewehrstellungen bestand er aus Reservegräben, um bei Angriffen oder Zerstörungen ausweichen zu können. Im Schutz weiterer Laufgräben konnten Soldaten die unmittelbare Front erreichen und sich über den Schützengraben hinaus bis weit ins Niemandsland vorwagen. Dort sammelten sie sich, für den Feind unsichtbar, in Ausfallstufen für Sturmangriffe (»Sappenköpfe«). Um wenig Trefferfläche zu bieten, maßen die Gräben nur zwei Meter in der Tiefe und einen in der Breite. Wer im engen Graben Dienst hatte, war nicht nur dauernd seinen Kameraden, sondern auch der Witterung weitgehend ungeschützt ausgesetzt; regnete es, standen die Soldaten im Schlamm. Bei Dauereinsatz ersetzte der Graben die Holzpritsche der Unterkunft: Die Soldaten schliefen im Stehen. Einen gewissen Schutz boten Blockhäuser oberhalb der Erde und gesicherte Räume, auch »Heldenkeller« genannt, am Ende von Schächten, die vom Schützengraben aus das Gelände untertunnelten. Zum Niemandsland zwischen den feindlichen Stellungen sicherten Stacheldrahtverhaue die eigene Linie. Unmittelbar hinter der Front befanden sich Artilleriestellungen in unterschiedlicher Dichte. Je näher die Soldaten ihnen waren, desto mehr waren sie dem zerstörerischen Beschuss, der Belastung aller Sinne durch Geräusch und Rauch sowie der Anspannung im Gefecht ausgesetzt. Nachschublinien verbanden die Front mit dem rückwärtigen Be-
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reich, wo ein Umschlagplatz aus Bereitstellungsräumen, Kommandozentralen und Feldlazaretten auf die Soldaten wartete. Auf der anderen Seite drohte der Tod.
II. Prisma des Schreckens: Kriegserfahrungen im Schützengraben Im Stellungskrieg belagern sich zwei Gegner mit ähnlichem militärischem Potenzial, unterstützt durch Nachschublinien. Im traditionellen Krieg entprach dem am ehesten die Belagerung. Sie war einseitig, machte eine Stadt oder eine Festung zur umzingelten Front und zielte darauf ab, die Eingeschlossenen auszuhungern. Die Belagerung verschwand nicht aus dem modernen Krieg, wie Leningrad 1943 auf grausame Weise belegt. Sie nahm zudem andere Formen an: Im Trommelfeuer wie am Fließband (STAHLWERK) hofften die Soldaten zumindest auf die Stabilität ihrer kleinen Festungen. Mit den Feuerwalzen des Luftkriegs ab 1940 brauchte die Belagerung vom Himmel aus den Hunger nicht mehr abzuwarten (BUNKER). Schützengräben gab es bereits im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865), entschieden wurde er aber noch auf traditionellen Schlachtfeldern wie dem von Gettysburg. Im Russisch-Japanischen Krieg (1904/05) starben in einem halbjährigen Stellungskrieg um eine Festung bei der chinesischen Hafenstadt Port Arthur fast 100.000 Soldaten. Schon in diesem Krieg erwies sich der erst in den 1870er Jahren im amerikanischen Westen erfundene Stacheldraht als besonders geeignet, um provisorische, aber wirksame Stellungen aufzubauen (Razac 2002, 35f.). Doch erst mit der Westfront fand zwischen 1914 und 1918 der moderne Materialkrieg seinen paradigmatischen Raum. Im weniger dicht besiedelten Osten gab es zwar auch Stellungen, aber die Kampflinien blieben offener. Vielfach führten die Soldaten hier einen »wilden Krieg« aus Eroberung und Kolonisierung, in dem sich bereits die Raummanie der Nachkriegszeit und des Vernichtungskriegs abzeichnete (Liulevicius 2002). Im Westen war innerhalb weniger Wochen nach dem erfolgreichen Kriegsbeginn auf deutscher Seite die Erwartung eines zügig beendeten Bewegungskriegs verflogen. Belgische Guerillaeinheiten, unerwarteter Truppenbedarf an der Ostfront und der todbringende Einsatz moderner Kriegstechnik in den ersten großen Schlachten an der Marne und in Ypern ließen Deutschlands Militärstrategen schon im Spätherbst 1914 an ihrem Erfolgskonzept zweifeln. Sie hatten damit gerechnet, eine neuartige »Feuerzone« überwinden zu müssen. Aber Maschinengewehre und Artillerie, die in dieser Dichte zum ersten Mal eingesetzt wurden, führten zu unerwartet hohen Verlusten und bremsten die Frontalangriffe entscheidend ab. Während sich die deutschen Truppen nun der alliierten Gegenangriffe erwehrten, machten sie im Hinterland dieser Kämpfe strategisch günstige Rückzugsräume ausfindig, um Grabenanlagen zu errichten. Dennoch blieb über Monate hinweg »Offensive« das Leitkonzept, vor allem auf britischer Seite; Tausende Soldaten fielen bei sinnlosen Kompanieattacken auf feindliche Stellungen. Um dem Tod zu entgehen, mussten sich die Soldaten eingraben, was den Krieg zeitlich und räumlich in die Länge zog. Die Schützengräben erstreckten sich entlang
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einer 700 Kilometer langen Linie vom belgischen Ypern bis zum französischen Verdun. Zusammen mit dem rückwärtigen Ausbau der unmittelbaren Frontlinie hatten die Soldaten am Ende 40.000 Kilometer Schützengräben ausgehoben. Die Gräben waren je nach Anforderung und Intensität des Frontabschnitts, Beschaffenheit des Untergrunds und Strategie der Kriegsparteien unterschiedlich lang und tief gestaffelt. Gut gebaute Stellungen machten die Soldaten stolz. Dem Anlegen der Gräben folgte die Feinarbeit: Stacheldraht, Holz und Laub wurden zur Befestigung, Sandsäcke als Splitterschutz und Stufen für Schieß- und Beobachtungsposten angebracht. Mit der Zeit und vor allem zu religiösen Festen schmückten Soldaten ihre Stellungen, was ihnen etwas Privates gab. Um sich im labyrinthartigen Grabennetz zurechtzufinden, wiesen Grabenkarten und Grabenschilder den Weg. Der reguläre Dienst im Frontgraben dauerte drei bis fünf, manchmal bis zu zehn Tage, wenn nicht Sperrfeuer oder zerstörte Nachschublinien die Soldaten noch länger in die Stellungen zwangen; zu Kriegsbeginn und bei schwerem Beschuss waren die Wechselintervalle kürzer. Je ruhiger der Frontabschnitt war, desto länger blieben die Soldaten vorn. Herrschte dort tagsüber weitgehend Ruhe, machte der Schutz der Dunkelheit die Nacht zum Tag: Horch- und Grabenposten wurden verstärkt und zu besonderer Aufmerksamkeit genötigt, Reparaturen ausgeführt und Vorbereitungen für Angriff oder Abwehr getroffen, deren beste Zeit in der Morgendämmerung lag. Das verunsichernde Warten zermürbte, ebenso die Langeweile. Aus dieser so bedrückenden wie ermüdenden Erfahrung des Niemandslands erwuchs der »entleerte Raum« als ein zentrales Raumkonstrukt der Moderne (Kern 2003). Dem Frontdienst folgten mehrere Tage Bereitschaftsdienst und eine Ruhephase im rückwärtigen Gebiet. Heimaturlaube verbanden die Soldaten mit der zivilen Welt, ebenso Millionen von Feldpostbriefen und Postkarten (Ziemann 1997). Unterbrochen wurde der Frontaufenthalt zudem durch die häufigen Verwundungen, die sich die Soldaten meist nicht im Nahkampf, sondern durch Artilleriebeschuss zugezogen hatten. Splittergeschosse machten Menschen gesichtslos und zu Versuchsobjekten der aufkeimenden plastischen Chirurgie (KRAFTRAUM). Wenn nötig, folgte auf das Lazarett ein Aufenthalt im Sanatorium. Selbst dort war das Massenschicksal des traumatischen shell shock nach Granatbeschuss im Graben aber auf die Schnelle nicht heilbar. In der Regel wurde er als Desertionsversuch, bestenfalls als psychische Schwäche diagnostiziert (COUCH). Elektroschocks sollten die zerrütteten Soldaten wieder in die Gräben treiben. Oft reichte dazu die Furcht vor solchen Maßnahmen aus. Nicht wenige kehrten aus Verbundenheit mit den Kameraden zurück, von denen manche bei der eigenen Rückkehr schon nicht mehr da waren. Selbstverstümmelungen und Fahnenflucht wurden hart bestraft. In den letzten Kriegsmonaten beschleunigte die Frontflucht von bis zu einer Million Soldaten den Zusammenbruch und trug zur Entstehung der »Dolchstoßlegende« bei. Dennoch hatte das »Durchhalten« an der Front einen eigenen Wert, an den die spätere Mythisierung des »Fronterlebnisses« anknüpfen konnte. Die Front war ein Raum aus Chaos und Lethargie, mit viel Bewegung in den eigenen Reihen, Phasen des Abwartens und Momenten absoluter Intensität und Be-
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währung, Bedrohung und Überwältigung. Besonders dort, wo die feindlichen Gräben nah beieinander lagen, konzentrierten sich schwere Geschützbatterien. Es gab Räume des Sterbens und Räume, in denen die Chance zu überleben größer war. Dem Dauerangriff auf die Sinne war kaum zu entkommen. Neben dem sensorischen Druck der Geschosse, der Hitze und den Blitzen war immer das Geräusch des Kriegs da: die verdächtige Stille, das anschwellende, zischende und heulende Artilleriefeuer zunehmender Einschläge, das drohende Dröhnen, je näher der eigentliche Angriff kam. Den gestauten Stellungskrieg durchbrachen immer wieder größere Offensiven, die mit längerer Kriegsdauer zu Entscheidungsschlachten wurden. In den sich über Monate erstreckenden Kämpfen um Verdun seit Februar 1916 und an der Somme im Sommer des gleichen Jahres kamen über 1,5 Millionen Soldaten um, im bis dahin heftigsten Artilleriefeuer dieses Kriegs. Allerdings waren das keineswegs die verlustreichsten Zeiten der deutschen Armee: In den ersten drei Monaten und dann noch einmal gegen Kriegsende kam mehr als jeder zehnte eingesetzte Soldat ums Leben, darunter viele jener jungenhaften Enthusiasten, die den Krieg euphorisch begrüßt hatten. Das Überleben hing neben Zufall und Geschick auch von der militärischen Position ab, die oftmals mit sozialem Status verbunden war. Besser verpflegt als die einfachen Soldaten und eher im Stab als am Draht anzutreffen, waren die Überlebenschancen von Offizieren ungleich besser. Für die Sturmtrupps wurden bevorzugt junge, kräftige und unverheiratete Männer ausgesucht. Das ließ Eltern über den Verlust trauern, aber wenigstens im Sinne der Staatsführung keine Familien vaterlos zurück. An den zentralen Kampforten verwandelten Hunderttausende von Geschossen die Landschaften in Kraterszenerien. Schwere Granaten zerfetzten Körper bis zur Unkenntlichkeit. In den Sturmangriffen wurden Heranstürzende und Stellungsichernde gleichermaßen aufgerieben. Im Lauf über Trichter, Leichen und Waffen konnte sich keine Sturmformation planmäßig bewegen. Überlebende berichteten von einer Art Selbsthypnose oder automatischen Anästhesie, die sie überkam, wenn das »letzte Schutzschild« zwischen ihnen und dem Tod gefallen war (zit. n. Eksteins 1990, 262). Nach einem Stellungswechsel bemerkten französische Soldaten erst am folgenden Morgen, »daß unsere Gräben mitten durch Leichenhaufen führen«. Die Vorgänger hatten Zeltplanen gespannt, »um sich den Anblick der dort liegenden menschlichen Körper und Überreste zu ersparen« (zit. n. Ferro 1988, 163). 1915 kam erstmals Giftgas zum Einsatz, bald darauf Phosphorbomben und Senfgas, das die Lungen verbrannte; beides war ebenso völkerrechtswidrig wie der deutsche Flammenwerfer. Nach Angriffen durchbrach das Stöhnen von Sterbenden in den Stacheldrähten die trügerische Ruhe der Nacht. Schwer zu ertragen war auch das durchdringende Todesröcheln der Pferde. Im Sommer kam Leichengestank hinzu. Die Materialschlacht war geboren und mit ihr das »Jahrhundert der Massaker« (Eric Hobsbawm). Wegen der technischen Zerstörungsmacht war der Stellungskrieg an der Westfront für den britischen Kriegsminister Lord Kitchener »einfach kein Krieg« mehr (zit. n. Eksteins 1990, 252). Dabei hatte gerade die Aussicht auf den
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geballten Einsatz der Technik manchem Literaten und Künstler den bevorstehenden Kampf als Reinigung und als Option für eine bessere Zukunft erscheinen lassen. Doch der Materialkrieg taugte nicht als Schule für den »aristokratischen Menschen«. Er verdrängte die bis dahin beherrschenden Pferde und die Kavallerie als Leitsymbol und veränderte militärische Strategien wie Hierarchien. Der Krieg mutierte zum gigantischen Arbeitseinsatz. An der Front als Fabrik (STAHLWERK) ragten heroisierte Einzelfiguren aus dem Kollektiv heraus, die im Idealfall einander zuarbeiteten: die Flieger (FLUGZEUG), technische Experten, die Waffensysteme justieren konnten, und vor allem erfolgreiche Stoßtrupps. Als gegen Kriegsende der Entscheidungsdruck zunahm und mit den englischen tanks ein neuartiges Kriegsmittel bereit stand, wurde die Front wieder elastischer. Damit kam die Zeit des später vor allem von Ernst Jünger idealisierten »Stoßtruppführers«, der sich im flexiblen Gefecht als Beherrscher von Körper und Technik bewährte. Jüngers »Frontsoldat« stählte gleichermaßen seinen Körper und die Wahrnehmung der Gewalt. Er sollte jene schmerzhafte Verletzlichkeit des Menschen überwinden, die der moderne Materialkrieg schonungslos offengelegt hatte (Morat 2001). Seine Idealisierung begann schon während des Kriegs und nahm mit den Mythen der Geburt des »neuen Menschen« in Langemarck und Verdun in den zwanziger Jahren ihren Lauf (Hüppauf 1993). Ihre politische Instrumentalisierung durch den Nationalsozialismus hat lange Zeit den Blick darauf verstellt, wie vielfältig die Fronterfahrungen waren. Von einer Brutalisierung der Soldaten kann nicht pauschal gesprochen werden. Mehr als der bei Jünger vorherrschende Nahkampf prägte das anonyme Töten die überlebenden Soldaten. Auch blieben viele Soldaten in den Gräben dem zivilen Leben eng verbunden; vor allem Männer ländlicher Herkunft hatten ausgeprägtes Heimweh (Ziemann 2000). Der »totale Krieg« im 20. Jahrhundert verlangte die doppelte Mobilisierung von Front und Heimat. Schon der Aufmarsch der deutschen Truppen 1914 hatte Leistungskraft demonstriert: Im Zehnminutentakt überquerten Transportzüge die Kölner Hohenzollernbrücke Richtung Belgien. Der Maschinenkrieg war ein Wettlauf um Ressourcen – um Rohstoffe, Produktionsanlagen und Arbeiter. Staat und Industrie kamen sich in dem Bemühen näher, Rohstoffe und Fabriken, aber auch die landwirtschaftliche Produktion (AGRARBETRIEB) optimal und zu beiderseitigem Profit einzusetzen. Eine eigene Kriegswirtschaftsbürokratie entstand. Sie überwachte nicht zuletzt die ergänzenden sozialen Leistungen, mit denen der Wohlfahrtsstaat weiter in die Familien- und Daseinsfürsorge vordrang. Auch die Rationierung von Lebensmitteln und die Ökonomisierung der Haushaltstechnik blieben nicht mehr dem individuellen Küchenleben überlassen. Mit dem Hindenburg-Programm von 1916 strebten Staat, Militär und Industrie die totale Mobilisierung der Heimatfront für den endgültigen Vormarsch an. Jetzt konnte weitgehend über die arbeitsfähige Bevölkerung verfügt werden (ARBEITSAMT). Behörden sorgten auch für die vergleichsweise rasche Wiedereingliederung der zurückkehrenden Soldaten. Gefahr für den neuen Staat erwuchs weniger aus dem tatsächlichen Kriegserlebnis als aus seiner politischen Mythisierung in rechten pa-
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ramilitärischen und völkischen Verbänden. Sie organisierten zwar nur eine kleine Minderheit zuvor aktiver Frontsoldaten, aber hier kristallisierte sich eine zu allem bereite staatsfeindliche Gewalt. Auch die weit größeren Veteranenverbände mit ihrer Sehnsucht nach einer Revision der Versailler Verträge wurden zu einem Widerlager der Demokratie. Mit wachsender Krisenstimmung fand hier das Bild einer Geburt des »neuen Menschen« in den Schützengräben immer breitere Anhängerschaft. Den politischen Raum in Deutschland durchtrennten seit Ende der zwanziger Jahre gewaltbewehrte Fronten der Straßenkämpfe. Erich Maria Remarque entmythisierte die Westfront in seinem Weltbestseller Im Westen nichts Neues 1929 als Ort der Sinnlosigkeit; zugleich gebar der Erfolg einen Voyeurismus medialer Gewaltdarstellung. Im erbitterten Streit um das Buch vermissten viele die Auferstehung des heroischen Soldaten. Es sei »irreführend [...] wenn bis zum Überdruss grausige Kampfszenen [...] aneinandergereiht, alle erhebenden Momente des Kriegserlebens aber einfach fortgelassen werden« (von der Goltz 1992, 85). Mit der Flexibilisierung des Stellungskriegs seit 1917 hatte sich bereits sein strategisches Ende für den zukünftigen Krieg abgezeichnet. Wie im weit ausgeworfenen Grabennetz angelegt, wurde der Kampfraum nun »nicht mehr linear, sondern netzförmig gedacht, die Front nicht mehr an vorderster Linie verortet, sondern als flächenhaftes Gebilde mit unterschiedlich starken Knotenpunkten konzipiert« (Kaufmann 2004, 43). Strategisch war der Grabenkrieg nur ein Intermezzo, seitdem sich mit dem Panzer eine Motorisierung der Gewalt anbahnte. Waren die ersten Ausführungen mit weniger als zehn Stundenkilometern noch überaus anfällig, bescherte in den letzten Kriegsmonaten allein schon die Menge aufgebotener und nachgeschobener Panzer den westlichen Alliierten einen entscheidenden Vorteil. Der operative Einsatz von Panzern und die Vision eines Luftkriegs, der die klassische Front überschritt, breiteten sich in den zwanziger Jahren in Theorie und Praxis aus. In der »verbundenen Kriegsführung« wurden mehrere Waffengattungen auf ein Ziel ausgerichtet. Im Zweiten Weltkrieg relativierten die schnellen Panzerdivisionen die Bedeutung von Stellungen und gaben dem Bewegungskrieg eine ganz neue Form. Motorisierte Stoßtrupps sowie Geschwader von Kampfflugzeugen machten Fronten zu bewegten Feldern, die weit mehr noch als im Ersten Weltkrieg von Ressourcen wie Treibstoff abhängig waren. Autobahnen gewannen immense strategische Bedeutung, Schienen und Flugplätze wurden ebenso wie Rüstungsbetriebe zu neuartigen Zielen der Kriegsführung (AUTO, BAHNHOF, STAHLWERK). Gegen diese Wucht militärtechnischer Mobilität sollte der »Westwall« entlang der deutschen Westgrenze gegenüber der französischen Maginot-Linie Schutz bieten. Nach ersten Bauten 1936 entstanden zwei Jahre später innerhalb weniger Monate mehr als 8.000 BUNKER; Anfang der vierziger Jahre waren es 17.000 geworden. An dieser Großbaustelle ließ sich auch die Logistik des Feldzugs gegen Frankreich ausprobieren, doch bevor es dazu im Mai 1940 kam, belagerten sich die Soldaten in einem mehrmonatigen »Sitzkrieg«. Nach den deutschen Besetzungen in West- und Nordeuropa entstand an deren Küsten der Atlantikwall als ähnliche Symbiose aus Beton und Eisen, bei deren Bau viele KZ-Häftlinge umkamen.
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Jenseits solcher Wallanlagen ersetzten aber im Bewegungskrieg Fronten als weiträumige, mehrfach gestaffelte Linien die Stellungsanlagen. Auch darin hatte der Kampf des nicht von Schlachtvehikeln umgebenen Soldaten immer noch seinen Ort, mit ihm auch viele Merkmale der Fronterfahrung aus dem ersten Krieg. Der immense Vormarsch am Beginn des Kriegs gegen die Sowjetunion, die Rückkehr des etappenweisen Entscheidungskampfs auf dem Schlachtfeld der Kesselschlachten und die Entmotorisierung beim immer ohnmächtiger werdenden Verteidigungskampf überlagerten aber die Stellungssituation in Erfahrung und Gedächtnis. Zudem trugen Kampfflugzeuge die Front bis weit in das zivile Hinterland hinein. Städte gezielt auszuradieren, um die zivile Moral zu brechen, wurde mit dem deutschen Angriff auf Polen 1939 eine eigene Form der Kriegsführung. Sie sollte sich bald darauf mit der Bombardierung deutscher Städte durch britische und amerikanische Einheiten zur Luftfront des Bombenkriegs entwickeln (BUNKER). Als Berlin schon nicht mehr zu verteidigen war, wurde es zur »Frontstadt« ausgerufen und blieb es bis 1989. Mit dem Abwurf von Atombomben in Hiroshima und Nagasaki 1945 radikalisierte sich diese grenzenlose Ausweitung auf die zivile Lebenswelt und führte zu einer bis dahin nicht vorstellbaren Form der Zerstörung. Als »eiserner Vorhang« lebte die Frontlinie jedoch mit Mauern, Stacheldraht und Todeszonen nach 1945 fort; die Rede vom »Kalten Krieg« war mehr eine Reminiszenz an den Ersten als an den Zweiten Weltkrieg. Luftangriffe und Panzerschlachten, Guerillataktiken und Dschungelkrieg, Massakerstrategien und schwelende Bürgerkriege haben andere Arten von Fronten und andere Bilder des Kriegs hervorgebracht. Im asymmetrischen Interventionskrieg der Gegenwart kehrt die Belagerung als Urform der Front wieder zurück. Die Kräfteverhältnisse sind von Beginn an ungleich. Zu Stellungskämpfen soll es gar nicht erst kommen. Eigene Verluste zu vermeiden und sie nicht vorweg als Opfer für die nationale Sache zu heroisieren, ist ebenso ein Erbe des Ersten Weltkriegs wie die dauernde Entwicklung neuer Kriegstechniken, um die Zerstörung so effizient wie möglich zu gestalten.
III. Krater der Moderne: Die Implosion von Fortschritt und Zerstörung an der Front An den Frontlinien nistete sich die technische Modernität tief ein: Geschütz- und Waffentechniken mit großer Reichweite und der Möglichkeit zum Dauerbeschuss machten aus dem klassischen Schlachtfeld einen über Distanz hinweg kontrollierten Raum. Das lebt in der Redeweise vom AUTO als »Geschoss« fort. Distanz und Unsichtbarkeit des Gegners erforderten neue Formen des Schutzes (BUNKER), aber auch neue Medien der Beobachtung und Kommunikation. Das trieb die Entwicklung der Luftaufklärung voran, die noch weit effektiver war als die erst in den Anfängen befindliche Nutzung des FLUGZEUGS als Kampfmittel. Nachschub und Transport konnten nur durch Ausbau und radikale Ausnutzung der Kapazitäten von Schienenmobilität und Motorisierung gesichert werden. Auf-
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märsche, Verlegungen und Frontbewegungen machten die Front zu einem riesigen BAHNHOF. Zu ihrem Unterhalt entstand eine Infrastruktur der Versorgung und des Vergnügens, die nicht zuletzt auf der Nutzung von KINOS, TANZLOKALEN und AGRARBETRIEBEN in den besetzten Gebieten fußte. Im Kampf blieb die Front aber wie das STADION ein Ort exklusiver Männlichkeit. Um die Verbindung zwischen den einzelnen Abschnitten zu halten, verlegten Soldaten endlose Kabelmeter für ein zunehmend stabileres Telefonnetz, das von den TELEFONZENTRALEN der Kommandostäbe aus gesteuert wurde. Aufklärungsflieger konnten ihre Beobachtungen an die Bodenstationen funken. Den direkten Austausch zwischen Infanterielinie und Artillerie mussten jedoch Tausende von Lichtsignalen gewährleisten. Im Grabengewirr der Westfront zerstob das Ideal einer romantisierten Landschaft, bei deren Ansicht Betrachter ihre moralische Empfindsamkeit entwickeln können. Die aufgerissene Kriegslandschaft besaß eine eigene Ästhetik der Zerstörung, die bei der Geburt der literarischen Moderne Pate stand. Im fragmentarischen Stil Robert Musils oder Franz Kafkas lebten die Bilder von Otto Dix oder Georg Grosz fort: Schlachtfeld und Körper waren ob ihrer Verletzungen nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Gleichzeitig gewann die Front als entleerter Raum kulturelle und politische Bedeutung: Weil die handelnden Akteure unsichtbar und einander anonym blieben, entwickelte sich ein »spielerischer Umgang mit den Gegenständen im Sichtfeld«, der nicht mehr an ein »moralisches Ich« gebunden war (Hüppauf 1991, 121). Im Niemandsland der Front wuchs eine Bereitschaft zur enthemmten Vernichtung, weil man den Gegner nicht mehr sah. In mancher Hinsicht ähnelte das den Anpassungen des modernen Menschen an die Großstadt, die Georg Simmel schon vor 1914 beschrieben hatte: Konfrontiert mit dem fremden Strom von Fußgängern und Bahnen, bildete er einen Reizschutz aus, der bis zur Blasiertheit reichte. Walter Benjamin erweiterte dies um die Folgen des Ersten Weltkriegs: Der dauernde Schock des Granateinschlags an der Front fand seine Fortsetzung in den Sinnesattacken der modernen Medien, vor allem des KINOS. All diesen Eindrücken von Stadt, Krieg und Medien entzog sich der Nachkriegsmensch, so Benjamin, indem er Erfahrung und Empfindsamkeit trennte. Er entwickelte eine Art zweiten Blick, der mit seinem Innern nicht verbunden war. Auch wenn das Bild des Ersten Weltkriegs durch seine zerstörerische Kraft geprägt ist, war er zugleich ein Versuchsraum der Wissenschaft. Lazarette und Badeanstalten verkörperten die säkulare Version einer unerwarteten Wiederauferstehung. Tatsächlich aber erlag noch jeder zehnte deutsche und jeder fünfte französische Gefallene einer Erkrankung, die nicht auf Waffenverletzungen, sondern auf die schlechte Ernährung und die Witterungsbedingungen zurückzuführen war. Verwundete mussten medizinisch versorgt sein, bevor sie fotografiert wurden. Prothesenhersteller perfektionierten ihre Kenntnisse, die sie bei Arbeitsunfällen in Fabriken gewonnen hatten, um Kriegsversehrte wieder fronttauglich zu machen – für die Heimatfront der Kriegsproduktion. Das erstmals eingesetzte Giftgas als frisches Produkt der chemischen LABORATORIEN sollte den Gegner effizienter bekämpfen.
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Das Massentöten zog Massengräber nach sich. Gab es an der Front auch Nischen des Rückzugs, so waren die Soldaten erst beim Sterben oder im Tod allein; genau darum romantisierten Postkarten immer wieder den Tod durch gestellte Szenen eines Sterbenden inmitten seiner Kameraden. Erst die zunächst nur provisorisch angelegten, dann zu Gedenkhainen ausgebauten Gräber erlaubten es, den Raum der Front als organischen Gesamtkörper zu idealisieren. Der anonyme Tod, der Hunderttausende von Soldaten unidentifizierbar machte, und die in Eile angelegten Massengräber verweisen auf die später mit dem KONZENTRATIONSLAGER verbundene Dynamik des Völkermords. Auch wenn die zerstörerische Gewalt des Ersten Weltkriegs keinem Vernichtungszweck unterworfen war, ließ sein Charakter bereits manchen die Zukunft erahnen. »Der Gaskampf«, urteilte Walter Benjamin 1930 zynisch, »verspricht dem Zukunftskrieg ein Gesicht zu geben, das die soldatischen Kategorien endgültig zugunsten der sportlichen verabschiedet. [...] [Er] wird auf Vernichtungsrekorden beruhen und mit einem ins Absurde gesteigerten Hasardieren verbunden sein. Ob sein Ausbruch innerhalb der völkerrechtlichen Normen [...] erfolgt, ist fraglich; sein Ende wird mit dergleichen Schranken nicht mehr zu rechnen haben« (Benjamin 1964, 130). Doch schon im Ersten Weltkrieg verletzten deutsche Armee und Soldaten das Völkerrecht, unter anderem mit Vergeltungsaktionen beim Einmarsch in Belgien und Frankreich (Horne/Kramer 2004). Um die andauernde Flucht von Belgiern in die Niederlande infolge der Massenerschießungen und den florierenden Schmuggel zu unterbinden, ließ das deutsche Generalgouvernement in Belgien 1915 einen 180 Kilometer langen »Todesstreifen« entlang der belgisch-niederländischen Grenze anlegen (Herzog/Rösseler 1998). Am elektrisch geladenen Zaun, der mit Alarmdrähten und Suchscheinwerfern gesichert war, patrouillierten deutsche Wachmannschaften. Bis Kriegsende forderte der erste »Todesstreifen« der deutschen Geschichte mindestens 3.000 Menschenleben. An der Westfront wurde die Moderne nicht geboren. Aber in der Grabenlandschaft verdichteten sich ihr zerstörerisches Gewaltpotenzial und die Bereitschaft, es einzusetzen, in einem bis dahin unbekannten Ausmaß. Sie war das Aufmarschfeld eines Maschinenkriegs, der seine eigenen technischen Überbietungen gebar. Zugleich erstreckte er sich aufgrund des ausufernden Bedarfs an Nachschub und Ressourcen bereits bis weit in die zivilen Räume hinein. Weil der Stellungskrieg im Westen die moderne Front entstehen ließ, aber zugleich in dieser Form schon 1918 ein Auslaufmodell war, ist die Westfront ein historisch einmaliger Ort. Mit den Kratern in Landschaften, Gesichtern und Seelen taten sich ungeahnte Abgründe der Moderne auf. Ihre inneren Widersprüche lagen blank. Das machte die Westfront wie Auschwitz und Hiroshima zu einem archetypischen Gedächtnisraum des 20. Jahrhunderts. An diesen Orten implodierten Utopien des Fortschritts und Pathologien der Zerstörung auf engstem Raum.
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Der Bunker Marc Buggeln/Inge Marszolek I. Ikone des Betonbaus oder Mahnmal: Der U-Boot-Bunker »Valentin«, Bremen-Farge, 1944 Im Norden Bremens erstreckt sich die Weser in einer idyllischen Flusslandschaft. Sie wird hier zu einem breiten Strom, Wiesen reichen ans Ufer, grüne Inseln mit Bäumen befinden sich im Fluss, Ausflügler sitzen in Lokalen und am Weserstrand. Plötzlich und unvermittelt aber steht man vor einer riesigen, nicht enden wollenden Betonwand: Es handelt sich um die Südseite des U-Boot-Bunkers »Valentin«, einer der größten Rüstungsruinen, die der Nationalsozialismus hinterlassen hat. Der Bunker ist 426 Meter lang, bis zu 97 Meter breit und bis zu 33 Meter hoch. Seine Grundfläche beträgt 35.375 Quadratmeter und der gesicherte umbaute Raum innerhalb des Bunkers beläuft sich auf 520.000 Kubikmeter. Nicht nur wegen seiner Größe erscheint der Bunker monströs. Dieser Koloss wirkt unzerstörbar, unverletzbar, wie gebaut für die Ewigkeit. Der flüssige Beton hat das ganze Gebäude zu einem großen grauen Kasten verschmolzen, der keine Risse und Konturen in der Mauer zulässt. 1944 war die idyllische Flusslandschaft zerstört. Am Fluss waren Anlagen entstanden, die den über die Weser herbeigebrachten Kies entluden. Der nähere Umkreis der Baustelle glich einer riesigen Sanddünenlandschaft, Bauernhöfe und satte Graswiesen hatten dem Bau zu weichen. Zwischen den Dünen befanden sich große Materiallager, kleine Transportzüge verkehrten zwischen ihnen. In der Mitte der Landschaft waren erste riesige Betonwände zu sehen, umgeben von einer Anzahl großer Kräne. Ein 1944 vom zuständigen Marinebaurat gedrehter Amateurfilm vermittelt das Bild eines geschäftigen Treibens. Tausende von Menschen tragen Eisenstangen und Betonsäcke, mischen und rühren Beton oder schaufeln Sand. Alles wirkt auf den ersten Blick wie eine durchschnittliche moderne Großbaustelle. Doch bei genauerem Hinsehen fallen die gestreifte KZ-Häftlingskleidung, die von Unterernährung geschwächten Körper, die Hoffnungslosigkeit und Resignation in den Gesichtern der Arbeiter auf. Denn die Mehrzahl der etwa 8.000 bis 10.000 Menschen, die täglich am Bunker arbeiteten, waren zivile Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, Häftlinge eines Arbeitserziehungslagers und KZ-Häftlinge. Auf der Baustelle entstand ein stark hierarchisierter Mikrokosmos: Während die schwersten und gefährlichsten Bauarbeiten von den KZ-Häftlingen ausgeführt werden mussten, durften die zivilen Zwangsarbeiter vergleichsweise leichtere Aufgaben übernehmen. Unterschiedlich waren auch die Rekrutierungsverfahren: Die KZHäftlinge bestellte das Marineoberbauamt direkt beim SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt, während die zivilen Zwangsarbeiter über den Verwaltungsweg beim ARBEITSAMT angefordert wurden. Im Gegensatz zu den durchkonstruierten Anlagen der KZ-Stammlager (KONZENTRATIONSLAGER) war die Unterbringung in den Außenlagern mitunter provisorisch. In Bremen-Farge mussten die Häftlinge
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unter katastrophalen Umständen in einem unterirdischen Tankbehälter nächtigen. Etwa 1.000 Zwangsarbeiter, vor allem KZ-Häftlinge, starben aufgrund der Strapazen des Baus und der Bedingungen in den Lagern. Die deutschen Arbeiter waren fast ausschließlich für Facharbeiten zuständig oder leiteten die Häftlinge an. Der deutsche Arbeiter war hier der »Vorarbeiter Europas«, so wie es Hans Kehrl, Generalreferent im Reichswirtschaftsministerium, schon 1940 verkündet hatte (Opitz 1977, 786). Um die Zwangsarbeiter und insbesondere die KZ-Häftlinge von der Flucht abzuhalten, bildeten Marinesoldaten eine Postenkette um die Baustelle. Während die SS letztlich Herr über Leben und Tod der Häftlinge blieb, waren die Herren der Baustelle die Bauingenieure und Architekten. Sowohl der Film wie die Fotos von der Baustelle vermitteln ein Bild ihres Selbstbewusstseins. Mit Plänen unter dem Arm marschieren sie durch den Sand, rufen Meister zu sich und gaben Anweisungen. Sie bauten 1944, als der Krieg bereits verloren war, ihr »achtes Weltwunder« (Weser-Kurier, 13.10.1955) für den Krieg und für die Zukunft: Die Stahlbetontechnik schien zu garantieren, dass der Bunker – ganz im Sinne der Ruinenwerttheorie des NS-Baumeisters Albert Speer – in die kommenden Jahrtausende hineinragen würde (Wenk 2001b, 21). Ob die Zwangsarbeiter beim Bau litten oder gar starben, interessierte Bauräte, Ingenieure oder Marine nicht. Wichtig war nur, dass sie arbeiteten. So betonte der Leiter des Planungsbüros des U-Boot-Bunkers, Prof. Dr. Erich Lackner, im Interview mit Radio Bremen am 16. Juni 1981 zwar, dass er mit dem ganzen Arbeitseinsatz nichts zu tun hatte, schob aber hinterher: »Die Arbeitsbedingungen waren für alle auf der Baustelle gleich.« Mag diese Aussage schon für heutige Baustellen zweifelhaft sein – den damaligen Verhältnissen sprach die Aussage Hohn. Für Lackner stand der Bau am Beginn einer großen Karriere. Er erhielt als 30-jähriger Abteilungsleiter der Ingenieurgemeinschaft Agatz-Bock mit der Leitung der Planungsbüros der beiden U-Boot-Bunker »Valentin« und »Hornisse« seine bis dahin größte und prestigeträchtigste Aufgabe zugeteilt. Aus seinen Worten sprach noch 1981 der Stolz auf die herausragenden Leistungen deutscher Ingenieurs- und Baukunst: Die Planer konstruierten das erste Mal für ein so großes Bauwerk eine sieben Meter dicke Decke, wegen der Mangelsituation bauten sie ein höchst materialsparendes Fundament und sie dirigierten mit etwa 30.000 Tonnen Maschinen den vermutlich größten Baumaschinenpark Europas. Trotz der schwierigen Umstände lag der Bau bis kurz vor Kriegsende innerhalb der vorgesehenen Bauzeit. Doch nicht nur die äußere Konstruktion, auch die Inneneinrichtung machte den Bunker zum größten Hightech-Projekt des Oberkommandos der Kriegsmarine, in dem die Ikone der modernen Waffen produziert werden sollte: Unter dem schützenden Betondach sollte die erste Sektionswerft entstehen, um U-BOOTE vollständig im Fließverfahren herstellen zu können. U-Boote in einzelnen Sektionen zu bauen und erst am Ende des Verfahrens zusammenzuschweißen, hatte man sich beim Handelsschiffbau in den USA abgeschaut. Gemeinsam mit der Bremer Vulkanwerft wurde ein System entwickelt, mit dem an 13 Taktplätzen und vier Taktstraßen gleichzeitig gearbeitet werden konnte. Letztere sollten bis zu 400 Meter lang
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parallel fast durch den gesamten Bunker verlaufen. Ingenieuren und Arbeitern bot sich so ein Blick auf eine Halle riesigen Ausmaßes, die die Dimensionen aller bisherigen Werfthallen sprengte und noch heute eher riesige Kathedralen als Fabriken assoziieren lässt (STAHLWERK). Anders als heute war der Bunkerraum damals nicht leer, es gab bereits teilweise Kräne und Fließbänder. In den vorderen 100 Metern des Bunkers waren durch Wände abgetrennte Werkstätten und ein eigenes Kraftwerk untergebracht, das die Weiterproduktion auch bei durch Bombardierungen ausgelösten Stromausfällen garantieren sollte. Hätte der Bunker die ihm zugedachte Funktion aufgenommen, wäre eine der größten, modernsten und am besten geschützten Produktionsstätten der Welt in Betrieb gegangen. Da Arbeitermangel herrschte, war für die Produktion der Einsatz von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und vermutlich auch KZ-Häftlingen vorgesehen. Der Bunker ist damit ein Beispiel dafür, wie sich der Einsatz von Zwangsarbeitern in der nach wie vor kapitalistisch organisierten Wirtschaft des »Dritten Reichs« bewährt hatte. Nach rassistischen Kriterien organisierte Zwangsarbeit und kapitalistische Produktion waren kein Widerspruch: Ihre Verklammerung war ein Potenzial für Modernisierungsprozesse ebenso wie für moderne Kriegsführung.
