Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 533 All‐Mohandot
Operation Bumerang von Arndt Ellmer
Solaner in der Sterne...
28 downloads
489 Views
844KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 533 All‐Mohandot
Operation Bumerang von Arndt Ellmer
Solaner in der Sternenballung
Seit Dezember des Jahres 3586, als die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Schließlich ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Gegenwärtig schreibt man an Bord des Schiffes Ende August des Jahres 3791, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL bereits den Anstoß zu entscheidenden positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, daß er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Demontage im Mausefalle‐System rettete. Sosehr auch Atlan und seinen Plänen die Sympathien eines Großteils der Solaner gehören, die meisten der herrschenden Kaste der SOL sehen in dem Arkoniden nach wie vor einen Störfaktor, den es auszuschalten gilt. Doch unbeirrt von allen Querelen verfolgen Atlan und seine Helfer den einmal eingeschlagenen Kurs – so auch, als die SOL die Galaxis Flatterfeld erreicht, den Schauplatz der OPERATION BUMERANG …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide soll kaltgestellt werden. Chart Deccon ‐ Der High Sideryt sucht einen Weg. Gallatan Herts ‐ Der Magnide erhält ein Kommando. Breckcrown Hayes ‐ Ein außergewöhnlicher Solaner. Gisbert ‐ Ein Kommandant in Nöten.
1. »Breckcrown, was ist das?« Breckcrown Hayes sah in die Richtung, in die Tobier deutete. Ein klein wenig kniff er die Augen zusammen, schüttelte dann den Kopf. »Was meinst du? Ich sehe nichts!« antwortete er verwundert und warf einen Blick zu den drei Personen hinüber, die mit Tobier und ihm zusammen am VAX 4000‐17 arbeiteten, einem von zwanzig Ausgängen, die die Robotfabrik in der zwölften und dreizehnten Etage der SOL besaß. VAX‐Verarbeitungsautomat Xylon war eine der Fabriken, die in neuester Zeit in Betrieb genommen worden waren. Xylon stand für Holz, die Fabrik verarbeitete nicht nur Kunststoffe. Hundertzwanzig Personen arbeiteten in mehreren Unterstockwerken daran, den Ausstoß der Robotfabrik zu steuern und zu kontrollieren. Hayes wandte sich seinem Bildschirm zu, auf dem in rascher Folge Tabellen und Maße vorübereilten. Ab und zu berührte er mit den Fingerspitzen ein paar Sensoren seines Terminals, dann hielten die Tabellen an. Hayes überflog sie aufmerksam, ließ sie weiterlaufen oder drückte auf den Knopf Speicher. Dann nahm der Computer die betreffende Tabelle aus der Liste heraus und führte sie dem Speicher zu, aus dem sie abgerufen und direkt an die Fabrik übermittelt wurde. VAX 4000 stellte Güter aller Art her. Die Fabrik wurde mit
verschiedenen Rohstoffen und Herstellungsprogrammen gleichzeitig gefahren. An jedem der zwanzig Ausgänge kam etwas anderes heraus. Ausgang 17 trug über dem Auslaßtor in roter Leuchtschrift den Vermerk: »Schlafkabinen«. Tobier zuckte mit den Schultern, während er die auf der zehn Meter breiten Bandstraße aus der Fabrik rollenden Fertigteile aus Kunststoff und Holz zählte und sorgfältig in eine Liste eintrug. Zwei Frauen und ein Mann in Ferraten‐Uniform, die zur Gruppe siebzehn gehörten, standen links und rechts der Straße und klebten Etiketten auf die Teile. Es waren Markierungen für die Roboter, die am Ende der Straße die Verteilung an die Transportkolonnen leiteten. Die Teile wurden in die verschiedenen Wohnsektoren der SOL transportiert und zügig aufgebaut. Die alten, teilweise verrotteten Einrichtungen aus der Zeit der Krise verschwanden nach und nach, sie machten einem neuen Wohnkomfort, einem höheren Lebensstandard Platz. »Ich habe mich wohl geirrt«, murmelte Tobier beiläufig. Breckcrown Hayes achtete nicht mehr darauf. Er hatte ein Programm herausgefiltert, das ihm zu gefallen schien. Der große und etwas zu breit wirkende Solaner stand bewegungslos vor dem Terminal und verglich seine Auswahl mit den Anforderungen, die Yaal zu Beginn der Inbetriebnahme eingespeichert hatte. Sie stimmten mit einer Ausnahme überein, und Hayes strich diese aus seiner Wunschliste. Dann übermittelte er das Programm an die Fabrik. Eigentlich hätte diese Arbeit von einem Mitglied der SOLAG überwacht werden müssen, aber der einzige Ferrate in der Gruppe verstand von der Fabrikationsanlage so wenig wie Srojach, der Ahlnate, den ein paar dreiste Jungsolaner hinter seinem Rücken frech das »Großmaul« nannten. Breckcrown Hayes fuhr sich über die kurzgeschnittenen, grauen Haare und grinste leicht. Die jüngsten Ereignisse auf Osath und dem Planeten Chail, das Einwirken fremder Roboter auf das
Selbstbewußtsein der Solaner, das alles hatte die festgefahrenen Verhältnisse im Innern des Schiffes in Bewegung gebracht. Die Unterschiede zwischen den Kasten begannen langsam aber sicher zu verschwimmen, Ferraten und Ahlnaten arbeiteten eng mit einfachen Solanern zusammen. Einer der Männer, die sich wesentlich darum bemühten, die Dinge voranzutreiben, war Gavro Yaal. Hayes wußte nicht viel von dem kleinen, unscheinbaren Mann, der von Beruf Kosmobiologe war und die Algenfarmen wieder in Betrieb genommen hatte. Yaal gehörte zu den sagenhaften Schläfern, von denen Hayes schon gehört hatte. Inzwischen hatte er sogar erfahren, was es mit ihnen auf sich hatte. Überhaupt herrscht ein viel größerer Informationsfluß als früher, dachte Hayes. Er hatte jetzt ein paar Minuten Pause, in denen er nichts tun konnte. Der Bildschirm am Terminal hatte sich abgeschaltet, ein paar rote Lämpchen wechselten auf Grün, ein Zeichen dafür, daß der Computer, der die Fabrik steuerte, im Augenblick keine Beanstandungen hatte. »Es hat sich manches verändert, seit dieser Atlan auf dem Schiff ist«, flüsterte Hayes, so daß nur Tobier ihn hörte, weil er gleich neben ihm seinen Standplatz hatte. Jetzt war es an ihm, sich zu wundern. »Ich glaube, es ist das erste Mal, daß du ungeheißen deinen Mund auftust, Breckcrown«, sagte Tobier ironisch. »Entschuldige!« lachte Hayes auf. »Ich wollte dich nicht stören. Aber das Bild dieses Atlan geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich würde mich freuen, ihm eines Tages zu begegnen.« »Über die SOLAG müßtest du es eigentlich schaffen, an ihn heranzukommen«, schlug Tobier vor. Der Blondschopf sah den alten Mann aus blauen Augen ernsthaft an. Hayes war erst zweiundvierzig Jahre alt, sah aber aus wie hundert oder noch mehr. Das Gesicht mit seinen rauhen, gegerbten Zügen war von feinen Fältchen durchzogen. Die gleichmäßig grauen Haare verstärkten den Eindruck noch. Hayes wirkte abgeklärt und erfahren.
»Ich habe mit der SOLAG nichts im Sinn«, erwiderte Breckcrown ernsthaft. »Aber vielleicht bietet sich einmal anderweitig eine Gelegenheit.« Er trat zu Tobier und blickte ihm über die Schulter, beobachtete den Stift, der fast schlafwandlerisch über die Folie eilte und alles festhielt, was aus dem Ausgang in die Halle rollte. Plötzlich aber ließ Tobier den Stift sinken. »Verflucht!« rief er aus, »da ist es schon wieder. Träume ich?« Jetzt sah auch Breckcrown das grelle, zitternde Licht am Fuß der Bandstraße, wo diese aus der Robotfabrik kam. »Nein, du siehst richtig«, sagte er schnell. Mit wenigen Schritten war er an der Treppe der leicht erhöht angebrachten Arbeitsbühne und eilte die drei Stufen auf den Hallenboden hinab. Gebückt lief er an der Bandstraße entlang nach vorn bis zur Mündung. Breckcrown Hayes warf einen Blick hinter die Gummiabdeckung, an der das Band aus dem Ausgang kam. Das Licht dahinter strahlte hell, erlosch jedoch einen Augenblick später. Kopfschüttelnd kehrte der Solaner an seinen Arbeitsplatz zurück. Er lehnte sich gegen das Terminal und stützte den Kopf in die Hände. »Weiß der SOL‐Specht, was das ist«, murmelte er. »Yaal hat mir versichert, die Anlage würde einwandfrei arbeiten. Er hat sie von Hellmut überprüfen lassen.« »Dennoch kann es zum Ausfall mechanischer Teile kommen«, warf Tobier ein. Er winkte den übrigen Mitarbeitern, die es ebenfalls mitbekommen hatten, sie sollten vorerst an ihren Plätzen bleiben. »Die Anlagen waren lange Zeit unbenutzt, und es gibt viele Teile an ihnen, die nicht aus den Ersatzteillagern ergänzt werden können, weil keine Ersatzteile da sind.« VAX 4000 war nur eine von mehreren Fabriken, die in den letzten Tagen und Wochen ihre Tätigkeit aufgenommen hatten. Bisher hatte sie reibungslos funktioniert, aber an anderen Anlagen in der SOL und den SOL‐Zellen hatte es Ausfälle gegeben. Breckcrown Hayes überlegte. Er hatte nicht auf Anhieb feststellen
können, woher das Licht kam. Er hatte auch keinen Geruch festgestellt, wie er entstand, wenn Kabel durchschmorten oder sich Metallteile aneinander rieben und erhitzen. Oder war es gar kein technischer Fehler, der sich am VAX 4000 bemerkbar machte? War es das, was unweigerlich kommen mußte, woran er schon seit Wochen dachte, ohne bei jemandem damit auf Gehör gestoßen zu sein, mit Ausnahme von Tobier? Der Solaner wußte, daß die Rohstoffvorräte der SOL viel zu gering waren, um ein reibungsloses Funktionieren der Fabriken zu gewährleisten. Zwar kannte er die Mengen nicht, die den Robotfabriken in den direkt an sie angeschlossenen Rohstofflagern zur Verfügung standen, aber seine Überlegungen rechneten mit einem anderen Faktor. Über unvorstellbar lange Zeiten – jemand hatte etwas von Jahrhunderten gesagt – waren die Fabriken nicht benutzt worden. Man hatte sie abgeschafft und mit ihnen die Rohstoffe. Wirkte sich das jetzt bereits aus? In Hayes schlug eine Alarmglocke an. Die Zentralsteuerung der Fabrik mußte benachrichtigt werden, die Fabrik mußte abgestellt werden, bis die Ursache des Leuchtens gefunden war. Hastig ließ sich der Solaner mit Srojach, dem Ahlnaten, verbinden. Dieser lehnte jedoch ab. »Alle Funktionen der Anlage stehen auf Grün«, eröffnete er über den Interkom. »Die Anlage läuft weiter, die hergestellten Güter werden dringend benötigt!« Breckcrown schaltete ab und sah Tobier an. Der Kontrolleur zog die Augenbrauen hoch. »Die SOLAG weiß es mal wieder besser«, sagte er laut und mit einer Handbewegung zu dem Ferraten an der Bandstraße. »Dann soll sie es auch haben.« Und leiser fuhr er fort: »Was mich mehr interessiert, was ist ein SOL‐Specht?« »Kein Ahnung«, gestand Hayes. »Nur so eine Redensart. Ich habe sie von einem der Bordmutanten aufgeschnappt, einem Monster namens Achtgolt.«
In diesem Augenblick ließ Tobier seine Folien und den Stift fallen. Mit beiden Händen deutete er auf den schwarzen Schlund des Ausgangs siebzehn, aus dem die Gebrauchsgüter kamen. »Da!« krächzte er heiser. »Es geht schon los!« * Die fünf Menschen in VAX 4000‐17 erstarrten. Aus weit aufgerissenen Augen verfolgten sie, was ihnen aus dem Ausgang der Robotfabrik entgegenkam. Dem Programm nach sollte es ein Paßform‐Einbaubett sein, in genormten Maßen und für den sofortigen Einbau in eine Einzelkabine bestimmt. Es wackelte auf der Bandstraße daher und ließ die Solaner an ihrem Verstand zweifeln. Das Bett war regelrecht eingelaufen und unförmig, als sei es auf einer heißen Herdplatte gelegen und zu einem Klumpen zusammengeschmolzen. Statt der Bohrungen für den Einbau in die Kabine besaß es an den Seitenteilen faustgroße Löcher, und in dem vorgewählten Farbton leuchtete es auch nicht. Vielmehr schien es aus allen vorrätigen Farbkübeln ein wenig erhalten zu haben. »Ein Programmfehler!« schrie der Ferrate und winkte mit seinen Etiketten drohend zu Breckcrown Hayes herüber. Der Solaner winkte ab. »Die Programme sind einwandfrei, sie halten jeder Prüfung stand«, antwortete er ruhig. »Es können keine Fehler auftreten, da die Fabrik von Anfang an eine Dringlichkeitsspeicherung hat, die sie der Reihe nach abruft. Ich gebe lediglich die einzelnen Teile mit ihren unterschiedlichen Maßen und Farben ein.« »Das glaube ich nicht«, zischte der Ferrate aufgebracht. »Ihr wollt die Arbeit der SOLAG sabotieren!« Tobier hob seine Folien auf, legte sie auf einen Tisch und stellte sich an die Treppe. »Glaubt die SOLAG, wir freien Solaner wüßten nicht, daß die
Schiffsführung unseren Aktivitäten mit Mißtrauen begegnet?« fragte er. »Der High Sideryt hat es laut genug gesagt, daß er den unkontrollierten Aufschwung nicht gutheißen kann. Wer hat denn ein Interesse an der Funktionstüchtigkeit der Robotfabriken?« Der Ferrate warf achtlos seine Etiketten zu Boden und verließ die Halle durch einen Personenausgang. Er schritt zum nächsten Antigrav und ließ sich nach oben tragen. Vermutlich suchte er Srojach auf und klagte ihm sein Leid. »Der Faulenzer hätte genauso gut die Treppen benutzen können«, hörte Breckcrown Hayes die Stimme einer der beiden Frauen. Es war Smyrta die Feurige, sie wohnte in derselben Etage wie Hayes, nur wenige Korridore entfernt von seiner Wohnung. Smyrta war alleinstehend wie er auch, doch bisher hatte er nie Gelegenheit gehabt, sie näher kennenzulernen. Die Frau deutete zur linken Seite der Halle hinüber, wo die Wendeltreppe in das nächsthöhere Stockwerk der Fabrik hinaufführte. Vier Stockwerke faßte diese Großetage, weitab von der Hauptzentrale und ganz in der Nähe der Hangars gelegen. Vier Ausgänge hatte die Fabrik auf jedem Stockwerk, das fünfte Stockwerk gehörte bereits zur nächsthöheren Etage. In ihm befand sich das Hauptsteuerpult, von dem aus alle Prozesse der Fabrik gelenkt wurden. Hayes malte sich aus, wie Srojach ratlos vor den roten Warnlichtern stand, ohne ihre Bedeutung zu erfassen. Zwar konnte er an den zugeordneten Schildchen ablesen, wo es Störungen gab, aber was sie hervorrief und wie sie zu beseitigen waren, dazu reichten sein Wissen und seine Ausbildung nicht. Breckcrown starrte auf den Bildschirm seines Terminals, bis er sich erhellte. Das schwammige Gesicht des Ahlnaten erschien. Es leuchtete rot wie die Lämpchen, und seine Augenlider zuckten aufgeregt. »Was ist los bei euch, siebzehn?« fragte er hastig. »In eurem Bereich sind Störungen aufgetreten!«
»Das ist richtig«, antwortete Hayes sachlich. »Ich verweise auf meinen Anruf von vorhin. Die Anlage muß abgeschaltet, der Fehler gesucht werden. Ich kann mir denken, woran es liegt.« Im Gesicht des Ahlnaten spiegelten sich Unglaube und Spott. »Ein einfacher Solaner wie du dürfte kaum die Qualifikation mitbringen, um hinter den Fehler zu kommen«, rief er heftig. »Es muß dieser Kybernetiker her. Oder am besten, Gavro Yaal sieht sich die Sache an. Er kennt sich mit den Robotfabriken aus und wird den Fehler finden, ohne daß die ganze Anlage abgeschaltet werden muß.« »Yaal hält sich meines Wissens gerade in der SZ‐2 auf«, sagte Hayes, ohne sich durch das aufgeregte Gebaren des Bruders der dritten Wertigkeit aus der Ruhe bringen zu lassen. »Und so viel Verständnis von Robotanlagen wird er auch nicht haben. Er hat die Inbetriebnahme organisiert, aber nur mit Hilfe von Spezialisten wie Hellmut ist es ihm gelungen, Erfolge zu erzielen.« »Ich werde Yaal suchen lassen«, verkündete Srojach. Der Ahlnate entfernte sich aus dem Erfassungsbereich der Kamera, ließ jedoch die Bildverbindung bestehen. »Da hast du es«, murrte Tobier. »Die Angehörigen der SOLAG sind von einem widerlichen Standesdünkel besessen. Wenn ich daran denke, daß sie bis vor kurzem die absolute Macht über die SOL ausgeübt haben, wird mir schlecht. Wie wir wissen, ist ja auch nichts dabei herausgekommen.« Breckcrown Hayes nickte zustimmend. Lange hatten die annähernd hunderttausend Solaner an Bord des Schiffes in menschenunwürdigen Verhältnissen gelebt. Sie hatten vor sich hin vegetiert, ohne Aussicht, jemals eine Besserung zu erreichen. Sie hatten die aufgestauten Aggressionen aneinander abgelassen und sich verhalten wie Tiere. Jetzt war vieles anders geworden oder hatte begonnen, sich zu verändern. Die SOLAG war nicht in der Lage, die Entwicklung aufzuhalten, sie war zahlenmäßig zu klein dazu. Nur rund
dreitausendzweihundert Mitglieder hatte diese Organisation, bestehend aus sechs Kasten und dem High Sideryt. Nein, eigentlich sind es nur fünf, korrigierte Hayes sich. Die Brüder der fünften Wertigkeit, die Troiliten, existieren nur der Sage nach. Niemand weiß, ob es sie wirklich gibt. »Es sind deutliche Anzeichen des Zerfalls in der SOLAG«, antwortete er Tobier. »Nur einer eingeschüchterten Masse gegenüber haben die Haematen unter ihren Vystiden Erfolge verzeichnen können. Jetzt ist es für sie ratsamer geworden, nur mit verborgen gehaltenen Waffen durch die SOL zu marschieren. Sie haben nicht mehr viel zu sagen. Die Entscheidungen, die von den Magniden und Deccon getroffen werden, gehen in letzter Zeit immer häufiger direkt an die Betroffenen weiter.« »Der High Sideryt schaltet die SOLAG damit quasi aus!« »Ja, er weiß das. Und er schwankt, wie er sich weiter verhalten soll. Er erkennt die Gefahr, die in einer Entmachtung der SOLAG liegt. Sie würde Atlan den Weg ebnen, und es würde nicht lange dauern, dann wäre der geheimnisvolle Fremde selbst High Sideryt.« »Atlan als High Sideryt?« Tobier schüttelte den Kopf. »Warum nicht. Es hat sich herumgesprochen, daß er zu einer Zeit auf der SOL war, als die Menschen auf ihr noch in Zufriedenheit und Luxus lebten. Atlan ist für viele inzwischen zu einem Begriff für Stabilität und Wohlergehen geworden, während sich mit dem Namen Deccon lediglich eine gewisse Stabilität verbindet.« »Der Aufschwung in den letzten Wochen …« »Er ist den Schläfern zu verdanken. Wer hat die Solfarmen und die Fabriken flottgemacht? Und wer hat die Schläfer geweckt?« In wenigen Sätzen skizzierte Breckcrown Hayes die Lage, wie er sie sah. Im Gegensatz zu Tobier wußte er ein paar Einzelheiten, die nicht zum Allgemeinwissen der Solaner gehörten. »Ich weiß nicht, ob Atlan auf Dauer Erfolg haben wird«, gab Hayes zu. »Er benötigt dringend Freunde, die sich überall in der SOL auskennen.«
Smyrtas Stimme riß sie in die Wirklichkeit zurück. »Geht in Deckung!« schrie die Feurige und zog ihre Kollegin am Ärmel von der Bandstraße weg. Ein Gluckern und Ächzen kam aus der Robotfabrik. Das Scheuern von Gegenständen auf Metall war hörbar. Noch immer lief das Band, es konnte von hier unten auch nicht abgeschaltet werden. Hayes erblickte einen Schatten, der aus dem Ausgang der Fabrik herausschoß. Er riß Tobier mit sich zu Boden und zog ihn hinter die Wand des Terminals. Ein riesiger Klumpen Kunststoffmasse, aus dem man gut zehn Betten hätte machen können, raste wie eine Kanonenkugel aus dem Dunkel heraus quer über das Band, prallte an die gegenüberliegende Wand, wo gerade noch die beiden Frauen gestanden waren, und fiel dampfend zu Boden. Der Geruch nach verbranntem Plastik breitete sich aus. Es rumpelte in dem Teil der Robotfabrik, der in das Stockwerk hereinragte. Ein Dutzend Geschosse kam herausgeflogen und landete gut verteilt in der Halle. Die Roboter am Ende der Bandstraße erstarrten, die Angehörigen der Transportkolonnen zogen sich fluchtartig zurück. Ein Pfeifen erklang, ein Zischen folgte. Ein Schwall eines grünlichen Breis schoß aus dem Ausgang siebzehn und platschte unter häßlichem Schmatzen zu Boden. »Holzmelasse«, hustete Tobier, und Hayes schrie in Richtung des noch immer aktivierten Videofons: »Schaltet doch endlich die Anlage ab, bevor sie explodiert!« Seine Warnung kam zu spät. Ein Donnerschlag dröhnte durch die Robotfabrik, ging in anhaltendes Kreischen über. Der Rahmen des Ausgangs begann sich zu verbiegen. Ein Stück der Verkleidung der riesigen Anlage löste sich und polterte in die Halle hinein, schnitt das laufende Band der Straße mitten entzwei und bohrte sich mit einer scharfen Kante in den Boden. Das abgeschnittene Teil des Bandes schnellte davon wie ein angezogener Gummi und klatschte
knallend gegen ein sich schließendes Tor, hinter dem Menschen standen. Ein Scheppern drang aus der Höhe herab. Irgendwo im Innern der Fabrik gab es Explosionen. Aus dem Videofon kam ein Schrei. Die mächtige Robotmaschine von den Ausmaßen einer ganzen Fabrik begann zu poltern und zu schwanken. Dauernde Vibrationen ließen Boden und Wände erschauern und übertrugen sich auf die Körper der vier Solaner. »Maschine aus!« rief Breckcrown Hayes nochmals, aber es ging im aufkommenden Lärm der Katastrophe unter. Er hörte Tobier neben sich schreien und blickte empor. Aus zwölf Metern Höhe kam die Decke des Stockwerks herunter. * Die Spannungen an Bord übertrugen sich uneingeschränkt auf die Hauptzentrale. Hatten die Magniden angesichts der Gefahr, die ihnen von den Roxharen im Chail‐System drohte, kaum Einigkeit bewiesen, so versuchten sie im Augenblick, ihre unterschiedlichen Ansichten voll durchzusetzen. Chart Deccon wich ihnen wie immer aus. Er hatte keine Lust, sich ihr Gejammer anzuhören. Der High Sideryt zog sich in seine Klause zurück und überlegte, was er als nächsten Schachzug tun könnte. Er hatte ein Problem, das alle anderen überragte, und dieses Problem hieß »Atlan«. Der Arkonide war unversehrt an Bord zurückgekehrt. Er hatte den Planeten Chail ohne Beeinträchtigung verlassen können. Deccon und die Magniden fühlten sich von Atlan enttäuscht, weil sie nicht genau wußten, was auf Chail alles passiert war. Aber das Ergebnis sprach Bände. Und die Ausflüchte, die Atlan brachte, waren eben Ausflüchte, mehr nicht. Warum hatte die SOL die Roxharen nicht endgültig vertrieben? Deccon vergrub sich grübelnd in seinem Sessel. Er stützte das
fleischige Gesicht in die Hände und schloß die Augen. Seit der Arkonide an Bord zurückgekehrt war, wuchs seine Abneigung gegen ihn wieder, und er wünschte sich, Atlan wäre auf Chail geblieben. Andererseits war es das Gebot der Stunde gewesen, auf seine Rückkehr zu warten. »Ich muß den Gesinnungswechsel der Magniden ausnützen, ehe es zu spät ist«, flüsterte Deccon halblaut vor sich hin. »Die Stimmung ist gegen Atlan, kann aber ständig umschlagen.« Der High Sideryt wußte, daß vieles an Bord im Umschwung war. Es war dem Arkoniden zu verdanken, daß es den Solanern langsam besser ging, daß die Farmen und Fabriken wieder arbeiteten und niemand mehr am Hungertuch nagte. Es kam zu Verbrüderungen früher feindlich gesinnter Gruppen, die Aggressionen verschwanden, und Deccon fürchtete, daß die SOL alsbald in einer Woge einschläfernden Wohlstands versinken würde. Diese Gefahr mußte gebannt werden. Und Atlan? Durfte er ihm freie Hand lassen? Chart Deccon erhob sich und ging zur Wand hinüber. Er schaltete alle Bildschirme ein und stellte sich auf einem Schirm eine Gesamtansicht der Hauptleitzentrale her. Atlan war anwesend. Er holte sich die Gestalt des Arkoniden auf einem anderen Schirm heran. Er schaltete auf höchste Vergrößerung, dann zog er sich in seinen Sessel zurück. Seine Augen hefteten sich an dem Arkoniden fest. Deccon beobachtete jede seiner Bewegungen, wie er sich drehte, wendete, wie er gestikulierte, wenn er sprach. Er forschte in seinem Gesicht, folgte mit den Augen den Strähnen der weißen Haare. Atlan war ein Mann, der wußte, was er wollte. Jede seiner Bewegungen drückte Entschlossenheit und Kraft aus. Jedes seiner Worte hatte Gewicht, und doch rannte er im Augenblick gegen eine Wand. Die Magniden zeigten ihm die kalte Schulter, obwohl er formal einer der Ihren war. Atlan sagte gerade:
»Wohin geht der Kurs, den Deccon eingeschlagen hat?« Deccon bewunderte den Doppelsinn der Frage. »Sieh selbst!« sagte Lyta Kunduran knapp und deutete auf die Anzeigen, wo er es ablesen konnte. Atlan trat schweigend hin. »Ein völlig willkürlicher Kurs!« stellte er vielsagend fest. »Deccon scheint nicht zu wissen, was er tun soll!« Gallatan Herts trat vor. Der kleine Magnide lief rot an, wie immer, wenn er sich ereiferte. »Das weiß er besser als du!« schrillte er und stampfte dazu mit dem Fuß auf den Boden. »Ihm wäre das mit den Chailiden nicht passiert!« »Wenn es nur daran liegt«, sagte Atlan mit fester Stimme, »wird sich das Mißverständnis bald aufklären. Ich befürchte jedoch, daß der High Sideryt einer Begegnung mit mir aus dem Weg geht. Warum?« »Er wird dich nicht mehr sehen können«, sagte eine Stimme aus dem Hintergrund. Deccon hatte nur undeutlich gesehen, daß es Nurmer war, der gesprochen hatte. Seine Stimme hatte seltsam unterdrückt geklungen. Chart Deccon fuhr sich über die breiten, dicken Lippen. Es gefiel ihm, daß die Magniden sich ihrer Haut wehrten. Gleichzeitig aber hatte er den unbestimmbaren Eindruck, daß Atlan sie zwar ernst nahm, sich aus ihrer Laune aber nicht viel machte. Verstand er sie als das, als was er sie ab und zu auch ansah? Als unverständige, trotzige Kinder? Je länger er mit Atlan zu tun hatte, desto höher und gefährlicher schätzte er ihn ein. Und fast zu laut für die Übertragungsgeräte sagte er: »Bit, wir führen eine Kursänderung durch!« Die Mikrofone gaben seine Worte dröhnend an die Lautsprecher in der Zentrale durch. »Wohin soll es gehen?« erkundigte Lyta Kunduran sich, während sie Palo Bow winkte, ihr bei der Durchführung zu helfen.