II. Bunker: Orte der Volksgemeinschaft oder gesellschaftlicher Hierarchien? Am 3. August 1943 wurde unter der Überschrift »Bunker-Perspektive. Ereignisse und Gedanken in meinem Bunker« in der Hamburger Zeitung das Leben im Bunker beschrieben: »Er ist nun mein Haus, mein Schutz und Freund geworden, der gewaltige Betonklotz inmitten der Häuserruinen. [...] Man sieht plötzlich das Wichtige und Unwichtige. Wichtig ist das gesunde, einfache Leben, das aus der Freude am Dasein jene unüberwindliche Kraft schöpft, das Saatkorn der Zukunft ist.« Dieser Propagandaartikel im Krieg verweist auf eine sprachliche Doppelbedeutung, die sich im englischen Sprachraum, aus dem der Begriff Bunker kommt, in zwei unterschiedlichen Begriffen, bunker und shelter, gehalten hat. Bunker, seit Ende des 19. Jahrhunderts als Begriff in Gebrauch, meinte zunächst einen Behälter zur Aufbewahrung von pulverigen, körnigen oder flüssigen Stoffen. Im Ersten Weltkrieg war ein Bunker ein Truppenunterstand in Frontnähe, erst im Zweiten Weltkrieg wurde er im deutschen Sprachraum zum Synonym für einen Schutzraum vor Luftangriffen. Der Artikel in der Hamburger Zeitung verweist auch auf die Konstruktion der Volksgemeinschaft als Bunkergemeinschaft, die das »Saatkorn« einer nationalsozialistischen Zukunft sein sollte und so mit der Frontgemeinschaft verbunden wurde (FRONT). Die Wirklichkeit war jedoch eine andere. Zu Kriegsbeginn war das Deutsche Reich kaum auf Luftangriffe vorbereitet. Erst am 10. Oktober 1940, also nach der sich abzeichnenden Niederlage im Luftkrieg gegen England, erging ein Führererlass zum Bau von Luftschutzbunkern in 61 Städten (Foedrowitz 2002, 10f.). Wenige Tage später wurde das Führerprogramm »Aktion Mutter und Kind« ins Leben gerufen: Vor allem Mütter mit Kleinkindern sollten in den neu errichteten Bunkern
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übernachten; in Berlin wurden hierfür eigens »Mutter-und-Kind-Bunker« errichtet (Arnold/Arnold/Salm 1997, 114). 1941 bildete das Luftschutzbunkerprogramm den Schwerpunkt der deutschen Bautätigkeit. Da nicht genug Arbeitskräfte vorhanden waren, mussten vor allem ausländische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter die Luftschutzbunker errichten; in Berlin stellten sie zwei Drittel der Arbeitskräfte (Foedrowitz 2002, 53). Allerdings war ihnen in der Regel bei Luftangriffen der Schutz im Bunker verwehrt. Bereits 1942 wurde das Programm begrenzt und schließlich im September 1942 zugunsten des Westwallbaus drastisch eingeschränkt (Groehler 1990, 244). Auch mit dessen Ende nach der alliierten Landung in der Normandie im Juni 1944 wurde das deutsche Baupotenzial nicht wieder in Schutzbauten für die Bevölkerung umgeleitet, sondern nun zur Sicherung der Rüstungsindustrie und ihrer Verlagerung in den ländlichen Raum eingesetzt. Bis Mitte 1943 waren im Rahmen des Bauprogramms etwa 2.000 Luftschutzbunker mit 400.000 Plätzen entstanden. In den ausgesuchten Großstädten lebten aber fast 19 Millionen Menschen, so dass die Bunker nur für etwa vier Prozent der Bevölkerung ausreichten. Der Großteil der Menschen musste deshalb in Luftschutzkellern Platz suchen, die für 11,6 Millionen Menschen ausgelegt waren. Zudem waren vor allem die besonders bedrohten nord- und westdeutschen, in geringerem Maße auch die süddeutschen Großstädte im Programm berücksichtigt worden. In Ostdeutschland wurde hingegen kaum gebaut – ein Umstand, der sich für die Bewohner von Dresden oder Chemnitz fatal auswirken sollte, nachdem sich die Reichweite der alliierten Bomber ausgedehnt hatte. Deutschland legte zwar das größte Luftschutzprogramm auf, als Erstes hatte aber Großbritannien auf die Gefahren des Luftkriegs reagiert. Nachdem sich das Münchner Abkommen als Fehler erwiesen hatte, ernannte Premierminister Chamberlain im November 1938 einen Beauftragten für Luftschutz. Er entschied sich für den Bau von nach ihm benannten »Anderson-Bunkern«, die mit durchschnittlich drei Quadratmetern Grundfläche und Platz für sechs Personen in den Gärten von Privathäusern errichtet werden sollten – englische Häuser hatten meist keine Keller. Bis Kriegsbeginn waren etwa zwei Millionen solcher Bunker fertiggestellt. Weil sie sich als zu klein erwiesen, wurde im März 1940 mit dem Bau von öffentlichen Großbunkern begonnen. Nachdem einige den ersten deutschen Luftangriffen nicht standgehalten hatten, suchten viele Londoner in den U-Bahn-Stationen Schutz. Um den zu Hause Übernachtenden ein Minimum an Schutz zu gewährleisten, führte die Regierung den »Morrison-Shelter« ein, eine Art Stahltisch, unter den sich zwei Menschen legen konnten. Parallel dazu wurde in London mit dem Bau von acht riesigen unterirdischen Bunkern für je 8.000 Personen begonnen. Sie wurden nie fertiggestellt, weil die deutsche Luftwaffe nach der verlorenen »Schlacht über England« nur noch eine geringe Gefahr für Großbritannien bedeutete. Neben Deutschland besaß England trotzdem den umfangreichsten Luftschutz in Europa, weil alle anderen Staaten sich kaum darum gekümmert hatten. Die Bunker in Deutschland waren nicht einheitlich; Planung und Durchführung lagen in den Händen der ausgesuchten Städte. Viele Bunker wurden als quaderförmige Blöcke
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gebaut, teilweise mit Flakstellungen auf dem Dach. Andere erhielten Türme mit spitzen Dächern, die gewährleisten sollten, dass die Bomben abrutschten und erst auf dem Boden explodierten. Wieder andere lagen komplett unter der Erde. Auch ihre Größe variierte stark. Einige Bunker wurden an Orten von Synagogen errichtet, die in der Reichspogromnacht zerstört worden waren (Bartetzko 2001). Die Bunker galten in der Bevölkerung bei Bombenangriffen als der sicherste Ort innerhalb einer Stadt, auch wenn es ab 1943 zu ersten Durchschlägen kam. Dennoch blieben ihre Plätze äußerst begehrt. Noch 1941 hatten nur Menschen mit einer Karte, die von der NSDAP oder dem Luftschutzrevier verteilt wurde, für den betreffenden Bunker Zugang. Mit der Zunahme der Luftangriffe wurde diese Praxis jedoch zunehmend obsolet. Aufgrund der kurzen Vorwarnzeiten war eine Prüfung nicht mehr sinnvoll, 1943 verzichtete man schließlich auf die Ausweise. Beim Ansturm auf einzelne Bunker kam es danach häufig zu Drängeleien und Prügeleien. Kriegsgefangene, Ostarbeiter und Polen durften lediglich in unsicheren Splittergräben Schutz suchen; Zwangsarbeiter aus westeuropäischen Ländern konnten immerhin Bunker aufsuchen, wenn Plätze frei waren. Prinzipiell sollten die Bunker vor allem von Müttern, Kindern und Schwerkriegsbeschädigten benutzt werden. Die männliche Bevölkerung zwischen 16 und 60 Jahren sollte in die Luftschutzkeller gehen, um von dort gegebenenfalls schneller bei Löscharbeiten helfen zu können. In Berlin warteten ab 1943 zum Teil »Bunkertanten« oder »Klappstuhlgeschwader« stundenlang vor den Bunkern, um als erste Eintritt zu bekommen. Die Selektion und der damit oft verbundene Streit fanden am Bunkereingang unter hektischen Umständen statt. Die Türen öffneten oft erst kurz vor dem Vollalarm. Die Belegung eines Großbunkers mit bis zu 20.000 Menschen verlangte etwa 15 Minuten Zeit, vier große Türen waren vorhanden: Sechs Menschen mit Gepäck mussten pro Sekunde durch eine fünf Meter breite Tür hindurch. Zeitzeugen berichten von Panik und Hysterie, manchmal gab es Tote beim Gedränge. Anschließend wurden die Türen bis zur Entwarnung verriegelt. Im Bunker kam es oftmals zur Bildung einer temporären »Notgemeinschaft«. Man teilte das gemeinsame Los der Vertreibung aus der eigenen Wohnung und die Angst, sein Hab und Gut nie wiederzusehen. Unterschiede von Stand und Besitz spielten in dieser Sondersituation unter den Anwesenden eine geringere Rolle als üblich. Diese Notgemeinschaft war aber nicht einmal ein schwacher Abglanz der von der NSDAP propagierten Volksgemeinschaft. Allgemein machte sich in den dauerhaft bombardierten deutschen Großstädten spätestens 1943 Resignation breit. Gestapo-Stimmungsberichte sprechen von Apathie, Ohnmachtsgefühlen und Teilnahmslosigkeit. Entgegen der Annahme einiger alliierter Luftstrategen revoltierte die Bevölkerung unter dem ständigen Bombardement allerdings nicht. Die Resignation führte vor allem zu einem oft besinnungslos wirkenden Durchhalten, dem Versuch, das übliche Leben weiterzuleben, auch wenn neben einem alles zusammenbrach (Padover 1999, 18f.; Groehler 1990, 294). Anders als von der NSDAP befürchtet, musste sie die Menschen nicht von einer Massenflucht aus der Stadt
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abhalten, sondern eher in der Stadt nicht dringend benötigte Menschen dazu überreden, auf das sichere Land zu fahren (Friedrich 2002, 435f.). Gegen Kriegsende wurden die Bunker für viele Menschen in den zerstörten Städten zur dauerhaften Bleibe. Fast alle Räume waren nun mit mehrstöckigen Betten ausgerüstet. Je 25 Personen teilten sich eine Toilette. Für schwangere Frauen wurden gesonderte Räume eingerichtet, oft auch Entbindungsstationen. Ein ErsteHilfe-Raum war für je 300 Personen Pflicht, oft existierten Krankenhausinstallationen. Von zentraler Bedeutung für jeden Luftschutzbunker war das Ventilationssystem. Durch den Luftverbrauch mussten in den voll besetzten Bunker etwa 300 Liter sauberer Atemluft gepumpt werden. Stand die Umgebung des Bunkers in Flammen und bildeten sich Brandgase, vermochten auch die besten Kampfstofffilter das Eindringen der Gase nur eine bestimmte Zeit zu verhindern; oft mussten sich die Menschen zwischen Erstickungstod und Flammeninferno entscheiden. Je länger die Menschen im Bunker bleiben mussten, desto schlechter wurde ihre Situation: Viele der Bunkerbewohner besaßen nur noch wenige Kleidungsstücke, die zunehmend verdreckten und aufgetragen waren. Die geschwächten Menschen wurden anfälliger für Krankheiten, zumal sich diese in der Enge des Bunkers rasch übertrugen. Die Mehrzahl der Bewohner deutscher Großstädte überlebte im Bunker, im Keller oder im Untergrund. Angesichts der verheerenden Umstände war aber aus der temporären Notgemeinschaft im Bunker eine räumlich abgesonderte »Volksgemeinschaft der Apathie« entstanden. Um die Dimensionen des Bombenkriegs und die Bedeutung der Luftschutzbunker einschätzen zu können, hilft der Vergleich mit Japan. In Deutschland starben im fast fünf Jahre andauernden Bombenkrieg, der zumindest in den letzten zwei Jahren von höchster Intensität war, etwa 400.000 Menschen. In Japan hatte der Bombenkrieg in psychologischer Hinsicht ähnliche Auswirkungen wie in Deutschland. Die vormalige Siegeszuversicht wich mit der Erkenntnis der sicheren Niederlage einer damit einhergehenden Agonie. Die japanische Regierung hatte während ihrer Siege noch weniger für den Aufbau des Luftschutzes getan als die deutsche Regierung. Als sich das Kriegsblatt wendete, besaß Japan keine Rohstoffe mehr, um Bunker zu errichten. Stattdessen ging man dazu über, Tausende von Häusern in Großstädten einzureißen, um Schneisen durch die Städte zu schlagen, die nicht in Brand gesetzt werden konnten. Dennoch führte der fehlende Bombenschutz zu einer sehr hohen Opferzahl: Innerhalb von neun Monaten wurden etwa 806.000 Japaner verletzt, davon etwa 330.000 tödlich (MacIsaac 1976). Bis heute sind Bunker Teil von Kriegsstrategien. Erst 1992 wurde in der Bundesrepublik ein Programm eingestellt, in dem einzelne Bunker im Rahmen des zivilen Luftschutzes für einen atomaren Krieg aufgerüstet wurden. Ein Gebrauch der Bunker für ihren ursprünglichen Verwendungszweck, den Luftschutz, dürfte aber aufgrund der technischen Überlegenheit der NATO auf absehbare Zeit unwahrscheinlich sein. Bunker werden darum in den NATO-Ländern nur noch für das Militär und für Regierungen zum Schutz vor einem Atomangriff entworfen, während der Bunkerbau in einigen Ländern der Peripherie Konjunktur hat. Im
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Wettlauf zwischen Beton und Bomben, der im Zweiten Weltkrieg begann, lieferte die letzten Erkenntnisse über den Stand von Luftkrieg und Luftschutz der amerikanisch-britische Angriff auf den Irak. Mit dem Angriffsprogramm »Shock and awe« sollten die gegnerischen Schaltzentralen durch gezieltes Massenbombardement außer Kraft gesetzt werden. Anders als beim Flächenbombardement des Zweiten Weltkriegs steht – zumindest in der Theorie – der zielgenaue Angriff auf die militärischen, politischen und wirtschaftlichen Zentren des Feindes im Mittelpunkt. Trotz gestiegener Zielgenauigkeit bleiben zivile Tote beim massiven Bombeneinsatz vorprogrammiert. Auf der anderen Seite hat sich auch die Technik des Bunkerbaus erheblich weiterentwickelt. Saddam Husseins größte und bedeutendste Bunker sind von deutschen und Schweizer Ingenieuren entwickelt worden. Sie liegen weit unter der Erde und verfügen über erhebliche Betondecken. Im Vorfeld des Kriegs kamen in der US-Armee deshalb Zweifel auf, ob die bisherigen bunkerbrechenden Bomben gegen die neuen Bunker noch erfolgreich sein könnten. In die Diskussion kam deswegen der Einsatz von kleinen Nuklearsprengköpfen (mini-nukes) in bunkerbrechenden Bomben. So erklärte der US-Unterstaatssekretär für Waffenkontrolle, John Bolton, im Februar 2002, die USA fühlten sich nicht mehr an den seit Hiroshima und Nagasaki bestehenden internationalen Konsens gebunden, im Krieg nicht als Erste Atomwaffen einzusetzen (Washington Times, 22.2.2002). Aufgrund des erfolgreichen Kriegsverlaufs beschränkten sich die USA auf herkömmliche Bunkerbrecher, die allerdings auch mit etwa 1,5 Tonnen Uran gefüllt sind und für eine Verseuchung der Einschlagsgegend sorgen.
III. Bunkertopographien: Eine mehrdeutige Gedächtnislandschaft Der Bunker »Valentin« markiert eine Paradoxie im kulturellen Gedächtnis Nachkriegsdeutschlands: Einerseits ist er unübersehbar und nicht zerstörbar – die britische und die amerikanische Luftwaffe bombardierten den Bunker nach dem Krieg, um die Durchschlagskraft neuer, raketengetriebener Bomben zu testen. Andererseits war er in der Wahrnehmung der Menschen in Bremen und in den umliegenden Dörfern lange Zeit verschwunden. Zwar wurde der Plan des Bremer Senats, ihn unter dem Trümmerschutt der Stadt verschwinden zu lassen, nicht realisiert, aber im virtuellen Raum des Gedächtnisses war der Koloss aus Beton allenfalls ein Störfaktor in der Idylle, auch wenn die Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge bereits aus der Erinnerung eskamotiert waren. Allenfalls implizit tauchten sie auf, so etwa, wenn 1955 im Weser-Kurier der Bunker »als ein nichtvollendetes Bauwerk der Zeit der Pharaonen« beschrieben wurde. Die Zeitzeugen ignorierten das enge Beziehungsnetz zwischen Baustelle, Lager und Nachbarschaft ebenso wie den Bunker als eine räumliche Kriegsmarkierung. Paul Virilio hat sich als einer der ersten, nämlich bereits seit Ende der fünfziger Jahre, mit den hinterlassenen Festungsbauten des Atlantikwalls beschäftigt. Beim
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Baden im Atlantik wurde er mit den Relikten des Bunkerbaus konfrontiert. Er entdeckte eine neue Landkarte: »Man konnte tagelang am Meer entlanggehen und beständig stieß man auf diese Betonaltäre, errichtet im Angesicht der Leere des Meereshorizontes. Die Maßlosigkeit dieses Projekts war es wohl, die den gesunden Menschenverstand überstieg; der totale Krieg wurde hier in seiner mythischen Dimension enthüllt« (Virilio 1992, 12). Es ist die Einschreibung der Vernichtung in eine absolute Modernität der Bauwerke, die Virilio hier besonders fasziniert. Aber ihre funktionale Ästhetik begeistert bis heute auch viele andere, aus offenbar unterschiedlichen Gründen. Für Virilio sind diese Bunker Zeichen eines vergangenen Kriegs wie Warnung vor dem neuen, dem totalen Krieg, der in einer »großen Verschmelzung des Militärischen und des Zivilen« bestehe (ebenda, 46). Als mehrdeutige Gedächtnisorte weisen die Bunker in die Vergangenheit und in die Zukunft. Auch die selbst ernannten »Bunkerarchäologen« stehen im Bann der ästhetischen Faszination der Betonbauten. Sie schreiben das nationalsozialistische Epos einer Verschmelzung von Technik und Arbeitsorganisation im Sinne der nationalsozialistischen Inszenierung der Volksgemeinschaft fort. Das steht in der Tradition des Kriegsmalers der nationalsozialistischen Organisation Todt, Theo Ortner, der sich nicht nur den U-BOOT-Bunkern am Atlantikwall, sondern auch der Baustelle des Bunkers »Valentin« widmete. Ortners Bilder zeigen glatte Wände, das spiegelnde ruhige Wasser und die Schiffe im Bunker, sie strahlen Ruhe und Kälte zugleich aus. Gemalt inmitten des Kriegs, als die Nachrichten von der Front die Niederlage ankündigten und der Luftkrieg die Städte zerstörte, wurde dieser Schrecken auf den Gemälden verdrängt. Die Betonwände scheinen die winzigen Menschen im gigantischen Bunker zu schlucken. Von den Zwangsarbeitern findet sich heute wie damals in dieser Ästhetik keine Spur. Auch die Bunkertopographie der städtischen Luftschutzbunker ist im kulturellen Gedächtnis wenig präsent, obwohl insbesondere die Hochbunker deutlich sichtbar sind. Nach dem Krieg wurden viele Luftschutzbunker als Notquartiere pragmatisch umgenutzt. Mit dem Wiederaufbau der Städte blieben die Bunker zwar stehen, wurden aber nicht länger als Relikte und Zeugen des Kriegs wahrgenommen. Nur selten wurden sie zu »gewollten« Denkmälern (Hatton 2001, 58). Die Erinnerungen sind von den Relikten abgespalten – die Bunker wurden für Speicherund Lagerungszwecke, für subkulturelle Aktivitäten oder als Übungsräume für Musikgruppen genutzt. Das scheint ebenso harmlos zu sein wie die Rückführung der Bunker auf ihre ursprüngliche Bedeutung als Speicher. Doch Bunker sind nicht harmlos, sie bleiben als Kriegsrelikte Orte des Anderen. Das Andere mag die Sehnsucht nach Schutz sein oder die Faszination des Nichtsichtbaren. Verknüpft mit den konkreten Bauten aber verweisen sie eher auf die Kontaminierungen: auf die Fragilität dessen, was sich hinter den Wänden verbirgt, auf die rassistische Exklusion, auf der die NS-Volksgemeinschaft beruhte. Eingeschrieben in die glatten Betonwände sind auch vielfache Bemächtigungen: die des Körpers durch den Krieg und die der Köpfe durch die Inszenierungen des Nationalsozialismus, aber auch die Bemächtigung der Schicksale derjenigen, die die Bun-
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ker bauten. Die Differenz zwischen der Zivilbevölkerung, die Schutzräume suchte, und den Zwangsarbeitern, die sie bauen mussten, bleibt ein oftmals verborgener, in jüngster Zeit aber häufiger ausgesprochener Text der Bunkermauern – eine Differenz, die nicht zu glätten ist.
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Das Konzentrationslager Habbo Knoch I. Ordnung hinter Stacheldraht: Konzentrationslager Dachau, bei München, 1937 Vier Jahre nach seiner Einrichtung im März 1933 entstand das Häftlingslager im KZ Dachau ein zweites Mal. Die bis dahin als Gefangenenunterkünfte genutzten Steingebäude einer Pulverfabrik aus dem Ersten Weltkrieg wurden abgerissen und durch ein Barackenlager neuen Typs ersetzt. Hier herrschte strenge Symmetrie als Mittel der Macht: Je 17 Holzbaracken auf Steinfundamenten für 6.000 Gefangene säumten mit ihren Giebelfronten in exakter Längsausrichtung die beiden Seiten der neu geschaffenen, breiten Lagerstraße, die an der Nordseite von einem Wachturm aus übersehen werden konnte. An der südlichen Stirnseite des 250 mal 800 Meter großen Areals erstreckte sich jetzt ein Wirtschaftsgebäude, das neben Küche und Wäscherei auch Duschen und den Arrestbunker des Lagers beinhaltete. Zwischen Baracken und Wirtschaftsgebäude lag der weitläufige, für 40.000 Menschen ausgelegte Appellplatz, auf den der seitliche, leicht versetzte Eingang, das Jourhaus, durch einen niedrigen Torbogen hinführte. Westlich davon, durch einen Kanal getrennt, befand sich der eigens gesicherte, weiträumige Bereich der Kommandantur, mit Verwaltungsgebäuden, Kasernen und Erholungsräumen der SS-Wachmannschaften. Das Jourhaus, Sitz der Schutzhaftlagerführer, markierte die Grenze zwischen Alltag und der Welt des Lagers, das die Häftlinge nur zu den Arbeitseinsätzen unter Bewachung verlassen durften. Besonders beim »Empfang«, der Ankunft im Lager, aber auch bei der abendlichen Rückkehr demonstrierten die Wachleute mit Schikanen ihre Herrschaft über diesen Raum. Im eisernen Zugangstor verhieß der Schriftzug »Arbeit macht frei« einen Ausweg, der sich den Lagerinsassen nicht bot. Dafür sorgten neben den Lebensumständen im Lager und der Zwangsarbeit die Sicherungsanlagen: Sieben Wachtürme verteilten sich unregelmäßig entlang der Mauer, die zusammen mit einem Wassergraben und doppeltem Stacheldraht das Lagergelände umfasste. Häftlinge erinnern die Umzäunungen im Vergleich zu den Baracken viel höher, als sie in Wirklichkeit waren. In ihrer Lagerkarte waren auch der »Bunker« und das »Krankenrevier« deutlich hervorgehoben, weil mit ihnen besondere Gefahren verbunden waren. Die erste Begegnung mit dem Lager bei seiner Einlieferung im November 1940 beschrieb der Häftling Edgar Kupfer-Koberwitz als »etwas Unerbittliches, etwas Furchtbares, etwas Eiskaltes, das beängstigte«. Alles sei »peinlich sauber gehalten, nicht das kleinste Stück Papier lag irgendwo«. Die Lagerordnung verstärkte das Gefühl, als Zwangsgemeinschaft isoliert zu sein. Mit geschorenen Haaren und gleicher Kluft unterschieden sich die Häftlinge von weitem nur durch die farbigen Winkel ihrer jeweiligen Häftlingsgruppe. Arbeit und schlechte Ernährung schliffen Unterschiede weiter ab. Unerwartete Kontrollen in den Baracken, die von den Häftlingen sauber zu halten waren, sollte sie auch hier jeglicher Privatheit berauben.
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Man wollte die Gefangenen in das abstrakte Schema des Lagerraums einpassen, um ihnen jedes Gefühl für eine eigene Zeit und einen eigenen Raum zu nehmen. Viele unter ihnen setzten dieser totalen Kontrolle eigene Nischen entgegen, solange es ihnen möglich war. Die SS warb mit der erzwungenen Sauberkeit, hinter der sich die Gewalt des Lagers verbarg. Ein Schwimmbad und Gartenanlagen sowie die überall gepflegte Sauberkeit und Ordnung sorgten für den Eindruck eines gut geführten Musterbetriebs. Schon aus der Pulverfabrik hatte die SS ein Modell-KZ gemacht. Sie war nach ihrer Schließung 1920 verfallen. »Selbst in den entfernten Arbeitshäusern mit allem modernen Bequemlichkeitsschnickschnack«, hieß es wenige Jahre später, »wohnen die Leute nicht gern« (zit. n. Richardi 1995, 43). Zwar gab es 1933 noch keine Lagerstraße, aber verstärkte Sicherungsmaßnahmen und die Trennung des Häftlings- vom Kommandanturbereich machten Dachau zum Prototyp aller späteren Konzentrationslager. Zur Eröffnung des Lagers hatte Heinrich Himmler am 20. März 1933 eigens ein Pressegespräch in München einberufen. 5.000 Kommunisten und Sozialdemokraten sollten hier, so Himmler, »zusammengezogen [werden], da es auf Dauer nicht möglich ist und den Staatsapparat zu sehr belastet, diese Funktionäre in den Gerichtsgefängnissen unterzubringen« (Völkischer Beobachter, 21.3. 1933). Himmler wollte die Lager als rechtsfernen und unabhängigen Herrschaftsraum der SS gegenüber den staatlichen Organen etablieren. Er machte Theodor Eicke zum Kommandanten von Dachau, dessen Lagerordnung später in allen Lagern übernommen wurde. Strengste Regeln für den Tagesablauf, das Verhalten der Gefangenen und die Strafen machten die Unterdrückung systematischer, ohne die Willkür der Wachleute ausschalten zu wollen. Eicke ließ viele kleinere Lager schließen, die 1933 in leer stehenden Gebäuden, Kellern oder Arbeitshäusern entstanden waren, und konzentrierte das KZ-System auf wenige, zum Teil neu zu errichtende Lager der SS (Drobisch/Wieland 1993; Orth 1999). Die Neubauten in Dachau 1937 geschahen im Zuge dieser Reorganisation. Zugleich hatten sich die Aufgaben der politischen Polizei und der SS erweitert. Die Konzentrationslager sollten nun Teil einer flächendeckenden, präventiven »Gegnerbekämpfung« sein, die sich auf sozialbiologische und rassistische Konzepte stützte. »Homosexuelle«, »Asoziale« und »Berufsverbrecher« füllten die Lager auf. Damit änderte sich die Häftlingsgesellschaft erheblich. Vor allem vorbestrafte KZHäftlinge brachten andere Erfahrungen und Umgangsformen mit. Sie bildeten anders als die Politischen keine Gruppen aus, die auf Überzeugungen beruhten. Viele von ihnen fochten als Funktionshäftlinge, gezielt von der SS dazu ausgewählt, den Führungsanspruch der Politischen an. Die neuen Häftlinge dienten als zusätzliche Arbeitskräfte für die Kriegsvorbereitung. Diesem Zweck entsprechend wurden auch die grenzfernen Standorte der fünf neuen zentralen Konzentrationslager ausgewählt. 1936 entstand in Sachsenhausen bei Berlin ein am Reißbrett geplantes Musterlager, dem Buchenwald und der Ausbau in Dachau sowie schließlich Ravensbrück und Neuengamme folgten. Das KZ Sachsenhausen, dessen Grundriss ein gleichschenkliges Dreieck bildete, wür-
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digte Himmler als das »vollkommen neue, jederzeit erweiterungsfähige, moderne und neuzeitliche Konzentrationslager« (zit. n. Morsch 1998, 116). Die 68 Baracken für 10.000 Häftlinge, in vier Ringen in einem Halbkreis um den Appellplatz herum angelegt, konnten von einem Maschinengewehrplatz aus übersehen werden. Die Gestaltung entsprach dem seit dem 18. Jahrhundert bestehenden Ideal einer panoptischen Anordnung von Zellen und Wachposten im modernen Gefängnis (Foucault 1994). Die weitläufigen Anlagen für die Wachmannschaften in allen Konzentrationslagern dieser Phase zeigen, wie gezielt diese zu Schulungsstätten der SS-Totenkopfverbände ausgebaut wurden; im Krieg stellten diese Einheiten einen Großteil des Personals der Einsatzgruppen. Doch der Grundriss von Sachsenhausen fand keine Nachahmung. Wie zunächst in Buchenwald, so setzte sich auch im größten neu errichteten Lagerkomplex, in Auschwitz-Birkenau, eine rechteckige Zonierung des Geländes durch, die den Barackengrundrissen entsprach. Sie war bereits im Ersten Weltkrieg in Kriegsgefangenenlagern (Backhaus 1915) und auch nach 1933 in neu gebauten Lagern wie dem KZ Esterwegen im Emsland hinreichend erprobt worden. Das Ziel einer optimalen Raumnutzung und die Aufteilung des Geländes zur leichteren Bewachung gingen in der rechteckigen Grundform am besten zusammen. Die Rasterung setzte sich in den Baracken fort, die wie Viehtransporter angelegt waren. Im Schlafraum einer Baracke in Auschwitz standen »48 dreistöckige Betten, die, nur von drei Gängen unterteilt, so dicht wie die Waben in einem Bienenstock aneinandergefügt sind, damit der ganze Rauminhalt bis zur Decke hinauf ohne Verluste ausgefüllt wird […]; die gesamte Bodenfläche ist so beschränkt, dass die Blockinsassen gar nicht alle hineingehen, wenn nicht mindestens die Hälfte in den Betten liegt« (Levi 1992, 35). Überbelegung, häufige Verlegungen und die Zusammenlegung möglichst verschiedener Häftlinge sollten Gemeinschaftsbildungen verhindern. Im gesamten Lagerkosmos mit Tausenden von Außen-, Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlagern herrschte eine immense Mobilität unter den Lagern, aber auch zwischen Lagern, Arbeitsstätten und Alltagswelt. Das KZ Dachau hatte schließlich fast 200 Außenlager. Die Grenzen zwischen Lager und Gesellschaft lösten sich vielfach auf, zuletzt in den Evakuierungsmärschen im Frühjahr 1945, als Tausende Dachauer Häftlinge durch Bayern getrieben wurden. Überfüllung und Unterversorgung ließen die Auseinandersetzungen der Häftlinge um ihren Raum beim Essenfassen, Appell oder Arbeitseinsatz zunehmen. Die Macht des seriell gestalteten »Aufsichtsraums« (Sofsky 1993, 67) wurde durch Hierarchien innerhalb der Häftlingsgesellschaft verstärkt, die von den Bewachern instrumentalisiert wurden. Herrschaft wurde durch Anspruch auf Raum als Macht erfahrbar, die sich jeder Begründung entzog. Als Primo Levi versuchte, seinen Durst mit einem Stückchen Eis von einer Fensterscheibe zu löschen, riss es ihm ein Funktionshäftling aus der Hand. Statt einer Begründung bekam Levi zu hören: »Hier ist kein ›warum‹!« (Levi 1992, 31) Obwohl die Sterblichkeit zunahm, sich die Lebensbedingungen unter anderem durch Typhusepidemien verschlechterten und von den 200.000 Häftlingen des KZ
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Dachau mehr als 30.000 ermordet wurden oder umkamen, war Dachau kein Vernichtungslager wie Auschwitz oder Treblinka. Infolge wachsender Todesraten wurde dennoch 1939 ein eigenes Krematorium an der Nordwestseite des Häftlingslagers angelegt. Die drei Jahre später gebaute, mit vier Verbrennungsöfen ausgestattete und als Brausebad getarnte Gaskammer wurde nicht mehr in Betrieb genommen. Doch unter dem Eindruck von Leichenbergen und massenhaft Sterbenden unterschieden die alliierten Soldaten und Berichte im Frühjahr 1945 nicht mehr zwischen Konzentrations- und Vernichtungslagern.
II. Laboratorien der Gewalt: Konzentrationslager im 20. Jahrhundert Hannah Arendt vermutete 1949, den Bildern aus den befreiten Lagern käme »etwa soviel Überzeugungskraft zu wie den Photographien mysteriöser Substanzen in spiritistischen Sitzungen« (Arendt 1986). Die Unwirklichkeit der Lager sei stärker als der Dokumentationsanspruch jeder Reportage. Darin bilde sich das Wesen des Konzentrationslagers ab, der »zentralen Institution des totalen Macht- und Organisationsapparates«. Für die »totale Herrschaft« war nach Arendt nicht das Massenmorden kennzeichnend, sondern die ihm vorhergehende und nicht auf die Lager beschränkte »ungeheure Gefahr der totalitären Empfindungen, Menschen überflüssig zu machen«. Sie galt Arendt als ein negatives Potenzial der Moderne, das sich in den Konzentrationslagern radikalisierte (Traverso 2000, 103-149). In diesem Sinne argumentierte der Soziologe Zygmunt Bauman Ende der achtziger Jahre, dem social engineering der modernen Bürokratie wohne ein Potenzial für »genozidales Handeln« inne (Bauman 1989). Schon Arendt wollte die Abgrenzung von barbarischem Lager und zivilisierter Moderne aufheben. Totaler Herrschaftsapparat und Lager hätten eine »Strukturlosigkeit« und Unberechenbarkeit politischen Handelns radikalisiert, die für das moderne Zeitalter der Massen typisch seien. Diese fanden sich verdichtet in der von rationalen Zwecken entbundenen »totalen Herrschaft«. Insbesondere in der Phantomwelt des Lagers gab es »weder Konsequenzen noch Verantwortlichkeiten«. Nicht Erwerb oder Erhalt von Macht waren ihr Zweck, sondern Menschen systematisch ihrer Identität zu berauben, indem sie zu kontrollierbaren und austauschbaren »Reaktionsbündeln« gemacht wurden. Die Auslöschung von Spontaneität und Individualität machte im KZ »das Sterben selbst permanent«. Räumliche Isolation (U-BOOT) bildete nur den Rahmen für eine Zurichtung der Häftlinge, die sie wirksamer von der Welt der Lebenden abschloss als der Tod. Es sei, so Arendt, »nicht so sehr der Stacheldraht wie die fabrizierte und kunstvoll hergestellte Unwirklichkeit derer, die er einzäunt, welche zu so ungeheuerlichen Grausamkeiten provoziert und die Vernichtung schließlich als eine durchaus normale Maßnahme erscheinen läßt«. Indem sich die Häftlinge schließlich der Mentalität ihrer Bewacher gezwungenermaßen anpassten, erwies sich das Konzentrationslager als »einzige Form [...] in der es gelingen kann, sich des Menschen
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total zu bemächtigen«. Darin liege ihre eigene Rationalität, denn die totale Herrschaft sei auf die Angst vor den Konzentrationslagern angewiesen, um ihre »Kerntruppen fanatisieren« und ein »ganzes Volk in kompletter Apathie« erhalten zu können. Die Lager dienten als »LABORATORIEN, in denen experimentiert wird, ob [...] Menschen total beherrschbar sind« und zu »Marionetten« gemacht werden können. Genau hierin erkannte Arendt die Bedeutung des Konzentrationslagers als Ort der Moderne. Denn die Erfahrung der Überflüssigkeit der KZ-Häftlinge entspreche »aufs genaueste den Erfahrungen moderner Massen von ihrer eigenen Überflüssigkeit in einer übervölkerten Welt und der Sinnlosigkeit dieser Welt selbst«. Was im Konzentrationslager »herausexperimentiert« wurde, war für Arendts kulturkritischen Blick das extremste Beispiel alltäglicher Erfahrung einer modernen Gesellschaft im Zeitalter der Ideologien, in der eine unmittelbare und noch mit rationalen Zwecken verbundene Erfahrung von Wirklichkeit durch einen »Suprasinn« abgelöst worden sei (KINO, ZEITUNGSREDAKTION). Arendt war nicht sonderlich um eine historische Differenzierung der Lagertypen oder einzelner Konzentrationslager bemüht. Vorläufer waren ihr nicht wichtig, weil diesen das Umfeld des totalitären Systems fehlte. Erstmals verwendet wurde der Begriff bei der Einrichtung von »befestigten Lagern« für Aufständische auf Kuba durch die spanische Kolonialmacht 1896. Ebenfalls im Kontext eines kolonialen Aufstands, den die Amerikaner auf den Philippinen bekämpften, wurden »concentration camps« eingerichtet, um »nichtkämpfende Zivilisten« zu internieren (Kaminski 1982, 34f.). In einem eigenen amerikanischen Diskurs hat sich die begriffliche Gleichsetzung von Internierungs- und Konzentrationslagern bis heute verfestigt. In kritischen Medien werden die 1838 eingerichteten Internierungslager für Cherokee-Indianer wie die Reservate selbst unter dem Begriff concentration camps summiert. Von diesem Aspekt des verdrängten ethnocide an den Indianern aus reicht eine Linie über die bis vor kurzem ignorierte Internierung von Amerikanern japanischer Herkunft im Zweiten Weltkrieg bis zur Kritik am System von 800 über die gesamte USA verteilten prison camps, in denen im Notfall reale und vermeintliche Staatsgegner eingesperrt werden sollen (Embry 1956; Wegly 1996). Internierungslager richteten während des Zweiten Weltkriegs auch Großbritannien und Frankreich vor allem für Flüchtlinge aus dem NS-Herrschaftsgebiet ein (Cesarani/Kushner 1993; Peschanski 2002). Bereits im Burenkrieg wurden so genannte »Konzentrationslager« zu Brennpunkten der öffentlichen Meinungsbildung (ZEITUNGSREDAKTION). Im September 1900 richteten die Briten provisorische Zelt- und Barackenlager für weiße Buren und schwarze Verbündete ein, die sie zuvor selbst durch eine brutale Politik der »verbrannten Erde« besitz- und obdachlos gemacht hatten. Über 20.000 der 120.000 bis 160.000 Insassen kamen ums Leben; die Versorgung war ungenügend, den Lagern fehlte ein Mindestmaß an Ausstattung (Kaminski 1982, 35). Kritische Presseberichte seit Juni folgenden Jahres bewirkten das politische Ende der Lager. Lord Milner, einer der Verfechter einer harten imperialen Politik, erkannte bald, dass sich
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die »erschreckende Sterblichkeit in den Konzentrationslagern« nicht rechtfertigen ließ. Mit den Lagern würde man nun für etwas verantwortlich gemacht, das ohnehin, aber ohne öffentliches Aufheben »in the veld« geschehen wäre (zit. n. Krebs 1999, 39). Ebenfalls aufgrund öffentlichen Protests wurden in Deutsch-Südwestafrika 1907 fünf deutsche Lager aufgelöst. Die Schutztruppe hatte seit 1904 einen Aufstand der Herero mit brutalen Mitteln bekämpft. Als im folgenden Jahr Lager eingerichtet wurden, war die Mehrzahl der Herero bereits dieser Gewalt zum Opfer gefallen. Der Kommandeur der Schutztruppe, Lothar von Trotha, wollte mit den Lagern seine zuvor praktizierte Vernichtungspolitik fortführen. Dem Bericht eines Missionars zufolge entsprachen die Bewacher dem mit »rücksichtsloser Rohheit, geiler Sinnlichkeit [und] brutalem Herrentum« (Heinrich Vedders 1905, zit. n. Zimmerer/Zeller 2003, 64). Neben Herero-Kämpfern wurden auch Frauen und Kinder eingeliefert, um den verbliebenen Aufständischen den Rückhalt zu entziehen. Farmer und Minengesellschaften beschafften sich hier Arbeitskräfte. Schon zu ihrer Zeit wurden diese Lager als »Konzentrationslager« bezeichnet, aber es handelte sich um auf Zeit angelegte, mit Stacheldraht umzäunte Gelände mit Stoffhütten oder Unterständen aus Planen. Hinsichtlich Raumordnung, Absichten und Systematisierung lässt sich keine direkte Linie zur Errichtung der späteren Konzentrationslager ziehen. Dennoch waren sie ein »Bindeglied zwischen den früheren Völkermorden niedrigen staatlichen Organisationsgrads und den bürokratisierten Verbrechen des Nationalsozialismus« (Jürgen Zimmerer): Schwerer Arbeitseinsatz bei unzureichender Versorgung, Mangelkrankheiten und die klimatischen Bedingungen führten zu einem Massensterben, bei dem fast jeder zweite Gefangene umkam. Es gab rassenbiologische Untersuchungen. Eine Blechmarke kennzeichnete die Häftlinge. Nach Auflösung der Lager nahm die Kontrolle der einheimischen Bevölkerung bürokratische Formen an, als Passwesen und Arbeitszwang gekoppelt wurden (ARBEITSAMT). Die späteren Konzentrationslager fußten auf Erfahrungen mit Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg. Auf beiden Seiten wurden Barackenlager auf Freigeländen errichtet, die bereits eine ausgeprägte Infrastruktur aufwiesen (Backhaus 1915) und in der NS-Zeit erneut häufig für Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeiterlager genutzt wurden. Darüber hinaus gehörten die Konzentrationslager zu einer weit in den zivilen Bereich ausgreifenden Lagerisierung, die Hitlerjugend-, Berufsausbildungs- und Gemeinschaftslager einschloss (Dudek 1988). Auf die Ikonographie dieser zivilen Zwangsgemeinschaften griffen die Nationalsozialisten bei der öffentlichen Verstellung der Realitäten in den Konzentrationslagern zurück (Knoch 2001, 75-91). Offiziell hielt der Begriff »Konzentrationslager« auf deutschem Boden mit der Einrichtung von Abschiebelagern für »Ostjuden« in Cottbus und Stargard nach dem Ersten Weltkrieg Einzug (Wippermann 1999, 26ff.). Immer wieder hatten seit der Jahrhundertwende Nationalisten und Antisemiten vor der »Überflutung durch die ostjüdischen Massen« (Georg Fritz 1915, zit. n. ebenda, 26) gewarnt und die Schließung der Reichsgrenzen angemahnt. Die Abschiebelager wurden nicht zuletzt
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aufgrund von Protesten gegen das Verhalten der Reichswehr-Bewacher bis 1923 geschlossen. In Form zahlreicher kleiner Lager für Sinti und Roma überlebte das »Konzentrationslager« aber begrifflich bis 1933. Zu diesem Zeitpunkt bestanden in der Sowjetunion bereits seit mehr als zehn Jahren Konzentrationslager vornehmlich für »Klassenfeinde« aus der Bourgeoisie und Angehörige bestimmter Volksgruppen (Applebaum 2003). Lenin und Trotzki hatten während und gleich nach der Revolution deren Einrichtung angestrengt, die in ehemaligen Kriegsgefangenenlagern und zunächst als Maßnahme lokalen Terrors erfolgte. 1923 schuf die Geheimpolizei ihr erstes eigenes Lager, aus dem sich das zentral gesteuerte System des GULAG entwickeln sollte. Ähnlich dem NS-Lagersystem umfasste es Lager verschiedenen Typs, die aber von Beginn an konsequenter an einem volkswirtschaftlich verwertbaren Arbeitseinsatz der Gefangenen orientiert waren. Seit Ende der zwanziger Jahre wurden sie, nun beschönigend als »Besserungsarbeitslager« bezeichnet, ausdrücklich Bestandteil der Industrialisierungspolitik Stalins und im Zuge der Massenprozesse 1937/38 erheblich ausgebaut. Zeitlich parallel zu den NS-Konzentrationslagern reorganisiert, wurden die noch verbliebenen »Fäden« zum »Draußen« zerschnitten, wie der GULAG-Insasse Alexander Solschenizyn berichtete: Erst mit der Verschärfung des Lagerregiments »boten die Lager einen durchaus modernen [...] Anblick« (zit. n. Kaminski 1982, 94). Bis Anfang der fünfziger Jahre waren insgesamt mindestens 18 Millionen Menschen in den Lagern inhaftiert worden. Trotz des millionenfachen Sterbens vor allem infolge von Hunger und Erschöpfung dienten die sowjetischen Lager nicht der gezielten Vernichtung einer Bevölkerungsgruppe oder der Umsetzung eines gesellschaftsbiologischen Programms. Damit fehlten jene Einrichtungen, mit denen im NS-Regime die fabrikähnliche Ermordung der Juden durchgeführt wurde. Der riesige Lagerkomplex in Auschwitz verstellt leicht den Blick darauf, dass die Ermordung in den Gaskammern auf einen vergleichsweise kleinen Raum beschränkt war. Zugleich macht die Anlage deutlich, wie die Konzentrationslager im engeren Sinn mit der Kriegszeit immer mehr zu einem logistischen Bestandteil des Mordapparats und, auch ohne eigene Gaskammern, zu Vernichtungsstätten wurden, teils durch die sich verschlechternden Lebensbedingungen, teils durch Exekutionen. Dagegen bestand das Vernichtungslager Treblinka aus kaum mehr als den Gaskammern sowie wenigen Verwaltungsbaracken und Unterkünften der Sonderkommandos. Zudem waren die ersten Vernichtungslager für die Deportierten aus Ghettos der Region bestimmt und nur auf Zeit angelegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich das Konzentrationslager als Herrschaftsinstrument verschiedener Diktaturen. In Rumänien, Chile oder Argentinien verschwanden Regimegegner in Lagern und Gefängnissen. In China griffen die kommunistischen Machthaber auf das Modell der »Umerziehungslager« zurück. Wie im GULAG entstanden hier fabrikmäßig organisierte Produktionsstätten von wirtschaftlicher Bedeutung. In Kambodscha ließ Pol Pot zunächst die gesamte Bevölkerung der Hauptstadt in Lager auf dem Land verbringen. Mit zwei Millionen Men-
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schen starb ein Drittel der Gesamtbevölkerung (Kiernan 1996). Wie die Bilder aus dem jugoslawischen Srebrenica Anfang der neunziger Jahre vermittelten, die Gefangene hinter Stacheldraht in der Ikonographie von KZ-Häftlingen zeigten, ist weder die reale noch die mediale Geschichte des Konzentrationslagers als Reservoir des Terrors beendet (Hoffmann 1998; Knoch 2001; Chéroux 2001).
III. Verweigerte Modernität: Das Konzentrationslager und die Gewalt der Moderne Die Konzentrationslager im NS-System waren kein statisches, sondern ein »starken Veränderungen und wechselnden politischen Funktionszuweisungen unterworfenes Herrschaftsmittel« (Tuchel 1998, 56). Seit Ende der dreißiger Jahre wurden die Konzentrationslager zunehmend Teil eines eigenen SS-Wirtschaftsimperiums (Kaienburg 2003). In medizinischen Experimenten fand diese Ausnutzung der Häftlinge einen wissenschaftlich verbrämten Ausdruck. Im KZ Dachau fanden seit Anfang der vierziger Jahre Überdruck- und Höhenversuche, Experimente zur Unterkühlung sowie Malariatests statt, bei denen Häftlinge in einer eigens dafür eingerichteten Versuchsstation infiziert wurden (LABORATORIUM). Die SS und viele Wachleute priesen die Konzentrationslager selbst als moderne Orte: Sie sahen darin ein Modell für die totale Beherrschung einer Gesellschaft, das sich mittelfristig überflüssig machen sollte. Anderen galten die Lager als besonders fortschrittliche Kerne zukünftiger Großsiedlungen (Steinbacher 2000). Kneipen, KINOS und KLEINGÄRTEN für die Wachmannschaften unterstrichen diesen Anspruch. Willkür und Ausbeutung bis hin zur systematischen Vernichtung prägten hingegen die Situation der Häftlinge. »Winter«, so Primo Levi, habe noch anderes geheißen als Kälte, an sich schon Gefahr genug. Mit ihr spürten die Gefangenen »das Nahen der Selektionen. [...] Wer etwas unternehmen kann, der tut es; aber das sind die wenigsten, denn es ist sehr schwer, den Selektionen zu entkommen, und die Deutschen betreiben diese Dinge mit großem Ernst und unerhörter Genauigkeit« (Levi 1992, 149f.). Die Konzentrationslager haben Gefahrenpotenziale der Moderne bloß gelegt. In der Registrierung, Klassifizierung und Markierung der Gefangenen fanden sich Elemente der modernen Wissenschaft und der modernen Bürokratie wieder (ARBEITSAMT). Der Einsatz von modernen Kommunikationsmitteln machte das Lager zum Nukleus eines modernen Überwachungsstaats (PARTEIZENTRALE, TELEFONZENTRALE). In medizinischen Experimenten nutzten Ärzte und Wissenschaftler die Rechtlosigkeit im Lagerraum, um unter anderem die Anpassungsfähigkeit menschlicher Körper an extreme Bedingungen zu testen (FLUGZEUG, RAUMSCHIFF, U-BOOT). Die Zurichtung des Körpers im Sinne seiner Gestaltung (KRAFTRAUM) kehrte sich im Konzentrationslager ins Gegenteil um: Nicht Erhalt und Reproduktion von Arbeitskraft, sondern mehr oder weniger gesteuerte Auszehrung, zum großen Teil durch manuelle Arbeit, prägten das Erleben der Häftlinge.
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Das Lager war ein räumliches Reservoir für verschiedene Zwecke und wie die FRONT ein Erprobungsfeld von Herrschaftstechnologien. Individuelle Raumord-
nungen beim Bau einzelner Lager sowie mehrfache Anbauten und häufige Verlegungen von Baracken übernahmen ein der modernen Funktionsarchitektur innewohnendes ökonomisches Prinzip dauernder Anpassung. Möglich aber war das KZ nur als »LABORATORIUM der Gewalt«, in dem fast alles »erprobt, wiederholt, gesteigert oder abgebrochen werden [konnte], ohne Bindung an Normen und Ziele«. Kulminationspunkt dieser Macht durch Gewalt waren die »Todesfabriken«, in denen Arbeit in serielles Töten und Beseitigen der Leichen verwandelt wurde (STAHLWERK). Gegen die intendierte »absolute Ohnmacht« der Häftlinge konnten diese versuchen, sich mit eigenen Strategien – der Bewahrung von Individualität und dem Aufbau von Gruppenzusammenhängen – Distanz zur »seriellen Zwangsmasse« des Lagers zu schaffen (Sofsky 1993, 35f.). Je schlechter die Lebensbedingungen wurden, desto mehr verwandelte sich dies in eine fremdgesteuerte Serialität, die aus der Verweigerung elementarer Lebensbedürfnisse und von Privatheit jeglicher Art folgte (APPARTEMENT). Das Konzentrationslager war ein raumvariables und durchorganisiertes Handlungsfeld für die gewaltsame Anpassung von Menschen an eine »Mentalität des Massenindividuums«. Sie beruhte letztlich auf dem Prinzip »universaler Verdächtigkeit«, das Mitbürger zu Gegnern machte (Arendt 1986, 665).
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Sich zurückziehen: Orte der Befreiung
Der moderne Alltag hält zahllose Zumutungen bereit: Man ist stets und immer schneller in Bewegung, sieht sich Steuerungsansprüchen aller Art ausgesetzt, kommuniziert pausenlos mit Unbekannten, muss sich in rationalisierte Abläufe einpassen und auf die Reize sinnlicher Überwältigung reagieren. Der Drang, sich diesen häufig fremd bestimmten Einflüssen zu entziehen, hat Orte hervorgebracht, an die man sich allein oder zu mehreren zurückzieht. Auch jene Orte des Rückzugs, die sich ausdrücklich von der Großstadt abwenden, leugnen die Moderne nicht, sondern schieben sie beiseite, indem sie sich an ihren Rändern ansiedeln. Andere Orte favorisieren gerade die räumliche Vereinzelung, um Individualität zum Tragen kommen zu lassen. Die Effekte solcher Befreiungen sind paradox und decken sich nicht mit dem Freiheitspathos des 19. Jahrhunderts: Sich freiwillig zu beschränken kann erweiternd wirken, sich abzuschotten Voraussetzung für Bindungen sein. Befreiung ist zunächst ein räumlicher Tatbestand – erst für sich zu sein erlaubt, bei sich zu sein, sei es in der schützenden Heimlichkeit eines demokratischen Verfahrens oder in der Heimeligkeit einer winzigen Gartenlaube. Die KLEINSTADT steht im Ruf, beschränkt und rückständig zu sein. Ihre Bewohner, heißt es, blickten mit provinziellem Ressentiment auf die beneidete und beargwöhnte Großstadt. Doch sie ist, gerade im deutschen Fall, mehr als eine kleine Stadt und mehr als nur ein Gegenort der großstädtischen Moderne. Die von hier ausgehende intellektuelle Kreativität hat die moderne Individualität auf den Weg gebracht. Als imaginär veranlagter Kommunikationsraum bewahrt die Kleinstadt das Individuelle davor, durch die Rationalisierung aufgesogen zu werden. Ihr verwandt ist die Künstlerkolonie, eine Gemeinschaft von Kreativen im Grünen, die im Einzugsgebiet der Stadt verbleibt. Urbane Natur bietet auch die Gartenstadt, die gesunde Lebensbedingungen in städtischen Strukturen unter Alltagsbedingungen schaffen soll, während der Volkspark der kurzzeitigen innerstädtischen Erholung dient. Einen außeralltäglichen Rückzug an den Stadtsaum ermöglicht der KLEINGARTEN. Er verbindet Reste von agrarischer Autonomie mit selbst bestimmter Arbeit an einem Idyll, das familiäre Vertrautheit beherbergt und zu einem engmaschigen Nachbarschaftsnetz gehört, dessen rigorose Normen die meisten Beteiligten akzeptieren. Das APPARTEMENT dagegen eröffnet persönlichen Freiraum meist im Stadtzentrum. Sich in den eigenen vier Wänden sozialer Kontrolle und dem öffentlichen
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Raum zu entziehen, gleicht im Zweifel zwar nicht deren Zumutungen aus, erscheint aber als eine Voraussetzung dafür, moderne Individualität entfalten zu können. Die Privatsphäre entsteht in der kreativen Aneignung eines standardisierten Repertoires an Einrichtungsformen. Der für sich selbst verantwortliche und selbstbewusste Konsument des Appartements kann sich in der WAHLKABINE als ebensolcher Staatsbürger erweisen. Nur weil die lokale Gemeinschaft im Wahlakt außen vor bleibt, kann eine politische Öffentlichkeit funktionieren, die auf unabhängiger, individueller Willensbekundung beruht. In der Massendemokratie erlaubt es das Geheimnis der Wahlkabine, Konflikten ohne Nachteil für den Einzelnen Ausdruck zu verleihen. Für eine ganz andere Art der freien Meinungsäußerung steht seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ein ebenfalls kabinenartiger Raum zur Verfügung: Die Telefonzelle bietet in der Stadtöffentlichkeit eine leicht zugängliche und zugleich abgeschottete Infrastruktur, die von unterwegs flexibel für Kontaktaufnahmen genutzt werden kann. Vom außerhäuslichen Telefon lässt sich zudem ohne Kontrolle durch das soziale Umfeld kommunizieren. Auf Isolation beruht auch die geschützte Zweierkommunikation auf der psychoanalytischen COUCH. Das Ensemble von Analytiker und Patient muss Außeneinflüsse ausblenden, um die Seele des Patienten von ihren Deformationen befreien zu können. Das bürgerliche Entspannungsmöbel wird so zum Ort von Selbsterforschung, Erinnerung und Erlösungshoffnung.
Die Kleinstadt Bernd Hüppauf I. Öde global: Eine Kleinstadt Mit der Bahn war ich, wie vor vielen Jahren, in eine kleine Stadt im deutschen Südwesten gefahren. Ich wusste, dass ich in einer schönen, alten Kleinstadt angekommen war. Ich kannte sie gut. Aber was mein Blick mir zeigte, als ich aus dem Bahnhof trat, hatte nichts mit meiner Erinnerung zu tun. Es war wie ein Traumbild. Was meine Augen mir zeigten, war der Anblick eines Überall und Nirgendwo, dieselbe Öde wie vor Dutzenden von Bahnhöfen kleiner und großer deutscher Städte: schwarzer Asphalt mit weißen Linien, Busbahnhof mit gläsernen Wartehäuschen, Reihen von Taxis, kurvende Autos, Stühle einer Cafékette, dahinter die Fassadenzeile mit Geschäften und Hotel, in der anschließenden Straße das Eros-Center mit einem Kino für Erwachsene – vom Bahnhofsausgang nicht zu sehen, aber mit Sicherheit da und nach einigen Schritten nicht zu verfehlen. Über der Geschäftigkeit dieses Vorplatzes lag die traurige Öde der Monotonie. Die Macht des Internationalismus hat die deutsche Kleinstadt erfasst und ihr das letzte Ende bereitet. Eine glatte Normierung, die architektonische Variante der Globalisierung, scheint mit großem Erfolg alles Lokale zu absorbieren oder an den Rand zu drängen. Wird es demnächst überhaupt noch einen Platz für das Regionale, das vernacular, und eine Identifikation mit dem Vertrauten, mit Heimat geben, wenn, in Luhmanns Worten, »räumliche Grenzen keinen Sinn für funktionale Systeme mit dem Ziel der Internationalisierung« mehr haben (Luhmann 1977, 890)? Diese Frage verbindet sich mit einem Werturteil: entweder mit dem Triumph der Moderne oder aber mit einer Aversion gegenüber der bürgerlichen Kultur, die keinen Raum für das Besondere und Abweichende lasse. Der gegenwärtig entstehende globale Raum ist den Anforderungen von Rationalisierung und Modernisierung unübersehbar ausgeliefert oder gar ihr Produkt. Aber ebenso offensichtlich sensibilisiert dieser Prozess für die Spannung, die sich zwischen dem offenen Raum der Internationalisierung und den Orten genuin lokaler Kulturen abzeichnet. Die Kleinstadt war über einen langen Zeitraum hinweg ein Ort des Widerstands gegen den Internationalismus der Modernisierung. »Kleinstadt« ist eine unscharfe Bezeichnung. Sie bezieht sich sowohl auf reale Orte zum Leben als auch auf einen vorgestellten oder gedachten, mentalen Raum. Vom Geist der Kleinstadt kann ein fester Begriff, der sich auf Fakten und Daten ihrer Geschichte stützt, nichts sichtbar machen, denn seine Grenzen sind unbestimmt und werden in der Phantasie verschoben. Die Kleinstadt als historisches Objekt und die Kleinstadt als Vorstellung sind nicht auf eindeutige Weise miteinander verknüpft und sollten nicht aneinander gemessen werden. In beiden wirkt ein Netz aus Werten und Normen, die nicht unbedingt übereinstimmen. Mit dem Wort »Kleinstadt« lässt sich beschreiben, was keiner Kleinstadt im Geschichtsbuch korrespondiert: individuelle und kollektive Bewusstseinszustände, das Urbane als Opposition zur Industrialisierung, Stadt als
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Bildermaschine, Psychosen und fiktive Schicksale und vieles mehr. Ihre Wirklichkeit besteht aus Tagträumen und Vorstellungen, deren Gehalt, sowie er in Worte gefasst wird, sich ändert. Eine historische Rekonstruktion der Kleinstadt allein lässt diese imaginative Offenheit verschwinden. Als mentaler Raum kann die Kleinstadt nur in einer nebelhaften Unschärfe vorgestellt werden. Aber nur auf diese Weise entgeht die Kleinstadt einer nachträglichen Banalisierung. Die Kleinstadt war ein rückständiges Element und zugleich ein komplementärer Weg in die moderne Welt, weniger konsistent, weniger glanzvoll und letztlich weniger einflussreich, im Sinn von politischer Macht und kultureller Überzeugungskraft, als die Großstadt, dennoch mit einer eigensinnigen Hartnäckigkeit. Nur in dem Maß, wie der Ort der Kleinstadt auf die Zerstörung des Individuellen und Affektiven im öffentlichen Leben im Zuge von Rationalität, Produktivität und Geldwirtschaft betrachtet wird, geht die Frage nach der Kleinstadt über die bloße historische Rekonstruktion eines verlorenen Flecks auf der Karte der Moderne hinaus und kann über Fragen des Raums in der Moderne Aufschluss liefern. Mit einer Beschreibung der Kleinstadt als vorgestelltem Raum lässt sich den Kleinstädtern ein Maß an Freiheit zuschreiben, das in der bloßen Rekonstruktion ihrer Soziologie nicht zu finden wäre und in dem sie sich selbst erkennen können, sobald sie das Beschreibungsmuster teilen. Das Ende der Kleinstadt setzte mit der Krise der Moderne, an der sie mit sanftem Widerstand teilgenommen hatte, am Ende des 19. Jahrhunderts ein. Die Perspektive ihrer modernen Verächter muss die Sicht auf die Kleinstadt als einen produktiven Ort in der Modernisierung verstellen. Als Raum eines anderen Wegs in die Moderne, den sie in realen und vorgestellten Welten über mehr als 100 Jahre eingenommen hatte, kann sie nur wahrgenommen werden, sobald sie aus dem Vergleich mit der erfolgreichen Metropole der Nationalstaaten erlöst wird. Sie war nie der Ort rein provinzieller Sterilität oder Depression, sondern stets auch ein Ort der Kreativität, eine fragile Mixtur, eine ambivalente Mischung aus in sich widersprüchlichen Kräften.
II. Der Raum der deutschen Kleinstadt In der bisher einzigen substanziellen historischen Studie über die deutsche Kleinstadt definiert Mack Walker diese ungewöhnliche politische und gesellschaftliche Einheit als einen besonderen Ort, der als Residenzstadt im politisch zersplitterten Deutschland nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs entstand und bis in die Zeit der Reichsgründung von 1871 bestehen blieb (Walker 1971). Um das historisch Besondere der Kleinstadt zu fassen, führt Walker für amerikanische Leser den Terminus home town ein, um deutlich zu machen, dass es Unterschiede zwischen der, rein quantitativ gesprochen, kleinen Stadt und der deutschen Kleinstadt dieser Periode, zwischen ihr und der amerikanischen small town gab. Sie war mehr und etwas anderes als eine kleine Version großer Städte.
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Die Kleinstadt stand im Gegensatz zur Anonymität der Stadt und zum Beharrungsvermögen des bäuerlichen Landes, das durchaus keine Idylle war, dennoch der Kleinstadt sehr fern stand. Die historische Soziologie beschreibt ihre Basis als ein bürgerliches Milieu von moderatem Wohlstand: Handwerker, Beamte, Juristen, Ärzte und Apotheker, Kaufleute und kleine Aristokraten, Lehrer und Professoren, pensionierte Beamte und Offiziere, mit wenig Armut und ohne die neue Verelendung des für die Entwicklung der Industriegesellschaft charakteristischen Proletariats. Aus dieser relativen Homogenität bildete sich die Einheit eigener politischer Strukturen und sozialer Einrichtungen, aus denen oft eine räumliche Ordnung folgte und, besonders bemerkenswert, eine eigene Zeit. Der Unterschied zur zunehmend homogenisierten Zeit und einer nach ökonomischer Effizienz und Übersichtlichkeit strebenden Raumordnung der großen Städte war offensichtlich. Die Zeit der Kleinstadt verlief langsamer als die der individuellen Existenz und als die Zeit in den modernen politischen und ökonomischen Einrichtungen der großen Städte, die sich unter dem Druck der Modernisierung beständig anpassten und wandelten. Tendenzen der Beharrung standen im Zentrum ihrer Sozialstruktur. Im Vergleich mit der modernen Stadt lässt sich eine Entschleunigung beobachten. Dem korrespondiert ein anderes zentrales Merkmal, ihre Isolation. Es gab, beobachtet Walker, so gut wie keine politischen und administrativen Eingriffe von außen in die inneren Angelegenheiten der Kleinstädte. Auf Bildern des 19. Jahrhunderts steht die Stadtmauer dafür, dass die Urbanisierung die Kleinstädte nicht erfasste (Walker 1971, 31f.) Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde in Europa die Großstadt der Ort, an dem Geschichte und insbesondere Kultur- und Literaturgeschichte gemacht wurde. Die Metropolis ließ neue Lebensformen entstehen, Stile des Performativen, veränderte Gattungen des Schreibens, vom Roman zum Feuilleton; Metropolen boten die gesellschaftlichen und räumlichen Bedingungen für die narrative Entfaltung des Gesellschaftsromans. In diesen Zentren wurden die Normen und Ideale entwickelt, nach denen »die Welt« leben und schreiben musste, um nicht aus der Welt herauszufallen. Zugleich schufen die zunehmende Bedeutung des Geldes und der anonyme Markt die Voraussetzungen zur Auflösung aller Formen und Stile, individueller und kollektiver Normen und Lebensweisen, die seit dem frühen 20. Jahrhundert endgültig im Relativismus des städtischen Lebens verschwanden. Im Gegensatz dazu stand »das« Land. Die Literatur suchte im Land den Ort der Authentizität zu bewahren. Folgerichtig wurde es eng mit Tradition und Vorstellungen von Rückständigkeit und Starre assoziiert, was nicht ohne reale Grundlagen war. Aus der Perspektive der Rastlosigkeit des kreativen Geistes, der zum Inbegriff der Urbanität wurde, erschien das zuvor idealisierte, nun immobil wirkende Land als geistloser und steriler Ort. Die Großstadt wurde zum Ideal, Provinz und Kleinstadt zum Inbegriff der Welt von gestern. Aber nicht jeder pflichtete der Bewunderung für die Großstadt bei. Das Stadtleben galt nicht wenigen als »unauthentisch«. Ein intensiv studiertes Phänomen des
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19. Jahrhunderts war die europäische Haltung der Langeweile. Für Baudelaire war sie eine Reaktion auf das modernisierte Paris Haussmanns, Ort der geheimnislosen Gleichförmigkeit, ohne Überraschungen und Reize. Für andere war die Langeweile eine spezifische Entwicklung der modernen Großstadt, in der fundamentale Fragen des Seins zu psychischer Starre führten (Goodstein 2004; Kessel 2001). Je fordernder das Leben wurde, desto größer war das Bedürfnis nach Kompensation und Flucht in Theater, Oper und Operette, Varietés und Vergnügungszentren, alle Formen des Spiels und bald ins neue KINO, die im Urteil der Kritiker das Unauthentische der Städte teilten. Die Lebensbedingungen der Großstädte führten zu Gegenwelten, in denen Vororte oder, für die kleine Schicht der Aristokratie, Landsitze und komfortable Villen ein Refugium versprachen. Aus dieser Sicht betrachtet war das Ideal Großstadt unangefochten, aber mit großen Verlusten erkauft. Um 1900 entwarf Georg Simmel eine alternative Sicht auf die moderne Großstadt. Anstatt Urteile zu fällen und das Inhumane ihrer Lebensformen zu verurteilen, beschrieb er sie aus dem Prozess physiologischer und kognitiver Adaption an die neuen Lebensbedingungen. Er beobachtete eine »Intensivierung des Nervenlebens«, das sich an die raschen und ununterbrochenen Reize der Großstadt anpasse und die psychischen Grundlagen für das Entstehen eines neuen Typus von menschlichem Leben schaffe (Simmel 1995). Der kalkulierende und rasch reagierende »Verstand« und eine »Steigerung des Bewusstseins« werden, so Simmel, zum Zentrum des Verhaltens. Die Psyche werde gleichsam eingekapselt und das Verhalten mit der geringst möglichen Anteilnahme von Emotion und subjektivem Ich gesteuert. Keine psychische Qualität sei so paradigmatisch für das Leben in der Großstadt wie die »Blasiertheit«. In ihr vermutet er die letzte Rettung eines von den überwältigenden Reizen der Großstadt überforderten Nervensystems. Simmels Phänomenologie des Großstadtlebens speiste sich aus der Opposition der Großstadt zur Provinz und zum Land als der früheren und anderen Existenzform. Man kann »Provinzialismus« als den geographischen Abstand vom Zentrum definieren (Clark 1981), wo die Entwicklung weiter fortgeschritten ist. Eine solche Sicht setzt ein homogenes Feld voraus und lineare Kräfte, die zwischen Zentrum und Peripherie wirken. Sie gründet auf der räumlichen Vorstellung einer Nationalkultur, die ihre Eigenart aus Abständen, aus Nähe, Ferne und deren Überwindung im Verhältnis von Zentrum und Peripherie gewinnt. Bei genauerer Betrachtung ist dieses Kraftfeld jedoch alles andere als einheitlich und gleichmäßig strukturiert. Französische Provinzstädte können modern sein, ohne doch die Lebensbedingungen von Paris zu imitieren. Subzentren entwickeln ihre eigenen Gravitationsfelder. Es gibt eine undefinierte Vielzahl an Kräften, die sich gegenseitig überschneiden und aufheben, ein Feld widersprüchlicher Bewegungen mit regionalen Zentren und Gegenzentren. In Deutschland verlief die Entwicklung anders. Hier gab es keine Hauptstadt der Nation, es war nicht die Opposition von Zentrum und Provinz, aus der sich, wie in England oder Frankreich, das kulturelle Feld entfaltete, und es gab keine Kolonien, die das Zentrum herausforderten und zugleich festigten. Vielmehr entstand
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etwas Drittes, ein Raum, den der Kulturhistoriker Wilhelm Riehl mit dem Wort »individualisiertes Land« bezeichnete (Riehl 1853; 1855). Er hielt sich vom Sog der Zentren und der Kraft ihrer kulturellen und ideologischen Dominanz frei. Seine bedeutendsten Orte bildeten die Kleinstädte. Die Kleinstadt unterlief den Machtkampf zwischen Stadt und Land, Zentrum und Peripherie. Sie war auf ihre Weise urban, aber weit weniger vereinheitlichend und zwingend als die Großstadt. Die »Kleinstadt« repräsentierte einen architektonischen Idealtypus. Er verschmolz das Kleine der Kleinstadt mit der Idee einer urbanen Kultur, die unter dem gigantischen Projekt einer neuen Welt der Maschinen, Fabriken und des technologischen Denkens zu verschwinden drohte. Die architektonischen Spuren, die das vormoderne Denken im Arrangement von Straßen, Plätzen, kleinen und großen, öffentlichen und privaten, profanen und sakralen Bauten hinterlassen hatte, widersprachen sichtbar einer Ästhetik, die geometrische Ordnung und die Abstraktion der wissenschaftlich-technologischen Epoche normativ machte. War das Ziel der modernen Stadt die konsequente Rationalisierung von Raum, dann war die Kleinstadt ein Ort der Abweichung, an dem Grenzen und Beschränkungen, Ungeplantes und systemlos Konkretes sich erhielten. In der Kleinstadt fand die Moderne eine leise Resonanz und erfuhr zugleich Widerstand. Gegen die Anziehungskraft der aggressiven Großstadt und ihrer Uniformität erhielt sich in ihr eine Gegenkraft der Vielfalt und des Eigensinns. Entgegen der landläufigen Ansicht war sie weder der Raum für Eskapismus noch für Enge, Morbidität und Beharrung. Der Furor der Produktivität und Effizienz, der alles Widerständige erfasste und erbarmungslos einebnete oder ausstieß, schloss auch den Raum der »Kleinstadt« ein. Er bewahrte dennoch eine Distanz und öffnete die Möglichkeiten eines widerständigen Denkens von Subjektivität. Diese Position der Kleinstadt war nicht unschuldig oder naiv idyllisch. Sie störte. Sie veränderte die Palette der kulturellen Distinktionen. Sie mischte sich ein und verwirrte das Machtspiel zwischen Zentrum und Peripherie. Aus der Perspektive eines Nationalisten wie Heinrich von Treitschke war die einflussreiche Position der deutschen Kleinstadt im literarischen und kulturellen Leben zutiefst bedauerlich. Er beklagte sie als ein Hindernis auf Deutschlands Weg zu einer starken Nation mit einer machtvollen Kapitale von Weltgeltung (von Treitschke 1911). Ihr Widerstand gegen Fortschritt und Rationalisierung beruhte auf politischen Traditionen lokaler und kommunaler Freiheit und in der Mitte des 19. Jahrhunderts zeitweise auch auf einer Tradition christlicher Häresie. Sie entflocht die eindimensionalen Machtverhältnisse, indem sie viele kleine Zentren schuf und damit auch »die« Peripherie in viele Peripherien auflöste. Statt zu Zentralisierung und politischer Macht beizutragen, ließ sie eigene Räume entstehen, um kulturelle Unterschiede zwischen polyzentrischen und aus der Ferne kaum wahrzunehmenden Gruppierungen und Bewegungen auszubilden. Sie war der Ort des vernacular, das in Theorien der Moderne nicht einmal einen Namen hatte. Der Terminus »vernacular« steht in der Spannung zwischen dem geschlossenen Raum des Hauses und der Arena der Öffentlichkeit. »Vernacular« bedeutete ur-
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sprünglich eine juristische Trennung des Privaten und Häuslichen von der Öffentlichkeit. Im Deutschen wird es jedoch meist mit »Heimat« übersetzt. Diese semantische Lücke sollte nicht über die Bedeutung des Wortes für die Mentalitätsgeschichte der Moderne hinwegtäuschen. Bescheiden, still und beugsam, wie das Vernakulare war, gelang es ihm, eine Kraft zum Überleben zu entwickeln und unter der Herrschaft des Internationalismus und der Ideologie des Immer-größer und Immergleichförmiger nicht ausgelöscht zu werden, sondern im Kleinen und konkret Unscheinbaren Alternativen, Gelegenheiten für Entscheidungen, der Teilnahme oder der Distanzierung offen zu halten, die Bildung von Freundschaften und Freundeszirkeln und ihre spezifischen Arten der Kommunikation zu fördern. Im Unterschied zur historischen Kleinstadt war die »Kleinstadt« als mentaler Raum eine Erfindung des späten 18. Jahrhunderts. Diese Erfindung war locker verbunden mit den Kleinstädten auf Karten, in Reiseführern und in den Beschreibungen von Reisejournalen. Der Ausnahmeort Kleinstadt war ein Gegengewicht zu den wachsenden Unsicherheiten und dem Verlust an Orientierung. Sie wurde zum Schauplatz für den eminent modernen Kampf des Selbst um einen Platz in der zunehmend abstrakter strukturierten Alltagswelt der instrumentellen Vernunft. Sie bot Vertrautheit und Schutz vor den Verletzungen, die von der Modernisierung dem Einzelnen zugefügt wurden. Das Zeitgerechte der Gegenwart und ihre profane Anbetung des Fortschritts konnte die Kleinstadt nicht umkehren. Aber sie war der Ort eines sanften Widerstands. Die Kleinstadt schuf einen Raum, in dem Subjektivität entworfen werden konnte. Hier fand das konkret Besondere, auch Abwegige und Skurrile einen Raum, im Kontrast zu Universalismus und Uniformität der Aufklärung. Die Kleinstadt baute auf dem Kosmos von Moral und Wissen auf, der mit dem unübersetzbaren Wort »Bildung« bezeichnet wurde. Comitas oder Freundlichkeit der gesellschaftlichen Beziehungen luden das Leben der Kleinstadt mit einem Aspekt der civil society auf, der im kalten Wind der Großstädte nicht überlebte. Aus diesem mentalen Milieu war Alexander von Humboldt aufgebrochen und zu ihm kehrte er nach einer antiimperialistischen Entdeckung einer ganzen Welt zurück. Er hatte weder politische Eroberungen gemacht, noch trugen seine Werke zur entstehenden Wissensproduktion im Sinn der ausdifferenzierten Disziplinen des 19. Jahrhunderts bei. Er baute an einem Wissen, das nicht den Fetischen Fortschritt und Größe diente, sondern dem Ideal des Verstehens folgte, wie es später etwa von Max Weber als verstehende Soziologie theoretisch formuliert wurde. Die Kleinstadt lieferte die notwendige, unaufgeregte Stille und den Abstand zur Ideologie von Herrschaft und Fortschritt sowie zur hysterischen Normalität der Moderne, der für eine reflexive Haltung notwendig ist. Hier und nur hier konnte der Idealismus des 19. Jahrhunderts entstehen, der ganze Welten im Kopf schuf und in Bewegung hielt. So erlebte Madame de Staël auf ihrer Reise durch Deutschland Weimar als einen Ort, dessen Bewohner »das Universum bewohnten« und »durch Lektüre und eine Weite des Denkens den engen Grenzen der dominierenden äußeren Umstände« entkamen (de Staël 1962, 119). Die neuesten Entwicklungen der eu-
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ropäischen Kunst und Literatur wurden, so schrieb sie, innerhalb der bescheidenen und beengten äußeren Verhältnisse einer kleinen Stadt diskutiert. Nicht nur Madame de Staël bemerkte, dass die räumliche Enge in Konzentration und intellektuelle Produktivität verwandelt wurde. In der Literatur ist die Liebe zur deutschen Kleinstadt nicht selten. Turgenjew kennt sie und die Anfangsseiten von Gottfried Kellers Der grüne Heinrich preisen den offenen Geist der von Handel und Verkehr geprägten Kleinstädte an Oberrhein und Bodensee (Keller 1958, 9ff.). Der Kontrast von räumlicher Enge und intellektuellem Wagemut zeichnete die Kleinstadt seit dem späten 18. Jahrhundert aus. Zu einer Zeit, als nationalistische und konservative Ideen die literarischen Präferenzen der Hauptstadt dominierten, waren es Kleinstädte wie Weimar, wo moderne französische Kunst von Cézanne, Manet, Gauguin oder Rodin gefeiert wurde oder Experimente mit Architektur, Kunst und Lebensstilen angeregt wurden.