»Es ist völlig egal, nur nicht in die bisherige Richtung!« grollte der High Sideryt mit Grabesstimme. Aus verkniffenen Augen musterte er Atlan, der alles mitbekam. Der Arkonide machte jedoch keine Anstalten zu einer Erwiderung. Unbewegt stand er in der Zentrale und verfolgte, wie die Programmierung erfolgte und das Schiff seinen Kurs änderte. Erst nach einer Weile setzte er sich in Bewegung und ging zum Interkom. Er tastete eine Verbindung und sagte: »Bjo, kannst du in die Zentrale kommen? Ich brauche unbedingt eine Verbindung mit Gavro Yaal. Es gilt verschiedene Dinge zu regeln.« Wütend schaltete Deccon die Übertragung ab. Die Nennung Yaals erinnerte ihn an die anderen Schläfer, die sich ungestört in der SOL bewegen konnten, Hellmut, Sternfeuer und Federspiel. Er wurde sich einmal mehr der Tatsache bewußt, daß es zwei Kräfte gab, die sich derzeit um die Gunst der SOL bemühten. Da waren auf der einen Seite Atlan und seine Erfüllungsgehilfen, auf der anderen er und die Magniden, unterstützt von den übrigen Kasten der SOLAG. Die Sympathien der Solaner schienen zur Zeit teilweise auf Atlans Seite zu liegen. Überall erhielt er Unterstützung, was man von der SOLAG nicht sagen konnte. Da und dort wurden Ferraten verprügelt und entwaffnet, was es früher nicht gegeben hatte. Es waren Dinge, die Chart Deccon einerseits mit Bewunderung erfüllten, weil er in dem aggressiven Verhalten der Solaner entgegen dem faulen Wohlstand eine positive Entwicklung zu einer begeisterungsfähigen Masse zu erkennen glaubte, die steuerbar war, wenn man ihr ein Ziel gab. Andererseits von seinem Amt als High Sideryt aus brachte ihn Atlans Erfolg zur Weißglut. Er mußte gegen den Einfluß des Arkoniden schleunigst etwas unternehmen, und das bei dem unausgesprochenen Stillhalteabkommen, das die beiden bedeutendsten Männer der SOL miteinander abgeschlossen hatten. Mit einem ernsten, tiefen Blick und einem leichten Kopfnicken hatten sie verabredet, zumindest vorerst nicht gegeneinander zu
arbeiten. Die SOL durfte nicht in einen Bürgerkrieg getrieben werden. Das wollte keiner. »Gegeneinander nicht«, murmelte Deccon abweisend. »Aber jeder arbeitet für sich weiter. Und niemand kann es mir verwehren, wenn ich öffentlich darauf hinweise, daß Atlan Fehler gemacht und die SOL in arge Bedrängnis gebracht hat.« Der High Sideryt begann langsam in seiner Klause auf und ab zu gehen. Er arbeitete an einem Plan, wie er die Schiffsführung gegen den Arkoniden stärken konnte. 2. Breckcrown Hayes sah aus den Augenwinkeln, wie Smyrta und ihre Begleiterin durch eine Seitentür aus der Halle entkamen. Für Tobier und ihn jedoch war es zu spät. Der nächste Ausgang war mindestens zwanzig Meter entfernt, und die Tür war durch ein paar Trümmer versperrt, die die Robotfabrik ausgespuckt hatte. Jetzt begann es von der Decke herab Teile zu regnen, die ersten Metallplatten der Deckenverkleidung lösten sich und fielen dem Boden entgegen. Der sichtbare Teil der Robotfabrik wankte und wackelte. »Los!« schrie Hayes und packte Tobier erneut am Arm. Mit ungestümer Kraft riß er den Kontrolleur vom Boden auf und deutete in den hinteren Teil der Halle, wo es ein paar weitere Ausgänge in die anderen Abteilungen gab. Sie rannten die Arbeitsbühne entlang, bis diese endete. Mit einem Satz war Hayes über die Brüstung hinweg auf dem Hallenboden, Tobier folgte ihm auf dem Fuß. Ständig blickten sie nach oben, riefen sich Warnungen zu, dauernd damit rechnend, daß sich ein Teil der Decke über ihnen löste. Die Decke kam. Zuerst in kleinen Stücken, dann in großen Flächen stürzte sie auf die beiden Männer herab, die abrupt stoppten und
dahin zurück rannten, wo sie hergekommen waren. Ein Kasten fiel herab und schlug mit Wucht in den Fußboden ein. Er gehörte zur Einrichtung des Stockwerks über ihnen. »Da oben ist die Hölle los, wir müssen hier weg!« brüllte Tobier, doch Hayes schüttelte den Kopf. »Die da oben sind schlimmer dran als wir«, versuchte er den ohrenbetäubenden Lärm zu übertönen, »sie brauchen unsere Hilfe. Die Decken und Stockwerke sind nachträglich in die Etage eingebaut worden und gehören nicht zum ehemaligen Konstruktionsgerüst der SOL. Wir müssen damit rechnen, daß alle vier Stockwerke einstürzen!« Mit einer schnellen Kopfbewegung orientierte er sich. Inzwischen waren alle direkten Wege zu den Ausgängen durch Trümmer versperrt. Sie mußten bis zu den Türen im Zickzack laufen, sich dabei der Gefahr aussetzend, von scharfkantigen Platten und Stahlteilen getroffen zu werden. Tobier wollte sich auf einem solchen Weg zum Ausgang durchkämpfen, doch Hayes riß ihn zurück. »Da!« Er deutete auf die Wendeltreppe, die nach oben führte und alle Stockwerke miteinander verband. Sie war der direkte Weg nach oben. Die Treppe zitterte wie alles in der Halle und über ihr, doch sie hielt. Die Decke um sie herum war noch unversehrt. »Wir müssen hinauf, das ist unser einziger Ausweg«, sagte Breckcrown Hayes schnell. Er faßte das Geländer und eilte so schnell wie möglich empor. Tobier folgte ihm zögernd erst, dann immer eiliger. Ein Prasseln und Fauchen neben ihm belehrte ihn, daß es höchste Zeit war. Der Boden des nächsthöheren Stockwerks stürzte herab und begrub die Halle und die restlichen Möbelklumpen unter sich. Hayes erreichte nach sechsundsiebzig Stufen das Bodenluk, das die Fortsetzung der Treppe nach oben verschloß. Zu seiner Erleichterung öffnete es sich ohne Schwierigkeiten. Er stieg
hindurch und sah sich um. Nicht weit entfernt endete der Stahlfußboden aus einer vierfachen Schicht aus Stahlrippen und Trägern, die fest in den Seitenwänden verankert und normalerweise freitragend waren. Auf eine derartige, durchgehende Erschütterung waren sie jedoch nicht vorbereitet. Nur wenige Teile des Stockwerks waren noch erhalten. Menschen hielten sich hier nicht mehr auf. Hayes sah empor und erkannte, daß das nächste Stockwerk nicht besser aussah. Seine Teile stürzten bis nach unten durch, und der Solaner dankte allen Erbauern, daß wenigstens der Boden der Etage so stabil war, daß ihm der Einbruch nichts ausmachte. Trotzdem war die Zerstörung unermeßlich. Die Fabrik konnten sie abschreiben, da gab es nichts mehr zu reparieren. Hayes sah die rauchenden Löcher und hörte den Lärm, der aus ihrem Innern kam. Schwere Explosionen fanden dort statt, es konnte sich nur um Minuten handeln, bis sie vollständig auseinanderplatzte und großes Unheil in der SOL anrichtete. »Bis dahin müssen wir weg sein«, keuchte er, doch Tobier verstand ihn nicht. Ängstlich und mit weit geöffneten Augen schaute er um sich. »Weiter!« rief Breckcrown und deutete auf die Fortsetzung der Treppe. Sie legten die nächsten beiden Stockwerke ohne Hindernis zurück. Der Lärm aus der Fabrik wurde geringer, man schien sie endlich abgestellt zu haben. Erleichtert blieben sie stehen, doch die Fortsetzung der Treppe hinauf zur nächsthöheren Ebene in den Bereich, in dem die Steuerung und das Oberteil der Fabrik lagen, wurde zu einem Spießrutenlauf für die beiden Männer. Das Material der Treppe war glühendheiß, und die Treppe schwankte wie im Sturm. Mit blasenüberdeckten Händen und Unterarmen erreichten sie den Durchstieg. Sie kletterten durch eine stabile Decke und waren erleichtert. Sie hatten es geschafft, sie waren gerettet. Breckcrown Hayes holte tief Luft und stieß das Luk zur
dreizehnten Etage auf. Hinter ihm stöhnte Tobier auf. * Gavro Yaal erhob sich hinter dem Steuerpult und nickte der Frau zu. Die blonden Haare hingen ihm wirr in die Stirn, das pausbäckige Gesicht war hochrot und paßte gut zu dem zur Korpulenz neigenden Körper. Dreiundsechzig Jahre alt war der Schläfer, und sein Kreislauf schien nicht gerade stabil zu sein. Yaal strich sich mit zwei Fingern die fleischige Nase entlang, drückte sie ein wenig nach unten und seufzte. »Exitus!« sagte er unglücklich. »Da tut sich nichts mehr. Die Maschine hat ihren Geist aufgegeben!« Langsam schritt er auf die Frau zu, die den kleingewachsenen, etwas schüchtern wirkenden Mann um einen guten Kopf überragte. »Es tut mir leid, es steht nicht in meiner Macht, es zu ändern«, murmelte er. Jetzt lösten sich die zwei Ferraten, die wie die Frau schlichte Uniformen trugen, von der Tür, von der aus sie Yaals Maßnahmen beobachtet hatten. Mit bissigen Gesichtern schlossen sie zu ihrer Kameradin auf. »Was bedeutet das für uns?« fragte die Frau, die Yaal unter dem Namen Brisbam kannte. Die Namen der beiden Männer wußte er nicht. »Es bedeutet, daß diese Fabrik keine Kleider mehr herstellen wird, daß sie überhaupt nicht mehr arbeitet. Sie ist kaputt. Eine Wiederherstellung wird mit den derzeitigen Mitteln Jahre dauern.« »Und woran liegt es?« fragte die Frau leise. »Wer ist dafür verantwortlich?« »Die Anlage ist defekt, weil die Rohstoffkontrolle ausgefallen ist oder außer Betrieb war«, erläuterte Yaal. Er deutete auf ein
Diagramm an der Wand, wo der Weg der Rohstoffe bis zu den Endprodukten schematisch aufgezeichnet war. »Hier!« erklärte er. »Niemand hat gemerkt, daß die Kammern, aus denen die Fabrik das Rohmaterial für die Fertigung bezieht, leer sind. Es herrscht buchstäblich Vakuum in ihnen. Damit ist auch die Schuldfrage geklärt.« Die Ferraten sahen ihn verständnislos an. »Es ist Aufgabe der Pyrriden, Planeten anzufliegen und Rohstoffe herbeizuschaffen, damit alle Anlagen in der SOL fehlerlos funktionieren.« »Die Anlagen waren lange außer Betrieb, es ist nicht die Schuld der Pyrriden, daß jetzt die Rohstoffe fehlen!« rief die Frau. »Sicher nicht«, gab Yaal zu. »Es ist die Schuld der SOL‐Führung, daß vergessen wurde, diesen Gesichtspunkt zu berücksichtigen. Der High Sideryt hat es unterlassen, weil er in der Inbetriebnahme der Robotfabriken eine Gefahr für die SOL sieht. Vielleicht hat er sogar mit Absicht …« »Genug!« schrie Brisbam aufgebracht. »Es fehlt noch, daß du den High Sideryt beleidigst! Deccon hat genug zu tun, und er hat immer das Wohl des Schiffes im Auge. Das darfst du nicht vergessen!« »Ich vergesse es auch nicht«, beschwichtigte Yaal die Frau. Er hatte keine Lust, wegen seiner Äußerungen eingesperrt zu werden. Es gab wichtige Dinge für ihn zu tun. Weitere Fabriken mußten aktiviert werden, zusätzlich mußten jetzt Gruppen gebildet werden, die die Rohstoffkammern und die Lagerhallen überprüften, damit es nicht zu einer Katastrophe kam. »Also gut«, fuhr Yaal fort, »es ist vergessen worden, an Rohstoffe zu denken. Das bedeutet, daß es schleunigst nachgeholt werden muß. Niemand weiß, was die Solaner tun, wenn sie den Eindruck erhalten, als wolle der High Sideryt sie um ihren neu erworbenen Wohlstand bringen. Sie könnten gefährlich werden.« »Wir haben die SOLAG, und sie ist bewaffnet!« sagte einer der beiden Männer stolz. Viel Verstand schien er nicht zu besitzen, und
Yaal wies ihn auch darauf hin. »Soll ich dir eine Wahrscheinlichkeitsrechnung aufmachen, wie lange die dreitausend Mitglieder der SOLAG gegenüber neunzigtausend Solaner aller Art bestehen, wenn es zu einer Revolution an Bord kommt?« fragte er nüchtern. Der Ferrate hatte keine Antwort darauf. Er zog sich ein wenig vor Yaal zurück und griff an den Kolben seiner Waffe. Erst nach einer Weile hatte er die Worte verarbeitet und fluchte. »Ihr seht, es ist das Gebot der Stunde, die Schiffsführung auf diesen Umstand hinzuweisen. Es muß sofort geschehen, und es genügt, wenn ich es tue. Ihr könnt solange hier bleiben und darauf aufpassen, daß sich niemand der Anlage nähert.« »Den Teufel werden wir tun!« rief Brisbam. In ihren Augen glomm ein Feuer der Begeisterung. Yaal konnte ungefähr nachvollziehen, was sie dachte. Sie wollte sich mit einer Meldung bei einem Ahlnaten beliebt machen. Yaal deutete auf den Ausgang, wo ein paar Solaner die Köpfe hereinstreckten. »Geht zu eurem Ahlnaten, der euch befehligt«, sagte er freundlich. »Aber beeilt euch, sonst platzt die SOL noch auseinander!« Die Köpfe der Menschen verschwanden erschreckt aus dem Türrahmen. Die Ferraten zögerten kurz, dann verließen sie entschlossen den Raum, um ihrem Befehlshaber Mitteilung zu machen. »Yaal fordert die Schiffsführung auf, sofort Rohstoffe einzuholen«, würden sie sagen. Auf das »auffordern« würden sie besonderes Gewicht legen, denn sie waren nicht seine Freunde. Gavro Yaal blickte ihnen lächelnd nach. Ihm war es egal, was sie sagten und wie sie es sagten. Seit seiner Rückkehr an Bord gab es für ihn nur eines. Und das war die Wiederherstellung der alten, ihm gewohnten Zustände in diesem Schiff. Yaal führte seinen einmal begonnenen Lebensweg fort. Bis zu seiner Einschläferung durch Cleton Weisel hatte er einzig und allein
für die Selbständigkeit der SOL gekämpft, für eine neue Menschheit, die sich Solaner nannte. Nach seinem Erwachen hatte er feststellen müssen, daß die Entwicklung in eine falsche Richtung gegangen war. Was war es, was ihn trieb? Schuldgefühle? Das Bewußtsein, mit seinem eigenen Handeln mit zu den katastrophalen Zuständen beigetragen zu haben? Oder was sonst? Der kleine Mann wußte es selbst nicht einmal genau. Er folgte dem Gebot der Stunde, und manchmal sehnte er sich nach seiner Gitarre zurück, die er früher einmal besessen hatte. Sie war unwiederbringlich verloren, er konnte sich nicht vorstellen, daß jemand sie aufbewahrt hatte. Oft hatte sie ihn abgelenkt, wenn er persönliche Enttäuschungen hatte verkraften müssen. Enttäuschungen im Ringen um die Freiheit der SOL und der Solaner. Im Ringen mit Perry Rhodan und mit Atlan. Jetzt war der Arkonide wieder an Bord. Auch er kämpfte um bessere Zustände, aber waren seine Ziele dieselben wie Yaals Ziele? Der Kosmobiologe und Hydrokultur‐Former glaubte es nicht. Er ahnte nur, daß Atlan wesentlich konkretere Ziele vor Augen hatte, weitsichtiger angelegt als seine eigenen im Augenblick. Gavro Yaal war ein Suchender. Er glaubte, für einige Zeit seine Aufgaben gefunden zu haben. Was danach kam, wußte er nicht. Er besaß nicht einmal den Wunsch, jetzt in diesem Augenblick daran zu denken, wo sein Leben eines Tages enden würde. * »O nein!« stöhnte Tobier, »nicht auch das noch!« Dicht gefolgt von seinem Gefährten schwang Breckcrown Hayes sich aus der Schachtmündung, in der die Wendeltreppe endete. Vor ihm erstreckte sich eine kleine Halle von zweihundert Quadratmetern, in der die Steueranlagen der Robotfabrik
untergebracht waren. Ringsum an den Wänden waren Schalttafeln, Bildschirme und Codegeber untergebracht, über denen in Gruppen zu fünfzig Stück Kontrollichter leuchteten. Mehrere tausend Stück. Die Halle war in das rote Licht der Warnlampen getaucht. Kein einziges Lämpchen leuchtete mehr grün, aus den Lautsprechern tönte das von Wackelkontakten gestörte Wimmern einer Sirene. Es hörte sich wie das Schluchzen eines Kindes an. Es war heiß in diesem Raum, und weit und breit konnte Hayes keine Menschenseele erblicken. »Wo ist der Ahlnate?« fragte Tobier plötzlich. »Warum kümmert er sich nicht um das verfluchte Ding?« Breckcrown Hayes musterte die Schaltanlagen. Sie machten einen unberührten Eindruck. Soweit sie noch intakt waren, summten die unter Strom stehenden Widerstände der Kleinsttransformatoren gleichmäßig vor sich hin. Das sah dem Ahlnaten ähnlich! Aus Angst und Panik hatte er die Flucht ergriffen! Die beiden Solaner spürten die aufkommende Hitze in ihrem Rücken. Der schildkrötenrückenähnliche Oberteil der Robotfabrik, der hoch in die dreizehnte Etage hineinragte, strahlte fürchterliche Hitze ab, die sogar durch das geschlossene Schott in den Steuerraum drang. Breckcrown Hayes fuhr herum. Er rannte auf das Schott zu, öffnete es. Eine Hitzewelle ließ ihn zurückfahren. Die Robotfabrik entfaltete mörderische Gewalten, und in das Knirschen und Ächzen der Anlage hinein hörte Hayes das leise Wimmern menschlicher Stimmen. Der Solaner rannte zu den Schaltanlagen zurück. »Versuche, ob du durch die Tür etwas erkennen kannst!« rief er Tobier zu. Und zu sich selbst sagte er: »Breckcrown, nun zeige, was du kannst!« Er beugte sich über die Kontrollen und musterte die Anzeigen. Eine Hitzewelle nach der anderen flutete in die kleine Steuerhalle
hinein und drohte die beiden Männer zu ersticken. Die Luft war trocken wie Papier. Breckcrown Hayes war kein Spezialist, aber er hatte in den zweiundvierzig Jahren seines Lebens mehr gelernt als andere seiner Altersgenossen. Verantwortlich für seinen Lerneifer war hauptsächlich sein Aussehen. Er ahnte, daß er von einer Krankheit befallen war, die ihm kein Arzt nennen konnte. Er alterte ungewöhnlich rasch, und seinem Aussehen eines Hundertjährigen hatte er es zu verdanken, daß er für die leichte Arbeit in der Robotfabrik eingeteilt worden war. Der junge Mann mit dem alten Körper kannte sich auf den meisten Gebieten aus, so daß er vom Solfarmer bis zum Piloten fast jede Funktion ausfüllen konnte. Jetzt stand er vor der Steueranlage und dachte nach. Seine Gedanken jagten sich, versuchten die richtigen Schritte zu erfassen, die eingeleitet werden mußten, wenn es nicht zu einer umfassenden Katastrophe innerhalb des Schiffes kommen sollte. Hayes handelte. Fast mechanisch glitten seine Finger über die Sensorleisten, legten seine Hände Hebel um. Klappen in den Wänden öffneten sich, eine Notbelüftungsanlage nahm ihren Betrieb auf. Die heiße Luft wurde abgesaugt, Frischluft in den Raum gepumpt. Der Solaner atmete auf. Auf einem der Bildschirme leuchtete eine Schrift auf. LÖSCHANLAGEN AKTIVIERT. LÖSCHGRUPPEN UNTERWEGS! Wieder betätigte Hayes ein paar Sensoren, eilte zur gegenüberliegenden Wand, aktivierte dort einen Bildschirm. Die Übertragung war gestört, dennoch konnte er entziffern, was geschah. Die Automatik meldete, daß die Kraftwerke der Robotfabrik abgeschaltet worden waren. Dennoch leuchteten bis auf wenige Ausnahmen alle Lampen rot, und durch das offene Schott drang das Getöse eines Gewitters herein, unterbrochen vom dumpfen Knall mehrerer Explosionen.