20. Ansichtspostkarte Weimar, Blick auf die Stadt vom Museum aus, 1923 Das Kleinstadtidyll des Biedermeiers und die harmonisierten Städte in Reisebildern des 19. Jahrhunderts (Heinrich Laube schuf das Muster) waren nichts als die entstellende Trivialisierung dieses Konflikts zu einem Ende in seichter Gemütlichkeit. Vom mentalen Raum der Kleinstadt ging jedoch ein spezifisches Engagement aus. Wenn Goethe in Hermann und Dorothea die Salzburger Religionsflüchtlinge von 1731 in Menschen umformte, die dem revolutionären Umsturz von 1789 in Paris entkommen waren, entwarf er die Dichotomie der Moderne schlechthin. Radikale Änderungen sollen das Leben vernünftig und eigenbestimmt, »menschenwürdig« machen, aber sie raffen zugleich alle Traditionen und Gefühle von Sicherheit und Sinn hinweg. Goethe zeigt die Flucht vor den Bedrohungen der Revolution in der Kapi-
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tale, die Flucht an einen Ort der Ruhe und Gelassenheit, die idealisierte Kleinstadt. Er spricht von ihr als dem »glücklichen Winkel«, in dem selbstlose und fürsorgliche Menschen leben, die auf das Elend der Flucht mit emotionaler Zuneigung reagieren. In diesem Epos ist es der Stolz der Kleinstadt, »klein wie sie sein mag«, so human und aufgeklärt modern zu sein, wie es das Ideal der aufgeklärten Moderne fordert. Die Kleinstadt bildete für Goethe den idealen Raum für eine Liebe, die der Verwirklichung des neoklassischen Ideals von Humanität nahe kommt und eher den Namen Freundschaft verdient. Die idealisierte Freundschaft meidet die Politik und baut an einer Gegenwelt der Opposition zur zunehmenden Unterstellung des Privaten unter zentralisierte Autoritäten. Das unkalkulierte Vertrauen, das im Ideal der Freundschaft wirkt, bildet den extremen Gegensatz zur großstädtischen Kultur abstrakter Rationalität. Nach dem Zerfall der metaphysischen Systeme schuf sich das einsame Individuum in der Kleinstadt einen profanen Raum für die Begegnung mit anderen ebenso isolierten Subjekten. Ihre emotionalen Bindungen entlasteten von der Dominanz des Politischen und rechtfertigten persönliche Präferenzen statt egalitärer Ideale, affektive Motivationen statt Entscheidungen nach rationalen Kategorien. Diese Kombination von Kleinstadt und Freundschaft kann mit einer antipolitischen Einstellung identifiziert werden, die für die gebildete Jugend des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland charakteristisch war. Die Hoffnung auf eine von hier ausgehende Erneuerung des Bürgertums, wie etwa Wilhelm von Humboldt sie hegte, ebenso wie das Ideal der Kleinstadt überlebten sich bald. Im Gegensatz zu Orten der Isolation und Einsamkeit wie der Waldhütte oder dem Hotelzimmer, die alle Bindungen lösen und auflösen, förderte die Kleinstadt Beziehungen nach dem Modell der Freundschaft. Das Affektive und Nichtrationale gediehen, ohne in der Opposition zwischen falscher Erinnerung an eine idealisierte Vergangenheit und dem gänzlichen Verschwinden des Erinnerns gefangen zu sein. Der Kleinstadt war eine tiefe Komplexität eigen. In ihrer Isolation bewahrte sich die Kraft der kollektiven Erinnerung, in der die Welt der griechischen Polis nachschwang. In der überschaubaren Öffentlichkeit der Kleinstadt lag ein Versuch, urbane Strukturen der Kommunikation, in denen der Platz des Anderen gesichert war, in die Moderne hinein zu erhalten. Bewohner der Kleinstadt gehörten zu einem Berufsstand, einer Religion, einem Club oder einer Geheimgesellschaft, doch darüber hinaus waren sie Teil ihrer Stadt, die überschaubar war und Werte und Tugenden pflegte, die die Bedeutung der anderen Mitgliedschaften relativierten. »Stadtluft macht frei!« ließe sich als ihr Leitmotiv aus dem späten Mittelalter bezeichnen. Sie verhinderte zugleich die Isolation des Einzelnen, der ein Gefühl für das eigene Selbst entwickeln konnte, ohne den zu hohen Preis der Isolation zahlen zu müssen, den die Großstadt für die Befreiung der Subjektivität forderte (Umbach 1998). Die Kleinstadtkultur schuf im öffentlichen Diskurs Verhältnisse, für die die moderne Stadt keinen physischen und keinen mentalen Raum mehr hatte. Die agora war verschwunden. Alte Geflechte des gesellschaftlichen Verkehrs und der Kommunikation wurden zerrissen, die Subjekte isoliert und den Gesetzen des zügellosen
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Marktes ausgesetzt. Unter den Bedingungen der Kleinstadt entwickelten sich andere Formen der Kommunikation, die ein höheres Maß an Mündlichkeit bewahrten und, statt der Gleichheit im Austausch von symbolischen Werten auf dem anonymen Markt zu weichen, die Ungleichheiten der direkten, persönlichen Kommunikation erhielten. Mit dem Siegeszug der Medialität, der am Ende des 19. Jahrhunderts begann, wurde dieser Versuch anachronistisch. Die Kleinstadt war zwar auch am Triumph des Modernismus beteiligt, aber diese Beteiligung sollte sich als zweischneidig herausstellen. Das Bauhaus in Weimar und Dessau lässt sich gewiss nicht als das Kind des Kleinstadtgeistes bezeichnen. Aber sein hypermoderner Internationalismus wurde in der Abgeschiedenheit der Kleinstadt entworfen. Diese Innovation kam aus einem Ort, an dem, wie Madame de Staël 100 Jahre zuvor beobachtet hatte, in engen Gassen ein Universalismus des Geistes ausgebrütet wurde, der die innovativen Zentren der weiten Welt reflektierte. Als Vertreter von Dada und Konstruktivismus sich 1922 in Weimar versammelten, sandten sie ein Signal in die weite Welt, dass die deutsche Kleinstadt noch immer nicht ins Obskure verfallen war, sondern ihr Potenzial erhalten hatte, offenen Raum für die Einbildungskraft und künstlerische Kreativität zu schaffen. Doch die Kleinstadt befand sich zu diesem Zeitpunkt schon auf dem Weg der Selbstabschaffung. Ihre Kraft, den Prozess der Modernisierung von einer eigenen Position und mit einer eigenen Identität distanziert korrigierend zu begleiten, hatte sich erschöpft. Sie wurde zu einer kleinen Variante der Großstadt und geriet unter Konkurrenzdruck zu ihr. Bald war sie zu einer Kategorie des Katasteramts reduziert. Was übrig blieb, empfand der eingefleischte Großstädter Ulrich in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften als einen bizarren Verfall. Er hatte Wien mit der Bahn verlassen und war in eine Kleinstadt gereist. Ihr erster Anblick nach dem Verlassen des Bahnhofs regte ihn zu einer Reflexion an, die über diese eine Stadt hinaus ins Generelle der Kleinstadt wies: »Diese Stadt hatte eine Geschichte, und sie hatte auch ein Gesicht, aber darin passten die Augen nicht zum Mund oder das Kinn nicht zu den Haaren, und über allem lagen die Spuren eines stark bewegten Lebens, das innerlich leer ist« (Musil 1978, 672). Ohnehin wäre ein Bild der Kleinstadt als homogener Raum eine Täuschung. Ihre Sonderstellung hatte ihren Preis und die Literatur der Kleinstadt vertuschte ihn nicht. Sie war der paradigmatische Ort der Ambivalenz. Was Ulrich empfand, wenn er in Musils Roman den Bahnhof verließ, waren die stets unter der Oberfläche verborgenen Eigenschaften der Kleinstadt. Er »fühlte etwas ›seelisch Stoffloses‹, darin man sich so verlor, dass es die Neigung zu zügellosen Einbildungen erweckte«. Die Zügellosigkeit hatte stets zu den dunklen und zugleich faszinierenden Seiten der Kleinstadt gehört. Für Ulrich wird die Kleinstadt zum Ort des (drohenden) Inzests sowie des Beginns seines großen Experiments mit dem Leben, unter dem Namen der »andere Zustand«. Während die Kleinstadt Subjektivität abschirmte und in ihrer Zügellosigkeit die Bedingungen für besondere Formen der Kreativität schuf, war ihre Struktur ebenso auf Einengungen, Grenzen und die Beschneidung von Freiheiten sowie auf die Un-
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terwerfung von Subjektivität angelegt. Zügellosigkeit schlug in diesen Jahren schnell in ihr Gegenteil um, in Zwänge und die Depressionen des Provinziellen. So wurde aus dem Ort der Sicherheiten und des Vertrauens leicht ein Ort der Albträume, an dem die »schwarzen Schwingen der Metaphysik« (Hölderlin) den Geist umschwirrten. Die Kleinstadt war auch das Stein gewordene dunkle Unbewusste der Zeit (COUCH) und das Abgründige trug zeitweise entscheidend zu ihrer Attraktion bei. »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus«, hatte Wilhelm Müller seinen Wanderer über sein Verhältnis zur Kleinstadt klagen lassen, und Schuberts Vertonung traf den melancholischen Ton des geliebten Weltschmerzes. Die Bindungen, die die Kleinstadt anbot, korrespondierten den bürgerlichen Sehnsüchten: Das Mädchen sprach von Liebe und die Mutter gar von der Ehe – Wünsche, die zugleich Bedrohungen waren und in Angst stürzten. Dies Lied, Schuberts Liederzyklus sowie die Gattung Lied des 19. Jahrhunderts, für Gesangstimme und Klavier, wären ohne die Isolation und intensivierte Introspektion, ohne die Ängste der Kleinstadt nicht denkbar; die vorgestellte Kleinstadt schuf den idealen Raum für Bilder aus der Verbindung von Melancholie und Hausmusik. Die Kleinstadt reduzierte Unsicherheiten und Gefährdung durch eine Trennung von innen und außen, aber sie bot nur gegen die Bedrohung von außen einen Schutz. Vor den Drohungen, Erniedrigungen und Gefahren aus dem Innen konnte sie nicht schützen. Das gehörte zur paradoxen Lage der Kleinstadt. Ihre idealtypische Situation widersprach der Realität ihrer Umgebung, und sie versetzte Subjektivität in eine zweideutige Relation zur modernen Wirklichkeit. Ihre Sicherung der Autonomie schuf einsame Seelen, den bösen Träumen von Isolation und Hilflosigkeit ausgesetzt, die sich durch Kommunikation nicht auflösen ließen. Für die autonome Seele wurde die andere autonome Seele zum ersten Objekt des Begehrens. Dagegen blieb das Ideal der Freundschaft machtlos. Einsamkeiten potenzierten sich. Aus diesen Begehren schuf die vorgestellte Kleinstadt einen psychischen Raum, von der Natur ebenso wie von den Fragmentierungen der Modernisierung beschützt, aber zugleich auch abgetrennt, so dass das Individuum frei war, in seine tiefsten Abgründe zu blicken. Unter einer Oberfläche der Harmonie war die Kleinstadt ein Treibhaus für Konflikte und unkontrollierte Ausbrüche kranker Seelen. Hier wurden die Dramen der Natur nicht durch die synthetischen Vergnügungswelten der Großstädte kompensiert und trivialisiert. Die Städter zahlten zu ihrem Selbstschutz den Nachtwächter, der, mit Horn und Pike ausgerüstet, vergeblich gegen die Gespenster kämpfte, gegen die sich schützen wollte, wer in der Kleinstadt Ruhe suchte. Im ärgsten Falle entpuppte sich der Nachtwächter selbst als der Agent des Bösen. Im Dunkeln fielen die Verhüllungen und die Kleinstadt verwandelte sich in ein Schreckenskabinett, auf dessen krummen Bahnen die losgelassene Phantasie ihren Amoklauf beginnen konnten. Die Geschichte des modernen Ichs entfaltet sich zwischen Bildern des Extremen: dem von absoluter Freiheit in einer Welt ohne Grenzen und dem des Verlangens nach einem festen Ort der Sicherheiten und des Vertrauens. Diese beiden Pole
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haben ihre jeweilige Kehrseite: Angst vor dem Offenen (Jean Paul) und Hass auf die Repressionen durch Bindung, wie sie Thomas Bernhards obsessive Bilder der Verzweiflung an der Kleinstadt verkörpern (Bernhard 1964) oder die Melancholie und Depression in den Romanen Raabes oder Joseph Roths. Die Freude, ein Heim und eine Heimat zu haben, verkehrt sich leicht ins Gegenteil und führt in die Krisen von Klaustrophobie. Die Zwänge des Raums wurden zum Topos des Schreckens in der Literatur und Kunst des 19. Jahrhunderts. Die Kleinstadt, von der offenen Welt isoliert, bewegte sich um sich selbst, machte ihre Plätze und Gassen zu Gefängnissen, die jedem, der sich in diesen geschlossenen Räumen bewegte, die Luft zum Atmen nehmen konnte. Der Raum der Kleinstadt war nie frei von der Gefahr, zur steinernen Materialisierung von Angst und Melancholie zu werden, die Häuser und Salons in Brutstätten der Angst und Teufelspakte zu verwandeln, in denen die unheimlichen Doppelgänger entstanden. Außerhalb der Häuser entstand aus den Zwischenräumen der Plätze und Straßen die Bühne für die Auflösung des Ichs. Noch in Benjamins Miniaturen des Berlins um 1900, mit den Augen des sensiblen Kindes der bürgerlichen Familie gesehen, lebt diese Doppelbödigkeit der Orte und Dinge der Stadt fort (Benjamin 1987). Freud macht seine Beobachtung, dass das Heimliche nichts als die Kehrseite des Unheimlichen bilde und das eine leicht in sein Gegenteil umschlage, am Beispiel von Hoffmann, dem exemplarischen Autor des gespenstisch Unheimlichen in der Mitte kleinstädtischer Normalität. Freuds Beobachtung gilt für das Leben in der Kleinstadt in exemplarischer Weise und – so ließe sich mit einiger Berechtigung sagen – konnte nur am Leben der Kleinstadt gemacht werden (COUCH). Wo anders als in einer deutschen Kleinstadt hätte Dr. Faustus seinen Pakt mit dem Teufel schließen können und wo anders hätte Thomas Manns Dr. Faustus das Ende von Humanismus und Bildung ausbrüten können als in einer deutschen Kleinstadt? Nichts konnte so unheimlich werden wie der alte vertraute Ort der kleinstädtischen Sicherheiten. Dieser Raum band den Einzelnen wie mit magischen Banden, verweigerte das Recht, sich zu entfernen oder einen autonomen Raum des Eigenen zu gewinnen. Diese Herrschaft mit den unsichtbaren Mitteln der Internalisierung steht hinter dem Erlebnis des Glücks, sich aus dem Zwang entfernen, sich unsichtbar machen zu können, von dem etwa Eduard Mörike spricht, wenn er ins Phantasieland Orplid flieht, oder Ernst Bloch, der über das Entrücktsein im Baumhaus phantasiert.
III. Das Ende der vorgestellten Kleinstadt als einem anderen Ort der Moderne Poeten und Philosophen rebellierten um 1900 gegen die falschen Ideale und die Enge der Gegenwart aus Hass auf die Kleinstadt. Sie stellten sich nun extreme Orte der Natur wie das Hochgebirge und das Meer oder Orte der Vorzivilisation wie die Südsee vor, aus denen sie die Bilder einer Gegenwelt zur Großstadt entwerfen konnten. Ebenso bedeutend wurde der vorwegnehmende Traum vom Schlachtfeld
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eines Kriegs, auf dem das Musterstück der Moderne und bürgerlichen Rationalität, die Großstadt, in Schutt und Asche versinken würde, wie es Georg Heyms Gedichte und Tagebuchaufzeichnungen erträumten (FRONT). Die Phantasien von der Kleinstadt als Ort des Eigenen und des vernacular hatten ausgedient. Sie wurde zum Ort des Aufstands und Vatermords, sie konnte verlacht oder schlicht ignoriert werden, da sie den Punkt der Versteinerung überschritten habe und, wie die Literatur des 20. Jahrhunderts es vielfach illustriert, zum sterilen Fossil geworden sei. Egon Schieles Kleinstadtbilder, Tote Stadt benannt, zeigen solche Fossile. Nietzsches Zarathustra erfährt diese Stadt als den Ort der Philister und flieht in die Berge und Wälder. Brechts Baal und seine frühen Gedichte erklärten dieser Welt der kleinstädtischen Philister, der Enge und Heuchelei den Krieg. In ihren Wohnungen stank es nach verwesenden Leichen, wie im Schrank des Elternmörders Apfelboeck der Hauspostille. Nun konnte die Großstadt in einem neuen Licht gesehen werden, und das war nicht das Zwielicht der Kleinstadt, sondern das grelle Licht der neuen Bogenlampen. Benn, Döblin, Brecht und Musil schufen Bilder der Großstadt, aus denen die Faszination sprach. Sie zerstörten aus Begeisterung über das Neue und Große der Großstadt oder aus blankem Zynismus jeden Aspekt des vernacular, des positiv besetzten Konkreten und Vertrauten im Raum der Kleinstadt. Die Kleinstadt wurde nun hohl und leer, und nur die Großstadt hatte den als grenzenlos vorgestellten Raum für die Widersprüche, Feindseligkeiten und den Untergang auf dem hohen Niveau der Moderne. An die Stelle von Werthers Kleinstadtschicksal, an dessen Ende eine Kugel und eine lange, sprachgefüllte Agonie standen, trat nun die Großstadt als Ort des brutalen Lebenskampfs nach dem Muster des Kriegs – als geräuschvolle, aber kommunikationsarme und substanzlose Verlängerung des Schlachtfelds in den Frieden. Die Apokalypse braucht die Großstadt. Als 1925 das Projekt einer modernistischen architektonischen und künstlerischen Zukunft in Weimar aufgegeben wurde, übernahm eine finstere Ideologie den Ort. Sie hatte ihren Ursprung nicht im Geist der Kleinstadt. Aber es ist ebenso festzuhalten, dass die Kleinstadt, einmal in den offenen Kampf mit dem Zentrum gezwungen, keine Kraft für eine politische Auseinandersetzung hatte. Dieser Krieg war für sie von Anfang an verloren. Die NSDAP mag in den Kleinstädten überproportional stark gewählt worden sein, ihre Ideologie war aber die der Großstadt – je größer, desto besser. Die Monumentalbauten und die kolossalen Aufmarschstraßen legen Zeugnis vom Wahn der Größe und Zentralisierung ab. Die vorgestellte Kleinstadt einer bürgerlichen Vergangenheit ist versunken und vergessen. Sie war der Ort, an dem sich ein sanfter Widerstand gegen die Macht der Modernisierung entwickelte, der lange wirksam blieb. Dieser Raum einer gleichzeitigen Isolation und Teilhabe konnte der Macht der Homogenisierung nicht standhalten. Nun gilt es, andere Räume zu entdecken, um die Kraft zum Eigensinn zurückzugewinnen.
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Literatur Benjamin, Walter (1987): Berliner Kindheit um 1900, Frankfurt. Bernhard, Thomas (1964): Frost, Frankfurt. Clark, Kenneth (1981): Provincialism, in: ders., Moments of Vision and other essays, New York. Goodstein, Elizabeth (2004): Experience without Qualities. Boredom and modernity, Stanford. Keller, Gottfried (1958): Der Grüne Heinrich, in: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe, hg. v. Clemens Heselhaus, München. Kessel, Martina (2001): Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Göttingen. Luhmann, Niklas (1977): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1977. Musil, Robert (1978): Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke, Bd. 3, Reinbek bei Hamburg. Riehl, Heinrich (1853): Die bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart. Ders. (1855): Land und Leute, Stuttgart. Simmel, Georg (1995): Die Großstädte und das Geistesleben, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 7, Frankfurt, 116-131. Staël, Germaine de (1962): Über Deutschland, hg. v. Sigrid Metken, Stuttgart. Treitschke, Heinrich von (1911): Bilder aus der deutschen Geschichte, Bd. 2, Leipzig. Umbach, Maiken (1998): The Politics of Sentimentality and the German Fürstenbund 1779-1785, in: The Historical Journal 41, 679-704. Walker, Mack (1971): The German Home Towns. Community, state and general estates 16481871, Ithaca.
Der Kleingarten Uffa Jensen I. Benachbarte Rechtecke: Berliner Kleingärten, um 1910 Drei Generationen einer Berliner Familie lauschen den Klängen eines Grammophons; in Sonntagsgarderobe nimmt ein Ehepaar mit der kleinen, weiß gekleideten Tochter den verdienten Nachmittagskaffee zu sich; Männer trinken Bier und spielen Skat; Frauen machen es sich auf Liegestühlen oder in Hängematten bequem, blinzeln einfach nur in die Sonne oder beschäftigen sich mit etwas Handarbeit; Kinder spielen im Sand oder sitzen auf einer Schaukel: Für all diese sonntäglichen Vergnügungen gibt es im Berlin des frühen 20. Jahrhunderts kaum einen geeigneteren Ort als den Kleingarten. Nach getaner Arbeit, wovon der untadelige Zustand der Anpflanzungen zeugt, finden sich Kleingärtner und ihre Familien vor der herausgeputzten Laube ein, um das kleine Glück zu genießen, das sie dem urbanen Raum mühselig abgerungen haben. Mit einigem Stolz präsentieren sie sich dem Fotografen. Die Kleingartenparadiese versorgen ihre Besitzer mit Obst und Gemüse, aber sie erschöpfen sich nicht in dieser Funktion: Viel Liebe zum Detail steckt in diesen modernen Orten, den selbst gestalteten Refugien der Erholung, die nur auf Nichtkleingärtner bisweilen skurril wirken.
21. Skatspieler vor einer Berliner Kleingartenlaube, 1906
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Das rechteckige Gebilde des Kleingartens ist von unterschiedlicher Größe, einige weisen bis zu 300 Quadratmeter auf. Es wird an den Rändern von einem Zaun oder einer Hecke begrenzt und gliedert sich zumeist in drei Bereiche: eine versiegelte Fläche mit Laube, ein Feld für Anpflanzungen und ein Erholungsareal. Historisch schwankte die Gewichtung der Bereiche stark, weil insbesondere in Notzeiten die Anbaufläche ausgeweitet wurde, nach dem Zweiten Weltkrieg aber die Entspannung wichtiger wurde, ohne die Versorgungsleistung des Kleingartens obsolet zu machen. Die Laubengröße variierte ebenfalls zwischen zehn und 20 Quadratmetern. Die meisten Lauben waren von Beginn an übernachtungsfähig, sodass nach 1900 die frühe Kleingartenbewegung bei den Kommunen um eine ganzjährige Nutzung kämpfte (Richter 1930, 48ff.). Die überwiegende Mehrzahl der Kleingärtner entstammte – und entstammt bis heute – klein- und unterbürgerlichen Schichten: 1928 gab es unter den Kleingärtnern Groß-Berlins vor allem Arbeiter; weniger häufig fanden sich hingegen Angestellte, kleinere und mittlere Beamte, Handwerker und Rentner (ebenda 1930, 39-42). Nicht nur von seiner Lage her, sondern auch als Ort, den bestimmte Gruppen der städtischen Bevölkerung nutzen, gibt es Überschneidungen zwischen Kleingarten und STADTRANDSIEDLUNG als Ort der räumlichen und sozialen Differenzierung. Die Grenzen der Kleingartenrechtecke sind porös und erlauben es den Bewohnern, eine Gemeinschaft zu bilden. Durch die Gartenpforte tritt man ein, schafft Dinge heran und fort. Die Begrenzungen aus Hecke oder Zaun, die Geräusche und Gespräche durchlassen, dürfen normalerweise eine bestimmte Höhe nicht überschreiten, so dass auch Sichtkontakt besteht. Das Rechteck ist Teil eines Ensembles aus vielen gleichartigen Rechtecken – es gibt keinen Kleingarten ohne entsprechende Kolonie. So ebenmäßig das einzelne Rechteck strukturiert ist, so amorph ist häufig das Gesamtgebilde der Kleingartenkolonie. Eingezwängt zwischen Ausfallstraßen und Eisenbahntrassen und beschnitten vom Baulandhunger der Kommunen ist die Kolonie unkontrolliert gewachsen. Ihre Grenzen zur Stadtumgebung sind ebenfalls fließend. Die Randlage der Kleingartenkolonie sorgt dafür, dass die Geräuschkulisse des Stadtlebens immer präsent bleibt. Teilweise kehren die Kleingärtner selber abends in ihre oft mehrere Kilometer entfernte Stadtwohnung zurück. Wie es keinen Kleingarten ohne Kolonie gibt, ist auch kein Kleingärtner ohne andere Kleingärtner denkbar. Die Gebiete, die sich an den Schnittstellen zwischen der geordneten Rechteckstruktur der Kleingärten und den äußeren, unförmigen Grenzlinien der Kolonie ergeben, werden oft gemeinschaftlich genutzt, ansonsten stellt die Kolonie andere Flächen für diesen Zweck zur Verfügung. Dazu zählt vor allem das Vereinshaus, wo regelmäßige Treffen der Mitglieder stattfinden, etwa um Angelegenheiten der Selbstverwaltung zu besprechen, und in dem regelmäßig Festivitäten der Kolonie stattfinden. Andere gemeinschaftlich zu nutzende Einrichtungen stellen heutzutage Spielplätze, sanitäre Einrichtungen, Parkplätze und gelegentlich gar Seen dar.
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II. Zurück auf’s Land, in die Vorstadt: Die Entstehung des Kleingartens 1862 pachteten einige Berliner auf den Schlächterwiesen vor dem Cottbuser Tor Parzellen von jeweils 280 Quadratmetern für eine Reichsmark. Gegen Regen und Wind errichteten sie kleine Schuppen, umzäunten das Land und begannen mit dem Anbau von Gemüse und Obst. Die neuen Kolonisten waren in der Regel noch nicht lange in Berlin ansässig, sehnten sich aber nach ländlichen Lebensformen und waren von den Wohnverhältnissen der Stadt »angewidert« (Förster/Bielefeld/Walter 1931, 28). Mit ihren Gärten wollten sie auch der Wohnungsnot und den Versorgungsengpässen im rasch wachsenden Berlin entkommen, dessen Bevölkerung seit den 1850er Jahren bis 1871 jährlich um fünf Prozent zunahm. 1861, also unmittelbar vor der Koloniegründung, lag die Zuwanderungsrate am höchsten. Drei Jahre später überstieg der Anteil der Zuwanderer zum ersten Mal den der gebürtigen Berliner. Der in dieser Situation beschlossene Bebauungsplan, benannt nach dem Kanalisationsfachmann James Hobrecht, leitete eine Phase rasanten privaten Wohnungsbaus in der Stadt ein (Stein 1998, 241f.). Es entstand die »größte Mietskasernenstadt der Welt« (Hegemann 1931), in der Menschenmassen in kleinen Wohnungen zusammengepfercht lebten. Die dichte Bebauung nahm besonders den Hofwohnungen das Tageslicht, in den zu kleinen Höfen fehlten Grünflächen, in den schnell errichteten Wohnblocks herrschte Anonymität. Angesichts der Lage rumorte es in der Stadt: 1863 kam es zu ersten Mieterrevolten gegen die untragbaren Verhältnisse, die jedoch schnell von der Polizei beendet wurden (ebenda 1931, 331f.). Andere Mieter wichen dem Problem eher aus und drängten aus der ungastlichen Stadt an ihre Ränder (Richter 1930, 9). So entstanden die ersten Laubenkolonien, die den Trend setzten, sich am Stadtrand einen Ergänzungsraum zum Leben, Ernähren und Erholen zu sichern. Das war anfänglich noch provisorisch und hatte mit den wohl organisierten Formen der späteren Kleingartenanlagen wenig gemein. Auf den Schlächterwiesen wuchs in den folgenden Jahren, wie in anderen Teilen des Stadtrands vor dem Frankfurter und dem Landsberger Tor, wild ein neuer Stadtteil heran, »ein ganzes ›Barackia‹, von keiner amtlichen Stelle geplant, von keinem Baumeister entworfen«. Die Beschreibungen der wilden Siedlung klingen durchaus idyllisch: Alle halfen mit, man legte vor den schuppenartigen Behelfsquartieren Gärten an, »Fahnen in den Reichsfarben und mit dem Reichsadler flatterten über den Dächern« (Lange 1976, 133). Trotzdem ließ die Stadt diese illegale Barackenvorstadt während des »Blumenstraßenkrawalls« 1872 räumen. Die Stadtverwaltung wusste diese spontane Entwicklung von Laubenkolonien jedoch auch zu nutzen. Sie erwarb Vorland vor der Stadt, das bei zu erwartendem Wachstum der Stadt besiedelt werden würde. Bis zur Erschließung verpachtete sie das brachliegende Vorland an einen Generalpächter, der es in mehrere Einheiten unterteilte und diese zwischenverpachtete. Die Kleingärtner befanden sich dadurch in einem ausgeprägten Abhängigkeitsverhältnis, liefen ihre Verträge doch in der Regel nur ein Jahr und waren jederzeit kündbar, insbesondere wenn die Kommune
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das Land erschließen und in Bauland umwandeln wollte. Kommune wie Generalpächter waren an einem stetig steigenden Pachtzins interessiert, so dass das Land zum Teil in öffentlichen Versteigerungen angeboten wurde. Diese unsichere Lage wirkte sich direkt auf die Behausungen aus: Die Lauben mit ihren Kleingärten blieben Provisorien, in die man nur begrenzt investierte. Zugleich kontrollierte der Generalpächter teilweise die Versorgung auf seinem Gelände, vor allem den Getränkehandel. Ein Pachtvertrag von 1908 schrieb einem Kleinstpächter vor, seinen Getränkebedarf »nur allein vom Verpächter oder dessen Beauftragten zu entnehmen«; Zuwiderhandelnden drohte die fristlose Kündigung des Pachtverhältnisses (Richter 1930, 13). Ähnliche Generalpachtsysteme entwickelten sich in Bremen, Leipzig, Hamburg und Nürnberg. Bis zur Jahrhundertwende herrschte das »wilde Kleingartenwesen« vor; die Stadt griff kaum regelnd ein. Angesichts der ungünstigen Bedingungen des Generalpachtsystems wuchs unter den Kleinpächtern allerdings der Unmut. Im frühen 20. Jahrhundert schlossen sie sich in ersten Kleingartenvereinen zusammen, etwa der 1901 gegründeten »Vereinigung sämtlicher Pflanzervereine Berlins und Umgebung«. Die Selbstorganisation der Kleinpächter diente der Repräsentation nach außen – die Vereinigung gab die Zeitschrift Der Ackerbürger heraus – und der gemeinsamen Landbeschaffung, mit der die Generalpacht ausgehebelt werden sollte (Stein 1998, 250). In Berlin wurde die Zahl der Laubenpieper bereits Mitte der 1890er Jahre auf 40.000 geschätzt (Brando 1965, 23f.). Die Laubenkolonien boten vielen Neuberlinern einen vertrauten Lebensstil. Die Koloniekneipe war zwar nicht immer ein besonders geschätzter Ort, gehörte sie doch häufig dem Generalpächter. Gleichwohl gingen von ihr besondere Geselligkeitsformen aus, die in den folgenden Jahrzehnten immer wichtiger werden sollten: »Alle paar Wochen ist irgend ein Fest! Hier ist’s ein ›Familienfest‹, dort ein ›Kinderfest‹! Dann wird ein Hammel öffentlich ausgespielt, dann ein paar Kaninchen usw. Das ›Erntefest‹ dauerte manchmal 8 Tage, mit allabendlichem Festumzug.« Mit der Abkehr vom Generalpachtsystem und der zunehmenden Selbstorganisation der Kolonien bis zum Ersten Weltkrieg wurden aus den Koloniekneipen eigene Vereinshäuser, die nun als organisatorische Mittelpunkte der selbstbewussten Kleingärtner dienten. Gerade die gemeinschaftsstiftende Funktion der Kleingartenkolonien beunruhigte jedoch Außenstehende, denn aus den Einrichtungen, die eigentlich als »Pflanzstätte der Erholung, der geistigen, sittlichen und materiellen Hebung der unteren Klassen« gedacht waren, drohten Horte der »moralischen Verwilderung« zu werden (Coenen 1911, 23ff.). Derartige Befürchtungen riefen besonders die Laubenkolonien Berlins hervor, da sie als unkontrollierte Nester potenziell sozialdemokratischer Kleingärtner sozialen Aufruhr in die Vorstädte zu tragen schienen. Sozialreformer unterschiedlicher Richtungen sahen im Kleingarten eine Lösung gesellschaftlicher Probleme, vor allem der wachsenden Industriearbeiterschaft. Mit ihnen ließ sich die Lebensqualität in den expandierenden Großstädten und mittelbar der moralische Zustand der Nation heben. Diese Verknüpfung von Sozialreform und Gartengeschichte hat ihre Ursprünge in wohlfahrtsstaatlichen Aktivitäten des
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frühen 19. Jahrhunderts, die nicht auf Deutschland beschränkt waren. In England entstanden die ersten Gartenlandparzellen, »allotments« genannt (Stein 1998, 45ff.). Zunächst als Kompensation für jene Armen gedacht, die während der Einhegung von Gemeindeland durch das Parlament enteignet wurden, schrieb man ihnen nun stärker volkserzieherische Funktionen zu und trennte die Gartenlandvergabe von der Armenförderung. Seit den 1880er Jahren förderte die englische Regierung vor allem städtische »garden allotments«, welche die Fehlentwicklungen der voranschreitenden Urbanisierung abmildern sollten. Das englische Vorbild wurde von deutschen Sozialreformern rezipiert. Ähnliches gilt für die französischen »jardins ouvriers«, die jedoch ganz anders strukturiert waren. Sie entwickelten sich in den 1890er Jahren und sollten als Arbeiterfürsorge der klassenübergreifenden Sozialintegration dienen. Folglich waren sie in Deutschland besonders für konservative Sozialreformer interessant, wie für den Kleingartenaktivisten und Geheimen Regierungsrat im Berliner Reichsversicherungsamt Alwin Bielefeld. Teilweise im Rückgriff auf die europäischen Vorbilder entstanden in Deutschland neben den spontanen Laubenkolonien in Berlin verschiedene Kleingartenvarianten. Auch hier gab es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Tradition der Armengärten, obwohl diese auf wenige, vor allem norddeutsche Kleinstädte beschränkt blieben und aufgelöst wurden, sobald die Städte wuchsen (Erichsen 1956). Gartenlandparzellen, die sich als betriebliche Arbeiterfürsorge während der Industrialisierung ehemals agrarischer Regionen wie Schlesien und dem Ruhrgebiet bildeten, zählen ebenfalls zu den Vorläufern der späteren Kleingärten. Diese paternalistische Unterstützungspolitik sollte die Versorgungslage der Arbeiter verbessern und sie zugleich enger an den Betrieb binden. Die Arbeitergärten, die das Rote Kreuz und andere Wohlfahrtsorganisationen um die Jahrhundertwende einrichteten, besaßen eine vergleichbare konservativ-sozialpolitische Ausrichtung, denn sie wurden als Instrumente im Kampf gegen moralische Zersetzungstendenzen in der Arbeiterschaft angesehen: »Am ›Busen der Natur‹ sollte der industriekapitalistische Teilarbeiter gewissermaßen neu zusammengesetzt, mit frischer Luft beatmet und aus der Entfremdung des Werktagslebens zu sich selbst zurückgeführt werden« (Stein 1998, 79). Die Gartenparzellen waren Teil einer umfassenderen Konzeption, die außerdem Bibliotheken, Kleidermagazine, Darlehenskassen sowie ärztliche und rechtliche Beratungsstellen vorsah. Sie orientierten sich am französischen Beispiel und standen – zusammen mit den betrieblich geförderten Kleingärten – bis zum Ersten Weltkrieg in einem politischen und mentalen Konkurrenzverhältnis zu den oft sozialdemokratisch orientierten Laubenpiepern Berlins. Ein wichtiger, wenn auch oft überschätzter Vorläufer des modernen Kleingartens waren die Leipziger Schrebergärten. Sie sind das Zufallsprodukt einer Elterninitiative, die ungeachtet des Namens nicht direkt von Daniel Gottlob Moritz Schreber ausging. Der Leipziger Arzt und Pädagoge Schreber hatte als reformpädagogischer Stichwortgeber jedoch Einfluss auf die Väter dieser Gartenvariante, allen voran den mit ihm befreundeten Schuldirektor Ernst Innocenz Hauschild (Rudolph 2002, 370f.). Der 1864 gegründete Schreberverein entstand aus dem Plan Hau-
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schilds und der Eltern, für Schulkinder einen Spielplatz zu schaffen. Vier Jahre später regte der »Spielvater« des Platzes, der Lehrer Karl Gesell, an, für die Kinder an den Rändern des Platzes kleine Beete anzulegen. Diese Erziehungsmaßnahme misslang, so dass sich die Eltern der vernachlässigten Rabatten annehmen mussten. Damit entstanden die ersten Familienbeete, schon bald daraus Kleingärten, die bereits 1870 das erste Hundert überschritten. Gleichwohl reduzierte sich die Leipziger Schreberbewegung lange nicht auf die Gärtnerei; Schreberspiele und -plätze, wie sie Schreber in seinen pädagogischen Schriften gefordert hatte, blieben fester Bestandteil des Vereinslebens, trotz des über die Stadtgrenzen hinausreichenden Erfolgs. 1909 umfasste die Bewegung reichsweit 70 Vereine mit etwa 6.000 Mitgliedern. Im selben Jahr vereinigten sich diese mit den Arbeitergärten des Roten Kreuzes zum »Zentralverband deutscher Arbeiter- und Schrebergärten«. Die Berliner Laubenpieper blieben diesem Verband fern, da die in ihm verbundenen Organisationen für die Sozialpolitik des konservativen Obrigkeitsstaates standen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg entstand ein gemeinsamer Reichsverband aller Kleingartenvarianten. Obwohl die Schrebergärten am Ende der Weimarer Republik unter den insgesamt fast 4.000 Vereinen mit über 400.000 organisierten Kleingärtnern nur ein Sechstel der Mitglieder stellten, werden sie bis heute oft mit der gesamten Kleingartenbewegung gleichgesetzt. Damit wird der – unbestritten wichtige – sozialreformerische Impetus gegenüber der Versorgungsfunktion der Gärten hervorgehoben. Die Kleingärten wurden damit ebenfalls in ein bürgerliches Projekt integrierbar: »Insofern überschattet die Leipziger Gründung mit all ihren Ober- und Untertönen, mit ihrem lebensreformerischen Ansatz wie dessen Verbürgerlichung, ja Ver-Kleinbürgerlichung in der Praxis« auch die anderen Kleingarten-Gründungen (Rudolph 2002, 375). Außer Acht gelassen wird hierbei die enorme Bedeutung dieser Gärten für die städtische Nahrungslage, die sich besonders im Ersten Weltkrieg zeigen sollte (Stein 1998, 333ff.). Welche wichtige Rolle die Gärten hier spielten, begriffen schließlich auch die staatlichen Stellen, die 1919 das erste deutsche Kleingartengesetz ausarbeiteten und damit unter anderem das Generalpachtsystem endgültig abschafften.