Tobier eilte herbei. »Solaner!« schrie er. »Zwischen der Fabrik und einem der Ausgänge sind Solaner in der glühenden Hölle gefangen!« »Das Wimmern!« flüsterte Hayes geistesabwesend, während er weitere Rettungsautomaten in Betrieb setzte. »Ich muß hinein!« »Du bist verrückt!« stammelte der Kontrolleur. »Laß uns hier verschwinden, bevor es uns ans Leben geht!« »Warte hier!« sagte Breckcrown Hayes nur, dann stürmte er los. Die automatischen Löschanlagen hatten ihre Tätigkeit bereits aufgenommen, doch von den menschlichen Helfern sah er nichts. Aus Dutzenden von Düsen ergoß sich Löschschaum in den Teil der dreizehnten Etage, in dem die Spitze des Fabrikbergs aufragte. Der Schaum erzielte noch keine Wirkung, hatte keinen Einfluß auf die Vorgänge im Innern der Fabrik. Erst später, wenn die ganze Halle mit Löschmitteln geflutet war, würden sie auch in das Innere der Anlage vordringen, deren interne Sicherheitsautomaten nicht mehr arbeiteten. Breckcrown Hayes rannte dem Wimmern nach. Im Zickzack zwischen den Schaumstrahlen hindurcheilend, näherte er sich dem ersten Bogen des Ungetüms, das sich gefährlich vor ihm ausbreitete. Die Anlage dünkte ihm wie ein träges, alles verschlingendes Ungeheuer und jagte ihm ein wenig Angst ein. Dann sah Hayes die Solaner. Sie drängten sich in einer Nische zwischen den aufragenden Stahlwänden der Fabrik und einem Ausgang, dessen Tür halb geöffnet und verbeult war. Dazwischen lagen mehrere rauchende Metallberge, und von einem aus der Höhe langsam herabrutschenden Vierkantträger tropfte in kleinen Rinnsalen flüssiges Metall. Es schnitt den verängstigten Menschen den Weg ab. Hayes ging so nah wie möglich heran und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. »Ich helfe euch!« rief er in das Donnern hinein, das aus der Höhe der Rundung kam, die den oberen Abschluß der Fabrik bildete,
etwa dreißig Meter über ihm lag und nicht eingesehen werden konnte. Er sah nur den Stahlträger, der noch immer rutschte und irgendwann herabfallen und die Menschen unter sich begraben würde. Breckcrown Hayes begann hin und her zu laufen. Aber so eifrig er nach einer Möglichkeit zur Rettung Ausschau hielt, er fand keine. Die Solaner, mehrere von ihnen schienen Ferratenuniformen zu tragen, sahen einen alten Mann, der sich um Rettung bemühte und sie nicht fand. Einer rief ihm etwas zu. Es klang wie: »Bring dich in Sicherheit, Alter. Uns ist nicht zu helfen!« War es die Stimme Srojachs, des Ahlnaten? Nein, dachte Hayes, der Feigling hat sich bestimmt schon in Sicherheit gebracht. Hinter Breckcrown stimmte etwas nicht. Der Solaner drehte sich um. Dann fiel es ihm auf. Gerade an dieser Stelle arbeiteten die in den Wänden eingebauten Löschgeräte nicht. Die Wand war an mehreren Stellen verbeult, von wildgewordenen Metallteilen beschädigt. Zwei oder drei Klappen, hinter denen sich Löschgeräte verbargen, klemmten. Hayes rannte hinüber zur Wand. Er konnte die Klappen gerade noch mit den Händen erreichen, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte. Die ersten beiden klemmten zu stark, er konnte sie nicht öffnen. Bei der dritten klappte es. Sie öffnete sich, die Düse nahm ihre Arbeit auf, und ein dicker Strahl schoß ihm entgegen und riß ihn zu Boden. Der Solaner knirschte mit den Zähnen. »Tobier!« brüllte er, so laut er konnte. Der Schatten des Kontrolleurs tauchte neben ihm auf. »Hilf mir!« knirschte Hayes. Er ließ sich von ihm emporheben und packte die Düse mit der rechten Hand. Mit der Linken wehrte er den ziellos nach unten gerichteten Strahl ab. Dann bog er die Düse so weit nach oben, daß sie das Löschmittel in hohem Bogen hinüber zu den rauchenden Metalltrümmern warf, die die Solaner
eingeschlossen hatten. »Gut«, keuchte er. Tobier ließ ihn zu Boden gleiten. Sie rannten hinüber zu der Gruppe. »Wartet kurz, bis sich die Trümmer ein wenig abgekühlt haben«, rief er ihnen zu, während er sich mit dem Hemd den Schweiß aus dem Gesicht wischte. Noch dampften die Metallteile, aber Tobier winkte. Die Solaner begannen vorsichtig aus der Nische herauszuklettern. Sie hatten Mühe, sich aufrecht zu halten. Einer stürzte auf die Trümmer und schrie auf. Seine Begleiter zogen ihn hoch und führten ihn voran. Immer mehr kamen, Hayes zählte achtzehn Stück. Alle trugen sie Ferratenkleidung. »Es arbeiten mehr Ferraten in der Fabrik, als ich dachte!« sagte Tobier neben ihm. Er deutete auf die Metallberge. Dort wankte eine Gestalt, die nicht die schlichte Uniform eines Ferraten trug. Sie war in ein langfallendes, hellblaues Gewand gekleidet, auf der linken Brustseite leuchtete bronzen ein Atomsymbol. »Srojach!« rief Breckcrown Hayes. Gleichzeitig aber stieß er einen Warnschrei aus. Der Metallträger über der Gruppe neigte sich immer mehr abwärts. Flüssiges Metall rann immer schneller auf den Hallenboden hinab, verfolgte die Flüchtenden mit seiner Spur. Der Ahlnate beeilte sich, stürzte. Mit zerrissenem Gewand kam er wieder hoch, taumelte vorwärts. Der Träger neigte sich, rutschte herab. Mit seinem spitzen Ende bohrte er sich in den Hallenboden. Tobier riß Hayes am Ärmel, doch der Solaner stand wie ein Fels. Er wich nicht von der Stelle, die Augen wie hypnotisierend auf die tonnenschwere Metallstange gerichtet. Der Träger stürzte. Wie ein von übermächtiger Hand geführter Hammer kippte er seitwärts in die Halle hinein, verschonte die kleine Gruppe, die sich eng zusammendrängte. In den Lärm, den er
verursachte, hinein, sagte aus den Lautsprechern an den Wänden eine freundliche, leicht verzerrt klingende Stimme: »SENECA spricht. Die Fabrik VAX 4000 ist umgehend zu verlassen. Die Anlage wird vakuumgeflutet, um größere Schäden zu vermeiden!« Breckcrown Hayes lauschte. SENECA hatte sich eingeschaltet. Warum das? War die Gefahr so groß, daß das Schiff bedroht war? Nein, das glaubte er nicht. Hatte es damit zu tun, daß eine wichtige Person unter den Beteiligten war? Hayes sah den Ahlnaten an. War Srojach wirklich eine so bedeutende Persönlichkeit? »Kommt!« sagte er entschlossen. Durch den bereits kniehohen Löschschaum wateten sie zu dem halb offenen Ausgang. Sie zwängten sich hindurch, und Srojach zählte seine Begleiter. Im Laufschritt eilten sie den Korridor entlang bis zur nächsten Abzweigung. Nochmals wiederholte SENECA seine Durchsage. Mit erhöhtem Tempo entfernten sie sich vom Ort des Unglücks. Als hinter ihnen mehrere Sicherheitsschotte in den Boden fielen, wußten sie, daß sie es geschafft hatten. »Puh«, machte der Ahlnate, »da hat SENECA sich gehörig angestrengt. Wir haben es geschafft!« Und hochnäsig sagte er zu Hayes und Tobier: »Ihr habt euer Leben fahrlässig aufs Spiel gesetzt!« »Moment!« sagte Hayes. »Wir haben versucht, die Fabrik zu retten, bevor sie das Schiff gefährden konnte. Und wir haben euch aus einer ausweglosen Lage befreit!« »Ich weiß, Breckcrown Hayes«, sagte Srojach ironisch. »Und man wird sich zu gegebener Zeit an deine Heldentat erinnern! Zunächst aber ist es meine Aufgabe, Meldung zu machen!« Er wandte sich um und zog mit seinen Ferraten davon. »Was ist das nur für ein Mensch!« rief Tobier unterdrückt aus. Breckcrown Hayes antwortete nicht. Stumm sah er den Davonziehenden nach.
3. »Was willst du, Atlan?« Gavro Yaal und der Arkonide saßen sich in Atlans Kabine gegenüber, die wie die Kabinen der Schläfer in der Nähe der Zentrale lag. Auch sie hatte die Einrichtung einer Magniden‐ Wohnung. Yaals Augen versprühten Ungeduld, deutlich war an seinem Gesicht abzulesen, daß er etwas auf dem Herzen hatte und nicht nur gekommen war, weil Atlan ihn rief. »Bjo hat zur Zeit keinen Kontakt zu Sternfeuer und Federspiel«, teilte der Arkonide dem Kosmobiologen mit. »Sie halten sich irgendwo in einem Versteck der Basiskämpfer auf. Ich brauche dringend den Kontakt zu ihnen.« »Und du hoffst, ich könnte dir helfen!« rief Yaal aus. »Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich um zwei Ausreißer zu kümmern.« »Du kommst am weitesten im Schiff herum und könntest wissen, wo sie sich derzeit aufhalten«, sagte Atlan. »Deshalb habe ich Bjo zu dir geschickt.« Yaal lehnte sich im Sessel zurück, den der Arkonide ihm angeboten hatte. Er spreizte die Hände und musterte seine Fingernägel. »Ich kenne die Situation und weiß, daß du dich in keiner beneidenswerten Lage befindest«, sagte er langsam, die Augen gesenkt. »Du hast vieles von dem verschwiegen, was auf Chail vorgefallen ist. Deccon hat Grund, dir zu mißtrauen.« Er sah auf. »Aber das ist es nicht allein. Es hat ein Kampf begonnen zwischen dir und dem High Sideryt, eine Art persönlicher Zweikampf. Ihr belauert einander und wartet nur darauf, daß der andere sich eine Blöße gibt.« »Es ist überspitzt formuliert, wie du es sagst. Es trifft nicht den
Kern der Sache. Deccon und ich wissen, daß wir an einem Strang ziehen müssen, wenn es um die SOL geht. Du weißt, das Ziel, das ich ihm genannt habe, ist wichtig. Nur über den Weg, der zu diesem Ziel führt, sind wir uns nicht einig. Noch nicht.« »Zuviel Optimismus in einem Schiff, in dem eine Krise die andere jagt.« Yaal sah Atlan vielsagend an, der Arkonide aber schwieg. Lag es wirklich nur an dem Mißtrauen, das Deccon ihm persönlich entgegenbrachte? Als er nach der Rückkehr von Chail die Zentrale betreten hatte, war ihm die Verachtung wie eine Schwade giftigen Nebels ins Gesicht geschlagen. Die Magniden und der High Sideryt bezeichneten ihn als Versager, weil die SOL einer Flucht ähnlich das Guel‐System verlassen hatte. Atlan war nicht in der Lage, darauf zu reagieren. Der geistige Faktor, der als unbekannte Macht im Hintergrund die Geschehnisse auf Chail beherrscht hatte, lauerte irgendwo. Und hinter ihm stand eine übergeordnete Macht, deren Mittel und Wege nicht bekannt waren. Sie konnte jeden Augenblick zuschlagen. Atlan behielt dieses Wissen für sich. Es war zu früh, damit an die Öffentlichkeit zu treten. In der jetzigen Situation hätte ein solches Unterfangen wie eine nachträgliche Rechtfertigung ausgesehen. Niemand, schon gar nicht die Magniden, hätten ihm geglaubt. Die Worte des Roboters Y´Man fielen ihm wieder ein. Dieser hatte geglaubt, daß die SOL auf irgendeine Weise nach Chail gelenkt worden war, um auf die Roxharen und den geistigen Faktor einzuwirken. Die SOL als Spielball übergeordneter Mächte – Atlan fröstelte beim ersten Gedanken daran, dann aber beschäftigte sich sein Verstand mit dem, was er von den Kosmokraten erfahren hatte, das wenige, das mit seiner Mission zu tun hatte. Es verwirrte ihn noch mehr. »Was wäre, wenn ich eine Möglichkeit wüßte, wie du dir einen Vorteil gegenüber Deccon verschaffen könntest?« fragte Gavro Yaal unvermittelt. Atlan horchte auf.
»Du verheimlichst mir etwas«, stellte er fest. »Die SOL hat eine neue Krise, und sie muß schnell beseitigt werden«, begann Yaal. »Wir nehmen eine Robotfabrik nach der anderen in Betrieb, doch die Anlagen arbeiten nicht lange, dann fallen sie aus, weil es an Rohstoffen mangelt. Die SOL hat keine Rohmaterialien mehr an Bord und muß dringend ein Sonnensystem anfliegen!« »Deccon wird es nicht dulden!« sagte Atlan laut. »Er hat erst vor ein paar Stunden wieder den Kurs ändern lassen, um mich zu ärgern. Er läßt mich mit jedem seiner Worte und Handlungen spüren, daß er der Kommandant ist und ihm niemand in die Schiffsführung hineinreden kann.« »Er hat keine andere Wahl, als zuzustimmen«, behauptete Yaal. »Hier im Mittelteil wäre es beinahe zu einer Katastrophe gekommen, hätte nicht SENECA sich eingeschaltet. Eine der Robotfabriken ist total zerstört. Ein Programmfehler und mangelnder Rohstoffnachschub haben zur Selbstzerstörung der Anlage geführt. Ein Mann namens Breckcrown Hayes hat das Schlimmste verhindert und bei seinen Nachforschungen die Ursachen festgestellt.« »Ich weiß, du befürchtest einen neuen Konflikt mit Deccon«, fuhr Yaal fort. »Ich glaube nicht daran, aber er sollte in Kauf genommen werden. Es fehlt bei den Rohstoffen vor allem an organischer Grundsubstanz wie Holz und Zellulose, aber auch an anorganischen Verbindungen. Sie müssen so schnell wie möglich herbeigeschafft werden.« Atlan dachte wieder nach. Die SOL flog ziellos irgendwohin, und niemand konnte sagen, wie weit sie vom nächsten Sonnensystem entfernt war. Mit Sicherheit gab es Schwierigkeiten mit dem High Sideryt, wenn er ihm eine Kursänderung vorschlug. Der High Sideryt hat keine andere Wahl! meldete sich sein Extrasinn und bestätigte, was Yaal bereits geäußert hatte. »Also gut«, antwortete Atlan, »ich werde mit ihm sprechen. Ich
werde versuchen, ihn von der Notwendigkeit eines neuen Aufenthalts zu überzeugen, ohne daß dadurch die Spannungen an Bord weiter vergrößert werden.« Gavro Yaal stand bei diesen Worten schon unter der Tür. »Ich danke dir«, rief er über die Schulter zurück. »Ich werde mit meiner Arbeit weitermachen.« »Hellmut unterstützt dich gern«, sagte Atlan, aber da war Yaal schon draußen. * Alle waren sie da. Erwartungsvoll standen sie in der Hauptzentrale im Mittelteil der SOL und warteten darauf, daß er sprach. Um sie herum standen an den freien Teilen der Wände wie leblose Puppen die Roboter der Wachgarde. Chart Deccon ließ die Menschen warten. Unter leicht gesenkten Lidern beobachtete er sie. Seine tief in ihren Höhlen liegenden Augen waren kaum zu erkennen. Der High Sideryt betrachtete die Magniden. Sie standen in einer Traube zusammen, Traditionalisten und Fortschrittliche bunt durcheinander. Ihr Abstand zu den anderen betrug gut zwanzig Meter. Die anderen, das waren Atlan, Joscan Hellmut, Bjo Breiskoll. Gavro Yaal fehlte, von ihm wußte Deccon, daß er sich irgendwo im Schiff in einer Robotanlage verkrochen hatte, die mit einer der hydroponischen Anlagen gekoppelt war. Eine wahre Seuche hatte die Schiffsbewohner ergriffen. Sie befaßten sich mit Dingen, die früher einzig und allein den Rostjägern vorbehalten gewesen waren. Jetzt waren es Solaner, die für Ordnung sorgten, die Reparaturen durchführten, die an den Verteilerstellen der Nahrungsdepots die Aufsicht führten. Vielerorts vermischten sie sich mit den Angehörigen der SOLAG, arbeiteten
mit ihnen zusammen. Es gab Ferraten, die ihnen gegenüber als Ahlnaten fungierten, die ihnen technisches Wissen beibrachten, das die SOLAG früher für sich allein beansprucht hatte. Das und anderes war es, was Chart Deccon Kopfzerbrechen bereitete. Eine Entwicklung hatte eingesetzt, die die so mühsam aufgebaute Hierarchie langsam zersetzte, die Aufgaben und die Verantwortung umschichtete. Mit dem steigenden Wohlstand kam ein größeres Bedürfnis an Organisation, das die SOLAG mit ihren wenigen Angehörigen nicht mehr bewältigen konnte. Die Masse der Solaner griff zur Selbsthilfe, und wo diese nicht möglich war, wurde die SOLAG teilweise gegen ihren Willen als Unterstützung eingesetzt. Deccon dachte an die zahlreichen Anrufe, die dauernd in der Zentrale eingingen. Sie stammten von verwirrten Haematen oder Ahlnaten, die sich über die Rangordnung nicht mehr im klaren waren. Mit der neuen Welle der Freizügigkeit waren viele Erscheinungen aufgetreten, für die es keine vorbereiteten Rezepte gab. Vystiden fühlten sich plötzlich nicht zuständig, Ahlnaten übernahmen ihre Aufgaben, Pyrriden berichteten von merkwürdigen Vorgängen in den Wohnbereichen. Wir sind durch den Aufschwung in eine Zwangslage geraten, dachte Deccon unzufrieden. Wo ist der Ausweg? Zunächst war die Lage nicht klar ab zusehen gewesen. Inzwischen gab es keine Unklarheit mehr, wie sie sich darstellte, und der High Sideryt erinnerte sich wehmütig an jene Zeit, da es keine arbeitenden Robotfabriken und keine hydroponischen Anlagen gegeben hatte. Je weniger Rohstoffe verbraucht wurden, desto weniger mußte das Schiff Planeten anfliegen und Rohstoffe aufnehmen. Und das, wußte Deccon mit absoluter Sicherheit, kam den Zielen der Solaner und ihrer fliegenden Heimat am besten entgegen. Deccon seufzte. Schon zweimal, seit Atlan unter mysteriösen Umständen an Bord gekommen war, war das Schiff in die
Geschehnisse um einen Planeten verwickelt worden, hatten Solaner ihren Fuß auf die Oberfläche einer Welt setzen müssen. Da war der Zugstrahl und der Planet Mausefalle VII gewesen. Da war Chail mit den Chailiden und den Roxharen, die der SOL zu schaffen gemacht hatten. Und jetzt? Von mehreren Stellen der SOL aus waren gleichzeitig Meldungen eingetroffen, die von Ausfällen und mangelnden Rohstoffen für die Fertigung der einzelnen Anlagen berichteten. Die Versorgung mit Nahrung, Kleidung und anderen Dingen, die die Solaner bisher entbehrt hatten, setzte aus. Das führte zu Auseinandersetzungen mit den Mitgliedern der SOLAG. Wo freie Solaner und Ferraten bisher nebeneinander gearbeitet hatten, herrschte jetzt Unfrieden. Vereinzelt kam es zu Tätlichkeiten, und der Ruf nach einer Beseitigung der Mißstände wurde immer lauter. Ahlnaten berichteten, daß manche Schiffsbewohner die SOLAG für die neuen Schwierigkeiten verantwortlich machten. Chart Deccon fluchte innerlich. Mit Atlan hatte alles angefangen. Nichts war mehr rückgängig zu machen. Im Gegenteil, es sah ganz danach aus, daß die Forderungen der Solaner erfüllt werden mußten. Der High Sideryt blickte hinüber zu Atlan. Der Arkonide verhielt sich abwartend. Auch er kannte die Problematik zur Genüge, um sich keinen Fehler zu erlauben. Was wollte dieser Mann mit den weißen Haaren nun wirklich? Wie leicht hätte er in einem Handstreich die Macht an sich reißen können. Er tat es nicht, und das ließ ihn in den Augen Deccons wieder ein wenig besser dastehen. Der Arkonide besaß kosmische Bedeutung, das war ihm inzwischen klar geworden. Er war auf die SOL gekommen mit einem ganz bestimmten Auftrag. Am liebsten wäre er mit dem Schiff gleich auf und davon. Die Umstände hatten es verhindert, und verhinderten noch immer, daß die SOL jene Koordinaten anfliegen konnte, die Deccon längst besaß und gespeichert hatte.
Umstände? Chart Deccon flüsterte es und zog die Blicke aller auf sich. Konnte er von Umständen sprechen? Der Druck der Ereignisse war so groß, daß dem High Sideryt manchmal heiß wurde. Dann sehnte er sich nach E‐kick, obwohl er die Akkus in letzter Zeit häufig benutzt hatte. Nein, sagte er sich, er war High Sideryt und würde sich von niemandem unterkriegen lassen. Alle Schwierigkeiten hatte er gemeistert, es wäre eine Schande gewesen, wenn er jetzt kapituliert hätte. Die Solaner mußten warten. Er würde sie noch eine Weile hinhalten. Wieder sah der High Sideryt Atlan an. Unter dessen Blick zerplatzten seine Vorstellungen wie Seifenblasen. Der Konkurrenzneid stieg in ihm auf. Wenn Atlan dasselbe forderte wie die Solaner, wenn er es laut forderte, dann hatte er den nächsten Trumpf so gut wie in der Tasche. Wenn Deccon ihm zuvorkam, konnte er den Arkoniden mattsetzen. Zumindest vorläufig. Chart Deccon sah, wie Atlan den Mund zum Sprechen öffnete. Ganz schnell änderte der High Sideryt seine Taktik. Atlan sagte: »Es wird Zeit, daß wir uns über verschiedene Dinge unterhalten, Deccon!« Der High Sideryt lächelte verbindlich und warf einen warnenden Blick zu den Magniden. Das bedeutete: Überlaßt die Unterhaltung mir! »Ich bin ganz deiner Meinung«, erwiderte er. »Es haben sich in den vergangenen Tagen und Wochen Dinge zugetragen, die nicht unbesprochen bleiben dürfen, denn niemand weiß, ob sie richtig sind oder nicht. Und ein Fiasko wie Chail dürfen wir uns nicht mehr leisten.« Atlan blieb unbeeindruckt von dieser Anspielung. Sie hatte auch mehr formellen Charakter, denn Deccon kannte den neuen Magniden inzwischen gut genug, um beurteilen zu können, was ihn aus der Fassung brachte und was nicht. Die Vorrede diente ihm lediglich als Kostprobe für das, was noch kommen würde. »Was gedenkst du zu tun?« fragte Atlan.