III. »In die Welt der Kleingärtner«: Der Kleingarten als Gegenort der Stadt? Im Hochsommer 1931 tauchte die Journalistin Yvonne Kraehe in die »Welt der Kleingärtner« des Berliner Stadtteils Wedding ein – für sie offensichtlich eine völlig neue Umgebung. Sie sah sich »hübschen Häuschen mit Vorlauben«, »Blumengärtchen, die wie die verwunschenen der Märchen anmuten«, Gemüsebeeten und Stallungen fürs Kleinvieh sowie vorbildlichen Obstgärten gegenüber. Dies überraschte sie umso mehr angesichts einer anderen, bereits halb verlassenen Kolonie, die einige Jahre zuvor auf dem Brachland eines Schuttabladeplatzes errichtet worden war. Die Kleingärtner schienen einen eigenen Rhythmus, ein eigenes, anderes Lebensgefühl zu haben: »Vom 1. April bis 1. Oktober vergessen diese Menschen, daß sie geplagte
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Städter sind. Arbeiten sich gesund. Leben nach der Heimkehr vom Dienst in frischer Luft. Verwandeln Brach- oder Schuttland in Fruchtbares. Haben eine gesunde Ernährung jahraus, jahrein, die sie sich sonst nicht leisten könnten. Einer lernt vom anderen« (Kraehe 1931). Für die Hauptstadtreporterin war dies ein Besuch in einem urbanen Anderswo – einer Welt, die nach eigenen Gesetzen funktionierte, von denen sie ihren Lesern in der Ullstein-Zeitung Tempo eine ganze Reihe erläutern musste und die doch ohne die urbane Welt um sie herum nicht existieren würde. Von Beginn an bildete der Kleingarten ein grünes Rechteck der Entschleunigung. Er steht paradigmatisch für eine ganze Reihe von Orten, die sich vom beschleunigten Alltag in der Großstadt als Freizeit- und Regenerationsort absondern und doch auf ihn bezogen bleiben. Die Kleingartenkolonien tragen bis heute diese wichtigste Funktion bereits im Namen: »Heimaterde«, »Kuckucksheim«, »Sommerglück«, »Sorgenfrei« oder gleich »Gemütlichkeit«. Die räumliche Gestaltung des Gartens verdankte sich nie nur seiner besonders intensiven Bewirtschaftung. Mit Gefühlswelten der angehaltenen Zeit und der stillgestellten Bewegung konnotiert, wurde und wird in diesen kleinen Rechtecken vielmehr eine Gegenwelt zelebriert, deren Hecken und Zäune auch die Trennlinie zum mühseligen Alltagsleben markieren. In ganz ähnlicher Weise funktionierten Orte wie die Arbeiterkneipe, die Kegel- und Bowlingbahn oder die Künstlerkolonie. Paradoxerweise war jedoch genau diese Mühseligkeit nie ganz gebannt. Die Entschleunigung ergab sich erst aus dem stets präsenten Kontrast zwischen dieser selbst gestalteten Welt und der Umgebung vor den Toren der Kolonie. Die Stadt als Symbol der Entfremdung von Natur und Natürlichkeit war stets anwesend, lagen doch die beschaulichen Rechtecke gerade an den beschleunigenden Ausläufern der Stadt. Das Vorbeirauschen von Eisenbahnzügen oder der Lärm der Autobahnzubringer erinnerten an die Mobilität (AUTO, FLUGZEUG), die es in »Sorgenfrei« und »Gemütlichkeit« nicht geben durfte. Zugleich verwandten deren Bewohner größte Sorgfalt auf das äußere Erscheinungsbild des Kleingartens, damit er seine Wirkung entfalten konnte. Aus ihrer Sicht war zwar Entschleunigung das primäre Ziel, der Weg dahin blieb jedoch steinig. Die Liebe, mit dem sie sich jedem Detail ihres Rechtecks widmeten, wurde zur harten Arbeit. Diese Tätigkeit empfand man jedoch nicht so mühselig wie die des Alltagslebens. Sie war nicht entfremdet, sondern selbst bestimmt. Die berühmten Gartenzwerge säumen bis heute die Rasenkante, weil sie genau dieses scheinbare Paradox repräsentieren: Entschleunigung vom Großstadtleben und Freude an selbst bestimmter Arbeit. Ein weiteres prägendes Paradox des modernen Kleingartens war und ist das Verhältnis von Natur und (menschlicher) Ordnung. Der Kleingarten inszenierte eine künstliche Naturwelt, die ländlichen Lebensformen gleichen sollte. In seinem nostalgischen Potenzial gleicht er Orten wie der Ruine, dem Flohmarkt und dem Antiquariat. Die »Natürlichkeit« des Gartens ist Gegenstand vieler Fachgespräche unter Kleingärtnern geblieben, zugleich wird die Gärtnerei immer auch als eine Kunst wahrgenommen. Seinen Kleingarten wirklich »natürlich«, also wild, wachsen zu lassen, führt zu den größten Konflikten innerhalb der Kolonie. Das eigene Stück
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Natur will gepflegt sein; »nichtvernichtetes Unkraut und Ungeziefer« waren schon 1931 »Kündigungsgrund« (Kraehe 1931). Der vermeintliche Widerspruch von Natürlichkeit und kunstvoller Ordnung hatte seit dem späten 19. Jahrhundert Konjunktur: Die Sehnsucht nach dem ursprünglichen Charakter des Kleingartens war kompatibel mit Visionen, die eine Rettung der urbanisierten und industrialisierten Gesellschaft durch die Rückkehr zur Scholle imaginierten. Der Kleingärtner war der urbane Vorkämpfer der geistigen und sozialen Erneuerung im erdverbundenen Bauerntum. Die urbarmachende Ordnung des Kleingartens erinnerte hingegen an Kolonialphantasien. Die zivilisatorischen Leistungen des urbanen Zentrums sollten in die Peripherie der Vorstädte getragen werden (Stein 1998, 255ff.). Manche Namen von Berliner Kleingartenkolonien erinnern an diesen Zusammenhang: »Togoland«, »Kamerun«, »Transvaal« (VÖLKERKUNDEMUSEUM). Der Kleingärtner erlangte metaphorische Konturen als nostalgischer Heimkehrer und zivilisatorischer Vorposten. Ein weiterer Widerspruch war (und ist) für das Kleingartenerlebnis konstitutiv. Die Bewohner dieser Rechtecke waren selbst ernannte Individualisten, stolz auf ihren fortwährenden Kampf gegen die kommunalen Autoritäten, die ihnen mit neuen Bauplänen, Pachterhöhungen und Vorschriften das Leben schwer machen, stolz auch auf ihre Existenzform, die von anderen gesellschaftlichen Gruppen als typisch kleinbürgerlich denunziert wurde. Vor allem bürgerlichen Eliten diente der Kleingarten als Objekt sozialer Abgrenzung: Nur der geschulte Blick behauptete, das spießige Glück der Gartenbesitzer als egoistischen Selbstbetrug entlarven zu können. Der Schriftsteller Erich Weinert lästerte etwa über das »Sommerläubchen mit Tapete«: »Ein jeder hat sein Glück zu zimmern. Was soll ich mich um andere kümmern?« Eine derart herablassende Außenperspektive gestattete sich noch 1979 der Spiegel und bestätigte damit die Langlebigkeit solcher Sichtweisen: »Das Glück, das Schreber erstreben, ist sauber gelichtet. Hoch in Blüte stehen genormte Scheußlichkeiten, vorfabrizierter Kitsch und künstlicher Dünger; gefragt sind tiefdeutsche Tugenden – Ruhe und Ordnung, Fleiß und Sauberkeit. Allenfalls bei der Auswahl der Gartenzwerge darf sich Eigenart entfalten« (zit. n. Rudolph 2002, 367) (APPARTEMENT). Der Beobachter erkennt das Eigenartige des Kleingartens und seine besonderen Erscheinungsformen an, aber sie verlangen ihm keinen Respekt ab, sondern irritieren ihn nur. Und in der Tat: Das home der Kleingärtner ist wirklich ihr castle und wird eifersüchtig verteidigt. Der ausgeprägte Individualismus stand nur vordergründig im Kontrast zum Kollektivismus der Kolonie. Von Beginn an waren Kleingartenkolonien mehr als eine Ansammlung von Rechtecken, wie besonders die Berliner Bewegung der Laubenpieper verdeutlicht. Kommunikation wurde und wird in den Kleingartenvereinen organisiert, die Regelung gemeinsamer Angelegenheiten ebenso wie regelmäßige Sommerfeste, Fotowettbewerbe, Kinderveranstaltungen und Preisskat. Vergemeinschaftung findet daneben natürlich auch beständig und spontan statt: Über die Hecke hinweg verständigt man sich rege über Fragen der Gartengestaltung, der Anpflanzungen, der Schädlingsbekämpfung oder des Laubenbaus sowie
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über die eigenen Familien und andere Kolonisten. Für manchen Außenstehenden steht die verordnete Gemeinschaft im Vordergrund des Kolonielebens; dies stimmt aber nur selten mit der Selbstwahrnehmung seiner Teilnehmer überein. Vielmehr sind die selbst ernannten Individualisten zugleich engagierte Kollektivwesen, die in der Koloniegemeinschaft Erfüllung suchen und oft auch finden. Gerade weil der Kleingarten so widersprüchlich ist, hat er viel Aufmerksamkeit gefunden. In ihn tragen seine Bewohner – zumindest während der Saison – ihre Bedürfnisse nach Ruhe und nach Gemeinschaft, hier offenbart sich ihre ambivalente Haltung zum städtischen Alltag. In diesem kleinen Rechteck schaffen sie sich vor allem eins: ihre Welt, die für sie funktioniert und in der sie funktionieren. Der Kleingarten ist ein lebendiger Alltagsort der modernen Großstadt geworden, der nicht nur Frau Kraehe gefiel, die 1931 in der Weddinger Kolonie zu einem Gartenfest eingeladen wurde: »Spät torkle ich aus dem Paradies fort. Voll des süßen, selbstgebrauten Obstweins meines Gastgebers. Mit Unmengen selbstgezüchteten Obstkuchens im Magen. Auf den Armen selbstgewachsene Blumensträuße und Stachelbeertüten. Ich möchte nun auch pflanzen und lauben« (Kraehe 1931).
Literatur Brando, Paul (1965): Kleine Gärten – einst und jetzt. Geschichtliche Entwicklung des deutschen Kleingartenwesens, Hamburg. Coenen, Friedrich (1911): Das Berliner Laubenkoloniewesen, Göttingen. Erichsen, Ernst (1956): Das Bettel- und Armenwesen in Schleswig-Holstein während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 80, 93-148. Förster, Heinrich/Alwin Bielefeld/Reinhold Walter (1931): Zur Geschichte des deutschen Kleingartenwesens, Frankfurt. Hegemann, Werner (1931): Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt, Berlin. Kraehe, Yvonne (1931): In der Welt der Kleingärtner, in: Tempo, 23. Juli. Lange, Annemarie (1976): Berlin zur Zeit Bebels und Bismarcks: Zwischen Reichsgründung und Jahrhundertwende, 2. Aufl., Berlin. Richter, Elli (1930): Das Kleingartenwesen in wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht, dargestellt an der Entwicklung in Gross-Berlin, Berlin. Rudolph, Hermann (2002): Der Schrebergarten, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München, 363-379. Stein, Hartwig (1998): Inseln im Häusermeer. Eine Kulturgeschichte des deutschen Kleingartenwesens bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Reichsweite Tendenzen und Groß-Hamburger Entwicklung, Frankfurt u.a.
Das Appartement Moritz Föllmer I. Appartements im Woga-Komplex am Kurfürstendamm, Berlin, 1931 Der Bau am hinteren Kurfürstendamm war eines der ersten Appartementhäuser in Deutschland. Er gehörte zum Komplex der Wohnhausgrundstücksverwertungs AG (Woga), der mehrere Wohnhäuser, ein Café, ein Kino und ein Kabarett umfasste und den der renommierte Architekt Erich Mendelsohn konzipiert hatte. Die vier Wohnungen enthielten jeweils ein Zimmer von 30 Quadratmetern, einen kleinen Flur mit Einbauschrank und Hängeboden, eine Pantry mit elektrischem Miniherd sowie ein Bad mit Waschbecken, Waschtisch, Badewanne und WC. Mit der Außenwelt waren sie durch Telefonleitungen, elektrische Klingel und Türöffner, das Treppenhaus und einen Fahrstuhl verbunden.
22. Wohnungsgrundrisse des Appartementhauses im Woga-Komplex am Kurfürstendamm, 1931 Ein solches Maß an räumlicher Abgeschlossenheit, Kontrolle des eigenen Wohnraums und Komfort war bis dahin keineswegs selbstverständlich und stellte für männliche wie weibliche Singles, zum Teil auch für junge Paare ein attraktives Angebot dar. Denn wer hier einzog, musste sich nicht länger den neugierigen oder missbilligenden Blicken seiner Eltern, der Zimmerwirtin oder der Nachbarn aussetzen und schlecht geheizte Behausungen ohne Bad und Innentoilette ertragen. Stattdessen genoss er alle Annehmlichkeiten des modernen Wohnens und konnte stärker als zuvor selbst entscheiden, welche Beziehungen er von dort aus einging. Wie viele Männer und wie viele Frauen im Haus lebten, wie die Mieter ihre Appartements einrichteten und sich darin bewegten, ob sie moderne oder ältere Möbel besaßen, ob sie sich selten oder häufig Mahlzeiten zubereiteten, ein Bad nahmen oder Besuch empfingen, wissen wir nicht. Ebenso wenig ist bekannt, inwieweit sie die Unterhaltungsorte des Woga-Komplexes, die Gaststätten am hinteren Kurfürs-
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tendamm oder die zahllosen übrigen Freizeitangebote im Berliner Westen nutzten. Unsere Unwissenheit ist die Folge der spezifisch modernen Verbindung von standardisiertem Angebot und individuellen Nutzungsmöglichkeiten, von Intimität und Anonymität, die die Attraktivität des Appartements ausmachte – deshalb wurde Mendelsohns Bau von einer Boulevardzeitung als »Junggesellen-Paradies« tituliert (8-Uhr-Abendblatt, 25.11.1930).
II. Das Appartement als privater Raum: Von der bürgerlichen Familie zum urbanen Single Es spricht viel dafür, die Geschichte des Appartements in Paris, der »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« (Walter Benjamin), einsetzen zu lassen. Denn hier begann die Suche nach einer Wohnform, die auch unter den Bedingungen urbaner Raumknappheit das bürgerliche Bedürfnis nach familiärer Intimität erfüllen sollte. Bereits in der Frühen Neuzeit hatten selbst wohlhabende Pariser in Mehrfamilienhäusern gewohnt, deren Wohnungen aus verschiedenen Räumen gebildet wurden, sich oft über mehrere Stockwerke erstreckten und aufgrund der fehlenden Hausflure über die Zimmer anderer Mieter erreicht werden mussten. Von den 1820er bis zu den 1840er Jahren wurden zahlreiche höhere, sechs- bis achtstöckige Häuser mit klarer voneinander abgegrenzten Appartements gebaut. Doch nach wie vor lebten unterschiedliche Menschen und Menschentypen Tür an Tür und begegneten sich in Eingangshallen, Treppenhäusern und Fluren. Die Läden oder Restaurants im Erdgeschoss sowie die unmittelbare Nähe zum Bürgersteig sorgten für fließende Übergänge statt scharfer Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, was dem zeitgenössischen Ideal eines umfassend zugänglichen, transparenten Stadtraums entsprach, in dem sich Straßen und Häuser gegenseitig ergänzten. Diese Durchlässigkeit mobilisierte jedoch zunehmend Kritiker, die sich am bürgerlichen Leitbild der familiären Intimität orientierten. Aus ihrer Sicht mussten Ehemänner die erotische Konkurrenz männlicher Nachbarn befürchten, wenn sie ihre Frau in der Wohnung allein ließen. Zudem drohte die Concierge, die unterbürgerlicher Herkunft und im Haus eine machtvolle Mittlerin von Informationen und Gerüchten war, das Ehe- und Familienleben auszuspionieren und dieses Wissen gegebenenfalls auszunutzen. Das Pariser Appartementhaus wurde als feminin geprägtes Raumensemble dargestellt, das seine männlichen Bewohner zu verweiblichen drohte. Die brachiale Umgestaltung der Stadt durch den Baron Haussmann in den 1850er Jahren ging dann mit der Herausbildung sozial weit homogenerer Quartiere sowie mit einer verstärkten Trennung von Wohn- und Geschäftsstraßen, privaten und öffentlichen Orten einher. Diesen Trend unterstützte eine Ratgeberliteratur, die Bürger und besonders Bürgerinnen dazu anhielt, den sicheren und hygienischen familiären Binnenraum von einer bedrohlichen und schmutzigen, bis in das Treppenhaus reichenden städtischen Umwelt abzugrenzen. Ferner galt es, innerhalb des Appartements Salon und Esszimmer, wo Gäste empfangen wurden, so weit wie
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möglich von den intimeren Schlaf- und Arbeitszimmern zu trennen. Nur so könne trotz der ungünstigen räumlichen Grundkonstellation und der instabilen Existenz als Mieter Individualität bewahrt oder überhaupt erst entwickelt werden. In Großbritannien und den Vereinigten Staaten wurde die Kritik an Appartements und Appartementhäusern nicht nur geteilt, sondern diente als Abgrenzungsargument, um das Ideal des Einfamilienhauses zu untermauern. Die mangelnde Privatheit des Lebens in Paris war – zusammen mit dem sozialen Elend der überfüllten lodging houses – die Negativfolie, vor der das Streben nach Hausbesitz als zentrales Element des individualistischen englischen Nationalcharakters erschien. Dieses Denken wurde auch durch das rasante Bevölkerungswachstum in den Städten nicht dementiert und wirkte sich etwa in der baulichen Gestaltung Londoner Wohnviertel konkret aus. Es dominierten nach standardisierten Mustern gebaute Reihenhäuser, die von den Geschäftsvierteln getrennt und durch Vorgärten vor Passantenblicken geschützt waren. Die wenigen Appartementhäuser des späten 19. Jahrhunderts zeichneten sich dadurch aus, dass die Wohnungen separate, über Außentreppen erreichbare Eingänge hatten. Bis heute wohnen Briten überwiegend in Einfamilienhäusern. Ebenso gilt es in den Vereinigten Staaten als Zeichen einer unreifen Persönlichkeit, wenn Erwachsene von dieser Norm abweichen. In Los Angeles erschien seit den 1960er Jahren schon der Bau einzelner Appartementhäuser als Indiz für den baldigen Verfall einer neighborhood, was verschiedentlich den erbitterten Widerstand der örtlichen Hausbesitzer mobilisierte, die um Wohnqualität und Immobilienwert fürchteten (Davis 1994, 200-208). Anders lagen die Dinge in Manhattan, wo sich das bürgerliche Privatheitsideal bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts immer weniger im eigenen Haus verwirklichen ließ. Dazu waren die Grundstückspreise zu hoch, weil die Bevölkerung auf knappem Raum rasant wuchs. Die improvisierten Lösungen in Gestalt von Untermietverhältnissen oder dem Wohnen im GRANDHOTEL erschienen Kritikern und Bewohnern als inakzeptable Beeinträchtigung der familiären Intimität. Deshalb kamen seit den 1860er Jahren Appartementhäuser auf, deren Erbauer sich an eine Klientel aus den Mittel- und Oberschichten richteten und dementsprechend bemüht waren, deutliche Grenzen zu den proletarischen tenement houses zu ziehen. Das Pariser Vorbild diente dabei zur Orientierung, was sich in der anfänglichen Bezeichnung der neuen Wohnform als »French flat« niederschlug. Es bot aber weiterhin wegen des unzureichend geschützten privaten Binnenraums ohne Zentralheizung, Gasbeleuchtung und moderne Kanalisation Anlass zur Kritik. Doch das waren lösbare Probleme: Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde das mit zeitgemäßer Technologie ausgestattete Appartement zur prägenden Wohnform Manhattans, wobei die Häuser schon bald eine Höhe von bis zu zehn Stockwerken erreichten (HOCHHAUS). Die Architekten waren bemüht, dem Bedürfnis der Mittelschichten nach sozialer Homogenität und größtmöglicher Intimität durch ein vielfältiges, in den Grundzügen jedoch standardisiertes Angebot entgegenzukommen. Das typische Appartement war über eine bewachte Eingangstür, eine Lobby, einen Fahrstuhl sowie den Flur erreichbar, wobei diese kollektiven Räume entweder auf
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das Nötige reduziert oder entsprechend dem Status der Bewohner eingerichtet waren. Es enthielt Empfangsräume (Salon, Esszimmer, in besseren Wohnungen auch Bibliothek oder Musikzimmer) und Privaträume (Schlaf- und Arbeitszimmer), die stärker als in Paris voneinander getrennt und jeweils über den Flur zugänglich waren. Daneben gab es eine meist über eine Pantry mit dem Esszimmer verbundene Küche sowie – in besseren Wohnungen separiert – Bad und WC; gegebenenfalls kamen Zimmer für die Dienstboten hinzu. Diese funktionale Aufteilung entsprach dem bürgerlichen Privatheitsideal und den Intentionen der Architekten, wurde jedoch oft von den Bewohnern aufgeweicht, die ihre individuellen Bedürfnisse auf knappem Raum verwirklichen mussten und deshalb etwa Wohn- und Esszimmer kombinierten oder ihre Mahlzeiten in der Küche einnahmen. Obwohl es nach wie vor Befürchtungen gab, rückten mit der Zeit die Vorteile dieser neuen Wohnform in den Mittelpunkt. Dazu gehörten die Erleichterungen in der Hausarbeit, die sich nun auf einem Stockwerk abspielte und dadurch weniger Personal erforderte. Bald kamen neue Technologien hinzu, die in Appartementhäusern kollektiv genutzt, durch einen Hausmeister gewartet und deshalb besonders früh eingeführt werden konnten: Zentralheizung, elektrisches Licht, Kanalisation, Boiler oder warmes Wasser, Gegensprechanlagen, Telefon, Kühlraum, häufig eine zentrale Wäscherei. Um 1900 erweiterte sich das an Kleinfamilien gerichtete Wohnangebot und bot nun unverheirateten New Yorkern und auch New Yorkerinnen kleinere Appartements, in denen Salon, Schlafzimmer und Bad direkt ineinander übergingen und die in der Regel keine Küche enthielten. Ferner kamen Appartementhotels auf, die Junggesellen, aber auch Familien eine hybride Wohnform zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Dauerhaftigkeit und Übergang ermöglichten, eine Vielzahl von Dienstleistungen boten und häufig im Zentrum in der Nähe von Unterhaltungsorten wie GRANDHOTELS und KINOS lagen. Als sich das Appartement im 20. Jahrhundert auch in Deutschland verbreitete, wurde darunter keine Familienwohnung verstanden, die in den bürgerlichen Stadtvierteln bereits im 19. Jahrhundert gängig gewesen war, sondern ein Ort für Junggesellen oder junge Ehepaare. Vorbild waren die kleinen Appartements, die seit etwa 1900 in amerikanischen Städten aufkamen, was auf einen neuen, an den USA orientierten Individualismus verweist. Die Appartementhäuser standen im Schatten des »Neuen Bauens«, das sich auf Bürohäuser, Siedlungen und Arbeiterwohnungen konzentrierte. Der eingangs erwähnte Erich Mendelsohn stellte mit seiner Bereitschaft, sich auf die Wünsche von Investoren und Nutzern und damit auf die moderne Konsumgesellschaft einzulassen, unter seinen Kollegen eher eine Ausnahme dar. Doch bereits in der Weimarer Republik kündigte sich unübersehbar die Lebensform des urbanen Single an, der seinen Status keineswegs als bloßes Defizit empfand, sondern sich darin – zumindest zeitweilig – einrichtete. Das Appartement stand für die Möglichkeit, diese Lebensphase nicht mehr bei den Eltern oder in einem Untermietzimmer bei einer Witwe zu verbringen, sondern allein sein zu können und dabei allen modernen Komfort zu genießen. Die Berliner Boulevardpresse rechtfertigte den neuen Wohnstil als Ausdruck eines legitimen Strebens nach
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Selbstentfaltung. So wurde dafür geworben, auch der unverheirateten, berufstätigen Frau das »Sehnen nach ihren eigenen vier Wänden [zuzugestehen], die sie sich nach ihren Wünschen einrichten kann« (8 Uhr-Abendblatt, 1.11.1930). Auf diese Bedürfnislage reagierten Investoren und Architekten, indem sie bestehende Häuser in Appartements aufteilten oder bereits eigene Appartementhäuser bauten. Diese boten komfortable Einzimmerwohnungen mit Fahrstuhlbenutzung, Einbauschränken, Miniherd, Zentralheizung, warmem Wasser und Badezimmer. Die neue Wohnform richtete sich an gut verdienende, konsumorientierte Individualisten, von denen viele zur neuen gesellschaftlichen Gruppe der Angestellten gehörten. Das belegen Anzeigen für abgeschlossene, »elegante« Appartements mit zwei Zimmern, Bad und Toilette für Einzelmieter. Umgekehrt fragten Junggesellen eine »vollkommen abgeschl., möblierte, elegante 2-2½-Zimmer-Wohnung, mit allem neuzeitlichen Komfort, im Westen sofort zu mieten«, nach. Eine »seriöse Mieterin« und eine »berufst. Dame (Madem.)« begegneten mit ihren Selbstbezeichnungen den Vorbehalten gegenüber allein wohnenden Frauen, ließen sich aber davon nicht abhalten, für ihre Bedürfnisse passende Wohnungen zu suchen (B.Z. am Mittag, 29.7.1930, 17.5.1930, 20.3.1930, 17.5.1930). Die neue Wohnform stieß in der Weimarer Republik zunächst auf begrenzte Resonanz. Das änderte sich in den fünfziger Jahren. Nun kamen Appartementhochhäuser als spektakuläre, viel diskutierte Verwirklichungen der architektonischen und lebensweltlichen Moderne auf (HOCHHAUS). Sie riefen vehemente Kritik, aber auch eine breite Nachfrage der modernitätsorientierten Mittelschicht hervor, die etwa in Hamburg-Grindelberg die Möglichkeit zum individuellen Rückzug bei freundlichdistanzierten Beziehungen zu den Nachbarn schätzte. Das Berliner Hansaviertel wurde von Martin Wagner, der als Stadtbaurat in der Weimarer Republik ein Vertreter des kollektivistischen »Neuen Bauens« gewesen war, als Anhäufung von »Appartements für Filmstars« abgetan (zit. n. Geschichte des Wohnens 1999, 835). Doch als rechtzeitig zur Interbau-Ausstellung das erste Haus fertiggestellt wurde, gab es rund 7.000 Bewerbungen für 164 Ledigenwohnungen von jeweils 30 Quadratmetern, die in eine weibliche Variante mit kleiner Küche und eine männliche mit Kochecke und größerer Wohnfläche aufgeteilt waren (B.Z., 29.7.1957; DolffBonekämper 1999, 154). Die Anhänger des neuen Gebäudetyps verteidigten die uniforme Gestaltung der Appartementhochhäuser, einschließlich der Rasterung der Briefkästen: »Soll denn der Architekt in diesem siebenstöckigen Haus und seinem dreigeschossigen Flügel solche Gleichheit oder Gleichberechtigung der Bewohner vertuschen?« (Bauwelt 1955, 649) Andere reagierten auf klassische modernitätskritische Topoi, indem sie die harmonische Einbettung von Wohnhochhäusern in die Natur betonten. Sie priesen den »Parkcharakter der Auenlandschaft«, in der eine Neubausiedlung bei Bonn errichtet wurde (Die Kunst und das schöne Heim 1952, 117), oder wiesen darauf hin, dass gerade die Höhe der Gebäude wesentlich mehr »Licht und Sonne« als die klassische dichte Hinterhofbebauung biete und überdies weniger Boden erfordere; auf diese Weise sei der »besonders schöne, alte Baumbestand« vor Mün-
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chens größtem Appartementhaus erhalten geblieben und trage dazu bei, »dass sich das Gebäude trotz seiner bedeutenden Baumasse zurückhaltend in das Straßenbild einfügt« (Die Kunst und das schöne Heim 1958, 460f.). Wie sollte man sich in einem solchen Ort einrichten? Die Bewohner konnten auf eine breite Ratgeberliteratur zurückgreifen, die – unterstützt von den Werbestrategen der Möbelindustrie – um das Spannungsfeld zwischen weitgehend vorgegebenem, normiertem Raumangebot, den Anforderungen des modernen Lebens und den Bedürfnissen von Junggesellen oder jungen Ehepaaren kreiste. Die Autoren betrachteten speziell kleinere Neubauwohnungen als Raum für berufstätige Menschen, denen es darauf ankam, die Hausarbeit so weit wie möglich zu reduzieren. Zudem betonten sie den vorübergehenden Charakter dieser Lebensform, dem bei der Umsetzung persönlicher Wünsche Rechnung zu tragen sei. Es galt, keine eigenen Umbauten durchzuführen und statt schweren, auf Dauer angelegten Sesseln, Betten und Schränken leichte, flexibel einsetzbare und zeitlose Möbel zu erwerben: »Die ganze Wohnungseinrichtung muss immer wieder anders kombinierund ergänzbar sein. Dies ist bei gut konstruierten Modellen mit einfachen Formen und schönen Materialien möglich« (Wohnen heute 1960, 6). Während in den Ratgebern zunächst die Anforderungen des modernen Lebens und ihre Auswirkungen auf das Wohnen im Mittelpunkt standen, wurde in den sechziger Jahren stärker der Zusammenhang zwischen Raumnutzung und schrittweiser Kultivierung des eigenen Ich betont. Im vorgegebenen Rahmen sollten sich die Leser ihre Wohnung aneignen und ihr einen individuellen Charakter verleihen. Einer Autorin erschien bereits das möblierte Untermietzimmer nicht mehr als vorübergehend notwendiges Übel, sondern als Ort der Selbstentfaltung, aus dem sich trotz des knappen Raums viel machen ließ – sofern eine »kluge Vermieterin« schlichte Möbel anschaffte und erlaubte, sie »nach der eigenen Fasson umzustellen«. Der Mieter konnte diese Möbel neu streichen, ansonsten mit waschbaren Überzügen versehen und mit geschmackvollen eigenen Stücken ergänzen. Zudem war er gut beraten, die Waschecke vom restlichen Zimmer abzutrennen – mit einer spanischen Wand, die er vielleicht sogar originell tapezierte oder durch angeklebte Fotos von Filmstars oder Automodellen zur »ganz privaten Ausstellungswand« erhob. Wenn man auf diese Weise »mit dem eigenen Zimmer ›zu üben‹« begonnen hatte, war man für das Leben als junges Paar gerüstet. In der ersten Wohnung sollten die jeweils mitgebrachten Möbel kombiniert und die erlernten Fähigkeiten zur Raumverschönerung eingesetzt werden. Waren Neuanschaffungen wie etwa Sessel nötig, kam es darauf an, die individuellen Bedürfnisse beider Eheleute zu berücksichtigen: »Für jeden Partner den, der ihm am besten vorkommt!« (Schmid 1960, 21-32) Auf diese Weise wurde das Leben im Appartement als Übergangsstadium zwischen dem möblierten Untermietzimmer von Studenten oder Berufsanfängern und dem Einfamilienhaus von Ehepaaren und ihren Kindern entworfen. Im Einklang mit der linearen Aufstiegs- und Fortschrittserwartung, die für die sechziger Jahre typisch war, sollten anfänglich knappe Ressourcen so geschickt wie geschmackvoll eingesetzt und sukzessive erweitert werden. Individuelle Bedürfnisse und das Ehe-
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leben standen nicht im Widerspruch, sondern wurden in einer Partnerschaft vermittelt, die mit der Kombination jeweils eigener und der Anschaffung neuer Möbel wuchs. Dieses Modell hatte in vielen Wohnbiographien seine Entsprechung: Gerade in der Mittelschicht strebte man in der Regel nach Ausbildung und beruflicher Etablierung eine baldige Familiengründung an. Damit ging der Wunsch nach einem eigenen Haus am Stadtrand oder in suburbanen Räumen einher, das Sesshaftigkeit und Sicherheit symbolisierte (STADTRANDSIEDLUNG). Das Appartement hatte sich als vorübergehende Wohnform etabliert, doch die Sprengkraft für soziale Beziehungen, die in der Figur des Single enthalten war, schien entschärft.
III. Deutungen des Appartements: Ambivalenzen serieller Individualität Das 20. Jahrhundert war maßgeblich von einem Trend zur seriellen Individualität bestimmt. Immer mehr Menschen begannen, massenhaft hergestellte, standardisierte Produkte zu erwerben oder ihren Erwerb zumindest anzustreben, deren Bedeutung über die Befriedigung elementarer Bedürfnisse hinausging (STAHLWERK, AUTO). Der Besitz von Konsumgütern wurde für die Selbstdefinition vieler Menschen zentral. Sie sahen darin eine Chance zur Entfaltung und Kultivierung des eigenen Ich, zumal auch massenhaft hergestellte und standardisierte Produkte viele Möglichkeiten der persönlichen Auswahl, Kombination und Aneignung boten. Wie das Reihenhaus oder der Campingwagen war das Appartement eine Wohnform, in der sich diese serielle Individualität räumlich konkretisierte. Gewappnet mit kulturell vermittelten Leitbildern und Verhaltensnormen konnten sich die Bewohner entfalten, indem sie in eine genormte Wohnung zogen, massenhaft produzierte Möbel erwarben und sich dann nach ihren eigenen Bedürfnissen einrichteten. Diese Möglichkeit zur Raumgestaltung unterscheidet das Appartement von anderen standardisierten und mit moderner Technologie ausgestatteten Orten der Selbstkultivierung wie etwa dem KRAFTRAUM. Ferner bewirkten die anfänglichen bürgerlichen Vorbehalte, dass die bauliche Gestaltung moderner Wohnungen ein hohes Maß an Intimität sicherstellte, die zudem durch die reduzierten sozialen Beziehungen in großen Neubauten befördert wurde. Im Unterschied zu Reihenhaus und Campingwagen handelte es sich nicht um familiäre Intimität, sondern um die Intimität von jungen Paaren und Junggesellen, der die Anonymität des modernen HOCHHAUSES entsprach. Diese Verbindung von Selbstentfaltung und Standardisierung, von Intimität und Anonymität machte das Appartement zu einem Ort, an dem sich die Ambivalenzen des modernen Individuums komödiantisch oder tragisch zuspitzen ließen. Von den vierziger bis zu den sechziger Jahren erzählten Filme und Unterhaltungsromane von Junggesellen, die ihre Wohnungen für amouröse Abenteuer nutzten, dabei aber die unvermeidlichen Pannen und Verwechslungen bewältigen mussten. In Billy Wilders The Apartment (1960) leihen sich die verheirateten Vorstandsmitglieder einer New Yorker Versicherung immer wieder den Schlüssel von einem ihrer Angestellten, um
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mit ihren Geliebten allein sein zu können. Andererseits erschien es als Ausdruck sozialer Isolation, in einem Appartement zu wohnen, das sich nur durch eine Nummer von den anderen Wohnungen im selben Haus unterschied, wie zahlreiche Darstellungen von Mordopfern belegen. In Das Mädchen Rosemarie (1958), der filmischen Verarbeitung des größten Gesellschaftsskandals der frühen Bundesrepublik, wird der Aufstieg der Hauptfigur zur Edelprostituierten dadurch symbolisiert, dass sie von einer schäbigen Kellerwohnung in ein modernes Appartement zieht, wo sie jedoch am Ende im Auftrag ihrer wohl situierten Kunden ermordet wird. Und in einem Kriminalroman von Dorothy Hughes sichert sich ein verbrecherischer Individualist die Wohnung eines seiner Opfer, die ihm einen anonymen Rückzugsort bietet und zum Ausgangspunkt seiner Streifzüge wird, aber auch etwas Unentrinnbares hat: »Es gab keinen anderen Ort, an den ich gehen konnte, die Straßen von Beverley waren so still wie die Straßen einer KLEINSTADT. Nirgendwo anders hin als zurück zum Appartement« (Hughes 2003, 189). An der seriellen Individualität des Appartements entzündete sich auch ernsthafte Kritik, die bereits im frühen 20. Jahrhundert geäußert worden war, aber seit den späten sechziger Jahren und besonders in Westdeutschland an Vehemenz gewann. Der noch kurze Zeit vorher dominierende Fortschrittsglaube geriet in die Defensive, so dass der Komfort des Appartements nicht mehr als erfreuliche Neuerung empfunden wurde, sondern problematisch erschien. Erneut verband sich diese Wohnform mit einer defizitären Individualität, doch die Stoßrichtung der Kritik kehrte sich um: Während im 19. Jahrhundert der Mangel an Privatheit im Vergleich zum eigenen Haus befürchtet worden war (und in Großbritannien und den USA weiterhin befürchtet wurde), beschwor man nun umgekehrt das Schreckensbild isolierter Menschen in technisch perfekten und anonymen Hochhäusern und erhob es zum Signum einer inhumanen Moderne: »Ein Appartementhaus mit einigen dreißig Einzelwohnungen. Die Mieter sind Berufstätige. Wenn einer von ihnen krank wird, ist er praktisch gestrandet, denn keiner kennt seine Nachbarn, und der Mensch ist doch nicht darauf angelegt, sein Leben als Einsiedlerkrebs zu führen« (Mitscherlich 1965, 69f.). Die Kritiker, darunter viele Sozialwissenschaftler, behaupteten, die moderne räumliche Umwelt reduziere und deformiere mit den sozialen Beziehungen auch die Persönlichkeit. Den Bewohnern von Neubauwohnungen wurde unterstellt, notorisch unpolitisch zu sein und sich in ihrer kleinen Welt zu verschanzen. Damit kompensierten sie die fehlende Autonomie am Arbeitsplatz. Sie agierten zwar scheinbar unkontrolliert und individuell, hätten aber tatsächlich äußere Zwänge verinnerlicht – auch und gerade dann, wenn sie ihre Einrichtung durch die Kombination ganz verschiedener Gegenstände bestritten: »Fast hamsterartig werden [...] Stücke und Requisiten [...] vom Kamelsattel bis zur indischen Tempelglocke in die Wohnungen hereingeholt, unterstützt von einem fleißigen Gewerbe und einer auf Surrogate spezialisierten Exotik- und Nostalgieindustrie. Die Individualität und von fremdem Dreinreden freie, persönliche Lebensumweltgestaltung bleibt dabei unversehens auf der Strecke.« Daher seien »Mut zur eigenen Phantasie« und »Kreativität«
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erforderlich, um die Wohnung »als eines der tatsächlich letzten Reservate möglicher Selbstbestimmung erhalten« zu können (Weiter wohnen 1979, 6ff.). Eine Konsequenz aus dieser Kritik war, sich von Appartements und Einfamilienhäusern bewusst abzuwenden. Wohngemeinschaften in Altbauten und Landkommunen wurden als Orte kollektiven Wohnens entdeckt, um die standardisierte und »spießbürgerliche« Privatheit zu überwinden. Sie erfüllten die spezifisch moderne Sehnsucht nach Räumen, in denen die Arbeits- und Konsumgesellschaft außer Kraft gesetzt war und sich das Lebenstempo entschleunigte (KLEINGARTEN). Das blieb zwar die Angelegenheit einer kleinen Avantgarde, wirkte sich aber auf den Wohnstil jüngerer, individualistischer Menschen aus der Mittelschicht aus, die es nun – besonders ausgeprägt in Westdeutschland – nicht mehr in HOCHHÄUSER, sondern in renovierte Altbauten mit ebenbürtigem Standard, aber höherer »Lebensqualität« zog. Parallel dazu verlor das Appartement seinen modernistischen Appeal. Der wachsende Wohlstand ermöglichte es gut verdienenden Singles und jungen Paaren, räumlich großzügiger zu wohnen als in den Appartementhäusern der fünfziger Jahre und eine Einzimmerwohnung nicht mehr für besonders erstrebenwert zu halten. Innentoilette, Einbauküche, Zentralheizung und Fahrstuhlnutzung, die noch wenige Jahre zuvor einen besonderen Komfort bedeutet hatten, gehörten nun zum normalen Lebensstandard. Sie waren auch Arbeitern zugänglich, die häufig in die Großsiedlungen der sechziger und siebziger Jahre zogen. Selbst die Bewohner moderner Sozialwohnungen brauchten auf diesen Standard nicht zu verzichten. Im Ostblock stellte die Wohnung im Plattenbau zwar keine Selbstverständlichkeit dar und konnte in aller Regel erst mit der Eheschließung bezogen werden, aber sie wurde bald zur typischen und beliebten Wohnform. Obwohl sie sich nur begrenzt individuell ausgestalten ließ, ermöglichte sie doch einen gewissen Rückzug in die Privatheit der eigenen vier Wände. Heute sind es oft Bewohner großer Neubauten, die in Umfragen ein Faible für »traditionelles« Mobiliar kundtun, was auch die Spitzengardinen in den Fenstern von Marzahn oder dem Berliner Hansaviertel anschaulich belegen. Das Appartement ist zwar nach wie vor Teil eines pluralisierten Wohnangebots, hat aber seine Vorreiterrolle in der Entwicklung des modernen, individualistischen Wohnens verloren. Der Begriff ist nur noch dort gebräuchlich, wo der Drang, sich zu entfalten, begrenzt ist oder Privatheit keine Selbstverständlichkeit, sondern einen gewissen Komfort darstellt: In den Appartements der Gegenwart, den Zweitwohnungen, Ferienhausanlagen oder Altersresidenzen, wohnen Wochenendpendler, Urlauber oder besser situierte Rentner.
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Literatur Cromley, Elizabeth Collins (1990): Alone Together. A history of New York’s early apartments, Ithaca. Davis, Mike (1994): City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles, Berlin. Dolff-Bonekämper, Gabi (1999): Das Hansaviertel. Internationale Nachkriegsmoderne in Berlin, Berlin. Geschichte des privaten Lebens (1993): Bde. 4 und 5, Frankfurt. Geschichte des Wohnens (1996-1999): Bde. 3-5, Stuttgart. Hawes, Elizabeth (1993): New York, New York. How the apartment house transformed the life of the city (1869-1930), New York. Hughes, Dorothy L. (2003): In a Lonely Place (1947), New York. Marcus, Sharon (1999): Apartment Stories. City and home in nineteenth-century Paris and London, Berkeley. Mendelsohn, Erich (2003): Dynamik und Funktion. Realisierte Visionen eines kosmopolitischen Architekten, 2. Aufl., Ostfildern-Ruit. Mitscherlich, Alexander (1965): Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt. Schildt, Axel (1988): Die Grindelhochhäuser. Eine Sozialgeschichte der ersten deutschen Wohnhochhausanlage Hamburg-Grindelberg, Hamburg. Schmid, Eva M. J. (1960): Unsere Wohnung. Einrichten und Gestalten, Gütersloh. Weiter wohnen wie gewohnt? (1979): 19. Ausstellung im Haus Deutscher Ring, Hamburg, 3. April bis 25. Mai 1979, Hamburg. Wohnen heute (1960): Schweizer Warenkatalog.
Die Wahlkabine Thomas Mergel I. Ein Wahllokal in Deutschland, 16. Juni 1903 Der 16. Juni war ein Sonntag. Doch früh schon füllten sich die Straßen mit Menschen, die im Sonntagsstaat den Lokalen und Amtsstuben zustrebten, in denen die Wahl zum Deutschen Reichstag vonstatten gehen sollte. Aber es war nicht wie früher. Früher hatte man vor dem Wahllokal von den Parteivertretern, die ihren Kandidaten an den Mann bringen wollten, Stimmzettel mit dem Namen des jeweiligen Aspiranten in Empfang genommen und im Lokal einen davon gefaltet dem Wahlvorsteher übergeben, der ihn in die Urne geworfen hatte. Jetzt erhielten die Bürger – die Bürgerinnen waren nicht wahlberechtigt – im Wahllokal vom Wahlvorsteher ein Kuvert, begaben sich damit in einen Nebenraum oder eine Wahlkabine und steckten dort den Zettel mit dem Namen des Kandidaten in den Umschlag. Das verschlossene Kuvert übergaben sie dem Wahlvorsteher, der es in die Urne warf.
23. Unterschiedliche Wahlkabinentypen bei den Reichstagswahlen 1903 So waren die neuen Regeln, die das Wahlgeheimnis sicherstellen sollten. Nicht jeder kam damit sofort zurecht. In einem Berliner Vorort übergab ein Wähler den Umschlag ordnungsgemäß dem Wahlvorsteher – um dann lauthals den Namen seines Kandidaten zu verkünden: »Zubeil!« Andere Wähler unterschrieben den Wahlschein, verschlossen den Umschlag mit ihrem Siegel oder steckten alle Kandidatenzettel, die sie erhalten hatten, in den Umschlag (Deutsche Tageszeitung, 17.6.1903). Im Vorfeld der Wahl hatte es auch eine Reihe logistischer Probleme gegeben. Die Kabinen sollten nämlich so konstruiert sein, dass man den Wähler im Blick behalten konnte, ohne ihm jedoch beim Wählen auf die Finger zu sehen. Die Stadt Mün-
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chen, die ihre Kabinen in Stuttgart geordert hatte, musste sie zurückgehen lassen, weil sie für die wohlbeleibten Münchner zu eng waren. Dass Berlin die einfachsten Kabinen hatte, wurde darauf zurückgeführt, dass hier die meisten benötigt würden und der Stadtsäckel keine aufwändigeren Bauten hergab (Volkszeitung, 7.6.1903). Die Wahlkabine war der zentrale Bestandteil eines neuen Wahlgesetzes, das seit April 1903 galt. Nach jahrelangem Kampf und immer neuer, insgesamt zehnmaliger Verabschiedung des Gesetzentwurfs durch den Reichstag war die »Lex Rickert«, wie man sie nach ihrem eifrigsten Vorkämpfer nannte, nun endlich auch vom Bundesrat angenommen und durch den Reichskanzler Bernhard von Bülow erlassen worden. Das »Klosettgesetz«, wie seine konservativen Gegner es nannten, sollte sicherstellen, dass die formal geheime Wahl auch tatsächlich geheim war. Denn seit der Gründung des Deutschen Reiches hatte es in zunehmendem Maße Klagen darüber gegeben, dass es in vielen Wahlkreisen mit dem Wahlgeheimnis nicht weit her war. Die lokalen Häuptlinge, die Landräte, Geistlichen, Gutsbesitzer, aber auch die Gewerkschaftsbosse in den Industriestädten waren auf die »richtige« Wahlentscheidung ihrer Klientel bedacht. Massive Manipulationen und Einschüchterung waren deshalb an der Tagesordnung (Anderson 2000; Arsenschek 2003). Dieser eigenwillige Umgang mit dem Wahlgeheimnis verdankte sich aber nicht nur dem Interesse der lokalen Eliten, die Wahlen in ihrem Sinne zu beeinflussen, um an der Macht zu bleiben. Vielmehr widersprachen geheime Wahlen den Traditionen der ländlichen Gemeinden ebenso wie dem bürgerlichen Subjektstolz. Der Historiker Heinrich von Treitschke schäumte gegen den Zwang, zum Wählen in eine »Räucherkammer« zu gehen: »Was ist das für eine Zumuthung an ehrenhafte Männer! Den männlichen Muth des Menschen zerstört solches Geheimthun vollständig, und der Staat ruft bei Millionen von Arbeitern, die sich abhängig fühlen, die Lüge künstlich hervor« (Leipziger Neueste Nachrichten, 30.1.1903). Nur ein Wähler, der den Mut habe, öffentlich seine Wahl zu verkünden, so der bürgerliche Vorbehalt, sei auch als Bürger brauchbar. Geheime Wahlen bereiteten in der Phantasie der Bürger nur den Weg für Einflüsterungen seitens der Geistlichen, der Parteifunktionäre und der Ehefrauen. Umgekehrt brachten Liberale und Vertreter der Arbeiterbewegung in großer Menge Fälle ins Spiel, bei denen Land- oder Industriearbeiter von ihren Herrn dazu gebracht wurden, im Sinne der »guten Ordnung« zu wählen. Diese Klagen wurden vor allem durch die preußischen Landtagswahlen genährt, bei denen ein ganz anderes, das öffentliche, ungleiche und indirekte Dreiklassenwahlrecht galt. Hier fand das Wählen in einer Versammlung statt, wobei zunächst die Vertreter der ärmeren dritten Klasse vortraten und den Kandidaten nannten, dem sie ihre Stimme geben wollten; erst danach folgten die Vertreter der höheren Schichten. Ostelbische Landarbeiter stimmten so unter den Augen ihres Gutsherrn ab und Fabrikbesitzer im Ruhrgebiet wussten, wen ihre Arbeiter wählten (Kühne 1994). Die Vorbehalte gegenüber dem Wahlgeheimnis speisten sich vor diesem Hintergrund nicht allein aus der Empörung über Wahlmanipulation und »unzureichendes« demokratisches Bewusstsein, sondern auch aus einer politischen Mentalität, die
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dem Geheimen bei der Wahl keine rechte Funktion zuweisen mochte. Wählen war in den lokalen Gesellschaften zunächst keine individuelle, sondern eine kollektive Angelegenheit. Die Wahl fand als eine Versammlung statt und das Wählen selbst war nur ein symbolischer Akt, der den Schlussstrich unter eine Diskussion zog, die nicht dem Kandidaten der Mehrheit, sondern dem besten Kandidaten galt, der möglichst von allen erwählt werden sollte. Mithin war der Wahlakt ein Zeichen des Dazugehörens – und genau deshalb fragten Wähler mitunter ihren Lehrer, Bürgermeister oder andere Honoratioren im Wahlvorstand, ob sie mit ihrem Stimmzettel »richtig«, also im Sinne der Gemeinheit gewählt hatten. Wo das traditionelle Bedürfnis nach Konsens aufhörte und wo »Wahlmache« und Korruption anfingen, war schwer zu bestimmen. Das lag auch an der geringen formalen Gestaltung des Wahlmodus. Der Gesetzgeber hatte 1871 überflüssigen Bürokratismus vermeiden wollen und deshalb wenig Vorschriften gemacht. Der Wahlzettel war nicht normiert, er musste lediglich aus weißem Papier sein – man konnte also zu Hause irgendeinen Zettel ausfüllen und mitbringen. Schon bald gingen die Parteien dazu über, den Wählern vor dem Wahllokal (im Inneren war es zumindest offiziell verboten) Zettel mit gedruckten Namen der Kandidaten zu übergeben, die sie einfach einzuwerfen hatten. Diese Scheine waren privat produziert und daher am Papier und am Format erkennbar. Es war geradezu der Normalfall, dass der Wahlvorstand Stimmzettel mit dem »falschen« Format ablehnte und den Wähler nötigte, einen anderen, »guten« Schein einzuwerfen. In kleinen Wahlkreisen mit wenigen Wählern war leicht erkennbar, wer wen gewählt hatte. Es waren offene Geheimnisse, die da verhandelt wurden. Viele Wähler hielten den laxen Umgang mit dem Wahlgeheimnis für alles andere als legitim, denn die Klagen über Wahlverfälschung und Wahlbetrug, die dem Reichstag vorgelegt wurden, waren endemisch. In Preußen wurden im Verlauf des Kaiserreichs 22 Prozent aller Wahlen angefochten (Arsenschek 2003, 114). Diese Eingaben belegen auch einen Lernprozess des demokratischen Wählens. Immer weniger stand die Vorstellung eines kommunalen Konsenses im Vordergrund, sondern die Vermutung, die lokalen Eliten wollten die Wahlen in ihrem Sinne manipulieren. Dieser Vorwurf traf allerdings nicht nur Gutsbesitzer, Geistliche und Fabrikanten, sondern auch die Sozialdemokraten. Die konservative Kreuzzeitung hielt es für unverhinderbar, »daß zugereiste sozialdemokratische Kontrolleure die Wähler beobachten, während sie am Nebentische den Stimmzettel in den Umschlag legen« (Kreuzzeitung, 24.3.1903). Der Begriff des »Klosettgesetzes«, den der konservative Reichstagsabgeordnete Georg Oertel für die Lex Rickert ins Spiel brachte, war von propagandistischem Wert, weil die Wahl eine öffentliche Angelegenheit war und der Wähler im Wahlmoment als öffentlicher Staatsbeamter galt, die Tätigkeit des Wählens aber im Geheimen ausgeübt werden musste. Die Pflicht, in die Kabine zu gehen und einen Umschlag zu benutzen, sollte den Wähler schützen, denn sonst hätte in mancher Gegend allein das Betreten der Wahlkabine als Ausweis der Opposition gegolten. Es gehörte zu den Widersprüchen dieses Wahlmodus, dass hier öffentliche Pflich-
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ten geheim ausgeübt wurden. Die Wahl war jedoch im 19. Jahrhundert auch eine öffentliche Veranstaltung, mitunter sogar ein Fest, in dem die politische Gemeinde sich zeigte und an dem auch die Nichtwähler, vor allem die Frauen, teilnahmen. Wenn sie auch selbst keinen Wahlschein abgeben konnten, so partizipierten sie doch an dem quasiöffentlichen Entscheidungsprozess, der sich vor dem Wahllokal abspielte. Die Verlegung der eigentlichen Wahlhandlung in die Wahlkabine schloss die nicht Wahlberechtigten aus. Sie machte aus der Wahlhandlung, die im Grunde immer noch als Kollektivakt der politischen Gemeinde begriffen wurde, eine individuelle Handlung.
II. Von der öffentlichen zur geheimen Wahl, vom kollektiven Konsens zur individuellen Konfliktaussage Die öffentliche Wahl ist das ältere System, aber das ganze 19. Jahrhundert über hatte es immer wieder politische Systeme gegeben, die die geheime Wahl vorschrieben. Den Anfang hatte Frankreich bei der Wahl zu den Generalständen 1789 noch vor der Revolution gemacht, allerdings das 19. Jahrhundert hindurch immer wieder zwischen öffentlichem und geheimem Wahlrecht geschwankt und oft nicht einmal in der Verfassung eine Regelung verankert. Auch in Deutschland hatte schon die Preußische Städteordnung von 1808 für die Kommunalwahlen ein geheimes Männerwahlrecht eingeführt. Belgien folgte 1831. In England hatten die Chartisten seit 1838 ein geheimes Wahlrecht gefordert, aber erst 1872 wurde es verwirklicht (Sternberger/Vogel 1969, I). Das Kaiserreich 1871 und sein Vorläufer, der Norddeutsche Bund, waren Pioniere mit der Koppelung von geheimer, gleicher und direkter Wahl. Was indes die Praxis der geheimen Wahl anbetraf, war Deutschland ein Nachzügler. Bereits 1856 war in der australischen Kolonie Victoria das erste Mal der Wahlakt mit gedruckten Stimmzetteln, Wahlkabine und Wahlurne eingeführt worden; daher rührt der Name »Australian ballot«. Seit dieser Zeit gab es eine internationale Diskussion um die Bedingungen der Stimmabgabe und die Definition des Begriffs »geheim« (Schäffle 1865). 1872 hatte England als erstes Land in Europa mit der geheimen Wahl auch die Wahlkabine und den standardisierten, vom Staat ausgegebenen Stimmzettel eingeführt; Belgien folgte 1877/1884. 1888 führte Massachusetts als erster US-Staat die geheime Stimmabgabe ein, zehn Jahre später wählten praktisch die gesamten Vereinigten Staaten so. Sogar in Chile gab es seit 1890 Wahlurnen. Lediglich Frankreich brauchte noch länger als Deutschland und führte Umschläge und Wahlkabinen erst 1914 ein (Anderson 2000, 259; Vogel/Sternberger 1969, I). In all diesen Staaten hatte die Einführung des Australian Ballot der weit verbreiteten Wahlkorruption einen Riegel vorschieben wollen. Denn ob geheim oder öffentlich: Es gehört zur Geschichte der Wahl im 19. Jahrhundert, dass sie, ob in Europa oder auf dem amerikanischen Kontinent, beinahe unfehlbar mit Versuchen verbunden war, die Stimmabgabe oder ihre Auszählung zu manipulieren (Posada-
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Carbó 1996). In Spanien und den USA – also unabhängig von der politischen Verfassung – kann man geradezu von einer öffentlichen Kultur der »Wahlmache« sprechen. Was bei öffentlichen Wahlen leicht durch die Anwesenheit beim Wahlakt festgestellt werden konnte, wurde bei der geheimen Wahl durch Tricks und Fälschungen bewerkstelligt. Die Ablehnung von nicht genehmen Wählern, die Kontrolle oder der Austausch von Stimmzetteln, ganz zu schweigen von der Wahlbestechung mittels einer »politics of beer«, wie sie in England zumindest bis zur zweiten großen Wahlrechtsreform von 1867 gang und gäbe war – es galt auch in Europa, was vom New Yorker Parteiboss William Tweed überliefert ist: »Wahlscheine machen kein Resultat. Die Zähler machen das Resultat.« Doch war umgekehrt der Kampf für die geheime Wahl nicht notwendig ein Kampf für Demokratisierung und mehr Partizipation; in den USA rührte ein großer Teil der Unterstützung für das geheime Wahlrecht daher, dass man sich damit der leseunkundigen, häufig schwarzen Bevölkerung entledigen wollte – die Wahlbeteiligung sank demzufolge nach der Einführung des Australian ballot deutlich (Buchstein 2000b). Auch in England brachte das Wahlgeheimnis nicht einfach mehr Demokratie. Denn dort verlangten die Nichtwähler aus der Unterschicht von den bis 1867 relativ wenigen Wählern – nur etwa zehn Prozent der erwachsenen Männer waren wahlberechtigt –, als Stellvertreter für sie zu agieren. Sie säumten die Straße zum Wahllokal und drängten, häufig unter Androhung oder Anwendung von Gewalt, die Wähler dazu, ihrem Kandidatenwunsch zu entsprechen. Auf diese Weise konnten auch die Frauen den Einfluss ausüben, den ihnen das Wahlrecht vorenthielt (Vernon 1993, 90ff.). Die geheime Wahl galt auch der klassischen Demokratietheorie nicht unbedingt als ein Fortschritt an Partizipation. Montesquieu oder Rousseau sahen die öffentliche Wahl als die demokratischere, weil sie zu einer Willensbildung des gesamten Kollektivs zwingt (Buchstein 2000a). Die individuelle Wahlentscheidung erlaubt es dagegen den Einzelnen, ihre Argumente für sich zu behalten und sie damit dem gemeinsamen Willensbildungsprozess zu entziehen, der zur volonté générale führen sollte, zur kollektiven Einigkeit. Es mag an dieser Tradition liegen, dass Frankreich so lange brauchte, bis es die geheime Wahl einführte. Freilich dachten aber die Klassiker der Demokratie von einer Gemeinschaft Gleichberechtigter und -befähigter aus. Angesichts realer Machtunterschiede und Abhängigkeiten war der Kampf um die geheime Wahl aber ein Kampf um die Möglichkeit der Dissidenz: Die Wahlkabine dokumentierte, wie irreal Rousseaus Vorstellung von der volonté générale war. Sie verankerte die Legitimität der Opposition, die erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in England als inhärentes Element der parlamentarischen Kultur begründet worden war (Kluxen 1956). In Deutschland dauerte es weitere 100 Jahre, bis »Opposition« als politischer Zentralbegriff etabliert war (Jäger 1978, 507ff.), und noch länger, bis die politischen Prozeduren diesen Umstand widerspiegelten. Das »Klosettgesetz« von 1903 brachte demgemäß einige wichtige Neuerungen bei der Wahlpraxis, die auch abhängigen Wählern eine freie Entscheidung ermöglichen sollten: Das Gesetz führte die Wahlkabine ein, die pflichtgemäß benutzt wer-
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den musste. Es normierte die Größe und Farbe der Stimmzettel; sie waren nun nicht mehr ohne weiteres unterscheidbar. Es führte den neutralen Umschlag ein, der vom Staat gestellt wurde (so dass Spötter mutmaßten, es werde eine Börsenhausse in Briefumschlägen eintreten). Das Gesetz verbot weiterhin, im Wahllokal Ansprachen zu halten und Agitation zu betreiben. Manche Regelung stellte ein Schlupfloch zur Umgehung der Vorschriften dar. So durfte der Wähler den Umschlag nicht selbst in die Urne werfen, sondern musste ihn dafür dem Wahlleiter übergeben – der damit die Entscheidung über die Wahl wortwörtlich »in der Hand« hatte. Auch standardisierte Urnen gab es noch nicht. Die Wahlen von 1903 brachten eine Reihe von Verstößen an den Tag, die einerseits eine gewisse Findigkeit der Wahlmanipulatoren belegten, andererseits in manchen, meist ländlichen Gebieten schlicht von Ignoranz gegenüber dem neuen Gesetz zeugten. In ländlichen Bezirken fehlte es häufig an Geld für Kabinen, weshalb sie zu einem Nebenraum neigten; hier jedoch war die Kontrolle schwerer zu gewährleisten, woraufhin man sich mitunter einen eigenen Verschlag baute. Der war in Strippow – oder »Puttkamerun«, wie der Wahlkreis des für seine Manipulationen berühmten Grafen Puttkamer genannt wurde – so niedrig, dass der Wahlvorstand zusehen konnte, wie der Wähler seinen Stimmzettel in den Umschlag steckte (Berliner Zeitung, 23.6.1903). Findig war es, als »Urnen« Zigarrenkisten oder Suppentöpfe zu benutzen, in denen die Wahlumschläge nicht durchmischt und deshalb ihrem Urheber zugeordnet werden konnten; ebenso findig war es, Urnen mit dem Einwurfschlitz an der Seite aufzustellen, so dass die Umschläge sauber übereinander landeten und sie, wenn man (verbotenerweise) die Reihenfolge der Wähler registrierte, ohne weiteres auf die einzelnen Wähler zurückführten. Erst 1913 wurde eine standardisierte Urne eingeführt, in der die Stimmzettel durchmischt werden konnten. Von schlichter Ignoranz gegenüber dem Gesetz zeugte es hingegen, wenn der Wahlvorstand den geschlossenen Umschlag öffnete, den Wahlzettel mit der Bemerkung zurückgab, das sei nicht der »richtige« Wahlschein – und den Umschlag erst dann akzeptierte, wenn sich der Name des gewünschten Kandidaten darin fand. Erst 1924 schrieb das Reichswahlgesetz die geheime Wahl mit vom Staat gestellten, identischen Wahlscheinen vor, auf denen man eine Partei ankreuzen musste. Die lokalen Bosse und Honoratioren hätten die Wahlen wohl auch weiterhin in ihrem Sinne manipuliert, wenn nicht eine aktive Bewegung von unten die Wahlen kontrolliert hätte. Da die Wahlen öffentliche Veranstaltungen waren, durften eben nicht nur der Ortspfarrer und der Gutsinspektor, sondern auch jeder andere Bürger die Einhaltung der Regeln beobachten – man musste nach einem Urteil des Reichsgerichts dafür nicht einmal selbst wahlberechtigt sein. Diese Wahlbeobachter von unten, die zumeist von den Minderheitenparteien entsandt waren (eine nicht immer ungefährliche Tätigkeit), sorgten dafür, dass Verstöße unverzüglich zu einer Anfechtung der Wahl führten. Erst dank solcher zivilgesellschaftlicher Initiativen wurde aus normativem Recht auch Rechtspraxis. Erst so konnte die Wahlkabine reale Effekte auf das Verhalten des Wählers haben.
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Diese waren enorm. Schon bei der Wahl 1903 erhöhte die SPD ihren Mandatsanteil um fast die Hälfte, womit sich zeigte, wer unter der Nichtbeachtung des Wahlgeheimnisses am meisten gelitten hatte. Doch die Wirkungen des neuen Wahlmodus erstreckten sich auch auf die Symbolik des Wählens und die Struktur politischer Macht. Vor allem verlor das unmittelbare lokale Umfeld der Wahl an Bedeutung für die Wahlentscheidung. Anstelle der Häuptlinge vor Ort gewannen nun Parteifunktionäre an Einfluss, die im Vorfeld der Wahl die Wähler überzeugen und am Tag der Wahl die eigenen Anhänger möglichst vollzählig mobilisieren sollten. Das ließ den Wahlkampf explodieren; er geriet zur Materialschlacht. 1907 brachte die SPD über 55 Millionen Flugblätter an den Mann, fünf Jahre später waren es astronomische 80 Millionen. Der Wahlkampf trug seinen Teil zu dem bei, was die Kabine bildlich anzeigte: Die Wahl war nicht mehr Ausdruck eines gemeindlichen Konsenses, sondern eines politischen Konflikts, und die Wähler trugen anonym dazu bei – nicht, ihn zu lösen, sondern vielmehr, ihn sichtbar zu machen. Indem der individualisierte Wähler im Extremfall ganz im Geheimen entscheiden konnte, hielt mit der Wahlkabine ein grundlegendes Moment der Unsicherheit in die politische Szene Einzug, weil erst die Wahl zeigte, ob die Wähler in den vergangenen Jahren mit der Arbeit der Regierung zufrieden gewesen waren. Gegen diese Unsicherheit unternahmen die Parteien viele Anstrengungen. So rührt die moderne Meinungsforschung maßgeblich aus dem Bedürfnis der Parteien und Politiker her, Aufschluss über das nunmehr unbekannte Wesen »Wähler« zu erhalten (Kruke 2005). Ihre Anfänge liegen in der Weimarer Republik, als die ersten Wahlforscher – wie Johannes Schauff – die ihnen rätselhaften Erfolge oder Misserfolge von Parteien mit statistischem, vergleichendem Instrumentarium untersuchten (Schauff 1975). Weil die Gesamtwählerschaft infolge der Individualisierung der Wahl anonym wurde, studierten die Demoskopen nicht einzelne Wähler, sondern kollektive Einheiten. Wähler wurden nach sozialstrukturellen Gruppenzugehörigkeiten wie Alter, Schichtung, Geschlecht oder Wohnort erfasst. Ob der konkrete Wähler in der Wahlkabine tatsächlich sein Kreuzchen so machte, wie die Wahlforscher das nahe legten, wusste man freilich nicht. In der Weimarer Republik wurde das Wahlgeheimnis nicht mehr in Frage gestellt. Da seit 1924 die Wahlzettel standardisiert und die Wahlkreise so groß waren, dass einzelne Wähler nicht mehr herauszufiltern waren, und außerdem ohnehin nicht Kandidaten, sondern Parteien zu wählen waren, konnten die Wähler tatsächlich weitgehend frei entscheiden. Die Regierungen konnten aber nun im Vorfeld der Wahl nichts Sicheres mehr über die Wünsche der Wähler erfahren. Mit jeder Reichstagsauflösung gingen sie somit einen unsicheren Wechsel auf ihre Zukunft ein. Die Reichstagswahl von 1930, bei der die NSDAP einen Erdrutschsieg errang, ist der bekannteste Fall, da die Regierenden sich verschätzten und mit einer unerwarteten Reaktion ihrer Wähler konfrontiert wurden. Die Nationalsozialisten hielten nichts von der freien Wahl. Dennoch ließen sie die ersten Abstimmungen noch geheim zu, auch wenn Terror und Propaganda bereits regierten. Zwar gab es schon nach den Märzwahlen 1933 keine Gegenkandi-
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daten mehr, aber es war möglich, mit Nein oder ungültig zu stimmen oder fernzubleiben. In einer Reihe von Wahllokalen waren die Wahlkabinen vernagelt oder gar nicht vorhanden, in manchen hing die Parole: »Jeder Deutsche wählt offen! Wer wählt geheim?« (Deutschland-Berichte der Sopade, Bd. 1, 1984, 284) Dennoch gab es immer noch Wahlkreise, in denen sich bis zu 20 Prozent der Stimmberechtigten weigerten, ihre Stimme abzugeben. Bei der Volksabstimmung über den Anschluss Österreichs am 10. April 1938 wurden Wähler jedoch gezwungen, ihre Stimme abzugeben, und Stimmzettel massenhaft manipuliert. Trotzdem gab es noch Wahlkabinen und in vielen Fällen die Möglichkeit, geheim zu wählen (Deutschland-Berichte der Sopade, Bd. 5, 1984, 419ff.). Diese Technik benutzten auch die sozialistischen Staaten nach 1945: Formell wurde das Wahlgeheimnis nicht angetastet und von der Wahlkabine bis zum Umschlag und der Urne gab es alle Accessoires der geheimen Wahl. Aber in Polen, der DDR oder der Sowjetunion wurde propagiert, dass die Inanspruchnahme dieser Rechte im Widerspruch zum sozialistischen Wahlbegriff stünde und als staatsfeindliche Haltung angesehen würde. Für den klassentreuen Proletarier gebe es ohnehin keinen Anlass, geheim abzustimmen (Sternberger/Vogel 1969). Verfassungsrechtlich wurde argumentiert, es handele sich bei der geheimen Wahl um einen Rechtsanspruch und nicht, wie im Westen, um einen verpflichtenden Bestandteil der Wahl (Kloth 2000, 105f.). Ohnehin gab es nach dem System der Blockwahlen keine Alternative zur vorgeschlagenen Liste. Sowohl der Nationalsozialismus wie auch der Kommunismus sahen also die Wahl wieder nur als Akklamation eines im Grunde schon festgestellten kollektiven Willens. Öffentlich sollten sich die Bürger zu ihrer Gemeinschaft bekennen, auch wenn dies unter erheblichem Gewalteinfluss geschah: Wie im 19. Jahrhundert musste man die Volksmassen dazu bestimmen, »richtig« zu wählen. Zugleich zeigt sich in der jedenfalls formellen Weiterexistenz von Wahlkabine, Urne und Umschlag, welchen Wert die geheime Wahl als symbolische Verbürgung von Demokratie selbst in solchen Gesellschaften gewonnen hatte, die mit deren Ideen nicht viel gemein hatten. Auch wenn das Individuum nach der Ideologie dieser Gesellschaften ein ganz und gar gesellschaftliches und deshalb öffentliches war, wurde sogar hier die Fiktion des Geheimnisses aufrechterhalten. Seitdem Österreich als letzter Nachzügler 1959 amtliche Stimmzettel eingeführt hat, ist das Wählen in den westlichen Demokratien durchgehend hochgradig standardisiert. In der öffentlichen Darstellung wurde die geheime Wahl geradezu ein Fetisch demokratischer Partizipation. Ungezählt sind die Bilder, auf denen man einen Politiker aus der Wahlkabine kommen und lächelnd einen Umschlag in eine Urne stecken sieht. In den meisten westlichen Ländern ist auch das Umfeld gleich geblieben: Es wird an einem Sonn- oder Feiertag gewählt (nicht in den USA), die Bürger verbinden den Akt mit einem Spaziergang. Wenn das Wetter gut ist, ist die Wahlbeteiligung besser, häufig kommen die Wähler noch im Sonntagsstaat. Das Wahllokal mit den Wahlhelfern und der wetterfesten Wahlkabine aus Polystyrol, in
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der weniger eine feierliche als vielmehr eine sonntagnachmittägliche Stimmung herrscht, ist eine vertraute Erfahrung der westlichen Gesellschaften.
III. Demokratisches Wählen zwischen Räumlichkeit und Virtualität Es ist fraglich, wie lange das Idyll noch bleibt. In den meisten westlichen Ländern gibt es die Möglichkeit der Briefwahl – in Deutschland seit 1956, in Großbritannien schon seit 1918. Nachdem diese Möglichkeit lange Zeit kaum genutzt wurde, wird sie in den letzten 20 Jahren zusehends beliebter (LeDuc 1996, 16ff.). Der US-Staat Oregon hat bei den Senatswahlen 1995 die Wahlkabine und die Urne abgeschafft und die Briefwahl obligatorisch gemacht (Buchstein 2000c). Seit einigen Jahren wird, vor allem in den USA, die Möglichkeit der elektronischen Abstimmung erprobt, die zunächst noch in der Wahlkabine selbst stattfindet und damit nur den Stimmzettel nebst Umschlag überflüssig macht. In Zukunft werden Wahlen aber voraussichtlich immer mehr auf das Internet verlagert; erste Versuche in Deutschland gibt es schon (Buchstein 2001). Demokratietheoretiker argumentieren, dass selbst bei einwandfrei funktionierender Technik mit der Virtualisierung der Wahl der Weg frei sei, aus dem obligatorischen ein fakultatives Wahlgeheimnis zu machen, da es dann dem Wähler selbst überlassen werden müsse, ob er es wahrt. Aber die ohnehin noch nicht fehlerfreie Technik ist keineswegs neutral, sondern eröffnet vielleicht sogar noch bessere Möglichkeiten der Beeinflussung und Fälschung als früher. Die Gerüchte wollen nicht verstummen, dass der Skandal bei den US-Präsidentschaftswahlen 2000, als abstürzende Wahlcomputer die äußerst knappe Entscheidung mitbestimmten, nicht auf Versagen, sondern auf aktive Manipulation zurückzuführen sei. Es ist auch ungeklärt, was mit denen passiert, die auf das Wahlgeheimnis keinen Wert legen und, wie bei dieser Wahl geschehen, ihre Stimme im Internet versteigern (Buchstein 2001, 151). Es ist also in Zukunft möglich, dass das Wählen seinen Ort verliert. Die Wahlkabine wurde zu einem Ort der Moderne, weil sich hier in hybrider Weise Öffentlichkeit und Geheimnis miteinander verbanden. Indem sich die Staatsbürgerschaftlichkeit ins Hinterzimmer zurückzog, wurde der konsensuelle Charakter aufgelöst, den das Wählen in den lokalen Gemeinschaften seit jeher hatte und der die Wahl zu einem Symbol erzielter Einigkeit und des Dazugehörens machte; die Wahl wurde stattdessen zu einem Gradmesser von Konflikten in der Gesellschaft. Mit dem durchgesetzten Wahlgeheimnis wurde die Trennung zwischen Wählern und Nichtwählern schärfer; sie wurde wieder aufgelöst, indem zunehmend mehr Menschen zu Wählern wurden. Nicht wiederherstellen ließ sich der anfänglich kommunitäre Charakter der Wahl. In dem Maß, in dem die lokalen Häuptlinge die Kontrolle über die Wahl verloren und ihren Einfluss den Parteien überlassen mussten, wurde die Wahl zu einem überlokalen Ereignis. Heute gelten sogar Kommunalwahlen als bundesweite Testwahlen, weil der Wähler im Schutz des Wahlgeheimnisses andere Kriterien für seine Entscheidung in Anschlag bringt, als ihm von den Wahlkämpfern
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nahegelegt worden sind. Die Wahlkabine steht somit für eine Emanzipierung des Wählers nicht nur von den lokalen Gewalten, sondern auch von politischer Herrschaft. Sie hat aber auch ein fundamentales Unsicherheitsmoment in die politische Partizipation hineingebracht.
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Die Couch Uffa Jensen I. Interaktion unter Abwesenden: Freuds Couch, Berggasse 19, Wien, 1910 1910 betrat der russische Aristokrat Sergej Pankejeff zum ersten Mal das Behandlungszimmer von Sigmund Freud. Der Psychoanalytiker hatte den »Wolfsmann«, wie Pankejeffs berühmter Fallname später lautete, bereits einige Zeit in einem Sanatorium behandelt. Nach einigen Wochen der auswärtigen Analyse war endlich ein Termin frei und so erschien der Patient in der Berggasse 19, einem eher unscheinbaren Haus in einem gutbürgerlichen Viertel Wiens. Da Freud 1907 seine Praxis auf derselben Etage wie seine Privatwohnung eingerichtet hatte, musste sein Patient die Treppe in den ersten Stock nehmen. Vom Treppenabsatz nach rechts gelangte Pankejeff in einen kleinen Vorraum und von dort, die nächste Tür rechts öffnend, in das Wartezimmer. Hier konnte er das Ende der vorangehenden Therapiestunde abwarten, ohne befürchten zu müssen, einem anderen Patienten zu begegnen, der über einen Flur direkt aus dem Behandlungszimmer in den Vorraum treten konnte. Mit dem für die Behandlung wichtigen Gefühl, der Analytiker kümmere sich vor allem um sein Wohlergehen, trat der schwer kranke »Wolfsmann« in das Behandlungszimmer – den Urraum der Psychoanalyse. Sein Blick wird sofort auf jenes »Ruhebett« gefallen sein, das seit längerem im Behandlungszimmer stand, nachdem eine dankbare Patientin es Freud 1891 geschenkt hatte. Wie Pankejeff ebenfalls nicht entgangen sein wird, standen hinter dem Kopfende der Couch ein schwerer, grün gepolsterter Sessel mit hohen Armstützen und direkt davor ein hoher Fußschemel. Der Wandteppich, die auf dem Fußboden verteilten Läufer und die dunkle Tapete verstärkten den behaglichen Eindruck des Zimmers. Am Ofen angebrachte Wassergefäße sorgten im Winter für eine angenehme Luftfeuchtigkeit. »So trug alles dazu bei«, fasste der »Wolfsmann« seinen Eindruck zusammen, »daß man sich hier dem Hasten des modernen Lebens entrückt und vor den Sorgen des Alltags geborgen fühlte« (zit. n. Gardiner 1972, 174). Von der Couch aus bot sich dem russischen Adligen eine völlig andere Perspektive auf das restliche Zimmer als Freud, der sich auf dem Sessel hinter ihm niederließ. Liegend erblickte Pankejeff über sich eine Reihe von Gemälden und Fotografien, viele mit antiken Motiven. Rechts vom Eckofen fiel sein Blick auf eine Vitrine mit verschiedenen archäologischen, häufig religiösen Figuren. Durch die offene Tür daneben konnte er in Freuds Arbeitszimmer und auf seinen Schreibtisch schauen. Freud eröffnete sich von seinem Sessel aus ein anderes Gesichtsfeld: Es reichte von einigen Wandmalereien mit mythologischen Gestalten in der Ecke über den Tisch und den Glasschrank mit seinen hölzernen Figuren vor ihm bis zur Eingangstür am gegenüberliegenden Ende. Aus beiden Blickwinkeln ließ sich hier vieles entdecken. Freuds Behandlungsraum war nicht nur in zeittypischer Weise überladen, er stellte vielmehr eine wahre Schatzkammer dar, ein »archäologisches Kabinett« (Gardiner). Der Archäologe, so
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erklärte Freud seine Vorliebe dem »Wolfsmann«, ähnle in seiner tief schürfenden, auf das Verborgene gerichteten Tätigkeit dem Analytiker. Das Zimmer war zugleich als klassisches Gelehrtenkabinett inszeniert, in dem es vor Anspielungen auf die intellektuelle Tätigkeit seines Besitzers nur so wimmelte. In diesem überdeterminierten Raum sollte, wer sich auf Couch und Sessel niederließ, gleichwohl keine Entdeckungsreisen in den konkreten Raum antreten. Freud setzte in seiner Arbeit seit einiger Zeit darauf, dass der Raum für die Patienten möglichst schnell zur Selbstverständlichkeit werden und in der Unsichtbarkeit verschwinden sollte, um dem eigentlichen Gegenstand des Zusammentreffens Platz zu machen: den inneren Zwängen des Kranken. Das Couch-Setting verkörperte eine fast naturwissenschaftlich-experimentelle Anordnung zur Herstellung einer reinen, von äußeren Einflüssen abgeschirmten Interaktion zwischen Patient und Analytiker (LABORATORIUM): Darin lag die zentrale Innovation Freuds (de Swaan 1978, 821f.). Es ist einem entsprechenden Wissenschaftsverständnis geschuldet, wenn Freud die Analysesituation in seinen Ratschlägen für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung durch den Bezug auf eine moderne Technologie umschrieb: Der Analytiker »soll dem gebenden Unbewußten des Kranken sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen wie der Receiver des Telephons zum Teller eingestellt ist. Wie der Receiver die von Schallwellen angeregten elektrischen Schwankungen der Leitung wieder in Schallwellen verwandelt, so ist das Unbewußte des Arztes befähigt, aus den ihm mitgeteilten Abkömmlingen des Unbewußten dieses Unbewußte, welches die Einfälle des Kranken determiniert hat, wiederherzustellen« (Freud 1912, 175f.) (TELEFONZENTRALE). Wie beim Telefon sollte die Übermittlung des Gesagten möglichst ohne Rauschen, ohne Störungen von außen ablaufen. Allerdings war der Analytiker nicht etwa einer der Gesprächspartner; er wandelte die Schallwellen in eine verständliche Stimme um. Auf der analytischen Couch fand – zumindest in Freuds Theorie – kein Gespräch im engeren Sinn statt. Vielmehr reduzierte sich die Interaktion von Patient und Analytiker auf einen Monolog, den der Analytiker moderierend widerspiegelte und in den er erst spät in der Analyse deutend eingriff. Damit die Analysesituation störungsfrei und asymmetrisch blieb, lieferte Freud für das »Zeremoniell« eine einfache Anweisung: »Ich halte an dem Rate fest, den Kranken auf einem Ruhebette lagern zu lassen, während man hinter ihm, von ihm ungesehen, Platz nimmt«. Weil das im Kern die raumtechnische Innovation Freuds darstellt, lohnt es sich, sie genauer zu betrachten. Zunächst beförderte die liegende Position die wichtigste psychoanalytische Aktivität: die möglichst freie Assoziation der Gedanken und deren Mitteilung. Seinen Patienten erläuterte Freud den Unterschied zum normalen Konversationsverhalten: »Während Sie sonst mit Recht versuchen, in Ihrer Darstellung den Faden des Zusammenhanges festzuhalten und alle störenden Einfälle und Nebengedanken abweisen, um nicht, wie man sagt, aus dem Hundertsten ins Tausendste zu kommen, sollen Sie hier anders vorgehen [...].