»Was schlägst du denn vor?« fragte Deccon zurück. Er wußte genau, daß Atlan darauf nicht eingehen würde. Trotzdem sagte er schnell: »Wir sollten vorab klären, was das Wichtigste ist und zuerst erledigt werden muß.« »Yaal hat mir Informationen gegeben, nach denen es in verschiedenen Sektoren des Schiffes zu Unfällen gekommen ist. Dabei soll es nicht unerhebliche Schäden gegeben haben. Wer trägt die Verantwortung dafür?« »Ich bin darüber informiert«, erwiderte Deccon. »Die Verantwortung tragen zuerst einmal diejenigen, die die Robotanlagen in Betrieb genommen haben, ohne über ihre Einsatzfähigkeit Bescheid zu wissen.« »Das ist unlogisch«, sagte Atlan. »Yaal und seine Helfer haben das getan, was die Schiffsführung seit langem versäumt hatte. Es geschah im Einverständnis mit den Magniden und dir, und es lief unter euren Augen ab. Mitglieder und Verantwortliche der SOLAG waren daran beteiligt. Es ist unterlassen worden, neue Rohstoffe einzuholen.« »Es ist nicht unterlassen worden, es war nur bisher keine Zeit dazu. Das Chail‐Abenteuer hat uns wertvolle Zeit gekostet! Daran lag es!« rief Chart Deccon ungewöhnlich laut. »Das Problem ist von mir lange vor dir erkannt worden, weil du dich da auf Chail herumgetrieben hast. Es war mir klar, daß ein Notstand auf uns zukommt. Er ist erreicht, und wir werden so schnell wie möglich für seine Beseitigung sorgen!« »Wie willst du das denn tun, solange das Schiff ziellos durch das All irrt?« rief Atlan erbost. Deccon triumphierte. Der Arkonide begann die Geduld zu verlieren. Der günstigste Zeitpunkt, den letzten Trumpf auszuspielen, war erreicht. »Wir werden das für uns am nächsten erreichbare Sonnensystem anfliegen und Rohstoffe aufnehmen«, sagte der High Sideryt grollend und machte mit der linken Hand eine alles beherrschende
Geste. »Gleich am Rand der Galaxis, auf die wir zusteuern!« Mit Genugtuung sah Chart Deccon die verblüfften Gesichter von allen. Atlans Blick verfinsterte sich, aber die Magniden begannen zu grinsen. Schweigen lag über der Zentrale. Es dauerte eine halbe Minute, dann verständigte sich der Arkonide mit seinen beiden Begleitern. Wortlos verließen sie die Zentrale, das meckernde Gelächter von Gallatan Herts begleitete sie, bis das Schott sich geschlossen hatte. Chart Deccon stand hoch aufgerichtet da. Er rieb sich die Hände und lächelte zufrieden. Diesmal hatte er Atlan den Wind aus den Segeln genommen. Mochte der Arkonide sich zurückziehen und auf eigene Faust weitermachen. Er konnte ja die Zwillinge suchen, bis er schwarz wurde. Deccon war es egal. Er hatte seine Entscheidung getroffen, hatte eine Auseinandersetzung vermieden und so für das Wohlergehen des Schiffes gehandelt. Es galt nur noch, die Worte in die Tat umzusetzen. Der High Sideryt gab den Magniden ein Zeichen. 4. »Abstand 102 Lichtjahre zum Hauptobjekt!« Curie van Herlings Stimme klang hart. Die Magnidin bewegte auffordernd ihren fülligen Körper nach rechts, wo Chart Deccon schweigend die Bildschirme betrachtete. Ihre schwarzen Augen waren stark mit rotem Puder unterlegt und vermittelten den Eindruck einer teuflischen Frau. In Wirklichkeit war Curie lediglich rechthaberisch und ein wenig herrschsüchtig, mit einem Sinn für ausgefallene kulinarische Genüsse. Sie war auch die einzige unter den Magniden, die aus eigennützigen Gesichtspunkten für einen raschen Aufbau der Solfarmen und Robotfabriken eintrat. In der Auseinandersetzung mit Atlan, die unterschwellig ihrer aller Tun und Denken beeinflußte, unterdrückte sie diesen Wunsch jedoch.
Die Magniden hielten zusammen. Sie waren nur dann erfolgreich, wenn sie nach außen hin jedes Zeichen von Uneinigkeit vermieden. Die jüngsten Ereignisse hatten diese Notwendigkeit deutlich bestätigt. Curie van Herling löste ihre Augen von den Anzeigen der Ortungsgeräte, an denen sie Nurmer abgelöst hatte. Die Magniden waren sich in ihren Fähigkeiten und ihrem Wissen alle sehr ähnlich und in ihren Einsätzen beliebig austauschbar. Jetzt starrten alle neun – Atlan hielt sich an unbekanntem Ort auf – zu Chart Deccon, dessen Augen sich an den Bildern festgesaugt hatten, die die Außenkameras projizierten. Vor der SOL lag eine irreguläre Kleingalaxis. Sie besaß keine Spiral‐ oder Balkenform und keinen ausgeprägten Kern. Auch ihre Randgebiete waren unregelmäßig und verliefen sich in willkürlichen Ausläufern. Nichts an ihr wirkte kosmogenetisch, nur die Tatsache, daß sich das Gebilde aus Sternen zusammensetzte, erinnerte daran, daß es so etwas wie eine Galaxis war. Die Kleingalaxis war ein »ruhiges« Sternengebilde. Sie besaß eine nur schwach ausgeprägte Radio‐ und Hyperstrahlung. Der High Sideryt schnaufte überrascht. Er trat zu Curie van Herling und sah ihr über die Schulter, was ihm bei seiner Größe von einem Meter und vierundneunzig nicht schwerfiel. »Sehr ungewöhnlich«, murmelte Deccon und nahm den Blick nicht von den Anzeigen. »So etwas habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen.« »Es ist zweifellos eine Galaxis«, sagte Curie van Herling, und Gallatan Herts schrillte: »In der Tat, sehr exzentrisch. Etwas für ausgefallene Naturen!« »Für dich besonders«, grinste Nurmer und rieb sich die Hände. »Wie wärʹs mit einer Fußwanderung über die Planeten?« »Verräter!« knurrte Chart Deccon ironisch und fügte übergangslos hinzu: »Die längste Querlinie durch die Kleingalaxis wird von den Meßgeräten mit 3600 Lichtjahren angegeben. Das ist wenig für ein
Milchstraßensystem, aber viel für einen Spaziergang.« Palo Bow trat jetzt ebenfalls hinzu und berührte einen Knopf an der Orterkonsole. Die Kameras mit ihren vorgeschalteten Großteleskopen vergrößerten das Bild noch um einige Prozent, so daß die Unregelmäßigkeit der Struktur noch besser zur Geltung kam. »Es erinnert mich an Unordnung, an wildes Durcheinander«, stellte Wajsto Kölsch fest. »Und doch gibt es in dieser Galaxis Sternentstehung wie in jeder anderen auch.« Die Magniden ließen seine Worte auf sich einwirken. Lediglich Deccon schüttelte den Kopf und erklärte: »Ob regelmäßig oder unregelmäßig, dieses Gebilde erinnert mich an die zerzausten Schwingen eines Vogels, wie ich sie aus alten Aufzeichnungen kenne.« »Es könnte auch ein unordentliches oder verwüstetes Feld in einer der Solfarmen sein«, schlug Ursula Grown vor. Chart Deccon schnippte mit den Fingern seiner fleischigen Hände. »Das ist der richtige Name«, rief er aus. »Wir nennen die Kleingalaxis einfach Flatterfeld!« Damit war der Name des Unikums im bisher unerforschten Gebiet geboren. Flatterfeld stand allein im Raum. Es gab keine Galaxien, die mit Flatterfeld eine gemeinsame lokale Gruppe bildeten. Flatterfeld besaß eine weitere, nicht zu übersehende Besonderheit. Sie war von zahlreichen vorgelagerten Sternenballungen umgeben, von denen eine besonders auffiel. Sie lag der SOL in Flugrichtung am nächsten, und die Messungen ergaben einen Abstand von 41 Lichtjahren. Die Gestalt dieser Ballung war deutlich und regelmäßig. Sie bestand aus zwei gleichlangen Armen, die in einem Winkel von hundertundvierzig Grad voneinander abragten. Die Unterseite (von der SOL aus gesehen) war flach, die Oberseite leicht gebuckelt und dem Knick in der Mitte zu deutlich verdickt. Nurmer, mit seinen einhundertzwei Jahren der älteste unter den
Magniden, kniff die Augen zusammen. »Bumerang!« sagte er scheinbar unzusammenhängend. »Das ist ein Bumerang!« Er erklärte, was er damit meinte, daß es sich um ein altes Sportgerät handelte, von dem er in irgendeiner Aufzeichnung einmal gelesen und ein Bild gesehen hatte. »Ein Bumerang ist ein Gerät, das man von sich schleudert, das aber wieder zu einem zurückkehrt«, schloß er seine Erläuterung. Gallatan Herts kommentierte: »Man kann also Eigentore damit schießen. Das ist ein schlechtes Omen!« »Omen hin, Omen her«, meinte Chart Deccon, »ich habe mich jedenfalls entschlossen, Bumerang anzufliegen, um auf einem geeigneten Planeten die benötigten Rohstoffe einholen zu lassen. Lyta, würdest du bitte die Ortung auf die Sternenballung einpendeln?« Noch immer eilte die SOL mit achtzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit durch das All auf Flatterfeld zu. Es war keine Kurskorrektur nötig, denn Bumerang lag exakt in der Flugrichtung, nur ein wenig über der Hauptebene der Kleingalaxis und dadurch vor der Schwärze des Weltalls gut zu sehen. Zusammen mit Curie van Herling nahm »Bit« die Arbeit auf. Lyta Kunduran hatte diesen treffenden Beinamen auf Grund ihres fast paranormalen Verständnisses für Positroniken erhalten. Nur bei einer Positronik streikten ihre Fähigkeiten. SENECA war nicht bereit, mit ihr zusammenzuarbeiten. Einmal hatte Deccon in ihrem Beisein versucht, mit der Biopositronik in Kontakt zu treten. SENECA hatte sich nicht gerührt. Erst, nachdem Bit Deccons Klause verlassen hatte, hatte SENECA sich freiwillig gemeldet. Die Fernortung ergab, daß sich Bumerang aus etwa hundert Sternen zusammensetzte, die jedoch eine überraschend geringe Anzahl Planeten besaßen. Die Zahl war pro Stern sogar auffallend gering, sie lag bei null bis drei Planeten. Dazu kam eine weitere
Besonderheit, die ebenso verwunderte. Ausgedehnte Staubwolken von hoher Dichte durchzogen die Sternenballung in allen Richtungen. »Dann laß uns keine Zeit mehr verschwenden und Bumerang anfliegen, Chart!« Arjana Joester winkte auffordernd. »Nein«, sagte der High Sideryt zur Überraschung aller. »Ich habe ein ungutes Gefühl. Wir gehen nicht näher heran. Wir schleusen Beiboote aus.« »Warum denn? Laß uns doch die Suche nach einem geeigneten Planeten und die Rohstoffaufnahme so schnell wie möglich durchführen«, brummte Wajsto Kölsch. »Und dann nichts wie weg!« Kölsch hatte sich wieder vollkommen von seinem Abenteuer auf Chail und den damit verbundenen Symptomen erholt. Die Erinnerung daran ließ ihn einer neuen Annäherung an einen Planeten nicht gerade aufgeschlossen gegenüberstehen. »Die Zustände in der Sternenballung sind zu unübersichtlich, als daß ich das Schiff einfach hineinfliegen ließe«, erklärte Deccon den Brüdern und Schwestern der ersten Wertigkeit. Er nahm einen Lichtzeichengeber, schaltet ihn ein und richtet ihn auf den Bildschirm, der eine Nahaufnahme Bumerangs zeigte. »Wir senden zwei 60m‐Korvetten zur näheren Erkundung aus«, sagte er und peilte mit dem Lichtpfeil zwei Stellen der Sternenballung an. Eine lag in dem der SOL zugewandten Arm des Bumerangs, die andere in der Verdickung, dort wo die beiden Arme in flachem Winkel aufeinandertrafen. »Die Besatzungen werden diese Bezirke anfliegen und Untersuchungen anstellen«, fuhr Deccon fort. »Bevor wir nicht wissen, was in Bumerang los ist, gehen wir mit der SOL kein Risiko ein.« Jetzt nickten alle Magniden. Die Erfahrungen der letzten Monate hatten sie inzwischen belehrt, daß Vorsicht besser war als Eile. Chart Deccon hatte ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Sache.
Am liebsten hätte der High Sideryt den Befehl gegeben, die Gegend um Flatterfeld sofort zu verlassen. Er unterdrückte diesen inneren Impuls, verdrängte die Gedanken an Atlan und dessen Ziel, von dem er noch immer nicht überzeugt war. »Stoppt das Schiff!« sagte er unvermittelt. Palo Bow, Brooklyn und Wajsto Kölsch machten sich an die Ausführung des Befehls. Die Triebwerke der beiden Solzellen begannen gegen die Flugrichtung zu arbeiten. Das Schiff verringerte seine Fluggeschwindigkeit, bis es bewegungslos mitten im Universum hing. Die Triebwerke erloschen, aber die Magniden blieben auf ihren Posten. Deccon schärfte ihnen Wachsamkeit ein, er wollte, daß das Schiff jeden Augenblick beschleunigen und verschwinden konnte. Danach traf er seine Anordnungen zur Ausschleusung. Er rief Aksel von Dhrau in der Zentrale der Vystiden an. Von Dhrau war erst achtundzwanzig Jahre alt, hatte es dennoch zum Chef der Vystiden gebracht, die die Offiziere der Haematen bildeten. Von Dhrau war ehrgeizig und unerbittlich. Er stand in dem Ruf, alle Befehle zu bester Zufriedenheit auszuführen. Jetzt beauftragte Deccon ihn mit der Durchführung der Ausschleusung und der Bemannung der beiden Korvetten. Aksel von Dhrau hatte dazu eine halbe Stunde Zeit. Der Vystide schaffte es tatsächlich in dreißig Minuten. Er bemannte beide Korvetten mit zwanzig Personen, jeweils zwölf Ferraten, sieben Pyrriden und einem Ahlnaten, der die Aufsicht führte. Er meldete Deccon den Vollzug. Der High Sideryt ließ sich eine Verbindung zu den beiden Korvetten herstellen. In allen Räumen der Beiboote war er jetzt auf den Bildschirmen zu sehen. In ausführlichen Worten schilderte er die Aufgabe, die den Besatzungen zukam. Er übermittelte ihnen die Daten, die über Bumerang bereits existierten und forderte genaue Untersuchungen der merkwürdigen Verhältnisse in der Sternenballung. Dann gab er die beiden Schiffe zum Start frei.
Eines der großen Tore des in unmittelbarer Nähe der Hauptebene des Mittelteils SOL gelegenen Hangars öffnete sich und spie die Beiboote aus, die sich zuerst langsam, dann voll mit 800 km/Sec2 vom Mutterschiff entfernten. Die beiden Kugeln mit einer Reichweite von 1.600.000 Lichtjahren gingen in den Linearraum und tauchten fast übergangslos am Rand der Sternenballung auf. Die Übermittlung der ersten Werte von Bumerang begann. * »Sollen wir noch lange warten?« Der Frager war ein schmächtiger Mann in gewöhnlicher Bordkleidung. Hemd und Hose sahen neu aus, ein deutlicher Hinweis, daß die Segnungen der aktivierten Robotanlagen ihre ersten Früchte trugen. »Du bist ein wenig ungeduldig, Wladimich«, erklang die weiche Stimme einer Frau in Ferratenuniform. Sie waren eine Gruppe aus sieben Personen, die sich in der kleinen Gerätekammer in der Nähe des geheimnisvollen Saales drängten. Und sie warteten auf jemanden. Der schmächtige Mann mit den schulterlangen blonden Haaren und dem gezwirbelten Schnauzbart zuckte mit den Schultern und starrte aus weit auseinanderstehenden Augen die unauffällige Tür an. »Es liegt wohl daran, daß ich in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit solchen Geheimtreffs gemacht habe«, erwiderte er. »Wer könnte mir einen Vorwurf daraus machen!« »Es macht dir niemand einen Vorwurf«, sagte eine andere Frau. Über ihre Stirn zog sich quer eine glasartige Narbe, eine weitere bedeckte ihre gesamte rechte Handfläche. Die Frau war eine Halbbuhrlo, eine Angehörige einer der Gruppen, denen es in der Vergangenheit am schlechtesten ergangen war.
»Horch«, flüsterte die Ferratin, die sie nur unter der Bezeichnung Rostrot kannten. Ob es ihr richtiger Name oder nur ein Spitzname war, wußten sie nicht. Ein leises Klopfen an der schmalen Tür erklang. Es endete in einem morseähnlichen Stakkato, das abrupt abbrach. Die Männer und Frauen atmeten erleichtert auf. Langsam öffnete sich die Tür. Eine hohe Gestalt schlüpfte herein in das helle Licht und zog schnell die Tür hinter sich zu, denn draußen herrschte der matte Dämmerschein der Nachtbeleuchtung. Die Automatik in der SOL war nach wie vor auf den pünktlichen Wechsel zwischen Tag und Nacht programmiert, und noch nie hatte es darin Veränderungen gegeben. Sechzehn Stunden leuchteten alle Lampen in dem riesigen Schiff mit voller Leistung, dann schalteten sie sich für acht Stunden herunter. Niemand der über neunzigtausend Bewohner des Schiffes, mit Ausnahme der Schiffsführung, schien noch zu wissen, daß das genau der Wechsel zwischen Tag und Nacht war, wie er auf dem Mutterplaneten der Menschheit herrschte, auf Terra. Das grelle Licht der Gerätekammer fiel auf die eingetretene Gestalt. Der Mann war einen Meter und achtzig groß und schlank. Dennoch wirkte er muskulös. Bekleidet war er nur mit einer langen, hellgrünen Hose und weichen schwarzen Bordschuhen. Sein Gesicht und sein Oberkörper leuchteten in einem kupferbronzenen Ton, das armlange pechschwarze Haar hatte er in einem Knoten über dem Kopf zusammengefaßt. Im übrigen war sein Körper völlig haarlos, die dichte Mähne verdeckte die Kiemenansätze hinter den Ohren, die den Mann deutlich als einen der Bordmutanten auswiesen, eine von vielen körperlichen Mutationen, die man früher Monster genannt und gejagt hatte. Sein Gesicht war scharf geschnitten, mit einer spitz vorragenden Nase, wurde aber von den milden Augen beherrscht, die voller Melancholie waren und als tiefschwarze Kugeln aus der kupferbronzenen Haut heraus leuchteten. »Achtgolt, endlich!« flüsterte Wladimich vorsichtig. »Wir haben
lange gewartet!« Die Solaner umringten den exotischen, anziehend wirkenden Mann. »Ich bin aufgehalten worden, der Weg von der SOL in die SZ‐2 war gefährlich, denn Aksel von Dhrau war unterwegs. Es heißt, es sind zwei Schiffe ausgeschleust worden, zwei Korvetten.« Mit Ausnahme der Ferratin konnte sich keiner der Anwesenden eine Vorstellung von einer Korvette machen, aber Rostrot klärte sie auf. »Eine Kugel wie die SZ‐1 und die SZ‐2, aber ganz klein. Sechzig Meter Durchmesser. Einmal bin ich bei einem Landeunternehmen in einem solchen Schiff mitgeflogen.« »Ich glaube, wir sollten die Gerätekammer jetzt verlassen«, sagte Wladimich eilig. Er stand bereits an der Tür. »Warte!« Achtgolt ergriff den schmächtigen Mann am Arm. »Wir können nicht den üblichen Weg nehmen, denn es sind Pyrridenhorden unterwegs. Sie haben ihre Neuropeitschen dabei.« Neuropeitschen waren kurzstielige Waffen mit einem zweieinhalb Meter langen Schweif. Sie lösten heftige Elektroschocks aus. Mehr als zehn Schläge mit einer solchen Waffe konnten tödlich sein, und die Pyrriden standen in dem Ruf, von ihren Spielzeugen ausgiebig Gebrauch zu machen. Sie galten als die Schergen der SOLAG. Wenn sie nicht gerade das Einholen von Rohstoffen auf einer fremden Welt besorgten, wobei sie mit Vorliebe auf Extrajagd gingen, beschäftigten sie sich auf der SOL mit grausamen Spielen und ausschweifenden Vergnügungen. »Wohin sollen wir uns wenden?« fragte Rostrot ratlos. »Ich kenne nur diesen einen Weg!« »Ich habe einen zweiten ausfindig gemacht, er führt durch die zentrale Klimaanlage der SZ‐2 mit den Luft‐ und Wasserregeneratoren. Von dort führt ein kleiner, selten benutzter Lastenantigrav nach oben.« »Wie weit ist es bis dort hin?« fragte jemand aus der Gruppe.
»Ungefähr eine halbe Stunde, da wir vorsichtig sein müssen. Der Standort des Universums darf nicht bekannt werden.« Sie brachen auf. Hintereinander schlüpften sie hinaus, das Licht in der Gerätekammer erlosch automatisch. In der Dämmerung der Korridore tasteten sie sich vorwärts bis zur nächsten Abzweigung. Dort betraten sie einen Lüftungsschacht, in dem eine schmale Leiter abwärts führte. Auf ihr gelangten sie bis in die Hallen mit den Klimaanlagen. Sie durchquerten sie und ließen sich mit dem Antigrav wieder nach oben tragen. Kurz darauf betraten sie den versteckt liegenden Saal, dessen Eingänge versiegelt und unzugänglich gemacht waren, durch eine kleine Kanzel, in der eine externe Steuerungsanlage des Universums untergebracht war. Sie eilten die stufenartigen Ränge entlang, nur geleitet von einer matten Handlampe, die Achtgolt bei sich trug. Auf leisen Sohlen stiegen sie eine der vier Treppen hinab bis zu der kleinen Plattform. Achtgolt bückte sich, tastete an einer in den Boden eingelassenen Konsole. Das Universum um sie herum flammte auf und überschüttete sie mit seiner unendlichen Pracht. Keiner der acht Solaner wußte, daß es sich bei diesem Saal um das letzte noch existierende Stellarium handelte, eines von vielen, die von Gavro Yaal Ende des Jahres 3586 und Anfang 3587 angelegt worden waren. Es war ein kugelförmiger Raum, dessen untere Hälfte in der Art eines Amphitheaters mit umlaufenden Rängen und vier steilen Treppen ausgerüstet war, die nach unten zu der Plattform am tiefsten Punkt der Kugel führten. Ungefähr zwanzigtausend Projektoren waren nötig, die gewünschten Bilder oder Filme von außen gegen die durchsichtige Kugel zu werfen. Ausgeklügelte Rotationsprojektoren sorgten dafür, daß auch auf den Stufen eine einwandfreie Projektion erfolgte. Es gab so keine perspektivischen Verzerrungen, und die untere und obere Kugelhälfte waren wie aus einem Guß. Jetzt, am 30.08.3791 Bordzeit, funktionierten nicht mehr alle Projektoren. Es gab in der Simulation der Galaxien und
Milchstraßen, die ihr Licht in das Kugelinnere sandten, Löcher, schwarze Flecke, wo nichts mehr projiziert wurde. Aber der Gesamteindruck blieb dennoch, und er zog die Männer und Frauen jedesmal aufs Neue in seinen Bann. Atemlos verfolgen sie, wie sich Galaxien mit unvorstellbarer Geschwindigkeit auf sie zubewegten, als wollten sie sich auf sie stürzen. In der Mitte der Kugel tauchte ein verwaschener Fleck auf, entpuppte sich bald als Spiralnebel. Er füllte bald die Hälfte der Kugel aus, überströmte sie ganz, löste sich in einzelne Sterne auf. Immer näher rückte ein großer, blauer Stern mit vielen Planeten. Immer kleiner wurde der Raumausschnitt, bis nur noch ein einziger Planet mitten in der Schwärze der Kugel stand. Er leuchtete tiefgrün und bewegte sich nicht. Die Projektion stand. »Das«, sagte Achtgolt ehrfürchtig, und das Grün spiegelte sich auf seiner glänzenden Haut, »muß die Urheimat sein. Weshalb sonst ist dieses einzige Programm in der Anlage gespeichert. Das ist Terra!« »Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll«, bedauerte Wladimich. Es war nicht das erste Mal, daß er seine Zweifel anmeldete. »Wir haben keine Gewißheit. Wir müßten Kontakt zu dieser geheimen Gruppe finden, die in der SZ‐2 existiert.« »Du meinst die Terra‐Idealisten?« fragte Achtgolt. »Niemand weiß, ob es sie noch gibt. Nein, nur ein einziger wird es mit Sicherheit wissen.« »Atlan!« rief Rostrot aus. »Nur er!« »Ja, er. Wir müssen mit ihm sprechen und ihn herführen!« Sie wußten nicht, wo Atlan sich zur Zeit aufhielt. Hätten sie gewußt, daß er bis vor kurzem in der SZ‐2 gewesen war, hätten sie sich geärgert. So aber richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf die SOL. Seit die Informationen über die Vorgänge in und um das Schiff reichlicher flossen als früher, seit sich Neuigkeiten schnell herumsprachen, hatten diese Solaner wie viele andere Mut geschöpft. Abgefallen war ihre Lethargie, sie wurden aktiv. Sie hatten gehört, was sich an Bord des Generationenschiffs alles
verändert hatte, seit Atlan mitmischte. Sie hörten von den Schläfern, den engen Freunden Atlans und ihrem Wirken. Das alles machte sie aufgeschlossen gegenüber dem Arkoniden. Atlan hatte ihre Sympathie, und die Meldungen aus der SOL, die von einer Schlappe im Guel‐System berichteten, waren mehr als durchsichtig. Außer Polemik enthielten sie nichts. Noch wußte die Gruppe nichts von den genauen Zusammenhängen. Sie hoffte nur darauf, auf ihre eigenen Fragen Antworten zu erhalten. Daß die Zahl Gleichgesinnter um sie herum riesig groß war, ahnte sie nicht im mindesten, sonst hätten sich ihre Mitglieder nicht so vorsichtig verhalten. Achtgolt und seine Freunde saßen auf der kleinen, vier Meter durchmessenden Plattform am Fuß der Kugel und sahen den grünen Planeten an, die tiefe Farbe, die sie magnetisch anzog. Sie träumten mit offenen Augen und verloren langsam ihre Angst, in der sie bisher gelebt hatten. 5. Nurmer sah absichtlich an Atlan vorbei, als dieser interessiert eintrat und fragte: »Welche Aufgabe haben die beiden Korvetten?« »Sie sollen erkunden«, antwortete der alte Magnide. Er hatte keine Ahnung, welche Gedanken den Arkoniden bewegten, warum er sich danach erkundigte. Es war nichts Besonderes an der Entscheidung des High Sideryt. Deccon sagte prompt: »Es ist nicht deine Sache, was wir tun. Du wirst wie alle Magniden Gelegenheit haben, dich mit dem vertraut zu machen, was die Besatzungen herausfinden. Die Dinge, die wir bereits herausgefunden haben, kannst du den Speichern entnehmen oder dir von deinen Amtskollegen mitteilen lassen.« Er hatte zum Schluß herausfordernd die Stimme gehoben. Keiner
der Magniden rührte sich. Keiner machte den Mund auf oder gab durch ein Kopfnicken zu verstehen, daß er gewillt war, dem Arkoniden Auskunft zu geben. Atlan kümmerte sich nicht darum. Ohne zu warten, trat er an die Kontrolltafeln und rief die Informationen ab. Was er erfuhr, beunruhigte ihn. Es waren merkwürdige Gedanken, die er sich machte, und er schwieg darüber. Die vor ihnen liegende Sternenballung besaß Erscheinungen, die zur Vorsicht mahnten. Etwas stimmte nicht in Bumerang, und der Arkonide mußte an die vorangegangenen Abenteuer denken. Osath und Chail, beide Planeten hatte das Schiff mehr oder weniger ziellos angeflogen. Beim einen wirkte der Zugstrahl, beim anderen die Roxharen. Jetzt war das Schiff durch eine spontane Kursänderung erneut in der Nähe einer Zone, die nach Unruhe aussah. Zufall? Atlan war sich nicht im klaren darüber, was er denken sollte. Er beschloß, die Ergebnisse abzuwarten, die die beiden Korvetten mitbrachten. Gleichzeitig aber trug er sich mit dem Gedanken, mit einem dritten Beiboot nach Bumerang zu fliegen und auf eigene Faust Untersuchungen anzustellen. Er versprach sich davon genauere Erkenntnisse, weil er wesentlich längere und vielfältigere Erfahrungen besaß als die Solaner, die die Boote steuerten. Nur würden das die Magniden nie zugeben. Dennoch sagte Atlan nach kurzem Zögern: »Gebt mir ein weiteres Beiboot.« Deccon lachte laut auf. »Auf gar keinen Fall«, sagte er. »Zwei Boote reichen aus.« Damit war für ihn die Angelegenheit vom Tisch, und er widmete sich wieder den Kontrollen. Atlan gab keine Antwort darauf. Er verstand, daß der High Sideryt sich anstrengte, seine Position zu festigen, in der er ihn noch immer als Konkurrenten und Widersacher betrachtete. Atlan wußte, daß die offenen Sympathien, die ihm von Seiten der Solaner entgegengebracht wurden, dem Chef der SOLAG ein Dorn
im Auge waren. Deccon schien nur noch nicht zu wissen, wie er dem am kräftigsten begegnete. Er suchte noch nach der besten Taktik. Der Arkonide, der sein Lebensalter längst nicht mehr in Jahren zahlte, beobachtete ihn dabei. Er hatte Zeit. Er konnte abwarten, wie sich die unterschiedlichen Meinungen, die über die Ereignisse auf Chail bestanden, entwickeln würden. Wenn der richtige Zeitpunkt da war, würde er sprechen. Er würde die Solaner über die wirklichen Zusammenhänge aufklären, über seinen Auftrag, Friedenszelle in einer Pufferzone zu bilden, die SOL nach Varnhagher‐Ghynnst zu führen und dort eine Ladung an Bord zu nehmen. Er hätte sich längst offenbaren können, hätte von dem erzählen können, was er über den Sektor des Universums wußte, in dem sich das Schiff bewegte. Es hätte alles nichts genützt. All das waren ungelegte Eier, solange er nicht die Befugnis über die SOL besaß, solange er nicht auf die Magniden und den High Sideryt Einfluß nehmen konnte. Für Atlan war deutlich, daß mit den Chailiden eine Friedenszelle gebildet worden war. Der Arkonide lächelte geringschätzig, als er seine Augen jetzt auf den High Sideryt richtete. Eine zynische Antwort lag ihm im Mund, aber er sprach sie nicht aus, denn in diesem Augenblick meldete sich über den Hyperfunk eine verzerrte Stimme. »Tabuion spricht, SOL‐Korvette SK‐11!« »Wir hören euch«, sagte Deccon. »Es gibt hier eine seltsame Erscheinung. Hinter der Staubwolke, die wir anfliegen, scheint sich etwas zu verbergen. Unsere Orter empfangen ganz schwach und undeutlich einen Reflex, der sich in …« Die Stimme wurde undeutlich und unverständlich. Für einige Sekunden war sie ganz weg, kehrte dann wieder zurück. »… empfangen soeben einen kurzen, sich nicht wiederholenden Funkimpuls. Er ist unverständlich!« »Versucht, den Sender zu finden!« rief Deccon laut.
»Hallo SOL, hört ihr uns noch? Warum gebt ihr keine Antwort?« kam es aus den Lautsprechern. »Wir hören euch, aber offenbar ist der Funkverkehr gestört!« rief Palo Bow. »Verstanden! Wir fliegen den Staubmantel an und sehen uns die Sa …« Es knackte, die Verbindung war unterbrochen. »Lyta, schnell«, sagte Chart Deccon. »Versuche die Verbindung aufrechtzuerhalten!« Die Magnidin rief die Korvette vergeblich. Sie antwortete nicht, und minutenlang herrschte betretene Stille in der Zentrale. Dann kam plötzlich ein kurzes, ab‐ und anschwellendes Pfeifen aus dem Funkgerät. »Ein Notruf!« stellte Palo Bow fest. »Sie sind in Gefahr!« So sehr sie sich auch bemühten, es kam keine Verbindung mehr zustande. »Was kann passiert sein?« Curie van Herling hob die Arme und deutete auf den Bildschirm, der Bumerang zeigte. »Sie sind angegriffen worden«, murmelte Nurmer. »Dann ist es Zeit, ein Boot auszuschleusen und die Verschollenen zu suchen«, sagte Atlan mit leichtem Vorwurf in der Stimme. Er sah sie der Reihe nach an. Ihre Körper versteiften sich, sie antworteten nichts. »Du erklärst dich bereit, nach der Korvette zu suchen«, erkannte Deccon klar. »Das ist nobel von dir. Die Solaner würden dich bejubeln.« Er nickte wissend. »Wir werden das Problem anders anfassen«, entschied er. Atlan preßte die Lippen aufeinander. Zum zweiten Mal in den letzten Tagen servierte Deccon ihn eiskalt ab. Er führte einen psychologischen Krieg, der irgendwann schiefgehen mußte. Deccon konnte nicht anders, er mußte die Besatzung der Korvette retten. Und das, glaubte Atlan, war bestimmt schwerer, als der High Sideryt es sich vorstellte.
* SK‐10 operierte in dem der Kleingalaxis Flatterfeld abgewandten Arm der Sternenballung, die SOL als letzte Sicherheit im Rücken. Die Bildschirme übertrugen langgezogene, lichtundurchlässige Staubwolken, die unregelmäßig verteilt die ganze Sternenballung durchzogen. Bumerang war so anders im Vergleich mit dem, was die Pyrriden bei ihren früheren Ausflügen kennengelernt hatten. In ihren Augen sandte die Sternenballung eine ständige Drohung aus, bei der sie sich überhaupt nicht wohl fühlten. Dennoch versuchten die Brüder der vierten Wertigkeit, ihre Würde zu bewahren. Zumindest den zwölf Ferraten gegenüber, die sich an Bord befanden. Zwar besaßen Pyrriden kein wesentlich größeres technisches Verständnis für die Vorgänge, die in einem Raumschiff wie der Korvette abliefen, aber sie waren immerhin in der Lage, ein Beiboot zu steuern; was sie gegenüber den Rostjägern ungemein aufwertete. Sie taten deshalb unbeteiligt, wenn der Ahlnate, der das Kommando führte, sich über ihre düsteren Prognosen lustig machte. Gisbert schüttelte seinen Körper vor Lachen, aber es wirkte ein wenig gespielt. Der Ahlnate verschwand regelrecht in seinem langfallenden, hellblauen Gewand mit dem bronzefarbenen Symbol. Übergangslos wurde er ernst. »Wir fliegen das vor uns liegende Sonnensystem an!« entschied er. Er deutete auf den Hauptbildschirm, wo eine große, gelbe Sonne leuchtete. Sie schien das einzige in dem ganzen System zu sein, das normal war. Die Werte, die die Ortungsgeräte lieferten, waren kaum zu glauben. Gisbert murmelte etwas in seinen Bart. Mit einer herrischen Handbewegung wies er die zwei Ferraten zurecht, die in der Zentrale zur Unterstützung der Pyrriden anwesend waren. Die
übrigen zehn befanden sich ebenfalls unter der Aufsicht des Schiffes, der Feuerleitzentrale, der Funkzentrale und dem Observatorium. Außer den beiden Ferraten und Gisbert befanden sich drei Pyrriden in der Hauptzentrale, deren hellrote Uniformen grell von dem Blauton abstachen, der den beiden anderen Kasten eigen war. Die grauen Atomsymbole auf den Oberarmen der Pyrridenuniformen nahmen sich wie Totenköpfe aus. Tessmer, der Pyrride im Pilotensessel, kam der Anordnung umgehend nach. Die Korvette drehte sich langsam, während sie Fahrt aufnahm. Die gelbe Sonne rückte in die Mitte des Bildschirms. Sie beschleunigte auf vierzig Prozent Lichtgeschwindigkeit, und nach zehn Minuten ging die Meldung bei Gisbert ein, daß das System erreicht war. Das Beiboot verzögerte bis zum Stillstand. Die Ortungsgeräte und das astronomische Observatorium nahmen ihre Arbeit auf, während die Feuerleitzentrale im Deck über der Hauptzentrale Wachsamkeit übte. »Zwei Planeten«, meldete der Pyrride, der die Ortung koordinierte. Beide Welten waren auffallend klein, mit einem Durchmesser von höchstens sechstausend Kilometern. Sie zogen in engen Bahnen um die Sonne. Der innere war sogar fast zu nahe an dem Muttergestirn. Den Temperaturen nach konnte er dort auf Dauer gar nicht existieren. Das alles verwirrte die Solaner, die an Regelmäßigkeit und Unverrückbarkeit gewöhnt waren. Dieses Sonnensystem spottete allen Erfahrungen. Dort, wo normalerweise andere Planeten hätten kreisen müssen, gab es nur riesige Wolken aus Gestein und Staub, die sich in zentrischen Bahnen bewegten. »Gordyl, gib mir die Titius‐Bodesche Reihe für dieses System herunter!« verlangte Gisbert von dem Pyrriden, der im Observatorium an der Schiffswandung Dienst tat. Die Titius‐Bodesche Reihe war eine alte, astronomische
Berechnungsmethode. Sie war von Größe, Alter und Beschaffenheit eines Sterns abhängig und regelte den Abstand der Planeten von der Sonne, der nicht willkürlich war, sondern sich in mathematische Regeln und Proportionen kleiden ließ. Hier in diesem Sonnensystem waren Abweichungen zu erwarten. Tatsächlich meldete Gordyl nach kurzer Zeit: »Die beiden inneren Planeten weichen geringfügig von einer genauen Reihe ab, ebenfalls die Staubwolken. Es sind insgesamt sieben, sie ergeben ein völlig neues Bild.« »Planeten!« sagte Tessmer ahnungsvoll. »Zerstörte Planeten!« Weitere Berechnungen und Messungen wurden angestellt. Mehrmals mußte die Positronik beansprucht werden. Dann stand es einwandfrei fest. Bei den Staubwolken handelte es sich um ehemalige Planeten, die zerstört worden waren. Näherungen ergaben zudem, daß die Reste massemäßig niemals den Massen der ehemaligen Welten entsprechen konnten. Erhebliche Teile davon schienen regelrecht verschwunden. »Wir sollten vorsichtig sein«, schlug Gordyl vor. Er hatte seine Teleskope auf die innerste der Trümmerwolken gerichtet und versuchte, anhand von Spektralanalysen weitere Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Genaues gelang ihm nicht, aber er machte eine Entdeckung. »Der Gesamtanteil an Metall ist in den Trümmerhaufen ziemlich gering«, meldete er. »Es sieht aus, als seien die Trümmer geplündert worden.« Gisbert antwortete nicht. Er konnte mit dieser Information noch nichts anfangen, und die Meldung, die er an die SOL abzugeben hatte, durfte sich nicht bloß auf Vermutungen stützen. »Wir fliegen weiter«, ordnete der Ahlnate an. »Es gibt viele Staubwolken in Bumerang.« Zwei weitere Sonnensysteme suchten sie auf und holten die Daten ein. Sie unterschieden sich nur unwesentlich von den bereits in Erfahrung gebrachten. Die beiden Systeme lagen noch näher dem
Zentrum des Arms von Bumerang zu, nahe der Mittelachse. Temperaturuntersuchungen in den beiden Systemen ergaben, daß die Zerstörungen höchstens zehn bis zwanzig Jahre zurücklagen. In dieser Zeit hatten sich die Bahnen der inneren Planeten nur unwesentlich verändert, aber bei dem innersten Planeten des dritten Systems war abzusehen, daß er bald in seine Sonne stürzte. Das Gleichgewicht der Gravitation in den untersuchten Systemen war gestört und würde sich auf lange Sicht auswirken. »Es sieht aus, als seien alle Sonnensysteme der Sternenballung davon betroffen«, sagte Gordyl über den Bordfunk. »Zumindest in der näheren Umgebung gibt es keine Ausnahmen!« »Unvorstellbar!« flüsterte Gisbert rauh. Selbst er, der an vieles gewöhnt war, konnte sich nur zögernd mit dem Gedanken abfinden, daß die ganze Sternenballung so aussah, daß die meisten ihrer Planeten zerstört waren. Den Ahlnaten, der vorher noch gelacht hatte, überkam ein gelindes Grausen, wenn er an jene unbekannten Wesen dachte, die dafür verantwortlich waren. Wieso Wesen? fragte er sich. Warum setze ich die Zerstörungen mit einer Absicht gleich? Rätsel türmten sich vor dem Bruder der dritten Wertigkeit auf. Rätsel, die er nicht verarbeiten konnte, weil ihm der Erfahrungshorizont fehlte. Die SK‐10 machte sich auf den Weg zu einem weiteren Sonnensystem, das vier Lichtjahre entfernt war. Auch dort gab es Staubwolken, wenn man der Fernortung Glauben schenken wollte. Und die vielen Einzelwolken waren auf die Entfernung nicht auflösbar, sie bildeten eine einzige. Deshalb hatte der High Sideryt von riesigen Staubballungen und Wolken gesprochen. Und da war noch etwas. Eine astronomische Kleinigkeit nur, aber in ihrer Bedeutung um so größer. Keiner der noch intakten Planeten trug Leben in irgendeiner Form. Sie waren unbewohnt, konnten
kein Leben tragen. Und ihr Metallgehalt war wesentlich geringer, als es der aus den Trümmerplaneten errechnete jemals hätte sein können. »Wir können niemanden fragen, ob Bumerang absichtlich zerstört worden ist«, sagte Tessmer. »Wir werden weitersuchen«, erwiderte Gisbert. »Doch zunächst ist ein Bericht an die SOL fällig.« Zufrieden beobachtete Chart Deccon die Reaktion der Magniden, während sie den Schilderungen des Ahlnaten lauschten, der über die Beobachtungen der SK‐10 Mitteilung machte. Je länger Gisbert berichtete, desto deutlicher wurde es, daß die Entscheidung des High Sideryt, nicht mit der SOL in die Sternenballung zu fliegen, richtig war. Der ausgefallene Funkkontakt mit der ersten Korvette hatte ihnen schon zu denken gegeben. Was sie jetzt erfuhren, untermauerte das Mißtrauen gegenüber allem, was irgendwie mit Planeten zu tun hatte. Chart Deccon lauschte aufmerksam Gisberts Worten. Mit keiner Miene zeigte er, was er sich dabei dachte. Nur die wulstigen Lippen unter der aufgequollenen Nase zuckten leicht. Der High Sideryt verstrahlte in diesen Minuten der Spannung viel Einsamkeit. Er sprach kein Wort und hielt sich von den Brüdern und Schwestern der ersten Wertigkeit fern. Noch weiter war sein Abstand zu Atlan, der in der Nähe des Ausgangs stand und mit verschränkten Armen das Geschehen beobachtete. Deccon fiel auf, daß der Arkonide in letzter Zeit oft allein anwesend war, während die Schläfer sich in verschiedenen Schiffsteilen herumtrieben. Sie arbeiteten an der Wiederinbetriebnahme all der Anlagen, die seit langer Zeit stillgelegt waren. Sie wollten die SOL wieder zu einem voll funktionsfähigen Raumschiff machen. Aber das war nur die technische Seite. Wozu eigentlich? fragte Deccon sich.
Im nächsten Augenblick schüttelte der Riese den Kopf. Natürlich! Atlan hatte doch ein Ziel, an das er das Schiff bringen mußte. Er hatte einen Auftrag, den er von kosmischen Mächten erhalten hatte. Warum hatte er nicht längst seit dem Abflug von Chail darauf gedrängt, endlich den großen Sprung nach Varnhagher‐Ghynnst zu wagen? Der High Sideryt ahnte nicht, daß Atlan mit sich selbst stritt, welches Ziel vorrangig war. Daß er in den letzten Tagen und Wochen immer deutlicher erkannt hatte, daß es eigentlich ganz verschiedene Ziele waren, daß sie sich teilweise widersprachen und nicht erkennen ließen, in welcher Reihenfolge sie zu erfüllen waren. Chart Deccon hätte gern mit Atlan über diese Fragen gesprochen. Es ging nicht, weil zur Zeit keine Grundlage für eine solche Unterhaltung bestand. Die beiden Mächtigen an Bord des Fernschiffs hatten sich stillschweigend auf gegenseitige Duldung eingelassen, aber das war wirklich die einzige Gemeinsamkeit. Im übrigen versuchte jeder, seine Ziele so schnell wie möglich zu verwirklichen. Der High Sideryt fuhr aus seinen Gedanken auf. Sein Kopf ruckte hoch, die Glatze spiegelte das Licht aus tausend Lämpchen wieder. Die Worte des Ahlnaten aus der SK‐10 waren verstummt. Alarmiert strafften sich die Magniden. Der Vorgang erinnerte nur zu deutlich an den Verlust des einen Beiboots. »SK‐10, bitte melden!« rief Palo Bow in das Mikrofon vor seinem Sessel. Er hatte bisher den Dialog mit der Korvette geführt. Da aber war Gisberts Stimme wieder voll da. »Was gibt es?« fragte der Ahlnate. »Ist die Verbindung gestört?« An Bows Kontrollen blinkte ein rotes Licht. »Unser Funkverkehr wird überlagert«, rief der Magnide. »Die Automatik hat den Salat bisher ausgefiltert.« »Filter ausschalten!« befahl Deccon rasch. Und zu Gisbert sagte er: »Sprich weiter. Was habt ihr in Bumerang noch entdeckt?«
Jetzt war es deutlich zu hören, daß die Hyperfunksprüche der Korvette in unregelmäßigen Intervallen von anderen Hypersignalen überlagert wurden. Eine Schnellauswertung brachte kein Ergebnis. Die Signale waren unverständlich. Sie erschwerten die Verständigung mit der Korvette, machten sie aber nicht unmöglich. Manchmal mußte Palo Bow allerdings rückfragen. »Jemand benutzt in der Sternenballung gleiche oder ähnliche Hyperfunkfrequenzen«, sagte er in einer Sendepause. »Sie treffen mit fast derselben Intensität bei uns ein, als wären die Sender in Leistung und Standort fast identisch.« »Das besagt nichts«, erwiderte der High Sideryt. »Die Korvette befindet sich in etwa auf der Mittelachse des vorderen Arms von Bumerang, während der Sender auch aus dem Zentrum kommen kann, wo die Sternenballung ihren Knick und ihre größte Dicke hat.« Palo Bow spielte die Aufzeichnung des Funkverkehrs mit der SK‐ 11 ab. Dort war dasselbe vorgefallen. Die Automatik hatte gefiltert, und er hatte das rote Licht nicht beachtet. Die fremden Signale hingen vermutlich mit dem Abreißen der Funkverbindung zusammen und stammen von jemand, der nicht zu erkennen war. Chart Deccon durchzuckte ein eisiger Schrecken. »Schnell, Palo, ruf Gisbert und erkläre ihm, daß er sich in Gefahr befindet. Er soll …«, begann der High Sideryt, brach dann ab. »Nein«, fuhr er fort, »tu es nicht. Es ist nicht so wichtig.« »Du opferst beide Korvetten!« rief Atlan laut dazwischen. »Ist deine Achtung vor dem Leben so gering, daß es dir auf ein paar Dutzend Solaner nicht ankommt?« »Halte deinen Mund, Arkonide!« schrie Deccon unbeherrscht. »Es kann dir egal sein, was ich tue und anordne!« »Es ist mir nicht egal!« entgegnete Atlan geharnischt, aber eine Nuance leiser. »Ich verlange zum letzten Mal, daß du ein Hilfsschiff losschickst, das nach der verschollenen Korvette sucht und der noch
unversehrten zu Hilfe eilt. Selbst der dümmste Solaner dürfte inzwischen gemerkt haben, was da gespielt wird.« »Nein, und nochmals nein«, knirschte Deccon wütend. »Es wird kein weiteres Schiff ausgesandt. Dabei bleibt es!« Der High Sideryt stand bebend in der Zentrale. Er hatte den Kopf leicht gesenkt. Wie ein angriffsbereiter Stier verharrte er, während die Vorwürfe Atlans auf ihn einprasselten. Er versuchte, sich gegen sie abzuschirmen, sie an sich abprallen zu lassen. Niemand war in der Lage zu sagen, ob er damit Erfolg hatte. »Entschlüsselt wenigstens die fremden Funkzeichen«, rief der Arkonide jetzt. »Die SOL verfügt über die Automaten, die das können!« Er betonte das können und reizte Deccon noch mehr. Der Bruder ohne Wertigkeit atmete heftig ein und aus. Er lehnte auch das ab. »Bumerang ist für uns wertlos geworden«, keuchte er. »Wir haben möglicherweise eine Korvette verloren, weil es dort etwas gibt, das uns überlegen ist.« »Du bist ein Schwächling!« behauptete Atlan. Der High Sideryt zuckte zusammen. Dann aber wuchs er über sich hinaus. Drohend wie ein Berg ging er auf Atlan zu. Dicht vor ihm blieb er stehen. Seine Augen blitzten wie Dolche, die er dem Arkoniden entgegenschleuderte. »Ha!« grollte er, »es gibt einen Grund, warum ich das Unternehmen abblase. Ich will kein zweites Chail daraus machen. Ich will nicht, daß die SOL wieder in etwas hineingezogen wird, das niemand verantworten kann.« Langsam schritt er um den Arkoniden herum. Atlan verfolgte seine Bewegungen lächelnd. »Es gibt in Bumerang keine Planeten, auf denen wir Rohstoffe einholen können«, brummte Chart Deccon. »Alles, was es dort gibt, sind kleine, unbewohnbare Welten. Die größeren Planeten, die für uns in Frage kämen, existieren alle nicht mehr. Sie sind zerstört.« »Von einem großen Unbekannten!« spottete Atlan.