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Geben Sie dieser Kritik niemals nach und sagen Sie es trotzdem, ja gerade darum, weil Sie eine Abneigung dagegen verspüren« (Freud 1913, 193f.). Die freie Assoziation wurde durch einen weiteren Raumaspekt unterstützt: Arzt und Patient konnten sich nicht direkt in die Augen sehen. Aufgrund der unterschiedlichen Körperhaltungen und der unmittelbaren Nähe des Sessels zur Couch war es für den Analytiker gleichwohl jederzeit möglich, die Reaktionen des Patienten zu studieren. Dieser Vorteil war bedeutsam, wenn ein Patient zu Instinkthandlungen (beispielsweise die Positionierung der Handtasche, das Zurechtrücken des Rocksaums) neigte, die zum Gegenstand der Analyse werden konnten (ebenda, 198). Umgekehrt war es dem Patienten nicht möglich, den Analytiker zu beobachten – eine Asymmetrie der beiden Teilnehmer, gegen welche die Patienten nicht selten rebellierten. Freud selbst lieferte zumindest eine Begründung für diese ungleiche Anordnung: Er wolle nicht über acht Stunden am Tag, sechs Tage die Woche lang angestarrt werden (ebenda, 193). Der fehlende Augenkontakt erleichterte es zugleich dem Patienten, sich dem Bewusstseinsstrom ungestört hinzugeben und ihn auszusprechen. So wurde der Kranke in die Lage versetzt, auch intime und unangenehme Gedanken und Erinnerungen zu berichten, denn die unmittelbare Reaktion seines Gegenübers blieb ihm erspart. An diesem Intimitätsschutz zeigt sich, wie schwer solche »Geständnisse« angesichts der rigiden Sozialnormen des bürgerlichen Zeitalters noch fielen. Dem Gebot der freien Assoziation für den Patienten stand auf Seiten des Analytikers eine ähnliche Haltung gegenüber, die ebenfalls durch das Setting befördert wurde. Mit einer »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« (Freud 1912, 171) solle er den Erzählungen seines Patienten lauschen, sich nichts willentlich merken oder mitschreiben, vor allem nicht, wie in reziproken Gesprächssituationen, mit eigenen Vertraulichkeiten antworten. Um sich derart zurückhalten und nur dem eigenen Bewusstseinsstrom hingeben zu können, boten Sessel und Fußschemel dem Analytiker eine bequeme Lagerung. Somit waren die beiden Grundtätigkeiten der Analysestunde – freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit – durch das einfache, aber wirksame Raumprogramm von Couch und Sessel aufeinander bezogen: Eine gereinigte Interaktion unter Abwesenden war entstanden. Das eigentümliche Interaktionsverhältnis wurde durch zusätzliche Vorschriften stabilisiert, damit sich beide Seiten ganz auf ihre Tätigkeit konzentrieren konnten. Im Gegensatz zu den Hypnose- und Drucktechniken, die Freud in den Jahren zuvor angewandt hatte, sollte jeder körperliche Kontakt zwischen Patient und Arzt vermieden werden. Freud hat seinen Sessel wohl auch deshalb hinter die Couch verschoben, weil es zuvor angeblich immer wieder zu körperlichen Avancen von Patientinnen gekommen war (Gardiner 1972, 177). Ob dem so war oder es Legende ist – das Couch-Setting etablierte ein bestimmtes Körperregiment zwischen den Beteiligten und sonderte sie voneinander ab. Der Patientenkörper sollte in seinen unwillkürlichen Reaktionen beobachtbar, aber vom Körper des Analytikers deutlich getrennt sein. Gleichwohl konnten immer noch Nebengeräusche wie ein Niesen des Analytikers den Fluss der freien Assoziation beim Patienten unterbrechen: Ist er
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nicht bei der Sache? Reagiert er damit auf das, was ich gesagt habe? Wie komplex das Arrangement der Couch war, lässt sich auch daran erkennen, dass Patienten die Nähe des am Kopfende platzierten Analytikers suchen und doch fürchten konnten. Die in der Höhe durch Kissen, später mechanisch verstellbare Kopflehne der Couch konnte so eine Barriere zum Körper des Analytikers bilden oder aber die Sehnsucht verkörpern, auf dessen Schoss zu rutschen (Moser 1976, 53f.). Im Verlauf der Analyse sollte der Analytiker gerade zum Objekt solcher Sehnsüchte und Abgrenzungen werden. Sein Körper ging trotz oder wegen der Trennung vom Patienten in dessen Assoziationen ein, in denen sich sein Krankheitsbild widerspiegelte. Das war der Kern der analytisch nutzbaren Übertragung. Weitere Vorschriften Freuds sollten das reine Interaktionsverhältnis gegen soziale Einflüsse absichern: Er empfahl zukünftigen Analytikern, die Honorarfrage offensiv anzugehen, insbesondere weil er seinen Mitmenschen in Geldbeziehungen dieselbe »Zwiespältigkeit, Prüderie und Heuchelei« unterstellte wie in ihrem Sexualleben. Er befürwortete es, täglich außer sonntags eine Analysestunde durchzuführen, die in der Regel auch bei Nichterscheinen bezahlt werden musste, da sonst die auftretenden Widerstände den Patienten verleiten könnten, öfters eine Stunde zu versäumen. Freud warnte davor, persönlich bekannte oder gar befreundete Personen als Patienten zu akzeptieren (Freud 1913, 191, 185). Auch Angehörige von Patienten stellten ein potenzielles Risiko für die Behandlung dar, so dass man deren Interessen in der Analyse vernachlässigen sollte. Überhaupt war dem Patienten zu empfehlen, »während der Dauer der Kur keine lebenswichtigen Entscheidungen zu treffen, etwa keinen Beruf, kein definitives Liebesobjekt zu wählen« (Freud 1914, 213). Im Idealzustand der Analyse haben Analytiker und Patient somit das Behandlungszimmer ausgeblendet sowie ihre Körper derart voneinander getrennt, dass ihre Leiblichkeit höchstens als Übertragungsobjekt wirken kann. Die soziale, ökonomische und familiäre Außenwelt wird ebenfalls ferngehalten und tritt nur in Form von Phantasien auf. Wenn in diesem Sinn das Interaktionsverhältnis das Stadium von Reinheit und Asymmetrie erreicht hat, ist es möglich, »die Übertragung zu isolieren und sie zur Zeit als Widerstand scharf umschrieben hervortreten zu lassen« (Freud 1913, 193f.). Die »soziale Nullsituation« (de Swaan 1978, 796), die das Couch-Setting anstrebte, ermöglichte experimentelle Bedingungen, um die Krankheit des Patienten zu isolieren. Seine Assoziationen, seine Fehlleistungen, sein Ausagieren der Konflikte, seine Widerstände gegen die Assoziationen, seine traumatischen Erinneungen und vor allem seine Beziehung zum Analytiker konnten als solche sichtbar werden. »Wir glauben ja, [...]die Situation zwischen uns und dem Patienten voll rationalisiert zu haben, so daß sie sich übersehen läßt wie ein Rechenexemplar, und dann scheint sich doch etwas einzuschleichen, was in dieser Rechnung nicht in Anschlag gebracht worden ist.« Dieses »Etwas« war die Übertragung: »Wir meinen eine Übertragung von Gefühlen auf die Person des Arztes, weil wir nicht glauben, daß die Situation der Kur eine Entstehung solcher Gefühle rechtfertigen könne. Vielmehr vermuten wir, daß die ganze Gefühlsbereitschaft anderswoher stammt, in dem
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Kranken vorbereitet war und bei der Gelegenheit der analytischen Behandlung auf die Person des Arztes übertragen wird« (Freud 1916/17, 422-425). Die Psychoanalyse wollte die in der Übertragung sichtbar werdenden Krankheitsmomente aufzeigen; das neue Couch-Setting versprach durch die bereinigte Interaktion einen unverstellten Blick auf das Seelenleben des Patienten.
II. Zwischen wissenschaftlichem Experiment und bürgerlichem Alltag: Die Entstehung der Couch 1886-1914 Seit Freud 1886 in Wien seine Privatpraxis eröffnet hatte, war der junge Mediziner auf der Suche nach einer verlässlichen Methode, die psychischen Erkrankungen seiner Patienten nachprüfbar und dauerhaft zu heilen. Zugleich musste er sich in der Stadt einen Namen machen, um als niedergelassener Arzt existieren zu können (de Swaan 1978, 797ff.). Die Therapieform hatte nicht nur Erfolg versprechend zu sein, sondern auch für möglichst zahlungskräftige Patienten einsichtig und attraktiv. Bei der Entstehung der psychoanalytischen Methode spielte beides zusammen: Sie stellte eine Reaktion auf die Unzuverlässigkeit der gebräuchlichen Verfahren und auf die Ansprüche einer bürgerlichen Klientel dar. In seiner neuen Praxis wandte Freud zunächst vor allem Hypnosetechniken an, die er in Frankreich in den Kliniken von Jean Martin Charcot und Hippolyte Bernheim gelernt hatte. Allerdings ließen sich deren laborartige Bedingungen in einer Privatpraxis nur schwer, bei Hausbesuchen praktisch gar nicht reproduzieren (Mayer 2003, 19). Freud beobachtete zudem, dass die Suggestion nicht bei allen Patienten funktionierte; insbesondere gebildete Patienten schienen oft resistent gegen die Technik. Andere, bei denen die Methode anfänglich geholfen hatte, entwickelten nach einiger Zeit erneut Symptome; Hypnose konnte offensichtlich keine dauerhafte Heilung gewährleisten (Freud 1904, 102). Andere Ärzte wie der deutsche Therapeut Oskar Vogt kamen zu ähnlichen Ergebnissen und experimentierten in ihren Praxen deshalb mit Modifikationen des Verfahrens. Dabei rückte zunehmend die Behaglichkeit des Patienten in den Vordergrund; entsprechende Bedeutung erlangten bequeme Möbel, die noch in Charcots Pariser Salpêtière ungemütlich und klobig gewesen waren (Mayer 2003, 22). Freud entfernte sich Mitte der 1890er Jahre schrittweise von der hypnotischen Behandlung. Zunehmend riet er seinen liegenden Patienten nur noch, sich zu konzentrieren, die Augen zu schließen und sich an das erste Auftreten der Symptome zu erinnern. Er probierte es noch mit Drucktechniken, legte dem Patienten seine Hand auf die Stirn, um dessen Widerstände zu mildern und die Erinnerungsleistung zu steigern (de Swaan 1978, 803). Freud erkannte immer deutlicher, dass das eigentliche Problem in den Widerständen seiner Patienten gegen die Therapie lag. Er gab die Drucktechnik und dann das Schließen der Augen auf; übrig blieb nur die liegende Haltung. Seine als Durchbruch zur Psychoanalyse gefeierte Selbstanalyse mittels der »Traumdeutung« entstand allerdings noch am Schreibtisch. Einzelne
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Analysetechniken probierte er selbst auf Spaziergängen aus (Mayer 2003, 29). Erst 1904 schilderte Freud in einem Aufsatz dann das grundlegende Setting von Couch und Sessel (Freud 1904, 102). Nach einem längeren Weg hatte der Wiener Arzt somit eine neue, reduzierte Raumstruktur gefunden, für die er jedoch die Grundidee aus der Hypnosebewegung beibehielt: In einer experimentellen Versuchsanordnung sollten die unbewussten Zustände seiner Patienten sicht- und heilbar werden. Die Entwicklung aus der Hypnosebehandlung erklärt zwar die wissenschaftsgeschichtliche Genese der Couch, nicht aber ihre schnelle Durchsetzung im Behandlungszimmer und ihre durchschlagende Wirkung bei den zumeist bürgerlichen Patienten Freuds. Diese Kundschaft war keine einfache, das wusste er, seit ihre Ablehnung die Hypnose diskreditiert hatte. Das Couch-Setting bedeutete auch hier einen Durchbruch, wurden damit doch Raumkonstellationen, in denen die bürgerlichen Patienten lebten, in eine therapeutisch funktionierende Anordnung übertragen. Als 1910 Pankejeff in das Freudsche Behandlungszimmer trat, dürften ihm die vielfältigen Raumbezüge, die diesen Ort für ihn behaglich machten, nicht voll bewusst gewesen sein. Wie ein Blick auf den Grundriss der Wiener Berggasse 19 offenbart, war die Couch in Freuds bürgerlichen Alltag eingebunden. So ergab sich die Nähe der Couch zu seinem Arbeitszimmer fast zwangsläufig, verstand er die Psychoanalyse doch neben ihrem therapeutischen Wirken stets als Wissenschaft. Hätte sich Pankejeff im ersten Stock zur linken Eingangstür gewandt, wäre er in die Diele der Freudschen Privatwohnung eingetreten, an die sich zur einen Seite das Wohnzimmer, zur anderen der Salon der Familie anschloss. Von Letzterem aus hätte er Schlaf- und Ankleidezimmer erreichen können, wenn ihm solche Einblicke in den privaten Alltag seines Analytikers nicht verwehrt gewesen wären. Mit dem CouchSetting griff Freud auf solche Strukturen des bürgerlichen Alltags zurück, um ihn gleichzeitig aber durch kleine Veränderungen außer Kraft zu setzen. Zunächst verweist die Geschichte des Möbelstücks selbst auf Veränderungen im bürgerlichen Haushalt. Die später sprichwörtliche Couch war im deutschsprachigen Raum am Ende des 19. Jahrhunderts relativ neu. Die ältere Form des Sofas besaß an drei Seiten oft hohe Lehnen und war nur nach vorne offen; auch die seit dem 18. Jahrhundert gebräuchliche Chaiselongue hatte neben einer Kopf- zumeist noch eine Rückenlehne. Üblicherweise in einem Salon aufgestellt, luden diese Möbelstücke zu einer halb liegenden Haltung ein. Idealtypisch betteten sich auf ihnen Frauen und plauderten mit den Männern, die im Halbkreis um sie herum standen oder saßen (Siebel 1999, 144). Kommunikation und Möblierung im Salon beeinflussten einander im 19. Jahrhundert, wobei das Raumdesign die Gespräche befördern konnte, soweit es bequem, variabel und kommunikativ gestaltet war. Dabei half die Möbeltechnologie, indem sie verschiedene, oft verstellbare und gut gepolsterte Liegenarten bereitstellte (Giedion 1948). In Freuds Behandlungszimmer stand eine neuartige Bank nur mit einer runden Lehne an der Kopfseite, die weggeklappt oder mit Kissen erhöht werden konnte (Engelmann 1977). Eine Rückenlehne gab es nicht. Ursprünglich mit ungebleichtem weißen Nesselstoff bezogen, bedeckten sie stets mehrere rötliche Teppiche, Kissen und Decken, die eine angenehme und zugleich
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variable Lagerung ermöglichten, in der aber ein normales Gespräch mit einer stehenden oder sitzenden Person schwierig war (Freud Museum 1998, 53). Derartige Möbelstücke, oft auch Tages- oder Ruhebetten genannt, wären in einem Salon wenig dienlich gewesen. Die Couch stellte denn auch eher eine Anpassung der verschiedenen Salonliegen an die Bedürfnisse des Wohnzimmers dar, das im Laufe des 19. Jahrhunderts als Ergänzung zum Empfangssalon in bürgerlichen Wohnungen immer populärer wurde. Auf ihr konnte man sich ausruhen, ein wenig lesen oder den eigenen Gedanken nachhängen – Tätigkeiten, die in einem Salon nicht vorgesehen waren. Zugleich setzte sich dabei eine Tendenz fort, die allerdings mit der Salonmöblierung begonnen hatte: Die liegende Haltung bedeutete sowohl im Salon wie im Wohnzimmer ein Nachlassen der strikten Etikette, bot eine größere Bequemlichkeit und ließ insgesamt einen Raumeindruck gesteigerter Intimität entstehen. Auch diese Entwicklungen mündeten in das Couch-Setting. Obwohl die liegende Haltung historisch also auf die Salonkommunikation verweist, war Freud in seinen Erläuterungen zur Behandlungstechnik der Unterschied zu einer reziproken Konversation von Angesicht zu Angesicht sehr wichtig. Noch andere räumliche Bezüge zu seiner Privatwohnung evozierte der Psychoanalytiker in seinen Schriften. Der Patient solle eine »bequeme Rückenlage« einnehmen, wodurch er sich »jede Muskelanstrengung und jeden ablenkenden Sinneseindruck« erspare (Freud 1904, 102). Allerdings sollte er in dieser entspannenden Lage nicht einschlummern, wie jenseits des Treppengangs im bürgerlichen Schlafzimmer; der Patient sollte ebenso wach bleiben wie der Analytiker, mit dem er jetzt in ein Analysegespräch einzutreten hatte, nicht selten über seine Träume. Wie beim morgendlichen Ankleiden sollte der Arzt zudem »undurchsichtig für den Analysierten sein und wie eine Spiegelplatte nichts anderes zeigen, als was ihm gezeigt wird« (Freud 1912, 178). Schlaf- und Wohnzimmer, Salon, Ankleideraum: Freuds Raumensemble aus Couch und Sessel erinnerte an alltägliche bürgerliche Praktiken, versprach aber zugleich, die darin zu ertragenden und erlebten Abgründe zu thematisieren.
III. Die Sorge um das Selbst und die Rationalisierung des Intimen: Die Couch als Ort moderner Erfahrung Als Teil der raumtechnischen Anordnung ist die Couch Voraussetzung für das Gelingen der therapeutischen Arbeit. Dennoch hat sie in der reichen psychoanalytischen Literatur nach 1914 kaum eine Rolle gespielt, seit den dreißiger Jahren nahm sie in der Theorie den Status eines bloßen Instruments ein (Mangabeira 1999, 327, 344). Sie wurde zum Unbewussten des psychoanalytischen Verfahrens. Natürlich hat es von Beginn an Kritik und Abweichungen von der durch Freud begründeten orthodoxen Variante der Psychoanalyse gegeben. Seine Festlegungen zur Behandlungstechnik waren bereits Teil der Deutungskämpfe, die er mit seinen Schülern und Mitarbeitern ausfocht. Die Couch spielte dabei immer wieder eine entschei-
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dende Rolle: Carl G. Jung, Alfred Adler oder später auch Sandor Ferenczi sahen sie nicht mehr vor, sondern experimentierten mit einer gleichberechtigteren Position des Patienten. Die rhetorisch äußerst geschickte Festschreibung einer orthodoxen Auslegung jedoch erlaubte es Freud, die Institutionalisierung der Psychoanalyse entscheidend zu prägen. Sie belegte gleichzeitig jeden Zweifel an den technischen Aspekten der Analyse mit dem Vorwurf der Häresie. So blieb die Couch bis heute ein selbstverständliches Element einer standardisierten Praxis. Gleichwohl etablierten sich über die Jahre Varianten in der räumlichen Anordnung. Das Behandlungszimmer ist nur noch selten ein Gelehrtenkabinett wie bei Freud. Besonders in den fünfziger Jahren setzte sich eine möglichst sterile Ausstattung durch. Die aseptische Atmosphäre eines Krankenhauses sollte jedes Assoziationsangebot für den Patienten vermeiden. Demgegenüber scheint in heutigen psychoanalytischen Praxen wieder mehr Gewicht auf Individualität gelegt zu werden. Das Setting aus Couch und Sessel ist häufig ganz unterschiedlich gestaltet: Der Abstand zwischen den beiden Einheiten ist größer geworden; gelegentlich rückt der Sessel gar an die Seite der Couch. Die Couch selbst ist variabel verstellbar, so dass unterschiedliche Lagerungen möglich sind. Abweichungen vom orthodoxen Berührungsverbot kommen in heutigen Praxen durchaus vor (Guderian 2004b). Trotzdem ist das Setting bis heute erstaunlich stabil geblieben. Besondere Bedeutung hat die Couch als Ausbildungsort neuer Analytiker. Seit Freuds Tagen ist für jeden künftigen Analytiker eine Lehranalyse zwingend erforderlich. Nur selbst analysiert worden zu sein, bereite auf eventuelle Übertragungsphänomene gegenüber seinen Patienten hinreichend vor. Zugleich konnte Freud damit auf die Institutionalisierung der neuen Wissenschaft Einfluss nehmen, indem er sie an seine Schüler weitergab, die sie wiederum weiter vermittelten (Mangabeira 1999, 339ff.). Allerdings entstand auf der Lehrcouch ein neues Phänomen: die enge Beziehung zwischen Patient-Schüler und Analytiker-Lehrer, in der natürlich alle in »normalen« Analysen vorkommenden Übertragungseffekte ebenfalls auftraten (Moser 1976). In diesen aufgeladenen Lehrbeziehungen spielte und spielt die Couch eine große Rolle: Sie verlassen und selbst benutzen zu können, ist ein Initiationsritus geworden. Sie verbindet die verschiedenen Schulen der Psychoanalyse und steht für eine historische Kontinuität seit der Urcouch in der Wiener Berggasse. Sie erinnert zudem an die eigene Analyse und gemahnt, sich an die Technik und die Vorschriften dieser Therapieform zu halten. Vielleicht ist die Couch deshalb 100 Jahre nach ihrer Entstehung, wie mehrere theoretische Überlegungen zeigen, sichtbarer geworden. Sie ist das zentrale Symbol der psychoanalytischen, der psychotherapeutischen Behandlung schlechthin. Im deutschen Sprachraum scheint der Begriff selbst an den diskursiven Erfolg der Psychoanalyse gebunden zu sein: Vor dem Ersten Weltkrieg benutzte man das Wort »Couch« nicht, es etablierte sich erst parallel zur und mit der Popularisierung der Freudschen Erfindung (Guderian 2004a, 141). Die Suggestionskraft, welche die Couch für die Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts entwickelte, überstieg ihre Be-
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deutung als realer Ort bei weitem. Die überaus erfolgreiche Diskursivierung dieses modernen Ortes gründete sich kaum auf dessen Erfahrbarkeit; dafür blieb die Position der Psychoanalyse in der Gesellschaft und unter den therapeutischen Verfahren zu marginal. Die Couch wurde zu einer herausragenden Projektionsfläche für moderne Selbstbilder, weil sich hier wie an wenigen anderen Orten Sichtweisen auf Subjektivität und deren Bedrohung in der Moderne bündeln. Moderne Gesellschaften verlangen ihren Mitgliedern lebenslang erhebliche Anpassungsleistungen ab. Die notwendige körperliche und mentale Beweglichkeit, sich in verflüssigten gesellschaftlichen Beziehungen und Zuständen zurechtzufinden, stellt die individuelle Ichstärke immer aufs Neue auf die Probe. Für die daraus resultierenden Verlusterfahrungen bot die Couch einen Raum. So wurde sie, wenn nicht real, so doch in den Projektionen, ein privilegierter Austragungsmodus für die moderne »Sorge um das Selbst« (Foucault). Sie ermöglichte schwer erkrankten Menschen, die von der klassischen, auf körperliche Symptome fixierten Medizin aufgegeben worden waren, neue Heilungschancen und oft eine Rückkehr in einen normalisierten Alltag. Insofern stellt auch sie einen Ort der Entschleunigung (KLEINGARTEN) und der neuen Selbsterfahrung (TANZLOKAL) dar. Darüber hinaus bot sie vielen Menschen, die niemals der analytischen Situation selbst ausgesetzt waren, eine Sprache und ein Instrumentarium, um Aspekte ihres Selbstverständnisses zu thematisieren, auf die zuvor kaum mehr als in diffuser Weise angespielt werden konnte. Dies ist so weit vorangeschritten, dass das Reden über das Ich und seine Vergangenheit ohne psychoanalytische Begrifflichkeiten unmöglich geworden ist. Auf der Couch hat die moderne Sorge um das Selbst eine Sprache und damit eine Heimat gefunden – und das ganz unabhängig von der realen Erfahrbarkeit dieses Ortes. Das bedeutete natürlich auch, dass man mit ihr Grenzen zieht: Während andere »auf die Couch gehören«, ist man selbst gesund. Die zahlreichen Witze über die Couch, das mitschwingende Unbehagen und sogar die aggressive Ablehnung dieses Ortes zeugen dennoch davon, dass die Couch eine zentrale Funktion in der Selbstthematisierung moderner Subjekte erhalten hat. Andererseits manifestiert sich in der Raumkonstellation der Couch, die den Körper wirkungsvollen Techniken aussetzte (KRAFTRAUM), die Ausdehnung moderner Rationalisierungstendenzen auf den Bereich des Intimen und des Unbewussten. Obwohl Freud von einem grundlegenden Zweifel an der Beherrschbarkeit der eigenen Subjektivität angetrieben wurde, entlarvte sein Glaube an die Segnungen einer (natur-)wissenschaftlichen, experimentell abgesicherten Bearbeitung von psychischen Erkrankungen einen Rest jener Fortschrittsgläubigkeit, mit der man im 19. Jahrhundert den Wissenschaften begegnete. Nur so ist seine Hoffnung erklärbar, die Beziehung zum Patienten »voll rationalisiert« zu haben und sie daher »wie ein Rechenexemplar« behandeln zu können (Freud 1916/17, 422). Hinter allem Zweifel an der Kontrollierbarkeit des eigenen Ich stand trotzdem noch der Traum von einem bewusstgemachten, funktionalen Leben. So konnte sich auf der befreienden und heilenden Couch zugleich ein neues Regiment etablieren, das den Umgang mit dem eigenen Körper und der eigenen Subjektivität regelt und das uns in
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SICH
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BEFREIUNG
unserer Sorge um uns selbst zu funktionalen Objekten moderner Rationalität zu machen droht.
Literatur Engelman, Edmund (1977): Berggasse 19. Das Wiener Domizil Sigmund Freuds, Stuttgart/Zürich. Freud, Sigmund (1904): Die Freudsche psychoanalytische Methode (1904), in: Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey (Hg.), Sigmund Freud. Studienausgabe, Ergänzungsband: Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt 2001, 99-106. Ders. (1912): Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung (1912), in: ebenda, 169-180. Ders. (1913): Zur Einleitung der Behandlung. Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse I, in: ebenda, 181-203. Ders. (1914): Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse II, in: ebenda, 205-215. Ders. (1916/17): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey (Hg.), Sigmund Freud. Studienausgabe, Bd. 1: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt 1994, 34-445. The Freud Museum (Hg.) (1998): 20 Maresfield Gardens. A guide to the Freud museum, London. Gardiner, Muriel (Hg.) (1972): Der Wolfsmann vom Wolfsmann. Sigmund Freuds berühmtester Fall, Frankfurt. Gay, Peter (1989): Freud. Eine Biographie für unsere Zeit, Frankfurt. Giedion, Siegfried (1948): Mechanization Takes Command. A contribution to anonymous history, New York. Guderian, Claudia (2004a): Die Couch in der Psychoanalyse. Geschichte und Gegenwart von Setting und Raum, Stuttgart. Dies. (2004b): Die Magie der Couch. Bilder und Gespräche über Raum und Setting in der Psychoanalyse, Stuttgart. Mangabeira, Wilma C. (1999): On the Textuality of Objects in Disciplinary Practice: The couch in psychoanalysis, in: Psychoanalytic Studies 1, 327-354. Mayer, Andreas (2003): Zur Genealogie des psychoanalytischen Stettings, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 14, 11-42. Moser, Tilmann (1976): Lehrjahre auf der Couch. Bruchstücke meiner Psychoanalyse, Frankfurt. Siebel, Ernst (1999): Der großbürgerliche Salon 1850-1918. Geselligkeit und Wohnkultur, Berlin. Stern, Harold (1983): Die Couch. Ihre Bedeutung für die Psychoanalyse, Frankfurt. Swaan, Abram de (1978): Zur Soziogenese des psychoanalytischen »Settings«, in: Psyche 32, 793826.
Erlebte Welten Erfahrungsräume der Moderne Alexa Geisthövel/Uffa Jensen/Habbo Knoch/Daniel Morat
Orte der klassischen Moderne finden sich noch heute überall. Obwohl sie sich kontinuierlich verändert haben, erweisen sie sich als Ensemble und in ihren räumlichen Mustern als überaus langlebig. Sie haben sogar die »Postmoderne« überdauert, als deren wesentliche Kennzeichen neben einer Krise übergeordneter Deutungssysteme gerade die Virtualisierung von Räumen und der Verlust von identitätsstiftenden Bindungen an historisch gewachsene Orte und Stile gilt. Es ist zwar umstritten, ob die beiden vergangenen Jahrzehnte tatsächlich von einem derart fundamentalen Wandel gekennzeichnet sind oder ob sich nicht lediglich gesellschaftliche Selbstbeschreibungen geändert haben. Aber in jedem Fall ist das Bewusstsein dafür gewachsen, wie »Raum« die moderne Vergesellschaftung und wie historisch gewachsene räumliche Konstellationen die Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt haben und immer noch prägen. Denn »Moderne« meinte bislang meist den Wandel kultureller Deutungen, sozialer Formationen oder politischer Ordnungen über Zeit. Schon als der Begriff sich im 19. Jahrhundert etablierte, unterschied man mit ihm vor allem die künstlerischen Stile der Gegenwart von denen früherer Epochen. In Brockhaus’ Kleinem Konversationslexikon von 1906 stand »modern« noch unspezifisch für neuere Entwicklungen in Literatur und Kunst; allein die vielfache Rede von »modernen Heilverfahren«, zu denen das Röntgen und diverse Elektrotherapien zählten, band die technische Wende der Zeit um 1900 semantisch ein. Dennoch breitete sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein Bewusstsein für den »epochalen« Wandel der Lebenswelt aus, dem avantgardistische Literaten oder Architekten zwar seinen pointiertesten Ausdruck verliehen, das jedoch bis weit in die Kreise von Verwaltern, Technikern und Unternehmern vordrang. Auch sozialwissenschaftliche Kategorien wie Rationalisierung, Disziplinierung oder Individualisierung werden in der Regel verwendet, ohne die räumliche Dimension der modernen Erfahrungswelt zu reflektieren. Georg Simmels Ansatz, die ambivalenten Prozesse der Modernisierung als raumgebunden zu beschreiben, führte in Deutschland lange Zeit ein Nischendasein; in den USA war er immerhin eine wichtige Quelle der urbanen Mikrosoziologie. Kam der Raum in Deutungen der Moderne ins Spiel, die sich an den genannten Systembegriffen orientierten, dann am ehesten metaphorisch als »stahlhartes Gehäuse« (Max Weber), ähnlich kritisch als »Apparat« und »Betrieb« oder im panoptischen Modell der subtilen Herrschafts-
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techniken des modernen Gefängnisses (Michel Foucault). Erst neuerdings haben vor allem historisch arbeitende Soziologen und Geographen wie David Harvey, Henri Lefebvre oder Anthony Giddens Raum als Bestandteil sozialer Praktiken differenzierter in den Blick genommen. Giddens etwa spricht von »Regionen« als Räumen, die durch Interaktionen abgegrenzt und gestaltet werden. Die Verhaltensmuster in diesen Regionen und bestimmte Konstellationen von Raum, Körper und Handeln werden durch Prozesse und Alltagsroutinen verallgemeinert, die das Individuum übergreifen. Moderne stellt sich im Licht solcher Ansätze weder als stabile soziale Ordnung noch als zeitlicher Prozess mit einem bestimmten Fortschrittsziel dar. »Modernität« betont hingegen, wie individuelles und soziales Handeln mit lebensweltlichen Vorgaben – mithin auch räumlichen Mustern – zusammenwirkt und daraus Strukturen und Dynamiken erwachsen. Soziale Formationen sind immer räumlich vermittelt und unterliegen einem kontinuierlichen spatial ordering. Ob man im Appartement oder in der Stadtrandsiedlung wohnt, sich im Auto zur Arbeit oder zum Spaziergang an den Staudamm begibt: Individuelles Handeln durchläuft zu jeder Zeit verschiedene räumliche Arrangements, mit denen wechselnde soziale Ordnungen und Handlungsmuster verbunden sind. Interaktionen von Anwesenden, aber auch technisch vermittelte Kommunikationsakte unter Abwesenden sind durch die Vorgaben von Räumen, Raumerfahrungen und kulturellen Systemen geprägt, ohne durch sie determiniert zu sein. Sie sind in der Moderne zwar auf eine durchdringende Rationalisierung angelegt, präsentieren sich aber als widersprüchlich und bieten – wie in der Kleinstadt – durchaus Raum für abweichende Praktiken. Zeit und Raum sind als »kulturelles Koordinatensystem gesellschaftlichen Lebens« (Kaschuba 2004, 13) mithin keine absoluten Größen, sondern in ihrer erlebten, sozialen Form ein Produkt historisch gewachsener Konstellationen, Wahrnehmungsmuster und Aneignungspraktiken (Löw 2002). Immer schon haben sich dabei Vergesellschaftungsprozesse an Orten kristallisiert – Kloster, Kirche und Universität im Mittelalter, Kaffeehaus, Fürstenhof und Theater in der Frühen Neuzeit, Salon, Boulevard und Stadtpalais in der bürgerlichen Übergangszeit. Für die Orte der Moderne prägten sich in der langen Epoche der Vor- und Frühmoderne zwischen dem späten Mittelalter und dem Beginn des 19. Jahrhunderts drei wesentliche Grundlagen aus. Vor allem wurden Arbeits- und Wirtschaftswelt allmählich nach Kriterien von Berechenbarkeit und Rationalität umgestaltet. Die mechanisierte Zeit mit öffentlichen Uhrentürmen gibt es zwar bereits seit dem 14. Jahrhundert, aber erst, als im Absolutismus und dann im Nationalstaat ökonomische und bürokratische Räume durchgestaltet wurden, setzte sich diese Art der Zeitrechnung verbindlich durch; nationales Zeitmaß und international gültige Zeitzonen sind erst ein Produkt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Parallel verbreitete sich aus Gelehrtenstuben und Laboratorien das naturwissenschaftliche Denken in der Öffentlichkeit; Freimaurerlogen, wissenschaftliche Gesellschaften oder die Pariser Salons des 18. Jahrhunderts dienten hierbei als »Versuchslabore des Aufklärungsprojekts« (Burke 2001, 63).
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Daneben wurden bereits lange vor der Industrialisierung Orte und Räume nach funktionalen Aspekten und Bedürfnissen der Arbeitsteilung differenziert: Aus Klöstern entwickelten sich Krankenhäuser und amtliche Wohlfahrtseinrichtungen; in Handelshäusern, Börsen und Gildehäusern verflocht und entflocht sich das ökonomische Handeln; aus Fürstenhöfen gingen in der Frühen Neuzeit Theater, Zoologische Gärten und Sammlungen hervor. Schließlich wurde das Prinzip der Mobilität und der räumlichen Verflechtung verankert – als Praxis, als Bedürfnis und als kulturelle Norm (Schivelbusch 1977). Die bürgerliche Reisekultur blieb zwar bis zur Erfindung der Eisenbahn an gedehnte Fortbewegungszeit gebunden, aber den Horizont zu erweitern wurde nach adeligem Vorbild schon im späten 18. Jahrhundert zum Ideal (Kaschuba 2004). Obwohl der optische Telegraph schon 1794 begrenzte Kommunikationshorizonte überwinden half, blieben Rationalisierung, Ausdifferenzierung und Mobilisierung von Raumerfahrungen noch embryonal – im Prinzip angelegt, aber ihrer durchgreifenden Umsetzung und Verbreitung harrend. Erst zwischen 1870 und 1930 erfuhr die räumliche Ordnung der Lebenswelt über alle Schichten hinweg eine tief greifende Umgestaltung. Dieser Schub hat die Erfahrung von Beschleunigung, die Überwindung von Ferne und die Vernetzung von Abwesenden mit sich gebracht. Ein Jahrhundert zuvor, im Zuge der Revolutionsepoche zwischen 1789 und 1848, die begriffsgeschichtlich als »Sattelzeit« (Koselleck 2000) ausgemacht worden ist, hatte sich das Gefühl, in einer »neuen Zeit« oder der »Neuzeit« zu leben, noch vor allem in Zeitbegriffen Ausdruck verschafft. Um 1900 war das Gefühl, »modern« zu sein, jedoch viel ausdrücklicher räumlich kodiert und an moderne Orte gebunden: Bewegungsräume erweiterten sich, Arbeitsräume wurden rationell organisiert, Verwaltungsräume durchgeplant, Herrschaftsräume imperial gestaltet, Lebensräume ausdifferenziert, Vergnügungsräume kommerzialisiert und Erholungsräume geschaffen (Borscheid 2004; Kaschuba 2004; Schlögel 2003). Zur gleichen Zeit sah Georg Simmel »Gesellschaft« durch eine Ordnung bestimmt, die nicht mehr auf ständischen oder Klassenzugehörigkeiten beruhte, sondern durch räumlich festzumachende Netze und Beziehungen, »durch eine große Anzahl von Verbindungsfäden und Verknotungen [...], von Verfestigungen und Verflüchtigungen« bestimmt war (Simmel 1992, 780). Diese situativen, aber auch traditionell verankerten Beziehungsnetze der Moderne waren an bestimmte Ordnungen des Raums gebunden. In ihren Aneignungen warfen sie das Problem des Abstands in der sozialen Begegnung auf und ließen Verhaltensmuster und Bewegungspraktiken entstehen, in denen sich das moderne Raumarrangement mit Veränderungen von Körperlichkeit und Subjektivität verband. Ordnungen und Aneignungen standen im Zentrum von Deutungen der modernen Orte, die ihnen Sinn zusprachen. Verordnete, angeeignete und zugeschriebene Bedeutungen machten aus räumlichen Dispositionen der modernen Erfahrung, wenn sie vor Ort und individuell konkret wurden, erlebte Welten.