Mühsam zügelte Deccon sein Temperament. Er wußte, daß er sich jetzt keine Blöße geben durfte, wollte er sich nicht vor allen Magniden lächerlich machen. Mit schweren Schritten kehrte er an seinen Platz zurück. »Ruft die SK‐10 zurück!« sagte er und fixierte den Bildschirm. Was wollte Atlan eigentlich? Kam es ihm wirklich darauf an, Menschenleben zu retten, oder wollte er ihn in die Defensive drängen? Chart Deccon räumte ein, daß er sich nur deshalb so stur verhielt, weil es Atlan war, der es verlangte. Hätte es ein anderer gesagt, wäre es ihm leicht gefallen, zuzustimmen. Aber so? Der High Sideryt verfluchte innerlich seinen Entschluß, sein Handeln verstärkt unter diesem Gesichtspunkt betrachten zu müssen. Dabei war es gar kein Muß. Es gab den Weg, sich mit Atlan zu einigen und gemeinsame Lösungen anzustreben. Das setzte aber voraus, daß Atlan endlich mit der ganzen Wahrheit herausrückte. Woher er kam, was seine Ziele waren, welche Aufträge ihm die Kosmokraten erteilt hatten. Warum tat er es nicht? War er, der High Sideryt, zu begriffsstutzig, die Gründe zu erkennen? Deccon lächelte matt. Es diente mehr der eigenen Beruhigung. Im Grunde genommen war er im Augenblick völlig ratlos, wie er sich verhalten sollte. Er sah keine Möglichkeit, einen brauchbaren Weg zu begehen, auf dem er sich keine Blöße gab und von Atlans Vorschlägen unabhängig war. Irgendwo in den Gedanken des High Sideryt fraß sich die Erkenntnis fest, daß ohne Atlan nichts mehr lief an Bord der SOL. Wie lange noch? Wann hatte der High Sideryt nichts mehr zu sagen? * Palo Bow kam nicht mehr dazu, den Befehl Chart Deccons
auszuführen. Die SK‐10 meldete sich wieder. Die Stimme des Ahlnaten klang erregt. »Korvette an SOL, wir haben … gemacht!« Immer noch waren die unbekannten Funkzeichen dazwischen. »Was gemacht?« erkundigte Lyta Kunduran sich. »Eine Entdeckung gemacht! Das vierte Sonnensystem, das wir untersuchen wollen, ist erreicht. Es … ebenfalls Staub‐ und Trümmerwolken in großer Zahl … Metallmasse von Würfelform …« Der Hyperfunk wurde jetzt so stark überlagert, daß nur noch vereinzelte Silben ankamen. »Der Automat hat Schwierigkeiten. Er kann keine Muster erkennen, um die fremden Signale von unseren eigenen zu trennen«, sagte Bow hilflos. »Das gibt es nicht!« behauptete Atlan. »Bitte wiederholt nochmals«, funkte Bit. Die Stimme des Ahlnaten wurde klarer. »Unbekannte Masse aus Metall, würfelförmig, Kantenlänge etwa 600 Meter«, erläuterte Gisbert. »Der Würfel hält sich im dichtesten Staubring des Systems versteckt, der dem ehemaligen sechsten Planeten entspricht … Bodesche Reihe ergibt dieselben Werte wie bei allen bisher unter … Systemen. Zwei kleine Planeten in Sonnennähe existieren noch … atmosphärelos … keine Hinweise!« Chart Deccon trat neben Lyta Kunduran und gebot ihr zu schweigen. »Bei dem Würfel handelt es sich um etwas Künstliches, ein Raumfort oder etwas Ähnliches«, rief er in das Mikrofon. »Versucht herauszufinden, was es ist, wie es reagiert.« Der High Sideryt achtete nicht auf die verwunderten Blicke, die ihn ob seines neuerlichen Gesinnungswandels trafen. Und Atlan war auch noch anwesend, und vor dessen Augen hatte er gerade noch angeordnet, die Korvette zurückzuholen. »Wir gehen näher heran, versuchen … zu umfliegen, um einen optischen Kontakt … stellen«, kam die Stimme Gisberts durch. »Wir
bleiben in Ver …« »Bitte wiederholen«, sagte Bow automatisch, doch die Lautsprecher blieben stumm. Nur die unbekannten Signale kamen noch an, einen Moment lang, dann waren auch sie weg. Bow sagte: »Hyperfunkkontakt abgerissen!« Er betätigte die Funkanlage, aber sie blieb stumm. Betreten sahen sich die Magniden an. Aus! Es war aus. Sie hatten zwei Korvetten verloren. In die Stille hinein hörten sie die harte Stimme des Arkoniden. »Ihr habt es tatsächlich geschafft«, sagte er düster und mit vibrierender Stimme. »Gar nichts haben wir!« erwiderte Chart Deccon barsch. Dann schwieg auch er. Der High Sideryt war im Augenblick ratlos. Er erkannte, daß er sich selbst in eine Situation manövriert hatte, die ihm keinen Ausweg ließ. Entweder unternahm er einen Rettungsversuch und schickte ein weiteres Beiboot aus. Dann machte er sich vor Atlan lächerlich, denn gerade das hatte der Arkonide von Anfang an gefordert. Oder er gab den Befehl zum Weiterflug, dann würden die kritischen Stimmen an Bord ihm mit Recht vorwerfen, er hätte vierzig Solaner geopfert, ohne sich um sie zu kümmern. Das konnte das Aus für den High Sideryt bedeuten. Ich bin ein Idiot, fluchte Deccon innerlich. Da steht dieser Atlan und wartet darauf, daß ich ihm Recht gebe. Niemals. Er warf einen flüchtigen Blick auf den Unsterblichen, versuchte dessen Gedanken zu erfassen. Die Augen des Arkoniden waren dunkel und traurig, schienen ihre albinotische Leuchtkraft verloren zu haben. Atlan ließ die verschränkten Arme sinken und drehte sich langsam zur Tür. Ohne eine Miene zu verziehen, schritt er auf das Schott zu, öffnete es und verschwand nach draußen. Sein Abgang glich einem Urteil. Chart Deccon brach der Schweiß aus. Urplötzlich hatte er das
Gefühl, als zöge ihm jemand den Boden unter den Füßen weg. Mit aller Gewalt unterdrückte er einen Ausruf. Kopfschüttelnd verließ er seinen Platz und suchte seine Klause auf, jenen 120 Quadratmeter großen Raum neben der Hauptzentrale, die Wohnung eines jeden High Sideryt. Vor ihm hatte hier Tineidbha Daraw gelebt, seine Vorgängerin, die ihn geliebt hatte. Deccon ließ sich in seinen Sessel fallen und schloß die Augen. Es konnte nicht wahr sein, was er soeben erlebt hatte. War Atlan verrückt geworden, oder trieb er ein Spiel, das Deccon nicht verstand? Der High Sideryt überlegte hin und her und kam zu keinem völlig überzeugenden Ergebnis. Atlan war gegangen. Er hatte ihm die Demütigung erspart. Warum? »Er hat es mit Absicht getan, was steckt dahinter?« sagte Deccon im Selbstgespräch. Er dachte angestrengt nach, wie er sich verhalten mußte. Es gab einen Weg, der ohne Verzögerung beschritten werden konnte. Es war ein Zwischenweg, der ihm für später die Argumentation nach allen Seiten offen hielt. Deccon kehrte in die Zentrale zurück. Ohne die fragenden Blicke der Magniden zu beachten, aktivierte er den Interkom. »Hier spricht der High Sideryt«, sagte er gleichmäßig. »Ich suche Freiwillige für ein riskantes Manöver außerhalb der SOL. Sie sollen sich am Hangar 17 sammeln. Der Flug wird mit einem Kreuzer durchgeführt!« Er schaltete ab. In der Unruhe, die an Bord zur Zeit herrschte, würden sich genug melden. Sei es aus Langeweile oder anderen Motiven. Und einer würde sich garantiert zur Verfügung stellen. Der High Sideryt lächelte wieder einmal sein zweideutiges Lächeln. Atlan würde nichts unversucht lassen, maßgeblich an dem Unternehmen beteiligt zu sein. Er trachtete danach, weitere Erfolge auf seinem Konto verbuchen zu können. »Warte nur!« flüsterte Chart Deccon frohgelaunt. Und an Gallatan
Herts gerichtet, fuhr er fort: »Du hast doch vom schlechten Omen erzählt. Dann hat Atlan gerade vor, ein Eigentor zu schießen!« »Warum, soll er den Kreuzer fliegen?« »Nein, dafür habe ich dich vorgesehen, Gallatan!« schmeichelte Deccon übertrieben freundlich. Lyta Kunduran stand gerade unter dem Ausgang. Sie war im Begriff, ihre Kabine aufzusuchen. »Das ist allerdings ein Omen«, sagte sie beiläufig und entfernte sich. Keiner konnte sagen, wie es die Fortschrittliche gemeint hatte. 6. Es handelte sich bei dem Schiff um einen leichten Kreuzer mit hundert Metern Durchmesser und sechzig Mann Besatzung, von denen es im Mittelteil SOL zehn Stück gab, verteilt auf zwei Hangars, die einander gegenüber in den Außenbezirken des Ringwulsts lagen. Sechs NUG‐Triebwerke hatte ein solcher Kreuzer, zwei Kompakt‐Waringer mit einer Gesamtreichweite von 3 Millionen Lichtjahren und drei Transformkanonen mit einer Abstrahlkapazität von tausend Gigatonnen. Zwei davon waren in den Polkuppeln untergebracht, eine auf der fünften Etage über dem Ringwulst. Die sechzig Personen, die unter den Augen mehrerer Kameras das Schiff betraten, wußten bis auf wenige Ausnahmen über die technischen Einzelheiten nicht Bescheid. Es waren vierzig Solaner, die sich freiwillig gemeldet hatten, sowie fünfzehn Pyrriden, zwei Ahlnaten, ein Vystide und die beiden wichtigsten Personen überhaupt. Von diesen beiden besaß der eine detailliertes Wissen über diese Schiffe und ihre Handhabung. Es war ein Magnide in seinem weißen Gewand. Der andere besaß dieses Wissen und noch viel mehr. Er kannte sich mit Dutzenden verschiedener Typen und Variationen solcher Schiffe aus, wußte um die Unterschiede in der
Bauart einzelner Völker und konnte jedes problemlos fliegen, notfalls sogar allein, nur mit Unterstützung der Positronik. Auch dieser Mann war Magnide, aber er trug nicht das protzige Gewand, sondern kleidete sich in eine schlichte, hellgrüne Kombination, die frisch aus den Robotfabriken zu kommen schien. Die Pyrriden verhielten sich teilnahmslos. Sie kannten solcherlei Einsätze und richteten sich nach ihren Befehlen, die sie von dem Vystiden erhielten, einem Mann namens Troger Schyll, der lang und dürr vor ihnen aufragte und wie die Verlängerung des einen Magniden aussah. Die Solaner, die sich freiwillig gemeldet hatten, reckten ihre Köpfe, um die Magniden zu sehen. Sie erkannten nur den einen. Dieser erweckte nicht den Eindruck, als verstünde er sich mit seinem Nebenmann besonders gut. Er maß ihn mit feindseligen Blicken und hielt immer ein bis zwei Meter Abstand. In der rechten Hand, die kaum aus dem Ärmel des Gewands herausragte, hielt er einen eineinhalb Meter langen Stock, mit dem er ein kleines, violettes Fellknäuel vor sich her trieb. »Beim SOL‐Hirten!« flüsterte der eine Ahlnate seinem Kastenbruder zu, als er es im Gewimmel an der Bodenschleuse entdeckte. »Er hat sein Haustier dabei.« Innerhalb der SOLAG war es bekannt, daß Gallatan Herts einen hundeähnlichen Extra als Haustier hielt. Dieses Wesen war halb intelligent und trug den Namen Kyr‐Kyr. Herts behauptete, daß der kleine Extra, der wie ein zugewachsener Pudel aussah, ihn haßte und er vor ihm nie sicher sei. Tatsächlich waren verschiedene kleine Zwischenfälle belegt, doch Herts lebte noch, und das Gerede um den Extra war wohl aufgebauscht. Vielleicht war Kyr‐Kyr etwas angriffslustig. Bei Extras wußte man sowieso nie, ob sie das waren, was der Mensch in ihnen sah. Vielleicht gehörte es auf Kyr‐Kyrs Heimat zu den Gepflogenheiten seiner Rasse, das Vertrauen durch ein paar kräftige Bisse zur Geltung zu bringen. Der wohl streitbarste Traditionalist unter den Magniden hielt es
seinem Ansehen zuträglich, wenn er sich mit dem Extra sehen ließ, der einen so gefährlichen Ruf hatte. Mit seinem Stock konnte er ihn von sich abhalten und in das Schiff hinein gleich zum zentralen Antigravschacht treiben, der von Pol zu Pol führte. Er überzeugte sich, daß das Antigravfeld eingeschaltet war und nach oben gerichtet war. Dann dirigierte er Kyr‐Kyr hinein und schickte zehn Solaner hinterher. Dann folgte erst er zusammen mit dem Vystiden und den übrigen Mitgliedern der SOLAG. Der zweite Magnide in der grünen Kombi und den weißen Haaren folgte mit dem Rest der Mannschaft. »Er hat Angst, beim Verlassen des Antigravs von seinem Extra angefallen zu werden«, flüsterte jemand. Und eine andere Stimme sagte: »Das ist kein Leben, wenn man sich dauernd um solche Dinge kümmern muß. Was macht der Magnide denn, wenn er schlafen will?« Die Frage würde nie beantwortet werden, denn die Ereignisse ließen solche Kleinigkeiten schnell in Vergessenheit versinken. Das Fliegen eines Raumschiffs war keine Kleinigkeit, und die Bordpositronik war bereits auf das Verhalten der Pyrriden geeicht. Sie begann gleich mit ihrem halblauten Unterweisungsgeflüster, das die Pyrriden immer daran erinnerte, daß sie die Schiffe nur deshalb flogen, weil es unbedingt nötig war. Sie hofften auf den Tag, da die SOL unabhängig von jeder Außenversorgung sein würde. Dann würde es solche Ausflüge nicht mehr geben, und sie könnten sich angenehmeren Dingen widmen. Die Brüder der vierten Wertigkeit in ihren roten Kombinationen stolzierten mit geschwellter Brust zwischen den Solanern umher, lauschten den Anweisungen des Vystiden in seiner silbernen, hochglänzenden Uniform und zogen jene Solaner mit sich, die ihnen zur Unterstützung ihrer Arbeit zugewiesen wurden. Sie verteilten sich über die acht Decke des Schiffes. Die Solaner – sie besaßen alle ein Reservoir an technischem Wissen – ließen sich begeistert die Funktionen der Maschinen und
Apparaturen zeigen. Für sie war es ein Erlebnis, in einer kleinen Ausgabe ihrer riesigen Heimat zu fliegen, ihre Welt einmal von außen zu sehen. Gleichzeitig aber verband sich damit auch ein dumpfes Gefühl im Magen. Für viele war es das erste Mal, daß sie von der SOL getrennt werden sollten. Und jetzt, wo sie die beiden Magniden nicht mehr vor sich sahen, waren sie verunsichert. Rücksicht darauf nahm niemand. Aus der Zentrale kam die Mitteilung an alle Schiffsabteilungen, daß sie ihre Plätze einzunehmen hatten. Der Start stand bevor. Über die Bildschirme sahen sie, wie das Schott zum an den Hangar angrenzenden Korridor sich schloß. Dann öffnete sich langsam das große Tor nach draußen, und die seltsam geformte Sternenballung leuchtete herein. Atlan musterte den Magniden, wie er im Kommandantensessel des Kreuzers saß und seine Befehle erteilte. Das Schiff beschleunigte und entfernte sich schnell von der SOL. Gallatan Herts war nur mit halber Sache dabei. Ein Auge auf den Bildschirm gerichtet, beobachtete er mit dem zweiten argwöhnisch seinen Extra, wechselte ab und zu den Stock von der rechten in die linke Hand, wenn Kyr‐Kyr um den Sessel herumging. Herts traute seinem Haustier nicht, und Atlan fragte sich gespannt, ob der Magnide die nervliche Anspannung während des ganzen Flugs durchhalten würde oder nicht. Ausgerechnet ihn muß Deccon mir vor die Nase setzen, dachte er. Dabei war Herts nicht gerade die Gestalt, die Eindruck erweckte. Der Magnide war einen Meter einundfünfzig groß, deswegen er manchmal hinter seinem Rücken Rumpelstilzchen genannt wurde. Auch paßte sein Charakter genau zu dieser Bezeichnung, er war ein wahrer Giftzwerg von einem Menschen, dürr und leicht verwachsen. Das bleiche und hagere Gesicht mit den tiefliegenden Augen erinnerte an das Antlitz einer Leiche. Die lange Nase und die schmalen Lippen verstärkten diesen Eindruck noch. Herts war leicht reizbar und ungeheuer streitsüchtig. Das war aber nicht der einzige an Bord, der dem Arkoniden
auffiel. Schon vor dem Betreten des Schiffes hatte er festgestellt, daß sich ein alter Mann in seine Nähe drängte und ihn aufmerksam musterte. Er war ungefähr so groß wie Atlan, allerdings etwas breit gebaut. Seine Gesichtszüge waren rauh und herb, drückten aber unverhohlenes Interesse aus. Der Mann besaß graues, kurzgeschnittenes Haar. Atlan schätzte ihn auf ungefähr hundert Jahre. Ein Freiwilliger? fragte er sich, oder einer, der sich um Herts kümmern soll? Es war ihm nicht bekannt, ob die Magniden außer ihren Robotern auch über andere Leibwachen verfügten. Handelte es sich um eine zusätzliche, von Deccon angeordnete Sicherheitsmaßnahme? Atlan sah sich unauffällig um. Mehrere Solaner standen in der Nähe, beobachteten das, was die Pyrriden und die beiden Ahlnaten taten. Von einem gesprächigeren Bruder der vierten Wertigkeit ließen sie sich die Funktionen der verschiedenen Schalttafeln erklären. Der Grauhaarige, den Atlan meinte, war nicht bei ihnen. Der Arkonide blickte sich weiter um. Der Mann stand knapp drei Meter hinter ihm und starrte ihn an. Jetzt sah er in eine andere Richtung. Er beobachtet dich, meldete sich sein Extrasinn. Er ist dein Schatten auf diesen Flug! Ein Aufpasser! Das hatte gerade noch gefehlt. War es nicht genug, daß Deccon Herts zum Kommandanten des Schiffes gemacht hatte! Atlan wußte, daß der High Sideryt nichts unbeabsichtigt tat. Deccon hatte genau gewußt, daß er sich freiwillig melden würde. Er hatte Herts bestimmt genaue Anweisungen gegeben, wie er sich zu verhalten hatte. Er würde dafür sorgen, daß er, der ungern gesehene Gast, keine Gelegenheit erhielt, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Atlan war nicht unvorbereitet an Bord gegangen. Er hatte Bjo Breiskoll und Joscan Hellmut gebeten, als Rückendeckung auf der SOL zu bleiben und dafür zu sorgen, daß sich das Schiff nicht
entfernte. Jetzt, wo er einen der Traditionalisten im Kreuzer wußte, war diese Vorsichtsmaßnahme unbegründet. Aber es konnten andere Dinge geschehen, im Zusammenhang mit den Zwillingen oder den Robotfabriken. Da war es gut, wenn die ehemaligen Schläfer in der SOL vollzählig waren. Der grauhaarige Solaner wandte sich jetzt ab. Er schlenderte hinüber zu den Funkern und tat, als sei er an ihrer Arbeit interessiert, doch Atlan erkannte mit einem Blick, daß der Mann genug von dieser Tätigkeit verstand. Er war unter dem durchdringenden Blick der roten Albinoaugen nur unsicher geworden und hatte sich entfernt. Was will er von mir? fragte der Arkonide sich. Jetzt hieß es nicht nur, auf Herts und seine SOLAG‐Männer aufzupassen, sondern sich auch noch vor diesem Solaner in acht zu nehmen. »Wir gehen gleich in den Linearraum«, ertönte die keifende Stimme des Magniden. Mit dem Stock hieb er nach Kyr‐Kyr, doch der Extra wich dem Hieb aus und entfernte sich aus dem Gefahrenbereich. »Die Feuerleitzentrale ist vollständig besetzt und arbeitet einwandfrei!« kam die Stimme Troger Schylls aus den Lautsprechern des Interkoms. Herts hatte Feuerbereitschaft angeordnet. Atlan kannte die Befehle nicht, die Deccon dem Magniden mitgegeben hatte. Er konnte sich jedoch denken, wie sie ausschauten. Der Kreuzer würde nach den Vermißten suchen, zu denen aus noch nicht geklärten Gründen der Kontakt abgebrochen war. Er würde den Würfel ausfindig machen wollen, den alle ohne Ausnahme mit den Vorgängen in Bumerang in Zusammenhang brachten. Zu einem direkten Kampfeinsatz oder Feindberührung würde es der High Sideryt nicht kommen lassen. Immerhin befanden sich wertvolle Mitglieder der SOLAG an Bord. Es war ein reines Rettungsunternehmen.
»Es kommt viel zu spät«, murmelte Atlan leise. Wieder glaubte er die brennenden Blicke des Grauhaarigen in seinem Rücken zu spüren. Unauffällig versuchte er, in der spiegelnden Scheibe eines Monitors den Teil der Zentrale zu erkennen, der hinter ihm lag. Er sah die breite Säule des zentralen Antigravs. Daneben stand eine hohe Gestalt und beobachtete ihn. Atlan warf sich zur Seite, seine Hand fuhr zum Gürtel. Aus den Augenwinkeln erfaßte er, daß die Gestalt sich noch immer nicht bewegte. Und sie trug auch keine Waffe. Narr! meldete sich sein Extrasinn erneut. Du glaubst doch nicht im Ernst, daß dich jemand vor so vielen Zeugen erschießt! Es sind auch Solaner anwesend! Atlan schüttelte benommen den Kopf. Wie hatte er nur darauf hereinfallen können. Die alten Zeiten der Kämpfer sind vorbei! Der Grauhaarige war verschwunden. Sicher hatte er sich über sein Verhalten gewundert. Oder er war jetzt gewarnt. In diesem Augenblick verließ der leichte Kreuzer den Normalraum und überbrückte die Entfernung von 41 Lichtjahren in einem kurzen Sprung. Fast übergangslos kehrte das Schiff wieder in den Einsteinraum zurück, und Atlan sah die Sterne Bumerangs in einem Ausschnitt vor sich. »Ortung negativ!« meldete die Positronik und setzte ihre halblauten Anweisungen an alle Stationen fort. »Wir gehen in eine zweite Linearetappe, die uns direkt an das System heranführt, in dem sich die Korvette zuletzt aufgehalten hat«, entschied Herts schrill. »Achtung auf allen Stationen! Sofortige Gefechtsbereitschaft herstellen!« »Geschütze klar!« kam die Meldung. Das Fieber des Abenteuers ergriff Gallatan Herts. Er erhob sich aus seinem Sessel und machte drei Schritte zur Seite. Seinen Stock hielt er wie einen Zeigestab gegen den Bildschirm empor. Seine Augen hatte er auf die beiden Pyrriden gerichtet, die die Funktion von
Piloten versahen. »Sollte uns Gefahr drohen, ziehen wir uns sofort wieder in den Linearraum zurück!« wies er sie an. In diesem Augenblick geschah es. Herts schien selbst plötzlich daran zu denken, denn er wollte sich umdrehen. Aber es war zu spät. Atlan sah nur den kleinen, dunklen Schatten. Es war Kyr‐Kyr. Der Extra flog durch die Luft und landete im Nacken des Magniden. Kleine, spitze Zähne blinkten in der hellen Beleuchtung der Zentrale. Kyr‐Kyr schnappte zu und verbiß sich in Hertsʹ Nacken. Gallatan Herts stöhnte. Er hatte seinen Stock fallen gelassen. Jetzt versuchte er, mit den Händen hinter sich zu greifen und Kyr‐Kyr wegzureißen. Dabei wurden seine Bewegungen immer schwerfälliger. Atlan machte zwei Schritte vorwärts und wollte zugreifen. So sehr er dem Magniden die Abreibung gönnte, wußte er doch nicht, wie gefährlich der Extra war. Die Mitglieder der SOLAG standen noch immer wie erstarrt. Sie rührten sich nicht. Die Überraschung lähmte sie. Neben Atlan tauchten Hände auf. Sie waren alt, so alt wie das Gesicht, das zu ihnen gehörte. Die Hände faßten nach Kyr‐Kyr, der bereitwillig seine Kiefer öffnete, und zogen ihn von Herts weg. Der Extra wehrte sich nicht. Er ließ sich wegtragen und mit einem Kabel an die Fußsäule des nächsten Sessels binden. Der Grauhaarige! Er hatte eingegriffen! Atlan wußte nicht, was er von dem Mann halten sollte. Langsam keimte in ihm der Verdacht, daß er ihn völlig falsch einordnete. Daß er weder zu Deccon noch zur SOLAG gehörte. War er der Vertreter einer unbekannten Gruppe innerhalb der SOL? Der Gedanke an die Basiskämpfer war kurz gegenwärtig. Er verwarf ihn. Sicher hätte der Mann Kontakt mit ihm aufgenommen, wenn er eine Botschaft von Sternfeuer und Federspiel für ihn gehabt hätte.