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Ordnungen: Moderne Orte und die Ökonomie des Raums Im großen Maßstab hatten seit dem 16. Jahrhundert Wissens- und Technikrevolution, Kapitalismus und imperiale Herrschaft eine »Raumrevolution« (Carl Schmitt) herbeigeführt. Sie gründete auf einem translokalen, zunehmend globalen Wirtschaftssystem, äußerte sich in geographischen Kartierungen von Regionen und Handelswegen, die religiöse Weltordnungen ablösten, und fand ihre zwischenzeitliche Basis in den Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts. Großflächig wurde während der Industrialisierung Landschaft umgestaltet: Neue Industrien verdichteten sich regional und zogen soziale Wanderungen nach sich, Landschaften wurden umgepflügt, als Rohstoffe – in Europa vor allem Kohle und Erze – in großem Maßstab erschlossen wurden, und schließlich entstanden Infrastrukturen wie Eisenbahnlinien, Autobahnen und Flughäfen, Tunnel, Kanäle und Staudämme, um Industrieansiedlungen von natürlichen Ressourcen unabhängiger zu machen. Die begleitende Urbanisierung verdichtete Arbeit und Privatleben, vermischte sich aber in Kontinentaleuropa mit den überkommenen Siedlungsstrukturen; die Raumordnung, im Merkantilismus beginnend und seit Ende des 19. Jahrhunderts zur Wissenschaft erhoben, stellte dafür Regulierungspläne bereit, Regionalverwaltungen und Stadtplaner setzten sie um. Indem Administrationen sich weitgehend flächendeckend ausbreiteten, mutierte der nationale Raum, je nach Tradition mehr oder weniger zentralistisch, zum Verflechtungsfeld von Regularien und Bürokratien. Eine ausgedehnte Logistik der Nahrungssicherung steuerte die Produkte der ökonomisierten Landschaft in das Geflecht der von ihr abhängigen Orte ein. Auch der Blick von Künstlern und Reisenden wollte den Moment der betrachteten Landschaft erfassen und überführte ihn in gemalte oder fotografierte Perspektiven, die gleichermaßen die Größe der Natur und die menschliche Herrschaft über sie widerspiegelten. Die mit Ehrfurcht und Faszination gepaarte Beherrschung natürlicher Kräfte prägte auch den Umgang mit Bewegungstechniken. Aus experimentellen Modellen wurden kontrollierbare und zunehmend effizientere Anordnungen, die auch zum sicheren Massenkonsum taugten. So entstanden das Fahrrad, das Auto oder das Flugzeug. Besonders im Raumschiff verdichteten sich äußerste Mobilitätsweite und technologische Naturbändigung zur erkundenden Aneignung eines Raums, der noch auf lange Zeit den wenigsten zugänglich sein wird. Andere Eroberungen der Vertikale prägen hingegen die alltägliche Bewegung und Orientierung im Raum: Hochhäuser sind rationalisierte Ordnungen des Raums par excellence; Aufzüge bergen Sicherheitsrisiken, bieten wie Raumschiffe aber kompakte Raumnutzung und relative Verlässlichkeit, weil ihr Funktionieren nicht von Hochtechnologie, sondern von erprobten Verfahren abhängt; Funktürme sind Wahrzeichen der kommunikationstechnischen Erschließung des Himmels. Auch im mehrstöckigen Warenhaus und in Bahnhöfen wird mit Mehrebenensystemen der vertikale Raum möglichst effizient genutzt.
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Wettbewerb und Kostendruck erforderten ebenso in der Horizontale immer ausgeklügeltere Raumkonzepte. Den Grundrissen neuer öffentlicher und kommerzieller Bauten wurden seit Beginn des 20. Jahrhunderts Schemata idealer Bewegungen beigegeben; Hinweisschilder an solchen Orten weisen Arbeitern und Kunden mehr oder weniger durchsichtig ihren Weg; sie begleitet ein semantisches und semiotisches Arsenal, das nur in Teilen über kulturelle Grenzen hinweg verständlich ist. Wie Zeitregime werden auch solche Raumordnungen internalisiert; der Nutzer fügt sich vorab in die Bewegungsökonomie des gestalteten Raums ein. Könnte damit nicht gerechnet werden, löste sich der gestaltete Ort in Chaos auf. Raumkonzepte verankern aber nicht nur Ordnungsvorstellungen, sie begründen überdies Erwartungen bei ihren Nutzern. Ob die Wartenden im Arbeitsamt in Schlangen stehen oder Nummern ziehen, ob beim Einsteigen an Haltestellen die Zeit der Ankunft zählt oder der auf Erfahrung beruhende günstigste Platz – werden die Regeln verletzt und damit Erwartungen enttäuscht, kommt es zu Konflikten. Solche Steuerungserwartungen werden oft vage auf Personen und Institutionen, nicht selten aber auch konkret auf bestimmte Orte wie die Parteizentrale oder die Zeitungsredaktion projiziert. Schon seit dem Mittelalter war die Stadt mehr und mehr zum Zentrum solcher Orte geworden, mit denen die Ordnung des Gemeinwesens verbunden war. Rathaus und Salon markierten in der bürgerlichen Epoche bisweilen die Gegenpole bürgerlicher Herrschaft und Freiheit. Mit der inneren Urbanisierung der Städte und mancher Industriedörfer seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde dieses Spannungsverhältnis um Raumordnungen einer kommerzialisierten Öffentlichkeit ergänzt. Tendenziell wurde dabei das bürgerliche Leben aus dem öffentlichen Raum in Clubs und intellektuelle Medien verlagert. Antriebsräume im städtischen Bewegungskosmos – Bahnhöfe, Haltestellen und später Parkhäuser – strahlten ihre Zeitordnungen und die von ihnen ausgehende Ent- und Verdichtung von Menschen in die Stadt aus; ähnliches geschah mit den stadtnahen Fabriken, deren Tore Zustrom und Abfluss der Arbeiter regulierten. Das Mobilitätskonzert der Großstadt verlangte immer ausgefeiltere Verkehrsordnungen, je mehr Bewegungsgefährte und Passanten unterwegs waren. Die Großstadtstraße wurde zum Lehrpfad für Verhaltensroutinen und Sicherheitserwartungen. Konsumorte saugen bis heute Passanten nach mehr oder weniger fluiden Zugangsmechanismen auf und projizieren dazu ihr Ordnungsprinzip auf die Straße: Die Schaufenster des Warenhauses laden zum Kauf ein, die überbordende Lichtwerbung des Kinos will das bewusst klein gehaltene Kassenhäuschen noch weniger sichtbar machen, das distinguierte Tischlämpchen mit Seidenvorhang im Fenster des Grandhotels zieht Blicke auf sich, ohne den gefürchteten Sozialvoyeurismus zu bedienen. Die Dynamik räumlicher Neuordnungen erstreckt sich bis in die Peripherie. Stadtränder wurden zur Erprobungsfläche für Siedlungskonzepte. Weil der Raum nicht unbegrenzt und umsonst zu haben war, entwickelten die Architekten der zwanziger Jahre rationalisierte Raumlösungen. Städtische Appartements hatten das vorgemacht. Über sie zog die Rationalisierung des Raums in den privaten Lebens-
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bereich ein. Noch vor der durchgreifenden Elektrifizierung des Haushalts seit den fünfziger Jahren konzentrierte sich die Idee des new housekeeping auf Arbeitsabläufe und Ressourcen. Die Ökonomie der Fabrik drang in die private Küche ein und traf dort auf ein Wirtschaftsverständnis traditioneller Sparsamkeit, das bürgerliche Frauen erlernen mussten, weil ihnen das Geld für die Dienstmädchen ausging. Die Möglichkeiten, über moderne Techniken des Bewegens und Versorgens zu verfügen oder sich Zugang zu bestimmten modernen Orten zu verschaffen, bildeten soziale Differenz im Raum ab. Mit der Urbanisierung nahm die soziale Prägung von Wohnlagen eher noch zu. Zugehörigkeit und Ausgrenzung wurden räumlich sichtbar und durch räumliche Ordnungen gesteuert, die auf Grundstückspreisen und Mieten, Verordnungen und polizeilichen Maßnahmen beruhen. In den totalen Herrschaften des 20. Jahrhunderts schließlich beraubte der gewaltbewehrte Ordnungsanspruch über den Raum bestimmte Gruppen systematisch ihrer Freiheit. Doch selbst in Konzentrationslagern und Ghettos gab es neben den hegemonialen, durchgestalteten Räumen Nischen und Peripherien, die zwar klein und umkämpft waren, aber gewisse Spielräume des Überlebens eröffneten. Dem Rationalisierungsdrang der klassischen Moderne entsprach eine Gegenlogik von Räumen, die diesem Diktat nicht ganz unterworfen waren. Kleingarten, Kleinstadt und Couch verkörpern eine lokalisierbare Widerständigkeit, deren anfänglich subversives Potenzial sich im Lauf des 20. Jahrhunderts allerdings weitgehend erschöpfte. Weniger ausgesprochene Gegenorte, sondern die flexible Nutzung von öffentlichem Raum für Protest und vor allem die subjektive Distanz zu Herrschaft und Vereinnahmung in der individuellen Nutzung des Ensembles der modernen Orte konservierten einen utopischen Überrest. Rundwege an Staudämmen und Rabatten auf Appartementbalkons machten aber sogar »Natur« zum Planungsfall.
Aneignungen: Moderne Orte und die Macht des Abstands Zwischen 1870 und 1930 verstärkten viele neue Orte die bereits zuvor angelegte Verflüssigung sozialer Grenzen oder forderten diese heraus. Was schon in den Großstädten des späten 19. Jahrhunderts vorbereitet worden war, fand in den zwanziger Jahren seine Steigerung und mediale Gestalt: Über Reste der Gemächlichkeit ging ein Zug in die technische Moderne hinweg, dem weder bauliche Ornamente noch soziale Gruppen Stand halten konnten. Die Innovationen der Vorkriegszeit hatten das langfristig vorbereitet; die Erosionen der überkommenen Strukturen waren unverkennbar. Soziale Differenz an sich hat das keineswegs aufgelöst, aber ihre Koordinaten und Repräsentationsformen haben sich verändert und neue räumliche Praktiken und Formen gefunden, um Abstände auszudrücken. Die Orte der Moderne waren Spielfelder, Antriebsquellen und Umschlagplätze für diese soziale Transformation. Indem sich ständische Zuordnungen auflösten,
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wurden halböffentliche Räume wie das Grandhotel oder der Strand sozial durchlässiger; an der Front oder im Bunker entstanden situative Not- und Zwangsgemeinschaften. Kinowerbungen lockten ein schichtübergreifendes Publikum an; das Auto, anfänglich ein Luxusgefährt, wurde zum Vehikel einer demokratisierten Individualund Familienmobilität; in den Warenhäusern schliffen sich soziale Kaufbarrieren ab, wenngleich sich ihr Spektrum von Luxushäusern bis zu Billigmärkten spreizte. Sozialer Abstand bildete sich in einem nach Lage, Fassade und Standard ausdifferenzierten Arrangement von Orten ab, die prinzipiell jedem offen standen, aber nur nach einem komplexen, mehr oder weniger sichtbaren Zugangssystem betreten werden konnten. Im Ensemble dieser modernen Orte prägen sich differenzierte Verhaltensweisen aus und werden durch sie geprägt. Menschen kombinieren Raumerfahrungen und bilden individuelle Erlebnismuster aus. Dennoch bewegen sie sich in weitgehend erwartbaren Rahmenordnungen; das Regime der modernen Raummuster lässt Spielräume zu, schafft aber zugleich Erfahrungsgemeinschaften auf Zeit, wenn man etwa im Stadion oder im Bahnhof zusammenkommt. Wer sich hier nicht an die gestattete, kulturell verschieden kodierte Spannweite von Verhaltensformen hält, fällt auf; die übrigen kennen einander nicht, agieren aber weitgehend in wechselseitiger Nichtachtung. Im heimischen Appartement gestaltet sich jeder sein eigenes Umfeld, aber dass hier Individualität betont wird, teilen alle miteinander. Die modernen Orte bieten eine Bandbreite von Möglichkeiten, auf verschiedene Weise unterschiedliche Abstände zu halten – von der geordneten Massierung im Stadion über die gepflegte Beschaulichkeit im Museum zur kollektiven Vereinzelung im Kleingarten. Indem aus ständischen Zuordnungen mittels der Orte Zugehörigkeiten nach Wahl, Konsumkraft und Stil wurden, entstanden Schwellenräume für Interaktionen unter Fremden, die einander nicht über ihre Herkunft, sondern über ihr Profil und Verhalten einschätzen konnten; ihrerseits waren die Schwellenräume Motor dieser Erosion. Der Abstand von Menschen untereinander wurde zur Distinktionszone, für die neue Regeln zum Beispiel des Redens, Bewegens, Kleidens und Geruchs galten. Übergänge zwischen den Orten gewannen an Bedeutung, je mehr sich das Leben in ihnen konzentrierte, insbesondere mit der Zunahme halböffentlicher Orte. Riten des alltäglichen Übergangs strukturierten die innere Verhaltensordnung der modernen Gesellschaft, in der transitorische Orte die verschiedenen Erfahrungswelten verknüpften. Diese Übergangszonen im öffentlichen und halböffentlichen Raum mussten gestaltet werden, um Zugänge und Abstände zu regulieren, explosive Verdichtungen oder soziale Nivellierung zu vermeiden. Die als bedrohlich wahrgenommene Masse in Stadien oder Fabriken wurde kanalisiert, damit aus zu viel Nähe nicht soziale Unruhe erwuchs. Geordnete Abstände waren gleichzeitig eine Basis, um Zeitregime durchzusetzen; auch deshalb errichteten Unternehmer eigene Siedlungen mit einheitlichen Wohnungen für ihre Arbeiter. Wohnungsausstattungen etwa markieren wie andere Konsumgüter soziale Differenzen und Distanzen im Nahbereich der einander Bekannten, aber auch der Fremden. Güter sind Erkennungszeichen, die Status und Geschmack zu klassifizieren
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erlauben. Stile der Distinktion und der Distanz im eng bevölkerten Raum müssen eingeübt werden. Dafür gibt es generelle Regeln, die individuell abgewandelt werden können. Bemühungen, körperlichen Abstand zu halten, bilden sich dabei räumlich ab. Die Sandburg ist eine Antwort auf diesen kultivierten Reflex. Sandburgbauer schotten sich ab und machen damit gleichzeitig auf sich aufmerksam. Der Strand wird zur Heimat, Nachbarschaft durch räumliche Barrieren als soziales Ordnungsprinzip auf den ungestalten Raum übertragen. Erst mit dieser Sicherheit kann man mit den Fremden nebenan vertraut werden (Kimpel/Werckmeister 1995). Über den Anspruch auf Territorien, der immer mit körperlicher Grenzbefestigung verbunden ist, definiert sich Identität, in der Freizeit wie in der Arbeitswelt. Ist der Stammplatz in Kneipe oder Raststätte besetzt, sieht man seinen Ortsanspruch missachtet. Wer häufig kommt, regulär bezahlt hat oder immer an einer bestimmten Werkbank steht, erwirbt ein Recht auf die respektvolle Achtung von Distanz als Voraussetzung für Kommunikation. Abstand beruht auf Körperlichkeit. Mit ihr kann gespielt werden wie im Tanzlokal, wo säkularisierte Bewegungsrituale Kommunikation steuern. Selbst gewählte oder erzwungene Isolation – etwa durch eine Fahrt im Auto oder den Aufenthalt im U-Boot – werfen das Individuum auf seinen Körper zurück, über den Grenzerfahrungen von Geschwindigkeit, Risiko und Angst erfahrbar werden. Im Zusammenkommen von Vielen mit ähnlichen Zielen herrschen routinisierte Verhaltensregeln vor, die intime Anonymität ermöglichen. Radrennbahnen und Autorennstrecken machen räumlich verdichtet erfahrbar, was seit den 1880er Jahren dem Sport eine neue Richtung gab: den Kampf um den Abstand, Rekorde, dramatische Kämpfe auf Leben und Zeit, durch Konkurrenz und Höchstleistungen euphorisierte Zuschauer (Borscheid 2004). Erst als sich die elitären Wettbewerbe in den zwanziger Jahren zum Massenspektakel entwickelten, fand die Disziplinierung von Zeit und Körper in Industrie und Büro hier ihr verzerrtes Spiegelbild in ungebändigter, Ausbruch verheißender und dennoch zielgerichteter Energie – wurden noch in der gemeinsamen Euphorie die Abstände untereinander auch weitgehend gewahrt, war die Gefahr des Gewaltausbruchs doch stets mit an der Bahn. Im Windkanal wurden technische und natürliche Körper unter der Maßgabe getestet, Abstände zu gewährleisten, nicht zuletzt für werbewirksame aerodynamische Rekorde. Auch im immer populärer werdenden Boxen verband sich der gestählte Körper des Soldaten im Ring mit einer Verdichtung von Raum und Zeit, die das Fronterlebnis des Maschinentods im mannhaften Kampf verdrängte. Zu Helden wurden Menschen nun, indem sie eine auratisierte Distanz wahrten, die von den Medien mit dem Schein der Nahbarkeit ummantelt wurde. Ihren Marktwert steigerten viele durch ein exzentrisches Verhalten, das Grenzen und Normen missachtete, indem die öffentlichen Räume zur Bühne ihrer Selbstdarstellung wurden. Das Private jenseits der öffentlichen und halböffentlichen Räume wurde für Medien und Menschen zusehends interessanter; nur noch über Geheimnisse konnten die Protagonisten dieses Schauspiels den Anschein von Distanz zu ihrer Vereinnahmung wahren. Dann teilten sie im Zweifel den Kampf um Abstand mit den unbekannten
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Helden des modernen Alltags, die sich gegen dessen Zumutungen Räume ihrer Selbstentfaltung schufen, um die geordnete Welt zumindest zeitweise auf Abstand zu halten. In der intimen Situation, auf der Couch zu liegen und einer anderen Person sein Inneres zu vergegenwärtigen, hat eine ausgeprägte »Sehnsucht nach Nähe« (Föllmer 2004), Geborgenheit und »Heimat« ihren exemplarischen Raum gefunden. Solche Ordnungen von Abstand und Nähe werden durch Katastrophen wie Großbrände, Kriege oder neuerdings Terrorangriffe herausgefordert, zerstört, aber auch intensiviert. Situative Notgemeinschaften wie im Bunker oder dem entführten Flugzeug schaffen mythisierbare Geschichten, in denen die Verletzbarkeit des modernen Raumensembles ebenso thematisiert wird wie die jede Technik überdauernde Ressource der direkten Kommunikation unter Menschen. Die Gewaltherrschaften des 20. Jahrhunderts haben gezielt Ausnahmesituationen hergestellt, um individuelle Lebensordnungen systematisch aufzulösen. Indem sie Zerstörung industrialisierten, entstanden Zwangsordnungen, in denen Menschen verdichtet und ihres Grundrechts auf Abstand und Entfaltung beraubt wurden.
Deutungen: Moderne Orte und die Wirkung der Wahrnehmung Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwarfen immer mehr Visionäre die Zukunft einer motorisierten, elektrifizierten und verkabelten Gesellschaft. In diesen Entwürfen steckte mindestens so viel religiös anmutende Scheu und Faszination wie im späteren Erleben ihrer Wirklichkeit. Die Ehrfurcht vieler Erfinder, Natur und Technik erfolgreich zu bändigen, übertrug sich zum Teil auf die ersten Nutzer und Zuschauer. Automobile, Elektro- oder Rundfunkgeräte umgab in ihrer Innovationsphase, bevor sie zu Massengütern wurden, eine geheimnisvolle Aura, in der sich Staunen und Angst mischten. Solche Übergangsphasen, in denen moderne Techniken verweltlicht wurden, gab es auch für die Raumkonzepte dieser Zeit. An vielen Orten blieb diese Aura – das Kathedralenartige des Warenhauses, der Traumpalastcharakter des Grandhotels oder die Wirklichkeitsflucht im Kinosaal – lange Zeit erhalten und findet sich noch heute als Spur und ins Nostalgische gewendet. Die Moderne macht Kommunikationen und Infrastrukturen unsichtbar, doch sie will ebenso Unsichtbares sichtbar machen – auf der Couch das Seelenleid und beim Röntgen das Körperinnere. Im Schaucharakter bestimmter Orte bietet sie sich als Präsentationskultur dar, als eine Ordnung der optischen und sinnlichen Konkurrenz: Hochhäuser, die Kirchtürme überragen, drücken Überlegenheit, Fortschritt und Prosperität aus. Gebäude sind semiotische Spielfelder für den Kampf um Bedeutung, aber ihre Gestaltung beinhaltet Codes, um ihre Funktionen zu erkennen; das schafft Orientierung. Wie manche Orte wurden exemplarische leibhaftige oder ausgestellte Körper zu Projektionsflächen für Deutungen von Zukunft und Untergang. Im Völkerkundemuseum wurden Kulturen exotisiert, um den eigenen Ab-
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stand zu ihnen zu markieren; im Stripteaselokal ist nicht der Leib als solcher, sondern nur ein geschlechtlich und räumlich kodierter Körper zu sehen. Diese ästhetische und kommerzielle Verdinglichung von Orten und Körpern unterstrichen bildliche Inszenierungen. Architekturfotografien und Bildpostkarten vermitteln idealisierte Bilder von Größe und Wohlansichtigkeit. Diesen Eindruck verstärkten Repräsentationen moderner Orte im Film: Die Telefonzentrale im Grandhotel, der Aufzug zum Großraumbüro oder das Wohnzimmer im großstädtischen Appartement dienten als Schicksalsbühnen. Werbung bildete einen nicht minder mächtigen Katalysator für diese Bildwelt, wenn Hausfrauen die Tauglichkeit von Elektrogeräten in ihren Küchen demonstrierten oder Männer in Autos zunächst die Straßen eroberten, dann vermehrt Familien deren Brauchbarkeit als motorisierte Großkutsche belegten. Ein solches Bildrepertoire legte es bereits darauf an, bestimmte Orte über ihre Wahrnehmung zu Leitorten der Moderne zu machen. Am Kino konnte die Virtualisierung der Wahrnehmung, am Warenhaus die pluralisierte Bedürfnisbefriedigung oder an der Front die Massengewalt des 20. Jahrhunderts verortet werden. Sie wurden zu säkularen Symbolen der Moderne, wobei manche Merkmale von Kirchen und Palästen übernahmen und an deren Stelle traten. Die sakrale Metaphorik spielte ohnehin für die Wahrnehmung der modernen Orte eine zentrale Rolle: Immer wieder war gerade in ihrer Entstehungszeit von Tempeln, Palästen und Kathedralen die Rede; Bann und Zauber gingen von hohen und weiten Räumen aus. Die Nostalgisierung der modernen Orte nahm hier bereits ihren Anfang: Die Pracht, mit denen sich viele der kommerziellen Orte zur Schau stellten, ist inzwischen zum Spielzeug für die retrospektiven Ambientes der Gegenwart geworden. In der topologischen Ordnung der Moderne sind die Orte nach Deutungen arrangiert, die nicht unbedingt ihrem materiellen Nutzen entsprechen. Es dominieren Sehnsuchtsorte, aus deren räumlichem Arrangement die Überwindung des Alltags hervorsticht. Mit Hochhaus, Kino oder Strand ist der Entwurf alternativer Ordnungen verbunden. Im längerfristigen, aber nach dem Ersten Weltkrieg erheblich beschleunigten Übergang von der Klassen- zur Konsumgesellschaft fand längst nicht jeder sein Glück, doch das nicht selten nur medial erfahrbare Versprechen darauf wurde Teil der modernen Mentalität. Die Faszination, Raum durch Medien überwinden zu können, schwang im Telefongespräch mit; in Rundfunkstudios wurde an unterhaltenden Sinnesarrangements gearbeitet. Bestimmte Orte wiesen sich als Räume von Glücksversprechen aus, der Vergnügungspark etwa oder das Auto. Derartige Sehnsuchtsorte stifteten von Verborgenem begleitete Illusionsräume, die in Kabinetten und Panoptiken schon seit dem 19. Jahrhundert die moderne Gesellschaft begleitet hatten. In Gegenräumen wie der Kleinstadt wurden romantisch-utopische Träume aufbewahrt, denen auch andere imaginäre Raumordnungen entsprachen – das schwer Durchschaubare und die winkligen Gassen dienten als Signum des anderen Lebens; sie speicherten die Möglichkeit, bei Bedarf Nischen zu finden. Die Ambivalenz der Moderne drückte sich in räumlichen Metaphern aus, die sie aus ihrem eigenen topologischen Reservoir gewann. Das moderne Gefängnis ver-
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körperte für viele die Ordnungsansprüche der Moderne; immer wieder diente das Laboratorium als semantischer Code, mit dem ihre experimentelle Qualität ausgewiesen wird; so unterschiedliche Intellektuelle wie Walter Benjamin und Arnold Gehlen bezeichneten die Moderne als »Apparat«. Einzelne Orte wurden zu Prismen erklärt, durch die sich die moderne Erfahrungswelt als prekäre Versuchsanordnung erschließen lässt: So haftete Agrarbetrieben und Staudämmen der Ruf an, sich zu Projekten technischer Überbietung verselbständigt zu haben und dabei Risiken zu potenzieren. Die Rhetorik, Auswirkungen der Moderne »einzudämmen«, ist schließlich ebenso zu ihrem konjunkturabhängigen Dauerbegleiter geworden wie die Inszenierung des Lichts in den Selbstdarstellungen der modernen Orte. Das rückte sie in die Nähe einer Bildsprache religiöser Offenbarung und verlängerte das Licht als Leitsymbol der Aufklärung in kommerzialisierte Verheißungen von Erleben und Sicherheit.
Innere Erweiterungen: Die Orte der klassischen Moderne und die »langen« sechziger Jahre Ensemble und Muster der Orte der klassischen Moderne haben sich national unterschiedlich und zeitlich verschoben ausgeprägt. Politische Rahmenbedingungen, andere Raum- und Besiedlungskonstellationen, variierende Produktions- und Finanzierungswege in die Konsumgesellschaft sowie jeweilige kulturelle Praktiken ließen die Modernisierung unterschiedliche Pfade ausbilden. Manche dieser um 1900 angelegten Pfade brachen mit dem Zweiten Weltkrieg weitgehend ab oder nahmen ganz andere Formen an. In Osteuropa etwa standen bis zum Ende des Kalten Kriegs viele Grandhotels für das Erbe des vorsozialistischen Europas, das durch ein eigenes Ideal der Modernisierung von Räumen überschrieben wurde. Funktionale, aber raumgreifende Parteizentralen und Verwaltungsgebäude, verkehrsführende Magistralen und Trabantenstädte aus Plattenbausiedlungen gaben vor allem in den sechziger Jahren vielen osteuropäischen Städten zusammen mit (teil-)restaurierten Altbauten ein hybrides Gesicht. Auch im Westen wurde das Ensemble der klassischen Orte der Moderne zwischen den fünfziger und den siebziger Jahren nachhaltig modernisiert. Aufgrund der Verheerungen des Bombenkriegs war das in der Bundesrepublik viel stärker sichtbar als in vielen anderen Ländern Europas. Die pragmatische, sich vielfach an den neusachlichen Charakter der Weimarer Kultur anlehnende Bausubstanz der fünfziger und sechziger Jahre oder der Verwaltungsbaustil und die Durchsetzung der Fußgängerzone in den siebziger Jahren haben Raumarrangements in den Innenstädten verdichtet und funktionaler gestaltet als vor dem Zweiten Weltkrieg. Doch genuin neue Orte sind im Bereich der Mobilität und des Konsums kaum hinzugekommen. Viele, die zuvor schon bestanden, haben sich jedoch mit der Demokrati-
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sierung des Massenkonsums weitaus präsenter in der lebensweltlichen Praxis und Wahrnehmung verankert: die Wahlkabine zum Beispiel als Ausweis einer stabilen politischen Kultur oder das Arbeitsamt als Ort, an dem sich der Wohlfahrtsstaat mit seinen Sicherheitsoptionen und verwaltenden Zugriffen materialisiert. Dennoch gestaltete der Massenkonsum das Ensemble der klassischen Orte der Moderne in Westeuropa seit den fünfziger Jahren um, indem viele Konsumgüter zu universalen Gebrauchsobjekten im privaten Raum wurden. Insbesondere die »langen« sechziger Jahre – für die Bundesrepublik sozial- und wirtschaftsgeschichtlich zwischen 1957 und 1974 datierbar – hatten nachhaltige Effekte auf »das Private« nun auch vorrangiges Ziel von Werbung und Wertepolitik (Schildt/Siegfried/Lammers 2000). So erreichte die Verbreitung des Kühlschranks ihren Sättigungsgrad von mehr als 90 Prozent um 1970, die von Waschmaschine und Telefon mit über 80 Prozent ein Jahrzehnt später. Zu diesem Zeitpunkt war das Auto – nicht zuletzt durch die starke Zunahme von Berufspendlern und außerstädtischen Wohngelegenheiten – längst vom vornehmlich geschäftlich genutzten zum weit verbreiteten privaten Fortbewegungsmittel geworden (Andersen 1997). Den visuellen Anschluss an die Welt schuf seit den späten fünfziger Jahren das Fernsehen, nachdem sich nach dem Krieg zunächst das Radio als Volksmedium durchgesetzt hatte. Mit dem Fernsehen wurde das Wohnzimmer aufgewertet: Man arrangierte Sitz- und Essgruppen um das neue Möbel, denn Dank der Zentralheizung konnten neben der Küche als bisherigem Sozialzentrum der Wohnung andere Räume für den alltäglicheren Gebrauch erwärmt werden. Ohnehin nahm der Anteil an verfügbaren Wohnungen – nicht zuletzt mit dem immensen Ausbau von Stadtrandsiedlungen als »Schlafstädten« – seit den sechziger Jahren deutlich zu. Mit dem Wohnungsbau wuchs auch der Ausstattungsstandard im Bereich der Hygiene, selbst wenn die neuen Sozialwohnungen als »Wohnlokus mit Kochnische« und deren Badewanne als »germanisches Hockergrab« verspottet wurden (zit. n. Schildt 1999, 63). Ohnehin war Hygiene das Modernisierungsfeld dieser Phase schlechthin. Bis Mitte der siebziger Jahre lösten Entbindungen im Krankenhaus die Hausgeburt ab; die dort verfügbaren medizinischen Mittel verhießen mehr Sicherheit. Medizintechnik und Hygienestandards ließen mit der Intensivstation einen Raum technologischer Überlebenssteuerung entstehen, dessen Vorformen die Rettungsambulanzen im Krieg und die »eiserne Lunge« aus den dreißiger Jahren waren. Ob Kinderversorgung oder Körperpflege, Automatisierung des Waschens oder Synthetisierung der Kleidung, Tiefkühlkost oder Warenverpackung: Neue Sauberkeitsstandards und ihre Folgen revolutionierten Konsum- und Lebenspraktiken. Dem entsprachen Veränderungen der räumlichen Versorgungsnetzwerke: Obst und Gemüse waren ganzjährig im Angebot, weil Flugzeuge deren Transport sicherten. Dank der Fertigkost, die im privaten Bereich erst seit den achtziger Jahren verstärkt Einzug hielt, breiteten Kantinen und Schnellrestaurants sich weiter aus und begannen, das familiäre Mittagessen zu ersetzen. Zum neuen Referenzort für diesen Wandel der inneren Ordnung der modernen Lebenswelt wurde der Supermarkt. In seiner vertrauten Anonymität erwiesen sich die Kunden als ihre eigenen Berater,
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geleitet von einer Werbekultur, die mediale Welt und Raumordnung virtuell miteinander verband (Wildt 1996). Dieses eng verflochtene Ensemble von Orten des privaten Konsums, zu dem auch ausländische Restaurants, Fußgängerzonen und Waschsalons gehören, war eingebettet in weitgreifende Rationalisierungen des nichtbesiedelten Raums – etwa durch die Flurbereinigungen oder die Anlage von Müllhalden seit den siebziger Jahren – und ein gleichzeitig wachsendes Bewusstsein für die damit einhergehenden Belastungen, das sich zum Beispiel in vermehrt ausgewiesenen Naturschutzzonen niedergeschlagen hat. Zu besonders signifikanten und medialisierten Orten der inneren Erweiterung des Ortsensembles der klassischen Moderne und seiner räumlichen Muster wurden vor allem in Deutschland die Atomkraftwerke. Sie trugen dem wachsenden Energiebedarf Rechnung, aber ihre Hochtechnologie erweiterte das Erleben und die Wahrnehmung der modernen Lebenswelt um einen potenzierten Risikofaktor. Der Drang zu solchen hochtechnologischen Orten wohnte der Elektrifizierung der Lebenswelt von Beginn an inne und hatte nicht zuletzt in den Visionen des Raumschiffs, mehr aber noch in der kriegerischen Anwendung der neuen Atomtechnik seinen Ausdruck gefunden. In Antiatomprotesten äußerten besorgte Bürger ihre Sehnsucht nach einer anderen Lebensform, manche in Hüttendörfern, die den Abenteuerspielplätzen für Kinder als Reservaten einer antiautoritären Pädagogik der siebziger Jahre ähnelten. Erkundung und Zerstörung, Effizienz und Risiken sind in der Tat nirgends so verdichtet wie im Atomkraftwerk. Es materialisiert zugleich eine fundamentale Veränderung im Raumgefühl durch die Moderne. Die Kernbrennstäbe als eigentliche Energieträger sind kaum sichtbar, dennoch verlangt ihre Kraftentfaltung raumgreifende Sicherungsmaßnahmen, die Atomkraftwerke zu landschaftsbeherrschenden Domen machen. Dieses Verhältnis von miniaturisierter Antriebs- oder Steuerungstechnologie und erweitertem Raumbedarf ist ein wesentliches Merkmal der inneren Entwicklung der modernen Orte seit Entstehung der Dampfmaschine und dem Beginn der Elektrifizierung. Im modernen Raumgefühl ist die Schwerkraft von Natur und Raum durch ein Bewegen jenseits des menschlichen Maßes, müheloses Überschreiten von Kraftgrenzen oder die Kommunikation mit Abwesendem und Abwesenden – bis hin zum virtuellen Raum der Computerspiele – zurückgedrängt worden. Doch auch wenn viele Orte der Moderne im Zeitalter von Energie-, Datenund Mobilitätsströmen vereinheitlicht und zu »Nicht-Orten« werden, wie der Geldautomat an einem internationalen Flughafen (Augé 1994) – der materielle Raum löst sich keineswegs im Virtuellen auf. Der körperliche Ausgleich im Fitnessstudio und der südländische Inselurlaub sind trotz der austauschbaren Szenarien bewusst gesuchte, an das Angebot des konkreten Ortes gebundene Körpererfahrungen. Gleichwohl sind solche Angebote durch ihre Standardisierung zum selbstverständlichen Bestandteil des modernen Erfahrungshorizonts geworden. Erst Verunsicherungen und Krisen bringen diese Selbstverständlichkeit ins Schwanken und den immer vorhandenen Raum in seiner Gestaltung als Ort in unsere Wahrnehmung zurück. Als am 9. September 2001 die entführten Flugzeuge in die Hochhäu-
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ser des World Trade Center flogen, damit das Handels- und Börsenzentrum des Kapitalismus trafen und die hilflosen Medienexperten verängstigte Menschen im Angesicht der brennenden Türme zeigten, implodierte das Sicherheitsnetz der Moderne an einer hochsensiblen Stelle. 9/11 hat ins Bewusstsein gerufen, wie sehr die Profanreligion der modernen Orte auf dem schmalen Grat zwischen gebändigter natürlicher oder selbst erzeugter technischer Kraft auf der einen und einem letztlich durch Menschen verantworteten Zerstörungsrisiko auf der anderen Seite ruht. Im Ensemble moderner Orte muss Sicherheit vermittelt werden und dennoch weisen leuchtende Notausgangsschilder permanent auf den möglichen Ernstfall hin. Nur der Gleichlauf kann internalisiert werden, nicht aber die Ausnahmesituation, in der Ordnungen, Abstände und Deutungen zusammenzubrechen drohen.
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Autorinnen und Autoren
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AUTORINNEN
UND
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und Monitor (Dissertation); Architektur von Arbeitsämtern in Deutschland und Österreich von 1840 bis zur Gegenwart; Inszenierungen von Männlichkeit im Skispringen. SIEGFRIED, DETLEF, geb. 1958, Associate Professor für Neuere Deutsche Geschichte und Kulturgeschichte an der Universität Kopenhagen. Forschungsprojekte: Konsumgeschichte und Jugendkultur in den 60er Jahren; Europäische Intellektuellengeschichte. Publikationen u.a.: Der Fliegerblick. Intellektuelle, Radikalismus und Flugzeugproduktion bei Junkers 1914 bis 1934, Bonn 2001; Das radikale Milieu. Kieler Novemberrevolution, Sozialwissenschaft und Linksradikalismus 1917-1922, Wiesbaden 2004; (Hg. mit Axel Schildt) Between Marx and Coca-Cola. Youth Cultures in Changing Western European Societies, 1960-1980, Oxford/New York 2005. SPIEKERMANN, UWE, geb. 1963, wissenschaftlicher Assistent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Geschichte von Konsum, Ernährung, Handel und Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Publikationen u.a.: Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des deutschen Kleinhandels 1850-1914, München 1999; (Mithg.) Die Zukunft der Ernährungswissenschaft, Berlin 2000; (Mithg.) Ernährung in Grenzsituationen, Berlin 2002. WEINHOLD, JÖRN, geb. 1965, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Programmkoordinator am Institut für Europäische Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar. Forschungsprojekte: Naturschützer im viktorianischen England und wilhelminischen Deutschland; Planungsgeschichte im 20. Jahrhundert.
Abbildungsnachweis
1. Meyer’s Großes Konversations-Lexikon, Bd. 2, 6. Aufl., Leipzig/Wien 1906. 2. Adolf Loewy/Hermann Schrötter, Über den Energieverbrauch bei musikalischer Betätigung, in: Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie 211 (1926), 2 (mit freundlicher Genehmigung des Springer-Verlags, Heidelberg). 3. Die Rakete 3 (1929), H. 7, 37. 4. Berliner Illustrirte Zeitung, 15.12.1901, 786. 5. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Bd. 4: Von 1924 bis Januar 1933, Berlin 1966, 369. 6. Carl Blunk, Fabrikmäßig betriebene Landwirtschaft, Berlin 1926, n. 46. 7. Die Nordseebäder Westerland und Wennigstedt auf Sylt, hg. v. d. Badedirektion in Westerland, Westerland auf Sylt 1907, 2. 8. Ansichtspostkarte des Central-Hotels in Berlin, 1898. 9. © Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz. 10. Volker Muthesius, Du und der Stahl, Berlin 1941, n. 104. 11. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Zeiss-Firmenarchivs. 12. Großhamburg, Denkschrift des Hamburger Senats, Hamburg 1921, o.S. 13. Ansichtspostkarte Edertalsperre, 1928. 14. Alphons Schneegans, Geschäftshäuser für Kleinhandel, Großhandel und Kontore, in: Handbuch der Architektur, T. 4, Halbbd. 2, H. 2, 2. Aufl., Leipzig 1923. 15. © Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz. 16. Sylvaine Hänsel/Angelika Schmitt (Hg.), Kinoarchitektur in Berlin 1895-1995, Berlin 1995, 114. 17. Die Schönheit 17 (1921), 509. 18. © Deutsches Museum München. 19. Friedrich Seesselberg, Der Stellungskrieg, Berlin 1926, Abb. 167. 20. Ansichtspostkarte Weimar, 1923. 21. © akg-images. 22. Erich Mendelsohn, Dynamik und Funktion. Realisierte Visionen eines kosmopolitischen Architekten, 2. Aufl., Ostfildern-Ruit 2003, 137 (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Kathleen James-Chakraborty). 23. Volkszeitung, 7.6.1903.