Atlan kniete neben Herts nieder, der zu Boden gesunken war. Er untersuchte den Nacken des Magniden. Deutlich waren die Spuren scharfer Zähne zu sehen. Sie hatten Einstiche wie von einem Schlangenbiß hervorgerufen. Blut war nur wenig ausgetreten, aber die Wundränder färbten sich blau. Die Bewegungen des Magniden erstarben immer mehr. »Vergiftung!« wollte Atlan laut sagen, aber da meldete sich die Schiffspositronik. »Unfall erkannt!« sagte sie nur. Gleichzeitig ging die Tür auf, und zwei Roboter mit einer Bahre rollten herein. Sie nahmen Herts unverzüglich mit in die Krankenstation. Ein Ahlnate wollte mit, aber Atlan hielt ihn zurück. »Die Roboter wissen besser als wir, was zu tun ist«, sagte er. Einen Augenblick zögerte er, dann schritt er entschlossen zum Sessel des Kommandanten und setzte sich hinein. »Ab sofort steht das Schiff unter meinem Kommando«, sagte er, so daß ihn alle Abteilungen hörten. Gemurmel kam auf. Die beiden Ahlnaten kamen zu Atlan herüber. Auch der Vystide meldete sich. »Nach Herts bin ich der Ranghöchste in der SOLAG«, erklärte Troger Schyll. »Ich komme hinunter.« »Wir haben keine Anweisungen erhalten, daß du der Nachfolger von Herts sein sollst«, sagten auch die beiden Ahlnaten. Atlan stand auf. Er wollte etwas sagen, aber da stand wieder der Grauhaarige und wies die Ahlnaten zurück. Und in den Interkom sagte er: »Hier spricht Breckcrown Hayes. Atlan ist ein Magnide und somit autorisiert, das Kommando zu übernehmen, bis Gallatan Herts genesen ist!« Fast gleichzeitig sagte die Positronik: »Der Magnide zeigt Vergiftungserscheinungen. Er wird behandelt. Seine Wiederherstellung wird etliche Stunden in Anspruch nehmen.« »Hayes? Den Namen kenne ich!« hörten sie den Vystiden rufen.
Auch Atlan erinnerte sich, ihn schon gehört zu haben. Gavro Yaal hat ihn genannt! Jetzt wußte der Arkonide wieder Bescheid. Das war der Solaner, der die Robotfabrik vor der endgültigen Explosion gerettet hatte. Troger Schyll kam nicht in die Zentrale herunter. Aber aus anderen Schiffsteilen trafen Anfragen ein. Atlan nickte. Er ließ eine Bildverbindung mit allen besetzten Stationen herstellen und erklärte: »Wir müssen der Korvette schnellstens zu Hilfe kommen. Auch nach dem zweiten Beiboot müssen wir suchen. Das hat jetzt den Vorrang. Wir gehen in die zweite Linearetappe!« Der Arkonide nutzte die Situation aus. Auf der SOL würde niemand etwas von dem Zwischenfall erfahren. Herts befand sich nicht in Lebensgefahr, aber er war nicht in der Lage, etwas gegen ihn zu unternehmen. Die Mission würde nach seinem, Atlans, Willen durchgeführt werden. Breckcrown Hayes blieb neben ihm stehen, und Atlan bedankte sich mit einem Kopfnicken. Hayes machte eine Handbewegung, die Atlan an etwas erinnerte. Er kam nur nicht darauf, was es war. Eine Bewegung, die zustimmend war und entschieden. Die sonst jemand machte, der das Befehlen gewohnt war? So sehr er sich auch das Gehirn zermarterte, er kam nicht darauf. Er wußte jetzt aber, daß Hayes nicht sein Gegner war. Er hatte ihn aus anderen Gründen beobachtet, als er vermutet hatte. »Es freut mich, dich endlich kennenzulernen, Atlan«, sagte Hayes und reichte dem Arkoniden die Hand. Der Leichte Kreuzer ging in den Linearraum. * Breckcrown Hayes hatte sich seinen Wunsch erfüllt, den er in so kurzer Zeit für unerfüllbar gehalten hatte. Er stand Atlan
gegenüber, dem geheimnisvollen Mann, der plötzlich an Bord der SOL aufgetaucht war, ohne daß jemand hätte sagen können, woher er gekommen war. Atlan, der Mann aus der Vergangenheit, setzte alles daran, auf der SOL menschenwürdige Zustände herzustellen. Viele Solaner unterstützten ihn bei diesem Vorhaben, aber es gab auch andere, die ihn als Störenfried empfanden. Hayes verstand das nicht. Vom ersten Augenblick an hatte er von Atlan den Eindruck eines Mannes gehabt, der nicht aus eigennützigen Motiven handelte und von der Aufgabe überzeugt war, die sich ihm stellte. Dennoch, was gab es für einen Grund, daß ausgerechnet er den Arkoniden aufsuchte? Breckcrown Hayes konnte sich diese Frage nicht beantworten. Das Zusammentreffen und der Eindruck waren aus emotionellen Gesichtspunkten heraus entstanden, untermauert von dem, was er über Atlan wußte. Ein klein wenig spürte der Solaner, daß Atlan und er etwas Gemeinsames hatten. Es war unterschiedlich ausgeprägt, es war die Einsamkeit. Hier der Arkonide, auf sich allein gestellt und in die SOL geschickt, dort Breckcrown Hayes, pflichtbewußt und ebenso allein. Hayes war ein Findelkind. Seine Mutter war schon lange tot, er besaß keine Erinnerung an sie. Über seinen Vater hatte er sich nie Gedanken gemacht, es war bestimmt irgendein Solaner, der von seinem Vaterglück nichts wußte und vielleicht nicht einmal mehr lebte. Breckcrown hatte in jungen Jahren die Einsamkeit besonders stark empfunden. Er war bei einer fremden Familie aufgewachsen, die sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt hatte, daß sich die Ahlnaten des Jungen annahmen. Breckcrown blieb bei seinen Pflegeeltern, die ihn wie ihr eigenes Kind behandelten, ihm über seine Herkunft jedoch nichts sagen konnten. Seine Außenseiterstellung war es, die ihn zu hoher Leistung anspornte, die den jungen Mann verschiedene Tätigkeiten erlernen ließ. Nie
hörte er auf, sich Wissen und Geschick anzueignen. Er war in dem riesigen Schiff, das seine Heimat war, überall zu gebrauchen. Er war ein Talent, und er war entschlossen, nie zur SOLAG zu gehören. Jetzt stand Hayes neben dem Kommandantensessel und beobachtete den Bildschirm, der eine grellweiß leuchtende Sonne zeigte. Die Ortungsgeräte waren alle im Einsatz. Sie zeigten zwei kleine, atmosphärelose Planeten, die in engen Bahnen um den Stern kreisten. Der Rest des Systems wurde von neun langgezogenen Staub‐ und Trümmerwolken gebildet, die sich um die Bahnen der ursprünglichen Planeten gebildet hatten. Daß es Planeten gewesen waren, daran bestand kein Zweifel mehr. »In der Staubwolke, die dem sechsten Planeten entspricht, soll sich der geortete Würfel befinden«, sagte einer der beiden Ahlnaten. Atlan nickte. »Korvette geortet!« meldete in diesem Moment einer der Pyrriden. Der Leichte Kreuzer driftete langsam in das Sonnensystem hinein. Er hatte seine Geschwindigkeit auf zwanzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit herabgesetzt und bremste weiter ab. Atlan erhob sich und warf einen Blick auf die Instrumententafeln. Mit zufriedenem Gesicht begann er ein Flugmanöver einzuleiten. Die Angehörigen der SOLAG verfolgten mit großen Augen, mit welcher Geschwindigkeit er das tat. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß ein Mensch die Technik eines solchen Schiffes wie im Schlaf beherrschte. Das Schiff passierte die Staubwolke des achten Planeten. Die Entfernung zur Korvette betrug noch rund vierhundert Millionen Kilometer. »Wir sind kurz von einem Ortungsstrahl erfaßt worden!« meldete ein Ahlnate. Atlan hatte es gesehen. »Korvette anfunken!« ordnete er an. SK‐10 antwortete nicht. Sie schien sich in absoluter Funkstille zu befinden. Es kann nur bedeuten, daß der unbekannte Angreifer es
verhindert, überlegte Breckcrown Hayes. Er kniff die Augen zusammen, konnte aber auf dem Optikschirm noch nichts erkennen. Dafür lieferten die Instrumente eine neue Überraschung. »Die SK‐10 ist zwischen zwei Asteroidenbrocken eingekeilt. Sie umschließen das Schiff schalenförmig. Nur ein kleines Stück der Korvette ragt noch heraus!« Die Stimme des Pyrriden klang erregt. Der Bruder der vierten Wertigkeit befand sich offensichtlich am Rand einer leichten Panik. Was er erlebte, ging über sein Vorstellungsvermögen. Jetzt sah Breckcrown Hayes etwas leuchten. Es hüllte einen Körper ein, der zwischen dem ehemaligen siebten und dem sechsten Planeten lag. »Ein diffuses Energiefeld hüllt die Brocken mit der Korvette ein«, erklang Atlans Stimme. Der Arkonide musterte die Zahlenkolonnen, die über den kleinen Monitor vor seinem Sessel eilten. Noch immer kam kein Funkkontakt zustande, das Energiefeld trug die Schuld daran. Der Kreuzer bremste weiter ab und näherte sich vorsichtig dem Ort des Geschehens. Die visuellen Geräte lieferten nun ebenfalls brauchbare Werte. Und die Taster stellten fest, daß die Korvette äußerlich unversehrt war. »Wir haben die unbekannte Station eingepeilt«, kam die Meldung. »Wann sollen wir Kontakt aufnehmen?« »Sofort!« erklärte Atlan entschieden. »Allerdings rechne ich nicht damit, daß wir Erfolg haben werden.« Bisher war der Funkverkehr einseitig gewesen. »Geschütze sind klar!« klang die Stimme des Vystiden in der Feuerleitzentrale auf. Sie erlebten denselben Vorgang wie in der Hauptzentrale der SOL. Der Würfel beantwortete ihren Funkanruf nicht. Dafür kamen nach drei Minuten fremde Signale im Schiff an, die mit denen übereinstimmten, die Atlan bereits kannte. Sie hatten eindeutig in der Würfelstation ihren Ursprung.
»Das also ist unser Gegner«, hörten die Männer in der Zentrale die Stimme Troger Schylls. Der Vystide konnte es kaum erwarten, seine Geschütze zu bedienen. Breckcrown Hayes beobachtete Atlan. Der Arkonide schien zu überlegen. Nach einer Weile sah er den Solaner an. »Die Asteroiden werden von der Station aus manipuliert, ebenso das energetische Fesselfeld«, sagte er. »Es bleibt uns nur eine Möglichkeit, die Korvette mit ihrer Besatzung zu befreien. Wir fliegen den Würfel an und bemühen uns um eine Verständigung. Wenn wir keinen Erfolg haben, dringen wir ein.« Einer der einfachen Solaner, die mit in der Zentrale waren, drängte sich heran. »Es dürfte gefährlich sein«, sagte er. »Wenn wir überlegen, mit welcher Leichtigkeit es ihm gelungen ist, unsere Korvette aus dem Verkehr zu ziehen!« Atlan wollte eine Antwort geben, kam aber nicht mehr dazu. Breckcrown Hayes stieß einen leisen Schrei aus. Er sprang an das Steuerpult und stieß einen der beiden Pyrriden‐Piloten weg. Mit fliegenden Fingern bediente er die Tastatur, als spiele er auf einem Klavier. Seine Tätigkeit erinnerte die anderen an das, was sie von Atlan vorher gesehen hatten. Der Kreuzer schwenkte herum und raste mit flammenden Triebwerken zur Seite. Erst jetzt sahen sie auf dem Bildschirm die drei riesigen Trümmerbrocken, die sich mit hoher Geschwindigkeit näherten. »Achtung, der Angriff gilt uns!« klang die Stimme des Arkoniden auf. Er überließ Hayes ganz die Steuerung des Schiffes und widmete sich nur der Auswertung der eingehenden Daten. »Feuerleitzentrale melden!« »Bereit!« Das war Troger Schyll. »Vernichte die Asteroiden mit dem Desintegrator!« rief Atlan in den Interkom. Dann gab er weitere Anweisungen an die einzelnen Abteilungen.
Widerspruchslos folgte die Besatzung seinen Anweisungen. Sie hatte die Gefahr erkannt und wollte sich wehren. Der Desintegrator schwenkte auf die feindlichen Objekte ein. Dreimal wurde er ausgelöst, die heranrasenden Asteroiden vergingen in den Energien. Sie zerstäubten und verloren jegliche Gefährlichkeit. »Gefahr beseitigt!« meldete Troger Schyll mit stolzgeschwellter Brust. Breckcrown Hayes verließ das Steuerpult, und der Pyrride nahm seinen Platz wieder ein. Er bedachte den Solaner mit ein paar ungnädigen Blicken, aber Hayes machte sich nichts daraus. Er hatte die Gefahr als erster erkannt und gehandelt. Atlans anerkennenden Blick nahm er gelassen hin. Der Arkonide verließ seinen Sessel und trat auf Hayes zu. »Ich bin um jeden umsichtigen Helfer froh, der mir begegnet«, erklärte er. »Was meinst du, sollen wir jetzt tun?« Hayes besaß nicht gerade wenig Selbstvertrauen, das hatte er oft bewiesen. Aber jetzt wurde er doch verlegen. »Wachsamkeit ist das beste, was wir tun können. Es dürfte nicht der letzte Angriff gewesen sein«, antwortete er. »Alle bleiben auf ihren Posten!« befahl der Arkonide. Das Schiff flog eine Schleife und kehrte in die Nähe der gefangenen Korvette zurück. Wieder setzten die fremdartigen Funkimpulse ein, ein deutliches Zeichen. »Es muß eine Warnung sein«, vermutete Breckcrown. »Gleich wird es wieder losgehen!« Weit und breit zeigten die Orterschirme keinen Felsbrocken, der sich näherte. Nichts geschah, alles blieb gleich. Die Funkimpulse blieben weiterhin unverständlich. Dann aber überschlugen sich die Ereignisse. »Signalmuster wechselt!« rief der Pyrride. Atlan sah es auf seinem Monitor. Fast gleichzeitig meldete die Bordpositronik: »Identifizierung
läuft. Allgemein verständliche Symbole.« In der Zentrale wurde es still, man konnte das Atmen in den Lautsprechern hören. Alle warteten auf die Botschaft der Fremden. Sie würde alle Fragen beantworten und das Geheimnis der würfelförmigen Station lüften. »Energiefeld erlischt!« rief Breckcrown Hayes, der die Augen nicht vom Bildschirm gelassen hatte. Funkkontakt war da. Sie hatten Kontakt mit der Korvette. Sie sahen, wie die beiden Asteroiden langsam davondrifteten und das Beiboot freigaben. »Hier Atlan an Bord eines Leichten Kreuzers!« sagte der Arkonide. »Gisbert spricht«, sagte der Ahlnate, der die SK‐10 befehligte. »Was ist geschehen? Wie kommt ihr hierher?« »Habt ihr nichts mitbekommen?« erkundigte Atlan sich. Der Ahlnate verneinte. »Wir stellten plötzlich fest, daß wir keinen Kontakt mehr zur SOL hatten«, antwortete er. »Alle Schiffssysteme spielten verrückt, und dann kamen die Brocken und schlossen uns ein, ohne daß wir etwas dagegen tun konnten!« »Einen Augenblick«, sagte Atlan und winkte dem Abbild des Ahlnaten zu. »Die Auswertung kommt herein!« »Auswertung beendet«, meldete die Positronik. Text lautet! »Ihr Unübertrefflichen! Ihr Starken! Ihr Glücklichen des Universums! Geht! Verlaßt diese Stätte der Scham! Wendet euren Rücken und vergeßt! Vergeßt, was ihr gesehen und erlebt habt! Wir sind nicht würdig, daß ihr euch unser Andenken bewahrt! Geht, wir bitten euch!« Die Besatzungsmitglieder blickten sich verständnislos an. Breckcrown Hayes schüttelte den Kopf. »Was bedeutet das?« fragte er. Atlan zuckte mit den Schultern. Er verstand es auch nicht. Was sollten diese Worte? Sie paßten nicht zum Verhalten der Station. Wer schämte sich wovor, und warum nahm er deswegen jeden
gefangen, der sich näherte? Der Arkonide ordnete an, den Würfel erneut anzufunken. Minutenlang verließen die Impulse das Schiff und eilten der fremden Station entgegen. Es war sinnlos. Sie wurden nicht erwidert. Der Würfel hüllte sich in Schweigen. Sollten sie an ihn heranfliegen und sich Zutritt verschaffen? Atlan verwarf den Gedanken. Die Korvette war frei, das Ziel erreicht, weswegen man hier war. Der Würfel war groß, und niemand wußte, welche Überraschungen er noch bereit hielt. Die wichtigste Erkenntnis war aber eine andere. Breckcrown Hayes war es, der sie formulierte. »Es ist noch einmal gut gegangen«, sagte der Solaner zu Gisbert, der die Unterhaltung teilweise verfolgt hatte. »Und es läßt hoffen, daß auch die SK‐11 noch wohlauf ist, obwohl sie einen Notruf losgeschickt hat.« »Wieso die SK‐11?« rief Gisbert laut. »Ist sie …« »Sie ist noch vor euch verschwunden«, erklärte Atlan. »Der Funkkontakt riß ab, und seither wissen wir nicht, was aus ihr geworden ist.« »Wir werden sie ebenfalls suchen!« bekräftigte Hayes. Es war nicht gerade schmeichelhaft für die Solaner, daß sie auf der ganzen Linie versagten, kaum daß sie ihren Fuß aus ihrer Heimat hinaussetzten in den Weltraum, den sie als ihre vertraute Umgebung betrachteten. »Es ist am besten, die Korvette fliegt sofort zur SOL zurück«, schlug Atlan vor. »Sie soll Deccon Bescheid geben. Wir werden uns auf die Suche nach der SK‐11 machen!« Die Verbindung erlosch. Sie sahen, wie die Korvette sich aus der Nähe der Asteroiden löste und Fahrt aufnahm. Sie beschleunigte mit Maximalwerten, obwohl sie sich noch zwischen den Staubwolken befand. Als sie in den Linearraum ging, verschwand sie von den Schirmen. »Jetzt wird Deccon schnell erfahren, wer hier das Kommando hat«, lächelte Breckcrown Hayes. Atlan nickte. »Es spielt nun keine Rolle mehr. Wir müssen uns nur ein bißchen
beeilen«, sagte er. Der Leichte Kreuzer entfernte sich von der dichten Wolke des sechsten Planeten und der Würfelstation und flog sein nächstes Ziel an, den Knick des Bumerangs, dort, wo die Sternenballung am dicksten war. Von dort hatten sie die letzten Signale der SK‐11 empfangen. Irgendwann und irgendwo werden wir auf die Erbauer des Würfels stoßen, dachte der Arkonide. »Von der Korvette keine Spur«, sagte der Ahlnate. Aus den Lautsprechern kam ein grimmiges Lachen. »Die Geschütze sind weiter feuerbereit«, erklärte Troger Schyll. Atlan verzog den Mund, erwiderte aber nichts. Tatsächlich erwarteten sie alle, daß sich hier dasselbe abspielen würde. Es war nur eine Frage der Zeit, unter den Staubwolken die richtige herauszufinden. Aber wenn die SK‐11 vollständig von Gesteinsbrocken eingehüllt war, konnten sie sie nicht einmal orten. Das Planetensystem hatte einmal fünfzehn Planeten besessen. Ob sie noch Leben getragen hatten, war nicht nachweisbar. Die Sonne besaß einen ungefähren Durchmesser von achtunddreißig Millionen Kilometern. Sie glühte in dunklem Rot und gab kaum noch Wärme ab. Alle großen Planeten waren zerstört, wie in den bisher besuchten Systemen auch. Auch hier fehlten in den Trümmerringen Masseanteile, die darauf hinwiesen, daß ein Teil der Planetenmaterie, offenbar Metalle, entfernt worden war. »Wir ersparen uns eine genaue Analyse«, entschied Atlan. »Zuerst suchen wir die Korvette.« Er hatte sich seine Entscheidungen durch den Kopf gehen lassen. Gisbert flog zur SOL und erstattete Deccon Bericht. Der Ahlnate wußte nicht, was Gallatan Herts widerfahren war, er konnte nur berichten, daß Atlan den Kreuzer befehligte. Welche Schlüsse würde der High Sideryt daraus ziehen? Es war durchaus möglich, daß Deccon Herts abschrieb und mit dem Schiff einfach auf und davon ging.
Außerdem mußte Atlan damit rechnen, daß der High Sideryt gegen die Schläfer vorging, insbesondere gegen die Zwillinge, die sich ja bei den Basiskämpfern aufhielten. Aber auch Yaal und Hellmut, die sich um den Wiederaufbau der technischen Anlagen bemühten, waren vor den Nachstellungen der SOLAG nicht sicher. Es galt also, so schnell wie möglich den Rückflug anzutreten. Wie aber die Korvette finden? »Wenn sie sich orten läßt, finden wir sie auf alle Fälle. Bei den geringen Metallvorkommen in diesem Sonnensystem wird sie von den Ortungsgeräten nicht übersehen«, stellte Breckcrown Hayes fest. Atlan registrierte die Vielseitigkeit, die dieser Mann besaß. In einer Welt, in der jeder nur das Wichtigste wußte, das ihm für die Ausübung seiner Tätigkeit nötig war, bildete Hayes einen Anachronismus, und Atlan fragte sich, wie der Solaner an all das Wissen gekommen war. Hayes bewegte sich ungezwungen unter den anderen Solanern. Jeder Beobachter merkte sofort, daß er zu ihnen gehörte. Ein Teil von ihnen kannte Hayes, hatte früher mit ihm zu tun gehabt. Nichts deutete auf etwas Außergewöhnliches hin. Atlan wurde abgelenkt, denn die Pyrriden an den Ortern meldeten eine Entdeckung. Zwischen den ehemaligen vierten und fünften Planeten hatten sie Metalltrümmer ausgemacht, die relativ eng beieinander standen. Die Trümmer strahlten, und sie enthüllten der Besatzung des Kreuzers die furchtbare Wahrheit. »Es ist die Korvette!« stieß ein Ahlnate hervor. Es war die SK‐11. Sie existierte nicht mehr, und Überlebende konnte es in den Trümmern kaum geben. Das Schiff war von starken Waffen zerfetzt worden. »Sonden ausschleusen«, ordnete Atlan an. Die Sonden verließen das Schiff und näherten sich den Trümmern. Sie stellten Strahlendiagramme auf, maßen die Trümmer, bestimmten die Bruchstellen und ermittelten an der Wirkung die Waffe, mit der die Korvette zerstört worden war. Es hatte sich nicht
um Beschuß eines Schiffes gehandelt. Die Korvette mußte auf eine frei im Raum hängende Mine aufgefahren sein, die das Schiff in unzählige Teile zerrissen hatte. Die Sonden fanden nicht einmal ein einigermaßen erhaltenes Teil aus den Ersatzteillagern der Korvette. Alles, einschließlich der Shifts und Raumjäger war zerstört. Keine Spur eines Menschen. Atlan rief die Sonden zurück. Für ihn stand endgültig fest, daß in Bumerang ein starker Gegner herrschte, dessen Mentalität an dem entschlüsselten Funkspruch gemessen völlig fremdartig war. Eine Station ähnlich dem Würfel war nicht auszumachen, ihr Vorhandensein konnte aber nicht ausgeschlossen werden. »Wir fliegen zur SOL zurück«, teilte er den Piloten mit. Sie hatten keine Zeit, das ganze System abzusuchen. An Bord des Generationenschiffs wurden sie dringender benötigt, zumindest vorläufig. Atlan stellte sich vor, wie Deccon reagieren würde, wenn er von der vernichteten Korvette erfuhr. Letztendlich hatte er die Verantwortung dafür zu tragen. Er hatte eine Rettung verhindert, obwohl es klar auf der Hand lag, daß der SK‐11 niemand mehr hätte zu Hilfe kommen können. Die Korvette war gleich nach dem Abreißen des Notrufs zerstört worden. Der Leichte Kreuzer wendete und begann mit der Beschleunigungsphase. Die Bordpositronik meldete: »Ich empfange schwache Signale auf Normalfunk. Es handelt sich nicht um die bekannten Symbole, sondern um eine unbekannte Sprache!« »O nein!« Einer der Solaner rief es. »Nicht noch mal!« Zwei Sonnensysteme hatten sie angeflogen. Sie hatten das vernichtete Schiff gesehen. Es zog sie mit aller Gewalt zur SOL zurück. Dort fühlten sie sich sicher. Die Entscheidung lag bei Atlan. Dem Arkoniden kam die Mitteilung selbst ungelegen. Schließlich rang er sich zu einem
Entschluß durch. »Stelle fest, woher der schwache Ruf kommt«, sagte er. »Und versuche, die Sprache zu entschlüsseln.« Die Bordpositronik machte sich an die Arbeit. Sie führte eine Standortbestimmung durch. »Entfernung drei Lichtminuten in einem Trümmerbrocken«, sagte sie kurz darauf. »Es handelt sich um einen Hilferuf!« »Funkverbindung!« rief Atlan. Langsam begann er zu sprechen. Er teilte den Fremden mit, daß Hilfe unterwegs war und sie ausharren sollten. Die Positronik übersetzte seine Worte in die fremde Sprache und strahlte sie an den Felsbrocken aus. Es erfolgte keine Antwort. »Vermutlich handelt es sich nur um einen Sender ohne Empfänger«, überlegte Atlan. Breckcrown Hayes nickte. »Wir sollten nachsehen, wer in diesem Stein steckt.« Atlan nahm nun persönlich im Sessel des Chefpiloten Platz und dirigierte das Schiff an den Asteroiden heran. Eine Kamerasonde verließ ihr Depot und umkreiste den Felsen. Sie übertrug die Bilder, die sie mit ihrer Kamera und dem Scheinwerfer machte, in die rechte untere Ecke des Hauptbildschirms. Der Felsen wies keine Besonderheiten auf, lediglich an einer der Stirnseiten befand sich ein kleines, korrodiertes Schott. »Es ist unwahrscheinlich, daß sich jemand dort drinnen befindet. Vielleicht sitzen wir einem automatischen Sender auf«, sagte Atlan. »Wenn wir das Schott öffnen, ist es für mögliche Eingeschlossene gefährlich. Wir wissen nicht, ob es sich um eine Schleuse handelt.« Sein Logiksektor meldete sich, und Breckcrown Hayes machte einen Vorschlag. »Holen wir den Brocken doch einfach an Bord!« sagte der Solaner. Atlan rief einen Pyrriden zu sich und unterwies ihn in der Bedienung des schiffseigenen Zugstrahls. Der Bruder der vierten Wertigkeit war verwirrt. Er hätte nie gedacht, daß es so etwas in dem Schiff gab. Der Arkonide gab seine Befehle an die Positronik weiter. Ein
Hangartor einer der Lagerhallen öffnete sich. Meter für Meter zog der Strahl den Felsen an das Schiff heran und bugsierte ihn in die Halle. Das Tor schloß sich, die Automaten füllten die Halle wieder mit Luft. Reglos hing der Trümmerbrocken einen halben Meter über dem Boden. Atlan, Breckcrown Hayes, ein Ahlnate und drei bewaffnete Pyrriden machten sich auf den Weg. Sie betraten die Halle, nachdem die Positronik Strahlenentwarnung gegeben hatte. Der Felsbrocken war ein neutrales Stück Natur. In seinem Innern gab es keine Energie entwickelnden Aggregate. Dennoch war es leichtsinnig, wie die Solaner vorgingen. Es konnte genauso gut eine Falle des unsichtbaren Gegners aus dem Würfel sein, der sie mit einer falschen Botschaft lockte. Sie maßen den Trümmerbrocken mit den Augen. Er war etwa zehn Meter lang, ebenso breit und fünf Meter hoch. »Schutzanzüge«, sagte Atlan, »wir brauchen Schutzanzüge!« Sie suchten die Regale an den Hallenwänden auf, nahmen genug Anzüge heraus und streiften sie über. Dann machten sie sich daran, den brüchig erscheinenden Zugang zu dem Felsen zu öffnen. Die Pyrriden stellten sich links und rechts neben dem Eingang auf. Die Waffen hielten sie in den Händen. Atlan wunderte sich, wie leicht sich der Verschluß öffnen ließ. Mit häßlichem Kreischen ruckte das Metall zur Seite und gab den Blick auf eine Höhle frei, in deren Innern es bis auf ein kleines, flackerndes Licht finster war. Der Arkonide zog sich entschlossen an den Felskanten empor und stieg in den hohlen Felsen hinein. Er schaltete seinen Helmscheinwerfer ein. Ein Schrei aus hellen Kehlen antwortete ihm, drang über den Helmlautsprecher bis an seine Ohren. Er zögerte. Dann aber sah er die fünf Gestalten, die eng aneinander im hinteren Teil der Höhle kauerten, ihre Arme wie schützend über ein kleines Kästchen gebreitet, an dem ein Licht blinkte.
Atlan winkte seinen Begleitern und ging näher heran. Ein Gewimmer begleitete seine Absicht, das bald in ein schrilles Pfeifen überging. Abwehrend streckten sich dem Arkoniden Hände entgegen. Diese Wesen haben Angst! erkannte er. Die Instrumente seines Anzugs gaben Entwarnung. Atlan klappte den Helm zurück und atmete die Luft ein. Sie roch muffig und verbraucht. Von den fünf Wesen ging außerdem ein säuerlicher Geruch aus. Atlans Begleiter kamen heran und richteten ebenfalls ihre Lampen auf die Fremden. Es waren kleine, etwas mehr als einen halben Meter große Geschöpfe mit zwei Armen und Beinen. Außer an ihrem kugelrunden Kopf waren sie am ganzen Körper behaart. Dieses »Fell« schimmerte lindgrün und war glatt. Sie sehen aus wie Kinder! durchzuckte es Atlan. Bekleidet waren die Wesen nur mit einem Lendenschutz, in den zahlreiche Taschen eingearbeitet waren. »Seht nur diese ausgemergelten Körper«, rief der Arkonide aus. »Die armen Burschen müssen seit langem hier eingeschlossen sein. Sie brauchen dringend ärztliche Behandlung.« Beruhigend redete er auf die Zwergenwesen ein, doch diese reagierten nicht. Er hatte vergessen, einen tragbaren Translator mitzunehmen. »Wir sollten sie in den Hangar hinausbringen«, schlug Breckcrown Hayes vor. Sie machten sich ans Werk. Atlan berührte eines der Wesen, das wie unter einem elektrischen Schlag zusammenzuckte. Er hob das zitternde Bündel auf und brachte es hinaus aus dem Felsen. Sie betteten die fünf an die nächstbeste Wand und ließen sie die gute Schiffsluft atmen. Hayes brachte den kleinen Kasten, den die Zwerge beschützt hatten. »Es ist nur der Sender, mit dem sie gerufen haben«, vermutete er. »Sonst haben sie keine Ausrüstung bei sich.«
»Positronik, bitte melden!« rief Atlan zu den Lautsprechern empor, die überall im Schiff mit Mikrofonen gekoppelt waren. »Wir brauchen einen Übersetzer!« Die Positronik meldete sich sofort. Sie übersetzte Atlans Worte in die fremde Sprache. Anfangs horchten die Zwergwesen auf, dann aber klammerten sie sich wieder ängstlich aneinander. Der Sender! überlegte der Arkonide. Stammt er von diesem Volk? Und wenn, warum haben sie dann Angst vor der mechanischen Stimme unseres Bordcomputers? Sie versuchten weiter, mit den Fremden in ein Gespräch zu kommen. Es war aussichtslos. Diese standen offensichtlich unter Schockeinwirkung. »Wir bringen sie in die Krankenstation, sie brauchen medizinische Versorgung«, entschied Atlan und gab seinen Begleitern einen Wink. Sie nahmen die Zwerge auf und trugen sie in das Schiff hinein. Die kleinen Körper versteiften sich, eines der Wesen murmelte etwas, was wie »Molaaten« klang. Ob es sein Name war oder der seines Volkes? Nach und nach erschlafften die schmächtigen Körper. Die Fremden hatten das Bewußtsein verloren. »Wir schleusen den Brocken wieder aus«, sagte Breckcrown Hayes. Atlan nickte gedankenverloren. Der Solaner war wesentlich lebendiger und belastbarer, als er aussah. Wie jemand, der frühzeitig gealtert war. Atlan machte sich auf den Weg zur Zentrale. Er dachte über die fünf Wesen nach. Er hoffte, daß sie nicht ernsthaft krank waren und starben. Er wollte von ihnen in Erfahrung bringen, was es mit den aufgelösten Planeten auf sich hatte, welche rätselhaften Dinge in Bumerang geschahen. Wer war dafür verantwortlich, und wie kamen die fünf in den kleinen Asteroiden? Mein Auftrag, dachte Atlan, wird immer verworrener. Die Kosmokraten haben mir aufgetragen, im Niemandsland zwischen den beiden Mächtigkeitsballungen eine Pufferzone zu entwickeln,
Friedenszellen und ein gewaltiges Sternenreich zu bilden. Ich weiß weder wo noch wie. Ich erlebe nur andauernd, daß ich mitten im Geschehen lande, ohne den Weg zu kennen. Die Probleme Osath und Chail hatten sich auf wundersame Weise fast selbst gelöst, und das Auftauchen der SOL schien der eigentliche Auslöser oder die Wirkung gewesen zu sein. Und Bumerang? Atlan erkannte, daß die SOL wieder einen Aufenthalt vor sich hatte, dessen Dauer ungewiß war. Was galt es in der Sternenballung zu bewältigen, oder in der Kleingalaxis, die Deccon Flatterfeld getauft hatte? Atlan betrat die Zentrale und gab Anweisung, schleunigst die SOL anzufliegen. Er wunderte sich nicht mehr, wie tief er schon von seinem Auftrag überzeugt war. In ihm brannte ein gewaltiges Feuer, das die Kosmokraten angezündet hatten. Er folgte ihrem Auftrag widerspruchslos, ohne zu wissen, ob er wirklich aus freiem Willen handelte. »Nach zwei Abenteuern mit der SOL weiß ich mehr als zu dem Zeitpunkt, da ich von den Buhrlos in dem riesigen, burgenähnlichen Raumschiffsgebilde gefunden wurde«, flüsterte er, daß nur Hayes es hörte. Der Solaner sah ihn verständnisvoll an. Atlan ging in der Zentrale umher und nickte den Solanern und den Mitgliedern der SOLAG zu. Täuschte er sich wirklich nicht? Wußte er jetzt mehr über das, was er als den »Auftrag« verstand, als zu Anfang? Oder bildete er sich das nur ein? Vielleicht war es so, und seine Erinnerung an die Details kam erst im Lauf der Zeit. Dann, wußte Atlan, war er tatsächlich so etwas wie ein programmierter Beauftragter. Er erschrak nicht einmal, als sein Extrasinn ihm zwei Namen in das Gedächtnis schleuderte, die ihn in ihrer Intensität fast schmerzten. Laire, Samkar, Chybrain! Nein! schrie er innerlich, es ist anders, ganz anders. Und er dachte daran, wie lange er lebte, und daß er auch diesen Auftrag
überstehen würde. 8. Das Schott glitt auf, Geräusche entstanden. Die Männer, die ihre Augen auf die Bildschirme geheftet hatten, sahen auf. Gallatan Herts stand in der Zentrale. Seine Augen schleuderten Blitze auf den Kommandantensessel, in dem Atlan saß. Eine Hand hielt er unter seinem langen Magnidengewand verborgen, mit der anderen zeigte er auf den Arkoniden. »Du hast dich getäuscht, wenn du glaubst, mich so einfach außer Gefecht setzen zu können!« schrie er mit zuckenden Wangen. »Ich lasse mich nicht abservieren!« Mit ausholenden Schritten durchmaß er die Zentrale, und Atlan erhob sich. Mit einem versteckten Lächeln beobachtete er, wie Kyr‐ Kyr, der violette Extra, nach Hertsʹ Bein schnappte. Er kam aber nicht heran, denn er war noch immer an der Säule des Sessels festgebunden. Bisher hatte niemand im Schiff Zeit gehabt, sich um das Haustier des Magniden zu kümmern. »Ich dränge mich gar nicht danach, dir das Kommando streitig zu machen, Herts«, entgegnete Atlan gelassen. »Setz dich nur hinein!« Er deutete auf den Sessel. Herts schnaufte wie ein Stier, der zum Angriff ansetzt. »Wir erledigen unseren Auftrag und kehren dann zur SOL zurück!« »Welchen Auftrag?« erkundigte Breckcrown Hayes sich scheinheilig. Er stellte sich eindeutig auf Atlans Seite. Gallatan Herts lief rot an, und ein Solaner sagte: »Du solltest dich nicht aufregen. Das kann in deinem Zustand gefährlich sein. Du mußt dich schonen!« »Der Auftrag ist bereits erledigt, das Schiff kehrt zur SOL zurück!« teilte Atlan ihm knapp mit. »Wenn du dich über unser
Unternehmen informieren willst, kannst du die Daten aus der Positronik abrufen!« Der Magnide zuckte wie unter einem Peitschenschlag zusammen. Er verstand sehr wohl die Anzüglichkeit. Deccon hatte zu dem Arkoniden dasselbe gesagt. Und jetzt mußte er, Gallatan Herts, das ausbaden. »Es wird nicht ewig so weitergehen!« rief Herts und war froh, daß sie seine Gedanken nicht lesen konnten. Einer aber schien es doch zu können. Er fauchte wütend und riß wie wahnsinnig an dem Kabel, das ihn festhielt. Kyr‐Kyr begann zu toben. Er zeigte die Zähne und ließ niemanden an sich heran. Breckcrown Hayes wollte ihn losbinden, aber ein Wink seines Besitzers hielt ihn davon ab. Der Extra wand sich wie ein verwundetes Tier, das Todesqualen litt. Dennoch war er unverletzt. Niemand begriff, was da vor sich ging, als der kleine Extra sich zu Boden warf und leise winselnd hinter die Säule kroch, an der er angebunden war. Alle hatten die Augen auf das Tier gerichtet, keiner sah zu Gallatan Herts. Ein Schuß fauchte durch die Zentrale. Er zerschmolz auf Anhieb die Säule des Sessels und traf Kyr‐Kyr, der sich emporwarf und dann in sich zusammensackte. Der Extra rührte sich nicht mehr, nur ein hellroter Fleck bildete sich auf seinem dunklen Pelz. Der Sessel über ihm knickte ab und fiel neben ihn. Herts steckte die Waffe wieder weg, die er bisher unter seinem Gewand verborgen gehalten hatte. Ohne sich weiter um den Extra zu kümmern, verfolgte er das Annäherungsmanöver an das Mutterschiff. Die empörten Ausrufe der Solaner beachtete er nicht. »Du Mörder!« schrie Breckcrown Hayes aufgebracht. »Das war keine Notwehr. Du hast ihn einfach umgebracht!« »O nein!« sagte Gallatan Herts frohgelaunt, und sein Kopf war in dem hochlehnigen Sessel kaum zu sehen. »Ich habe ihn nicht umgebracht. Ich nicht. Das war ein anderer!«
Drohend bewegte sich die Front aus Menschenleibern auf den Magniden zu. Die Pyrriden wollten ihm zu Hilfe eilen, aber sie konnten jetzt ihre Plätze nicht verlassen, denn der Leichte Kreuzer stand kurz vor der Einschleusung. Und aus den Lautsprechern erklang die bekannte Stimme des High Sideryt. »Gallatan Herts, du Faulpelz, melde dich endlich! Ist alles in Ordnung?« »Gleich, warte einen Augenblick! Alles weitere mündlich!« rief der Magnide und schwenkte seinen Sessel herum. Sein Thermostrahler zeigte auf die Solaner, die Abstrahlmündung glühte. Sie verließen Hangar siebzehn und suchten sofort die Hauptzentrale auf. Die Molaaten wurden in eine Medostation gebracht. Chart Deccon und die übrigen Magniden erwarteten sie bereits. Auch Joscan Hellmut und Bjo Breiskoll waren anwesend. Atlan trat zu ihnen und begrüßte sie. »Wie ist es abgelaufen?« erkundigte Hellmut sich besorgt. Er konnte sich denken, daß Herts und der Arkonide nicht gerade ein Paar von Einigkeit gebildet hatten. »Abwarten!« winkte Atlan. »Es kam anders, als sich manche gedacht hatten. Deccon wird sich freuen!« Noch stand der High Sideryt unbeteiligt im Hintergrund der Zentrale, obwohl er längst mitbekommen hatte, daß sie alle da waren. Er wartete auf etwas, und dieses Etwas bestand in einem verhutzelten Männchen, das durch die sich schließende Tür hereinhuschte und Deccon ins Ohr flüsterte. Danach verschwand es auf demselben Weg. Niemand kannte es, der High Sideryt aber machte ein zufriedenes Gesicht. Bjo zog Atlan am Ärmel. »Ich kann zwar nicht Lippenlesen«, sagte er, »aber ich glaube, daß es mit den Basiskämpfern zu tun hat.« »Du glaubst, Deccon kümmert sich um die Zwillinge?« fragte Hellmut. »Er hat alles andere zu tun!« »Die Basiskämpfer sind eine Gefahr für die SOLAG«, stellte Atlan
fest. »Wenn Deccon sie erwischt und ihnen illegale Umtriebe nachweisen kann, hat er ein Druckmittel gegen uns in der Hand!« »Ich kann noch immer keinen Kontakt zu Sternfeuer finden«, bedauerte Bjo. »Sie muß erschöpft sein.« In diesem Augenblick räusperte sich der Bruder ohne Wertigkeit. Er trat auf die Magniden zu. »Gallatan, berichte, was sich zugetragen hat!« forderte er den Traditionalisten auf. Atlan sah ihm an, daß er bereits alle Daten wußte. Er hatte sich über die Bordpositronik des Leichten Kreuzers informiert. Herts schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er, »ich lag die ganze Zeit bewußtlos in der Krankenstation!« Der High Sideryt fuhr herum und starrte Atlan an. »Was soll das heißen?« rief er laut. »Gisbert hat also recht berichtet. Du hast das Kommando an dich gerissen!« Atlans Gesicht verfinsterte sich, er begann die Taktik des Magniden zu begreifen und ahnte, was noch kommen würde. »Er hat Kyr‐Kyr auf mich gehetzt, um mich auszuschalten«, keifte Herts. »Das Biest hat mich gebissen und mich gelähmt. Ich mußte es erschießen!« Er deutete auf den Arkoniden. »Der da ist an allem schuld!« Chart Deccon und die übrigen Magniden versteiften sich. Langsam wichen sie zurück und gingen auseinander, um das Feld freizumachen für die Roboter, die an der Wand standen und jetzt drohend ihre Waffen ausfuhren. Sie zielten auf Atlan, und es hätte nur noch eines Befehls bedurft, und der Arkonide wäre ein toter Mann gewesen. Eisiges Schweigen senkte sich über die Zentrale. Die Augen des High Sideryt und Atlans bohrten sich ineinander. Deccon war sich nicht im klaren, wie er jetzt entscheiden sollte, und die Unsicherheit stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Der Arkonide war nach wie vor gefährlich. Er hatte ihn in der
Hand. Er brauchte nur im Schiff herumzuerzählen, daß Deccon eine Korvette auf dem Gewissen hatte. Dann war der High Sideryt in den Augen der Solaner geliefert. Die letzte Gelegenheit, den unbequemen Unsterblichen abzuservieren, durchzuckte ihn boshaft ein Gedanke. Dann aber kamen ihm wieder Zweifel. Bedeutete das nicht Bürgerkrieg und Chaos? Resignierend erkannte Chart Deccon, daß Atlan zu populär war, als daß er ihn einfach hinrichten lassen konnte. Und die Tatsache, daß er Herts aus dem Verkehr gezogen hatte … Irgendwo hatte er damit gerechnet, daß Atlan sich nicht einfach geschlagen geben würde. Es ist einfach zu viel, dachte der High Sideryt grübelnd, was in letzter Zeit auf mich einstürmt. Manchmal glaube ich, daß ich es nicht verkrafte. Und doch war es seine Aufgabe, dieses Schiff zu lenken. Er war für diese Welt mit ihren annähernd hunderttausend Bewohnern verantwortlich, und auch für Atlan und andere. Chart Deccon sah für ein paar Augenblicke ein Gesicht, das ihn verwirrte. Es gehörte zu einem der Begleiter, die mit Atlan in die Zentrale gekommen waren. Sie hielten sich im Hintergrund. Dem High Sideryt waren sie bisher nicht aufgefallen. Jetzt stellte er fest, daß es insgesamt acht Solaner waren, die sich hier aufhielten, ohne der SOLAG anzugehören. Noch immer fixierten Atlan und er sich mit den Augen. Sie schienen eine stumme Zwiesprache zu halten, und doch waren die Augen kalt und abweisend. Atlan sagte nichts, er hatte es nicht nötig, sich zu rechtfertigen. »Du mit deinen Zielen, du Sendbote kosmischer Mächte, du gehst zu weit. Du überschreitest deine Grenzen, die auch dir gesetzt sind. Es ist Zeit, sie dir aufzuzeigen«, sagte Deccon. Es klang ernsthaft und ohne Ironie. Die Augen aller hingen jetzt an den Lippen des High Sideryt. Wie
würde er jetzt entscheiden? Hertsʹ Gesichtsausdruck bedeutete: Laß ihn endlich verschwinden! Chart Deccon sah aus den Augenwinkeln, daß sich die Gestalt des Katzers zusammenkrümmte. Bjo Breiskoll erwartete ein Unglück. Er wird Atlan zu helfen versuchen, erkannte der High Sideryt. Plötzlich aber fuhr Chart Deccon zusammen. Neben ihm tauchte eine Gestalt auf. Dicht vor ihm blieb sie stehen. Chart Deccon schluckte und holte tief Luft. »Der Magnide Gallatan Herts lügt«, sagte Breckcrown Hayes mit ruhiger Stimme. Es war ihm nicht anzumerken, daß es für ihn eine bedeutende Begegnung war. Zum ersten Mal stand er dem High Sideryt gegenüber. »Kyr‐Kyr hat ihn aus eigenem Antrieb angegriffen, und es war nicht das erste Mal. Niemand kann etwas dafür, auch nicht Atlan. Er ist lediglich eingesprungen und hat in seiner Position als Magnide den Platz von Herts eingenommen. Und Herts hat den Extra erst viel später erschossen. Völlig unmotiviert, kurz vor der Einschleusung des Leichten Kreuzers!« Deccon blickte langsam von dem Mann zu Atlan. »Hayes!« sagte er nur. »Du bist Breckcrown Hayes.« Und nach langem Zögern fügte er hinzu: »Ich weiß!« Mit der linken Hand gab er den Robotern einen befehlenden Wink. Atlan zuckte mit den Augenlidern. Langsam fuhren die Roboter ihre Waffen ein. Deutlich war das Aufatmen zu hören. Nur Gallatan Herts wollte etwas einwenden, aber Deccon befahl ihm zu schweigen. Der High Sideryt wußte, daß damit eine Entscheidung gefallen war, die nicht alltäglich war. Er selbst hatte sie getroffen. Er hatte gegen eigene Vorstellung entschieden, ohne genau erkannt zu haben, was Notwendigkeit und was Wunschdenken war. Hatte Atlan es erkannt? Irgendwann, schwor sich Chart Deccon, treffen wir zusammen, und dann fällt eine endgültige Entscheidung. Wer ist der Sieger, oder wer ist einfach der, dem die Zukunft gehört?
Der Bericht über Bumerang hatte ihn mit Schaudern erfüllt. Er dachte an die Zwergwesen, die an Bord waren. Sie erinnerten ihn an Akitar, und er wußte, daß sie so schnell nicht von der Sternenballung wegkommen würden. Wozu? fragte er sich immer wieder. Wozu? Die Magniden warteten längst auf ein endgültiges Wort von ihm, wie sie sich Atlan gegenüber zu verhalten hatten. Er erfüllte ihnen diesen Wunsch nicht. Sie sollten es selbst herausfinden. Er war froh, vorläufig so glimpflich davongekommen zu sein. Es würde sich früh genug herumsprechen, daß zwanzig Solaner in der Sternenballung den Tod gefunden hatten. Chart Deccon ließ Breckcrown Hayes stehen und schritt durch die Zentrale. Er warf einen langen Blick auf Atlan. Es freute ihn, den Arkoniden verwirrt zu sehen, weil er die Aussage des Solaners einfach akzeptiert hatte. Die Verwirrung freute den mächtigsten Mann der SOL. Es half ihm über die vielen anderen, niederschmetternden Gedanken hinweg und munterte ihn auf. Die Frage nach dem »Wozu« verblaßte für einige Zeit. Schweigend und hocherhobenen Hauptes verschwand der High Sideryt in seiner Klause. ENDE Nach dem Mausefalle‐System und dem Chail‐System, wo die Entstehung einer Friedenszelle eingeleitet wurde, stellt die Zwerggalaxis Flatterfeld die dritte Station auf dem Weg der SOL seit Atlans Erscheinen dar. Was dort geschieht und was sich seit Erreichen dieser neuen Wegstation in der SOL selbst abspielt, das berichtet Falk‐Ingo Klee im nächsten Atlan‐Band. Der Roman erscheint unter dem Titel: IM NAMEN DER SOLAG